Skip to main content

Full text of "Zeitschrift für Hypnotismus, Suggestionstherapie, Suggestionslehre und verwandte psychologische Forschungen"

See other formats


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  prcscrvod  for  gcncrations  on  library  shclvcs  bcforc  it  was  carcfully  scannod  by  Google  as  pari  of  a  projcct 

to  make  the  world's  books  discoverablc  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 

to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  cultuie  and  knowledge  that's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  maiginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  flle  -  a  reminder  of  this  book's  long  journcy  from  the 

publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prcvcnt  abuse  by  commcrcial  parties,  including  placing  technical  restrictions  on  automatcd  qucrying. 
We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  ofthefiles  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  from  automated  querying  Do  not  send  aulomated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machinc 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  laige  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encouragc  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attributionTht  GoogX'S  "watermark" you  see  on  each  flle  is essential  for  informingpcoplcabout  this  projcct  andhclping  them  lind 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  lesponsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can'l  offer  guidance  on  whether  any  speciflc  use  of 
any  speciflc  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  mcans  it  can  bc  used  in  any  manner 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringement  liabili^  can  be  quite  severe. 

Äbout  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organizc  the  world's  Information  and  to  make  it  univcrsally  accessible  and  uscful.   Google  Book  Search  hclps  rcadcrs 
discover  the  world's  books  while  hclping  authors  and  publishers  reach  new  audiences.  You  can  search  through  the  füll  icxi  of  ihis  book  on  the  web 

at|http  :  //books  .  google  .  com/| 


Google 


IJber  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Realen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfugbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 
Das  Buch  hat  das  Urheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nu  tzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  partnerschaftlicher  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.     Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.     Nie htsdesto trotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  veihindem.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  für  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  für  diese  Zwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google-MarkenelementenDas  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  fiir  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppcn  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter|http:  //books  .  google  .corül  durchsuchen. 


^    O    sJ    i    ^ 


^"2>^^?r 


ZEITSCHRIFT  FÜR  HYPNOTISMÜS, 

PSYCHOTHERAPIE, 


SOWIE  ANDERB 


PSTGH0PHTSI0L06ISGHE  UND  PSYCH0PATH0L06ISGHE  F0BSGHDN6BN 


BAHD  8. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  HYPHOTISIÖS 

PSYCHOTHERAPIE 

SOWIE  ANDERB 

PSYCHOPHYSIOLOGISCHE  IM)  PSYCHOPATHOLOGISCHE 

FORSCHUNGEN, 


BAND  8. 

MIT  BEITRÄGEN  VON 

Db.  BsBTSCHINOSB(ZÜBI0H),  DB.£BODMAini(jBNA),  Db.CbAMKB(S0HLA0HTXN8ES),  DB.GBA»nB 

(Zübioh),  Db.  Gbotjahn  (Bbblin),  Db.  fiiLaBB  (MAODBBXTBa),  Db.  Hibsohlaff  (Bbblih), 
Db.  Kibsow  (Tttbin),  Db.  Lautbmbaoh  (Bbblin),  Db.  Naef  (Zübigh),  Db.  PLBTTBNBBBa 

(IfAODKBUBG),     Db.    V.    BbNTEBGHEM    (AhBTEBDAM)  ,     Db.   Y.   SCHBBNGK-NOTSINa  (MÜNOHKr), 

Db.  y.  Stbaatbn  (Bbblin),  Db.  Tecklenbubo  (Lbipzio),  Db.  Vogt  (Bbblin)  Db.  Wolvf 

(Münstbblinobn) 

UHTBB  BESOHDESBB  FÖRDSBIII6  TOI 

PROF.  A.  FOREL 

HSRiüSQSGEBra  TOB 

DR.  0.  VOGT. 


■   ""^S^*  ■**  *■' 


LEIPZIG  1899 

YEBLAG  VON  JOHANN  AMBBOSIUS  BABTH 


Nachdruck  Yorbehalten. 


•-• 


118069 

••  ••      •»         ■■■*» 

•  •••••••%*       ». 

•  •      ••         ■>•      •*•»         ».« 

•    •••••*«-•    ••    ••    ••••    - 

•  •      •••  •*•"     ••    •*     «»     • 

•     •         •        •  ,•  »•        •<•"»•«■ 

•  •  •        •         •  ••        ••      •     «      >    ».    •     «. 

•  ••  ■*  ••»•••» 


Inhalts-Yerzeichniss. 

Band  8. 


Originalartikel. 

C.  Graeter,  Ein  Fall  yon  epileptischer  An^nesie  durch  Hyper- 

mnesie  beseitigt 129 

L.  Hirse  hl  äff,  Kritische  Bemerkungen  über  den  gegenwärtigen 

Stand  der  Lehre  vom  Hypnotismus 267,  321 

Y.  Kenterghem,  3.  Bericht  über  die  in  der  psychotherapeutischen 

Klinik  in  Amsterdam  erhaltenen  Resultate .      1 

T.  Schrenck-Notzing,    Das   angebliche   Sittlichkeitsvergehen 

des  Dr.  K.  an  einem  hypnotisirten  Kinde 193 

O.Vogt,  Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie    65 

—  Normalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der 

Hysterie 208 

—  Zur  Kritik  der  psychogenetischen  Erforschung  der  Hysterie    .  343 

Literaturübersichten. 

H.  Bertschinger,  Psychische  Zwangszustände.    Deutsche,  fran- 
zösische und  englische  Literatur  der  Jahre  1896  u.  1897   .    .  164 

(Arbeiten  yon:  Donath,  E.ehm,  Freud,  Mendel,  Flatau, 
Bechterew,  Löwenfeld,  Brero,  Bollach,  Dornblüth, 
Pitres  et  Kegis,  Julia,  Konstantinowsky,  de  Jong, 
Vallon  et  Marie,  Sollier,  Pitres  et  ß^gis,  Mickle,  Ellis). 

Lautenbach,  Die  geometrisch-optischen  Täuschungen  und  ihre 
psychologische  Bedeutung    .    .    .  ' 28,  272 


—      VI      — 

Mte 

M.  Naef,  Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der 
Paranoia 84 

(Arbeiten  yoq:  Wernicke,  J.  Koch,  F.  Gerlach,  M.  Koppen, 
Vorster,  R.  Sandberg,  Hert^,  H.  Schlöss,  Brassert, 
Krause,  Neiaser,  Salgo,  Linke,  S.  Fread,  L.  Roncoroni, 
Friedmann.) 

P.  Plettenberg,  Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen 
Leib  und  Seele 106 

(Arbeiten  von:  Stumpf,  Erhardt,  Wentscher,  Schwarz, 
Höfler,  Paulsen,  Heymann's.) 

—  Die  neuesten  Abhandlungen  und  Untersuchungen  über  die  Er- 

müdung der  Schuiyugend 228 

(Arbeiten  von:  Friedrich,  Ebbinghaus.GriessbachyVannot, 
Wagner,  Kemsies,  Brahn,  Schiller.  Binet  et  HenrL) 

T.  Schrenck-Notzing,  Literaturzusammenstellung  über  die  Psy- 
chologie und  Psychopathologie  der  vita  seinialis.    11.  I£I.    40,  275 
Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie   aus  den  Jahren 

1896,  1897  und  1898.     3.  Fortsetzung :    172,  842 

(Arbeiten  von:  v.  Holst,  Ziehen,  Rueda,  Ungenannt,  Bech- 
holm,  Yalude,  Claude,  Sänger,  Vedeler,  Weir  Mitchell, 
Biernacki,  Guisy,  Crocq  fils  et  Marlow,  Sollier.) 

Referate  und  BesprechungeiL 

Aim6,  Etüde  clinique  du  dynamisme  psychique 319 

Baldwin,  Die  Entwickelung  des  Geistes  beim  Kinde  ....  185 
W.  y.  Bechterew,  Suggestion  und  ihre  sociale  Bedeutung   .     .  356 

—  Bewusstsein  und  Himlocalisation 358 

—  Die  suggestive  Behandlung  des  conträren  Geschlechtstriebes  und 

der  Masturbation 370 

Belfiore,  Magnetismo  e  ipnotismo 307 

Benjamin,  Ueber  den  physiologischen  und  pathologischen  Schlaf  127 
Bourneyille,  R^cherches  cliniques  et  t^hrapeutiques  sur  l'^pi- 

lepsie,  l'hysterie  et  Tidiotie 296 

Delbrück,  Gerichtliche  Psychopathologie 54 

Dheur,  L'6tat  de  la  sensibilitß  chez  quelques  melancholiques .  .  57 
Finkeinburg,  Ueber  einen  Fall  evidenter  Gesundheitsschädigung 

durch  hypnotisirende  Einwirkung 376 

Freud,  Die  Sexualität  in  der  Aetiologie 366 

Fuchs,  Therapie  der  anomalen  Vita  sexualis  bei  Männern  mit 

Berücksichtigung  der  Suggestivbehandlung 373 


—      VII      — 

Goldscheider  u.  Flatau,  Nonnale  und  pathologische  Anatoiiiin 

der  Nervenzellen AHO 

Goldscheider,  Physiologie  der  Hautsinnesnerron 807 

—  Physiologie  des  Muskelsinnes 807 

Henri,  Ueber  die  Raum  Wahrnehmungen  des  Tastsiniioi      .    .     .181 

Hösel,  Association  und  Localisation 1117 

V.  Erafft-Ebing,  Psychopathia  sexualis    ........    A7 

Lehmann,  Aberglaube  und  Zauberei IHiS 

Möbius,  üeber  das  Pathologische  bei  Goethe UM 

—  üeber  J.  J.  Bousseau's  Jugend 371 

Näcke,   Dämmerzustand    mit  Amnesie    nach    leichter    (lehirti- 

erschütterong,  bewirkt  durch  einen  heftigi;n  Hchlag  um  (innkUt  VM 
Oetiker,  Casuistischer  Beitrag  zur  Kenntnis«  änr  RririnKfungf»- 

fiUschnngen .,.,,,,,  I9ft 

Sänger.  Snbjectife  Dyspnoe ,    ,    ,    .    HH 

Schleich.  Schmerzlose  Operationen.  Oertlicbi?  htfVkn\mun  mit 
indifferenten  Flfitsigkeiten^  Psychophysik  dm  tuMMahtfti  nmi 

kBimlifhfii  Schlafes m^ 

T.  Schrenek'Xotzing,  Betträge  zur  {(irtn$AM^m  Hwrih^lunn 
TOD  SicikUbnlSTergeben  mit  l>e§onderer  h^Mckmchüifutin  tUff 
Y^G^jipautmt  psychotexueller  Anomalien   .,,»,.,»  VIS 

—  PfTdtrtCÄMaguDe Vlh 

Sciitij^r^  3K*fTendehnnng  oder  niebt? 371 

Y^r^r^Iix.  BoBng  im  KemtiMtm  der  ikmäiirU'Kgkrn$$)cut$ii*^    .  947 
Wxxii.  Sftt^w  der  Philowidue ^a,  tm 

—  TicfMuufBiL  vMT  Hensdiei»'  imd  TUeisMade 9« 

—  GjuuO!J»  ter  PtycLologie *•* 

Z:^x>x..  fwfOMaßsnfAt ,  %%H 


Lippert  k  Co.  (G.  P&tz^sche  Bachdr.),  Naambors  a.  S. 


^Dritter  Bericht  über  die  in  der  psychotherapeutischen  Clinik  in 
Amsterdam  erhaltenen  Resultate  während  den  Jahren  1893-1897. 

Von 

Dr.  A.  W.  yan  Benterghem. 


Gelegentlich  des  ersten  in  Paris  vom  8.  bis  zum  12.  August  1889 
abgehaltenen  internationalen  Congresses  für  experimentellen  und  thera- 
peutischen Hypnotismus  habe  ich  einen  Bericht  über  die  Resultate^) 
gegeben,  die  sich  in  der  ersten  Periode  (1887  bis  1889)  der  Existenz 
der  von  meinem  Freimde  van  Eeden  und  mir  gegründeten  Clinik 
fiir  Psychotherapie  herausgestellt  haben.  1894  habe  ich  zusammen  mit 
Dr.  van  Eeden  einen  zweiten  Bericht  über  die  folgenden  4  Jahre 
publicirt,  der  unter  dem  Titel  Psychotherapie^)  erschienen  ist.  Das 
erste  Kapitel  dieser  Psychotherapie  ist  im  dritten  Bande  dieser  Zeit- 
schrift ')  abgedruckt  worden.  Ein  Referat  über  unsere  Resultate  sehen 
wir  femer  im  4.  Bande  ^)  dieser  Zeitschrift. 

In  einer  neuen  Mittheilung  ^)  habe  ich  über  die  im  Jahre  1893 
bis  1897  erzielten  Resultate  berichtet.  Aber  diese  Mittheilung  war 
weniger  ausführlich  als  die  vorhergehenden ;  daher  bringe  ich  dieselben 
Resultate  hier  in  ausführlicherer  Form  wieder.  Ich  bin  auch  bei  der 
gleichen  Classification  geblieben. 

Meine  Ansicht  über  die  Psychotherapie  im  Allgemeinen  und  die 
Suggestionsmethode  im  Speciellen  ist  im  5.  Elapitel  meiner  Plaudereien 
über  Liebeault  et  son  Ecole  zu  finden.  ®)  Dort  habe  ich  auch  ein 
Bild  meiner  Clinik  entworfen.  Ich  will  nur  noch  einmal  hervorheben, 
dass  ich  das  suggestive  Moment  als  den  Hauptfactor,  nie  aber  als  den 
einzigen  Factor  der  Psychotherapie  ansehe.  TabeUe  A.  giebt  die 
Generalübersicht  über  die  3.  Behandlungsperiode.  Tabelle  B.  enthält 
die  Details  aus  dieser  Periode. 


^)  Compte  rendu  etc.    Bruxelles,  A.  Nancereau  1889. 
*)  Psychotherapie  Paris  Soc.  d'lfedit.  scientif.  1894. 
')  Zeitschrift  für  Hypnotismus,  Bd.  HI,  pag.  85  ff.  und  pag.  97  ff. 
^)  Zeitschrift  für  Hypnotismus,  Bd.  IV,  pag.  175  ff. 
*)  Revue  de  Psychologie  clinique  et  therapeutique  1898. 
•)  Zeitschrift  für  Hypnotismus,  Bd.  VII,  pag.  54  ff. 
Zeitschrift  für  Hypnotiimni  etc.    VIII.  I 


9  A.  W.  TU  ReoUrghttm. 

Tabelle  C.  giebt  die  Oeneralübersicbt  über  die  gesammten  Falle 
Ton  der  GrUndung  meiner  Clinik  in  Öoos  am  6.  Hai  1887  bis  zam 
30.  Juni  1897.  Sie  enthält  1677  F&lle,  ron  denen  911  in  die  Zeit 
meines  ZosammeDwirkens  mit  Dr.  ran  Eeden  üMen. 

TabeUe  A. 

Geoeralübersicht  der  vom  1.  Juli  1693  bis  zum  30.  Juni  1697 
bebandelteu  Fälle. 


')  In  dieten  ITällea  wurde  die  Behandlung  nach  einsr  oder  cwei  Sitiungen 
eb  gebrochen. 

*)  Unvollständige  Anöstheiie. 
')  Vollständige  Anäithetie. 


Dritter  Bericht.  g 

Tabelle  B. 

Detaillirte  Uebersicht  der  vom  1.  Juli  1893  bis  zoni  30.  Juni  1897 
behaodelteD  Fälle. 


A.  I. 
Apoplexia  oerebr&lu  (DemeuK, 

ApöpL  oerebr.  (Hemiplegie) . 

.,  „        (Psrüthesie)  . 


Atrophie  des  Nervoa  optici 
Senile  Semenz,  Diabetes 

MyeUtit    .    .    . 


Traiunat.  NeuritJt  d. 

brachial.  ,  . 
Beri-Beri  .  . 
Oehimsypbilis  . 
Multiple  Sclerote 


^Cepbalalgie) 

'Aboalie) 

'Compl.  m.  Organ.  Erb.}. 

Phobien) 

'Cephalalgie) 

^Phobien) 

Compl.  m.  organ.  Taubheit 

Schlaflosigkeit     .    .    .    . 

Anorexie 

Schmerzen 

Phobien 

Compl.  m.  Otitis  int.    .     , 

Schwindel*) 

Comp],  m.  Nephritis  chron. 


Schwindel 
Aboulie  . 
Phobien  . 


Lidknkmpf 

Kopfschmerz 

Comp.  m.  org.  Ueraleiden 

Anorexie 

Erotisches  Delir  .... 
Orarialgie,  Metrorhagie  •) 
Hypochondrie 


Abonlia  . 
ZomanfäJle 
UaatriBche  Stdnmgei 


Honierscher  Schwmdel 

Paraplegie 

Furcht  voreinernothwend. 
Operation  ') 


iten.    *)  Hatte  eine  Operation  ohne  Erfolg 
war  ohne  Eri'olg  gewesen, 
der  Behandlung  9).  Y.  9Ö. 
ihlaf  von  3  WocTien.    T  Hat  sich  hernach 
rsogen. 


A.  W.  T«n  B«iiter^li«in. 


')  Heilnng  in  einer  einii^en  Sitznng  durch  Waohinggeitio) 


A.  W.  TU  Bonterghen 


3! 


')  I  bedeutet  Tollgtändige  Anästhesie  mit  Änmesie. 
II  bedeutet  voUstindige  Äniuttiene  ohne  Amnesie. 
III  bedeutet  niiTollitändige  AnästheBie. 


Dritter  Bericht. 

Tabelle  C. 

QeDeralübersicht  der  vom  6,  Mai  1887  bis  zum  30,  Juni  1897 
bebandelten  Fälle. 


')  Die  Behandlung  wurde  nach  einer  oder  zwei  Sitnmgen  abgebrocbeD. 
*]  tfnvollat&Ddige  Anütheaie. 
•)  VollständiKe  Anästhesie. 


Literaturübersichten. 

Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie  aus  den  Jaliren 

1896,  1897  und  1898. 

(3.  Fortsetzung.) 


60.  Dr,  von  Holstf  Ueber  die  besondere  Form  von  Hysterie, 
wie  sie  in  allgemeinen  Krankenhäusern  zur  Beobachtung  kommt. 
Separatabzug.    21  S. 

Verf.  stellt  auf  Grund  seiner  klinischen  Erfahrungen  den  Satz  auf,  dass  man 
zwei  grosse  Gruppen  der  Hysterie  zu  unterscheiden  habe:  die  Hysterie  der  Ge- 
bildeten und  die  der  Ungebildeten.  Diesen  Satz  sucht  Verf.  in  den  weiteren  Aus- 
fohningen  zu  erklären. 

Verf.  stellt  zunächst  die  psychogene  Entstehung  der  Hysterie  fest.  Dabei 
gehören  psychische  Defecte  nicht  zum  Krankheitsbild.  Verf.  wendet  sich  dabei 
speciell  gegen  Sokolowsky.  ^)  Femer  bekämpft  Verf.  die  Auffassung  der  Hysterie 
als  eine  Psychose.  Jede  wirkliche  psychische  Störung  von  der  blossen  Stimmungs- 
anomalie bis  zur  completen  Psychose  bildet  eine  Erweiterung  des  gewöhnlichen 
Bildes  der  Hysterie  und  ist  nicht  ein  Characteristicum  derselben. 

Die  psychogene  Entstehung  der  Hysterie  führt  Verf.  nun  auf  vier  Typen 
zurück : 

1.  Das  psychische  Trauma  ruft  „unmittelbar  als  abnorme  Reflexwirkung 
auf  den  Körper  das  rein  somatische  Krankheitsbild  der  Hysterie  ohne  irgend 
welche  psychische  Störung"  hervor. 

2.  Das  psychische  Trauma  bewirkt  gleichzeitig  eine  Störung  der  psychischen 
Functionen,  und  zwar  —  wie  Liebermeister  schon  hervorgehoben  —  der 
niederen,  d.  h.  der  Gefühle,  Stimmungen  und  Triebe. 

3.  Das  psychische  Traimia  ruft  unmittelbar  die  körperlichen  Folgen,  aber 
erst  allmählich  psychische  Störungen  hervor. 

4.  Das  psychische  Trauma  ruft  einen  Seelenzustand  hervor,  den  man  als 
inneren  schweren  Gonflict  bezeichnen  kann.  Dieser  setzt  sich  allmählich  ins 
Körperliche  um  oder  kann  zu  einer  tief  gehenden  psychischen  Störung  führen. 


^)  Vgl.  Diese  Ztschr.,  Bd.  VI,  pag.  389  f. 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie.  11 

In  allen  diesen  f^en  ist  eine  —  meist  hereditäre  —  neuropathische  Anlage 
wohl  Bedingung. 

Mit  dem  Umstand,  dass  bei  gebildeten  Kranken  das  psychische  Leben  eine 
grössere  Bolle  als  bei  Ungebildeten  spielt,  hängt  dann  nach  dem  Verf.  zusammen, 
dass  der  Typus  1  fast  nur  bei  Ungebildeten,  der  Tjrpus  4  fast  nur  bei  Gebildeten 
Torkommt.  Typus  2  und  3  kommen  bei  beiden  Gruppen  vor;  aber  sie  zeigen  bei 
dem  Ungebildeten  Torherrschend  körperliche,  bei  dem  Gebildeten  vorzüglich  psy- 
chische Symptome. 

Unter  2780  ungebildeten  Nervenkranken  fand  Verf.  544,  d.  h.  19,20 <^/o  Hyste- 
rische; dabei  waren  von  den  1800  Männern  108,  d.  h.  6,0%  und  von  den  980 
Frauen  436,  d.  h.  44,59%  hysterisch.  Unter  den  ungebildeten  Hysterischen  be- 
fanden sich  19,86%  Männer,  unter  den  Gebildeten  10,37%.  Es  tritt  die  Hysterie 
also  bei  ungebildeten  Männern  häufiger  auf  als  bei  gebildeten. 

Entsprechend  den  psychischen  Complicationen  der  Hysterie  der  Gebildeten 
ist  ihre  Prognose  ungünstiger  als  diejenige  der  Ungebildeten.  Ebenso  ist  die 
Therapie  anders  zu  gestalten.  Sie  hat  beim  eingebildeten  im  Wesentlichen  eine 
symptomatische  zu  sein.  Dementsprechend  ist  hier  auch  eventuell  die  rein  sym- 
ptomatisch wirkende  hypnotische  Behandlung  indicirt  (Verf.  scheint  nur  die  Hypnose 
als  Suggestivmittel  zu  kennen!).  Beim  Gebildeten  ist  eine  psychische  Allgemein- 
behandlang  indicirt.  0.  Vogt. 

61.  Trof,  Ziehen- JenAj  Ueber  eine  neue  Methode  der  Entlarvung 
der  Simulation  einer  halbseitigen  hysterischen  Taubheit  bezw. 
Blindheit.  —  Mittheilung  auf  dem  III.  mitteldeutschen  Psychiatercongress  in 
Jena  1.  Mai  1898. 

Das  von  Ziehen  angegebene  Verfahren  besteht  kurz  in  Folgendem:  Man 
spricht  der  zu  explorirenden  Person,  die  beispielsweise  eine  rechtsseitige  Taub- 
heit vorgiebt,  eine  grössere  Zahl  (10 — 15)  genau  notirter  Worte  abwechselnd  bald 
bei  offenem,  bald  bei  geschlossenem  linken  Ohr  vor  und  lässt  die  Explorandin 
immer  diejenigen  Worte,  welche  ihr  bei  offenem  linken  Ohr  zugeflüstert  wurden, 
nachsprechen.  Wenn  man  nun  diese  Person  nachher  auffordert,  alle  nachgesprochenen 
Worte  zu  wiederholen,  so  wird  sie,  falls  sie  eine  Simulantin,  d.  h.  auf  dem  rechten 
Ohre  nicht  taub  ist,  die  auf  dem  rechten  resp.  linken  Ohre  gehörten  Worte  nicht 
mehr  auseinander  zu  halten  vermögen;  sie  wird  auch  Worte  recapituliren,  die  ihr 
bei  geschlossenem  linken  Ohre  vorgesagt  worden  waren,  die  sie  also  nach  ihrer 
Angabe  nicht  hätte  hören  dürfen,  da  ja  das  rechte  Ohr  taub  sein  sollte. 

Diese  Methode  hat  den  Vorzug,  auf  rein  psychologische  Gesetze  sich  zu 
stützen;  sie  entgeht  dadurch  allen  jenen  Vorwürfen  und  Einwänden,  die  gegen  die 
physikalischen  Simulationsproben  der  Hysterischen  erhoben  worden  sind.  Die 
Praxis  wird  über  ihre  Brauchbarkeit  zu  entscheiden  haben. 

Brodmann -Jena. 

62.  Ruedttf  Maladie  des  tics  associ^e  ä  Thysterie.  Rev.  de  l'hypnot. 
11.    1896.    No.  6. 

Verf.  berichtet  über  einen  mit  „Tickkrankheit"  complicirten  Fall  von  Hysterie, 
bei  dem  die  rein  hysterischen  Erscheinungen  auf  psychotherapeutischem  Wege  zum 
Verschwinden  gebracht  wurden,  während  dieTicks  bestehenblieben.    Als  differential- 


X2  Zasammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie. 

diagnostische  Merkmale  zwischen  echter  maladie  des  tics  and  hysterischem  Tick 
hebt  er  hervor: 

1.  dass  der  hysterische  Tick  plötzlich,  meist  in  Folge  einer  (^emothsbewegong, 
entstehe,  während  die  sog.  Tickkranivheit  ganz  allmählich  aus  unbekannter  Ur- 
sache sich  entwickelt; 

2.  die  absolut  gute  Prognose  der  hysterischen  Ticks  im  Gegensatz  zu  der 
meist  schlechten  Prognose  der  eigentlichen  Tickkrankheit.  Letztere  pflegt  nach 
Ansicht  des  Verfassers  auch  den  hypnotischen  Suggestionen  nicht  zu  weichen. 

Brodmann- Jena. 

63.  Contribution  ä  l'etude  de  Tassociation  de  Thysterie  ayec 
les  differentes  mala  dies.  These  pour  le  doctorat  en  m^decine.  Paris  1896. 
Imprimerie  des  Theses  de  la  faculte  de  medecine  de  Paris. 

Nach  einem  kurzen  hysterischen  Rückblick  auf  die  älteren  Bearbeitungen 
seines  Themas  beschreibt  Verf.,  dessen  Name  nicht  genannt  ist,  bisher  noch  nicht 
veröffentlichte  Beobachtungen  aus  der  Klinik  von  Babinski,  welche  alle  Compli- 
cationen  schwerer  Hysterie  mit  einer  anderen  Erkrankung  des  Nervensystems  be- 
treffen.   Wir  können  die  Fälle  nur  ganz  kurz  skizziren. 

1.  Fall:  Hirntumor  und  Hysterie. 

Bei  einer  38 jähr.  Frau,  die  mit  Wahrscheinlichkeit  syphilitisch  war,  fanden 
sich  neben  den  Symptomen  einer  intracraniellen,  die  rechte  Hemisphäre  schädigenden 
Geschwulst,  die  im  Laufe  von  5—6  Jahren  allmählich  zu  Tage  getreten  war,  Er- 
scheinungen, die  sich  nur  auf  Hysterie  beziehen  Hessen.  Sie  zeigte  eine  totale 
sensible  und  sensorielle  Hemianästhesie  der  rechten  Seite,  welche  unter  dem  Ein- 
fluss  des  galvanischen  Stromes  (nicht  des  faradischen)  zeitweilig  verschwand.  Be- 
merkenswerth  ist  noch  der  Umstand,  dass  von  dem  rechten  Auge  aus  weder  direct 
noch  indirect  (links)  eine  Pupillenreaction  auf  Lichteinfall  zu  erzielen  war. 

2.  Fall.    Cerebrale  Kinderlähmung  und  Hysterie. 

Der  Fall  ist  dadurch  interessant,  dass  bei  einem  sehr  jugendlichen  Individuum 
(3ViJährigen  Knaben),  das  schon  in  der  ersten  Zeit  seines  Lebens  eine  Monoplegia 
cruralis  dextra  cerebralen  Ursprungs  (Steigerung  der  Sehnenreflexe,  normales 
electrisches  Verhalten)  darbot,  sich  bereits  vom  zweiten  Jahre  ab  hysterische 
Symptome  bemerkbar  machten.  Das  Kind  zeigte  zunächst  nur  eine  hochgradige 
gemüthliche  Erregbarkeit,  später  hatte  es  Weinkrämpfe  und  schliesslich  kam  es  zu 
vollentwickelten  hysterischen  Anfällen,  die  sich  bis  zu  15  Mal  an  einem  Tage 
wiederholten.  Besserung  der  Anfälle  durch  Suggestion.  Hysterische  Dauersymptome 
(Stigmata)  waren  nicht  vorhanden. 

3.  Fall:  Syphilis  mit  Gelenkaffection  und  Hysterie. 

37 jähr.  Kranke,  1890  Syphilis,  1891  Contusion  des  linken  Fusses,  1892  allge- 
meiner Gelenkrheumatismus,  1895  Arthropathie  tibiotorsalis  links  mit  Atrophie  des 
linken  Beines.  Ausserdem  bestanden  blitzartige  Schmerzen  in  beiden  Beinen  und 
Gürtelempflndungen,  Verlust  des  Muskelsinnes  in  den  Beinen,  Incoordination  der 
Bewegungen  in  allen  Extremitäten,  linksseitige  Hemianästhesie,  conoentrische  Ein- 
engung der  Gesichtsfelder  mit  Herabsetzung  der  Sehschärfe,  Verlust  des  Rachen- 
reflexes und  Blasenschwäche.  Verf.  glaubt  alle  diese  Symptome  mit  Ausnahme  der 
Affeotion  des  linken  Fussgelenkes,  welche  sicherlich  syphilitischer  Natur  ist  (arthrite 
s^che),  der  Hysterie  zuschreiben  zu  können.    Gegen  Tabes,  an  die  in  erster  Reihe 


Zusammenstellaxig  der  Literatur  über  Hysterie.  13 

gedacht  werden  muss,  spricht  das  Eehlen  des  Robertson' sehen  und  West phal- 
Bchen  Zeichens,  der  normale  Augenspiegelbefund,  das  atypische  Verhalten  der 
Gehstörungen.  £s  liegt  nach  Ansicht  des  Verf.  eine  Vortäuschung  von  Tabes 
durch  Hysterie  und  eine  Complication  von  hysterischen  mit  syphilitisch  arthritischen 
Erscheinungen  vor. 

4.  Fall:  Maladie  des  tics  und  Hysterie. 

Der  Fall  zeigt  eine  sehr  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem  von  Rueda  veröffent- 
lichten. Auch  hier  begann  der  Tick  ganz  allmählich,  ohne  äussere  Veranlassung 
und  zwar  bereits  im  10.  Jahre,  unabhängig  von  Hysterie;  erst  später  traten  dazu 
die  hysterischen  Erscheinungen  und  zwar  sowohl  Attaquen  wie  Dauersymptome. 
Auch  hier  Heilung  der  Hysterie,  zunächst  einer  ausgeprägten  spastischen  Lähmung 
des  linken  Beines  mit  Tremor,  später  der  Sensibilitätsstörungen  durch  wenige 
h3rpnoti8che  Sitzungen,  während  der  Tick  bestehen  blieb. 

5.  Fall:  Opticusatrophie  und  Hysterie. 

42  Jahre  alte  Frau,  erblich  nicht  belastet.  Erampfanfälle  seit  dem  11.  Jahre, 
bei  jeder  Periode  einsetzend.  Etwa  im  20.  Jahre  Lues;  Verlust  der  Haare,  im 
24.  Jahre  pustula  maligna,  mit  31  Jahren  Abort  und  verschiedene  Hautulcerationen, 
mit  39  Jahren  Abnahme  des  Sehvermögens  auf  dem  rechten  Auge.  Mit  42  Jahren 
ophthalmoskopisch:  Opticusatrophie  rechts.  Functionen  Hemiparese  und  Hemi- 
anästhesie  aller  Qualitäten  auf  der  rechten  Eörperhälfte,  Heilung  der  motorischen 
und  sensiblen  Symptome  in  3  hypnotischen  Sitzungen. 

6.  Fall:   Hereditäre  Syphilis  und  Hysterie. 

Ein  19jähr.  Typograph,  der  seit  seiner  Kindheit  Zeichen  angeborener  Lues 
hatte  und  seit  seinem  10.  Jahre  an  Erampfanfällen  litt,  bekam  ganz  plötzlich,  ohne 
nennenswerthe  Ursache  eine  Paraparese  beider  Beine.  Ausserdem  bestand  eine 
totale  rechtsseitige  Hemianästhesie,  monoculäres  Doppelsehen,  concentrische  Gesichts- 
feldeinengung auf  beiden  Augen,  unwillkürlicher  Urinabgang,  Gürtelgefuhle,  Polyurie. 

Im  Verlaufe  einiger  Monate  trat  spontaner  Rückgang  der  Beschwerden  ein 
und  dann  unter  dem  Einfluss  suggestiver  Faradisation  eine  vorübergehende  Heilung 
aller  Störungen,  auch  der  Parese.  Verf.  schliesst  aus  diesem  Befund,  insbesondere 
aus  dem  Krankheitsverlauf  auf  die  hysterische  Natur  der  sensibeln  und  motorischen 
Störungen.    Ueber  die  Natur  der  KrampfanfäUe  äussert  sich  Verf.  nicht. 

Brodmann- Jena. 

64.  Bechholnit  Recherches  bibliographiques,  statistiques  et  cli- 
niques  sur  les  maladies  mentales  d'origine  traumatique.  Paris  18%. 
189  Seiten. 

Verf.  vertritt  im  Gegensatz  zu  einer  Reihe  anderer  Autoren  die  Ansicht,  dass 
es  keine  specifische  traumatische  Psychose  gebe,  sondern  dass  jede  Form  geistiger 
Erkrankung  durch  ein  Trauma  hervorgerufen  werden  könne;  er  theilt  die  trauma- 
tischen Psychosen  ein  in  acute,  subacute  und  chronische  und  unterscheidet  von  den 
letzteren  folgende  Formen :  1.  die  traumatische  Idiotie,  2.  die  traumatische  Degene- 
ration, 3.  die  traumatische  Epilepsie,  4.  die  traumatische  Paralysis  progressiva, 
6.  die  traumatische  Verrücktheit.  Diese  kann  sich  entweder  direct  an  das  Trauma 
anschliessen  oder  sie  kann  secundär  entstehen  aus  einer  Amentia,  einer  Melancholie 

oder  Manie. 

Die  acuten  traumatischen  Psychosen  sind  in  der  Arbeit  nicht  berücksichtigt. 


X4  Zasammenstellang  der  Literatar  über  Hysterie. 

Verf.  beschränkt  sich  vielmehr,  onter  Zug^ndlegung  einer  recht  ausführlichen 
Bibliographie  über  dieses  Thema,  auf  die  chronischen  Formen.  Er  theilt  80  klinische 
Beobachtungen  mit,  welche  nach  Alter,  Geschlecht,  ätiologischen  Complicationen 
(Heredität,  Alcoholismus,  Lues  etc.),  Art  des  Traumas,  Symptomen  und  nach  dem 
Verlauf  und  Ausgang  der  Erkrankung  in  übersichtlichen  Tabellen  verarbeitet  sind. 
Diese  Zusammenstellung  ist  sehr  anerkennenswerth  und  man  wird  sich  aus 
dm  Tabellen  mit  Leichtigkeit  ein  Urtheil  über  den  Stand  der  Frage  nach  den 
verschiedenartigen  Formen  der  traumatischen  Psychosen  bilden  können,  um  so  mehr 
als  einzelne  Fälle  recht  prägnante  Typen  darstellen.  Es  muss  aber  leider  befiremden, 
dass  Verf.  den  traumatischen  Psycho-Neurosen,  der  traumatischen  Hysterie,  Neur- 
asthenie, Hypochondrie  in  dieser  Arbeit,  die  sich  doch  lediglich  mit  den  psychischen 
Veränderungen  nach  Trauma  beschäftigt,  gar  keinen  Platz  gegönnt  hat. 

Brodmann -Jena. 

■ 

65.  Valude,  Quelques  phenomenes  hysteriques  oculaires  traites 
par  la  Suggestion   therapeutique.  —  Bev.  de  Thypnot.  11.    No.  6.    1896. 

Verf.  theilt  4  Fälle  von  hysterischen  Augenstörungen  mit,  von  denen  3  durch 
larvirte  Suggestionen  geheilt  worden  waren. 

1.  Fall:  20 jähr.  Dienstmädchen  erblindet  nach  einem  leichten  Schlag  auf  das 
rechte  Auge  fast  total  auf  dem  Auge:  nur  Lichtschein;  daneben  besteht  Mydriasis 
und  leichte  Accommodationsparese.  Objectiv  nihil.  Prüfung  mit  Prismen  ergiebt 
Doppelbilder  des  angeblich  blinden  Auges.  Heilung  durch  Pseudooperation  (pointo 
de  feu)  und  mehrtägigen  Occlusivverband. 

2.  Fall:  13  jähr.  Kind,  Schlag  auf  das  Auge,  totale  Erblindung  mit  maximaler 
Mydriasis  (reactionslose  Pupille!).  Prismenprüfung  wie  im  Fall  1.  Belehrungs- 
versuch erfolglos.  Verdacht  auf  Simulation.  (Ref.  vermag  den  Zusammenhang  der 
genannten  Symptome  mit  Simulationsverdacht  nicht  zu  ergründen.) 

3.  Fall:  Doppelseitige  hysterische  Ptosis  bei  einem  16 jähr.  Mädchen  ohne 
jede  auffindbare  Ursache,  ganz  plötzlich  entstanden ;  kein  Blepharospasmus.  Heilung 
durch  Wasserinstillationen  und  Occlusivverband. 

4.  Fall:  Ein  16  jähr.  Mädchen,  das  wegen  Symblepharon  operirt  werden  soll, 
bekommt  während  der  Beobachtungszeit  spontane  Blutungen  in  den  Conjunctival- 
sack.  Kein  Trauma,  Menses  nicht  sistirt.  Diagnose :  blutige  Thränen  auf  hyste- 
rischer Grundlage.    Heilung  unter  Occlusivverband.  Brodmann- Jena. 

66.  Claudej  Troubles  oculaires  d'origine  hysterique.  —  Revue  de 
l'hypnotisme  10.    1897. 

Eine  29 jähr.  Frau  zeigt  nach  einem  apoplectiformen  Anfall:  rechtsseitige 
Hemiparese  und  Hemianästhesie,  doppelseitige  Augenstörungen  und  eine  Reihe 
hysterischer  Stigmata.  An  den  Augen  bestand  rechts :  vorübergehende  Amblyopie, 
Dyschromatopsie  und  monoculäre  Diplopie,  dauernd  reflectorische  Pupillenstarre; 
links:  vorübergehend  Amblyopie,  dauernd  Mydriasis  mit  völligem  Fehlen  der  Licht- 
reaction  und  Abschwächung  des  Accommodationsreflexes.  Veränderung  der  Pupillen 
trat  ein  unter  Atropin-  und  Eserin Wirkung  sowie  im  hypnotischen  Schlaf.  Diagnose: 
Hysterie.  Möglichkeit  einer  Combination  von  Hysterie  mit  einer  vorübergehenden 
organischen  Läsion.  ßrodmann-Jena. 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie.  15 

B7.  Dr,  8,  Sander-Hamburg  (Städtisches  Krankenhaus),  Ueber  Augen- 
maskelstörungen  bei  Hysterie.  —  Nach  einem  Vortrage  gehalten  auf  dem 
m.  Gongresse  mitteldeutscher  Psychiater  und  Neurologen  1.  Mai  1898  in  Jena. 

Vortragender  giebt  zunächst  einen  kurzen  Ueberblick  über  die  versehiedenen, 
den  hysterischen  Bewegungsstörungen  des  Auges  zu  Grunde  gelegten  theoretischen 
Anschauungen.  Als  ein  relativ  einfaches  und  zur  kritischen  Beleuchtung  des  frag- 
lichen Problems  vorwiegend  geeignetes  Gebiet  bezeichnet  er  die  hysterische  Ptosis ; 
er  beschränkt  sich  deshalb  in  seinen  Ausführungen  auf  die  bei  Hysterie  vorkommen- 
den Bewegungsstörungen  an  den  Lidern  und  glaubt,  dass  man  an  der  Hand  der- 
selben sehr  wohl  im  Stande  sei,  einige  alte  Streitfragen  zu  entscheiden. 

Aus  der  sehr  reichhaltigen  Literatur  über  hysterische  Ptosis,  über  .welche 
Vortr.  eingehend  referirt,  sollen  hier  nur  einige  wichtigere  Arbeiten  hervorgehoben 
werden.  Vortr.  erwähnt,  dass  Hodge  schon  1871  Ptosis  bei  einem  16 jähr,  hyste- 
rischen Mädchen  in  einer  electrischen  Sitzung  heilte,  dass  Dorval  1884  durch 
Suggestion  spastische  Ptosis  erzeugen  konnte,  dass  Zehnder  durch  Jodpinselung 
einen  Blepharospasmus  beseitigte  und  gleichzeitig  eine  echte  Ptosis  erzeugte,  die 
nachher  einer  Kaltwasserbehandlung  wich;  er  geht  dann  ferner  auf  die  Theorie 
Oharcot's  ein,  der  jede  hysterische  Ptosis  als  einen  spastischen  Zustand  erklärte, 
citirt  die  von  Pausier  aufgestellten  Formen  der  hysterischen  Ptosis  (tonischer, 
clomscher  und  pseudoparalytischer  Blepharospasmus),  bespricht  die  umfangreichen 
Mittheilungen  von  Nonne  und  Beselln^),  den  Fall  von  Hitzig^)  und  schhesslich 
die  Monographie  von  Schmidt-Rimpler,  welch  letzterer  bei  einem  16jährigen 
Mädchen  eine  nicht  spastische  Ptosis  sah,  die  durch  Druck  auf  bestimmte  Punkte 
momentan  verschwand  und  durch  Hypnose  zur  dauernden  Heilung  gelangte. 

Vortragender  selbst  bekam  8  Fälle  von  hysterischer  Ptosis  zu  Gesicht  und 
theilt  diese  Beobachtungen  an  der  Hand  von  sehr  characteristischen  photographischen 
Nachbildungen  mit. 

Sechs  Fälle  von  S.  entsprechen  der  von  Charcot  aufgestellten  spastischen 
Form  der  hysterischen  Ptosis.  Als  kennzeichnendes  Merkmal  dieser  Form  sieht 
man,  dass  der  freie  Rand  des  unteren  Lides  an  dem  erkrankten  Auge  höher  steht 
und  gerader  verläuft  als  an  dem  gesunden ;  ferner  sind  in  allen  Fällen  deutlich  die 
Ton  Charcot  beschriebenen,  den  Lidrändem  parallel  verlaufenden  Querfältchen 
zu  erkennen.  In  2  Fällen  ist  ausserdem  ein  Tieferstehen  der  einen  Augenbraue  zu 
constatiren;  es  ist  also  hier  die  epitarsale,  peritarsale  und  orbitale  Partie  des 
Orbicularis  contrahirt,  während  in  den  4  anderen  Fällen,  wo  keine  Differenz  der 
Augenbrauen  vorhanden  ist,  nur  ein  Spasmus  der  epitarsalen  Partie  besteht. 

In  2  weiteren  Fällen  schliesslich,  welche  Vortragender  an  Abbildungen  de- 
monstrirt,  handelt  es  sich  um  exquisit  schlaffe  Ptosis  auf  hysterischer  Grundlage. 
Es  war  hier  gleichzeitig  eine  dauernde  Differenz  in  dem  Grade  der  Ptosis  auf 
beiden  Augen  vorhanden.  Damit  ist,  nach  Ansicht  S.*s,  auch  die  Behauptung  von 
Schmidt-Bimpler  vnderlegt,  dass  die  hysterische  Ptosis  auf  ein  einfaches,  will- 
kürliches Erschlaffen  des  Levator  palpebr.  zurückzuführen  sei.  S.  bestreitet  die 
Möglichkeit,  dauernd  einen  Lidheber  mehr  erschlaffen  zu  lassen  als  den  anderen. 

Vortr.  behauptet  also,  in  üebereinstimmung  mit  Hitzig,  Schmidt-Rimpler 


^)  Nr.  31  dieser  Zusammenstellung. 
')  Nr.  32  dieser  Zusammenstellung. 


16  ZnsammenBielluzig  der  Idteratnr  über  Hysterie. 

u.  A.,  dass  es  2  Formen  des  Geschlossenseins  der  Lider  bei  Hysterie  gebe:  eine 
schlaffe  und  eine  spastische  Form,  and  er  schliesst  sich  in  der  Erklärung  dieser 
beiden  Formen  Hitzig  an,  welcher  dieselben  entweder  als  den  Ausdruck  eines 
Reizzustandes  oder  in  seltenen  Fällen  als  Zeichen  einer  Lähmung  auffasst. 

Zum  Schlüsse  bespricht  Vortr.  noch  in  Kürze  die  Frage  der  hysterischen 
Pupillenstörungen.  Er  stellt  das  Vorkommen  einer  echten  hysterischen  Lichtstarre 
der  Pupillen  mit  Mydriasis  in  Abrede,  dagegen  giebt  er  zu,  dass  eine  reflectorische 
Pupillenstarre  durch  einen  langdauemden  Spasmus  Iridis,  wie  ihn  Vortr.  selbst  bei 
Hysterie  beobachtet  hat,  vorgetäuscht  werden  könne.  Die  Mydriasis  der  Hyste- 
rischen dagegen  möchte  er  stets  auf  eine  Complication  mit  einem  organischen 
Nervenieiden  oder  auf  Täuschung  zurückführen.  Li  2  Fällen  war  es  dem  Vortr. 
auch  gelungen,  den  Gebrauch  eines  Mydriaticums  nachzuweisen. 

Reflectorische  Pupillenstarre  im  hysterischen  Anfall  ist  nach  Ansicht  Sang  er 's 
«benfalla  nicht  sicher  erwiesen.  Ein  Fall,  den  er  selbst  beobachtete,  lässt  eine 
Combination  mit  Epilepsie  nicht  mit  Sicherheit  ausschliessen. 

Aus  der  sehr  anregenden  Discussion,  die  sich  an  den  Vortrag  anschloss,  sei 
heryorgehoben,  dass  Oppenheim  auf  seinen  früher  veröffentlichten  Fall  von  echter 
hysterischer  Ptosis  mit  totaler  Amaurose  und  mit  Convergenzkrampf  zurückkam; 
und  bezüglich  der  bei  Hysterischen  vorkommenden  reflectorischen  Pupillenstarre 
zur  äussersten  Vorsicht  mahnte.  O.  selbst  hat  15  Fälle  beobachtet,  in  denen  die 
Lichtstarre  der  Pupillen  ausnahmslos  auf  Lues  oder  beginnende  Tabes  oder  pro- 
gressive Paralyse,  nie  auf  die  Hysterie  selbst  zurückzuführen  war.  Bruns  giebt 
das  Vorkommen  einer  schlaffen  hysterischen  Ptosis  zu,  erklärt  dieselbe  aber,  identisch 
wie  Schmidt-Rimpler,  nur  als  ein  passives  Herabfallenlassen  des  Oberlides. 
Hysterische  Mydriasis  mit  reflectorischer  Pupillenstarre  leugnet  £.  stricte.  Stintzing 
theilt  einen  Fall  von  unzweifelhaft  schlaffer  Ptosis  auf  hysterischer  Grundlage  mit, 
die  sicherlich  von  einer  willkürlichen  Mitwirkung  seitens  der  Patientin  gänzlich 
unabhängig  war.  Möbius  hält  streng  an  seinem  Standpunkte  fest,  dass  es  keine 
hysterischen  Augenmuskellähmungen  gebe  und  dass  jede  isolirte  reflectorische 
Pupillenstarre  ein  Tabessymptom  sei.  Im  Schlusswort  weist  Sänger  noch  darauf 
hin,  dass  wir  angesichts  der  in  jüngster  Zeit  sich  mehrenden  aussergewöhnlichen 
hysterischen  Symptombilder  immer  mehr  an  dem  alten  Begriff  der  Hysterie  irre 
werden  müssten  und  dass  wir  vielleicht  in  Bälde  zu  einer  organischen  Interpretation 
mancher  hysterischer  Erscheinungen  gedrängt  würden.  Brodmann- Jena. 

68.  VedeleTj  Dysmenorrhoea  hysterica.  Arch.  f.  Gynaecologie.  Bd.54. 
1897.    pag.  324. 

Verf.  stellt  gegenüber  der  in  gynäkologischen  Kreisen  vorwaltend  vertretenen 
mechanischen  Theorie  der  Dysmenorrhoe,  welche  die  Ursache  des  dysmenorrhoischen 
Symptomcomplexes  lediglich  in  localen  Erkrankungen  der  Genitalorgane  sucht,  eine 
nervöse  auf;  er  geht  so  weit,  die  Dysmenorrhoe  als  ein  cerebrales  Leiden,  als  eine 
Theilerscheinung  der  Hysterie  zu  bezeichnen  und  bemüht  sich,  diesen  Standpunkt 
an  der  Hand  von  57  Krankheitsfällen,  von  denen  13  eine  eingehendere  Besprechung 
besonders  von  neurologisehen  Gesichtspunkten  aus  erfahren,  zu  begründen. 

Verf.  führt  als  wesentlichen  Grund  für  seine  Ansicht  an,  dass  die  Dysmenorrhoe 
zeitlich  mit  der  Menstruation  meist  gar  nicht  zusammenfalle,  dass  sie  vielmehr  fast 
stets  nachher  und  im  Begleit  anderer  hysterischer  Erscheinungen  einsetze.    Sie  ist 


ZnsammensteUong  der  Literatur  über  Hysterie.  17 

nicht  selten  das  Aeqniyalent  eines  Yollentwickelten  hysterischen  Anfalls  mit  Aura, 
tonischen  und  clonischen  Krämpfen.  Die  Schmerzen  sind  dabei  gewöhnlich  nicht 
mit  Blutaustritt  verbunden,  sondern  letzterer  kommt  erst  mit  dem  Nachlassen  der 
Schmerzen.    Ausnahmsweise  ist  der  Verlauf  ein  umgekehrter. 

In  der  Zwischenzeit  zwischen  den  Menses  bestehen  bei  80^/0  aller  Kranken 
theils  manifeste,  theils  latente  Anzeichen  einer  hysterischen  Neurose,  locale  und 
allgemeine  Beschwerden  der  yerschiedensten  Art. 

Therapeutisch  empfiehlt  Verf.,  ganz  im  £inklang  mit  seiner  Theorie,  aus- 
schliesslich eine  Behandlung  des  hysterischen  Allgemeinleidens  und  zwar  eine 
psychische  Behandlung  in  einer  Anstalt.  Brodmann -Jena. 

69.  Weir  Mitcheüy  The  relations  of  neryons  disorders  in  women 
to  pelyic  disease.  —  Uniy.  med.  Magaz.  IX.    1897.    pag.  389. 

Aus  den  sehr  interessanten  Ausführungen  des  heryorragenden  Neurologen 
können  wir  hier  nur  die  auf  die  Hysterie  bezüglichen  berücksichtigen. 

Verf.  stellt  einen  directen  caasalen  Zusammenhang  der  Hysterie  (wie  anderer 
Nervenerkrankungen)  mit  Genitalaffectionen  in  Abrede.  Die  Hysterie  ist  kein 
Genitalleiden,  sie  ist  vielmehr  das  Product  anderer  primärer  schädigender  und 
pradisponirender  Momente,  wie  der  HerediüLt,  socialer  Factoren  etc.;  dort  wo 
man  congenitale  Atrophien  und  Verkümmerungen  der  Genitalien  neben  Hysterie 
findet,  sind  beide  gleichwerthige  Symptome  ein  und  derselben  Grundursache,  einer 
allgemeinen  Entwickelungsstörung. 

Acceptirt  man  diese  Anschauung,  so  kann  man  eine  Berechtigung  zu  opera- 
tiven Eingriffen  an  den  Genitalien  bei  Hysterie  nicht  anerkennen,  vor  Allem  ist 
die  Laparatomie  nach  den  Erfahrungen  des  Verf.  und  nach  den  in  der  Literatur 
bekannt  gewordenen  Fällen  principiell  zu  verwerfen.  Die  Oophorectomie  nützt  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  nicht  nur  nichts,  sondern  sie  führt  eine  directe  Verschlech- 
terung des  nervösen  Zustandes  herbei.  In  den  spärlichen  Fällen,  in  denen  Erfolge 
berichtet  wurden,  ist  Suggestion  nicht  auszuschliessen. 

Als  besonders  beachtenswerth  sei  noch  die  Ansicht  des  Verfassers  hervor- 
gehoben, dass  Epilepsie  niemals  von  den  Genitalien,  weder  von  physiologischen 
noch  von  pathologischen  Vorgängen  an  denselben  ausgelöst  werden  könne  und  dass 
alle  sog.  epileptischen  Anfälle  dieser  Art  einfache  hysterische  Attaquen  seien. 

Brodmann- Jena. 

70.  Biemackij  Zur  Aetiologie  der  functionellen  Neurosen  (Hysterie 
und  Neurasthenie).    Neurolog.  Centralblatt  1898.    No.  6,  pag.  260  ff. 

Die  kleine  Abhandlung  vertritt  den  Gbrundgedanken,  „dass  der  pathogenetische 
Schwerpunkt  bei  functionellen  Neurosen  nicht  im  Nervensystem  liegen  kann**  und 
unternimmt  den  kühnen  Versuch,  das  Wesen  der  Hysterie  und  Neurasthenie  rein 
chemisch  zu  erklären. 

Verf.  hat  bei  der  Blutuntersuchung  von  Neurasthenikern  und  Hysterischen 
zufällig  eine  Veränderung  der  Blutsedimentirung  gefunden  in  dem  Sinne,  dass  das 
Blut  bei  Neurasthenie  sehr  langsam  sedimentirte  und  nur  ganz  wenig  Fibrin 
(l,7<^/go  statt  2®/m)  ausschied,  während  das  Blut  bei  Hysterie  abnorm  rasch  sedi- 
mentirte und  einen  Fibringehait  von  4^/oo  aufwies.  Umfangreiche  Controlunter- 
suchungen  an  ca.  60  ELrankheitsfäUen  haben  diese  Beobachtung  bestätigt  und  dem 
Zeitsdirift  fttr  Hypnotismiis  etc.    YIII.  2 


18  Zoiammeiistelliiiig  der  Liieratnr  über  Hysterie. 

Verf.  den  Beweis  gebracht,  dass  bei  Hysterie  und  Neurasthenie  der  Gehalt  an 
Fibrinogenen,  sowie  das  Verhältniss  der  Fibrinmenge  zur  Fibrinogenmenge  „oonstant 
abnorm**  sind. 

Verl  stellt  nun  ohne  nähere  Begründung  —  eine  solche  ist  übrigens  zuge- 
standenermaassen  heutzutage  gar  nicht  möglich  —  die  Behauptung  auf,  dass 
diese  oonstanten  Sedimentirungsbefnnde  die  specifischen  Veränderungen  und  die 
primären  Ursachen  des  hysterischen  resp.  neurasthenischen  Symptomcomplexes  seien ; 
sie  sind  nach  Ansicht  des  Verf.  der  Ausdruck  pathologischer  OxydationsYorgänge 
und  die  Hysterie  resp.  Neurasthenie  würden  demnach  „Erkrankungen  ganz  von 
demselben  Wesen  sein,  wie  die  Zuckerkrankheit,  Gicht,  krankhafte  Adipositas, 
überhaupt  pathologische  Zustände,  welche  auf  abnormen  Ozydationsprocessen  im 
Organismus  beruhen**.  Einen  indirecten  Beweis  für  die  Bichtigkeit  seiner  These 
sieht  Verl  darin,  dass  die  hystero-neurasthenische  Neurose  auch  secundär  als  Folge 
verschiedenartiger  Constitutionskrankheiten  auftreten  kann,  so  bei  Chlorose,  Gicht, 
Morbus  Basedowi  etc.  Die  subjectiyen  Beschwerden  bei  diesen  Erkrankungen,  so 
Ifihrt  der  Verf.  ans,  sind  die  Symptome  der  Hystero-Neurasthenie  und  die  chloro- 
tische  Neurose  ist  durch  nichts  zu  unterscheiden  von  einem  idiopathischen  hystero- 
neurasthenischen  Symptomcomplex. 

Referent  möchte  sich  einer  Kritik  der  vorgezeichneten  Hypothesen  enthalten,  so 
lange  nicht  eine  Bestätig^ung  der  behaupteten  „constanten  Sedimentirungsanomalien** 
von  anderer  Seite  stattgefunden  hat.  Als  erwähnenswerth  mag  nur  noch  hervor- 
gehoben werden,  dass  Verf  ein  Verständniss  der  Hysterie  auf  chemischem  Wege  für 
leichter  hält  als  auf  psychologischem;  so  sucht  er  z.  B.  das  Zustandekommen  hyste- 
rischer Symptome  durch  Autosuggestionen  in  der  Weise  zu  interpretiren,  dass  er 
kurzer  Hand  erklärt:  die  Froducte  der  hystero-neurasthenischen  Oxydation  modi- 
fieiren  die  Suggestibilitöt  in  analoger  Weise,  wie  der  Weingeist  den  Gang  der 
Associationen.  —  Damit  ist  allerdings  der  Schleier  der  Suggestion  wesentlich  gelüftet. 

Soweit  die  Theorien  des  Verf.!  Wie  es  mit  der  practischen  Erfahrung  des- 
selben bestellt  ist,  mag  der  Sachkundige  daran  erkennen,  dass  er  die  Hysterie  und 
Neurasthenie  für  „eigentlich  unheilbar**  hälL  Brodmann- Jena. 

71.  Ghiisy,  Dr.  BartheUmy^  Un  cas  d'anurie  hyst^rique  avec  elimi- 
nation  suppl^mentaire  d'ur^e  ayant  dur6  douze  jours  chez  une 
femme  hyst^rique  gu^rie  complStement.  Journal  de  neurologie  et  d^hypno- 
logie.    1898.    8. 

39  Jahre  alte  Wittwe  in  den  ärmlichsten  Verhältnissen,  welche  seit  dem  Tode 
ihres  Mannes  hysterische  Anfälle  mit  Convulsionen  und  Hallucinationen  hat.  Bei 
der  Nachricht  von  dem  Tode  des  Sohnes  erneuter  Anfall,  darnach  Parese  der 
Unterschenkel,  4 — 5  Tage  später  unstillbares  Erbrechen,  Verminderung  der  Urin- 
menge, der  nur  alle  2  oder  3  Tage  gelassen  wird,  jedes  Mal  etwa  nur  eine  Kaffee- 
tasse voll.  Am  8.  Tage  starker  Katarrh  mit  Ausfluss  einer  gelblichen,  nach  Urin 
riechenden  Flüssigkeit  aus  Nase,  Augen,  Ohren  und  Vagina. 

Verf.  findet  am  9.  Tage  eine  blasse,  anämische  Kranke  mit  halboffenem  Munde, 
der  weder  weiter  geöffnet,  noch  geschlossen  werden  kann,  Augen-  und  Nasenschleim- 
haut sind  congestionirt,  geschwollen  und  geröthet  Von  ihnen  herab  und  ebenso 
aus  den  Ohren  fliesst  unaufhörlich  eine  serumartige,  etwas  trübe,  ammoniakalisch 
riechende  Flüssigkeit,  deren  Analyse  einen  Gehalt  an  reinem  Harnstoff  von  3,64  ®/o 


ZoBammenstelliing  der  Idterator  über  Hysterie.  19 

auf  ein  Liter  ergiebt.  Ebenso  enthält  das  Erbrochene  Harnstoff.  Seit  9  Tagen 
will  sie  nur  etwa  ein  halbes  Weinglas  Urin  gelassen  haben.  Mit  dem  Katheter 
wird  nur  eine  ganz  minimale  Menge  aus  der  Blase  entleert.  Es  besteht  weder 
Schweissaosbruoh  noch  Diarrhoe. 

Ausserdem  wurde  beobachtet  Parese  der  Extremitäten,  besonders  der  linken, 
Anästhesie  des  Gesichts,  des  Nackens,  der  Ohren;  Hyperästhesie  der  Stirn  und  der 
behaarten  Kopfhaut;  unvollständige  Anästhesie  der  Glieder  an  der  Vorderseite, 
ebenso  inselförmige  Stellen  an  der  Vorderseite  des  Bumpfes.  Normal  war  die 
Sensibilität  der  glänzen  Rückseite. 

Im  Verlaufe  der  Behandlung  hörte  das  Erbrechen  auf,  die  Sensibilitäts-  und 
Motilitätsstörungen  gingen  zurück,  die  Urinmenge  begann  sich  allmählich  zu  heben, 
nach  14  Tagen  6 — 600  gr;  die  Kranke  wurde  mit  einer  Urinmenge  von  1000  gr 
entlassen. 

Verf.  wirft  dann  die  Frage  auf,  wie  man  sich  die  Erscheinimg  der  hysterischen 
Anurie  erklären  könne  und  wie  denn  die  Ausscheidung  des  Harnstoffs  durch  Magen, 
Naae  etc.  zu  Stande  komme.  Die  Erklärung  des  Verf.  ist  jedoch  sehr  oberflächlich 
«md  berührt  nur  die  allerselbstverstimdlichste  Seite  der  ganzen  Frage.  Denn  was 
bietet  uns  der  Verf.  denn  Neues,  wenn  er  erklärt,  eine  Gemüthserregung  setzt  auf 
reflectorischem  Wege  das  vasomotorische  Gentmm  im  Rückenmark  in  Thätigkeit, 
das  auf  den  Bahnen  des  Sympathicus  eine  Zusammenziehung  der  renalen  Gefässe 
und  damit  ein  Stocken  der  Urinausscheidung  bewirkt.  Der  im  Blut  zurückgehaltene 
und  sich  häufende  Harnstoff  regt  nun  andere  Drüsen  und  die  Schleimhäute  zur 
Hypersecretion  an  und  wird  von  diesen  ausgeschieden.  Diese  physiologische  Seite 
der  Vorgänge  ist  ja  eine  längst  bekannte  Thatsache,  viel  wichtiger  und  der  Er- 
klärung bedürftig  ist  dagegen  das  psychische  Moment  des  ganzen  Vorgangs,  die 
Frage,  wie  ist  es  überhaupt  möglich,  dass  ein  psychischer  Vorgang  einen  so  ein- 
schneidenden Einfluss  auf  die  Function  eines  Organes  ausüben  kann,  und  wie  kommt 
es,  dass  im  vorliegenden  Falle  von  Hysterie  sich  dieser  Einfluss  gerade  auf  die 
Nieren  und  nicht  auf  jede  andere  beliebige  Drüse  geltend  macht.  Diese  Fragen 
werden  vom  Verf.  überhaupt  nicht  angeworfen.  Tecklenburg-Leipzig. 

72.  «7.  Crocq  fila  et  Q,  MarUno,  Un  cas  d'apoplexie  hystörique  ayant 
simul^  ä  s'y  m^prendre  une  apoplexie  protub^rantielle  avec  Syn- 
drome de  Millard-Gubler.    Journal  de  neurologie  et  d'hypnologie.    1898.    9. 

Verf.  will  im  Gegensatz  zu  anderen  Autoren,  besonders  Achard,  die  Be- 
zeichnung als  hysterische  Apoplexie  nur  auf  diejenigen  Fälle  angewandt  wissen,  in 
denen  den  Lähmungserscheinungen  „ein  plötzlicher  Verlust  des  Bewusstseins,  der 
Sensibilität  und  Motilität,  ohne  wesentliche  Veränderung  der  respiratorischen  und 
ciroulatorischen  Functionen*'  vorausgegangen  ist,  sonst  mtisste  man  die  Uuzahl  von 
hysterischen  LÄhmungen,  die  alle  mehr  oder  weniger  plötzlich  entstanden  sind, 
ebenfalls  dazu  rechnen.  Die  hysterische  Apoplexie  kommt  vor  bei  Männern  und 
Frauen,  sie  bevorzugt  das  mittlere  Lebensalter;  oft  gehen  ihr  andere  hysterische 
Erscheinungen  voraus,  oft  ist  sie  die  erste ;  manchmal  hat  sie  Prodrome,  manchmal 
keine;  oft  tritt  sie  nach  Gemüthsbewegungen  auf,  oft  ohne  jede  ersichtliche  Ursache. 
Der  Kranke  stürzt  plötzlich  zusammen  mit  völliger  Bewusstlosigkeit  und  all  den 
Erscheinungen,  die  auch  bei  der  organischen  Apoplexie  vorkommen,  nur  soll  nach 
frfiheren  Autoren  das  Athmen  nicht  stertorös,  das  Gesicht  nicht  congestionirt  sein, 

2* 


20  Znsammenstellaiig  der  Literstar  über  fiyiterie. 

sondern  den  Aasdmck  des  mhigfen  Schlafes  haben.  Die  Tjahninng  kann  eine  nn-» 
vollständige  sein,  dagegen  ist  immer  eine  flemianästhesie  sn  beobachten.  Die 
Facialisparese,  die  entweder  auf  der  der  Extremitätenlähmnng  entsprechenden  oder 
entgegengesetzten  Seite  sitzt,  wird  nur  yorgetänscht  dnrch  den  von  Charcot  be- 
schriebenen Spasmus  glosso-labialis  der  anderen  Seite.  Bei  rechtsseitigem  Sitz  der 
Hemiplegie  kann  vorübergehende  Aphasie  beobachtet  werden. 

Bei  Stellung  der  Differenzialdiag^ose  ist  zu  achten  auf  eventuelle  hysterische 
Antecedentien,  Alter,  Syphilis,  Atherom,  Herzfehler,  etwaige  vorhergehende  Gemüths* 
erregungen,  Eintritt  des  Anfalls  selbst,  auf  die  Symptome  von  Seiten  des  Circa» 
lations-  und  Kespirationssystems.  Hierbei  hebt  Verf.  hervor  im  Gegensatz  zu  der 
nach  anderen  Autoren  gegebenen  obigen  Symptomatologie,  dass  die  Diagnose  noch 
erschwert  werden  kann  wie  in  seinem  Fall,  in  dem  das  Gesicht  stark  congestionirt^ 
die  Kespbation  geräuschvoll  schnarchend  und  ausgesprochen  stertorös  war.  Wesent- 
lich erleichtert  wird  die  Differenzialdiagnose,  sobald  der  Elranke  wieder  zum  Be- 
wusstsein  gekonmien  ist.  Die  Pseudoparalyse  des  Facialis  lässt  sich  dann  daran 
erkennen,  dass  in  der  spastischen  Musculatur  der  anscheinend  gesunden  Gesichta- 
hälfte  kleine  Zuckungen,  in  der  anscheinend  gelähmten,  dagegen  ganz  normal» 
Bewegungen  bei  mimischer  Anregung  auftreten.  Femer  tritt  dann  das  Vorhanden- 
sein der  Hemianästhesie  und  des  epigastrischen  Reflexes  hervor,  die  bei  den  or- 
ganischen Apoplexien  gewöhnlich  fehlen.  Das  Verhalten  des  Facialis  kann  eine 
Hemiplegia  altemans  vortäuschen. 

Der  vom  Verf.  beobachtete  Fall  betrifiFt  eine  Frau  von  23  Jahren.  Sie  ist 
belastet,  hat  vor  einem  Jahre  schon  hysterische  Delirien  gehabt,  war  dann  acht 
Monate  gesund.  Sechs  Wochen  vor  dem  Fintritt  ins  Hospital  (am  11.  Februar) 
plötzlich  Astasie- Abasie,  Verfolgungs-  und  Suicidalideen,  Fehlen  der  Patellarreflexe, 
Einengung  des  Gesichtsfeldes.  Verschwinden  sämmtlicher  Erscheinungen  in  wenigen 
Tagen,  dafür  aber  Auftreten  von  grossen  hysterischen  Anfällen,  welche  unter 
hypnotischer  Behandlung  bald  verschwinden,  bald  wieder  auftreten.  Am  1.  April 
fällt  die  Kranke  plötzlich  zusammen,  bewusstlos,  Gesicht  stark  congestionirt,  die 
Glieder  schlaff,  linke  Seite  gelähmt,  Gesicht  nach  links  gewendet,  der  rechte  Mund-^ 
winkel  scheint  herabzuhängen,  die  Furchen  und  Falten  der  Haut  erscheinen  un- 
deutlicher als  links.  Die  Respiration  ist  stertorös,  hebt  und  öffnet  den  rechten 
Mundwinkel,  die  Zunge  fällt  nach  hinten  und  muss  wegen  der  Respirationshindening^ 
vorgezogen  werden.  Urin  und  Stuhl  zurückgehalten,  vollständige  Anästhesie.  Die 
Erscheinungen  bleiben  fast  dieselben  bis  zum  4.,  nur  tritt  eine  Contractur  im  Beine 
auf  in  halber  Flexionsstellung.  Dann  kehrt  das  Bewusstsein  zurück,  die  Athmung 
wird  leichter»  Schlucken  und  Sprechen  sind  jedoch  noch  unmöglich,  Zuckxmgen  in 
der  spastischen,  normale  Bewegungen  in  der  anscheinend  paralytischen  Gesichts- 
hälfte, Anästhesie  der  linken  Seite  ausser  im  Gesicht,  Ovarie.  Bis  zum  25.  April 
sind  allmählich  alle  Erscheinungen  verschwunden  und  die  Kranke  wird,  ohne  wieder 
einen  Anfall  gehabt  zu  haben,  entlassen. 

Verf.  ist  der  Ansicht,  dass  erst  am  dritten  Tage  die  Diagnose  auf  hysterische 
Apoplexie  gegenüber  einer  organischen  bulbären  Apoplexie,  einer  hemiplegia  altemans 
zu  stellen  war  und  zwar  auf  Grund  der  folgenden  Erscheinungen :  1.  Der  schnellen 
Besserung ;  2.  des  Auftretens  von  spasmodischen  Oontractionen  in  der  contracturirten 
Gesichtshälfte ;  3.  der  normalen  Contractionen  auf  der  pseudoparalytischen  Gesichts- 
leite  beim  Lachen;  4.  der  Anästhesie;  5.  der  Ovarie;  6.  der  Contractur  der 
unteren  Extremität.  Tecklenburg-Leipzig. 


ZuiAmmenftellang  der  Literatur  über  Hysterie.  21 

73.  P.Sottier,  Gendse  et  natare  de  l'hy8t§rie.  2  Bände.  526  u.  333  S. 
Paris  1897.    F^lix  Alcan. 

Der  erste  Band  enthält  die  theoretischen  Ansführong^n  des  Verf.,  der  zweite 
bringt  zur  Erhärtung  seiner  Ideen  20  Beobachtungen.  Verf.  fasst  die  ersteren  am 
Ende  des  1.  Bandes  foigendermaassen  zusammen: 

„Die  Hysterie  ist  eine  functionelle  materielle  Erkranku  ng  des 
Oehirnes,  die  in  einem  looalisirten  oder  allgemeinen,  Torüber- 
gehenden  oder  dauernden  Schlaf  (engourdissement  ou  sommeil) 
Ton  Hirncentren  besteht  und  je  nach  den  ergriffenen  Centren 
Tasomotorische,  trophische,  viscerale,  sensorielle  oder  sensible, 
motorische  oder  psychische  Erscheinungen  zur  Folge  hat  und  je 
nach  ihren  Variationen,  ihrer  Intensität  und  Daner  sich  durch 
Tornbergehende  Anfälle,  dauernde  Stigmata  oder  Faroxysmen 
äussert.  Die  Hysterischen  sind  Vigilambule,  deren  Sohlafznstand 
mehr  oder  weniger  tief,  mehr  oder  weniger  ausgedehnt  ist.** 

Diese  Zusammenfassung  seiner  Ausfuhrungen  von  Seiten  des  Verf.  enthält 
zunächst  —  das  sei  gleich  hier  hervorgehoben  —  nichts  über  die  Genese,  sondern 
ausschliesslich  Aeusserungen  über  die  Natur  der  hysterischen  Erscheinungen. 

Wenn  nun  Verf.  glaubt,  der  Erste  gewesen  zu  sein,  der  hysterische  Bewusst- 
aeinszustände  auf  Schlaf hemmungen  zurückgeführt  habe,  so  irrt  er  sich  entschieden. 
Diese  Ansicht  hat  z.  B.  Ref.  bereits  seit  Jahren  vertreten.^) 

Wenn  Verf.  dann  weiter  glaubt,  durch  Zurückfuhrung  der  hysterischen  Be- 
wnsstseinszustände  auf  Schlafhemmungen  die  bisherigen  psychologischen  Theorien 
^durch  eine  physiologische**  zu  überbieten,  so  ist  dazu  Folgendes  zu  bemerken. 
Wohl  jeder,  der  in  den  letzten  Decennien  eine  wichtige  Arbeit  über  die  Hysterie 
veriasst  hat,  stand  auf  einem  psychophysiologischen  Standpunkt.*)  Er  hat  deshalb 
much  immer,  wo  er  in  der  Hysterie  psychische  Veränderungen  constatirte,  das 
\gleichzeitige  Vorhandensein  materieller  Abnormitäten  als  selbstverständlich  v^oraus- 
gesetzt.  Wenn  nun  der  Verf.  die  materiellen  Abnormitäten  unter  den  Begriff  des 
Schlafes  zusammenfasst,  so  bezeichnet  er  damit  die  materielle  Natur  dieser  Abnor- 
miUiten  durchaus  nicht  näher.  Denn  wir  kennen  die  physische  Ghnmdiage  des 
•43chlafes  nicht.  Die  Schlafhemmung  können  wir  nur  näher  psychologisch  definiren.') 
Der  Begriff  „Schlaf  ist  also  vorläufig  wesentlich  nur  ein  psychologischer  Begriff. 
Nun  hat  aber  —  das  wird  aus  den  weiteren  Ausführungen  hervorgehen  —  der 
Verl  den  Begriff  der  Schlafhemmung  nicht  einmal  in  der  Schärfe  angewandt,  die 
wir  ihm  vom  psychologischen  Standpunkt  aus  geben  können.  So  kann  Bef.  in  den 
Sohlussfolgerungen  des  Verf.  nicht  nur  nicht  bezüglich  unserer  Kenntniss  von  der 
materiellen  Grundlage  der  Hysterie  einen  Fortschritt  sehen,  sondern  er  kann  in 
ihnen  überhaupt  keine  wesentliche  Vertiefung  der  Hysteriefrage  erblicken. 

')  ^S^'  2.  B.  Vogt,  Zur  Kenntniss  des  Wesens  und  der  psychol.  Bedeutung 
des  Hvpnotismus.    Diese  Ztsclir.,  Bd.  III,  pag.  326,  Anm.  4. 

^  Wenn  Verf.  gelegentlich  Bd.  I,  pag.  260  erklärt,  dass  selbst  die  Physio- 
Pkychologen  aus  dem  „Gedanken**  ein  „rhänomen  besonderer  Art**  machten,  »das 
mäk  selbst  bestimmt  und  sich  beinahe  ausserhalb  des  Organismus  offenbart**,  so 
beweist  Verf.  damit,  dass  er  die  Lehre  der  „Physio-Fsychologen**  einfach  nicht  ver- 
standen hat. 

*)  Vgl.  O.  Vogt,  lieber  die  Natur  der  suggerirten  Anästhesie.  Diese  Ztschr., 
Bd.  VU,  pag.  33651 


22  Zoiftinmenitellong  der  Literatur  über  Hysterie. 

Verf.  geht  yon  den  retrograden  Amnesien  der  Hysterischen  aus.  Diese  rufen 
in  dem  Beobachter  den  Gedanken  wach,  als  ob  die  Hysterischen,  „seit  Jahren  ein- 
geschlafen^, beim  Aufhören  der  Amnesien  „erwachten**,  indem  sie  glaobten  daa 
Datum  zu  haben,  an  dem  sie  „eingeschlafen**  waren.  Weiter  fuhrt  Verf.  dann  aas, 
dass  überhaupt  die  Beobachtung  des  ganzen  Ghebahrens  der  Hysterischen  in  uns 
die  Idee  hervorrufen  muss,  dass  wir  „somnolente**  Personen  in  den  Hysterischen 
vor  uns  haben. 

Verf.  geht  dann  des  Naheren  auf  einen  für  ihn  sehr  wichtigen  Punkt  ein: 
auf  die  Insomnie  der  Hysterischen.  Er  hebt  in  einer  dem  Bef.  allerdings  etwas 
za  weit  gehenden  Weise  die  bisher  klinisch  sehr  vernachlässigte  Thatsache  hervor, 
dass  die  Hysterischen  constant  Störungen  ihres  Nachtschlafes  zeigen.  Diese  Insomnie 
will  Verf.  nun  dadurch  erklären,  dass  die  Hysterischen  bereits  in  einem  patho- 
logischen Schlafznstand  sich  befänden  und  sie  doch  nicht  zwei  Mal  auf  ein  Hai 
schlafen  könnten.  Es  wird  wohl  Niemand  eine  solche  Erklärung  anerkennen.  Wo 
immer  der  normale  Schlafzustand  eintritt,  muss  der  vorhergehende  Bewusstseins- 
zustand  diesem  weichen.  Beim  normalen  Menschen  weicht  das  Wachsein  dem 
Sohlafzustand.  Bei  dem  Neurastheniker,  der  an  Insomnie  leidet,  weicht  das  Wach- 
sein nicht  einem  solchen  Schlafzustand.  Ist  deshalb  das  Wachsein  des  Neurasth^ 
nikers  ein  Schla£sustand?  Dieselbe  Frage  lässt  sich  aber  für  das  hysterische  Be- 
wusstsein  wiederholen.  Ja  wir  können  sogar  einen  Schritt  weitergehen.  Wenn  wir 
erst  oberflächlich  schlafen  und  dann  allmählich  tiefer  einschlafen,  so  beruht  daa 
doch  darauf^  dass  die  Schlafhemmung  sich  ausdehnt  und  vertieft.  Wenn  nun  der 
Hysterische  eine  solche  circumscripte  Schlafhemmung  hat:  warum  dehnt  diese  sich 
Nachts  nicht  zu  dem  Zustand  eines  allgemeinen  tiefen  Schlafes  aus?  Hier  scheint 
dem  Ref.  das  Problem  der  hysterischen  Insomnie  zu  liegen.  Für  diese  Frage- 
stellung finden  wir  aber  keine  Antwort  beim  Verf. 

Im  Gegensatz  zu  dieser  Insomnie  ist  dann  aber  die  leichte  Hypnotisirbarkeü 
mancher  Hysterischer  hervorzuheben.  Hier  konnte  sich  Verf.  dann  aber  vollständig 
überzeugen,  dass  es  der  „einfache  und  reine  hypnotische  Somnambulismus**  war, 
den  er  erzielte,  nie  aber  der  natürliche  Schlaf.  Verf.  macht  darüber  keine  detail- 
lirten  Angaben.  Er  giebt  seine  Hypnotisirmethode  nicht  an.  Dass  er  seinerseits 
bei  seinen  Hypnotisirversuchen  spontane  Somnambulien  und  ähnliche  Zustände  aus- 
gelöst hat,  ist  sehr  gerne  möglich.  Verf.  fügt  —  das  sei  hier  nur  nebenbei  bemerkt 
—  hier  und  da  eine  Bemerkung  über  den  Hypnotismus  hinzu.  Daraus  geht  hervor 
dass  Verf.  durchaus  nicht  auf  diesem  Gebiete  zu  Hause  ist.  Wir  wollen  deshalb 
auch  seinen  Bemerkungen  keine  weitere  Beachtung  schenken. 

Verf.  stützt  dann  des  Weiteren  seine  Anschauung,  dass  die  Hysterie  einen 
Schlafisustand  darstelle,  darauf,  dass  es  ihm  gelungen  ist,  durch  den  in  der  Hypnose 
gegebenen  einfachen  Befehl,  zu  erwachen,  eine  vollständige  Heilung  von  Hysterien 
mit  den  mannigfaltigsten  Symptomen  zu  erzielen.  Da,  wo  er  nicht  sofort  eine 
Beseitigung  aller  Symptome  erreichte,  ist  er  dann  zum  partiellen  „Erwecken*' 
der  noch  bestehenden  Schlafzustände  übergegangen.  Als  Mittel  dazu  dienten  dem 
Verf.  1.  weitere  Befehle  in  der  Hypnose,  2.  eine  Fixation  der  Au&nerksamkeit  auf 
die  schlafenden  Bewusstseinselemente  durch  Worte  oder  durch  mechanische  Reize 
und  3.  die  Isolirung,  über  deren  Wirkungsweise  Verf.  sich  nicht  äussert.  Dass  die 
unter  2  genannten  Mittel  durch  Erwecken  wirkten,  ging  daraus  hmror,  dass  sie 
ganz  dieselben  Reaotionen  hervorriefen,  wie  der  Befehl,  zu  erwachen.   So  ist  der  er- 


Zusammezutellimg  der  Idterator  über  Hyiterie.  83 

reichte  therapeatische  Erfolg  dem  Verf.  yon  Neuem  eine  StütM  for  leiae  Anffassimg 
der  Hysterie  als  eines  Schla£Enstandes. 

„Aus  einer  Hypnose  erweckt"»  so  berichtet  Verl  in  seiner  1.  Beobaohtnng 
(Bd.  n,  pag.  T)f  „frage  ich  M.  plötzlich:  »Wenn  Sie  am  Tage  nmhergehen  und 
arbeiten,  schlafen  Sie  dann  oder  wachen  Sie?<  Sie  sieht  mich  an,  zögert  und  ant- 
wortet: »Ich  weiss  nicht;  ich  bin  immer,  als  wenn  mir  alles  eigeschlafen  wäre  (je 
suis  toujours  comme  engourdie).«  »Also«,  antworte  ich,  >weil  Sie  es  nicht  wissen, 
wollen  wir  es  antersachen.€  Ich  schläfere  sie  ein  und  sage  ihr,  vollständig,  absolut 
Yollständig  zu  erwachen,  wenn  ich  ihr  über  die  Augen  blase.  Sie  erwacht,  reibt 
sich  die  Augen,  blickt  um  sich,  glaubt  (statt  im  Jahre  1894)  im  Jahre  1890  zu  sein, 
erkennt  nichts  von  ihrer  Umgebung,  hat  aber  einen  Theil  ihrer  hysterischen  Sym- 
ptome verloren.  Verf.  legt  grossen  Werth  darauf,  dass  er  dieses  JElesultat  durch 
den  Befehl,  vollständig  zu  erwachen,  erzielt  hat.  Dem  Bef.  scheint  aus  dem 
B>esultat,  den  der  Befehl  zu  erwachen  zeitigte,  nichts  weiter  hervorzugehen,  als 
dass  es  sich  um  eine  Hemmang  handelte,  die  durch  eine  Vorstellung  plötzlich 
theilweise  beseitigt  wurde.  Denn  die  Patientin,  die  zuvor  erklärt  hatte,  ,Je  suis 
comme  engourdie"  hatte  nach  Ansicht  des  Ref.  die  Aufforderung,  vollständig  zu 
erwachen,  doch  einfach  so  aufgefasst,  dass  sie  unter  Beseitigung  des  „engourdisse- 
ment**  erwachen  sollte. 

Ueber  die  Beactionen  nun,  die  Verf.  constant  beobachtete,  wie  immer  er  auch 
den  sich  als  Anästhesie  äussernden  Schlaf  beseitigte  oder  —  wie  sich  der  Verf. 
ausdrückt  —  die  Sensibilität  erweckte,  sei  Folgendes  hervorgehoben.  Verf.  constatirt 
zunächst  als  Reactionen  der  Extremitäten  bei  allmählicher  Bückkehr  der 
Sensibilität:  erstens  unempfiindene  unwillkürliche  Bewegungen,  dann  mehr  oder 
weniger  dunkel  empfundene  unwillkürliche  Bewegungen,  darauf  Parästhesien  in 
dem  betreffenden  Eörpertheil  und  dann  schliesslich  Bückkehr  der  Sensibilität: 
und  zwar  zunächst  der  Schmerz-,  dann  der  Tastempfindung  und  schliesslich  des 
Muskelsinnes,  umgekehrt  wie  ihr  Verschwinden  bei  Sensibilitätsstörungen.  Vom 
Kuskelsinn  kehren  zuerst  die  Bewegungs-  und  dann  die  Lageempfindungen  zurück. 
Bezüglich  des  Verhältnisses  zwischen  Motilität  und  Sensibilität  betont  Verf.,  dass 
bei  absoluter  Anästhesie  eine  vollständige  Paralyse  besteht.  Er  bestätigt  so  die 
von  Ddllken  und  Ref.  beobachtete  Thatsache.  Verf.  ist  weiter  bestrebt,  eine 
Reihe  hysterischer  Bewegungsstörungen,  wie  Zittern,  choreatische,  athetotische 
und  atactische  Bewegungen  auf  Störungen  der  Sensibilität  zurückzuführen. 

Es  sei  schliesslich  hervorgehoben,  dass  Verl  beim  Schwinden  einer  suggerirten 
Anästhesie  (bei  hysterischen  Personen)  dieselben  Reactionen  beobachtete  und  dass 
er  femer  während  der  Anästhesie  einer  Extremität  eine  Hyperästhesie  in  der 
Gegend  der  betreffenden  Rückenmarksanschwellung  und  der  betreffenden  Grosshim« 
rindenregion  beobachtet  hat.  Ref.  hat  bei  mehr  als  20  theils  hysterischen,  theils 
nicht  hysterischen  Versuchspersonen  durch  Wachsuggestionen  Anästhesien  einer 
Extremität  bis  zu  deren  Paralyse  herbeigeführt.  Er  hat  niemals  weder  bei  der 
Suggestion,  noch  bei  der  Desuggestion  solche  Reactionen  beobachtet,  wie  sie  Verf. 
beschreibt.  Ebenso  wenig  fand  er  einen  cerebralen  oder  einen  medullären  Druck- 
punkt 

Ver£  behandelt  dann  die  Anästhesie  des  Intestinaltractus,  der  Ge- 
schlechtsorgane, der  Brustorgane,  des  Gesichts,  der  Augen,  des  Ge- 
hörs und  die  Eneheinungen  beim  Verschwinden  derselben.     Alle  diese  Organe 


24  Zaasmmenstellnng  der  Literatur  fiber  Hysterie. 

können  in  Folge  eines  Schlafes  der  betreffenden  Himcentren  anasthetasch  werden. 
Diese  Anästhesie  erstreckt  sich  auch  auf  die  über  ihnen  liegenden  Hautstellen.  Bei 
ihrer  Beseitigung  treten  (soweit  möglich)  zunächst  unempfundene,  dann  empfundene 
unwillkürliche  Bewegungen  und  darauf  Parästhesien  auf. 

Verf.  steUt  schliesslich  die  Existenz  einer  Anästhesie  des  Gehirns  fest! 
Bei  ihrem  Schwinden  treten  Anfangs  unempfundene,  dann  empfundene  Bewegungen 
des  Kopfes  auf,  ihnen  folgen  Parästhesien.  Mit  Schwund  der  Anästhesie  Beseitigung 
der  Yorhandenen  psychischen  Störungen  und  derjenigen  der  körperlichen  Sensibilität. 
Bezüglich  der  Beseitigung  der  retrogrraden  Amnesie  sei  noch  herrorgehoben,  dass 
die  Patienten  kurz  die  ganze  Zeit  seit  Beginn  ihrer  Krankheit  nochmals  durch- 
lebten. 

Im  3.  Kapitel  wendet  sich  Verf.  der  Interpretation  der  somatischen 
Erscheinungen  der  Hysterie  zu.  Ver£  äussert  sich  hier  zunächst  über  die 
Paralysen  und  Contracturen  der  traumatischen  Hysterie.  Sie  sind 
nicht  die  Folge  einer  Idee,  sondern  die  directe  Folge  von  Sensibilitätsstörangen 
nnd  diese  hin¥nedernm  sind  auf  die  Shokwirkung  oder  bei  bereits  Hysterischen 
eventuell  auch  auf  eine  rein  mechanische  Verschlimmerung  vorhandener  Sensibilitäts- 
störungen zurückzuführen.  £benso  wie  diese  motorischen  Störungen  sind  alle 
Verdauungsstörungen  auf  Sensibilitätsstörungen  zurückzuführen.  Dabei  macht 
Verf.  nebenbei  die  Bemerkung,  dass  zuerst  immer  der  Specialsinn  schwinde,  und 
dann  erst  der  Tastsinn  und  resp.  der  Muskelsinn.  Als  erste  Störung  der  Sensibilität 
des  Magens  ist  nach  Verf.  der  Verlust  des  Appetits ;  der  „specifischen*'  Empfindung 
des  Magens  anzusehen.  Hier  möchte  Ref.  nur  bemerken,  dass  einer  persönlichen 
Mittheilnng  des  verstorbenen  Physiologen  Ludwig  zu  Folge  auf  Grund  von  Thier- 
experimenten  angenommen  werden  muss,  dass  der  Hunger  nicht  durch  den  Magen, 
sondern  durch  den  Darm  ausgelöst  wird.  Die  Atonie  des  Magens  führt  Verf.  auf 
Anästhesie  der  Mnscularis  zurück,  wie  endlich  auch  ein  Rapport  zwischen  Anästhesie 
der  Mucosa  und  Drüsensecretion  besteht.  Weiterhin  sieht  Verf.  in  der  Ob- 
stipation auch  nur  eine  Sensibilitätsstörung  und  weiterhin  nur  einen  Schlaf  des 
visceralen  Rindencentrums.  Kennt  Verf.  wirklich  keine  hysterische  Obstipation 
ohne  Anästhesie  der  Bauchwandungen?  Dasselbe  gilt  von  Blasenstörungen. 
Aenderungen  der  Nierensecretion  führt  Verf.  auf  Aenderungen  des  Blutdrucks 
und  des  Gefässvolumens  zurück.  Den  Mutismus,  das  Stottern,  Spasmen 
des  Larynx,  Niessen,  Gähnen,  Asthma  u.  s.  w.  sind  nur  auf  Sensibilitäts- 
störungen zurückzuführen.  Dass,  um  nur  noch  an  eine  der  zuletzt  erwähnten  Er- 
scheinungen ein  kritisches  Wort  anzuknüpfen,  der  Mutismus  in  der  Form  der  Sen- 
somobilitätsstörung  auftreten  kann,  ist  sicher  richtig.  Aber  es  giebt  auch  anderer- 
seits sicher  Fälle,  wo  bei  Mutismus  die  Sensibilität  intact  ist.  Ref.  möchte  femer 
kurz  auf  die  Arbeit  Kattwinkel's^)  hinweisen,  aus  der  hervorgeht,  dass  das 
Fehlen  des  Würgreflexes  durchaus  nicht  auf  Anästhesie  der  Schleimhaut  zu  schliessen 
gestattet.  Die  Pseudoangina  pectoris  ist  Folge  einer  Störung  der  Sensibilität 
des  Herzens.  Die  vasomotorischen  Störungen  der  verschiedensten  Art  sind 
auf  den  Schlaf  eines  vasomotorischen,  das  hysterische  Fieber  auf  denjenigen  eines 
thermischen  Rindencentrums  zurückzuführen. 


^)  Kattwinkel,  Die  Aufhebung  des  Würffreflexes  und  ihre  Beziehung  zur 
Hysterie.  Deutsch.  Arch.  f.  klin.  Med.,  Bd.  57.  Vgl.  das  bezügliche  Referat  in  der 
Ztsehr.  f.  Hypn.,  Bd.  VI,  pag.  2d5,  diese  Zusammenstellung,  Nr.  6. 


Zusammensteilnng  der  Literatar  üb«r  Hysterie.  26 

Im  4.  Kapitel  giebt  Verf.  eine  Interpretation  der  psychischen  Erschei- 
nungen der  Hysterie,  und  zwar  zunächst  die  der  Anfälle.  Die  classischen  An- 
fälle Charcot's  mit  den  4  Stadien  unterscheiden  sich  von  den  leichteren  nur  durch 
grössere  Intensität  des  auftretenden  Schlafzustandes.  Die  letzteren  theilt  Verf.  mit 
P.  Jan  et  in  zwei  Hauptgruppen.  Nach  einer  emotioneUen  Aura  tritt  mehr  oder 
weniger  ausgeprägte  Bewusstlosigkeit  ein  und  dann  folget  entweder  ein  convulsiTes 
oder  ein  syncopales  Stadium.  Verf.  interpretirt  diese  Attaquen  in  der  Weise,  dass 
zunächst  eine  zunehmende  Anästhesie  auftritt,  diese  in  der  Bewusstlosigkeit  ihren 
Gipfel  erreicht,  um  dann  allmählich  zu  yerschwinden,  auf  diese  Weise  die  Gon- 
▼ulsionen  als  Keactionen  des  Erwachens  der  Sensibilität  der  Extremitäten  nach  sich 
ziehend;  oder  aber  die  Anästhesie  befällt  wesentlich  nur  die  Eingeweide.  Dann 
handelt  es  sich  um  die  syncopale  Form  der  Attaque.  Nimmt  Verf.  also  niemals 
eine  Bewusstlosigkeit  bei  syncopalen  Anfällen  an?  Wenn  aber,  dann  muss  Verf. 
doch  zugeben,  dass  die  Anästhesie  in  syncopalen  Anfällen  auch  die  Extremitäten  etc. 
befallen  kann.  Wenn  weiter  die  hysterische  Syncope  in  einen  allgemeinen  Schlaf 
übergegangen  ist,  ein  Vorkommen,  das  der  Verf.  anerkennt,  ist  da  nicht  auch  eine 
Anästhesie  des  äusseren  Körpers  yorhanden?  Ref.  hat  femer  in  einer  ganzen 
fteihe  von  syncopalen  Anfällen  völlige  Anästhesie  des  Körpers  nachweisen  können. 
In  anderen  allerdings  war  diese  Anästhesie  weniger  ausgeprägt.^)  Aber  selbst 
wenn  die  Zurückführung  der  verschiedenen  Formen  von  hysterischen  Attaquen  auf 
verschiedene  Grade  der  Anästhesie  richtig  wäre,  warum  reagiren  dann  verschiedene 
Personen  auf  eine  gemüthliche  Erregung  mit  verschiedenen  Schlafraständen  ?  Hierauf 
giebt  uns  Verl  aber  keine  Antwort. 

Entsprechend  seinem  „physiologischen^  Standpunkt  leugnet  Verf.,  dass  die 
Erinnerungsbilder  von  peinlichen  Erlebnissen,  die  in  den  hysterischen  Delirien  immer 
wieder  auftreten,  diese  selbst  auslösen.  Vielmehr  treten  zunächst  Sensibilitätsstörungen 
auf.  Diese  führen  einen  von  früher  her  associirten  Bewusstseinszustand  (Stat  de  per- 
sonnalit^)  herbei  und  erst  dann  treten  als  diesem  eigen  jene  betreffenden  Erinnerungs- 
bilder hervor.  Als  Hauptbeweis  führt  Verf.  an,  dass  er  einige  Hysterien  g^eheilt 
habe,  ohne  jene  Erinnerungsbilder  zu  beseitigen,  einfach  durch  Erweckung  der 
Sensibilität.  Hef.  sieht  darin  durchaus  keinen  Beweis,  dass  jene  Erinnerungsbilder 
nicht  doch  noch  bei  der  Pathogenese  jener  Anfalle  von  Bedeutung  gewesen  seien. 
Verf.  hält  durchaus  für  möglich,  dass  in  den  Beobachtungen  des  Verf.  jene  Er- 
innerungsbilder bei  den  Patienten  erst  nach  dem  Auftreten  von  Sensibilitätsstörungen 
bewusst  geworden  sind.  Aber  sie  können  trotzdem  —  wie  es  Freud  und  Breuer 
nach  Ansicht  des  Ret  in  unzweideutiger  Weise  gezeigt  haben  —  zuvor  in  einem 
„bewusstseinsunfahigen*'  Zustand  pathogen  gewirkt  haben.  Andererseits  muss  aber 
dem  Verf.  gegenüber  betont  werden,  dass  —  und  zwar  nach  Ansicht  des  Ref.  die 
grössere  Mehrzahl  —  Fälle  von  Hysterien,  denen  unzweifelhaft  der  von  Freud 
und  Breuer  zuerst  aufgedeckte  Mechanismus  zu  Grunde  lieget,  heilen,  ohne  dass 
man  jene  Erinnerungsbilder  direct  zu  beeinflussen  sucht.  Es  liegt  in  einem  thera- 
pentischen  Erfolg,  wie  ihn  der  Ver£  zu  verzeichnen  hat,  noch  gar  kein  Beweis  für 
die  Unabhängigkeit  solcher  Delirien  von  gewissen  Erinnerungsbildern. 

Verf.  bekämpft  —  das  sei  nebenbei  bemerkt  —  entschieden  mit  Recht  P.  J  a  n  e  t , 


*)  Vgl.  0.  Vogt,  Zur  Kenntn.  d.  Wes.  u.  d,  psych.  Bed.  d.  Hypnot.     Diese 
ZtMhr.,  Bd.  III,  pag.  327  f. 


26  Zmammenstelliing  dar  lateratnr  über  HyiUrie. 

wenn  dieser  jene  in  den  Delirien  immer  wieder  auftretenden  Bewnastseinserschei- 
nnngen  als  „idSes  fixes**  bezeichnet.  Man  könne  die  Ideen  dagegen  als  „persistirende^ 
bezeichnen,  da  sie  am  längsten  dem  Einschlafen  widerständen. 

In  dem  folgenden  Abschnitt,  der  den  Somnambolien  gewidmet  ist,  behandelt 
Verf.  in  eingehender  Weise  den  Hypnotismos  and  die  Suggestion.  Ref.  hat  schon 
oben  des  Verf.  Verständniss  für  diese  Fragen  characterisirt.  Verf.  bringt  dorchans 
nichts  Neues,  sondern  wärmt  gewisse  Behauptungen  der  Char  cot 'sehen  Schule 
wieder  auf.  Verf.  meint  an  einer  Stelle,  er  wende  den  eigentlichen  Hypnotismus 
überhaupt  nicht  an.  Wenn  er  ihn  aber  nicht  anwendet,  so  kennt  er  ihn  auch  nicht 
und  so  können  uns  auch  seine  Ansichten  nicht  weiter  interessiren. 

Im  5.  Kap.  behandelt  Verf.  die  Stigmata. 

Bezüglich  der  Anästhesie  hebt  Verf.  zunächst  hervor,  dass  er  in  den  fie- 
actionen,  die  durch  die  Sensibilitätsstörung  yeranlasst  wird,  auch  für  die  Intensitäts- 
unterschiede nicht  mehr  zu  Bewusstseinserscheinung^n  führender  Sensibilitäts- 
störungen einen  Maassstab  habe.  Dann  behauptet  der  Ver£,  dass  eine  Hemianästhesie 
oder  localisirte  Anästhesien  nie  isolirt  vorkommen.  Stets  ist  die  andere  Seite,  resp. 
die  Umgebung  auch  hypästhetisch.  Das  häufigere  Auftreten  linksseitiger  Sensi- 
bilitätsstörungen sei  darauf  zurückzuführen,  dass  die  rechte  Himhälfte  weniger 
fhnctionire  und  deshalb  leichter  einschliefe.  Als  Ursachen  von  Anästhesien  führt 
Verl  an:  Chloroformirung,  Hypnose,  Kälte,  locale  Verletzung,  irgendwie  bedingte 
Unbeweglichkeit  eines  Körpertheils  und  Gemüthsbewegungen. 

Die  Druckpunkte  führt  Verf.  auf  einen  mittleren  Grad  von  Herabsetzung 
der  Sensibilität  zurück.  Die  Ovariendruckpunkte  verlegt  Verf.  bald  in  den  Genital- 
apparat, bald  in  den  Darm,  bald  in  die  Bauchmuskeln.  Die  Druckpunkte  veran- 
lassen den  Verf.  des  Weiteren  zu  einer  Behauptung,  die  —  wenn  sie  wahr  wäre  — 
eine  sehr  folgenschwere  seL  Verf.  glaubt  constatirt  zu  haben,  dass  die  einem  Organ 
übergelagerte  Haut  stets  dieselbe  Sensibilitätsstörung  zeigt  wie  das  darunter  ge- 
legene Organ.  Nun  macht  Verf.  auch  den  umgekehrten  Schluss.  Verf.  schliesst 
von  einer  Sensibilitätsstörung  der  Haut  auf  eine  verwandte  des  darunter  liegenden 
Organs.  Diese  Schlussfolge  speciell  auf  das  Gehirn  anwendend,  glaubt  Verf.  nun 
aus  einem  Druckpunkt  an  der  Schädeldecke  auf  eine  circumscripte  Anästhesie  oder 
Schlaf  des  darunter  gelegenen  Himrindentheils  schliessen  zu  dürfen.  Nun  behauptet 
Verf.  weiter  —  wie  wir  schon  oben  sahen  —  dass  bei  Anästhesie  der  Extremitäten 
die  über  den  betreffenden  Eindencentren  befindlichen  Schädelstellen  Druckpunkte 
zeigten.  Verf.  hat  femer  einen  Farallelismus  zwischen  dem  Auftreten  gewisser 
derartiger  Druckpunkte  am  Schädel  und  demjenigen  der  Anästhesie  der  verschie- 
denen inneren  Organe  gefunden.  Er  glaubt  auf  diese  Weise  die  Rindencentren 
jener  Organe  gefunden  zu  haben.  Aehnliche  Schlüsse  macht  Verf.  fur's  Rücken- 
mark. Ref.  hat  bereits  oben  hervorgehoben,  dass  er  Druckpunkte  am  Schädel  bei 
Anästhesie  der  Extremitäten  nicht  hat  nachweisen  können.  Andererseits  hat  er  die 
psychogene  Natur  der  Druckpunkte  am  Schädel  öfter  feststellen  können.  Zu  den 
speciellen  Behauptungen  des  Verf.  möchte  Ref.  schliesslich  die  Bemerkung  machen, 
dass  man  in  der  Hysterie  auch  Druckpunkte  über  dem  Stimhim  beobachten  kann. 

Bezüglich  der  Amyosthenie  giebt  Verl  an,  dass  sie  peripherer  Natur  und 
durch  Gefasslähmung  bedingt  seL  Im  Uebrigen  führt  er  die  motorischen  Stigmata 
auf  Sensibilitätsstörungen  zurück. 

Schliesslich  stellt  Verf.  die  Amnesien,  Aboulien  und  Veränderungen  des  Cha- 


Znsunmenstelliiiig  der  Liieratar  über  Hysterie.  27 

raciers  als  Folgeerscheinungen  von  Sensibilitatsstömngen  hin,  die  ihrerseits  ja  nur 
ein  Ausdruck  eines  Schla&ustandes  der  cerebralen  Oentren  seien.  Dabei  sei  noch 
erwähnt,  dass  YerL  Zwangsrorstellungen,  Zwangshandeln  und  Phobien  nicht  in  das 
Krankheitsbild  der  Hysterie  gerechnet  wissen  will. 

Im  6.  £ap.  giebt  Verf.  das  Resum^  seiner  Anschauungen.  Ref.  hat  dieses 
an  den  Anfang  des  Referats  gestellt.  Verf.  berührt  hier  kurz  auch  die  Aetiologie. 
Diese  sieht  er  in  irgend  einer  Erschöpfung  der  yerschiedensten  Art.  Der  Schlaf- 
zustand ist  dann  die  Dauererschöpfung,  die  bei  einer  zu  grossen  Erschöpfung  jedes 
Organs  eintritt. 

Ref.  hat  geglaubt,  eine  Arbeit,  die  beinahe  900  Seiten  umfasst,  so  ausführlich 
referiren  zu  müssen.  Ref.  leugnet  durchaus  nicht,  dass  die  Arbeit  eine  Reihe  inter- 
essanter Einzelheiten  enthalt,  Einzelheiten,  die  meist  nicht  in  diesem  Referat  be- 
rücksichtigt werden  konnten.  Aber  einen  wesentlichen  Fortschritt  kann  Ref.  in 
dem  Werke  nicht  sehen. 

Aus  den  ganzen  Ausführungen  geht  hervor,  dass  das  Wort  „Schlaf"  ein  inhalt- 
loses Wort  bleibt.  Ja  Verf.  giebt  ihm  nicht  nur  nicht  die  mögliche  psychologische 
Schärfe,  sondern  er  yermengt  diesen  Begriff  sogar  mit  dem  der  Erschöpfung.  Yerf. 
steht  eben  nicht  auf  der  Höhe  unseres  psychophysiologischen  Wissens. 

An  weiteren  Ghrundfehlem  muss  dem  Verf.  vorgeworfen  werden :  sein  einseitiges 
Beobachtungsmaterial  und  seine  ünkenntniss  von  der  Macht  der  Suggestion  und 
affectstarker  Erlebnisse. 

Verf.  hat  nur  alte  Fälle  von  schwer  anästhetischen  Hysterischen  beobachtet. 
Er  hat  so  vielfach  psychophysiologische  Mechanismen,  die  in  jenen  Fällen  richtig 
waren,  verallgemeinert. 

Verf.  hat  femer  in  ünkenntniss  der  Rolle,  die  entschieden  die  Suggestion 
oder  affectstarke  Erlebnisse  spielten,  ganz  falsche  Schlüsse  gezogen.  Ref.  will  nur 
an  die  Druckpunkte  des  Gehirns  erinnern. 

Die  Grundbestrebungen  des  Verf.,  die  hysterischen  Erscheinungen  auf  Schlaft 
hemmungen  zurückzuführen  und  die  Rolle  der  Suggestion  einzuschränken:  diese 
Grundbestrebungen  sind  nach  Ansicht  des  Ref.  durchaus  richtig.  Aber  ein  Kampf 
gegen  psychologische  Interpretation  zu  Gunsten  einer  physiologischen  kann  nach 
Ansicht  des  Ref.  nur  Aussicht  auf  Erfolg  haben,  wenn  jedes  einzelne  Phänomen 
■orgfaltig  darauf  untersucht  wird,  ob  es  seiner  Genese  und  seiner  Natur  nach  eine 
schärfere  psychologische  oder  physiologische  Präcisirung  ermöglicht.  Dabei  haben 
wir  von  der  nnumstösslichen  Thatsache  auszugehen,  dass  uns  psychische  Erschei- 
nungen primär  gegeben  sind.  Diese  haben  dann  aber  auch  ein  erstes  entscheidendes 
Wort  zu  sprechen,  d.  h.  es  ist  die  directe  Selbstbeobachtung,  die  einzig 
and  allein  die  Hysteriefrage  vertiefen  kann.  Wird  Verf.  sein  Beobachtungsmaterial 
erweitem  und  seine  Beobachtungsmethode  ändern,  dann  werden  weitere  Arbeiten 
des  Verf.  ganz  anders  wichtige  Beiträge  zur  Hysteriefrage  liefern,  als  das  vorliegende 
Werk  es  thut.  0.  Vogt. 


Die  geometrisch-optischen  Täuschungen  und  ihre  psychologische 

Bedeutung. 

Eine  Zasaminenstellaiig  der  neaeren  Literatur. 

Von 

Dr.  B.  Lantenbach. 


Angabe  der  benutzten  Literatur: 

1.  W.  W  u  n  d  t .  Die  geometrlBch-optischen  Täuschungen.    AbhandL  d.  Kgi.  Sachs. 

Ges.  d.  Wiss.    Math.-phys.  Gl.  XXIV,  Nr.  2. 

2.  Derselbe,  Zur  Theorie  der  raumlichen  Gesichtswahmehmungen.    Philos.  Stnd. 

XIV,  1.  Heft. 

3.  Th.  Lipps,  Raumästhetik  und  geometrisch-optische  Tauschungen.    Schriften 

d.  Ges.  f.  psychol.  Forsch.,  Heft  9/10  (ü.  Sammlung). 

4.  Derselbe,  Die  geom.-opt.  Täuschungen  (Vorl.  Mitthlg.)  Zeitsch.  f.  Psych,  u.  Phys. 

d.  Sinnesorg.  XII,  S.  39  u.  276. 

5.  Derselbe,    Bemerkung    zu   Heymans'   Artikel,    Quantitative  Unters,   über  die 

ZöUner'sche  u.  Loeb'sche  Täuschung.    Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg. 

XV,  S.  132. 

6.  Helmholtz,  Physiologische  Optik  IL  Aufl.  1896. 

7.  Thi6ry,  Ueber  geometrisch-optische  Täuschungen.     Philos.  Stud.  XI.  S.  907 

u.  603,  XII,  S.  67. 

8.  Arrer,  Ueber  die  Bedeutung  der  Convergenz-  und  Aeoommodationsbewegungen 

för  die  l^efenwahmehmung.    Philos.  Stud.  XLH,  S.  116  u.  222. 

9.  F.  C.  Müller-Lyer,    Zur   Lehre   von   den   optischen  Täuschungen.     Ueber 

Contrast  und  Confluxion.    Zeitschr.   f.  PsychoL  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  IX, 
S.  1  und  X,  S.  421. 

10.  G.  Heymans,  Quantitative  Untersuchungen  über  das  ,, optische  Paradoxon". 

Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  IX,  221. 

11.  Derselbe,  Erwiderung.    Ebenda  XI,  S.  432. 

12.  „         Erwiderung.    Ebenda  Xm,  S.  474. 

13.  „         Quantitative  Untersuchung  über  die  Zöllner'sche  u.  Loeb'sche  Täuschung. 
Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  XIV,  S.  101. 

14.  G.  E.  Müller,  Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.    Zeitschr.  f.  Psych. 

u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  X,  S.  1  u.  321. 


Die  geometrisch-optischen  TäuschoDgen  und  ihre  psychologische  Bedeutung.     2^ 

15.  Höfler,  Erüxnmnngscontrast.     Zeitschr.  f.  Psychol.  und  Physiol.  d.  Sinnesorg. 

^,  o.  99* 

16.  Derselbe.  Zur  Analyse  der  Vorstellungen  von  Abstand  und  fUchtung.    Zeitschr. 

f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  X,  S.  223. 

17.  Richard  Simon,  Zur  Lehre   von  der  Entstehung  der  coordinirten  Augen- 

bewegungen.   Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  Xu,  S.  102. 

18.  Ernst  Burmester,    Beitrag   zur  experimentellen   Bestimmung  geom.-opt. 

Täuschungen.    Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  XII,  S.  365. 

19.  E.  B.  Titchener,  Entgegnung.    Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg 

Xn,  S.  396. 

20.  K.  Ueberhorst,  Eine  neue  Theorie  der  Gesichtswahmehmung.    Zeitschr.  f. 

Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  XTTT,  S.  64. 

21.  fleine,  Demonstrationen  des  Scheiner'schen  Versuches  nebst  Betrachtungen 

über  das  Zustandekommen  der  Raumwahmehmvorstellungen.    Zeitschr.  f.  Psych, 
u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  XIV,  S.  274. 

22.  Hugo  Münsterberg,  Die  yerschobene  Schachbrettfigur.    Zeitschr.  f.  Psychol. 

D.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  XV,  S.  184. 

23.  Franz  Hillebrand,  In  Sachen  der  optischen  Tiefenlocalisation.    Zeitschr.  f. 

Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  XVI,  S.  71. 

24.  JaquesLoeb,  lieber  Oontrasterscheinungen  im  Gebiete  der  Raumempfindungen. 

Zeitschr.  £.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  XVI,  S.  298. 
26.  Derselbe,  lieber  die  optische  Inversion  ebener  Linearzeichnungen  bei  einäugiger 
Betrachtung.    Pflüg.  Arch.  XL. 

26.  Willibald   A.  Nagel,   lieber  das   Aubert'sche   Phänomen   und  verwandte 

Täuschungen  über  die  verticale  Richtung.     Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol. 
d.  Sinnesorg.  XVI,  S.  373. 

27.  Wilh.  Filehne,  Die  geometrisch-optischen  Täuschungen  als  Nachwirkungen 

der  im  körperlichen  Sehen  erworbenen  Erfahrung.    Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys. 
d.  Sinnesorg.  XVII,  S.  16. 

28.  Hermann,  Handbuch  der  Ph3r8iologie. 

29.  Mach,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen.    Jena  1886. 

Da  in  letzter  Zeit  die  Literatur  über  „geometrisch-optische  Täuschungen"  sich 
beträchtlich  gemehrt  hat,  und  diese  Erscheinungen  nicht  mehr  nur  an  sich,  sondern 
besonders  in  Bezug  auf  ihre  Entstehung  und  weiterhin  auf  ihre  Bedeutung  für  die 
Raumvorstellung  sowie  andere  Probleme  der  allgemeinen  Psychologie  erörtert  worden 
■ind,  so  dürfte  auch  in  dieser  Zeitschrift  eine  kurze  Besprechung  dieses  Themas 
gerechtfertigt  erscheinen. 

Wir  wollen  in  dieser  Abhandlung  die  geometrisch-optischen  Täuschungen  unter 
folgenden  Gesichtspunkten  betrachten: 

I.  die  geometrisch-optischen  Täuschungen  an  sich  und 

U.  die  geometrisch-optischen  Täuschungen  in  ihrer  psychologischen  Bedeutung. 

L  Theil. 

Bei  dem  Studium  der  reichhaltigen  Literatur  über  die  „geometrisch-optischen 
Täuschungen*'  muss  es  auffallen,  dass  wir  nur  in  den  wenigsten  Abhandlungen  eine 
Definition  dieses  Ausdrucks  finden.  —  Die  Bezeichnung  „geometr.-opt.  Täuschungen*' 


30  ^  Laatenbsch. 

ist  von  J.  Oppel  in  die  WisseiiBchafb  eingeführt  und  von  allen  anderen  Forschem 
einfach  übernommen  worden,  ohne  dass  wir,  wie  bei  den  meisten  anderen  Begriffen, 
eine  genaue  firklarang  darüber  erhalten  haben,  was  man  unter  geometrisch-optischen 
Täuschungen  yersteht.  Diese  aufiallige  Thatsache  mag  wohl  ihren  Grund  darin 
haben,  dass  es  bei  der  grossen  Mannigfaltigkeit  der  unter  diesem  Namen  znsammen- 
gefassten  äusserst  zahlreichen  Erscheinungen  nicht  gut  möglich  ist,  gemeinschafUiehe 
Kerkmale  auüsufinden,  die  für  alle  optischen  Tauschungen  characteristisch  sind. 
Dies  kann  um  so  weniger  der  Fall  sein,  als  die  Meinungen  der  Physiologen  und 
Psychologen,  die  sich  mit  dem  Problem  der  „geometrisch-optisoheii  Täuschungen** 
beschäftigt  haben,  weit  auseinander  gehen.  Während  die  Einen  die  Erklärung  für 
diese  Täuschungserscheinungen  in  physiologischen  Vorgängen  suchen,  iwiAM^ 
Andere  rein  psychologische  Processe  für  das  Zustandekommen  derselben  ver» 
antwortlich,  und  wieder  Andere  erklärm  dieselben  auf  psycho-physiologischem 
Wege.  Aber  nicht  nur  für  die  Gesammtheit  der  geometrisch-optischen  Kuschungen 
ist  bis  jetzt  keine  einheitliche  Erklärung  erzielt  worden,  auch  die  einzelnen 
Täuschungen  werden  von  den  verschiedenen  Gelehrten  ganz  verschieden  gedeutet. 
So  ist  denn  der  Name  geometrisch-optische  Täuschungen  von  allen  Forschem  bei- 
behalten worden,  weil  er  keinerlei  Stellungnahme  über  die  Entstehung  derselben 
involvirt,  wie  dies  andere  Bezeichnungen,  wie  „Augenmuskeltäuschnngen",  „Con- 
trast**-  und  „Gonfluxionstäuschungen**,  „ästhetisch-mechanische  Täuschungen**  oder 
auch  „optische  Urtheilstäuschungen**  etc.  thun,  die  alle  eine  bestimmte  Auffassung 
über  das  Wesen  dieser  Täuschungen  von  vornherein  erkennen  lassen. 

Im  Anfange,  als  diese  Beobachtungen  bekazmt  wurden,  betrachtete  man  sie 
einfach  als  Abnormitäten  des  Sehens,  die  durch  Irreleitungen  des  Urtheiles  bewirkt 
würden,  oder  aus  ganz  unbekannten  Ursachen  entständen.  Die  einzelnen  Erschei- 
nungen wurden  zufällig  und  von  verschiedenen  Beobachtern  gefunden  und  demzu- 
folge auch  getrennt  und  verschieden  interpretirt.  Eine  systematische  Zusammen- 
stellung und  gemeinsame  Erklärungsmethode  für  die  verschiedenen  Täuschungs- 
erscheinungen wurde  erst  später  versucht. 

So  sagt  auch  Wundt^),  welcher  diesen  Täuschungen  neuerdings  eine  grössere 
Arbeit  gewidmet  hat,  nur  ganz  allgemein:  „In  Wahrheit  handelt  es  sich  hier  um 
Fehler  in  der  Auffassung  räumlicher  Strecken,  Richtungen  und  Kichtungsunter- 
schiede,  die  an  ganz  beliebigen  Objecten  auftreten  können** ;  im  Uebrigen*)  beschränkt 
er  sich  auf  die  Angabe  negativer  Merkmale.  Die  ausführlichste  Definition  giebt  L  i  p  p  s , 
indem  er  sagt:  „Geometrisch-optische  Täuschungen  sind  Täuschungen  über  Formen, 
Gh'össen,  Bichtungen,  die  lediglich  durch  die  Beschaffenheit  der  Fonnen,  die  Grössen- 
Verhältnisse,  die  Lage  und  Richtung  der  Formen  oder  Formelemente  zu  einander 
oder  innerhalb  des  Sehfeldes  bedingt,  also  von  Farben  und  Helligkeitsverhältnissen, 
soweit  diese  nicht  etwa  die  Beurtheilung  der  Form  der  Objecte  bedingen,  ebenso 
vom  Bewusstsein  der  Entfernung  der  räumlichen  Gebilde  vom  Auge  und  dergl. 
unabhängig  sind.** 

In  diesem  Satze  ist  sofort  der  subjective  Standpunkt  gekennzeichnet,  das  „ästhe- 
tische** Erklärungsprincip  Lipps'  klar  ausgesprochen.   Ich  möchte  hier  die  folgende 

^)  Abhdlg.  d.  EgL  Sachs.  Ges.  d.  Wissensch.  Mathem.-phy8ik.  Gl.  XXIV,  2, 
S.  55. 

*)  Zur  Theorie  der  niumlichen  Gesichtswahmehmungen.  Philos.  Stud.  XIV, 
1.  Heft,  S.  27  u.  81. 


Die  geometrifch-optisehen  l^iuchiingeii  und  ihre  psychologische  Bedeutung.     31 

allgemeine  Definition  anfuhren:  Oeometrisch-optische  Täuschungen  sind 
solche  optischen  Vorstellungen  über  Lage,  Richtung  und  Grrösse 
Yon  Gegenständen,  welche  den  objectiven,  durch  Messung  fest- 
gestellten Verhältnissen  nicht  entsprechen,  die  aber  trotzdem 
allgemein  bei  Menschen  mit  normalen  Augen  entstehen. 

Am  übersichtlichsten  und  logischsten  yon  aUen  systematischen  Eintheilungs« 
yersuchen  erscheint  mir  die  Methode  von  Wundt,  die  wir  darum  unserer  Be- 
trachtung zu  Ghmnde  legen  wollen.  Wundt  unterscheidet  folgende  Arten  geome- 
trisch-optischer  Täuschungen: 

I.  umkehrbare  perspectiTische  Täuschungen, 
n.  yariabele  Streckentäuschungen, 

HL  constante  Streckentäuschungen, 

IV.  yariabele  Richtungstäuschungen, 
V.  constante  Bichtungstäuschungen, 

VI.  Associationstäuschungen. 

Da  nach  dem  oben  Gesagten  jede  allgemein  gültige  Characteristik  der  geome- 
tiisch-optischen  Täuschungen  noch  fehlt,  so  können  wir  uns  im  Weiteren  noch 
weniger  wundem,  dass  auch  keine  einheitliche  Classification  derselben  yorhanden  ist. 

BcYor  wir  auf  das  eigentliche  Thema  zu  sprechen  kommen,  wollen  wir  noch 
den  methodologischen  Gang  bezgl.  der  ursächlichen  Erklärung  betrachten,  den 
Wundt  bei  seiner  Betrachtung  innehält.  Wenn  mehrere  Trugmotiye  gleichzeitig 
yrirken,  muss  zur  Feststellung  des  Antheils  eines  jeden  die  betr.  Täuschungsfigur 
analysirt  werden.  Wo  zwei  Trugmotiye  zur  Erklärung  einer  Täuschung  führen, 
muss  eine  Variation  gesucht  werden,  welche  ein  Trugmotiy  eliminirt,  sodass  nun 
entschieden  werden  kann,  welches  das  ursprüngliche,  das  primäre  Motiy  der 
Täuschung  ist.  Und  drittens  ist  auf  die  Möglichkeit  der  ümkehrung  einer  Täuschung 
SU  achten  und  besonders  auf  die  subjectiyen  Bedingungen,  unter  denen  sie  sich  bei 
objectiyer  Nichtyeränderung  yollzieht. 

Unter  „umkehrbaren  perspectiyischen  Täuschungen^  sind  solche  Er- 
scheinungen zu  yerstehen,  bei  denen  planimetrische  Zeichnungen  perspecti- 
können,  Vorstellungen  im  Beschauer  yeranlassen,  die  in  doppeltem  Sinne  stattfinden 
▼ische  d.  h.  conyex  oder  concay  sein  können,  je  nachdem  bald  der  eine,  bald  der 
andere  Theil  der  Figur  dem  Beschauer  zugekehrt  erscheint.  Das  Auftreten  dieser  zwei 
yon  einander  yerschiedenen  Vorstellungen  hängt  nach  Wundt 's  Ansicht  einzig 
und  allein  yon  den  Stellungen  und  Bewegungen  des  Auges  ab,  und  zwar  so,  dass 
immer  der  zuerst  fixirte  Punkt  oder  derjenige,  von  welchem  die  Bewegung  des 
Auges  ihren  Ausgang  nimmt,  dem  Beschauer  näher  zu  liegen  scheint,  was  Ref. 
auch  bestätigen  kann.  J.  Loeb  hat  bei  seinen  dsbzl.  Beoachtungen  dieselben 
Wahrnehmungen  gemacht.  Er  fand  auch,  dass  die  Fig.  1  gewöhnlich  conyex  er- 
schien, dass  sie  jedoch  in  das  concave  Bild  überging,  wenn  sie  mit  zunehmender 
Geschwindigkeit  vom  Beschauer  entfernt  wurde,  aber  wieder  conyex  erschien,  wenn 
sie  dem  Auge  wieder  näher  gebracht  wurde.  Die  Inversion  tritt  aber  nicht  ein, 
wenn  die  Bewegung  der  Figur  so  langsam  ist,  dass  das  Auge  den  einmal  gewählten 
Hxationspunkt  festzuhalten  vermag,  eine  Thatsache,  die  auch  von  Loeb  beobachtet 
ymrde,   und   gewiss   ein   sicheres  Zeichen  für  die  Richtigkeit  der  Wundt' sehen 


3S 


R.  Laatenbaeh. 


Fig.  1. 


lleinniig  ist,  daas  das  Eintreten  der  concftTen  oder  der  eonrezen  VortteUnng  nur 
Tom  Fixirpiinkte  oder  der  Fixationslinie,  also  von  Aagfenbewegungen  bestimmt 
wird.  Trotzdem  hat  Loeb^)  seine  Beobachtungen  ganz  anders  gedeutet;  nach  ihm 
kommt  es  bei  diesen   Umkehmngen  nur  auf  die  mit  dem  „Willen*"  yerbundea» 

Innervation,  nidit  auf  die  wirklich  ausgeführte  Augen- 
bewegung an. 

Obwohl  also  Loeb  für  diese  Täuschungen  einerseits  die 
physiolog^che  Bedingung  in  Form  von  „Innervation^  zugiebt, 
verfällt  er  andererseits  doch  in  den  Fehler,  den  „Willen*'  als 
primäres  Motiv  anzusehen,  anstatt  eine  wirkliche  Muskelaction 
als  Grundbedingung  anzunehmen.  —  Die  am  meisten  besprochene 
hierher  gehörige  Täuschung  ist  die  Schroeder  'sehe  Tr  e  p  p  e  n  - 
figur,  welche  öfter  (Helmholtz,  Hering)  zum  Beweis  für 
die  Thätigkeit  der  „Phantasie**  oder  „Einbildungskraft**  bei 
dem  Zustandekommen  der  umkehrbaren  perspectivischen  Täusch- 
ungen herangezogen  worden  ist,  die  sich  aber  folgerichtig  nach 
der  Wundt' sehen  Theorie  erklären  lässt.  Unsere  Figur  1 
bringt  eine  andere  hierher  gehörige  Täuschung. 
Es  entsteht  hier  die  Frage,  können  die  oben  besprochenen  Täuschungen  ans 
den  Augenbewegungen  allein  erklärt  werden,  oder  müssen  nicht  doch  zu  diesen 
physiologischen  Motiven  solche  psychologischer  Natur  hinzukommen,  um  die  Täuschung 
hervorzubringen?  Mit  anderen  Worten,  wie  kommt  es,  dass  einer  bestimmten  Art 
der  Fixation  und  der  Blickbewegung  auch  eine  bestimmte  Art  der  perspectivischen 
Vorstellung  entspricht?  Und  weiter,  warum  fixiren  wir  eine  Zeichnung  bald  so  und 
bald  so?  Auf  die  letztere  Frage  lautet  die  Antwort,  dass  die  Art,  wie  wir  eine 
Zeichnung  mit  unserem  Blick  durchlaufen,  gewöhnlich  von  „unberechenbaren  Be- 
dingungen** abhängt,  dass  sie  aber,  wie  bei  der  Betrachtung  der  oben  besprochenen 
l^lguren,  willkürlich  sein  kann,  dass  jedoch  auch  dieser  „Wille**  weder  die  Vor- 
stellung der  Täuschung  hervorruft,  noch  etwa  die  Augenbewegung  hervorbringt, 
um  eine  bereits  vorhandene  Vorstellung  in  die  Erinnerung  zurückzurufen,  sondern 
dass  er  nur  eine  bestimmte  Augenstellang  bewirkt,  welche  nun  ihrerseits,  ganz  un- 
abhängig von  jenem,  die  mit  dieser  Stellung  verbundene  Vorstellung  erzeugt. 

Hiermit  tritt  uns  die  erste  Frage  entgegen,  inwiefern  ist  eine  bestimmte 
perspectivische  Vorstellung  mit  einer  bestimmten  Augenstellung  ver^ 
bunden.  Dieses  Factum  ist  allerdings  nur  psychologisch  zu  begründen,  denn 
das  Bild,  das  ein  und  dieselbe  Zeichnung  auf  der  Netzhaut  erzeugt,  muss  dasselbe 
sein,  gleichgültig,  ob  wir  diesen  oder  jenen  Punkt  zuerst  fixiren  oder  unseren  Blick 
auf  dieser  oder  jener  Kante  der  Figur  entlang  bewegen.  Es  können  die  Augen- 
bewegungen in  einer  bestimmten  Richtung  also  nur  frühere  Vorstellungen  oder 
Elemente  früherer  Vorstellungen  in  das  Bewusstsein  zurückrufen,  bei  welchen  die* 
selben  Bewegungen  und  Stellungen  des  Auges  maassgebend  waren.  Diese  früher 
gehabten  Vorstellungen  von  Objecten  oder  „Erinnerungsbilder**  sind  aber  nicht 
fertig  in  uns  vorbereitet,  sondern  nur  in  Form  von  Anlagen  und  Fragmenten 
vorhanden.     Dieser   Vorgang   der    „Vorstellungsassociation'*    wird   als    „Assimi- 


^)  J.  Loeb,  Ueber  die  opt.  Inversionen  ebener  Linienzeichnungen  bei  ein- 
äugiger Betrachtung.    Pflüg.  Arch.  XL,  S.  274. 


Die  geometrisch-optischen  Täuschangen  und  ihre  psychologische  Bedeutang.    83 

lation^  bezeichnet.  Da  in  Wirklichkeit  yon  einem  Körper  die  dem  Auge  zunächst 
gelegenen  Theile  naturgemäss  zuerst  fixirt  und  mit  dem  Blick  yerfolgt  werden,  so 
müssen  in  Folge  dessen  auch  umgekehrt  die  zuerst  fixirten  Punkte  oder  Theile 
einer  Figur  dem  Beschauer  als  näher  liegend  erscheinen.  Femer  ist  in  der  Ruhe- 
lage des  Auges  die  Blicklinie  nach  unten  gerichtet,  sodass  wir  die  Gegenstände 
mit  nach  aufwärts  gerichteter  Blickbewegung  verfolgen,  also  die  nach  unten  ge- 
legenen Theile  einer  Figur  uns  zugekehrt  sein  müssen,  was  den  Thatsachen  ent- 
spricht. Wir  haben  also  bei  den  umkehrbaren  perspectivischen  Täuschungen  ge- 
funden, dass  für  das  Zustandekommen  derselben  physiologische  und  psychologische 
Motive  wirksam,  und  dass  die  physiologischen  die  primären,  die  psychologischen 
die  secundären  Bedingungen  der  Tauschung  sind,  wie  Wundt  zuerst  gefunden 
hat.  Thiery  weicht  hier  wie  überall  insofern  von  Wundt  ab,  als  er  die  per- 
apectivische  Vorstellung  als  primäre  Ursache  der  Täuschung  betrachtet. 

Es  bleibt  nun  zu  untersuchen,  ob  diese  Regel  auch  für  die  übrigen  Kategorien 
der  geometrisch-optischen  Täuschungen  gültig  ist. 

Unserer  Eintheilung  zu  Folge  kommen  jetzt  die  yariabeln  Strecken- 
täuschungen in  Frage,  eine  Ghmppe  geometrisch -optischer  Täuschungen,  die 
zuerst  von  Oppel  entdeckt  worden  ist,  und  bei  welcher  zwei  Täuschangs Vorstel- 
lungen neben  einander  hergehen :  eine  Grössen-  und  eine  perspectivische  Täuschung. 
Es  fragt  sich  also  zunächst,  welche  von  diesen  Täuschungen  die  primäre  ist,  d.  h.  ob 
die  Grössentäuschung  die  perspectivische  Täuschung  bewirkt  oder  umgekehrt. 
Wundt  hat  diese  Frage  in  dem  Sinne  beantwortet,  dass  die  Grössentäuschung 
die  Ursache  der  perspectivischen  Täuschung  ist,  was  daraus  hervorgeht,  dass  sie 
bestehen  bleibt,  wenn  man  die  Zeichnung  so  modificirt,  dass  die  perspectivische 
Nebenwirkung  wegfällt.  —  Die  am  meisten  erörterte  Täuschung  dieser  Art  ist  die 
von  Müller-Lyer  entdeckte  und  nach  ihm  benannte  Täuschung,  welche  Fig.  2 


A.  Fig.  2.  B. 

seigt.  Dabei  erscheint  A  >  B.  Die  Interpretation  dieser  Täuschung  ist  von  vielen 
Seiten  und  von  den  verschiedensten  Standpunkten  aus  versucht  worden.  Müller- 
Lyer  selbst  sagt  zur  Erklärung  der  Entstehung  dieser  Täuschung  wörtlich^):  „Mau 
hält  die  beiden  Linien  für  verschieden  gross,  weil  man  bei  der  Abschätzung  nicht 
nur  die  beiden  Linien,  sondern  unwillkürlich  auch  einen  Theil  des  zu  beiden 
Seiten  derselben  abgegrenzten  Raumes  mit  in  Anschlag  bringt. '' 
Es  ist  also  nicht  ein  einziges  Trugmotiv  wirksam,  sondern  es  sind  deren  zwei, 
zwischen  denen  eine  „Complexität"  stattfindet;  es  wirken  Confluxion  und  Contrast 
gleichzeitig  bei  dem  Zustandekommen  dieser  Täuschung.  Diese  Erklärung  wird 
von  Heymans')  bekämpft,  welcher  die  Täuschung  als  einen  „Bewegpingscontrasf^ 
auffasst.    (Wie  Müller-Lyer  an  einer  anderen  Stelle  darthut,  liegt  den  Angriffen 


*)  F.  C.  Müller-Lyer,  Ueber  Contrast  und  Confluxion,  Zeitschr.  f.  Psych. 
u,  Phys.  d.  Sinnesorgane  IX,  S.  2. 

*)  Heymans,  Quantitative  Untersuchungen  über  das  „optische  Paradoxon''. 
Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  IX,  S.  221. 

Zeitschrift  fttr  Hypnotismus  etc.    YIII.  3 


34  ^-  Laot^nbach. 

H  e  y  m  a  n  8 '  gegen  seine  Theorie  freilich  ein  Missverständniss  zu  Grunde.)  W  u  n  d  t 
unterscheidet  neben  der  Grössentäuschung  eine  perspectivische  Täuschung, 
welch'  letztere  Thi^ry^)  sogar  in  den  Vordergrund  stellt,  was  von  Wundt  als 
irrthümlich  bewiesen  wird,  weil  die  Grössentäuschung  auch  ohne  die  perspectivische 
Täuschung  auftreten  kann,  also  die  primäre  ist.  Wundt  bringt  die  Entstehung 
der  Täuschung  in  Einklang  mit  seiner  Theorie  von  den  Fixationslinien.  Die  Strecke 
A  in  Fig.  2  wird  darum  grösser  geschätzt,  weil  die  Schenkel  der  Winkel  eine 
Verlängerung  in  der  Richtung  dieser  Linie  Torstellen,  also  ein  Motiv  zur  Fort- 
setzung der  Bewegung  in  derselben  Richtung  bieten,  B  dagegen  erscheint  kleiner, 
weil  hier  durch  die  Winkelschenkel  von  entgegengesetzter  Richtung  eine  Hemmung 
der  Bewegung  existirt.  In  dieser  Auffassung  wird  Wundt  noch  bestärkt  durch 
die  Delboeuf 'sehen  Kodificationen  der  Müller-Lyer'schen  Täuschungsfigur, 
welche  sämmtlich  durch  den  Einfluss  der  Fixationslinien  erklärt  werden,  was  auch 
mit  den  quantitativen  Messungen  der  Delboeuf 'sehen  Zeichnungen  Thiery's 
übereinstimmt.  Lipps  findet  die  Erklärung  für  diese  Täuschung  in  der  „Coin- 
^^idenz**  entgegengesetzt  gerichteter  Thätigkeiten,  wobei  deren  Grenzpunkte  die 
gemeinsamen  Grenzpunkte  verschieden  gerichteter  Ausdehnungen  sind.  Filehne 
macht  seinem  Princip  gemäss,  wonach  alle  geometr.-opt.  Täuschungen  als  Nach- 
wirkungen früher  gehabter  Erfahrungen  zu  betrachten  sind,  auch  hier  der  Einfiuss 
halbgeweckter  Erfahrung  geltend.*) 

Wir  kommen  nun  zu  der  dritten  Classe  der  geometrisch-optischen  Täuschungen, 
den  „Constanten  Streckentäuschungen",  die  sich  hauptsächlich  auf  die 
Ueberschätzung  verticaler  Distancen  gegenüber  horizontalen  erstrecken  (vgl.  Fig.  3). 

Bei  diesen  fällt  die  perspectivische  Vorstellung 
weg,  ebenso  wie  auch  die  Fortsetzung  bezw. 
Hemmung  der  Bewegungen  des  Auges  bestimmter 
Fixationslinien  entlang,  und  somit  die  Möglich- 
keit der  Umkehrung  der  Täuschung.  Dieselben 
können  nur  durch  Asymmetrien  des  Auges  be- 
-  dingt  werden.  Der  reguläre  Astigmatismus  kann 
aber  als  Erklärungsmoment  nicht  weiter  in  Frage 
kommen,  als  es  sich  hier  um  Täuschungen  handelt, 
die  individuell  ziemlich  constant  und  auch  bei 
verschiedenen  Individuen  gleichmässig  sind,  und 
die  nicht  wie  die  durch  Astigmatismus  hervorge- 
rufenen Bildverzerrungen  durch  eine  entsprechende 
-p.      n  Brille  aufgehoben  werden  können.  Es  können  daher 

nur  primäre  musculäre  Asymmetrien 
diese  Täuschungen  verursachen.  Da  für  die  Richtigkeit  dieser  Behauptung  aller- 
dings in  erster  Linie  negative  Gründe  angeführt  werden,  so  hat  sie  einstweilen  nur 
einen  hypothetischen  Werth.  —  Nach  der  mechanischen  Theorie  von  Lipps  wird 
die  Ueberschätzung  verticaler  Distancen  gegenüber  horizontalen  auf  die  Wirkung 
der  Schwerkraft  zurückgeführt:  die  horizontale  Ausdehnung  ist  gegen  die  Schwere 
neutral,  während  die  verticale  in  Wechselbeziehung  zu  derselben  steht. 

^)  Thiery,  Ueber  geometrisch-optische  Täuschungen.  Philos.  Stud.  XII,^ 
S.  73  u.  s.  f. 

«)  Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  XVII,  S.  2ö. 


36  H.  Lautenbach. 

während  Hoppe  an  Stelle  des  Bewegungscontrastes  einen  Kichtungscontrast  setzt. 
Hering  interpretirt  diese  Täuschung  als  eine  Wirkung  der  perspectivischen  Vor- 
steUung.  Die  Kundt'sche  Hypothese,  wonach  die  Abstände  nach  der  Länge  der 
Linien  beurtheilt  werden,  ist  experimentell  unhaltbar  und  jetzt  verlassen  worden. 
Eine  Modification,  die  auf  denselben  Motiven  der  Ueberschätzung  spitzer  Winkel 
basirt,  ist  die  Kreisbogen-Figur  von  Wund  t  und  die  Trapeze  von  Müll  er -Ly  er, 
bei  denen  die  bedingenden  Geraden  nur  nicht  wirklich  gezogen,  sondern  nur  vor- 
gestellt sind. 

Dasselbe  ist  auch  an  den  He ymans' sehen  Mustern  der  Fall. ^)  Heymans 
aber  hält  die  Grösse  des  Neigungswinkels,  unter  dem  sich  die  verticalen  und  trans- 
versalen Linien  schneiden,  für  die  secundäre  Ursache  der  Täuschung,  die  ungleiche 
Entfernung  der  Querstriche  von  den  Hauptlinien  für  die  primäre,  obwohl  die  Zu- 
nahme der  Täuschung  mit  der  Abnahme  der  Winkelöfihung  doch  auf  das  Gegen- 
theil  hinweist.  Nachdem  wir  festgestellt  haben,  dass  diese  Täuschungen  durch  die 
Unterschätzung  spitzer  Winkel  und  deren  Folgeerscheinungen  bewirkt  werden,  so  er- 
hebt sich  die  weitere  Frage,  warum  wir  denn  spitze  Winkel  unterschätzen.  Nach 
Helmholtz')  ist  diese  Thatsache  aus  den  Netzhautbildem  zu  erklären,  indem 
nämlich  deutlich  abgegrenzte  kleine  Grössen  grösser  erscheinen.  Nun  giebt  aber 
Helmholtz  selbst  zu,  dass  diese  Täuschungen:  sowohl  die  Zöllner 'sehe  wie 
ihre  Analoga  bedeutend  verringert  werden,  wenn  man  die  Zeichnungen  starr  fixirt ; 
daraus  geht  doch  zweifellos  hervor,  dass  der  Grund  zur  Täuschung  nicht  aus  der 
Beschaffenheit  des  Netzhautbildes  hervorgehen  kann,  da  dieses  doch  eine  constante 
Grösse  ist,  also  auch  eine  constante  Täuschung  her^'orbringen  müsste,  was,  wie 
gesagt,  der  Erfahrung  widerstreitet.  Es  kann  also  für  das  Zustandekommen  dieser 
Täuschung  nicht  das  Netzhautbild  allein  verantwortlich  gemacht  werden,  sondern 
wir  müssen  mit  Wundt  den  Einfluss  der  Blickbewegung  mit  in  Betracht  ziehen. 
Derselbe  macht  sich  natürlich  bei  starrer  Fixation  w^eniger  geltend  als  bei  bewegtem 
Auge,  wodurch  die  jeweilige  Vergrösserung  oder  Verkleinenmg  der  Täuschungen 
folgerichtig  sich  ableiten  lässt.  Mit  dieser  Auffassung  stimmt  im  Grunde  auch 
Delboeuf  überein. 

Die  „Constanten  Richtungstäuschungen^  bestehen  in  einer  schein- 
baren Abweichung  von  der  Lothlinie  bei  senkrechten  Geraden,  die  auf  zwei  Punkten 
einer  Horizontalen  errichtet  sind.  Die  Täuschung  tritt  selbstverständlich  nur  bei 
monocularer  Betrachtung  ein,  da  bei  binocularer  die  Fehler  beider  Augen  sich 
aufheben.  In  Zusammenhang  mit  dieser  Täuschungsform  steht  die  Richtungs- 
täuschung bei  der  Recklinghausen'schen  Schachbrettfigur,  wobei  es  sich  um 
die  Richtung  indirect  gesehener  Linien  handelt.  Recklinghausen  selbst  ver- 
suchte diese  Erscheinung  dioptrisch  zu  erklären,  was  sich  aber  als  falsch  erwiesen 
hat;  vielmehr  entstehen  die  constanten  Richtungstäuschungen  aus  dem  Zusammen- 
wirken von  Netzhautbild  und  Blickbewegung,  also  ps^'chophysiologisch. 

Endlich  erübrigt  es  noch,  auf  diejenigen  Täuschungen  einzugehen,  welche  ihre 
Entstehung  der  Association  in  erster  Linie  verdanken,  während,  wie  wir  gesehen 


^)  Heymans,  Quantitative  Untersuchungen  über  die  Zolin  er 'sehe  und 
Loeb'sche  Täuschung.  Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorgane,  Bd.  XIV, 
S.  101  ff. 

«)  Physiol.  Optik,  S.  705. 


Die  geometriBch-optischen  Tänschuogen  nnd  ihre  psychologische  Bedeatnng.    3f 


haben,  bei  allen  vorher  betrachteten  Tänschongsformen  der  psychologische  Vorgang, 
den  man  Association  nennt,  erst  durch  physiologische  Processe  bedingt  warde, 
Wundt  bezeichnet  ans  diesem  Grunde  die  hierher  gehörigen  Täuschungen  als 
„Associationstäuschungen''.  Bei. diesen  werden  gleich  grosse  Gebüde  in- 
mitten congruenter  Figuren :  Linien,  Winkeln,  Kreisen  etc.  für  verschieden  gehalten 
und  zwar,  wenn  die  Grössenunterschiede  der  umgebenden  Innren  unbedeutend 
sind,  wird  das  von  grösseren  umgebene  Gebilde  auch  für  grosser  gehalten,  sind 
dagegen  die  zwei  gleiche  geometrische  Gebilde  einschliessenden  Stücke  von  ganz 
verschiedener  Grösse,  so  erscheint  das  von  kleinen  Gebilden  eingeschlossene  be- 
deutend grösser  als  das  von  grossen  umgebene.  Im  ersteren  Falle  wirkt  die 
Angleichung,  im-  letzteren  der  Gegensatz  oder  Gontrast,  mit  welchem 
gleichzeitig  auch  eine  perspectivische  Vorstellung  Hand  in  Hand  geht.  Eine 
M^dification  dieser  Associationstäuschungen  bilden  die  auf  demselben  Princip  be- 
ruhenden sog.  „Zwischenraumtäuschungen'':  Strecken,  durch  grössere  Zwischen- 
räume getrennt,  erscheinen  grösser  als  gleich  grosse,  durch  kleinere  Zwischenräume 
getrennt  in  Folge  der  Angleichung  (vgl.  Fig.  6),  und  Zwischenräume,  von  grösseren 
Figuren  eingeschlossen,  erscheinen  kleiner  als  gleich  grosse,  von  kleineren  Figuren 
eingeschlossene,  in  Folge  der  Contrastwirkung  (vgl.  Fig.  6).    Nach  der  mechanischen 


■  ^.^.a 


Fig.  5.  Fig.  6. 

Theorie  von  Lipps  wird  die  Täuschung  dadurch  hervorgebracht,  dass  die  Kraft 
der  Ausdehnung,  wenn  ein  Gebilde  von  grösseren  Figuren  eingeengt  ist,  geringer 
ist  und  dasselbe  daher  verkleinert  erscheinen  muss.  Im  Uebrigen  hebt  Lipps^ 
noch  den  Umstand  hervor,  dass  bei  gleichen  Kreisen,  die  in  einem  Falle  von 
grösseren,  im  anderen  von  kleineren  Kreisen  umgeben  sind,  die  Ueberschätzung 
des  letzteren  Kreises  sich  in's  Gegentheil  verwandelt,  wenn  die  Entfernung  der 
kleineren  Kreise  von  dem  in  der  Mitte  liegenden  grossen  Kreise  stark  vergrössert 
wird;  es  ist  also  für  das  Zustandekommen  dieser  Täuschung  eine  in  beiden  Fällen 


^)  Tb.  Lipps,  Raumästhetik  und  geometrisch-optische  Täuschungen,  S.  222. 


38 


R.  Lautenbach. 


gleiche  Distanz  der  Nebenkreise  vom  Hanptkreis  Voraussetzung.  —  Thiery,  der 
diese  Täuschungen  einer  Untersuchung  unterzogen  hat  %  sucht  sie  aus  dem  Princip 
seiner  perspectivischen  Theorie  abzuleiten,  was  mir  jedoch  nicht  zwingend  erscheinen 
will,  da  ich  zuerst  die  Grössentäuschung  e;npfinde  und  dann  erst  die  perspectivische 
Nebenvorstellung. 

Wie  wir  bei  der  Erörterung  der  verschiedenen  Täuschungen  gefunden  haben, 
ist  es  nicht  immer  möglich,  die  einzelnen  Ursachen  einer  Täuschung  zu  isoliren, 
sondern  bald  bewirkt  die  eine  Bedingung  eine  Verstörkung  der  Täuschung,  während 
die  andere  eine  Verminderung  derselben  hervorruft.  Wir  wollen  daher  im  Folgen- 
den im  Anschluss  an  Wundt  noch  die  bekanntesten   Fälle  solcher  complicirten 


A. 


Fig.  7. 


B. 


Täuschungen  betrachten.   Fig.  7  zeigt  eine  solche  Complicatiostäuschung,  wie 
ich  sie  kurz  nennen  will.    Darin  erscheint  A  niedriger  als  B,  die  horizontalen  Be- 

grenzungslinien  dagegen  scheinen  in  A  länger  zu 
sein  als  in  B.  £s  findet  dabei  also  ein  Zusammen- 
wirken variabeler  und  constanter  Täuschungen  statt. 
Auf  eventuell  drei  Täuschungsmotiven  beruht  die 
von  O  p  p  e  1  beschriebene  Täuschung  der  zwei  gleich- 
schenkeligen  Dreiecke.  £s  compliciren  sich  darin 
eine  Streckentäuschung,  eine  constante  Grössen- 
täuschung und  eine  Winkeltäuschimg.  Gegenstand 
vielseitiger  Erörterungen  ist  die  hierher  gehörige 
Poggendorff'sche  Täuschung  gewesen,  welche 
Fig.  8  veranschaulicht.  Zum  Zustandekommen  dieser 
Täuschung  tragen  drei  verschiedene  Motive  bei, 
welche  sich  summiren:  die  Ueberschätzung  spitzer 
W^inkel,  die  Ueberschätzxmg  verticaler  Strecken  und 
die  Ueberschätzung  ausgefällter  Strecken.  Die 
Loeb^sche  Täuschung  ist  wohl,  wie  Wundt  an- 
nimmt, auf  das  Recklinghausen'sche  Muster 
zurückzuführen.  Loeb  selbst  weist  sie  jedoch  mit 
Hülfe  der  Contrasttheorie  nach,  und  Heymans') 
identificirt  sie  mit  der  Zöllner' sehen  Täuschung. 
Eine  Complication  von  physiologischen  Täuschungs- 
momenten und  associativen  bietet  die  Müller- 
Fig.  8.  Ly  er 'sehe  Kreisfigur  (vgl.  Fig.  9),  wobei  ein  dem- 

selben Kreise  zugehöriges  Segment  einem  grösseren  concentrischen  Kreis  anzugehören 


M  Ueber  geometrisch-optische  Täuschungen.    Philosoph.  Stud.  XIL  S.  84. 
*)  Heymans,    Untersuchungen    über    die  Zöllner 'sehe    und   Loeb 'sehe 
Täuschung.    Zeitschr.  f.  Psychol.  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  XIV,  S.  119  fif. 


Die  geometrisch-optischen  Tänschangen  und  ihre  psychologische  Bedeutung.    39 

scheint  und  analog  mit  diesem  ist  die  Täuschung,  bei  der  von  zwei  gleich  grossen, 
unter  einander  befindlichen  Kreissegmenten  das  untere  für  kleiner  geschätzt  wird 


Fig.  9. 


Fig.  10. 


als  das  obere.  Complicationen  von  Contrasttäaschungen  bieten  die  Fig.  10  u.  11  dar. 
Das  innerhalb  eines  grösseren  Vierecks  gelegene  kleinere  Viereck  erscheint  grösser 
als  der  gleichgrosse  isolirt  gelegene.  Thiery*)  führt  diese  Erscheinung  auf  per- 
spectivische  Wirkungen  zurück,  während  Delboeufsie  als  „Attractionswirkung" 
des  grösseren  Vierecks  bezeichnet.    Als  eine  Associationswirkung  ist  es  endlich  auch 


H- 


Fig.  11. 

zu  betrachten,  dass  die  gleichen  Abstände  zwei  auf  Geraden,  wenn  diese  lang  sind, 
kleiner  erscheinen,  als  wenn  sie  kurz  sind  (Fig.  11). 

(Schluss  folgt.) 


*)  Thiery,  Ueber  geom.-opt.  Täuschungen  (Philosoph.  Stud.  XII,  S.  107). 


Literaturzusammenstellung 

über 

die  Psychologie  und  Psycliopathologie  der  vita  sexualis 

von 
Dr.  Freiherm  tob  Schrenck-Notsing- München. 

(Fortsetzung.) 


Wenn  der  UmÜBing  dieses  Referates  auch  ein  ausfuhrlicheres  Eingehen 
auf  die  hochinteressanten  historischen  Beziehungen  der  vita  sexualis  nicht 
gestattet,  so  möge  doch  ein  kurzer  Hinweis  auf  die  Schrift  Dr.  Itosen- 
haum's  „Geschichte  der  Lustseuche  im  Alterthum"  nebst  aus- 
ftihrlichen  Untersuchungen  über  den  Venus-  und  Phallusculty  Bordellei 
voCaog  ^Xeia  der  Skythen,  Päderastie  und  andere  geschlechtliche  Aus- 
schweifungen der  Alten  (1.  Auflage  1839,  4.  Auflage  Halle  1888)  deswegen 
gestattet  sein,  weil  sie  für  die  weiterhin  zu  besprechenden  Arbeiten  ein 
wichtiges  Quellenwerk  darstellt.  Wie  Verfasser  an  der  Hand  der  Original- 
texte nachweist,  waren  bereits  im  Alterthum  alle  Arten  geschlechtlicher 
Ausschweifung  bekannt  und  zum  Theil  viel  verbreiteter  als  in  der  Gegen- 
wart. Er  zeigt  dann  femer,  dass  durch  den  Missbrauch  der  Geschlechts* 
Werkzeuge  einer  Verbreitung  der  im  Altertum  bereits  bekannten  Geschlechts- 
krankheiten Vorschub  geleistet  wurde,  und  geht  ausfuhrlich  ein  auf  die 
Entstehung  der  Päderastie  aus  der  ursprünglich  reinen  Paidophilie  im 
alten  Athen.  Die  Folge  der  Unzucht  der  Pathici  und  Kinäden  war  die 
vo€aog  S'i^keia,  die  zum  Weib  machende  Krankheit ,  d.  h.  die  Um- 
wandlung des  männlichen  Typus  in  den  weiblichen  (Skythen-Krankheit).  Ja 
man  hatte  sogar  im  Alterthum  die  Ansicht,  dass  die  Pathici  mit  der  Anlage 
zu  dem  Laster  geboren  werden  konnten  (angeborene  conträre  Sexual- 
empfindung). Die  Kennzeichen  der  Androgynen,  wie  sie  von  den  Schrift- 
steilem  jener  Zeit  beschrieben  werden,  der  Aufzug,  Gtmg,  Blick,  ihre 
Stimme  etc.  stimmen  vollständig  überein  mit  den  Merkmalen  der  heutigen 
Efl'eminirten.  Schon  die  alten  Autoren,  wie  z.B.  Aristoteles,  betonen 
in   der  Erörterung   der  Ursachen  dieser  Abweichung  von   der  Natur   die 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  41 

krankhafte  Phantasie  der  Androgynen.  umgekehrt  waren  auch  die 
Tribadie,  die  lesbiBche  Liebe  bei  dem  weiblichen  Geschlecht  im  Alterthum 
gebränchlich  (sogar  mit  Hülfe  eines  aus  Leder  gefertigten  künstlichen 
Penis  =  Skiaßccv).  Falle  von  Nymphomanie,  Satyriasis  werden  nicht  selten 
beschrieben.  Auch  die  Sodomie  scheint,  wie  die  anderen  Arten  des  sexuellen 
Abusus,  aus  den  religiösen  Culten  der  asiatischen  Länder  nach  Griechenland 
und  Italien  gekommen  zu  sein.  Die  Schlangen  im  Aesculaptempel  sollen 
für  solche  Zwecke  abgerichtet  worden  sein,  während  die  römischen  Frauen 
sich  mit  Vorliebe  der  Esel  bedienten.  Auch  die  Coprophagie,  das  Trinken 
von  Schweiss  und  Urin  waren  im  Alterthum  bekannt ;  eine  besondere  sexuelle 
Bedeutung  hatte  das  Trinken  von  Menstrualblut.  Auch  für  das  Vorkommen 
des  Fetischismus  eroticus  lassen  sich  Belegstellen  finden,  und  so  sehen 
wir  aus  dem  interessanten  Werke  Bosenbaum's,  dass  die  hauptsäch- 
lichsten Aeussernngsformen  der  Psychopathia  sexualis  im  Alterthum  schon 
bekannt  waren  und  theilweise  bereits  richtig  als  Symptome  psychischer  Er- 
krankung gedeutet  wurden. 

Die  klinische  Casuistik  für  die  Psychopathologie  der  vita  sexualis  in 
neuerer  Zeit  beginnt  mit  der  von  Frank el  ausführlich  mitgetheilten 
Beobachtung,  welche  betitelt  ist:  „Homo  mollis^  (S.  Medic.  Ztg.,  heraus- 
gegeben vom  Verein   für  Heilkunde   in  Preussen,    Bd.  22,  1853,   S.    102). 

Der  Patient,  um  den  es  sich  handelte,  hatte  anfanglich  seine  Mutter 
im  Nähen  und  Sticken  unterstützt,  und  es  dann  zu  einer  so  beträchtlichen 
Kunstfertigkeit  in  allen  weiblichen  Arbeiten  gebracht,  dass  er  besonders 
durch  seine  Stickereien  und  durch  sein  Gardinenaufstecken  einen  grossen 
Saf  und  eine  gewisse  Wohlhabenheit  erlangte.  In  Folge  der  Beschäftigung 
mit  weiblichen  Arbeiten  ergab  er  sich  weibischer  Eitelkeit,  zerstörte  sorg- 
^ügst  seinen  Bart,  legte  sein  Haar  in  Locken,  stopfte  sich  Busen  und 
Hüften  ausy  und  benutzte  jede  Gelegenheit,  sich  als  Frauenzimmer  zu 
maskiren. 

Was  anfangs  blos  läppische  Affeetation  gewesen,  wurde  allmählich  zur 
anderen  Natur,  der  Ton  seiner  Stimme,  von  Natur  aus  tief,  wurde  fein  und 
kreischend,  und  der  Gang  trippelnd.  Blank  kam  um  obrigkeitliche  Er- 
lanbniBS  ein,  sich  weiblich  kleiden  zu  dürfen,  und  obwohl  abschlägig  be- 
tchieden,  zeigte  er  doch  eines  Tages  unter  dem  Namen  „Friederike  Blank^ 
seine  Verlobung  mit  einem  fremden  Handwerker  an.  Patient,  dessen  Ge- 
gchlechtsiheile  normal  gebildet,  näherte  sich  Männern,  vollzog  als  Frau  ge- 
kleidet den  Coitus  mit  jungen  Leuten,  welche  er  so  geschickt  zu  täuschen 
wusste,  dass  sie  glaubten,  ein  Weib  vor  sich  zu  haben.  Der  After  war 
stark  erweitert  und  eingerissen.  Bei  seiner  Arretirung  tödtete  er  sich  durch 
einen  Sprung  ins  Wasser. 

Nach  diesen  Mittheilungen  gewinnt  es  den  Anschein,  als  ob  Blank 
durch  die  Handhabung  weiblicher  Arbeiten,  zu  der  ihn  seine  Mutter  an- 
hielt, weiblich  wurde.  Es  handelt  sich  allerdings  hier,  wie  Westphal 
bemerkt,  um  einen  an  Schwachsinn  und  Moral  insanity  leidenden  Menschen, 
was  auch  durch  andere  perverse  Neigungen  (z.  B.  Stehlen)  bestätigt  wird. 
Warum  hier  bei  nachweislichen  Erziehungseinflüssen  aus  originärer 
Anlage  conträre  Sexualempfindung  entstanden  sein  soll,  ist  nicht  einzusehen. 


42  ▼•  Schreoek-Xotzing. 

Für  unsere  AnfEassimg  interessant  and  bestätigend  ist  die  IGttheilimg 
des  Directors  der  Strafanstalt  in  Brandenburg  an  TTestphal,  dass  die 
Handhabung  weiblicher  Arbeiten  bei  Hannem  in  den  Stralanstalten  die  Ur- 
sache weiblichen  Benehmens  werden  könne. 

Grandlegend  für  die  weitere  Bearbeitung  des  Gebietes  wurde  West- 
phaTs  Mittheilnng:  „Die  contrare  Sexualempfindung ,  Symptom  eines 
nearopathischen,  psychopathischen  Zustandes  (Archir  für  Psychiatrie,  Bd.  11, 
Berlin  1870,  S.  73).  Er  fahrte  die  Bezeichnung:  „contrire  Sexual- 
empfindung"  in  die  Wissenschaft  ein  und  betonte  das  Angeborensein  dieser 
Geschlechtsanomalie,  stand  aber  bei  Beurtheilung  derselben  offenbar  unter 
dem  Einflass  der  aach  von  ihm  ausfuhrlich  citirten  Schriflen  Ton  Ulrichs 
und  Casper.  Er  legt  ein  zu  grosses  Gewicht  auf  die  Gleichartigkeit  der 
Autobiographien  solcher  Personen,  ohne  dabei  die  Schädlichkeit  ungünstiger 
äusserer  Momente  und  Erziehungseinflüsse  genügend  zu  ¥rürdigen.  In  der 
ersten  Beobachtung  WestphaTs  handelt  es  sich  um  Homosexualität  eines 
Weibes ,  das  seit  frühester  Jagend  onanirte ,  in  dem  Alter  von  18  bis 
23  Jahren  5  Wochen  hindurch  täglich  in  einem  Bett  mit  ihrer  Cousine 
schlief  und  jede  Nacht  mit  ihr  sich  geschlechtlich  befriedigte.  Jedes  dieser 
beiden  Momente  für  sich  könnte  bei  einer  psychopathisch  angelegten  Person 
—  um  eine  solche  handelte  es  sich  hier  —  genügen,  um  schliesslich  Um* 
kehnmg  der  Geschlechtsempfindung  zu  erzengen. 

So  werthvoll  und  grandlegend  für  die  ganze  Psychopathia  sexualis 
Westphal's  Beobachtungen  sind,  sie  liefern  nicht,  wie  er  sagt,  „den 
unwidersprechlichen  BeweiB**  für  die  Angeborenheit  der  conträren 
Sexualempfindong,  wohl  zeigen  beide  Fälle  eine  schwere  erbliche  Belastung, 
die  sich  aber  unter  ausschlaggebender  Wirkung  occasioneller  Momente  erst 
zur  conträren  Sexaalempfindung  entwickelten.  Beide  Patienten  zeigen  von 
Jugend  auf  einen  leichten  Grad  psychischer  Schwäche;  als  eins  der 
Symptome  derselben  entwickelte  sich  auf  äussere  Anregung  die  Geschlechts- 
verirrung. 

Auch  in  der  zweiten  Beobachtung  WestphaTs  handelt  es  sich  um 
vorzeitiges  Erwachen  des  Geschlechtstriebes  (im  achten  Jahr).  Der  Patient, 
welcher  in  seiner  Jagend  Vorliebe  für  weibliche  Beschäftigung  gehabt 
haben  will,  sagt  aber  selbst:  „Mit  Frauen  geschlechtlichen  Umgang  zu 
pflegen ,  habe  ich  Neigung  gehabt,  jedoch  selten,  da  ich  fürchtete  hässlich 
zu  werden."  Demnach  bestand  Trieb  zum  Weibe,  wie  auch  seine  späteren 
Geschlechtsrapporte  mit  weiblichen  Personen  zeigen.  „Von  Männern  Hess 
Patient  sich,  wie  er  selbst  sagt,  nicht  brauchen,  trotz  vieler  An- 
erbietungen. Dagegen  onanirte  auch  er  als  ganz  junger  Mensch;  über  den 
diese  Acte  begleitenden  Yorstellungsinhalt  erfuhren  wir  nichts.  Es  handelt 
sich  hier  um  eine  ganz  defecte  moralische  Persönlichkeit;  nicht  etwa  ein 
Trieb  zum  Manne  (deren  Anerbietungen  er  vorher  und  auch  später  im 
Krankenhause  energisch  zurückwies),  sondern  allein  Gelderwerb  ver- 
anlasste ihn  zur  Verkleidung  als  Weib.  Und  erst  jetzt  passte  er  sich,  dem 
materiellen  Gewinn  zu  Liebe ,  seiner  weiblichen  Bolle  an ,  verkehrte  aber 
nichtsdestoweniger  noch  mit  weiblichen  Prostituirten ,  die  ihn  im  vollen 
Rausch  nach  Hause  begleiteten.  **     Ausserdem   schlief   er   einmal   angeblich 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  43 

ÜB  Weib  mit  einer  Köchin  in  einem  Bett,  will  sie  aber  nicht  berührt 
haben  (?).  Endlich  Hess  er  sich  eine  Reihe  von  Diebstählen  zu  Schulden 
konunen. 

Auch  hier  handelt  es  sich  offenbar,  wie  Westphal  richtig  bemerkt,  um 
einen  Schwachsinnigen.  Bei  seiner  Verhaftung  litt  Patient  an  Gonorrhoe. 
Das  sexuelle  Moment  lässt  sich  in  diesem  Falle  gewiss  nicht  im  Sinne  an- 
geborener conträrer  Sexualempfindung  verwerthen.  Seine  Vorliebe  fiir 
Frauenkleider  und  das  Spielen  der  weiblichen  Rolle  erklärt  der  Umstand 
genügend,  dass  ihm  dadurch  eine  bequeme  Einnahmequelle  erwuchs. 
Endlich  braucht  man  einem  liederlichen  schwindelhaften  Menschen  nicht 
jede  Mittheilung  zu  glauben,  wozu  noch  die  bei  Schwachsinnigen  vor- 
kommende Phantasielügnerei  (Pseudologia  phantastica)  das  Ihrige  bei- 
getragen haben  kann.  Sein  sexuelles  Fühlen  ist  ursprünglich  normal;  es 
handelt  sich  nach  unserer  Meinung  um  einen  Fall  von  angeborenem 
Schwachsinn,  der  neben  anderen  Symptomen,  allerdings  erst  später,  auch 
als  Product  bestimmter  Einwirkungen  diejenigen  conträrsexualer  Neigungen 
darbot. 

Das  Verdienst  der  Arbeit  Westphal 's  besteht  in  dem  Nachweise 
des  pathologischen  Characters  resp.  Zwanges  der  conträren  Sexualempfindung 
und  in  seiner  Auffassung  derselben  als  Theilerscheinung  eines  neuro-  resp. 
psychopathischen  Zustandes,  nicht  aber  in  der  Betonung  des  erblichen 
Momentes,  wozu  er  mehr  durch  die  Schriften  von  Ulrichs  und  C asper 
als  durch  seine  eigenen  Beobachtungen  veranlasst  wurde. 

An  die  Arbeit  von  Westphal  schlössen  sich  eine  Anzahl  casuistischer 
Mittheilungen,  von  den  hier  folgende  erwähnt  sein  mögen. 

Schminke:  Ein  Fall  von  conträrer  Sexualempfindung,  Archiv  für 
Psychiatrie,  IH.  Bd.  I.  Heft  1871,  S.  277. 

Scholz:  Bekenntnisse  eines  an  perverser  Oeschlechtsrichtung  Leidenden. 
Vierteljahrsschrift  für  gerichtl.  Medicin,  Bd.  XIX  2.  Heft  S.  321. 

Oock:  Ein  Beitrag  zur  Kenntniss  der  conträren  Sexualempfindung, 
aus  der  Würzburger  Psychiatr.  Klinik,  Archiv  für  Psychiatrie  1876,  Bd.  V 
2.  Heft,  S.  564. 

Servaes:  Zur  Kenntniss  von  der  conträren  Sexualempfindung, 
VI.  Bd.  des  Archivs  für  Psychiatrie  1876,  2.  Heft,  S.  484. 

Stark:  „Ueber  conträre  Sexualempfindung",  AUgem.  Zeitschr.  für 
Psychiatrie,  33.  Bd.,  BerUn  1877,  S.  209. 

Kelp:  Ueber  den  Geisteszustand  der  Ehefrau  Katharina  Margarethe 
L — r,  conträre  Sexual empfindung,  Allgem.  Zeitschr.  für  Psychiatrie,  Bd.  36, 
S.  716  ff. 

Wie  in  der  früher  schon  erwähnten  Schrift  des  Referenten ')  aus- 
führlich nachgewiesen  wurde,  lassen  sich  die  Fälle  von  Schminke, 
Gock  und  Servaes  nicht  für  die  originäre  Anlage  conträr  sexueller 
Neigungen  verwerthen ;  die  Beobachtungen  von  Scholz  (Effeminatio, 
Onanie,  horror  feminae)  und  Stark   sind  nicht   genau   genug   beschrieben, 


*)  V.  Schrenck-Notzing.    Die    Suggestionstherapie   bei   krankhaften   Er- 
scheinungen des  Geschlechtssinnes. 


44  ▼•  Sehrenck-Notzingf. 

um  mit  in  Rechnimg  gezogen  werden  zu  können,  wahrend  es  sieb  bei 
Kelp  um  erworbene  Homosexualität  handelt. 

Im  Jahre  1877  erschien  die  erste  Veröffentlichung  von  v.  Krafft* 
Ebing  „lieber  gewisse  Anomalien  des  Geschlechtstriebes^  im  Archiv  für 
Psychiatrie  Bd.  YII,  S.  291;  1881  eine  weitere  Arbeit  über  dasselbe 
Thema.  Die  Studien  dieses  Autors  wurden  bald  darauf  in  einem  Bande 
unter  dem  Titel  „Psychopathia  sexualis^  zusammengefasst ,  herausgegeben 
und  erlebten  den  für  ein  wissenschaftliches  Buch  unerhörten  Erfolg  Ton 
zehn  Auflagen  bis  zum  Jahre  1898.  Durch  die  bahnbrechenden  Forschungen 
Krafft-Ebing's  ist  die  wissenschaftliche  Bearbeitung  eines  so  zu  sagen 
neuen  Oebietes  erst  erschlossen  worden;  ihm  gebührt  das  unbestreitbare 
und  bleibende  Verdienst,  eine  Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita 
sexualis  —  wovon  bis  dahin  kaum  die  bescheidensten  Ansätze  bestanden,  — 
ins  Leben  gerufen  und  zum  ersten  Mal  die  verschiedenen  Gfruppen  der 
psychosexualen  Erkrankungen  nach  den  Grundsätzen  klinischer  Analyse  und 
Terminologie  beschrieben  und  auf  Gesetze  zurückgeführt  zu  haben. 

Das  grundlegende  Werk  Krafft-Ebing's  legt  einerseits  Zeugniss 
ab  für  den  feinen  psychologischen  Scharfblick  und  das  tiefe  menschliche 
Mitgefühl  seines  Autors,  andererseits  hat  es  durch  seine  vielseitige  Anregung 
einen  neuen  Literaturzweig  geschaffen;  denn  die  seit  dem  Erscheinen  der 
Psychopathia  sexualis  veröffentlichten  Schriften  und  Arbeiten  über  das 
sexuelle  Problem  in  wissenschaftlicher  und  belletristischer  Form  bilden  schon 
für  sich  eine  kleine  Bibliothek. 

Man  kann,  wie  Verfasser  schon  in  der  Einleitung  zu  dem  oben  er- 
wähnten Werke  ^)  ausführte,  darüber  streiten,  ob  es  richtig  ist,  das  Gebiet 
der  Anomalien  des  Geschlechtstriebes  gesondert  zu  behandeln,  anstatt  es  der 
Psychiatrie  an  geeigneten  Stellen  einzufügen.  Gewiss  sind  es  in  der  Regel 
nur  Symptome  einer  constitutionellen  Erkrankung  oder  eines  Schwäche- 
zustandes des  Gehirns,  die  uns  in  den  mannigfaltigen  Formen  der  sexuellen 
Per  Versionen  entgegentreten. 

Ausserdem  hat  man  auf  den  Schaden  hingewiesen,  der  durch  Publicationen, 
wie  die  Psychopathia  angestiftet  werden  kann.  Sicherlich  wäre  das  Erscheinen 
von  zehn  Auflagen  dieses  Buches  nicht  erklärlich,  wenn  die  Verbreitung  des- 
selben nur  in  der  wissenschaftlichen  Welt  erfolgt  wäre. 

Es  lässt  sich  also  gar  nicht  bestreiten,  dass  das  pornographische 
Interesse  des  Laienpublicums  an  der  grossen  Verbreitung  einen  namhaften 
Antheil  hat.  Aber  trotz  dieses  Uebelstandes  steht  doch  der  Schaden,  den 
eine  Pathologie  des  Geschlechtstriebes  in  unberufenen  Köpfen  anstiften 
kann,  in  keinem  Verhältniss  zu  dem  dadurch  gestifteten  Nutzen.  Die  Ge- 
schichte lehrt,  dass  der  üranismus  schon  vor  dem  Erscheinen  der 
Psychopathia  enorm  verbreitet  war.  Der  Richter  hat  sich  fortwährend 
mit  sexuellen  Delicten  zu  befassen,  bei  denen  die  Zurechnungsfahigkeit  der 
Angeklagten  in  Frage  kommt.  Dem  Arzte  selbst  sind  die  in  den  Lehr- 
büchern der  Psychiatrie  nur  stiefmütterlich  behandelten  psychosexualen 
Anomalien  vielfach    eine  Terra   incognita.      Die    genaue  Kenntniss  der  Ur- 


')  V.  Schrenck-Notzing,  Suggestionstherapie,  S.  9. 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  45 

Bachen  und  Entwicklongsbedingungen  bei  Geschlechtsverirrungen,  des  Ein- 
flusses,  den  erbliche  Ajilage,  Erziehung,  die  Wahrnehmungen  des  Lebens, 
sowie  die  socialen  Verhältnisse  der  heutigen  verfeinerten  Cultur  darauf 
haben,  ist  gradezu  die  nothwendige  Voraussetzung  zu  einer  vernünftigen 
Prophylaxe  des  Geschlechtslebens,  zu  einer  sexuellen  Erziehung.  Ohne 
sorgfältiges  Studium  der  Umstände,  welche  die  Erkrankung  des  Trieblebens 
herbeiführen,  könnten  wir  niemals  an  eine  wirksame  Therapie  denken.  Den 
meisten  dieser  unglücklichen  Patienten  —  v.  Krafft-Ebing  nennt  sie 
Stiefkinder  der  Natur  —  fehlt  die  Krankheitseinsicht;  ähnlich  wie  Geistes- 
kranke ohne  Verständniss  für  die  ethische  Entwicklung  des  Menschen, 
fühlen  sie  sich  glücklich  in  ihrer  krankhaften  Triebrichtung.  Daher  ent- 
schliessen  sich  trotz  der  grossen  Verbreitung  des  üranismus  so  wenige  zu 
einer  ärztlichen  Behandlung.  Während  die  terminalen  Formen  der  ab- 
normen Geschlechtsthätigkeit  ihr  Ende  im  Irrenhaus  finden,  bilden  grade 
die  zweifelhaften  Fälle,  bei  denen  Entwicklungsmängel  oder  scheinbare 
Lasterhaftigkeit  eine  zutrefiende  Diagnose  sehr  erschweren  —  man  kann 
sagen  die  Begel.  Gradezu  unerlässlich  aber  ist  eine  gründliche  Kenntniss 
der  Lehre  von  den  Verirrungen  des  sexuellen  Trieblebens  vor  Gericht.  Die 
mitgetheilten  Gründe  sind  schwerwiegend  genug,  um  die  Nothwendigkeit 
eines  Handbuches  zu  rechtfertigen.  Grade  weil  die  Anschauung  des  Ver- 
fassers in  einigen  Punkten  von  derjenigen  Krafft-Ebing 's  abweicht, 
erscheint  es  als  besondere  Pflicht,  das  grosse  Verdienst,  welches  sich  der 
letztere  um  die  wissenschaftliche  Bearbeitung  dieses  ganzen  Gebietes  er- 
worben hat,  zu  betonen  und  in  vollem  Umfange  anzuerkennen. 

Der  Kürze  halber  soll  im  Verlauf  dieses  Referats  nur  die  zehnte  1898 
erschienene  Auflage  besprochen  werden,  nachdem  wir  vorher  einiger  Autoren 
gedacht  haben,  die  fast  gleichzeitig  mit  v.  Krafft-Ebing  oder  bald  nach 
Erscheinen  der  ersten  Auflagen  der  Psychopathia ,  —  wenn  auch  schon 
theilweise  durch  dieselbe  beeinflusst  —  dennoch  wichtige  und  selbstständige 
Beiträge  geliefert  haben. 

Das  Studium  der  sexualen  Anomalien  wurde  in  dem  Jahrzehnt  nach 
dem  Erscheinen  der  ersten  Arbeiten  K  r  a  f  f  t  -  £  b  i  n  g  's  hauptsächlich  durch 
folgende  Autoren  gefördert :  ^) 

Las^gue  (les  exhibitionistes,  Union  mSdicale,  Mai  1877),  Bitti 
(de  Tattraction  des  sexes  semblables  Gaz.  hebd.  de  med.  et  de  chir.  1878). 
Tamassia  (Inversione  sessuale,  Biv.  speriment.  di  freniatria  e  di  med. 
legale  Heft  6, 1878).  Gross  (Geschlechtliche  Verirrungen  1878,  Encyclopädie 
des  Erziehungs-  und  Unterrichtswesens).  Lombroso  (l'uomo  delinquente, 
2.  Heft  1878,  deutsch  von  Frank el  1888),  Encycl.  des  ges.  Erziehungs- 
nnd  Unterrichtswesens  von  K.  A.  Schmidt  1878.  Pürckhauer 
(Verbrechen  wider  die  Sittlichkeit  an  einem  16jährigen  Mädchen,  Friedi'. 
Blätter  1879,  S.  368).  Brouardel  (£tude  critique  sur  la  valeur  des 
signes  attribuös  ä  la  Päderastie,  Annales  d^hygiene  1880,  No.  28,  p.  182). 
Menesclou  (Bapport  de  Las^gue,  Brouardel  et  Motet,  Annales  d'hygiene 


^)  Man  vergl.  hierzu  die   bibliographischen  Zusammenstellungen   bei   Moll, 
V.  Krafft-Ebing  und  v.  Eulenburg. 


46  ▼•  Schrenck-Notzing. 

publique  1880,  pag.  439).  Moreau  (Des  aberrations  du  Bens  gSn^iqne, 
Paris  1880).  Lacassagne  (Arch.  di  psichiatria  ed  antropologia  crimi- 
nale  I  pag.  438,  1880).  Contague  (Notes  sur  la  Sodomie,  Lyon  ni6d. 
No.  35  und  36,  1880).  Lombroso  (Arch.  di  psichiatr.  1881—83  [re£ 
in  Goldammer 's  Archiv  Bd.  30]).  Kowalewski  (Forensich  psychia- 
trische Analysen,  russisch  1881).  Lacassagne  (De  la  criminalitö  chez  les 
animaux  la  Revue  scientifique  XXIX,  Paris  1882,  S.  27).  Charcot- 
M  a  g  n  a  n  (Liversion  du  sens  genital  et  autres  perversions  sexuelles,  Archives 
de  neurologie  No.  7  und  12,  Paris  1882).  Krueg  (Perverted  sexuel 
instinkts  Brain  Vol.  lY,  London  1882).  Sterz  (Beitrag  zur  Lehre  von 
der  conträren  Sexualempfindung,  Jahrb.  für  Psychiatrie,  3.  Bd.,  Wien  1882). 
Blum  er  (A  case  of  perverted  sexual  Instinct,  American,  joum.  of 
Insanity  1882  July).  Cohn  (Augenkrankheiten  bei  Masturbanten,  Neurol. 
Centralbl.  1882,  pag.  63).  Hoffmann  (Päderastie,  Real-Encyclopädie  der 
ges.  Heilkunde  Bd.  X,  pag.  294,  1882  und  im  2.  Heft  1886).  Maschka 
(Unzucht  wider  die  Natur,  Handbuch  der  gerichtl.  Medicin  1882,  Bd.  Uly 
pag.  176).  Bernhardi  (Der  üranismus,  Berlin  1882).  Holländer 
(Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  conträren  Sexualempfindung,  Allgem. 
Wiener  med.  Ztg.,  27.  Jahrg.,  Nr.  38,  1882,  S.  407).  Kiernan 
(Besponsability  in  sexual  perversion.  Am.  Joum.  of  Neurol.  and  Psych.  1882). 
Krueg  (Perverted  sexual  instinct  Brain  Vol.  IV,  London  1882).  Raggi 
(Aberrazione  del  sentimento  sessuale  in  un  maniaco  ginecomasta,  La 
salute  1882,  No.  11,  pag.  86).  Kirn  (üeber  die  klinisch  forensische  Be- 
deutung des  perversen  Sexualtriebes,  Allgem.  Zeitschr.  für  Psychiatrie 
Bd.  39,  S.  216,  Berlin  1883).  Babow  (Zur  Casuistik  der  angeborenen 
conträren  Sexualempfindung,  (Ilentralbl.  für  Nervenheilkunde,  Jahrg.  6,  1883, 
S.  186  und  Zeitschr.  für  klin.  Medicin,  Bd.  17,  Berlin  1890,  S.  129  ff.). 
Guyot  (La  prostitution  1883).  Hammond  (Sexual  impotence  in  the 
male  New  York  1883,  deutsche  TJebersetzung  der  2.  Auflage  von 
Salinger  189 1  Berlin).  Lombroso  (Amori  anomali  e  precoci  nei 
pazzi  Arch.  di  psich.  1883).  Shaw  and  Ferris  (Perverted  sexual 
instinct,  Joum.  of  nerv,  and  ment.  dis.  1883  No.  2).  Krauss  (Die 
Psychologie  des  Verbrechens  1884,  Tübingen  pag.  173).  Anjel  („Ueber 
eigenthümliche  Fälle  perverser  Sexualerregung",  Archiv  fiir  Psychiatrie  1884, 
15.  Bd.).  Martineau  (Le^ons  sur  les  d^formations  vulvaires  et  anales, 
Paris  1884).  Leo  Taxil  (La  prostitution  contemporanie  1884).  Garnier 
(Onanisme  seul  et  ä  deux,  sous  toutes  ses  formes,  Paris  1884).  Sa  vage 
(Case  of  sexual  perversion  on  a  man.  The  Journal  of  mental  science 
VoL  XXX,  Oct.  77,  1884).  0-1  ey  (Les  alterrations  de  Tinstinct  sexuel 
Revue  philosophique  1884).  Chevalier  (De  Tinversion  de  Tinstinct 
sexuel  Paris  1885,  2.  Aufl.,  1893).  Magnan  (Ann.  m^d.  psychol.  1885, 
pag.  485).  Mantegazza  (Anthropologisch-culturhistorische  Studien  über 
die  Geschlechtsverhältnisse  des  Menschen,  Jena  1885 — 86).  Blumen- 
stock (Conträre  Sexualempfindung,  Beal  -  Encyclopädie  d.  ges.  Heilk. 
2.  Aufl.  Bd.  VI,  1885).  Magnan  (Des  anomalies,  des  aberrations  et  des 
perversions  sexuelles,  Annales  medico-psychologiques,  43  ann^e  1885  S.  454 
und    1886:   Anomalies   du   sens   genital),    [vgl.  auch  Möbius:   Psychiatr. 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  47 

Yorl.  Y.  Magnan  ,  Leipzig  1892,  Heft  11  und  III,  S.  35  £f.].  Lacassagne 
(Attentats  ä  la  pudenr,  Archiv  d'anthropol.  criminelle  etc.  1886,  Bd.  I 
8.  59  £P.).  Tarnowsky  (Die  krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechts- 
sinnes, Berlin  1886).  Keuss  (Aberrations  du  seus  genösique,  Annales 
d'hygiene  publique  16.  tome  1886).  Saury  (£tude  clinique  sur  la  folie 
hdr^ditaire  1886).  S6rieux  (Recherches  cliniques  sur  les  anomalies  de 
rinstinct  sexnel  1886).  Brouardel  (Gaz.  des  hopitaux  1886  und  87, 
derselbe  in  No.  60  ebenda  1887,  Erotomanes,  exhibitionistes,  nymphomanes, 
masturbateurs).  Lombroso  (Der  Verbrecher,  deutsch  von  Fränkel  1887, 
8,  119).  Kowalewski  (Ueber  Perversion  des  Geschlechtssinnes  bei 
Epileptikern,  Jahrb.  für  Psychiatrie  7.  Bd.  Heft  3,  1887).  Ball  (Sur  la 
folie  erotique,  Enc^phale  1887,  pag.  190).  Bin  et  (Le  fStischisme  dans 
Tamour,  Revue  philosophique  XXIV  1887,  8.  143  und  252). 

Von  den  hier  genannten  Autoren  war  Lasägue  der  erste,  der  die 
Exbibition  als  Krankheitserscheinung  auffasste  und  auf  das  periodische 
Auftreten  derselben  bei  bestimmten  Individuen  sowie  ihre  volle  Gleichgültig- 
keit gegen  die  äusseren  Umstände  hinwies. 

In  Italien  begannen  das  Studium  der  sexuellen  Anomalien  um  dieselbe 
Zeit  Tamassia,  Ritti  und  Lombroso.  Die  beiden  ersteren  betonen 
den  congenitalen  Gharacter  mancher  Fälle  sexueller  Inversion,  während 
Lombroso  das  occasionelle  Moment  und  die  krankhafte  Ideenassociation 
besonders  hervorhebt,  ohne  aber  deswegen  die  Bedeutung  des  erblichen 
Faktors  zu  negiren. 

„Eine  solche  krankhafte  Neigung  entwickelt  sich,  wie  Lombroso 
von  den  Verbrechern  sagt,  in  irgend  einer  schlimmen  Stunde,  besonders 
wenn  man  noch  Kind  ist,  und  verschwindet  unter  dem  Einfluss  einer  guten 
Erziehung.  Sie  bleibt  aber,  wenn  sie  auf  einen  günstigen  (durch  Ent- 
wicklungsschäden  dazu  beanlagten)  Boden  fallt  und  wenn  man  es  unter- 
lässt,  sie  zu  bekämpfen.  Während  sonst  bei  den  meisten  Menschen  die 
Reminiscenzen  solcher  Eindrücke  höchstens  in  untergeordneter  Weise  durch 
Ideenassociation  einen  Einfluss  zu  üben  vermögen,  wirken  sie  bei  besagten 
Snbjecten,  wie  gewisse  Virusarten,  indem  sie  sich  nicht  nur  fixiren,  sondern 
nach  und  nach  den  Organismus  durchdringen,  bis  sie  sich  desselben  ganz 
bemächtigt  haben  und  unwiderstehlich  zu  Handlungen,  meist  verbrecherischer 
Art,  antreiben.  Daraus  erklären  sich  die  seltsamen  Verirrungen  von  Obscönität 
und  Liebesneigung,  die  wir  bei  hereditär  beanlagten  Individuen  schon  seit 
ihrer  Jugend  auftreten  sehen. '^ 

Auch  Brouardel,  der  schon  früher  (1880)  die  Ansicht  T  ar  die  us, 
dass  Deformitäten  der  Eichel  von  päder astischen  Gewohnheiten  herrührten, 
widerlegt  hatte,  legt  grossen  Werth  auf  die  Schädlichkeit  der  Erziehung 
und  äusserer  Einflüsse  beim  Zustandekommen  von  Verirrungen  des  Ge- 
schlechtstriebes. Für  die  forensische  Beurtheilung  sexueller  Perversionen 
ist,  wie  Tarnowski^)  bemerkt,  der  Fall  Menesclou  lehrreich.  Im 
Jahre  1880  wurde  nämlich  der  19 jährige  Menesclou,  welcher  ein  vier- 
jähriges Mädchen   an  sich  gelockt,    genothzüchtigt ,  dann  erdrosselt  und  in 


*)  Tarnowski,  loc.  cit.,  S.  28,  29. 


48  ^-  Schrenck-Notzing, 

Stücke  zerschnitten  hatte,  zum  Tode  verurtheilt.  „Zum  Bedauern  und  zur 
Schande  der  Wissenschaft  gaben  die  als  Experten  fungirenden  Irrenärzte 
Lasögue,  Brouardel  und  Motet  trotz  der  offenbaren  sohweren  Form 
psychischer  Entartung  des  Angeklagten  ein  für  ihn  ungünstiges  Ghitachten 
ab,  indem  sie  ihn  für  vollkommen  zurechnungsfähig  erklarten  und  der 
Kranke  wurde  guillotinirt.  Bei  der  Untersuchung  von  Menesclou's  Gehirn 
im  anthropologischen  Laboratorium  erwies  es  sich,  dass  beide  Stimlappen, 
die  erste  und  zweite  Schläfenwindung  und  ein  Theil  der  Occipitalwindungen 
erweicht  waren. 

Das  erste  zusammenfassende  wissenschaftliche  Werk  neuerer  Zeit  über 
die  Erkrankungen  der  vita  sexualis  wurde  im  Jahre  1880  von  Moreau  de 
Tours  (vergl.  die  obige  Literaturzusammenstellung)  herausgegeben.  Ver- 
fasser hatte  bei  Abfassung  desselben  noch  keine  Kenntniss  von  den 
WestphaTschen  und  Krafft-E  bin  gesehen  Forschungen.  Die  Ein- 
leitung desselben  bildet  ein  historischer  Bückblick  auf  das  Vorkommen  der 
„aberrations  du  sens  g^n^sique^  bei  den  römischen  Kaisem  und  Kaiserinnen, 
im  ^littelalter  und  zur  Zeit  der  französischen  Könige.  Darauf  folgt  eine 
Besprechung  der  ätiologischen  Faktoren  unter  Berücksichtigung  von  Alter, 
Constitution,  Klima,  Temperament,  Jahreszeit  und  Nahrung.  Unter  den 
ausführlich  erörterten  Bildungsfehlern  der  Genitalien  nimmt  der  Hermaphro- 
ditismus in  seinen  verschiedenen  Formen  den  ersten  Platz  ein.  Hieran 
schliesst  sich  eine  Erörterung  der  genitalen  Erkrankungen  und  physio- 
logischen Stöningen  (Menstruation).  Im  folgenden  Capitel  wird  der  erb- 
liche Faktor  sowie  die  nachtheilige  Einwirkung  ungünstiger  äusserer 
Einflüsse  für  das  Zustandekommen  sexueller  Verirrungen  kurz  erörtert. 
Mit  Recht  weist  schon  Moreau  bei  dieser  Gelegenheit  darauf  hin,  dass 
Neuropathen  eine  specielle  Disposition  besitzen  zur  Inscenirung  sexueller 
Excesse  und  zur  Erwerbung  dauernder  Anomalien,  welche  in  Form  fixer 
Ideen  auftreten  können.  Aus  dem  weiteren  Inhalt  des  Werkes  ist  noch 
die  Eintheilung  Moreau 's  nach  den  einzelnen  Symptomen  interessant. 
Er  unterscheidet  „les  intelligences  anomales^  (Störung  der  GeLites- 
thätigkeit,  Schwachsinn,  moralische  Idiotie)  und  rechnet  dazu  die  meisten 
Fälle  von  Exhibition,  Päderastie,  Sodomie,  Saphismus. 

Als  zweite  Form  bespricht  er  die  Formen  von  Irrsinn,  welche  mit  der 
sexuellen  Function  der  Genitalien  eng  verknüpft  sind  (f  o  1  i  e  de 
puberte,  de  menstruation,  de  Tage  critique,  folie  utero- 
ovarienne,  folie  post  connubiale).  Die  dritte  Gruppe  umfasst 
die  Erotomanen  (sentimentaler  Idealcultus).  Die  körperliche  Liebe  spielt 
hierbei  nur  eine  Nebenrolle;  solche  Individuen  sind  in  der  Regel  nach 
Moreau  keusch  und  schamhaft  (religiöse  Schwärmerinnen).  Die  vierte 
C 1  a s 8 e  bespricht  die  Nymphomanie  bei  Mädchen  unter  acht  Jahren 
(Onanismus),  Mädchen  im  Pubertätsaltor ,  erwachsenen  weiblichen  Personen 
und  bei  Greisinnen. 

U.  A.  führt  Verfasser  hierfür  das  Beispiel  einer  79  jährigen  (^eisin 
an  mit  erotischen  Delirien,  in  denen  sie  Arbeiter  zu  sich  aufs  Zimmer 
rief  und  ihnen  obscöne  Anträge  aller  Art  machte.  Sie  hatte  keine  Er- 
innerung nach  Ablauf  der  Dilirien   an  den  Inhalt  derselben.     Das  folgende 


50  ^'  Schrenck-Notzing. 

sie  entkleidet  badeten  nnd  gab  sich  einige  Jahre  älter  schliesslich  der  Onanie  hin. 
Oft  genügte  der  Anblick  eines  männlichen  Gliedes  znr  Erection  nnd  zum 
vollen  Orgasmus.  Gleichgiltigkeit  gegen  Weiber.  Im  17.  Lebensjahre 
verkleidete  sich  Patient  als  Mädchen  und  legte  seitdem  für  weibliche 
Toilette  y  Handarbeiten  etc.  grosses  Interesse  an  den  Tag.  Volle  Homo- 
sexualität. 

Charcot  und  Mag n an  gaben  dem  Patienten  den  Rath,  bei  etwaigen 
Erregungen  in  seiner  Phantasie  ein  Weib  für  einen  Mann  zu  substituiren. 
Er  bemühte  sich  auch  vielfach,  das  zu  thun,  zumeist  vergeblich.  Nach 
mehrmonatlichen  Kämpfen  hatte  er  schliesslich  einen  kleinen  Erfolg  und 
gelangte  sogar  so  weit,  dass  er  geschlechtliche  Beziehungen  zu  einem  Weibe 
anknüpfen  konnte,  die  in  ihm  selbst  angenehme  Empfindungen  hervorriefen. 
Der  psychische  Effect  war  ausgezeichnet,  und  nach  einigen  Tagen  hatte  er 
schon  Ruhe  von  seinen  früheren  Empfindungen.  Als  er  jedoch  Paris  fär 
einige  Zeit  verliess ,  und  dadurch  gezwungen  war ,  den  alten  Hang  durch 
seine  Vernunft  allein  zu  bekämpfen,  begann  die  unnatürliche  Neigung  bald 
wieder  ihn  zu  beherrschen. 

In  diesem  Fall  nahm  man  ausser  zur  psychischen  Behandlung  seine 
Zuflucht  zur  Hydrotherapie  (kalte  Begiessungen  und  Douchen)  und  zu 
Bromkali,  was  die  Intensität  und  Dauer  seiner  Anfälle  verringert  haben  soll, 
ohne  jedoch  ihre  Häufigkeit  zu  beeinflussen. 

Vorstehende  Beobachtung  erschien  mir  aus  mehreren  Gründen  mit- 
theilenswerth.  Sie  zeigt,  wie  zuerst  durch  äussere  Anregung  die  Auf- 
merksamkeit des  (>  jährigen  Knaben  auf  männliche  Genitalien  und  Onanie 
gelenkt  wird.  Bei  der  Nachahmung  des  Actes  stand  das  Gesehene  als 
Eriunerungsbild  vor  dem  geistigen  Auge  des  Knaben.  Die  pathologische 
Association  ist  damit  angeknüpft;  sie  wird  betont  mit  Lustgefühl  und 
erstarkt  mit  der  Häufigkeit  der  Wiederholung  dieses  Bildes.  Damit 
schwindet  die  Anspruchsfähigkeit  der  einseitig  in  Beschlag  genommenen 
Phantasie  des  Patienten  für  heterosexuelle  Reize.  Die  Rückwirkung  auf 
seinen  Charakter  bleibt  nicht  aus;  er  trägt  weibliche  Kleidung  im  Garne val, 
spielt  mit  Puppen  etc. 

Das  pathologische  Product  der  in  Folge  einer  wahrscheinlich  erblichen 
neuropathischen  Anlage  ermöglichten  Züchtung  soll  dann  durch  methodische 
Selbstdisciplin ,  durch  Substitution  weiblicher  Vorstellungen  bei  conträr- 
sexualen  Erregungen  bekämpft  werden.  Das  gelingt  bis  zu  einem  gewissen 
Grade ,  der  richtige  Weg  zur  Heilung  ist  damit  unzweifelhaft  gefunden ; 
eine  hypnotische  Behandlung  hätte  dem  Patienten  seine  Aufgabe  erleichtert. 

Der  zweite  weniger  interessante  Fall  betrifft  einen  erblich  belasteten 
Onanisten  mit  dem  Zwang,  seine  Aufmerksamkeit  auf  das  Gesäss  von 
Weibern  und  besonders  von  Kindern  zu  richten.  Dabei  melancholische 
Verstimmung. 

Die  dritte  von  Magnan  imd  Charcot  berichtete  Beobachtung  be- 
zieht sich  auf  eine  erblich  belastete  hypochondrisch  verstimmte  Persönlichkeit 
und  Schuhfetichismus.  Zwar  will  dieser  Patient  zufolge  seiner  Autobiographie 
schon  seit  dem  siebenten  Lebensjahre  durch  ein  unwiderstehliches  Verlangen 
gequält  worden  sein,  die  Schuhe  der  Weiber  daraufhin  anzusehen,    ob  sie 


Psychologie  ond  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  51 

mit  Nägeln  beschlagen  worden  seien.  Indessen  ist  nicht  genau  angegeben, 
welche  äusseren  Anregungen  den  Patienten  zu  solchen  Vorstellungen  Ver- 
anlassung boten.  Er  verband  derartige  Gedanken  mit  seinen  onanistischen 
Manipulationen  und  ging  dann  in  seiner  Phantasie  auch  zu  grausamen 
Handlungen  über,  indem  er  den  Mädchen  die  Eisen  auf  die  Fusssohlen 
nagelte  etc. 

In  dem  vierten  berühmten  Falle  von  Charcot  und  Magnan 
coincidirte  das  Eintreten  der  ersten  geschlechtlichen  Erregung  mit  dem  An- 
blick der  Nachtmütze,  welche  ein  mit  ihm  im  Bett  schlafender  Verwandter 
in  demselben  Augenblick  auf  den  Kopf  setzte.  Nächste  Erection  als 
Patient  eine  alten  Dienerin  die  Nachtmütze  aufsetzen  sah.  Dadurch 
bildete  sich  eine  Association  zwischen  zwei  Wahmehmungsinhalten  in  dem 
Alter,  wo  Associationen  namentlich  imter  dem  Einfluss  lebhafter  Gefühls- 
erregung sehr  stark  sind.  Schliesslich  beherrschte  das  Bild  der  Nachtmütze 
das  sexuelle  Leben  derart,  dass  die  Vorstellung  dieses  Gegenstandes  conditio 
sine  qua  non  für  die  Erection  wurde. 

Beobachtung  5  der  beiden  Autoren  betrifft  einen  Schürzenfetischisten, 
der  im  Alter  von  15  Jahren  eine  Schürze  im  Winde  flattern  sieht;  er 
nimmt  sie,  bindet  sie  um,  um  darunter  zu  masturbiren.  Aus  dem  zeitlichen 
Zusammenfallen  der  Schürzenwahrnehmung  und  der  sexuellen  Erregung  ent- 
steht eine  Ideenassociation,  die  zur  Zwangsvorstellung  bei  der  üblichen  Prä- 
disposition  des  Patienten  werden  konnte  und  wirklich  wurde.  In  dieser 
Weise  wurde  die  geschlechtliche  Richtung  des  Patienten  bestimmt.  Bei 
dieser  Gelegenheit  mögen  die  Anschauungen  Magnan 's  über  die  Ge- 
schlechtsanomalien Platz  finden,  wie  er  sie  nach  seiner  ersten  Veröffent- 
lichung in  mehreren  späteren  Arbeiten  vertreten  hat.  In  seiner  Abhandlung 
„Ueber  krankhafte  Antriebe  zu  Verbrechen"  führt  er  neben  dem  Mordtrieb, 
Stehltrieb,  Trieb  zum  Feueranlegen  an  vierter  Stelle  die  verkehrten  ge- 
schlechtlichen Triebe  an.  In  der  Mehrzahl  solcher  Fälle  ist  nach  M.  bei 
solchen  Personen  Schwachsinn,  in  der  Minderzahl  die  Zwangsvorstellung 
(Obsession)  anzutreffen.  Eine  seltene  Form  ist  nach  M.  das  Verlangen  nach 
Begattung  mit  Thieren.  —  Gegen  die  Einreihung  gewisser  perverser 
Richtungen  des  Geschlechtstriebes  in  die  Klasse  der  Zwangsvorstellungen 
hat  Moll  Bedenken  erhoben.^)  Auch  Ball  wendet  gegen  Magnan  ein, 
dass  es  nicht  gerechtfertigt  sei,  eine  besondere  Geisteskrankheit  anzunehmen, 
die  als  degeneratives  Irresein  zu  bezeichnen  sei.  Trotzdem  sind  aber  die 
drei  Autoren  über  die  Thatsachen  einig. 

In  weiteren  Arbeiten  über  den  Gegenstand  unterscheidet  Magnan  bei 
den  sexuellen  AnomaUen  vier  Classen 

1.  Selbstständige  Thätigkeit  des  Centrum  genitospinale.  Einfacher 
Reflexvorgang  (spinaux)  z.  B.  Onanie  bei  vollständigen  Idioten. 


^)  Magnan:  Ueber  krankhafte  Antriebe  zu  Verbrechen,  nach  einem  im  Jahre 
1892  auf  dem  Gongress  für  eriminoUe  Anthropologie  zu  Brüssel  erstatteten  Berichte 
„robsession  criminelle  morbide",  deutsch  von  Möbius  in  den  Psychiatr.  Vorlesungen 
von  Magnan.    Leipzig  1893. 

•)  Moll:  Libido  sexualis,  S.  686. 

4* 


68  ▼•  Schrenck-Notzing. 

2.  Der  Reflexbogen  geht  durch  die  Binde  der  Hinterhaaptalappeii 
(spinauz  c6r6braux).  Das  Bild  einer  Person  des  anderen  G^chlechts 
ohne  Bücksicht  auf  ihre  Eigenschaften  setzt  den  spinalen  Apparat  in  Thätig- 
keit.     Instinctives  Handeln. 

3.  Betheiligong  des  Stimhims.  Krankhafte  Beaction  in  geschlecht- 
licher Beziehung.  Seelische  Vorgänge  rufen  sexuelle  Empfindung  vor; 
nur  sind  sexuelle  Vorstellungen  und  Gefühle  abnorm  (spinaux  cör6braax 
post6rieurs). 

4.  Alleinige  Thätigkeit  des  Stimhims.  Ekstatische  Erotomanen 
(c^röbraux  ant^rieurs  oder  psychiques).  Abscheu  Tor  dem 
Sexualverkehr. 

Zu  Klasse  1  gehört  die  instinctive  Onanie  Blödsinniger, 
deren  Leben  nur  vegetativ  verläuft.  Bei  der  zweiten  Ghruppe  scheint  eine 
gewisse  Selbstständigkeit  der  nach  hinten  von  den  Gentralwindungen  liegen- 
den Theile  der  Hirnrinde  zu  bestehen,  welche  beim  Entstehen  der  Sinnea- 
wahmehmungen  und  Triebe  erregt  werden.  Wegen  Fehlen  der  höheren 
geistigen  Hemmungen  lösen  Wahrnehmungen  allein  Triebhandlungen  aus 
(Nymphomanie,  Satyriasia).  Bei  der  dritten  Stufe  spielen,  wie  bei 
Gesunden  Ueberlegungen  und  Willensacte  mit.  Aber  Fühlen  und  Denken 
ist  abnorm.  Krankhafte  geschlechtliche  Liebe  zu  speciellen  Personen, 
Kindern,  Verkehrung  des  geschlechtlichen  Empfindens  (Inversion  du 
sens  genital).  Nach  Magnan  macht  sich  diese  Störung  schon  in  früher 
Jugend  geltend,  also  bevor  fehlerhafte  Erziehung  und  lasterhafte  Gewohn- 
heit den  Menschen  verderben  können.  Die  von  Magnan  als  Beweis  heran- 
gezogenen Fälle  lassen  nun  aber  gerade  das  Hauptargument  vermissen, 
nämlich  die  objective  Feststellung,  dass  das  Triebleben  lediglich  endogen 
sich  in  die  homosexuelle  Bichtimg  entwickelte,  ohne  den  maassgebenden  Ein- 
fluss  äusserer  Factoren.  Dagegen  betont  Magnan  mit  vollem  Becht  das 
Zwangsmässige  solcher  Neigungen;  er  fügt  den  etwas  kühnen  Satz 
hinzu:  Die  Störung  ist  rein  cerebral,  man  könnte  sagen,  es  handle  sich 
um  ein  weibliches  Gehirn  im  männlichen  Körper  und  um- 
gekehrt. Femer  rechnet  Magnan  zu  dieser  dritten  Klasse  auch  den 
Fetischismus.  Bei  der  vierten  Gruppe  handelt  es  sich  um  Liebe  ohne 
sinnliches  Verlangen  (keine  Onanie). 

Auf  das  rein  Willkürliche,  Hypothetische  der  anatomischen  Gesichts- 
punkte Magnans,  die  sich  auch  weiterhin  keine  Anerkennung  verscha£Ft 
haben,  soll  hier  nicht  näher  eingegangen  werden.  Wie  soll  man  es  z.  B. 
verstehen,  wenn  Magnan  die  Angst  bei  der  Onomatomanie  dadurch  zu 
erklären  sucht,  dass  das  Sehcentrum  ein  Schriftbild  verlange? 
Li  seinen  Ausführungen  über  Exhibition  (für  welche  eine  psychopathologische 
Analyse  nicht  gegeben  wurde)  spricht  Verfasser  die  Meinung  aus,  dass  die 
wahren  Exhibitionisten,  bei  denen  ein  krankhafter  zwingender  Trieb  zu 
Grunde  liege,  selten  seien.  Unter  den  acht  von  Las^gue  beschriebenen 
Fällen  sind  zwei  mit  Alterschwachsinn,  einer  mitHerderkrankung 
des  Gehirns,  einer  mit  progressiver  Paralyse  und  wahrscheinlich 
ein  Epileptischer.  Es  giebt  rein  triebmässige  Exhibition  ohne 
Erinnerung  daran,  eine  andere  Form  mit  vollkommener  Krankheitseinsicht; 


Psychologie  ond  Psychopathologie  der  vita  sezualis.  53 

femer  tritt  mitunter  Manustnpratio  und  Frottage  (Scheuem  des 
Gliedes  an  dem  Körper  des  Partners  mit  Bevorzugung  des  Gesässes)  auf. 
Man  kann,  wie  Magnan  mit  Recht  betont,  die  Kranken  nur  nach  dem 
zu  Grunde  liegenden  krankhaften  Zustand  beurtheilen.  Die  Motivirung  fSr 
dieselbe  Handlung  kann  grundverschieden  sein,  was  besonders  für  die  foren* 
sische  Beurtheilung  solcher  Fälle  schwer  ins  Gewicht  fallt 

Weitere  casuistische  Beiträge  im  Sinne  Westphal's  und  v.  K r a f f t - 
E  hing 's  zum  Theil  unter  Betonung  der  hereditären  Disposition  lieferten 
femer  Krueg,  Hollaender,  Sterz,  Kirn,  Blumer,  Babow, 
Savage,  Kiernan. 

Zusammenfassende  Arbeiten  über  die  Frage  der  Päderasthie  und  geni- 
talen Missbildungen  wurden  nach  dem  Standpunkte  des  damaligen  Wissens 
veröffentlioht  von  Martine  au  und  Hoff  mann,  während  Mas  chka  (1882), 
Gley  (1884),  Blumenstock  (1885)  zusammenfassende  Beferate  über 
Unzucht  wider  die  Natur,  die  conträre  Sezualempfindung  und  sonstige 
Anomalien  der  vita  sexualis  darboten.  Ebenso  übergehen  wir  an  dieser 
Stelle  die  Quellenwerke  von  Taxil  und  Yves  Guyot  über  Prostitution, 
sowie  die  Arbeit  von  Oohn  (vergl.  die  Literatur).  Bernhardi's  An- 
schauung, wonach  die  conträre  Sexualempfindung  nur  beim  passiven  Theil 
angeboren  sei,  widerlegt  Moll.  Von  besonderem  Interesse  dagegen  er- 
scheinen die  von  Baggi  berichteten  Arten  sexueller  Perversität  zu  sein; 
es  handelt  sich  dabei  hauptsächlich  um  Geisteskranke  (Maniakalische),  die 
sich  als  Frauen  dünken  und  dementsprechend  mit  Männern  umgehen  (Wahn 
der  Geschlechtsverwandlung).  ^  In  der  Beobachtung  von  Shaw  und  F  e  r  r  i  8 
konnte  ein  physisch  und  psychisch  gut  entwickelter  Mann  seine  conträr 
sexuellen  Gelüste  bekämpfen  und  unterdrücken.  —  Für  die  Psychopathologie 
des  FetiBchismus  ist  ein  von  Lombroso  mitgetheilter  Fall  lehrreich.  Der 
betre£Pende  psychopathisch  veranlagte  Patient  erlitt  in  der  Kindheit  ein 
trauma  capitis.  Seit  dem  3.  oder  4.  Lebensjahre  hatte  er  Erectionen;  die 
geschlechtliche  Erregung  trat  auf  beim  Anblick  weisser  Gegenstände,  weisser 
Wände,  aufgehängter  gestärkter  weisser  Wäsche.  Die  Berührung  und  das 
Zerknittern  solcher  Wäschestücke  bewirkte  wollüstige  Erregungen.  Vom 
9.  oder  10.  Lebensjahre  an  masturbirte  er  beim  Anblick  weisser  gestärkter 
Wäsche.  Schliesslich  stahl  er,  wurde  in  Strassenprügeleien  verwickelt  und 
am  Ende  wegen  Mordes  zum  Tode  verurtheilt.  (Fortsetzung  folgt.) 


^)  Moll,  Libido  sezualis,  S.  312. 

*)  Vgl.  auch  Hammond,   A  Treatise  of  insanity  in  its  medical  relations. 
New-York  1883. 


Referate  und  Besprechungen. 


Ä.  Ddbrückt  (Gerichtliche  Psychopathologie,  ein  kurzes  Lehrbuch  für 
Studierende,  Aerzte  und  Juristen.    Leipzig,  Joh.  Ambr.  Barth.     1897. 

Das  Buch  umfasst  224  Seiten  mit  einem  7  Seiten  langen  Register.  £r  zerfallt 
in  einen  allgemeinen  und  einen  speciellen  Theil. 

I.  Allg.  Theil.  Umfasst  70  Seiten  und  trennt  sich  in  4  Kapitel,  von  denen 
das  3.  und  4.  sich  mit  der  psychiatrischen  Beurtheilung  des  Exploranden  im  All- 
gemeinen und  mit  den  besonderen  Aufgaben  des  SachTerständigen  im  Process- 
y erfahren  beschäftigen.  Das  erste  Kapitel  „über  die  Grundbegriffe  der  gerichtlichen 
Psychologie"  und  das  zweite  —  in  5  Paragraphen  geordnet  —  „über  die  wichtigsten 
rechtlichen  Fragen,  welche  zu  psychiatrischer  Begutachtung  Veranlassung  geben**, 
sind  zum  Zwecke  eines  Referates  die  wichtigsten.  Sie  enthalten  die  allgemeinen 
Anschauungen  des  Yerf.  über  den  Begriff  und  die  Stellung  einer  „gerichtlichen 
Psychopathologie".  Diese  Anschauungen  sind  nicht  neu,  sie  sind  von  anderen  und 
früheren  Autoren  bereits  erwähnt,  doch,  im  Bestreben,  sie  mit  dem  Gresetz,  dessen 
Voraussetzungen  und  seinen  starren  Formeln  in  Einklang  zu  bringen,  abgeschwächt 
worden  und  so  bisher  ohne  allgemeine  Geltung  geblieben.  So  einfach  sachlich, 
consequent,  ohne  Deutelei,  dabei  nicht  schroff  und  ohne  alle  Polemik  enthält  sie 
als  Lehrsätze  kein  Lehrbuch.  Der  Verfasser  giebt  zunächst  die  Abgrenzung  des 
Begriffes  einer  gerichtlichen  Psychopathologie;  er  findet,  dass  ihre  Hauptau%abe 
darin  bestehe,  eine  besondere  Gruppirung  und  Betonung  der  bei  den  einzelnen 
Psychosen  beobachteten  Krankheitserscheinungen  zu  schaffen,  je  nachdem  aus 
solchen  letzteren  für  den  Kranken  rechtliche  Collisionen  entstehen  können.  Diese 
Fassung,  wie  sie  z.  B.  Gramer  in  seinem,  ebenfalls  1897  erschienenen  Leitfaden 
der  gerichtlichen  Psychiatrie  vertritt,  ist  ihm  jedoch  zu  eng.  Es  würde  daraus 
folgen,  dass  der  Gerichtsarzt  sich  auf  die  rein  klinische  Beurtheilung  des  Falles  zu 
beschränken  hätte.  Damit  aber  wäre  der  „gerichtlichen  Psychiatrie"  die  Berech- 
tigung genommen,  als  eine  besondere  Wissenschaft  zu  gelten;  sie  wäre  nur  eine 
Hülfswissenschaft.  Vielmehr  erweitert  D.  ihren  Begriff  bedeutend  und  bringt  sie 
in  einen  Vergleich  mit  der  Hygiene,  deren  Au%aben  auch  weit  über  das  Ziel  einer 
rein  klinischen  Beurtheilung  hinausgehen.  Diese  Bedeutung  der  gerichtlichen 
Psychiatrie  erhellt  aus  folgendem  Fundamentalsatz,  den  der  Verf.  seinen  weiteren 


Referate  und  Besprechungen.  55 

Ausführungen  vorausstellt:  „Der  Begriff  der  Geisteskrankheit  ist  kein  absoluter; 
eine  irgend  näher  zu  bezeichnende  Grenze  zwischen  geistiger  Gesundheit  und 
geistiger  Krankheit  giebt  es  nicht,  vielmehr  sind  die  Uebergänge  zwischen  beiden 
fliessend.*'  Schon  in  seiner  Arbeit  ^^Ueber  die  pathologische  Lüge  etc."  1891  sehen 
wir  den  Verfasser  von  der  Wichtigkeit  dieser  Uebergangsfalle  überzeugt.  Er 
ist  nicht  der  Ueberzeugung,  dass  ihre  Zahl  mit  dem  Fortschreiten  der  Psychiatrie 
sich  verringern  wird,  sie  bestehen  und  werden  bestehen,  objectiv.  Sie  sind  es, 
welche  zu  Schwierigkeiten  in  der  Beurtheilung  und  zu  Differenzen  zwischen  Richter 
und  Sachverständigen  führen,  und  es  thut  Noth,  dass  künftig  diese  Differenzen 
auf  andere  Weise  geschlichtet  werden  und  eine  Verständigung  erzielt  wird,  welche 
der  psychiatrischen  Wissenschaft  mehr  entspricht,  als  seither.  Die  Psychiater 
machten  bisher  Concessionen,  um  sich  dem  geltenden  Recht  und  seinen  Grundlagen, 
dem  Dualismus  und  der  Lehre  vom  freien  Willen,  anzupassen,  imd  es  kam  zur  Er- 
findung einer  Menge  von  Spitzfindigkeiten,  z.  B.  „relativer  Willensfreiheit **,  „ge- 
wöhnlicher und  organisch  bedingter"  Characterfehler  etc.,  die  alle  vor  dem  unbe- 
fangenen Blick  nicht  bestehen  können.  Bis  in  die  achtziger  Jahre  schien  den 
Juristen  die  dualistische  Weltanschauung  und  die  Lehre  vom  freien  Willen  zur 
Constrnirung  der  Begriffe  von  Schuld  und  Strafe  unentbehrlich.  Seitdem  ist  ein 
Umschwung  eingetreten.  Es  giebt  nunmehr  Strafrechtslehrer,  welche,  wie  Hertz 
und  Liszt,  bei  Aufstellung  ihrer  Definitionen  der  Zurechnungsfähigkeit  die  Lehre 
vom  freien  Willen  ganz  aus  dem  Spiel  lassen.  Mit  diesen  in  der  Rechtswissenschaft 
neuen  Anfibssungen  kann  der  Psychiater  sich  befreunden. 

Nach  einem  kurzen  Rückblick  auf  die  Entwickelung  des  Strafbegriffs  kommt 
Verf.  zu  der  Feststellung,  dass  nunmehr,  in  Hinblick  auf  den  Strafzweck,  nicht 
mehr,  wie  früher  das  „quia  peccatum  est",  sondern  das  „ne  peccetur"  betont  wird. 
Dieser  Zweckgedanke  bedarf  das  Postulat  des  freien  Willens  nicht.  Hierdurch  fällt 
der  absolute  Gegensatz  zwischen  „Zurechnungsfähigkeit  und  Unzurechnungsfähig- 
keit" und  „Krankheit  und  Gesundheit"  zusammen,  ihre  Relativität  wird  anerkannt 

Nunmehr  ist  die  Möglichkeit  vorhanden,  den  neuen,  bisher  unmöglichen  Begriff 
der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  zur  Anerkennung  zu  bringen. 
Die  verminderte  Zurechnungsfähigkeit  war  bereits  früher  in  manchen  Landesgesetz- 
gebungen geltend,  in  neueren  verschwand  sie  wieder.  Im  Artikel  9  des  Vorentwurfes 
zu  einem  schweizerischen  Strafgesetzbuch  findet  sie  sich  wieder:  „War  die  geistige 
Gesundheit  oder  das  Bewusstsein  des  Thäters  nur  beeinträchtigt  oder  war  er  geistig 
mangelhaft  entwickelt,  so  ist  die  Strafe  zu  mildern;  sie  fällt  ganz  weg,  wenn  der 
Thäter  verwahrt  oder  versorgt  wird."  Wenn  man  dagegen  geltend  macht,  dass 
die  Institution  der  „mUdemden  Umstände**  genüge,  um  der  thatsächlich  vermin- 
derten Zurechnungsfahigkeit  Rechnung  zu  tragen,  so  ist  diese  Argumentation  falsch; 
denn  es  handelt  sich  in  solchen  Fällen  nicht  um  eine  quantitativ  andere  Strafe, 
sondern  um  eine  qualitativ  andere  Behandlung,  und  diese  Thatsache  ist  von 
principieüer  Bedeutung.  Es  werden  z.  B.  vermindert  zurechnungsßüiige  Alcoholiker 
in  ein  Trinkerasyl,  Epileptiker  theils  in  eine  Irrenanstalt,  theils  in  eine  Anstalt  für 
EpUeptische,  Schwachsinnige  in  besondere  Anstalten,  moralische  Idioten  in  besondere, 
für  sie  zu  errichtende  Anstalten  gehören  etc.  Es  leuchtet  ein,  dass  die  Gonse- 
qnenzen  der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  ganz  andere  sind,  als  die  der 
mildernden  Umstände.  Nach  Cramer  genügen  diese  letzteren;  freilich  gehört  er 
zu  den  Autoren,  die  das  fast  gänzliche  Verschwinden  der  Uebergangsfalle  in  Aus- 


56  Referate  und  Besprechungen. 

sieht  stellen.  Bezüglich  der  moralischen  Idioten,  die  ein  Hauptcontingent  der 
„Gewohnheits'^yerbrecher  ausmachen,  sieht  sich  unser  Autor  auf  dem  Punkte  des 
Zusammentreffens  mit  den  Ansichten  modemer  Criminalisten,  welche  sog.  „Straf- 
absonderungshäuser"  für  dieselben  wünschen. 

Für  die  Berechtigung  einer  yerminderten  Zurechnungsfähigkeit  fuhrt  D. 
weiter  an,  dass  ja  das  Gesetz  bei  jugendlichen  Personen  eine  solche  bereits  aner- 
kenne. Nach  einer  näheren  Ausfuhrung  dieser,  doch  sehr  für  seine  Sache  sprechenden 
Thatsache  wendet  er  sich  in  §  2  den  Maassnahmen  bei  Geisteskrankheit  der  Unter- 
suchungs-  und  Strafgefangenen  zu.  Für  die  Wahl  der  Anstalt  ist  bei  solchen  die 
Art  der  Geistesstörung  maassgebend.  Ist  diese  ausgesprochen,  so  gehören  sie  in 
eine  Irrenanstalt ;  andernfalls,  bei  moralischen  Idioten,  kommen  die  „Strafabsonderungs- 
häuser^  in  Betracht. 

Es  folgt  nun  in  den  weiteren  §§  die  Besprechung  der  civilrechtlichen  Hand- 
lungsfähigkeit. Auch  sie  ist  ein  relativer  Begriff  und  wird  in  der  Rechtswissenschaft 
sowohl  theoretisch  als  practisch  als  solcher  anerkannt.  Warum  nicht  auch  die  Zu- 
rechnnngsfähigkeit  ? 

üeber  die  beiden  nächsten  Paragraphen,  sowie  Kap.  3  und  4  können  wir  in 
unserem  Referate  hinweggehen,  da  sie  nichts  Besonderes,  worin  sich  D.  von  anderen 
Autoren  unterschiede,  enthalten ;  nur  möchten  wir  auf  die  schönen  Ausführungen  in 
§  3  „die  Untersuchung  der  Simulanten'^  hinweisen. 

n.  Theil.  £r  enthält  die  Schilderung  der  einzelnen  Krankheitsbilder  mit  der 
für  das  Thema  wichtigen  Hervorhebung  einzelner  Krankheitserscheinungen,  wie  sie 
zu  rechtlichen  CoUisionen  führen  können.  Beispiele  werden  nicht  angeführt,  statt 
dessen  verweist  Verf.  in  der  Vorrede  auf  die  Gutachtensammlung  aus  dem  Burg- 
hölzli,  herausgegeben  von  Kölle.  Die  Classification  ist,  wie  Verf.  selbst  ausspricht, 
keine  maassgebende :  Kap.  1  §  1  „die  manischen  und  melancholischen  Seelen- 
störungen*^  §  2  „die  Verrücktheit'^  §  3  „der  acute  Wahnsinn,  die  Erschöpfungs- 
zustände, der  secundäre  Blödsinn,  die  Verblödnngsprocesse'' ;  Kap.  2  §  1  „die  De- 
mentia paralytica",  §  2  „der  Altersblödsinn'',  §  3  „andere  organische  Formen"; 
Kap.  3  „die  Vergiftungen",  §  1  „der  Alcoholismus",  §  2  „Morphinismus,  Cocainis- 
mus  —  Fieberdeliriam,  acute  Vergiftungen  durch  Chloroform,  Stickstoffoxydul"  u.  a.; 
Kap.  4  „die  sog.  „Neurose",  §  1  „die  Epilepsie",  §  2  „die  Hysterie",  §  3  „die 
traumatische  Neurose";  Kap.  5  „die  konstitutionellen  Störungen",  §  1  „die  Abnor- 
mitäten des  Geschlechtstriebes",  §  2  „die  Zwangsvorstellungen",  §  3  „die  Stinmiungs- 
anomalien",  §  4  „die  krankhaften  Triebe",  §  5  „die  ethischen  Defecte"  (das  mora- 
lische Irresein);  Kap.  6  „die  Entwickelungshemmungen". 

Unter  diesen  Kapiteln  heben  wir  als  besonders  wichtig  und  neue  Gesichts- 
punkte enthaltend  hervor :  Kap.  1,  §  3  in  denen  die  neuesten  Ansichten  über  gewisse 
Psychosen  berücksichtigt  sind :  Kräpelin's  „Verblödungsprocesse".  Der  Verf.  ist 
so  vorsichtig,  hinzuzufügen,  dass  diese  noch  eine  Streitfrage  sind.  Femer  das  über 
den  Alcoholismus,  Kap.  3  §  1  Gesagte,  wo  nachdrücklich  vertreten  wird,  dass 
Trinker  Kranke  sind  und  nicht  bestraft,  sondern  bei  Zeiten  in  besonderen  An- 
stalten geheilt  werden  sollen.  Neues  findet  sich  femer  in  dem  Kapitel  „Hysterie", 
wo  der  Hauptnachdruck  auf  der  Autosuggestion  ruht  und  daraus  all'  die  verschieden- 
fachen Symptome  erklärt  werden  und  wir  auch  dem  Symptom  der  sog.  Pseudologia 
phantastica  wieder  begegnen,  über  welche  Verf.  in  dem  friiher  erwähnten  Buche 
klare  und  eingehende  Studien  niedergelegt  hat.   In  ähnlicher  Weise  wie  die  Hysterie 


5g  Referate  und  Besprechungen. 

Er  hat  nach  einem  bestimmten  Plane  an  allen  Kranken  alle  Empfindungsarten 
durchgeprüft  und  dadurch  zu  einheitlichen  Gesichtspunkten  zu  gelangen  versucht. 
Er  beschränkt  sich  darauf,  die  gefundenen  Resultate  rein  beschreibend  wiederza- 
geben  an  der  Hand  von  kurzen  Krankengeschichten  ohne  eine  Erklärung  der  Er- 
scheinungen zu  versuchen.  Nach  einem  kurzen,  durchaus  nicht  erschöpfenden  ge- 
schichtlichen Ueberblick,  in  dem  er  besonders  hervorhebt,  dass  frühere  Arbeiten 
immer  nur  einzelne  Empfindungsqualitäten  berücksichtigen  und  nie  grössere  Reihen 
von  Kranken  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten  prüften,  stellt  er  ein  Untersuchungs* 
Schema  und  seine  Methode  fest.  Nach  der  Meinung  des  Verfs.  gelänge  es  dem 
Untersucher  leicht,  eine  Beeinflussung  der  Untersuchungsresultate  durch  die  psy- 
chische Verfassung  des  Kranken  zu  vermeiden.  Auf  Grund  seiner  an  zehn  Elranken 
angestellten  Beobachtungen  kommt  Verf.  zu  folgenden  Resultaten:  Störungen  der 
Sensibilität  sind  die  Regel  bei  allen  Formen  der  Melancholie.  Immer  wurden  ein 
Verlust  oder  eine  beträchtliche  Verminderung  der  Schmerzensempfindung  ge- 
funden bei  Erhaltung  der  Berührungsempfindung.  Die  Analgesie  kann  universell 
oder  fast  universell  sein  oder  sich  auf  einzelne  Zonen  beschränken,  die  symmetrisch 
oder  asymmetrisch,  auch  unilateral  liegen  können.  Oft  ist  eine  Verzögerung  der 
Empfindung  zu  constatiren.  Die  Berührungsempfindung  war  in  ^j^  der  Fälle  im 
Bereich  der  analgetischen  Zonen  etwas  herabgesetzt.  Die  Empfindimg  electrischer 
und  thermischer  Reize  ist  in  einer  Anzahl  von  Fällen  ebenfalls  herabgesetzt.  Oft 
bestand  Aufhebung  der  Reflexe,  4  Mal  Steigerung  des  Patellarreflexes.  Hyper- 
ästhesie von  geringer  Ausdehnung  und  wechselnder  Localisation.  Störungen  der 
Sinnesorgane:  Verminderung  oder  Aufhebung  des  Geruchsvermögens  zugleich  mit 
Aufhebung  der  Berührungsempfindlichkeit  der  Schleimhaut;  Herabsetzung  der 
Geschmacks-  und  Gehörsempfindung,  der  Sehschärfe  verbunden  mit  Einengung  des 
Gesichtsfeldes.  Verminderung  des  Hunger-  und  Durstgefühies,  einmal  gesteigerter 
Durst;  fast  immer  Kopfschmerzen  und  Hallucinationen. 

Tecklenburg -Leipzig. 

Dr.  M.  Säw^e?*-Magdeburg :  Subjective  Dyspnoe  bei  Trockenheit  der  Nasen- 
schleimhaut, sowie  der  Rachen-  und  Kehlkopfschleimhaut  (Münch.  Med.  Wchschr. 
Nr.  15  1898). 

Sänger  hat  1893  einen  Lebensversicherungsbeamten  behandelt,  dessen  Dyspnoe 
eine  autosuggerirte  war.  Patient,  dessen  Luftwege,  Nase  etc.  absolut  kein  locales 
Athmungshindemiss  aufwiesen,  auch  überhaupt  keine  Möglichkeit  für  das  gelegent- 
liche Auftreten  eines  solchen  boten,  also  weder  Schwellung,  Polypen,  Missbildung, 
noch  auch  Secretanhäufung,  dessen  Luftwege  vielmehr  durch  das  Bestehen  einer 
Rhinitis  sicca  abnorm  weit  und  leicht  durchgängig  waren,  klagte  darüber,  dass 
er  bei  geschlossenem  Munde  nicht  genügend  Luft  bekomme.  Sänger  theilt  mit, 
dass  ihm  seiner  Zeit  der  Fall  nicht  recht  klar  gewesen  sei  und  dass  er  nur  ut  ali- 
quid fiat  gegen  die  Rhinitis  Ausspülungen  mit  einer  verdünnten  Jod-Glycerin-Lösung 
verordnet  habe.  Er  war  damals  sehr  erstaunt,  als  Patient  nach  mehrtägiger  An- 
wendung dieses  Mittels,  welches  seiner  früher  blassen  und  trocknen  Nasenschleimhaut 
die  normale  Röthe  und  Feuchtigkeit  wiedergegeben  hatte,  sehr  zufrieden  erklärte, 
„er  habe  jetzt  vollkommen  Luft". 

Da  bei  Rhinitis  sicca  die  Empfindlichkeit  der  in  der  Nasenschleimhaut  be- 
findlichen Nervenendigungen  herabgesetzt  ist,   da  ferner  bei  der  Trockenheit  der 


Referate  und  Besprechungen.  59 

Nasenachleimhaut  die  hindurchstreichende  Inspirationsluft  keine  Verdunstung  und 
also  auch  nicht  den  bei  der  normalen  Nase  auftretenden  Kältereiz  hervorruft,  so 
argamentirt  der  Verfasser,  dass  der  Patient  dadurch  dyspnoetisch  wurde,  dass  er 
eben  glaubte,  keine  Luft  durch  die  Nase  zu  bekommen.  Diese  Dyspnoe,  deren  in 
der  larjmgorhinologischen  Literatur  noch  nicht  Erwähnung  gethan  ist,  kommt  bei 
Patienten  mit  Rhinit.  sicca  häufig  vor  und  wird  von  den  Patienten  selbst,  oft  da- 
durch zum  Verschwinden  gebracht,  dass  dieselben  aus  eigenem  Antrieb  Wasser 
au&chnauben,  oder  durch  Reizung  mit  Schnupftabak  eine  Hypersecretion,  also  An- 
feuchtong  der  trocknen  hypästhetischen  Schleimhaut  hervorrufen. 

H  i  1  g  e  r  -  Magdeburg. 

WUh.  Wundfs  System  der  Philosophie.  2.  umgearbeitete  Auflage 
Leipzig,  W.  Engelmann's  Verlag.    1897. 

Die  nachfolgenden  Blätter  wollen  keine  Kritik  dieses  nunmehr  in  zweiter 
Auflage  vorliegenden  Werkes  versuchen,  sie  wollen  nur  den  wesentlichen  Inhalt 
desselben,  in  dem  der  Verf.  seine  Weltanschauung  in  abgerundeter  Form  nieder- 
gelegt hat,  für  diejenigen  Leser  dieser  Zeitschrift,  die  dem  W  u  n  d  t  'sehen  Gedanken- 
kreise etwa  femer  stehen,  in  gedrängter  Kürze  objectiv  zusammenfassen. 

Vorweg  mag  bemerkt  werden,  dass,  obwohl  Form  und  Methode  der  Dar- 
stellung im  Vergleiche  mit  der  i.  J.  1889  erschienenen  Auflage  die  gleichen  ge- 
blieben sind,  einzelne  Abschnitte  des  Werkes  dennoch  nicht  unerhebliche  Ver- 
änderungen und  Umarbeitungen  erfahren  haben.  Insbesondere  gilt  dies  von  den 
die  Erkenntnissprobleme,  sowie  die  Naturphilosophie  und  die  Philosophie  des  Geistes 
behandelnden  Theilen. 

Es  scheint  uns  von  Wichtigkeit,  die  Einleitung  in  das  die  Arbeit  eines  ganzen 
Lebens  voraussetzende  Werk  etwas  ausführlicher  darzustellen.  Hieran  wird  sich  in 
den  folgenden  Heften  die  Wiedergabe  der  weiterei^  Gedanken  des  Verfassers 
schliessen. 

Einleitung:  Aufgabe  der  Philosophie,  Gliederung  der  Einzelwissenschaften. 
Eintheilung  der  wissenschaftlichen  Philosophie. 

Vielgestaltig  und  reich  an  Widersprüchen,  führt  Wundt  aus,  ist  das  Bild,  das 
wir  aus  einer  Betrachtung  der  Geschichte  der  Philosophie  und  der  Bedingungen, 
unter  denen  sie  sich  entwickelte,  gewinnen.  Selbst  auf  die  Frage,  was  Philosophie 
seif  erhalten  wir  in  den  verschiedenen  Zeitabschnitten  ihres  Bestehens  kaum  eine 
allgemeingültige  Antwort.  Dennoch  giebt  es  einen  Punkt,  der  in  allen  ihren  Wand- 
lungen übereinstimmend  erscheint.  Es  ist  dies  ihr  bald  ausdrücklieh  betonter,  bald 
unausgesprochen  verfolgter  Zweck:  „Er  besteht  überall  in  der  Zusammen- 
fassung unserer  Einzelkenntnisse  zu  einer  die  Forderungen  des 
Verstandes  und  die  Bedürfnisse  des  Gemüthes  befriedigenden 
Welt-  und  Lebensanschauung.*'  Hiermit  kann  aber  ihre  Begrif&bestimmung 
noch  nicht  erschöpft  sein;  denn  bald  mit  der  Philosophie  verbündet,  dann  wieder 
sie  bekämpfend  oder  selbst  von  ihr  angefochten  theilen  den  gleichen  Zweck  zwei 
andere  grosse  Gebiete  menschlicher  Geistesthätigkeit :  die  der  Philosophie  meist 
ab  geschlossene  Weltanschauung  vorauigehende  Religion  und  die  aus  ihr  hervor- 
gegangenen Einzelwissenschaften.  Die  Philosophie  nimmt  zwischen  beiden  eine 
mittlere  Stellung  ein  und  hat  ihr  Verhältniss  zu  beiden  klar  zu  legen.  Wundt 
bespricht  zunächst  das  Verhältniss  der  Philosophie  zur  Religion. 


60  Keferate  und  Besprechungen. 

„Ans  ethischen  Wünschen  und  Forderungen  gestaltet  dieBeli- 
gion  ihre  Weltanschauung.  Das  Gemüthsbedürfniss  steht  ihr  un- 
bedingt über  dem  Verstandesbedürfniss.**  Ursprünglich  beide  HotiTe 
in  sich  vereinend,  sieht  sie  sich  in  dem  Momente  der  Philosophie  als  einer  neuer- 
wachten  Geistesthätigkeit  und  zwar  feindlich  gegenübergestellt,  in  dem  sich  das 
theoretische  Interesse  von  dem  practischen,  das  intellectuelle  von  dem  religiösen 
zu  scheiden  anfängt:  „Mit  dem  Kampfe  gegen  die  Mythologie  der  Volks- 
religion beginnt  daher  alle  Philosophie.  An  die  Stelle  der  rohen 
Naturerklärung  durch  menschenähnliche  Beweger  setzt  sie  den 
Versuch  einer  begrifflichen  Auffassung  des  Kosmos.  **  Diese  Scheidung 
der  Interessen  ist  aber  nicht  so  zu  verstehen,  als  sei  das  religiöse  fortan  aus  ihr 
geschwunden,  vielmehr  theilt  auch  sie  mit  der  m3rthologischen  Auf&ssung  von  Anfang 
an  die  Verfolgung  beider  Ziele  und  in  dem  Meinungsuntersohied,  der  aus  der  jeweils 
zugestandenen  Berechtigung  des  einen  vor  dem  anderen  erwuchs,  erblickt  Verl  die 
Hauptquelle  der  zahlreichen  Kämpfe,  die  die  Philosophie  im  Laufe  der  Zeiten  nach 
innen  wie  nach  aussen  zu  führen  hatte.  Diese  Fortwirkung  des  religiösen  Inter- 
esses innerhalb  der  Philosophie  zeigen  die  Systeme  des  Alterthums  in  ihrem  Ringen 
nach  einem  geläuterten  Monismus  (Parmenides,  Anaxagoras,  Plato,  Aristoteles,  die 
Stoa),  dies  zeigen  nicht  minder  die  Gedankenentwickelung  der  Antike  fortführend 
die  philosophischen  fiichtungen  der  Neuzeit:  „Die  Philosophie  eines  Des- 
cartes,  Spinoza  und  Leibniz  ist  so  gut  wie  die  eines  Augustinus 
undAnselmus  zu  einem  wesentlichen  Theile  speculativeTheologie. 
Ob  dieser  religiöse  Trieb  in  der  Begründung  eines  bestimmten 
Glaubenssystems  seinen  Ausdruck  findet,  wie  bei  den  Heroen  der 
christlichen  Philosophie,  oder  ob  er  sich  nur  in  der  Anpassung  an 
kirchliche  Lehren  bekundet,  wie  bei  Leibniz,  oder  ob  er  endlich 
den  bestehenden  Glaubenslehren  völlig  frei  gegenübersteht,  wie  bei 
Spinoza,  all  das  ändert  im  Grunde  wenig  an  dem  Wesenscharacter 
dieser  speculativen  Metaphysik.'*  Freilich  hat  es  nicht  an  Versuchen  ge- 
fehlt, die  Gebiete  des  Glaubens  und  des  Wissens  von  einander  zu  trennen  und  der 
Philosophie  ausschliesslich  die  Bearbeitung  der  intellectuellen  Probleme  zuzuweisen 
(der  scholastische  Nominalismus,  der  spätere  Empirismus  und  Poeitivismus,  selbst 
in  der  kantischen  Philosophie  finden  sich  solche  Bestrebungen),  aber  eine  solche  abso- 
lute Scheidung  hat  sich  immer  nur  als  eine  scheinbare  erwiesen ;  selbst  in  der  nega- 
tiven Beantwortung  der  Frage  nach  der  Berechtigung  des  religiösen  Interesses 
innerhalb  der  Philosophie  sieht  Verf.  nur  das  Zugeständniss ,  dass  dieselbe  das 
religiöse  Denken  und  Handeln  doch  nicht  völlig  aus  der  Allgemeinheit  menschlicher 
Lebensäusserongen  auszuschliessen  vermag.  Religiöse  und  wissenschaftliche  Welt- 
anschauung sind  nach  Wundt  nur  zwei  verschiedene  Betrachtungsweisen,  deren 
Motive  zwar  nicht  zusammenfallen,  die  aber  als  in  demselben  Menschengeiste  Platz 
findend  niemals  mit  einander  in  Widerstreit  gerathen  dürfen.  Während  Verf. 
hier  der  Philosophie  ihrer  Stellung  gemäss  die  Aufgabe  zuweist,  die  Beziehungen 
jener  beiden  Betrachtungsweisen  zu  einander  zu  prüfen,  hebt  er  aber  weiter  mit 
Nachdruck  hervor,  dass  sie  sich  nie  vermessen  darf,  Religion  durch  Philosophie  er^ 
setzen  zu  wollen;  die  Philosophie  vermag  weder  Religion  zu  schaffen  noch  neu  zu 
erzeugen,  ihr  Verhalten  der  Religion  gegenüber  ist  vielmehr  iu  erster  Linie  ein 
theoretisches,  nicht  ein  practisches  und  ihr  Zweck  demgemäss,  die  Religion  zu  be- 


62  Referate  und  Besprechungen. 

gewonnenen  Erkenntnisse  noch  längere  Zeit  unter  dem  philosophischen  Einflüsse 
des  Zeitalters  befangen,  so  tritt  doch  das  rein  theoretische  Interesse  immer  sieg- 
reicher hervor  und  dieses  Vorwiegen  der  intellectuellen  Interessen  gelingt  um  so 
früher,  je  einfacher  die  Probleme  sind,  am  die  es  sich  handelt:  „Diese  Thal- 
Sache  liefert  zugleich  einen  deutlichen  Beweis  für  die  befreiende 
Kraft,  die  hier  die  Theilung  der  wissenschaftlichen  Arbeit  ausübt.*' 

Wie  die  Philosophie  auf  die  einzelnen  Erkenntnissgebiete,  so  wirken  bestimmte 
Zweige  derselben  auf  jene  zurück.  In  dieser  Wechselwirkung  theilen  sich  seit  dem 
Beginn  der  Neuzeit  hauptsächlich  die  Mathematik  einerseits  (Descartes,  Spinoza, 
Leibniz  bis  auf  Kant)  und  die  Naturwissenschaften  andrerseits  (die  englische  Er- 
fahrungsphilosophie). Diese  Wechselwirkung,  obwohl  an  sich  begreiflich,  hat  aber 
dann  einmal  dazu  geführt,  dass  die  Einzel  Wissenschaften  in  einseitiger  Beschrankung 
auf  einzelne,  bestimmten  Wissensgebieten  entnommene  Gesichtspunkte  die  Philo- 
sophie durchaus  beherrschten,  wie  andererseits  dazu,  dass  diese,  in  dem  Wahne 
auf  die  Arbeit  der  Einzel  Wissenschaften  verzichten  zu  können,  die  letzteren 
als  illegitime  betrachtete.  Indem  so  die  Philosophie  naturgemäss  immer  mehr 
an  Einfluss  verlieren  musstc,  bildeten  jene  beiden  Gebiete  in  unserem  Jahr- 
hundert schliesslich  zwei  wissenschaftliche  Systeme,  die  in  den  wichtigsten  Punkten 
nicht  übereinstimmten,  es  entstanden  philosophische  Systeme,  die  sich  mit  den 
positiven  Wissenschaften  nur  noch  in  einzelnen  Punkten  berührten:  ,J)as  Symptom 
einer  unhaltbaren  Lage  der  Dinge!'*  Den  Grund  dieses  Zwiespalts  sieht 
Verf.  vor  allen  Dingen  darin,  „dass  die  Philosophie  in  jenen  Systemen  be- 
sondere, von  der  Erkenntnissweise  der  übrigen  Wissenschaften 
verschiedene  Wege  des  Erkennens  für  sich  in  Anspruch  nimmt."  „Dieser 
Ausspruch,'*  fährt  Verf.  fort,  „entspringt  aber  wieder  daraus,  dass  die  Philosophie 
noch  immer  geneigt  ist,  im  directen  Anschluss  an  die  antike  Philosophie  sich  als 
Wissenschaft  schlechthin  zu  betrachten,  ohne  zu  erwägen,  dass  mittlerweile  durch 
die  Entstehung  der  Einzelwissenschaften  auch  für  sie  völlig  veränderte  Beding^ungen 
eingetreten  sind.  Statt  den  Thatbestand  dieser  Wissenschaften  rückhaltlos  als  die 
Basis  anzuerkennen,  von  der  sie  auszugehen  habe,  beginnt  sie  ihre  Arbeit  mit  der 
Forderung,  alles  noch  einmal  von  vom  anzufangen,  wobei  es  dann  nicht  ausbleiben 
kann,  dass  vollgeprüfte  Gesichtspunkte,  die  einem  bestimmten  Umkreis  von  Einzel- 
erkenntnissen entnommen  werden,  auf  andere  Gebiete  übertragen  werden,  oder 
dass  gar  da  und  dort  die  wissenschaftlich  geprüfte  Erfahrung  es  sich  getallen 
lassen  muss,  durch  die  gewöhnliche  Erfahrung,  die  diese  Probe  nicht  bestanden 
hat,  ersetzt  zu  werden.** 

Auch  die  englische  Erfahrungsphilosophie  ist  diesen  Verirrungen  nicht  ganz 
fern  geblieben.  Wundt  hält  ihr  entgegen,  dass  sie,  indem  sie  ihre  Hauptaufgabe 
in  der  Anwendung  der  empirischen  Psychologie  auf  die  Probleme  der  Erkenntniss- 
theorie und  der  practischen  Ethik  erblickt,  bei  aller  Anerkennung  ihrer  vorzüg- 
lichen Leistungen  doch  darauf  verzichten  muss,  wissenschaftliches  System  zu  sein. 
Ebenso  ist  nach  Wundt  dem  ihr  verwandten  neueren  französischen  Positivismus. 
trotzdem  derselbe  sonst  die  Einzelwnssenschaften  als  Grundlage  anerkennt,  in  seiner 
Beschränkung  auf  eine  systematische  Uebersicht  der  hauptsächlichsten  Einzelg^ebiete 
und  ihre  Unterordnung  unter  gewisse  leitende  Gesichtspunkte  die  Selbstständig- 
keit der  philosophischen  Aufgabe  nahezu  abhanden  gekommen,  seine  besondere 
Stärke   ist  die  Form  der  Begriffsentwickelung:   „Die  Systeme  des  Positivis- 


Beferate  und  Besprechungen.  63 

mas  sind  daher  zumeist  bemüht,  auf  einen  unmittelbar  dem  posi- 
tiven Wissen  entnommenen  Inhalt  irgend  einen  äusseren  Begriffs- 
schematismus  in  üiberall  gleichförmiger  Weise  anzuwenden,  ein 
Verfahren  durch  welches  diese  Systeme,  wie  man  namentlich  an 
Herbert  Spencer  sehen  kann,  der  sonst  auf  ganz  anderer  Grund- 
lage ruhenden  speculativen  Methode  im  Sinne  Hegels  merk- 
würdig nahe  gerückt  werden." 

Indem  Wundt  den  von  der  Philosophie  stete  Verfolgten  allgemeinen  Zweck,  wie 
er  oben  dargelegt  wurde,  „Zusammenfassung  der  Einzelerkenntnisse  zu  einer  die 
Forderungen  des  Verstandes  und  die  Bedürfnisse  des  Gemüthes  befriedigenden 
Welt-  und  Lebensanschauung*',  auch  heute  noch  als  wirksam  anerkennt  und  der 
nach  ihm,  wie  nochmals  hervorgehoben  sein  mag,  ein  rein  theoretischer,  der 
Erkenntniss  dienender  sein  soll,  will  er  diesen  dem  heutigen  Standpunkt  der  Wissen- 
schaft angepasst  wissen.  In  diesem  Sinne  definirt  Wundt  die  Philosophie  „als  die 
allgemeine  Wissenschaft,  welche  die  durch  die  Einzelwissen- 
schaften vermittelten  allgemeinen  Erkenntnisse  zu  einem  wider- 
spruchslosen System  zu  vereinigen  hat."  Mit  dieser  Definition  unter- 
scheidet sich  die  Philosophie  der  Gegenwart  von  früheren  Auffassungen  in  zwei 
Punkten:  „Erstens:  die  Philosophie  ist  nicht  Grundlage  der  Einzel- 
witsenschaften,  sondern  sie  hat  diese  zu  ihrer  Grundlage;  und 
zwar  hat  sie  sich  mit  vollem  Bewusstsein  auf  diesen  Boden  zu 
stellen  und  daher  jede  einseitige  Bevorzugung  wissenschaftlicher 
Gesichtspunkte,  die  nur  einem  beschränkteren  Gebiete  entlehnt 
sind,  zu  vermeiden.  Zweitens,  indem  die  Philosophie  ihren  Zweck 
darin  sieht,  die  Ergebnisse  der  Einzelwissenschaften  zu  einem 
widerspruchslosen  System  zu  verbinden,  tritt  sie  wiederum  jenen 
selbstregulirend  und  'richtunggebend  gegenüber.  Ueberall.  wo 
sich  zwischen  den  Auffassungen  auf  verschiedenen  Gebieten  ein 
Widerspruch  herausstellen  sollte,  ist  es  die  Philosophie,  die  den 
Grund  derselben  aufzuklären  und  dadurch  wo  möglich  den  Wider- 
spruch zu  beseitigen  hat."  —  Indem  so  der  Philosophie  die  Aufgabe  zufällt, 
die  Arbeit  der  Einzelwissenschaften,  in  denen  alle  von  ihr  zu  bearbeitenden  Prob- 
leme vorbereitet  sein  müssen,  weiter  zu  führen  und  zu  vollenden,  ist  sie  im  eigent- 
lichen und  einzig  möglichen  Sinne  wissenschaftliche  Philosophie. 

Die  Eintheilung  der  Wissenschaften  soll  nach  Verf.  weder  nach 
Zwecken,  noch  nach  Verfahrungsweisen  oder  Hülfsmitteln,  sondern  ausschliesslich 
nach  rein  logischen  Gesichtspunkten  geschehen.  Den  Ausgangspunkt  für  eine 
solche  Classification  bilden  demnach  die  Gegenstände,  mit  denen  sich  die  einzelnen 
Wissensgebiete  beschäftigen,  doch  wiederum  nicht  die  Gegenstände  an  sich,  sondern 
die  Begriffe,  zu  deren  Bildung  sie  Anlass  geben  (vergl.  hierzu  Wundt^s  Philos. 
Studien  Bd.  V,  S.  Iff.  „Die  Classification  der  Wissenschaften  ist  eine  rein 
logische,  die  der  Kruste  ist  in  erster  Linie  eine  ästhetische  Aufgabe").  Indem 
Verf.  so  eine  Eintheilung  nach  formalen  und  realen  Wissenschaften  gewinnt, 
fallt  in  die  erste  Kategorie  die  Mathematik  mit  allen  ihren  einzelnen  Disciplinen. 
Ihre  allgemeine  Aufgabe  definirt-  Wundt  als  „die  Untersuchung  aller  über- 
haupt denkbaren  formalen  Ordnungen  und  Ordnungsbegriffe."  In 
consequenter  Weiterführung   der   durch    die   Trennung   der   Mathematik   von   den 


64  Beferate  und  Besprechungen. 

übrigen  Wissenschaften  gegebenen  Abstraction  theilt  Verf.  die  realen  Wissen- 
schaften dann  weiter  in  Natur-  und  Geistes  Wissenschaften,  Ton  denen  die 
ersteren  sich  mit  realen  Eigenschafben  beschäftigen,  die  wir  auf  als  von  uns  ver- 
schieden wahrgenommene  Dinge  beziehen,  während  die  letzteren  die  Eigenschaften 
der  Dinge  in  ihrer  Verwandtschaft  mit  unserem  eigenen  Sein  unmittelbar  erfassen 
und  zu  untersuchen  sich  bemühen.  Verf.  hebt  aber  ausdrücklich  hervor,  dass 
diese  Scheidung  nicht  so  aufgefasst  werden  dürfe,  als  existire  eine  von  der  körper- 
lichen verschiedene  geistige  Welt:  «^ie  körperliche  und  die  geistige  Welt 
sind  in  Wahrheit  nur  eine  einzige  für  uns  untheilbare  Erfahrungs- 
welt, die  eine  Naturseite  und  eine  geistige  Seite  darbietet 

In  derselben  Weise  aber,  wie  die  Mathematik  als  rein  formale  Wissenschaft 
von  den  realen  Eigenschaften  der  Dinge  abstrahiren  kann,  dies  aber  nicht  die 
realen  Wissenschaften  von  jener  zu  thun  vermögen,  sind  wiederum  auch  die  Natur- 
wissenschaften fähig,  von  der  geistigen  Seite  der  von  ihr  behandelten  Gegenstände 
abzusehen,  während  die  Geisteswissenschaften  niemals  die  Naturseite  und  die  Natur- 
bedingungen der  von  ihnen  untersuchten  Vorgänge  übersehen  können:  „In 
diesem  Sinne  verwirklicht  sich  daher  in  dem  System  der  Wissen- 
schaften ein  allmählicher  Uebergang  von  abstracterer  zu  concre- 
terer  Betrachtung,  und  die  volle  Bealität  der  Erfahrungswelt 
kommt  eigentlich  erst  in  denjenigen  Gebieten  zur  Geltung,  die  am 
Ende  der  Beihe  stehen,  in  den  Geisteswissenschaften." 

Die  Naturwissenschaften  gliedert  Wundt  weiter  in  die  Behandlung  der 
an  sich  immer  an  einander  gebundenen  Naturvorgänge  und  Naturgegen- 
stände. Von  diesen  fällt  die  Untersuchung  der  ersteren  in  Gebiete,  die  Ver£ 
als  abstracte  und  concrete  Naturlehre  bezeichnet  und  von  denen  das  erstere 
auch  allgemeineDynamik  genannt,  ein  Uebergangsgebiet  zwischen  Ifathematik 
und  Naturwissenschaft  bildet,  während  sich  mit  dem  letzteren,  der  speciellen  Lehre 
von  den  Naturvorgängen,  die  Physik  und  die  Chemie  beschäftigen.  Die  Unter- 
suchung der  Naturgegenstände  umfasst  die  Lehre  von  den  Weltkörpem  (Astronomie), 
sowie  die  Lehre  von  der  Erde  (Geographie)  und  den  einzelnen  irdischen  Objecten« 
Je  nachdem  es  sich  hier  um  die  inneren  Beziehungen  dieser  Objecte  zu  einander 
oder  um  diese  zur  Erde  handelt  oder  schliesslich  die  Naturvorgänge  wieder  an 
Naturgegenständen  untersucht  werden  sollen,  ergeben  sich  die  weiteren  Unter- 
abtheilungen: die  systematische  Naturgeschichte  (Mineralogie,  Botanik, 
Zoologie,  systematische  Thierkunde,  vergleichende  Anatomie,  normale  und  patho- 
logische Anatomie  des  Menschen),  die  specielle  Geographie  (Orographie, 
Hydrographie,  Geognosie,  Pflanzen-  und  Thiergeographie),  die  physikalisch- 
chemischen  Wissenschaften  (Astromechanik  und  Astrophysik,  Geophysik, 
Physik  und  Chemie  der  Mineralien  und  der  Organismen  oder  Physiologie  mit  ihren 
Unterelntheilungen  und  den  sich  daran  anschliessenden  speciellen  medicinischen 
Disciplinen,  die  Entwickelungsgeschichte  (Kosmologie,  Geologie,  Entwicke- 
lungsgeschichte  der  Pflanzen,  der  Thiere,  des  Menschen). 

(Fortsetzxmg  folgt.)  F.  Kiesow-Turin. 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie. 

Von 

Oskar  Togt. 


lieber  die  Aetiologie  der  Hysterie  gehen  heute  noch  die  Ansichten 
der  Autoren  weit  auseinander.  Mit  Bücksicht  darauf  möchte  ich  im 
Folgenden  einen  Ideengang  und  eine  darauf  basirende  Methodik  näher 
begninden,  die  mich  in  der  Erkenntniss  des  genetischen  Mechanismus 
der  Hysterie  wesentlich  weiter  geführt  haben. 

Jeder,  der  sich  etwas  mit  hysterischen  Erkrankungen  befasst  hat, 
wird  zu  der  in  dieser  Zeitschrift  bereits  von  ForeP)  ausgesprochenen 
Ansicht  gelangen,  dass  die  Hysterie  „kein  abgeschlossenes  Kjrankheits- 
bild,  sondern  ein  pathologischer  Symptomencomplex"  ist.  Die  einzelnen 
Kranken,  so  möchte  ich  diesen  Gedanken  etwas  detaillirter  fassen, 
zeigen  bald  diese,  bald  jene  hysterischen  Symptome  und  zwar  entweder 
dann  als  einzige  krankhafte  Erscheinungen  oder  aber  associirt  mit 
anderweitigen  pathologischen  Phänomenen.  Aus  dieser  Thatsache  er- 
giebt  sich  dann  für  die  Methodik  unserer  ätiologischen  Forschung,  dass 
wir  die  ursächliche  Begründung  der  einzelnen  Symptome  zu  unter- 
suchen haben. 

Hier  muss  dann  aber  noch  auf  einen  Punkt  aufmerksam  gemacht 
werden.  Es  herrscht  durchaus  keine  Einigung  darüber,  was  nun  Alles 
an  krankhaften  Erscheinungen  zu  den  hysterischen  zu  rechnen  sei. 
Immerhin  giebt  es  aber  genügend  Phänomene,  die  von  allen  Autoren 
als  hysterisch  bezeichnet  werden.  Diese  müssen  wir  zunächst  in  ihrer 
Genese   erforschen.    Wird   es  uns   gelingen,   für  sie  eine  gemeinsame 


*)  Forel,  Der  Unterschied  zwischen  der  Suggestibilität  und  der  Hysterie. 
Ztschr.  f.  Hypn.,  Bd.  V,  pag.  93. 

Zeitschrift  für  Hypnotismns  eto.    VIII.  5 


66  Oskar  Vogt. 

Ursache  zu  erkennen,  so  können  wir  dann  eventuell  mit  Hülfe  der  so 
gewonnenen  schärferen  ätiologischen  Definition  den  Kreis  der  hyste- 
rischen Erscheinungen  genauer  begrenzen.  Unsere  Aufgabe  ist  also 
—  allgemein  gefasst  —  die,  möglichst  mannigfaltige,  aber  typisch 
hysterische  Phänomene  auf  ihre  Entstehungsursache  hin  zu  untersuchen. 
Schon  ehe  ich  nun  zu  diesem  Zwecke  jene  Methode  anwenden 
lernte,  die  ich  weiter  imten  auseinandersetzen  will,  führte  mich  die  ein- 
fache klinische  Beobachtung  in  Verbindung  mit  dem  Studium  einzelner 
hypnotischer  Phänomene  zur  Erkenntniss  zweier  Gruppen  ätiologisch 
verschiedener  Symptome.  Die  einen  bildeten  selbstständige  Primär- 
symptome, die  anderen  von  diesen  abhängige  Secundärerschei- 
n  u  n  g  e  n.  Primäre  Sensibilitätsstörungen  haben  Motilitätsveränderungen, 
wie  die  Amyosthenie  ^),  die  Parese  •),  die  Paralyse  ^),  die  Katalepsie  •) 
zur  unabweislichen  Folge.  Ich  habe  darauf  schon  in  meinen  verschie- 
denen Publicationen  hingewiesen  und  will  hier  nicht  schon  einmal  Ge- 
sagtes wiederholen.  Umgekehrt  kann  sich  der  Hysterische  —  was  ich 
auch  schon  anderweitig  ausgeführt  habe  —  eine  Paralyse  in  der  Form 
einer  vollständigen  Aufhebung  der  Sensibilität  suggeriren.  *)  In  einem 
solchen  Fall  kam  die  Sensomobilitätsstörung  in  der  suggestiv  wirkenden 
Zielvorstellung  der  Paralyse  dem  Kranken  zum  Bewusstsein.  Dem- 
entsprechend stellt  dann  die  Lähmung  das  Primär-  und  die  Anästhesie 
das  Secundärsymptom  dar.  In  dieser  Weise  können  von  zwei  in  cau- 
salem  Zusammenhang  zu  einander  stehenden  Erscheinungen  bald  die 
eine,  bald  die  andere  das  Primärsymptom  bilden.  Ich  will  nur  noch 
kurz  aus  einer  früheren  Arbeit*)  erwähnen,  dass  ich  in  einem  Falle 
die  von  Charcot  entdeckte  cutanomusculäre  Uebererregbarkeit  auf 
eine  Dysästhesie  der  Haut  als  Primärsymptom  habe  zurückführen 
können.  Hierher  gehört  ferner  die  Unerregbarkeit  specifischer  Sinnes- 
erapfindungen  bei  tactiler  Anästhesie  des  betreffenden  Sinnesorgans, 
z.  B.  die  Aufhebung  des  Geschmacks  bei  Schwund  der  Druckempfind- 
Uchkeit  der  Zunge.  In  diesem  Zusammenhang  muss  auch  erwähnt 
werden,  dass  es  Nachahmungsautomatien,  Echolalien,  Anmesien  und 
zahlreiche  andere  Erscheinungen  giebt,  die  nicht  eine  selbstständige 
Aetiologie,  wozu  ich  auch  die  associative  Verknüpfung  rechne,   haben, 

»)  Vgl.  diese  Zeitschr.,  Bd.  III,  pag.  327. 
•)  Münchener  Fsychologencongressbericht,  pag.  254. 
»)  Vgl.  diese  Zeitschr.,  Bd.  III,  pag.  326 ff. 
*)  Diese  Zeitschr.,  Bd.  V,  pag.  187. 
*)  Diese  Zeitschr.,  Bd.  IV,  pag.  Iö5. 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  67 

sondern  eine  nothwendige  Folgeerscheinung  anderer  hysterischer  Sym- 
ptome darstellen. 

Die  Erkenntniss  derartiger  Abhängigkeiten  zwischen  verschiedenen 
Erscheinungen  erfolgt  durch  die  Feststellung  ihres  gemeinsamen  Auf- 
tretens: einmal  bei  verschiedenen  Hysterischen  und  dann  bei  Normal- 
menschen in  Folge  der  Suggestion  des  einen  Symptoms.  Schhesslich 
wird  die  nunmehr  näher  zu  begründende  Methode  meist  nur  die  Ent- 
stehung von  Primärsymptomen  aufdecken. 

Bezüglich  dieser  Methode  haben  mich  die  Literatur  und  eigene 
normalpsychologische  Erfahrungen  zu  folgendem  Ideengang  geführt. 
Die  in  der  Literatur  angegebenen  Ursachen  kann  man  in  prädispo- 
nirende  und  auslösende  eintheilen.  Bei  einer  solchen  Unter- 
scheidung schien  mir,  dass  auf  die  letzteren  zuerst  die  Untersuchung 
gerichtet  werden  müsste.  Denn  diese  sind  der  directen  Beobachtung, 
ja  eventuell  einer  experimentellen  Hervorrufung  zugänglicher  als  jene. 
Die  Momente  nun,  welche  von  den  Autoren  als  eigentlich  auslösende 
Ursachen  bezeichnet  werden,  kann  man  in  somatische  und  psy- 
chische eintheilen.  Unter  diesen  waren  es  die  letzteren,  die  mir  aus 
gleich  zu  schUdemden  normalpsychologischen  Gründen  für  den  Beginn 
der  Untersuchung  geeigneter  schienen.  Ich  habe  deshalb  in  meiner 
ätiologischen  Forschung  zunächst  die  Frage  zu  beantworten  gesucht, 
wie  weit  hysterische  Erscheinungen  auf  psychische  Ursachen  zu- 
rückzuführen sind.  Mit  Rücksicht  auf  diese  Fragestellung  habe  ich 
die  folgende  Methode  bei  Hysterischen  angewandt.  Ich  hatte  ursprüng- 
lich die  Idee,  auf  diese  Weise  die  psychische  Aetiologie  gegenüber  der 
somatischen  abzugrenzen.  Meine  Untersuchungen  haben  mir  nun  — 
dieses  von  mir  selbst  durchaus  nicht  erwartete  Ergebniss  will  ich  nur 
kurz  anführen  —  kein  einziges  hysterisches  Primärsymptom  aufgedeckt, 
das  nicht  psychisch  ausgelöst  war.  In  Folge  dieser  Thatsache  hat 
meine  Methode  natürlich  wesentlich  an  Bedeutung  gewonnen.  Und  sie 
wird  es  immer  mehr,  wenn  weitere  Untersuchungen  somatische  Aus- 
lösungen hysterischer  Phänomene  immer  mehr  ausschliessen  sollten. 

Unter  den  psychischen  Ursachen  werden  von  den  Autoren  haupt- 
sächlich Suggestionen  und  Gemüthsbewegungen  genannt.  Ich  kann 
nun  als  Resultat  zahlreicher  Experimente  für  den  Normalmenschen 
folgende  Sätze  aufstellen.  Eine  Suggestionswirkung  oder  ein  reales 
Gefühl,  resp.  dessen  physiologische  Folgewirkung  ist  stets  an  das  Sub- 
strat eines  intellectuellen  Vorgangs  gebunden  und  überdauert  nicht 
dessen  Erregung.     Die  letztere  kann  unter  der  Schwelle  des  Wach- 


68  Oskar  Vogt. 

bewusstseins  Terlaufen.  Aber  sie  giebt  sich  dadurch  kund^  dass  sie  in 
einer  geeigneten  Hypnose  diese  Schwelle  überschreitet  und  bei  jeder 
Aenderung  ihrer  Intensität  eine  proportionale  Einwirkung  auf  die  von 
ihr  abhängige  Erscheinung  ausübt.  ^)  Ich  will  diese  folgenschweren 
Sätze  kurz  durch  einige  Beispiele  näher  beleuchten. 

Wenn  ich  bei  einem  Menschen,  der  an  Obstipation  leidet,  suggestiv 
Stuhlgang  erziele,  so  erfolgt  dieser  unter  Einwirkung  einer  Idee  oder 
physiologisch  gesprochen  unter  dem  Eintluss  einer  vom  Grosshim  aus- 
gehenden centripetalen  Bahnung.  Wenn  nun  diese  meine  Suggestion 
für  immer  die  Obstipation  beseitigt,  so  ist  dieser  Dauererfolg  physio- 
logisch  nicht  etwa  so  zu  erklären,  dass  nunmehr  tiefere  Centren  eine 
gesteigerte  Functionsthätigkeit  erreicht  haben,  sondern  immerfort  ist  es 
die  erhalten  gebliebene  cerebrale  Bahnung,  die  jene  Wirkung  zur  Folge 
hat.  Dieses  geht  aus  folgenden  Erfahrungen  hervor.  Ich  gebe  jenem 
Menschen  im  Somnambulismus  neben  jener  Stuhlgangsuggestion  A  noch 
eine  Suggestion  B.  Er  war  hernach  im  Wachsein  für  A  und  B  gleich- 
massig  amnestisch.  Dabei  hat  A  eine  suggestive  Dauerwirkung  zil*r 
Folge  gehabt,  während  B  wirkungslos  geblieben  ist.  Wenn  ich  nun 
nach  längerer  Zeit  den  betreffenden  Menschen  von  Neuem  in  Hypnose 
versetze  und  ihn  nach  den  Suggestionen  frage,  die  ich  ihm  in  jener 
ersten  Hypnose  gegeben  habe,  so  erinnert  er  sich  entweder  allein  an 
A  oder  wenigstens  viel  schneller  an  A  als  an  B.  Aus  diesem  günstigeren 
Verhalten  von  A  gegenüber  der  hypnotischen  Hypermnesie  schliesse  ich, 
dass  sein  iutellectuelles  Substrat,  seine  Dauerwirkuog  bethätigend,  immer 
wieder  erregt  wurde,  während  das  bei  B  nicht  der  Fall  war.  Hierin 
bestärkt  mich  die  weitere  Erfahrung,  dass  die  von  A  abhängige  Dauer- 
wirkung sofort  verschwindet,  wenn  ich  nunmehr  eine  vollständige  Amnesie 
von  A  auch  für  die  Hypnose,  d.  h.  eine  weitgehende  Verminderung 
der  Erregbarkeit  von  A  suggerire. 

Eine  analoge  Beweisführung  kann  man  für  Affectwirkungen  geben^ 
wie  ich  übrigens  anderweitig  eingehend  nachgewiesen  zu  haben  glaube.^ 
Hier  sei  deshalb  nur  ein  kurzes  Beispiel  angeführt.  Ein  durchaus 
normaler  Mensch  erwacht  eines  Morgens  verstimmt.  Er  erklärt  mir, 
ganz  unbegründeter  Weise  deprimirt  zu  sein.  Hier  haben  wir  also  ein 
depressives  Gefühl,  ohne  dass  sein  intellectuelles  Substrat  im  Bewusst- 


^]  Aehnliche  Anschauungen  sind  in  den  letzten  Jahren  von  P.  Jan  et  ausge- 
sprochen.   Vgl.  Janet,  Idees  fixes  et  nevroses.  pag.  142 ff.,  167,  215 ff. 

')  Vgl.  meine  2.  Fortsetz.  „Zur  Kenntn.  d.  Wes.  u.  d.  psycho!.  Bed.  d.  Hjrpü." 
Diese  Zeitschr.,  Bd.  IV. 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  69 

sein  sei.  Wenn  ich  nun  diesen  Menschen  in  geeigneter  Weise  hypno- 
tisire,  so  findet  derselbe  bei  entsprechender  Concentration  seiner  Auf- 
merksamkeit in  einem  Traume,  für  den  er  im  Wachsein  amnestisch 
war,  die  Ursache  seiner  Verstimmung.  Suggerire  ich  nun  gleich  darauf 
eine  tiefer  gehende  Amnesie  für  den  Traum,  so  schwindet  damit  auch 
die  Verstimmung. 

Ich  habe  zahlreiche  Fälle  darauf  untersucht  und  stets  gefunden, 
dass  sich,  wo  immer  ein  reales  Gefühl  oder  ein  Gefühlselement  ohne 
ein  intellectuelles  Substrat  ins  Bewusstsein  trat,  das  letztere  stets  im 
suggestiv  eingeengten  Bewusstsein  der  Selbstbeobachtung  offenbarte. 
Dabei  trat  nun  immer  eine  schon  oben  angedeutete  Erscheinung  zu 
Tage.  In  oder  bereits  kurz  vor  dem  Moment,  wo  das  bis  dahin  nicht 
bewusste  intellectuelle  Substrat  der  betreffenden  Person  zum  Bewusst- 
sein kam,  nahm  die  emotionelle  Erscheinung  an  Intensität  zu.  Dies 
kam  natürlich  daher,  dass  der  wachsenden  Erregung  des  intellectuellen 
Substrates  eine  Intensitätszunahme  des  emotionellen  Momentes  parallel 

ging- 

In  einem  Theil  der  Fälle  schwand  dann  nach  kurzer  Zeit  das  emo- 
tionelle Phänomen  vollständig,  ohne  dass  ich  durch  eine  besondere 
Suggestion  die  Erregung  seines  intellectuellen  Substrates  zu  beeinflussen 
gesucht  hatte.  Die  Analyse  dieser  Fälle  ergab  dann,  dass  die  betreffende 
Person  entweder 

1.  das  nunmehr  erkannte  intellectuelle  Substrat  willkürlich  tiefer 
als  zuvor  unter  die  Schwelle  des  Bewusstseins  gedrängt  hatte,  und 
daher  nunmehr  auch  das  emotionelle  Moment  aus  dem  Bewusstsein 
schwand,  oder 

2.  ein  unlogisches  intellectuelles  Substrat,  z.  B.  das  eines  Traumes, 
logisch  corrigirt  und  so  seiner  Gefühlsstärke  beraubt  hatte,  oder 

3.  ihrerseits  nichts  zu  diesem  Verschwinden  des  emotionellen  Phä- 
nomens beigetragen  hatte.  Hier  war  es  einfach  aus  dem  Bewusstsein 
geschwunden.  Meiner  Ansicht  nach  handelt  es  sich  in  diesen  Fällen 
um  eine  Erschöpfung  des  Centrums  für  den  materiellen  Vorgang  des 
intellectuellen  Substrates. 

Analoge  Erscheinungen  zeigten  sich  bei  dem  Bewusstwerden  suggestiv 
wirkender  Zielvorstellungen. 

Die  Nachforschung  nach  solchen  psychophysisch  wirksamen,  aber 
dunkel-  oder  unbewussten  Parallelvorgängen  intellectueller  Erscheinungen 
habe  ich  nun  im  Laufe  meiner  Untersuchungen  methodisch  sehr  ver- 
voUkomnmen   können.     Ich   lernte  jenen  Bewusstseinszustand  schaffen, 


70  Oskar  Yogi. 

den  ich  als  systematisches  partielles  Wachsein  zuerst  auf  dem  Münchener 
Psychologencongress  zur  Sprache  gebracht  und  dann  in  dieser  Zeit- 
schrift eingehender  beschrieben  habe,  ^)  Ich  kann  mich  daher  hier  sehr 
kurz  fassen.  Ich  ging  von  dem  sogenannten  monoideeistischen  Charact^r 
der  Hypnose  des  normalen  Menschen  aus,  d.  h.  von  der  Thatsache, 
dass  man  die  hypnotische  Schlafhemmung  ihrer  Ausdehnung  und  Tiefe 
nach  —  wenigstens  in  weitgehendem  Maasse  —  beliebig. regeln  kann. 
So  habe  ich  dann  einen  Bewusstseinszustand  suggestiv  zu  erzielen  ge- 
sucht, in  welchem  die  Schlafhemmung  ausschliesslich  solche  Bewusst- 
seinselemente  befiel,  die  zur  wissenschaftlichen  Selbstbeobachtung  keine 
Beziehung  hatten,  ja  diese  nur  störten.  Der  Versuch  gelang.  Ich 
lernte  einen  Bewusstseinszustand  schaffen,  wo  das  Wachsein  auf  das 
zur  Selbstbeobachtung  erforderliche  System  von  Bewusstseinselementen 
eingeengt  ist  und  wo  in  Folge  dieser  Einengung  bei  Erhaltensein  voll- 
ständiger Kritikfähigkeit  und  eigener  Initiative  die  Concentrations- 
fahigkeit  der  psychischen  Energie  eine  wesentliche  Steigerung  zeigt 

Nach  dem  geschilderten  Einblick  in  das  normalpsychologische  Ge- 
schehen habe  ich  diese  Methode  an  Hysterischen  auszuführen  versucht. 
Wenn  hysterische  Symptome  Suggestions-  und  Gefühlserscheinungen 
darstellten,  dann  müsste,  so  war  meine  Ueberlegung,  die  im  passend 
eingeengten  Wachsein  erfolgte  Analyse  des  einem  hysterischen  Phänomen 
parallel  gehenden  Bewusstseinsinhaltes  die  suggestiv  oder  emotionell 
wirkenden  intellectuellen  Momente  aufdecken.  Eine  exacte  Selbst- 
beobachtung im  Zustand  des  systematisch  eingeengten 
Wachseins  sollte  uns,  das  war  meine  Idee,  die  Genese 
jener  hysterischen  Erscheinungen  aufdecken,  die  sug- 
gestiven oder  emotionellen  Ursprungs  wären. 

Ist  dieser  Gedanke  realisirbar?  Das  war  die  Frage,  die  ich  zu- 
nächst auf  Grund  zu  sammelnder  Erfahrungen  zu  beantworten  hatte. 
Sie  umschloss  eine  Reihe  von  einzelnen  Fragen,  denen  wir  jetzt  näher 
treten  wollen. 

Wir  wollen  eine  exacte  Selbstbeobachtung  und  zwar  nicht  nur  von 
Seiten  zu  hysterischen  Phänomenen  neigender  Personen,  sondern  sogar 
zur  Zeit  des  Vorhandenseins  hysterischer  Erscheinungen. 

Sind  nun  überhaupt  hysterisch  veranlagte  Individuen  einer  wissen- 
schaftlichen Selbstbeobachtung  fähig?    Diese  stellt   an   die   Versuchs- 


*)  Vogt,  Die  directe  psychol.  Experimentalmethode  in  hypnot.  Bewusstseins- 
zuständen.    Diese  Zeitschr.,  Bd.  V. 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  71 

Personen  eine  ganze  Reihe  von  Anforderungen.  Zunächst  müssen  sie 
als  Naturanlage  das  Vermögen  einer  kritischen,  nüchternen  Selbst- 
beobachtung mit  auf  den  Weg  bekommen  haben.  Diese  Veranlagung 
ist  meiner  Ansicht  nach  so  selten,  dass  ich  sie  unter  hundert  Menschen 
höchstens  einem  zuspreche.  Sie  ist  entschieden  viel  weniger  häufig  als 
die  Fähigkeit  zur  exacten  Beobachtung  der  Aussenwelt.  Diese  Natur- 
anlage muss  nun  aber  weiter  ausgebildet  werden.  Die  angehende  Ver- 
suchsperson muss  in  einer  systematischen  Selbstbeobachtung  geschult 
werden.  Gerade  bei  so  schwierigen  Problemen,  wie  sie  uns  hier  inter- 
essiren,  bei  Analysen  von  Gefühlen  und  Erkennung  von  zeitweise  dunkel- 
oder  unbewussten  Bewusstseinselementen,  ist  die  Schulung  in  weit- 
gehendstem Maasse  erforderlich.  Gleichzeitig  muss  die  Versuchsperson 
lernen,  dem  richtig  Beobachteten  nun  auch  einen  adäquaten  sprachlichen 
Ausdruck  zu  geben.  Noch  auf  zwei  grosse  Fehlerquellen  muss  auf- 
merksam gemacht  werden:  auf  die  theoretische  Voreingenommenheit 
und  auf  zu  schnelle  Verallgemeinerungen  von  Beobachtungsresultaten 
auf  Seiten  der  Versuchsperson. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  Hysterische  je  derartigen  Forderungen  ge- 
nügen können.  Zunächst  sind  natürlich  Kinder  und  weiterhin  alle 
Ungebildeten  ausgeschlossen.  Ich  will  weiter  gerne  zugeben,  dass  man 
den  Hysterischen  im  Allgemeinen  noch  mehr  die  Fähigkeit  einer 
kritischen  Selbstbeobachtung  absprechen  muss  als  den  Normalmenschen. 
Aber  es  giebt  Ausnahmen !  Ebenso  wie  es  Hysterische  giebt  von  hoher 
ethischer  Bildung,  von  selten  grosser  Intelligenz,  von  einer  bewunderungs- 
würdigen Willensstärke,  so  giebt  es  auch  solche,  die  eine  tiefgehende 
Wahrheitsliebe  und  eine  treffliche  Selbstbeobachtungsgabe  besitzen.  Es 
ist  Sache  des  Arztes,  solche  Hysterische  zu  erkennen. 

Ihnen  muss  man  dann  die  genügende  Erziehung  in  der  psycho- 
logischen Selbstbeobachtung  zu  Theil  werden  lassen.  Man  beginnt  zu- 
nächst mit  einfachen  Versuchen,  etwa  mit  Prüfungen  der  Unterschieds- 
erapfindlichkeit.  Hier  hat  man  dann  auch  einen  objectiven  Maassstab 
für  die  Leistungsfähigkeit  der  vorhandenen  Selbstbeobachtung.  All- 
mählich kann  man  dann  eine  derartige  Versuchsperson  auf  die  Analyse 
complicirterer  Erscheinungen  vorbereiten.  Die  Versuchsperson  muss 
eben  lernen,  ihre  Aufmerksamkeit  bald  auf  dieses,  bald  auf  jenes 
Element  eines  vorhandenen  Bewusstseinscomplexes  einzustellen.  Sie 
muss  weiter  lernen,  das  Wichtige  vom  Unwichtigen  zu  scheiden.  Sie 
muss  darüber  unterrichtet  sein,  welche  Fragen  sie  zu  lösen  hat. 

Aber  bezüglich  dieser  letzten  Punkte  hat  man  mit  grösster  Vorsicht 


72  Oskar  Vogt. 

zu  verfahren.  Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen,  dass  man  die 
Versuchsperson  vor  einer  theoretischen  Voreingenommenheit  zu  schützen 
}iat.  Hier  wird  seltener  als  bei  Fachpsychologen  das  literarische  Vor- 
studium dieselbe  erzeugen.  Die  drohende  Gefahr  ist  dagegen  eine  Be- 
einflussung von  Seiten  des  Experimentators.  Gerade  bei  Versuchen  in 
hypnotischen  Bewusstseinszuständen  kann  in  Folge  des  engeren  Ver- 
hältnisses zwischen  Versuchsperson  und  Experimentator  leicht  eine 
theoretische  Voreingeuommenheit  des  Experimentators  auch  auf  die 
Versuchsperson  übergehen.  Hierzu  kommt  noch,  dass  zwischen  hyste- 
rischen Versuchspersonen  und  dem  Experimentator  des  Weiteren  die 
enge  Beziehung  der  Patienten  zum  Arzt  besteht.  Der  beste  Schutz  ist 
hier,  dass  der  Experimentator  selbst  sich  von  jeder  Voreingenommen- 
heit freihält,  dass  er  nicht  davon  ausgeht,  etwas  beweisen  zu  wollen, 
sondern  dass  er  einfach  empirisches  Material  sammeln  will,  unbekümmert 
um  das  eventuelle  ßesultat. 

Aber  die  andere  oben  erwähnte  Fehlerquelle  —  übrigens  nur  eine 
Unterart  der  eben  geschilderten  —  ist  nicht  weniger  gross.  Die  Ver- 
suchsperson darf  nicht  die  Resultate  ihrer  Analysen  verallgemeinem, 
sie  darf  nicht  etwa  sich  der  Idee  hingeben,  dass  ein  einzelner  erkannter 
psychophysischer  Mechanismus  nun  allen  ihren  krankhaften  Erschei- 
nungen zu  Grunde  lege.  Ich  sehe  in  derartigen  Vorkommnissen  die 
grösste  Fehlerquelle.  Hier  schützen  am  besten :  Objectivität  des  Expe- 
rimentators und  eine  beständige  Ermahnung  der  Versuchsperson,  Ver- 
allgemeinerungen zu  vermeiden,  nur  zu  beobachten  imd  keine  Schlüsse 
zu  ziehen. 

Wir  haben  bisher  gesehen,  dass  hysterisch  veranlagte  Men- 
schen gute  Selbstbeobachter  sein  können.  Wir  müssen  nun 
untersuchen,  ob  sie  diese  Fähigkeit  auch  wahrend  des  Auftretens  hyste- 
rischer Elrscheinungen  behalten.  Die  psychologische  Selbstbeobachtung 
ist  nur  möglich,  wenn  der  Beobachter  1.  beobachten  will,  2.  dieses 
Wollen  dadurch  in  die  That  umsetzen  kann,  dass  ihm  das  genügende 
Quantum  psychischer  Energie  zur  Verfügung  steht  und  3.  jene  Bewnssi- 
seinseleraente  eine  genügende  Erregbarkeit  zeigen,  welche  zu  den  für 
die  Analyse  nothwendigen  Vergleichen  und  Urtheilen  erforderlich  sind. 
Daraus  ergeben  sich  dann  aber  auch  die  Bedingungen,  denen  Hysterische 
genügen  müssen,  um  zur  Zeit  für  die  psychologische  Analyse  geeignet 
zu  sein.  Ihre  psychophysische  Energie  darf  durch  die  Krankheits- 
erscheinungen nicht  soweit  absorbirt  oder  herabgesetzt  sein,  dass  ihnen 
die  Absicht  der  Selbstbeobachtung   gar  nicht   kommt  oder  wenigstens 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  73 

Dicht  für  sie  ausführbar  ist.  Ferner  dürfen  sie  im  Abgeben  kritischer 
XJrtheile  nicht  behindert  sein.  Bei  allen  diflfiisen  hysterischen  Bewusst- 
seinstrübuDgen  ist  unsere  Methode  deshalb  von  yoroherein  ausgeschlossen. 
Alle  jene  Bewusstseinselemente,  welche  die  Basis  zu  eigener  Initiative 
und  zu  kritischer  exacter  Selbstbeobachtung  bilden,  müssen  ausserhalb 
des  Klreises  der  hysterischen  Störung  sich  befinden. 

Wir  haben  oben  gesehen,  dass  das  Bewusstwerden  des  intellectuellen 
Substrates  eines  bis  dahin  isolirt  im  Bewusstsein  vorhandenen  Gefühls 
oder  der  suggestiv  wirkenden  Zielvorstellung  eine  Ekacerbation  des  emotio- 
nellen Phänomens,  resp.  der  Suggestionswirkung  zur  Folge  hat.  Diese 
Exacerbation  ist  auch  bei  der  Analyse  hysterischer  Zustände,  soweit  diese 
emotionellen  oder  suggestiven  Ursprungs  sind,  theoretisch  zu  erwarten, 
wie  auch  bereits  von  Breuer  und  Freud  ^)  vor  Beginn  meiner  eigenen 
Studien  beschrieben.  Gesetzt,  eine  unter  durchaus  befriedigenden  Ver- 
hältnissen begonnene  Analyse  hätte  derartige  Zustände  zur  Folge,  wie 
sie  Breuer  und  Freud*)  später  eingehender  beschrieben  haben,  so 
ist  es  klar,  dass  damit  die  Fortsetzung  einer  wissenschaftlichen  Analyse 
wegen  Absorption  aller  psychischen  Energie  und  Bewusstseinstrübung 
unmöglich  geworden  wäre.  Ich  habe  nun  gefunden,  dass  die  Intensität 
derartiger  Exacerbationen  der  hysterischen  Erscheinungen  im  Anschluss 
an  entsprechende  Analysen  neben  individuellen  starke  temporäre  Schwan- 
kungen zeigen.  Diese  letzteren  hängen  nach  meinen  Erfahrungen  von  dem 
psychischen  Gesammtgesundheitszustand  des  Patienten  ab.  Je  nach  diesem 
ruft  die  Analyse  einer  hysterischen  Erscheinung  ein  wirkliches  Recidiv, 
die  von  Breuer  und  Freud  beschriebene  stark  abgemilderte  kurze 
Repetition  bei  mehr  oder  weniger  ausgeprägtem  Erhaltenbleiben  des 
Rapportverhältnisses  oder  schliesslich  nur  eine  Exacerbation  hervor, 
die  den  Gesammtbewusstseinszustand  als  solchen  unbeeinflusst  lässt. 
Dieselben  Patienten  haben  zu  verschiedenen  Zeiten  die  verschiedenen 
Intensitäten  in  der  Reaction  auf  das  Bewusstwerden  der  pathogenen 
intellectuellen  Momente  gezeigt.  In  Zeiten,  wo  es  ihnen  schlecht  ging, 
wo  hysterische  Erscheinungen  häufiger  und  intensiver  auftraten,  riefen 
derartige  Analysen  directe  Recidive  hervor.  Besserte  sich  der  Patient, 
so  liess  die  Intensität  dieser  Reactionen  nach,  um  wieder  an  Heftigkeit 
zuzunehmen,  wenn  der  gesammte  Krankheitszustand  sich  wieder  ver- 
schlechterte.   Es  ist  nun  klar,  dass  eine  wissenschaftliche  Analyse  nur 

^)  Breuer  and  Freud,    Ueber  den  psychischen  Mechanismus  hysterischer 
Phänomene.    !Neurol.  Centralbl.  1895. 

■)  Breuer  und  Freud,  Studien  über  Hysterie.    Wien  1896. 


74  Oskar  Vogt. 

dann  möglich  ist,  wenn  sie  Reactionen  zur  Folge  hat,  die  nicht  den 
Gesammtbewusstseinszustand  ungünstig  beeinflussen.  Wir  kommen  so 
zu  dem  Kesultat,  dass  Hysterische  ausschliesslich  dann  für  unsere 
Methode  geeignet  sind,  wenn  nicht  nur  die  Beobachtungsfähigkeit  vor 
der  Analyse  nicht  durch  das  hysterische  Phänomen  beeinträchtigt  wird, 
sondern  diese  auch  während  der  Analyse  dank  einer  weit- 
gehenden Besistenzfähigkeit  gegen  das  Bewusstwerden 
pathogenerintellectuellerElemente  keine  Verminderung 
erfährt. 

Aber  diese  Feststellung,  dass  die  Analyse  eventuell  sogar  ein  echtes 
Recidiv  veranlassen  kann,  führt  uns  zu  der  weiteren  Frage,  ob  denn 
unsere  Methode  so  absolut  harmlos  wäre.  Wir  müssen  uns  doch  stets 
vergegenwärtigen,  dass  Hysterische,  die  sich  uns  anvertraut  haben,  nicht 
Versuchsobjecte,  sondern  Patienten  sind,  die  Heilung  suchen.  Breuer 
und  Freud  haben  bekanntlich  ihre  Methode  der  Psychoanalyse,  zu 
der  ich  weiter  unten  noch  Stellung  nehmen  werde,  ja  direct  als  eine 
neue  Therapie  beschrieben,  indem  sie  den  mittelstarken  Reactionen, 
wie  sie  sie  allein  beschrieben  haben,  eine  Heilwirkung  zusprechen. 
Ich  kann  den  Verfassern  beipflichten,  dass  man  in  einzelnen  Fällen 
ohne  alle  Fremdsuggestion  eine  Bessening  beobachtet.  Aber  hier  ist 
zunächst  der  autosuggestive  Factor  durchaus  nicht  auszuschliessen. 
Gelegentlich  konnte  ich  ihn  sogar  direct  nachweisen.  Weiterhin  zeigen 
meine  Erfahrungen,  und  diese  beziehen  sich  auch  auf  einen  Hauptfall  der 
Breuer-Freud' sehen  Arbeit,  dass  derartige  Heilwirkungen  durchaus 
nicht  von  der  Dauer  sind,  wie  man  vor  Allem  dann  vermuthen  müsste,  wenn 
die  Theorie  der  Wiener  Autoren  richtig  wäre.')  Länger  anhaltende  Erfolge 
habe  ich  dann  beobachtet,  wenn  ich  auf  den  nunmehr  erkannten  Mechanis- 
mus suggestiv  oder  anderweitig  psychotherapeutisch  einwirkte.  Dagegen 
habe  ich  in  einer  Reihe  von  Fällen,  und  gerade  in  denjenigen,  die  das 
typische  „Abreagiren"  zeigten,  ^vie  es  Breuer  und  Freud  beschrieben, 
keinen  Erfolg  oder  sogar  eine  Verschümmerung  des  Zustandes  beob- 
achtet. Ich  halte  deshalb  die  Anwendung  meiner  Methode 
erst  dann  für  erlaubt,  wenn  die  ganze  andere  Therapie 
fehlgeschlagen  hat  und  wenn  man  andererseits  die  hypno- 
tische Technik  vollständig  beherrscht  und  auch  eine 
Menge  Zeit  zur  Verfügung  stellen  kann.  Andererseits  aber 
haben  mir  meine  Erfahrungen  gezeigt,  dass  man  mit  Hülfe  der  Einsicht, 


^)  Aebnlich  äussert  sich  P.  Janet^  N^vroses  et  idees  fixes,  pag.  163. 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  75 

die  uns  meine  Methode  in  die  Genese  der  pathologischen  Phänomene 
giebt,  eine  derartig  individualisirende  Behandlung  einschlagen  kann,  dass 
diese  noch  solche  Kranke  bessert,  die  jeder  anderen  Therapie  trotzten. 
Man  könnte  daran  denken,  noch  in  etwas  anderer  Form  im  thera- 
peutischen Interesse  der  Kranken  meine  Methode  einzuschränken.  Zu- 
gegeben, dass  die  Analyse  der  hysterischen  Bewusstseinszustände  in 
schwersten  Fällen  allein  die  richtige  Heilbehandlung  ermöglicht,  so 
brauchte  man  ihr  zu  diesen  therapeutischen  Eingriffen  doch  nicht  die 
für  eine  wissenschaftliche  Erkenntniss  der  Genese  hysterischer  Erschei- 
nungen nothwendige  Exactheit  zu  geben.  Die  letztere  setzt  — ^  wie  wir 
gesehen  haben  —  eine  Erziehung  in  der  Selbstbeobachtung  voraus. 
Ist  eine  solche  Selbstbeobachtung  nicht  aber  im  höchsten  Grade 
schädlich  für  jeden  Hysterischen?  Eine  Lenkung  der  Aufmerksamkeit 
des  Kranken  auf  seine  Person  in  der  Form,  dass  er  beständig  mit 
Angst  und  Sorge  auf  sich  achtet  und  durchaus  falsche  Causalbeziehungen 
zwischen  seinen  pathologischen  Erscheinungen  und  harmlosen  äusseren 
Vorgängen  ausklügelt,  eine  derartige  Selbstbeobachtung  ist  gewiss  der 
grösste  Feind  des  Nervenarztes.  Aber  die  Aufmerksamkeit,  die  der 
Kranke  den  Vorgängen  seines  Bewusstseins  zuwendet,  um  diese  in 
ihrem  Mechanismus  zu  erkennen,  befreit  ihn  von  falschen  Vorurtheilen, 
liefert  ihm  die  Basis  zu  einem  psychohygienischen  Leben  und  ermöglicht 
ihm  gelegentlich  sogar  selbst  pathologische  Erscheinungen  zu  beseitigen. 
Brodmann  ^)  hat  einige  meiner  hierher  gehörenden  Beobachtungen 
mitgetheilt.  Wo  daher  bei  einem  Hysterischen  die  psy- 
chische Analyse  seiner  Krankheitserscheinungen  in- 
dicirt  ist,  darf  man  dieser  auch  ein  wissenschaftliches 
Gepräge  geben. 

Aus  allen  diesen  Ausführungen  geht  also  hervor,  dass  eine  exacte 
Selbstbeobachtung  in  sehr  bedingtem  Maasse  bei  hysterisch  Veranlagten 
zur  Zeit  hysterischer  Phänomene  möglich  ist  und  auch  aus  therapeu- 
tischen Gründen  als  geboten  erscheint.  Wir  hatten  nun  ja  die  Absicht, 
die  Leistungsfähigkeit  dieser  Selbstbeobachtung  durch  Schaffung  des 
partiellen  systematischen  Wachseins  zu  steigern.  Wir  haben  deshalb 
nunmehr  uns  der  Frage  zuzuwenden,  ob  wir  diese  suggestive  Einengung 
des  Bewusstseins  bei  hysterisch  Veranlagten  zur  Zeit  krankhafter  Er- 
scheinungen  erzielen   können.     Es   ist   das   tibereinstimmende   Resultat 


*)  "Vgl.  K.  Brodmann,  Zur  Methodik  der  hypnotischen  Behandlung.    Diese 
Zeitschr.,  Bd.  VII,  pag.  241  ff. 


76  Oskar  Vogt. 

meiner  ganzen  Erfahrungen,  dass  die  Erzielung  einer  normalen  Hypnose, 
d.  h.  die  Erzielung  einer  Scblafhemmung,  deren  Tiefe  und  Ausdehnung 
—  wenigstens  annähernd  —  im  Belieben  des  Experimentators  steht, 
bei  Hysterischen  schwieriger  als  beim  Normalmenschen  zu  erreichen  ist. 
Und  doch  ist  eine  im  Sinne  des  Experimentators  echt  monoideeistische 
Hypnose  die  Voraussetzung  der  Erzielung  des  systematisch  eingeengten 
Bewusstseins.  Aber  diese  Schwierigkeiten  lassen  sich  nach  meinen 
Erfahrungen  überwinden.  Bei  genügender  Geduld  und  vollständigem 
Beherrschen  der  hypnotischen  Technik  kann  man  den  starren  Character 
der  Hypnosen  der  Hysterischen  beseitigen  und  die  Flexibilität  der 
Normalhypnose  erzielen.  Während  ich  von  nervös-normalen  Frauen 
bei  70  ^Iq  in  der  ersten  Sitzung  die  Somnambulhypnose  erziele,  habe  ich 
bei  meiner  besten  hysterischen  Versuchsperson  erst  nach  700  und  bei 
meiner  zweitbesten  erst  nach  200  Sitzungen  einen  normalen  Somnam- 
bulismus erreicht.  Was  also  den  Einfluss  hysterischer  Erscheinungen 
auf  die  Erzielung  der  geeigneten  Hypnose  anbelangt,  so  kann  ich  in 
Bezug  darauf  meine  Erfahrungen  dahin  zusammenfassen,  dass  hysterische 
Phänomene,  die  nicht  die  Selbstbeobachtungsfähigkeit  beeinträchtigen, 
auch  nicht  dauernd  die  Hypnotisirbarkeit  unmöglich  machen.  So 
kommen  wir  zu  dem  Resultat,  dass  die  Hysterie  bei  einer  sonst 
geeigneten  Versuchsperson  auf  die  Erzielung  des  passen- 
den partiellen  systematischen  Wachseins  wohl  erschwe- 
rend, nicht  aber  hindernd  wirken  kann. 

Ohne  auf  die  hypnotische  Technik  im  Einzelnen  einzugehen,  möchte 
ich  aber  doch  auf  zwei  Punkte  hinweisen.  Die  Hypnotisten  haben 
meist  den  sog.  automatischen  Gehorsam,  die  Abhängigkeit  vom  Hypno- 
tiseur und  die  Unterdrückung  der  Individualität  als  das  Erstrebens- 
werthe  angesehen.  Unsere  hypnotische  Technik  —  wie  sie  in  der 
Arbeit  Brodmann's^)  eine  monographische  Darstellung  gefunden  — 
erstrebt  das  Gegentheil :  Entfaltung  der  Individualität  und  Ausdehnung 
des  Machtbereichs  des  eigenen  Willens.  Halte  ich  einen  derartigen 
Character  der  Hypnose  schon  in  der  Therapie  für  meist  indicirt,  so  ist 
er  für  die  von  mir  erstrebten  psychologischen  Analysen  eine  unerläss- 
liche  Bedingung. 

Die  Art  und  Weise,  das  partielle  systematische  Wachsein  zu  er- 
zielen,  kann   eine   zweifache   sein.     Entweder  kann   man   das  normale 


^)  Brodmann,  Zar  Methodik  der  hypnotischen  Behandlung.    Diese  Ztschr., 
Bd.  VI  und  Vn. 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  77 

Wachsein  suggestiv  einengen  oder  einen  allgemeinen  Schlafzustand  er- 
weitern. Speciell  bei  Hysterischen  kommen  nun  ziemlich  häufig  spontane 
somnambule  Zustände  vor,  die  suggestiv  hervorzurufen  und  dann  zu 
dem  passenden  partiellen  systematischen  Wachsein  auszudehnen,  tech- 
nisch *)  öfter  leichter  fällt  als  die  entsprechende  Einengung  des  Wach- 
seins.    Hierauf  möchte  ich  kurz  aufmerksam  gemacht  haben. 

Unter  Berücksichtigung  aller  Einschränkungen,  die  aus  unseren 
den  bisherigen  Ausführungen  zu  Grunde  liegenden  Erfahrungen  hervor- 
gehen, ist  also  eine  exacte  Selbstbeobachtimg  hysterischer  Symptome 
im  Zustand  des  partiellen  systematischen  Wachseins  möglich.  Wir 
haben  dann  aber  noch  zu  untersuchen,  ob  für  die  hysterischen  Erschei- 
nungen jene  Gesetze  Giltigkeit  haben,  die  nach  unseren  Erfahrungen 
für  die  entsprechenden  normalen  Phänomene  bestehen  und  auf  die  wir 
unsere  ganze  Methode  aufgebaut  haben.  Es  fragt  sich,  ob  auch  in 
der  Hysterie  alle  auftretenden  Gefühle  nur  im  Bewusstsein  eventuell 
des  intellectuellen  Substrates  entbehren  und  ob  auch  das  intellectuelle 
Substrat  aller  hysterischen  Gefühls-  und  Suggestionswirkungen  in  dem 
geeigneten  partiellen  systematischen  Wachsein  bewusst  wird.  Hier  kann 
natürlich  ausschliesslich  die  Erfahrung  entscheiden.  Diese  hat  mich 
nun  gelehrt,  dass  die  für  die  Normalpsychologie  von  mir  erkannten 
Beziehungen  der  Suggestions-  und  Gefühlswirkungen  zu  ihren  intellec- 
tuellen Substraten  in  der  Hysterie  keine  principielle  Ausnahme 
machen.  Immerhin  muss  aber  constatirt  werden,  dass  eine  Bewusst- 
seinsbeleuchtung  mancher  hysterogener  intellectueller  Momente  sehr 
viel  schwieriger  ist  als  bei  Normalmenschen.  Es  giebt  in  der  Hysterie 
gewisse  willkürlich  hervorgerufene  Amnesien.  Ich  stimme  darin  nun 
vollständig  mit  Freud  ^)  überein,  dass  gerade  diese  gelegentlich  schwierig 
zu  beseitigen  sind.  Immerhin  ist  auch  diese  Schwierigkeit  keine  un- 
überwindliche. Von  dieser  Seite  her  steht  also  der  Anwendung  meiner 
Jlethode  nichts  im  Wege. 

Ich  möchte  diese  nun  kurz  an  der  Hand  einiger  Beispiele  practisch 
beleuchten. 

I.  Eines  Tages  wollte  ich  einer  ehemaligen  Patientin,  die  schon  längere  Zeit 
kein  hysterisches  Phänomen  mehr  gezeigt  hatte  und  die  sich  durch  ein  besonders 
gutes  Gedächt niss  auszeichnete,  einen  Kopfschmerz  suggestiv  fortnehmen,  als  ich 
ZOT  Antwort  erhielt:   „Das  können  Sie  ja  nicht,   das  haben  Sie  ja  nie  gekonnt." 

*)  Bezüglich  der  Technik  vgl.  Vogt,  Spontane  Somnambulie  in  der  Hypnose. 
Diese  Ztschr.,  Bd.  VI  und  VII. 

•)  Breuer  und  Freud,  Studien  über  Hysterie,  pag.  46. 


78  Oskar  Vogt. 

Es  war  dieser  Patientin  von  autoritativer  Seite  einst  erklärt  worden,  dass  die 
suggestive  Fortuahme  eines  Kopfschmerzes  den  Beweis  liefere,  dass  dieser  Kopf- 
schmerz nur  „eingebildet"  sei.  Der  Gedanke  aber,  für  eine  eingebildete  Kranke  zn 
gelten,  erregte  in  ihr  die  stärksten  AfTecte.  So  hatte  dieselbe  Patientin,  die  ich 
inzwischen  von  zahlreichen  anderen  hysterischen  Erscheinangen  befireit  hatte,  volle 
IVt  Jahre  der  Suggestion  des  Schwindens  eines  gelegentlich  auftreteodeii  Kopf- 
schmerzes Widerstand  entgegensetzt.  Dann  war  es  mir  allmählich  gelnngfen,  auch. 
für  diese  Suggestion  die  Patientin  zugänglich  zu  machen.  Im  Verlauf  von  weiteren 
IVs  Jahren  hatte  ich  ungefähr  10  Mal  den  Kopfschmerz  beseitigt.  Nach  einem 
weiteren  Vierteljahr  beobachtete  ich  dann  plötzlich  jene  systematische  Amnesie  für 
alle  gegen  Kopfschmerzen  erfolgreich  gewesenen  Suggestionen.  Auch  in  dem  sofort 
eingeleiteten  partiellen  systematischen  Wachsein  gelang  es  erst  nach  vieler  Mühe,, 
die  Amnesie  zu  beseitigen.    Ich  ging  dann  zur  Analyse  der  Genese  der  Amnesie  nber. 

Ich:  n Was  beobachten  Sie  in  Eirem  Bewusstsein  im  Zusammenhang  mit  der 
Amnesie.*' 

Sie:  „Klar  im  Bewusstsein  habe  ich  jetzt  das  Erinnerungsbild  von  jener  Scene, 
wo  mir  N.  die  Erklärung  machte,  dass  wirklicher  Kopfschmerz  nicht  wegsuggerir- 
bar  sei.  Ich  bin  durch  ein  neuliches  Vorkommniss  wieder  an  N.  und  die  mit  ihm 
verlebten  Scenen  erinnert  worden.  Gleichzeitig  beobachte  ich  in  meinem  Bewasat- 
sein  den  Gedanken,  dass  es  verabscheuenswert  he  Augendienerei  sei,  wenn  ich  sagen 
würde,  Sie  hätten  mir  den  Kopfschmerz  genommen,  da  mein  Kopfschmerz  doch 
wirklich,  imd  nicht  eingebildet  sei.  Es  ist  noch  etwas  im  Bewusstsein.  Aber  das 
Analysirte  beherrscht  mich  so,  dass  ich  dieses  Dunkelbewusste  nicht  erkennen  kann. 
Wollen  Sie  mir,  bitte,  das  Analysii*te  suggestiv  aus  dem  Bewusstsein  nehmen!" 

Ich:  „Die  Scene  mit  N  und  der  Gedanke  von  der  Augendienerei  schwindet 
aus  dem  Bewusstsein!" 

Sie:  „Es  handelt  sich  um  einen  neuen  Gedanken,  aber  derselbe  tritt  noch  so 
undeutlich  hervor." 

Ich:  „Er  wird  jetzt  deutlicher." 

Sie:  „Ich  kann  ihm  noch  keine  Worte  geben." 

Ich:  „Er  wird  noch  deutlicher!" 

Sie:  „Ich  beobachte  jetzt  in  mir  die  peinliche  Idee,  dass  ich  geschaospielert 
hätte,  als  ich  früher  behauptete,  Sie  hätten  mir  den  Kopfschmerz  genommen. 
Gleichzeitig  macht  sich  ein  anderer  Gedanke  bemerkbar.  Aber  die  peinliche  Idee» 
geschauspielert  zu  haben,  steht  jetzt  so  im  Mittelpunkt  des  Bewusstseins,  dass  Sie 
mir  ihre  Intensität  zunächst  herabsetzen  müssen." 

Ich:  „Diese  Idee  wird  nun  zurücktreten!" 

Sie:  „Ich  habe  jetzt  einfach  den  Gedanken,  an  die  Idee,  geschauspielert  za 
haben,  nicht  mehr  zu  denken,  sondern  mich  auf  etwas  Anderes  zu  concentriren. 
Indem  ich  das  aber  thue,  schwindet  nicht  nur  die  Idee,  geschauspielert  zu  haben, 
sondern  auch  jede  Erinnerung  daran,  das  mir  der  Kop&chmerz  je  von  Ihnen  ge- 
nommen sei." 

Die  Analyse  ergab  also  eine  willkürliche  Hervorrufung  jener  systematischen 
Amnesie. 

UL  Eine  meiner  Patientinnen  hat  —  wie  sie  selbst  seit  dem  Jahre  1879  weiss  — 
eine  hypnogene  Zone  über  dem  zweiten  Halswirbel.  Ein  Druck  auf  diese  Gegend^ 
von  ihr  selbst  oder  irgend  jemand  anders  ausgelöst,  führt  zunächst  ein  Absterben 


Zur  Methodik  der  ätiologischen  £rforschuDg  der  Hysterie.  79- 

der  Extremitäten  und  weiterhin  den  Eintritt  eines  rapportlosen  Schlafes  herbei. 
Ich  fordere  sie  nun  auf,  im  gewöhnlichen  Wachsein  zu  beobachten,  was  in  ihrem 
Bewusstsein  vor  sich  ginge,  wenn  sie  durch  einen  leisen  Druck  ein  Absterben  der 
Extremitäten  herbeiführe.  Sie  giebt  dann  an,  sie  habe  dunkelbewusst  an  eine 
Situation  gedacht,  aber  sie  habe  diese  nicht  klar  erkennen  können.  Ich  versetze 
sie  jetzt  auf  ihre  Bitte  in  den  Zustand  des  eingeengten  Bewusstseins.  Darauf  ent- 
wickelt sich  folgendes  Gespräch. 

Sie:  n^ch  sehe  jetzt  deutlich  eine  Scene.  Es  war  im  Jahre  1879,  dass  mein 
Vetter  G.  an  einem  Sommerabend  in  unserer  Landwohnung  zu  N.  gerade  Ciavier 
gespielt  hatte.  Er  drehte  sich  dann  zu  uns  herum.  Ich  bat  ihn,  im  Spiel  fortzu- 
fahren. Er  erklärte,  müde  zu  sein  und  legte  dabei  seinen  Arm  um  meinen  Hals. 
In  diesem  Moment  fing  ich  an  zu  zittern,  meine  Glieder  wurden  kalt.  Ich  bin 
hingefallen  und  habe  mein  Bewusstsein  verloren.'' 

Ich:  „Hatten  Sie  irgendwelche  ideale  Beziehungen  zu  Ihrem  Vetter?" 

Sie:  „Durchaus  nicht.  Wie  Sie  wissen,  hatte  ich  damals  bereits  für  den 
Mann  ein  Interesse,  für  den  ich  es  noch  jetzt  habe.  Mein  Vetter  hat  mich  oft  so 
umarmt.     Weder  er,  noch  ich  haben  dabei  an  irgend  etwas  Weiteres  gedacht." 

Ich:  „Warum  hat  dann  jene  Umarmung  den  Anfall  ausgelöst.  Drücken  Sie 
Sich  noch  einmal  auf  den  Druckpunkt  und  beobachten  Sie,  ob  noch  etwas  Anderes 
in  Zusammenhang  damit  im  Bewusstsein  existirt!" 

Sie:  „Ich  beobachte  jetzt  deutlich  das  visuelle  Bild  eines  weissen  Stückes 
Tuch.    Ich  finde  aber  gar  keinen  Zusammenhang." 

Ich:  „Beobachten  Sie  Sich  weiter!" 

Sie:  „Ich  sehe  jetzt  im  Geiste  eine  ganze  Scene.  Ich  bin  mit  meiner  Mutter 
in  L." 

Ich:  „Wann  war  das?" 

Sie:  „Das  war  1863." 

Ich:  „Wie  alt  waren  Sie  damals?" 

Sie:  „Ich  war  10  Jahre  alt.  —  Ja  jetzt  ist  mir  die  Scene  ganz  klar.  Ich  liege 
in  dem  grossen  Bett,  in  dem  ich  mit  Mama  schlief.  Meine  Mutter  hatte  ihren 
Arm  unter  meinen  Kopf  geschoben,  so  dass  ich  mit  dem  Hals  auf  ihrem  Arm  lag. 
Ich  hatte  Herzklopfen  und  Kälte  im  ganzen  Körper.  Meine  Mutter  beruhigte  mich 
und  ich  schlief  so  ein.  Jetzt  weiss  ich  auch,  was  dieses  weisse  Stück  Tuch  zu 
bedeuten  hatte.  Es  war  jenes  Stück  Bettzeug,  auf  das  zuletzt  noch  meine  Augen 
fielen,  ehe  ich  diese  zumachte.  Ich  weiss  jetzt  auch,  warum  ich  so  erregt  war, 
Herzklopfen  und  abgestorbene  Glieder  hatte.  Es  war  damals  in  L.  ein  junger 
Mann,  der  meine  verwittwete  Mutter  heirathen  wollte.  Derselbe  war  am  Nach- 
mittag gekommen  und  hatte,  auf  die  Photographie  des  von  mir  so  verehrten  Pflege- 
bmders  hinweisend,  gesagt,  dass  er  noch  ebenso  hübsch  sei  wie  dieser.  Ich  hatte 
ihm  dann  als  Antwort  gegeben :  Er  sehe  gerade  so  dumm  aus  wie  dieser  klug.  Der 
betreffende  Mensch  sei  darauf  in  grosse  Wuth  gerathen,  habe  den  Kahmen  jener 
Photographie  zertrümmert  und  die  Patientin  auch  thätlich  bedroht.  Daher  sei  sie 
80  erschrocken  gewesen  und  am  Abend  dann  von  der  Mutter  in  der  obigen  Weise 
beruhigt  und  eingeschläfert." 

Ich:  „Finden  Sie  in  Ihrem  Bewusstsein  eine  Beziehung  zwischen  dieser  Scene 
und  der  aus  dem  Jahre  1879?" 

Sie:  Diese  Beziehung  ist  die,  dass  1879  dasselbe  Porträt  meines  Pflegebruders 


80  Oskar  Vogt. 

über  dem  Ciavier  hing  wie  damals  in  L.  —  Aber  nein,  die  Beziehung  ist  viel  enger. 
Kurz  vor  jener  Scene  1879  war  der  ehemalige  Freier  meiner  Mutter  eu  einem 
kurzen  Besuch  zu  uns  gekommen.  Ich  hatte  mich  naturlich  der  firuheren  Scene 
wohl  erinnert.  Dieser  ^lensch  hatte  eine  wundervolle  Stimme  und  er  hatte  uns 
gerade  aus  derselben  Oper  Theile  vorgesungen,  aus  der  mein  Vetter  an  jenem 
Abend  Partien  gespielt  hatte.  Ja  wir  hatten  sogar  meinem  Vetter  gesagt,  dass 
jener  Mensch  die  betreffenden  Partien  gesungen  hatte." 

£in  nunmehr  auf  die  Halsgegend  ausgeübter  Druck  löst  keine  pathologische 
Erscheinung  mehr  aus.  Ich  wecke  jetzt  die  Patientin.  Sie  kennt  genau  den  Inhalt 
dessen,  was  sie  im  eingeengten  Bewusstscin  ausgesagt  hat.  Auf  meine  Frage  g^ebt 
sie  weiterhin  an,  sich  immer  der  berichteten  Scenen  auch  im  Wachsein  erinnert  zu 
haben.  Es  seien  ihr  aber  niemals  deren  Beziehungen  zu  dem  hypnogenen  Druck- 
punkt klar  geworden. 

III.  Ich  taste  den  Stirnschädcl  einer  Patientin,  die  sich  selbst  in  den  Zustand 
des  eingeengten  Wachseins  versetzt  hatte,  auf  Druckpunkte  ab.  Als  ich  eine  be- 
stimmte Stelle  links  drücke,  zuckt  sie  zusammen.  Auf  meine  Frage,  was  in  ihrem 
Bewusstsein  vor  sich  gegangen  sei.  erklärt  sie,  dass  sie  sich  erinnert  habe,  wie  sie 
diese  Stelle  beiderseits  früher  öfter  stark  gedrückt  habe,  um  durch  den  entstehenden 
Schmerz  einen  vorhandenen  Kopfschmerz  zu  mildem.  Sie  giebt  ausdrücklich  an, 
nicht  etwa  jetzt  einen  Schmerz  erwartet  oder  gefürchtet  zu  haben,  sondern  an  das 
frühere  Erlebniss  als  ausschliesslich  der  Vergangenheit  angehörig  gedacht  zu  haben. 
Ich  drücke  jetzt  die  homologe  Stelle  der  anderen  Seite.  Patientin  fühlt  keinen 
Schmerz.  Auf  meine  Frage  über  ihren  Bewusstseinsinhalt  giebt  sie  an,  sie  habe 
die  entsprechende  Association  unterdrückt.  Ich  fordere  sie  jetzt  auf,  die  Association 
auch  zu  unterdrücken,  wenn  ich  sie  links  drücke.  Der  Druck  löst  jetzt  auch  links 
keinen  Schmerz  aus.  Umgekehrt  erziele  ich  jetzt  rechts  einen  Schmerz,  wenn  die 
Patientin  hier  nicht  jene  Association  unterdrückt.  Ich  fordere  die  Versuchsperton 
jetzt  auf,  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  Association  einzustellen,  um  deren 
üefiihlsbetonung  zu  analysiren. 

Sie:  „In  der  Gefülilsbetonung  herrscht  ein  deprimirendes  Gefühl  vor,  daneben 
beobachte  ich  ein  unangenehmes  Gefühl." 

Ich:  „Gehört  diese  Gefühlsbetonung  als  primitives  Gefühl  zu  dem  Erinne- 
rungsbild des  durch  Druck  hervorgerufenen  Schmerzes  oder  ist  es  dieser  Vorstellung 
nur  associirt?" 

Sie:  „Die  Ueberlegung  weist  ja  von  vornherein  daraufhin,  dass  das  Gefühl 
ein  associirtes  ist,  denn  der  Druckschmerz  kann  nicht  als  solcher  ein  derartiges 
Gefühl  hervorrufen.  Aber  ich  erkenne  das  Gefühl  bisher  nicht  als  associirtes.  Ich 
will  mich  noch  weiter  beobachten.  —  tletzt  beobachte  ich  ein  dunkelbewnsstes 
intellectuelles  Moment.  Aber  ich  kann  es  nicht  erkennen.  Nehmen  Sie  mir,  bitte, 
die  Vorstellung  von  dem  Druckschmerz." 

Ich:  „Die  Vorstellung  vom  Druckschmerz  tritt  jetzt  zurück!" 

Sic:  „Jetzt  erkenne  ich  es.  Es  ist  die  Vorstellung  von  dem  Kop&chmerz, 
um  dessen  willen  ich  den  Druckschmerz  hervorrief.  Aber  es  ist  noch  etwas  dabei. 
Nehmen  Sie  mir  auch  dieses  Erinnerungsbild  vom  Kopfschmerz." 

Ich:  „Die  Vorstellung  vom  Kopfschmerz  tritt  zurück!" 

Sie:  „Ja,  jetzt  weiss  ich  die  Ursache  der  Depression.  Diese  ist  daran  ge- 
knüpft, dass  ich  zu  Anfang  unserer  Experimente  vielfach  diese  wegen  auftretenden 


Zar  Methodik  der  ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  81 

Kopfschmerzes  unterbrechen  musste.  Wenn  ich  die  Erinnerung  daran,  sowie  die 
an  den  Kopfsohmerz  unterdrücke,  so  ist  die  Vorstellung  von  dem  Druckschmerz 
nur  ganz  schwach  gefühlsbetont." 

Ich:  ,,Ich  will  Sie  jetzt  drücken,  und  dann  assocüren  Sie  abwechselnd  dieses 
schwach  und  dann  das  stark  gefühlsbetonte  Erinnerungsbild  vom  Druckschmerz!" 

Sie:  „Wenn  ich  bei  Ihrem  Druck  das  gefühlsschwache  Erinnerungsbild 
associire,  so  empfinde  ich  keinen  Schmerz.  Associire  ich  statt  dessen  das  gefuhls- 
starke,  so  beobachte  ich  den  alten  Schmerz.'' 

Hier  ergab  also  die  Analyse,  dass  ein  Schmerz  dadurch  hervorgerufen  wurde, 
dass  der  Patient  sich  einfach  einer  früheren  Situation  erinnerte,  in  der  er  diesen 
Schmerz  gehabt  hatte,  dass  aber  diese  Erinnerung  nur  dadurch  pathogen  wurde, 
dass  sich  ein  intensives  Gefühl  associirte. 

Gerade  durch  diese  Beispiele  hoffe  ich  gezeigt  zu  haben,  in  welcher 
Weise  ich  die  ätiologische  Erforschung  der  Hysterie  anzugreifen  vorschlage. 
Sie  illustriren  am  besten  auch,  wie  sich  meine  Methode  von  derjenigen 
Breuer's  und  Freud's  und  derjenigen  P.  Janet's  unterscheidet. 

Von  den  beiden  Wiener  Autoren  hat  Breuer  im  Wesentlichen 
nur  die  Anregungen  gegeben,  während  Freud ^)  die  Methode  weiter 
ausgebildet  hat.  Das  Gemeinsame  in  der  Freud 'sehen  und  meiner 
Methode  besteht  nun  eigentlich  nur  darin,  dass  wir  beide,  Kinder  und 
Ungebildete,  ausschliessen.  Im  üebrigen  handelt  es  sich  bei  Freud 
nicht  um  eine  Analyse  des  gegenwärtigen  Bewusstseinsinhaltes,  sondern 
um  eine  erweiterte  Anamnese.  Diese  Erweiterimg  sucht  der  Autor 
nun  nicht  etwa  durch  Erzielung  eines  ganz  bestimmten  partiellen  syste- 
matischen Wachseins  zu  erreichen,  sondern  meist  einfach  durch  specia- 
lisirte  Wachsuggestionen  und  selten  einmal  durch  Schaffung  einer 
beliebigen  Hypnose.  Dann  glaube  ich,  dass  Freud  sich  theoretisch 
von  vornherein  so  verrannt  hat,  dass  er  nicht  jene  Objectivität  besitzt, 
die  in  diesen  delicaten  Fragen   dem  Experimentator  eigen  sein  muss. 

In  engerer  Beziehung  stehe  ich  zu  P.  Janet.*)  Dieser  Forscher 
hat  wenigstens  versucht,  in  den  augenblicklichen  Bew]isstseinsinhalt  des 


*)  Vgl.  ausser  den  beiden  bereits  citirten  Werken :  Freud,  Ueber  den  Mecha- 
nismus der  Zwangsvorstellungen  und  Phobien.  Neurol.  Centralbl.  1895;  Freud, 
Ueber  die  Berechtigung,  von  der  Neurasthenie  einen  bestimmten  Sjmptomen- 
complex  als  Angstneurose  abzutrennen.  Neurol.  Centralbl.  1895 ;  Freud,  Bemer- 
kungen über  die  Abwehr-Neuropsychosen.  Neurol.  Centralblatt  1896;  Freud,  Zur 
Aetiologie  der  Hysterie.  Wiener  klin.  Rimdschau  1896.  (Referate  aller  dieser 
Arbeiten  finden  sich  in  dieser  Ztsohr.,  Bd.  IV.)  Freud,  Die  Sexualität  in  der 
Aetiologie.    Wien.  klin.  Hundschau  1898. 

*)  VgL  vor  Allem  P.  Janet,  Accidents  mentaux  des  hysteriques,  Paris  1894, 
und  die  Sammlung  von  Aufsätzen:  Nevroses  et  idöes  fixes.    I.    Paris,  Alcan,  1898. 
Dieses  Buch  wird  noch  eingehend  in  dieser  Ztschr.  besprochen  werden. 
Zeittchrüt  für  Hypnotismos  etc.    YIII.  6 


82  Oskar  Vogt. 

Ejrauken  Einblick  zu  erhalten.  Er  hat  sich  hier  —  ich  sehe  von  seinen 
anderen  Methoden,  z.  6.  dem  sog.  automatischen  Schreiben,  ab  —  der 
Hypnose  bedient.  Der  Unterschied  zwischen  unseren  Methoden  betrifft 
aber  die  Exactheit.  P.  Jan  et  hat  an  ungebildeten  Spitalmedien  seine 
Versuche  angestellt.  Von  einer  psychologischen  Schulung  dieser  war 
keine  B^de.  Ebenso  wenig  genügten  die  von  F.  Jan  et  eingeleiteten 
Hypnosen  den  von  mir  an  sie  gestellten  Anforderungen.  Schliesslich 
hat  Jan  et  eine  eingehendere  Selbstanalyse  durchaus  nicht  erstrebt, 
wie  denn  überhaupt  in  Frankreich  bisher  ein  Verständniss  für  die 
directe  psychologische  Experimentalmethode  kaum  existirt. 

Aber  auch  bei  den  Fachgenossen  anderer  Länder  werde  ich  — 
dessen  bin  ich  gewiss  —  wenig  Verständniss  und  Beachtung  finden. 
Die  meisten  dieser  stehen  psychologischen  Interpretationen  und  psycho- 
logischen Methoden  verständnisslos,  ja  oft  direct  feindselig  gegenüber. 
Ich  theile  ja  als  Empiriker  ihren  Standpunkt  einer  geschlossenen  Natur- 
causalität  und  einer  nicht  causal  begründeten  psychischen  Reihe.  Dem- 
entsprechend gebe  ich  gerne  zu,  dass  eine  psychologische  Definition  nie 
das  letzte  Wort  in  der  Hysterie  zu  sprechen  haben  wird.  Aber  so 
wie  die  Verhältnisse  heute  liegen,  muss  das,  was  psychisch  erkennbar 
ist,  auch  mit  psychologischen  Methoden  erforscht  werden. 

Dass  nun  in  der  Aetiologie  der  Hysterie  der  psychische  Factor 
eine  Bolle  spielt,  davon  bin  ich  ausgegangen.  Die  Klarstellung  seiner 
Bolle  durch  eine  Methode,  die  sich  des  directen  psychologischen  Er- 
kenntnis smittels,  d.  h.  der  Selbstbeobachtung,  bedient,  war  mein  Be- 
streben. Möge  dieses  wenigstens  hier  und  da  eine  vorurtheilsfreie 
Prüfung  finden!  Ich  bin  fest  überzeugt,  dass  die  von  mir  empfohlene 
Methode  einer  solchen  Stand  halten  und  auch  über  die  Hysterie  hinaus 
in  der  Erforschung  der  Genese  anderer  pathologischer  Erscheinungen, 
wie  z.  B.  der  Zwangsvorstellungen,  der  Pseudologia  phantastica,  der 
Abnormitäten  ded  Sexuallebens,  von  Nutzen  sein  wird. 

Zusammenfassung. 

1.  Frühere  Erfahrungen  hatten  mich  gelehrt,  dass 
beim  Normalmenschen  die  Selbstbeobachtung  im  par- 
tiellen systematischen  Wachsein  die  intellectuellen 
Substrate  emotioneller  oder  suggestiver  Erscheinungen 
stets  aufdecken  kann  und  so  ein  Mittel  an  die  Hand 
giebt,  die  emotionelle  oder  suggestive  Natur  einer  Er- 
scheinung zu  erkennen. 


Zur  Methodik  der  'ätiologischen  Erforschung  der  Hysterie.  83 

2.  Neuere  Beobachtungen  haben  mir  gezeigt,  dass 
diese  Aufdeckung  der  intellectuellen  Substrate  auch 
für  alle  hysterischen  emotionellen  und  suggestiven  Er- 
scheinungen möglich  ist. 

3.  Deshalb  halte  ich  es  für  angezeigt,  dass  wir  die 
ätiologische  Erforschung  der  Hysterie  in  der  Weise  in 
Angriff  nehmen,  dass  wir  zunächst  festzustellen  suchen, 
wie  weit  die  hysterischen  Erscheinungen  auf  Gefühls- 
nnd  Suggestionswirkungen  zurückzuführen -sind. 


6* 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psycliopathologie  der  Paranoia. 

Von 

Dr.  Max  Naef- Zürich. 


Die  nachstehende  Literaturzusammenstellung  erhebt  nicht  den  Anspruch  darauf, 
Yollstäudig  zu  sein ;  sie  umfasst  yielmehr  nur  die  dem  Referenten  zugänglichen  ein- 
schlägigen Arbeiten  aus  den  Jahren  1896  und  1897.  Wenn  dabei  die  deutschen 
Autoren  ganz  bedeutend  überwiegen,  so  rühi*t  dies  nicht  nur  von  der  leichten  Zu» 
gänglichkeit  ihrer  Arbeiten  her,  sondern  es  scheint  überhaupt  das  Studium  der 
^fParanoiafrage**  ein  Lieblingsgebiet  gerade  der  deutschen  Psychiater  geworden  m 
sein.  In  sozusagen  sämmtlichen  Publicationen  derselben,  welche  sich  mit  den 
paranoischen  Psychosen  beschäftigen,  wird  die  Frage  nach  der  psychologischen 
Genese  der  Paranoia,  wenn  nicht  ausführlich  abgehandelt,  so  doch  wenigstens  ge- 
streift. Und  in  der  That,  die  Frage  nach  der  Entstehung  und  dem  Wesen  der 
paranoischen  Wahnbildung  ist  ein  interessantes  Problem,  das  den  denkenden 
Forscher  anziehen  und  fesseln  muss  und  das  viel  mehr  als  eine  Reihe  anderer  Psy- 
chosen von  jeher  eine  Erklärung  herausgefordert  hat.  Während  z.  ß.  die  Melancholie 
und  Manie  sich  in  der  Hauptsache  auf  eine  pathologische  Steigerung  auch  beim 
normalen  Menschen  vorkommender  Symptome  zurückführen  lassen,  so  erscheint  das 
Wesen  der  Paranoia,  auf  den  ersten  Blick  wenigstens,  viel  frappirender  und  der 
menschlichen  Natur  fremder.  Der  Widerstreit  der  Meinungen  ist  denn  auch  noch 
ein  sehr  lebhafter  und  kaum  lassen  sich  zwei  Bearbeiter  des  Themas  auffinden,  die 
in  ihren  Ansichten  einig  gehen.  Auch  in  dem  Zeitraum,  den  die  nachfolgende 
Zusammenstellung  umfasst,  sind  eine  Reihe  bedeutender  Arbeiten  publicirt  worden, 
welche,  zum  Theil  weiter  ausgreifend,  bemüht  sind,  Licht  und  Yerstöndniss  in  die 
Psychopathologie  und  Psychologie  zu  bringen.  Ueberhaupt  ist  die  ganze  Paranoia- 
frage dazu  angethan,  diese  beiden  Disciplinen  in  hohem  Grade  zu  fördern,  da 
nothwendiger  Weise  die  richtige  Erkenntniss  pathologischer  Denkprocesse  auch  die 
normale  Psychologie  bereichern  muss.  Dass  unter  diesen  Umständen  das  vorliegende 
Thema  durchaus  im  Bereiche  des  erweiterten  Programms  dieser  Zeitschrift  liegt, 
braucht  wohl  nicht  mehr  besonders  hervorgehoben  zu  werden. 


36  Max  NaeC 

Logik  bestehen  können,  läset  sich  erklären  durch  eine  Lockerang  in  dem  Gefüge 
der  Associationen,  welche  als  Sejunction  bezeichnet  wird.  Sie  fuhrt  zum  Zerfall 
der  Individualität  und  ist  eine  Folge  der  vorausgegangenen  acuten  Geistesstörung, 
deren  eigentliches  Wesen  sie  ausmacht.  Den  Folgen  der  Sejunction,  die  als  Aus- 
fallssymptome  zu  bezeichnen  sind,  stehen  die  Sinnestäuschungen  als  Reizsymptome 
gegenüber,  ßeide  stehen  in  engem  Zusammenhang  und  es  ist  vieUeicht  die  Hallu- 
cination  aufisufassen  als  eine  Anstauung  der  Nervenenerg^e,  die  bewirkt  wird  durch 
die  von  der  Sejunction  gesetzte  Continuitätsunterbrechung.  Den  Hallucinationen 
verwandt,  ebenso  entstehend  wie  diese  und  in  sie  übergehend  sind  die  oben  er- 
wähnten autochthonen  Ideen. 

Auch  motorische  Störungen,  namentlich  akinetische  und  parakinetische  können 
zum  Ausgangspunkt  von  £rklärungswahnideen  werden,  die  dann  eine  Mittelstellung 
zwischen  den  somato-  und  autopsychischen  Wahnideen  einnehmen.  Ist  einmal  die 
Tendenz  zur  Wahnbildung  vorhanden,  so  können  auch  normale  Vorgänge  wie  der 
Schlaf  oder  geringe  Störungen  der  gewöhnlichen  Lebensfunctionen  die  Grundlage 
für  Erklärungswahnideen  abgeben. 

Die  Sejunctionsby-pothese  erklärt  auch  die  Uncorrigirbarkeit  der  Hallucinationen, 
da  durch  die  Sejunction  die  Association  mit  normalen  Vorstellungen  und  die  Er- 
weckung von  Gegenvorstellungen  unmöglich  gemacht  oder  doch  erschwert  wird. 
Für  die  auffällig  häufig  vorkommenden,  gewöhnlich  als  „Stimmen*'  bezeichneten 
Sprachhallucinationen  gebraucht  W.  den  Ausdruck  Phoneme.  Dieselben  spielen 
aber  nicht  nur  eine  Holle  als  Ursache  von  Wahnideen,  sondern  es  kommt  ihnen 
auch  die  Bedeutung  zu,  den  erklärenden  Verfolgungs-  oder  Grössenwahn  in  Worte 
zu  fassen  und  dadurch  um  so  gewichtiger  zu  gestalten. 

Ist  schon  im  normalen  Leben  jede  Wahrnehmung  von  einer  Gefühlsbetonung 
begleitet,  so  findet  sich  häufig  bei  paranoischen  Zuständen  eine  krankhafte  Gefühls- 
betonung bei  an  und  für  sich  richtigen  Wahrnehmungen.  Dies  kann  zur  Ent- 
stehung des  ßeziehungswahnes  führen.  Der  Beziehungswahn  ist,  wie  die  klinische 
Erfahrung  lehrt,  als  ein  Vorstadium  der  Hallucination  zu  bezeichnen  und  beruht 
auf  einem  krankhaften  Reizzuwachs,  der  aber  nicht  die  gleiche  Höhe  wie  bei  den 
Hallucinationen  erreicht,  begleitet  von  sejunctiven  Vorgängen.  Andeutungen  von 
Beziehungswahn  finden  sich  nicht  selten  bei  Gesunden,  wenn  sie  in  eine  ihnen 
aussergewöhnlich  erscheinende  Situation  gerathen.  Auch  der  Beziehungswahn  kann 
auto-,  allo-  oder  somatopsychischen  Ursprungs  sein. 

Eine  bei  den  sog.  alten  Fällen  häufig  zu  beobachtende  Erscheinung  ist  der 
retrospective  Erklärungswahn,  dessen  Bedeutung  darin  besteht,  den  veränderten 
Bew^usstseinsinhalt  mit  den  alten  intacten  Resten  in  Uebereinstimmung  zu  bringen. 
Unter  dessen  Einfluss  gerathon  die  Kranken  auf  die  abentheuerlichsten  Wahnideen; 
doch  ist  der  Vorgang  an  und  für  sich  nicht  krankhaft,  sondern  im  Gegentheil  die 
Reaction  eines  noch  normal  functionirenden  Gehimmcchanismus. 

Die  nachträgliche  Correctur  früherer  Erinnerungen  nennt  W.  retrospectiven 
Beziehungswahn.  Er  führt  z.  B.  den  an  Grössenwahn  leidenden  Patienten  dazu, 
Persönlichkeiten,  an  die  er  sich  aus  seiner  Jugend  erinnert,  im  Sinne  seines  Wahnes 
umzudeuten.  Analogien  dieses  Vorgangs  kommen  ebenfalls  beim  Ghesunden  vor. 
Streng  von  diesem  Phänomen  zu  scheiden  ist  die  Erinnerungsfälschung,  die  nicht 
auf  eine  qualitative  Umdeutung  der  Erinnerungen  hinausläuft,  sondern  die  Erinne- 
rung im  Sinne  des  Plus  (Confabulation)  oder  des  3Iinus  fälscht. 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  87 

Die  auf  dem  Erklärungswahn  und  der  nachträglichen  Gorrectur  des  Bewusst- 
seinsinhaltes  beruhenden  Vorgänge,  von  denen  namentlich  der  letztere  wegen  seiner 
mit  grübelnder  Gedankenarbeit  verbundenen  Entstehung  zu  einer  irreparabeln 
Fälschung  führt,  machen  zusammen  den  Begriff  der  Systematisirung  des  Wahnes 
aus  und  bedingen  in  den  chronischen  Fällen  die  Unheilbarkeit.  Auch  der  Er- 
klärungswahn imd  die  nachträgliche  Gorrectur  sind  freilich  nur  die  Folgen  der 
stattgefundenen  Sejunction ;  ebenso  haben  die  verschiedenen  Arten  der  Erinnerungs- 
fälschung eine  Lösung  der  Associationen  zur  Voraussetzung.  Es  beruht  also  die 
gesammte  inhaltliche  Bewusstseinsveränderung  auf  einer  Sejunction  oder  Associations- 
lösung  und  es  ist  nach  W.  Geisteskrankheit  als  derjenige  Vorgang  zu  definiren, 
wobei  durch  Erkrankung  des  Nervenparenchyms  Lösungen  von  Associationen  statt- 
finden. 

Schliesslich  kommt  Verf.  auf  die  überwerthigen  Ideen  zu  sprechen,  die  den 
Zwangsvorstellungen  imd  autochthonen  Ideen  verwandt  sind,  aber  nicht  wie  diese 
als  fremde  Eindringlinge  empfunden  werden,  sondern  dem  Wesen  der  eigenen  Per- 
sönlichkeit zu  entspringen  scheinen.  Sie  werden  deshalb  nicht  als  krankhaft,  sondern 
als  vollkommen  berechtigt  angesehen.  Die  überwerthigen  Ideen  verdanken  ihre 
Entstehung  der  Erinnerung  an  ein  besonders  affectvolles  Erlebniss ;  sie  können  ent- 
weder noch  in  der  Gesundheitsbreite  liegen  oder  aber  und  zwar  besonders  durch 
Hinzutreten  anderer  psychotischer  Symptome  zu  Geisteskrankheit  führen.  Die  über- 
werthige  Idee  kommt  besonders  gern  dann  zu  Stande,  wenn  das  betr.  Erlebniss 
sich  schwer  mit  dem  übrigen  Bewusstseinsinhalt  vereinbaren  lässt  und  wenn  es  von 
einem  besonders  hohen  Grade  des  Afifectes  begleitet  war.  Durch  das  Hinzutreten 
des  Beziehungs-  und  Erklärungswahnes,  sowie  durch  nachträgliche  Gorrectur  des 
Bewusstseinsinhaltes  kann  es  aus  unbedeutenden  Anfängen  zur  Entwickeluug  eines 
Wahnsystemes  kommen.  Eine  Heilung  ist  im  Anfang  noch  durch  Erregung  kräftiger 
Gegenvorstellungen  möglich. 

Zum  Schlüsse  beschreibt  Verf.  die  verschiedenen  Verlaufstypen,  die  die  Para- 
noia nehmen  kann  und  unterwirft  dieselben  auf  Grund  seiner  AusführuDgen  einer 
Analyse.  Mit  einem  kurzen  historischen  Excurs,  worin  nochmals  und  im  Gegensatz 
EU  den  Anschauungen  Griesinger's  die  fast  ausschliesslich  secundäre  Natur  des 
Verfolgungs-  und  des  Grössenwahns  betont  wird,  beschliesst  der  Verf.  diesen  äusserst 
anregenden  gedankenreichen  Theil  seines  Werkes. 

2.  J.Koch,  Die  überwerthigen  Ideen.  Gentralblatt  für  Nervenheilkunde 
und  Psychiatrie.    1896.    S.  177. 

Auf  Grund  von  drei  beobachteten  Fällen,  die  mitgetheilt  werden,  bekennt  sich 
Verf.  als  Freund  der  Lehre  Wernicke^s  von  den  überwerthigen  Ideen.  Die- 
selben kommen  aber  nur  vor  bei  gleichzeitig  vorhandener  andauernder  oder  vor- 
übergehender psyohopathischer  Minderwerthigkeit.  Die  überwerthigen  Ideen  können 
auch  in  der  Mehrzahl  und  dann  je  nach  der  Gelegenheitsursache  abwechselnd  auf- 
treten. Die  partielle  Störung  ist  zwar  das  Dominirende,  der  Boden,  auf  dem  sie 
auftritt,  ist  aber  immer  schon  zuvor  geschädigt.  Verf.  hofPt  von  einer  Vertiefung 
in  die  Lehre  Wernicke's  eine  Förderung  des  Verständnisses  zahlreicher  krank- 
hafter Geisteszustände. 


88  Hax  Naef. 

3.  «7.  Kochj  Noch  einmal  die  überwerthigen  IdeeD.  Centralblatt  für 
Nervenheilkunde  und  Psychiatrie.    1896.    S.  363. 

Bei  weiterem  Studium  der  überwerthigen  Ideen  kommt  Verf.  ca  der  Über- 
zeugung, das8  die  eigentliche  fixe  Idee  sehr  häufig  ist,  aber  immer  auf  dem  Boden 
einer  angeborenen  oder  erworbenen  psychopathischen  Minderwerthigkeit  entsteht 
Der  Unterschied  Ton  der  Paranoia  liegt  darin,  dass  in  Folge  Fehlens  einer  fort- 
schreitenden Beziehungssucht  zu  der  einen  Idee  keine  anderen  sich  hinzogesellen 
und  somit  kein  System  entsteht.  Auch  ein  Theil  der  sog.  Querulanten  gehört 
hierher,  so  dass  man  auch  bei  ihnen  von  einer  circumscripten  Autopeyohoae  im 
Sinne  Wernicke's  reden  kann.  Ob  die  fixen  Ideen  zu  den  Psychosen  gehören 
oder  aber  als  selbstständige  elementare  Anomalien  psychotischen  Characten  ao&a* 
fassen  sind,  lässt  Verf.  unentschieden.  Der  Boden,  auf  dem  sich  die  Idee  einnistet, 
ist  wohl  ein  psychotischer  Gesammtzustand ;  die  überwerthige  Idee  aber,  sofern  sie 
den  Betroffenen  kaum  in  Anspruch  nimmt,  erscheint  als  selbststandige,  elementare 
Anomalie.  In  anderen  Fällen  dagegen  kann  die  circumscripte,  psychotische  Idee 
so  übermächtig  werden,  dass  sie  das  gesammte  Geistesleben  bestimmt  und  daraus 
ein  psychotischer  Gesammtzustand  resultirt. 

4.  J.  Kochj  Ein  drittes  Mal  die  überwerthigen  Ideen.  Ceniralblatt 
für  Nervenheilkunde  und  Psychiatrie.    1896.    S.  586. 

Seinen  beiden  vorangehenden  Ausführungen  über  dieses  Thema  fugt  Verf. 
noch  Folgendes  bei :  Unter  den  überwerthigen  Ideen  sind  physiologische  und  patho- 
logische zu  unterscheiden.  Die  erstere  kann  auf  physiologischem  oder  auf  krank- 
haftem Boden  entstehen.  Eine  physiologische  überwerthige  Idee  auf  gesundem 
Boden  ist  z.  B.  diejenige  eines  Erfinders,  der  sich  unausgesetzt  mit  demselben 
Problem  befasst.  Eine  solche  Idee  kann  auch  eine  ganze  Familie,  ein  Volk,  oder 
einen  Culturkreis  beherrscheD.  Die  physiologische  überwerthige  Idee  kann  zu 
pathologischen  Handlungen  Anlass  geben.  Meistens  ist  dann  aber  der  Träger  der 
Idee  von  psychopathischer  Minderwerthigkeit.  Manche  dieser  Handlungen  (wie  sie 
z.  B.  unter  dem  Einfiuss  einer  Massensuggestion  bei  Revolutionen  begangen  werden) 
werden  nachher  von  den  Betheiligten  selbst  nicht  mehr  begriffen.  Die  an  sieh 
selbst  pathologische  überwerthige  Idee  entsteht  immer  auf  einem  psychotisch  g^e- 
schädigten  Boden. 

5.  F.  Oerlactiy  Querulantenwahn,  Paranoia  und  Geistesschwäche. 
Allgem.  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Band  LH,  S.  433. 

Verf.  wendet  sich  gegen  den  Usus,  die  Bezeichnung  Querulantenwahn  als 
fertige  Diagnose  zu  gebrauchen.  Das  Queruliren  ist  vielmehr  stets  nur  ein  Symptom 
entweder  von  Paranoia  oder  von  Geistesschwäche.  Ohne  den  Nachweis  einer  dieser 
beiden  Grundkrankheiten  darf  von  Querulantenwahn  nicht  gesprochen  werden.  Die 
Constatirung  der  Paranoia  als  des  Motivs  zum  Queruliren  unterliegt  oft  bedeutenden 
Schwierigkeiten,  weil  sie  erst  in  Entwickelung  begriffen  ist;  leichter  ist  im  Allge- 
meinen der  Nachweis  der  geistigen  Schwäche. 

Oharacteristisch  für  die  Paranoia  ist  nicht  die  Kritiklosigkeit,  vielmehr  die 
falsche  Werthbemessung  bestimmter  Vorstellungsreihen,  namentlich  solcher  der 
Ich-Reihe.  Der  Paranoiker  ist  ein  pathologischer  Egoist.  Aus  Berechnung,  nicht 
aber  aus  Ueberzeugung  ist  er  im  Stande,  sich  der  Anschauungsweise  seiner  Um- 


Zar  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  39 

gebang  anzupassen;  schliesslich  gelangen  durch  die  Macht  des  Affectes  doch  die 
dominirenden  Vorstellungen  zum  Durchbrach  nach  aussen.  Der  Egoist  will  eben 
nur,  der  Paranoiker  dagegen  muss. 

Bei  der  Geistesschwäche  gelangen  solche  Vorstellungsreihen  entweder  gar 
nicht  zur  Ausbildung,  oder  sie  werden  wieder  gelockert.  Hier  herrscht  die  Kritik^ 
losigkeit  Yor  und  der  Affect  ist  im  Stande,  jeder  beliebigen,  sonst  wenig  betonten 
Vorstellangsreihe  zom  Durchbruch  zu  verhelfen.  Dabei  kommt  es  nur  zur  Bildung 
▼on  Ptoeudo- Wahnideen,  die  auf  Grund  von  Leichtgläubigkeit  entstehen  und  nicht 
fixirt  sind. 

Lasst  sich  weder  Paranoia  noch  Geistesschwäche  nachweisen,  so  kann  von 
Querulantenwahn  nicht  gesprochen  werden.  Es  bleiben  dann  allerdings  noch  Fälle 
deutlichen  Querulirens  übrig,  die  anders  erklärt  werden  müssen,  und  für  welche 
Wernicke  die  überwerthige  Idee  zu  Hülfe  genommen  hat.  Es  wird  nun  ein 
Fall  mitgetheilt  und  analysirt,  bei  welchem  sich  keine  Spuren  bestehender  Geistes- 
schwache finden,  dem  aber  auch  paranoische  Symptome  fehlen;  denn  stets  stehen 
dabei  nicht  das  vermeintlich  verletzte  Hecht  des  Querulirenden,  sondern  der  unrecht 
handelnde  Beamte  und  dessen  Beschützer  im  Yordergnmd  des  Interesses.  Der 
Qaerulirende  wurde  also  im  vorliegenden  Fall  wirklich  durch  eine  überwerthige 
Idee  bestimmt.  Aber  nicht  die  Art  der  überwerthigen  Idee  ist  das  entscheidende, 
sondern  die  Thatsache,  dass  sich  überhaupt  eine  bestimmte  Idee  dauernd  auf  dem 
Wellengipfel  befindet.  Der  Querulant  leidet  also  nicht  an  einer  überwerthigen  Idee, 
vielmehr  an  der  Ueberwerthigkeit  einer  Idee.  Im  vorliegenden  Falle  war  diese 
Ueberwerthigkeit  nicht  die  Folge  eines  krankhaften  Zwanges,  sondern  ein  Ausfluss 
der  fireien  Willensbestimmung;  eine  psyohopathische  Grundlage  fehlt  somit  und  es 
ist  der  betr.  Querulant  für  gesund  zu  erklären. 

6.  M.  Koppen,  Der  Querulantenwahnsinn  in  nosologischer  und 
forensischer  Beziehung.    Archiv  für  Psychiatrie,  Band  XXYUI,  S.  221. 

Beim  Querolanten  erfolgt  die  Bildung  falscher  Vorstellungen  nicht  auf  Grund 
von  Sinnestäaschungen.  Die  Wahnideen  sind  nicht  auf  den  ersten  Blick  als  solche 
erkennbar,  sondern  erst  nach  genauer  Einsicht  in  die  Verhältnisse.  Die  Behaup- 
tongen  des  Querulanten  sind  zwar  nicht  vernünftig,  wohl  aber  vernünftelnd, 
raisonirend.  Dieselbe  Art  der  Wahnbildung  wird  auch  bei  Hypochondern,  Hyste- 
rikern und  Alkoholikern  beobachtet.  Die  Wahnbildung  beim  Querulanten  ist  eine 
vollkommene  und  es  genügt  dafür  Wernicke's  Ausdruck  „überwerthige  Idee" 
nicht.  Wichtig  für  die  Wahnbildung  ist  eine  Störung  auf  dem  Gebiete  des  Affectes, 
wie  eine  kritiklose  Leidenschaftlichkeit  oder  eine  dauernde  der  bei  Manie  vor- 
kommenden ähnliche  Stimmungsanomalie  oder  eine  schon  in  der  Jugend  sich 
geltend  machende  Neigung  zu  Verbrechen.  Der  Grad  der  Intelligenz  ist  ohne 
wesentlichen  Einfluss  auf  die  Entstehung  des  Querulantenwahnsinns ;  zuweilen 
wurden  xuvor  schon  andere  Psychosen  durchgemacht.  Als  ätiologisches  Moment 
ist  häufig  eine  psychische  Degeneration  anzusehen,  entstanden  entweder  durch  erb- 
liche Belastung  oder  durch  schädigende  Einflüsse  im  Fötalleben  oder  in  früher 
Jugend.  Daneben  kommen  auch  die  für  andere  Psychosen  bekannten  Ursachen  in 
Betracht.  Erlittene  Kränkungen  des  Bechtsgefühls  sind  dagegen  von  geringer 
Bedeotnng.  Gegen  die  Lehre  Wernicke' s,  den  Querulantenwahnsinn  als  circum- 
aeripte  Sionmg  «ofeafassen,  verhält  sich  der  Verf.  ablehnend. 


90  Max  Naef. 

7.  VorsteTy  Ueber  einen  Fall  von  geringgradiger  chronischer 
Compression  der  Medulla  oblongata  und  des  obersten  Halsmarks 
durch  den  Proc.  odontoid.  bei  einem  Paranoiker.  Zugleich  ein  Bei- 
trag zur  Entstehung  der  Wahnideen  durch  Allegorisirung  körper- 
licher Empfindungen.    AUgem.  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Bd.  fiTT,  S.  314 

Bei  einem  Pai'anoiker  mit  ausgesprochenem  Verfolgungs-  und  Grossenwahn, 
der  an  Tuberculose  starb,  ergab  die  Autopsie  eine  Compression  der  Uebergangs- 
stelle  des  Rückenn^arkes  in  die  Medulla  oblongata  in  Folge  Verengerung  des 
Wirbelcanales  durcl  alte  cariöse  Processe.  Während  an  der  Druckstelle  nur  gering- 
fügige atrophische  Veränderungen  constatirt  wurden,  fand  sich  in  der  Höhe  des 
zweiten  Cervicalnerven  ein  diffuser  entzündlicher  Proccss,  der  namentlich  die  Ra, 
die  hinteren  Wurzeln  an  ihrer  Eintrittsstelle  ins  Rückenmark  und  die  Hinterstrange 
betraf.  Nun  war  im  Leben  an  dem  Patienten  eine  etwas  steife  Kopfhaltung  auf- 
gefallen, sowie  die  Gewohnheit,  sich  mit  der  Faust  gegen  Hinterkopf  und  Nacken 
zu  schlagen,  während  Lähmungserscheinungen  vollständig  fehlten.  Unter  vielen 
anderen  hatte  der  Patient  auch  die  Wahnidee,  sein  Rückgrat  werde  ausgebohrt, 
sein  Nacken  mit  Electricitat  und  Hohlspiegeln  bearbeitet.  Diesen  Wahnideen  lagen 
offenbar  nicht,  wie  sonst  anzunehmen,  Parästhesien  zu  Grunde,  sondern  sie  sind 
durch  den  myelitischen  Process  zu  erklären,  da  ja  Erkrankungen  der  hinteren 
Wurzeln  erfahrungsgemäss  von  heftigen  Schmerzen  begleitet  werden.  Wie  im 
Traume  sinnliche  Eindrücke  verschiedenster  Art  wahnhaft  gedeutet  werden,  so  hat 
hier  eine  Allegorisirung  dieser  Symptome  zu  Wahnideen  stattgefunden.  Die  Para- 
noiker sind  hierzu  besonders  geneigt,  wofür  noch  eine  Reihe  von  Beispielen  ange- 
führt werden.  Die  Kenntniss  dieser  auf  Allegorisirung  körperlicher  Sensationen 
beruhenden  Wahnideen  ist  wichtig,  weil  unter  Umständen  durch  therapeutische 
Maassnahmen  auch  das  psychische  Verhalten  beeinflusst  werden  kann.  Im  Uebrigen 
ist  der  grösste  Theil  der  Arbeit  dem  pathologisch-anatomischen  Theil  des  Themas 
gewidmet. 

8.  R.  Sandberg,  Zur  Psychopathologie  der  chronischen  Paranoia. 
Allgem.  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Band  LII,  S.  619. 

Verf.  gründet  seine  Ansicht  über  die  Genese  der  primären  Verrücktheit  auf 
W  e  s  t  p  h  a  1 '  8  Arbeiten.  Das  Primäre  ist  eine  Veränderung  derjenigen  Elemente, 
in  welchen  die  Eindrücke  zur  bewussten  Wahrnehmung  gelangen;  die  Wahnideen 
sind  eine  secundäre  Folge  der  dadurch  veränderten  Auffassung  der  Aussenwelt. 
Der  erstere  Process  ist  pathologisch,  der  letztere  dagegen  ein  psychologischer  Vor- 
gang. Die  anfänglich  entstehende  Rathlosigkeit  hat  von  Anfang  an  einen  pessi- 
mistischen Anstrich  und  führt  unfehlbar  zum  Beeinträchtigungswahn,  und  zwar  in 
Folge  der  feinen,  aber  Alles  durchdringenden  und  umfassenden  Veränderung  der 
Aussenwelt.  Misstrauen  ist  der  characteristische  AfiFect  der  Paranoia;  dieses  Miss- 
trauen führt  zu  der  allgemeinen  Idee  des  Beeinträchtigtseins.  Es  erzeugt  also  die 
Transformation  des  Ich  den  Wahn  und  nicht  umgekehrt.  Der  Grossenwahn  ist  erst 
consecutiv  und  entsteht  durch  Reflexion.  Die  Art  der  Wahnideen  ist  von  äusseren 
Verhältnissen  abhängig,  weshalb  eine  wissenschaftliche  Eintheilung  darnach  onzu* 
lässig  ist.  Zur  Erklärung  der  Sinnestäuschungen  ist  Verf.  geneigt,  einen  Reiz  in 
denselben  Rindenelementen  anzunehmen,  deren  Veränderung  schon  die  unrichtige 
Auffassung  der  Aussenwelt  zur  Folge  hatte.    Sie  sind  nicht  subcorticalen  Ursprungs, 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  91 

wie  Meynert  glaubt.  Sie  entstehen  auf  derselben  ßasis  wie  die  "Wahnideen  und 
bewegen  sich  in  denselben  Bahnen.  Unwichtig  zwar  für  die  Genese  des  "Wahnes, 
weil  meist  accessorisch  entstehend,  sind  sie  doch  wichtig  als  Mittel  zur  Befestigung 
desselben. 

Als  positiven  Beweis  für  die  ünnöthigkeit  der  Annahme  einer  pathologischen 
Intelligenzschwäche  führt  Verf.  Folgendes  aus :  Für  die  Fähigkeit  der  Kritik  maass- 
gebend  ist  die  Grösse  des  vorhandenen  Yorstellungsmaterials,  die  Intensität  der 
elementaren  Anschauung  und  die  Art  und  Vollständigkeit  der  beim  Auftauchen 
einer  Vorstellung  stattfindenden  Associationen.  Fehler  in  einem  dieser  drei  Factoren 
bevnrken  kritische  und  logische  Mängel,  also  beim  Gesunden  den  Irrthum.  Die 
Wahnideen  entsprechen  nun  dem  Irrthum  nicht;  sie  verdanken  ihre  Entstehung 
nicht  dem  Fehlen  von  Gegenvorstellungen.  Wesentlich  ist  vielmehr  das  Fehlen  des 
Krankheitsbewusstseins  und  dies  rührt  davon  her,  dass  eben  der  Träger  der  be- 
wnssten  Wahrnehmung,  die  Hirnrinde  selber  in  ihrer  Totalität  krankhaft  verändert 
ist.  Die  krankhafte  Täuschung  kann  deshalb  gar  nicht  als  solche  empfunden,  sondern 
muss  für  echt  gehalten  werden.  Die  Kritik  ist  also  nicht  geschwächt,  sondern  be- 
einflusst.  Die  Analogie  der  Wahnidee  beim  Gesunden  ist  nicht  der  Irrthum,  sondern 
die  Stimmungsänderung,  wie  sie  z.  B.  der  Alkohol  und  die  Narcotica  bewirken,  der 
Fanatismus  etc.,  wobei  es  sich  immer  nicht  um  eine  Aufhebung,  sondern  um  eine 
Bestechung  der  Kritik  handelt. 

Es  ist  somit  möglich,  schliesst  der  Verf.,  auch  ohne  Annahme  einer  patho- 
logischen Intelligenzschwäche  zu  einem  psychologischen  Verständniss  der  chronischen 
Paranoia  zu  gelangen. 

9.  HertZy  Wahnsinn,  Verrücktheit,  Paranoia?  Allgem.  Zeitschrift  für 
Psjxhiatrie,  Bd.  LH,  S.  701. 

Verf.  tritt  in  diesem  Aufsatz  für  die  Beibehaltung  des  Wahnsinns  als  einer 
besonderen  nur  durch  das  Vorhandensein  von  Hallucinationen  ausgezeichneten 
Psychosenform  ein.  Nach  einem  vorausgehenden  Stadium  des  Misstrau ens  erfolgt 
das  Auftreten  der  Hallucinationen,  die  als  idiopathisch  bezeichnet  werden.  Unter 
264  Aufnahmen  fand  H.  87  Fälle  von  Wahnsinn.  Er  wird  als  die  „lebenskräftigste" 
aller  Geisteskrankheiten  bezeichnet.  Mit  einer  Literaturzusammenstellung,  die  bis 
1818  zurückgreift,  schliesst  die  Arbeit,  die  vom  Standpunkte  der  Psychopathologie 
aus  kaum  ein  Interesse  bietet. 

10.  H.  Schlöss,  Ueber  die  Beziehungen  zwischen  Melancholie  und 
Verrücktheit.    Jahrbücher  für  Psychiatrie  und  Neurologie.     18%.    S.  114. 

Verf.  gelangt  zu  der  Ansicht,  dass  die  schon  von  verschiedenen  Autoren  her- 
vorgehobenen Beziehungen,  welche  zwischen  der  Melancholie  und  Paranoia  bestehen, 
eine  scharfe  Trennung  der  beiden  Krankheitsformen  gar  nicht  zulassen.  Allgemein 
wird  angenommen,  dass  bei  der  Melancholie  die  Depression  die  primäre  Störung 
ist  und  dass  die  Wahnvorstellungen  erst  secundär  als  Erklärungsversuche  für  die 
Affectstörung  hinzutreten.  Bei  der  Verrücktheit  dagegen,  die  namentlich  in  ihren 
acuten,  hallucinatorischen  Formen  viel  Aehnlichkeit  mit  der  Melancholie  hat,  sollen 
die  Wahnideen  gleich  von  Anfang  an  das  Krankheitsbild  beherrschen  und  den 
Affect  bedingen.  Dieses  Unterscheidungsmerkmal  ist  aber  nach  Verf.  nicht  allgemein 
gültig,    denn  in  vielen  Fällen  von  Paranoia  sind  die  Wahnideen  ebenfalls  nur  ein 


92  ^Ax  Naef. 

Erklärungsversuch  für  das  yorherrschende  Gefühl  unbestimmter  Angst.  Ueberhanpt 
können  sich  sozusagen  alle  Symptome,  die  als  characteristisch  für  Melancholie  gelten, 
auch  bei  Paranoia  finden  und  umgekehrt,  wie  an  Hand  verschiedener  Kranken* 
geschichten  und  früherer  Autoren  gezeigt  wird.  Beide  Krankheiten  können  sich 
aneinander  anschliessen  und  auseinander  entwickeln.  Eine  schärfere  Trennung  wäre 
nur  dadurch  zu  erzielen,  dass  man  die  Hallucinationen  vom  Krankheitsbilde  der 
Melancholie  ausschliessen  würde,  wodurch  allerdings  die  Zahl  der  all  Melancholie 
zu  bezeichnenden  Fälle  sehr  zusammenschrumpfen  würde.  Wert  bezweifelt  also  die 
Bichtigkeit  der  allgemein  geltenden  Ansicht  über  die  Art  der  Wahnbildung  bei 
der  Melancholie,  ist  vielmehr  mit  Kraepelin  der  Meinung,  dass  die  Störung  im 
Gebiete  des  Fühlens  und  Wollens  und  der  Wahn  der  Ausdruck  einer  einheitlichai 
elementaren  Störung  seien. 

11.  Brassertj  Ueber  secundäre  Paranoia.  Allgem.  Zeitschrift  für  Psy- 
chiatrie, Band  LU,  S.  772. 

Nach  einer  einleitenden  Zusammenstellung  der  einschlägigen  Literatur  theilt 
Verf.  die  Krankengeschichten  mit,  auf  welche  sich  seine  Ausführungen  stutzen.  Er 
beobachtete  nenn  Fälle  von  Melancholie,  bei  welchen  nach  einer  gewissen  Zeit  an 
Stelle  des  Versündigungswahnes  Verfolgungswahn  trat  und  unter  gleichzeitigem 
Auftreten  von  Gehörshallucinationen  der  U ebergang  in  einen  unheilbaren  para- 
noischen Zustand  stattfand.  Ebenso  kamen  ihm  zwei  Fälle  von  Manie  vor,  bei 
denen  vorübergehend  Verfolgungswahnideen  aufbraten,  die  aber  beide  in  Heilung 
übergingen.  Nicht  ganz  ö^/q  der  von  B.  beobachteten  Paranoia-Fälle  sind  derart 
seeundärer  Natur.  Die  postmelancholisohe  Form  ist  häufiger  als  die  postmania- 
kaÜsche.  Erbliche  Belastung  begünstigt  einen  solchen  Verlauf.  Der  bis  dahin 
Melancholische  fängt  an,  Alles,  was  in  der  Umgebung  geschieht,  auf  sich  selber  zu 
beziehen,  lacht  plötzlich  laut  auf,  schliesslich  können  Hallucinationen  constatirt 
werden.  Besonders  unangenehme  Gehörshallucinationen  bewirken,  dass  die  Schuld 
vom  eigenen  Ich  auf  die  Umgebung  abgewälzt  wird ;  bisweilen  spielen  auch  Gesichts- 
täuschungen eine  Rolle.  Im  weiteren  Verlauf  der  postmelancholischen  Paranoia 
erscheinen  zuweilen  Remissionen  und  mehr  melancholische  Zwischenstadien ;  schlieas- 
licli  erfolgt  Ausgang  in  Demenz.  Heilungen  kommen  kaum  vor.  Seltener  ist  die 
postmanische  Form  der  secundären  Paranoia.  Erbliche  Belastung  und  recidivirende 
Manien  disponiren  dazu.  Der  von  B.  in  zwei  Fällen  beobachtete  Verlauf,  plötzliches 
Auftreten  des  Verfolgungswahnes  und  Ausgang  in  völlige  Heilung  nach  kurzer 
Dauer  ist  als  eine  zufällige  Ausnahme  zu  betrachten. 

12.  Krause,  Ueber  Zustände  von  Verwirrtheit  mit  Aufregung  oder 
Stupor  im  Beginne  und  Verlaufe  der  chronischen  Paranoia.  Monats- 
schrift für  Psychiatrie  und  Neurologie.    1897. 

Auf  Grund  von  sieben  ausführlich  mitgetheilten  Krankengeschichten  wird  vom 
Verf.  der  Nachweis  geleistet,  dass  Zustände  von  acuter  Verwirrtheit  in  Form  von 
Aufregung  oder  von  Stupor  sowohl  als  Einleitung  einer  chronischen  Paranoia  als 
auch  in  deren  ganzem  Verlaufe  vorkommen  können,  während  z.  B.  Kraepelin 
einen  solchen  Zusammenhang  in  Abrede  stellt.  Die  dabei  vorkommenden  Hallu- 
cinationen und  Wahnideen  entstammen  oft  dem  Material  der  zu  Grunde  liegenden 
Paranoia.  Der  Kenntniss  dieser  Zustände  kommt  practische  Bedeutung  für  Diagnose 
und  Prognose  zu. 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  93 

13.  Cl.  NeisscTy  Paranoia  und  Schwachsinn.  Allgem.  Zeitschrift  für 
Psychiatrie.    Band  LIIl,  S.  241. 

Verf.  bekennt  sich  als  Gegner  der  namentlich  von  Hitzig  wieder  vertretenen 
Lehre,  dass  der  Paranoia  ein  primärer  Intelligenzdefect  als  ein  wesentliches  Symptom 
zu  Grunde  liege.  Um  sich  in  der  streitigen  Frage  überhaupt  verstehen  zu  können, 
darf  vor  Allem  der  Begriff  der  Paranoia  nicht  zu  weit  gefasst  werden  und  nicht 
beständig  Symptomencomplexe  und  Krankheitsformen  miteinander  vermengt  werden. 
In  der  Lehre  von  der  Paranoia  spielen  noch  immer  Dogmen,  alte  wie  neue,  eine 
allzugrosse  Holle.  Um  zu  einem  Verständniss  zu  gelangen,  sind  nicht  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Wahnäusserung,  vielmehr  die  Pathogenese  zu  studiren.  Für 
die  folgenden  Betrachtungen  auszuschliessen  sind  nach  Verf.  die  originäre  Paranoia, 
weil  hier  ein  sehr  labiler  Affect  und  eine  sehr  lebhafte  Phantasie  mitspielen  und 
ein  Theil  der  psychischen  Leistung  sich  unterhalb  der  Schwelle  des  Bewusstseins 
vollzieht.  Dies  lässt  die  Einfälle  fix  und  fertig  erscheinen  ohne  die  Möglichkeit 
einer  Controle  ihrer  Genese.  Hier  handelt  es  sich  also  um  Primordialdelirien  im 
Sinne  Griesinger's,  wie  sie  aber  der  eigentlichen  chronischen  Paranoia  nicht 
zukommen.  Ebenso  sind  diejenigen  Fälle  auszuschliessen,  wo  auf  psychopathischer 
Grundlage  bestimmte  Vorstellungen  dominirend  werden  oder  sich  fixiren,  wie  bei 
Hypochondrie;  endlich  auch  die  residuären  Geistesstörungen.  Das  Hauptcharacte- 
risticum  der  noch  bleibenden  Formen  ist  eine  von  Anfang  bis  zum  Ende  andauernde 
Bildung  von  Wahnideen,  nicht  die  blosse  Existenz  solcher.  Immer  kommen  dabei 
Hallucinationen  vor,  abgesehen  von  den  querulirenden  Formen,  die  aber  wieder 
anders  zu  beurtheilen  sind. 

Eine  Reihe  von  Autoren  haben  nun  der  so  präcisirten  Paranoia  den  Schwach- 
sinn als  wichtiges  Symptom  zugeschrieben,  allerdings  mit  verschiedener  Auffassung. 
liaoh  Griesinger  kann  der  Paranoiker  seinen  Irrthum  nicht  corrigiren,  weil  die 
Vorstellungen  eine  allgemeine  Abschwächung  erlitten  haben  und  ganze  Vorstellungs- 
reihen  überhaupt  verloren  gegangen  sind.  Es  fehlen  die  zur  Correctur  nöthigen 
Gegenvorstellungen  oder  sie  sind  doch  zu  schwach.  Griesinger 's  Darstellung  ist 
achon  deshalb  anfechtbar,  weil  er  den  Process  der  chronischen  Wahnbildung  über- 
sieht und  nur  mit  von  vornherein iixirten  Wahnvorstellungen  rechnet.  Nach  Koch 
fuhrt  die  Paranoia  meist  rasch  zu  einer  Schwäche  des  Gefühlslebens  und  des  Wollens, 
-die  eine  Correctur  veininmöglicht  und  auch  zur  Folge  hat,  dass  der  Inhalt  des 
Wahnes  auf  den  Paranoiker  gar  nicht  den  Eindruck  macht,  wie  es  bei  einem  Ge- 
sunden zu  erwarten  wäre.  Auch  nach  Jastrowitz  führt  die  Paranoia  unfehlbar 
zum  Blödsinn,  von  dem  sich  deutliche  Zeichen  oft  schon  in  sehr  frühen  Stadien 
bemerkbar  machen.  Diesen  Blödsinn  bezeichnet  er  als  einen  geistigen  Defect,  der 
durch  qualitativ  veränderte,  fremde  Bestandtheile  ausgefüllt  wird. 

Kraepelin  sieht  den  Beweis  der  bestehenden  psychischen  Schwäche  schon 
in  der  blossen  Thatsache,  dass  Wahnideen  bestehen,  ohne  corrigirt  zu  werden. 
Anderweitige  Intelligenzdefecte  brauchen  daneben  gar  nicht  zu  bestehen,  kommen 
aber  gewöhnlich  mit  der  Zeit  zur  Beobachtung.  Aus  dem  Bestehen  eines  Wahn- 
aystems  schliesst  also  Kraepelin  nicht  nur  auf  Verrücktheit,  sondern  direct  auch 
auf  Schwachsinn.  Nun  ist  aber  nach  Verf.  eine  kritische  Fähigkeit,  die  einer- 
aeite  so  unzulänglich  ist,  dass  sie  das  Bestehen  von  Wahnideen  zulässt,  auf  anderen 
Gebieten  aber  ihre  volle  Schuldigkeit  thut,  ein  psychologisches  Unding.  Aber  auch 
klinisch  ist  diese  Darstellung  unrichtig,  da  viele  Paranoiker  ihren  Wahn  erst  nach 


94  Max  Naef. 

langem    verzweifeltem  Kampfe   acceptiren  und  selbst  kritische  Bedenken  dagegen 
entwickeln,  und  da  von  Haus    aus  schwachsinnige  Individuen  durchaas  nicht  be- 
sonders absurde  Wahnideen  entwickeln,  wie  es  sonst  der  Fall  sein  müsst«.    Hitzig, 
direct  aus   der  klinischen  Beobachtung  schöpfend,  föhrt   die  bei  der  Yerrücktheit 
angenommene  geistige  Schwäche   zurück  auf  eine  Armuth  an  Yorstellongen  and 
an  associativen  Verknüpfungen.    Dagegen  wendet  der  Verf.  ein,  dass  es  eben  dem 
fremden  Beobachter  unmöglich  ist,   ganz  in  das  Wahngebäude  des  Kranken  einza- 
dringen  und  dem  Paranoiker  deshalb  vielfach  mit  Unrecht  Armuth  an  in  Wirklich- 
keit einfach  nicht  erkannten  Vorstellungen  und  Associationen  derselben  vorgeworfen 
wird.    Femer  fehlt  dem  Paranoiker  vollständig  das  Krankheitsgefühl;  er  setzt  et 
deshalb  naturgemäss  auch  bei  Anderen  nicht  voraus,  was  wiederum  einen  Theil 
seiner  Handlungsweise  erklären  lässt.     Auch   die  Behauptung  Hitzig' s,   dass  für 
den  Paranoiakranken   das  Zcugniss  seiner  Sinne  nicht  existire,  ist  zurückzuweiBen. 
Den  Sinnen  Anderer  glaubt  er  allerdings  nicht,  den  seinigen  aber  felsenfest.    Noch 
überzeugender    wirken    allerdings    die    Hallucinationen.      Entgegen    der    Ansicht 
Hitziges  und  Anderer  tritt  Verf.   dafür  ein,  dass  die  Hallucinationen  nicht  nor 
intensiver,   sondern    überhaupt    qualitativ    verschieden   wirken   wie   die    normalen 
Sinneswahrnehmungen.    Nicht  auf  ihrem  Inhalt,  sondern  auf  ihren  physio-psyoho» 
logischen  Beziehungen  beruht  ihre  Macht.    Die  Hallucinationen  beeinflussen  den 
Vorstellungsablauf  direct  ohne  das  Dazwischentreten  der  Reflexion,  etwa  nach  Art 
der  Suggestion  im  Gegensatz  zum  blossen  Zureden.    Der  Kranke  glaubt  nicht  an 
die  Hallucinationen;  er  wird  von  ihnen  beherrscht.    Als  wichtigstes  Argament  für 
seine  Auffassung  führt  Hitzig  den  terminalen  Defectzustand  an,  der  wahrschdniich 
organisch   begründet   sei   und    sich  besonders  durch  die  Lockerung  der  normaler 
Weise   zwischen  Afi'ect    und  Vorstellung  bestehenden  Beziehungen  äussere.     Da- 
gegen wendet  Verf.  ein,  die  letztere  Erscheinung  könne   ebensowohl  durch  eine 
aUmähliche  Abstumpfung  der  Gemüthsreaction  in  Folge  der  steten  Wiederholung 
erklärt  werden  und  es  sei  überhaupt  die  Beaction  auf  normale  Sinneseindrucke 
mit  derjenigen  auf  Hallucinationen  nicht  direct  vergleichbar.    Ferner  ist  die  Demenz 
überhaupt  nicht  so  hochgradig,  wie  Hitzig  annimmt,  was  am  besten  aus  den  oft 
erst  spät  auftretenden  und  noch  einen  ganz  erheblichen  Bestand  geistiger  Fähig- 
keiten  offenbarenden   Erregungszuständen   hervorgeht.     Es   ist   deshalb  auch  die 
Ansicht  Ziehen 's,  der  nur  eine  Pseudodemenz   annimmt,  nicht  absolut  zorack- 
zuweisen.     Endlich   spricht  der  Nachweis  eines  terminalen  Defectes  nicht  dafür, 
dass  die  geistige  Schwäche  schon  ein  Frühsymptom  der  Paranoia  sei;  denn  die 
meisten  Geisteskranken  haben  bei  langer  Dauer  einen  psychischen  Defect  im  Gefolgt 
Aus  den  Details  der  Hypothese  Hit  zig 's  geht  hervor,  dass  er  entgegen  dem 
gewöhnlichen  Sprachgebrauch  den  Ausdruck  Demenz  für  einen  umschriebenen  Aus- 
fall geistiger  Functionen  gebraucht.    Es  wäre  also  auch  durch  die  Annahme  dieser 
Theorie  der  Nachweis,  dass  die  allgemeine  geistige  Schwäche  ein  Anfangssymptom 
der  Paranoia  sei,  noch  nicht  geleistet. 

14.  J,  Salgöf  Noch  einmal  Paranoia  und  Schwachsinn.  Allgem. 
Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Band  LIII,  S.  897. 

Verf.  hält  die  bekannte  Streitfrage,  ob  der  Schwachsinn  einen  wesentlichen 
Bestandtheil  des  paranoischen  Symptomencomplexes  ausmache,  für  sehr  wichtig, 
da  ihre  Entscheidung  für  die  Characterisirung  der  diagnostischen  Einheit  sowie 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  95 

für  die  Prognose  der  Paranoia  von  grosser  Bedeutung  ist.  Eine  sichere  Entschei- 
dung wäre  möglich,  wenn  wir  zu  einer  vollkommenen  Klarlegung  des  Begriffes 
Schwachsinn  gelangen  würden  oder  aber  durch  den  Nachweis  der  cerebralen  Ver- 
änderungen, aus  denen  sich  mit  Sicherheit  auf  das  Bestehen  von  Schwachsinn 
schliessen  Hesse.  Beides  ist  aber  einstweilen  noch  unmöglich  und  es  beruht  die 
Abschätzung  des  Schwachsinnes  auf  der  Begabung  und  fachmännischen  Erfahrung 
des  Beobachters.  Zur  Untersuchimg  der  vorliegenden  Frage  besonders  geeignet 
ist  der  Querulantenwahnsinn,  der  ohne  Zwang  der  Paranoia  eingereiht  werden 
kann,  weil  derselbe  unschwer  in  allen  Fällen  den  Schwachsinn  bei  äusserlich  gut 
erhaltenem  Raisonnement  erkennen  lässt. 

Verf.  gehört  nicht  zu  denjenigen,  die  schon  im  blossen  Auftreten  einer  Wahn- 
idee einen  Beweis  für  das  Vorhandensein  des  Schwachsinnes  erkennen;  wohl  aber 
in  der  Unfähigkeit,  die  krankhafte  Apperception  einer  Erwägung  und  Controle  zu 
unterziehen.  Die  Herabsetzung  der  Intelligenz  erfolgt  nicht  plötzlich,  sondern  ist 
das  Product  eines  chronisch  progredirenden  Krankheitsprocesses  und  ergiebt  sich 
mit  Nothwendigkeit  aus  den  cerebralen  Ursachen  der  Psychose.  Die  ersten  An- 
fange der  Paranoia  ist  Verf.  geneigt,  sehr  weit  zurückzudatiren  und  er  nimmt  für 
die  Mehrzahl  der  Fälle,  nicht  nur  für  die  sog.  originäre  Form  an,  dass  der  Ur- 
sprung in  den  Jahren  der  Pubertät  zu  suchen  sei,  wo  sie  unter  dem  Bilde  der 
Neurasthenie  erscheine.  Ebenso  langsam  erfolgt  in  anderen  Fällen  die  Ent Wickelung 
aus  Zwangsvorstellungen  heraus.  In  beiden  Fällen  bildet  eine  Einengung  des 
Bewusstseins,  eine  Verarmung  des  Bewusstseinsinhaltes  das  erste,  oft  übersehene 
Symptom.  Zur  intacten  Intelligenz  des  geistig  voll  Gesunden  ist  das  Vorhandensein 
einer  gewissen  Summe  erworbener  psychischer  Elemente  nothwendig,  sowie  die 
Möglichkeit  einer  unbehinderten,  wechselseitigen  Wirksamkeit  derselben  (Association). 
Dieses  freie  Zusammenspiel  derjenigen  Elemente  des  psychischen  Lebens,  die  eine 
innere  Gemeinschaft  haben,  kann  Bewusstsein  genannt  werden  und  die  Behinderung 
dieses  Zusammenspiels  bedeutet  also  eine  Störung  des  Bewusstseins.  Als  Ursache 
dieser  Störung  könnte  in  Betracht  kommen  entweder  eine  vermehrte  Kraft  einzelner 
Bewusstseinselemente  oder  aber  eine  verminderte  Fähigkeit  zur  Wechselwirkung 
der  übrigen.  Die  erstere  Annahme  trifft  zu  bei  den  noch  im  Gebiete  des  Physio- 
logischen liegenden  „überwerthigen  Ideen" ;  auf  dem  Gebiete  der  Pathologie  da- 
gegen kommt  nur  die  zweite  Möglichkeit  zur  Geltung;  und  es  beruht  also  die 
anscheinende  Uebermacht  der  einen  Elemente  auf  der  Schwäche  der  anderen.  Die 
nberwerthige  Idee  verdankt  ihre  Stärke  dem  Umstände,  dass  sie  auch  die  anderen 
psychischen  Kraftcentren  in  ihren  Dienst  stellt;  der  Grössen wahn  des  Paralytikers 
dagegen  ist  nur  möglich  durch  das  Aasbleiben  einer  jeden  associativen  Controle. 
80  wird  die  Einengung  des  Bewusstseins  gleichbedeutend  mit  einer  Verarmung 
des  Bewusstseinsinhaltes  und  kann  schliesslich  zur  Bewusstseinsleere  führen,  wie  sie 
beim  Stupor  oder  aquirirten  acuten  Blödsinn  gefunden  wird. 

Schon  im  normalen  Leben  sind  vorübergehende  Einengungen  des  Bewusstseins 
häufig  und  immer  verbunden  mit  ängstlicher  Verstimmung  und  innerer  Unruhe; 
man  denke  an  den  Arzt,  der  sich  des  Gedankens  nicht  erwehren  kann,  ein  Recept 
falsch  dosirt  zu  haben,  an  den  Gassirer,  der  immer  wieder  befürchtet,  seine  Gasse 
schlecht  verschlossen  zu  haben,  während  Beiden  in  Wirklichkeit  noch  nie  ein  solches 
Mingeschick  passirt  ist  Diese  Zustände  bilden  den  Uebergang  zu  den  Zwangs- 
▼orsteUungen,  welche  auf  einer  Behinderung  des  Associationsmechanismus  beruhen. 


96  Max  Naef. 

Sobald  diese  „Bewusstseins-Ebbe*  vor  aber  ist.  erfolgt  die  kritisehe  Benrtheiliiiig 
des  Torangegangenen  krankhaften  Znstandes:  wahrend  derselben  aber  onterM^ieidet 
er  sich  in  nichts  von  wirklicher  Geisteskrankheit  Die  Zwangsrorstelliuigen  sind 
der  Melancholie  am  nächsten  verwandt,  bei  welcher  die  Bewosstaeinteinengoiig  eine 
dauernde  ist. 

Das  Jahre  lang  andauernde  Stadium,  das  die  Paranoia  durchlauft,  bevor  sie 
die  Versorgung  des  Kranken  in  einer  Anstalt  nothwendig  macht,  wird  gewöhnlich 
als  Neurasthenie  bezeichnet.  Es  ist  characterisirt  durch  zunehmende  psychische 
Insufficienz  und  Abnahme  des  geistigen  Interessekreises.  Dadurch  wird  der  Boden 
für  Hallucinationen  und  Wahnideen  vorbereitet,  die  nunmehr  schon  kritiklos  ent- 
gegengenommen werden.  Der  Schwachsinn  ist  also  nicht  ein  Symptom  der  Paranoia 
neben  anderen,  sondern  eine  Entwickelungsbedingung  derselben.  Er  bedeutet  eine 
Art  Disposition  in  Form  einer  schweren  Beeinträchtigung  des  Gesammtsottandes 
der  psychischen  Individualität.  Auch  das  formale  Denken  documentirt,  wenn  es 
auch  scheinbar  wohl  erhalten  ist,  den  Schwachsinn ;  denn  es  werden  die  psychischen 
Elemente  immer  nur  nach  der  einen  Seite  associirt,  die  gerade  zur  Begründung  und 
Erläuterung  der  Wahnideen  dienlich  ist.  Die  Neurasthenie  darf  nicht  als  primiro 
Störung  der  Paranoia  als  einer  secundären  Krankheit  gegenübergestellt  werden. 
Sie  bildet  vielmehr  das  Prodromalstadium  und  kann  in  Heilung  übergehen,  bevor 
sie  zur  Entwickelang  der  vollen  Psychose  geführt  hat. 

16.  lAnhCj  Zur  Pathogenese  des  Beachtungswahnes.  Allgem.  2jeit- 
schrift  für  Psychiatrie,  Bd.  LUI/  S.  562. 

Verf.  wurde  zu  seiner  Arbeit  angeregt  durch  die  Lehre  Sandberg's  über 
die  Genese  der  Paranoia.  Sandberg  nimmt  als  primäre  Ursache  eine  Verände- 
rung der  Erinnerungsbilder  an,  welche  dem  Kranken  als  eine  psychologische  Ver- 
änderung der  äusseren  Eindrücke  zum  Bewusstsein  komme.  Die  dadurch  hervor- 
gerufene Rathlosigkeit  Iiabe  von  vornherein  einen  pessimistischen  Character  und 
führe  unfehlbar  zum  Beeinträchtigungswahn.  In  diesem  Gedankengang  findet  \erL 
eine  Lücke,  indem  die  von  AVestphal  betonte  Uebergangsstufe  des  Beachtongs- 
wahnes  nicht  berücksichtigt  ist,  aus  welchem  erst  der  Verfolgungswahn  entspringt. 
In  Folge  dessen  sieht  sich  Sandberg  genöthigt,  diese  Rathlosigkeit  von  vorn- 
herein als  pessimistisch  gefärbt  anzusehen  und  das  Misstrauen  als  den  characte- 
ristischen  Affect  der  Paranoia  zu  betrachten.  Hiergegen  wendet  der  Verf.  ein» 
dass  Misstrauen  gar  kein  Affect  sei  und  will  an  dessen  Stelle  die  gespannte 
Erwartung  setzen,  mit  welcher  nach  Art  der  Affecte  auch  körperliche  Begleit- 
erscheinungen und  zwar  unangenehmer  Art  verbunden  sind.  Dieser  der  Angst 
nahe  verwandte  Affect  ist  die  Ursache  des  Pessimismus.  Er  ist  dann  pathologisch, 
wenn  ihm  ein  Object  von  ungenügender  Bedeutung  zu  Grunde  liegt,  oder  wenn 
das  Object  ganz  fehlt.  Das  letztere  trifft  im  Anfange  der  Paranoia  zu.  So  lange 
sich  der  Kranke  noch  bewusst  ist,  dass  sein  Affect  eines  Objectes  entbehrt,  ist  er 
nur  unruhig,  zerstreut,  in  der  Erwartung  eines  unbestimmten  Etwas.  Sobald  sich 
das  aber  ändert  und  die  primäre  Natur  des  Affectes  nicht  mehr  erkannt  wird,  so 
tritt  der  Bcachtungswahn  auf  und  zwar  auf  die  Weise,  dass  der  Affect  zum  Be- 
wusstsein gelangt,  im  gleichen  Momente,  wo  eine  bei  solchen  Zuständen  ohnehin 
besonders  lebhaft  erfolgende  Sinneswahrnehmung  zu  Stande  kommt.  Die  gleich- 
giltigsten  Wahrnehmungen  gewinnen  so  eine  Bedeutung  für  den  Kranken  und  der 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  97 

Beachtongswahn  ist  da.  Es  wird  also  die  durch  den  krankhaften  Affectzustand 
bedingte  Steigerung  der  Intensität  der  Sinneswahmehmung  zur  Grundlage  des 
Wahnes  und  es  ist  Sandberg  dahin  zu  corrigiren,  dass  wie  die  Kleinheitsidee  der 
Depression,  die  Grössenidee  der  Euphorie,  so  die  Beachtungsidee  der  gespannten 
Erwartung  entspricht. 

16.  S.  Freudf  Weitere  Bemerkungen  über  die  Abwehr-Neuro- 
psychosen.  3.  Analyse  eines  Falles  von  chronischer  Paranoia. 
Neurologisches  Centralblatt  1896,  S.  442. 

Durch  die  Psycho- Analyse  eines  Falles  von  chronischer  Paranoia  gelangt  Verf. 
zum  Residtate,  dass  dieser  und  somit  voraussichtlich  auch  noch  andere  ähnliche 
Fälle  mit  der  Hysterie  und  den  Zwangsvorstellungen  zu  der  von  ihm  und  Breuer 
au%estellten  Gruppe  der  Abwehr-Psychosen  gehören,  welche  durch  die  Verdrängung 
peinlicher  Erinnerungen  entstehen. 

Ein  misstrauisches  Vorstadium  mit  unbestimmtem  Beachtungswahn,  dann  die 
plötzliche  Idee,  beim  Auskleiden  beachtet  zu  werden  und  damit  zusammenhängende 
Vorsichtsmaassregeln,  abnorme  Sensationen  in  den  Genitalien,  Hallucinationen  weib- 
licher Nacktheiten  und  endlich  Gehörshallucinationen  bilden  die  wichtigsten  Züge 
des  mitgetheilten  Krankheitsbildes. 

Als  Ausgangspunkt  der  ganzen  Krankheit  eruirte  Verf.  die  Thatsache,  dass 
die  Pat.  im  Alter  von  6  Jahren,  ohne  sich  zu  schämen,  sich  öfters  ihren  Ge- 
schwistern nackt  gezeigt  hatte.  Daher  rührte  ein  krankhaft  gesteigertes  Scham- 
gefühl, nackt  gesehen  zu  werden  und  im  Anschluss  an  den  Anblick  badender 
Frauen  kam  es  zu  den  erwähnten  Gesichtshallucinationen.  „Es  war  ein  unver- 
ändertes Stück  der  alten  Vorwurfserinnerung  und  sie  holte  jetzt  an  Schämen  nach, 
was  sie  als  Kind  versäumt  hatte."  Der  Anfang  der  Verstimmung  ergab  sich  als 
zusammenfallend  mit  einer  Unterredung,  worin  ein  auf  ihre  Brüder  bezüglicher 
Satz  vorkam,  der  geeignet  war,  an  die  früheren  Vorkommnisse  zu  erinnern.  Dieser 
Satz  wurde  nun  aber  aus  der  Erinnerung  verdrängt,  die  restirende  Empfindung 
eines  erlittenen  Vorwurfs  an  einen  folgenden  bedeutungslosen  Satz  geknüpft  und 
da  der  Inhalt  keinen  Anhaltspunkt  bot,  auf  dessen  Ton  bezogen.  Die  Stimmen 
waren  im  Anschluss  an  die  Leetüre  eines  harmlosen  Buchabschnittes,  dessen  theil- 
weise  Reproduction  sie  bildeten,  aufgetreten.  Die  nähere  Analyse  ergab,  dass 
gleichzeitig  durch  andere  Stellen  des  Buches  in  der  Patientin  Gedanken  sexuellen 
Inhalts  angeregt  wurden,  welche  Vorwürfe  über  ein  dem  Kindertramna  analoges 
Erlebniss  bedeuteten;  dass  dagegen  ein  verdrängender  Widerstand  sich  erhob  und 
deshalb  die  harmlosen  Stellen  eine  Verstärkimg  im  Bewusstsein  erfuhren,  welche 
ihr  Lautwerden  als  Stimmen  bewirkte.  Die  Stimmen  waren  also  ein  allerdings 
sehr  entstelltes  Symptom  einer  Wiederkehr  des  Verdrängten. 

Das  Besondere,  die  Genese  der  Paranoia  von  derjenigen  der  Hysterie  und  der 
Zwangsvorstellungen  Unterscheidende,  sieht  Verf.  darin,  dass  der  Vorwurf  nicht  als 
berechtigt  angesehen  wird  und  gleichsam  eine  Protection  in  Form  des  Misstrauens 
gegen  Andere  stattfindet,  während  bei  den  beiden  anderen  Psychosen  der  als  be- 
rechtigt anerkannte  Vorwurf  durch  das  primäre  Abwehrsymptom  des  Selbstmiss- 
tranens  verdrängt  wird. 

Den  sog.  Symptomen  der  secundären  Abwehr,  welche  bei  Paranoia  als  solche 
fehlen,  würde  dann  die  Ichveränderung  entsprechen,  wodurch  der  Paranoiker  seine 
Persönlichkeit  den  aufgetauchten  Wahnideen  anpasst. 

Zeitschrift  fttr  Hypnotismus  etc.    VIII.  7 


98  Max  Naefl 

17.  L.  Roncoronif  Physiologische  Genese  der  Paranoia.  Allgem. 
Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Band  LIV,  S.  336. 

Verf.  zieht  in  den  Kreis  seiner  Betrachtangen  nur  die  echte  degeneraüye 
Paranoia,  welche  als  Rudiment  in  Form  von  fixen  Ideen  und  Phobien  oder  in 
completer  Form  auftreten  kann.  Ursächlich  kommen  in  Betracht  angeborene  pra- 
disponirende,  erworbene  prädisponirende  und  veranlassende  Momente.  Sie  wirken 
indirect  durch  Störung  des  Chemismus  oder  direct  durch  Aenderong  der  Vor- 
stellungen und  Associationen.  Häufig  sind  die  Ursachen  paraphysiologischer  Art, 
d.  h.  sie  können  dem  Gesunden  zwar  nichts  anhaben,  rufen  aber  beim  Disintegrirten 
Störungen  hervor.  Disintegnrt  wird  der  zu  Geisteskrankheit  Pradisponirte  genannt, 
so  lange  die  geistige  Erkrankung  noch  nicht  ausgebrochen  ist.  Die  Paranoia  kann 
aufgefasst  werden  als  ein  besonderer  andauernder  Zustand  der  psychischen  Func- 
tionen erblichen  Ursprungs,  in  welchem  manche  Vorstellungen  eine  aussergewöhn- 
liehe  Lebhaftigkeit  und  Persistenz  annehmen.  Diese  bilden  dann  den  Kern  der 
Wahnideen.  Die  hereditäre  psychische  Prädisposition  beruht  auf  einer  Alteration 
der  höheren  Centren  und  äussert  sich  in  schrankenlosem  Selbstvertranen,  Egoismus, 
abwecliselnder  Energielosigkeit  und  Hyperthätigkeit  etc.  Als  Gelegenheitsurtache 
kommt  besonders  häufig  der  Alcohol  in  Betracht. 

Schon  beim  normalen  Menschen  kann  eine  sehr  affective  Vorstellung  die 
Oberhand  über  die  anderen  gewinnen,  aber  stets  nur  vorübergehend  und  nicht 
unwiderstehlich;  beim  Disintegrirten  dagegen  bekommen  manche  Vorstellungs- 
gruppen eine  ausserordentliche  Gewalt  und  Nachhaltigkeit,  während  andere  umge- 
kehrt ihre  Kraft  völlig  verlieren.  Zuerst  erleiden  die  höchst  entwickelten  Centren 
eine  Störung ;  dies  führt  zu  einer  Verringerung  ihrer  normalen  Hemmungsthätigkeit 
und  dadurch  wird  das  Ueberwiegen  einzelner  Vorstellungen  begünstigt.  Diese 
Kemvorstellungen  verhindern  die  Bildung  von  weiteren  Attractionscentren  von 
Vorstellungen;  diejenigen,  welche  einer  Systematisirung  entgegenwirken  könnten, 
bleiben  unbenutzt  und  der  abnorme  Ideenkern  consolidirt  sich. 

Neben  den  Wahnvorstellungen  finden  sich  auch  die  Kerne  normaler,  ja  sogar 
genialer  Ideengänge,  welch  letztere  in  ihrer  Entstehung  durch  die  Alteration  der 
höheren  Centren  sogar  begünstigt  werden.  Die  Schwäche  und  Geringwerthigkeit 
vieler  Vorstellungen  führt  zu  Phrenasthenie,  d.  h.  unheilbarer  Unwissenheit  und 
diese  begünstigt  wie  schon  beim  Gesunden,  so  erst  recht  beim  Disintegrirten  die 
Entstehung  von  Wahnideen.  Der  Erscheinungscomplex  der  Disintegrirung  beruht 
also  auf  der  Vereinigung  abnormer  Stärke  und  Nachhaltigkeit  der  einen  und 
Schwäche  und  Geringwerthigkeit  der  anderen  Vorstellungen.  Daraus  geht  hervor, 
dass  nicht  nur  die  Associationsbahnen,  sondern  auch  die  Projectionscentren  von 
der  Störung  betroffen  sein  müssen.  Die  Entwickelung  der  Wahnideen  beim  Prä- 
disponii-ten  wird  begünstigt  durch  mannigfache  körperliche  Sensationen  und  Vor* 
gänge  in  der  Aussen  weit,  vor  Allem  aber  durch  Hallucinationen  und  Illusionen; 
diese  sind  ein  häufiges  Begleitsymptom,  aber  für  die  Genese  der  Wahnideen  nicht 
nothwendig.  Sie  verdanken  ihre  Entstehung  vielleicht  einer  besonders  intensiven 
Keproduction  von  Vorstellungen. 

Die  Paranoia  ist  schwer  heilbar,  weil  sie  eine  Krankheit  der  intellectueUen 
Vorstellungen  ist,  welche  tiefer  im  Gehirne  wurzeln  als  die  Gefühle  und  weil  sie 
besonders  bei  Prädisponirten  auftritt.  Zu  einer  vollständigen  Demenz  kommt  es 
bei  der  typischen  Paranoia  selten.    Die  Annahme,  dass  die  Kritik  eine  Schädigung 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  99 

erleide,  wird  zurückgewiesen;  es  sei  denn,  man  verstehe  unter  der  Kritikfähigkeit 
etwas  ganz  Anderes,  als  es  im  Allgemeinen  geschieht.  Was  als  Kritiklosigkeit  er- 
scheint, ist  in  Wirklichkeit  Unwissenheit  und  Missverständniss. 

Nachdem  Verf.  die  yerschiedenen  Symptome  einer  kurzen  Besprechung  unter- 
zogen hat,  zieht  er  eine  Parallele  zwischen  der  Paranoia  und  Epilepsie.  Beide 
Krankheiten  betreffen  zuerst  die  höheren  Centren,  wodurch  diese  die  Herrschaft 
über  die  anderen  verlieren,  die  sich  nun  einzeln  unabhängig  machen.  Dieser 
Process  vollzieht  sich  bei  der  Epilepsie  anfallsweise,  bei  der  Paranoia  mehr  conti- 
nuirlich.  Diejenigen  Vorstellungen,  die  zu  dem  Kern  der  Wahnideen  keine  Be- 
ziehungen haben,  gehen  allmählich  zu  Grunde;  das  Gleiche  geschieht  aber  auch  im 
Laufe  der  Zeit  mit  den  übermässig  stark  betonten  Vorstellungen.  Auf  diese  Weise 
kommt  der  Schwachsinn  zu  Stande.  Derselbe  Mechanismus,  wie  ihn  Verf.  für  die 
Genese  der  Paranoia  annimmt,  liegt  wahrscheinlich  allen  Geisteskrankheiten  zu  Grunde. 
Schon  die  zahlreichen  Uebergänge  und  Combinationen  der  verschiedenen  Formen 
machen  eine  einheitliche  Auffassung  nothwendig.  Den  Schluss  der  Arbeit  bUdet 
eine  Uebersicht  der  Geisteskrankheiten  nach  der  Eintheilung  Morselli's  und  die 
Glassißcirung  der  Paranoia  nach  diesem  System. 

18.  M,  Friedmann,  lieber  die  Beziehungen  der  pathologischen 
Wahnbi  düng  zu  der  Entwickelung  der  Erkenntnissprincipien, 
insbesondere  bei  Naturvölkern.  Allgem.  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Bd.  52, 
S.  393. 

Zur  Lösung  der  Paranoiafrage  hält  es  Verf.  für  nothwendig,  das  Studium  der 
Völkerpsychologie  herbeizuziehen  und  zwar  insbesondere  auf  die  primitiven  Stufen 
des  Urtheilsverfahrens  zurückzugreifen.  Die  auffallende  Thatsache,  dass  inmitten 
normaler  Denkformen  der  paranoische  Wahn  concipirt  und  für  wahr  gehalten  wird, 
lässt  sich  nicht,  wie  es  bisher  vielfach  geschehen,  dui'ch  die  Annahme  einer  krank- 
haften Veränderung  eines  die  oberste  Instanz  bildenden  logischen  Urtheilsverfahrens 
erklären ;  denn  dieses  könnte  als  einheitliches  Seelenvermögen  nur  in  toto  geschwächt 
sein,  nicht  aber  bald  richtig  functioniren,  bald  völlig  versagen.  Diese  Annahme 
ist  aber  durchaus  nicht  nothwendig,  denn  Verf.  will  zeigen,  dass  die  subjective 
Ueberzeugung  gar  nicht  abhängig  ist  von  der  Ausführung  des  logischen  Verfahrens ; 
dies  beweisen  zur  Genüge  die  Geisteskranken,  die  Träume,  Politik,  Religion,  Vor- 
artheil  und  Suggestion.  Es  hat  vielmehr  überhaupt  jede  kraftvolle  Vorstellung  die 
Tendenz,  für  wahr  genommen  zu  werden ;  logisches  Schlussverfahren  und  subjective 
Ueberzeugung  dürfen  also  durchaus  nicht  als  unzertrennlich  angesehen  werden, 
wie  dies  auf  Grund  philosophischer  Theorien  lange  geschehen.  Auch  der  Paranoiker 
artheilt  nach  Analogie  und  Causalität,  also  nach  Vernunftsgrundsätzen;  nur  die 
Ausführung  des  logischen  Verfahrens  ist  überstürzt,  also  pathologisch,  nicht  aber 
dessen  Grundlage. 

Gestützt  auf  zahlreiche,  einer  umfangreichen  Literatur  entnommenen  Beispiele 
entwickelt  nun  Verf.  zunächst  die  Entwickelung  der  logischen  Denkgewohnheiten 
bei  den  Naturvölkern.  Auf  der  primitivsten  Stufe  herrscht  der  unbegrenzte  Analogie- 
schluss.  Er  lässt  die  Gestirne  für  Gegenstände  der  täglichen  Umgebung  ansehen, 
führt  zum  Fetischismus  und  ist  auch  heute  noch  in  Gestalt  des  Glaubens  an  die 
bekannten  verschiedenen  Omina  erkennbar.  Der  dabei  herrschende  Mangel  jeder 
Kritik  lässt  alles  Ungewohnte  als  schrecklich  erscheinen  und  bewirkt  eine  ungeheure 

7* 


100  ^^x  Naef. 

Leichtgläubigkeit.  eder  Sinn  für  das  Gesetzmässige  fehlt;  daher  die  Unfreiheit 
des  Wilden,  dem  nichts  unmöglich,  aber  auch  nichts  nothwendig  vorkommt.  Da 
stets  nur  wenige  Vorstellimgen  verbunden  werden,  fehlt  jede  Voraussicht  der  Zu- 
kunft. Um  so  grösser  ist  die  Macht  der  Grewohnheit,  die  unbewusst  Gesetze  für 
das  practische  Leben  schafft  und  verbunden  mit  dem  Uebersehen  geringfügiger 
Verschiedenheiten  die  ersten  Abstractionen  liefert.  Auch  die  Naturerklärung  der 
Wilden  beruht  auf  dem  einfachsten  Analogieschluss.  Wo  eine  Ursache  nicht  offen 
daliegt,  wird  eine  Kraft  und  Absicht  nach  menschlicher  Art  vorausgesetzt.  Auf 
dem  Boden  eines  solchen  Geisteslebens  vollzieht  sich  das  Urtheilen  nach  gewohn- 
heitsmässigen  Ideenverknüpfungen;  das  post  hoc,  ergo  propter  hoc  steht  noch  in 
voller  Geltung  und  das  Unbekannte  wird  durch  einfachen  Identitätsschluss  dem 
Bekannten  angegliedert.  Eine  andere  Möglichkeit  als  die  gewohnte  nächstliegende 
Analogie  wird  gar  nicht  erwogen  und  dennoch  der  Schluss  für  zuverlässig  wahr 
gehalten.  Es  sind  demnach  bei  den  Naturvölkern  Identität,  zeitliche  Folge  und 
unkritische  beliebige  Verknüpfung  die  einzigen  ausgesprochenen  Verstandesprincipien. 

Bei  den  Culturvölkern  dagegen  wird  die  Wahrheit  ausserdem  durch  Reflexion 
gesucht  und  es  kommt  zur  Kritik  und  Opposition  gegen  die  vulgäre  Volksmeinung. 
Lange  Zeit  suchte  man  so  das  Wirkliche  am  sichersten  durch  die  Abstraction  zu 
erkennen.  Bei  den  orientalischen  Culturvölkern  herrschte  in  Folge  Mangels  jedes 
kritischen  Gedankens  neben  dem  primitiven  Analogieschluss  ein  enormes  Autoritäts- 
bedürfniss;  das  inductive  Denken  lag  noch  völlig  brach,  weshalb  zufällige  Ent- 
deckungen nicht  verwerthet  wurden.  Wo  selbstständiges  Denken  auftrat,  suchte 
es  die  Wahrheit  durch  Abstraction  zu  erreichen  und  eine  solche  konnte  in  ihrer 
ganzen  Anschauungslosigkeit  zum  Bekenntniss  und  zur  Quelle  der  Ueberzeugung 
einer  ganzen  Kaste  werden  (Brahmanen). 

Auch  bei  den  Hellenen  gewannen  die  kühnsten  Abstractionen  überzeugende 
Wahrheit,  wie  ihre  verschiedenen  philosophischen  Systeme  beweisen.  Dass  zwischen 
Wirklichkeit  in  der  Natur  und  Denkbarkeit  im  Geiste  ein  Unterschied  sei,  kam 
ihnen  nicht  zum  Bewusstsein.  Eine  empirische  Begründung  wurde  nicht  versucht^ 
sondern  gerade  das,  was  für  die  Form  der  geistigen  Betrachtung  eines  Dinges 
wesentlich  und  nützlich  erschien,  nun  auch  als  das  Wesentliche  des  Dinges  erklärt 
und  hinein  verlegt  (Platonische  Idee).  Durch  Widerlegung  aller  anderen  möglichen 
Erklärungen  wurde  die  Wirklichkeit  noch  bekräftigt,  die  somit  der  besten  Denk- 
barkeit entsprach.  Von  dieser  Zeit  ab  datirt  die  Lehre,  dass  eine  kritische  Methode 
die  Grundlage  jeder  subjectiven  Ueberzeugung  bilden  müsse. 

Den  besten  Beweis,  wie  Ideen  ohne  logische  Begründung  subjective  Wahrheit 
erlangen  können,  bildet  das  Christenthum,  das  in  den  ersten  Jahrhunderten  seines 
Bestehens  in  seiner  autoritativen  Macht  den  heute  aufgestellten  Gegensatz  von 
Wissen  und  Glauben  durchaus  noch  nicht  kannte.  Glauben  war  das  erlösende 
Verdienst  und  deshalb  konnten  auch  auf  wissenschaftlichem  Gebiet  ein  Plato> 
Aristoteles  etc.  ihre  Alleinherrschaft  uneingeschränkt  behaupten;  daher  der  Sieg 
der  Autorität  selbst  über  die  sinnliche  Wahrnehmung,  wie  er  sich  in  den  Zeugnissen 
der  Hexenprocesse  findet,  und  daher  das  Postulat,  dass  zu  einem  gebildeten  Begriff 
unbedingt  auch  ein  Object  vorhanden  sein  müsse. 

Erst  die  Masse  der  empirisch  gefundenen  Thatsachen  brachten  das  deductive 
Denken  in  Misscredit.  Durch  das  Ziehen  der  richtigen  Analogie  und  das  Auffinden 
der  richtigen  Beziehung  zwischen  Ursache  und  zeitlicher  Folge  fand  man  die  Nator» 


102  ^^^  ^&ef. 

allgemeiner  Kritiklosigkeit,  des  Schwachsinnes.  Dem  gegenüber  stellt  Verf.,  in 
beiden  Theorien  einen  richtigen  Kern  anerkennend,  den  Satz  aof,  daas  die  Wahn- 
bildung  anders  als  das  normale  Urtheil  vor  sich  geht  und  eine  soggerirte  Idee 
darstellt,  die  bei  voller  Klarheit  des  Subjectes  auftauchen  kann  und  zwar,  weil  dem- 
selben eine  Widerstandslosigkeit  gegen  mächtige  Vorstellungen,  insbesondere  sinn- 
liche Eindrücke  zukommt.  Diesen  Zustand  bezeichnet  er  als  active  Autosugg^sti- 
bilität  und  erklärt  ihn  mit  der  excentrischen  Anlage  verwandt.  Zum  Beweise  dieser 
Auffassung  werden  am  Besten  frische,  einfache  Paranoiafälle  herbeigezogen,  bei 
denen  eine  machtvolle  äussere  Wahrnehmung  die  das  Krankheitsbild  beherrschende 
Wahnidee  erzeugt  hat. 

Zunächst  unterzieht  nun  Verf  das  normale  Urtheil  einer  näheren  Betrachtang 
und  hebt  auch  hier  wieder  hervor,  wie  auch  falsch  gebildete  ürtheile  ohne  logische 
Grundlage  von  dem  Ich  als  wahr  angenommen  werden,  ohne  dass  dabei  eine 
Hintergehung  stattfindet  oder  der  Intellect  ein  minderwerthiger  wäre.  Nach  den 
Lehren  der  modernen  Psychologie  wählt  bei  der  Beurtheilung  eines  Objectes  die 
Apperceptionskraft  unter  den  zahlreichen  sich  bietenden  Associationen  activ  die 
richtige  aus;  darauf  wird  beim  normalen  Denken  dieses  vorläufige  Urtheil  einer 
Reflexion  unterworfen,  welche  es  durch  das  Bewusstwerden  des  Urtheilsmotives 
und  den  Ausschluss  anderer  Associationen  bestätigt,  oder  andei*nfalls  verwirft.  Erst 
mit  dieser  zweiten  inductiven  Etappe  des  Urtheils  wäre  die  Ueberzeugung  der 
snbjectiven  Wahrheit  verbunden.  Aus  der  Thatsache,  dass  mit  Zunahme  der 
Kenntnisse  und  Vervollkommnung  der  Methoden  die  Zweifel  trotzdem  an  Zahl  nnd 
Macht  immer  mehr  zunehmen,  dass  femer  ohne  jeden  Beweis  für  wahr  gehaltene 
ürtheile  auch  heute  noch  in  grosser  Zahl  Geltung  haben  und  dass  auch  Jedes 
wissenschaftliche  Urtheil  einen  axiomatischen  Abschluss  enthält,  folgert  Verf,  dass 
die  Reflexion  nicht  die  psychologische  Grundlage  der  Ueberzeugung  bildet,  sondern 
dass  diese  vielmehr  schon  in  der  ersten  Etappe  des  Urtheils  liegt.  Die  auf  die 
inductive  Reflexion  aufgebaute  Ueberzeugung  ist  nur  eine  theoretische,  auf  die 
Methode,  nicht  auf  das  Resultat  basirte.  Es  handelt  sich  nun  für  den  Verf.  darum, 
den  psychologischen  Impuls  kennen  zu  lernen,  der  zum  Festhalten  einer  bestimmten 
Vorstellungsverbindung  antreibt  und  so  zu  Glaubens-  und  Suggestivurtheilen  führt. 

Zu  diesem  Zwecke  unterzieht  Verf  auf  Grund  einer  umfangreichen  ethno« 
logischen  Literatur  die  Formen  und  Mechanik  des  Urtheils  bei  den  Naturvölkem 
einer  eingehenden  Untersuchung.  Man  hat  sich  dabei  einerseits  vor  einer  Unter- 
schätzung ihrer  Verstandeskräfte,  andererseits  aber  auch  besonders  davor  zu  hüten, 
zu  viel  von  unserer  Denkungsart  in  ihren  Geist  zu  verlegen.  Wenn  der  Wilde  den 
Schatten  und  die  Seele  für  das  Gleiche  hält  u.  dgl.,  so  geschieht  dies  nicht  auf 
Grund  eines  deductiven  Denkprocesses  nach  Erkenntniss  der  analogen  Punkte, 
sondern  schon  das  blosse  gleichzeitige  daran  Denken  genügt  zur  Herstellung  einer 
engen  Association,  einer  Identitätsgleichung.  Das  begriffliche  Denken  ist  noch 
wenig  ausgebildet.  Je  tiefer  die  Culturstufe,  desto  weniger  abstracte  Begriffe 
werden  gebildet  und  es  vollzieht  sich  das  Denken  thatsächlich  nach  körperlich- 
sinnlichen  Associationen.  Schon  bei  höheren  Thieren  trifft  man  vielfach  Wahl- 
handlungen, die  den  Anschein  der  Reflexion  erwecken;  dieselben  beruhen  auf  der 
Gewalt  früher  erworbener  Vorstellungsassociationen  ohne  richtiges  Bewusstsein  des 
Motivs  und  ohne  Zerlegung  des  Erinnerungscoroplexes  in  dessen  Vorstellungs- 
elemente.    Demgegenüber  äussert  sich  der  Fortschritt  des  Denkens  beim  Menschen 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  103 

in  der  Leichtigkeit  der  Association  nach  Analogien  und  in  der  Entwickelung  der 
Phantasie,  d.  h.  des  zusammenhängenden  Denkens  in  der  Erinnerung.  Ein  wichtiges 
Zeugniss  des  primitiven  Keflectirens  sind  die  verschiedenen  Mythologien,  auf  deren 
Studium  Verf.  noch  grosse  Erwartungen  setzt.  Dieselben  stellen  durchaus  nicht 
etwa  ernst  gemeinte  Erklärungsversuche  vor,  sondern  sind  ein  Spiel  der  Phantasie 
zur  Ausmalung  des  zeitlichen  Anfanges.  Wenn  einzelne  derselben  trotzdem  autori- 
tative Macht  gewannen,  so  rtihrt  dies  einzig  von  der  Absicht  und  dem  Ziel  der 
Denkarbeit  bei  ihrer  Entstehung  her  und  so  folgert  denn  der  Verf. :  „Die  Wahrheit 
des  Resultates  liegt  in  dem  Bewusstsein,  ein  practisches  Ziel  dabei  zu  verfolgen 
und  in  der  Abwesenheit  klar  vorgestellter  Widersprüche."  Ein  sehr  wichtiger 
Fortschritt  liegt  in  der  Verknüpfung  der  Analogie  mit  der  zeitlichen  Folge,  welche 
den  Naturvölkern  das  Säen,  die  Erfindung  von  Werkzeugen  etc.  brachte.  Daraus 
resultirt  die  mächtigste  aller  Denkgewohnheiten,  „mit  Aehnlichem  die  gleiche 
Wirkung  zu  verbinden,  welche  an  der  Ausgangsvorstellung  das  Lidividuum  frappirt 
und  beschäftigt  hatte".  Drängt  sich  diese  Erwartung  recht  lebhaft  auf,  so  wird 
sie  alsbald  zum  Urtheil.  Auch  rein  theoretische  Schlüsse  sind  auf  das  Handeln 
der  Naturvölker  von  mächtigem  Einfluss  und  es  entstehen  daraus  die  absurdesten 
und  abentheuerlichsten  Gebräuche  und  Sitten,  wofür  Verf.  eine  Keihe  von  Bei- 
spielen anfuhrt.  Stets  werden  dabei  zahlreiche  Analogien  und  Beziehungen  einfach 
als  Identitäten  behandelt  und  immer  kommt  die  exquisit  sinnliche  Denkweise  zum 
Vorschein.  Als  Ergebniss  der  zahlreichen  für  die  Denk-  und  Anschauungsweise 
der  Naturvölker  beigebrachten  Beispiele  hebt  Verf.  hervor,  dass  die  auf  Grund 
einer  Identitätsgleichung  nach  irgend  einer  Beziehung  gebildeten  Associationen 
durch  das  Hinzutreten  der  gespannten  Erwartung  subjective  Wahrheit  erlangen. 
Nach  Widersprüchen  wird  dabei  nicht  gesucht;  wo  sich  aber  solche  geradezu  auf- 
drängen, für  gewöhnlich  die  Association  fallen  gelassen. 

Ist  jedoch  ein  äusserer  Eindruck  besonders  lebhaft  und  mit  grossem  Affect 
verbunden,  so  folgt  daraus  eine  besondere  Heaction.  Der  Eindruck  wird  in 
directe  Beziehung  zum  Subject  gesetzt ;  es  kommt  zur  Eigenbeziehung.  Vor  Allem 
sind  es  Pein,  Missgescbick  und  Tod,  die  eine  solche  Heaction  nach  sich  ziehen. 
Von  solchen  Suggestiveffecten  aus  entsteht  der  religiöse  Cultus  als  eine  Reaction 
des  Menschen  gegen  mächtige  Eindrücke  (Tod,  Himmelserscheinungen  etc.), 
nicht  aber  aus  einem  theoretischen  Erklärungsbedürfhiss ;  auf  gleiche  Weise  sind 
eine  Reihe  merkwürdiger,  oft  furchtbarer  Sitten  der  Naturvölker  (Tabu- Verbote, 
Blutrache,  Panphobien  etc.)  zu  erklären.  Eindrücke,  die  stabil  ohne  zu  schaden 
wiederkehren,  werden  dem  Menschen  vertraut.  Er  verlegt  dann  entweder  direct 
eine  menschliche  Persönlichkeit  in  die  betr.  Objecte  oder  aber  diese  sind  nur  der 
Menschen  wegen  da  und  Alles,  was  mit  ihnen  geschieht,  hat  Bezug  auf  das  mensch- 
liche Leben.  Auf  demselben  Grundsatze  beruht  die  teleologische  Weltanschauung 
and  die  theistische  Religion  überhaupt,  welche  die  consequenteste  Eigenbeziehung 
des  Menschen  im  optimistischen  Sinne  vorstellt.  Dagegen  werden  ungewohnte,  auf- 
£allende  Einzel  Wahrnehmungen  durchwegs  pessimistisch  aufgefasst  und  ihnen  eine 
feindliche  Eigenbeziehung  zugeschrieben.  Durch  viele  Beispiele  lässt  sich  beweisen, 
mit  wie  grosser  Ueberzeugung  stets  ungewöhnliche  Wahrnehmungen  und  Unglücks- 
fälle associirt  werden.  Fast  immer  werden  dabei  noch  Menschen  als  Mittelpersonen 
angenommen,  denen  gegenüber  es  zu  ausgesprochenem  Verfolgungswahne  kommt 
(entaprechend  dem  Hezenglauben  des  Mittelalters).    Diese  Wirkungen  werden  als 


104  Max  Naef. 

unerklärlicher  Zauber  betrachtet,  nicht  etwa  durch  Reflexion  gefunden.  Dem  zur 
Abwehr  dienenden  Gegenzauber  wird  in  Gestalt  der  verschiedensten  hypnotisirenden 
und  fascinirenden  Orgien  ein  hoher  Suggestiveffect  yerliehen. 

Um  diese  in  der  gesammten  Geschichte  der  Menschheit  erkennbare  Tendenz 
zur  Eigenbeziehung  starker  äusserer  Eindrücke  erklären  zu  können,  sieht  Verf.  in 
dem  gesammten  Nervensystem  ein  Reactions-  und  Beziehungsorg^n,  in  welchem 
starke  Eindrücke  direct  den  Impuls  der  Abwehr  oder  des  Zugreifen«  erwecken. 

Der  paranoische  Wahn  verdankt  nun  seine  Entstehung  ebenfalls  einer  Sug^ 
gestivassociation ,  welch  letztere  genauer  definirt  wird  als  „die  impulsive  direete 
Verknüpfung  einer  zweiten  Vorstellung  —  oft  der  eigenen  Person  —  mit  einer 
eindrucksvollen  Primärvorstellung  oder  Wahrnehmung  zu  einem  maassgebenden 
Urtheil".  Sie  ist  also  ein  durch  den  ihm  innewohnenden  Impuls  zum  Festhalten 
der  Association  ausgezeichnetes  Primärurtheil  im  Gegensatz  zu  dem  logischen 
Urtheil.  Das  Primärurtheil,  obwohl  es  die  Grundlage  unserer  zahlreichsten  und 
wichtigsten  Ideen  bildet,  A\Tirde  bisher  immer  verkannt  und  als  ein  Defecturtheil 
angesehen,  wobei  aus  irgend  einem  Grunde  auf  die  Ausübung  der  Intelligenz  ver- 
zichtet werde.  So  wurde  auch  die  Suggestivwirkung  als  auf  einem  temporären 
Intelligenzdefect  beruhend  aufgefasst,  somit  als  ein  passives  Phänomen.  In  Wirk- 
lichkeit ist  aber  bei  jedem  Suggestivurtheil  auch  ein  activer  Factor,  die  gesteigerte 
Vorstellungsthätigkeit  mit  im  Spiele.  Auf  den  historischen  Abschnitt  mit  dessen 
Beispielen  zurückkommend,  hebt  Verf.  hervor,  dass  bei  den  Naturvölkern  allgemein 
nicht  eine  defecte  Reflexion,  sondern  gar  keine  solche  angestellt  wird  und  dass  die 
frappirenden  und  die  erwarteten  Associationen  direct  als  wahr  gelten.  Der  Asso- 
ciation selber  wohnt  der  Impuls  inne,  die  sich  aufdrängende  Vorstellungsverknüpfung 
festzuhalten.  Bei  einer  bestimmten  Gruppe  von  Associationen  wird  die  lieber- 
Zeugung  geradezu  eine  active,  überwältigend  mächtige  und  zwar  gewöhnlich  in  der 
Richtung  einer  Eigenbeziehung;  dies  eben  sind  die  Suggestivassociationen. 

Verf.  untersucht  nun,  warum  und  wie  der  Mensch  dazu  gekommen,  dem 
Primärurtheil  zu  misstrauen,  dasselbe,  theoretisch  wenigstens,  erst  nach  kritischer 
Prüfung  für  überzeugend  zu  halten  und  so  den  Unterschied  von  Wissen  und  Glauben 
aufzustellen.  Auf  Grund  des  historischen  Abschnittes  zeigt  er,  dass  erst  die  Ab- 
sicht, dabei  etwas  Wahres  zu  erdenken,  der  Reflexion  ihre  Geltung  verleiht,  dass 
die  eine,  einst  für  treff'lich  gehaltene  Methode  später  verachtet  wird  und  einer 
anderen  Platz  macht,  während  die  Primärurtheile  unter  allen  Umständen  Geltung 
haben,  dass  also  die  Reflexion  an  sich  überhaupt  nicht  überzeugt.  Nur  in  der 
Theorie  hat  sich  der  Wahrheitsbegriff  verschoben  und  ruht  nun  auf  der  empirisch 
erschlossenen  sinnlichen  Wirklichkeit;  die  Grundlage  der  subjectiven  Ueberzeugung 
dagegen  ist  die  alte  geblieben. 

Die  bei  gesteigerter  Vorstellungsthätigkeit  entstehenden  Suggestivurtheile 
rufen  nicht  nur  momentane,  sondern  auch  Dauerwirkungen  im  Bereich  der  Norm 
wie  des  Pathologischen  hervor.  Die  Geschichte  ist  reich  an  Beispielen,  wie  durch 
einen  mächtigen  Eindruck  das  Leben  eines  Menschen  in  ganz  andere  Bahnen  ge- 
lenkt wurde.  Ganz  besonders  mächtig  ist  die  Suggestividee  der  persönlichen  Eigen- 
beziehung geblieben  und  die  Beeinflussungen,  welche  der  Paranoiker  heut  zu  Tage 
in  seiner  exaltirten  Vorstellungsthätigkeit  durch  alle  möglichen  physikalischen 
Apparate  erfährt,  bedeuten  genau  dasselbe  wie  die  Zauber-Einflüsse,  an  die  die 
Naturvölker  glaubten.    Da  aber  die  Naturerscheinungen  allgemein  als  gesetzmässig 


Zur  neueren  Literatur  über  die  Psychopathologie  der  Paranoia.  106 

verlaufend  bekannt  sind,  so  ist  es  fast  nur  noch  der  Mensch,  der  das  Object  krank- 
haft gesteigerter  Eigenbeziehung  wird,  in  Form  des  Beachtungs-  und  Verfolgungs- 
wahnes. An  einer  Reihe  von  Beispielen  zeigt  Verf.,  dass  Suggestivassociationen 
vom  Character  des  Verfolgungswahnes  recht  häufig  auf  Grund  einer  quälenden 
Grundstimmung  bei  nervöser  Erregung  oder  depressiver  Verstimmung  auftreten, 
ohne  dass  es  dabei  zum  Ausbruch  einer  eigentlichen  Psychose  kommt,  denn  zum 
Unterschied  vom  paranoischen  Wahn  tritt  rasche  Besserung  ein  oder  es  bleibt  doch 
die  Wahnidee  stets  isolirt.  In  einer  zweiten  Keihe  von  Beobachtungen  prägt  sich 
der  gewaltige  suggestive  Einfluss  bestimmter  äusserer  Eindrücke,  welche  durch  die 
Erregung  starker  Vorstellungen  direct  überzeugend  wirken,  besonders  deutlich  aus 
und  Verf.  erachtet  hierbei  die  Suggestion  nicht  in  minderem  Grade  als  wirksam 
als  bei  der  Entstehung  hysterischer  Zustände  und  fixer  Ideen. 

Zur  Paranoia  selber  sich  wendend,  handelt  es  sich  für  den  Verf.  ebenfalls 
wesentlich  um  den  Nachweis,  dass  auch  die  paranoische  Wahnidee  eine  Suggestiv- 
association  ist  und  es  wird  derselbe  an  drei  mitgetheilten  Fällen  geführt.  Das 
beim  einen  derselben  beobachtete  als  Oscilliren  der  Wahnidee  bezeichnete  Symptom, 
d.  h.  ein  Wechsel  in  dem  Einfiuss  der  Wahnidee  je  nach  der  täglichen  Stimmung, 
spricht  schon  allein  dagegen,  dass  das  kritische  Vermögen  bei  der  Entstehung  der 
Paranoia  im  Spiele  sei,  da  dasselbe  unmöglich  solchen  Schwankungen  unterworfen 
sein  könnte.  Ebensowenig  ist  die  Heilung  ein  Werk  des  Intellectes;  die  Wahn- 
ideen hören  einfach  auf,  Geltung  zu  haben;  ihre  Unrichtigkeit  wird  selten  zuge- 
standen. In  aUen  drei  Fällen  bildet  ein  äusseres  Ereigniss  den  Ausgangspunkt 
derjenigen  Wahnidee,  die  fortan  das  ganze  Erankheitsbild  beherrscht.  Jedes  Mal 
liegt  eine  naheliegende  Association  vor.  Ein  Versuch  zur  Motivinmg  wird  über- 
haupt nicht  gemacht.  Es  entspricht  also  der  Vorgang  der  früheren  Definition  des 
Snggestivurtheiles.  Als  besonders  wichtige  Resultate  der  Untersuchung  werden 
noch  hervorgehoben:  Die  auffällige  Gleichartigkeit  der  Wahnbildung  immer  im 
Sinne  des  Beachtungs-  und  Verfolgungswahnes  hat  ihi*e  Erklärung  darin  gefunden, 
dass  diese  Art  der  Association  von  jeher  schon  bei  den  Naturvölkern  die  Reaction 
auf  starke,  peinliche  Eindrücke  war.  Femer  ist  damit  das  Verständniss  für  die 
Genese  des  Suggestivurtheils  eröffiiet  worden  und  es  hat  der  active  Factor  der  ge- 
steigerten Vorstellungsthätigkeit  im  Gegensatz  zu  dem  bisher  stets  betonten  passiven 
Factor  der  verminderten  Intelligenz  die  gebührende  Würdigung  gefunden. 


Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  und  Seele. 

Zusammengestellt  von 

Dr.  Paul  Plettenberg. 


Das  Studium  der  hypnotischen  Erscheinungen,  dessen  VertieAing  diese  Zeit- 
schrift ihren  Ursprung  verdanktf  ohne  dieselbe  als  ihr  einziges  Ziel  zu  verfolgen, 
führt  uns  immer  wieder  auf  das  Problem  der  Beziehungen  des  Psychischen  zum 
Körperlichen  zurück.  Es  ist  mehr  als  manches  andere  psychologische  Problem  dazu 
angethan,  unser  besonderes  Interesse  zu  erwecken,  weil  wir  in  einer  früher  nicht 
bekannten  Weise  beständig  körperliche  Keactionen  als  Folge  von  Vorstellungen 
beobachten.  Mit  Rücksicht  darauf  wird  es  gerade  im  Interesse  dieser  Zeitschrift 
liegen,  die  literarischen  Neuerscheinungen,  die  sich  mit  diesem  psychologischen 
Grundproblem  beschäftigen,  zur  Kenntniss  zu  bringen. 

Dabei  bedient  sich  Ref.  folgender  Bezeichnungen.  Unter  Materialismus 
ist  diejenige  philosophische  Auffassung  der  Wirklichkeit  verstanden,  welche  Körper 
oder  Bewegungen  als  die  Urformen  des  Wirklichen  ansieht  und  auch  alle  Bewusst- 
Seinsvorgänge  aus  ihnen  erklärt;  der  Spiritualismus  (oder  Idealismus)  da- 
gegen führt  alle  materiellen  oder  körperlichen  Vorgänge  auf  ein  geistiges  Sein  oder 
Geschehen  als  das  eigentlich  Wirkliche  zurück.  Der  Dualismus  nimmt  an,  dass 
das  Geistige  und  das  Körperliche  zwei  voneinander  verschiedene  und  selbstständige 
Substanzen  vorstellen,  während  der  Monismus  Geist  und  Körper  beide  nur  als 
zwei  verschiedene  Seiten  eines  Wesens  betrachtet,  welches  durch  diese  zugleich 
völlig  bestimmt  ist;  nach  ihm  ist  die  Seele  die  innere  Einheit  dessen,  was  wir  von 
aussen  als  den  zu  ihr  gehörigen  Leib  anschauen.  Man  bezeichnet  daher  den 
Monismus  auch  als  Zweiseitentheorie.  Der  Monismus  lässt  sich  nach 
zwei  Seiten  hin  weiter  entwickeln;  wir  unterscheiden  den  idealistischen  Mo- 
nismus, der  auf  den  Standpunkt  der  Erkenntnisstheorie  sich  stellend  die  Aussen- 
welt  wesentlich  als  Bewusstseinserscheinung  betrachtet,  und  den  materialistischen 
oder  agnostischen  Monismus,  der  das  Körperliche  und  das  Geistige  als  die 
beiden  Erscheinungsformen  des  unerkennbaren  Dinges  an  sich  auffasst. 

Unter  psychophysischem  Parallelismus  versteht  man  die  Ansicht, 
dass  einem  jeden  psychischen  Vorgange  ein  bestimmter  physischer  parallel  geht, 
oder  dass  zwischen  psychischen  und  physischen  Vorgängen  ein  Band  vorhanden  sei 


Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  und  Seele.  107 

derart,  wie  es  in  einer  mathematischen  Function  zweier  Variabein  gegeben  ist. 
Diese  Annahme  ist  aber  nur  als  ^^heuristisches  oder  regulatives  Principe 
anzusehen,  worunter  nach  Kant  zu  verstehen  ist  eine  Annahme,  die  zur  Kegelung 
der  wissenschaftlichen  Forschung  bestimmt  ist,  ohne  eine  selbstständige  Bedeutung 
zu  beanspruchen,  also  ein  durch  Zweckbetrachtung  an  die  Spitze  gestelltes  Princip.  *) 
Als  solches  Hesse  sich  der  Parallelismus  mit  jeder  der  obigen  vier  Richtungen  ver- 
einigen, da  er  über  die  metaphysische  Grundlage  des  zeitig  gleichen  Auftretens 
beider  Erscheinungsweisen  nichts  aussagt.  Der  Materialist  und  der  Spiri- 
tualist, beide  können  eine  Parallelität  zwischen  geistigen  und  körperlichen  Pro- 
cessen annehmen;  hinterher  führt  der  erstere  die  Bewusstseinsvorgänge  auf  physi- 
kalische zurück,  während  der  letztere  die  Körperwelt  als  blosse  Erscheinung  erklärt. 
Endlich  bedienen  sich  der  Monist  und  der  Dualist  dieses  Princips;  der  letztere 
nimmt  abet  im  Rahmen  der  allgemeinen  Vorstellung  einer  Parallelität  noch  im 
Besonderen  eine  Wechselwirkung  zwischen  Geist  und  Materie  an. 

Man  unterscheidet  endlich  empirischen  und  metaphysischen  Paral- 
lelismus. Der  empirische  drückt  einfach  aus,  dass  in  derselben  Zeit,  wo  wir 
das  Vorhandensein  gewisser  Himprocesse  anzunehmen  berechtigt  sind,  gleichzeitig 
Bewusstseinsvorgänge  stattfinden.  Der  metaphysische  Parallelismus  geht 
über  die  Erfahrung  des  Selbstbewusstseins  hinaus  und  nimmt,  indem  er  zu  einer 
Allbeseelung  führt,  überall  da,  wo  materielle  Vorgänge  stattfinden,  auch  das  Vor- 
handensein psychischer  Vorgänge  an.  Beide  Richtungen  sind  in  dieser  Zeitschrift 
schon  eingehend  dargestellt  worden,  die  erstere  von  Vogt;  „Zur  Kenntniss  des 
Wesens  und  der  psychologischen  Bedeutung  des  Hypnotismus" '),  die  letztere  von 
Forel:  „Gehirn  und  Seele".«) 

Die  folgende  Zusammenstellung  ist  von  dem  erkenntnisstheoretischen  Stand- 
punkte aus  abgefasst,  dass  zwischen  psychischen  und  physischen  Erscheinungen  ein 
grundsätzlicher  Gegensatz  besteht.  Eine  der  neueren  Arbeiten  Külpe's:  „Ueber 
die  Beziehungen  zwischen  körperlichen  und  seelischen  Vorgängen"*)  wird  als  in 
dieser  Zeitschrift  erschienen  im  Folgenden  nicht  referirt  werden. 

Carl  Stumpft  Eröffnungsrede  beim  dritten  internationalen  Con- 
gress  für  Psychologie  1897.    (J.  F.  Lehmann,  München  1897).     16  Seiten. 

Verf.  giebt  in  seiner  Eröflfnungsrede  des  Congresses  eine  Uebersicht  über  die 
Entwickelung  der  Ideen  über  das  Verhältniss  zwischen  dem  Psychischen  und  Phy- 
sischen in  den  letzten  Decennien. 

Fe  ebner,  der  Begründer  der  Psychophysik,  ist  bestrebt  gewesen  einer  mo- 
nistischen Auffassung  das  Wort  zu  reden,  wonach  geistige  und  körperliche  Vorgänge 
zwei  Seiten  eines  und  desselben  Vorgangs,  Leib  imd  Seele  nur  die  äussere  und 
innere  Erscheinungsweise  eines  und  desselben  Wesens  sind.  So  poetisch  und  ver- 
lockend diese  Zweiseitentheorie  auch  ist,  so  bleibt  sie  doch  dunkel,  und  es  gelingt 
ihr  nicht,  die  heterogene  Natur  des  Physischen  und  des  Psychischen  anders  als 
durch  Gleichnisse  zu  erläutern,  die  doch  wieder  auf  dualistischer  Auffassung  be- 
ruhen.   Man   hat   daher  heute  in  der  Psychologie  nur  darin  Fechner^s  Lehre 


^)  Külpe,  Einleitung  in  die  Philosophie,  pag.  24. 
•J  Zeitschrift  für  Hypnotismus,  Bd.  III,  pag.  277. 
•j  Zeitschrift  für  Hypnotismus,  Bd.  III,  pag.  1. 
*)  Zeitschrift  für  Hypnotismus,  Bd.  VII,  pag.  97. 


108  Paul  Plettenberg. 

festgehalten,  dass  die  Vorgänge  auf  beiden  Gebieten  durchweg  parallel  gehen,  ohne 
jemals  aufeinander  zu  wirken  oder  zu  gemeinsamer  Wirkung  sieh  zu  verbinden. 
£ine  \^''ech8elwirkung  zwischen  beiden  ist  also  ausgeschlossen  und  zwar :  1.  weil  die 
beiden  Processe  heterogener  Natur  sind,  2.  weil  die  automatischen  Bewegungen 
zeigen,  dass  der  Organismus  aus  rein  physischen  Kräften  dieselben  Leistungen  toU- 
bringt,  wie  sie  den  Seelenthätigkeiten  zugeschrieben  werden,  und  3.  weil  nach  dem 
Princip  der  Erhaltung  der  Energie  Bewegung  immer  nur  Bewegung  erzeugen  und 
von  Bewegung  erzeugt  werden  kann.  Nach  dieser  Ansicht  laufen  also  beide  Welten 
selbstständig  nebeneinander,  jede  als  wenn  die  andere  nicht  existirte. 

Der  Verfasser  trennt  zwei  Formen  der  Parallelitätslehre  voneinander.  Die 
eine  nimmt  nur  in  der  Reihe  der  physischen  Processe  die  Causalität  an;  die 
Glieder  der  psychischen  Reihe  wirken  ebensowenig  aufeinander  wie  Schatten-  und 
Spiegelbilder.  Causalität  wird  also  gerade  demjenigen  Gebiete  abgesprochen,  aus 
dessen  Erscheinung  allein  wir  den  Begriff  der  Causalität  schöpfen,  dagegen  wird 
sie  dem  Gebiete  ausschliesslich  zugeschrieben,  in  welchem  sie  niemals  wahrgenommen, 
sondern  nur  angenommen  werden  kann.  Die  andere  Form  nimmt  auch  für  das 
Psychische  einen  ununterbrochenen  Causalzusammenhang  an  und  schreibt  zu  dem 
Zwecke  dem  ganzen  Weltall  Seelenleben  zu,  wodurch  das  Räthsel  des  Zusammen- 
hangs von  Physischem  mit  Psychischem  nicht  verringert  wird.  Nach  der  Ansicht 
des  Referenten  stehen  aber  diese  beiden  Formen  der  Parallelitätslehre  durchaus 
nicht  schroff  gegenüber;  man  kann  als  Empiriker  in  der  Psychologie  bei  der  That- 
sache  stehen  bleiben,  dass  die  psychische  Reihe  keine  causale  ist,  und  doch  als 
Philosoph  in  der  Metaphysik  diese  Reihe  zu  einer  zusammenhängenden  ergänzen. 
Die  Psychologie  als  Einzelwissenschaft  darf  aber  nicht  mit  metaphysischen  Be- 
trachtungen belastet  werden. 

Die  Consequenz  der  Naturforschung,  insbesondere  die  Entwickelungslehre, 
treibt  den  Verfasser  zur  Annahme  einer  Wechselwirkung  zwischen  beiden  Reihen. 
Die  Welt  in  allen  ihren  Theilen  ist  als  ein  causal  zusammenhängendes  Ganzes  auf- 
zufassen, worin  jedes  Wirkliche  seine  Arbeit  leistet  und  keines  von  der  allgemeinen 
Wechselwirkung  »ausgeschlossen  ist;  weshalb  sollte  also  die  gesammte  Welt  des 
Psychischen  von  der  Wirklichkeit  in  diesem  Sinne,  von  der  Wechselwirkung,  aus- 
geschlossen sein?  Verf.  wendet  sich  nun  gegen  die  oben  angeführten  drei  Punkte. 
1.  Die  Gleichartigkeit  der  Erscheinungen  ist  seit  Hume  nicht  mehr  Vorbeding^g 
für  die  Giltigkeit  der  Causalität ;  die  Erfahrung  allein  kann  lehren,  was  als  Ursache 
und  Wirkung  zu  einander  gehört.  2.  Neben  den  automatischen  Bewegungen 
existiren  auch  solche  mit  Bewusstsein.  Die  centralen  Vorgänge  müssen  irgend  eine 
Verschiedenheit  besitzen,  die  dem  Mangel  und  dem  Vorhandensein  des  Bewusstseins 
in  beiden  Fällen  entspricht.  3Ian  kann  nun  in  dem  einen  Falle  das  Bewusstsein 
selbst  als  zu  den  Bedingimgen  gehörig  annehmen,  unter  denen  die  betreffende,  uns 
bewusste  Bewegung  entsteht.  Dann  aber  können  die  automatischen  Bewegungen 
nicht  mehr  gegen  die  Annahme  einer  Wechselwirkung  entscheiden.  3.  Auch  das 
Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie,  welches  gar  nicht  verlangt,  dass  Energie 
stets  in  Form  von  Bewegung  erhalten  bleibt,  lässt  sich  mit  der  Annahme  einer 
Wechselwirkung  in  Einklang  bringen,  sobald  man  das  Psychische  als  eine  Anhäufung 
von  Energien  eigener  Art  ansieht,  die  ihr  genaues  mechanisches  Aequivalent  haben. 
Gewisse  psychische  Functionen  wären  dann  mit  einem  fortwährenden  Verbrauch, 
andere  mit   einer  ebenso  fortwährenden  Erzeugung  physischer  Energie  verknüpft, 


Neaere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  und  Seele.         109 

und  diese  Transformation  geschähe  nach  dem  Princip  der  Erhaltung  der  Energie. 
Wir  erhielten  auf  diese  Weise  „eine  psychophysische  Mechanik,  die  die  geistigen 
Vorgänge  in  den  allgemeinen  gesetzlichen  Causalzusammenhang  einfügte  und  da- 
durch erst  zu  einer  wahren  monistischen  Anschauung  hinführte.  Gerade  die  All- 
gemeingiltigkeit  des  Causalzusammenhangs  und  die  Einheitlichkeit  der  letzten  und 
höchsten  Gesetze  muss  von  einem  einheitlichen  Weltganzen  verlangt  werden". 

Gegen  diese  Ansichten  des  Verfassers  wäre  Folgendes  anzuführen.  Zur  An- 
wendung des  Begriffs  der  Causalität  fehlt  uns  vorläufig  der  experimentelle  Beweis 
für  die  zeitliche  Aufeinanderfolge  der  physischen  und  psychischen  Processe  und 
umgekehrt.  Referent  schliesst  sich  ganz  den  Worten  Külpe's^)  an:  „Wir  wissen 
weder,  dass  die  Empfindung,  welche  durch  einen  Lichtreiz  veranlasst  wird,  dem 
centralen  Nervenprocess,  den  man  als  ihre  unmittelbare  Bedingung  anzusehen  hat, 
nachfolgt,  noch  dass  der  Entschluss  zu  einer  bestimmten  Handlung  der  central- 
motorischen  Innervation,  welche  die  Muskeln  in  Thätigkeit  setzt,  vorausgeht.  Ja, 
es  unterliegt  begründetem  Zweifel,  ob  wir  jemals  über  das  zeitliche  Verhältniss 
dieser  beiden  Vorgänge  zu  einander  aus  der  Beobachtung  irgend  etwas  auszusagen 
im  Stande  sein  werden.  So  bedeutet  denn  die  Annahme  einer  psychophysischen 
Wechselwirkung  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  eine  Transcendenz  über  das  uns  zu 
Gebote  stehende  Wissen  hinaus.  Sie  erscheint  somit  als  metaphysische,  speculative 
Specialisinmg  eines  Zusammenhangs,  über  den  sich  nach  wissenschaftlichen  Gründen 
nur  in  vorsichtiger,  allgemeinerer,  diese  besondere  Deutung  neben  anderen  zulassen- 
der Form  urtheilen  lässt." 

Was  die  Uebertragung  des  Energiebegriffs  in  das  psychische  Gebiet  angeht, 
80  ist  auch  diese  nur  eine  metaphysische  Speculation;  ob  man  das  Recht  hat,  den 
Begriff  der  Energie  auf  solche  Weise  zu  erweitern,  ist  überhaupt  noch  nicht  Gegen- 
stand einer  Untersuchung  gewesen.  So  sehr  uns  auch  die  Aussicht  auf  eine  psycho- 
physische Mechanik  verlocken  könnte,  ziehen  wir  doch  den  sicheren  Weg  der  Er- 
fahrung vor. 

Noch  einen  zweiten  Weg  eröffnet  Verfasser  allen  denen,  welchen  die  Aner- 
kennung einer  psychischen  Form  der  Energie  schwer  fällt.  Die  psychischen  Processe 
sollten  anzusehen  sein,  wie  es  Külpe  präcise  formulirt,  einerseits  als  Nebeneffecte 
der  physischen  Processe,  andererseits  als  Nebenbedingungen  derselben,  wobei  in 
dem  einen  Falle  kein  Verlust,  in  dem  anderen  kein  Gewinn  physischer  Energie 
stattfinde.  Da  bei  einem  solch  unklaren  Verhältniss  kaum  noch  von  Ursache  und 
Wirkung  die  Rede  sein  kann,  fuhrt  dieser  Weg  nach  Ansicht  des  Referenten  noth- 
wendig  zum  Parellelitätsprincip  zurück. 

So  lange  also  nicht  der  Causalzusammenhang  zwischen  beiden  Reihen,  sowie 
die  Möglichkeit  für  die  Annahme  einer  psychischen  Energie  empirisch  nachgewiesen 
wird,  hat  die  Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft  festzuhalten  an  dem  Princip 
des  psychophysischen  Parallelismus  in  der  Form,  dass  nur  eine  fimctionelle  Be- 
siehang  zwischen  den  entsprechenden  Gliedern  der  physischen  und  der  psychischen 
Reihe  als  bestehend  angenommen  wird. 

F.  Erhardtj  Die  Wechselwirkung  zwischen  Leib  und  Seele.  Eine 
Kritik  der  Theorie  des  psychophysischen  Parallelismus.  (Leipzig,  O.  R.  Reisland. 
1897.)    163  Seiten. 

*)  Külpe.  Ueber  die  Beziehungen  etc.    Ztschr.  f.  Hypnot.,  Bd.  VII,  pag.  106. 


110  Paul  Plettenberg. 

Die  Absicht  des  Verfassers  ist,  zunächst  die  Möglichkeit  einer  dualistischen 
Anschauung  auf  Grund  einer  Wechselwirkung  zwischen  Leib  und  Seele  nachzu- 
weisen; Verf.  selbst  vertritt  schliesslich  einen  rein  idealistischen  Standpunkt,  der 
an  Stelle  der  materiellen  Welt  eine  unbegrenzte  Vielheit  immaterieller  Kräile  aetst. 

Im  ersten  Kapitel  giebt  Verf.  nach  einer  kurzen  historischen  Entwickelang 
des  modernen  Parallelismus  eine  scharfe  Umgrenzung  der  zwei  Formen,  in  denen 
dieser  heutzutage  auftritt.  Dies  ist  einmal  der  universelle  Parallelismus,  in  der 
Einleitung  vom  Ref.  metaphysischer  genannt.  Danach  giebt  es  nirgends  ein  körper- 
liches Sein,  mit  dem  nicht  auch  seelisches  Leben  verbunden  wäre  und  umgekehrt; 
die  körperliche  und  die  geistige  Welt  stehen  sich  dabei  überall  wie  Aeusseres  und 
Inneres  einander  gegenüber,  ohne  dass  jemals  zwischen  ihnen  eine  causale  Beziehung 
stattfindet.  Die  Vorgänge  in  der  Körperwelt  müssen  daher  stets  aus  körperlichen, 
die  in  der  geistigen  Welt  aus  geistigen  Ursachen  erklärt  werden.  Die  zweite  Form 
bezeichnet  Verfasser  als  psychophysischen  Parallel ismus  im  engeren  Sinne,  in  der 
Einleitung  vom  Ref.  empirischer  genannt.  In  dieser  zweiten  Form  tritt  er  dann 
auf,  wenn  er  nur  auf  das  Verhältniss  des  uns  erfahrungsmässig  bekannten  Seelen- 
lebens zu  dem  Körper  bezogen  wird ;  dabei  bleibt  also  die  Frage  nach  der  Beseelt- 
heit der  Natur  ganz  aus  dem  Spiele.  Diese  Form  muss  sich  daher  bei  der  Er- 
klärung der  scheinbaren  Einwirkung  des  Körpers  auf  die  Seele  mit  der  Behauptung 
begnügen,  dass  gewissen  physischen  Processen  gewisse  seelische  Vorgänge  ent- 
sprechen, ohne  doch  deshalb  von  ihnen  causal  her>'orgerufen  zu  sein.  Hier  ist  swar 
die  physische  Causalitätsreihe  in  sich  geschlossen,  das  Geschehen  in  der  geistigen 
Welt  ist  aber  weit  davon  entfernt;  es  sind  vielmehr  immer  nur  einzelne  und  noch 
dazu  sehr  kleine  Strecken,  auf  denen  die  geschlossene  Folge  von  Veränderungen 
in  der  Köi-perwelt  von  parallelen  psychischen  Vorgängen  begleitet  wird.  Beide 
Formen  stimmen  aber  nach  dem  Verf.  darin  überein,  dass  sie  in  erster  Linie  eine 
AVcchselwirkung  zwischen  Leib  und  Seele  leugnen;  sein  ganzes  Können  setzt  er 
im  Folgenden  daran,  der  Möglichkeit  einer  solchen  das  Wort  zu  reden. 

Im  zweiten  Kapitel  versucht  Verf.  die  Widerlegung  der  principiellen  Ein- 
würfe gegen  die  Wechselwirkung.  Als  solcher  Einwurf  gilt  erstens  die  Verschieden- 
heit von  Leib  und  Seele,  wie  sie  für  den  empirischen  Standpunkt  in  Wirklichkeit 
vorhanden  ist;  eine  Wechselwirkung,  behauptet  man,  sei  nur  zwischen  gleichartigen 
Dingen  zu  begreifen.  An  Hume,  Schopenhauer,  Lotze  zeigt  Verf.,  dass  der 
eigentliche  Act  des  Wirkens  in  der  Natur  uns  aber  immer  unerklärlich  bleibt,  dass 
wir  nie  werden  angeben  können,  wodurch  das  Wirken  überhaupt  zu  Stande  kommt. 
Mithin  kann  uns  auch  die  Ungleichartigkeit  von  Leib  und  Seele  nicht  mehr  hindern, 
die  Möglichkeit  einer  Wecksei  Wirkung  anzunehmen.  —  So  lange  wir  aber  die 
wesentliche  Eigenschaft  der  Materie  in  der  räumlichen  Ausdehnung  sehen,  behält 
dies  Argument  immer  noch  eine  gewisse  Scheinbarkeit.  Sie  schwindet  jedoch  ganz, 
wenn  wir  dem  Verf.  folgen  in  der  Entwickelung  seiner  metaphysischen  Ansichten 
über  die  Materie,  sowie  seines  erkenntnisstheoretischen  Idealismus.  Die  Körper 
fasst  er  als  Aggregate  von  immateriellen  Kräften  auf,  und  daher  ist  es  ihm  selbst- 
verständlich, dass  die  Seele  in  einem  solchen  System  immaterieller  Kräfte,  dem  sie 
selbst  mit  angehört,  auch  befähigt  sein  muss,  Wirkungen  zu  empfangen  und  Wir- 
kungen auszuüben.  Für  seinen  erkenntnisstheoretischen  Idealismus  verschwindet 
überhaupt  die  ganze  materielle  Welt  und  damit  auch  die  absolute  Ungleichartigkeit 
zwischen  Geist  und  Körper. 


Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  und  Seele.  Hl 

Der  zweite  Einwand  beruht  auf  dem  Gesetze  der  Causalität:  „Jede  Verände- 
rung hat  ihre  Ursachen.''  Wenn  man  nun  behauptet,  dieses  Gesetz  verlange,  dass 
physische  Erscheinungen  nur  physisch,  psychische  Erscheinungen  nur  psychisch  er- 
klärt werden,  so  wird  etwas  in  das  Gesetz  hineingelegt,  was  auf  keine  Weise  in 
ihm  liegt,  und  damit  ist  dieser  Einwand  nichtig  geworden. 

Drittens  beruft  man  sich  auf  die  Gesetze  der  Mechanik.  Diese  geben  die 
allgemeinsten  Hegeln  über  die  Bewegung  der  Körper.  Da  diese  rein  äusserliche 
Veränderungen  in  der  Welt  des  Raumes  sind,  so  wird  behauptet,  dass  bei  An- 
wendung der  mechanischen  Principien  auch  nur  äussere  Verhältnisse,  äussere  Ur- 
sachen in  Betracht  kommen  können,  wodurch  wieder  die  Wirkung  der  Seele  auf 
den  Körper  ausgeschlossen  wäre.  Verf.  führt  Folgendes  dagegen  an.  Die  Gesetze 
der  Mechanik  geben  nur  gewisse  allgemeine  Regeln  an,  denen  die  Bewegungen  in 
der  Natur  gehorchen  müssen.  Welches  aber  die  Beschaffenheit  dieser  bewegenden 
Kräfte  ist,  bleibt  ihr  ganz  gleichgiltig,  mag  es  Druck,  Stoss,  Gravitation,  electrische 
Anziehung,  chemische  Affinität,  teleologische  Einwirkung  oder  endlich  der  bewusste 
Wille  sein.  Wir  sind  also  berechtigt,  auch  psychische  Bewegungsursachen  anzu- 
nehmen. —  Wenn  es  ferner  oben  hiess,  es  kämen  nur  äussere  Ursachen  in  Betracht, 
und  wenn  man  darunter  körperliche  versteht,  so  ist  auch  dies  nach  der  Ansicht 
des  Verfassers  unberechtigt.  Es  besteht  nicht  die  geringste  Möglichkeit  dem  Be- 
griffe einer  äusseren  Ursache  ohne  Weiteres  den  einer  körperlichen  Ursache  unter- 
zuschieben. Zwar  unterscheiden  wir  häufig  psychische  und  physische  Processe  als 
innere  und  äussere,  aber  daraus  folgt  bei  Weitem  nicht,  alle  äusseren  nun  als 
materielle  Ursachen  betrachten  zu  müssen.  Um  dies  noch  klarer  zu  machen,  kommt 
Verf.  auf  den  Sitz  der  Seele  zu  sprechen,  der  doch  irgend  wo  innerhalb  des  Körpers 
sein  muss;  angenommen,  die  Seele  wirke  nun  auf  den  Körper,  so  müssen  diese 
Wirkungen  auf  den  Körper  von  bestimmten  Punkten  im  Räume  ausgehen,  die 
gegenüber  den  Punkten,  auf  die  gewirkt  wird,  immer  etwas  Aeusseres  sind.  Da- 
durch tritt  also  die  Seele  selbst  zu  allen  Theilen  des  Körpers,  auf  die  sie  wirkt, 
in  ein  äusseres  Verhältniss ,  und  damit  fallen  auch  diese  Einwände  gegen  die 
Wechselwirkung. 

Viertens  lehnt  man  die  Annahme  einer  Wechselwirkung  ab  auf  Grund  der 
geschlossenen  Naturcausalität :  „Alle  Vorgänge  in  der  Natur  müssen  aus  Natur- 
ursachen erklärt  werden"  ist  die  nächstliegende  Interpretation  dieses  Princips.  und 
indem  man  die  Naturursachen  gerade  den  geistigen,  seelischen  Kräften  gegenüber- 
setzt, würde  demnach  auch  dieses  Princip  eine  Wechselwirkung  ausschliessen.  Verf. 
bemüht  sich  nun  zu  zeigen,  wie  willkürlich  dieses  Ausschliessen  der  psychischen 
Kräfte  aus  der  Reihe  der  Naturkräfte  sei,  dass  sie  vielmehr  mit  der  Forderung 
einer  mechanischen  Naturerklärung  im  weiteren  Sinne  vollständig  vereinbar  seien. 
Das  vielgebrauchte  Argument  der  Forderung,  alle  Vorgänge  in  der  äusseren  Natur 
stets  aus  materiellen  körperlichen  Ursachen  zu  erklären,  löst  sich  für  den  Verf.  in 
ein  völliges  Nichts  auf  bei  der  Frage,  welches  diese  Kräfte  seien;  denn  alle  Kräfte 
seien  ihrem  Wesen  nach  unräumliche,  dynamische  Principien,  die  zwar  an  den 
Körper  gebunden,  aber  nicht  selbst  von  körperlicher  Beschaffenheit  sind.  Versteht 
man  die  Materialität  der  Naturkräfte  in  diesem  Sinne,  dass  sie  ihre  Wirksamkeit 
▼on  bestimmten  Körpern  aus  entfalten,  so  verschwinden  wieder  alle  Schwierigkeiten 
für  die  Einwirkung  der  Seele  auf  den  Körper,  denn  diese  ist  nur  ein  Specialfall 
der  allgemeinen  Einwirkung  der  Naturkräfte  auf  die  Körper. 


112  Paul  Plettenberg. 

Der  letzte  Einwand  stützt  sich  auf  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie, 
welches  aussagt,  dass  die  Summe  aller  Energfie  constant  ist,  dass  also  nirgends  ein 
Quantum  Energie  verloren  gehen,  nirgends  ein  solches  gewonnen  werden  kann. 
Nun  aber,  sagen  die  Gegner  der  Wechselwirkung,  wäre  Umsetzung  von  Bewegung 
oder  Kraft  in  Denken,  in  reine  Bewusstseinsvorgänge  nicht«  Anderes  als  Ver- 
nichtung von  Energie,  dagegen  Ursprung  von  Bewegung  aus  rein  Geistigem  nichts 
Anderes  als  Entstehung  aus  nichts.  Nach  obigem  Princip  ist  also  eine  Wechsel- 
Wirkung  ausgeschlossen.  Aber  ganz  abgesehen  von  der  Möglichkeit,  die  dorch- 
gangrige  Giltigkeit  des  Energieprincips  auf  organischem  Gebiete  in  Zweifel  zu  ziehen, 
enthält  unser  Princip  absolut  keine  Aussage  über  die  Formen  der  umgebildeten 
lebendigen  Kraft  und  ebenso  wenig  über  die  darauf  anwendbaren  Kräfte.  Es  ist 
daher  durchaus  unberechtigt,  dabei  stets  nur  an  anorganische,  d.  h.  physikalisch- 
chemische Kräfte  zu  denken,  vielmehr  ist  auch  der  Anwendung  orgranischer  Kräfte 
freier  Spielraum  gelassen.  So  lange  ferner  nicht  nachgewiesen  ist,  dass  der  Aus- 
tausch von  Wirkungen  zwischen  Leib  und  Seele  den  quantitativen  Bestimmungen 
des  Energieprincips  widerspricht,  so  lange  hat  man  auch  noch  das  vollste  Recht, 
die  hierher  gehörigen  Angriffe  zurückzuweisen.  Da  ein  solcher  Nachweis  bisher 
nirgends  erbracht  ist,  sucht  Verf.  im  Folgenden  die  psychischen  Erscheinungen  in 
die  vom  Erhaltungsgesetze  eingeschlossenen  Energieformen  mit  einzugliedern. 

In  einem  weiteren  Abschnitte  setzt  Verf.  noch  einmal  seine  metaphysischen 
Ansichten  über  die  Materie  sowie  seinen  erkenntnisstheoretischen  Idealismus  aus- 
einander, soweit  dieselben  bereits  in  den  vorangehenden  Erörterungen  erwähnt  waren. 

Im  Schlusskapitel  versucht  Verf.  den  positiven  Nachweis  für  die  Nothwendig- 
keit  der  Annahme  einer  Wechselwirkung  zu  bringen,  indem  er  zeigt,  dass  Empfin- 
dungen, Wahrnehmungen  und  Gefühle  sich  allein  durch  Annahme  einer  Wirkung 
des  Körpers  auf  die  Seele,  die  wülkürlichen  Bewegungen  und  Willenshandlungen 
durch  Annahme  einer  Wirkung  der  Seele  auf  den  Körper  ohne  jede  Schwierigkeit 
erklären  lassen,  während  die  parallelistische  Theorie  in  zahllose  Schwierigkeiten 
geräth.  Aus  derThatsache  endlich,  dass  es  Erscheinungen  —  nämlich  die  psychischen 
—  giebt,  welche  sich  nachweislich  nicht  aus  physikalischen  und  chemischen  Ursachen 
ableiten  lassen,  folgert  Verf.,  dass  das  dogmatische  Postulat  einer  mechanischen, 
d.  h.  physikalisch -chemischen  Naturerklärung  jede  innere  Berechtigung  verliert; 
einem  wirklichen  Verständniss  erschliessen  sich  diese  Naturerscheinungen  erst  durch 
die  Ueberzeugung,  dass  es  speciüsch  organische,  teleologisch  wirkende  Kräfte  sind^ 
welche  dieselben  in  erster  Linie  bedingen. 

Diesen  klar  und  fesselnd  vorgetragenen  Ausführungen  gegenüber  verweist 
Ref.  im  Ganzen  auf  die  vorangestellte  Einleitung,  in  welcher  auf  den  psycho- 
physischen  Parallelismus  als  ein  heuristisches  Princip  hingewiesen  worden  ist; 
in  Bezug  auf  die  einzelnen  Punkte  gelten  die  bei  der  vorangehenden  Besprechung 
gegebenen  Erörterungen. 

M.  Wentscher^  Ueber  physische  und  psychische  Causalität  und 
das  Princip  des  psycho-physischen  Parallelismus.  (Ambrosius  Barth, 
Leipzig  1896.)    122  Seiten. 

Verf.  bekennt  sich  zu  Lotze's  philosophischen  Grundsätzen.  Er  verwirft  den 
Parallelismus  und  sucht  auf  besondere  W^eise  die  Annahme  einer  Wechselwirkung 
zu  ermöglichen. 


114  Paul  Plettenberg. 

kinetische  umgewandelt  und  zwar  an  Grösse  gleich  der  ursprünglichen.  2.  Bin  im 
labilen  Gleichgewicht  befindlicher  Körper  wird  durch  eine  Stosskraft  aus  seinem 
Gleichgewicht  gebracht.  Ist  er  gefallen,  so  ist  die  am  Schlüsse  der  Bewegung 
Torhandene  kinetische  Energie  gleich  der  Summe  der  ursprünglichen,  durch  die 
Höhe  der  Körperlage  bedingten  potentiellen  Energie  und  der  durch  die  Stoaskralt 
erzeugten  Energie.  Aus  diesen  Beispielen  sucht  der  Verfasser  abzuleiten,  dass  bei 
einer  Umsetzung  von  potentieller  in  kinetische  Energie  unter  keinen  Umständen 
durch  die  Umsetzung  selbst  Energie  aufgewendet  werden  kann  und  daif.  Im 
ersten  Falle  stimmt  dies  auch,  aber  nur  weil  sich  hier  die  potentielle  Energie  des 
Steines  von  selbst  in  kinetische  umsetzt;  keine  neue  „Kraft **  tritt  wirkend  hinzu, 
denn  die  Attractionskraft  der  Erde  wirkte  schon  von  Beginn  der  Bewegrang  an. 
Im  zweiten  Falle  tritt  aber  die  Stosskraft  als  Ursache  der  Umwandlung  hinzu,  und 
durch  sie  wird  die  Energie  vergrössert.  Es  lässt  sich  also  allgemein  aussprechen: 
„Geht  die  Umwandlung  potentieller  Energie  in  kinetische  ohne  Eingreifen  nener 
„Kräfte"  vor  sich,  so  bleibt  die  Energiesumme  dieselbe;  ist  dazu  das  Eingreifen 
anderweitiger  Kräfte  nöthig,  so  wird  stets  durch  dieselbe  die  Energiesnmme  ver- 
grössert". Unzweifelhaft  würde  also  auch  dann,  wenn  die  Ueberführung  Ton 
potentieller  in  kinetische  Energie  durch  einen  vom  Psychischen  ausgeübten  Im- 
puls stattfinden  sollte,  die  vorhandene  physikalische  Energie  dadurch  yergrössert 
werden  müssen. 

Die  weiteren  metaphysischfp  Untersuchungen  führen  den  Verf.  schliesslich 
zu  folgendem  Weltbilde:  In  der  grossen  Welt  des  Physischen  mit  ihren  allgemein- 
gesetzlichen  Zusammenhängen  lässt  sich  eine  Reihe  von  Gebilden  erkennen,  die 
zwar  aus  physischem  Material  hergestellt  erscheinen,  doch  aus  rein  physikalischen 
Zusammenhängen  in  ihrem  Zustandekommen  nicht  erklärbar  sind:  die  Welt  der 
Organismen  (Mikrokosmen).  In  ihnen  finden  wir  eine  Aufspeicherung  grösserer 
Energiemengen  derart,  dass  sie  den  Einflüssen  des  umgebenden  Naturgeschehens 
nach  Möglichkeit  entzogen  wird.  Sie  erhalten  ihre  Auslösung  von  einer  anders- 
woher stammenden  Gesetzlichkeit,  um  dann  wieder  im  Gebiete  des  Physischen  in 
Wirksamkeit  zu  treten.  Weiterhin  findet  man  eine  Keihe  solcher  Organismen 
durch  das  Band  eines  psychophysischen  Mechanismus  verbunden  mit  den  subjectiTen 
Innenwelten  psychischer  Wesen,  so  dass  eine  zweckmässige  Beeinflussung  möglich 
wird.  Diese  psychischen  Subjocte  sind  mit  eigener  Gesetzmässigkeit  ausgestattet 
(logischer,  mathematischer,  ethischer  und  ästhetischer  Art),  durch  die  sie  ans  der 
Zeitreihe  äusseren,  lediglich  mechanischen  Geschehens  herausgehoben  sind.  Aber 
indem  sie  wieder  auf  Grund  ihres  psycho-physischen  Mechanismus  im  Stande  sind, 
ihren  zeitlos  gegebenen,  lediglich  inhaltlichen  Beziehungen  und  Zusammenhängen 
durch  Handlungen  in  der  Welt  des  Physischen  eine  neue  Art  von  Wirklichkeit  zu 
verschafifen,  greifen  sie  selbstthätig  in  den  zeitlichen  Verlauf  jenes  äusseren  Ge- 
schehens ein.  Die  Welt  des  Physischen  erscheint  geradezu  darauf  angelegt,  psychi- 
schen Wesen  von  lediglich  subjectiver  Natur  als  objectives  Bethätigungsfeld  von 
Willensregungen  zu  dienen,  in  denen  inhaltliche  für  das  Leben  des  Subjects  be- 
deutsame Beziehungen  und  Zusammenhänge   ihren  Ausdruck  zu  finden   vermögen. 

Bei  der  Entwicklung  dieser  Ansichten  kommt  Verf.  vielfach  auf  den  psycho- 
physischen Parallelismus  zu  sprechen.  Er  kann  sich  mit  der  Annahme  eines  solchen 
aus  mehrfachen  Gründen  nicht  einverstanden  erklären,  unter  denen  wir  folg'ende 
hervorheben.     Die  Entstehung  der  Empfindung  rein  aus  psychischen  Zusammen- 


Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  und  Seele.  115 

hängen  ist  unmöglich,  sowie  umgekehrt  in  jeder  Willenshandlung  ein  Fall  des 
Hereingreifens  von  ausserhalb  alles  zeitlichen  G-esohehens  stehenden,  lediglich  inhalt- 
losen, sachlichen  Zusammenhängen  in  den  Ablauf  jenes  Geschehens  gegeben  ist. 
Femer  fehlt  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  für  die  Einheitlichkeit  der  psychischen 
Acte  ein  physisches  Gorrelat,  und  endlich  bleibt  ihm  bei  der  Annahme  des  Pa- 
rallelismns  das  zeitliche  Zusammenfallen  der  einzelnen,  zugeordneten  Glieder  uner- 
klärlich, während  doch  alles  ausdrücklich  ausgeschlossen  ist,  wodurch  ein  solches 
Schritthalten  begründet  sein  könnte.  Schliesslich  giebt  er  aber  zu,  dass  auch  bei 
der  Annahme  einer  Wechselwirkung  immerhin  ein  Parallelismus  stattfinden  könne, 
nur  nothwendig  dürfe  er  nicht  sein.  Auch  sei  es  für  diese  Vorstellungsweise  völlig 
gleichgiltig,  ob  wir  den  Parallelismus  vollständig  durchgeführt  denken  oder  nur 
theilweise,  nur  müsste  bei  den  Willensvorgängen,  den  logischen,  mathematischen, 
ethisch-ästhetischen  Processen  das  Psychische,  dagegen  bei  allen  Wahrnehmungen 
das  Physische  als  das  Prius  anzusehen  sein,  durch  welches  der  entsprechende  Pa- 
rallelvorgang  erst  geweckt  wird. 

H,  Schwarz,  Das  Verhältniss  von  Leib  und  Seele.  Monatshefte  der 
Gomenius-Gesellschaft  Bd.  VI,  1897.    (R.  Gärtner,  Berlin.)    20  Seiten. 

Verfasser  vertritt  die  dualistische  Richtung  und  behauptet  dabei  die  Möglich- 
keit einer  Vermehrung  physischer  Energie  durch  psychische  Einflüsse. 

In  der  Einleitung  wird  die  geschichtliche  Entwickelung  des  metaphysischen 
Verhältnisses  zwischen  Leib  und  Seele  gegeben.  Von  Descartes  aus,  der  alle 
Bewegungen  der  thierischen  Körper  rein  mechanisch  erklärte,  entwickelte  sich  diese 
Ansicht  nach  zwei  Richtungen  weiter;  einmal  bei  Hobbes  zum  metaphysischen 
Phänomenalismus  (Materialismus),  der  auch  das  psychische  Leben  aus  den  leiblichen 
Vorgängen  direct  ableitet,  also  auch  Empfindungen  und  Vorstellungen  nur  als  Be- 
wegungen innerer  Theile  des  Körpers  ansieht;  das  andere  Mal  bei  Spinoza  im 
metaphysischen  Parallelismus,  der  die  Bewegungen  unseres  Körpers  und  die  Re- 
gungen unserer  Seele  als  zwei  verschiedene  Seiten  eines  und  desselben  identischen 
Vorgangs  an  einer  und  derselben  identischen  Substanz  erklärt.  Diese  methodische 
Denkweise,  die  mit  wohl  überlegtem  Plane  bei  der  Erklärung  des  physischen, 
körperlichen  Geschehens  alle  ausserphysischen  Einflüsse  ausschaltet,  wurde  im 
19.  Jahrhunderte  von  der  modernen  Naturwissenschaft  erneuert  und  vertieft.  Nach 
der  Entdeckung  des  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  lebendigen  Kraft  sind  heute 
die  Physiker  überzeugter  als  je,  dass  es  keinen  Eingriff*  psychischer  Einflüsse  in  das 
Getriebe  der  nervösen  Grosshimrindenprocesse  geben  kann ;  jede  nicht  mechanische 
Erzeugung  neuer  Bewegung  oder  nicht  mechanische  Abänderung  in  der  Richtung 
der  Bewegung  müsste  verbunden  sein  mit  einer  Vergrösserung  der  vorhandenen 
£nerg^e,  was  dem  obigen  Naturgesetz  widerspräche.  Man  erneuerte  daher  die  An- 
sichten Ilobbes'  und  Spinoza's,  und  damit  treten  im  19.  Jahrhundert  die  Systeme 
beider  Philosophen  neu  belebt  wieder  auf. 

Verfasser  zeigt  alsdann  die  Unzulässigkeit  des  modernen  Phänomenalismus 
(Materialismus).  Wenn  dieser  behauptet,  die  Bewusstseins Vorgänge  seien  absolut 
unselbständig  und  abhängig,  ausschliesslich  die  Gehirnprocesse  seien  selbständig  und 
unabhängig  und  die  ersteren  von  den  letzteren  ein  blosser  schemenhafter  Neben- 
erfolg, so  fällt  diese  Ansicht  erstens  durch  die  Thatsache,  dass  die  Mannigfaltig- 
keit der  Bewusstseinsvorgänge  diejenige  der  nervösen  Vorgänge,  durch  die  sie 
mechanisch  erklärt  werden  sollen,  bei  weitem  übertrifft;   zweitens  durch  die  Un- 

8* 


116  Paul  Plettenberg. 

möglichkeit  begreiflich  zu  machen,  dass,  wenn  ein  ganzer  Complez  von 
Rindenüasem  in  Erregung  ist,  nicht  ein  einheitlicher,  in  seinen  JBinzelheiten  nn- 
analysirbarer  Gesamteindruck  erlebt  wird,  sondern  complexe  innere  Zustände  Ter- 
schiedeuer  Art  sich  im  Bewusstsein  abspielen,  d.  h.  es  müsste  erwartet  werden, 
dass  unser  Bewusstsein  in  beständigem  Wechsel  Ton  Gesammtempfindong  so  Ge- 
sammtempfindung  verläuft,  statt  dessen  zeigt  es  weit  grössere  Verschiedenheit,  weit 
feinere  Nuancen,  den  unanalysirbarenGesammtempfindungen  treten  auflösbare  Empfin- 
dungen zur  Seite,  es  kommt  zu  Wahrnehmungen,  Vorstellungen,  ürtheilen,  Erinne- 
rungen, BrCflexionen.  Alle  diese  Verschiedenheiten  in  der  inneren  Zusammenfassung 
des  Einzelnen  können  mechanisch  nicht  erklärt  werden.  Es  ist  für  uns  daher  kein 
Zweifel,  dass  es  ein  besonderes  selbständiges  Bewusstseinsleben  giebt. 

Verfasser  wendet  sich  nun  zu  der  Ansicht  des  metaphysischen  ParaUeliBmua, 
Nach  diesem  ist  das  psychische  Leben  aus  eigenen  Zusanmienhängen  ohne  jeden 
Einfluss  von  aussen  her  zu  begreifen;  wie  das  Reich  des  Physischen  besitzt  auch 
das  der  psychischen  Vorgänge  einen  in  sich  geschlossenen  Zusammenhang,  aber 
zwischen  beiden  Reihen  besteht  ein  Band  der  Art,  dass,  wenn  dieselben  physischen 
Vorgänge  da  sind,  auch  dieselben  psychischeu  Vorgänge  eintreten.  Dies  Band  giH 
nur  als  ein  thatsächliches,  keineswegs  soll  es  die  psychischen  Vorgänge  von  Seiten 
der  physischen  erklären.  Aber  auch  dieser  metaphysische  Parallelismus  kommt 
nach  Ansicht  des  Verfassers  über  gewisse  Punkte  nicht  hinweg.  Einmal  sei  es  ihm 
immöglich  zu  erklären,  wie  eine  im  Bewusstsein  befindliche  Empfindung  yerstirkt 
werden  könne  bei  gleichzeitiger  Verstärkung  des  äusseren  Reizes;  letztere  wird 
einfach  durch  irgend  welche  Energieabgabe  von  anderer  Stelle  her  erreicht,  wie 
aber  nun  auf  dem  psychischen  Gebiete  die  analoge  Verstärkung  der  Empfindung 
entsteht,  sei  nicht  zu  verstehen.  Denn  dort  ist  ja  Alles  unverändert  geblieben,  es 
ist  daher,  als  wenn  die  Empfindung  von  selbst  an  Stärke  zugenommen  habe. 
Zweitens  sei  die  Thatsache  der  Gedankenmittheilung  nicht  zu  verstehen  unter  der 
Voraussetzung  einer  Ableitung  von  Geistigem  rein  aus  Geistigem.  Denn  durch 
Mittheilung  können  psychische  Zustände  nicht  weitergegeben  werden,  wie  etwa  im 
Physischen  die  Bewegung  von  einem  Körper  zum  anderen.  Man  habe  zwar  nun 
eine  Allbeseeltheit,  gleichsam  psychische  Atome,  zu  Hülfe  genommen,  aus  deren 
Wechselwirkung  und  gegenseitiger  Mittheilung  der  psychischen  Zustände  unsere 
eigene  Empfindung  entstehen  würde.  Damit  sei  äusserlich  eine  consequente  Durch- 
führung gewonnen;  bei  genauerer  Betrachtung  zeige  es  sich  aber  doch,  dass  die 
Subjectivität  der  psychischen  Vorgänge,  ihr  Wirklichsein  nur  im  Subject  und 
für  dasselbe  die  Vorstellung  unmöglich  mache,  dass  ein  psychischer  Inhalt  von  In- 
dividuum zu  Individuum  übergehe,  ohne  dabei  seinen  Character  vollständig  in 
ändern.  Darüber  könne  nur  die  unsinnige  Annahme  hinweghelfen,  dass  in  allem 
Physischen,  auch  dem  mit  den  fremden  Seelenäusserungen  verknüpften,  schon  ein 
unserem  eigenen  Subject  zugehöriges  Psychisches  vorhanden  sei.^) 

Was  diese  beiden  dem  Parallelprincip  entgegengehaltenen  Punkte  angeht,  so 
ist  nach  der  Ansicht  des  Referenten  der  erste  sehr  wohl  mit  demselben  zu  ver- 
einigen, wenn  der  verstärkte  äussere  Reiz  als  selbständiges  Glied  der  physischen 
Reihe  angesehen  wird,   dem  dann  in  der  psychischen  Reihe  ein  eben  solch  selbst- 


*)  Vergl.  Wentscher,    üeber  physische  und  psychische  Causalität  und  das 
Princip  des  psycho-physischen  Parallelismus,  pag.  63. 


Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  und  Seele.  117 

standiges  Glied,  nämlich  die  verstärkte  Empfindung  entspricht.    Was  den  zweiten 
Punkt  betrifiPt,   so   liegt   m.  E.    dieser  Anschauung   des   Verfassers   eine   gänzlich 
falsche  Auffassung  des  Grundgedankens  des  metaphysischen  Parallelismus  zu  Grunde. 
Bei  der  Gedankenmittheilung  findet  auf  materieUer  Seite  folgender  Process  statt. 
Zunächst  ein  complicirter  Vorgang  im  Gehirn  des  Denkenden,  dann  der  sehr  com- 
plicirte  Vorgang  der  Innervation,  darauf  die  weniger  complicirte  Erregung  ver- 
schiedener Schallwellen,    auf  welche   wieder   complicirte   Vorgänge    einer   centri- 
petalen  Leitung  in  das  Gehirn  des  Recipienten  und  schliesslich  ein  sehr  complicirter 
Vorgang  im  Gehirn  desselben  folgt,  der  dem  Anfangsgliede  dieser  Reihe  annähernd 
analog  ist.    Eine  Gleichwerthigkeit  existirt  hier  auf  materieller  Seite  ausschliesslich 
nur  bei  dem  ersten  und  dem  letzten  Gliede,  während  zwischen  den  Schallwellen 
imd  dem  Himvorgang  auf  materieller  Seite   von  Gleichwerthigkeit  gar  nicht  die 
Rede  sein  kann.    Sobald  aus  irgend  einem  Grunde  der  Recipient  disponirt  ist,  mit 
einem   anderen   Gehimvorg^ange   zu    reagiren,    werden  ja    dieselben  Schallwellen 
diesen  anderen  Gehimvorgang  hervorrufen.   Trotzdem  aber  sprechen  wir  von  einem 
oausalen  Zusammenhange  zwischen  diesen  Processen,   aus  welchen  die  materielle 
Reihe    bei    einer   Gedankenübertragung    zusammengesetzt   ist.      Dieselbe   Schluss- 
folgening  macht  nun  ein  metaphysischer  ParalleUsmus  för  die  psychische  Reihe. 
Getrea  dem  Satze,  dass  die  Natur  keinen  Sprung  macht,  nimmt  der  metaphysische 
PtenUelismns  zwischen  den  einzelnen  bewussten  Erscheinungen  da,  wo  diese  sieh 
Bicfai  causal  bedingen,  Aequivalente  unbewusster  Natur  an.   Aber  diese  psycluschen 
Yoigmnge,  die  dnmal  den  Himprocess  des  Denkenden  und  des  Recipienten  be- 
^^eüen,  und  jene,  die  die  Schallwellen  zu  ihrem  parallelen  materiellen  Vorgange 
haben,  konnten  qualitativ  ebenso  verschieden  sein,  wie  Schallwellen  and  Himprocess, 
ofane  dass  deshalb  die  psydusche  Reihe  ihrer  Gausalität  entbehrt.    Worin  das  Aequi' 
Talente  des  Bewosst-Psyduschen  und  des  Cnbewusst-Psyehischen  liegt,  wird  —  im 
Oegeusafae  xa  den  Aequivalenten  in  der  materiellen  Welt  —  unserer  Erkenntoiss 
stets  abgehen,  weil  eben  das  Unbewusst-Psychisehe  an  sich  unerkennbar  ist. 

Dem  Verfasser  blnbt  aof  Grand  der  obigen  zwei  Einworfe  nichts  übrig,  als 
£e  Ann^hm^  des  gew^DÜehen  Lebens,  dass  jede  psychische  Beeinflussong  Ando'er 
dareh  Mitlheifamg  oder  auf  welchem  Wege  es  sei  eine  vemritteke  ist  and  zwar 
dermri^  dass  sie  durch  das  Gebiet  des  Physischen  hindorehgehi.  Giebt  es  aber 
men  Knihws  Tom  Physischen  aof  das  Psychische,  so  ist  aoeh  damit  6er  omg«*»' 
kehrte  Finflnss  vom  Pbychisehen  aof  Physisdies  nicht  leicht  zorfidkzinreiseii<  ja  er 

sieh  als  eine  imaariileibliehe  Conseqoem  sowohl  vom  Standpaiikie  der  bk^ 
Oeseise   der  Entwiekefaingsldire  ab   auch  dorch  psydbologische   fJnter' 
ober  die   Wüleaeefieb  n  issf    and  ihr  Terliihmss  zu  anderen  seetischeo 
BsgBiiftf  11  htwtimm.     Ycrf.  kommt   damit  zur    hmmhmn   eiaer  Wtf^btt^Awviant^ 
^JBi■4h^m  mid  Pn-chischem   and   sacht   san   das  ütiiß^  rotk  der  ÜT' 
Eaergie  daasit  in  ffSnklang  xa  XmDf^iOL    Die  Aiinshm^r  vieier  PkiV>' 
Rehmke.  Wemti eher  o.  A^  die  Verwaadhmg  der  fnA/aaüttOem  m 


verwirft  Verf.  aaf  Qrvad  w^ 


welche  die  vorhaad^!«« 


118  Paul  Plettenberg. 

des  Gesetzes  der  £nergieerhaltaDg  ein  Eingriff  psychischer  Causalit&t  in  den  Ab- 
lauf mechanischer  Vorgänge  nicht  stattfinden  darf,  und  der  Ansprach  der  Psycho- 
logen, dass  er  wegen  der  Thatsachen  des  Willenlebens  und  dem  Bescheide  der 
biologischen  Entwickelungsgesetze  dennoch  stattfinden  muss,  unversöhnlich  gegen 
einander.  Um  aus  diesem  Dilemma  zu  kommen,  schlägt  nun  Verf.  den  Ausweg 
vor.  anzunehmen,  dass  zwar  für  den  Zusammenhang  physischer  Kräfte  das  Gese^ 
von  der  Erhaltung  der  Energie  seine  Richtigkeit  hat,  dass  aber  durch  aosssr- 
physikalische  Einflüsse  eine  Vermehrung  der  physischen  Energie  möglich  sei ;  durch 
den  Einfluss  der  Seele  werde  also,  indem  sie  den  Anstoss  zur  Umwandlung  poten- 
*  tieller  in  kinetische  Energie  giebt,  ein  gewisses  Quantum  physischer  Energie  neu- 
geschaffen. Dann  sei  die  dualistische  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Leib  und 
Seele  verbunden  mit  der  Annahme  einer  Wechselwirkung  in  sich  geschlosMn  la 
Ende  geführt. 

Auf  dem  Wege,  den  Verf.  einschlägt,  um  die  Annahme  einer  Wechselwirkung 
zu  ermöglichen,  kann  Ref.  ihm  nicht  folgen,  da  die  nöthigen  festen  Anhalteponkte 
fehlen.  Wenn  es  auch  wahr  ist,  dass  der  negativ  geformte  Satz:  „Physische  Energie 
kann  nicht  aus  physischer  Energie  erzeugt  werden,  ohne  dass  ein  gleiches  Quaatuo^ 
anderer  physischer  Energie  verbraucht  wird"  neben  der  gewöhnlich  gebräuchlifihl 
positiven  Umformung:  „Jegliche  vorhandene  physische  Energie  muss  aus  ver- 
brauchter physischer  Energie  entstanden  sein"  noch  eine  andere:  „Physische  ESneigie 
kann  ausser  aus  verbrauchter  physischer  Energie  auch  durch  ausserphysikalische 
Factoren  erzeugt  werden"  logisch  möglich  lässt,  so  ist  doch  erst  empirisch  die 
Richtigkeit  der  letzten  Form  zu  ergründen.  Ref.  schliesst  sich  daher  ganzKülpe's 
Worten  an:')  „Die  Schwarz'sche  Conception  wird  so  lange  als  blosse  mathe- 
matische Fiction  zu  gelten  haben,  als  nicht  irgend  welche  positiven  Gründe  für  ein 
derselben  entsprechendes  reales  Verhalten  angeführt  werden.  Eine  solche  empi- 
rische Begründung  für  die  Annahme  einer  Vermehrung  der  vorhandenen  physi- 
kalischen Energie  durch  psychische  Einflüsse  dürfte  ihr  einigermaassen  schwer 
werden,  wenn  man  an  eile  die  Beobachtungen  denkt,  die  eine  Geltung  des 
Energiegesetzes  für  die  Gesammtheit  der  psychophysischen  Processe  wahrscheinlich 
machen". 

Alois  Höfler f  Psychologie.  (Wien  und  Prag  bei  F.  Tempsky.)  1897. 
604  Seiten. 

A.  Höfler  giebt  in  seiner  neu  erschienenen  Psychologie  im  §  17  eine  Be- 
sprechung der  metaphysischen  Theorien  von  den  Beziehungen  zwischen  Leib  und 
Seele  und  neigt  dabei  zu  einer  dualistischen  Ansicht. 

Bei  der  Deutung  der  Thatsachen  vom  Zusammensein  seelischer  und  leiblicher 
Vorgänge  nehmen  nach  dem  Verf.  schliesslich  alle  Forschungen  metaphysischen 
Character  an.  Es  gilt  dies  in  gleichem  Maasse  von  der  einen  wie  der  anderen  der 
beiden  Grundauffassungen,  nach  welchen  sich  die  bisherigen  Versuche  zur  Lösung 
des  Problems  scheiden  lassen  in  die  zwei  grossen  Gruppen  der  Causalitäts-  und 
der  Identitäts theorien. 

Unter  Causalitätstheorien  versteht  Verf.   alle  diejenigen,  welche  mehr 


*)  Külpe.  Ueber  die  Beziehungen  zwischen  körperlichen  und  seelischen  Vor- 
gängen.   Zeitschrift  für  Hypnotismus.    Jahrgang  VII,  pag.  112. 


Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  und  Seele.  119 

oder  minder  den  naiyen  Ueberzeag^ngen  des  vorwissenschaftliohen  Denkens  nahe 
bleibend  eine  Einwirkung  des  Psychischen  auf  das  Physische  und  eine  ebensolche 
des  Physischen  auf  das  Psychische  lehren,  also  eine  Wechselwirkung.  Doch  betont 
er,  dass  durch  diese  Bezeichnung  die  falsche  Vorstellung  von  einer  Gegen-  oder 
Rückwirkung  entstehen  könne;  er  vermeidet  daher  den  Ausdruck  Wechselwirkung 
geflissentlich.  Man  nennt  diese  Theorien  auch  wohl  Dualismus  und  zwar  so- 
wohl die  populäre  Ansicht  von  der  Zweierleiheit  von  Leib  und  Seele,  wie  alle 
Theorien,  welche  an  der  Verschiedenheit  der  physischen  und  psychischen  Erschei- 
nungen und  der  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Substanzen  oder  sonstigen  metaphy- 
sischen Realitäten  festhalten. 

Mit  Identitätstheorien  oder  Monismus  bezeichnet  Verf.  sowohl  die- 
jenigen, welche  lehren,  dass  Psychisches  auf  Physisches  oder  auch  umgekehrt  zurück- 
führbar sei,  oder  dass  das  Physische  und  das  Psychische  nur  zwei  Seiten  eines  und 
desselben  metaphysischen  Realen  seien. 

Dabei  sind  folgende  ünterformen  zu  unterscheiden.  Das  Geltenlassen  einer 
Zweierleiheit  von  Erscheinungen,  physischen  und  psychischen,  nennt  Verf.  phäno- 
menalen Dualismus,  dagegen  wäre  phänomenaler  Monismus  die  Forde- 
rung, auch  diese  zweierlei  Erscheinungen  auf  nur  eine  zurückzuführen,  wo  demnach 
physischer  und  psychischer  Monismus  zu  trennen  wären.  Entsprechend  bezeichnet 
Verf.  die  Annahme  von  zweierlei  resp.  nur  einer  Substanz,  welche  den  beibehaltenen 
Erscheinungen  zu  Grunde  liegend  zu  denken  seien,  substanziellen  Dualismus 
beziehungsweise  Monismus.  Da  es  ferner  denkbar  ist,  dass  eine  Theorie  nicht 
ausschliesslich  bei  den  Phänomenen  stehen  bleiben,  aber  doch  auch  nicht  gerade 
den  Substanzbegriff,  sondern  etwa  den  abstracteren  von  „Dingen  an  sich"  zu  deren 
metaphysischer  Ausdeutung  heranziehen  mag,  so  werden  der  substanzielle  Daalismus 
bezw.  Monismus  nur  specielle  Formen  eines  metaphysischenDualismus  bezw. 
Monismus  darstellen. 

Verf.  begnügt  sich  damit,  die  hauptsächlichsten  dieser  Theorien  einer  kritischen 
Betrachtung  zu  unterwerfen.  Bei  der  Besprechung  der  Causalitätstheorien  unter- 
scheidet er  zwei  Tjrpen  möglicher  Causationen.  Typus  I:  (Ursache  physisch,  Wir- 
kung psychisch)  =  Sinnesempündung.  Typus  II:  (Ursache  psychisch,  Wirkung 
physisch)  =  gewollte  Leibesbewegung.  Bei  der  wissenschaftlichen  Prüfung  dieser 
dualistischen  Theorie  entsteht  als  erste  Schwierigkeit,  dass  Leib  und  Seele  auf 
einander  wirken  sollen,  trotzdem  beide  toto  genere  verschieden  sind.  Zweitens 
nimmt  man  grössten  Anstoss  an  dem  obigen  Typus  II,  weil  hier  der  Wille  un- 
mittelbar ein  Quantum  Materie  in  Bewegung  setzen  oder  sonstige  physikalische 
oder  chemische  Veränderung  in  ihr  hervorbringen  würde,  was  gegen  das  Gesetz  von 
der  Erhaltung  der  Energie  verstösst,  nach  welchem  physische  Arbeiten  nur  unter 
Aufwand  äquivalenter  physischer  Energien  zu  Stande  kommen  können.  Aus  dem 
Bestreben,  alle  diese  Schwierigkeiten  zu  beseitigen,  sind  die  Identitätstheorien  oder 
monistischen  Anschauungen  hervorgegangen.  Zu  diesen  gehört  zunächst  der 
Materialismus  (nach  des  Verfassers  Bezeichnungsweise  ein  physischer  Monismus), 
die  einzige  Theorie,  für  die  Verf.  nichts  Positives  anzuführen  hat  und  die  durch 
den  Hinweis  auf  die  „Evidenz  der  inneren  Wahrnehmung"  entschieden  abgelehnt 
wird.  Die  entgegengesetzte  Richtung  des  Spiritualismus  (des  substanziellen,  psy- 
chischen Monismus)  erwähnt  Verf.  nur,  um  dann  eingebend  auf  die  Betrachtung  der 


120  ^aul  Fletienberg. 

neaesten  Form  des  Monismus  zo  kommen,  unter  welcher  die  yom  Ret  in  der  Ein- 
leitung Monismus  genannte  zu  yerstehen  ist 

Diese  stützt  sich  bei  ausdrücklicher  Leugnung  des  Substanzbegrifib  gerade  für 
das  Gebiet  der  psychischen  Erscheinungen  auf  die  Hypothese  des  uniTerBeUen 
(metaphysischen)  Paralielismus  und  die  Hypothese  Ton  den  zwei  Seiten  (ygL  die 
Bezeichnungen  in  der  Einleitung  des  Ref.).  Nach  letzterer  sind  die  physischen  und 
die  psychischen  Erscheinungsreihen  nur  zwei  Seiten  eines  und  desselben  meta- 
physischen Realen.  In  Folge  dessen  muss  in  Rücksicht  auf  die  Evidenz  der  inneren 
Wahrnehmung  und  auf  die  Evidenzlosigkeit  der  äusseren  Wahrnehmung  angenommen 
werden,  dass  die  psychische  Seite  die  Darstellung  der  Wirklichkeit  ist,  dass  die 
physische  Seite  dagegen  zur  äusseren  Erscheinung  herabsinkt.  Ver£  Yermisst  nun 
jede  weitere  Erklärung  des  metaphysischen  Verhältnisses  dieser  zwei  Seiten  zu 
ihrem  realen  Untergrunde  und  knüpft  daran  auch  terminologische  Bedenken,  die 
ihn  schliesslich  veranlassen,  noch  einmal  zu  der  Gausalitätstheorie  zurückzukehren 
und  die  gegen  sie  geäusserten  Bedenken  ernstlich  zu  prüfen. 

Verf.  lässt  also  den  psycho-physischen  Parallelismus  als  heuristisches  Princip, 
das  mit  einer  jeden  metaphysischen  Richtung  in  Verbindung  zu  bringen  ist,  ganz 
unberücksichtigt,  sowie  er  auch  speciell  den  empirischen  Parallelismus,  der  gendt 
für  die  Psychologie  als  Einzelwissenschaft  allein  maassgebend  gewesen  wäre,  gar 
nicht  erwähnt. 

Bei  der  nochmaligen  Besprechung  der  Gausalitätstheorie  (Dualismus)  zeigt  sich  dem 
Verf.,  dass  beide  gegen  sie  erhobenen  Einwände,  nämlich  der  von  der  Heterog^neitat 
von  Leib  und  Seele  und  der  aus  dem  Energiegesetze  abgeleitete,  gegenstandlos  sind, 
letzterer  unter  Berufung  auf  die  Erklärung  Boltzmanns,  dass  mit  dem  Energie- 
satze eine  Einwirkung  des  Psychischen  auf  das  Physische  nicht  unverträglich  sei, 
wenn  man  annähme,  dass  diese  Einwirkung  normal  gegen  die  Niveauflache  erfolge. 
Aber  dennoch  meint  Verf.,  dass  die  Gausalitätstheorie  nur  dann  das  Uebergewicht 
über  die  Identitätstheorie  wieder  erhalten  werde,  wenn  ihr  populärer  Gausalbegriff 
einer  logischen  und  erkenntnisstheoretischen  Läuterung  unterzogen,  oder  besser 
wenn  er  durch  Entfernung  des  Merkmals  der  Succession  überhaupt  durch  einen 
weiter  gefassten  Abhängigkeitsbegriff  ersetzt  werde.  Es  ist  klar,  dass  der  Ver£  auf 
solche  Weise  schliesslich  zu  der  von  uns  vertretenen  Ansicht  einer  functionellen 
Beziehung  zwischen  psychischen  und  physischen  Erscheinungen,  wie  sie  der  psyoho- 
physische  Parallelismus  lehrt,  zurückkommt.  Er  schliesst  mit  den  Worten :  „In  der 
Sache  selbst  aber  bescheiden  wir  uns  damit,  darauf  hingewiesen  zu  haben,  wie  die 
metaphysischen  Theorien  von  den  Beziehungen  zwischen  Leib  und  Seele,  weit  ent- 
fernt, schon  zu  irgend  einem  Abscbluss  gelangt  zu  sein,  welcher  von  den  berufenen 
Vertretern  der  Physik,  Physiologie,  Psychologie  und  Metaphysik  für  einen  end- 
giltigen  gehalten  würde,  vielmehr  noch  auf  lange  hinaus  ein  Problem  bilden  werden, 
das  dem  philosophischen  Denken  immer  neuen  Stoff  geben  und  wahrlich  „des 
Schweisses  der  Edlen  werth"  sein  wird." 

Paulsen,  Einleitung  in  die  Philosophie.  (6.  Auflage.  W.  Hertz, 
Berlin  1897.) 

In  unser  Referat  sei  mit  hineingezogen,  was  Paulsen  in  der  neuerschienenen 
6.  Auflage  seiner  Einleitung  in  die  Philosophie')  über  das  uns  hier  interessirende 

')  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auf  dies  Werk  besonders  hingewiesen.    In  seiner 


Neuere  Arbeiten  über  das  Yerhältniss  zwischen  Leib  und  Seele.  121 

Thema  bringt.  Er  selbst  bezeichnet  seinen  metaphysischen  Standpunkt  als  einen 
paraUelistischen  Monismus  mit  idealistischem  Vorzeichen.  Im  ersten  Kapitel  des 
ersten  Buches  wird  das  ontologische  Problem,  die  Frage  nach  der  Natur  des  Wirk- 
lichen eingehend  behandelt.  Nach  einer  geschichtlichen  Darstellung  der  Entwioke- 
lung  desselben  wird  der  Materialismus  mit  seinen  Folgen  kritisirt,  und  nachdem 
die  Annahme  einer  Wechselwirkung  zwischen  physischen  und  psychischen  Ereig- 
nissen als  im  Widerspruch  mit  dem  Gesetze  der  Erhaltung  der  Energie  befunden 
ist,  die  parallelistische  Theorie  nach  Fe  ebner  und  Wundt  durchgeführt.  Bei 
Besprechung  des  ersten  Hauptsatzes  der  paraUelistischen  Theorie:  „Physische  Vor- 
gänge sind  niemals  Wirkungen  psychischer"  werden  die  automatischen  Bewegungen 
als  Beweis  herangezogen,  und  es  wird  auf  die  Bewegungen  der  Nachtwandler  so- 
wie auf  die  posthypnotische  Wirkung  der  Suggestion  hingewiesen.  Beide  Beispiele 
scheinen  -  dem  Keferenten  nicht  zutreffend ;  der  Nachtwandler  handelt  mit  getrübtem 
Bewnsstsein,  aber  mit  coneentrirterer  psychischer  Energie,  da  er  schwierigere  Sachen 
auszuführen  im  Stande  ist  als  sonst,  und  die  Person,  welche  einen  in  der  Hypnose 
empfangenen  Befehl  ausfuhrt,  thut  dies  bei  vollem  Bewusstsein,  nur  die  Motive 
ihrer  Handlungsweise  sind  ihr  unbekannt.  Der  zweite  Hauptsatz :  „Psychische  Vor- 
gänge sind  niemals  Wirkimgen  physischer''  wird  mit  Hilfe  der  Ällbeseelung  con* 
lequent  durchgeführt.  Im  Folgenden  bekennt  sich  Verfasser  als  Anhänger  des 
Voluntarismus  und  der  Actualitätstheorie,  jedoch  scheinen  dem  Referenten  die  von 
Külpe^)  der  letzteren  entgegengehaltenen  Punkte  noch  einer  Beantwortung  und 
eventuellen  Widerlegung  zu  bedürfen. 

Bezeichnet  Verf.  sein  System  selbst  als  einen  Monismus  mit  idealistischem  Vor- 
seichen, so  erscheint  der  Monismus  in  Bezug  auf  dieses  Vorzeichen  doch  immer 
in  einer  solchen  Form,  dass  er  der  Naturwissenschaft  möglichst  Rechnung  trägt 
nnd  somit  auch  bei  den  Vertretern  derselben  Verständniss  und  Zustimmung  zu 
finden  vermag. 

G.  Heymana,  Zur  Parallelismusfrage.  Zeitschrift  für  Psychologie  und 
Physiologie  der  Sinnesorgane,  herausgegeben  von  Ebbinghaus  und  König.  Bd.  XVII, 
Heft  1  u.  2.    (Joh.  Amb.  Barth,  Leipzig.)    1898. 

Verfasser  vertritt  die  Ansicht  des  idealistischen  Monismus,  der  nach  ihm  die 
einfachste  und  natürlichste  Anschauung  des  Verhältnisses  zwischen  Geist  und 
Materie  ist. 

All  unsere  Erkenntniss  bauen  wir  aus  Bewusstseinsinhalten  auf,  aus  einer  in 
•ietigem  Wechsel  begriffenen  Vielheit  von  Vorstellungen,  Gefühlen,  Urtheilen,  Be- 
■irebnngen.  In  dem  Wechsel  dieser  psychischen  Erscheinungen  lehrt  uns  die  Er- 
fahrung gewisse  innere  Gesetzmässigkeiten,  aus  denen  wir  die  psychischen  Gesetze 
und  mit  ihnen  die  psychische  Causalität  abstrahiren.  Eine  Klasse  von  Bewusst- 
seinsinhalten ordnet  sich  solcher  Gesetzmässigkeit  aber  nicht  unter,  nämlich  die 
ISmpfindungen  und  die  aus  Empfindungen  zusammengesetzten  Wahrnehmungen;  sie 


bekannten  meisterhaften  Darstellungsweise  macht  Verfasser  bekannt  mit  den  Pro- 
blemen der  Metaphysik,  der  Erkenntnisstheorie  und,  wenn  auch  nur  kurz,  desjenigen 
der  Ethik.  „Uebendl  setzt  der  Verfasser  das  ganze  Gewicht  seiner  gewinnenden, 
Eebensvrürdigen  Darstellungsweise  ein,  um  einer  modernen,  die  Gegensätze  ver- 
tohnenden  Weltanschauung  das  Wort  zu  reden.^  (Knlpe,  Einleitung  in  die  Philo- 
sophie, pag.  3.) 

^)  Kulpe,  Einleitung  pag.  190—193. 


122  Paol  Plettenberg. 

kommen  and  gehen  ohne  die  Spur  einer  regehnässigen  Verbindung  mit  yorhar- 
gehenden  Bewusstseinsinhalten.  Da  für  diese  innerhalb  unserei  BewoBstseina  die 
Ursache  nicht  za  finden  ist,  wir  eine  solche  nach  den  Gansalgesetzen  aber  Tonu»- 
setzen  müssen,  so  setzen  wir  sie  folgerichtig  ausserhalb  desselben  und  gelangen  so 
zum  Begriff  einer  Welt  ausserhalb  des  Bewusstseins.  Bald  finden  wir  Gründe  an- 
zunehmen, dass  auch  in  dieser  Welt  feste  Gesetze  herrschen;  wir  konmien  snm 
Begriffe  der  physischen  Causalität.  Die  Erforschung  der  sie  constitnirenden  Gesetie 
bildet  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaft. 

Kenntniss  von  der  Existenz  des  Ausserbewussten  erhalten  wir  nur  dadurehy 
dass  dasselbe  in  unser  Bewusstsein  hinein  wirkte;  alle  Kenntniss  von  dem  Weien 
des  Ausserbewussten  kann  daher  nichts  anderes  sein  als  die  Gesammtheit  aQer 
dieser  möglichen  Wirkungen  in  unser  Bewusstsein.  Dass  alle  sogenannten  „teoon- 
dären*'  sinnlichen  Qualitäten,  die  vom  natürlichen  Denken  den  Dingen  Selbst  m- 
geschrieben  werden,  nur  Inhalte  unseres  Bewusstseins  sind,  ist  allgemein  bekannt» 
dass  dies  auch  bei  den  „primären",  den  geometrischen-mechanischen  Qualitäten  der 
Fall  ist,  lässt  sich  leicht  zeigen.  Denn  wenn  wir  z.  B.  einem  Dinge  einen  be- 
stimmten Ort  zuschreiben,  so  heisst  dies  nur,  dass  im  bewussten  Gesichtsfeld  das 
von  dem  Dinge  erzeugte  Bild  zwischen  den  von  anderen  Dingen  erzeugten  Bilden 
eine  bestimmte  Stelle  einnimmt  u.  s.  w.  Kurz  alle  Eigenschafben  der  Körper  sind 
nur  ihre  Wirkungen  auf  unser  Bewusstsein,  das  Ding  an  sich,  das  Reale,  bleibt  nna 
unbekannt.  Hierin  finden  wir  aber  schon  die  Keime  des  Parallelismus.  Denn  wenn 
die  Gesammtheit  der  unter  den  Begriff  Natur  zusammengefassten  Erscheinungen 
nichts  weiter  ist  als  das  System  aller  möglichen  Eindrücke,  die  die  ausserhalb 
unseres  Bewusstseins  ablaufenden  Prooesse  in  unser  Bewusstsein  hinein  zu  erzielen 
im  Stande  sind,  und  wenn,  wie  das  Causalgesetz  fordert,  jedem  wirklichen  Prooesee 
ein  ganz  bestimmter  Gomplex  solcher  Einwirkungen  in  das  Bewusstsein  hinein  ent- 
spricht, so  muss  die  Reihe  der  wirklichen  Processe,  die  wir  die  primäre  nennen 
wollen,  der  Reihe  unserer  Bcwusstseinswahrnehmungen ,  der  secundären,  parallel 
sein.  d.  h.  zwischen  der  uns  verborgenen  Causalität  des  Wirklichen  und  der  Pro- 
jection  desselben  in  unser  Bewusstsein  hinein  muss  eine  durchgehende  Correspon- 
denz  stattfinden.  Diese  Betrachtungen  führen  uns  schon  an  die  Schwelle  der 
monistischen  Lehre,  die  wir  überschreiten,  sobald  wir  zu  der  Annahme  berechtigt 
sind,  dass  die  psychischen  Vorgänge  Glieder  jener  bisher  unbestimmt  gelassenen, 
primären  Reihe  vorstellen.  Nun  ist  es  aber  Thatsache,  dass  innerhalb  weiter 
Grenzen  zwischen  Hirnprocessen  und  Bewusstseinserscheinungen  ein  functioneller 
Zusammenhang  stattfindet,  ganz  abgesehen  von  der  Art  desselben.  Dafür  lassen 
sich  viele  Beweise  anführen.  Klar  liegt  es  am  Tage  bei  denjenigen  psychischen 
Erscheinungen,  welche  unseren  Verkehr  mit  der  Aussenwelt  im  weiteren  Sinne  ver- 
mitteln, bei  den  Empfindungen  und  Bewegungs Vorstellungen.  Also  Himprocesse 
und  Bewusstseinserscheinungen  entsprechen  einander.  Was  ist  aber  dabei  unter 
Hirnprocessen  zu  verstehen?  Nach  den  oben  gegebenen  Erklärungen  des  Auiser- 
bewussten  kann  es  nichts  anderes  sein,  als  uns  unbekannte  reale  Processe,  die  in 
bestimmter  Weise  ins  Bewusstsein  hinein  wirken  würden,  wenn  wir  die  Vermitte- 
lung  der  Sinnesorgane  dabei  ermöglichten,  oder  wie  sich  Verf.  ausdrückt,  wenn 
günstige  Adaptations Verhältnisse  herbeigeführt  würden.  Darunter  ist  die  Gesammt- 
heit der  positiven  und  negativen  Bedingungen  zu  verstehen,  welche  erfüllt  sein 
müssen,   um   eine  genaue  und  erschöpfende  Wahrnehmung  des  functionirenden  Ge- 


Neuere  Arbeiten  über  das  Verhältniss  zwischen  Leib  and  Seele.  123 

hims  zu  ermöglichen.  Dass  die  Wissenschaft  noch  nur  ausnahmsweise  und  sehr 
unvollständig  diese  Bedingungen  zu  verwirklichen  vermag,  ist  für  unsere  Betrach- 
tungen gleichgiltig.  Die  oben  gefundene  Correspondenz  zwischen  Hirnprocessen 
und  Bewusstseinserscheinungen  lässt  sich  nun  folgendermaassen  ausdrücken:  „Sa 
oft  jene  Bewusstseinsprocesse  vorkommen,  sind  reale  Vorgänge  gegeben,  welche 
unter  günstigen  Adaptationsverhältnissen  bestimmte  Himprocesswahmehmungen 
erzeugen  würden."  Indem  nun  Verf.  jene  realen,  nicht  wahrgenommenen,  sondern 
vorausgesetzten,  ihrem  eigenen  Wesen  nach  völlig  unbestimmt  gelassenen  Vorgänge 
als  nicht  verschieden  von  den  entsprechenden  Bewusstseinsprocessen,  vielmehr  mit 
ihnen  identisch  erklärt,  erhält  er  das  Fundament  seiner  idealistisch-monistischen 
Anschauung.  Die  psychischen  Vorgänge  sind  demnach  die  realen  Vorgänge,  die 
sich  als  functionirendes  Gehirn  in  unser  Bewusstsein  projiciren.  Verf.  erklärt  diese 
Hypothese  für  die  einfachste  und  zunächstliegende. 

Nunmehr  wendet  sich  Verf.  dazu,  die  Parallelität  der  psychischen  Vorgänge 
und  der  Hirnprocesswahrnehmungen  zu  untersuchen.  Dass  eine  solche  überhaupt 
besteht,  ist  nach  dem  Obigen  klar.  Es  ist  aber  zu  bemerken,  dass  zwar  jedem 
psychischen  Vorgange  eine  bestimmte  Gehimprocesswahrnehmung  zugeordnet  ist,  dass 
diese  letztere  aber  durchaus  nicht  thatsächlich  gegeben  sein  muss.  Vielmehr  müssen 
dazu  die  Adaptationsbeding^gen  erfüllt  sein;  sobald  wir  dies  aber  als  geschehen 
erachten,  und  dazu  sind  wir  berechtigt,  da  dabei  nur  äussere  zufällige  Umstände 
mitsprechen,  sind  wir  im  Stande,  neben  der  realen  Reihe  der  psychischen  Vorgänge 
eine  ideale  Reihe  von  Hirnprocesswahrnehmungen  anzunehmen.  Beide  Reihen  sind 
ihrem  Wesen  nach  Bewusstseinserscheinungen,  also  besteht  zwischen  den  Gliedern 
beider  keine  eigentliche  Heterogeneität.  Von  einer  solchen  überhaupt  lässt  sich 
nur  reden  in  Rücksicht  auf  die  Gesetze,  welchen  die  einzelnen  Reihen  unterworfen 
sind.  Jede  Hirnprocesswahmehmung  ist  durch  einen  psychischen  Vorgang  als  ihre 
wirkende  Ursache  bestimmt ;  da  nun  die  psychischen  Vorgänge  nach  festen  Gesetzen 
verlaufen,  müssen  es  auch  die  secundären.  Die  Gesetze  der  primären  psychischen 
Reihe  bringen  aber  den  Zusammenhang  der  betreffenden  Vorgänge  selbst,  die  der 
secundären  Reihe  den  Zusammenhang  bestimmter  indirecter  Wirkungen  derselben. 
Daraus  folgt,  dass  für  beide  Reihen  parallele  aber  inhaltlich  verschiedene  Gesetze 
herrschen.  Und  in  dieser  Verschiedenheit  der  herrschenden  Gesetze  sieht  Verf.  die 
ganze  Heterogeneität  der  beiden  Reihen. 

Da  beide  Reihen  in  lückenhaftem  Zustande  gegeben  sind  und  vielfacher  Er- 
gänzungen bedürfen,  untersucht  Verf.  eingehend  die  Möglichkeit  und  Nothwendig- 
keit  einer  Inter-  und  Extrapolation  derselben.  Dabei  sei  als  für  uns  von  Interesse 
hervorgehoben,  dass  Verf.  dem  sogenannten  Unbewusst-psychischen  eine  grössere 
Realität  zuspricht  als  dem  physiologischen.  Alsdann  erweitert  er  die  oben  ge- 
gebenen psychologischen  Anschauungen  zu  einer  idealistisch-monistischen  Welt- 
anschauung und  stellt  diese  zum  Schlüsse  den  beiden  anderen,  dem  Materialismus 
and  dem  Dualismus,  sowie  älteren  Einwänden  gegen  den  Monismus  gegenüber. 
Von  besonderem  Interesse  ist  für  uns  das,  was  Verf.  dem  Dualismus  entgegenhält. 
Dieser  zeigt  sich  ihm  als  überhaupt  nicht  consequent  durchführbar.  Denn  nach 
ihm  ist  der  psychische  Vorgang  nicht  sinnlich  wahrnehmbar  zu  denken,  vielmehr 
sinnlich  unwahmehmbar,  also  unsichtbar,  untastbar,  also  physisch  unwirksam.  Dabei 
soll  aber  derselbe  psychische  Vorgang  Wirkung  und  Ursache  von  Hirnprocessen^ 
Träger  eines  bestimmten  Quantums  physischer  Energrie,  kurz  er  soll  physisch  wirk- 


124    -P*^  Flettenberg.   Neuere  Arbeiten  über  d.  YerhältniM  iwiiehen  Leib  u.  Seele. 

•am  lein,  also  ein  offenbarer  Widerspmcb.  Femer  bereitet  dem  Dnaliamtu  der 
Satz  von  der  Erhaltung  der  Energie  die  grotsten  Schwierigkeiten.  Endlich  ist 
nach  der  Ansicht  des  Verf.  der  idealistische  Monismus  dem  Dualismus  vorzuziehen 
auch  als  Arbeitshypothese ;  nach  der  letzteren  Anfihssung  schliesst  sich  Psychologie 
und  Physiologie  gegenseitig  vollständig  aus,  während  nach  der  ersteren  den  beiden 
Schwesterwissenschaflen  zwar  geschiedene,  aber  durchaus  parallele  Wege  zu- 
kommen und  für  jede  die  Möglichkeit  gegeben  ist,  sich  tür  die  eingeschlagene 
Richtung  an  der  anderen  zu  orientiren,  wo  ihr  eigener  Weg  streckenweise  un- 
sicher wird. 

Das  vom  Verf.  dargebotene  System  erweist  sich  überall  als  ein  harmonisches, 
in  sich  geschlossenes,  conseqaent  durchgeführtes  metaphysisches  System  und  verdient 
als  solches  Beachtung,  jedoch  wird  es  in  seiner  einseitigen,  abstracten  Form  viel- 
&ch  bei  den  Naturwissenschaftlern  wenig  Verständniss  und  Zustimmung  finden. 
Dass  im  Uebrigen  eine  mehr  materielle  Richtung  des  Monismus,  die  als  Zwei- 
seitentheorie  eine  prägnante  Bezeichnung  vom  Verfasser  erhält,  so  ganz  als  ver- 
altet hingestellt  werden  kann,  erscheint  dem  Ref.  als  ein  einseitiger  Standpunkt. 


Referate  und  Besprechungen. 


OeHketf  FritZj  Casuistischer  Beitrag  zur  KenntnisB  der  Erinne- 
rungsfäUchangen.    Allgem.  Zeitscbr.  für  Psychiatrie.    64.  Bd.,  Heft  1  u.  2. 

Verf.  referirt  die  Ansichten  der  Autoren,  die  bisher  über  das  gleiche  Thema 
geschrieben  haben  und  sucht  darnach  den  Begriff  festzulegen.  Drei  bestimmte 
Arten  stellt  zuerst  Kraepelin  auf,  nämlich: 

1.  Einfache,  d.  h.  freientstehende  oder  eigentliche  Erinnerungsfälschungen. 

2.  Assocürende,  d.  h.  solche,  die  durch  Anknüpfung  scheinbarer  Erinnerungen 
an  einen  yorliegenden  Eindruck  die  Vorstellung  entstehen  lassen,  als  ob  derselbe 
schon  eine  £olle  in  der  eigenen  Vergangenheit  gespielt  hat. 

3.  Identificirende,  d.  h.  Verlegung  des  ganzen  gegenwärtigen  Wahmehmnngs- 
eomplexes  noch  einmal  ganz  identisch  als  Erinnerung  in  die  Vergangenheit  (Er- 
innenmgstauschnng). 

Die  Falle  des  Verf.  gehören  zu  der  ersten  Art.  Kraepelin  ist  der  Meinung, 
dasB  Erinnerungsfölschungen  nur  bei  intellectuell  Geschwächten  vorkommen  und 
sich  von  der  Erinnerung  an  Hallucinationen,  deren  Inhalt  immer  eine  ziemliche 
ConstaDz  zeige,  namentlich  durch  einen  starken  Wechsel  des  Inhalt«  unterscheiden ; 
eine  Ansicht,  der  Ton  anderen  Autoren,  namentlich  Delbrück,  widersprochen 
wurde.  Forel  and  Bernheim  haben  auf  die  suggerirten  Erinnerungsfälschungen 
anfiiieriksam  gemacht.  Kraepelin  findet  das  Auftreten  Ton  Erinnerungsfalschungen 
bei  Paralyse,  Dementia  senilis,  Manie  und  Melancholie,  Sander  und  Neisser 
bei  Verrficktheit,  Delbrück  bei  den  pathologischen  Schwindlern  and  Lügnern. 

Es  folgen  dann  die  ausfohrlichen  Krankengeschichten  der  rom  Verf.  beob- 
schteten  Falle.  Im  ersten  Falle  handelt  es  sich  om  einen  Paranoiker,  Beginn  des 
Leidens  mit  GehorshaUucinationen,  spater  traten  Grossenideen  aof^  die  allmählich 
immer  mehr  den  Stempel  des  Schwachsinns  tragen.  Der  zweite  ist  ein  paranoischer 
Tabiker  mit  stark  beeintriditigtem  Erinnerungsrermögen.  Beide  haben  ausser- 
ordentficb  zahlreiche  Erinnenmgsfalschangen,  auf  denen  sich  ihre  Wahnideen  auf- 
bauen. Afifangi  jedenfalls  ohne  erhebliche  InteUigenzdefecte.  Den  Umstand,  da« 
all  dieee  Geschehnisse  in  der  Vergangenheit  liegen,  dass  sie  sieh  ihrer  also  erst 
imditrigficli  m  erimkem  scheinen,  erklären  beide  Kranken  sehr  characteristiscfa 
dadardi.  dase  sie  wahrend  der  Vorkommnisse  betäabt  worden  wären«  iHdareh 
aefaon  krimufklinep  sich  ihre  Angaben  als  ErinnenrngifüschnDgen.    Auch  om  Er- 


126  Referate  und  Besprechimgeii. 

innemngen  an  hallucinirte  Ereignisse  konnte  es  sich  nicht  handeln,  da  nachgewiesen 
werden  konnte,  dass  die  Patienten  zu  der  Zeit,  während  der  sich  die  £reigni8ae 
angeblich  zugetragen  haben  sollten,  sich  vollständig  ruhig  verhielten  und  sich 
irgend  einer  gleichgiltigen  Beschäftigung,  Mahlzeiten  oder  Schlaf  hingaben.  Im 
Gegensatz  zu  der  langsamen  Entwickelung  der  beiden  ersten  Fälle  steht  der  dritte, 
in  dem  sich  innerhalb  von  14  Tagen  bei  einem  jungen  Mädchen  ganz  acut  neben 
bestehender  unbestimmter  Angst  die  Erinnerung^fälschungen  entwickelten,  die  an 
einen  harmlosen  Spaziergang  und  ein  Gespräch  im  Laden  anknüpfend  eine  ganze 
Liebesgeschichte  vorspiegeln.  In  dieser  Zeit  macht  die  Kranke  noch  einen  so  ge- 
ordneten Eindruck,  dass  Monakow  sie  noch  für  gesund  hält.  Acht  Tage  später 
muss  sie  in  die  Irrenanstalt  gebracht  werden,  aus  der  sie  nach  sieben  Monaten  mit 
der  Diagnose  „Wahnsinn  mit  Erinnerungsfälschungen*'  ungebessert  entlassen  wird. 
In  diesem  Falle  giebt  die  Kranke  an,  die  vermeintlichen  Ereignisse  —  hier  die 
Anträge  ihres  vermeintlichen  Bräutigams  jedes  Mal  vergessen  und  sich  ihrer 
erst  später  wieder  bei  einem  neuen  Antrag  erinnert  zu  haben,  weil  ihr  die  grosse 
Aufregung  wohl  die  Erinnerung  nahm,  wie  sie  selbst  vermuthet.  Der  vierte  Fall 
ist  der  von  Forel  in  seinem  „Hypnotismus"  erwähnte. 

Näher  auf  die  Einzelheiten  der  Krankengeschichten  einzugehen,  würde  die 
Grenzen  des  Referates  überschreiten,  sie  könnten  auch  nur  durch  wörtliche  Wieder- 
gabe wirklich  belehrend  wirken,  sind  daher  im  Original  nachzulesen.  Auf  Ghrund 
seines  Materials  kann  der  Verf.  sich  der  Ansicht  Kraepelin's  über  die  Ent- 
stehung der  Erinnerungsfälschungen  nicht  anschliessen,  auch  ist  er  der  Meinung, 
dass  es  kein  Mittel  giebt,  um  in  jedem  Falle  sicher  dificrential-diagnostisch  zwischen 
Erinncrungsfälschung,  Erinnerungstäuschung  und  Erinnerung  an  Hallucinationen 
und  Träume  unterscheiden  zu  können.  Tecklenburg-Leipzig. 

Näcke,  Dr.  P.,  Dämmerzustand  mit  Amnesie  nach  leichter  Ge- 
hirnerschütterung, bewirkt  durch  einen  heftigen  Schlag  ins  Ge- 
sicht.    Neurol.  Centralbl.  1897,  24.     Selbstbeobachtung. 

Verf.  wurde  früh  8  Uhr  bei  der  Krankenvisite  von  einem  Paranoiker  mit  der 
flachen  Hand  heftig  auf  die  Mundgegend  geschlagen,  so  dass  er  umfiel.  Er  schlug 
beim  Falle  nirgends  mit  dem  Kopfe  auf.  war  bewusstlos,  wurde  aufgehoben  und 
auf  ein  Sopha  gesetzt.  Nach  wenigen  Secunden  erhob  er  sich,  traf  Anordnungen 
bezüglich  des  Kranken,  notirte  den  Vorfall  in  sein  Notizbuch,  besuchte  noch  drei 
weitere  Stuben  und  sprach  mit  den  Insassen,  öÜnete,  ohne  die  letzte  Stube  beauoht 
zu  haben,  die  Corridorthür  und  begab  sich  nach  seiner  im  Nebenhause  gelegenen 
Privatwohnung.  Für  den  ganzen  Zeitabschnitt  von  Empfang  des  Schlages  bis  zum 
Eintritt  in  die  Wohnung  besteht  vollkommene  Amnesie.  N.  äussert  dann  zu  seiner 
Frau,  er  glaube  von  einem  Kranken  geschlagen  worden  zu  sein,  da  es  in  seinem 
Notizbuch  stände,  stellt  ein  und  dieselbe  Frage  drei  Mal  hintereinander,  setzt  sich 
auf  das  Sopha  und  bemerkt,  dass  er  nicht  wisse,  wie  er  in  die  Wohnung  gekommen 
sei,  und  ob  er  die  Visite  beendet  habe.    All  das  hat  er  später  ebenfalls  vergessen. 

Eine  Stunde  später  explorirt  er  einen  Imbecillen  und  stellt  ein  Gutachten 
über  ihn  aus.  Am  Nachmittage  zeigt  sich  noch  Vergesslichkeit.  sowie  die  Unfähig- 
keit, sich  wissenschaftlich  zu  beschäftigen.  Den  ganzen  Tag  über  hatte  er  wüsten 
Xopf  mit  Druck  in  der  Stirngegend,  sonst  bestand  keinerlei  Störung  in  irgend 
einem  somatischen  Gebiete.    Am  nächsten  Tage  wieder  normaler  Zustand. 


Referate  und  Besprechungen.  127 

Obgleich  alle  übrigen  Erscheinungen  einer  Gehimerschütterung  fehlten  ausser 
der  kurzen  Bewusstlosigkeit,  glaubt  N.,  dass  es  sich  um  eine  indirecte  Gehirn- 
erschütterung gehandelt  habe,  der  ein  ca.  10 — lö  Minuten  währender  Dämmer- 
zustand folgte  mit  totaler  Amnesie  für  die  während  desselben  ausgeführten  ziemlich 
complicirten  Handlungen.  Verf.  weist  auf  die  forensische  Bedeutung  der  Beob- 
achtung hin,  welche  zeigt,  dass  schon  nach  einem  einfachen  Schlage  ins  Gesicht 
ein  Dämmerzustand  eintreten  kann;  besonders  hält  er  diese  Möglichkeit  für  gegeben 
bei  Kindern,  die  von  ihren  Lehrern  so  häufig  ins  Gesicht  geschlagen  werden.  Zum 
Schluss  verbreitet  sich  N.  über  den  Werth  der  Selbstbeobachtung,  die  für  die 
psychologische  Forschung  die  besten  Resultate  fordern  kann,  indem  er  zugleich 
Yor  den  damit  verbundenen  Fehlem  warnt.  Tecklenburg-Leipzig. 

Benjamifij  Dr.  Bich.,  Deber  den  physiologischen  und  pathologi- 
schen Schlaf.    Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  54.  Bd.,  6.  Heft. 

In  den  bisherigen  Abhandlungen  haben  sich  die  verschiedenen  Autoren  fast 
immer  mit  dem  pathologisch  verminderten  Schlaf  beschäftigt,  Verf.  will  daher  eine 
Lücke  ausfüllen,  wenn  er  sich  in  der  vorliegenden  Arbeit  die  Aufgabe  stellt,  den 
pathologisch  vermehrten  Schlaf  bei  den  verschiedenen  Neurosen  und  Psychosen  zu* 
sammenfassend  zu  behandeln.  Als  Einleitung  dazu  citirt  er  an  der  Hand  der 
Literatur  ganz  kurz  die  verschiedenen  Theorien,  die  bezüglich  der  Physiologie  des 
Schlafes  aufgestellt  worden  sind,  und  kommt  zu  dem  Schluss,  dass  sie  sich  meist 
für  einen  Zusammenhang  mit  dem  Gefässsystem  aussprechen.  In  derselben  Weise 
werden  dann  die  Arbeiten  citirt,  in  denen  eine  pathologische  Schlafsucht  beschrieben 
ist,  und  denselben  fünf  eigene  Fälle  hinzugefügt.  In  den  letzteren  wurde  die 
Diagnose  auf  Paranoia  (mit  Imbecillität),  Hysterie.  Dementia  ffabes?),  Melancholie 
(mit  Hysterie),  Poliencephalitis  sup.  gestellt;  dieselben  bieten  für  einen  Kliniker 
nichts  Neues. 

Auf  Grund  der  fremden  und  eigenen  Beobachtungen  kommt  Verf.  zu  der 
Ansicht,  dass  die  pathologische  Schlafsucht  nicht  eine  selbstständige  Krankheit  ist, 
sondern  immer  nur  ein  Sympton  einer  anderen  psychischen  oder  somatischen  Er- 
krankung. Diese  Erkenntniss  im  Verein  mit  den  in  derartigen  lallen  von  anderen 
Aatoren  erhobenen  anatomischen  Befunden  lassen  den  Veif.  zu  dem  Schluss  ge- 
langen, dass  einerseits  die  .«Aufhebung  jedes  aus  der  Aussenwelt  stammenden  Sinnes- 
reizes^, andererseits  die  Reizung  gewisser  Centren  durch  nach  länger  andauernder 
Gehimthätigkeit  im  Blute  auftretende  Stoffe  Schlaf  zur  Folge  haben.  Solche 
Gentren  sind  f,die  der  Mednlla  oblongata,  des  centralen  Höhlengrau^  schliessÜch  die 
des  dicht  unter  dem  Boden  des  Aquaeduct.  Sylvii,  in  der  Regio  subthalamica  nahe 
dem  rothen  Kern  der  Haube  gelegenen  L  u  y  s '  sehen  Körpers.'*  „Welches  nun  auch 
das  anatomische  Substrat  für  den  Schlafzustand  ist,  so  ist  jedenfalls  die  Function 
des  Schlafcentrums  abhängig  von  bestimmten  im  Blute  kreisenden  und  von  dem- 
selben aus  wirkenden  Substanzen." 

IHe  Arbeit  ist  eine  fleissige  Literatarzusammenstellung,  enthält  aber  durchaus 
nidits  Originelles.  Tecklenburg-Leipzig. 

Dr.  Hätel,  Association  und  Localisation.  Allgem.  2ieitschr.  t  Psy- 
ebiatne,  M.  B<L,  3.  Heft. 

Aos  den  im  contraren  Gegensatz  zu  einander  stehenden  Anschauungen  der 
Asftoran  über  Associadoo   und   Localisation  im  Centralnervensystenif  die  sich  in 


128  Referate  und  Besprechangen. 

den  Namen  Hitzig-Munk  und  Goltz,  Wernicke-Sachs  and  Flechsig 
verkörpern,  will  Verl  das  thatsachlich  Erwiesene  herausnehmen  und  durch  seine 
eigene  vermittelnde  Anschauung  zur  Klärung  beitragen.  Durch  alle  Anhänger  der 
Localisationslehre  ist  eben  nur  erwiesen,  dass  bestimmte  Stellen  des  Centralorgans 
in  functioneller  Verknüpfung  mit  bestimmten  peripheren  Organen  stehen,  d.  b.  dasi 
alle  associativen  Vorgänge  gebunden  sind  an  das  Vorhandensein  von  Ganglienzellen 
und  Nervenfasern  und  an  das  Vorhandensein  von  specifischen  Endorganen;  wie 
aber  der  associative  Vorgang  zu  Stande  kommt,  darüber  ist  noch  nichts  bekannte 
Unsere  Sinnesorgane  sind  vermöge  der  ihnen  innewohnenden  specifischen  Eneiigie, 
d.  h.  der  Eigenschaft  auf  specifische  Reize  in  bestimmter  Weise  zu  reagiren,  im 
Stande,  die  verschiedenartigen  chemischen  und  physikalischen  Reize,  die  sie  treffen* 
zu  transformiren,  in  einen  einheitlichen  homologen  Reiz  umzusetzen,  der  dem  g^e- 
sammten  leitenden  Nervensystem  adäquat  ist,  d.  h.  von  jeder  Nerven&ser  weiter- 
geleitet werden  kann,  da  man  anzunehmen  berechtigt  ist,  dass  die  Nerven£&seni 
morphologisch  und  chemisch  unter  sich  alle  gleich  sind.  Dagegen  haben  die  nach 
ihren  morphologischen  und  chemischen  Eigenschaf  ben  ausserordentlich  verschiedenen 
Ganglienzellen  eine  regulatorische  Thätigkeit,  d.  h.  sie  haben  die  Aufgabe,  die  an- 
langenden homologen  Reize  in  bestimmte  weitere  Bahnen  zu  überführen  und  dadurdi 
eben  den  Associationsvorgang  selbst  darzustellen.  Nicht  anders  ist  es  bei  dem  sog. 
motorischen  Apparat,  nur  ist  der  Verlauf  hier  ein  umgekehrter.  Nicht  die  Ghinglien- 
zelle  ist  motorisch,  nicht  sie  ist  Träger  der  specifischen  Eigenschaft,  sondern  auch 
hier  wieder  das  periphere  Organ,  der  Muskel.  Die  sogenannte  motorische  Zelle 
kann  wieder  nur  den  einheitlichen,  für  alle  Fasern  leitbaren,  homologen  Reis  aus- 
senden, den  die  fälschlich  motorisch  genannte  Faser  auf  die  Endplatte  im  Muskel 
überträgt ;  hier  erst  erfolgt  die  Transformirung  in  den  specifischen  motorischen  Reis. 
Auch  Vorgänge  wie  die  Auslösung  einer  Bewegung  durch  einen  Lichtreiz,  also  das 
Verlaufen  eines  sensorischen  Reizes  auf  einer  motorischen  Bahn,  und  ähnliche  er- 
klären sich  hiernach  zwanglos,  weil  eben  alle  unter  sich  gleichen  Bahnen  denselben 
einheitlichen  Reiz  leiten,  der  sein  specifisches  Gepräge  erst  durch  Transformirung 
im  Endorgan  erhält.  „Dann  aber  ist  unser  ganzes  Nervensystem  mit  Ausnahme 
unserer  peripheren  Sinnesapparate  ein  Associationsorgan,  und  Associationsleistungen 
entstehen  überall  da,  wo  überhaupt  Nervenbahnen  existiren,  demnach  sowohl  in 
corticalen,  subcorticalen  Gentren,  wie  in  den  Sinnescentren  und  Associationscentren 
Flechsig 's  und  alle  Fasern,  periphere,  Projections-,  Commissuren-,  Associations- 
fasem  sensu  proprio  nehmen  an  den  Associationsvorgängen  lebhaften  Antheü.** 
Mit  dieser  Anschauung  lassen  sich  auch  die  nach  Exstirpationen  von  Munk  und 
Goltz  beobachteten  Erscheinungen  vereinbaren,  in  ihr  würden  sich  die  wider- 
streitenden Ansichten  miteinander  versöhnen  lassen,  auch  die  Associationscentren 
Flechsig's  finden  darin  Platz,  wenn  man  annimmt,  dass  in  den  sog.  Sinnescentren 
Associationen  einfacherer  psychologischer  Natur  „mit  elementaren  sinnlichen  An- 
theilen**,  in  den  Flechsig 'sehen  Gentren  Associationsäusserungen  höherer  Ordnung 
zu  Stande  kommen. 

Die  ersten  Prämissen,  die  aus  dem  „thatsächlich  Erwiesenen"  ihre  Berechtigung 
schöpfen,  erscheinen  sehr  klar  und  annehmbar;  sobald  der  Verf.  aber  dieses  ver^ 
lässt  und  sich  auf  das  Gebiet  der  Hypothese  begiebt,  zu  den  complicirteren  Auf- 
gaben der  Ganglienzellen  übergeht,  verliert  die  Anschauung  und  am  Schluss  kann 
man  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  dass  er  der  Localisationstheorie  doch  wieder 
Zugeständnisse  macht.  Tecklenburg-Leipzig. 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie,  durch  hypnotische  Hyper- 

mnesie  beseitigt. 

Von 

Carl  Graeter,  cand.  med. 


Im  letzten  Heft  des  Yorigen  Jahrganges  dieser  Zeitschrift  wurde 
Ton  Herrn  Dr.  Naef^)  ein  Fall  von  hysterischer  Amnesie  beschrieben, 
bei  welchem  durch  Herrn  Prof.  Forel  die  Erinnerung  durch  Suggestion 
in  der  Hypnose  zurückgerufen  worden  war.  Kaum  hatte  der  betreffende 
Patient,  dessen  Rückreise  von  Australien  im  somnambulen  Zustande 
80  allgemeines  Interesse  erregt  hatte,  die  Züricher  Heilanstalt,  in  der 
ich  zu  dieser  Zeit  als  Unterassistent  thätig  war,  verlassen,  als  daselbst 
ein  ähnlicher  Fall  zur  Behandlung  kam,  bei  dem  aber  die  Amnesie 
nicht  auf  hysterischer,  sondern  auf  epileptischer  Grundlage  beruhte. 

Da  über  die  Unterschiede  zwischen  epileptischer  und  hysterischer 
Amnesie  noch  sehr  widersprechende  Meinungen  existibren  imd  in  der 
Literatur  nur  spärliche  Angaben  darüber  zu  finden  sind,  dürfte  zur 
Bereicherung  der  Casuistik  schon  die  blosse  Beschreibung  dieses  Falles 
Ton  Werth  sein. 

Noch  wichtiger  aber  ist  der  Umstand,  dass  dieser  Fall  eine  günstige 
Gelegenheit  zur  experimentellen  Prüfung  einer  wichtigen  Frage  geboten 
hat,  der  Frage  nämlich,  ob  bei  dauernden  Amnesien  nach  epileptischem 
Irresein  eine  Wiederherstellung  des  Gedächtnisses  durch  die  Hypnose 
in  gleicher  Weise  möglich  sei,  wie  bei  hysterischen  Amnesien.  Mein 
hochverehrter  Lehrer,  Herr  Prof.  Forel,  dem  ich  diese  Frage  vorlegte, 
zweifelte  an  der  Möglichkeit  ihrer  positiven  Lösung,  da  er  die  Bewusst- 

^)  Max  Naef:  Ein  Fall  von  temporärer,  totaler,  theUweise  retrog^rader  Am- 
nesie durch  Suggestion  geheilt.    Zeitschrift  für  Hypnotismus,  Bd.  VI,  1897. 
Zeitschrift  für  Hypnotismas  etc.   Vm.  9 


130  Carl  Graeter. 

seiDSstöniDg  während  eines  epileptischen  Anfalles  für  zu  tief^  die  Per- 
turbation  der  Himfunction  für  zu  gross  hielt.  Diese  Anschauung  tritt 
auch  in  der  erwähnten  Arbeit  von  Herrn  Dr.  Naef  zu  Tage.  Auf 
Seite  37  seiner  Abhandlung,  sagt  er,  dass  ,.die  Erfolge  der  suggestiven 
Therapie  und  die  Art  des  Auftauchens  der  Erinnerungen  in  seinem 
Falle  nicht  mit  einer  epileptischen  Geistesstörung  in  Einklang  zu  bringen'' 
seien.  StrümpelP)  geht  sogar  noch  weiter.  In  einer  Abhandlung 
über  retrograde  Amnesien  berichtet  er  über  einen  sehr  interessanten 
Fall  von  3 — 4  monatlicher  retrograder  Amnesie,  die  er  bei  einer  trau- 
matiscben  Epilepsie  im  Anschluss  an  einen  heftigen  Krampfanfall  and 
ein  Gesichtserysipel  beobachtet  hatte.  Er  sucht  dieselbe  als  eine  „echt 
organische,  unheilbare",  auf  einer  „Vernichtung  der  Gedächtniss- 
eindrücke" beruhende  Amnesie  zu  deuten  und  sie  in  Gegensatz  zu 
stellen  zu  den  „heilbaren  hysterischen"  Amnesien,  bei  denen  die 
Ursache  der  Störung  in  einer  Hemmung  der  associativen  Thätigkeit 
liegt.  An  eine  Wiedererweckung  der  Erinnerungen  durch  Suggestion 
wäre  daher  nach  Strümpell  in  diesem  Fälle  nicht  zu  denken. 

Wenn  ich  mich  nun  trotzdem  nicht  von  der  Unmöglichkeit  einer 
solchen  Heilung  überzeugen  konnte,  so  bestimmte  mich  dabei  die  Er- 
wägung, dass  die  Annahme  von  der  organischen,  unheilbaren  Natur 
der  epileptischen  Amnesie  nicht  durch  Thatsachen  gestützt  ist  und 
dass  wir,  bloss  a  priori,  nicht  wissen  können,  ob  der  Erinnerungsdefect 
wirklich  ein  so  tiefgreifender  ist,  dass  er  durch  die  gesteigerte  Er- 
innerungsfähigkeit —  die  Hypermnesie  —  der  Hypnose  nicht  beseitigt 
werden  könnte.  Dies  war  nur  durch  den  Versuch  zu  entscheiden. 
Und  das  Gelingen  eines  solchen  Versuches  wurde  sehr  wahrscheinlich 
gemacht  durch  die  Thatsache,  dass  Alzheimer^)  eine  Anzahl  Fälle 
von  sehr  umfangreichen  rein  epileptischen  Amnesien*)  veröffentlicht 
hat,  bei  welchen  die  Erinnerungen  spontan  wiederkehrten.  Aus  dieser 
Thatsache  geht  hervor,  dass  auch  bei  der  Epilepsie  und  nicht  nur  bei 
der  Hysterie   grössere  Erinnerungsdefecte  vorübergehender  Natur 

^)  Strümpell:  Ueber  einen  Fall  von  retrograder  Amnesie  nach  traoma- 
tischer  EpUepsie.    (Deutsche  Zeitschrift  für  Nervenheilkunde,  Bd.  VIII.) 

*)  Alzheimer:  Ueber  rückschreitende  Amnesie  bei  der  Epilepsie.  (Allgemeine 
Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Bd.  LIII,  1897.) 

*)  —  Eine  derselben  erstreckte  sich  anf  IVa  Jahre;  sie  war  anfjgretreten 
nach  einem  Stägigen  epileptischen  Paroxysmus;  Pat,  32  Jahre  alt,  litt  seit  dem 
15.  Lebensjahre  an  14tägigen,  typischen  nächtUchen  Anfällen  mit  donischen 
Krämpfen  und  totaler  Bewosstlosigkeit.  Fast  regelmässig  kam  es  dabei  zu  Zangen- 
bissen. 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     131 

Torkommen.  Eine  sogenannte  organische  Störung,  wie  sie  z.  B.  von 
Strümpell  bei  Epilepsie  angenommen  wird,  ist  demnach  bei  ihnen 
ausgeschlossen. 

Nun  finden  wir  sogenannte  bleibende  Amnesien,  d.  h.  solche, 
die  weder  von  selbst  noch  durch  Befragen  im  Wachznstande  wieder 
zurückgehen,  nicht  nur  bei  der  Epilepsie,  sondern  auch  bei  der  Hysterie. 
Warum  sollten  sie  bei  der  Epilepsie  auf  sogenannten  organischen  De- 
fecten  und  bei  der  Hysterie  nur  auf  functioneller  Störung  beruhen? 
Stichhaltige  Beweise  sind  dafür  nicht  erbracht  worden.  Bei  den  blei- 
benden hysterischen  Amnesien  ist  die  Wiedererweckung  der  Erinnerungen 
durch  die  Hypnose  gelungen,  warum  sollte  sie  nicht  auch  wenigstens 
bei  einem  Theil  der  epileptischen  gelingen?  Denn,  wenn  Amnesien 
epileptischer  Natur  vorkommen,  bei  denen  die  Erinnerungen  spontan 
wiederkehren,  wie  viel  eher  werden  diese  Amnesien  zu  beseitigen  sein 
in   der  gesteigerten  Erinnerungsfähigkeit  der  Hypnose. 

Es  handelt  sich  also  um  die  experimentelle  Lösung  dieser  Frage 
und  Herr  Prof.  Forel  hatte  die  Güte,  mir  diesen  Fall  zu  überlassen. 
Ich  ergreife  die  Gelegenheit,  ihm  für  sein,  mir  in  so  hohem  Maasse 
zu  Theil  gewordenes  Wohlwollen,  für  seine  Winke  und  Ba,thschläge,  an 
dieser  Stelle  meinen  herzlichen  Dank  auszusprechen. 

Wir  hatten  es  in  unserem  Falle  mit  einer  totalen  sogenannten 
bleibenden  Amnesie  von  7  Tagen  zu  thun,  die  im  Anschluss  an  ein 
Delirium  auf  alkoholeleptischer  Basis  mit  nachfolgendem  stuporösen 
Dämmerzustande  aufgetreten  war.  Die  Wiedererweckung  der  Erinne- 
nmgen  durch  die  Hypnose  gelang  nicht  nur  vollständig  für  diese, 
sondern  auch  noch  für  drei  weitere  Amnesien,  die  von  früheren  Jahren 
her  bestanden  und  von  denen  sich  die  eine  sogar  auf  einen  Krampf- 
anfall bezog.  ^) 


^)  Eine  theilweise  Bestätigung  unseres  Itesultates  fanden  wir  nachträglich  in 
einer  Notiz  aus  K.  Brodmann:  „Zur  Methodik  der  hypnotischen  Behandlung**, 
das  einige  Zeit  nach  Beendigung  unseres  Versuches  zur  Veröffentlichung  kam. 
(Zeitschr.  für  Hypnotism.,  Bd.  VII,  1898,  pag.  34).  Sie  lautet:  „Was  speciell 
hysterische  Amnesien  anbelangt,  so  verfügt  Vogt  über  eine  grosse  Reihe  solcher 
fmie.  £r  hat  dieselben  in  der  Hypnose  stets  beseitigen  können.  Andererseits  hat 
er  nie  für  den  eigentlichen  epileptischen  Anfall  (wohl  für  den  postepilep- 
tisehen  Dämmerungszustand)  die  Amnesie  beseitigen  können.  Auf  diese 
Weise  konnte  er  —  ähnlich  wie  auch  Breuer  und  Freud  —  in  mehreren  Fällen 
Ton  Hysterie,  die  von  den  ersten  Autoritäten  für  Epilepsie  erklärt  worden  waren, 
die  richtige  Diagnose  stellen  und  dann  auch  durch  eine  erfolgreiche  Behandlung 
verificircn.** 

9* 


182  Cwl  Graeter. 

Id  Anbetracht  dieses  Resultates  könnte  man  Tersncht  sein,  die 
geheilte  Amnesie  als  eine  hysterische  zu  erklären.^)  Aus  den  nadi- 
folgenden  ausführlichen  Schilderung  des  Krankheitsbildes  geht,  wie  idi 
glaube,  die  Unrichtigkeit  dieser  Annahme  deutlich  henror.  Auf  die 
Einzelheiten  dieser  SchilderuDg  und  der  Darstellung  des  Vorgehens 
beim  Hypnotisiren  berufe  ich  mich  auch  um  allfalligen  anderen  Ein- 
wänden zu  begegnen.  Möglich  wären  deren  wohl  noch  folgende: 
1.  Fat.  habe  sowohl  seine  Amnesie,  als  auch  das  Wiederauftauchen 
seiner  Erinnerungen  simulirt.  2.  Die  Erinnerungen  hätten  auch  ohne 
hypnotische  Behandlung  wiederkehren  können,  und  3.  seien  dem  Fat 
in  der  Hypnose  nicht  eine  gesteigerte  Erinnerungsfähigkeit  oder  Hyper- 
mnesie,  sondern  die  Erinnerungen  selbst  suggerirt  worden. 


Die  Krankengeschichte  des  Patienten. 

Aufnthmtttatiit  imd  Aimiriism. 

Gotthilf  Hubschmid,  Seidenfärber,  25  Jahre  alt,  wird  am  19.  Nov.  1897  ge- 
fesselt and  in  Begleitung  von  2  Polizisten  in  die  Züricher  kantonale  Irrenheilanstalt 
Burghölzli  gebracht. 

Im  ärztlichen  Zeugniss  heisst  es,  er  habe  seit  einiger  Zeit  sinnlos  getnmken, 
Selbstmordgedanken  geäussert,  seine  Umgebang  bedroht  und  (nachdem  er  seine 
Nothmunition')  geöffnet)  mit  Gewehr  und  scharfen  Patronen  manipulirt. 

Bei  seiner  Ankunft  befindet  er  sich  in  einem  stuporösen  Dämmerzustande,  der 
einen  Tag  andauert:  er  erscheint  sehr  reizbar,  misstrauisch  und  verstockt;  ist  von 
allgemeinem  Tremor  befallen,  der  sich  namentlich  an  Händen  und  Zunge  deutlich 
zeigt;  er  hat  am  linken  Zungenrande  eine  Bissnarbe,  wässerige,  glänzende  Augen, 
dazu  einen  dämmernden,  zerstreuten,  in  sich  gekehrten  Blick.  Andere  körperliche 
Symptome  sind  an  ihm  nicht  zu  finden.  Wird  er  von  jemand  angeredet,  so  scfaast 
er  denselben  unwillig  mit  einem  misstrauischen,  drohenden,  stechenden  Seitenblidke 
an,  einem  Hunde  vergleichbar,  der  beim  Fressen  oder  Schlafen  gestört  wird.  Aul 
Fragen  einfachster  Art  giebt  Pat.  gehörigen,  prompten  Bescheid,  aber  immer  in 
gereiztem,  abweisendem  Ton.  Auf  complicirtere  oder  irgendwie  ihm  verfänglich  er- 
scheinende Fragen  antwortet  er  entweder  gar  nicht,  oder  nur  mit  einem  ablehnenden, 
verstockten  „ich  weiss  nicht",  oder  eine  Zeit  immer  mit  „Ja". 

Alles  was  nach  langem  Beiragen  aus  ihm  heraus  gebracht  wird,  ist,  dass  er 
Kopfweh  habe,  vergangene  Nacht  nicht  geschlafen  habe,  weil  ihn  zwei  „Kerle"  ge> 
quält  hätten  und  er  Augenfiimmern  und  Ohrensausen  gehabt  habe,  dass  er  seit 
5  Wochen  zu  viel  trinke  —  Wein,  Bier  und  Schnaps  — ,  dass  er  nach  Amerika  habe 

^)  Wie  es  nach  obiger  Notiz  von  Brodmann,  Vogt,  Breuer  und  Freud 
in  ähnlichen  Fällen  auch  gethan  haben. 

*)  Nach  Absolvirung  seiner  Rekrutenschule  erhielt  bis  zu  diesem  Jahr  jeder 
schweizerische  Infanterist  eine  zugelöthete  Buchse  mit  30  scharfen  Patronen  mit 
nach  Hause,  zur  sofortigen  Bereitschaft  für  den  Kriegsfall  Leichtfertiges  Umgehen 
mit  derselben  war  ein  Fall  von  kriegsrechtlicher  Bedeutung. 


Ein  Fall  too  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.    133 

gehen  wollen,  durch  Betrag  daran  verhindert  worden  und  deshalb  ins  Trinken 
hinein  gerathen  sei.  Er  weiss  nicht,  wo  er  sich  befindet  und  wenn  man  ihm  es 
sagt,  scheint  es  ihn  nicht  zu  berühren;  im  nächsten  Augenblick  hat  er  es  schon 
wieder  rergessen  und  er  Terfallt  wieder  in  sein  dumpfes  Brüten,  aus  dem  er  nur 
durch  eindringliches  Anrufen  und  Befragen  wieder  au&uwecken  ist.  Selbstmord- 
gedanken stellt  er  in  Abrede;  von  Gewehr  und  scharfen  Patronen  will  er  auch 
nichts  wissen. 

Am  20.  finden  wir  ihn  wieder  bei  Tollem  Bewusstsein,  nach  einer  unruhigen, 
beinahe  schlaflosen  Nacht.  Er  ist  höchst  verwundert  zu  hören,  dass  er  sich  in  einer 
Irrenheilanstalt  befindet.  Vergebens  strengt  er  sich  an,  sich  zu  erinnern,  wie  er 
hierher  gekommen  sei  und  was  er  vergangene  Woche  gethan  habe. 

Es  zeigt  sich  eine  Amnesie,  die  sich  rückwärts  auf  eine  ganze  Woche  zu  er- 
strecken scheint.  Das  Kopfweh,  das  ihn  noch  plag^,  verschwindet  im  Laufe  des 
Tages,  um  am  Nachmittag  des  21.  mit  erhöhter  Stärke  wieder  au&utreten.  Die 
folgenden  Tage  befindet  er  sich  angeblich  wohl,  scheint  aber  noch  in  sehr  gedrückter 
Stimmung  zu  sein,  und  sich  immer  noch  vergebens  zu  bemühen,  sich  an  die  Ereig- 
nisse der  vergangenen  Woche  zu  erinnern. 

Er  führt  während  dieser  Zeit  in  der  Anstalt  ein  ziemlich  zurückgezogenes 
Leben,  spazirt  oft  für  sich  im  Gang  auf  und  ab,  eine  Cigarre  rauchend.  Hie 
und  da  beschäftigt  er  sich  stillschweigend  mit  häuslichen  Arbeiten,  Kartenspielen 
oder  Lesen. 

Am  23.  wird  folgende  Anamnese  von  ihm  erhoben,  die  ich  hier  durch 
einige  spätere  Angaben  noch  vervollständige.  Vater  nahm  sich  in  Folge  von  Trunk- 
socht  das  Leben.  Mutter  an  Wassersucht  gestorben.  Von  seinen  zwei  älteren 
Brüdern  war  der  eine  hie  und  da  schwermüthig  und  trinkt,  der  andere  starb  un- 
gefähr im  40.  Lebensjahr  an  einem  Hirnschlag,  war  ebenfalls  Trinker.  Zwei 
Schwestern  des  Fat.  sind  dem  Trünke  ergeben,  während  drei  andere  massiger  sein 
«ollen.  Ein  jüngerer  Bruder  ist  auch  schon  vollendeter  Potator.  Geisteskrankheiten 
oder  epileptische  Anfälle  sind  dem  Fat.  in  der  Familie  nicht  bekannt. 

In  seiner  Jugend  sah  Fat.  bis  zum  8.  oder  9.  Jahre  oft  Gestalten,  wie  Engel 
und  weisse  Frauen.  Einmal  erschien  ihm,  während  er  in  der  Schule  sass,  eine 
solche  weisse  Frau,  die  seiner  Mut^r  glich.  Fat.  war  an  einem  Frohnfastentag  ge- 
boren, und  nach  der  Aussage  der  alten  Leute  im  Dorf  sollten  die  Frohnfastenkinder 
derartige  Visionen  haben.  Er  wurde  deshalb  auch  oft  bei  Processionen  als  Kind 
mn  die  Spitze  des  Zuges  gestellt.  Später  wurde  er  ungläubig  und  der  Spuk  ver- 
ging. Immerhin  bleibt  es  für  uns  als  merkwürdiges  Zeichen  kindlicher  Suggesti- 
bilität  nicht  ohne  Interesse. 

In  der  Schule  war  Fat.  geschickt  und  immer  unter  den  besseren  Schülern; 
gerne  hätte  er  die  Secundarschule  besucht,  doch  fehlten  ihm  hierzu  die  Mittel.  Er 
kam  in  eine  Färberei.  Im  Verkehr  mit  seinen  Kameraden  wurde  Fat.  bald  ein 
Opfer  der  Trinksitten,  gegen  die  er  sich  anfangs  trotz  des  Spottes  seiner  Freunde 
widersetzt  hatte.  Im  Rausch  war  er  jähzornig,  gebärdete  sich  oft  wie  ein  Ver- 
r&ckter,  tanzte,  lachte,  johlte,  sang  und  fluchte  durcheinander,  auf  der  Strasse  fing 
er  mit  jedem  Streit  an,  bedrohte  oft  auch  seine  Umgebung  mit  Waffen,  die  ihm 
gerade  in  die  Hände  fielen.  Einmal  konnte  ein  Unglück  nur  mit  genauer  Noth 
verhindert  werden,  als  er  Jemandem  mit  gezücktem  Bajonett  nachjagte.  Am  fol- 
genden Tag  hatte  er  sein  Abenteuer  für  gewöhnlich  vollständig  vergessen. 


134  Carl  GrMter. 

So  soll  er  im  Jahre  1894  an  einem  Sonntag  Abend  Ton  seinen  Kamermden 
bewusstlos  vor  dem  Hause  gefunden  und  hineingetragen  worden  sein.  Am  Montag 
erwachte  er  mit  starkem  Kopfweh  und  Schwindelgefühl,  hatte  keine  Ahnung  von 
dem.  was  er  am  Sonntag  und  Samstag  gethan  hatte  und  was  ihm  während  dieser 
Zeit  zugestossen  war.  Drei  Tage  blieb  er  zu  Bett,  angeblich  „bei  halbem  Bewnsst- 
sein".  Die  ganze  Wocrhe  hatte  er  noch  Kopfweh.  Mit  Hülfe  seiner  Freonde 
konnte  er  sich  allmählich  wieder  an  das  erinnern,  was  er  am  Samstag  gemacht 
hatte.    Aber  der  Sonntag  war  ihm  für  immer  aus  dem  Gedächtniss  entschwunden. 

Angeblich  in  nüchternem  Zustande  erhielt  er  einige  Monate  später,  ohne  alle 
äussere  Ursache  bei  der  Arbeit  einen  Schwindelanfall.  BewussUos  ßel  er  zn  Boden 
und  kam  erst  nach  einigen  Aagenblicken  wieder  zu  sich. 

1895  wollte  er  sich,  wie  ihm  seine  Freunde  nachträglich  erzählten,  im  Rausch 
als  er  allein  in  seinem  Zimmer  war.  das  Messer  in  die  Brust  stossen.  wurde  aber 
von  einem  eintretenden  Kameraden  noch  rechtzeitig  am  Arm  gehalten,  so  dass  der 
Stoss  abglitt  und  Fat.  mit  einer  Hautverletzung  davon  kam.  Nur  mit  grosser 
Mühe  gelang  es  dem  Freunde,  gegen  den  er  sich  nun  wandte,  sich  seiner  zu  e^ 
wehren  und  ihm  die  Wafife  zu  entwinden.  Am  folgenden  Tag  wusste  Fat.  nichts 
mehr  davon,  hatte  überhaupt  vergessen,  was  er  an  diesem  Tag  gethan  hatte  und 
weiss  es  mit  Ausnahme  des  ihm  nachträglich  erzählten  bis  zur  Stunde  nicht. 

Diese  Angaben  werden  von  seinen  Kameraden  und  Kostleuten  bestätigt  und 
durch  ähnliche  Geschichten  ergänzt. 

Fat.  leidet,  wie  alle  seine  Geschwister,  an  grosser  Reizbarkeit  und  heftigem 
Jähzorn,  eine  Charactereigenthümlichkeit.  die  er  von  seinem  Vater  geerbt  haben 
will.  Er  ist  oft  schwermüthig  und  dann  wieder  überlustig.  Morgens  erwacht  er 
nicht  selten  mit  Kopfweh,  besonders  nach  sehr  tiefem  Schlaf.  Wenn  er  nicht  be- 
trunken ist,  arbeitet  er  immer  sehr  fieissig  und  gewissenhaft.  In  letzter  ZsH 
wechselte  er  momentaner  Verstimmungen  wegen  öfter  seine  Stelle. 

Dieser  unstete  Sinn  veranlasste  auch  seine  jetzige  Erkrankung,  indem  er  den 
Entschluss,  mit  einer  Gesellschaft  nach  Brasilien  auszuwandern,  in  ihm  reifen  Hess. 
Die  Abreise  war  auf  den  8.  November  1897  festgesetzt  und  alles  für  dieselbe  gerüstet, 
die  Koffer  schon  verschickt,  als  die  beiden  Leiter  des  Zuges,  Secundarlehrer  Keller 
und  Bildhauer  Zumstein  mit  der  Kasse  durchbrannten.  Dem  Fat.  erwuchsen  da* 
durch  grosse  Verluste.  In  seinen  Hoffnungen  getäuscht  und  stellenlos,  ergab  er 
sich  dem  Trünke   nun  erst  recht  und  brachte  den  ganzen  Tag  im  Wirthshause  so. 

Eine  kleine  Besserung  trat  ein  für  3  Tage,  die  er  gezwungener  Weise  zu  ob- 
ligatorischen Schiessübungen  in  der  Kaserne  zubrachte.  Freitag  den  12.  Not.  wurde 
er  aus  dem  Militärdienst  entlassen  und  kam  in  vollständig  betrunkenem  Zustande 
nach  Hause. 

Samstag  Vormittag,  den  13.  November,  versorgte  er  am  Morgen  seine  Militär- 
effecten,  schrieb  an  seinen  früheren  Arbeitgeber,  dass  er  bereit  sei,  am  Montag, 
den  15.  Nov.,  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen. 

Was  nun  weiter  mit  ihm  geschah,  bis  zu  seinem  Eintritt  in  die  Heilanstalt, 
von  dem  hat  Fat.  auch  nicht  eine  blasse  Ahnung.  Wir  stehen  vor  einer  totalen, 
scharf  umgrenzten,  temporären  Amnesie,  einer  Lücke  im  Gedächtniss  des  Patienten, 
die  trotz  all  seiner  Bemühungen  nicht  durch  die  leiseste  Spur  einer  Erinnerung  zu 
überbrücken  ist. 

Die  nächste  etwas  vage  Erinnerung  des  Fat.  datirt  angeblich  vom  Sonntag 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     136 

Morgen  (den  21.  Nov.).  Er  war  soeben  vom  Schlaf  erwacht,  sah  sich  um ;  er  wusste 
nicht,  wo  er  war  und  konnte  den  Ort  nicht  erkennen.  Das  Eisengitter  vor  dem 
Penster  fiel  ihm  besonders  auf.  Als  ein  Mann  (der  Wärter)  zu  ihm  kam,  fragte  er 
ihn,  wo  er  sei  und  yemahm  mit  Schrecken,  dass  er  sich  im  —  Irrenhaus  befinde. 
Thatsächlich  ereignete  sich  nun  dieses  nicht  am  Sonntag,  sondern  am  Samstag, 
den  20.  Nov.,  so  dass  sich  demnach  die  Amnesie  des  Pat.  auf  7  Tage  hin  erstreckte. 

Soweit  die  Anamnese  des  Pat.  Bei  anderen  Personen  wurden 
einstweilen  noch  keine  weiteren  Erkundigungen  eingezogen,  da  Pat. 
bypnotisirt  werden  sollte  und  ich  nicht  in  den  Fehler  verfallen  wollte, 
dem  Pat.  beim  Hypnotisiren  oder  Befragen  die  Erinnerungen  selbst  zu 
BUggeriren.  Alles,  was  Pat.  aus  der  Zeit,  die  seinem  Gedächtniss  ent- 
schwunden war,  von  anderer  Seite,  ohne  dass  ich  es  verhindern  konnte, 
erfuhr,  war,  dass  er  zu  viel  getrunken  habe  und  in  die  Anstalt  ver- 
bracht worden  sei  (an  welchem  Tage  sagte  man  ihm  nicht),  weil  er 
Leute  mit  Gewehr  und  scharfen  Patronen  bedroht  und  Selbstmord- 
gedanken an  den  Tag  gelegt  habe.    Er  konnte  das  kaum  glauben. 

Diese  Aussagen  und  seine  Erinnenmgslosigkeit  deprimirten  ihn  sehr, 
und  er  hoffte  und  suchte  immer  noch,  dem  wahren  Sachverhalt  auf  die 
Spur  zu  kommen.  Doch  vergebens !  Und  nach  einer  Frist  von  einigen 
Tagen  wurde  endh'ch  am  25.  November  mit  der  Hypnose  begonnen. 

Nach  7  Sitzungen  war  die  Amnesie  vollständig  aufgeklärt  und  in 
3  weiteren  Sitzungen  die  früheren  Amnesien  ebenfalls  erledigt.  Zwischen 
den  einzelnen  Sitzungen  wurde  hie  und  da  eine  Pause  von  einem  oder 
mehreren  Tagen  eingeschaltet  und  eifrig  darnach  geforscht,  ob  während 
derselben  auch  ohne  Hypnose  eine  frische  Erinnerung  auftauchen  würde, 
was  sich  jedoch  nie  ereignete.  Nur  einmal,  nach  einer  Sitzung,  wurde 
eine  geringfügige  Verbesserung  angebracht.  Die  Thatsache,  dass  die 
Anmesie  wirklich  durch  Suggestion  geheilt  worden,  kann  nun  keinem 
Zweifel  mehr  unterliegen,  und  es  bleibt  uns  vor  der  Hand  nur  noch 
der  Einwand  der  Simulation.  Es  ist  bekannt,  dass  bei  Hysterischen 
und  Epileptikern  immer  mit  ihrer  Möglichkeit  zu  rechnen  ist. 

Ich  war  mir  dessen  von  Anfang  an  wohl  bewusst,  und  immer 
darauf  bedacht,  alle  Aussagen  und  Gebärden  des  Pat.  auf  ihre  Wahr- 
haftigkeit zu  prüfen  und  womöglich  einer  Controlle  zu  unterwerfen,  so 
dasfi  auf  diese  Weise  eine  Simulation  vom  Pat.  auf  die  Länge  nicht 
hätte  durchgeführt  werden  können.  Die  Wahrhaftigkeit  des  Pat.  liess 
wohl  hie  und  da  zu  wünschen  übrig  und  er  gestand  selbst,  dass  er  sich 
kein  Gewissen  daraus  mache,  zur  Erlangung  eines  Vortheils  Jemand 
zu  hintergehen  oder  etwas  vorzutäuschen. 


136  Ourl  QrMiier. 

Nichtsdestoweniger  halte  ich  in  diesem  Fall  eine  Simulation  mit 
Sicherheit  für  ausgeschlossen.  Tausend  kleine  Einzelheiten  in  dem 
Verhalten  des  Fat  sprechen  gegen  eine  solche:  —  sein  Zustand  beim 
Eintritt  in  die  Anstalt,  die  Art  und  Weise,  wie  die  Amnesie  zu  Tage 
trat  und  die  wieder  auftauchenden  Erinnerungen  reproducirt  wurden, 
der  ungeheuchelte  Afifect,  in  den  Fat.  dabei  gerieth,  die  peinliche  Gte- 
wissenhaftigkeit,  mit  welcher  Fat.  die  Erinnerungen  wiedergab,  ergänzte 
und  verbesserte,  die  Skepsis,  die  er  dem  Hypnotisiren  gegenüber  an 
den  Tag  legte,  bis  er  sich  wider  seinen  Willen  von  dessen  Wirksamkeit 
tiberzeugen  musste,  etc.  etc.  —  das  alles  war  so  ungeheuchelt  und 
tiberzeugend,  dass  auch  nicht  einem  der  Anstaltsärzte,  die  Oelegenheit 
hatten  ihn  zu  beobachten,  die  Möglichkeit  einer  Simulation  in  den 
Sinn  kam.  Alle  Angaben  des  Fat.  sind,  wo  nur  irgend  möglich,  auf 
ihre  Richtigkeit  untersucht  worden :  durch  V ergleichung  mit  den  polizei- 
lichen Rapporten  und  ärztlichen  Attesten,  durch  Verhör  der  in  der 
Erzählung  erwähnten  Personen,  durch  augenscheinliche  Besichtigung 
der  Localitäten.  Dabei  hatte  ich  es  ganz  besonders  auf  etwaige  Er- 
innerungstäuschungen abgesehen,  da  mir  viel  daran  lag,  ihre  Ursachen, 
d.  h.  ihr  Zustandekommen  kennen  zu  lernen  und  ein  eigentliches  Studium 
daraus  zu  machen.  Es  waren  ihrer  sehr  wenige,  weniger  als  in  den 
gewöhnlichen  Erzählungen  von  Leuten  im  Wachzustande. 

Die  Schärfe  und  Lebhaftigkeit  der  Erinnerungen  im  hypnotischen 
Zustande  malmten  mich,  wenigstens  ftir  den  ersten  Theil  der  Amnesie 
geradezu  an  einen  Fhonographen  und  erregten  bei  Leuten,  die  die  Qe* 
schichte  des  Fat.  kannten,  hochgradiges  Erstaunen,  da  ihre  eigenen 
Erinnerungen  an  Genauigkeit  hinter  den  genannten  weit  zurtickbUeben. 
Ein  schönes  Beispiel  hypnotischer  ^ypermnesie. 

Bei  uncontrollirbaren  Aussagen  oder  solchen,  die  sich  nicht  be- 
stätigten, wird  dies  in  den  nachfolgenden  Aufzeichnungen  besonders 
bemerkt  werden,  im  gegenteiligen  Falle  wird  die  Bestätigung  still- 
schweigend vorausgesetzt. 

Da  durch  Auslassung  nebensächlicher  oder  sich  oft  wiederholender 
Episoden  die  nachfolgende  Erzählung  ohne  Schwächung  des  Habitus- 
bildes  bedeutend  gekürzt  werden  konnte,  so  sind  eine  Menge  auffallend 
bestätigter  Aussagen  weggefallen,  und  das  Verhältniss  der  unbe- 
stätigten könnte  in  Folge  dessen  leicht  grösser  erscheinen  als  es  in 
Wirklichkeit  ist,  ein  umstand,  auf  den  deshalb  besonders  hingewiesen 
werden  musste. 


Ein  Fall  Ton  epilepÜBcher  Amnesie  durch  hypnotisehe  Hypennnesie  beseitigt.    137 


Aufzug  aus  dm  Aiifzeichmnigeii  DImt  die  hypnotitchen  Sitzungen. 

L  Sitzung  (25*  XI*  1897)*  Fat.  wird  mit  anderen  Fat.  zusammen  von  Herrn 
Frof.  Forel  hypnotisirt,  verfallt  sofort  in  tiefen  Schlaf  mit  Catalepsie,  Anästhesie 
für  Nadelstiche  und  nachheriger  Amnesie. 

Er  erhält  ganz  allgemein  die  Saggestion,  er  werde  sich  nach  dem  Erwachen 
genau  an  Alles  aus  der  vergessenen  Zeitperiode  wieder  erinnern  und  dasselbe  dem 
Referenten,  der  ihn  in  Zukunft  hypnotisiren  werde,  mittheilen.  Nach  dem  Er- 
wachen besteht  die  Amnesie  des  Fat.  wie  zuvor. 

Er  wird  daher  nach  einer  halben  Stunde  nochmals  hypnotisirt,  diesmal  vom 
Referenten.  Während  des  Schlafes,  der  die  gleiche  Tiefe  wieder  erreicht,  wird  Fat. 
in  die  Zeit  seiner  Entlassung  aus  der  Kaserne  versetzt  und  aufgefordert,  sich  die- 
selbe genau  zu  vergegenwärtigen:  Jetzt  sei  es  Samstag  Morgen,  er  sei  soeben  auf- 
gestanden, habe  sein  Frühstück  eingenommen,  seine  Militäreffecten  aufgeräumt, 
den  Brief  an  seinen  Arbeitgeber  geschrieben,  verklebt  und  seinem  Kameraden 
Wiederkehr  übergeben.  Alles,  was  er  damals  und  im  Verlauf  des  Tages  gemacht 
habe,  führe  er  jetzt  in  Gedanken  wieder  aus.  Dann  wird  ihm  versichert,  er  werde 
sich  an  dies  alles  nach  dem  Erwachen  noch  erinnern  und  dem  Referenten  darüber 
berichten;  er  werde  ihm  sagen  können,  ob  er  Wiederkehr  begleitet  habe  oder  nicht, 
wo  er  denselben  wieder  gesehen  habe,  wo  er  zu  Mittag  gegessen  habe,  ob  er  seinen 
Nachmittag  zu  Hause,  oder  im  Freien,  oder  im  Frohsinn  ^)  (Wirthschafb,  in  der  Fat. 
oft  verkehrte),  oder  im  Caf§  Bema,  im  Bellevue,  in  der  Rheinfelder  Bierhalle,  oder 
beim  Bosshard  etc.  zugebracht  habe  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Nachdem  sich  Fat.  beim  Erwachen  aus  der  Hypnose  die  schlaftrunkenen 
Augen  ausgewischt,  frage  ich  ihn,  ob  ihm  etwas  eingefallen  sei.  Er  giebt  zur  Ant- 
wort: nein,  er  wisse  nichts.  Ich  frage  weiter,  wo  er  am  Samstag  nach  dem  Auf- 
läumen  seiner  Militäreffecten  zu  Mittag  gegessen  habe.  Da  verbreitet  sich  nach 
exiem  kleinen  Augenblick  ein  Lächeln  über  sein  nachdenkliches  Gesicht  und  er  sagt : 
„•1a  jetzt  weiss  ich's.  Als  ich  den  Brief  geschrieben  hatte,  ging  ich  zum  Mittag- 
essen in  das  Caf(§  Bema.^  Was  aber  weiter  geschah,  weiss  er  nicht;  seiner  Sache 
iit  er  aber  ganz  gewiss.  Im  weiteren  Verlaufe  des  Gespräches  unterbricht  er  sich  nun 
potzlich  und  ruft:  „Halt,  jetzt  fällt  mir's  ein,  was  ich  im  Cafe  Bema  machte.  Ich 
tnf  dort  einen  Färber,  mit  dem  ich  zu  Mittag  ass.  Nach  dem  Essen  begleitete 
mich  derselbe  die  Langstrasse,  dann  die  Brauerstrasse  hinauf,  die  —  Kanonengasse 
hinunter,  Militär-  und  Kasemenstrasse  hinauf  über  die  Gessnerbrücke,  nach  der 
Bahnhofstrasse,  durch  die  Beatengasse,  über  den  unteren  Mühlesteg  in  die  Rhein- 
felder Bierhalle.  Dort  ass  ich  noch  einmal  zu  Mittag.  Nach  einer  Stunde  brach  ich 
wieder  auf,  ging  über  den  Bahnhofsplatz  etc.  etc.  in  den  Frohsinn,  vor  welchem 
ich  mich  von  meinem  Begleiter  verabschiedete.^  Weiter  kommt  Fat.  heute  in 
leiner  Erzählung  nicht,  den  Namen  des  Färbers  kann  er  nicht  angeben,  er  sah  ihn 
»ei  dieser  Gelegenheit  zum  ersten  Mal.  Seine  Angaben  konnten  diesmal  darum 
loch  nicht  bestätigt  werden. 


^)  lieber  die  Lebensgewohnheiten  des  Fat.,  seine  Freunde  und  Bekannnten  etc., 
"vorden  einige  Tage  vor  Beginn  der  hypnotischen  Sitzungen  bei  ihm  genaue  Er- 
kindigungen  eingezogen;  und  die  gleicnen  Fragen  wurden  ihm  schon  einige  Male 
T«r  Beginn  der  Sitzungen  vorgelegt,  ohne  dass  er  sie  beantworten  konnte. 


138  Carl  Graeter. 

In  der  II*  Sitzimsr  Tom  26*  XL  wird  in  gleicher  Weise  vorgegangen,  wie  du 
1.  Mal  und  Fat.  aufgefordert,  seine  GeBchichte  weiter  zu  verfolgen.  Nach  dem  Erwachen 
aus  der  Hypnose  fahrt  er  in  seiner  Erzählung  fort,  wo  er  stehen  geblieben  war.  Er 
referirt  über  seinen  Aufenthalt  im  Frohsinn,  über  die  Antwort,  die  ihm  sein  Arbeit- 
geber hatte  zukommen  lassen,  in  der  er  ihm  sagen  Hess,  er  könne  am  Montag  die 
Arbeit  wieder  aufnehmen.  Schliesslich  erzählte  er,  wie  er  am  Samstag,  um  Mitter- 
nacht herum,  mit  schwankendem  Gang,  allein  den  Heimweg  angetreten  habe.  In 
seinem  weiteren  Bericht  über  den  folgenden  Tag,  den  14.  Nov.,  entwirft  uns  Fat. 
ein  nettes  Sonnt agsidyll,  ein  Stück  Leben  aus  dem  Volke.  Der  Morgen  wird  mit 
Kaffee  und  Kirsch  eröffnet.  Dann  macht  unser  Fat.  mit  einem  Kameradon  einen 
kleinen  Katerbummel  durch  die  Stadt,  wird  vor  dem  Frohsinn  von  der  dicken 
Wirthin  auf  perfide  Weise  hereingelockt  und  nicht  wieder  hinausgelassen.  Er  bleibt 
den  ganzen  Nachmittag  sitzen,  trinkend  und  ,Ja8scnd^,  bis  in  die  späte  Nacht.  Im 
Lauf  des  Abends  wird  er  zu  wiederholten  Malen,  wegen  Nichtigkeiten,  die  ihn 
meist  nichts  angehen,  in  irgend  einen  Streit  verwickelt,  sei  es  aus  Gerechtigkeits- 
und Ordnungssinn  oder  in  Folge  der  durch  den  Alkohol  gesteigerten  Querulirsucht. 
Gegen  den  einen  stösst  er  Drohungen  aus.  weil  derselbe  die  Wirthin  nicht  bezahlen 
will,  bis  die  Polizei,  angelockt  durch  den  Lärm,  einschreitet.  Einem  2.  eilt  Fat. 
mit  dem  Schlagring  nach,  weil  derselbe  von  aussen,  aus  Rache,  die  Fensterscheiben 
eingeschlagen  hat.  Einen  3.  jagt  er  aus  dem  Wirthshaus,  weil  er  angeblich  das 
Klavier  so  miserabel  tractirt  hatte  und  mit  einem  4.  und  5.  geräth  er  in  heftigen 
Streit,  weil  sie  behaupten,  er  „halte  es  mit  der  Kellnerin"  u.  s.  w.  Schliesslich  leert 
er  in  einer  Aufwallung  seine  Flasche  über  den  Tisch,  verlässt  das  Local,  um  einem, 
dem  er  Rache  geschworen,  nachzueilen.  Draussen  fallt  er  nach  manchen  Aben- 
teuern seinen  Freunden  in  die  Hände,  die,  ebenfalls  schwer  beladen,  den  Fat.  glück- 
lich nach  Hause  bringen.  Das  alles  erzählt  Fat.  mit  einer  peinlichen  Gewissen- 
haftigkeit und  Ausführlichkeit,  indem  er  ganz  wortgetreu  uns  wiedergiebt,  was  der 
gesagt  und  dieser  gemeint  und  er  darauf  erwidert  habe  u.  s.  f.,  jetzt  noch  schimpfend 
und  grollend  über  diese  „chaibe  Hallunkchc''.  Am  folgenden  Morgen  (Montag  den 
15.  Nov.)  war  natürlich  von  Arbeit  keine  Rede.  Er  stand  spät  auf  und  ging  bei 
Zeiten  wieder  in  den  Frohsinn. 

Am  27«  und  28.  XI.  wird  Fat.  nicht  hypnotisirt,  es  tauchen  während  dieeer 
Zeit  trotz  eindringlicher  Nachfrage  keine  neuen  Erinnerungen  auf. 

Am  28.  XI.  erhält  Fat.  ohne  unser  Mitwissen  Besuch  von  seinen  Freunden. 
Dieselben  erzählen  ihm,  dass  er  am  Dienstag  Abend  (16.  Nov.)  zu  Hause  ganz  ver- 
wirrt gewesen  sei,  immer  geschimpft,  die  Fenster  aufgerissen,  zu  saufen  verkngty 
aber  nichts  erhalten  habe.  Dann  habe  er  seine  Uhr  zertreten  wollen,  sei  aber  dran 
verhindert  worden,  habe  gesagt,  heute  Nacht  mache  er  seinem  Leben  ein  Ende, 
habe  das  geladene  Gewehr  zum  Fenster  hinaus  in  den  Garten  geworfen,  dass  es  im 
Boden  stecken  blieb.  Vom  Garten  aus  habe  er  es  dann  mit  sich  nach  dem  Froh- 
sinn genommen,  wo  es  ihm  abhanden  gekommen  sei.  Darob  sei  er  ganz  untrost^ 
lieh  geworden,  habe  geschimpft  und  geflucht  und  habe  nur  mit  vieler  Mühe  zir 
Heimkehr  bewogen  werden  können.  Am  anderen  Morgen  sei  er  fort  in  albr 
Frühe,  sein  Gewehr  zu  suchen  und  alsdann  im  Frohsinn  von  der  Folizei  verhaftet 
worden. 

Dies  erzählt  Fat.  dem  Referenten  am  Abend  des  28.  XI«9  aber  in  ziemlich 
gleichgültigem  Tone,  fast  als  ob  es  einen  Dritten  anginge.    Er  kann  sich  mit  diin 


£in  Fall  yon  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     139 

besten  Willen  nicht  an  diese  Vorkommnisse  erinnern  und  ist  von  ihrer  Realität 
nicht  recht  überzeugt,  obschon  er  zugiebt,  dass  er  es  wohl  glauben  müsse;  denn  so 
würden  ihn  seine  Freunde  doch  nicht  anlügen. 

Auf  die  nächste  Hypnose  war  ich  nach  dieser  Mittheilung  sehr  gespannt. 

ni«  Sitzmigy  am  29«  XL  Wider  Erwarten  fiel  in  dieser  Sitzung  die  Aus- 
beute recht  mager  aus.  Fat.  kommt  in  seiner  Erzählung  nicht  weiter  als  bis  zum 
Dienstag  Morgen.  Am  Montag  hat  er  nicht  viel  mehr  erlebt  als  das  alltägliche. 
Ich  übergehe  Alles  und  erwähne  nur  in  Kürze  eine  kleine  Ergänzung,  die  er  zu 
seiner  früheren  Erzählung  machte,  weil  die  Art,  wie  er  darauf  kam,  nicht  ohne  In- 
teresse ist.  Er  erzählt:  „Am  Monntag  Nachmittag  war  ich  allein  im  Frohsinn.  Ich 
sass  vor  einem  Glase  Bier  mit  schwerem  Kopf  und  sann  über  mein  Elend  nach"  — 
da  macht  Fat.  eine  Pause,  um,  wie  aus  seinem  nachdenklichen  Gesicht  zu  schliessen 
ist,  seine  damaligen  Gedanken  sich  zu  vergegenwärtigen.  —  Doch  plötzlich  ruft  er 
aus:  ,.Halt,  da  hab'  ich  was  zu  erzählen  vergessen.  Am  Montag  Morgen  erhielt 
ich  nämlich  von  meinem  £ruder  aus  Basel  einen  Brief.  In  diesem  ging  er  mich 
am  15  Frs.  an.  Ich  wollte  ihm  antworten,  war  aber  so  aufgeregt,  dass  ich  es  nicht 
fertig  brachte,  denn  ich  dachte  an  meine  verfehlte  Reise,  meine  verlorenen 
Koffer  u.  s.  w.  und  begriff  nicht,  wohin  all  mein  gespartes  Geld  in  den  letzten 
Tagen  hingegangen  war  und  das  liess  mir  keine  liuhe.  Diese  und  ähnliche  Ge- 
danken über  meinen  Bruder  waren  es,  die  mir  am  Nachmittag  im  Frohsinn  wieder 
aufstiegen  und  mich  fast  zu  erdrücken  drohten. 

lY.  Sitzang,  30«  XI.  1897«  Zunächst  berichtigt  Fat  nach  dem  Erwachen 
aus  der  Hypnose  einige  frühere  Angaben.  In  der  I.  Sitzung  hatte  er  gesagt,  dass 
er  am  Samstag  den  12.  Nov.  im  Cafe  Berna  die  Bekanntschaft  eines  Färbers  ge- 
macht habe  u.  s.  w.  (vide  Pag.  137).  Dies,  giebt  Fat.  an,  sei  nicht  richtig.  Am 
Samstag  sei  er  immer  allein  gewesen  bis  am  Abend,  sei  in  den  Strassen  und  Wirth- 
Bchaften  herum  geschlendert,  habe  über  die  Auswanderungsgeschichte  nachgedacht, 
sich  über  den  elenden  Betrug  und  Schwindel  und  alles,  was  ihm  in  den  Weg  ge- 
kommen sei,  geärgert  und  sich  immer  gesagt,  wenn  nur  diese  „chaibe  Hallunkche" 
(Secundarl ehrer  Keller  und  Zumstein)  auf  die  Finger  bekämen  etc. 

Erst  am  Dienstag,  den  16.  Nov.  habe  er  besagten  Färber  kennen  gelernt,  als 
er  wieder,  wie  am  Samstag,  im  Cafe  Berna  zu  Mittag  ass.  Den  weiten  Weg  nach 
der  Rheinfelder  Bierhalle,  machte  er  ebenfalls  nicht  am  Samstag,  sondern  am 
Dienstag  und  zwar  deswegen,  um  sich  in  der  Nähe  desselben  einen  Schlagring  zu 
kaufen,  da  er  den  seinen  am  Sonntag  Abend  verloren  hatte.  Das  Mittagessen,  das 
er  in  der  Rheinfelder  Bierhalle  bestellt  hatte,  konnte  er  gar  nicht  essen;  denn 
kaum  hatte  er  eine  Gabel  voll  zu  sich  genommen,  so  „roch''  ihm  die  ganze 
Schlechtigkeit  der  beiden  Schurken  (Keller  und  Zumstein),  die  ihn  schon  den  ganzen 
Nachmittag  verfolgten,  wieder  auf.  Alles  kochte  in  ihm,  er  wurde  unruhig  auf 
seinem  Stuhl  und  verspürte  plötzlich  ein  starkes  Stechen  im  Kopf.  Er  redete 
nichts  mehr,  während  der  Andere  das  bestellte  Mittagessen  verzehrte.  Als  er 
fertig  war,  fragte  ihn  ein  Kamerad,  was  ihm  fehle.  Das  gehe  ihn  nichts  an,  gab 
ihm  Fat.  zurück,  brach  auf  und  beide  gingen  dann  längere  Zeit  schweigend  neben- 
einander, bis  Fat.  sich  verabschiedete,  da  er  allein  sein  wollte.  „Ich  hatte'',  er- 
zählte er  weiter,  „eine  solche  Wuth  auf  diesen  Keller,  dass  ich  darob  ganz  wirr 
wurdc,  je  mehr  ich  der  Sache  nachstudirte.  Da  bemerkte  ich,  dass  ich  den  Leuten 
auffiel  und  sie  mir  nachschauten.    Ich  wusste  nicht,  ob  ich  vielleicht  etwas  dummes 


140  Cvl  Ghraeter. 

geschwatzt  oder  Jemand  ohne  Wissen  beleidigt  hatte.  Knn  ich  fing  an  sn  glauben, 
dass  ich  verfolgt  werde  nnd  deshalb  hielt  ich  in  meiner  Rocktasche  den  Schlagring 
krampfhaft  in  der  Hand,  jeden  Augenblick  znr  Yertheidigong  bereit,  fidls  einer 
etwas  wollte**.  So  kam  er  gegen  3  Uhr  Nachmittags  im  Frohsinn  an,  dort  schlackte 
er  rasch  ein  Glas  Bier  herunter,  und  verfiel  dann  wieder  in  sein  Brüten  und  seine 
Grübelei.  Das  Dienstmädchen,  in  welches  er,  beiläufig  gesagt,  yerliebt  war,  firagte 
ihn,  was  ihm  denn  eigentlich  fehle,  er  sei  ja  ein  ganz  anderer  Mensch.  Das  gfehe 
sie  nichts  an,  erwiderte  er,  er  sei  nicht  katholisch,  es  sei  nicht  nöthig,  dass  er  ihr 
aUes  beichte.  Sie  suchte  ihn  auf  alle  mögliche  Weise  zu  trösten.  Heute  wollte  e« 
ihr  jedoch  nicht  recht  gelingen. 

Nach  einiger  Zeit  verlangte  er  nun  plötzlich  Tinte,  um  einen  Brief  zu  schreiben, 
Papier  und  Couvert  hatte  er  schon  bei  sich.  Dann  schrieb  er  angeblich:  „Lieber 
Bruder  Gottlieb,  mit  schmerzerfülltem  Herzen  theile  ich  Dir  mit,  da%9  ich  bis  und 
mit  heute  — "^);  weiter  kam  er  nicht,  das  Wasser  trat  ihm  in  die  Augen,  er 
zitterte  gewaltig  vor  Aufregung,  fletschte  mit  den  Zähnen  and  das  Kopfweh  (das 
ihn  von  nun  an  überhaupt  nicht  mehr  verliess]  nahm  so  zu,  dass  er  nicht  mehr 
weiter  schreiben  konnte  und  den  begonnenen  Brief  wieder  zu  sich  steckte.  £r 
trank  weiter,  von  Gram  erfüllt ;  verfiel  dann  plötzlich  in  ein  ingrimmiges,  gellendes 
Lachen*)  und  dachte  bei  sich:  ., Jetzt  versaufist  du,  was  da  hast  und  machst  dann 
deinem  Leben  ein  Ende**.  £&  trieb  ihn  fort  von  einer  Wirthschaft  in  die  andere, 
da  einen  Schnaps  stürzend,  dort  ^/i  1  zu  sich  nehmend.  Nirgends  hielt  es  ihn 
mehr  fest.  Dm  ihn  herum  ertönte  fortwährendes  Geflüster;  doch  sah  er  Niemand. 
Das  steigerte  seine  Aufregung.  Er  kam  nach  Hause.  Die  Leute  fragten,  was  ihm 
fehle,  —  „nichts**  — ,  ob  er  zu  Nacht  essen  wolle,  —  „ich  habe  keinen  Hangfer**  — , 
Er  stieg  in  sein  Zimmer,  schlag  auf  der  Treppe  den  Kopf  an  einer  Kante  an,  was 
ihm  eine  Fluth  von  Flüchen  entlockte.  Er  trat  ins  Zimmer,  verriegelte  die  Thür. 
Obschon  Niemand  im  Zimmer  war,  brannte  darin  schon  ein  Licht.  Er  war  ent- 
schlossen, sich  das  Leben  zu  nehmen.  Er  suchte  nach  einem  Messer  oder  einem 
Strick,  fand  aber  nichts.  Er  zitterte  immer  mehr  und  das  Kopfweh  nahm  zu.  Da 
kam  ihm  der  Gedanke  an  sein  Gewehr.  Er  fand  es  im  Kasten,  streifte  den  Lauf- 
deckel ab,  schleuderte  das  Käppi,  das  ihm  in  den  W^eg  kam,  in  eine  Ecke,  nahm 
seine  Nothmunition ,  erbrach  die  Büchse,  lud  sein  Gewehr  mit  13  Patronen,  warf 
die  Büchse  aaf  den  Boden  und  wollte  nun  sofort  anlegen.  Er  besann  sich  aber 
eines  bessern:  —  „hier  sei  nicht  der  richtige  Ort,  die  Leute  hätten  den  Schrecken 
nicht  verdient**.  —  Er  nahm  seine  Photographie  und  diejenige  seiner  „Ersten*'  zu 
sich,  schrieb  Name,  Wohnung,  Heimathsort  und  Datum  der  Geburt  in  sein  Notiz- 
buch, und  wollte  auch  den  Grund  seiner  Handlung  hinzuschreiben;  ob  er  es  wirk- 
lich gethan,  ist  ihm  nicht  erinnerlich.  Dann  löschte  er  das  Licht,  schaute  zum 
Fenster  hinaus,  ob  Niemand  in  der  Nähe  sei,  sicherte  das  Gewehr  und  warf  es, 
den  Lauf  nach  vom  zum  Fenster  hinaus  in  den  Garten.     Niemand  bemerkte  es.  *) 

^)  Dieser  Brief  vnirde  ihm  später  von  der  Polizei  abgenommen.  Er  ist  mit 
zierlicner,  etwas  zittriger  Schrift  geschrieben  und  laatet:  „Lieber  Brader  Gottlieb! 
Mit  schmerzerfülltem  Herzen  theile  Dir  noch  höflichst  mit,  dass  ich  mit  . .  .*' 

*)  Das  eigenthümliche  (^^ebahren,  das  Zittern,  das  Zähnefletschen,  die  Thränen 
und  das  gellende  Lachen  des  Pat.  fielen  der  KeUnerin  sehr  auf  und  alles,  was  er 
sagte,  wird  fast  Wort  für  Wort  von  ihr  bestätigt. 

^)  Am  nächsten  31orgen  erzählte  er  es  selbst  andeutungsweise  der  Kostfirau. 
Auch  fand  man  im  Garten  noch  die  Spuren  davon. 


Ein  Fall  Ton  epileptischer  Amnesie  dorch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     141 

Hierauf  yerliess  er  das  Zimmer.  Dronten  fragte  ihn  der  Kostmeister,  was  denn 
mit  ihm  sei,  er  werde  noch  verrückt  und  hiess  ihn  in  die  Stube  treten,  in  welcher 
zwei  Kameraden  und  die  Kostfrau  sich  befanden.  £r  gehorchte,  verlangte  aber 
einen  halben  Liter  Wein,  da  ihm  vor  Durst  der  Hals  brannte.  Als  man  ihm  den 
Wein  nicht  gleich  bringen  wollte,  sprach  er  mit  drohender  Gebärde :  „dann  werde 
ich  mir  schon  verscha£fen'^  Der  Wein  wurde  geholt.  Fat.  fragte,  wie  viel  er  koste 
und  da  der  Kostmeister  nichts  annehmen  wollte,  stellte  er  IVt  Frs.  auf  den  Tisch. 
Der  Kostmeister  sagte,  er  verkaufe  keinen  Wein.  „Dann  rühre  ich  das  Geld  auf 
den  Boden  hinunter**,  schrie  Fat.,  worauf  die  Kostfrau  das  Geld  wegnahm  mit  den 
Worten,  er  werde  später  froh  sein,  dasselbe  wieder  zurückzuerhalten.  Sie  tranken 
nun  zusammen  und  als  die  Flasche  leer  war,  verlangte  Fat.  sogleich  eine  zweite, 
worauf  die  gleiche  Geschichte  wieder  losging,  bis  die  Kostfrau  zum  zweiten 
Mal  das  Geld  zur  Aufbewahrung  in  Empfang  nahm.  Hierauf  zog  Fat.  seine  Uhr 
hervor,  er  wollte  sie  verkaufen  und  forderte  dafür  5  Frs.  Als  man  ihm  die  nicht 
geben  wollte,  legte  er  die  Uhr  auf  den  Boden,  erhob  den  Fuss  und  sagte,  wenn 
sie  keine  5  Frs.  werth  sei,  wolle  er  sie  lieber  zertreten,  dann  bekomme  sie  gar 
Niemand.  Als  ihm  zuletzt  nach  langem  Hin-  und  Herreden  die  Uhr  für  5  frs. 
abgenommen  worden  war,  fing  er  sofort  einen  neuen  Streit  an,  und  so  ging  es 
weiter  unter  fortwährendem  Zanken  und  Queruliren,  unter  beständigen  Drohungen 
und  Andeutungen  von  Seiten  des  Fat.,  dass  er  etwas  Schicksalsschweres  vorhabe, 
von  dem  sie  keine  Ahnung  hätten.  Während  er  nun  die  Leute  so  quälte  und  sie 
ihn  zu  beschwichtigen  suchten ,  ging  einer  der  Anwesenden  hinaus.  Fat.  lief  ihm 
sofort  nach,  da  er  ihm  nicht  traute,  um  zu  schauen,  was  er  thun  werde.  Einen 
Augenblick  drauf  kamen  Beide  wieder  herein,  worauf  Fat.  sein  Glas  austrank  und 
sagte,  das  sei  jetzt  sein  Abschied,  sie  sollten  sich  ihn  noch  einmal  ansehen;  vor 
Rührung  standen  ihm  die  Thränen  in  den  Augen.  Er  lud  die  Freunde  ein,  im 
Frohsinn  mit  ihm  seinen  Abschied  zu  feiern;  er  wolle  allein  hingehen,  sie  würden 
ihn  aber  dort  treffen.^)  Er  ging  hinaus,  verbarg  sich  draussen  und  benützte  einen 
Augenblick,  da  er  Niemanden  sah,  sein  Gewehr,  das  mit  dem  Lauf  im  Boden 
steckte,  herauszuziehen  und  sich  wie  ein  Dieb  davon  zu  machen.  Beim  Heraus- 
ziehen des  Gewehres  schlug  er  sich  den  Ellbogen  am  Gartenzaun  an,  was  ihn 
fürchterlich  erboste.  Auf  Umwegen  gelangte  er  zum  Frohsinn,  versteckte  in  einem 
anliegenden  Höfchen  sein  Gewehr  und  trat  ein,  sofort  einen  halben  Liter  Wein 
fast  in  einem  Zuge  leerend.  Seine  Freunde  erschienen  und  es  wiederholten  sich 
die  zu  Hause  vorgekommenen  Scenen.  Li  Folge  von  Kleinigkeiten,  die  Fat.  alle 
furchtbar  tragisch  auffasste,  gingen  die  gleichen  Zänkereien  wieder  los  und  man 
hatte  jedes  Mal  die  grösste  Mühe,  ihn  zu  beschwichtigen.  In  den  ruhigeren  Mo- 
menten dachte  er  nach  über  die  Schlechtigkeit,  mit  der  man  es  mit  ihm  getrieben 
und  die  ihn  jetzt   so  tief  ins  Elend  gestürzt  habe,   dass  er  nicht  einmal  seinem 

^)  Die  Kostfrau  giebt  an,  sie  habe  das  Geld  nicht  in  Empfang  ^enonmien, 
dasseloe  sei  auf  dem  Tuche  liegen  geblieben  bis  zum  anderen  Morgen.  Sie  habe  im 
Geff entheil  den  Fat.  aufgefordert,  dasselbe  zurückzunehmen,  er  werde  später  noch 
fron  darüber  sein.  Den  ganzen  Abend,  fügt  sie  bei,  habe  Fat.  durcheinander  ge- 
weint, gedroht  und  gelacht,  die  Leute  misstrauisch  und  scharf  angeschaut,  sei  oft 
plötzlich  aufgefahren,  um  nach  der  Thür  zu  sehen,  habe  Niemand  hinausgelassen, 
und  wenn  Jemand  dazu  Miene  machte,  gedroht,  von  dreifachem  Mord  (??)  ge- 
sprochen und  gesagt,  es  gäbe  sicher  noch  ein  Unglück.  Im  Uebrigen  wird  alles 
Wort  für  Wort  bestätigt. 


142  Carl  Graeter. 

armen  Bruder  helfen  könne.  Das  Wasser  trat  ihm  in  die  Augen  Tor  Rührung  und 
vor  Schmerz.  Einmal  schaute  er  auf  die  Uhr  an  der  Wand,  schoss  dann  plötzlich 
auf,  eilte  hinaus  um  zu  sehen,  ob  das  Gewehr  noch  am  riohtigen  Ort«  sei.  Drauosen 
stiess  er  mit  dem  Knie  an  einen  Handkarren.  Unter  Fluchen  und  Schimpfen 
schlenderte  er  ihn  weg.  Darauf  erblickte  er  sein  Gewehr,  es  war  noch,  wo  er  et 
hingestellt  hatte.  Beruhigt  ging  er  in  die  Wirthschaft  zurück;  sprach  aber  von 
da  an  mit  Niemand  mehr  ein  rechtes  Wort.  Nach  einiger  Zeit  rannte  er  wieder 
hinaus,  fand  weder  Wagen  noch  Gewehr  und  eine  furchtbare  Aufregung  bemächtigte 
sich  seiner.  Als  seine  Kameraden  ihm  nachfolgten  und  auf  den  Lärm,  den  er  ver- 
führte, die  Kellnerin  mit  einem  Licht  erschien,  steigerte  sein  Aerger  sich  noch 
mehr.  Eine  hinzugekommene  Frau  fragte,  ob  er  ein  Gewehr  suche.  £r  fuhr  sie 
an,  wenn  sie  etwas  davon  wisse,  solle  sie  es  sagen.  Da  erzählte  sie,  eine  Frau 
habe  dasselbe  genommen  und  in  s  anliegende  Haus  hinein  getragen.  Wuthentbrannt 
stürmte  er  nun  auf  dieses  Haus  zu,  zog  an  der  Glocke  so  stark  er  nur  konnte, 
polterte  an  der  Thür,  schrie  und  brüllte  aus  Leibeskräften,  bis  seine  Freunde  ihn 
mit  Gewalt  wegzogen.  Mit  %ielcr  Mühe  gelang  es  ihnen  allmählich,  ihn  jsu  be- 
schwichtigen und  auf  das  Zimmer  eines  seiner  Kameraden  za  bringen.  Dieser  ver- 
sprach, ihn  für  diese  Nacht  nicht  aus  den  Augen  zu  lassen. 

Fat.  war  die  ganze  Nacht  sehr  unruhig  und  schlief  nur  ein  bischen  gegen 
Morgen.  Schon  vor  Tagesanbruch  machte  er  sich  auf  den  Weg,  sein  Gewehr  zu  suchen. 
In  den  Strassen  war  noch  alles  still,  es  war  ßnster  und  mochte  ungefähr  halb  6  Uhr 
Morgens  sein.  Fat.  ging  direct  nach  dem  Frohsinn.  Er  war  zum  äussersten  ent- 
schlossen und  hielt  für  den  Fall  eines  Angriffs  seinen  Schlagring  krampfhaft  fest. 
Vor  dem  Frohsinn  musste  er  noch  lange  warten,  bis  ihm  endlich  aufgethan  wurde. 
Er  verlangte  sein  Gewehr,  schmähte,  schimpfte,  drohte;  doch  es  half  ihm  nichts. 
Erst  hielt  man  ihn  hin  durch  freundliches  Zureden;  dann  zeigte  man  ihm  das  Ge- 
wehr, das  man  beim  Nachbar  geholt  hatte,  Hess  es  ihn  sogar  besichtigen ;  nahm  ea 
ihm  aber,  während  er  ein  Glas  Bier  hinabstürzte,  rasch  wieder  weg,  auf  Nimmer- 
wiedersehen. Im  Zorn  verliess  Fat.  das  Local,  da  ihm  die  Kellnerin  nicht  einmal 
mehr  Wein  oder  Schnaps  geben  wollte.  Wieder  ging's  von  einer  Wirthschaft  in 
die  andere.  Einen  Augenblick  war  er  auch  zu  Hause,  um  seine  Uhr  ku  suchen, 
die  er  versetzen  wollte.  Er  glaubte  sie  zu  Hause  vergessen  zu  haben,  da  er  sich 
angeblich  nicht  mehr  an  den  gestrigen  Vorfall  mit  derselben  erinnerte.  Doch  er 
fand  sie  nicht  und  die  Kostfrau,  bei  der  er  sich  nach  derselben  erkundigte,  und 
die  ihn  an  den  gestrigen  Vorfall  erinnerte,  gab  sie  ihm  nicht  heraus.*)    So  kehrte 

*)  Die  Kostfrau  giebt  an,  sie  habe  geglaubt.  Fat.  „thue  nur  der  Gleichen*'  sich 
nicht  mehr  an  den  Vorfall  mit  der  Uhr  zu  erinnern,  um  dieselbe  eher  wieder  zu 
erhalten.  Als  sie  ihm  die  TThr  nicht  geben  und  ihm  den  Eingang  ins  Haus  ver- 
wehren wollte,  soll  er  nach  ihrer  Aussage  thätlich  geworden  sem  und  ihr  mit 
allerlei  Drohungen  einen  panischen  Schrecken  eingejagt  haben.  So  z.  B.  habe  er 
scharfe  Patronen  in  den  Mund  genommen  und  gesagt,  wenn  sie  ihn  nicht  einlasse, 
werde  er  sofort  drauf  beisscn,  dass  es  ihm  den  Schädel  versprenge,  und  mit  ihm 
das  ganze  Haus  in  die  Luft  jage.  Sie  liess  ihn  ein,  doch  sobald  er  wieder  fort 
war,  zeigte  sie  ihn  auf  der  Polizei  an.  Fat.  habe  grauenhaft  ausgesehen,  sinnlos 
betrunken,  mit  blutigem  Gesicht,  da  er  mitten  auf  der  Strasse  rohes  Fleisch  ge- 
gessen habe.  —  Was  die  vom  Fat.  in  den  Mund  gesteckten  Patronen  anbelan^ 
so  werden  diese  von  ihm  erst  gelegentlich  der  Erzählung  eines  späteren  Anlasses 
erwähnt.  Er  will  die  Patronen  während  seines  ersten  polizeilicnen  Verhörs  im 
Munde  gehabt  haben.     Thatsächlich  wurde   er  aber  dort  bloss  darüber  ausgefragt 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     143 

er  unverrichteter  Dinge  nach  dem  Frohsinn  zurück  und  wurde  um  halb  12  Uhr  von 
der  Polizei  verhaftet.  Nun  wurde  er  von  Wache  zu  Wache,  von  einer  Instanz  zur 
anderen  geführt,  und  überall  wieder  von  Neuem  verhört.  SchliessUch  kam  er  gegen 
Abend  im  Frauenmünsteramt ,    dem  polizeilichen  Sanitätsposten  an.    üeber  seinen 

Aufenthalt  daselbst  berichtet  er  uns  folgendes:  „ Dann  ging's  durch  viele 

Gänge  in  ein  Zimmer.  Dort  sass  ein  Herr,  so  viel  ich  mich  erinnere,  war  er 
schwarz  gekleidet.  Es  war  schon  Nacht.  Der  Herr,  wahrscheinlich  ein  Arzt,  fragte 
mich,  wie  ich  heisse,  ob  ich  einen  Bruder  habe  und  anderes  mehr,  —  ich  weiss 
nicht  mehr  so  recht  was.  Ich  konnte  nicht  recht  antworten,  verstand  auch  nicht 
alles,  was  er  mich  fragte.  —  Ich  kann  mich  noch  erinnern,  dass  ich  immer  nach 
dem  gleichen  Ort  hinschaute,  weil  ich  dort  etwas  wie  eine  Menschengestalt  sah. 
Der  Herr  fragte  mich,  was  ich  dort  sähe.  Ich  antwortete,  ich  wisse  wohl  was  und 
lachte  falsch  und  ingrimmig  vor  mich  hin.  —  Dann  kam  ich  wieder  in  das  Arrest- 
local,  konnte  aber  nicht  schlafen.  Rings  um  mich  herum  sah  ich  Menschen,  die 
auf  mich  eindrangen.  Ich  wollte  auf  sie  los,  stiess  aber  mit  dem  Kopfe  gegen  die 
Wand.  Ich  fror  und  zitterte  die  ganze  Nacht  und  war  sehr  aufgeregt.  Als  end- 
lich der  Morgen  kam,  führte  man  mich  in  ein  Zimmer  hinauf.  Unterwegs  fiel  mir 
auf,  dass  ich  eine  blutbefleckte  Hand  hatte.  Als  ich  darüber  nachdachte,  woher 
das  Blut  wohl  kommen  könne,  fiel  mir  ein,  dass  ich  mir  Nachts  gegen  Morgen  den 
Mund  mit  der  Hand  abgewischt  hatte.  Doch  konnte  ich  mich  nicht  erinnern,  mich 
verletzt  zu  haben.  Im  Zimmer  waren  mehrere  Herren.  Ich  kannte  aber  Niemand. ') 
Ich  kümmerte  mich  nicht  um  das,  was  um  mich  vorging.  Man  bot  mir  Kaffee  an ; 
ich  weigerte  mich,  denselben  zu  trinken.  Da  wurde  er  mir  zwangsweise  ein- 
gegossen. Ich  gerieth  darob  in  heftigen  Zorn.  Es  schoss  wieder  in  mir  auf.  Ich 
sah  eine  Menge  Leute ,  die  mich  auslachten ,  sprang  auf  sie  zu  und  schlug  auf  sie 
ein.  Es  war  aber  etwas  Weiches,  auf  das  ich  schlug  und  ich  merkte,  dass  es 
Ueberröcke  waren,  die  an  der  Wand  hingen.  Ich  hörte  jedoch  nicht  auf  zu  toben; 
68  entspann  sich  ein  Hingen  zwischen  mir  und  den  anwesenden  Herren  oder  Poli- 
^ten,  die  mich  halten  wollten.  Ich  wurde  auf  den  Kücken  gelegt  und  an  Händen 
und  Füssen  gefesselt.  Ich  lag  nun  am  Boden  und  wusste  nicht  mehr  recht  was 
geschah.  Ich  hörte  so  etwas  von  Spital  und  Telephoniren,  wurde  weggetragen  in 
einen  Wagen  und  dann  gings  fort,  wahrscheinlich  hierher.'* 

Dies  alles  erzählte  Fat.  in  der  IV.  Sitzung  vom  30.  Nov.  Als  er  geendet 
hatte,  war  er  nicht  wenig  aufgeregt,  aber  erleichtert  und  froh,  dass  er  die  Sache 
endlich  herausgebracht.  Bis  dahin  —  meinte  er  —  habe  er  an  die  Geschichte  mit 
dem  Gewehr  nicht  recht  geglaubt,  doch  jetzt  sei  er  ganz  davon  überzeugt,  ,.es  sei 
ihm  jetzt,  als  habe  er  einen  Stein  vom  Herzen,  da  er  aus  dieser  Ungewissheit 
heraus  sei.  Auch  werde  er  sich  in  Zukunft  wohl  hüten,  wieder  zu  trinken.  Kein 
Tropfen  Alkohol  solle  mehr  über  seine  Lippen  kommen;  denn  so  etwas  wolle  er 
ein  zweites  Mal  nicht  wieder  durchmachen. 

Während  der  Erzählung  wuchs  die  Aufregung  des  Fat.  von  Etappe  zu  Etappe. 
Bei  dem  Selbstmordversuch  erreichte  sie  ihren  Höhepunkt  und  blieb  fast  bis  zu 
Bnde  auf  demselben  stehen.     Dabei  wurde  seine  Sprache  lallend,  sein  Blick  bald 

Der  übrige  Inhalt  der  endlosen,  mit  der  Kostfrau  geführten  Gespräche,  ist,  sonst 
Wort  für  Wort  bestätigt,  der  Kürze  halber  hier  weggelassen  worden. 

^)  Obschon  der  Stodtarzt,  der  ihn  am  Abend  verhört  hatte,  auch  unter  den- 
selben war. 


144  C^  Gnteter. 

finster  drohend,  bald  stier  in  sich  gekehrt  oder  miBstranisch  und  laaemd.  Oft 
übermannte  ihn  der  Zorn,  sein  Blick  wurde  starr;  er  ballte  die  Faust  und  rer- 
wünschte  anter  Fluchen  und  Schimpfen  seine  Widersacher  und  sein  Gesicht  ra 
einem  schmerzhaften  Orinsen  Tendehend,  brach  er  darauf  wieder  in  sein  bitteres, 
hämisches,  sich  selbst  verhöhnendes  Lachen  aus,  wobei  sein  Blick  den  unheimlichsten 
Ausdruck  annahm.  —  Kurz,  er  lebte  alles  noch  einmal  durch.  Es  war  ihm  dabei 
so  bitter  ernst,  seine  Angaben  lauteten  alle  so  bestimmt,  so  klar  und  pracia,  und 
alle  die  kleinen  Details  waren  so  natürlich  wiedergegeben,  dass  es  unmöglich  war, 
an  der  Bichtigkeit  seiner  bewegten  Erzählung  zu  zweifeln.  Und  doch  stimmte 
etwas  nicht.  Es  fehlte  in  der  Erzählung  ein  Tag:  Der  Pat.  wurde  nicht  am 
Donnerstag,  wie  er  behauptete,  sondern  erst  am  Freitag  ins  Burghölzli  gebrachL 
Dieser  Irrthum  des  Pat.  schien  mir  bei  der  einförmigen  Lebensweise  des  Fat.  am 
wahrscheinlichsten  dadurch  zu  Stande  gekommen  zu  sein,  dass  sich  Pat.  an  zwei 
Tagen  um  die  gleiche  Zeit  in  der  gleichen  Situation  befunden  hatte  und  in  der 
Erzählung  bei  der  ersten  angekommen,  dieselbe  mit  der  zweiten  yerwechselte  und 
im  Anschluss  an  diese  letztere  in  seiner  Erzählung  fortfuhr.  Hiedurch  kamen  die 
Erinnerungen  an  die  Ereignisse  des  dazwischen  liegenden  Tages  nicht  zur  Asso- 
ciation. Ganz  ähnlich  war  es  ihm  ja  schon  einmal  aus  Anlass  seines  Mittagessens 
im  Cafe  Bema  ergangen  (vide  pag.  139).  Das  Weitere  wird  uns  über  die  Richtig- 
keit oder  Unrichtigkeit  meiner  Vermuthung  belehren.  Einstweilen  wurde  dem 
Pat.  davon  noch  nichts  gesagt,  in  der  HofiGuung,  dass  er  auch  diesmal  von  selbst 
auf  seinen  Lrthum  kommen  werde. 

Von  dem  Auftreten  der  Gesichtshallucinationen  an  im  Frauenmünsteramt,  am 
Abend  des  17.  Nov.  (resp.  des  18.)  ^)  scheint  die  Bewnsstseinsstörung  des  Pat.  einen 
höheren  paroxysmellen  Grad  erreicht  zu  haben.  Am  Morgen  des  18.  (resp.  19.  Not.) 
ging  sie  allmählich,  vielleicht  aber  auch  plötzlich,  vielleicht  nach  einem  Augenblick 
totaler  Bewusstlosigkeit  in  den  von  uns  am  19.  beobachteten  stuporösen  Dämmer- 
zustand über  und  scheint  dementsprechend  auch  einen  tieferen  Grad  von  Amnesie 
hinterlassen  zu  haben.  Die  Amnesie  scheint  hier  in  diesem  Augenblicke  entstanden 
zu  sein  und  sich  von  diesem  Zeitpunkt  an  vorwärts,  über  die  Zeit  des  Dämmer- 
zustandes, rückwärts,  als  retograde  Amnesie,  über  die  Erinnerungen  der  früheren 
Tage  entwickelt  zu  haben.  Dieser  leichtere  retrograde  Theil  der  Anmesie  wäre 
somit  au%eklärt.  Ob  uns  dies  auch  für  den  noch  übrigen,  primären,  dem  Dämmer- 
zustand entsprechenden  Theil  gelingen  werde,  sollte  die  Zukunft  entscheiden. 

Am  1«  Bez.  wird  Pat.  nicht  hypnotisirt.  Er  erzählt  oder  dictirt  dem  IUI 
die  gestrige  Geschichte  noch  einmal  und  zwar  mit  den  gleichen  Worten  und  iast 
mit  der  gleichen  Ausführlichkeit,  ohne  dass  ihm  dabei  etwas  Neues  einfällt. 

Auch  die  nächste  Sitzmig  vom  2.  Dez«  förderte,  wie  zu  erwarten  war,  nicht 
viel  Neues  an  den  Tag.  Die  spärlichen  Erinnerungen  nach  der  ersten  Hjrpnose 
sind  undeutlich,  nebelhaft;  sie  werden  unsicher  und  bruchstückweise  vorgebraeht 
mit  den  beständigen  Zusätzen:  „ich  glaube"  und  „ich  weiss  nicht  recht".  Eine 
zweite  kurz  darauf  hervorgerufene  Hypnose  bringt  etwas  mehr  Klarheit  in  die 
Situation.  Neue  Erinnenmgen  treten  in  den  Gesichtskreis.  Die  alten  werden 
schärfer  und  ihre  Einzelheiten  deutlicher  erkannt.  Doch  lassen  sie  alle  an  Sohärfa 
und  Klarheit  noch  sehr  zu  TTvninschen  übrig,  so  dass  es  den  weiteren  Sitzungen  vor- 


*)  Vide  Berichtigung  vom  4.  December  (pag.  145). 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  darch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     145 

behalten  bleibt,  sie  besser  auszumalen  und  zu  einem  wohlbegründeten  Gtanzen  zu- 
«ammenznfdgen. 

Einige  Beispiele  werden  den  Vorgang  leicht  verständlich  machen.  Nach  der 
ersten  Hypnose  sagt  er  unter  anderm,  er  erinnere  sich  noch  dunkel  an  ein  grosses 
Gebäude,  eine  Treppe  und  ein  Zimmer,  in  das  er  nach  Beendigung  der  Fahrt  ge- 
führt worden  sei.  Er  würde  es  aber  nicht  wieder  erkennen.  Einige  Herren  hätten 
ihn  ausgefragt,  dann  sei  er  durch  einen  langen  Gang  geführt  imd,  wenn  er  nicht 
irre,  auch  gebadet  worden.  —  Wo  ihm  die  Fesseln  abgenommen  worden,  ob  die 
Herren,  die  ihn  ausgefragt,  schon  Yor  ihm  im  Zimmer  gewesen  seien  und  ob  er 
wirklich  gebadet  habe  u.  s.  w.,  wisse  er  nicht  anzugeben  und  hege  darüber  bloss 
Vermuthungen. 

Nach  der  zweiten  Hypnose  sagt  er  mit  ziemlicher  Bestimmtheit,  er  erinnere 
sich  jetzt,  dass  man  ihm  im  Wagen  die  Fussfesseln  und  im  Zimmer  die  Hand- 
fesseln abgenommen,  dass  die  Herren  erst  nach  ihm  eingetreten  seien.  Ja  selbst 
über  die  vollständige  Bartlosigkeit  des  einen,  der  nach  seinem  Namen,  seinem  AUer 
und  anderen  Einzelheiten  sich  erkundigt  habe,  konnte  er  Auskunft  geben;  über 
das  Bad  spricht  er  sich  mit  Bestimmtheit  aus  und  erinnert  sich,  daselbst  gezittert 
und  gefroren  zu  haben  und  alsdann  durch  Gänge,  eine  Treppe  hinauf  und  ins  Bett 
geführt  worden  zu  sein,  was  alles  der  Wirklichkeit  entspricht  (wie  es  mir  nach 
vollständiger  Beendigimg  der  hypnotischen  Sitzungen  von  den  Mitbetheiligten  be- 
stätigt worden  ist). 

Am  3*  Bee«  wird  Fat.  nicht  hypnoüsirt,  erhält  aber  die  Mittheilung,  dass  er 
nicht  Donnerstag  den  18. ,  sondern  Freitag  den  19.  seinen  Eintritt  ins  Bnrghölzli 
gemacht  habe  und  somit  ein  ganzer  Tag  in  seiner  Erinnerung  fehle. 

TL  Sitzung  vom  4*  Bec«  Fat.  ist  seinem  Fehler  noch  nicht  auf  die  Spur 
gekommen,  er  wird  deshalb  in  der  Hypnose  noch  einmal  darauf  aufmerksam  ge- 
macht und  aufgefordert,  genau  auf  den  Fehler  zu  achten,  während  Ret  ihm  kurz 
«eine  ganze  von  ihm  erzählte  Geschichte  noch  einmal  vor  Augen  führen  werde, 
wie  es  schon  am  Tag  vorher  im  Wachzustand  geschehen  sei,  dann  werde  er  sicher 
auf  den  Fehler  kommen  und  alle  bestehenden  Lücken  in  der  Erzählung  ausfüllen 
können. 

Nach  dem  Aufwachen  behauptet  er  noch  eine  Zeit  lang  mit  der  grössten  Be- 
stimmtheit, er  sei  am  Mittwoch  verhaftet  und  am  Donnerstag  hierher  gebracht 
worden  bis  er  plötzlich  stutzig  wird  und  sagt :  „Nein,  es  kann  doch  nicht  sein,  denn 
als  ich  auf  dem  Polizeiposten  verhört  wurde,  hiess  es,  es  sei  der  18.  Nov.,  dass 
wäre  also  nach  unserer  Rechnung  Donnerstag  und  somit  wäre  ich  Donnerstag  ver- 
haftet und  Freitag  ins  Burghölzli  gebracht  worden  und  hätte  am  Mittwoch  und 
nicht  am  Dienstag  meine  Nothmunition  geöffiiet*\  Ein  Gedanke  ruft  den  anderen 
und  im  Nu  ist  der  ganze  Irrthum  aufgeklärt. 

Am  Dienstag  Nachmittag,  den  16.  Nov.  kommt  Fat.  nach  dem  Vorfall  mit  dem 
Färber  im  Frohsinn  an.  Dort  fragt  ihn,  wie  wir  gesehen  haben,  die  besorgte 
Kellnerin,  wo  es  ihm  fehle.  Er  antwortet  ihr,  er  sei  nicht  katholisch  und  brauche 
ihr  nicht  zu  beichten  etc.  (vergl.  pag.  140).  Nan  schreibt  er  aber  nicht  den  oben 
erwähnten  Brief,  sondern  versucht  die  Zeitung  zu  lesen,  woran  ihn  jedoch  seine 
Aufr*egung  verhindert.  Er  zittert,  hat  Kopfschmerzen  etc.,  geht  fort  in  alle  mög- 
lichen Wirthschaften.  Er  schwankt ,  ist  ganz  verwirrt  und  kommt  um  Mittemacht 
nach  Hause,  erfüllt  von  den  trübsten  und  unglücklichsten  Gedanken.  Doch  an 
Zeitschrift  für  Hypnotismus  eto.    ym.  10 


146  Oui  Gneter. 

Selbstmord  dachte  er  noch  nicht.  Nachts  schlief  er  schlecht  und  hatte  einen 
Traum.  Es  träumte  ihm  von  Särgen.  Er  erwachte  am  Mittwoch  mit  Kopfweh« 
brennendem  Gefühl  im  Hals  und  Durst.  Er  fürchtete  einen  Hirnschlag  su  be- 
kommen und  zitterte  am  ganzen  Körper.  Nichtsdestoweniger  trat  er  seine  tägliehe 
Wanderung  an,  unterwegs  sich  stärkend  mit  Schnaps,  Wein,  Bier  und  Magenbitter. 
Sein  Traum  verfolgte  ihn,  er  fragte  sich  beständig,  ob  wohl  die  Säige  etwas  su 
bedeuten  hätten. 

Die  alten  Gedanken  stiegen  wieder  in  ihm  auf,  er  wurde  traurig,  machte 
sich  und  dem  Schicksal  Vorwürfe  darüber,  dass  er  seinem  Bruder  nicht  geholfen 
habe  u.  s.  w. 

Und  jedes  Mal,  wenn  die  Wuth  gegen  den  Keller  wiederkehrte,  brauste  er 
auf,  verliess  das  Wirthshaus,  in  dem  er  sich  gerade  befand,  ging  in  ein  anderes 
und  dort  ging  die  gleiche  Geschichte  von  Neuem  an. 

G^gen  2  Uhr  gelangte  er  glücklich  wieder  in  den  Frohsinn.  Wieder  fragte 
ihn  die  Kellnerin,  was  ihm  denn  fehle,  und  wieder  antwortete  er  ihr,  er  sei  nicht 
katholisch  und  brauche  nicht  zu  beichten.  Daraufhin  versuchte  er  den  oben  er^ 
wähnten  Brief  zu  schreiben  und  hernach  fasste  er  den  Entschluss ,  sich  das  Leben 
zu  nehmen,  was  ihm  jedoch,  wie  wir  weiter  sahen,  misslungen  ist. 

Der  Irrthum  kam  also  dadurch  zu  Stande,  dass  Fat.  bei  der  Unterredung  mit 
der  Kellnerin  in  seiner  Erzählung  vom  Dienstag  Nachmittag  auf  den  Mittwoch 
Nachmittag  überspringt,  wo  er  sich  in  der  gleichen  Situation  befand.  Dieser 
Associationsfehler  wird  dadurch  sehr  erleichtert,  wenn  nicht  geradezu  verursacht, 
dass  ihm  seine  Kameraden  am  28.  Nov.  unrichtiger  Weise  gesagt  hatten,  er  habe 
am  Dienstag  mit  Gewehr  und  scharfen  Patronen  manipalirt  und  sei  am  Mittwoch 
verhaftet  worden,  während  in  Wirklichkeit  alles  einen  Tag  später  geschah. 

Ueber  seine  Erlebnisse  im  Fraumünsteramt  macht  Fat.  noch  einige  erwähnens- 
werthe  Zusätze,  von  welchen  wir  die  folgenden  anfuhren :  „Auf  dem  Sanitätsposten 
fragte  mich  der  Arzt,  d.  h.  der  Herr  im  schwarzen  Kleid,  ob  ich  nicht  einen 
Bruder  habe  mit  einem  schwarzen  Bart,  der  schwermüthig  sei  und  ins  Spital  ver- 
bracht wurde,  weil  er  bei  einem  Starz  von  einer  Tanne  die  Kniescheibe  gebrochen 
hatte.  Ich  wollte  antworten  und  sagen,  ja,  das  sei  mein  Bruder,  brachte  aber  kein 
Wort  hervor.  Das  regte  mich  auf.  Meine  Beine  und  Arme  zogen  sich  krampfhaft 
zusammen.  Dann  übernahm  mich  wieder  die  Wuth  auf  diesen  Keller,  den  ich 
jetzt  wie  einen  Schatten  vor  mir  sah,  so  dass  ich  immer  nach  dem  gleichen  Ort 
hinschaute  und  mich  der  Herr  fragte,  was  ich  dort  eigentlich  sähe  u.  s.  w.  (wie 
schon  oben  erzählt).  Später  glaubte  ich  wieder,  ich  sei  in  einer  Wirthsohaft,  lachte 
wie  ein  Verrückter,  verlangte  Wein  und  Bier,  hielt  den  Arzt  für  den  Wirth,  baute 
die  Fäuste,  stiess  allerlei  Verwünschungen  aus  und  wurde  immer  wirrer  im  Kopf 
u.  8.  w.  —  Schliesslich  führte  man  mich  in  das  Arrestlokal,  durch  einen  weiten 
Gang  an  einem  Brunnen  vorbei,  an  dem  ich  Wasser  trank.  Nachdem  man  mir 
die  Schuhe  entfernt  hatte,  legte  ich  mich  auf  die  Fritsche,  konnte  aber  nicht 
schlafen,  denn  alsbald  sah  ich  zwei  Gestalten,  den  Zumstein  und  den  Keller,  die 
auf  mich  eindrangen.  Ich  fuhr  auf  sie  los,  stiess  aber  an  die  Wand,  stürzte  kraftlos 
zu  Boden  und  blieb  einige  Augenblicke  liegen,  bis  das  Treiben  von  Neuem  begann. 
So  ging's  die  ganze  Nacht.  Selten  kamen  einige  ruhigere  Momente,  in  denen  ich 
über  all  mein  Elend  nachdenken  konnte.  Mir  war's  als  drehe  sich  alles  in  meinem 
Kopfe.     Ich  hatte  starkes  Kopfweh,  Ohrensausen;   zitterte  und  fror.     Auch  die 


Ein  Fall  yon  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     147 

Zunge  that  mir  einmal  weh,  ich  wischte  mir  den  Mund  mit  der  Hand  ab  und  am 
Morgen  merkte  ich,  dass  ich  Blut  am  Finger  hatte  u.  s.  w.'* 

Der  Stadtarzt,  dem  nachher  die  Erzählung  des  Fat.  zur  ControUe  unterbreitet 
wurde,  sagt,  Fat.  sei  am  Donnerstag  Abend,  als  er  ihn  sah,  fortwährend  in  sich 
zusammengekauert  auf  seinem  Stuhl  gesessen  und  habe  fast  immer  nach  dem 
gleichen  Orte  hingeschaut,  gelacht,  geschimpft,  mit  den  Zähnen  gefletscht,  gepoltert, 
habe  ihn  wirklich  für  einen  Wirth  gehalten  und  Wein  von  ihm  verlangt.  Auch 
die  krampfhaften  Contractionen  seiner  Arme  und  Beine  seien  von  ihm  beobachtet 
worden.  Es  stimme  sozusagen  alles.  Nur  von  dem  schwermüthigen  Bruder  mit 
der  Fatellarfractur,  wisse  er  nichts.  Er  habe  den  Fat.  allerdings  nach  seinen  Ge^ 
schwistem  gefragt  und  speciell  nach  dem  Bruder,  an  welchen  dieser  den  angefangenen 
Brief  adressirt  hatte.  ^)  Von  einem  anderen  Bruder  und  dem  Sturz  von  einem 
Baume  sei  aber  nie  die  Rede  gewesen.  Hingegen  habe  Fat.,  ab  man  ihm  die 
Schuhe  auszog,  mit  dem  Fuss  einen  der  Folizisten  einen  derartigen  Schlag  auf  das 
Knie  versetzt,  dass  derselbe  jetzt  noch  (3  Wochen  nach  dem  Vorfall)  an  seiner 
Contusio  genu  darnieder  liege.  Am  folgenden  Morgen  habe  er  darauf  den  Fat. 
gefragt,  ob  er  wisse,  dass  er  vorigen  Abend  einen  Folizisten  am  Knie  verletzt  habe. 
Fat.  habe  ihm  darauf  nicht  geantwortet.  Es  sei  möglich,  dass  Fat.  die  Frage  nach 
seinem  Bruder  und  die  Frage  nach  der  Knieverletzung  zusammengeworfen  habe. 

Eine  vernünftige  Antwort  habe  er  von  ihm  nie  erhalten  können. 

Bleibt  uns  noch  die  letzte  Vii*  Sitzmig  TOm  5.  Bee.  zur  Besprechung  ttbrig. 
Durch  eine  erste  Hypnose  wird  nichts  wesentliches  zu  Tage  gefördert  und  Fat. 
ein  zweites  Mal  und  zwar  diesmal  im  Wachzustand  hypnotisirt,  cataleptisch  und 
anästhetisch  gemacht.  Darauf  wird  ihm  ein  „Nervenstrom"  im  Kopf  suggerirt,  der 
alles  Neblige  noch  vollständig  aufklären  soll.  In  diesem  Zustand  direct  befragt, 
^ebt  uns  Fat.  in  zusammenhängender  Weise  einen  vollständigen,  mit  zahlreichen 
Details  bespickten  Bericht  über  seine  Ankunft  und  seinen  Aufenthalt  im  Burghölzli, 
bis  zum  Zeitpunkt,  da  er  wieder  vollständig  bei  klarem  Verstände  war.  Seine  Aus- 
sagen werden  nachträglich  alle  mit  Ausnahme  eines  kleinen  Irrthums  vom  Aerzte- 
und  Wartpersonal  bestätigt. 

Somit  wären  wir  mit  der  AufkläruDg  der  Amnesie  an  unserem 
2iiele  angelangt.  Dass  dem  Fat.  die  Erinnerungsfähigkeit  durch  Sug- 
gestion wiedergegeben  wurde,  daran  wird  jetzt  Niemand  zweifeln  können. 
Höchstens  könnte  noch  eingewandt  werden,  dass  die  Erinnerungen  nach 
einigem  Zuwarten  von  selbst,  ohne  jede  fremde  Hülfe  wieder  hätten 
auftauchen  können.  Dem  haben  wir  jedoch  entgegenzuhalten,  dass,  wie 
wir  weiter  oben  schon  bemerkten,  bei  unseBem  Fat.  solche  Amnesien 
schon  aus  früheren  Jahren  her  (1894  und  95)  bestanden,  die  zwar  nur 
jeweilen  einen  Tag  umfassten,  aber  trotz  ihrer  geringen  Ausdehnung 
bis  jetzt  noch  keine  Spur  einer  Heilung  zeigten.  Ich  unternahm  nun 
das  Ezperimentum  crucis  und  suchte  in  drei  weiteren  Sitzungen  durch 
Suggestion  den  Fat.  auch  von  diesen  Amnesien  zu  befreien,  was  ohne 


^)  Die  beiden  Brüder  sind  nicht  identisch. 

10* 


148  C)arl  Oraeier. 

Weiteres  gelang.    Trotz  der  Jahre,   die  seit  der  Entstehung  derselben 

verflossen  waren,  konnten  noch  einige  Angaben  aus  den  ausführlichen 

Erzählungen  des  Fat.  sicher  bestätigt  werden. 

In  zwei  Fällen  handelte  es  sich  um  eine  Art  von  Dipsomanie.  Nachdem  Fat. 
schon  eine  ganze  Woche,  angeblich  in  Folge  eines  schweren  Kommers,  mehr  ab 
gewöhnlich  getrunken  hat,  macht  er  sich  eines  Sonntag  Morgens  schon  in  aller 
Erühe  auf  die  Beine,  zieht  den  ganzen  Tag  von  einem  Wirthshaus  in  das  andere, 
überall  Schnaps,  Wein,  Bier  in  unglaublichen  Mengen  durch  die  Gargel  jagend. 
Im  ersten  Fall  wurde  er  Nachts  um  11  Uhr  bewusstlos  mit  blutendem  Gesicht  auf 
der  Treppe  des  Hauses  gefunden  und  hineingetragen ;  das  zweite  Mal  war  er  glück- 
lich zu  Hause  angekommen  und  eben  im  Begriff  sich,  wie  schon  erzählt,  das  Messer 
in  die  entblösste  Brust  zu  stossen,  als  ein  Freund  in  sein  Zimmer  trat  und  ihm 
in  den  Arm  fiel,  so  dass  das  Messer  abglitt  und  Fat.  mit  einer  blossen  Scharfang 
davon  kam.  Beide  Male  wusste  er  am  folgenden  Tage  nichts  von  dem  Yor&lL 
Der  ganze  vorher  gehende  Tag  war  überhaupt  vollständig  aus  seiner  Erinnerong 
geschwunden.  Beide  Male  war  Fat.  3  Tage  lang  noch  stark  benommen  and  Utt 
noch  eine  volle  Woche  an  heftigem  Kopfweh.  Eine  dritte  Amnesie,  ebenfalls  aas 
dem  Jahre  1894,  verdankte  ihren  Ursprung  einem  leichten  Erampfanfall  und  er- 
streckte sich  auf  die  Zeit  von  ca.  2  Stunden,  lieber  diese  und  sogar  über  den 
Krampfanfall  selbst  machte  Fat.  im  hypnotischen  Schlaf  sehr  bestimmte  und  ziem- 
lich detaillirte  Angaben,  die  aber  leider  keiner  üontroUe  unterzogen  werden 
konnten,  weshalb  ich  sie  hier  übergehe.^) 

Becapitnlation ;  Amnesie;  weiterer  ErankheitsTerlauf;  Diagnose. 

Bevor  wir  an  die  Besprechung  einzelner  Symptome  und  der  weiteren 
BeobachtuDgen  am  Fat.  während  seines  Anstaltsaufenthaltes  übergehen 
und  zur  Aufstellung  einer  Diagnose  schreiten,  wollen  wir  das  aus  der 
Erzählung  des  Fat.  gewonnene  Krankheitsbild  kurz  noch  einmal  zu- 
sammenfassen. 

Die  Entstehungsgeschichte  der  letzten  Amnesie  des  Fat.  ist  eine 
ähnliche  wie  die  der  beiden  früheren  eintägigen  Amnesien.  Nachdem 
Fat.  wieder  eine  ganze  Woche  sinnlos  getrunken,  finden  wir  ihn  an 
einem  Nachmittag,  es  war  Samstag,  den  13.  Nov.  1897,  in  trauriger 
missmuthiger  und  gedrückter  Stimmung.  Er  schlendert  durch  die 
Strassen  der  Stadt,  schleppt  sich  von  Ejieipe  zu  Kneipe,  ärgert  sich 
über  alles;  ist  nachdenklich,  in  sich  gekehrt  und  brütet  und  grübelt 
über  sein  Schicksal  nach,  speciell  über  eine  elende  Schwindelei,  der  er  ' 
vor  einiger  Zeit  zum  Opfer  gefallen  und  die  ihm  seine  schönsten  Aos- 
wanderungs-  und  Zukunftspläne  vernichtet  hat.  Abends  kehrt  Fat 
betrunken  mit  schwankendem  Gang  nach  Hause  zurück.    Dies  geschieht 


^)  Vergl.  über  diese  Amnesien  die  Anamnese,  pag.  133. 


£iii  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.    149 

alles  zu  eioer  Zeit,  da  seine  Leidensgefährten,  die  der  gleichen  Schwin- 
delei zum  Opfer  gefallen  waren,  längst  wieder  zu  ihrer  gewohnten 
Arbeit  zurückgekehrt  sind.  So  lebt  er  Tag  für  Tag  dahin.  Seine 
trübe  Stimmung  und  seine  Reizbarkeit  nehmen  zu;  er  ist  beständig 
aufgeregt  und  aus  seinen  Grübeleien  kristallisirt  sich  ein  Gedanke 
immer  deutlicher  heraus,  —  die  Wuth  über  diese  beiden  Schwindler, 
den  Keller  und  den  Zumstein,  die  mit  der  Kasse  der  Auswanderungs- 
gesellschaft durchgebrannt  sind  und  die  jetzt  allein  an  all  seinem  Elend 
Schuld  sein  sollen,  —  eine  typische  Grübelei  für  einen  Epileptiker 
oder  epileptisch  veranlagten  Alkoholiker. 

Am  Dienstag,  den  16.  Nov.,  verspürt  er  am  Nachmittag  plötzlich 
ein  starkes  Stechen  im  Kopf,  es  ekelt  ihm  vor  dem  Essen;  er  wird 
unruhig ;  seine  Aufregung  nimmt  zu ;  er  zittert ;  wird  je  länger  je  mehr 
in  sich  gekehrt,  reizbar  und  verstockt.  Er  fühlt  aller  Leute  Augen 
auf  sich  gerichtet,  glaubt  sich  verfolgt  und  hält  sich  zur  sofortigen 
Vertheidigung  bereit.    Nachts  schläft  er  schlecht  und  träumt  von  Särgen. 

Am  folgenden  Tag  verfolgt  ihn  der  Traum,  dessen  Bedeutung  er 
zu  ergründen  sucht,  bis  er  plötzlich  am  Nachmittag  in  einem  Augen- 
blick, da  ihn  der  Gedanke  an  sein  allzugrosses  Elend  überwältigt,  den 
festen  Entschluss  fasst,  sich  das  Leben  zu  nehmen.  Vorher  will  er 
aber  noch  alles  "versaufen",  was  er  hat.  Von  da  an  hat  er  keine  Ruhe 
mehr.  Es  treibt  ihn  in  wilder  Flucht  von  Wirthshaus  zu  Wirthshaus. 
Die  gestrigen  Symptome,  —  Aufregung,  Kopfschmerzen,  Tremor,  Durst, 
brennendes  Gefühl  und  Trockenheit  im  Hals,  der  leichte  Verfolgungs- 
wahn, —  haben  alle  an  Stärke  zugenommen.  Zu  alledem  hört  er 
heute  noch  beständiges  Geflüster  um  sich  herum,  ohne  jedoch  Jemand 
zu  sehen. 

Seine  Aufregung  wächst,  er  geht  nach  Hause,  dort  begeht  er  das 
Unerhörte  und  erbricht  die  Patronenbüchse.  Nachdem  er  das  Gewehr 
geladen,  wirft  er  es  zum  Fenster  hinaus,  um  sich  draussen  unbemerkt 
davon  zu  machen  und  sich  das  Leben  zu  nehmen.  Wechselvoll  wie 
seine  nunmehrigen  Schicksale  ist  auch  seine  Stimmung,  besonders  bei 
dem  Abschied,  den  er  von  seinen  Bekannten  und  vom  Leben  nimmt. 
Bald  ist  er  weich  gestimmt  und  zu  Thränen  gerührt,  bald  lacht  er  in 
sich  hinein  voll  Ligrimm  und  Hohn.  Im  nächsten  Augenblick  schon 
fangt  er  wieder  an  vor  Wuth  und  Zorn  mit  den  Zähnen  zu  knirscheUi 
die  Fäuste  zu  ballen,  auf  den  Boden  zu  stampfen,  zu  fluchen,  zu 
schimpfen  und  zu  queruliren.  Seine  Rohheit  und  Brutalität  kennt  dabei 
keine  Grenzen.    Daneben  ist   er  voll  Misstrauen  und  Argwohn  gegen 


160  Carl  (htteier 

alle  Menschen.  Er  wittert  fortwährend  einen  Anschlag  auf  seine  Person 
und  befürchtet  sein  Plan,  sich  das  Leben  zu  nehmen,  könnte  entdeckt 
und  sein  Gewehr  entwendet  werden.  Das  Letztere  geschieht  wirklich 
und  kaum  wird  er  es  inne,  als  ein  Wuthanfall  bei  ihm  ausbricht.  Mit 
Mühe  und  nur  unter  Anwendung  von  Gewalt  lässt  er  sich  beschwich- 
tigen und  auf  das  Zimmer  eines  Freundes  bringen. 

Dort  verbringt  er  eine  sehr  unruhige,  fast  schlaflose  Nacht  und 
am  Morgen  des  18.  XI.  beherrscht  ihn  nur  noch  der  Gedanke,  sein 
Gewehr  zu  suchen  imd  —  zu  Trinken.  Sein  Bewusstsein  scheint  schon 
etwas  mehr  gestört.  Nur  zum  Theil  erinnert  er  sich  an  seine  gestrigen 
Anfalle.  Er  beginnt  allerlei  sinnlose  Handlungen,  so  dass  seine  Um- 
gebung nicht  mehr  an  seiner  Verrücktheit  zweifelt,  und  ihn  auf  der 
Polizei  anzeigt.  So  z.  B.  wirft  Pat.  mitten  auf  der  Strasse  seinen  Hut 
zur  Erde,  tanzt  darauf  herum,  singt  und  heult  und  lacht  und  schimpft 
in  wildem  DurcheiDander.  Er  nimmt  Patronen  in  den  Mund  und  beisst 
darauf,  um  seinen  Schädel  zu  zersprengen,  das  ganze  Haus  in  die  Luft 
zu  jagen  u.  s.  w.  Er  achtet  immer  weniger  auf  seine  Umgebung.  Was 
man  ihm  sagt,  versteht  er  oft  falsch  oder  gamicht.  Manches  übersieht 
er  oder  giebt  ihm  eine  falsche  Deutung.  Das  Alles  ist  aus  seiner  Er- 
zählung in  der  Hypnose  deutlich  zu  erkennen,  indem  er  immer  mehr 
von  seinem  subjectiven  Befinden,  dagegen  w^eniger  von  seiner  Umgebung 
spricht,  auch  etwas  mehr  Fehler  in  seine  Erzählung  einschleichen  läset. 
Am  Abend  fangt  er  an  zu  hallucinireu  und  zu  deliriren.  Da  er  sich 
in  einem  Wirthshaus  glaubt,  hält  er  den  Arzt  für  den  Wirth.  Seine 
Aufregung  erreicht  den  Gipfelpunkt.  Den  Lehrer  Keller  erblickt  er 
in  schattenhafter  Gestalt  vor  sich,  während  sich  seine  Glieder  krampf- 
haft zusammenziehen.  Nachts  wiederholen  sich  diese  Delirien  in  kurzen 
Intervallen.  Er  sieht  immer  zwei  Gestalten  vor  sich  (den  Keller  und 
den  Zumstein).  Sie  dringen  auf  ihn  ein;  er  setzt  sich  zur  Wehr; 
springt  auf  sie  zu;  stösst  mit  Kopf  und  Füssen  an  die  Wand  des 
Arrestlokales,  die  er  negativ  weghallucinirt  hatte.  Erschöpft  fällt  er 
zu  Boden  und  bald  darauf  fängt  die  Jagd  von  Neuem  an.  Die  ganze 
Nacht  wird  Pat.  von  seinen  Hallucinationen  geplagt.  In  etwas  luci- 
deren  Intervallen  hat  er  Ohrensausen  und  Augenflimmem,  und  sein 
Kopfweh  und  Tremor  sind  stärker  denn  je.  Auch  schmerzt  ihn  einmal 
seine  blutende  Zunge,  an  der  er  sich  irgend  eine  Verletzung  zuge- 
zogen hat. 

Am  Morgen  verweigert  er  die  Nahrung,  kennt  seine  Umgebung 
nicht  mehr,   kümmert  sich  auch  nicht  um  sie.    Nach  einem  letzten 


£in  Fall  Yon  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     161 

deliriösen  Anfall  geht  sein  Aufregungszustand  allmählich  in  einen 
stuporösen  Dämmerzustand  über.  In  diesem  Zustand  kommt  er  in  die 
IrrenheUanstalt.  Er  ist  sehr  stark  benommen^  hat  noch  heftiges  Kopf- 
weh, kümmert  sich  nicht  um  seine  Umgebung,  wUl  weder  hören  noch 
sehen,  was  um  ihn  hemm  vorgeht  und  wünscht  nur,  dass  man  ihn  in 
Suhe  lasse.  In  sich  gekehrt,  reizbar  und  verstockt,  versunken  in  stumpf- 
sinniges Brüten  reagirt  er  nur  auf  sehr  energisches,  eindringliches 
Fragen.  Auf  complicirtere  Fragen  antwortet  er  überhaupt  gamicht, 
oder  nur  mit  einem  abweisenden,  gereizten  „Ja^.  Die  Ereignisse  der 
letzten  Tage  hat  er  vollständig  vergessen;  er  weiss  nur  noch,  dass  er 
Nachts  sehr  wenig  geschlafen,  weil  zwei  „Kerle"  ihn  beständig  gequält 
hätten,  doch  auch  das  entschwindet  seinem  G^edächtniss  im  Laufe  des 
Tages. 

Am  Morgen  des  20.  Nov.  ist  er  wieder  bei  klarem  Verstände, 
zeigt  sich  aber  für  die  letzten  7  Tage  vollständig  erinnerungslos  und 
leidet  überhaupt  an  einem  schlechten  Gedächtniss,  was  an  Folgendem 
zu  erkennen  ist. 

Am  Samstag  Morgen,  den  20.  Nov.,  weiss  Fat.  noch,  dass  er  in 
der  Nacht  von  Freitag  auf  den  Samstag  wenig  geschlafen,  weil  fort- 
während einer  sang,  „ich  hatt'  einen  Kameraden'^  Dienstag,  den  20.  Nov., 
weiss  er  nichts  mehr  davon.  Ueberhaupt  hat  er  am  Dienstag  nur  noch 
ganz  vage  Erinnerungen  über  das,  was  er  am  Samstag,  Sonntag  und 
sogar  am  Montag  gethan  hat.  So  glaubt  er,  er  sei  am  Sonntag  Morgen 
wieder  zu  sich  gekommen  und  habe  am  Sonntag  Morgen  den  Wärter 
gefragt,  wo  er  sich  befinde  und  wieso  er  hierher  gekonmien  sei,  während 
sich  das  Alles  am  Samstag  Morgen  ereignet  hatte.  Er  erinnert  sich 
nicht,  am  Montag  Morgen  bei  der  grossen  Visite  den  Referenten  und 
einige  andere  Herren  gesehen  zu  haben,  während  er  später  in  der 
Hypnose  sich  an  alle  Anwesenden  genau  erinnert,  sogar  derjenigen 
Herren,  die  er  seither  nicht  mehr  erblickt. 

Das  Kopfweh  des  Fat.  verschwand  allmählich  im  Laufe  des  20.  Nov., 
zeigte  aber  am  Nachmittag  des  21.  ohne  äussere  Ursache  plötzlich 
«ine  starke  Exacerbation,  um  nachher  vollständig  wieder  zu  verschwinden. 

Nachdem  das  Bewusstsein  des  Fat.  wieder  hergestellt  war,  wurde 
mit  der  Hypnose  begonnen,  um  den  Fat.  1.  von  seiner  Amnesie  zu 
befreien  und  2.  um  ihm  die  Totalabstinenz  von  alkoholischen  Getränken 
zvL  erleichtem. 

Bei  dem  successiven  Wiederauftauchen  der  Erinnerungen  entpuppte 
sich  auch  nach  und  nach  die  Natur  der  Amnesie,  d«  h.  des  Symptomes, 


152  Carl  Graeter. 

das  uns  hier  vor  Allem  interessirt.  Nach  den  Bezeichnungen  von  Rib ot  ^ 
ist  sie  eine  totale  temporäre,  nach  Janet^)  eine  localisirte,  theilweise 
retrograde  Amnesie.  Der  retrograde  Character  derselben,  zeigte  sich 
erst  bei  ihrer  Aufhebung.  Denn  erst  bei  ihrer  Aufhebung  wurden  wir 
durch  die  Erzählung  des  Pat.  bekannt  mit  seinem  Geisteszustand  aus 
und  vor  der  Zeit  der  Entstehung  der  Amnesie,  und  dieser  Geistea» 
zustand,  die  daraus  resultirenden  Handlimgen  und  die  Art  des  Wieder- 
auftauchens  der  Erinnerungen  an  dieselben,  geben  die  Anhaltspunkte 
ab,  nach  denen  man  bei  einer  Amnesie  unterscheidet:  1.  Einen  pri- 
mären, dem  Dänmierzustand,  der  die  Amnesie  verursachte,  entsprechen- 
den Theil  und  2.  einen  retrograden  Theil.  Dieser  retrograde  Theil^ 
entstanden  im  Anschluss  an  den  primären,  erstreckt  sich,  von  Beginn 
der  Geistesstörung  an,  nach  rückwärts  auf  die  vorhergehenden  Tage. 
Bei  unserer  Amnesie  sind  die  beiden  Theile,  nicht,  wie  bei  den  meisten 
retrograden  Amnesien,  scharf  von  einander  abgegrenzt,  sie  gehen  all- 
mählich in  einander  über,  wie  auch  die  Bewusstseinsstörung  nicht 
plötzlich,  sondern  allmählich  sich  entwickelte. 

Am  Anfang  der  Erzählung  des  Fat.,  d.  h.  also  bei  der  Aufklärung 
des  retrograden  Theiles  der  Amnesie,  lauten  die  Angaben,  gleich  beim 
ersten  Auftreten  der  Erinnerungen  bestimmt,  klar  und  präcis;  auch 
sind  sie  wohl  geordnet  nach  den  Gesetzen  der  Association. 

Mit  dem  Bericht  über  das  Auftreten  der  Hallucinationen  und  dem 
Eintreten  des  Dämmerzustandes  am  5.  und  6.  Tage  der  vergessenen 
Zeitperiode,  werden  die  Erinnerungen  nebelhafter,  unklarer.  Sie  sind 
in  der  Hypnose  viel  schwerer  hervorzurufen.  Bei  ihrem  ersten  Auf- 
treten sind  sie  meist  nicht  in  logischer  Weise  mit  einander  verknüpf^ 
sondern  wie  Bilder  aus  einer  nebelhaften  Landschaft  treten  sie  zunächst 
einzeln,  da  und  dort,  mit  undeutlichen  verschwommenen  umrissen  aus 
dem  Dunkel  der  Amnesie  hervor,  zuerst  diejenigen,  die  beim  Entstehen 
den  stärksten  Eindruck  hinterlassen  hatten  und  erst  nach,  durch  weitere 
Hypnosen,  gesteigerter  Erinnerungsfähigkeit  reihen  sich  in  logischer 
Verknüpfung  die  übrig  bleibenden  an ;  die  Ersteren  selbst  werden  dabei 
klarer,  deutlicher,  mid  das  Ganze  gestaltet  sich  zu  einem  einheitlichen 
Bilde,  das  allerdings  stellenweise  noch  einige  kleine  Lücken  aufweist. 
Am  Anfang  werden  diese  Erinnerungen  aus  der  Zeit  des  Dämmer- 
zustandes mit  den  beständigen  Zusätzen  „ich  glaube^',  „es  scheint  mir^^ 
und   „ich  weiss  nicht  recht*'   hervorgebracht,   und  erst  in  den  späterem 

')  Ribot,  Das  Gedächtniss  und  seine  Störungen. 

-)  Janet,  PAmnesie  hysterique  (Arch.  de  Neurol.  XXIV.  1892).     " 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypennnesie  beseitigt.    153 

Hypnosen  gelangt  Fat.  zur  sicheren  Ueberzeugung,  dass  die  Sache  sich 
wirklich  „so^^  zugetragen  habe. 

Wir  sagten,  dass  diese  Störung  des  Gedächtnisses  gleichzeitig  sich 
ausbildete  mit  dem  Auftreten  der  Hallucinationen  des  Fat.  am  Abend 
des  5.  Tages  der  vergessenen  Zeitperiode. 

Aber  schon  vorher,  nämlich  im  Laufe  des  5.  Tages  und  am  Abend 
des  4.  Tages,  zeigen  sich  einige  Vorboten  derselben,  indem  Fat.  in 
seiner  Erzählung  über  diese  Zeit,  sich  manche  Ungenauigkeiten  und 
Fehler  zu  Schulden  kommen  lässt,  und  am  Morgen  des  fünften  die 
Vorfalle  des  vorhergehenden  Abends  zum  Theil  vergessen  hat. 

Diese  letztere  Thatsache  zeigt  uns  deutlich,  dass,  in  diesem  Falle 
wenigstens,  die  primäre  totale  Amnesie  in  Beziehung  auf  ihre  Entstehung, 
nichts  Anderes  als  eine  hochgradige,  continuirliche  Amnesie  ist,  indem 
die  während  des  Dämmerzustandes  erworbenen  Sinneseindrücke  nur  sehr 
kurze  Zeit  im  Bewusstsein  haften  bleiben  und  sofort  „dissociirt"  werden. 
Dafür  sprechen  noch :  erstens,  das  aUmähliche  Ausklingen  der  Bewusst- 
seinsstörung  in  eine  sogenannte  Gedächtnissschwäche,  die  ja  nichts 
Anderes  als  eine  continuirliche  Amnesie  ist,  und  zweitens  der  Umstand, 
dass  sich  Fat.  bei  seinem  Eintritt  ins  Burghölzli  noch  erinnert,  in  der 
Nacht  von  zwei  „Kerlen"  verfolgt  worden  zu  sein,  dasselbe  aber  rasch 
Tergisst. 

Was  die  Fehler  und  Ungenauigkeiten  in  der  Erzählung  betriflft,  so 
scheint  es  mir  hier  am  Flatze,  dieselben  etwas  näher  ins  Auge  zu  fassen, 
da  das  Studium  derselben  für  das  Verständniss  der  Amnesie  und  deren 
Beseitigung  nicht  ohne  Wichtigkeit  ist. 

Zunächst  begegnen  wir  solchen  Irrthümem,  wo  Treue  und  Schärfe 
der  einzelnen  Erinnerungsbilder  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen,  aber 
die  zeitliche  Reihenfolge  derselben  gestört  ist.  Sie  beruhen  auf  einer 
fehlerhaften  Association,  wie  folgendes  Beispiel  beweist: 

Am  Mittwoch  Nachmittag  wiederholt  sich  unter  gleichen  Umständen  ein  Vor- 
faU,  der  am  Dienstag  Nachmittag  passirt  war.  Im  Augenblick,  da  nun  Fat.  in  seiner 
£rzählung  an  diesem  Vorfall  vom  Dienstag  Nachmittag  angelangt  ist,  entgleist  er 
and  springt  auf  den  Mittwoch  Nachmittag  über,  alle  Ereignisse  vom  Mittwoch 
Abend  an  den  Vorfall  vom  Dienstag  Nachmittag  anreihend. 

Dies  geschieht  um  so  leichter,  als  er,  durch  eine  diesbezügliche  Mittheilung 
seiner  Kameraden  vor  der  Hypnose  irre  geführt  worden  war.  Es  hatten  ihm  diese 
gesagt,  dass  sein  Selbstmordversuch  am  Dienstag  Abend  stattgefunden  habe,  während 
er  sich  thatsächlich  am  Mittwoch  ereignet  hatte  (vergl.  pag.  145). 

Gewöhnlich  bleibt  nun  dadurch,  wie  auch  dieses  Beispiel  zeigt,  im 
Gedächtniss  eine  Lücke  bestehen,   deren  sich  Pat.  gar  nicht  bewusst 


164  Carl  Graeter. 

wird.  Es  bleiben  eine  Anzahl  von  Erinnerungen  dissocürt. 
für  diese  At]^  von  Fehlem  ist,  dass  Pat.  mit  der  grossten  Bestimmtheil 
auf  seinem  Irrthnm  beharrt.  Die  Treue  und  Klarheit  der  ESrinnerungs- 
bilder  verleihen  ihm  das  Geflihl  der  Sicherheit.  Dies  dauert  so  lang, 
bis  Fat.  plötzlich  durch  einen  zufälligen  EinfiEdl  oder  irgend  eine  Ueber* 
legung  sieht,  dass  etwas  nicht  stimmt,  den  Lapsus  entdeckt  und  nun 
Schlag  auf  Schlag  die  noch  fehlenden  Erinnerungen  associirt  Diese 
Fehler  sind  natürlich  in  der  gesteigerten  Erinnerungsfähigkeit  der 
Hypnose  viel  seltener  als  bei  Reminiscenzen  aus  dem  täglichen  Leben 
im  Wachzustand.  Nichtsdestoweniger  kommen  sie  in  unserem  Falle 
auch  bei  der  Aufklärung  des  retrograden  Theiles  der  Amnesie  vor, 
was  bei  der  grossen  Gleichförmigkeit  im  Leben  des  Pat.  nicht  zu  ver- 
wundern ist. 

Eine  zweite  Kategorie  von  Fehlem  findet  sich  fast  nur  bei  der 
Wiederherstellung  des  Gedächtnisses  für  den  primären  dem  Dämmer- 
zustand entsprechenden  Theil  der  Amnesie.  Ln  Zusammenhang  damit 
steht  die  weitere  Thatsache,  dass  ihre  jeweiligen  Ursachen  durdi 
Hjrpnose  nicht  beseitigt  werden  können.  Diese  Ursachen  können  be- 
stehen: 1.  In  einer  momentanen  Unachtsamkeit  des  Pat.  zur  Zeit  der 
ursprünglichen  Sinneswahmehmung.  2.  In  irgend  einer  Störung  der 
Aperception  und  Perception,  sei  es  durch  eine  abendliche  Ermüdung 
oder  eine  Alkoholintoxication,  sei  es  durch  das  Eintreten  des  Dämmer- 
zustandes mit  der  langsam  fortschreitenden  Dissociation  des  Bewussl- 
seins  und  der  allgemeinen  Erschwerung  der  Sinneswahmehmung.  Wenn 
aber  schon  die  Sinneswahmebmuiigen  fehlerhaft,  unvollständig,  undeutlich 
und  verschwommen  sind,  vrieviel  mehr  werden  es  trotz  aller  hypnotischen 
Hjpermnesie  die  Erinnemngen  an  dieselben  sein?  Zu  alledem  kommt 
noch  hinzu,  dass  die  Eriunemngen  bei  der  allgemeinen  Unsicherheit 
durch  Autosuggestion  fehlerhafte  Verbesserungen  erfahren  können. 

In  Folgendem  führe  ich  nun  einzelne  Beispiele  für  diese  Art  von 

Erinnerungstäuschungeu  an,   betone  aber,   dass  es  oft  schwer  hält,  die 

einzelnen  der  obgenanuten  causalen  Momente  auseinander  zu  halten,  da 

dieselben  selten  allein,  sondern  gewöhnlich  in  Verbindung  mit  einander 

auftreten  und  oft  mit  irgend  einer  AssociatioflsstöruDg  verbunden  sind. 

Am  17.  Nov.  (dem  fünften  Tag  der  vergessenen  Zeitperiode)  werden  dem  Fii. 
auf  dem  Polizeiposten  von  seinen  Efifecten  abgenommen :  ein  angefangener  Brief!  ein 
Bleistift,  80  Cent  mit  Portemonnaie,  ein  Schlagring,  ein  Tischmesser,  eine  Uhrketie, 
vier  Photographien  und  15  Patronen.  Alles  giebt  Pat.  nach  der  Hypnose  genau 
an,  nur  in  der  Anzahl  der  Photographien  und  Patronen  täuscht  er  sich;  offenbar 
\«'ar  diese  zu  gross,  und  er  hatte  sie  sich  nicht  besonders  gemerkt.  —  Zwei  Photo- 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hsrpnotische  Hypermnesie  beseitigt.     165 

graphien,  giebt  er  an,  seien  es  gewesen  und  zum  mindesten  ebensoviel  Patronen. 
Wir  sehen  aus  diesem  Beispiel ,  dass  den  Fat.  bei  dieser  Art  von  Irrthümem,  im 
Gegensatz  zu  den  früheren,  ein  Gefühl  der  Unsicherheit  beherrscht.  Der  Fehler 
lieg^  hier  an  der  Undeutlichkeit  der  aufgenommenen  Wahrnehmungen  und  in  Folge 
dessen  leidet  auch  das  Erinnerungsbild. 

Hierher  gehört  auch  eine  Art  von  Erinnerungsverfalschungeii,  die 
sich  bei  grosser  ErmüduDg  einstellen,  also  namentlich  für  Neurastheniker 
characteristisch  sind.  Man  glaubt  von  einer  Sache,  die  man  blos  zu 
thun  beabsichtigte,  sie  sei  ausgeführt  worden.  Das  Uebergangs- 
Stadium  zu  dieser  Verfälschung  bilden  jene  unangenehmen  Situationen, 
in  denen  man  vergeblich  sein  Gehirn  zermartert,  um  von  irgend  einer 
Absicht  zu  erfahren,  ob  man  sie  auch  wirklich  ausgeführt  hat,  oder  nicht. 

So  erinnerte  sich  Pat.  nicht  mehr,  ob  er  an  jenem  Abend  (Mittwoch,  den 
17.  November),  als  er  sein  Gewehr  aus  dem  Schrank  geholt  und  die  Nothmunition 
erbrochen  hatte,  die  Gründe  zu  seinem  beabsichtigten  Selbstmord  wirklich  in  sein 
Notizbuch  niedergelegt  hatte  oder  bloss  mit  dem  Gedanken  umgegangen  sei,  es 
za  thun.  So  glaubt  er  mit  seinen  Freunden  nach  dem  misslungenen  Selbstmord- 
versuch im  Wirthshaus  „zam  Matten^rten^  und  im  „Strauss*'  gewesen  zu  sein, 
obschon  ihn  damals  seine  Freunde  an  der  Ausführung  seiner  Absicht  gehindert  hatten. 

Ein  weiteres  Beispiel  haben  wir  (pag.  146  flf.)  schon  des  Ausfuhrlichen 
behandelt.  Es  fuhrt  uns  mit  dem  Pat.  zurück  in  die  Zeit  seines  epi- 
leptischen Deliriums,  wo  er  von  Hallucinationen  verfolgt  wurde,  seine 
Umgebung  verkannte,  Illusionen  über  dieselbe  hatte,  sie  zum  Theil 
negativ  weg  hallucinirte  und  nicht  beachtete.  Kein  Wunder,  wenn  in 
der  nachherigen  Erzählung  über  diese  Zeit,  Irrthümer  mit  unterlaufen 
konnten. 

Die  Erschwerung  der  Sinneswahrnehmung,  und  die  Dissociation  des 
Bewusstseins  des  Pat.  war  an  diesem  Abend  so  gross,  dass  er  sich 
trotz  der  dadurch  hervorgerufenen  Panik,  nicht  einmal  bewusst  war, 
einem  Anderen  einen  Fusstritt  ertheilt  zu  haben.  Was  der  Arzt  damals 
von  ihm  verlangte,  hat  er  wohl  auch  nicht  verstanden.  Er  hörte  etwas 
von  einem  Bruder  und  einem  Knie,  wurde  dadurch  an  seinen  Bruder 
erinnert,  der  die  Kniescheibe  gebrochen  hatte  und  glaubte,  der  Arzt 
frage  ihn  nach  diesem.  Möglich  ist  es  auch,  dass  diese  Ueberlegung 
erst  nachträglich  in  der,  Hypnose  stattfand,  so  dass  also  die  an  sich 
mangelhaften  Erinnerungen  durch  Ergänzungen  autosuggestiver  Art 
noch  fehlerhaft  verbessert  worden  wären. 

Als  letztes  Beispiel  erwähne  ich  eine  Erinnerungsfälschung,  über 
deren  Ursache  ich  keinen  sicheren  Aufschluss  erhalten  konnte. 

Fat.  wurde  von  einem  Polizisten  auf  eine  andere  Wache  geführt,  als  er  unter- 
wegs einem  Herrn  zurief,  er  brauche  ihn  nicht  so  anzuglotzen  und  so  dumm  zu 


156  Carl  Graeter. 

lachen,  sonst  wolle  er  ihm  schon  dafür  thun.  wenn  er  schon  in  Begleitung  eines 
Polizisten  sei.  Daraufhin  erzählt  Fat.  weiter,  habe  der  Herr  auf  italienisch  gefiragt, 
was  er  begangen  habe,  worauf  Fat.  ebenfalls  auf  italienisch  geantwortet  habe: 
„Non  ho  mica  rubato  (habe  nichts  gestohlen);  e  meglio  di  andar  via**  (gehen  Sie 
Ihres  Wegs)  etc.  und  der  Folizist  habe  im  Anschluss  daran  dem  Herrn  noch  n- 
gerufen,  er  solle  machen,  dass  er  fortkomme,  sonst  nehme  er  ihn  auch  mit.  — 
Hierzu  bemerkt  der  betreffende  Folizist,  Fat.  habe  allerdings  einem  Herrn  etwu 
zugerufen ,  aber  italienisch  sei  es  nicht  gewesen.  £r  selbst  (der  Folizist)  habe  m 
dem  Herrn  nichts  gesagt,  sondern  den  Fat.  zur  Ruhe  gemahnt  und  ihn  aufge- 
fordert, ihm  zu  folgen,  worauf  Fat.  noch  eine  Zeitlang  vor  sich  hingebrummt  hätte, 
er  habe  nicht  gestohlen,  man  brauche  ihn  nicht  so  etc. 

Weno  diese  falschen  Angaben  etwas  mehr  sind  als  eine  blosse 
Prahlerei,  so  wäre  dies(»r  Fall,  der  Autosuggestibilität  des  Patienten 
wegen  als  eine  Pseudologia  phantastica  aufzufassen,  wie  sie  Delbrück^) 
in  seiner  „Pathologischen  Lüge"  beschreibt. 

Pat.,  der  einige  Male  die  Tendenz  zeigte,  zu  seinen  Gunsten  zu 
retouchiren,  hat  mit  seinen  Sprachkenntnissen  renommirt  und  dann  selbst 
an  diese  kleine  Tarasconade  geglaubt.  Vielleicht  hat  er  die  Episode 
auch  mit  einer  wirklich  vorgefallenen  verwechselt.  Angetrunkene  reden 
ja  bekanntlich  g(»rn  in  fremden  Sprachen. 

Aus  dieser  Vergleichung  der  Fehler  des  Pat.  geht  hervor: 

1.  Dass  die  Amnesie  des  Pat.  der  Hauptsache  nach  eine  Associations- 
Störung  ist,  ausserdem  aber  für  einzelne  Erinnerungen  auch  mangelhafte 
Sinneswahmehmungen  aus  der  Zeit  des  Dämmerzustandes  in  Betracht 
fallen. 

2.  Dass  die  Wiederherstellung  des  Gedächtnisses  in  der  Hypnose 
nur  soweit  gelingt,  als  durch  sie  die  Aufmerksamkeit  auf  die  vergessenen 
(„dissociirteu'O  Erinnerungen  coucentrirt  —  eine  Hypermnesie  geschaffen 
—  wird  und  dadurch  nach  den  Gesetzen  der  Association  die  bestehenden 
Dissociationen  beseitigt  werden.  Fehlerhafte  Sinneswahmehmungen 
können  nachträglich  durch  die  Hypnose  natürlich  nicht  verbessert  werden. 

Alzheimer*-*)  hebt  als  besonders  characteristisch  für  die  auf 
epileptischer  ßasis  beruhende  Amnesie  die  Erfahrung  hervor:  dass  es 
dem  Epileptiker  keine  Ruhe  lässt  bis  er  die  Gedächtnisslücke  so  gut 
wie  möglich  durch  die  Aussagen  Anderer  ausgefüllt  hat,  während  den 
Hysteriker  seine  Amnesie  nur  wenig  beunruhige.  Ganz  in  Ueberein- 
stimmung  damit    sehen  wir,  dass   die  Amnesie   des  Pat.   schwer  auf 


^)  Delbrück:  Die  pathologische  Lüge  und  die  psychisch  abnormen  Schwindler. 
1891.    Verlag  von  Ferd.  Enkc,  Stuttgart. 

^)  Alzheimer:  Ueber  rückschreitende  Amnesie  bei  Epilepsie.  Allgem.  Zeit- 
schrift für  Psychiatrie,  Bd.  LIII  1897. 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     157 

seinem  Herzen  lastete,  er  konnte  es  kaum  glauben,  dass  er  mit  Gewehr 
und  scharfen  Patronen  manipulirt  habe  und  grübelte  den  ganzen  Tag 
darüber  nach,  wie  das  sich  wohl  möchte  zugetragen  haben.  Sein  Un- 
vermögen sich  zu  erinnern  deprimirte  ihn  sehr.  Mit  der  Beseitigung 
der  Amnesie  verschwand  auch  diese  Depression.  Der  Hauptwechsel 
in  der  Stimmung  des  Pat.  trat  ein  am  30.  Nov.,  dem  Tag,  an  welchem 
Pat.  in  der  Hypnose  zurückgeführt  wurde  in  jene  Schreckenszeit  seines 
Selbstmordversuches  und  seines  alkoholepileptischen  Deliriums.  Die 
Erlebnisse  dieser  Zeit  traten  während  der  hypnotischen  Hypermnesie 
des  Pat.  mit  solcher  Deutlichkeit  und  Klarheit  vor  sein  Auge,  dass  er 
sie  mit  allen  ihren  Aufregungen  fast  in  Wirklichkeit  noch  einmal  durch- 
zuleben  schien  und  seinen  damaligen  Geisteszustand  im  höchsten  Affect 
schilderte.  Und  ähnlich,  wie  in  den  von  Breuer  und  Freud  ^)  be- 
schriebenen, durch  die  kathartische  Methode  geheilten  Fällen  von 
Hysterie,  war  auch  Pat.  nach  dieser  Aufregung  in  Folge  der  hypno- 
tischen Hypermnesie  wie  umgewandelt.  Jetzt  konnte  er  wieder  auf- 
athmen.  Er  war  befreit  von  all  seinen  Zweifeln  und  Grübeleien,  von 
einem  unbestimmten  Gefühl  des  Druckes,  das  centnerschwer  auf  ihm 
gelastet,  ihn  in  jeder  Beziehung  gehemmt  und  beengt  hatte.  Diese 
Aufhebung  eines  krankhaften  Zustandes  hatte  jedoch,  wie  leicht  er- 
sichtlich, ihre  Ursache  nicht  wie  in  den  Fällen  von  Breuer  und 
Freud  in  dem  von  ihnen  genannten  „Abreagiren"  auf  ein  früheres 
psychisches  „Trauma",  sondern  lediglich  in  der  Beseitigung  der  Amnesie. 
Die  Erinnerungen  an  seinen  früheren  Geisteszustand  machten  auf 
ihn  einen  derartigen  Eindruck,  dass  er  sich  verschwor,  in  seinem  Leben 
keinen  Tropfen  Alkohol  mehr  über  seine  Lippen  zu  bringen ;  denn  „so 
etwas"  wollte  er  nicht  wieder  durchmachen.  Früher  hatte  er  allerdings 
schon  Aehnliches  betheuert,  doch  schien  er  es  mehr  den  Anstaltsärzten 
zu  Gefallen  gethan  zu  haben.  Man  sah,  er  glaubte  nicht  so  recht  an 
die  Erzählungen  der  anderen  Leute  und  an  die  grosse  Gefahr  des 
Trinkens.  So  haben  auch  die  meisten  Trinker,  in  Folge  von  Erinne- 
nmgsdefecten,  keine  rechte  Einsicht  in  ihren  wirklichen  Zustand  und 
ihre  Handlungen  aus  der  Zeit  ihrer  Alkoholintoxication.  Sie  wollen 
nicht  begreifen,  dass  man  die  Abstinenz  von  ihnen  verlangen  könne  imd 
werfen  ihrer  Frau,  den  übrigen  Angehörigen  und  den  Aerzten  vor, 
man   übertreibe,    verleumde   und   beschimpfe  sie.      In   solchen  Fällen 


*)  Breuer  und  Freud:    Stadien  über  Hysterie,  1895.     Verlag  von  Franz 
Deutike.    Leipzig  und  Wien. 


168  Carl  Graeter. 

wird  es  zweifellos  von  Nutzen  sein,  den  Trinkern  durch  die  Hypnose 
ihr  ganzes  bisheriges  Leben  oder  einige  herzergreifende  Scenen  aus 
demselben  vor  Augen  zu  führen,  bevor  man  sie  zu  überreden  sucht, 
vom  Alkohol  zu  lassen.  —  Diesmal  schien  es  also  dem  Pat.  mit  seinem 
Entschluss  wirklich  ernst  zu  sein.  Wir  werden  im  weiteren  Verlauf 
der  Krankengeschichte  sehen,   wie   er  denselben  durchgeführt  hat. 

In  der  nun  folgenden  Zeit  mischt  sich  Pat.  etwas  mehr  unter  die 
anderen  Patienten.  Er  ist  im  Ganzen  fröhlicher,  aufgeräumter  als  früher, 
manchmal  sogar  in  der  ausgelassensten  Stimmung.  In  einer  solchen  lacht, 
gesticulirt,  discutirt  und  renommirt  er  vor  den  anderen  Patienten  mit 
allerlei  Geschichten  und  Heldenthaten  aus  seinem  früheren  Leben,  sidi 
selbst  ganz  vergessend  und  doch  nur  von  sich  redend  und  an  sich 
denkend.  Andere  Tage  jedoch  beobachtet  er  sich  und  ist  wieder 
finster,  bissig  ujid  unzugänglich. 

Im  persönlichen  Verkehr  mit  dem  Pat.  fallt  vor  Allem  an  ihm 
auf:  eine  gewisse  Förmlichkeit  und  Manirirtheit  in  all  seinen  Bewe- 
gungen. Sie  sind  gesucht.  Pat.  gefällt  sich  in  gewissen  würdevollem, 
wichtigthuerischen  theatralischen  Attitüden,  die  aber  keineswegs  mannig- 
faltiger Natur  sind.  Es  zeigt  sich  dies  in  der  Art,  wie  er  die  Hand 
zum  Grusse  reicht,  in  seiner  Haltung,  wenn  er  mit  den  Leuten  redet, 
in  der  Art,  in  der  er  die  Karten  mit  einem  gewissen  Schneid  und 
theatralischer  Geste  auf  den  Tisch  wirft  u.  s.  w.,  namentlich  aber  in 
seinem  Blick  und  seiner  Miene,  wenn  er  die  Leute,  mit  denen  er  redet, 
so  von  der  Seite  mustert,  mit  einem  etwas  misstrauisch,  lauernden, 
stechenden,  drohenden,  herausfordernden  und  etwas  überlegenen  und 
starren  Blick.  Er  scheint  überall  einen  kleinen  Anschlag  auf  seine 
Person  zu  wittern,  jeden  Augenblick  sprungbereit,  sich  auf  seinen 
Widersacher  zu  stürzen.  Besonders  liebt  er  es,  mit  wichtiger,  bedeutongs- 
und  geheimnissvoller  Miene  über  Kleinigkeiten,  besonders  Ungerechtig- 
keiten, die  ihm  widerfahren  sein  sollen,  andeutungsweise  zu  reden. 

In  seinen  Erzählungen  ist  Pat.  ziemlich  umständlich^),  holt  weit 
aus,  hat  Mühe  bei  der  Sache  zu  bleiben  und  das  Wichtige  von  dem 
Nebensächlichen  zu  trennen.  Lässt  man  ihn  eine  Geschichte  zum 
zweiten  Mal  erzählen,  so  wiederholt  er  dieselbe  mit  der  gleichen  Aus- 
führlichkeit und  den  gleichen  Worten  wieder.  Er  drückt  sich  überhaupt, 
nach  Art  der  Epileptiker,  immer  gern  in  einigen  gleichen  ihm  eigenen 

^)  Von  dieser  Umständlichkeit  kann  man  sich  einen  Begriff  machen,  wenn 
man  bedenkt,  dass  die  obigen  Au&eichnüngen  aus  den  hypnotischen  Sitsongen 
weniger  als  die  Hälfte  ihrer  ursprünglichen  Ausführlichkeit  betragen. 


Ein  Fall  Ton  epileptischer  Amnesie  darch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     159 

BedewenduBgen  aus.  Er  wurde  deswegen  von  seinen  Kameraden  schon 
oft  dafür  ausgelacht.  Als  Beispiel  erinnere  ich  blos  an  seinen  Aus- 
druck ^,er  sei  nicht  katholisch'',  ,,er  brauche  nicht  Alles  zu  beichten'', 
den  er  vorbringty  so  oft  sich  ihm  nur  die  Gelegenheit  dazu  bietet. 

In  der  Anstalt  war  Fat.  arbeitssam,  zeichnete  sich  durch  Gewissen- 
haftigkeit und  Ordnungsliebe  aus.  Doch  zeigte  er  sich  dabei  sehr 
selbstsüchtig,  und  es  war  immer  schwer  ihn  zu  einer  auch  noch  so  ge- 
ringen Dienstleistung  zu  bewegen.  Gründen  war  er  dabei  nicht  zu- 
gänglich; denn  mit  seinem  Egoismus  zeichnete  er  sich  noch  durch 
einen  hartnäckigen,  beschränkten,  oft  etwas  schrullenhaften  Eigensinn 
aas.  Femer  ist  Fat.  sehr  empfindlich,  reizbar  und  jähzornig  und  geräth 
leicht  wegen  lächerlicher  Kleinigkeiten  in  heftige  Zomausbrüche,  wobei 
sein  Blick  einen  auffallig  impulsiven  starren  Ausdruck  annimmt. 

Am  19.  Nov.  litt  Fat.  ohne  nachweisbare  Ursache  an  heftigem 
Kopfweh  und  war  an  diesem  und  am  folgenden  Tage  sehr  missmuthiger 
Stimmung.  Es  waren  am  19.  Dec.  28  Tage  seit  dem  21.  Nov.,  an 
welchem  er  am  Nachmittag  vom  gleichen  Kopfweh  befallen  war;  und 
28  Tage  später,  am  16.  Januar  1898,  sollte,  wie  wir  alsbald  sehen 
werden,  das  gleiche  Kopfweh  wieder  auftreten.  Dazwischen  war  Fat. 
oft  in  der  ausgelassensten  Laune,  besonders  in  der  Zeit  um  Neujahr 
herum. 

Am  4.  Jan.  1898  wurde  Fat.  versuchsweise  aus  der  Anstalt  ent- 
lassen, nachdem  er  sich  zuerst  in  einen  Abstinenzverein  hatte  aufnehmen 
lassen.  Die  erste  Zeit  nach  seinem  Austritt  aus  der  Anstalt  ging  Fat. 
regelmässig  zur  Arbeit,  erschien  aber  trotz  zahlreicher  mündlicher  und 
schriftlicher  Einladungen  nie  mehr  in  den  Sitzungen  seines  Vereins. 
Als  ich  das  erfuhr,  dachte  ich  mir  sofort,  dass  vielleicht  die  Kellnerin 
aus  dem  Wirthshaus  zum  „Frohsinn",  der  er  immer  noch  sehr  zugethan 
war,  dahinterstecke.  Ich  hatte  mich  nicht  getäuscht.  Am  20.  Jan.  1898 
wollte  ich  ihn  am  Abend  aufsuchen,  fand  ihn  aber  nicht  zu  Hause. 
Vergangene  Nacht,  so  hörte  ich  zu  meinem  Bedauern,  war  Fat.  erst 
um  3  Uhr  oder  um  4  Uhr  Morgens  in  schwer  betrunkenem  Zustande 
heimgekehrt  und  hatte  alle  Leute  im  Hause  durch  sein  fürchterliches 
Glockenläuten  und  Gepolter  aug  dem  Schlaf  geweckt.  Diesen  Vor- 
mittag sei  er  gegen  11  Uhr  wieder  fort  und  sitze  jetzt  wahrscheinlich 
wieder  im  Wirthshaus.  Schon  in  der  Nacht  vom  16.  auf  den  16.  sei 
er  sehr  spät,  gegen  12  Uhr  oder  1  Uhr  Nachts  nach  Hause  gekommen 
und  sei  wahrscheinlich  auch  betrunken  gewesen,  wenigstens  habe  er 
sehr  laut  gethan.    Sonst  sei  er  immer  sehr  frühzeitig  nach  Hause  ge- 


160  Carl  Graeier. 

kommen  und  habe  wahrscheinlich  nie  ein  geistiges  Getränk  genossen. 
Ich  ging  nun  sofort  zum  ,,Froh8inn'^,  der  Stammkneipe  des  Pat.  und 
fand  denselben  richtig  dort.  Er  sass  hinter  einem  Glase  Bier,  schwer 
betrunken,  mit  dämmerndem  Blick,  schlaffen,  ausdruckslosen  Zügen, 
wässrig  glänzenden,  gerötheten  Augen  und  schlaff  herunterhängenden 
Gliedern.  Bei  meinem  Eintreten  blickte  er  nach  mir,  that  aber,  als 
ob  er  mich  nicht  kenne.  Ich  beobachtete  ihn  einen  Augenblick.  Müde 
liess  er  seinen  Kopf  Yomüberhangen  und  lehnte  ihn  schliesslich  mit 
der  Stirn  auf  den  Tisch.  Ich  trat  zu  ihm  und  legte  meine  Hand  auf 
seine  Schulter  und  rief  ihn  beim  Namen.  Zuerst  reagirte  er  nicht 
Plötzlich  fuhr  er  aber  auf,  ergriff  ein  Messer,  das  auf  dem  Tisch  lag, 
erhob  dasselbe  mit  drohender  Gebärde,  alles  das  so  rasch,  dass  ich 
kaum  Zeit  hatte,  einen  Schritt  zurückzutreten.  Dann  legte  er,  da 
Andere  ihm  in  den  Arm  fielen,  das  Messer  langsam  und  würdevoll, 
mit  theatralischer  Gebärde  wieder  auf  den  Tisch.  Da  jeder  weitere 
Versuch,  mit  dem  Pat.  ein  Gespräch  anzuknüpfen,  erfolglos  war,  yer- 
liess  ich  das  Lokal  und  wendete  mich  an  den  Polizeichef  des  Quartiers, 
dem  ich  die  Selbst-  und  Gemeingefährlichkeit  des  Pat.,  falls  er  des 
Alkohols  nicht  vollständig  entwöhnt  werde,  auseinandersetzte  und  bean- 
tragte, diesen  über  Nacht  auf  die  Polizeiwache  und  am  folgenden 
Morgen  vor  den  Stadtarzt  führen  zu  lassen,  behufs  weiterer  Beförderung 
in  die  Irrenheilanstalt.  Am  folgenden  Tage  begegnete  ich  zufällig  dem 
Pat.  auf  der  Strasse.  Er  erzählte  mir,  dass  er  die  Nacht  auf  der 
Polizeiwache  verbracht  habe,  am  Morgen  aber  wieder  freigelassen 
worden  sei.  Er  gab  mir  ferner  an,  dass  er  zum  ersten  Mal  am  16.  Jan. 
wieder  getrunken  habe  und  zwar  im  „Frohsinn",  wo  er  schon  einige 
Male  der  Kellnerin  wegen  wieder  hingegangen  war.  Am  16.  habe  er 
Nachmittags  an  heftigen  Kopfschmerzen  gelitten. 

Am  22.  Jan.  wurde  Pat.  auf  weitere  Beschwerde  von  der  Anstalt 
aus  polizeilich  eingebracht.  Dort  angekommen,  machte  er  seiner  Wuth 
gegen  mich  mit  grosser  Erbitterung,  in  den  rohesten  Ausdrücken  und 
thätlichen  Drohungen  Luft.  Er  behauptete,  man  wolle  ihn  als  verrückt 
hinstellen,  um  ihm  eine  kleine  Erbschaft,  die  er  kürzlich  gemacht  habe, 
aus  den  Händen  zu  spielen.  Aber  er  werde  sich  schon  Recht  zu  ver- 
schaffen wissen,  denn  er  sei  nicht  verrückt.  Diese  Aufregung  dauerte 
mehrere  Tage,  dann  beruhigte  Pat.  sich  ein  wenig.  Leider  musste  ich 
zwei  Wochen  nach  der  Wiederaufnahme  des  Pat.  meiner  Studien 
wegen  die  Anstalt  verlassen,  so  dass  ich  ihn  nicht  weiter  beobachten 
konnte.    Aber  so  lange  ich  mich  noch  im  Burghölzli  aufhielt,  sprach 


Ein  Fall  yon  epileptisclier  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.     16]. 

er  kein  Wort  mehr  mit  mir,  obschon  ich  eifrig  bemüht  war  ihn  durch 
Freundlichkeit  und  allerlei  Aufmerksamkeiten  umzustimmen.  Man  konnte 
ihm  die  Sache  darstellen,  wie  man  wollte,  er  nahm  keine  Vernunft  an. 

So  viel  über  den  weiteren  Erankheitsverlauf  des  Pat.  und  seinen 
typisch  epileptischen  Character.  Den  Rückfall  und  die  Wiederaufnahme 
des  Pat.  in  'das  Krankenhaus  habe  ich  deshalb  mit  solcher  Ausführ- 
lichkeit wiedergegeben,  weil  sich  bei  dieser  Gelegenheit  der  epileptische 
Character  des  Pat.  wieder  mit  aller  Deutlichkeit  zeigte.  Seine  impulsive 
Gewaltthätigkeit  und  Brutalität,  sein  hartnäckiger  beschränkter  Eigen- 
sinn, sowie  der  impulsiv  starre  Ausdruck  seiner  Augen  waren  hier 
auffallender  denn  je.  Ebenso  auffällig  war  die  Angabe  des  Pat.,  er 
sei  Sonntag,  den  16.  Jan.  1898  wieder  von  Kopfschmerzen  heimgesucht 
worden.  Das  macht  bis  zum  21.  Nov.  und  19.  Dec.  1897  gerade 
2  X  28  und  28  Tage,  —  eine  Periodicität  im  Wechsel  seines  Allgemein- 
befindens, die  sehr  für  epileptische  Anlage  spricht.  Auffällig  ist  femer 
der  Umstand,  dass  Pat.  seinen  Aussagen  und  den  Aussagen  dritter 
Personen  nach,  am  Vorabend  eines  solchen  kritischen  Tages  wieder  zu 
trinken  anfing.  Es  steht  dies  im  Einklang  mit  den  anamnestischen 
Angaben  des  Pat.  über  die  Entstehung  seiner  früheren  Amnesien  und 
lässt  die  Vermuthung  aufkommen,  dass  hier  eine  mehr  oder  weniger 
ausgesprochene,  in  Verbindung  mit  der  Epilepsie  auftretende,  perio- 
dische Dipsomanie  vorliegt.  Denn  merkwürdig  ist,  dass  diese 
früheren  Anfälle  von  Dipsomanie,  welche  mit  einem  von  Amnesie  ge- 
folgten Dämmerzustande  aufhörten,  alle  auf  einen  Sonntag  fallen^), 
gerade  wie  die  von  uns  beobachteten  Kopfwehattaquen  und  gemütho 
liehen  Depressionen  und  dass  sie  abwechselten  mit  Zeiten  übergrosser 
Lustigkeit,  in  denen  sich  Pat  mit  dem  Trinken,  wenigstens  am  Anfang, 
etwas  mehr  zusammennahm,  bis  durch  irgend  eine  Verstimmung,  ver- 
bunden mit  den  allmählich  wieder  gesteigerten  Alkoholdosen,  plötzlich 
der  alte,  unglückselige  und  unüberwindliche  Trieb  in  ihm  wieder  er- 
wachte. Eäne  solche  periodische  Dipsomanie  ist  ja  häufig  mit  den 
Symptomen  der  EpUepsie  verbunden.  Kraepelin  sieht  in  ihr  sogar 
nichts  Anderes  als  eine  Form  der  Epilepsie. 


^)  Das  genaue  Datum  dieser  Tage  konnte  ich  leider  nicht  mehr  feststellen, 
80  dass  der  Beweis,  dass  auch  sie  um  28  Tage  oder  ein  Vielfaches  von  28  Tagen 
voneinander  und  von  den  beobachteten  kritisdien  Tagen  abstehen.  Jedenfalls 
erscheint  es  sehr  wahrscheinlich,  da  alle  diese  Tage  auf  einen  Sonntag  fallen. 

Zeitsebrifl  fttr  Hypnotismns  etc.    VIIL  ^^ 


X6S  ^'^^  Graeter. 

ScUuss. 

Nach  Schulbegriffen  haben  wir  es  also  hier  mit  einer  Epilepsie  la 
thiiD.  Ich  fasse  kurz  die  Thatsachen,  die  dafür  sprechen,  noch  zu- 
sammen. Es  sind  deren  zwei  Gruppen.  In  die  erste  gehören  die  so- 
genannten Dauersymptoroe,  von  denen  einzelne  auch  bei  Hysterie  toi^ 
kommen  können,  die  aber  in  ihrer  Gesammtheit  den  Character  des 
Fat.  zu  einem,  nach  beutigen  Begriffen,  typisch-epileptischen  stempeln. 
Die  zweite  Gruppe  bilden  die  acuten  Krankheitssymptome.  Die  Mehr- 
zahl derselben  gilt  als  typisch  für  Epilepsie,  doch  sind  auch  einige 
darunter,  die  für  sich  allein  sowohl  als  hysterische,  als  auch  als  epi- 
leptische Symptome  gedeutet  werden  könnten. 

Die  Dauersymptome  lassen  sich  schon  im  vollständig  nüchternen 
Zustande,  im  Abstinenzstadium,  des  Fat.  erkennen,  werden  aber  schon 
durch  leichte  Alkoholintoxication  erheblich  gesteigert.  Sie  sind:  Sehr 
wenig  mannigfaltige,  wichtigthuerische ,  etwas  umständliche,  gesuchte 
Attitüden  und  Gebärden,  Umständlichkeit  beim  Erzählen,  mangelhaftes 
Auseinanderhalten  von  Haupt-  und  Nebensache,  eigene  stereotype  Rede- 
wendungen, Ordnungssinn,  Gewissenhaftigkeit  und  Fleiss,  daneben  un- 
stetes Wesen,  das  namentlich  durch  den  Alkoholgenuss  sehr  erhöht  wird, 
eine  gewisse  Förmlichkeit  im  Verkehr,  das  Misstrauen  gegen  alle  Lieute, 
die  Selbstsucht  und  Selbstgefälligkeit,  der  hartnäckige,  bomirte  Eigen- 
sinn, die  SchruUenhaftigkeit  und  Autosuggestibilität,  die  Querulirsucht, 
die  Eitelkeit,  das  geheimnissvolle  Wichtigthun  mit  den  unwichtigsten 
Sachen,  die  Benommirsucht,  die  Grübelsucht,  die  Reizbarkeit,  der 
Jähzorn,  die  impulsive  Gewaltthätigkeit  und  Brutalität,  der  auffallige 
Wechsel   in  der  Stimmung  des  Fat.  und  der  Ausdruck  seiner  Augen. 

Was  die  acuten  Krankheitssymptome  betrifft,  so  müssen  wir  zu- 
gestehen, dass  das  Hauptsymptom  für  Epilepsie,  die  periodischen 
Krampfanfälle  fehlen.  Allerdings  hat  Fat  angeblich  einmal  einen 
Krampfanfall  gehabt,  der  aber  ebensogut,  wenn  vom  Fat  nichts  Weiteres 
sonst  bekannt  wäre,  als  hysterisch  gedeutet  werden  könnte.  Hingegen 
sind  zahlreiche  Aequivalente  und  Andeutungen  von  solchen  vorbilden, 
die  in  ihrer  Form  für  Epilepsie  hinwiederum  sehr  typisch  sind :  so  das 
periodisch  auftretende  Kopfweh,  verbunden  mit  Zuständen  psychischer 
Depression  und  Dipsomanie;  die  sogenannten  pathologischen  Rausch- 
zustände mit  der  äusserst  wecbselvollen  Stimmung,  mit  impulsiven 
Gewaltthätigkeiten,  gesetzwidrigen  Handlungen  und  Selbstmordversuchen, 
mit  nachherigem  Stupor  und  totaler  Amnesie  und  schliesslich  das  aus- 


Ein  Fall  von  epileptischer  Amnesie  durch  hypnotische  Hypermnesie  beseitigt.    163 

fiihrlich  beschriebene  alkohol-epileptische  Delirium,  gefolgt  von  einem 
stuporösen  Dämmerzustand  und  7  tägiger  totaler,  zum  Theil  retrograder 
Amnesie.  Die  verschiedenen  Verletzungen  der  Zunge  und  des  Gesichtes, 
die  sich  Fat.  bei  solchen  Gelegenheiten  zuzog,  sprechen  ebenfalls  für 
Epilepsie.  Dies  Alles,  in  Verbindung  mit  dem  Fotatorium  des  Fat., 
seiner  Geschwister  und  des  Vaters  sichert  uns  die  gleich  bei  der  Auf- 
nahme desselben  gestellte  Diagnose  der  Alkohol-Epilepsie. 

Symptome,  die  ausschliesslich  für  Hysterie  gesprochen  hätten, 
haben  wir  auch  nicht  eines  gefunden,  es  wäre  denn  die,  bis  heute  je- 
weilen  schwer  ins  Gewicht  fallende  Thatsache,  dass  die  Amnesie  des 
Fat.  durch  die  Hypnose  hat  beseitigt  werden  können.  Doch  da  gerade 
dieses  Symptom,  auf  seinen  diagnostischen  Werth  hier  geprüft  werden 
soll,  so  darf  es  in  unserem  Falle  nicht  zur  Diagnose  verwendet  werden. 
Zu  zeigen,  dass  es  überhaupt  nicht  als  ein  sicheres  Ejriterium  der 
Hysterie  anzusehen  ist,  war  der  Zweck  unserer  Arbeit. 


IV 


Psychische  Zwangszustande. 

Bafertte  aos  der  deotschen,  firanzosischen  und  eng^Lschen  Literatur  der  Jahre  1896 

QDd  1897. 

Von 

Dr.  H.  Bertoehing^r,  Secimdararzt  in  Rheinan. 


I.  Deatoehe  Literatur  Aber  psyehiselie  Zwaagsrastiaia. 

Zur  XenntnisB  des  Anancasmus  (psychischer  Zwangszustande)  von 
Dr.  Julius  Donath,  Budapest.    Archiv  für  Psychiatrie.  1896. 

An  dem  Krankheitsbilde,  das  im  Jahre  1877  Westphal  unter  dem  Namen 
„Zwangsvorstellungen*'  aufgestellt  hat,  ist  seither  im  Wesentlichen  nichts  geändert 
worden,  nur  Weniges  ohne  Belang  wurde  hinzugefügt. 

Magnan, Thomsen,  Sommer  u.  a.  treten  für  die  Zwangsvorstellungen  als  be- 
sonderes Krankheitsbild  ein.  Kraepelin  rechnet  sie  zur  Neurasthenie,  Wille  and 
Jastrowitz  sahen  sie  bei  anderen  Geisteskrankheiten  und  behaupten  mit  Schule, 
dass  sie  in  andere  Geisteskrankheiten,  auch  Paranoia  übergehen  können,  was  Fair  et 
leugnet  und  Sander  nur  in  Bezug  auf  Melancholie  zugiebt.  31eynert  und  Fair  et 
betrachten  das  Auftreten  von  Paranoia  bei  Zwangsvorstellungen  als  Combination 
zweier  Krankhoitsbildcr.  Jastrowitz  und  Berger  leugnen  das  Fehlen  einer  emo- 
tiven Grundlage.  Thomscn  unterscheidet  idiopathische  und  deuteropathische 
Zwangsvorgänge. 

Allen  Zwangsvorgängen  gemeinsam  ist  die  zwingende  Gewalt  ihres  Auftretens, 
das  seltene  Fehlen  der  Einsicht,  dos  Auftreten  von  Ang^tzuständen  bei  Widerstand 
gegen  sie. 

Für  die  verschiedenen  Arten  der  psychischen  Zwangszustande,  zu  denen  der 
Verfasser  auch  Tic  convulsif,  Dipsomanie  und  sexuelle  Perversitäten  rechnet,  nicht 
aber  die  Phobien  mit  primärem  AngstafTect,  schlägt  er  an  Stelle  der  verschiedenen 
gebräuchlichen  Namen  die  gemeinsame  Benennung  „Anancasmus''  vor. 

Im  Gegensatz  zu  den  Autoren,  welche  das  Fehlen  von  Hallucinationen  her- 
vorheben, theilt  Verfasser  die  Krankengeschichte  einer  jungen  Frau  mit,  W9lche 
neben  häufigen  traurigen  Verstimmungen  an  harmlosen,  nicht  weiter  verarbeiteten 
Gesichtshallucinationen  und  seit  dem  11.  Jahre  an  ausgeprägten  Zwangrsvorftel- 
lungen  und  -befürchtungen  litt,  gegen  die  sie  sich  mit  den  raffinirtesten  Mitteln  la 
schützen  suchte.  Sie  war  intelligent,  arbeitsfähig,  stammte  aus  einer  enorm  psycho- 
pathisch  belasteten  Familie,  in  der  auch  Tuberculose  und  Diabetes  vorkam.  Sug- 
gestiv- und  Hydrotherapie  blieben  erfolglos. 


Fsychisohe  Zwangszustände.  165 

Wesen  und  Mechanismus  der  Zwangsneurose.  Dr.  S.  Freud, Wien. 
Neurologisches  Oentralblatt,  Mai  1896. 

Ist  bereits  in  dieser  Zeitschrift  referirt  worden.  Vgl.  Freud,  Weitere  Be- 
merkungen über  die  Abwehr-Neuropsychosen.    Bd.  IV.  pag.  260. 

Beiträge  zur  Lehre  von  den  Zwangsvorstellungen  und  ver- 
wandten  Krankheitserscheinungen.  Paul  Behm.  Neurologisches  Gen- 
tralblatt,  October  1897. 

Zwangsvorstellungen  sind  nur  ein  Symptom.  Sie  kommen  vor  bei  Gesunden, 
bei  Neurasthenie,  Hypochondrie,  Epilepsie,  Heilungen  mit  Defect,  in  der  Recon- 
▼alescenz.  Ihre  Grenzen  gegen  die  Gesundheit  sind  noch  fliessendere  als  gegen 
andere  Ejtinkheiten.  Sie  fähren  nie  zu  verbrecherischeD  Handlungen,  treten  nie 
plötzlich^  häufig  unter  dem  Einfluss  körperlicher  Krankheiten  auf  und  beruhen  auf 
einer  functionellen  Störung  der  Hirnrinde,  meistens  mit  secundärer  Erkrankung 
sympathischer  Gtinglien.  Der  Beginn  fällt  häufig  schon  in  das  Kindesalter.  Die 
Prognose  ist  leidlich,  die  Therapie  psychisch. 

Berkhan  sah  guten  Erfolg  bei  Anwendung  von  Gewalt  und  Ermüdung. 

UeberZwangsvorstellungen.  E.Mendel.  Neurologisches  Gentralblatt, 
Januar  1898. 

Im  Widerspruch  zu  Westphal,  der  seine  Zwangsvorstellungen  und  Morel, 
der  sein  delire  emotif  streng  von  den  Psychosen  abgrenzte,  werden  gegenwärtig 
überall  Zwangsvorstellungen  gesehen,  spricht  man  sogar  von  Zwangsirresein  und 
bezeichnet  mit  Anancasmus  eine  besondere  Geisteskrankheit. 

Als  Zwangsvorstellungen  bezeichnet  man: 

1.  Gewisse  unter  bestimmten  äusseren  Umständen  mit  Gewalt  auftretende 
Vorstellungen,  die  zu  Angstzuständen  oder  Zwangshandlungen  führen  können  (Ge- 
witterfurcht, Nyktophobie,  Arithmomanie  etc.),  die  auch  bei  gesunden  Leuten  vor- 
kommen können  und  keine  Degenerationszeichen,  sondern  Folge  von  Erziehungs- 
fehlem oder  schlechter  Angewohnheit  sind.  Man  könnte  sie  physiologische  Zwangs- 
▼orstellungen  nennen. 

2.  Uebermässig  sich  vordrängende  Wahnideen  Geisteskranker. 

3.  Ganz  besonders  häufig  hypochondrische  Befürchtungen,  z.  B.  Agarophobie, 
die  gewöhnlich  nach  einem  auf  offenem  Platz  ohne  Nähe  menschlicher  Hülfe  ent- 
standenen Schwindel-  oder  Ohnmachtsanfall  sich  entwickelt  und  eine  Angst  vor 
der  damals  empfundenen  Angst  ist;  Furcht  vor  Scheeren  und  Messern,  die  sich 
auf  die  Befürchtung  gründet,  sich  solcher  Instrumente  bei  etwa  plötzlich  ein- 
tretender Geisteskrankheit  zum  Selbstmord  bedienen  zu  können,  Koero,  Obsession 
dentaire,  ein  Theil  der  Zoophobien  und  folie  du  toucher.  In  allen  diesen  Fällen 
find  die  Zwangsvorstellungen  secundär,  das  Primäre  ist  die  Hypochondrie. 

4.  Hysterische  Zwangsvorstellungen  mit  gewöhnlich  sexuellem  Inhalt,  Eifer- 
uohtswahn,  auf  den  Urindrang  gerichtete  Zwangsvorstellungen.  Erythrophobie. 

5.  Epileptische  Zustände,  Zwangrsvorstellungen,  die  als  Aura  oder  postepüep- 
tieoh  oder  als  Aequivalente  von  echten  Anfällen  auftreten. 

6.  Zwangsvorstellungen,  die  darauf  beruhen,  dass  sich  beim  Denken  der  Asao- 
ekttionsTorgang  von  Ursache  und  Wirkung  oder  Gontrastassodationen  vordrängen, 
F]rege-,  Zweifel-,  Grübelsncht. 


169  H.  Bertschinger. 

Nor  Zwangs voratellungen  dieser  sechsten  Gruppe  entsprechen  den  West phal- 
sehen.    Morel  nannte  sie  Paranoia  rudimentaria. 

Alle  übrigen  sind  nur  Symptome  anderer  Krankheiten. 

£in  sehr  eingeschränkter  Gebrauch  des  Ausdruckes  Zwangsvorstellungen  ist 
sehr  zu  empfehlen. 

Ueber  die  Beziehungen  zwischen  Tic  g^n^ral  und  ZwangSTor- 
stellungen.  Dr.  G.  Fla  tau.  Centralblatt  für  Nervenheilkunde  und  Psydiiiatrie 
1897,  Februar. 

Unter  Hinweis  auf  einen  Fall  Freud 's,  bei  dem  beim  gleichen  Individuum 
Tic  gSneral  und  psychische  Zwangsvorgänge  vicariirend  auftreten,  veröffentlicht 
Fla  tau  drei  Fälle,  in  denen  beide  Störungen  in  Ascendenz  und  Descendens 
vicariiren. 

Der  erste  Fall  betrifft  eine  Frau,  die  seit  ihrer  Jugend  an  Zwangsvorstellungen 
leidet,  während  ihr  normal  intelligenter  Sohn  zwangsmässig  in  die  Hände  klatscht 
und  flucht  und  dabei  Tic  g^neral  aufweist.  Im  zweiten  Fall  hat  ein  13  jähriges 
Mädchen  seit  dem  fünften  Jahre  Zwangsvorstellungen  mit  Angstzuständen,  dessen 
Mutter  als  Kind  ähnliche  Erscheinungen  hatte,  während  deren  Schwester  und  ihr 
Sohn  an  Tic  gen^ral  leiden.  Im  dritten  Fall  leidet  ein  9  jähriges  Mädchen  an 
krampfhaften  Bewegungen,  Hustenanfallen  und  zwangsmässigem  Ausstossen  von 
Worten  und  Lauten,  seine  Mutter  an  Zwangsvorstellungen  und  -impulsen  und 
Angstzuständen,  seine  Grossmutter  war  nervös. 

Ueber  das  Zwangssprechen  als  selbstständiger  pathologischer 
Zustand.    Prof.  W.  v.  Bechterew.    Neurologisches  Centralblatt  1896,  December. 

£ine  von  Prof.  Bechterew  in  der  Versammlung  der  Aerzte  der  Peters- 
burger Klinik  für  Geistes-  und  Nervenkranke  demonstrirte  Kranke  zeigte  als  bei- 
nahe einziges  Krankheitssymptom  Yerbigeration ,  die,  wie  er  glaubt,  impulsiver 
Natur,  ein  Zwangsact,  ist. 

Die  Frröthungsangst  als  eine  besondere  Form  von  krankhafter 
Störung.    Prof.  W.  v.  Bechterew.    Neurologisches  Centralblatt  1897,  MaL 

Ein  20 jähriger  Mann,  der  schon  früher  sehr  leicht,  aber  auf  adäquate  Ur- 
sachen hin,  erröthete,  leidet  seit  9  Jahren  an  heftigem  Bothwerden  mit  Gefühl  von 
Blutandrang,  Hitze  und  Spannung  im  Gesicht,  das  eintritt,  sobald  er  in  Geselischaft 
ist,  sobald  er  sich  beobachtet  fühlt,  wenn  er  daran  denkt,  sogar  auch  wenn  er 
allein  ist.  Bei  schlechter  Beleuchtung,  wenn  seine  Aufmerksamkeit  anderweitig  ganz 
in  Anspruch  genommen  ist,  oder  wenn  er  sich  unbeobachtet  fühlt,  erröthet  er 
nicht.  Nach  Ausbruch  der  Röthe  fühlt  er  eine  gewisse  Erleichterung,  aber  der 
Gedanke,  erröthet  zu  sein,  lässt  ihn  bald  aufs  Neue  erröthen.  Erröthet  er  ohne 
vorhergehendes  Angstgefühl,  aus  adäquater  Ursache,  so  ruft  dies  Ereignis  wieder 
Erröthungsangst  hervor.  Vor  ganz  nahestehenden  Personen  und  Leuten,  die  seine 
Schwäche  kennen,  erröthet  er  nicht.  Hitze  wirkt  begünstigend,  Kälte  hemmend 
auf  den  Vorgang.  Er  zeigt  dabei  keinerlei  geistige  oder  körperliche  Anomalien, 
stammt  aus  gesunder  Familie.  Sein  Zustand  macht  ihn  sehr  unglücklich.  Die 
erste  Hypnose  hatte  einen  24  stündigen  Erfolg,  weitere  Sitzungen  blieben  erfolglos. 

Ein  zweiter,  35  jähriger  Mann  erröthet  seit  4  Jahren  ohne  Grund,  sobald  er 
in  Gesellschaft  kommt,  an  Jemandem  vorübergeht  oder  Jemand  ihn  ansieht.    Das 


Psychisobe  Zwangszastände.  167 

Leiden  Yerschlimmerte  sich  nach  und  nach  und  ist  durch  den  Willen  total  unbeein- 
flussbar.  Alkoholgenuss  hatte  nur  vorübergehenden  guten  Erfolg,  dem  Verschlim- 
merung folgte.    Die  Hypnose  blieb  erfolglos. 

Die  in  diesen  zwei  Pällen  in  Erscheinung  getretene  Krankheit  ist  eine  Special- 
form der  pathologischen  Angst,  die  dem  Erröthen  immer  Torangeht.  Sie  beruht 
auf  einer  psychisch  bedingten  Erregung  der  Yom  Verfasser  beschriebenen  vaso- 
motorischen Itindencentren,  die  ausser  vasoconstrictorischen  noch  activ  vasodilata- 
torische,  den  Blutdruck  vermindernde  Elemente  enthalten  und  bei  Kranken  mit 
Erröthungsangst  besonders  leicht  psychisch  erregbar  sind. 

Im  Gegensatz  zu  Pitres  und  Regis  betont  Bechterew  das  Auftreten  der 
Krankheit  schon  vor  der  Pubertät  (in  einem  seiner  Fälle  schon  im  elften  Jahr). 
Auch  er  erwartet  mehr  von  Autosuggestion  als  von  Hypnose  und  rieth  dem  zu 
Folge  einem  seiner  Kranken,  sich  jeden  Abend  vor  dem  Schlafen  die  Suggestion 
zu  geben  versuchen,  seine  Krankheit  werde  demnächst  verschwinden. 

Neue  Beobachtungen  über  die  Erröthungsangst.  Prof.  W.  von 
Bechterew.    Neurologisches  Centralblatt  1897,  November. 

An  Hand  von  zwei  Fällen  von  typischer  Erröthungsangst  bei  einem  24  jährigen 
nervös  belasteten  Manne,  der  seit  dem  zehnten  oder  zwölften  Jahre  onanirte  und 
bei  einem  34jährigen,  der  von  Alkoholgenuss  momentane  Erleichterung  mit  nach- 
folgender Verschlimmerung  spürte  und  bei  heiterem  Wetter  weniger  als  bei  trübem 
erröthete,  weist  Verfasser  darauf  hin,  dass  Onanie,  Neurasthenie,  Heredität  eine 
gewisse  ätiologische  Bolle  zu  spielen  scheinen  und  klimatische  Einflüsse  vorhanden 
seien.  Femer  macht  er  darauf  aufmerksam,  dass  die  Kranken  hie  und  da  eigen- 
thümliche  Hülfsmittel  erfinden  und  ausführen  (in  seinem  Falle  Verlassen  des 
Zimmers  beim  Herrannahen  des  Erröthens). 

Ueber  musikalische  Zwangsvorstellungen.  L.  Löwenfeld, 
München.  Vortrag,  gehalten  in  der  Section  lU  des  internationalen  Gongresses  für 
Psychologie  in  München.  Centralblatt  für  Nervenheilkunde  und  Psychiatrie  1897, 
Februar. 

Bei  einer  30  jährigen,  hereditär  belasteten  Frau  traten  während  eines  Anfalles 
Ton  leichter  periodischer  Melancholie  neben  Verstimmung,  psychischer  Anästhesie, 
Selbstmordideen  und  Angstzutänden  fortwährend  Vorstellungen  von  heiteren  Me- 
lodien auf,  was  die  Kranke  sehr  quälte.  Je  nach  momentaner  Verschlimmerung 
oder  Besserung  der  übrigen  Krankheit  traten  die  Melodien  stärker  oder  schwächer 
hervor  und  hörten  mit  der  Heilung  der  Melancholie  definitiv  auf. 

Hie  und  da  fühlte  sie  auch  den  Zwang,  sich  den  Fingersatz  schwer  zu 
spielender  Melodien  vorzustellen,  was  sie  aufregte  und  ihren  Zustand  verschlimmerte. 

Die  Melodien  Hessen  sich  durch  Willensanstrengung  nicht  aus  dem  Bewusst- 
sein  verdrängen  und  machten  der  Ejranken  einen  fremden,  aufgedrungenen  Eindruck. 

Dauernd  und  in  solcher  Intensität  fand  Löwen feld  musikalische  Zwangs- 
vorstellungen nur  bei  nervösen  und  psychischen  Leiden,  besonders  Neurasthenie» 
Hysterie  und  Melancholie.  Sie  kommen  auch  bei  Leuten  vor,  die  sich  nicht  in- 
tensiv mit  Musik  befassen,  bei  denen  von  musikalischer  Ueberanstrengung  nicht  die 
Rede  sein  kann.  Bei  musikalisch  Hochgebildeten  sind  die  musikalischen  Zwangs- 
vorstellungen häufig  trivialen  Inhaltes  und  deshalb  um  so  peinlicher.  Besonders  bei 
Leuten ,  die  ohne  viel  Musikverständniss  das  Hauptgewicht  auf  die  Technik  legen, 


168  H.  BertMhinger. 

kommen  neben  acoitisohen  auch  motorische  ZwangsTontellangen  Tor.  Aueh  der 
Zwangtimpule ,  die  Melodien  dorch  Pfeifen  eta  lant  werden  su  kesen,  wurde  be- 
obachtet. Hie  und  da  rauben  die  musikalischen  Zwangsvorstellangen  den  Kranken 
den  Schlaf,  yerursachen  Herzklopfen,  Angstzustände,  Uebelkeit,  Aufregung,  Ver- 
wirrtheit und  Lebensüberdmss,  sind  aber  gewöhnlich  viel  weniger  intensiv. 

Entsprechen  sie  Melodien,  bei  deren  Einstudiren  etc.  sich  die  Kranken  musi- 
kalisch überanstrengt  haben,  so  liegt  der  Erscheinung  vielleicht  functionelle  Hyper- 
ämie mit  chronischem  Reizzustand  gewisser  oorticaler  Elemente  in  der  Hönphire 
zu  Grunde. 

Bedingungen  zum  Zustandekommen  musikalischer  Zwangsvorstdlungen  in 
pathologischer  Stärke  sind:  1.  Beschäftigung  mit  Musik,  2.  ein  durch  ein  be> 
liebiges  Moment  hervorgerufener  Erschöpfungszustand  des  Gehirns. 

Häufig  kommen  daneben  oder  mit  ihnen  alternirend  noch  andere  Zwang»- 
Vorstellungen  oder  Phobien  vor. 

Bemerkenswerth  ist  der  heitere  Charakter  der  Melodien  bei  Melancholikern, 
der  triviale  bei  musikalisch  Hochgebildeten.  Aehnliche  Contrastassociationen 
wurden  auch  bei  anderen  Zwangszuständen  beobachtet. 

Im  Anschluss  an  obigen  Vortrag  berichtet  Dr.  Mingazzini  über  einen  jungen 
Mann,  der  Nachts  dem  unwiderstehlichen  Drange  nachgeben  musste,  Melodien  zu 
singen,  die  ihm  Tag  und  Nacht  im  Kopfe  herum  gingen. 

Koro,  eine  eigenthümliche  Zwangsvorstellung.  P.C.  J.vanBrero, 
Bnitenzorg,  Java.    Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  1897. 

Nach  Mittheilungen  von  L.  Blonk,  Militärarzt,  giebt  es  in  Celebes  Leute, 
deren  Penis  hie  und  da  die  Neigung  hat,  in  die  Bauchhöhle  sich  zurnckzuzieken, 
was,  wenn  es  wirklich  dazu  kommt,  den  Tod  der  Kranken  herbeiführt.  Der  Zu- 
stand tritt  in  Anfällen  von  stundenlanger  Dauer  auf  und  ist  von  heftigem  Angst- 
gefühl begleitet. 

Van  Brero  hält  dies  für  eine  psychische  Krankheit,  und  zwar  trotzdem 
keine  eigentliche  Krankheitseinsicht  besteht,  nicht  für  eine  Wahnidee,  sondern  für 
eine  Zwangsvorstellung.  Die  niedrige  Stufe  des  Erfahrungs-  und  Kenntnissbeeitzes, 
der  mächtige  Einfluss  des  Affectes  und  vielleicht  auch  locale  religiöse  Auffassungen 
der  halbwilden  Einwohner  von  Celebes  erklären  es,  dass  die  Kranken  die  Unmög- 
lichkeit des  von  ihnen  gefürchteten  Ereignisses  nicht  einzusehen  vermögen. 

Bollach,  Ueber  einenPall  von  wiederholter  Selbstverwundung 
in  Folge  Zwangshandlung.     Correspondenzblatt  für  Schweizer  Aerzte,  1897. 

Eine  40  jährige,  ledige  Frauensperson  kam  innerhalb  2  Jahren  sechs  Mal  in 
Spitalbehandlung  und  zwar  zuerst  wegen  eines  Panaritiums,  hierauf  wegen  schein- 
barer Tuberculose  am  gleichen  Finger,  an  welchem  das  Panaritium  gesessen  und 
dann  noch  vier  Mal  nacheinander  wegen  einer  eiternden  Fistel  am  einen  Unter- 
schenkel, die  jeweilen  nach  einiger  Zeit  geheilt  wurde.  Anfänglich  sah  man  die 
Krankheit  für  tuberculose  Ostitis  an,  es  stellte  sich  dann  aber  heraus,  dasa  die 
Kranke  selber  Suppenknochensplitterchen  sich  unter  die  Haut  gestossen  hatte. 
Immer  wieder  riss  sie  die  Verbände  ab,  bis  sie  versiegelt  wurden,  riss  sich  einen 
Grosszehennagel  aus,  wollte  die  Amputation  des  Beines  erzwingen,  schien  Überhang 
Freude  am  Schmerz  zu  haben.  Ihre  Selbstverwundungen  gab  sie  nie  zu,  bevor  n* 
überführt  war. 


Psychifche  Zwangszostände.  169 

Da  keinerlei  bysterische  Stigmata  nachweisbar  waren,  siebtBoUac  h  die  Selbst- 
Terwondnngen  als  Zwangshandlungen  an. 

Zur  Behandlung  Yon  Zwangs-  und  Angstzuständen.  Dr.  0.  Dorn- 
blüth,  Nervenarzt  in  Rostock.    AerztUche  Monatsschrift.    Heft  3. 

Angst-  und  Zwangszustände  sind  eine  besondere,  für  sich  bestehende  Krank- 
heit. Sie  können  zwar  bei  einfacher  Melancholie  und,  in  wenig  ausgeprägter  und 
«elbstständiger  Weise,  auch  etwa  im  Beginn  einer  Paranoia  oder  Dementia  para- 
lytioa  vorkommen,  haben  aber  mit  den  eigentlichen  Psychosen  sonst  nichts  zu  thun. 

Die  Ausdrucksbewegongen  eines  AiPectes  können  diesen  selber  hervorrufen, 
so  kann  z.  B.  durch  Intoxication  bewirktes  Herzklopfen  ganz  wesenlose  Furcht, 
d.  h.  Angst,  erzeugen.  Bei  Neurasthenikem  kann  durch  allerlei  Eufälligkeiten  ganz 
besonders  leicht  ein  Affect  hervorgerufen  werden. 

Der  Verfasser  unterscheidet  4  Gruppen  von  Angstznständen. 

In  einer  ersten  Gruppe  entstehen  anscheinend  spontan  mit  oder  ohne  be- 
kannte Ursache  Zustände  inhaltsloser  Angst  von  sehr  verschiedener  Intensität,  fast 
immer  mit  körperlichen  Sensationen  und  Erscheinungen  verbunden,  die  sogar  recht 
oft  allein  vom  Kranken  angegeben  werden.  In  einer  zweiten,  der  ersten  nabe- 
stehenden Reihe  von  Fällen  ist  die  Angst  Folge  neurasthenischer  Empfindungen 
(s.  B.  kann  Herzklopfen  Angst  vor  drohendem  Herzschlag  erwecken). 

Drittens  kann  die  Angst  an  bestimmte  Zufälle  oder  Unfälle  sich  anknüpfen 
als  Furcht  vor  Wiederkehr  des  schon  einmal  erlebten.  Hierher  gehört  die  Agaro- 
phobie  und  Siderodromophobie. 

Viertens  kann  die  Angst  „primär  als  Uebertreibung  physiologischer  Empfin- 
dimgen  oder  Befürchtungen^  auftreten.  Agarophobie  kann  auch  so  entstehen, 
femer  gehören  hierher  Elaustro-,  Mono-,  Nykto-,  Anthropophobie  u.  s.  w. 

Häufig  ist  völlige  Krankheitseinsicht  vorhanden,  das  Bewusstsein  ganz  klar, 
•ber  doch  der  Aifect  mächtiger  als  der  Wille.  Ueberanstrengung  und  Ermüdung 
lassen  den  Affect  besonders  mächtig  werden  und  begünstigen  sein  Eintreten. 

Die  Zwangsvorstellungen  drängen  sich  wider  Einsicht  und  Wille  in  das  Be- 
woastsein  ein.  Beim  Gesunden,  besonders  bei  Abspannung  und  Ermüdung  auf- 
tretende, analoge  Erscheinungen  können  leicht  sofort  durch  bewusstes  Denken  und 
den  Willen  corrigirt  werden.  Bei  Neurasthenie  können  sie  aber  in  pathologischer 
Stirke  und  unwiderstehlich  auftreten,  ja.  eine  förmliche  „Spaltung  der  Psyche'* 
durch  sie  za  Stande  kommen.  Selten  kommt  es  aber  dabei  zu  Zwangshandlungen, 
z.  B.  Verbrechen,  die  dem  Willen  des  Kranken  direct  widersprechen.  Meistens 
ioMem  sie  sich  als  übertriebene  Gewissenhaftigkeit  und  Genauigkeit,  Grübelsucht, 
Bcrohrongsliircht.  Die  sehr  häufigen  sexuellen  und  blasphemischen  Zwangsvontel- 
longen  fahren  nie  zu  entsprechenden  Handlungen,  aber  mehr£sch  zn  Selbstmord. 

Die  Grenze  zwischen  Zwangsvorstellungen  und  Angstzuständen  ist  keine 
,  da  häufig  nicht  festzustellen  ist,  welche  Componente  primär,  welche  se- 
ist. 

Die  bbher  angewandte  Therapie  besteht  in  Bade-  und  Kaltwassercuren,  elec- 
nnd  suggestiver  Behandlung  mit  sehr  unsicherem  und  meist  nur  vorüber- 
gcbendem  Erfolg.  Viel  bessere  Resultate  erreichte  der  YeAmo'  durch  Anwendung 
dar  Opinmcur.  ähnlich  wie  sie  oft  bei  Behandlung  der  Melancholie  angewandt 
wM.    Bettruhe  ist  in  schweren  Fällen  und  besonders  im  Beginn  sehr  zu  empfehlen. 


170  H.  Bertschinger. 

wenn  auch  nicht  absolut  noibwendig,  hat  doch  Verfasser  schon  erfolgreiche  Goren 
gemacht,  während  deren  die  Kranken  ihrem  Berufe  nachgingen.  Andere  Narootioa 
sind  nicht  in  gleicher  Weise  wirksam  wie  das  Opium,  bei  dem  die  Wirkung  die  An- 
wendung überdauert.  Am  besten  wird  es  in  Pillen  oder  Tabletten  zu  0.03  gegeben, 
wovon  mit  täglich  4  Stück  nach  dem  Essen  zu  nehmen  angefangen  wird.  Jeden  fünften 
Tag  wird  um  1  Stück  gestiegen.  Die  erste  Wirkung  auf  den  krankhaften  Affeet 
wird  gewöhnlich  bei  einer  Tagesdosis  Yon  0,6  verspürt,  selten  verschwindet  er  unter 
1,0,  oft  erst  bei  1,5 — 2,0  täglich.  Auch  diese  hohen  Gaben  machen  nie  üble  Er- 
scheinungen. Die  Abgewöhnung  erfolgt  langsam,  in  6—8  Wochen.  Wichtig  ist 
quantitativ  und  qualitativ  genügende  Kahrungsauihahme  und  besonders  bei  Bett- 
ruhe Sorge  für  regelmässige  Defäcation,  die  durch  diätetische  Maassnahmen,  Friesa- 
nitzumscbläge  um  den  Leib  oder  Cascara  Sagrada  bewirkt  wird. 

Können  die  hie  und  da  bei  Opiumverabreichung  auftretenden  unangenehmen 
Magenerscheinungen  nicht  durch  langsames  Ansteigen,  gelegentliches  Nachlassen, 
Diätänderung,  Zusatz  von  Rhabarber  oder  Wein  zum  Opium  u.  dergl.  bekämpft 
werden,  oder  weichen  gewisse  unangenehme  nervöse  Nebenwirkungen  (Zusammen- 
schrecken im  Schlaf,  Nachtschweisse)  abendlichen  Bromnatriumgaben  (1,0—1,5)  nicht, 
so  kann  das  Opium  häufig  erfolgreich  durch  Codein-Knoll  ersetzt  werden,  von  dem 
0,1  ungefähr  0,25  Opium  entspricht.  Es  wird  am  besten  in  Pillen  zu  0,015  gegeben, 
die  man  steigend  giebt  bis  zum  Eintreten  der  gewünschten  Wirkung,  um  dann 
nach  8 — 14  Tagen  langsam  wieder  zu  sinken. 

Auch  bei  ganz  alten  Fällen  hat  Verfasser  mit  dieser  Methode  dauernde 
Besserungen  erzielt. 

n«  Französisohe  Literatur  ttber  pgyehische  ZwangsiastlBde. 

Sömeiologie  des  obsessions  et  des  idöes  fixes.  Vortrag  der  Herren 
Fitres  nnd  R^gis  in  der  socicte  de  neuropathologie  et  de  Psychiatric  in  Moskau. 
Archives  de  neurologie  1897,  November. 

Das  Zwangsirresein  (obsessions)  ist  ein  krankhafter  Geisteszustand  auf  emotiver 
Gh-undlage.  Die  „Emotion",  der  ängstliche  Affeet,  ist  ein  constantes  und  unerlass- 
liches  Element  des  Zwangsirreseins.  Ohne  die  Angst  giebt  es  kein  Zwangrsirresein, 
dagegen  giebt  es  Formen  ohne  jede  Zwangsvorstellung  (idee  fixe)  oder  Zwangs- 
handlung, der  Angstaffect  ist  das  Wesentliche.  Li  allen  Fällen  findet  man  patho- 
logische Beeinflussbarkeit  des  Gemüths  (emotivite  pathologique)  und  vasomotoriache 
Phänomene. 

Bei  vielen  Zwangsirren  wechselt  der  Gegenstand  der  Zwangsvorstellung  oder 
er  ist  ein  vielfacher.  Die  Angst  bleibt  aber  immer  dieselbe.  Oft  beginnt  eine 
Zwangsvorstellung  mit  reinem  Angstgefühl  und  hört  mit  reiner  Angst  auf.  Die 
Stärke  des  Affectes  wächst  femer  nicht  mit  der  Intensität  der  Zwangsvorstellung, 
sondern  im  Gegentheil,  je  mehr  sich  die  Verstandesthätigkeit  hineinmischt,  desto 
geringer  wird  der  Affeet. 

Formen  des  Zwangsirreseins: 

Da  allen  Formen  des  Zwangsirreseins  eine  affective  Störung  zu  Grrunde  liegt, 
so  wird  diese  auch  am  richtigsten  zum  Eintheilungsprincip  gemacht. 

In  einer  ersten  Beihe  von  Fällen  besteht  ein  Zustand  reiner  Zwangsangtt, 
unbestimmter  Form  oder  systematisirt  und  in  diesem  Fall  einen  Uebergmng  bildend 


Psychische  Zwangszustände.  171 

za  der  zweiten  Gruppe,  in  der  noch  Zwangsvorstellungen  (idSes  fixes)  zur  Angst 
hinzukommen« 

1.  Etat  obaedant  ä  anxi^te  diffuse  ou  panophobique. 

Ein  beständiger  gemüthlicher  Spannungszustand  entlädt  sich  anfallsweise  auf 
alle  möglichen,  oft  sehr  geringfügigen,  äusseren  Veranlassungen  hin.  Die  Anfälle 
können  in  Form  Ton  plötzlichem  Auffahren  mit  Athmungsbeklemmung  mitten  im 
Schlaf  eintreten. 

Bierher  gehört  die  „Erwartungsangst"  (attente  anxieuse),  bei  der  ganz  triviale 
Erlebnisse  die  absurdesten  Beitirchtungen  hervorrufen  (z.  B.  ein  Hustenstoss  des 
Hannes  erweckt  bei  dessen  Frau  die  Befürchtung,  er  bekomme  eine  Lungen- 
entzündung, zwei  vor  ihrem  Haus  sich  unterhaltende  Personen  lassen  sie  befürchten, 
es  sei  eines  ihrer  Kinder  zum  Fenster  hinausgefallen  u.  s.  w.);  die  y,Zwangsang8t'', 
ein  beliebiges,  äusseres  Moment,  löst  einen  intensiven  Angstzustand  aus,  dem  eine 
Art  Aura  vorangehen  kann,  er  ist  oft  mit  einer  Zwangsvorstellung  verbunden  und 
Ton  körperlichen,  respiratorischen,  vasomotorischen,  secretorischen  Erscheinungen 
begleitet;  die  „Panphobie*',  ein  nicht  seltener  Zustand  (z.  B.  ein  Herr  bricht  regel- 
mässig beim  Erklären  seiner  Gemäldegallerie  in  Tbränen  aus,  pachtet  einen  Wächter, 
der  die  Frösche  in  seinem  Garten  hüten  muss  u.  s.  w.). 

2.  Etat  obsedant  avec  anxiSt^  systSmatisö  ou  monophobique. 

Sind  diese  Zwangsbefürchtungen  constitutionell  begründet,  so  sind  es  auf  be- 
stimmte Objecto  gerichtete  chronische  Unlust-  oder  Furchtgefühle  (Bcrührungs- 
liircht,  Blutscheu,  Furcht  vor  schneidenden  Instrumenten,  Wasserscheu  etc.).  Diese 
Formen  kommen  vor  bei  hereditär  belasteten,  treten  schon  in  früher  Kindheit  oder 
zur  Zeit  der  Pubertät  auf.  Sie  können  für  sich  allein  bestehen  und  unverändert 
dieselbe  Form  behalten,  gewöhnlich  aber  folgen  verschiedene  Formen  nacheinander 
oder  vielmehr,  unter  einer  Anzahl  verschiedener  Zwangsbefürchtnngen  pradomi- 
nirt  eine. 

Die  erworbenen  Formen  kommen  ebenfalls  bei  belasteten  Individuen  vor.  Sie 
treten  gewöhnlich  im  30. — 50.  Lebensjahr  plötzlich  auf  im  Anschluss  an  ein  Trauma 
oder  eine  Gemüthserschütternng,  besonders  wenn  vorher  lange  Krankheit  oder  Er- 
müdung einen  prädisponirenden  Zustand  geschaffen  hatten.  Freud  nennt  diese 
Zustande  traumatische  Angstpsychosen. 

3.  Etat  obsedant  avec  anxi^te  intellectuelle  ou  monoiddique,  Obsession  propre- 
ment  dite.    Eigentliches  Zwangsirresein. 

Eine  scharfe  Grenze  zwischen  reinen  Zwangsbefürchtungen  (phobies)  und 
eigentlichem  Zwangsirresein  (obsession)  existirt  nicht.  Sobald  das  von  Zwangs- 
befnrchtungen  heimgesuchte  Individuum  auch  in  den  zwischen  den  Paroxysmen 
liegenden  Pausen  sich  mit  dem  Inhalt  derselben  zu  beschäftigen  beginnt,  ist  eigent- 
liches Zwangsirresein  da.    Diese  üebergangszustände  sind  ungemein  häufig. 

Die  characteristischen  Angstzustände  finden  sich  auch  in  Fällen  von  Zwangi- 
irretein,  denen  kein  Stadium  reiner  Phobie  vorausgegangen  ist. 

•    Je  deutlicher  die  intellectuelle  Störung  wird,  um  so  mehr  verschwindet  der 
AlTect. 

Ball  nennt  die  Zwangsvorstellungen  „impulsions  intellectoellei*',  da  zu  jeder 
Idee  ein  motorisches  Element  gehört,  man  pflegt  aber  die  einfache  Zwangsvorttel- 
fanig  zn  unterscheiden  von  den  Zwangsimpulsen. 

Obsessions  id^atives  (idee  fixe  pathologique) ,  „einfache  Zwangsrontel- 


172  H.  Beriachmger. 

lungen**  tragen  den  Charmkter  von  etwas  anwillkürUchem,  sie  stehen  aoiMrlialb  dee 
gewöhnlichen  Gedankenganges.  (Eine  dorch  Willensanstrengung  überwindbare. 
rudimentäre  Zwangsvorstellung  zeigen  jene  Iiente,  denen  ein  gehörtes  Wort,  «ne 
Melodie  nicht  aus  dem  Kopf  kommen  wollen.)  Die  ZwangsTcnvtellong  hat  einen 
parasitären,  automatischen  Charakter,  scheint  ausseriialb  des  Gehirns  entstanden, 
bildet  eine  Art  Bewusstseinsrerdoppelung.  Während  sie  als  etwas  Fremdea  Tom 
Bewusstsein  peinlich  empfunden  wird,  wird  im  Gegensatz  dazu  die  Wahnidee  mit 
allen  Consequenzen  in  dasselbe  aufgenommen. 

Ihr  Inhalt  ist  ein  eminent  yerschiedener.      Am  häufigsten  sind  Noeophobien. 

Der  Zustand  ist  gewöhnlich  gleich  nach  dem  Erwachen,  seltener  Abends  am 
unerträglichsten.  Der  Schlaf  ist  gewöhnlich  fest,  doch  können  die  Zwangsrorstel- 
lungen,  namentlich  bei  Hysterischen,  auch  in  Träumen  auftreten.  Die  Arbeits- 
fähigkeit ist  häufig,  auch  während  der  Anfälle,  immer  in  den  Intervallen,  erhalten. 
Periodisches,  paroxysmales  Auftreten  ist  die  Regel.     Continuirlich  sind  sie  selten. 

Die  Kranken  halten  ihren  Zustand  gewöhnlich  geheim,  offenbaren  sich  nur 
in  der  Verzweiflung  dem  Arzt  zu  ihrer  momentanen  Erleichterung. 

Obsessions  impulsives,  Zwangsimpulse,  bilden  die  zweite  Art  des Zwangs- 
irreseins.  Ein  motorisches  Element  ist  auch  in  den  einfachen  Zwangsvorstellungen 
vorhanden.  Gewöhnlich  bleiben  die  Impulse  latent.  Selten  fuhren  sie  zu  Ver- 
brechen, gewöhnlich  nur  unter  Mitwirkung  noch  eines  anderen  Factors,  Degeneration, 
Schwachsinn,  Alkoholismus,  Morphinismus,  Wahnideen,  Ansteckung  durch  Beispiel 
oder  Lectüre.  Häufiger  ist  impulsiver  Selbstmord.  Die  Zurechnungsfahigkeit  ist 
bald  als  beinahe  intact,  bald  als  völlig  aufgehoben  zu  betrachten. 

Zwangshallucinationen  werden  von  Morel  und  M.  J.  Fair  et  geleugnet,  von 
Stefani,  Seglas  und  Catsara  sind  aber  welche  publicirt  worden.  S 6 glas 
unterscheidet  zwischen  solchen,  die  durch  eine  Zwangsvorstellung  hervorgerufen 
diese  begleiten  und  solchen,  die  zwangsmässig  auftreten.  Die  ersteren  nennt  er 
obsessions  hallucinatoires,  die  letzteren  hallucinations  obsSdantes. 

Das  acute  Zwangsirresein  tritt  nach  heftiger  Gemüthserschütterung  oder  im 
Anschluss  an  eine  Infectionskrankheit  auf.  Es  tritt  gewöhnlich  in  Form  diffuser 
oder  systematisirter  Zwangsangst  mit  continuirlicher,  heftiger  Angst  auf,  ist  heilbar 
und  hinterlässt  Krankheitsoinsicht  und  -erinnerung. 

Die  chronische  Form  hat  entweder  intermittirenden  Charakter  mit  gans  fireien 
Pausen  und  Krisen,  die  nur  beim  Wiedereintreten  der  provocirenden  Ursache  sich 
einstellen,  oder  am  häufigsten  remittirenden,  mit  Paroxysmen  und  auch  während  der 
Intervalle  gesteigerter  Gemüthserregbarkeit.  Seltener  sind  die  continuirlichen 
Formen,  am  häufigsten  davon  die  Folie  du  doute. 

Die  Dauer  der  chronischen  Formen  zählt  nach  Monaten  und  Jahren.  Dur 
Ausgang  bt  Heilung  oder  Unheilbarkeit. 

Degeneration,  Heredität,  schleichender  Beginn.  Vorherrschen  der  intellectudlen 
Störung  verschlechtern  die  Prognose.  Die  diffusen  Zwangsbefurchtungen  sind  selben 
unheilbar. 

Recidive  können  unmittelbar  auf  die  Heilung  folgen,  kommen  aber  gewohnlidi 
erst  nach  jahrelanger  freier  Zwischenzeit  vor. 

Die  einzelnen  Recidive   gleichen   sich   häufig   sehr   genau   bei   den 
Kranken. 


Psychische  Zwangszustände.  173 

L'impalsiYit^  morbide,  Vortrag  yon  Dr.  D.  Marti  y  Julia,  Barco* 
Wa,  gehalten  in  der  Society  de  Neuropathologie  et  de  Psychiatrie  in  Moskau. 
Archives  de  neurologie  1897,  November.  Der  Vortragende  stellt  folgende  fünf 
Sätze  auf: 

1.  Es  giebt  keine  physiologische  Impulsivität 

2.  Was  man  so  nennt,  ist  nur  eine  vollständige  Entwickelung  psychomotorisch 
functioneller  Reflexbogen,  die  im  Individuum  und  dessen  Vorfahren  aufgehoben 
waren. 

3.  Mit  der  Benennung  „pathologische  Impulsionen"  werden  sehr  heterogene 
Dinge  belegt. 

4.  Die  pathologische  Impulsivität  ist  kein  Degenerationszeichen,  sondern  eine 
krankhafte  Störung  Degenerirter. 

5.  Ihre  Eigenschaften  sind:  Stürmisches  Auftreten,  Fihlen  einer  psycho- 
logischen Aetiologie,  sie  haben  keine  Beziehungen  zur  Persönlichkeit,  der  Kranke 
kann  ihnen  widerstehen,  aber  der  Widerstand  verursacht  ihm  Beängstigung,  während 
die  Realisation  des  Impulses  psychisches  Behagen  schafft  mit  Reue  über  das  (Ge- 
schehene, Auftreten  in  Paroxysmen. 

Die  nObsessions^  unterscheiden  sich  von  den  „id^es  fixes*'  folgendermaassen : 
Die  Obsession  entsteht  aus  pathologischer  Gemüthserregbarkeit.  Ihre  Form 
hangt  vom  psychomoralischen  Zustand  der  Person  ab.  Sie  erhöht  die  emotionelle 
Erregbarkeit  bis  zur  Beängstigung,  besteht  continuirlich  in  wechselnder  Intensität, 
hat  Tendenz  bestehen  zu  bleiben,  kann  zu  systematisirten  Wahnideen  führen,  ver- 
ändert die  Persönlichkeit,  ist  eine  Krankheit  Degenerirter. 

Die  idee  fixe  tritt  auf  psychologischen  Anstoss  plötzlich  auf  als  activ  werden- 
des psychisches  Residuum  bei  functioneller  Störung  des  Gehirns.  Sie  ist  eine  ein- 
fache Idee  oder  ein  elementarer  psychischer  Vorgang,  ohne  Beziehung  zum  Cha- 
rakter der  Person.  Sie  erzeugt  von  sich  aus  keine  pathologische  Gemüthserregbar- 
keit, sondern  nur  die  durch  sie  hervorgerufene  Langeweile  und  Ermüdung.  Sie 
tritt  nur  auf,  wenn  das  Individuum  nicht  anderweitig  geistig  beschäftigt  ist,  nur 
in  einem  etat  aprosexique.  Sie  bleibt  mechanisch  bestehen,  erschöpft  sich  selbst, 
wird  nie  assocürt.  nie  zur  Wahnidee,  verändert  nie  die  Persönlichkeit.  Sie  ist  eine 
fimctionelle  Störung,  die  in  physiologischem  oder  im  pathologischen  Zustand,  bei 
Gesunden  oder  bei  Degenerirten  vorkoi^men  kann. 

Phenom^nes  psychiques  avee  le  caract^re  d'irr^stibilito  (ob- 
•essions.  Zwangsrorstellnngen;.  Vortrag  von  Dr.  J.  Kons  tantin  owsky,  Moskau, 
gehalten  in  der  societe  de  neuropathologie  et  de  ptychiatrie  in  Moskau.  Archives 
de  neorologie  1897,  November. 

Der  Vortragende  bestätigt: 

L  das  Vorkommen  von  Zwangsvorstellungen  im  WestphaTschen  Sinne  nnd 
aagt  ferner,  daas 

2.  alle  psychischen  Vorgänge  Zwangscharacter  annehmen  können,  dass 

3l  dieser  allein  nicht  daza  berechtige,  sie  den  Zwangsvorstellongen  betznzählen, 

4.  dass  eine  Reihe  von  Symptomen  mit  Zwangscharakter  verschiedenen  Arien 
Too  InieOige&zBiöningen  zugezählt  werden  mossen, 

b.  seien  HaOiicinatioDen  nicht  charakteristisch  for  Zwangsrorstelhingen  mit 
KiHÜdbeüeeinsäehi.    Man  treffe  sie  bei  schon  vorgeschrittener  Dtmeaz, 

I 


174  ^*  Bertschinger. 

6.  hält  er  die  klinische  Schätzung  der  Phänomene   mit  Unwiderstehliohkeita- 
character  für  unerlässlich  zu  ihrer  Eintheiinng. 

Sur  les  obsessions  Yon  Dr.  Arie  de  Jong^  Haye.  Soci6t^  de  neuro- 
Pathologie  et  de  psychiatrie  in  Moskau.      Archives  de  neurologie  1897,  NoTember. 

Ist  identisch  mit  der  ausführlicheren  Mittheilung  desselben  Autors:  „lieber 
Zwangsvorstellungen''.     Diese  Ztschr.  Bd.  6  pag.  257. 

Contribution  k  l'etude  de  quelques  obsessions.  Vortrag  Ton 
Vallon  et  Marie,  medecins  des  asiles  de  la  Seine,  gehalten  in  der  Society  de 
neuropathologie  et  de  psychiatrie  in  Moskau.    Archives  de  neurologie  1897,  Noybr. 

Die  Zwangsvorstellungen  sind  im  Allgemeinen  Reize,  die  sich  nicht  über  alle 
nervösen  Centren  verbreiten,  sondern  nur  partiell  und  dann  in  dem  ergriffenen 
Abschnitt  mit  um  so  grösserer  Intensität.  Je  nachdem  die  sph^re  cenesthetique, 
sensitivo-sensorielle,  motrice  oder  psychique  hauptsächlich  betroffen  wird,  entstehen 
Obsession,  emotionelles,  hallucinatoires,  impulsives  oder  intellectuelles  oder  deren 
Combinationen. 

Note  sur  le  role  de  la  memoire  dans  la  folie  du  doute.  M.Sollier. 
Seanco  de  la  socicto  medico-psychologique.    Archives  de  neurologie  1896,  Juli. 

In  vielen  Fällen  von  folie  du  doute  spielt  eine  gewisse  Gedächtnissschwäche 
eine  grossere  Rolle  als  gemeinhin  angenommen  wird.  Der  Verfasser  konnte  sie  in 
mehreren  Fällen  nachweisen,  und  zwar  betraf  sie  sowohl  die  Fähigkeit,  Neues  lu 
erlernen,  als  die  Möglichkeit,  alte  Erinnerungen  wieder  ins  Bewusstsein  treten  zu 
lassen.  Es  giebt  zwei  Arten  von  folie  du  doute,  je  nachdem  die  Kranken  be- 
fürchten, irgend  etwas  unterlassen  oder  aber  irgend  etwas  begangen  zu  haben.  Im 
zweiten  Falle  wird  eine  Continuitätslücke  im  Gedächtniss,  die  vom  Willen  unab- 
hängig und  ohne  Störung  der  Apperception  besteht,  durch  die  befürchtete  Hand- 
lung ausgefüllt. 

HaUucinatio ns  succedant  ä  des  obsessions  et  k  des  idees  fixes. 
Dr.  Larroussine.     Archives  de  neurologie  18%,  Juli. 

Ein  junger  Mann,  von  väterlicher  und  mütterlicher  Seite  her  erblich  belastet, 
leidet  seit  früher  Jugend  an  folie  du.  doute.  Nach  und  nach  traten  dazu  noch 
andere  Zwangserscheinungen,  Angst  vor  Hunden,  Befürchtung,  ein  Verbrechen  be- 
gangen zu  haben  oder  begehen  zu  müssen,  Angst  vor  falscher  Anklage,  Furcht  vor 
entsetzlichen  Strafen,  die  an  ihm  und  seiner  Familie  vollzogen  werden  sollen.  In 
Folge  all  dieser  quälenden  Erscheinungen  machte  der  Kranke  eine  Menge  Selbst- 
mordversuche. Im  weiteren  Verlauf  traten  noch  lebhafte  Gehörshallucinationen 
auf.  Er  hörte  Anklagen  und  Drohungen,  das  Grab,  in  welches  er  lebendig  gelegt 
werden  sollte ,  graben ,  seinen  Vater  ihm  das  Essen  verbieten ,  so  dass  er  mit  der 
Sonde  ernährt  werden  musste  u.  s.  w.  Nach  und  nach  wurden  die  Stimmen  leiser, 
er  unterhielt  sich  nicht  mehr  laut,  sondern  nur  noch  „im  Geist"  mit  ihnen,  nnd 
nach  einem  Monat  trat  scheinbar  Heilung  ein. 

La  phobie  de  la  rougeur.  A.  Pitres  et  A.  Regis.  Aus  dem  Gongr^ 
des  alicnistes  et  ncurologistes  de  France  et  des  pays  de  la  langue  fran^aise  a  Nancy, 
5.  August  1896.  Archives  de  neurologie  1896,  September  und  L'obsession  de 
1  a  rougeur  (Ereuthophobie).  A.  Pitres  et  E.  Regis.  Archives  de  neurologie 
1897,  Januar. 


Psychische  Zwang^zastande.  175 

Das  psychische  Phänomen  des  Erröthens  kann  in  gewissen  Fällen  der  Aus. 
gangspunkt  eines  eigenthümlichen  pathologischen  Geisteszustandes  werden,  den  die 
Verfasser  früher  £rythrophohie  nannten,  für  den  sie  nun  aber  die  correctere  Be- 
nennung ,,£reuthophobie^  {^Qtvd'og,  Schamröthe)  Torschlagen,  d.  h.  die  Angst  vor 
dem  Erröthen  oder  die  Zwangsvorstellung  des  Erröthens.  Besonders  die  stärkeren 
Grade  dieser  Krankheit  kommen  überwiegend  häufiger  beim  männlichen  Geschlecht 
vor  und  zwar  in  der  Jugend,  aber  erst  nach  eingetretener  Pubertät,  während  vor- 
her nur  Neigung  zu  leichtem  Erröthen  bestand,  die  im  Anschluss  an  irgend  ein 
zufälliges  Ereigniss  zur  Erröthungsangst  wird.  Die  betroffenen  sind  häufig  neu- 
rasthenisch  und  irgendwie  erblich  belastet,  seltener  hysterisch.  Das  Ueberwiegen 
des  männlichen  Geschlechts  erklärt  sich  aus  dem  Umstand,  dass  das  das  Erröthen 
begleitende  Gefühl  der  Verwirrung  für  den  Mann  besonders  quälend  ist,  weil  das 
Errötben  bei  ihm  eher  als  ein  lächerliches  Zeichen  von  Furchtsamkeit,  Schwäche, 
weibischem  Wesen  gilt,  als  beim  Weibe,  dem  es  im  Gegentheil  einen  Reiz  mehr  verleiht. 

Je  nach  dem  durch  das  Erröthen  hervorgerufenen  psychischen  Effect  werden 
drei  Grade  der  Krankheit  unterschieden: 

1.  Ereuthose  simple.  Sie  besteht  in  der  angeborenen  oder  erworbenen  Eigen- 
schaft sehr  häufig  und  auf  geringfügige  innere  und  äussere  Ursachen  hin  mehr  oder 
weniger  intensiv  zu  erröthen.  Beunruhigung  oder  Aufregung  besteht  dabei  gar 
nicht  oder  doch  nur  gerade  im  Augenblick  des  Erröthens. 

2.  Ereuthose  emotive.  Der  Zustand  ist  vorübergehend,  mit  pathologischen 
oder  klimatischen  Verhältnissen  zusammenhängend  oder  besonders  bei  hereditär 
nervös  Belasteten  ein  dauernder.  Er  ist  characterisirt,  erstens  (iurch  ausserordent- 
lich häufiges  und  heftiges  Erröthen,  besonders  überall  da,  wo  es  gilt,  sich  zu  „zeigen'^, 
zweitens  durch  die  dadurch  bewirkte  Belästigung  oder  Verlegenheit,  die  sich  aber 
nie  zur  Zwangsbefürchtung  steigert,  nur  im  directen  Anschluss  an  eine  Krise  auf- 
tritt und  bald  völliger  Unbefangenheit  Platz  macht.  Die  Ereuthose  emotive  bessert 
sich  mit  der  Zeit. 

3.  Ereuthophobie ,  Ereuthose  obsedante.  Die  Erröthungsangst  ist  constant, 
zwangsmässig,  äusserst  peinlich  und  unaufhörlich. 

Von  den  8  Fällen,  die  hier  angeführt  werden,  betreffen  7  Männer,  von  denen 
einer  37,  die  anderen  zwischen  20  und  30  Jahren  alt,  alle  erblich  belastet  waren. 

Immer  war  der  Zustand  bei  trockener  Hitze  und  grosser  Kälte  erträglicher 
ab  bei  feuchter  Wärme,  am  Morgen  besser  als  Abends,  Nachts,  unter  dem  Schutz 
der  Dunkelheit  am  erträglichsten.  Eintreten  in  öffentliche  Locale,  öffentliches  Auf- 
treten, der  Gang  zum  Goiffeur  kann  wahre  Angstparoxysmen  hervorrufen,  zur 
Tortur  werden,  ebenso  plötzliche  Begegnung  mit  Bekannten,  besonders  mit  Damen. 
Gespräche  über  von  fremden  Personen  begangene  Vergehen,  eigene  oder  in  der 
Gegenwart  der  Kranken  von  Anderen  begangene  Versehen  und  Verstösse,  öffent- 
liche gute  Thaten  bewirken  Angstparoxysmen,  da  sie  die  Befürchtung  erwecken, 
in  falschen  Verdacht  zu  kommen  oder  der  Prahlerei  geziehen  zu  werden. 

Den  Erröthungs-  und  Angstkrisen  gehen  oft  eigenthümliche  Sensationen,  Herz- 
klopfen, unwillkürHühes  Grimassiren,  allgemeines  Zittern  voraus. 

Die  Röthe  beschränkt  sich  gewöhnlich  auf  das  Gesicht  und  kann  sehr  ver- 
•ohiedene  Intensität  haben,  die  aber  zur  Grösse  der  Angstempfindung  in  keinem 
Verhältniss  steht.  Sie  ist  gewöhnlich  begleitet  von  subjectivem  Wärmegefühl, 
Schweissausbruch,  sogar  Urin-  oder  Kothabgang. 


176  H.  BerUohinger. 

Vom  Beginn  der  Krise  an  sind  die  Kranken  erfüllt  Ton  der  Angst,  Ifieherfieh 
zu  werden,  Anlass  zu  Spott  oder  Hohn  za  geben  und  können  in  diesem  Zustand 
dnroh  einen  Blick,  ein  Wort,  eine  Geberde,   in  maasslose  Wath  versetzt  werden. 

Die  Kranken  leben  in  beständiger  Angst  vor  dem  £rr<$then.  qnälen  sich  auch 
in  den  zwischen  den  Krisen  liegenden  Zeiten  damit,  grübeln  ihrem  Zostand  nach 
und  machen  ihn  dadurch  noch  peinlicher,  dass  sie  sich  Niemandem  als  dem  Arzt 
anvertrauen  und  ihr  Leiden  möglichst  zu  verbergen  suchen,  indem  sie  sich  itoliren^ 
verbergen  und  häufig  an  Selbstmord  denken. 

Hie  und  da  ist  die  Erröthungsangst  mit  anderen  psychischen  Störungen,  auch 
a  nderen  Zwangsvorstellungen  combinirt. 

Willensanstrengung  bewirkt  das  Gegentheil  von  dem  Gewünschten,  da  schon 
der  Gedanke  daran  genügt,  eine  Erröthungskrise  herbeizuführen.  Aach  der  Ver- 
such, gewaltsam  die  Aufmerksamkeit  auf  etwas  Anderes  zu  concentriren ,  ist  ge- 
wöhnlich erfolglos. 

Mit  tausenderlei  merkwürdigen  J^litteln  versuchen  die  Kranken  die  ausge- 
brochene Röthe  zu  verdecken,  sie  schneuzen  sich,  verstecken  sich  hinter  einer 
Zeitung,  bücken  sich  u.  s.  w.  Ein  sehr  verbreitetes  Mittel  ist  der  Alkohol,  theils 
als  Couragemittel,  theils  um  durch  dauernde  alcoholische  Röthang  das  Erröthen 
weniger  auffallend  zu  machen.  Viele  verlangen  vom  Arzt  die  anglaablichsten 
Kadicaleingriffe,  Tätowirung  der  Gesichtshaut,  Ligatur  der  Carotiden  a.  s.  w. 

Bei  der  hysterischen  Dame  hatten  Wachsuggestionen  ein  wenig  Erfolg,  in 
allen  anderen  Fällen  blieb  die  Therapie,  auch  die  Hypnose,  machtlos. 

Die  Verfasser  glauben,  dass  der  Erröthungsangst  ein  inneres  emotionelles,  eine 
vasomotorische  Veränderung  darstellendes  Phänomen  zu  Grunde  liegt  and  zwar 
aus  folgenden  Gründen: 

Bei  allen  Fällen  ging  der  eigentlichen  Krankheit  die  Tendenz,  abnorm  leicht 
zu  erröthen,  oft  jahrelang  voraus.  Später  kam  dann  das  Gefühl  der  Bennrahignng 
dazu  und  zum  Schluss,  als  Complication,  die  Zwangsvorstellung.  Die  leichtesten 
Formen  werden  nur  durch  die  vasomotorische  Störung  charakterisirt,  im  zweiten 
Grad  kommt  die  Affect-  und  im  dritten  Grad  noch  die  intellectuelle  Störung,  die 
idee  fixe,  hinzu.  Die  Intensität  der  Röthe  und  der  Angst  stehen  in  keinem  con» 
stauten  Verhkitniss  zu  einander. 

Allerdings  werden  in  der  ausgebildeten  Krankheit  die  Anfalle  durch  den  Ge- 
danken an  das  Erröthen  ausgelöst,  also  durch  die  intellectuelle  Componente,  aber 
da  die  Aufregung  und  Angst  zu  gleicher  Zeit  auftreten  mit  der  id6e  fixe,  handelt 
es  sich  nicht  um  eine  einfache  Idee,  sondern  um  einen  zusammengesetzten  psy- 
chischen Vorgang,  wobei  es  sehr  schwierig  ist  zu  entscheiden,  ob  der  inteUeotaelle 
oder  der  emotionelle  TheU  prädominirt  und  vorangeht.  Was  die  Kranken  „Idee*' 
nennen,  ist  eine  „Furcht **,  also  ein  vorwiegend  aÖectives  Moment,  eine  affective 
Hypermncsie,  ein  spontanes  Wiederaufleben  einer  vorangegangenen  unangenehmen 
Gcmüthserregung.  Auch  in  den  Zeiten  zwischen  den  Krisen  ist  die  idee  fixe  on- 
zertrennlich  mit  einer  Gemüthsbewegung  verbunden. 

Bei  ganz  plötzlichem  Eintreten  des  Phänomens  ist  die  Reihenfolge  der  A^ 
soheinungen  die:  Angstgefühl,  Erröthen,  quälende  Gedanken. 

Einflüsse,  welche  auf  das  Erröthen  einwirken,  z.  B.  atmoephäriache,  beein- 
flussen auch  die  Intensität  der  fixen  Idee.  Bei  einem  der  Kranken  trat  bei  trookener 
Kälte  kein  Erröthen  ein,  auch  wenn  er  daran  dachte. 


Psychische  Zwängszostände.  177 

Die  Verfasser  hofifen,  dass  durch  geschickte  und  genaue  Experimente  über  die 
YEsomotorische  Keflexerregbarkeit  Klarheit  geschaffen  werden  könne. 

ni«  Englisohe  Literatur  Aber  psychische  Zwangsziistände« 

Mental  Besetments  by  W.  Julius  Mickle  M.  D.,  E.  R,  C.  P«,  London. 
Presidential  address  delivered  at  the  fifby-fifth  annual  meeting  of  the  medico-psy- 
ehological  assooiation,  held  in  London  23  rd  and  26  th  July  1896.  Journal  of  men- 
tal science,  October  1896. 

In  einem  ersten  Kapitel  seiner  Bede  giebt  der  Verfasser  eine  kurze  Skizze 
dessen,  was  man  unter  obsessions  or  besetments  versteht.  Die  Grundbedingung  sei 
in  den  meisten  Fällen  eine  pathologische,  mit  Angstgefühl  verbundenene  Zwangs- 
Torstellung,  die  den  Befallenen  um  so  mehr  quält,  je  mehr  er  dagegen  ankämpft. 
Die  Kranken  fühlen  sich  unwiderstehlich  gezwungen,  gewisse  sinnlose  Handlungen  zu 
thun  oder  gewisse  Worte  auszusprechen,  oder  es  tauchen  ihnen  immer  wieder  die- 
selben Fragen  auf  oder  die  Befürchtung,  irgend  etwas  verfehlt  oder  unterlassen  zu 
haben.  Von  diesen  abulischen  Formen  verschieden  sind  die  Zwangsbefiirchtungen, 
die  Furcht,  krank  zu  werden,  sterben,  Selbstmord  begehen  zu  müssen.  Ganz  leichte, 
liaam  pathologisch  zu  nennende  Formen,  können  übergehen  in  schwere,  gefährliche, 
forensische  Wichtigkeit  besitzende. 

Oft  sind  die  obsessions  ein  Zeichen  hereditärer  Belastung.  Sie  haben  Be- 
ziehungen zu  Neurasthenie,  Hypochondrie,  Hysterie,  Melancholie,  Paranoia,  müssen 
aber  doch  nosologisch  von  diesen  Krankheiten  getrennt  werden.  Sie  können  er- 
worben werden,  entstehen  aber  sehr  häufig  auf  hereditärer  Grundlage. 

Der  Verfasser  giebt  sodann  einen  kurzen  Ueberblick  über  die  verschiedenen 
gebräuchlichsten  Bezeichnungen  verschiedener  Arten  von  Zwangsirresein,  und  er 
tritt  für  Fallenlassen  der  Bezeichnung  ,,delire  du  toucher^*  ein,  da  sie  irretührend 
und  gefährlich  sei  und  eigentlich  das  Gegentheil  von  dem  sage,  was  sie  wolle. 

Im  zweiten  Kapitel  wird  die  psychologische  und  klinische  Stellung  der  beset- 
ments erörtert. 

Der  Verfasser  nimmt  an,  dass  bei  den  Zwangsvorstellungen  der  Gedächtniss- 
apparat in  krankhafte  Thätigkeit  gerathe,  dass  die  mit  krankhafter  Intensität  sich 
bahnbrechende  Idee  auf  ihrem  Wege  die  motorischen  Gentren  erregen  könne.  In 
leichteren  Fällen  kann  sie  zurückgedrängt  werden,  in  schwerren  iat  sie  unwider- 
stehlich. 

Die  Zwangsvorstellungen  sind  aber  nicht  nur  durch  Störung  des  Denkens  be- 
dingt, sondern  beruhen  auf  Anomalien  des  Denkens,  Fühlens  und  Wollens.  In  den 
einen  der  Fälle  wiegt  die  Störung  des  Denkens  vor,  in  andern  die  des  Fühlens 
und  in  noch  andern  die  des  Wollens. 

Der  Verfasser  gruppirt  die  verschiedenen  Arten  von  Zwangsirresein  unter 
„The  three  D's**,  nämlich  in  „besetments  of  Doubt,  Dread  and  Deed",  je  nachdem 
das  krankhafte  Denken,  Fühlen  oder  Thun  in  dem  betreffenden  Falle  die  Haupt- 
rolle spielt.  In  allen  Fällen  aber  sind  mehr  weniger  auch  die  andern  zwei  psycho- 
logischen Functionen  ergriffen. 

Im  dritten  Abschnitt  giebt  der  Verfasser  einige  allgemeine  Züge  des  Zwangs- 
irreseins an. 

Oft  sind  die  Zwangsvorstellungen  mit  neurasthenischen  Symptomen  vergesell- 
seliaftet,  entstehen  gewöhnlich  auf  hereditärer  Basis,  sind  remittirend  oder  paroxis- 
Zeitadirift  für  Hypnotismus  etc.   YIU.  12 


178  H.  Bertschillger. 

« 

mal.  Anfänglich  ist  Krankheitseinsicht  vorhanden,  oft  stellt  sich  8}^ter  taediom 
yitae  ein,  häufig  sind  unwiderstehliche  impulsive  Handlungen,  dagegen  fehlen  in 
uncomplicirten  Fällen  Hallucinationen  immer.  Die  Paroxysmen  werden  oft  durch 
äussere  Umstände  beeinflusst. 

Die  Länge,  Häufigkeit,  Intensität  der  Paroxysmen  wechseln  stark  in  den  ver- 
Bchiedenen  Fällen. 

Im  vierten  Theil  der  Rede  werden  die  „obsessions**  differentialdiagnostisdi 
beleuchtet. 

Von  der  Epilepsie  unterscheiden  sie  sich  durch  das  Erhaltenbleiben  des  fie- 
wusstseins,  das  nur  in  seltenen  Fällen  secundär  getrübt  wird,  in  Folge  des  ad 
maximum  gesteigerten  Angstgefühls.  Zwangshandlungen  werden  im  Gegensati  la 
epileptischen  impulsiven  Thaten  immer  vom  Gedächtniss  genau  registrirt. 

Hysterie,  Hypochondrie,  zeitweilig  sich  starker  aufdrängende  Reminiscensen, 
z.  B.  eine  Melodie,  Idyosynkrasien  gehören  nicht  zu  den  „obsessions*',  ebenacwenig 
sogenannte  Secundärempfindungen  (Phonismen,  Photismen  etc.). 

Zum  Schluss  warnt  der  Autor  vor  dem  Gebrauch  des  Ausdruckes  „fixe  Idee^ 
für  Zwangsvorstellung  und  wendet  sich  gegen  die  Bezeichnung  der  Zwangsvorstel- 
lungen als  „parasitisch**  oder  „quasiparasitisch**,  da  die  Aehnlichkeit  mit  Parasiten 
eine  nur  ganz  oberflächliche  sei. 

Im  5.  Kapitel  beleuchtet  der  Autor  die  Uebergänge  der  Zwangsvorstellungen 
in  eigentliche  Geisteskrankheit.  £r  warnt  vor  der  Annahme,  dass  Zwangsivontal- 
lungen  immer  nur  eine  leichte  Art  von  Geistesstörung  vorstellen.  Häufig  werden 
die  Morel 'sehen  Unterscheidungsmerkmale  von  eigentlicher  Geisteskrankheit  (er- 
haltene Einsicht,  Fehlen  von  Hallucinationen  und  Illusionen,  Fehlen  der  Verände- 
rung der  Persönlichkeit)  nicht  mehr  zu  constatiren  sein. 

Bei  der  gleichen  Person  können  leichte  Zwangsvorstellungen  neben  schweren 
Angstzuständen  und  impulsiven,  verbrecherischen  Handlungen  vorkommen.  Leichte 
Formen  können  nach  und  nach  in  schwere  übergehen.  Forensisch  ist  dies  von 
grösster  Wichtigkeit. 

Oft  geht  Zwangsirresein  über  in  schwere  Paranoia,  die  Krankheitseinsicht 
geht  häufig  verloren,  die  Zwangsimpulse  können  unwiderstehlich  werden,  die  Zwang»- 
handlungen  können  belanglose,  triviale  Handlungen  sein,  aber  auch  zu  Mord  und 
Selbstmord  führen. 

Den  Uebergang  von  Zwangsirresein  zu  wirklicher  Geisteskrankheit  bezeichnet 
der  bestimmende  Einfluss,  welchen  plötzlich  die  früher  als  solche  erkannten  Zwangs- 
befürchtungen oder  -Vorstellungen  auf  die  Lebensführung  des  Betroffenen  gewinnen. 

Neben  den  Zwangsvorstellungen  kommen  dann  noch  andere  Zeichen  von 
Geisteskrankheit  vor,  Verfolgungs- ,  Beziehungswahn,  hypochondrische  Sensationen 
und  Wahnideen,  Hallucinationen  etc. 

Kleptomanie,  Pyromanie  etc.  sind  keine  selbstständigen  Krankheitsbilder, 
sondern  Symptomgruppen. 

Im  6.  Kapitel  weist  Mi  ekle  auf  die  vielfachen  Analogien  hin,  die  zwischen 
der  Denkweise  von  Paranoikem,  gewissen  an  Zwangsvorstellungen  und  -handlongeii 
Leidenden  einerseits  und  dem  Denken  wilder,  uncivilisirter  Völker  and  Kindera 
anderseits  bestehen.  Bei  den  Geisteskranken  treten  die  alten  Phasen  der  geistigen 
Entwickelung ,  die  sonst  vergessen  und  von  neuen  überwuchert  sind,  wieder  mehr 
in  den  Vordergrund.    Wie  bei  Wilden  findet  man  bei  ihnen  häufig  Vorliebe  for 


Psychische  Zwangszustände.  179 

Symbolistik ,  Aberglauben ,   Anwendung   gewisser  Worte  und  Handlungen,   denen 
eine  geheimnisvolle,  übernatürliche  Macht  und  Bedeutung  zugeschrieben  wird  u.  s.  w. 

Beim  Auftreten  periodischer  Verschlimmerungen  kann  femer  bei  Paranoia 
sowohl  als  bei  Zwangsirresein  eine  Art  Doppelbewusstsein  entstehen. 

Daa  7.  Kapitel  ist  der  Beleuchtung  der  nosologischen  Stellung  des  Zwangs- 
irreseins und  seiner  Beziehungen  zu  andern  Geisteskrankheiten  gewidmet. 

Nicht  mit  Unrecht  wurde  das  Zwangsirresein  schon  als  rudimentäre,  abortive 
Paranoia  betrachtet.  Es  hat  aber  auch  nahe  Beziehungen  und  bietet  fliessende 
Uebergänge  zu  den  einfachen  degenerativen  Formen,  zu  Paranoia,  Imbecillität,  moral 
insanity,  originärer  Paranoia  und  Hebephrenie.  Femer  bringt  sie  Mickle  in  Be- 
ziehung zu  gewissen  hypnotischen  Zuständen  und  zur  Hysterie. 

Wie  in  der  Hypnose  gewisse  Vorstellungen  und  Vorstellungsgruppen  über- 
mächtig werden  können,  und  wie  bei  Hysterie  ein  zweites  Bewusstsein  in  nur  rudi- 
mentärer oder  vollkommener  Ausbildung  vorkommen  kann,  so  zeigt  sich  auch  beim 
Zwangsirresein  eine  Tendenz  zur  Spaltung  des  Bewusstseins,  ein  radimentärer  An- 
fang zur  Verdoppelung  der  Persönlichkeit.  In  beiden  Fällen  besteht  eine  ge- 
steigerte Suggestibilität «  Willensschwäche,  verminderte  Controlle,  ein  gewisses 
Zögern  und  Zweifeln.  Das  Bewusstsein  ist  eingeengt,  geschwächt,  labil  und  im- 
pulsiv. Die  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  werdA  nicht  ordentlich  assooürt, 
und  daher  rührt  die  Neigung  zu  Spaltung  des  Bewusstseins.  Bei  Hysterie  mani- 
festiren  sich  die  fremden,  eingedrungenen,  vielleicht  unterbewussten  Ideen  in 
somatischen  Störungen,  im  Gegensatz  dazu  suchen  sie  sich  bei  Zwangsirresein  in 
Affecten  oder  Handlungen  Luft  zu  machen.  In  beiden  Fällen  kann  ein  emotioneller 
Reiz  sich  über  weite  Nervenbahnen  erstrecken  und  eine  Reihe  dramatischer  Phä- 
nomene hervorrafen  durch  Suggestion,  als  Ausdruck  einer  reizbaren  nervösen 
Schwäche. 

Aenssem  sich  Zwangshandlungen  in  impulsivem  Herumirren,  so  können  sie 
Bomnambulistischen  Zuständen  sehr  ähnlich  werden. 

Der  Tic  convulsiv  führt  bei  langem  Bestehen  zu  Geisteskrankheit  und  ist  oft 
mit  Zwangsvorstellungen  vergesellschaftet.  £r  scheint  überhaupt  eine  Varietät  des 
Zwangsirresein  darzustellen.  Häufig  kommt  neben  Tic  convulsiv  auch  Goprolalie 
und  zwangsmässige  Echolalie  und  Echopraxie  vor. 

Die  „Jumping  desease*'  der  nordamerikanischen  Indianer,  das  „Myriachit'^  in 
Asiatisch-Sibirien  und  „Latha"  der  Malayen  scheinen  nahe  verwandt,  wenn  nicht 
identisch  mit  dem  Zwangsirresein  zu  sein. 

Viele  perverse  sexuelle  Handlungen  und  Verbrechen  können  als  Zwangsirre- 
sein  aufgefasst  werden. 

Im  8.  Kapitel  illustrirt  der  Redner  an  Hand  von  Krankengeschichten  das  in 
den  7  ersten  Kapiteln  Gesagte. 

Latha.  A  mental  malady  of  the  Malays.  By  W.  Gilmore  Ellis, 
IL  D.,  M.  R.  G.  S.,  Medical-Superintendent,  Governement  Asylum.  Singapore.  The 
Journal  of  mental  science  1897,  Januar.  # 

Latha  ist  der  malayische  Name  eines  eigenthümlichen  Geisteszustandes,  der 
hauptsächlich  bei  Malayen,  selten  bei  Eurasiern  und  Indiem  vorkommt  und  viel- 
leicht identisch  ist  mit  dem  liyriachit  der  Einwohner  Sibiriens  und  Lapplands,  der 
Jumping-disease  der  Amerikaner  und  dem  Bah-tschi  der  Siamesen. 

12* 


180  ^  Bertaching^.    Ptychitche  Zwangnastände. 

Die  Krankheit  tritt  periodisch,  aniallsweise  auf^  gewöhnlich  durch  irgend  eine 
plötzliche  Gehörs-,  Gesichts-  oder  Gefohlswahmehmong  herrorgerofen.  Sie  kann 
sehr  Tenchiedene  Formen  annehmen,  doch  lassen  sich  swei  Haoptgroppen  Ton 
einander  trennen. 

Die  eine,  die  ,JI[imetic-Form**  besteht  im  Wesentliehen  darin,  dass  die  Kranken, 
die  übrigens  gewöhnlich  bei  Tollem  Bewusstsein  bleiben,  zwangsmässig,  ganz  gegen 
ihren  Willen,  aoflallige,  ihnen  vorgemachte  Gesten  nachahmen,  und  in  der  Nach- 
ahmnng  übertreffen,  z.  B.  sich  entkleiden,  tanzen,  Gegenstände  zum  Fenster  hinaus 
werfen  n.  dgl.  ul,  oder  indem  sie  Laute,  die  sie  hören«  Melodien,  Worte  etc.  nach- 
ahmen. 

Die  zweite,  paroxysmale  Form,  wahrscheinlich  eine  ganz  andere  Krankheit, 
hat  vielleicht  gewisse  Beziehungen  zum  Amok,  und  besteht  im  W*esentlichen  in 
Zwangshandlungen  und  Coprolalie.  Die  Befallenen  stossen,  sobald  man  sie  z.  B. 
berührt,  gewöhnlich  immer  die  gleichen  unanständigen  Worte  aus  und  fuhren  mehr 
oder  weniger  unsinnige  Handlungen  aus,  werfen  z.  B.  der  nächststehenden  Person 
an  den  Kopf,  was  sie  gerade  in  Händen  haben  u.  s.  w.  In  einer  andern  Reihe 
von  Fällen  verursacht  ein  in  ihrer  Nähe  laut  ausgesprochener  Name  irgend  eines 
reissenden  Thieres  plötzliche  Angstzustände  mit  sinn-  und  zwecklosen  Flucht-  und 
Abwehrversuchen.  Das  BAusstsein  ist  häufig  getrübt  oder  geschwunden,  auch  be- 
steht oft  Amnesie  für  die  Anfölle. 

Latha  wird  von  den  Malayen  selber  scharf  von  eigentlicher  Geisteskrankheit 
getrennt.  Ausserhalb  der  Anfälle  sind  die  Kranken  bei  gutem  Verstand  und 
handeln  und  reden  völlig  vernünftig.  Häufig  kommt  die  Krankheit  mehrfach  in 
einer  Familie  vor.     Das  weibliche  Geschlecht  prävalirt,   ebenso  das  höhere  Alter. 

Mit  der  Keligion  hat  die  Krankheit  nichts  zu  thun. 

Die  Herzaction  ist  während  der  Anfälle  beschleunigt,  die  Reflexe  sind  er- 
halten. 


Referate  und  Besprechungen. 


Victor  Henri,  Ueber  die  Baumwahrnehmangen  des  TastBinnes. 
Ein  Beitrag  zur  experimentellen  Psychologie.  Berlin.  Verlag  von  Renther  und 
Reichard.    1898.    228  S. 

Der  erste  and  bei  Weitem  grössere  Abschnitt  des  vorliegenden  Werkes  ent- 
hält eine  Zosammenstellung  der  Thatsachenin  Bezug  auf  den  Raumsinn  der  Haut 
und  die  Localisation  der  Tasteindrücke,  sowie  Erscheinungen  physiologischer  und 
pathologischer  Art  (S.  1—160).  Im  zweiten  Theile  sind  die  Theorien  über  die 
Raamwahrnehmungen  im  Gebiete  des  Tastsinnes  enthalten.  Am  Ende  ist  ein  voU- 
stindiges  Yerzeichniss  der  einschlägigen  Literatur  angefügt. 

Zuerst  bespricht  der  Verf.  die  verschiedenen  Methoden  zur  Bestimmung  der 
Schwelle,  welche  seiner  Ansicht  nach  kein  bestinmiter  Werth  ist,  weil  „derUeber- 
gang  von  der  Unmerklichkeit  zur  Merklichkeit  ein  stetiger  ist^,  es  existiren  also 
nur  annähernde  Schwellenwerthe.  Eingehend  werden  dann  die  Methoden  zur 
Schwellen-Bestimmung  von  Vierordt,  G.  E.  Müller  und  Fechner  erörtert, 
wobei  sich  Verf.  den  Ausführungen  Vierordt's  im  Allgemeinen  anschliesst.  Es 
folgen  darauf  die  Resultate  aus  den  Untersuchungen  über  die  Schwelle.  Eine 
wesentliche  Modification  erfährt  die  Schwelle  durch  die  Uebung  und  die  geistige 
'  Ermüdung,  wie  aus  den  Arbeiten  von  Griesebach  und  V a n n o d  hervorgeht, 
während  körperliche  Anstrengrmg  fast  gänzlich  wirkimgslos  auf  die  Schwelle 
iii.  Dieser  Einfluss  der  Uebung  und  der  Ermüdung  ist  „centraler^  Natur,  insofern 
nicht  die  Empfindung  selbst,  sondern  die  Deutung  derselben  verändert  wird. 
Bei  Blinden  ist  der  Raumsinn  feiner  als  bei  Sehenden,  wie  die  zahlreichen  Versuche 
Czermak's  und  anderer  Forscher  übereinstimmend  zeigen,  ebenso  sind  bei  Kindern 
die  Schwellen  kleiner  als  bei  Erwachsenen  und  bei  natürlich  oder  künstlich  aus- 
gedehnter Haut  wiederum  grösser,  als  bei  normaler  Beschaffenheit. 

Unter  künstlichen  Bedingungen  ergeben  sich  folgende  Schwellenwerthe 
Wärme,  Hyperämie  und  mechanische  Reizung  der  Haut  verkleinem  die  Schwelle, 
während  sie  durch  Anämie  und  Kälte  vergrössert  wird.  Durch  den  electrischen 
Strom  wird  die  Schwelle  an  der  Anode  vergrössert  und  an  der  Kathode  verringert, 
doch  tritt  diese  Wirkung  erst  nach  einiger  Zeit  auf.  Bei  Reizung  der  Haut  durch 
Säuren  etc.  wird  die  Schwelle  vergrössert.  Narcotica  erhöhen  die  Schwellenwerthe 
in  verschiedenem  Maasse.    Der  Einfluss  von  Krankheiten  aller  Art  auf  die  Schwelle 


182  Referate  und  Besprechungen. 

ist  bald  yergrössemd,  bald  verkleinernd.  Alle  diese  Befunde  gelten  für  die 
simultane  Berührung,  bei  successiver  Berührung  werden  die  Schwellenwerthe 
kleiner  was  in  noch  höherem  Maasse  der  FaU  ist,  wenn  man  vor  der  Berührung 
des  zweiten  Punktes  die  Spitze  vom  ersten  wegnimmt.  In  Bezug  auf  lÄnien  hat 
sich  ergeben,  dass  ohne  Richtung  die  Schwelle  grösser  ist  als  bei  succeanver  Be- 
rührung zweier  Punkte  und  kleiner  als  bei  simultaner  Berührung;  für  Ldnien  mit 
Angabe  der  Richtung  ist  der  Schwellenwerth  demjenigen  bei  der  simultanen  Be- 
rührung mit  zwei  Punkten  ungefähr  gleich.  Für  Figuren  erhielt  Binet  bei  einer 
hysterischen  Frau  andere  Resultate  als  bei  normalen  Individuen.  Bei  der  Bewegung 
einer  Spitze  über  die  Haut  erhält  man  eine  viel  kleinere  Schwelle  als  bei  der 
simultanen  Berührung  mit  zwei  Spitzen,  doch  ist  der  Schwellenwerth  an  den  ver- 
schiedenen Stellen  verschieden. 

Nach  dieser  sehr  erschöpfenden  Uebersicht  über  die  Schwelle  bringt  YerL 
einige  Beobachtungen  über  die  „Unterschiedsschwelle'',  um  dann  wieder 
genauer  auf  die  „Richtigkeit  der  räumlichen  Vorstellungen  im  Gebiete 
des  Raumsinnes  der  Haut"  einzugehen.  Weber  hat  gefunden,  dass  die 
Entfernung  zweier  mit  Spitzen  berührter  Hautpunkte  um  so  kleiner  erscheint^  je 
grösser  die  betr.  Schwelle  ist.  Fechner,  Camerer  u.  A.  haben  dieses  Verhalten 
bestätigt  Wundt,  Jastrow  und  Washburn  haben  beobachtet,  dass  die 
scheinbare  Distanz  der  Spitzen  kleiner  ist  als  die  reale  und  unabhängig  von  visnalen 
Vorstellungen ;  das  Gegentheil  behauptet  Goldscheider,  womit  die  Untersuchungen 
des  Verf. 's  für  grosse  Distanzen  übereinstimmen,  was  er  jedoch  aus  der  Vor> 
Stellung  von  der  Grösse  des  berührten  Körpertheils  erklärt,  weil  sofort  eine  Unter- 
schätzung stattfand,  sobald  er  der  Versuchsperson  ein  Modell  des  Armes  vorlegte. 
Hinsichtlich  des  Auftretens  der  sog.  Vexirfehler  hat  sich  ergeben,  dass  sie  mit 
der  Zunahme  der  Entfeniung  numerisch  abnehmen.  Das  Zustandekommen  der 
Vexirfehler  erklären  einige  Autoren  (W undt.G.  E.  Müller)  rein  physiologisch, 
andere  (Fechner,  Camerer,  Nichols)  wieder  durch  Contrast,  Erwartung  u.  s. £ 
psychologisch.  Verf.  glaubt,  dass  „die  Vexirfehler  allerdings  an  rein  physio- 
logische Ursachen  gebunden  sind,  ihr  Vorkommen  aber  durch  wissentliches  Ver- 
fahren beeinflusst  wird.''  Damach  wird  der  Fall  des  Längeren  erörtert,  wo  zwei 
Hautstellen,  deren  gegenseitige  Entfernung  verändert  werden  kann,  mit  je  einer 
Spitze  berührt  werden.  Hierher  gehört  der  Versuch  des  Aristoteles,  welcher 
von  vielen  späteren  Forschern  (Descartes)  behandelt  und  auch  in  unserer  Zeit 
von  Czermak,  Robertson,  Rivers  neu  beobachtet  worden  ist.  Intensiv  be- 
schäftigt mit  diesem  Experiment  hat  sich  der  Verf.  selbst  in  dem  psychologischen 
Institut  in  Göttingen.  Als  Versuchspersonen  wurden  auch  zwei  frühzeitig  Er- 
blindete beobachtet.  Das  Gesammtresultat  dieser  Untersuchungen  fasst  H.  selbst 
in  dem  Satze  zusammen :  „berührt  man  die  Endphalangen  von  zwei  Fingern  suerst 
bei  der  normalen  Lage  der  Finger  und  dann  dieselben  Hautstellen  in  gleicher 
Weise  bei  der  gekreuzten  Lage  der  beiden  Finger,  so  scheinen  die  beiden  Be- 
rührungsstellen in  beiden  Fällen  fast  in  derselben  Lage  zu  einander  zu  liegen; 
diejenige,  die  rechts  bei  der  normalen  Lage  erscheint,  erscheint  auch  rechts  bo 
der  gekreuzten  Lage,  obgleich  die  Berührung  objectiv  hier  links  ist.  Wenn  bei 
der  normalen  Lage  die  Berührungsstellen  sehr  nahe  an  einander  liegen,  so  scheinen 
sie  auch  bei  der  gekreuzten  Lage  einander  sehr  nahe  zu  liegen,  obwohl  objectiv 
die  Berührungen   in   der  gekreuzten  Lage  weit  von  einander  entfernt  sind."  — - 


Referate  und  Besprechungen.  183 

Täuscliungen,  welche  dem  Aristotelischen  Muster  ähnlich  sind,  kann  man  auch  an 
anderen  Stellen  erhalten.  Am  Ende  des  ersten  Capitels  folgt  noch  eine  kurze 
Darstellung  der  Untersuchungen  über  die  Wahrnehmungen  von  Linien,  Bewegungen 
und  Formen.  Nach  den  übereinstimmenden  Beobachtungen  von  Volkmann^ 
Dressler,  Parrish  und  Nichols  erscheint  eine  Linie  stets  kleiner  als  eine 
Spitzendistanz,  nach  denjenigen  von  Czermak,  Vierordt  und  Fechner  er- 
scheint die  durchlaufene  Strecke  kleiner  als  die  Entfernung  der  Punkte.  Die  Wahr- 
nehmung Ton  Formen  ist  für  verschiedene  Körperstellen  und  ihre  Lage  verschieden. 
Endlich  werden  noch  einige  Fälle  von  Macroästhesie  und  Polyästhesie  sowie  ein 
Fall  von  Jliacropsie  mitgetheilt. 

Das  zweite  Capitel  handelt  von  der  Localisation  der  Tasteindrücke.  Bei  der 
Localisation  können  wir  drei  Formen  unterscheiden:  „Localisation  mit  Be- 
rührung und  Bewegung*',  „visuelle  Localisation"  und  „Localisation 
mit  Beschreibung".  Die  erste  Methode  zur  Bestimmung  der  Feinheit  rührt 
von  Weber  her  und  wurde  später  auch  von  Kottenkampf,  Ullrich^  Lewy, 
Barth  und  Pillsburg  angewandt.  Die  Versuchsperson  hat  bei  geschlossenen 
Augen  mit  dem  Finger  die  gereizte  Hautstelle  zu  berühren  (Berührungsmethode) 
oder  zu  zeigen  (Bewegungsmethode).  Daran  reihen  sich  die  eigenen  Untersuchungen 
des  Verf.^8.  Dieselben  sind  in  vier  Heihen  angestellt  und  erstrecken  sich  zunächst 
auf  die  Localisation  der  Bewegung,  welche  für  sich  allein  eine  sehr  ungenaue 
Localisation  abgiebt.  —  Die  visuelle  Localisation  ist  lediglich  von  Volk- 
mann geprüft  worden.  Verf.  selbst  hat  nun  fünf  Versuchsreihen  über  dieselbe 
angestellt  und  gefunden,  dass  die  Fehler  um  so  kleiner  sind,  je  mehr  Anhaltspunkte 
sich  in  der  Nähe  des  Punktes  befinden  und  je  characteris tischer  die  Tastempfindung 
ist.  Zwischen  dem  berührten  und  gezeigten  Punkte  findet  keine  Reciprocität  statt, 
"wie  Wundt  annimmt.  Bei  der  gekreuzten  Lage  werden  die  Finger  verwechselt; 
dies  gilt  ebenso  für  Blinde.  Doch  bestehen  individuelle  Unterschiede  in  der 
Sicherheit  und  Intensität  der  Verwechselung.  Nach  G.  E.  Müller  können  sogar 
die  Finger  der  zwei  Hände  verwechselt  werden.  —  Die  Localisation  mit  Be- 
ichreibung  ist  wenig  genau  und  wird  hauptsächlich  bei  Kranken  angewandt. 

Loa  dritten  Gapitel  des  ersten  Theils  werden  physiologische  und  pathologische 
Thatsachen  angeführt.  Daraus  geht  hervor,  dass  gewisse  Localisationsbewegungen 
fein  reflectorisch  und  vom  Rückenmark  abhängig  sind,  und  dass  diese  reflectorische 
Localisation  nur  annähernd  ist.  Bei  der  Reizung  einer  Nervenbahn  des  Haut- 
sinnes  können  Empfindungen  entstehen,  welche  identisch  den  Empfindungen  sind, 
welche  bei  Reizung  der  peripheren  Endigungen  entstehen;  es  können  aber  auch 
Empfindungen  entstehen,  die  nie  peripher  entstehen.  Li  beiden  Fällen  wird  die 
Empfindung  in  die  Peripherie  projicirt  (Gesetz  der  excentrischen  Projection  oder 
JSxtemalisation).  Es  folgen  hier  einige  Beobachtungen  über  Reizungen  der  corti- 
calen  Zone,  der  inneren  Capsel,  des  verlängerten  Marks  und  des  Rückenmarks 
sowie  der  Nerven,  und  im  Anschluss  daran  eine  Besprechung  der  Mitempfindung, 
der  verschiedenartigen  Empfindungen  bei  Amputirten.  Die  amputirten  Theile 
werden  gewöhnlich  zu  nahe  und  zu  klein  vorgestellt.  Electrische  Reizung  des 
betreffenden  Amputationsstumpfes  stellt  die  normale  Empfindung  wieder  her, 
Störungen  der  Localisation  treten  weiterhin  auf  bei  Transplantation  der  Haut 
nnd  bei  Nervenkrankheiten.  Dieselben  können  jedoch  nach  der  Heilung  wieder 
▼erschwinden.    Auch  durch  Erkrankung  innerer  Organe  kann  die  Sensibilität  beein- 


184  Referate  und  Befprechnngen. 

trächiigt  werden,  wie  He  ad  nachweist;  ebenso  durch  Rückenmarkakrankheiten. 
In  manchen  Fällen  führt  eine  Verietcnng  des  Rückenmarks  aber  sogar  eine  Stei- 
gerung der  Empfindlichkeit  herbei.  Ans  dem  Umstände,  dass  bei  S^ranken  Tielfaeh 
die  Raumschwelle  vergrössert  ist,  während  die  Localisation  normal  ist  and  umge- 
kehrt, ergiebt  sich  die  Unabhängigkeit  des  Raumsinnes  der  Haut  Ton 
der  Localisation  der  Tasteindrncke. 

Im  zweiten  Theile  seiner  Abhandlung  kommt  Verf.  zu  den  verschiedenan 
Theorien  über  die  Raumwahmehmungen  im  Gebiete  des  Tastsinnes.  Dabei  ist 
SU  untersuchen,  ob  die  Räumlichkeit  angeboren  ist  oder  nicht  und  in  diesem  Falle, 
wie  sie  sich  entwickelt  und  worin  für  das  entwickelte  Bewusstsein  das  nLumliehe 
Moment  einer  Tastempfindung  besteht. 

Die  nativistischen  Theorien  von  Hering,  James  und  Stumpf  be« 
haupten,  dass  „dem  unentwickelten  primitiven  Bewusstsein  jede  Tastempfindon^ 
räumlich  erscheint,  und  dass  diese  Räumlichkeit  eine  Eigenschaft  oder 
ein  Theilinhalt  der  Tastempfindung  selbst  ist**.  Dagegen  behaupten 
J.  Müller,  £.  H.  Weber  und  Lotze,  dass  „an  jeder  Tastempfindung  eines 
Neugeborenen  das  Moment  der  Räumlichkeit  unterschieden  werden  kann,  dass  aber 
diese  Räumlichkeit  nicht  ein  Theilinhalt  der  Empfindung  selbst, 
sondern  eine  immanente  Eigenschaft  der  Seele  oder  des  Bewnsst- 
scins  ist". 

Dieser  nativistischen  steht  die  genetische  Auffassung  gegenüber,  die  ihrer^ 
seits  annimmt,  dass  „der  Tastempfindung  des  primitiven  unentwickelten  Organismna 
keine  Räumlichkeit  zukommt.  Die  Tastempfindungen  werden  für  das  BewasstseiD 
erst  im  Laufe  der  Entwickeln  ng  räumlich.'*  Diese  Theorie  ofienbart  sich  in  drei 
verschiedenen  Phasen.  Herbart  und  Lipps  sagen,  dass  „die  Empfindungen  des 
Tast-  und  des  Gesichtssinnes  im  primitiven  Bewusstsein  noch  keine  Räumlichkeit 
haben;  letztere  entsteht  als  Resultat  einer  gewissen  Cbmbination 
dieser  an  sich  unräumlichen  Empfindungen,  während  nach  der  Meinung 
der  englischen  Empiristen  Brown  etc.  und  Wundt  und  Steinbach  diese 
Räumlichkeit  nur  mit  Hülfe  anderer  Empfindungen  gebildet  wird. 
Verf.  kann  sich  keiner  der  herrschenden  Theorien  gaLz  anschliessen,  seine  Ansicht 
besagt,  „dass  die  Tastempfindung  im  primitiven  Bewusstsein  kein  Moment  der 
Räumlichkeit  haf;  diese  entsteht  im  Laufe  der  Entwickelung,  sie  ist  aber 
durchaus  nicht  eine  Zusammenstellung  oder  „chemische  Mischung*' 
unräumlicher  Elemente.**  Diese  Hypothese  wird  vom  Verf.  selbst  jedoch 
nur  als  möglich  angenommen.  —  Das  zweite  Capitel  des  zweiten  Theils  enthalt 
noch  eine  kurze  Zusammenfassung  der  im  ersten  Theil  angegebenen  Thatsaohea 
und  die  Theorie  der  Empfindungskreisc  von  Weber  und  die  Theorie  der  Local* 
zeichen  von  Wundt  und  Lotze.  Alle  diese  Theorien  leiden  an  verschiedenen 
Mängeln.  Am  Schlüsse  skizzirt  Verf.  noch  seine  eigene  Theorie;  es  exiatirt  im 
Rückenmark  eine  gewisse  anatomisch-physiologische  Einrichtung,  in  Folge  deren 
ein  periplierer  Reiz  refiectorische  Bewegungen  hervorruft,  die  ein  Tastorgan  in  die 
Nähe  der  gereizten  Stelle  bringen;  diese  Einrichtung  ist  als  angeboren  anzusehen. 
Es  entstehen  dann  Associationen  zwischen  Tastempfindungen  und  Gesichtsbildeni, 
für  weiche  die  Uebung  von  wesentlichem  Einflüsse  ist. 

Anm.  d.  Ref.:  Wenn  diese  Arbeit  auch  weniges  Neues  bietet,  so  giebt  lie 
doch  viele  Winke  für  den  Forscher,  wo   in  diesem  für  die  gesammte  Psychologie 


Keferate  und  Besprechungen.  185 

und  Philosophie  äusserst  wichtigen  Gegenstände  noch  Experimente  nothig  sind. 
Ausserdem  ist  sie  eine  bedeutende  Erleichterung  für  spätere  Studien,  indem  sie 
eine  übersichtliche  und  genaue  Zusammenfassung  der  Litteratur  enthält,  welche 
der  Verf.  mit  grossem  Fleisse  erschöpfend  zusammengetragen  hat. 

La  Utenbach -Berlin. 

Jamea  Mark  Baldwin,  Die  Entwickelung  des  Geistes  beim  Kinde 
und  bei  der  Rasse.    Berlin,  Verlag  von  Kenther  &  Beichard.    1898.    466  8. 

In  der  Einleitung  kennzeichnet  der  Verf.  gleich  seinen  Standpunkt.  Der 
Entwickelungsgedanke  ist  der  leitende,  die  Untersuchung  ist  eine  genetische. 
Wir  haben  nicht  mehr  die  alte  Vorstellung  von  der  Seele  als  einer  bestimmten 
iixirten  Substanz  mit  bestimmten  Attributen,  sondern  einer  wachsenden,  sich  ent- 
wickelnden Thätigkeit.  Daher  können  wir  auch  nicht  mehr  wie  früher  den  er- 
wachsenen ausgebildeten  Menschen  als  Object  zum  Studium  der  Geistesfunctionen 
nehmen,  sondern  wir  müssen  den  Geist  in  seinen  einfachsten  Verhältnissen,  in  seinen 
Aeussernngen  beim  Kinde  untersuchen  und  seine  allmähliche  Weiterentwickelung 
beobachten.  Die  Analyse  des  Geistes  ist  beim  Kinde  viel  correcter  und  die  Schlüsse 
sind  viel  sicherer,  da  bei  ihm  die  Erscheinungen  des  Bewusstseins  noch  nicht 
reflectiv,  sondern  ganz  rein  sind.  Vor  den  Versuchen  mit  Thieren  verdient  die 
Beobachtung  des  kindlichen  Geisteslebens  den  Vorzug,  weil  die  Analogie  mit  dem 
erwachsenen  Menschen  eine  ganz  sichere  ist,  während  die  Schlütsse  vom  Thier  auf 
den  Menschen  immerhin  anfechtbar  sind.  Ebenso  sind  die  physiologischen  Processe 
in  dieser  Zeit  noch  einfacher,  und  das  Experiment  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
ist  noch  zuverlässiger.  Freilich  muss  man  sich  auch  hier  vor  einer  zu  weitgehenden 
Verallgemeinerung  der  Beobachtungen  und  der  daraus  zu  ziehenden  Schlüsse  hüten, 
denn  es  sind  nicht  alle  Kinder  gleichmässig  erblich  veranlagt,  ebensowenig  ist  die 
Entwickelung  des  Nervensystems  eine  gleiche,  sondern  individuell  verschieden.  Es 
ist  nicht  ein  fester  Zeitpunkt,  sondern  das  Eintreten  einer  Erscheinung  vor  einer 
anderen  als  Norm  anzunehmen.  Nur  dadurch  ist  es  möglich,  die  Gesetze  des 
Wachsthums  des  menschlichen  Geistes  kennen  zu  lernen.  —  Wie  in  der  Biologie 
ist  auch  in  der  Psychologie  nicht  nur  eine  ontogenetische,  sondern  auch  eine  phylo- 
genetische Entwickelung  zu  beobachten.  Die  Entwickelung  des  Geistes  beim 
Individuum  und  diejenige  bei  der  menschlichen  Rasse  bis  zu  ihren  thierischen 
Vorfahren  zurück,  müssen  im  Zusammenhang  betrachtet  werden,  um  ein  vollstän- 
diges Bild  zu  erhalten.  Denn  für  die  Entwickelung  des  Geistes  besteht  das  bio- 
genetische Grundgesetz,  der  Parallclismus  zwischen  individueller  und  Stamm- 
entwickclung  ebensowohl  wie  für  den  Körper.  In  der  individuellen  Entwickelung 
des  menschlichen  Geistes  kann  man  vier  Epochen  unterscheiden:  eine  „affective^S 
eine  „Epoche  der  objectiven  Beziehung'',  eine  „Epoche  der  subjectiven  Beziehung" 
und  eine  „sociale  und  ethische  Epoche''.  Diese  Abschnitte  sind  naturgemäss  nicht 
scharf  von  einander  geschieden,  sondern  gehen  ebenso  gut  allmählich  in  einander 
über,  wie  bei  der  Entwickelung  der  Rasse,  wo  ebenfalls  i-ier  entsprechende  Stadien 
vorhanden  sind:  das  Stadium  vieler  wirbellosen  Thiere,  der  niederen  Wirbelthiere, 
der  höheren  Wirbelthiere  und  des  Menschen  selbst.  Diese  Analogie  zwischen 
Organ-  und  Geistesentwickelung  geht  sogar  soweit,  dass  auch  hier  wie  dort  Modi- 
ficationen  in  derselben  stattfinden,  die  „abgekürzte"  und  die  „gehäufte"  Entwicke- 
lung zu  beobachten  sind,  ebenso  wie  sich   der  Einfluss  der  natürlichen  und  der 


186  Referate  und  Besprechungen. 

künstlichen  Züchtung  verschieden  geltend  macht.  —  Im  zweiten  Capitel  der  Ein- 
leitung giebt  Verf.  seine  Methode  an,  wie  man  ein  Kind  zu  studieren  hat.  £s 
kommen  auch  hier  wie  überall  Beobachtung  und  Experiment  zur  Anwendung.  Die 
gewöhnliche  Beobachtung  ist  ungenau,  und  das  Experimentiren  ebenÜBdls  gewöhnlieh 
mehr  nachtheilig  als  förderlich  für  die  Kindespsycholog^e.  Verf.  stellt  nun  eine 
neue  Methode  des  Experimentirens  auf,  die  „dynamogenetisch e**,  welche  in 
der  Wechselbeziehung  zwischen  Beschafienheit  und  Intensität  eines  sensorischen 
Reizes  und  der  dadurch  hervorgerufenen  Bewegung  und  des  Kraftaufwandes  besteht. 
Diese  Reaction  ist  abhängig  von  der  Qualität  des  Reizes  und  der  Distanz,  so  dass 

die  Dynamogenie  D  =  -^  ist,  wobei  q  die  Qualität  des  Reizes  und  d  die  Distanz 

des  reizenden  Gegenstandes  vom  Kinde  bedeutet.    Wenn  es  sich  um  Farbenwahr* 

c 

nehmungen  handelt,  so  muss  diese  Formel  folgenden  Werth  annehmen :  D  =  -nr, 

d.  h.  die  Stärke  der  Dynamogenie  ist  gleich  der  Farbe  c  durch  die  Distanz  d. 
Die  zahlreichen  Experimente  hat  Verf.  an  seinem  eigenen  9  Monate  alten  Kinde 
vorgenommen  und  gefunden,  dass  die  Anziehungsreihe  für  die  verschiedenen 
Farben:  blau,  roth,  weiss,  grün,  braim  ist,  wie  bei  Binet  und  verschieden  von 
Frey  er.  Ebenso  konnte  eine  sichere  Distanz-Association  festgestellt  werden,  in^ 
dem  die  Reactionen  von  10 — 16  Zoll  regelmässig  abnehmen.  An  demselben  Kinde 
stellte  Verf.  vom  4. — 10.  Monat  über  die  „Rechtshändigkeit''  Versuche  an,  welche 
ihn  zu  der  Annahme  führen,  dass  zwischen  der  Entstehung  der  Sprache  und  der 
Entstehung  der  Rechtshändigkeit  eine  fundamentale  Verbindung  bestehen  muss. 

Darauf  folgen  im  nächsten  Capitel  Experimente  über  die  malende  Nachahmung. 
Während  vorher  keine  Nachahmungen  bei  den  Zeichnungen  des  Kindes  zu  erkennen 
waren,  änderte  sich  dieses  Verhältniss  mit  dem  27.  Monat,  wo  eine  deutliche  Nach- 
zeichnung der  Vorlage  zu  erkennen  war,  also  eine  Combination  zwischen  Bewusst- 
sein  und  Muskelbewegung.  Diese  „malende  Nachahmung*'  bildet  nun,  wie  Verf. 
weiter  ausführt,  die  Grundlage  der  Handschrift.  Die  Entstehung  der  Handschrift 
erklärt  Verf.  aus  einem  Zusammenwirken  von  drei  verschiedenen  Empfindungsreihen, 
der  Reihe  der  gesehenen  Formen,  der  Reihe  der  Muskelempfindungen  und  der 
Reihe  der  gesehenen  Bewegungen. 

Ein  bedeutsames  Moment  für  die  Entwickelung  des  Geistes  bilden  die  Sug- 
gestionseinflüsse. Die  Suggestion  tritt  beim  Kinde  in  verschiedenen  auf  einander 
folgenden  Stadien  auf:  als  physiologische  Suggestion,  sensomotorische  Suggestion, 
ideo-motorische  Suggestion.  Dazu  kommen  die  halbbewusste  Suggestion  bei  Er- 
wachsenen, die  hemmende  Suggestion  und  die  hypnotische  Suggestion.  Aus  allen 
diesen  Suggestionsformen,  die  einzeln  ausführlich  besprochen  werden,  geht  die 
Wahrheit  des  dynamogenetischen  Gesetzes  hervor,  welches  darin  besteht, 
„dass  einfach  eine  Handlung  auf  einen  Reiz  folgt **. 

Im  zweiten  Theil  des  Buches  sucht  Verf.  die  Frage  zu  beantworten,  wie  ein 
Organismus  überhaupt  eine  neue  adoptive  Bewegung  erwerben  kann.  Nach  dem 
dynamogenetischen  Gesetz  bewirkt  jeder  organische  Reiz  Veränderungen  in  den 
Bewegungen.  Die  Individuen  werden  aber  nur  auf  wohlthätige  Reize  reagirt 
haben,  wodurch  die  daraus  resultirenden  Bewegungen  festgehalten  werden.  Zu 
diesem  Factor  der  natürlichen  Selection  der  Art  gesellt  sich  noch  ein  zweiter,  die 
„functionelle  Reaction"  des  Individuums,  wonach  unter  den  verschiedenen  auf  ein 


Referate  und  Besprechungen.  187 

und  denselben  Organismus  einwirkenden  neuen  Heizen  nur  diejenigen  erhalten 
bleiben,  welche  nützliche  Bewegungen  hervorrufen.  ,,Es  setzt  also  die  Lebens- 
geschichte  der  Organismen  yon  Beginn  an  die  Gegenwart  des  organischen  Analogons 
für  das  hedonische  Bewusstsein  voraus."  Die  Accomodation  an  neue  Reize  ist  aber 
nur  dann  möglich,  wenn  das  Organ  auf  Grund  von  früheren  Vorgängen  sich  vor- 
bereiten kann,  solche  Reactionen  hervorzubringen,  die  diese  Art  des  Reizes  für 
dasselbe  zu  bewahren  suchen.  Dies  führt  zu  dem  ,,Gesetz  des  Ueberschusses", 
welches  lautet:  »Die  Accomodation  eines  Organismus  an  einen  Reiz  wird  durch 
fortgesetzte  oder  wiederholte  Handlung  auf  diesen  Reiz  hin  erreicht;  und  diese 
Wiederholung  wird  erreicht  nicht  durch  eine  von  vornherein  stattfindende  Selection 
dieses  Reizes  oder  der  angemessenen  Muskelbewegungen '),  sondern  durch  die  an- 
nähernde Wiederherstellung  desselben  durch  Aeusserungen  der  Energien  des  Or- 
ganismus, die  so  sehr  als  möglich  für  die  excessive  Reizung  deijenigen  motorischen 
Organe  concentrirt  werden,  die  am  besten  sich  durch  frühere  Gewöhnung  dazu 
eignen,  diese  Reizung  zu  erhalten." 

Dieses  Gesetz  zu  erklären  ist  die  Aufgabe  der  folgenden  Capitel.    Es  giebt 
eine  phylogenetische  Fi^e:  wie  ist  die  Entwickelung  des  organischen  Lebens  vor 
sich  gegangen?  und  eine  ontogenetische :  wie  ist  es  möglich,  dass  ein  Organismus 
eine  neue  und  besser  angepasste  Function  erhält?    Für  dep  Psychologen  ist  die 
letztere  Frage  von  grösserer  Wichtigkeit.     Eine  Antwort  auf  diese  Frage  haben 
die  Biologen  Spencer  und  Bain  zu  geben  versucht;  nach  dieser  Theorie  ist  die 
erste  Adaption  ontogenetisch,  nach  Ansicht  der  Psychologen  ist  sie  phylo- 
genetisch.   Verf.   selbst  nimmt  den  Spencer-Bain'schen  Standpunkt  ein.    Diese 
Theorie  wird,  wie  im  Folgenden  gezeigt  wird,   von  den  Vererbungstheorien  nicht 
beeinflusst.    Nach  einigen  weiteren  Abschweifungen  über  die  organische  Selection 
und  den  „richtenden  Factor",  kommt  Verf.   auf  die  Entstehung  des  Bewusstseins 
zu  sprechen,  dessen  Anfang  im  Leben  nirgends  gefunden  werden  kann.    Auf  der 
einen  Seite  steht  also  die  Gewohnheit  als  Tendenz  des  Organismus,  die  vitalen 
Reizungen  zu  erlangen  und  zu  bewahren,  auf  der  anderen  Seite  die  Accomodation 
als  das  Resultat  der  Gewohnheit  (Capitel  VIII  enthält  eine  Erörterung  über  den 
Ursprung  der  motorischen  Haltungen  und  des  Ausdrucks).    Capitel  IX — XIII  be- 
handeln den  Typus  der  Reaction,  in  dem  diese  beiden  Grundprincipien  Gewohnheit 
und    Accomodation   ihren   Ursprung   haben.      Die   Adaption   im   weitesten   Sinne 
äussert  sich  als  „organische  Nachahmung",  „bewusste  Nachahmung"  und  „Wollen". 
Jede  organische  Anpassung  in  einer  wechselnden  Umgebung  ist  eine  Erscheinung 
biologischer    oder    organischer   Nachahmung.     Der    organischen   Nachahmung 
Bchliesst  sich  die  höhere  Form  der  bewussten  Nachahmung  an,  welche  durch 
die  Suggestion  wesentlich  beeinflusst  wird.    Die  dauernde  Anstrengung  nun,  welche 
ein  Kind  macht,  um  Etwas  nachzuahmen,  ist  die  erste  Bethätigung  desWollens, 
dessen  Wesen   und  Entstehung  sehr  eingehend  erörtert  wird.  —   „Jede  Function, 
die  äusserlich  als  Gewohnheit  in  der  Handlung  einer  Person  erscheint,  zeigt  sich 
auch  innerlich  als  Gewohnheit  in  den  Bewegungen  der  Inhaltselemente  des  Geistes", 
sagt  der  Verf.  weiter  und  knüpft  daran  Betrachtungen  über  „die  innerliche  Sprache" 
and   den   „innerlichen  Gesang"  oder  mit  anderen  Worten  über  die  Frage,   was 


^)  Ich  kann  diese  Einschränkung  mit  dem  vorher  erwähnten  Vorgang  der 
„functionellen  Selection"  nicht  in  Einklang  bringen.    Anm.  d.  Ref. 


138  Referate  und  Besprechungen. 

denken  wir  uns  bei  Worten  und  Melodien?  Bei  diesen  Vorgingen  findet  eine 
„sensori -motorische  Association"  statt.  Diesem  selben  Gesetze  folgt  auch  der  Za- 
stand  der  Aufmerksamkeit,  es  ist  überhaupt  jeder  geistige  Znstand  ein 
Complex  von  sensorischen  und  motorischen  Elementen,  und  jeder 
Einfluss,  der  die  einen  verstärkt,  sucht  auch  die  anderen  in  yer- 
stärken.  « 

Den  letzten  Abschnitt  des  Werkes  bildet  eine  aUgemeine  Zusammen£aMaDg 
der  im  Vorhergehenden  besprochenen  Thatsachen  und  Theorien.  Durch  die  Ge- 
wohnheit oder  die  Tendenz  eines  Organismus,  wohlthätige  Processe  fortdauern  sa 
lassen,  werden  die  günstigen  Reizungen  durch  die  eigenen  Bewegungen  festgehalten. 
Das  zweite  Grundprincip  ist  die  Accomodation,  wonach  ein  Organismus  sich  an 
mehr  complicirte  Zustände  der  Reizung  dui*ch  Leistung  yon  mehr  complicirteii 
Functionen  adaptirt.  Beide  Grundprincipien  stehen  in  Wechselwirkung.  Dieselbe 
verlangt,  dass  die  Reaction  ihren  Reiz  erhält,  und  dass  dieser  Reiz  wiederum  die 
Reaction  wiederholt  —  die  „circuläre  Reaction". 

Ref.  möchte  nur  bemerken,  dass  die  Anordnung  des  Stoffes  und  die  Ver- 
theilung  in  die  einzelnen  Capitel  nicht  immer  den  Forderungen  strenger  Logik 
entspricht.  Davon  abgesehen  aber,  bietet  das  vorliegend^V^erk  Baldwin's,  wie 
es  von  diesem  Autor  zu  erwarten  war,  einen  werthvoUen  Beitrag  für  die  Psycho- 
logie des  Kindes  im  Besonderen  und  damit  für  die  Psychologie  überhaupt.  Viele 
neue  Gedanken  darin  dürften  andere  Autoren  anspornen  zu  weiterer  Erforschung 
dieses  wissenschaftlich  ungeheuer  interessanten  Problems  von  der  Entstehung  und 
Entwickelung  der  geistigen  Vorgänge  im  Individuum  und  weiterhin  in  den  Rassen. 

Lautenbach-Berlin. 

Wilh.  Wu7idf8  System  der  Philosophie.  2.  umgearbeitete  Auflage 
Leipzig,  W.  Engelmann's  Verlag.     1897.    (Fortsetzung.) 

Die  Geisteswissenschaften  theilt  Wundt  in  solche,  die  sich  mit  den 
Geistesvorgängen  und  in  andere,  die  sich  mit  den  Geisteserzeugnissen 
beschäftigen.  Mehr  aber  noch  als  wie  bei  den  Naturwissenschaften  ist,  wie  Wundt 
ausfuhrt^  hier  hervorzuheben,  dass  diese  Scheidung  nur  eine  Abstraction  ist,  aofem 
namentlich  das  Geisteserzeugniss  selten  den  relativ  beharrenden  Character  des 
Naturgegenstandes  an  sich  trägt  und  nur  im  Zusammenhang  auf  den  es  erzeugenden 
Vorgang  zu  begreifen  ist.  Die  Lehre  von  den  geistigen  Vorgängen  umsohliesst 
nach  Wundt  die  Psychologie  mit  allen  ihren  Einzeldisciplinen :  die  Thier- 
Psychologie  („Entwickelung  der  Bewusstseinserscheinungen  in  der  Reihe  der 
lebenden  Wesen**),  die  Psychologie  des  Kindes  und  die  Völkerpsycho- 
logie („psychische  Entwickelungsgeschichte  des  Menschen  und  die  psychologisohe 
Deutung  der  hauptsächlichsten  menschlichen  Geistesschöpfungen**),  die  Psyeho- 
physik  („Beziehungen  de»  geistigen  Lebens  zu  körperlichen  Vorgängen").  ,,Die 
letztere  Aufgabe  führt  zugleich  zur  naturgeschichtlich-psychologischen  Betrachtung 
der  Entwickelung  des  Menschen  und  der  Völkerstämme,  wie  sie  die  Au%abe  der 
Anthropologie  und  der  Ethnologie  bildet,  die  daher  in  diesem  Sinne  als 
specielle  psychophysische  Disciplinen  anzusehen  sind.**  Die  Psychologie  ist 
nach  Wundt  die  Grundlage  aller  Geisteswissenschaften,  ala  all- 
gemeine Geisteswissenschaft  liefert  sie  nach  ihm  die  Erklämngsgründe  für  die 
einzelnen  Geisteserzeugnisse. 


Referate  und  Besprechungen.  189 

Die  Wneensdiaften,  welche  sich  mit  den  Geisteserxengnissen  Wschiiftigen, 
theilt  Wandt  in  solche,  welche  die  ailgemeinen  Eigenschaften  und  £nt.^tehun|r9* 
bedingungen  derselben  im  Auge  haben  (diePhilologie.  lugleioh  allgemeine  Wijtten* 
Schaft  Ton  den  Geisteseneugnissen),  ferner  in  solche,  welche  die  tugehörigen  Gebiete 
des  geistigen  Lebens  untersuchen  (die  Gebiete  der  wirtschaftlichen  l^ultur,  des 
Staates,  der  Rechtsordnung,  der  Religion,  der  Kunst,  der  Wissenschait).  n^^it* 
Nationalökonomie,  die  Politik,  die  systematische  Reohtswissen* 
Schaft,  die  Religionswissenschaft,  die  Kunsttheorie,  die  speoielle 
Methodologie  der  Wissenschaften  treten  so  der  Philologie,  dortm  Hiilfs- 
mittel  sie  überall  zu  ihren  Zwecken  verwerthen.  als  besondere  Geisteswissenschaften 
gegenüber").  £ndlich  gehören  hierher  diejenigen  Wissensgebiete,  welche  die  Ent* 
stehung  der  Geisteserzeugnisse  zum  Gegenstande  haben  (d  iohistorischen  Wisse  n- 
Schäften  in  allen  ihren  Zweigen). 

Ausgeschlossen  sind  von  dieser  Eintheilnng  die  angewandten  und  die  Lehr- 
disciplinen,  die  nach  Wundt  „nicht  selbstständige  Einzel  Wissenschaften,  sondern 
Theilgebiete  bestimmter  allgemeinerer  Wissenschaften  sind.**  So  ist  z.  H.  die 
Pädagogik  ein  Anwendungsgebiet  der  Psychologie,  zugleich  aber  greifen  die 
practischen  Fragen  derselben  überall  in  die  philosophische  Ethik  über.  Eine  ähn- 
liche Stellung  weist  Wundt  der  Theologie  zu:  „auf  der  einen  Seite,  insoforn  sie 
es  mit  dem  Ursprung,  der  Geschichte  und  Kritik  einer  bestimmten  Keligions- 
anschauung  und  ihrer  Glaubensurkunden  zu  thun  hat,  ist  sie  ein  Theil  der  allge- 
meinen Religionswissenschaft  und  mit  dieser  auf  die  Hülfe  der  Philologie,  der  (be- 
schichte und  der  Psychologie  angewiesen;  auf  der  anderen  Seite  aber,  da  sie  ausNordom 
über  die  allgemeine  religiöse  und  ethische  Bedeutung  der  besonderen  (^laubons- 
anschauung,  der  sie  dient,  Rechenschaft  geben  will,  steht  sie  in  naher  Beziehung  zur 
Philosophie.** 

Wir  haben  endlich  noch  zu  erfahren,  wie  Wundt  die  wissenschaftliche 
Philosophie  als  solche  eintheilt.  Nach  dem  oben  dargelegten  allgemeinen  Zweck 
und  der  ihr  yon  Wundt  zugewiesenen  Aufgabe  kann  die  Philosophie  den  WisNens- 
inhalt  nach  seiner  Entstehung  und  nach  der  systematischen  Verbindung 
seiner  Principien  untersuchen,  oder,  wie  Wundt  dies  auch  anders  ausdrückt, 
ÜB  können  die  hier  in  Betracht  kommenden  Probleme  in  Bezug  auf  das  werdende 
oder  das  gewordene  Wissen  bearbeitet  werden.  Hieraus  ergiebt  sich  die  Ein- 
theilang  der  allgemeinen  philosophischen  Wissenschaften  ohne  Weiteres  von  selbst, 
sie  zerfallen  in  die  beiden  grossen  Gebiete  der  Erkenntniss-  und  der  Prin* 
eipienlehre. 

Die  Erkenntnisslehre  umfasst  einen  formalen  Theil,  die  formale  Logik 
ond  einen  realen  Theil,  die  Geschichte  der  Erkenntniss  und  die  Erkennt- 
nisstheorie. Die  letztere,  mit  der  formalen  Logik  zusammen  die  I>ogik  im 
weiteren  Sinne  ausmachend,  zerfällt  in  die  Unterabtheilungen  der  allgemeinen 
Erkenntnisstheorie  und  der  Methodenlehre.  Die  formale  Logik  steht 
mr  realen  EriLenntnisslehre  im  selben  Verhältniss,  in  dem  die  Mathematik  zu  den 
Erfahningswissenschaften  steht. 

Für  die  Prineipienlehre  behält  Wundt  die  Bezeichnung  Metaphysik 
beL  Dir  lalU  die  Angabe  zu,  „die  allgemeinen  Ergebnisse  der  Einzel- 
wiasensekaften  in  ihrem  systematischen  Zusammenhang  darzu- 
leges  und  zo  einem  widerspruchslosen  System  zn  rerknüpfen«*'    Ein 


190  Referate  und  BesprechangeiL 

specielier  Theil  der  Principienlehre  mnfasst  die  Philosophie  der  HaÜiematiky  wie  die 
Philosophie  der  Natur-  und  der  Geisteswissenschaften,  von  denen  jeder  sich  wieder 
in  allgemeinere  und  speciellere  Theile  zerlegen  lässt.  „So  stehen  namentlieh  der 
allgemeinen  Naturphilosophie  die  philosophische  Kosmologie  und  Biologie  gegenüber. 
Wegen  der  Gebundenheit  des  geistigen  Geschehens  an  die  Lebenserscheinongen 
bildet  die  letztere  zugleich  den  Ilebergang  zur  Philosophie  der  Geisteswiasen- 
schoften.  Diese  selbst  sucht  zunächst  mittelst  der  Thatsachen  der  Psychologie  und 
unter  Zuhölfenahme  der  £rkenntnis8theorie  eine  zusammenhängende  AuffiMSung 
des  geistigen  Lebens  zu  begründen.  Dieser  philosophischen  Psychologie  ordnen 
sich  dann  die  verschiedenen  Gebiete  unter,  die  sich  auf  einzelne  Richtungen  des 
geistigen  Lebens  bezeichnen.  Als  solche  treten  namentlich  drei  bedeutsam  berror: 
Sittlichkeit,  Kunst,  Religion.  Ihnen  entsprechen  Ethik  und  Rechts- 
philosophie, Aesthetik,  Keligionsphilosophie.  Durch  die  Zusammen- 
fassung dieser  Theile  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Entwickelung  sucht  endlich 
die  Philosophie  der  Geschichte  eine  historische  Gesammtanschauong  des 
geistigen  Lebens  der  Menschheit  zu  gewinnen  und  mit  der  durch  die  sonstigen 
Hülfsmittel  der  Philosophie  begründeten  allgemeinen  Weltanschauung  in  Beaehimg 
zu  bringen." 

Erkenntnisstheorie  und  Metaphysik  bilden  somit  die  Grundwissen- 
schaften der  Philosophie. 

Der  erste  Abschnitt  des  Werkes  handelt  vom  Denken,  dem  nothwendigen 
Werkzeug  aller  Erkenntniss.  An  der  Frage,  was  das  Denken  sei,  fuhrt  Wund^ 
aus,  kann  keine  Philosophie  vorüber;  sie  hat  vor  allem  die  Merkmale  aufsuchen, 
durch  welche  es  sich  von  anderen  Thatsachen  und  Vorgängen  unterscheidet. 

Indem  der  Verfasser  den  Begriff  des  Denkens  allmählich  zu  entwickeln  sucht, 
leitet  ihn  die  unmittelbare  Erfahrung  zu  einer  ersten,  nicht  weiter  zurückfuhrbaren, 
sondern  als  ein  Gegebenes  hinzunehmenden  Bestimmung.  Er  bezeichnet  das  Denken 
als  subjective  Thätigkeit.  „Kein  ruhendes  Ding,  sondern  immerwährendes 
Geschehen  ist  es  zugleich  eigenstes  Selbsterlebniss.''  Aber  hiermit  kann  der  Begriff 
nicht  erschöpft  sein ;  denn  wie  das  Denken  sind  auch  Vorstellen,  Fühlen  und  Wollen 
subjective  Tbätigkeiten.  Was  aber  diese  von  jenem  unterscheidet,  ist,  dass  sie  die 
elementaren  Functionen  ausmachen,  aus  denen  alles  Denken  sich  aufbaut:  „Kein 
Denken  ohne  Vorstellungsinhalt,  kein  Vorstellungsinhalt  ohne  Gefühlsregung,  keine 
Gefühlsregung  ohne  Willensrichtung."  W^ie  aber  diese  Functionen  bei  jeder  Denk- 
thätigkeit  betheiligt  sind,  so  enthält  auch  diese  wiederum  nichts,  das  sich  nicht  in 
jene  Vorgänge  zerlegen  Hesse:  „Kein  besonderes  Geschehen  neben  jenen  anderen 
Erlebnissen  ist  also  das  Denken,  sondern  seine  ganze  Eigenthümlichkeit  kann  nur 
auf  der  Art  und  Weise  beruhen,  wie  sich  in  ihm  jene  allgemeinen  Elemente  des 
Bewusstseins  verbinden.*'  Hier  warnt  aber  Wundt  vor  dem  Missverständniss, 
diese  Elemente  als  isolirt  im  Bewusstsein  vorkommend  aufzufassen.  Die  Bewusstseins- 
inhalto,  wird  weiter  gezeigt,  sind  uns  vielmehr  immer  nur  als  ein  an  sich  untrenn- 
bares Ganze  gegeben  und  die  Zerlegung  derselben  geschieht  einzig  und  allein  durch 
unsere  eigene  Abstraction.  Die  Erzeugnisse  dieser  Abstraction  dürfen  daher  nie 
zu  selbstständigen  Dingen  erhoben  werden. 

Ein  anderes  Missverständniss  erwächst  dem  Verfasser  aus  den  Bezeichnungen 
der  Sprache.  Indem  die  Sprache  durch  die  Bildung  der  Substantive  aus  verbalen 
Formen  für  das   begrifiliche  Denken  überall  den  vergänglichen  Vorgang  in  einem 


Referate  und  Besprechungen.  191 

dauernden  Ausdruck  festzuhalten  sucht,  entsteht,  wie  Wundt  zeigt,  in  uns  selbst 
leicht  die  Neigung,  diese  Umformungen  auf  den  Gegenstand  als  solchen  zu  über- 
tragen und  auch  diesem  Beharrlichkeit  und  Selbstständigkeit  zuzuschreiben,  während 
es  in  Wirklichkeit  innere  psychische  Objecte  in  gleichem  Sinne  wie  relativ 
beharrende  äussere  Dinge  mit  yeränderlichen  Eigenschaften  und  Zuständen 
nicht  giebt:  „Vorstellen,  Fühlen,  Wollen  sind  überall  Handlungen, 
Ereignisse*^  Der  Verfasser  zeigt  dann  weiter,  dass  unter  den  genannten  psy- 
chischen Vorgängen  insbesondere  derjenige  des  Vorstellens  zu  dem  Begriff  von 
Objecten,  als  von  dauernd  ausser  uns  existirenden  Dingen  Anlass  gegeben  habe, 
während  beim  Fühlen  und  Wollen  die  Objectivirung  meistens  darauf  beschränkt 
geblieben  sei,  „dass  man  die  einzelnen  Thatsachen  zwar  als  Formen  des  Geschehens 
anerkannte,  sie  aber  an  gesonderte  transcendente  Substrate  knüpfte,  an  ein  Willens« 
und  Gefühlsvermögen,  auf  die  sich  nun  um  so  mehr  die  Beharrlichkeit  von  Gegen- 
ständen übertragen  lässt/*  Wundt  wird  nicht  müde,  zu  betonen,  dass  man,  obwohl 
man  das  Hülfsmittel  der  Sprache  bei  keiner  wissenschaftlichen  Untersuchung  ent- 
behren könne,  den  durch  sie  gebildeten  substantivischen  Ausdruck  niemals  als  ein 
gegenständliches  Ding  ansehen  dürfe. 

In  der  weiteren  Ausführung  erfahren  wir,  dass  jedes  Denken  gleichzeitig 
ein  Wollen  ist.  Dieses  Wollen  aber  ist  nach  Wundt  keine  neben  dem  Vor- 
stellen und  Fühlen  selbstständig  einhergehende  psychische  Function,  sondern  es  ist 
in  einem  noch  unentwickelten  Stadium  bereits  in  dem  Gefühl  eingeschlossen.  Die 
Scheidung  von  Fühlen  und  Wollen  beruht  nach  dem  Verf.  wiederum  nur  auf  einer 
Abstraction,  er  bezeichnet  dieselbe  als  Abstraction  zweiter  Ordnung:  „Dem 
Fühlen  und  Wollen  als  der  Seite  unserer  Erlebnisse,  die  wir  nicht  auf  Aussendinge, 
sondern  nur  auf  uns  selbst  beziehen,  stellen  wir  zunächst  die  Objecte  und  die  diesen 
entsprechenden  subjectiven  Vorgänge,  die  Vorstellungen,  gegenüber,  um  dann  erst 
in  einer  zweiten  Unterscheidung  auch  noch  jene  nicht  auf  Objecte  bezogenen  Ele- 
mente nach  ihrem  unmittelbaren  Erfolg  in  Gefühle  und  Willensregungen  zu  scheiden.** 
Obwohl  nun  Fühlen  und  Wollen  stets  aufs  engste  mit  einander  verbunden  sind, 
giebt  es,  wie  Wundt  weiter  zeigt,  dennoch  Gefühle,  die  für  den  Willensact  eine 
epecifische  Bedeutung  haben.  Es  sind  dies  diejenigen,  welche  als  Begleiterschein- 
ungen einer  Handlung  und  deren  unmittelbaren  Erfolg  auftreten.  Sie  sind  zugleich 
diejenigen,  deren  Zusammenhang  das  ausmacht,  was  wir  unser  Ich  nennen: 
,J)ieses  Ich  ist  daher  nichts  anderes,  als  die  Verbindung  der  fortwährend  sich 
wiederholenden  Thätigkeitsgefühle  mit  schwankenden,  aber  in  einzelnen  ihrer  Be- 
standtheile,  namentlich  denen,  die  sich  auf  den  eigenen  Körper  beziehen,  ebenfalls 
relativ  constanten  Empfindungen  und  Vorstellungen."  Von  hier  aus  gewinnt  der 
Verfasser  für  den  Begriff  des  Denkens  eine  weitere  Bestimmung,  in  Folge  seiner 
Beziehung  auf  das  wollende  Ich  ist  dasselbe  selbstbewusste  Thätigkeit  Aber 
auch  mit  dieser  näheren  Begrenzxmg  ist  der  Begriff  noch  nicht  allseitig  bestimmt; 
denn  da,  wie  Wundt  weiter  entwickelt,  jeder  Willensact  wohl  eine  selbstbewusste 
Thätigkeit  ist,  nicht  aber  ohne  Weiteres  zugleich  als  Denkact  aufgefasst  werden 
ksjm,  so  fehlt  für  die  vollgtUtige  Definition  des  Begriffs  noch  ein  drittes,  den  Inhalt 
desselben  Betreffendes,  das  Wundt  schliesslich  in  der  beziehenden  Thätig- 
keit des  Denkens  findet,  wie  sich  dieses  an  allen  Erfahrungsinhalten,  namentlich 
aber  an  der  Vorstellungsseite  desselben  entwickelt  hat.  Der  Verf.  wird  hier  dazu 
geführt,  das  Verhältniss  der  Aufinerksamkeit  zum  Denkacte  klar  zu  stellen.    Beide 


192  Referate  und  Besprechnngen. 

Functionen  sind  nach  ihm  nicht  identisch.  Indem  die  Anfinerksamkeit  irgend 
welchen  £rfahrung8inhalt  willkürlich  zu  erfassen  vermag,  wird  sie  Tielmehr  rar 
Vorbedingung  des  Denkens:  .«Denken  und  Aufmerksamkeit  sind  Func- 
tionen gleicher  Art.  aber  verschiedener  Stufe.*^  Ebenso  bespricht  der 
Verf.  das  Verhältniss  der  unwillkürlichen  Associationen  von  Vorstellungen  zu  den 
willkürlichen  Denkacten.  Er  bezeichnet  dasselbe  folgendermaassen :  ,^er  Mechanis- 
mus der  Associationen  ist  einerseits  die  yorbereitende  Werkstätte  des  Denkens:  er 
macht  diesem  die  von  ihm  verwcrthbaren  Beziehungen  verfügbar,  da  er  in  jedem 
Augenblick  zahlreiche  Verbindungen  herzustellen  strebt,  unter  denen  sich  regelmässig 
auch  die  für  die  Zwecke  des  Denkens  tauglichen  befinden.  Indem  auf  solche  Weise 
verschiedene  Associationen  mit  einander  in  Kampf  gerathen,  ist  es  aber  der  will- 
kürlich fixirte  Zweck  des  Gedankenlaufs,  der  einer  bestimmten,  diesem  Zweck  ent- 
sprechenden Verbindung  vor  anderen  den  Vorzug  giebt.  Andererseits  ist  die 
Association  die  Bewahrerin  der  Erwerbungen  und  Ergebnisse  des  Denkens,  indem 
alle  die  Beziehungen,  die  durch  dieses  entstanden  sind,  in  Associationen  übergehen 
und  als  solche  dem  Denken  zu  künftigem  Gebrauche  bereit  liegen." 

Fassen  wir  das  Vorstehende  nochmals  kurz  zusammen,  so  würde  nach  Wandt 
das  Denken  als  subjective,  selbstbewusste,  beziehende  Thätigkeit  zu 
definiren  sein. 

Der  2.  Theil  dieses  Abschnittes  betrifil  die  Formen  des  Denkens.  Der 
Verfasser  spricht  zunächst  über  Urtheile  und  Begriffe. 

Das  Urtheil  wird  nach  dem  JPrincip  der  Dualität  des  Denkens  ent- 
wickelt, d.  h.  nach  dem  Princip,  nach  welchem  durch  die  Thätigkeit  des  Denkens 
das  Urtheil  aus  einer  ursprünglichen  Einheit,  die  eine  anschauliche  (primäres  UrtheU), 
oder  eine  begriffliche  (secundäres  Urtheil)  sein  kann,  immer  in  zwei  Glieder  zerlegt 
wird  und  zwar  so,  dass  nach  einer  ersten  Zerlegung  in  zwei  Hauptglieder  jedes 
derselben  wiederum  zweigliedrig  wird  u.  s.  f.  (Subject  und  Prädikat,  Verbum  und 
Object,  Nomen  und  Attribut,  Verbum  und  Adverbium). 

Begriff  ist  nach  Wundt  Jeder  aus  dem  Yorstellungsinhalt  des  Bewnstt- 
seins  entstandene  Denkinhalt".  Indem  das  beziehende  Denken,  fuhrt  der  Verf.  aus, 
aus  bestimmten,  ursprünglich  unmittelbar  gegebenen  Vorstellungen  bestimmte 
Eigenschaften  und  Zustände  heraushebt  und  auf  andere  Vorstellungen  überträgt, 
entsteht  durch  die  Mithülfe  der  Sprache  ein  System  symbolischer  Bezeichnungen, 
die  von  dem  entwickelten  Denken  fortan  an  die  Stelle  der  unmittelbaren  Vor- 
stellungen, der  „Unterlagen  der  Begriffe**,  gesetzt  werden,  weshalb  die  Untersuchung 
der  Denkformen  sich  zunächst  auf  die  Betrachtung  der  sprachlichen  Formen  des 
Denkens  gründen  muss.  Es  wird  aber  weiter  hervorgehoben,  dass  bei  der  Bildong 
dieser  sprachlichen  Formen  nicht  ausschliessUch  logische  Bedingungen  wirksam  sind, 
sondern  dass  hierbei  ebensowohl  psychologische  Nebenbedingungen  mitwirken: 
„Die  grammatischen  Formen  dürfen  darum  auch  nicht  ohne  Weiteres  in  logische 
übertragen  werden,  sondern  sie  sind  zunächst  als  ein  aus  gemischten  psychologisch- 
logischen  Bedingungen  entstandenes  Erzeugniss  zu  betrachten,  von  dem  aus  durch 
Analyse  und  Abstracüon  auf  die  fundamentalen  Denkfonnen  selbst  zurückzugehen  ist.^ 

F.  Kietow-Turin. 
(Schluss  folgt.) 


Das  angebliche  Sittlichkeitsvergehen  des  Dr.  K.  an  einem  hypno- 

tisirten  Kinde. 

Von 
Dr.  Freiherm  von  Schrenck-Notzing -München. 


Einleitung. 

Wie  die  Erfahrungen  der  letzten  Jahrzehnte  lehren,  gehören 
Sittlichkeitsvergehen  an  hypnotisirten  Personen  jedenfalls  nicht  zu  den 
häufigeren  Vorkommnissen  der  Kriminalistik,  obwohl  sie  immerhin 
unter  den  Verbrechen  an  und  durch  Hypnotisirte  eben  wegen  ihrer 
öfteren  Beobachtung  im  Vergleich  zu  anderen  Vergehen  das  Haupt- 
interesse in  Anspruch  nehmen.  Ungleich  häufiger  aber  dürften  auf 
diesem  Gebiet  fälschliche  Anschuldigungen  von  Aerzten  und  Hypnoti- 
seuren wegen  geschlechtlichen  Missbrauchs  sein,  obwohl  in  der  Fach- 
literatur über  derartige  Fälle  bisher  kaum  etwas  bekannt  geworden 
ist.  Wenigstens  ist  es  dem  Verfasser  nicht  gelungen,  in  der  Gasuistik 
ähnliche  Berichte,  wie  den  nachfolgenden  aufzufinden.  Und  doch  er- 
scheint zum  Schutz  des  häufig  genug  ungerecht  angegriffenen  Aerzte- 
standes  sowie  zur  Vermeidung  ungerechter  Verurtheilung  die  Publikation 
solcher  für  die  Betheiligten  in  hohem  Grade  nachtheiliger  Verwickelungen 
und  Untersuchungen  als  dringende  Nothwendigkeit  —  als  unabweisbare 
Pflicht,  damit  im  Wiederholungsfalle  dem  Arzt  und  Untersuchungs- 
richter Mittel  zur  Belehrung,  Aufklärung  und  zum  richtigen  Ver- 
ständniss  der  Sachlage  geboten  werden. 

Strassmann^)  weist  nachdrücklich  auf  das  häufige  Vorkommen 
von  fälschlichen  Anschuldigungen  wegen  Sittlichkeitsvergehen  hin. 
Nach  Schauenstein*)  waren  von  1200  in  Frankreich  während  der 

^)  Strassmann,   Lehrbuch   der  gerichtl.  Medicin.    Stuttgart,  Enke.     1895. 
«)  Schauenstein,  Neuer  Pitaval,  Bd.  VI,  1847. 
Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    VIII.  13 


194  ^*  'Sohrenck-Notxing. 

Jahre  1850 — 54  eingereichten  Klagen  dieser  Art  500  nnbegröndet  und 
in  England  sollen  aaf  einen  erwiesenen  Fall   12  unerwiesene  kommen. 

Neben  den  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen  Verrückter  ver- 
anlassen besonders  Hysterische  und  Kinder  mit  lebhafter  Eünbildnngs- 
kraft  solche  Anklagen.  Zu  den  Zuständen  der  Willen-  oder  Bewnsst- 
losigkeit,  wie  sie  §  176  des  Reichs>Straf-Gfesetzbuches  voraussetzt,  gehört 
seit  neuerer  Zeit  die  Hypnose. 

Der  im  Nachfolgenden  beschriebene  Fall  ist  abgesehen  von  seiner 
forensischen  Bedeutung  auch  dadurch  interessant,  dass  er  lehrt,  wie 
unüberlegte  Suggestionen,  Ttäume  von  Hypnotisirten ,  angebliche 
Beminiscenzen  aus  der  Hypnose  zu  einer  mehrere  Monate  hindurch 
bis  in  alle  Details  sorgfaltig  geführten  richterlichen  Untersuchung  Ver- 
anlassung bieten  konnten.  Der  angeschuldigte  Arzt,  um  den  es  sich 
im  Nachfolgenden  handelt,  war  Assistent  eines  Krankenhauses  in 
München;  als  Klägerin  trat  die  13 jährige  Magdalene  S.,  Tagelöhners- 
tochter auf,  welche  in  diesem  Spital  ärztlich  behandelt  wurde. 

Krankengeschichte  der  Kltgerin. 

liagdalene  S.,  geb.  15.  Juli  1885.  wurde  aufgenommen  am  21.  Juli  d.  J.  Di» 
Anamnese  ergab  Folgendes: 

Mit  3  Jahren  hat  das  Kind  Frieseln  (Masern?)  und  Scharlach  gehabt^  nach 
dieser  letzten  Krankheit  sollen  beide  Füsse  gelähmt  gewesen  sein.  Das  linke  Bein 
besserte  sich  nach  einiger  Zeit,  während  das  andere  Bein  in  seiner  Bewegungs- 
fahigkeit  beschränkt  blieb.  Dann  g^ing  das  Kind  4  Jahre  lang  in  die  Schule,  und 
lag  während  dieser  Zeit  einmal  im  Spital  zur  Behandlung  des  gelähmten  Beins. 
Fat.  wurde  im  Spital  damals  mit  Gipsverband  behandelt  und  erhielt  eine  Maschine, 
die  sie  seitdem  trug. 

Vor  3  Jahren  begann  Fat.  mit  Bauchbeschwerden  zu  erkranken.  Diese  Leib- 
schmerzen traten  seitdem  in  Zwischenräumen  von  einigen  Wochen  in  Anfallen  auf. 
Dabei  bestanden  Diarrhoe  imd  Erbrechen  und  starkes  Aufgetriebensein  des  Leibes. 
Beim  letzten  Anfall,  welcher  vor  einigen  Tagen  auftrat,  soll  Fat.  bei  Beginn  ohn- 
mächtig hingestürzt  sein  mit  Schaum  yor  dem  Munde.  Die  Ohnmacht  dauerte 
4  Stunden;  Fat.  hatte  alsdann  noch  4  Tage  lang  Leibschmerzen,  Erbrechen  and 
einen  colossal  aufgetriebenen  Leib.  Der  herbeigerufene  Arzt  constatirte  BauohfeU- 
entztindung.  Fat.  soll  in  den  letzten  Monaten  rapid  abgemagert  sein;  als  Orund 
giebt  die  Nachbarin,  welche  das  Kind  ins  Krankenhaus  gebracht,  da  die  Eltern  den 
ganzen  Tag  ausser  dem  Hause  sind,  die  ungünstigen  socialen  Verhältnisse  an, 
mangelhafte  Ernährung  und  gänzliche  Aufeichtslosigkeit  von  Seiten  der  Eltern. 

Vater  angeblich  gesund,  doch  soll  er  seit  mehreren  Jahren  grosse  Schmenen 
an  den  Füssen  haben.  Mutter  hüstelt  seit  langer  Zeit,  hat  auch  Unterleibsbeschwerden. 
Vier  Geschwister  leben  im  Alter  von  10-17  Jahren;  angeblich  husten  alle,  eine 
Schwester  von  16  Jahren  hat  ausserdem  noch  Epilepsie.    Ein  Bruder  von  23  Jahren 


Das  angebliche  SitUichkeitsvergeheii  des  Dr.  K.  an  einem  hypnot.  Kinde.     196 

ist  kürzlich  gestorben,  derselbe  war  nur  10  Tage  krank;  Todesursache  unbekannt; 
angeblich  soll  er  an  „Bauchdrüsen*'  gelitten  haben. 

Status  praesens: 

Ein  sehr  abgemagertes,  massig  kräftig  entwickeltes  Hädchen;  Gesichtsfarbe 
sehr  blass;  Lippen  blass  livid,  die  sichtbaren  Schleimhäute  ebenfalls  sehr  blass« 
Kein  Ohren-,  kein  Naseniiuss.  Keine  Oedeme,  keine  Exantheme,  keine  Drüsen- 
Schwellungen,  keine  Asymmetrie  des  Schädels.  Die  Wirbelsäule  gekrümmt,  es  be- 
steht eine  linksseitige  Scoliose  im  Bereiche  der  unteren  Brust  und  oberen  Lenden- 
wirbel mit  Ausgleich  im  oberen  Brust-  und  unteren  Halswirbeltbeil.  Rachenorgane 
normal,  Zunge  feucht,  rein.  Thorax  flach,  Supra-  und  Infraclaviculargruben  ein- 
gesunken, rechter  epigastr.  Winkel.  Von  hinten  gesehen  erscheint  der  Thorax  in 
seinen  unteren  Partien  in  Folge  der  Scoliose  links  seitlich  vorgewölbt,  rechts  ein- 
gesunken. —  Lungenbefund :  RV  in  der  Lifraclaviculargrube  Schall  yielleicht  etwas 
kürzer  wie  LV,  sonst  überall  lauter  Schall.  lieber  den  Spitzen  keine  Schall- 
di£ferenz.  RHO  ist  der  Schall  yielleicht  etwas  kürzer  wie  LfiO.  Han  hört  RHO 
verlängertes,  etwas  verschärftes  Exspirium,  keine  Rhonchi;  sonst  überall  H  beider- 
seits reines  Yesiculärathmen.  RV  über  der  Spitze  und  der  Infraclaviculargrube 
derselbe  Befund  wie  RHO,  sonst  RV  wie  LV  reines  Vesiculärathmen.  Athmung 
gleichmässig,  nicht  frequent.  Herzbefund:  Dämpfung  normal.  Spitzenstoss  im 
vierten  Litercostalraum  etwas  innerhalb  der  linken  Mammillarlinie  fühlbar  und  sicht- 
bar. Herztöne  vollkommen  rein.  Abdomen:  Das  Becken  stark  schief  gestellt,  die 
Spina  ant.  sup.  os.  ilei  steht  links  einige  Centimeter  höher  als  rechts.  Das  Ab- 
domen weich,  etwas  aufgetrieben,  in  der  Gegend  des  Nabels  druckempfindlich,  giebt 
überall  tympanitischen  SchaU.  Die  peristaltischen  Bewegungen  der  Därme  sichtbar. 
Kein  Leber-,  kein  Milztumor.  Urin  ohne  Befund.  Stuhl  diarrhoisch,  unverdaut. 
Nervensystem:  Psyche  normal.  Motilität:  sämmtliche  Gelenke  frei  in  ihren  Be- 
wegungen, insbesondere  auch  die  rechte  Hüfte.  Beim  Gehen  hinkt  jedoch  Pat. 
und  hält  das  rechte  Bein  im  Kniegelenk  etwas  flectirt.  (Der  Gang  erinnert  an 
den  Gang  der  an  Coxitis  Leidenden.)  Keine  Krampfzustände,  keine  Spasmen  der 
Kuflculatur,  jedoch  zeigten  die  Muskeln  des  rechten  Ober-  und  Unterschenkels  zeit- 
weilig stark  fibrilläre  Zuckungen.  Sensibilität  erhalten.  Sphincteren  normal.  Keine 
vasomotorischen  Störungen.  Die  Musculatur  des  ganzen  rechten  Beines  ausser- 
ordentlich reducirt  gegenüber  links.  Maasse:  Gesammtlänge  des  rechten  Beins 
(von  der  Spina  ant.  sup.  os.  ilei  bis  zur  Spitze  der  fünften  Zehe  70,5  cm;  davon 
fallen  auf  den  Oberschenkel  34,6,  auf  den  Unterschenkel  36,0  cm.  Gesammtlänge 
des  linken  Beins  beträgt  74,5  cm,  die  des  Oberschenkels  38,0  cm,  des  Unterschenkels 
96,5  cm.  Der  Umfiemg  des  rechten  Oberschenkels  (15  cm  oberhalb  des  oberen 
Bandes  der  Patella  gemessen)  beträgt  16,0  cm,  der  des  linken  Oberschenkels  26,0  cm. 
Der  Umfang  des  rechten  Unterschenkels  (15  cm  unterhalb  des  oberen  Randes  der 
Patalla)  beträgt  13,0,  der  des  linken  Unterschenkels  20,0  cm.  Die  oberen  Extremi* 
taten  zeigen  keine  Differenzen.  Die  Reflexe:  Die  Sehnenreflexe  links  normal; 
Patellar-  und  Achillessehnenreflex  rechts  erloschen,  der  Tricepssehnenreflex  rechts 
erhalten.  Die  Hautreflexe  überall  auslösbar.  Die  eleotrische  Erregbarkeit  der 
Muskeln  und  Nerven  der  Ober-  und  Unterextremitäten  beiderseits  bei  Prüfung  mit 
Caradischem  Strome  vollkommen  erhalten. 

24.  VII.  Pat.  hat  bisher  kein  Erbrechen  gehabt.  Stuhl  breiig,  ohne  Be- 
sonderheit, Abdomen  weich,  nicht  aufgetrieben,  nicht  druckempfindlich,  der  Magen 

13* 


196  ^'  Sohrenck-Notzing. 

achelnbar  nicht  dilatirt.  Urin  ohne  Befand.  Lungenbefnnd  normal,  nirgend! 
Rhonchi;  HKO  keine  Schallverkürzung  mehr  nachweisbar.    Herzbefund  nonnaL 

28.  VII.  Keine  Aenderung  des  Befundes.  Stuhl  regelmässig,  normal.  Ab- 
domen normal.    Bisher  kein  Erbrechen,  keine  Ohnmachtsanfälle  beobachtet  worden. 

1.  VIII.    Fat.  wird  auf  Wunsch  der  Eltern  entlassen  (als  gebessert). 

Therapie:  Während  ihres  Aufenthaltes  im  Krankenhause  tägliche  Faradi- 
sation. 

Die  Diagnose  wurde  auf  Inactivitätsatrophie  des  rechten  Beines  and  all- 
gemeine Nervosität  gestellt. 

Sachdarstellung  des  angeschuldigten  Arztes. 

Am  Mittwoch,  den  27.  Juli  (genau  vermag  ich  nicht  das  Datum  anzugeben) 
rief  ich  das  Kind  Magdalene  8.,  geb.  am  15.  Juli  1885,  in  mein  Zimmer.  Als  sie 
in  demselben  war,  schloss  ich  die  Thür,  damit  ich  nicht,  wie  schon  mehrere  Male 
bei  früheren  Hypnoseversuchen,  durch  den  plötzlichen  Eintritt  von  Schwestern  oder 
Gollegen  gestört  würde.  Ich  sagte  der  Fat.,  sie  möchte  sich  aufs  Sopha  setsen 
und  den  vorgehaltenen  Gegenstand,  es  war  mein  Perkussionshämmerchen,  scharf 
ansehen  und  an  nichts  anderes  als  ans  Schlafen  denken.  Nach  einiger  Zeit,  nach- 
dem ich  ihr  suggerirt,  dass  sie  müde  sei  und  ganz  fest  schlafen  würde,  sagte  ich 
ihr,  sie  schlafe  nun  sehr  tief,  sie  könne  die  Augen  nicht  mehr  öffnen,  was  ihr  auch 
trotz  Anstrengung  nicht  mehr  gelang.  Nachdem  ich  das  Kind  somit  in  Schaf  ver- 
senkt hatte,  nahm  ich  einen  der  Arme  meiner  Fat.  und  hielt  denselben  horizontal, 
um  zu  sehen,  ob  der  cataleptische  Zustand  der  Muskeln  eingetreten  war.  Als  ich 
dies  bestätigt  fand,  als  icii  sah,  dass  die  Arme  und  Hände  jede  ihnen  gegrebene 
passive  Stellung  beibehielten,  sagte  ich  ihr,  sie  kimne  ihre  von  mir  geschlossene 
Hand  nicht  mehr  öfifnen,  was  ihr  auch  nicht  mehr  gelang.  Dann  nahm  ich  eine 
Nadel  und  prüfte  ihre  Sensibilität,  dieselbe  war  vollkommen  erlosohen;  Fat.  sog 
die  Hand,  in  die  ich  stach,  nicht  zurück,  nachdem  ich  ihr  suggerirt,  dass  sie  nichts 
mehr  fühle.  Nun  sagte  ich  ihr,  sie  solle  aufstehen,  was  sie  bereitwillig  that.  Dann 
gfing  sie  auf  mein  Geheiss  hin  zur  Thür,  klopfte  dort  dreimal  an  und  kam.  genau 
allen  meinen  Befehlen  gehorchend,  wieder  zum  Sopha  zurück,  wo  sie  sich  wieder 
niederlegte.  Alsdann  nahm  ich  den  Griff  meines  Bartpinsels,  welcher  aus  Hiolx 
gefertigt  war  und  entfernte  Achnlichkeit  mit  einem  Gummidietzel  =  Gummisauger 
—  hatte,  wie  ihn  auch  hier  in  31ünchcn  die  kleinen  Kinder  noch  bis  zum  dritten 
und  vierten  Jahre  zur  Beruhigung  in  den  Mund  gesteckt  bekommen.  Ich  steckte 
diesen  Holzgri£f  der  Fat.  in  den  Mund  und  suggerirte  ihr,  es  sei  ein  Dietzel,  sie 
möge  nur  daran  ziehen  und  lutsohea  Die  Suggestion  des  Saugens  an  einem  Gununi« 
dietzel  schien  mir  bei  meiner  Fat.  deshalb  sehr  geeignet  zur  Früfung  ihrer  Sinnet- 
empfind nngen,  weil  sie  wie  jedes  Kind  genau  einen  Gummisauger  kennt,  und  so  konnte 
ich  diesen  Versuch  genau  in  Parallele  stellen  zu  jenem  von  Frof.  Bern  heim  an- 
gestellten, welcher  einem  Manne  in  Hypnose  den  Bleistift  in  den  Mund  gab  und 
ihm  suggerirte,  es  sei  eine  Oigarre,  worauf  dieser  Fat.  denn  auch  an  dem  Bleistift 
saugend  rauchte  und  Rauchwolken  von  sich  blies.  Bei  meiner  Fat.  nahm  ich  ein» 
mal  den  Griff  aus  dem  Mund  und  fragte  sie,  ob  der  Grift'  aus  Holz  oder  ob  es  ein 
wirklicher  Dietzel  sei,  worauf  sie  schwieg.  Dass  der  Ausdruck  Dietzel  hier  in 
München  in  der  Volkssprache  für  das  Membrnm  virile  gebraucht  wurde,    war  mir 


Das  angebliche  Sittlichkeitsvergehen  des  Dr.  K.  an  einem  hypnot.  Kinde.     197 

■ 

damals  bei  der  Hypnotisirnng  meiner  Patientin  vollständig  unbekannt,  ich  erfuhr 
dies  erst  später  von  meinen  CoUegen.  Ich  sagte  meiner  Fat.  alsdann,  sie  solle 
sich  davon  überzeugen,  dass  ich  ihr  einen  Dietzel  in  den  Mund  gesteckt  habe,  sie 
möge  denselben  nur  anfassen.  Darauf  nahm  sie  erst  eine,  dann  beide  Hände, 
tastete  an  dem  Griff  herum,  schwieg  aber  und  sagte  nicht,  dass  es  ein  Dietzel  sei. 
Nun  steckte  ich  der  Pat.  den  Holzgriff  wieder  in  den  Mund  und  befahl  ihr,  weiter 
an  demselben  zu  ziehen.  Ich  ging  alsdann  einige  Schritte  von  ihr  fort,  und  legte 
ihr  ein  Handtuch  lose  über  die  Augen,  ihr  suggerirend,  sie  würde  ruhig  und  tief 
weiter  schlafen  und  gar  nichts  mehr  sehen.  Ich  fühlte  das  Bedürfniss  zur  Urin- 
entleerung, ging  in  Folge  dessen  zu  meinem  Nachtgeschirr,  welches  in  meiner  Nacht- 
kommode einige  Schritte  vom  Sopha  entfernt  stand  und  urinirte.  Ich  ging  aus 
mehreren  Gründen  nicht  aus  dem  Zinmier,  einmal,  weil  ich  aus  den  von  mehreren 
Autoren  beschriebenen  H3rpnoseversuchen  wusste,  dass  die  hypnotischen  Personen, 
sobald  sie  nicht  mehr  unmittelbar  unter  der  Macht  des  Hypnotiseurs  stehen,  mit- 
unter sofort  wieder  erwachen;  dann  aber  wollte  ich  auch  den  Hergang  der  nun 
einmal  von  mir  eingeleiteten  Hypnose  genau  beobachten  und  drittens  kam  es  mir 
darauf  an,  meine  Fat.  nicht  allzu  oft  zu  hypnotisiren,  womöglich  gleich  bei  der 
ersten  Hypnose,  die  ich  gerade  an  jenem  Tage  an  ihr  vornahm,  therapeutisch  mit  aller 
£nergie  erfolgreich  auf  sie  einzuwirken  und  um  dies  zu  können,  hätte  ich  noch  längere 
Zeit  die  eingeleitete  Hypnose  fortsetzen  müssen.  Da  mir  selbst  aber  die  Handlung 
des  ürinirens  peinlich  war,  legte  ich  der  Fat.  ein  Handtuch  über,  durch  welches 
sie,  selbst  wenn  sie  hätte  erwachen  sollen,  mich  nicht  sehen  konnte.  Als  ich  bald 
darauf  wieder  zu  Magdalene  S.  trat,  hatte  dieselbe  noch  immer  den  Griff  meines 
Bartpinsels  in  dem  Munde.  Ich  nahm  denselben  in  meine  Hand,  warf  das  ihr  über- 
gelegte Tuch  auf  mein  Bett  und  legte  ihr  etwas  Salz  auf  die  Zunge,  indem  ich  ihr 
suggerirte,  es  sei  Zucker,  sie  solle  denselben  nur  hinunterschlucken,  er  sei  sehr  süss. 
Als  ich  dies  gesagt,  schrak  Fat.  plötzlich  zusammen,  und  schlug  die  Augen  auf; 
sie  machte  ein  ganz  verstörtes  Gesicht  und  fing  etwas  an  zu  weinen.  Sie  beruhigte 
sich  jedoch  bald  wieder,  als  ich  ihr  gesagt,  es  sei  ja  nichts  passirt,  ich  hätte  ihr 
niir  etwas  Salz  gegeben.  Dann  liess  ich  sie  aus  dem  Zimmer  in  ihren  Saal,  in  den 
ich  mich  ebenfalls  nach  einiger  Zeit  begab.  Ich  traf  die  Fat.  im  Bett  liegend  und 
sagte  sie  mir  auf  meine  Frage,  weshalb  sie  denn  zu  Bett  gegangen,  dass  sie  un- 
wohl sei  und  Kopfschmerzen  habe. 

Aus  der  Anamnese  ergab  sich  (cf.  Krankengeschichte)  Folgendes: 
Seit  3  Jahren  litt  Pat.  an  Bauchbeschwerden,  sie  bekam  in  Zwischenräumen 
Ton  einigen  Wochen  anfallsweise  heftige  Leibschmerzen,  begleitet  von  Erbrechen 
und  Durchfällen  und  starkem  Aufgetriebensein  des  Abdomens.  Vor  einigen  Tagen 
soll  Fat.  in  einem  solchen  Anfall  ohnmächtig  hingefallen  sein  mit  Schaum  vor  dem 
Monde.  Die  Ohnmacht  hat  angeblich  4  Stunden  gedauert,  die  Leibschmerzen 
hielten  4  Tage  an,  es  trat  Erbrechen  und  ein  „colossales^  Aufgetriebensein  des 
Leibes  auf.    Der  herbeigerufene  Arzt  constatirte  Bauchfellentzündung. 

Ich  konnte  bei  der  objectiven  Untersuchung  (cf.  Krankengeschichte),  die  natür- 
lich im  Saal  in  Gegenwart  von  Collegen  und  Schwestern  vorgenommen  wurde, 
ansser  einer  starken,  schon  lange  bestehenden  Atrophie  des  rechten  Beines  absolut 
nichts  pathologisches  an  ihren  inneren  Organen  nachweisen,  was  mir  nur  einiger- 
maassen  die  in  der  Anamnese  erwähnten  Krankheitssymptome  erklärte.  Da  nun 
mach  hier  im  Hospital  bis  zu  dem  Tage,   an  welchen  ich  Patientin  hypnotisirte, 


198  ▼•  Schrenek-Notiiiig. 

absolut  keine  krankhaften  Erscheinungen,  insbesondere  kein  Erbrechen,  Ohmnachts- 
anfall, Auigetriebensein  des  Abdomens  sich  zeigten,  so  erschienen  mir  diese  in  dar 
Anamnese  angegebenen  Erscheinungen  als  Symptome  einer  Hysterie  oder  der 
Simulation.  Deshalb  glaubte  ich  auch  mit  Tollstem  Rechte,  bei  dieser  Fat  Hyp- 
nose in  Anwendung  bringen  zu  dürfen,  um  ihr  in  derselben  die  Suggestion  aa 
geben,  dass  sie  in  Zukunft  nie  wieder  derartige  Erscheinungen  bekommen  würde, 
wie  sie  dieselben  vor  ihrer  Aufnahme  ins  Hospital  gehabt  hatte. 

Sehrelben  des  Rechtsanwalts  F.  an  den  Yerfiisser. 

Euer  Hochwohlgeboren 

erlaube  ich  mir  hierdurch  anzufragen,  ob  Sie  in  nachstehender  Sache  bereit  waren, 
sieh  gutachtlich  über  hypnotische  Sinnestäuschungen  erotischen  Inhalts  und  über 
die  posthypnotischen  Erinnerungstauschungen  gleichen  Inhalts  zu  äussern. 

Der  pract.  Arzt  Dr.  K.  wurde  zweier  Verbrechen  des  §  176  Zifil  3  und  174 
Ziff.  3  des  Reichsstrafgesotzbuches  angeschuldigt.  Es  wird  demselben  zur  Last  ge- 
legt, er  habe  ein  13  jähriges  Mädchen  Magdalena  S.  in  einen  hypnotischen  Zustand 
versetzt,  sodann  demselben  sein  Glied  in  den  Mund  gesteckt  und  schliesslich  in  den 
Mund  urinirt,  nachdem  er  vorher  ein  Tuch  um  den  Kopf  des  Mädchens  gebunden 
habe,  durch  das  aber  die  S.  alles  hätte  sehen  können.  Nach  dem  Erwachen  wiD 
das  Mädchen  noch  das  entblösste  Glied  des  Dr.  K.  erblickt  haben. 

Des  Weiteren  soll  Dr.  K.  nach  einem  mit  der  9  jährigen  N.  vorgenommenen 
Hypnotisirexperiment  (Dr.  K.  versuchte  zweimal  dieses  Mädchen  zu  hypnotisiren, 
jedoch  immer  erfolglos)  dem  kleinen  Mädchen  die  Röcke  in  die  Höhe  gehoben, 
dasselbe  so  auf  sein  Knie  gesetzt  und  geschaukelt  haben,  dass  seine  Knieseheibe 
die  blossen  Geschlechtstheile  des  Kindes  berührt  hätte. 

Ein  dritter  Fall,  dessen  man  ursprünglich  den  Dr.  K.  noch  beschuldigen  la 
können  geglaubt  hatte,  stellte  sich  nach  dem  Verhör  des  betreffenden  Mädchens 
Crcscenz  L.  als  durchaus  unverfänglich  dar.  Es  dürfte  für  die  Beurtheilung  der 
beiden  anderen  Fälle  von  Werth  sein,  dass  die  Aussage  dieses  J^lädchens  genaa 
mit  den  Angaben  des  Dr.  K.  übereinstimmt.  Letzterer  giebt  an,  er  habe  das  Kind 
in  Hypnose  versetzt,  die  Sensibilität  durch  Nadelstiche  geprüft,  dem  Mädchen  nook 
etwas  Salz  auf  die  Zunge  gelegt. 

Die  S.  machte  ihren  Eltern  die  oben  geschilderte  Erzählung  und  veranlassten 
dieselben  die  Anzeigeer«tattung. 

Gelegentlich  der  von  dem  Polizeikommissär  gepflogenen  Recherchen  —  es 
wurden  hierbei  verschiedene  Kinder,  die  Dr.  K.  in  dem  Krankenhause  hypnotittii 
hatte,  vernommen,  gab  die  N.  obige  Sachdarstellung. 

Ich  erlaube  mir  beizufügen,  dass  die  S.  den  mit  ihr  im  gleichen  Saale 
untergebrachten  Mädchen  N.  und  Creszenz  L.  ihr  angebliches  Erlebniss  ersahlt 
hatte.  Herr  Dr.  K.  beruft  sich  gegenüber  den  erhobenen  Beschuldigungen  auf 
den  von  ihm  in  dem  anruhenden  Schriftstück  niedergelegten  Thatbestand. 

Der  Vorfall  mit  der  N.  dürfte  bei  dem  Gutachten  wohl  ausser  Betrachton^ 
bleiben,  da  er  sich  ereignete  nach  erfolglosem  Hypnotisirversuche  und  meines 
Erachtens  damit  erklärt  werden  kann,  dass  die  N.  unter  dem  unmittelbaren  Ein- 
drucke des  von  der  S.  Gehörten  das  von  ihr  selbst  Erlebte  schilderte  und  hier- 
bei durch  ihre  erhitzte  Phantasie,  vielleicht  auch  durch  eine  suggestive  Frage  des 


Das  angebKohe  SittHohkeitsyergehen  des  Dr.  K.  an  einem  hypnot.  Kinde.      199 

reoherchirenden  Commissara  zu  einigen  Aassohmtickungen  verleitet  wurde,  die  die 
Handlung  des  Dr.  K.  objectiv  als  Sinnlichkeitsakt  erscheinen  lassen  können. 

Die  gegen  Dr.  K.  eingeleitete  Untersuchung  schwebt  derzeit  erst  im  Sr- 
mittelungsstadium.  Begreiflicher  Weise  hat  aber  Dr.  K.  ein  grosses  Interesse  daran^ 
zu  erreichen,  dass  es  überhaupt  nicht  zur  £röfi&iung  des  Hauptverfahrens  bezw. 
nicht  einmal  zur  Erhebung  der  förmlichen  Anklage  durch  den  Staatsanwalt  kommt. 

Ich  stelle  daher  an  Euer  Hochwohlgeboren  Namens  meines  Clienten  das  er- 
gebene Ersuchen,  sich  recht  bald  zu  dem  Falle  S.  in  Form  eines  Gutachtens 
äussern  zu  wollen,  da  ich  es  nicht  für  ausgeschlossen  halte,  dass  durch  Beifügfung 
Ihres  Gutachtens  die  Staatsanwaltschaft  zur  Einstellung  des  Verfahrens  veranlasst 
werden  könnte. 

Indem  ich  um  baldgef.  Rückäusserung  bitte,  ob  Sie  zur  Erstattung  des  GKxt- 
achtens  bereit  sind,  zeichne  ich 

Mit  vorzüglicher  Hochachtung 

Rechtsanwalt  F. 

Ontachten  des  Terfassers. 

I. 

Zur  objectiven  gutachtlichen  Würdigung  des  als  bekannt  vorausgesetzten  That- 
bestandes  mögen  einige  allgemeine  Bemerkungen')  aus  der  Psychologie  der  Sug- 
gestionslehre hier  Platz  finden. 

Unter  Hypnose  ist  nichts  anderes  zu  verstehen  als  ein  durch  Suggestion  er- 
zeugter Schlafzustand,  dessen  Intensität  variirt  zwischen  dem  Stadium  der  leichtesten 
Somnolenz  mit  völlig  erhaltenem  Bewusstsein  bis  zum  Tiefschlaf  mit  nachfolgender 
Amnesie. 

Die  Hypnose  unterscheidet  sich  vom  normalen  Schlaf  durch  das  sug- 
gestive Abhängigkeitsverhältniss  vom  Hypnotiseur  und  von  äusseren  Beizen.  Ver- 
tieft sich  der  Schlaf  derart,  dass  kein  Rapport  der  Sinnesorgane  mit  der  Aussen- 
welt  mehr  besteht,  so  hört  auch  die  Möglichkeit  des  Suggerirens  auf. 

Wie  im  Traum,  werden  nun  im  Zustande  der  hypnotischen  Dissooiation 
ÜQSsere  Eindrücke  und  Reize  falsch  gedeutet  und  der  Hypnotisirte  kann,  wie  der 
Träumende,  zum  willenlosen  Spielball  seiner  Einbildungskraft  werden. 
Beliebige,  durch  eigne  Reproduction  oder  durch  fremde  Einwirkung  wachgerufene 
Vorstellungsreihen  beherrschen  das  geistige  Leben  des  Hypnotisirten  vollständig. 
Man  kann  nun,  wie  bekannt,  alles  Mögliche  suggeriren:  Handlungen,  Ge- 
fühlstäuschungen, Erinnerungsfälsohungen,  Illusionen,  Hallu- 
einationen.  Der  Hypnotisirte  ist  bei  einigermaassen  tiefer  Hypnose  nicht  im 
Stande,  Geträumtes,  wirklich  im  Schlaf  Erlebtes,  blosse  Erinnerungen,  Phantasie- 
produkte oder  Suggerirtes  von  einander  zu  unterscheiden.  Ihm  fehlt  die  Elritik 
über  die  in  ihm  entstehenden  Vorstellungsreihen  durch  im  normalen  wachen  Zu- 
stande maassgebende,  hemmende  und  corrigirende  Gegenvorstellungen. 

')  Wenn  auch  vorausgesetzt  werden  darf,  dass  die  in  Theil  I  angefahrten  Dar- 
legungen aus  der  Suggestionslehre  allen  Lesern  dieser  Zeitschrift  bekannt  sind,  so 
durften  sie  doch  in  dem  Gutachten  nicht  fehlen,  da  in  juristischen  Kreisen  die 
Kenntniss  derselben  bis  jetzt  durchaus  nicht  in  der  erforderlichen  Weise  ver- 
breitet ist. 


200  '^'  Schrenck-Notzing. 

Man  kann  sogar  durch  posibypnotische  Suggestion  auf  die  EEandlongen  des 
Hypnotisirten  nach  dem  Erwachen  Einflnss  nehmen  und  den  Glauben  in  ihm  er- 
wecken, dass  diese  Handlungen  seinem  eigenen  freien  Willensentschlcme  ent- 
sprungen seien. 

Natürlich  hängt  die  Wirksamkeit  der  Suggestion  ab  Ton  dem  Grade  der 
individuellen  Empfänglichkeit,  von  der  Stärke  der  in  dem  lodiYidnam 
sonst  maassgebenden  Gegenvorstellungen  (z.  B.  sittlichen  Gegenwirkung).  Der 
Hypnotisirte  kann  sich  also,  je  mehr  er  wach  ist,  je  weniger  tief  die  Uypnoee  iit| 
um  so  erfolgreicher  gegen  ihm-  uns3rmpathi8che  Einwirkungen  wehren. 

Demnach  wird  nicht  jede  Suggestion  angenommen  und  realisirt. 

Das  Gedächtnissan  die  Erlebnisse  in  der  Hypnose  ist  nach  dem  Erwacben 
ungemein  verschieden.  Es  kann  ganz  fehlen  (Amnesie),  es  kann  theilweiae  oder 
ganz  vorhanden  sein,  letzteres  namentlich  in  Hypnosen  leichteren  Grades.  Oft  nnd 
die  Erinnerungen,  wie  nach  einem  Traum,  lückenhaft  verwischt,  verfälscht.  Man 
ist  aber  im  Stande,  die  entschwundenen  Bilder  durch  Suggestion-  zu  wecken  und 
das  besonders  in  einer  neuen  Hypnose. 

Wie  von  Kr  äfft -E  hing  in  seinem  Lehrbuch  der  gerichtlichen  Psychopatho- 
logie betont,  kann  die  Vornahme  einer  neuen  Hypnose  von  Gerichtswegen 
im  Indicicnbewcis  von  Werth  sein.  Denn  auch  der  Grad  der  individuellen  Suggesti- 
bilität  und  Widerstandsfähigkeit  ist  hieraus  für  den  Fachmann  zu  erkennen.  Immer- 
hin würden  nachträglich  in  einer  neuen  Hypnose  geweckte  Erinnerungen  an  die 
Vorgänge  in  vorhergehenden  Hypnosen  nur  den  Werth  informatorischer 
Aussagen  besitzen,  niemals  aber  für  sich  allein  ein  juristisches  Beweismittel  dar- 
stellen können.  Denn  bei  Simulanten,  verlogenen  Personen,  Hysterischen  und 
Phantasielügnem,  denen  der  Trieb  zur  Unehrlichkeit  tief  im  Character  liegt,  sind 
falsche  Angaben  ganz  gewöhnlich,  wie  überhaupt  das  Product  von  Autosuggestionen 
(Einbildungen,  Selbsteingebungen)  Vcrsuchsobject  und  Beobachter  in  gleicher  Weise 
irreleiten  können. 

Die  schon  im  normalen  Leben  zu  beobachtenden  Fehlerquellen  des  Ge- 
dächtnisses, der  Rückerinnerung  spielen  im  kindlichen  Geistesleben  und  bei  den 
hypnotischen  Erscheinungen  wegen  mangelnder  Correctur  eine  viel  grössere  JEtoUe. 
Daher  kann  in  den  betreffenden  Personen  die  bona  fides,  das  Gefühl  für  die 
Richtigkeit  ihrer  Angaben  wohl  vorhanden  sein.  Auch  ein  Gemisch  von  Lüge  und 
Erinnerungsfälschung  von  minder  bewusster  Aufschneiderei  und  wahren  Angaben 
lässt  sich  mitunter  beobachten.  Lüge  und  Irrthum  kommen  in  mannigfaltigen 
Mischformen  vor. 

Deswegen  ist  die  Glaubwürdigkeit  von  Personen,  deren  alleinige  Aussage  z.  B. 
bei  Anschuldigungen  von  weitgehender  Wichtigkeit  fiir  das  Schicksal  einer  zweitan 
Person  werden  kann,  psychologisch  mit  besonderer  Sorgfalt  zu  prüfen. 

Der  Einfluss  einer  momentanen  Gemüthsstimmung,  Aifecte,  Zu- 
stände psychischer  Erregung  disponiren  in  hervorragender  Weise  zu  Fehlem  in 
der  Reproductionstreue.  Lebhafte  Erinnerungen  an  einschneidende  frühere  Erleb- 
nisse können  von  hypnotisirten  Somnambulen  sehr  wohl  mit  augenblicklichar 
Wahrnehmung  vermischt,  verbunden  werden  und  zu  Irrthümem,  Verwechselungen 
Veranlassung  bieten.  Dass  solche  Ereignisse  von  ihren  Berichterstattern  geglaubt 
werden,  ist  noch  kein  Beweis  für  ihre  objective  Richtigkeit. 

Wie  Kinder  schon  für  Suggestionen   mehr   empfänglich    sind,   so  halten  ne 


Das  angebliche  Sittlichkeitsvergehen  des  Dr.  K.  an  einem  hypnot.  Kinde.     201 

auch  mitunter  die  Erinnerung  an  ihre  Termeintlichen  Erlebnisse  mit  einer  merk- 
würdigen Zähigkeit  fest  und  aufrecht. 

Es  möge  hier  nur  erinnert  werden  an  die  bekannte  Begebenheit  in  Tisza 
Eslar.  Ein  13 jähriger  Knabe  bildet  sich  ein,  gesehen  zu  haben,  wie  ein  Christen- 
mädchen in  der  Synagoge  gemordet  sei.  Trotz  dreimonatlicher  Trennung  von  den 
Seinigen,  trotz  flehentlicher  Bitten,  die  Wahrheit  zu  sagen,  versicherte  er  vor  Ge- 
richt: „Ich  habe  es  gesehen". 

Ich  selbst  konnte  beobachten,  dass  ein  5  jähriges  Mädchen  9  Monate  hindurch 
bei  den  Eltern  und  Aerzten  den  Glauben  zu  erwecken  wusste,  sie  sei  die  Urheberin 
zahlreicher  Verbrechen,  welche,  wie  sich  später  herausstellte,  ihre  hysterische 
Kinderwärterin  (Zerstörungstrieb)  vornahm.  Alle  Strafen,  Absperrungsmaassregeln, 
Erziehungseinflüsse  waren  nicht  im  Stande,  das  suggestive  Abhängigkeitsverhältniss 
zu  brechen,  in  welchem  dieses  sonst  normale  Kind  mit  ihrer  Wärterin  stand. 

Für  die  Begehung  von  Sittlichkeitsvergehen  an  Hypnotisirten,  wie 
sie  schon  wiederholt  Gegenstand  richterlicher  Verfolgung  geworden  sind,  kommen 
mehrere  Gesichtspunkte  in  Betracht. 

In  den  bisher  bekannt  gewordenen  Fällen  dieser  Art  ist  in  der  Regel  das 
unzweifelhafte  Vorhandensein  eines  hypnotischen  schlafartigen 
Zufltandes  während  der  Handlung  selbst  nachgewiesen  worden,  um  solche  Ver- 
brechen zu  begehen ,  muss  die  Willensfreiheit  des  Opfers  völlig  ausgeschaltet 
werden,  wie  das  die  tieferen  Grade  der  Hypnose  mit  sich  bringen.  Dieselben 
sind  zweifellos  als  Zustand  von  Bewusstlosigkeit  oder  Willenlosigkeit  im  Sinne 
des  §  176  des  Keichsstrafgesetzbuches  aufzufassen.  Sie  sind  meistens  von 
völliger  Erinnerungslosigkeit  (Amnesie)  nach  dem  Erwachen  begleitet 
oder  von  sehr  lückenhafter  Beproduction  des  Vorgefallenen.  Aber  diese  absolute 
Widerstandsunfähigkeit  ist  auch  in  den  tieferen  Stadien  der  Hypnose  bei  unsym- 
pathischen Einwirkungen  durchaus  nicht  die  Regel.  Dieselbe  tritt  meist  erst  als 
Product  suggestiver  Dressur  ein  nach  einer  mehrfachen  Hypnotisirung,  oder  bei 
von  Natur  äusserst  suggestiblen  Personen. 

Wie  Delboeuf,  Forel  und  andere  Forscher  gezeigt  haben,  sind  verbreche- 
rische Suggestionsexperimente  so  lange  kraftlose  Handlungen,  als  sie  nicht  ver- 
stärkt werden  durch  eine  zum  Verbrechen  vorhandene  Anlage  oder  Dispo- 
sition zu  dem  betreffenden  Vergehen.  So  werden  z.  B.  erfahiningsgemäss  Befehle, 
flieh  zu  entkleiden,  einen  Diebstahl  zu  begehen.  Jemanden  zu  küssen  oder  dergl. 
von  manchen  Hypnotisirten  gar  nicht,  von  anderen  mit  grossem  Widerstreben  aus- 
geführt.   Der  Widerstand  kann  sehr  energisch  sein. 

Die  Hypnotisirten  pflegen  namentlich  in  der  ersten  Hypnose  nur  die  ihnen 
angenehmen  Suggestionen,  welche  keinen  Eingriff  in  ihre  moralische  Unabhängig- 
keit mit  sich  bringen,  so  z.  B.  alle  auf  den  Heilzweck  ausgehenden  Eingebungen 
zu  realisiren.  Die  durch  langjährige  Erziehung  fest  gewordenen  und  tief  ein- 
gewurzelten sittlichen  Vorstellungen  üben  eine  starke  Gegenwirkung  gegen  ver- 
brecherische Attentate  und  diese  Suggestion  ist  in  der  Regel  stärker,  als  der 
äoMere  Zwang  durch  erstmalige  Fremd-Eingebung.  Allerdings  existiren  je  nach 
den  persönlichen  Qualitäten  alle  Schattirungen  zwischen  hartnäckigem  Widerstand 
and  völliger  Hingebung.  Personen  mit  schwachem  sittlichem  Gefühl  und  grosser 
Saggerirbarkeit  sind  natürlich  in  der  Hypnose  noch  viel  leichter  zu  verführen,  als 
im  Wachzustände. 


202  ▼•  Sehrenek-Notnng. 

Somit  hat  aach  die  LeiBtungsfähigkeit  der  Saggestion  ihre  gani 
bestimmte  Grenze  und  der  Verbrecher,  der  sich  dieses  Mittels  bedienen  worde, 
errichtet  ein  sehr  ansicheres  Gebäude  und  ist  leicht  zu  überführen.  In  den 
leichteren  Stadien,  namentlich  bei  einer  erstmaligen  Hypnotiairang,  genügen  die 
antagonistischen  Kräfte  der  moralischen  Gegenvorstellungen  TÖUig,  anerwfiiiMlite 
criminelle  Suggestionen  energisch  und  erfolgreich  zurückzuweisen. 

II. 

Die  weitere  Aufgabe  dieses  Gutachtens  wird  darin  bestehen .  zu  untersuchen, 
wie  weit  die  vorstehend  erörterten  Forschungsergebnisse  sich  auf  die  dem  Dr.  K. 
zur  Last  gelegte  That  anwenden  lassen. 

Magdalene  S. .  welche  am  11.  Sept.  auf  mein  Verlangen  mir  von  deren 
Vater  vorgestellt  wurde,  machte  auf  mich  den  Eindruck  eines  abgemagerten,  kränk- 
lichen, zurückgebliebenen  und  verwahrlosten  Kindes.  Ihre  äussere  Erscheinung 
lässt  nicht  auf  ihr  Alter  schliessen.  sondern  sieht  einer  7jährigen  ähnlich.  Sie 
hinkte  beim  Betreten  des  Zimmers  und  zeigte  weder  in  ihrer  Sprechweise  noch  in 
ihrer  ganzen  Art  etwas  Anziehendes.  Die  nähere  Beschreibung  ihres  körperlichen 
Status  ergiebt  ihre  den  Acten  beigelegte  Krankengeschichte.  Vater  und  Tochter 
stellen  das  Sittlichkeitsattentat  so  dar,  wie  es  in  den  Acten  deponirt  wurde.  Der 
Tagelöhner  S.  erwiderte  auf  Befragen,  dass  man  unter  „Dietzel**  im  Volksmund 
ebensowohl  den  Gummisauger  der  Kinder  als  auch  das  männliche  Glied  verstehe. 

Magdalene  will  während  der  ganzen  Handlung  des  Arztes  völlig  wach  gewesen 
sein.  Daher  erinnere  sie  sich  deutlich  aller  Einzelheiten.  Sie  habe  femer  darch 
das  ihr  über  den  Kopf  gelegte  Handtuch  das  Glied  des  Dr.  K.  gesehen,  üeber 
andere  nicht  mit  dem  Attentat  zusammenhäns^ende  Suggestionen  des  Dr.  K.  weiss 
sie  nichts  Näheres  anzugeben.  Die  Mittheilung  von  dem  Vorgefallenen  habe  sie 
der  Pflegeschwester  erst  gemacht,  als  diese  sie  über  die  Vorgänge  in  der  Hypnose 
befragte. 

Bei  der  Wichtigkeit  der  Aussage  des  Kindes  und  den  Widersprüchen  in  der- 
selben erschien  mir  behufs  möglichst  genauer  Feststellung  des  Vorgefallenen  and 
Weckung  der  Erinnerung  daran  die  Herbeiführung  einer  neuen  Hypnose 
(in  Gegenwart  eines  Zeugen)  nöthig  zu  sein.  Die  theoretischen  Darlegungen  des 
ersten  Theils  enthalten  für  die  Berechtigung  dieses  Vorgehens  die  nöthige  Be- 
gründung. Ich  theilte  dies  dem  Kinde  mit  und  versuchte  es  in  eine  liegende 
Stellung  auf  dem  Sopha  zu  bringen.  Magdalene  S.  zeigte  sich  widerspenstig,  wollte 
durchaus  nichts  davon  wissen,  fing  an  zu  schreien  und  zu  weinen  und  geberdete 
sich  sehr  uuartig.  Schliesslich  schlug  sie  wüthend  mit  Händen  und  Füssen  am  aioL 
Ich  rief  den  Vater  herein.  Dieser  suchte  auf  sein  Kind  Einfluss  zu  gewinnen,  sie 
zu  überzeugen  durch  gütliche  Zurede.  Aber  ganz  vergeblich.  Sie  setzte  auch  dras 
Vater  heftigen  Widerstand  entgegen,  der  sich  bei  Drohungen  und  Schlägen  des 
Vaters  nur  noch  steigerte.  Sie  warf  sich  auf  den  Boden,  hielt  sich  an  der  Thor 
fest,  lärmte,  schrie  und  tobte  in  einer  sehr  boshaften  und  ungezogenen  Art  Je 
mehr  der  Vater  in  sie  drang,  um  so  heftiger  wurde  der  Anfall.  Die  Scene  daoerta 
länger  als  20  Minuten  und  erweckte  den  Eindruck,  den  dieses  offenbar  vielfach  aof 
sich  selbst  angewiesene  Kind  einen  eigenwilligen  verstockten  Character,  besitM 
vielleicht  einen  gewissen  moralischen  Defect,  wie  man  ihn  bei  nervösen,  hyiterischea 


Dm  Bafvft&iM  5r«tfW  ftAifito  *  cngeteen  d«t  Dir.  K,  «a  «uMm  Vrrft^'^  KMk     MS 


Xadcax  not  flawr  mm  Ufcn  and  SiaoHnKi  hiofifr  üIld<^tK    l>i^  ISlMWÜtt  wiw««^^ 
aiao  TOL  az-  «ftme  vectere  Wied«flK>i«a£r  de»  Vemicirt«  ^aUmMMNi  m1^r^ikn. 

BcoDcdbcsinnercii  i«  nodi  die  llilüieiluiur  d<«  V»i«^n>«  wumfr^K  d«9  Kind 
bereits  cicsal  Gefreii*t«iid  eines  Sitiliehkeii^rerfreKen*  ^>it\vrd<M\ 
mL  £ixi  aSter  HauL  fiüirte  das  Kind  an  einen  einsamen  i>ii  und  nrinirte  ihm  in 
den  Mnnd.  £§  sptehe  sich  also  damab  genan  das  gleiche  Vergehen  an  dem  Kinde 
ab,  wie  es  im  Toriiefenden  Fall  dem  Dr.  K.  mr  I^ast  gelegt  wird« 

Die  erste  Möglichkeit  wäre  die,  dass  das  Attentat  auf  die  SittllehVeit 
des  Kadcbens  sich  so  zogetragen  hatt^,  wie  sie  es  selbst  darstellte 

JedenfisUs  encbeinen  dann  ihre  Mittheilungen  über  die  sonstigen  Suggetiioneiu 
die  doch  Dr.  K.  jedenfalls  behufs  Herbeiführung  einer  Ueferen  Hypnose  xorgv«- 
nommen  haben  müsste,  lückenhaft  und  dieser  Gedächtnissmaugel  aufHUlig.  Nach 
ihren  eignen  Angaben  müsste  sie  das  Bild  des  Schlafes  simulirt  haben ,  indem  sie 
in  dem  Arzt  den  Glauben  an  das  Vorhandensein  eines  hypnotischen  Zustandet  «u 
erwecken  wusste.  Aber  noch  merkwürdiger  berührt  der  Umstand,  dass  sie  ohnt« 
■ich  zu  widersetzen,  obwohl  sie  doch  Zeugin  der  Vorbereitungen  tu  dorn  Attentat 
war  und  das  entblösste  Glied  durch  das  Tuch  hinduroh  vorher  wahrgenommen 
haben  will,  willig  den  Wünschen  des  Dr.  K.  nachkam,  indem  sio  wirklich 
Saugbewegungen  und  onanistische  Manipulationen  an  dem  Ultede  des  Arttca  vor- 
nahm. Erst  als  er  seinen  Urin  in  ihren  Mund  entleerte,  also  beim  letitten  Act  d«^t 
ihr  bereits  von  früher  in  seinen  Einzelheiten  bekannton  Dramas  reagirte  sie  im 
gegentheiligen  Sinn !  Ist  es  nun  überhaupt  psychologisch  wahrscheinlich  und  denk- 
bar, dass  ein  Mädchen  von  der  hartnäckigen  EigenwUligkeit  und  St^lbstündigkclt, 
wie  sie  Magdalene  mir  gegenüber  bewies,  trotz  ihrer  frUhoren  Erfahrung  auf 
sexuellem  Gebiet,  trotz  aller  Warnungen  und  Belehrungen  ihres  Vaters,  In  dem 
Ton  ihr  selbst  behaupteten  Vollbesitz  ihres  freien  Willens,  sich  ein  »weites  Mal 
einen  so  raffinirten  und  in  seiner  Ausführung  umständlichen  Angriff  auf  Ihre  Ge- 
schlechtsehre hätte  gefallen  lassen,  dass  sie  ein  Opfer  desselben  werden  konnte? 
Warum  erhob  sie  sich  nicht  sofort  bei  den  ersten  Versuchen,  entrüstet  über  die 
2amuthungen  des  Arztes  und  verliess  das  Zimmer?  Warum  rief  sie  nicht  um 
Hülfe?  Warum  schrie  und  weinte  sie  nicht,  wie  sie  es  sonst  zu  thun  pÜegt,  wenn 
ihr  etwas  Unangenehmes  widerfährt?  Abgesehen  von  der  in  der  Art  der  sexuellen 
Bethätigung  höchst  auffälligen  Uebereinstimmung  beider  geschlechtlicher  Vergehen 
ladt  Magdalene  S.  durch  ihre  eigne  Sachdarstellung  den  Verdacht  der  Himulation 
auf  sich.  Denn  sie  simulirte  das  Bild  der  Hypnr>se,  erniedrigte  sich  zum  Work- 
seng  der  eigenartigen  sexuellen  Gelüste  des  Arztes,  um  dann  nachträglich  gegen 
ihn  die  schwere  Anklage  wegen  Sittlichkeitsdelicts  zu  veranlassen! 

Die  zweite  Möglichkeit  wäre  die,  dass  das  Mädchen  sich  wirklich  In 
•einer  Hypnose  leichteren  Grades  befand,  über  deren  Bestehen  sie  sich  s(*lb«t  täuschte. 
Indessen  wäre  bei  einem  so  tiefen  verbrecherischen  Kingriff  in  ihre  HellMtändlgkeit, 
wie  im  theoretischen  Theil  gezeigt  wurde,  die  Fähigkeit  des  Widerstandes  kaum  ab- 
banden gekommen.  Sie  hatte  aus  der  leichten  Benommenheit  schon  bei  den  ersten 
aexneUen  Manipulationen  des  Arztes  erwachen  müssen. 

£s  ist  psychologisch  nahezu  ausgeschlossen,  dass  in  Hypnosen  leichteren  Ora'Je« 
gegen  den  Willen  der  betreffenden  Versuchsf>ersonen  tief  greifemJe  criminelle 
^agg«stäonen  besonders  bei   erstmaliger  Hypnotisirung   angenommen  und  realisirt 


204  V.  Schrenck-Notzing. 

Die  dritte  Möglichkeit  ist  diejenige  des  Bestehens  einer  tiefen  HypnoM. 
Die  Angaben  des  Dr.  E.,  wonach  die  hypnotisirte  Magdalene  S.  Handlungen 
automatisch  ausführte  und  selbst  Sinnestäuschungen  zugänglich  war,  lassen  auf  das 
Vorhandensein  einer  solchen  schliessen.  Aber  auch  in  diesem  Falle  wäre  ebenfalls 
in  Anbetracht  der  erstmaligen  Einschläferung  der  £rfolg  für  die  Realieirung  Ton 
unsympathischen  Eingebungen  mit  sexueller  Tendenz  zum  mindesten  zweifelhaft 
gewesen.  Beobachtungen,  in  denen  schon  bei  einer  ersten  Hypnose  solche  Tei^ 
brecherischen  Suggestionen  gelingen,  gehören  zu  den  Seltenheiten,  zu  den  Aus- 
nahmen. 

Wenn  aber  überhaupt  eine  H y p n o s e  leichteren  oder  tieferen  Grades 
bestand,  so  stellt  ^das  Erinnerungsvermögen  der  betreffenden  Versuchs- 
person nach  dem  Erwachen  ein  ganz  unzuverlässiges  Mittel  zur  Feststellung  der 
wirklichen  Vorgänge  im  hypnotischen  Zustande  dar.  Dasselbe  ist ,  wie  in  dem 
ersten  Theil  ausgeführt  wurde,  allen  möglichen  Täuschungen  und  Fehlerquellen  aus- 
gesetzt und  wird  um  so  unzuverlässiger  und  lückenhafter,  je  tiefer  die  Hypnose 
war,  bis  zur  völligen  Amnesie,  lässt  sich  also,  wie  schon  erwähnt,  abgesehen  von 
seiner  informatorischen  Bedeutung  als  juristisches  Beweismittel  ebensowenig  ver- 
wenden, wie  die  mehr  oder  minder  verschwommenen  Erinnerungsbruchstücke  aus 
den  Träumen  des  normalen  Schlafes. 

Die  vierte  Möglichkeit  besteht  bei  dem  wirklichen  Vorhandensein  einer 
Hypnose  in  einer  traumhaften  Verknüpfung  lebhafter  Erinnerungsvorstellungen  an 
das  frühere  sexuelle  Erlebniss  mit  den  Suggestionen  und  sonstigen  Wahrnehmungen 
in  der  Hypnose  zu  einem  Gesammtbilde  aus  Dichtung  und  Wahrheit,  dessen  Inhalt 
nachträglich  von  der  j^lagdelene  S.  erinnert  worden  wäre.  Für  diese  Annahme 
sprechen  verschiedene  schwerwiegende  Argumente.  Es  ist  eine  bekannte  Thatsache, 
dass  der  hypnotisirte  oder  somnambule  Träumer  von  den  Producten  seiner  Ein- 
bildungskraft autosuggestiv  völlig  beherrscht  werden  kann.  Die  Suggestion  des 
Saugens  an  einem  „Gummidietzel**  konnte  sehr  wohl  die  Reminiscenz  an  jenes  erste 
sexuelle  Attentat  in  dem  Kinde  wachrufen;  beiden  Erlebnissen  war  das  Saugen 
an  einem  weichen  Gegenstande  sowie  der  salzige  Geschmack  gemeinsam ;  das  Wort 
„Dietzel"  als  Bezeichnung  für  das  männliche  Glied  konnte  möglicherweise  auch 
dem  Kinde  nicht  unbekannt  sein.  Wenigstens  lässt  hierauf  das  Verhalten  der 
Patientin  nach  den  Schilderungen  von  Dr.  K.  schliessen ;  denn  sie  blieb  trotz  ihrer 
offenbar  gesteigerten  Empfänglichkeit  für  die  Suggestion  des  Arztes  ihm  auf  seine 
Frage,  an  was  sie  sauge,  die  Antwort  schuldig;  dieses  Verhalten  würde  sich  in 
dem  genannten  Sinne  durch  Verlegenheit  oder  Schamhaftigkeit  erklären  lassen. 

Hatte  sich  aber  einmal  die  Phantasie  mit  der  autosuggestiven  Verarbeitung 
jener  für  ihr  kindliches  Geistesleben  tief  einschneidenden  Erinnerungsvorgänge  be- 
schäftigt ,  so  war  das  ganze  weitere  Verhalten  des  Arztes  dazu  angethan ,  den 
Argwohn  der  Hypnotisirten ,  es  handle  sich  um  eine  Wiederholung  des  früheren 
sexuellen  Attentats,  zu  bestärken,  d.  h.  dem  autosuggerirten  Traum  neue  Nahrung 
zuzuführen.  Durch  das  für  das  Versuchsobject  befremdliche  Verhüllen  der  Augen 
musste  dieser  Verdacht  sich  steigern ;  zur  Gewissheit  wurde  die  Vermuthung  der 
Träumenden,  als  sie  aus  der  vermeintlichen  Gesichtswahmehmung  oder  aus  dem 
Hören  des  Geräusches  beim  Uriniren  in  das  Nachtgeschirr  schloss,  dass  der  Arst 
sein  Glied  entblösst  habe  und  ein  Bedürfniss  verrichtete.  Die  phantastische  Um- 
deutung  oder  illusionirende  Uebertragung  der  äusseren  wirklichen  Vorgänge  (z.  B. 


Das  angebliche  Sittlichkeitsvergehen  des  Dr.  E.  an  einem  hypnot.  Kinde.     205 

auch  des  Salzgeschmackes)  aaf  den  Inhalt  des  herrschenden  Traumbildes  wurde 
ergänzt  durch  die  hallucinatorische  Schöpfung  der  ohne  Kritik  und  Hemmung 
thätigen  Einbildungskraft.  So  wurden  aus  dem  suggerirten  Grummidietzel  das 
männliche  Glied,  die  Saugbewegung  und  das  Ergreifen  desselben  zu  onanistischen 
Manipulationen,  das  Verhüllen  der  Augen  ein  Hülfsmittel  zur  leichteren  Ausführung  des 
Vorhabens,  der  Salzgeschmack  zum  Uringeschmack ;  das  Uriniren  in  den  Mund  der 
Patientin  muss  nach  ihrer  Ansicht,  wie  beim  ersten  sexuellen  Attentat  dem  Arzte 
zur  geschlechtlichen  Befriedigung  gedient  haben;  die  nicht  zu  bestreitende  That- 
sache  des  ürinlassens  wurde  aber  in  Beziehung  auf  die  träumende  Persönlichkeit 
unter  dem  dominirenden  Einfluss  der  lebhaften  Erinnerung  an  das  frühere  sexuelle 
Delict  umgedeutet ,  wozu  der  Geschmack  des  Salzes ,  welches  ihr  Dr.  K.  auf  die 
Zunge  gab,  beigetragen  haben  mag.  Der  Vorgang  der  Ejaculation  als  Mittel  zur 
geschlechtlichen  Befriedigung  war  dem  Kinde  vielleicht  noch  unbekannt. 

So  entstand  durch  eine  Verhängnis s volle  Verkettung  innerer  und  äusserer  Um- 
stände gcwissermaassen  als  letztes  Glied  der  herrschenden  Vorstellungskette  a  u  t  o  • 
suggestiv  die  Selbsttäuschung,  der  Arzt  habe  zum  Zwecke  geschlechtlicher 
Befriedigung  der  Magdalene  S.  in  den  Mund  urinirt. 

Die  Erinnerung  an  diese  Traum erlebnisse  kann  nach  dem  Erwachen  erst  all- 
mählich eingetreten  oder  geweckt  sein.  So  war  Magdalene  vielleicht  bei  Besprechung 
mit  der  Schwester  trotz  der  aus  der  Hypnose  zurückgebliebenen  Spuren  tiefer 
affectiver  Erregung  noch  nicht  im  Stande,  alles  anzugeben  und  erst  nach  den  Unter- 
redunefen  mit  ihren  Zimmergenossinnen  fielen  ihr  die  Einzelheiten  des  Traumes 
ein,  die  dann  schliesslich  zur  Anzeige  führten. 

Oder  aber  die  Verschmelzung  der  vielleicht  theilweise  undeutlkhen  Remines- 
cenzen  aus  der  Hypnose  mit  der  lebhaften  Erinnerung  an  das  frühere  Erlebniss  zu 
einem  Gesammtbilde  ist  möglicher  "Weise  ei-st  nach  dem  Erwachen  erfolgt,  als  der 
Argwohn  durch  Gespräche  mit  anderen  Kindern  erregt  und  die  Aufmerksamkeit 
auf  das  sexuelle  Gebiet  hingelenkt  war.  In  diesem  Falle  wäre  die  im  wachen  Zu- 
stande erfolgte,  unwillkürliche,  rückwirkende  Erinnerungsfälschung  begünstigt  durch 
lebhafte  Phantasiethätigkeit  mit  der  Unfähigkeit  und  dem  Streben,  die  Vorgänge 
in  der  Hypnose  möglichst  genau  zu  recapituliren. 

Wie  im  Schlafzustand,  wären  also  auch  hier  die  lückenhaften  Erinnerungs- 
bilder durch  Elemente  der  früher  erlebten  Situation  unwillkürlich  ergänzt.  Nach 
dieser  Auffassung  dachte  die  Magdalene  S.  noch  nicht  in  dem  Augenblick  an  den 
Angriff  auf  ihre  Geschlechtsehre,  als  die  barmherzige  Schwester  sie  befragte.  Viel- 
mehr bekam  dieser  Argwohn  erst  später  den  Werth  einer  subjectiven  üeberzeugung. 

Welche  der  2  Variationen  der  vierten  Möglichkeit  psychologisch  die 
grösste  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat,  das  möge  nach  freiem  Ermessen  entschieden 
werden. 

Für  die  vierte  Möglichkeit  einer  autosuggestiven  Erinnerungs- 
fälschung inderHypnose  oder  einer  retroactivenPseudoreminiscenz 
im  wachen  Zustande  spricht  aber  auch  die  ganze  sonstige  Sachlage.  Vor  Allem 
kommt  hier  die  Persönlichkeit  des  Arztes  in  Betracht,  eines  Mannes,  der  das 
volle  Vertrauen  seiner  Vorgesetzten  geniesst  und  sich  nie  eine  Pflichtverletzung  zu 
Schulden  kommen  Hess.  Ausserdem  scheint  derselbe  seine  kranken  Kinder  alle  nach  der 
gleichen  3Iethode  hypnotisirt  zu  haben  imd  machte  fast  bei  allen  die  gleichen 
Suggestionsexperimente,  wie  sich  durch  Zeugenaussagen  erweisen  lässt. 


206  ^'  Schrenck-Notring. 

Bekanntlich  kommen  sexaelle  Handlungen,  wie  die  in  Frage  stehenden,  bei 
abgelebten  Roues,  deren  in  Abnahme  begriffene  geschlechtliche  Potenz  immer  neuer 
Reizmittel  bedarf,  sowie  bei  krankhaften  nnd  senilen  Personen  Tor.  FürdasYer- 
handensein  einer  solchen  perversen  Geschmacksrichtung  lasst  sich 
bei  Dr.  K.  nicht  der  geringst«  Anhaltspunkt  finden.  £s  wäre  psychologisch  ganz 
unbegreiflich,  wie  dieser  sexuell  normal  empfindende  und  beruflich  Tertrauenswürdige 
Arzt  dazu  hätte  kommen  sollen,  eine  vom  Standpunkte  sexueller  Befriedigung 
ganz  sinnlose  und  widerliche  Handlung  an  einem  derartig  yerwahrlosten,  änsBerlich 
nicht  anziehenden,  hinkenden,  körperlich  zurückgebliebenen  Kinde  zu  vollziehen! 

Allerdings  war  sein  Verhalten  mindestens  sehr  unvorsichtig;  denn  bei 
einem  tieferen  Eindringen  in  die  Suggestionslehre  hätte  er  wissen  müssen,  dass 
die  Hypnotisirten  und  speciell  die  'Somnambulen  feine  psychische 
Reagentien  darstellen  auf  alle  äusseren  Eindrücke,  dass  sie  dieselben  im  Sinne 
ihrer  Träumereien  und  Suggestionen  zu  verarbeiten  pflegen,  dass  es  also  für 
den  Arzt  zur  Sicherung  seiner  Standesehre  ein  Gebot  des  Selbstschutzes  ist,  in 
zweifelhaften  Fällen  Zeugen  beizuziehen,  soweit  das  mit  der  Wahrung  des  ärzt- 
lichen Amtsgeheimnisses  vereinbar  erscheint.  Aber  dieser  Punkt  kommt  in  öffent- 
lichen Kliniken  weniger  in  Betracht,  als  in  der  Privatpraxis. 

Das  wenig  sorgsame  und  mit  den  Regeln  der  Suggestivbehandlung 
nicht  vereinbare  Verhalten  des  Dr.  K.  bot  allerdings  die  Veranlassung, 
dass  eine  so  schwere  Anschuldigung  mit  einem  Schein  von  Recht  gegen  ihn  er- 
hoben werden  konnte. 

Diese  Erfahrung  lehrt  aber  von  Neuem,  dass  man  den  zu  therapeutischen 
Zwecken  Hypnotisirten  keine  anderen  Suggestionen  eingeben  soll, 
als  für  seine  Heilung  nöthig  sind,  dass  man  femer  die  meist  unter- 
schätzte Bedeutung  der  Autosuggestionen  bei  Hypnotisirten  zu  berück- 
sichtigen hat. 

Vor  Allem  verlangt  dieses  Specialgebiet,  genau  wie  andere  Specialfächer,  um- 
fassende Sachkenntniss  und  gründliches  Vorstudium,  damit  der  therapeutische 
Hypnotismus  nicht  für  die  Schulden  aufzukommen  hat,  welche  un- 
vorsichtiger ärztlicher  Dilettantismus  auf  dem  psychologischen  Gebiete 
der  Suggestion  an}iäufb. 

Nach  der  vorstehenden  ausführlichen  Begründung  fasse  ich  also  mein  Gut- 
achten dahin  zusammen: 

Die  Aussage  der  13jährigen  Magdalene  S.  bietet,  wenn  andere 
Beweismittel  für  das  dem  Dr.  K.  zur  Last  gelegte  Vergehen  nicht  vorliegen, 
keine  hinreichende  Gewähr  für  die  Richtigkeit  des  von  ihr  be- 
haupteten Vorfalles.  Violmehr  erscheint  dieselbe  als  Product 
falscher  autosuggestiver  Deutung  von  Wahrnehmungen  in  der 
Hypnose  und  von  rückwirkender  Erinnerungsverfälschung,  in- 
sofern es  sich  nicht  um  bewusste  Simulation  handelt.  Keinesfalls  kann  eine 
solche  durch  Fehlerquellen  getrübte  Aussage  psychologisch  oder 
juristisch  als  Beweismittel  dienen.  Dagegen  bietet  der  ganze 
Thatbestand  keinerlei  Anlass,  an  der  meines  Erachtens  glaub- 
würdigen Sachdarstellung  des  angeschuldigten  Dr.  K.  zu  zweifeln. 


Das  angebliche  Sittlichkeitsyergehen  des  Dr.  K.  an  einem  hypnot.  Kinde.     207 


Sehlnss. 

In  der  Voruntersachung  wurden  die  von  Dr.  K.  hypnotisirten  Kinder,  das 
Wartepersonal  des  Krankenhauses,  der  Vorstand  desselben  vernommen,  ohne  dass 
andere  för  den  Angeschuldigten  nachtheilige  Momente  sich  ergaben,  als  die  im 
Vorstehenden  erwähnten. 

Somit  sah  sich  die  Staatsanwaltschaft  veranlasst,  das  Ver- 
fahren gegen  den  Dr.  K.  einzustellen. 

Der  Yorstehend  beschriebene  Fall  aber  lehrt  von  Neuem  eindringlich, 
dass  die  Anwendung  des  hypnotischen  Heilverfahrens  ihre  bestimmten 
R^eln  und  Indicationen  besitzt,  welche  auch  von  sonst  noch  so  tüchtigen 
Aerzten  erlernt  und  mit  grösster  Sorgfalt  berücksichtigt  werden  müssen, 
genau  wie  andere  Methoden  der  ärztlichen  Behandlung.  Es  wäre  aber 
ganz  falsch,  für  die  unangenehmen  Folgen  eines  imrichtigen  und  un- 
▼OTsichtigen  Vorgehens  die  Sache  selbst  verantwortlich  zu  machen 
wie  das  leider  nur  zu  gern  geschieht  und  die  Flinte  ins  Eom  zu 
werfen!  Mag  das  Lehrgeld,  welches  mitunter  bezahlt  werden  muss, 
auch  theuer  sein  die  Leistungsfähigkeit  der  suggestiven  Heilmethode 
in  der  Hand  eines  mit  den  Grundsätzen  ihrer  Anwendung  hinreichend 
yertrauten  Arztes  wird  dadurch  nicht  berührt! 


Normalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der 

Hysterie. 

Von 

Oskar  Yogt. 


Einleitung. 

Die  folgenden  Ausführungen  entsprechen  einem  Wunsche,  der  mir 
aus  dem  Leserkreis  entgegengetreten  ist.  Sie  sollen  demjenigen,  der 
sich  bisher  nicht  in  die  betreffende  Literatur  vertiefen  konnte,  die 
normalpsychologische  Grundlage  für  das  Verständniss  meiner  weiteren 
Aufsätze  über  die  hysterischen  Erscheinungen  liefern.  Sie  wollen  diese 
Lektüre  aber  auch  dem  psychologisch  Geschulten  erleichtem.  Die 
psychologische  Nomenclatur  ist  eine  höchst  verwirrte.  Man  muss  sich 
heutzutage  erst  in  den  einzelnen  Autor  hineinlesen.  Mit  Rücksicht 
auf  diese  Sachlage  wird  man  in  den  folgenden  Paragraphen  eine  kurze 
Definition    der   von  mir   gebrauchten   psychologischen   Begriffe    finden. 

Es  giebt  in  der  Psychopatliologie  Phänomene,  die  von  den  normal- 
psychologischen qualitativ  verschieden  sind.  Wo  wir  zum  Beispiel 
durch  eine  locale  Zerstörung  einer  Hirnrindenpartie  eine  Ausfalls- 
erscheinung beobachten,  haben  wir  ein  Phänomen  vor  uns,  das  in  der 
normalen  Psychologie  nicht  seinesgleichen  hat.  Denn  die  Hemmung 
des  tiefsten  Schlafes  bedeutet  ja  stets  nur  eine  Herabsetzung,  nie  aber 
einen  Ausfall  functioneller  Vorgänge.  In  Bezug  auf  die  Hysterie  haben 
mich  nun  meine  gesammten  Studien  zu  der  Ansicht  geführt,  dasa  alle 
psychopathologischen  Erscheinungen,  welche  uns  im  Krankheitsbild  der 
Hysterie  entgegentreten,  nur  Intensitätsveränderungen  normaler  Phä- 
nomene darstellen.  Um  so  gebieterischer  tritt  dann  aber  die  Forderung 
auf,  bei  der  Erforschung  der  Hysterie  von  der  normalen  Psychologie 
auszugehen.  Ist  es  doch  klar,  dass  unser  Wissen  vom  normalpsycho- 
logischen  Geschehen  jeder  Zeit    besser   fundirt    oder    wenigstens  fun- 


Norznalphysiologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     209 

dirbar  sein  wird  als  das  yod  pathologischen  Erscheinungen.  Denn  die 
Urquelle  alles  psychologischen  Wissens,  die  Erkenntniss  durch  die 
directe  Selbstbeobachtung,  wird  sich  stets  beim  normalen  Individuum 
exacter  gestalten  lassen  als  beim  kranken. 

Allerdings  muss  gleich  hier  betont  werden,  dass  die  normal- 
psychologische Basis,  von  der  wir  in  unseren  Studien  ausgehen  wollen, 
noch  eine  sehr  unsichere  ist.  Wir  können  es  den  „Fachpsychologen" 
in  ihrem  Streben  nach  möglichst  exacter  Arbeit  nicht  verdenken,  wenn 
sie  meist  nur  Sinnespsychologie  treiben.  Aber  uns  Aerzten  nützen 
derartige  Studien  wenig.  Für  uns  sind  die  Gesetze  der  psychischen 
Synthese  und  vor  Allem  die  des  Gefühlslebens  bedeutungsvoll.  Und 
hier  versagen  die  Arbeiten  der  „Fachpsychologen"  fast  vollständig. 
So  wird  sich  nicht  vermeiden  lassen,  dass  die  folgenden  Ausführungen 
eine  persönliche  Färbung  tragen.  Auf  manche  Fragestellung,  zu  der 
uns  gerade  das  Studium  der  Hysterie  fuhrt,  fand  ich  in  der  vorhandenen 
Literatur  überhaupt  keine  Antwort.  So  wurde  ich  hier  zu  eigenen 
Untersuchungen  ^)  gezwungen ,  Untersuchungen ,  während  welcher  ich 
eine  Reihe  früher  vertretener  Anschauungen  habe  aufgeben  müssen  und 
mich  in  vielen  Punkten  den  von  Wundt^)  ausgesprochenen  Lehren 
genähert  habe. 

Wenn  so  auch  unsere  normalpsychologische  Basis  nicht  eine  absolut 
gesicherte  ist,  so  kann  es  ihr  selbst  doch  nur  zum  Nutzen  dienen,  wenn 
wir  von  ihr  in  unseren  Untersuchungen  ausgehen.  Es  ist  von  vorn- 
herein zu  erwarten,  dass  die  hysterischen  Erscheinungen  manche  psy- 
chischen Zusammenhänge  schärfer  erkennen  lassen  werden  als  normale 
Phänomene.  So  kann  das  Studium  der  Hysterie  eine  günstige  Rück- 
wirkung auf  unser  normalpsychologisches  Wissen  haben,  kann  dieses 
bestätigen  oder  richtig  stellen.  Wir  werden  am  Schluss  unserer  ge- 
sammten  Ausführungen  darauf  näher  eingehen  und  so  dieselben  mit 
einer  Kritik  unserer  Ausgangspunkte  beendigen. 

§  1.    Verschiedene  Grade  der  Bewusstseinsbeleuchtung. 

Eine  Bewusstseinserscheinung  wird  als„klarbewusst"  bezeichnet, 
wenn   sie   dem  sich  beobachtenden  „Subject"   oder  „Ich"   deutlich  er- 

*)  Vgl.  besonders:  Vogt,  Zur  Kenntniss  des  Wesens  und  der  psychologischen 
Bedeutung  des  Hypnotismus.  Vier  Abhandlungen.  Diese  Zeitschr.,  Bd.  III  u.  IV 
and  Vogt,  Die  directe  psychologische  Experimentalmethode  in  hypnotischen  Be- 
wnsstseinszuständen.    Diese  Zeitschr.,  Bd.  V. 

•)  Vgl.  vor  Allem:  Wundt,  Grundriss  der  Psychologie.    3.  Aufl.  1898. 
Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    YIII.  14 


210  Oskar  Vogt. 

kennbar  ist.    Wird  eine  Stimmgabel  in  meiner  Nähe  angeschlagen  und 
richte  ich  auf  den  entstehenden  Ton   meine  Aufmerksamkeit,   so   wird 
dieser  mir  klar  bewusst  werden.     Eioe   Bewusstseinserscheinung   wird 
^dunkelbewusst^    genannt,    wenn    das   Subject   gerade    noch    ihr 
Dasein  wahrnimmt,  aber  nicht  ihre  Qualitäten  erkennt.    In  jedem  Moment 
empfangen  wir  unzählige  Reize,  während  nicht  einmal  immer  einer  Ton 
diesen  Tielen  eine  klar  bewusste  Erscheinung  auslöst.     Eänige  Yon  diesen 
Reizen  lösen  aber  doch  wenigstens  dunkelbewusste  Erscheinungen  aus. 
Von  diesen  ist  ein  Theil  nur  deswegen  dunkelbewusst  geblieben,  weil  ihm 
nicht  unsere  Aufmerksamkeit  zu  Theil  wurde.     Er  blieb  dunkelbewusst, 
weil  er   „unbeachtet"   blieb,   wäre   aber  klarbewusst  geworden,   wenn 
ihm  unsere  Aufmerksamkeit  zu  Theil  geworden  wäre.     Wenn  wir  auf 
der  Strasse  in  Gedanken   versunken   gehen,   so   rufen   eine  Reihe  von 
Objecten   dunkelbewusste  Gesichtsempfindungen  in  uns  wach.      Sobald 
wir  auf  sie   achten,    werden  diese  Empfindungen  klarbewusst.     Neben 
diesen  wegen  ihres  Unbeachtetseins  nur  dunkelbewussten  Erscheinungen 
giebt  es  aber  auch  solche,  die  dunkelbewusst  bleiben  resp.  erst  dunkel- 
bewusst werden,  wenn  wir  ihnen  imsere  volle  Aufmerksamkeit  schenken. 
Zu  diesen  gehört  z.  B.  manches  Element  eines  complexen  Gefühls  und 
so  manche  Empfindung,   die   von   den  Organen   unseres  Körpers  aus- 
gelöst wird.    „Unbewusste"  Vorgänge  sind  solche,  welche  dem  Subject 
nicht  unmittelbar  zum  Bewusstsein  kommen.     Als   „bewusstseins- 
fähig"  wird  jede  Bewusstseinserscheinung  benannt,   die  in  einem  ge- 
gebenen  Moment   einer   Bewusstseinsbeleuchtung  fähig   ist.     Derartig 
nicht  erregbare  Erscheinungen  sind  „bewusstseinsunfähig'*. 

§2.  Bewusstseinserscheinungen  und  materielle  Parallel- 
vorgänge. 

Als  eine  nicht  sicher  bewiesene,  aber  sehr  wahrscheinlich  gemachte 
Thatsache  und  gleichzeitig  als  ein  für  die  Physiologie,  sowie  für  die 
Psychologie  fruchtbarer  Gedanke  und  deshalb  als  ein  „heuristisches 
Principe  stellen  wir  den  Satz  auf,  dass  gleichzeitig  mit  jedem  Bewusst- 
seinsvorgang  ein  „materieller  Parallelvorgang"  (wahrscheinlich 
in  der  Hirnrinde)  stattfindet.  Die  Zahl  solcher  unter  sich  gleichartiger 
materieller  Parallelvorgänge  ist  grösser  als  diejenige  der  Bewusstseins- 
vorgänge.  Ich  kann  z.  B.  eine  eingeübte  Bewegung  ausführen,  während 
meine  ganze  psychische  Energie  anderweitig  absorbirt  ist,  d.  h.  ohne 
dass  mir  die  Ausführung  der  Bewegung  zum  Bewusstsein  kommt.  loh 
bin  berechtigt,  in  solchen  Fällen  anzunehmen,  dass  der  materielle  Vor- 


Normalpsychologische  Einleitnag  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     SU 

gaDg,  der  einer  bewussten  Ausführung  dieser  Bewegung  parallel  geht^ 
auch  während  der  unbewussten  Vollziehung  stattfand,  ohne  eine  quali- 
tative Aenderung  zu  zeigen.  Es  giebt  also  Phänomene,  die  nur  in  der 
Form  von  materiellen  Parallelvorgängen  ohne  „psychisches  Correlat" 
{=r  bewusste  Begleiterscheinung)  auftreten,  also  unbewusst  bleiben,  ob- 
gleich sie  sich  in  der  physiologischen  Betrachtung  (=  von  der  materi- 
ellen Seite  aus)  von  den  bewussten  wahrscheinlich  nur  in  ihrer  Inten- 
sität unterscheiden.  Wo  wir  also  im  Folgenden  von  einem  materiellen 
Parallelvorgang  oder  einer  rein  physiologischen  Existenz  sprechen,  soll 
damit  angedeutet  sein,  dass  wir  ein  Geschehen  annehmen,  das  nur  in 
seiner  Intensität  von  einem  zum  Bewusstsein  kommenden  verschieden  ist. 

§3.  Intellectuelleund  emotionelle  Bewusstseinsbestand- 

theile. 

Die  Elementaranalysen  der  Bewusstseinserscheinungen  fuhren  zur 
Unterscheidung  von  zwei  Klassen  von  psychischen  Phänomenen:  den 
„intellectuellen"  und  den  „emotionellen"  Erscheinungen. 

Die  iutellectuellen  Erscheinungen  (die  Empfindungen  (Wahr- 
nehmungen W  u  n  d  t  s)  und  deren  Erinnerungsbilder)  : 

1.  werden  stets  von  dem  Ich  in  die  Aussenwelt,  wozu  auch  der 
Körper  mit  Einschluss  des  Gehirns  des  Ichs  gehört,  projicirt.  Bei  der 
Wahrnehmung  einer  Farbe,  eines  Tons,  einer  Berührung  meiner  Haut, 
eines  Kopfschmerzes,  beobachte  ich  stets,  dass  ich  diese  Empfindungen 
zu  irgend  einem  Punkte  der  Aussenwelt  in  Beziehung  setze. 

2.  lassen  sich  ihren  qualitativen  Eigenschaften  nach  nie  so  grup- 
piren,  dass  je  zwei  Gruppen  einander  entgegengesetzt  sind  und  dabei 
durch  einen  Indiflferenzpunkt  in  einander  übergehen.  Der  Geschmacks- 
qualität stehen  nicht  eine,  sondern  wenigstens  drei  andere  Ge- 
schroacksqualitäten  gegenüber.  Da  wo  wir  zwei  Gegensätze  haben,  wie 
2.  B.  bei  Hell-Dunkel,  giebt  es  in  der  Stufenreihe  vom  Hell  zum  Dunkel 
nicht  eine  Stufe,  wo  überhaupt  nichts  ezistirt,  sondern  immer  ist  eine 
Empfindung  von  einem  Etwas  vorhanden,  das  mehr  hell  oder  mehr 
dunkel  ist. 

3.  sind    in   ihren   materiellen  Parallelvorgängen    an   verschiedene 

Hegionen  der  Hirnrinde  gebunden.    So  sind  die  der  Gesichtsempfindungen 

an    den    Hinterhauptslappen,     die    der    Gehörsempfindtmgen    an   den 

Schläfenlappen  geknüpft.     Daraus  folgt,  dass  in  Folge  einer  localisirten 

Bildungshemmung   oder  Erkrankung  einzelne  qualitative  Gruppen  in- 

tellectueller  Erscheinungen  ausfallen  können. 

14* 


212  Oskar  Vogt. 

4.  treten  in  zwei  ausgeprägt  verschiedenen  Erscheinungsformen  auf: 
derjenigen  der  Empfindungen  und  derjenigen  der  Erinnerungsbilder 
solcher  Empfindungen.     Vgl.  §  4. 

Die  emotionellen  Erscheinungen  oder  Gefühle 

1.  stellen  sich  dem  Ich  als  absolut  subjectiv,  ohne  alle  Beziehung 
zu  irgend  einem  Punkte  der  Auss.enwelt  dar.  Diese  Thatsache  ist 
nicht  so  leicht  zu  beobachten,  da  sich  für  gewöhnlich  die  Gefühle  so 
eng  mit  Empfindungen  verbinden,  dass  sich  ihre  Eigenschaften  schwer 
erkennen  lassen.  Kann  das  gewöhnliche  Wachbewusstsein  die  „Ort- 
losigkeit^  der  Gefühle  nun  aber  nur  abstrahiren,  so  kann  man  im  ein- 
geengten Bewusstsein  diese  direct  beobachten.  Hier  zeigt  sich,  dass 
das  angenehme  Moment,  das  durch  einen  Ton  hervorgerufen  wird,  nicht 
in  die  Gegend,  wohin  wir  den  Ton  verlegen,  noch  ins  Ohr,  noch  in 
irgend  einen  anderen  Körpertheil  projicirt  wird:  dass  dieses  Moment 
vielmehr  einen  rein  subjectiven  Character  hat. 

2.  lassen  sich  ihren  Qualitäten  nach  stets  zu  Paaren  gruppiren, 
die  einen  directen  Gegensatz  zu  einander  bilden  und  durch  einen  In- 
difi'erenzpunkt  in  einander  übergehen.  Leiseste  Berührungen  der  Haut 
sind  weder  angenehm  noch  unangenehm.  An  Intensität  zunehmende 
Berührungen  werden  nun  zunächst  inmier  angenehmer.  Nimmt  die 
Intensität  weiter  zu,  dann  nimmt  das  angenehme  Moment  wieder  ab. 
Bei  einer  ganz  bestimmten  Intensität  beobachtet  man  weder  ein  ange- 
nehmes, noch  ein  unangenehmes  Gefühl.  Wir  haben  den  Indifferenz- 
oder Nullpunkt  erreicht.  Bei  weiterer  Intensität  tritt  nun  das  unan- 
genehme Gefühl  auf.  Wie  so  dem  Angenehmen  (Wundts  Lust)  das 
unangenehme  (Wundts  Unlust)  gegenübersteht,  so  bilden  weitere 
Gegensätze  das  hebende  und  das  verstimmende  Gefühl  (Wundts  Er- 
regung und  Beruhigung),  das  spannende  und  lösende,  das  der  Activität 
(der  Thätigkeit)  und  das  der  Passivität. 

3.  sind  in  ihren  verschiedenen  Qualitätenpaaren  nicht  an  die 
Functionen  bestimmter  Partieen  des  Centralnervensystems  gebunden. 
Dieses  können  wir  daraus  schliessen,  dass  die  Pathologie  niemals  den 
isolirten  Schwund  eines  der  erwähnten  Gefühlspaare  nachgewiesen  hat. 
Es  handelt  sich  in  allen  pathologischen  Fällen  inmier  nur  um  die  Ver- 
schiebung zu  Gunsten  der  einen  der  beiden  entgegengesetzten  Gefühle, 

4.  zeigen  keine  Differenzirung,  welche  derjenigen  der  intellectuellen 
Erscheinungen  in  Empfindungen  und  Vorstellungen  analog  wäre. 


Normalpsycholofjrische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.    213 

§  4.    EintheiluQg  der  intellectaelIeD  Erscheinungen. 

Die  intellectuellen  Elemente  zerfallen  in  Empfindungen  (Wahr- 
nehmungen) und  deren  Erinnerungsbilder. 
I.    Die  Empfindungen 

1.  zeigen  sinnliche  Lebhaftigkeit.  Die  unmittelbare  Wahrnehmung 
einer  Farbe  und  die  Erinnerung  an  diese  Wahrnehmung  zeigen  nicht 
die  gleiche  Deutlichkeit.  Wir  bezeichnen  jene  Deutlichkeit,  die  den 
unmittelbaren  Wahrnehmungen   eigen  ist,   als   sinnliche  Lebhaftigkeit. 

2.  ziehen  in  ausgeprägtem  Maasse  die  Aufmerksamkeit  des  Subjectes 
auf  sich.  Wenn  wir  uns  auf  irgend  etwas  concentriren  wollen,  während 
um  uns  herum  starker  Lärm  ist,  so  „stört"  uns  dieser  an  jener  Con- 
centration.  Das  heisst  aber  nichts  anderes,  als  dass  die  durch  die 
Lärmreize  ausgelösten  Empfindungen  gegen  unseren  Willen  unsere  Auf- 
merksamkeit auf  sich  ziehen.  Dieselbe  Erscheinuog  beobachten  wir, 
wenn  wir  uns  der  Wahrnehmung  einer  complexen  Empfindung,  z.  B. 
derjenigen  eines  Gemäldes  hingeben.  Die  einzelnen  Theile  des  Ge- 
mäldes ziehen  ihrerseits  unsere  Aufmerksamkeit  an,  sie  leiten  dieselbe. 

3.  werden  in  engem  Zusammenhang  damit  immittelbar  auf  die 
Aussenwelt  bezogen.  Wo  immer  wir  eine  Empfindung  haben,  ziehen 
wir  aus  ihr  den  Schluss,  dass  ausser  unserem  Ich  etwas  existirt,  welches 
diese  Empfindung  in  uns  auslöst.  Dabei  führt  uns  zu  diesem  Schluss 
entschieden  viel  weniger  die  sinnliche  Lebhaftigkeit  der  Empfindung 
als  vielmehr  der  Umstand,  dass  wir  unsere  Aufmerksamkeit  durch 
etwas  ausser  unserem  Willen  Befindliches  angezogen  fühlen. 

4.  sind  in  Folge  ihrer  Entstehung  durch  periphere  ßeize  insofern 
objectiv,  als  alle  Personen,  die  sich  unter  den  gleichen  Wahmehmungs- 
bedingungen  befinden,  dieselben  Empfindungen  haben.  Meine  Nachbarn 
im  Theater  werden  z.  B.,  wenn  sie  mein  Sehvermögen  haben,  auch 
die  gleichen  Empfindungen  von  den  Vorgängen  der  Bühne  haben. 

IL  Die  Erinnerungsbilder  insgesammt  unterscheiden  sich  von  den 
Empfindungen  in  Punkt  4.  Ihnen  geht  in  Folge  ihrer  centralen  Erregung 
der  objective  Gharacter  ab.  Bei  mir  ruft  eine  Empfindung  associativ 
ein  anderes  Erinnerungsbild  wach  als  bei  irgend  einer  anderen  Person. 

Die  Erinnerungsbilder  selbst  zerfallen  wieder  in  Vorstellungen, 
Hallucinationen  und  Illusionen. 

Die  Vorstellungen 

1.  zeigen  eine  individuell  verschieden  intensive,  aber  meist  keine 
absolut  sinnliche  Lebhaftigkeit.  Wenn  wir  eine  grössere  Reihe  von 
Personen   nach  der  Lebhaftigkeit  ihrer  Vorstellungen  fragen,   so  wird 


214  Oskar  Vogt. 

der  grössere  Theil  von  vornherein  ihren  Vorstellungen  die  sinnliche 
Lebhaftigkeit  absprechen.  Vom  kleineren  Theil  werden  die  meisten 
sich  sinnlich  lebhaft  einzelne  Objecte  in  der  Luft,  d.  h.  in  einem  Milieu, 
das  selbst  kein  Gesichtsbild  hervorruft,  vorstellen  können.  Bei  nur 
wenigen  wird  die  sinnliche  Lebhaftigkeit  soweit  gehen,  dass  sie  so  leb- 
haft etwa  eine  Person  auf  einem  realen  Stuhl  sitzend  sich  vorstellen 
können,  dass  die  Theile  des  Stuhles,  die  verdeckt  werden  würden,  wenn 
die  Person  wirklich  da  sässe,  nicht  mehr  wahrgenommen  werden.  Eine 
sogenannte  negative  Hallucination  vollends,  d.  h.  sich  Luft  an  Stelle 
eines  Objectes  vorzustellen,  so  dass  dieses  überhaupt  nicht  mehr  wahr- 
genonmien  wird,  aber  auch  nichts  anderes  an  seine  Stelle  tritt,  liegt 
nach  meinen  Erfahrungen  nicht  mehr  im  Bereiche  des  Normalen. 

2.  ziehen  in  weit  weniger  ausgeprägtem  Maasse  die  Aufmerksamkeit 
des  Subjectes  auf  sich. 

3.  werden  nicht  unmittelbar  auf  die  Aussenwelt  bezogen.  Soweit 
sie  dabei  direct  als  Wiederholungen  früherer  Einwirkungen  der  Aussen- 
welt aufgefiftsst  werden,  stellen  sie  Erinnerungsbilder  im  engeren 
Sinne  des  Wortes  dar.  Wenn  ich  eines  Freundes  gedenke  und  das 
visuelle  Bild  seiner  Physiognomie  in  meinem  Bewusstsein  auftaucht,  so 
habe  ich  bei  dem  Be\vu8stwerden  dieser  Vorstellung  zugleich  die  Idee, 
dass  diese  Vorstellung  eine  weniger  deutliche  Wiederholung  jenes  Ein- 
druckes ist,  den  das  Gesicht  meines  Freundes  früher  in  mir  hervor- 
gerufen hat.  In  anderen  Fällen  sind  wir  uns  bewusst,  dass  eine 
Vorstellung  in  der  gegenwärtigen  elementaren  Zusammensetzung  sich 
nicht  auf  ein  Object  bezieht,  das  in  der  Aussenwelt  existirt  hat.  Es 
handelt  sich  dann  um  ein  Phantasiebild.  Ich  erinnere  schliesslich 
an  eine  letzte  Gruppe  von  Vorstellungen,  den  Zielvorstellungen. 
Ihr  Inhalt  ist  der  von  dem  zukünftigen  Eintreten  irgend  eines  psycho- 
physiologischen Geschehens.  Vor  der  Ausführung  einer  Handlung  stelle 
ich  mir  durch  Combination  von  Eriimerungselementen  früherer  Erleb- 
nisse das  Resultat  der  ausgeführten  Handlung  im  Geiste  vor.  Eine 
andere  Gruppe  von  Zielvorstellungen  lösen  die  Suggestionserscheinungen 
aus.     Vgl.  §  9. 

Die  Hallucinationen 

1.  zeigen  sinnliche  Lebhaftigkeit, 

2.  ziehen  in  ausgeprägtem  Maasse  die  Aufinerksamkeit  des  Subjects 
auf  sich. 

3.  werden  (falschlicher  Weise)  unmittelbar  auf  die  Aussenwelt 
bezogen. 


Kormalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     216 

Die  Illusioiien  unterscheiden  sich  nur  dadurch  von  den  Hallu- 
cinationen  (und  darin  weiterhin  von  allen  Vorstellungen),  dass  sie  bis 
zu  gewissem  Grade  objectiv  sind.  Sie  werden  durch  einen  thatsäch- 
lichen  Sinnesreiz  ausgelöst.  Aber  das  Verhältniss  der  Illusion  zu 
dem  sie  auslösenden  Sinnesreiz  ist  nicht  das  allgemein  gültige.  Der 
Sinnesreiz  hat  nicht  die  ihm  „adäquate^'  Empfindung  hervorgerufen. 
Wenn  jemand  ruhig  im  Bett  liegt  und  träumt,  Schlittschuh  zu  laufen, 
so  ist  das  eine  Traumhallucination.  Wenn  man  dagegen  in  der  Nähe 
eines  Schlafeuden  hämmert  und  die  durch  diese  Hammerschläge  im 
Schlafenden  ausgelösten  Sinnesreize  das  Erinnerungsbild  von  Kanonen- 
schüssen sinnlich  lebhaft  hervorrufen,  dann  handelt  es  sich  um  eine 
Illusion. 

§.5.     Associativ   ausgelöste    und    frei   aufsteigende    Er- 
innerungsbilder. 

Die  Erinnerungsbilder  (im  weiteren  Sinne  des  Wortes)  werden  ent- 
weder durch  vorangegangene  Empfindungen  oder  Erinnerungsbilder 
„associativ"  angeregt  oder  aber  sie  treten  anscheinend  ohne  diesen 
Grund  „frei"  im  Bewusstsein  auf.  Hier  muss  nun  bemerkt  werden, 
dass  die  geübte  Selbstbeobachtung,  und  speciell  die  durch  Einengung 
des  Bewusstseins  verschärfte  die  Zahl  solcher  anscheinend  frei  auf- 
steigender Erinnerungsbilder  sehr  einschränkt,  indem  sie  nachweist,  dass 
ein  Erinnerungsbild  durch  eine  vorangegangene  intellectuelle  Erscheinung 
angeregt  war,  die  ihrerseits  nur  ganz  dunkelbewusst  war  oder  für  das 
Wachbewusstsein  überhaupt  nur  als  physiologischer  Process  existirt 
hatte.  Ich  kann  das  Vorkommen  solcher  rein  physiologisch  bedingter 
Associationen  auch  mit  Hülfe  von  Suggestionen  direct  demonstriren. 
Ich  gebe  A.  einerseits  die  Suggestion,  dass  bei  jeder  Berührung  des 
rechten  Armes  in  ihm  die  Vorstellung  einer  rothen  Farbe  auftauchen 
solle  und  andererseits  mache  ich  den  rechten  Arm  anästhetisch.  Be- 
rühre ich  jetzt  den  Arm,  so  empfindet  A.  nicht  die  Berührung  trotz 
darauf  eingestellter  Aufmerksamkeit,  aber  bei  jeder  meiner  nicht  von 
A.  empfundenen  Berührungen  tritt  doch  die  Vorstellung  von  der  rothen 
Farbe  in  A  auf. 

Die  associativen  Vorgänge  selbst  kommen  dadurch  zu  Stande,  dass 
die  Vorstellung  B.,  welche  durch  die  intellectuelle  Erscheinung  A.  hervor- 
gerufen wird,  mit  A.  gewisse  Elemente  gemeinsam  hatte.  Die  gemein- 
samen Elemente  erregen  dann  die  anderen  elementaren  Bestandtheile 
von  B.,    weil   diese   gesammten  Elemente   früher  zu  gleicher  Zeit 


216  Oskar  Vogt 

oder  in  unmittelbarer  zeitlicher  Folge  aufgetreten  waren. 
So  löst  ein  rothes  Tuch  das  Erinnerungsbild  einer  rothen  Hose  ans. 
Die  gemeinsamen  Bestandtheile  der  beiden  intellectuellen  Elemente  ist 
die  rothe  Farbe.  Die  rothe  Farbe  war  aber  früher  im  Ge8ammd)ild 
der  rothen  Rose  im  Bewusstsein  aufgetreten.  Es  ist  also  das  zeitliche 
Moment;  das  gemeinsame  oder  direct  auf  einander  folgende  Auftreten 
im  Bewusstsein,  welches  die  Grundlage  zu  späterer  associativer  Er- 
regung von  Erinnerungsbildern  schafft. 

Es  zeigt  sich  nun  überall,  dass  solche  associative  Verknüpfungen 
um  so  fester  sind,  je  geringer  die  Zahl  in  einem  Moment  vorhandener 
intellectueller  Elemente  ist.  Die  längere  Wirksamkeit  der  Suggestionen 
in  der  Hypnose  beruhen  ja  darauf,  dass  in  der  Hypnose  der  Umfang 
des  Bewusstseins  und  damit  die  Complexität  der  intellectuellen  Er- 
scheinungen eingeengt  ist  und  so  länger  dauernde  associative  Ver- 
knüpfungen geschaffen  werden.  Aehnliche  Beobachtungen  zeigt  die 
Psychologie  des  Traumlebens.  Habe  ich  am  Morgen  einer  Velociped- 
tour  nur  einfach  die  Idee  gehabt,  ich  könnte  während  der  Fahrt  fallen, 
so  wirkt  dieser  Umstand  viel  weniger  hemmend,  d.  h.  jene  Idee  wird 
während  der  Fahrt  weniger  stark  und  weniger  oft  associativ  ausgelöst, 
als  wenn  mir  in  der  Nacht  geträumt  hat,  ich  wäre  vom  Velociped  ge* 
fallen.  Und  diese  Hemmungsvorstellung  wird  um  so  stärker  und  nach- 
haltiger associativ  hervorgerufen,  je  tiefer  der  Schlaf  der  übrigen  Be- 
wusstseinselemente  während  des  Traumes,  d.  h.  je  eingeengter  das  Be- 
wusstsein war.  Es  ist  das  eine  Erfahrung,  die  uns  zum  Theil  die 
Starrheit  der  Associationen  der  Hysterischen  verständlich  machen  wird. 

Unter  den  Formen,  in  denen  uns  die  Associationsproducte  ent- 
gegentreten, müssen  wir  speciell  eine  besonders  erwähnen.  Eis  ist  die 
des  Cont raste s.  Ich  erzähle  P.  eine  unwahrscheinliche  Geschichte. 
P.  nimmt  sie  nun  nicht  einfach  für  wahr  hin,  sondern  ihm  kommt  die 
,.OoDtrastvorstellung",  die  Geschichte  sei  unwahr.  Diese  Contrast- 
Vorstellung  hindert  P.,  der  Geschichte  einfach  Glauben  zu  schenken. 
So  wird  —  und  das  ist  aligemein  der  Fall  —  die  Contrastvorstellong 
zur  ,.Hemmungs Vorstellung^  derjenigen,  durch  welche  sie  her- 
vorgerufen wurde.  Ich  gebe  N.  eine  Suggestion.  N.  hat  aber  die 
Contrastvorstellung,  die  Suggestion  könne  sich  nicht  realisiren:  und 
siehe  da!  die  Suggestion  realisirt  sich  nicht.  Ich  will  eine  Handlang 
besonders  gut  ausführen,  aber  diese  Zielvorstelluug  ruft  die  Contrast- 
vorstellung wach,  dass  es  mir  nicht  gelingen  werde,  meine  Absicht  aas- 
zufuhren, und  hemmt  so  die  Realisation  der  Zielvorstellung. 


Normalpsycho logische  EinleituDg  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     217 

Solche  Contriistvorstellungen  spielen  in  dem  Bewustsein  jedes 
Menseben  eine  grosse  Rolle:  eine  Rolle,  die  besonders  dann  hervor- 
tritt, wenn  solche  Contrastvorstellungen  von  starken  Gefühlen  begleitet 
sind.     Vgl.  §  11. 

* 

§  6.    Das  intellectnelle  Substrat  der  Gefühle. 

Jedes  Gefühl  ist  an  eine  intellectnelle  Erscheinung  gebunden. 
Letztere  stellt  sein  „intellectuelles  Substrat"  dar.  Wo  wir 
ein  angenehmes  Moment  im  Bewusstsein  beobachten,  werden  wir  auch 
meist  ein  dazu  gehöriges  intellectuelles  Substrat  in  uns  entdecken. 
Diese  Zugehörigkeit  giebt  sich  dadurch  kund,  dass  die  Zunahme  oder 
Abnahme  der  Bewusstseinsbeleuchtung  des  intellectuellen  Substrats 
im  Allgemeinen  auch  eine  proportionale  Veränderung  jenes  Gefühls 
veranlasst.  Ich  trete  aus  einem  kalten  Baum  in  ein  geheiztes  Zimmer. 
Die  Empfindung  der  Wärme  zieht  zunächst  lebhaft  meine  Aufmerk- 
samkeit auf  sich.  Gleichzeitig  beobachte  ich  ein  ausgeprägt  angenehmes 
Gefühl  in  mir.  Allmählich  gewöhne  ich  mich  aber  an  die  Wärme. 
Die  Empfindung  der  Wärme  tritt  im  Bewusstsein  zurück  und  mit  ihr 
jenes  Gefühl.  Stelle  ich  nun  aber  willkürlich  meine  Aufmerksamkeit 
auf  die  Wärme  ein,  so  nimmt  diese  Empfindung  wieder  an  Bewusstseins- 
beleuchtung zu.  Gleichzeitig  beobachte  ich  aber  eine  entsprechende 
Zunahme  des  angenehmen  Gefühles. 

Wenn  ich  des  Weiteren  von  einem  „Grunde"  meiner  Befürchtung, 
einer  „Ursache"  meines  Schreckens  oder  vom  „Ziel"  meiner  Willens- 
bethätigung  spreche,  so  handelt  es  sich  dann  immer  um  nichts  anderes 
als  solche  intellectnelle  Substrate. 

Diese  intellectuellen  Substrate  brauchen  nun  nicht  stets,  wenn  ihr 
Gefühl  im  Mittelpunkt  unseres  Bewusstseins  steht,  ebenfalls  klar  be- 
wusst  zu  sein.  Sie  können  dunkelbewusst  sein,  ja  sie  können  nur  als 
materieller  Parallelvorgang  existiren.  Im  letzteren  Falle  sind  sie  da- 
durch erkennbar,  dass  sie  im  Zustand  des  geeigneten  systematischen 
partiellen  Wachseins  über  die  Schwelle  des  Bewusstseins  zu  erheben 
sind.  Ich  hypnotisire  z.  B.  W.  und  suggerire  ihm  einen  lächerlichen 
Traum.  Während  des  Traumes  wecke  ich  W.  dann  plötzlich.  Hatte 
der  Schlaf  eine  bestimmte  Tiefe  erreicht,  so  ergiebt  sich,  dass  W.  sich 
beim  Erwachen  heiter  aufgelegt  zeigt  und  lacht.  Auf  die  Frage  nach 
dem  Grunde  der  Heiterkeit  giebt  er  an,  sie  nicht  begründen  zu  können. 
Der  intellectnelle  Trauminhalt  ist  ihm  also  zur  Zeit  nicht  bewusst. 
Enge   ich   nun  suggestiv  sein  Bewusstsein  ein  und  steigere  ich  so  die 


218  Oskar  Vogt. 

ConcentratioDsfähigkeit  seiner  Aufmerksamkeit,  so  erkennt  W.  jetzt 
unter  gleichzeitiger  Zunahme  der  Heiterkeit  deren  ursächliche  Be- 
gründung durch  den  Trauminhalt :  d.  h.  er  erhebt  jetzt  das  intellectuelle 
Substrat  der  Heiterkeit  über  die  Schwelle  des  Bewusstseins. 

Damit  aber  das  Gefühl  ohne  sein  intellectuelles  Substrat  ins  Be- 
wusstsein  treten  kann,  muss  eine  Bedingung  erfüllt  sein.  Dieses  intellec- 
tuelle Substrat  muss  zuvor  öfter  bereits  im  Bewusstsein  gewesen  sein. 

§  7.     Die  Folge  Wirkungen  der  Gefühle. 

Wo  immer  ein  Gefühl  auftritt,  zieht  dieses  secundäre  Veränderungen 
des  augenblicklichen  Erregungszustanc^es  des  Centralnervensystems 
nach  sich. 

Diese  „secundärenlnnervationsänderungen**  beeinflussen 
einerseits  in  einer  für  die  einzelnen  Gefühle  specifischen  Weise  den 
weiteren  Inhalt  des  Bewusstseins.  Es  sind  dies  die  psychischen 
Folge  Wirkungen  der  Gefühle.  Sobald  ich  z.  B.  meine  Aufmerk- 
samkeit auf  eine  Bewusstseinserscheinung  einstelle,  nimmt  diese  an 
Klarheit  zu.  Hierher  gehört  auch  die  Thatsache,  dass  Heiterkeit 
meinen  Voratellungsablauf  beschleunigt,  dass  der  Zorn  mir  jene  Vor^ 
Stellungen  hemmt,  die  mir  die  Selbstbeherrschung  geben  sollen. 

Neben  diesen  centralen  Innervationsänderungen  giebt  es  nun 
andererseits  im  Anschluss  an  das  Auftreten  von  Gefühlen  Abflüsse  von 
nervöser  Energie  in  periphere  Organe.  Es  handelt  sich  hier  um  die 
körperlichen  Rückwirkungen.  Diese  stellen  Aenderuugen  in 
der  Inneration  des  Blutgefässsystoms,  der  Athmung,  der  Skeletmusku- 
latur  etc.  dar.  Ich  will  nur  an  das  Erbleichen  beim  Schreck  er- 
innern. 

Diese  körperlichen  Rückwirkungen  lösen  nun  zum  Theil  ihrerseits 
wieder  Empfindungen  aus:  secundäre  Organempf iudungen. 
Das  als  Gefühlswirkung  auftretende  Herzklopfen  führt  zur  Empfindung 
des  Herzklopfens.  Muskelcontractionen,  die  der  Concentration  der 
Aufinerksamkeit  folgen,  führen  zu  Spannungsempfindungen. 

Es  stellt  sich  somit  der  vollständige  Bewusstseinscomplex  eines 
Gefühls  dar  als: 

intellectuelles  Substrat  -j-  Gefühl  -f-  secundäre  Innervationsänderung 
mit  ihrer  psychischen  Aeusserung  (psychischer  Folge  Wirkung  -f-  secun- 
därer  Organempfindung). 

Es  ist  nun  für  uns  wichtig,  zu  constatiren,  dass  ebenso  wie  das 
Gefühl    eine    stärkere   Bewusstseinsbeleuchtung    haben   kann   als   sein 


Normalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     219 

Substrat,  die  psychische  Aeusserung  der  Innervationsänderuog  stark 
hervortreten  kann,  während  das  Gefühl  dunkelbewusst  oder  gar  un- 
bewusst  bleibt.  Wiederhole  ich  das  obige  Experiment  mit  W.  und 
gebe  ihm  bei  etwas  grösserer  Einengung  des  Bewusstseins  die  Suggestion 
des  lächerlichen  Traumes,  so  kann  ich  erreichen,  dass  W.  beim  plötz- 
lichen Erwecktwerden  in  sich  einen  „grundlosen"  Trieb  zum  Lachen 
ohne  jede  Spur  von  Heiterkeit  constatirt.  Hier  deckt  dann  natürlich 
die  Selbsbeobachtung  im  eingeengten  Bewusstsein  neben  dem  intellec- 
tuellen  Substrat  auch  das  heitere  Gefühl  auf. 

§  8.    Eintheilung  der  Gefühle. 

Unter  den  Gefühlen  zeichnet  sich  ein  Paar  dadurch  aus,  dass  es 
mehr  als  alle  anderen  Gefühle  als  Ausdruck  des  allgemeinen 
Bewusstseinszustandes  aufzufassen  ist.  Es  sind  dieses  die  Ge- 
fühle der  Activität  und  Passivität.  Sie  geben  sich  kund  in  dem  Phä- 
nomen der  activen  und  passiven  Aufmerksamkeit. 

Die  übrigen  Gefühle  sind  dadurch  characterisirt,  dass  ihr  Auftreten 
durch  die  Eigenschaften  ihres  intellectuellen  Substrates 
wesentlich  mit  bestimmt  wird.  Sie  stellen  die  Gefühlstöne  ihrer 
intellectuellen  Substrate  dar. 

Ob  ein  zur  Zeit  noch  unbewusster  materieller  Parallelvorgang  die 
passive  und  weiterhin  die  active  Aufmerksamkeit  auf  sich  ziehen  wird, 
hängt  vor  Allem  vom  allgemeinen  Bewusstseinszustande  ab.  Wenn  ich 
intensiv  meine  Aufmerksamkeit  auf  etwas  concentrire,  werden  Reize 
der  Aussenwelt  ihrerseits  nicht  meine  Aufmerksamkeit  auf  sich 
ziehen,  die  bei  geringerer  anderweitiger  Ablenkung  meiner  Aufmerk- 
samkeit es  sicherlich  gethan  hätten.  Andererseits  kann  jede  beliebige 
intellectuelle  Erscheinung  das  Substrat  der  passiven,  wie  der  activen 
Aufmerksamkeit  werden.  Zu  Zeiten,  wo  mein  Bewusstsein  von  anderen 
Erscheinungen  leer  ist,  schiessen  mir  z.  B.  Erinnerungsbilder  durch 
den  Kopf  oder  nehmen  mich  Träumereien  gefangen,  die  in  anderen 
Momenten  nicht  über  die  Schwelle  des  Bewusstseins  kommen  würden. 

Das  Gegenstück  bilden  die  Bedingungen  für  die  übrigen  Gefühle. 
Es  hängt  besonders  vom  Inhalt  einer  Nachricht  ab,  ob  sie  mich  heiter 
oder  traurig  stimmt.  Es  ist  in  erster  Linie  die  Intensität,  die  den 
Grad  des  Unangenehmen  eines  Schmerzes  bestimmt.  Ebenso  liegt  es 
vor  Allem  in  den  Eigenschaften  des  intellectuellen  Substrates,  ob  dieses 
einen  Schrecken,  eine  Angst,  eine  Hoffnung  auslöst. 


220  Oskar  Vogt 

§9.  Aufmerksamkeit,  WillenshandluDg  und  Suggestions- 
erscheinung. 

I.  Die  Selbstbeobachtung  lehrt,  dass  nur  immer  eine  sehr  wenig 
complexe  Bewusstseinserscheiuung  in  einem  gegebenen  Moment  klar 
bewusst  sein  kann.  Ein  anderes  Bewusstseinsphänomen  kann  darauf 
erst  dann  klar  bewusst  werden,  wenn  das  erstere  diese  Beleuchtung 
eingebüsst  hat.  Wir  können  so  von  einer  ihre  Objecte  beständig 
wechselnden  Bewusstseinsbeleuchtung  sprechen.  Dieses  Phänomen  stellt 
das  der  Aufmerksamkeit  dar. 

Mit  diesem  Phänomen  verbindet  sich  nun  entweder  das  Gefühl  der 
Passivität  oder  das  der  Activität.  Zieht  eine  Bewusstseinserscheinung 
ihrerseits  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich,  dann  haben  wir  es  mit  der 
passiven  Aufmerksamkeit  zu  thun.  Richten  wir  unsere  Aufmerk- 
samkeit auf  etwas,  dann  tritt  das  Activität sgefühl  in  Erscheinung:  es 
handelt  sich  um  die  active  Aufmerksamkeit. 

Dabei  lehrt  die  genaue  Selbstbeobachtimg,  eventuell  durch  Ein- 
engung des  Bewusstseins  unterstützt,  dass  jede  Bewusstseinserscheinung 
auf  dem  Wege  zur  klaren  Bewusstseinsbeleuchtung  zunächst  das  Substrat 
der  passiven  und  dann  das  der  activen  Aufmerksamkeit  bildet.  Im  Gegen- 
satz zur  passiven  Aufmerksamkeit  zeigt  die  active  eine  stärkere  Con- 
centration  der  Bewusstseinsbeleuchtung  an.  Dieses  Verhältniss  lässt 
sich  näher  noch  dahin  präcisiren,  dass  keine  Bewusstseinserscheinung 
klar  bewusst  werden  kann,  ohne  gleichzeitig  Substrat  der  activen  Auf- 
merksamkeit zu  sein.  Andererseits  kann  sich  die  active  Aufmerksam- 
keit aber  nur  solchen  Objecten  zuwenden,  die  zuvor  solche  der  passiven 
Aufmerksamkeit  gebildet  haben. 

Nehmen  wir  zur  lUustriruug  dieser  Sätze  zwei  extreme  Beispiele! 

1.  Während  ich  über  ein  Problem  nachdenke,  stört  mich  immer 
wieder  eine  Schmerzempfindung.  Das  sich  bei  jeder  einzelnen  Störung 
abspielende  Aufmerksamkeitsphänomen  ist  Folgendes.  Die  Schmerz- 
empfindung sucht  meine  Aufmerksamkeit  auf  sich  zu  ziehen.  Früher 
oder  später  gebe  ich  nach.  Die  Schmerzempfindung  tritt  jetzt  in  den 
Mittelpunkt  des  Bewusstseins.  Aber  gleichzeitig  ist  an  Stelle  des 
passiven  Gefühls  das  active  getreten.  Das  Moment  des  Nachgebens 
bildete  hier  den  Wendepunkt. 

2.  Ich  will  mir  den  Namen  einer  Pflanze  in  mein  Bewusstsein  zu- 
rückrufen. Beobachte  ich  mich  dabei,  so  ergiebt  sich,  dass  bald  dieses, 
bald  jenes  Erinnerungsbild,  zunächst  passiv  meine  Aufmerksamkeit  auf 
sich  zieht,   auf  diese   Weise   dunkelbewusst  wird  und  dann   die  Ver- 


Normalp sychologis che  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     221 

anlassuDg  giebt,  dass  sich  meine  active  Aufmerksamkeit  ihm  zuwendet. 
Die  Substrate  der  passiven  Aufinerksamkeit  lenken  auch  hier  die  active 
Aufmerksamkeit.  Aber  die  Intensität  des  activen  Gefühls  ist  hier  eine 
viel  stärkere,  die  Rolle  der  activen  Aufmerksamkeit  eine  viel  grössere. 

Diese  Beispiele  stellen  die  vorkommenden  Extreme  dar.  In  beiden 
Fällen  ist  passive  und  active  Aufmerksamkeit  beteiligt.  Aber  diese 
Fälle  zeigen  entgegengesetzte  Stärkegrade.  Im  ersteren  Fall  zwingt 
sozusagen  das  Substrat  der  passiven  Aufmerksamkeit,  die  Schmerz- 
empfindung, die  active  Aufmerksamkeit.  Im  zweiten  Fall  ist  ein  solcher 
Zwang  nicht  vorhanden.  Im  ersteren  Fall  ist  das  Substrat  der  activen 
Aufmerksamkeit  durch  das  der  passiven  von  vornherein  ziemlich  ein- 
deutig bestimmt.  Im  zweiten  Fall  existirt  im  Rahmen  der  directen 
Erkennbarkeit  eine  gewisse  Freiheit.  Das  Substrat  der  passiven  Auf- 
merksamkeit hat  nicht  diesen  ausschlaggebenden  Einfluss.  Im  ersten 
Fall  handelt  es  sich  um  die  Folgewirkung  wesentlich  passiver 
Aufmerksamkeit,  im  zweiten  um  solche  wesentlich  activer 
Aufmerksamkeit. 

n.  Ueberall  nun,  wo  das  active  Gefühl  auftritt,  ist  damit  jenes 
Moment  vorhanden,  das  nach  den  Resultaten  der  Selbstbeobachtung 
die  Aeusserungen  unseres  „Willens**  characterisirt.  Die  un- 
mittelbar durch  Substrate  der  passiven  Aufmerksamkeit  angezogene 
active  Aufmerksamkeit  stellt  die  primitivste  Form  einer  Willensäusserung 
dar.  Eine  solche  Aeusserung  wird  zur  Willenshandlung,  wenn 
sich  die  active  Aufmerksamkeit  einer  Zielvorstellung  zuwendet  und 
deren  Realisation  herbeiführt.  Soweit  sich  solche  Zielvorstellungen  auf 
Bewegungen  beziehen,  handelt  es  sich  um  „äussere"  Willenshandlungen, 
soweit  sie  Denkprocesse  zu  ihrem  Object  haben,  um  „innere". 

Die  Zielvorstellungen  fürWillenshandlungen  können  nun  einer  wesent- 
lich passiven  oder  aber  einer  wesentlich  activen  Aufmerksamkeit  ihren  Ur- 
sprung verdanken.  Imersten  Fall  sprechen  wir  von  einerTriebhandlung, 
im  zweiten  von  einer  Willkürhandlung.  Wenn  eine  Beleidigung  ohne 
alle  Contrastvorstellungen  die  unmittelbare  Vorstellung  einer  rächenden 
Handlung  hervorruft  und  diese  sich  realisirt,  so  haben  wir  eine  Willens- 
bandlung  der  ersten  Gruppe  vor  uns.  Geht  dagegen  der  Ausführung 
einer  Zielvorstellung  eine  Auswahl  unter  mehreren  voran,  dann  gehört 
die  Gesammterscheinung  in  die  zweite  Gruppe.  Solche  Willkürhand- 
langen stellen  immer  zusammengesetzte  Willenshandlungen  dar,  da  die 
Auswahl  als  solche  eine  in  sich  abgeschlossene  innere  Willenshandlung 
bildet  Die  Vorstellungen,  auf  deren  associativer  Wirkung  die  Entstehung 


222  Oskar  Vogt. 

einer  Ziel  Vorstellung  für  eine  Willenshandlung  zurückzufahren  ist,  be- 
zeichnet man  als  „Motive". 

Alle  Zielvorstellungen  von  Willenshaudlungen  haben  nun  nicht 
etwa  nur  die  Vorstellung  vom  zukünftigen  Eintritt  irgend  einer  Combi- 
nation  von  Erinnerungsbildern  zum  Inhalt,  sondern  zugleich  das  Moment, 
dass  der  Eintritt  durch  den  Willen,  d.  h.  unter  dem  Auftreten  des 
Activitätsgefühls  sich  vollziehen  soll.  So  enthält  also  die  Ziel- 
vorstellung der  Willenshandlung  als  solche  das  Activi- 
tätsgpfühl. 

Di(^  Zic'lvorstellung  tritt  zunächst  meist  als  Gesammtzielyorstellung 
auf.  So  habe  ich  z.  B.  die  Gesammtzielvorstellung,  in  der  Luft  den 
Buchstaben  U  mit  dem  Finger  beschreiben  zu  wollen.  Damit  sich  nun 
diese  Gesammtzielyorstellung  realisirt,  muss  ich  dann  meine  active 
Aufmerksamkeit  den  einander  folgenden  Phasen  der  Gesammtbewegung, 
d.  h.  den  Partialzielvorstellungen,  zuwenden.  Ich  muss  an  die  gegen- 
wärtige Lage  meines  Fingers  und  meines  Armes  anknüpfen  und  daran 
nun  der  Reihe  nach  die  Partialzielvorstellungen  anschliessen.  Diesen 
muss  dann  die  ganze  active  Aufmerksamkeit  zugewandt  werden. 

Dieser  ganze  Process  wird  sich  als  Bewusstseinserscheinimg  ver- 
einfachen, je  eingeübter  er  ist.  Wie  jedes  Substrat  eines  Gefühls,  so 
kann  auch  die  Zielvorstelluug  einer  Willenshandlung  nur  ab  materieller 
Parallelvorgang  existiren  (vgl.  §  6).  Ja  auch  das  Gefühl  braucht 
nicht  hewusst  zu  werden,  damit  Folgewirkmigen  entstehen,  die  physio- 
logisch Willenshandlungen  gleichen  (vgl.  §  7).  Es  handelt  sich  dann 
um  „automatische  Acte."  Solche  Acte  setzen  aber  stets  voraus, 
dass  die  Zielvorstellung  bei  früheren  Gelegenheiten  be\\Tisst  war.  Sie 
können  sich  also  nur  auf  eingeübte  Handlungen  beziehen,  z.  B.  den 
aufrechten  Gang,  das  Klavierspiel  eines  Virtuosen  etc.  Uebrigens 
glaube  ich,  dass  in  diesen  Fällen  bewusste  Momente  riel  weniger  oft 
fehlen  als  man  es  gewöhnlich  annimmt,  dass  sie  vielmehr  in  manchen 
dieser  Fällen  dunkelbewusst,  aber  unbeachtet  sind. 

III.  Neben  diesen  Ziel  Vorstellungen  der  Willenshandlungen  giebt 
es  —  wobei  üebergänge  durchaus  nicht  fehlen  —  eine  zweite  Gruppe 
von  Ziel  Vorstellungen.  Es  sind  dies  diejenigen,  deren  Realisation 
Suggestionserscheinungen  darstellen.  Die  Zielvorstellungen 
selbst  werden  als  Suggestionen  bezeichnet,  sei  es  nun,  dass  sie  sich 
realisiren,  dass  sie  suggestive  Folgewirkungen  oder  SuggestioDser- 
scheinungen  nach  sich  ziehen,  sei  es,  dass  sie  mit  dieser  Absicht  hervor- 
gerufen, aber  ohne  suggestive  Folgewirkungen  geblieben  waren. 


Normalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     223 

Solche  Suggestionen  treten  als  Producte  wesentlich  passiver  Auf- 
merksamkeit ins  Bewusstsein.  Dies  geschieht  dabei  entweder  durch 
direct  äussern  Einfluss  als  associative  Folgewirkung  einer  Sinnes- 
empfindung. Wir  sprechen  dann  von  Fremdsuggestionen.  Oder 
aber  sie  entstehen  aus  innern  Gründen  (associativ  oder  eventuell  frei  auf- 
steigend, vgl.  §  5).     Wir  bezeichnen  sie  dann  als  Autosuggestionen. 

Dabei  haben  die  hierher  gehörigen  Zielvorstellungen  den  Inhalt, 
dass  sie  sich  ohne  das  Auftreten  eines  ausgesprochen  activen  Gefühls, 
sozusagen  ohne  das  Zuthun  dös  Ichs,  realisiren  werden.  ^Der  Schlaf 
wird  ganz  von  selbst  auftreten,"  „Sie  werden  einfach  die  Müdigkeit 
constatiren,"  ,.Sie  werden  Appetit  bekommen":  das  ist  der  Inhalt  von 
Fremdsuggestionen.  „Oh,  wenn  ich  nur  nicht  wieder  einen  Husten- 
anfall bekomme"  oder  „Ich  werde  ja  schon  wieder  ganz  heiss,  ich  falle 
sicher  wieder  in  Ohnmacht"  :  das  sind  echte  Autosuggestionen.  D  i  e  S  u  g  - 
gestion  enthält  ein   ausgesprochenes  Passivitätsgefühl. 

Entsprechend  diesem  passiven  Moment  der  Zielvorstellung  kann 
sich  diese  auch  realisiren,  ohne  dass  ihr  die  active  Aufmerksamkeit 
speciell  zugewandt  wird.  Die  Suggestion  realisirt  sich,  ohne  dass  sich 
ein  besonderes  Gefühl  der  Activität  bemerkbar  macht. 

Ein  letzter  Gegensatz  besteht  in  der  verschiednen  Häufigkeit  der 
Realisation  der  beiden  Gruppen  von  Ziel  Vorstellungen.  Will  eine  Person 
ihr  Bein  hochheben,  so  vollzieht  sich  auch  diese  Bewegung.  Gebe  ich 
darauf  dieser  Person  die  Suggestion,  es  würde  sich  die  Beinbewegung 
noch  einmal  wiederholen,  aber  dieses  Mal  nicht  als  Willenshandlung, 
sondern  ganz  spontan,  so  bleibt  die  von  mir  angeregte  Zielvorstellung 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ohne  entsprechende  Folgewirkung.  Nur 
in  ganz  vereinzelten  Fällen,  unter  ganz  besondern  Bedingungen,  zu 
denen  vor  Allem  eine  vorhergehende  Einübung  gehören  würde,  würde 
sich  die  Suggestion  realisiren.  In  diesem  Sinne  können  wir  sagen,  dass 
die  Ausführung  einer  Willenshandlung  eine  normale,  die  Realisation 
einer  Suggestion  aber  eine  abnorme  Folgewirkung  einer  entsprechenden 
Zielvorstellung  darstellt. 

Nur  der  Vollständigkeit  halber  soll  noch  erwähnt  werden,  dass 
natürlich  auch  die  Zielvorstellung  einer  Suggestionserscheinung  aus- 
schliesslich als  physiologischer  Vorgang  existiren  kann. 

§  10.     Die  Gefühlstöne. 

1.  Bezüglich  der  Gefühlstöne  der  intellectuellen  Erscheinungen  ist 
zunächst  festzustellen,  dass  im  Allgemeinen  die  Erinnerungsbilder  die 
Gefühlsbetonung  der  entsprechenden  Empfindimgen  behalten. 


224  Oskar  Vogt 

2.  Es  ist  dann  hervorzuheben,  dass  man  zwischen  dem  primären 
Gefühlston  und  secuudären  associirten  Gefühlstönen  unter- 
scheiden muss. 

Jede  intellectuelle  Erscheinung  hat  einen  primären  Gefühlston. 

Diesem  primären  Gefühlston  können  sich  secundäre  associiren.  Die 
Association  von  Gefühlstönen  kommt  immer  nur  durch  die  Association 
entsprechend  gefühlsbetonter  intellectueller  Erscheinungen  zu  Stande. 
Zwischen  den  intellectuellen  Erscheinungen  A.  und  B.  ist  eine  enge 
associative  Verknüpfung  entstanden.  Tritt  A.  ins  Bewusstsein,  so  ruft 
es  jetzt  sofort  auch  B.  wach.  Die  Gefühlstöne  von  A.  und  B.  ver- 
schmelzen dabei  zu  einem  Totalgefühl.  Bei  öfterer  Wiederholung  dieses 
Vorkommnisses  wird  —  wenn  die  Aufmerksamkeit  sich  nicht  weiter 
auf  B.  richtet  —  B.  immer  weniger  bewusst,  ohne  dass  deshalb  (vgl, 
§  6)  sein  Gefühlston  im  gleichen  Maasse  an  Bewusstseinsbeleuchtung 
abnimmt.  Auf  diese  Weise  ändert  sich  das  Totalgefühl,  das  durch  A. 
hervorgerufen  wird,  nicht  wesentlich.  Bei  weiteren  Erregungen  von  A. 
kann  B.  fürs  Wachbewusstsein  nur  noch  als  physiologischer  Process 
existiren.  Der  Selbstbeobachtung  erscheint  dann  das  Totalgefühl,  das 
durch  A.  hervorgerufen  wird,  nicht  anders  als  ein  primärer  Gefühlston. 
Es  ist  dann  Sache  der  Selbstbeobachtung  im  eingeengten  Bewusstsein, 
ein  solches  Totalgefühl  zu  analysiren. 

Auf  solche  Associationen  sind  alle  stärkeren  Gefühlstöne  zurück- 
zuführen. Werden  dabei  diese  Gefühle  so  stark,  dass  sie  durch  ihre 
secuudären  Innervationsändenmgen  den  weiteren  Bewusstseinsinhalt,  sowie 
die  Skeletmuskulatur  beeinflussen,  so  bezeichnet  man  sie  als  Affecte. 

§    l\,    Beeinflussung    des   weiteren   Bewusstseinsinhalts 

durch  starke  Gefühlstöne. 

Unter  sonst  gleichen  Erregungsbedingungen  bestimmt  die  Stärke 
der  Gefühlsbetonung  die  Intensität  der  Bewusstseinsbeleuchtung.  Der 
Concentration  der  Bewusstseinsbeleuchtung  liegt  dabei  wohl  bald  eine 
primäre  Steigerung  der  Erregung,  bald  eine  Hemmung  des  übrigen 
Bewusstseinsinhaltes  zu  Grunde. 

Die  folgenden  Thatsachen  sind  nur  Specialfalle  der  eben  genannten. 

1.  Von  2  Vorstellungen,  die  sonst  gleich  häufig  und  gleich  lange 
im  Bewusstsein  existirt  haben,  wird  die  gefählsstärkere  lebhafter  auf- 
treten. Ein  Erinnerungsbild  wird  also  um  so  sinnlich  lebhafter  sein, 
je  gefühlsbetonter  es  ist. 

2.  Von  2  Vorstellungen,  die  sonst  gleiche  Chance  im  associativen 


Nonnalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     225 

Wettbewerb  haben,  wird  die  gefiihlsstärkere  ins  Bewusstsein  treten. 
Wir  verstehen  so,  warum  die  Erinnerungsbilder  von  gefühlsstarken  Er- 
lebnissen öfter  im  Bewusstsein  wieder  auftauchen  als  solche  gefühls- 
schwacher  Empfindungen.  Es  folgt  daraus  weiter,  dass  unter  sonst 
gleichen  Bedingungen  das  gesammte  Bewusstseinsleben  um  so  monotoner 
ist,  je  mehr  gefühlsstarke  Erlebnisse  es  durchgemacht  hat. 

3.  Willenshandlungen  werden  um  so  leichter  ausgeführt,  je  gefühls- 
stärker das  Motiv  dazu  ist. 

4.  Man  kann  zwischen  „gefühlsschwachen"  und  „affect- 
starken^  Suggestionen  unterscheiden.  Diese  Unterscheidung  ist  nicht 
nur  durch  die  Selbstbeobachtung  möglich,  sondern  die  suggestiven  Folge- 
wirkungen affectstarker  Zielvorstelluugen  geben  sich  auch  dadurch  kund, 
dass  sie  einer  Beeinflussung  durch  anderweitige  Zielvorstellungen  weit 
schwerer  zugänglich  sind,  als  die  gefühlsschwacher  Zielvorstellungen. 
Der  Realisation  der  gefühlsschwachen  Suggestion  liegt  die  individuell 
und  temporär  stark  schwankende  „Suggestibilität"  zu  Grunde, 
während  die  Eealisation  einer  affectstarken  Suggestion  neben  der  Sug- 
gestibilität  die  specifische  Wirkung  des  Affectes  als  auslösenden  Factor 
aufweist. 

5.  Da  wo  gefühlsstarke  Contrastvorstellungen  existiren,  können 
diese  direct  die  Realisation  von  Willensvorstellungen  und  Suggestionen 
hemmen.     Vgl.  §  5. 

§  12.    Über  Hemmungen. 

Unter  „Hemmung"  verstehen  wir  die  Herabsetzung  der  Erreg- 
barkeit einer  Bewusstseinserscheinung. 

Man  kann  zwei  Stadien  in  der  Intensität  einer  solchen  Hemmung 
unterscheiden:  das  einer  leichteren  Henmiung  entsprechende  „Reiz-" 
und  das  einer  tieferen  Hemmung  entsprechende  „Lähmungsstadium". 

Im  Reizstadium  ist  die  Sunmie  der  von  einer  Bewusstseinser- 
scheinung ausgehenden  associativen  Anregungen  herabgesetzt  Es  ist 
eine  „Dissociation"  (=  verminderte  Association)  vorhanden.  Aber 
die  Erregbarkeit  der  gehemmten  Bewusstseinserscheinung  selbst  ist  nur 
soweit  herabgesetzt,  dass  sie,  wenn  sie  erregt  wird,  sogar  eine  abnorm 
intensive  Erregung  zeigt.  Diese  Übererregurg  ist  darauf  zurückzu- 
führen, dass  die  Verminderung  der  von  dem  erregten  Bewusstseins- 
element  ausgehenden  associativen  Anregungen  eine  „Stauung"  der 
Erregung  in  dem  einmal  erregten  Element  veranlasst. 

Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    VIU.  1& 


226  Oskar  Vogt 

Im  Lähmungszustand  ist  eine  normal  intensive  Erregung  der 
gehemmten  Bewusstseinserscheinung  nicht  mehr  möglich. 

§  13.     lieber  Schlafzustände. 

Der  Schlaf  stellt  eine  solche  Hemmung  der  Bewusstseinsvor- 
gänge  dar. 

Dabei  ist  die  den  natürlichen,  wie  den  suggestiv  ausgelösten  Schlaf 
darstellende  „Schlafhemmung"  dadurch  characterisirt,  dass  sie: 

1.  plötzlich  auftreten  und  plötzlich  verschwinden  kann.  Icli  er- 
innere nur  an  die  plötzliche  Einleitung  und  Unterbrechung  einer 
Hypnose. 

2.  durch  periphere  Beize,  soweit  diese  nicht  durch  ihre  Einförmig- 
keit oder  associativ  im  ent>;egengesetzten  Sinne  wirken,  vermiudert  oder 
aufgehoben  wird.  Es  sei  nur  des  Aufweckens  durch  Anrufen  oder 
durch  Aufiütteln  gedacht. 

3.  nur  eine  soweit  gehende  Herabsetzung  der  Function  darstellt, 
dass  für  die  stattfindenden  psychophysischen  Vorgänge  secundär  eine 
hypnotische  Hypermnesie  möglich  ist.  In  einer  späteren  Hypnose  kann 
sich  ein  Individuum  während  eines  Schlafes  nicht  gehörter  Worte  und 
nicht  empfundener  Berührungen  erinnern. 

Es  laAsen  sich  nun  in  Bezug  auf  die  Tiefe  und  die  Ausdehnung 
der  Schlafhemmung  eine  Reihe  von  Unterarten  unterscheiden.  Das 
Reizstadium  der  Hemmung  tritt  nur  im  „oberflächlichen",  das 
Lähmungsstadium  im  „tiefen**  Schlaf  entgegen.  Die  Schlaf hemmung 
kann  alle  Bewusstseinselemeute  befallen.  Dann  handelt  es  sich  um 
einen  „allgemeinen"  Schlaf.  Sie  kann  aber  nur  ein  Theil  der  Be- 
wusstseinselemeute befallen.  Wir  sprechen  dann  von  einem  „parti- 
ellen" Schlaf.  Im  bewusstlosen  Schlaf  haben  wir  es  mit  einem  all- 
gemeinen tiefen,  im  gewöhnlichen  Traumzustand  mit  einem  allgemeinen 
oberflächlichen,  bei  hypnagogischen  Hallucinationen  mit  einem  parti- 
tiellen  oberflächlichen,  bei  dem  Nachtwandeln  mit  einem  partiellen  tiefen 
Schlaf  zu  thun. 

Bei  den  partiellen  Schlafzuständen  können  wir  noch  der  Locali- 
sation  der  Schlafliemmung  entsprechend  drei  Unterarten  unterscheiden. 
Die  partielle  Schlaf  hemmung  kann  ganz  „diffuser"  Natur  sein.  Sie 
kann  „localisirt"  sein,  d.  h.  alle  diejenigen  Bewusstseinselemente 
befallen,  die  in  ihren  physiologischen  Correlaten  ein  gemeinsames 
„Centrum"  bilden.  Sie  kann  schliesslich  „systematisirt"  sein.  Sie 
betriiFt  dann  ein  logisch  verknüpftes  System  von  Bewusstseinselementen. 


Normalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.     827 

Die  Kehrseite  des  partiellen  Schlafzustandes  ist  das  „partielle 
Wachsein"  der  nicht  von  der  Schlafhemmung  befallenen  Bewusstseins- 
elemente.  Wenn  ein  Teil  der  Bewusstseinselemente  in  Schlafhemmung 
verfallen  ist,  so  ist  die  Zahl  der  im  normalen  Wachsein  möglichen 
Associationen  vermiudert.  Die  Zahl  der  von  einem  erregten  Bewusst- 
seinselement  ausgehenden  associativen  Anregungen  ist  dementsprechend 
eingeschränkt.  Daraus  resultirt  dann  eine  abnorm  grosse  Erregung, 
resp.  Erregbarkeit  für  die  wach  gebliebenen  Bewusstseinselemente:  ein 
Phänomen,  das  dem  Reizzustand  leicht  gehemmter  Bewusstseinselemente 
gleichkommt,  sich  aber  ätiologisch  von  diesem  dadurch  unterscheidet, 
dass  das  abnorm  erregte  Bewusstseinselement  selbst  nicht  gehemmt  ist. 

Jenes  „systematische  partielle  Wachsein" ,  in  dem  alle 
die  Bewusstseinselemente,  die  zur  Lösung  eines  gegenwärtigen  psycho- 
logischen Problems  durch  die  Selbstbeobachtung  nötig  sind,  wach, 
dagegen  die  übrigen  Bewusstseinselemente  in  Schlafhemmung  versetzt 
sind,  ist  dasjenige,  in  dem  wir  unsere  Analysen  des  „eingeengten" 
Bewusstseins  vorgenommen  haben. 


16* 


Die  neuesten  Abhandlungen  und  Untersuchungen  über  die 

Ermüdung  der  Schu^ugend. 

Zasammengestellt  von 

Dr.  Paul  Flettenberg. 


Das  Grenzgebiet  zwischen  Psychologie,  Physiologie  und  Pädagogik  ist  nodi 
nicht  allzu  lange  der  Betrachtang  unterzogen  worden.  Zwar  sind  die  physiologischen 
und  psychischen  Wirkungen  geistiger  Arbeit  eingehender,  wenn  auch  noch  bei 
weitem  nicht  erschöpfend  behandelt  worden  z.  B.  von  Mosso^),  Kraepelin*) 
und  seinen  Schülern'),  aber  doch  immer  nur  in  physiologischen  Laboratorien  an 
Erwachsenen.  Erst  in  neuerer  Zeit  ist  auch  für  die  Schule  die  Bedeutung  des  fir- 
müdungsthemas  erkannt  worden,  uud  eine  ganze  Keihe  von  Schulhygienikem  hat 
sich  bemüht,  auf  experimentellem  Wege  festzustellen,  wann  die  Ermüdung  des 
Schülers  beginnt,  wann  sie  ihr  Maximum  erreicht,  wie  Vor-  und  Nachmittagsunterricht 
sie  beeinflussen.  Aber  trotz  einer  Anzahl  recht  tüchtiger  und  eingehender  Unter- 
suchungen bleibt  noch  viel  weitere  Arbeit  übrig,  um  durch  Klärung  und  Ergänzung 
der  bisherigen  Resultate  sichere  Schlüsse  und  Anforderungen  ansprechen  zu  können. 

Zur  Bestimmung  der  Einwirkung  eines  längeren  Unterrichtes  auf  den  Geistes- 
zustand der  Schulkinder  sind  verschiedene  Verfahren  angewandt  worden,  die  sich 
in  Bezug  auf  den  Verlauf  der  Unterrichtsstunde  mit  Ebbinghaus^)  in  2  Haupt- 
klassen trennen  lassen.    In  der  ersten  ist  man  ausgegangen  von   einer  bestimmten 


*)  Mosso:  Ueber  die  Gesetze  der  Ermüdung.  Archiv  für  Physiologie  1890 
und:  J)ie  Ermüdung.  -Aus  dem  Italienischen  übersetzt  von  J.  Glinzer.  Leipzig, 
Hirzel.  1892. 

*)  Xraepelin:  Ueber  geistige  Arbeit.  Jena  1894  und:  Zur  Hygiene  der 
Arbeit.    Jena  1896. 

')  Oehrn:  Experimentelle  Studien  zur  Individualpsychologie.  Psychologische 
Arbeiten  I  pag.  92 — 162.  —  Bettmann:  Ueber  die  Beeinflussung  einfacher  ps. 
Vorgänge  durch  körperliche  und  geistige  Arbeit.  Psychologische  Arbeiten  I  pag. 
152 — 208.  —  Amberg:  Ueber  den  Einfluss  der  Arbeitspausen  auf  die  -geistige 
Leistungsfähigkeit.    Psychol.  Arbeiten  I  pag.  300 — 377. 

^)  Ebbinghaus:  Ueber  eine  neue  Metnode  zur  Prüfung  geistiger  Fähigkeiten 
und  iure  Anwendung  bei  Schulkindern.  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie 
der  Sinnesorgane.  Hd.  XIII  pag.  402. 


Die  neoMten  Abhandlg.  u.  üntenaohiingen  über  die  Ermüdung  d.  Schuljugend.    389 

einzelnen  Art  des  Unterrichts,  hat  diese  einige  Zeit  hindurch  auf  die  Kinder  wirken 
lassen  und  aus  den  Ergebnissen  dann  auf  die  Wirkung  anderer  Unterrichtsgegen- 
stände und  einer  grösseren  Onterrichtsdauer  geschlossen.  So  hat  z.  B.  Höpfner^) 
die  Schüler  zwei  Stunden  lange  Dictate  schreiben  lassen  und  aus  dem  Ausfall  der- , 
selben  das  Fortschreiten  der  Ermüdung  beurtheilt;  analog  Burgerstein*)  durch 
einstündiges  elementares  Rechnen  und  Richter')  durch  einstündige  algebraische 
Rechnungen  oder  durch  einstündige  griechische  Formenextemporalien.  So  werth- 
Yoll  diese  Untersuchungen  auch  sind,  so  haben  sie  dennoch  den  Nachtheil,  dass, 
wie Ebbinghausu.  A.  betonen,  „eine  Schulstunde  im  allgemeinen  etwas  wesentlich 
Anderes  ist  als  ein  solcher  andauernder  Rechenversuch  oder  als  ein  zwei  Stunden 
fortgesetztes  Dictat^.  Man  wird  daher  sicherere,  maassgebendere  Resultate  erzielen, 
wenn  man  den  Unterricht  so  bestehen  lässt,  wie  er  durch  Stunden-  und  Lehr- 
plan gegeben  ist,  und  sich  von  Zeit  zu  Zeit  auf  geeignete  Weise  gewissermaassen 
Stichproben  für  die  Leistungsfähigkeit  yerschafift.  Unter  den  älteren  Arbeiten  ge- 
hören die  von  Sikorsky^)  und  Laser'^)  dieser  zweiten  Sauptklasse  an. 

Für  das  Verständniss  des  folgenden  wird  es  nöthig  sein,  sich  den  Verlauf 
einer  solchen  Prüfungsarbeit  vorzustellen.  Anfangs  geht  die  Arbeit  stets  langsam 
▼on  statten,  der  Schüler  versteht  sich  noch  nicht  recht  dazu,  er  muss  sich  erst 
hineinarbeiten,  der  Arbeit  anpassen.  Dann  aber  wächst  die  Geschwindigkeit  in 
dem  Maasse,  wie  er  an  die  Arbeit  gewöhnt  wird:  dieUebung  macht  sich  geltend. 
Nun  tritt  allmählich  die  Ermüdung  ein,  zunächst  noch  verdeckt  durch  die  Uebung, 
aber  immer  mehr  und  mehr  an  der  Abnahme  der  Geschwindigkeit  und  der  Güte 
der  Arbeit  bemerkbar;  kurz  vor  dem  Ende  beflügelt  oft  die  Aussicht  auf  den  nahen 
Schluss  der  Arbeit  noch  einmal  die  Thätigkeit  des  Schülers.  Uebung  und  Ermü- 
dung beeinflussen  also  die  Thätigkeit  des  Schülers  am  hauptsächlichsten;  nebenher 
sprechen  aber  noch  viele  andere  individuelle  Factoren  mit,  wie  Gemüthsverfassung, 
Character,  Aufmerksamkeit,  Wille  u.  s,  w.  Die  beste  Methode  zur  Ermittelung 
der  geistigen  Ermüdung  würde  nun  diejenige  sein,  welche  den  Einfluss  der  Uebung 
bei  Anfertigung  der  Prüfungsarbeit  möglichst  beschränkt,  damit  die  Wirkung  der 
Ermüdung  von  Anfang  an  deutlich  hervortritt. 

Zur  Feststellung  der  geistigen  Ermüdung  bei  Schülern  sind  bisher  folgende 
6  Methoden  angewandt  worden: 

1.  Die  Dictirmethode.  Die  Schüler  müssen  Dictate  schreiben  und  zwar 
entweder  in  ihrer  Muttersprache  oder  auch  in  einer  fremden  Sprache.  Letzteres 
ist  namentlich  in  Gestalt  von  sogenannten  Formenextemporalien  in  Anwendung 
gekommen.    Nach   Bin  et  und  Henri^)  ist  diese  Methode  allen  anderen  vorzu- 


^)  Höpfner:  Ueber  geistige  Ermüdung  von  Schulkindern.  Zeitschrift  für 
Fi.  und  Ph.  der  Sinnesorgane.    Bd.  VI  pag.  191—229. 

*)  Burfferstein:  Die  Arbeitscurve  einer  Schulstunde.  Zeitschrift  für  Schul- 
gesundheitspflege.   1891. 

■)  Richter:  Unterricht  und  geistige  Ermüdung.  Fries  und Meier's Lehrproben 
und  Lehrgänge.    Heft  45. 

*)  Sikorsky:  Sur  les  eflets  de  la  lassitude  provoquSe  par  les  travaux  in- 
tellectuels  chez  les  enfants  k  Tage  scolaire.  Annales  dliygiäne  publique.  1879. 
pag.  458—464. 

*)  Laser:  Ueber  geistige  Ermüdung  beim  Schulunterrichte.  Zeitschrift  für 
Schulgesundheitspflege.    1894. 

•)  Bin  et  et  Henri:  La  fatigue  inteUectuelle.    Paris  1898.    pag.  332. 


830  ^Aul  Flettenberg. 

ziehen,  da  eineraeiU  die  Schüler  daran  gewöhnt  sind  Dictate  zu  schreiben  und  es 
im  Wesen  des  Dictats  liegt,  dass  ein  störender  Einfloss  der  Uebung  sich  weniger 
breit  macht;  andererseits  bietet  sich  bei  der  Feststellong  der  Fehler  keine  Schwie- 
rigkeit, wie  bei  den  anderen  Methoden.  Endlich  würde  es  möglich  sein,  die  Fehler 
psychologisch  zu  ordnen  and  daraus  die  psychologische  Nator  der  Ermüdung  ab- 
zuleiten. Dagegen  bringt  diese  Methode  die  nicht  zu  unterschätzende  Schwierig- 
keit mit  sich,  bei  einer  längeren  Reihe  yon  Versuchen  die  inneren  Schwierigkeiten 
einer  ganzen  Gruppe  von  Dictaten  gleich  gross  zu  machen,  damit  ein  Vergleich 
der  Ergebnisse  überhaupt  gestattet  ist,  wenn  richtige  Resultate  verlangt  werden. 
Hierher  gehören  die  oben  erwähnten  Arbeiten  von  Sikorsky,  Höpfner,  Richter. 

2.  Die  Rechenmethode.  Hier  hat  man  gewöhnlich  die  Schüler  Additionen 
von  20  stelligen  Zahlen  und  Multiplicationen  einer  20  stelligen  Zahl  mit  einer  Izifi^ 
rigen  ausführen  lassen.  Dabei  tritt  aber  die  im  Lauf  der  Arbeit  erreichte  Uebung 
so  störend  auf,  dass  sie  anfangs  die  Ermüdung  ganz  und  gar  verschleiert.  Solche 
Rechnungen  dürfen  aber  nur  während  kurzer  Zeit  verlangt  werden;  im  entgegen- 
gesetzten Falle  (Burgerstein  1  Stunde)  sind  sie  für  den  Schüler  eine  ungewohnte 
Thätigkeit,  die  überdies  ausserordentlich  einförmig  und  langweilig  wirkt;  bald  wird 
sein  Interesse  an  der  Sache,  sein  Eifer  aufhören  und  einem  Widerwillen  gegen 
diese  Arbeit  Platz  machen,  so  dass  die  Fehlerzahl  kein  deutliches  Bild  der  Eimü- 
dung  geben  kann.  In  einem  Falle  sind  von  den  Schülern  algebraische  Operationen 
(EJammemauflÖsen)  verlangt  worden,  wodurch  nach  der  Ansicht  des  Referenten 
allerdings  die  entsetzliche  Monotonie  der  obigen  Rechenaufgaben  beseitigt  wird, 
der  nicht  zu  unterschätzende  Einfluss  der  Uebung  bleibt  aber  auch  hier  bestehen. 
Diese  Methode  wurde  angewandt  von  Burgerstein,  Laser,  Richter. 

3.  Die  Methode  des  Zahlengedächtnisses.  Das  Zahlengedächtnist 
lässt  sich  auf  folgende  Weise  prüfen.  Entweder  man  giebt  den  Schülern  gedruckte 
Zahlenreihen  von  solcher  Länge,  dass  sie  dieselben  nicht  gleich  beim  Lesen  im 
Gedächtniss  behalten  können,  und  lässt  sie  dieselben  so  lange  laut  lesen,  bis  sie 
sie  endlich  fehlerlos  wiederholen;  die  Zahl  der  nöthigen  Wiederholungen  lässt  auf 
die  Gedächtnissstärke  schliessen ;  oder  man  spricht  den  Schülern  in  gewissem  Tempo 
Zahlenreihen  von  6 — 10  Ziffern  vor  und  lässt  sie  jede  nach  dem  Anhören  aus  dem 
Gedächtniss  niederschreiben.  Der  erste  Weg  findet  sich  in  der  oben  angegebenen 
Arbeit  von  Oehrn,  bei  Schülern  ist  bisher  nur  der  zweite  Weg  eingeschlagen 
von  Ebbinghaus  und  von  diesem  selbst  als  weniger  geeignet  für  Massenexpen* 
mente  mit  wechselnden  Lehrern  und  vollbesetzten  Klassen  befunden  worden,  wu 
unten  weiter  erörtert  werden  wird. 

4.  Die  Combinationsmethode  besteht  darin,  dass  die  Schüler  einen  mit 
Lücken  versehenen  Text  möglichst  schnell,  sinnvoll  und  mit  Berücksichtigung  der 
verlangten  Silbenzahl  ausfüllen  müssen.  Bei  Besprechung  der  Ebbinghaus'schoi 
Abhandlung  wird  auch  diese  von  ihm  ersonnene  Methode  eingehender  behandelt 
werden. 

5.  Die  Methode  der  Bestimmung  der  Sensibilität  der  Haut,  zu- 
erst von  Griessbach  angewandt,  beruht  auf  der  Beobachtung,  dass  geistige  Er- 
müdung das  Empfindungsvermögen  der  Haut  vermindert.  Die  eingehendere  Be- 
sprechung dieser  Methode  folgt  unten. 

6.  Die  Methode  der  Bestimmung  der  Muskelkraft.  Schon  Moito 
hat  mit  Hülfe  seines  „Ergographen"  durch  die  Abnahme  der  Muskelkraft  auf  die 


Die  neuesten  Abhandig.  a.  Untersuchungen  über  die  Ermüdung  d.  Schaljugend.    231 

Grösse  der  geistigen  Ermüdung  geschlossen.  Dieser  Apparat  besteht  aus  zwei 
Theilen;  der  eine  dient  zum  Stützen  des  Armes  und  der  Hand  und  lässt  nur  den 
Mittelfinger  frei,  welcher  mit  einem  Gewichte  belastet  ist.  der  zweite  Theil  zeichnet 
die  periodischen  Contractionen  des  Mittelfingers  auf  einen  rotirenden,  berussten 
Cylinder  als  „Ermüdungscurve"  nieder.  Diese  letztere  ist  unter  gleichen  Verhält- 
nissen und  im  ausgeruhten  Zustande  immer  dieselbe,  durch  vorhergehende  Arbeits- 
leistung —  auch  geistiger  Art  —  jedoch  verändert  sie  sich,  indem  die  Grösse  der 
Ordinaten  schnell  abnimmt.  Durch  Vergleich  dieser  Curven  lässt  sich  also  auf  den 
Ermndungszustand  schliessen. 

^ach  diesen  einleitenden  Worten  sollen  einige  die  Ermüdung  der  Schuljugend 
behandelnde  Neuerscheinungen  eingehender  besprochen  werden. 

Johann  Friedrich^  Untersuchungen  über  die  Einflüsse  der  Arbeits- 
dauer und  der  Arbeitspausen  auf  die  geistige  Leistungsfähigkeit 
derSchulkinder.  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane, 
Bd.  Xni,  53  Seiten. 

Verf.  benutzt  zu  seinen  Untersuchungen  die  Dictir-  und  die  Rechenmethode, 
der  eigentliche  Unterricht  bleibt  dabei  ungestört.  Er  stellt  sich  eine  dreifache 
Aufgabe,  indem  er  zu  bestimmen  sucht:  1)  das  Verhältniss  des  Qualitätsverlaufs 
tier  Arbeiten  zur  Arbeitszeit,  2)  den  Einfluss  der  gegenwärtig  bestehenden  Unter- 
richtsdauer auf  geistige  Leistungsfähigkeit  der  Schulkinder,  3)  die  Wirkung  ein- 
geschobener Arbeitspausen.  Zu  dem  Zwecke  stellt  er  seine  Untersuchungen  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  des  Unterrichts  an.  nämlich  Vor-  und  Nachmittag  jedes  Mal  vor 
Beginn  des  Unterrichts  und  nach  Schluss  jeder  einzelnen  Lehrstunde.  Dabei  waren 
der  Prüfung  wegen  die  drei  Vormittag-  respective  die  zwei  Nachmittagstunden 
entweder  hintereinander  ohne  jede  Pause  gehalten,  oder  es  wurden  Pausen  von 
8  oder  15  Minuten,  im  günstigsten  Falle  also  Vormittags  2  Pausen  von  15  Minuten, 
Nachmittags  1  Pause  von  15  Minuten  eingeschoben.  Diese  Pausen  wurden  stets 
durch  Ruhe.  Nahrungsaufnahme  und  Befriedigung  körperlicher  Bedürfnisse  ausgefüllt. 
Li  einem  Falle  war  die  am  Nachmittag  abgehaltene  erste  Stunde  Turnunterricht. 
Es  ergaben  sich  für  den  Verf.  11  verschiedene  Versuchsfälle.  Selbstverständlich 
&nd  an  einem  Tage  immer  nur  ein  Versuch  statt,  so  dass  sich  die  Untersuchungen 
über  mehrere  Wochen  ausdehnten,  noch  dazu,  da  Verf.  sich  sowohl  der  Dictir- 
als  auch  der  Rechenmethode  bediente.  Als  Versuchsobjekte  benutzte  er  die  51 
Schüler  seiner  Klasse  im  Durchschnittsalter  von  10  Jahren.  Der  Unterricht  an  sich 
blieb  ganz  unberührt,  so  dass  die  Untersuchungen  der  in  der  Einleitung  erwähnten 
«weiten  Hauptklasse  angehören. 

Zur  Anwendung  der  Dictirmethode  stellte  sich  Verf.  mehrere  Dictate  zu- 
sammen, jedes  von  12  Sätzen  mit  annähernd  gleicher  Buchstabenzahl  (21 — 28)  und 
alle  von  gleicher  Schwierigkeitsstufe,  inhaltlich  und  formell  den  Schülern  nichts 
Neues  bietend.  Die  zum  Schreiben  des  Dictats  gegebene  Zeit  betrug  30  Minuten. 
Bei  der  Correctur  der  Dictate  wurde  ein  falscher,  eingeschobener,  ausgelassener 
Buchstabe,  ebenso  wie  ein  eingeschobenes  oder  ausgelassenes  Wort  als  ein  Fehler 
gerechnet.  Auch  Selbstcorrecturen  wurden  —  allerdings  besonders  —  gezählt, 
kalligraphische  Verbesserungen  dagegen  ausser  Betracht  gelassen.  Bei  Anwendung 
der  Bechenmethode  wurde  den  Schülern  immer  eine  Serie  von  10  Aufgaben  ge- 
geben, bei  denen  eine  Addition  von  zwei  20  stelligen  Zahlen  und  eine  Multiplication 


232  P*al  Plett6nb«rg. 

einer  solchen  mit  einer  Is teiligen  Zahl  zwischen  2  und  6  aufeinander  folgten. 
Die  Arbeitszeit  betrog  hier  20  Minuten.  Bei  der  Correotur  wurden  Fehlerserien 
als  1  Fehler  gerechnet,  wie  es  nach  Ansicht  des  Ref.  das  einzig  Richtige  ist ;  kalli- 
graphische Verbesserungen  galten  nicht  als  Selbstoorrecturen. 

Beide  Methoden  Hessen  dasselbe  Resultat  erkennen:  1)  Was  zunächst  den  in- 
neren Verlauf  der  Arbeiten  angeht,  so  Hessen  mit  einer  einzigen  Ausnahme  alle 
deutlich  eine  Qualitätsabnahme  gegen  den  Schloss  der  Arbeit  wahrnehmen.  Daraus 
folgt,  dass  mit  der  Zunahme  der  Arbeitszeit  eine  Abnahme  der  QuaHUlt  Hand  in 
Hand  geht.  2)  In  Bezug  auf  den  Einfluss  der  Unterrichsdauer  auf  die  geistige 
Leistungsfähigkeit  der  Schulkinder  zeigte  sich,  dass  der  Anzahl  der  Schulstunden 
eine  Abnahme  der  Arbeitsqualität  entspricht,  d.  h.  je  länger  die  vorangehende 
Anstrengung  durch  den  Unterricht  war,  je  grösser  war  die  Fehlerzahl.  Am  Schlosse 
eines  ununterbrochenen  dreistündigen  Vormittagunterrichtes  und  eines  unonter- 
brochenen  Naohmittagunterrichtes  waren  die  Leistungen  am  schwächsten.  Beim 
Beginn  des  Nachmittagunterrichtes  zeigten  die  Schüler  noch  nicht  die  geistige 
Frische  wieder  wie  am  Morgen  vor  dem  (Jnterrichtsbeginne,  trotzdem  sie  eine  drei- 
stündige Pause  zur  Erholung  gehabt  hatten.  Auch  eine  Turnstunde  verringerte 
die  geistige  Leistungsfähigkeit  der  Schüler  bedeutend;  während  ein  vorher  ge- 
liefertes Dictat  als  Fehlersumme  35  oder  0,229  %  aufwies,  ergab  der  Versuch  nach 
der  Turnstunde  als  Fehlersumme  127  oder  0,827  %.  3)  Die  eingeschobenen  Arbeits-* 
pausen  endHch  erwiesen  sich  durchweg  als  günstig.  Den  besten  Einfluss  übte 
die   vormittägige  Doppelpause. 

Aus  diesen  Resultaten  zieht  Verf.  den  Schluss,  dass  die  Frage  nach  der  Kürzong 
der  gegenwärtig  geltenden  Unterrichtszeit  von  60  Minuten  schHesslich  doch  in  be- 
friedigender Weise  gelöst  werden  müsse.  Er  verlangt  nach  jeder  Schulstunde  f9r 
die  Kinder  eine  Pause  von  8— -10  Minuten  zu  körperHcher  und  geistiger  Erholung, 
zu  neuer  Kraftsammlung  für  die  kommende  Stunde.  Was  dabei  an  Ausdehnung 
des  Unterrichts  verloren  gehe,  werde  an  Intensität  gewonnen  werden.  Auf  die 
Frage,  ob  der  Nachmittagunterricht  vollständig  auBniheben  sei,  geht  Verf.  nicht 
weiter  ein,  jedoch  verlangt  er,  dass  Nachmittags  nur  leichtere  Gegenstände  wie 
Gesang,  Schönschreiben  u.  s.  w.  zur  Behandlung  kommen. 

Alle  diese  Wünsche  kann  Ref.  nur  unterstützen,  namentlich  das  Verlangen 
nach  stündlichen  Pausen  werden  alle  Pädagogen  nachempfinden;  nicht  allein  die 
geistige  Ermüdung,  sondern  auch  die  Lufternenerung  in  so  angefüllten  Classen 
lässt  uns  diese  Forderung  unumgänglich  nothwendig  erscheinen.  Die  Versuche  des 
Verf.  entsprechen  den  in  der  obigen  Einleitung  ausgesprochenen  Bedingungen,  dass 
sie  den  Stundenplan  an  und  für  sich  nicht  umstossen  dürfen;  sie  sind  vielmehr  als 
Stichproben  der  Leistungsfähigkeit  während  des  gewöhnlichen  Unterrichts  zu  ge- 
wissen Zeiten  anzusehen.  Auch  der  Vorwurf  fällt  weg,  dass  die  verlangte  Arbeit 
die  Schüler  zu  lange  Zeit  zu  einer  für  sie  interesselosen  Thätigkeit  zwinge ;  vielleicht 
hätte  die  Zeit  auch  noch  auf  15—20  Minuten  reducirt  werden  können,  sonst  aber 
war  die  Arbeit  den  sonstigen  Leistungen  der  10jährigen  Schüler  durchaus  ange- 
messen und  den  sonstigen  Classenarbeiten  ähnlich.  Es  wäre  demnach  gegen  diese 
Untersuchungen  nur  der  Einwand  zu  erheben,  dass  sie  sich  nur  auf  die  Glasse  als 
Ganzes,  auf  die  Durchschnittsleistung  beschränken,  dagegen  die  Ermüdung  des  ein- 
zelnen Schülers  nicht  weiter  verfolgen;  doch  wäre  bei  so  überfuUten  Classen  ein 
solches  Verfahren  auch  mit  den  grössten  Schwierigkeiten  verknüpft. 


Die  nenesten  Abhandig.  u.  Untersachungen  über  die  Ermüdung  d.  Sohi4jagend.    233 

H.  Ebbinghaus:  Ueber  eine  neue  Methode  zur  Prüfung  geistiger 
Fähigkeiten  und  ihre  Anwendung  bei  Schulkindern:  Zeitschrift  für 
Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane.    Bd.  XIII  pag.  401.    60  Seiten. 

Verf.  benutzt  zur  Feststellung  der  geistigen  Ermüdung  der  Schulkinder  sowohl 
die  alte  Hechen-  sowie  die  Gedächtnissmethode  und  eine  neue  von  ihm  selbst  er- 
sonnene^  die  Combinationsmethode.    Der  Unterricht  selbst  blieb  unberührt. 

Die  Veranlassung  zu  den  Untersuchungen  des  Verf.  gab  eine  vom  Magistrat 
der  St«dt  Breslau  im  Juli  1895  an  die  hygienische  Section  der  Schlesischen  Gesell- 
Schaft  für  vaterländische  Cultur  gerichtete  Bitte  um  eine  gutachtliche  Aeusserung 
über  den  fünfstündlichen  Schulunterricht.  Die  Section  erweiterte  ihren  Kreis  durch 
Zuziehung  einer  Anzahl  von  Medicinern  und  Schulmännern,  und  auch  der  Verf. 
als  Professor  der  Psychologie  an  der  Universität  Breslau  wurde  zur  Theilnahme 
aufgefordert.  Die  Commission  hatte  sich  dann  mit  der  Wahl  einer  geeigneten 
Methode  zu  beschäftigen.  Aus  den  schon  oben  in  der  Einleitung  angegebenen 
Gbünden  wurde  beschlossen,  eine  solche  zu  wählen,  bei  welcher  der  Unterricht 
■einen  gewöhnlichen  Gang  behält,  mit  welcher  vielmehr  nur  von  Zeit  zu  Zeit  durch 
ein  geeignetes  Reagens  festgestellt  wird,  wie  der  Unterricht  bis  dahin  geistig  ge- 
wirkt hat.  Ab  eine  solche  wurde  die  Griessbach'sche  hingestellt.  Aber  wegen 
der  noch  zu  besprechenden  unbekannten  Beziehung  zwischen  geistiger  Ermüdung 
und  der  Abstumpfung  der  Hautsensibilität  kam  man  wieder  davon  ab  und  be- 
Bchloss  die  Rechenmethode  anzuwenden.  Die  Commission  wollte  sich  jedoch  nicht 
auf  diese  beschränken,  sondern  der  Frage  so  vielseitig  wie  nur  möglich  gegenüber- 
treten. Es  wurde  daher  noch  die  Gedächtnissmethode  hinzugenommen.  Aber 
beide  Methoden  sind  relativ  niedere  und  einseitige  Bethätigungen  des  Geistes  und 
geben  von  der  eigentlichen  Verstandes-  und  Denkthätigkeit,  auf  deren  Beein- 
flussung durch  den  Schulunterricht  es  doch  wesentlich  ankommen  würde,  kein 
rechtes  Bild.  Um  nun  auch  in  dieser  Beziehung  Klarheit  zu  gewinnen,  ersann 
Verf.  die  Aufgabe,  die  Lücken  eines  der  Fassungskraft  der  Schüler  angemessenen 
Frosatextes  möglichst  schnell,  sinnvoll  und  mit  Berücksichtigung  der  verlangten 
Silbenzahl  auszufüllen,  also  die  sogenannte  Combinationsmethode, 

Die  Commission  beschloss  mit  Hülfe  dieser  drei  Methoden  eine  vergleichende 
Vorprüfung  anzustellen  und  damit  zugleich  die  Brauchbarkeit  der  Gedächtniss- 
und  Combinationsmethode  zu  prüfen.  Mit  Bewilligung  der  staatlichen  und 
städtischen  Behörden  fand  diese  Prüfung  statt  an  einem  Gymnasium  und  einer 
höheren  Mädchenschule  an  drei  je  14  Tage  auseinander  liegenden  Mittwochen  der 
Monate  Februar  und  Wirz  1896. 

Die  Rechenmethode  wurde  nach  der  von  Burgerstein  eingeführten  Art  an- 
gewandt bei  Beginn  des  Unterrichts  und  nach  jeder  Stunde ;  die  Arbeitszeit  betrug 
10  Minuten.  Bei  Anwendung  der  Gedächtnissmethode  wurden  den  Schülern  Reihen 
von  6 — 10  Ziffern  vorgesagt  mit  gleichbleibender  Geschwindigkeit,  und  sofort  nach 
dem  Anhören  mussten  sie  dieselben  niederschreiben.  Dies  wurde  6  Minuten  lang 
fortgesetzt.  Für  die  Combinationsmethode  hatte  sich  Verf.  durch  Vorversuche 
bemüht,  die  verschiedenen  Texte  auf  denselben  Grad  durchschnittlicher  Schwierig- 
keit zu  bringen.  Auch  hier  betrug  die  Arbeitszeit  6  Minuten.  Bei  der  Correctur 
wurde  folgender  Weg  eingeschlagen.  Bei  den  Rechenleistungen  wurde  nicht  wie 
von  Burgerstein  verfahren,  der  jede  falsche  Ziffer  des  Resultats  einfach  als 
Fehler  rechnete.    Auf  diese  Weise  erhält  man  von  den  Leistungen  der  Schüler  ein 


234  Paul  Plettcnberg. 

viel  zu  schlechtes  Bild,  denn  ein  thatsächlicU  nur  einmal  gemachter  Fehler  zieht 
sich  mit  seinen  Conseqaenzen  darch  die  ganze  Kechnong  bis  in  Ende.  In  diesen 
Fällen  ist  aber  nar  der  wirkliche  Fehler  zu  rechnen.  Bei  der  GedachtniMmethode 
ist  einmal  einfach  abgezählt  worden,  wie  viele  von  den  vorgesagten  ZifTerreihen 
falsch  oder  unvollständig  niedergeschrieben  sind,  ohne  Rücksicht  auf  Zahl  oder 
Art  der  Fehler.  Das  andere  Hai  ist  die  Art  der  Fehler  berücksichtigt  worden, 
nämlich  ob  Ziffern  fohlen  oder  durch  falsche  ersetzt  sind,  oder  ob  sie  an  &lsche 
Stelle  gesetzt  sind.  Dabei  wurden  ganz  vergessene  Ziffern  als  ganze,  umgesetste 
richtige  Ziffern  als  halbe  Fehler  gerechnet.  Endlich  bei  der  Combinationsmethode 
wurde  eine  übersprungene  Silbe  als  halber  Fehler,  jede  sinnwidrig  ausgefüllte  l^be 
und  jeder  Verstoss  gegen  die  vorgeschriebene  Silbenzahl  als  ganzer  Fehler  ge- 
rechnet. Die  Gesammtsumroe  der  Fehler  wurde  von  der  Brnttozahl  der  ausge- 
füllten Silben  abgezogen  und  der  so  erhaltene  Werth  als  Maass  für  das  Quantum 
der  richtig  geleisteten  Arbeit  betrachtet;  hatte  also  ein  Schüler  50  Lücken  aos- 
gefüllt.  10  aber  ausgelassen  und  20  sinnwidrig,  so  war  50  —  ^%  —  20  =  25  das 
Quantum  seiner  Leistung.  Zu  dieser  Art,  die  Fehler  anzurechnen,  erlaubt  sich  Bet 
Folgendes  zu  bemerken.  Bei  der  Gedächtnissmethode  ist  nichts  dagegen  einzu- 
wenden, halbe  und  ganze  Fehler  zu  rechnen,  nur  dürfen  beide  nachher  nicht  n 
einer  Zahl  vereinigt,  vielmehr  getrennt  zur  Bcurtheilung  der  Leistungen  heran- 
gezogen werden ;  ebenso  bei  der  Combinationsmethode.  Allzu  willkürlich  erscheint 
Ref.  ferner,  dass  die  Anzahl  der  nicht  ausgefüllten  von  der  Gesammtsumme  der 
ausgefüllten  Lücken  noch  einmal  abgezogen  wurde,  auf  diese  Weise  erhält  man 
Zahlen,  die  doch  der  Wirklichkeit  nicht  entsprechen.  Verf.  erkennt  selbst  diese 
Mängel  an,  schreibt  ihnen  aber  practisch  nur  geringe  Bedeutung  zu.  Nach  An- 
sicht des  Ref.  ist  es  ein  besonderer  Nachtheil  der  CombinaUonsmethode,  dass  die 
Silbenausfüllung  eines  und  desselben  Textes  verschiedene  Schwierigkeiten  bieten 
kann;  sie  steht  darin  entschieden  der  Rechenmethode  nach. 

Bei  11 — 12000  Einzelleistungcn  hat  Verf.  nicht  das  ganze  eingegangene  Material 
verwerthen  können,  sondern  sich  vorwiegend  auf  die  Unterklassen  beschränkt ;  seine 
Erfahrungen  thcilt  er  als  Folgende  mit: 

I.  Ueber  die  practische  Handhabung  der  drei  Methoden.  Von  allen  drei 
Methoden  gab  die  Gedächtnissmethode  die  auffallendsten  Resultate;  die  Fehler- 
zahlen nach  den  einzelnen  Stunden  schwankten  ganz  ausserordentlich  und  konnten 
unmöglich  durch  die  Stunden  selbst  erklärt  werden.  Vielmehr  kommt  in  erster 
Linie  die  Individualität  des  Lehrers  dabei  in  Betracht ;  der  eine  spricht  laut  und 
langsam  der  andere  weniger  laut  und  schneller.  Femer  aber  spielt  das  Verhalten 
der  Schüler  eine  grosse  Rolle;  denn  während  bei  Rechen-  und  Combinations- 
methode die  nebeneinander  sitzenden  Schüler  durch  die  verschiedene  Schnelligkeit 
des  Arbeitens  bald  auseinandergerissen  werden,  bleibt  bei  der  Gcdächnissmethode 
die  Arbeit  in  jedem  Augenblicke  dieselbe,  so  dass  Vorsagen,  Ablesen  u.  dergl.  bald 
einreisst,  allerdings  nicht  bei  allen  Lehrern  gleich,  so  dass  dadurch  die  starken 
Schwankungen  in  der  Felilerzahl  sich  von  selbst  erklären.  Verf.  findet  daher  diese 
Methode  für  grosse  Massenexperimente  mit  wechselnden  Lehrern  und  vollbesetzten 
Klassen  nicht  geeignet. 

Deutlich  bemerkbar  machte  sich  bei  allen  drei  Methoden  die  Tendenz  der 
Schüler  bei  längeren  und  häufig  wiederkehrenden  Untersuchungen  im  guten  Willen 


Die  seuestexi  Abhandig.  u.  Untersuchnngen  über  die  ErmüduDg  d.  Schuljugend.    235 

nachzulassen,   die   Sache   nicht   mehr    ernst   zu   nehmen    und   sich   über   entgegen 
tretende  Schwierigkeiten  durch  absichtlichen  Unsinn  hinwegzuhelfen. 

II.  Beziehungen  der  drei  Methoden  zu  geistiger  Leistungsfähigkeit.  Im 
Groesen  und  Ganzen  lässt  sich  aus  den  Resultaten  ersehen,  dass  mit  zunehmendem 
Alter  die  geistige  Leistungsfähigkeit  zunimmt,   wie   von  vornherein    zu  erwarten 

.war.  Was  nun  die  einzelnen  Methoden  angeht,  so  treten  die  einzelnen  Klassen- 
leistungen bei  der  Gombinationsmethode  yiel  mehr  auseinander,  als  bei  den  anderen ; 
sie  eignet  sich  also  zur  Feststellung  der  mittleren  Leistungsfähigkeit  am  besten. 

Auch  innerhalb  einer  einzelnen  Klasse  hat  Yerf.  dieselbe  zu  betrachten  rer- 
sncht,  indem  er  die  Schüler  nach  der  Rangordnung  in  drei  Gruppen  ordnete,  also 
die  oberen,  mittleren  und  unteren  Schüler  zusammenfasste  und  nun  die  Durch- 
■chnittsresultate  jeder  Gruppe  allein  berechnete.  Dabei  fand  sich,  dass  bei  An- 
wendung der  Gedächtnissmethode  die  Fehlersumme  für  die  drei  Gruppen  fast  ganz 
gleich  ausfiel;  wenn  Unterschiede  vorhanden  waren,  so  waren  sie  eher  zu  Gunsten 
der  schlechten  Gruppe.  Daraus  folgt  Verf.,  dass  das  einfache,  mechanische  Be- 
halten und  Wiederholen  bei  den  besseren  Intelligenzen  im  Durchschnitt  nicht 
stärker,  sondern  eher  eine  Spur  schlechter  entwickelt  ist,  als  bei  den  schlechteren. 
Die  Rechenmethode  zeigte  mit  nur  einer  Ausnahme  das  wunderbare  Resultat,  dass 
zwar  das  erste  Klassendrittel  die  beste  Leistung  zu  verzeichnen  hatte,  dass  dann 
aber  das  letzte  Drittel  kam  und  schliesslich  das  mittlere  mit  der  grössten  Fehler- 
zahl.  Die  Gombinationsmethode  endlich  zeigte  das  deutlichste  Resultat;  die  Menge 
und  die  Güte  der  geleisteten  Arbeit  nahm  vom  obersten  zum  untersten  Drittel 
jeder  Klasse  durchweg  ab.  Hier  würden  wir  also  das,  was  unter  geistiger  Fähig- 
keit zu  verstehen  ist,  wohl  am  besten  illustrirt  sehen. 

III.  Verschiedenheit  der  Knaben-  und  Mädchenleistungen.  In  den  untersten 
Klassen  stehen  die  Mädchen  ausnahmslos  bei  allen  drei  Methoden  hinter  den  gleich- 
altrigen Knaben  zurück.  Anders  fand  Verf.  die  oberen  Klassen  beschaffen.  Die 
oberste  Mädchenklasse  entsprach  der  Untersecunda  A.  Im  Rechnen  überflügelten 
die  Mädchen  die  Knaben  nicht  unerheblich,  dagegen  standen  sie  ihnen  in  den 
anderen  beiden  Methoden  nach.  Dies  erklärt  Verf.  durch  das  verschiedene  Lebens- 
alter; das  der  Mädchen  betrug  im  Durchschnitt  15,6,  das  der  Knaben  17  Jahre. 
Verglich  Verf.  die  Klassen  desselben  Durchschnittsalters,  nämlich  die  Obertertia  A 
mit  der  ersten  Mädchenklasse,  so  geschah  den  Knaben,  deren  Combinations- 
leistungen  nun  denjenigen  der  Mädchen  nachstanden,  insofern  Unrecht,  als  sie  erst 
im  fünften,  die  Mädchen  dagegen  im  sechsten  Schuljahre  standen.  Beim  Heran- 
siehen der  Mittelklasse  U  II  B  waren  die  Resultate  ungefähr  gleich.  Als  sicheres 
Resultat  ist  demnach  nur  das  auszusprechen,  dass  die  Mädchen  die  im  11.  Lebens- 
jahre bestehende  geistige  Ueberlegenheit  der  Knaben  im  16.  Lebensjahre  so  gut 
wie  vollständig  eingeholt  haben. 

rV.  Ermüdung.  Verf.  betont,  dass  der  Ertrag  der  Untersuchungen  ein 
rmeherer  gewesen  wäre,  wenn  die  Wirkungsweise  der  einzelnen  Methoden  nicht 
unbekannt  gewesen  wäre.  Mit  Rücksicht  auf  die  ganzen  Umstände,  namentlich  auf 
das  bereitwillige  Entgegenkommen  der  königlichen  und  städtischen  Behörden  ist 
dies  sehr  zu  beklagen  und  wäre  durch  vorangegangene  Untersuchungen  im  physio- 
logischen Seminare  vielleicht  zu  vermeiden  gewesen. 

Die  Gedächtnissmethode,  die  schon  bei  der  Feststellung  der  Leistungsfähigkeit 
in  Stich  gelassen  hatte,  zeigt  sich  auch  hier  unanwendbar,  denn  nach  dem  Unter- 


236  ^»^  Plettenberg. 

richte  worden  bei  ihrer  Anwendung  weniger  Fehler  gemacht  als  Tor  demaelben, 
was  sicherlich  nicht  Folge  eines  besseren  Gedächtnisses,  sondern  einzig  und  allein 
der  Uebung  zuzuschreiben  ist.  Es  machte  sich  der  Uebelstand  bemerkbar,  dass  die 
Schüler  die  vorgesprochene  Reihe  in  Gruppen  von  3 — 5  Zahlen  zerlegen  und  so 
ihrem  Gedächtniss  nachhelfen. 

Die  Rechenmethode  liefert  dasselbe  Ergebniss,  welches  schon  Burgerstein 
und  Laser  gefunden  hatten.  Die  Quantität  der  Leistungen  nimmt  anfangs  zn  nnd 
erreicht  in  der  dritten  Stunde  ihr  Maximum,  dann  bleibt  sie  entweder  nahezu  con- 
stant,  oder  fällt  wieder  um  ein  Geringes.  Doch  ist  auch  hier  schwer  zu  entscheiden, 
ob  diese  Abnahme  eine  Folge  der  Ermüdung  oder  etwa  des  nachlassenden  Interesses 
und  der  entstehenden  Langeweile  ist.  Die  Resultate  der  Combinationsmethode 
lassen  sieh  auch  nicht  mit  Bestimmtheit  ven/verthen,  da  zu  den  eben  erwähnten  Punkten 
noch  hinzukommt,  dass  die  zu  verschiedenen  Zeiten  bearbeiteten  Texte  vielleicht 
nicht  von  vollkommen  gleicher  Schwierigkeit  war.  Sicher  lässt  sich  nur  aussprechen« 
dass  die  unteren  Klassen  als  Wirkung  des  mehrstündigen  Unterrichts  eine  allmählich 
und  glcichmässig  zunehmende  Abschwächung  ihrer  geistigen  Leistungsfähigkeit  er- 
leiden und  zwar  eine  Abschwächung  nicht  für  diese  oder  jene  minderwerthige 
geistige  Bethätigung.  sondern  für  die  eigentliche  Verstandesarbeit.  Ob  nun  aber 
diese  Ermüdung  eine  schädliche  ist,  geben  uns  die  Zahlen  auch  nicht  weiter  an; 
um  darüber  ein  Urtheil  zu  erhalten,  hält  es  Verf.  für  nöthig,  dieselben  Unter- 
suchungen einmal  nach  längeren  Ferien  und  das  zweite  Mal  6 — 8  Wochen  später 
anzustellen.  Aber  es  bleibt  ihm  auch  sehr  fraglich,  ob  die  fünfte  Unterrichtsstunde 
wenn  nicht  schädlich  so  doch  überhaupt  nützlich  ist  und  einen  Vortheil  bietet,  der 
für  das  Opfer  an  Zeit  und  Kraft  auf  Seiten  der  Lehrer  wie  der  Schüler  ein  an- 
gemessenes Aequivalent  bildet. 

Was  die  Untersuchungen  im  Grossen  und  Ganzen  angehen,  so  sind  Fleiss  und 
Ausdauer,  die  Verf.  für  sie  geopfert  hat,  zu  bewundern.  Leider  hat  das  gesteckte 
Ziel  nicht  erreicht  werden  können  wegen  mancher  den  Methoden  anhaftenden 
Unzuträglichkeiten.  Es  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  sich  dieselben  nicht  vorher  be* 
seifigen  Hessen  in  dem  Sinne,  wie  es  Verf.  selbst  angiebt,  so  dass  die  mit  Einver- 
ständniss  der  Behörden  angestellten  Versuche  ein  abschliessendes  Urtheil  ergeben 
hätten. 

H.  Grieasbach:  Ueber  Beziehungen  zwischen  geistiger  Ermüdung 
und  Empfindungsvermögen  der  Haut.  Archiv  für  Hygiene  Bd.  XXIV. 
pag  124.  88  Seiten.  (Auch  separat  unter  dem  Titel:  Energetik  und  Hygiene  des 
Nervensystems  in  der  Schule.    München  und  Leipzig,  Oldenbourg.    1896.) 

Verf.  lässt,  um  die  durch  den  Unterricht  erzeugte  Ermüdung  der  Schüler  zu 
bestimmen,  den  Unterricht  selbst  ganz  unberührt.  Von  den  angegebenen  Methoden 
wendet  er  die  fünfte  an,  welche  sich  auf  die  Empfindlichkeit  der  Haut  stützt. 

In  einer  Einleitung  bespricht  Verf.  die  vor  ihm  angestellten  Versuche  und 
Methoden,  um  dann  die  Auseinandersetzung  seiner  eigenen  Methode  anzuschliessen. 
Sie  fusst  auf  der  von  ihm  beobachteten,  bisher  unbekannten  Thatsache,  dass  £Qm- 
ermüdung  die  Sensibilität  der  Haut  herabsetzt.  —  Wir  sind  im  Stande,  Tast- 
eindrücke räumlich  zu  unterscheiden,  aber  nur  in  gewesen  Grenzen,  und  dies« 
Grenze  ist  für  verschiedene  Hautgebiete  verschieden.  Die  ersten  diesbezüglichen 
Versuche  sind  von  E.  H.  Weber   angestellt,   welcher  bestimmte,   „wie  klein  die 


Die  neuesten  Abhandlg.  u.  Untersuchungen  über  die  £rmüdung  d.  Schi4jngend.    237 

Entfernung  zweier  gleichzeitig  die  Haut  treffenden  punktförmigen  Eindrj^cke  ge- 
macht werden  kann,  ohne  dass  ihre  gesonderte  Wahrnehmung  aufhört;  mit  anderen 
Worten,  welches  der  minimale  Abstand  zweier  Hautpunkte  ist,  deren  Reizung  noch 
deutlich  verschiedene  Ortsvorstellung  erweckt/^  Diese  Minimalstrecke  ist  von 
Fechner  Raumschwelle  genannt  worden.  „Da  nun  die  Aufmerksamkeit  im 
Augenblicke  des  Versuchs  einen  verkleinernden  Einfluss  auf  die  Raumschwelle  aus- 
übt, so  ist  es  sehr  begreiflich,  dass  geistig  ermüdete  Personen,  die  mit  zunehmender 
Abspannung  immer  weniger  Aufmerksamkeit  besitzen,  eine  entsprechende  Ver- 
grosserung  der  Raumschwelle  zeigen.*'  Es  ist  daher  klar,  dass  man  -in  der  Prüfung 
des  Empfindungsvermögens  der  Haut  eine  neue  Methode  zur  Ermittelung  geistiger 
Ermüdung  hat,  vorausgesetzt,  dass  im  Zustande  physiologischen  Gleichgewichts  die 
analogen  Prüfungen  vorgenommen  werden,  um  einen  Vergleich  und  damit  ein  Maass 
der  Ermüdung  zu  ermöglichen. 

Verf.  benutzte  bei  seinen  Versuchen  zweierlei  Zirkel,  solche  mit  sehr  scharfen 
Spitzen  und  solche  mit  Kugelspitzen,  bei  letzteren  wurden  im  Allgemeinen  grössere 
Werthe  erhalten.  Um  die  Au&nerksamkeit  während  des  Versuches  rege  zu  erhalten 
und  der  Gewöhnung  an  die  Reize  entgegenzuwirken,  berührte  er  bald  mit  beiden, 
bald  nur  mit  einer  Spitze.  Da  nun  an  verschiedenen  Hautstellen  Messungen  in  der 
Längs-  und  Querrichtung  verschiedene  Werthe  ergaben,  diese  Verschiedenheit  aber 
für  den  Zweck  des  Verf.  nicht  weiter  ergründet  zu  werden  braucht,  so  sind  alle 
Messungen  von  ihm  in  der  Querrichtung  zur  Längsachse  des  Kopfes  beziehungs- 
weise der  Extremitäten  genommen  worden.  Als  Versuchsstellen  wählte  er:  Stirn, 
Jochbein,  Nasenspitze,  Roth  der  Unterlippe,  Daumenballen  der  rechten  Hand,  Kuppe 
des  rechten  Zeigefingers.  Die  Hauptzahl  der  Versuche  ist  angestellt  worden  mit 
Schülern  des  Gymnasiums  und  der  Oberrealschule  zu  Mülhausen  im  Elsass.  „Um 
nun  aber  ein  Urtheil  darüber  zu  haben,  wie  sich  die  durch  die  Schule  hervor- 
gerufene geistige  Ermüdung  von  der  bei  anderweitiger  geistiger  Beschäftigung  auf- 
tretende Himermüdung  unterscheidet,"  dehnte  Verf.  seine  Untersuchungen  auch  aus 
auf  Kaufmannslehrlinge,  die  Vor-  und  Nachmittag  Rechnungen  und  Correspondenzen 
in  verschiedenen  Sprachen  zu  erledigen  hatten,  femer  auf  junge  Männer,  die  theils 
in  einer  mechanischen  Weberei ,  theils  in  Maschinenwerkstätten  practisch  thätig 
waren  und  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  dabei  auf  ihre  Arbeit  zu  concentriren  hatten. 
Die  Thätigkeit  aller  dieser  Personen  wurde  durchaus  unverändert  gelassen,  da  die 
Messungen  Morgens  und  Nachmittags  vor  Beginn  und  nach  Schluss  der  Arbeit,  bei 
den  Schülern  auch  nach  jeder  Lehrstunde  vorgenommen  wurden.  Zur  Feststellung 
der  physiologischen  Normen  wurde  ein  arbeitsfreier  Tag  benutzt.  Verf.  betont, 
dass  die  von  ihm  gefundenen  Werthe  für  die  physiologischen  Normen  niedriger 
sind  als  die  bisher  in  der  Literatur  dafür  angegebenen  und  giebt  als  Grund  dafür 
an,  dass  geistige  Ermüdung  bei  den  früheren  Untersuchungen  über  den  Raumsinn 
nicht  berücksichtigt  wurde.  Im  Uebrigen  findet  er  bei  Schülern  zwischen  dem  11.  und 
19.  Lebensjahre  nur  geringe  Unterschiede  für  diese  Normen. 

Aus  den  für  die  Messungen  an  Schülern  gegebenen  Tabellen  ersehen  wir  nun 
Folgendes.  In  vielen  Fällen,  namentlich  in  den  mittleren  und  oberen  Klassen,  sind 
die  Werthe  vor  dem  Beginn  des  Unterrichts  um  7  Uhr  noch  über  der  normalen 
Grösse,  was  zu  der  Vermuthung  führt,  dass  in  solchen  Fällen  die  Scblafzeit  eine 
unzureichende  war.  Nach  jeder  Stunde  nahmen  die  Werthe  im  Allgemeinen  zu, 
so  dass  also  die  Erholungspausen  nicht  ausreichten;   oft  war  selbst  nach  der  zwei- 


238  ^*ul  Plettenberg. 

ständigen  Mittagspause  um  2  Uhr  Nachmittags  die  nonnale  SeDsibilität  noch  niobt 
zurückgekehrt,  so  dass  die  Raumschwelle  wahrend  des  Nachmittagsunterrichtes  ihreo 
höchsten  Werth  erreichte.  In  einzelnen  Fällen  nahm  sie  um  das  Dreifache,  in  einen 
sogar  um  das  Fünffache  zu.  Die  grösste  Ermüdung  trat  schon  nach  der  ersten 
Stunde  ein,  wenn  eine  Klassenarbeit  in  ihr  geschrieben  wurde,  und  sie  blieb  dann 
ziemlich  gleichmässig  bis  zum  Ende  des  Unterrichts  bestehen.  Es  zeigt  sich  ferner, 
dass  auch  die  Turnstunde  nicht  nur  keine  Erholung,  sondern  ziemlich  bedeutende 
Ermüdung  gebracht  bat.  Der  Unterrichtsstoff  sowie  auch  die  Behandlung  dewelben 
zeigte  sich  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  geistige  Ermüdung,  denn  diese  war  am  b^ 
deutendsten  nach  dem  Unterrichte  in  den  alten  Sprachen,  in  der  Geschichte  nnd  in 
den  mathematischen  Fächern  und  um  so  stärker,  je  mehr  Gedächtnissleistungen  Ter- 
langt  wurden.  Es  scheint  daher  dem  Verf.  eine  weise  Vertheilung  der  Unterrichtt- 
fächcr  geboten. 

Diesen  an  Schülern  gemachten  Erfahrungen  gegenüber  zeigte  sich  die  geistige 
Ermüdung  bei  Kaufmannslehrlingen.  Schülern  der  Weberschule  und  Volontairen  der 
Maschinenfabrik  verschwindend  klein,  für  Morgens  7  Uhr  und  Mittags  2  Uhr  waren 
die  Wertlie  mit  den  physiologischen  Normalen  fa9t  identisch. 

Auf  Grund  der  Thatsacbe,  dass  bei  den  jetzigen  Verhältnissen  das  müde  Ge- 
hirn von  der  Schule  aufs  Neue  in  Anspruch  genommen  wird,  ehe  es  sich  Tollstandig 
erholt  hat,  und  dass  dies  auf  die  Dauer  nur  zu  ernster  Schädigung  der  G^esondheit 
führen  kann,  folgert  Verf.,  „dass  kein  Schulknabe  und  selbst  kein  Erwachsener  ohne 
Gefahr  ilir  seine  Gesundheit  Tag  ein  Tag  aus  geistig  so  lange  zu  arbeiten  im 
Stande  ist.  wie  es  der  heutige  höhere  Unterricht  bei  strenger  Durchfohrong  er- 
heischt!" In  Folge  dessen  verlangt  Verf.,  und  Ref.  schliesst  sich  ihm  darin  toII 
an,  zunächst  Abschaffung  des  wissenschaftlichen  Nachmittagsunterrichtes,  wie  et  im 
Gymnasium  zu  Mülhausen  der  Fall  ist;  eine  täglich  dreimalige  Beanspruchung  des 
Gehirns  seitens  der  Schule  —  die  Anfertigung  der  häuslichen  Arbeiten  wurde  die 
dritte  sein  —  würde  auf  diese  Weise  vermieden.  Gymnastische  Uebung^n  und 
Tumspiele  mögen  den  Nachmittag  ausfüllen.  Den  Anfang  des  Vormittagsunter- 
richtes wünscht  er  stets,  auch  im  Sommer,  auf  8  Uhr,  für  die  jüngeren  Schuler  anf 
9  Uhr  festgesetzt.  Mit  abgekürzten  Stunden  liesse  der  Unterricht  sich  dann  Inf 
^  tl  Uhr  beziehungsweise  1  Uhr  ausdehnen.  Dies  Verfahren  ist  nach  Ansicht  dei 
Verf.  viel  weniger  gefährlich  als  wissenschaftlicher  Nachmittagsunterricht.  Da  dem 
Verf.  ferner  Gelegenheit  geboten  wurde.  Messungen  an  Schülern  der  Oberrealaehnle 
während  der  schriftlichen  und  mündlichen  Abschlussprüfung  vorzunehmen,  dnroh 
die  seine  Ansichten  und  Behauptungen  nur  bestätigt  wurden,  so  schliesst  er  nach 
einer  Besprechung  der  Examina  überhaupt  mit  dem  Wunsche,  dass  die  Abechlnm- 
prüfung  bald  wieder  abgeschafft  werden  möge. 

Enthalten  wir  uns  der  Beurtheilung  dieser  Vorschläge  für  eine  Breorganisation 
des  Stundenplanes  und  gehen  nur  auf  die  vorgeschlagene  Methode  der  Messung 
der  Ermüdung  ein,  so  ist  in  erster  Linie  anzuerkennen,  dass  sie  in  deutlicher  Weise 
eine  Zu-  und  Abnahme  geistiger  Ermattung  zeigt.  Eine  Hauptschwierigkeit  liegt 
nur  darin,  dass  die  mathematische  Beziehung  zwischen  geistiger  Ermüdung  und 
Hautempfindlichkeit  unbekannt  ist.  ^)    Macht  ein  Schüler  bei  geistigen  Arbeiten  Ton 


^)  Vgl.  Ebbinghaus:  Ueber  eine  neue  Methode  u.  s.  f.,  pag.  406.  —  Bin  et 
et  Henri:  La  fatigue  intellectuelle,  pag.  327. 


Die  neuesten  Abhandig.  u.  Untersuchangen  über  die  Ermüdung  d.  Schuljugend.    239 

gleicher  Art,  Länge  und  Schwierigkeit  einmal  1%.  das  andere  Mal  2^/o  Fehler,  so 
kann  man  behaupten,  dass  seine  geistige  Leistungsfähigkeit  im  zweiten  Falle  nur 
halb  80  gross  als  im  ersten  war;  giebt  aber  bei  einem  Schüler  die  Messung  der 
Hautempfindlichkeit  einmal  3  mm  und  ein  anderes  Mal  6  mm,  so  folgt  hieraus 
durchaus  nicht,  dass  die  geistige  Leistungsfähigkeit  im  zweiten  Falle  auf  die  Hälfte 
zurückgegangen  sei.  Vielleicht  ist  es  möglich  durch  gleichzeitige  Anwendung  der 
Griessb  ach 'sehen  und  einer  anderen  Methode  hier  etwas  Klarheit  zu  schaffen. 
Ferner  ist  auch  noch  nicht  erwiesen,  dass  jede  geistige  Ermattung  eine  VerriDgcrung 
der  Hautempfindlichkeit  mit  sich  führt ;  es  wäre  sehr  wohl  denkbar,  dass  ein  Schüler 
ermüdet  ist,  ohne  dass  es  die  Messung  der  Eaumschwelle  bei  ihm  anzeigt.  End- 
lich müsstc  noch  durch  Untersuchungen  festgestellt  werden,  bei  welcher  Abnahme 
der  Hautsensibilität  die  entsprechende  geistige  Ermüdung  als  gesundheitsgeüihrliah 
anzusehen  ist.  Bis  zur  Erledigung  dieser  Fragen  ist  es  rathsam,  neben  dieser  Me- 
thode eine  der  älteren  zur  Controlle  anzuwenden,  dadurch  würden  sich  die  Resultate 
Tielleicht  gegenseitig  ergänzen,  berichtigen,  erhärten. 

Th.  Vannot:  La  fatigue  intellectuelle  et  son  influence  sur  la  sen- 
sibilite  cutanee.  Dissert.  med.  Bern  1896.  Imprimerie  Bey  et^  Malavallon. 
Grenöve.    61  Seiten. 

Verf.  hat  Versuche  nach  der  Grriessbach 'sehen  Methode  angestellt  und  ge- 
langt mit  ihr  zu  fast  identischen  Resultaten. 

58  31essungen  wurden  vorgenommen  an  Schülern  der  Realschule  und  des 
Gymnasiums  zu  Bern,  aber  nicht  wie  Ton  Griessbach  nach  jeder  Stunde,  sondern 
um  8  Uhr  vor  dem  Schulanfang,  um  10  Uhr  während  der  Pause,  um  12  Uhr  beim 
Schulschlusse,  um  2  Uhr  nach  dem  Mittagbrod  und  um  4  resp.  um  5  Uhr  am  Ende 
des  Nachmittagsunterrichtes.  Die  Hautstellen,  an  denen  die  Raumschwelle  gemessen 
wurde,  waren  dieselben  wie  bei  Griessbach. 

Die  vom  Verf.  gefundenen  Resultate  bestätigen  die  Griessb  ach 'sehen  An- 
gaben mit  der  einzigen  Ausnahme,  dass  vom  Verf.  auch  nach  der  Zeichenstunde 
eine  Abnahme  der  Hautempfindlichkeit  constatirt  werden  konnte,  wogegen  Griess- 
bach derselben  den  Werth  einer  Erholungsstunde  zugeschrieben  hatte.  Dies  mag 
«inmal  an  der  besonderen  Art  des  Zeichnens  gelegen  haben,  kann  aber  auch  von 
dem  besonderen  Eifer  und  Interesse  der  Versuchspersonen  für  den  Zeichenunterricht 
verursacht  sein.  Bemerkenswerth  ist,  .dass  Verf.  in  einem  Falle  eine  Abhängigkeit 
der  Hautempfindlichkeit  von  der  Temperatur  beobachtet  hat.  Beim  Vergleiche 
der  Messungen  an  Realschülern  und  derjenigen  an  Gymnasiasten  findet  Verf.  eine 
ipröesere  Ermüdung  bei  den  ersteren,  was  Folge  der  grösseren  Anzahl  mathematischer 
Liehrstunden  sein  mag.  Auch  in  den  vom  Standpunkte  der  Hygiene  ausgesprochenen 
Porderungen  schliesst  sich  Verf.  ganz  an  Griessbach  an. 

An  diese  Untersuchungen  knüpft  Verf.  noch  die  Behandlung  der  Frage,  ob 
durch  anstrengende  Gehirnarbeit  nicht  auch  eine  Aenderung  in  der  Empfindlichkeit 
der  Nerven  gegenüber  Schmerzerregungen  stattfindet.  Mit  Hülfe  eines  eigens  da- 
zu construirten  Apparates,  des  Algesiometers,  hat  Verf.  bei  denselben  Schülern 
und  zugleich  mit  den  soeben  besprochenen  Messungen  die  Empfindlichkeit  gegen 
Schmerz  untersucht  und  beim  Vergleich  dieser  Resultate  mit  den  vorigen  gefunden, 
dass  der  durch  Unterricht  ermüdete  Schüler  gegen  Schmerzgefühle  empfindlicher 


240  Paul  Plettenberg. 

ist  als  der  geistig  frische,  dass  also  mit  der  Abnahme  der  Hautempfindlichkeit  eine 
durch  die  Gehimermüdung  veranlasste  Hyperalgesie  verbunden  ist. 

L,  Wagner:  Unterricht  und  Ermüdung.  (Sammlung  von  Abhandlangen 
aus  dem  Gebiete  der  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie.  Bd.  I  Heft  IL) 
134  Seiten. 

Verf.  hat  eine  grosse  Anzahl  Ermüdungsmessungen  nach  Griessbach'acher 
Methode  an  Schülern  des  neuen  Gymnasiums  in  Darmstadt  angestellt.  Den  ersten 
Theil  füllen  überaus  anschaulich  dargestellte  Resultate  der  bei  Schülern  der  i^uarta, 
der  Unter-  und  Obertertia  und  der  Untersecunda  vorgenommenen  Bestimmongen, 
an  die  sich  zwar  einzelne  Besprechungen  anknüpfen,  die  eigentlichen  Schlöase  weiden 
aber  erst  im  zweiten,  dem  allgemeinen  Theile  gezogen,  dem  wir  folgendes  entnehmen. 

Verf.  folgert  aus  seinen  Versuchen,  dass  die  Griessb  ach 'sehe  Methode 
thatsäohlich  brauchbar  ist,  um  Ermüdungsgrade  festzustellen  und  quantitativ  m 
vergleichen.  Ist  auch  nicht  von  einer  directen  Proportionalität  zwischen  asthe> 
siometrischen  Distanzen  und  Ermüdungszunahmen  zu  sprechen,  so  kann  man  doeh 
sagen,  grosse  ästhesiometrische  Distanzen  lassen  auf  grosse,  massige  Abstände  auf 
massige  Ermüdung  schliessen. 

Als  Kennzeichen  der  in  Folge  des  Schulbetriebs  auftretenden  sogenannten 
Ueberbürdung  gilt  dem  Verf.  dauernd  herabgesetzte  Sensibilität  bei  der  MehnaU 
der  Schüler  einer  Klasse,  und  daraufhin  musterte  er  die  gewonnenen  Resultate. 
Er  findet,  dass  dies  in  keiner  der  Klassen  der  Fall  war;  allerdings  fanden  sich 
in  Quarta  wiederholt  Ermüdungsgrade,  die  die  Norm  überschritten,  aber  dies 
hatte  seinen  Grund  jedenfalls  darin,  dass  die  Messungen  am  Ende  des  Schuljahres 
angestellt  wurden.  Bei  einzelnen  Schülern  ist  allerdings  eine  Ueberbürdung  ra 
constatiren;  dies  ist  aber  einerseits  die  Folge  davon,  dass  eine  gewisse  Antahl 
der  Schüler  die  Begabung,  wie  sie  die  höheren  Schulen  verlangen,  nicht  besitit; 
diese  müssen  eben  den  Mangel  ihrer  Begabung  durch  erhöhte  Thätigkeit  aossn* 
gleichen  suchen.  Andererseits  aber  macht  auch  die  Person  des  Lehrers  unver- 
gleichlich viel  mehr  aus  als  der  Stoff.  Es  würden  daher  auch  diese  einzelnen  IlUle 
von  Ueberbürdung  wegfallen,  wenn  ungenügend  veranlagte  Schüler  von  höheren 
Schulen  fem  blieben  und  wenn  jeder  Lehrer  hinreichend  mit  hygienischen,  physio- 
logischen und  psychologischen  Thatsachen  vertraut  wäre.  Es  sollten  daher  in  der 
Lehramtsprüfung  auch  Kenntnisse  der  Schulhygiene  verlangt  werden,  die  durch 
Vorlesungen  über  Schulhygiene  zu  vermitteln  wären. 

Auch  die  Methode,  nach  der  unterrichtet  wird,  ist  von  grosser  Bedeutung. 
Unter  Anschluss  an  die  Herb art 'sehe  Methode  verlangt  Verf,  dass  der  Unter- 
richt so  eingerichtet  werde,  dass  die  Stunde  unter  Lustgcföhl,  zum  mindesten  ohne 
Unlustgefnhl  verläuft.  Ref.  stimmt  dem  vollständig  bei,  weil  so  allerdings  ein 
grosser  Theil  der  Haus-  und  Gedächtnissarbeit  entbehrlich  wird. 

Verf.  bespricht  alsdann  in  aller  Kürze  die  Sünden  der  Eltern  in  Bezug  auf 
Schlafzeit,  Musikunterricht  und  Ernährung  ihrer  Kinder.  Es  fand  sich  bei  28*j^ 
der  untersuchten  Schüler  eine  mangelhafte  Schlafzeit,  bei  */s  der  musiktreibenden 
Kinder,  dass  sie  gerade  zu  den  schwächsten  ihrer  Klasse  gehörten,  endlich  bei  mehr 
als  50  ^/o  der  11  bis  12  jährigen  Schüler,  dass  sie  Abends  regelmässig  Bier  oder  so- 
gar Wein  als  Getränk  erhielten.  Von  diesen  Alkohol  geniessenden  Schülern  zeigte 
die  Hälfte  nervöse  Symptome;  Verf.  hält  es  daher  mit  Recht  für  das  richtigste^ 


Die  neuesten  Abhandlg.  u.  Untersuchungen  über  die  Ermüdung  d.  Schuljugend.    841 

dem  noch  in  der  Entwickelung  begriffenen  Organismus  unter  allen  Umständen  den 
Alkohol  in  jeder  Form  ganz  fem  zu  halten.  Femer  warnt  Verf.  aufs  eindringlichste 
davor,  die  Kinder  vorzeitig  in  die  Schule  zu  schicken ;  der  vermeintliche  Zeitverlust 
wird  reichlich  ausgeglichen  dm*ch  regelmässige  Versetzungen  und  normale  körper- 
liche und  geistige  Entwickelung. 

Die  übliche  Pausenordnung  findet  Verf.  auf  Grund  seiner  Messungen  im  All- 
gemeinen richtig.  Jedoch  zeigt  die  Beibehaltung  von  höheren,  einmal  erfolgten 
Ermüdungsgraden,  dass  stärkeren  Ermüdungen  gegenüber,  also  besonders  nach 
Klassenarbeiten,  die  üblichen  Pausen  zur  Erholung  nicht  ausgereicht  haben.  Verf. 
empfiehlt  daher  in  diesem  Falle  die  Pausen  zu  verlängern,  falls  man  nicht  vor- 
zieht, sie  überhaupt  auf  15  Minuten  auszudehnen. 

Von  den  angestellten  Messungen  fanden  90  nach  Turnstunden  statt  und  so- 
mit ist  Verf.  im  Stande,  über  die  Wirkungen  derselben  folgende  Thatsachen  an- 
zuführen. Angenommen  wird  dabei,  dass  nach  der  vorangegangenen  Lehrstunde 
durch  die  Pause  eine  vollkommene  Erholung  stattgefunden  habe.  Nur  8  von  90 
Schülern  (9®/o)  zeigten  nach  der  Turnstunde  völlige  Erholung;  rechnet  man  einen 
durch  das  Turnen  erfolgten  Ermüdungsgrad  von  nur  1  mm  noch  als  Erholung,  so 
waren  21  von  90  Schülern  (23 ^/^^  erholt;  rechnet  man  in  analoger  Weise  2  mm 
Ermüdung  noch  als  Erholung,  so  waren  es  32  von  90  (36,5%),  und  verfährt  man 
endlich  selbst  bei  3  mm  noch  analog,  so  ergaben  sich  37  von  90  (41  ®/o),  also  immer 
noch  nicht  die  Hälfte.  Es  steht  als  fest,  dass  dem  Turnen  der  geistig  regene- 
rirende  Einfluss  nicht  zugeschrieben  werden  darf,  der  vielfach  angenommen  wird. 
Dabei  ist  zu  betonen,  dass  die  obigen  Zahlen  noch  geringer  ausgefallen  sein  würden, 
wenn  nicht  mehrere  der  betreffenden  Turnstunden  Spielstunden  gewesen  wären. 
Es  sind  also  die  Turnstunden  in  ihrer  Wirkung  für  Ermüdung  anderen  Unterrichts- 
stunden völlig  gleichzustellen;  gerade  so  wie  körperliche  Ermüdung  eine  geistige 
herbeiführt,  bedingt  auch  geistige  Ermüdung  eine  körperliche.  Daraus  folgt  ein- 
mal, dass  es  unhyg^enisch  ist,  Turnstunden  zwischen  andere  Lehrstunden  zu  legen, 
femer  dass  dieselben  möglichst  in  Spielstunden  zu  verwandeln  sind.  Auch  diese 
wirken  bei  Schülern,  die  sich  voll  und  ganz  daran  betheiligen,  immer  noch  ermüdend 
genug.  Diese  Spielstunden  sind  auf  den  Nachmittag  zu  verlegen,  der  von  allem 
wissenschaftlichen  Unterrichte  frei  zu  halten  ist.  Denn  die  vom  Verf.  an  31  Schü- 
lern am  Nachmittage  nach  einer  dreistündigen  Pause  vorgenommenen  Messungen 
leigten,  dass  nur  2  (7%)  völlig  erholt  waren,  welches  Resultat  sich  auch  nur  auf 
16%  erhöhte,  wenn  man  noch  1  mm  Ermüdung  als  Erholung  ansah.  Diesen  Zahlen 
gegenüber  ist  leicht  einzusehen,  was  eine  Messung  um  2  Uhr  mitten  während  der 
Yerdauungsthätigkeit  hätte  ergeben  müssen.  Verf.  ist  daher  ganz  entschieden  gegen 
den  wissenschaftlichen  Nachmittagsunterricht,  durch  welchen  eine  dreimalige  Be- 
anspruchung des  jungen  Gehirns  herbeigeführt  wird,  nämlich:  Vormittagsunterricht, 
Nachmittagsunterricht  und  Hausaufgaben.  Er  führt  auch  mit  Hecht  die  nach- 
theüige  Anstrengung  des  Unterrichtenden  dabei  ins  Feld ;  denn  die  Schüler  können 
■ich  der  Schädigung  bis  zu  gewissem  Grade  durch  Unaufmerksamkeit  entziehen, 
der  Lehrer  nicht.  Für  den  Vormittagsunterricht  empfiehlt  er  jede  Lehrstunde  auf 
45  Minuten  zu  beschränken  und  die  Pausen  auf  10 — 15  Minuten  auszudehnen,  gegen 
Sehluss  des  Vormittags  wäre  sogar  eine  noch  weitere  Verkürzung  der  Stunden 
wünachenswerth.  Dabei  müssen  die  Lehrstunden  nach  psychologischen  Gtesichts- 
ponkten,  nach  der  Grösse  der  Inansprachnahme  der  geistigen  Kraft  vertheilt  werden. 
Abgesehen  von  der  Person  des  Lehrers,  die  unvergleichlich  mehr  ausmacht  als  der 
Zeitschrift  für  HypnoUsmos  etc.    Yin.  16 


242  P^^  Plettenberg. 

Stoff,  darf  doch  in  gewissem  Grade  von  einem  fiinflasse  des  Stoffes  geredet  werden, 
und  dieser  ist  vom  Verf.  darch  arithmetische  Mittel  aas  den  Messongen  eimittelt 
worden.  Setzt  man  den  durch  die  Mathematik  henrorgebrachten  durchschnittlichen 
Ermüdungfigrad  =  100,  so  ergab  'sich  für  Latein  91,  Griechisch  90,  Tomen  90, 
Geschichte  85,  Geographie  85,  Rechnen  82,  Französisch  82,  Deutsch  82,  Natorkonde 
80,  Zeichnen  77,  Religion  77.  Dabei  spielt  offenbar  eine  grosse  Rolle  die  Wich- 
tigkeit, die  die  Schüler  den  verschiedenen  Fächern  beilegen;  sicherlich  würde  nch 
an  einer  Realanstalt  eine  andere  Reihe  ergeben.  Mit  einer  alle  Resultate  zusammen- 
fassenden Uebersicht  schliesst  Verf.  seine  beachtenswerthe  Abhandlung. 

Für  Ref.  war  es  interessant  aus  den  angegebenen  Messungen  zn  erfahren,  ob 
durch  die  fünfte  Lehrstunde  eine  wesentlich  höhere  Ermüdung  der  Schüler  be- 
wirkt würde  als  durch  die  vierte.  Es  fand  sich  bei  den  Messungen  der  Raum- 
schwelle am  Jochbein  in  Quarta  im  Mittel  nach  der  ersten  Unterrichtsstunde  16,5, 
nach  der  vierten  15,1  und  nach  der  fünften  15,5.  Bei  den  Messungen  in  Unt«^ 
tertia  entsprechend  13,4.  12,7,  12,9  und  endlich  in  Obertertia  12,4, 13,1, 13,4.  Diese 
Zahlen  geben  deutlich  an,  dass  bei  einem  fünfstündigem  Vormittagsunterricht  am 
Ende  der  fünften  Stunde  die  Ermüdung  sich  nicht  wesentlich  von  derjenigen  von 
der  ersten  Stunde  unterscheidet.  Es  kann  somit  gegen  den  Vormittagsunterricht 
vom  hygienischen  Standpunkte  aus  kein  Bedenken  erhoben  werden. 

F.  Kemsies:  Die  Arbeitshygiene  der  Schule  auf  Grund  von  Er- 
müdungsmessungen. ^)  Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der 
pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie.    Bd.  LI  Heft  I)  64  Seiten. 

Verf.  hat  mit  Hülfe  der  Rechenmethode,  ferner  aber  auch  mit  dem  Ergo- 
graphen  von  Mosso  eine  Anzahl  Ermüdungsmessungen  angestellt,  erstere  bei 
57  Schülern  der  vierten  Klasse  einer  sechsklassigen  Volksschule  zu  Berlin,  letztere 
bei  denselben  und  bei  Schülern  der  fünften  Realschule  zu  Berlin. 

Was  die  ersteren  Versuche  angeht,  so  legt  Verf.  das  Hauptgewicht  auf  die 
(Qualität  der  Leistungen.  Rechenstücke  erweisen  sich  geeigneter  als  Dictate,  weil 
diese  stets  subjective  Ungleichheiten  enthielten,  die  Rechenarbeiten  wurden  ans 
dem  eben  absolvirten  Klassenpensum  für  Kopfrechnen  gewählt,  enthielten  denmaeh 
eine  schwierige  Denkoperation.  Gegenüber  früheren  Versuchen  kommt  hier  die  er- 
müdende Schreibarbeit  sowie  die  andauernde  Schreibhaltung  des  Körpers  in  WegfalL 
Jedes  Arbeitsstück  enthält  12  Exempel  aus  dem  Zahlenkreis  1 — 1000,  je  drei  für 
jede  Grundoperation,  und  für  jedes  Exempel  wurde  anfangs  1  Minute  angesetzt,  um 
jedoch  die  Wirkung  einer  längeren  Arbeitszeit  zu  erforschen  wurde  später  auch 
IVt  Minuten,  einmal  sogar  2  Minuten  gegeben.  Um  störende  Factoren  wie  Un- 
geduld, Unlust  oder  gesteigerten  Arbeitsantrieb  auszumerzen,  wurden  die  Versuche 
mitten  in  der  betreffenden  Lehrstunde  angestellt. 

Aus  den  berechneten  Klassendurchschnitten  ergab  sich  zum  Theil  in  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Erfahrungen  der  Lehrpraxis,  dass  der  erste  und  zweite  Wochen- 
tag die  günstigsten  Resultate  lieferten,  der  Sonnabend  dagegen  die  ungünstigsten; 
dass  für  jeden  Tag  die  erste  Schulstunde  die  beste  Arbeitszeit  des  Tages,  die  letzte 
die  schlechteste  ist;  dass  ausserordentliche  Anstrengungen  in  einer  Lehrstunde  sich 

*)  Vorläufige  Mittheilungen  einiger  Ergebnisse  dieser  Versuche  wurden  in  der 
Deutschen  Medicinischen  Wochenschrift,  Jahrgang  1896.  Nr.  27,  veröffentlicht  unter 
dem  Titel:  Zur  Frage  der  Ueberbürdung  unserer  Schuljugend. 


Die  neuesten  Abhandlg.  u.  Untersuchangen  über  die  Ermüdung  d.  Schuljugend.    243 

in  den  folgenden  ungünstig  bemerkbar  machen ;  und  endlich  dass  langsames  Arbeiten 
bessere  Arbeitsqualität  bedingt.  Diese  Ergebnisse  stimmen  mit  den  Erfahrungen 
des  Ref.  überein  mit  Ausnahme  des  Umstandes,  dass  der  Montag  ausgezeichnet  sei 
durch  den  am  Sonntag  erworbenen  Vorrath  an  geistiger  Frische  und  Widerstands- 
kraft; Ref.  hat  vielmehr  auf  Grund  früherer  Ergebnisse  stets  vermieden,  Klassen- 
arbeiten auf  den  Montag  zu  legen,  da  Zerstreutheit  und  Indisposition  den  Aus&ll 
derselben  stets  ungünstig  beeinflussten. 

Bei  Betrachtung  der  Einzelleistungen  findet  Verf.  vier  verschiedene  Arbeits- 
typen heraus.  Der  erste  Typus  zeichnet  sich  dadurch  ans,  dass  die  Schüler  mit 
vorrückender  Zeit  besser  arbeiten,  der  zweite  umgekehrt,  dass  die  Schüler  morgens 
am  meisten  und  besten  arbeiten;  den  dritten  repräsentiren  die  Schüler,  deren 
Leistungen  an  einer  bestimmten  Stelle  des  Vormittags  ihr  Maximum  erreichen, 
vorher  steigen  und  nachher  fallen,  bei  einem  vierten  Typus  endlich  zeigen  sich  in 
den  mittleren  Zeitlagen  Depressionen.  Um  Durchschnittszahlen  für  diese  Arbeits- 
typen zu  gewinnen,  that  Verf  den  gewagten  Schritt,  an  verschiedenen 
Tagen  angestellte  Versuche,  welche  sich  in  Bezug  auf  die  Zeit  ergänzen,  zu  einer 
vollständigen  Tagesreihe  zu  combiniren,  ja  fehlende  Stundenwerte  durch  Interpolation 
zu  fiziren.  Damit  wird  aber  der  Umstand,  dass  an  den  verschiedenen  Tagen  schon 
durch  den  Stundenplan  verschiedene  Zustände  herrschten,  dass  aber  auch  sicher 
verschiedene  psychologische  i\nd  physiologische  Factoren  die  Resultate  beeinflussten, 
einfach  unberücksichtigt  gelassen.  Auf  Grund  der  so  gewonnenen  Zahlen  kommt 
Verf.  zu  dem  Schluss,  dass  die  Beantwortung  der  Ueberbürdungsfrage  von  der  Be- 
obachtung der  individuellen  Arbeitsverhältnisse  unserer  Schüler  ausgehen  muss, 
also  der  Arbeitstypen,  auf  welche  im  gegenwärtigen  Lehrverfahren  nicht  genügende 
Rücksicht  genommen  wird.  Der  Ueberbürdung  fallen  in  erster  Linie  die  Schüler 
anheim,  die  ihr  Arbeitsoptimum  in  den  ersten  Stunden  erreichen.  Eine  sogenannte 
absolute  Ueberbürdimg,  d.  h.  andauernde  Ermüdung  bei  tieferen  Functions- 
stomngen  (vgl.  Wagner:  dauernd  herabgesetzte  Sensibilität)  war  nicht  zu 
constatiren. 

Eine  zweite  Versnchsgmppe,  welche  die  Bestimmung  der  Arbeitsgeschwindig- 
keit betraf,  diente  als  Vorversuch  für  Ergographenmessungen ;  wir  entnehmen  der- 
selben das  wichtige  Ergebniss,  dass  am  Ende  eines  einstündigen  Versuches  weder 
die  Arbeitsgeschwindigkeit  noch  der  Arbeitswerth  einen  sicheren  Schluss  auf  Er- 
müdung gestatteten,  während  der  Ergograph  überall  ein  enormes  muskulöses 
Minus  anzeigte  und  alle  vier  Schüler  starke  subjective  Ermüdung  empfanden. 

Eine  grössere  Anzahl  Messungen  hat  Verf.  vorgenommen  mit  Hülfe  des  Ergo- 
graphen  an  Schülern  verschiedener  Klassen  einer  Gemeindeschnle  sowie  der  fünften 
Realschule  zu  Berlin.  Bei  allen  diesen  Messungen  erweist  sich  der  Ergograph  als 
der  sicherste  Indicator  für  Ermüdung.  Lässt  sich  das  Sinken  der  Aufmerksamkeit, 
der  Qualität  und  Quantität  durch  den  Willen  der  Schüler  noch  verdecken,  so  ist 
dies  bei  der  Abnahme  der  Muskelkraft  durchaus  nicht  der  Fall.  Es  zeigt  sich 
femer,  dass  ein»  normale  geistige  Arbeit  zunächst  eine  Vermehrung  der  muskulösen 
Leistung  erfolgen  lässt,  der  bei  längerer  Fortdauer  eine  Depression  folgt,  bei  einer 
relativ  grösseren  geistigen  Arbeit  tritt  die  muskulöse  Minderleistung  schon  nach 
kurzer  Zeit  ein. 

Wie  Wagner  mit  Hülfe  der  Griessbach'schen  Methode,  so  hat  auch  Verf. 
auf  seine  Weise  die  einzelnen  Unterrichtsgegenstände  in  ihrer  Wirkung  untersucht 

16* 


941  Pikul  Plettenberg. 

und  folgende  Beihe  gefunden:  Tomen,  Mathematik,  Fremdsprachen,  Beligion, 
Dentsoh,  Natorwissenschaften  und  Geographie,  Geschichte,  Singen  und  Zeichnen. 
Diese  Aufeinanderfolge  mag  sehr  wohl  der  den  einzelnen  E&chem  Ton  den  Beal- 
schiilem  beigelegten  Wichtigkeit  entsprechen.  Verf.  stützt  darauf  sein  VeriaBgen, 
dass  die  Aufeinanderfolge  zweier  anstrengenden  Unterrichtsstunden  im  Lections- 
plane  yermieden  wird,  dass  yielmehr  ein  gewisser  Ausgleich  zwischen  den  einzelnen 
Fächern,  ja  selbst  ein  Ausgleich  zwischen  mehr  und  weniger  anstrengenden  Thatig- 
keiten  in  den  einzelnen  Lehrstunden  erzielt  werde. 

Auf  Grund  seiner  Ergographenmessungen  erklärt  Verf.  die  Ansicht  für  fiüseh. 
dass  die  Stimmung  und  das  Interesse,  welche  der  Unterricht  erreget,  die  Ermüdung 
yerhinderten,  dass  also  der  Unterricht  Lustgefühl  erzeugen  müsse.  Nicht  selten 
fand  sich  bei  den  Schülern  kein  Gefühl  der  Ermüdung,  während  der  Ergograph 
doch  eine  ganz  geringe  Muskelleistung  zeigfte,  und  in  der  Thal  trat  auch  bald  das 
Gefühl  allgemeiner  Abspannung  ein. 

Bei  dieser  Art  der  Untersuchung  erg^ebt  sich  dem  Verf.  ab  Kriterium  einer 
etwaigen  Ueberbürdung  eine  während  einer  längeren  Zeit  andauernde  Muskd- 
depression.  Aus  einer  Anzahl  Messungen  liess  sich  z.  B.  an  fünf  Quartanern  eine 
solche  mit  Bestimmtheit  ablesen,  so  dass  die  Frage  der  zeitweiligen  Ueberbürdung 
der  Schüler  unserer  höheren  Lehranstalten  vom  Verf.  im  bejahenden  Sinne  beant- 
wortet wird.  Bef.  findet  die  Anzahl  der  zu  Messungen  herangezogenen  Schüler 
einer  Klasse  zu  gering,  um  darauf  das  Verlangen  stützen  zu  können,  dass  die 
Schule  diese  Ueberbürdung  beseitige;  mit  Wagner  hält  er  dazu  für  nöthig,  dass 
die  Mehrzahl  der  Schüler  einer  Klasse  dieselbe  Depression  zeigen.  Aber  dennoch 
folgt  auch  nach  Ansicht  des  Bef.  hieraus  die  Nothwendigkeit,  dass  auf  diese  aus 
irgend  welchen  Gründen  leicht  ermüdenden  Kinder  besondere  Bücksiohten  ge- 
nommen und  ihnen  geeignete  Arbeitsbedingungen  verschafiPt  werden  müssen. 

Wir  ersehen  aus  dieser  Abhandlung,  wie  vorzüglich  sich  der  Ergograph  als 
Indicator  für  Ermüdungsbestimmungen  bewährt;  aber  dennoch  gilt  hier  das  gleiche 
wie  bei  der  Griessbach'schen  Methode:  es  fehlt  uns  sowohl  die  mathematische 
Beziehung  zwischen  Ermüdung  und  Abnahme  der  Muskelkraft  als  auch  die  Be- 
stimmung derjenigen  andauernden  Muskeldepression,  mit  welcher  eine  als  gesund- 
heitsgefährlich anzusehende  geistige  Ermüdung  verknüpft  ist. 

M,  Brahn:  Die  Geisteshygiene  in  der  Schule.  (Deutsche  medicinische 
Wochenschrift,  1897,  Nr.  26,  pag.  419—422.) 

Verf.  beschränkt  sich  darauf  die  Ergebnisse  der  Forschungen  über  Ermüdung 
und  Ueberbürdung  einerseits  und  über  physiologische  Entwickelung  des  Kindes 
andererseits  auseinander  zu  setzen  und  daraufhin  vom  Standpunkte  des  Arztes 
einige  prac tische  Vorschläge  über  Unterricht  und  Ferien  zu  machen,  die  wir  im 
Folgenden  anführen. 

Die  Unterrichtslänge  hat  sich  nach  dem  Alter  der  Schüler  zu  richten.  Di» 
liLnge  einer  Lehreinheit  darf  für  das  Alter  von  6 — 9  Jahren  nur  20—25  Minuten 
betragen,  von  9 — 12  Jahren  30 — 35  Minuten,  für  die  höheren  Lebensjahre  40—50 
Minuten,  und  diese  Zahl  darf  sie  nur  in  den  höchsten  Klassen  der  höheren  Lehr- 
anstalten unter  besonderen  Umständen  überschreiten.  Die  Zahl  der  Lehrstunden 
an  einem  Tage  soll  vom  6.-9.  Jahre  von  täglich  2  zu  3  Stunden  aufsteigen,  vom 
9. — 12.  Jahre  von  täglich  3  zu  4  Stunden,  und  vom   12.  Jahre  an  soll  ^albnahlieh 


Die  neoesten  Abhandig.  a.  Untenachungen  über  die  Ermüdung  d.  Schaljagend.    346 

die  fünfte  Stunde  hinzugefügt  werden.  Nachmittagsunterricht  ist  zu  beseitigen. 
Dementsprechend  schwankt  die  Länge  der  Pausen;  sie  ist  mindestens  10  Minuten, 
bei  30—36  Minuten  Unterricht  ist  sie  nach  der  zweiten  oder  dritten  Lehreinlieit 
auf  15  Minuten  zu  erhöhen,  bei  40  Minuten  Unterricht  und  noch  darüber  ist  mit 
einer  Pause  von  10  Minuten  zu  beginnen  und  dieselbe  mit  jeder  Stunde  um 
5  Minuten  zu  erhöhen.  Ref.  findet  die  Ausführung  eines  solchen  Stundenplanes 
mit  den  grössten  Schwierigkeiten  verknüpft,  für  grössere  Anstalten  unmöglich; 
müssten  doch  schon  die  Klassen  mit  verschiedener  Länge  der  Lehreinheit  und  der 
Pausen  in  getrennten  (Gebäuden  untergebracht  werden ,  damit  sie  sich  durch  die 
mit  den  Pausen  nothwendig  verbundene  Unruhe  nicht  gegenseitig  stören  würden. 
So  wünschenswerth  die  Durchführung  solcher  Vorschläge  auch  wäre,  ebenso  weit 
sind  wir  von  der  Erfüllung  dieses  Wunsches  entfernt. 

Weit  leichter  auszufüllen  ist  das  Verlangen  des  Verf  bei  Anordnung  der 
lß%cher  auf  dem  Stundenplane  Rücksicht  zu  nehmen  auf  den  Ermüdungswerth«  der 
einzelnen  Fächer  (vgl.  oben  Wagner  und  Kern si es);  Turnen  ist  nie  zwischen 
zwei  andere  Lehrstunden  zu  legen. 

Was  die  Anordnung  der  Ferien  angeht,  so  sind  diese  nach  den  physiologischisn 
Entwickelungsschwankungen  des  Kindes  im  Laufe  des  Jahres  zu  legen,  welche  aber 
erst  einer  eingehenden  Beobachtung  zu  unterziehen  sind.  Vollständig  bekannt  sind 
aber  die  Entwickelungsschwankungen  des  Kindes  im  Laufe  der  Jahre  bis  zur 
Pubertät  hin,  und  auch  auf  diese  ist  Rücksicht  zu  nehmen  von  Seiten  der  Schule. 
Namentlich  das  10.  und  11.  Jahr  bedarf  der  Schonung  und  sollte  daher  mehr  zur 
Vertiefung  des  vorhandenen  als  zu  reicher  Aufnahme  neuen  Wissens  verwandt 
werden.  Der  Schwerpunkt  des  Unterrichts  muss  aus  dem  Kindesalter  in  das  Alter 
der  kräftigen  Pubertät  verlegt  werden. 

Endlich  verlangt  Verf.  mit  Kemsies,  dass  von  der  Schule  Rücksicht  ge- 
nommen werde  auf  schwächere  Schüler;  die  Möglichkeit  eines  gesundheitsgemässen 
Unterrichts  ist  an  die  Bedingung  geknüpft,  körperlich  schwache,  geistig  minder- 
befähigte, nervös  prädisponirte  Schüler  in  kleineren  Abtheilungen  besonders  zu 
unterrichten,  wie  es  schon  seit  mehreren  Jahren  von  R.  Seyfert  an  der  Volks- 
•chole  zu  Zwickau  mit  Erfolg  durchgeführt  ist. 

H.  Schüler  :DerStundenplan.  Ein  Kapitel  aus  der  pädagogischen  Psycho- 
logie und  Physiologie.  (Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  päda- 
gogischen Psychologie  und  Physiologie.    Bd.  I.    Heft  I.)    65  Seiten. 

Verf.  giebt  uns  in  seiner  äusserst  werthvollen  Abhandlung  ausser  einer  Kritik 
der  vorhandenen  Methoden  zur  Messung  der  Ermüdung  den  Weg  an,  den  die 
Sehule  selbst  gehen  muss,  um  sich  behufs  annähernd  richtiger  Beurtheilung  der 
Arbeitskraft  und  der  Leistungen  der  Schüler  während  des  Unterrichts  Beobachtungs- 
material  zu  schaffen  und  zwar  solches,  welches  der  Wirklichkeit,  den  alltäglichen 
Verhältnissen  entspricht.  Es  dienen  ihm  dazu  schriftliche  Klassenarbeiten,  Memorir- 
versnche  und  eigentliche  Denkarbeiten,  wie  sie  der  Untemcht  in  seinem  Gbinge 
mit  sich  bringt. 

Der  erste  Theil  behandelt  den  Schulanfang,  den  Schulschluss  und  die  da- 
zwischen liegenden  Unterbrechungen  der  Unterrichtsthätigkeit.  Kann  man  auch 
aas  den  Ergebnissen  der  Versuche  von  Mosso,  Kraepelin,  Burgerstein, 
Sikorski,  Höpfner  richtige  Folgerungen  für  die  Thätigkeit  in  der  Schule  nicht 


246  ^Aul  Plettenberg. 

■ 

ohne  bedeutende  Einschrankang  und  Oorrector  ziehen,  da  sie  aüe  an  ca 
Einförmigkeit  der  Aufgaben  leiden  und  überhaupt  dem  gewöhnlichen  Schulunter- 
richt durchaus  nicht  entsprechen,  so  ist  doch  sicher,  dass  im  Schulunterrichte  wie 
bei  jeder  körperlichen  und  geistigen  Arbeit  Ermüdung  stattfindet,  und  dass  nur 
der  Schlaf  ein  rollkommenes  Ausgleichsmittel  ist.  Dieser  ist  mit  Axel  Key  fSr 
das  Alter  von  6—18  Jahren  auf  12 — 9  Stunden  zu  bemessen,  und  danach  hat  sich 
der  Schulanfang  zu  richten.  Doch  lässt  sich  Bestimmtes  darüber  nicht  festsetzen, 
denn  die  Verhältnisse  der  einzelnen  Gross-  und  Kleinstödte  sprechen  mit.  Im  All- 
gemeinen wird  der  Schulanfang  in  Grossstädten  im  Sommer  weiter  hinau^eachoben 
werden  müssen,  da  hier  die  Schüler  nicht  wie  in  kleineren  Städten  und  auf  dem 
Lande  schon  um  8,  9  IThr  Abends  die  nöthige  Ruhe  zum  Schlafe  finden  werden. 
Selbstverständlich  hat  sich  der  Schulanfang  auch  nach  dem  Alter  der  Schüler  zu 
richten;  im  Allgemeinen  sollte  für  die  drei  ersten  Schulklassen  der  Unterricht  nicht 
▼or  9  Ohr  beginnen.  Verf.  ist  durchaus  gegen  den  Gebrauch  während  des  ganzen 
Sommersemesters  den  Unterricht  schon  um  7  Uhr  beginnen  zu  lassen;  er  empfiehlt 
die  Einrichtung  am  Gymnasium  zu  Giessen.  wo  seit  langen  Jahren  erst  von  Pfingsten 
an  der  Unterricht  bis  auf  TV«  vorgeschoben  wird.  Bei  der  Bestimmung  des  Schnl- 
schlusses  hat  man  mit  den  zwei  Möglichkeiten  zu  rechnen,  den  wesentlich  geistige 
Thätigkeit  fordernden  Unterricht  auf  Vor-  und  Nachmittag  zu  veriheilen  oder  ihn 
auf  den  Vormittag  allein  zu  legen.  Den  Unterricht  überhaupt  auf  den  Vormittag 
zu  beschränken  ist  bei  der  von  den  Lehrplänen  vorgcscliriebenen  hohen  Stundenzahl 
wenigstens  für  die  höheren  Klassen  unmöglich.  Die  zweite  Möglichkeit  bringt  einen 
fün^tündigen  Vormittagsunterricht  mit  sich,  und  da  ein  solcher  die  Schüler  nicht 
in  höherem  Maasse  ermüdet  als  ein  vierstündiger  (vgl.  die  Schlussbemerkung  des 
Kef.  zu  der  oben  besprochenen  Abhandlung  von  Wagner),  dem  sich  nach  einer 
zweistündigen  Mittagspause  noch  zwei  Lehrstunden  anschliessen.  so  ist  eine  solche 
Einrichtung  der  früheren  weit  vorzuziehen,  noch  dazu,  da  durch  die  zwischen- 
gelegten Pausen  die  fünf  Stunden  wesentlich  verkürzt  werden.  Was  die  Pausen 
angeht,  so  empfiehlt  Verf.,  dem  Gange  der  Ermüdung  entsprechend  die  Arbeitspausen 
entweder  foridauemd  wachsen  oder  die  Arbeit  leichter  werden  zu  lassen,  am  besten 
wäre  es,  beides  zu  verbinden.  Als  Muster  fuhrt  er  die  Verhältnisse  am  Gymnasium 
zu  Giessen  an.  *)  Verf.  sieht  es  als  selbstverständlich  an,  dass  in  den  Pausen  jede 
Fortsetzung  der  in  den  Schulstunden  geübten  geistigen  Thätigkeit  ausgeschlossen 
wird,  und  Kef.  schliesst  sich  diesem  Verlangen  durchaus  an.  Den  Grund  dafür,  dass 
bei  den  höheren  Schulen  an  kleineren  Orten  an  der  alten  Einrichtung  des  gleieh- 

M  Vgl.  pa^.  12 :  n  Am  Gymnasium  in  Giessen  wird  seit  1883  folgende  Pausen- 
ordnung eehanahabt :  Die  Vorschulen  und  die  Klassen  VI  und  V  nach  der  ersten 
Stunde  10  Minuten,  alle  Klassen  nach  der  zweiten  Stunde  15  Minuten,  nach  der 
dritten  Stunde  10.  nach  der  vierten  ebensoviel.  Dabei  mindert  sich  die  Dauer  der 
Stunden,  je  weiter  der  Vormittag  vorrückt :  bei  dem  Schulan£uig  um  8  Uhr  ist  die 
erste  Stunde  nur  für  die  Schüler  von  IV  aufwärts  voll,  für  die  übrigen  betragt  sie 
nur  55  Min.,  die  zweite  beträgt  für  die  kleineren  Schüler  48  Min.,  für  die  j^rosseren 
53,  die  dritte  tur  alle  Schüler  47  Min.,  die  vierte  50.  die  fünfte  40  Min.;  der  Unterricht 
sohliesst  um  12^4  Uhr.  so  das^  um  1  Uhr.  der  hier  gewöhnlichen  Essenszeit,  alle 
Schüler  zu  Hause  sind.  Im  Winter,  d.  h.  vom  1.  Nov.  bis  zum  Schluss  des  Winter- 
semesters. l>eginnt  der  Unterricht  um  8*t  Uhr.  Dabei  währt  die  erste  Stande  für 
die  Schüler  bis  V  einschliesslich  50  Min.,  für  die  übrigen  55.  die  zweite  für  alle 
Schüler  50.  die  dritte  ebensolange,  die  vierte  nur  45  und  die  fünfte  nur  40  Min. 
Der  Unterricht  schliesst  präcis  1  Uhr.** 


)      i  e  nenesten  Abhandig.  u.  üntersachongen  über  die  Ermüdung  d.  Schuljagend.    247 

artigen  Vor-  und  Naohmittagsnnterrichts  so  festgehalten  wird,  während  gerade  hier 
die  neaere  Eintheilung  mit  Leichtigkeit  durchzuführen  wäre,  findet  Verf.  nur  im 
^Hängen  am  Hergebrachten  neben  der  Sorge,  was  man  mit  den 
Kindern  anfangen  solle,  wenn  sie  nicht  auch  einige  Stunden  des 
Nachmittags  die  Schule  in  Aufsicht  und  Verwahr  nähme.  Der 
Unterricht  beginnt  um  2  Uhr,  also  zueinerZeit,  wo  die  Verdauung 
noch  nicht  beendet  ist;  die  Wirkung  der  Mahlzeit  bezüglich  der 
Ermüdung  wird  durch  zweistündigen  Unterricht  YÖllig  aufge- 
hoben, und  nach  dem  Unterricht  müssen  die  Schüler  alsbald  wieder 
—  und  gerade  im  Winter  —  an  ihre  Hausarbeiten  gehen.  Diese 
physiologisch  und  psychologisch  verkehrten  Verhältnisse  werden 
zwar  einigermaassen  durch  die  guten  Luftverhältnisse,  die  ein- 
fachere Lebensweise  und  die  ländliche  Ruhe  dieser  kleinen  Städte 
compensirt;  aber  sie  erklärenzum  Theil,  warum  auch  hier  bereits 
die  Zeitkrankheiten  der  Neurasthenie,  Bleichsucht  und  Scrophu- 
lose  in  grosser  Ausdehnung  auftreten." 

Ln  zweiten  Theile  bespricht  Verf.  die  Vertheilung  der  Lehrzeit  auf  die  ein- 
zelnen Lehrgegenstände.  Bei  dieser  Gelegenheit  kommt  er  auf  die  Untersuchungen 
Griessbach's,  Wagner's  und  Ebbinghaus' zu  sprechen.  Die  von  den  beiden 
ersten  durch  Messungen  mit  dem  Aesthesiometer  aufgestellten  Thatsachen  finden 
sich  sämmtlich  schon  auf  dem  Wege  der  Beobachtung  abgeleitet  in  früheren  Ab- 
handlungen des  Verfassers,  ^)  was  sehr  wichtig  ist,  da  wir  über  den  psycho-physio- 
logischen  Zusammenhang  zwischen  geistiger  Thätigkeit  und  Herabsetzung  der  Sen- 
sibilität noch  nichts  wissen.  Was  die  Ebbingh  aus 'sehen  Versuche  angeht,  so 
kann  sie  Verf.  selbst  in  der  vorsichtigen  Art,  wie  sie  angestellt  wurden,  nicht  für 
geeignet  ansehen,  den  wirklichen  Einfluss  des  Schulunterrichts  festzustellen;  die 
Rechenmethode  leidet  unter  der  grossen  Langweiligkeit  des  anhaltenden  Rechnens, 
die  Gedächtnissmethode  forderte  eine  die  Kräfte  des  Durchschnittsschülers  über- 
steigende Thätigkeit  und  die  Combinationsmethode,  so  geistreich  sie  auch  sei,  brachte 
eine  dem  Schüler  ganz  ungewohnte  Thätigkeit  mit  sich,  bei  der  der  grosse  Einfluss 
der  Uebung  und  Gewöhnung  nicht  wirken  kann.  Es  müssen  vielmehr  Proben  ge- 
funden werden,  die  dem  wirklichen  Unterrichte  entnommen  und  in  ihm  ohne 
Schädigung  des  Unterrichts  durchzuführen  sind.  Verf.  giebt  nun  den  Weg  an,  wie 
die  Schule  sich  selbst  ein  derartiges  Beobachtungsmaterial  schaffen  kann,  das  der 
Wirklichkeit,  den  alltäglichen  Verhältnissen  entspricht.  Dabei  setzt  er  voraus,  dass 
die  Untersuchung  in  der  Hand  von  Klassenlehrern  liegt,  die  mit  einem  ausgedehnten 
Stundensatze  in  ihrer  Klasse  vertraut  sind. 

Als  bestes  Versuchsmaterial  bieten  sich  die  schriftlichen  Klassenarbeiten,  doch 
dürfen  dieselben  nie  eine  längere  Zeit  als  höchstens  40  Minuten  beanspruchen,  und 
femer  muss  dem  Schüler  bekannt  sein,  dass  die  Ergebnisse  der  Arbeiten  nie  zu 
seinem  Nachtheile  bei  Beurtheilung  seiner  Reife  verwandt  werden,  wie  es  im 
Groesherzogthum  Hessen  thatsächlich  auf  Verordnung  des  Ministeriums  der  Fall 
ist  Auf  diese  Weise  ist  ein  Faktor,  der  auf  schwache  Schüler,  auf  ängstliche  und 
nervöse  Naturen  seine  schlimme  Wirkung  übt,  beseitigt.     Endlich  empfiehlt  Verf. 

M  H.  Schiller:  Entsprechen  unsere  Stundenpläne  den  Anforderungen  päda- 
ogiscner  Psychologie?  In  Frick  u.  Meier,  Lehrproben  und  Lehrgänge.  Heft  14.  — 
~  Schiller:  Die  schulhygienischen  Bestrebungen  der  Neuzeit.  Frankfurt  a.M  1894. 


If 


348  Pa^  Flettenberg. 

solche  Extemporalien,  die  nach  Torgesprochenem  deutechen  Text  sofort  in  der 
fremden  Sprache  niedergeschrieben  werden;  störende  Gedanken  können  sieh  hier 
Tiel  weniger  eindrängen,  und  der  Aus&ll  wird  sich  meist  nor  nach  dem  Mmum» 
und  der  Sicherheit  der  Kenntnisse  unterscheiden.  Von  5  zu  6  Minuten  ist  fon 
den  Schülern  die  abgelaufene  Minutenzahl  nach  Angabe  des  Lehrers  an  die  SteBe 
zu  schreiben,  an  der  sie  grade  beschäftigt  sind.  Dadurch  wird  dem  Lehrer  er- 
möglicht, die  Oeschwindigkeit  der  Arbeit  sowie  die  etwaige  Abnahme  der  Arbeits- 
kraft und  ihre  Folgen  zu  bestimmen.  Ebenso  lässt  sich  der  Einfluss  der  Uebnng 
uÄd  endlich  die  geistige  Ermüdang  an  Fehlem  besonderer  Art  feststellen.  Der 
Eintheilnng  der  Fehler  in  besondere  Kategorien  legt  Verf.  den  grössten  Werth 
bei.  Neben  diesen  schriftlichen  Proben  muss  aber  auch  dem  mündlichen  Unter- 
richte Beobachtungsmaterial  abgewonnen  werden.  Dazu  dienen  zunächst  «Me- 
morirversuche  an  mntter-  und  fremdsprachlichen  Stoffen  am  An- 
fang, in  der  Mitte  und  am  Ende  der  Stunde,  ferner  in  der  ersten 
bis  fünften  Stunde.  Um  zu  einigermaassen  brauchbaren  Ergeb- 
nissen zu  gelangen,  müssen  die  Memoriraufgaben  von  annähernd 
gleicher  Schwierigkeit  sein,  was  bei  Gedichten,  kleinen  Lese- 
stücken, Yocabeln,  Regelbeispielen,  Einprägung  mathematischer 
Formeln  und  Lehrsätze,  Jahreszahlen,  geographischen  £ii|sel- 
heiten  und  Zahlen  verhältnissmässig  leicht  herbeizuführen  ist,  da 
es  auf  die  Exactheit  eines  naturwissenschaftlichen  Versuchs  dabei 
nicht  ankommt".  Zu  diesen  einfachen  Gedächtnissübungen  gesellen  sich  dann 
solche,  die  auf  die  eigentliche  Denkarbeit  ausgehen.  ^Hierbei  ist  in  erster 
Linie  an  Eztemporirübungen  im  Uebersetzen  fremdsprachlicher 
Schriftsteller  zu  denken,  weil  sich  auch  hier  am  leichtesten  an- 
nähernd gleichwerthige  Aufgaben  stellen,  und  die  Ergebnisse  sich 
am  leichtesten  feststellen  und  buchen  lassen.  Ihnen  zunächst 
könnten  kurze  zusammenziehende  Referate  über  einen  bekannten 
Gegenstand,  einfache  Beschreibungen,  Dispositionen  u.  a.  in  Be- 
tracht kommen.  Endlich  müssen  eine  besonders  wichtige  Rolle 
Uebungen  spielen,  bei  denen  sich  die  Anffassungsfähigkeit  und 
damit  die  Möglichkeit  ungeminderter  Aufmerksamkeit  feststellen 
lässt  für  etwas,  was  der  Lehrer  ohne  Benutzung  eines  Buches  Tor- 
spricht,  Yorerzählt,  erklärt,  zeigt".  Solche  Versuche  sind  so  häufig,  wie 
möglich  anzustellen,  und  Verf.  hält  es  dabei  am  zweckmässigsten,  wenn  für  dieeen 
Zweck  die  Klasse  in  nicht  mehr  als  fünf  Gruppen  getheilt  wird  und  in  jeder 
Stunde  die  Schüler  einer  solchen  Gruppe  geprüft  werden.  Endlich  sind  diese  Be- 
obachtungen nicht  auf  Wochen  und  Monate  zu  beschränken,  sondern  auf  eine 
Schülergeneration,  also  auf  6 — 9  Jahre  auszudehnen.  Erst  dann  werden  wir  in  der 
Lage  sein,  zu  entscheiden,  ob  und  in  welcher  Richtung  in  unserem  höheren  Schnl- 
wesen  Aenderungen  nöthig  werden. 

Was  nun  die  psychologisch  richtige  Anlage  des  Stundenplanes  angeht,  so  ist 
die  erste  Stunde  stets  denjenigen  Fächern  zu  überlassen,  welche  regelmässige 
Klassenarbeiten  verlangen ;  jedes  derartige  Fach  erhält  also  wöchentlich  mindestras 
eine  Anfangsstunde.  Da  die  erste  Stunde  am  meisten  ermüdet,  muss  die  zweite 
Stunde  für  solche  Gegenstände  gewonnen  werden,  welche  mehr  die  Ergebnisse  des 
gesanmiten  Unterrichts   inhaltlich  verwerthen,  wie  Religion,  Deutsch,  Geschichtet 


Die  neuesten  Abhandlg.  u.  Untersuchungen  über  die  Ermüdung  d.  Schuljug^end.    S49 

Ideographie  und  schon  durch  den  Stoff  an  und  für  sich  interessiren.  Nach  der 
zweiten  Stunde  findet  am  Gymnasium  zu  Giessen  eine  Pause  von  16  Minuten  statt, 
durch  welche  eine  bedeutende  Herabsetzung  der  Ermüdung  zu  erwarten  ist;  mithin 
wird  die  dritte  Stunde  dem  mathematischen  und  fremdsprachlichen,  die  vierte  dem 
fremdsprachlichen  Unterrichte  zuertheilt.  In  die  fünfte  Stunde,  wo  die  Schüler  am 
wenigsten  leistungsföhig  sind,  müssen  wieder  Unterrichtsgegenstände  gelegt  werden, 
die  sie  besonders  interessiren,  wie  Naturwissenschaften,  Zeichnen,  Schreiben,  Singen, 
Spielen.  Bei  Beibehaltung  des  gewöhnlichen  Nachmittagsunterrichtes  fallen  die 
eben  angeführten  Disciplinen  in  die  vierte  Vormittagsstunde,  während  die  erste 
Nachmittagsstunde  für  die  fremden  Sprachen  anzusetzen  ist.  In  diesen  ist  dann 
eine  vorwiegend  befestigende  und  wiederholende  Thätigkeit  auszuüben.  Solche 
Fächer,  denen  nur  zwei  Wochenstunden  zukommen,  empfiehlt  Verf.  aus  methodischen 
Oründen  auf  zwei  nacheinanderfolgende  Tage  zu  legen,  wenn  nicht  gar  unmittelbar 
hintereinander  anzusetzen. 

Ausführlich  bespricht  Verf.  alsdann  die  Concenlration  des  Unterrichts,  wobei 
wir  als  besonders  wichtig  die  Forderung  erwähnen,  auch  für  die  obere  und  oberste 
Stufe  die  Concentration  in  der  Person  des  Lehrers  durchzufahren.  Liegen  z.  B. 
die  sprachlich-historischen  Fächer  in  einer,  die  mathematisch-naturwissenschaftlichen 
in  einer  anderen  Hand,  so  lässt  sich  durch  Hintereinanderlegung  der  ersteren  resp. 
der  letzteren  erreichen,  dass  der  Lehrer  eine  angefangene  Gedankenarbeit  durch 
zwei  bis  drei  Stunden  fortsetzt,  z.  B.  eine  an  die  griechische  Leetüre  anknüpfende 
Meditation  auch  durch  die  eigentlich  dem  Deutschen  und  der  Geschichte  ange- 
hörigen  Stunden,  wenn  nur  bei  nächster  Gelegenheit  in  den  letzten  Disziplinen 
dasselbe  geschieht.  Auf  diese  Weise  „bleibt  Zusammengehöriges  bei- 
sammen und  vermag  dadurch  um  so  rascher  und  zugleich  um  so 
energischer  zu  wirken.  Zeit  und  Kraft  werden  gespart,  weil  nicht 
in  jeder  Stunde  die  abgebrochene  Arbeit  erst  wieder  aufge- 
nommen werden  muss." 

Zum  Schlüsse  kommt  Verf.  auf  die  Forderung  Kraepelins  und  Anderer 
(Kemsies,Brahn)zu  sprechen,  die  Schüler  nach  ihrer  Arbeitsfähigkeit  in  Gruppen 
zu  trennen.  Er  zeigt,  dass  die  Durchführung  einer  solchen  Maassnahme  auf  grosse 
Schwierigkeiten  stossen  würde.  Dagegen  verlangt  er  zur  Entlastung  schwacher 
Schüler  erstens,  dass  die  Eltern  ihre  Kinder  nur  den  Schulen  zuführen,  welche 
für  deren  geistige  Kraft  die  richtigen  sind,  zweitens  die  Verminderung  der  Zahl 
der  Gymnasien  und  die  Vermehrung  derjenigen  der  Realschulen  und  Fachschulen 
mit  nur  einer  fremden  Sprache.  Allerdings  müsste  dann  auch  die  Kriegsverwaltung 
davon  Abstand  nehmen,  die  Eiigährigenberechtigung  an  die  Erlernung  zweier 
fremden  Sprachen  zu  knüpfen. 

Der  überall  fesselnden  Abhandlung,  deren  ruhiges,  sachgemässes  Urtheil  be- 
sonders anzuerkennen  ist,  sind  Normalstundenpläne  im  Anhange  beigegeben. 

A.  Binet  et  V.  Henri:  La  fatigue  intellectuelle.  (Paris,  Schleicher 
fröret)  1898.    338  pag. 

Die  Verf.  stellen  sich  die  Aufgabe,  in  diesem  Lehrbuche  Alles  zu  vereinigen, 
was  die  Frage  des  Einflusses  der  geistigen  Arbeit  auf  den  Organismus  und  ver- 
schiedene psychische  Functionen  angeht,  um  zum  Schlosse  zu  zeigen,  daas  die  Frage 


250    I^ftol  Flettenberg.    Die  neuesten  Abhandlungen  und  Untennohinigen  etc. 

der  Ueberbnrdung  der  Schüler,  so  viel  auch  darüber  von  Aerzten  nnd  Pädagogen 
hin  und  her  gestritten  worden  ist.  noch  weit  Ton  ihrer  endgültigen  Entscheidung  ist. 
Das  Buch  zerfällt  naturgemäss  in  zwei  grosse  Abschnitte;  in  dem  ersteren 
werden  die  physiologischen,  im  zweiten  die  psychologischen  Wirkungen  der  geistigen 
Arbeit  besprochen.  Der  erste  behandelt  in  sieben  Kapiteln  den  Rinflniw  derselben 
auf  das  fierz,  die  Blutcirculation,  den  Blutdruck,  die  Körperwärme,  die  Atfamung, 
die  Muskelkraft  und  den  Stoffwechsel.  Für  uns  würde  hier  nur  das  Torletzte  Ka- 
pitel von  besonderem  Interesse  sein,  weil  es  die  Beschreibung  des  Ergographen 
Ton  Mosso  und  der  von  ihm  angestellten  Versuche  enthält  Der  zweite  TheQ 
bespricht  in  drei  Kapiteln  die  in  physiologischen  Laboratorien  namentlich  durch 
Kraepelin  und  seine  Schüler  an  Erwachsenen  angestellten  Untersuchungen,  die 
als  Vorbereitungen  anzusehen  sind  zu  den  in  den  folgenden  vier  Kapiteln  bespro- 
chenen Versuchen  in  der  Schule.  Hier  werden  die  einzelnen  Methoden,  wie  wir 
sie  oben  angegeben  haben,  erklärt,  die  einzelnen  Untersuchungen  von  Sikorski, 
Höpfner,  Friedrich,  Burgerstein,  Laser,  Bichter,  Ebbinghaus  und 
Griessbach  eingehend,  bisweilen  in  breitester  Form  erörtert,  in  ihren  Besultaten 
beurtheilt  und  mit  einander  verglichen.  Ein  Schlusskapitel  fasst  alle  Resultate 
noch  einmal  dahin  zusammen,  dass  wir  von  einer  endgültigen  wissenschaftlichen 
Behandlung  der  geistigen  Ermüdung  noch  weit  entfernt  sind,  wenn  uns  auch  die 
Methoden,  die  zu  einer  solchen  nöthig  sind,  die  Wege  gebahnt  haben. 


Referate  und  Besprechungen. 


P.  J.  MoebiuSj  „Ueber  das  Pathologische  bei  Goethe".  Leipzig  1898, 
Job.  Ambr.  Barth.    Ein  Buch  von  208  Seiten,  für  ein  breiteres  Publicum  bestimmt 

Wer  Goethes  Leben  und  Werke  kennt,  dem  sind  wohl,  von  der  Unbegreif- 
lichkeit des  Genies  einmal  ganz  abgesehen,  von  jeher  einige  Erscheinungen  in 
psychologischer  Beziehung  an  ihm  aufgefallen,  für  welche  die  Erklärungen  der 
Biographen  und  Literarhistoriker  nicht  ausreichen  konnten;  wenn  man  es  nicht 
einsah,  musste  man  es  fühlen.  Hauptsächlich  gehören  dahin  die  Selbstmord- 
gedanken zur  Wertherzeit  und  das  Anfallsartige  in  der  poetischen 
Fruchtbarkeit.  Es  ist  eigentlich  selbstverständlich,  dass  zur  Erklärung  solcher 
Phänomene  das  Wissen  von  Gelehrten  obengenannter  Art  ganz  insufficient,  ja  ge- 
eignet ist,  das  Dunkel  noch  zu  verstärken,  was  hier  waltet.  Wenn  sie  die  Er- 
klärung dennoch  unternehmen,  so  gehörte  das  tbeils  schon  zur  Vollständigkeit, 
theils  reizt  es  ja.  ilir  solche  besonderen  Zustände  die  Ursachen  zu  suchen.  Dass 
diese  jedoch,  nach  herkömmlicher  Weise,  stets  auswärts,  in  den  Verhältnissen,  ge- 
sucht wurden,  statt  die  besondere  Reactionsweise  des  Subjects  oder  ein  unerhört 
complicirtes  Innenleben  desselben  zu  betonen,  worin  trotz  aller  noch  so  mannigfach 
gehäuften,  von  aussen  wirkenden  Verhältnisse  noch  ein  Rest  blieb,  ein  unerklar- 
barer  Rest,  das  ist  das  Fehlerhafte,  man  möchte  sagen  Leichtsinnige,  Flüchtige, 
an  diesen  Biographien  und  Erklärungsversuchen.  Sie  sind  eine  wie  die  andere, 
alle  sehr  genau  eingehend  auf  das  Aeussere;  auf  das  Innere  jedoch  nur,  insofeni 
es  durch  jenes  erklärt  werden  soll;  und  dann  soll  es  eben  auch  erklärt  sein!    Wenn 


Referate  und  Besprechangen.  251 

Goethe  selbst,  wie  wir  bald  boren  werden,  kaam  über  die  psychologische  Erklärungs- 
weise hinausging,  so  entschuldigen  ihn  die  über  100  Jahre,  die  seitdem  verflossen 
sind;  und  doch  findet  man  bereits  bei  ihm  den  Ansatz  zu  einer  physiologischen 
Erklärungsweise,  wenn  man  nur  z.  B.  an  die  Bemerkung  denkt,  welche  er  seinem 
Ausspruch  über  diejenigen  Stellen  Schillers  hinzufügte,  an  denen  Tieck  etwas  aus- 
zusetzen hatte.  Sie  heisst,  nach  Hoebius  S.  125  „Unsere  Correspondenz,  welche 
die  Umstände,  unter  welchen  Wallenstein  geschrieben  worden,  aufs  Deutlichste  vor- 
legt, wird  hierüber  den  wahrhaft  Denkenden  zu  den  würdigsten  Betrachtungen 
Teranlassen  und  unsere  Aesthetik  immer  enger  mit  Physiologie,  Pathologie  imd 
Physik  vereinigen,  um  die  Bedingungen  zu  erkennen,  welchen  einzelne  Menschen 
sowohl  als  ganze  Nationen,  die  allgemeinsten  Weltepochen  so  gut  als  der  heutige 
Tag  unterworfen  sind."  Jene  von  Tieck  getadelten  Schillerstellen  hatten  nach 
Goethe  eine  pathologische  Ursache.  Die  hier  von  Goethe  vorausgeforderte,  natur- 
wissenschaftliche Forschung  sollte,  meint  man,  schon  längst  in  der  Biographik  mehr 
Eingang  gefunden  und  unsere  Erkenntniss  historischer  Personen  beträchtlich  be- 
reichert haben.  Damit  wäre  auch  unsere  Eenntniss  oder  gar  Erkenntniss  dessen, 
was  man  Genie  nennt,  um  ein  Stück  weiter  gekommen.  Aber  es  ist  noch  wenig 
geschehen.  Vor  Allem  ist  es  die  Scheu  vor  dem  Begriff  des  Pathologischen,  die 
ein  frisches  Zugreifen  hindert;  er  hat  ncch  keine  Gleichberechtigung  mit  anderen 
naturwissenschaftlichen  Begriffen.  Wie  er  jetzt  noch  allzu  eng  von  uns  erfasst  ist, 
wie  wir  allzu  wenig  mit  ihm  rechnen,  da  er  uns  noch  nicht  recht  handlich,  noch 
zu  fremd  und  abstossend  ist,  so  will  nicht  leicht  Jemand  der  erste  sein,  ihn  auch 
nur  ganz  behutsam,  sozusagen  homöopathisch,  bei  der  Beurtheilung  übermensch- 
licher, von  uns  hochverehrter  Gestalten  anzuwenden.  *  Trotzdem  ist  es  vielleicht  der 
in  der  eigenthümlich  glücklichen  Mischung  enthaltene  Zusatz  von  Pathologischem, 
der  das  Genie  schafft.  Deshalb  müssen  wir  in  unserer  Betrachtungsweise  von  Per- 
sonen und  Verhältnissen,  sei  es  im  Allgemeinen,  sei  es  im  Einzelnen  und  Einzigen, 
dem  Pathologischen  mehr  Baum  gönnen,  es  uns  gewohnter,  freundlicher  machen, 
damit  wir  von  ihm  lernen  und  uns  zuletzt  mit  ihm  versöhnen  in  dem  Gedanken, 
dass  es  zwar  für  sich  ein  Gift  ist  und  viele  zerstört,  dass  es  aber  auch  eine  freund- 
liche Macht  ist  und  uns  giebt  in  Einzelnen,  was  es  in  Tausenden  vernichtet. 

Zu  solchen  Gedanken  etwa  regt  das  vorliegende,  lebendig  geschriebene  Büch- 
lein an.  Der  Stoff  gliedert  sich  im  Ganzen  in  eine  längere,  das  Pathologische  im 
Allgemeinen  und  soweit  Goethe  davon  Kenntniss  hatte,  berührende  Einleitung  von 
88  Seiten,  in  eine  Reihe  von  Kapiteln,  welche  das  Pathologische  in  den  von  Goethe 
geschaffenen  poetischen  Figuren  betrachtet,  und  zuletzt  in  5  Kapitel,  die  die  patho- 
logischen Momente  in  ihm  selbst  und  seiner  Familie  nachweist.  Selbstverständlich 
ist  das  letztere  das  interessanteste  und  wichtigste,  in  dem  auch  die  beiden  früher 
genannten  auffalligen  Erscheinungen  in  so  geistreicher  wie  einfacher  Weise  ihre 
Erklärung  finden. 

In  der  Einleitung  wird  zunächst  hervorgehoben,  wie  zwischen  geistiger 
Gesundheit  und  Krankheit  keine  scharfe  Grenze  sei  und  wie  man  sich  nicht  den 
Glauben  angewöhnen  dürfe,  dass  nur  in  den  Anstalten  psychisch  Kranke  sich  be- 
fanden. Insbesondere  solcher  auf  der  Grenze  zwischen  Krankheit  und  Gesundheit 
stehenden  seien  im  Leben  viele  anzutreffen,  nur  habe  man  dieser  Thatsache  bisher 
SQ  wenig  Beachtung  geschenkt,  ein  plumper  Materialismus  in  der  medicinischen 
Eniehung  habe  bisher  alles  Geistige  als  quantit^  negligeable  behandelt,  und  wenn 


262  Referate  and  Betprechongen. 

auch  jetzt  überall  psychiatrische  EHiniken  erbaut  worden  seien,  so  lasse  docli  der  Besacii 
derselben  zu  wünschen  übrig  und  fehle  es  noch  vielfach  an  der  Einsicht,  das 8  der 
psychiatrische  Sinn  nicht  blos  in  der  psychiatrischen  Klinik  ron 
Nutzen  sei.  Scharfsichtige  Irrenärzte  hätten  schon  lange  den  ^ck  über  die 
Hauern  der  Anstalt  hinaus  gerichtet,  um  das  Psychopathologische  in  seiner  sJliiifih- 
lichen  Abstufung  bis  zur  evidenten  Geisteskrankheit  zu  studiren.  Für  die  inttlidie 
Auffassung  gebe  es  eine  Norm  einerseits,  das  Abnorme  andererseits.  Das  Almorme 
abbr  sei  gleichbedeutend  mit  krankhaft,  degenerirt  und  stets  wie  dies  mit  Mangeln 
und  Beschwerden  verknüpft.  Das  Interesse  am  Pathologischen  wachse,  wie  die 
schöne  Litteratur  zeige;  der  herrschende  Dualismus  resp.  Spiritualismas  habe  bis- 
her das  Verständniss  der  krankhaften  Geisteszustände  gehindert,  sie  fälschlieher- 
weise  dem  Theologen  und  Philosophen  überwiesen,  bis  Bedürfhisse  der  Praxis  sie 
den  Aerzten  überlieferten,  die  an  der  Hand  der  Erfahrung  und  naturwiasenaehalUieher 
Betrachtungsweise  der  Psychiatrie   die  Stellung  erzwungen,  die  sie  heate  inne  hat 

Nach  einigen  populär- wissenschaftlichen  Erörterungen  über  das  Verhiltniss 
von  Leib  und  Seele,  über  den  Begriff  der  Geisteskrankheit  etc.  wendet  sich  Yerf. 
zu  Goethe  und  dessen  Anschauungen  vom  Pathologischen.  Goethe  war  vermntbUoh 
Dualist  und.  als  Dichter,  natürlich  Psychiker.  denn  dem  Dichter  ist  der  Wahnsimi 
der  höchste  Grad  der  Leidenschaft.  „Dei^ leidenschaftliche  Mensch,**  sagt  Moebins, 
„ist  (im  Sinne  des  Dichters)  der  eigentlich  Gesunde,  gerade  ihm  aber  droht  die 
Gefahr  des  Wahnsinns.  Eben  deshalb  hat  der  Dichter  Interesse  am  Wahnsinn  und 
sozusagen  Respect  vor  ihm.  Wie  könnte  ihn  eine  Geisteskrankheit  anziehen,  deren 
Ursache  eine  ansteckende  Fieberkrankheit  wäre?  Macht  nicht  die  unglfickliohe 
Liebe  oder  Kummer,  Sehnsucht  wahnsinnig,  so  ist  der  Wahnsinn  dichterisch  fiber^ 
haupt  nicht  brauchbar.*'  In  Wirklichkeit  verhält  sich  die  Sache  natürlich  anders. 
Dies  wird  vom  Verf.  nun  auseinandergesetzt  und  hinzugefügt,  dass  die  Leiden- 
schaftlichkeit bereits  ein  krankhaftes  Symptom  ist,  wie  es  an  Tasso,  Roimeaii, 
Lenz,  Lenau  offenbar  geworden.  Mit  hervorragender  Leistungsfähigkeit  auf  einer 
Seite  muss  sich  nach  ganz  natürlichen  Gesetzen  auf  anderer  Seite  eine  Yerminde- 
rung  verbinden,  es  muss  Einseitigkeit  entstehen  und  damit  ein  gewisser  Ghrad  von 
ErankhafLigkeit;  das  Mittelmässige  ist  nicht  interessant;  „die  problematiichep 
Naturen**,  das  Abweichende,  Abnorme  forderten  von  jeher  das  Interesse  des 
Dichters.  Goethe  und  Shakespeare  haben  die  meisten  pathologischen  Gharaetere. 
Doch  kann  der  Dichter  das  Pathologische  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  branohen, 
nämlich  nur  soweit  es  noch  einigermaassen  psychologisch  motivirt  werden  kann; 
sonst  wird  es  unverständlich.  Goethe,  als  Psychiker,  sucht  die  pathologischen  JBr- 
scheinungen  natürlich  psychologisch  auszulegen,  auch  wo  das  nicht  mehr  möglich 
ist.  So  z.  B.  bei  seiner  Besprechung  der  Ophelia  und  noch  fehlerhafter  bei  LUa, 
deren  Geisteskrankheit  er  durch  seelische  Einwirkung  rasch  abheilen  lässig  an- 
schliessend an  alte,  auch  jetzt  noch  populäre  Vorstellungen  und  ohne  Einsidit  in 
den  tiefen  Grund  einer  solchen  Störung.  Es  giebt  eigentlich  nur  eine  seelische 
Krankheit,  deren  Symptome  ausschliesslich  seelisch  vermittelt  sind,  die  Hysterie,  die 
man  deshalb  auch  die  Dichterkrankheit  nennen  könnte  und  die  zu  diagnoatieiren 
man  bei  poetischen  Figuren  oft  versucht  ist. 

Wenn  man  nachforscht,  wie  Goethe  zur  Kenntniss  krankhafter  GeistesroatSode 
gekommen  ist,  so  kann  es  nur  sein,  weil  er  in  seiner  Umgebung  solche  oft  be- 
obachtete oder  davon  las,  ohne  dass  er  eigentlich  je  spedell  psychiatrische  Stadien 


Referate  und  Besprechungen.  253 

betrieb,  obwohl  er  sich  yiel  mit  Medicin  und  dergl.  befasste.  Ja  er  halte  sogar 
einen  Widerwillen  gegen  Irrenanstalten  und  hatte,  wie  er  schreibt,  „schon  genug 
an  denjenigen  Narren,  die  frei  umhergehen.'^  Die  Irrenpflege  war  zur  Jugendzeit 
Qoethes  mangelhaft,  später,  wie  es  scheint,  wenigstens  in  Frankfurt  von  1775  ab 
besser  und  wohl  überhaupt  nicht  überall  so  schlimm  wie  vor  Pinel  im  Bicetre.  An 
der  Weimarschen  Irrenpflege  hat  sich  Goethe  niemals  betheiligt.  BezüglicJ^  einiger 
bei  Goethe  oft  wiederkehi ender  Begriffe  macht  Moebius  nun  noch  erläuternde 
Bemerkungen.  So  war  das  Wort  „Hypochonder"  viel  im  Gebrauch;  dieser  Begriff 
hatte  damals  einen  weiteren  Umfang  und  bezeichnete  man  damit  reizbare,  finstere 
Leute,  Nervenschwache,  Melancholische,  an  Verfolgungswahn  leidende  etc.,  ähnlich 
wie  man  jetzt  alles  Mögliche  „nervös"  nennt.  „Melancholisch"  hatte  ungefähr  den 
gleichen  Sinn  wie  heute,  „wahnsinnig"  hiess  etwa  soviel  wie  geisteskrank  über- 
haupt, speciell  ab^r  wenn  der  Betreffende  allerlei  „GriUen",  d.  h.  Wahnideen 
hatte.  Das  W^rt  „ Verrücktheit-*  war  selten ;  so  wurde  die  Geschichte  von  der  „pil- 
gernden Thörin"  auch  Geschichte  von  einem  „verrückten  Mädchen"  genannt,  ohne 
dass  dies  aber  im  jetzigen  psychiatrischen  Sinn  passte. 

Moebius  geht  nun  im  IL  Theil  über  zur  Betrachtung  der  von  Goethe  ge- 
schaffenen pathologischen  Figuren.  Trotzdem  es  der  längste  Theil  ist,  kann  sich 
das  Referat  hier  am  kürzesten  fassen.  Werther  ist  nach  Moebius  ein  Degcnere 
sup^neur,  bei  dem  es  ohne  äusseren  Anstoss  zum  Selbstmord  nicht  unbedingt  hätte 
kommen  müssen;  ihn  einen  Melancholiker  zu  nennen  wäre  falsch.  Der  im  gleichen 
Roman  geschilderte  Hebephrenische  ist  nach  der  Natur  gezeichnet,  es  ist  der  junge 
Etechtscandidat  Clauer,  der  im  Goethischen  Hause  wohnte;  nur  die  Aetiologie 
—  unglückliche  Liebe  —  ist  hier  nicht  ausreichend.  In  Lila  folgt  Goethe  einem 
alten  Vorbild  aus  dem  Jahre  1660;  der  Effect  (Heilung)  darin  wäre  nur  bei  einer 
Hysterischen  möglich;  Goethe  wollte  in  diesem  Stücke  wohl  nur  zum  Ausdruck 
bringen,  dass  man  sich  aus  krankhaften  Seelenstimmungen  durch  Hinwendung 
zur  Wirklichkeit  befreien  könne.  Allerdings  fallirte  er  mit  dieser  Theorie  bei  dem 
kranken  Plessing,  den  er  auf  der  Harzreise  besuchte.  Aus  „Faust"  interessirt  nur 
Gretchens  Verwirrtheit,  die  besser  als  bei  Ophelia,  ihrem  Vorbild,  motivirt  er- 
scheint durch  vorausgegangene  Schwangerschaft  und  Geburt,  was  indess  wohl 
Goethe  nicht  bewusst  war.  Einige  durch  zufällige  Associalion  entstandene  Flick- 
Terse  geben  der  gebundenen  Rede  mehr  Naturwahrheit,  als  sie  vorher  die  Prosa 
hatte.  In  „Iphigenie"  bleibt  uns  der  Anfall  des  Orestes  und  seine  Heilung  unver- 
ständlich. Den  Tasso  wollte  Goethe  wohl  nicht  als  Faranoiker  hinstellen,  seine 
erste  Idee  wurde  später  durch  allzuenge  Anlehnung  an  das  Geschichtliche  ver- 
schlechtert, da  die  „Grillen"  wahrhaftiger  Verfolgungswahn  sind.  Ref.  will  hier  nicht 
Tergessen,  die  Bemerkung  von  Moebius  anzuführen,  dass  in  diesem  Falle  auch  viel- 
leicht manches  MedicinalcoUegium  hereingefallen  sein  würde.  Es  folgen  nun  noch  die 
Gestalten  des  Harfenspielers,  Mignon.  Graf  und  Gräfin,  „schöne  Seele",  Aurelie, 
alle  aus  Wilhelm  Meister.  Danach  Benvenuto  Cellini;  aus  Wahrheit  und  Dichtung 
Lenz  (Dementia  praecox)  und  Zimmermann,  der  bekannte  Verfasser  der  „Einsam- 
keit", als  pathologische  Personen  aus  Goethes  Bekanntenkreise;  femer  Patholo- 
gisches aus  den  Walverwandtschafben,  Wanderjahren  und  den  kleineren  Erzäh- 
lungen und  einiges  über  das  „Wunderbare"  und  „Dämonische",  wovon  Goethe  so 
oft  spricht. 

Ein  Rückblick  auf  dies  alles  lehrt,  dass  Goethe  bezl.  der  Geistesstörungen  in 
einer  einseitigen  psychologischen  Auffassung  befangen  war,  dass  ihm  das  tiefere 


264  Referate  and  Besprechungen. 

Yentändniss  fehlte  und  er  den  Wahnsinn  nur  als  Steigerung  der  LeidenachafteB 
oder  Folge  der  Leidenschaftlichkeit  ansah.  Die  von  ihm  theilweise  aas  der  Phan- 
tasie geschaffenen  pathologischen  Figuren  entbehren  der  Naturwahrheit,  nur  die 
nach  dem  Leben  geschilderten^  wie  jener  Hebephrene  im  Werther  und  der  Graf  in 
Wilhelm  Meister,  sind  wohlgetroffen.  Trotz  alledem  war  der  Dichter  über  seine 
Zeitgenossen  hinaus  von  der  Wichtigkeit  des  Pathologischen  im  menschlichen  Leben 
durchdrungen,  erkannte  es  mit  seinem  realistischen  Blick,  sobald  es  sich  ihm  zeigte, 
und  —  was  die  Hauptsache  ist  —  nannte  es  beim  Namen. 

Der  III.  Theil  beschäftigt  sich  mit  dem  Pathologischen  an  Goethes  Person 
selbst.  Die  6  Kapitel  behandeln  1.  seine  Familie,  2.  seine  Jugend«  3.  sein  Mannet- 
alter,  4.  sein  Greisenalter,  5.  seinen  Tod.  6.  seine  Nachkommen.  Wie  erwähnt, 
sind  hier  die  beiden  in  der  Einleitung  des  Heferates  genannten  Punkte  am  inter- 
essantesten. Es  soll  nur  kurz  bezüglich  Nr.  1  hervorgehoben  sein,  dass  Moebins 
wie  viele  andere,  Goethe  ebenfalls  als  ein  Beispiel  für  die  richtige  Beobachtung 
Schopenhauers  betrachtet,  wonach  die  Söhne  die  intellectuellen  Eigenschaften 
von  der  3Iutter,  die  moralischen,  die  Character  begründenden  vom  Vater  erben; 
doch  ist  er  keineswegs  mit  einer  so  scharfen  Trennung  der  Psyche  einverstanden 
und  macht  auf  das  Bedenkliche  darin  aufmerksam.  In  Goethes  Vater  war  das 
Pathologische  stark,  wie  es  sich  besonders  im  Alter  zeigte,  wo  es  überwucherte; 
in  der  Mutter  jedoch  war  es  gering.  Schopenhauers  Lehre  als  richtig  an- 
genommen, musste  der  Grossvatcr  Textor  stark  ins  Gewicht  fallen,  und  es  scheint, 
nach  seinen  „Ahnungen  und  Träumen"  zu  schlicssen,  dass,  wenn  auch  latent,  eine 
dichterische  Anlage  in  ihm  steckte.  Eine  stark  pathologische  Natur  war  Goethes 
Schwester  Comclic,  und  es  ist  daraus,  dass  zwei  so  verschiedene  Menschen  von 
einem  Elternpaar  abstammen  konnten,  zu  schliessen,  dass  es  nicht  so  sehr  auf  das 
Was,  sondern  viel  mehr  auf  das  Wie  einer  Mischung  ankommt,  damit  sie  gut  ausfalle. 

Bezüglich  Goethes  Jugend  kommt  Moebius  zunächst  auf  das  Körperliche  in 
sprechen  und  führt  eine  Stelle  aus  einem  Brief  Goethes  an,  die  sich  ausnehme  wie 
die  Ananmcsc  eines  Hypochonders.  Man  ist  wirklich  erstaunt  über  diese  Masse 
hypochondrisch  er  Klagen,  die  im  Wesentlichen  auf  Verdauungsbeschwerden  hinaus- 
laufen, für  die  der  Betroffene  zum  grossen  Theil  den  Kaffee  (!)  —  in  Leipzig!  — 
verantwortlich  macht.  G.  scheint  hauptsächlich  viel  an  Verstopfung  gelitten  haben. 
Die  Blutung,  die  G.  in  Leipzig  hatte  und  selbst  auf  „Lungensucht"  schiebt,  lassi 
Moebius  in  ihrer  Ursache  unaufgeklärt.  Hätte  G.  selbst  recht,  so  könnte  mög- 
licherweise ein  2.  Blutbrechen,  was  er  im  Jahre  1830  hatte,  damit  zusammenhängen. 
vielleicht  in  Folge  eines  Narbcnaneur^'smas.  Gegen  Schwindsucht  spricht  aber  sonst 
Gs.  ganzes  Leben,  welches  sich  mit  einer  solchen  Krankheit  nicht  vertragen  hatte. 
Eher  muss  man  annehmen,  dass  bei  dem  Blutspeien  die  Geschwulst  links  am  Halse 
mit  im  Spiele  war,  die  G.  hinterher  erst  erwähnt,  die  aber  damals  vorhanden  und 
vermuthlich  ein  Absccss  war.  Die  Verdauungsbeschwerden  könnten  auch  an  eine 
Magenblutung  gemahnen,  und  schliesslich  wäre  es  auch  nicht  unmöglich,  dass  es 
eine  „nervöse  Blutung"  war.  deren  wirkliches  Vorkommen  nach  Moebius  bei 
jugendlichen  Nervösen  ausser  Zweifel  ist.  (locthe  war  nervös,  reizbar  und  lebte  in 
einem  fortwährenden  starken  Wechsel  seiner  Stimmungen.  Nun  ist  es  merkwürdig 
zu  sehen,  wie  G.  seit  dem  Strassburger  Aufenthalt  in  einen  wunderbaren  Erregungs- 
zustand geräth,  gepaart  mit  kolossalem  Schaffensdrang.  Dieser  Zustand  fesselt  den 
Blick  des  Psychiaters,  Moebius  verweilt  länger  dabei,  aber  er  kann  ihn  nicht  ent- 
räthseln.    Er  vergleicht  ihn  mit  der  manischen  Erregung,  mit  der  er  wenigstens 


Referate  und  Besprechangen.  255 

eine  formale  Aehnlichkeit  habe;  und  dies  ist  gewiss  richtig.    Hier  hält  sich  leider 
Moebius  zurück,  direct  das  Wort  „pathologisch*'   anzuwenden.    Was  schadet  es 
denn?   Und  zumal  die  zur  gleichen  Zeit  auftretenden  Schwankungen  der  Stimmung 
bis  zur  tiefsten  Melancholie  und  die  dazu  gehörenden  Selbstmordgedanken !    Goethe 
selbst  sucht«  die  letzteren  psychologisch  zu  erklären,  und  zwar  in  allgemeiner  Weise, 
während  Bielschowsky  das  Gleiche  thut,  nur  dass  er  specielle  Gründe  dafür 
bringt;  natürlich  alles  äusserlich.    Hier  wird  unser  Autor  am  lesenswerthesten,  da 
trifft  er  den  Nagel  auf  den  Kopf  und  drängen  sich  geistreiche  Dicta ;  z.  B. :   ,,Da8 
Taedium  yitae  der  Jugend  ist  offenbar  eine  Erscheinung  aller  Zeiten  und  der  ver- 
schiedensten Völker.    Der  junge  Buddha  sah,  dass  nichts  Bestand  habe,  und  er 
Temeinte  das  Leben.    Der  junge  Schopenhauer  schrieb  das  4.  Buch  von  Wille 
und  Vorstellung  .  .  .^     „Man  könnte  sagen,  dass  es  eben  hochbegabten  Menschen 
eigen  sei,  den  Zwiespalt  zwischen  dem  Ideal  und  der  relativen  Nichtigkeit  der  Welt 
besonders  schmerzlich  zu  empfinden  ..."    „In  der  Theorie  zwar  kann  man  Pessimist 
bleiben,  aber  ein  Gefühlpessimist  ist  eigentlich  nur  der  junge  Mensch.   Je  älter  man 
wird,   um  so  mehr  hängt  man  am  Leben.    Das  Taedium  vitae  der  Alterskrankheit 
Melancholie  hat  mit  dem  hier  besprochenen  Taedium  vitae  nichts  gemein,  dieses  ist 
ein  Merkmal  der  Lebensfülle,  jenes  ist  der  Ausdruck  des  Zusammenbruchs  der  per- 
sönlichen Lebenskraft . .  .^    „Man  wird  den  Lebensüberdruss  der  Jugend  psycho- 
logisch nicht  vollständig  erklären  können.     Es  steckt  etwas  Organisches  darin. 
Das  fühlt  ja  auch  Goethe,   der  das  Physische  bei  der  Sache  dem  Arzte  überlassen 
will.     Wenn  nur  der  Arzt  etwas  Rechtes  wüsste!    Das  Thatsächliche  ist,  dass  her- 
vorragende Menschen  nicht  selten  in  ihrer  Jugend  eine  Zeit  des  Lebensüberdrusses 
durchzumachen    haben    und    dass,    wenn    der   Selbstmord    vermieden    wird,    diese 
Stimmung   später   von  selbst   aufhört.     Daraus,    dass   die   Sache   unter   den   ver- 
schiedensten Lebensverhältnissen  im  Wesentlichen  dieselbe  ist,  kann  man  darauf 
schliessen,  dass  ihre  Ursache  im  Menschen  selbst  liegt,  daraus,  dass  sie  beim  Durch- 
schnittsmenschen  fehlt,  darauf,   dass  sie  in  innerer  Beziehung  zu  der  einseitigen 
Gehirnentwickelnng  steht,   ein  Theil   der  Abnormität  ist,  die  das  Genie   darstellt, 
sozusagen  die  ihm  eigene  Jugendkrankheit."     Die  für  diesen  Zustand  in  Anspruch 
genommenen  Ursachen  sind  blosse  Gelegenheitsursachen,  denen  Goethe  selbst  eben 
auch  zu  viel  Gewicht  beilegte.    Ueberhaupt  nennt  Moebius  die  Lehre  vom  Milieu,* 
dass  dieses  allein  den  Menschen  schaffe,  wie  er  ist,  „eine  dumme  und  widerwärtige 
Lehre",  wobei  man  dann  an  die  Denkart  erinnert  wird,  nach  der  in  einem  bis  vor 
Kurzem  vielgelesenen  Buche  von  Goethe  gesagt  ist,  dass  er  ein  ganz  gewöhnlicher 
Schuhmacher  geworden  wäre,  wenn  er  in  dem  nöthigen  Mili^  geboren  und  erzogen 
worden  wäre.    Für  den  oben  geschilderten  Zustand  pathognomonisch  findet  Moebius 
auch  den  Umstand,  dass  nämlich  in  den  Briefen  jener  Zeit  Goethe  nichts  darüber 
•rwähnt.    Die  Production  des  Werkes  war,  wie  nach  Goethe  selbst,  so  nach  Moebius. 
die  endgiltige   Katharsis  von  dem  Pessimismus  und  Taedium  vitae.    Er  überstand 
die  Krankheit,  sonst  hätte  ihm  ein  Schicksal  ä  la  Lenz  gedroht. 

In  seinem  Mannesalter  erscheint  Goethe  ruhig  und  klar,  das  Pathologische  ist 
minimal.  Auffallend  ist  zu  hören,  wie  Goethe  so  leicht  weinte.  Zwar  hatte  er 
das,  wie  es  scheint,  mit  vielen  seiner  Zeitgenossen  gemein ;  wenn  man  aber  genauer 
zusieht,  so  ist  zu  erkennen,  dass  der  Mann  Goethe  von  Zeit  zu  Zeit  Schwankungen 
hatte,  die  man  als  W^iederkehr  der  jugendlichen  Erregung  bezeichnen  kann.  Es 
ist  dies  etwas  Pathologisches  oder  wenigstens  mit  pathologischen  Zuständen  Ver- 
wandtes, es  erinnert  an  die  periodischen  Psychosen,  wie  sie  nicht  nur  in  der  Irren- 


266  Keferate  und  Befprecbnngen. 

anstalt  beobachtet  werden,  sondern  auch  draussen  an  Fallen  von  sog.  „Kerroaitit". 
Der  erste  Anfall  pflegt  in  der  Jagend  zu  erscheinen.  Bei  Goethe  setzte  er  jedes  Mal 
ein  mit  der  Wiederkehr  der  „Herzenspoesie'*  und  erotischer  Erregung ;  so  z.  B.  beim 
2.  römischen  Aufenthalt  und  noch  eine  Zeit  lang  fort  in  Weimar.  Etwas  gelinder 
iu  den  Jahren  1796—97.  Von  1798—1807  war  er  trocken,  unfruchtbar,  1806—180» 
trat  wieder  eine  „Verjüngung"  auf,  ebenso  im  Alter  von  65  Jahren  1814,  alt  er 
den  Divan  schrieb.  Diese  eigenthümliche  Erscheinung  wird  natürlich  von  den  Bio- 
graphen wieder  psychologisch  erklärt.  Allein  diese  Erklärungen  reichen  nicht  ans^ 
wie  schön  es  sich  auch  anhören  mag,  wenn  es  heisst  „die  Liebe  rief  die  Lieder 
hervor;  wenu  Goethe  dies  und  dies  Weib  kennen  lernte,  ergoes  er  seine  Gefühle 
in  die  Lieder*'.  Nein,  nach  Moebius  heisst  es:  „hübsche  junge  Mädchen  und 
Frauen  hatte  Goethe  immer  in  seiner  Nähe.  Aber  er  verliebte  sich  nur,  wenn  die 
Zeit  gekommen  war**;  und  Goethe  selbst  fühlte,  dass  das  Dichten  über  ihn  kam 
wie  ein  Fieber,  dass  er  unter  einem  organischen  Zwange  stand,  dass  er  „mosste^. 
Die  Wiederkehr  der  erregten  Zustände  hat  keine  bestimmte  periodische  Begel, 
doch  dauern  die  Erregungen  selbst  ziemlich  gleich  lang,  etwa  2  Jahre.  Die  letzte 
setzte  im  Jahre  1831  ein  und  dauerte  etwa  IVt  Jahr.  Für  dieses  hohe  Alter  ist 
das  etwas  Erstaunliches,  von  der  gewöhnlichen  Erfahrung  Unerfassbares.  Goethe 
selbst  äussert  sich  darüber :  „Solche  Männer  und  ihresgleichen  sind  geniale  Natoren, 
mit  denen  es  eine  eigene  Bewandtniss  hat;  sie  erleben  eine  wiederholte  Pubertät, 
während  andere  Leute  nur  einmal  jung  sind.**  Bezüglich  der  Producte  der  mhigen 
Zeiten  ist  zu  sagen,  dass  sie  relativ  denen  der  erregten  weit  nachstehen  und  lange 
nicht  dieselbe  packende  Wirkung  hatten  und  haben,  wenn  sie  auch,  absolut  be- 
trachtet, sich  dem  Besten  anreihen.  Ausser  diesen  auffälligen  periodischen  Erre- 
gungszuständen scheinen  bei  Goethe  sehr  häufig  wechselnde  Stimmungen  eingetreten 
zu  sein,  und  als  eine  weitere,  sehr  an  das  Pathologische  gemahnende  Erscheinung, 
die  sich  vielfach  bei  Nervösen  findet,  ist  die  seelische  Spaltung  zu  nennen  („die 
zwei  Seelen**  wie  Goethe  sich  ausdrückt),  derzufolge  er  Faust  und  Mephisto  in  Einer 
Brust  vereinte  und  zur  Zeit  der  leidenschaftlichsten  Erregung  und  höchsten  gemüth- 
liehen  Revolution  sich  selbst  wie  von  Aussen  her  mit  einer  unheimlich  ruhigen 
Kritik  betrachten  konnte. 

lieber  Goethes  Tod  und  seine  Nachkommen  ist  das  Nähere  bekannt,  und  wenn 
auch  für  diesen  Theil  die  geistreichen  kritischen  Bemerkungen  von  Moebius  ihr 
Anziehendes  haben,  so  dürfte  doch  bisher  der  Kern  des  Buches  in  der  Hauptsache 
referirt  sein.  Der  Schluss  kann  nur  sein,  dass  es  ein  fesselndes  Buch  ist,  flüsng 
und  gelenkig  geschrieben,  ohne  viel  theoretisch-wissenschaftlichen  Ballast,  sodass  et 
für  den  gebildeten  Laien  fast  verständlich  sein  dürfte.  Man  muss  sagen  „fast'', 
denn  die  Psychiatrie  ist  schwer  populär  zu  machen,  und  fühlt  sich  nicht  leicht 
Jemand  hindurch,  der  nicht  länger  practisch  damit  zu  thun  gehabt  hat.  Wenn  der 
Biograph  und  sonstige  Laie  wenigstens  nur  glaubt,  was  hier  geschrieben  steht, 
ohne  dagegen  zu  opponiren,  und  selbst  seinen  Blick  ins  Leben  richtet,  so  kann  er 
zu  einer  gewissen  Erfahrung  kommen,  die  ihm  hilft,  das  Geglaubte  noch  etwas  ver- 
ständlicher zu  machen.  Der  Haupt vorzug,  den  Ref.  an  diesem  Buch  findet,  ist  in 
der  Einleitung  des  Referates  genannt:  er  besteht  sozusagen  in  einem  gewissen 
Gefühl  der  Versöhnung,  die  man  danach  mit  jener  dunklen  Macht,  dem  Patho- 
logischen, empfindet.  Man  sieht  es  hier  einmal  nicht  zerstörend,  sondern  hilfreich 
das  höchste  Menschliche  hervorzubringen,  ja  sogar  dazu  nothwendig. 

W  o  1  f  f  -  Mnnsterlingen. 


Kritische  Bemericungen  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Lehre 

vom  Hypnotismus.*) 

Von 

Dr.  philos.  Leo  Hirschlaff,  Arzt  in  Berlin. 


Seit  dem  Erscheinen  der  classischen  Lehrbücher  des  Hypnotismus 
von  MolP),  ForeP),  Bernheim*)  u.  A.,  zu  denen  sich  in  neuerer 
Zeit  die  zusammenfassenden  Werke  von  yan  Renterghem^)  und 
▼  an  Eeden,  Lloyd-Tuckey '^)  und  Loewenfeld*)  gesellt  haben, 
hat  die  Wissenschaft  des  Hypnotismus  in  Theorie  und  Praxis  mannig- 
fache Bereicherungen  erfahren,  die  einer  zusammenhängenden  Dar- 
stellung noch  nicht  unterworfen  worden  sind.  Während  firüher  nur 
wenige  hervorragende  Vertreter  der  Wissenschaften  sich  mit  dem  Problem 
der  hypnotischen  Phänomene  in  wohlwollender  Weise  beschäftigten, 
ist  die  Kenntniss  dieser  Dinge  -gerade  in  den  letzten  Jahren  so  weit 
vorgeschritten,  dass  die  Lehre  vom  Hypnotismus  sowohl  in  der  Praxis 
der  medicinischen  Therapie,  wie  in  den  theoretischen  Wissenschaften 
immer  mehr  Boden  gewinnt.  Wie  jedes  Mal,  wenn  ein  neues  Gebiet 
erschlossen  wird  und  sich  allmählich  zu  einer  Wissenschaft  consolidiert, 
so  tritt  auch  hier  die  Nothwendigkeit  ein,  auf  der  im  Grunde  genommen 
jeder  wissenschaftliche  Fortschritt  beruht:  Kritik  zu  üben  an  den 
Leistungen  und  Ergebnissen  der  Forschung,  das  wissenschaftlich  Werth- 
voUe  von  dem  Werthlosen  zu  sondern  und  aus  der  vorurtheils&eien 
Beobachtung  der  Thatsachen  Material  zu  gewinnen  zu  einer  immer 
schärferen  Fassung  der  Begriffe  und  vor  Allem  zur  sachlichen  Erklärung 
der  beobachteten  Erscheinungen.  Gerade  in  dieser  Beziehung  hat  sich 
in  den  letzten  Jahren  vielleicht  ein  Nachlass  der  Bemühungen  geltend 
gemacht.  Anstatt  den  Begriff  der  Suggestion,  der  seit  Delboeuf's 
Ausspruche  auf  dem  1892  er  Congresse  für  experimentelle  Psychologie  in 

*)  Nach  einem  Vortrage,  gehalten  am  30.  VI.  1898  in  der  Psychol.  GeseÜBchaft, 
Abtheilung  Berlin. 

Zeitschrifk  fUr  Hsrpnotismtts  etc.    Vin.  17 


268  ^^0  Hirschlaff. 

London  im  Mittelpunkte  der  Discussion  steht,  immer  schärfer  zu  prft- 
cisiren  imd  gegen  verwandte  Erscheinungen  abzugrenzen,  hat  sich  die 
Neigung  herausgebildet,  beinahe  jeden  seelischen  Act  als  Suggestion 
zu  bezeichnen  oder  doch  auf  Suggestion  bezw.  Autosuggestion  zorück- 
zufiihren,  so  dass  das  Characteristische  dieses  Begriffes  sich  immer  mehr 
verliert.  Ein  Beispiel  für  diese  Behauptung  liefert  u.  A.  Stoll^  in 
seiner  Schrift  über  die  Bedeutung  der  Suggestion  in  der  Völkerpsycho- 
logie. Er  erklärt  hierin  jede  Vorstellung,  die  in  uns  durch  verschiedene 
Mittel  seitens  der  organischen  und  anorganischen  Aussenwelt  wach- 
gerufen wird,  für  eine  Suggestion,  und  führt  auf  Grund  dieser  Verall- 
gemeinerung des  Begriffes  fast  die  ganze  Entwicklung  der  Menschheit, 
sowie  sämmtliche  Erscheinungen  der  Weltgeschichte  auf  Suggestion 
zurück.  Religion  und  Erziehung,  die  Wunderthaten  Christi  und  die 
Gewohnheit  des  Tabakgenusses,  die  Anregung  der  Speichelsecretioo 
durch  den  Anblick  einer  Citrone:  Alles  das  ist  nach  ihm  Suggestion. 
Die  von  Bald win*),  Janet*),  Schmidkunz^®),  Wundt^^)  u.  A. 
gegebenen  Definitionen  der  Suggestion  leiden  an  dem  gleichen  Fehler. 
Auch  der  Begriff  der  Hypnose  beginnt  von  seiner  characteristischen 
Prägung  immer  mehr  einzubüssen.  Schon  Moll  hatte  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  bei  der  sog.  oberflächlichen  Hypnose  von  einer  Schlaf- 
ähnlichkeit gar  keine  Bede  sei;  MazHirsch^^  hatte  in  Erkenntniss 
dieser  Thatsache  den  Ausdruck  Captivation  einführen  wollen,  der  sich 
aus  später  zu  erörternden  Gründen  nicht  empfiehlt;  und  es  besteht 
in  der  That  kein  Zweifel  darüber,  dass  zwischen  der  oberflächlichen 
und  der  tiefen,  somnambulen  Hypnose  ein  so  grundlegender  Wesens- 
unterschied besteht,  dass  sie  weiter  nichts  als  den  Namen  gemeinsam 
haben.  Die  weitere  Ausführung  dieser  Behauptung  soll  den  nach- 
folgenden Zeilen  vorbehalten  bleiben.  Wir  möchten  jedoch  schon  an 
dieser  Stelle  darauf  hinweisen,  dass  diese  Erkenntniss  geeignet  sein 
dürfte,  die  noch  heute  vielfach  bestehende  und  zum  Theil  sicherlich 
nicht  unbegründete  Abneigung  vieler  Psychologen  und  Mediciner  gegen 
die  Anwendung  der  Hypnose  zu  zerstören.  Es  ist  deshalb  nach 
unserer  Meinung  bedauerlich,  dass  der  verdiente  Herausgeber  dieser 
Zeitschrift  für  die  von  ihm  inaugurirte,  werthvoUe  Methode  der  psy- 
chologischen Selbstbeobachtung  im  eingeengten  Bewusstseinszustande 
den  Namen  eines  hypnotischen  Zustandes  verwendet,  trotzdem  das 
Wesen  dieses  Zustandes,  wie  wir  später  ausführen  werden,  durchaus 
nicht  in  den  Merkmalen  begründet  ist,  die  für  eine  wirkliche  Hypnose 
characteristisch  sind. 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     259 

Diese  Missstände  der  Namengebung  führen  uns  zu  einem  anderen 
Uebelstand,  der  sich  in  der  Literatur  des  Hypnotismus,  wie  auch  in 
seiner  practischen  Handhabung,  unangenehm  bemerkbar  macht:  die 
mangelnde  Unterscheidung  des  therapeutischen  und  des  experimental- 
psychologischen  Hypnotismus.  Es  muss  endlich  einmal  mit  Nachdruck 
darauf  hingewiesen  werden,  dass  die  therapeutische  Hypnose  etwas 
gänzlich  Anderes  ist  und  mit  gänzlich  anderen  Mitteln  arbeitet  als  die 
zu  experimentellen  Zwecken  eingeleitete  Hypnose,  die  nicht  selten  ge- 
eignet ist,  der  Versuchsperson  geradezu  Schaden  zu  bringen.  Es  ist 
werthlos  imd  unverständig,  Kranke  in  der  Hypnose  die  bekannten 
Scherze  ausfuhren  zu  lassen,  indem  man  sie  veranlasst,  Kartoffeln  statt 
Obst  zu  essen,  Dinge  zu  sehen,  die  nicht  vorhanden  sind,  oder  Dinge 
zu  übersehen,  die  thatsächlich  existiren;  selbst  das  Unvermögen,  die 
Augen  zu  öffiien  oder  die  sich  um  einander  drehenden  Hände  einhalten 
zu  können,  die  Kunst,  Muskelsteifigkeiten  und  -Erschlaffungen  auf 
Befehl  des  Hypnotiseurs  eintreten  zu  lassen,  ist,  wie  schon  der  Kreis- 
physicus  Wegner^^)  in  Lissa  sehr  treffend  erkannt  hat,  therapeutisch 
werthlos  und  manchmal  eher  schädlich  als  nützlich,  obwohl  diese  Ex- 
perimente zum  Zwecke  psychologischer  Studien  sehr  interessant  und 
werthvoU  sein  können.  Ich  hoffe,  unten  den  Nachweis  erbringen  zu 
können,  dass  nicht  nur  der  Zustand,  der  zu  therapeutischen  Zwecken 
eingeleitet  wird,  sich  von  der  experimentellen  Hypnose  unterscheidet, 
sondern  dass  sogar  die  therapeutischen  Suggestionen  in  ihrem  Wesen  von 
den  eigentlich  experimentell  zu  studirenden  Suggestionen  grund- 
verschieden sind. 

Wenn  man  die  Literatur  der  Erfolge  der  hypnotischen  Behand- 
lung durchblättert,  so  staunt  man  über  die  Mannigfaltigkeit  der  Krank- 
heiten, die  der  hypnotischen  Behandlung  mit  Erfolg  unterzogen  worden 
sind.  Es  giebt  zur  Zeit  keine  fimctionelle  oder  organische,  körperliche 
oder  seelische  Erkrankung,  bei  der  nicht  Ebrfolge  der  hypnotischen  Be- 
handlung berichtet  wären.  Lungenschwindsucht,  Warzen,  Krebse 
sämmtlicher  Organe,  Gelenkrheumatismus,  Furunculose,  Geisteskrank- 
heiten und  was  man  sonst  sich  wünschen  und  erdenken  kann:  Alles 
weicht  gänzlich  oder  zum  Theil  der  Kunst  des  Hypnotherapeuten.  Es 
soll  mir  nicht  einfallen,  diese  thatsächlich  erzielten  Erfolge  irgendwie 
bestreiten  zu  wollen.  Zwar  sind  es  manchmal  vielleicht  nur  scheinbare 
oder  schnell  vorübergehende  Besserungen,  die  in  der  Literatur  als 
complete  Heilungen  sich  darstellen,  und  nicht  selten  ist  die  Diagnose 
der  Krankheitszustände  oberflächlich  und  fehlerhaft,   von  anderen  Ein- 

17* 


260  I^M  Hinchkfi 


Wendungen  abgesehen.  Trotzdem  wird  man  nicht  omhin  können«  an- 
zuerkennen, dass  die  H^-pnotherapie  thataacblich  grosse  und  über- 
raschende Erfolge  auch  bei  organischen  Erkrankungen  zu  Stande  bringt 
Indessen  wäre  es  höchst  verfehlt,  sich  bei  dieser  Thatsache  zu  be- 
ruhigen. Es  erwächst  uns  yielmehr  die  Aufgabe,  das  therapeutische 
Agens  ausfindig  zu  machen,  das  diese  Erfolge  der  Hypnose  und  der 
Suggestivtherapie  hervorbringt  Denn  dass  die  Hypnose  kein  speci- 
fisches  Heilmittel  ist  in  dem  Sinne,  wie  das  Chinin  etwa  gegen  manche 
Malariaerkrankungen,  das  ist  dem  Eingeweihten  schon  lange  ein  offenes 
Geheimniss.  Wie  wirkt  also  diese  Art  der  Therapie  und  wie  sind  ihre 
Erfolge  zu  erklären  ?  Das  ist  die  Frage,  die  bisher  zu  wenig  beachtet 
worden  ist,  und  zu  deren  Lösung  wir  einen  kleinen  Beitrag  leisten  zu 
können  hoffen.  Aus  der  Beantwortung  dieser  Frage  wird  sich  zugleich 
ergeben,  ob  die  Hypnotherapie  als  solche  geeignet  ist,  in  den  Schatz 
der  allgemeinen  Therapie  aufgenommen  zu  werden;  oder  ob  vielleicht 
der  Hypnose  ganz  bestimmte,  eng  be-grenzte  Indicationen  zukommen, 
während  die  Psychotherapie  im  Wachzustande  bei  den  übrigen  Er- 
krankungen ergänzend  eintritt. 

Dies  sind  im  Wesentlichen  die  Gesichtspunkte,  die  uns  bei  der  Ab- 
fassung der  vorliegenden  Arbeit  leiteten,  um  sie  durchführen  zu 
können,  wollen  wir  eine  kritische  Uebersicht  der  Literaturerzeugnisse 
der  letzten  4  Jahre  veranstalten,  ohne  auf  absolute  Vollständigkeit  der 
referirten  Arbeiten  Gewicht  zu  legen.  Wir  ziehen  es  deshalb  vor,  das 
Thema  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  zu  gruppiren,  und  werden  die 
Literatur  der  besprochenen  Werke  am  Schlüsse  der  Arbeit  aufitihren. 
Wir  sehen  dabei  von  dem  rein  Hypothetischen,  Speculativen,  das  leider 
einen  grossen  Theil  der  hypnotischen  Literatur  ausmacht,  mehr  oder 
weniger  ab  und  beschränken  uns  in  der  Hauptsache  auf  dasjenige,  was 
dauernd  werthvoU  und  für  die  Praxis  oder  Theorie  des  Hypnotismos 
gewinnbringend  erscheint.  Auf  die  ältere  Literatur,  deren  Kenntniss 
vorausgesetzt  werden  muss,  kann  nur  soviel  Rücksicht  genommen 
werden,   als  zur  Präcisirung  der  erreichten  Fortschritte  nothwendig  ist 

Wir  wollen  unsere  Darlegungen  in  einen  practischen  Theil  gliedern, 
der  im  Wesentlichen  denjenigen  Forschungsergebnissen  gewidmet  seiu 
soll,  die  in  practischer  Beziehung,  insbesondere  für  die  therapeutische 
Handhabung  des  Hypnotismus,  von  Bedeutung  sind,  und  in  einen  theo- 
retischen Theil,  der  die  psychologischen  Fortschritte  der  theoretisch«! 
Lehre  im  weitesten  Sinne  behandelt. 

Zunächst   soll   uns   die  Methode   des  Hypnotisirens   beschäftigen. 


4 

Kritische  Bemerknngen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismos.     261 

wie    sie  jetzt   von    den   meisten   nnd  hervorragendsten  Vertretern  des 
Faches  als  zweckmässig  und  bewährt  anerkannt  und  geübt  wird.    Die 
früher  üblichen  Methoden,  wie  sie  auf  die  Empfehlung  von  Oharcot, 
Hansen,  Luys  noch  vor  kaum  2  Jahrzehnten  fast  ausschliesslich  an- 
gewendet wurden,  können  jetzt  im  allgemeinen  als  verlassen  gelten.     Die 
Fixationsmethoden  nach  Braid  haben  der  Liöbeault^*)- Bern  heim- 
Wetter  Strand 'sehen   Methode   das  Feld   räumen    müssen,   die    die 
Suggestion   als   hauptsächlichstes  Hjpnotisirungsmittel   verwerthet.    in 
der  neueren  Literatur,  deren  Besprechung  wir  uns  zur  Aufgabe  gesetzt 
haben,    hat  TatzeP^)   noch   einmal   auf  die  Nachtheile   der   älteren 
Methoden  hingewiesen.     ForeP*)  warnt  vor  der  Anwendung  der  Fixa- 
tionsmethoden wegen  der  unangenehmen  Folgeerscheinungen  derselben, 
die  sich  in  Kopfschmerz,  Schwindel,  Uebelkeit  u.  s.  w.  äussern.     Gross- 
mann^^  macht  gegen  die  Fixation  geltend,  dass  sie  zur  Selbsthypnose 
Veranlassung   geben   könne.     Dass    von   ihm    selbst  angewendete  Ver- 
fahren, das  sich  in  vielen  Fällen  sehr  brauchbar  erweist  und  auf  einer 
Combination    der  Fascinations-    und   Suggestionsmethode   beruht,    be- 
schreibt  er   in   einem  Vortrage  auf  der  66.  Naturforscherversammlung 
in  Wien  1894.     Eine  ausführliche  Darstellung  aller  Bedingungen  einer 
guten  Hypnose    giebt  Brodmann^^)  in  seiner  Abhandlung:  Zur  Me- 
thodik  der   hypnotischen   Behandlung.     Er   empfiehlt   die   fractionirte 
Methode    Vogt 's,    die   in    der   wesentlich    suggestiven   Hervorrufung 
mehrerer   kurzer  Hypnosen   hintereinander    besteht,   und  zählt  alle  die 
mannigfachen  Massnahmen  und  Vorsichtsmassregeln  auf,    die  ein  sorg- 
fältiger Hypnotiseur  treffen   muss,    um  Erfolg   zu    erzielen   und   unan- 
genehme Nebenwirkungen  zu  vermeiden.     Zur  Vertiefung  der  Hypnose 
bei  Kranken,  die   den  Bemühungen   des  Hypnotiseurs  absichtlich  oder 
unabsichtlich  Widerstand   leisten,   giebt  D öl Iken '•)    folgenden  Trick 
an:   man    solle   die   Kranken   nach  einem   fruchtlosen  Hypnotisirungs- 
versuche  aufstehen  und  einige  Minuten  im  Zimmer  umhergehen  lassen ; 
es  trete  dann  stets  ein  sonderbares  Gefühl  von  Schwere  und  Druck  im 
Kopfe  ein,  das  auf  eine  sich  sofort  anschliessende  Hypnose  begünstigend 
und  vertiefend  einwirke.     Bonj  our  ^^)-Lausanne  giebt  den  beherzigens- 
werthen  Kath,    den  Hypnotisirten   die  Suggestion  zu  ertheilen,  dass  sie 
weder  sich  selbst  hypnotisiren,  noch  von  anderen,  es  sei  denn  zu  Heil- 
zwecken, in  Hypnose  versetzt  werden  könnten.     Der  hypnotische  Dauer- 
schlaf, der  in  einer  künstlichen  Verlängerung  einer  oberflächlichen  oder 
tiefen  Hypnose  über  Wochen  oder  Monate  hinaus  mit  mehr  minder  kurzen 
täglichen  Unterbrechungen  besteht,  ist  von  Wetterstrand *^)  zuerst 


262  J^eo  HinchlAff. 

angewendet  und  empfohlen  worden.  Bei  schwerer  Hysterie,  zumal  bei 
hysterischen  Geistesstörungen,  aber  auch  zur  Behandlung  des  chronischen 
Morphinismus,  Cocainismus,  Alcoholismus  etc.  ist  diese  Methode  über- 
aus  brauchbar  und  giebt  unter  Umständen  glänzende  EIrfolge  selbst  da, 
wo  Einzelhypnosen  die  Wirkung  versagen.  Eine  vereinfachte  Methode 
des  Hypnotisirens  beschreibt  J  o  h  n  F.  W  o  r  d.  **)  Er  lässt  die  Patienten 
sich  bequem  hinsetzen  oder  hinlegen,  die  Augen  schliessen,  die  Muskeln 
entspannen  und  bis  zu  20  Minuten  in  dieser  Stellung  verharren,  indem 
er  höchstens  noch  die  Hand  auf  ihre  Stime  legt  und  Schlaf  suggerirt 
Wenngleich  man  mit  dieser  Methode  tiefe  Hypnosen  nur  ausnahms- 
weise erzielen  wird,  halten  wir  das  Verfahren  dennoch  für  viele  Fälle 
für  ausreichend ;  wir  werden  später  zu  untersuchen  haben,  worauf  die 
Heilwirkung  einer  solchen  Therapie  beruht.  Farez^')  schlägt  neuer- 
dings vor,  während  des  natürlichen  Schlafes  besonders  bei  Geistes- 
kranken Suggestionen  zu  ertheilen;  er  will  von  diesem  Verfahren  vor- 
zügliche Erfolge  gesehen  haben.  Wir  haben  weder  über  die  Aus- 
führbarkeit der  Methode  noch  über  ihre  Resultate  eigene  Erfahrungen, 
glauben  aber,  dass  dieser  Vorschlag  der  kritischen  Nachprüfung  ebenso 
werth  wie  bedürftig  ist.  Die  Frage,  ob  Massenhypnose  oder  Einzel- 
hypnose zweckmässiger  sei,  wird  von  den  meisten  Autoren  zu  Gunsten 
der  Massenhypnose  entschieden.  Wir  glauben  mit  Moll,  dass  die 
Einzelhypnose  in  den  meisten  Fällen  geeigneter  ist.  Da  das  Wesent- 
liche bei  jeder  hypnotischen  Behandlung  die  Suggestionen  sind,  die  man 
im  hypnotischen  Zustande  den  Kranken  giebt  und  die  der  individuellen 
Eigenart  der  Krankheit  und  des  Kranken  in  jedem  einzelnen  Falle  genau 
angepasst  sein  müssen,  während  die  Hypnose  als  solche,  wie  wir  unten 
sehen  werden,  nur  einen  sehr  geringen  Heilwerth  für  sich  beanspruchen 
kann,  so  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  das  übliche  System 
der  gleichzeitigen  Hypnotisirung  mehrerer  Kranken  unhaltbar  und  un- 
zweckmässig ist. 

Eine  Frage  von  einschneidender  Bedeutung  für  die  Praxis  des 
Hypnotisirens  sowohl,  wie  für  den  wissenschaftlichen  Ausbau  der  Theorie, 
wie  später  gezeigt  werden  wird,  ist  die  Frage,  ob  eine  oberflächliche 
oder  tiefe  H}'pnose  zur  Anwendung  zweckmässiger  sei.  Unter  einer 
tiefen  Hypnose  verstehen  wir  einen  Zustand,  der  durch  wesentliche  Ab- 
weichungen von  dem  normalen  Geisteszustände  gekennzeichnet  ist,  als 
da  sind:  gänzliche  Aufhebung  der  ürtheils-  und  Kritikfähigkeit,  nach- 
folgende Amnesie  und  Realisation  von  posthypnotischen  Suggestionen. 
In    der  Regel    wird    sich  dieser  Zustand    auch   für   den  weniger  Ein- 


r 

Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismos.       263 

geweihten  als  ein  wirklicher  Schlaf  oder  etwas  sehr  Aehnliches  darstellen, 
ohne  dass  wir  damit  zu  der  Eintheilnng  der  Grade  der  Hypnose  uns 
bekennen  wollen,  di^Forel,  Liöbeault^*),  Bernheim ^*),  Gross- 
mann u.  A.  in  der  Literatur  vertreten  haben,  gegen  die  sich  Moll 
in  seinem  Lehrbuche  des  Hypnotismus  mit  bemerkenswerthen  Gründen 
wendet.  Verstehen  wir  also,  ohne  den  theoretischen  Erwägungen  vor- 
zugreifen, unter  einer  tiefen  Hypnose  eine  solche,  die  von  dem  normalen 
Wachzustande  in  wesentlichen  Merkmalen  abweicht,  so  sind  die  Mei- 
nungen der  Autoren  über  die  oben  aufgeworfene  Frage  zur  Zeit  noch 
getheilt.  Grossmann**)  verwirft  die  tiefe  Hypnose  aus  mehrfachen 
Gründen:  1)  mit  van  Eeden  aus  ethischen  Gründen,  deren  nähere 
Darlegung  überflüssig  sein  dürfte ;  2)  weil  sie  meistens  auf  verbalem 
Wege  nicht  gelingt;  3)  weil  wegen  der  Amnesie  die  Mithülfe  des  Pa- 
tienten ausgeschaltet  wird.  Döllken  und  von  Schrenck-Notzing*') 
fügen  diesen  Gründen  die  Erfahrungsthatsache  hinzu,  dass  die  Tiefe 
der  Hypnose  durchaus  nicht  parallel  gehe  mit  der  Suggestibilität ; 
Wegner  betont,  dass  gerade  die  werthvoUen  Wirkungen  der  Suggestiv- 
behandlung in  der  oberflächlichen  Hypnose  gerade  so  gut  erzielt  werden 
können  wie  im  somnambulen  Zustande.  Auf  der  anderen  Seite  tritt 
Wetterstrand  bei  Morphinisten  für  eine  möglichst  tiefe  Hypnose 
ein,  da  die  erzieherische  Wirkung  der  Behandlung  sich  mit  der  Tiefe 
der  Hypnose  steigere.  Vogt  und  seine  Schule,  Hilger,^®)  Brod- 
mann u.  A.  sind  in  jedem  Falle  für  möglichst  tiefe  Hypnose;  ja,  sie 
befürworten  sogar  eine  planmässige  Erziehung  zur  Somnambulhypnose, 
die  Vogt  in  einem  Falle  durch  600,  in  einem  anderen  Falle  durch 
700  Hypnotisirungsversuche  erreicht  hat.  Wir  selbst  nehmen  in  dieser 
Frage  einen  vermittebiden  Standpunkt  ein.  Da  wir  der  Meinung  sind, 
dass  bei  der  therapeutischen  Verwendung  der  Hypnose  von  den  ge- 
wöhnlich ausgeführten  experimentellen  Scherzen  kein  Gebrauch  zu 
machen  sei,  so  vermeiden  wir  in  allen  gewöhnlichen  Fällen  eine  tiefe 
Hypnose  durchaus.  Wir  vermeiden  es  sogar  principiell,  uns  selbst 
experimentell  davon  zu  überzeugen,  ob  die  Hypnose  tief  oder  ober- 
flächlich ist,  ob  der  Hypnotisirte  im  Stande  ist,  die  Augen  von  selbst  zu 
ö£Enen,  ob  auf  Befehl  cataleptische  Erscheinungen  eintreten  und  positive 
oder  negative  Hallucinationen  sich  verwirklichen.  Aucl)  die  nach- 
folgende Amnesie,  sowie  die  Hervorrufung  von  posthypnotischen  Sug* 
gestionen,  die  nicht  direckt  einen  Heilzweck  verfolgen,  erscheint  uns 
für  die  therapeutische  Hypnose  werthlos  und  schädlich.  Diese  Spiele- 
reien  sollten  in   der  Therapie   keinen  Platz  finden;   sie  haben  nur  für 


864  ^o  Hirschlaff. 

den  Experimentalpsychologen  Interesse  and  Bedentung.  Die  Heil- 
suggestionen, die  sich  in  der  Hypnose  wirksam  erweisen,  sind  tob 
gänzlich  anderem  Charakter  als  diese  experimentellen  Suggestionen,  und 
bedürfen  zu  ihrer  Realisation  keiner  erheblichen  Abweichung  vom  nor- 
malen Geisteszustände.  Daher  ist  es  besser,  wenn  die  Urtheilsfahigkeit 
der  Patienten  in  der  Hypnose  ungestört  bleibt,  sodass  zur  Verwirk- 
lichung der  therapeutischen  Suggestivvorstellungen  die  eigene  Energie 
der  Kranken  mit  herangezogen  wird.  Jedoch  giebt  es  Ausnahmen,  wo 
Yon  diesem  principiellen  Standpunkte  abgewichen  werden  muss.  Es 
giebt  eine  Reihe  von  Fälleu,  in  denen  eine  tiefe  Somnambulhypnoee  so 
leicht  eintritt,  dass  es  beinahe  schwerer  hält,  den  Eintritt  dieses  Zu- 
standes  zu  verhindern,  als  ihn  hervorzurufen.  Nach  unserer  Erfahrung 
sind  dies  diejenigen  Fälle,  in  denen  eine  schwere  Schädigung  des  Cen- 
tralnervensystems  von  vorzugsweise  functionellem  Oharacter  vorliegt, 
also  Fälle  von  schwerer  Hysterie  und  hysterischen  Psychopathien,  acutem 
und  chronischem  Alcoholismus,  Morphium-,  Cocain-,  Haschisch-  und 
Chloroform-Vergiftung  u.  s.  f.  In  diesen  Fällen  haben  wir  die  Hyp- 
nose meist  überaus  leicht  eintreten  sehen  —  einige  Fälle  von  Hysteria 
gravis  ausgenommen  —  und  wir  sind  mit  dem  Erfolg  der  tiefen  Hyp- 
nose stets  zufrieden  gewesen;  wir  glauben,  dass  man  schädliche  Folgen 
in  ethischer  Beziehung  bei  einiger  Vorsicht  wohl  vermeiden  kann,  wenn- 
gleich die  positiven  Heilerfolge  in  solchen  Fällen  auch  durch  eine  minder 
tiefe  Hypnose  ebenso  schnell  und  ebenso  günstig  erzielt  werden  können. 
Ohne  diese  Indication  jedoch  würden  wir  eine  tiefe  Hypnose  zu  thera- 
peutischen Zwecken  für  unberechtigt  imd  zwecklos  erachten.  Wir 
leugnen  durchaus  nicht,  dass  eine  tiefe  Somnambulhypnose  mit  allen 
Merkmalen  derselben  bei  ganz  Gesunden  durchaus  möglich  ist  und  sogar 
oft  sehr  leicht  eintritt.  Aber  wir  verwerfen  die  Anwendung  dieser 
tiefen  Hypnose  als  zwecklos  und  ethisch  schädlich,  es  sei  denn  bei  Er- 
füllung der  oben  präcisirten  Indicationen  oder  zu  experimentellen  Zwecken. 
Nur  bei  einzelnen  Ausnahmefällen,  bei  denen  das  therapeutisch  wirksame 
Princip  der  Hypnose  lediglich  in  dem  Wunderglauben  beruht,  den  die 
Patienten  der  Hypnose  entgegenbringen,  halten  wir  eine  Abweichung 
von  diesem  Standpunkte  für  erlaubt  und  verwenden  hier  selbst  die  ex- 
perimentellen Scherze,  die  von  den  Kurpfuschern  planlos  in  jedem  Falle 
verwandt  werden.  Auch  bei  Kindern  und  Ungebildeten,  die  kein  Ver- 
ständniss  für  die  therapeutischen  Absichten  des  Arztes  haben,  halten 
wir  ein  derartiges  Vorgehen  in  einzelnen  Fällen  für  statthaft  Wo  aber 
die  hier  aufgeführten  Indicationen  nicht  zutreffen,  beschränken  wir  uns 


Kritiflche  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     265 

prinoipiell  auf  eine  oberflächliche  Hypnose,  bezw.  auf  einen  hypnose- 
ähnlichen Zustand,  dessen  weitere  Characteristica  zu  beschreiben,  später 
xmaere  Aufgabe  sein  wird. 

Wir  besprechen  nunmehr  die  Phänomenologie  des  Hypnotismus, 
soweit  sie  in  den  letzten  Jahren  eine  Bereicherung  erfahren  hat.  D  e  - 
lins  ^*)-Hannover  giebt  an,  was  schon  Wetterstrand  behauptet  hatte, 
dass  das  Warmwerden  der  Hände  ein  Zeichen  eingetretener  Hypnose 
sei.  Wir  können  einen  Zusammenhang  dieser  entweder  zufälligen  oder 
durch  Suggestion  bedingten  Erscheinung  mit  der  Hypnose  nicht  er- 
kennen. Brügelmann^^)  theilt  einen  Fall  von  erotischer  Erregung 
in  der  Hypnose  mit,  der  mit  völliger  Amnesie  einherging,  und  der  in 
der  Literatur  eine  lebhafte  Discussion  hervorgerufen  hat.  Stadel- 
mann^^)  fuhrt  mehrere  Fälle  erhöhter  Sexualität  aus  seiner  Erfahrung 
an.  Loewenfeld^')  weist  darauf  hin,  dass  es  sich  hier  nicht  um  ein 
hypnotisches,  sondern  ein  hysterisches  Phänomen  handle.  Wir  selbst 
haben  die  Beobachtung  gemacht,  dass  diese  erhöhte  Sexualität  in  der 
Hypnose,  die  wir  mehrfach  gesehen  haben,  nur  dann  eintritt,  wenn 
wahrend  der  Hypnose  eine  Berührung  des  Patienten  stattfindet,  wie  sie 
häufig  angewendet  wird  in  Gestalt  des  Auflegens  der  Hände  auf  die 
Stirn  etc.  Ohne  diese  physische  Berührung,  deren  sinnlich  erregende 
Wirkung  wohl  auch  im  Wachzustande,  wenn  auch  im  geringeren  Maasse 
beobachtet  werden  kann,  haben  wir  eine  erotische  Exaltation  auch  bei 
sexuell  hyperästhetischen  Hystericis  nicht  eintreten  sehen.  Diese  Er- 
kenntniss  hat  uns  zugleich  in  den  Stand  gesetzt,  das  in  B^de  stehende 
Phänomen  zu  vermeiden,  während  die  directe  Suggestion  sich  relativ 
machtlos  dagegen  erwies;  nur  die  prähypnotische  Suggestion,  dass  eine 
solche  Erregung  in  der  Hypnose  nicht  eintreten  werde,  war  in  einigen 
Fällen  von  Erfolg  begleitet.  Von  einem  umfassenderen  Gesichtspunkte 
aus  hat  Vogt '^)  diese  Frage  in  einer  trefi'lichen  Monographie  über  die 
spontane  Somnambulie  in  der  Hypnose  bearbeitet.  Nach  ihm  sind,  wie 
wir  später  ausführlicher  erörtern  werden.  Schlaf  und  Hypnose  in  ihrem 
Wesen  identisch.  Die  Träume  des  tiefen  Schlafes  entsprechen  einem 
drcumskripten,  systematisch  eingeengten  Wachsein;  sie  sind  mehr 
weniger  logisch,  zusammenhängend  mit  der  Persönlichkeit,  zeigen  Am- 
nesie und  motorische  Aeusserungen  verschiedener  Art.  Die  gleichen 
Characteristica  finden  sich  bei  der  spontanen  Somnambulie  in  der  tiefen 
Hypnose.  Die  Träume  des  oberflächlichen  Schlafes  dagegen  beruhen 
auf  einer  diffusen  Dissociation  des  Bewusstseins ;  ihr  Inhalt  ist  unlogisch 
und   unzusammenhängend   mit   der  Persönlichkeit;   sie  verlaufen  ohne 


266  Leo  Hinohlaff. 

Amnesie  und  ohne  motorische  Aeussenmgen.  Träume  yon  dieser  Art 
finden  sich  in  der  oberflächlichen  Hypnose  vor.  —  Döllken  und 
Crocq  fils'^)  zeigen,  was  freilich  in  der  älteren  Literatur  bereits  be- 
kannt war,  dass  die  Amnesie  der  Hypnotisirten  nicht  immer  eine  Toll- 
ständige  zu  sein  braucht  sondern  dass  vielfach  einzelne  Wahrnehmungen, 
sei  es  im  Wachzustände,  sei  es  in  Träumen  des  normalen  Schlafes  oder 
einer  späteren  Hj-pnose,  zur  Erinnerung  gelangen,  besonders  wenn  sie 
von  lebhaftem  Affect  begleitet  waren  oder  wenn  zufallig  später  dieselben 
Associationen  eintreten.  Ferner  macht  Crocq  fils  auf  die  interessante 
Erscheinung  der  electiven  Suggestibilität  aufmerksam,  die  in  hysterischen. 
hysterisch-hypnotischen  und  narkotisch-hypnotischen  Zuständen  nicht 
selten  beobachtet  wird.  Z.  B.  ist  für  die  Haschisch-Hypnose  besw. 
-Narkose  die  Lustrauschsuggestion  besonders  characteristisch^  während 
der  Alcoholisirte  eine  vorzugsweise  Neigung  zu  Kraftproben  und  lu 
sexuellen  Vorstellungen  und  Handlungen  zeigt.  — Köhler'^)-Elberfeld 
hat  die  bekannten  Versuche  von  v.  Krafft-Ebing**)  wiederholt  und 
kritisch  beleuchtet,  in  denen  eine  Umwandlung  der  Persönlichkeit  durch 
Suggestion  herbeigeführt  wird.  Seine  Versuchsperson,  der  22-jährige 
Arthur  Rieck,  zeigt  dieselben  merkwürdigen  Erscheinungen,  die  von 
K rafft- Eb in g  seiner  Zeit,  freilich  unter  dem  Widerspruche  fast 
aller  Autoren  auf  eine  Reproduction  früherer  Erinnerungen  zaröck- 
ge führt  hatte.  Simulation  glaubt  Köhler  ausschliessen  zu  dürfen. 
In  ein  2-jährige3  Kind  verwandelt,  betet  die  Versuchsperson  das  Vater- 
unser; als  Mädchen  urinirt  er  ritu  feminarum;  criminelle  Suggestionen 
glücken,  Vesication  dagegen  nicht.  Köhler  zieht  aus  seinen  Be- 
obachtungen den  Schluss,  dass  es  sich  bei  dieser  Umwandlung  der 
Persönlichkeit  nicht  um  eine  reine  Reproduction  alter  Erinnerungsvor- 
gänge handle,  wie  von  K rafft -E hing  angenommen  hatte,  sondern 
dass  nur  eine  partielle  Reproduction  mit  Einmischung  von  Thatsachen 
aus  der  Gegenwart  stattfinde.  Wir  glauben  mit  Jelly'')  und  von 
Schrenck-Notzing'^),  dass  es  sich  hierbei  nur  um  Thatsachen  ans 
der  Gegenwart  handelt,  die  die  Versuchsperson  zu  einer  geschickt  ge- 
spielten Komödie  verarbeitet.  Freilich  veranlasst  sie  zu  dieser  Komödie 
nach  unserer  Meinung  nicht  die  Simulation  oder  die  Lust  zu  schau* 
Spielern,  wie  andere  behauptet  haben,  sondern  vielmehr  der  suggestive 
Befehl,  dessen  sie  sich,  so  gut  sie  kann,  zu  entledigen  gezwungen  fühlt 
—  Gley  '•)  hat  die  Erscheinungen  der  Hypnose  bei  Fröschen  studirt  und 
gefunden,  dass  junge  und  abgemagerte  Frösche  leichter  zu  hypnotisiren 
sind,  als  erwachsene  und  kräftige  Thiere.    Auf  die  physiologischen  und 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     267 

psychologischen  Consequenzen,  die  er  aus  diesen  Versuchen  zieht, 
werden  wir  später  einzugehen  haben.  Als  Curiosum  sei  erwähnt,  dass 
Warthin  *®)-Michigan  die  Wirkung  der  Musik  an  Hypnotisirten  zu 
studiren  unternahm.  Er  fand  an  mehreren  Versuchspersonen,  die  sich 
ausnahmslos  aus  gesunden  Medicinem  zusammensetzten,  dass  der  Wal- 
kürenritt von  Wagner  die  Pulszahl  und  -Spannung  vermehrte,  die  Re- 
spiration von  18  auf  30  p.  m.  steigerte  und  Bewegung  aller  Muskeln 
hervorrief,  sowie  reichlichen  Schweis  auf  der  Haut;  zugleich  trat  die 
Empfindung  eines  feurigen  Laufes  durch  den  Raum  auf.  Aehnliche 
Wirkungen  traten  bei  anderen  Musikstücken  hervor,  während  im  wachen 
Znstande  keine  von  diesen  Erscheinungen  beobachtet  wurde.  Wir 
glauben,  dass  nur  ein  sehr  geringer  ßruchtheil  dieser  Wirkungen  phy- 
siologischer Natur  ist  und  somit  freilich  auch  im  wachen  Zustande  bei 
gehöriger  Aufmerksamkeit  sich  feststellen  lassen  müsste;  alles  übrige 
ist  znm  Theil  auf  Suggestion  zuriickzuführen,  da  die  Versuchspersonen 
von  dem  zu  erwartenden  EflFect  der  Untersuchung  zweifellos  unter- 
richtet waren,  zum  Theil  aber  auch  vielleicht  auf  ein  gewisses  Mit- 
träumen in  der  Hypnose,  das  eine  mehr  willkürliche  Erregung  der  ge- 
schilderten Art  zur  Folge  hatte. 

Wir  kommen  zur  Praxis  des  Suggerirens.  Während  man  sich 
früher  darauf  beschränkte,  die  Suggestionen  in  der  Weise  zu  ertheilen, 
dass  man  einfache  affirmative  Behauptungen  aufstellte  und  deren  Ein- 
treten in  überzeugenden  Tone  versicherte,  ist  man  jetzt  immer  mehr 
zu  der  üeberzeugung  gekommen,  dass  ein  derartiges,  plumpes  Ver- 
fahren unzweckmässig  ist  und  in  den  seltensten  Fällen  zum  Ziele  führt. 
Es  ist  ein  Verdienst  von  Grossmann,  mit  Nachdruck  darauf  hin- 
gewiesen zu  haben,  dass  man  die  Suggestionen  motiviren  und  plausibel 
machen  muss.  Anstatt  also  zu  sagen,  dass  ein  Schmerz,  über  den  ein 
Patient  klagt,  nach  der  Hypnose  verschwunden  sein  werde,  muss  man 
vielmehr  in  der  Weise  vorgehen,  dass  eine  thatsächliehe  Veränderung 
der  Schmerzempfindung  durch  Aufhebung  von  Hautfalten  und  Drücken 
derselben,  oder  durch  blosses  Auflegen  der  warmen  Hand  etc.  hervor- 
gerufen und  sodann  zunächst  nur  ein  Nachlassen  imd  allmähliches  Ge- 
riogerwerden  der  Schmerzen  suggerirt  wird.  Ringier*^)  und  Cul- 
1er re*^)  haben  diese  Redaction  der  Suggestion  bei  der  Enuresis  noc- 
turna der  Kinder  ausführlich  beschrieben.  Ringier  analysirt  z.  B. 
die  einzelnen  Krankheitserscheinungen  und  suggerirt  dann  je  nach  der 
Ursache  der  Erkrankung,  die  ein  Mal  in  Angstgefühlen,  ein  ander  Mal 
in   ungenügendem  Erwachen    oder  in  einem  Mangel  des  Geruchssinnes 


268  ^eo  Hinchlaff. 

oder  der  EmpfiDdlichkeit  der  Urogenitalschleimhaut  gelegen  sein  kaii% 
nicht  nur,  dass  die  betreffende  Erscheinung  eintrete,  oder  yerschwinde, 
sondern   wie  sie  eintrete  und  dem  Bewusstsein  sich  darstelle«     ür  ver- 
anschaulicht und  malt  gleichsam  die  therapeutische  SuggesüvTcrstelliiiig 
aus ;  in  geeigneten  Fällen  unterstützt  er  die  Wirksamkeit  der  Suggestion 
auch  dadurch,  dass  er  ihr  einen  mehr  thatsächlichen,  greifbaren  InhiU 
giebt,   wie   es   schon    von  Bernheim  und  anderen  empfohlen  worden 
ist.    Auch    für   die   Behandlung   der  Neurasthenie  giebt  Ringier*') 
einige   vortreffliche  Bathschläge.     fk   zeigt,    dass   durch  den  Versuch, 
die   neurasthenischen  Beschwerden   direct   wegzusuggeriren ,    dieselben 
yielmehr  bestärkt  und  grossgezogen  werden ;  es  komme  vielmehr  darauf 
an,    das  verworrene  Denken  der  Neurastheniker  zu  corrigiren,   das  be- 
ständige Belauschen  des  kranken  Gebietes,  die  verkehrten  Auslegungen 
der  vorhandenen  Erscheinungen  abzusuggeriren  und  so  nicht  die  Symp- 
tome,   sondern   die  psychopathischen  Ursachen  der  Erkrankung  zu  be- 
kämpfen.    In  ähnlichem  Sinne  veröffentlicht  T atz el^^)  einen  Fall  von 
hysterischen  Anfallen,  in  dem  er  bei  directer  Suggestion  keine  Wirkung 
sah.     Es   waren  Krampfanfälle    vorhanden,    die   nur  Nachts   auftraten. 
Die  directe  Suggestiou,  dass  die  Anfälle  nicht  mehr  auftreten  würden, 
versagte    vollkommen.     Dagegen   trat   eine  prompte  Wirkung  ein,   als 
die  Suggestion  gegeben   wurde,    dass   die  Patientin  nicht  mehr  so  fest 
schlafen  und  auch  im  Schlafe  auf  sich  achten  und  an  das  denken  werde, 
was   ihr  gesagt  worden  sei,    sodass  sie  beim  ersten  Anzeichen  des  An- 
falles wach  sein  uud  auf  diese  Weise  die  Anfälle  vermeiden  würde.  — 
Auch  Wetterstrand  empfiehlt,  bei  der  Behandlung  der  Morphinisten 
keine  Täuschung   von  Seiten   des  Arztes  anzuwenden,   ebenso  wie  man 
jedes  Schelten  und  jede  sittliche  Entrüstung  vermeiden  solle,  im  wachen 
Zustande  sowohl  wie  in  der  Hypnose.    Auf  einen  Hinderungsgrund,  der  in 
tiefer  Hypnose   vielleicht   uicht  ganz   selten    in    die  Erscheinung  tritt, 
macht  Voisin^^)   aufmerksam,    dass  uämlich  in  der  tiefen,    mit  Catar 
lepsie  verbundenen  Hypnose  die  Patienten  häufig  nicht  hören,   was  der 
Hypnotisirende    spricht,    so  dass   die  Suggestionen  sich  nicht  realisiren 
können.     Man    wird   sich  deshalb  jedes  Mal,   wenn  eine  Suggestion  in 
tiefer  Hynose   misslingt,   durch  Fragen    davon   überzeugen  müssen,   ob 
der  Hypnotisirte  die  Suggestion,  die  man  ihm  gegeben,  überhaupt  ver^ 
standen   hat.    Eventuell  kann  man  in  solchen  Fällen  vor  dem  Schlafe, 
also  prähypnotisch,    die  Suggestion  ertheilen,    dass  der  Schlaf  nicht  so 
tief  sein  werde  und  dass  die  Person  jedes  Wort  des  Hypnotiseurs  ver- 
stehen werde.   Auch  in  anderem  Sinne  emptiehlt  sich  die  von  S  t  e  m  b  o  ^*) 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     269 

schon  früher  vorgeschlagene;  prähypnotische  Suggestion.  Wir  haben 
es  zweckmässig  gefunden,  die  psychotherapeutische  Correctur  der  ver- 
kehrten Auffassungen  und  Vorstellungen  der  Kranken,  von  der  wir  oben 
gesprochen  haben,  nicht  nur  in  der  Hypnose  vorzunehmen,  sondern  sie 
auch  vorher  im  Wachzustande  anzuwenden,  so  dass  sich  der  Patient 
von  der  Richtigkeit  der  gegebenen  Aathschläge  und  Ermahnungen  auch 
im  Wachzustande  überführt.  Diese  Ueberzeugung  wirkt  dann  sichtlich 
begünstigend  auf  die  Wirkung  der  in  der  Hypnose  gegebenen  Sug- 
gestionen ein;  der  Zeitverlust,  der  freilich  damit  verbunden  ist,  wird 
durch  die  Verstärkung  des  Effectes  ausgeglichen.  —  Tissiö*')  hat 
den  Vorschlag  gemacht,  willkürlich  in  der  Hypnose  hervorgerufene 
Träume  als  Heilsuggestionen  zu  verwerthen.  Er  suggerirt  bei  Phobien 
imd  Zwangvorstellungen  z.  B.,  dass  der  Kranke  im  Traume  Handlungen 
ohne  Angst  ausführen  werde,  die  er  im  wachen  Zustande  nur  mit  Angst 
ausfuhren  kann,  und  lockert  so  allmählich  die  Association  zwischen 
den  Handlungen  und  den  sich  daran  knüpfenden,  krankhaften  Affect- 
zuständen.  Eine  sehr  lehrreiche  Darstellung  der  Gründe,  aus  denen 
manche  Personen  der  Suggestion  gegenüber  sich  refractär  verhalten, 
giebt  Bernheim  in  einem  Aufsatze  des  X.  Bandes  der  Revue  de 
l'hypnotisme.  Er  unterscheidet  unter  den  Menschen,  die  eine  Sug- 
gestion nicht  annehmen,  3  Gruppen:  1)  absolut  Refractäre,  die  jedem 
hypnotischen  Versuche  kategorisch  widerstehen;  sie  sind  jedoch  sugge- 
ribel,  wenn  man  die  Suggestion  in  eine  andere  Form,  wie  Electricität 
oder  Massage  kleidet;  2)  solche,  welche  scheinbar  lenkbar  sind,  indem 
sie  sich  körperlich  hingeben;  da  sie  sich  aber  innerlich,  geistig  nicht 
hingeben,  so  scheitert  jede  Suggestion  an  der  Autosuggestion,  dass  sie 
nicht  beeinflusst  werden  können ;  3)  solche,  welche  der  Schlafsuggestion 
nicht  widerstehen  können  und  sogar  amnestisch  werden,  aber  keine 
therapeutische  Suggestion  annehmen.  In  dieser  letzten  Gruppe  sind 
wieder  2  ünterabtheilungen  zu  unterscheiden:  a)  solche,  die  in  der 
Hypnose  ihren  Widerstand  aufgeben  und  ihre  Schmerzen  verlieren,  im 
Wachzustande  jedoch  ihre  Beschwerden  durch  Autosuggestion  wieder 
hervorrufen;  b)  solche,  die  auch  in  der  Hypnose  Ihre  Schmerzen  be- 
halten, weil  sie  gleich  mit  der  Autosuggestion  einschlafen,  dass  sie  sie 
behalten  würden.  Im  Falle  3b  suggerirte  Bernheim  ein  Mal  in 
folgender  Weise:  „Ich  sehe  wohl,  dass  ich  ihre  Schmerzen  durch  die 
Suggestion  nicht  heben  kann.  Sie  haben  eine  gute  Natur:  Ihre  Organe. 
sind  nicht  krank ;  Ihre  Krankheit  wird  im  Laufe  der  Zeit  infolge  Ihrer  guten 
Constitution  von  selbst  heilen.^'   Quod  factum  est.   Die  Emotionstherapie, 


270  Lm  HincUaff. 

die  Heck  er  ^^)  zur  Ergänzung  und  theilweise  zum  Ersätze  der  Hypno» 
therapie  vorschlägt,  dürfte  sicherlich  nur  mit  sehr  grosser  Vorsicht  anwend- 
bar sein  und  in  den  meisten  Fällen  nicht  zum  Ziele  fuhren.  Dass  man  durch 
Spott,  Grobheit,  Erregung  von  Furcht  und  anderen  Affecten  im  Wach- 
zustande hier  und  da  bei  einigen  Patienten  etwas  erreichen  wird,  mag 
wohl  richtig  sein,  und  es  wird  Sache  des  ärztlichen  Tactes  sein,  zu 
entscheiden,  ob  und  inwieweit  diese  Factoren  ein  Mal  zur  Erreichung 
des  Heileffectes  mit  heranzuziehen  seien.  Zu  einer  allgemeinen  Methode 
eignet  sich  dieses  Verfahren  jedenfalls  nach  unseren  Erfahrungen  nicht 
—  Wir  haben  schon  in  der  Einleitung  erwähnt,  dass  der  Ereiaphyaicas 
Wegner  in  Lissa  in  einer  kleinen,  vortrefflichen  Abhandlung  ausge- 
führt hat,  dass  der  Werth  der  psychischen  Behandlung  nicht  im  Schlafe 
und  nicht  darin  besteht,  dass  die  Kranken  allerhand  Faxen  machen 
können,  wie  eine  Kartoffel  für  einen  Apfel  essen  etc.,  sondern  dass  die 
Hauptsache  vielmehr  die  geistige  Erziehung  sei,  die  man  dem  Patienten 
zutheil  werden  lasse.  In  guter  Uebereinstinmiung  mit  dieser  Auffassang 
des  therapeutischen  Effectes  der  hypnotischen  Behandlung  steht  der 
Hinweis  von  Kanschburg^*),  der  uns  späterhin  noch  Gelegenheit  zu 
einigen  theoretischen  Erörterungen  geben  wird,  dass  nämlich  nicht  selten 
die  Hypnose  nicht  als  solche  gleichsam  specifisch  heilbringend  wirke, 
sondern  dass  vielmehr  die  Suggestion,  die  der  Kranke  mit  der  Hypnose 
verbindet,  mit  anderen  Worten  also  der  Glaube  an  die  Heilkraft  der 
Hypnose,  den  eigentlichen  therapeutischen  Effect  des  Verfahrens  bedinge. 
Auch  Loewenfeld*®)  und  Ziehen*^)  haben  in  ihren  Darstellungen 
der  Psychotherapie  diesem  Gesichtspunkte  Raum  gegeben. 

Obwohl  wir  uns  vorbehalten,  am  Schlüsse  die  Ergebnisse  unserer 
üebersicht  zusammenhängend  darzustellen,  möchten  wir  doch  schon  an 
dieser  Stelle  einige  Bemerkungen  einschalten,  die  auf  den  Umschwung, 
der  sich  allmählich  in  der  practischen  Handhabung  der  Suggestivtechnik 
vollzogen  hat,  hinzudeuten  geeignet  sind.  Von  theoretischen  Erwägungen 
und  Definitionen  ganz  abgesehen,  die  uns  erst  im  zweiten  Theile  unserer 
Ausführungen  beschäftigen  sollen,  finden  wir  in  der  Art  und  Weise, 
wie  man  heute  zu  suggeriren  bestrebt  ist,  eine  inmier  grössere  An» 
näherung  an  das,  was  wir  stets  auch  im  wachen  Zustande  betrieben 
haben  oder  doch  wenigstens  haben  betreiben  sollen,  und  was  man  heute 
mit  dem  stolz  klingenden  Namen  der  Psychotherapie  belegt.  Man  hat 
einsehen  müssen,  dass  die  Methode  des  Suggerirens,  die  im  Anfange 
der  Lehre  vom  Hypnotismus  den  eigenartigen,  mystischen  Stempel  auf- 
gedrückt  hat  und  die  so  ganz  aus  dem  Rahmen  des  früher  lieblichen 


Kritische  Bemerkiingen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  t.  Hypnotismus.     271 

heranszufallen  schien,  therapeutisch  eigentlich  ziemlich  werthlos  ist. 
Auch  der  Hypnotiseur  ist,  wenn  wir  eine  triviale  Redensart  gebrauchen 
dürfen,  heute  darauf  angewiesen,  mit  Wasser  zu  kochen;  seine  Sug- 
gestionen hören  alLxiählich  auf,  wie  William  Hirsch ^^)  nicht  unzu- 
treffend gesagt  haty  inducirte  Wahnyorstellungen  zu  sein  und  verwandeln 
sich  statt  dessen  in  ärztliche  Ermahnungen  und  psychotherapeutische 
Belehrungen.  Der  Zauber,  der  die  Hypnose  und  die  Hypnotiseure 
firüher  wie  der  Glorienschein  den  Kopf  eines  Heiligen  umrahmte,  be- 
ginnt allmählich  zu  schwinden  und  an  Wirksamkeit  einzubüssen,  womit 
seine  Berechtigung  für  einzelne  Fälle  keineswegs  bestritten  werden  soll. 
Im  Allgemeinen  jedoch  treten  jetzt  diejenigen  Factoren  in  der  Technik 
der  Hypnose  sowohl,  wie  der  Suggestivtherapie  hervor,  denen  die 
wahre  therapeutische  Bedeutung  des  Verfahrens  zukommt,  und  die  bei 
Weitem  nicht  so  sehr  von  den  auch  sonst  bekannten  Factoren  der  The- 
rapie abweichen,  als  es  bisher  den  Anschein  hatte.  Ob  es  zweckmässig 
ist,  eine  Heilsuggestion,  die  sich  von  einer  gewöhnlichen  Behauptung 
oder  Versicherung  kaum  principiell  unterscheidet,  fdrderhin  noch  als 
Suggestion  zu  bezeichnen,  wollen  wir  später  untersuchen,  wenn  wir  uns 
die  Frage  vorlegen,  welches  das  wesentlichste  Merkmal  des  Begriffes 
der  Suggestion  sei.  Für  jetzt  möge  uns  der  Nachweis  genügen,  dass 
die  therapeutische  Suggestion  weder  mit  einer  positiven  oder  negativen 
Hallucination,  noch  mit  einer  Perversion  der  Sinnesempfindungen  etwas 
zo  thun  hat,  ebenso  wie  der  Hypnotherapeut,  von  seltenen  Ausnahmen 
abgesehen,  von  der  Hervorrufung  vonLähmungen  und  Contracturen  so- 
wohl, wie  von  der  Verwandlung  der  Persönlichkeit,  sowie  von  den 
anderen,  psychologisch  interessanten  Experimenten  Abstand  nehmen 
kann  oder  vielmehr  nehmen  muss,  wenn  er  seine  ärztliche  Befugniss 
nicht  überschreiten  will. 

Nachdem  wir  die  Technik  der  Suggestion  in  der  Hypnose  be- 
sprochen und  dabei  gefunden  haben,  dass  die  Bedeutung  der  hypnotischen 
Suggestion  sich  in  der  Begel  nur  auf  die  nämlichen  Factoren,  als  da 
sind  Erziehung,  Ermahnung,  motivirende  Ueberzeugung  und  Belehrung 
etc.,  gründen  kann,  wie  sie  auch  im  wachen  Zustande  sich  als  wirksam 
erweisen,  ist  es  interessant,  zu  sehen,  welche  Bedeutung  der  Suggestion 
im  Wachleben  von  den  einzelnen  Autoren  zugemessen  wird.  Regn- 
anlt**)  weist  in  einer  Reihe  von  Fällen  nach,  dass  die  Vorliebe  oder 
der  Ekel  vor  gewissen  Speisen  durch  Suggestion  entstanden  sei.  Je 
nach  der  Auffassung  des  Begriffes  der  Suggestion  liesse  sich  über  diese 
Behauptung   streiten.    Sicherlich   wird   man  jedoch   zugeben  müssen^ 


272  Leo  Hirschlaff. 

dass  Abneigung  und  Vorliebe  für  gewisse  Speisen  nicht  selten  durch 
zufallige  oder  unmotivirte  Verknüpfung  von  angenehmen  oder  unin- 
genehmen  Affecten  mit  den  Geschmackseindrücken  zu  Stande  kommt,  in- 
sofern, als  diesen  Associationen  eine  sachliche  Berechtigung  nicht  zu- 
kommt. —  lieber  die  Entstehung  von  Zwangsvorstellungen  macht  Arie 
de  Jong^^)  einige  interessante  Bemerkungen.  Er  weist  nach,  dass  es 
sich  dabei  um  Autosuggestionen  handelt,  und  betont,  dass  man  f&r 
diese  stets  einen  suggerirenden  Factor,  eine  cause  suggSrant«  aufsuchen 
müsse ;  so  sei  z.  B.  häufig  für  die  Agoraphobie  der  suggerirende  Factor 
das  Schwindelgefühl,  das  die  Kranken  aus  irgend  welchem  Orunde  ein 
Mal  oder  auch  häufiger  beim  Gehen  über  einen  Platz  empfunden  haben. 
Kornfeld ^^)  imd  Bikeles  betonen  die  Rolle  der  Suggestion  und  der 
Träume  bei  der  Entstehung  von  Grössenideen,  z.  B.  bei  Paralytikern. 
Es  ist  von  Werth,  zu  bemerken,  dass  Grössenideen  vielen  Geistes- 
kranken nicht  nur  suggerirt  werden  können,  sondern  dass  sie  ihnen  in 
der  That  nicht  selten  durch  die  suggestiven  Fragen  des  nach  einem 
Wahnsyst^m  fahndenden  Arztes  suggerirt  werden.  —  Forel**)  ver- 
öffentlicht einen  Fall  einer  Erkrankung,  die  durch  die  Beschäftigung 
mit  dem  Spiritismus  entstanden  und  durch  Anwendung  des  Hypnotis- 
mus  geheilt  worden  sein  soll ;  es  bandelt  sich  um  eine  hallucinatorische 
Paranoia.  In  dieses  Kapitel  des  Vorkommens  hypnotischer  Phänomene 
im  Wachleben  gehört  wohl  auch  die  Beobachtung  Bernheims^^,  der 
nach  Typhus  und  anderen  Infectionskrankheiten,  aber  auch  bei  gänzlich 
Gesunden  ohne  jede  Suggestion  cataleptiforme  Zustände,  femer  Om- 
tracturen^  automatische  Bewegungen  u.  s.  w.  hat  eintreten  sehen.  Er 
erklärt  diese  Erscheinungen  durch  eine  Herabsetzung  der  intellectuellen 
Initiative,  in  der  das  Gehirn  die  Idee  der  passiv  hervorgerufenen 
Stellung  festhält.  Wir  glauben,  dass  diese  Phänomene  in  den  Rahmen 
der  hysterischen  Autosuggestionen  hineingehören. 

Zur  Statistik  der  Hypnose  haben  van  Renterghem  und  van 
Eeden  einen  werthvoUen  Beitrag  geleistet.  Sie  berichten  über  1089 
Fälle,  die  in  ihrer  ausschliesslich  der  Psychotherapie  im  weitesten  Sinne 
gewidmeten  Klinik  in  Amsterdam  behandelt  wurden.  Von  diesen  ver- 
hielten sich  5,33  %  der  Hypnose  gegenüber  refractär;  42,78  %  kamen 
in  leichten  Schlat;  40,87  %  in  tiefen  Schlaf;  11,61  %  wurden  som- 
nambul. Von  den  Behandelten  waren  529  Männer,  560  Frauen;  es 
wurden  alle  Krankheiten  ohne  Unterschied  aufgenommen,  üeber  die 
Erfolge  der  Behandlung  werden  wir  weiter  unten  referiren.  —  Bram- 
welP*)    studirte  die  Frage,    ob  es  leichter  sei,   gesunde  oder  nerven- 


Xritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.      278 

kranke  Personen  in  Hypnose  zu  briogen,  an  einem  grösseren  Material. 
Er  fand,  dass  von  100  nerrengesunden  Personen  kein  einziger  sich  re- 
firactär  erwies;  12  wurden  leicht,  40  tief,  48  somnambul  hypnotisch. 
Es  zeigten  sich  92  Erfolge  beim  erstem  Male,  während  bei  den  anderen 
höchstens  4  Versuche  noth wendig  waren.  Bei  100  anderen  Personen 
hingegen,  die  ausnahmslos  schwer  nervenkrank  waren,  fand  sich  fol- 
gendes procentuale  Verhältniss:  refractär  waren  23,  leicht  hypnotisirt 
wurden  35,  tief  13,  somnambul  29.  Von  dieser  G-ruppe  wurden  61 
beim  ersten  Male  hypnotisirt,  während  die  höchste  Versuchszahl  16 
betrug.  Wenn  auch  zugegeben  werden  muss,  dass  diese  Statistik  auf 
äusserste  Exactheit  keinen  Anspruch  erheben  darf,  da  es  schwer  &llt 
und  fast  gänzlich  dem  subjectiven  Ermessen  des  Hypnotiseurs  und  der 
Versuchsperson  anheimgegeben  scheint,  zu  entscheiden,  ob  eine  Person 
schon  leicht  hypnotisirt  ist  oder  noch  nicht,  abgesehen  von  anderen 
Schwierigkeiten,  so  ist  doch  hierdurch  ein  Beweis  für  die  Behauptimg 
geliefert,  die  Forel  schon  früher  aufgestellt  hatte,  dass  gesunde  Per- 
sonen leichter  zu  hypnotisiren  sind,  als  I«]  ervenkranke.  Dass  dadurch 
unsere  früher  erhobenen,  ethischen  Einwürfe  gegen  die  tiefen  Som- 
nambulhypnosen nicht  widerlegt  werden,  bedarf  keiner  ausdrücklichen 
Erwähnung.  Die  Versuche,  die  BSrillon*^*)  an  Kindern  angestellt 
hat,  und  die  im  Grossen  und  Ganzen  das  gleiche  Resultat  ergaben, 
sollen  in  einem  der  folgenden  Abschnitte  eine  Besprechung  finden,  der 
die  pädagogische  Bedeutung  des  Hypnotismus  erläutert. 

Hieran  schliesst  sich  die  Darstellung  der  Erfolge  der  hypnotischen 
Behandlung.  Zunächst  soll  an  dieser  Stelle  der  Erfolge  gedacht  werden, 
die  in  der  Klinik  von  van  Renterghem  und  van  Eeden  erzielt 
wurden.  Das  Resultat  der  Behandlung,  die  sich  auf  Kranke  aller  Art 
erstreckte,  war:  erfolglos  behandelt  wurden  17,81%;  leichte  Besserung 
erfuhren  21,02%;  wesentliche  Besserung  23,69%;  Heilung  28,29%; 
Erfolg  unbekannt  bei  9,18  %.  Leider  fehlt  bei  dieser  Statistik  die 
Angabe  der  durchschnittlichen  Dauer  der  Behandlung.  Von  den 
sonstigen  Erfolgen,  die  in  der  neueren  Literatur  berichtet  worden  sind, 
möchten  wir  folgende  bemerkenswerthere  hervorheben:  Grossmann 
hat  bei  organischen  Lähmungen  gute  Erfolge  von  der  Suggestions- 
behandlung gesehen;  er  giebt  eine  Darstellung  seiner  Auffassung  über 
die  Art  des  Zustandekommens  dieser  Erfolge  auf  der  66.  Naturforscher- 
Versammlung  in  Wien  1894.  Stadelmann •®)  hat  die  Hypnose  in 
mehreren  Fällen  von  acutem  Gelenkrheumatismus  mit  gutem  Erfolge 
verwendet.    Wetter  Strand  veröffentlicht  eine  Reihe  von  Fällen,   in 

Ztitwhrifl  für  Hypnotismus  ete.    Vni.  18 


274  ^^o  Hirschlaff. 

denen  chronischer  Morphinismus,  Opiumgenuss,  Cocainismus  und  Chlora- 
lismus durch  Suggestion  und  Hypnose  geheilt  wurden.  Bernheim *^) 
hat  Lungenaffectionen,  auch  Phthisen,  durch  Suggestion  gebessert,  indem 
er  ihnen  die  reissenden  und  stechenden  Schmerzen  in  der  Brust  und  in 
den  Gliedern,  die  Schlaflosigkeit  und  die  Nachtschweisse  nahm.  B£- 
rillon^^  hat  bei  Tabikern  viele  Störungen  durch  Suggestion  zu  be- 
seitigen vermocht,  was  nicht  Wunder  nehmen  darf,  da  sicherlich  auch  bei 
der  Bückenmarksschwindsucht  viele  rein  functionell  bedingte  Beschwerden 
vorkommen.  Schmeltz*^)  machte  die  Amputation  einer  Mamma 
wegen  eines  grossen  Mammasarkoms  in  der  Hypnose  und  betont  dabei, 
dass  man  dem  Kranken  vor  einer  solchen  Amputation  nicht  den  Tag 
nennen  dürfe,  an  dem  sie  operirt  werden  sollen;  man  laufe  sonst  Ge- 
fahr, die  Hypnose  misslingen  zu  sehen,  wegen  der  Angst,  die  das  Ein- 
schlafen verhindert.  Wir  haben  ähnliche  Erfahrungen  bei  Zahneztrac- 
tionen  in  Hypnose  gemacht.  Bauer  ^^)  hat  die  casuistischen  Erfolge 
der  Poliklinik  For eis  veröffentlicht,  Delius  diejenigen  seiner  eigenen 
Praxis,  üeber  Hysteria  gravis  haben  Gerster •*)  und  von  Krafft- 
Ebing**)  Mittheilungen  gemacht.  Gerster  veröffentlicht  einen  Fall 
von  hysterischer  Contractur  und  Aphonie,  der  durch  Wachsuggestion 
geheilt  wurde,  v.  Krafft-Ebing  spricht  sich  sehr  resignirt  über  die 
hypnotisch-suggestive  Behandlung  der  Hysterie  aus,  indem  er  angiebt, 
dass  die  meisten  Fälle  misslingen  und  der  Erfolg  die  Ausnahme  bildet. 
In  neuster  Zeit  theilt  derselbe  Verfasser '^  einen  Fall  von  Hysteria 
gravis  mit,  wo  die  Suggestivbehandlung  wiederum  versagte,  während  die 
Castration  einen  dauernden  Erfolg  herbeiführte.  Nach  unserer  Erfah- 
rung ist  durch  consequente  und  sorgfältige  Psychotherapie,  die  in  ge- 
eigneten Fällen  mit  einer  hypnotischen  Behandlung  combinirt  werden 
kann,  auch  bei  der  schwersten  Hysterie  unbedingt  stets  ein  Erfolg  zu 
erzielen,  wenn  Arzt  und  Patient  die  erforderliche  Ausdauer  besitzen; 
die  chirurgische  Behandlung  der  Hysterie  betrachten  wir  ebenfalls  nur 
unter  dem  Gesichtswinkel  der  Suggestion.  —  Endlich  sei  noch  erwähnt, 
dass  Voisin'®)  seit  vielen  Jahren  Geisteskranke  jeder  Art  hypnotisch 
behandelt  und  geheilt  haben  will;  seine  Mittheilungen  darüber  sind 
jedoch  werthlos,  da  er  auf  eine  exacte  Begründung  der  Diagnose  Ver- 
zicht leistet.  (Fortsetzung  folgt) 


Literaturzusammenstellung 

über 

die  Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis 

von 

Dr.  Freiherm  von  Schrenck-Notzing  -  M  ü  n  c  h  e  n. 

(2.  Fortsetzung.) 


Wie  ans  dem  oben  erwähnten  Werk  von  Krauss  hervorgeht,  be- 
richtete D  e  m  m  e  einige  Fälle  von  Sadismus  (activer  Algolagnie).  Dieselben 
betreffen  Personen,  welche  durch  Zufügung  von  Schmerzen,  Verletzungen 
nnd  Yerwundnngen  weiblicher  Personen  in  geschlechtliche  Erregung  kommen. 
Die  Stärke  der  Verletzung,  der  Anblick  von  Blut  kann  dabei  Bedingung 
für  den  Eintritt  der  Ejaculation  werden.  Einem  derartigen  Individuum 
koimten  50  Angriffe  mit  Lancetten,  Uäckelnadeln  etc.  nachgewiesen  werden. 
In  einem  anderen  Fall  betraf  die  Verwundung  nur  die  weiblichen  Geschlechts- 
theile.  In  weiterer  Steigerung  dieser  grässlichsten  aller  G-eschlechtsver- 
irrungen  kommt  es  zum  Trinken  des  Blutes,  zum  Lustmord  und  völligen 
Verstümmeln  des  gemordeten  Opfers. 

Blumröder^)  und  Lombroso^  führen  solche  Verstümmlungen  an. 
So  berichtet  auch  Tardieu^  von  einem  Onanisten,  der  7 — 8  Mal  pro  Tag 
masturbirte,  bei  wohlentwickeltem  heterosexuellem  Trieb.  Dieser  sagt:  „In- 
dem ich  masturbirte,  versetzte  mich  meine  Einbildungskraft  in  ein  mit 
Frauen,  die  in  meiner  Gewalt  standen,  gefülltes  Gemach.  Indem  ich  an 
ihnen  meine  Leidenschaft  befriedigte,  marterte  ich  sie  in  meinen  Gedanken 
zu  meiner  Lust  in  jeglicher  Weise,  steUte  sie  mir  dann  todt  vor  und  be- 
fleckte ihre  Leichen.  Zuweilen  stieg  mir  der  Gedanke  auf,  eine  männliche 
Leiche  zu  zerschneiden,  doch  das  kam  selten  vor  und  ich  empfand 
davor  Abscheu. ''     Patient   ging   dann  zur  practischen    Ausführung    seiner 


^)  Blumröder  „lieber  Lust  und  Schmerz".    Friedreich^s  Magazin  für  Seelen- 
kunde.   1830.    Bd.  II,  S.  5. 

•)  Lombroso,  „Verzeni  e  Agnolette".    Roma  1874. 
')  Attentats  aux  moenrs.    Paris  1878,  S.  114. 

18* 


276  ^-  Schrenck-Notzing. 

Phantasien  über,  masturbirte  zuerst  beim  Anblick  aufgeschlitzter  Thierleichen, 
tödtete  dann  Hunde  und  grub  schliesslich  menschliche  Leichen  aus.  ,, Alles, 
was  man  mit  einem  lebenden  Weib  empfindet, '^  sagt  er,  „ist  gar  nichts  im 
Vergleich  mit  dem  von  mir  gehabten  Genuss.  Ich  bedeckte  alle  ihre  Körper- 
theile  mit  Küssen,  drückte  sie  mit  der  Ejraft  eines  Eisenden  an  mein  Hers, 
mit  einem  Wort,  ich  überhäufte  sie  mit  den  feurigsten  Liebkosungen.  Dann 
machte  ich  mich  daran,  die  Leiche  zu  zerstückeln,  ihre  Eingeweide  heraos- 
zuziehen  etc.'' 

Dass  die  Entwickelung  periodisch  auftretender  sexueller  AbnormitSten 
auch  ohne  vererbte  psychopathische  Constitution  möglich  ist,  zeigen  die 
Mittheilungen  von  Anjel.  Li  einem  seiner  Fälle  handelte  es  sich  um 
einen  verheiratheten  erblich  nicht  belasteten  Mann,  der  durch  Beschadigong 
am  Kopf  eigenthümliche  Anfalle  bekam,  von  starker  Beklemmung,  Schlaf- 
losigkeit, Reizbarkeit,  Appetitverlust  und  Verstimmung.  La  diesem  Zustande 
wirkten  kleine  Mädchen  auf  ihn  erregend;  sogar  die  Anwesenheit  seiner 
fünf-  und  zehnjährigen  Töchter,  sowie  Kindergeschrei  im  entfernten  Zimmer 
hatten  Erectionen  zur  Folge.  Schliesslich  lockte  er  kleine  Mädchen  an 
einsame  Orte  und  entblösste  ihre  Geschlechtstheile.  Die  AnflQle  dauerten 
8 — 14  Tage.  Er  erinnerte  sich  danach  an  alles  und  lebte  in  der  anfiallB- 
freien  Zeit  auch  in  sexueller  Beziehung  als  normaler  Mensch.  Bei  Be- 
urtheilung  dieses  Falles  erscheint  es  fraglich,  ob  jene  sexuellen  Neigungen 
zu  Kindern  und  unreifen  weiblichen  Personen  nicht  schon  vor  der  Er- 
krankung als  unschädliche  und  durch  den  normalen  Sexualverkehr  stets 
gezügelte  Gedankenrichtung  bestanden.  Die  XJnwiderstehlichkeit  dieser  sonst 
beherrschten  Neigungen  wäre  dann  ein  Symptom  jenes  durch  die  AnfiÜle 
provocirten  Erregungszustandes. 

Während  Anjel  diesen  Fall  als  epileptisches  Aequivalent  aof&sst, 
wendet  Tarnowski  dagegen  ein,  dass  die  lange  Andauer  der  Zustände, 
das  Fehlen  der  Bewusstseinstrübung  und  epileptischer  Prodrome  (Aura)  gegen 
Epilepsie  spreche.  Tarnowski  zählt  diese  Beobachtung  zu  den  Fällen 
periodischer  Manie. 

Während  Westphal,  v.  Krafft-Ebing,  Moll  und  in  Berufung 
auf  diese,  man  kann  sagen  die  Mehrzahl  der  Autoren,  in  ihren  Beobachtungen 
den  Hauptaccent  auf  die  erbliche  Belastung  legen,  sind  einige  Mittheilungen 
in  dem  äusserst  interessanten  Werke  Hammond's  über  perverse  Sexual- 
empfindungen durch  die  besondere  Berücksichtigung  der  occasionellen 
Momente  für  uns  lehrreich.  Allerdings  weist  auch  Hammond  darauf  hin, 
dass  Fälle,  in  denen  ein  Individuum  die  Wahnvorstellung  hat,  dass  es  dem 
anderen  Geschlecht  angehöre  (v.  K  r  a  f  f  t  -  E  b  i  n  g '  s  Wahn  der  G^schlechts- 
verwandlung),  nicht  mit  Beobachtungen  jener  Art  verwechselt  werden  dürften, 
da  „sie  eine  wirkliche  Monomanie  darstellen,  und  selten  mit  anderen  krank- 
haften Erscheinungen  des  Geschlechtstriebes  verbimden  sind'^ 

Die  Bedeutung,  welche  Erziehungsfactoren  und  äussere  Einflüsse  durch 
die  pathologische  Association  bei  erblichen  Neuropathen  in  der  Entstehung 
sexueller  Perversionen  gewinnen  können,  wird  durch  folgende  Beobachtungen 
Hammond's  deutlich  illustrirt : 

Ein   Dienstmädchen  lehrte    einen    7  jährigen  erblich  belasteten  Eoiaben 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexoalis.  277 

in  seinem  Hause  onaniren.  Einstmals  brachte  sie  an  seinem  Penis  mittelst 
ihres  Fusses  eine  Erection  heryor,  ohne  den  Schuh  abzunehmen,  und  hierbei 
empfand  Patient  zum  ersten  Mal  Vergnügen.  Von  da  an  geschlechtliche 
Erregung  und  Erectionen  beim  Anblick,  später  beim  blossen  Gedanken  an 
einen  Frauenschuh.  Onanie  inmitten  von  Frauenschuhen,  die  rings  um  ihn 
herum  in  allen  möglichen  Stellungen  standen.  Darauf  psychische  Onanie 
durch  Vorstellung  von  Schuhen.  In  der  Schule  sinnliche  Erregung  durch 
die  Schuhe  der  Lehrerin.  Theilweise  Verhüllung  der  Schuhe  durch  lange 
Frauenkleider  rief  besonderen  Reiz  hervor.  Um  die  sinnliche  Erregung  zu 
Yergrössem,  ergriff  er  eines  Tages  einen  Schuh  seiner  Lehrerin,  empfand 
sofort  grösseres  Vergnügen  als  je  zuvor.  Geschlechtlicher  Orgasmus.  Trotz 
Bestrafung  Wiederholung  des  Attentats  mit  gleichem  Erfolg.  Später  rief 
die  blosse  Erinnerung  an  den  Schuh  der  Lehrerin  Samenerguss  hervor. 

Dann  entwendet  er  einem  Dienstmädchen  einen  Schuh  und  ejaculirt 
ononistisch  das  Sperma  in  denselben.  Neue  Variation,  indem  er  bei  jeder 
neuen  Masturbation  jedesmal  einen  anderen  Schuh  benützte.  Zu  diesem  Zweck 
stahl  er  Schuhe.  Nackte  Frauen  oder  Männer  riefen  nur  Ekelgefühl  hervor. 
Dachte  nie  an  sexuellen  Verkehr. 

Verkaufte  fernerhin  in  einem  Krämerladen  Schuhe.  Beim  Anpassen  sexuelle 
Erregung.  Einmal  beim  Anpassen  starke  Erection  ohne  Orgasmus,  Bewusst- 
seinsverlust  und  epileptischer  Anfall.  Die  krankhafte  Ideenassociation  zwischen 
Frauenschuhen  und  Geschlechtsfunction  löste  wiederholt  Anfalle  aus,  obwohl 
Patient  mit  der  lasterhaften  Gewohnheit  zu  brechen  suchte.  Traumpollutionen 
mit  Schuhvorstellungen  und  epileptischen  Anfällen.  Entschluss  zu  heirathen, 
Impotenz  in  der  Ehe.  Auf  Eath  von  Hammond  hing  er  über  sein  Bett 
einen  Frauenschuh  auf,  gleichzeitig  Brombehandlung.  Der  Coitus  gelingt 
nun  ohne  epileptische  Anfölle.  Später  geregelter  Geschlechtsverkehr  alle 
10  Tage.  Die  Vorstellung  der  Frauenschuhe  stellte  sich  noch  ab  und  zu 
wieder  ein,  jedoch  ohne  ihn  sinnlich  zu  erregen. 

Dieser  ungemein  merkwürdige  Fall  giebt,  wie  Hammond  sagt,  einen 
Fingerzeig,  dass  ein  starker  Wille  auch  bei  einem  nicht  sehr  intelligenten 
Manne  abnorme  Triebe  wieder  in  die  natürlichen  Bahnen  zu  lenken  vermag. 

Ein  anderer  Patient  Hammond's,  ein  Cigarrenhändler,  sah  in  früher 
Kindheit  einen  Hund  sich  mit  einer  Hündin  paaren.  In  dem  Glauben,  dass 
dies  vom  Anus  aus  geschehe,  führte  er  nun  sich  selbst  einen  hölzernen 
Bleistift  in  die  entsprechende  Oeffiiung  seines  eigenen  Körpers.  „Dies  hatte 
ihm  localen  Schmerz  verursacht,  aber  zugleich  auch  eine  eigenthümliche  an« 
genehme  Empfindung,  deren  Localisation  er  zunächst  noch  nicht  angeben 
konnte.  Nach  einigen  Tagen  wiederholte  er  den  Versuch  mit  ähnlichem 
Erfolg,  aber  dieses  Mal  mit  dem  Stiel  einer  Zahnbürste,  den  er  vorher  gut 
geölt  hatte.  Wieder  empfand  er  ein  angenehmes  Gefühl  und  zwar  genau  in 
dem  Penis.     Hieraus  entwickelte  sich  bei  dem  Patienten  passive  Päderastie. 

Die  locale  Beizung  vom  Mastdarm  aus  genügt  für  sich  allein,  um 
Erectionen  zu  produciren,  also  sexuell  erregend  zu  wirken,  wie  das  bei 
impotenten  Wüstlingen  wiederholt  durch  operative  Entfernung  von  Fremd- 
körpern aus  dem  Mastdarm  nachgewiesen  ist. 


278  ▼•  Schrenck-Notzing. 

Aas  der  Päderastie  entwickelte  sich  beim  Patienten  contrare  Sexaal- 
empfindung, er  legte  Frauenkleidung  an,  nannte  sich  ,,Lida''  und  hatte  nie- 
mals Neigung  zu  Frauen,  seitdem  das  undifferenzirte  Geschlechtsgefühl  einen 
bestimmten  Inhalt  bekommen  hatte.  Er  bekam  später  epileptiforme  Anfflle, 
will  die  Päderastie  mindestens  10000  Mal  theils  activ  theils  passiv  betrieben 
haben.  Der  Hang,  Weib  zu  sein,  wurde  bei  ihm  (wie  bei  den  Pathici  des 
Alterthums  und  einigen  Patienten  Krafft-Ebing's)  so  gross,  dass  er 
wiederholt  daran  dachte,  sich  seine  Genitalorgane  abzuschneiden. 

Auch  in  nachstehender  Beobachtung  Hammond's  scheint  die  ge- 
legentliche locale  Heizung  der  Ausgangspunkt  der  Perversion  geworden 
zu  sein. 

Ein  12  jähriger  Knabe  wurde  eines  dummen  Streiches  wegen  in  der 
Schule  stark  gestraft,  kurz  darauf  halbstündige  Erection  und  eigenthümlicbe 
Gefühle  in  der  Eichel,  die  ihm  bis  dahin  fremd  waren.  Denselben  Nach- 
mittag ging  er  mit  einem  anderen  Knaben  baden  und  leg^  im  Wasser  beim 
Schwimmen  seine  Hände  auf  die  Schulter  des  anderen.  Er  hatte  dies  oft 
auch  früher  gethan,  ohne  dass  dadurch  je  eine  geschlechtliche  Erregung 
hervorgerufen  wurde.  Diesmal  berührte  sein  Penis  gerade  die  Glutäalregion 
seines  Freundes  und  sofort  hatte  er  genau  dieselben  Empfindungen  wie  nach 
den  Schlägen  und  ebenfalls  Erection.  Sie  waren  schon  nahe  am  TJfer  und 
ohne,  dass  er  sich  dessen  bewusst  wurde,  übte  er  Päderastie  aus.  Von  nun 
an  trieb  er  dies  Laster  immer  weiter,  theils  passiv,  hauptsächlich  und  mit 
Vorliebe  aber  activ.  Sexuelle  Erregung  aber  durch  nackte  Männer,  Onanie. 
Yorstellungsinhalt :  Glutäalregion  eines  Mannes,  Traumpollution  päderastischen 
Inhalts.  Frauen  konnten  ihn  nicht  im  Geringsten  sinnlich  erregen.  Er 
blieb  activer  Päderast. 

Die  Behandlung  Hammond's  befreite  ihn  ganz  von  seinen  perversen 
Neigungen.  Dieselbe  bestand  in  ,, Mathematikstudium,  Hydrotherapie,  Cau- 
terisation  an  Nacken,  Brust  und  Lendenwirbeln,  Brompräparaten,  Familien- 
verkehr'^  Nach  einer  Reihe  von  Monaten  wesentliche  Besserung.  Sexuelle 
Neigungen  zu  Frauen,  Ehe. 

Das  auch  in  sonstiger  Beziehung  lehrreiche  Werk  von  Hammond 
enthält  femer  Mittheilungen  über  das  angeborene  und  acquierirte  Fehlen 
des  Geschlechtstriebes.  Verfasser  führt  für  die  temporäre  Impotenz  durch 
geistige  Ablenkung,  sowie  durch  geistige  TJeberanstrengung  Beispiele  an 
(Furcht,  Beschäftigung  mit  mathematischen  Problemen  etc.).  Vielfach  konnte 
dieser  Autor  nach  sexuellen  Excessen  als  Folgeerscheinung  epileptische 
Anfälle  beobachten.  Bei  einem  seiner  Patienten  wurde  durch  die  Friction 
der  Mastdarmschleimhaut  sexuelle  Erregung,  durch  die  Berührung  der  glans 
penis  aber  ein  epileptischer  Anfall  hervorgerufen.  Auch  über  Onanie  durch 
Zusammenwirken  von  Sinnes-  und  Vorstellungsreizen  (ideelle  Cohabitation) 
und  ihre  Folgen  für  die  Potenz  berichtet  H.  Er  legt  überhaupt  den 
äusseren  umständen,  den  geschlechtlichen  Ausschweifungen  im  Kindesalter 
onanistischen  und  sonstigen  sexuellen  Excessen  beim  männlichen  und  weib- 
lichen Geschlecht  als  Ursache  für  eine  Abschwächung  und  schliesslichen 
Verlust  der  Potenz  eine  grössere  Wichtigkeit  bei,  als  die  meisten  anderen 
Autoren. 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  279 

Von  den  Werken  und  Arbeiten  ^)  über  Onanie  möge  an  dieser  Stelle 
wenigstens  das  Ausführlichste  von  G-arnier  kurze  Erwähnung  finden. 
Dasselbe  ist  insofern  interessant,  als  unter  dem  Titel  y,Onanie''  (Onanisme 
Beul  et  k  dexa)  so  ziemlich  alle  verkehrten  Richtungen  des  Geschlechts- 
triebes beschrieben  sind. 

Der  erste  Abschnitt  umfasst  Definition,  Ursprung,  sexuelle  Ver- 
schiedenheiten, allgemeine  und  locale  Ursachen,  Zeichen,  Folgen  und  Be- 
handlung der  Onanie.  Abschnitt  II  behandelt  die  Masturbation  beim 
Manne  in  verschiedenen  Lebensaltem,  ebenso  diejenige  beim  Weibe  (Man- 
ölisation).  Der  dritte  Abschnitt  erörtert  die  mechanischen  Hilfs- 
mittel zur  Onanie,  der  vierte  den  Onanismus  vulvovaginalis,  speciell 
die  Tribadie  oder  den  Clitoridismus  (Gegenseitiges  Reiben  der 
weiblichen  Genitalien,  eventuell  Benutzung  einer  vergrösserten  Clitoris  an 
Stelle  des  Penis).  Der  fünfte  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  dem 
buccalen  Onanismus  (Benutzung  der  Lippen  und  Zunge  zur  Reizung  der 
Genitalien)  und  dem  Saphismus  (buccale  Onanie  zwischen  Frauen). 
Im  sechsten  Abschnitt  finden  sich  Ausführungen  über  Onanie 
mammaire  (d.  h.  onanistische  Reizung  der  Brüste  und  Brustwarzen). 
Die  siebente  Gruppe  umfasst  die  Erscheinungen  des  Onanismus  analis 
(Päderastie  und  Sodomie).  Unter  Päderastie  versteht  Garnier  lediglich 
die  Liebe  zwischen  Männern  in  jeder  Art  sexueller  Bethätigung,  während 
er  als  Sodomie  den  analen  Coitus  bei  Männern  und  Frauen  bezeichnet. 
Der  letzte  achte  Abschnitt  behandelt  die  Onanie  an  Thieren  oder 
Bestialität.  Nach  einer  ausführlichen  Erörterung  der  Folgen  und  Ge- 
fahren der  Onanie  unter  Berücksichtiguug  erblicher  Verhältnisse  und  prä- 
disponirender  psycho-  und  neuropathischer  Zustände  bespricht  Garnier 
die  Behandlung  von  Onanisten.  Dazu  gehören  1.  Ueberredung,  2.  hygienische 
und  specielle  Verordnungen,  3.  Zwangsmaassregeln  und  mechanische  Ver- 
hinderungsmittel, 4.  operative  Eingriffe.  Die  Indication  für  die  einzelnen 
Behandlungsformen  richten  sich  nach  dem  speciellen  Fall. 

Im  Jahre  1885  erschien  die  erste  zusammenhängende  französische  Dar- 
stellung über  sexuelle  Inversion  von  Chevalier;  derselben  folgte 
1892  die  zweite  Auflage.  In  dem  ersten  Theil  dieses  Werkes  stellt  Che- 
yalier  folgende  für  die  Sexualität  maassgebenden  Gesetze  auf: 

L  Die  anatomische  Constitution  ist  maassgebend  für  das  Geschlecht;  die 
Function  hängt  von  dem  Organ  ab  (Gesetz  der  geschlechtlichen  Differenzirung). 


*)  Wenn  Fürbringer  in  seiner  Besprechung  der  Onanie  in  der  Real-Encycl. 
d.  med.  Wissensch.  1888  die  Existenz  einer  Literatur  über  diesen  (Gegenstand  negirt, 
so  erscheinen  im  Gegensatze  hierzu  doch  folgende  Arbeiten  (ausser  Garnier)  er- 
wähnenswerth :  1.  T i s s o t ,  Tonanisme  Paris  1886 (auch  deutsch  ersch.).  2.  Christian 
(Charenton),  l'onanisrae.  Extr.  du  Hist.  encycl.  des  sciences  medicales.  1882. 
3.  V.  K  r  a  f  f  t  -  E  b  i  n  g ,  lieber  Irresein  durch  Onanie  bei  Männern.  AUgem.  Zeitschr. 
für  Psych.  1874,  S.  425.  4.  üef feimann,  Handbuch  der  öfFentl.  und  privaten 
Hygiene  des  Kindes  1881,  S.  368.  5.  Pouillet,  De  Tonanisme  de  la  femme. 
2.  6d.  Paris  1877.  6.  Robinson,  Klinische  Beobachtungen  über  Pollutionen  beim 
weibl.  Geschlecht.  Med.  Ag.  1889,  Nr.  7.  7.  Spitzka,  Die  Selbstbefleckung  im 
Verhältniss  zu  Geisteskrankheiten.  Boublin  Journal  1887.  8.  Peretti,  Ueber 
Geisteskrankheit  bei  Onanisten.    Pract.  Arzt  1881.  XI. 


280  V-  Schrenck-Notzing. 

2.  Die  entgegengesetzten  Q^schleohter  ziehen  sioli  von  Nfttar  an,  die 
gleichen  stossen  aich  ab  (Gesetz  der  sexuellen  Attraotion). 

8.  Die  entgegengesetzten  Geschlechter  ziehen  sich  ursprünglich  um  so 
stärker  an,  je  weniger  Aehnlichkeit  sie  untereinander  haben,  je  ausge- 
sprochener ihre  Sexualität  ist ;  die  gleichen  Geschlechter  stossen  sich  um  so 
weniger  ab,  je  weniger  ihre  Sexualität  entwickelt  ist. 

4.  Die  Differenzirung  der  secundären  Geschlechtscharactere  ist  um  so  toU- 
kommener,  je  civilisirter  und  höher  entwickelt  das  Milieu  ist,  in  welchem  sie  sieh 
eut¥dckeln ;  eine  hoch  entwickelte  Sexualität  ist  ein  Ausdruck  des  Fortschritte. 

Bei  der  näheren  Begründung  dieser  Gesetze  giebt  Oheyalier  eine  üeber- 
sicht  über  die  Geschlechtsunterschiede  und  bezeichnet  den  Mann  als  ein  intelleo- 
tuelles,  das  Weib  als  ein  instinctives  Wesen.  Die  Anpassung  der  geschlecht- 
lichen Organisation  an  ihren  Zweck  hält  Verfasser  für  eine  Nothwendigkeit. 

Das  Eänd  ist  für  ihn  ein  spinales  (Virchow),  asexueUes  Wesen;  ent 
mit  dem  Wachsthum  und  der  Entwickelung  der  Genitalien  kommen  die 
Geschlechtsunterschiede  zum  Vorschein  (Pubertät;  geschlechtlidie  Beife). 
Mit  dem  Alter  wird  das  Geschlecht  wieder  neutral ;  nach  Gh.  hat  das  weib- 
liche Alter  überhaupt  mehr  einen  männlichen  Character.  Wenigstens  trans- 
formirt  sich  der  weibliche  Körper  nach  dem  Klimaktermin  in  diesem  Sinne. 

Bei  der  grossen  Variabilität  teratologischer  Unterschiede  und  fehler- 
hafter anatomischer  Abweichungen  von  der  Norm  (speciell  auch  an  den 
Genitalien,  hält  Verfasser  das  gemischte  Vorkommen  maskuliner  und  femi- 
niner Formen  und  Attribute  speciell  auch  auf  dem  Gebiet  der  Psyche  und 
des  Gharacters  für  erwiesen.  ,,Die  Beispiele  zeigen,  dass  die  moralische 
(geistige)  Androgynie  und  Gynandrie  eine  unvermeidliche  Folge  des  organischen 
Bimorphismus  ist.'' 

Für  den  tiefgreifenden  Einfluss  des  anatomischen  Verhaltens  der  Geni- 
talien auf  die  Psyche  macht  Verfasser  mit  Becht  die  körperliche  und  seelische 
Veränderung  der  Eunuchen  und  Kastraten  geltend.  Die  Veränderungen, 
welche  bei  Männern  und  Frauen  nach  dem  Aufhören  der  sexuellen  Functionen 
sich  zeigen,  führt  Chevalier  auf  die  nach  Darwin  vorhandenen  latenten 
sexuellen  Charactere  zurück. 

Die  Geschichte,  die  Ethnographie  und  Länderkunde  beweisen,  dass  im 
Allgemeinen  das  Weib  durch  seine  plastischen  Formen,  seine  Thätigkeiten 
sich  dem  männlichen  Typus  bei  primitiven  und  wilden  Völkern,  ebenso  wie 
in  den  niederen  Volksolassen  (besonders  dem  Arbeiterstande)  und  bei  den 
Bauern  mehr  annähert,  während  in  den  höheren  gebildeten  Klassen  der 
Bevölkerung,  bei  den  Städtern  der  weibliche  Typus  stärker  zum  Aus- 
druck kommt.  Es  bestünde  also  hiemach  für  die  Erziehung  die  Pflicht, 
diesen  Antagonismus  der  Geschlechter  zu  befördern.  Indessen  beeinträchtigen 
diesen  Entwickelungsgang  der  modernen  Liebe  die  socialen  Verhältnisse, 
der  Kampf  ums  Dasein,  die  Herrschaft  des  Geldes,  die  Eitelkeit,  die  In« 
toxicationen  und  die  Degeneration  in  all  ihren  Formen.  Chevalier  ninmit 
nun  ferner  an,  dass  auch  diese  Gesetze  Ausnahmen  erleiden  können,  indem 
ein  Missverhältniss  zwischen  der  Bichtung  persönlicher  geschlechtlicher 
Neigungen  und  den  anderen  Factoren  der  Sexualität  vorkommen  kann. 

So  kann  ein  morphologisch  dem  männlichen  Geschlecht  zugehöriges 
Wesen  nach  Ch.  psychisch  weiblich  angelegt  sein  und  es  entsteht  die  Er- 
scheinung  der   sexuellen  Inversion.     Die   Einheit   des  Ich   ist   gestört,    da 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  scxualis. 


281 


zwei  Geschlechter  sich  in  einer  Person  vorfinden.  Und  dieser  Widerspruch 
gegen  die  Natur  ist  so  alt,  wie  die  Menschheit  überhaupt.  Verfasser  kommt 
nun  auf  die  verschiedenen  Classificationen  der  geschlechtlichen  Verkehrung 
SU  sprechen  und  giebt  einen  historischen  und  anthropologischen  TJeberblick 
über  das  Vorkommen  und  die  Verbreitung  der  Homosexualität.  Unter  den 
Ursachen  der  Inversion,  von  denen  der  zweite  Abschnitt  handelt,  giebt  es 
objective  (sociale  äussere  Bedingungen)  und  subjective  (Krankheit, 
Entwickelungsfehler,  Degeneration).  In  Bezug  auf  die  Dauer  derselben 
unterscheidet  Verf.:  1.  temporäre,  2.  constante  und  3.  periodische  Inversion. 
Er  unterscheidet  das  isolirte  Vorkommen  der  Aberration  von  dem  mit  anderen 
Symptomen  pbysischer,  moralischer  Störung  begleiteten  Auftreten  derselben. 

Die  congenitale  Inversion,  die  Verkehrung  im  eigentlichen  Sinne  des 
Wortes  fösst  Verf.  als  ein  Degenerationszeichen  auf;  dieselbe  zeigt  sich  als 
enrte  Aeusserung  des  sexuellen  Instinctes  und  tritt  ohne  äussere  Erziehungs- 
einflüsse ins  Dasein. 

Die  nachstehende  Uebersicht  giebt  die  Klassification  Chevalier's 
nach  den  ätiologischen  Momenten  wieder: 


I. 


I. 


Erworbene  artificielle 
Inversion 


aus 


1.  Päderastie    oder   Saphismus 
Wollust. 

2.  Päderastie  oder  Saphismus  aus 
Profession. 

3.  Päderastie  oder  Saphismus  aus 
Zwang  (Fehlen  von  Frauen). 

4.  Päderastie  oder  Saphismus  aus 
Furcht  (vor  Geschlechtskrank- 
heiten und  den  Folgen  des  Coitus). 


Sociologische 

Factoren 
des  Milieus. 


§ 


^ 


i 

dB 


1. 


Mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochene Qeschlechts- 
losigkeit  in  Folge  man- 
gelhafter Entwickelung 
der  Genitalien  und  Hück- 
wirkung  auf  die  secun- 
dären  Geschlechts- Cha- 
ractere. 


n. 

(a) 
Erwachen      während 

der  Adolescenz. 

(b) 
Congenital  (aus  dem 

fötalen  Leben   stam-' 

mend). 


Weibl.  Typus. 
Männl.  Typus. 


Hypospadie. 
Vergrösserte  Clitoris. 
Hermaphrodismus. 


2. 

Geschlechtskrankheit 
mit  bestimmten  Störun- 
gen des  Nervensystems. 


III. 

Manie. 

Melancholie. 

Periodisches  (circuläres)  Irresein. 

Chronisches  Delirium. 

Erblicher  Irrsinn  (Idiotie,  Imbecillität  etc.). 

EpUepsie. 

Allgemeine  Paralyse. 

Dementia  senilis. 


^ 


o 

•s 

S  fl 

O    Q 
TJ-g 

^  § 

.9  d 

8g 

'S  S 
*-§ 

o 


282  ^'  Schrenck-Notzing. 

IV. 
III.  Congenitale  Yerkehrimg  /  _  (  Individuelle  Factoren. 

des  Geschlechtstriebes.      \  -L^egeneraüoii.      |  ErbUchkeit 

Der  grösste  Theil  der  zweiten  Hälfte  des  Werkes  besteht  in  der  weitem 
Ansführung  und  Begründung  dieser  Eintheilung  unter  Anführung  zahlreicher 
Krankengeschichten. 

Der  fünfte  und  letzte  Abschnitt  des  interessanten  Buches  erörtert  die 
forensische  Bedeutung  der  gesclflechtlichen  Yerkehrung  nach  den  jeweiligen 
Gesetzen  im  Alterthum,  in  der  Gegenwart  und  in  der  Zukunft  und  bietet 
eine  ausführliche  Anleitung  zur  ärztlichen  Untersuchung  homosexueller  Per- 
sonen. 

Lacassagne,  der  Lehrer  Chevaiier's,  unterscheidet  die  psycho- 
sexuellen  Erkrankungen  nach  ihrem  quantitativen  und  qualitativen  Verbalten. 

Zur  ersteren  Classe  gehören  Zustände  einer  Steigerung  oder  Ver- 
minderung des  Geschlechtstriebes,  Onanie,  Satyriasie, 
Nymphomanie,  momentane  genitale  Krisen,  gelegentliehe 
Triebsteigerung  (Menopause,  puerperale  Folie  etc.)  einerseits,  und  ge- 
wohnheitsmässige  oder  momentane  Frigidität,  Impoteni,. 
Fehlen  der  libido,  Erotomanie  auf  der  anderen  Seite. 

Die  nach  ihrer  Qualität  unterschiedenen  Formen  sind: 

1.  Die  Verkehrung  des  Geschlechtstriebes  bei  beiden  Ge- 
schlechtern: Päderastie  und  Tribadismus. 

2.  Verirr ungeu  des  Geschlechtstriebes  im  engeren  Sinne, 
nämlich:  Nekrophilie,  Bestialität  und  Nihilismus  für  fleisch- 
lichen Verkehr  (uihilismc  de  la  chair),  Azoophilie  (Chevalier), 
Fetischismus  in  der  Liebe  (Binet). 

lieber  die  in  dieser  Arbeit  nicht  näher  angeführte  casuistische  firan- 
zösische  Literatur  vergleiche  man  das  Werk  Chevalier 's,  in  welchem 
dieselbe  ziemlich  vollständig  berücksichtigt  ist. 

Weitere  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pathologie  der  Ge- 
schlechts Verhältnisse  lieferte  der  bekannte  Florentiner  Oelehrte 
Mantegazza.  Dieselben  sind  in  belletristischer  Form  populär  geschrieben 
und  durch  die  zahlreichen  Auflagen  in  deutscher  TJebersetzung  im  grösseren 
Publikum  bereits  so  bekannt  geworden,  dass  wir  an  dieser  Stelle  uns  mit 
der  Erwähnung  seiner  Hauptwerke  ^Psychologie  der  Liebe**  und 
„Hygiene  der  Liebe"  begnügen.  Dieselben  bieten  auch  lür  den  Ge- 
lehrten —  trotz  ihres  Maugels  an  Gründlichkeit  und  wissenschaftlicher 
Tiefe  —  manche  geistvolle  Anregung.  Dagegen  darf  die  dritte  Arbeiti 
„Anthropologisch  kulturhistorische  Studien  über  die  Ge- 
schlechtsverhältnisse der  Menschen",  als  ein  interessantes 'Quellen- 
werk  bezeichnet  werden ,  in  welchem  für  das  Studium  des  Sexuallebene 
wichtige  literarische  Nachweise  aus  dem  Völkerleben  und  der  Geschichte 
zwanglos  zusammengestellt  sind.  Besonders  interessant  sind  die  Mittheilnngen 
des  Autors  über  die  Schamhaftigkeit  und  Keuschheit  bei  den  verschiedenen 
Kassen.  Die  Art  der  Auffassung  und  Beurth eilung  des  Sexual- 
verkehrs ist  ungemein  verschieden.  Bei  vielen  Völkern  wird  die  Hingabe 
des  Mädchens  als  eine  natürliche  Handlung,  und  nicht  als  Schuld  betrachtet 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  283 

„Dort  wo  diese  Handlung  einfach  nur  als  die  Befriedigung  eines  natür- 
lichen Bedürfnisses  angesehen  wird,  überlassen  sich  Männer  und  Frauen  der- 
selben mit  voller  Freiheit  und  ohne  Gewissensbiese.  Wo  man  aber,  um 
zum  Tempel  zu  gelangen,  alle  Barrikaden  des  Schamgefühls,  der  socialen 
Gesetze,  der  religiösen  Vorschriften  und  der  öffentlichen  Meinung  über- 
schreiten muss,  da  wird  die  Umarmung  zur  ernsten,  schwierigen  und  sehr 
▼erwickelten  Angelegenheit  und  die  heutige  Liebe  verirrt  sich  auf  die 
schlüpfrigen  Pfade  der  Selbstbefleckung  und  Prostitution.^ 

S.  62 :  „Für  die  spitzfindigen  Theologen  des  Mittelalters  sind  alle 
Arten  des  Erotismus  und  der  Wollust,  welche  die  menschliche  Phantasie 
erfunden  hat,  ebenso  viele  Todsünden,  weil  die  XJmarmung  voll  idealer 
Moralität  den  einzigen  Zweck  der  Fortpflanzung  mit  dem  möglichst  geringen 
Vergnügen  und  der  leisesten,  und  unmerklichsten  Berührung  der  Körper 
erreichen  solle." 

Der  Mensch  hat  die  Phantasie  und  das  Wörterbuch  der  Ausschweifung 
erschöpft.  In  jeder  Sprache  sind  die  Genitalien,  der  Coitus  ausserordentlich 
reich  an  Synonymen,  und  die  französische  Sprache  des  16.  Jahrhunderts 
hat  allein  mehr  als  300  Wörter,  um  die  Umarmung  und  mehr  als  400 
Namen,  um  die  Organe  des  Mannes  und  der  Frau  zu  bezeichnen. 

Ausführlich  berichtet  Mantegazza  über  die  Anwendung  erotischer 
Wohlgerüche,  aufregender  Mittel,  sowie  über  sociale  die  verschiedenartigen 
Verstümmlungen  der  Sexualorgane,  über  die  Stellung  der  Frau,  Heiraths- 
kontrakte,  Hochzeitsreisen,  die  Prostitution  etc.  Von  den  Verirrungen  der 
Xiiebe  (Onanie,  Tribadismus,  Sodomie,  Bestialität)  handelt  ein  besonderes 
Kapitel. 

Er  weist  nach,  dass  die  Polygamie  ausserordentlich  verbreitet  ist, 
während  Polyandrie  selten  vorkommt.  Dagegen  sieht  er  die  Mono- 
gamie als  die  einzig  moralische  Form  der  Ehe  für  die  menschliche  Ge- 
sellschaft an. 

Auch  die  Stellung  der  Prostitution  war  bei  den  verschiedenen 
Völkern  ungemein  verschieden,  sie  wurde  von  einigen  geduldet,  von  anderen 
mit  den  religiösen  Gülten  eng  verbunden  (Venus  Militta,  Venus  TJrania  etc.). 
In  Griechenland  gab  es  neben  der  Venus  Pandemos  und  Urania 
noch  eine  Venus  Hetäre,  Venus  Peribasia,  Kallypigos  und  un- 
zählige andere.  Die  Courtisanen  Athens,  welche  in  der  Oultur- 
geschichte  eines  der  interessantesten  Kapitel  darstellen,  waren  in  drei  grosse 
Hauptkategorien  geschieden:  Die  Dicteriaden  (zur  Befriedigung  des 
erotischen  Bedürfnisses  des  niederen  Volkes  lebten  sie  in  öffentlichen 
Häusern),  die  Aleutriden  (Flötenspielerinnen  und  lascive  Tänzerinnen 
bei  Privatbanketten)  und  drittens  die  Hetären,  welche  bei  ihrer  hohen 
Bildung,  ihrem  Verstände  und  ihrer  feinen  Erziehung  sich  nur  denen  hin- 
gaben, die  sie  bevorzugten. 

Dufour^)  schildert  ausführlich  die  sociale  Stellung  der  letzteren  im 
Gegensätze  zur  geduldeten  Prostitution,  wie  sie  eine  Folge  der  christlichen 
Moralanschauung  sein  musste,  wie  fplgt: 


»)  Dufour:  Histoiro  de  la  Prostitution.    Bd.  LEI,  S.  374. 


284  ^'-  Schrenck-Xotzing. 

„Die  griechischen  Hetären,  sagt  dieser  Autor,  hatten  vor  den  ver- 
heiratheten  Frauen  sehr  viel  voraus.  Freilich  erschienen  sie  bei  den  reli- 
giösen Geremonien  nur  in  einiger  Entfernung,  freilich  nahmen  sie  nicht  an 
den  Opfern  theil,  und  gaben  keinen  Bürgern  das  Leben!  Aber  sie  warea 
der  Schmuck  der  feierlichen  Spiele,  der  kriegerischen  TJebungen,  der 
soenischen  Darstellungen;  sie  allein  konnten  in  Wagen  spazieren  fahren; 
wie  Königinnen  geschminkt,  in  Seide  und  Gold  strahlend,  mit  entblösstem 
Busen  und  unbedecktem  Haupte  bildeten  sie  das  gewählte  Pnblikuin  in  den 
Gerichtssitzungen,  in  den  Hednerkämpfen,  in  den  Yersammlnngen  der 
Akademie.  Sie  waren  es,  welche  dem  Phidias,  Apelles,  Praxiteles  und 
Zeuxis  Beifall  klatschten,  nachdem  sie  ihnen  ihre  unnachahmlichen  ModeUft 
geliefert;  sie  hatten  Euripides  und  Sophokles,  Mänandros,  Aristophanes 
und  Eupolis  begeistert  und  sie  ermuthigten  sie,  sich  die  Palme  des  Theaten 
streitig  zu  machen.  In  schwierigen  Angelegenheiten  folgte  man  ihren  Bat- 
schlägen, wiederholte  man  überall  ihre  Aussprüche,  ihre  Kritik  wurde  g»> 
fürchtet,  nach  ihrem  Lobe  war  man  begierig.  Trotz  ihrer  Sitten,  trota  dem 
öffentlichen  Aergemiss,  das  ihre  Profession  erregte,  brachten  sie  schönen 
Thaten,  edlen  Unternehmungen,  grossen  Characteren  und  erhabenen 
Talenten  ihre  Huldigungen  dar.  Ihr  leicht  beweglicher,  gebildeter, 
vollendeter  Geist  erregte  um  sich  herum  den  Wetteifer  der  Schönheit  und 
die  Forschung  nach  dem  Guten,  verbreitete  Lehren  über  den  Geschmack, 
vervollkommnete  die  Literatur,  Wissenschaft  und  Künste,  indem*  sie  die- 
selben mit  dem  Schleier  der  Liebe  entfachten.  Hierin  lag  ihre  Kraft^ 
ihre  Verführung.  Gewiss  waren  sie  die  Quelle  vieler  Yerderbnisa,  vieler 
Verschwendung,  vieler  Thorheiten,  gewiss  verdarben  sie  die  Sitten,  ver- 
schlechterten sie  einige  öffentliche  Tugenden,  schwächten  sie  die  Gharactere, 
erniedrigten  sie  die  Gemüther;  aber  zugleich  gaben  sie  die  Veranlassung 
zu  den  grossartigsten  Gedanken,  den  ehrenvollsten  Thaten  des  Muthes  und 
des  Patriotismus,  zu  genialen  Werken  und  reichen  Schöpfungen  in  Poesie 
und  Kunst." 

Bei  dem  engen  Zusammenhange  der  Prostitution  mit  sexuellen  Ver- 
irrungen  und  Erkrankungen,  und  bei  der  heutigen  niedrigen  Stufe  dieses 
nothwendigen  TJebels  erschien  die  Wiedergabe  der  vorstehenden  Schilderung 
an  dieser  Stelle  (aus  dem  Werke  Mantegazza's)  zweckmässig. 

TJm  den  Bedürfnissen  des  menschlichen  Herzens,  welche  in  der  heutigen 
Form  der  Ehe  nach  Mantegazza  nicht  mehr  die  erforderliche  Befriedigung 
finden  können,  entgegenzukommen  und  das  Liebesleben  wieder  auf  eins 
höhere  Stufe  zu  heben,  stellt  Verfasser  am  Schlüsse  seines  Werkes  zn  diesem 
Zweck  folgende  Erfordernisse  auf. 

1.  Weniger  Unwissenheit  in  geschlechtlichen  Dingen  bei  den  jungen 
Leuten. 

2.  Freie  Wahl  bei  beiden  Geschlechtem.  Kein  Zwang  durch  die 
Eltern,  kein  Contract. 

3.  Weniger  Heuchelei. 

4.  Wiederherstellung  der  Würde  der  Ehe  durch  eine  von  weisen  Ge- 
setzen imigebene  Ehescheidung. 

5.  Anerkennung     der     freien     geschlechtlichen    Liebe,     aber    völlige 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  \'ita  sexualis.  285 

Trennung  derselben  von  der  monogamen  Ehe  mit  dem  Zwecke  der  Familien- 
begründung. 

Eine  weitere  zusammenhängende  Darstellung  der  ^^Krankhaften 
Erscheinungen  des  Geschlechtssinnes''  lieferte  im  Jahre  1886 
Tarnowski  (Petersburg)  und  zwar  theilweise  angeregt  durch  die  Arbeiten 
Yon  y.  Krafft-Ebing,  Lombroso,  Charcot  und  Magnan.  Dieser 
Kliniker  unterscheidet  die  Perversität  auf  Grundlage  erblicher 
Belastung  von  der  erworbenen  geschlechtlichen  Perversität. 
Zu.  der  ersteren  Gruppe  rechnet  er  die  angeborene  conträre  Sexual- 
empfindung, die  periodische  Perversität  des  Geschlechts- 
fiinnes,  sowie  die  sexuelle  Perversität  des  Epileptikers. 
In  die  Erscheinungen  der  erworbenen  geschlechtlichen  Perver- 
sität gehören:  Erworbene  und  senile  Päderastie  (im  Alters- 
blödsinn) und  solche  im  paralytischen  Blödsinn.  Die  dritte 
Gruppe  bilden  complicirte  Formen  geschlechtlicher  Perversität^ 

Ein  Theil  der  im  Vorstehenden  besprochenen  Literatur  und  Casuistik 
ist  auch  dem  Werke  Tarnowski's  zu  Grunde  gelegt.  Derselbe  er- 
kennt den  Typus  der  geborenen  Päderasten  an,  räumt  aber  der  Bedeutung 
ungünstiger  Erziehungseinflüsse  einen  grösseren  Spielraum  ein,  als  die 
meisten  anderen  Autoren.  Besonders  wird  bei  den  schwach  entwickelten 
Formen  nach  Tarnowski  die  Bichtung  der  geschlechtlichen  Thätigkeit 
durch  die  Umgebung  bestimmt.  Diese  Aufstellung  ist  insofern  nicht  richtig, 
als  gerade  die  Formen  des  Fetischismus  immer  lediglich  durch  äussere 
Homente  ihren  Inhalt  und  ihre  eigenartige  Richtung  bekommen.  Und  gerade 
manche  Falle  dieser  Art  gehören  zu  den  schwersten  Formen  psychosexueUer 
Erkrankung.  T.  betont  die  Wichtigkeit  der  Erziehung.  Eltern 
und  Lehrer  sollen  gewisse  weibische  Neigungen  bei  kleinen  krankhaft  dis- 
ponirten  Knaben  nicht  begünstigen ;  man  möge  ihn  verspotten,  damit  er  sich 
zusammennimmt,  „von  weiblicher  Gesellschaft  entfernt,  in  angestrengter  Weise 
mit  Leibesübungen  beschäftigt,  stets  für  die  geringste  Andeutung  von 
Gagnetterie,  übermässige  Zärtlichkeit  und  überhaupt  für  jede  Aeusse- 
Tung  frauenhafter  Triebe  gerügt  und  bestraft,  erreicht  der  Jüngling  das 
Pubertätsalter  bei  strenger  Erziehung.  Der  von  Geburt  an  krankhaft  herab- 
gesetzte Trieb  zum  weiblichen  Geschlecht,  und  der  durch  Erziehung  abge- 
schwächte perverse  Geschlechtssinn  machen  ihn  im  Anfang  dieser  Lebens- 
periode hinsichtlich  sexueller  Genüsse  gleichgiltiger,  als  es  seine  im  selben 
Alter  stehenden  Kameraden  sind/'  Beim  Misslingen  der  ersten  Versuche 
heterosexuellen  Verkehrs  (in  Folge  heftiger  Erregung  oder  häufiger  Pollution) 
soll  doch  der  Verkehr  mit  weiblichen  Personen  fortgesetzt  werden,  besonders 
mit  ein  und  derselben  Person;  die  sexuelle  Perversität  nimmt  dann  ab  und 
schliesslich  wird  aus  dem  Jüngling,  der  von  Geburt  aus  zu  perverser  Ge- 
schlechtsthätigkeit  disponirt  war,  ein  Mann  mit  normaler  Geschlechtsfunction, 
der  zum  Familienleben  befähigt  ist.''  Beferent  kann  in  angenommener 
Voraussetzung  des  wirklichen  Vorhandenseins  einer  angeborenen  Disposition 
zu  perverser  Geschlechtsentartung  aus  vielfacher  Erfahrung  diesen  goldnen 
Segeln  Tarnowski's  nur  beistimmen. 

Die  Periodicität  der  anormalen  Befriedigung  des  Geschlechts- 


286  ^'-  Schrenck-Notzing. 

triebes  äussert  sich  besonders  häufig  in  der  Oestalt  aciiyer  Päderastie  und 
Flagellation.  Die  Kranken  befriedigen  ihren  perversen  Trieb  zwei,  drei 
Male  im  Laufe  des  Jahres,  nicht  öfter^  und  pflegen  in  der  übrigen  Zeit 
normalen  Verkehr  mit  Weibern.  Je  deutlicher  die  Feriodicität  solcher 
Anfälle  von  Perversität  ausgeprägt  ist,  um  so  intensiver  ist  die  krankhafte 
Störung,  und  um  so  mehr  nähert  sie  sich  der  Form  periodisch  auftretender 
maniakalischer  Erregung,  d.  h.  einer  der  terminalen  Aeosseningsweisen 
pscyhischer  Entartung.  Wie  in  anderen  Formen  periodischen  Irreseins,  sind 
die  Kranken  ausserhalb  des  Anfalls  vollständig  Herren  ihrer  geistigen  Fähig- 
keiten. Zu  dieser  Art  sexueller  Entäusserung  gehört  die  Exhibition,  die 
Thierschändung,  Nekrophilie  etc. 

Tarnowski  beobachtete,  dass  Perversität  der  Geschlechtsthätig- 
keit  und  Epilepsie  häufig  zusammen  auftreten,  indem  beide  auf  dem 
Boden  erblicher  Belastung  entstehen  und  im  Allgemeinen  die  Folge  der 
nmälichen  ätiologisch  psycliischen  Degeneration  bewirkenden  Momente  bilden. 
Neben  den  epileptischen  Masturban ten  kommen  am  häufigsten  vor  die  epi- 
leptischen  activen  Päderasten.  Im  Verlauf  der  Epilepsie  sind  auch,  wenn 
auch  selten,  eigenthümliche  Formen  perverser  Geschlecht  st  hätigkeit  be- 
obachtet, deren  Bedeutung  den  äquivalenten  epileptischen  Psychosen  ^eich- 
komrat.    Bewusstseinstrübung  ist  dabei  die  Regel  (z.  B.  Nothzuchtsattentate). 

Neben  der  Erotomanie  (krankhafte  Neigung  mit  platonischem  Cbaracter, 
sich  zu  verlieben)  kennt  Verfasser  eine  Päderastomanie  =  übertriebene 
Liebesneigung  eines  Homosexuellen. 

In  Bezug  auf  die  erworbene  Päderastie  betont  T.  die  schäd- 
liche Wirkung  der  Masturbation  bei  heranwachsenden  Knaben,  der  Internate, 
des  Zusammenschlafens  von  Zöglingen,  die  Bedeutung  des  Nachahmungs- 
triebes, des  Beispiels,  der  Verführung,  der  gesteigerten  Phantasiethätigkeit, 
sowie  die  Bolle  methodischer  Demoralisation;  daneben  kommt  sie  selbst- 
ständig als  Ausfluss  der  Sittenverderbniss  mancher  Individuen  vor. 

Mit  Becht  betont  T.  den  wichtigen  Punkt  der  Intensität  der  G^schlechts- 
begierdü  bei  verschiedenen  Individuen  und  in  verschiedenen  Lebensaltern, 
und  bei  verschiedenen  Nationen  und  Ba^en :  »Bei  sinnlichen  Personen  bildet 
nicht  selten  die  Geschlechtsfunction  im  Laufe  einer  gewissen  Lebensperiode 
die  Hauptaufgabe  der  Existenz,  wenn  ilmen  die  Befriedigung  versagt  wird, 
so  werden  sie  Masturbanten  und  seltener  Päderasten.^  Es  kann  aber  auch 
ein  eigenthümliches  Gemisch  von  Mannesschwäche  und  geschlechtlichen  Aus- 
schweifungen, von  physischer  Decrepidität  und  geistiger  Verderbtheit  vor- 
kommen. 

Auf  die  sexuell  perversen  Handlungen  im  Altersblödsinn 
(Päderastie,  Exhibition,  Benutzung  von  Kindern  etc.),  sowie  in  der  pro- 
gressiven Paralyse  soll  hier  nur  hingewiesen  werden. 

Ferner  beobachtete  Tarnowski  Fälle  von  Priapismus  (stetige 
unwillkürliche  Erection  mit  herabgesetzter  Sinnesbegierde  ohne  Wolln^ 
gefühl  und  langsamer  Samenentleerung)  in  acuter  Form  nach  Canthariden 
und  in  Folge  der  Anwendung  mechanischer  Beizmittel,  femer  in  Folge  von 
Erkrankungen  der  urogenitalen  Sphäre.  In  dem  Fall  eines  Soldaten  dauerte 
der  Priapismus    2  Jalire   und   nahm    auch   nach   wiederholtem  Coitus  nicht 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  287 

ab.      Später    waren    der  Act    des  Beischlafs  und  die  Samenentleerung   von 
heftigem  Schmerz  begleitet. 

Den  Schluss  des  interessanten  Buches  bildet  eine  Besprechung  ver- 
schiedener complicirter  Formen  geschlechtlicher  Perversität.  Derselbe  enthält 
lüttheilungen  über  päderastische  Prostitution  in  grossen  Städten ,  über 
sexuelle  Yerirrungen  der  römischen  Kaiser,  über  Veränderungen  am  After 
als  Folgeerscheinungen  der  Päderastie  (z.  B.  bei  sodomitischer  Nothzucht), 
sowie  eine  Anleitung  zur  Untersuchung  sexuell  perverser  Personen  für 
forensische  Zwecke. 

Unter  weiteren  Arbeiten  französischer  Forscber  sei  an  dieser  Stelle 
der  Arbeit  Ball's  über  erotischen  Irrsinn  gedacht.  Ball  unter- 
scheidet : 

I.  die  Erotomanie  oder  Irrsinn  (folie)  der  keuschen  Liebe, 

1.  erregende  Form  (aphrodisiaque), 


n.  SexuelleUebererregbarkeit 


TTT.  Sexuelle  Perversion 


2.  unzüchtige  Form, 

3.  hallucinatorische  Form, 

4.  Satyriasis  oder  Nymphomanie. 

1.  die  Blutgierigen, 

2.  die  Nekrophilen, 

3.  die  Päder asten, 

4.  die  Invertirten  (=  Homosexuellen). 

Mit  Recht  weist  Bin  et  in  seiner  grundlegenden  Studie  über  den 
Fetischismus  in  der  Liebe  darauf  hin,  dass  dieser  Classe  sexueller 
Entartung  kein  Platz  in  der  Eintheilung  Ball 's  eingeräumt  ist.  Er  zählt 
sie  zu  Classe  III  als  Unter  ab  th  eilung  5. 

Unter  Fetischismus  eroticus  versteht  B  i  n  e  t  die  Abhängigkeit  der 
sexuellen  Erregung  von  körperlichen  oder  seelischen  Theilen  einer  Person 
oder  von  leblosen  Gegenständen.  Je  nach  dem  G-rade  des  Auftretens 
unterscheidet  Bin  et  den  „grossen'^  von  dem  „kleinen'^  Fetischismus. 

So  giebt  es  nach  ihm  Liebhaber  für  das  Auge,  für  die  Hand,  für  die 
Haare,  für  den  Geruch,  für  die  Stimme.  So  kann  eine  bestimmte  Form 
der  Hand  bei  dem  Hand-Fetischisten  Erection  hervorrufen,  während  ihn  die 
Besitzerin  der  Hand  im  Uebrigen  ganz  kalt  lässt.  Der  Fetischismus  zeigt 
also  die  Tendenz,  mit  Hilfe  der  Einbildungskraft  das  geliebte  Object  zu 
isoliren.  Der  Theil  wird  schliesslich  unabhängig  vom  übrigen  Körper. 
Binet  stellt  nun  die  Theorie  auf,  dass  im  Leben  jedes  Fetisclüsten  ein 
Ereigniss  anzunehmen  sei,  welches  die  Betonung  gerade  dieses  einzigen 
Eindruckes  mit  Wollustgefühlen  determinirt  hat.  Das  Alter  der  Pubertät 
und  der  erste  sexuelle  Rapport  sind  für  dieses  Entstehen  einer  Association 
der  Ideen  (par  contignitd)  besonders  gefährlich.  Die  den  ersten  sexuellen 
Bapport  begleitenden  erotischen  Gedanken  kehren  wieder,  können  zur  Zwangs- 
▼orstellung  werden  und  schliesslich  den  geschlechtlichen  Geschmack  und  das 
sexuelle  Leben  überhaupt  beherrschen. 

In  dem  oben  erwähnten,  von  Magnan  berichteten  Fall  des  Nacht- 
mützenliebhabers  coincidirte  das  Eintreten  der  ersten  geschlechtlichen  Er- 
regong   mit   dem   Anblick    der  Nachtmütze,    welche  ein  mit  ihm  im  Bette 


288  V.  Schrenck-Notzing. 

schlafender  Verwandter  in  demselben  Angenblick  auf  den  Kopf  setiie. 
Nächste  Erection,  als  er  eine  alte  Dienerin  die  Nachtmütze  anfsetaen  sah. 
Dadurch  bildete  sich  eine  Association  in  dem  Alter,  wo  Asscoiationen  über- 
haupt sehr  stark  sind.  —  Ein  Schürzenfetischist  sieht  mit  15  Jahren  eine 
Schürze  im  Winde  flattern,  er  nimmt  sie,  bindet  sie  sich  um,  um  darunter 
zu  masturbiren.  Die  hier  angeknüpfte  Ideenassociation  wird  snr  Zwangi- 
vorstellung,  weil  Patient  erblich  prädisponirt  ist,  und  bestimmt  seine  ge- 
schlechtliche Richtung. 

B  i  n  e  t  hat  den  psychischen  Zustand,  in  dem  Associationen  von  eolehsr 
Tragweite  zu  Stande  kommen,  mit  einem  Zustand  erhöhter  Suggesübilitit 
passend  verglichen.  An  sich  sind  oft  die  Gegenstände  der  Anknüpfung 
sexueller  Erregung  unfähig,  Befriedigung  zu  bieten;  die  Reproduction  der 
damit  assocürten  Vorstellungen  und  Empfindungen  ist  es,  die  ihnen  ihre 
Bedeutung  giebt.  Damit  wird  auch  das  in  diesen  Yerirrungen  immer  wieder 
auftauchende  Streben  nach  Verallgemeinerung  und  Abstraction  erkläiüch, 
welche  die  Aberration  im  Laufe  der  Zeit  völlig  verändern  kann.  £in  Haam, 
der  eine  bestimmte  Frau  mit  rothem  Haar  liebte,  konnte  schliesslich  kein 
rothes  Haar  mehr  sehen,  ohne  geschlechtlich  erregt  zu  werden.  Der  frühere 
Liebhaber  einer  Italienerin  bekam  beim  Anblick  italienischer  Kostüme  regd- 
massig  Erection.  Ueberhaupt  üben  die  Eigenschaften,  welche  wir  einmal 
in  einer  Person  geliebt  haben,  immer  wieder  bei  anderen  grosse  Anziehungs- 
kraft auf  uns  aus. 

Der  Schuhfetischist  zeigt  zunächst  eine  Vorliebe  für  den  nackten 
weiblichen  Fuss,  eine  Neigung,  die  ohne  Streben  nach  Isolirung  und  ohne 
separate  sexuelle  Erregung  physiologisch  zu  nennen  ist.  Der  bekleidete 
weibliche  Fuss  bildet  die  TJebergangsform  und  die  Liebe  für  Schnhnigel 
das  pathologische  Endresultat. 

Die  Erblichkeit  ist,  wie  Binet  mit  Brecht  bemerkt,  nicht  fShig,  der 
Erkrankung  ihre  characteristische  Form  zu  geben.  Aber  wenn  man  aneh 
die  Hypothese  der  Erblichkeit  zugeben  würde,  so  bestünde  doch  die  Pflidit 
nachzuweisen,  wie  die  durch  Erblichkeit  fortgepflanzte  Krankheit  von  den 
Vorfahren  erworben  ist ;  denn  die  Erblichkeit  erfindet  nichts,  schafft  niohtB 
Neues  ;  sie  hat  keine  Einbildungskraft,  kein  Qedächtniss.  So  hat  man  anch 
die  contrüre  Sexualempfindung  für  ein  Spiel  der  Natur  angesehen.  West- 
p  h  a  1  und  seine  Nachfolger  haben  nach  Binet  zu  grossen  Werth  anf  die 
Form  der  Perversion  gelegt.  Merkwürdig  ist  die  Thatsache  einer  pervereen 
Bichtung,  nicht  aber  das  Object  für  dieselbe.  So  muss  nach  Binet  die 
sexuelle  Inversion  erklärt  werden,  wie  der  Fetischismus.  Oft  ist  das  finstere 
Ereigniss  vergessen,  welches  den  Ausgangspunkt  für  die  Verirmng  darbot 
und  den  Geschmack  für  das  eigene  Geschlecht  determinirte.  Ein  ander« 
Umstand,  ein  anderes  Ereigniss  hätten  den  Inhalt  des  sexuellen  Wahnsystoiu 
anders  gestaltet  und  derselbe  Mann,  der  heute  Männer  liebt,  konnte  mrter 
anderen  Umstünden  Liebhaber  für  Schuhnägel  geworden  sein.  Alle  diese 
perversen  Entäusserungen  des  Geschlechtstriebes  sind  Symptome  desselben 
pathologischen  Zustande? ;  meist  handelt  es  sich  um  degenerirte  Individuen 
mit  einer  neuropathischen  erblichen  Anlage.  Auch  bei  den  Hermaphroditen 
sind  oft  die  durch  einen  Irrthum  über  das  wirkliche  Geschlecht  entstandenen 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexnalis.  289 

■ 

Gewohnheiten  und  Beschäftigungen  für  den  sexuellen  Geschmack  maassgebend 
geworden.  Den  meisten  dieser  Perversen  ist  ein  frühzeitiges  Heraustreten 
des  G^chlechtstriebes  gemeinschaftlich. 

Eines  der  interessantesten  Beispiele  für  die  pathologische  Bolle  einer 
verkehrten  Ideenverknüpfung  auf  sexuellem  Gebiet  liefert  nach  Bin  et  die 
Entwickelung  der  sexueUen  Yerirrungen  Bousseau's^).  Verfasser  giebt 
eine  ausführliche  Beschreibung  dieses  Falles.  Eine  andere  interessante 
Beobachtung  derart  ist  von  Tarnowski  berichtet.^  Die  Neigung  zu  Pelz- 
werk nahm  bei  einem  12  jährigen  Masturbanten  ihren  Ausgangspunkt  von 
der  körperlichen  Berührung  mit  einem  Hündchen,  das  der  Patient  zuweilen 
mit  in  sein  Bett  nahm.  TJebergang:  Coiucidenz  der  Onanie  und  Betasten 
des  Hundes.  Schliesslich  brachte  die  Berührung  des  Hundes  aUein  Erregung 
und  Samenentleerung  hervor.  Später  konnte  er  nur  noch  durch  die  Be- 
rührung von  Pelzwerk  überhaupt  geschlechtlich  erregt  werden.  Es  handelte 
sioh  auch  hier  um  die  Wirkung  pathologischer  Association  mit  der  Tendenz 
snr  Verallgemeinerung  bei  einem  Degenerirten. 

Das  Bestreben,  die  Ursache  des  Vergnügens  und  der  sexuellen  Erregung 
stärker  hervortreten  zu  lassen,  deutet  ein  Suchen  nach  stärker  wirkenden 
Seizen  an,  was  nach  B  i  n  e  t  eine  geschwächte  Keactionsfähigkeit  der  Nerven 
voraussetzt  und  daher  in  der  Geschichte  und  Physiologie  als  ein  Zeichen 
der  Decadence  aufzufassen  ist.  Schon  die  Wilden  lassen  die  Körpertheile, 
welche  sie  verehren,  stärker  hervortreten;  die  Eingeborenen  Westamerikas 
formen  ihre  BEaare  in  Knoten,  um  den  Kopf  zu  vergrössern;  die  Chinesen 
suchen  ihre  Füsse  zu  verkleinem,  die  Europäerinnen  wollen  die  weibliche 
Brust  durch  Schnürleiber  stärker  hervortreten  lassen.  Die  Gourtisane  färbt 
die  Lider,  um  das  Auge  zu  vergrössern  und  das  Weiss  leuchtender  zu 
machen.  Auch  bei  den  Conträrsexualen  findet  sich  das  Streben  zu  ver- 
grossem. So  übertreibt  der  Urning,  welcher  das  Weib  copiren  will,  die 
specifisch  weiblichen  Eigenschaften  oft  bis  zur  Oarricatur,  und  umgekehrt 
das  Weib  in  Männerkleidung  die  männlichen. 

Die  Enthaltsamkeit,  mit  der  die  Thatsache  der  specifischen  sexuellen 
Seaction  auf  nicht  überall  erreichbare  Beize  bei  den  geschlechtlich  Verirrten 
häufig  genug  verbunden  ist,  steigert  ihre  Einbildungskraft  und  das  Streben 
nach  Befriedigung. 

Der  Inhalt  der  geschlechtlichen  Verirrungen  kann  im  Laufe  der  Zeit 
Veränderungen  erfahren  durch  das  Bestreben  solcher  Patienten,  zu  verall- 
gemeinern, zu  isoliren  und  zu  vergrössern.  Diese  3  Eigenschaften 
sind  nur  verschiedene  Ausdrucksformen  der  einzigen  der  menschlichen  Ein- 
iMldnngskraft  anhaftenden  Neigung  zur  üebertreibung.  Durch  patho- 
logische Verhältnisse  und  Abstinenz  kann  dieselbe  gesteigert  werden. 

Gegen  die  für  die  weitere  Erforschung  der  vita  sexualis  bedeutsam 
gewordene  Associationslehre  Binet's   haben   v.  Krafft-Ebing*) 


^]  Rousseaa:  Confessions  part  I  livre  I. 

•)  Tarnowski  loc.  cit. 

»)v.  Krafft-Ebing:  Psychopathia  sexualis,  10.  Aufl.  1898,  S.  146. 

Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    YIU.  19 


290  ▼•  Schrenck-Notzing. 

und  M  o  1 P)  Einwendungen  erhoben.  Ersterer  rechnet  die  y,Schnh-  und 
Fussfetischisten*'  zu  den  Masochisten  (=  passiven  Algolagniaten),  weil  das 
Sichtretenlassen  mit  Füssen  masochistisohe  Gelüste  ausdrücke.  Für  die 
Erklärung  andenr  Formen  der  sexuellen  Psychopathologie  als  den  Fetischii- 
mus  hält  V.  Kr  äfft- E  hing  Bin  et 's  Lehre  weder  erforderlich  noch  ge- 
nügend. Die  Associationen,  auf  denen  der  erotische  Fetischismus  beruht  nnd 
bei  ihm  nicht  ganz  zufallige.  Die  Möglichkeit  fetLschistischer  ABsociation 
ist  nach  v.  Krafft-Ebing  durch  die  Beschaffenheit  der  Objecto  vor- 
bereitet. Ausserdem  erkläre  diese  Theorie  (wie  Chevalier  bemerkt)  weder 
die  Päcocität  homosexueller  Triebe, .  noch  die  Aversion  gegen  das  andere 
Geschlecht.  Moll  dagegen  behauptet,  dass  der  Fetischist  trotz  seiner 
Neigung  zu  isoliren,  die  Beziehung  zu  einem  bestimmten  Individuum  nicht 
verliere,  sondern  sogar  ein  solches  in  der  Phantasie  hinzu  ergänze,  wenn 
es  nicht  vorhanden  sei.  Moll  und  Havelock  Ellis^)  sehen  in  dem 
Fetischismus  nur  quantitative  Differenzen  in  der  Abweichung  vom  NonnaleUi 
dagegen  in  den  homosexuellen  Trieben  qualitative  Unterschiede.  Ausserdem 
ist  die  Differenzirung  des  Geschlechts  beim  Fetischismus  deutlich  ausgeprägt 
Wenn  z.  B.  das  Gezüchtigtwerden  eine  sexuelle  Bedeutung  gewinnt,  so  ist  nach 
Moll  ererbt  die  Disposition  zur  Verknüpfung  der  Demüthigung  mit  dem 
Geschlechtstrieb.  Wenn  nun  die  nach  Moll  ererbten  Dispositionen  (oder 
Reactionsfahigkeiten)  nicht  gerade  auf  bestimmte  Objecte  sich  beziehen,  so 
können  doch  nach  seiner  Meinung  sexuelle  Reactionsfahigkeiten  bestimmter 
Art  vererbt  werden,  z.  B.  die  Neigung  zur  Unterwerfung  unter  das  Weib 
und  ähnliches.  Von  den  Zufallen  des  Lebens  hängt  es  dann  ab,  welches 
Symbol  für  diese  Unterwerfung  gewählt  wird. 

Gegenüber  diesen  Einwendungen  lässt  sich  sehr  wohl 
Binet's  Lehre  vertheidigen.  Zunächst  ist  zu  bemerken,  dass  nach 
mehrfachen  Beobacungen  des  Referenten  die  Erscheinungen  des  Sadis- 
mus und  Masochismus  (von  ihm  als  Algolagnie  bezeichnet)  sich  in  ganz 
gleicher  Weise  auf  dem  Wege  der  Zwangsassociation  entwickeln  ans 
zufälligen  äusseren  Umständen,  wie  der  Fetischismus.  Was  die  weiteren 
Formen  der  sexuellen  Perversionen  betrifft,  so  ist  hier  ein  abschliessendes 
Urtheil  nach  der  heutigen  Sachlage  noch  nicht  zu  bilden;  vielmehr  ist  in 
den  casuistischen  Mittheilungen  der  endogene  und  exogene  Factor 
sorgfaltig  zu  berücksichtigen  und  in  seiner  Wirksamkeit  für  das  Zustande- 
kommen der  betreffenden  Verirrung  gegen  einander  abzuschätzen.  Das 
vorzeitige  Erwachen  sexueller  Dränge  kommt  bei  sonst  gesunden 
Personen  ebenfalls  vor,  und  wird  ganz  besonders  häufig  bei  erblicher  psycho- 
oder  neuropathischer  Disposition  beobachtet.  Dasselbe  ist  nur  ein  Zeichen 
besondererTriebstärke,  hat  aber  mit  Sichtung  und  Lihalt  des  Trieb- 
lebens an  sich  nichts  zu  thun  (Unterschied  der  Quantität  und  Qualität). 
Fetischisten  können  die  Beziehung  zum  Individuum,  das  den  Ausgangs- 
punkt bildete,   ganz   verlieren  und  reconstruiren   durchaus  nicht  immer 

^)  Moll:  Libido  sexaalis  1898,  S.  318  u.  4%. 

')  Havelock  Ellis:  Die  Theorie  der  conträren  Sexaalempfindung.  Central« 
blatt  für  Nervenheilkimde  u.  Psych.    Febr.  1896. 


Psychologie  nnd  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  291 

in   ihrer   Phantasie  Individuen  hinzu.     Es  kommt  eben  dieser  Fall  neben 
den  von  Moll  erwähnten  vor. 

Was  nun  die  Moll 'sehe  Theorie  von  dem  Angeborensein  von 
bestimmten  Dispositionen  oder  Beactionsfähigkeiten  auf 
specifische  äussere  Beize  und  Objecto  betrifft,  so  wird  der 
Brennpunkt  der  Frage  hierdurch  wieder  lediglich  zurückgeschoben, 
aber  nicht  gelöst.  Denn  man  kann  bekanntlich  nur  als  bestimmte  Disposition 
etwas  erben,  was  die  Vorfahren  bereits  als  automatisirte  Gewohnheit 
besassen,  also  irgendwo  einmal  erworben  haben  müssen.  Zunächst  ist 
zu  erweisen,  dass  die  Vorfahren  jener  sexuell  pervers  angelegten  Personen 
solche  Gewohnheiten  besassen  und  zweitens,  wann  zum  ersten  Mal  dieselben 
Auftraten  resp.  wann  und  wie  sie  erworben  wurden.  Bei  Beantwortung  dieses 
letzten  Punktes  wird  von  Neuem  die  Frage  nach  pathologischen  Zwangs- 
associationen  auftauchen.  Schliesslich  ist  jene  Annahme,  dass  nämlich  die 
!Brblichkeit  so  enge  Grenzen  ziehe  und  bereits  die  Art  einer  späteren 
Zwangsassociation  auf  sexuellem  Gebiet  präformirt  habe,  nur  Analog^eschluss, 
aber  noch  kein  hinreichender  Beweis.  Die  zahlreichen  Beobachtungen,  in 
denen  der  Inhalt  einer  sexuellen  Verirrung  einer  anderen  Platz  macht, 
in  denen  die  ganze  Bichtung  des  Triebes  wechselt,  die  Labilität  und 
leichte  Bestimmbarkeit  des  sexuellen  Trieblebens  bei  Degenerirten  überhaupt, 
sprechen  gegen  eine  solche  enge  Begrenzung  und  präformirte  Deter- 
mination des  geschlechtlichen  Trieblebens.  (Fortsetzung  folgt.) 


19 


Die  geometrisch-optischen  Täuschungen  und  ihre  psychologische 

Bedeutung. 

£ine  Zosammenstellang  der  neueren  laterstur. 

Von 

Dr.  R.  Lautenbach. 


n.  Theil. 

Wir  haben  bisher  aus  der  Fülle  der  geometrisch-optischen  Täusohnngen  die 
bekanntesten  Fälle  kennen  gelernt  und  bei  den  einzelnen  auch  schon  gesehen,  da« 
ihre  Erklärung  von  den  verschiedenen  Forschem  oft  principiell  verschieden  gegeben 
wird.  Wenn  wir  nun  von  den  Erklärungsversuchen  absehen,  die  sich  nur  auf 
einzelne  Täuschungsfiguren  beziehen,  also  die  Theorien  betrachten,  zu  vAlchen  das 
Gesammtgebiet  der  geometrisch-optischen  Täuschungen  hinführt,  so  können  wir  im 
G-runde  drei  Theorien  unterscheiden,  von  denen  die  beiden  ersten  von  Helmholti*) 
als  nativistische  und  empiristische  Theorie  bezeichnet  worden  sind, 
während  wir  die  von  Wundt  begründete  als  genetische  zu  bezeichnen  haben. 
Die  nativistische  Theorie  geht  bis  auf  Johannes  Müller  zurück  and  iat  vmi 
Hering*)  weiter  ausgebildet  worden.  Den  Ausgangspunkt  dieser  Theorie  bilden 
die  Thatsachen,  dass  unsere  ganze  Gesichtsempfindung  räumlich  ist^  und  dasi 
das  Sehen  normalerweise  binocular  ist.  Die  physiologische  Grundbedingung 
der  Raumwahmehmung  ist  die  anatomische  Anordnung  und  Zuordnung  der  Neti- 
hautpunkte.  Als  psychologische  Momente  kommen  die  „Erfahrung**  unddflr 
„Wille*'  hinzu.  Die  Erfahrung  lässt  uns  gegenwärtige  Eindrücke  auf  gehabte 
zurückführen,  woraus  sich  denn  auch  die  meisten  optischen  Täuschungen  als  auf 
durch  die  Erfahrung  gewonnene  Gewohnheiten  des  perspectivischen  Sehens  ansehoi 
lassen.  Während  dieser  Einfluss  der  Erfahrung  immerhin  secundär  ist,  kommt 
demjenigen  des  Willens  primäre  Bedeutung  zu.  Dies  wird  deutlich  in  dem  Satw 
Mach's^)  ausgesprochen,  der  wörtlich  lautet:  „Der  Wille  Blickbewegongen  aus- 
zuführen oder  die  Innervation  ist  die  Raumempfindung  selbst.**     Auf  eine  kritische 


Helmhol tz,  Physiol.  Optik,  I.  Aufl.,  S.  435. 
Hermann,  Handbuch  der  Physiologie  EQ,  1,  S.  343. 
')  Mach,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen. 


Die  geometriBoh-optisclien  Täaschungen  und  ihre  psychologische  Bedeutung.     293 

Analyse  dieser  Theorie  im  Einzelnen  einzugehen,  liegt  nicht  im  Rahmen  dieser 
Arbeit,  es  möge  nur  bemerkt  werden,  dass  die  nativistische  Theorie  zwar  richtig 
ein  psychophysisches  Princip  für  das  Zustandekommen  der  räumlichen  Vorstellung 
annimmt,  dass  sie  aber  in  physischer  Beziehung  die  anatomischen  Motive  ans^tt 
der  fonctionellen  zu  sehr  in  den  Vordergrund  stellt  und  in  psychologischer  durch' 
das  Hineinziehen  des  „Willens^  (was  doch  nur  ein  Wort  an  Stelle  einer  Analyse  ist) 
SU  einseitig  auf  sensorische  Functionen  Werth  legt  und  die  motorischen  vernach- 
lässigt. 

Die  empiristisohe  Theorie  von  Helmholtz^)  besagt,  dass  die  Bauman- 
Behauungen  ein  „Froduct  der  Erfahrung  und  Einübung**  sind.  Demzufolge  sind  die 
geometrisch-optischen  Täaschungen  Irreleitungen  unseres  Urtheils  oder  „Urtheils- 
täuschungen",  die  durch  einen  anormalen  Gebrauch  der  Sehorgane  entstehen.  Bei 
einer  kritischen  Prüfung  der  Stützpunkte  dieser  Theorie  zeigt  sich,  was  hier  nicht 
naher  ausgeführt  werden  kann,  dass  auch  sie  mannigfache  Widersprüche  in  sich 
flchliesst  und  ihre  eigentliche  Aufgabe,  aus  an  sich  unräumlichen  Empfindungen  das 
Entstehen  räumlicher  Vorstellungen  zu  erklären,  ungelöst  lässt. 

Während  nun  die  nativistische  Theorie  die  Gesichtswahrnehmungen  im  Grunde 
als  angeboren,  die  empiristische  als  aus  der  Erfahrung  entstanden  betrachtet,  be- 
steht, was  von  beiden  Theorien  unbeachtet  bleibt,  noch  eine  dritte  Möglichkeit, 
nämlich  die  allmähliche  Entwickelung  derselben.  Hiermit  kommen  wir  auf  eine 
dritte,  die  von  Wundt  aufgestellte  genetische  Theorie. 

Dieselbe  erscheint  um  so  natürlicher  als  sie  mit  den  allgemeinen  Organisations- 
bedingungen insofern  übereinstimmt,  als  sie  individuelle  und  generelle  Ent- 
wickelung nebeneinander  berücksichtigt.  In  Hinsicht  auf  die  hypothetischen 
Elemente,  welche  auch  sie  enthält,  bezeichnet  sie  Wundt*)  selbst  als  „Theorie 
der  complezen  Localzeichen*'.  Hier  wird  man  zuerst  die  Frage  aufwerfen, 
was  ist  ein  Localzeichen?  Dieser  Hülfsbegriff  ist  von  Lotze  in  die  Wissen- 
schaft eingeführt  worden  und  bedeutet  in  seiner  Allgemeinheit  „irgend  ein 
Datum  für  unser  Bewusstsein,  das  für  die  Localisation  eines  Eindrucks  bestimmend 
ist.*'  Diesen  Begriff  des  Localzeichens  kann  man  in  zwei  Formen  zerlegen  und 
^einfache**  und  „complexe  Localzeichen**  unterscheiden.  Dass  wir  es  in  unserem 
Falle  mit  „complexen**  Localzeichen  zu  thun  haben,  ergiebt  sich  daraus,  dass, 
wie  wir  im  ersten  Abschnitt  dieser  Abhandlung  an  dem  Zustandekommen  der 
geometrisch-optischen  Täuschungen  gesehen  haben,  die  Gesichtswahmehmungen  das 
Product  verschiedener  Factoren  sind,  aus  deren  Zusammenwirken  erst  die  betr. 
Wahrnehmung  entsteht,  nämlich  aus  einer  Synergie  des  optischen  und  des  Be- 
wegungs-Apparates des  Auges  oder,  was  dasselbe  ist,  aus  der  vereinigten  Thätigkeit 
der  sensorischen  und  motorischen  Nerven.  Wir  haben  also  auch  zwei  Systeme 
▼on  Localzeichen,  eines  für  das  „Netzhautbild**  und  eines  für  das  „Bewegungsbild**. 
Die  Localzeichen  der  Netzhaut  haben  wir  uns  als  eine  Mannigfaltigkeit  von  zwei 
Dimensionen  vorzustellen,  diejenigen  der  Spannungsempfindungen  des  Auges  als 
eine  solche  von  einer  Dimension.  Wenn  nun  „die  Spannungsempfindungen 
des  Auges,   ein  Continuum  von  einer  Dimension  bildend,  mit  dem 


? 


Helmholtz,  Physiologische  Optik,  II.  Aufl. 

Wundt,    Zur  llieorie  der  räumlichen  Gesichtswahmehmungen.     Philos. 
Studien  XIV,  1.  fl.,  S.  98. 


294  A-  Lautenbach. 

zweidimensionalen,  aber  ungleichartigen  Continunm  der  Netshaut- 
localzeichen  associativ  yerBchmelzen,  erzeugen  sie  ein  gleieh- 
artiges  Continuum  von  zwei  Dimensionen,  das  heisst  eine  Raam- 
empfindung."*) 

Diesen  Schlusssatz  zu  zergliedern  und  in  seinen  Einzelheiten  weiter  atUEoluhreii, 
würde  ausserhalb  der  Grenzen  dieser  Zeitschrift  sein.  Wer  sich  eingehender  mit 
diesem  Gegenstande  beschäftigen  will,  möge  darüber  den  betr.  Abschnitt*)  in 
Wundt  nachlesen. 

Wenn  wir  an  dieser  Stelle,  wo  wir  die  haupträchlichsten  Theorien  über  das 
Zustandekommen  der  Gesichtswahmehmungen  in  ihren  Grundzügen  kennen  gelernt 
haben,  noch  einmal  rückwärts  blicken  und  den  Gedankengang  uns  nochmals  Ter- 
gegenwärtigen,  so  wird  es  uns  klar  werden,  dass  überhaupt  alle  die  Torhergehenden 
Erörterungen  nur  auf  Grund  der  Thatsachen  der  geometrisch-optischen  Täuschungen 
möglich  waren.  Ob  wir  den  einen  oder  den  anderen  theoretischen  Standpunkt 
theilen,  wir  müssen  anerkennen,  dass  uns  die  Erscheinungen  der  geometrisek- 
optischen  Täuschungen  erst  in  den  Stand  gesetzt  haben,  die  Bildung  Ton  Sinnes- 
wahmehmungen  zu  beobachten.  Auf  keinem  anderen  Beobachtungsgebiet  laset  sidi 
die  Entstehung  einer  Sinnesvorstellung  so  genau  verfolgen,  wie  bei  den  geometrisch- 
optischen  Täuschungen.  Wir  haben  gesehen,  wie  wir  eine  Gesiehtsvorst^llung  be- 
liebig verändern  können,  je  nachdem  wir  diesen  oder  jenen  Punkt  einer  Zeichnung 
zuerst  fixiren,  diese  oder  jene  Linie  mit  unserem  Blick  zuerst  durchlaufen,  wir 
haben  gesehen,  wie  Täuschungen  entstehen  und  verschwinden,  je  nachdem  wir  eine 
Figur  monocular  oder  binocular  betrachten  und  wenn  wir  die  Lage  der  Figur 
durch  Drehung  variiren.  Wir  haben  damit  den  Einfluss  physiologischer 
Motive  feststellen  krmnen,  femer  haben  uns  die  Täuschungen  durch  Angleichung 
und  Contrast,  die  wir  unter  dem  Namen  Associationstäuschungen  behandelt  haben, 
gezeigt,  dass  auch  psychologische  Momente  bei  der  Entstehung  von  Gesichts- 
wahmehmungen eine  Bolle  spielen.')  Aber  nicht  allein  die  Thatsache,  dass  eine 
Gesichtsvorstellung  das  Product  physiologischer  und  psychologischer  Factoren  ist^ 
können  wir  bei  dem  Studium  der  geometrisch-optischen  Täuschungen  erkennen, 
sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grade  sogar  den  Antheil  des  physiologischen  und 
denjenigen  des  psychologischen  Processes  constatiren.  So  können  wir  denn  be- 
haupten, dass  die  geometrisch-optischen  Täuschungen  es  sind,  deren  Studium  wir 
unser  Wissen  über  die  Haumvorstellung  grösstentheils  verdanken,  womit  ihre  Be^ 
deutung  für  die  allgemeine  Psychologie  selbstverständlich  ist. 

Da  diese  Verhältnisse  von  weitgehender  Bedeutung  sind,  so  wollen  wir  dieselben 
zum  Schlüsse  noch  etwas  näher  betrachten.  Zu  diesem  Zwecke  müssen  wir  zu  den 
umkehrbaren  perspectivischen  Täuschungen  zurückkehren,  weü  gerade  die  optischen 
Erscheinungen  dieser  Gruppe  die  bei  den  Gesichtswahmehmungen  stattfindenden 
psychischen  Processe  am  Klarsten  erkennen  lassen.  Wir  haben  gefunden,  dass  die 
Fig.  1  (eine  durch  drei  gerade  Linien  gebildete  körperliche  Ecke)  convex  erscheint, 
wenn  man  eine  der  Geraden  von  der  Spitze  aus  durchläuft,  und  dass  sie  umgekehrt 


*)  Ich  führe  diesen  Satz  Wundt*s  wörtlich  an,  weil  er  mir  von  der  aller- 
grössten  Bedeutung  für  die  Theorie  der  Raumvorstellung  zu  sein  scheint. 

>)  Philos.  Studien  XIV,  1.  Heft,  S.  13  u.  f.  S. 

')  Hiermit  soll  der  Einfluss  der  psychologischen  Motive  nicht  etwa  auf  die 
„Associationstäuschungen*'  beschränkt  werden. 


Die  geometrisch- optischen  TäuschuDgen  und  ihre  psychologische  Bedeutung.     295 

concay  erscheint,  wenn  man  am  entgegengesetzten  Ende  anfängt.  In  diesem  Falle 
(und  in  allen  ähnlichen  verhält  es  sich  ebenso)  sehen  wir,  dass  die  Blickbewegung  und 
die  damit  verbundenen  Spannungsempfindungen  des  Auges  einen  entscheidenden  Ein- 
fluss  auf  die  Raumvorstellung  ausüben,  und  zwar  hat  das  Auge  die  Tendenz,  die  Objecto 
von  den  näher  gelegenen  zu  den  entfernteren  Punkten  zu  fixiren.  Die  Augen- 
bewegungen bewirken  nun  Empfindungen,  und  diese  lösen  ihrerseits  erst  frühere 
adäquate  Vorstellungen  aus.  Doch  werden  niemals  fertige  Vorstellungen,  ja  nicht 
einmal  bestimmte  Elemente  von  gehabten  Vorstellungen  wachgerufen,  sondern  eine 
grössere  Anzahl  von  Erinnerungselementen,  die  nur  annähernd  mit  dem  neuen 
Eindruck  tibereinstimmen.  Diese  Erinnerungselemente  wirken  dann  associativ  oder 
genauer  ausgedrückt  assimilirend  (weil  es  sich  um  Elemente  gleichartiger  Ge- 
bilde handelt)  auf  den  immittelbaren  Bindruck,  welchen  das  Object  hervorruft,  und 
dieser  kann  nun  seinerseits  selbst  wieder  auf  die  reproducirten  Elemente  zurück- 
wirken. Diese  Processe  gehen  simultan  vor  sich,  d.  h.  inducirende  und  inducirte 
Vorstellung  bilden  ein  gleichzeitiges  Associationsproduct,  welches  inducirende  und 
inducirte  Elemente  derartig  nebeneinander  enthält,  dass  wir  sie  in  dem  Vorstellungs- 
ganzen nicht  von  einander  unterscheiden  können.  Die  Verschmelzung  oder  Assi- 
milation dieser  verschiedenen  Elemente  erfolgt  wahrscheinlich  durch  Verdrängung 
ungleicher  und  durch  Angleichung  ähnlicher  Vorstellungselemente. 

Wir  können  also  an  dem  Zustandekommen  der  umkehrbaren  perspectivischen 
Täuschungen  wie  bei  keiner  anderen  Erscheinung  die  Assimilations-  und  somit  die 
Associationsvorgänge  überhaupt  erkennen ;  „sie  bestehen  in  jedem  einzelnen 
Palle  aus  einer  Menge  elementarer  Verbindungsprocesse  zwischen 
den  Bestandtheilen  der  Vorstellungen." 

In  Beziehung  auf  das  Zustandekommen  der  Raumvorstellung  wurde  schon  bei 
den  umkehrbaren  perspectivischen  Täuschungen  gezeigt,  dass  hierbei  die  Augen- 
bewegungen eine  hervorragende  Rolle  spielen.  Noch  deutlicher  ergiebt  sich  die 
Richtigkeit  dieser  Behauptung  aus  dem  Studium  der  Strecken-  und  Richtungs- 
täuschungen. Es  möge  hier  nur  nochmals  hervorgehoben  werden,  was  dort  ein- 
gehender erörtert  worden  ist,  dass  weder  aus  dem  Netzhautbilde,  noch  aus  dem 
Bewegungsbilde  allein  die  Entstehung  räumlicher  Gesichtswahmehmungen  zu  er- 
klären ist.  sondern  dass  das  räumliche  Sehen  auf  einer  Wechselwirkung  dieser 
zwei  verschiedenen  Bilder  beruhen  muss.  —  Die  perspectivische  Vorstellung  ist  bei 
den  Strecken-  und  Richtungstäuschungen  nur  eine  fiülfsvorstellung,  bei  welcher 
dieselben  Gesetze  der  Angleichung  und  Verdrängung  wirken,  wie  bei  den  umkehr- 
baren perspectivischen  Täuschungen.  Sie  bieten  uns  daher  einen  neuen  Beweis  für 
die  Richtigkeit  des  bei  diesen  Gesagten.  Ebenso,  al^er  in  noch  eclatanterer  Weise 
thon  dies  die  Associationstäuschungen,  weil  sie  zeigen,  dass  Angleichungsprocesse 
in  der  That  stattfinden.  Denn  wir  wissen  aus  den  betreffenden  Erscheinungen,  wie 
sie  im  I.  Theil  dieser  Abhandlung  erörtert  worden  sind,  dass  Objecto  von  geringem 
Grössenunterschiede  für  gleich  gehalten  werden  durch  Angleichung,  und  dass 
umgekehrt  gleiche  Objecto,  wenn  sie  von  verschieden  grossen  umgeben  sind,  für 
ungleich  angesehen  werden  durch  Gontrast. 


Referate  und  Besprechungen. 


^Recherches  cliniques  et  th^rapeutiques  sar  l'^pilepsie,  l'hyt- 
terie  et  l'idiotie,  compte-rendu  du  service  des  enfants  idiots,  ^pUeptiques  ei 
arrieres  de  Bicetre  pendant  Taimee  1896  par  B<mmeviÜe  avec  collaboration  de  Mm. 
Mettetal,  Noir  (J.),  ßegnault,  Rellay  Vaquez  et  Boyer  (J.).  Vol.  XVIL«  Par», 
auz  bureaux  du  Progrds  m^dical,  F^ix  Alcan  6diteur. 

Aus  dem  zweiten,  klinischen,  auf  249  Seiten  18  Abhandlungen  enthaltenden 
Theile  dieses  17.  Bandes  Bourneville 'scher  Y  eröfifeutlichungen ,  welcher  die 
Gasuistik  obgenannter  Krankheiten  um  eine  Anzahl  äusserst  minutiös  beschriebener, 
lehrreicher  Fälle  vermehrt,  beanspruchen  wohl  das  äctuelle  Interesse  am  meiatea 
eine  Anzahl  von  Vorträgen  über  Myxoedema  infantile  und  dessen  Behandlung  mit 
Schilddrüse  (Nr.  III.  IV,  X— IV).  £s  sei  zunächst  das  Bild  der  „Idiotie  myxoedö- 
mateuse"  oder  „Idiotie  compliquee  de  cachexie  pachydermique**  oder  „Myxoeddme 
infantile"  nachskizzirt,  wie  es  B.  in  Nr.  X,  S.  135  seinen  Ausführungen  voranstellt 
Sie  äussert  sich  in  einer  Entwickelungsbemmung  auf  psychischem  Grebiete  —  Idiotie 
verschiedenen  Grades  —  und  einer  solchen  auf  physischem  —  Zwergwuchs  mit 
tiefen  Ernährungsstörungen  und  Fettsucht.  Die  £j*auken  bieten  folgende  Er- 
scheinungen: der  Kopf  ist  vorn  schmal,  hinten  voluminös,  mit  starken  Seitenhöckem; 
die  Stirn  ist  niedrig,  seitlich  zusammengedrückt,  die  vordere  Fontanelle  offen,  aooli 
bei  älteren.  Die  Haare  sind  meist  dick,  borstenähnlich,  nicht  überall  gleich  volL 
Die  behaarte  Haut  ist  gewöhnlich  von  eczematösen  Eruptionen  bedeckt.  Die 
hässliche  Physiognomie  drückt  Stumpfheit,  Apathie  aus,  das  Profil  ist  noch  hässlicher 
wegen  des  stark  hervortretenden  Prognatismus.  Die  Lider  sind  aufgedunsen,  blaai- 
bläulich,  verdecken  mehr  oder  weniger  die  Bulbi  und  sind  meist  mit  Ciliarblepharitii 
afficirt.  Die  Nase  ist  platt,  die  Wangen  sind  gebläht,  hangend.  Mund  breit,  Lippen 
verdickt,  bläulich,  die  untere  umgestülpt.  Die  Zunge  ist  allseitig  vergrössert  und 
zeigt  sich  in  der  Mundöffnung.  Die  Zähne  stehen  ohne  Richtung,  sind  cariös,  die 
2.  Dentition  ist  unvollständig;  das  Kinn  fehlt  fast.  Die  Ohren  sind  ohne  Miss- 
bildung.  doch  verdickt,  wachsartig  blass,  von  ödematösem  Aussehen,  ohne  aber  die 
Spur  des  Fingereindruckes  zu  behalten.  Hals  dick,  kurz.  Eopf  in  die  Schultern 
gedrückt.  Die  genaueste  Untersuchung  lässt  keine  Spur  einer 
Schilddrüse  entdecken.  In  den  Sub-  und  Supra-Claviculargruben,  unter  den 
Achseln    und  an  anderen  Stellen  finden  sich   schlecht  abgegrenzte  Pseudolipome. 


Referate  und  Besprechungen.  297 

Der  Thorax  zeigt  Deformationen,  besonders  an  den  unteren  Rippen,  die  nach  aussen 
stehen ;  Wirbelsäule  mehr  oder  weniger  deviirt.  Unterleib  sehr  gross,  breit,  frosch- 
artig; meist  Nabelhernie,  andere  Male  Inguinalhemie.  Becken  verengt.  Genitalien 
meist  in  der  Entwickelung  gehemmt.  Extremitäten  dick,  kurz,  rhachitisch  yerbogen, 
Gelenke  knotig,  Hände  und  Fasse  cyanotisch,  verdickt,  von  pachydermem  Aussehen. 
flaut  fast  unbehaart,  blass,  trocken,  faltig,  stellenweise  ichthyotisch ,  im  Gesicht 
gelblich,  wachsartig,  ähnlich  wie  bei  Cachectischen.  Verdauung  leidlich,  Appetit 
•ehr  massig,  Widerwillen  gegen  Fleisch.  Kauen  beschwerlich.  Häufig  besteht  habi- 
tuelle Obstipation,  daher  oft  Hämorrhoiden  oder  Prolaps  des  Mastdarmes.  Re- 
spiration behindert,  kommen  leicht  ausser  Athem.  Der  Athem  ist  übelriechend.  Puls 
klein,  meist  frequent.  Grosse  Empfindlichkeit  gegen  Kälte.  Bei  zahlreichen  Unter- 
iochungen  fand  sich  im  Urin  kein  Eiweiss.  Schweissabsonderung  stets  unvoll- 
kommen; auch  in  der  grössten  Hitze  schwitzen  sie  nicht.  Ihre  Stimme  ist  rauh, 
gellend,  der  Gang  tölpisch,  sie  haben  Widerwillen  gegen  Bewegung.  Der  Ge- 
schlechtstrieb fehlt,  Onanie,  so  gewöhnlich  bei  anderen  Idioten,  wurde  nicht  beob- 
achtet. Sensibilität  erscheint  normal,  soweit  das  bei  der  begrenzten  Aeusserungs- 
fahigkeit  beurtheilt  werden  kann.  Die  Idiotie  ist  nie  so  tief,  wie  diejenige  nach 
Meningitis,  Sclerose  oder  congenitaler  Entwickelungshemmung  des  Gehirns.  Keine 
!nc8,  keine  Kopf  bewegungen  nach  vor-  und  rückwärts,  kein  Zähneknirschen.  Auf- 
merksamkeit und  Gedächtniss  sind  vorhanden.  Sie  werden  reinlich,  lernen  allein 
essen,  sich  ankleiden,  waschen  etc.  Meist  sind  sie  sanften,  anhänglichen  Gharacters 
doch  kommen  bei  manchen  auch  Zornanfalle  vor. 

Diese,  hier  abgedruckte  Beschreibung  des  Krankheitsbildes  machte  B.  gelegent- 
Ueh  einer  Mittheilung  an  die  Soci^te  m^dicaie  des  hopitaux  im  Januar  1896.  Er 
stellte  Hftmfti«  6  Fälle  vor,  von  denen  3  bereits  erfolgreich  mit  Schilddrüse  be- 
handelt waren  und  2  in  der  nächsten  Zeit  behandelt  werden  sollten.  Wir  kommen 
auf  diese  beiden  zurück,  nur  soll  vorher  in  Kurzem  der  Inhalt  einer  Discussion  er- 
wähnt werden,  welche  sich  in  der  Gesellschaft  bei  B.'s  Ankündigung  erhob: 

Guinon  spricht  von  der  Gefährlichkeit  der  subcut.  Inject,  von  Extract.  thy- 
leoid.  bei  jungen  Personen  (B.'s  Fälle  hatten  ein  Alter  von  38.  30,  20,  13,  4,  3 
Jahren;  die  letzten  beiden  standen  vor  der  Behandlung).  Es  seien  Todesfälle  be- 
richtet; wahrscheinlich  nicht  alle.  Dagegen  habe  die  innerliche  Darreichung  nach 
•einer  Er&hrung  keine  schlimmen  Folgen  und  gute  Resultate. 

Marfan  bittet  um  genaue  Präcision  der  Technik  B.'s.  Er  habe  einem  3  jährigen 
Kinde  mit  congenit.  Myxödem  Vio  ^^^  einem  Viertellappen  Hammelschilddrüse  ge- 
geben und  schon  am  folgenden  Tage  schwere  Symptome  gesehen:  40^,  extrem  be- 
schleunigten Puls,  verfallenes  Gesicht;  dabei  Verschwinden  des  Myxödems  in 
48  Stunden  unter  starker  Desquamation,  Durchbruch  von  3  Zähnen  in  8  Tagen, 
iber  wegen  des  schlechten  Befindens  nicht  gewagt,  fortzufahren.  Damach  habe  er 
Terschiedenen  Kindern  im  1.  Jahr  die  englischen  „tabloids*^  gegeben  und  auf  ^4 
oder  Vs  Gabe  stets  beobachtet:  Pulsbeschleunigung,  Fieber,  Abmagerung  mit  Ca- 
diezie.    Die  Wirkung  sei  evident,  die  Präparate  gefährlich. 

Bourneville:  Injectionen  und  Succus  thyr.  seien  nutzlos.  Frische  Schild- 
druse, ^/t — 1  lob.  würden  gut  ertragen,  doch  gehöre  auch  genaue  Aufsicht  dazu,  da- 
aiit  bei  bedrohlichen  Symptomen  (Erbrechen,  Lähmung,  Zittern,  Lypothymie)  sofort 
tosgesetzt  werde.  Bei  manchen  Fällen  gebe  er  aller  2  Tage  ^/t  lob.  Ein  frischer 
Lob.  wiege  ungefähr  2  gr. 


298  Referate  und  Besprechungen. 

Ren  du:  £r  habe  ein  4  jähriges  myxödem.  Kind  mit  1  Pastille  von  Borroughs 
und  Welcome,  London,  täglich  behandelt  und  nach  2  Monaten  erstaimlicben  Er- 
folg gesehen:  6  frische  Zähne,  lebhaftere  Intelligenz,  Zunahme  des  Interesses. 

BS  der  e  wünscht  Orammeintheilung ;  man  müsse  das  Herz  controlirexi,  hier 
drohe  die  Gefahr  auch  ohne  Fieber. 

Fernet  hält  diese  Furcht  für  übertrieben.  Nach  Graver  trete  Puls- 
beschleunigung  oft  ein  in  Fieberkrankheiten  und  adynamischen  Zuständen  schon 
bei  blosser  Lageyeränderung;  sie  sei  nicht  gleich  auf  Intoxication  zu  benehen. 

Bourneville:  Das  Gewicht  der  gegebenen  Menge  Gland.  thyr.  sei  genau 
bestimmt  worden:  1,25 — 2  gr  mit  Fett  und  Gewebe. 

H  a  y  e  m.  £s  scheine  schwierig,  diese  Medication  zu  bestimmen.  Das  Gewicht 
der  Drüsen,  ihr  Gehalt  an  activen  Stoffen  sei  kaum  zu  eruiren.  Man  solle  auf  gut 
dosirte  Präparate  recarriren  wie  die  englischen,  welche  geprüft  seien. 

Beclöre  spricht  schliesslich  von  der  ganz  yerschiedenen  Wirkung  finscher 
Schilddrüse  auf  verschiedene  Kranke.  Die  einen  ertrugen  hohe  Dosen  lange  gut, 
die  anderen  geringe  Dosen  wenige  Tage  schlecht.  £r  giebt  noch  ein  Mittel  der 
Conserrirung  an. 

Bourneville  stellte  nun  in  der  Sitzung  am  22.  Januar  1897  seine  beiden 
behandelten  Patienten  vor  und  schildert  das  Resultat  iA  Xr.  XI  in  seiner  genauen, 
detaillirten  Weise  mit  Hinzufugung  von  Tabellen  und  Photographien: 

1.  Pat.  Lucie  Borj...,  geb.  1892,  aufg.  10.  October  1895.  Specielles:  Eltern 
blutsverwandt.  Mutter  erlitt  während  der  Schwangerschaft  einen  Sturz.  Normale 
Geburt,  3  kg.  Erst  mit  8  Monaten  unterscliied  sich  das  Kind  von  anderen,  die 
Zunge  verdickte  sich  und  erschien  in  der  Mundspalte;  die  übrigen  Symptome 
kamen  später.  Mit  8  Monaten  1  Zahn,  Pat.  lernte  nur  an  der  Hand  gehen,  geht 
schwerfällig,  spricht  einige  Worte  wie  „dada'',  „tatain",  soll  die  Bekannten  kennen, 
schläft  ruhig,  ergreift  nur  langsam,  hat  Obstipation.  Defäcation  und  Uriniren 
scheint  schmerzhaft.  Respiration  geräuschvoll.  Bei  der  Aufnahme  alle  Symptome 
des  Myxödems.  Offene  Fontanellen:  hinten  1:1V,,  vom  6:5  cm.  Coryza  mit 
serös-schleimigem  Ausiluss.  Respiration  15 — 16,  Puls  80.  Dentition:  6  IncisivL 
Rectaltemp.  36^ — 37".  Behandlung  mit  Salzbädern,  Sir.  ferri-jod.,  Leberthran,  Geh- 
übungen. 1.  Behandlung  mit  frischer  Schilddrüse  18.  Januar  bis  31.  Juli  1896 
'den  Juni  hindurch  und  sonst  auch  mehrere  Tage  lang  ausgesetzt),  im  Ganzen 
während  166  Tagen  36,075  gr.  Sogleich  in  den  ersten  Tagen  verschwand  die  Lid- 
schwellung, die  Bulbi  wurden  sichtbarer,  L.  fixirte  Personen  und  folgte  ihren  Be- 
wegungen (früher  nicht).  Schon  am  25.  Januar  Bulbi  ganz  sichtbar,  Zunge  inner- 
halb des  Mundes ;  L.  ist  immer  in  Bewegung,  greift  nach  Allem  in  ihrer  Nähe,  ver- 
sucht zu  plappern  und  lacht,  wenn  man  mit  ihr  spricht.  Am  29.  Januar  ist  die 
Stimme  schon  fast  wie  bei  Normalen.  Vom  29.  Januar  bis  2.  Februar  wurde  aus- 
gesetzt wegen  folgender  Symptome:  Fieber,  Weinen,  Agitation,  Sichkratzen  am 
ganzen  Körper  und  Manipulationen  an  den  Fingern,  „als  ob  sie  dieselben  lang- 
ziehen wollte".  Vom  3.  Februar  fingen  die  Haare  an  auszufallen,  dieselben  werden 
weicher.  Empfindlichkeit  gegen  Kälte  dauert  fort.  Am  8.  Februar  Desquamation 
an  Händen  und  Füssen :  die  Athmung  ist  leichter,  der  3Iund  geschlossen.  9.  Febr. 
Das  Kind  liebkost  die  Eltern,  versucht  Vorgemachtes  nachzumachen.  11.  Will, 
dass  man  sich  fortwährend  mit  ihm  beschäftige.  Alles  interessirt  sie.  16.  Kauen 
geht   ordentlich    vor   sich.     Freut    sich   beim   Besuch   der  Eltern   sozusagen   ver- 


Referate  und  Besprechungen.  299 

ständnissYoU.  17.  £s  wachsen  neue,  weichere  Haare;  Zahnweh,  2  Zähne  wollen 
durchbrechen.  1.  bis  6.  März  wieder  leichtes  Fieber,  Sichkratzen,  An-den-Fingem- 
ziehen,  als  ob  sie  sie  verlängern  wolle,  Erbrechen,  Diarrhöe.  Damach  wieder  täglich 
Besserung.  Zeigt  einiges  Yerständniss  für  Vorgänge  um  sie  her,  weiss,  dass  sie 
spazieren  gehen  wird,  wenn  sie  den  Hut  aufbekommt  etc.  Ende  März  brechen  wieder 
Zähne  durch.  Mai:  sagt  durch  Gesten  „guten  Tag*^,  „nein'',  stets  heiter,  Hände 
und  Füsse  normal,  oft  Schwitzen  am  Kopf.  11.  Mai  39,9^.  18.  Mai  Schwäche,  starke 
Schweisse.  25.  Mai  schon  ähnlich  anderen  Kindern;  versucht,  nachzumachen,  spricht 
„Papa",  hält  sich  aufrecht.  Schlaf  etwas  unruhig.  Im  Juni  etwas  Diarrhöe ;  Sprache 
entwickelt  sich  langsam  „papa",  „auvoir",  „attends"  ..  .  Cbaracteränderung:  chole- 
risch, sucht  sich  zu  kratzen,  zieht  sich  an  den  Haaren.  Im  Juli:  „Fapa'^,  „caca", 
„pain  ay  est"  (ga  y  est),  „auvoir"  (au  revoir)  etc.;  deutet  mit  dem  Zeigefinger, 
wenn  es  etwas  will,  unterscheidet  Personen,  ist  fester  auf  den  Beinen,  will  immer 
aufrecht  sein.  Anfang  August  Gastro-enteritis.  Nach  und  nach  beginnen,  nach  Auf- 
hören der  Cur,  die  meisten  myxöd.  Erscheinungen  wieder  zu  kommen:  Fett- 
infiltration, Pseudolipome,  Gesichtsaufschwemmung,  Verdickung  und  Missgestaltung 
der  Lippen,  Zunahme  der  Hände  und  Füsse,  Wachsfarbe,  Stumpfwerden  des  Ge- 
sichtsausdruckes, Verdickung  der  Zunge  etc.  Nur  Sprache  und  Gang  bleiben  ge- 
bessert. Es  wurde  nun  vom  3.  October  bis  31.  December  eine  2.  Schilddiüsen- 
behandlung  durchgeführt  (28,75  gr).  Sie  erholte  sich  rasch  wieder,  liebt  jetzt  Be- 
wegung, verlangt  selbst  nach  dem  Topf,  wird  bald  allein  gehen  können  etc.  Was 
nun  das  Wachsthum  anlangt,  so  hat  L.  in  1  Jahr  11  cm  zugenommen.  Nach 
Quetelet  wächst  ein  Kind  dieses  Alters  6  cm  im  Jahre;  das  Wachsthum  L.'s  war 
also  fast  doppelt  so  rasch.  Das  Gewicht  gelangte  unter  Schwankungen  von  8,600 
auf  10,500  kg.  Die  Kopfdurchmesser  haben  zugenommen,  die  Fontanellen  sind 
kleiner  geworden.  Besonders  bemerkenswerth  war  der  Fortschritt  der  Dentition, 
sie  ist  complet  geworden  bis  auf  2  Zähne.  Auch  der  Stimmumfang  hat  zuge- 
nommen. 

Ueber  die  2.  Pat.  Aline  K.,  geb.  1891,  aufgen.  1895,  erwähnen  wir  kurz,  dass 
sie  von  mütterlicher  Seite  durch  Trunksucht  belastet  war  und  der  Vater  auch 
Plattnase  und  kleinen  Wuchs  zeigte.  Mit  8  Monaten  1.  Zahn,  keine  Krankheiten, 
mit  2  Jahren  noch  unreinlich,  sprach  noch  nicht,  hatte  starken  Bauch,  Umbiiical- 
Hemie,  offene  Fontanellen.  Sie  war  zornmüthig  und  blieb  es.  Ihre  Aufmerksam- 
keit ist  fixirbar,  sie  ist  anhänglich,  etwas  intelligenter  als  die  vorige.  Besonders 
besteht  noch  Alopecia  partialis,  Desquamatio  furfur.  der  Haut.  Schon  vor  der 
Schilddrüsenbehandlung  zeigte  sich  gelinde  Besserung.  Die  1.  Behandlung  (166  Tage, 
37,04  gr)  erzielte  eine  grosse  Besserung,  ein  Aussetzen  von  2  Monaten  führte  zu 
einem  Rückfall,  jedoch  von  geringerem  Grade  als  beim  1.  Fall,  und  die  2.  Behand- 
lang brachte  den  Erfolg  zurück,  immerhin  langsamer  als  bei  B.  Das  Gewicht  fiel 
unter  Schwankungen  von  12,500  auf  11,200  kg,  die  Grössenzunahme  betrug  10  cm 
(normal  5)  in  1  Jahr,  die  Schädeldurchmesser  nahmen  zu,  die  Fontanellen  sind  fast 
geschlossen,  ebenso  verbesserten  sich  Gebiss  und  Stimme.  Die  Intelligenz  war  in 
jeder  Beziehung  geweckter,  das  Vocabular  hatte  zugenommen,  obwohl  langsam,  die 
Zomanfälle  waren  geschwunden,  das  Kind  war  fast  ganz  normal,  anstelle  der  Faul- 
heit war  Bewegungslust  getreten. 

Einen  3.,  neueren  Fall  beschreibt  Verf.  in  Nr.  lU  und  IV.  Es  handelt  sich 
um  ein  myxöd.  Kind  von  4  Jahren,   beiderseits  erblich  belastet;   Geburtsasphyxie 


300  Referate  und  Besprechungen. 

wegen  zu  grossem  Kopf.  Blöde  Physiognomie,  Aufmerksamkeit  zuweilen  fbdrbar, 
manchmal  ein  Lächeln,  kennt  seine  Eltern.  Sprache  fehlt.  Stehen  und  Gehen  un- 
möglich. (TreifTahigkeit  mangelhaft.  Gewicht  11,100  kg.  Grosse  0,68  m.  Das  £ind 
starb  am  10.  Tage  der  Behandlung ;  es  hatte  an  den  ersten  beiden  Tagen  je  Vt  ^o^- 
und  am  4.  und  6.  je  1  gr  Gland.  thyr.  bekommen,  an  den  übrigen  Tagen  war  aus- 
gesetzt. Die  Wirkung  war:  Verschwinden  der  Cyanose,  Verringerung  der  Pachy- 
dermie  an  Händen  und  Füssen,  Verkleinerung  der  Zunge  mit  Schluss  des  Mnndes, 
Lidabschwellung,  spontane  Stühle  (vorher  obstipirt),  grössere  Lebhaftigkeit,  Tem- 
peraturerhi'thujig.  Ge^-ichtsabnahmc  um  1^  i  kg.  Als  Todesursache  war  eine  Lnngen- 
affection  anzusehen,  welche  mit  Temperaturerhöhung  und  EUsselgeräuschen  schon 

3  Tage  vor  der  Behandlung  constatirt  war.  Die  Behandlung  konnte  nicht  Schuld 
sein,  weil  die  Gaben  klein  waren  und  das  Kind  noch  obendrein  einen  grossen  Tbeil 
davon  von  sich  gab.  So  vertrug  z.  B.  ein  Kind  von  5  Monaten  Vt  lob.  (=  1,5  gr) 
in  11  Tagen  mit  Aussetzung  nur  eines  Tages  ohne  Störungen,  besonders  ohne  solche 
von  Seiten  der  Athmung  und  Temperirung.  Ausserdem  verschwinden  die  Haupt- 
erscheinungen, welche  Gefahr  melden,  schnell,  nach  24  Stunden,  und  waren  solche 
hier  nioht  vorhanden  lepilcpt.  Anfalle.  Tachy cardio.  Zittern.  Lähmungen,  fiaut- 
affectiouen  etc.).     Leider  war  die  Autopsie  nicht  gestattet. 

In  Xr.  XIV  zeigt  Verf.  an  einer  Anzahl  von  kurz  skizzirten  Fällen  die 
Wirkung  der  Schilddrüsenbehandlung  auf  Gewicht  und  Grösse  von  Idioten  mit 
Myxoodem.  Fettsucht  und  Zwergwuchs.  Es  sind  zunäi*hst  4  Fälle  von  Idiotie  my- 
xöd..  davon  wir  bereite  2  referirt  haben.  Die  beiden  anderen  sind:  1.  W.,  21  Jahre 
alt,  88  cm  gros;«,  in  den  letzten  7  Jahren  nicht  mehr  gewachsen.    Eine  1.  Cur  von 

4  ^lonatcn  brachte  ihn  auf  92  cm,  eine  2..  ebensolange  aut  96  cm ;  das  Gewicht 
fiel  von  21.200  auf  19.800  kg.  Bei  einer  3.  Cur  wuchs  er  auf  99  cm.  Ein  Puber- 
tätsforisobritt  zeigte  sich  nicht.  2.  G. .  14  Jahre  alt,  seit  1  Jahr  nicht  mehr  ge- 
wachsou.  89  oiii.  Er  wuchs  in  4  Monaten  6  cm  i95  cm^il.  in  weiteren  4  Monaten 
wiederum  G  cm  ^1.01  m).  Das  Gewicht  tiol  zuerst  von  16.700  auf  14,900  und  stieg 
dann  auf  15.900  kg.  Auch  hier  kein  Einfluss  auf  Pubertätsentwickelung.  —  Es 
folgen  nun  3  Fälle  von  fettleibigen  Idioten:  1.  D..  11  Jahre  alt,  war  zuletzt  in 
Vm  Jahren  von  26  auf  29  kg  und  von  1.07  auf  1.08  m  gestiegen.  1.  Behandlung 
3S  Monate:  26  kg.  1.13  m:  ohne  Behandlung  2  Monate:  28  kg.  1,14  m:  der  Hals 
ging  um  2.  das  Abdomen  um  7  cm  zurück.  Bei  einer  2.  Behandlung  ' '«  J^hr  lang 
ging  das  Ciowicht  auf  23.500  kg  zurück,  die  Grösse  stieg  auf  1.165  m.  2.  14  Jahrs 
alt.  **  Jahr  Behandlung:  Gewicht  fiel  zuerst  von  41  auf  40.  stieg  dann  auf  43,900 
und  sank  darnach  auf  41.900  kg.  Die  Gri^sse  stieg  von  1360  auf  1395  m.  3.  Mädchen, 
11  Jahre  alt.  war  in  den  letzten  *«  Jahren  von  1.17  auf  1.20  m  gewachsen,  wog 
31  kg.  Nach  4  monatlicher  Behandlung  1.21  m  —  29.500  kg.  Nach  2  monatlicher 
Nichtbehandlung  1.235  m.  81  kg.  Nach  einer  2..  5  monatlichen  Behandlang  sank 
das  Gewicht  von  33  auf  30.500  und  stieg  auf  33.500  kg:  Gri^sse  von  1,235  auf  1,26  m. 
Zuletzt  noch  8  Fälle  von  Idiotie  mit  Zwergwuchs:  1.  Mädchen,  15  jährig,  wuchs  in 
den  letzten  3  Jahren  je  2  cm.  1.  Behandlung  5  Monate:  3  cm  GrÖssenzu nähme, 
2.  Behandlung  1.  Monat:  Zunahme  1  cm.  Gewicht  30—29—31  kg.  2.  Knabe, 
23  Jahre  ah.  bei  Bohandlung  von  7  Monaten  stieg  das  Gewicht  gleich  anfangtich 
von  42.500  auf  43.5lW  und  sank  sodann  auf  41.700  kg.  Die  Grosse  stieg  von  1,46 
auf  1,46  m.  Bei  einer  weiteren.  2  monatlichen  Behandlucg  blieb  die  Grösse  gleich; 
auch  vor  der  Behandlung  war  sie  3  Jahre  gleich  geblieben.    3.  Knabe,   16  Jahre 


Keferate  und  Besprechungen.  301 

alt,  1.  Behandlung  7  Monate:  Gewicht  32-29— 37,200  kg,  Grösse  von  1,27  auf 
1,29  m.  In  der  folgenden  Behandlung  34  kg,  1,30  m.  4.  Knabe,  24  Jahre  alt,  Be- 
handlung 4^2  Monate:  Gewicht  36,900—37,500—30,400  kg,  Grösse  1,40—1,435  m. 
Nahm  bei  der  2.  Behandlung  an  Grösse  nicht  zu.  5.  Mädchen,  23  Jahre  alt,  Be- 
handlung 150  Tage:  Gewicht  37  38,980—37  kg,  Grösse  1,425— 1,455m.  Nach  der 
2.,  4  monatlichen  Behandlung  1,47  m.  6.  Knabe,  16  Jahre  alt,  Behandlung  143  Tage  r 
Gewicht  26,700-25,500—27,500  kg,  Grösse  1,32—1,35  m.  2.,  2  monatlicher  Be- 
handlung :  1,355  m.  7.  Knabe,  19  Jahre  alt,  Vt  jährige  Behandlung :  32,900-27,700  kg, 
Grösse  1,47—1,49  m.  2.  Behandlung  IV«  Monat  mit  frischer  Drüse,  dann  nach 
1  Monat  Aussetzung  1  Monat  lang  mit  Tabletten  Welcome:  1,495  m.  8.  Mädchen, 
Hysterie  und  Zwergwuchs.  70  Tage  Behandlung  mit  Thyreoidin-Capseln  Yvon; 
Grösse  nahm  5  mm  zu. 

Von  den  in  Nr.  XU  geschilderten  Blutuntersuchungsresultaten  sei  Folgendes 
erwähnt.  Sie  wurden  vonVaquez  an  einer  Anzahl  von  9  Myxödematösen  (jungen 
and  älteren)  beobachtet.  Zunächst  fand  er,  dass,  wie  auch  Kraepelin  und 
Schotten  anmerkten,  die  Anzahl  der  rothen  Blutkörperchen  normal  sein  kann. 
Indessen  ist  sie  bei  jugendlichen  Individuen  gewöhnlich  vermindert  und  vergrössert 
sich  langsam  im  Laufe  einer  Behandlung,  welche  protrahirt  werden  muss ;  ihre  Ver- 
mehrung steht  relativ  zur  Steigerung  des  Hämoglobin  werthes  zurück.  Ist  ihre  An- 
zahl von  Anfang  an  vergrössert,  so  ist  stets  locale  Stase  die  Ursache  hiervon.  Auch 
die  von  Kraepelin  bemerkte  Vergrösserung  der  rothen  Blutkörperchen  wurde 
beobachtet;  auch  diese  geht  bei  der  Behandlung  zurück.  Ausserdem  wurden  ein- 
mal bei  einer  jungen  und  einmal  bei  einer  älteren  Person  kernhaltige  rothe  Blut- 
körperchen gefunden,  die  ebenfalls  bei  der  Behandlung  verschwanden;  sie  pflegen 
sich  sonst  nur  bei  Leukämie  und  extremer  Anämie  zu  finden.  Was  die  weissen 
Blutkörperchen  betrifft,  so  wurde  die  von  Mendel,  Schotten  etc.  gemeldete 
Leucocytose  nicht  beobachtet.  Bei  der  Behandlung  trat  eine  Vermehrung  der  mo- 
nonucleäien  im  Verhältniss  zu  den  polynucleären  ein. 

Die,  in  Nr.  XIII  von  Pajaud  mittelst  genauer  Tabellen  gegebenen  Harn- 
untersuchungen an  3  Myxödematösen  können  nicht  wiedergegeben  werden.  Es 
sei  nur  bemerkt,  dass  kein  Eiweiss  gefunden  wurde,  im  Gegensatz  zur  Meinung 
verschiedener  Autoren,  welche  glauben,  dass  Eiweiss  sich  im  Urin  der  meisten  solcher 
Kranken  finde. 

Bourneville  zieht  aus  dem  Vorstehenden  keine  Schlüsse  auf  die  physiologische 
Function  der  Schilddrüse.  Es  ist  auch  wohl  keinem  Autor,  ausser  H.  Munk  (nach 
Oppenheim  citirt),  mehr  zweifelhaft,  dass  die  Krankheit  thatsächlich  in  einem 
Functionsausfall  der  Schilddrüse  begründet  ist.  Es  darf  darnach  angenommen 
werden,  dass  die  Theorie  von  einer  circulatorisch-regulativen  Function  dieses  Organs, 
wie  sie  von  vielen  Physiologen  und  Klinikern  gelehrt  wird  (oder  wurde),  fallen 
wird  zu  Gunsten  einer  chemischen,  etwa  im  Sinne  von  Kraepelin,  Oppen- 
heim etc.  In  des  letzteren  neuester  Auflage  des  „Lehrbuches  der  Nervenkrank- 
heiten, 1898^  findet  sich  die  Reproduction  zweier  Abbildungen  nach  Railton- 
Smith,  ein  Cretinengeschwisterpaar  vor  und  nach  der  Behandlung  darstellend, 
au8  denen  die  erstaunliche  Wirkung  der  Schilddrüsen-Gur  evident  in  die  Augen  fällt. 

Den  übrigen  Theil  des  Buches  bildet  eine  Keihe  von  casuistischen  Beiträgen 
zu  verschiedenen  Formen  infantiler  Hirnkrankheiten.  Sie  sind  äusserst  minutiös 
ausgeführt,  besonders  was  Anamnese  und  Status  anbetrifft.  Zu  einigen  findet  sich 
der  macroscopische  Sectionsbefund,  bei  den  anderen  interessirt  das  Klinische. 


302  Referate  und  Besprechungen. 

In  Nr.  I  beschreibt  Verf.  einen  Fall  von  „Pareso-analgf^sie  droite  avec  panaris 
analg^siques  ou  maladie  de  Morvan.  H^mipl^gie  droite  et  parapl^e  inferieore*. 
Es  handelt  sich  um  einen  22  jährigen  Mann,  stark  belastet  durch  Trunksucht,  Nerren- 
krankheiten  und  Gonsanguinität  in  der  Ascendenz.  Die  Mutter  erlitt  in  den  ersten 
Monaten  der  Schwangerschaft  einen  starken  Sc^hreck  vor  einem  gelähmten  JBetÜer, 
dessen  Lähmung  ganz  gleich  gewesen  sein  soll  wie  später  die  des  Kinde«.  Dieses 
war  bei  der  Geburt  und  bis  zum  Alter  von  2  Jahren  normal.  Dann  bekam  es  in 
3  Anfällen  wiederholt  Convulsionen,  über  die  das  Genauere  fehlt  und  in  deren  Ge- 
folge die  Zeichen  der  cerebralen  Kinderlähmung  auftraten.  Die  ganze  rechte  Seite 
blieb  im  Wachsthum  zurück  und  war  schwächer  als  die  linke,  und  ausserdem  be- 
stand eine  Paralyse  der  linken  Unterextremität.  Ebenso  blieb  jetzt  die  Intelligenz 
zurück  und  wurde  das  Kind  starrköpfig,  untractabel,  reizbar  etc.  Das  Interessante 
an  dem  Fall  war  nun  eine  Sensibilitätsstörung  an  beiden  Unterarmen  und  Händen 
und  der  rechten  Achselgegend,  welche  hier  nach  dem  Befund  im  15.  Jahre  mit- 
getheilt  werden  soll:  „Bei  geschlossenen  Augen  erkennt  der  Kranke  gut  die  Ob- 
jecte.  welche  man  ihm  in  die  Finger  und  auf  die  Rückenseite  der  Hand  und  des 
Armes  legt.  Er  fühlt  den  Nadelstrich  auf  Arm  und  Vorderarm.  Er  fühlt  jedoch 
niclit,  wenn  man  mit  dem  Finger  über  die  analgetische  Zone  reibt  oder  mit  dem 
Pinsel  darüber  fährt;  ebenso  nicht  die  Berührung  grosser  Gegenstände,  wenn  man 
sie  fest  auf  seine  Hand  drückt.**  Schmerzempfindung:  Links  Anästhesie  in  Hand- 
schuhform bis  2  Querfinger  breit  über  dem  Handgelenk.  Auf  Unterarm  und  Arm 
15  mm.  Rechts  die  gleiche  Ausbreitung  mit  Ausnahme  des  Thenar.  Auf  Arm  und 
Unterarm  5  mm.  Thcrmoanästhesie  links  2—3  Querfingerbreiten  weiter  als  die 
Analgesie,  rechts  ebenso,  aber  auch  auf  dem  Thenar.  Rechts  besteht  auch  auf  dem 
inneren  oberen  Drittel  des  Armes  und  in  der  Achsel  Analgesie  und  Thermoanalgesie 
mit  Erhaltung  der  tactilen  Sensibilität.  Das  Gefühl  für  die  Lageveränderungen  der 
Arme  etc.  ist  erhalten.  Auf  diese  Sensibilitätsstörungen  wurde  man  durch  die 
Schmerzlosigkeit  einiger  Panaritien  aufmerksam,  welche  sich  der  Kranke  im  Lauf 
der  Zeit  zugezogen  hatte,  sowie  auch  dadurch,  dass  er,  zuerst  aus  Ungeschick, 
später  aus  Renommage  sich  mehrmals  an  den  Händen  verbrannte,  ohne  Schmerzen 
zu  haben. 

Zu  diesem  Fall  von  Morvan'  scher  Krankheit  bemerkt  B.,  dass  diese  von  neueren 
Autoren,  z.  B.  Joffroy  und  Achard,  mit  der  Syringomyelie  zusammengeworfen 
und  für  eine  klinische  Varietät  derselben  gehalten  werde.  Er  selbst  stehe  auf 
Seite  Charcot's,  der  sie  wohl  für  ähnlich  in  gewissen  Zügen,  doch  mit  Unrecht 
zusammengeworfen  hielt.  Nach  Oppenheim  kann  ihre  Zugehörigkeit  zur  Glioiii 
nach  neueren  Beobachtungen  nicht  bezweifelt  werden. 

Nr.  II.  „Idiotie  symptomatique  d'atrophie  c6r§brale;  pachymeningite ;  kyste 
de  la  dure-mcre."  Es  handelt  sich  um  ein  kaum  belastetes  3 jähriges  Kind,  das 
bei  der  Geburt  starke  Asphyxie  zeigte  und  dessen  Mutter  während  der  Schwanger- 
schaft einen  grossen  Schreck  erlitt,  weil  sie  einen  epileptischen  Anfall  mit  ansehen 
musste.  In  Folge  der  Asphyxie  traten  3  Tage  nach  der  Geburt  an  mehreren  Tagen 
hintereinander  Ve  stündige  Convulsionen  des  rechten  Armes  auf;  am  9.  Tag  be- 
merkte man,  dass  das  Kind  blind  sei.  Es  machte  Handbewegungen  gegen  die 
Stirn,  als  wolle  etwas  verscheuchen,  und  litt  seit  Erscheinen  des  1.  Zahnes  (18.  Monat) 
an  Zahnknirschen  und  schlug  oft  den  Kopf  gegen  die  Bettstelle  (Gruomanie).  Bei 
der  Aufnahme  zeigte  es  sich  leicht  hydrocephal,  blind,  wenig  hörend;  konnte  nicht 


Referate  und  Besprechungen.  303 

sprechen,  schrie  nur.  Die  1.  Dentition  war  bis  auf  20  Zähne  vorgeschritten.  Der 
rechte  Arm  war  rigide,  spontan  fast  unbeweglich,  die  Finger  contracturirt :  linker 
Arm  normal.  Das  linke  Bein  war  länger,  die  Bewegung  im  rechten  Oberschenkel- 
gelenk schmerzhaft.  Stehen  unmöglich,  Diarrhöe,  Unreinlichkeit.  Viel  Schlaf,  da- 
awischem  Schreie,  viel  Weinen.  £in  Jahr  nach  dem  Eintritt  Tod  unter  fort- 
schreitendem Marasmus,  Tuberculose,  Diarrhöe.  An  den  Oberextremitäten  hatten 
sich  starke  Contracturen  ausgebildet,  das  linke  Bein  war  rechtwinklig  über  das 
rechte  geknickt,  welches  in  Extension  stand.  Die  Reflexe  waren  beiderseits  ver- 
stärkt. Bei  der  Autopsie  fand  sich  eine  Cyste  der  Dura  hinten  zwischen  den  Hemi- 
sphären auf  dem  Kleinhirn  aufliegend  (330  gr  Flüssigkeit);  die  Dura  selbst  war 
dort  fast  knorpelig  verdickt.  Im  Uebrigen  bestand  eine  ausgebreitete  Meningo- 
Encephaütis,  ähnlich  wie  sie  bei  Dementia  paralytica  gefunden  wird,  mit  Atrophie, 
besonders  der  linken  Hemisphäre.  Worauf  der  Autor  besonders  aufmerksam 
macht,  war  eine  Synostose  der  Pfeilnaht,  die  indessen  für  sich  keine  Entwickelungs- 
hemmung  des  Gehirns  hätte  veranlassen  können,  weil  die  anderen  Nähte  nicht 
ossiflcirt  waren.  Vielmehr  lag  der  (irund  im  Bestehen  der  Hirnhautentzündungen. 
Von  den  im  Bicetre-Museum  vorhandenen  ca.  300  Idioten-Schädeln  bestand  die 
Pfeilnaht-Synostose  nur  bei  6. 

Nr.  IX.  „Meningo-encephalite  chronique  ou  idiotie  meningo-encephalitique." 
Ein  13  jähriges,  stark  belastetes  Mädchen,  dessen  Mutter  ^'iel  an  Migräne  litt,  welche 
aber  während  der  Schwangerschaft  ausblieb.  Das  Kind  war  normal  bis  zum 
18.  Monat;  da  bekam  es  Convulsionen  am  ganzen  Körper  in  Art  eines  Status 
24  Stunden  lang  und  2  Tage  später  48  Stunden  lang,  wonach  es  14  Tage  zu  Bett 
blieb  unter  Fieber,  Phantasiren,  Zähneknirschen.  Damach  blieb  es  anscheinend  ge- 
sund, hatte  mit  2Vs  Jahren  complete  Dentition,  kam  mit  7  Jahren  in  die  Schule 
und  lernte  hier  erst  ^j^  Jahr  nichts,  darnach  aber  Lesen  und  Schreiben;  sonst  half 
es  der  Mutter  im  Haus.  l^Iit  8  Jahren  litt  es  mehrfach  an  Ascariden,  sonst  war 
es  in  Ordnung,  da  wiederholt  sich  im  11.  Jahr  der  Krampfanfall  mit  2  stündiger 
Bewusstlosigkeit :  Das  Kind  fiel  um,  verdrehte  die  Augen,  Arm  und  Bein  waren  rechts 
starr ;  links  nichts ;  keine  Zuckungen.  Nach  dem  Anfall  waren  Mund  und  rechte  Gesichts- 
hälfte nach  rechts  verzogen.  Die  rechte  Seite  blieb  einige  Tage  lang  schwach.  Nach 
3  Monaten  ebensolcher  Anfall,  wieder  rechts,  mit  4  Stunden  Bewusstseinsverlust, 
worauf  3  Wochen  Unfähigkeit  zum  Gehen  und  14  Tage  Sprachlosigkeit  folgten. 
Nach  und  nach  stellten  Gang  und  Sprache  sich  wieder  her.  Von  diesem  Zeit- 
punkte ab  stellte  sich  eine  Characterveränderung  ein,  das  Mädchen  wurde  un- 
gehorsam, starrsinnig,  zu  Zorn  und  Thätlichkeiten  geneigt,  fing  an  stehlsüchtig  zu 
werden  und  versuchte  mehrmals,  Feuer  anzulegen.  Appetit  übermässig  stark.  Mit 
12  Jahren  wiederum  Anfall,  wonach  sich  die  Hemiplegie  der  rechten  Seite  deut- 
licher ausprägte.  Nun  folgte  durch  ein  Jahr  bis  zum  Tode  der  Verfall  unter  all- 
mählicher Abmagerung  und  meningitischen  Symptomen  (Cris,  Zähneknirschen  etc.), 
et  bildete  sich  starke  Oontractur  der  Extremitäten  aus,  rechts  etwas  mehr.  Bei  der 
Autopsie  fand  man  die  Dura  adhärent,  3Ieningo-£ncephalitis  über  beide  Hemi- 
ephären  ausgebreitet,  derart  stark,  dass  sich  die  ganze  graue  Substanz  losriss  und 
die  weisse  sichtbar  wurde;  nur  die  Centralwindungen  waren  ziemlich  gut  erhalten. 
Alio  Veränderungen  wie  bei  der  fortgeschrittenen  Dementia  paralytica  £r- 
waohsener.  Von  Syphilis  war  bei  den  Eltern  nichts  vorhanden,  der  Vater  der 
Matter  wurde  erst  nach  der  Geburt  der  Toohter  luetisch. 


304  Referate  und  Besprechnngen. 

Nr.  YIII.  ^Jdiotie  conipl^te:  Psendo-porenc^pbalie  double/'  Der  Fall  ist 
ohne  genügende  Anamnese  and  ohne  Statns.  Es  ist  nnr  bekannt,  dase  die  Mutter 
hysterisch  war  und  während  der  Schwangerschaft  einen  Sturz  erlitt.  Nach  deren 
unglaubwürdigen  Angaben  hätte  sich  das  Kind  in  den  ersten  Jahren  gut  entwickelt» 
Mit  2V'ft  Jahren  Pocken.  3 — 5  jährig  Anfälle  vpn  Ag^itation  mit  Kopfichleiidenv 
Zerstörungssucht,  Schlagen.  Später  bekam  es  Huskelstei6gkeit  links  am  Hmls  und 
längs  der  Wirbelsäule.  £s  war  sehr  mager,  wies  das  Essen  zurück,  litt  an  Er- 
brechen und  Kopfweh.  Bei  der  Autopsie  (9  Jahre  alt)  zeigten  sich  2  alte  Heerde 
in  Gestalt  von  Pseudo-Cysten  rechts  und  links.  Die  linke  war  kleiner,  schmaler, 
länglich  und  nahm  die  2.  Temporalwindung  ein,  die  ganz  zerstört  war.  Die  rechte 
umfasste  den  ganzen  Insellappon  und  die  Hälfte  des  Lob.  temp.  Sie  hatten  keine 
Verbindung  mit  den  Seitenventrikeln.  Ausserdem  bestand  ausgebreitete  Sclerose 
und  Atrophie. 

Nr.  VI.  „Idiotie  congenitale  par  arret  de  developpement.**  Die  Gehimaeetioa 
dieses  6jährigen,  an  Pneumonie  gestorbenen,  mit  den  Zeichen  der  acquirirten 
Syphilis,  wie  breiten  Condylomen  und  Drüsenschwellungen,  aufgenommenen  JT^nH— 
ergab  nichts  Anormales  an  den  Hirnhäuten,  dagegen  eine  ganz  mdimentare  and 
anormale  Hemisphärenmorphologie.  Es  war  stark  belastet,  erschien  bei  der  Gebart 
normal  und  fing  mit  4  Monaten  an,  die  Zeichen  einer  gestörten  Himentwickelung 
zu  bieten.  Es  konnte  den  Kopf  nicht  aufrecht  halten,  liess  ihn  nach  rechts  hängen, 
knirschte  oft  mit  den  Zähnen  und  grimassirte.  Mit  2  Jahren  hatte  es  ca.  6  Monate 
lang  in  Zwischenräumen  von  3 — 15  Tagen  convulsive  Krisen,  welche  sich  auf  einige 
Grimassen  am  Mund  beschränkteu.  Mit  3  Jahren  näciitliche  Furchtanfälle  mit 
Agitation.  Darnach  hatte  es  Gelbsucht  und  zeigte  den  Tic,  sich  die  Haare  auszn- 
reisscn  und  sie  zu  betrachten,  indem  es  sie  rasch  in  den  Händen  heromdrehte; 
damit  war  es  fortwährend  beschäftigt.  3Iit  4  Jahren  trat  ein  häufiges  Kopfiücken 
nach  vom  und  hinten  hinzu.  In  der  Schule  lernte  es  nichts,  kauerte  in  einer  Ecke 
und  kümmerte  sich  um  Niemand.  Es  blieb  unreinlich,  lernte  mit  3  Jahren  gehen 
und  mit  4  Jahren  ein  wenig  sprechen. 

Nr.  YII.  „Sclerose  cerebrale  hemispherique :  idiotie,  hdmiplligie  droite  et 
Epilepsie  consecutives.*'  Es  handelt  sich  um  einen  21jährigen,  besonders  durch 
Trunksucht  belasteten  Mann.  Bei  der  Geburt  normal,  dx)ch  asphyctisch.  Bis  mm 
6.  Jahre  Bettnässen.  3üt  dem  5.  Jahr  traten,  als  das  Kind  zu  Bett  lag,  eines 
Abends  Con^nilsionen  auf.  die  zunächst  nur  einige  Minuten  dauerten,  sich  jedoch  in 
der  gleichen  Nacht  durch  ca.  5  Stunden  hindurch  nach  Art  eines  Status  wieder- 
holten und  starke  Zuckungen,  besonders  rechterseits,  darboten.  Von  da  ab  täglich 
3  Monate  lang  bis  zu  1  Stunde  dauernde  convulsive  Krisen.  Nach  dieser  Zeit  er^ 
schien  eine  rechtsseitige  Paralyse,  die  Glieder  dieser  Seite  waren  rigide.  Zwar 
lernte  er  wieder  gehen,  doch  zog  er  das  Bein  nach  und  blieb  der  Arm  ganz  lahm. 
Die  Intelligenz  blieb  von  da  ab  ganz  nieder,  ebenso  veränderte  sich  der  Character 
zum  Schlimmen.  Früher  sanft,  war  er  jetzt  reizbar,  brutal  etc.  Bis  zum  15.  Jahre 
erschienen  keine  Anfälle  mehr,  doch  blieb  die  Lähmung  bestehen,  ebenso  die  In* 
telligenzhemmung.  Er  begriff  in  der  Schule  nichts.  Gelegentlich  eines  Zomaffectes 
trat  des  Nachts  der  erste  epileptische  Anfall  auf  mit  besonders  rechtsseitigen  Con- 
vulsionen.  Einige  Tage  später  dasselbe.  Nun  repetirten  sie  häufig  des  Nachts. 
Bei  Tag  traten  sie  nicht  auf,  wenn  man  den  Knaben  nicht  legte.  Aach  einige 
wenige  Starrsuchtsanfalle  wurden  beobachtet.     Status  (16 jährig):   Rechter  Arm  an 


Referate  nnd  Besprechungen.  305 

den  Rumpf  gedrückt,  Vorderarm  flectirt,  Hand  stark  flectirt,  Daumen  an  der  zweiten 
Phalanx  stark  extendirt,  am  Zeige-,  Mittel-  und  Ringfinger  die  Mittelphalangen 
extendirt,  die  Endphalangen  halbflectirt,  am  kleinen  Finger  alle  Phalangen  in 
Halbflexion.  Passiv  leicht  zu  flectirender,  dagegen  schwer  zu  streckender  Unterarm. 
Die  rechte  Unterextremität  etwas  weniger  entwickelt,  leicht  flectirt,  Fuss  etwas 
hangend.  Bei  Aufforderung,  das  Bein  zu  heben,  spannt  es  sich,  geräth  in  Zittern, 
laast  sich  aber  bewegen,  und  es  macht  zugleich  in  sehr  rein  associrter  Bewegung 
der  linke  Arm  die  Spannung  und  Hebung  mit.  Manchmal  erhält  man  an  beiden 
UnterextremitSten  Phänomene  von  spinaler  Epilepsie,  doch  sind  die  Sehnenreflexe 
nicht  sehr  ausgeprägt.  Sensibilität  ungestört,  beiderseits  gleich.  Aura  wegen  des 
psychischen  Znstandes  nicht  eruirbar.  Pat.  ist  stumpf,  lemun^lhig,  gedächtnisslos. 
Oft  Zomanfälle.  Epileptische  Anfälle  später  auch  bei  Tage.  Starkes  Onaniren, 
Kleiderzerreissen  etc.  Tod  mit  21  Jahren  im  Status  epilepticus.  Brombehandlung 
war  erfolglos.  Die  Autopsie  ergab  (zur  Erklärung  des  Syndroms:  Stat  de  mal 
oonvnlsif,  Hemiplegie  und  Idiotie,  Epilepsie)  atrophische  Sclerose  der  ganzen  linken 
Hemisphäre  mit  Yentrikeldilatation ,  Verdickung  des  Schädels  auf  dieser  Seite, 
secundäre  Degeneration  der  corp.  mamill.,  pedunc.  cerebr.  etc.  Zwei  schön  ausge- 
ffihrte  Tafeln  machen  den  Unterschied  zwischen  beiden  Hemisphären  deutlich. 
Ausserdem  fügt  der  Verf.  noch  genaue  vielfältige  Maasse  des  Skelettes  hinzu, 
welche  die  Entwickelungshemmung  der  rechten  Eörperhälfte  gut  illustriren.  Unter 
neinen  Reflexionen  befindet  sich  die  Bemerkung,  dass  bei  dieser  Epilepsie  nach 
dem  ersten  Anfall  oft  eine  Pause  von  Monaten  bis  Jahren  eintritt,  dass  Schwindel- 
anfölle  selten  sind  und  dass  die  Anfälle  serienweise  aufzutreten  pflegen. 

Nr.  XVIII.  „Imbecillite ;  parapl4gie  spasmodique  (Maladie  de  Little)."  21  jähr., 
von  beiden  Seiten  belasteter  Mann.  Die  Mutter  erlitt  während  der  Schwangerschaft 
starke  Blutverluste.  Bei  der  Geburt  war  das  Kind  normal,  nach  11  Monaten  aber 
„so  mager  wie  ein  Stuck  Holz",  und  die  Entwickelung  der  Intelligenz  verzögerte 
sieh.  Nicht  lange  nachher  nahm  die  Mutter  wahr,  dass  das  Kind  anfing  auszu- 
sehen, als  ob  es  ganz  zusammengezogen  würde ;  wenn  man  ihm  die  flectirten  Beine 
streckte,  so  gingen  sie  wieder  in  Flexion  zurück.  Mit  2  Jahren  konnte  es  sich 
nicht  auf  den  Beinen  halten ;  man  glaubte,  es  litte  an  P  o  1 1  'scher  Krankheit.  Erst 
mit  6  Jahren  fing  es  an.  mit  Stütze  zu  gehen;  bis  dahin  war  es  auch  unreinlich. 
Der  Character  war  sanfl,  es  hatte  die  Thiere  gern ;  mitunter  war  es  zornig,  reizbar. 
Es  war  imbecill,  bildungsimfähig.  Die  Untersuchung  im  11.  Jahr  ergab  keine 
Verkrümmung  der  Wirbelsäule,  Anorchydie,  an  den  oberen  Extremitäten  nichts 
Anormales.  An  den  unteren  Extremitäten  alle  Gelenke  in  Halbflexion,  das  Becken 
gegen  den  Oberschenkel  geneigt,  daher  der  Oberkörper  nach  vom  überhangend, 
die  Oberschenkel  flectirt  und  adducirt,  besonders  der  linke,  sich  von  der  Medianen 
entfernend;  der  linke  Fuss  stark  nach  aussen  gewendet,  die  Füsse  platt,  beim 
Gehen  nicht  mit  der  ganzen  Sohle  den  Boden  berührend.  Kauernde  Haltung, 
krummbeiniger,  sehr  mühsamer  Gang.  Dagegen  kann  er  sich  laufend  besser  be- 
wegen, doch  geschieht  es  ebenfalls  schwerfällig,  sodass  man  alle  Augenblicke 
ffirchtet,  er  möchte  faUen.  Die  Bewegungen  sind  behindert  durch  Gontractur  ver- 
schiedener Muskelgruppen  und  Gelenksteifigkeit,  besonders  in  den  Knieen.  Die 
Hnke  Seite  ist  noch  etwas  steifer.  Es  besteht  leichte  Syndactylie  beiderseits  zwischen 
der  2.  und  3.  Zehe.  Die  Kniereflexe  sind  verstärkt,  am  meisten  links;  man  erhält 
durch  Flectiren  des  Fusses  epileptoide  Trepidation  beiderseits,  welche  auch  von 
Zeitachlift  fOr  Hypnotismus  etc.    VUI.  ^ 


306  Referate  und  Besprechungen. 

selbst  auftritt,  je  nachdem  die  Füsse  gelagert  werden.  Es  besteht  Urinincontinens. 
Die  Behandlung  bestand  in  Leberthran,  syrup.  ferr.-jod.,  Bädern,  Douchen  und 
Gelenkübungen.  Die  Störungen  sind  gleich  geblieben.  Ein  ganz  geringer  Pubertats- 
fortschritt  hatte  noch  statt,  die  Anorchydie  verwandelte  sich  in  Cryptorchydie  rechts. 

Nr.  XVI  und  XVII  behandeln  2  Fälle  von  infantilem  resp.  juvenilem  Aleo- 
holismus.  1.  „Alcoolisme;  hcmiplegie  gauche  et  Epilepsie  cons^cutives.  SdtoMe 
atrophique;  pachymeningite  et  meningo-encephalite.*'  Es  handelt  sich  um  einen 
10jährigen  Knaben  mit  erblicher  Belastung,  besonders  durch  Trunksucht.  £r  ent- 
wickelte sich  ordentlich,  war  in  der  Schule  gut.  4  Jahre  alt,  bekam  er  eines 
Abends  Erbrechen.  Er  schlief  darnach  ein,  ward  aber  des  Morgens  bewosstlos  und 
kühl  gefunden  und  blieb  3  Tage  in  diesem  Zustande  unter  fortwährenden  Con- 
vulsionen.  besonders  links.  Der  Mund  war  nach  links  verzogen,  die  ganxe  linke 
Seite  gelähmt,  der  Vorderarm  flectirt,  der  Daumen  eingezogen.  Er  blieb  14  Tage 
zu  Bett,  die  Convulsionen  kehrton  öfters  wieder,  jedoch  mit  stets  längeren  Zwiachen- 
pausen.  Man  kam  endlich  dahinter,  dass  das  Kind  die  Gewohnheit  hatte,  die 
Reste  aus  den  Gläsern  der  Gäste  zu  trinken,  welche  in  dem  Gasthof  seines  Gross- 
vaters verkehrten,  bei  welchem  es  wohnte.  An  jenem  Tag  der  Kramp&nfälle  hatte 
es  über  alles  Maass  getrunken.  Von  dieser  Zeit  ab  blieb  es  in  der  Intelligenz  ver- 
mindert, wurde  interesselos  und  reizbar.  Die  Lähmung  besserte  sich  theüweise. 
nach  15  Monaten  konnte  der  Knabe  wieder  ziemlich  gut  gehen,  doch  blieb  das 
linke  Bein  schwächer;  der  linke  Arm  blieb  ganz  lahm.  Die  epileptischen  Anfalle 
bestanden  fort,  stets  mehrere  an  einem  Tage  mit  ungefähr  Stägigen  Intenrallen. 
In  der  letzten  Zeit  erschienen  sie  fast  täglich.  Ausserdem  traten  auch  Schwindel- 
anfälle  auf  und  Zuckungen  an  der  linken  Seite.  In  allen  Anfällen,  besonders  den 
Schwindelanfällen,  ging  der  Urin  ab.  Die  Krankheit  nahm  progressiv  zu,  fahrte 
zu  psychischer  Degeneration  (Demenz,  Stottern.  Drang,  fortzulaufen  etc.).  Man 
constatirte  linkerseits  eine  geringe  Entwickelungshemmung.  Brom,  Jodeisensymp 
ohne  P^rfolg,  allmählicher  Verfall  unter  Hinzutritt  tuberculöser  Affection.  Die 
Autopsie  ergab  eine  im  Ganzen  verkleinerte  rechte  Hemisphäre  (262  gr  weniger  ab 
links),  die  Sylvische  Furche  breit,  die  Insel  sichtbar,  die  Windungen  um  diesen 
Ort  in  atrophischer  Sclerose,  besonders  die  Centralwindungen.  Die  rechte  Hemi- 
sphäre war  gut  entwickelt,  doch  auch  hier  (wie  auch  links)  eine  ausgebreitete 
Meningo-Encephalitis ,  allerdings  mit  geringerer  Zerstörung  der  Gehimsubstans 
als  links. 

2.  „ Alcoolisme :  in^tabilite  mentale,  crises  hysteriformes,  guSrison.**  Ein  12 jähr. 
Knabe,  dessen  Mutter  an  Migräne  leidet,  sonst  nicht  belastet,  stets  etwas  hoch- 
fahrend, schwer  zu  beliandeln,  ungehorsam,  bekommt  plötzlich  Zomanfalle  auf 
Kleinigkeiten  hin,  schlägt,  droht,  tritt,  zerstört.  Sehr  bald  nach  Beginn  dieser 
Anfälle  ein  hysterischer  Anfall,  ohne  Ursache,  während  des  Mittagessens :  fallt  von 
Stuhl,  Glieder  schlaff,  Bewusstlosigkeit ;  nach  10  31  inuten  Erwachen,  Weinen.  Drei 
Tage  später  dasselbe  auf  einige  tadelnde  Worte  hin;  darnach  noch  des  Geileren, 
aber  ohne  Verlust  des  Bcwusstseins ,  mehr  in  der  Art  der  ZornannUie:  Auch 
Cephalalgie;  kein  Schwindel.  Der  Knabe,  Sohn  eines  Weinhändlers,  hatte  schon 
seit  Langem  unbeobachtet  sich  gewöhnt,  seines  Vaters  Weinsorten  zu  studiren. 
Seit  dem  5.  Jahr  Onanie.  Intellectuell  lebhaft,  malitiös,  ohne  Ausdauer,  reizbar, 
grossspre(!herisch,  \iclwillig,  oppositionsiustig  und  trotz  bestehender  Furchtsamkeit 
geneigt  zu  halsbrecherischen  Grossthaten.    Auf  Widerspruch  ZomanfaUe.    Ein  Zorn- 


Referate  und  Besprechungen.  307 

anfall  gleich  bei  seiner  Aufnahme  verschwand  sehr  bald  bei  Nichtbeachtung.    Unter 
psychischer,  consequenter  Behandlung  wurde  er  nach  3  Monaten  geheilt. 

Betreffs  des  frühzeitigen  Alcoholismus  setzt  hier  der  Verf.  hinzu,  dass  im 
Anfang  der  £ntwickelung8zeit  noch  eine  3.  Form  desselben  beobachtet  werde:  die 
Dipsomanie.  Sie  habe  alle  Symptome  wie  die  beim  Erwachsenen.  Wenn  aber  bei 
diesem  die  Intelligenz  sich  wiederherstellen  könne,  so  werde  die  des  Jugendlichen 
geschwächt  und  stehe  in  der  Gefahr,  vernichtet  zu  werden,  wenn  die  Anfälle  sich 
häuften. 

Zum  Schluss  sei  noch  die  kurze  Tabelle  angeführt,  welche  B.  in  Nr.  XY  zur 
Ulostrirung  der  Schuld  des  Alcoholismus  an  der  Production  von  Degenerirten, 
Id]|^ten,  Epileptikern,  moralischen  Idioten,  Instabeln,  Perserven  etc.  giebt.  Er  sagt, 
er  habe  sich  schon  seit  Langem  mit  diesem  Thema  beschäftigt  und  bei  Erhebung 
der  Anamnese  genau  Nachfrage  gehalten  nicht  nur  bezüglich  der  Eltern,  sondern 
der  Ascendenz  soweit  wie  möglich  und  auch  der  Umstände,  in  denen  die  Conception 
erfolgte,  der  Schwangerschaft  etc. 

Auf  1000  gerechnet  fand  er  Alcoholismus 

beim  Vater  von    .......    471  Kindern 

bei  der  Mutter  von 84         „ 

bei  Vater  und  Mutter  von    ...      65        „ 

fehlende  Angaben  bei 171         „ 

keinen  Alcoholismus 209         „ 

In  67  Fällen  fand  die  Conception  während  Trunkenheit  des  Vaters  statt;  in 
24  anderen  war  es  wahrscheinlich.  Wolff-Münsterlingen. 

BeJfiore,  „Magnetismo  e  ipnotismo^.    Ulrico  Hoepli  editore,  Milano  1898. 

Ein  Octavbändchen  von  377  Seiten  aus  der  Sammlung  „Manuali  Hoepli*'. 
Der  Stoff  ist  in  28  Kapiteln  behandelt,  wozu  noch  ein  Anhang  von  40  Seiten 
kommt. 

In  einer  Vorrede  bemerkt  der  Verf.,  dass  der  animalische  Magnetismus,  nach- 
dem er  von  Charcot  den  Händen  der  Charlatane  entrissen  und  in  das  Dominium 
der  Wissenschaft  versetzt  sei,  überall,  speciell  in  Frankreich,  viele  Publicationen 
hervorgerufen  habe.  Von  Italienern  hätten  das  Wissen  um  diesen  Gegenstand  be- 
reichert Lombroso,  Morselli,  Tamburini,  Seppilli,  Dal  Pozzo,  Silva 
u.  A.  Gleichzeitig  mit  den  Arbeiten  dieser  Autoren  sei  auch  sein  Buch  erschienen 
und  nunmehr  in  3.  Auflage  fast  vergriffen.  Eine  Erneuerung  erscheine  ihm  wünschens- 
werth  einestheils  wegen  der  neuen  Wege,  welche  dem  Experimentalstudium  der 
psychischen  Phänomene  durch  den  Gegenstand  eröffnet  worden  seien,  anderentheils 
inibesondere  wegen  der  zahlreichen  therapeutischen  Anwendungen,  die  er  bei  den 
mannigfachen  neuropathischen  Affectionen  erfolgreich  finde.  Er  folge  im  Ganzen 
der  von  Bernheim  eingeschlagenen  Kichtung,  das  Buch  sei  bestimmt  für  Aerzte 
wie  Laien. 

Im  I.  Kap. :  „Un  po'  di  storia"  (1 — 18)  erwähnt  Verf.  kurz,  wie  schon  zu  den 
Zeiten  des  Plinius  der  Magnet  in  Pulverform  zu  Heilzwecken  in  Anwendung  ge- 
wesen sei  und  wie  er  dann  später  dem  Albertus  Magnus  und  insbesondere  dem 
Paracelsus  zu  mannigfachen  Curen  gedient  habe.  Gilberts  Buch  „Ueber  den 
Magnetismus"  wird  genannt,  der  Jesuit  Kircher,  der  dem  Magnetftmus  in  der  Ge- 
nese der  Naturerscheinungen  eine  grosse  Rolle  zuwies,  als  Erfinder  des  Begriffes 

20» 


308  Referate  und  Besprechungen. 

„Kagnetismus  animalis"  bezeichnet.  Die  Geheimwissenschafl  der  Egypter.  Indier, 
Hebräer,  Galdäer,  Griechen,  Römer  („manus  salutares",  Sybillen)  passirt  Kerne  in 
raschem  Zuge.  Ihre  üebertragung  auf  das  Christenthnm  imd  ihre  theilweiae  Um- 
wandlung in  eine  Teufelswisscnschaft  im  Glauben  des  Hittelalters  wird  weiter  Ter- 
folgt.  Die  Besessenen  und  Ekstatiker,  die  einerseits  dem  Scheiterhaufen  Terfiden, 
andererseits,  wie  Theresa  und  Katharina,  heilig  gesprochen  wurden,  kommen  cor 
Sprache.  Sie  waren  nicht  nur  auf  Seite  der  Katholiken  zahlreich,  sondern  andi 
auf  protestantischer.  So  wurden  7  Ekstatiker  1549  zu  Nantes  lebendig  verbrannt 
l^ie  epidemische  Wirkung  dieser  Zustände  findet  Berücksichtigung  in  Erwähnung 
der  „Trembleurs"  unter  den  Protestanten,  welche  nach  Aufhebung  des  Edicts  Toa 
Nantes  in  Frankreich  verblieben,  und  der  Convulsionäre  von  Saint  Medard.  Mack 
der  helleren  Köpfe  wird  gedacht,  welche  die  Erscheinungen  der  Ifagie,  Wahr- 
sagerei  etc.  auf  ihre  wahren  Ursachen  zurückführten.  So  entging  es  z.  B.  Pom- 
ponazzo,  der  im  15.  Jahrhundert  schrieb,  nicht,  dass  die  heilende  Wirkung  der 
Reliquien  fortbestand,  auch  wenn  sie  durch  Hundsgebeine  ersetzt  wurden,  es  be- 
durfte nur  des  festen  Vertrauens.  Natürlich  kam  sein  Buch:  „De  naturalium  effeo- 
tuum  admirandorum  causis,  seu  de  incantationibus"  auf  den  Index.  Mit  den  Be- 
sessenen erschienen  natürlich  die  Exorcistcn;  und  waren  nicht  genug  Besessiene 
vorhanden,  so  wurden  solche  künstlich  geschaffen  aus  bestochenen  feilen  Dimen. 
Es  gab  in  Frankreich  im  Jahre  1600  300000  Hexen!  Sie  fielen  in  Liethargie,  Cata- 
leppie  und  Somnambulismus.  Die  Exorcisten  machten  gute  Geschäfte,  bis  Richelieu 
dem  Treiben  ein  Ende  machte.  Nach  Erwähnung  der  Amulette  etc.  als  Mittel  der 
Suggestion  und  der  Omplialoscopisten  des  Athos  kommt  Verf.  auf  die  merkwürdigen 
indischen  Fakire,  über  die  er  sich  etwas  eingehender  verbreitet,  ohne  eine  Er- 
klärung zu  geben.  3fit  dem  Irländer  Greatrakes.  der  durch  magneüsche  pasies, 
und  mit  Joseph  Gassner,  der  durch  blosses  Berühren  heilte,  schliesst  das  Kapitel 
Kapitel  II,  S.  19 — 30,  beschäftigt  sich  mit  Mesmer  und  seiner  Erklämng 
des  animalen  Magnetismus  als  eines  universalen  Vitalfiuidums  und  enthält  die 
wechselreiche  Geschichte  seines  Lebens.  Sein  Geburtsort  heisst  nicht  Veilner,  mt 
der  Autor  schreibt,  sondern  Weiler  bei  Stein  a.  Rh.,  und  sein  Tod  erfolgte  nicht 
zu  Mcsburg,  sondern  zu  Meersburg  a.  B.,  welcher  Ort  dem  Ref.  gerade  gegenüber- 
liegt, während  er  schreibt.  Als  berühmterer  und  glücklicherer  Zeitgenosse  Mei- 
mers  wird  der  Graf  von  Cagliostro  genannt,  der  als  Josef  Balsamus  zu  Palermo 
geboren  war  und  1790  zu  Rom  starb.  Mesmer  und  seinen  Schülern  entging,  nach 
Verf.,  der  Zustand  des  Somnambulismus  bei  ihren  Objccten,  die  ersten  Falle  hier-- 
von  beobachtete  der  Marquis  von  Puys^gnr  im  Jahre  1784;  die  Phänomene  der 
Catalepsie  beobachtete  1786  Pet^tin.  Nach  der  Zeit  der  französisciien  Revolution 
war  im  Jahre  1815  der  Abt  Faria  wieder  der  erste,  welcher  die  Aufinerksamkait 
Europas  auf  den  ^lagnctismus  lenkte.  £r  verlegte  dessen  Ursache  allein  ins  Ob- 
ject,  und  da  er  durch  blosse  Suggestion,  durch  den  Befehl  einzuschlafen,  magneti- 
sirte,  so  verschwand  nach  ihm  der  ganze  grosso  Apparat  Mesmers  und  der  Met* 
moristen.  Die  Studien  wurden  von  anderen  fortgeführt,  und  es  erschienen  die 
Arbeiten  von  D^leuze,  Bertrand,  Georget,  Du  Potet  etc.  Nachdem  im 
Jahre  1827  die  französische  Akademie  der  Medicin  einen  Bericht  Hussons  über 
den  Gegenstand  weder  angenommen,  noch  auch  abgelehnt  hatte,  wurde  im  Jahre 
1837  das  Urtheil  Dubois'  von  ihr  angenommen,  welcher  erklärte,  dass  der  som- 
nambule Zustand  eine  Illusion  sei. 


Referate  und  Besprechungen.  309 

Kap.  m,  S.  30—35,  handelt  von  Braid  und  seinen  Erklärungen  des  Magne- 
tismus, sowie  der  Anwendung,  die  er  zu  Heilzwecken  davon  machte.  Zu  gleicher 
Zeit  mit  ihm,  jedoch  Ton  ihm  unabhängig,  trat  in  Amerika  (irimes  auf  mit  einer 
Electrobiologie  und  demonstrirte  auch  die  Wirkung  der  Suggestion  im  Wach- 
zustand. Ihm  folgte  in  Deutschland  die  odomagnetische  Theorie  von  Keichen- 
bach  und  bald  erschienen  in  Frankreich  die  Arbeiten  von  Li^bault,  Riebet 
und  Gharcot  und  in  Deutschland  die  von  Heidenheim,  Grützner, 
Berger  u.  A. 

Kap.  IV,  S.  36—40,  enthält  die  Definitionen  von  Braid,  Dal  Pozzo, 
Richer,  Morselli  (experimentelle  Neurose).  Das  Wort  „Hypnotismus"  be- 
schränkte Braid  auf  die  Fälle  mit  Amnesie.  Die  von  Lidbault  angeführte 
Procentzahl  der  Hypnotisirbaren  hält  Verf.  für  zu  hoch,  doch  sind  auch  nach  ihm 
die  refractären  bei  weitem  in  der  Minderzahl.  Das  weibliche  Geschlecht  ist  mehr 
prädisponirt  als  das  männliche,  schon  wegen  der  grossen  Häufigkeit  der  Hysterie 
bei  den  Weibern.  Relativ  jugendliche  Personen  sind  ebenfalls  leichter  hypnotisirbar, 
ebenso  Kinder,  doch  sollte  die  Anwendung  bei  letzteren  beschränkt  sein,  weil  das 
noch  in  der  Entwickelung  begriffene  Nervensystem  in  Schaden  kommen  kann 
(Rieh er).  Nach  Bremaud  wird  die  Disposition  erhöht  durch  Epilepsie,  Chlorose, 
nervöse  Schwäche  nach  sexuellen  Excessen,  Alkoholismus,  sowie  durch  das  blinde 
Vertrauen  zur  Macht  des  Hypnotisirenden,  durch  guten  Willen  und  Aufioaerksam- 
keit.  Hinderlich  sind  Zustände,  welche  die  Concentration  des  Gehirns  verhindern, 
wie  gewisse  Cerebralleiden ,  z.  B.  Idiotie,  Wahnsinn,  Hypochondrie,  progressive 
Paralyse. 

Kap.  V,  S.  40—45,  schildert  die  Methoden,  um  den  hypnotischen  Schlaf  zu 
erlangen.  10  von  einander  nicht  sehr  verschiedene,  auf  Fixation  und  Passes  be- 
ruhende Arten  werden  angeführt,  als  erste  die  von  Deleuze,  auch  die  von  Braid, 
Charcot  und  Hansen,  und  zuletzt  die  Suggestion. 

Kap.  VI,  S.  46 — 50,  spricht  zunächst  von  den  Bedingungen,  welche  erfüllt 
sein  müssen,  wenn  die  Hypnose  gelingen  soll,  wie  Stille,  richtige  Stimmung,  An- 
wendung verschiedener  Methoden  bei  verschiedenen  Individuen  etc.  Als  ein  Bei- 
spiel von  „Hypnose  aus  Irrthum*'  wird  die  Erzählung  Braid s  über  seinen  Freund 
Walker  angeführt,  welcher  beim  Hypnotisiren  selbst  in  tiefen  Schlaf  verfiel, 
während  derjenige,  welcher  hätte  schlafen  sollen,  wach  blieb.  Länger  als  20  bis 
90  Minuten  solle  man  den  Versuch,  einzuschläfern,  nicht  ausdehnen,  sondern  lieber 
auf  gelegenere  Zeit  warten.  Danach  spricht  Verf.  von  dem  bald  plötzlichen,  bald 
Isngsameren  Uebergang  vom  Wachen  in  den  Schlaf,  den  je  nach  den  angewendeten 
Methoden  verschiedenen  Phänomenen  des  geschaffenen  Zustandes,  von  der  Länge 
des  künstlichen  Schlafes,  dass  er  meist  kürzer  sei  als  normal,  selten  länger  (16  bis 
18  Standen),  und  von  dem  Rapport  zwischen  Object  und  Subject,  wofür  LiSbaults 
Erklärung  angeführt  wird. 

In  Kap.  VII,  S.  61—63,  treffen  wir  wieder  Historisches  und  zwar  über  Auto- 
bypnose  und  „morbus  hypnoticus".  Von  beiden  Zuständen  giebt  Verf  Beispiele  und 
trennt  sie  ab  vom  gewöhnlichen  Noctambulismus.  Der  Morbus  hypnoticus  entsteht 
ohne  Beziehung  zu  einer  äusseren  Ursache.  Es  scheint^  dass  Socrates  solche  Zu- 
stände hatte,  eine  aus  Plato  citirte  Stelle  soll  es  beweisen.  Die  3  Fälle  von  Dros- 
dow  betreffen  neuropathische  Individuen,  ein  anderer  Fall  ist  von  Vizioli  be- 
schrieben, ein  weiterer  von  Lombroso;   folgen  noch  2  Fälle  von  Luys  und  ein 


310  Referate  und  Besprechungen. 

Hinweis  auf  Kichers  „grande  hysterie".  woraus  auch  noch  einige  Falle  angeführt 
werden.  Den  Schluss  bildet  der  von  P  feudi  er  aus  Wien  beschriebene  Fall  Ton 
tiefer  Lethargie,  die  dem  Tode  ähnlich  sah.  Verf.  fugt  hinzu,  dass  der  Morbos 
hypnoticus  wolil  nur  bei  neuropathischen  Personen  beobachtet  werde,  insbesondere 
bei  hysterischen  und  epileptischen;  er  unterscheidet  davon  diejenigen  Fälle,  in 
denen  öfters  hypnotisirte  Individuen  die  Neigung  beibehalten ,  von  selbst  eina- 
schlafen. 

Kap.  VIII,  S.  63 — 71,  enthält  die  Interpretation  der  hypnotischen  Phänomene 
nach  Mesmer,  Braid,  Humpf,  Bernheim,  Schneider,  Berger,  Heiden- 
heim, DepinCf  Espinas,  Barety,  Dal  Pozzo. 

Kap.  IX,  S.  71 — 75,  enthält  die  Beobachtungen  von  Hypnose  bei  Thieren. 

Kap.  X,  S.  75—103,  bringt  die  Charcot'sche  Auffassung  des  Hypnotismni, 
die  Trennung  in  grossen  und  kleinen  Hypnotismus,  in  die  3  Stadien  der  Lethargie. 
Catalepsie,  Somnambulic  .  . . ,  die  Bekämpfung  dieser  Lehre  durch  Bernheixn 
und  Beaunis  und  einen  Zusatz,  welcher  besagt,  dass  heutzutage  Niemand  mehr 
an  Charcots  Einthcilung  festhalte.  £s  folgt  darauf  die  Phänomenologie  des 
Hypnotisirten  bez.  Sensibilität,  Muskelsinn.  Muskelkraft.  Gesicht,  Gehör,  Ge- 
ruch, Erinnerung,  die  etwas  ausführlicher  behandelt  werden,  danach  die  Er- 
klärungsversuche von  Beaunis  und  Lombroso  betreffs  des  Zeitschätzungs- 
vermögcns  der  Hypnotisirten,  die  Beschreibung  des  Verhaltens  des  Intellects  und 
der  aft'ectiven  Fähigkeiten,  und  zuletzt  noch  einiges  SpM;cielle  über  den  catalep- 
tischen  Zustand. 

In  Kap.  XI,  S.  104 — 109.  wird  die  Frage  der  Simulation  aufgeworfen,  beson- 
ders betreffs  der  Hysterischeu  wogen  deren  Neigung  zu  Lüge  und  Täuschung.  Ali 
Eutlarvungsmittel  dienen  die  Zeichen  der  Ermüdung  an  Musculatur  und  Athmnng, 
wenn  das  Individuum  cataleptisch  erscheinen  wull.  ferner  die  Unmöglichkeit,  je^ies 
Anzeichen  von  Schmerz  zu  unterdrücken,  die  Empfindung  der  Complementärfarben. 
Als  ein  gutes  Mittel  führt  Verf  auch  das  Verhalten  der  Pupillen  bei  Suggerining 
von  Hallucinat innen  an;  lässt  man  die  halluc.  Gegenstände  näher  und  ferner  rucken, 
so  verändert  sich  beim  Simulanten  die  Pupillcnweite. 

Kap.  XII,  S.  109 — 125,  handelt  von  der  Eascination  (Captation).  Von  anderen 
Autoren  als  ein  Zwischenstadium  der  Hypnose  angesehen,  ist  sie  nach  Verf.  etwas 
Besonderes  für  sich,  zwar  verwandt  mit  der  Hypnose,  doch  nicht  identisch,  denn 
es  fehlt  der  Schlaf.  Morselli  nennt  sie  einen  „status  hypnoides^.  Während  des 
sich  an  ihre  Erscheinung  knüpfenden  Mysticismus  widmet  ihr  Verf.  relativ  viel 
Kaum.  In  diesem  Kapitel  handelt  es  sich  um  das  Historische.  Schon  den  Alten 
(Aristoteles,  Plinius,  Plutarcli)  war  der  Einiiuss  eines  Individuums  auf  andere  in 
Form  der  Fascination  bekannt;  sie  glaubten,  dass  vom  Subject  ein  Fluidum  ans- 
uche. In  der  Mytholopfic  erscheint  sie  als  Meduse.  Der  Cimber,  der  den  Marios 
niclit  töten  konnte,  stand  unter  dem  Einduss  der  Fascination.  Auch  auf  Thiere 
konnten  Menschen  diesen  Einfiuss  ausüben;  es  wird  von  Pythagoras  erzählt,  dass 
er  einen  Adler  in  solcher  Weise  bändigte.  Auch  Beispiele  von  Fascination  von 
Thieren  durch  Thiere  werden  angefiihrt  (Schlange  und  Vogel,  die  Sage  von  der 
fascinircnden  Macht  der  Kröte,  der  von  Tissandier  in  der  „Nature*'  erzahlte  Fall 
von  2  Eidechsen  etc.).  Aus  dem  Mittelalter  werden  Stellen  der  Schriften  von 
Leonardo  Vairo  und  Olaus  Magnus  citirt.  Nicht  nur  der  Blick,  auch  die  Stimme 
kann  diesen  Einiiuss  ausüben,  daher  die  sogenannten  „magischen  Gesänge**,  „incan- 


Referat«  und  Besprechungen.  311 

tationes*'  (Sirenen  in  der  Mythologie).  Auf  der  Beobachtung  der  Erscheinung  der 
Fascination  beruht  der  Aberglaube  vom  „bösen  Blick*'  (n™^^  occhio",  neapoL 
Jettatura*).  Das  Wort  „Fascination"  ist  abgeleitet  Ton  „Fascinus",  Beiname  des 
Priap.  Um  vor  Unglück  und  bösem  Einfluss  zu  bewahren,  wurde  dieser  Gott  an- 
gerufen, sein  Glied  verehrt  und  an  vielen  Orten  zum  Schutze  abgebildet.  Nach 
unserem  Autor  deuten  darauf  hin  auch  die  vielen  Abbildungen  und  Nachbildungen 
dieses  heiligen  Gegenstandes,  die  bei  den  Ausgrabungen  in  Pompeji  gefunden  worden 
sind.  Wie  indes  dem  Referenten  scheint,  hatten  sie  nicht  den  oben  genannten 
Zweck,  das  Böse  von  dem  Orte  fern  zu  halten,  wenn  damit  nicht  etwa  der  Ehe- 
mann gemeint  war;  denn  diese  Kunstwerke  hatten  eine  mehr  oder  weniger  ver- 
borgene Stätte  in  den  Boudoirs  der  feinen  Damen.  Wie  Ref.  sich  selbst  tiberzeugen 
konnte,  sind  es  theilweise  obscöne  Gemälde,  welche  die  verzwicktesten  Stellungen 
beim  Coitus  darstellen,  theilweise  Gebrauchs-  und  Schmuckgegenstände  in  Form 
eines  oft  abenteuerlich  gestalteten  Penis.  Die  in  der  Stuttgarter  Bibliothek  befind- 
liche Copie  des  „Mus^e  royal  des  Naples:  peintures  bronzes  et  statues  ^rotiques  du 
cabinet  secret**,  dessen  Original  sich  in  Paris  befindet  —  es  soll  die  einzige  Copie 
sein  —  lässt  keinen  Zweifel  über  den  Zweck  dieser  Machwerke  aufkommen,  die 
wohl  nur  der  Ausdruck  der  sexuellen  und  überhaupt  nervösen  Ueberreizung  und 
Schwäche  und  der  Degeneration  in  jenem  Zeitalter  sind.  Auf  den  alten  Glauben 
von  der  bewahrenden,  schützenden  Kraft  des  Phallus  führt  der  Autor  auch  die  Be- 
wegung der  Hand  nach  dem  eigenen  Gliede  hin  zurück,  welche  noch  heutzutage 
im  Gebrauch  sein  soll,  wenn  Jemand  sich  vor  dem  bösen  Blick  schützen  will.  Die 
Alten  hatten  noch  andere  Arten  von  Schutzhandlungen;  so  schreibt  Aristoteles: 
„Ne  vero  fascino  laederer,  ter  in  gremium  meum  despui",  Tibull:  „Despuit  in  moUes 
et  sibi  quisque  sinus",  Plinius  und  Martial:  „Et  digitum  porrigito  medium".  Die 
gleiche  Bedeutung  soll  das  moderne  „far  le  castagne"  haben,  wobei  die  Hand  ge- 
schlossen wird,  sodass  der  Daumen  zwischen  Zeige-  und  Mittelfinger  hervorschaut. 

Kap.  Xni,  S.  125 — 134,  handelt  von  der  Fascination  in  neuerer  Zeit.  Danach 
war  Br^maud  der  erste,  der  dieses  Phänomen  genauer  untersuchte.  Verf.  giebt 
dessen  Beschreibung,  wonach  es  nichts  anderes  sei,  als  man  von  der  Wirkung  des 
Schlangenblicks  auf  den  Vogel  beobachtet  hat.  Das  Object  erwacht,  respective 
wird  wieder  mobil  auf  Anblasen.  Denn  das  Hauptsymptom  ist  die  spontane  Im- 
mobilität. Diese  paart  sich  mit  Echopraxie,  d.  h.  die  Befallenen  stehen  unter  dem 
Zwang,  alles  nachzumachen,  was  der  Fascinierende  vormacht,  sogar  selbstgefähr- 
liche Handlungen.  Später  herrscht  mehr  oder  weniger  vollständige  Amnesie.  Nach 
Bremaud  sind  nur  Männer  in  diesen  Zustand  zu  versetzen,  Frauen  fallen  wegen 
ihrer  grösseren  Impressionabilität  direct  in  Catalepsie.  Je  länger  übrigens  der 
Faacinationszustand  dauert,  um  so  mehr  hat  er  die  Neigung>  in  den  cataleptischen 
überzugehen,  oft  schon  nach  wenigen  Minuten  und  plötzlich.  Bremaud  hält  die 
Fascination  für  das  1.  Stadium  in  der  hypnotischen  Reihe.  In  einem  Anhang 
dieses  Kapitels  kommt  Verf.  auf  die  Schaustellungen  zu  sprechen,  welche  ein  ge- 
wisser Donatus  vor  mehreren  Jahren  in  Mailand  und  Turin  gab,  die  viel  von  sich 
reden  machten  und  in  der  Hervorrufung  von  Fascinationszuständen  bestanden;  ein 
Veto  des  obersten  Gesundheitsrathes  machte  ihnen  ein  Ende. 

In  Kap.  XIV,  S.  134 — 141,  folgt  die  Beschreibung  folgender,  der  Fascination 
ähnlichen  Zustände:  des  Latah  der  Malaien,  des  Myriachit  in  Sibirien  und  des 
Jumping  in  Nordamerika. 


312  Referate  und  BeepredhoDgeiL 

In  den  7  folgenden  Kapiteln  ist  die  Suggestion  behandelt.  Gharcot  folgend, 
sagt  Verf.,  dass  eine  Wirkung  der  Suggestion  nur  im  cataleptischen  nnd  aomnam- 
bnlen  Zustand  möglidi  sei;  ausserdem  im  Wachzustand.    Demgemass  handelt 

Kap.  XV,  S.  141—148,  von  der  Suggestion  in  der  Catalepsie.  Sie  geschieht 
auf  dreierlei  Art:  1.  durch  den  Muskelsinn,  2.  durch  das  Gesicht,  3.  durch  du 
Wort.  Hauptsächlich  kommt  in  diesen  Zustand  Nr.  1  in  Betracht;  es  folgt  davon 
eine  kurze  Schilderung  nnd  hierauf  die  Bemerkung,  dass  die  Suggestion  durch  Ge- 
sicht und  Wort  in  ihrer  Wirkung  hier  zusammenfalle  mit  der  im  somnambulen  Za- 
stande  angewendeten. 

Kap.  XVI,  S.  149 — 166,  betrifft  die  Suggestion  im  somnambulen  Znstand  und 
zwar  die  intrahypnotische.  Von  Gassner  und  Faria  unbewusst  angewendet^  gab 
Braid  ihrer  Anwendung  eine  grosse  Ausdehnung.  Nach  einigen  kurzen  Bemer- 
kungen über  Suggestionen  durch  Muskel-  und  Gesichtssinn  geht  Verf.  zur  Schil- 
derung der  Verbalsuggestion  über.  Er  spricht  von  suggerirten  Handlungen,  LUfc- 
mungen.  Sensibilitätsänderungen,  Hallucinationen ,  von  negativen  Hallucinationen, 
von  der  Amnesie,  von  der  Objectivation  des  Typus  etc.,  alles  im  Sinne  von 
Bernheim,  indem  er  zumeist  diesem  Autor  und  Riebet  Beispiele  entnimmt 
Danach  folgt  noch  in  Kürze  einiges  über  die  Wirkung  der  Musik  auf  den  Hypno- 
tisirten.  Bei  Besprechung  der  suggerirten  Hallucinationen  erwähnt  der  Autor,  dass 
diese  bei  manchen  Objecten  nach  dem  Erwachen  fortdauern,  aus  welchem  umstand 
schwere  Schädigungen  entstehen  können;  daraus  folge,  dass  man  die  Hallacination 
hinwegsuggeriren  muss,  bevor  man  die  Person  weckt. 

Kap.  XVII,  S.  166—199,  befasst  sich  mit  den  posthypnotischen  Suggestionen. 
Sie  werden  eingetheilt  in  vier  Kategorien:  1.  insofern  sie  die  Sinne  betreflfien, 
2.  motorische,  3.  psychische,  4.  auf  die  vegetativen  Functionen  wirkende.  Es 
folgen  Beispiele  und  specielle  Bemerkungen  besondere  von  Dal  Pozzo,  Kicher, 
Binet,  Ferä.  Aus  einem  Experiment  Dal  Pozzos  an  emem  jungen  Burschen, 
den  er  durch  Suggestionen  an  den  Strassen  der  Stadt  irre  gemacht  hatte,  ist 
bemerkenswcrtb,  wie  der  Junge  durch  verschiedene  Collisionen.  die  er  dadurch 
hervorrief,  in  einen  aufgeregten  Zustand  gerieth,  der  die  Gefahr  psychischer 
Erkrankung  nahe  legte.  Durch  erneute  Hypnose  mit  bezl.  Gegensuggestionen 
wurde  er  wieder  hergestellt  und  Amnesie  erzielt.  Auch  bezL  der  negativen  Halla- 
cination werden  Experimente  Dal  Pozzo's  angeführt.  Auch  hier  kam  es  zu  ge- 
fährlichen Erscheinungen  in  Folge  des  Schreckens  vor  scheinbar  wunderbaren  Situa- 
tionen. Deshalb  ermahnte  vorher  Dal  Pozzo  seine  Medien  ausdrücklichst,  dass 
sie  sich  über  nichts  wundern  sollten,  was  sich  auch  ereigne.  Die  Interpretation 
der  negativen  Hallucination  geschieht  nach  P.  Rieh  er:  die  W^irkung  des  hinWeg- 
suggerirten  Objccts  auf  den  äusseren  Sinn  bleibt  bestehen,  nur  dringt  der  Eindruck 
nicht  ins  Bewusstsein.  Zum  Beweis  wird  der  Complementärfarben- Versuch  angeführt. 
Im  Verlauf  weniger  Tage  pHegt  die  negative  Hallucination  von  selbst  zu  schwinden, 
das  Object  wird  gesehen  und  schliesslich  erkannt.  Verf.  kommt  in  diesem  Kapitel 
auch  auf  die  criminelle  Suggestion  zu  sprechen  und  bringt  Versuche  von  Gilles 
de  la  Tourette.  Er  warnt  vor  zu  häufiger  Wiederholung  derselben  bei  einer 
Person,  da  daraus  wahre  criminelle  Gewohnheiten  entstehen  könnten.  Es  folgt  nun 
eine  kurze  Besprechung  der  psychischen  Suggestion,  dabei  ein  schöner  Fall  von 
Dal  Pozzo,  danach  einiges  über  das  Suggeriren  von  Träumen  mit  der  Bemerkung, 
dass  solche  Träume  sich  von  anderen  unterscheiden  durch  grössere  Klarheit,  mehr 


Referate  und  Bespreohungfen.  318 

ZasammeDhang  und  ein  gewisses  logisches  Band  zwisolien  den  einzelnen,  wenn  auch 
wunderlichen  Scenen.  Nach  einigen  Bemerkungen  über  die  suggestive  BeeinHuisung 
der  Gefühle  kommt  zum  Schluss  die  Wirkung  der  Suggestion  auf  die  Tisooralo 
Sensibilität,  Hunger,  Durst,  Uriniren,  Menstruation,  Toinporatur  eio. 

In  Kap.  XYIII,  S.  200-204,  erhalten  wir  eine  thoilwcise  Einschränkung  des 
▼orher  Gesagten  bezl.  der  Macht  der  Suggestion  auf  den  Willen,  die  als  vollkommen 
dargestellt  wurde.  Hier  werden  Fälle  von  Pitres  und  Eichet  angeführt,  In 
welchen  der  Suggestion  Widerstand  entgegengesetzt  wurde.  Ho  erklärte  ein  Oliject 
von  Pitres  —  der  einzige  Fall  in  seiner  Art  — ,  dass  sie  sich  nicht  eher  werde 
wach  machen  lassen,  bis  er  eine  minder  unbequeme  Suggestion  gegeben  Imben 
würde;  er  wollte  sie  nämlich  24  Stunden  aphasisch  machen,  sie  ging  aber  nur  auf 
5  Minuten  ein. 

Kap.  XlXf  S.  204 — 206,  handelt  von  der  Wachsuggestion.  Nach  Verf.  gehört 
in  der  Regel  dazu,  dass  das  Object  sensibel  und  bereits  öftere  Male  dem  hypiio- 
tiachen  Znstand  unterworfen  gewesen  sei;  allerdings  seien  auch  einige  Beispiele  «tr* 
folgreicher  Wachsnggestion  bei  früher  nie  hypnotisirten  Objccten  bekannt.  Mau 
kmnn  durch  Wachsuggestionen  Modiücationen  der  Sensibilität,  der  Motilität,  Hallu' 
cmationen  etc.  herbeiführen;  schwieriger  Illusionen  wegen  <ler  Wirkung  der 
ioaeren  Umgebung,  welche  richtig  percipirt  wird.  Es  ist  demna/;h,  «agt  V«;rf.,  der 
HTpnotismos  nicht  die  nothwendige  Vorbedingung  der  Suggestion.  Nach  15  e  a  u  n  i  s 
ist  der  Zustand,  in  dem  die  Wachsuggestion  wirkt,  weder  ein  hypnotisch';r,  n'K:h 
wacher.  £r  unterscheidet  ihn  vom  hypnotischen  Schlaf  durch  folgende  Merk* 
:  das  Object  scheint  ganz  wach,  hat  die  Augen  offen,  i«t  in  KapfK/rt  mit  dttr 
elL  erinnert  fich  sehr  gut  an  das  was  man  um  es  her  sagt  und  thut  uwi 
iJka  was  es  selbst  gesprochen  und  gethan  hat:  die  Erinnerung  fehlt  nur  in 
einzigen  Punkt,  nämlich  bezL  der  gegebenen  Suggestion;  und  hierdurch  n^f 
dnrcli  Kfine  Docilitit  nähert  sich  dieser  Zustand  dem  somoambuien.^ 
Kap.  XJL  S.  201—219,  betrifft  die  mentale  Suggestion—Gedanken üUrrtragung. 
ErwaLrung  der  3  indischen  Ljogmen-Schulen.  welche  über  weite  Knif'trtmuü 
aui:  «aaiiier  im  hrpriOtiMrben  Zustand  in  Verbindung  stehen  sollen ,  ffru^r  dfrr 
T«j  Camberland,  Siccard.  Preyer.  k^/mmi  Verf.  liauptwi/^blMi 
dit  V€r^^ti3t2iciiangen  von  P.  Janet  im  Aogost  lÄß  in  der  Itfeiue  phii//' 
«fttnupfr  rü  tftnfciüii  und  fuhrt  sie  thellwel^se  ac..  Er  Mrtzt  rorh<fr  aiAt^ifau^i^T^ 
4am  cji  Zal]  ^er  Bc^obacLtungen  bisher  za  k^ein  »ei  und  di«seil>en  zj  wenig  t'^ßt*' 
ttvlor.  «■>!.:  -itiier  k"'ii.e  m^n  ^n-Anlich  noch  nicht  ^mu  «Jeiiken,  <i*:u  ^ ß*-yi*:ut\%sA 
mm  wiMmsö-iiftLc-ii  zd  betr&ch^en. 

1*5.  XXL  S-  21^-&L  haiideh  roit  dem  M*^nfcti*T£A»  der  Hoj/j^ettj'/n  ms^-I 
iMwr^  Zwaaiaü^riigeiasr:.  unrtrfi^^eii  ci*:  Sui^ger»>>Jt«T;*  dem  Oeterz  der  A^t'/* 
UL  üvc  läiiBsi  Oiä  Bewe^Ligei«  d,  k  Ideen  »oggerirei»  I/ie^-n  ^itc  Be^eyvngen. 
imi  lkf^*!^mt^*sL  Fu^peirti.  l^tv^jrni^*^  "ozii  li*nei;,  Ui.ter  dem  ÜLß*sf  o^  lH**Kf 
CiH—trvg.  wvt  Sjt  bJK*eT  W/tA'i-iri^rt*  lii^nikiitnid*:  TerrTi  ';:truy igertjvi;  J$e*«<p.t 
sqpvSiin  —  t'^ql  14l.  Jli^  Xefitt  i^if  1.  Jai^uj  1/tö.  hn  Aü^esuejJLiei.  ««<m  jauai^ 
4biB  Ulf  ^mgf'Mfti'.iE  i«sr  e^e  ;^^~«iicK  l*b»'iLTiLijr'e  &:*  dibuen:  z.  !>,  xtva  om  H-'V* 

i'j^nflnwä»?--  Ai^iiüe  e^  Z^lt  iaxc.   M'-cjfit*-  tut  1  Jatr,  -*"<«,  Eri'^  g 
.  tBoa  •rTr«i:  e:i»t  ge>^-eiiavie  TTraktiit  sie  ■■^»«ae,'',    */^  die  I>»M:r  Jk&re  iwiijf 
jHMpisa.  jii.  T-eua  luai;  lüdLi  ^e::is,L:  I>fc.  Pizz^  fLLr  ejit»*  FaX!  suu  iXi  «eu'.üi^ns. 


314  Referate  und  Besprechung^en. 

Kap.  XXII,  S.  224—229  ist  betitelt:    „Analogien   zwischen  physiologischem 
und  künstlichem  Schlaft.    Sie  sind  nach  Verf.  nicht  ganz  identisch,   obgleich  ge- 
wisse Analogien   zwischen   beiden  bestehen.     „Man   kann,**   so  sagt  er  mit  einer 
Reihe  yon  Autoren,  „den  hypnotischen  Schlaf  betrachten  als  ein  Uebergangsstadimn. 
als    ein   Verbindungsglied    z^^ischen    Wachen  und   physiologischem   Schlaf.      Dann 
hätten  wir  folgende  Abstufung:  Intellect,  Bewusstsein,  Wille  in  voller  Thätigkeit 
(Wachen);  begrenzte  Thätigkeit  einiger  geistigen  und  körperlichen  Functionen,  Fehlen 
der  ControUe  der  höheren,  die  Ideen  ordnenden  Centren  (Träume) ;  mehr  oder  wenigwr 
geschwundenes  Bewusstsein   und  Hypo-  bis  Abulie.   die  seelischen  Functioiien  auf- 
gehoben, doch  auf  Reize,  wie  hier  die  Suggestion,  im  Stande,  aus  ihrem  Torpor 
zu  erwachen  und  sich  in  ihrer  stärksten  Wirksamkeit  zu  zeigen  (hypnotischer  Som- 
nambulismus);  relative  Bewiisstlosigkeit  imd  absolute  Abulie,   Aufhebung  der  will- 
kürlichen Motilität  und  der  intellectuellen  Wirksamkeit,   Triumph  des  vegetativen 
Lebens  („physiologischer  Schlaf)'^*    Diese   Auffassung  lässt  also   die  Annahme  der 
3Ieinung  Gilles  de  la  Tourette'a^^nicht  zu,   welcher  den  natürlichen  Somnam- 
bulismus als  Vorläufer  der  Hysterie  ansieht  und  den  künstlichen  als  Transformation 
derselben.    Der  erstere  Fall  kann  zwar  statthaben,  für  den  zweiten  aber  muss  bemerkt 
werden,   dass  absolut  gesunde  Individuen  oft  leichter  in  somnambulen  Zustand  zu 
bringen    sind,    als   hysterische.     Xoch   folgt   eine   kurze  Erwähnung  der  Versuche 
31  OS  SOS  über  das  Verhalten  der  cerebralen  Circulation  während  des  physiologischen 
Schlafes  und,  im  Vergleiche  dazu,  derjenigen  von  Salvioli  und  Tamburini  und 
Seppilli  über  die  cerebrale  Circulation  während  des  hypnotischen  Schlafes.    Der 
physiologische  Schlaf  setzt   eine    Herabminderung  der   cerebralen   Blutmenge  und 
eine  Vermehrung  der  peripheren.     Umgekehrt   sollte  nach   Salvioli   im   hypno- 
tischen  die   cerebrale  Blutmenge  zunehmen,   derselbe   also   einen  Erregungszustand 
der   nervösen   Centren    darstellen    und    der  physiologische   die   Ruhe   des   Gehirns. 
Tamburini  und   Seppilli  constatirten  aber,   wenigstens  für  die  Lethargie,  das 
gleiche  circulatorische  Verhalten  wie  M  o  s  s  o  für  den  physiologischen  Schlaf. 

Kap.  XXIII.  S.  229—235.  handelt  von  „Wille,  Bewusstsein,  Impulsen  beim 
Hypnotisirten", 

Kap.  XXIV,  S.  236-241,  von  Zuständen,  welche  mit  dem  thierischen  Magne- 
tismus verwandt  sind.  Als  solche  passiren  hier  mit  Hervorhebung  der  ähnlichen 
wie  der  verschiedenen  Symptome:  Hysterie,  Catalepsic,  Narcolepsie,  Thomsen'sche 
Krankheit,  artiticiellcr  Narcotismus  (Alkohol,  Opium,  Belladonna  etc.)  und  die 
Träume. 

In  Kap.  XXV,  S.  241 — 258,  werden  die  allfälligen  Nachtheile  des  Hypnotismos 
besprochen.  Hier  nimmt  Verf.  einen  mittleren  Standpunkt  ein  zwischen  den  Autoren, 
welche  allzu  sorglos  sind,  und  denjenigen,  welche  die  Scliädlichkeit  übertreiben; 
doch  gewinnt  man  den  Eindruck,  als  ob  Verf.  etwas  mehr  den  letzteren  zuneige. 
Er  kommt  zunächst  auf  die  „Mesmerscnen  Crisen"  zu  sprechen,  die  im  Grunde 
nichts  als  eine  Erweckung  der  Hysterie  aus  ihrem  latenten  Zustand  darstellten,  und 
geht  danach  über  zu  einer  Besprechung  der  Schaustellungen  des  schon  früher  er- 
wähnten Donatus,  bei  denen  ebenfalls  eine  Reihe  von  bösen  Zufällen  beobachtet 
wurde.  Lombroso  allein  l)eobachtete  deren  16,  sie  werden  kurz  hier  skizzirt; 
ebenso  einige  von  Charpignon,  worunter  einer  von  Suicid. 

Wenn  man,  sagt  Verf.,  mit  Älorselli  übereinstimmt,  dass  die  Hypnose  keine 
Krankheit  sei,  so  muss  sie  doch  als  ein  besonderer  Zustand  angesehen  werden,  der 


Referate  und  Besprechungen.  315 

nicht  ganz  identisch  mit  dem  normalen  Schlaf  ist;  denn  —  so  fährt  er  fort  —  wie 
könnten  sich  sonst  bei  manchen  Individuen  wahre  post-hypnotische  Delirien  ent- 
wickeln, wie  spontaner  Somnambulismus  entstehen,  wie  in  einer  grossen  Anzahl  von 
Fällen  der  Hysterismus  manifest  werden?  Der  gewöhnliche  Schlaf  erweist  sich  in 
seiner  kräftigenden  Wirkung  als  Wohlthäter,  dem  hypnotischen  kann  man  diese 
Eigenschaft  nicht  immer  nachsagen ;  denn  der  Hypnotisirte  erwacht  oft  leidend,  der 
Kopf  thut  ihm  weh,  er  ist  müde  und  beklagt  sich  über  Mattigkeit  oft  auch  während 
des  Schlafes.  Durch  eine  kritiklose,  laienhafte,  übertriebene  Anwendung  der  Hyp- 
nose kommt  es  zu  den  schlimmen  Erscheinungen  wie  bei  Donatus,  und  wie  sie 
Ton  vielen  Autoren  beschrieben  werden.  JBernheim  ist  im  Ganzen  ohne  grosse 
Sorge,  und  wenn  er  auch  selbst  angiebt,  dass  bei  Prädisponirten  schlimme  Folgen 
entstehen  können,  so  meint  er  andererseits  wieder,  dass  bei  oft  hypnotisirten  Per- 
sonen, bei  denen  die  Gefahr  allzu  leichter  Hypnotisir-  und  Suggerirbarkeit  vor- 
handen sei,  das  Heilmittel  nahe  bei  dem  Uebel  liegt.  Man  müsse  nur  suggeriren, 
dass  kein  anderer  Mensch  sie  hypnotisiren  könne.  Aber  dieses  Mittel  hält  nicht 
lange  vor,  wie  Verf.  selbst  erprobte.  Es  kam  zu  ihm  eine  Frau,  welche  von 
Dt,  Adriani  eine  solche  Suggestion  bekommen  hatte,  die  dieser  nicht  zurück- 
nehmen wollte.  Es  gelang  mit  blossen  Reden  nicht,  die  Person  zu  veranlassen,  sich 
hypnotisiren  zu  lassen.  Darauf  gab  ihr  B.  allerhand  Arbeit,  die  er  ihr  abnahm  und 
nach  ihrem  Wunsch  bezahlte,  und  nach  kurzem  gelang  es,  sie  zu  überreden.  Die 
Suggestion  Adriani's  sagte  sie  erst  in  der  Hypnose,  vorher  hatte  sie  nur  Ent- 
schuldigungen gebraucht,  wie,  sie  sei  nicht  disponirt  u.  a.  Bei  gesunden  Personen 
sieht  Verf.  im  Hypnotisiren  keine  Gefahr,  wenn  man  vorsichtig  und  planvoll  zu 
"Werke  geht.  Nie  solle  man  den  Hypnotismus  zum  Gegenstand  öffentlicher  Neugier 
machen  und  nur  dann  seine  Zuflucht  zu  diesem  Mittel  nehmen,  wenn  die  Noth  es 
erfordert  zum  Heile  des  Kranken. 

Kap.  XXVI,  S.  258—270,  enthält  die  Warnung  vor  hypnotischen  Schau- 
stellungen, wie  wir  sie  von  Verf.  schon  vorher  öfters  haben  aussprechen  hören, 
femer  ein  Decret  der  hohen  Inquisition  vom  August  1856,  gezeichnet  von  Cardinal 
Macchi,  welches  sich  in  ähnlichem  Sinn  ausspricht,  und  den  Rapport  von  Bailly  zu 
Mesmers  Zeiten. 

In  Kap.  XXVII,  S.  270 — 298,  enthält  Beiträge  zur  therapeutischen  und  päda- 
gogischen Anwendung  der  Hypnose.  Zunächst  sind  es  einige  Notizen  über  die 
Benutzung  der  Anästhesie  durch  die  Chirurgen;  darauf  folgen  in  etwas  längerer 
Beschreibung  7  von  Verf.  selbst  behandelte  Fälle.  Vorher  steht  noch  die  Be- 
merkung, dass  diese  Therapie  nur  bei  neuropathischen  Individuen  angewendet  werden 
könne,  welche  keine  anatomische  Läsion  aufweisen.  „Der  Hypnotismus  ist  erfolg- 
reich angewendet  Worden  bei  Chorea,  hysterischen  Contracturen  und  Lähmungen, 
verschiedenen  Neuralgien,  hysterischen  Krämpfen,  Spasmus  der  üretra,  3Iorphino- 
manie,  Dysurie,  Amenorrhoe  und  bei  unzähligen  anderen  neuropathischen  Affec- 
tionen". 

Sein  1.  Fall  betrifft  eine  Frau  mit  Cephalalgie,  Hyperästhesie  des  Blasenhalses 
und  Tenesmus,  Amenorrhoe;  nach  wenig  mehr  denn  8  Tagen  verschwanden  diese 
Klagen  durch  hypnotische  Suggestion;  jetzt,  nach  10  Jahren,  ist  die  Frau  noch 
davon  frei.    Die  weiteren  Fälle  betreffen  Hysterische: 

Nr.  2  ein  junges  Mädchen  mit  grossen  hysterischen  Anfällen,  bilateraler  com- 
pleter  Amaurose,   perversen   Gemüths^ichtungeu,    Paraplcgie    inf.    bilat..    Aphasie, 


316  Referate  und  Besprechungen. 

Aphonie.  Diese  Leiden  lösen  sich  nach  den  jeweiligen  Suggestionen  ab,  nach  denen 
die  vorher  bestehenden  verschwunden  waren.  Es  fiel  dabei  auf,  wie  oft  man  durch 
Wachsuggestion  besser  zum  Ziele  kam,  als  durch  hyynotische.  Auch  der  folgende 
Fall  war  mit  Wachsuggestion  besser  zu  behandeln: 

Nr.  3  ein  junges  Mädchen  mit  schmerzhaften  Menses  (Schmerzen  in  der  Liain- 
bal-  und  Uteringegend),  Ovarialgie,  Anorexie,  Blutspeien,  wandernden  hysteriachen 
Neuralgien.  Kältegefühl,  Stimmungswechsel;  später  noch  Convulslonen  and  taiuend 
andere  hysterische  Erscheinungen.  Insbesondere  die  Raschheit,  mit  der  durch 
Wachsuggestionen  die  Erscheinungen  wie  hin  weggeblasen  wurden,  war  hier  merk- 
würdig; freilich  wurden  sie  fast  stets  durch  andere  abgelöst  oder  kehrten  sie, 
wenigstens  theilwcise,  nach  kürzeren  oder  längeren  Zeiträumen  zurück;  nur  einige 
blieben  gleich  von  Anfang  an  fort,  z.  B.  das  Blutspeien.  Durch  eine  consequente, 
geduldige,  stets  wieder  aufgenommene  Behandlung  wurde  Genesung  erreicht,  die 
jetzt  schon  6  Jahre  dauert. 

Es  seheint  die  Wachsuggestion  ferner  noch  auszuzeichnen,  dass  gerade  die 
schwersten  Fälle,  d.h.  solche  von  grosser  Intensität  und  langer  Dauer  der  Leiden, 
exact  auf  sie  reagirten.  während  die  ebenfalls  angewendete  hypnotische  ganz  erfolg- 
los blieb.     Ein  solcher  Fall  ist 

Nr.  4  ein  junges  3lädchcn  mit  completcr  Amaurose  des  rechten  Auges  seit 
10  Jahren. 

Ebenso  Nr.  5,  ein  Mädchen  mit  Paraplegie,  Convulsionen,  Contracturen,  and 
Nr.  6,  ein  Knabe  mit  Hystero-Epilepsie,  der  zuerst  mit  hypnotischer  Suggestion 
von  Feinen  zahlreichen  Anfällen  befreit,  statt  deren  aber  sofort  von  klassischem 
Pararayoclouus  multiplex  befallen  wurde,  welcher  der  hypnotischen  Suggestion 
widerstand,  auf  Wachsuggestion  aber  zum  Verschwinden  gebracht  wurde.  Es  sei 
daher,  schliesst  der  Verf.,  der  hypnotische  Schlaf  zum  Heilzweck  nicht  unentbehr- 
lich, man  erhalte  bei  imprcssionablen  Personen  mit  der  Wachsugjjestion  glänzende 
Resultate,  nur  müsse  sie  geschickt  geleitet  sein.  Eine  grosse  Hülfe  in  solchen 
Fällen  sei  ihm  der  Magnet  gewesen.  Derselbe  übe  auf  die  Einbildungskraft  des 
Kranken  starken  Einiluss,  und  das  sei  für  das  Gelingen  der  Suggestion  von  im- 
mensem Wcrthe. 

Der  7.  Fall  des  Verf.  ist  sexueller  Art  und  so  interessant,  dass  er  fast  wört- 
lich hier  angeführt  werden  soll.  „Eines  Tages"  erzählt  Verf..  ,.stellte  sich  uns  ein 
junger  Toskaner  von  etwa  25  Jahren  vor.  Verwaltungsbeamter  in  Neapel.  Staris 
erregt,  äusserte  er  frank  und  frei  die  Idee,  dass  er  sich  selbst  umbringen  werde, 
wenn  wir  ihn  nicht  curirten.  Er  habe  schon  erfolglos  den  grössten  Theil  der  Kli- 
niker Neapels  consultirt  und  sei  es  nun  müde.  Die  Sache  lag  so:  Er  hatte  Tor 
nicht  langer  Zeit  ein  Vcrhältniss  mit  einem  jungen  Mädchen,  und  dieses  sagte  eines 
schönen  Tages  zu  ihm,  wenn  er  sie  verlasse,  solle  ihm  mit  keiner  anderen  der 
Goitus  gelingen.  Nach  einigen  Monaten  befreite  er  sich  bei  passender  Gelegenheit 
von  jener  Person,  um  nicht  mehr  zu  ihr  zurückzukehren.  Von  da  an  hatte  er 
keine  Ruhe  mehr.  Jedes  Mal,  wenn  er  jetzt  mit  einem  Frauenzimmer  zusammen- 
kam, rausste  er  sich  seiner  Impotenz  schämen,  und  doch  war  ihm  das  bis  vor  wenig 
Monaten  noch  nie  passirt.  Ganz  desperat  kehrte  er  zur  ersten  zurück,  die  ihn  mit 
der  simpelsten  Suggestion,  noch  dazu  ganz  ohne  bewusste  Absicht,  unglücklich  ge- 
macht hatte.  Natürlich  gelang  es  da  wieder  sofort.  Das  Verhältniss  konnte  wieder 
nicht  von  langer  Dauer  sein  und  nach   abermaliger  Trennung   war  die  alte  cmx 


Referate  und  Besprechungen.  317 

wieder  da.  Das  Leben  ward  ihm  unerträglich,  und  er  hätte  sich  sicherlich  selbst 
getodtet,  wenn  er  nicht  befreit  worden  wäre  von  der  Suggestion  jenes  Mädchens, 
welches  er  gezwungen  war  zu  fliehen,  die  er  doch  immer  im  Kopf  behielt  und  vor 
deren  Wohnung  zu  spaziren  ein  unwiderstehlicher  Trieb  ihn  täglich  zwang.  Nach 
wenig  Augenblicken  Hess  er  sich  in  Somnambulismus  versetzen.  Er  wurde  suggerirt, 
dass  er  die  vergessen  habe,  die  ihn  unglücklich  gemacht,  und  dass  er  nach  der 
2.  Sitzung  wieder  stärker  sein  werde  als  je  vorher.  So  kam  es  auch.  Noch  be- 
kam er  die  Suggestion,  er  werde  nun  bei  seiner  früheren  Freundin  impotent 
sein,  wenn  er  wieder  mit  ihr  anbandle;  auch  das  gelang,  und  der  Kranke  war 
gesund." 

Einige  Versuche,  die  Hypnose  bei  Geisteskranken  anzuwenden,  werden  nun 
noch  angeführt,  so  von  Voisin,  Dumontpallier,  Lombroso,  Seglas,  und 
dabei  betont,  wie  selten  hier  Erfolge  seien  und  wie  es  sich  in  günstigen  Fällen 
stets  um  Hysterische  oder  Hystero-Epileptische  gehandelt  habe.  Bezüglich  der 
Heilwirkung  des  hypnotischen  Schlafes  an  sich,  ohne  weitere  Suggestion,  stimmt 
Verf.  der  Ansicht  bei,  dass  es  sich  in  solchen  Fällen  um  Autosuggestion  handle, 
da  das  Individuum  beim  Einschläfern  weiss,  dass  der  Arzt  eine  therapeutische  Ab- 
sicht dabei  hat.  üeber  die  pädagogische  Anwendung  der  hypnotischen  Suggestion 
seien  bisher  die  Erfahrungen  noch  zu  gering,  um  ein  Urtheil  zu  erlauben.  Die  Be- 
obachtungen von  Voisin  und  Liebault,  denen  es  gelang,  bei  einigen  jugend- 
lichen Personen  mit  verbrecherischen  Anlagen  eine  Umwandlung  des  Characters  zu 
erzielen,  eröffnen  keine  üble  Aussicht,  und  wenn  auch  Blum  ilecht  habe  mit 
seinem  moralischen  Standpunkte,  dass  die  Erziehimg  aus  dem  Menschen  keine 
Maschine  machen  dürfe,  so  sei  das  für  gut  geartete  Kinder  gewiss  richtig  und  die 
Suggestion  hier  verwerflich,  in  jenen  anderen  Fällen  aber  von  perverser,  unbild- 
samer, schlimmer  Anlage  müsse  man  auf  alle  akademischen  Erörterungen  über  Moral 
and  Willensfreiheit  verzichten  und  zu  dem  Mittel  greifen,  welches  allein  allenfalls 
noch  Hoffnung  gebe. 

Kap.  XXVIII,  S.  228 — 836,  behandelt  den  Hypnotismus  vom  gesetzlichen 
Standpunkte.  Es  werden  hier  eine  Reihe  Fragen  aufgeworfen,  welche  einerseits 
Verbrechen  an  Hypnotisirten  (hauptsächlich  stuprum)  betreffen,  andererseits  Ver- 
brechen durch  Hypnotisirte  in  Folge  crimineller  Suggestionen.  Im  Ganzen  werden 
diese  Fragen  beantwortet  im  Sinne  solcher  Autoren,  welche  sich  mit  dieser  Seite 
des  Hypnotismus  speciell  befasst  haben,  wie  Gilles  de  laTourette,  Li^geois, 
Lombroso  etc.  Eine  Heihe  weiterer  Beispiele  aus  deren  Erfahrung  dient  zur 
Ergänzung  des  Theoretischen  der  Sache.  Das  ganze  Kapitel  ist  ein  Beweis  davon, 
nach  wieviel  Seiten  hin  vom  gesetzlichen  Standpunkt  der  Hypnotismus  Interesse 
bietet,  wie  sehr  eine  gesetzliche  Regelung  am  Platze,  aber  auch  wie  schwer  eine 
solche  ist,  da  ein  jeder  einzelne  Fall  wieder  seine  Besonderheiten  hat  und  einer  in- 
dividuellen Behandlung  und  Beurtheilung  bedarf. 

Im  Anhang  findet  sich  dann  auf  40  Seiten  die  breit  und  genau  ausgeführte 
Geschichte  eines  Hysterischen  (pathologischen  Schwindlers),  wobei  es  sich,  unter 
vielen  von  demselben  angesponnenen  Intriguen,  im  Wesentlichen  um  eine  phanta- 
sirte  Heirathsgeschichte  handelt,  von  der  es  Wunder  nimmt,  dass  sie  von  der 
dabei  betheiligten  und  betrogenen  Klasse  von  Personen  (auch  ein  Arzt  ist  dabei) 
nicht  frühet  durclischaut  wurde.  Der  Held  heisst  Paolo  Conte,  der  Process  spielte 
im  Jahre  1889. 


318  Referate  und  BesprechuDgen. 

Ein  kurzes  Resume  über  dieses  Buch  lehrt,  dass  es  das  Wesentliche  über  deb 
behandelten  Gegenstand  durchaus  enthält;  der  Arzt  wie  der  Laie  wird  dadurch 
zweifellos  gut  informirt.  Insbesondere  dem  historischen  Theil  ist  ein  grosser  Kaum 
gewährt,  und  es  finden  sich  in  diesem  Theil  eine  schöne  Anzahl  interessanter  Daten. 
In  seinen  Anschauungen  und  Erklärungen  folgt  Verf.  wesentlich  denjenigen  von 
Liebault  und  Bernheim,  wobei  indes  die  stricte  Scheidung  zwischen  catalep- 
tischem  und  somnambulem  Zustand  verwundern  muss,  wie  sie  in  den  Kapiteln  über 
die  Suggestion  enthalten  ist.  Die  stark  in  den  Vordergrund  geschobene  Verwandt- 
schaft zwischen  Hysterie  und  hypnotischen  Zuständen  beengt  etwas  zu  sehr  nament- 
lich den  therapeutischen  Theil,  in  welchem  man  gern  auch  andere  Fälle  suggefltiv 
behandelt  sähe,  als  immer  blos  Hysterie  und  wieder  Hysterie,  zumal  ja  in  der 
Vorrede  auf  die  Ausdehnung  hingewiesen  wird,  welche  die  Therapie  auf  die  mannig- 
fachsten Leiden  in  den  letzten  Jahren  gewonnen  hat. 

W  o  1  f  f  -  Münsterlingen. 

Th.  Ziehen i  Psychotherapie.  Aus  d.  Lehrbuche  d.  allg.  Therapie  ron 
Eulenburg  u.  Samuel.  Urban  u.  Schwarzcnberg.    Berlin  u.  Wien  1898.    8^   1,60  M. 

Von  der  Definition  ausgehend,  dass  die  Psychotherapie  diejenige  Therapie  sei, 
die  durch  psychophysische  Erregungen  heile ,  die  auf  dem  W^ege  der  Empfindung 
und  Vorstellung  bezw.  Ideeuassociation  dem  Kranken  mitgetheilt  werden,  theilt 
Verf.  das  Arbeitsgebiet  der  Psychotherapie  folgendermaassen  ein :  1.  Psychotherapie 
der  psychischen  Symptome  der  psychischen  Krankheiten ;  2.  Psychotherapie  körper- 
licher Begleitsymptome  der  psychischen  Krankheiten  (vasomotorischer  und  anderer 
Innervationsstörungen) ;  3.  Psychotherapie  der  psychischen  Begleitsymptome  der 
körperlichen  Krankheiten;  4.  Psychotherapie  körperlicher  Symptome  körpeiiicher 
Krankheiten  (vasomotorischer  und  anderer  Innervationsstörungen) ;  5.  Psychotherapie 
der  psychischen  Nebenwirkungen  der  Somatotherapie ;  6.  Psychotherapie  des  Patienten- 
gehorsams  (ärztliche  Pacdagogik  s.  str.].  Die  Behauptung,  dass  die  Psychotherapie 
lediglich  symptomatisch  wirke,  lehnt  der  Verf.  ab;  jedoch  glaubt  er,  dass  ihr  Ge- 
biet auf  die  sog.  functionellen  Veränderungen  sich  beschränke.  Die  Methoden  der 
Psychotherapie  theilt  Ziehen  ein  in  affectiv  wirksame  Methoden,  unter  denen  er 
ein  gegenwirkendes  und  ein  strafendes  bezw.  belohnendes  Verfahren  unterscheidet; 
und  in  intollectuell  wirksame  Methoden,  die  wiederum  in  motivirende  und  Suggea- 
tivmethoden  eingetheilt  werden.  Letztere  Eintheilung  ist  dadurch  bedingt,  dass 
Verf.  unter  dem  Begriffe  der  Suggestion  eine  therapeutisch  wirksame  Vorstellung 
versteht,  die  nicht  durch  motivirende  Vorstellungen  eingeführt  wird.  Die  moti- 
virenden  Methoden  wirken  entweder  durch  Zerstörung  von  VorsteUungen  und 
Vorstellungsverknüpfungen,  oder  durch  Neubildung  solcher.  Die  Suggeations- 
methoden  werden  entweder  im  Wachzustande  oder  in  der  Hypnose  angewandt. 
Die  Darstellung  ihrer  Technik,  sowie  der  angeblichen  Gefahren,  die  mit  der  Hy- 
pnose verbunden  sein  sollen,  lässt  viel  zu  wünschen  übrig  und  steht  keineswegs  auf 
der  Höhe  der  Zeit.  Nach  dieser  Besprechung  der  psychotherapeutischen  Methoden 
und  ihrer  Technik  zwerden  im  weiten  Theile  die  Indicationen  dieser  Methoden  auf 
Grund  der  oben  gegebenen  Eintheilung  des  Arbeitsgebietes  der  Psychotherapie  er- 
örtert. Die  Affectstörungen  bei  Geisteskranken  und  Neurasthenikem,  die  Halla- 
cinationen  und  Illusionen,  Wahn-  und  Zwangsvorstellungen,  sowie  die  Defecte  der 
Intelligenz   werden   bei   den  psychischen  Erkrankungen  abgehandelt  und   die  An- 


Beferate  und  Besprechungen.  319 

^endbarkeit  der  yerschiedenen  psychotherapeutischen  Methoden  bei  ihnen  besprochen. 
Unter  den  psychischen  und  körperlichen  Symptomen  der  körperlichen  Erkrankungen, 
die  der  Psychotherapie  nach  Z.  zugänglich  sind,  figuriren  Schmerzen,  Parästhe- 
«ien,  Lähmungen  und  Contracturen  bei  funotionellen  Erkrankungen,  während  die 
Lähmungen,  welche  als  Symptome  organischer  Krankheiten  des  Nervensystems 
auftreten,  ^nur  gelegentlich  in  unkritischem  Uebereifer  in  den  Bereich  der  Psycho- 
therapie gezogen  worden  sind^;  femer  asthmatische  Beschwerden,  Störungen  der 
3Iagen-  u.  Darmthätigkeit  and  die  Schlaflosigkeit.  Ueber  die  hypnotische  Therapie 
der  Menstruationsstörungen,  sowie  über  die  suggestive  Beeinflussung  der  Gicht  und 
des  chron.  Gelenkrheumatismus  äussert  sich  Verf.  sehr  sceptisch.  theilweise  direct 
absprechend.  In  der  Gesammtübersicht  über  die  Leistungen  der  Psychotherapie 
kommt  Z.  zu  dem  Ergebnisse:  „Psychotherapie  kommt  in  jedem  Krankheitsfalle  in 
Betracht.  Ohne  Psychotherapie  flickt  man  Schuhe  oder  oculirt  man  Pflanzen^  heilt 
aber  keinen  empfindenden  und  vorstellenden  Organismus,  wie  ihn  der  Mensch  doch 
nun  eben  einmal  darstellt.^ 

Dieser  Schlusssatz  ist  sicherlich  das  Beste  an  dem  ganzen  Werke.  Um  die 
Un Vollkommenheit  der  Darlegungen  Ziehens  zu  entschuldigen,  wird  man  freilich 
berücksichtigen  müssen,  dass  die  Psychotherapie  eine  junge  Wissenschaft  ist,  die 
noch  im  Entstehen  begriffen  ist;  sowie  dass  der  geringe  Umfang  der  Arbeit  viele 
Beschränkungen  nothwendig  machte.  Warum  aber  der  Verf.  mangels  eigener  Er- 
fahrangen,  wie  er  selbst  an  einigen  Stellen  zugesteht,  sich  ein  absprechendes  Urtheil 
über  Dinge  leistet,  die  er  noch  nicht  einmal  aus  der  Literatur  genügend  zu  kennen 
scheint,  ist  dem  Ref.  unverständlich  geblieben.  Die  Literaturangaben  sind  mehr 
als  dürftig.  Immerhin  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  sich  manche  treffende  Be- 
merkung, sowie  einige  werthvoUe  Ansätze  zu  einer  wissenschaftlichen  Psychotherapie 
in  der  Arbeit  vorfinden,  die  das  Werk  lesenswerth  machen. 

L.  Hir schlaff- Berlin. 

Dr.  Henri  Aimi,  Etüde  clinique  du  dynamisme  psychique.  (Paris, 
O.  Doin  1897.    2ö3  S.) 

Die  Arbeit  stellt  eine  Sammlung  von  Krankengeschichten  aus  der  Bern- 
heim'sehen  Klinik  dar.  Da  die  Krankengeschichten  direct  nach  den  von  Bern- 
heim selbst  geschriebenen  oder  unter  seiner  Aegide  am  Krankenbette  verfassten 
ProtocoUen  wiedergegeben  sind,  so  sehen  wir  in  der  Sammlung  eine  willkommene 
Gelegenheit,  einen  Einblick  in  die  Thätigkeit  der  Klinik  zu  Nancy  während  der 
letzten  Jahre  zu  thun.  Wir  empfehlen  unsem  Fachgenossen  bestens  von  dieser 
Gelegenheit  durch  Leetüre  des  Buches  Gebrauch  zu  machen. 

Den  Titel  des  Werkes  möchten  wir  übersetzen:  „Antheil  der  Psyche  an  der 
Entstehung  und  Heilung  der  Krankheiten''. 

In  Bezug  auf  den  Antheil,  den  die  Psyche  an  der  Entstehung  der  Krank- 
heiten hat,  finden  wir  die  bekannten  Anschauungen  der  Nancyer  Schule  wiederge- 
g:eben.  Die  Bedeutung  von  Gemüthsbewegungen,  femer  der  schädliche  Einfluss 
«iner  falschen  ärztlichen  Behandlung  auf  Grund  einer  falschen  Diagnose,  die  nur 
eine  körperliche  locale  Erkrankung,  nicht  aber  den  seelischen  Ursprung  berück- 
sichtigt, sind  seit  den  ersten  Veröffentlichungen  der  Nancyer  Schule  vielfach 
Gegenstand  der  literarischen  Erörterung  gewesen.  Daneben  ist  es  die  Erklärung 
der  Autosugestion  und  die  Verfolgung  derselben  im  Verlaufe  der  ELrankengeschichte, 


320  Referate  ond  Besprechungen. 

welche  durch  das  Verdienst  der  Nancyer  Schule  eine  ungeahnte  Klarheit  in  die 
Beurtheilung  des  Zusammenhanges  der  Erscheinungen  gebracht  hat. 

Diese  Klarheit  ist  es  auch,  die  uns  bei  den  von  Dr.  Aim6  wiedergegebenen 
Krankengeschichten  erfreut,  wenn  sich  auch  der  Autor  mit  Recht  weit  davon 
entfernt  hält,  Alles  erklären  zu  wollen. 

In  der  Therapie  ist  neben  der  Hypnose  die  Wachsuggestion  und  namentlich 
auch  die  moralische  Einwirkung  auf  den  Kranken  in  reichem  Maasse  zur  Anwendung 
gekommen. 

Wir  können  das  offene  Geständniss,  dass  sich  eben  mit  Hypnose  nicht  ABei 
erreichen  lässt,  nur  mit  Freuden  begrüssen  und  erblicken  darin  einen  wesentlichen 
Fortschritt  der  Nancyer  Psychotherapeuten,  wenn  diese  auch  sich  darin  dnrekaw 
irren,  dass  der  von  ihnen  jetzt  eingenommene  Standpunkt  in  unserer  Literatur 
etwas  Neues  sei. 

In  wie  weit  man  nun  aus  diesen  Krankengeschichten  auf  die  gesammten 
psychotherapeutiscl\en  Leistungen  der  Nancyer  Klinik  wird  schliessen  können,  lassen 
wir  dahingestellt,  immerhin  geben  dieselben,  da  auch  gänzliche  lüsserfolge  nicht 
verschwiegen  sind,  einigen  Anhalt  hierzu.  Wir  möchten  hierbei  nur  darauf  auf- 
merksam machen,  das  die  vorgeführten  Falle  doch  zum  grossen  Theil  von  vorn- 
herein ziemlich  günstig  lagen,  da  es  sich  vielfach  om  Leute  niederen  Standes, 
häufig  Landleute  aus  der  Umgegend  von  Nancy  und  jüngere  Personen  handelt, 
deren  hervorragende  Suggestibilität  fiir  jeden  Psychotherapeuten  ausser  aller  Dii- 
cussion  steht.  Zugleich  vermisst  man  häufig  eine  Controle  der  Dauer  des  Hell- 
effectes  und  hat  bei  manchen  Fällen  direct  den  Eindruck,  dass  die  Beobachtungt- 
zeit  viel  zu  kurz  ist  (s.  z.  B.  Krankengeschichte  26,  wo  ein  Fall  von  geheflter 
Enuresis  nocturna  sich  schon  nach  2  Wochen  der  Behandlung  entzog).  Dem  steht 
gegenüber,  dass  eine  gfrosse  Zahl  der  Krankengeschichten  nicht  nur  von  psycho- 
therapeutischem, sondern  überhaupt  von  allgemein   neurologischem  Interesse   sind. 

Wir  finden  unter  76  mitgetheilten  Krankheitsbildcm  die  Angaben  von  51 
Heilungen  (1  ungcheiltes  Reoidiv  ist  mitgetheilt),  4  Besserungen,  3  gänzlichen  Mi»- 
orfolgen.  Sämmtlich  geheilt  sind  die  Fälle  von  functionellen  Schmerzempfindnngen 
(8  Fälle),  hysterischen  Krämpfen  (9  Fälle),  hysterischer  Amaurose  (2  Falle).  Sämmt- 
lich ungehcilt  sind  die  Fälle  von  Hypochondrie  (2  Fälle).  Bemerkens werth  sind 
dann  neben  einer  Reihe  von  Fällen  mit  sehr  interessanten  hysterischen  Symptomen 
[Paramyoi'lonus  multiplex  (1  Fall,  Heilung),  h^^sterische  Pseudotympanie  (1  FUl, 
Heilung),  Dischromatopsie  (1  Fall.  Heilung),  Pseudomeningitis  (1  Fall,  Heilung)] 
die  Combination  von  Hysterie  mit  Epilepsie  in  3  behandelten  Fallen,  wobei  es 
stets  gelang,  die  Hysterie  zum  Verschwinden  zu  bringen,  während  die  Epilepsie 
weiter  bestand.  Hilger- Magdeburg. 


Kritische  Bemerkungen  Ober  den  gegenwärtigen  Stand  der  Leiire 

vom  Hypnotismus. 

Von 

Dr.  philos.  Leo  Hlrschlaff,  AVzt  in  Berlin. 

(1.  Fortsetzung.) 


Nachdem  wir  die  Erfolge  der  hypnotischen  Behandlung  berichtet 
haben,  die  in  der  Literatur  der  letzten  Jahre  a«  fgefuhrt  worden  sind, 
wollen  wir  die  Vomrtheile  und  Gefahren  besprechen,  die  noch  immer 
Ton  manchen  Seiten  mit  dem  Begri£fe  der  Hypnose  yerknüpft  werden. 
Die  Thatsache  freilich,  dass  die  ernst  zu  nehmenden  Gegner  des  Hypno« 
tismus  immer  spärlicher  werden,  ist  ein  erfreulicher  Beweis  dafür,  dass 
die  Wissenschaft  des  Hypnotismus  auch  in  weiteren  ärztlichen  und 
psychologischen  Ejreisen  immer  mehr  Boden  gewinnt.  Immerhin  melden 
sich  noch  immer  einige  Gegner  der  Hypnose  zum  Worte.  So  erklärt 
Goldscheider*')  —  ohne  Angabe  näherer  Gründe  —  die  Hypnose  für 
eine  nicht  menschenwürdige  Sklaverei,  obwohl  er  an  demselben  Orte 
yersichert,  dass  die  schönste  und  höchste  Aufgabe  des  Arztes  sei,  die 
E[ranken  von  Schmerzen  zu  befreien.  Rosenbach  ^^)  behauptet  mit 
Recht,  dass  die  psychische  Beeinflussung  niemals  Kraft  schaffen,  sondern 
nur  die  VertheiluDg  der  Kraft  zweckmässig  regulieren  könne.  Wie  er 
aber  daraus  der  psychischen  Behandlung  einen  Vorwurf  machen  will, 
ist  uns  nicht  recht  verstäDdlich.  Denn  Kraft  schaffen  kann  wohl  nur 
die  ErnähruDg.    Ist  deshalb  jede  andere  Therapie  verwerflich? 

Durand  de  Gros'^)  widerlegt  die  Anschuldigung  derer,  die  in 
der  Hypnose  ein  moralisches  Unrecht  erblicken.  Es  handele  sich  gamicht 
um  eine  Unterschiebung  des  Willens  beim  Hypnotisiren,  so  dass  die 
Frage  der  Moral  hier  nicht  am  Platze  sei.  Dass  in  der  Hypnose 
weder  das  Bewusstsein  aufgehoben  ist,   noch  Willensschwäche  eintritt, 

Zeitschrift  fttr  Hypnotismoi  etc.    VIII.  21 


322  ^^^  Hinchlaff. 

ist  längst  von  Moll  und  Anderen  erkannt  und  betont  worden.     Wir 
glauben  allerdings,  wie  schon  früher  angedeutet,  dass  die  tiefe  und  die 
oberflächliche  Hypnose  yom  ethischen  Standpunkte  aus  verschieden  be- 
urtheilt  werden   müssen.    Während   wir  kein  Bedenken  dagegen  sehen 
können,    eine   oberflächliche   Hypnose   einzuleiten,    bei   der   sich   der 
Hjrpnotiseur   darauf  beschränkt,   Heilsuggestionen    zu   geben,    die   im 
Grunde  genommen  durch  nichts  sich  von  dem  unterscheiden^  was  wir 
auch  im  wachen  Zustande  den  Patienten  sagen,  liegen  die  Verhältnisse 
bei  der  tiefen  Hypnose  anders.    Hier  werden  unter  Umständen  Halla- 
cinationen  hervorgerufen,  es  werden  Willensvorgänge  ausgelost,  die  dem 
normalen  Wachzustande  fernliegen,  mit  einem  Worte:  es  werden  „un- 
motivirte^  Suggestionen  realisirt.     Das  kann  unter  Umständen  nützlich 
und  nothwendig  sein,  ebenso  wie  es  unter  Umständen  nützlich  und  noth- 
wendig  ist,  einem  Kranken  Morphium  oder  andere  schwere  Gifte  zu 
geben.    Aber  wie  es  verwerflich  wäre,  jeden  Schmerz,  über  den  ein 
Kranker  klagt,  durch  Morphium  bekämpfen  zu  wollen,  so  ist  es  noth- 
wendig, für  die  Anwendung  dieser  tiefen  Hypnose,  in  der  eine  Alte- 
ration des  normalen  Geisteszustandes  eintritt,  bestimmte  streng  einzu- 
haltende Indicationen  aufzustellen.    Eine  wahllose  Anwendung  der  tiefen 
Hypnose  mit  „unmotivirten"  Suggestionen  —  die  Erläuterung  zu  diesem 
Begriffe  wird  unten  gegeben  werden  —  verwerfen  auch  wir  aus  ethischen 
Gründen. 

In  forensischer  Beziehung  ist  die  Hypnose  in  den  letzten  Jabreti 
vielfach  Gegenstand  einer  eifrigen  Discussion  geworden.  Wir  erinnern 
an  die  verschiedenen  sensationellen  Processe,  die  Veranlassung  gegeben 
haben,  die  Frage  der  criminellen  Suggestionen  einer  näheren  Betrachtung 
zu  unterziehen.  Das  Resultat  des  bekannten  Processes  Czynski  war. 
dass  die  Frage  des  hypnotischen  Verbrechens  verneint  wurde,  überein- 
stimmend mit  den  Gutachten  von  Hirsch  und  Fuchs,  denen  sich 
Grossmann  "-^)  in  einer  ausführlichen  Schrift  anschliesst,  während 
Grashey,  von  Schrenck-Notzing  und  Preyer  die  Frage  in 
bejahendem  Sinne  beurtheilton.  Ein  Seitenstück  zu  diesem  Processe 
bildet  der  Process  Berchthold,  in  dem  vonSchrenck-Notzing'*)die 
Frage  der  Beziehung  der  Suggestion  zur  Erinnerung  aufrollte,  um  die 
Glaubwürdigkeit  der  Zeugen  kritisch  zu  beleuchten. 

Einen  merkwürdigen  Fall  von  Fascination  hat  Preyer  '*)  veröffent- 
licht, ohne  jedoch  den  zwingenden  Nachweis  zu  erbringen,  dass  die 
Suggestion  das  bewegende  Motiv  zu  der  seltsamen  Handlungsweise  der 
Frau  Ellida  von  Porta  gewesen  sei.    v.  V  e  1  s  e  n  '^'^)  veröffentlicht  einen 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     323 

Fall  von  Lethargie  in  Folge  verbrecherischen  Hypnotisirens ;  ferner 
einen  zweiten  Fall,  in  dem  in  Folge  fehlerhaften  Hypnotisirens  Hysterie 
ausgelöst  wurde :  beide  wurden  übrigens  wiederum  durch  Hjrpnose  ge- 
heilt. Stadelmann ^^)  knüpft  einige  Bemerkungen  an  den  Tod  der 
Ellia  von  Salamon  und  erörtert  die  Frage,  ob  durch  die  blosse  Vor- 
stellung der  Tod  hervorgerufen  werden  könne;  diese  Möglichkeit  dürfte 
ebenso  nahe  liegen,  wie  die  Frage,  ob  durch  die  blosse  Vorstellung 
der  Tod  aufgehoben  oder  vermieden  werden  könne.  Verfasser  selbst 
hat  Gelegenheit  gehabt,  in  einem  forensischen  Gutachten  der  Frage  der 
criminellen  Hypnose  näher  zu  treten.  Wir  sind  der  Ueberzeugung, 
<la8s  man  in  solchen  Situationen  sehr  schari'  unterscheiden  müsse 
zvrischen  der  eigentlichen  Hypnose  s.  str.  und  der  hysterischen  Auto- 
hypnose. Vielleicht  in  den  meisten  einschlägigen  Fällen  dürfte  es  sich 
um  den  letzteren  Zustand  handeln,  so  dass  der  forensische  Nachweis 
der  Schuld  des  Angeklagten  nicht  geführt  werden  kann,  es  sei  denn. 
dass  der  Hypnotisirende  von  dem  hysterischen  Oharacter  der  betreffenden 
Person  Eenntniss  erlangt  hätte  und  seine  verbrecherischen  Absichten 
auf  die  Ausnützung  dieses  Umstandes  gründete. 

Eine  andere,  mehr  physiologische  Gefahr  der  H}'pnose  hat  Gley  '') 
bei  dem  Studium  von  Thierhypnosen  entdeckt.  Er  fand  bei  der 
Hypnose  von  jungen  Fröschen  Verlangsamung  des  Pulses,  ja  sogar 
Stillstand  der  Athmung  und  der  Herzthätigkeit  bis  zum  Tode ;  und  er 
knüpft  an  diese  Versuche  die  Warnung,  junge  Kinder  zu  hypnotisiren, 
da  bei  ihnen  die  gleichen  Erscheinungen  auftreten  könnten.  Es  ist 
uns  räthselhaft,  wie  diese  seltsamen  Resultate  zu  Stande  gekommen 
sind;  wir  gestehen,  eine  Hypnose  von  Fröschen  noch  nie  gesehen  oder 
auch  nur  für  möglich  gehalten  zu  haben.  Wie  dem  auch  sein  mag,  so 
ist  sicherlich  die  Hypnose  der  Thiere,  die  ja  vielfach  beschrieben 
worden  ist,  ein  Zustand,  der  dem  der  menschlichen  H3rpnose  nicht 
ohne  Weiteres  analog  gesetzt  werden  darf,  da  er  auf  gänzlich  anderem 
Wege  hervorgerufen  wird  und  andere  Erscheinungen  aufweist. 

Dass  es  heute  noch  Professoren  der  Theologie  giebt,  die  die  Hypnose 
verwerfen,  kann  nicht  wunder  nehmen.  Dass  die  Verblendung  dieser 
Gegner  aber  so  weit  geht,  ohne  Kenntniss  der  Wissenschaft  die  Be- 
hauptung in  die  Welt  zu  setzen,  dass  die  Besessenheit  nichts  weiter 
sei  als  eine  diabolische  Hypnose,  dass  der  Hypnotismus  ein  moralisches 
Gift  sei  und  eine  Schädigung  der  Menschen  an  Leib  und  Seele  hervor- 
bringe etc.,  soUte  man  kaum  glauben,  wenn  nicht  S  c  h  ü  t  z ^^)  und  H  a  a  s  '^) 

mit  schwer  verständlichem  Eifer  dafür  Sorge  getragen  hätten,  dass  diese 

21» 


3S4  l^eo  Hinohlmff. 

Anschauungen  der  Nachwelt  nicht  vorenthalten  bleiben.  Auch  Bene- 
dikte^), der  bekannte  ,,Neuropathologe"  ergeht  sich  in  eigötzlichan 
Schmähungen  des  Hypnotismus.  E!r  erklärt  die  Hypnose  als  dne 
Gehirnstarre  und  behauptet,  dass  an  die  Stelle  dieses  gemeinschädlichen 
und  unwürdigen  Verfahrens  —  risum  teneatis  amici  —  die  Behandliuig 
mit  dem  Magneten  gesetzt  werden  müsse. 

Nach  dieser  Ezcursion  in  das  Gebiet  des  Spasshaften  kehren  wir 
zu  den  ernsten  Forschern  und  Forschungen  zurück.  Die  Frage 
der  criminellen  Suggestionen,  die,  wie  wir  soeben  gesehen  haben,  nicht 
selten  zum  Ausgangspunkte  von  Angriffen  gegen  die  therapeutische  An- 
wendung der  Hypnose  gemacht  wird,  ist  von  Li^beault^^)  mit  Kück- 
sieht  auf  die  früheren,  negativen  Versuche  Delboenf's  einer  emeaten, 
experimentellen  Untersuchung  unterworfen  worden.  Liöbeault  kommt 
zu  dem  Schlüsse,  dass  criminelle  Suggestionen  prindpiell  sehr  wohl 
möglich  sind,  aber  nur  unter  gewissen  exceptionellen  Bedingungen ;  und 
zwar  1)  nur  bei  Somnambulen;  2)  nur  bei  einem  Theile  der  Sonmam- 
bulen;  3)  nur  wenn  die  betreffenden  Versuchspersonen  von  der  iq 
gebenden  Suggestion  ahnungslos  überrascht  werden,  so  dass  sie  ksine 
Gelegenheit  haben,  im  wachen  Zustande  einen  Widerstand  dagegen 
auszubilden.  Diese  Bedingungen,  die  Liebeault  nur  für  die  Beali- 
sirung  crimineUer  Suggestionen  aufstellt,  haben  wir  sogar  in  allgemei- 
nerem Sinne  bestätigt  gefunden.  Wenn  man  einer  Versuchsperson,  mit 
der  man  in  der  Somnambulie  experimentiren  will,  vorher  sagt,  welche 
Experimente  man  mit  ihr  machen  wolle,  so  misslingen  sie  stets,  sobald 
die  Versuchsperson  sich  aus  irgend  welchen  Gründen  vorsetzt,  dagegen 
Widerstand  zu  leisten.  Entgegen  der  Behauptung  also,  dass  die  sonder- 
baren Erscheinungen  der  Somnambulhypnose  nur  auf  der  Dressur  der 
Individuen  beruhen,  liegen  die  Verhältnisse  vielmehr  häufig  umgekehrt 
Die  nichtsahnende  Versuchsperson,  mit  der  man  zum  ersten  Male  ex- 
perimentirt,  realisirt  alle,  noch  so  unsinnigen  Suggestionen.  Die 
dressirte  Versuchsperson  dagegen  realisirt  —  es  sei  denn  absichÜich. 
um  dem'  Hypnotiseur  einen  Gefallen  zu  thun  —  keine  unsinnigen  Sug- 
gestionen, von  der  sie  vorher  Eenntniss  erlangt  hat,  auf  die  sie  vor- 
bereitet ist.  Zu  einem  ähnUchen  Resultate,  wie  LiSbeault,  ist  auch 
Durand  de  Gros  gekommen,  der  die  Frage  der  Möglichkeit  von 
Verbrechen  in  der  Hypnose  ebenfalls  bejaht.  Der  Hervorrufung  falscher 
Zeugenaussagen  durch  Suggestionen,  wie  sie  im  Processe  Berchthold  vod 
von  Schrenck-Notzing  behauptet  worden  ist,  ist  B6rillon®*)  ex- 
perimentell nähergetreten.     Er  fand,  dass  es  bei  Erwachsenen  in  80% 


Kritische  Bemerkangen  über  d.  gegenwärt.  Stand,  d.  Lehre  t.  HypnotismaB.     3S6 

der  Fälle  gelingt,  durch  blosse  Wachsuggestion  ErinneruDgstäuschungen 
hervorzurufen. 

Dieser  Erörterung  über  die  Frage  der  criminellen  Suggestionen 
mögen  einige  kritische  Bemerkungen  folgen,  die  sich  auf  einige  in  der 
neueren  Literatur  berichtete  Wirkungen  der  Suggestirtherapie  beziehen 
und  die  uns  zu  der  Frage  nach  der  Erklärung  der  durch  Suggestion 
hervorgerufenen  Erscheinungen,  sowie  zu  einer  schärferen  Fassung  des 
Begriffes  der  Suggestion  überleiten  sollen.  Zuvor  jedoch  wollen  wir 
uns  einer  Pflicht  der  Objectivität  entledigen,  indem  wir  noch  eines  selt- 
samen Gegners  der  Suggestivtherapie  gedenken.  T  h  i  1  o  ^^  behauptet  in 
der  Monatsschrift  für  Unfallheilkunde  1897,  dass  die  Gelenkschmerzen 
der  Hysterischen  nicht  auf  psychogenem  Wege  entstehen,  sondern  sich 
aus  denselben  Ursachen  entwickeln,  wie  bei  anderen  Sterblichen  auch. 
Auf  Grund  dieser  Thatsache,  die  übrigens  noch  niemals  ernsthaft  be- 
stritten worden  ist,  behandelt  Thilo  hysterische  Contracturen  mit 
Gyps-  und  Schienenverbänden,  passiven  Bewegungen  etc.;  und  er  ist 
naiy  genug  zu  behaupten,  dass  dabei  jede  Suggestion  ausgeschlossen  sei. 
Aber  seine  souveräne  Verachtung  der  Suggestion  hat  doch  wenigstens 
eine  Grenze.  Wenn  nämlich  die  von  ihm  behandelten  Patienten  ge- 
bessert  aus  der  Behandlung  entlassen  sind,  so  stellt  ihnen  Thilo  Rück- 
fälle in  sichere  Aussicht,  falls  sie  nicht  ein  Jahr  lang  in  seiner  Anstalt 
mit  Massage,  Heilgymnastik  und  Bädern  weiter  bebandelt  werden. 
Vielleicht  findet  dieser  Gebrauch  der  Suggestion  bei  einer  vorurtheils- 
loseren  Nachwelt  die  gebührende  Anerkennung. 

Es  dient  sicherlich  nicht  zum  Fortschritte  der  hypnotischen  Wissen- 
schaft und  zur  Förderung  ihrer  Anerkennung  in  weiteren,  wissenschaft- 
lichen Kreisen,  wenn  die  Erfolge  der  hypnotischen  Behandlung  von 
Seiten  einiger  Autoren  gar  zu  unkritisch  publicirt  werden.  So  veröffent- 
licht Stadelmann ^^)  87  sehr  ausführliche  Krankengeschichten  mit  allen 
nothwendigen  Suggestionen,  die  jedoch  an  einem  schwerwiegenden  Fehler 
laborisiren :  nämlich  dass  die  hinzugefügten  Diagnosen  von  Magenkrank- 
heiten, Epilepsie  etc.  rein  willkürlich  und  unwissenschaftlich  sind,  da 
man  schon  aus  der  Leetüre  der  Fälle  den  Eindruck  gewinnt,  dass  es 
sich  um  hysterische  Zustände  handelt.  Noch  verfehlter  scheint  es  uns, 
Fälle  von  Eczema,  Furunkulosis,  Urticaria,  ulcerirendem  Mammacarcinom 
o«  8.  w.  zu  veröffentlichen,  die  durch  hypnotische  Behandlung  gebessert 
oder  gar  geheilt  sein  sollen.  Ohne  den  thatsächlichen  Erfolg  der 
hypnotischen  Behandlung  anzweifeln  zu  wollen,  was  uns  gänzlich  ferne 
liegt,  müssen  wir  doch  gestehen,  dass  derartige  Veröffentlichungen  so- 


326  ^o  Hirsohlafif. 

lange  nur  den  Zweck  haben,  die  allgemeine  Meinung  über  die  Leistungen 
der  Hypnose  zu  verwirren,  solange  wir  nicht  dahin  streben,  die  eigent- 
liche causa  efficiens  dieser  therapeutischen  Einwirkung  ausfindig  zu 
.  machen.  Denn  dass  die  Suggestion  als  solche  auf  directem  Wege  im 
Stande  sein  sollte,  eine  bestehende  Hautkrankheit  zu  beseitigen,  kann 
man  nur  annehmen,  wenn  man  sich  jeden  Restes  wissenschaftliclieu 
Denkens  entledigt  hat.  Und  doch  stehen  derartige  Veröffentlichungen 
von  Seiten  anerkannter  und  hervorragender  Vertreter  des  Hypnotismus 
nicht  vereinzelt  da.  So  beschreibt  Delboeuf  **),  dem  allerdings  seine 
Eigenschaft  als  Laie  zur  Entschuldigung  dient,  die  Heilung  einer  seit 
11  Jahren  bestehenden  Elinderlähmung  durch  Suggestion  in  1  Monat. 
Wir  fragen;  worauf  gründet  sich  die  Diagnose  „Ejnderlähmung^  in 
diesem  Falle;  und  ist  die  Heilung  in  der  Weise  zu  verstehen,  dass  die 
urspiünglich  von  der  Lähmung  befallenen  Muskeln  durch  die  Behand- 
lung wieder  functionsfahig  geworden  sind?  In  einem  anderen  Falle  will 
Delboeuf***)  die  Heilung  einer  8  Jahre  lang  bestehenden  Arthritis  de- 
formans  in  einer  einzigen  Sitzung  erreicht  haben.  Wir  fragen  wiederum : 
was  versteht  Delboeuf  in  diesem  Falle  unter  „Heilung"?  Ebenso 
unverständlich  sind  uns  die  Erfolge,  die  Bon  jour®')  veröffentlicht  hat, 
um  den  Einffuss  der  Psyche  auf  den  Körper  zu  zeigen.  Es  gelang  ihm 
nämlich,  Warzen  nach  einer  einmaligen  Suggestion  im  Wachzustande 
in  einem  Zeiträume  von  5  Tagen  bei  4  Monaten  zu  heilen.  Das  Ver- 
trauen Bonjour's  in  diese  wunderbare  Wirkung  seiner  Wach- 
suggestionen ist  um  so  erstaunlicher,  als  er  seiner  Publication  eine 
Bemerkung  hinzufügt,  die  nach  unserer,  unten  ausführlicher  zu  erläutern- 
den Auffassung  recht  wohl  geeignet  sein  könnte,  auf  den  wahren,  ur- 
sächlichen Zusammenhang  dieser  Ereignisse  Licht  zu  werfen.  Er  giebt 
nämlich  an,  dass  die  Heilung  bei  denjenigen  Personen  später  zu  Stande 
komme,  die  nach  der  Sitzung  mit  dem  Kratzen  und  Schneiden  der 
Warzen  fortfahren.  Anstatt  aber  aus  dieser  Beobachtung  den  Schluss 
zu  ziehen,  dass  die  Wachsuggestion  bei  den  geheilten  Personen  zunächst 
keinen  anderen  Effect  gehabt  habe,  als  sie  zum  Aufhören  des  fort- 
währenden Misshandelns  der  Warzen  zu  bestinmien,  und  dass  dadurch 
allein  schon  das  spontane  Abfallen  der  Warzen  beduigt  sein  könnte, 
kommt  Bonjour  zu  dem  erheiternden  Resultate,  dass  die  Warzen 
öfters  durch  einen  nervösen  oder  psychischen  als  durch  einen  physischen 
Reiz  gebildet  würden.  Auch  B6rillon*®),  dessen  Verdienste  um  die 
Ausbreitung  der  Lehre  vom  Hypnotismus  gewiss  jeder  anerkennen  wird, 
hat  es  sich  nicht  versagen  können,  einen  Fall  von  Sykosis  zu  veröffent- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  HypnotismuB.     327 

liehen,  der  9  Monate  ohne  Erfolg  von  Dermatologen  behandelt  und 
Bodann  durch  das  zweimalige  Gebet  einer  alten  Frau  geheilt  wurde. 
Als  ob  der  Begriff  der  Spontanheilung  gänzlich  verloren  gegangen 
-wäre!  Der  grösste  Ruhm  in  dieser  Beziehung  gebührt  jedoch  Luys, 
dessen  Phantasie  schon  so  viele  wunderliche  Blüthen  gezeitigt  hat. 
Dieser  Forscher  stellte  in  der  Sitzung  der  Soci6t6  de  Biologie  vom 
81.  August  1894  einen  28  jährigen  Koch  mit  hysterischen  Anfallen  vor, 
-dem  vor  5  Jahren  der  kleine  Finger  der  rechten  Hand  exarticulirt 
urorden  war.  Nichtsdestoweniger  fühlte  der  Patient  in  der  Hypnose 
Schmerzen,  wenn  man  die  Stelle,  die  dem  amputirten  Gliede  entsprach, 
stach  oder  kneipte,  imd  gab  jedes  Mal  richtig  den  Schmerz  an.  Er 
bekam  auch  in  Folge  dessen  —  horribile  dictu  —  ein  Erythem  sowie 
eine  Lymphangitis  an  dem  betreffenden  Vorderarme. 

Diese  Blüthenlese,  die  sich  leicht  um  ein  Bedeutendes  vermehren 
Hesse,  dürfte  indessen  bescheidenen  Ansprüchen  genügen.  Solange 
derartige  Anschauungen  und  „Erfolge^'  von  hervorragenden  Vertretern 
des  Faches  veröffentlicht  werden,  können  wir  es  keinem  ernsthaften 
und  wissenschaftlich  denkenden  Forscher  verargen,  wenn  er  sich  der 
Iiehre  vom  Hypnotismus  gegenüber  ablehnend  verhält.  Hoffentlich  er- 
leben wir  bald  die  Zeit,  wo  die  publicirten  Heilerfolge  der  Hypno- 
iherapie  sich  auf  exact  begründete  Diagnosen  stützen  und  wo  man  sich 
nicht  mehr  damit  begnügt,  die  wunderbarsten  Erfolge  zu  berichten, 
sondern  sich  die  Frage  nach  einer  wissenschaftlichen  Erklärung  ihres 
Zustandekommens  vorlegt.  Bisher  liegen  in  dieser  Beziehung  nur  einige 
unvollkommene  Andeutungen  vor,  die  wir  an  dieser  Stelle  einer  aus- 
führlicheren Erörterung  unterziehen  müssen,  da  sie  den  Ansatz  zu  einem 
Fortschritte  der  hypnotischen  Wissenschaft  enthalten.  Als  missglückt 
zu  betrachten  sind  in  dieser  Beziehung  leider  die  Versuche  von  Lieber- 
meister^*)  und  Ziehen ^^),  die  in  den  modernen  Handbüchern  der 
Therapie  von  Penzoldt-Stintzing  und  von  Eulenburg-Samuel 
die  Darstellung  der  Hypno-  und  Psychotherapie  übernommen  haben. 
Zur  Characteristik  dieser  Darstellungen  seien  wenige  Worte  gestattet, 
liiebermeister  theilt  in  dem  Werke  von  Pentzold  und  Stintzing 
die  zu  verwendenden  Suggestionen  ein  in  1)  directe;  2)  indirecto; 
3)  conträre;  4)  unbestimmte  Suggestionen.  Wenn  man  schon  geneigt 
aein  wird,  über  die  dritte  Gruppe  der  conträren  Suggestionen  den  Kopf 
2U  schütteln,  bei  der  man  den  Patienten  das  Qegentheil  von  dem  be- 
fehlen soll,  was  man  zu  erreichen  wünscht,  so  erscheint  doch  die  vierte 
Gruppe  der  unbestimmten  Suggestionen  in  einem  noch  merkwürdigeren 


8S8  I^M>  Hixvchlaff. 

liebte.  Diese  anbestimmten  Suggestionen  werden  nämlich  von  Lieber- 
meister  selbst  dahin  definirt,  dass  bei  ihnen  weder  Arzt  noch  Patient 
wisse,  was  bezweckt  wird.  Bei  diesem  Yerüahren  dürften  wohl  anch, 
nm  nicht  aus  dem  Bahmen  der  ganzen  Therapie  heranszaÜBdlen,  die 
Erfolge  yyUnbestimmt''  sein ;  und  es  kann  daher  nicht  wunder  nehmeii, 
wenn  Liebermeister  die  Behauptung  aufstellt:  es  sei  leichter^  durch 
Hypnose  einen  gesunden  Menschen  hysterisch  zu  machen,  als  eine 
Hysterie  dauernd  zur  Heilung  zu  bringen.  Viel  werthvoUer  ist  dem- 
gegenüber die  Psychotherapie  Ziehen's,  die  in  dem  Lehrbuche  der 
allgemeinen  Therapie  von  Eulenburg  und  Samuel  erschienen  iaL 
Besonders  die  Definition  der  Suggestion,  die  Ziehen  in  dieser  Arbeit 
giebty  wird  uns  später  noch  zu  beschäftigen  haben.  Auffallend  ist 
jedoch,  dass  Ziehen  die  Wirkung  der  Psychotherapie  auf  die  soge- 
nannten functionellen  Veränderungen  beschränkt,  trotzdem  in  der  Lite- 
ratur zu  Hunderten  von  Malen  Heilerfolge  von  organischen  Eriurankungen 
Teröffentlicht  sind.  Es  dürfte  zwecklos  sein,  diese  Erfolge  einfach 
wegzuleugnen,  oder  sie,  wie  Z  i  e  h  e  n  es  thut,  „einem  unkritischen  üeber- 
eifer*'  zur  Last  zu  legen.  Vielmehr  ist  die  Aufgabe,  die  uns  daraus 
erwächst,  nach  der  wirksamen  Ursache  dieser  Erfolge  zu  fahnden. 

Einen  Schritt  zur  Lösung  dieser  Frage,  von  der  die  wissensdiaft- 
liche  Zukunft  der  Lehre  Tom  Hypnotismus  abhängig  ist,  haben  die 
folgenden  Arbeiten  gethan,  die  wir  nunmehr  besprechen  wollen.  Zu- 
nächst hat  Brügelmann*^)  eine  sehr  einfache,  experimentelle  Lösung 
fär  das  Problem  der  Telepathie  gefunden,  das  schon  seit  längerer  Zeit 
die  Wissenschaft  beunruhigt  hatte.  Er  hat  nämlich  den  Nachweis 
geführt,  dass  die  telepathischen  Hallucinationen  der  Somnambolen,  die 
er  untersuchte,  in  sämmtlichen  Fällen  falsch  waren.  Dieses  Besultat 
bestätigt  den  alten  Satz,  dass  es  leicht  ist,  zu  prophezeien,  wenn  das 
fiintreffen  der  Prophezeiung  nicht  controllirt  wird.  Mit  dem  Problem  der 
Gedankenübertragung  haben  sich  Hansen  und  Lehmann**)  kritiBch- 
experimentell  beschäftigt.  Sie  wiesen  nach,  dass  eine  deutliche  Flüst6^ 
spräche  möglich  sei  bei  völlig  geschlossenem  Munde  und  minimalen, 
fast  unsichtbaren  äusseren  Bewegungen.  Die  hypnotische  Hyperacous 
wurde  in  geistreicher  Weise  durch  die  Verwendung  zweier  Hohlspiegel 
nachgeahmt.  Sie  fanden  bei  ihren  Experimenten,  dass  durch  dieses 
Flüstern  eine  „Gedankenübertragung'^  zu  Stande  konmie,  die  in  76% 
der  Fälle  zu  richtigen  Ergebnissen  führte.  Den  werthTollsten  Beitrag 
zur  Kritik  der  hypnotischen  Phänomene  jedoch  hat  von  Schrenck- 
Notzing**)  geleistet,  in  seinem  Beitrag  zur  Frage  der  suggestiven  Hei^ 


Kritische  Bemerkongen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismui.     329 

▼ormfong  circumscripter  vasomotorischer  VerändemDgen  auf  der  äusseren 
Haut.  Bei  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  ist  eine  ausführliche 
Besprechung  am  Platze.  Bei  dem  nicht  hysterischen  Dienstmädchen 
eines  Arztes,  welches  nur  eine  geringe  vasomotorische  Uebererregbarkeit 
der  Haut  zeigte,  wurde  durch  Suggestion  das  Phänomen  der  Vesication, 
die  Hervorrufung  einer  Wasserblase  an  einer  vorher  bezeichneten  Stelle 
beobachtet.  Dm  den  Versuch  wissenschaftlich  exacter  zu  gestalten, 
wurde  das  Mädchen  einem  Gollegium  von  12  Aerzten  und  Professoren 
der  Medicin  zur  Beobachtung  übergeben  und  in  Gegenwart  derselben 
das  Experiment  mit  der  Vorsichtsmaassregel  wiederholt,  dass  über  die 
bezeichnete  Stelle  ein  sorgfaltiger,  versiegelter  Verband  gelegt  wurde. 
Bei  der  nach  24  Stunden  erfolgten  Abnahme  des  Verbandes  wurde 
an  der  bezeichneten  Stelle  eine  circumscripte  Röthung  mit  mehrfachen 
kleinen  Bläschen,  ein  Erythema  buUosum,  constatirt.  Nun  wurden, 
zumal  sich  der  Verband  an  einigen  Stellen  einer  Verletzung  verdächtig 
erwies,  noch  schärfere  Cautelen  eingeführt,  indem  der  Arm,  an  dem 
die  Vesication  beobachtet  werden  sollte,  eingegypst  und  eine  ständige, 
Tag  und  Nacht  andauernde  Ueberwachung  der  Versuchsperson  durch- 
geführt wurde.  Bei  der  Entfernung  des  Verbandes  fand  sich  eine 
circumscripte  Hautröthung  ohne  Blasenbildung,  jedoch  nicht  an  der 
Dorsalseite  des  Vorderarms,  wo  es  suggerirt  worden  war,  sondern  an 
der  Volarseite  des  Armes,  die  durch  den  Gypsverband  minder  sorg- 
flUtig  geschützt  war.  Zugleich  wurde  eine  Perforation  des  Verbandes 
durch  eine  Haarnadel  gefunden,  die  trotz  der  andauernden  Ueber- 
wachung unbemerkt  geblieben  war.  Endlich  wurde  beobachtet,  dass 
noch  nach  der  Abnahme  des  Verbandes  ein  häufigeres  Beiben  der 
gerötheten  Stelle  stattfand,  um  dieselbe  möglichst  lange  zu  erhalten. 
Dieses  Ergebniss  veranlasste  zu  einem  letzten  Experiment,  in  dem  alle 
erdenklichen  Vorsichtsmaassregeln  getro£fen  wurden:  es  wurden  beide 
Arme  eingegypst  und  immobilisirt,  femer  die  Versuchsperson  Tag  und 
Nacht  von  Medicinern  beobachtet  und  nicht  aus  den  Augen  gelassen. 
Das  Resultat  war  nunmehr  ein  völlig  negatives:  weder  Blasenbildung 
noch  Hautröthung  war  durch  die  Suggestion  hervorgerufen  worden. 
T.  Schrenck-Notzing  zieht  aus  diesen  interessanten  Experimenten 
den  Schluss,  dass  die  Behauptung  suggestiv  erzeugter  Vesication  nicht 
erwiesen  sei  und  in  das  Keich  der  Uebertreibung  gehöre.  Wie  wir 
meinen,  mit  Unrecht.  Wir  glauben  vielmehr,  dass  aus  dieser  werth- 
ToUen  Reihe  von  Experimenten,  deren  Erfolg  in  umgekehrter  Proportion 
%a    den  aufgewandten   Controllmaassregeln   stand,    ganz   andere   und 


330  I^eo  üirsehlaff. 

bedeutsamere  Schlüsse  gezogen   werden  müssen.     Wir  halten  es  for 
-verfehlt,  angesichts  dieser  Ebcperimente  in  den  Ruf  derer  eingostimman, 
die  in  jeder  ungewöhnlichen  Erscheinung,   die  nicht  ohne  Weitere!  in 
den  Rahmen  der  naturwissenschaftlichen  Formeln  hineinpasst^   Betrog 
oder  Simulation  wittern.     Vielmehr  können   wir  nicht  umhin,   das  Re- 
sultat des  ersten  Eixperimentes,  bei  dem  von  einem  wissenschafUichflB 
Beobachter   eine   Vesication    nach    suggestiver   Beeinflussung    geseha 
wurde,  für  ebenso  wahr  und  unumstösslich  zu  halten,  wie  das  negative 
Ergebniss  des  letzten  Versuches.    Das  Problem  liegt  für  uns  vielmehr 
in  der  Erklärung  des  Zustandekommens  dieser  Resultate.     Dass  die 
directe  Suggestion  als  solche  nicht  im  Stande  ist,   das  Phänomen  der 
Vesication  zu  erzeugen,  ist  durch  den  Ausfall  des  letzten  Experimentes 
klar  und  eindeutig  bewiesen.    Woher  kommt  es  aber,  dass  bei  geringerer 
Beaufsichtigung  das  Phänomen  entsprechend  der  Suggestion   dennoch 
ganz    oder  theilweise   zu  Stande   kam?    Die   Annahme  einer   blosseD 
Simulation  scheint  mir  zu  diesem  Behufe  unmotivirt  und  unfruchtbar; 
obwohl   es  keinem  Zweifel  unterliegen  kann,   dass  die  Blasenbildung 
durch  eine  willkürliche  Mithülfe  der  Versuchsperson  zu  Stande  gekonmieip 
ist.    Aber  das  Lehrreiche  daran  ist  die  Thatsache,  dass  die  Versuchs- 
person in  Folge  der  Suggestion  sich  veranlasst  sah,  alle  ihre  Elräfte  in 
den  Dienst  der  Ausführung  des  aufgetragenen  Befehles  zu  stellen.    Sie 
hatte,  wenn   wir  uns  so  ausdrücken  dürfen,  augenscheinlich  selbst  eiii 
Interesse  daran,  dem  Wunsche  des  Hypnotiseurs  auf  irgend  eine  Weise 
nachzukommen,   und  ihre  Bemühungen  waren  in  der  That  von  Erfolg 
gekrönt,  solange  sie  nicht  gehindert  wurde,  mit  allen  ihr  zur  Verfügung 
stehenden  Mitteln  zu  arbeiten.     In  dieser  Thatsache  können  wir  keines- 
wegs den  Versuch  einer  Täuschung  erblicken:   wir  halten  vielmehr  für 
wesentlich,  dass  die  hypnotisirte  Person  auf  irgend  einem  Wege  bestrebt 
ist,  dem  erhaltenen  Befehle  nachzukommen.    Hierin  scheint  uns  zugleich 
eine  Wurzel  für  die  £h*klärung  vieler  aussergewöhnlicher  Erscheinungen 
der  hypnotischen  Phänomenologie  gegeben  zu  sein :  die  in  der  Hypnose 
gegebenen   Suggestionen   realisiren  sich   nicht  immer  direct  gleichsam 
psycho-physiologisch,   indem  sie  eine  directe  Veränderung  im  Nerven- 
system  hervorbringen,  sondern  häufig  auf  einem   indirecten  Umwege, 
indem  sich  der  Hypnotisirte  bemüht,  der  erhaltenen  Suggestion  in  irgend 
einer,  mehr  minder  willkürlichen  Weise  gerecht  zu  werden.    Für  diese 
Erklärung  der  Wirkungsweise  mancher  Suggestionen  sprechen  vielerlei 
Thatsachen.    Giebt  man  z.  B.  einem  H}7)notisirten  die  Suggestion,  seine 
Herzthätigkeit  werde  sich   beschleunigen,    so  realisirt  sich  diese  Sog- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     331 

gestion  in  der  Weise,  dass  —  sei  es  aus  Angst,  sei  es  willkürlich,  in 
dem  Wunsche,  dem  Befehle  des  Hypnotisetirs  nachzukommen,  —  die 
Frequenz  der  Athmung  sich  vermehrt  und  in  Folge  dessen  secundär 
die  Herzthätigkeit  thatsächlich  beschleunigt  wird«  Aehnlich  verhält  es 
sich  mit  der  suggestiven  Behandlung  der  Obstipation.  Fast  stets  ist 
diese  Erkrankung  zurückzufuhren  auf  eine  Vernachlässigung  der  hygie- 
nischen Lebensgewohnheiteu.  Begiebt  sich  nun  der  Kranke,  der  an 
diesem  Uebel  leidet,  in  hypnotische  Behandlung,  so  wird  der  geschickte 
Hypnotiseur  ihm  das  Eintreten  des  Stuhlganges  zu  einer  Zeit  suggeriren, 
wo  derselbe  physiologisch  am  leichtesten  erfolgt,  also  Morgens  bald 
nach  dem  Aufstehen,  oder  eine  Stunde  nach  der  Mahlzeit.  Was  ge- 
schieht nun?  Während  der  Kranke  früher  den  leisen  Mahnungen  seines 
Verdauungssystemes  keine  Beachtung  geschenkt  und  sich  eben  dadurch 
die  Obstipation  zugezogen  hatte,  achtet  er  jetzt,  sei  es  aus  Neugier,  sei 
es  in  Folge  der  erhaltenen  Suggestion,  eifrig  auf  das  geringste  An- 
zeichen, das  ihm  die  Neigung,  zu  Stuhle  zu  gehen,  verräth.  Ist  der 
Stuhlgang  für  8  Uhr  Morgens  suggerirt,  so  wird  er  etwa  schon  um 
V,8  Uhr  sich  innerlich  sagen:  „ich  bin  doch  neugierig,  ob  die  Sache 
eintreffen  wird" ;  die  leisesten  Bewegungen  der  Därme,  denen  er  früher 
keine  Beachtung  geschenkt  hat,  widmet  er  jetzt  die  gespannteste  Auf- 
merksamkeit, und  siehe  da:  es  gelingt  ihm,  vielleicht  mit  geringer 
willkürlicher  Ni^hhülfe,  die  erhaltene  Suggestion  zu  realisiren.  Natürlich 
kann  sich  der  psychologische  Vorgang  in  einem  solchen  Falle  auch 
anders  abspielen.  Statt  der  Neugier  oder  der  aufmerksamen  Erwartungs- 
spaonung  kann  ein  affectives  Moment,  etwa  eine  gewisse  Aengstlichkeit, 
durch  das  Eintreten  des  Stuhlganges  bei  einer  unpassenden  Gelegenheit 
überrascht  oder  gestört  zu  werden,  den  gleichen  Endeffect  hervorrufen. 
Auf  demselben  Wege  denken  wir  ims  auch,  wie  schon  oben  angedeutet, 
das  Zustandekommen  der  von  Stadelmann,  Bonjour,  BSrillon 
u.  A.  berichteten  Heilerfolge  bei  Warzen  und  anderen  Hauterkrankungen. 
Es  ist  zweifellos,  dass  bei  vielen  Hautkrankheiten  das  fortwährende 
Betasten,  Reiben,  Kratzen  der  erkrankten  Stellen  eine  Hartnäckigkeit 
des  Processes  bedingt,  die  an  und  für  sich  nicht  in  dem  Character  der 
Krankheit  begründet  sein  mag.  Wird  nun  durch  die  Suggestion  er- 
reicht, dass  diese  Schädigungen  fortfallen,  so  kann  vielleicht  schon 
dadurch  oft  die  natürliche  Neigung  der  Krankheiten  zur  Spontanheilung 
snm  Ausdruck  gelangen.  Noch  viele  andere  Erscheinungen  in  der 
Hypnose  fügen  sich  diesem  Erklärungsprincip.  So  haben  wir  schon 
früher  angedeutet,  dass  wir  in  den  Krafft-E hing' sehen Experimentey 


332  ^^o  HincUaff. 

über  die  Verwandlung  der  Persönlichkeit  nichts  weiter  als  eine  geschickte 
Komödie  erblicken  können,  deren  Veranlassung  freilich  nicht  die  Neigung 
zur  Simulation,  sondern  nur  das  Bestreben  ist,  die  eriudtenen  Sug- 
gestionen 80  gut  wie  möglich  auszuführen.    Am  deutlichsten  aber  er- 
hellt  dieses  Bestreben  vielleicht  aus  dem  Studium  der  hypnotischen 
Eixperimente,  die  an  Kindern   von  B^rillon,  Bramwell  u.  A.  aor 
gestellt  wordeo  sind.    B^rillon*^),  auf  dessen  werthvolle  Arbeiten  wir 
in  einem  der  folgenden  Kapitel  näher  eingehen  werden,  giebt  zur  Fest- 
stellung der  Suggestibilität  der  Ejnder  folgendes  Experiment  an:  Er 
bittet   das   zu   untersuchende   Kind,   mit   gespannter   Aufmerksamkeit 
einen  Stuhl  anzublicken,  der  in  einer  gewissen  Entfernung  in  der  £d:e 
des    Zimmers  aufgestellt  ist.      Sodann  giebt  er  folgende  Suggestion: 
„Sieh   aufmerksam   diesen   Stuhl   an;   du  wirst,   trotz  deines  Wieder- 
strebens,  das  unwiderstehliche  Bedürfniss  fühlen,  dich  dorthin  zu  setzen. 
Du   wirst  gezwungen   sein,   meinem    Befehle    zu   gehorchen ^    weichet 
Hindemiss  sich  auch  seiner  Verwirklichung  entgegenstellen  mag.^'    Die 
meisten  Kinder  führen  in  der  That  diesen  Befehl  aus  und  werden  dann 
fiir  leicht  hypnotisirbar  erklärt:  auch   in  der  Hypnose  gelingt  es  bei 
ihnen  leicht,  ähnliche  Suggestionen  zu  realisiren;  sie  legen  auf  Wunsch 
des  Hypnotiseurs    krankhafte   Neigungen   und   Ungezogenheiten,    wie 
Nägelknabbern,   Onaniren,  Furchtsamkeit,  die  Sucht  zu  lügen   und  zn 
stehlen  etc.  ab  und  werden  artig  und  brav.     In  diesem  Resultate,  das 
gewiss  von  allen  Seiten   dankbar  anerkannt  werden  wird,  können  wir 
trotzdem    keine    eigentliche   Suggestivtherapie    im   engeren   Sinne   des 
Wortes  erblicken.     Es  handelt  sich  nach  unserer  Auffassung  um  einen 
Act  des   Gehorsams  und  der  Belehrung :  die  Kinder  fügen  sich  —  je 
intelligenter  sie  sind,   um  so  leichter  —  den  mit  Milde  und  Ernst  ge- 
gebenen Ermahnungen,    zumal   wenn  sie  von  der  ungewohnten  und  in 
ihrer  Vorstellung  höheren  Autorität  des  Arztes  ausgehen.     Es  handelt 
sich  also,  um  den  Kern  der  Sache  zu  treffen,  nicht  um  einen  hypnotisch- 
suggestiven  Vorgang  im   engeren  Sinne,   sondern  um  ein  psycho-thera- 
j)eutisches  Verfahren,  das  sich  auf  dieselben  Factoren  gründet,   die  in 
der  Pädagogik  allgemein  wirksam  gefunden  werden. 

Es  wäre  ein  Leichtes,  die  Beispiele,  die  für  die  von  uns  gegebene 
Erklärung  mancher  hypnotischen  Erscheinungen  und  Erfolge  sprechen, 
beträchtlich  zu  vermehren.  Wir  hoffen  jedoch,  schon  durch  das  An- 
geführte den  Nachweis  erbracht  zu  haben,  dass  nicht  selten  die  in  der 
Hypnose  oder  im  wachen  Zustande  gegebene  Suggestion  nicht  direct 
wirkt,   sondern  vielmehr  auf  indirectem  Wege,  indem  sie  die  Neigung 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.    333 

der  Person  wachruft,  dem  erhaltenen  Befehle  willkürlich  nachzukommen. 
Wir  betonen  ausdrücklich,  dass  dieses  Erklärungsprincip  zunächst  nur 
für  eine,  allerdings  ziemlich  grosse  Reihe  von  Erscheinungen  gilt,  ohne 
dass  wir  den  Versuch  machen  wollen,  alle  hypnotischen  Phänomene 
darauf  zurückzufuhren.  Es  wird  gewiss  manche  voreilige  Gegner  des 
Hypnotismus  geben,  die  nach  Kenntnissnahme  dieser  Erklärung  zu  dem 
Terfehlten  Ergebnisse  kommen,  dass  die  ganze  Hypnose  und  die  Suggestiv- 
therapie  doch  nur  Komödie  und  Schwindel  seien.  Dass  hiesse  jedoch, 
das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten.  Wir  sehen  keine  Veranlassung 
ein,  die  thatsächlichen  Erfolge  der  hypnotischen  Behandlung  zu  leugnen 
oder  auch  nur  zu  discreditiren,  trotzdem  wir  bestrebt  sind,  sie  auf 
einem  natürlicheren  Wege  zu  erklären,  als  es  bisher  üblich  war.  Wenn 
auch  die  Wirkung  der  Suggestion,  die  wir  einem  Hypnotisirten  geben, 
dass  er  zu  einer  angegebenen  Zeit  Stuhlgang  haben  werde,  nicht  so 
vorgestellt  werden  darf,  dass  die  psychophysiologische  Erregung,  die 
das  Aequivalent  der  erweckten  Suggestivvorstellung  ist,  vom  Hirn 
direct  in  das  Gedärm  hinabrutscht  —  man  nennt  das  dann  eine  vom 
Grosshirn  ausgehende  centrifugale  Bahnuog  —  und  dort  zur  festge- 
setzten 2ieit  die  gewünschte  Wirkung  hervorbringt,  so  bleibt  doch  das 
Besultat  der  therapeutischen  Einwirkung  das  gleiche;  und  wenn  es 
einmal  nothwendig  sein  sollte,  was  ja  freilich  nicht  der  Fall  sein  wird, 
zu  irgend  einem  therapeutischen  Zwecke  eine  Wasserblase  auf  der 
Haut  eines  Kranken  zu  erzeugen,  so  darf  es  dem  Arzt  sehr  gleich- 
gütig  sein,  ob  die  blosse  Suggestion  diesen  Effect  hervorgebracht  oder 
ob  der  Kranke  selbst  willkürlich  durch  Reiben,  Kratzen  etc.  ein  wenig 
nachgeholfen  hat,  um  die  Realisirung  der  Suggestion  herbeizuführen. 
Inwiefern  das  angegebene  Erklärungsprincip  geeignet  ist,  zu  einer 
schärferen  Definition  des  Begriffes  der  Suggestion  zu  führen,  werden 
wir  im  theoretischen  Theile  ausführlicher  erörtern.  An  dieser  Stelle 
sollen  nur  einige  Hinweise  hinzugefügt  werden,  die  für  die  richtige 
Auffassung  des  Folgenden  nothwendig  sind.  Zunächst  scheint  uns  aus 
der  obigen  Darstellung  hervorzugehen,  dass  der  zwangsmässige  Character, 
der  vielfach  den  Suggestionen  als  Characteristicum  zugeschrieben  wird, 
in  recht  zahlreichen  Fällen  fehlt.  Statt  dessen  werden  die  Suggestionen 
häufig,  sei  es  aus  Gehorsam,  aus  Gefälligkeit  oder  in  Folge  der  Ueber- 
redang  des  Hypnotiseurs,  mehr  minder  willkürlich  ausgeführt.  Einen 
Beweis  für  diese  Behauptung  erblicken  wir  auch  darin,  dass  in  der 
Hypnose  nichts  ausgeführt  werden  kann,  was  nicht  unter  Umständen 
auch  willkürlich  ausgeführt  werden  könnte:    für  das  motorische  Gebiet 


334  l'«o  HirschlafT. 

weDigstens  ist  diese  Thatsache  offensichtlich.  Zugleich  erklärt  unsere 
Auffassung  noch  eine  andere  Erscheinung,  die  bisher  nicht  genügend 
in  der  Theorie  der  Suggestionslehre  berücksichtigt  worden  ist:  die 
Erscheinung,  dass  nur  diejenigen  hypnotisirbar  und  snggeribel  sind,  mit 
geringen  Ausnahmen,  die  sich  willkürlich  dazu  hergeben,  die  damit 
einverstanden  sind,  die  keinen  äusseren  oder  inneren  Widerstand  da- 
gegen leisten.  Kein  Wunder!  Wenn  die  Suggestionen  sich  vielfach 
auf  dem  Wege  realisiren,  dass  die  Versuchspersonen  veranlasst  werden, 
willkürlich  das  auszuführen,  was  ihnen  aufgetragen  wird,  ohne  dass  ein 
eigentlicher  Zwang  dazu  vorliegt  so  ist  es  klar,  dass  das  nicht  geschehen 
wird,  wenn  die  Versuchsperson  aus  irgend  welchen  Gründen  es  nicht 
will.  Der  scheinbar  zwangsmässige  Character,  der  der  Sealisirong  der 
Suggestionen  dennoch  manchmal  anhaftet,  kommt  entweder  dadurch 
zu  Stande,  dass  die  Hypnotisirten  sich  über  das  eigentliche  Motiv  ihrer 
Handlungen  nicht  klar  sind,  oder  durch  gewisse  Angstvorstellnngen, 
die  in  einer  Zahl  von  Fällen  mit>rirken,  um  die  Realisirung  der  Sug- 
gestion herbeizuführen. 

Der  Anschauung  entsprechend,  dass  die  Hysterie  in  enger  Ver- 
wandtschaft mit  den  Phänomenen  der  Hypnose  stehe,  wollen  wir  einige 
kritische  Bemerkungen  zu  der  modernen  Auffassung  der  Hysterie 
machen,  zu  denen  die  Arbeiten  der  letzten  vier  Jahre  Veranlassung 
geben.  Eine  ausführlichere  Zusammenstellung  der  gesammten  Literatur 
über  Hysterie  aus  den  Jahren  1896  und  1897  ist  in  dieser  Zeitschrift 
erschienen,  auf  die  wir  deshalb  verweisen.  Die  Anregung  zu  einem 
wesentlichen  Fortschritte  in  der  Lehre  von  der  Hysterie  verdanken  wir 
Freud  und  Breuer*^'*),  die  in  ihren  Arbeiten  auf  eine  psychische 
Aetiologie  der  Hysterie  hinweisen,  die  durch  Analyse  im  h^'pnotischen 
Zustande  erkannt  worden  war.  Es  handelt  sich  nach  ihrer,  durch  aus- 
führliche Krankengeschichten  begründeten  Auffassung,  gewöhnlich  um 
ein  infantiles  sexuelles  Trauma,  dessen  unbewusste  Erinnerung  später 
die  hysterischen  Symptome  hervorbringt.  Gelingt  es,  den  hierdurch 
verursachten,  „eingeklemmten"  AÖect  durch  die  Erhebung  ins  Bewusst- 
sein  gleichsam  zu  befreien  und  dann  abzureagiren.  so  sei  hiermit  die  Be- 
•liiigiing  zur  Heilung  des  Zusbindes  gegeben.  Diese  Auffassung  enthält 
nach  unserer  Meinung  einen  sehr  werthvollen  und  richtigen  Gesichts- 
punkt, insofern,  als  hier  zum  ersten  Male  in  einer  Anzahl  von  Fällen 
der  J^aohweis  erbracht  wird,  dass  der  Hysterie  eine  psychische  Aetiologie 
/u  Grunde  liegen  kann:  sie  erscheint  uns  jedoch  fehlerhaft,  wenn  die 
Ergebnisse   dieser   immerhin  beschränkten  Beobachtungen  auf  die  AU- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     335 

gemeinheit  der  Fälle  übertragen  werden.  In  demselben  Sinne  hat 
Stadelmann ^®)  einige  Fälle  publicirt,  in  denen  nicht  ein  sexuelles 
Trauma,  sondern  irgend  ein  anderer  beliebiger  Affect  die  Hysterie 
Terursacht  hatte.  Zugleich  modificirt  er  die  kathartische  Methode,  die 
Freud  und  Breuer  in  dem  Sinne  einer  affectiven  Erinnerung  und 
einer  associativen  Correctur  verwendet  hatten,  dahin,  dass  er  (lir  die 
psychische '  Ursache  der  Erkrankung  Amnesie  suggerirt.  Wir  haben 
▼on  dieser  Modification  nie  einen  Erfolg  gesehen.  Auf  eine  andere 
psychische  Ursache,  die  der  Hysterie  zu  Grunde  liegen  kann,  macht 
Sokolowski^*^  aufmerksam.  Nach  ihm  ist  die  eigentliche  Aetiologie 
der  Hysterie  die  psychische  Degeneratioh  des  Individuums.  Der  Ent- 
artete wird  durch  die  Anfordeningen  des  Lebens  auf  die  Minder- 
werthigkeit  seiner  Geisteskräfte  aufmerksam  und  ist  bestrebt,  seineu 
Zustand  durch  Kranksein  zu  beschönigen.  Es  handelt  sich  also  um 
eine  Krankheitsintention  mit  dem  ausgesprocheneu  Zwecke,  über  die 
eigene  psychische  Schwäche  durch  fingirtes  Kranksein  sich  zu  trösten 
und  die  Mitwelt  zu  täuschen.  „Hysterie^,  so  definirt  Sokolowski 
auf  Grund  dieser  Erwägungen,  „ist  Kranksein  als  Aequivalent  des 
psychischen  Gleichgewichtes  bei  subjectiv  empfundener  Unzulänglichkeit 
entarteter  Individuen."  Wir  möchten  jedoch  auch  diese  Auffassung 
nur  für  eine  beschränkte  Zahl  von  Fällen  anerkennen,  wie  denn  im 
Grande  genommen  jeder  Fall  von  Hysterie  Besonderheiten  in  der 
Aetiologie  zeigen  kann.  So  haben  wir  in  einiger  Uebereinstimmung 
mit  der  soeben  erörterten  Definition  in  einer  Beihe  von  Fällen  gefunden. 
dass  die  Hysterie  dadurch  zu  Stande  gekommen  war,  dass  die  Be- 
treffenden nach  zu  hohen  und  an  und  für  sich  unerreichbaren  Zielen. 
sei  es  materieller,  intellectueller  oder  ethischer  Vollkommenheit  strebten, 
in  diesem  Streben  scheiterten  und  nunmehr  —  halbwiUkürlich  —  hyste- 
risch wurden,  ohne  dass  eine  besondere  Entartung  der  Individuen  als 
Disposition  zu  Grunde  lag.  Doch  möchten  wir  auch  diese  Beobachtung 
nicht  verallgemeinem.  Auch  der  Selbstbeschädigungstrieb,  den  Boet- 
tiger*')  für  das  Characteristicum  der  Hysterie  erklärt,  kann  in  diesem 
Sinne  einmal  ausnahmsweise  zur  Entstehung  oder  zur  Fortdauer  einer 
Hysterie  mit  Veranlassung  geben,  wenngleich  es  uns  unmöglich  erscheint, 
alle  Symptome  der  Hysterie  auf  diese  eine  Wurzel  zurückzuführen: 
Sehr  treffende  Bemerkungen  über  den  Geisteszustand  der  Hysterischen 
macht  Loewenfeld^®),  indem  er  die  Einseitigkeit  der  früher  üblichen, 
Oh arcot' sehen  Anschauung  rügt,  wonach  alle  Hysterischen  launen- 
haft, bösartig,  lügnerisch  etc.  sein  sollen.    Loewenfeld  weist  vielmehr. 


336  ^«o  Hinchlaff. 

im   Einklang  mit  seinen  früheren  Publicationen,  darauf  hin,   daaa  ein 
nicht    unbeträchtlicher   Theil    der    Hysterischen    überaus    werthToUe, 
liebenswürdige  und  schätzenswerthe   Geistes-  und  Seeleneigenschaften 
mit  ihren  hysterischen  Beschwerden  yerbindet.    lieber  die  Erscheinimg 
der  hysterischen  Sonmambulie.  die  von  Loewenfeld,Brügelmann, 
Döllken,  Vogt  n.  A.  beschrieben  worden  ist,  sind  schon  oben  einige 
Bemerkungen   gemacht  worden.     Der  Unterschied  zwischen   Hysterie 
und  Hypnose   bezw.   Suggestiyphänomenen   hat  Veranlassung   gegeben 
zu  einer  Meinungsverschiedenheit  zwischen  Leuch*^**)  und  ForeP**), 
bei  Grelegenheit  einer  Chorea- Epidemie  in  einer  Schweizer  Schule.    L  e  u  c  k 
erklärte  den  in   einer  Schule  epidemisch  im  Anschluss  an  einen  Fall 
von  echter  Chorea  auftretenden  Tremor  für  ein  hysterisches  Phänomen, 
während  F  o  r  e  1  die  Suggestion  dafür  verantwortlich  machen  will.    Der 
Unterschied   zwischen  diesen  beiden  Begriffen,   der  uns  sogleich  weiter 
beschäftigen  wird,  wird  von  Forel  dahin  erklärt,   dass  unter  Hysterie 
eine  pathologisch  erhöhte  Autosuggcstibilität  zu  verstehen  sei,  während 
eine  gewisse  Suggestibilität  im  Bereiche  des  Normalen  liege.   D  i  d  i  e  r  ^^) 
macht  in   einer  Studie  über  die  hypnotische  Behandlung  der  Klepto- 
manie darauf  aufmerksam,   dass  Träume   eine  gewisse  Bedeutung  fir 
die  Entstehung  hysterischer  Symptome   haben  können,  indem   sie  den 
Impulsions-Ausgaogspunkt   für   den    Wachzustand   bilden.      Diese   be- 
merkenswcrthe  Beobachtung  führt  uns  zu  den  interessanten   Studien, 
die  Vog  t  *"^)  kürzlich  über  die  Aetiologie  der  Hysterie  veröffentlicht  hat. 
Vogt  macht  hier  den  Versuch,  einzelne  hysterische  Symptome  durch 
Analyse  des  gegenwärtigen  Bewusstseinsinhaltes  im  Zustande  des  partieU 
eingeengten,  systematischen  Wachseins  auf  eine  psychische,  intellectuelle 
oder  emotionelle  Ursache   zurückzuführen,  deren  Causalzusammenhang 
mit  der  Erkrankung  vorher  unbewusst  geblieben  war.    Mit  dieser  Auf- 
fassung können  wir  uns  im  Allgemeinen  einverstanden  erklären,  da  wir 
selbst  häufig  ti^elegenheit  hatten   zu  beobachten,   dass  eine  emotionell 
wirksame  Autosuggestion  die  jedesmalige  Ursache  für  das   Auftreten 
oder  Andauern   irgend   eines   hysterischen  Symptomes  oder  Zustandes 
bildete.     Im  Einzelnen  jedoch   haben  vnv  gegen  die  Methode  Vogt's 
einige  Bedenken.    Es  will  uns  scheinen,  als  wenn  der  Causalzusanmien- 
hang,  den  Vogt  durch  die  Psychoanalyse  der  Kranken  im  eingeengten 
Wachbewusstsein  ausfindig  macht,  nicht  selten  durch  die  Methode  des 
Ausfragens  den  Kranken   suggerirt  wird  oder  vielmehr,  genauer  aas- 
gedrückt, dass  die  Kranken  durch  das  Ausfragen  und  die  damit  sich 
verbindenden  eigenen  Bemühungen,  den  Sachverhalt  zu  ergründen,  ver- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt  Stand  d.  Lehre  y.  Hypnotismos.     337 

leitet  werden,  autosuggestiv  CausalzusammenhäDge  zu  constmiren,  die 
objectiy  nicht  zutreffend  sind.  So  werthyoll  die  Selbstbeobcchtung  als 
Methode  der  psychologisphen  Forschung  ist  und  wiewohl  wir  zugeben, 
dass  sie  die  einzige,  grundlegende  Methode  ist,  die  zur  Lösung  der 
]>8ychologischen  Probleme  führen  kann,  so  müssen  wir  doch  daran  fest- 
halten, dass  die  Selbstbeobachtung  als  solche  principiell  nur  die  That- 
sachen  des  Seelenlebens,  aber  niemals  den  Gausalzasammenhang  dieser 
Thatsachen  zu  ergründen  yermag.  Wenn  man  also  behauptet,  dass 
zwei  seelische  Thatsachen  mit  einander  in  ursächlicher  Verbindung 
stehen,  so  kann  diese  Behauptung  niemals  durch  den  Hinweis  auf  die 
Ergebnisse  der  Selbstbeobachtung  erwiesen  werden,  sondern  entweder 
experimentell  oder  dadurch,  dass  man  einen  inneren,  logischen  Zu- 
sammenhang zwischen  den  beiden  Erscheinungen  nachweist.  SoYiel  an 
dieser  Stelle  über  die  psychologische  Experimentalmethode  Vogt 's, 
deren  ausführlichere  Kritik  wir  dem  theoretischen  Theile  vorbehalten 
müssen. 

An  den  Schluss  unserer  Betrachtungen  über  die  Hysterie  möchten 
wir  einige  Bemerkungen  setzen,  die  den  Gebrauch  der  Worte:  hyste- 
risch, functionell  und  suggestiv  zu  klären  versuchen  sollen.  Es  giebt 
nach  unserer  Meinung  zwei  gebräuchliche  Anwendungsarten  des  Be- 
griffes: hysterisch.  Die  eine  engere  bezieht  sich  auf  den  bekannten 
Symptomencomplex  der  Hysterie  im  eigentlichen  Sinne,  deren  Cardinal- 
zeichen  Krämpfe,  motorische  Paresen  oder  Contracturen,  tactile  und 
sensorische  Anästhesien  sind.  Im  weiteren  Sinne  des  Wortes  wird 
jedoch  alles  dasjenige  als  hysterisch  bezeichnet,  was  functionellen  Ur- 
sprungs ist,  ohne  Theilerscheinung  einer  Hysterie  im  engeren  Sinne  zu 
sein:  hierher  gehören  z.  B.  auch  alle  neurasthenischen  Symptome,  sei 
es,  dass  sie  vereinzelt  oder  zu  einem  KJrankheitsbilde  vereinigt  auf- 
treten; femer  viele  Myoclonien,  choreatische  Erscheinungen,  Tetanie, 
alle  nicht  organisch  bedingten  Psychosen  etc.  Wenn  man  nun  häufig 
die  Behauptung  aufstellt,  die  hypnotischen  Phänomene  seien  von  hyste- 
rischem Ursprung  oder  Gharacter,  so  trifft  diese  Behauptung  zu,  solange 
man  den  weiteren  Begriff  des  Hysterischen  verwendet,  wonach  er  mit 
dem  Begriffe  des  Fimctionellen  identisch  ist.  Denn  dass  die  Suggestiv- 
erscheinungen ihrem  Wesen  nach  fimctionelle  Veränderungen  des  Nerven- 
systems darstellen,  darüber  kann  kein  Zweifel  walteü,  obwohl  damit 
keineswegs  gesagt  ist,  dass  sie  nicht  in  ihren  Erfolgen  sich  auf  orga- 
nische Krankheiten  erstrecken  können,  wie  früher  behauptet.  Es  wäre 
aber  verfehlt  zu  sagen,   dass  die  Hypnose  nichts  weiter  sei  als  eine 

Zeitoehrift  für  Hypnotiamos  etc.    Vm.  22 


338  L^o  Hinchlaff. 

künstlich  provocirte  Hysterie,  weDn  man  unter  Hysterie  im  engeren 
Sinne  das  oben  angedeutete,  bekannte  Krankheitsbild  yersteht.  Die 
Definition  F  o  r  e  1'  s ,  die  wir  oben  erwähnten,  erscheint  uns  nicht  ge* 
eignet,  den  Unterschied  zwischen  Hysterie  und  Hypnose  zu  markireD, 
da  im  Grunde  benommen  auch  alle  Fremdsuggestionen  erst  in  dem 
Augenblicke  wirTsam  werden,  wo  sie  sich  im  Bewusstsein  der  Personen 
in  Autosuggestionen  umwandeln,  sodass  ein  durchgreifender  Wesens- 
unterschied zwischen  den  wirksamen  Fremdsuggestionen  und  den  spon- 
tanen Autosuggestionen  nicht  besteht  oder  doch  wenigstens  nicht  m 
einem  Ausgangspunkte  der  Definition  der  Hysterie  und  Hypnose  ge- 
macht werden  kann.  Es  genügt  nach  unserem  Dafürhalten,  danm 
festzuhalten,  dass  die  unter  normalen  Umständen  vorhandene  Suggesti- 
bilität  bei  der  Hysterie  in  irgend  einer  Form  schon  im  Wachleben 
pathologisch  gesteigert  ist. 

Wir  kommen  zur  Besprechung  der  Frage,  inwiefern  die  hypno- 
tistische  Wissenschaft  geeignet  ist,  die  Pädagogik  zu  unterstützen  und 
zu  fördern.  Diese  Frage  wird  von  S  o  m  m  e  r  ^®^)  in  seiner  Diagnostik  der 
Geisteskrankheiten  a  limine  abgelehnt  und  als  Utopie  bezeichnet,  während 
Tyko  Brunnberg^®*),  Bourdon*®^  und  vor  Allem  Bfirillon"*) 
dem  Hypnotismus  eine  grosse  Bedeutung  für  die  Pädagogik  vindiciren. 
B6rillon,  der  das  Verdienst  hat,  diese  Frage  im  Jahre  1886  auf 
dem  Nancy'er  Congresse  der  französischen  Gesellschaft  für  den  Fort- 
schritt der  Wissenschaften  angeregt  und  seitdem  ununterbrochen  in 
zahlreichen  Schriften  und  Vorträgen  eifrig  gefordert  zu  haben,  glaubt, 
dass  mit  Hülfe  des  Hypnotismus  eine  Art  Orthopädie  der  Seele  ge- 
schaffen werden  könne,  die  die  Zukunft  der  Pädagogik  darstelle.  Nach- 
dem er  sich  im  Anfange  darauf  beschränkt  hatte,  die  Hypnose  als  ein 
werthvolles  Ergänzungsmittel  in  der  klinischen  Pädagogik  zu  bezeichnen, 
das  bei  lasterhaften  und  entarteten  Kindem  erst  dann  —  und  zwar 
durch  den  Arzt  —  Anwendung  finden  sollte,  wenn  die  Hülfsmittel  der 
normalen  Pädagogik  erschöpft  seien :  ist  er  im  weiteren  Verlaufe  seiner 
Arbeiten  dahin  gelangt,  das  Gebiet  der  hypnotischen  Pädagogik  immer 
mehr  zu  erweitem  und  auch  auf  normale  Kinder,  sowie  auf  die  Ent- 
wickelung  normaler  psychischer  Eigenschaften  —  unter  Mitwirkung  der 
Lehrer  —  auszudehnen.  Nicht  nur  die  Fälle  von  Kleptomanie  und 
Onaiiismus,  von  Onychophagie  und  den  Characterstörungen,  die  bei 
Chorea,  Hysterie  und  Epilepsie  nicht  selten  beobachtet  werden,  femer 
von  Lügenhaftigkeit,  übertriebener  Aengstlichkeit  etc.  wurden  in  den 
Bereich  einer  vom  Arzte  geleiteten,  hypnotisch-suggestiven  Behandlang 


Krititche  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  y.  HypnotiBmus.     339 

gezogen,  sondern  es  wnrde  der  Hoffnung  Baum  gegeben,  dass  es  ge- 
lingen werde,  die  Aufmerksamkeit  und  das  Gedächtniss  der  Kinder 
auf  gleichem  Wege  zu  vermehren,  ihre  natürlichen  Fähigkeiten  und 
Anlagen  zu  wecken  und  auszubilden,  die  Intensität  und  Modalität  der 
Wahrnehmungen  zu  verändern,  das  Bewusstsein  zu  erleuchten  und  zu 
kläreu,  mit  einem  Worte,  die  intellectuellen  und  ethischen  Anlagen  der 
Kinder  zu  entwickeln.  Wir  sind  der  Meinung,  dass  die  Suggestion  und 
Hypnose  in  der  Hand  des  sachverständigen  Arztes  ein  überaus  werth- 
Tolles  Hülfsmittel  ist,  um  Krankheiten  und  krankhafte  Neigungen  der 
Kinder,  wie  die  oben  aufgezählten,  zu  beseitigen,  nachdem  alle  anderen 
Bemühungen  zu  diesem  Behufe  fehlgeschlagen  sind ;  von  solchen  Fällen 
Teröffentlicht  B^rillon  selbst  eine  grosse  Zahl,  in  denen  ein  sehr 
günstiger  und  dauernder  Effect  erzielt  wurde.  Die  Hoffnung  jedoch, 
dass  die  Suggestivmethode  jemals  in  der  Hand  des  Lehrers  geeignet 
sein  dürfte,  bei  der  Entwickelung  der  normalen  Anlagen  der  mensch- 
lichen Seele  berücksichtigt  zu  werden,  können  wir  nicht  theilen.  Wir 
wollen  versuchen,  diesen  ablehnenden  Standpunkt  mit  einigen  Worten 
zu  begründen.  Die  Definition,  die  BSrillon  von  der  Suggestion  und 
der  Suggestibilität  giebt,  erscheint  uns  zu  weit.  Nach  ihm  ist  die 
Suggestibilität  die  Fähigkeit,  eine  empfangene  Vorstellung  in  eine 
Handlung  umzusetzen,  also  diejenige  Fähigkeit  des  Menschen,  auf  der 
allein  die  Möglichkeit  einer  Erziehung  und  seelischen  Entwickelung 
beruht.  Wie  B6rillon  den  Grad  dieser  Suggestibilität  experimentell 
abmisst,  ist  bereits  oben  angeführt  worden.  Wir  verstehen  unter  Sug- 
gestion —  unter  Vorbehalt  späterer  theoretischer  Erörterungen  —  nur 
diejenige  seelische  Beeinflussung,  die  sich  entweder  gänzlich  unmotivirt 
oder  auf  Grund  unlogischer  Motive  vollzieht.  In  der  Fähigkeit,  normal 
motivirte  Vorstellungen  in  Handlungen  umzusetzen,  erblicken  wir  da« 
gegen  nur  einen  Act  d^  Gehorsams,  der  Ueberzeugungskraft ,  der 
Belehrung,  d.  s.  Factoren,  die  im  wachen  Zustande  jederzeit  auch  ohne 
Anwendung  der  Hypnose  wirksam  sind,  und  zwar  um  so  wirksamer, 
je  intelligenter  und  ethisch  gebildeter  die  Versuchspersonen  sind,  mit 
denen  man  operirt.  Wenn  also  B^rillon  die  Kinder  hypnotisirt  und 
ihnen  Suggestionen  ertheilt,  um  sie  intellectuell  und  ethisch  zu  fordern, 
80  thut  er  im  Grunde  genommen  nichts  anderes,  als  was  die  Pädagogen 
im  Wachzustande  betreiben,  freilich  in  einer  Form,  die  von  der  üblichen 
stark  abweicht.  Aber  diese  hypnotische  Form,  in  die  er  die  Suggestiv- 
wirkung einkleidet,  ist  überflüssig  und  schädlich.    Man  kann  die  gleichen 

Wirkungen  auch  ohne  sie  erzielen ;  ja,  es  widerspricht  dem  Wesen  der 

22* 


840  Leo  flirtohUffl 

Pädagogik,  zu  derartigen  Hiilfsmitteln  ihre  Zuflucht  zu  nehmen.    Wenn 
wir  es  recht  erkennen,  so  hat  die  Pädagogik  die  Aufgabe,  die  Lehren, 
die  sie  giebt,  möglichst  sachlich  zu  motiviren,  indem  sie  den  Kindern 
die  begründete  Ueberzeuguiig  beibringt,  dass  diese  Lehren  werthToUe 
imd  zweckmässige  Ziele  und  Lebensregeln  darstellen;  zur  Sri^oizang 
darf  höchstens   das   Motiv   der   persönlichen   Autorität   herangezogen 
werden,  je  jünger  die  Kinder  und  je  weniger  sie  im  Stande  sind,  die 
Gründe,   die  man  ihnen   yorführt,  zu  begreifen.    Die  Nothwendigkeit, 
sich  geistig  zu  entwickeln  und  ethisch  zu  handeln,   darf  aber  unseres 
Erachtens   niemals   eine  von   aussen   her  zwangsmässig  aufgedrängte, 
unmotivirte  und  mystische  sein,  wie  es  die  Kinder  in   der  Hypnose 
empfinden :  dass  hiesse  vielmehr,  von  vornherein  auf  den  Gebrauch  der 
Beine  verzichten  und  statt  d.essen  sein  Leben  lang  auf  Krücken  za 
wandeln,  was  zweifellos  möglich,  aber  wohl  keineswegs  wünschenswerth 
wäre.     Wir  meinen   also:    die  Suggestionen,   die  B^rillon   zur  An- 
wendung in  der  normalen  Pädagogik  empfiehlt,  sind  eigentlich  gar  keine 
Suggestionen   im    strengeren   Sinne   des  Wortes,   wie  ja  auch  in  der 
Therapie  die  unmotivirten  Suggestionen  möglicht  eingeschränkt  werden 
müssen;    es  ist  in  Folge   dessen   unnöthig  und  schädlich,  sie   in  eine 
hypnotische  Form  zu  kleiden,  da  sie  im  wachen  Zustande  ebenso  gat 
und  dazu  in   ethisch  werthvollerer  Weise  verwirklicht  werden.    Es  in 
ein  Zeichen  einer  ungenügenden  Fähigkeit  in  der  Pädagogik,  wenn  es 
dem  Lehrer  nicht  gelingt,   im  wachen  Zustande  den  etwaigen  Wider- 
stand des  Kindes  zu  entwaffnen :  die  Aufgabe  des  Lehrers  ist  nicht^  die 
Seele  des  Kindes  nach  Art  einer  passiven  Phonographenwalze  zu  be- 
schreiben,  sondern  die  Activität  der  kindlichen  Seele  in  die  richtigen 
Bahnen  zu  lenken.     Dazu  ist  die  h^-pnotische  Suggestion  ebenso  wenig 
im  Stande,  wie  es  mit  Hülfe  der  Ruthe  gelingt,  ethische  Vorstellungen 
in  die  Seele  des  Kindes  zu  pflanzen.  t 

Zum  Schlüsse  unserer  Betrachtungen  über  die  practischen  Port- 
schritte auf  dem  Gebiete  des  H}^notismus  möchten  wir  einen  Vorschlag 
hervorheben,  der  von  verschiedenen  Seiten  gleichzeitig  gemacht  worden 
ist,  um  die  Wissenschaft  vom  Hypnotismus  endlich  zu  der  verdienten 
Anerkennung  zu  bringen.  0  r  o  c  q  f  i  1  s  ^®®)  hat  in  einem  Berichte  an  den 
Minister  des  Innern  und  des  öffentlichen  Unterrichts  in  Belgien  die 
Bitte  ausgesprochen,  den  Hypnotismus  in  den  akademischen  Studien- 
plan einzufügen.  ForeP^^)  hat  die  gleiche  Nothwendigkeit  erkannt  und 
betont ;  auch  T  a  t  z  e  P* ^)  führt  die  Thatsache,  dass  der  Werth  des  thera- 
peutischen Hypnotismus  noch  immer  so  wenig  erkannt  wird,  mit  Bedit 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärl  Stand  d.  Lehre  t.  flypnotismns.     341 

darauf  zurück,  dass  selbst  von  denjenigen,  die  den  Hypnotismus  practisch 
vertreten,  theilweise  zu  wenig  Mühe  und  Sorgfalt  auf  die  Erlernung 
dieses  schwierigen  Studiums  verwendet  wird:  auch  er  fordert  deshalb 
eine  akademische  TJnterweisimg  in  dieser  schwierigen,  aber  ausserordent- 
lich werth vollen  Disciplin.  Wir  können  uns  diesen  Wünschen  nur  an- 
schliessen.  Wir  würden  es  als  einen  grossen  Fortschritt  begrüssen, 
wenn  die  an  den  Hochschulen  lehrenden  Mediciner  und  Psychologen 
ihr  Interesse  auch  diesem,  gewiss  nicht  uninteressanten  Theile  der 
Wissenschaft  zuwendeten,  wobei  sicherlich  vieles  von  dem  verworfen 
werden  müsste,  was  heutzutage  von  unkritischer  Seite  behauptet  und 
verfochten  wird,  während  auf  der  anderen  Seite  sicherlich  auch  vieles 
dauernd  Gute  und  Werthvolle  bestehen  bliebe,  das  der  leidenden 
Menschheit  ebenso  wie  der  Wissenschaft  sich  nutzbar  erweisen  könnte. 

(Zweiter  Theil  folgt.) 


Zur  Kritik  der  psychogenetisclien  Erforscliung  der  Hysterie. 

Von 

Oskar  Togt« 


In  einem  ersten  Artikel  ^)  bin  ich  zu  der  Forderung  gekonimeOi 
die  ästiologische  Erforschung  der  Hysterie  in  der  Weise  in  Angriff 
zu  nehmen,  dass  wir  zunächt  festzustellen  suchen ;  wie  weit  die  hyste- 
rischen Erscheinungen  auf  Gefühls-  und  Suggestionswirkungen  zurück- 
zuführen sind.  Diese  Forderung  basirte  auf  der  Behauptung,  dass  die 
Selbstbeobachtung  gewisser  Kranken  im  Zustand  eines  geeignet  einge- 
engten Bewusstseins  im  Stande  wäre,  alle  diejenigen  intellectuellen  Er- 
scheinungen aufzudecken,  die  durch  ihre  Gefuhlsbetonung  oder  ihre 
suggestive  Wirkung  gegenwärtige  hysterische  ELrscheinungen  ausgelöst 
hätten.  Diese  Behauptung  hinwiederum  suchte  ich  hauptsächlich  durch 
zwei  Thatsachen  meiner  Erfahrung  zu  stützen.  Die  erste  war  die,  dass 
sich  die  hysterischen  Phänomene,  soweit  sie  durch  Gefühle  oder  sug- 
gestiv ausgelöst  sind,  bezüglich  der  Erkennbarkeit  der  entsprechenden 
intellectuellen  Substrate,  resp.  Zielvorstellungen  nicht  von  den  normalen 
Erscheinungen  gleichen  Ursprungs  unterscheiden.  Die  andere  war  die, 
dass  die  hysterische  Veranlagung,  sowie  einzelne  hysterische  Symptome 
nicht  jedes  Individuum  an  einer  exacten  Selbstbeobachtung  hindern. 
Das  also,  was  ich  auf  Grund  meiner  Erfahrung  als  richtig  hinzustellen 
mich  für  berechtigt  glaubte,  war  die  Thatsache,  dass  die  hysterische 
Erkrankung  nicht  einer  Methode,  die  mir  in  der  Normalpsychologie 
so  gute  Dienste  gethan  hatte,  ein  unüberwindliches  Hindemiss  ent- 
gegenstellte. 

^)  O.  Vogt,  Zur  Methodik  der  ätiologlschea  Erforschong  der  Hysterie.  Diese 
Ztschr.,  Bd.  VIII,  pag.  65  flf. 


Zur  Kritik  der  psychogenetisohen  Erforschung  der  Hysterie.  343 

Einen  Punkt  hatte  ich  in  jenem  ersten  Artikel  nicht  berührt:  die 
Yerwerthbarkeit  der  fraglichen  Methode  in  der  Nonnalpsychologie. 
Ich  hatte  mich  eben  darauf  beschränkt,  nachzuweisen,  dass  diese  Yer- 
werthbarkeit durch  eine  hysterische  Erkrankung  nicht  Einbusse  erlitt. 
Wie  weit  aber  überhaupt  diese  Methode  im  Stande  ist,  exacte  Resultate 
zu  liefern,  berührte  ich  nicht  weiter.  Die  folgenden  Zeilen  sollen  diese 
Frage  —  natürlich  immer  unter  specieller  Berücksichtigung  unseres  be- 
sonderen Zweckes  —  näher  erörtern. 

Schon  der  absolut  nicht  zu  vereinfachende  primäre  Mechanismus 
der  Selbstbeobachtung,  wie  er  uns  bei  der  Feststellung  einer  Eigen- 
schaft einer  Bewusstseinserscheinung  entgegentritt,  ist  ein  complicirter. 
Jede  einzelne  ihn  zusammensetzende  psychische  Operation  entbehrt 
absoluter  Exactheit  und  kann  eventuell  zu  verhängnissvoUen  Fehler- 
quellen führen.  Die  Anforderungen  nun,  die  wir  an  die  Selbstbeobach- 
tung zu  stellen  haben,  sind  aber  noch  complicirter.  Wir  wollen  nicht 
nur  das  Vorhandensein  von  Bewusstseinserscheinungen  und  deren  Eigen- 
schaften, sondern  causale  Beziehungen  zwischenverschiedenen 
Bewusstseinserscheinungen  «feststellen.  Es  ist  von  vomherein  klar,  dass 
für  die  Selbstbeobachtung  mit  dieser  Complication  unserer  Aufgabe 
die  erreichbare  Exactheit  ihrer  Lösimg  abnimmt.  Es  ist  deshalb  a 
priori  der  Zweifel  berechtigt,  ob  sich  bei  solchen  causalen  Analysen 
noch  eine  derartige  Genauigkeit  erzielen  lässt,  dass  man  überhaupt 
wissenschaftliche  Resultate  erreicht.    Treten  wir  dieser  Frage  zunächst 

näher! 

I. 

Selbstbeobachtung  und  Causalanalyse« 

Die  folgenden  Erörterungen  werden  einmal  die  Fehlerquellen  der 
nncomplicirten  primären  Selbstbeobachtung  und  dann  diejenigen  be- 
handeln, welche  dadurch  entstehen,  dass  man  von  der  Selbstbeobachtung 
Oausalananlysen  fordert.  Sie  werden  gleichzeitig  die  Art  und  Weise  der 
grösstmöglichsten  Verminderung  dieser  Ungenauigkeiten  und  schliesslich 
die  Frage  erörtern ,  ob  die  nicht  zu  beseitigenden  Mängel  noch  die 
wissenschaftliche  Yerwerthung  solcher  Analysen  ermöglichen. 

1.  ungenauigkeiten  der  primären  Selbstbeobachtung. 

üeberall,  wo  eine  Yersuchsperson  auf  Grund  der  Selbstbeobachtung 
eine  Eigenschaft  einer  Bewusstseinserscheinung  feststellen  will,  hat  sie 
zunächst  diese  Eigenschaft  zu  beobachten.    Sie  muss  ihre  Aufmerksam« 


344  Oskar  Vogt. 

keit  auf  dieselbe  concentriren.  Nun  ist  aber  das  VermögeD  einer  der- 
artigen Concentration  der  Aufmerksamkeit  nicht  nur  nach  Zeit  und 
Individuum  verschieden,  sondern  überhaupt  ein  begrenztes.  Dieser 
Umstand  verleiht  schon  von  vornherein  jeder  Selbstbeobachtung  den 
Character  einer  nur  relativen  Exactheit.  Eine  solche  Concentration  der 
Aufmerksamkeit  stellt  —  wie  weiterhin  hervorzuheben  ist  —  eine  Will- 
kürhandlung  dar.  Diese  Willkürbandlung  hat  wie  jede  ihre  Zielvor- 
stellung  und  führt  zu  einer  Einstellung  der  Aufmerksamkeit,  die  der 
Zielvorstellung  entspricht.  Es  ist  deswegen  nöthig,  dass  der  Experi- 
mentator stets  in  der  Versuchsperson  die  richtige  Zielvorstelluhg  an- 
regt. Diese  Bedingung  kann  aber  unerfüllt  bleiben  und  so  zu  Fehlem 
fLlhren.  Gesetzt  zum  Beispiel,  ich  will  ein  complicirtes  Gefühl  analysiren 
lassen ,  so  ist  es  sehr  leicht  möglich,  dass  die  Versuchsperson  auf  ein 
anderes  Elemeüt  ihre  Aufmerksamkeit  einstellt,  als  ich  zur  Zeit  be- 
absichtige. Schliesslich  ist  die  Concentration  der  Aufmerksamkeit  — 
wie  jede  Willenshandlung  —  von  Motiven  abhängig.  Dieser  umstand 
bietet  die  Möglichkeit  einer  neuen  Fehlerquelle  dar.  So  sehen  wir^ 
dass  die  unmittelbare  Beobachtung  einer  Bewusstseinserscheinung  nicht 
nur  stets  bloss  eine  relative  Exactheit  zulässt,  sondern  direct  zu  schweren 
Fehlem  führen  kann. 

Um  dann  weiter  über  die  beobachteten  Eigenschaften  der  frag- 
lichen Bewusstseinserscheinung  ein  Urtheil  fallen  zu  können,  muss  ich  sie 
mit  mehr  oder  weniger  ähnlichen  Erinnerungsbildern  vergleichen.  Will 
ich  z.  B.  entscheiden,  ob  eine  gegenwärtige  Farbenempfindung  die  von 
„rein  Weiss"  ist,  so  hat  eine  diesbezügliche  Erkenntniss  zur  Voraussetzung, 
dass  ich  die  gegenwärtige  Empfindung  mit  Erinnerungsbildern  früherer 
Empfindungen  von  Weiss  vergleiche  und  so  zu  einem  Schluss  komme. 
Ein  solcher  Vergleich  wird  mehr  oder  weniger  fein  sein.  Davon  wird 
dann  aber  die  Exactheit  meines  Schlusses  abhängen.  So  wird  z.  B. 
ein  Maler  noch  Beimischungen  von  irgend  einer  Farbe  erkennen,  wo 
das  ungeübte  Auge  dazu  nicht  im  Stande  ist.  So  wird  weiterhin  jemand 
um  so  genauere  Vergleiche  ziehen  können,  je  lebhaftere  Erinnerungs- 
bilder ihm  zur  Verfügung  stehen.  Bietet  so  schon  dieses  unerlässliche 
Vergleichen  in  Folge  Mangels  an  genügend  ähnlichen  oder  genügend 
lebhaften  Erinnerungsbildern  die  Gefahren  grosser  Ungenauigkeit,  so 
kommt  dazu  noch,  dass  das  Vergleichsurtheil  durch  irgend  welche  vor- 
gefasste  Meinungen  oder  dergleichen  ungünstig  beeinflusst  werden  kann. 

Die  Versuchsperson  hat  schliesslich  ihr  Urtheil  in  Worte  zu  fassen. 
Auch  hier  ist  die  erreichbare  Exactheit  eine   begrenzte.     Worte  wie 


Zur  Kritik  der  psychogenetiscben  Erforschung  der  Hysterie.  346 

„Angenehm",  „Lust",  „Heiterkeit"  werden  selbst  von  den  Pachpsycho- 
logen  verschieden  gebraucht.  Und  doch  kann  die  sprachliche  Fassung 
einer  psychologischen  Selbstbeobachtung  nur  dann  wissenschaftlichen 
Werth  haben,  wenn  sie  im  Hörer,  resp.  Leser  jene  Bewusstseinser- 
ßfcheinungen  wieder  hervorruft,  welche  die  sprachliche  Aeusserung  ver- 
anlassten.   Eine  absolute  Congruenz  ist  aber  auch  hier  nicht  zu  erreichen. 

So  ist  schon  bei  der  einfachen  Beobachtung  einer  Eigenschaft  einer 
Bewusstseinserscheinung  in  der  mannigfaltigsten  Art  die  Grundlage  für 
Fehlerquellen  gegeben.  Keine  jener  drei  der  einfachen  Selbst- 
beobachtung zu  Grunde  liegenden  geistigen  Opera- 
tionen bietet  die  Möglichkeit  einer  absoluten  Exacth^it 
dar.    Jede  aber  kann  zu  schwerwiegenden  Trugschlüssen  führen. 

Die  Frage  nun,  wie  die  möglichen  Fehlerquellen  der  primären 
Selbstbeobachtung  nach  Kräften  vermieden  werden  können  und  ob  sie 
in  ihrer  geringsten  Ausdehnung  noch  wissenschaftlich  verwerthbare  Re- 
sultate liefern,  ist  längst  von  den  Psychologen  entschieden  worden. 
Auswahl  von  Natur  zur  Selbstbeobachtung  befähigter  und  vorurtheijsfreier 
Versuchspersonen  und  gründliche  Einübung  dieser  ist  der  Weg,  der 
zur  möglichsten  Einschränkung  von  Ungenauigkeiten  führt.  Dass  sich 
bei  Erfüllung  dieser  Bedingungen  genügend  exacte  Eesultate  er- 
zielen lassen,  ist  eine  von  allen  Psychologen  getheilte  Ansicht.  Diese 
stützt  sich  dabei  auf  die  Thatsache,  dass  die  subjectiven  Wahrnehmungen 
der  Versuchsperson  als  congruent  den  objectiven  Einwirkuugen  des  Ex- 
perimentators befunden  wurden. 

2.  Die  Exactheit  der  Causalanalysen. 

Wir  haben  schon  in  der  Einleitung  hervorgehoben,  dass  wir  an 
die  Selbstbeobachtung  complicirte  Anforderungen  zu  stellen  haben. 
JSs  handelt  sich  nicht  nur  um  irgend  eine  Eigenschaft  einer  psychischen 
Erscheinung,  sondern  um  die  Frage ,  ob  die  betreffende  Erscheinung 
emotionellen  oder  suggestiven  Ursprungs  ist.  Die  Versuchsperson  muss 
za  diesem  Zweck  beobachten,  ob  ein  Parallelismus  zwischen 
der  Intensität  jenes  Phänomens  und  der  Stärke  der  Be- 
wusstseinsbeleuchtung  einer  intellec  tu  eilen  Erscheinung 
besteht.  Das  Beobachtungsobject  ist  also  viel  complicirter  als  die 
Feststellung  einer  bestinmiten  Eigenschaft  einer  Bewusstseinserscheinung. 
Die  Versuchsperson  hat  nicht  nur  zwei  Bewusstseinserscheinungen  zu 
beobachten,  sie  hat  nicht  nur  die  Intensität  der  genetisch  zu  ergrün- 
denden Erscheinung  und  daneben  die  Stärke  der  Bewusstseinsbeleuch- 


346  Oskar  Vogt 

tuDg  eines  intellectuellen  Phänomens  festzustellen,  sondern  sie  hat  zu- 
gleich die  zeitliche  Beziehung  zwischen  den  Veränderungen  dieser  beiden 
Momente  zu  erkennen.  Dazu  kommt,  dass  sie  dabei  noch  dem  er- 
schwerenden  Umstand  Rechnung  tragen  muss,  dass  gewisse  Stärkegrade 
der  Bewusstseinsbeleuchtung  des  intellectuellen  Phänomens  unter  der 
Schwelle  des  Bewusstseins  verlaufen.  Sie  sind  also  der  Selbstbeobach- 
tung unzugänglich  und  müssen  aus  den  bewussten  Stärkegraden  recoih 
struirt  werden.  Die  Beobachtung  der  bewussten  Stärkegrade  in  ihrem 
Verhältniss  zur  Intensität  des  genetisch  zu  ergründenden  Phänomens 
hinwiederum  wird  aber  durch  ein  anderes  Moment  sehr  behindert.  So» 
bal4  ich  eine  Bewusstseinserscheinung  einer  psychologischen  Beobadi- 
tung  unterziehe,  tritt  sie  in  neue  associative  Beziehungen:  und  zwar 
einmal  mit  den  Vergleichsobjecten  und  dann  mit  dem  sprachlichen  Aus* 
druck,  den  ich  meiner  Beobachtung  gebe.  Nun  ist  aber  für  eine  be« 
stimmte  Intensität  eines  bestimmten  Gefühls  mit  Bücksicht  auf  das 
Centrum  des  materiellen  Parallelvorgangs  des  intellectuellen  Substrates 
dieses  Gefühles  eine  bestimmte  Form  der  Zuleitung  und  Ableitung  der 
nervösen  Beizenergie  characteristisch.  Selbstverständlich  wird  diese 
Form  der  nervösen  Zuleitung  und  Ableitung  durch  Entstehung  neuer 
associativer  Beziehungen  modificirt.  ^)  Auf  diese  Weise  kann  ein  zuvor 
bestehender  Parallelismus  zwischen  einer  eine  emotionelle  Folgewirknng 
darstellenden  psychischen  Erscheinung  und  seinem  intellectuellen  Sub- 
strat verschwinden.  Aehnliche  Verhältnisse  können  bei  suggestiv  ausge- 
lösten Erscheinungen  vorkommen.  Wie  ich  zuerst  inForels^  Hypno- 
tismus  ausgeführt  habe  und  wie  sich  Lipps  ^)  später  auch  ausgesprochen 
hat,  ist  das  eigentliche  Wesen  der  Kealisation  einer  Suggestion  in  einer 
abnormen  Stauung  der  psychophysischen  Reizeuergie  («=3  psychischen 
Energie)  oder  —  was  eben  dasselbe  ist  —  in  einer  verminderten  Ab- 
leitung der  Reizenergie  in  associative  Bahnen  zu  suchen.  Wenn  dem 
so  ist,  dann  ist  es  klar,  dass  die  Schaffung  neuer  Associationen  die  sug- 
gestive Kraft  einer  Zielvorstellung  herabsetzen  muss.  So  kann  es  dann 
konmien,  dass  eine  Zielvorstellung  mehr  und  mehr  bewusst  wird,  ohne 
dass  das  Phänomen,  welches  die  suggestive  Folgewirkung  der  Zielva^ 
Stellung  darstellt,  an  Intensität  zunimmt. 

Es  ist  klar,   dass   diesen  verschiedenen  Momenten  nur  derjenige 

^)  Hierauf  ist  von  Breuer  und  Freud   in  eingehender  Weise  hingewisMiL 
Vgl.  ihre  „Studien  über  Hysterie". 

')  Forel,  Der  Hypnotismus.    3.  Aufl.,  pag.  122. 

^)  Lipps,  Zur  Psychologie  der  Suggestion.    Diese  Ztschr.  Bd.  VI. 


Znr  Kritik  der  psychogenetischen  Erforschung  der  Hysterie.  347 

Rechnung  tragen  kann,  der  auf  diesem  Gebiete  eine  ausgedehntere  Er- 
fahrung hat.  Diese  gewährt  allein  die  Möglichkeit,  die  entstehenden 
Unzulänglichkeiten  auf  ihr  geringstes  Maass  zurückzufuhren. 

Damit  sind  nun  aber  noch  nicht  die  Schwierigkeiten  erschöpft, 
denen  wir  bei  dem  Versuch  der  Aufdeckung  wirksamer  intellectueller 
Erscheinungen  begegnen.  Wir  haben  festgestellt,  dass  die  Versuchs- 
person einen  Parallelismus  zwischen  der  Intensität  des  genetisch  zu 
erklärenden  Phänomens  und  der  Stärke  der  Bewusstseinsbeleuchtung 
einer  intellectuellen  Erscheinung  zu  constatiren  hat.  Nun  sind  aber 
die  Intensität  einr  psychophysischen  Folgewirkung  und  die  Bewusstseins- 
beleuchtung einer  intellectuellen  Ursache  durchaus  nicht  zwei  so  ohne 
Weiteres  zu  vergleichende  Grössen.  Der  Begriff  des  P^allelismus  ist  des- 
halb von  sehr  vager  Natur.  Gesetzt  zum  Beispiel,  eine  intellectuelle  Er- 
scheinung A  hat  ein  Gefühl  B  zur  Folge.  A  ist  zur  Zeit  unter  der  Schwelle 
des  Bewusstseins.  Nun  ist  ein  dem  Gefühl  B  ähnliches  Gefühl  D 
früher  öfter  als  die  Gefühlsbetonung  eines  intellectuellen  Substrates  C 
aufgetreten.  Die  Versuchsperson  kommt  deshalb  auf  den  Gedanken, 
dass  im  vorliegenden  Falle  0  die  Ursache  von  B  sei.  Stellt  jetzt  die 
Versuchsperson  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  auf  G  ein,  so  wird  sein 
Gefühlston  D  ebenfalls  intensiver  werden.  Bei  der  Aehnlichkeit  nun 
zwischen  B  und  D  kann  die  Versuchspeiyon  die  Zunahme  von  D  für 
eine  solche  von  B  halten.  Diese  Verwechselung  wird  noch  sehr  unter- 
stützt durch  den  Umstand,  dass  gleichzeitig  im  Bewusstsein  existirende 
Gefühle  zu  einem  Gesammtgefuhl  verschmelzen.  So  constatirt  die 
Versuchsperson  einen  scheinbaren  Parallelismus  und  kommt  weiterhin 
zur  Annahme  durchaus  falscher  intellectueller  Ursachen.  Aehnliche 
Ueberlegungen  gelten  für  die  Aufdeckung  von  Zielvorstellungen,  die 
suggestiv  wirken. 

Wie  ist  nun  diese  Fehlerquelle  nach  Kräften  zu  vermeiden  ?  Meine 
Versuche  haben  wir  zwei  Anhaltspunkte  gegeben.  Nach  längerer  Ein- 
übung lernt  die  Versuchsperson  feinere  qualitative  Nuancen  in  der 
elementaren  Zusammensetzung  der  Gefühle  scharf  unterscheiden.  Sie 
wird  dann  ähnliche  Gefühle  wie  B  und  D  unterscheiden  können.  Dann 
aber  ist  weiter  noch  hervorzuheben,  dass  meist  derartige  scheinbare 
Intensitätszunahmen  emotioneller  oder  suggestiver  Folgewirkungen  bei 
Aufdeckung  eines  falschen  intellectuellen  Substrats  eine  sehr  geringe 
ist  im  Verhältniss  zur  Zunahme  bei  dem  Bewusstwerden  der  wahren 
intellectuellen  Ursache.  Um  aber  die  für  das  Aufdecken  wahrer 
intellectueller  Ursachen  characteristische  Intensitätszunahme  erkennen  zu 


348  Oskar  Vogt. 

können,  muss  die  Versuchsperson  ebenfalls  ErfalHungen  haben.  So  ist 
eine  längere  Einübimg  Voraussetzung,  um  mit  hinreichender  Sicherheit 
jenen  Parallelismus  zu  erkennen,  der  auf  ein  Causalverhältniss  zu 
schliessen  berechtigt.   Zwei  Beispiele  mögen  dieses  noch  näher  illustriren! 

Ich  frage  U.,  eine  nicht  weiter  in  der  psychologischen  Selbstbeobachtuiig  ge- 
übte Versuchsperson,  ob  er  gegenwärtig  Appetit  habe,  eine  Pflaume  zu  essen.  U. 
erklärt:  ,,Mit  grösstem  Vergnügen;  denn  es  ist  meine  Lieblingsfiracht".  Ich  ver- 
setze nunmehr  U.  in  eine  tiefe  Hypnose  und  rufe  in  ihm  einen  somnambulen  Traum 
des  Inhaltes  hervor,  dass  or  eine  Pflaume  essen  will  und  beim  Einbeissen  auf  einen 
Wurm  stösst.  U.  hat  während  der  einzelnen  Phasen  des  Traumes  entsprechende 
Bewegungen  gezeigt.  Während  er  bei  dem  Gedanken  eine  Pflaume  essen  zu  können, 
lächelte,  hat  er  während  der  zweiten  Hälfte  des  Traumes  einem  starken  Ekel  Aus- 
druck gegeben.  Ich  wecke  jetzt  U.  Er  ist  für  den  Traum  amnestisch  und  giebt 
an,  nichts  Besonderes  in  sich  zu  beobachten.  Ich  reiche  jetzt  U.  eine  Pflaume  und 
bitte  ihn,  sie  zu  essen.  U.  lehnt  dies  dankend  ab.  Nach  dem  Grund  gefragt,  er- 
klärt er,  er  habe  erst  zu  Mittag  Pflaumen  gegessen,  er  habe  jetzt  keinen  Appetit 
Ich  bitte  ihn,  trotzdem  die  Pflaume  zu  nehmen.  Er  nimmt  sie  in  die  Hand,  giebt 
sie  mir  aber  sofort  zurück.  Nein,  er  wolle  jetzt  keine  Pflaume  essen.  Es  sei  das 
nicht  gesund,  so  zwischendurch  Obst  zu  essen.  Ich  bitte  ihn  nochmals.  Er  nimmt 
die  Pflaume  wiederum,  führt  sie  gegen  den  Mund,  giebt  sie  mir  dann  aber  schnell 
wieder  zurück.  „Ich  sehe",  erklart  ü..  „dass  sie  auch  keine  essen.  Es  wäre  doch 
sehr  unhöflich  von  mir,  allein  eine  Pflaume  zu  essen".  Auf  eine  entsprechende 
Frage  von  meiner  Seite  erklärt  dann  U.,  dass  er  keinen  andern  Grund  habe,  die 
Pflaume  nicht  zu  essen.  Aber  die  genannten  Gründe  riefen  direct  in  ihm  einen 
Ekel  hervor  bei  dem  Gedanken,  die  Pflaume  essen  zu  müssen.  Ich  versetze  ü. 
nunmehr  in  ein  geeignet  eingeengtes  Bewusstsein  und  frage  ihn,  ob  er  jetzt  mir 
noch  einen  andern  Grund  für  seinen  Ekel  angeben  könnte.  Er  erklärt  nach  kurzem 
Besinnen,  dass  der  in  der  vorhergehenden  Hypnose  suggerirte  Traum  der  einzige 
Grund  seines  Ekels  gewesen  sei.  Ich  suggerire  ihm  nun  ein  Unbeeinflusstbieiben 
durch  dieses  Traumbild.  Wieder  geweckt,  verzehrt  er  jetzt  durchaus  mit  Behagen 
die  Pflaimie. 

In  diesem  Fall  suchte  also  die  in  solchen  Beobachtungen  ungeübte 
Versuchsperson  den  vorhandenen  Ekel  kritiklos  auf  intellectuelle  Sub- 
strate zurückzuführen,  die  in  ihr  früher  mehr  oder  weniger  ähnliche  Gre- 
fühle  hervorgerufen  hatten.  Ganz  ähnliche  Beobachtungen  sind  ja  Yon 
allen  Autoren  beschrieben,  die  posthypnotische  Realisationen  von  Sug- 
gestionen behandelten.  Soweit  die  Versuchspersonen  für  die  ihnen  ge- 
gebenen Suggestionen  amnestisch  waren,  suchte  sie  ihr  Handeln  durch 
Motive  zu  erklären,  die  früher  mehr  oder  weniger  ähnliche  Handlungen 
ausgelöst  hatten.  Vergleichen  wir  damit  das  Verhalten  einer  in  der 
Anstellung  derartiger  Causalanalysen  eingeübten  Versuchsperson! 

Ich  suggerire  der  Versuchsperson  A.  in  tiefer  Hypnose,  dass  A.  ein  besonders 
lächerliches  Bäckerkostüm,  das  auf  einem  kürzlich  stattgefundenen  Costümball  all- 
gemeine Heiterkeit  hervorgerufen,  vor  sich  sähe.     Die  Suggestion  realisirt  sich  in 


Zur  Kritik  der  psychogenetischen  Erforschung  der  Hysterie.  349 

Form  eines  somnambulen  Traums.  Aus  A.'s  Reden  ergiebt  sich,  dass  A.  sich  auf 
dem  Costümball  glaubt.  A.  giebt  seiner  Heiterkeit  über  jenes  lächerliche  Gostüm 
lauten  Ausdruck.  Darauf  wecke  ich  A.  A.  giebt  an,  sehr  heiter  zu  sein  und  Trieb 
zum  Lachen  zu  verspüren.  A.  erklärt  ferner  zu  vermuthen  auf  Grund  fniherer  Er- 
&hrungen,  dass  ich  A.  einen  Traum  suggerirt  habe.  A.  kann  aber  im  Wachsein 
nch  nicht  auf  diesen  Traum  besinnen. 

Ich:  „Ist  es  die  lächerliche  Scene,  die  wir  gestern  zusammen  erlebt  haben?" 

A. :  „Nein,  denn  wenn  ich  an  diese  Scene  denke,  so  beeinflusst  diese  nicht  in 
nennenswerter  Weise  meine  Heiterkeit  und  meinen  Trieb  zum  Lachen." 

Ich:  „Ist  es  der  Witz,  den  P.  Ihnen  gestern  erzählt  hat?" 

A. :  Nein,  denn  er  hat  jetzt  ebensowenig  Einfluss  auf  mich  gehabt,  wie  die 
lächerliche  Scene.  —  Ich  kann  im  Wachsein  nicht  das  intellectuelle  Substrat  meiner 
Heiterkeit  aufdecken." 

Ich:  „Rufen  Sie  sich  dann  'mal  eine  ganz  geringfügige  Einengung  des  Be- 
wusstseins  hervor!" 

A. :  „Ich  beobachte  jetzt  im  Bewusstsein  das  visuelle  Bild  einer  Bäckermütze. 
Dieses  Bild  macht  mich  lachen.  Das  Lachen  erscheint  mir  ganz  albern.  Trotzdem 
aber  constatire  ich  eine  Zunahme  meiner  Heiterkeit.  Auf  Grund  meiner  früheren 
Erfahrungen  muss  ich  eine  Beziehung  zwischen  der  Bäckermütze  und  der  Heiter- 
keit annehmen.  Einzelheiten  dieses  vermutheten  Zusammenhanges  bekomme  ich  bei 
diesem  Grade  von  Bewusstseinseinengung  nicht  heraus.  Ebensowenig  beobachte  ich 
eine  andere  Bewnsstseinserscheinung,  die  meine  Heiterkeit  steigert". 

Ich:  „Engen  Sie  jetzt  Ihr  Bewusstsein  weiter  ein!" 

A.:  „Jetzt  sehe  ich  vor  mir  das  ganze  lächerliche  Bäckercostüm,  das  ich  auf 
jenem  Gostümfest  gesehen  habe.  Gleichzeitig  nimmt  meine  Heiterkeit  stark  zu.  Mir 
erscheint  aber  die  Heiterkeit  immer  noch  nicht  logisch  begründet." 

Ich :  „Beobachten  Sie  sich  darauf,  wie  es  gekommen  ist,  dass  dieses  Bild  eines 
Bäckercostüms  zu  einer  Heiterkeit  in  Ihnen  geführt  hat!" 

A. :  „Ich  will  mich  darauf  beobachten.  —  Ich  sehe  mich  jetzt  auf  jenem  Gostüm- 
balL  Direct  vor  mir  ist  dieses  Bäckercostüm".  A.  lacht  laut.  Dann  fährt  A.  fort : 
^a  jetzt  wird  es  mir  klar.  Ich  habe  dieses  geträumt.  Und  mitten  in  dem  Traum 
haben  Sie  mich  plötzlich  geweckt". 

Ich:  „Wie  ist  dieser  Traum  entstanden?" 

A. :  „Ich  habe  inzwischen  noch  etwas  beobachtet.  Als  ich  feststellte,  dass  ich 
diesen  Traum  gehabt  hatte,  nahm  meine  Heiterkeit  weiter  zu.  Dann  aber  ist  sie 
schnell  geschwunden." 

Ich:  „Wie  erklären  Sie  sich  diese  Abnahme?" 

A. :  „Ich  habe  mir  gesagt,  es  sei  doch  lächerlich,  durch  solch  einen  Traum  der- 
artig in  seiner  Stimmung  beeinflusst  zu  sein.  Darauf  sind  die  Heiterkeit  und  der 
Lachtrieb  geschwunden.  Ich  kann  jetzt  an  das  Bäckercostüm  denken,  ohne  meine 
sor  Zeit  leicht  ernste  Stimmung  zu  verlieren.  —  Sie  haben  mich  gefragt,  wie  der 
Traum  entstanden  war.  Ich  will  darüber  nachdenken.  —  Sie  haben  ihn  mir  sug- 
gerirt. Entsprechend  Ihren  Worten  habe  ich  die  Traumbilder  gesehen.  Im  Moment 
hatten  mich  die  Traumbilder  vollständig  gefangen  genommen.  Ich  war  ihnen  gegen- 
über absolut  kritiklos.  Ich  habe  sie  für  wirklich  gehalten  und  hatte  meine  wirk- 
liche Situation  ganz  vergessen." 

Wir  sehen  in  diesem  Fall,  mit  welcher  Sicherheit  die  geübte  Ver- 


360  Oskar  Vogt 

Suchsperson  die  uns   von   yornherein  bekannte  Ursache  der  Heiterkeit 
aufgedeckt  hat. 

Es  muss  hier  nun  aber  hervorgehoben  werden,  dass  eine  längere 
Einübung  zu  einer  andern  Fehlerquelle  fuhren  kann.  Die  Versuchs- 
person kann  eine  yoreingenommene  Meinung  über  das  Verhältniss 
zwischen  zwei  Bewusstseinserscheinungen  A  und  B  haben.  Sie  kaoBr 
je  nachdem  sie  an  ein  Causalverhältniss  zwischen  A  und  B  glaubt  oder 
nicht,  sich  ein  solches  Auftreten  yon  A  und  B  suggeriren,  wie  es  dem 
angenommenen  Causalyerhältuiss  entsprechen  würde.  Dabei  kann  der 
ganze  primäre  Mechanismus  der  Selbstbeobachtung  genügend  esset 
functioniren.     Und  doch  werden  wir  ein  fehlerhaftes  Resultat  erzielen. 

Freud  hat  bereits  diesen  Punkt  berührt.^)  E2r  bestreitet  wenig- 
stens die  Möglichkeit,  durch  Fremd  Suggestion  das  Resultat  einer  Ana- 
lyse in  dieser  Weise  beeinflussen  zu  können.  Ich  möchte  durchsos 
nicht  ein  solches  Vorkommniss  in  Abrede  stellen.  Eine  viel  wichtigere 
Rolle  spielen  da  aber  noch  Autosuggestionen,  die  in  Yorurtheilen  oder 
unberechtigten  VerallgemeineruDgen  ihre  Begründung  haben.  Immer- 
hin muss  ich  aber  Freud  darin  beistimmen,  dass  sich  meist  die  cau- 
sale  Beziehung  zwischen  einer  intellectuellen  Ursache  und  ihrer  emo- 
tionellen oder  suggestiven  Folgewirkung  mit  solcher  Gewalt  der  Selbst- 
beobachtung aufdrängt,  dass  sich  die  Versuchsperson  schon  zur  An- 
nahme einer  causalen  Beziehung  verpflichtet  glaubt,  wo  sie  die  Einzel- 
heiten dieses  Zusammenhangs  noch  nicht  überschaut,  wo  also  noch  jedes 
Raisonnement,  wie  es  einer  Suggestion  zur  Basis  zu  dienen  pflegt,  fehlt 

Hierzu  kommt  nun  noch  der  Umstand,  dass  es  bei  zuverlässigen 
Versuchspersonen  ein  Mittel  giebt,  die  Fehlerquelle  stets  zu  vermeiden. 
Die  Versuchsperson  muss  sich  darauf  beobachten,  ob  Suggestionen 
irgendwie  das  Resultat  ihrer  Analyse  beeinflussen.  Wie  ich  bereits  in 
meinem  ersten  Artikel  behauptet  habe,  lassen  sich  alle  suggestiven 
Wirkungen  im  eingeengten  Bewusstsein  durch  Aufdecken  ihrer  Ziel- 
vorstellungen erkennen.  Habe  ich  daher  in  einer  kritischen  Selbst- 
beobachtung hinreichend  geübte  Vorsuclispersonen,  so  werde  ich  der- 
artige Beeinflussungen  aufdecken  und  damit  vermeiden  können. 

Damit  scheint  mir  die  theoretische  Würdigung  aller  der  Mängel 
die  einer  Causalaiialyse  durch  die  Selbstbeobachtung  anhaften  können, 
erledigt  zu  sein.  Ich  habe  sie  absichtlich  so  eingehend  erörtert,  um 
darzuthun,   dass   mir  die  mannigfachen  Fehlerquellen,  die  meiner  Me- 


^)  Breuer  und  Freud,  Studien  über  Hysterie,  pag.  260. 


Zur  Kritik  der  psychogenetischen  Erforschung  der  Hysterie.  351 

thode  drohen,  wohl  bewusst  sind.  Um  gute  Golgische  Präparate 
zu  erzielen,  muss  man  eine  Reihe  meist  üblicher  technischer  Proceduren 
Tenneiden,  weil  diese  das  Gelingen  in  Frage  stellen.  Die  Möglichkeit 
dieser  Vermeidung  ist  aber  an  eine  Kenntniss  aller  schädlich  wirkenden 
Proceduren  gebunden.  In  ähnlicher  Weise  setzt  auch  unsere  Methode 
eine  genaue  Kenntniss  aller  möglichen  Fehlerquellen  voraus.  Nur  so 
werden  wir  diese  soweit  einschränken  können,  dass  wir  im  Stande  sind, 
wissenschaftlich  verwerthbare  Analysen  zu  erzielen. 

Ist  nun  aber  auch  bei  genügender  Kenntniss  der  Fehlerquellen 
ihre  erforderliche  Einschränkung  möglich  ?  Wir  haben  oben  festgestellt, 
dass  die  wissenschaftliche  Verwerthbarkeit  der  primären  Selbstbeobach- 
tung durch  den  experimentellen  Nachweis  einer  genügenden  Congruenz 
aswischen  den  subjectiven  Wahrnehmungen  und  den  objectiven  Ursachen 
dieser  Wahrnehmungen  bewiesen  ist.  Der  wissenschaftliche  Werth  von 
Oausalanalysen  kann  ebenfalls  nur  auf  experimentellem  Wege  erbracht 
werden.  Ich  habe  zahlreiche  von  mir  hervorgerufene  emotionelle  und 
suggestive  Folgewirkungen  einer  Causalanalyse  unterzogen  und  habe 
überall  da  —  wo  ich  von  vornherein  die  Fehlerquellen  nach  Kräften 
verminderte  —  eine  durchaus  befriedigende  Congruenz  zwischen  meinen 
Einwirkungen  und  den  Eesultaten  der  Oausalanalysen  feststellen  können. 
Die  Selbstbeobachtung  einer  dazu  befähigten  und  ein- 
geübten Versuchsperson  vermag  causale  Beziehungen 
zwischen  verschiedenen  Bewusstseinserscheinungen  auf- 
zudecken. 

Wir  haben  damit  die  Möglichkeit  einer  Causalanalyse  einer  kritischen 
Besprechung  unterzogen.  Nun  enthält  aber  die  von  mir  empfohlene 
Methode  noch  ein  zweites  wesentliches  Moment.  Auch  dieses  kann  die 
Kritik  herausfordern.  Ich  meine  den  umstand,  dass  wir  die  Analyse 
in  einem  suggestiv  eingeengten  Bewusstsein  vornehmen  lassen. 
Dieser  Punkt  soll  uns  im  Folgenden  beschäftigen ! 

IL 

Selbstbeobachtung  und  eingeengtes  Bewusstsein. 

Dass  eine  wissenschaftliche  Selbstbeobachtung  in  einem  geeigneten 
systematischen  partiellen  Wachsein  möglich  ist,  sehe  ich  als  erwiesen 
an«    Das,   was  ich  in   Bezug  darauf  in  meinen   früheren  Arbeiten^) 

*)  Vgl.  vor  Allem:  O.  Vogt,  Die  directe  psychologische  Experimentalmethode 
in  hypnot.  Bewusstseinszuständen.    Diese  Ztschr.  Bd.  V. 


362  Oskar  Vogt. 

behauptet  habe,  kann  ich  auf  Grund  meiner  weiteren  Erfahrung  toII- 
ständig  aufrecht  erhalten.  Dazu  kommt  noch,  dass  ich  die  Freude 
habe,  constatlren  zu  können,  dass  auch  der  Begründer  der  directen 
psychologischen  Experimentalmethode ,  W  u  n  d  t '),  neuerdings  diese 
Möglichkeit  zugiebt.  Dagegen  sind  es  zwei  andere  Punkte,  die  mir 
einer  Erörterung  bedürftig  erscheinen.  Zu  dieser  Meinung  fuhren  mich 
gewisse  methodologische  Angaben  Freuds.  Sie  betreffen  einmal  die 
Nothwendigkeit  des  eingeengten  Bewusstseins  für  die  Causalanalyse  und 
dann  das  Verhalten  des  Experimentators. 

1.  Zur  Nothwendigkeit  der  Bewusstseinseinengung. 

Freud  hat  bei  seinen  Versuchen,  die  —  wie  ^ir  schon  herror- 
gehoben  haben  -)  —  im  Wesentlichen  nur  eine  Erweiterung  der  Anamnese 
darstellen,  angegeben,  dass  er  ohne  Nachtheil  auf  eine  Hypnose  hat  ver- 
zichten können.  Auf  der  einen  Seite  hat  Freud  —  wie  wir  ebenfalls 
schon  ausgeführt  haben  —  niemals  das  geeignete  systematische  par- 
tielle Wachsein  zu  erstreben  gesucht,  sondeni  nur  eine  beliebige  Hyp- 
nose. Auf  der  anderen  Seite  operirte  er  meist  so,  dass  er  durch  ganz 
specialisirte  Waclisuggestionen  eine  Hypermnesie  für  eine  einzelne  Yor- 
stelhmg  zu  erstreben  suchte.  Auf  die  schädlich  suggestive  Wirkung 
solcher  Wachsuggestiouen  werden  wir  im  nächsten  Abschnitt  zurückzu- 
kommen haben.  Hier  muss  ein  anderer  Punkt  hervorgerufen  werden.  Die 
Freud 'sehen  Wachsuggestionen  hatten  manchmal  wohl  nur  deshalb 
ein  positives  Kesultat,  als  sie  den  Kranken  zu  einem  Geständniss  ver- 
anlassten. Ein  Kranker  aber,  der  erst  zu  Geständnissen  veranlasst 
werden  muss,  ist  für  exacte  Versuche  ungeeignet.  Eine  erste 
Anforderung,  die  wir  an  unsere  Versuchspersonen  stellen  müssen,  ist 
die,  dass  sie  rücklialtlos,  mit  absoluter  Offenheit  alles  sagen,  was  ihre 
Selbstbeobachtung  sie  erkennen  lässt.  Ich  weiss  sehr  wohl,  dass  diese 
Forderung  nur  ausnahmsweise  erfüllbar  ist.  Ich  habe  aber  auch  immer 
behauptet,  dass  zuverlässige  Versuchspersonen  sehr  selten  sind.  Die 
Frage  also  nach  geeigneten  Kniffen,  den  Widerstand  der  Krauken  gegen 
gewisse  Geständnisse  zu  überwinden,  interessirt  uns  nicht  in  dem  gegen- 
wärtigen Zusammenhang. 

Die  Frage  von  dem  Werth  der  Bewusstseinseinengung  für  die  von 
uns  erstrebten  Causalanalysen  kann  nur  durch  Parallelversuche  gelöst 


^)  Wundt,  Grundriss  der  Psychologie.    3.  Aufl..  pag.  326  f. 
»)  Diese  Ztsclir.  Bd.  VIIL  pag.  81. 


Zur  Kritik  der  psychogenetiichen  Erforschung  der  Hysterie.  363 

werden.  Die  Frage  muss  methodologisch  in  ähnlicher  Weise  gelöst 
werden,  wie  die,  ob  oberflächliche  oder  tiefe  Hypnosen  vom  therapeutischen 
Standpunkt  den  Vorzug  verdieoen.  Ich  habe  nun  alle  vorgenommenen 
Causalanalysen  zunächst  im  Wachsein,  dann  im  wenig  stark  und  dann 
im  stärker  eingeengten  Wachsein  vornehmen  lassen.  Dabei  verhielt 
sich  die  Leistungsfähigkeit  der  Selbstbeobachtung  im  Wachsein  zu  der 
im  schwach  eingeengten  Bewusstsein,  wie  die  letztere  zu  der  im  stark 
eingeengten  Bewusstsein.  Stellen  wir  die  Analysen  im  gewöhnlichen 
Wachsein  derjenigen  im  systematischen  partiellen  Wachsein  gegenüber, 
80  ergiebt  sich  folgendes  Resultat.  In  einer  grossen  Beihe  von  Fällen 
wurde  im  eingeengten  Bewusstsein  eine  causale  Beziehung  aufgedeckt, 
wo  eine  vorangegangene  Analyse  im  Wachsein  dazu  nieht  im  Stande  ge- 
wesen war.  In  den  Fällen,  wo  bereits  die  Selbstbeobachtung  im  Wachsein 
solche  Zusammenhänge  nachwies,  ergab  eine  daran  angeschlossene  Ana- 
lyse im  systematisch  eingeengten  Wachsein  ein  viel  exacteres  und  an 
Details  reicheres  Bild  von  der  Genese  der  darauf  zu  untersuchenden 
Erscheinung.  Ich  habe  früher^)  von  diesem  eingeengten  Bewusstsein 
behauptet,  dass  es  für  den  die  directe  psychologische  £xperimentalmethode 
pflegenden  Psychologen  eine  Art  Microscop  darstelle.  Die  Besultate 
der  Analyse  in  jenem  Bewusstseinszustand  verhalten  sich  zu  denen  des 
Wachseins  wie  die  der  microscopischen  Anatomie  zu  denjenigen  der 
macroscopischen.  Dementsprechend  würde  ich  es  direct  für 
falsch  halten,  die  Einleitung  des  eingeengten  Bewusst- 
seins  da  zu  unterlassen,  wo  ich  wissenschaftliche  Ana- 
lysen vornehmen  will.  Wir  haben  oben  gesehen,  dass  die  Causal- 
analyse  sehr  weit  hinter  einer  absoluten  Ehcactheit  zurückbleibt.  Daraus 
allein  resultirt  bereits  die  Forderung,  alles  anzuwenden,  was  die  Analyse 
jenem  Ideal  näher  bringt. 

Das  Verhalten  des  Experimentators. 

In  diesem  Abschnitt  habe  ich  mich  gegen  zwei  Momente  zu  wenden, 
welche  die  Freudsche  Methode  characterisiren.  Wir  haben  soeben 
festgestellt,  dass  dieser  Autor  specialisirte  Wachsuggestionen  anwendet, 
um  die  gegenwärtige  Bewusstseinsunfähigkeit  gewisser  intellectueller  Elr- 
scheinungen  zu  beseitigen.  Wir  haben  nun  auf  der  andern  Seite  die 
Möglichkeit  constatirt,  dass  unter  dem  Einfluss  von  Suggestionen  die 
Selbstbeobachtung  zur  Behauptung  irriger  Causalbeziehungen  führen 


1)  Diese  Ztschr.  Bd.  V,  pag.  218. 
ZeiUehrift  für  HypnoUsmuf  eto.    YIU.  23 


354  Oikar  Vogt 

kann.  Ich  kann  eben  nicht  mit  Freud  die  Unmöglichkeit  solcher 
suggestiven  Beeinflussungen  behaupten.  Unter  solchen  Umstän* 
den  werden  wir  detaillirte  Suggestionen  zur  Erzielung 
einer  speciellen  Hypermnesie  auf  das  Aengstlichste  Ter- 
meiden.  Wir  sind  dazu  um  so  mehr  verpflichtet^  als  sich  uns  g^en- 
über  die  hysterische  Person  nicht  nur  in  der  Abhängigkeit  eines  Hypno- 
tisirten ,  sondern  auch  der  eines  Kranken  befindet.  ^)  Im  Gegentheil, 
wir  müssen  —  wie  wir  schon  oben  hervorgehoben  haben  —  immer 
darauf  fahnden,  ob  nicht  derartige  suggestive  Einwirkungen  in  der  Ver- 
suchsperson nachzuweisen  sind,  sei  es,  dass  sie  einem  äussern  Einfluss, 
sei  es,  dass  sie  inneren  Gründen  ihren  Ursprung  verdanken. 

Dann  ist  es  noch  ein  Punkt,  der  entschieden  die  Kritik  herausfor- 
dert. Bei  der  Freudschen  Methode  ist  es  der  Experimentator, 
welcher  aus  den  einzelnen  Angaben  der  Kranken  die  causalen  Zu- 
sammenhänge herausconstruirt.  Hier  fehlt  dann  natürlich  von  vorne 
herein  jene  eingehende  Controlle  der  Oausalanalyse  durch  die  Selbst- 
beobachtung, wie  wir  sie  als  unerlässliche  Bedingimg  dann  ansehen, 
wenn  wir  die  Exactheit  unserer  Methode  anerkannt  wissen  wollen.  Der 
Experimentator  muss  sich  jeder  derartigen  Construction  enthalten.  Er 
muss  die  gesammte  Analyse,  die  Aufdeckung  aller  cau- 
salen Beziehungen  der  Versuchsperson  überlassen.  Nur 
da,  wo  eine  zuverlässige  Versuchsperson  causale  Beziehungen  feststellt, 
haben  wir  jene  Ekactheit  vor  uns,  von  der  wir  verlangen  können,  dass 
sie  wissenschaftlich  ernst  genommen  wird,  da  sie  nicht  nur  die  grösst- 
möglichste  Exactheit  in  der  Causalanalyse  aufweist,  sondern  gleichzeitig 
eine  Exactheit,  die  durch  die  positiven  Resultate  dieser  Methode  als 
eine  genügende  hingestellt  wird. 

Mit  diesen  letzten  Worten  haben  wir  dann  aber  von  Neuem  den  ent- 
scheidenden Moment  in  der  Kritik  unserer  Methode  berührt.  Keine 
Dialektik  wird  einer  Methode  zur  Anerkennung  verhelfen.  Es  ist  nur 
ihre  Ausbeute,  die  dazu  im  Stande  ist.  Diese  wird,  soweit  sie  spedell 
für  hysterische  Erscheinungen  in  Betracht  konmit,  uns  später  be- 
schäftigen. Erst  hernach  aber  wird  sich  der  Leser  ein  Bild  von  der 
Brauchbarkeit  meiner  Methode  machen  können.  Eine  Kritik  hat  bis 
dahin  zu  warten  und  sich  dann  auf  Erfahrungen  zu  stützen,  welche 
die  meinigen  zu  entkräften  geeignet  sind. 


0  Vgl  diese  Ztechr.  Bd.  VIH,  pag.  72. 


Zar  Kritik  der  hypnogenetlBclien  Erforschung  der  Hysterie.  355 


Zusammenfiissimg. 

1.  In  einem  vorangehenden  Aufsatz  habe  ich  die 
Forderung,  die  ätiologische  Erforschung  der  Hysterie 
mit  einer  Aufdeckung  aller  suggestiv  und  emotionell 
Ausgelösten  hysterischen  Phänomene  zu  beginnen,  damit 
begründet,  dass  in  gewissen  Fällen  diese  Aufdeckung 
•eben  so  gut  möglich  ist  wie  die  normaler  suggestiven 
and  emotionellen  Folgewirkungen. 

2.  Für  die  letzteren  existirt  diese  Möglichkeit  in 
hinreichend  ezacter  Weise. 

3.  Diese  hinreichend  exacte  Weise  hat  zur  Voraus- 
setzung, dass  vorurtheilsfreie,  zur  kritischen  Selbstbe- 
obachtung geeignete  und  in  Causalanalysen  hinreichend 
geübte  Personen  zu  den  Versuchen  ausgewählt  werden, 
dass  ihnen  dabei  der  Vortheil  des  eingeengten  Bewusst- 
86 inszuTheil  wird,  dass  sie  durch  specielle  Suggestionen 
nicht  beeinflusst  werden,  und  dass  man  ihnen  die  ge- 
sammte  Causalanalyse  überlässt.  Nur  so  werden  die 
Schwierigkeiten  der  letzeren  überwunden  werden. 


23» 


Referate  und  Besprechungen.  * 


W,  von  BeditereWy  Saggestioiiand  ihre  sociale  Bedeatung.   Leipqf» 
Arthur  Georgi,  1899. 

£ine  Beeinflosaang  unserer  Seelensphäre  ist  auf  zweierlei  Art  möglich.  Alles 
was  das  persönliche  Bewusstsein  dem  loh  durch  bewusstes  Umgestalten  und  innert 
Aufarbeitung  einverleibt,  beruht  auf  der  „logischen  üeberzeugung*',  was  in  unmittel- 
barer üebertragung  mit  Umgehung  des  Willens,  ja  oft  sogar  des  Bewnsstseina  der 
Psyche  eingeimpft  wird,  beruht  auf  der  ^Suggestion".  Zwischen  beiden  steht  dia 
Beeinflussung  durch  „Befehl  und  Beispiel",  welche  Bestandtheile  der  Suggestioa 
und  der  logischen  Ueberzeogung  enthalten.  Damach  ist  Suggestion  ^eiae  besondere 
Art  der  Beeinflussung  eines  Individuums  durch  ein  anderes,  welche  von  letzterem 
mit  oder  ohne  Absicht,  ohne  Vorwissen  oder  auch  in  bestimmtem  EinverstandnisM 
mit  ersterem  ausgeübt  wird".  Die  Suggestion  wirkt  daher  unmittelbarer,  der 
Umfang  ihres  Ausbreitungsgebietes  ist  daher  grösser.  Am  besten  wirken  Suggestionen 
in  der  Hypnose  „einer  künstlich  erzeugten  Varietät  des  normalen  Schlafes".  Die 
Gefahr  verbrecherischer  Suggestionen  hält  B.  nicht  für  gross,  da  sich  seiner  Ansicht 
nach  dazu  nur  schon  zu  Verbrechen  disponirte  Individuen  eignen.  Auch  B.  betont^ 
dass  die  Suggestibilität  nicht  direct  proportional  ist  der  Tiefe  der  Hypnose. 

Zur  suggestiven  Einwirkung  ist  jedoch  nicht  immer  hypnotischer  Schlaf  nöthig, 
auch  Wachsuggestionen  wirken  in  geeigneten  Fällen  ebenso  nachhaltig  und  tief- 
gehend. Einige  Beispiele  von  Wunderdoctoren  und  Propheten  werden  angefahrt 
mit  ihren  auf  Suggestion  beruhenden  Einwirkungen  auf  ihre  Zeitgenossen.  Ak 
correlative  Suggestion  ist  die  unwillkürliche  und  unbeabsichtigte  gegenseitige  Be- 
einflussung der  Menschen  untereinander  zu  bezeichnen. 

Wenn  man  sich  nun  die  Frage  vorlegt,  auf  welche  Weise  die  Beeinflussung 
nun  eigentlich  vor  sich  geht,  so  ist  jedenfalls  eine  telepathische  Üebertragung  von 
Gedanken  und  Seelenzuständen  bisher  durch  nichts  bewiesen,  dagegen  ist  am  ein- 
leuchtendsten die  Üebertragung  durch  die  Sinnesorgane.  Bekannt  ist  die  suggestive 
Einwirkung  durch  Gehör  und  Gesicht,  durch  den  Tast-,  Muskel-  und  Geruchssinn. 

Das  Gebiet  der  unwillkürlichen  und  unbewussten  Suggestionswirkung  ist  ausser- 
ordentlich umfassend,  am  überzeugendsten  kommt  dieselbe  in  der  Üebertragung 
krankhafter  Seelenzustände  zum  Ausdruck,  in  dem  inducirten  Wahnsinn,  den 
Massenhallucinationen  und  -illusionen.    Es  werden  mehrfache  Beispiele  angefahrt 


Heferate  und  BesprechnngeiL  3B7 

Ton  Hassenilliuionen  bei  Seeleuten,  religiösen  Hallncinationen  ganzer  BeyÖlkerangen, 
Tom  suggestiven  Einflnss  mancher  Familienlegenden  auf  die  Handlangen  der  Mit- 
glieder dieser  Familien,  zn  dem  in  vielen  Fällen  noch  verstärkend  die  Anto- 
anggestion  hinzukommt.  Als  besonders  lehrreiche  Beispiele  erinnert  B.  hier  an  die 
Erscheinungen  des  besonders  in  Russland  blühenden  Sectenwesens ,  die  psycho- 
pathischen Epidemien,  deren  Infectionsstoff  meist  dem  religiösen  Yorstellungsleben 
der  Menschen  entstammt.  B.  schildert  als  Beispiele  einige  Besessenheitsepidemien, 
die  verrückten  und  hysterischen  Convulsionäre,  den  Hexenglauben,  die  Exorcisten, 
alles  Beispiele ,  die  schon  von  anderen ,  in  besonders  erschöpfender  Weise  von 
St  oll,  beschrieben  und  hinsichtlich  des  Antheils,  den  an  ihnen  die  Suggestion  hat, 
untersucht  worden  sind. 

Fast  die  ganze  nun  folgende  Hälfte  von  B's.  Au&atz  wird  eingenommen  von 
der  Geschichte  einer  in  den  letzten  Jahren  in  Südrussland  aufgetretenen  religiösen 
psychischen  Epidemie,  des  Maljovannismus,  der  schon  einmal  1893  der  Gegen- 
stand specieller  Studien  Ssikorski's  gewesen  ist.  Der  Urheber  dieser  Epidemie 
war  Kondrat  Maljovanny,  ein  im  März  1892  in  das  Hospital  in  Kiew  einge- 
lieferter chronisch  Geisteskranker.  Er  ist  durch  Trunksucht  der  Eltern  belastet, 
felbst  dem  Trünke  bis  zu  seinem  40.  Lebensjahre  ergeben  und  litt  seit  vielen 
J'ahren  an  Schlaflosigkeit,  Schwermuth  mit  Suicidalideen.  In  dieser  Stimmung  kam 
er  unter  den  Einfluss  stundistischer  Lehren  und  durch  diese  zum  religiösen 
Prophetenthum  mit  religiösen  Uebungen,  Predigten  und  Ekstasen,  die  sich  bis  zu 
Zittern  und  Krämpfen  des  ganzen  Körpers  steigerten.  Weiter  stellten  sich  dann 
bald  Hallncinationen  und  Wahnideen  ein.  Die  Krämpfe  und  Sinnestäuschungen 
iheilten  sich  oft  auch  einigen  von  seinen  Anhängern  mit,  die  ihm  in  grosser  Menge 
snliefen.  Ausführlich  werden  dann  noch  an  der  Hand  der  in  Kiew  und  in  der 
Irrenanstalt  in  Kasan  aufgenommenen  Krankengeschichten  die  Wahnideen  M's.  ge« 
•cbüdert,  der  sich  für  den  Sohn  Gottes  und  den  Verkünder  des  wahren  Evangeliums 
hält.  Seine  Lehren  fanden  über  tausend  Anhänger,  die  ihre  Arbeit  liegen  Hessen, 
ihren  Besitz  veränsserten  und  unter  Essen  und  Gebet  den  nahen  Weltuntergang 
erwarteten. 

Die  Entstehung  der  Psychose  bei  Maljovanny  denkt  sich  Verfasser  folgender- 
maassen.  M.  besass  ein  in  Folge  der  Belastung  und  des  Alkoholismus  geschwächtes 
Nervensystem.  Die  seit  seinem  Uebertritt  zum  Stundismus  unausgesetzte  intensivste 
Beschäftigung  mit  religiösen  Ideen  führte  in  dem  Zustande  der  Ekstase  gewisser- 
maassen  auf  autosuggestivem  Wege  zu  Hallncinationen,  diese  erzeugen  wieder 
suggestiv  die  Wahnideen,  „eine  Reihe  von  Hallucinationen  sehen  wir  seine  Psyche 
mit  suggestiver  Gewalt  beeinflussen,  sein  Bewusstsein  sich  dienstbar  machen  und 
ihn  selbst  schliesslich  zu  jenem  Predigerthum  hinfuhren." 

Die  von  Ssikorsky  untersuchten  Anhänger M's.  zeigten  vielfach  dieselben  Züge 
wie  ihr  Meister,  dieselben  Wahnideen,  Zuckungen,  Hallucinationen  und  zwar  hatten 
SO  Proc.  der  Untersuchten  besonders  Geruchshallucinationen,  femer  Hallucinationen 
des  Gemeingefühls,  das  Gefühl  der  Leichtigkeit,  GewichÜosigkeit  und  Körperlosig- 
keit.  Die  Krämpfe  tragen  den  Character  der  kleinen  und  grossen  Hysterie: 
^Unter  allgemeinem  Lärm,  Geschrei  und  Durcheinander  sieht  man  die  Einen  bin- 
ttflnsen,  wie  vom  Blitze  getroffen,  andere  entzückt  oder  kläglich  schreien,  weinen, 
springen,  in  die  Hände  klatschen,  sich  selbst  gegen  die  Stirn  oder  vor  die  Brust 
•ehlagen,  an  den  Haaren  reissen,  mit  den  Füssen  stampfen,  tanzen,  alle  möglichen 


3gg  Referate  und  Beiprechmigeii. 

Töne  lind  Rufe  von  sich  i^ben.  entiprecfaend  den  yenduedenen  EmotioniKiis&ide» 
von  Freude,  Gluck.  Verzweiflnngf  Furcht.  Entsetzen,  Erstaunen.  Andacht,  des 
A  nsdmck  physischen  Schmerzes,  der  Geruchs-  und  fl*«»>immnlr«w^m^hwiiing-  q.  t.  w. 
Noch  Andere  ahmen  Hundegebeilt  Pferdegewieher  und  sonstige  wilde  Tonee  nach. 
Hüuiig  währen  die  Krämpfe  bis  zu  yoller  Erschöpfung."  Die  Convnljäonen,  denea 
die  XatjoTanniten  grosse  Bedeutung  beimessen,  da  sie  sie  für  Aeuasemn^n  eines 
fföttWehen  Princips  in  den  3Ienschen  halten,  traten  am  lülufigsten  und  intenaiTBiea 
in  ihren  Versammlungen  und  besonders  in  ihren  Andachtsznsammenkünflen  ao^ 
seltener  unter  anderen  Verhältnissen.  Welche  Elolle  der  Suggestion  bei  der  £ni- 
Rtehnng  der  Erscheinungen  zukommt,  geht  schon  daraus  hervor,  dass  sie  am  vtirkitai 
nnd  häufigsten  in  den  Versammlungen  auftreten  und  eine  ausserordentliche  Aehn- 
lichkeit  mit  den  bei  dem  Propheten  Maljovanny  selbst  beobachteten  haben. 

Auf  denselben  suggestiven  Einflüssen  beruhen  die  ganz  analogen  Erseheinungen 
hei  anderen  Secten,  den  Chlysten.  Duchoborzen  und  Skopzen.  Nicht  nur  rohe  und 
ungebildete  Bevölkerungen  jedoch  unterliegen  diesem  Banne  der  Suggestion,  sondern 
auch  hochstehende,  denn  auch  in  den  Anschauungen  des  Mysticismna,  Spiritisnuis 
und  Theosophismus  sind  die  suggestiven  Einflüsse  nicht  zu  vermissen. 

Ausser  diesen  direct  psychopathologisch  zu  nennenden  Epidenden  erzeugt  die 
wechselseitige  Saggestion  auch  psychische  Epidemien,  die  nicht  als  pathologisch 
im  engeren  Sinne  zu  bezeichnen  sind.  Als  solche  sind  nach  B.  anzusehen  die 
Panik,  die  Kreuzzüge,  viele  in  Volksversammlungen  und  -ansammlungen,  in  Kriegen 
zu  Tage  tretenden  Erscheinungen.  Die  g^sse  sociale  Bedeutung  der  Suggestion 
liegt  einerseits  in  der  Zusammenschweissung  der  seelischen  Einzelexistenzen  zu  dem 
grossen  Bewusstsein  der  Massen,  andererseits  in  der  Steigerung  der  Activitat  und 
Aggressivität  der  Hassen,  die  unter  dem  unmittelbaren  Banne  der  Suggestion  der 
iingelieuerston  Krafbentfaltungen  und  Wirkungen  fähig  sind.  Daraus  erklärt  sieh 
auch  der  gewaltige  Einfluss,  den  viele  historische  Persönlichkeiten  wie  Jeanne 
(i'Arc,  Mahomet,  Poter  der  Grosse,  Napoleon  mit  Hülfe  der  Massen,  deren  Ideen 
lind  Wünsche  sie  in  sich  zu  verkörpern  wussten,  auf  die  Völkergeschichte  ausgeübt 
hnhen.  Daraus  erhellt  auch  die  historische  Bedeutung  des  Individuums  gegenüber 
der  Masse.  Unter  vielem  Schlimmen  lässt  sich  also  auch  vieles  Gute  in  dem  socialen 
Leben  der  Menschheit  auf  die  Wirkung  der  Suggestion  zurückfuhren. 

Verfasser  bekennt  am  Schlüsse  selbst,  dass  es  nicht  möglich  ist  in  einer  knnen 
Iletrachtung  dem  Stoffe  gerecht  zu  werden.  Ausser  der  sehr  interessanten  6e- 
sohlrhto  der  Maljovanniten  enthält  die  Arbeit,  wie  wir  gesehen  haben,  wohl  kaum 
etwas  Neues.  Tecklenburg-Leipzig. 

W,  von  Bechterew,  Bewusstsein  und  flirnlocalisation.  Leipzig, 
Arthur  Geurgi.  18U8. 

Pms  Seelenleben  setzt  sich  zusammen  aus  bewussten  und  unbewuasten  Thatig- 
keiten.  Der  augenfälligste  Typus  einer  einfachen  unbe¥rus8ten  Thätigkeit  ist  der 
Uetlex  und  sein  Sitz  gewöhnlich  ein  untergeordnetes  Centrum  des  NenrensysteBS. 
l>a  jedoch  auoli  einfachste  Ucflexthätigkeit  oft  mit  Bcwusstseinserscheinungen  ein- 
heritehen  kenn,  so  entsteht  die  Frage,  ob  Bewusstsein  auch  in  den  niederen  Gentren* 
dem  Hits  der  Uetlexe  zu  Stande  kommen  kann.  Davon  geht  B.  ans  nnd  definirt 
sunäohst  den  HegritT  des  Bewusstseins  im  weiteren  Sinne  als  „die  Qesammtheit 
alles  dessen,  was  das  Individuum  aus  sich  selbst  heraus  in  Er&hmng  bringen  kann, 


Keferate  und  Besprechungeii.  369 

alles  dessen  also,  was  das  Gebiet  der  Innenwelt  angeht'',  unsere  Kenntniss  von 
dem  eigenen  Bewosstsein  stammt  allein  aus  der  Selbstbeobachtung,  von  dem  Anderer 
aus  deren  Mittheilungen  der  Resultate  ihrer  Selbstbeobachtung.  Sehen  wir  von 
diesen  Mittheilungen  ab,  die  bei  allen  anderen  Beobachtungsobjecten  ausser  dem 
Menschen  so  wie  so  wegfallen,  so  bleiben  uns  als  objective  Kennzeichen  zur  Beur- 
theiiung  des  Bewusstseinszustandes  nur  die  Bewegungserscheinungen  übrig,  die 
eventuell  den  Ausdruck  der  Bewusstseinsthätigkeit  bilden,  deren  Zweckmässigkeit 
an  und  für  sich  jedoch  noch  kein  Criterium  für  die  Annahme  einer  bewussten 
Thätigkeit  sind,  wie  einige  Autoren  annehmen,  da  auch  unbewusste  reflectorische 
Vorgänge  zweckmässig  sein  können.  Der  Unterschied  liegt  in  der  bei  aller  Zweck- 
mässigkeit stereotypen  Starrheit  des  auch  mit  Bewusstseinselementen  verknüpften 
Reflexes  gegenüber  der  mannigfachen  Anpassungsfähigkeit  der  „willkürlich  wählenden" 
bewussten  Bewogungserscheinung ,  welche  auf  der  individuellen  Erfahrung  beruht. 
^Wo  immer  Bewegung  das  Merkmal  individueller  oder  willkürlicher  Wahl  trägt, 
da  giebt  es  bewusste  Diöerenzirung  der  äusseren  Eindrücke  und  Gedächtniss  — 
die  ersten  und  grundlegenden  Erscheinungen  des  Bewusstseins.** 

Diese  Erscheinungsformen  des  sich  in  Bewegfungen  „bethätigenden'^  Bewusst- 
seins  untersucht  nun  B.  von  den  niedrigsten  Stufen  thierischer  Organismen  bis 
hinauf  zum  Menschen  und  ist  bestrebt  darnach  ein  Urtheil  über  den  Sitz  des  Be- 
wusstseins  zu  erlangen. 

Wie  keine  Bewusstseinsäusserung  gedacht  werden  kann  ohne  Zusammenhang 
mit  dem  Lebendigen,  so  sind  auch  in  jedem  Lebendigen  die  Bedingungen  für  die 
JSntstehung  eines  Bewusstseins  gegeben,  mithin  ist  Bewnsstsein  das  Gemeingut  aller 
thierischen  Wesen.  Das  lehrt  uns  schon  die  Beobachtung  der  niedersten  Lebe- 
wesen, bei  denen  die  Differenzirung  eines  besonderen  Nervengewebes  noch  nicht 
zustande  gekommen  ist  und  wohl  gleichmässig  alle  Theile  des  einzeUigen  Organismus 
Träger  des  primitiven  psychischen  Lebens  sind.  Sobald  sich  dagegen  Nerven- 
gewebe diflerenzirt  hat,  wird  dieses  zum  Träger  der  psychischen  Erscheinungen 
und  zwar  sind  diese  auf  den  niedersten  Stufen  in  der  Gesammtheit  der  Ganglien 
localisirt  ohne  Bevorzugung  bestimmter  Theile,  bei  den  höheren  Gliederthieren  da- 
gegen erscheint  schon  das  grosse  Brustganglion  als  der  Sitz  der  Seelenthätigkeit 
Weitere  Beobachtungen  lehren  nun  bei  den  Fischen  Bewusstsein  in  Hemisphären- 
him  und  subcorticale  graue  Ganglien  zu  localisiren.  Mit  den  letzteren  sind  auch 
Amphibien  noch  im  Stande  ausser  Haut-  und  Muskelempfindungen  auch  optische 
Eindrücke  in  sich  aufzunehmen.  Auf  Grund  seiner  eigenen  Beobachtungen  an 
hemisphärenlosen  Vögeln  spricht  sich  B.  dafür  aus,  dass  auch  die  Vögel  noch  be- 
fiükigt  sind  mit  den  subcortioalen  Ganglien  Tast-  und  Muskelempfindungen  und 
wenigstens  quantitative  Lichtperceptionen  aufzunehmen,  dagegen  ^8^^^^  ^^^  feinere 
Peroeption  ihrer  Empfindungen,  die  zusammengesetzte  Bewusstseinsarbeit,  die 
Bildung  der  Vorstellungen  in  den  Hemisphären  des  grossen  Gehirns  vor  Bich.** 
Bei  den  Säugern  berechtigt  nichts  mehr  zu  der  Annahme  von  Bewusstseinsvor- 
gangen  in  subcorticalen  Centren,  vielmehr  erscheinen  alle  von  hemisphärenlosen 
Sängern  ausgeführten  Bewegungen  als  Beflexvorgänge,  jedenfalls  entbehren  dieselben 
mich  B.  aller  „äusseren  Anzeichen  für  das  Vermögen  zu  innerlich  motivirten,  be- 
wussten Handlungen*'.  Ebensowenig  ist  bisher  einwandsfrei  nachgewiesen  worden  — 
trotzdem  sich  öfter  Stimmen  dafür  erhoben  —  dass  in  dem  Gehimstamm  oder 
£iickenmark  des  Menschen  sich  bewusste  Vorgänge  abspielen. 


360  fteferate  und  Betprechnngen. 

Wenn  nun  auch  das  Hemisphärenhim  nnd  in  diesem  ipedell  die  Binde  ak 
der  Ausgangspunkt  bewosster  Seelen thätigkeit  anzusehen  ist.  so  ist  deahalb  noek 
nicht  jede  Thätigkeitsäusserung  desselben  auch  von  Bewusstsein  begleitet,  aonden 
ein  grosser  Theil  derselben  entfällt  in  das  Gebiet  des  Unbewussten.  Doch  laswa 
sich  alle  diese  unbewussten  Vorgänge  z.  B.  automatische  Bewegungen  auf  firoher 
bewusste  zurückfuhren  und  auch  die  Reflexe  sind  nichts  als  die  Reste  einer  firaharsn 
Seelenthätigkeit;  überhaupt  ist  anzunehmen,  dass  phylogenetisch  betrachtet  aEe 
nervöse  Thätigkeit  ursprünglich  bewusst  gewesen  ist.  Diese  Ansicht  erhält  eine 
Stütze  durch  die  Thatsache  der  vicarürenden  Function  des  Himgewebes,  weldw 
darin  besteht,  dass  die  den  sensiblen  oder  motorischen  Gentren,  deren  Thätigkeit 
also  mit  Bewusstsein  yerknüpft  ist,  benachbarten  Himtheile,  obwohl  sie  Torher 
nicht  Träger  von  Bpwusstseinserscheinungen  waren,  nach  Zerstörung  jener  Gentzcn 
deren  Functionen  zum  Theil  übernehmen,  also  nun  eine  bewusste  Thätigkeit  ent- 
falten. Das  geht  aus  dem  Nachweis  hervor,  dass  die  gestörten  Functionen  eines 
Centrums  der  einen  Hemisphäre  nicht  nur  durch  die  andere  Hemisphäre,  sondern 
auch  durch  die  in  der  Umgebung  des  verletzten  Centrums  gelegenen  Himtheile 
compensirt  werden.  Dass  für  gewöhnlich  unbewusste  Nerventhätigkeit  auch  la 
einer  bewussten  werden  kann  geht  auch  daraus  hervor,  dass  unsere  für  gewöhnüob 
dem  Willen  und  Bewusstsein  entzogene  Herzthätigkeit  bei  krankhaften  Zuständen 
zu  einem  bewussten  Vorgang  werden  kann  und  es  Leute  giebt,  die  ihre  Hen- 
thätigkeit  von  ihrem  Willen  in  Abhängigkeit  bringen  können.  Aber  nicht  nur 
unbewusst  thätige  Rindengebiete  können  die  mit  Bewusstseinserscheinungen  ver- 
knüpften Functionen  anderer  Rindengebiete  übernehmen,  sondern  auch  bei  den 
Säugethieren  können  die  dem  Grosshirn  innewohnenden  bewussten  Functionen  nach 
Verlust  des  Grosshims  auch  auf  niedere  subcorticale  Centren  übergehen,  welehe 
für  gewöhnlich  nur  der  Reflexthätigkeit  dienen.  Denn  B.  ist  der  Ansicht^  dass  die 
an  dem  Goltz 'sehen  grosshirnlosen  Hunde  beobachteten  Erscheinungen  thatsäeh- 
lich  auf  bewussten  Vorgängen  und  nicht  nur  auf  eine  Reflexthätigkeit  zurückiu* 
führen  sind.  In  ganz  besonderem  Grade  ist  nach  B's.  Erfahrungen  das  Hirn  des 
neugeborenen  Thieres  im  Stande  die  Defecte  nach  Zerstörung  einzelner  Himtheile 
durch  das  vicariirende  Eintreten  anderer  zu  compensiren. 

Wie  die  functionelle  Entfaltung  der  nervösen  Elemente  abhängig  ist  von  der 
fortschreitenden  Markentwickelung,  so  denkt  sich  B.  auch  die  Bewusstseinslocalisation 
abhängig  von  der  Markentwickelung  an  den  Fasern  und  der  Ausbildung  der  Kenren- 
zellen, so  dass  das  in  gewissem  Grade  doch  auch  schon  dem  Neugeborenen  eigen- 
thümliche  Bewusstsein  seinen  Sitz  im  Rückenmark  und  den  subcorticaien  Ganglien 
hat  und  dann  allmählich  mit  der  höheren  Entwickelung  emporrückt  bis  es  seiiM 
endg^tige  Localisation  im  vollentwickelten  Hemisphärenhim  erreicht.  Die  LoeiJ&f 
sation  des  Bewusstseins  wird  also  in  der  Ontogenie  innerhalb  derselben  Stalsn- 
leiter  wechseln  wie  es  früher  für  die  Phylogenie  nachgewiesen  wurde. 

Tecklenburg-Leipaig. 

Ä.  Goldacheider  und  E.  Flatau,  Normale  und  pathologische  Ana- 
tomiederNervenzellen.  Verlag  von  Fischer's  Medicin.  Buchhandlung  H.  Kon- 
feld, Berlin  1898,  140  S. 

In  dem  ersten  Capitel  dieser  Arbeit  geben  die  Verf.  die  Technik  zur  Anfer- 
tigung geeigneter  Präparate  an,  welche   im  Wesentlichen  nach    der    Nissl 'sehen 


Referate  und  Besprechungen.  361 

Methode  hergestellt  werden.  Das  zweite  Capitel  handelt  von  der  normalen  Stnictur 
der  Kerrenzellen.  Bei  der  Untersuchung  nach  der  NissTschen  Methode  findet 
srnn,  dass  die  Nervenzellen  aus  einer  geformten  und  einer  nicht  geformten 
Substans  bestehen,  und  dass  die  geformte  Substanz  nicht  bei  allen  Nervenzellen 
gleichförmig  auftritt,  sondern  dass  es  viele  Formen  von  Nervenzellen  giebt,  die 
eben  durch  die  Beschaffenheit  der  geformten  Substanz  characterisirt  sind.  Auf  die 
•af  Grund  dieser  Verhältnisse  angegebene  Eintheilung  der  Nervenzellen,  wie  sie 
Ton  Nissl  vorgeschlagen  ist,  kann  in  diesem  Referat  nicht  eingegangen  werden. 
Die  „geformte  Substanz''  selbst  besteht  aus  verschieden  (schollen-,  spindel-,  kappen- 
jßnnigen)  gestalteten  Gebilden  mit  unregelmässig  gezackten  Rändern,  den  Nissl'  sehen 
Zellkörperchen.  Dieselben  sollen  jedoch  nach  den  Untersuchungen  Held 's 
«nt  durch  die  Einwirkung  der  Fixirungsmittel  entstanden,  also  in  der  lebenden 
Nervenzelle  als  solche  noch  nicht  vorhanden  sein,  sondern  in  dem  alkalischen  oder 
ventralen  Protoplasma  der  Nervenzelle  gelöst  sein.  Andere  Forscher,  wie  v.  Len- 
h  o  1 8  6  k  und  Marinesco,  halten  die  N  i  s  s  1  'sehen  Zellkörperchen  für  präf ormirt.  Die 
^mohtgeformte  Substanz*',  die  sich  bei  der  Nissl'schen  Methode  nicht  färbt,  ist  die 
Zwischensubstanz,  Substance  achromatique,  Grundsubstanz  oder 
Grnndmasse  des  Nervenzellenprotoplasmas.  Die  Frage  nach  der  morpho- 
logischen Beschaffenheit  dieser  Zwischensubstanz  ist  noch  unentschieden,  doch  ist 
ttan  im  Allgemeinen  der  Ansicht,  dass  sie  eine  fibrilläre  Structur  habe  und 
In  die  Fäden  der  Protoplasmafortsätze  und  des  Axencylinders  übergehe,  v.  Len- 
lioss^k  und  Held  sind  dagegen  auf  Grund  eingehender  Studien  zu  dem  Resultate 
gekommen,  dass  die  Zwischensubstanz  eine  netz-  oder  waben förmige  Bildung 
ist.  Ausser  diesen  zwei  constanten  Substanzen  findet  sich  in  manchen  Zellen  noch 
heDgelbes  oder  auch  dunkelbraunes  Pigment,  von  denen  das  erstere  mit  dem  Alter 
sonehmen  soll.  —  Ueber  den  Kern  der  Nervenzelle  ist  die  wissenschaftliche  £r- 
kenntnisB  zur  Zeit  noch  sehr  mangelhaft.  Seine  Lage  erscheint  unwesentlich,  seine 
Groflte  in  den  verschiedenen  Zellenarten  wechselnd.  Nach  van  Gebuchten  ent- 
hilt  der  Kern  an  seiner  Peripherie  oder  im  Innern  das  Kernkörperchen,  über  die 
Stroeturverhältnisse  und  die  chemische  Natur  des  Kerns  gehen  die  Meinungen  der 
Fomoher  noch  weit  auseinander. 

Bezüglich  der  Structur  der  Nervenzellen  lässt  sich  sagen,  dass  dieselbe  mit 
der  Localisation  und  Function  zusammenhängt.  Die  motorischen  Nerven- 
E eilen  zeigen  in  verschiedenen  Rückenmarksregionen  verschiedene  Formen.  Die 
Kerne  besitzen  ein  grosses  Kernkörperchen  oder  zwei  kleinere,  die  entweder  gleich 
oder  verschieden  gross  sind.  Innerhalb  des  Kernkörperchens  haben  die  Verf.  noch 
„adiwarz  aussehende  Pünktchen  von  unbekannter  Bedeutung**  gesehen.  Während 
die  motorischen  Zellen  ein  eckiges  Aussehen  haben,  sind  die  Spinalganglien- 
t eilen  beim  Menschen  nach  v.  Lenhoss^k  mehr  kugelförmig  und  auffallend  gross 
(00 — 80  (i)  und  von  einer  Kapsel  umgeben,  welche  mit  der  Zwischensubstanz  der 
Zelle  zusammenhängt  und  in  die  Endoneuralscheide  des  Axencylinders  sich  fortsetzt. 
Die  Nisfl'schen  Zellkörperohen  sind  in  Form  kleiner  Körnchen  vorhanden,  welche 
Jodoeh  bei  den  verschiedenen  Thieren  verschiedene  Grössen  zeigen.  Am  Rande 
dir  Zelle  sollen  diese  Zellkörperchen  sich  oft  zu  einem  „Randschollenkranze**  ver- 
einigen.  Beim  Menschen  fand  v.  LenhossSk,  dass  diese  gefärbten  Zellkörperchen 
mdit  in  den  Spinalganglienzellen  vorkommen.  In  morphologischer  Hinsicht  ist 
die  Ghrondsubstanz  oder  Zwischensubstanz   körnig-wabenartiger  Natur.     In 


362  Referate  und  Befprechnngeii. 

diesen  Spinalnerrenzellen  findet  sich  beim  Menschen  das  gelbe  Pigment  in 
Menge  als  bei  Thieren.  Der  Kern  ist  stets  von  einer  Membran  umgeben,  das  Ken- 
körperchen  ist  beim  Menschen  sehr  gross  und  immer  nur  in  Einzahl  Torhandea. 
Das  ,,Kemgeriist"  ist  nach  v.  Lenhossek  acidophil,  nach  LeTi  basophiL 

An  die  Besprechung  der  Morphologie  der  NenrenzeUe  schliessen  die  Verl  ob 
Capitel  über  ,.die  Nervenzellen  im  physiologischen  Zustande  der  Thatig^keit  nad 
der  Ruhe".  Um  das  Verhalten  der  Nenrenzellen  in  dem  ersteren  Zustande  a 
studiren,  haben  die  meisten  Forscher  directe  Reize  durch  den  electrischen  Stroa 
einwirken  lassen.  Dieses  Verfahren  halten  die  Verf.  mit  Recht  für  nicht  einwandi- 
frei,  weil  hierbei  die  Electricität  an  und  fiir  sich  Veränderungen  phyaikalisdh 
chemischer  Natur  in  der  Zellsubstanz  hervorrufen  kann.  Zar  Eliminirung  dies« 
störenden  Nebeneinflusses  schlagen  die  Verf.  vor,  nicht  den  Zellkörper  des  gereisten 
Neurons  selbst,  sondern  denjenigen  eines  anderen  Nearons,  welche  durch  eine  Reizung 
des  Gortez  in  Thätigkeit  gesetzt  sind,  za  untersuchen.  Die  Beschaffenheit  dtf 
Nervenzellen  im  Zustand  der  Ruhe,  heisst  es  weiter,  sollte  man  nicht  nach  vorher 
gegangener  Anstrengung  derselben  studiren,  sondern  nach  Aufhebung  der  Function 
durch  operative  Eingriffe.  Ausserdem  müsste  man  sich  auch  anderer  als  der 
Nissl'schen  Methode  bedienen,  weil  bei  derselben  die  Veränderungen  der  Grund- 
oder  Zwischensubstanz  nicht  genügend  zu  erkennen  sind. 

Den  weitaus  grössten  Theil  der  Arbeit  nimmt  der  Abschnitt  über  „patho- 
logische  Veränderungen  der  Nervenzellen"  ein.  Was  die  „directe 
traumatische  Einwirkung"  betrifft,  so  kommt  nach  den  Experimenten  Marinesco'i 
eine  Neubildung  von  Nervenzellen  nicht  vor.  —  In  Hinsicht  auf  „die  Veränderungen 
der  Nervenzellen  bei  indirecter  traumatischer  Einwirkung"  fand  Fiat  au  in 
Uebereinstimmung  mit  anderen  Forschem  deutliche  Veränderungen  in  den  betreffeii* 
den  Zellen,  d.  h.  excentrische  periphere  Lage  des  Zellkernes  und  Zerfall  der 
Niserschen  2iellkörperchen  in  eine  pulverförmige  Masse  sowie  Hypertrophie  der 
gesammten  Zellen.  Nach  dem  Stadium  des  Zerfalls  folgt  dann  eine  Restitution  der 
Zelle,  jedoch  nur  dann,  wenn  die  Nervenenden  gut  zusammenwachsen,  unterbleibt 
dies,  so  degenerirt  die  Zelle.  Die  Frage,  warum  die  motorischen  Zellen  nach  einem 
Trauma  des  peripheren  Nerven  verändert  werden,  ist  zur  Zeit  noch  nicht  endgültig 
entschieden,  obwohl  zahlreiche  Erklärungsversuche  bereits  vorliegen,  lieber  „die 
Veränderungen  der  sensiblen  Spinalganglienzellen  bei  traumatischer  Einwirkung^ 
sind  die  Untersuchungen  noch  nicht  zahlreich  genug,  um  ein  Urtheil  darüber  se 
fällen  und  noch  weniger  im  Stande,  die  Frage  zu  beantworten,  ob  durch  eine  Ver 
letzung  eines  Neurons  nur  dieses  selbst,  oder  ob  auch  ein  mit  diesem  in  Verbin- 
dung stehendes  Neuron  alterirt  wird.  Immerhin  scheint  man  die  letztere  Frage 
bis  jetzt  zu  bejahen. 

Mit  grosser  Ausführlichkeit  werden  im  Folgenden  „die  Veränderungren  der 
Nervenzellen  nach  toxischen  und  infectiösen  Einwirkungen"  behandelt.  Die  Experi- 
mente, welche  nach  dieser  Richtung  hin  von  den  verschiedenen  Gelehrten  angestellt 
worden  sind,  hier  wieder  zu  geben,  würde  zu  weit  fuhren;  als  Ergebnist  dieser 
Untersuchungen  iässt  sich  vorläufig  nur  sagen,  dass  die  Wirkung  der  yer8chiedeoe& 
Gifte  auch  verschiedene  Alterationen  in  den  Zellen  hervorrufen,  und  dass  dasselbe 
Gift  auf  die  verschiedenen  Zellenarten  verschiedene  Veränderungen  bewirkt«  und 
dass  „eine  regelmässige  Beziehung  zwischen  den  Vergiftungssymptomen  eineneits 
und  den  histologischen  Veränderungen  andererseits  nicht  besteht."    Auch  abnorme 


Referate  und  Besprechungen.  363 

Temperaturen  haben  Ghromatolyse  in  den  Nervenzellen  zur  Folge,  wie  die  Verf.  an 
Kaninchen  bewiesen  haben,  und  womit  die  Befunde  anderer  Forscher  bei  Menschen, 
welche  in  hohen  Fiebertemperaturen  gestorben  waren,  übereinstimmen.  Im  fünften 
Gapitel  finden  sich  noch  einige  Angaben  über  „pathologische  Veränderungen 
der  Nervenzellen  beim  Menschen".  In  den  .,Schlu88bemerkungen" 
werden  die  nach  Anwendung  der  Nissl'schen  Methode  erreichten  'Ergebnisse  kurz 
recapitulirt,  nachdem  aber  zugegeben  worden  ist,  dass  dieselbe  über  die  Verände- 
mngen  der  „wesentlichen  Bestandtheile^*  der  Nervenzelle,  d.  L  die  Zwischensubstanz, 
keinen  genügenden  Aufschluss  giebt,  weil  gerade  dieser  für  die  Function  der  Zelle 
wichtigste  Zelltheil  bei  dem  von  Nissl  angewandten  Verfahren  ungefärbt  bleibt. 
Am  Ende  möchte  Bef.  bemerken,  dass  in  der  vorliegenden  Abhandlung,  welche 
als  Zusammenstellung  der  neueren  Literatur  über  dieses  Gebiet  entschieden  zu 
begrüssen  ist,  die  eigenen  Untersuchungen  ihrer  Autoren,  hauptsächlich  in  Bezug 
auf  die  normale  Nervenzelle,  doch  relativ  spärlich  sind,  und  dass  bezügliche  allge- 
meinere Schlussfolgerungen  aus  den  Beobachtungen  zu  sehr  vermisst  werden. 

Lautenbach -Berlin. 

Alfred  Lehmanitt  Aberglaube  und  ZaubereL  Deutsch  von  Dr.  Petersen. 
Stuttgart,  Verlag  von  Ferdinand  Enke  1898.    566  S. 

Das  obige  Werk,  über  dessen  ersten  Abschnitt  seiner  Zeit  referirt  wurde, 
ist  nunmehr  vollständig  erschienen.  Verf.  geht  nach  seinen  Erörterungen  über  die 
verschiedenen  Formen  des  Aberglaubens  und  der  Magie  im  Alterthum  und  Mittel- 
alter, wo  er  seine  grösste  Blüthezeit  hatte,  auf  die  Verfallsperiode  desselben  ein. 
Nicht  die  Reformation  hat  die  Magie  als  Ganzes  bekämpft  und  vernichtet,  sondern 
die  Wissenschaft.  Der  erste,  welcher  gegen  die  Zauberei  auftrat,  war  Agrippa 
und  seine  Schule,  dann  waren  es  vor  allen  Dingen  die  Entdeckungen  Galilei 's, 
Kepler's,  Guericke's  und  Huyghen's.  Doch  dauerte  es  bis  zum  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts,  bis  die  Hexenprocesse  aufhörten.  Das  zweite  Kapitel  seines 
Buches  widmet  Verf.  den  magischen  oder  Geheimwissenschaften,  wobei 
er  zuerst  auf  die  „heilige  Kabbala"  als  dem  grundlegenden  Werke  der  alten  Ge- 
heimwissenschaften näher  eingeht,  um  dann  den  Ursprung  der  verschiedenen  Ge- 
heimwissenschaften,  der  Theurgie,  der  Astrologie  und  der  Alchemie  der  Aegypter 
eingehender  zu  behandeln.  Darauf  folgt  ein  Ueberblick  über  die  gelehrten  Magier 
Tom  Alterthum  bis  zum  Beginn  der  Neuzeit,  wo  Cornelius  Agrippa  die  ver- 
schiedenen Ansichten  in  ein  grosses  System  brachte  und  von  einer  „natürlichen 
Magie*'  sprach,  deren  Grundgedanken  in  seiner  „Occulta  Philosophia*'  nieder- 
gelegt sind.  Nach  einer  sehr  ausführlichen  Behandlung  dieses  Gegenstandes  geht 
Verf.  zu  dem  Einfluss  von  Paracelsus  über  und  zeigt  dann  weiter,  wie  die  An- 
sichten der  gelehrten  Magier  allmählich  im  Volke  verbreitet  worden  sind  und 
•ich  zum  Theil  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  haben.  —  Der  dritte  Abschnitt 
des  Buches  enthält  eine  ausführliche  Abhandlung  über  Spiritismus  und  Occul- 
tismns  von  seinen  Anfängen  bis  zur  Gegenwart,  über  dessen  Entwickelung  und 
über  die  mannigfachen  Formen  in  den  verschiedenen  Ländern  und  femer  über  die 
hervorragendsten  Vertreter  dieser  Lehre  und  die  wichtigsten  Begebenheiten  auf 
diesem  Gebiete.  Es  liegt  ausserhalb  des  Rahmens  dieses  Referats,  die  Einzelheiten 
dieser  vielbesprochenen  spiritistischen  Lehren  eingehender  zu  betrachten;  wer  sich 
genauer  darüber  zu  informiren  wünscht,  möge  das  Lehmann 'sehe  Buch  selbst 


364  Refente  und  Besprechiixigan. 

lesen.  Den  Standpunkt  des  Verf.  kennzeichnet  der  Schlnsssatz,  welcher  lautet: 
^Kein  besonnener  Forscher  wird  in  unseren  Tagen  von  romherein  die  Moglichkrit 
leugnen,  dass  es  noch  unbekannte  Kräfte  in  der  menschlichen  Natur  g^ben  kann. 
Eins  aber  ist  sicher:  bis  jetzt  ist  es  noch  Keinem  gelungen,  einen  un- 
umstösslichen  Beweis  fiir  die  Existenz  derartiger  Kräfte  zu  liefern.' 
Der  Tier te  Abschnitt  handelt  yon  den  ,,magischen  Geisteszuständen*. 
Die  magischen  Kräfte  sind  nicht  physischer,  sondern  psychischer  Natur,  und  ihr 
Mittelpunkt  ist  der  Mensch  selbst  Das  Beobachtungsrermogen  des  Menaehen  Bt 
jedoch  nicht  absolut  zuyerlässig,  sondern  wird  durch  mancherlei  Umstände  beeiii- 
flusst,  wodurch  die  vielen  Beobachtungsfehler  zu  Stande  kommen,  und  ferner 
kommen,  wenn  man  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  bestinmiten  Punkt  concentrirl, 
andere  gleichzeitige  Reize  nicht  zum  vollen  Bewusstsein,  und  die  Auffassung  wird 
um  so  undeutlicher,  je  mehr  sich  die  Aufmerksamkeit  auf  yerschiedene  gleichzeitige 
Reize  vertheilt.  Hieran  schliesst  sich  eine  Aufzahlung  und  Erklärung  der  Fehler 
des  normalen  menschlichen  Boobachtungsrermögens,  sowie  des  £rinnerungffTe^ 
mögens,  welches  auch  wieder  an  sich  eine  reichliche  Fehlerquelle  ist.  Viel  be- 
deutender sind  aber  die  Fehler  des  Beobachtungsvermögens  unter  anormalen 
Umständen.  In  erster  Linie  wirken  Gemüthsbewegung  und  Befangenheit 
hindernd  auf  die  exacte  Beobachtung,  während  Uebung  und  Einsicht  dieselbe 
fordern,  was  auch,  bei  der  grossen  Bedeutung  der  Beobachtungsfehler  für  den 
Aberglauben,  noch  experimentell  nachgewiesen  worden  ist.  In  der  Folge  fuhrt  der 
Verf.  dann  weiter  aus,  wie  die  unwillkürlichen  Zitterbewegungen  eine 
grosse  Anzahl  magischer  Bewegungen  herrorrufen  können,  und  auch  das  Ge- 
dankenlesen und  Uebertragen  auf  ihnen  beruht.  —  Das  allgemeinate  und 
darum  auch  das  bei  Weitem  wichtigste  Phänomen  im  Gebiete  des  Aberglaubens 
ist  der  Traum,  welcher  gewöhnlich  im  Schlafznstand  yorkommt.  Die  Be- 
dingung für  das  Eintreten  des  Schlafes  ist  die  Erschlaffung  der  Auf- 
merksamkeit, wie  der  Verf.  näher  ausführt.  Im  Schlafe  hat  das  Bewusstseinslebea 
seinen  Fortgang,  eben  in  Form  des  Traumes,  doch  ist  der  tiefeSchlaf  wahr- 
scheinlich stets  traumlos.  Es  folgen  dann  weitere  Erörterungen  über  den 
Gharacter  und  die  Ursachen  der  Träume.  Verf.  bezeichnet  die  Traumbilder  ab 
Hallucinationen  und  führt  die  verschiedenen  typischen  Traumformen  auf  phy- 
siologische Reize  zurück.  In  Bezug  auf  den  Inhalt  der  Träume  bemerkt  der 
Verf.,  dass  jüngere  Leute  in  der  Regel  yon  solchen  Begebenheiten  träumen,  die 
kurz  yorher  ihr  Gefühlsleben  stark  bewegt  haben,  während  ältere  vorwiegend  von 
weiter  zurückliegenden  oder  gleichgültigen  Dingen  träumen.  Verf.  nimmt  wmter 
an,  dass  die  Traumbilder  yon  den  Menschen  auf  sehr  niedrigen  Entwickel ungsstufen 
für  volle  Wirklichkeit  gehalten  worden  sind,  und  dass  daraus  unmittelbar 
der  Glaube  an  Geister  hervorgegangen  sei.  Dass  man  den  Traumen  eine  be- 
stimmte Bedeutung  beilegt,  beruht  nach  dem  Verf.  darauf,  dass  der  Menseh 
dieselben  mit  späteren  Ereignissen  in  Verbindung  bringt,  was  wohl 
darauf  zurückzuführen  ist,  dass  er  sich  der  Traumbilder  gar  nicht  mehr  genau  ge- 
nug erinnert,  oder  aber  die  Träume  enthalten  häufig  solche  Gegenstände,  welche 
der  Mensch  wünscht  und  hoflt,  und  die  darum  manchmal  sich  auch  verwirklichen, 
oder  es  handelt  sich  um  Ereignisse,  die  dem  Wach-Bewusstsein  bereits  verloren 
gegangen  sind.  Ueberhaupt  sind  die  meisten  Träume  weder  wahrsagender, 
noch  weissagender  Art.    Doch  war  es  natürlich,  dass  man,  nachdem  einmal 


Heferate  und  Besprechungen.  3g5 

irgend  ein  Traum  eine  Weissagung  enthalten  hatte,  jedem  beliebigen  eine  solche 
coschrieb,  so  dass  sich  eine  ganze  Traumdeutekunst  entwickelte.  An  den  Traum 
schliesst  sich  das  Nachtwandeln  an,  was  dann  eintritt,  wenn  die  Bewegungs- 
Yorstellungen  sehr  stark  sind,  was  jedoch  nur  bei  jugendlichen  Individuen  nor- 
maler Weise  vorkommt,  während  es  bei  Erwachsenen  immer  krankhait  ist.  Die 
Handlungen  der  Nachtwandler  hält  Verf.  für  durchaus  nicht  wunderbar,  sondern 
im  Allgemeinen  für  ganz  automatisch.  Im  Folgenden  wendet  sich  der  Verf. 
gegen  die  Theorie  vom  unter-  und  Ober-Bewusstsein,  indem  er  erklärt,  dass  das 
ünbewusste  denselben  Gesetzen  folgt  wie  das  bewusste  Seelenleben  und  die  sog. 
„Ahnungen''  und  „HaUucinationen"  auf  psychische  Vorgänge  zurückfuhrt.  Endlich 
entkleidet  der  Verf.  noch  die  Crystallvisionen  und  Conchylienauditionen  ihres 
mystischen  Schleiers  und  behauptet,  dass  die  noth wendige  Bedingung  für 
das  Auftauchen  unbewusster  Vorstellungen  im  Bewusstsein  ein 
plötzlicher  Schafzustand  ist,  in  seiner  mildesten  Form  eine  blosse 
Distraction,  der  aber  unmerkbar  in  einen  mehr  oder  weniger  tiefen, 
der  Hypnose  ähnlichen  Zustand  übergehen  kann.  Zu  den  automatischen 
Bewegungen  übergehend,  bemerkt  der  Verf.,  dass  die  physikalischen  Medien  Be- 
trfiger  seien,  und  der  Spiritismus  überhaupt  aufgehört  habe,  als  wissen- 
schaftliches Problem  zu  existiren;  ebenso  hält  er  die  Hellseherei  für 
unsinnig.  Entsprechend  ihrer  grossen  Wichtigkeit  widmet  der  Verf.  der  Suggesti- 
bilität  und  den  Suggestionen  ein  längeres  Kapitel  und  zeigt,  dass  viele 
Formen  des  Aberglaubens,  wie  der  Hexenglaube,  die  Astrologie  etc.  einfache 
Suggestiv-Wirkungen  sind.  Da  die  Ansichten  des  Verf.  über  die  Suggestion  mit 
den  in  dieser  Zeitschrift  vertretenen  übereinstimmen,  so  ist  ein  näheres  Eingehen 
»of  die  Einzelheiten  hier  nicht  nothwendig.  Daran  schliesst  sich  eine  Besprechung 
der  Hypnose,  als  dem  „durch  Suggestion  hervorgerufenen  partiellen 
Schlafzustand'',  in  welchem  einzelne  Sinne  geschärft  sind,  was  für  die  Ge- 
schichte der  magischen  Kräfte  der  Somnambulen  und  für  die  Gedankenüber- 
tragung von  grosser  Bedeutung  gewesen  ist,  und  wodurch  auch  noch  viele  an- 
dere Handlungen,  die  vielfach  als  Wirkungen  von  „Geistern"  angesehen  werden^ 
sich  natürlich  erklären  lassen.  Auch  narcotische  Mittel  haben  bei  manchen 
Formen  des  Aberglaubens  eine  Rolle  gespielt,  doch  ist  nach  dem  Verf.  auch  dabei 
die  Hypnose  das  entscheidende  Moment.  Von  der  grössten  Bedeutung  für  den 
Aberglauben  und  Spiritismus  ist  ferner  die  Hysterie  und  die  Hystero-Hypnose 
gewesen,  die  letzte  ist  nach  dem  Verf.  dadurch  von  der  normalen  Hypnose  ver- 
schieden, „dass  sie  ihr  in  ihren  Wirkungen  völlig  entgegengesetzt,  ein  künst- 
lich hervorgerufener  hysterischer  Anfall  ist".  In  diesem  Zustande  kann 
ein  ToUkommener  Wechsel  der  Persönlichkeit  eintreten,  und  darauf  beruht  die 
„fiostase"  und  die  „Besessenheit",  von  denen  in  der  Geschichte  des  Aber- 
gkuibens  die  Bede  ist,  und  als  deren  Ursachen  von  den  Spiritisten  noch  heute 
übernatürliche  „Geister"  angesehen  werden.  Seinen  eigenen  Standpunkt  in  allen 
Fragen,  welche  den  Gegenstand  dieses  lesenswerthen  Werkes  bilden,  drückt  der 
Verf.  deutlich  in  dem  Schlusssatze  aus:  „Die  verschiedenen  normalen  und 
anormalen  seelischen  Thätigkeiten  genügen,  um  die  wesentlichsten 
abergläubischen  Anschauungen  zu  erklären.  Der  Aberglaube  ist 
eben  vollständig  in  der  menschlichen  Natur  begründet,  indem  er 
theils  auf  schlechter   Beobachtung   und   falscher    Auslegung   der 


366  Referate  und  fiesprechongfen. 

Natnrphänomene,  theils  auf  Mangel  anKenntnifls  nnd  VerBtändniii 
der  Beelischen  Zustände  nnd  Thätigkeiten  beraht** 

Lau  tenbach -Berlin. 

W.  TFundf,  Orundriss  der  Psychologie.  3.  verbesi erie  Aoflage.  Leip- 
zig,   Engelmann.  1898.    403  S. 

Als  ein  sehr  erfreuliches  Zeichen,  dass  das  Interesse  für  Psychologie  sunimmt, 
können  wir  hiermit  constatiren,  dass  der  Torliegende  Grundriss  in  weniger  sli 
2  Jahren  3  Auflagen  erlebt  hat. 

Die  3.  Auflage  ist  um  10  Seiten  vermehrt  worden.  Im  Anschloss  an  neuen 
eigene  Arbeiten  über  die  geometrisch-optischen  l^uschungen  hat  Verf.  das  Kapitel 
über  räumliche  Vorstellungen  erweitert.  Die  Hauptvermehmng  bezieht  sich  auf 
Erweiterung  der  Kapitel  über  den  Mythus,  die  Sitte  und  den  allgemeinen  Charakter 
der  TÖlkerpsychologischen  Entwickelungen.  Schliesslich  haben  die  Kapitel  über 
Hypnose  und  die  psychische  Entwickelung  des  Kindes  eine  Vermehrung  dordi 
Hinzufugung  einiger  methodologischen  Bemerkungen  erfahren.  Verf.  giebt  jetit 
die  Möglichkeit  einer  directen  psychologischen  Experimentalmethode  in  den  partiell 
hypnotischen  Zuständen  zu,  wenn  er  auch  —  und  das  mit  grossem  Recht!  —  nr 
äussersten  Vorsicht  mahnt.  Bezüglich  der  Methode  in  der  Kinderpsychologie  fuhrt 
Verf.  aus,  dass  Experimente  nur  bei  grösseren  Kindern  möglich  seien,  während  der 
psychologischen  Beurtheilung  der  objectiven  Symptome,  die  uns  allein  das  kleine 
Kind  darbietet,  die  experimentellen  Erfahrungen  des  reifen  Bewusstseins  za  Grande 
zu  liegen  haben.  O.  Vogt 

W.  Wundtf  Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Thierseele. 
3.  umgearbeitete  Auflage.    Hamburg,    L.  Voss.  1897.    619  S. 

Das  psychologische  Erstlingswerk  Wundt^s  ist  nunmehr  in  3.  Auflage  •^ 
schienen.  Die  2.  Auflage,  die  1892  nach  einem  Menschenalter  der  ersten  folgte, 
stellte  eine  völlige  Umarbeitung  der  ersten  dar.  Die  3.  trägt  vor  Allem  der  M- 
cisirung,  die  seit  1892  Wundt^s  Gefuhlslehre  gefunden,  Rechnung.  Diese  Ajh 
schauungen  sind  ja  in  dieser  Zeitschrift  genügend  besprochen  worden,  so  dass  es  keinei 
weitern  Eingehens  auf  dieselben  bedarf.  Daneben  sind  hauptsächlich  die  Kapitd 
über  die  Lehre  von  den  Zeitvorstellungen  und  dem  zeitlichen  Verlauf  der  Bewuat- 
seinsvorgänge  entsprechend  der  in  seinem  Grundriss  der  Psychologie  gegebenen 
Darstellung  verändert  worden.  O.  Vogt. 


8.    Freud,     Die    Sexualität    in    der    Aetiologie.      Wiener 
Rundschau.    12.  Jahrg.  1898. 

Verf.  führt  hier  von  Neuem  aus,  dass  die  echte  Neurasthenie  mit  Kopfdrack» 
Ermüdbarkeit,  Dyspepsie,  Stuhlverstopfung,  Spinaliritation  etc.  stets  auf  ezcaniTe 
Masturbation  oder  gehäufte  Pollutionen  zurückzufuhren  sei  und  die  sich  in  Ajengit» 
lichkeit,  Schwindel,  Schlaflosigkeit,  Schmerzsteigerung  etc.  äussernde  Angatneuioee 
in  der  Zurückhaltung  oder  der  unvoUkonmienen  Befriedigung  der  Libido  texnalä 
ihren  Grund  habe.  Die  causale  Therapie  sei  damit  gegeben.  Im  G^enaati  m 
diesen  „Actualneurosen^'  seien  die  ,,Psychoneuro8en"  Hysterie  und  ZwangsTonteUn 
auf  sexuelle  Erlebnisse  der  frühen  Kindheit  zurückzufuhren.  Verf.  giebt  schEeei- 
lich  an,  dass  er  die  kathartische  Methode,  die  er  nunmehr  als  „psychoanalytiaGlie'' 
Therapie  bezeichnet,  wesentlich  vervollkommnet  hat.    Verf,  hat  jetzt  DauerheiloiifeA 


Referate  and  Besprechungen.  367 

enielt.  Seine  Methode  passt  aber  nicht  für  Kinder,  Schwachsinnige,  Ungebildete, 
alte  Leate  and  schliesslich  nur  für  Kranke,  die  einen  psychischen  Normalzustand 
haben.  0.  Vogt. 

Ä.  GoldschMeTj  Physiologie  der  Hantsinnesnerven.  Leipzig, 
J.  A.  Barth.  1898.  432  S.    Viele  Figuren  im  Text  und  5  Tafebi.    Preis  12  M. 

Als  eine  allen  interessirten  Kreisen  sicheriich  willkommene  Gshe  liegt  uns 
hier  ein  erster  Band  von  „Gesammelte  Abhandlungen  von  A.  Ooldsoheider" 
Tor.  Die  Arbeiten  Goldscheide r's  über  die  Hantsinnesnerven  repräsentiren  ein 
lintwickelungsstadium  in  unserer  Lehre  von  jenem  Gebiet.  Ihre  Kenntnissnahme 
ift  unentbehrlich  für  jeden,  der  sich  über  die  hierher  gehörigen  Fragen  orientiren 
wilL  Da  nun  andererseits  die  Arbeiten  in  zum  Theil  schwer  zugänglichen  Archiven 
erschienen  sind,  so  ist  die  vorliegende  Zusammenstellung  freudig  zu  begrüssen.  Sie 
enthält  mit  einer  einzigen  Ausnahme  alle  einschlägigen  Veröffentlichungen  des  Verf. 

0.  Vogt. 

A.  Ooldscheider,  Physiologie  des  Muskelsinnes.  Leipzig,  J.  A.  Barth. 
1896.    323  S.    Preis  8  M. 

Dieser  2.  Band  der  „Gesammelte  Abhandlungen*'  des  Verf.  reiht  sich  würdig 
dmn  ersten  an.  Er  enthält  13  Au&ätze  des  Verf.,  die  zwischen  1887  bis  1893  in 
Tomehiedenen  Zeitschriften  erschienen  sind.  O.  Vogt. 

iMcien  MouHnj  Le  diagnostic  de  la  suggestibilit^.  Paris,  soci^t6 
d'^dition  scientifiques.    105  Seiten. 

Verfasser  hat  schon  im  Jahre  1878  eine  Beobachtung  gemacht,  welche  er 
fi^endermaassen  wiedergiebt :  Wenn  er  einer  vor  ihm  stehenden  Person  seine  beiden 
flachen  Hände  auf  die  Schulterblätter  legt,  so  wird  die  Person,  wenn  sie  suggestibel 
iati  dort  ein  Gefühl  von  Wärme  oder  Kälte  empfinden  und  femer,  wenn  die  beiden 
Hinde  wieder  abgehoben  werden,  sich  nach  hinten  gezogen  fühlen  und  in  vielen 
nUen  wirklich  das  Gleichgewicht  verlieren,  so  dass  sie  gehalten  werden  muss,  um 
nicht  nach  hinten  zu  fallen.  Der  Verfasser  sieht  in  diesem  Verfahren  ein  Mittel, 
die  Soggestibilität  einer  Person  zu  prüfen  und  femer  hält  er  dasselbe  für  therapeutisch 
Torwerthbar.  £r  veröffentlicht  3  Fälle  von  funotioneller  Neurose  (hysterische  Neu- 
roee,  neurasthenischer  Schwindel  und  hysterische  Verwirrung),  in  denen  er  das  Ver- 
fahren mit  Erfolg  angewendet  hat.  Hilger-Magdeburg. 

Voegdin,  Dr.  JJ.,  Beitrag  zur  Kenntniss  der  Stirnhirn-Erkran- 
k na  gen.    Allgem.  Zeitschr.  für  Psychiatrie,  64.  Bd.,  4.  Heft. 

Neben  der  normalen  Anatomie  und  der  Entwickelungsgeschichte  verlangt  auch 
die  Pathologie  ihre  Bedeutung  für  die  Erforschung  der  Bestimmung  der  verschie- 
dansn  Himtheile.  Verf.  ist  in  der  Lage,  folgenden  klinisch  und  pathologisch- 
Aiatomisch  beobachteten  Fall  beizutragen.  Am  7.  Aug.  1893  wurde  eine  39  Jahre 
•He,  firühere  Krankenwärterin  in  die  Freiburger  Klinik  aufgenommen.  Keine  Be- 
bftong,  keine  erheblicheren  körperlichen  Erkrankungen,  76  doppelseitige  Linsen- 
eztraction  wegen  Cataract.  Seit  86  krankhaft  gesteigerte  religiöse  Schwärmerei, 
die  immer  mehr  zunahm  und  sich  schliesslich  in  Versündigungsideen  und  ent- 
sprechenden Busshandlungen  äusserte.    Auch  in  der  EJinik  melancholisch  weiner- 


368  Beferate  und  Beflpreohimgen. 

liches  Verhalten,  hält  sich  sehr  zurück,  spricht  wenig,  sei  von  den  Angehängt» 
böswillig  hergebracht  worden,  damit  diese  ihr  erspartes  Geld  bekommen;  ne  m 
unwürdig,  habe  nicht  genug  gebetet,  müsse  büssen.  Am  11.  Oct.  epüeptiseh« 
Anfall,  der  sich  in  der  Folge  mehrfach  wiederholte.  Damach  Steigerung  dn 
melancholischen  Verstimmung  mit  Neigung  zu  Selbstbeschadignng  und  Kahnmgi- 
verweigerung,  kurze  Zeit  unterbrochen  Ton  freudiger  Stimmung  mit  der  VorateUasg, 
dass  ihr  yergeben  sei,  dass  sie  Gnade  gefunden  habe.  Die  Anfalle  bilden  ätk 
immer  deutlicher  aus  und  treten  im  Mai  mit  initialem  Schrei,  Convnlaionen  ud 
Incontinenz  auf.  Die  körperlichen  und  geistigen  Kräfte  nehmen  immer  mehr  ab, 
die  Kranke  wird  immer  stumpfer  und  blöder  und  erliegt  am  10.  Juni  1896  eÜMr 
Pneumonie. 

Die  Dura  war  ziemlich  dick,  an  der  Pia  nadelkop%ro8se  fibröse  Verdickungen, 
sulzige  Flüssigkeit  in  den  subarachnoidalen  Räumen.  £in  von  der  Hypophyns  aoi- 
gehender  hühnereigrosser,  glatter,  graugelblicher  Tumor,  über  dessen  Natur  niditi 
weiter  gesagt  wird,  hat  die  beiden  Temporallappen  zur  Seite,  den  rechten  Stin- 
lappen  nach  Yorn  gedrängt;  er  ist  die  Pia  vor  sich  herdrängend  in  die  Basis  dfli 
linken  Stirnlappens  hincingewuchert,  an  dessen  innerer  Seite  er  in  einer  waünui- 
grossen  glatt  wand  igen  Höhlung  liegt,  welche  in  keinem  Zusammenhange  mit  dm 
Ventrikel  steht,  sondern  Ton  ihm  durch  eine  dünne  Lage  Marksubstans  getreont 
ist.  Noch  deutlicher  treten  diese  Veränderungen  nach  Härtung  in  Küller'sohv 
Flüssigkeit  hervor,  besonders  eine  Vergrösserung  der  linken  Hemisphäre  gegenfibir 
der  rechten,  die  sie  am  Stimhim  um  l'/s  cm  überragt,  und  die  Verschmalemi« 
der  Gyri  in  yerschiedenen  Bezirken. 

Microscopisch  zeigen  sich  von  der  oberen  nach  der  unteren  Stimwindong  n 
allmählich  abnehmende  Entzündungserscheinungen,  die  sich  rechts  auf  die  Ka  be- 
schränken, während  links  starker  Geiässreichthum  und  Leukocyten  in  der  Himzüids 
zu  constatiren  waren.  Femer  fanden  sich  in  den  Stirnwindungen  der  linkm 
Hemisphäre  starke  Degenerationen,  Verschwinden  oder  Aufquellung  und  ZerM 
der  Tangentialfasern,  Abnahme  oder  Degeneration  der  Ganglienzellen.  Die  schmale 
Marklage,  die  zwischen  der  Tumorhöhle  und  dem  Ventrikel  stehen  geblieben  W^ 
zeigt  Andeutung  radiärer  Fasern,  dagegen  keine  Tangentialfasern  und  wenige  degt- 
nerirte  Ganglienzellen.  Schnitte  vom  vorderen  Himpol  liessen  GefösserweiterBHf 
und  RuDdzelleniniiltration  erkennen,  femer  Tangentialfaser-  und  GangliennllcB- 
Schwund,  Zelldegenerationen  links  viel  stärker  ausgesprochen  als  rechts.  Aehnhokt 
Veränderungen  im  Gyrus  rectua.  An  den  Scheitelläppchen  geringerer  Grad  toa 
Atrophie  und  Entzündung,  ausgeprägte  Atrophie  der  Randzone  in  der  linken 
Central  Windung,  Temporalwindungen  ausser  Entzündung  der  Pia  fast  normal,  ebenso 
Uynis  fomicatus,  Cuneus  und  Medulla,  während  die  Rinde  des  Occipitalhims  deat- 
liche  V^erschmälerung  zeigte. 

Für  die  gefundenen  Veränderungen  macht  Verf.  den  Tumor  verantwortlieh« 
welcher  einmal  die  localen  Zerstörungen  hervorrief,  zum  Anderen  aber  einen  Ent- 
zündungsreiz bildete,  dessen  Folgen  \(ieder  Vermehrung  der  Oerebrospinalflüasigkeit 
und  Druckatrophie  entfernterer  Himtheile  wurden.  Beim  Zusammenhalten  des 
klinischen  und  des  pathologisch  •  anatomischen  Bildes  kommt  Verf.  zu  folgender 
Ansicht:  Der  Anfangs  vielleicht  nur  langsam  wachsende  Tumor  äusserte  sich  beim 
Beginn  der  Erkrankung  in  Reizerscheinungen,  die  sich  mehr  auf  das  Stimhim 
beschränkten,  d.  h.  in  einer  „Veränderung  im  ganzen  Wesen  der  Persönlichkeit^ 


Referate  and  Besprechungen.  369 

insbeBOndere  in  ihrer  Beziehung  zur  Aussenwelt*'  (im  Sinne  Flechsiges),  in  den 
üeberschätzungs-  und  Unterschätzungsideen.  Bei  zunehmender  Grösse  dehnen  sich 
^e  Eteizungen  auch  auf  benachbarte  Gebiete,  hier  die  motorische  Zone,  aus  und 
bedingen  die  epileptischen  Anfälle,  während  ein  weiteres  Wachsthum  dann  Atrophie 
mit  Ausfallserscheinungen,  deren  Schluss  der  terminale  apathische  Blödsinn  bildet, 
berbeigeföhrt  und  die  Reizsymptome  yerdeckt. 

Dieser  V^ersuch,  die  klinischen  Erscheinungen  aus  dem  anatomischen  Befunde 
in  der  angegebenen  Weise  zu  erklären  und  durch  diese  Erklärung  die  Lehre  yon 
den  Flechsig 'sehen  Centren,  für  deren  Existenz  bisher  doch  wohl  noch  kein  Be- 
weis erbracht  ist,  stützen  zu  wollen,  erscheint  doch  etwas  gewagt. 

T  e  ekle  nburg- Leipzig. 

Schleichf  Schmerzlose  Operationen.  Oertliche  Betäubung  mit 
indifferenten  Flüssigkeiten.  Fsychophysik  des  natürlichen  und 
künstlichen  Schlafes.  Dritte  Auflage.  Berlin,  Springer  1896.  276  Seiten, 
6  Mark. 

Das  Yorliegende  Buch  hat  im  Laufe  eines  Jahres  zwei  Auflagen  erlebt  — 
eine  Thatsache,  die  mehr  ab  anerkennende  Worte  eines  Recensenten  geeignet  sein 
dürfte,  die  Aufmerksamkeit  auch  deijenigen  Fachkreise  auf  sich  zu  lenken,  welche 
noh  bisher  gegenüber  den  vom  Verf.  angebahnten  Neuerungen  noch  immer  in 
einer  kühlen  Reserve  oder  in  völliger  Ablehnung  gehalten  haben. 

Den  chirurgischen  Theil,  welcher  sich  auf  die  operative  Technik  und  auf  die 
modificirte  Narcose  bezieht,  können  wir  hier  übergehen.  Er  bringt  im  grossen 
Oanzen,  abgesehen  von  einigen  technischen  Ergänzungen  und  operativen  Erläute- 
rungen, die  für  den  practischen  Chirurgen  allerdings  von  Werth  sein  werden,  keine 
Abweichungen  von  der  zweiten  Auflage.  Ref  möchte  deshalb  seinen  früheren 
Anirfuhrungen  über  die  Infiltrationsanästhesie  (Diese  Zeitschrift,  Bd.  VI,  pag.  248) 
Niohts  hinzufugen.  Sie  wird  mit  der  Zeit,  soweit  sich  aus  der  bisherigen  Literatur 
enehen  lässt,  für  jeden  Fractiker  unentbehrlich  werden  und  damit  empfiehlt  sich 
ein  Stadium  des  Verfahrens  aus  dem  Originalwerke  von  selbst. 

Die  „Fsychophysik  des  Schlafes",  welche  Verf.  für  den  grundlegenden  und 
wichtigsten  Theil  seiner  Arbeit  hält,  hat  eine  Umarbeitung  oder  eine  exactere 
Begründung  in  dieser  Auflage  leider  nicht  erfahren.  Der  äusserst  lockere  Zu- 
eemmenhang,  der  zwischen  den  anatomisch  völlig  haltlosen  Speculationen  über  die 
feinere  Mechanik  des  Gehirnes  und  den  practisch  so  bedeutungsvollen  Entdeckungen 
des  Verf.  auf  dem  Gebiete  der  Localanästhesie  besteht,  tritt  hier  noch  schärfer  zu 
Tage.  Das  Buch  würde,  nach  Ansicht  des  Ref.,  doppelt  an  Werth  gewinnen,  wenn 
diese  beiden  Gebiete  in  einer  späteren  Ausgabe  völlig  von  einander  getrennt  würden. 

Uebrigens  hat  der  Verf.  seine  theoretische  Fosition  durchaus  nicht  zu  festigen 
Termocht.  Er  vermag  die  von  histologischer  Seite  (Weigert)  gegen  ihn  unter- 
nommenen Angriffe  mit  exacten  Gegenbeweisen  nicht  zu  widerlegen,  er  zieht  sich 
deshalb  auf  einen  „mehr  erkenntniss theoretischen  Standpunkt**  (den  er,  nebenbei 
bemerkt,  in  den  älteren  Auflagen  den  Fsychologen  so  sehr  vorgeworfen  hat)  zurück 
und  beschränkt  sich  darauf,  über  die  Functionen  des  Gehirns  nachzudenken,  d.  h.  zu 
pbantasiren,  statt  das  Organ  zu  untersuchen.  Mit  billigem  Spott  ergeht  er  sich 
über  die  mühevollen  Ergebnisse  der  neuesten  microscopischen  Technik,  ohne  die- 
selbe auch  nur  hinreichend  zu  kennen  und  übersieht  dabei  die  heftigsten  Streiche, 
Zeitschrift  für  Hypnotismas  ste.   ym.  24 


370  Referate  und  Beflprechimgeii. 

die  gegen  ihn  geführt  werden.  Die  Held 'sehen  Untersochungen  über  den  Zd- 
sammenhang  der  Neurone  unter  einander,  welche  das  Fundament  seiner  Ldue 
untergraben,  bleiben  von  ihm  yöllig  unbeachtet.  Damit  ist  ausser  seinem  System 
auch  seine  Methode  gerichtet.  Brodmann- Jena. 

V.  BechteretDy  Die  suggestiye  Behandlung  des  contraren  Ot- 
schlechtstriebes  und  der  Masturbation.  Gentralbl.  f.  Nervenheilkande. 
Febr.  1899. 

Verf.  Iheilt  zwei  casuistische  Fälle  mit,  welche  homosexuelle  Tendenzen  Te^ 
bunden  mit  Onanie  bei  Männern  darstellen,  die  ganz  wesentlich  durch  acddentdle 
Vorkommnisse  bedingt  sind.  Im  ersten  Falle  war  yorübergehend  durch  die  hyp- 
notische Suggestion  ein  wesentlicher  Erfolg  erzielt  worden,  aber  die  Behandlung 
wurde  vorzeitig  abgebrochen.  Im  zweiten  Falle  wurde  eine  Heilung  endelt,  die 
Behandlung  aber  noch  nicht  ab  abgeschlossen  betrachtet. 

Ohne  auf  die  Einzelheiten  dieser  Fälle  einzugehen,  die  in  die  LiteratB^ 
Zusammenstellung  von  y.  Schrenck-Notzing  gehören,  sei  die  Arbeit  hier  er 
wähnt  wegen  der  allgemeinen  Bemerkungen,  die  der  Verfasser  daran  knüpft. 

Verf.  hat  schon  in  einer  ganzen  Reihe  yon  Fällen  die  hypnotische  Suggestion 
zur  Behandlung  yon  Onanie  mit  den  besten  Erfolgen  angewandt,  und  hält  diese 
Art  der  Behandlung  auch  für  sehr  geeignet  in  Fällen  yon  conträrer  Sexual- 
empfindung.  Er  empfiehlt  dieselbe  bei  allen  jenen  Zuständen,  bei  welchen  krank- 
hafte Neigungen  in  die  Erscheinung  treten,  besonders  auf  der  Grundlage  yoritandener 
Willensschwäche  wie  z.  B.  bei  chronischem  Alkoholismus,  Morphinismus,  Zwangs- 
ideen, Kleptomanie  etc. 

Verf.  ist  der  Ansicht,  dass  zur  Erreichung  guter  Heilerfolge  in  den  meisten 
Fällen  mehrfache  Anwendung  der  Suggestion  erforderlich  ist.  Dabei  steht  die 
Dauer  der  suggestiven  Behandlung  in  directer  Abhängigkeit  einerseits  von  der 
Schwere,  und  Individualität  des  Einzelfalles,  andererseits  von  dem  Grade  der 
Suggestibilität  des  Individuums.  Ist  eine  tiefe  Hypnose  nicht  zu  erreichen,  wendet 
Verf.  mit  Erfolg  die  Wach-  oder  Halbwachsuggestion  an.  Eine  Gombination  von 
Suggestion  mit  andern  therapeutischen  Maassnahmen  wie  Bädern,  Brom  etc.  hält 
Verf.  für  besonders  nützlich. 

Aus  den  gesammten  Angaben  geht  hervor,  dass  der  Verf.  die  therapeutiseiie 
Suggestion  in  derselben  Weise  anwendet,  wie  sie  seit  einer  Reihe  von  Jalun 
von  Bernheim,  Forel  und  anderen  gehandhabt  wird. 

yan  Straaten-Beriin. 

V.  Schrenck-Notzing^  Psychotherapie  (Suggestion,  Suggestivthe- 
rapie).  Real-Encyclopädie  der  gesammten  Heilkunde.  3.  Aufl.  Wien,  Urbaa  o. 
Schwarzenberg.    149  S.    1899. 

In  der  neuen  Auflage  der  Real-Encyclopädie  der  gesammten  Heilkunde  be- 
handelt Verf.  das  Kapitel  Psychotherapie.  Die  ganze  Disposition  erscheint  dsm 
Ref.  nicht  sehr  scharf^  wenn  auch  im  Uebrigen  die  meisten  Gebiete  der  Psycho- 
therapie Erwähnung  gefunden  haben. 

Auf  alle  Einielheiten  einiugehen,  loheint  uns  nicht  möglich,  da  die  Arbeit 
schon  ielb«r  die  ^i>— lit*n  Funkte  in  gedrängter  Uebersicht  bringt.  Am  inhatti- 
reiehsten  «  ~      ttel  VI  über  daa  suggestive  (hypnotische)  fiefl- 


Keferate  und  Besprechungen.  371 

In  der  theoretischen  Erklärung  schliesst  sich  der  Verfasser  der  Ansicht  von 
O.  Vogt  an,  dessen  Verfahren  er  zur  £rzieluDg  der  Hypnose  in  renitenten  Fällen 
den  Vorzug  giebt,  während  er  sonst  sein  eigenes  Verfahren  zur  Einleitung  der 
Hypnose  anwendet.  Dasselbe  besteht  darin,  dass  vor  den  liegenden  Patienten  der 
Luys'sche  rotirende  Hohlspiegel  derartig  aufgestellt  wird,  dass  das  Auge  ein 
wenig  geblendet  ist.  Während  der  Patient  den  Spiegel  fixirt,  legt  Verf.  die  Hand 
auf  die  Stirn  und  suggeiirt  Schlafsymptome.  Gewöhnlich  schliessen  die  Patienten 
sehr  bald  die  geblendeten  Augen ;  darauf  wird  der  Spiegel  abgestellt.  Das  schnur- 
rende, monotone  Geräusch  des  rotirenden  Spiegels  wirkt  ermüdend  auf  das  Gehör. 
Die  weiteren  Suggestionen  werden  im  Bernheim 'sehen  Verfahren  angewendet. 
Der  Auffassung  Vogt 's  Ton  der  Hypnotisirbarkeit  steht  er  skeptisch  gegenüber. 
Dann  behandelt  er  kurz  die  Gefahren  des  Hypnotismns  und  betont  dabei,  dass 
dieselben  zum  grössten  Theil  durch  Unwissenheit  des  Hypnotiseurs  entstehen.  Auch 
dem  Breuer-Freud' sehen  Abreagiren  steht  er  skeptisch  gegenüber.  Zum  Schluss 
betont  er,  dass  das  hypnotische  Heilverfahren  die  stärkste  Form  der  psychischen 
Behandlung  darstellt.  Im  folgenden  Kapitel,  welches  die  einzelnen  Krankheits- 
formen behandelt,  giebt  Verf.  eine  üebersicht  der  Eeilerfolge,  die  ein  Excerpt 
der  G^esammtliteratur  darstellen,  wie  sie  dem  Wesen  einer  solchen  Zusammenfassung 
entspricht,  ohne  viel  Originelles  zu  enthalten.  Cr  am  er- Schlachtensee. 

P.  <7.  MöbiuSy  Ueber  J.  J.  Bousseaus  Jugend.  Beiträge  zur  Kinder- 
forsohung.    Langensalza,  Beyer  u.  S.    1899.    29  S. 

Der  Verf.,  der  in  seiner  erschöpfenden  Skizze  vom  Standpunkte  des  Irren- 
antes J.  J.  Rousseau  analysirt  und  zu  dem  Ergebniss  kommt,  dass  Rousseau 
parmnoiakrank  war,  trägt  viel,  wenn  nicht  Alles  zur  richtigen  Beurtheilung  Rousseaus 
bes.  Die  kleine  Arbeit  ist  sehr  anziehend  geschrieben  und  dürfte  besonders  für 
Hdagogen  und  Rousseau-Freunde  von  höchstem  Interesse  sein. 

Gramer-  Schlachtensee. 

H,  SehiissleTy  Nervendehnung  oder  nicht?!  Bremen,  Verlag  von  G.  F. 
▼.  Halem.    1899.    86  S. 

Verf.  theilt  in  seiner  Brochüre,  die  manches  Kritiklose  und  zum  Widerspruch 
Anreizende  enthält,  auf  Grund  beigefugter  Krankengeschichten  die  Resultate  mit, 
die  er  mit  der  blutigen  Nervendehnung  bei  Tabes  und  chronischen  Erkrankungen 
des  Bückenmarks  erzielt  hat,  und  die  nicht  nur  Stillstand  und  Besserung  der 
Krankheiten  herbeigeführt,  sondern  sogar  Vorgänge  der  Regeneration  zur  Folge 
gdbabt  haben  sollen. 

Verf.  setzt  sich  mit  seiner  Veröffentlichung  in  Widerspruch  zu  den  heute 
geltenden  Anschauungen  über  die  Wirksamkeit  des  Verfahrens,  deren  suggestive 
Wlilning  er  bestreitet.  Auf  seine  Erklärung  der  Tabes  hätte  er  besser  verzichtet, 
nd  dmittr  mehr  Kritik  auf  seine  Krankengeschichten  verwenden  sollen. 

Gramer-  Schlachtensee. 

•.  fidrendb-iVbtnn^,  Beiträge  zur  forensischen  Beurtheilung  von 
BiiiliehkeitsTergehen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Fatkogenese  psychosexueller  Anomalien.  Sonderabdruck  aus  dem  Archiv 
flr  Oriminsl-Anthropologie  und  Criminalistik,  Bd.  I.    1899. 

Die  Aibeit  liefert  einen  neuen  Beitrag  zu  der  vom  Verf.  in  seinen  bekannten 

9A* 


37S  Referate  and  fiesprechongen. 

grosseren  Arbeiten  vertretenen  Lehre,  daas  die  sexaellenAnomalien  „Prodnete 
angönstiger  äusserer  Anlässe  bei  vorhandener  erblicher  neoropathiacher  Goufti- 
tution  und  Labilität  des  Trieblebens  darstellen.**  Gestützt  auf  die  Beobachta^gaa 
an  sechs  instructiven  Fallen,  die  er  dem  an  anderer  Stelle  veröffentlichten  Katoiil 
zufügt,  bekämpft  v.  Schrenck-Notzing  mit  Olück  jene  ältere  Lehre  rem  Ent- 
stehen der  sexuellen  Anomalien  aus  originärer  Anlage,  die  v.  K rafft- Ebiaf 
in  seiner  Theorie  der  embryonalen  Bisexualität  wieder  aufgenommen  and  aneh  von 
Moll  neuerdings  in  abgeschwächter  Form  vertreten  wird.  Bezüglich  der  Ani- 
führungen  von  forensischem  Interesse  sei  auf  die  Arbeit  selbst  verwiesen.  Hm 
interessirt  uns  die  Pathogenese  und  die  auf  diese  sich  aufbauende  Therapie. 

Im  1.  Fall  handelt  es  sich  um  eine  39  Jahre  alte,  männlich  entwickelte  Penoo, 
die  seit  der  Militärzeit  homosexuellen  Umgang  in  Form  mutaeller  Onanie  od 
des  Coitus  interruptus  pflog;  ausserdem  solitäre  Onanie  unter  ausschliesslich  homo- 
sexuellen Vorstellungen;  gegenüber  dem  weiblichen  Geschlechte  ist  Patient  voll- 
kommen impotent  Im  Uebrigen  bestehen  die  Zeichen  einer  mittelschweren  Nou^ 
asthenie  auf  erblicher  Grundlage.  Die  Entstehung  der  sexuellen  Anomalie  tii 
occasionellen  Einflüssen  bei  einem  psychopathisch  Disponirten  Vuat  sich  in  dieifla 
Falle  deutlich  nachweisen.  Patient  wurde  nämlich  in  seinem  12.  Lebenijahre  von 
einem  Mitschüler  zu  wechselseitiger  Onanie  verfuhrt,  die  er  später  auch  allein  ontar 
Vorstellung  männlicher  Personen  regelmässig  und  häufig  ausfühi^.  Der  noch 
undifl'erenzirte  Trieb  wurde  somit  beim  ersten  Aufflackern  in  unrichtige  fiahnsn 
gelenkt,  also  schon  zu  einer  Zeit,  in  der,  wie  Verf.  mit  Recht  hervorhebt»  6m 
Knabe  noch  gar  nicht  im  Stande  war,  „die  zur  Gorrectur  einer  solchen  Anomslis 
erforderlichen  Gegenvorstellungen  zu  bilden,  resp.  dieselben  aus  den  Sinnesmhi^ 
nehmungen  des  normalen  Geschlechtsverkehrs  abzuleiten." 

Ganz  ähnlich  liegt  die  Pathogenese  im  2.  und  3.  FalL  Beide  Male  entstsad 
die  'Triebanomalie  aus  mutueller  Onanie  im  frühsten  Knabenalter  bei  allerdinp 
belasteten  Personen.  Im  3.  Falle  führte  missglückter  Goitusversuch  mit  weiblicher 
Person  nur  zur  Befestigung  der  conträren  Sexualempfindung. 

Im  4.  Fall  handelt  es  sich  um  einen  erblich  nur  wenig  belasteten,  geistig  im 
Uebrigen  normalen  Mann,  der  trotz  glücklicher  Ehe  exhibitionis tischen 
Neigungen,  die  sich  in  der  Entblössung  seiner  Genitalien  vor  jungen  Mädchen 
äusserten,  nicht  widerstehen  konnte,  obgleich  diese  ihn  wiederholt  aaf  die  Anklsgt- 
bank  gebracht  hatten.  Auch  hier  setzt  die  Genese  mit  einer  eigenartigen  Anregung 
des  eben  erwachenden  Geschlechtslebens  ein.  Patient  wurde  nämlich  schon  im 
10.  Lebensjahre  von  einem  einige  Jahre  älteren  Schulmädchen  zum  Entblossen 
seiner  Geschlechtstheile  veranlasst.  Durch  fortgesetzte  sexuelle  Spielereien  worden 
diese  und  ähnliche  erste  Eindrücke  zu  Zwangsvorstellungen,  deren  Patient  nicht 
Herr  werden  konnte;  der  Gedanke,  dass  junge  Mädchen  durch  den  Anblick  seiner 
entblössten  Genitalien  ungewöhnlich  geschlechtlich  erregt  werden  müssten,  trieb  ihn 
von  Zeit  zu  Zeit  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  zur  Exhibition. 

Im  6.  Fall  handelt  es  sich  ebenfalls  um  exhibitionistische  Neigungen,  entwickelt 
auf  dem  Boden  frühzeitig  begonnener  und  jahrzehntelang  fast  täglich  geübter  Onams 
unter  lebhafter  Vorstellung  männlicher  und  weiblicher  Genitalien.  Normaler  Bei- 
schlaf gelang  zwar,  bot  aber  niciit  entfernt  den  Genuss  der  onanistischen  KTHOsmi 
Eine  Badehausscene,  bei  der  Patient  bemerkte,  dass  seine  Genitalien  von  einer 
Nachbarin  durch  ein   Astloch   beobachtet  wurde,  liess  ihn  die  Exhibition   seiner 


Beferate  und  Bespreohongen.  873 

Geschlechtstheile  vor  Frauen  als  den  höchsten  Grad  geschlechtlicher  £rregung, 
dessen  er  lähig  war,  kennen  lernen.  Trotzdem  Patient  später  heirathete  und  seinen 
ehelichen  Pflichten  regelmässig  nachkam,  yermochte  er  seine  exhibitionistisohen 
Gelüste  nicht  zu  unterdrücken. 

Im  6.  Fall  bestand  larvirte  passive  Algolagnie,  deren  Entstehung  Ton 
.Schrenck-Notzing  durch  das  Auftreten  von  mächtigen  sexuellen  Gefühlen  in 
einer  Zeit  des  Knabenalters,  in  der  Patient  durch  die  Leetüre  Ton  Indianergesohichten 
ganz  erfüllt  war,  erklärt.  Vorstellungen  von  Martern,  Erniedrigung  und  Aushalten 
Ton  Qualen  yerknüpfben  sich  mit  den  noch  nicht  differencirten  sexuellen  Trieben 
des  phantasiereichen  Knaben. 

In  allen  Fällen  ist  also  der  Keim  zur  Anomalie  bereits  zu  einer  Zeit  gelegt 
worden,  in  der  dem  Patienten  noch  jede  eigene  Erfahrung  über  den  normalen 
Geechlechtsverkehr  fehlen  musste.  In  allen  Fällen  ist  aber  auch  eine  mehr  oder 
weniger  starke  erbliche  Belastung  yorhanden,  die  ätiologisch  doch  wohl  mehr  in 
das  Gewicht  fällt,  als  es  Yerf.  in  dem  an  sich  anerkennenswerthen  Bestreben  den 
Binflnss  occasioneller  Momente  mehr  als  bisher  zur  Geltung  zu  bringen  erkennen 
liest.  Liegt  keine  erbliche  Belastung  vor,  dürfte  doch  in  der  Regel  eine  im  Knaben- 
.aiter  erworbene  Neigung  zu  homosexuellem  Umgang  später  ihre  Correctur  durch 
lieteroeexuellen  Verkehr  finden.  Ob,  wie  Verf.  annimmt,  gelegentlicher,  aber  fort- 
gesetzter homosexueller  Verkehr  (in  Gefangnissen,  Internaten  u.  s.  w.)  bei  normalen 
Peceonen  zur  Ausbildung  wirklicher  conträrer  Sexualempfindung  mit  Impotenz 
gegenüber  dem  weiblichen  Geschlecht  führen  kann,  erscheint  uns  fraglich.  Unbe- 
dingt beistimmen  muss  man  aber  der  Warnung  des  Verfassers  „die  Erklärungs- 
frincipien  um  den  Factor  angeborener,  im  Embryo  präformirter  sexueller  Gescbmacks- 
richtungen  auch  bei  jenen  Fällen  zu  vermehren,  die  sich  als  reines  Product  ungünstiger 
inseerer  Anlässe  bei  vorhandener  erblicher  neuropathischer  Constitution  und  Labi« 
Htit  des  Trieblebens  darstellen.** 

In  den  meisten  der  mitgetheilten  Fälle  war  die  Suggestivbehandlung  von 
gutem  Erfolg.  Im  1.  Fall  führte  die  hypnotische  Behandlung  zur  Aufnahme  hetero- 
MxneUer  Beziehungen  und  versprach  Beseitigung  der  homosexuellen  Neigongen, 
wurde  aber  zu  friih  abgebrochen.  Im  2.  Fsll  gelang  es  durch  Anwendung  der 
Igfpnotischen  Behandlung,  einen  geregelten  heterosexuellen  Verkehr  herbeizuführen. 
Andi  im  4.  Fall  erzielte  die  Suggestivbehandlung  erhebliche  Besserung.  Im  3.  Fall 
wurde  die  Anomalie  durch  65  hypnotische  Sitzungen  gänzlich  und  dauernd  geheilt. 

G  r  o  t  j  a  h  n  -  Berlin. 

Dr.  Alfred  Fuek».  Therapie  der  anomalen  Vita  sexualis  bei 
Minnern  mit  Berücksichtigung  der  Suggestirbehandinng.  136  S. 
Slirttgari,  fintce,  1899. 

Ohne  der  kritischen    Erwähnung  dieser  Arbeit  von  Seiten  v.  Schrenek- 
;ing*s  in  seinem  Sammelreferat  vorzugreifen,  sei  hier  eine  kurze  Inhaltsangabe 

fiuches  gegeben. 

Verl  weist  in  der  Einleitung  kurz  darauf  hin,  daes  es  bisher  noch  nicht  ge- 

ist,  anatomische  Substrate  für  die  sexuelle  Sphäre  zu  entdecken  und  bei 

der  Geschlechtsempfindung  pathoL  Veränderungen  im  Gentraiorgan  oder 

Lsstengsbahn  za  finden.    Zum  Theil  handle  es  sidi  wohl  nur  um  psychologische, 

nm  psyefaopethisehe  Probleme.    Es  könne  daher  kein  Anspruch  auf  unfehlbar 

Heibnethoden  gemacht  werden. 


374  Aeferate  und  BetprechnngeiL 

Indem  Verf.  kurz  die  Prophylaxe  berohrt,  hebt  er  herror,  daa  die  propliy- 
laktischen  Maassregeln  dieses  Gebietes  sich  zum  grossen  TheU  dem  Bahmen  du 
irstlichen  Wirkungskreises  entzögen.  Sie  kamen  nur  auf  dem  Gebiete  der  Kindsr- 
erziehang  und  bei  der  Frage  der  fiheschliessong  in  Betracht. 

Was  die  Therapie  dieses  Gebietes  belangt,  erblickt  der  Verf.  ein 
Hinderniss  für  den  Fortschritt  derselben  in  dem  mangelnden  Interesse  der 
wärtigen  öffentlichen  Krankenanstalten,  und  darin,  dass  die  Erkenniniss  diesei 
Leidens  dorch  den  Bann  der  Gesetze  niedergehalten  wird.  Verf.  steht  auf  dn 
Standpunkte,  dass  der  Perverssexaelle  als  der  des  Glückes  enterbte  schonende  KSek- 
sicht  und  liebevolle  Behandlang  verdiene.  £in  Mensch,  für  den  das  traurige  Be- 
wnsstsein  abnormer  Veranlagung  das  ganze  Leben  hindurch  eine  Qoal  seL  die  ilin 
der  Neurasthenie  und  flysteroneurasthenie  in  die  Arme  treibe,  sei  als  Kranker  an- 
zusehen. Als  Verbrecher  dürfe  er  nicht  angesehen  werden,  da  er  unter  dem  Zwangt 
eines  ihn  beherrschenden,  Vernunft  und  Willen  lähmenden  Trieber  handle.  Ver£ 
fordert  daher  eine  humane  Behandlung  dieser  Leidenden,  und  schlägt  als  Stnis 
für  Delicte  Perverssexueller  eine  zwangsweise  Intemirung  in  Heilanstalten  vor,  die 
unter  Aufeicht  des  Staates  stehen.  Verf.  glaubt  zu  dieser  Forderung  nmsomdr 
berechtigt  zu  sein,  als  der  Sachkundige  der  von  Natur  Goniraren  und  Perreit- 
sexucUen  von  dem  Verbrechern,  die  nicht  von  Natur  aus  zu  einer  anormalen  Be- 
friedigung des  Geschlechtstriebes  gezwungen  seien,  zu  unterscheiden  vermöge.  Br 
erinnert  hierbei  an  die  von  v.  Krafft-Ebing  aufgestellten  Unterschiede  zwischen 
Perversion  und  Perversität.  Indem  er  am  Schluss  der  Einleitung  die  Frage  dff 
Kindererziehung  nochmals  berührt,  sucht  er  diese  Unterschiede  auch  für  die  Kinder- 
erziehung zu  erweiten.  Bei  angeborener  conträrer  Sexualempfindung  fordert  er 
Erziehung  in  einer  Anstalt. 

Im  allgemeinen  Theil  geht  Verf.  nach  kurzer  Erörterung  der  Frage  der  firfo- 
lichkeit  der  Perversität,  wobei  er  sich  den  Ansichten  v.  Krafft-Ebing 's  anschlieeit, 
zunächst  auf  die  Besprechung  der  Therapie  der  Masturbation  über.  Die  Behand- 
lung der  psychischen,  wie  der  actuellen  Onanie  erscheint  ihm  gleich  wichtig. 

Zunächst  führt  er  das  Traitement  moral  als  wichtiges  therapeutisches  Agens 
an,  wobei  er  die  Anweisung  gicbt,  dem  Patienten  die  Onanie  als  die  Wurzel  der 
sexuellen  Perversitäten  hinzustellen.  Hierbei  erörtert  er  zugleich  die  Frage  der 
Folgen  der  Onanie.  Nach  seiner  Meinung  kann  dieselbe  keine  organische  Er- 
krankungen provociren.  Bei  Belasteten  könne  zwar  die  Masturbatio  nimia  die 
Grundlage  für  eine  schwere  an  Psychose  grenzende  oder  in  eine  Psychose  über- 
gehende Neurasthenie  bilden  etc.  Die  Masturbatio  sei  aber  nur  als  das  venn- 
lassende  Moment,  nicht  als  die  Ursache  anzusehen.  —  Für  hartnäckige  FiOs 
schlägt  er  als  erfolgreiches  Verfahren  die  continuirliche  Ueberwachung  vor. 

In  zweiter  Linie  erwähnt  er  die  diätetischen  Maassnahmen.  Er  giebt  An- 
weisung über  die  Regelung  der  Bewegungen,  wobei  er  Reiten  und  Radfahren  ab 
schädlich  verwirft,  er  erörtert  die  Ernährungsweise,  wobei  er  als  Principien  auf- 
stellt, erstens  eine  hinreichende  Kost,  um  eine  Zunahme  des  Körpergewichts  zu  er- 
zielen, oder  aber,  wo  letzterer  genügend  ist,  eine  Abnahme  zu  verhindern,  sweiteni 
eine  blande  Diät,  welche  aber  dem  erstgenannten  Ziele  in  keiner  Weise  ein  Hinde^ 
niss  entgegensetzen  darf.  Was  den  Schlaf  betrifft,  sucht  er  einen  ausreichend  tiefon 
und  traumlosen  Schlaf  durch  hydriatische  Proceduren  hervorzurufen,  wobei  er  fBOt 
Unterstützung,  wenn  nöthig  die  Hypnotika  heranzieht. 


Referate  und  Besprechungen.  375 

Neben  der  Regelung  der  Diät,  der  Arbeit  und  des  Schlafes  empfiehlt  er  noch 
hydropathische  Maassnahmen  und  Herabsetzung  der  Anspruchsfähigkeit  des  Ejecu- 
lationscentrums.  Gegen  die  bei  Masturbation  häufig  beobachteten  Störungen  der 
Herzthätigkeit  empfiehlt  er  faradische  Pinselung  der  Herzgegend  oder  Anlegen  des 
Leiter'schen  Kühlapparats.  Die  häufig  vorhandenen  Störungen  der  Darmfunction 
▼eriieren  sich  nach  seiner  Ansicht  durch  die  Allgemeinbehandlung. 

Im  folgenden  Kapitel,  das  Verf.  der  Therapie  bei  abnorm  gesteigerter  An- 
spmcbsfahigkeit  des  Ejeculationscentrums  widmet,  führt  er  an,  dass  die  im  vorigen 
Kapitel  besprochenen  Maassnahmen  auch  hier  einzugreifen  haben;  eine  Ergänzung 
erkennt  er  in  der  Anwendung  des  galvanischen  Stromes  (stabil,  Gathode  am  Peri- 
neum, Anode  in  der  Gegend  des  Ejeculationscentrums,  2—3  Minuten  bei  2 — 3  M.  A. 
—  labil,  bei  stabUer  Cathode,  Perineum  oder  Fussbad,  die  Anode  längs  der  Haupt- 
nervenstämme  am  Genitale«  bei  gleicher  Dauer  und  Intensität)  und  der  Kühlsonde.  — 

Das  dritte  Kapitel  hat  die  hypnotische  und  suggestive  Behandlung  zum  Gegen- 
stand. Verf.  ist  der  Ansicht,  dass  die  Perverssexuellen  schwer  zu  hypnotisiren 
sind.  Wenn  ihm  nun  auch,  besonders  bei  Perverssexuellen,  der  tiefste  Grad  der 
Hypnose  für  die  Suggestionen  am  besten  geeignet  erscheint,  so  zeigt  ihm  doch  die 
Erfahrung,  dass  auch  bei  weniger  tiefen  Graden  gute  Heilerfolge  erzielt  werden 
koxmen.  Er  führt  dies  darauf  zurück ,  dass ,  wie  er  sagt,  sich  doch  meist  irgend 
eine  weniger  widerstandsfähige  Stelle  in  dem  pathologischen  Triebleben  des  Per- 
Tersen  vorfindet,  wo  sich  unsere  therapeutischen  Bemühungen  einschleichen  und 
allmählich  Wurzel  fassen  können. 

Die  Suggestionsbehandlung  hat  nach  seiner  Ansicht  erst  dann  zu  beginnen, 
wenn  mit  der  Masturbation  die  neurasthenischen  Beschwerden  durch  die  oben  be- 
sprochenen therapeutischen  Maassnahmen  beseitigt  sind. 

Betrefiis  der  zu  wählenden  Tageszeit  ist  Verf.  der  Ansicht,  dass  man  einen 
Zeitponkt  auswählt,  in  welchem  ein  ausgesprochenes  Ruhebedürfniss  und  zugleich 
Verlangen  nach  Schlaf  vorhanden  ist. 

Was  die  Technik  betrifit,  benutzt  Verf.  die  Methode  der  Fixation  von  Auge 
xa  Auge.  Auch  die  Methode  von  Wetterstrand  findet  seinen  BeifaU.  Ueber 
die  weiteren  Bemerkungen,  die  sich  hieran  knüpfen,  zu  referiren,  ist  nicht  nöthig, 
da  sie  nur  Bekanntes  enthalten. 

Auch  die  Wachsuggestion  erkennt  Verf.  als  günstig  wirkend  an. 

Nachdem  Verf.  weiterhin  erörtert  hat,  dass  die  Autosuggestionen  und  Fremd- 
snggestionen,  die  zu  den  perversen  Anomalien  geführt  haben,  häufig  durch  Jahr- 
aefante  cultivirt,  äusserst  festhalten,  und  durch  Gontrasuggestionen  schwer  zu  ver- 
treiben sind,  macht  er  femer  die  Wirkung  der  Suggestionen  von  günstigen  Neben- 
nmstanden  abhängig  und  kommt  zu  dem  Schluss,  dass  eine  Behandlung  in  einer 
Axistalt  unbedingt  nöthig  sei. 

In  den  Fällen,  wo  die  suggestive  Behandlung  scheitert,  kann  nach  seiner 
Meinung  durch  andere  Methoden  und  des  Traitement  moral  gute  Erfolge  erzielt 
werden. 

Den  Fortbestand  einer  eingetretenen  Heilung  macht  er  abhängig  von  der 
Alkoholabstinenz,  und  dem  Sistiren  der  Masturbation.  Es  muss  daher  schon  während 
der  Suggestionsbehandlung  in  dieser  Richtung  gewirkt  werden.  Als  ergänzendes 
Gegenmittel  gegen  die  Masturbation  wirkt  nach  seiner  Ansicht  ein  regelmässiger 
Oesehlechtsgennss,  resp.  das  Eingehen  einer  Ehe. 


376  Bafnmte  und  Bcaprechoiign. 

Bin  Bimtmi  de«  «pedeUen  Theila  «rpebt  die  folg«ndB  TUmO«. 


Tsn  Strftkten-ITiMbsdtB. 

Dr.  Karl  FMcOt^itrg,  Ueber  e{a«ii  VbM  «Tiaenter  QesTiiidbeiti- 
aehidlgnng  durch  hypootiiirende  Einwirkang. 

In  einer  nen  enohieoenen  Sknunlnng  von  AbhkTidlimgBn  and  Tortfigea  i» 
Terb. ')  findet  rieh  unter  anderen  meiit  h ygieniachen  Inhalti  aneh  ein  im  Jahre  18B 
gelialteuer  Vortrag  ttber  obigf  Thema.  Ein  triiher  genmder,  aber  etwa«  nerrä 
reranltgter,  intelligenter  jnnger  Mann  Ton  18  Jahren  vnrde  Ton  dem  bekannla 
Wandennagnetiienr  Hamen  in  einer  «einer  Öffentlichen  ünterhaltnngavoratollnng» 
hTpnotisirt,  ei  wurden  ihm  die  Terachiedensten  wideriinnigiten  Handinngen  od 
Halladnationen  niggerirt,  wodarcb  der  jonge  Mann  lohliecalich  «o  erreg:t  inirde, 
daM  man  einKhritt  and  ihn  nach  Haas  brachte.  Von  dem  Tage  an  bekam  er  An- 
flUle,  die  man  nach  F.'b  Schilderung  nar  ab  hjtteriiohe  Anfälle  mit  hallndnatorisehen 
Delirien  anteben  kann.  F.  hebt  auch  hervor,  data  sie  ebento  waren  wie  die  Anfille, 
die  er  an  Charcot'a  Hypootiairten  gesehen  hatte.  F.  ist  der  Ansicht,  „das*  es 
sich  am  eine  Tetanitinmg  eines  bestimmt  begrenzten  Abscbnittea  des  psychischen 
Organes  mit  ooDTnUiTen  Zottänden,  die  im  übrigen  Kerrensystem  eich  auslösen, 
handelt"  Er  warnt  dringend  TOr  dem  nnbemfeaen  Hypnotisiren  durch  Laien. 
Tecklenbarg-Leiprig. 


I.  Pits'sehe  Bnchdr.) ,  Nanmbus  a.  S, 


ZEITSCHBIFT  FÜB  HYFITISIUS 


PSYCHOTHERAPIE 

SOWIE  ANDERE 

SYCHOPHYSIOLOGISCHE  UND  PSYCHOPATflOLOGISCHE 

FORSCHUNGEN. 

BAND  9. 

MIT  BETTRIGEN  von 

Nl  Ach  (SnuBBBüBQ)«  Dr.  Bi.aiwiieimi  (Eeakaü),  Dk.  BBODMAnr  (Jsna),  Pbop.  BDrewANexs 
Imma^  A.  GaoHMAnr  (Zükgb),  Dr.  Grotjahh  (Brrlih),  Dr.  Hhorr  (KAeDRBURe),  Dr. 
mcHLAPF  (Bkrus),  Dr.  Ibrhbxbo  (Bsrun),  Dr.  Laütkhragh  (Brrldi),  Dr.  MARcnfOWSKi 
^AitmMmms),  Dr.  F.  G.  Müllkr  (MüHCHXir),  Dr.  t.  ScHRSHCK-NoniNe  (Mühchiv),  Dr.  Srif 
ttacHRv),  Dr.  tax  Straatrh  (Brrlin),  Dr.  Tatxrl(Mühchrh),  Dr.  TscxLBXRURe  (Lripco), 

Dr.  O.  Yoer  (Brruh),  Dr.  Yorbrodt  (ALr-jRSSNin). 

Ulm  nsoKDnn  PteDnuK«  m 

PROF.  A.  FOREL 

nUUSGKBBDI  TOI 

DR.  0.  VOGT. 


LEIPZIG  1900 
VERLAG  VON  JOHANN  AMBROSIUS  BAJELTH 


Alle   Rechte   vorbehalten. 


Inhalts-Yerzeicliniss. 

Band  9. 


Originalartikel. 

Aeh,   Ueber  geistige  Leistungsfähigkeit  im  Zustand  des  einge- 
engten Bewusstseins 1 

Binswanger,  Zur  Oasuistik  der  Agraphie 84 

Grohmann,  Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe 283 

Hilger,  Zur  Casuistik  der  hypnotischen  Behandlung  der  Epilepsie    47 
Hirschlaff,    Kritische  Bemerkungen  über   den   gegenwärtigen 

Stand  der  Lehre  vom  Hypnotismus 65,  202 

Marcinowski,  Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose    ...  5,  177 
Müller,  Ueber  den  Einäuss  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  und 

psychischen  Functionen 257 

V.  Schrenck-Notzing,  Der  Fall  Sauter 321 

Seif,  Casuistische  Beiträge  zur  Psychotherapie 276,  371 

V.  Straaten,  Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik  .     .     .    129,  193 

Tatzel,  Eine  hypnotische  Entfettungskur 231 

Vogt,  Kurze  Bemerkungen  über  die  vorstehenden  Bemerkungen 

Hirschlaffs 229 

—  Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen 

Bedeutung.    1 253 

Literatorübersichten. 

V.  Schrenck-Notzing,  Literaturzusammenstellung  über  die  Psy- 
chologie und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.    3.  Fortsetzung    98 


—     IV     — 

Stito 

Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie  seit  dem  Jahre 
1896.    5.  u.  6.  Fortsetzung 113,  828 

(Arbeiten  von:  ünverricht,  Wollenberg,  Soury,  Brealer, 
Baymond,  Böttger,  Stembo,  Schütte,  Schnitze,  Hoff- 
mann, y.  Hösslin,  y.  Krafft-Ebing,  Brealer,  Bichter, 
König,  y.  Krafft-Ebing,  Kraepelin,  Delbrück,  D^ga, 
Sanctis,  Barth,  Ziehen,  Oppenheim,  Magnan,  Raymond, 
y.  Krafft-Ebing,  Ganser,  Binswanger,  Janet,  y.Krafft- 
Ebing,  Füratner,  Wollenberg,  Vigoaroux.) 

Referate  und  BespreolnmgeiL 

Abramowiczy  Behandlung  des  chronischen  Alcoholismus  mittelst 

Hypnotismus .  376 

y.  Bechterew,  Hypnotische  Suggestion  bei  chronischem  Alco- 
holismus   314 

Eulenburg,  üeber  Arbeitscuren 61 

Grassl,  Die  Hansen'sche  Lehre  vom  Bevölkerungsstrom   .     .    .  19S 

Haenel,  Die  psychischen  Wirkungen  des  Trionals S19 

Higier,  üeber  spedfischen  Dämmerzustand  des  Bewusstseins  in 

der  posthypnotischen  Periode 876 

Ho  ff  mann,  Physicalische  Heilmethoden  bei  Nervenkranken  .     .  817 

James,  Talks  to  Teachers  on  Psychology SIS 

Knopf,  Sprachgymnastische  Behandlung  eines  Falles  von  chro- 
nischer Bulbärparalyse 191 

Mendelsohn,  Hypurgie 377 

Moebius,  Vermischte  Aufsätze 880 

Oppenheim,  Nervenkrankheiten  und  Leetüre 879 

Patrick,  Some  Peculiarities  of  the  Secondary  Personality     .    .    68 
Bosin,  lieber  die  compensatorische  üebungstherapie  der  Tabes 

dorsalis 191 

Köm  er,  Psychiatrie  und  Seelsorge 874 

Sanctis,  Una  Yeggenta 309 

V.  Schrenck-Notzing,    Suggestive  Behandlung  des  conträren 

Geschlechtstriebes 314 

Scripture,  The  new  psychology 378 

Strohmeyer,  Enteretis  membranacea 318 

Switalski,  Ueber  Suggestivbehandlung  des  perversen  Geschlechts- 
triebes       376 

V.  Voss,  Ueber  Schwankungen  der  geistigen  Arbeitsleistung   .     .  320 


lieber  geistige  Leistungsfähigiceit  im  Zustande  des  eingeengten 

Bewusstseins. 

Von 

Dr.  Narziss  Ach-Strassburg  i.  E. 


In  eingehender  Weise  hat  Vogt  ^)  auf  die  Anwendbarkeit  der  auf 
Selbstbeobachtung  Yon  Bewusstseinserscheinungen  beruhenden  directen 
psychologischen  Forschungsart  in  solchen  Bewusstseinszuständen  hin- 
gewiesen, bei  denen  die  Möglichkeit  einer  stärkeren  Concentration  der 
Aufmerksamkeit  gegeben  ist.  Er  benutzte  hierzu  vor  Allem  den  Zu- 
stand des  systematischen  partiellen  Wachseins.  Wie  für 
die  subjective  Form  des  Experimentirens,  also  „für  das  Studiimi  aller 
derjenigen  psychischen  Phänomene,  bei  denen  EJrinnerungsbilder  den 
wesentlichen  Bestandtheil  bilden^,  so  lässt  sich  auch  für  die  objective 
Art  der  psychologischen  Forschung  die  angegebene  Methode  mit  Erfolg 
benutzen. 

Besonders  beachtenswerth  erscheint  mir  ihre  Verwendung  für  die 
sogenannten  fortlaufenden  Methoden,  bei  denen  wie  beim  Ad- 
diren  (Kraepelin)  oder  Auswendiglernen  von  Zahlenreihen  (Ebbing- 
haus),  einzelne  Gebiete  des  psychischen  Geschehens  durch  gleichmässig 
ablaufende  Arbeit  in  Anspruch  genommen  werden.  Wenn  mir  auch 
bis  jetzt  nur  eine  recht  geringe  Zahl  Yon  Versuchen  zur  Verfügung  steht, 
so  erscheint  es  mir  doch  nicht  zwecklos,  auf  die  Erhöhung  der  geistigen 
Arbeitsleistung  hinzuweisen,  wie  sie  sich  nach  meinen  Erfahrungen  im 
Zustande  des  systematisch  eingeengten  Bewusstseins  einstellt,  und  die 
▼ortheilhafte  Anwendung  der  in  Bede  stehenden  Art  psychologischer 
Forschung  auch  bei  continuirlicher  geistiger  Arbeit  darzuthun. 


»)  ni.  Intern.  Congr.  f.  Psych.  1897,  8.  260  ff.  —  Diete  Zeitichr.,  Bd.  V,  8. 7  ff. 
und  180  ff. 

Z«iUehiift  fOr  Elypnotismas  etc.   IX.  1 


2  Naräes  Ach. 

Als  unberechenbare  Einwirkung  auf  die  Versuchsergebnisse,  ins- 
besondere der  fortlaufenden  Arbeit  kann  die  Beeinflussung  des  Bewusst- 
seins  durch  ablenkende  Störungen,  durch  Zwischengedanken  oder  äussere 
Beizeinwirkungen y  betrachtet  werden.  Wohl  kann  eine  hierdurch  be- 
dingte Ungleichmässigkeit  der  Arbeitsleistung,  der  Forderung  Krae- 
pelin's  ^)  entsprechend,  durch  Häufung  der  Beobachtungen  unschädlich 
gemacht  werden.  Doch  wird  sich  mit  dem  Verschwinden  dieser  unbe- 
absichtigten Beeinflussungen,  wie  es  der  Zustand  des  eingeengten  Be- 
wusstseins  ermöglicht,  die  Leistungsfähigkeit  in  der  vorliegenden  Be- 
schäftigung ihren  psychophysischen  Bedingungen  folgend  durch  eine 
grössere  Genauigkeit  auszeichnen,  wobei  die  Möglichkeit  der  erhöhten 
Aufmerksamkeitsspannung  in  einem  Ansteigen  der  geleisteten  Arbeit 
zum  Ausdruck  kommt.  Auch  Schwankungen  in  der  Stimmung,  die  bei 
der  Durchführung  fortlaufender  Aufgaben  zuweilen  hinderlich  sind, 
können  im  eingeengten  Bewusstsein  ausgeglichen  werden.  Daneben 
werden  sich  die  Begleiterscheinungen  der  continuirlichen  Arbeit,  die 
psychophysischen  Aufmerksamkeitsschwankungen,  die  Uebung,  Anregung, 
Ermüdung  und  Erholung  in  ihrem  Einfluss  auf  die  Arbeitsleistung 
klarer  und  ausgesprochener  nachweisen  lassen.  Die  Wirkung  der 
Müdigkeitsgefiihle  und  der  in  Gestalt  von  Antrieben  einsetzenden 
Willensimpulse  wird  dagegen  wohl  in  den  Hintergrund  treten.  Die 
Betrachtungsweise  der  verwickelten  Arbeitscurve  wird 
demnach  klarer  und  eindeutiger,  ein  Umstand,  der  an  sich 
schon  zur  Prüfung  der  Vogt' sehen  Methodik  auffordern  müsste,  be- 
sonders da,  wie  bereits  Vogt  ausgeführt  hat,  zur  Erzielung  des  par- 
tiellen systematischen  Wachseins  die  Suggestibilität  jedes  nervengesunden 
Menschen  genügt. 

Da  zur  genauen  Ausführung  der  angedeuteten  Einzelheiten  umfang- 
reiche Reihen  eingehender  Versuche  nöthig  sind,  wie  sie  mir  leider  in 
Folge  von  Mangel  an  Versuchspersonen  nicht  zur  Verfügung  stehen, 
so  möchte  ich  vorerst  nur  auf  die  allgemeine  Erhöhung  der  Arbeits- 
leistung im  Zustande  des  eingeengten  Bewusstseins  hinweisen. 

Als  fortlaufende  Arbeit  benutzte  ich  das  Addiren  einstelliger 
Zahlen.  Die  Ausführung  jeder  Addition  wurde  durch  einen  Strich 
markirt,   was   nach  den   Feststellungen  Amberg's®)  als  zulässig  er- 

^)  Kraepelin,  Der  psychologische  Versuch  in  der  Psychiatrie.  Psych.  Ar- 
beiten, I.  Bd.,  S.  Iff. 

')  Amberg,  üeber  den  Einfluss  von  Arbeitspausen  auf  die  geistige  LeistongB- 
fähigkeit.    Kraepelin's  Psychol.  Arbeiten,  I.  Bd.,  S.  300 ff. 


üeber  geistige  Leistungsfähigkeit  im  Znstande  des  eingeengten  Bewusstseins.     3 

scheint.  Auch  hatte  die  Versuchsperson  K.  bereits  zu  Beginn  der 
ersten  Hypnose  durch  wochenlange  andersartige  Versuche  eine  hoho 
üebung  im  Addiren  erreicht.  Der  Schlaf  war  gleich  in  der  ersten 
Sitzung  tief.  Aus  diesem  Schlafe  wurde  E.  durch  die  sich  auf  die 
vorliegende,  bekannte  Aufgabe  beziehende  Suggestion  partiell  erweckt, 
während  für  die  übrigen  nicht  am  Experimente  betheiligten  Bewusst- 
seinselemente  die  Schlafhemmung  weiter  dauerte.  Wenn  ich  mich  den 
AusführuDgen  Vogt 's  anschliesse,  so  bestand  die  affectlose  Zielvor- 
stellung ihrem  positiven  Inhalte  nach  darin,  dass  der  Versuchsperson 
aufgetragen  wurde,  sie  werde  wie  sonst  mit  möglichster  Anspannung  der 
Aufmerksamkeit  arbeiten;  der  negative  Inhalt  der  Zielvorstellung  be- 
stand in  der  Empfindungsunfahigkeit  gegen  Tast-  und  Gehörseindrücke. 
Nur  das  Schlagen  der  fünf  Minuten-Uhr,  das  von  der  Versuchsperson 
durch  einen  Querstrich  angezeigt  wurde,  sollte  gehört  werden. 

In  der  folgenden  Zusammenstellung  sind  die  Ergebnisse  von  vier 
Versuchstagen,  2  Normaltagen  (6.  und  10.  Juli)  und  2  Hypnose-Tagen 
(8.  und  9.  Juli),  vorgeführt.  Die  Versuchszeit  war  Morgens  9  Uhr  eine 
halbe  Stunde  lang,  die  in  der  Tabelle  der  Versuchsanordnung  ent- 
sprechend in  je  6  Abschnitte  mit  den  Additionsergebnissen  von  jedes  Mal 
5  Minuten  abgetheilt  ist. 


Anzahl  der  gemachten  Additionen. 


Zeit 

6.  VII.  1898 

8.  vn. 

9.  vn. 

10.  YIL 

Normal 

Hypnose 

Hypnose 

Normal 

1.   Fünf  Minuten 

349 

404 

408 

366 

2.      , 

363 

462 

411 

366 

3'         n                n 

348 

439 

418 

376 

4 

346 

419 

440 

411 

5.         »               n 

343 

420 

452 

326 

6«         »               » 

359 

415 

367 

361 

• 

Summe  der  Addit.  der  ersten 
25  Minuten 

1739 

2134 

2129 

1843 

Leider  können  wir  die  letzten  fünf  Minuten  zu  einer  vergleichenden 
Betrachtung  nicht  heranziehen,  da  K.  am  9.  VII.  bereits  nach  25  Mi- 
nuten wieder  vollständig  erwachte,  und  sich  seine  Additionen  in  Folge 
dessen  hier  sehr  stark  der  Norm  nähern.  Das  Steigen  der  Leistung 
im  Zustande   des  eingeengten  Bewusstseins  ist  augenfällig.     Ohne  auf 

Einzelheiten  einzugehen,  will  ich  nur  anführen,  dass  die  Besserung  der 

1* 


4  Narziu  Ach. 

ersten  26  Minuten  an  den  beiden  Hypnose-Tagen  gegenüber  den  Nomud- 
tagen  681  Additionen  oder  19  ^^^  der  Normalleistung  beträgt  Die 
abnorm  intensive  Folgewirkung  des  eingeengten  Be- 
wusstseinszustandes  hat  eine  Steigerung  der  Arbeits- 
leistung  um  fast  einFünftel  des  Normalen  herbeizuführen 
vermocht.  In  mannigfachen  Beispielen  hat  Vogt  auf  partiell  erhöhte 
Leistungsfähigkeit  im  Zustande  des  eingeengten  Wachseins  hingewiesen. 
Die  erwähnten  Untersuchungen  bilden  eine  Bestätigung  dieser  E^ 
fahrungen. 

Da  es  sich  bei  den  vorliegenden  Versuchen  um  eine  künstliche 
Erhöhung  der  geistigen  Widerstandsfähigkeit  handelt,  so  e^ 
giebt  sich  hieraus  die  Unmöglichkeit,  den  Zustand  des  systematisch 
eingeengten  Bewusstseins  zur  Untersuchung  der  individuell  verschieden 
starken  Ablenkbarkeit,  einer  Grundeigenschaft  der  geistigen  Persön- 
lichkeit, zu  verwenden.  Doch  wird  die  vergleichende  Untersuchung  von 
Arbeitsleistungen,  die  unter  dem  Einflüsse  ablenkender  Reize  vor  sidi 
gehen  und  solcher,  die  im  Zustande  des  eingeengten  Bewusstseins,  abo 
ohne  Störung  ablaufen,  nicht  ohne  Nutzen  für  die  Frage  nach  der 
geistigen  Widerstandsfähigkeit  sein. 

Die  spärlichen,  von  mir  mit  Zeitmessung  ausgeführten  Experimente 
(Reactionsversuche)  sind  bis  jetzt  noch  ohne  greifbaren  Erfolg  geblieben. 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose. 

£ine  Studie  von 

Dr.  Marcinowski,  Ding.  Arzt  am  Inselbade  bei  PaderborD. 


Diese  Zeilen  schreibe  ich  nieder  auf  Veranlassung  von  O.  Vogt, 
welcher  bekanntlich  eine  ganze  Sammlung  ähnlicher  Selbstbeobachtungen 
besitzt.  Die  Publication  der  meinigen  war  anfangs  keineswegs  be- 
absichtigt. Die  Experimente  hatten  für  mich  zunächst  lediglich  den 
Zweck,  die  Empfindungen  des  Hypnotisirten  am  eigenen  Körper  kennen 
zu  lernen,  um  mich  so  besser  in  die  psychische  Verfassung  meiner 
Patienten  hinein  denken  zu  können.  Aeussere  Umstände  und  Oompli- 
cationen,  die  dabei  eintraten,  legten  uns  aber  bald  den  Gedanken  nahe, 
diese  Selbstbeobachtungen  seien  ein  geeignetes  Demonstrationsobject 
für  mancherlei  Geschehnisse,  die  sich  im  Rahmen  normal  psycho- 
logischer Vorgänge  abspielen ;  jedenfalls  enthalten  ihre  Details  eine 
Anzahl  feinerer  technischer  Fingerzeige  und  werfen  hier  und  da  auch 
ein  Streiflicht  auf  die  mannigfachen  offenen  Fragen  unserer  Special- 
wissenschaft; doch  davon  am  Schluss. 

O.  Vogt  hatte  es  also  unternommen,  mich  einzuschläfern,  und 
wählte  hierzu  die  von  ihm  eingeführte  Form  des  sogen,  fractionirten 
Verfahrens. 

Brodmann  hat  dasselbe  in  dieser  Zeitschrift  jüngst  eingehend 
geschildert,  so  dass  ich  über  die  technischen  Details  heute  kurz  hin- 
weg gehen  kann.  Ich  legte  mich  auf  ein  Chaiselongue  nieder,  deckte 
mich  mit  einem  Plaid  zu,  Vogt  verdunkelte  das  Zimmer  etwas  durch 
Herabdrehen  der  Gasflammen  und  nahm  neben  mir  Platz.  Die  üblichen 
Vorbereitungen,  auf  welche  mit  Recht  so  grosser  Werth  gelegt  wird, 
wie   theoretische   Belehrung   etc.    fielen    bei   mir  fort.     Vogt    legte 


6  Dr.  MarcinowskL 

seine  Hand  auf  meine  Stirn,  forderte  mich  auf,  gerade  vor  mich 
hin  zu  sehen,  also  nach  der  Zimmerdecke,  und  begann  sofort  mit 
ruhigem,  behaglichem  Stimmfall  meine  Aufmerksamkeit  auf  die  sich 
einstellenden  Empfindungen  des  Einschlafens  zu  richten;  Wärme  der 
aufgelegten  Hand,  Erscheinungen  am  Orbicularis  oculi  etc.  gaben  dazu 
Gelegenheit.  Dabei  erkundigte  er  sich  nach  der  Realisation  der  Sog- 
gestionen und  Hess  mich  antworten.  Bald  hatte  ich  mich  gewohnt, 
auch  ohne  Fragen  zu  erzählen,  was  mir  etwa  auffiel.  Auf  diese  Art 
liess  sich  zu  Beginn  jeder  Sitzung  der  Grad  meiner  Disposition  und  Sug- 
gestibüität  leicht  prüfen.  Bald  nachdem  der  Augenschluss  erfolgt  war, 
wurde  ich  zunächst  wieder  aufgeweckt  und  nach  allen  Details  mein» 
Empfindungen  ausgefragt.  Die  nächsten  Hypnosen  derselben  Sitzong 
wurden  dann  allmählich  immer  länger  und  tiefer  gestaltet.  Die  Sug- 
gestionen erstreckten  sich  bei  mir  naturgemäss  lediglich  auf  die  Er* 
zielung  eines  ruhigen  hypnotischen  Schlafzustandes. 

lieber  meine  Person  habe  ich  hier  noch  einzuschalten,  dass  ich 
noch  niemals  hypnotisirt  worden  war ;  vor  Jahren  hatte  ich  mich  einem 
äusserst  gewandten  Hypnotiseur  gegenüber  vollkommen  refractär  ei^ 
wiesen,  obwohl  ich  mich  keineswegs  gegen  die  Hypnose  gesträubt  hatte, 
welche  mir  vorher  von  anderen  demonstrirt  worden  war.  Damals  war 
ich  etwa  17  Jahre  alt.  Ich  habe  mich  jetzt  als  Arzt  seit  längerer 
Zeit  mit  der  Psychotherapie  theoretisch  und  practisch  vertraut  ge- 
macht und  mehrfach  selber  Hypnosen  zu  Heilzwecken  eingeleitet,  auch 
des  öfteren  andere  Kollegen  hypnotische  £lxperimente  vornehmen  sehen. 

Ferner  will  ich  der  Vollständigkeit  halber  einige  Characteristica 
meiner  psychischen  Veranlagung  anführen,  da  auch  auf  die  Berück- 
sichtigung dieser  Momente  vom  Hypnotiseur  seinen  Kranken  gegenüber 
Bücksicht  genommen  werden  soll.  Dass  diese  oft  die  specielle  Gestaltung 
hypnotischer  Zustände  beeinflusst,  braucht  hier  wohl  nicht  erst  erörtert 
zu  werden. 

Ich  gehöre  nicht  zu  den  ruhigen  Menschen,  sondern  neige  ent- 
schieden zur  Nervosität,  vulgo  Neurasthenie.  Ich  verfüge  über  ein  vor- 
zügliches Auffassungsvermögen,  aber  die  frühere  Treue  des  Gedächt- 
nisses ist  schon  lange  nicht  mehr  vorhanden;  so  leicht  ich  mir  einen 
Gedankengang  assimilire,  so  wenig  zähe  halte  ich  ihn  fest.  Ich  habe 
gegen  früher  entschieden  an  Fähigkeit  zu  concentrirter  Aufmerk- 
samkeit eingebüsst  und  schiebe  dies  auf  einen  gewissen  Hang  zum 
Wachträumen;  ich  bin  nicht  wie  früher  im  Stande,  auftauchende  Ge- 
dankenreihen immer  zu  unterdrücken,   so   dass   ich  häufig  zu  schnell 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  7 

handle.  Hieraus  verstehe  ich  Manches^  was  ich  in  der  Hypnose  an  mir 
beobachtet  habe.  Mein  Schlafbedürfniss  ist  ziemlich  gross,  mein  Schlaf 
ruhig  und  meist  traumlos.  Derselbe  wird  seit  längerer  Zeit  fast  alle 
Nächte  von  Perioden  von  Halbschlummer  unterbrochen,  da  meine  Frau 
mehrmals  der  Kinder  wegen  aufsteht.  Für  diese  Perioden  fehlt  mir 
nur  sehr  ausnahmsweise  das  Erinnerungsvermögen.  Aeusserlich  schlafe 
ich  dabei  ruhig  weiter,  weiss  aber  alles,  was  um  mich  vorgeht. 

Zum  Kapitel  der  Autosuggestionen  habe  ich  noch  zu  erwähnen, 
dass  ich  zur  Zeit  von  eigentlicher  Hypnosenliteratur  nur  die  grösseren 
Werke  von  ßernheim,  Wetterstrand  undPorel  genauerkannte, 
und  mich  für  diese  Selbstbeobachtungen  absichtlich  naiv  gehalten  habe. 
Von  Selbstbeobachtungen  war  mir  nur  die  Bleulersche  bekannt 
(F  0  r  e  1 ,  Hypnotismus,  p.  216  f.).  Die  Zeitschrift  für  Hypnotismus  habe 
ich  erst  nach  Fertigstellung  der  Protokolle  vorgenommen  und  hoffe,  dass 
ich  so  vermieden  habe,  Zustände  darum  zu  produciren,  weil  ich  sie  vorher 
studirt  hatte,  oder  Beobachtungen  zu  machen,  weil  ich  im  Vorurtheil 
befangen,  sie  unbewusst  so  machen  wollte,  um  so  werthvoUer  war  es  mir, 
hinterher  Bestätigungen  von  Anschauungen  zu  lesen,  die  sich  mit  den 
meinigen  oft  wörtlich  deckten,  und  unbeeinäusst  mit  meinen  Schluss- 
folgerungen zu  Resultaten  gelangt  zu  sein,  zu  denen  auch  andere  ge- 
konmien  waren.  Diese  Art  und  Weise,  wie  ich  zu  ihnen  gelangt  bin, 
dürfte  auch  den  objectiven  Werth  meiner  Beobachtungen  erhöhen. 

Bleuler  stellt  am  Ende  seiner  Selbstbeobachtung  die  Frage  auf, 
ob  die  h3rpnotischen  Zustände  sehr  mannigfacher  Natur  seien,  oder 
mehr  eine  gewisse  Gesetzmässigkeit  aufwiesen.  Die  folgenden  Zeilen 
mögen  ihm  darauf  die  Antwort  geben,  dass  hypnotische  Zustände  trotz 
ihrer  unendlichen  Mannigfaltigkeit  nirgends  eines  gesetzmässigen  Zu- 
sammenhanges mit  den  normalen  psycho-physiologischen  Geschehen  ent- 
behren, und  dass  wir  in  der  That  begründete  Aussicht 
haben,  den  Gesetzen  dieses  Geschehens  mit  Hülfe  der 
Selbstbeobachtung  in  eingeengten  Bewusstseinszustän- 
den,  wie  sie  die  Hypnose  darstellt,  mehr  und  mehr  auf 
die  Spur  zu  kommen. 

Ich  kann  hier  natürlich  nur  einen  kleinen  Bruchtheil  von  all  dem 
wiedergeben,  was  ich  in  der  Hypnose  empfunden  und  beobachtet  habe. 
Ich  würde  sonst  zu  ausführlich  werden  müssen.  Ich  habe  deshalb  auch 
nur  die  wesentlichsten  Vorkommnisse  geschildert,  und  von  der  Wieder- 
gabe des  weitläufigen  Wortlauts  der  ertheilten  Suggestionen  Abstand 
genommen,  da  ich  dieselben  doch  nicht  hätte  wortgetreu  angeben  können. 


8  Dr.  Marcinowsld. 

Die  Protokolle  sind  .von  mir  unmittelbar  nach  den  Sitzungen  Terfiunl 
Ihr  Inhalt  dürfte  genau  genug  angegeben  sein,  um  Unklarheiten  in  der 
Darstellung  zu  Termeiden. 

I.  Sitzung:  Donnerstag  Abend  Vt6  Uhr.    4  Versuche. 

1.  Hypnose. 

Beim  Hinlegen  zeigt  sich  starkes  Herzklopfen  und  es  tritt  eine  eigenartige 
Aufregung  ein,  für  welche  ich  keine  Erklärung  habe  finden  können,  ein  psychisdiei 
Substrat  für  dieselbe  fehlte  in  meinem  Bewusstsein  vollkommen.  Unter  der  auiF* 
gelegten  Hand  und  geeignetem  Zuspruch  beruhigt  sich  das  Herz  bald. 

Die  die  erste  Hypnose  einleitenden  Suggestionen  realisiren  sich  schnelL  Ich 
theile  während  derselben  Vogt  meine  Beobachtungen  mit.  Das  Wärmegefnhl  der 
auf  die  Stirn  gelegten  Hand  ist  nur  schwach  angedeutet;  den  Grund  hierfür  findet 
Vogt  in  einer  starken  Eigenwärme  meiner  Stirn.  Meine  Aufregung  ist  nun  ent- 
sprechenden Suggestionen  vollständig  gewichen.  Der  Augenschluss  kommt  folgender- 
maassen  zu  Stande,  während  Vogt  diese  Erscheinungen  in  Form  verbaler  Sag- 
gestionen begleitet:  Zunächst  hebt  sich  das  Unterlid,  so  dass  das  Gesichtsfeld  nach 
unten  kleiner  wird,  zugleich  tritt  dabei  mehr  Thränenfeuchtigkeit  vor  die  Pupille, 
und  verschleiert  den  freien  Blick  etwas;  das  Zwinkern  hört  auf,  ich  merke,  wie 
der  Blick  starr  wird,  die  Gegenstände  verschwimmen  mit  undeutlichen  Grenzen, 
das  untere  Lid  hebt  sich  immer  mehr,  und  plötzlich  senkt  sich  das  obere  IM 
herunter,  die  Augen  sind  geschlossen.  Ein  unendlich  wohlthuendes  Gefühl  durch- 
strömt den  Körper,  man  glaubt  noch  tiefer  in  die  Kissen  zurückzusinken;  ich  strecke 
mich  aus,  und  ein  tiefer,  wollüstiger  Athemzug  hebt  die  Brust;  dann  ebbt  die 
Kespirationsthätigkeit  ab,  weit  unter  die  Norm  sinkend,  und  die  Athmung  bleibt 
während  der  Hypnose  leise,  oberflächlich  und  auffallend  langsam.  Ruhe,  behagliches 
sich  gehen  lassen,  Lustbetonung  sind  der  Inhalt  der  einfachen  verbalen  Suggestionen. 
Ich  verhalte  mich  dabei  ganz  passiv,  beobachte  zunächst  die  hellen  Kontrastbilder 
der  Dcckenstnkatur.  die  sich  meinem  Augenhintergrund  eingeprägt  hatte,  und  welche 
als  röthlich  leuchtende  Figuren  die  Zeichnung  der  Decke  auf  dem  nun  schwarzen 
Untergrund  meines  visuell  sonst  leeren  Bewusstseins  wiedergaben.  Es  tritt  eine 
unendlich  behagliche  Kühe  ein.  Ich  glaube,  all  dem  Widerstand  leisten  zu  können, 
will  es  aber  nicht  und  fühle  nicht  das  geringste  Bedürfniss  dazu,  denn  mir  ist 
so  sehr  wohl.  Trotzdem  versuche  ich  eine  kleine  Probe;  als  Vogt  mit  der 
Suggestion  des  Erwachens  beginnt,  öffne  ich  die  Augen,  ohne  den  Befehl  dazu 
abzuwarten.  Es  gelingt  sofort,  vielleicht  allerdings  nur  darum  so  leicht,  wefl  die 
Suggestion  des  Erwachens  schon  eingeleitet  war.  Dies  geschah  mit  den  Worten: 
„Wenn  ich  jetzt  bis  3  zähle,  so  gehen  Ihre  Augen  auf,  und  Sie  sind  wieder  gans 
schön  frisch  und  munter.  Eins,  zwei,  drei!"  Die  ganze  Suggestion  wurde  mit  etwas 
erhobener,  lebhafter  Stimme  gegeben. 

2.  Hypnose  tritt  bereits  schneller  ein,  ist  auch  etwas  tiefer.  Die  oben  näher 
beschriebenen  optischen  Kontrastbilder  gehen  wirr  durcheinander.  Durch  alle 
Glieder  geht  ein  eigenthümliches  Ziehen.  In  der  Muskulatur  machen  sich  Spannungen 
bemerkbar,  die  namentlich  im  Gesicht  immer  mehr  zunehmen  und  sich  dort  schliesslieh 
unwiderstehlich  bis  zum  Lächeln  steigern.  Ich  habe  dies  zwar  als  Lächeln  em- 
pfunden, meine  aber,  dass  der  Vorgang  der  war,  dass  die  Vorstellung  des  Lächelns 
erst  durch  den  Spasmus  geweckt  wurde.    Ich  erinnere  mich  dabei,  dieses  Lächeln 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  9 

bei  Vielen  Hypnotisirten  gesehen  zu  haben,  und  dass  ich  dabei  immer  gedacht  hatte, 
daas  sie  sich  in  der  That  über  die  Hypnose  lustig  machten.  Es  ist  dies  aber  höchstens 
als  ein  Verlegenheitslächeln  über  die  eigenthümliche  Situation  aufzufassen,  in  der 
man  sich  komisch  vorkommt,  wenn  es  eben  überhaupt  als  die  Folge  einer  Reflexion 
aoÜEufassen  ist,  und  nicht  umgekehrt  diese  Reflexion  erst  die  Folge  der 
empfundenen  Muskelspannungen  darstellt.  Diese  Muskelspannungen 
traten  schliesslich  zwangsweise  auf,  d.  h.  ich  hatte  das  Gefühl,  mich  ihnen  gegen- 
über gehen  lassen  zu  müssen,  ohne  dabei  zu  vergessen,  dass  ich  sie  in  jedem 
Moment  durch  kräftigen  Willen  unterdrücken  konnte;  ich  hatte  aber  absolut  kein 
Bedürfniss  dazu.  Die  Muskelunruhe  und  der  Spasmus  der  mimischen  Muskeln  liess 
auf  wiederholte  Yerbalsuggestion  sehr  bald  nach. 

Dr.  V.  macht  nun  starke  Streichungen  über  den  linken  Arm  und  suggerirt 
das  Auftreten  von  Wärme  in  demselben.  Diese  Suggestion  realisirt  sich  nicht, 
sondern  ich  mache  Y.  darauf  aufmerksam,  dass  ich  durch  die  Streichungen  ent- 
schieden mehr  geweckt  werde.  Mir  waren  dieselben  unangenehm.  Später  nach 
dem  Aufwachen  fand  ich  auch  den  Grund  dafür.  Ich  selbst  pflege  nämlich  beim 
Hypnotisiren  die  Streichungen  nur  ganz  leicht  und  den  Körper  kaum  berührend 
auszuführen.  Als  ich  bei  V.  zuerst  die  Anwendung  so  fester  Streichungen  sah, 
hatte  ich  immer  den  Gedanken  gehabt,  dass  dieselben  nicht  so  wirksam  sein  könnten, 
als  die  von  mir  geübten.  Dies  war,  wenn  ich  mir  dieses  Zusammenhanges  auch 
zanächst  nicht  bewusst  war,  der  Grund,  warum  mich  diese  Streichungen  störten. 
Schnelles  vollkommenes  Erwachen  auf  Kommando. 

3.  Hypnose. 

Augenschluss  erfolgt  rasch,  aber  zunächst  unvollständig;  die  Augen  bleiben 
eine  Zeit  lang  halb  offen,  wobei  ich  für  einige  Zeit  etwas  munterer  werde.  Ich 
hatte  nämlich  dem  Gefühl  des  Augenschliessens  zu  früh  nachgegeben,  früher  als  bis 
ea  unwiderstehlich  wurde.  Diesmal  sprach  V.  viel  auf  mich  ein,  vor  allem  Ruhe  und 
behagliches  Daliegen  suggerirend.  Das  Gefühl  des  völligen  Sichhingebens  an  die 
Rohe  war  geradezu  wonnig,  die  Glieder  schmiegten  sich  völlig  ihrer  Unterlage  an. 
Ich  hatte  dabei  immer  das  Gefühl,  als  ob  V.  mit  seinen  Suggestionen  etwas  später 
käme,  als  sich  dieselben  verwirklichten;  die  Bewusstseinserscheinung  war  schon  da, 
als  ich  seine  Worte  hörte.  Dieselben  betrafen  auch  das  Lächeln ;  der  Spasmus  sollte 
nicht  wieder  auftreten,  und  in  der  That  hatte  ich  diesmal  zu  meiner  Verwun- 
derung nicht  den  Drang  zum  Lächeln,  sondern  empfand  zugleich  mit  der  Ruhe 
deutlich  ein  Erschlaffen  der  ganzen  Muskulatur,  auch  im  Gesicht ;  die  Wangen  hingen 
mir  schlaff  herunter.  V.  schien  das  auch  zu  bemerken,  aber  ich  konnte  in  Gedanken 
nicht  recht  unterscheiden,  ob  das  Eintreten  des  Phänomens  suggerirt  war,  oder  ob 
es  umgekehrt  nur  geschickt  zur  Suggestion  benutzt  wurde,  weil  sein  Eintreten  bemerkt 
worden  war.  Mein  Empfinden  bei  ruhiger,  nicht  mit  dem  Gefühl  der  Anstrengung 
verknüpfter  Selbstbeobachtung  war  bei  allen  Suggestionswirkungen  das  des  spon- 
tanen Eintritts,  verbunden  mit  einem  ausgesprochenen  Gefühl  der  Passivität.  In 
dieser  Hypnose  mache  ich  auch  die  Bemerkung,  dass  ich  genau  fühlen  konnte,  wie 
meine  Bulbi  nach  oben  und  innen  gedreht  waren,  etwas,  was  mir  einige  Tage  zuvor 
in  wachem  Zustand  trotz  angestrengten  Bemühens  nicht  möglich  gewesen  war. 

Ich  hatte  also  während  der  Hypnose  volle  Kritik,  auch  bemerkte  ich,  dass 
ich  alles  in  der  Aussenwelt  Vorgehende  auffasste,   genau  wie  im  Wachen.    Das 


10  Dr.  MarcinowskL 

Bedürfniss  aber,  zu  prüfen,  ob  ich  mich  noch  bewegen  könne,  wie  es  in  der  zweiten 
Hypnose  aufgetaucht  war,  fehlte  mir. 

4.  Hypnose. 

Dieselbe  war  nur  wenig  tiefer.  Die  Worte  von  V.  wurden  mir  aber  immer 
gleichgültiger ;  ich  hörte  sie,  ohne  darauf  hinzuhören.  Der  Strassenlärm  wurde  ebenso 
laut  wie  vorher  empfunden,  trotz  gegen theiliger  Suggestion,  aber  ich  bewahrte  ihm 
gegenüber  ein  grösseres  Gefühl  der  Kühe ;  er  weckte  in  mir  an  undeutliche  Träume 
erinnernde  Bilder:  ein  Hund  bellte  z.  B.,  und  ich  sah  ihn  zugleich  vor  mir.  als  ob 
ich  lebhaft  träumte. 

Abbruch  der  Versuche  für  heute,  da  sich  die  Hypnose  nicht  weiter  TertiefU. 
Frisches  erquicktes  Gefühl  nach  dem  Aufwachen.  Ich  bemerkte  noch  am  Tage 
darauf,  dass  gewisse  Erinnerungsbilder  des  während  der  Hypnose  Vorgeüalleneii 
von  ungewohnt  starker  sinnlicher  Lebhaftigkeit  waren  und  auch  fernerhin  blieben. 
Beim  Fortgehen  versichert  mir  V.,  dass  ich  erstaunt  sein  werde,  wie  gross  der 
Unterschied  zwischen  heute  und  dem  nächsten  Tage  sein  würde.  Obwohl  ich  mir 
sofort  bewusst  war,  dass  diese  so  oft  gehörten  Worte  eine  Suggestion  darstellten, 
so  fehlte  mir  doch  zu  meiner  Verwunderung  die  volle  Kritik  hierfür  trotz  wachen 
Zustaudes ;  ich  empfand  die  Wirkung  der  Worte,  und  konnte  mir  nicht  klar  darüber 
werden,  ob  sie  Vogt 's  wirklicher  IJeberzeugung  entsprachen  oder  lediglich  auf 
Suggestivwirkung  berechnet  waren.  Dieser  Gedanke  beschäftigte  mich  lange  Zeit, 
ohne  selbst  nach  Wochen  an  dem  Status  etwas  zu  ändern. 

II.  Sitzung:  Freitag  Abends  V36  Uhr.  Am  Abend  vorher  hatte  ich  mich 
eingehend  über  hypnotische  Zustände  unterhalten  und  war  darauf  des  Nachts  in 
einen  tiefen  bleischweren  Schlaf  versunken,  eine  SchlafTorm,  die  von  meinem  ge- 
wohnten Schlaf  wesentlich  abwich.')  Bei  Beginn  der  Versuche  tritt  wieder  starkes 
Herzklopfen  auf,  lässt  sich  aber  leicht  beruhigen.  Die  Haut  ist  heute  auffallend  kühler 
wie  gestern,  so  dass  sich  auch  die  Wärmesuggestion  der  aufgelegten  Hand  leichter 
realisirt.  Es  worden  5  kurze  Hypnosen  hervorgerufen.  Die  Beeinflussung  ist  aber 
heute  nur  eine  ganz  geringe^  und  der  Beginn  der  Schlafhemmung  lässt  zum  Theil 
recht  lange  auf  sich  warten.  In  der  Hypnose  selbst  tritt  auch  nicht  jene  wohlige 
Entspannung  und  Ruhe  auf  wie  gestern,  sondern  der  ganze  Körper  bleibt  etwas 
erregt,  wie  nach  einer  seelischen  Aufregung,  einzelne  Muskelgruppen,  so  im  Ge- 
sicht, zeigten  leichte  Zuckungen.  Es  ist  mir  heute  nicht  möglich,  jene  wohlthuende 
Gedankenlosigkeit  hervorzurufen  und  zu  empfinden.  Die  Vorstellungen  jagen  sich 
und  wechseln  rasch.  Die  gegebenen  Suggestionen  ärgern  mich;  Vogt's  Stimme 
ist  mir  störend  laut,  und  die  Wortfolge  zu  schnell.  Ich  bitte  nun  Y.,  das  Zimmer 
mehr  zu  verdunkeln ;  umsonst,  jeder  weitere  Versuch  ist  immer  weniger  erfolgreich. 
Ich  habe  schliesslich  nur  das  Gefühl,  dass  ich  mit  geschlossenem  Auge  daUege  und 
mich  ärgere.  Beim  dritten  3Ial  realisirt  sich  die  Wärmesuggestion  auf  der  Hast 
an  Armen,  Brust  und  Hals  auffallend  stark  und  hält  auch  noch  nach  der  Hypnose 
längere  Zeit  an,  desgleichen  bleibt  das  Gefühl  von  dem  Druck  der  Hand  an  der 
Stirn  bestehen.  Beim  vierten  Versuch  tritt  der  Augenschluss  ungleich  ein  und 
zwar  zuerst  rechts,  mit  dem  Gefühl  des  Krampfes  verbunden.  In  demselben  Moment 
breche  ich  selber  den  Versuch  ab,  und  zu  gleicher  Zeit  tritt  ein  kürzerer  Krampf 
der  Orbicularis  auf,  der  das  Auge,  während  ich  mich  erhebe,  ganz  schliesst.    £s 


*)  Cfr.  pag.  7  oben. 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  H 

fehlte  bei  allen  Versuchen  die  Intensität  des  Bedürfnisses  zum  Augenschluss  und 
jedes  Lustgefühl;  welches  gestern  die  einzelnen  Proceduren  in  so  ausgesprochenem 
Maasse  begleitete.  Hin  und  wieder  liessen  die  Spannungen  in  den  Muskeln  ruck- 
weise nach,  was  man  wörtlich  sehr  richtig  als  „tiefer  sinken **  bezeichnen  kann ;  aber 
es  kam  dabei  zu  keiner  andauernden  Ruhe  und  Erschlaffung. 

Nach  einer  Pause  von  einer  halben  Stunde  Wiederholung  der  Versuche.  4  kurze 
Hypnosen.  Die  Zeit  bis  zum  Augenschluss  dauert  noch  länger  wie  vorher ;  nament- 
lich der  völlige  Schiusa  erfordert  mehrere  Minuten.  Die  Stimmung  ist  im  All- 
gemeinen ruhiger,  aber  immer  noch  treten  Muskelspannungen  auf.  Es  spielt  sich 
ein  richtiger  Kampf  ab ;  ich  empfinde  genau  das  Auf-  und  Abwogen  zwischen  Auf- 
wachen und  tieferen  Einschlummern,  welches  wieder  meist  ruckartig  erfolgt.  Beim 
dritten  Versuch  habe  ich  unter  sehr  lebhaftem  Zuspruch  und  energischen,  rasch 
hintereinander  wiederholten  Suggestionen  plötzlich  die  Empfindung,  nunmehr  über- 
wältigt zu  werden  und  meinen  heute  so  schlecht  disponirten  Zustand  verschwinden 
zu  fühlen.  Leider  wird  der  Zuspruch  gleich  darauf  wieder  ruhiger,  und  sofort 
wird  auch  die  Hypnose  wieder  oberflächlich.  In  den  beiden  ersten  Versuchen 
jagten  sich  die  verschiedensten  Bilder  und  Vorstellungen  ohne  ersichtlichen  Zu- 
sammenhang, ohne  Beziehungen  zu  einander;  am  3.  und  4.  war  das  Bewusstsein 
meist  völlig  leer.  Der  Grad  der  Beeinflussung  war  im  Ganzen  nur  ein  sehr  ge- 
ringer gewesen. 

Der  Grund  für  diese  unerwartet  eingetretene  Oomplication  war  zunächst  nicht 
ersichtlich,  wurde  aber  von  mir  sofort  mit  der  ungewöhnlichen  Form  des  vorauf- 
gegangenen Nachtschlafes  in  Verbindung  gebracht,  ohne  dass  es  mir  dabei  möglich 
gewesen  wäre,  mich  irgend  eines  Traumbildes  oder  dergleichen  zu  erinnern. 

III.  Sitzung:  Sonnabend  10 Vi — UV«  Uhr  Vormittags.  Mein  Nachtschlaf  war 
wie  gewöhnlich  verlaufen.  ^)  Zunächst  wurden  drei  ganz  kurze  Versuche  gemacht. 
I>ie  Hand  wurde  auf  meine  Bitte  ganz  lose  auf  die  Stirn  aufgelegt,  weil  sie,  fest 
an  die  Stirn  gedrückt,  mich  in  unbequemer  Weise  am  wohligen  Ausstrecken  ge- 
hindert hatte.  Heute  kein  Herzklopfen.  Der  Augenschluss  erfolgt  rechts  und  links 
wieder  gleichmässig,  nur  tritt  dabei  nicht  wie  bei  I.  das  Gefühl  des  Schwindens 
der  Sinne  auf,  und  die  Lider  werden  auch  trotz  darauf  gerichteter  Suggestion 
ebenso  wenig  wie  gestern  schwer  oder  müde.  Der  Zwang  zum  Schliessen  der 
Augenlider  ist  ein  ganz  anders  gearteter  als  bei  I.  Während  sie  sich  da  mit  einem 
anendlich  behaglichen  Gefühl  heruntersenkten,  ein  Gefühl,  gegen  das  mir  gar  nicht 
der  Gedanke  kam,  mich  wehren  zu  wollen,  ist  es  heute  jedes  Mal  ein  ausgesprochener 
£rampf  des  Orbicularis,  den  ich  nicht  überwinden  kann.  Mit  grosser  Anstrengung 
gelingt  es  mir,  den  Lidspalt  etwas  zu  erweitem.  Durch  diese  Bewegung  kommt 
mir  aber  der  krampfhafte  Zustand  des  Muskels  nur  imisomehr  zum  Bewusstsein, 
und  das  Gefühl  des  Zwanges  wird  deshalb  nur  noch  mehr  verstärkt,  je  mehr  ich 
mich  dagegen  wehre.  Schliesslich  sehe  ich  die  Nutzlosigkeit  meiner  Bemühungen 
ein ;  der  Wille  zum  Widerstand  lässt  nach,  ich  gebe  den  Kampf  auf,  und  der  letzte 
schmale  Kest  der  Lidspalte  schliesst  sich,  aber  ohne  jede  lustbetonte  Müdigkeits- 
empfindung. Die  einzelnen  einfacheren  Suggestionen  der  Wärme,  der  Ruhe  und 
der  Erschlaffung,  der  nachlassenden  Spannung  in  der  Zwerchfellgegend,  wo  sich 
leise  Spasmen  störend  bemerkbar  machen,    erfüllen  sich  prompt.    Die  eintretende 


')  Cfr.  pag.  7  oben. 


12  Dr.  Marcinowski. 

Realisation  wird  als  Folge  der  Suggestion  erkannt,  und  das  Oefnhl  des  Beeinflussi- 
werdens  ist  im  Bewusstsein  vorhanden.  Die  einzelnen  Realisationen  sind  aber  nicht 
von  Dauer,  sie  erfolgen  zwar  nnmittelbar,  lösen  sich  aber  gleich  darauf  wieder  langsam, 
und  so  stellt  sich  der  ganze  Vorgang  als  ein  wogender  Kampf  dar,  der  mich  in 
seiner  Form  und  seiner  körperlichen  Empfindung  an  eine  Rutschbahn  erinnert,  die 
nach  steilerem  Abfall  ein  allmähliches  Steigen  in  stetiger  Wiederholung  zeigt.  Das 
Empfinden  hierbei  ist  das  des  körperlichen  Sinkens  und  Gehoben  werden« ;  daher 
das  Aufbauchen  des  erwähnten  Vergleichbildes.  Dieser  Wechsel  von  Einschlafen 
und  Aufwachen  war  aber  im  Gegensatz  zu  der  Abwehr  des  fremdartigen  Empfindens 
eines  Augenmuskelkrampfes  ein  lustbetonter.  Der  Strassenlärm  ist  mir  wie  gestern 
sehr  unangenehm,  weil  er  mich  an  der  völligen  Hingabe  hindert,  ebenso  störte 
es  mich  wie  gestern,  dass  Herr  V.  die  Suggestionen  in  schneller  Wortfolge  giebi 
und  sie  in  complicirte,  fachwissenschaftliche  Ausdrücke  kleidet,  oftmals  derselben 
Suggestion  eine  wechselnde  Form  gebend.  Es  macht  mir,  der  ich  scharfe  and  spiti- 
findige  Dialectik  gewohnt  bin,  hier  Mühe,  den  Worten  zu  folgen,  und  ich  bitte  am 
monotonere  und  etwas  „ungebildetere*'  Suggestionen. 

Kleine  Pause.  Unterhaltung  über  den  Zustand.  Ich  erwähne  hierbei  meiM 
Gewohnheit,  mich  oft  noch  kurz  vor  Tisch  zu  einem  kurzen,  erquickenden  Schlafe 
hinzulegen,  der  immer  stark  lustbetont  ist. 

Es  folgen  drei  längere  Versuche.  Allen  gemeinsam  ist  wieder  der  krampfhafte 
Augenschluss ,  wie  bei  1.  bis  3.  Eindringliche  Suggestion  der  Schläfrigkeit  und 
Müdigkeit,  sowie  der  Erinnerung  an  das  Lustgefühl,  welches  ich  am  ersten  Tage 
empfunden  hatte,  realisirt  sich  ganz  allmählich  und  langsam,  erreicht  aber  nicht 
jene  Intensität  wonnigen  Gefühls  wie  bei  I.  Bei  ruhiger,  leiser  Sprechweise  werde 
ich  allmählich  gleichgültiger  gegen  Worte  und  Aussengeräusche,  von  denen  nur 
noch  die  ganz  lauten  meine  Aufmerksamkeit  auf  sich  ziehen.  In  der  Pause  zwischen 
5  und  6  kommt  mir  erst  nach  dem  Aufwecken,  das  wie  stets  ohne  Mühe  geschieht, 
auf  einmal  ein  starkos  Gefühl  von  3Iüdigkeit  zum  Bewusstsein,  und  ich  erkenne 
jetzt  erst  im  Wachen  den  weitgehenden  Grad  der  stattgehabten  Beeinflussung.  So 
bald  ich  mich  hochrichte,  lasse  ich  mich  mit  einer  gewissen  Willensschlaffheit  so- 
gleich wieder  zurückfallen,  und  gebe  der  angenehmen  Müdigkeit  nach.  Ich  gebe 
meinem  Empfinden  mit  den  Worten  Ausdinick:  „wenn  mir  das  zu  Hause  passirte. 
so  würde  ich  nun  sagen,  Kinder,  lasst  mich  mal  eine  Viertelstunde  zufrieden,  ich 
muss  mich  ein  bischen  hinlegen." 

Ich  lege  mich  nun  auf  die  Seite.  Der  Augenschluss  erfolgt  wieder  krampf- 
haft; Suggestion  des  erwähnten  Mittagschlafes,  und  des  ersten  Stadiums  gewöhn- 
lichen Einschlafens.  Dieselbe  ist  mir,  wahrscheinlich  als  gewohnte  Vorstellung,  an- 
genehm. Darauf  überlässt  mich  V.  mir  selbst,  entfernt  auch  die  Hand  von  der 
Stirn.  Nach  längerer  Zeit,  ausgefüllt  mit  angenehmer  Ruhe,  habe  ich  das  Gefohlt 
dass  ich  doch  nicht  tiefer  einschlafen  könne  ;  es  überkommt  mich  schliesslich  etwas 
wie  Langeweile  und  ich  öffne  die  Augen  spontan,  ohne  Befehl.  Ich  hatte 
stets  gemeint,  dass  ich  einfach  nur  die  Augen  zu  öfihen  brauche,  um  wieder  im 
wachen  Zustande  zu  sein,  und  glaubte  dies  heute  um  so  mehr,  als  ich  mich  unbe- 
einfiusst  wähnte,  sollte  aber  sofort  eines  Besseren  belehrt  werden.  Ich  setzte  mich 
auf  und  musste  dabei  ein  starkes  Gefühl  von  Müdigkeit  überwinden.  Kaum  war  ich 
dann  aber  einige  Schritte  gegangen,  als  ich  auch  schon  einen  Stuhl  nehmen  und 
meinen  Kopf  aufstützen  musste ;  ein  unbezwingliches  Gefühl  von  Schläfrigkeit  über- 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  13 

mannte  mich  einfach,  war  stärker  als  mein  Wille.  Erst  drei  Mal  wiederholte,  ener- 
^sche  Wachsuggestion  unter  Händedruck  auf  die  Schläfengegend  brachte  mich  wieder 
in  normale  Verfassung.  Ich  war  also  durch  die  Müdigkeitssuggestion  doch  so  stark 
beeinfiusst,  ohne  das  in  der  Hypnose  selbst  empfunden  zu  haben,  und  dies  machte 
sich  um  so  stärker  geltend,  als  ich  ohne  Aufwecken  den  Versuch  selbstständig  ab- 
gebrochen hatte.  Ein  unangenehmer  Kopischmerz  verfolgte  mich  übrigens  noch 
den  ganzen  Tag  trotz  angestrengter  ablenkender  Arbeit  und  yerliess  mich  erst 
ziemlich  plötzlich  Abends  gegen  8  Uhr. 

Interessant  war  heute  unter  Anderem  der  Unterschied  zwischen  lustbetonten 
gewohnten  und  imangenehmen  ungewohnten  Vorstellungen  zu  constatiren. 

rV.  Sitzung: 

Sonntag  IOV4— UVi- 

1.  und  2.  Kurze  Versuche  zur  Prüfung  der  Suggestibilität.  Augenschluss  erfolgt 
heute  ohne  Spannung  und  ohne  Krampf.  Wärme  schnell  realisirt.  Die  Suggestion 
der  Müdigkeit  und  Schwere  in  den  Lidern  wird  in  Gegensatz  zu  dem  gestrigen 
Krampf  gesetzt  und  als  normale  gewohnte  Empfindung  hingestellt.  Ruhe  imd 
Lustbetonung  vorhanden.  Störung  durch  grelles  Sonnenlicht  wird  durch  Herab- 
lassen der  Markise  beseitigt.    Suggestibilität  ist  ausgesprochen  vorhanden. 

3.  Längere  Hypnose.  Die  eigenen  Gedanken  stören  mich  und  lassen  mich 
nicht  tiefer  kommen.  Ich  sage  mir  in  Gedanken  rhythmisch  mit  den  Athem- 
bewegungen  fortwährend  die  Worte  her:  „nicht  nachdenken,  nicht  nachdenken'', 
später,  als  der  Strassenlärm  wieder  sehr  laut  ist:  „nicht  hören,  nicht  hören*'.  Es 
glückt  damit,  Gedanken  und  Geräusche  etwas  zu  unterdrücken,  aber  nur  für  kurze 
Zeit,  dann  lenken  sie  plötzlich  wieder  die  Aufmerksamkeit  auf  sich,  und  in  dem- 
selben Augenblick  werden  sie  wieder  als  sehr  laut  bewusst.  Alle  darüber  und 
über  Anderes  angestellten  Reflexionen  machen  mir  einen  traumhaften  Eindruck 
und  verlieren  immer  mehr  an  Activität;  die  Gedanken  tauchen  von  selbst  auf. 
Trotzdem  habe  ich  die  ausgesprochene  Idee,  nicht  beeinflusst  zu  sein;  ich  weiss, 
dass  ich  unter  dem  Einfluss  der  Suggestion  stehe,  habe  aber  keine  entsprechende 
Empfindung  davon.  Es  ist  dies  ein  eigenthümlicher  Zwiespalt,  dem  ich  aber  nicht 
anders  Worte  zu  leihen  vermag.  Der  aber  weckt  den  Gedanken  des  Zweifels  in 
mir  und  zugleich  den  Wunsch  nach  gewaltsamerer  Beeinflussung. 

Nach  längerer  Pause  4.  Versuch.  Augenschluss  trotz  Aufforderung  zur 
Gegenwehr  schnell  erzielt  und  lustbetont.  Lebhafte  Suggestion  der  Müde  und 
Schwere,  des  sich  nicht  mehr  bewegen  Wollens.  Es  tritt  keine  Lust  zur  Prüfung 
der  Wirkung  ein.  Ich  weiss  genau,  ich  kann  mich  bewegen;  aber  sobald  ich  den 
motorischen  Impuls  gebe,  so  lässt  der  Wille  dazu  auch  schon  nach,  und  es  kommt 
höchstens  zu  Unruhe  oder  Zuckungen  in  einzelnen  Muskeln.  Schliesslich  gebe  ich's 
auf,  habe  aber  nicht  das  Gefühl  des  absoluten  Beherrschtseins.  Ich  erachte  dies 
dabei  in  Gedanken  als  eine  Folge  der  Vogt'schen  Methode,  welche  beabsichtigt,  den 
Bestand  des  eigenen  Willens  zum  unantastbaren  Bewusstseinsbesitz  werden  zu  lassen« 
Auch  hier  bleiben  die  Reflexionen  traumhafter,  passiver  Natur. 

V.  Sitzung: 

Montag  10"/4— llVi  Vorm. 

1.  Versuch,  nur  ganz  kurz  zur  Prüfung  der  Disposition.  Ich  empfinde  von 
▼omherein  Ruhe  und  Behaglichkeit  und  habe  das  Gefühl,  dass  die  Experimente 
h^ate  gut  glücken  würden. 


14  Dr-  Marcinowski. 

Augenschluss  erfolgt  sehr  schnell.  Wärme  stark  realisirt.  SchlAfhemmnng 
lustbetont.    Keine  Spasmen  in  der  Muskulatur  bemerkbar. 

2.  Versuch,  wird  etwas  länger  ausgedehnt.  Ich  werde  dabei  in  Folge  der 
darauf  gerichteten  Suggestionen  ruhig  und  gleichgiltig  gegen  die  Aussenwelt 
Einfache  Verbalsuggestion,  die  Tiefe  der  Schlafhemmung  betrefifend,  und  mit  ruhiger 
gedämpfter  Stimme  gegeben,  sind  mir  angenehm  und  bewirken  stets  nnmittelbar 
darauf  tieferes  Einsinken  in  den  Schlummerzustand,  besonders  dann,  wenn  die 
Suggestion  zeitlich  mit  dem  Exspirium  zusammentrifft,  welches  in  der  Rückenlage 
schon  an  und  für  sich  von  dem  Gefühl  des  Zurücksinkens  begleitet  ist. 

3.  Versuch,  Zustand  wie  bei  2.  Zu  Beginn  lege  ich  den  Kopf  anders  als  ge- 
wöhnlich, sehe  dadurch  neue  ungewohnte  Bilder  vor  mir  an  der  Wand  und  fühle 
mich  dadurch  absolut  wach.  Ich  nehme  wieder  die  gewohnte  Lage  ein  und  sehe 
die  Decke  an,  wie  bei  den  früheren  Hypnosen.  Sehr  lebhafte  Suggestionen  und 
schnelles  Sprechen  monire  ich  als  störend.  Ich  komme  dann  allmählich  in  einen 
Zustand  tieferer  Schlafhcmmung  und  fühle  wieder  meine  zunehmende  Gleichgiltig- 
keit  gegen  die  Aussenwelt.  Der  Strassenlärm  ärgert  mich  nicht  mehr  so,  ich  habe 
nicht  mehr  den  lebhaften  Wunsch,  ihn  nicht  zu  hören,  er  hält  meine  Aofnierksanh 
keit  nicht  mehr  gefesselt.  Diese  Empfindungen  entsprechen  genau  den  darauf 
hinzielenden  Suggestionen. 

4.  Längere  Hypnose,  ich  komme  noch  etwas  tiefer  hinein.  Es  tauchen  tot 
mir  zusammenhanglose  Bilder  auf,  die  ganz  flüchtiger  Natur  sind,  und  mir  nur 
dunkel  bewusst  werden.  Einzelne  davon  knüpfen  hin  und  wieder  an  ein  Geräusdi 
draussen  an.    Ich  sage  zu  Dr.  Vogt,  dass  ich  träume. 

5.  Versuch.  Noch  länger  und  noch  tiefer,  bei  völlig  erhaltener  und  bewnsster 
Kritik  meiner  Situation.  Ich  beobachte  ohne  Anstrengung  oder  Aufinerksamkeit 
alle  Details,  wie  im  Theater,  die  Träume  fangen  wieder  an,  sind  zunächst  noch 
sehr  flüchtig,  werden  dann  aber  lebhafter:  Wagen  fahren.  —  Männer  gehen,  — 
Alles  durcheinander  jagend,  ohne  erkennbare  associative  Verknüpfung.  Ich  sageV., 
dass  eine  furchtbare  Unordnung  in  meinem  Gehirn  herrsche.  Suggestion,  dass  die 
Bilder  sich  nicht  so  jagen  sollten,  in  geringerer  Menge  auftreten,  dafür  aber  deut- 
licher werden  sollten.  Zunächst  wird  mein  Bewusstsein  darauf  leer.  Alles  ist 
schwarz.  Dann  kommen  die  Träume  wieder  und  werden  immer  sinnlicher.  Der 
Wagen  kommt  wieder,  —  es  ist  ein  Taxameter.  —  es  kommt  mir  so  vor,  als  ob 
der  Kutscher  betrunken  ist,  —  ich  muss  darüber  lächeln,  —  ein  Frauenzimmer 
geht  vorüber,  sieht  sich  um  und  lacht  auch,  —  auf  der  Strasse  schnelles  Pferde- 
getrappel, —  das  Geräusch  überträgt  sich  auf  die  Person,  sie  läuft,  trippelt,  und  mm 
finde  ich  das  wieder  komisch,  und  verziehe  mein  Gesicht  zum  Lachen,  was  ich 
deutlich  fühle. Jetzt  denke  ich  an  gestern  Nachmittag,  wo  ich  im  Menschen- 
gewühl unter  den  Linden  ging,  —  die  Menschenmenge  wächst  immer  mehr,  —  un- 
zählige Wagen  rasseln  näher,  —  auch  der  Kaiser  kommt,  wie  gestern,  —  immer  mehr 
Equipagen,  —  die  Situation  droht  gefahrlich  zu  werden,  —  in  demselben  Moment 
wird  auch  schon  ein  Mensch  überfahren,  —  Alles  stürzt  daher,  —  immer  mehr 
Menschen,  —  Militär  mit  rothen  Federbüschen  kommt  in  Front  angelaufen  etc.  etc. 
Beim  üeberfahren  des  Menschen  wird  der  Traum  schliesslich  affectbetont,  die 
Situation  regt  mich  lebhaft  auf,  ich  hole  ängstlich  und  tief  Athem ,  verliere  aber 
dabei  nicht  das  Bewusstsein  der  Situation,  weiss  wo  ich  bin  und  dass  ich  träume, 
weiss,  dass  ich  jeden  Moment  wach  sein  könnte,  wenn  ich  wollte,  und  beobachte 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  15 

interessirt  den  jagenden  Character  der  rasend  schnell  sich  entwickelnden  Traum- 
bilder. Ich  werde  mitten  in  Träumen  in  der  üblichen  Weise  geweckt,  bin  sofort 
munter. 

6.  Einschlafen  erfolgt  sehr  schnell.  Es  tauchen  wieder  einzelne  Traumbilder 
auf:  —  eine  Gasse,  —  wo  ist  das  ?  —  Ja,  richtig,  das  muss  in  Breslau  sein,  —  ich 
war  vor  14  Tagen  noch  dort  —  aber  es  sieht  fremd  aus  —  nein,  es  ist  doch  die 
Ghisse,  die  ich  meine,  sie  führt  nach  dem  Hof  des  Magdalenen-Gymnasiums  —  und 
nun  sehe  ich  mich  als  Knabe  da  spielen  und  befinde  mich  von  dem  Moment  an  in 
der  Lage  eines  Menschen,  der  in  einen  Stereoskopkasten  hineinguckt,  und  vor  dessen 
Augen  ein  Bild  nach  dem  andern  herunterklappt,  nur  geht  dies  hier  äusserst  schnell 
vor  sich.  Dieser  Traum  hat  einen  absolut  anderen  Character,  wie  der  im  5.  Versuch. 
Die  Bilder  sind  von  stereoskopischer  Plasticität  und  stellen  deutliche,  complexe  Er- 
innerungsbilder von  wirklichen  Begebenheiten  meiner  Kinderzeit  dar,  welche  mir 
als  wahr  bekannt  sind.  Sie  folgen  ungemein  rasch  hinter  einander,  und  ich  fühle, 
wie  eines  das  andere  durch  angesprochene  Associationen  ablöst.  Begebenheiten,  die 
durch  ihren  Inhalt  eng  mit  einander  associirt  sind,  tauchen  in  ganzen  Reihen  schnell 
hinter  einander  auf,  und  erinnern  mich  einen  Moment  an  ähnliche  Vorkommnisse 
bei  den  Freud-Breuer 'sehen  Analysen.  Nach  einer  ganz  kleinen  Pause  kommt 
dann  wieder  eine  neue  Serie,  alles  ohne  jeden  chronologischen  Zusammenhang,  nur 
dem  Inhalt  oder  einzelnen  Inhaltsmomenten  nach  zusammengehörig,  aber  alles  meine 
Kindheit  betreffend,  soweit  ich  sie  in  Breslau  verlebt  habe,  also  bis  zu  meinem  10.  Lebens- 
jahre. Keine  einzige  phantastische  Vorstellung  kommt  dazwischen.  Beispiele: 
1.  Bild:  Ich  pflegte  sehr  früh  des  Morgens  mit  meinem  Vater  spaziren  zu  gehen, 
—  2.  Bild:  wir  kaufen  dann  in  einem  Keller  frische  warme  Semmeln,  —  3.  Bild: 
der  Spaziergang  führt  zu  Teichen,  wo  ich  Salamander  fange,  —  4.  Bild :  Salamander- 
zucht zu  Hause,  —  —  neue  Serie:  —  a)  der  alte  Portier  —  b)  seine  Frau  — 
c)  deren  Katze  —  d)  Quälerei  derselben  —  e)  dieselben  fanden  im  Garten  statt  — 
f)  Spiele  daselbst  —  g)  meine  Wohnung  auf  einem  Weidenbaume  —  h)  Unfug  von 
da  ans  —  i)  Spiegelblenden  der  Kindermädchen  draussen  —  k)  anderer  Unfug 
draussen  etc.  So  jagte  ein  Bild  das  andere,  aber  jedes  ist  für  sich  abgerundet. 
Einmal  bewege  ich  dabei  meine  Lippen  wie  zum  Sprechen,  so  lebhaft  sind  die 
Traume.  Allen  Träumen  in  5  und  6  fehlt  auffallender  Weise  jedes  acustische 
Phänomen;  es  sind  stumme  Büder,  nur  zum  Ansehen.  An  Strassenlärm  weiss 
ich  mich  nicht  zu  erinnern.  Auffallend  ist  hier  namentlich  der  scharf  getrennte, 
absolut  verschiedene  Character  der  Träume  in  5  und  6.  Ihr  Auftreten  war  rein 
passiver  Natur. 

Ich  war  an  diesem  Tage  gegen  ^j^l  Uhr  frisch  aufgewacht  und  hatte  dann 
dennoch  bis  8  geschlafen.  Von  diesem  Morgenschlaf  war  ich  mit  ziemlich  heftigem, 
dumpfem  Kopfschmerz  erwacht  und  hatte  dies  Dr.  V.  mitgetheilt.  Es  gelang  aber 
weder  in  den  einzelnen  Hypnosen,  noch  nachher  im  Wachen  unter  Zuhülfenahme 
von  starkem  üeberreiz,  durch  schmerzhaften  Druck  auf  die  Kopfnerven  (supraorbitalis, 
Ramus  temporalis),  die  Schmerzen  wirksam  zu  bekämpfen.  V.  hatte  dies  voraus- 
gesagt, da  die  sich  den  Morgenschlaf  anknüpfenden  Kopfschmerzen  in  der  Regel 
einer  therapeutischen  Beeinflussung  sehr  unzugänglich  sind. 

Im  Allgemeinen  scheint  das  Hindemiss,  welches  sich  der  Beeinflussung  am 
zweiten  Tage  entgegen  gestellt  hatte,  nunmehr  gänzlich  überwunden  zu  sein. 


16  Dr.  Marciuowski. 

VI.  Sitzung: 

Dienstag  *;4ll— 11  Uhr  Vorm. 

Einige  Zeit  vor  dem  Beginn  der  Versuche  macht  sich  eine  gewisse  Dimhe 
im  ganzen  Körper  bemerkbar,  dem  Gefühl  einer  unbestimmten  ErwartoDg  ühnliBh, 

1.  Ganz  kurzer  Versuch.  Augenschluss  erfolgt  schnell.  Warmesoggestii» 
realisirt  sich  stark.  Die  Erregung  nimmt  zu,  begreift  in  erster  Linie  die  Mnskolatiir; 
leises  allgemeines  Ziehen  im  Körper,  hie  und  da  fibrDläre  Zuckungen,  das  plotiEek 
zu  ziemlich  heftigem  Zähneklappem  führt.  Ich  kann  es  nicht  unterdrücken,  und 
habe  dabei  das  Gefühl  der  Willensschwäche,  d.  h.  ich  nütze  meinen  Willen  nickt 
genug  aus  und  weiss  das.  Ich  fühle ,  dass  ich  mich  nicht  so  anstrenge,  als  idi 
könnte,  ich  lasse  mich  gehen.    Schnelles  Aufwecken  beseitigt  diese  Erscheinimgen. 

2.  Augenschluss  schnell,  energische  Ruhesuggestion.  Das  Muskelzittera  lud 
Zähneklappern  deutet  sich  noch  einige  Male  an,  dann  tritt  Tollkommene  Koke 
und  Schlaffheit  ein,  trotzdem  ein  stark  schmerzhafter  Krampf  im  rechten  Fun 
entsteht.  Derselbe  schwindet  sonst  nur.  wenn  ich  aufstehen  oder  den  Foss  gegsa 
eine  harte  Fläche  anstemmen  kann.  Ich  kämpfe  mit  mir,  ob  ich  das  thim  soU. 
Heute  gelingt  es  mir  aber,  durch  grosse  Willensanstrengung,  unterstützt  dorch  die 
energische  Suggestion,  Schmerz  und  Krampf  zu  überwinden,  bis  er  allmählich  Ton 
selbst  nachlässt.  Die  Hypnose  vertieft  sich  darauf  rasch,  ich  werde  wieder  gleieh- 
giltig  gegen  die  Worte  des  Hypnotiseurs,  und  höre  nur  selten  darauf  hin.  £s  taachio 
bei  sonst  leerem  Bewusstsein  einzelne  wenige,  ganz  undeutliche  Traumbilder  auf. 

3.  Der  Lidschluss  erfolgt  nur  ganz  langsam  und  unyollständig,  ich  bleibe  dabei 
wach  und  empfinde  schliesslich  genau,  woran  das  liegt.  Vogt  wollte  mich  nämliA 
versuchsweise  allein  einschlafen  lassen  und  mir  fehlte  ohne  die  bereits  gewohate 
verbale  Suggestion  die  Möglichkeit  hierzu.  Wenige  Worte  genügen  sofort,  um 
die  Augen  zum  Schluss  zu  bringen  und  Müdigkeit  und  Ruhe  hervorzamfen. .  Last- 
betonter Erschlaffungszustand,  die  Geräusche  ärgern  mich  nicht,  starke  Gleichgiltigkot 
Die  ErschlaiTungs-  und  Ruhesuggestionen  rufen  in  mir  heute  wieder  das  auch  von 
V.  in  seine  Suggestionen  hineingewobene  Gefühl  des  in  I.  beschriebenen,  hiDr 
gegossenen  Daliegens  hervor.  Ich  halte  nun  die  Hände  über  dem  Bauch  gefattet» 
eine  dieser  Vorstellung  widersprechende  Lage.  Es  taucht  in  Folge  dessen  dsi 
Bedürfniss  in  mir  auf,  die  Hände  zu  lösen  und  schlaff  bei  Seite  zu  legen.  Ich  widM^ 
strebe  diesem  Bedürfniss,  worauf  dasselbe  immer  stärker  wird,  und  schliesslich  zo 
einem  sehr  unangenehmen  Gefühl  in  den  Händen  führt,  bis  ich  nachgebe  und  die 
Hände  bei  Seite  lege.    Sofort  tritt  tiefe  lustbetonte  Ruhe  ein. 

Darauf  beobachte  ich  eine  Art  von  Träumen,  welche  ich  als  Gedankentraoms 
ohne  Bilder  bezeichnen  möchte.  Sie  sind  flüchtiger  Natur,  treten  passiv  auf  and 
lassen  mit  einer  auffallenden  Durchsichtigkeit  associative  Anknüpfungen  an  Ge- 
räusche und  auch  associative  Verknüpfungen  unter  sich  erkennen.  Ich  fühle,  wis 
dieser  Zustand  des  eingeengten  Bewusstseins  leichter  und  schneller  die  bestehenden 
associativen  Verbindungen  aufdeckt;  die  Dinge  fallen  mir  schneller  ein,  ohne  dsM 
ich  danach  zu  suchen  brauche.  Da  V.  keine  weiteren  verbalen  Suggestionen  giebt, 
werde  ich  langsam  wieder  wacher.    Rasches  Aufwachen  auf  BefehL 

4.  Lidschluss  erfolgt  schnell.  Ich  komme  rasch  tiefer,  der  ungemein  Isote 
Strassenlärm  stört  mich  aber  sehr  und  ich  gelange  nicht  zu  behaglicher  Ruhe.  Da  Y. 
nicht  spricht,  werde  ich  immer  wieder  wacher  und  bitte  um  Traumsnggestionen.  Ich 
war  nicht  im  Stande,  die  Träume  activ  hervorzurufen.    Die  Suggestion  der  Tranm' 


SelbstbeobachtuDgen  in  der  Hypnose.  17 

bilder  war  erst  zu  allgemein  gehalten  und  realisirte  sich  deshalb  nicht.  Ich  habe  das 
Gefühl,  dass  dies  so  nichts  nutzt,  und  bitte  um  speciellere  Suggestionen.  Sie  werden 
gegeben,  aber  nicht  ganz  in  der  Form,  wie  ich  es  erwartet  habe.  Ich  glaubte  mich 
zu  phantastischen  Träumen  disponirt,  wie  sie  gestern  beim  5.  Versuch  auftauchten, 
während  V.  an  die  in  V.  6.  bezeichneten  Scenen  anknüpfte.  Nun  träumte  ich  zwar, 
aber  immer  abwechselnd,  bald  nach  Typus  V.  5.,  bald  nach  V.  6.,  wobei  die  ein- 
zelnen Bilder  sich  nicht  vermengten,  und  nur  insofern  associatiye  Verknüpfung 
zeigten,  als  sie  dieser  Art  nach  zusammengehörten,  ähnlich  dem  wechselnden  Inhalt 
auf  den  einzelnen  Seiten  des  bekannten  H offm an n' sehen  Romans  „Kater  Murr". 
Die  Träume  waren  auch  nicht  so  plastisch,  nicht  so  sauber  und  deutlich  abgerundet 
wie  gestern,  wurden  aber  gleichwohl  gelegentlich  afifectbetont :  Eine  aufgeregte 
Menschenmasse  rief  lautes  und  schnelles  Athmen  hervor,  das  mir  zwar  nicht  recht 
motivirt  vorkommt ,  dass  ich  aber  trotz  dieser  Kritik  nicht  unterdrücke.  Die  Träume 
verblassen  sofort  wieder,  als  Vogt  aufhört,  dieselben  zu  suggeriren;  ich  fühle,  wie  die 
Hypnose  wieder  oberflächlicher  wird.  G&rade  will  ich  um  neue  Suggestionen  bitten, 
als  V.  mich  aufweckt.  Obwohl  ich  glaubte,  zum  Schluss  nur  ganz  oberflächlich  ge- 
schlafen zu  haben,  bin  ich  nach  dem  Erwachen  noch  immer  benommen,  und  muss 
wiederholt  um  energischen  Wachbefehl  bitten. 

Diese  Versuchsreihe  ist  characterisirt  durch  die  starke  Abhängigkeit  des  Zo- 
■tandes  von  den  andauernden  Suggestionen.  Ich  bemühte  mich  vergebens,  irgend 
etwas  selbst  hervorzurufen,  nicht  einmal  zum  spontanen  Augenschluss  kam  ich,  und 
musste  Vogt  schliesslich  darum  bitten,  und  das  Alles  bei  erhaltener  klarer  Kritik 
und  trotz  des  Gefühls,  eigentlich  noch  immer  keinen  tieferen  Grad  von  Beinflussung 
erreicht  zu  haben. 

VII.  Sitzung:  Mittwoch  10 — 11  Uhr  Vorm.  1.  Kurze  Einleitungshypnose  er- 
giebt  hohe  Suggestibilität  und  die  gestern  beobachtete  starke  Abhängigkeit  vom 
Wortlaut  der  Suggestionen. 

Der  2.  Versuch  ergiebt  zunächst  nichts  Neues.  Ich  komme  rasch  in  tiefere 
Hypn.  Geräusche  und  Stimme  des  Hypn.  bleiben  bald  unbeachtet,  ähnlich  als  wenn 
man  während  einer  Unterhaltung  an  ganz  andere  Dinge  denkt.  Die  suggerirten 
Träume  realisiren  sich  nur  sehr  langsam  und  verhältnissmässig  undeutlich.  Sie 
werden  laut  Suggestion  an  das  zwischen  1  und  2  geführte  Gespräch  angeknüpft. 
(Aufnahme  von  Athmungscurven.)  Aber  der  Traum  ist  gewissermaassen  mühsam; 
ich  habe  die  Empfindung  an  seinem  plastischen  Zustandekommen  mitzuarbeiten, 
ich  male  mir  den  Inhalt  derselben  activ  aus,  während  ich  ihn  träume,  sehe  aber 
die  Bilder  ziemlich  lebhaft  vor  mir. 

Indessen  bemächtigt  sich  meines  Körjiers  ein  so  ausgesprochenes  Gefühl  von 
Müdigkeit  und  bleierner  Schwere,  wie  ich  es  bisher  in  diesem  Grade  nicht  gekannt 
habe.  Zugleich  wird  die  ganze  Haut  intensiv  wann,  ich  bleibe  aber  klar  in  meiner 
Beobachtungsfähigkeit  und  fasse  die  Sache  wohl  richtig  so  auf,  als  ob  der  Körper 
jetzt  trotz  erhaltener  geistiger  Kritik  ganz  tief  schläft.  An  diesem  Erschlaffung», 
zustand  nimmt  auch  die  Aluskulatur  der  Hautgefässe  und  der  Blutcapillaren  Theil 
daher  die  Wärmeempfindung.  Das  Bewusstsein  wird  leer,  nur  die  Fähigkeit  zur 
Beobachtung  ist  wach  geblieben.  Ich  habe  dabei  ein  Gefühl  in  den  Gliedern, 
namentlich  in  den  Armen,  welches  in  mir  den  Gedanken  weckt,  dieselben  schliefen 
so  tief,  dass  ein  Griff  von  Vogt  zur  Herstellung  der  Katalepsie  ausreichen  müsste* 
Aufwecken  rasch  und  vollständig. 

Zeitschrift  fdr  Ilypnotismus  etc.    IX.  2 


lg  Dr.  3Iarcinow8ki. 

3.  Versuch.  Kancher  Lidschluss.  Aufmorksamkcit  so  auf  die  VorgäDge  in  der 
Hypnose  gerichtet,  dass  Ueräusche  gänzlich  ignorirt  werden.  Detaillirtere  Suggestion 
von  Schwere  und  Müdigkeit  roalisirt  sich  schnell,  dem  Befehl  folgend  erst  im  rechten 
Arm,  dann  im  linken,  und  schliesslich  im  ganzen  übrigen  Korper.  Der  Zustand  ist 
sofort  so  tief,  wie  vorher  bei  2.  Nun  ergreift  V.  meinen  linken  Arm.  stellt  ihn 
aufrecht  und  versucht  mehrere  Minuten  lang  suggestive  Katalepsie  her\'orzarufeiL 
aber  die  Suggestion  realisirt  sich  absolut  nicht,  auch  nicht  einmal  andeutangs- 
weise,  der  Arm  bleibt  schlaff;  dagegen  resultirt  ein  sehr  interessanter  ZastAnd. 
über  den  ich  mich  trotz  der  weitgehenden  somatischen  Schlafhemmung  genau  unter- 
halte und  Auskunft  gebe.  Es  handelt  sich  um  ein  partielles  vollkommenes  Auf- 
wecken des  linken  Armes  bis  zur  Schulter  durch  die  mit  obigen  Versuchen  ver- 
bundenen passiven  Bewegungen  desselben.  Ich  hebe  ihn  ungehemmt  und  mühelos, 
mache  sogar  unwillkürliche  Gesten  mit  ihm  beim  Sprechen,  jedem  leisesten  Willens- 
impuls  folgt  er  sofort,  wie  im  völligen  Wachsein;  aber  ausser  ihm  ist  der  ganze 
übrige  Körper  in  einer  starken  Hciiimung  befangen,  gewissermaassen  gefesselt.  Nor 
mit  gewaltiger  Willensanstrengung  gelingt  es  mir,  einige  Bewegungen  mit  dem 
rechten  Arm  anzudeuten.  £r  ist  bleischwer  und  sinkt  zurück.  Der  Willensimpnb 
ist  trotz  der  Anstrengung  zu  schwach:  ich  bin  den  schlafenden  Gliedern  gegenüber 
nicht  zu  energischen  Impulsen  fähig.  Die  Haut  ist  wie  in  2  warm,  sonderbarer 
Weise  ist  aber  der  ganze  linke  wache  Arm  sehr  kalt,  was  sich  auch  objectiv  nach- 
weisen lässt,  und  V.  stellt  fest,  dass  er  gegenüber  dem  übrigen  Körper  auffallend 
blass  sei,  also  stark  contrahirte  Hautgefässe  aufwiese.  Die  dem  linken  Arm  gegen- 
über versuchten  Wärme-  und  Schlafsuggestionen  gelingen  bis  zu  einem  gewissen 
Grad,  müssen  aber  Schritt  für  Schritt  vorgehend  gegeben  werden.  Schliesslich 
bleibt  nur  ucm-Ii  die  ulnare  Kaute  des  Unterarms  und  der  Hand  kalt  und  blass. 

Nunmehr  wollte  V.  die  augenscheinlich  vorhandene  Tiefe  der  Hypnose  aus- 
nutzen und  suggerirte  .\inuesie.  Dies  ruft  aber  sofort  die  heftigsten  Gegenvorstellungen 
wach.  Die  Idee,  nach  der  Hypnose  wonu'iglich  die  Fähigkeit  zu  verlieren,  die 
heute  besonders  interessanten  Vorgänge  aufzeichnen  zu  können,  führt  zu  lebhaftem 
mit  Krregung  verbundenen  Sträuben.  Diese  Abwehr  ist  mit  dem  Bewusstsein  ver* 
bunden,  dass  mein  Wille  die  Situation  vollkommen  beherrsche,  und  dass  es  nicht 
möglich  sein  dürfe  uu»!  werde,  mir  die  ungewollte  Amnesie  aufzudrängen,  die  Ab- 
wehr tauchte   aber  rein   jja^siv  auf.     Schnelles,   vollständige  Erwachen  auf  Befehl 

Das  Kältegefühl  im  linken  Arm  bleibt  auch  nach  dem  Aufwachen  noch  längere 
Zeit  bestehen  und  lässt  sich  auch  durch  energisches  Reiben  meinerseits  nicht  ver- 
ändern. Erst  als  V.  diese  Manipulation  selber  vornimmt  und  sie  mit  energischen 
Wachsuggestionen  verbindet,  lässt  der  Krampf  in  der  Gefässmuskulatur  allmählich  nach. 

Vlll.  Sitzung: 

Donnerstag  10— lOV-,  Uhr. 

1.  Kurze  Hypnose.  Augenschluss  erfolgt  auffallend  langsam.  Dabei  habeich 
nach  einigem  Nachdenken  die  Enipüudung.  dass  dies  mit  den  dabei  auftauchenden 
Erinnerungsbildern  des  gestrigen  Abends  zusammenhängt.  Ob  diese  als  Ursache  für 
den  verspäteten  Lidschluss  wirken,  oder  ob  umgekehrt  der  verspätete  Lidschluss  die 
Erinnerung  au  gestern  weckt,  kann  ich  dabei  nicht  genau  unterscheiden.  Es  handelte 
sich  darum,  dass  ich  ein  junges  Mädchen  zu  therapeutischen  Zwecken  hj'pnotisirt 
hatte  und  dabei  von  der  üblichen  Reihenfolge  der  Suggestionen  insofern  abgewichen 
war,  dass  ich  zunächst  ihre  Aufmerksamkeit  auf  allgemeine  körperiiche  Sym- 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  19 

ptome  lenkte  und  den  Lidscbluss  anfangs  weniger  betonte.  So  war  zwar  ein  für 
das  erste  Mal  schnelles  Einschlafen  erzielt  worden,  aber  bei  verhältnisamässig  langsam 
«intretendem  Lidscbluss.  Dies  Erinnerungsbild  tauchte  in  mir  auf  und  mag,  mir 
unbewusst,  seinen  Einfluss  geltend  gemacht  haben,  so  dass  sich  V.  nach  dem  Grunde 
dieser  bei  mir  nicht  gewohnten  Erscheinung  erkundigte.  Das  passiv  auftauchende 
Erinnerungsbild  lenkte  meine  Aufmerksamkeit  auch  entschieden  von  der  eigenen 
Hypnose  und  von  Vogtes  Worten  ab. 

2.  Die  Hemmung  des  Lidschlusses  ist  nach  dieser  Analyse  und  der  Aussprache 
über  dieselbe  beseitigt.  Die  Augen  schliessen  sich  schnell  und  ich  fühle,  wie  ich 
rasch  tiefer  komme.  Ich  £alte  die  Hände  über  der  Brust,  es  ist  mir  aber  nur  kurze 
Zeit  möglich,  sie  so  zu  halten ;  die  Suggestion  der  Schlaffheit  zwingt  mir  wiederum 
das  Bedürfniss  auf,  sie  an  die  Seite  heruntergleiten  zu  lassen.  Ich  fühle,  wie  diese 
Suggestion  durch  das  Erinnerungsbild  an  die  Vorgänge  aus  der  früheren  Hypnose 
(cfr.  VI,  3)  verstärkt  wird.  Darauf  vertieft  sich  wie  damals  die  Schlafhemmung 
rasch.  Der  Körper  wird  von  wohliger  Wärme  überrieselt,  die  Gefässmuskulatur 
entspannt  sich,  die  Glieder  werden  bleischwer  wie  gestern,  und  der  somatische 
Schlaf  tritt  wieder  ein.  Aber  aufs  Neue  spielt  die  Erinnerung  an  frühere  Hypnosen 
hinein;  mit  dem  bleischweren  Gefühl  tritt  dessen  associative  Verbindung  mit  dem 
(gestrigen  Zustande  in  Wirkung,  und  der  linke  Arm  wird  genau  wie  gestern  wach. 
£r  wird  auch  nicht  warm,  sondern  ich  habe  im  Gegensatz  zum  übrigen  Körper 
«ine  kühle  Empfindung  (als  ich  3  Tage  später  beim  Dictiren  des  Manuscripts  an 
diese  Stelle  komme,  tritt  im  wachen  Zustand  das  intensive  Kältegefühl  im  linken 
Arm  wieder  auf  und  bleibt  ca.  V4  Stunde  lang  bestehen).  Lange  kämpfe  ich  mit 
dem  Entschluss,  Bewegungen  zu  versuchen.  Es  ist  ein  starker  Widerstand  dagegen 
vorhanden  und  ich  theile  dies  V.  mit.  Schliesslich  ermanne  ich  mich  zu  dem  Versuch 
and  kann  den  linken  wachen  Arm  genau  so  gut  bewegen,  wie  gestern,  während  es 
mir  nur  mit  grosser  Anstrengung  gelingt,  den  rechten  zu  rühren.  Ich  fühle, 
welchen  Widerstand  die  Gelenke  bieten,  der  Arm  fällt  bleischwer  herab.  Uebrigens 
konnte  V.  diesmal  keinen  objectiven  Unterschied  in  der  Wärme  zwischen  rechts 
und  links  wahrnehmen.  Es  handelte  sich  also  wohl  nur  um  eine  Erinnerung  auf 
Tomehmlich  psychischem'  Gebiet,  während  bei  dem  erwähnten  Dictat  der  Unter- 
schied in  der  Wärme  der  beiden  Hände  wieder  ein  stark  auffallender  und  objectiv 
ohne  Weiteres  nachzuweisender  war. 

Vogt  streicht  den  linken  Arm,  energisch  Wärme  suggerirend.  Dieselbe  ver- 
wirklicht sich  aber  ebenso  unvollständig,  wie  gestern.  Im  Gegentheil,  die  mit  den 
Streichungen  verbundenen  Bewegungen  wecken  mich  auf.  V.  überlässt  mich  dann 
mir  selbst  und  bekämpt  nur  meine  Tendenz,  die  Erscheinungen  scharf  zu  beobachten. 
Ich  fühle  dann  aber  wie  früher,  dass  der  Schlaf  meines  Körpers  allmählich  immer 
leichter  wird,  es  kehrt  Leben  in  die  Glieder  zurück,  sie  sind  nicht  mehr  so  blei- 
schwer und  müde,  und  ich  spüre  etwas  wie  Erquickung  nach  Schlummer.  V.  weckt 
mich  auf,  nachdem  ich  ihm  dies  mitgetheilt  habe. 

3.  Schnelleres  Einschlafen,  ich  komme  aber  nicht  tief.  Starke  Hyperacusis; 
der  Strassenlärm  bt  meiner  Empfindung  nach  unerträglich  laut,  V.  findet  das 
Gegentheil.  Die  Hypnose  ist  ganz  oberfiächlich  und  unergiebig.  Die  Idee,  mich 
selbst  beobachten  zu  wollen,  verhindert  augenscheinlich  das  Eintreten  tieferer,  an 
Bewusstlosigkeit  erinnernde  Zustände  vollkommen.  Ich  werde  rasch  aufgeweckt 
und  glaube  kaum,  beeinflusst  gewesen  zu  sein. 

2* 


20  ^f*  Marcinowski. 

IX.  Sitzung  nach  drei  mal  24  Std.  Pause,  nm  die  starke  Tendenz  zur  Seibit« 
beobachtang  abzuschwächen: 

Sonntag  10—11  Uhr  Vorm. 

Vor  Beginn  des  1.  Versuches  sprechen  wir  noch  über  TerSchiedene  Dingt, 
während  ich  schon  daliege.  Diese  Stellung  und  die  ganze  Umgebung  ruft  mir 
dabei  einige  Male  das  Gefühl  eintretender  Hypnose  wach,  so  dass  ich  den  Augei- 
schluss  direct  bekämpfen  muss. 

1.  Derselbe  erfolgt  dann  sehr  schnell  und  erinnert  mich  lebhaft  an  I.  £inige 
Unruhe  in  der  Muskulatur  kann  ich  nicht  unterdrücken,  sowohl  das  Lächeb  ib 
auch  das  in  VI.  beobachtete  Zähneklappem  wird  angedeutet.  Ich  bitte,  mir  ait 
der  Hand  die  Wangen  zu  streichen,  und  dadurch  die  Beruhigungssuggestion  n 
unterstützen.  Allmählich  lässt  die  Unruhe  nach,  und  so  tritt  unter  dem  £inflaw 
der  Worte  jener  ausgesprochene  Erschlaffungszustand  auf,  der  sich  auch  wieder  vi 
die  Gefässmuskulatur  erstreckt,  nur  die  linke  Hand  bleibt  kalt.  Ich  mache  dimf 
aufmerksam  und  V.  suggerirt  unter  Berührung  derselben  Wärme  mit  den  Wortes: 
„Sie  fühlen,  wie  sie  allmählich  wärmer  wird."  Das  Wort  allmählich  ruftmäni 
Kritik  wach,  da  sich  der  Ausdruck  nicht  dem  thatsächlichen  Geschehen  anschmiegt 
Die  Wärme  kommt  nämlich  dadurch  zu  Stande,  dass  sich  peristaltische  Wellen  toi 
Erschlaffung  der  Muscularis  über  die  Glieder  crgiessen,  die  mit  dem  Gefühl  der  Wiiii»> 
Congestion  ycrbunden  sind.  Ich  mache  V.  auf  diesen  Unterschied  aufmerksam,  soffii 
darauf,  dass  dies  von  ihm  so  häutig  angewandte  Wort  „allmählich*'  überhaupt  uf 
meine  Zustände  nur  selten  gepasst  hätte.  V.  suggerirt  in  Folge  dessen  eine  fluthwciii 
Zunahme  der  Wärme.  Aber  schon  wieder  wird  meine  Kritik  wach ,  denn  die  Flith- 
wellen  betreffen  nicht  den  Wärmegrad,  wie  V.  meint,  sondern  die  räumliehi 
Ausdehnung  desselben ;  jede  Welle  schreitet  über  die  Grenzen  des  erwärmten  Gehieto 
weiter  hinaus,  dieselben  peripherwärts  erweiternd.  Es  sind  diese  Wellen  parslW 
zu  setzen  mit  dem  Auf-  und  Abwogen  des  Einschlnmmerns  und  wieder  Aufwacheu^ 
wie  ich  es  bereits  geschildert  habe.  ^)  Diese  Erscheinung  tritt  auch  heute  dentüA 
auf,  und  ich  erkenne  dabei  die  Ursache  für  ein  eigen thümliches  Gefühl  in  des 
Augäpfeln,  welches  das  tiefere  Einsinkon  in  Schlummer  begleitet.  Dasselbe  kommt 
dadurch  zu  Stande,  dass  zu  gleicher  Zeit  mit  dem  Moment  des  Vertiefens  der 
Hypnose,  die  Bulbi  wie  beim  Lidschluss  ad  maximum  nach  oben  und  innen  g** 
wendet  werden. 

Geräusche  ärgern  mich  heute  nicht.  Zwischen  Kritik  und  Gleichgfiltiglnn 
wogt  die  Stimmung  auf  und  ab.  Ich  rufe  mir  activ  eine  Menge  Traumbilder  hcrrtir, 
ähnlich  dem  Typus  V.  6.  gestaltet,  nur  wahrscheinlich  ihrer  activen  Kator  eat 
sprechend  langsamer  ablaufend;  sie  betreffen  eine  viel  spätere  Lebensepoch 
wie  in  V.  6. 

Nach  dem  Aufwecken  fühle  ich  mich  leicht  benommen.    Ich  glaube,  ziemUv 
lange  gelegen    zu    haben,  vielleicht   V  j  Stunde,   und  finde  zu  meiner  grossen  Vefr 
wunderung  eine  leichte  Amnesie  angedeutet.    Es  macht  mir  Mühe,  mich  an  dit  a 
eben  noch  klar  bewussten  Vorgänge  zu  erinnern,  und  das  Nachdenken  ist  mir  S* 
meinem  halbdrisigcn  Zustand  lästig.     Schliesslich   überwinde  ich   das  Gefühl,  ksnft 
mich   aber  absolut  nicht  besinnen,   was  ich  V.  noch  erzählen  wollte,   und  gebe  •  ^ 
endlich  auf,  die  Sache  herauszukriegen.     Mit  dem  Moment  aber,  wo  V.  seine  Hand 

')  Cfr.  II.  b,  pag.  11  u.  III.  1—3. 


i 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  21 

aaf  meine  Stirn  legt  und  die  2.  Hypnose  einzuleiten  beginnt,  weiss  ich  wieder  Alles 
und  sage  dies.  V.  nimmt  die  Hand  fort  und  in  demselben  Augenblicke  will  sich 
wieder  Alles  verwischen.  £s  gelingt  mir  aber,  die  ausreissenden  Gedanken  noch 
gewiasermaassen  beim  letzten  £nde  zu  erwischen  und  festzuhalten,  so  dass  ich  nun 
V.  die  beabsichtigte  Mittheilung  machen  kann,  nämlich,  dass  ich  schon  vor  Beginn 
der  1.  Hypnose  durch  die  ganze  Situation  meinen  Zustand  derart  beeinflusst  ge- 
fohlt hatte,  wie  ich  es  bereits  schilderte. 

2.  Hypnose.  Dieselbe  ist  nicht  ganz  so  tief  wie  1,  was  ich  daran  merke, 
dass  mich  der  Strassenlärm  nicht  so  gleichgültig  lässt.  Active  und  passive  Träume 
gehen  durcheinander,  bald  Phantasmen,  bald  affectbetonte  Bilder  wie  bei  V.  5, 
oder  auch  Erinnerungsbilder  wirklicher  Begebenheiten.  Der  active  Traum  erinnert 
genau  an  wache  Zustände,  wenn  ich  mich  meinen  Gedanken  hingebe.^)  Heute 
«onstmirte  ich  ein  einfaches  Perimeter  für  mein  Sprechzimmer,  ohne  dass  ich  seit 
Tielen  Monaten  mit  diesem  Plan  zu  thun  gehabt  hätte.  Diese  Arbeit  hatte  die 
Form  eines  Traumes,  in  welchem  ich  das  fertige,  sich  stets  in  der  Construction 
dem  jeweiligen  Gedankengang  anpassende  Instrument  mit  Patienten  versuchte; 
sinnliche  Lebhaftigkeit  der  Bilder  war  ausgesprochen  vorhanden.  Bei  den  Er- 
innerungsbildern wirklicher  Begebenheiten  trat  deren  associative  Verknüpfung  unter- 
einander wieder  klar  hervor.  Z.  B. :  Ich  sehe  einen  runden  gelben  Fleck,  — 
ich  denke  an  Sonne,  —  dies  weckt  in  mir  die  Erinnerung  an  ein  modernes  Bild, 
wo  ein  3Iann  seine  beiden  Arme  der  Sonne  entgegenstreckt,  —  darauf  fällt  mir  ein 
Blatt  aus  dem  Skizzenbuch  meiner  Mutter  ein,  wo  sie  selbst  in  ähnlicher  Haltung 
and  unter  Bezug  auf  die  Worte:  „Ich  grüsse  dich,  Frau  Sonne!"  skizzirt  worden 
war  (doppelte  Association  Sonne  und  Haltung),  —  von  da  komme  ich  auf  die 
Künstlerin,  die  das  gezeichnet  hatte,  —  etc.  etc. 

Im  Ganzen  war  der  Somatische  Schlaf  diesmal  nicht  so  tief  wie  bei  VII,  die 
Benommenheit  der  geistigen  Functionen  dagegen  bedeutend  stärker  ausgeprägt, 
als  je  zuvor. 

X.  Sitzung: 

Dienstag,  Vorm.  10 — 11  IJhr. 

1.  Hypnose.  Wärmesuggestion  realisirt  sich  sehr  schnell  und  auffallend  stark, 
ich  empfinde  die  Congestion  in  die  Haut  der  Stirn  und  der  Augenlider  brennend 
heiss.  Die  Augen  schliessen  sich  sehr  schnell;  unter  tiefem  Aufathmen  und  einem 
wanderbar  wonnigen  Lustgefühl  strecke  ich  mich  und  sinke  sofort  in  jene  angenehme 
Erschlaffang.  Die  Athmung  wird  darauf  ganz  flach  und  langsam,  nachdem  noch 
eine  Weile  lang  im  Anschluss  an  das  erste  tiefe  Aufathmen  sehr  ausbiegige  Bespi- 
rationsbewegungen  gemacht  wurden,  die  der  Ausdruck  jener  stark  lustbetonten 
Erregung  des  ganzen  Körpers  waren.  Ich  erinnere  mich  nicht,  jemals  ein  solch  rausch- 
artiges Empfinden  gehabt  zu  haben,  ausser  bei  sexuellen  Erregungen.  Zugleich 
ergoss  sich  auch  die  heisse  Congestionswelle  über  die  Gliedmaassen  und  ich  kam 
schnell  in  tiefere  Hypnose.  Jetzt  fiel  mir  ein,  dass  wir  das  letzte  Mal  verabredet 
Balten,  dass  ich  mir  Watte  in  die  Ohren  stecken  wollte,  um  mehr  gegen  die  mich 
so  stark  belästigenden  akustischen  Reize  geschützt  zu  sein.  Ich  fürchtete  mich, 
durch  dieselben  in  diesem  Zustand  gestört  zu  werden,  der  mir  heute  besonders  gut 
disponirt  erschien.    Ich  erinnerte  V.  deshalb  an  unsere  Abrede  und  er  weckte  mich 


*)  Cfr.  Einleitung,  pag.  6. 


22  ^r.  Marcinowski. 

auf.  Ich  bedaure  das  sehr,  da  die  folgenden  Yersnche  leider  nicht  gehalten  haben, 
-was  der  erste  versprach.  Dieser  erste  hatte  kaain  eine  Minute  in  Anspruch  ge- 
nommen.   Ich  verstopfe  mir  die  Ohren  mit  Watte. 

2.  Bereits  der  Lidschluss  erfolgt  langsamer  und  zögernd,  Wärmesuggettion 
realisirt  sich  nicht,  da  der  Kopf  noch  roth  und  heiss  war.  Ich  kritisire  staik 
an  V's.  Worten.  Suggestion  traumlosen,  somatischen  Schlafzns tandes  ana  YIL  % 
pag.  17  kommt  aber  nach  suggestiver  Beseitigung  der  V.  mitgetheilten  Neigung 
zum  Kritisiren  zur  Verwirklichung.  £s  juckt  mich  nun  etwas  an  der  Nase,  und 
ich  will  CS  wegwischen,  unterlasse  es  aber  und  mache  dabei  folgende  Beobachtung. 
Diese  Willensregung  tauchte  in  mir  auf,  als  gerade  der  somatische  ^)  Schlaf  ein- 
zutreten begann,  und  ich  konnte  nun  die  Tiefe  desselben  gewiasermaaasen  mesMO, 
wenn  ich  meine  Absicht,  die  Hand  zum  Gesicht  zu  fuhren,  zu  yerwirklichen  suchte. 
Zuerst  bewegte  ich  die  Hand  noch  ganz  leicht,  aber  beim  Heben  des  Armes  er- 
lahmte mein  Wille,  und  nun  wurde  die  Ausführung  der  Absicht  bei  jedem 
weiteren  Versuch  dazu  immer  geringer,  schliesslich  kam  es.  je  tiefer  der  soma- 
tische Schlafzustand  wurde,  nur  noch  zu  leisem  Zucken  der  Finger,  am  Ende  nur 
noch  zu  einem,  ich  möchte  sagen,  psychischen  Ruck.  Ich  constatirte  femer  die 
sehr  herabgesetzte  psychische  Energie,  eine  behagliche  Trägheit,  einen  stark  ver- 
langsamten Ablauf  der  diesen  Willensimpuls  ausmachenden  psychischen  Thätigkdt 
Eben  dieser  langsame  Ablauf  Hess  mich  aber  einen  Blick  in  den  Mechanismus 
des  Willensactes  thun,  dessen  einzelne  Phasen  auseinandergezogen  vor  mir  lagen. 
Erst  taucht  der  Gedanke  auf:  „ich  möchte  mir  das  Juckende  wohl  weg- 
wischen.'^  —  Dieser  Gedanke  führt  zu  einer  Bejahung  seitens  des  Willens: 
,Ja  ich  will  es  mir  wegwischen,*'  —  diese  Absicht  lässt  in  mir  den  £nt- 
schluss  reifen,  es  zu  thun;  —  aber  von  da  bis  zur  Ausführung  ist  noch  ein 
langer  Weg.  Ich  schwanke  hin  und  her,  ehe  ich  den  Willensimpuls  motorisch 
umsetze,  und  die  That  selbst  kostet  mich  während  der  ganzen  Bewegung  andauernde 
Energie.  Die  aber  leistet  mein  Nervensystem  nicht  mehr,  und  der  Impuls  zur 
That  erlahmt  auf  halbem  Wege,  wie  eine  grosse  Kegelkugel,  die  eine  Frau  mit 
kolossalem  Kraftaufwand  schleudert,  und  die  schon  auf  halber  Bahn  so  friedlich 
zur  Ruhe  kommt.  So  sind  meine  motorischen  Impulse  in  der  Hypnose  alle  ge- 
wesen. Aber  erst  heute  ist  es  mir  so  klar  zum  Bewusstsein  gekommen,  ein  wie 
complicirter  Vorgang  solche  Willensäussenmg  ist,  die  sich  in  eine  ganze  Anzahl 
scharf  getrennter  Componenten  zerlegen  lässt. 

Nach  dem  Erwecken  bemerke  ich  erstaunt,  dass  eine  leichte  Anmesie  ein- 
getreten ist.  Ich  beobachte  eine  gewisse  vergnügt  behagliche  Stimmung  beim 
Aufwachen,  habe  kein  Bedürfniss  weiter  nachzudenken  und  mich  gross  zu  bewegen. 
Ich  fühle  an  meinem  Gesichtsausdruck,  wie  ich  noch  so  daliege,  dass  ich  denselben 
schon  oft  bei  anderen  Hypnotisirten  beobachtet  habe.  Vogt  fragt  mich;  wie  ich 
aber  antworten  will,  fühle  ich  die  angedeutete  Amnesie.  Ich  versuche,  mir  das  eben 
Erlebte  ins  Gedächtniss  zu  rufen,  aber  das  Nachdenken  erlahmt  rasch,  wie  vorher  der 
Willensimpuls  auf  motorischem  Gebiete;  ich  fühle  mich  zu  behaglich  gedankenfanl 
und  mit  einem  vergnügten :  „na  dann  nicht"'  lege  ich  mich  zur  nächsten  Hypnose 
zurecht.  Wie  widersprechend  ist  diese  Stimmung  zu  meiner  erregten  Gegenwehr 
gegen  die  gegebene  Suggestion  der  Amnesie  am  VII.  Tage! 

1)  ('fr.  VJI.  2,  3. 


Zur  Psychologie  der  hypnotischen  Zustände.  23 

3.  4.  ?  Ich  bin  jetzt  nicht  mehr  im  Stande,  anzugeben,  ob  ich  heute  dreimal  oder 
viermal  eingeschläfert  wurde,  manches  spricht  für  das  Eine,  manches  für  das  Andere. 
Die  einzelnen  Hypnosen  gehen  mir  durcheinander  und  ich  kann  mich  für  die  richtige 
Unterbringung  der  einzelnen  Beobachtungen  heute  nicht  verbürgen.  Die  letzte 
Hypnose  war  nur  kurz  und  wurde  von  mir  selbst  abgebrochen,  da  sich  trotz  der 
Watte  in  den  Ohren  die  Hyperakusis,  an  der  ich  litt,  so  unangenehm  bemerkbar 
machte,  dass  sie  sogar  zu  emotionellen  Abwehrbewegungen  und  motorischen  Un* 
willensäusserungen  mit  Unruhe  des  ganzen  Körpers  führten.  Ich  konnte  nicht  still 
liegen  bleiben  und  richtete  mich  unwirsch  und  völlig  wach  auf,  die  Versuche  ab- 
brechend. Ich  war  mir  bewusst,  dass  der  Strassenlärm  in  keinem  Yerhältniss  zu 
dem  Grad  meiner  Erregung  stand. 

Hiermit  beschliesse  ich  die  Protocolle  meiner  Hypnosen.  Dieselben 
wurden  sämmtlich  —  wie  schon  oben  erwähnt  —  unmittelbar  nachher 
skizzirt  und  sind  mit  Ausnahme  einiger  stilistischer  Feilungen  wörtlich 
wiedergegeben. 

Im  Folgenden  will  ich  nun  den  Versuch  machen,  dasjenige  zu- 
sammenzufassen, was  ich  als  Hypnotiseur  aus  diesen  Vorgängen  gelernt 
habe  und  was  ich  als  objectiven  Thatbestand  festnageln  möchte.  Da 
sich  meine  Ausführungen  lediglich  an  das  gegebene  Material  halten 
sollen,  so  können  sie  dementsprechend  keine  vollständige  Darstellung 
hypnotischer  Zustände  geben. 


I. 

Zur  Psychologie  der  hypnotischen  Zustände. 

L  Was  ist  Hypnose? 

Die  erste  Frage,  die  uns  immer  wieder  vorgelegt  wird,  lautet 
„Was  ist  Hypnose?",  und  wir  selbst  sind  darüber  noch  lange  nicht 
einig.  Zwei  Meinungen  stehen  sich  in  dieser  Frage  gegenüber.  Die 
Einen  plagen  sich  mit  spitzfindigen,  dem  unbefangenen  Leser  oft  ge- 
künstelt erscheinenden  Definitionen,  und  wollen  mit  ihnen  beweisen,  dass 
die  hypnotischen  Zustände  etwas  vom  normalen,  physiologischen  Ge- 
schehen Abweichendes  sind.  Sie  machen  eine  scharfe  Trennung  zwischen 
Hypnose  und  dem  gewöhnlichen  Schlaf,  der  ihnen  so  wesentlich  ver- 
schieden vom  hypnotischen  dünkt,  dass  sie  sogar  wie  Döllken^)  beide 

')  A.  D ö  1 1  ke n ,  Beiträge  zur  Physiologie  der  Hypnose.    Cfr.  d.  ßd.  IV,  pag.  65. 


24  ^f*  lUreiDOwski. 

Zustände  sich  mischen  lassen  können,  ohne  dass  eine  wesentliche  Ver- 
schmelzung eintritt. 

Die  Anderen  sehen  in  solchen  Bildern  nur  Uebergänge  zum  Schlaf 
üebergänge,  die  nur  durch  gewisse  quantitative  unterschiede  bedingt  sind. 

Ich  bekenne  mich  zur  zweiten  Partei  und  zwar  speciell  zu  den 
Lehren,  wie  sie  in  den  letzten  Jahren  von  Vogt  vertreten  sind.  Für 
uns  ist  Schlaf  und  Hypnose  nur  durch  den  Grad  der  Tiefe  und  der 
Ausdehnung  der  Schlafhemmuug  unterschieden.  Je  nachdem  man  nun 
mehr  die  Sclilafhemmung  oder  mehr  das  Wachbleiben  ins  Auge  fasst, 
spricht  man  von  partiellem  Schlaf  oder  partiellem  Wachsein,  resp.  von 
eingeengtem  Bewusstsein.  Letzteres  kommt  dem  Zustande  concentrirter 
Aufmerksamkeit  im  Wachen  am  nächsten,  der  uns  auch  für  alles  an- 
dere blind  und  taub  werden  lässt  (Typus  des  zerstreuten  Grelehrten). 
Gemeinsam  ist  beiden  nahe  verwandten  Zuständen  die  grössere  Leistungs- 
fähigkeit der  psychischen  Kräfte  auf  dem  Punkt,  auf  welchem  sie 
concentrirt  sind. 

Dies  beides,  den  Vergleich  der  Hypnose  mit  dem  gewöhnlichen 
Schlaf  und  den  Werth  des  eingeengten  Bewusstseins  will  ich  zunächst 
an  der  Hand  meiner  Protokolle  durchgehen. 

Wenn  wir  die  Hypnose  nun  aber  mit  Schlaf  im  gewissen  Sinne  identi- 
ficiren  wollen,  so  fehlt  uns  zum  vollgiltigen  Beweise  vor  Allem  eine 
genügende  Erklärung  des  Schlafes  selbst.  Die  Coincidenz  desselben 
mit  einem  mehr  weniger  schwankenden  Grad  von  Gehimanämie  ist 
eigentlich  das  Einzige,  was  man  sicher  davon  weiss.  Woher  stammt 
das  Dunkle  in  dieser  Frage?  AVarum  sind  alle,  auch  die  zutreffendsten 
Lösungen  immer  noch  unbefriedigend?  Ich  selie  den  Grund  davon 
darin,  dass  man  bei  der  Aufstellung  von  Schlaftheorien  meist  nur  den 
b  e  w  u  s  s  t  (» n  Inhalt  der  Psyche  in  Eechuung  gezogen  hat.  Eine  wirklich 
befriedigende  Theorie  ist  aber  deshalb  so  schwierig,  weil  das,  was  wir 
als  den  Besitzstand  unseres  Bewustseins  ansehen,  nur  ein  ganz  kleiner 
Bruchtheil  von  dem  vollen  Inhalt  dessen  ist,  was  wir  in  unserem  ganzen 
Leben  percipirt  und  als  Erinnerungsbilder  aufgespeichert  haben,  die 
nur  unterhalb  der  Schwelle  unseres  Bewusstseins  ruhen,  gelegentlich 
spontan  auftauchen,  oder  auch  durch  zielbewusst  hervorgerufene  Hyper- 
muesie  dazu  veranlasst  werden  können,  die  aber  immer  ein  integrirender 
Bestandtheil  unserer  sogen.  Psyche  bleiben  und  an  der  Gestaltung  unserer 
psychischen  Persönlichkeit  auch  aus  dem  Unter-  und  Unbew^ussten  heraus 
theilnehmen.^) 

*)  Cfr.  Krankengeschichte  Frl.  E.  (folgt  in  Abschnitt  7)  und  viele  public.  Ana- 
lysen z.  B.  die  Freud 'sehen  Fälle  von  Hysterie  etc. 


Zur  Psychologie  der  hypnotischen  Zustände.  25 

Ja  noch  weiter  zurück  liegt  die  Aetiologie  unserer  Zustände. 
Sie  können  Wirkungen  von  Ursachen  darstellen,  die  vor  Beginn  unserer 
persönlichen  Existenz  wirksam  wurden,  denn  diese  ist  nur  ein  kleines 
Glied  in  einem  grossen,  continuirlichen  Lebensprocess.  Um  so  schwieriger 
muss  uns  die  Erforschung  eines  Zustandes  sein,  je  mehr  er  in  so  uralten 
Trieben  seine  Wurzeln  hat  und  uns  bereits  als  Reflex^)  vererbt  und 
tiberliefert  worden  ist,  wie  der  Schlaf. 

Erst  mit  dem  Augenblicke,  wo  derselbe  aufhört,  reiner  Reflex- 
act  zu  sein,  beginnt  die  Möglichkeit,  die  Hypnose  mit  ihm  zu  ver- 
gleichen. Sein  Eintritt  ist  in  erster  Linie  ein  gewohnheitsmässiger. 
Gewohnheit  aber  ist  eine  Einübung,  eine  Bahnung,  deren  Componenten 
schliesslich  unter  die  Schwelle  des  Bewussten  hinabsinken  und  von  da 
aus  wirken.  Man  vergleiche  auch,  was  Forel  in  seiner  Schlussbe- 
merkung zu  der  Bleuler  'sehen  Selbstbeobachtung  sagt.  -)  Dort  schreibt 
er  der  unterbewussten  Grosshimthätigkeit  eine  sehr  grosse  Rolle 
bei  den  Suggestionswirkungen  zu.  Den  Mechanismus  solcher  durch 
Tiel  tausendfache  Wiederholungen  gefestigter  Gewohnheiten  zu  erkennen, 
ist  natürlich  um  so  schwerer,  je  tiefer  er  unter  die  Schwelle  des  Be- 
wusstseins  heruntergesunken  ist,  wenn  man  auch  hoffen  darf,  dass  er 
hier  beim  Problem  des  Schlafes  nicht  so  unzugänglich  sein  wird,  >\de 
es  rein  somato -physiologische  Functionen  unseres  Körpers  sind. 

Viel  Unklarheiten  haben  auch  die  verschiedenen  Bewerthungen 
der  Erschöpfungszustände  in  die  Schlaftheorien  gebracht,  und  oft  zu 
einseitiger  Ueberschätzung  der  Ermüdung  geführt.  Mir  scheint  dieselbe 
nur  einer  der  vielen  Wege  zu  sein,  die  nach  Rom  führen,  und  ich  kann 
in  ihr  lediglich  einen  der  verschiedeneu  Associationscomplexe  erblicken, 
die  im  Rahmen  der  Gewohnheit  zur  Schlafvorstellung  hinführen  und 
dieselbe  reflexartig  auslösen.  Dasselbe  gilt  auch  für  andere  zu  Gehirn- 
anämie führenden  Zustände  wie  Verdauungsmüdigkeit,  protahirte  wanne 
Bäder,  hydropathische  Einpackungen  etc. 

Die  hypnotischen  Zustände  knüpfen  nun  so  eng  an  diesen  Vor- 
stellungscomplex  des  Einschlafens  an,  dass  wir  uns  ohne  denselben  eine 
Hypnose  überhaupt  nicht  recht  denken  können.  Schon  daraus  sollte 
man  die  im  Grunde  bestehende  Identität  beider  Zustände  scbliessen, 
die  ich  mir  so  vorzustellen  geneigt  bin,  dass  ich  Hypnose  und  Som- 
nambulismus als  specielle  Theilerscheinungen  allgemeiner  Schlafzustände 

*)  Cfr.  Vogt,  Reflectorischer  Schlaf  der  Neugeborenen.  Spont.  Somnamb. 
i.  d.  Hypn.,  Bd.  VI,  pag.  91. 

«)  Cfr.  ForeK  Der  Hypnotismu3,  III.  Aufl.,  pag    222. 


26  ^i"-  Harcinowski. 

auffasse.  Ich  vergleiche  nach  den  an  mir  gemachten  Erfahrungen  die 
Hypnose  mit  einem,  in  die  Länge  gezogenen,  aber  meist  an?oll- 
ständigen  L  e.  partiellen  Einschlafen,  welches  sich  nach  den 
personlichen  Vorstellungen  gestaltet,  die  Jeder  mitbringt,  —  eine  De- 
finition, welche  das  partielle  Wachbleiben  irgend  welcher  psychischer 
oder  anderer  Functionen  in  sich  schliesst. 

2.   Die  Rolle  der  Sinnesreize  in  der  Hypnose. 

Eine  Vorstellung  wird  nun  um  so  kräftiger  wirken,  je  weniger  sie 
auf  Gegenvorstellungen  stösst,  und  je  weniger  die  Aufmerksamkeit  von 
ihr  abgelenkt  wird.  Beides  betrifft  mit  die  wichtigsten  Kunstgriffe  bei 
der  geschickten  Einleitung  einer  Hypnose.  Bestimmte  Gruppen  von 
Gegenvorstellungen  vermeidet  man  am  besten  durch  Entfernen  alles 
der  gewünschten  Situation  Widersprechenden,  also  durch  Berticksicli- 
tigung  allgemeiner  Schlafgewohnheiten  wie  Lage,  Femhalten  von  äusseren 
Reizen  und  durch  Hervorrufen  von  entsprechenden  Erinnerungsbilderai 
So  wirkte  es  entschieden  bahnend  für  die  Erziehung  der  Hypnose, 
dass  V.  mich  auf  ein  Ruhebett  legte,  mich  zudeckte,  das  Zimmer  ver- 
dunkelte etc.^),  ferner,  dass  er  mich  an  meinen  gewohnten  Mittagsschlaf 
vor  Tisch  erinnerte.')  Leider  konnten  wir  den  Strassenlärni ,  der  so 
störend  in  meinen  Versuchen  war,  nicht  in  gleicher  Weise  ausschalten. 
Wie  hinderlich  er  schliesslich  wurde,  geht  aus  einer  grossen  Zahl  von 
Anmerkungen  im  Protokoll  hervor.  Ich  habe  speciell  für  die  akustischen 
Eindrücke  eine  ganze  Skala  aufstellen  können,  die  von  der  absoluten 
Unterdrückung  jeder  akustischen  Empfindung,  bis  zur  unangenehmsten 
Hyperakusis  reicht. 

a.  Nichtshörend,  „entendre",  tiefer  Schlaf  mit  Amnesie.  Vergl. 
Protokoll  Frl.  E.  (folgt  in  Abschnitt  7). 

b.  Nicht  hinhörend,  „ecouter'*,  gänzliches  Ignoriren und  Unter- 
drücken akustischer  Reize  bei  vollständig  anderweitig  absorbirter 
Aufmerksamkeit,  so  während  der  Traumzustände  in  V.  6  (pag.  15) 
oder  bei  VII.  3  (pag.  18). 

c.  Gleichgiltigkeit  gegen  dunkel  zum  Bewusstsein 
kommende  Reize,  so  bei  V.  3u.  4  (pag.  14);  auch  der 
Stimme  des  Hypnotiseurs  gegenüber  VI.  2  (pag.  16),  oder  bei 
VII.  2  (pag.  17),  wo  sich  dieser  Zustand  am  typischsten  markirte. 

*)  Cfr.  pag.  5. 

*)  Cfr.  III.  Sitzung,  pag.  12. 


Zur  Psychologie  der  hypnotiachen  Zustände.  27 

d.  Hin  und  wieder  wird  die  Aufmerksamkeit  passiv  gefesselt, 
schwankender  Zustand  zwischen  dunkel  bewusstem  und  be- 
wusstem  Hören;  so  bei  V.  4  u.  5  (pag.  14)  und  bei  III.  4 
(pag.  12),  wo  nur  die  ganzen  lauten  Geräusche  eine  JEU>lle 
spielen,  —  oder  auch  bei  IV.  3  (pag.  13),  wo  ich  den  Versuch 
machte,  die  Geräusche  activ  unter  die  Reizschwelle  hinabzu- 
drücken. 

e.|  Alles  hörend,  gleichgiltig  dagegen  V.  3  (pag.  14)  u.  IX.  1  (pag.  20). 

f.  —       —      Ruhe  dagegen  bewahrt  1.4  (pag.  10)  u.  IX.  2  (pag.  21). 

g.  —       —      dadurch  abgelenkt  und  gestört  III.  3  (pag.  12) 
[  u.  VI.  4  (pag.  16). 

h.     —       —      dadurch  geärgert  II.  1  (pag.  10)  u.  VIII.  3  (pag.  19). 
i.     —       —      der  Unmuth  äussert  sich  durch  emotionelle  Aus- 
*  drucksbewegungen  VIII.  3  u.  X.  Schluss  (pag.  23). 

Diese  Hyperakusis  war  merkwürdiger  Weise  durchaus  nicht  die 
Folge  einer  momentanen  Indisposition,  sie  findet  sich  direct  neben  den 
ergiebigsten  Versuchen.  VIII.  3. 

Nächst  den  akustischen  Reizen  waren  körperliche  Unbequem- 
lichkeiten am  störendst^n,  besonders  wenn  es  sich  um  Vorkommnisse 
handelte,  die  man  reflectorisch  oder  bewusst  mit  Abwehrbewegungen 
2u  beantworten  pflegt,  die  hier  in  der  Hypnose  unterdrückt  wurden, 
um  keinen  Widerspruch  mit  der  ertheilten  Ruhesuggestion  aufkommen 
zu  lassen  (cfr.  das  Jucken  an  der  Nase  in  X.  2,  den  schmerzhaften 
Wadenkrampf  in  VI.  2,  ferner  verschiedene  Störungen  durch  Sekret- 
ansammlung im  Nasenrachenraum  bei  Rückenlage  im  Stadium  einer 
acuten  Rhinitis). 

Dasselbe  gilt  von  der  Empfindlichkeit  gegen  Licht  (II.) ;  grelles 
Sonnenlicht  stört  hier,  wie  es  auch  im  Schlaf  stört.  Namentlich  war 
mir  der  Wechsel  von  hell  und  dunkel  sehr  peinlich,  als  Wolken  ab- 
wechselnd vor  der  Sonne  herzogen. 

Das  Abstumpfen  gegen  die  Sinneseindrücke  ist  erst  ein  Symptom 
des  eingeengten  Bewusstseins,  sobald  die  Aufmerksamkeit  auf  etwas 
anderes  concentrirt  ist,  oder  in  noch  höherem  Maasse  erst  das  Zeichen 
starker  Vertiefung  der  Schlafhemmung,  in  der  diese  Einengung  schliess- 
lich 80  weit  getrieben  ist,  dass  so  gut  wie  nichts  mehr  wach  bleibt, 
d.  h.  allgemeiner  tiefer  Schlaf  eintritt.  Immer  aber  fordert  die  Ge- 
wohnheit ihre  Rechte,  und  ungewohnten  Reizen  gegenüber  tritt  die 
Schlafhemmung  event.  nicht  auf. 


28  ^^-  Marcinowski. 

Analog  zu  diesen  Erfahrungen  war  nach  kurzer  Zeit  die  Ange- 
wöhnung an  die  hier  stetB  gleich  bleibende  Situation  des  Hypnotisirt- 
werdens  eine  so  starke,  die  Bahnung  durch  die  öftere  Widerholung  eine 
so  glatte  geworden,  dass  ich  vor  der  IX.  Sitzung  ohne  ertheilte  Sug- 
gestion in  Hypnose  zu  sinken  drohte,  nur  weil  ich  mich  bereits  einige 
Minuten  in  der  entsprechenden  Lage  und  theilweise  unter  dem  Ein- 
drucke derselben  Sinnesreize  befand.  Auf  der  anderen  Seite  sind 
bereits  ganz  kleine  Abweichungen  vom  gewohnten  Turnus  störend,  eine 
andere  Körperhaltung  und  dadurch  bedingte  ungewohnte  visuelle  Ein- 
drücke V.  3  (pag.  13)  genügen  bereits,  um  das  Einschlummern  zu  ver- 
hindern; ja  das  Fehlen  der  gewohnten  Verbalsuggestionen  beim  Lid- 
schluss  VI.  3  (pag.  16)  liess  denselben  schon  ausbleiben. 

3.   Der  Lidsehluss. 

Das  Zustandekommen  des  Lidschlusses  ist  ein  sehr 
verschiedenes  und  zeigte  eine  grosse  Mannigfaltigkeit.  Der  bei  1. 1 
geschilderte  Vorgang  dürfte  als  der  normale  gelten  können.  Die  Zeit- 
dauer bis  zum  völligen  Augenschluss  ist  oft  selbst  in  derselben  Sitzung 
sehr  verschieden.  In  gut  disponirter  Stimmung  erfolgt  derselbe  schnelli 
und  ist  um  so  mehr  lustbetont,  je  schneller  er  erfolgt  (IX.  1  pag.  20). 
Eine  warme  Blutwelle  begleitet  ihn  in  der  Regel,  mit  einem  tiefen 
Athemzug  streckt  sich  der  Körper  aus.  Der  Lidschluss  soll  aber 
passiv  auftreten;  wenn  man  dem  activ  nachhilft,  so  wacht  man  wieder 
melir  auf  (I.  3  pag.  9)  je  länger  man  aber  dem  Bedürfniss  des  Augen- 
schlusses  widerstrebt,  desto  schneller  tritt  er  ein  (IV.  4  pag.  13).  Dies  kann 
sich  bis  zum  Gefühl  des  Zwanges,  ja  des  Krampfes  steigern,  (IIL  wobei 
das  Gegenarbeiteu  gegen  die  Muskelcontraction  die  letztere  uatürUch 
nur  um  so  mehr  zum  Bewusstsein  bringt).  Der  noch  dazu  rechts  und 
links  ungleich  starke  Krampf  des  Orbicularis,  wie  ich  ihn  in  IL  4 
notirte,  ist  eine  entschieden  abnorme  Erscheinung,  der  wie  allen  an 
Zwang  erinnernden  und  mit  activem  Widerstand  verbundenen  Vor- 
kommnissen die  Lustbetonung  vollkommen  abgeht.  Lustbetont  sind 
meiner  Erfahrung  nach  nur  die  spontan  auftretenden,  mit  dem  Gefühl 
der  Passivität  verknüpften  Ercheinungen ,  welche  mit  adäquaten  Vor- 
stellungen einhergehen,  wozu  ein  Orljiculariskrampf  (II.  u.  III)  sicher 
nicht  gehört,  der  auch  nicht  mit  der  Idee  des  Einschlafens  associirt 
ist;  —  es  giebt  also  auch  einen  Lidschluss  in  der  Hypnose,  dem  diese 
Association  eventuell  fehlt. 


Zur  Psychologie  der  hypnotischen  Zustände.  29 


4.  Das  Athmen. 

Die  zeitlich  nächstfolgende  Erscheinung  betrifft  die  Respira- 
tion. Dieselbe  wurde  alsbald  nach  Eintritt  der  Hypnose  derart  lang- 
sam und  oberflächlich,  wie  ich  es  bei  Schlafenden  nie  beobachtet  zu 
haben  glaube  (I  pag.  8).  Das  Athembedürfniss  war  ein  ausserordentlich 
geringes.  Abweichend  davon  war  es  nur  der  erste  Athemzug  nach  er- 
folgtem Lidschluss,  der  unter  wohligem  Ausstrecken  des  Körpers  recht 
behaglich  tief  zu  sein  pflegte.  Im  Uebrigen  wurde  jede  Erregung,  z.  B. 
affectbetonte  Träume  von  lebhafteren  Athembewegungen  begleitet  (V.  5 
pag.  14  u.  VI  pag.  17),  genau  wie  im  Wachen,  bezw.  im  gewöhnlichen 
Schlaf. 

5.  Die  Träume. 

Dies  leitet  uns  zur  Betrachtung  der  Träume,  des  Bewusstseins- 
inhaltes  in  der  Schlafhemmung.  Ich  kann  hier  natürlich  nur  von 
denen  sprechen,  die  ich  in  den  vorliegenden  Versuchen  erlebt  habe. 
Ich  erwähnte  bereits,  dass  ich  zu  Wachträumen  neige.  Dies  hängt 
damit  zusammen,  dass  ich  jahrelang  Landpraxis  mit  weiten  Wegen 
gehabt  habe  und  auf  diesen  immer  einsamen  Wegen  mir  allerhand  aus- 
zumalen pflegte.  Wissenschaftliches,  Novellistisches,  Pläne  etc.,  alles 
durcheinander.  Ich  erwähnte  auch  bereits,  dass  diese  Angewohnheit 
mich  jetzt  in  der  Arbeit  oft  störe.  Das  Auftauchen  der  Träumereien 
ist  dabei  von  theilweise  passivem  Character,  geistige  Ermüdung  be- 
günstigt 4^selbe. 

Da  diese  Träumereien  oftmala  dazu  führen,  dass  ich  mein  augen- 
blickliches Vorhaben  vergesse,  an  Häusern  und  Strassen  vorbei  gehe, 
wo  ich  hin  wollte,  —  Dinge  nicht  beachte,  die  mir  begegnen  etc.,  so 
18t  dies  wohl  bereits  als  eine  gewisse  Einengung  des  Bewusstseins  unter 
Abstumpfung  gegen  die  Aussenwelt,  also  als  partielle  Schlafhemmung 
zu  bezeichnen. 

Diesem  Zustand  am  nächsten  liegen  die  Vorgänge  aus  der  Hypnose 
VI  3  (pag.  16),  die  ich  als  Gedankenträume  ohne  visuelle 
Bilder  bezeichnete;  sie  gehören  ganz  oberflächlicher  Schlafhemmung 
an.  Eng  daran  schliessen  sich  ähnliche  Träume  mit  erhaltener 
Denkthätigkeit  und  sinnlicher  Lebhaftigkeit  der  visuellen 
Bilder  in  VII  und  IX.  (Messung  der  Athmungsthätigkeit  —  Perimeter- 
construction.)  Der  Inhalt  erinnert  an  das  bei  den  Wachträumen  erwähnte 
Plänemachen,   auch   empfand  ich  die  Denkthätigkeit  als   actives  Mit- 


30  ^^-  Marcinowski. 

arbeiten  an  der  Gestaltung  des  Traumes  und  seines  logischen  Inhalts; 
dasselbe  wurde  zum  Theil  sogar  durch  den  Widerstand  gegen  Ablenkungen 
recht  mühsam  (VII.  2  pag.  17).  Der  Tr&um  selbst  trug  aber  bereits 
einen  stark  phantastischen  Character  und  wurde  der  Hauptsache  nach 
immer  passiverer  Natur;  activ  hervorzurufen  war  derselbe  nicht  immer 
(vergl.  VI.  4  mit  IX.  1). 

Die  weiteren  Phasen  in  der  Entstehung  eines  ganz  wirreu  Träumens 
finden  wir  in  einer  grösseren  Anzahl  von  Hypnosen  vertheilt,  die  ich 
hier  in  entsprechender  Reihenfolge  gruppiren  will.  Dieses  Träumen 
ist  nunmehr  rein  passiver  Natur. 

Zunächst  tritt  ein  Zustand  ein.  in  dem  das  Bewusstseiu  leer 
ist.  Ihm  entspricht  der  Begriff  des  „an  Nichts  denken^  und  der  visuelle 
Eindruck  des  ;,schwarzen  Nichts"  —  sit  venia  verbo  —  aber  hier  gut 
es  in  Bildern  sprechen,  um  sich  verständlich  zu  machen,  Bilder  übrigens, 
die  nicht  ad  hoc  construirt  wurden,  sondern  die  sich  spontan  in  der 
Hypnose  aufdrängten  und  oft  die  betreffenden  Empfindungen  recht 
treffend  wiedergeben  (cfr.  I.  1,  II.  2,  3  u.  4,  und  V,  5). 

Die  nächste  Phase  bilden  traumhafte  Reflexionen  (IV.  3). 
Die  Gedanken  verwirren  sich  allmählich,  verlieren  ihren  zuerst  noch 
etwas  trägen  Character,  überstürzen  sich  und  geh(»n  schliesslich  in  zu- 
sammenhangloses Jagen  über  (II.  b.  1,  2).  Ganz  dunkel  tauchen  nun 
(» i  n  z  el  n  e  T  r  a  u mb  i  1  d  e r  hin  und  wieder  auf,  kaum  zu  erkennen,  visudl 
nur  (»ben  angedeutet  (VI.  2.)  Bald  vermehren  sich  die  Bilder,  werden 
erkennbarer,  bleiben  aber  zusammenhanglos  und  tiüchtiger  Natur  (V.  4), 
bis  schliesslich  ein  furchtbares  Durcheinander  von  nunmehr 
sinnlich  lebhaften  Traumbildern  da  ist  (V.  5).  Allmählich 
lässt  die  Zahl  der  Erscheinungen  nach  und  sie  gruppiren  sich  zu  einer 
zusammenhängenden,  fortlaufenden  Handlung  wenn  auch  total 
unsinnigen  Inhalts;  der  Ablauf  bleibt  rasend  schnell  (V.  6). 

Dies  sind  die  Träume  des  oberflächlichen  Schlafes,  wie 
sie  Vogt^)  als  diffuse  Dissociation  beschrieben  hat.  Sie  sind  suggestiver 
Beeinflussung  zugänglich  (die  Entstehung  der  letztgenannten  Phase  (V.  5) 
war  von  der  entsprechenden  Suggestion  eingeleitet).  Diese  Traum- 
bilder knüpfen  häufig  an  Sinnesreize  an  (cfr.  den  Hund  in  I.  4,  das 
Wagenrollen  und  Pferdegetrappel  in  V.  6).  Auffallend  ist  die  sinn- 
liche Lebhaftigkeit  der  mit  solchen  Sinnesreizen  associirten  und  durch 
sie  geweckten  visuellen  Begleiterscheinungen. 

^)  Vo<jrt.  Spontane  Somnambulie  in  der  Hypnose,  ßd.  VI,  pag.  80. 


Zur  Psychologie  der  hypnotischen  Zustände.        '  31 

Einen  absolut  anderen  Character  zeigen  die  Traumbilder  in  V.  6. : 
inniger  Zusammenhang  mit  der  Persönlichkeit,  klare  Associationisreihen, 
circumscripter  begrenzter  Inhalt  etc.  kennzeichnen  sie  als  zur  Som- 
nambulie  oder  zum  tiefen  Schlaf  gehörig  (cfr.  Vogt  ibid.).  Nur  die 
Amnesie  fehlte  wegen  der  hier  abnorm  gesteigerten  Aufmerksamkeit 
auf  die  Vorgänge. 

Uebergänge  zwischen  den  Traumzuständen  der  oberflächlichen 
und  der  tiefen  Schlafhemraung  fanden  statt  in  VI.  4  und  IX.  2. 

Einen  kleinen  Widerspruch  mit  Vogt 's  Definition  der  Träume 
des  oberflächlichen  Schlafes,  denen  er  motorische  Aeusserungen  wohl 
—  im  Interesse  scharfer  und  daher  unnatürlicher  Trennung  —  abspricht,  ^) 
habe  ich  noch  an  den  beobachteten  Erscheinungen  zu  constatiren.  Im 
Verlauf  des  Traumes  in  V.  5  habe  ich  nämlich  gelegentlich  Lächeln 
producirt  und  auch  beim  Ueberfahren  des  Mannes  dem  entsprechenden 
Affect  Ausdruck  gegeben,  ebenso  in  VI.  4  (vergleiche  auch  das  bei 
den  Respirationsbewegungen  Gesagte).  Die  Sprechbewegungen  in  V.  6 
gehören  dagegen  bereits  der  Gruppe  der  somnambulen  Träume  an. 

6.    Nochmals  Hypnose  und  Schlaf. 

Den  Vergleich  all  dieser  erwähnten  hypnotischen  Zustände  mit 
dem  gewöhnlichen  Schlafe  würde  nun  D  ö  1 1  k  e  n  -)  als  zutreffend  zu- 
gestehen, da  in  ihnen  Träume  auftraten;  das  wären  dann  seine  ^Hyp- 
nosen mit  Schlaf".  Hypnosen  ohne  Träume  sind  nach  ihm  aber  vom 
Schlaf  ganz  wesentlich  zu  unterscheiden.  Ich  vermag  dieser  Darlegung 
nicht  zu  folgen.  Ich  müsste  dann  ja  oftmals  in  derselben  Sitzung  bei 
einzelnen  Versuchen  einmal  während  der  Hypnose  geschlafen  haben,  das 
andere  Mal  lediglich  hypnotisirt  worden  sein.  Wenn  er  im  Hinblick 
auf  die  plastische  Kraft  der  Suggestion  gesagt  hätte,  man  kann  mittels 
derselben  alle  möglichen  Zustände  produciren  und  in  der  Hypnose  als 
einem  Zustand  gesteigerter  Suggestibilität  auch  selbst  den  Schlaf,  —  so 
würde  ich  diese  Anschauung  verstehen  können.  Der  Schlaf  wird  dann 
doch  wenigstens  nicht  in  einen  wesentlichen  Gegensatz  zur  Hypnose 
gebracht. 

Alles,  was  Döllken  als  wesentliche  Unterschiede  aufführt,  kann 
ich  weder  für  logisch  berechtigt,  noch  als  mit  meinen  Selbstbeobach- 
tungen übereinstimmend  erachten.  Wenn  „Chorea  und  Paralysis 
agitans^  erst  im  Schlaf  aufliören,  so  beweist  das  nur  die  Vogt 'sehe 

»)  Ibid.  pag.  80. 
«)  Bd.  IV,  pag.  89. 


32  ^'  Marcinowski. 

Anschauung  des  quantitativen  Unterschieds  in  der  Tiefe  der  Schlaf« 
hemmung,  aber  keinen  qualitativen.  Eine  ^Desorientirung"  tritt 
auch  natürlich  erst  dann  ein,  wenn  die  Schlafhemmung  ihre  Ausdehnung 
auch  über  die  betreffenden  Centren  erstreckt,  also  der  Quantität  nach 
zunimmt;  auf  die  Localisation  derselben  kommt  es  wohl  erst  recht  nicht 
an,  die  weisst  unbegrenzte  Combinationen  auf.  Wenn  die  Schlaf- 
hemmung sich  nun  so  weit  ausdehnt,  dass  an  Stelle  der  ReizstanuDg 
im  Centrum.  dessen  Erregungsfähigkeit  selbst  abnimmt  und  schliesslich 
aufhört,  so  ist  auch  das  wieder  nur  ein  quantitativer  Unterschied, 
der  sich  in  der  „Verminderung  der  Suggestibilität''  und 
schliesslich  in  ihrem  ,,Aufhören^  äussert,  das  „Rapportver- 
hältniss^  ist  damit  aufgehoben.  Also  auch  diese  beiden  Dinge  sind 
mit  der  Vogt' sehen  Theorie  erklärt.  Ich  habe  nicht  die  Absicht^ 
auch  noch  nicht  die  genügenden  Unterlagen,  die  Frage  nach  dem  ver- 
meintlichen y,I"nterschied  zwischen  Schlaf  und  Hypnose  hier  erschöpfend" 
zu  behandeln.  Ich  wollte  nur  die  meiner  Meinung  nach  richtige  und 
klare  Auffassung  Vogt 's  den  Erörterungen  Döllkens  gegenüber 
stellen.  Letzterer  wollte  „aus  seinen  Erfahrungen  den  Kachweis 
bringen,  dass  es  eine  Form  von  Hypnose  giebt,  welche  nicht  Schlaf  ist,** 
VT  hat  aber  m.  £.  nur  erwiesen,  dass  es  eine  Form  von  Hypnose  giebt, 
welche  noch  nicht  Schlaf  ist  (Schlaf  im  Sinne  des  Laien  gebraucht), 
üebrigens  sollte  man  doch  sehr  vorsichtig  sein  in  der  Verwerthung 
subjectiver  Aeusserungen  von  Hypnotisirten.  Wenn  DöUken  von 
solchen  die  Ansicht  gehört  hat,  dass  die  Empfindungen  in  der  Hypnose 
nicht  an  Schlaf  erinnerten,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dass  es  erstens 
eine  sehr  geringe  Zahl  von  Menschen  giebt,  die  durch  ihre  Vorbildung 
befähigt  sind,  hier  ihrer  Meinung  über  das  Thema  einen  sachlich 
correcten  Ausdruck  zu  geben ;  dazu  gehören  psychologische  Kenntnisse 
und  dialektische  Schulung.  Zweitens  aber  giebt  es  sehr  Viele,  die 
den  Doli  ke  naschen  Versuchspersonen  entgegengesetzte  Angaben 
machen.  Das  wird  wohl  wesentlich  mit  vom  Fragesteller  abhängen, 
und  nicht  frei  von  Suggestion  sein,  ganz  abgesehen  von  der  jeweiligen 
Form  der  Hypnose.  Solche  Aeusserungen  haben  m.  E.  nach  keinen 
Werth. 

7.  Die  gesteigerte  Fähigkeit  der  Selbstbeobachtung  im  eingeengten 

Bewusstsein. 

Docli  T»un  zurück   zu  meinen  eingenen  Beobachtungen,   bei  denen 
für   mich  eine  der  eigenthümlichsteu  Thatsachen  die  war,   dass  ich  im 


Zur  Psychologie  der  hypnotischen  Zustände.  33 

Stande  war,  sie  überhaupt  zu  machen,  —  dass  ich  bei  allen  Vorkomm- 
nissen der  klare  Beobachter  bleiben  konnte,  ja  sogar  viel  schärfer  sah, 
als  im  Wachen.  Der  Vergleich .  mit  einem  Zuschauer  war  insgemein 
autre£Fend  (V.  6). 

Es  handelte  sich  also  um  eine  Erhaltung  der  vollen  Kritik  selbst 
achlafabnlichen  Zuständen  gegenüber.  Dieselbe  Hess  erst  nach,  als 
die  Schlafhemmung  auch  die  bis  dahin  wachen  Centren  ergriff.  Durch 
meine  Tendenz,  die  Vorgänge  scharf  zu  beobachten,  wurde  bewirkt, 
dass  dies  erst  sehr  spät  einzutreten  begann  (Vill.  3  pag.  19).  Erst 
im  Verlauf  des  X.  2.  Versuches  wurde  die  psychische  Energie  aus- 
gesprochen träge  und  bei  IX.  2  ist  psychische  im  Gegensatz  zur  soma- 
tischen Schlaf  hemmung  angedeutet ;  dass  es  vorerst  überhaupt  zu  keiner 
tiefen  Somnambulie  kam,  fand  neben  der  Hyperakusis  seinen  Grund 
hierin. 

So  widersprechend  es  unserem  gewöhnlichen  Denken  zunächst 
erscheint,  dass  man  sich  selbst  in  einem  solchen  Zustand  beobachten, 
ja  noch  schärfer  beobachten  kann,  so  einleuchtend  wird  uns  der  Process, 
wenn  wir  diese  Thatsache  an  der  Hand  unserer  Definition  betrachten. 
Es  handelt  sich  ja  um  ein  partielles  Einschlafen,  und  ein  par- 
tielles Wachbleiben.  Hier  speciell  gelangten  die  somatischen  Func- 
tionen eher  zur  Ruhe,  als  die  intellectuellen.  Wie  weit  diese  somatische 
Schlafhemmung  bei  erhaltener  Kritik  gehen  kann,  haben  wir  in  VII.  2  u.  3 
und  Vin.  2  gesehen,  wo  ich  meinen  Körper  bleischwer,  wie  einen 
fremden  daliegen  fühlte.  Auf  der  anderen  Seite  demonstrirte  dieser 
anstand  in  klarer  Weise,  wie  ein  einzelner  Theil  des  Kör{)ers,  mein 
linker  Arm,  partiell  wach  sein  und  functioniren  konnte,  während  der 
übrige  Körper  in  tiefer  Schlafhemmung  gefesselt  dalag  (VII.  3  u.  VIII.  2). 
Ich  glaube,  man  kann  mit  kunstvoll  ersonnenen  Experimenten  keine 
klareren  Beispiele  herstellen,  um  die  Thatsachen  des  partiellen  Wach- 
seins und  der  partiellen  Schlafhemmung,  und  mit  ihr  die  Möglichkeit 
einer  erhaltenen  wachen  Kritik  zu  illustriren,  als  diese  ungekünstelten, 
ohne  Zuthun  von  selbst  producirten  Resultate  darstellen. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  den  Mechanismus  dieser  Vorgänge,  wie 
er  von  Vogt  beschrieben  worden  ist,  so  wird  uns  klar,  warum  die 
erhaltene  Kritik  so  scharf  ist.  Die  Reizenergie  trifft  auf  ein  bestimmtes 
Gentrum,  und  gleitet  im  Wachen  von  da  in  alle  möglichen  Bahnen 
weiter.  Ist  der  Reiz  stark  genug,  so  richtet  sich  die  Aufmerksamkeit 
auf  ihn,  erst  passiv,  später  activ.  Dabei  concentrirt,  verengt  sich  be- 
xoits  das  Bewusstsein   auf  dieses  Centrum,  eine  Menge  Associations- 

Zeitsohrift  fttr  Hypnotismos  eto.    IX.  3 


34  ^^'  Marcinowski. 

bahnen   werden  ausgeschaltet,  nur   einige  wenige  bleiben  in  Function, 
und  werden  demgemäss  desto  lebhafter  angesprochen. 

Dies  ist  aufmerksame  Denkarbeit  im  Wachen.  Nun  engt  sich 
durch  die  auftretende  Schlafhemmung  das  Bewusstsein  immer  mehr 
ein,  die  Reizenergie,  die  vorher  gewissermassen  das  Centrum  nur  pasaiite, 
staut  sich  darin,  die  Beize  summiren  sich,  kumuliren,  und  das  fährt 
dazu,  dass  die  Beizschwelle  selbst  wesentlich  herabgesetzt  und  folglich 
derselbe  Beiz  als  ein  stärkerer  empfunden  wird.  Deshalb  sind  die 
visuellen  Begleiterscheinungen  von  Sinnesreizen  so  sinnlich  lebhaft,  wie 
der  Hund  in  I.  4,  deshalb  sind  die  Erinnerungsbilder  von  dem  in 
diesem  Zustand  Vorgefallenen  so  viel  deutlicher,  als  gleichwerthige 
Erinnerungsbilder  aus  dem  Wachen  (I.  Schlussbemerkung).  Die  sinn- 
liche Lebhaftigkeit  ist  eben  der  Ausdruck  für  eine  stärkere  Empfindung 
und  diese  kann  demselben  Beiz  gegenüber  nur  durch  Herabsetzung 
des  Schwellenwertes  zustande  kommen.  Auch  die  starke  HyperakusiB 
findet  hierin  ihre  Erklärung,  sowie  auch  die  Zunahme  der  sinnlicheD 
Lebhaftigkeit  der  Traumbilder  bei  zunehmender  Tiefe  der  Schlaf- 
hemmung i.  e.  Einengung. 

Noch  später  kommt  es  dann,  wenn  die  Hemmung  auch  auf  das 
Beizcentrum  selbst  übergeht,  zum  Erlahmen  der  Kritik,  auch  ein  psy- 
chischer Schlaf  tritt  ein  (IX.  2),  wie  ich  es  hier  gegenüber  dem 
eigenthümlichen  somatischen  bezeichnet  habe.  Das  Centrum  selbst 
wird  immer  weniger  erregbar,  Gleichgültigkeit  tritt  an  Stelle  der  Auf- 
merksamkeit; schliesslich  hört  die  AuspruchsfKhigkeit  ganz  auf,  es  ist 
tiefer,  totaler  Schlaf  eingetreten. 

Unter  den  Erscheinungen,  die  mir  im  Zustande  des  eingeengten 
Bewusstseins  besonders  klar  wurden,  spielte  die  Durchsichtigkeit 
der  associativen  Verknüpfungen,  der  Mechanismus  der 
Entstehung,  Entwickeluug  und  des  Ablaufs  von  Ge- 
dankenreihen eine  grosse  Bolle.  Von  den  hierauf  bezüglichen  Be- 
obachtungen habe  ich  nur  sehr  wenige  in  den  Frotocollen  ausgefährt 
Es  ist  auch  schwierig,  dieselben  in  einer  für  jeden  Dritten  klaren  Form 
zu  Papier  zu  bringen,  ohne  dabei  durch  die  weitgehende  Detaillimng 
zu  ermüden.  Deshalb  bringe  ich  für  obige  Sätze  auch  nicht  so  viel 
Belege,  als  es  bei  der  Wichtigkeit  dieser  augenblicklich  so  activen 
Frage  mein  Wunsch  ist.  Zur  Illustration  kann  ich  daher  nur  auf 
einzelne  gröbere.  Aufzeichnungen  hinweisen,  wie  auf  die  Träume  in 
V.  6  und  IX.  2,  wo  ich  Beispiele  von  solchen,  der  Form,  dem  Inhalt 
oder    zufalligen    Kleinigkeiten    nach    assocürten    Bilderreihen   angab, 


Zur  Psychologie  der  hypnotischen  Zustände.  35 

ferner  an  V.  5,   wo  die  Vorstellungsreihen  an  Sinnesreize  anknüpfen, 
(Wagenrollen,  Pferdegetrappel)  und  von  ihnen  ihren  Ausgang  nehmen. 

A.  Organempflndangen. 

Zu  solchen  Sinnesreizen  gehören  indirect  auch  die  Organempfin- 
dungen. So  rief  z.  B.  die  rein  muskuläre  Unruhe  im  Gesicht  die 
Idee  des  Lächelns  wach  (I.  2).  Ich  neige  mich  der  Ansicht  zu,  dass 
dieses  Lächeln,  welches  so  viele  Autoren  erwähnen,  fast  immer  falsch 
gedeutet,  d.  h.  als  wirkliches  Lächeln  aufgefasst  worden  ist  Dies  ist 
um  so  wahrscheinlicher,  als  sich  leichte  Muskelunruhe  zu  Beginn  vieler 
Hypnosen  einzustellen  pflegt,  ein  gewisser  Reizzustand,  welcher  der 
Er8chla£fung  vorauf  geht  (IX.  1).  Diese  Unruhe  ist  manchmal  als 
emotionelle  aufzufassen,  und  erinnert  dann  an  analoge  Verhältnisse  des 
wachen  Zustandes  ^) ;  meist  aber  schien  sie  rein  motorischer  Natur  zu 
sein  wie  hei  I.  Diese  leisen  Spasmen  nahmen  aber  auch  gelegentlich 
einen  heftigeren  Character  an,  es  traten  isolirte  Zuckungen  auf  (II.  2, 
VI.  2),  die  tonische  Contraction  des  Orbicularis  in  II.  4  u,  III,  sowie 
das  Zähneklappem  (VI)  war  direct  als  krampfhaft  zu  bezeichnen. 

Ebenso  wie  diese  Beizerscheinungen  war  auch  der  Erschlaffungs- 
zastand  der  Muskulatur  klar  zu  beobachten.  Ich  fühlte  genau,  dass 
mein  Gesichtsausdruck  schlaff  wurde,  meine  Wangen  herunter  hingen, 
(I.  3),  ich  empfand  das  völlige,  hingegossene  Daliegen  (I.  u.  VI.  3).  Dieser 
Erschlaffungszustand  hatte,  wie  mehrfach  erwähnt,  stets  ein  Lustgefühl 
zur  Begleitung,  und  ging  schliesslich  in  diesen  eigenthümlichen,  ato- 
nischen Zustand  über,  den  ich  als  somatischen  Schlaf  bezeichnet  habe. 
Sein  Gegenstück,  die  Katalepsie,  habe  ich  nicht  kennen  gelernt. 

Ebenfalls  der  Beobachtung  zugängig  bis  in  feine  Nuancen  hinein 
waren  auch  die  Vorgänge  in  der  glatten  Muskidatur  der  Blutgefässe 
(IX.,  1).  Auch  hier  spielen  sowohl  Spasmen  und  Kältegefühl,  als  auch 
Erschlaffung  und  Wärmeempfindung  eine  Rolle  (II.  VII.  VIII.  IX). 
Die  congestive  Wärme  begleitet  viele  Erscheinungen  und  ist  lust- 
betont; sie  kann  eine  grosse  Intensität  erreichen  (X.  1)  und  ist  im 
Allgemeinen  um  so  stärker,  je  tiefer  die  Schlafhenmiung  wird  (VIII). 
Möglicherweise  liegt  das  darin  begründet,  —  das  Verhältniss  ist  natür- 
lich wechselseitig  aufzufassen  —  dass  mit  dem  Blutstrom  nach  den 
weit  offenen  fiaatgefassen,  welche  bekanntlich  eine  grosse  Capacität 
besitzen  (^s  der  Gesammtblutmasse),  die  Gehirnanämie  und  mit  dieser 
die  Tiefe   der  Schlafhemmung  zunimmt.     Man  kommt   dabei   unwill- 

>)  Vergl.  11. ».  pag.  10  Mitte  u.  III.  1—3. 

3* 


36  ^*  liarcinowskL 

kürlich  in  die  Versuchung,  in  dem  Zustand  der  Vasomotoren  und  ihrem 
.wecbseUiden  Spiele  einen  Schlüssel  zu  suchen  für  die  mannigfiachen 
Bäthsel  der  Schlafzustände.  Indess  sind  die  blosse  Hyper-  und  Anämie 
des  Hirnes  oder  einzelner  Provinzen  desselben  denn  doch  zu  rohe  Dinge, 
als  dass  sie  so  subtilen  Vorgängen  gegenüber  zur  Erklärung  hinreichten. 

Mach  der  Hypnose  stellt  sich  manchmal  ein  leichtes  Frösteln  ein, 
also  ein  Spasmus  der  Gefasse  in  der  Haut  (VII),  den  ich  auch  Ton 
anderen  Personen  her  kenne  und  gelegentlich  nach  zu  langem  Mittags- 
schlaf beobachtet  habe,  eine  Nachwirkung  übrigens,  die  sich  suggestiT 
sehr  leicht  beeinflussbar  erwies. 

Die  Form,  in  welcher  die  Erschlaffung  auftrat,  war  sehr  ver- 
schieden je  nach  der  Stimmung.  Bei  I  war  schon  vorher  eine  gewisse 
Wärme  der  Haut  zu  constatiren,  welche  so  intensiv  war,  dass  sie  die 
Empfindung  der  aufgelegten  Stirnband  des  Hypnotiseurs  übertönte. 
In  n.  a  traten  die  Wärmewellen  conform  mit  der  allgemeinen  Unrohe 
unregelmässig  und  springend  auf,  und  waren  von  abnormer  Intensitit; 
in  VII.  Vm.  u.  IX.  dagegen  war  bei  ruhiger  Stimmung  die  Form 
der  peristaltischen  Ausdehnung   des  Phänomens  schön  zu  beobachten. 

Die  Verschärfung  der  Beobachtungsfahigkeit  Organempfindungen 
gegenüber  fiel  bei  der  Constatirung  der  Bulbusstellung  in  L  3  and 
der  Bulbusbewegungen  IX.  1  um  so  mehr  auf,  da  sie  mir  vorher  im 
Wachen  nicht  gelungen  war.  Alle  diese  Beobachtungen  drängten  sich 
passiv  auf,  ohne  Anstrengung  meinerseits. 

B.  Die  Willensäusserungen. 

Die  Fähigkeit,  zu  beobachten,  wurde  naturgemäss  durch  Uebung 
gesteigert,  was  sich  z.  B.  darin  aussprach,  dass  meine  Protokolle  un- 
absichtlich immer  ausführlicher  wurden. 

Dabei  wurde  mir  der  Mechanismus  der  Willensäusserungen,  vom 
Auftauchen  des  Motivs  bis  zur  Umsetzung  des  Impulses  in  die  Aus- 
führung immer  klarer ;  der  träge  Ablauf  des  ganzen  Vorganges  ( VIH.  S 
u.  X.  2),  das  auseinander  und  gleichsam  in  die  Länge  Gezogene  desselben 
liess  die  einzelnen  Gomponenten  sehr  gut  differenziren.  Auch  hier  spielten 
Organempfindungen  am  motorischen  Apparat  eine  Rolle  und  dienten 
mir  stellenweise  als  Anhalt  zur  Beurtheilung  meines  Zustandes  (Messung 
der  Schlaftiefe  an  dem  Grad  der  activen  Bewegungsfahigkeit  des  rechten 
Armes  in  X.  2).  Diese  Vorgänge  sind  wohl  um  so  beweisender  für  die 
Möglichkeit  derartiger  Beobachtungen,  als  ich  sie  völlig  unbeabsichtigt 
producirte  und  ohne  eingehendere  Kenntniss  von  Publicationen  wie  der 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  37 

V  0  g  t '  8  Über  die  psychologische  Experimentalmethode  Bd.  IV  d.  Z.  etc. ; 
die  erhöhte  Fähigkeit  zur  SelbstbeobachtuDg  im  Zustand  des  eingeengten 
Bewusstseins  bezw.  in  der  Hypnose  erscheint  mir  somit  durch  meine 
Beobachtungen  von  Neuem  erhärtet. 

Die  Details  im  Protokoll  IV.  4  u.  X.  bedürfen  hier  keiner  weiteren 
Erläuterung.  Ich  habe  darin  angedeutet,  einen  wie  complicirten  Process 
eine  Willensäusserung  darstellt.  Zugleich  tauchen  eine  Menge  psycho- 
logischer Fragen  auf,  die  mit  dem  Begriff  des  Willens  zusammen 
hängen,  wohl  einem  der  heiss  umstrittensten  Begriffe  unseres  Denkens 
überhaupt.  Die  Discussion  hierüber  erscheint  an  diesem  Platz  um  so 
weniger  unwichtig,  als  gerade  die  Vorstellungen,  die  jeder  damit  ver- 
knüpft, dem  Hypnotiseur  oft  grosse  Schwierigkeiten  bereiten  können, 
and  nicht  zum  wenigsten  die  Ursache  von  vielen  Anfeindungen  bilden, 
welche  das  Hypnotisiren  als  eine  Gefahr,  als  Willensberaubung  u.  dergl. 
hinstellen.  Die  hypnotischen  Zustände  scheinen  nun  in  der  That  geeignet 
zu  sein,  auf  dem  Wege  der  Selbstbeobachtung  mehr  Klarheit  in  die  mit 
diesem  Begriffe  verbundenen  Vorstellungscomplexe  zu  bringen.  Das 
was  ich  bis  jetzt  an  der  Hand  meiner  Protokolle  hierüber  vorbringe, 
kann  natürlich  lediglich  die  Anregung  zu  genaueren  systematischen 
Studien  geben  wollen,  und  will  keineswegs  bereits  als  Resultat  gelten. 
Interessant  wäre  es  da  z.  B.  festzustellen,  wie  weit  zurück  sich  eine 
Handlung  in  ihre  einzelnen  Componenten  und  Motivirungen  auflösen  lässt, 
festzustellen,  worin  eigentlich  das  Wollen  besteht,  sowie  die  bis  zur  Läh- 
mung und  gänzlichem  Fehlen  jedes  Willens  fortschreitende  Schwächung 
des  Wollens  zu  beobachten.  Des  Weiteren  käme  hierbei  als  besondere 
Abart  des  Willens  das  Widerstreben,  der  Widerstand  und  der  Kampf 
zwischen  verschiedenen  Motiven  in  Frage.  All  diese  Phasen  von  Willens- 
äasserungen  wurden  in  den  wenigen  Sitzungen  beobachtet  und  müssen 
sich  sehr  wohl  einem  systematischen  Studium  zugänglich  machen  lassen. 
Immer  aber  wird  man  sich  dabei  vergegenwärtigen  müssen,  dass  die 
psychische  Persönlichkeit  keine  einheitliche  Grösse  darstellt,  sondern 
einem  vielgliedrigen  Parlament  gleicht,  dessen  Beschlüsse  uns  erst  nach 
manchem  Für  und  Wider  und  vielen  im  Dunkeln  liegenden  Motivirungen 
und  Schiebungen  als  Wille  imponirt. 

Wie  sich  eine  Willensäusserung  in  einzelne  Componenten  zerlegen 
lässt,  habe  ich  in  X.  2  genauer  beschrieben.  Diese  Eintheilung  ent- 
spricht nun  nicht  etwa  einer  philosophischen  Betrachtung,  sondern  giebt 
ohne  weitere  Kritik  das  wieder,  was  sich  mir  als  beobachtet  aufge- 
drängt hat.     Hier  tauchte  die  zu  Grunde  liegende  Idee  auf  als  das  Be- 


38  ^r.  Marcinowski. 

dürfniss,  eine  körperliche  Störung  zn  beseitigen,  so  wie  sie  auch  bei 
anderen  entsprechenden  Gelegenheiten  an  Organempfindungen  anknfipfte 
(cfir.  YI.  3,  wo  ich  die  Hände  löste  und  bei  Seite  legte).  Das  Bedürfniss 
zur  Prüfung,  ob  denn  wirklich  die  Bewegungsfahigkeit  eingeschlafen  sei, 
tauchte  auch  gelegentlich  als  Folge  einer  leisen  Unruhe  in  der  oder 
jener  Muskelgruppe  auf;  dieselbe  weckt  den  Zweifel  an  der  bestehenden 
Schlafhemmung  und  mit  ihm  die  Idee  und  das  Bedürfiiiss  zur  Prüfong. 
Auf  solche  auftauchende  Idee  reagirt  jetzt  ein  anderer  Bezirk  der 
psychischen  Persönlichkeit  mit  einem  Willensakt,  der  sich  noch  weiterhin 
in  kleine  Unterabtheilungen  zerlegen  lässt.  Das,  was  wir  nun  aber  ge- 
meinhin als  Willen  bezeichnen,  ist  erst  in  dem  Augenblick  vorhanden, 
wo  das  psychische  Geschehen  mit  dem  Gefühl  der  Activität  verbunden 
auftritt.*)  Dies  Gefühl  lässt  sich  schwer  definiren,  ist  aber  durch  das 
Wort  „Activität"  m.  E.  sehr  gut  ausgedrückt.  Das  passiv  meine  Auf- 
merksamkeit anregende  Jucken  (cfr.  X.  2,  pag.  22)  und  das  Bedürfiiiss, 
das  Störende  zu  enttemen,  ist  etwas,  ich  möchte  sagen,  Unpersönliches, 
dem  die  active  Bejahung  mit  dem  „ich  will  es  wegwischen^  als  eine 
Person  gegenübertritt,  ein  Handelndes  einem  Geschehen  gegen- 
über. Hier  gibt  es  keine  sprunglosen  Uebergänge,  hier  sind  Gegensätze 
vorhanden,  wie  schon  von  anderer  Seite  constatirt  wurde.  Diese  Acti- 
vität lässt  ihre  nähere  Motivirung  nun  meist  unbewusst  und  fuhrt  da- 
durch zur  Piction  der  Willensfreiheit.  Die  Form  des  Willens,  d.  h. 
warum  man  sich  im  gegebenen  Falle  gerade  so  und  nicht  anders  ent- 
scheidet, ist  die  gesetzmässige  Reaction  des  Individuums  auf  die  gegebene 
Gelegenheitsursache,  das  Resultat  von  tausendfachen  bewussten  und 
unbewussten  Ursachen  imd  Ereignissen,  welche  den  momentanen  Vor^ 
Stellungsinhalt  ausmachen.  Wie  sehr  die  auftretende  Willens  form 
von  dem  jeweiligen  Vorstellungsinhalt  absolut  abhängig  ist,  kam  oft 
recht  gut  zum  Ausdruck,  und  liess  die  Motivirung  derselben  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  erkennen ;  sei  es,  dass  es  sich  z.  B.  um  eine  Situation 
handelt,  welche  dem  speciellen  Vorstellungscomplexe  widerspricht  und 
deshalb  beseitigt  wird  (VI.  3),  oder  dass  es  zum  activen  Vervollständigen 
einer  Situation  kommt,  welche  dem  Vorstellungsinhalt  adäquat  ist.  Sehr 
bald  aber  liess  sich  bei  zunehmender  Tiefe  der  Schlafhemmung  eine 
immer  grössere  Trägheit  des  Ablaufs  der  Willensthätigkeit  beobachten, 
die  schliesslich  zu  einer  völligen  Lähmung  des  Willens  führte,  für  welchen 
Zustand  ich   auf  das  Bild  mit  der  Kegelkugel  hinweisen  möchte,  das 

*)  Cfr.  Vogt,  Normalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der 
Hysterie.     Bd.  VIII.  d.  Z..  pag.  223. 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  39 

sich  mir  während  der  Hypnose  aufgedrängt  hat  (X.  3  pag.  22).  Eigen- 
thümlich  war  bei  ähnlichen  Situationen  der  Kampf  mit  dem  Wider- 
spruch, der  in  dem  Bewusstsein  lag,  wollen  zu  können,  und  doch  nicht 
zü  wollen,  —  zu  wissen,  Widerstand  leisten  zu  können,  imd  es  doch 
nicht  zu  thun  (VI).  Die  Vogt 'sehe  Technik  will  es  zum  unantast- 
baren Bewusstseinsinhalt  werden  lassen,  dass  der  Bestand  des  eignen 
Willens  des  Hypnotisirten  ein  gesicherter  bleibt.  Diese  Idee  verwickelte 
mich  in  die  angedeuteten  Widersprüche,  sobald  die  Schlafhemmung  auf 
die  Willensbethätigung  selbst  übergriflF.  In  X.  2  war  der  Willensprocess 
ein  80  träger,  das  Bedürfniss  zu  wollen  ein  so  geringes  geworden,  dass 
es  nur  noch  zur  Andeutung  des  Willens,  nicht  aber  zur  Ausführung 
kam.  Das,  „ich  kann  wohl,  wenn  ich  nur  energisch  wollte",  was  ich  mir 
dabei  innerlich  sagte,  war  nichts  als  eine  Entschuldigung  vor  mir  selbst 
für  mein  als  energielos  empfundenes  Nichtwolleu.  Der  grösste  Theil  aller 
Vorgänge  in  der  Hypnose  war  aber  jedenfalls  ohne  alle  als  integrirender 
Bestand  theil  des  Wollens  hingestellte  Activitätsempfindung,  und  diejenigen 
Handlungen,  welche  spontan,  oder  sogar  in  gewissem  Sinne  zwangs- 
weise auftraten,  zeichneten  sich  durch  das  gänzliche  Fehlen  von 
Wollen  aus,  und  fanden  ihre  Motivirung  statt  dessen  in  einem  un- 
erklärt aufwachendem  Bedürfniss,  welches  sich  gelegentlich  bis  zum  un- 
widerstehlichen Trieb  steigert  —  ohne  Activität,  ohne  Willen. 

Unerklärt  muss  ich  auch  die  Beobachtung  lassen,  die  sich  Jedem 
im  Wachen  so  oft  aufdringt,  dass  die  active  Concentration  sehr  oft 
nicht  zum  Ziele  führt,  und  dasselbe  um  so  weniger  erreicht,  je  mehr 
man  danach  strebt,  —  wie  beim  Suchen  nach  einem  momentan  entfallenen 
Namen  etc.  Das  insensive  Wollen,  der  lebhafte  Wunsch,  in  tiefere 
Hypnose  zu  gelangen,  ist  sehr  oft  das  grösste  Hinderniss  dazu,  und  ein 
ander  Mal  gelingt  die  Hypnose  im  Handumdrehen  und  zu  grösster  Ver- 
wunderung ist  selbst  Andeutung  von  Amnesie  vorhanden  (IX.  1  pag.  20). 

Andererseits  führen  Organempfindungen  und  motorische  Unruhe, 
sobald  sie  Formen  annehmen,  die  die  Psyche  aus  ihrem  trägen  Zu- 
stande aufrütteln,  zu  heftigem  Widerstreben;  so  in  HI,  wo  der  Lid- 
krampf auftrat.  Aber  auch  hier,  schon  zu  Beginn  der  Hypnose,  war 
der  WiUe  nicht  mehr  stark  genug,  er  erlahmte  unter  dem  Gefühl  der 
Anstrengung,  die  es  kostete,  gegen  den  Krampf  des  Muskels  anzu- 
kämpfen, und  die  den  Gedanken  des  „gezwungen  seins^  in  mir  wachrief. 
Es  sind  dies  ja  Vorgänge,  die  wir  im  täglichen  Leben  so  oft  beobachten, 
imd  worauf  Furcht  und  Muth  beruhen;  der  Vorstellungsinhalt  lähmt 
die  Thatkraft,  wenn  er  Momente  enthält,  welche  ein  Nichtgelingen  etc. 


40  ^r.  Marcinowiki. 

nahe  legen.  Auch  bei  dem  in  VI  geschilderten  Zähneklappem  glaube 
ich,  dass  es  sich  um  einen  recht  mangelhaften  Widerstand  dagegeo 
handelte,  um  ein  „sich  gehen  lassen^  dem  Zustand  gegenüber,  der  mir 
als  Zwang  imponirte.  Ich  glaubte,  diesen  krampfhaften  Zuständen  eben- 
sowenig widerstehen  zu  können,  wie  beim  krampfhaften  Lidschluss  (111). 
Der  Vorstellungsinhalt  bleibt  eben  immer  wieder  der  maassgebende  Factor 
in  der  Gestaltung  des  Wollens,  und  darauf  basirt  ja  schliesslich  jeder 
EinHuss,  den  Dinge  und  Personen  auf  uns  haben  können,  wie  unsere 
Suggestionslehre  in  so  grossem  Maasse  dargethan  hat.  Hierauf  basiit 
auch  die  Möglichkeit,  den  Willen,  bezw.  seine  Schwäche  oder  Stärke 
zum  Gegenstand  der  Erziehung  oder  psycho-therapeutischer  Bemühungea 
machen  zu  können.  Eine  Willensfreiheit  im  philosophischen  Sinne 
brauchen  wir  aber  dazu  nicht,  so  sehr  wir  auch  ihre  Fiction  bei  unserea 
Patienten  in  technischer  Hinsicht  zu  berücksichtigen  haben,  üebrigeu 
betrifft  das  Kegeln  der  Pädagogik,  die  auch  von  Nichtdeterministen  an« 
erkannt  worden  sind.  Auch  hat  die  Lehre  von  der  Bahnung  durch 
öfteres  Auftauchen  desselben  Vorstellungsinhaltes  längst  volksthümliche 
Formen  angenommen,  —  das  Sprichwort  „ce  n'est  que  le  prämier  pai 
qui  coüte"  besagt  nichts  anderes,  als  z.  B.  die  Thatsache,  dass  in  ViLL 
das  Lösen  der  gefalteten  Hände  ohne  den  starken  Kampf,  also  leichter 
vor  sich  ging,  da  es  durch  die  Erinnerung  an  eine  identische  Situatkm 
(VI.  3)  bedingt  war.  Auch  Kälte  des  linken  Armes,  sein  partielles  Wach- 
bleiben wiederholte  sich  in  VIII.  2,  ja  selbst  im  Wachen  (pag.  19)  etc. 

Ebenso  wie  Vorstellungen  bahnend  wirken,  können  sie  auch  beab* 
sichtigte  Wirkungen  hemmen,  so  beim  Streichen  (I.  2),  wo  meine  Tor- 
gefasste  Meinung  Vogt 's  Absicht  zuwiderlief,  oder  bei  Lidschluss  in 
VIII.  1,  wo  ein  dunkeles  Erinnerungsbild  ausreichte,  um  die  Suggestions- 
wirkung zu  paralysiren. 

Diese  Vorgänge  weisen  für  das  Verständniss  eine  gewisse  Durchsich* 
tigkeit  auf,  die  aber  sofort  aufhört,  sobald  es  sich  um  mehr  oder  weniger 
zwangsweise  auftretende  Zustände  handelt,  deren  Ursachen  viel  tiefer 
im  Unbewussten  zu  suchen  sind,  und  gegen  welche  wir  unsere  Ohnmacht 
sehr  bald  einsehen.  Am  ausgesprochendsten  war  dieses  Ohnmachts- 
gefiihl  gegenüber  der  Schlafhemmung  selber,  aber  erst  mit  dem 
Moment,  wo  ich  wach  sein  wollte  (m.  5) ;  während  der  Hypnose  selbst 
hatte  ich  niemals  den  Zweifel,  sofort  wach  sein  zu  können,  sobald  ich 
es  wollte,  wie  überhaupt  das  Gefühl  des  Beeinflusstseins  fast  nie  dem 
wirklichen  Grad  der  Schlafhemmung  entsprach  (VL  6).  Wiederholt  ist 
es   so  gewesen,   dass   das  Aufwachen  aus  vermeintlich  ganz  oberfläch- 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  41 

licher  Hypnose  ein  unvollständiges  war  und  mir  erst  hinterher  (Ende  VI) 
deren  Tiefe  zum  Bewusstsein  kam,  und  zw^r  auf  dem  Wege  eines 
logischen  Schlusses,  nicht  durch  entsprechendes  Empfinden.  Dies  führt 
uns  zur  Betrachtung  des  Aufwachens  aus  der  Hypnose. 

C.   Das  Erwachen. 

Auch  hier  treffen  wir  auf  Schritt  und  Tritt  auf  dieselben  Ver- 
hältnisse, die  uns  vom  gewöhnlichen  Schlaf  her  bekannt  sind.  Aus 
oberflächlicher  Hjrpnose  erfolgte  das  Aufwachen  schnell  und  leicht,  lag 
zum  Theil  noch  völlig  im  Bereich  spontaner  EntSchliessung  (I.  u.  III.). 
Aus  tieferer  Hypnose  kam  die  Wirkung  des  Kommandos  träge  zu 
Stande,  ich  fühlte  mich  benommen  und  behaglich  faul  (IX.  1).  Bei 
noch  tieferer  Schlafhemmung  wurde  das  Aufwachen  immer  langsamer, 
das  Kommando  musste  mehrmals  wiederholt  werden,  das  gedankenfaule 
Daliegen  war  noch  ausgesprochener  (VI.  4).  Zur  Beseitigung  dieser 
Benommenheit  war  sogar  oft  eine  Desuggestionirung  im  Wachen  noth- 
wendig  (III.  6),  wobei  der  lebhafte  akustische  Beiz,  auf  welchem  das 
Kommando  zum  Aufwachen  beruht,  durch  Druck  der  Schläfengegend 
mit  den  fest  aufgelegten  Händen  und  plötzliches  Loslassen  bei  Be- 
endigung des  Wach-Kommandos  verstärkt  wurde.  Diese  Desuggestio- 
nirung bezog  sich  nicht  nur  auf  das  allgemeine  Erwachen,  sondern  auch 
auf  bestehen  gebliebene  partielle  Schlafhemmungen,  so  z.  B.  auf  den 
unangenehmen,  mit  Kältegefühl  verbundenen  Contractionszustand  der 
Hautgefässe,  der  wunderbarer  Weise  durch  Frottiren  allein  nicht  be- 
seitigt wurde ;  es  war  eine  verbale  Suggestion  dazu  nothwendig  (VII.  3 
pag.  18)  —  ein  Beweis  fQr  die  unbewusste,  oder  jedenfalls  unempfundene 
starke  Abhängigkeit  aller  somatischen  Functionen  von  psychischen  Centren. 

Das  unvollkommene  Aufwachen  war  in  Folge  dieser  Abhängigkeit 
besonders  ausgesprochen,  wo  ich  die  Schlafhemmung  ohne  Kommando 
spontan  durchbrochen  hatte  (III.  6).  Die  Folge  war,  dass  ich  zunächst 
auf  dem  Sopha,  dann  sogar  mitten  in  der  Stube  aufs  Neue  von  der 
Schlafhemmung  übermannt  wurde.  Zudem  gesellte  sich  ein  unangenehmer 
Kopfschmerz  als  Folge  hinzu,  den  ich  sonst  ebenso  wenig  wie  irgend 
einen  anderen  unangenehmen  Folgezustand  nach  den  zahlreichen 
Hypnosen  kennen  gelernt  habe. 

D.  Die  Analysen  cansaler  Beziehungen. 

Bei  der  Erklärung  dieser  Folgezustände,  sowie  der  Motivirung  des 
unvollkommenen  Aufwachens  versagte  die  von  mir  erreichte  Steigerung 


42  Dr.  Marcinowski. 

der  Fähigkeit  zur  Selbstbeobachtung  in  der  Hypnose.  Aber  bisweilen 
drängte  sich  jedoch  eine  dunkelbevoisste  Idee  gleichsam  als  Wegweiser  aol 
Hierzu  rechne  ich  die  mir  nachträglich  klar  gewordene  Motivirnng  meines 
Verhaltens  den  Streichungen  gegenüber  (I.  2),  femer  die  Beziehungen 
des  stark  verlangsamten  Lidschlusses  in  VUI.  1  zu  der  am  Abend  Yorb€r 
selbst  vorgenommenen  Hypnose,  und  vor  allem  die  eigenthümliche 
Störung  meiner  ganzen  psychophysischen  Constellation,  die  sich  bei  der 
II.  Sitzung  und  in  der  Folge  geltend  gemacht  hat.  Ich  wies  sofort 
auf  die  ungewohnte  Form  des  vorangegangenen  Nachtschlafes  hin,  ohne 
dafür  einen  Grund  angeben  zu  können,  warum  darin  eine  Erklärong 
für  diese  Complication  liegen  solle.  Das  Abweichende  in  der  Schlaf- 
form war  auch  keineswegs  so  ausgeprägt  gewesen,  dass  es  sich  mir 
unter  allen  Umständen  als  auffallend  hätte  aufdrängen  müssen;  schon 
in  dem  Umstand,  dass  es  dies  that,  erblicke  ich  jetzt,  —  hinterher 
—  einen  Beweis  dafiir,  dass  meine  Yermuthung,  dass  Traumerlebnisse 
dieser  Nacht  die  Störung  verursachten,  richtig  war.  Für  die  Traum- 
vorgänge selbst  war  ich  völlig  amnestisch,  nicht  aber  für  deren  Be- 
ziehungen. Es  müssen  sich  in  der  Nacht  vorher  unangenehme  Dinge 
in  meiner  Yorstellungswelt  abgespielt  haben,  welche  unterhalb  der 
Schwelle  des  Bewusstseins  recapitulirt  wurden,  alsYogt  mich  hypno- 
tisiren  wollte,  und  nun  ohne  die  Amnesie  zu  durchbrechen,  zu  schein- 
bar unmotivirter  hochgradiger  Erregung  führten,  die  für  mich  einen 
rein  körperlichen  Oharacter  hatte,  da  mir  das  ihr  zu  Grninde  liegende 
seelische  Substrat  momentan  nicht  zugänglich  war. 

In  analoger  Weise  ist  wohl  auch  bereits  das  Herzklopfen  und  die 
ganze  Erregung  vor  den  ersten  Hypnosen  als  eine  Empfindung  zu  be- 
trachten, welche  aus  dem  Unbewussten  heraus  ihre  Motivirung  findet, 
(cfir.  Vogt  Bd.  ^^,  pag.  83.)  Auch  der  Kopfschmerz  am  6.  Tage  ist 
als  das  Residium  eines  unangenehmen  somnambulen  Traumes  anfinh 
fassen,  für  den  Amnesie  bestand.  Ich  bin  überzeugt  davon,  dass  de^ 
selbe  zu  beseitigen  gewesen  wäre,  wenn  es  gelungen  wäre,  die  Amnesie 
für  das  causale  Moment  zu  durchbrechen. 

Wenn  diese  Amnesie  bei  mir  nicht  beseitigt  wurde,  so  muss  be- 
merkt werden,  dass  das  gamicht  in  der  Absicht  des  Experimentiiens 
lag.  Wir  wollten  nur  eine  „gewöhnliche'^  Hypnose  erzielen,  Zustände, 
die  dem  gewöhnlichen  Einschlafen  glichen,  aber  nicht  das  von  Vogt 
beschriebene  für  psychologische  Analysen  geeignetere  systematiscbe 
partielle  Wachsein.  Es  war  nur  mein  grosses  Interesse  an  den  auf- 
tretenden Phänomenen,  welches  die  von  Vogt  erstrebten  Hypnosen  so 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  43 

umgestalteten,  dass  sie  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  dem  Vogt  'sehen 
yyVersuchsstadium'^  bekamen. 

Statt  dessen  möchte  ich  mir  erlauben,  hier  ein  Beispiel  aus  der 
Praxis  anzuführen,  welches  die  Möglichkeit  und  den  practischen  Werth 
Ton  analytischem  Vorgehen  in  der  Hypnose  belegen  soll. 

Neigung  zu   somnambulen  Träumen,   ständige  Wiederholung  eines 

solchen   unter   starker   Affectbetonung,   patholog.   Folgezustand: 

glaubt  Schwindsucht  zu  haben.     Heilung  durch  Hypnose. 

Frl.  £.,  21  Jahre  alt,  nervengesund ;  Anamnese  ohne  Belang.  Leichte  Anämie. 
Von  Jugend  auf  Neigung  zu  somnambulen  Träumen  und  Sprechen  im  Schlaf;  ist  im 
Schlaf  öfters  über  alles  Mögüche  ausgefragt  worden ;  es  besteht  für  diese  Vorgänge 
Tollkommene  Amnesie. 

Während  einer  Periode  freundschaftlichen  Verkehrs  in  meiner  Familie  kommt 
es  gelegentlich  an  den  Tag,  dass  dies  sonst  sehr  verständige  und  ruhige  Mädchen 
seit  Jahren  unter  der  Idee  leidet,  schwindsüchtig  zu  sein,  und  glaubt,  nicht  lange 
leben  zu  können.  Um  ihre  Angehörigen  nicht  zu  ängstigen,  hat  sie  sich  fast  nie 
darüber  geäussert.  Ausser  anämischen  Magenbeschwerden  klagt  sie  nur  über  Schmerz 
iD  der  linken  Brust  (Gegend  des  linken  Oberlappens),  der  sie  oft  Nachts  aufweckt. 
Dabei  sind  keinerlei  objective  Symptome,  Husten  oder  Catarrh  etc.,  je  zu  eruiren 
gewesen.  Nach  dem  Zustandekommen  dieser  so  ständig  quälenden  Angst,  welche 
ihr  im  Grunde  so  heiteres  Gemüth  oft  schwer  bedrückt,  giebt  sie  an,  dass  in  der 
Verwandtschaft  viel  Tuberculose  herrsche  und  dass  im  Hause  der  Eltern  viel  von 
der  Erblichkeit  solcher  Zustände  und  Dispositionen  die  Rede  war. 

Das  war  sehr  wenig  zur  Erklärung  einer  so  quälenden  und  jahrelang  fest- 
sitsenden  Idee.  Alle  Versuche,  sie  durch  Vemunftsgründe  zu  überzeugen,  der  Hin- 
weis auf  die  Unmöglichkeit,  dass  jahrelang  eine  Phthise  mit  Schmerzen  einher  gehen 
könne,  ohne  auch  noch  andere,  einer  so  schweren  Entzündung  entsprechende  ob- 
jectiTe  Erscheinungen  zu  setzen,  scheiterten  an  der  abweisenden  Antwort,  ich  könnte 
ilir  doch  mit  aller  Logik  die  Schmerzen  nicht  wegdisputiren,  und  die  Angst,  die  sie 
beherrsche,  könne  sie  nicht  unterdrücken ;  sie  thäte  es  weiss  Gott  von  Herzen  gerne, 
wenn  sie  dazu  im  Stande  wäre.  Während  ihrer  Pensionszeit  wäre  eine  liebe  Freundin 
Ton  ihr  an  Lungenschwindsucht  gestorben ;  sie  habe  sie  noch  mit  pflegen  helfen,  und 
könne  seit  der  Zeit  den  Gedanken  nicht  los  werden,  dass  ihr  ein  ähnliches  Schicksal 
berorstehe. 

Wir  beschliessen  darauf  auf  meinen  Kath,  einen  Versuch  mit  Hypnose  zu 
machen,  um  diese  Angst  zu  beseitigen.  Patientin  ist  sehr  ungläubig  und  erwartet 
nioht  das  Geringste  davon. 

Die  Hypnose  wird  nach  Vogt 's  sog.  fractionirter  Methode  eingeleitet.  Gleich 
in  der  ersten  Sitzung  wurde  beim  3.  Versuch  tiefe  Hypnose  mit  Amnesie  erreicht. 
Suggestion  der  Beruhigung  und  des  Aufhörens  der  Angst  in  Verbindung  mit  ein- 
dringlicher logischer  Ueberredung.  Die  Hypnose  wurde  als  selu*  wohlthuend  em* 
pftniden  und  erweckte  lebhaftes  Interesse  in  der  Patientin.  Der  Erfolg  war  aber 
ansser  einer  gewissen  Beruhigung  zmiächst  nur  gering.  In  den  folgenden  Sitzungen 
gelingt  es  nun  sehr  leicht,  die  Patientin  dazu  zu  bringen,  sich  in  der  Hypnose  aus- 
firagen  zcT  lassen,  wie  im  Schlafe.    Bereits  beim  3.  Male  gingen  die  immer  klareren 


44  i^r.  Marcinowski. 

Angaben  dahin,  dass  die  Schmerzen  haaptsächlioh  Nachts  auftraten,  wenn  Patientia 
unter  starker  AlTectbetonung  aufwachte.  Die  Affectbetonung  wird  als  Folge  angili- 
gender  Träume  erkannt,  welche  seit  dem  Tode  der  Freundin  auftreten.  Bei  näheren 
Nachforschen  werden  nun  auch  die  Beziehungen  des  Schmerzes  zu  dem  Traommhtlt 
aufgedeckt,  die  Amnesie  für  den  letzteren  Schritt  für  Schritt  beseitigt.  fSs  ergiebt 
sich  schliesslich,  dass  die  Schmerzen  genau  dieselbe  Localisation  aeigten,  wie  bä 
der  verstorbenen  Freundin,  welche  wochenlang  gerade  darüber  geklagt  hatte.  Du 
£nde  des  unglücklichen  Mädchens  hatte  seiner  Zeit  einen  sehr  tiefen  Bindraek  ge- 
macht, die  Pflege  etc.  mit  ihren  Strapazen  in  einer  reizeropfänglichen  Entwickelungi- 
Periode  war  dazu  gekommen,  und  im  Anschluss  daran  kam  ein  Traum  von  besondenr 
Lebhaftigkeit  —  Patientin  neigte  dazu  —  zu  Stande,  in  welchem  sie  sich  wtSbA, 
—  anknüpfend  an  die  häuslichen  Erörterungen  über  Heredität  —  in  die  SitaatM 
der  kranken  Freundin  versetzt  sah.  Seit  dieser  Zeit  war  der  Schlaf  stets  unmUf, 
und  wenn  ihr  auch  der  Inhalt  dieser  ängstlichen  Störungen  unbekannt  blieb,  so  »* 
kannte  sie  denselben  nunmehr  deutlich  als  ständige  Wiederholungen  desselben TrannMi 

Es  war  bereits  in  der  3.  Sitzung  gelungen,  unterstützt  durch  Streichimgei, 
zunächst  den  Schmerz  zu  beseitigen,  und  dann,  anknüpfend  an  die  starke  Lmk* 
betonung  und  Ruheempfindung  in  der  Hypnose  traumlosen,  ungestörten  NaohtieMif 
mit  analogen  Empfindungen  zu  befehlen  und  zu  erzielen.  Nachdem  die  Genese  dv 
Angst  aufgeklärt  war,  zeigte  sich  Patientin  auch  plötzlich  für  logische  Zeriegm^ 
des  ganzen  Zustandes  empfänglich,  die  entsprechende  Aufklärung  wurde  aber  prift- 
cipiell  zunächst  nur  in  HY[)nose  gegeben.  Die  Wirkung  war  eine  überrasebends^ 
der  Schmerz  trat  nicht  mehr  auf.  der  Schlaf  war  von  bisher  nicht  gekannter  A*- 
quickung  gefolgt  und  völlig  traumlos.  die  Angst  vollkommen  verschwunden.  Patientn 
konnte  sich  nicht  genug  darüber  wundem,  dass  sie  über  Alles  ohne  qaalende  b- 
pfinduug  sprechen  konnte,  ihre  Dankbarkeit  war  überschwenglich.  Zur  Sieberang dM 
Resultates  wurde  sie  noch  ein  5.  und  6.  Mal  hypnotisirt,  jedes  Mal  unter  mfibs* 
losem  Erreichen  tiefen  Somnambulismus  und  völliger  Amnesie  für  alle  Vorgangs  ii 
der  Hypnose  einschliesslich  meiner  oben  näher  bezeichneten  log^cben  Erörtenu^ges 
über  ihren  Zustand. 

6  Wochen  danach  erkimdigto  ich  mich  nach  dem  erreichten  Resultat  sad 
erhielt  folgende  Antwort :  „Deinem  Mann  theile  bitte  mit,  dass  ich  ihm  zu  grosssB 
Dank  verpflichtet  bin,  da  er  mir  geholfen  hat.  Ich  fühle  immer  mehr,  dasi  ff 
Recht  gehabt  hat.  Ich  schlafe  jetzt  immer  ausgezeichnet  und  kann  ganz  rnhif 
an  die  Sache  denken,  ohne  dass  sie  mich  im  Mindesten  aufregt.  Ich  bin  sii 
ganz  anderer  Mensch,  seit  ich  von  dem  Angstgefühl  befreit  bin.  Hoffentlich  bleibt 
das  so  und  kehrt  nie  wieder." 

Ich  antwortete  ihr  hierauf  und  gab  ihr  in  meinen  Zeilen  noch  einmal  mit  te 
in  der  Hypnose  gebrauchten  Worten  eine  kurze  Erklärung  ihres  Zustandes,  zngkiek 
die  Anweisung,  diese  Zeilen  ungestört  und  allein  zu  lesen  und  sich  vorher  dis 
ganze  Situation  unserer  hypnotischen  Sitzungen  recht  lebhaft  in  Erinnemiig  ft 
rnfen.  Das  solle  sie  thun,  sobald  ihr  irgend  ein  Zweifel  an  der  Richtigkeit  meiaff 
Behauptung  oder  der  Dauer  der  erreichten  Heilung  auftauche.  Dann  solle  äs 
meine  Zeilen  laut  lesen  und  dabei  an  meine  Worte  denken ;  so  werde  sie  vor  Bask- 
fällen  stets  gesichert  sein.  —  Bis  jetzt  hat  das  alles  seine  Schuldigkeit  gethan,  wd 
ich  glaube,  dass  die  Art  dieser  „schriftlichen  Suggestion*'  sehr  wohl  geeignet 
wird,  einen  Schutz  für  das  Mädchen  zu  bUden. 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose.  45 

gelang  es  neben  einer  Anzahl  Gelegenheitsnrsachen  für  eine 
Vorstellung,  welche  das  Mädchen  schwer  deprimirte,  einen  Traum  als 
den  HauptstörenMed  zu  ermitteln^  eine  Beziehung,  welche  erst  im  hyp- 
Dotisohen  Zustand  klar  wurde.  Der  Umstand,  dass  in  der  Verwandt- 
schaft tuberculöse  Erkrankiingen  vorgekommen  waren,  dass  davon  und 
Ton  der  Erblichkeit  dieser  Verhältnisse  öfters  in  der  Familie  die  Rede 
gewesen  war,  die  relative  Zartheit  des  jugendlichen,  etwas  chlorotischen 
Mädchens,  die  tödüiche  Erkrankung  einer  lieben  Freundin  an  Schwind- 
sucht, das  alles  zusammen  ist  noch  nicht  genug,  um  eine  Jahre  lang 
andauernde  Angst  vor  ähnlichem  Ende  in  dieser  Intensität  hervorzu- 
rufen. Ein  Hauptargument  war  für  sie  der  seit  Jahren  bestehende 
Schmerz  in  der  linken  Brust,  der  sie  oft  Nachts  störte,  so  dass  sie 
darüber  aufwachte.  Die  ganze  Schilderung  weckte  sofort  den  Verdacht, 
dass  es  sich  um  keine  normale  Erscheinung  handelte,  und  sehr  bald 
liess  sich  auf  dem  Wege  einfachster  Analyse  während  der  Hypnose 
der  Zusammenhang  feststellen,  dass  die  zur  Nacht  auftretenden  Schmerzen 
nrnd  die  Angst  vor  Schwindsucht  die  Folge  eines  sich  ständig  wieder- 
holenden Traumes  waren,  der  aus  der  Zeit  der  Erkrankung  ihrer 
Freundin  herstammte,  welche  an  genau  derselben  Stelle  der  Brust  den 
schmerzhaften  Sitz  des  Leidens  gehabt  hatte.  Derartige  Beispiele  sind 
schon  oft  beobachtet  worden  und  die  Entstehung  mancher  Phobie  etc. 
wurde  auf  ähnlichem  Wege  analysirt  und  was  noch  wichtiger  ist,  — 
auch  beseitigt.  Bei  Frl.  E.  gelang  es  in  wenigen  Sitzungen,  eine  voll- 
ständige Heilung  zu  erzielen. 

Die  Hypnose  hat  nicht  blos  einen  TV  erth  als  Zustand,  in  dem  sich 
derartige  Erscheinungen  vermöge  der  erhöhten  Fähigkeit  zur  Selbst- 
beobachtung analysiren  lassen,  sondern  hat  auch  die  Eigenschaft,  dass  in 
ihr  krankhaft  fixierte  Ideen  in  ganz  anderem  Maasse  der  logischen  Auf- 
lösung zugänglich  sind  als  im  Wachen,  bei  nicht  eingeengtem  Bewusstsein. 
Es  ist  das  das,  was  Vogt  die  essentielle  Wirkung  der  Hypnose  ge- 
nannt hat.  ^)  Auf  diese  Art  gelangt  der  pathologische  Gedankengang 
XU  correcter  Bewusstseinsbeleuchtung  und  findet  in  dieser  eine  Correctur. 
Aber  die  Möglichkeit,  diese  Correctur  veranlassen  zu  können,  gewinnt 
man  sehr  oft  erst  aus  dem  Material,  welches  uns  die  Analyse  in  die 
Hand  giebt 

In  gleicher  Weise  gestaltet  sich  die  Ueberwindung  von  Störungen 
und  Schwierigkeiten,   wie  sie  im  Verlauf  der  Hypnose  selbst  auftreten 

')  Cfr.  Vogt's  Krankengeschichte  des  an  „inneren  FoUotionen^  leidenden 
Studenten  in  Brodmann,  Zur  Methodik  der  hypnotischen  Behandlung.  Diese 
ZeitMhr.,  Bd.  VH,  pag.  31. 


46  I^r-  Marcinowski. 

(I.  2  Streichungen  VIII.  Lidschluss).  Dabei  scheint  mir  aber  ein  Ver- 
halten mit  zu  spielen,  welches  dem  ,,Abreagiren^'  Freuds^)  sehr  ähn- 
lich sieht.  Die  Störung  nämlich,  welche  zur  Aufdeckung  ihrer  nn- 
bewussten  Motivirung  durch  Analyse  Veranlassung  gab^  ist  beseitigt» 
sobald  die  Analyse  gelungen  ist  (VIII.  1). 

8.   Die  Oefühlstone  in  der  Hypnose. 

Es  erübrigt  nur  noch,  den  Gefühlstönen  einige  Beachtung  za 
schenken,  deren  ich  bereits  mehrfach  an  entsprechender  Stelle  gedacht 
habe.  In  ihrer  Schilderung  finde  ich  bei  den  von  Wetterstrand 
publicirten  Selbstbeobachtungen  (Wetter Strand,  Fall  U)  das  Za- 
treffendste,  was  ich  je  darüber  gelesen  habe.  Der  Mann  malt  die  Lnsi- 
betonung  seiner  hypnotischen  Zustände  vorzüglich  aus ;  seine  Schildenug 
ist  ein  Gedicht^  welches  wie  Siegfrieds  Waldweben  anmuthet,  in  welchem 
das  gedankenfaule,  behaglich  einlullende  Hindämmern  die  Stimmung 
und  Empfindung  lustbetonter  Hypnose  so  trefiOich  wiedergiebt,  dass  ich 
keine  besseren  Worte  hierfür  finden  kann  (vergl.  1. 1  und  X.  1).  Dies  be- 
trifft Empfinduugen  in  der  Hypnose  im  Allgemeinen.  Im  SpecielleB 
erscheint  mir  diese  Lustbetonung  an  alle  Vorgänge  geknüpft,  wdche 
eine  Lösung  und  Hingabe  darstellten,  so  an  den  Lidschluss,  soweit  er 
nicht  als  Krampf  auftrat  und  dadurch  unangenehme  Gefühle  weckte, 
dann  an  das  tiefere  Sinken  in  Schlummer,  das  sich  bei  mir  zu  der  in 
II.  und  III.  geschilderten  wellenförmigen  Curve  gestaltete.  Femer  waren 
es  die  Erschlaffungszustäude  der  Muskulatur,  insbesondere  der  Gefils»- 
muskeln,  welche  von  stärkeren  Lustgefühlen  begleitet  waren.  Die  In- 
tfmsität  der  Lustbetonung  war  proportional  der  Intensität  der  Erschlaffuqg 
sowie  der  Schnelligkeit  ihres  Eintritts. 

Im  Gegensatz  dazu  waren  alle  mit  Zwang  und  Widerstreben  ve^ 
bundenen  Vorkommnisse  unlustbetont,  wie  ich  bereits  an  anderer  Stelk 
gesagt  habe.     Am  schärfsten  war  die   Unlust  bei  dem  Symptom  der 
Ueberempfindlichkeit  gegen  Geräusche  ausgeprägt  (X.  Schluss).    Beim 
Versuch,  Katalepsie  hervorzurufen  (VII.  3)  hatte  ich  dagegen  keine  den 
Schilderungen  anderer  Autoren  entsprechende  Empfindung;   die  ganxe 
Sache  liess  mich  mehr  wie  in  dem  I.  Falle  von  Selbstbeobachtung  bei 
Wetterstrand  höchst  gleichgiltig.     Auf  diesen  Versuch  komme  ich 
nunmehr  im  zweiten  Theil  meines  Aufsatzes  zu  sprechen,  welcher  dae- 
jeuige  beleuchten  soll,  was  wir  in  technischer  Hinsicht  aus  meinen  Selbst- 
beobachtungen  für  Fingerzeige   für  unser  Verhalten  als  Hypnotiseure 
entnehmen  können.  (Schluss  fblgi) 

')  Breuer  und  Freud,  Studien  über  Hysterie. 


Zur  Kasuistik  der  hypnotischen  Behandlung  der  Epilepsie. 

Von 

Dr.  W.  HUger. 


In  den  Jahren  1896 — 99  habe  ich  7  an  genuiner  Epilepsie  lei- 
dende Patienten  der  hypnotischen  Behandlung  unterworfen.  Eine  son- 
stige specifische  Behandlung  fand  nicht  statt  mit  einer  einzigen  Aus- 
nahme, welche  in  Krankengeschichte  II  ausdrücklich  erwähnt  ist. 

I.  Die  Arbeiterin  Marie  Po..  22  Jahre  alt,  ohne  bemerkenswerthe  erbliche  Be- 
laaiang  (1  Schwester  der  Mutter  litt  zeitweise  an  starken  Kopfschmerzen,  die 
Grossmatter  väterlicherseits  litt  an  „Gicht^)  trat  am  26.  I.  1896  in  meine 
Behftndlung. 

Die  Krämpfe,  welche  seit  Dezember  1894  also  etwas  über  1  Jahr  sich  gezeigt 
haben,  werden  von  der  Familie  mit  einer  Verbrennung  in  Zusammenhang  gebracht, 
welche  die  Patientin  erlitten  hat.  Die  Mutter  beschreibt  die  Anfälle  als  starke 
Znckiingen,  welche  in  der  Nacht  auftreten  und  etwa  5  Minuten  lang  dauern  und 
▼on  starkem  Uebelbefinden  am  Morgen  gefolgt  sind.  Eine  zweite  Kategorie  von 
Anfallen  besteht  in  dem  Auftreten  von  Schwindel  und  Geistesabwesenheit  am 
Tage.  An  die  letzteren  Anfälle  hat  Patientin  nachher  Erinnerung,  an  die  ersteren 
nicht.  Ich  beobachtete  später  selbst  während  Anfällen  der  ersteren  Art.  dass  die 
Pnpülen  nicht  auf  Belichtung  reagirten.  (Notiz  über  Anfall  am  19.  I.  1897:  Sie 
ist  bewusstlos.  schlägt  mit  den  Armen,  die  Pupillen  erweitern  und  verengem  sich 
synehrom,  fast  rhythmisch.  Notiz  über  Anfall  am  3.  lU.  1897:  Keine  Pupillen- 
reaktion während  des  Anfalls,  nach  dem  Anfall  gute  Reaktion.) 

Patientin,  welche  sehr  chlorotisch  war  und  an  erschwertem  Stuhl  und  mangel- 
haftem Appetit  litt,  wurde  vom  25.  I.  bis  15.  4. 1896  in  20  zweistündigen  Sitzungen, 
in  welchen  sie  somnambul  war  (Amnesie),  hypnotisirt  und  bekam  ausserdem  täglich 
1  Würfel  Hämoglobin.  Der  Stuhl  und  Appetit  besserten  sich,  die  Krampfanfälle  traten 
wahrend  dieser  Behandlungszeit  nur  allwöchentlich  auf,  während  sie  vorher  etwa 
4  mal  in  det  Woche  aufgetreten  waren.  —  Trotzdem  verliess  Patientin  die  Be- 
handlang, machte  eine  Kneipp'sche  Kur  etc.  durch,  die  Anfälle  nahmen  an 
Zahl  ZQ. 


48  W.  Hüger. 

Am  29.  XII.  1896  kam  sie  wieder  in  meine  Behandlung,  ich  Hess  sie  Morguii 
und  Nachmittags  mehrere  Stunden  in  Hypnose  schlafen,  vom  27.  L  1897  ab  wurde 
■ie  ständig  im  Bette  gehalten  und  schlief  dauernd  ausser  den  Essenszeiten,  dabei 
allgemeine  Körpermassage.  Später,  von  Anfang  Mai  ab,  lag  sie  nur  die  HÜfie 
des  Tages  in  H3rpno8e.  die  andere  Hälfte  benutzte  sie  zu  kleinen  Beschäftigongen  etc. 
Bei  dieser  über  5  Monate  ausgedehnten  ausgiebigen  hypnotischen  Behandlnng, 
welche  mit  guter  Ernährung  verbunden  war,  zeigte  sich  eine  Besserung  der  An- 
falle. Die  starken  Convulsionen,  welche  in  der  Zeit  ihrer  Kneipp'schen  Knr  oft 
4  mal  am  Tage  aufgetreten  waren,  wurden  wieder  seltener  und  blieben  bii  n 
11  Tagen  weg.    Die  kleinen  Anfälle  traten  in  derselben  Welse  zurück. 

Schliesslich  brach  sie  aber  die  Behandlung  wieder  ab,  weil  sie  zu  Hause  bei 
ihren  kleinen  und  kleinsten  Geschwistern  unentbehrlich  war. 

Sic  blieb  dann  eine  2^itlang  gebessert,  die  Mutter  gab  im  Dezember  1897  an, 
dass  gelegentlich  die  Anfälle  3  Wochen  ausgeblieben  seien,  später  wurden  die  An- 
fälle aber  wieder  häufiger  (mit  Exacerbationen  zur  Zeit  der  Menstruation)  und  im 
Oktober  1898  fertigte  ich  ihr  ein  Invaliden-Attest  aus.  welches  sie  wegen  dauernder 
Erwerbsunfähigkeit  von  mir  erbat.  Im  April  1899  traf  ich  sie  mit  ihrer  Mutter. 
Sie  hat  wieder  alle  Tage  Anfalle,  ist  abgemagert  und  machte  mit  ihren  blassen, 
eingefallenen  starren  Zügen  einen  traurigen  Eindruck. 

Da  sie  während  der  Anfälle  Worte  von  sich  gab  (Notiz  vom  2.  IV.  1897 :  JSvAi 
doch^.  „lass  das^,  „wo  ist  denn  Karl?"  [ihr  Bruder])  so  versuchte  ich  im  Ansddnss 
an  die  Fr  eud^ sehen  VerölTcntlichungen  nachher  in  der  Hypnose  nach  psychischen 
Traumen  (unter  Anderem  sexuellen  Attentaten)  zu  fahnden  und  psychische  VorgingB. 
welche  mit  den  Anfällen  in  Verbindung  stehen  könnten  oder  während  der  Anfalle 
statthätten,  zu  reproduciren.    Sie  antwortete  aber  auf  jede  Frage  verneinend. 

II.  Der  Arbeiter  Gustav  Bo..  geboren  zu  D.,  wohnhaft  zu  M.-S..  trat  sn 
2.  Sept.  1896,  damals  21  Jahre  bei  mir  in  Behandlung. 

Ich  kannte  ihn  seit  etwa  6  Jahren  als  Epileptiker,  er  kam  jetzt  zu  mir,  wttl 
er  durch  seine  Krankheit  gänzlich  arbeitsunfähig  sei. 

£r  ist  der  Sohn  eines  Landarbeiters,  der  nach  Aussage  seiner  Frau,  der 
Mutter  des  Patienten,  stets  ein  braver,  nüchterner,  fleissiger  Mann  gewesen  tit^ 
bis  1881  stets  gesund  war.  dann  an  „Asthma*'  litt  und  daran  1882  starb,  üeber 
die  Eltern  des  Vaters  ist  nichts  bekannt,  von  einer  Schwester  des  Vaters  wein  die 
Mutter  nur.  dass  nichts  bemerkenswerthes  vorliegt,  ein  Bruder  des  Vaters  wsr 
unfleissig  und  hat  einen  Sohn  der  träge  ist  und  Anfälle  von  Jähzorn  hat,  im  Uebrigen 
sind  sämmtliche  Geschwister  (noch  3  Brüder)  des  Vaters  ihr  als  körperlich  und 
geistig  gesunde  Leute  bekannt  und  ebenso  deren  zahlreiche  Kinder  und  sämmt- 
liche Enkelkinder. 

Die  Mutter  ist  eine  gesunde  ruhige  Frau,  sie  giebt  an,  dass  ihre  Eltern  sowohl 
wie  ihre  4  Geschwister  sämmtlich  stets  nervengesund  gewesen  sind,  ebenso  die 
Kinder  und  Enkelkinder  dieser  Geschwister. 

Die  Geschwister  des  Patienten  sind  mir  bekannt,  von  denselben  litt  1  Bruder 
an  Knochencaries  (ist  ausgeheilt),  eine  Schwester  an  migräneartigem  Kopftchmeri. 
alle  übrigen  sind  körperlich  und  geistig  gesund,  ebenso  deren  Kinder. 

Die  Mutter  des  Patienten  hat  vor  seiner  Geburt  6  mal  geboren  und  3  mal 
Fehlgeburten  gehabt,  keine  Todtgeburten.  Die  Kinder,  auch  Patient  nicht,  haben 
nicht  an  Ausschlägen  gelitten. 


Zar  Kasuistik  der  hypnotischen  Behandlung  der  Epilepsie.  49 

Mit  Blei  etc.  hat  weder  Patient  noch  seine  Eltern  jemals  zu  thun  gehabt. 

Von  Kinderkrankheiten  werden  nur  Masern  berichtet,  hat  keine  Zahnkrämpfe 
oder  dergl.  gehabt. 

Kopfverletzungen  werden  in  Abrede  gestellt.  — 

Die  Krankheit,  wegen  derer  Patient  zu  mir  kommt,  wird  von  den  Angehörigen 
rarückgefuhrt  auf  eine  starke  Gremüthserschtitterung  durch  Schreck,  welche  Patient 
im  Alter  von  8  Jahren  erfahren  hat.  In  Rücksicht  auf  spätere  nothwendige  Er- 
örterungen gebe  ich  den  Vorgang  nach  Schilderung  der  Mutter  und  des  Bruders 
Karl  ausführlich  wieder.  G.  wurde  mit  seinem  Bruder  Karl  in  den  Keller  ge- 
schickt, um  dort  Kartoffel  zu  holen.  Ein  Mitbewohner  des  Hauses,  Heine  mit 
Namen,  war  um  diese  Zeit  in  einem  Verschlage  des  Kellers  beschäftigt  und  machte 
sich  den  „Scherz'',  die  ahnungslosen  Kinder  mit  tiefer  Bassstimme  zu  erschrecken. 
Der  Bruder  fiel  mit  der  Lampe  in  der  Hand  zu  Boden,  G.  kam  dann,  wie  seine 
Mutter  erzahlt,  nach  oben  gestürzt,  in  höchster  Erregung,  umklammerte  die  Knie 
einer  Nachbarin  und  schrie:  „Es  sitzt  wer  im  Keller,  der  macht  uns  zu  graulen." 
Die  Mutter  suchte  ihn  zu  beruhigen,  auch  der  Heine  gab  sich  darin  Mühe  und 
ftellte  sich  später  sehr  freundschaftlich  zu  dem  kleinen  G.  Nach  Vs  oder  höchstens 
1  Monat  bemerkte  die  Mutter,  dass  er  gelegentlich  es  „in  den  Kopf  kriegte'',  er  lehnte 
•mck  z.  B.  starr  an  die  Wand,  stöhnte,  als  wolle  er  etwas  sagen  und  „könne  es  nicht  hoch 
kriegen",  fasste  die  Umstehenden  an,  fiel  bei  späteren  Anfällen  auch  hin,  bekam  Tom 
14.  Lebensjahr  dann  immer  häufiger  Anfälle  und  t.  16.  Lebensjahr  ab  traten  oft  4 — ö  An- 
fille  täglich  auf,  sodass  ein  Anfall  in  den  andern  überging.  Die  längste  Pause  zwischen  den 
Anfälle  war  gelegentlich  8  Tage,  nach  einer  solchen  Pause  traten  die  Anfälle  aber  dann 
besonders  heftig  auf.  Die  Anfälle  traten  theils  urplötzlich  auf,  wie  es  scheint,  ohne  Aura, 
theils  gab  er  vor  dem  Anfall  kurze  Laute  Ton  sich,  theils  ging  denselben  eine  Ver- 
wirrung voraus,  in  welcher  er  auf  die  Strasse  lief,  die  Kinder  mit  seinem  ausgezogenen 
Rock  schlug,  auch  wohl  seine  Mutter  angriff  und  sie  stiess  und  zerrte.  Nach  den 
Anfällen  war  er  häufig  irre,  verlangte  von  seinen  Vorgesetzten  auf  der  Arbeits- 
ftitte  augenblicklich  höheren  Lohn  und  wurde  dann  aus  der  Arbeit  entlassen.  — 
Die  Schilderung  welche  die  Angehörigen  von  den  eigentlichen  Gonvulsionen  und 
deren  Begleiterscheinungen  (Bettnässen)  machen,  weichen  in  Nichts  von  dem  typischen 
Bild  des  epileptischen  Anfalls  ab.  Er  kam  öfter  nach  einem  solchen  Anfall  zu  mir 
mit  zerbissener  Zunge,  geschwollener  Wange,  auch  einmal  einer  fleischwunde,  die 
er  sich  beim  Sturz  aus  einer  Bodenlucke  zugezogen  hatte. 

Ich  erfahre,  dass  nach  den  Anfällen  häufig,  vielleicht  fast  immer,  nachher  dem 
Patienten  von  dem  Anfall  erzählt  worden  ist,  und  wie  mir  die  Mutter  mittheilt, 
ist  öfter  in  der  Familie  nach  dem  Ablauf  eines  Anfalles  in  Gegenwart  des  Patienten 
die  Rede  davon  gewesen,  dass,  wenn  jener  Schreck  mit  dem  Heine  nicht  gewesen 
w&re,  er  auch  keine  Anfälle  haben  würde. 

Ich  habe  dann  während  der  Behandlung  solche  Anfälle  beobachtet  und  gebe 
meine  kurzen  Notizen  hierüber  wieder: 

Anfall  17.  XII.  1896.  10  ühr  starker  Schrei,  bewusstlos.  Klonische  Zuckungen 
aber  den  ganzen  Körper.    Pupillen  bewegen  sich  unregelmässig. 

Anfall  16.11.  1897.  Pupillen  contrahiren  sich  nicht  auf  Licht,  bewegen  sich 
Tielmehr  unabhängig  vom  Licht  und  dehnen  sich  bei  einem  Hustenstoss  weit  aus. 
Blntlger  Schleim  aus  dem  Munde. 

Anfall  17.  II.  1897.    Unfreiwilliger  ürinabgang,  Durchnässung  des  Ruhebettes. 

ZeiUehrift  für  Hypnotismns  ete.   IX.  ^ 


50  W.  HUger. 

Anfall  14.  XI.  1898.  Ich  werde  gerufen,  weil  man  in  der  Kammer,  in  welcher 
er  liegt,  die  Laute  ,,Au"  n^^'*  h^t  ausstossen  hören.  Finde  ihn  im  Goma.  StertoroMi 
Athmen  mit  Schaum  vor  dem  Munde,  Cyanose.  Pupillen  reagiren  nicht  auf  lidit, 
aind  ungleich,  werden  während  der  Belichtung  weit  und  ▼erengem  sich  wieder  ob» 
Einfluss  der  Belichtung.  Später  (nach  etwa  5  Minuten)  wieder  Reaction  der  Popilkii. 
auch  GonjunctiTalreflex,  gesteigerter  Patellarreflex,  kein  Fussldonoa,  kein  Gremasfeei«' 
reflex.  —  £r  reag^rt  dann  wieder  auf  Anrede,  antwortet  aber  Sinnloses. 

Ich  fiige  hier  noch  das  Wesentliche  über  den  Status  somaticns  hinsu,  weldus 
ich  den  Notizen  vom  23.111.  1899  entnehme. 

Sehr  wohl  gebauter  Körper,  keine  Degenerationszeichen  (als  einzige  ,yAb- 
normität**  findet  sich  eine  starke  Ausbildung  des  Protub.  ocdpitaL  externa)  stalte 
Knochenbau,  besonders  starker  Gesichtsschädel,  guter  Haarwuchs,  tadellose  ZShnt* 
sehr  kräftige  Muskulatur.  2  kleine,  nicht  angewachsene  Narben  auf  dem  Scheitel, 
Percussion  des  Schädels  etwas  empfindlich.  Narben  der  Zunge,  Narben  am  Knia 
Sonst  nichts  Abnormes  (Herz  normal,  Urin  kein  Eiweiss,  kein  Zacker  etc.,  Es- 
flexe  normal.  Ophthalmoskopischer  Befund  normal  etc.).  Nach  allen  diesen  Daten 
dürfte  die  Diagnose  „genuine  Epilepsie**  wohl  gesichert  sein  und  bei  der  nicht  sakr 
starken  erblichen  Belastung  (ein  etwas  abnormer  Onkel  und  Vetter  —  die  Krank- 
heit des  Vaters  war  wohl  eine  rein  somatische)  der  äusseren  Schädlichkeit  (Schreck) 
eine  wesentliche  Bedeutung  in  der  Aetiologie  zuzumessen  sein. 

Die  Behandlung  des  Patienten,  welche,  wie  erwähnt,  am  2.  IX.  1896  begonnoi 
wurde,  war  nun  bis  zum  October  1898,  also  zwei  Jahre  hindurch,  eine  rein  peyofao- 
therapeutische.  —  Patient  hatte  gleich  in  der  ersten  Sitzung  einen  tiefen  ScUaf 
mit  Amnesie  beim  Erwachen.  Ich  benutzte  diesen  Somnambulismus  zur  Analjse 
des  Bewusstseinszustandes,  über  deren  Resultat  ich  am  Schlüsse  dieser  Mittheihiiig 
berichten  möchte  und  zur  Anwendung  des  Dauerschlafes.  Patient  hat  8  Monats 
hindurch  (vom  2.  IX.  1896  bis  1.  V.  1897)  täglich  von  24  Stunden  18 "/«  Stund« 
geschlafen.  Er  kam  Morgens  gegen  8  Uhr  zu  mir  und  schlief  bis  1  Uhr^  ass  dam 
zu  Mittag,  ging  etwas  spazieren  etc.,  legte  sich  um  3  Uhr  Nachmittags  wieder  hin 
und  schlief  bis  Abends  9  Uhr.  Sonntags  schlief  er  nur  bis  1  Uhr  hier.  Dabei 
schlief  er  die  Nächte  zu  Hause,  etwa  von  11  Uhr  Abends  bis  ^j^l  Uhr  Morgens. 
Er  fühlte  sich  bei  diesem  Dauerschlaf  sehr  wohl,  lächelte  in  Hypnose  behaghcJi 
(gelegentliche,  beim  Liegen  auftretende  Kopfschmerzen  und  Leibschmerzen  liessui 
sich  leicht  wegsuggeriren)  und  erklärte  im  Wachzustande,  dass  er  sich  wie  nea- 
geboren  fühle. 

Es  konnte  dann  auch  eine  wesentliche  Besserung  constatirt  werden.  Vom 
2.  IX.  1896  bis  24.  IX.  1896  hatte  Patient  allerdings  noch  8  starke  Anfälle.  Dann  kommt 
aber  eine  Pause  bis  zum  27.  X.  18%.  Von  da  ab  traten  die  Anfalle  in  grossersn 
Pausen  auf.  So  am  27.  X.,  28.  X.,  31.  X.  1896  je  ein  Anfall,  dann  am  la  XL  1896 
ein  rudimentärer  Anfall,  am  17.  XII.  1896,  am  16.  11.  und  17.  11.  1897,  am  23.  HL 
1897,  am  2L  IV.  1897,  also  mit  Pausen  von  1  bis  2  Monaten.  Am  1.  V.  1897 
war  er  dann  nicht  mehr  zu  halten,  er  trat  in  Arbeit  und  kam  nicht  zur  Behand- 
lung. Er  hatte  dann  vom  1.  V.  bis  14.  V.  allnächtlich  Anfälle,  blieb  aber  dans 
frei  bis  Anfang  Juli,  wo  er  in  einer  Nacht  3  AnfäUe  hatte.  Dann  eine  Pause  bis 
16.  X.  1897,  also  über  Vi  Jahr.  Auch  der  Gharacter  der  Anfälle  war  ein  anderer 
geworden.  Während  die  früheren  gehäuften  Anfalle  häufig  am  Tage  auftraten  nnd 
eine  schwere  Reaction  zurückliessen,  kamen  jetzt  die  Anfalle  nur  des  Nachts.   Seine 


Zur  Kasuistik  der  hypnotischen  Behandlang  der  Epilepsie.  51 

Matter  bemerkte,  wie  er  Nachts  karze  Attacken  bekam,  er  selbst  stand  aber  stets 
am  Morgen  aaf,  fühlte  sich  wohl,  klagte  nicht  über  Schwäche,  nicht  einmal  über 
Kopfschmerzen  und  ging,  als  wenn  überhaupt  nichts  passirt  sei,  an  seine  Arbeit. 
Er  war  hierdurch  in  Stand  gesetzt,  seine  Angehörigen  auskömmlich  zu  ernähren.  — 
Auf  mein  Drängen  kam  er  des  Sonntags  Morgens  wieder  zu  mir  zur  Behandlung,  wobei 
er  immer  wieder  Ausreden  hatte,  den  einen  oder  anderen  Sonntag  nicht  zu  kommen. 
£r  hatte  dann  wieder  eine  Attacke  am  25.  XTT.  1897,  also  nach  zweimonatlicher 
Pause  und  von  da  ab  wieder  allmonatlich  bis  zum  März  1898,  wo  er  im  Ganzen 
10  nächtliche  Anfälle  hatte.  Nachdem  der  April  1898  keine  Anfälle  aufgewiesen 
hatte,  traten  am  16.  V.  und  am  19.  Y .  1898  je  1  Anfall  und  zwar  zur  Tageszeit  auf. 
Es  zeigte  sich  aber  hierbei  kein  postepileptisches  Irresein,  er  war  1  Stunde  nach 
dem  Anfall  wieder  bei  Bewusstsein,  schlief  in  der  kommenden  Nacht  gut  und  ging 
am  anderen  Tage  wie  gewöhnlich  an  seine  Arbeit.  Ich  setzte  nun  durch,  dass  er 
auch  an  gewöhnlichen  Werktagen  Abends  nach  der  Arbeit  zur  Hypnose  zu  mir 
kam  und  an  solchen  Werktagen,  wo  er  keine  Arbeit  hatte,  wieder  den  ganzen  Tag 
hier  schlief,  wobei  er  auch  immer  wieder  gelegentlich  Ausreden  hatte,  wegzubleiben. 
Am  14.  VI.  1898  trat  wieder  1  Anfall  auf  der  Arbeitsstätte  auf,  ebenfalls  am  1.  VIII. 
1896  und  2.  VIII.  1898  und  2.  X.  1898  (Juli  und  September  1898  waren  anfallsfrei). 
Vom  8.  X.  1898  bekommt  er  dann  täglich  (Abends)  3  g  £al.  brom.  hat  aber  am 
14.  XI.  1898  hier  einen  (oben  beschriebenen)  Anfall,  ebenso  am  26.  "^TT  1898, 
26.  Xn.  1898,  11.  I.  1899,  12.  n.  1899,  16.  IL  1899,  17.  n.  1899  (s.  unten)  unter 
denen  wieder  mehrere  am  Tage  auftraten.  Dann  war  der  März  wieder  anfEillsfrei, 
und  wurden  seit  15.  Ul.  1899  täglich  4,5  g  Kai.  brom.  und  seit  23.  HI.  1899  täg- 
lich 6,0  g  verabreicht.  —  Die  hypnotische  Behandlung  blieb  auch  bei  dieser  Medi- 
oaüon  dieselbe,  Patient  kam  Abends  zu  einer  2 — 3  stündigen  Hypnose,  wobei  es 
allerdings  immer  wieder  zu  bedauern  war,  dass  er  häufig  unpünktlich  war.  Er  war  eben 
offenbar  lieber  Abends  nach  der  Arbeit  in  seiner,  wie  es  scheint  sehr  behaglichen 
Häuslichkeit  und  imter  seinen  Angehörigen,  bei  denen  er  jetzt,  wo  er  der  Ernährer 
ist,  eine  Rolle  spielt,  wie  bei  mir  zum  Schlafe  auf  seiner  einsamen  Bodenkammer. 

Abgesehen  yon  einer  Torübergehenden  Arbeitslosigkeit  nach  dem  Anfall  am 
11.  I.  1899,  der  wieder  auf  der  Arbeitsstätte  stattfand,  ist  er  also  seit  Beendigung 
des  Dauerschlafes  (vom  1.  V.  1897  ab  —  also  fast  2  Jahre)  stets  erwerbsfähig  ge- 
wesen und  hat  seinen  Posten  als  Handlanger  mit  Fleiss  und  Ausdauer  versehen.  — 

Schon  bei  Beginn  der  Behandlung  merkte  man  eine  Hebung  seiner  Psyche. 
Am  1.  XL  1896  finde  ich  die  Aussage  seiner  Mutter  notirt :  „man  könne  gar  nicht 
sagen,  wie  sehr  er  sich  geändert  habe,  immer  artig,  recht  fidel  und  spasshafb^. 
„So  hoch  möchte  er  springen^. 

In  der  That  erschien  er  frischer,  selbstbewusster,  war  in  der  Erzählung  seiner 
Erlebnisse  geordneter  und  das  lebhaftere  Mienenspiel  liess  ihn  intelligenter  er- 
scheinen. 

Zur  Ergänzung  des  Status  füge  ich  hinzu:  Er  ist  (Status  Tom  März  1899)  ein 
sehr  guter  Kopfrechner,  behält  vierstellige  Zahlen  sehr  gut,  seine  Schulkenntnisse 
sind  ihm  zum  Theil  noch  sehr  gut  präsent,  während  er  sich  im  Allgemeinen  in 
einem  engen  Vorstellungskreise  bewegt.  Er  ist  gutmnthig,  gegen  seine  Angehörigen 
sehr  sorglich  und  sogar  liebevoll  zu  nennen,  mir  gegenüber  sehr  folgsam,  während 
er  den  Dienstboten  gegenüber  leicht  gereizt  und  heftig  wird,  dabei  wird  er  ge- 
legentlich bei  einer  Lüge  ertappt  und  verstieg  sich  sogar  nachweislich  einmal  mit 

4* 


6S  W*  Hilger. 

Beihülfe  seiner  Mutter  m  einer  kleinen  Verontrenung  von  ihm  anverferantem  Ha»- 
haltungsmateriaL  —  Zur  anbedingten  Abstinenz  von  jeglichem  Alcohol,  den  er 
übrigens  nie  besonders  geliebt  hatte,  habe  ich  ihn  seit  Beginn  der  Behandlmig  mit 
Erfolg  angehalten  —  ebenso  wurde  er  durch  Anhaltung  zur  Sparsamkeit,  Sauber- 
keit etc.  günstig  beeinflusst  und  namentlich  durch  hypnotische  Suggestion  stets 
prompt  Ton  seinen  häufigen  Heirathsgedanken  abgebracht« 

Im  lebhaften  Gegensatze  zu  dem  ToUstandig  negativen  Reeultat»  welches  dsr 
Versuch  einer  „Analyse**  bei  der  Patientin  Marie  Po.  ergab,  stehen  die  Angaben, 
welche  Patient  Bo.  mir  bei  dem  Versuch  einer  Analyse  gemacht  hat.  Wollte  msa 
diese  seine  Angaben  ohne  Weiteres  yerwerthen,  so  müsste  man  annehmen,  dass  sr 
Tor  und  während  der  Anfälle  eine  lebhafte  geistige  Thätigkeit  gehabt  hat,  in 
welcher  die  Eindrücke  der  Gegenwart  mit  Hallucinationen  aus  der  Vergangenheit 
▼eimischt  auftraten  und  dass  er  für  alles  dieses  eine  deutliche  Erinnerung  bewshzt 
hat,  die  er  wenigstens  in  der  Hypnose  zu  reproduciren  im  Stande  seL  Da  diese 
seine  Angaben  für  die  Beurtheilung  des  Falles  von  Interesse  sein  dürften  und 
namentlich  auch  einen  casuistischen  Beitrag  für  die  Anwendung  der  Analyse  bieten, 
so  sei  es  mir  gestattet,  dieselben  hier  wiederzugeben.  Ich  muss  gestehen,  dass  ich 
dem  Inhalte  derselben  zunächst  ohne  genügende  Kritik  gegenüber^  stand  und  eist 
später  zu  einer  mir  befriedigend  erscheinenden  Erklärung  gekommen  bin.  Leider 
habe  ich  vor  der  ersten  Analyse  (am  2.  IX.  1896)  versäumt,  dieselben  Fragen  im 
Wachzustande  an  ihn  zu  richtai,  habe  dies  aber  später  nachholen  können  und 
werde  über  das  Ergebniss  berichten.  Uebrigens  war  ein  „Hineinfragen**  bei  dsr 
„Analyse**  schon  deshalb  ausgeschlossen,  weil  ich  damals  über  seine  Vergangenheit 
nur  ganz  wenig  orientirt  war  und  die  Geschichte  eines  psychischen  Traums,  sovisl 
ich  mich  erinnere,  überhaupt  nicht  kannte.  Ich  habe  die  Aussagen  des  Patientsn 
und  meine  Fragestellung  nicht  stenographirt,  aber  schon  während  der  Sitzung  und 
zum  Theil  sofort  nach  der  Sitzung  niedergeschrieben.  Man  wird  bemerken,  da« 
diese  Wiedergabe  durch  Auslassung  einiger  von  mir  gestellter  Fragen  gekürzt  ist 
Ebenso  unterlasse  ich  die  Wiedergabe  einer  Erinnerung  aus  dem  postepileptischeB 
Verwirrungsstadium.  Er  giebt  bei  dieser  „Erinnerung**  auf  meine  Anfrage  sogleich 
an,  dass  ihm  das  später  erzählt  sei. 

Hypnose  am  2.  IX.  18%.  Patient  schläft  (wie  oben  schon  angegeben  som- 
nambul). Er  bekommt  die  Suggestion :  „  „kann  sprechen,  schläft  aber  weiter,  sqD  er- 
zählen, wie  er  einen  Anfall  bekommt**  **.  „Ist  vom  Schrecken  gekommen,  ich  sass  in 
der  Schule  in  Diesdorf*.  „  „Ganz  deutlich  ?**  **  „Ja,  in  der  vierten  Bank,  rechts 
war  der  Ofen,  der  Schullehrer  vor  mir,  Otto  Fricke  las  in  der  ersten  Bank  von 
Karl  dem  Grossen".  „„Was?  ganz  genau!****  „Wie  er  regiert  hat  — **  „„Auch, 
wie  er  Wein  gepflanzt  hat?**  **  „Ja,  das  kam  nachher.  Da  schlug  ich  mit  beiden 
Fäusten  auf  die  Bank,  der  Lehrer  kam  auf  mich  zu  mit  dem  Stocke  und  sagte,  idi 
solle  das  sein  lassen,  darauf  prügelte  er  mich,  ich  schlug  dann  immer  noch  mehr. 
Die  Prügel  ftihlte  ich  nicht  — **  „  „Ich  denke,  es  ist  vom  Schrecken  gekommen?"  ' 
„Ja  —  ich  wurde  mit  meinem  Bruder  —  dem  Harmonika-Mann  ^)  in  den  Keller  ge- 
schickt, da  machte  uns  Jemand  graulen.  Der  arbeitete  an  einer  Bucht**. *)  „„Sehen 
Sie  ihn  jetzt   ganz  deutlich?"***     „Ja,  —  **     y,n^^  ^^^  ^^  ^  einen  Rock  an?*"* 


*)  Arbeitet  jetzt  in  einer  Harmonika-Fabrik. 
*)  Kellerverschlag. 


Zur  Kasuistik  der  hypnotisohen  Bedeatong  der  Hysterie.  63 

„Einen  schwarzen*'.  „ ,, Wo  stand  die  Lampe  etc.  etc.  ?*"*  —  „Er  klopfte  an  die  Bodit 
und  fragte:  Könnt  ihr  auch  beten?  Da  erschraken  wir  so  —  ich  schlag  mir  die 
Knochen  kurz  and  klein  and  mein  Brader  wurde  bewusstlos  — **.  „  n^^^  ^^^^  dann 
der  Anfall  P**^  „ —  Es  war  umgekehrt  —  mein  Brader  schlag  sich  kaput  und  ich 
wurde  bewusstlos,  die  Lampe  liess  ich  vorher  auf  den  Boden  fallen,  mein  Vater 
und  meine  Mutter  kamen  und  mein  Vater  sag^e  zu  dem  Mann  —  Heine  hiess  er  — 
„was  haben  Sie  nun  gemacht?**  Der  Mann  meinte,  das  sei  nicht  so  schlimm,  er 
habe  uns  nur  graulen  gemacht  und  gesagt:  könnt  ihr  beten?  —  —  Als  loh 
oben  war,  bekam  ich  Krämpfe,  da  rief  mein  Vater  den  Mann  von  oben  (oberes 
Stockwerk)  herunter  und  zeigte  auf  mich;  der  Mann  sagte:  das  würde  sich  wohl 
wieder  geben,  je  älter  ich  würde.  —  Mein  Bruder  legte  sich  damals  hin  und  bekam 
eine  schlimme  Hüfte**. 

„„Wie  kam  denn  nun  der  zweite  Anfall  von  Schrecken?****  „Der  Mann  kam 
in  die  Schule**.  „  „Sehen  Sie  ihn,  wo  steht  er?**  **  „Er  steht  an  der  Thüre,  nachher 
kommt  er  herein,  stellt  sich  neben  den  Lehrer  und  fragt,  was  ich  gethan  habe, 
der  Lehrer  sagt  es  ihm,  da  sagt  er,  das  kommt  vom  Schrecken,  ich  habe  ihn 
graulen  gemacht,  da  sagt  der  Lehrer,  das  hätte  er  doch  besser  nicht  thun  sollen, 
solche  jungen  Kinder,  ^)  da  sagt  er,  das  werde  vorübergehen,  je  älter  ich  werde.  — 
Dann  lag  ich  noch  2  Stunden  mit  dem  Kopf  auf  dem  Pult  und  wurde  von  2  Jungen 
nach  Hause  gebracht.  Heine  ging  mit  und  ging  dann  weg,  er  ging  zu  seiner 
Frau.  Diese  sagte,  dass  er  das  doch  besser  nicht  gethan  hätte**.  „„Sahen  Sie  wie 
er  zu  Hanse  war?****  „Ja,  ich  ging  mit.  Nachher  kam  der  Lehrer  und  erzählte 
das  meinem  Vater,  dass  ich  solchen  Anfall  gehabt  hätte,  mein  Vater  erzählte  ihm, 
dass  das  vom  Graulen  gekommen  sei  —  wir  wären  in  den  Keller  gegangen  u.  s.  w.** 

„,J^un  sehen  Sie  wieder  einen  Anfall.  Welchen?****  „Bei  Eölsche  in  der 
Fabrik**.  „t|Wie  ist  das?****  „Ich  arbeite  mit  meinem  Bruder  an  der  Maschine, 
da  sage  ich  zu  meinem  Bruder,  mir  ist  so  sonderbar,  da  sagt  er,  gehe  hinauf,  ich 
gehe  hinauf,  da  kommt  der  Anfall,  ich  falle  den  Fahrstuhl  hinunter,  anten  in  die 
Maschine,    die   wird  noch   rechtzeitig   abgestellt**.     „„Sehen   Sie   das  deutlich.**** 

„Ja**.     „„Sehen  Sie  das  Loch,  ist  es  rund  oder  viereckig?****     „Viereckig** 

wie  ich  daliege,  kommt  Herr  Fölsche**.  „„Was  sagt  er?'***  „Man  müsse  mich  ent- 
lassen tmd  dann  hat  er  in  allen  Fabriken  rundgeschickt,  sie  sollten  mich  nicht  an- 
nehmen**. „„Ist  denn  sonst  Niemand  da?****  „Doch,  der  Heizer".  „Wer  noch?**** 
„Heine**.  „Was  thut  er?****  „Er  spricht  mit  Herrn  Fölsche,  das  komme  vom 
Graulen  etc.,  dann  geht  er  weg**.  „»Wie  geht  er?****  „Er  geht  das  Bahngeleise 
entlang,  über  den  üebergang  zum  Schlachthaus,  dann  kann  ich  ihn  nicht  mehr 
sehen.  Nachher  erzählt  mir  Herr  Fölsche  von  dem  Anfall**.  „„Auch  von  Heine?**** 
„Ja**.  „M^As  denn?****  „Dass  er  dagewesen  ist  und  gesagt  hat,  das  kommt  vom 
Graulen**. 

Ich  gehe  in  dieser  ersten  Sitzung  noch  mehrere  Anfalle  durch  —  immer 
findet  sich  die  sinnlich  lebhafte  Vorstellung  des  Erzählten  und  immer  auch  diese 
Hallucination  des  Heine.  Er  erzählt  später  (ebenfalls  in  der  ersten  Sitzung),  dass 
er  vor  dem  Anfall  den  Heine  im  Keller  versteckt  gesehen  habe  und  bejaht  die 
Frage,  ob  er  denn  vor  allen  Anfallen  den  Heine  so  versteckt  gesehen  habe.  „„Wie 
Sie  bei  Fölsche   den  Anfall  gehabt  haben  auch?***'     „Ja,   ich  sagte  so   meinem 


*)  Ausruf  des  Mitleids. 


64  W.  flüger. 

Broder,  tiehst  da  den  da  unten  nicht,  der  macht  uns  graulen^  mein  Broder  tagte, 
komme  oben  —  da  sah  ich  fleine  immer  im  Keller  und  nachher  kam  er  herauf".  — 
Hier  war  ja  nun  ein  Anhaltepnnkt,  um  die  Richtigkeit  seiner  Angaben  zq  eon- 
trolliren.  Es  stellte  sich  dabei  heraas,  dass  der  Bruder  sich  zwar  des  AtiIW]|1«  «p. 
innerte,  nicht  aber  irgend  welcher  Aeusserungen,  welche  Patient  Toriier  gethtii 
hatte  und  in  Bezug  auf  die  Aeusserung  „Siehst  du  den  da  unten  etc."  meint  der 
Bruder  direct,  das  habe  sich  Patient  wohl  zusammengereimt.  Auch  der  mir  be- 
kannte Fabrikbesitzer  stellt  eine  derartige  Aeusserung,  wie  er  sie  gethan  haben 
solle,  direct  in  Abrede  und  ist  Herr  Fölsche  (nach  Mittheilung  des  Bruders)  bei 
dem  hier  geschilderten  Anfall  überhaupt  nicht  zugegen  gewesen,  aondem  erst  bei 
einem  zweiten  Anfall,  der  sich  erst  am  Nachmittage  ereignete.  Uebrigena  emhlt 
der  Bruder  auch  das  Erlebniss  im  Eartoffelkeller  etwas  anders  wie  Patient. 

Ich  habe  dann  bei  späteren  Anfallen  immer  sorgfaltiger  die  Aussagen  dei 
Patienten  mit  den  Aussagen  seiner  Umgebung  yerglichen,  dabei  stellten  sich  stets 
Widersprüche  heraus.  Z.  B.  Anfall  am  26.  XII.  1898:  Die  Mutter  berichtet,  PaHent 
hat  auf  3  Stühlen  ausgestreckt  am  Nachmittag  geschlafen.  Da  hat  er  einen  An&U 
bekommen,  ist  aber  nicht  yon  den  Stühlen  heruntergefallen.  Patient  macht  in  Hyp- 
nose dann  die  ausführliche  Angabe,  dass  er  Ton  den  Stühlen  gefallen  sei,  daas  ihn 
seine  Mutter  und  seine  Schwester  wieder  aufgerichtet  habe  etc.,  und  nur  in  einem 
Punkte  trifft  er  das  Richtige,  dass  ein  Umstehender  (sein  Schwager)  gesagt  habe: 
„wir  wollen  ihn  liegen  lassen,  bis  der  Anfall  vorüber  ist". 

Es  war  mir  yergönnt,  am  17.  II.  1899  das  Stadium  nach  einem  AnfigJl  zu  be- 
obachten und  in  demselben  mit  dem  Patienten  einen  Versuch  anzustellen,  der  für 
die  Frage,  ob  heilbare  oder  unheilbare  Amnesie  Ton  Wichtigkeit  und  für  meine 
Stellungnahme  zu  dieser  Frage  im  Toriiegenden  Fall  entscheidend  war. 

Am  16.  n.  1899  (s.  oben)  hatte  er  einen  Anfall  gehabt,  bei  dem  er  sich 
leicht  am  Finger  yerletzte  und  einen  kleinen  Verband  erhielt,  am  Nachmittag  des 
17.  II.  auch  einen  Anfall  und  am  Abend  (nach  der  Hypnose)  wurde  ich  wieder 
gerufen,  ^r  sei  im  Keller  beim  Kohlenholen  hingefallen.  Wie  ich  hinzukam,  war 
der  Anfall  gerade  vorüber.  Ich  rede  ihn  an.  er  macht  einen  unbesinnlichen  Ein- 
druck, wie  Jemand  der  aus  der  Narkose  erwacht.  Ich  frage:  „„Nun  was  ist 
denn?""  —  Er  sagt  nichts.  —  n»»^'"^  stehen  Sie  aufl""  Er  erhebt  sich.  „„Wti 
haben  Sie  denn  da?""  (sein  Verband  an  der  Hand)  —  „Wo  ich  mich  doch  ge- 
stossen  habe."  —  »n^^i^  kommen  Sie  einmal  endlich  wieder  regelmässig  zur  Be- 
handlung."" „Bin  ich  denn  heute  nicht  gekonmien?"  —  „„Ja  aber  länger  müssen 
Sie  kommen.""  —  „Ja,  wenn  ich  bis  7  oder  8  Uhr  hier  schlafe,  dann  kann  ich  sn 
Hause  nicht  schlafen."  —  Ich  beruhige  ihn  dann  etwas,  sage,  er  werde  schon 
immer  gut  schlafen  und  fahre  fort:  „„Nun  gebe  ich  Frl.  G.  (welche  anwesend 
war)  eine  Mark  für  Sie,  die  sollen  Sie  morgen  von  ihr  abfordern.""  £r  lächelt  ^ 
„„Also  was  sollen  Sie  thun?""  —  nVon  Frl.  G.  die  Mark  abfordern." 

Eine  Prüfung  der  Pupillenreaktion  ergiebt  Trägheit  derselben.  —  Er  wird 
dann  von  seiner  Mutter  abgeholt,  ist  störrisch  als  dieselbe  ihm  den  Weg  nach 
Hause  zeigen  will. 

Am  18.  IL  1899  kommt  er  zur  Behandlung,  er  kommt  und  geht,  ohne  nach 
dem  Gelde  zu  fragen. 

Am  Nachmittage  kommt  er  wieder,  fragt  ebenfsdls  nicht  nach  der  Mark,  ich 
rede  ihn  dann  an: 


Zur  Kasuistik  der  hypnotischen  Behandlung  der  Epilepsie.  56 

Wachzustand.  »„Was  war  denn  gestern?""*)  —  „Nichts."  —  „„Haben 
Sie  sich  ganz  wohl  befunden?""  „Ja."  „„Waren  Sie  denn  nicht  hier?""  „Ja." 
„„Was  haben  Sie  denn  gestern  hier  gemacht?""  „Geschlafen."  „„Sonst  nichts?  — 
Na,  Sie  sind  doch  auch  sonst  hier  thätig  gewesen!""  „Ja."  „„Was  haben  Sie 
denn  gemacht?""  „Kohlen  geholt  und  Stiefel  geputzt."')  „„Wann  sind  Sie  denn 
nach  Hause  geg^gen?""  —  „Um  */«''."')  —  „„Erinnern  Sie  sich  denn  gar  nichts 
mehr  sonst  von  gestern?""  —  „Nein."  —  „„Nun  fällt  es  Ihnen  wieder  ein.""  — 
Schweigt.    „Ich  weiss  nichts  mehr." 

Hypnose.  Ich  lege  die  Hand  auf  seine  Stime:  „„Nun  fällt  es  Ihnen  ein, 
was  gestern  war,  nun  erzählen  Sie  einmal?""  —  „Ich  weiss  nichts."  Ich  wecke 
ihn  und  gehe  im  Wachzustände  weiter. 

Wachzustand.  „„Nun  was  war  denn  gestern,  denken  Sie  mal  den  Tag 
über  nach,  was  gestern  war,  Sie  sind  den  Morgen  aufgestanden  und  hierher  ge- 
kommen?"" —  „Ja  und  Nachmittag  wieder  gekommen."  —  „„Was  war  denn  am 
Nachmittag?""  —  „Das  weiss  ich  nicht."  —  „„Ist  denn  gestern  hier  nichts  passirt?""  — 
„Nein." 

Hypnose:   „„Nun  können  Sie  sagen,  was  gestern  Nachmittag  passirt  ist?"" 

—  „Da  habe  ich  den  Anfall  gehabt."    Ich  wecke  ihn,  er  ist  amnestisch  für 
diese  Unterhaltung  in  der  Hypnose,  ich  gehe  im  Wachzustand  weiter. 

Wachzustand.  „„Was  ist  denn  gestern  Abend  passirt?""  —  Schweigt.  — 
„„Nun  können  Sie  sagen,  was  gestern  Abend  passirt  ist?""  Schweigt.  „„Erzählen 
Sie  einmal?""  —  „Zehne?"  (er  hat  mich  nicht  recht  verstanden).  „„Erzählen  Sie 
einmal,  was  gestern  Abend  passirt  ist?""  —  Schweigt.  —  „„Ueberlegen  Sie  einmal, 
was  gestern  Nachmittag  war,  Sie  sind  henmter  gekommen,  was  haben  Sie  denn 
unten  gemacht?""  —  Schweigt.  —  „„Nun,  fällt  es  Ihnen  wieder  ein?""  — 
Schweig^. 

Hypnose.  „„Ueberlegen  Sie  einmal,  was  gestern  Abend  passirt  ist?""  — 
„Ich  habe  den  Anfall  gekriegt."  —  „„Ja?  nun  wissen  Sie  es  ganz  genau,  nun 
sagen  Sie  es.""    Wecke  ihn. 

Wachzustand.  „„Na,  was  war  denn  gestern  Abend?""  —  Schweigt  erst, 
dann:  „Weiter  weiss  ich  nichts."  —  „„Was  denn?""  —  „Dass  ich  den  Anfall  ge- 
kriegt habe."  —  „„Wo  haben  Sie  denn  den  Anfall  gekriegt?""  —  „Auf  dem 
Boden."*)  —  „„Und  sonst  noch  wo?""  —  „Nein."  —  „„Na,  ich  bin  doch  dabeige- 
wesen."" —  Schweigt.  —  „„Nun  können  Sie  es  sagen,  wo  ich  dabei  gewesen  bin!""  — 
„Unten  im  Hause."»)  —  „„Wo  denn?""  ,,In  der  Stube."  —  „„In  welcher  Stube?"" 

—  Schweigt.    „In  der  vorderen  Stube."  —  „„In  welcher  vorderen  Stube?""  „Die 
nach  der  Strasse  hinaus  geht."  —  „„Entsinnen  Sie  sich  ganz  deutlich?""  —  „Die 


^)  Diese  eanze  Unterredung^  ist  von  mir  stenographirt  und  wortgetreu  wieder- 
gegeben. Ich  liess  ihn  nach  Einleitung  derselben  auf  dem  Sopha  hinlegen  und 
wechselte  wie  angegeben  mit  Wachzustand  und  Hypnose  ab,  um  möglichst  genau 
festzustellen,  wie  weit  der  Wachzustand  für  eine  etwaige  Behebung  der  Amnesie 
genügen  würde. 

*)  Seine  gewöhnliche  Verrichtung  Abends  nach  der  Hypnose. 

')  Thatsächlich  war  es  9  Uhr,  als  er  am  Abend  des  17.  11.  mit  seiner  Mutter 

^ogging- 

*)  Er  meint  die  Bodenkammer,  in  welcher  er  gewöhnlich  hypnotisirt  wird.    Er 

raih  offenbar  und  zwar  falsch. 

*)  Auch  hier  räth  er  wieder  und  zwar  falsch. 


66  W.  Hilger. 

erste. **  —  „„Welche  erste?*"*  —  „Wenn  Sie  hier  Tons  Haus  herein  gehen."*)*)  — 
„„Wissen  Sie  denn  ganz  deutlich,  wie  Sie  da  lagen ?•**  —  n«^*-**  "~  »n^*^  ^"^ 
denn  dabei?"«  —  „Fräulein,  die  Köchin.«  »)  —  „„Sonst  keiner?««  „Und  die  Mutter.« 

—  „„Sonst  noch  Einer?««  —  „Fräulein  G.  und  hier  Herr  Dr.«  —  „n^^^^  ^"^  '•■' 
das?««  —  „Hinten  in  der  Stube.«  «)  —  „„In  welcher  hinten  in  der  Stabe?««  —  Ja 
der  geraden  Linie.«  —  „„In  welcher  geraden  Linie?««  —  „Da  war  die  Stabe.«  — 
„„Wo  haben  Sie  denn  gelegen?  Auf  dem  Fussboden?««  —  Schweigt  —  spat« 
„Ja.«  —  nn^o  denn  mit  dem  Kopf?««  —  „Hier  (zeigt  nach  rechts),  mit  den 
Beinen  da  (zeigt  nach  links).«  —  „„Und  was  ist  denn  nachher  gewesen?  Habe  ich 
dann  was  gesagt,  oder  was  gethan?««  —  „Nein.«  —  „„Habe  ich  einem  was  ge- 
geben für  Sie?««  —  „Nein.«  —  „„Habe  ich  nicht  FräuL  G.  etwas  gegeben  fSr 
Sie?««  Schweigt.  —  „„Was  habe  ich  Fräul.  G.  gegeben  für  Sie?  Non  üUt  ei 
Ihnen  wieder  ein,  wo  der  Anfall  gewesen  ist?««  —  „Auf  dem  Boden!« 

Hypnose.  „„Nun  fallt  Urnen  ein,  wo  der  Anfall  gewesen  ist?««  —  „lek 
weiss  nicht.«  —  „„Nun  drücke  ich  recht  stark,  dann  wissen  Sie  es  wieder.««  — 
„Unten  in  der  Stube.«  —  „„Und  was  war  denn  nachher?««  —  „Nachher  bin  itk 
wieder  munter  geworden  und  aufgestanden.«  —  „„Habe  ich  denn  was  gesagt,  oder 
was  gethan?««  —  „Sie  haben  was  gethan."  —  „„Was  habe  ich  denn  gethan?«'  — 
„Sie  haben  mich  von  meinem  Leiden  gerettet.*^  —  „„Habe  ich  denn  Einem  wai 
gegeben  für  Sie?««  —  „Fräulein  G.*'  —  „„J»  was  denn?««  —  „Was  zum  JEn- 
nehmen."  —  „„Sie  schlafen  doch  ganz  fest?««  —  „Ja."  —  Ich  suggerire  mit  JSrfolg 
Katalepsie  und  Anästhesie  des  Armes  (äussert  geringen  Schmerz  bei  starkem  Nadel- 
stich), wecke  ihn,  er  ist  vollkommen  amnestisch  für  die  Unterredung. 

Wachzustand.    „ „Nun  wissen  Sie  auch,  was  ich  FräuL  G.  gegeben  habe?« ** 

—  Schüttelt  mit  dem  Kopf.  Ich  erzähle  ihm  dann  den  ganzen  Vorgang:  nvr^ 
habe  Sie  im  Keller  gesprochen  und  habe  ihnen  gesagt,  dass  Sie  pünktlicher  kommen 
sollten  etc.  etc.,  Sie  haben  gesagt  etc.  etc.,  und  habe  Fräul.  G.  etwas  gegeben  für 
Sie  und  gesagt,  Sie  sollten  Sich  das  morgen  geben  lassen." "  —  ,.Ich  soll  mich  du 
geben  lassen/'  —  „»»Na,  was  wars,  unten  im  Keller  wars,  bei  den  Kohlen?**'*  — 
„Da  habe  ich  mit  den  Füssen  getreten  und  mit  den  Händen  g^chlagen.*'  —  „„Und 
was  habe  ich  Fräul.  G.  gegeben?''«  —  „Weiter  weiss  ich  nichts.** 

Hypnose.  „„Nun  fällt  es  Ihnen  wieder  ein,  was  ich  Fräul.  G.  gegeben 
habe?"**  —  „Was  für  mich  zum  Einnehmen.«  —  «.,Nun  fällt  Ihnen  wieder  ein, 
was  ich  Ihnen  eben  erzählt  habe?'***  —  ,4)ass  ich  wieder  gesund  werde  und  kann 
gut  schlafen.*'  —  „,»Und  was  habe  ich  Fräul.  G.  gegeben?****  —  n^**  ^^^i™  ^^ 
nehmen.**     Wecke  ihn.    Er  ist  auch  für  diese  Unterredung  amnestisch. 

In  einer  nochmaligen  Hypnose  gebe  ich  ihm  die  posthypnotische  Suggestion, 
eine  Lampe  auf  meinen  Tisch  zu  stellen.  Er  thut  dies  im  Wachzustande  und  zeigt 
sich  dabei  amnestisch  für  die  Suggestion. 

Am  andern  Tage  19.  U  1899  erinnert  er  sich  (im  Wachzustande)  dieser  Vor- 
nahme vom  18.  U.  1899,  es  gelingt  aber  auch  an  diesem  Tage  weder  im  Wach- 
zustande, noch  in  Hypnose  die  Amnesie  für  die  erwähnten  Vorgänge  vom  17.  IL 
1899  zu  beheben. 


^)  Er  beschreibt  also  eine  ganz  bestimmte  Stube,  meine  Wohnstube,  welche 
gleich  am  Hauseingange  liegt. 

*)  Er  hat  diese  Stuben  gelegentlich  betreten,  irgend  ein  Anfall  in  denselben 
ist  aber  mit  Sicherheit  auszuschliessen. 

')  Auch  hier  räth  er  wieder  und  zwar  falsch. 


Zar  Kasuistik  der  hypnotischen  Behandlung  der  Epilepsie.  67 

Kommen  wir  nun  auf  die  oben  mitgetheilten  „Analysen**  zurück,  so  war  jene 
Aeusserung  des  Schwagers,  „wir  wollen  ihn  liegen  lassen  etc.**  das  einzige,  was  von 
dem  Patienten  der  Wirklichkeit  entsprechend  wiedergegeben  wurden.  Die  An- 
gehörigen versichern,  dem  Patienten  diese  Aeusserung  nicht  wieder  erzählt  zu 
haben.  Andererseits  ist  eine  solche  Aeusserung  doch  wieder  so  natürlich  und  nahe- 
Kegend,  dass  ich  nicht  glaube,  auf  Grund  derselben  meine  Beurtheilung  der  vor- 
liegenden Frage  ändern  zu  sollen.  Ich  sehe  vielmehr  auf  Grund  des  vorliegenden 
Materials  in  den  Aussagen  des  Patienten  Bo.  Erinnerungstäuschungen,  die  bei 
seinem  keineswegs  wahrheitsliebenden  Character  wohl  besonders  leicht  auftreten 
konnten  und  dadurch  stets  neue  Nahrung  erhielten,  dass  ihm  nachweislich  von 
seiner  Umgebung  fast  immer  nach  den  Anfällen  die  Details  derselben  erzählt 
wurden  und  auch  das  Erlebniss  mit  dem  Heine  immer  wieder  als  Ursache  der 
ganzen  Erkrankung  hingestellt  wurde. 

In  Bezug  auf  die  Frage,  wie  weit  er  im  Wachzustande  über  „Erinnerungen'' 
ans  der  Zeit  früherer  Anfälle  Angaben  machen  konnte,  beobachtete  ich,  dass  er  am 
16.  IX.  1896  im  Wachzustande  keine  Aussagen  machen  konnte,  dagegen  sogleich 
in  der  Hypnose  die  ausgiebigsten  Mittheilungen  machte,  während  er  am  14.  IX. 
1896  auch  im  Wachzustande  seine  ganze  Erzählung  von  Heine  etc.  producirte. 

Ich  schloss  natürlich  an  die  „Analysen"  die  Suggestion,  dass  er  jetzt  an  der- 
gleichen gar  nicht  mehr  zu  denken  brauche,  alles  das  vergessen  werde  etc.  —  In 
der  Hypnose  nach  dem  Anfall  am  9.  IX.  1896  gab  er  dann  an,  er  habe  (während 
des  Anfalls)  zu  seinem  Bruder  gesagt,  sie  hätten  nur  älter  sein  sollen,  dann  hätten 
sie  den  Heine  tüchtig  „verhauen"  und  später  in  der  Hypnose  am  26.  XII.  1899 
antwortete  er  auf  meine  Frage:  „„Wo  war  denn  Heine?""  „Heine,  welcher 
Heine?!"    Er  hatte  ihn  also  thatsächlich  vergessen. 

Ich  möchte  hier  der  Meinung  Ausdruck  geben,  dass  auch  dieser  Suggestion 
eine  gewisse  Bedeutung  bei  der  Behandlung  zuzuschreiben  sei,  denn  sie  schaltete 
doch  bei  dem  Patienten  eine  störende  Gedankenreihe  aus,  mag  dieselbe  nun  direct 
von  dem  Erlebniss  oder  von  den  Erzählungen  der  Angehörigen  abzuleiten  sein  — 
und  also  auch  der  „Analyse",  so  wenig  dieselbe  auch  einer  Analyse  von  hysterischen 
Zuständen  an  die  Seite  gestellt  werden  darf. 

III.  Arbeiter  Friedrich  W.  zu  S.,  25  Jahre  alt,  consultirte  mich  am  19.  X. 
1896.  Character  der  Krämpfe:  Plötzliches  Hinfallen  (z.  B.  auf  dem  Perron  der 
Pferdebahn),  Bewusstlosigkeit,  Amnesie  (weiss  nicht,  dass  hinfiel  und  wie  nach 
Hause  gekommen),  gelegentlich  Znngenbiss.  Weiss  keine  Belastung  anzugeben, 
keine  Gelegenheitsursache.  Als  Abnormität  wird  ein  sehr  starker  Patellarreflez 
mit  Erschütterung  des  ganzen  Körpers  constatirt  —  sonst  nichts  Abnormes. 

Die  Hypnose  gelingt,  er  ist  fast  somnambul,  hat  jedenfalls  nach  dem  Erwachen 
keine  Erinnerung  an  eine  Unterredung  in  der  Hypnose.  Er  giebt  in  Hypnose  auf 
Befragen  an,  dass  er  vor  dem  Anfall  und  während  desselben  Feuerflammen,  die 
er  auch  als  Gespenster  bezeichnet,  sieht.  Es  blieb  dies  die  einzige  Sitzung,  er 
blieb  dann  aus  der  Behandlung  weg. 

lY.  Arbeiter  (in  einer  Zuckerraffinerie)  H.  zu  S.,  24  ^t  ^^^  ^^^t  k<^m  ^-^ 
23.  IX.  1897  in  meine  Behandlung.  Mutter  war  epileptisch.  Er  hat  leichte  und 
schwere  Anfälle,  erstere  mit  Schwindel  und  Geistesabwesenheit,  letztere  mit  Um- 
fallen und  Zungenbiss.  Hat  bis  zum  zweiten  Lebensjahre  Krämpfe  gehabt  und 
jetzt  seit  4  Jahren  wieder. 


58  W.  Hilger. 

Hypnose  24.  IX.  1897.  (Notiz:  er  hallacinirt  sehr).  Er  giebt  an,  irahrend 
eines  Anfalls  za  einem  Mitarbeiter  gesagt  zu  haben:  „Wo  soll  ich  denn  die  Klan 
(Syrnp)  hernehmen"*  —  vor  dem  Anfall  hat  Jemand  Kläre  yerschüttet  und  er  hat 
sich  geärgert  „über  die  Schweinerei". 

2.  Fernerer  Anfall :  Er  hat  am  Patemosterwerk  Reinigung  yorgenommen.  Die 
Mädchen  auf  der  Etage  darüber  haben  auch  reine  gemacht  und  haben  seine 
Maschine  bespritzt,  da  hat  er  Anfall  bekommen  und  im  Anfall  gesehen,  wie  Wasser 
gespntzt  wurde. 

3.  Fernerer  Anfall :  Es  hat  ihm  Jemand  gesagt,  deine  Braut  ist  ja  im  Kranken- 
hause, sie  hat  sich  verbrannt.  Da  hat  er  im  Anfall  die  Braut  im  Krankenhause 
gesehen  (obgleich  sie  gar  nicht  im  Krankenhause  war)  und  sie  hat  ihm  Vorwurfe 
gemacht,  weshalb  er  sie  nicht  besuche. 

4.  Fernerer  Anfall:  Seine  Hauswirthin  hat  ihm  gesagt,  sie  könne  heute  kein 
Mittagbrot  kochen,  er  solle  sich  Kaffee  kochen  —  da  hat  er  in  der  Fabrik  An&ll 
bekommen  und  nach  dem  Anfall  in  die  Säle  hineingerufen:  „Mittag**  —  obglöeh 
es  noch  viel  Zeit  vor  Mittag  war  (Controle  dieser  Aussagen  fehlt). 

Behandlung:  Er  schlief  täglich  zwei  Stunden  in  Hypnose.  Ein  Mitarbeiier 
gab  (am  4.  X.  97)  an,  dass  er  jetzt  lustig  und  munter  sei,  während  er  früher  tief- 
sinnig gewesen  sei. 

Vom  12.  X.  1897  ab  konnte  er  nur  alle  2  Tage  kommen.  Am  8.  XL  1897 
erfahre  ich,  dass  er  unsolide  gewesen  ist.  —  Die  Behandlung  wird  abgebrochen  — 
eine  bemerkenswerthe  Abnahme  der  Anfälle  ist  nicht  notirt. 

y.  Herr  Ba.  aus  D.,  31  Jahre  alt,  tritt  in  Behandlung  am  31.  XII.  1897. 
Schwere  convergente  und  gleichartige  Belastung.  Als  Kind  schon  Anfälle  gehabt, 
die  Anfälle  wurden  stärker  seit  dem  16.  Lebensjahre.  Häufigkeit  der  Anfalle: 
Alle  l^/t — 2  Monate.  Ich  beobachte  Anfälle  mit  Zungenbiss  und  Durchnässong 
seines  Ruhebettes. 

Er  giebt  an,  nach  den  Anfällen  „Bilder*^  zu  sehen,  die  er  auch  als  Kind 
„gehabt"  hat  (sieht  seine  verstorbene  Mutter),  er  wird  davon  erschreckt. 

In  der  Hypnose  theilt  er  später  noch  mehrere  Schreckbilder  mit :  Beerdigung, 
wie  er  solche  auf  dem  Lande  gesehen  hat,  eine  Leiche,  weissgekleidet,  mit  rothen 
Backen,  Schlangen  in  seinem  Arm  (Gefühl,  als  wenn  der  Arm  platzen  würde),  ein 
Posten,  der  ihn  beobachtet,  eine  Maus,  alles  dies  hat  ihn  mit  unerklärlicher  Angst 
erfüllt.  £r  erzählt  diese  Eindrücke  sehr  ausführlich,  während  er  vor  der  Hypnose 
und  auch  zunächst  in  der  Hypnose  angab,  „ich  kann  das  so  gar  nicht  sagen,  aber 
3—4  Stunden  nach  dem  Anfall,  da  hätte  ich  es  gekonnt". 

Der  Grad  der  Hypnose  ist  schwer  anzugeben,  die  Amnesie  konnte  nicht  sidier 
constatirt  werden,  wohl  aber  gelegentlich  das  Fehlen  derselben,  und  habe  ich  auch 
den  Eindruck,  dass  er  bei  Befolgung  der  Suggestion  der  Katalepsie  sein  Bewusst- 
sein  mitwirken  liess.  Man  würde  also  wohl  nur  von  leichter  Hypotaxie  sprechen 
können.  Er  wurde  6  Wochen  hindurch  täglich  5  Stunden  (Sonntags  etwa  3  Stunden) 
hypnotisirt.  Es  gelang,  seinen  obstipirten  Stuhl  zu  regeln  mit  Hülfe  von  suggerirtem 
„Pulver"  (Aqua  fontana),  Verbalsuggestion,  Faradisation  und  Reiben  des  Abdomens 
—  die  Anfälle  wurden  nicht  beeinflusst. 

VL  Arbeiterin  Charlotte  B.  zu  S.,  27  Jahre  alt,  kam  am  17.  I.  1898  in  meine 
Behandlung ;  Mutter  ist  Potatrix  und  Verbrecherin.   Patientin  leidet  an  Anfällen  seit 


Zur  Kasuistik  der  hypnotischen  Behandlang  der  Epilepsie.  59 

10  Jahren.  Character  der  Anfälle  (nach  der  BeBchreibang  ihrer  Hauiwirthio) : 
Plötzlich  starrer  Blick,  sofortiges  Hinfallen,  Bewosatlotrigkeit,  ConvulaioneD,  Schaom 
vor  Hand,  Znngenbiss.  Daaer  des  Anfalls  '/«  Stunde,  dann  1  Stunde  lang  Ver- 
wirrung. Häufigkeit  der  Anfälle:  Alle  4  Wochen.  Es  gelingt  nicht,  eine  Hypnose 
n  ercieien,  welche  einen  leichten  Grad  Ton  Somnolenz  Überschritte.  —  Nachdem 
rie  einige  Tage  zur  Behandlung  gekommen  ist,  auch  während  dieser  Zeit  eisen 
AnfiiU  gehabt  hat,  bleibt  sie  weg. 

Vn.  Alma  Oe.,  Oakonomentoehter  aus  Z.,  22  Jahre  alt,  kommt  am  1.  VI. 
1896  in  meine  Bebandlnng.  Keine  hereditäre  Belastung  zu  eroiren.  Die  Anfälle 
bestehen  seit  dem  12.  Lebensjahre,  waren  früher  viel  schlimmer  (ConvuUionen. 
Schaum  vor  dem  Uond,  Zungenbiss,  Urinabgang),  jetzt,  nach  Angabe  der  SÜef- 
matter,  tritt  nur  knrze  Bewnsstlosif^keit  auf  mit  Umfallen,  kurzer  Absence,  nachher 
Amnesie  (zwei  solcher  Anfälle  wurden  auch  von  mir  beobachtet).  Häufigkeit  der 
Anfälle;  Etwa  alle  8  Tage.  Die  Untersuchung  ei^iebt  keine  Abnormitäten.  Die 
HenitmatioQ  bleibt  hanSg  ans.    Grad  der  Hypnose:  Leichte  Hypotaxie. 

Sie  wird  b  Wochen  hindurch  in  täglich  2  hypnotischen  Sitzungen  (jede  zu 
2  Stunden)  behandelt. 

Der  Eintritt  der  Menstruation  wird  snggerirt,  aber  ohne  greifbaren  Erfolg, 
da  dieselbe  erst  nach  3 '/t  wöchentlicher  Behandlung  eintritt. 

Die  Anfalle  werden  nicht  beiuflnsst. 

Nach  einem  Anfall  am  14.  VI.  1898  mache  ich  den  Versuch  einer  Analyse.  Sie 
giebt  an,  sich  im  Schlafzimmmer  (in  der  Wohnung  ihrer  Tonte)  aufs  Bett  gelegt 
und  die  Tante  gerufen  zu  haben.  —  Sie  sagt  bei  dieser  Gelegenheit,  dass  sie  bei 
einem  früheren  Anfall  [an  meiner  Wohnung)  anch  nach  mir  gerufen  habe,  ich  hätte 
es  aber  nicht  gehört  (ich  war  nicht  zugegen  als  der  Anfall  begann  und  kam  erat 
B]^t«r  hinzu).  Dabei  hat  sie  keine  Erscheinungen  gehabt,  sie  hat  nur  gefühlt,  wie 
es  ihr  in  der  Brust  so  hoch  kam. 

Ich  faaee  die  wesentlicben  Funkte  zusammen: 


Wir  sehen  in  den  Fällen  I  und  II  die  ThaUache  erhärtet,  du> 
die  hypnotische  Behandlung  im  Stande  ist,  das  Krankheitsbild  der  ge- 
nuinen Epilepsie  im  günstigen  Sinne  zu  beeinflussen. 

In  Bezug  auf  die  Frage,  ob  eine  psychische  Thätigkeit  vor,  während 
und  nach  den  ADfälleu  reproducirt  werden   kann,   fand  ich   folgendes: 

Fall  I.  Die  Patientin  giebt  kurze  Ausrufe  (Fragen,  Ausrufe  der 
Abwehr)  während  des  Anfalles  von  sich.  Es  gelingt  in  somnambuler 
Hypnose  nicht,  einen  psychischen  Procesa,  der  diesen  Ausrufen  m 
Grunde  läge,  zu  reproduciren.  Auch  alle  sonstigen  Versuche,  die  An- 
fälle auf  psychische  Traumen  zurückzuführen  oder  überhaupt  mit  psy- 
chischen Vorgängen  in  Verbindung  zu  bringen  oder  psychische  Vor- 
gänge während  derselben  nachzuweisen,  sind  vergeblich. 

Fall  II.  Patient  wird  in  somnambuler  Hypnose  aufgefordert,  zu 
erzählen,  wie  er  einen  Anfall  bekommt.  Er  antwortet :  „ist  von  Schrecken 
gekommen"  und  theilt  die  Geschichte  eines  psychischen  Traumas  mit, 
welches  er  in  seiner  Jugend  erlitten.  JQr  beschreibt  Erlebnisse  vor, 
während  und  nach  den  Anfallen,  die  er  in  sinnlicher  Lebhaftigkeit 
wieder  vor  sich  sieht.  Diese  Scenen  sind  mit  Hallucinationen  aus  der 
Scene  des  psychischen  Traumas  vermischt.     Ich  forsche  dann  bei  seinen 


Zur  Kasuistik  der  hypnotischen  Behandlang  der  Epilepsie.  61 

Angehörigen  und  sonstigen  Zeugen  jener  Anfalle  nach  und  constatire, 
dass  jene  Scenen  sich  nicht  so  ereignet  haben,  wie  er  sie  dargestellt 
hat.  Nur  einmal  ist  eine  gleichgültige  Aussage  eines  dem  Anfalle  bei- 
wohnenden Verwandten  richtig  wiedergegeben.  Schliesslich  constatire 
ich  bei  einem  von  mir  selbst  beobachteten  Anfalle  eine  absolut  unheil- 
bare Amnesie. 

Fall  m.  Patient  giebt  in  fast  somnambuler  Hypnose  eine  Dar- 
stellung von  optischen  Erscheinungen,  die  bei  ihm  vor  und  während 
des  Anfalles  auftreten. 

Fall  IV.  Patient  erzählt  in  somnambuler  Hypnose  psychische  Ein- 
wirkungen, welche  jedesmal  den  Anfallen  vorhergegangen  sind.  Er 
giebt  an,  im  Anfall  Hallucinationen  gehabt  zu  haben,  welche  mit  diesen 
Einwirkungen  im  Zusammenhang  stehen  und  nach  dem  Anfall  motorische 
Entladungen,  die  ebenfalls  aus  diesen  Einwirkungen  resultiren.  Eine 
Controle  dieser  Angaben  liegt  nicht  vor. 

Fall  V.  Patient  theilt  in  hypotaktischer  Hypnose  Schreckbilder 
mit,  welche  ihn  nach  den  Anfällen  gequält  haben. 

Fall  VI.    Keine  Enquete  vorgenommen. 

FaU  VII.  Patientin  macht  in  hypotaktischer  Hypnose  die  Mit- 
theilung, dass  und  wo  der  Anfall  stattgefunden.  Sie  kann  femer  nur 
angeben,  „dass  es  ihr  in  der  Brust  so  hoch  kam". 

Diese  Resultate  sprechen,  soweit  sie  positiv  verwerthbar  sind,  gegen 
die  Annahme  der  Heilbarkeit  der  Amnesie  bei  genuiner  Epilepsie. 


Referate  und  Besprechungen. 


O,  W.Patrickf  Some  Peculiarities  of  the  Secondary  Pertonality. 
Psychol.  Rev.  V.  Nr.  6.   1898. 

Der  Verf.  beschreibt  automatische  Aeusserungen  (automatic  utteruieM)  dreier 
von  ihm  untersuchter  sogenannter  Medien.  Die  Arbeit  yerdient  Beachtimg  wegn 
der  Tendenz,  aus  welcher  er  derartige  Erscheinungen  zu  erklären  versacht.  Seine 
Forderungen  lassen  sich  dahin  zusammenfassen ,  dass  man  nicht  immer  wieder  die 
sogenannten  berühmten  Fälle  untersuchen  soll  (F.  denkt  wohl  besonders  an  den  in 
letzter  Zeit  viel  besprochenen  Fall  der  Mrs.  Piper;  Tergl.  Rieh.  Hodgeen,  A 
further  Record  of  Observations  of  Certain  Phenomena  of  Trance, 
Proceedings  of  the  Society  for  Psychical  Research  Part  XXXTTT,  Vol.  XIQ,  Feb.  1886 
u.  a.),  sondern  dass  man  eine  grössere  Anzahl  möglichst  einfacher  Fälle  stadiren  eoUte, 
um,  da  doch  bei  allen  sich  ungefähr  die  gleichen  Merkmale  zeigen,  auf  diese  Weise 
eine  Erklärung  für  die  complicirteren  zu  gewinnen.  Es  dürfte  daran  erizmeii 
werden,  dass  in  Amerika  dem  Studium  dieser  Erscheinungen  in  letzter  Zeit  viel- 
fache Beachtung  geschenkt  worden  ist  (vergl.  Harlow  Gale,  Psychical  Re- 
search in  American  Universities,  Proceedings  etc.  Part  XXXIII,  VoLXIIL 
Feb.  1898). 

Diese  sich  eigentlich  immer  wiederholenden  Merkmale  sind  nach  Patrick 
unter  anderem:  suggestibility ,  fluency,  absence  of  reasoning  power,  exalted  or 
heightened  memory,  exalted  power  of  constructiye  imagination,  a  tendency  to  tuI- 
garity  or  mild  profanity,  the  profession  of  „spirit^  identity  and  of  snpematoral 
knowledge,  a  certain  faculty  of  lucky  or  supematural  perception  ....  which  .  .  we 
may  call  a  kind  of  brilliant  intuition''.  Es  muss  femer  hervorgehoben  werden,  dasi 
P.  alle  telepathischen  und  spiritistischen  Er  kl  ärungs  weisen  ausdrücklich  verwirft  fir 
scheint  der  von  Mr.  Podmore  gegebenen  Erklärung  zuzuneigen  (St u dies  in 
Psychical  Research,  London,  Kegan  Paul,  Trench,  Trübner  &  Co.  New  York, 
S.  P.  Putman^s  Sons  1897.  pp.  458.  Eine  Besprechung  dieser  Arbeit  von  Andrew 
Lang  befindet  sich  in  dem  oben  erwähnten  Februarhefte  der  Proceedings  etc. 
p.  604):  ^One  cannot  indeed  fail  to  be  impressed  by  the  similarity  of  these  traiti 
to  what  we  know  or  conjccture  about  the  primitive  mind."  P.  spricht  hier  mit 
Podmore  von  "instances  of  survival  or  rcversion''  und  sagt  zum  Schloss,  ohne 
eine  bestimmte  Theorie  aufstellen,   sondern  vielmehr  nur  den   Weg  einer  Unter- 


Referate  und  Besprechungen.  63 

Buchungsmethodik  zeigen  zu  wollen:  "Still  other  peculiarities  suggest  the  same 
theory.  such  as  the  extreme  suggestibility  and  motor  Force  of  ideas,  marks  of  anto- 
matism  and  of  the  hypnotic  state,  and  at  the  same  time  characteristic  of  the  child 
and  savage  mind.  In  close  relation  to  this  is  the  peculiar  intimate  connection 
between  ideas  and  organic,  nutritive  and  circulatory  processes,  best  shown  in 
hypnosis,  and  common  to  this  group  of  phenomena.  In  view  of  such  facts  as 
these,  certain  of  the  more  simple  physiological  theories  of  double  personality  gain 
considerable  plausibility,  such,  for  instanoe,  as  the  revival  of  disuied  and  outgrown 
brain  tracts,  particularly  perhaps  those  of  the  less  specialized  hemisphere.  The 
frequent  appearance  in  automatic  writing  of  Spiegelschrift,  which  occurs  also 
among  children^  lends  some  support  to  this  view." 

So  sehr  ich  einerseits  mit  der   hervorgehobenen  allgemeinen  Tendenz  meines 
Freundes  Patrick  einverstanden  bin,  so  schwer  wird  es  mir  andererseits,  in  diesen 
und  ähnlichen  Ausfährungen  eine  wirkliche  Erklärung  der  in  Rede  stehenden  Er- 
scheinungen oder  auch  nur  den  Weg  zu  einer  solchen  erblicken  zu  können.  Mir  scheint 
vielmehr,  dass  eine  genaue  Prüfung  des  allgemeinen  psychischen  Zustandes  der  be- 
treffenden Medien  auf  Grund  der  Functionen  des  normalen  Rewusstseins  und  ihrer 
gesetzmässigen  Beziehungen  die  erste  Bedingung  und  der  Ausgangspunkt  für  den 
Erklärungsversuch  dieser  Erscheinungen  sein  müsste.    Mir  scheint  weiter,    dass  die 
wissenschaftliche  Behandlang  der  Hypnose,  wie  sie  namentlich  auch  von  den  Heraus- 
gebern dieser  Zeitschrift  betrieben  wird,  auf  die  berichteten  Erscheinungen  einiges 
liicht  werfen  dürfte.    Ob  dies  bisher  in  hinreichendem  Maasse  geschehen  ist,  scheint 
mir   einigermaassen  zweifelhaft.     Patrick  wie  auch  Hodgson   und  andere  er- 
wähnen die  Hypnose,  ohne  sie  aber,  wie  mir  scheint,  erschöpfend  auszunutzen.    Ich 
glaube,   es  bedarf  hiezu  eines   geübten  und   erprobten   Spezialisten.     Fassen   wir 
mit  Wundt  die  Saggestion   auf  als  „Association   mit  gleichzeitiger  Verengerung 
des  Bewusstseins  auf  die  durch  die  Association  angeregten  Vorstellungen  (Hypno- 
tiamus  u.  Suggestion,  Phil.  St.  Bd.  8)  und  nehmen  wir  weiter  an,  dass  schon  der  blosse 
Vorsatz  oder  das  Verlangen,   ein  solches  Experiment  anstellen  zu  wollen,  im  Sinne 
einer  Suggestion   oder  Aatosuggestion  wirken   kann,  so   wird   schon   dadurch  der 
hypnotische  Zustand  bei  diesen  Personen  in  mehr  oder  minder  hohem  Gh*ade  hervor- 
gerufen.    Die  einseitige  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auf  bestimmte,   in  irgend 
einer  Weise  zu  Stande  gekommene  abnorme  Vorstellungsgruppen  täuscht  dann  leicht 
das  vor,  was  Patrick  und  auch  vor  ihm  andere  eine  secundäre  Persönlichkeit  nennen. 
Die  Annahme  einer  solchen  scheint  mir  daher  unnöthig.    Wie  leicht  in  der  Hypnose 
Vorstellungsreihen  wachgerufen  werden  können,  die  im  normalen  Zustande  ver- 
gessen sind,  ist  bekannt.    Es  ist  hierbei  gleich,  ob  diese  Vorstellungen  ursprünglich 
in  der  Hypnose  suggerirt  oder  sonstwie  durch    das    normale    oder  anormale  Be- 
wusstsein  erworben  wurden.    Besonders  der  3.  der  unten  näher  beschriebenen  Fälle 
Patrick's  scheint  mir  durch  die   Annahme  einer  (vielleicht  nur  partiellen)  Hyp- 
nose durchaus  erklärlich.    P.  giebt  an,  dass  Henry  W.  leicht  zu  hypnotisiren  war. 
Es  ist  auffallend,  wie  oft  „Laton**  (der  Name  des  angeblichen  Geistes)  auf  das  letzte 
Wort  der  Frage  reagirt.    Vielfach  durchkreuzen  sich  die  suggerirten  Vorstellungen 
und  ihre  Theile  mit  solchen,  die  gleich  anfangs  vorhanden  waren.    Henry  W.  ist 
schon  früher  einmal  hypnotisirt  worden.    Man  erfährt  nicht,  was  in  diesem  Zustande 
mit  ihm  geschehen  ist.    Eine   Verwandte  von  ihm  war  Spiritistin.    Es   ist  wahr- 
scheinlich, dass,  obwohl  er  selber  nicht  Spiritist  ist  und  keine  spiritistische  Litte- 


64  fleferate  und  Besprechungen. 

ratar  liest,  doch  aus  jener  Zeit  Vorstellungen  in  ihm  latent  sind,  die  im  Zustande 
des  automatischen  Schreibens  leicht  geweckt  werden.  Patrick  konnte  nichti 
über  den  angenommenen  Namen  Laton  erfahren.  Trotzdem  dürften  die  constant 
wiederkehrenden  Vorstellungen  ursprünglich  auf  eine  nicht  mehr  su  ermittelnde  Weiss 
mit  diesem  Namen  assocürt  gewesen  sein.  Man  vemüsst  in  Patrick's  Bericht 
nähere  Angaben  über  den  Zustand  des  Henry  W.  während  des  Experimentes.  Wsr 
er  sich  dessen,  was  er  las,  klar  bewusst?  Wie  schlug  er  das  Blatt  nm,  wenn  « 
mit  der  einen  Hand  schrieb  und  in  der  andern  das  Buch  hielt? 

Um  auf  die  übrigen  beiden  Fälle  eingehen  zu  können,  musaten  die  Angab« 
etwas  ausführlicher  sein.  Alle  3  I^le  mögen  nachstehend  kurz  beschrieboi 
werden : 

Der  erste  Fall  betrifft  ein  weibliches  Medium,  das  P.  in  einer  kleinen  Stadt 
des  Westens  der  Vereinigten  Staaten  fand.  P.  ist  sicher,  daas  diese  Frmn  kdae 
Betrügerin  war.  Sie  gerieth  zeitweise  ,,into  a  trance".  Nach  dem  Erwachen  ist 
sie  sich  der  Aeusserungen,  die  sie  in  diesem  Zustande  gethan,  nicht  mehr  bewual 
Sie  nimmt  in  demselben  die  Persönlichkeit  eines  Quäkerarztes  oder  eines  klemea 
Mädchens  Emma  an.  Beide  Persönlichkeiten  gaben  an,  Geirter  yerstorbener  Men- 
schen mit  übernatürlichem  Wissen  begabt  zu  sein.  Verf.  unterhielt  sich  eine 
Stunde  lang  mit  „Emma".  Diese  erkannte  den  Wohnort  und  die  Beschäftigung 
des  Verfassers. 

Der  2.  Fall  Patrick's  betrifft  eine  automatische  Schreiberin.  Sie  gab  wähmd 
des  automatischen  Schreibens  an,  von  dem  Oeiste  ihrer  verstorbenen  Matter  be- 
seelt zu  sein.  Auf  Patrick's  Frage  schrieb  sie  correct,  dass  er  3  Schwestern  uad 
2  Brüder  habe,  dass  die  Brüder  beide  jünger  seien  als  er  und  daas  eine  6m 
Schwestern  jünger,  die  beiden  anderen  aber  älter  seien  als  er.  Beim  Schreiben  d« 
Namen  der  Schwestern  wurde  anfangs  ein  Versehen  gemacht,  das  aber  später 
verbessert  wurde. 

Der  3.  Fall  des  Verf.  betrifft  einen  seiner  Studenten,  Henry  W.,  der  eben£dl% 
wie  schon  oben  bemerkt,  ein  automatischer  Schreiber  war.  Er  behauptete,  waUh 
matisch  schreibend,  der  Geist  eines  gewissen  Bart  Laton  zu  sein.  Um  in  den  Zu- 
stand des  automatischen  Schreibens  zu  gerathen,  vertiefte  sich  die  Versuchspersoo 
in  ein  interessantes  Buch  oder  in  eine  Zeitung,  während  die  rechte  Hand  auf  einen 
Tische  ruhte  und  auf  die  gestellten  Fragen  hier  die  Antworten  niederschrieb. 

Dr.  F.  Kiesow-Turin. 

Eulenburg^  Ä.,  Ueber  Arbeitscuren  (Beschäftigungscuren)  bei 
Nervenkranken.    Die  Therapie  der  Gegenwart.    1899,  1. 

Der  Verfasser  warnt  vor  den  allzu  grossen  Hoffnungen,  die  neuerdings  an  die 
Behandlung  Nervenkranker  durch  Erziehung  zur  Arbeit,  wie  sie  durch  die  bekannten 
Anregungen  3ioebiu8'  mehr  als  früher  in  der  psychischen  Therapie  zur  Discusöon 
gestellt  worden  ist,  geknüpft  werden.  Trotz  seiner  sceptischen  Haltung  erkennt 
Eulenburg  die  Bestrebungen  und  Erfolge  des  Ingenieurs  Grohmann,  der  in 
Zürich  unter  den  Auspicien  Forel's  ein  in  diesen  Blättern  schon  eingehender  ge- 
würdigtes Beschäftigungsinstitut  gründete,  rückhaltslos  an.  Nur  rechnet  er  die 
Erfolge  des  Laien  Grohmann  mehr  dessen  pädagogischem  Geschick  und  aof- 
opferungsvollen  Hingabe  als  der  Curspecialität  selbst  zu. 

G  r  o  tj  ah  n-  Berlin. 


Kritische  Bemerl(ungen  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Lelire 

vom  Hypnotismus. 

Von 

Dr.  philos.  Leo  Hirschlaff,  Arzt  in  Berlin. 

(2.  Fortsetzung.) 


Wir  kommen  zum  theoretischen  Theile  unserer  Ausführungen.  Der 
erste  Punkt,  der  uns  hier  beschäftigen  soll,  ist  der  alte  Streit  zwischen 
der  Schule  Oharcot's  und  der  Schule  von  Nancy.  Seitdem  Del- 
boeuf  auf  dem  1892  er  Congresse  für  experimentelle  Psychologie  in 
London  den  paradoxen  Ausspruch  gethan :  ,,I1  n'y  a  pas  d'hypnotisme, 
11  n'y  a  que  de  la  Suggestion^ ,  schien  es  längere  Zeit,  als  wäre  der 
Streit  endgültig  zu  Gunsten  der  NaDcyer  Schule  entschieden.  In  der 
neueren  Literatur  jedoch  tauchen  allmählich  wieder  Stimmen  auf,  die 
die  physiologische  Auffassung  Charcot's  aufs  Neue  zu  beleben  und 
zu  vertheidigen  suchen.  Während  Bergmann^^^)  im  Sinne  der 
Nancyer  Schule  die  Hypnose  als  einen  passiven  Ruhezustand  des  Ge- 
hirns bezeichnet  und  nur  einen  graduellen  Unterschied  der  Suggestiv- 
Phänomene  gegen  die  Erscheinungen  des  normalen  Wachzustandes  gelten 
lässt,  wenden  Voisin^^*)  und  Schaffer^^*)  sich  zum  Theil  wieder 
der  somatischen  Auffassung  Charcot's  zu.  Yoisin  beschreibt  einen 
Fall  von*  hysterisch-epileptischen  Couvulsionen,  den  er  ohne  Hülfe  der 
Schlafsüggestion,  nur  mit  Hülfe  des  rotirenden  Spiegels  von  Luys 
hypnotisirte ;  doch  ist  nicht  abzusehen,  warum  die  Autosuggestion  des 
Schlafes  bei  diesem  Verfahren  ausgeschlossen  sein  sollte.  Eine  syste- 
matische Untersuchung  über  die  physischen  Erscheinungen  in  der 
Hypnose  hat  Schaf  f er  veranstaltet.  Er  findet  als  constantes  Symptom 
der  Hypnose  eine  sensomusculäre  Uebererregbarkeit,  die  er  ebenso  wie 

Zeitschrift  fttr  Hypnotismoa  etc.    IX.  & 


^6  Leo  Hinchlaff. 

die  Suggestibilität  als  eine  Theilerscbeinung  der  Hypnose  anffasst.  Auf 
diese  Weise  versucht  er,  den  Gegensatz  zwischen  den  beiden  Scholoi 
zu  vermitteln.  Auch  wir  glauben,  dass  nicht  Alles,  was  in  der  Hypnose 
beobachtet  wird,  rein  psychisch  durch  Suggestion  zu  Stande  kommt» 
sondern  dass  dabei  physiologische  Momente  mitwirken,  die  von  der 
Suggestion  relativ  unabhängig  sind.  Auch  der  Eintritt  der  Hypnose 
kann  nach  unserer  Meinung  ohne  ausdrückliches,  bewusstes  Auftreten 
einer  Schlafsuggestion  oder  Autosuggestion  sich  vollziehen,  wie  auch 
Vogt  bei  der  später  zu  besprechenden  Theorie  des  Schlafes  gegen 
LiSbeault  und  Delboeuf  bestätigt. 

Es  folgen  einige  bemerkenswerthe  Untersuchungen  über  die  physio- 
logischen und  psycho-physiologischen  Erscheinungen  der  Hypnose.  Zu 
diesem  Kapitel  hat  Döllken^^'^)  in  erster  Reihe  einige  treffliche  Bei- 
träge geleistet.  Er  fand  in  der  Hypnose  eine  Abnahme  der  Perceptions- 
fähigkeit  der  verschiedenen  Sinne  in  bestimmter  Reihenfolge;  zuletzt 
wurden  stets  das  Gehör  und  das  Empfindungsvermögen  der  Haut  beein- 
trächtigt Im  Ganzen  stellten  sich  die  physiologischen  Veränderungen  in  der 
tiefen  Hypnose  folgendermaassen  dar:  1.  Das  Auge  war  nach  oben  gerollt 
in  Convergenzstellung ;  die  Pupillen  mittelweit,  auf  Lichteinfall  und  Aoco- 
modation  langsamer  reagirend  als  sonst;  anscheinend  fand  sich  concentrische 
Einengung  des  Gesichtsfeldes;  der  Augenspiegelbefund  war  negativ; 
die  Bewegungen  der  Augen  normal;  Sehschwäche  bis  zur  Amaurose. 
2.  Die  Prüfung  des  Gehörorganes  ergab  eine  Herabsetzung  der  Gehör- 
schärfe. 3.  Das  Gleiclie  Hess  sich  bei  der  Geruchsprüfung  feststellen. 
4.  Die  Untersuchung  des  Tastsinnes  der  Haut  ergab  eine  Herabminde- 
rung der  Empfindlichkeit  des  Berührungssinnes,  ebenso  der  Schnelligkeit 
der  Localisatiou,  und  einen  um  1 — 5  cm  grösseren  Irrthum  bei  der 
Locnlisation  als  in  der  Norm ;  ferner  Hypalgesie,  Thermhypästhesie, 
Lageempiindung  der  Glieder  häufig  aufgehoben,  nach  Besinnen  dag^^ 
vorhanden ;  ebenso  Hess  sich  bei  der  Sensibilitätsprüfnng  durch  Lenkung 
und  Concentration  der  Aufmerksamkeit  die  Perceptionsfahigkeit  schon 
nach  30 — 60  Secunden  steigern.  5.  Die  Bewegungen  in  der  Hypnose 
waren  träger  als  im  Wachzustande.  Auch  eine  Erschwerung  des 
Sprechens  wurde  vereinzelt  in  der  Hypnose  beobachtet.  Bei  plötzlichem 
Eintritt  der  Hypnose  oder  plötzlichem  Tieferwerden  derselben  zeigte 
sich  ein  subjectives  Hitzegefühl,  dessen  Grund  wir  allerdings  in  einer 
accidentellen  Autosuggestion  erblicken.  Derartige  Autosuggestionen 
dürften  sich  nach  unserer  Meinung  nie  vermeiden  lassen,  wo  ein  snb- 
jectiv-wissentliches  Verfahren   der  Beobachtung  angewendet  wird  und 


Kritiiche  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  y.  Hypnotiemus.       159 

ticherlich  zum  Theil  angewendet  werden  muss.  So  verdankt  z.  B. 
Döllken  einen  Theil  seiner  Beobachtungen  dem  Umstände,  dass  er 
seine  Hypnotiker  bittet,  alles  Besondere,  was  sie  fühlen  oder  bemerken, 
in  oder  nach  der  Hypnose  ihm  mitzutheilen.  Wir  meinen,  dass  die 
auf  diese  Weise  gewonnenen  Beobachtungen  einer  sehr  strengen  Kritik 
bedürfen,  besonders  wenn  sie  sich  auf  den  Causalzusammenhang  zweier 
firscheinxmgen  beziehen.  Eine  weitere,  werthvoUe  Beobachtung  von 
Döllken  betrifft  die  Erscheinungen,  die  als  Folge  einer  suggerirten 
Anästhesie  irgend  eines  Sinnesgebietes  auftreten.  Es  fand  sich  dabei 
stets  auf  der  gleichen  Seite:  1.  Aufhebimg  des  Schmerz-,  Tast-  und 
Temperatorsiunes;  2.  Verminderung  bis  Auf  hebung  des  Kniephänomens 
bei  erschlaffter  Musculatur;  Unfähigkeit,  feinere  Bewegungen  auszu- 
fahren; 4.  Gehstörungen;  5.  Muskelkraft  =  0  am  Dynamometer;  con* 
oentrische  Einengung  des  Gesichtsfeldes ;  7.  Hypacousie;  8.  Hyposmie; 
9.  Lageempfindung  der  Glieder  undeutlich  bis  aufgehoben.  Aehnliche 
Beobachtungen  sind  schon  früher  von  v.  Bechterew  und  Lannegräce 
Teröffentlicht  worden. 

Crocqfils^^*)  hat  den  Nachweis  erbracht,  dass  die  Stärke  der 
Abnahme  jeder  Form  der  Sensibilität  und  der  Ideenassociation  im  ge- 
raden Verhältnisse  zur  Tiefe  der  Hypnose  steht.  BramwelP^')  hat 
Zeitschätzungsversuche  au  Hypnotisirteu  veranstaltet:  die  Suggestion, 
nach  4335  oder  11470  Minuten  ein  Kreuz  auf  ein  vorliegendes  Blatt 
Papier  zu  machen,  realisirte  sich  stets,  gleichviel  ob  die  Kopfrechnung 
gestattet  oder  unterdrückt  wurde,  mit  einem  Fehler,  der  5  Minuten 
nicht  überstieg.  Bei  Gelegenheit  anderer  Experimente  gelang  es  dem* 
selben  Forscher,  die  Zahl  und  Spannung  des  Pulses  zu  beeinflussen, 
die  Unterschiedsempfindlichkeit  der  einzelnen  Sinne  deutlich  zu  steigern 
und  die  Fähigkeit  der  Zeitschätzung,  ebenso  wie  das  Gedächtniss  er- 
heblich zu  vermehren,  v.  Bechterew ^^®)  prüfte  die  Dauer  einfacher 
psychischer  Vorgänge  in  der  Hypnose  bei  Hysterischen  und  fand  die 
einfache  Reactionszeit  und  die  Erkennungszeit  verlängert,  die  Zeit  des 
Bechnens  mit  einfachen  Zahlen  dagegen  verkürzt;  durch  Suggestion 
gelang  es  ihm,  eine  Verkürzung  der  Reactionszeiten  herbeizuführen, 
unsere  eigenen  Erfahrungen  stimmen  mit  diesen  Versuchsergebnissen 
nicht  überein.  Wir  fanden  keine  Veränderung  der  einfachen  psychischen 
Vorgänge  in  der  Hypnose  —  ein  unwissentliches  Versuchsverfahren 
vorausgesetzt;  —  auch  gelang  es  uns  nie,  durch  speciell  darauf  ge- 
richtete Suggestionen  eine  Veränderung  zu  erzielen.     Doch  sind  unsere 

Eizperimente   in    dieser   Beziehung    noch    nicht    völlig    abgeschlossen. 

5* 


gg  Leo  Hinohlaffl 

Patrizi^^*)  hatte  das  seltene  Glück,  mit  einem  Knaben  experimen- 
tiren  zu  können,  der  eine  Schädelöffnung  zeigte.  Er  studirte  die 
Beziehungen  der  Aufmerksamkeitscurve  zur  Curve  der  VolumschwaD- 
kungen  des  Gehirns.  Die  Aufmerksamkeitscurve  wurde  in  der  Weise 
erzeugt,  dass  längere  Zeit  hintereinander  in  Pausen  von  2  SeeundeD 
einfache  Schalbreactionen  ausgeführt  und  graphisch  gemessen  wurdaa. 
Das  Ergebniss  der  Untersuchungen  wird  dahin  ausgesprochen,  duB 
zwischen  den  Schwankungen  der  specifischen  Activität  der  Hirnzellen, 
wie  sie  in  den  angegebenen  Aufmerksamkeitsyersuchen  zum  Ausdmdc 
gelangen,  und  den  Schwankungen  der  Girculation  im  Gehirn,  wie  öe 
den  Volumenveräuderungen  desselben  zu  Grunde  liegen,  ein  geeeti- 
mässiger  Zusammenhang  nicht  ezistirt. 

Zur  Auffassung  der  Träume  hat  Vogt^^^j  einige  werth?olle  Bei- 
träge geliefert.  Während  F  o  r  e  1  ein  ununterbrochenes  Träumen  während 
des  Schlafes  annimmt,  behauptet  Vogt,  dass  dies  nicht  der  Fall  sein 
könne,  da  zur  Entstehung  der  Träume  eine  Ungleichmässigkeit  der 
centralen  Erregbarkeit  nothwendig  sei;  diese  könne  bei  manchen  Per- 
sonen nicht  zu  Stande  kommen,  da  sie  sofort  tief  einschlafen«  Vogt 
unterscheidet  mit  Liebe  ault  2  Arten  von  Träumen:  1.  diejenigen  des 
oberflächUchen,  2.  die  des  tiefen  Schlafes.  Den  Träumen  des  ober- 
flächlichen Schlafes  liegt  nach  Vogt 's  Theorie,  die  wir  weiter  unten 
näher  kennen  lernen  werden,  eine  diffuse  Herabsetzung  der  centralen 
Erregbarkeit  zu  Grunde.  Die  auftretenden  Erinnerungsbilder  haben 
die  Intensität  von  Emfindungen,  daher  ist  der  Träumende  kritiklos; 
ferner  ist  der  Inhalt  dieser  Träume  unlogisch  und  unzusammenhängend 
mit  der  Persönlichkeit,  cv.  ihr  entgegengesetzt.  Die  Träume  des  tiefen 
Schlafes,  die  Vogt  zur  Erklärung  der  früher  erwähnten  Erscheinung 
der  spontanen  Somuambulie  in  der  Hypnose  heranzieht,  zeichnen  sich 
dagegen  durch  Amnesie  und  motorische  Aeusserungen  aus.  Ihnen  liegt 
ein  einseitig  eingeengter  Bewusstsoinszustand  zu  Grunde ;  sie  sind  logisch 
und  von  der  Persönlichkeit  des  Träumenden  abhängig.  Die  motorischen 
Aeusserungen  dieser  Träume  können  in  3  Formen  in  die  Erscheinung 
treten:  1)  als  einfache  Ausdrucksbewegungen,  2)  als  sprachliche  Aeusse- 
rungen, 3)  als  coinplicirte  Handlungen.  Wir  können  dieser  Classi- 
fication der  Träume  nach  Vogt  im  Allgemeinen  beistimmen,  ohne 
jedoch  einen  so  scharfen  Unterschied  in  Bezug  auf  den  Zusammenhang 
der  Träume  mit  der  Persönlichkeit  des  Träumenden  finden  zu  können: 
auch  in  den  Träumen  der  tiefsten  Somnambulhypnose  haben  wir  aus- 
nahmsweise Erscheinimgen  angetroffen,   die  der  Persönlichkeit  der  be- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  y.  HypnotismoB.        69 

treffenden  Kranken  zweifellos  entgegengesetzt  waren,  ohne  dass  es  sich 
ain  hysterische  Symptome  handelte. 

Zwei  Selbstbeobachtungen  während  des  hypnotischen  Zustande»  sind 
▼on  Wetters  trän  d^*^)  veröffentlicht  worden;  sie  schliessen  sich  den 
Beobachtungen  an,  die  bisher  von  Obersteiner,  Bleuler,  Tatzel, 
Vogt  und  Brodmann  veröffentlicht  worden  sind.  Im  ersten  Falle 
handelte  es  sich  um  einen  Neurastheniker,  der  3  Monate  lang  täglich 
eine  halbe  Stunde  lang  hypuotisirt  und  dadurch  von  seinen  Beschwerden 
geheilt  wurde,  die  in  Angtszuständen,  Grübelsucht,  Misstraueu,  Un* 
schlüssigkeit  und  Willensschwäche  bestanden.  Seine  Beobachtungen 
über  die  Hypnose  stellen  sich  folgendermaassen  dar:  er  fühlte,  dass  er 
schlief;  er  hörte  die  fremden  Stimmen  und  hörte  sie  doch  wieder  nicht; 
er  fühlte,  dass  er  während  des  Schlafes  eine  grössere  Macht  über  sich 
hatte,  als  er  geglaubt;  dadurch  trat  eine  Zunahme  der  Energie  und 
ein  Gefühl  von  Glück  und  Kraft  ein;  die  Suggestionen,  die  Wetter- 
Btrand  gab,  wiederholte  sich  der  Patient  fortwährend  in  der  Hypnose; 
alle  Experimente  misslangen;  als  vernehmlichstes  Resultat  der  wieder« 
holten  Hypnosen  empfand  und  bezeichnet  der  Patient  die  Stärkung 
seines  Willens.  Diese  Beobachtung  ist  vorzüglich  geeignet,  die  Be- 
denken derer  zu  zerstreuen,  die  von  wiederholten  Hypnotisirungeu  eine 
Schwächung  des  Willens  befürchten.  Auch  in  dem  zweiten  Falle  der 
Wetterstrand 'sehen  Veröffentlichung  gab  der  Patient  an,  zu  wissen, 
dass  er  schlief,  obwohl  er  den  Zustand  lieber  als  eine  stille  Ruhe,  denn 
als  wirklichen  Schlaf  bezeichnen  wollte;  als  besondere  Annehmlichkeit 
des  Zustandes  empfand  er,  dass  keine  peinigenden  Gedanken,  keine 
unangenehmen  Phantasien  und  unklaren  Seelenäusserungen,  wie  sonst 
im  wachen  Zustande,  vorhanden  waren;  auch  ihm  prägten  sich  die 
Worte  des  Hypnotiseurs  so  fest  ein,  dass  er  auch  im  Wachzustande 
öfters  daran  erinnert  wurde.  Unsere  persönlichen  Erfahrungen  an 
Hypnotisirten,  die  ihre  Beobachtungen  über  den  hypnotischen  Zustand 
uns  unaufgefordert  mittheilten,  stimmen  mit  den  gegebenen  Schilderungen 
▼öUig  überein. 

Um  die  Theorie  der  Hypnose  zu  ergründen,  hat  man  den  hypno» 
tischen  Zustand  seit  Längerem  in  Parallele  gesetzt  zu  dem  natürlichen 
Schlafe.  Auch  in  der  neueren  Literatur  ist  die  Frage  nach  der  Iden- 
tität von  Schlaf  und  Hypnose  mehrfach  behandelt  worden.  Während 
Forel  beide  Zustände  im  Wesentlichen  für  identisch  hielt  und  Andere^ 
wie  Kraepelin,  Moll,  Bernheim  und  Delboeuf  mindestens  eine 
nahe  Verwandtschaft  zwischen  ihnen  gelten  lassen  wollten,   behauptet 


70  Leo  HinohUff. 

Pöllken,  dass  Schlaf  und  Hypnose  principiell  Ton  einander  ftr* 
schieden  seien :  im  Schlafe  bestehe  Desorientirung  über  Zeit  und  Baua, 
dagegen  in  der  Hypnose  nicht;  in  der  Hypnose  dagegen  sei  Bappert 
und  gesteigerte  Suggcstibilität,  femer  eine  grössere  PassiTität  ab  im 
Schlafe^  eine  Verlangsamung  des  Ideenablaufes  und  eine  geringim 
GefUhlsbetonung  der  Wahrnehmungen  zu  constatiren;  endlich  sei  ei 
möglich,  die  Personen  nach  Belieben  in  Schlaf  oder  Hypnose  zu  rer- 
setzen.  Auch  Max  Hirsch^--)  spricht  sich  für  eine  Verschiedenheit 
des  natürlichen  und  künstlichen  Schlafes  aus,  weil  im  normalen  Schlafe 
die  Aufmerksamkeit  gleichmässig  vertheilt,  in  der  Hypnose  dagegen 
einseitig  concontrirt  sei.  LiSbeault^^^)  und  Vogt  dagegen  plai- 
diren  für  eine  Identification  beider  Zustände.  LiSbeault  giebt  zwar 
zu,  dass  kleine  Unterschiede  zwischen  beiden  vorhanden  seien,  wie  z.  B. 
das  Fehlen  des  Schlafbedürfnisses  bei  der  Hypnose,  sowie  die  Er- 
scheinungen des  Bapportes  und  der  Katalepsie;  indessen  überwiegen 
nach  ihm  die  Aehnlichkeiten,  die  er  in  der  Verlangsamung  bis  zum 
Aufiiüren  der  Denkthätigkeit  und  der  Bewegung,  sowie  in  der  Un- 
empfindlichkeit  für  Sinnesreize,  dem  Augenschluss  und  der  Entstehung 
aus  der  Schlafvorstellung  erblickt,  zumal  da  beide  Zustände  in  einander 
übergeführt  werden  können.  Vogt  anerkennt  im  gleichen  Sinne  nur 
einen  quantitativen  Unterschied  zwischen  dem  natürlichen  und  künst- 
lichen Schlafe,  die  nach  ihm  beide,  wie  wir  später  sehen  werden,  in 
einer  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  der  Hirnrinde  bestehen.  Nach  seiner 
Meinung  ist  der  Mechanismus  des  Schlafes  stets  der  n&mliche,  gleich- 
viel wie  derselbe  ausgelöst  wird ;  der  Rapport  bildet  keinen  specifischen 
Unterschied  zwischen  der  Hypnose  und  dem  Schlafe;  im  spontanen 
Schlafe  können  ebenso  wie  in  der  Hypnose  somnambule  Bewusstseüis- 
zuständc  eintreten,  die  in  eine  Hypnose  übergeführt  werden  können. 
Auch  das  Argument  MolTs,  dass  in  der  H}'pnose  abnorme  Bewe-* 
gungen.  wie  sie  bei  Chorea,  Athetose  etc.  sich  vorfinden,  nicht  auf- 
hören,  während  dieselben  Bewegungen  im  natürlichen  Schlafe  sistiien, 
wird  von  Vogt  auf  Grund  mehrerer  Beobachtungen  widerlegt.  Endlich 
wird  von  Vogt  noch  die  plethysmographische  Untersuchung  ins  Feld 
geführt,  die  für  das  Einschlafen  beim  spontanen  Schlafe  die  gleiche 
chanicteristische  Ourve  zeigt  wie  bei  der  Hypnose.  In  dieser  Hinsicht 
hat  Berillon^-^)  im  Vereine  mit  Verdin  in  einem  Falle  von  trau- 
matischer Neurose  die  Untersuchungen  Vogt 's  in  Bezug  auf  die  Puls^, 
Athmungs-  und  Herzstosscurve  bestätigt.  Im  Uebrigen  leugnet  auch 
Vogt  nicht  die  Verschiedenheiten  der  beiden  Schlafzustände  in  Bezug 


Krititohe  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  y.  Hypnotismoa.       71 

auf  Tiefe  und  Ausdehnung  der  Schlaf hemmung,  Schnelligkeit  des  Ein* 
tretens  und  hegleitende  Sensationen;  aber  er  hält  diese  Unterschiede 
für  secxmdärer  und  rein  quantitativer  Natur.  Nach  unserer  Meinung 
mit  Unrecht.  Denn  wenn  man  sich  an  die  klinische  Beobachtung  hält, 
kann  es  nach  unserem  Dafürhalten  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass 
die  Zustände  des  spontanen  und  des  sog.  provocirten  Schlafes  so  weit 
▼on  einander  yerschieden  sind,  dass  eine  qualitative  Identification  uns 
unmöglich  erscheint.  Diese  klinische  Verschiedenheit  erstreckt  sich  auf 
alle  3  Phasen  des  Schlafvorganges :  das  Einschlafen,  den  Schlafzustand 
selbst  und  das  Erwachen.  Das  Einschlafen  beim  natürlichen  Schlafe 
gebt  mehr  oder  minder  langsam  von  Statten,  bei  der  Hypnose  dagegen 
nicht  selten  blitzartig  schnell,  auf  den  einfachen,  suggestiven  Befehl. 
Der  Zustand  während  des  spontanen  Schlafes  ist  durch  eine  gänzliche 
Aufhebung  des  Bewusstseins  ausgezeichnet,  die  sich  später  als  Des- 
orientirung  über  Raum  und  Zeit,  Unbeeinflussbarkeit  durch  äussere 
Seize  und  die  Empfindung  einer  einfachen  Lücke  in  der  Bewusstseins- 
kette  offenbart;  während  der  Hypnotisirte  sicherlich  bei  Bewusstsein 
ist,  wenn  dieses  auch  noch  so  sehr  eingeschränkt  sein  sollte;  ebenso 
wie  er  über  Baum  und  Zeit  orientirt  bleibt,  durch  äussere  Reize  be- 
einflussbar ist  und  trotz  eventueller  Amnesie  mindestens  die  nachträg- 
liche Empfindung  hat,  dass  etwas  mit  ihm  vorgegangen  ist,  auf  dessen 
flinzelheiten  er  sich  freilich  nicht  sogleich  besinnen  kann.  Endlich 
erfolgt  das  Erwachen  aus  dem  spontanen  Schlafe  langsam  und  allmählich, 
während  man  die  tiefste  Somnambulh}'pnose  durch  das  einfache  Wort: 
Wach!  im  Augenblick  in  den  Wachzustand  übertlihren  kann.  Diese 
Unterschiede  werden  besonders  in  die  Augen  fallend,  wenn  man  Ge- 
legenheit hat,  den  spontanen  Schlaf  und  den  somnambulen  Zustand 
bei  einer  und  derselben  Person  zu  beobachten.  Dabei  leugnen  auch 
wir  keineswegs,  dass  zwischen  beiden  Zuständen  manche,  allerdings 
mehr  nebensächliche  Beziehungen  obwalten,  unter  denen  die  die  Hypnose 
meist  begleitende  Müdigkeit  vielleicht  die  auffallendste  sein  dürfte. 
Auch  lassen  sich  manche  Uebergangsformen  zwischen  dem  natürlichen 
Schlafe  und  der  Hypnose  beobachten,  die  die  Auffassung  v.  Schrenck- 
Notzing's^'^)  berechtigt  erscheinen  lassen,  wenn  er  die  hypnotischen 
Zustände  1)  in  solche  ohne  Schlaf,  2)  in  solche  mit  Schlafillusion,  3)  in 
•olche  mit  wirklichem  Schlafe  eintheilt.  Indessen  glauben  wir,  dass 
die  Schlafähnlichkeit  der  Hypnose  ein  mehr  accidentelles  Symptom,  um 
nicht  zu  sagen,  eine  suggestive  Tlieilerscheinung  des  hypnotischen  Zu- 
itaodes  sei,  der  sehr  wohl  auch,  wie  wir  uns  experimentell  überzeugt 


72  ^''^o  Hinchlafif. 

haben,  aus  dem  ErscheinuDgscomplex  fortgelassen  werden  kann,  ohne 
dass  der  Zustand  aufhört,  die  characteristischen  Kennzeichen  der  Hy- 
pnose darzubieten;  denn  diese  characteristischen  Zeichen  sind,  wie  wir 
ausführen  werden,  wesentlich  psychischer  Natur.  Ob  es  therapeutisch 
zweckmässig  ist,  die  psychische  Zustandsänderung,  die  wir  mit  dem 
Namen  der  Hypnose  belegen,  auf  dem  Wege  der  Soggestion  bezw. 
Autosuggestion  mit  denjenigen  physiologischen  Symptomen  zu  com- 
biniren,  die  eine  gewisse,  mehr  oder  minder  weitgehende  Schlafahnlicb- 
keit  repräsentiren,  ist  eine  Frage,  die  hier  nicht  zur  Erörterung  steht, 
die  wir  aber  nicht  ohne  Einschränkungen  bejahen  möchten. 

Die  soeben  gegebene  Ausführung  leitet  uns  ungezwungen  über  zur 
Theorie  des  Schlafes  und  der  Hypnose.  Wir  referiren  zunächst  etwas 
ausführlicher  die  Ansichten  der  Autoren  über  diesen  Punkt,  obwoU 
sie  in  der  Mehrzahl  mehr  interessante  Speculationen  und  geistroUe 
Hypothesen,  als  wahrhaft  brauchbare  und  der  £[ritik  Stand  haltende 
Theorien  darstellen.  Eine  psychologische  Theorie  des  Schlafes  stellt 
Li^beault^^')  auf.  Er  erklärt  den  Schlaf,  im  Gregensatze  zum 
activen  Wachzustände,  als  einen  passiven  Seelenzustand,  in  dem  eine 
Bewusstseinsspaltung  nach  2  Richtungen  hin  stattfindet:  1)  am  Trag- 
heitspole,  wo  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Schlafvorstellung  concentrirt 
ist;  2)  am  Thätigkeitspole,  wo  die  Aufmerksamkeit  in  verminderter 
und  ungeordneter  Weise  sich  im  Intellectuellen  und  Sinnlichen  bethätigt 
Je  tiefer  der  Schlaf  ist,  desto  mehr  büsst  der  Geist  des  Schlafenden 
nach  Licbeault  die  Fähigkeit  ein,  über  genügend  reflectorische  Auf* 
merksamkeit  zu  verfügen,  um  logisch  denken  und  mit  der  gleichen 
Schärfe  und  Willenskraft  handeln  zu  können  wie  im  Wachleben. 
Während  des  —  künstlichen  oder  natürlichen  —  Schlafes  strömt  die 
Aufmerksamkeit  aus  allen  Centren  und  Nerven  auf  den  centralen  Sitz 
der  Schlafvorstellung  zu,  während  sie  beim  Erwachen  zu  den  sensiblen 
Nerven  -  Endapparateu  zurückkehrt  und  zugleich  das  Erinnerungs- 
bild des  Erwachens  erweckt  Die  psychischen  Erscheinungen  beim 
Einschlafen  verlaufen  also  in  centripetaler,  beim  Erwachen  in  centri- 
fugaler  Sichtung.  Das  Erwachen  erfolgt,  wenn  die  Aufmerksamkeit 
den  Weg  in  unser  Gedächtniss  und  unsere  Sinne  gefunden  hat.  Diese 
psychologische  Theorie  von  der  ungleichen  Vertheilung  der  Denkthätig" 
keiten  auf  2  einander  entgegengesetzte  Pole  findet  eine  physiologische 
Analogie  in  dem  Hinweis  auf  die  einander  entgegengesetzte  Function 
der  Hirn-  und  fiückeumarkscentreu,  gerade  so  wie  auch  den  psychischen 
Vorgängen    physiologische    „Himdynamismen"    parallel   laufen.      Zur 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.        73 

Kritik  dieser  psychologischen  Theorie  haben  viiv  zu  bemerken,  dass  sie 
Tor  Allem  der  psychologischen  Beobachtung  widerspricht.  Denn  1)  existirt 
im  Schlafe  niemals,  in  der  Hypnose  aber  überaus  selten  im  Bewusstsein 
eine  Schlafvorstellung ;  2)  ist  die  Aufmerksamkeit  weder  im  Schlafe, 
noch  in  der  Hypnose  vermindert  und  in  ungeordneter  Weise  thätig,  da 
sie  vielmehr  im  Schlafe  gänzlich  cessirt  und  in  der  Hypnose  gesteigert 
und  concentrirt  ist,  wenn  auch  in  einseitiger,  durch  die  Suggestion  be- 
stimmter Richtung;  nicht  einmal  die  reflectorische  Aufmerksamkeit 
braucht  in  der  Hypnose  vermindert  zu  sein,  obwohl  wir  im  Allgemeinen 
aus  Zweckmässigkeitsgründen  bestrebt  sein  werden,  dies  durch  specielle 
Suggestion  zu  erreichen.  Die  ganze  „Theorie"  stellt  daher  nichts  weiter 
dar  als  eine  unglückliche,  den  Thatsachen  der  Beobachtung  wider- 
sprechende Verbildlichung  einer  auch  für  sich  selbst  verkehrten,  physio- 
logischen Hypothese;  denn  warum  im  Schlafe  die  Himdynamismen 
centripetal,  im  Erwachen  dagegen  centrifugal  verlaufen  sollen,  muss 
bis  auf  weiteren  Beweis  dahingestellt  bleiben.  Der  ßegriflf  der  Bewusst- 
seinsspaltung  endlich,  die  womöglich  noch  ins  „Unbewusste"  veriegt 
werden  soll,  gehört  nicht  in  eine  wissenschaftliche  Discussion. 

Nach  dieser  .,psychologischen"  Theorie  mögen  uns  eine  Reihe 
physiologischer  Theorien  beschäftigen.  In  erster  Reihe  ist  hier  Land- 
mann^*')  zu  nennen,  obwohl  wir  uns  vorbehalten  müssen,  eine  aus- 
führlichere Darstellung  seiner  Anschauungen  erst  bei  der  Besprechung 
der  Theorie  der  Hysterie  zu  bringen.  Er  behauptet,  dass  die  Vorstel- 
lungen von  den  subcorticalen  Granglienzellen,  das  sämmtliche  Bewusstsein 
dagegen  von  den  Grosshim-Rindenzellen  gebildet  werde:  eine  vollständige 
Hypnose  sei  daher  bedingt  durch  eine  künstlich  herbeigeführte  Functions- 
Unfähigkeit  (Anämie)  der  sämmtlichen  subcorticalen  Ganglien  und  Hirn- 
rindenzellen  und  beruhe  auf  einer  Unthätigkeit  der  verbindenden  Nerven- 
f&den.  Die  Ejritik  dieser  Theorie  soll  später  an  dem  bezeichneten  Orte 
erfolgen;  hier  genüge  die  Bemerkung,  dass  der  Nachweis  einer  Anämie 
des  Gehirns  im  Schlafe  zur  Zeit  noch  nicht  einwandsfrei  erbracht  ist 
und  dass  selbst  mit  diesem  Nachweise  das  Problem  noch  nicht  erledigt 
sein  kann,  wenn  nicht  zugleich  der  Beweis  geführt  wird,  dass  die  Him- 
ämie  die  primäre  Ursache  und  nicht  ein  secundäres  Begleitsymptom 
des  Schlafes  ist. 

Auf  den  neuesten  Forschungsergebnissen  der  Histologie  des  Central- 
nervensystems  basirt  die  Theorie  des  spontanen  und  hypnotischen 
Schlafes  von  van  de  Lanoitte.^*®)  Nach  Golgi  und  Ramon  y 
Oajal  stehen  die  Nervenzellen  untereinander  nicht  durch  Contiuuität  in 


74  -Lm  Hinchlaff. 

Verbindung,  sondern  durch  einfkche  Contigoität  der  EndyersweigmigMi 
der  Achsencylinder  einer  Nervenzelle  mit  Protoplasmafortsätzen  einer 
anderen ;  Lockerung  oder  Lösung  des  Contactes  der  Endbäumchen  b»* 
dingt  daher  Hemmung  oder  Ausfall  der  Leitnngsfahigkeit.  Nim 
beruhen  alle  Leistungen  der  Nervenelemeute  auf  Schwingangen  oder 
Strömungen,  deren  Fortpflanzung  sich  nach  Art  der  electrischen  In- 
ductiou  vollzieht.  Es  liegt  daher  die  Annahme  nahe,  dass  die  fimctio- 
nellen  Störungen  des  Nervensystems^  unter  Anderem  auch  die  HjpnoM 
und  der  normale  Schlaf,  auf  einer  Erschwerung  oder  Unterbrechmig 
dieser  Contactübertragung,  also  auf  einer  Unmöglichkeit  der  Ableitung 
von  Reizen  beruhen,  die  ihre  physiologisch-anatomische  Ursache  in  der 
Verkürzung  resp.  gänzlichen  Vernichtung  der  unter  normalen  Verhält- 
nissen den  Contact  herstellenden  feinsten  Endverzweiguugen  der  Neu« 
rone  hat.  Diese  Annahme  ist  leicht  zu  rechtfertigen,  wenn  man  bedenkt, 
dass  die  Nervenzellen  nichts  weiter  als  Amöben  sind,  die  ihre  Pseudo- 
podien ausstrecken  oder  zurückziehen.  Die  Verlängerung  resp.  Ana- 
sendung solcher  flugerfürmiger  Fortsätze  würde  die  üebertragung  des 
nervösen  Erreguugsvorganges  von  einem  Neuron  auf  ein  anderes 
erleichtem,  eine  lobhaftere  Thätigkeit  der  Nerven functionen  auslösen,  die 
sich  auf  motorischem  Gebiete  zu  erhöhter  Reflexerregbarkeit,  KrampfeD, 
Contracturen  und  Convulsionen,  auf  sensiblem  Gebiete  zu  Parästhesieo, 
Hyperästhesien  und  Neuralgien,  auf  psychischem  Gebiete  endlich  ra 
hypomanischen,  maniakalischen  und  deliranten  Zufallen  steigern  kann; 
während  umgekehrt  eine  Zurückziehung  dieser  Ramificationen  die 
Lockerung  und  Verminderung  der  Communicationen  zwischen  den 
Nervenelemcnteu;  in  Folge  dessen  eine  Erschwerung  oder  Aufhebung 
der  nervösen  Leistungen  verursacht,  z.  B.  Anästhesien,  Paresen  und 
psychische  Hemmungen.  Thee.  Caffee,  Tabak,  Alc^hol  würde  demnach 
direct  den  Amöboismus  der  sich  berührenden  nervösen  Endorgaoe 
steigern,  Morphin  dagegen  die  Contactverbindungen  lockern.  Wie 
Curare  ausschliesslich  die  Endverzweigungen  der  motorischen  Nerven 
beeinflusst,  so  kann  man  annehmen,  dass  z.  B.  das  Strychnin  durch 
Wirkung  auf  den  oberflächlichen  Contact  der  Nervenzellen- Veräste- 
lungen die  Veränderung  der  Reflexerregbarkeit  hervorbringt:  ebenso 
könnten  psychische  Momente  im  Sinne  eines  Reizanstosaes  oder  einer 
Concentration  der  psychischen  Thätigkeit  auf  ein  einziges  Geiatesgebiet 
wirken  und  die  functionellen  Zustände  des  Nervensystems  verändern. 
In  diesem  Sinne  sollen  die  Suggestionen  und  der  hypnotische  Zustand 
wirken.     Nach  van  de   Lanoitte  wäre  demnach  der  Hypnotiamas 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.       75 

im  Stande,  ein  Ausstrecken  oder  Zurückziehen  der  Protoplasmafort- 
sätze zu  erzeugen,  dadurch  Hemmungscentren  zu  schaffen,  krankhafte 
Bahnen  zu  unterdrücken  und  unterbrochene  Verbindungen  wieder  an- 
zukuüpfen,  kurz,  die  nervöse  Induction  herzustellen  oder  aufzuheben, 
wo  sie  abnorm  war,  und  in  Folge  dessen  Contracturen,  Lähmungen 
und  Schmerzen  zum  Verschwinden  zu  bringen.  Bevor  wir  auf  eine 
Kritik  dieser  Theorie  eingehen,  müssen  wir  einer  gleichen  „histologischen" 
Schlaftheorie  Erwähnung  thun,  die  von  Pupin^^^)  aufgestellt  worden 
ist  Auch  nach  ihm  sind  alle  functionellen  Leistungen  der  Nerven- 
elemente an  die  Contactstellen,  articulations,  derselben  zu  verlegen; 
die  Endverzweigungen  der  Protoplasmafortsätze  der  Nervenzellen  sind 
im  Wachzustände  in  beständiger  amöboider  Bewegung.  Im  Schlafe 
dagegen  findet  eine  Erschwerung  oder  Aufhebung  der  Beizübertragung 
statt,  dadurch,  dass  die  Protoplasmaverzweigungen  den  Ooutact  mit  den 
Endbäumchen  des  benachbarten  AchsencyUnders  aufgeben  oder  lockern, 
indem  sie  entweder  seitlich  abweichen  oder,  nach  Analogie  der  Tentakel 
niederer  Organismen,  durch  Coutraction  sich  zurückziehen  oder  ver- 
kürzen. Dieses  Auseinanderweichen  der  Endverästelungen  zweier  Neu- 
rone bewirkt  eine  Lücke  in  der  Bahn,  die  so  gross  werden  kann,  dass 
eine  Erregungswelle  dieselbe  nicht  mehr  zu  überspringen  im  Stande  ist : 
das  nervöse  Element  kommt  zur  Ruhe,  es  schläft.  Wie  jedoch  bei 
hoher  Spannung  ein  electrischer  Strom  trotz  grossen  Abstandes  Funken 
zwischen  den  beiden  Polen  übertreten  lässt,  so  vermag  auch  hier  ein 
stärkerer  Beiz  die  Distanz  zu  überwinden ;  der  Erregungsvorgang  dringt 
bis  zum  Gehirn  vor  und  verursacht  dort  entweder  Unterbrechung  des 
Schlafes  oder  die  Entstehung  von  Träumen.  Die  Localisation  dieser 
Functionshemmung  sind  die  Verbindungen  zwischen  den  peripheren 
und  centralen  sensitiven  Neuronen,  aber  auch  innerhalb  der  Grosshim- 
eentren  selbst,  in  den  höheren  Associationsbahnen.  Die  Entstehung 
des  Schlafes  wird  demnach  von  Pupin  zurückgeführt:  1)  auf  Er- 
schöpfung oder  Ermüdung  der  nervösen  Elemente;  2)  auf  das  Fern- 
halten äusserer  Beize.  Nicht  das  Gehirn  allein,  sondern  fast  alle 
Neurone  schlafen;  es  giebt  nicht  nur  einen  Schlaf,  sondern  so  viele 
partielle  Scblafzustäude,  als  es  Arten  von  Neuronen  giebt. 

Wir  haben  mit  Absicht  diese  histologischen  Speculationen  in 
breiterer  Ausführlichkeit  dargestellt,  um  zu  zeigen,  wie  vortrefflich  eine 
Theorie  allen  Thatsachen,  deren  Erklärung  man  von  ihr  erwarten  darf, 
gerecht  werden  kann,  trotzdem  die  Theorie  selbst  auf  einer  nachweislich 
falschen  Grundlage  aufbaut.     Diese  Erscheinung   darf  freilich   nicht 


76  ^o  Hinchlaff. 

wunder  nebmen,  wenn  mau  bedenkt,  dass  an  eine  Theorie  der  nerrSsen 
Functionen,  die  auf  alle  Beobachtungsthatsachen  zugeschnitten  sein 
soll,  im  Grunde  genommen  nur  eine  einzige  Forderung  zu  stellen  ist: 
d.  i.  zu  erklären,  auf  welche  Weise  eine  quantitative  Veränderung  — 
Erleichterung  oder  Erschwerung,  Bahnung  oder  Hemmung  —  der  nei^ 
YÖsen  Functionen  zu  Stande  kommen  kann.  Zu  diesem  Behufe  bieten 
sich  nun  der  wilden  Speculation  vielerlei  Möglichkeiten  dar.  Mao 
könnte  z.  B.  annehmen,  dass  die  Erregungswelle,  das  Neurokym,  nicht 
einmal,  sondern  mehrfach  in  den  Nervenbahnen  hin-  und  herläuft^  und 
zwar  je  grösser  der  Beiz,  desto  häutiger  und  schneller,  während  im 
Zustande  der  Ermüdung  etwa  eine  chemische  Veränderung  der  Nerven- 
substanz im  Sinne  eines  Zäher-  oder  Klebrigerwerdens  derselben  ein- 
tritt, wodurch  die  Nervenwelle  aufgehalten,  gehemmt  werden  muss. 
Man  könnte  fenier  die  Hypothese  aufstellen,  dass  nach  Art  der  Muskel- 
contractiou  auch  die  Nervenfasern  die  Fähigkeit  haben,  an-  uud  abzu« 
schwellen,  um  auf  diese  Weise  die  Erscheinung  der  Bahnung  und 
Hemmung  zu  erklären.  Man  könnte  endlich  auf  die  Blut-  und  Lymph- 
gefasse  recurriren,  die  die  Nervenbahnen  begleiten;  ja,  selbst  die 
Schmidt-Lantermann'  sehen  Einkerbungen  könnten  zu  dem  Zwecke 
herhalten,  indem  man  ihnen  zumuthet,  sich  nach  Art  der  Venenklappen 
aufzublähen  und  dadurch  die  Nervenwelle  aufzuhalten;  oder  die  von 
Engelmann  entdeckten,  an  der  Stelle  der  Ranvier'schen  Schnür- 
ringe befindlichen,  winzigen  Discontinuitäten  des  Achsencyliiiders,  die 
sich  nach  dem  Bedarfe  und  der  Phantasie  eines  speculativen  Kopfes 
vergrössern  oder  verkleinern  könnten.  Warum  sind  alle  diese  Hypo- 
thesen werthlos?  Weil  sie  des  Beweises  ermangeln.  Der  gleiche  Vor- 
wurf trifft  aber  auch  für  die  „histologische"  Schlaftheorie  von  van  de 
Lanoitte  und  Pupin  zu.  Zwar  sind  amöboide  Bewegungen  der 
dendritischen  Verzweigungen  der  Ganglienzellen  auch  von  einigen 
Histologen  behauptet  worden.  Indessen  ist  es  unvorsichtig,  auf  solche 
mit  grosser  Vorsicht  aufzunehmenden  Behauptungen  hin  weittragende 
Theorien  zu  gründen,  zumal  wenn  man  bedenkt,  dass  nach  einer  alten 
neurologischen  Erfahrung  die  maximale  Lebensdauer  derartiger  histo* 
logischer  Hypothesen  die  Zeitdauer  von  5  Jahren  nicht  überschreitet. 
Aber  selbst  angenommen,  dass  wirklich  derartige  amöboide  Bewegungen 
nicht  in  das  grosse  Eeich  der  Phantasie  gehören,  so  dürfte  schon  eine 
einfache  Ueberlegung  zeigen,  dass  für  die  Theorie  der  nervösen  Func- 
tionen hiermit  nichts  gewonnen  ist.  Die  amöboiden  Bewegungen  der 
Leucocyten  des  Blutes,   die  man  unter  dem  Mikroskop  bei  geeigneter 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.       77 

VersachsanordnuDg  direct  beobachten  kann,  ermüden  den  Beobachter 
darch  die  ausserordentliche  Langsamkeit,  mit  der  sie  von  Statten  gehen. 
Wenn  aber  dies  schon  in  dem  leicht  beweglichen  Blute  stattfindet, 
um  wieviel  mehr  erschwert  müssen  diese  Bewegungen  erst  im  Gehirne 
6ein,  dessen  Consistenz  doch  beträchtlich  grösser  ist  als  die  des  Blutes. 
Daher  ist  ein  so  flottes  ümherkrabbeln  und  Durcheinaoderkriechen  der 
Protoplasmafortsätze,  wie  es  van  deLanoitte  und  Pupin  behaupten 
und  wie  es  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  nothwendig  wäre,  sicher- 
lich nur  in  einer  besonders  bevorzugten  Phantasie  möglich.  Um  das 
Unglück  vollständig  zu  maohen,  hat  Held'*®)  auf  Grund  neuer  Färbe- 
methoden den  Nachweis  erbracht,  dass  beim  neugeborenen  Hunde  zwar 
da,  wo  die  Endverzweigungen  eines  Achsencylinders  und  der  Proto- 
plasmaleib der  Zellen  zusammentreten,  sich  zuerst  eine  deutliche  De- 
marcationslinie  findet,  die  aber  im  Laufe  von  einigen  Tagen  der  Elnt- 
wickelung  verschwindet,  so  dass  dann  ein  continuirlicher  Uebergang 
zwischen  beiden,  also  eine  Verwachsung  der  Neurone  unter  einander 
stattfindet;  eine  Behauptung,  die  übrigens  von  Dogiel,  Arnold, 
Wagner  u.  A.  bestätigt  wird.  Wohin  kommen  wir,  wenn  wir  den 
ephemeren  Behauptungen  der  Histologen  auf  dem  Fusse  folgend 
psychologische  Constructionen  ins  Blaue  hinein  errichten  ?  Wir  halten 
es  für  förderlicher,  gar  keine  Theorie  aufzustellen,  als  sich  in  billigen 
und  unbegründeten  Speculationen  zu  ergehen,  die  nur  den  einen  Vor- 
zug haben,  dass  sie  noch  leichter  zu  widerlegen  als  aufzustellen  sind. 
Nicht  viel  günstiger  steht  es  um  die  Auffassung,  die  Schleich ^*^) 
Als  eine  „Psychopbysik  des  natürlichen  und  künstlichen  Schlafes^  preist. 
Schleich  bekämpft  den  unreellen,  rein  phantastischen  Hemmungs- 
mechanismus, mit  dem  überall  gearbeitet  wird.  Er  schreibt  der  Neuro- 
glia  die  Bolle  eines  Isolationsmechanismus  zu,  deren  active  Function 
in  der  Hemmung  der  electroiden  Spannung  der  Achsencylinder  u.  s.  f. 
liegt.  Die  Actionsfähigkeit  dieses  Isolirapparates  beruht  auf  einer 
wechselnden  Plasmafüllung  der  Neuroglia- Protoplasmamasse.  Die 
Mooszellen  der  Neuroglia,  die  die  Achsencylinder  umspinnen,  wie  die 
Seidenfaden  die  electrischen  Drähte,  stehen  in  Verbindung  mit  den 
perivasculären  Lymphträumen  der  Hirngefässe,  ferner  mit  tieferen  sym- 
pathischen Centren,  durch  die  Vermittlung  der  Vasomotoren  der  Hirn- 
gefässe. Daher  der  Einfluss  der  Blutfülle  auf  die  Grossbimfunction, 
der  sich  bei  Schleich  genau  entgegengesetzt  darstellt,  als  es  der  ge- 
wöhnlichen Annahme  entspricht;  eine  Erscheinung,  die  nur  dadurch 
ermöglicht    wird,    dass  Thatsachen    in  dieser    Beziehung  noch    nicht 


78  -I^oo  Hinchlaff. 

bekannt  sind.  Nach  Schleich  bewirkt  demnach  HyperSmie  stärkere 
PiasmafüUung  der  isolirenden  NeurogliaplasmazelleD ,  daher  stärkere 
Isolation,  also  Hemmung,  i.  e.  Qliaaction;  Anämie  dagegen  erzeugt 
Neurogliaschwächung ,  verminderte  Isolation,  ungehemmte  Erregungs- 
fähigkeit  der  Ganglien,  Vermehrung  der  Associationen  etc.  Schleich 
fasst  daher  den  natürlichen  Schlaf  auf  „als  einen  durch  Anpassung 
oder  Vererbung  erlernten  Mechanismus  der  Hemmung  zwecks  Aus- 
schaltung des  läsibeln,  jüngsten,  bildungs-,  wachsthums-  und  schonungs- 
bedürftigsten Theiles  der  Grosshirnrinde.  Er  tritt  ein,  wenn  von  den 
Centren  des  schon  definitiv  regulirten,  mehr  vegetativen  Lebena  auf 
dem  Wege  des  Reflexes  die  Neuroglia  in  Action  versetzt  wird.  Das 
geschieht  einmal  periodisch  und  ist  eine  dem  Organismus  von  aussen 
aufgezwungene  Nothwendigkeit  (Eintritt  der  Nacht,  Fehlen  des  Sonnen- 
lichtes), oder  aber  er  stellt  sich  atypisch  ein,  wenn  dieser  Reflex  auf 
andere  Weise  zur  Auslösung  gelangt  (Uebermüdung,  Hypnose,  Stönmgen 
der  Gefass-  und  Nervenfunction  etc.).  '  Der  Schlafende  tritt  damit 
zurück  in  einen  Zustand,  in  welchem  eine  Vorperiode  psychischer 
Fähigkeiten  den  einzigen  Bestand  des  Bewusstseins  ausmachte,  und  so 
dürfte  man  den  Schlaf,  die  Hypnose  imd  den  Somnambulisums  auf- 
fassen als  ein  periodisches  Zurücksinken  in  frühere  Daseinsperioden. 
Nach  dieser  Anschauung  enthalten  sowohl  der  künstliche  Schlaf,  wie 
die  cataleptischeu  Zustände,  sowie  die  somnambulischen  Actionen  der 
Hypnose  nichts  Räthselhaftes  mehr :  es  spielt  sich  eben  Alles  im  Unter- 
bewusstsein  ab."  Damit  ist  der  rettende  Anker  gefunden:  statt  einer 
Erklärung  oder  eines  Beweises  ein  darwinistisches  Schlagwort ;  und  was 
sich  dann  noch  nicht  fügen  will,  kommt  ins  Unterbewusstsein.  Zur 
Kritik  der  Scbleich'schen  Schlaftheorie  lässt  sich  nicht  viel  sagen. 
Der  Atavismus  und  das  Unterbewusstsein  sind  2  Begriffe,  mit  denen 
sich  schlechthin  Alles  und  noch  einiges  mehr  erklären  lässt:  ihre  An- 
wendung in  der  Wissenschaft  sollte  daher  als  grober  Unfug  gerügt 
werden.  Werden  die  cataleptischeu  Erscheinungen  der  Hypnose  etwa 
dadurch  weniger  räthselhaft,  dadurch  dass  sie  sich  in  einem  unmöglichen 
Unterbewusstsein  abspielen?  Ist  denn  jede  Verminderung  der  psy- 
chischen Functionen,  mag  sie  nun  dauernd  oder  vorübergehend  sein, 
blos  deswegen  schon  eine  Erscheinung  des  Atavismus,  ein  Zurück- 
sinken in  frühere  Daseinsperioden,  weil  sich  die  Entwicklung  der 
Menschheit  naturgemäss  von  einer  niederen  zu  einer  höheren  Stufe 
vollzogen  hat?  Wo  steckt  die  Logik  in  dem  Schlüsse:  Früher  war  die 
Menschheit  geistig  und  seelisch  minder  entwickelt;  heutzutage  tritt  ein 


KriÜBche  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.       79 

periodischer  Wechsel  zwischen  dem  Yollbewussten  Wachsein  und  dem 
Schla&ostande  ein,  in  dem  die  Thätigkeit  der  Seele  vorübergehend 
raht:  also  pendelt  unser  Dasein  zwischen  der  früheren  und  der  jetzigen 
Daseinsperiode  hin  und  her?  Es  ist  schade,  dass  soviel  Geist  an  so 
nichtige  Dinge  verschwendet  wird. 

Um  nicht  eintönig  zu  wirken,  besprechen  wir  nunmehr  der  Ab- 
wechslung halber  eine  physiologische  Theorie,  die  von  Krampf'*) 
aufgestellt  worden  ist.  Dieser  Autor  erklärt  die  Hypnose  durch  primitive 
Contraction  der  Carotis  int.  oder  durch  Erhöhung  der  nervösen  Activität 
in  dem  Plexus  carot.  int.  und  secundäre  Erweiterung  der  A.  carot.  ext. 
und  A.  vertebr.  in  Folge  des  Collateralkreislaufes.  Die  motorischen  und 
secretorischen  Phänomene  des  hypnotischen  Schlafes  kommen  dadurch 
zu  Stande,  dass  die  erweiterten  Halsarterien  auf  die  benachbarten  Nerven 
[in,  IV,  VII(?)]  drücken.  Ausserdem  soll  das  Rückenmark  mehr  Blut 
erhalten,  besonders  durch  die  Aa.  spinales  post.,  welche  dann  direct 
auf  die  hinteren,  sensibel n  Wurzeln  des  Rückenmarks  drücken.  Diese 
Erregung  pflanzt  sich  dann  in  den  Verzweigungen  der  Wurzeln  ent- 
sprechend fort  und  ruft  einen  Reflextonus  in  den  vorderen,  motorischen 
Wurzeln  hervor,  der  sich  in  Catalepsie  äussert.  Die  Catalepsie  ent- 
steht also  durch  Erhöhung  der  nervösen  Energie  in  den  motorischen 
Vorderhomganglien,  bewirkt  durch  Zufluss  arteriellen  Blutes.  Zum 
Beweise  dieser  Theorie  dient  der  magere  Hinweis,  dass  alle  Methoden 
des  Hypnotisirens  geeignet  seien,  die  Erregung  des  Plex.  carot.  int. 
hervorzurufen.  Dieser  Beweis  scheint  uns  gänzlich  unzureichend.  Ab- 
gesehen davon,  dass  eine  rein  physiologische  Theorie,  wie  sie  hier  vor- 
liegt, niemals  geeignet  sein  kann,  die  Erscheinungen  der  Hypnose  zu 
erklären,  da  diese  auf  psychischem  Wege  ausgelöst  werden,  ist  die 
Hypothese,  aufdieKrarup  seine  Anschauung  stützt,  zweifellos  falsch. 
Wenn  auch  die  Halsarterien  und  die  Aa.  spinales  post.  sich  noch  so 
sehr  erweitern,  —  was  zudem  noch  des  Nachweises  bedürfte  — ,  so 
könnte  doch  niemals  dadurch  ein  Druck  auf  die  Nerven  bezw.  die 
sensibeln  Wurzeln  des  Rückenmarks  hervorgerufen  werden,  da  die  Ge- 
fässe  in  der  lockeren  Umgebung,  in  der  sie  liegen,  genügend  Spielraum 
haben,  sich  auszudehnen,  ohne  dass  die  Nerven  dadurch  gedrückt 
werden.  Aber  selbst  wenn  dies  der  Fall  sein  sollte,  was  wir  für  aus- 
geschlossen halten,  entspricht  es  der  Erfahrung,  dass  durch  einfachen 
Druck  auf  den  HI.  IV.  und  VII  Gehirnnerven  die  motorischen  und 
secretorischen  Phänomene  des  hypnotischen  Schlafes  ausgelöst  werden 
können  ? 


gO  Leo  Ilirficbla£f. 

Die  beiden  folgenden  Theorien  beschäftigen  sich  mehr  mit  einer 
psychologischen  Analyse  des  hypnotischen  Zustandes,  als  mit  einer  Er* 
klärung  desselben ;  eine  Beschäftigung,  die  weit  fruchtbarere  Eigebnisse 
zeitigt,  als  die  planlose  Speculation.  Döllken  characterisirt  die 
Hypnose  als  eine  willkürliche  Reduction  der  Sinneathätigkeit  und  der 
associativen  Thätigkeit  auf  ein  Minimum  (Einengung  des  BewuastseiiiB), 
wobei  aber  nicht  eine  vollständige  Ausschaltung  dieser  Thätigkeiten 
staltfindet.  Physiologische  Bedingung  für  das  Zustandekommen  dieses 
Ereignisses  ist  eine  relative  Himanämie,  die  vorwiegend  die  Binde  mid 
die  corticalen  Bahnen  betrifft.  Aus  dieser  Anämie  resultirt  ein  be- 
stimmter Tonus  der  Nervengebilde,  welcher  sie  befähigt,  bei  Beizen, 
die  weit  unter  dem  Schwellenwerth  der  Norm  liegen,  isolirt  in  einen 
Zustand  der  besseren  Ernähnmg  uud  Functionsfahigkeit  zu  gerathen. 
Grund  der  Amnesie  ist  der  Unterschied  in  der  Erregbarkeit  der  Nerven- 
gebilde  gegen  die  Norm  oder  aber  die  geringen,  associativen  Ver- 
knüpfungen der  Beize.  Aufwachen  erfolgt  durch  successive  oder 
plötzliche  Reizung  aller  Sinnescentren,  entweder  direct  oder  auf  asaocia- 
tivem  Wege,  wodurch  der  normale  Tonus  in  den  Hiruelementen  wieder- 
hergestellt wird.  Ohne  auf  die  physiologische  Seite  dieser  Theorie 
einzugehen,  die  uns  ebenso  unbewiesen  und  unbeweisbar  scheint,  wie 
in  den  vorher  erörterten  Fällen,  scheint  uns  die  psychologische  Analyse 
Döllken 's  auf  dem  richtigen  Wege  zu  sein,  wie  wir  sogleich  Ge- 
legenheit haben  werden,  näher  zu  begründen.  Daher  polemisirt  er  mit 
Recht  gegen  die  Auffassung  Je ndrassik's,  der  lediglich  in  der  Auf- 
hebung oder  Einschränkung  der  associativen  Thätigkeit  des  Gehirns, 
sowie  gegen  diejenige  Wundt's,  der  in  der  einseitigen  Richtung  der 
passiven  Aufmerksamkeit  und  in  der  Functionshemmung  der  bei  deo 
Willens-  und  Aufmerksamkeitsvorgängen  wirksamen  Gentralgebiete  und 
Erregbarkeitssteigerung  der  Sinnescentren  das  Wesen  der  Hypnose 
erblickt. 

Nach  BramwelP^^)  ist  die  Hypnose  kein  Monoideismus,  wie 
man  allgemein  seit  längerer  Zeit  anzunehmen  pflegt,  sondern  ein  Poly* 
ideismus,  ein  erweitertes  Bewusstsein,  weil  gleichzeitig  eine  Reihe  von 
Suggestionen  sich  realisiren  können.  Dieser  Behauptung  müssen  wir 
beipflichten,  obwohl  wir  die  Begründung  Bramwell's  ablehnen,  wo- 
nach das  Bewusstsein  in  der  Hypnose  auf  das  umfangreichere  Unter- 
bewusstsein  ausgedehnt  ist.  Wir  meinen  vielmehr,  da  wir  ein  Unter- 
bewusstsein  nicht  kennen,  dass  sich  das  Bewiisstsein  in  der  Hypnose 
genau  so  verhalte,   wie  das  Bewusstsein  im  Wachzustande.     Ob  der 


Kritische  BemerkuDgen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lelire  v.  Hypnotisinus.       81 

Umfang  des  Seelenlebens  in  der  Hypnose  eingeschränkt  ist  oder  nicht, 
hängt  übrigens  von  dem  Belieben  des  Hypnotiseurs  ab,  kann  also  nicht 
zur  Wesensbestimraung  der  Hypnose  herangezogen  werden.  Die  Be- 
merkung Bramwells,  dass  nicht  die  Suggestionen  das  Wesen  des 
Hypnotismus  bilden,  sondern  vielmehr  die  Annahme,  die  Realisirung 
derselben,  halten  auch  wir  für  zutreffend,  im  Gegensatze  zur  herrschenden 
Anschauung,  di^  den  Begriff  der  Suggestion  zu  weit  fasst  und  in  Folge 
dessen  alle  Erscheinungen  der  hypnotischen  Phänomenologie  mit  diesem 
Schlagworte  erklärt  zu  haben  glaubt. 

Die  vortrefflichsten  Ausführungen  über  das  Wesen  des  Hypnotis- 
mus verdanken  wir  Vogt^**),  dessen  theoretische  Darlegungen  wir 
hier  leider  nur  kurz  besprechen  können.  Vogt  geht  von  den  Lehren 
der  modernen  wissenschaftlichen  Psychologie  aus,  indem  er  sich  auf 
den  Standpunkt  des  psychophysischen  Parallelismus  mit  geschlossener 
physischer  Causalität  stellt,  den  Münste  rberg^**)  in  mustergiltiger 
Weise  entwickelt  hat.  Er  stellt  zunächst  den  Begriff  der  Constellation  fest, 
als  den  Qesammtmechanismus  aller  centralen  Leitungen  und  Erregbar- 
keitsverhältnisse: diese  Constellation,  von  der  die  Stärke  und  deshalb 
das  Bewusstwerden  der  centralen  Erregungen  abhängig  ist,  ist  die 
Resultante  aller  bisherigen  bewussten  Erregungen  des  Centralnerven- 
systems,  aber  auch  aller  unbewussteu  und  nutritiven  Beeinflussungen. 
Den  von  der  Norm  abweichenden  Zustand  der  Constellation  bezeichnet 
er  als  Dissociation,  wobei  eine  Steigenmg  oder  Herabsetzung  der  Er- 
regbarkeit gewisser  Centren  stattflnden  kann.  Die  Möglichkeit  einer 
solchen  Veränderung  beruht  darauf,  dass  die  in  der  Grosshimrinde 
anlangenden  nervösen  Erregungen,  Neurokyme,  dort  als  functionelle 
Reize  wirken  und  den  Stoffwechsel  in  den  centralen  Elementen  steigern ; 
in  diesem  gesteigerten  Stoffwechsel  besteht  nämlich  der  materielle 
Parallelvorgang  der  psychischen  Erscheinungen.  Die  physiologische 
Bedingung  einer,  jeden  solchen  Steigerung  des  centralen  Stoffumsatzes 
ist  eine  örtliche  Zunahme  der  Stoffzufuhr,  eine  functionelle  Hyperämie, 
die  aber  nicht  in  einer  Aenderung  der  Gesammtblutzufuhr  besteht, 
sondern  in  der  günstigsten  Verteilung  des  Blutes,  unter  der  der  Che- 
mismus der  nervösen  Elemente  des  Gehirns  am  besten  zu  Stande  kommt. 
Diese  Stoffzufuhr  geschieht  durch  Veränderung  der  Zellen  der^Capillaren 
und  durch  Veränderung  des  Blutdruckes.  Indessen  sind  die  vasomo- 
torischen Veränderungen  als  solche  nicht  genügend  zur  Erklärung  des 
Zustandekommens  der  psychischen  Vorgänge;  sie  sind  nur  secundär 
wirkende  Momente,  während    die  primären  Ursachen  in  den  neurody- 

Zciticfaiift  fttr  HjpBotismiu  etc.    IX.  6 


82  ^eo  Hirschlafi'. 

Hämischen  Veränderuugen,  i.  e.  der  Zuleitung  und  Ableitung  der  Nen- 
rokyine  zu  den  verschiedenen  Centren  gesucht  werden  müssen,  die  nach 
dem  Wund  t'schen  Principe  der  Compensation  der  Functionen,  d.  L 
der  Functionshemmung  eines  bestimmten  Centralgebietes  durch  Fuuctions- 
steigerung  anderer  in  Wechselbeziehung  stehender  Gebiete  erfolgen. 
Die  von  der  normalen  Constellation  abweichende  Dissociation  kann 
sich  nun  einmal  als  einseitige  Bahnung  repräsentiren,  wie  z.  B.  bei 
dem  Zustande  der  Kritiklosigkeit  gegenüber  Wahnideen  und  Hallu- 
cinationcn ;  oder  aber  als  Herabsetzung  der  Erregbarkeit,  i.  e.  Hem- 
mung. £iue  solche  Hemmung  im  normalen  Zustande  stets  untritiver 
Art,  kann  beruhen  1)  auf  Erschöpfung,  wobei  die  Dissimilation  die 
Assimilation  überschritten  hat  und  nun  Mangel  au  zersetzbarem  Stoff 
statthat,  wobei  es  nicht  nöthig  ist,  eine  Intoxication  daneben  anzu- 
nehmen; 2)  auf  Herabsetzung  der  Stoffzufuhr  oder  Anämie,  die  auf 
einen  primären  vasomotorischen  Ketlex  zurückzuführen  ist,  wie  z.  B. 
bei  Ermüdung  und  Schlaf.  Die  Hemmung  äussert  sich  durch  ver- 
langsamte Fortpflanzung  der  Keurokyme;  sie  führt  ferner  durch  Aus- 
fall von  einzelnen  Elementen  zur  Vereinfachung  der  nervösen  Vorgänge, 
zur  Moutonie,  Ideenflucht  und  illusionären  Umdeutung  der  Empfindungen. 
Jedoch  findet  bei  der  Hemmung  zughnch  eine  Steigerung  der  Erregung 
in  den  einmal  erregten  Kiementen  statt  imd  zwar  1)  da  die  Zuleitung 
stärker,  weil  beschränkter  ist;  2)  wegen  der  Hemmung  in  der  Ab- 
leituujL?.  wodurch  eine  Stauung  der  functionellen  Heize  in  dem  Centrum 
herbeigeführt  wird,  dem  sie  einmal  zugeleitet  worden.  Diese  Stauung 
ist  die  Ursache  des  Kicht- Erwecktwerdens  der  Gegenvorstellungen, 
sowie  der  sinnlichen  Lebhaftigkeit  der  Erinnerungsbilder,  also  auch 
der  Kritiklosigkeit  im  Traume  etc.  Die  auf  diese  vorausgeschickten 
Darlegungen  gegründete  Schlaftheorie  Vogts  lautet  nun  folgender- 
massen :  ,.  Die  beim  Einschlafen  auftrett^nden  n eurodynamischen  Vorgänge 
werden  vun  den  Centren  ausgelöst,  denen  ihrer  Erregbarkeit  ent- 
sprechend die  ankommenden  Neurokyme  dann  zugeleitet  werden,  wenn 
die  Grosshirnrinde  in  ihrer  Erregbarkeit  durch  Erschöpfung  herabgesetzt 
ist.  Ein  erstes  solches  Centrum  ist  das  Beflexceutrum  für  die  Schliess- 
ung dos  M.  orbicul,  oculi.  Den  Beginn  dies(»r  reflectorischeu  Contraction 
empfinden  wir  als  Schwere  in  d(Mi  Augen.**  Dazu  kommt  ein  yasomo- 
tori^^ches  Centrum,  dessen  Erregung  zunehmende  Anämie  des  Gross- 
hirns bewirkt;  es  ist  in  der  Medulla  oblong,  gelegen  und  die  von  ihm 
aus  erzeugte*  Anämie  ist  die  eigentliche  Ursache  des  Schlafes.  Die 
reflectorischeu   Erscheinungen,    die    den   Schlaf   herbeiführen,    bringen 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  flypnotismus.        83 

dann  gewisse  Empfindungen  hervor,  die  wir  als  die  des  Müdeseins  und 
des  Einschlafens  bezeichnen  und   die   einen  motorischen  Character  an 
sich  tragen,  d.  h.  die  Fähigkeit  haben,  die  ihnen  zu  Grunde  liegenden 
Bewegungen  auszulösen ;  sie  associiren  sich  ausserdem  mit  der  BegriflFs- 
Vorstellung   des  Schlafes.     Das  Verhältniss  zwischen  der  Wirkung  der 
Schlafvorstellung  und   derjenigen  der   Reflexcentren  des  Schlafes  stellt 
sich  Vogt  als  ein  wechselseitiges  vor,    nach  Analogie  der  bahnenden 
Beeinflussung  subcorticaler  Reflexvorgänge  durch  corticale  Erregungen, 
die  Exner  im  Thierexperiment  nachgewiesen  hat.    „Das  Auskleiden,  das 
Schlafzimmer   etc.   erregen  die   Schlafvorstellung    imd   wii-ken   deshalb 
bahnend   auf    die   Reflexcentren   des    Schlafes    ein.      Die    beginnende 
Thätigkeit  der  Reflexcentren  erregt  ihrerseits  wieder  die  Schlaf  Vorstel- 
lung u.  s.  w. ;   so   tritt   eine   bahnende   Wechselwirkung  ein,    wodurch 
der  Reiz  allmählich  verstärkt  wird.     Wenn  wir  ohne  Erschöpfung  ein- 
schlafen, so  geschieht  es  immer  auf  Grund  associativer  Verknüpfungen, 
wobei  uns  sogar    die  Schlafvorstellung  nicht  direct  bewusst  zu  werden 
braucht;   unbewusst  ist   sie  aber  immer  im  Spiel."     Wie   der  normale 
Schlaf,  so  verhält  sich  auch  der  hypnotische  und  der  hysterische  Schlaf, 
die   in  ihrem    Wesen   von   Vogt  identificirt   werden.      Das  Erwachen 
erfolgt  dadurch,  dass  die  Erschöpfung  des  Grosshirns  nachlässt  und  in 
Folge  dessen  seine  Erregbarkeit  zunimmt.     Daher  werden  die  Neuro- 
kyme   wieder   dahin   geleitet,   dem    Schlafcentrum  wird   ein   Theil   der 
Energie    entzogen.     Durch  diese   stärker   werdenden  Erregungen   wird 
dann   auch    das   Centrum    für    functionelle    Hyperämie    im  Grosshirn 
stärker  gereizt  und  die  Schlafanämie  beseitigt.     Auf  ähnlichem  Wege 
erklärt  sich  die  Erscheinung  der  hypnotischen  und    hysterischeu  Kata- 
lepsie, bei  der  ein  Glied  eine  ihm  passiv  gegebene  Stellung   beibehält. 
Für  gewöhnicli  wird  ein  kleiner  Theil  jener  nervösen  Energie,  die  eine 
jedesmalige   Lage    und  Haltung   eines    Körpertheiles   im  Centrum   des 
Muskelsinnes  erregt,  nur  in  die  motorische  Bahn  übergeführt,  während 
der  grössere  Theil   anderweitig   abgeleitet  wird.     Bei   einem   gewissen 
Grade  der  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  der  Grosshirnrinde  dagegen 
können    die    anlangenden    Neurokyme    nur   noch   an    der    Stelle    der 
directen  Endigimg  der  ceutripetalen  Bahn   eine  Erregung  hervorrufen, 
aber  nicht  mehr  auf  die  Associationsbahnen  irradiiren.    Die  Aeusserung 
des  Muskelsinnes  in  einer  motorischen  Bewegung  muss  dann  aber  eine 
sehr   starke   sein,   da  die   ganze   zugeführte   Reizeuergie    an   Ort  und 
Stelle   bleibt:    daher   die   Fixation    der   passiven   Stellung.     Auch   die 

hysterischen  und  suggestiven  Anästhesien  fugen  sich  diesem  Erklärungs- 

6* 


84  i^eo  Hirschlaff. 

princip;  sie  beruhen  nach  Vogt  auf  einer  Herabsetzung  der  Erregbar- 
keit der  betreffenden  Centren,  bedingt  durch  Anämie,  sind  also  ab 
ein  partieller  Schlaf  aufzufassen.  Ebenso  ist  die  Realisation  der  post- 
hypnotischen Suggestionen,  sowie  die  schon  früher  erörterte  Erschein 
nung  der  spontanen  Somnambulie  in  der  Hypnose  auf  einen  partiellen, 
systematischen  Schlaf-  bezw.  Wachzustand  zurückzuführen.  In  dieser 
Beziehung  unterscheidet  Vogt  3  Zustände,  die  er  als  ein  systematisirtes, 
localisirtes  und  allgemeines  partielles  Erwachen  resp.  partiellen  Schlaf 
bezeichnet.  Beim  systematisirten  partiellen  Erwachen  ist  nur  ein 
einzelner  Vorstellungscomplex  geweckt,  wie  z.  B.  in  den  eben  an- 
geführten Beispielen;  beim  localisirten  partiellen  Erwachen  ist  ein 
einzelnes  Rindencentrum  geweckt ;  das  allgemeine  partielle  Wachsein  end- 
lich ist  von  diffusem  Character,  wie  es  z.  B.  bei  übermüdeten  Personen 
zur  Beobachtung  gelangt.  Sind  beim  partiellen  Eh^achen  die  geweckten 
Bewusstseinselemente  vollständig  wach,  so  sind  sie  wegen  der  Ein- 
schränkung des  Bewusstseinsumfanges  zugleich  abnorm  stark  erregt, 
und  es  entsteht  das  Bild  des  eingeengten  Bewusstseins.  Inwiefern 
dieser  Zustand  des  eingeengten  Bewusstseins  geeignet  ist,  für  eine 
hypnotische  Experimentalpsychologie  yerwertet  zu  werden,  soll  uns  erst 
am  Schlüsse  unserer  Darlegungen  beschäftigen.        (Schluss  folgt.) 


Zur  Kasuistik  der  Agraphie. 

Von 

Prof.  Binswanger  -  J  e  D  a. 


Auf  dem  Gebiete  des  aphasischeD  Symptomcomplexes  ist  die  Frage 
über  die  fuDctionelle  Bedeutung  und  auatomische  Localisation  der 
Schreibstörungen  noch  eine  offenstehende.  Ich  sehe  im  Hinblick  auf 
die  zahlreichen  neueren  zusammenfassenden  Bearbeitungen  der  Aphasie, 
68  mögen  hier  nur  diejenigen  von  Y.  Monakow,  Miralli6;  Bastian 
und  Ziehen  genannt  werden,  sowie  im  Hinblick  auf  das  erschöpfende 
Beferat  von  0.  Vogt  in  dieser  Zeitschrift  (Ig.  1897),  von  einer  ein- 
gehenderen Darstellung  der  strittigen  Funkte  ab.  Es  genügt  für  den 
vorliegenden  Zweck,  darauf  hinzuweisen,  dass  auch  bei  dem  Studium 
der  agraphischen  resp.  dysgraphischen  Störungen  die  Vermengung  ana- 
tomischer und  functioneller  Betrachtungsweise  das  wesentlichste  Hinder- 
niss  der  Verständigung  ist.  Am  Deutlichsten  tritt  dies  zu  Tage,  wenn 
wir  die  Discussion  über  die  „transcortical^-bedingten  Störungen  der 
Sprache  ins  Auge  fassen. 

Die  nachstehende  Beobachtung  ist  nicht  geeignet,  zur  Unterlage 
der  anatomischen  Würdigung  der  Schreibstörungen  zU  dienen,  indem 
sie  wegen  der  Ausdehnung  und  der  Beschaffenheit  der  Himerkrankung 
eine  genauere  Localisation  dieser  Störungen  nicht  zulässt.  Sie  vermag 
aber  über  das  functionelle  Verhältniss  zwischen  motorischer  und  sen- 
sorischer Aphasie  resp.  Agraphie  Licht  zu  verbreiten.  Sie  ist  femer 
ein  Beitrag  zur  Lösung  der  Frage,  ob  die  Schreibstörungen  in  einem 
directeo  Abhängigkeitsverhältniss  zu  den  Störungen  der  Sprachbewe- 
gungen stehen.  Es  wird  bekanntlich  von  manchen  Forschem  behauptet, 
dass   die   Schreibbewegungen,    soweit    nicht   sensorielle    Störungen    in 


86  Prof.  Binswanger. 

Frage  kommen,  mit  den  motorischen  Sprachstörungen  eng  zusammen- 
hängen. Allerdings  ist  zuzugeben,  dass  die  gesammt^n  intensiveren 
Störungen  in  der  Bildung  des  inneren  Wortes  die  schriftliche  Ans- 
drucksfUhigkeit  stets  beeinträchtigen.  Doch  'ist  auch  Folgendes  zu 
berücksichtigen:  Bei  den  Culturmenschen  ist  der  schriftliche  Ausdruck 
des  Wortes  immer  eine  „nachträgliche"  ^Errungenschaft  ^),  welche  den 
bereits  bestehenden  Besitz  von  Wortklangbildem,  Wortlautbildem  und 
optischen  Buchstabenbildem  zur  Voraussetzung  hat.  Es  wird  daher 
dieser  spätere  Erwerb  nur  für  ein  ursprüngliches  Abhängigkeits- 
verhältniss  der  corticalen  Sprechbewegungen  und  Schreibbewegungen 
verwerthet  werden  können,  während  bei  steigender  Hebung  die 
Schreibbewegungen  eine  immer  grössere  Selbstständigkeit  erringen  und 
sich  von  den  Sprech bewegungen  emancipiren  werden.  Dies  wird  auch 
dadurch  bewiesen,  dass  gebildete  Patienten  mit  motorischer  Aphasie 
sich  leichter  schriftlich  als  mündlich  ausdrücken  können,  (von  Mo- 
nakow hat  auf  diese  Thatsache  aufmerksam  gemacht)  selbst  wenn  sie 
bei  rechtsseitiger  Hemiplegie  die  linke  Hand  zum  Schreiben  nehmen 
müssen.  Die  Gegner  der  Annahme  eines  eigenen  graphischen  Centrums 
erklären  dies  daraus,  dass  selbst  bei  ganz  completer  Wortstummheit 
die  innere  Wortbildung  auch  mit  Rücksicht  auf  die  Lautcomponente 
nie  so  radical  aufgehoben  sei,  dass  für  den  Wegfall  der  Sprechmus- 
kulatur  nicht  noch  ein  gewisser  Ersatz  durch  Muskelgruppen  in  anderen 
Extremitäten  möglich  wäre.  Es  geschehe  dies  unter  Benützung  der 
optischen  Erinnerungsbilder  für  die  Buchstaben,  die  mit  Wortlauten 
und  -Klängen  associirt  werden  (v.  Monakow).  Diese  Beweisführung 
ist  kaum  zu  widerlegen  für  die  vorstehend  angeführten  Fälle.  Sie  wird 
aber  unzureichend  für  solche  Beobachtungen,  bei  welchen  die  Schreib- 
störimg  resp.  totale  Agraphie  die  wesentlichste  Functionsstörung  ist, 
während  die  motorische  Aphasie  relativ  unbedeutend  ist  und  sensorielle 
Sprachstörungen  fehlen.  Der  hier  mitzutheilende  Krankheitsfall  gehört 
in  diese  Kategorie.  Er  ist  deshalb  geeignet,  die  Discussion  über  die 
functionelle  Bedeutung  der  Agraphie  von  Neuem  anzuregen  und  zur 
wiederholten  Prüfung  der  von  Weruicke,  D6jerine,  Mirallie, 
V.  Monakow  über  die  Functionen  der  Sprach-  und  Schreibcentren  ge- 
äusserten Ansichten  aufzumuntern. 

Ist    der    relativ    selbstständige    Ausfall    der    cortico  -  motorischen 
Schreibbewegungen    klinisch  erwiesen,   so  kann  man  der  Agraphie  den 

')  Wir  sehen  hier  selbstverständlich  von  den  Taubstummen  ab. 


Zur  Kasuistik  der  Agraphie.  87 

Character  einer  eigentlichen  Bewegungsstörung  nicht  mehr  absprechen, 
so  kann  man  die  Agraphie  nicht  mehr  als  eine  Stönmg  gewisser  asso- 
ciativcr  Erregungen  auffassen,  die  lediglich  durch  Vermitteluug  der 
Werkstätte  der  Wortbildung  dem  Centrum  für  die  Schreibmcchaiiik 
(Armregion)  zufliessen.  v.  Monakow  stützt  gegentheilige  Ansichten  auf 
die  Beobachtungen,  in  welchen'der  Agraphische,  welcher  nicht  hemi- 
plegisch  ist  und  nicht  gleichzeitig  an  einer  corticalen  Sehstörung  leidet, 
fast  immer  richtig  copiren  oder  doch  mindestens  die  ihm  zur  Abschrift 
vorgelegten  Worte  abzeichnen  kann.  v.  Monakow  zieht  ferner  die 
schon  von  Wernicke,  Dejerine  u.  A.  ins  Feld  geführte  Thatsache 
heran,  dass  Patienten  mit  incompleter  motorischer  Aphasie  und  rechts- 
seitiger Monoplegie  doch  noch  eventuell  mit  dem  Fuss  und  bei  rechts- 
seitiger Hemiplegie  mit  der  linken  Hand  schreiben  können.  Er  schliesst 
aus  solchen  Erfahrungen,  dass  ein  Verlust  der  kinästhetischen  Empfin- 
dungen für  die  Schreibbewegungen  selbst  dann  nicht  angenommen 
werden  kann,  wenn  bei  motorischer  Intactheit  der  rechten  Hand 
Aphasische  ausser  Stande  sind,  auch  nur  einen  einzigen  Buchstaben 
mit  dieser  zu  schreiben.  Er  lehnt  es  auch  ab,  in  diesen  Fällen  die 
totale  Agraphie  mit  der  Unfähigkeit,  die  optischen  Erinnerungsbilder 
der  Buchstaben  in  die  Schreibmechanik  umzusetzen,  zu  erklären,  viel- 
mehr beruhe  die  Störung  darauf,  dass  der  Patient  zunächst  die  Laut- 
und  Klangbilder  der  Worte  innerlich  nicht  genügend  wecken  und  sie 
nicht  in  einzelne  Buchstaben  zergliedern  könne.  Der  Kern  der  Störung 
bei  der  Agraphie  sei  immer  in  der  Beeinträchtigung  der  inneren 
Wortbildung  zu  suchen,  die  Schreibstörung  beruhe  also  in  einer  ge- 
störten Umsetzung  von  Wortklängen  resp.  AVortlauten  in  die  Schreib- 
beweguugsbilder :  Die  Fehler  beim  Schreiben  seien  in  letzter  Linie 
entweder  Laut-  oder  Klangfehler.  Diese  ganze  Beweisführung  v.  Mo- 
nakow's  ist  für  unsere  Beobachtung  nicht  verwerthbar;  sie  besitzt 
nur  dann  eine  Bedeutung  zur  Erklärung  der  agraphischen  resp.  dys- 
graphischen  Störungen,  wenn  Letztere  Begleiterscheinungen  aus- 
geprägter und  prävalirender  Störungen  der  Wortklang-  resp.  Wortlaut- 
bildung sind.  Tritt  die  Agraphie  als  vorherrschende,  ja  fast  ausschliess- 
liche Störung  auf,  so  werden  wir  nicht  umhin  können,  sie  als  eigentliche 
Bewegungsstörung  aufzufassen,  welche  aus  dem  Verlust  der  kinästheti- 
schen Empfindungen  für  die  Schreibbewegungen  resp.  der  Schreibbe- 
wegungsvorstellungen  resultirt.  —  Wir  heben  hervor,  dass  wir  bei  all 
diesen  Deductionen  nur  die  functionelle  Bedeutung  des  Schreibens  im 
Auge  haben.    Es  sind  deshalb  hier  noch  einige  Bemerkungen  über  das 


88  Prof.  ßinswanger. 

functionelle  Centrum,  der  Schreibbewegungen  am  Platze«  Dieses  Centram 
ist  ein  innctionelles,  indem  es  innerhalb  der  grossen  Gruppe  der  Einger- 
resp.  Handbewegungen  ganz  bestimmte,  zum  Zweck  des  Schreibens 
coordinirle  Innervationen  umfasst,  deren  Mannigfaltigkeit  und  Exactheit 
von  dem  Grade  der  Uebung  abhängt.  In  wie  weit  dieses  Ceutrumi 
welches  ganz  bestimmte  Associationen  von  Bewegungsimpulsen  umfasst, 
eine  bestimmte  anatomisch  distincte  Zellgruppe  innerhalb  der  corticaien 
Hand-  und  Fingerregion  besitzt,  muss  bei  dem  Mangel  einwandsfreier 
makro-  und  mikroskopischer  Leichenbefunde   dahin  gestellt   bleiben.  ^) 

Die  Möglichkeit  halten  wir  theoretisch  für  gegeben,  da  sich  ja 
aych  ein  von  den  übrigen  optischen  Erinnerungsbildern  getrenntes 
visuelles  Schriftzeichencentrum  entwickelt  hat.  Die  Entwickelung  eines 
besonderen  AVorblautceutrums  in  der  Broca'schen  Region  kann  eben- 
falls als  Beweis  gelten,  indem  sich  innerhalb  des  grossen  cortico- 
motorischeu  Gebietes  für  Lippen-,  Zungen-,  G-aumen-  etc.  Bewegungen 
ein  besonderer  Coordinationsmechanismus  für  die  complicirteuBewegungs- 
Yorgän^e  des  sprachlichen  Ausdrucks  herausgebildet  hat. ') 

Bei  dieser  Auffassung  ist  die  Anschauung  fast  selbstverständlich, 
dass  bei  gleich  sorgfältiger  Ausbildung  und  Uebung  von  Schreib- 
bewegungen mittels  der  Füsse  resp.  Zehen  sich  auch  ein  corticales 
Schreibcentrum  in  der  motorischen  Fiissregion  fuuctionell  und  vielleicht 
auch  anatomisch  herausbilden  kann.  ^) 

Auch  die  Fähigkeit  mit  der  Schreibmaschine  zu  schreiben,  wird 
unter  Aufwendung  grösserer  oder  geringerer  Mühe  durch  Uebung 
erworben.  Diese  Art  der  Schreibbewegungen  hat  weniger  Berührungs- 
punkte   mit    derjenigen    des    gewöhnlichen    Schreibens,    als    mit   dem 


M  Ks  ist  neuerdings  von  Edler  (vgl.  Vogt  a.  a.  0.)  aus  gewissen  indiriduollen 
Eigenthümliclikeiten,  welche  joder  Schrift  zukommen,  der  Schlnss  gezogen  werden, 
dass  in  der  Nachlar^nhaft  der  corticaien  Centren  für  Bewegung  der  rechten  Hand 
spocicile  Zollen  für  die  specifische  Schrift  der  rechten  Hand  dienen.  Der  Grand, 
warum  bisher  keine  speciellc  Erkrankung  nachgewiesen  wurde,  liegt  vielleicht  darin, 
dass  die  ZelKn  räumlich  kein  specielles  Centrum  bilden.  Zerstörung  dieses  Centrams 
führt  nach  Edler  nicht  Agraphie,  sondern  nur  den  Verlust  der  characteristisch 
geübten  Handschrift  herbei. 

-)  Freilich  ist  das  Schriftcentrum  ein  den  ursprünglichen  motorischen  und 
sensoi'iellen  corticaien  Sj)rach(;entrcn  an  Bedeutung  und  Coustanz  naclistehendes 
Zentrum,  das  sicherlich  individuell  viel  grösseren  Schwankungen  liiusichtlich  der 
Vervollkommnung  unterliegt  als  die  Erstereu. 

')  Die  Frage,  ob  zu  den  Coordinntionsmechanismen  der  Schreibbewegungen 
bestimmte  Hewegungs Vorstellungen  zugehöng  sind  und  ob  die  willkürlichen  Schreib- 
bewegungen einer  primären  Erregung  der  Schreibbewegungsvorstellungen  ent- 
springen, besitzt  mehr  eine  theoretische  als  practischc  Bedeutung. 


Zur  Kasaistik  der  Agraphie.  g9 

Klavierspiel  nach  Noten,  welches  eine  äusserst  innige  associative  Ver- 
knüpfung von  Gesichts-,  Bewegungs-  und  Gehörvorstellungen  voraussetzt. 
Bei  denjenigen  Personen,  welche  es  im  Schreiben  mit  der  Schreib- 
maschine zu  einer  grossen  Fertigkeit  resp.  Vollkommenheit  gebracht 
haben,  werden  wir  ebenfalls  eine  Art  functionelles  Oentrum,  das  auf 
fein  coordinirte  Bewegungen  abgestimmt  ist,  annehmen  müssen. 

Wir  lassen  nunmehr  die  Krankengeschichte,  welche  Veranlassung 
zu  diesem  Aufsatze  gegeben  hat,  folgen. 

Julius  Fietsch.  Bürgermeister,  geboren  am  3.  II.  1851,  stammte  aus  ge- 
sunder Familie  und  soll  weder  als  Kind  noch  später  krank  gewesen  sein.  £r  war 
seit  1879  verheirathet  und  besass  2  gesunde  Kinder.  Potus  gering.  Ueber  syphilitische 
Infection  ist  nichts  bekannt. 

Nach  Angabe  seiner  Frau  wurden  bei  ihm  Anfang  April  1898  psychische 
Veränderungen  bemerkbar;  er  wurde  vergesslich,  machte  Fehler  beim  Wiegen,  las 
eine  Kirchenrechnung  falsch  vor,  schrieb  verkehrte  Bemerkungen  auf  die  von  ihm 
auszufertigenden  Steuerzettel  und  gab.  zur-  Rede  gestellt,  an,  dass  er  schwindlig  im 
Kopfe  sei.  Gegen  Mitte  April  wurde  die  Sprache  schlechter,  schleppender,  das 
Benehmen  thcilnahmlos,  stumpf,  der  Gang  taumelig,  besonders  beim  Treppensteigen. 
Schliesslich  sprach  er  spontan  gar  nicht  mehr,  gab  auf  Fragen  verkehrte  Antworten, 
sass  oft  stundenlang  mit  auf  die  Hände  gestütztem  Kopfe  da,  ass  aber  mit  Appetit 
and  schlief  gut. 

Am  16.  IV.  1898  wurde  Patient  von  Herrn  Collegen  Ziehen  in  der  Sprech- 
stunde- untersucht  und  folgender  Status  aufgenommen : 
R.  Pupille  >  L. 

Augenhintergrund  normal  (ohne  Erweiterung!). 
Gaumenhebuug  L.  <  R. 

Sämmtliche  Facialis-  und  Hypoglossus-Innervationen  L.  erheblich  stärker. 
Schädel  vor  und  über  dem  L.  Ohr  ditfus  percussionsempiindlich. 
Sehen  intact. 

Hörweite  für  Uhrticken  L.  50,  R.  25  cm. 
Nelkenöl  L.  stärker  gerochen. 
Dynamometrisch  R.  52  ^  L.  54^. 
Patellar-  j 

Achillessehnen-     l  Reflexe  symmetrisch,  nicht  gesteigert. 
Anconäussehncn-  j 
Kein  Romberg. 
Wortverständniss  absolut  intact.     Bezeichnung  gesehener  Gegenstände 

Uhr?  richtig  bezeichnet. 

Kette?  richtig  bezeichnet. 

Federhalter?  nicht  bezeichnet. 

Aermel';*  =  „Muskel". 

Farben  und  Zahlen  richtig  bezeichnet. 

7X8?   „56". 

18  +  9?  nicht  gerechnet. 


90  Prof.  BiDswaDger. 

4  X  6?  -24«. 

ß  +  3?  „9^ 

a  -T-  l'f   .weiBs  nicht  melir". 

Datum?   ^1697—98  —  Dtcemlier  —  es  peht  immer  xücLt  iicrt-j«-'- 

Schrift : 

..Jema"  statt  Jen«. 
..Leipzig;"  &tatt  Leipzif^. 
..Schoül^jrij'*  Etatt  Sch<"'nbom. 
Pferd  rieht i;/  geseh rieben. 

Lesen:  Auslabsun^^en  und  phantastische  UmgertaltcxigezL  z.  B. 

Text:  Den  Anblick  ebenso  zahlreicher  blassen  der  — . 

Gele«en:  ..Den  zahlreichen  Rückblick  der  — " 

Als  Fi  et  seh  etwa  3  Wochen  später  {9.  A'.  1898  iE  die  hiesig«  Küiiik  anf- 
penommen  wurde.  Hess  sich  der  folgende  Befund  erheben: 

I.'elier  mitte) grosser,  hagerer  Mann  mit  blassen  Schleimhäuten  und  eisem 
Gewicht  von  70  kg. 

Geringe  Arteriosderose. 

An  den  Lungen  vereinzelte  katarrhalische  Geniusv'ho  h~<rbmr:  geiinger  Hasten- 
reiz:  zuweilen  tiefe  Inspirationen. 

Herzt«" ne  dumj>f:  Puls  68.  regelmäsjig. 

l'rin  frei  von  Eiweis?  und  Zucker. 

Leistendrüsen  etwas  verdickt :  an  Brust.  Bauch  und  Rücken  mehrere  pigmen- 
tirtc  Warzen. 

Pupillen  mittelweit.  R.  [>  L. :  R.  Lichtreaction  ziemlich  prompt  und  ans- 
giebig.  L.  langsamer  und  weniger  ausgiebig;  accommodative  Reactton  beideneiti 
vorhanden. 

Beiderseits  ausgeprägte  Stauungspapille,  links  in  stärkerem  Maasse:  R.  PapUle 
grau,  Tergr«"i5sert.  nicht  scharf  begrenzt,  leicht  vorgewölbt;  Gefässe  von  mittlerer 
Füllung;  L.  Papille  ebenfalls  verL'p'>ssen,  vcfrgewölbt.  nicht  scharf  begrenzt,  grau- 
roth;  Gefässe  etwas  geschlangelt;  in  der  Umgebung  der  Papille  mehrere  kleine 
Blutungen. 

Slimrunzeln  symmetrisch. 

Alundfacialis-Innervationen  in  Ruhe  und  bei  activen  Bewegungen  H.  wesentlich 
schwächer  alsL. :  das  Gaunien*iegel  wird  L.  besser  gehoben :  die  Zunge  weicht  stark 
nach  R.  ab. 

Armbeweguugen  nicht  atactisch:  kein  Tremor:  keine  aufifallende  Herabsetzung 
der  grollen  Kraft  der  Hände:  dvnamometrische  Leistung  R.  65®,  L.  55®;  dagegen 
fällt  es  aul*.  duss  der  Krank*/  bei  spontanen  Bewegungen  fast  nur  die  linke  Hand 
benutzt,  z.  B.  kratzt  er  sich  mit  der  linken  Hand  hinter  dem  rechten  Ohr;  auf- 
gefordert, mit  der  re<-hieu  Hand  allein  einen  Hemdenknopf  aufeumachen,  versucht 
er  dies,  lässt  aber  bald  ermüdet  die  Hand  sinken  und  öffnet  den  Knopf  ziemlich 
geschickt  mit  der  linken  Hand  nilein:  auch  beim  Zuknöpfen,  das  er  erat  mit  beiden 
Händen  versucht,  benutzt  er  schliesslich  nur  die  linke  Hand.  Kleine  Handbew«> 
gungen.  wie  Fingersjireizen,  Faust  machen.  Daumenbewegungen  etc.  sind  ungestört. 

Beinbeweguueen  nicht  deutlich  atactisch;  ganz  schwerfällig  und  langsam,  sn- 
wvücn  etwas  schwankend:  geringe?  Romberg'sches.  Schwanken. 

Sammtliche  Haut-  un.l  Sehnenreflexe  symmetrisch  und  von  gewöhnlicher  Stärke 


Zur  Kasuistik  der  Ag^raphie.  91 

Leichte  Steigerung  der  mechanischen  Mnskelcrregbarkeit. 

Prüfung  der  Berührnngsempfindlichkeit  wegen  des  psychischen  Zustandes  des 
Kranken  nicht  ausführbar;  Schmerzempfindlichkeit  und  Muskelsinn  anscheinend 
erhalten. 

Lebhafte  Schmerzreaction  tritt  ein  bei  Druck  auf  die  Supraorbital-,  Schläfen-, 
Occipital-,  Infraorbital-  und  Mental-Punkte  und  zwar  L.  erheblich  stärker  als  R.; 
druckempfindlich  ist  ferner  die  ganze,  etwa  dem  Ursprünge  des  Musculus  temporalis 
der  L.  Seite  entsprechende  Gegend  und  hier  wieder  besonders  ein  Punkt  der  Linea 
semicircularis,  der  senkrecht  über  der  Mitte  des  Jochbogens  liegt,  und  ein  solcher 
senkrecht  über  dem  Kiefergelenk  ungefähr  in  der  Höhe  der  Augenbraue.  Angeblich 
spontan  keine  Kopfschmerzen. 

Geruch  symmetrisch. 

Gesichtsfeld  erhalten  (Fingerprüfung). 

Gehör:  Uhrticken  beiderseits  in  ca.  IVa  m  gehört. 

Spracharticulätion  ohne  deutliche  Störung. 

In  psychischer  Hinsicht  fällt  zunächst  der  traumhafte,  leere  Gesichtsausdruck 
auf;  der  Kranke  erwacht  gleichsam  bei  energischer  Anrede  und  sieht  dann  gleich- 
giltig,  oft  etwas  lächelnd  vor  sich  hin,  während  er  für  gewöhnlich  stumpfsinnig 
und  theilnahmlos  im  Bette  sitzt.  Seine  Antworten  erfolgen  langsam,  wenn  über- 
haupt, und  oft  erst  nach  eindringlicher  Wiederholung  der  Frage  und  sind  theils 
richtig,  theils  verkehrt.  Seine  Aufmerksamkeit  erlahmt  ungemein  rasch.  Allerlei 
Aufibrderungen  befolgt  er  Anfangs  richtig,  giebt  aber  bald  durch  3Iienenspiel  und 
Inteijectionen  sein  Missbehagen  über  die  ihn  anstrengenden  Untersuchungen  zu 
erkennen  und  gähnt  dann  oft.  Feinere  Prüfungen  der  Sinnescmpßndungcn  sind 
daher  nicht  durchführbar.  Vorgesetzte  Speisen  nimmt  er  spontan  zu  sich,  wobei 
sich  zeigt,  dass  sein  Schluck  vermögen  ungestört  ist;  er  besudelt  sich  aber  oft  beim 
Essen  und  verunreinigt  sich  auch  häufig  mit  Urin  und  Koth.  Bei  der  Aufnahme  ist 
er  weder  örtlich  noch  zeitlich  orientirt,  glaubt  in  seinem  Wohnorte  Schönborn  zu 
sein,  weiss  das  Datum  nicht,  erkennt  den  Arzt  nicht  als  solchen  und  macht  einen 
sehr  gehemmten  Eindruck.  Einen  vorgehaltenen  Löffel  bezeichnet  er  richtig,  ein 
Schlüsselbund  dagegen  nicht;  erst  beim  Hasseln  mit  den  Schlüsseln  nennt  er  das 
richtige  Wort.  Aufgefordert,  die  Schlüssel  (7)  zu  zählen,  zählt  er  bis  3.  Weitere 
Antworten  sind  dann  nicht  mehr  von  ihm  zu  verlangen.  Bei  einer  Untersuchung 
am  10.  y.  1898  weiss  er,  dass  er  in  Jena  ist. 

Ein  vorgehaltener  Bleistift  wird  richtig  erkannt  und  bezeichnet. 

(Uhr?)  Findet  das  Wort  nicht,  macht  verlegene  Aeusserungen,  z.  B.  „es  ist 
ein  schönes  Ding". 

(Ist  es  eine  Uhr?)    „Nein." 

Pat.  kann  die  Uhr  auch  nicht  bezeichnen,  als  ihm  dieselbe  ans  Ohr  gehalten 
und  in  die  Hand  gegeben  wird. 

(Streichholz?)  Wird  richtig  bezeichnet.  Auf  die  Frage,  was  man  damit  mache, 
zündet  er  dasselbe,  allerdings  langsam,  an  der  ihm  gereichten  Streichholzschachtel  an. 

(Schlüssel?)  Wird  richtig  bezeichnet.  Beim  Vorlegen  einer  Anzahl  von  Streich- 
hölzchen, die  er  zählen  soll,  zählt  er  bis  6,  spielt  dabei  mit  den  Hölzchen,  zählt 
aber  schliesslich  auf  eine  erneute  Aufforderung  bis  20. 

(7  X  8?)  =  56. 

(7  X  18?)  - 


92  Prof.  Binswanger. 

Er  liest,  indem  er  ganze  Worte  und  Sätze  auslässt,  die  einzelnen  Worte  richtig. 

11.  V.  ßei  der  AniTorderung,  seinen  Namen  zu  schreiben,  nimmt  Pat.  die 
Feder  zur  Hand,  macht  verlegene,  rathlose,  schreibähnliche  Belegungen.  Bei  dem 
ersten  Schreibversuch  resultiren  Zeichen,  die  an  seinen  Namen  erinnern,  ein  Theil 
eines  grossen  lateinischen  F,  ferner  ein  schlechtes  lateinisches  i,  dann  folgen  noch 
einige  sinnlose  Striche.  £in  zweiter  und  dritter  Ansatz  zum  Schreiben  ergiebt  nur 
unleserliche,  Buchstaben  vollständig  unähnliche  Striche;  ebendenselben  Erfolg  hat 
die  AuHbrderung.  die  Zahlen  ],  2.  3,  4  u.  s.  w.  zu  schreiben.  Als  ihm  das  Wort 
„Jena''  dictirt  wird,  macht  er  ein  grosses  lateinisches  M.  Die  Copie  des  vorgeschrie- 
benen Wortes  „Jena"  ist  unvollständig,  indem  zwar  ein  richtiges  J  geschrieben 
wird,  welchem  aber  nur  unleserliche  Hieroglyphen  folgen.  £in  vorgeeeichnetes 
Dreieck  kann  er  nicht  nachzeichnen,  auch  nicht  mit  der  linken  Hand. 

Federhalter  und  Papier  bezeichnet  Pat.  richtig,  ein  Tintenfass  nicht,  erkennt 
es  aber,  nachdem   ihm   das  Wort  vorgesagt  ist.    Einen  blauen  Actendeckel  nennt 
er  ,,grau";  ein  weisses  Blatt  Papier  kann  er  der  Farbe  nach  nicht  bezeichnen. 
Ist  es  grün?    „Nein."  Ist  es  roth?    „Nein". 

»     n    ge^b?  „  „     „    blau? 

„     „    schwarz?    „  „     „    weiss?       „ 

Nachdem  er  einige  Minuten  ausgeruht  hatte,  antwortet  er  auf  die  Frage: 
„Welche  Far])e  hat  es  denn?"     „Weiss."    Ein  braunes  Brett  bezeichnet  er  richtig. 

12.  V.  Ist  ärgerlich,  dass  er  nicht  schreiben  kann;  früher  habe  er  es  doch 
gekonnt. 

Schriftlichen  Aufforderungen,  z.  B.  die  rechte  Hand  hochzuheben,  kommt  er 
richtig  nach.  Sucht  aus  mehreren  vorgelegten  Gegenständen  Uhr  und  Schlüssel 
richtig  ans,  benannte  Streichhölzer  als  Schlüssel,  Schlüssel  richtig,  Bleistift  gar 
nicht.     Gähnte  oft. 

Kann  seinen  Namen  aus  vornreIo«:ten  Buclistabentäfelchen  nicht  zusammensetzen: 

erst  „Fetichs"  dann  „Fitesch". 

Als  er  „Jena"  zusammensetzen  soll,  bringt  er  erst  „Jean"  heraus,  entdeckt 
aber,  aufmerksam  gemacht,  es  sei  falsch,  seinen  Fehler  und  berichtigt  ihn.  „Mai" 
bringt  er  nicht  fertig;  bei  mehreren  Versuchen  immer  „Mia". 

16.  V.  Pat.  ist  heute  stärker  benommen,  kommt  aber  allen  Aufforderungen  nach. 

17.  V.     Pat.  benennt  vorgezeigte  Objecto  wie  folgt: 

(Schlüssel?)     „Schlüssel."  (Uhr?)     „Uhr." 

(Bleistift?)     —  (Ist  es  ein  Bleistift?)     „Ja." 

(Blumen?)     „Blumen."  (Messer?)    — 

(Glas?)     „Glas."  (Geldbeutel?)     „Geldbeutel.- 

(Cigarre?)     „Cigarre."  (Streichholzschachtel?)    — 

(Ist  es  eine  Streichholzschachtel?)     „Ja  freilich." 

(Streichholz?)  „Streichholz."       (Buch?)     „Buch." 

(Thermometer?)    --  (Tisch?)  „Wenn  ich  nur  auf  den  Namen 

kommen  könnte." 
(Stiefel?)    „Stiefel."  (Handtuch?)    — 

(Fenster?)     —  (Ist  es  ein  Fenster?)    „Ja.' 

(Spiegel?)    —  (Ist  es  ein  Spiegel?)    „Ja.' 

(Flasche?)    —  (Ist  es  eine  Flasche?)     „Ja.' 

(Cigarrenetui  ?)     „(Zigarrenetui." 


u 
u 
u 


Zur  Kasuistik  der  Agraphie.  93 

Fat  bejaht  übrigens  nur,  wenn  ihm  der  richtige  Gegenstand  genannt  wird, 
sonst  verneint  er  oder  giebt  gar  keine  Antwort.  Er  ist  im  Stande,  alle  Worte  zu 
wiederholen. 

Am  Nachmittag  desselben  Tages  wird  Pat.  in  der  Klinik  vorgestellt. 

(Name?)     „Ich  heisse  Alfred  Fietsch." 

(Alter?)    „27  Jahre",  „47  Jahre.« 
Athmet  tief,  kratast  sich  bei  weiteren  Fragen  mit  der  linken  Hand. 

(Geburtstag?)    „21.  Febr.  18.  .  und  13  .  . .  nee  13  nicht« 

(Beruf?)    „Landwirth." 

(Seit  wann  hier?)     „Na,  ich  weiss  nicht." 

(1  Monat?)    „So  lange  ist  es  noch  nicht." 

(Staat  ?)    „Sachsen-Weimar." 

(Haus?)    „Das  weiss  ich  nicht." 

(Stadt?)     „Ja  .  .  .  Ja  . . ." 

(Arzt?)     „Ja  .  . .  Doctor." 

(Uhr?)     „Uhr."  — 

(Bleistift?)    „—  Blei." 

(Kreide?)    „Kreide." 

(Federhalter?)     „Stuhlfeder." 

(Stecknadel?)    „Das  ist  eine  Himmelserscheinung"    (sieht   dabei   zum 
Fenster  hinaus). 

(Schlüssel  ?)    „Schlüssel." 
Pat.  klagt  jetzt  öfter,  dass  es  ihm  schlecht  gehe,  weiss  aber  nicht  anzugeben, 
warum. 

20.  V.  98.    Zweite  klinische  Vorstellung: 

Zunge  deviirt  nach  r.  —  Händedruck  1.  >  r.  — 

(}ang  schwankend  nach  r.  und  1. 

Greift  aus  vorgelegten  Gegenständen  den  Schlüssel  heraus. 

(Kreide?)     „Das  ist  Kreide." 

(Schlüssel?)    —  (wird  ihm  in  die  Hand  gegeben,   dreht  ihn  herum, 

besieht  ihn). 
(Ist  es  ein  Schlüssel?)    „Ja." 
(Sagen  Sie  Schlüssel!)    „Na.  na  .  . ." 

Als  Diagnose  wird  gestellt  ein  Tumor  in  der  Gegend  des  Schreibcentrums. 
Vorliegender  Fall  spricht  gegen  die  Dcjcrine 'sehen  Auffassungen,  wohl  aber,  da 
die  Agraphie  eine  totale  ist,  die  vorhandenen  Andeutungen  von  motor.  Aphasie 
aber  mehr  als  Hemmungs-  resp.  Ermüdungssymptome  aufzufassen  sind,  während 
sensorische  Aphasie  überhaupt  auszuschliessen  ist,  für  die  Annahme  eines  besonderen 
Schreibcentrums. 

24.  V.  98.  Operation  in  Aethemarcose  (Geh.  Med.-Rath  Riedel):  Eröffnung 
des  Schädels.  Nach  der  Eröffnung  der  Dura  starker  Prolaps  der  sehr  weichen  imd 
brüchigen  Gehimmasse.  Die  Hirnrinde  war  in  der  Form  erhalten.  Die  Him- 
substanz  ist  so  weich,  dass  ein  eingestochener  Troicard  durch  sein  eigenes  Gewicht 
tiefer  einsinkt.  Kein  Abfluss  von  Flüssigkeit.  Puls  160.  Die  Operation  wird  ab- 
gebrochen, da  sich  kein  Anhaltspunkt  für  den  Sitz  des  Tumors  ergicbt.    Verband. 

Temperatur  Abends  38®;  Puls  132,  unregelmässig;  Facialisparese  rechts  stärker 


94  I^rof.  Binswanger. 

als  liuks.     Grobe  motorische  Kraft  der  Extremitäten  rechts  viel  geringer;  Pupillen 
rechts  grösser  als  links,  fast  iichtstarr;  rechts  etwas  reagirend. 

25.  V.  Temperatur  37®.  Puls  144;  starke  Schleim absonderung,  eitriger  Aus- 
wurf; links  hinten  in  der  Umgebung  des  Schulterblattwinkels  handtellergroue 
Dämpfung:  rechts  hinten  oben  Kosselgeräusche.  Motorische  Sprachstörung  stärker. 
Patient  macht  unwillige  Abwehrbewegungen^  als  er  aufgefordert  wird,  Gegenstände 
zu  bezeichnen,  er  erkennt  anscheinend  Buch.  Uhr  und  Schlüssel  nicht;  letzteren 
doch  schliesslich  richtig.    Abends  Temperatur  B9,l;  Puls  152. 

20.  V.  Temperatur  37.2;  Puls  140;  die  Sprache  besteht  nur  noch  in  einem 
unverständlichen  Gemurmel,  aus  dem  gelegentlich  noch  Ja"  zu  verstehen  ist. 

27.  V.  Temperatur  37,3;  Puls  128.  Abends  37,7;  Puls  104,  Patient  isst  gut. 
hustet  weniger:  Gang  viel  sicherer. 

28.  V.  Vorbundwechsel;  grosser  gangränöser  Prolaps,  Entfernung  einiger 
loser  Fetzen.     Abends  37.(>;  Puls  104. 

29.  V.     Temperatur  37.6;  Puls  108;  Patient  schläft  viel. 

30.  V.  Nachts  stärkerer  Husten;  V^erband  sanguinolent  durchtränkt.  Tempe- 
ratur 37,7;  Puls  124.     Abends  38,9;  Puls  112. 

31.  V.  Verbandwechsel;  Athmuug  beschleunigt.  Temperatur  39.3;  Abends 
39,0;  Puls  124. 

1.  YI.  Athmung  stark  beschleunigt,  stertorös.  Abends  39,0;  Puls  144; 
AthniuDg  48;  inspiratorisehe  Dyspnoe;  links  hinten  etwas  Knistern. 

2.  Vi.  Temperatur  39.0;*  Puls  176,  sehr  klein,  Athmung  68.  12  Uhr  Mittag 
Exitus  letalis. 

Sectio u  (5Va  Stunden  post  mortem)  von  Herrn  Geheimrath  Müller. 

Die  Obduction  er;jfub.  abgesehen  von  einer  diffusen  eitrigen  Meningitis 
cerobro-spinalis  an  Basis  und  Convcxität,  folgenden  Befund: 

Kochte  lliilbkujrel  auuiiliernd  normal  gewölbt;  die  linke  im  Stirntheil  deutlich 
einge-junken ,  cutsprechend  der  voi'dcren  Hälfte  der  III.  Stirnwindung  und  dem 
Fuss  der  beiden  vorderen  Ceutralwindungen  aus  einer  umfangreichen  Lücke  der 
Pitt  in  (.iestalt  eines  rothgrauen,  übelriechenden,  fast  breiig  weichen  Tumors  vor- 
gewölbt. 

Linke  Scitoukamnier  beträchtlich  erweitert ,  ihr  Ependym  trüb,  leicht  grau 
verfärbt,  auf  der  tieisteu  Stelle  dünner,  röthlich  grauer  Eiter.  Der  rechte  Gyrua 
fornicat.  in  seiner  vorderen  Hälfte  leii-ht  eingebuchtet.  Das  Balkenkuie  mehrfach 
punktiörmiff  sugillirt,  weich,  leicht  gelb  verfärbt.  Die  Windungen  der  medialen 
Fläche  der  rechten  Halbkugel  durchweg  deutlich.  Die  vordere  Hälfte  des  linken 
Gyr.  loruicat.  über  die  Mittellinie  weggreifend;  das  Marklager  weich,  gelblich  grau 
verfärbt.  Knie  und  Rostruni  des  Balkens  gruppenweise  ijunktfi^rmig  sugillirt.  Das 
3Iarklüger  der  linken  Halbkugel  hinten  massig  fest,  nach  vorne  zunehmend  weicher 
als  normal.  Das  ganze  Stirnhirn  wird  bis  auf  eine  durchschnittlich  10  mm  dicke 
Schicht  der  orbitalen  und  der  vorderen  Fläche  eingenommen  von  einer  umfäng- 
lichen, dünnen,  rötlilich  gelben  Kiter  enthaltenden,  ringsum  von  theils  gelblicher, 
theils  rötlilich  grauer,  zottiger,  weicher  (Tchirnsubstanz  umgebenen  Höhle,  welche 
nach  aussen  entiiprechend  dem  hinteren  Ende  der  dritten  Stirnwindung  frei  aus- 
mündet. Die  Seitenkammer  auch  rückwärts  erweitert.  Plexus  grauweiss  getrübt, 
eitrig   intiltrirt.   das   Ependym   matt  glänzend,   gegen  den  mit   der  Seitenkammer 


Zur  Kasuistik  der  Agrapbie.  95 

communicirenden  Zerstörungsherd  hin  flach  ulcerirt.    Die  Hirnsubstanz  in  der  Um- 
gebung der  Lücke  kranzförmig  von  feinen  Blutaustritten  besetzt. 

Von  den  Stammganglien  der  Sehhügel  erhalten,  bleich,  ebenso  der  innere 
Linsenkem  und  innere  Kapsel.  Das  vordere  Ende  des  äusseren  Linsenkerns,  die 
vordere  Hälfte  des  Claustrums  und  die  Inselwindungen  sind  zerstört.  Die  Mark- 
Substanz  des  unteren  Stirnhirns  bis  an  das  vordere  Ende  bräunlich  gelb,  etwas 
weich,  zerstreute  kleinere  Bluiaustritte  führend.  Das  Unterhorn  ist  erweitert,  das 
Ependym  trübe,  vereinzelte  kleine  Blutaustritte  aufweisend.  Plexus  bis  an  das 
vordere  Ende  grauweiss  getrübt.  Die  mikroskopische  Untersuchung  des  in  Formol 
gehärteten  Gehirns  ergab  ein  Gliosarkom,  welches  im  Centrum  erweicht  und 
eitrig  eingeschmolzen  war  und  in  der  Umgebung  zahlreiche  Blutaustritte  und 
Nekrosen  und  im  gesunden  Gewebe  kleine  Metastasen  zeigte. 

Bei  der  Analyse  der  klinischen  Symptome  auf  dem  Gebiete  der 
Sprache  resp.  der  Schrift  ist  vor  Allem  der  psychische  Zustand  des 
Patienten  zu  berücksichtigen.  Es  geht  aus  der  Krankengeschichte 
hervor,  dass  allgemeine  intellectuelle  Störungen  das  Krankheitsbild 
eröifneten  und  ausgeprägte  Herdsyraptome  sich  erst  nachher  einstellten. 
Am  Autfälligsten  waren  die  Schwerbesinnlichkeit,  Vergesslichkeit,  die 
rasche  Ermüdbarkeit  bis  zur  völligen  geistigen  Abstumpfung.  Neben 
der  Denkhemmung  tritt  aber  schon  frühzeitig  ein  gewisser  Grad  von 
Incohärenz  und  vielleicht  auch  schon  von  ürtheilsschwächung  hervor. 
All  diese  Symptome  deuten  darauf  hin,  dass  schwere  Schädigungen 
der  gesammten  geistigen  Leistungen  vorhanden  waren,  welche  je  nach 
dem  Grade  der  Erholung  resp.  der  Ermüdung  des  Patienten  grossen 
Schwankungen  unterlagen.  Ein  Bild  von  den  besonderen  Störungen 
der  Sprache  resp.  der  Schrift  war  deshalb  nur  bei  längerer  Beobach- 
tung des  Kranken  und  öfters  wiederholten  Untersuchungen,  die  sich 
immer  nur  auf  ganz  kurze  Zeit  erstrecken  kormten  und  bei  beginnender 
Ermüdung  ausgesetzt  werden  mussten,  zu  gewinnen.  Wir  erwähnen 
hier  nur  der  einer  Prüfung  (am  10.  V.  1898):  Anfänglich  war  Patient 
über  Ort  und  Zeit  vollständig  orientirt,  erkannte  aucrh  einen  ihm  vor- 
gehaltenen Gegenstand  und  bezeichnete  denselben  richtig.  Dann  aber 
konnten  für  einen  anderen  Gegenstand  (Uhr)  augenscheinlich  die  ver- 
schiedenen Partial Vorstellungen  (optische,  acustische,  tactile)  nicht  mehr 
erweckt  werden.  Es  fiel  daher  selbstverständlich  der  sprachliche  oder 
schriftliche  Ausdruck  für  diese  Objectvorstellungen  aus.  Eine  kurze 
Erholungspause  genügte  aber,  um  sowohl  das  Sprachverstäudniss  als 
auch  den  sprachlichen  Ausdruck  sowie  relativ  complicirtere  intellectuelle, 
Leistungen  wieder  zu  ermöglichen.  Auch  die  Lesest öruugen,  welche? 
die    grösste    Aehnlichkeit    mit   denjenigen    bei    diffusen    Hirnrinden- 


96  Prof.  Binswanger. 

erkrankuDgen  (progressiver  Paralyse)  darboten,    sind  auf  diese  allge^ 
meinen  Schädigungen  der  iutellectuellen  Leistungsfähigkeit  zu  beziehen. 

Wie  das  angezogene  Beispiel  lehrt,  waren  die  Störungen  des 
sprachlichen  Ausdrucks  zum  grossen  Theil  als  Ermüdangs-  resp. 
Hemmungssymptome  aufzufassen.  Ausser  letzteren  Symptomen  waren 
Schreibstörungen  vorhanden,  welche  nur  als  AusfaUssyniptome  gedeutet 
werden  können.  Während  bei  der  ersten  Untersuchung  (16.  IV.  98) 
nur  relativ  geringfügige  dysgraphische  Störungen  zu  constatiren  waren, 
fand  sich  am  11.  V.  eine  fast  vollständige  Agraphie  vor:  der  Patient 
konnte  die  Anfangsbuchstaben  seines  Namens  in  plumper,  unvollständiger 
Weise  spontan  schreiben,  alle  weiteren  Schreibversuche  ergaben  nur 
sinnlose  Striche.  Auch  das  Schreiben  von  Zahlen  misslang.  Beim 
Schreiben  einzelner  Worte  nach  Diktat  zeichnete  Patient  ein  lateinisches 
M,  als  ihm  das  Wort  „Jena^  dictirt  wurde.  Auch  das  Copiren  war 
fast  völlig  aufgehoben,  indem  vom  Wort  „Jena^  nur  der  Anfiangs- 
buchstabe  J  geschrieben  wurde.  Ebenso  misslang  das  Nachzeichnen 
eines  einfachen  Dreiecks  sowohl  mit  der  rechten  wie  mit  der  linken 
Hand,  üass  diese  ScIireibsUirungen  ausser  Zusammenhang  mit  Leae- 
störungen  stehen,  beweist  der  erste  Versuch  am  12.  V.,  bei  welchem 
Patient  eine  schriftliche  Aufforderung  zu  einer  Handlung  ganz  prompt 
befolgte.  Die  Unfähigkeit,  seinen  Namen  aus  den  ihm  vorgelegten 
Buchst^iben  richtig  zusammenzusetzen,  glauben  wir  auf  die  Erschwerung 
der  psychischen  Functionen,  vor  Allem  auf  die  rasche  Ermüdbarkeit 
des  Kranken  zurückführen  zu  müssen  und  zwar  deshalb,  weil  bei  einem 
späteren  Versuche  Patient  das  Wort  Jena  fehlerfrei  zusammensetzte. 
Auch  bei  diesem  Versuche  hatte  der  Kranke  das  Wort  Jena  zunächst 
nicht  richtig  zusammengesetzt,  dann  aber  als  ihm  gesagt  wurde,  „es 
sei  falsch^*,  sich  auf  die  richtige  Form  der  Zusammensetzung  besonnen. 

Es  kann  somit  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  in  vorstehender 
Beobachtung  das  wesentUchste,  ja  fast  ausschliessliche  stabile  Ausfalls- 
symptom die  Schreibstörung  war.  Dass  die  Störungen  des  sprachlichen 
Ausdrucks  nur  Theilerscheinungeu  der  transcorticalen  Leitungserschwer- 
ungen darstellen,  geht  u.  A.  aus  den  Sprachproben  vom  17.  V^.  hervor, 
bei  welchen  Patienten  ihm  vorgelegte  Gegenstände  prompt  und  richtig 
bezeichnete,  wenn  es  ihm  gelang,  die  optischen  Erinnerungsbilder  der 
vorgelegten  Objecte  wieder  zu  erwecken.  Die  sprachliche  Bezeichnung 
fiel  meist  dann  aus,  wenn  er  die  gezeigten  Gegenstände  nicht  wieder 
erkennen  konnte.  Vereinzelt  gelang  die  Erweckung  der  zugehörigen 
optischen  Partialvorstellungen ,   während  die  Leitung  zum  acuatischen 


Zur  Kasuistik  der  Agraphie.  97 

Sprachceutrum  versagte:  Patient  erkannte  einen  Gegenstand  (z.  B.  einen 
Tisch),  konnte  ihn  aber  sprachlich  nicht  bezeichnen.  Es  handelte  sich 
hier  um  eine  wahre  transcorticale,  sensorielle,  aphasische  Störung.  In 
anderen  Fällen  konnte  Patient  nicht  einmal  durch  Betasten  der  Gegen- 
stände das  zugehörige  Wortklangbild  und  Wortlautbild  reproduciren. 
Es  spricht  dies  deutlich  für  das  Vorhandensein  trauscorticaler  Störungen 
zwischen  den  Erinnerungsbildern  und  dem  acustischen  resp.  motorischen 
Sprachcentrum.  Bemerkenswerth  ist,  dass  eine  Schädigung  des  Sprach- 
Verständnisses  niemals  beobachtet  wurde,  dass  also  m.  a.  W.  die  Object- 
vorstellungen  imimer  bei  Erregung  des  acustischen  Sprachcentrums 
erweckt  werden  konnten.  Auch  in  den  Fällen,  in  welchen  eine  Er- 
weckung der  Objectbegriffe  durch  Erweckung  der  tactilen  resp.  optischen 
Partialvorstellungen  unmöglich  war,  gelang  es  durch  Benennung  des 
Gegenstandes  sofort,  die  Objectvorstellung  wachzurufen.  Bei  diesem 
Befunde  ist  es  selbstverständlich,  dass  das  Spontansprechen  und  das 
Nachsprechen  im  ausgeruhten  Zustande  keine  Störung  aufwies,  während 
mit  dem  Eintritt  der  Ermüdung  paraphasische  Störungen  in  beiden 
Fällen  eintraten. 

Diese  Beispiele  genügen  wohl,  um  den  früherhin  ausgesprochenen 
Satz  zu  rechtfertigen,  dass  die  Störungen  des  sprachlichen  Ausdrucks 
vorzugsweise  als  Ermüdungserscheinungen  aufzufassen  waren. 

Eine  anatomische  hirnlocalisatorische  Würdigung  des  Falles  ist, 
wie  wir  schon  Eingangs  erwähnten,  unmöglich.  Es  ist  an  dem  Him- 
präparate  durchaus  nicht  mehr  festzustellen,  welchen  Sitz  und  Umfang 
das  Gliosarcom  im  Marklager  des  Stirnlappens  gehabt  hat,  da  die  con- 
secutive  Eiterung  eine  weitgreifende  Zerstörung  verursacht  hatte.  Nur 
das  Eine  lässt  sich  auch  jetzt  noch  erkennen,  dass  der  Krankheits- 
process  das  Marklager  der  vorderen  Centralwindungen  nach  hinten  hin 
nicht  überschritten  hat,  dass  also  eine  materielle  Läsion  der  sensoriellen 
Antheile  der  Sprachfunctionen  auszuschliessen  ist. 


Zeitschrift  für  HypnotisiuuN  etc.    IX. 


Literaturzusammenstellung 

über 

die  Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis 

von 

Dr.  Freiberrn  von  Schrenck-NotsiDg- München. 

(3.  Fort«»etzung.) 


Wie  in  der  ersten  Fortsetzung  dieses  Eieferates  (vergL  Band  YIII 
Heft  I  dieser  Zeitschrift)  ausgeführt  wurde,  sind  die  bahnbrechenden  Arbeiten 
Y.  Krafft-Ebing's  auf  dem  Gebiete  der  Psychopathia  sexualis  in  den 
letzten  2  Jahrzehuten  (1877 — 1899)  vielfach  beeinflusst  worden  durch 
die  frühere  und  gleichzeitige  Literatur  über  den  Gegenstand.  Es  erschien 
deswegen  augezeigt,  die  aus  der  ersten  Hälfte  dieser  Zeitperiode  (1877  — 1887) 
stammenden  Arbeiten  zu  referiren,.  bevor  die  zahlreichen  grundlegenden 
Studien  dieses  Gelehrten  Gegenstand  der  Erörterung  werden  konnten. 

Wenn  v.  Krafft-Ebing  kein  anderes  Verdienst  für  die  medicinische 
Wissenschaft  sich  erworben  hatte,  als  die  Erschliessung  eines  so  zu  sagen 
neuen  Wissenszweiges,  wie  sie  seine  Arbeiten  über  die  Psychopathia  sexualis 
darstellen,  sein  Name  bliebe  fUr  alle  Zukunft  untrennbar  verknüpft  mit 
der  Geschichte  der  Psychologie  und  Psychopathologie  des  Sexuallebens. 
Ihm  ist  es  hauptsächlich  zu  danken,  dass  die  bis  dahin  mit  heiliger  Scheu 
als  ,,noli  me  tangere"  betrachteten  psychosexuellen  Vorgänge  einer  wissen- 
schaftlichen Erkenntniss  und  naturwissenschaftlichen  Anschauung  näher  ge- 
rückt wurden.  Die  Ideen  und  Anregungen,  welche  von  seinen  Schriften  aus- 
gingen, haben  das  geistige  Leben  unserer  Zeit  nachhaltig  beeinflusst;  erst 
durch  seine  Arbeiten  konnten  die  seelischen  Probleme  solcher  Enterbten 
des  Liebesglücks  Verständniss  und  richtige  Beurtheilung  finden.  Deswegen 
bieten  aber  auch  die  Werke  K  raff  t -Ebi  ng's  Interesse  ebensowohl  für 
den  Etluker,  den  Aestbctikcr,  wie  für  den  Geistlichen,  den  Juristen  und 
Arzt!  Kein  Wunder,  wenn  die  IVychopatliia  sexualis  trotz  heftigster  Be- 
fehdun<(  von  Seiten  der  Collegen  10  Auflagen  erlebte.  Wie  schon  oben 
betont  wurde,  ist  der  Schaden,  den  ein  solches  Werk  wegen  seines  porno- 
graphischen Interesses  bei  dem  Laienpublikiun  stiften  kann,  verschwindend 
zu  dem  ungeheuren  Nutzen  der  dadurch  verbreiteten  Erkenntniss  und 
Aurkliirung. 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  99 

Im  Nachfolgenden  geben  wir  unter  Au8]a88uung  unwesentlicher  casu- 
istischer  Beiträge  eine  üebersicht  über  Krafft-  Ebing's  Studien  auf  diesem 
Gebiet:  1877  erschien  der  erste  Aufsatz  y.  Krafft-Ebing's  „üeber  ge- 
wisse Anomalien  des  Geschlechtstriebes*'  im  Archiv  für  Psychiatrie  Bd.  VIL 
8.  291.  Die  ersten  Arbeiten  dieses  Autors  wurden  10  Jahre  später  in  einem 
Bande  zusammengefasst,  der  unter  dem  Titel  „Psychopathia  sexualis  **  (Stutt- 
gart, Enke)  erschien  und  in  den  Jahren  1886 — 1898  10  Auflagen  erlebte, 
die  jedesmal  umgearbeitet  und  dem  jeweiligen  Stande  des  Wissens  angepasst 
wurden.  Weitere  Arbeiten  desselben  Verfassers  sind  folgende:  „Neue 
Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Psychopathia  sexualis'*,  1.  Auflage  1890, 
2.  1891  (Stuttgart,  Enke).  „Der  Conträrsexuale  vor  dem  Strafrichter", 
1.  Auflage  1894,  2.  1895  (Lei{Aig,  Deuticke);  „üeber  Irresein  durch 
Onanie  bei  Männern**,  Allgem.  Zeitschr.  für  Psychiatrie  1874,  S.425;  „lieber 
psych osexuales  Zwitterthum**,  Internat.  Centralbl.  für  die  Physiologie  imd 
Pathologie  der  Harn-  und  Sexualorgane,  Bd.  I,  Hefb  2;  „Neurosen  und 
Psychosen  durch  sexuelle  Abstinenz**,  Jahrbücher  für  Psychiatrie,  Bd.  Vm, 
6.  1  u.  2;  „Bemerkxmgen  über  geschlechtliche  Hörigkeit^,  Jahrbücher  für 
Psychiatrie,  Bd.  X,  Heft  2  u.  3;  „lieber  Eifersuchtswahn  beim  Manne**, 
Jahrbücher  für  Psychiatrie,  Bd.  X,  Heft  2  u.  3 ;  „Zur  Aetiologie  der  con- 
trären  Sexualempfindung**,  Jahrbücher  für  Psychiatrie,  Bd.  XII,  Heft  3; 
„Zur  Erklärung  der  conträren  Sexualempfindimg**,  Jahrbücher  für  Psy- 
chiatrie, Bd.  XIII,  Hefb  1 ;  „üeber  Zoophilia  erotica,  Bestialität  und  Zoo- 
erastie**,  Zeitschr.  für  Psychiatrie,  Bd.  50;  „Heber  Unzucht  mit  Kindern  und 
Paedophilia  erotica**.  Friedreich's  Blätter  für  gerichtl.  Medicin  1895;  „Ueber 
das  Zustandekommen  der  Wollustempfindung  und  deren  Mangel  (Auaphro- 
disie)  beim  sexuellen  Act**,  Intern.  Centralbl.  für  die  Physiologie  und 
Pathologie  der  Harn-  und  Sexualorgane,  Bd.  11,  S.  3  u.  4.  Ein  Theil  dieser 
in  Zeitschriften  zerstreuten  Artikel  kam  unter  Hinzufugung  neuer  Beiträge 
(so  „Zum  Sadismujs**,  „Zum  Fetischismus**,  „üeber  Hyperaesthesia  sexualis** 
u.  A.)  zum  Abdruck  in  dem  IV.  Heft  von  K rafft- Ebing 's  „Arbeiten 
aus  dem  Gesammtgebiet  der  Psychiatrie  und  Neuropathologie**  (Leipzig, 
Barth  1899). 

Die  hier  im  Einzelnen  aufgeführten  Bausteine  zu  den  Forschungen  des 
Wiener  Gelehrten  sind  in  den  neueren  Auflagen  der  Psychopathia  sexualis 
eingehend  berücksichtigt,  so  dass  eine  Beschreibung  des  Inhaltes  dieses 
Hauptwerkes,  sowie  seiner  Denkschrift:  „Der  Conträrsexuale**,  und  der  1899 
in  dem  III.  Bande  der  „Arbeiten  aus  dem  Gesammtgebiet  der  Psychiatrie** 
erschienenen  Aufsätze  für  den  Zweck  dieser  Arbeit  und,  um  die  Anschau- 
ungen des  Verfassers  kennen  zu  lernen,  vollkommen  ausreicht. 

Die  10.  (1898  erschienene)  verbesserte  und  theilweise  vermehrte  Auf- 
lage der  Psychopathia  sexualis  ist  in  5  Abschnitte  eingetheilt. 

Der  erste  enthält  Fragmente  einerPsychologiedes  Sexual- 
lebens. Verfasser  bezeichnet  darin  das  Geschlechtsleben  als  einen  ge- 
waltigen Factor  im  individuellen  und  socialen  Dasein,  als  den  mächstigsten 
Impuls  zur  Bethätigung  der  Kräfte,  zur  Erwerbung  von  Besitz,  zur  Er- 
weckung altruistischer  Gefühle.  Er  verfolgt  darauf  die  Entwicklungs- 
phasen,   durch  welche  im  Laufe  der  Culturentwicklung   der  Menschheit  das 


100  V-  Schrenck-Notzing. 

(jeschlechtsleben  bis  zur  heiitigen  Sitte  and  Gesittung  hindurch  gegangen 
ist.  Die  Versittlicbang  des  sexuellen  Verkehrs  erfuhr  einen  mächtigen  Im- 
puls durch  das  Christenthum,  indem  es  das  Weib  auf  gleiche  sociale  Stoie 
mit  dem  Manne  erhob  und  zur  monogamen  Ehe  führte.  Indessen  weist 
V.  Krafft-Ebing  darauf  hin,  dass  auch  die  Polygamie,  welche  im  alten 
Testament  anerkannt  sei,  auch  im  neuen  nirgends  ausdrücklich  aufgehoben 
werde,  so  dass  tbatsächlich  ohne  Einwendungen  der  Kirche  christliche 
Fürsten ,  wie  z.  B.  die  merowingischen  Könige  Chlotar  L,  Charibert  L, 
Pippin  I.  und  viele  vornehme  Franken  in  Polygamie  gelebt  bitten 

Die  psychologisch  bedeutsamste  Epoche  fär  das  Geschlechtsleben  ist  die 
Puberitätsent Wickelung.  ^Jene  anfangs  dunklen  unverständlichen  Drange, 
entstanden  aus  Empfindungen,  welche  bisher  unentwickelte  Organe  im  Be- 
wusstsein  wachriefen,  gehen  mit  einer  mächtigen  Erregung  des  Gefühlslebens 
einher.^  Der  fremdartige  Gefiihlsinhalt  objectivirt  sich  dann  oft  in  den  nahe- 
liegenden Gebieten  der  Religion  und  Poesie,  in  allen  möglichen  Schwärme- 
reien (^wollüstiger  Mystik)  etc.  Die  Beziehungen  zwischen  dem  religiösen 
und  sexuellen  Fühlen  zeigen  sich  in  den  brünstigen  Handlungen  mancher 
Nonnen,  in  den  Orgien  gewisser  Secten  und  auch  in  den  Krankengeschichten 
der  religiös  Wahnsinnigen.  Auch  die  Selbstpeinigungsacte ,  die  Untere 
werfungsopfer,  wie  sie  in  allen  Religionen  angetroffen  werden,  können  einen 
geschlechtlichen  Character  bekommen.  ,.Die  religiöse  Schwärmerei  fuhrt 
mitunter  zur  Ekstase,  einem  Zustand,  in  dem  das  Bewusstsein  derart  von 
psychischen  Lustgefühlen  präoccupirt  ist,  dass  die  Vorstellung  einer  etwa 
erduldeten  Misshandlung  nur  ohne  ihre  Schmerzqualität  percipirt  werden  kann.*^ 

Auch  für  die  Weckung  ästhetischer  Gefühle  zeigt  sich  der  sexuelle 
Factor  einflussreich.  Die  Wärme  der  Phantasie  wird  durch  das  Feuer  sinn- 
licher Liebe  erhalten.  Daher  begreift  sich,  dass  die  grossen  Dichter  und 
Künstler  sinnliche  Katuren  sind.  „Indessen  bleibt  bei  aUer  Ethik,  deren 
die  Liebe  bedarf,  um  sich  zu  ihrer  wahren  und  reinen  Gestalt  zu  erheben, 
ihre  stärkste  Wurzel  die  Siuulichkeit.  Platonische  Liebe  ist  ein  Unding, 
eine  Selbstt^iuschung,  eine  falHche  Bezeichnung  für  verwandte  Gefühle.** 

Auch  auf  das  lebhaftere  getschlechtliche  Bedürfniss  des  Mannes  weist 
V.  Krafft-Ebing  hin  gegenüber  dem  Weibe.  „Dem  mächtigen  Drange 
der  Natur  folgend  ist  er  stürmisch  und  aggressiv  in  seiner  Liebeswerbung, 
(ileichwohl  füllt  das  Gebot  der  Natur  nicht  sein  ganzes  psychisches  Dasein 
aus.  Ist  sein  Verlangen  erfüllt,  so  tritt  seine  Liebe  temporär  hinter  anderen 
vitalen  und  socialen  Interessen  zurück.''  Schliesslich  folgen  noch  Bemer- 
kungen über  den  „physiologischen  Fetischismus". 

Der  zweite  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  den  physiologischen 
T  h  a  t  s  a  c  h  e  n  ,  welche  dem  Göschlechtsleben  zu  Grunde  liegen.  Dieselben 
sind  hinreichend  bekannt,  so  dass  wir  nicht  näher  darauf  eingehen.  Für 
Jjibido  und  Potenz  sind  auch  hereditäre  Einflüsse  maassgebend;  beim  Weib 
ist  die  Libido  sexualis  postmenstrual  nach  v.  Krafft-Ebing  am  grössten. 
Dio  anatomisch  -  physiologischen  Vorgänge  (Hyperämie ,  Spermabereitung, 
Ovulation)  lösen  in  der  Hirnrinde  sexuelle  Vorstellungen,  Bilder  und 
Dränge  aus.  Verfasser  geht  dann  auf  den  Vorgang  der  Erection  und 
Ejaculation   näher    ein.      Er   nimmt    ferner   für    gewisse  pathologische    Fälle 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  Tita  sexualis.  IQl 

«inen  ZoBammenhang  der  G^mchswahmehmungen  mit  dem  Geschlechtssinn 
an,  wie  er  ja  bei  Thieren  unzweifelhaft  besteht.  Dass  namentlich  auch 
durch  S^izung  der  Nerven  der  Gesässgegend  (Züchtigung,  Geisselung)  die 
libido  sexualis  erregt  werden  kann,  unterliegt  keinem  Zweifel  und  ist  auch 
Tom  Referenten  yiel^stch  bestätigt  worden.  Die  Geschichte  der  Flagellanten 
im  13.  bis  15.  Jahrhundert  bietet  für  diese  Thatsache  merkwürdige  Bei- 
spiele. Was  die  vom  Verfasser  besprochenen  erogenen  Zonen  beim  Manne 
betrifiFt,  so  sind  dieselben  nicht  nur,  wie  v.  Krafft-Ebing  meint«  auf  die 
Haut  der  äusseren  Genitalien  beschränkt,  sondern  auch  die  Haut  des  Dammes, 
der  Anus,  die  Brustwarzen,  Lippen  und  Zungenschleimhaut  sind  bei  vielen 
Männern  erogen;  in  manchen  selteneren  Fällen  kann  die  ganze  Epidermis 
diese  Function  übernehmen. 

Der  Schluss  dieses  Abschnittes  wird  durch  die  Darstellung  der  Actes 
der  Cohabitation  gebildet. 

Das  dritte  Kapitel  enthält  die  allgemeine  Neuro-  und 
Psychopathologie  des  Geschlechtslebens. 

Auf  die  peripheren  und  spinalen  Neurosen,  welche  in  allen  Lehrbüchern 
der  sexuellen  Neurasthenie  behandelt  sind,  soll  an  dieser  Stelle  nicht  ein- 
gegangen werden.  Dagegen  unterscheidet  v.  Krafft-Ebing  bei  den 
cerebral  bedingten  Neurosen  1.  die  Paradoxie  (Sexualtrieb  ausserhalb  der 
Zeit  anatomisch-physiologischer  Vorgänge,  im  Kindes-  und  Greisenalter  z.  B. 
bei  der  Dementia  senilis),  2.  die  Anaesthesia  sexualis  (fehlender  Ge- 
schlechtstrieb, als  angeborene  oder  erworbene  Anomalie  z.  B.  in  Folge  von 
Castration,.  3.  die  Hyperästhesie  (vennehrter  Trieb,  Satyriasis,  Nympho- 
manie), 4.  die  Parästhesie  (Erregbarkeit  des  Sexuallebens  durch  inadä- 
quate, also  perverse  Beize). 

Die  an  Anaesthesia  sexualis  leidenden  Individuen  sind  nach  v.  Krafft- 
Ebing  wohl  immer  degenerative  Existenzen;  als  eine  mildere  Form  dieses 
Zustandes  betrachtet  er  die  „naturae  frigidae'^  mit  geringer  Neigung  oder 
Abneigung  gegen  den  Sexualverkehr  ohne  sexuelles  Aequivalent  und  dem 
Hangel  jeder  wollüstigen  Erregung  beim  Coitus.  Diese  Fälle  sind  wohl 
beim  weiblichen  Geschlecht  viel  häufiger,  als  v.  Krafft-Ebing  anzu- 
nehmen scheint  und  nicht  immer  von  Neuropathie  begleitet.  Es  giebt 
Autoren,  welche  den  Procentsatz  frigider  Frauen  auf  40  ^  \^  schätzen  und 
Seferent  glaubt,  dass  diese  Ziffer  für  die  angelsächsische  Bevölkerung  sich 
nicht  weit  von  der  Wahrheit  entfernt.  Dabei  ist  natürlich  Klima,  Rasse, 
Abstammung  zu  berücksichtigen.  Für  die  Beurtheilung  der  ganzen  Frauen- 
emancipation  erscheint  eingehende  Erwägung  dieses  Punktes  wichtig.  Viel- 
fach bleiben  weibliche  Personen  sexuell  unempfindlich,  weil  die  betreffenden 
männlichen  Partner  das  sexuelle  Fühlen  der  Frau  nicht  richtig  zu  ent- 
wickeln verstehen,  sind  also  nur  scheinbare  naturae  frigidae! 

Der  krankhaft  gesteigerte  Geschlechtstrieb  ist  gewöhnlich 
mit  einer  neuropathi sehen  Constitution  verbunden.  Er  kann  die  Gewalt 
einer  organischen  Nöthigung  gewinnen  und  die  Willensfreiheit  ernstlich  ge- 
fiQirden.  Die  Nichtbefriedigung  des  Dranges  ist  häufig  mit  Angstgefühlen 
Terknüpft  (Nothzucht,  Bestialität).  Casuistik  weist  zahlreiche  hierhergehöriga 
Fälle  auf. 


102  ▼.  Schrenck-Notzing. 

Den  wichtigsten  Theil  des  Werkes  bilden  die  Ausftilinmgeii  über  di» 
Parästhesie  der  Geschlechtsempfindung  (Perversion  des  Ge- 
schlechtstriebes). Als  pervers  bezeichnet  v.  Krafft-Ebing  jede 
Aeusserung  des  Geschlechtstriebes,  die  nicht  den  Zwecken  der  Natur ,  also 
der  Fortpflanzung  entspricht.  Die  Perversität  des  geschlechtiichen  Handefaifl 
ist  von  der  Perversion  des  Geschlechtstriebes  zu  anterscheiden.  Die  per- 
verse Handlung  kann  lasterhaft  sein,  nicht  bedingt  durch  die  Krankhaftig- 
keit der  Persönlichkeit. 

Die  erste  grosse  Gruppe  dieser  Klasse  umfasst  geschlechtliche 
Neigungen  zu  Personen  des  anderen  Geschlechtes  in  per- 
verser Bethätigung  des  Triebes. 

Dazu  gehört  in  erster  Linie  die  Verbindung  von  Grausamkeit  und 
Wollust;  Fälle  in  denen  die  geschlechtliche  Erregung  an  die  Ausübung 
activer  Gewaltthätigkeit  gebunden  ist,  bezeichnet  v.  Krafft-Ebing  als 
Sadismus;  solche  dagegen,  bei  denen  umgekehrt  die  geschlechtliche 
Befriedigung  durch  Erduldung  von  Misshandlungen  und  Demüthigungen  er- 
folgt, als  Masochismus.  Auf  das  Unzulängliche  dieser  nach  den  Roman- 
schriftstellern ,, Marquis  de  Sade'^  und  ,, Sacher  Masoch'*  gebildeten  Bezeich- 
nungen wurde  vom  Referenten  in  seinen  Arbeiten  wiederholt  aufmerksam 
gemacht.  Wir  kommen  auf  diesen  wichtigen  Punkt  noch  im  Verlauf  des 
Referates  zurück. 

Liebe  und  Zorn  suchen  nach  Krafft-Ebing  ihren  Gegenstand  auf, 
wollen  sich  seiner  bemächtigen  und  entladen  sich  naturgemäss  in  einer 
körperlichen  Einwirkung  auf  denselben;  beide  versetzen  die  psychomotorische« 
Sphäre  in  heftigste  Erregung  und  gelangen  mittels  dieser  Erregung  zu  ihrer 
normalen  Aeusserung.  Der  Exaltationszustand  wollüstiger  Aufregung  er- 
zeugt den  Drang,  gegen  das  Object,  welches  den  Reiz  hervorruft,  in  der 
intensivsten  Art  zu  reagiren.  Die  scheinbar  feindseligen  und  sinnlosen 
Acte  sieht  der  Verfasser  in  diesem  Sinne  als  psychische  Mitbewegungen 
an.  TJm  aber  eine  starke  Wirkung  auszuüben,  ist  das  stärkste  Mittel  die 
Zufügung  von  Schmerz.  Daher  kann  es  in  solchen  Fällen  zur  Misshand- 
lung, zur  Verwundung  und  sogar  zur  Tödtung  des  Opfers  kommen.  Dazu 
kommt,  dass  der  Mann  im  Verkehr  des  Geschlechtes  überhaupt  die  active 
aggressive  Rolle  übernimmt  (Erobern,  Besiegen  des  Weibes).  Es  handelt  sich 
also  beim  Sadisimus  um  eine  pathologische  Steigerung  der  Begleiterschei- 
nungen der  psychischen  vita  sexualis  ins  Maasslose. 

Beim  „Masochismus^  wird  das  Individuum  in  seinem  geschlecht- 
lichen Fühlen  und  Denken  von  der  Vorstellung  beherrscht,  dem  Willen 
einer  Person  des  anderen  Geschlechtes  vollkommen  und  imbedingt  unter- 
worfen zu  sein,  von  dieser  Person  herrisch  behandelt,  gedemüthigt  und  miss- 
handelt  zu  werden.     Diese  Vorstellung  wird  mit  Wollust  betont. 

Während  der  Sadismus  als  eine  pathologische  Steigerung  des  männ- 
lichen Geschlechtscharacters  in  seinem  psychischen  Beiwerk  angesehen  werden 
kann,  stellt  der  Masochismus  eine  krankhafte  Ausartung  weiblicher  specifischer 
Eigenthümlichkeit  dar.  ^Im  Masochismus  entsteht  eine  Ekstase,  in  der  die 
steigende  Fluth  einer  einzigen  Empfindung  jeden  von  der  geliebten  Person 
kommenden  Einfluss    begierig   verschlingt  und  mit  Wollust  überschwemmt*' 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  Tita  sexualis.  103 

Die  Abhängigkeit  eines  Individuums  von  einem  anderen  des  entgegen- 
gesetsEten  Geschlechtes  kann  in  manchen  Fällen  bis  zum  Verlust  jedes  selbst* 
ständigen  Willens  gehen,  bis  zu  einer  Abhängigkeit,  welche  den  beherrschten 
Theil  zu  Handlungen  und  Duldungen  zwingt,  die  schwere  Opfer  am  eigenen 
Interesse  bedeuten.  Diese  durch  ein  geringes  Maass  von  Willenskraft  gegen« 
über  dem  unabhängigen  Theil  gekennzeichnete  abnorme  Abhängigheit  eines 
Menschen  von  einem  anderen  des  entgegengesetzten  Geschlechtes  bezeichnet 
V.  Krafft-Ebing  als  ,, geschlechtliche  Hörigkeit^.  Zu  den  Er- 
scheinungen der  G^schlechtshörigkeit  gehören  die  unbedingte  Nachgiebig« 
keit  gegen  die  Launen  der  Gattin,  Eheschliessungen  mit  notorischen  Dirnen, 
Aufopferung  von  Vermögen,  Stellung  und  Familie  einer  Hetäre  zu  Liebe, 
die  mit  Misshandlungen  verbundene  Abhängigkeit  der  Prostituirten  vom 
Zuhälter,  der  Frauendienst  des  Mittelalters  etc.  „Wenn  die  Vorstellung  des 
Tyrannisirt- Werdens  lange  mit  der  lustbetonten  Vorstellung  des  geliebten 
Wesens  eng  associirt  war,  so  geht  endlich  die  Lustbetonung  auf  die  Tyrannei 
selbst  über  und  es  ist  Perversion  eingetreten.*'  Es  giebt  also  nach 
v.  Krafft-Ebing  in  Folge  associirender  Gewohnheit  erworbenen  und 
originären  als  Product  der  Vererbung  auftretenden  Masochismus.  Der 
perverse  Trieb  kann  sich  schliesslich  auf  rein  symbolische  die  Unterwerfung 
ausdrückende  Handlungen  richten,  v.  Krafft-Ebing  stellt  es  direct  in 
Abrede,  dass  die  passive  Flagellation  der  Kern  der  Sache  sei.  Es  findet 
bei  der  Schmerzerduldung  eine  Uebercompensation  des  physischen  Schmerzes 
durch  psychische  Lust  statt  (Hallucination  körperlicher  Wollust). 

Das  Umgekehrte,  nämlich  die  Begierde  starker  Einwirkung  und  schranken« 
loser  Unterwerfung  der  consors,'  erscheint  beim  Sadismus  als  wesentlichster 
Punkt.  Es  handelt  sich  also  lediglich  um  active  und  passive  Unterwerfung, 
wobei  die  Art  des  Ausdrucks  der  Perversion  nebensächlich  wird. 

,. Sadismus  und  Masochismus  sind  (entgegen  der  Auffassung  Binet's 
und  des  Verfassers)  nur  in  dem  Sinne  Resultate  von  Associationen,  in  dem 
alle  complicirteren  Erscheinungen  des  Seelenlebens  Associationen  sind.  ^  Sie 
sind  nicht  nach  v.  Krafft-Ebing  das  Resultat  zufalliger  Association, 
sondern  das  Resultat  präformirter  bestimmter  Bedingungen.  So  kann  der 
Anblick  von  Prügelscenen  u.  dgl.  eine  vorhandene  pathologische  Association 
aus  ihrer  Latenz  wecken,  nicht  aber  eine  solche  neu  entstehen  lassen. 

Wenn  Sadismus  und  Masochismus  bei  einem  Individuum  auftreten,  so 
ist  es  lediglich  die  Vorstellung  der  Unterwerfung,  welche  activ  und  passiv 
den  Kern  des  Gelüstes  bildet.  Beide  perversen  Richtungen  des  Gesclilechts« 
triebes  betrachtet  v.  Krafft-Ebing  als  Grundformen  psychosexualer 
Perversion. 

Wir  haben  die  Theorie  des  Verfassers  ausführlich  wiedergegeben,  ob- 
wohl wir  dieselbe  durchaus  nicht  als  zureichende  Erklärung  für  alle  derar- 
tigen Fälle  ansehen. 

Am  bezeichnendsten  für  den  Zusammenhang  von  Wollust  und  Grausam- 
keit sind  die  terminalen  Formen  des  Sadismus,  wie  sie  sich  im  Lustmord, 
in  der  Schändung  und  Zerstückelung  der  Leichen  zeigen.  Dahin  gehört 
auch  das  Blutigstechen,  Besudeln  weiblicher  Personen,  die  Knabengeisselung 
(durch  wollüstige  Erzieher),  sadistische  Handlungen  an  Thieren  etc.      Eine 


104  ▼.  Schrenck-Notzing. 

Uebergangsgruppe  zu  dem  Masochismns  stellen  die  Fuss-  und  Schuhfeti- 
schifiten  dar^  insofern  das  Treten  mit  Füssen  dabei  eine  B,olle  spielt.  Ebenso 
rechnet  der  Verfasser  dazu:  ekelhafte ,  Selbstdemüthigung  involvirende  Qe- 
lüste,  wie  z.  B.  das  Geniessen  von  Koth,  Urin  und  Menstrualblut,  das  Lecken 
an  den  Dejectionen,  Geschwüren  der  Kranken  etc. 

Diesen  Trieb  zum  Ekelhaften  nennt  y.  Krafft-Ebing:  „Koprolagnie^. 

Eine  weitere  wichtige  IGasse  perverser  Triebbethätignng  bietet  der 
Fetischismus  dar.  „Unter  Fetisch  pflegt  man" ,  wie  v.  Krafft-Ebing 
bemerkt,  „Gegenstände  oder  Theile  oder  blosse  Eigenschaften  von  Gegenstan- 
den zu  verstehen,  die  vermöge  associativer  Beziehungen  zu  einer  lebhafte 
.Gefühle  bezw.  wichtiges  Interesse  hervorrufenden  Gesammtvorstellung  oder 
Gesammtpersönlichkeit  eine  Art  Zauber  („fetisso^  portugiesisch)  bilden,  minde- 
stens einen  sehr  tiefen,  dem  äusseren  Zeichen  (Symbol,  Fetisch)  an  und  für 
sich  nicht  zukommenden,  weil  individuell  eigenartig  betonten  Eindruck  be- 
wirken." 

Die  individuelle  Werthschätzung  bis  zur  Schwärmerei  nennt  man  Feti- 
schismus. Der  erotische  Fetischismus  kann  physiologisch  sein,  insofern  in 
der  Liebe  bestimmte  aus  der  Gesammterscheinung  genommene  Theile  und 
Eigenschaften  eine  besondere  Anziehungskraft  üben. 

Für  den  einen  ist  der  blosse  Körper,  für  den  anderen  die  blosse  Seele 
ein  Fetisch.  Alle  Theile  einer  weiblichen  Erscheinung,  besonders  Haare, 
Augen,  Figur,  Füsse  und  Stimme  können  zum  Fetisch  werden. 

Der  Fetischismus  eroticus  ist  von  dem  Augenblick  an  als  pathologisch 
aufzufassen,  wo  ein  vom  Gesammtbilde  der  Person  des  anderen  Geschlechtes 
losgelöster  Theileindruck  alles  sexuelle  Literesse  auf  sich  concentrirt,  so  dass 
die  anderen  Eindrücke  daneben  verblassen,  und  die  conditio  sine  qua  non 
für  die  geschlechtliche  Potenz  darstellt.  Daneben  kommen  natürlich  Ueber- 
gangsformen  vor,  bei  denen  ein  Coitus  ohne  Anwesenheit  des  Fetisch  nicht 
befriedigt. 

Zur  Erklärung  dieser  eigenthümlichen  Verirrung  zieht  v.  Krafft- 
Ebing  die  AssociatioDslehre  Bin  et' s  heran.  Hiernach  ist  nämlich  im 
Leben  jedes  Fetiscbisten  ein  Ereigniss  anzunehmen,  welches  die  Betonung 
gerade  dieses  einzigen  Eindruckes  mit  Wollustgefühlen  determinirt  hat.  Li 
der  Regel  fällt  dieses  Ereigniss  in  die  Jugend,  in  das  Erwachen  der  vita 
sexualis.  Dasselbe  fallt  mit  irgend  einem  sexuellen  Theileindruck  zusammen 
und  stempelt  diesen  für  die  Dauer  des  ganzen  Lebens  zum  Hauptgegenstand 
des  sexuellen  Interesses.  Oft  wird  die  Gelegenheit,  bei  welcher  die  Asso- 
ciation entstanden  ist,  vergessen,  nur  das  Resultat  bleibt  der  Association 
bewusst.  Originär  ist  hier  nur  der  allgemein  zur  Psychopathie,  disponirte 
Gharacter,  die  sexuelle  Hyperästhesie  solcher  Individuen.  Die  bekannt  ge- 
wordenen Hauptfälle  dieser  Perversion  betreffen  zunächst  Theile  des  weib- 
lichen Körpers.  So  giebt  es  Hand-,  Fuss-,  Schuhfetischisten,  Kleidongs- 
fetischisten  (für  Taschentücher,  Schürzen,  Frauenröcke).  Eine  wichtige  Gruppe 
stellen  die  Haarfetischisten  und  Zopfabschneider  dar  wegen  ihrer  Conflicte 
mit  dem  Gesetz.  Sehr  häufig  onaniren  die  Fetischisten  beim  Anblick  ü 
Fetisch.  Beim  Stoff-Fetischismus  spielen  Pelzwerk,  Sammt  und  Seide 
hervorragende  Rolle  (Sacher    Masoch).      Der    Thierfetisohismiis    wird 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  105 

V.  Krafft-Ebing  auch  als  Zoophilia  erotica  bezeichnet.  So  erklärt  sich 
mitunter  die  auffallende  Vorliebe  mancher  Personen  für  Hunde  und  Katzen. 

Der  ganze  Abschnitt  ist  von  einer  reichhaltigen  Casuistik  begleitet,  auf 
welche  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  kann. 

Den  letzten  Theil  dieses  Abschnittes  nehmen  die  ausführlichen  und 
social,  forensisch  und  psychologisch  gleich  wichtigen  Darlegungen  über 
homosexuale  oder  conträre  Geschlechtsempfindung  ein.  Die- 
selbe betrifft  Individuen,  welche  trotz  anatomischer  und  physiologischer 
Normalität  in  ihrer  psychosexualen  Persönlichkeit  die  ihrem  G-eschlecht 
entgegengesetzte  Sexualempfindung  darbieten.  Nach  v.  Krafft-Ebing 
tritt  diese  perverse  Sexualität  mit  sich  entwickelndem  Geschlechtsleben  spontan, 
ohne  äussere  Anlässe  zu  Tage,  als  individuelle  Erscheinungsform  einer 
abnormen  Artung  der  vita  sexualis,  oder  sie  entwickelt  sich  nach  einem 
Verlauf  in  normalen  Bahnen  auf  Grund  schädlicher  Einflüsse  und  erscheint 
dann  als  erworbene  Form.  Die  Entstehung  dieser  Erscheinung  ist  noch 
rätfaselhaft  und  unaufgeklärt. 

Somit  theilt  v.  Krafft-Ebing  die  Yerkehrung  der  Geschlechtsempfin- 
dong  in  2  Gruppen: 

a)  die  erworbene  krankhafte  conträre  Sexualempflndung, 

b)  die  angeborene  krankhafte  conträre  Sexualempflndung. 

Er  unterscheidet  in  dem  ümwandlungsprocess  der  Geschlechtsempfln- 
dung  4  Stadien: 

I.  Stufe:    Einfache  Verkehrung   der    Geschlechtsempfin- 
dung.    Patient  ist  noch  in  activer  Rolle  und  empflndet  den  Drang 
zum  eignen  Geschlecht  als  Verirrung. 
IL  Stufe:  E viratio  und  Defeminatio.    Wandlung  des  Characters, 
der  Gefühle    und    Neigungen    im    Sinne    einer    weiblich    fühlenden 
Persönlichkeit. 
m.  Stufe :  TJebergang    zur    Metamorphosis    sexualis  para- 
n  o  i  c  a.     Das  körperliche  Empflnden  ist  im  Sinne  der  Transmutatib 
sexus  umgestaltet. 
IV.  Stufe:  Metamorphosis    sexualis    paranoica.      Wahn    der 

Geschlechtsverwaltung. 
Voraussetzung  zur  Entwickelung  der  Homosexualität  ist  ein  neuropa- 
ihisches  Nervensystem.  Dasselbe  kann  ebensowohl  erworben,  als  angeboren 
sein.  Zu  der  veranlagenden  Ursache,  der  neuropathischen  Belastung, 
Bmss  noch  nach  v.  Krafft-Ebing  die  veranlassende  Ursache  treten, 
damit  die  conträre  Sexualempflndung  in  die  Erscheinung  treten  kann.  Als 
erworbene  krankhafte  Erscheinung  kommt  sie  nach  dem  genannten  Autor 
selten  vor. 

Die  erworbene  conträre  Sexualempfindung  durchläuft  dieselben  Stufen, 
wie  die  angeborene.  In  der  Entwickelung  sind  folgende  Formen  zu  unter- 
scheiden (v.  Krafft-Ebing): 

1.  Bei  vorwaltender  homosexueller  Empfindung  bestehen  Spuren  hetero- 
sexualer (psyc  hose  xuale  Hermaphrodisip). 

2.  Es  besteht  nur  Neigung  zum  eigenen  Geschlecht  (Homosexuali- 
tät), Horror  feminae  (beschränkt  auf  die  vita  sexualis). 


105  T.  Schrenck-Notzing. 

3.  Das  ganze  psychische  Sein  (der  Charakter)  ist  der  abnormen  Gte^ 
schlechtsempfindung  entsprechend  geartet  (Effeminatio  ond 
Viraginität). 

4.  Die  Körperform  nähert  »ich  derjenigen,  welcher  die  abnorme  G^ 
schlechtsempfindung  entspricht.  Nirgends  jedoch  wirkliche  Herma- 
phrodisie.  (AndrogynieundGynandrie.)  Weiblicher  Typus 
(breite  Hüften,  runde  Formen,  reichliche  Fettentwickelung,  fehlende 
spärliche  Bartentwickelung,  weibliche  Gesichtszüge,  feiner  Teint^ 
iHstelstimme) ;  beim  Manne  (Mammabildung  mit  Milchentwickelang 
in  der  Pubertät). 

Als  wichtigste  Ursachen  für  erworbene  conträre  Sexualempfindong 
sind  nach  den  genannten  Quellen  zu  bezeichnen:  Uebermässige  Onanie, 
welche  Character,  Triebleben  und  Nervensystem  schadigt,  zur  mutuellen 
Masturbation  führt,  und  Furcht  vor  Schwängerung  und  Ansteckung,  Weiber- 
mangel etc. 

Wenn  die  Verkehr ung  der  Geschlechts empfindung  als  Theilerscheinung 
eines  „neuropsychopathischen  Zustandes*^,  der  hereditär  bedingt  ist,  aoflritt, 
so  sind    folgende  Zeichen    nach  v.  Krafft-Ebing's    Lehre    massgebend : 

a)  Vorzeitiges  Erwachen  des  Geschlechtstriebes. 

b)  Schwärmerische  Exaltation ,  zwingende  Stärke  des  Triebes  und 
sexuelle  Hyperästhesie. 

c)  Functionelle  und  anatomische  Entartungszeichen. 

d)  Neurosen  (Hysterie,  Neurasthenie,  epileptoide  Zustände),  reizbare 
Schwäche  des  Lendenmarks. 

e)  Psychische  Anomalien  (originäre  Verschrobenheit  und  schlechter 
Intellect  bei  einseitiger  hervorragender  Begabung)  bis  zu  Schwach- 
sinn und  moralischem  Irresein. 

f)  Neurosen,  Psychosen  und  Degenerationszeichen  in    der  Ascendenz. 
,,Das  vererbende  Moment    ist    die    erworbene    krankhafte  Neigung  zum 

eigenen  Geschlecht,  die  sich  beim  Descendenten  als  angeborene  krankhafte 
Erscheinung  vorfindet."  Gestützt  wird  diese  Hypothese  durch  die  That- 
sache,  dass  auch  seelische  Eigenschaften  und  Gebrechen  sich  vererben  können, 
und  dass  Conträrsexuale  mitunter  Kinder  zeugen. 

Die  am  häufigsten  vorkommenden  geschlechtlichen  Handlungen,  wodurch 
derartige  Individuen  Befriedigung  finden,  sind:  Coitus  inter  femora,  in 
anum,  in  os,  mutuelle,  psychische  und  tactile  Onanie,  einfache  Liebkosungen, 
Exhibition.  Erzwungener  Verkehr  mit  dem  Weibe  greift  an,  während  in- 
adäquate homosexuelle  Practiken  voll  befriedigen. 

Gewöhnlich  besteht  keine  Inclination  zu  unreifen  Personen. 

Zur  Erklärung  der  angeborenen  Homosexualität  hat  v.  Krafft-Ebing 
neuerdings  die  zuerst  von  Ulrichs  und  später  (1883)  von  Chevalier 
aufgestellte  Hypothese  einer  pathologisch  partiellen  Entwickelung  der  dem 
zur  Entwickelung  gelangenden  Geschlecht  entgegengesetzte  Anlage  von  Centren 
im  Embryo  herangezogen.  Diese  Anschauung  geht  wie  schon  bei  Be- 
sprechung der  Arbeiten  von  Ulrichs  erwähnt  wurde,  von  der  ursprüng- 
lich bisexuellen  Anlage  im  Embryo  aus.  Es  entwickelt  sich  daraus  ein 
monosexuales  Individuum,  und  die  anatomische  Anlagen  des  entgegengesetzten 


Psychologie  und  Pt<ychopathologie  der  vita  sexualis.  107 

GeschlechtB  treten  zurück.  Diese  caract^res  sexuels  latente  Darwin^B 
können  unter  gewissen  Umständen  Bedeutung  gewinnen  und  nach  Chevalier 
und  y.  K rafft- Eb in g  Erscheinungen  conträrer  Sexualität  hervorrufen. 
Verfasser  fügt  eine  ausführliche  Darlegung  der  in  Betracht  kommenden 
anatomischen  Verhältnisse  bei. 

Diese  Ausnahmen  vom  Gesetz  der  homologen  Geschlechtsentwicklung 
werden  nach  dem  Verfasser  durch  klinische  und  anthropologische  Beobach- 
tungen gestützt  (Eunuchenthum,  Klimax  präcox  etc.). 

Gegenüber  der  in  der  letzten  Fortsetzung  ausfuhrlich  erörterten  und 
auch  vom  Brcferenten  in  seinen  Schriften  vertretenen  Theorie  von  Bin  et 
macht  V.  Krafft-Ebing  geltend,  dass  psychologische  Earäfte  zur  Erklärung 
einer  solchen  schwer  degenerativen  Erscheinung  nicht  ausreichen.  Hier- 
gegen drängt  sich  die  Frage  auf:  Sind  denn  etwa  schwere  Fälle  von  Feti- 
schismus weniger  degenerativ,  als  solche  conträrer  Sexualempfindung?  Und 
doch  reicht  das  associative  Erklärungsprincip  dem  Verfasser  zur  Erklärung 
dieser  Anomalie  —  immer  in  Voraussetzung  eines  durch  erbliche  Belastung 
widerstandsunfähigen  Nervensystems  —  vollkommen  aus! 

Heferent  konnte  Fälle  von  Fetischismus  beobachten,  die  an  Schwere 
des  Krankheitszustandes  in  keiner  Weise  sich  von  den  schweren  Fällen 
conträrer  Sexualempfindung  unterschieden  und  im  Sinne  v.  Krafft- 
Ebing 's  genau  so  als  degenerativ  imponirten,  wie  manche  Beobachtungen 
von  Masochismus  und  Homosexualität.  Warum  sollte  also  beim  Zustande- 
kommen der  conträren  Sexualempfindung  und  des  Sadismus  nicht  dasselbe 
möglich  sein,  was  beim  Fetischismus  möglich  ist!  Denn  der  Unterschied 
besteht  ja  nur  im  Inhalt,  im  Gegenstand  des  sexuellen  Interesses,  nicht  in 
der  Form  der  Erkrankung. 

Die  den  geistreichen  und  anregenden  Ausführungen  v.  K  r  a  f  f  t  -E  b  i  n  g '  s 
beigefügte,  übrigens  in  der  10.  Auflage  seines  Werkes  beschränkte  Casuistik 
kann  nach  der  Meinung  des  Heferenten  nicht  als  ein  hinreichender  Beweis 
erachtet  werden  für  das  Angeborensein  der  geschlechtlichen  Geschmacks- 
richtung; ebenso  unzulänglich  erscheinen  die  Mittheilungen  über  die  be- 
hauptete körperliche  Transformation  (Androgynie).  Näheres  hierüber  bei 
Besprechung  der  Arbeiten  des  Heferenten. 

Den  Abschnitt  schliessen  Bemerkungen  über  die  Diagnose,  Prognose 
und  Therapie  der  conträren  Sexualempfindung  ab.  Die  Aufgaben  der  Be- 
handlung bestehen  in  Bekämpfung  der  Onanie  und  anderen,  die  Vita  sexu- 
alis schädigenden  Momenten,  femer  in  Beseitigung  der  neuropathischen  Be- 
gleits3rmptome  und  endlich  liegt  der  Schwerpunkt  der  Aufgabe  in  der 
psychischen,  eventuell  hypnotisch-suggestiven  Bekämpfiing  der  conträren 
Empfindungsweise  und  der  Förderung  heterosexualer  Gefühle  und  Impulse. 
Die  Erfolge  des  Verfassers  sind  in  diesem  Sinne  sehr  befriedigend  auch  in 
angeborenen  Fällen.  Aber  nach  v.  Krafft-Ebing  beweisen  solche  Hei- 
lungen nichts  gegen  die  Annahme  des  originären  Bedingtsein  der  conträren 
Sexualempfindung.  Man  ist  also  gezwungen  anzunehmen,  dass  die  Suggestion 
im  Stande  ist,  angeborene  psychosexuelle  Anomalien  zu  beseitigen  —  oder 
die  angeborene  Determination  des  Inhalts  der  geschlechtlichen  Triebrichtnng 
in  Frage  zu  stellen.     Letztere  Annahme  ist  offenbar  die  einfachere. 


108  ▼•  Schrenck-Notzing. 

Der  4.  Abschnitt  des  Werkes  umfasst  die  specielle  Pathologie, 
nämlich  die  Erscheinungen  des  krankhaften  Sexuallebens  in  verschiedenen 
Formen  und  Zuständen  geistiger  Störung.  In  gedrängter  Kürze 
bespricht  der  Autor  die  Störungen  des  Sexuallebens  bei  psychischen  Eot- 
wickelungshemmungen,  erworbeneu  geistigen  Schwächezuständen  (nach  Psycho- 
sen, Apoplexie^  Kopfverletzung,  durch  Lues,  Dementia  paralytica),  bei  Epi- 
lepsie, im  periodischen  Irresein  bei  der  Manie  (Satyriasis  und  Nymphomanie), 
Melancholie,  Hysterie  und  der  Paranoia. 

Der  5.. und  letzte  Theil  des  Buches  erörtert  ausführlich  das 
krankhafte  Sexualleben  vor  dem  Oriminal forum.  Derselbe 
ist  für  den  Gerichtsexperten  von  höchstem  Werthe  und  man  wird  es  nicht 
in  Abrede  stellen  können,  dass  gerade  die  Verbreitung  dieses  TheUes  der 
V.  Krafft-E hingesehen  Forschungen  auf  die  öffentliche  und  richterliche 
Beurtheilung  der  krankhaften  Sexualvergehen  mildernd  und  aufklärend  ge- 
wirkt hat.  Gerade  in  den  schwierigen  Grenzfällen  zweifelhafter  Zurech- 
nungsfähigkeit dürfte  kaum  je  eine  Freisprechung  erzielt  worden  sein,  ohne 
dass  von  Seiten  der  Vertheidigung  und  Sachverständigen  die  autoritativen 
Darlegungen  des  Verfassers  benützt  wurden !  Schon  dieser  sine  Punkt  zeigt 
den  ungeheuren  Nutzen  einer  sorgfaltigen  psychologischen  Analyse  der  Vita 
sexuali»,  wie  sie  durch  die  Psychopath! a  sexualis  dargethan  wird. 

Die  Criminalätatistik  ergiebt  eine  traurige  Thatsache,  dass  die  sexuellen 
Delikte  eine  fortschreitende  Zunahme  aufweisen.  Zur  Beurtheilung  der- 
selben sind  neuro-  und  psychopathische  Bedingungen  vielfach  ausschlag- 
gebend. Auf  die  krankhafte  Bedeutung  vieler  solcher  monströser  Hand- 
lungen ist  man  erst  in  neuerer  Zeit  aufmerksam  geworden.  Aber  ein  per- 
verser Act  entspricht  nicht  immer  einer  Perversion  der  Empfindung,  und 
diese  Perversion  mups  als  krankhaft  erwiesen  werden.  Die  Entscheidung 
liegt  also  in  der  Zurückführung  der  That  auf  die  psychologischen  Motive 
(Abnonnitäten  des  Vorstellens  und  Fühlens)  und  in  der  Begründung  jener 
elementaren  Anoraalieen  als  Theil erscheinung  eines  neuropsychopathischen 
Gesammtzustandes.  Diese  psychopathischen  Zustände  können  zu  Sittlich- 
keitsverbrechen führen  und  zugleich  die  Bedingungen  der  Zurechnungs- 
fähigkeit aufheben,  wenn  1.  sittliche  oder  rechtliche  Gegenvorstellungen  (zur 
Beherrschung  des  eventuell  gesteigerten  Geschlechtstriebes)  entweder  nie 
erworben  wurden  oder  durch  Krankheit  in  Verlust  geriethen,  2.  wenn  das 
Bewusstsein  getrübt  und  der  psychische  Mechanismus  gestört  ist,  so  dass  die 
etwa  vorhandenen  Gegenvorstellungen  nicht  wirksam  werden  konnten,  3.  wenn 
der  Sexualtrieb  pervers  und  unwiderstehlich  ist. 

Uebergehend  zu  den  einzelnen  Formen  der  Sittlichkeitsdelicte  bespricht 
Verfasser  zunächst  das  Exhibitioniren  (gröbliche  Verletzung  des  öffent- 
lichen Anstaudes  durch  Demonstration  der  Genitalien),  welches  häufig  als 
impulsive  Handlung  und  im  Dämmerzustand  (Epilepsie)  vorkommt.  Eine 
besondere  Varietät  der  Exhibitionisten  stellen  die  Frotteurs  dar,  welche 
Öffentlich  (z.  B.  im  Gedränge)  ihre  Genitalien  an  anderen  Personen  zu  reiben 
oder  zu  pressen  suchen.  Von  grösster  Bedeutung  für  die  forensische  Praxis 
sind  die  Nothzucht  und  der  Lustmord;  diese  Verbrechen  kommen  vor 
als  impulsive  Acte  bei  Imbecillen    und    Sadisten.      Ebenso   sind  Körperver- 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  109 

letzungy  Sachbeschädiguug,  Thierquälerei  auf  Orund  von  Sadismus  möglich, 
feraer  Raub  und  Diebstahl  in  Folge  von  Fetischismus  (Diebstähle  von  Taschen- 
tüchern, Beschädigung  von  Damentoiletten).  Wichtig  ist  auch  die  Unzucht 
mit  Kindern,  oft  eine  Folge  der  Paedophilia  erotica.  Bei  dieser  Krank- 
heitsform handelt  es  sich  um  belastete  Individuen,  um  ein  primäres  Auf- 
treten der  Neigung  zu  unreifen  Personen  des  anderen  Geschlechtes  und  um 
unzüchtige  Betastung  und  Onanisirung  der  Opfer.  Es  folgen  dann  weitere 
Bemerkungen  über  Thierschändung.  Unter  Bestialität  versteht 
Verfasser  die  nicht  pathologischen  Fälle  dieser  Art,  während  er  für  die 
krankhaften  die  Bezeichnung  „Zooerastie^  angeführt  hat.  Auch  diese 
Yerirrung  hält  der  Autor  für  originär  und  stellt  sie  im  Punkte  des  Zu- 
standekommens der  conträren  Sexualempfindung  gleich.  Eine  diesbezügliche 
Beobachtung  (Nr.  202)  würde  im  Gegensatz  zu  dieser  Auffassung  ein 
geradezu  typisches  Beispiel  abgeben  für  die  Associationstheorie  Binet's 
und  des  Referenten !  Warum  kann  denn  diese  Theorie  die  Zooerastie  nicht 
ebenso  gut  erklären  wie  den  Fetischismus?  Und  andererseits  liegt  für  die 
originäre  Anlage  dieser  Yerirrung  kein  anderer  Grund  vor  als  ihre  Uner- 
klärlichkeit! Es  folgen  dann  Ausführungen  über  die  Zurechnungs- 
fähigkeit Conträr-Sexualer.  v.  Krafft-Ebing  plädirt  mit  vollem 
Becht  für  Abschaffung  der  Bestrafung  homosexueller  Acte,  soweit  sie  nicht 
an  Kindern  und  in  der  Oeffentlichkeit  begangen  werden,  aus  Gründen,  die 
hinlänglich  bekannt  sind  und  von  ihm  in  seiner  Broschüre  „Der  Conträrsexuale 
vor  dem  Strafrichter"  noch  ausführlich  erörtert  sind.  Dieses  Kapitel 
schliesst  mit  kurzen  Bemerkungen  über  Amor  lesbicus,  Nekrophilie 
und  Incest. 

Die  Vorzüge  des  v.  Krafft-Ebing 'sehen  Werkes  bestehen  in  der 
klaren  Gliederung  und  klinischen  Gruppirung  des  reichhaltigen  Materials, 
in  der  treffenden  und  bereits  in  der  Wissenschaft  -eingebürgerten  Ter- 
minologie, sowie  in  der  knappen,  präcisen  Form  der  Darstellung.  Ebenso 
übertrifft  das  Werk  alle  seine  Vorgänger  auf  dem  gleichen  Gebiet  in  der 
Feinheit  psychologischer  Analyse  sow^bhl  für  die  theoretischen  wie  für  die 
casuistischen  Theile,  in  der  Fülle  anregender  Ideen,  in  der  liberalen,  vor- 
nehmen und  humanen  Auffassung  dieser  heiklen  Fragen. 

Als  Nachtheile  dagegen  sind  eine  gewisse  Ungleichheit  in  der  Behand- 
lung des  Stoffes  und  eine  zu  einseitige  theoretische  Bearbeitung  desselben 
(ungenügende  Begründung  und  Ueberschätzung  der  'Erblichkeitstheorie)  an- 
zuführen. Doch  mag  die  zukünftige  Forschung  auch  weitgehende  Modi- 
ficationen  den  Aufetellungen  des  geistreichen  Verfassers  angedeihen  lassen, 
sein  Verdienst  um  diesen  AVissenszweig  wird  dadurch  kaum  verkleinert! 

Einzelne  Punkte  seines  Hauptwerkes  hat  v.  Krafft-Ebing  in  beson- 
deren Arbeiten  weiter  ausgeführt.  So  giebt  die  2.  Aullage  seiner  Schrift: 
„D  er  Conträr  sexuale  vor  dem  Strafrichter,**  die  bereits  erörterten 
Ansichten  des  Verfassers  in  grösserer  Vollständigkeit  wieder.  Er  geht 
hier  besonders  auf  die  Rechtsprechung  anderer  Staaten,  auf  die  historische 
Entwickelung  der  Frage,  sowie  das  Inconsequente  der  Rechtspraxis  ein. 

Angefügt  sind  die  oben  erwähnten  Abhandlungen  zur  Aetiologie 
and  zur  Erklärung  der  conträren  Sexualempfindung.     In  einer 


HO  V.  Schrenck-Notzing. 

Casuistik  von  50  Fällen  wird  der  Nachweis  einer  schweren  erblichen  Be- 
lastung geführt  und  gezeigt,  dass  die  ersten  Begungen  der  conträren  Sexaal- 
empfindung in  den  meisten  Fällen  sehr  frühzeitig,  zwischen  dem  5.  und  15. 
Lebensjahre,  auftreten  und  zwar  in  der  Sregel  viel  früher,  als  der  Beginn 
der  Masturbation.  v.  Krafft-Ebing  glaubt  mit  diesem  Nachweis  die 
gegentheiligen  Behauptungen  Meynert's  und  des  Beferenten  zu  widerlegen. 
Nun  ist  aber  vom  Referenten  dieThatsache  einer  hereditären  neuro- 
oder  psychopathischen  Belastung  überhaupt  niemals  bezweifelt, 
sondern  in  der  Mehrzahl  der  eigenen  Beobachtungen  bestätigt  worden;  da- 
gegen wurde  mit  schwerwiegenden  Argumenten  bezweifelt,  dass  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  die  hereditäre  Belastung  für  Art  und  Inhalt  der  krankhaften 
sexuellen  Triebrichtung  maassgebend  sei !  Es  wurde  also  unter  voller  Ajier- 
kennung  einer  erblichen  neuropathischen  Frädisposition  das  häufige  Vor- 
kommen einer  angeborenen  Determination  des  sexuellen  Empfindens  auf 
bestimmte  Objecte  in  Abrede  gestellt,  sondern  für  den  Inhalt,  für 
das  Object  der  psychosexuellen  Zwangsempfindung  sind  in  der  Begel  zu- 
fällige schädliche  Gelegenheitsursacben,  an  welche  das  geschwächte  Associa- 
tions vermögen,  die  leichte  Bestimmbarkeit  des  Trieblebens  anknüpfen,  ver- 
antwortlich zu  machen.  Es  ist  ein  weiterer  Irrthum,  vorauszusetzen,  dass 
diese  Schädlichkeit  in  allen  Fällen  in  mutueller  Onanie  oder  solitärer  Mastur- 
bation mit  homosexuellen  Vorstellungen  bestehen  müsse.  Es  genügt,  wie 
ich  an  anderer  Stelle  nachgewiesen  habe,  das  Zusammenfallen,  die  Oleich- 
zeitigkeit  geschlechtlicher  Erregung  mit  gewissen  Sinneseindrücken.  Die 
aus  den  körperlichen  Sexualvorgängen  resultirenden  lustbetonten  Organ- 
empfindungen, welche  bei  belasteten  Individuen  abnorm  früh  auftreten  können 
(schon  im  5.  Lebensjahr),  werden  in  Folge  der  Unkenntniss  der  Individuen 
auf  gleichzeitige  Sinneseindrücke,  also  falsch  bezogen  und  in  diesem  Sinne 
gedeutet.  Die  Beziehung  zwischen  gleichzeitiger  Object- 
und  Körperempfindung  führt  zu  einer  inhaltlichen  Störung 
der  Urtheilsassociation,  und  wenn  in  der  Widerstandsun- 
fähigkeit  des  Nervensystems,  in  der  fehlenden  Correctur 
weitere  günstigeVorbedinguugen  geboten  sind, so  kann  sich 
dieselbe  zu  einer  bleibenden  Zwangsempfindung  entwickeln 
und  schliesslich  das  ganze  Geschlechtsleben  beherrschen. 
Wenn  mau  aber,  wie  v.  K  r  a  f  f  t  -  E  b  i  n  g  es  in  der  vorliegenden  Arbeit  gethan 
hat,  den  zeitlichen  Unterschied  zwischen  dem  Aufbreteci  der  ersten  conträr- 
sexuellen  Empfindung  und  dem  Begiun  der  ersten  Masturbation  in  50  Fällen 
tabellarisch  festzustellen  sucht,  so  ist  doch  wohl  die  grosse  Unzuverlässig- 
koit  des  Gedächtnisses  für  eine  soweit  in  die  Kinderzeit  zurückreichende 
genaue  zeitliche  Localisation  zu  berücksichtigen.  Solche  Angaben  können 
doch  nur  einen  relativen  Werth  beanspruchen,  wenn  die  Fehlerquellen  rück- 
wirkender Eriunerungsfälschunir  und  unbewusster  Deutung  im  Sinne  einer 
vor^^efa.ssteD  Meinuii*?  nicht  durch  Aussagen  dritter  unabhängiger  PersoneD 
ausgeschlossen  sind.  Für  einen  wissenschaftlichen  Beweis  von  solcher  Trag- 
weite, wie  derjenige  der  angeborenen  Präformation  sexueller  Geschmacks- 
richtungen, dürften  sie   kaum  ernsthaft  ins  Gewicht  fallen  können. 

Wie  schon  oben  erwähnt,  hat  v.  Krafft-Ebing  im  IV.   Heft  seiner 


Psychologie  und  Psychopathologie  der  vita  sexualis.  \\\ 

Arbeiten  aus  dem  Gesammtgebiet  der  Psychiatrie  und  Neuropathologie 
kürzlich  (1899)  eine  weitere  Serie  von  früheren  Aufsätzen  über  die 
Psycho-  und  Neuropathia  sexualis  gesammelt  und  herausgegeben. 

Die  ersten  2  Abhandlungen  beschäftigen  sich  mit  dem  Thema  der 
„Unzucht  mit  Kindern  und  derPaedophilia  erotica''.  Zu  den 
3  Klassen  nicht  kranker  Personen,  welche  solche  Vergehen  sich  zu 
Schulden  kommen  lassen,  rechnet  der  Verfasser  1.  Wüstlinge,  welche  für 
ihre  sexuelle  Potenz  ein  neues  Stimulans  nöthig  haben,  2.  jugendliche 
Masturbanten  mit  psychischer  Impotenz,  die  im  unzüchtigen  Contact  mit 
kleinen  Mädchen  em  Aequivalent  für  den  ihnen  unmöglichen  Coitus  suchen 
und  3.  iascive  Dienstmägde,  Bonnen,  weibliche  und  männliche  Verwandte,^ 
welche  die  ihnen  anvertrauten  Kinder  sexuell  missbrauchen.  Die  patho- 
logischen Fälle  betreffen  Individuen  mit  geistigen  Defect-  und  Entartungs- 
zuständen  sowie  mit  erworbener  Geistesschwäche  (Dementia  senilis).  Die 
Paedophilia  erotica  kommt  in  gleicher  Weise  bei  homosexuell  wie  bei  hetero- 
sexuell empfindenden  Personen  vor.  Der  krankhafte  Character  dieser  Hand- 
lungen wird  durch  eine  Casuistik  von  S  ausfuhrlichen  Beobachtungen  treffend 
illustrirt. 

Die  3  nächsten  Aufsätze  sind  dem  Masoc^hismus  und  Sadismus 
gewidmet.  In  dem  ersten  derselben  macht  der  Verfasser  Front  gegen  die 
vom  Referenten  für  die  Verbindung  von  Wollust  und  Grausamkeit  vorge- 
schlagene Bezeichnung  „Algolagnie"  (von  äkyog  =  Schmerz  und  Xdyvog  = 
geschlechtlich  erregt,  Sadismus  =  active  Algolagnie,  Masochismus  =  passive 
Algolagnie).  Er  führt  hiergegen  solche  Fälle  an,  in  denen  die  Flagellation 
von  Masochisten  perhorrescirt  wird  und  bei  welchen  die  Vorstellung  der 
Demüthigung  die  Hauptrolle  spielt,  v.  Krafft-Ebing  glaubt,  dass  bei 
solchen  Personen  die  Bezeichnung  „Algolagnie"  nicht  statthaft  sei,  höchstens 
könnte  man  von  „ideeller  Algolagnie*'  sprechen;  denn  solche  Individuen 
würden  gründlich  enttäuscht  sein,  weil  das  Mittel  (die  Züchtigung)  den 
Zweck  nicht  erreiche.  Dagegen  ist  der  Umstand  geltend  zu  machen,  dass 
die  schönförbende  und  übertreibende  Phantasie  niemals  durch  die  Wirklich- 
keit übertroffen  wird.  Zahlreiche  Patienten  dieser  Art,  Conträrsexuale, 
Masturbanten  und  besonders  Algolagnisten  werden  enttäuscht,  sobald  sie  die 
Producte  ihrer  Einbildungskraft  zu  realisiren  versuchen.  Sie  erleben  sozu- 
sagen in  ihren  traumhaften  Schwärmereien  sexuelle  Orgien,  und  werden 
durch  die  Wirklichkeit  ernüchtert.  Natürlich  haben  alle  diese  Personen 
ihr  sehr  variirendes  individuelles  System  von  VorsteDungen ;  dass  oft  sehr 
complicirte  Bedingungen  zu  erfüllen  sind,  um  dieses  System  in  die  Wirk- 
lichkeit zu  übersetzen,  dafür  giebt  ja  gerade  die  Kraf ft-Ebing*sche 
Casuistik  Beispiele  in  hinreichender  Zahl.  Der  Unterschied  der  activen 
und  passiven  Bolle  ist  in  den  Romanen  von  Marquis  de  Sade  und  Sacher 
Masoch  nicht  in  der  Weise  durchgeführt,  dass  sie  zu  einer  Gegenüberstellung 
dieser  Schriftsteller  berechtigte.  Eine  solche  ist  vielmehr  willkürlich  und 
wenn  die  Namen  eine  gewisse  Verbreitung  gefunden  haben,  so  geschah  es  wohl 
nur,  weil  der  erste  wissenschaftliche  Bearbeiter  des  Gebietes  v.  Krafft- 
Ebing  sie  in  dieser  Weise  anwendete.  Immerhin  sind  sachliche  Be- 
zeichnungen   in    der  Wissenschaft    durchaus    nicht    zu    entbehren    und 


112  ^-  Schrenck-Noizing. 

jedenfalls  solcheu  Benenuangen  vorzuziehen,  die  nach  Schriftitellem  gebildet 
sind,  denen  eine  wissenschaftliche  Bearbeitung  der  Sache  ganz  fem  lag. 
Femer  sind  diese  sexuellen  Verirrungen  historisch  viel  älter  als  Marquis 
de  Sade  und  Sacher  Masoch.  Und  ausserdem  giebt  es  Fälle,  wo  keine 
dieser  Bezeichnungen  passend  erscheint,  trotzdem  es  sich  um  Schmerz- Wollust 
handelt.  Die  Fälle  von  Selbstverstümmelung  und  Autoflagellant ismua  sind 
passender  als  „onanistischeAlgolagnie'',  die  geschlechtliche  Erregung 
beim  Anblick  von  Prügelscenen  als  „visuelleAlgolagnie^  zu  bezeichnen. 
Man  kann  ebenso  von  einer  „zoophilen^,  „bestialen",  und  „nekro- 
phileu^  Algolagnie  sprechen,  je  nachdem  das  Object  der  Misshandlung  zum 
Zwecke  sexueller  Erregung  ein  Thier  oder  eine  Leiche  ist.  Schliesslich  giebt 
es  eine  Klasse  von  Fällen,  bei  denen  der  Schmerz  ohne  jede  Nebenbedeutung 
und  phantastische  Ausschmückung  um  seiner  selbst  willen  eine  Rolle  spielt, 
ohne  Rücksicht  auf  active  oder  passive  Bethätigung !  Es  trifit  kein  einziges 
der  characteristischen  Merkmale  des  Sadismus  und  Masochismus  zu ;  man  ist  also 
schon  vom  Standpunkt  der  Logik  berechtigt,  diese  Klasse  „Algolagnie^  zu 
benennen.  Die  typischen  Falle  von  Sadismus,  Masochismus  würden  der  ideeUen 
oder  „symbolischen  Algolagnie**  beizuzählen  sein.  Selbst  wenn  man 
die  unwissenschaftlichen  Bezeichnungen  „Sadismus**  und  „MasochLsmns'^ 
beibehalten  würde,  könnte  man  den  treffenderen,  umfassenderen  und  den 
üblichen  Regeln  der  wissenschaftlichen  Terminologie  entsprechenden  Aus- 
druck „Algolagnie**  nicht  umgehen ;  Sadismus  und  Masochismus  wären  nur 
besondere,  aber  durchaus  nicht  die  einzigen  Formen  der  Algolagnie.  Eine 
Anzahl  interessanter  Beobachtungen  des  Autors  beschliesst  diese  Gruppe 
von  Abhandlungen. 

£h  folgen  dann  ein  ganz  kurzer  Aufsatz  über  „Fetischismus*'  sowie 
als  an  5.  Stelle  eine  Abhandlung  „lieber  Anaesthesia  sexual is  con- 
genita", an  6.  über  ^Hyperaesthesia  sexurflis**.  Daran  schliesst 
sich  eine  interessante  Mittheilung  über  ,,Die  Castratio  virorum**. 
Ein  Patient,  welcher  an  Neurasthenia  sexualis  ex  masturbatione  nimia  litt, 
Hess  bei  sich  die  Castratio  completa  vornehmen,  wurde  aber  dadurch  weder 
von  seinen  Pollutionen  noch  von  seiner  libido  geheilt.  Später  trat  bei 
ihm  an  Stelle  der  Masturbation  (/oitus  mit  Erectionsdauer  bis  zu  10  Minuten 
und  abschliessender  Ejaculation  (Prostatasecret)  mit  grossem  Wollustgefühl. 

Der  7.  Aufsatz  beschäftigt  sich  mit  dem  Zustandekommen  der 
Wollustempfindung  und  deren  Mangel  beim  sexuellen  Act. 
Den  Schluss  dieser  Sammlung  bildet  ein  gerichtliches  Gutachten  über  ein 
v  on  dem  Techniker  Paul  Gassen  erfundenes  Instrument  zur 
Behebung  der  Impotenz,  genannt  Erector.  Dasselbe  spricht  sich 
im  günstigen  Sinne  für  das  besa«Tfte  Instrument  aus  und  wurde  von  Gassen 
zu  Reclamezwecken  in  Flugschriften,  Zeitungsannoncen  etc.  benützt,  trotz 
des  energischen  Protestes  von  Seiten  K  rafft- E hing's.  Uebrigens  sind  die 
Meinungen  über  die  Wirksamkeit  des  Erectors  getheilt.  Mit  vollem  Recht 
warnt  Krafft-Ebing  davor,  über  solche  Fragen  sich  gutachtlich  vor  Ge- 
richt zu  äussern,  da  die  missbräuchliche  Verwendung  derselben  zu  Reclame- 
zwecken wenigstens  in  Deutschland  gesetzlich  nicht  verhindert  werden  kann. 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie  seit  dem  Jahre  1896. 

(4.  Fortsetzung.)*) 


74.  Unverricht,  Myoclonie.  —  Ealenburg's  Real-Encyclopädie  der  gesammten 
Heilkunde,  HI.  Auflage  1898,  XVL  Bd.,  pag.  269—284. 

In  der  Torliegendcn  Neubearbeitung  der  Myoclonie  finden  sich  dieselben  An* 
Behauungen  wieder,  welche  Verf.  schon  früher  in  der  bekannten  Monographie  ver- 
treten hatte.  Er  umgrenzt  das  Gebiet  der  Myoclonie  sehr  enge  und  scheidet  eine 
Keihe  von  anderen  Autoren  früher  dem  Symptombilde  der  Myoclonie  eingereihter 
Beobachtungen  streng  aus  demselben  aus,  insbesondere  ist  er  bestrebt,  alle  hyste- 
rischen Krampfformen,  welche  zugestandenermaassen  in  ihrer  äusseren  Erscheinungs- 
weise häufig  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  der  Myoclonie  haben,  aus  dieser  zu 
eliminiren. 

Im  Princip  anerkennt  er  die  von  Friedreich  zuerst  gezeichneten  Krankheite- 
züge des  Paramyoclonus  multiplex  als  Grundform  an,  „nach  welcher  wir  die  Myoclonie 
als  eine  selbstständige  von  den  übrigen  motorischen  Neurosen  unterschiedene 
Affection  abtrennen**.  Er  tritt  für  die  Eigenartigkeit  und  Selbstständigkeit  des 
Krankheitsbildes  des  Paramyoclonus  multiplex  ein.  nur  dass  er  dasselbe  mit  einem 
anderen  Namen  (Myoclonie)  belegt  und  ihm  einige  neue  aus  der  eigenen  Er- 
fahrung stammende  symptomatische  Characterzüge  hinzufügt. 

Die  klinischen  Merkmale  der  Myoclonie  sind  nach  seinen,  das  Friedreich' sehe 
Bild  ergänzenden  Beobachtungen  folgende: 

1.  Betheiligung  functioncll  nicht  zusammengehöriger  einzelner  Muskeln  oder 
auch  Muskelgruppen  an  blitzartig  ablaufenden  clonischen  Zuckungen  ohne  locomo- 
torischen  Effect.  „Ganz  willkürlich  und  regellos  springt  bald  dieser  bald  jener 
Muskel  hervor." 

2.  Ungleichmässigkeit  und  Unregelmässigkeit  der  Zuckungen. 

3.  Symmetrisches  Befallensein  der  Muskeln  in  der  Mehrzahl  der  Fälle. 

4.  Beeinflussung  durch  äussere  Momente: 

a)  Unterbrechung  der  Zuckungen  im  Schlaf,  ausgenommen  vereinzelte  sehr 
schwere  Fälle; 


>)  Vgl.  Bd.  VI,  pag.  290,  Bd.  VU,  pag.  172  u.  342  und  Bd.  Vin,  pag.  12. 
Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.   IX.  8 


114     ,  Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie. 

b)  der  besänftigende  Einfluss  der  Willensanstrengung; 

c)  der  steigernde  Einfluss  seelischer  Erregungen; 

d)  der  steigernde  Einfluss   der  Anspannung  der  Aufmerksamkeit  auf  einen 
bestimmten  Körpertheil; 

e)  der  steigernde  Einfluss  sensibler  Reize. 

Zum  Unterschiede  Ton  Friedreich  giebt  er  eine  gelegentliche  Betheiligung 
der  Gesichts-,  Hals-  und  Rumpfmuskulatur  an  den  myoclonischen  Zuckungen  xa 
und  vor  Allem  hebt  er  den  ungünstigen  Verlauf  und  die  durchaus  infauste  Prognose 
der  Erkrankung  hervor. 

Diflerentialdiagnostisch  bespricht  er  im  Einzelnen  die  Beziehungen  der  Myoclonie 
zur  Hysterie,  zur  Chorea,  zur  Chorea  electrica,  zum  Tic  convolsif  und  zur  Maladie 
des  tics. 

Die  letzteren  beiden  Formen  haben  nach  U.  überhaupt  klinisch  und  sympto- 
matologisch  überhaupt  keine  Aehnlichkeit  mit  3Iyoclonie  und  schliessen  sich  daher 
von  selbst  aus  diesem  Krankheitsbilde  aus.  Von  der  Chorea  unterscheidet  sich 
die  Myoclonie  hauptsächlich  durch  das  Befallensein  synergisch  nicht  zusammen 
arbeitender  Muskelgruppen. 

Bezüglich  der  als  Chorea  electrica  beschriebenen  Bilder  giebt  er  an,  dass  einige 
Fälle  mit  joner  Myoclonie  übereinstimmen  und  unzweifelhaft  in  das  Gebiet  derselben 
gehören;  sie  bilden  „gewisserroaassen  eine  Uebergangsstufe  zur  Myoclonie*'. 

Am  meisten  umstritten  ist  die  Abgrenzung  von  der  Hysterie,  hatten  doch 
Autoritäten  wie  Möbius  und  Strümpell  den  Myoclonus  nur  als  eine  Unterform 
der  Hysterie  bezeichnet. 

Verf.  hebt  als  untrügliches  diflerentialdiagnostisches  3[erkmal  die  „Unnach- 
ahmbarkeit  der  myoclonischen  Zuckungen''  hervor.  Während  die  hysterischen 
Muskelactionen  alle  den  willkürlichen  Bewegungen  ähneln  und  auch  willkürfich 
nachgemacht  werden  können,  während  alle  hysterischen  Krämpfe  ihre  Entstehung 
aus  der  Willenssphäre  ohne  Weiteres  erkennen  lassen,  ist  bei  dem  myoclonischen 
Krampf  jeder  Willcnseinfluss  ausgeschlossen.  Verf.  schreibt :  „Wenn  wir  bei  einem 
Menschen  einen  Rectus  abdominis  isolirt  sich  contrahiren  sehen  oder  nur  eine 
Portion  des  Stemocleidomastoideus  oder  isolirte  Zuckungen  im  Sartorins,  so  werden 
wir  mit  gut  begründetem  Recht  den  hysterischen  Character  der  Zuckungen  ans- 
schliessen  können." 

In  diesem  Punkte  befindet  sich  Verf.  entschieden  im  Irrthum;  es  sei  nur  auf 
die  neuerdings  vielfach  studirten  isolirten  Augenmuskellähmungen  und  Contracturen 
auf  hysterischer  Basis  hingewiesen,  ganz  zu  geschweigen  von  anderen,  der  Unver- 
richt 'sehen  Auffassung  widerstreitenden  Thatsachen. 

Die  Myoclonie  ist  also,  nach  Unverricht,  als  eine  völlig  selbstständige 
functionellc  Nervenkrankheit,  und  den  übrigen  motorischen  Neurosen  gegenüber-  und 
gleichzustellen;  sie  beruht  wahrscheinlich,  wie  schon  Friedreich  angenommen 
hatte,  auf  einer  Erkrankung  der  Ganglienzellen  der  grauen  Vordersäulen  des  Rücken- 
marks und  ist  von  durchaus  ungünstiger  Prognose.  Palliativ  kann  vorübergehend 
durch  Chloral  und  Brom  genützt  werden.  Br  od  mann -Jena. 

75.  Wollenberg,  Chorea,  Paralysis  agitans,  Paramyocionus  mul- 
tiplex (Myoclonie).    Nothnagels  Handbuch,  XII.  Band.    1896. 

Das  was  Verf.  unter  dem   Kapitel  Chorea  und  Paralysis  agitans  abhandelt. 


Znsammensteilung  der  Literatur  über  Hysterie.  115 

interessirt  an  dieser  Stelle  nicht;  dagegen  dürfte  eine  Besprechung  der  Myoclonie 
und  der  „choreiformen  Zustande",  welche  Verf.  in  einer  ünterabtheilung  beleuchtet, 
am  Platze  sein. 

Unter  dem  Begriff  der  „choreiformen  Zustände**  werden  von  Wollen- 
berg eine  Reihe  heterogener  Krankheitsbilder  zusammengefasst.  welche  das  eine 
Gemeinsame  haben,  dass  bei  ihnen  choreatische  Bewegungen  vorkommen;  sie  sind 
jedoch  nur  als  eine  gelegentliche  Complication  der  eigentlichen  Grunderkrankung 
aufzufassen. 

Hierher  gehören: 

1.  die  Chorea  posthemiplegica ; 

2.  die  choreatischen  Bewegungen  nach  cerebraler  Kinderlähmung; 

3.  die  Chorea  hysterica; 

4.  die  Chorea  electrica,  welche  theils  unter  die  rhythmische  Chorea  der  Hysterie, 
theils  unter  die  sog.  „Dubini'sche  Krankheit**  zu  subsumiren  ist. 

Für  die  Diagnose  der  hysterischen  Chorea  ist  von  Wichtigkeit  die  Beeinfluss- 
barkeit  durch  hypnotische  Suggestionen.  Verf.  theilt  2  Fälle  hysterischer  Chorea 
mit,  die  er  durch  Hypnose  zur  Heilung  brachte. 

In  der  Bearbeitung  des  Paramyoclonus  multiplex  bringt  Verf.  zunächst 
in  knapper,  prägnanter  Ausführung  eine  historische  Uebersicht  über  die  Wand- 
lungen in  der  Lehre  von  der  Myoclonie. 

Persönlich  bekennt  sich  Verf.  einerseits  als  einen  Gegner  jener  Auffassung, 
welche  die  Myoclonie  einfach  in  der  Hysterie  aufgehen  lassen  möchte,  obwohl  er 
zugesteht,  dass  ein  grosser  Theil  der  als  Paramyoclonus  beschriebenen  Fälle  that- 
sächlich  zur  Hysterie  gehört;  andererseits  kann  er  sich  auch  nicht  jenen  Autoren 
anschliessen,  welche  die  Myoclonie  auf  Grund  eines  einzelnen  S}nnptoms  zu  einem 
Krankheitsbilde  sui  generis  stempeln  wollen;  man  kann  nach  seiner  Ansicht  „von 
einem  Symptomcomplex,  wie  er  zum  Begriff  eines  Krankheitsbildes  gehört,  nicht 
sprechen,  sondern  nur  von  einem  Symptom  der  myoclonischen  Zuckung**,  welches 
allerdings  ein  oft  sehr  characteristisches  Muskelspiel  darbiete. 

Verf.  formulirt  seine  Anschauung  über  das  Wesen  der  genannten  Erkrankung 
in  folgendem  Satze:  „In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  scheint  die  sog. 
Myoclonie  nichts  mehr  zu  sein  als  eine  besondere  Form  der  ticartigen  Erkrankungen, 
die  sich  wie  diese  auf  dem  Boden  einer  degener ativen  Anlage  entwickelt.'' 

Es  berührt  eigenthümlich,  dass  Verf.  in  diesem  Zusammenhang  (pag.  174)  die 
Chorea  electrica  kurzweg  mit  den  myoclonischen  Zuständen  identificirt,  während  er 
an  anderer  Stelle  (pag.  98)  dieselbe  theils  zur  Hysterie  rechnet,  theils  einer  in- 
fectiösen  Erkrankung  zuweist.  Der  Widerspruch,  in  den  sich  Verf.  verwickelt,  mag 
ein  Beweis  dafür  sein,  wie  wenig  Klarheit  noch  in  dem  bunten  Wirrwar  gekünstelter 
Krankheitsbilder  herrscht.  Brodmann- Jena. 

76.  Jules  Soury^  Les  Myoclonie s.  Physiologie  pathologique.  —  Annales 
medioo-psychologiques  1897.    V,  pag.  399—422. 

Der  Character  der  Abhandlung  ist  ein  vorwiegend  kritisch  referirender ;  alle 
bedeutenderen  auf  die  Myoclonie  und  verwandte  Gebiete  bezüglichen  Arbeiten 
werden  eingehend  durchgesprochen  und  der  Standpunkt  der  betr.  Verfasser  kritisch 
beleuchtet;  insbesondere  erfährt  auch  die  von  den  deutschen  Autoren  vielfach 
nebensächlich  behandelte  oder  ganz  vernachlässigte  physiologische  bezw.  physiologisch- 

8* 


115  ZusammenstellaDg  der  Latermtur  aber  Hyiterie. 

pathologische  Seite  der  Frage  eine  gebührende  Würdigung.  —  Um  WiedeTiioliinge& 
zu  Termeiden,  können  im  Referat  nur  grundlegende  Gesichtspunkte  BerücksichtigaDg 
finden. 

Verf.  bespricht  zunächst  das  Verhältniss  der  myoklonischen  Erscheinangen  zur 
Epilepsie.  Er  geht  aus  von  den  Studien  Rüssel  Reynold's,  welche  die  merk- 
würdige Thatsache  ergeben  haben,  „dass  fast  drei  Viertel  der  Epileptiker  in  ihren 
interparoxystischen  Zeiten,  unter  irgend  einer  Form,  an  motorischen  Störungen 
leiden".  In  den  Zwischenräumen,  welche  die  Anfälle  von  einander  trennen,  können 
bei  ein  und  demselben  Individuum  Zittern,  Convulsionen,  tonische  und  clonisehe 
Spasmen  vorhanden  sein.  Am  häufigsten  sind  es  clonisehe  Zuckungen,  die  ihrer 
Intensität  nach  sehr  schwanken  und  bald  nur  in  leichten,  kaum  merklichen  Mnskel- 
contractionen,  bald  in  heftigen  Erschütterungen  des  ganzen  Körpers  bestehen. 

B r e s  1  e r  fusst  auf  diese  Veröffentlichungen  und  constatirt  (wie  Unverricht] 
an  eigenen  Beobachtungen  die  Coexistenz  der  Myoclonie  und  der  Epilepsie.  Die 
Hysterie  ist  (im  Gegensatz  zu  Möbius.  Strümpell,  Hirt,  Pitres)  von  der 
Myoclonie  stricte  zu  trennen.  Er  bezeichnet  die  mit  Epilepsie  combinirte  Myoclonie 
als  spinale  Epilepsie,  d.  h.  als  eine  Erkrankung  der  motorischen  Neurone  erster 
Ordnung  auf  der  Grundlage  einer  „epileptischen  Veränderung*'. 

Büttichcr  unterscheidet  2  T>'pen  und  rubricirt  den  einen,  die  Fried- 
reich'sehe  Krankheit,  unter  die  Hysterie,  den  anderen,  die  Myoclonie  nach  Un- 
verricht, unter  die  Chorea  Huntington. 

Lemoine  rechnet  den  Paramyoclonus  zur  Choreafamilie  und  stellt  ihn  an 
die  Seite  der  Chorea  electrica  und  der  maladie  des  tics  als  ein  „Syndrom  mit 
schwankenden  Symptomen''.  Andererseits  betont  er  aber  auch  die  prädisponirende 
Rolle  der  Neurasthenie  und  das  Vorkommen  psychischer  Begleiterscheinungen;  er 
neigt  dazu,  den  Paramyoclonus  der  hysterischen  und  neurasthenischen  Neurose  zu 
nähern. 

Ziehen  hat  ebenfalls  eine  Vereinigung  der  einzelnen  verwandten  Bilder 
versucht,  andererseits  aber  auch  wieder  auf  eine  reinliche  Scheidung  heterogener 
Dinge  Bedacht  genommen.  Er  fasst  unter  dem  Begriff  der  selbstständigen  Myoclonie 
zusammen:  den  Paramyoclonus  multiplex,  die  Chorea  electrica,  den  Tic  convulsii 
und  das  essentielle  convulsive  Zittern  namentlich  neurasthenischer  Personen  bei 
starken  Schmerzreizen.  Fieber,  Frost  etc.  Von  der  selbstständigen  Myoclonie  zu 
trennen  sind:  a)  rctiectorisch  ausgelöste  myoclonische  Zuckungen,  wie  der  salta- 
torischc  Reflexkrampf  und  die  clonischen  Krämpfe  in  Amputationsstümpfen ;  b)  die 
symptomatischen  Myoclonien  der  Neurosen  (Neurasthenie,  Hysterie,  Epilepsie). 

Brissaud  besteht  im  Gegensatz  zu  Ziehen  auf  einer  principiellen  Ausein- 
andcrlialtung  der  clonisch-spastischen  Zustände  (spasmes  cloniques)  von  den  Tics. 
Die  erstcreu  seien  ein  reflectorischer  Act  und  spinalen  Ursprungs,  die  letzteren  ein 
cortical  cerebraler  Act  und  damit  eine  psychische  Erkrankung,  welche  dem  Einiloss 
des  Willens  unterliegt. 

DasH  dem  nicht  immer  so  ist.  beweist  Soury  an  Beobachtungen,  bei  denen 
Combinationen  von  myoclonischen  Erscheinungen  mit  psychischen  Störungen  be- 
standen. Es  geht  daraus  hervor,  wie  wenig  eine  localisatorische  Erklärung  der 
Erkrankung  l)islang  noch  durchführbar  ist. 

Bezüglich  der  Pathogenese  erörtert  Soury  all  die  widerstreitenden  corticalen 
(Raymond,  Minkowski,  Grawitz  u.  A.)  und  die  spinalen  Theorien  des  Myo- 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie.  1X7 

donns  (Friedreich,  Unverricht,  Bresler)  und  erwähnt  auch  die  gänzlich 
unhaltbare  muskuläre  Theorie  von  Pop  off.  Ihrer  Originalität  halber  sei  die 
spinale  Theorie  Vanlaires  besonders  angeführt,  der  die  eigentliche  Ursache  des 
Mjoclonus  in  einer  excessiven,  durch  periphere  Reize  ausgelösten  resp.  unterhaltenen 
Erregbarkeit  der  sensitiven  Elemente  des  Rückenmarks  sieht. 

Verf.  selbst  schliesst  sich  dem  vermittelnden  Standpunkte  Lugaro 's  an, 
welcher  die  verschiedenen  physiologischen  Hypothesen  zu  vereinigen  sucht.  Er 
betrachtet  die  clonischen  Bewegungsformen  „als  pathognomonisch  für  eine  specielle 
Alteration  des  Centralnervensystems".  Doch  ist  dieser  Zustand  weit  davon  entfernt, 
immer  nur  die  Folge  einer  Uebererregbarkeit  des  Rückenmarks  zu  sein,  denn 
gerade  bei  einem  Falle  Lugaro's  waren  die  Reflexe,  die  ja  doch  einen  Maassstab 
für  die  Erregbarkeitsverhältnisse  des  Rückenmarks  abgeben,  nichts  weniger  als  ge- 
steigert. Die  functionelle  Schädigung  der  nervösen  Elemente  bei  der  3Iyoclonie 
besteht,  ausser  der  Plötzlichkeit  der-  motorischen  Entladung,  darin,  dass  diese  vor 
sich  geht,  ohne  durch  Reize,  welche  normaler  Weise  den  motorischen  Antrieb 
geben,  ausgelöst  zu  sein. 

Der  innere  Zustand  der  Nerven  demente  kann  ein  sehr  verschiedener  sein: 
„Bald  handelt  es  sich  um  eine  angeborene  Disposition  wie  bei  der  familiären 
Myoclonie;  bald  um  eine,  an  die  Existenz  einer  Neurose  geknüpfte  eigenartige 
dynamische  Störung,  wie  in  den  der  Hysterie,  der  Neurasthenie  und  der  Epilepsie 
associirten  3Iyoclonien;  bald  um  die  Wirkung  abnormer  in  den  Haushalt  einge- 
führter Stoffe,  wie  bei  jenen  Formen  der  Myoclonie.  welche  im  Verlaufe  von  chro- 
nischen Intoxicationen  oder  Infectionen  (acutes  Delirium)  ausbrechen;  bald  endlich 
um  eine  dynamische  Störung  als  Ausfiuss  einer  organischen  Erkrankung  anderer 
Nervenelemente,  z.  B.  bei  den  Myoclonien,  die  im  Gefolge  der  Tabes  dorsalis  der 
disseminirten  Sclerose  etc.  auftreten." 

Die  Myoclonie  ist  demnach  nicht  eine  wesentliche  und  selbstständige  Er- 
krankung des  Nervensystems,  sie  ist  ein  Symptom  und  zwar  das  Symptom  oder 
der  Ausdruck  jenes  auf  den  verschiedenartigsten  Schädlichkeiten  beruhenden  krank- 
haften inneren  Zustandes  der  Neurone,  der  sich  in  clonischen  Entladungen  kund- 
giebt  und  den  Lugaro  „neuroclonischen  Zustand"  (^tat  ncuroclonique)  nennt. 

Der  Sitz  dieser  Erkrankung,  resp.  der  Ursprung  der  myoclonischen  Erschei- 
nungen ist  kein  einheitlicher,   sondern  muss  in  jedem  Einzelfalle  bestimmt  werden. 

„1.  Wenn  die  Myoclonie  sich  manifestirt  durch  fibrilläre  Zuckungen  isolirter 

Muskelbündel  wie  bei  dem  fibrillären  Zittern  der  Neurastheniker,  bei  der  Chorea 

-fibrillaris,  in  dem  reinen  Paramyoclonus  nach  Fr i  edr eich  muss  sie  als  symptomatisch 

betrachtet  werden  für  den  neuroclonischen  Zustand  der  motorischen  Protoneurone, 

der  Zellen  der  Vorderhömer,  unter  deren  Einfluss  die  Muskelbündel  stehen. 

2.  Wenn  Myoclonie  Zuckungen  coordinirter  Muskelgruppen  erzeugt,  wie  bei 
der  Chorea  electrica,  bei  dem  gewöhnlichen  Tic,  so  ist  der  neuroclonische  Zustand 
auf  eine  Erkrankung  der  subcorticalen  motorischen  Elemente  zweiter  Ordnung 
zurückzuführen,  welche  grosse  Gruppen  directer  motorischer  Neurone  unter  ihrer 
Herrschaft  haben. 

3.  Endlich,  wenn  die  clonischen  Bewegungen  den  Character  wirklicher  psy- 
chischer Acte  haben,  wie  bei  der  maladie  des  tics,  so  entspringen  sie  einem  neuro- 
clonischen Zustande  der  psychomotorischen  Neurone  der  Hirnrinde." 

Zum  Schlüsse   zieht  Verf.  einen  Vergleich  zwischen  den  geschilderten  myo- 


118  Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie. 

clonischen  Erscheinungen  und  einer  JEleibe  psychischer  Anomalien  und  kommt  bo 
dem  Schlüsse,  dass  die  impulsiven  Handlungen,  die  fixen  Ideen,  die  Obeessionen  mit 
jenen  auf  eine  Stufe  zu  stellen  seien.  Beide  seien  im  Grunde  genommen  „nur  Yer- 
schiedene  functionelle  Manifestationen«ein  und  desselben  elementaren  Zustandet  der 
NerTenzellen  —  jenes  neuroclonischen  Zustandes  der  Neurone**,  deren  Terachiedene 
physiologische  Function  (in  dem  einen  Falle  rein  psychische,  in  dem  anderen  rein 
somatische  Erscheinungen)  sich  lediglich  aus  der  Verschiedenheit  der  anatomischen 
Verknüpfung  erkläre. 

31it  diesen  letzteren  Ausführungen  scheint  Verf.  in  jenes  von  Gefährdungen 
nicht  ganz  freie  Fahrwasser  wissenschaftlicher  Verallgemeinerungen  gerathen  m 
sein,  in  dem  man  die  moderne  Forschung  sich  so  häufig  bewegen  sieht 

Brodmann -Jena. 

77.  J3re«2^r,  Ueber  Spinalepilepsie,    Neurolog. Centralbl.  1896,  pag.  lOlfii 
Obwohl  die  vorstehende  Arbeit  mit  der  Hysterie  sich  nur  ganz  vorübergehend 

beschäftigt,  mag  sie  in  diesem  Zusammenhang  aus  differentialdiagnostischen  Gründen 
kurz  Erwähnung  finden. 

Verf.  will  unter  „Spinalepilepsie*'  jene  Fälle  epileptischer  Neurose  zusammen- 
fassen, bei  welchen  die  „epileptische  Veränderung**  (Nothnagel)  auch  zuerst  oder 
vorzugsweise  sich  im  Rückenmark  etablirt  und  erst  nachträglich  auf  das  Gehin 
übergeht. 

Er  beschreibt  nun  2  den  Un  verrieb  tischen  Beobachtungen  „familiärer 
Myoclonic^  durchaus  analoge  Fälle.  Hier  wie  dort  lag  eine  Complication  mit 
Epilepsie  vor;  hier  wie  dort  entwickelte  sich  das  eine  Mal  zuerst  die  typische 
Epilepsie  und  dann  erst  traten  myoclonische  Erscheinungen  auf,  das  andere  Mal 
wurde  der  Ausbruch  des  ersten  epileptischen  Anfalles  von  mehrtägigen  myoclo- 
nischen  Zuckungen  eingeleitet.  Späterhin  traten  bei  sämmtlichen  Fällen  die  epilep- 
tischen Anfälle  im  Krankheitsbild e  ganz  zurück  gegenüber  den  Symptomen  der 
Myoclonie. 

Indem  Verf.  ätiologisch  die  Möglichkeit  einer  psychischen  Infection  ausschliesst 
und  in  dem  Nachweis  epileptischer  Anfälle  eine  differentialdiagnostische  Stütze  für 
die  nicht  hysterische  Natur  der  Zuckungen  zu  haben  glaubt,  tritt  er  für  die  noso- 
logische Einheit  des  myoclonischen  Symptombildes  mit  der  Epilepsie  ein.  Wo 
Myoclonie  mit  Epilepsie  combinirt  ist,  handle  es  sich  um  eine  epileptische  Myo- 
clonie oder  Spinalepilepsie,  die  als  „eine  durch  die  epileptische  Veränderung  be- 
dingte „Erkrankung  der  motorischen  Neurone  erster  Ordnung**  an^ 
zufassen  ist.  —  Die  Frage,  ob  die  ungemischte  Myoclonie  auch  eine  Neurose  epi- 
leptischer Natur  ist,  lässt  Verf.  offen,  glaubt  aber,  dass  es  späterhin  gelingen  werde, 
auch  bei  Fällen  „reiner  Myoclonie**  die  epileptische  Veränderung  des  Kückenmarks 
nachzuweisen,  während  alle  zweifelhaften  Fälle  unter  der  Hysterie,  Chorea  und 
maladie  des  tics  unterzubringen  seien.  Br  od  mann -Jena. 

78.  Raymofidj  Lebens  sur  les  maladies  du  Systeme  nerveuz  1896. 
Le^on  XXIX  u.  XXX.    Des  Myoclonies,  pag.  &51 — 591. 

Im  Anschluss  an  die  klinische  Analyse  eines  Krankheitsfalles,  der  eine  Com- 
bination  von  Paramyoclonus  multiplex  (im  Sinne  Friedreich' s),  choreatischen 
Bewegungen  und  gewöhnlichem  Tremor  darbot,  bespricht  Verf.  alle  einschlägigen 


Ziuammenstellung  der  Idteratar  über  Hysterie.  119 

besonders  die  differentialdiagnostischen  Fragen.  Sein  Standpunkt  ist  wohl  der- 
jenige der  meisten  französischen  Autoren;  er  verdient  daher  kurz  gekennzeichnet 
sn  werden. 

Verf.  tritt  zunächst  deinr  Bestreben  entgegen,  den  Paramyoclonus  multiplex 
mls  eine  motorische  Neurose  sui  generis  yon  den  übrigen  functionellen  Krampf- 
Eoständen  völlig  abzusondern.  £r  sucht  im  Gegentheil  eine  nosographische  und 
ätiologische  Vereinigung  der  verschiedenen  Combinationen  und  Modalitäten  von 
Krampferscheinungen  unter  einen  gemeinsamen  Sammelbegriff  anzubahneu. 

Wie  schon  Ziehen')  1888  unter  dem  gemeinsamen  Namen  der  „Myoclonie'^ 
eine  Reihe  mit  clonischen  Muskelkrämpfen  verlaufender  Symptombilder  zusammen- 
fasate,  so  sucht  auch  Verf.  nach  einem  generellen  Merkmal  für  die  nicht  zu  den 
grossen  motorischen  Neurosen  gehörenden  clonisch-spastischen  Zustände. 

Als  solches  Merkmal  anerkennt  er  die  neuro-  resp.  psychopathische  Disposition. 
Jene  Zustände  sind  alle  der  Ausdruck  resp.  das  Erzeugniss  einer  degenerativen 
Veranlagung.  Sie  lassen  sich  streng  genommen  weder  klinisch  noch  ätiologisch  von 
einander  trennen,  denn  sie  bieten  zahllose  Combinationen  und  Uebergangsformen 
dar,  bestehen  häutig  neben  einander,  entwickeln  sich  aus  einander  und  entstehen 
nur  auf  dem  Boden  schwerer  neuropathischer  Prädisposition. 

Als  Sammelname  für  die  hierher  zu  rechnenden  Symptombilder  schlägt  Verf. 
die  Bezeichnung  Myoclonie  vor.  £r  subsimiirt  diesem  Krankheitsbegriffe  6  sympto- 
matologisch  verschiedene  Formen: 

1.  Das  fibrilläre  Zittern,  das  sich  namentlich  bei  Neurasthenikern,  häufig  auf 
einige  Muskelbündel  beschränkt,  findet. 

2.  Den  Paramyoclonus  multiplex  —  ausgezeichnet  durch  convulsivische  Stösse 
in  einem  isolirten  Muskel  ohne  locomo torischen  Effect. 

3.  Die  sog.  „Chorea  fibrillaris^  —  mit  2  zu  identificiren. 

4.  Die  Chorea  electrica  (Henoch,  Bergeron),  durch  coordinirte  Bewegungs- 
formen characterisirt. 

5.  Den  Facialistic. 

6.  Die  Tickerkrankheit,  welche  in  2  Formen  verlaufen  kann,  einer  leichteren 
ohne  und  einer  schwereren  mit  psychischen  Störungen  (Echolalie,  Koprolalie,  fixe 
Ideen). 

Bezüglich  der  Pathogenese  tritt  Verf.  für  die  corticale  und  snbcorticaie 
Theorie  der  Myoolonien  ein. 

H3rsterische  Krampfformen  schliesst  Verf.  principiell  aus  dem  Krankheitsbild 
d«r  Myoclonie  aus  und  er  trennt  daher  die  Chorea  rhythmica  und  den  Spasmus 
laltatoriuB,  sowie  die  gewöhnlichen  Formen  des  Tremors  von  derselben  ab.  £r  ver- 
wahrt sich  ausdrücklich  dagegen,  die  Myoclonis  zur  Hysterie  zu  rechnen,  obwohl 
er  anerkennt,  dass  myoclonische  Erscheinungen  häufig  mit  den  grossen  Neurosen 
aus  einer  Quelle,  der  erblichen  Degeneration,  entspringen  und  daher  mit  diesen 
eombinirt  sein  können. 

Die  Prognose  ist  bei  dem  degenerativen  Character  der  Krankheit  ungünstig. 
Symptomatische  Erfolge  sind  durch  Suggestion,  aber  auch  nur  durch  diese,  zu  er^ 
sielen.  Brodmann- Jena. 


*)  Ziehen,  Ueber  Myoclonus  und  Myoclonie.    Arch.  f.  Psych.  XIX,  pag.  416. 


120  Zusammenstellangf  der  Literatur  über  Hysterie. 

79.  BoetHger,  Zam  Wesen  der  Myoclonie  (Paramyoclonas  multi- 
plex). •—  Berl.  klin.  Wochenschr.  1896,  Nr.  7. 

Verf.  discutirt  die  Difiercntialdiagnose  zwischen  Chorea  chronica  einerseits 
und  Chorea  minor  and  Paramyoclonus  andererseits.^  Seine  Untersuchungen  gipfeln 
in  dem  Schlüsse,  ,,dass  die  von  Unverrioht  unter  dem  Namen  der  Myoclonie 
beschriebenen  Fälle  keine  eigenartigen  Krankheitsbilder  darstellen,  sondern  sieh 
mit  d&m  bekannten  Bilde  der  Chorea  chronica  progessiva  decken.**  Diese  beiden 
Krankheiten  (chron.  Chorea  und  Myoclonie)  seien  nicht  nur  nahe  verwandt,  wie 
Möbius  und  Gowers  annahmen,  sondern  völlig  identisch. 

Verf.  dürfte  mit  dieser  Auffassung  des  Wesens  der  Myoclonie  ziemlich  isolirt 
dastehen.  Daraus,  dass  sich  bei  der  chronischen  Chorea  in  gleicher  Weise  wie 
beim  Paramyoclonus  blitzartige  clonische  Zuckungen  in  einzelnen,  gelegentlich  auch 
in  symmetrisch  gelegenen  Muskeln  nachweisen  lassen,  kann  doch  nicht  die  Wesens- 
gleichheit dieser  völlig  verschiedenen  Symptombilder  abgeleitet  werden. 

Brod  mann- Jena. 

80.  StembOj  Ein  Fall  von  Paramyoclonus  multiplex  mit  Zwangs- 
bewegungen.   Berl.  klin.  Wochenschr.  1896,  Nr.  44. 

Der  eigenthümliche  vom  Verf.  mitgetheilte  Fall  bildet  eine  Bestätigung  der 
von  den  Franzosen  vertretenen  Anschauungen.  Es  giebt  Combinationen  von  clo- 
nischen  Krampferscheinungen  mit  allen  möglichen,  den  rein  degenerativen  Zuständen 
zugehörenden  psychischen  Störungen.  Hier  handelt  es  sich  um  die  Verbindung 
einer  dem  Paramyoclonus  am  nächsten  stehenden  Krampfform  mit  Zwangsirresein 
in  der  Form  der  Koprolalie,  wie  sie  bei  der  Mehrzahl  der  maladie  des  tics  con 
vulsifs,  einer  typischen  Krankheitsform  der  Deg^nercs,  regelmässig  vorkommt. 

Trotzdem  alle  anderen  Symptome  der  Hysterie  fehlen,  glaubt  Verf.  den  Fall 
der  Hysterie  zurechnen  zu  dürfen,  im  Besonderen  der  Hysterie  monosymptomatique 
von  Pitres.  (Sollte  es  sich,  nach  den  vorhandenen  Cardinalsymptomen  zu  schliessen, 
nicht  vielmehr  um  eine  einfache  maladie  des  tics  handeln?   Ref.). 

Brodmann -Jena. 

81.  Schütte^  Ein  Fall  von  Paramyoclonus  multiplex  bei  einem 
Unfallkranken.    Neurol.  Centralbl.  1897,  1. 

Bei  einem  Unfallkranken  entwickeln  sich  auf  dem  Boden  einer  traumatischen 
Neurose  allmählich  (nach  5  Jahren)  clonische  Zustände,  welche  Verf.  als  Paramyo- 
clonus multiplex  auffasst.  Verf.  sieht  in  diesem  Zusammentroffen  einen  Beleg  dafür, 
„dass  Paramyoclonus  und  Hysterie  zusammengehören**,  während  es  doch  für  jeden 
vorurtheilslosen  Beobachter  viel  näher  läge,  anzunehmen,  dass  die  Hysterie,  wie  es 
so  häufig  geschieht,  ihre  Symptome  auch  in  diesem  Falle  einer  anderen  Krankheits- 
form entlehnt  hat,  dass  also  die  myoclonischen  Zuckungen  nur  als  Symptom  zu 
der  Hysterie  in  Beziehung  stehen. 

Etwas  gewagt  klingt  auch  die  Behauptung,  dass  die  hereditäre  Disposition  bei 
dem  Paramyoclonus  überhaupt  keine  Rolle  spiele  (als  ob  die  Hysterie  von  Hereditäts- 
fragen völlig  unberührt  bliebe!);  ebenso  gewagt  das  Unterfangen,  den  klinischen 
Symptomcomplex  einer  traumatischen  Neurose  einfach  mit  dem  Begriff  der  Hysterie 
zu  verschmelzen.  Brodmann -Jena. 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie.  121 

82.  Schultze^  Vortrag  auf  der  Versammlung  südwestd.  Neurologen. 
März  1897.    Ref.  im  Neurol.  Cbl.  1897. 

L   Chorea-,  Poly-  und  Monoclonien. 

Verf.  bringt  den  Paramyoclonus  in  Beziehung  zum  Tic  convulsif ,  den  er  als 
^Myoclonie"  den  Polyclonieen  gegenüberstellt.  Mit  der  Hysterie  habe  der  eigent- 
Hohe  Paramyoclonus  nichts  zu  thun.  Die  von  Unverricht  als  Myoclonie  be- 
schriebenen Fälle  gehören  nach  seiner  Ansicht  zur  Chorea  hereditarea  (Hunting- 
ton Ch.). 

IL  Myotonie  bei  Magenektasie. 

Da  in  dem  mitgeteilten  Falle  eine  anderweitige  ätiologische  Ursache  für  das 
Auftreten  der  myotonischen  Erscheinungen  nicht  auffindbar  war,  bringt  Verf.  die- 
selben in  causale  Verbindung  mit  einer  bestehenden  Magenektasie.  £r  verweist 
zur  Stütze  seiner  Anschauung  darauf,  dass  auch  schon  Kussmaul  Fälle  von  Muskel- 
krämpfen bei  Magenektasie  beschiieben  habe. 

83.  HoffmanTtf  Demonstration  eines  Falles  von  Paramyoclonus 
multiplex  auf  hysterischer  Basis.    Deutsche  med.  Wochenschr.  1896.  V.  B. 

Der  Inhalt  des  Vortrags  ist  durch  den  Titel  erschöpft. 

84.  V.  Hösslinf  Neuropathologische  Mittheilungen :  EinFallronMyoclonie. 
Heilung  durch  Arsenikbehandlung.    Münch.  m.  W.  1896.    12. 

Vermuthlich  eine  Suggestivheilung  hysterischer  Krarapferscheinungen. 

85.  KrewcTj  Ein  Fall  von  Paramyoclonus  multiplex.  Deutsche  Zeit- 
schr.  f.  Nerrenheilk.  18%.    IX. 

Der  Fall  ist  ohne  besonderes  Interesse.  Brodmann -Jena. 

86.  V.  Krafft-Ebing^  tJeber  eine  typische,  an  Paralysis  agitans  er- 
innernde Form  von  hysterischem  Schütteltremor.  Wiener  klinische 
Wochenschr.,  1898,  Nr.  49,  1113. 

Die  Hysterie  kann  nicht  nur  organische  Erkrankungen,  sie  kann  auch  Neurosen 
vortäuschen.  Unter  den  letzteren  nennt  Verf.  auf  Grund  seiner  Erfahrungen  Tetanie, 
Vertigo  epileptica,  Jakson-Epilepsie,  Athetose,  Chorea,  Myoclonie,  Tic  convulsif  und 
Paralysis  agitans. 

Verf.  reiht  seinen  früheren  Beobachtungen  5  weitere  Fälle  von  hysterischer 
Zittemeurose  an,  welche  ganz  dem  Bilde  der  Parkinson'schen  Krankheit  (Paralysis 
agitans)  entsprachen. 

Sämmtliche  Fälle  betreffen  jugendliche  weibliche  Individuen,  welche  körper- 
liche Stigmata  der  hysterischen  Neurose  vermissen  lassen  und  im  Anschluss  an  ein 
Trauma  (mechanischer  oder  psychischer  Schok ;  nur  einmal  Infectionskrankheit)  all- 
mählich an  mehr  oder  weniger  ausgebreitetem  grobschlägigen  Zittern  erkrankten. 
„Die  Entstehung  der  Zittemeurose  ist  eine  allmähliche.  Die  corticale  Bedeutung 
des  Zittems  ergiebt  sich  aus  seinem  Zurücktreten  in  voller  p»ychischer  Ruhe  und 
im  Schlafen,  aus  seiner  bedeutenden  Steigerung  bei  Intention,  namentlich  aber  bei 
Emotion." 

Als  differentialdiagnostisches  Merkmal  hebt  Verf.  hervor,  dass  bei  Paralysis 
agitans  Intention  geradezu  beruhigend  auf  den  Tremor  wirkt  und  Gemüthserregungen 
kaum  einen  Einfiuss  auf  die  Intensität  des  Zittern  ausüben,  zum  Mindesten  die 
Frequenz  der  Oscillationen  nicht  steigern.    Characteristisch  für  den  hysterischen 


122  Zasammezutellung  der  Literatur  über  Hytterie. 

Schüttelkrampf  ist  ferner  „der  polymorphe,  in  Intensität  und  Extensität  überau 
wechselnde  Character  des  Zitterns,  während  die  Qualität  und  der  Ort  derselben  bei 
Paralysis  ag^itans  durch  lange  2ieit  ganz  unverändert  sind*'.  Ausserdem  sind  die 
Zittererscheinungen  der  Paralysis  agitans  langsam  progredient  und  unaufhaltsein, 
„während  die  hysterische  Zittemeurose  bei  allem  Polymorphismus  und  grosser 
regionärer  Wandelbarkeit,  wesentlich  recht  stationär  bleibt**,  vor  Allem  aber,  wenn 
auch  nicht  immer  heilbar,  so  doch  suggestiv  beeinflussbar  ist. 

Von  den  übrigen  Nehensymptomen  der  Paralysis  agitans  kann  die  motorische 
Schwäche  der  Glieder  durch  eine  hysterische  Amyosthenie  und  der  Rigor  durch 
Diath^e  de  contracture  vorgetäuscht  werden.  Der  psychische  Ursprung  dieser 
Erscheinungen  ist  jedoch  leicht  nachweisbar.  Brodmann- Jena. 

87.  Bretler^  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Maladie  des  Tics  convul- 
sifs  (mimische  Krampfheurosc).    Neurolog.  Contralbl.  1896. 

Im  Anschluss  an  die  Mittheilung  einer  recht  dürftig  geführten  Kranken- 
geschichte, welche  gar  nichts  Neues  bietet,  macht  Verf.  einige  psychologische  Be- 
merkungen über  den  Entstehungsmechanismus  der  eigenartigen  Krankheitsform  der 
Tickerkrankheit,  im  Speciellen  ihrer  einzelnen  Hauptsymptome.  Indem  er  behauptet, 
dass  die  bei  derselben  vorkommenden  Zuckungen  ebenso  wie  die  Störungen  auf 
psychischem  Gebiete  lediglich  Ausdrucksbewegungen  seien,  nämlich  der  mimische 
resp.  sprachliche  Ausdruck  einer  auf  einen  peinlichen  Affect  bezüglichen  Abwehraction, 
kennzeichnet  er  das  Leiden  als  eine  „Abwebrneurose"  und  stellt  dasselbe  mit  den 
von  Breuer  und  Freud  unter  gleichem  Namen  beschriebenen  Neurosen  (Hysterie 
und  Zwangsvorstellungen)  auf  eine  Stufe.  Ob  Verf.  damit  zur  Klärung  des  Krank- 
heitsbildes etwas  beigetragen  hat,  ist  sehr  zweifelhaft.  Unzweifelhaft  dagegen  ist 
es,  dass  die  Bereicherung  unserer  neuropathologischen  Nomenclatur  mit  einer 
neuen  Bezeichnung  „mimische  Krampfneurose"  durchaus  überflüssig  ist. 

Brodmann-  Jena. 

91.  Richter^  Die  Bedeutung  der  sensibel-sensoriellen  Störungen 
bei  Hysterie  und  Epilepsie  und  ihr  Verhalten  zu  den  Anfällen. 
Arch.  f.  Psychiatr.  XXXI  H.  3. 

Gestützt   auf  ein  recht  ansehnliches   Material   (128  Fälle:   71  Hysterische,  49 
Epileptische  und  8  Hystero-Epileptische)  unternimmt  Verf.  den  Versuch,  die  bisher 
allgemein  anerkannte  pathognostiscbe  Bedeutung  sensibler  und  sensorieller  Störungen 
für  die  Diagnose  der  Hysterie  resp.  Epilepsie  zu  widerlegen. 
Er  fand  1.  bei  Hysterie 

Sensibilitätsstörungen  überhaupt  in  59  von  71  Fällen  =83% 
Hemihypästhesie  in  40,8  „ 

Fleokweise  Anästhesie  in  33,8  „ 

Allgemeine  Hypästhesie,  bes.  Hypalgesie  in  3,4^ 

2.  bei  Epilepsie 

Sensibilitätsstörungen  überhaupt  in  31  von  49  Fällen  s=  63% 
Hemihypästhesie  in  10.2  „ 

Fleckweise  Hypästhesie  in  40,6  „ 

Allgemeine  Hypalgesie  und  Hypästhesie  in  12,2  „ 

Das  grösste  Gewicht  legt  Verf.  in  seinen  Untersuchungen  auf  die  FeststeUung 
der  diagnostischen  Verwerthbarkeit  der  concentrischen  Gesichtsfeldeinengung.    Die 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie.  123 

Franzosen  haben  dieses  Symptom  bekanntlich  als  ein  ^ Stigma  der  Hysterie^  auf- 
gefasst  und  Möbius  bezeichnete  es  noch  neuerdings  als  ein  „constantes  Symptom 
der  traumatischen  Neurose^.  Verf.  dagegen  legt  der  conc.  GFE.  nur  die  Bedeutung 
einer  Ausdruckserscheinung  gewisser  psychischer  und  nervöser  Störungen  der  betr. 
Kranken  bei.  „Dbs  Vorhandensein  von  psychischen  und  affectiven  Anomalien  bei 
Hysterie  in  Form  von  Reizbarkeit,  Launenhaftigkeit,  Unaufmerksamkeit,  leichter 
Ermüdbarkeit,  Unruhe  etc.  von  allgemeinen  nervösen  Beschwerden  wie  Kopfdruck, 
Schwindel,  Zittern.  Flimmern,  Nebelsehen"  .  .  .  kurz  das  subjective  Verhalten  der 
Kranken  bei  der  Untersuchung  sei  am  meisten  geeignet,  die  Gesichtsfeldgrösse  zu 
beeinflussen. 

In  der  That  ist  es  dem  Verf.  gelungen,  durch  psychische  Einwirkung  auf  die 
Patienten  während  der  Untersuchung  das  Gesichtsfeld  in  der  grösseren  Zahl  der 
FäUe  auf  die  normale  oder  annähernd  normale  Ausdehnung  zu  bringen.  Nur  bei 
24  von  71  Hysterischen  mit  anfanglicher  conc.  (}FE.  vermochte  er  in  Folge  der 
Torherrschenden  psychischen  und  Stimmungsanomalicn  (Willensschwäche,  Apathie, 
Angst,  Launenhaftigkeit)  trotz  aller  Bemühungen  und  Beeinflussungen  keinen  nor- 
malen Oesichtsfeldumfang  herzustellen. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  übrigen  „hysterischen"  Gesichtsfeldanomalien, 
der  Dyschromatopsie,  dem  Förster  sehen  Verschiebungstypus  und  dem  Wi  1  b  r  a  n d  - 
sehen  Ermüdungstypus.  Dem  subjectiven  Verhalten  der  Patienten  kann  daher, 
80  folgert  Verf.,  bei  der  perimetrischen  Untersuchung  nicht  sorgsam  genug  Rech- 
nung getragen  werden. 

Verf.  bringt  eine  Reihe  instructiver  Krankengeschichten  zum  Beleg  seiner 
Anschauungen  bei.  Zum  Referate  eignen  sich  dieselben  nicht,  wir  wollen  uns  da- 
her darauf  beschränken,  die  beherzigenswerthen  Schlusssätze  des  Verf.  im  Wort- 
laut zu  citiren. 

1.  Die  concentrische  Gesichtsfcldeinengung  der  Hysterischen  und  Epileptischen 
ist  in  der  Regel  eine  Folge  subjectiver  nervöser  Beschwerden  und  psychischer 
Störungen. 

2.  Anfälle  bewirken  durch  Steigerung  genannter  Erscheinungen  eine  grössere 
Einschränkung  des  Gesichtsfeldes. 

3.  Durch  psychische  Einwirkung  auf  die  Kranken  bei  der  perimetrischen 
Untersuchung  gelingt  es  in  der  Regel,  jene  Erscheinungen  in  den  Hintergrund  zu 
drängen  und  damit  ein  normales  Gesichtsfeld  zu  erzielen. 

4.  Eine  objectiv  unabhängig  von  den  genannten  Krankheitszeichen  stehende 
concentrische  Gesichtsfeldeinengung  ist  unter  meinen  Fällen  (128)  nicht  beobachtet. 

5.  Die  Gesichtsfelder  für  Farben  sind  in  ihrer  Lage  auch  bei  Hysterischen 
meistens  nicht  geändert. 

6.  Ein  vorübergehender  Wechsel  in  der  Reihe  der  Farbenwahrnehmung  ist 
bei  einem  und  demselben  Falle  beobachtet. 

7.  Keine  Form  von  Sensibilitätsstörungen ,  auch  die  Hemianästhesie  hat  bei 
Hysterie  und  Epilepsie  a  priori  eine  diflerential-diagnostische  Bedeutung. 

8.  Ein  gesetzmässiges  Auftreten  von  Anästhesie  nach  den  Anfällen  bei  Hysterie 
ist  nicht  constatirt,  sensible  Störungen  pflegen  im  Allgemeinen  mit  Verschlimmerung 
und  Besserung  des  AUgemeinzustandes  aufzutreten  und  zu  schwinden. 

9.  Sensible  Störungen  nach  epileptischen  Anfällen  treten  regellos  auf;  die- 
selben sind  selten  und  ohne  Bestand. 


124  ZosammenstellaDg  der  Literatur  über  Hyiierie. 

Ref.  möchte  hier  doch  die  Frage  anknüpfen,  ob  die  vom  Verf.  erzielten  Re- 
sultate, speciell  die  ^Erweiterung  der  Gesichtsfeldgrenzen  und  die  FarbenTerschiebnng 
nicht  vielloiclit  als  Produet  einer  consequcnten  und  zweckmäasigen  Wachsuggesticm 
aufzufassen  sein  dürften.  Eine  solche  Vermuthung  liegt  um  so  näher,  als  man  ja 
vielfach  auch  die  hysterischen  OesichtsfeldTeränderungen  und  Sensibüitatastoraz^^ 
kurzerhand  als  autosuggestiv  entstanden  zu  erklären  versucht.  Der  hohe  Pkt>ceDt- 
satz  von  Beeinflussungen  durch  den  Verf.  erklärt  sich  sehr  einfach  durch  die  an 
sich  gesteigerte  Suggcstihilität  bei  Hysterischen.  JB  rodmann -Jena. 

89.  Königj  Ueber  epileptische  und  hysterische  Krämpfe  bei 
gelähmten  und  nicht  gelähmten  idiotischen  Kindern.  Monatsschr.  für 
Psych,  u.  Neurol.  IV.  1,  1898,  pag.  285. 

Verf.  hat  an  der  Irrenanstalt  zu  Dalidorf  statistische  I^ntersuchungen  über 
das  Vorkommen  von  epileptischen  und  hysterischen  Krämpfen  bei  Idioten  ange- 
stellt. £r  kommt  an  der  Hand  eines  sehr  umfangreichen  Materials,  das  er  längere 
Jahre  hindurch  sorgfältig  beobachtete,  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  Epilepsie  im 
Gegensatz  zur  Hysterie  bei  derartigen  Kranken  sehr  häufig  sei.  Epileptische  An- 
fälle mit  all  den  zahllosen  Varietäten  vom  vollentwickelten  Anfall  bis  zum  einfachen 
Vertigoanfall  wurden  in  76%  der  Kinder  mit  infantilen  Himlähmungen  beobachtet. 

Epilftptisclie  Anfülle  bei  nicht  gelähmten  Kindern  sind  seltener  (der  Procent- 
satz ist  in  der  Arbeit  leider  nicht  angegeben.  Ref.),  sie  unterscheiden  sich  aber  nicht 
prinoipicU  von  denen  gelähmter  Kinder,  nur  dass  einseitige  Krämpfe  entschieden 
zu  den  Ausnahmen  gehören. 

Hysterische  Anfälle  bei  gelähmten  wie  nicht  gelähmten  Idioten  kamen  ^in 
sehr  beschränkter  AnzahW  zur  Beobachtung.  Verf.  hebt  ausdrücklich  hervor,  daas 
er  couccntriMclio  Cicsichtsfoldeinongung  und  typische  „gründe  hysterie"  je  nur  einmal 
unter  soinem  Material  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte.  Leider  fehlen  auch  hier 
procciitucUo  An<j'abeu. 

Zum  Schlüsse  tritt  Verf.  der  Frage  nahe,  wie  sich  die  epileptischen  Anfalle  der 
cerebralen  Kinderlähmungen  von  denen  gewöhnlicher  Epileptiker  unterscheiden;  er 
meint,  dass  die  Unterschiede  mehr  in  der  geringeren  Häufigkeit  bezw.  geringeren 
Intensität  dos  Vorkommens  gewisser  Symptome,  vor  Allem  dem  Zurücktreten  der 
psychischen  Erscheinungen  und  ,,der  Seltenheit  des  brutalen  Anfalles**  liegen. 

Der  grösste  Theil  der  verdienstlichen  Arbeit  besteht  aus  einer  Reihe  scharf 
formulirtor  Thesen  und  statistischer  Zusammenstellungen,  welche  im  Referat  nicht 
wiedergegeben  werden  können.     Es  sei  deshalb  auf  das  Original  verwiesen. 

Brodmann- Jena. 

90.  V.  Krafft'Ebing,  Das  Irresein  der  Hysterischen.  —  Lehrbuch  der 
Psychiatrie.     6.  Auflage.  1897,  pag.  487. 

Die  bei  der  Hysterie  constant  vorkommenden  psychischen  Anomalien  sollen 
hier  in  der  Darstellung,  wie  sie  v.  Krafft-Ebing  giebt,  in  gedrängter  Uebersicbt 
gekennzeichnet  werden. 

Wenn  wir  von  jenen  elementaren  Störungen  absehen,  welche  als  sog.  „hyste- 
rischer Character**  einen  integrirenden  Bestandtheil  der  hysterischen  Neurose  aus- 
machen und  deren  Grunderscheinungen,  nach  v.  Krafft-Ebing,  „das  labile  Gleich- 
gewicht der  psychischen  Functionen,  die  enorm  leichte  Anspruchsfahigkeit  und  die 


Zusammenstelluogr  der  Literatur  über  Hysterie.  125 

ungewöhnlich  intensiTe  Heaction  der  Psyche  und  der  rasche  Wechsel  der  Erre||[unp[en 
reizbare  Schwäche)*'  sind,  so  lassen  sich  noch  3  Typen  von  Zustandsbildcm  des 
(hysterischen  Irreseins  auseinanderhalten: 

1.  Transitorische  Irreseinszustände.  Dieselben  haben  vorwiegend 
das  Gepräge  des  Deliriums,  dauern  Stunden  bis  Tage,  das  Bewusstsoin  ist  auf  tiefer 
Traumstufe,  die  Erinnerung  fehlend  oder  summarisch.  Verf.  unterscheidet  folgende 
klinische  Varietäten: 

a)  Heftige  Angstzustände  mit  getrübtem  Bewusstsein  (analog  dem  potit  mal 
der  Epileptiker). 

b)  Hysteroepileptische  Delirien  mit  aufgehobenem  Bewusstsein  und  totaler 
Amnesie  (grand  mal  der  Epileptiker). 

c)  Ekstatisch-visionäre  Zustände  mit  tiefem  Traumzustand,  häufig  Visionen  und 
Katalpsie.    Summarische  Erinnerung. 

d)  Moriaartige  Zustände  —  praeparoxysmel  —  Amnesie. 

e)  Dämmerzustände  mit  zwangsmässiger  erleichterter  Keproduction  von  Er- 
lebtem und  Gelesenem.  Logorrhoisches  Delirium  mit  traumhaftem  Bewusstsein  und 
,nmin*ri«oher  Erinnerung. 

Verf.  fugt  zur  Dlustration  dieser  Typen  3  eigene  Beobachtungen  an: 
Fall  1.     Hysterismus.     Ekstaseartige  Exaltationszustände  neben  angstvollen 
deliranten. 

Fall  2.    Hysterische  Exaltationszustände  mit  zwangsmässiger  erleichterter  Ke- 
production. 

Fall  3.  Hysterismus  nach  Nothzucht.  Aniälle  von  hysterocpileptischem, 
schreckhaftem,  hallucinatorischem  Delirium. 

2.  Protrahirte  Zustände  von  hysterischem  Delirium.  Dieselben 
sind  auch  als  hysterischer  hallucinatorischer  Wahnsinn  beschrieben,  bestehen  in 
einem  äusserst  wechselvollen  Bilde,  das  zwischen  Verwirrtheit,  Dämmerzuntand, 
Ekstase  und  Stupor  hin-  und  herschwankt,  einen  typisch  remittirenden  und  oxacer- 
birenden  Verlauf  zeigt  und  immer  mit  Genesung  endet.  Verf.  schiebt  einen  classischen 
FaU  ein. 

3.  Die  eigentlichen  hysterischen  Psychosen  lassen  wieder  eine  ziemlich 
scharfe  Scheidung  in  2  Typen  zu,  Je  nachdem  sie  auf  dem  Boden  einer  einfachen 
nicht  constitntionell  veranlagten,  etwa  erworbenen  hysterischen  Neurose  stehen  oder 
Durchgangs-  bezw.  Znstandsbilder  einer  hysterischen  Degeneration  darstellen.'' 

Unter  die  erste  Gruppe  sind  die  Psychoneurosen  Oielancholie  und  Manie)  zu 
rechnen,  welche  durch  die  Zumischung  und  allegorische  Verwerthung  von  Sym- 
ptomen der  hysterischen  Neurose  ein  bestimmtes  klinisches  Gepräge  erhalten. 

Zur  zweiten  (degencrativcnj  Gruppe  gehören  die  degenerativen  Krankheitsbilder: 

a)  der  Folie  raisonnante, 

b)  der  Moral  nisanity  und 

c)  der  Paranoia.  • 

Aach  die  hysterische  Paranoia  weist  bestimmte  Cliaracterzüge  in  ihrer  Sym- 
ptomatologie und  in  ihrem  Verlaufe  auf,  der  sie  von  der  gewöhnlichen  Form  der 
primären  Paranoia  unterscheidet.  Auffallend  i^t  der  t}7>isch  remittirende  Verlauf^ 
wobei  Exacerbationen  häufig  mit  menstrualen  Vorgängen  zui»ammenfallen.  femer 
die  massenhafte  Verwerthang  hysterischer  Sentationen  zu  entsprechender  allegorischer 
Wahnbildang,   die   Häufigkeit   von   Gesichtshallucinationen,   die   vorwiegende  Be- 


126  ZusammenstelluDg  der  Literatur  über  Hyiterie. 

theiligungf  der  sexuellen  Sphäre,  schliesslich  die  Häufigkeit,  mit  welcher  die  Wahn- 
ideen an  delirante  episodische  hysterische  Zustände  anknüpfen. 

Brodmann- Jena. 

dl.'Kraepelhi,  Das  hysterische  Irresein.  —  Psychiatrie.  5.  Auflage, 
1896,  pag.  728. 

Unter  dem  Kapitel  der  allgemeinen  Neurosen  fasst  Kraepelin  jene  Gruppe 
von  Krankheitszuständen  zusammen,  welche  „mit  mehr  oder  weniger  ausgeprägten 
nervösen  Functionsstörungen  einhergehen"  und  rechnet  dazu  das  epileptische, 
das  hysterische  Irresein  und  die  Schreckneurose.  „Gemeinsam  ist  diesen  Gestaltungen 
dos  Irreseins"  —  so  schreibt  Kraepelin  — ,  ^A^^^  ^^^  ^  überall  mit  dauernd  krank- 
hafter Verarbeitung  der  Lebensreize  zu  thun  haben;  gemeinsam  ist  ihnen  femer 
das  Auftreten  mehr  vorübergehender,  eigenartiger  Krankheitsäussemngen  bald  auf 
körperlichem,  bald  auf  psychischem  Gebiete." 

Die  krankhaften  Seelenzustände  der  Hysterischen,  mit  denen  wir  uns  hier 
ausschliesslich  beschäftigen  können,  haben,  so  führt  Verf.  ans,  ihre  eigentÜcht 
Grundlage  h(>ch8t  wahrscheinlich  in  dem  Gebiete  der  Gefühle.  Daher  schreibt  er 
auch  den  Schwankungen  der  Stimmung  einen  maassgebenden  Einfluss  beim  Zustande- 
kommen aller  dieser  Störungen  zu.  „Sie  sind  es,  welche  in  hohem  Grade  das 
Denken  und  Handeln  der  Kranken  bestimmen.  Ihr  Einfluss  ist  weit  stärker,  als 
derjenige  der  Tcmünftigen  (Teberlegung  oder  der  sittlichen  Grundsätze.'' 

Auf  dieser  zu  lebhaften  Gefühlsbetonung  und  gesteigerten  gemüthlichen  Erreg- 
barkeit entspringt  jene  Veränderung  der  gesammten  psychischen  Persönlichkeit, 
w^clche  der  Hysterie  eigenthümlich  ist.  Die  Neigung  zu  hypochondrischen  Klagen, 
das  erhöhte  Selbstgefühl,  die  ausserordentliche  Beeinilussbarkeit  des  Willens  und 
die  dazu  im  Widerspruch  stehende  Eigenwilligkeit,  der  Mangel  an  Einheitlichkeit 
und  innerer  Festigkeit,  welcher  in  jener  Unruhe  und  Unstetigkeit  hysterischer 
Personen  ihren  Ausdruck  findet,  die  oft  in  bcmerkenswerthem  Gegensatz  zu  der 
stark  betouten  Kränklichkeit  und  Hülfsbedürftigkeit  der  Kranken  steht. 

Auf  der  allgemeinen  hysterischen  Grundlage  entwickeln  sich  ausserdem  sehr 
häufig  vorübergehende  psychische  Störungen,  die  sog.  Dämmerzustände,  d.  h. 
„kurze  oder  länger  dauernde  Anfälle  von  Bewusstseinstrübung,  welche  sich  entweder 
allein  einstellen  oder  an  Krnmpfanfälle  anschliessen.  auch  häufig  durch  solche  ab- 
geschnitten oder  unterbrochen  werden." 

Die  Dämmerzustände  können  in  protahirtere  Schlafanfälle  übergehen,  wo- 
bei die  Kranken  längere  oder  kürzere  Zeit  in  einem  Scheinschlaf  liegen,  oder  es 
stellt  sich  eine  stärkere  Bewusstseinstrübung  verbunden  mit  massenhaften 
Sinnestäuschungen  (Verzückungen,  himmlische  Visionen)  ein  oder  schliesslich 
es  kommt  zu  einer  ^.eigen thümlichcn  läppischen  Erregung"  (Moria)  mit 
vorwiegend  heiterer,  ausgelassener  Stimmung,  schnippischen  Redensarten,  Verkennnng 
der  Umgebung  and  Neigung  zu  thörichten  muthwilligen  Streichen.  Eine  Ueber- 
gangsform  zu  den  Dämmerzuständen  stellen  die  Erscheinungen  des  Nachtwandslns 
oder  Somnambulismus  dar.  Dem  Somnambulismus  yerwandt  sind  die  auch  hei 
Tage,  gewöhnlich  im  Anschluss  an  einen  Krampfanfall  sich  einstellenden  Lach* 
und  Weinkrämpfen.  Die  Kranken  machen  hier  ganz  den  Eindmek  von  Nacht- 
wandlern. 

Schliesslich   kommen   im  Verlaufe  der  Hysterie   auch  mehr  abg^egrenste 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie.  127 

psychische  Störungen  zur  Beobachtung,  die  nur  Erscheiuungsform  des  Grund- 
leidens zu  sein  scheinen.  Verfasser  unterscheidet  2  Bilder:  eine  traurige  oder 
ängstliche  Verstimmung  mit  unbestimmten  Verfolgungs-  %der  Versündigungs- 
ideon  und  zweitens  rasch  vorübergehende  Aufregungszustände  mit  vorwiegend 
zorniger  Gereiztheit,  Schimpfanfällen,  Neigung  zu  zerstören  etc.  Von  den  eigent- 
liehen  periodischen  Geistesstörungen  sind  die  hysterischen  Psychosen  streng  zu 
scheiden,  obwohl  sie  sich  nicht  selten  in  Zwischenräumen,  namentlich  im  Anschluss 
an  die  Menses  einstellen;  sie  haben  einen  unregelmässigen  Verlauf;  den  Aufregungen 
fehlen  die  manischen  Zeichen  der  Ideenflucht  und  des  Bowegungsdranges,  den  Ver- 
stimmungen die  allgemeine  psychische  Hemmung. 

Von  der  Hysterie  im  vorgezeichneten  Sinne  trennt  Kraepelin  die  sog. 
Schreckneurose  als  ein  eigenartiges  Krankheitsbild  ab,  dessen  scharfe  Umgrenzung 
unmöglich  sei,  das  aber  in  seinen  Aeusserungen  vielfach  Berührungspunkte  mit  den 
Formen  des  Entartungsirreseins  darbiete. 

Obwohl  Verf.  die  psychische  Entstehungsweise  der  Schreckneurose  rückhaltlos 
anerkennt,  tritt  er  doch  im  Gegensatz  zu  jener  Schule  (Gharcot,  Möbius),  welche 
dieses  Symptombild  einfach  der  Hysterie  zurechnen  will.  Die  Westphal'sche 
Lehre,  welche  die  Schreckneurose  unter  Betonung  gelegentlicher  objectiver  Befunde 
auf  schleichende  organische  ^ränderungen  im  Centralnervensystem  zurückfuhrt, 
ist  heutzutage  fast  ganz  aufgegeben. 

Gegenüber  Möbius,  der  die  Krankheitserscheinungen  der  Schreckneurose, 
gestützt  auf  die  Thatsache,  dass  sie  sich  lediglich  durch  Vorstellungen  erklären 
lassen,  als  rein  hysterische  bezeichnet,  betont  Verf.,  dass  die  ,,Psychogenie"  nicht 
allein  der  Hysterie,  sondern  auch  anderen  Formen  des  Entartugsirreseins  eigen- 
thümlich  sei.  Die  Erscheinungsform  der  durch  Schreckwirkung  entstehenden  psy- 
chischen Störungen  sei  sehr  wesentlich  durch  die  Eigenart  der  persönlichen  Ver- 
anlagung bestimmt. 

Klinisch  unterscheidet  sich  die  Schreckneurose  von  der  Hysterie  durch  die 
Einförmigkeit  der  Kranklicitszeichen.  Es  fehlen,  sagt  Kraepelin,  „durchaus  der 
sprunghafte  Wechsel  der  Erscheinungen,  die  Launenhaftigkeit,  der  ausgeprägte 
Stimmungswechsel,  die  Unternehmungslust  der  Hysterischen." 

Die  Schreckneurose  ist  ausgezeichnet  auf  psychischem  Gebiete  hauptsächlich 
durch  traurige  Stimmung  mit  ängstlichen  Befürchtungen  der  verschiedensten  Art, 
durch  Unfähigkeit  zu  jeder  geistigen  Anstrengung  imd  durch  gesteigerte  gemüth- 
iche  Erregbarkeit ;  körperlich  weist  sie  ein  Heer  nervöser  Beschwerden  auf,  welche 
durch  ihr  regelloses  Auftreten  und  durch  den  verschlimmernden  Einfluss  gemüth- 
licher  Erregung  ihre  psychische  Entstehungsweise  verrathen.    Brodmann- Jena. 

92.  Delbrück^  Die  Hysterie.  Gerichtliche  Psychopathologie. ^)  Leipzig  1897. 
pag.  169. 

In  dem  vorUegenden  Lehrbuch  finden  die  forensisch-psychiatrischen  Beziehungen 
der  Hysterie  eine  ausgezeichnete  Besprechung;  es  sei  deshalb  auf  die  Haupt- 
gesichtspunkte kurz  hingewiesen. 

Verf.  bezeichnet  als  wesentliche  Merkmale  der  Hysterie  gewisse  elementare 
Veränderungen  des  Seelenlebens,  welche  das  Handeln  des  Betreffenden  dauernd 
beeinflussen;  als  solche  nennt  er  „eine  abnorme  Neigung  zu  Autosuggestionen,  ver- 

^)  Vgl.  die  Besprechung  des  Buches:  diese  Ztschr.,  Bd.  8,  pag.  54 £ 


X28  Zasammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie. 

banden  mit  abnormer  Suggestibilität  für  krankhafte,  bizarre  Erscheinangen^,  ferner 
„ein  Doppelbevnisstsein  von  Vorstellung  und  Gegenvorstellung:  Pseudologia  phan- 
tastica  im  weiteren  ^inne  des  Wortes*'. 

Auf  dieser  krankhaften  Grundlage  erwachsen  die  verschiedenartigsten  psychi* 
sehen  Störungen,  welche  Gegenstand  forensischer  Beurtheilung  werden  können. 

Man  beobachtet  eine  acute  deliriöse  Geistesstörung,  wie  bei  der 
Epilepsie.  Dieselbe  kann  sehr  variable  Formen  und  Intensitätsgrade  annehmen; 
entweder  kommt  es  zu  jenen  hochgradigen  Bewusstseinstrübungen ,  die  den  epi- 
leptischen ähnlich  sind  —  religiöse  Delirien  mit  himmlischen  Visionen  und  mit 
Krampfanfällen  sind  am  häufigsten  — , 

oder  es  besteht  eine  Art  Dämmerzustand  mit  relativer  Klarheit  des  Bewnsst- 
seins,  zwecklosem  Umherreisen  und  Neigung  zu  allerlei  theils  mehr,  theils  weniger 
bewussten  und  raffinirt  ausgeführten  Schwindeleien. 

Schliesslich  wird  bei  Hysterie  eine  Verdoppelung  oder  auch  Verdreifachung 
der  Persönlichkeit  beobachtet,  in  dem  Sinne,  dass  „die  Kranken  sich  in  gewissen, 
mitunter  periodisch  wiederkehrenden  Zeitabschnitten  für  eine  andere  ganz  be- 
stimmte Persönlichkeit  halten,  als  solche  verhältnissmässig  geordnet  handeln,  sieh 
an  Alles  erinnern,  was  sie  in  solchen  Zuständen  ffethan  haben  —  um  in  den 
Zwischenzeiten  von  alledem  gar  nichts  zu  wissen**.   ' 

Gewisse  Kennzeichen  lassen  alle  diese  der  Hysterie  eigenthümlichen  Zustände 
von  der  Epilepsie  meist  abgrenzen.  Verf.  meint:  „Das  Bewusstsein  ist  nur  getrübt; 
für  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  besteht  vielfach  halbe  Einsicht.  Das 
ganze  Bild  hat  im  Gegensatz  zu  dem  sehr  ernsten,  schaurigen  epUeptischen  Delirium 
einen  mehr  theatralischen  Character.** 

Auch  die  Verbrechen  unterscheiden  sich  von  den  epileptischen,  indem  es  sieh 
nicht  um  brutale  Gewaltthätigkeiten,  Mord  etc.,  sondern  meist  um  Schwindeleien. 
Diebstahl,  falsche  Anschuldigungen  etc.  handelt. 

Wichtiger  als  solche  vorübergehende  Störungen  sind  für  den  forensischen 
Psychiater  die  dauernden  psychischen  Anomalien  der  Hysterischen,  welche 
sich  je  nach  ihrer  Intensität  bald  noch  völlig  innerhalb  der  physiologischen  Breite 
halten,  bald  schwere  Geistesstörungen  darstellen.  Am  meisten  ausgeprägt  ist  jene 
krankhafte  Characterveränderung,  welche  sich  hauptsächlich  in  einer  Neigung  zur 
oft  phantastischen  Lüge  kundgiebt.  Eine  scharfe  Grenze  zwischen  bewusster  Löge 
und  pathologischer  Erinnerungsverfälschung  ist  dabei  ebensowenig  zu  ziehen  wie 
zwischen  jenen  willkürlichen  Zuthaten,  d.  h.  den  simulirten  und  nicht  simulirten 
Krankheitserscheinungen  der  Hysterischen. 

Für  die  gerichtsärztliche  Beurtheilung  hat,  nach  Ansicht  des  Verf.,  eine  solche 
Abgrenzung  auch  keinen  practischcn  Werth.  Er  meint,  es  komme  nicht  darauf  an, 
festzustellen,  wie  viel  Bcwusstsein  der  Lüge  beim  einzelnen  Verbrechen  nachweisbar 
ist,  sondern  darauf,  „inwieweit  die  Bestimmbarkeit  des  Willens  durch  Vorstellungen 
überhaupt  der  Norm  entspricht".  Nicht  der  Antheil  der  Lüge  an  der  Pseudologia 
phantastica  ist  bei  einer  eingeklagten  Handlung  durch  den  Gutachter  festzustellen, 
sondern  die  gesammte  Persönlichkeit  des  Verbrechers  muss  beurtheilt  werden,  „wie 
viel  und  in  welcher  Art  er  im  Allgemeinen  schwindelt  auf  Grund  seiner  patho- 
logischen Constitution".  An  Stelle  der  Bestrafung  wird  sich  daim  bei  vielen 
Kranken  eine  dauernde  Internirung  in  einer  Anstalt  empfehlen. 

Brodmann -Jena. 


Zur  Kritik  der  liypnotisclien  Teclinilc. 

Von 

Theodor  yan  Straaten. 

(Aas  0.  Vogtes  Neurologischem  Institut.) 


Die  folgenden  AusführuBgen  stellen  eine  kritische  Besprechung 
einer  Reihe  von  Ideen  dar,  die  seit  einigen  Jahren  von  O.  Vogt  ver- 
treten werden,  und  theils  von  ihm  und  K.  Brodmann  veröffentlicht, 
theilweise  aber  von  ersterem  in  seinen  noch  ungedruckten  Vorträgen 
behandelt  worden  sind.  Die  Kritik  stützt  sich  auf  Experimente ,  die 
O.  Vogt  theils  am  Verfasser,  theils  an  Frau  L.  Bosse  ausgeführt 
hat  Verfasser  glaubt  zur  Zeit,  wo  O.  V  o  g  t  die  Experimente  mit  ihm 
vornahm,  durch  sein  bisheriges  Studium  der  einschlägigen  Literatur 
nicht  irgendwie  derartig  voreingenommen  gewesen  zu  sein,  dass  er  nicht 
'  eine  unbefangene  Versuchsperson  hätte  abgeben  können.  Frau  L.  B  o  s  s  e 
war  zwar  in  der  willkürlichen  Erzielung  einer  beliebigen  Ausdehnung 
und  Tiefe  der  Schlaf hemmung  eingeübt,  nicht  aber  darüber  orientirt, 
was  der  Experimentator  durch  seine  Versuche  beweisen  wollte,  noch 
welches  Resultat  er  von  seinen  Suggestionen  erwartete. 

Dabei  stützt  sich  die  Kritik  nur  auf  eigne  Selbstbeobachtung. 
Verfstsser  schliesst  sich  in  der  Werthschätzung  der  Selbstbeobachtung 
für  die  Vertiefung  der  Lehre  von  den  hypnotischen  Bevnisstseinszu- 
ständen,  und  den  daraus  abzideitenden  technischen  Folgerungen,  durch- 
aus den  in  den  letzten  Jahren  von  O.  Vogt  .vertretenen  Anschauungen 
an.  Wenn  er  sich  auch  mit  diesem  Autor  der  möglichen  subjektiven 
Fehlerquellen  dieser  Methode  bewusst  ist,  so  sieht  auch  er  doch  einzig 
in  ihr  die  Möglichkeit  einer  wirklichen  Vertiefung  der  Lehre  der 
Hypnose. 

Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    IX.  9 


X30  ^^^  Straaten. 

Es  sind  speciell  drei  Punkte,  zu  denen  wir  im  folgenden  auf  Grund 
der  mitgetheilten  Experimente  Stellung  nehmen  wollen. 

Die  erste  Frage  ist  die  nach  der  Gestaltung  der  therapeu- 
tischen Hypnose,  (der  sogenannten  Tiefe),  die  zweite  ist  die  nach 
der  Methodik,  die  gewünschte  Gestalt  der  Hypnose  zu  erreichen,  die 
dritteist  die  nach  Erzielung  autosuggestiver  Bewusstseins- 
zustände. 

I.  Von  der  Gestaltung  der  therapeutischen  Hypnose. 

Wie  K.  Brodmann  ausgeführt  hat,  wendet  O.  Vogt  die  hypno- 
tischen Zustände  zu  drei  verschiedenen  direct  oder  indirect  therapeu- 
tischen Zwecken  an.  1.  Um  die  psychische  Beeinflussbarkeit  des 
Patienten  zu  steigern,  2.  um  einen  kräftigenden,  resp.  den  Ausbruch 
gewisser  nervöser  Anfalle  verhindernden  Schlafzustand  zu  schaffen, 
3.  um  eine  im  Wachsein  nicht  erreichbare  Psychoanalyse  psychogener 
pathologischer  Erscheinungen  zu  ermöglichen. 

Die  verschiedenen  Zwecke  erfordern  nun  auch  eine  verschiedene 
Gestaltung  der  hypnotischen  Zustände. 

Von  den  meisten  Autoren  ist  jedoch  die  Präge  nach  der  Gestaltung 
der  therapeutisch  zu  verwendenden  hypnotischen  Zustände  nur  in  Bezug 
auf  eine  Art  ihrer  Anwendung,  nämlich  nur  in  Bezug  auf  die  Steigerung 
der  psychischen  Beeinflussbarkeit,  und  selbst  diese  Frage  nur  in  dem 
engeren  Sinne  der  Steigerung  der  Suggestibilität,  und  nicht  in  dem 
weiteren  Eahmen  der  Steigerung  jeglicher  Form  psychischer  Beeinfluss- 
barkeit behandelt  worden. 

In  Bezug  auf  diese  Frage  war  die  Antwort  der  Autoren  insofern 
auch  eine  wenig  präzise,  als  sie  sich  in  die  Schlagwörter  der  tiefen 
imd  der  oberflächlichen  Hypnose  concentrirte  ^),  ohne  aber  den  Begriff 
der  Hypnose  scharf  zu  präcisiren. 

In  den  folgenden  Ausfülirungen  werden  wir  uns  in  ähnlicher  Weise 
beschränken.  Wir  wollen  nur  untersuchen,  welche  Form  hypnotischer 
Zustände  für  die  Steigerung  der  psychischen  Beeinflussbarkeit  am  ge- 
eignetsten ist. 

Mit  Forel,  Wotterstrand  und  Anderen  ist  Vogt^)  stets  für 
die  üeberlegenheit  der  tiefen  Hypnose  eingetreten.    Aber  er  hat  dabei 


^)  Vgl.  Brodmann,  Zur  Methodik  der  hypnotischen  Behandlung.     2.  Fort«. 
Diese  Ztschr.,  Bd.  VII,  pag.  24  ff. 

^)  Vgl.  Bericht   vom  intemat.  Congress  f.  Psychologie.    1896,  pag.  363.    Dis- 

cussion. 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  131 

nicht  unterlassen,  den  Begriff  der  Hypnose  so  zu  definiren,  dass  auch 
andere  Autoren  seine  Anschauungen  von  vornherein  anerkannt  haben 
würden,  wenn  sie  in  derselben  scharfen  Weise  den  Begriff  der  Hypnose 
angewandt  hätten.  Vogt  bezeichnet  nicht  jeden  suggestiv  ausgelösten 
Schlafzustand,  nicht  jeden  durch  eine  affectlose  Zielvorstellung  hervor- 
gerufenen h3rpnotischen  Bewusstseinszustand  als  Hypnose,  sondern  nur 
iene  durch  affectlose  Zielvorstellungen  ausgelösten  Schlaf  zustände,  die 
eben  speciell  jenes  Moment  in  ausgeprägtem  Maasse  zeigen,  das  von 
jeher  als  die  eigenthümlichste  Erscheinung  der  Hypnose  aufgefasst 
worden  ist :  das  Rapportverhältniss.  Das  will  sagen,  dass  Vogt  unter 
der  Hypnose  nur  jene  hypnotischen  Schlafzustände  versteht,  die  jeder 
Zeit  ein  ganz  beliebiges  circumscriptes  Erwecken  von  Seiten  des  Hypno- 
tiseurs ermöglichen. 

Die  tiefsten  derartigen  Zustände  sind  also  bezüglich  Ausdehnung 
und  Tiefe  der  Schlafhemmung  durchaus  nicht  identisch  mit  einem  tiefen 
allgemeinen  Schlaf,  sondern  stellen  eine  sehr  ausgedehnte  tiefe  Schlaf- 
hemmuDg  bei  einem  in  seiner  Ausdehnung  durchaus  vom  Experimen- 
tator abhängigen  sehr  circumscripten  Wachsein  dar.  Nur  in  diesem 
Sinne  hat  Vogt  den  Satz  aufgestellt,  dass  die  Suggestibilität  propor- 
tional der  Tiefe  der  Hypnose  zunimmt.  Unsere  Stellungnahme  zu  dieser 
Frage  stützt  sich  auf  die  folgenden  Experimente.  — 

Diesen  nunmehr  zu  schildernden  Experimenten  liegt  folgender 
Gedankengang  zu  Grunde:  Zunächst  sollte  fe'stgestellt  werden,  bei 
welcher  Tiefe  des  suggestiven  Schlafes  eine  Suggestion  den*  stärksten 
momentanen  Einfluss  auf  das  Bewusstsein  der  hypnotisirten  Ver- 
suchsperson hatte.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  unter  ganz  gleichen  zeit- 
lichen Bedingungen  dieselbe  Traumsuggestion  bei  immer  tiefer  werdendem 
Schlafzustande  wiederholt,  und  hierbei  die  Lebhaftigkeit  der  durch  die 
Suggestion  ausgelösten  Traumbilder  festgestellt.  An  diese  Frage  schloss  sich 
dann  eine  zweite  an,  nämlich  die,  ob  ein  proportionales  Verhältniss  zwischen 
der  Intensität  der  momentanen  Einwirkung  einer  Suggestion  und  der- 
jenigen ihrer  weiterenNachwirkung  auf  das  Bewusstsein  besteht  oder 
nicht.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  in  ähnlicher  Versuchsanwendung  wie 
bei  der  ersten  Reihe  von  Experimenten  in  verschieden  tiefen  Hypnosen 
derselbe  affectbetonte  Traum  suggerirt  und  dann  neben  der  Art,  wie  sich 
die  Suggestion  realisirt  hatte,  gleichzeitig  die  Intensität  der  Nachwirkung 
dieses  Traumes  für  das  Wachsein  festgestellt.  Wir  urtheilen  im  Folgenden 
nur  auf  Grund  zweier  Versuchsreihen.    In  diesen  ist,  wie  eben  angedeutet, 

die  ganze  Zeit  des  Experimentes  derselbe  Traum  suggerirt  worden.    Man 

9* 


132  ^^^  Straaten. 

könnte  nun  die  Frage  aufwerfen,  ob  das  Suggeriren  desselben  Tr&nnih 
inhaltes  nicht  allmählich,  sei  es  bahnend,  sei  es  abstumpfend,  wirkte, 
und  so  das  Resultat  der  Versuchsreihe  beeinflusste. 

Zur  Entscheidung  dieser  Frage  haben  wir  eine  grosse  Reihe  der 
mannigfaltigsten  und  wechelnsten  Träume  in  den  Terschieden  tiefen 
Graden  der  Hypnose  suggerirt  Wir  haben  niemals  im  wesentlichen 
Grade  das  Moment  der  Bahnung  oder  Hemmung  nachweisen  können, 
sondern  stets  ein  ähnliches  proportionales  Verhältniss  zwischen  Intensität 
des  Traumes  und  Tiefe  des  hypnotischen  Zustandes  feststellen  können, 
wie  aus  den  unten  mitgetheilten  Versuchsreihen  herrorgeht.  Ebenso 
soll  hervorgehoben  werden,  dass  verschiedene  Versuchspersonen  die 
gleiche  gesetzmässige  Beaction  zeigten,  wie  sie  die  folgenden  Elzperi- 
mente  aufweisen.  Nur  ein  secundärer  individueller  Unterschied  zeigte 
sich  in  dem  Grade  der  grössten  Intensität,  indem  eine  solche  Stärke 
von  Ausdrucks-  und  Mitbewegungen,  wie  sie  bei  unten  geschilderten 
somnambulen  Träumen  sich  zeigte,  nicht  zu  constatiren  war.  Das  hängt 
aber  zusammen  mit  dem  Grade  der  Tendenz  der  betreffenden  Versuchs- 
person zu  somnambulen  Träumen  in  ihrem  normalen  Nachtschlaf.  Um 
auch  dem  Einwände  zu  begegnen,  dass  eine  Ermüdung  der  Versuchs- 
person durch  die  einander  folgenden  Experimente  die  B^ultate  störend 
hätte  beeinflussen  können,  wurden  die  Experimente  in  zweckmässigen 
Intervallen  durch  Pausen  unterbrochen,  die  von  der  Versuchsperson 
durch  einen  tiefen  erquickenden  Schlaf  ausgefüllt  wurden. 

* 

Wir  wenden  uns  nunmehr  den  Experimenten  zu. 

I.    Yersuchsreihe. 

^ .   Versuch: 

flcaa  ^-  ^i<^frt  auf  einer  Chaise  longue  bequem  hingestreckt  und  wird  von 
■Dr.  V.  ftuf^ev^rdert,  sich  in  einen  Zustand  oberflächlicher  Hypnose  zu  versetzen. 
Verf.  führt  da«  Protokoll. 

Dr.  V.:  „Wie  "nterscheidet  sich  dieser  Zustand  vom  Wachen?^  ^  Fr.  B.: 
.„Muss  mich  orst  beobdoJ^^^"-  Dadufoh,  dass  ich  eine  grosse  Tendenz  zum  Äugen- 
schluss  habe,  mich  ausgerau^  fühle."  Dr.  V.:  ^Mehr  ausruhend  oder  ausgeruht?** 
Fr.  B.:  „Anfangs  ausruhend,  u^^  nachdem  Ich  eine  Zeit  lang  gelegen  habe,  n^br 
ausgeruht.*^  Dr.  <V. :  „Hören  Sic»  die  Gera'afche  noch  ebenso  lebhaft?"  Fr.  B.: 
„Ebenso,  wie  im  .Wachen.^  Dr.  V.:  ^Wie  ist  dus  Denken?**  Fr.  ß.:  „Ganz  uil-* 
gehemmt." 

Dr.  V.:  ^Sie., werden  Jetzt  träumen:  Sie  fahren  flffit  Ihrem  Mann  Velociped 
ins  Rosanthal.  — .J-etzt  fahren  Sie  gerade  aus.  —  Jetzt'  biegen  Sie  rechts  herum. 
—  Jetzt  ;macK^n  Siq  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  •*-  Halt,  1,  2,  3." 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  133 

Bern.:  Die  Suggestionen  beziehen  sich  auf  einen  in  ähnlicher  Form  früher 

spontan  aufgetretenen  Traum.    Die  erste  Suggestion  „Sie  fahren RosenthaP 

dauert  5,  die  anderen  3  Secunden.    Die  einzelnen  Suggestionen  wurden  in  Zwischen» 
räumen  von  je  10  Secunden  gegeben. 

Nach  dem  Erwachen  erklärt  Fr.  B. :  „Ich  habe  mich  direct  zur  Vorstellung 
des  Traumes  zwingen  müssen.  Als  Sie  sagten  „Jetzt  träumen  Sie",  habe  ich  mich 
dazu  in  Positur  gelegt.  —  Als  Sie  sagten  „Jetzt  fahren  Sie",  da  kam  mir  die  Vor- 
stellung, dass  ich  nicht  träume.  Darauf  sah  ich  mich  im  Geiste  etwas  lebhafter 
als  im  Wachen  ins  Rosenthal  fahren,  es  war  aber  nicht  sinnlich  lebhaft,  die  Sug- 
gestion rief  nicht  die  Vorstellung  eines  gegenwärtigen  Geschehens  hervor,  sondern 
war  von  der  Idee  begleitet,  dass  es  ein  Erinnerungsbild  aus  früherer  Zeit  war. 

Bei  der  zweiten  Suggestion  sah  ich  einen  Weg,  den  ich  früher  öfters  gefahren 
bin,  etwas  lebhafter  als  die  Situation  der  1.  Suggestion.  Es  handelt  sich  dabei 
nach  meiner  Ansicht  nicht  um  ein  leichter  erregbares  Erinnerungsbild,  da  mir  die 
Vorstellung,  die  durch  die  erste  Suggestion  hervorgerufen  wurde,  ebenso  geläufig 
ist,  sondern  ich  habe  den  Eindruck,  dass  es  sich  um  eine  stärkere  Concentration 
meiner  Aufmerksamkeit  auf  die  Suggestion  handelt.  Dieser  Grad  von  Lebhaftigkeit 
der  suggestiv  hervorgerufenen  Situationsbilder  blieb  bei  den  folgenden  Suggestionen 
bestehen." 

Dr.  V.:  „Haben  Sie  noch  volle  Kritik  gehabt?  Wussten  Sie  noch,  dass  Sie 
hier  lagen  ?"  Fr.  B. :  „Ich  erinnere  mich  dessen  nicht  bei  dieser  zweiten  Suggestion, 
während  ich  mich  erinnere,  bei  der  ersten  noch  die  Vorstellung  meiner  wirklichen 
gegenwärtigen  Situation  gehabt  zu  haben. 

Dagegen  war  ich  mir  bewusst,  dass  es  sich  nur  um  suggerirte  Traumbilder 
handelte.  Ich  kritisirte  sie  imd  constatirte,  dass  sie  noch  durchaus  nicht  mein  Be- 
wuBstsein  derart  gefangen  nahmen,  wie  dies  bei  wirklichen  Träumen  der  Fall  ist. 

Als  die  Suggestion:  „Jetzt  biegen  Sie  nach  rechtsherum,"  kam,  bin  ich  nach 
rechts  herübergefahren,  bei  der  nächsten  Suggestion  bin  ich  von  rechts  nach  links 
im  Kreis  herumgefahren,  bin  dann  der  folgenden  Suggestion  entsprechend  abge- 
stiegen und  stehen  geblieben.  Ich  musste  mich  zu  den  Suggestionen  zwingen.  Im 
Moment,   wo  ich  midi  nicht  gezwungen  hätte,  wäre  mir  das  Bild  entschwunden." 

Bem. :  Es  wird  nun  versucht,  die  Suggestion :  „Jetzt  steigen  Sie  ab"  im  Wachsein 
bei  Augenschluss  zu  geben.  Fr.  B.  soll  sich  bemühen,  das  Bild  wie  im  leichten 
Schlummerzustand  10  Secunden  lang  festzuhalten.  Fr.  B.  unterbricht  nach  8  See. 
den  Versuch,  und  erklärt,  nicht  dazu  im  Stande  zu  sein.  Sie  kann  sich  die  Situation 
kaum  vorstellen.    Die  Situation  war  ihr  vollständig  schattenhaft. 

Fr.  B.  wird  jetzt  zur  schärferen  Analysirung  des  vorangegangenen  Experimentes 
in  dem  von  Vogt  als  systematisches  partielles  Wachsein  beschriebenen  und  von 
ons  weiterhin  kurz  als  „Versuchsstadium"  bezeichneten  Bewusstseinszustand  versetzt. 

Versuchsstadium: 

Fr.  B.  geht  nun  Alles  noch  einmal  kritisch  durch.  Sie  constatirt  zunächst, 
dass  die  erste  Suggestion  sich  nur  in  der  Weise  realisirt  hat,  dass  sie  sich  allein 
und  nicht  zusammen  mit  ihrem  Manne  gesehen  hat.  Sie  erklärt  dies  daraus,  dass 
sie  nicht  im  Stande  war,  sich  eine  so  complexe  Suggestion  vorzustellen,  sondern  die 
ganze  Aufmerksamkeit  nöthig  hatte,  sich  ihr  eigenes  Bild  vorzustellen.  Sie  fährt 
dann  fort:  „Bei  den  Worten  „Ins  Kosenthai"  stellte  ich  mir  speciell  eine  Brücke 
vor,   die  ich  zu  überschreiten  habe,  um  ins  Kosenthai  zu  gelangen.    Es  war  diese 


134  '^^^  Straaten. 

Vorstellung  aber  ebenso  schwach  wie  die  des  Fahrens  ins  Rosenthal."  Nunmehr 
bemerkt  sie:  „Ich  muss  sehr  vorsichtig  sein  in  der  Beurtheilong  der  Traumbilder, 
weil  ich  im  gegenwärtigen  Versuchsstadium  mir  die  Situationen  lebhafter  Torstellen 
kann  als  im  vorhergehenden  Schlummerzustande.  Ich  möchte  auf  weitere  Bemer- 
kungen verzichten,  da  ich  einer  absoluten  Treue  der  gegenwärtigen  Erinnerung  für 
die  vorhergegangenen  Suggestionen  nicht  sicher  bin." 

2.  Versuch: 

Fr.  B.  wird  aufgefordert,  sich  in  einen  etwas  tieferen  Zustand  zu  versetzen. 
Der  Gedanke,  dass  experimentirt  wird,  stört  sie  vorläufig.  Nach  einer  kurzen  Zeit 
giebt  sie  mit  der  Hand  das  Zeichen,  dass  sie  sich  in  dem  gewünschten  Zustand 
befindet. 

Dr.  V.:  „Sie  werden  jetzt  träumen:  Sie  fahren  mit  Direm  Manne  Velociped 
ins  Kosenthai.  —  Jetzt  fahren  Sie  gerade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum. 
„Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt.  1,  2,  3." 

Fr.  B.  (Im  Wachzustande):  „Bei  der  ersten  Suggestion  sah  ich  Weg  und 
Brücke  mit  derselben  Lebhaftigkeit,  wie  die  deutlicheren  Situationen  des  ersten 
Traumes.  Auch  war  die  Situation  insofern  complexer,  als  ich  meinen  3Iann  an 
meiner  Seite  fahren  sah.  Bei  der  zweiten  Suggestion  sah  ich  den  betreffenden  Weg 
mit  derselben  Lebhaftigkeit  vor  mir,  wie  beim  ersten  Mal.  Bei  der  dritten  Sug- 
gestion tritt  das  Bild  des  Weges  noch  lebhafter  hervor.  Das  Bild  des  Mannes 
verschw^indet.     Es  taucht  das  Erinnerungsbild  der  Armbewegung  auf." 

Als  die  vierte  Suggestion  erfolgt,  sieht  sich  Fr.  B.  auf  der  rechten  Wegseite 
an  dem  Graben  entlang  fahren,  befindet  sich  dann  plötzlich  auf  der  linken  Seite, 
um  den  Kreis  zu  machen.  Es  bestehe  eine  Lücke  in  der  Erinnerung  für  die  Be- 
wegung von  rechts  nach  links.  Die  Kritik  war  vollständig  verschwunden.  Bei  der 
Ausführung  der  Kreisbewegung  Eihpfindung  im  rechten  Arm.  Beim  Beginn  der 
Suggestion  des  Abstcigens  kehrte  die  Kritik  zurück,  aber  sie  sieht  am  Schluss 
ziemlich   lebhaft   das  Bild  ihres  Mannes,    und   hat  die  Empfindung  des  Absteigens. 

V  e  r  s  u  c  h  s  s  t  a  d  i  u  m : 

Fr.  B.:  „Bei  der  Suggestion  „Jetzt  biegen  Sie"  etc.  wurden  die  Situationen 
lebhafter.  Die  Kritik  war  nur  im  Momente,  w^o  die  Suggestionen  gesprochen  w^urden, 
vorhanden,  aber  war  dann  sofort  wieder  ganz  aufgehoben.  —  Um  mich  noch  besser 
erinnern  zu  können,  niuss  ich  noch  tiefer  hineinkommen"  (Bem. :  d.  h.  das  circum- 
Scripte  Bewusstsein  muss  noch  mehr  eingeengt  werden).  Dr.  V.  giebt  entsprechende 
Suggestion.  Fr.  B.  fährt  dann  fort:  „Indem  ich  auf  Ihre  Suggestionen  achtete. 
fuhr  ich  nicht,  im  Augenblick  darauf  wurden  die  Situationen  wieder  lebhaft,  und 
die  Idee,  dass  es  ein  Traum  sei,  verschwand. 

Bei  der  Suggestion  des  Absteigens  hatte  ich  das  Empfinden  des  Absteigens 
und  auf  den  Bodenkommens.  Ich  habe  den  Traum  noch  weiter  gesponnen:  Nach- 
dem ich  abgestiegen  war,  wandte  ich  mich  nach  meinem  Mann  um.  Ich  sah  ihn 
mit  einem  anderen  Herrn  H.  an  mir  vorüber  huschen.  —  Ich  muss  noch  tiefer 
einschlafen,  um  die  Situation  mir  wieder  klar  vorstellen  zu  können."  —  Nach  ent- 
sprechender Suggestion : 

..Ich  sah  meinen  Mann  und  H.  sinnlich  lebhaft  zusammenradeln.  Der  Um- 
stand, dass  ich  diese  beiden  Herren  zusammen  sah,  kommt  daher,  dass  ich  heute 
morgen  eine  von  diesen  beiden  unterzeichnete  Karte  erhielt." 


Zur  Kritik  der  hypnotischeD  Technik.  136 

Dr.  V.:  „Hatten  Sie  auch  Gefühle  während  des  Traumes?"  —  Fr.  B.:  „Ich 
muss  mich  erst  wieder  in  einen  tiefen  Schlafzustand  versetzen.  —  Ich  hatte  im 
Anfang  Ihren  Suggestionen  gegenüber  noch  ein  geringes  Activitätsgefühl.  Dann 
entsinne  ich  mich  eines  angenehmen  Gefühls,  während  ich  auf  der  rechten  Weg- 
seite einherfuhr.  ^  Dr.  V.:  „Angenehm  oder  heiter?"  Er.  B.:  „Beides  zugleich,  aber 
das  angenehme  war  vorherrschend.  Für  die  anderen  kann  ich  nicht  mehr  bürgen. 
Bei  dem  Fahreii  im' 'Kreise  hatte  ich  ein  ängstliches  Gefühl,  bin  aber  zweifelhaft*' 

3.  Versuch,      i; 

Dr.  V.:  ,.Nun  kommen  Sie  gleich  tiefer  hinein,  ganz  schön  tief."  (Dr.  V.  hebt 
Fr.  B.'s  Arm,  leichte  Katalepsie.)  „Sie  werden  jetzt  träumen:  Sie  fahren  mit  Ihrem 
Mann  Yelociped  ins  Rosenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  grade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie 
rechts  herum.  —  Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt, 
1,  2,  3."    (Keine  Ausdrucksbewegungen.] 

Fr.  B. :  „Traum  war  sehr  lebhaft  und  Kritik  ganz  verschwunden." 

Dr.  V.:  „War  der  Schlaf  tiefer,  als  das  letzte  Mal?"  Fr.  B.:  „Ja".  Dr.  V.: 
„Woraus  schliessen  Sie  das?"  Fr.  B. :  „Als  der  Arm  gehoben  wurde,  liess  ich  mich 
dadurch  nicht  stören  und  hatte  die  Umgebung  fast  vergessen.  Ich  brauchte  mich 
zum  Traum  nicht  zu  zwingen.  Bei  der  ersten  Suggestion  sah  ich  sinnlich  lebhaft 
meinen  Mann,  die  Strasse,  die  Brücke,  auch  Sonnenschein.  Das  Bild  war  viel 
complexer.  loh  hatte  dann  die  Absicht,  einen  anderen  Weg  einzuschlagen,  wobei 
ich  eine  Beflexion  hatte,  deren  ich  mich  nicht  entsinne.  Aber  ich  fuhr  doch  gerade 
aus  mit  ihm,  entsprechend  der  Suggestion,  er  zu  meiner  rechten.  Ich  hatte  ein 
ausgesprochen  heiteres  Gefühl.  Bei  der  dritten  Suggestion  fuhr  ich  wieder  auf  die 
rechte  Wegseite,  sah  Wiese,  Sonnenschein,  Strasse  sehr  lebhaft,  überhaupt  mehr 
Details,  hattö  vollständig  die  Vorstellung  eines  gegenwärtigen  Geschehens.  Habe 
aber  bei  jeder  Suggestion  auf  Sie  gehört,  nicht  selbstständig  weiter  geträumt.  Bei 
der  vierten  Suggestion  war  ich  'mir  klar  bewusst,  dass  ich  nach  der  linken  Seite 
der  Strasse  herüberfuhr,  hatte  aber  dabei  die  Beflexion,  dass  ich  das  letzte  Mal 
nicht  so  herübergefahren  bin.  Bei  der  Ausführung  des  Kreises  fuhr  ich  langsam, 
um  damit  nicht  früher  fertig  zu  sein,  als  die  nächste  Suggestion  eintrat.  Als  dann 
die  Suggestion  erfolgte,  vollendete  ich  dann  meinen  Kreis,  und  stieg  ab,  während 
ich  meinen  Mann  weiterfahren  sah." 

Versuchsstadium: 

„Bei  der  ersten  Suggestion  habe  ich  die  beiden  Räder  auf  die  Strasse  führen 
sehen.  Ich  hatte  dann  beim  Fahren  schwache  Empfindungen  in  Armen  und  Beinen. 
Als  ich  bei  der  zweiten  Suggestion  die  Absicht  hatte,  einen  anderen  Weg  einzu- 
schlagen, trat  zugleich  die  Reflexion  auf,  dass  dieser  doch  nicht  der  gegebenen 
Suggestion  entspräche.  Während  dieser  Reflexion  war  mir  das  Bild  des  Mannes 
verschwunden,  die  Lebhaftigkeit  der  Traumbilder  nahm  ab.  Als  ich  dann  der 
folgenden  Suggestion  entsprechend  auf  der  rechten  Wegseite  fuhr,  hatte  ich  das 
Gefühl  der  Activität,  indem  ich  sehr  aufmerksam  mich  hütete,  in  den  Graben  zu 
fahren.  Als  ich  am  Schluss  meinen  Mann  weiter  fahren  sah,  kam  mir  der  Gedanke, 
das  hast  Du  hinzugeträumt,  wurde  dann  wach  und  verlor  die  Situation." 

4.  Versuch. 

Dr.  V.:  „Tief  einschlafen,  immer  tiefer  hineinkommen,  ordentlich  tief  hinein- 
kommen." —  (Ausgesprochene  Katalepsie.) 

Dr.  V.:   „Jetzt  werden  Sie  träumen:    Sie  fahren  mit  Ihrem  Mann  Velociped 


136  ^>^  StfMiten. 

ins  Kosenthal.  —  Jetzt  fiüiren  Sie  gerade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechte  liemm.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jet^t  steigen  Sie  ab.  —  Halt  1,  2,  3.** 

Während  der  ganzen  Zeit  Katalepsie,  keine  Ansdracksbewegnngezi. 

Fr.  B.:  „Ich  habe  noch  tiefer  geschlafen,  als  das  letzte  MaL  Habe  zeitweise 
nicht  auf  Ihre  Suggestion  geachtet.  Bei  der  ersten  Suggestion  befand  ich  nüdi 
wieder  in  derselben  Situation  wie  voriges  Mal.  Der  Sonnensdiein  fehlte.  Die 
Situation  war  insofern  complexer,  als  ich  mit  meinem  Mann  lebhaft  plauderte.  Die 
Brücke  erinnere  ich  mich  nicht  gesehen  zu  haben,  auf  den  Weg  habe  ich  wenig 
geachtet.  Bei  der  Suggestion  „Jetzt  fahren  Sie  rechts  herum'',  befimden  wir  uns 
einer  Karre  gegenüber,  an  der  mein  Mann  links  Torbeifuhr,  wahrend  ich  nach 
rechts  ausbog.  Bei  der  Suggestion  ,  Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis",  hatte  ich  die 
Kritik  wieder  erworben,  indem  ich  mich  für  einen  Augenblick  meiner  gegenwärtigen 
Situation  bewusst  wurde.  Aber  in  demselben  Moment  hielt  mich  das  Traumbild 
wieder  gefangen,  ich  yollendete  aber  nicht  den  Kreis,  sondern  machte  den  Bogen 
nur  zur  Hälfte.  Ich  stieg  dann  ab,  um  nach  meinem  Mann  mich  umzusehen."  (Ab- 
steigen anders  motivirt.) 

Versuchsstadium. 

Fr.  B.:  „Als  Sie  meinen  Arm  hochhoben,  stellte  sich  bei  mir  eine  gewisse 
Aengstlichkeit  ein,  die  veranlasst  war  durch  die  Vorstellung,  daslfixperiment  wurde 
nicht  gelingen.  Dieses  Aengstlichkeitsgeföhl  verschwand,  als  Sie  die  erste  Suggestion 
gegeben  hatten.  Das  Bild  beim  Moment  des  Aufsteigens  war  noch  etwas  ver- 
schwommen. Nachher  beim  Plaudern  war  es  vollkommen  lebhaft  Ich  erinnere 
mich  jetzt,  die  Brücke  gesehen  zu  haben,  habe  aber  wenig  darauf  geachtet.  Die 
zweite  Suggestion  habe  ich  gar  nicht  beachtet,  sondern  bin  spontan  gradeans  ge&hren, 
auch  der  Suggestion  „Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum''  habe  ich  insofern  keine  Be- 
achtung geschenkt,  als  ich  diesen  Act  schon  ausgeführt  hatte,  bevor  die  darauf 
hinzielende  Suggestion  erfolgt  war.  Das  Hindemiss,  das  uns  in  den  Weg  kam,  rief 
bei  mir  die  Reflexion  hervor,  dass  dies  nicht  in  den  Traum  hineingehöre.  Diese 
Keßexion  trat  nur  ganz  momentan  auf.  Im  nächsten  Augenblick  befiimd  ich  mich 
wieder  mitten  in  der  Situation  des  Traumes.  Beim  Fahren  des  Kreises  hatte  ich 
die  gegenwärtige  Situation  vollkommen  verloren.**  —  Dr.  V.:  „Wie  waren  die  ein- 
zelnen Details?'^  Fr.  B. :  „Die  einzelnen  Details  wuren  lebhafter  als  das  vorige  Mal 
und  die  Zahl  der  Details  war  eine  grössere." 

5.  Versuch. 

Dr.  V.:  „Nun  noch  etwas  tiefer  hineinkommen,  wie  das  letzte  MaL  Noch 
immer  tiefer."  —  (Ausgesprochene  Katalepsie.) 

Dr.  V.:  „Jetzt  werden  Sie  träumen:  Sie  fahren  mit  Ihrem  Manne  Velociped 
ins  Kosenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  grade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt  1,  2^  3. 

(Während  der  ganzen  Zeit  ausgesprochene  Katalepsie.  Bei  der  zweiten  und 
dritten  Suggestion  starkes  Stirnrunzeln,  wie  bei  Anstreng^g,  das  sich  bei  der 
vierten  Suggestion  noch  steigert,  und  von  etwas  keuchendem  Athmen  begleitet  ist.) 

Dr.  V.:  „Nun,  wie  war  es?** 

Fr.  ß. :  „Bei  der  ersten  Suggestion  nahm  das  Radfahren  meine  ganze  Auf- 
merksamkeit in  Anspruch,  weil  es  wehte,  und  meine  Röcke  von  dem  W^inde  auf- 
geweht wurden.  Dabei  hatte  ich  ein  Gefühl  des  Aergers.  Auf  den  Weg  war  ich 
nicht  aufmerksam,  auf  die  Suggestion  habe  ich  nicht  geachtet.** 


Zar  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  137 

,,Ich  fuhr  meinem  Mann  davon,  weil  ich  ärgerlich  auf  ihn  war,  ohne  auf  den 
Weg  zu  achten.  Dann  fuhr  ich  auf  der  rechten  Wegseite  entlang,  unter  An- 
strengung versuchend,  meinen  vom  Winde  aufgewehten  Rock  herunter  zu  halten. 
Bei  der  Suggestion  „Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis",  wurde  ich  etwas  mehr  wach, 
Ich  war  mir  bewusst,  die  Suggestion  gehört  zu  haben.  Ich  wurde  aber  vom  Traum- 
bild gefangen  gehalten,  machte  den  Kreis  und  stieg  ab.  Damit  verschwand  das 
Traumbild." 

Versuchsstadium. 

„Ich  weiss  jetzt,  warum  ich  auf  meinen  Mann  ärgerlich  war.  Nämlich,  weil  es 
so  langsam  mit  den  Vorbereitungen  ging.  Die  zweite  Suggestion  „grade  aus''  etc. 
habe  ich  ganz  überhört.  Auch  die  dritte  Suggestion  machte  keinen  tiefen  Eindruck. 
Nur  die  letzte  wurde  mir,  wie  ich  schon  sagte,  mehr  bewusst." 

Dr.  V.:  „Wenn  Sie  nun  diesen  Traum  nach  Lebhaftigkeit,  Kritik  und  Com- 
plexität  mit  dem  vorigen  vergleichen,  finden  Sie  da  einen  Unterschied?'' 

Fr.  £.:  „Die  Kritik  hatte  ich  vollständig  verloren.  Ich  hatte  vollständig  die 
Vorstellung  eines  gegenwärtigen  Geschehens.  Nur  bei  der  Suggestion  des  Kreis* 
fahrens  wurde  ich  mir  momentan  bewusst,  dass  ich*  eine  Suggestion  erhielt.  Die 
Complexität  des  Bildes  war  eine  etwas  geringere,  weil  ich  ganz  von  dem  Gefühl  des 
Aergers  in  Anspruch  genommen  war.  Ich  hatte  in  noch  höherem  Maasse  die 
Empfindung  der  Bein-  und  Armbewegung,  fühlte  mich  vom  Wind  und  Sonne 
sehr  genirt." 

6.  Versuch. 

Dr.  V. :  i,Nun  noch  tiefer  einschlafen.  Ganz  schön  tief.  Noch  immer  tiefer."  — 
(Katalepsie.) 

Dr.  V.:  „Jetzt  werden  Sie  träumen:  Sie  fahren  mit  Ihrem  Manne  Velociped 
ins  B>osenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  gerade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt.  1,  2.  S.*^ 

Lebhafte  Affectausdrücke  wechselnder  Art,  lebhaftes  Lachen,  namentlich 
bei  den  letzten  Suggestionen,  schwache  Mitbewegung  in  den  Beinen,  ganz  schwache 
Mitbewegung  in  den  Armen,  während  der  vierten  Suggestion  zweimaliges  Berühren 
der  Stirn  mit  der  rechten  Hand.    (Dieses  von  Dr.  V.  dictirt.) 

Dr.  V.:  „Nun,  wie  war  es?" 

Fr.  B.:  „Weiss  mich  nicht  so  gut  des  Traumes  zu  entsinnen.  Bei  der  ersten 
Suggestion  hatte  ich  ein  lebhaftes  Gefühl  der  Freude  beim  Fahren,  habe  viel  ge- 
plaudert. Die  Suggestion  „Gradeaus  fahren"  habe  ich  überhört,  kann  mich  auch 
nicht  entsinnen,  dass  ich  nach  rechts  gefahren  bin.  Als  ich  den  Kreis  machte,  muss 
ich  zweimal  von  einer  Fliege  auf  der  Stirn  gestochen  worden  sein.  Deshalb  wischte 
ich  mit  der  Hand  an  der  Stirn.  — Dr.  V.:  ,, Wissen  Sie  das  genau  ?^*  Fr.  B. :  ,,Es 
wurde  mir  das  durch  das  Diktat  ins  Gedächtniss  zurück  gerufen.  Dann  habe  ich 
vehr  lachen  müssen,  weil  ich  meinen  Mann  mit  dem  Kade  stürzen  sah.  Ich  wurde 
aber  für  einen  Moment  durch  ein  Gefühl  von  Unruhe  unterbrochen.  Dann  musste 
ich  wieder  lachen." 

Versuchsstadium. 

Fr.  B. :  „Ich  hatte  ein  ausgesprochen  heiteres  Gefühl".  Dr.  V.:  „Wussten  Sie, 
dass  Sie  Bewegungen  gemacht  haben  ?"  Fr.  B. :  „Darüber  bin  ich  im  Zweifel,  weil 
ich  beim  Diktat  hörte,  dass  ich  welche  gemacht  hatte."  Dr.  V.:  „Wie  waren  die 
Empfindungen?"    Fr.    B. :    „Sehr   lebhaft.    Ich   ging   ganz  in  der  Situation  auf" 


138  van  Straaten. 

Dr.  V.:  „War  dieser  Traum  im  Vergleich  mit  dem  yorhergehenden  lebhafter?" 
Fr.  B. :  „Ja,  das  äusserte  sich  vor  Allem  in  den  sehr  lebhaften  Empfindungen.  Den 
Kreis  habe  ich  im  Bogen  von  rechts  nach  links  gemacht,  um  nach  Hause  zurück- 
zukehren. Der  ganze  Traum  bestand  diesmal  mehr  aus  einem  Gefiige.  Die  Suggestionen 
wurden  nur  in  den  Traum  verwoben.  Das  Gefühl,  unter  dem  Einfluss  der  Sug^^eationen 
zu  träumen,  fehlte  vollständig.  Das  Hinstürzen  meines  Mannes  war  für  mein  Auge 
sehr  lebhaft.  Während  ich  Anfangs  darüber  lachte,  wurde  ich  für  einen  Augen- 
blick ängstlich  und  unruhig,  weil  er  eine  Bewegung  machte,  aus  der  ich  schloss, 
es  sei  ihm  ein  Unglück  passirt.  Ich  befand  mich  bis  zum  Schluss  vollständig  in 
der  Situation  des  Traumes.^ 

7.  Versuch. 

Dr.  V. :  „Tief  hineinkommen,  noch  immer  tiefer" (V.  hebt  Fr.  B.'s  Arm. 

Die  anfänglich  schwache  Katalepsie  wird  nach  einigen  Bewegungen  etwas  ge- 
steigert.) Dr.  V. :  „Jetzt  werden  Sie  träumen :  Sie  fahren  mit  Ihrem  Mann  Velociped 
ins  Roseuthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  grade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  hemm.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.    Halt,  1,  2,  3." 

Lebhafter  Aö'ectausdruclc  (Lachen)  während  der  ersten  zwei  Suggestionen. 
Bei  der  zweiten  Suggestion  Auftreten  von  Mitbewegungen  in  den  Armen.  Linker 
Arm  wird  vorgehalten.  Bei  der  dritten  Suggestion  Stirnrunzeln  wie  bei  An- 
strengung, das  bei  der  vierten  Suggestion  durch  eine  Ruckbewegung  des  Körpers 
abgebrochen  wird.  Bei  der  letzten  Suggestion  Bewegung  des  Absteigens  an- 
gedeutet. 

Fr.  B. :  „Ich  habe  tiefer  geschlafen  als  das  vorige  Mal.  Es  besteht  theilweise 
Amnesie,  muss  sehr  scharf  nachdenken.  Der  Anfang  des  Traumes  fallt  mir  nicht 
ein.  Als  ich  den  Kreis  machen  wollte,  musste  ich  erst  Jemanden  vprbeipassiren 
lassen.  Dann  machte  ich  ihn  erst  fertig.  Die  Situation  bei  dem  Kreismachen  ist 
mir  noch  sehr  lebhaft.  Vom  Absteigen  ist  mir  nur  noch  eine  dunkle  Erinnerimg 
gebireben.  Ich  bin  nicht  ganz  sicher,  ob  ich  beim  Absteigen  im  Traum  eine  Be- 
wegung mit  dem  Körper  gemacht  habe.  Ich  glaube,  dass  ich  während  des  Fahrens 
den  rechten  Arm  herunter  hängen  liess,  und  mit  dem  linken  gefahren  bin.** 

Versuchsstadium: 

„Bei  der  ersten  Suggestion  war  mir  die  Situation  sehr  lebhaft,  ebenso  lebhaft 
als  am  Schluss  des  letzten  Males  beim  Hinstürzen  meines  Mannes.  Ich  habe  vor 
Vergnügen  gelacht,  dann  fuhr  ich,  um  meinen  Mann  zu  necken,  meinem  Mann 
voraus,  musste  stark  treten,  wurde  dann  beim  Fahren  auf  der  rechten  Wegseite 
etwas  wacher,  fuhr  langsamer;  bin  dann  einen  Moment  wie  stehen  geblieben.  Die 
Lebhaftigkeit  während  des  Langsamerfahrens  war  die  gleiche  wie  vorher."  Dr.  V.: 
„Haben  Sie  viel  gesehen?"  Fr.  B.:  „Ich  sah  nur  auf  den  Weg.  —  Auf  die  Sug- 
gestionen habe  ich  garnicht  geachtet.  Während  ich  stehen  blieb,  fühlte  ich  mich 
noch  wacher,  wurde  aber  durch  die  nächste  Suggestion  wieder  mitten  in  die  Situa- 
tion hineinversetzt.  Als  ich  den  Bogen  machte,  wobei  ich  Jemanden  passiren  lassen 
musste.  machte  ich  dal)ei  eine  starke  Bewegung,  die  ich  auch  mit  dem  Körper  an- 
gedeutet habe.'" 

8.  Ve  rsuch. 

Dr.  V.:  „Suchen  Sie  ganz  tief  hineinzukommen,  ganz  schön  ruhig  werden, 
schön  tief  schlafen "     (Katalepsie  noch  schwach  angedeutet.) 

Dr.  V.:   „Jetzt   werden  Sie   träumen:   Sie  fahren  mit  Ihrem  Mann  Velociped 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  139 

ins  Rosenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  grade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt,  1,  2,  3." 

Anfänglich  mittelstarke  Mitbewegung  mit  den  Armen,  dann  auch  mit  den 
Beinen. 

Dr.  V. :  „Nun,  wie  ist  es  gewesen?**  Fr.  B.:  „Ich  habe  tief  geschlafen,  ich  muss 
erst  wieder  scharf  nachdenken.  Es  ist  mir  noch  erinnerlich,  die  Wiese  zu  meiner 
rechten,  und  die  rechte  Wegseite  gesehen  zu  haben."  Dr.  V. :  „Lebhaft  in  Er- 
innerung?" Fr.  B. :  „Sehr  schwach".  Dr.  V.:  „Was  wissen  Sie  sonst  noch?" 
Fr.  B.:  „Nichts  mehr". 

Versuchsstadium: 

Dr.  V. :  „Versetzen  Sie  sich  jetzt  in  ein  tiefes  Versuchsstadium  und  denken  Sie 
scharf  nach!"  Fr.  B. :  „Ich  war  mit  meinem  Mann  zusammen,  habe  auch  genau 
Weg  und  Brücke  gesehen."  Dr.  V. :  ,;Wie  lebhaft  im  Vergleich  zum  letzten  Mal?" 
Fr.  B. :  „Entsinne  mich  dessen  noch  nicht."  Dr.  V.:  „Denken  Sie  scharf  nach." 
Fr.  B. :  „Es  scheint  mir  ebenso  lebhaft  als  das  letzte  Mal,  vielleicht  noch  etwas 
lebhafter.  Ich  fuhr  dann  geradeaus  auf  die  rechte  Wegseite,  erinnere  mich  nur 
sehr  schwach,  die  Suggestionen  gehört  zu  haben."  Dr.  V.:  „Wie  war  die  Kritik?" 
Fr.  B. :  „Es  war  vollständiger  Kritikmangel  vorhanden.  Den  Kreis  machte  ich  nicht 
wie  vorher,  links  herum,  sondern  rechts  herum.  Dabei  kam  mir  die  Reflexion,  dass  ich 
auf  diese  Weise  in  die  Wiese  gelangen  würde,  aber  ich  sah  gleich  darauf,  dass  es 
mir  doch  gelungen  war.  Als  ich  abstieg,  habe  ich,  wie  ich  mich  jetzt  entsinne,  die 
Bewegung  mit  dem  Körper  angedeutet.  Auch  glaube  ich  im  Traum  genickt  zu 
haben,  wobei  mir  die  Idee  kam,  dies  würde  notirt.  Sonstiger  Bewegungen  bin  ich 
mir  nicht  bewusst."  Dr.  V. :  „Noch  tiefer  in  das  Versuchsstadium  hineinkommen." 
Fr.  B. :  „Ich  habe  noch  mit  der  rechten  Hand  eine  Bewegung  gemacht,  wobei  ich 
die  Idee  hatte,  dass  ich  nicht  ganz  herumkommen  könne.  Dabei  kam  mir  noch 
die  Idee,  dass  es  nur  ein  Traum  sei.  Im  Anfang  machte  ich  Beinbewegungen,  bei 
denen  ich  das  Gefühl  der  Anstrengung  hatte.  Ich  hatte  überhaupt  mehr  Tendenz 
zur  Bewegung.** 

9.  Versuch: 

Dr.  V.:  „Ganz  tief  schlafen,  immer  tiefer."  —  Katalepsie  fehlt. 

Dr.  V.:  „Jetzt  werden  Sie  träumen:  Sie  fahren  mit  Ihrem  Mann  Velociped 
ins  Rosenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  gerade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt,  1,  2,  3." 

Während  der  ersten  drei  Suggestionen  sehr  lebhafte  Mitbewegungen  von  Arm 
und  Beinen.  Die  Bewegungen  finden  in  der  dritten  Suggestion  durch  eine  heftigere 
Körperbewegung  Ihren  Abschluss.  Dr.  V.:  „Wie  ist  es  gewesen?"  Fr.  B.  sinnt 
längere  Zeit  nach  und  sagt  dann:  „Ich  habe  mit  dem  rechten  Fuss  eine  Kreis- 
bewegung gemacht.  Ich  hatte,  als  ich  erwachte,  eine  entsprechende  Empfindung  im 
Foss,  wodurch  ich  daran  erinnert  wurde.     Das  ist  Alles,  was  ich  noch  weiss." 

Versuchsstadium: 

Fr.  B. :  .„Es  machte  mir  anfangs  Spass,  meinem  Manne  voran  zu  fahren.  Dabei 
muss  ich  gelacht  haben,  weiss  mich  dessen  aber  nicht  zu  entsinnen."  Dr.  V. :  „Sich 
noch  tiefer  ins  Versuchsstadium  versetzen!"  Fr.  B. :  „Ich  weiss  es  nicht  sicher." 
Dr.  V.:  „Wie  ging  es  nun  weiter?"  „Ich  fuhr  sehr  rasch  auf  die  rechte  Wegseite, 
und  weil  ich  sehr  rasch  vorwärts  kam,  machte  ich  den  Kreis  sehr  früh,  und  weil 
ich   dabei  Angst  hatte,  vom  Wege  abzukommen,  so  machte  ich  eine  anstrengende 


]40  ^^^  Straateo. 

Bewegung,  die  ich  auch  in  Wirklichkeit  mit  dem  Körper  zum  Ausdruck  gebracht 
habe.  —  Sprang  dann  ab.  zu  sehen,  wo  mein  Mann  geblieben  war. 

Im  tiefen  Schlaf  habe  ich  Sie  wohl  noch  sprechen  hören,  aber  ich  weiss  nicht, 
was  Sie  gesprochen  haben."  Dr.  V.:  „Wissen  Sie,  wodurch  der  Traum  entstanden 
ist?"  Fr.  B.:  „Ich  habe  wohl  noch  die  erste  Suggestion  gehört  und  verstanden, 
von  da  ab  habe  ich  ohne  Bevnisstwerden  ihrer  Suggestionen  weiter  getriiamt.  Der 
Traum  spielte  sich  rascher  ab,  als  Ihre  Suggestionen.  Ich  war  schon  abgestiegen, 
da  hörte  ich  noch  Ihre  beiden  letzten  Suggestionen,  aber  Sie  machten  auf  mich 
gar  keinen  Eindruck.    Sie  riefen  bei  mir  nichts  hervor. 

10.  Versuch. 

Dr.  y.:  „Noch  tiefer  einschlafen,  als  das  letzte  Mal.  Noch  immer  tiefer.^  — 
(Atonie.) 

Dr.  V.:  „Jetzt  werden  Sie  träumen:  Sie  fahren  mit  Ihrem  Mann  Velociped 
ins  Rosenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  grade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt,  1,  2,  3.*' 

Während  der  ersten  3  Suggestionen  geringe  Mitbewegung  mit  dem   Fuste. 

Dr.  V.:  „Wie  war  es  diesmal?" 

Fr.  B.:  „Ich  weiss  nichts.    Es  besteht  vollkommene  Amnesie.^' 

Versuchsstadium: 

Fr.  B. :  ,,Die  Traumbilder  waren  nur  im  Anfang  noch  lebhaft.  Gegen  Ende 
nahmen  Sie  an  Lebhaftigkeit  ab.  Es  bestand  nur  noch  Kritik  im  Anfang.  Die  Bilder 
waren  nicht  zusammenhängend.  3Iit  den  gegebenen  Suggestionen  tauchten  sie  auf 
und  verschwanden  wieder.  Am  Ende  träumte  ich,  ich  sei  abgefallen,  und  als  ich 
Ihre  Suggestionen  des  Absteigens  hörte,  da  wurde  mir  das  falsche  derselben  im 
Verhältniss  zu  meiner  Situation  bewusst.*' 

11.  Versuch. 

Dr.  V.:  „Nun  ganz  tief  hineinkommen.     Immer  tiefer."  —  Atonie. 

Dr.  V.:  „Jetzt  werden  Sie  träumen:  Sie  fahren  mit  Ihrem  Mann  Velociped 
ins  Rosenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  gerade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum.  — 
.Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt,  1,  2,  3."  Erst 
nach  wiederholtem  1,  2,  3  Erwachen.     Keine  Bewegungen. 

Dr.  V.:  „Wie  war  es." 

Fr.  B.  nach  einigem  angestrengten  Nachdenken :  „Es  besteht  absolute  Amnesie." 

Versuchsstadium. 

Dr.  V.:  „Wie  war  der  Schlaf?«  Fr.  B.:  „Noch  tiefer,  als  das  letzte  Mal." 
Dr.  V.:  „Habe  ich  Ihnen  Suggestionen  gegeben?"  Fr.  B.:  „Ich  vermuthe  es.  Ich 
mu88  noch  tiefer  ins  Versuchsstadium  hineinkommen.  Als  Sie  meine  Hand  er^ 
griffen  (zum  Feststellen  des  Muskeltonus)  träumte  ich,  mein  Hund  hätte  mich  ge- 
bissen. Dadurch  wurde  ich  etwas  aufgeweckt.  Ich  schlief  aber  gleich  wieder  ein. 
Von  Ihrer  ersten  Suggestion  hat  sich  nichts  realisirt.  Ihre  Suggestion  störte  mich 
nur,  ich  erfasstc  sie  nicht.  Die  zweite  Suggestion  realisirte  sich  insofern  nicht,  al« 
ich  mit  meinem  3Iann  Arm  in  Arm  ging.  Bei  der  folgenden  Sugg;estion  wichen 
wir  einem  Wagen  aus,  indem  wir  rechts  gingen.  Bei  der  nächsten  Suggestion 
machte  mein  Hund  auf  dem  Wege  einen  Kreis.  Die  Traumbilder  hatten  an  Leb- 
haftigkeit eingebüsst.    Kritik  fehlte  vollständig." 

12.  Versuch. 

Dr.  V. :  „Jetzt  ganz  tief  hineinkommen,  tief  schlafen."  —  Atonie. 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  141 

Dr.  V.:  „Jetzt  werden  Sie  träumen:  Sie  fahren  mit  Ihrem  Mann  Velociped 
ins  Rosenthal.  —  Jetzt  fahren  Sie  grade  aus.  —  Jetzt  biegen  Sie  rechts  herum.  — 
Jetzt  machen  Sie  einen  Kreis.  —  Jetzt  steigen  Sie  ab.  —  Halt,  1,  2,  3.  —  1,  2,  3." 
Es  ist  eine  etwa  zehnfache  Wiederholung  von  1,  2,  3  nöthig,  bevor  ein  Erwachen 
auftritt.  Keine  Ausdrucksbewegungen,  —  Rapportverhältniss  aufjg^ehoben.  Erst 
nach  wiederholtem  Anrufen  öffnet  Fr.  B.  die  Augen  und  ist  wach. 

Dr.  V.:  „Nun,  haben  Sie  was  geträumt?" 

Fr.  B. :  „Ich  kann  mich  dessen  nicht  entsinnen.  Ich  habe  fest  geschlafen,  be- 
sonders gegen  Schluss.'* 

Versuchsstadium: 

Fr.  B. :  „Ich  habe  sprechen  hören,  habe  aber  nicht  auf  die  Worte  gehört,  sie 
^aren  mir  lästig."  Dr.  V.:  „Wussten  Sie,  dass  ich  die  Worte  sprach?"  Fr.  B.: 
„Ich  war  mir  nicht  klar  darüber."  Dr.  V. :  „Hatten  Sie  noch  Kritik  meinen  Worten 
gegenüber?"  Fr.  B.:  „Während  ich  das  vorletzte  Mal  noch  wenige  Worte  capirt 
und  gut  aufgefasst  habe,  war  es  hier  nur  das  Wort  Velociped,  wobei  ich  mir  ein 
Dreirad  vorstellte.    Träume  habe  ich  nicht  gehabt." 

Wir  haben  eine  Reihe  von  12  Versuchen  vor  uns,  bei  denen  von 
3Ial  zu  Mal  der  Schlaf  an  Tiefe  zugenommen  hat.  Bei  den  letzten 
W^ersuchen  11  und  12  war  das  Erwecken  direct  erschwert.  Bei  dem 
5.  Versuche  begannen  Ausdrucksbewegungen,  zu  denen  sich  im  6.  Ver- 
suche Mitbewegungen  hinzugesellten.  Im  9.  Versuche  zeigten  diese 
Bewegungen  ihren  Gipfelpunkt,  um  im  10.  Versuche  bereits  wieder 
schwächer  aufzutreten,  und  im  11.  zu  verschwinden.  Im  6.  Versuche 
zeigt  sich  im  ausgeprägten  Maasse  bereits  eine  Amnesie.  In  der  9. 
Hypnose  existirt  für  das  Traumbild  eine  vollständige  Amnesie.  Es  ist 
nur  der  zufällige  Umstand  einer  Nachempfindung  im  rechten  Fuss,  der 
die  Portexistenz  eines  ganz  isolirten  Erinnerungsbildes  bedingt.  Für 
die  späteren  Hypnosen  herrscht  eine  vollständige  Amnesie.  Aus  den 
Wibjectiven  Angaben  der  Versuchsperson  ergiebt  sich,  wenn  wir  die  des 
Wachbewusstseins  und  die  des  eingeengten  Bewusstseins  vereinigen,  dass 
die  Suggestionen  bis  gegen  die  9.  Hypnose  hin  immer  intensivere 
Wirkungen  ausgelöst  haben,  um  in  der  9.  Hypnose  ihre  höchste  Intensität 
zu  erreichen.  Von  da  an  lässt  die  Intensität  der  suggestiven  Folge- 
wirkung nach,  um  in  dem  12.  Versuche  vollständig  zu  erlöschen.  Da- 
bei ist  zu  constatiren,  dass  parallel  der  Zunahme  der  Intensität  des 
Traumes  bis  zur  9.  Hypnose  die  Kritik  abnimmt,  dass  also  jenes  Wechsel- 
verhältniss  zwischen  Intensität  einer  Bewusstseinserscheinung  und  Mangel 
der  Kritik  ihr  gegenüber  besteht,  worauf  O.Vogt  bereits  in  ForeTs 
Hypnotismus  ^)   aufmerksam   gemacht   hat.     Wir  wollen   auf  die   theo- 

*)  Forel,  Hypnotismus.  3.  Aufl..  pag.  122. 


142  ^^^  Straaten. 

retische  Deutung  in  unserem  Zusammenhange  nicht  eingehen ,  da  wir 
hier  empirische  Fragen  im  Auge  haben.  Von  der  10.  Hypnose  an 
nimmt  nun  etwa  nicht  die  Krftik  wieder  zu,  sondern  trotz  weiterhin 
brachliegender  Ejritik  zeigt  die  Intensität  der  suggestiven  Folgewirkung 
eine  sich  vermehrende  Abnahme.  Es  handelt  sich  um  die  Ausbildung 
eines  allgemeinen  Schlafes,  indem  ein  beliebig  partielles  Wecken  durch 
die  Worte  des  Experimentators  nicht  mehr  möglich  ist,  wie  auch  das 
allgemeine  Wecken  erschwert  ist,  mit  anderen  Worten,  die  Schlaf  hemmung 
hat  so  zugenommen,  dass  auch  das  Rapportverhältniss  dadurch  gestört 
worden  ist. 

Wir  kommen  so  zu  dem  Resultat,  dass  die  momentane  Einwirkung 
von  Suggestionen  dann  am   intensivsten  ist,  wenn   die  Schlafhemmnng 
bei   erhaltenem  Rapportverhältniss   die  grösste  Tiefe  erreicht  hat,  das 
heisst,  wenn  wir  den  Zustand  erzielt  haben,  den  O.  Vogt  stets  als  den 
tiefsten  Grad  der  Hypnose  bezeichnet  hat.    Bei  dem  9.  Versuch  sehen 
wir  diesen  Zustand  erreicht.    Die  jenseits  dieses  Versuches  auftretenden 
Schlafhemmungen  entfernen  sich  in  ihrem  Charakter  insofern  von  diesem 
Zustande  der  tiefsten  Hypnose,   als  unter  dem  Einflüsse   noch   allge- 
meinerer Schlafheinmung  das  Rapportverhältniss  Noth  leidet,  das  heisst 
ein  dem  tiefen  Nachtschlaf  entsprechender  Zustand  geschaffen  ist.    Wer 
diesen  Zustand  für  die  tiefste  Hypnose  hält,   der  mag  freilich  für  die 
Ueberlegenheit   der    oberflächlicheren  Stadien   eintreten.     Aber  wie  ist 
es  möglich,  dort  noch  von  Hypnose  zu  reden,  wo  wir  einen  dem  tiefen 
Nachtschlaf  entsprechenden  Zustand  geschaffen  haben.? 

Wir  mochten  noch  auf  einen  Punkt  aufmerksam  machen.  Wir 
haben  gleichzeitig  bei  jedem  Versuch  der  Hypnose  den  Grad  der  Kata- 
lepsie festgestellt.  Wie  O.  V  o  g  t  in  einer  anderen  Arbeit  nachgewiesen 
hat,  zeigt  die  Zunahme  des  Muskeltonus  und  der  Uebergang  in  die 
Atonie  eine  ähnliche»  Curve  wie  die  Zunahme  und  weiterhin  die  Ab- 
nahme der  Suggestibilität  bei  Vertiefung  der  Schlafhemmung.  ^)  Diese 
Curve  lässt  sich  auch  hier  nachweisen.  Bereits  im  Versuche  3  ist  eine 
leichte  Katalepsie»  vorhanden.  Diese  nimmt  bei  Versuch  4  an  Intensität 
zu.  steigert  sich  noch  in  Versuch  5;  sie  steigert  sich  noch  weiter,  um 
in  Versuch  7  bereits  wieder  abzunehmen.  In  Versuch  9  ist  sie  bereits 
nicht  mehr  nachweisbar.  In  diesem  Falle  blieb  also  die  Erregbarkeit 
für  Worte  länger  erhalten  als  die  durch  den  Muskelsinn.  In  anderen 
Fällen  beobaclitet  man  das  Ciegentheil.     Bei  allen  derartigen  zeitlichen 


'j  Teber  die  Xatiir  der  suggerirten  Anästhesie,  Bd.  VII.  p.  338. 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  143 

Differenzen  muas  ein  der  Snggestibilität  analoges  Verhältniss  der  Kata- 
lepsie gegenüber  der  zunehmenden  Schlaftiefe  festgehalten  werden. 

Es  ist  dies  eine  praktisch  wichtige  Thatsache,  weil  wir  aus  dem 
Muskeltonus  ungefähr  auf  die  Tiefe  der  Schlafhemmung  schliessen 
können. 

Es  handelt  sich  selbstverständlich  in  diesen  Fällen  um  die  soge- 
nannte passive  Katalepsie,  dass  heisst,  um  eine  Katalepsie,  die  nicht 
etwa  durch  eine  entsprechende  Zielvorstellung  hervorgerufen  wird. 

Schliesslich  wollen  wir  noch  bemerken,  dass  der  gewisse  Grad  der 
Emancipation  von  den  Suggestionen,  wie  er  im  9.  Versuch  vorliegt, 
durchaus  atypisch  ist  und  nichts  Characteristisches  enthält.  Wir  haben 
Parallelversuche  vorgenommen,  wo  bei  einem  entsprechenden  Grade 
von  Schlaf hemmung  der  Traum  sich  vollständig  entsprechend  den 
Suggestionen  in  stärkster  Intensität  realisirte,  und  hinterher  eine  voll- 
ständige Amnesie  existirte.  Wir  hatten  aber  bereits  im  Voraus  die 
vorstehende  Versuchsreihe  zur  Veröffentlichung  bestimmt  und  haben 
auch  daran  festgehalten,  um  zu  zeigen,  wie  sehr  wir  entfernt  sind,  unsere 
Resultate  zu  schematisiren. 

II.  Versuchsreihe. 

Fr.  B.  liegt  auf  einer  Chaiselongue  ausgestreckt.  Dr»  V.  reicht  ihr  einen  Teller 
mit  einem  Stück  einer  Ananasfrucht.  Das  Riechen  der  Ananas  ruft  bei  Fr.  B. 
einen  grossen  Appetit  hervor,  und  ein  sehr  starkes  angenehmes  und  ausgesprochen 
heiteres  Gefühl. 

1.  Versuch. 

Fr.  ß^  wird  aufgefordert,  die  Augen  zu  schliessen,  aber  ganz  wach  zu  bleiben. 
Dr.  V. :  „Stellen  Sie  sich  vor,  dass  eine  Spinne  (ein  der  Fr.  B.  sehr  unangenehmes 
Thier)  über  die  Ananas  läuft."  —  Ananas  wird  zum  Riechen  vorgehalten.  —  Fr.  B. : 
„Der  Appetit  und  das  heitere  Gefühl  haben  nicht  gelitten.  Das  angenehme  Gefühl 
ist  weniger  stark  ausgeprägt.**  Dr.  V.:  „Wie  lebhaft  war  die  Vorstellung?'*  Fr.  B.; 
„Nicht  etwa  sinnlich  lebhaft,  ohne  Farben,  aber  doch  so  lebhaft,  dass  sie  von  un- 
angenehmen Organempfindungen  begleitet  war.** 

2.  Versuch. 

Fr.  B.  versetzt  sich  in  einen  oberflächlichen  Schlaf. 

Dr.  V.:  „Jetzt  träumen  Sie,  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  läuft."  Halt, 
1,  2,  3.  —  Ananas  wird  zum  Riechen  vorgehalten.  Fr.  B.:  „Bin  so  gut  wie  gar 
nicht  beeiuflusst.  Das  Verlangen  nach  der  Ananas  ist  das  gleiche.  Das  angenehme 
Gefühl  war  etwas  geringer,  wie  beim  allerersten  Mal."  Dr.  V.:  .,Wic  war  Ihr  Zu- 
stand?" Fr.  B.:  „Es  war  ein  leichter  Schlummer."  Dr.  V.:  „War  die  Lebhaftig- 
keit der  Vorstellung  grösser  als  das  letzte  Mal  ?**  Fr.  B. :  ..Die  Vorstellung  war 
nt«nsiver."  Fr.  B.  hat  die  Idee,  dass  die  Wiederholung  desselben  Traumes  er- 
müdend wirken  und  der  Traum  weniger  lebhaft  auftreten  würde. 


144  ^1^  Straaten. 

Wiederholung  des  Versuchs.  Dr.  V.  bittet  Fr.  B.  sich  in  denaalbeii  leichteo 
Schlummerzustaud  zu  versetzen,  und  suggerirt  das  Schwinden  dieser  störenden  Ideei 

Dr.  V.:  ffJetzt  werden  Sie  träumen,  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  l&nft.* 
Halt,  1,  2,  3.**    Ananas  zum  Riechen  yorgehalten. 

Fr.  B.:  „Der  Appetit  hat  sich  etwas  Terringert,  das  angenehme  Gefühl  ist 
etwas  geringer,  etwa  wie  beim  Augenschluss  im  wachen  Zustand.  Das  heitece 
Gefühl  hat  einem  deprimirenden  Gefühl  Platz  gemacht.'*  Dr.  V.:  n^i^  ^^i*  ^ 
Traum?**  Fr.  B.:  „Die  Ananas  war  schwach  sinnlich  lebhaft.  Die  Spinne  nicht 
sie  war  rein  vorgestellt.  Die  Emptindung  des  Ekels,  besonders  in  der  Ma^ngegend, 
stärker  ausgesprochen.  Der  Traum  war  noch  nicht  passiv.  Die  Kritik  rerior  ich 
nur  in  dem  Momente,  wo  ich  mir  die  Spinne  über  die  Ananas  laufend  Tarstellt& 
Die  auftretenden  Organempfindungren  gat>en  mir  die  Idee,  daas  es  in  Wirklidikeit 
nicht  der  Fall  war.** 

3.  Versuch. 

Fr.  B.  wird  aufgefordert  sich  in  ein  etwas  tieferes  Schlafrtadhun  za  versetiea. 

Dr.  V. :  ..Jetzt  werden  Sie  träumen,  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  laufte'' 

Fr.  B.  unterbricht  den  Versuch:  .Jch  wurde  durch  die  Furcht  gestört,  daü 
der  Versuch  nicht  gelingen  würde.  Ich  war  ängstlich,  dass  der  Traum  cn  afieci- 
betont  »ein.  durch  diese  AfTectbetonung  die  Schlafhemmnng  sich  stei^m  und  so 
das  oberflächliche  Schlafstadium  in  eine  tiefe  Schlafhemmong  üb^igefahrt  werden 
würde.** 

Dr.  V.  fordert  nun  Fr.  B.  auf.  sich  noch  einmal  in  das  gewünschte  ScblaMadium 
zu  versetzen. 

Dr.  V.:  ..Jetzt  wenlen  Sie  träumen,  dass  ül>er  die  Ananas  eine  Spinne  läuft. 
Halt.  1.  2,  3.*     Ananas  zum  Riechen  vorgehalten. 

Fr.  B. :  ..IVr  Appetit  ist  noch  mehr  beeinträchtigt.  Die  Verstimmung  bt  noch 
stärker,  das  angenehme  Gefühl  hat  noch  mehr  gelitten.  Die  Schlsifhemmung  war 
gn*»iisor  als  die  erste.  Die  TraumTor«tellung  war  mehr  piassiv.  Die  Vorstellung  der 
Spinne  war  siunlioh  lebhafter  als  die  der  Ananas.  IMe  Spinne  sah  ich  an  der 
Ananas  saugen.  Farben  unterschied  ich  nicht,  ich  sah  Alles  grau  in  grau.  Ich  hatte 
meine  Situation  vergessen,  und  war  auch  nicht  von  der  Vorstellang  beherrsch^ 
dass  es  ein  su^rirerirter  Traum  war.** 

4.  Versuch. 

Fr.  B.  versetz:  sich  in  einen  noch  tieferen  Schla&nstand. 

Dr.  V.:  ..Jetzt  träumen  Sie.  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  läuft.  Halt 
1.  3.  3  •• 

Ausarucksbeweeung-  des  Ekels  während  der  Sugg>«tion.  Ananas  znm  Kiechea 
vor^haltec. 

Fr.  B.:  .IVr  Appeti:  nivh  stärker  herabgesetzt,  nur  noch  Veriangen,  die 
An."!!!!.«  z'.i  rusrhen.  dal-e:  a-.vh  ein  angenehmes  GefuLL  aber  mit  Orgmnempfinduugeo 
des  Ekels  verbiinderi. 

D:e  Traum\-"'r«ie'.;unir  war  lebhafter.  Ich  unterschied  noch  keine  Farben,  aber 
die  7sv:ch:i'^zic  derlTeirenstände  :ra:  deutlicher  hrnr.>r.  Jedoch  ist  die  Vorstellaog 
der  Sr:::r.e  n  .h  nioh:  <:•  lebhaft,  dass  ich  sie  klastsincir^Ki  könnte.  Die  Traom- 
V  rste'lur.i:  \\ar  :ü*<:ver  wie  ..ia«  >tj:e  Mal"  Dr.  V.;  _Hat«en  Sie  ßewegUDgea 
joiv.a.^l.:  —     Fr    i>. .    ..Ich  i:".aul»e  keine  Äremaoht  lu  h*i«e=-      Fr.  BL  bittet,  sich  im 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  145 

Versuchastadium  versetzen  zu  dürfen).  Fr.  B. :  „Ich  habe  den  Mund  verzogen  und 
die  Stirn  gerunzelt.** 

6.  Versuch. 

Tieferes  Schlafstadium. 

Dr.  V.:  pjetzt  träumen  Sie,  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  läuft.  Halt, 
1,  2,  3.** 

Ausdrucksbewegung  des  Ekels  im  Gesicht.  Abwehrbewegung  mit  dem  rechten 
Arm  und  Ausweichbewegung  mit  dem  ganzen  Körper. 

Ananas  zum  Riechen  vorgehalten. 

Fr.  ß.  verspürt  eine  directe  Neigung  zum  Erbrechen.  Würgbewegungen  treten 
auf.  Verstimmung  stärker.  Der  süssliche  Greruch  der  Ananas  verursacht  noch  ein 
angenehmes  Gefühl,  wenn  Fr.  B.  denselben  von  der  Vorstellung  der  Ananas  trennt. 
Fr.  B. :  „Sobald  ich  aber  den  Geruch  mit  der  Vorstellung  der  Ananas  vereinige, 
ist  mir  der  Geruch  der  Ananas  unangenehm.**  Dr.  V. :  „Hatten  Sie  dabei  eine  Zwischen- 
vorstellung?** Fr.  B. :  „Ich  vermuthe,  dass  eine  vorhanden  war,  weiss  sie  aber  nicht.'* 
Fr.  B.  versetzt  sich  in  das  Versuchsstadium.  Sie  findet  gleich,  dass  es  die  Vorstellung 
der  Spinne  war,  die  sie  mit  der  Vorstellung  der  Ananas  verband,  und  zwar  speciell  in 
der  Situation  des  vorhergegangenen  Traumes.  Ein  Corrigiren  dieses  Erinnerungs- 
bildes ruft  in  ihr  die  ursprüngliche  Gefühlsbetonung  gegenüber  der  Ananas  hervor. 

Der  Schlaf  war  tiefer  als  das  letzte  Mal.  Der  Traum  war  von  einer  grösseren 
•Lebhaftigkeit.  Fr.  B.  hatte  die  Situation  fast  ganz  vergessen,  hat  den- Traum  zeit- 
weilig für  wahr  gehalten.  Das  Bild  war  noch  deutlicher,  entbehrte  aber,  soweit  sie 
sich  im  wachen  Zustande  erinnern  kann,  der  Farben.  Sie  ist  sich  bewusst,  mit  dem 
Arm  eine  Bewegung  ausgeführt  zn  haben,  wurde  dabei  etwas  wacher,  hatte  dabei 
für  einen  Moment  eine  Vorstellimg  von  ihrer  gegenwärtigen  Situation.  Die  In- 
tensität der  Organempfindungen  war  grösser.  Fr.  B.  hat  seit  dem  letzten  Traum 
einen  leichten  Kopfschmerz. 

Versuchsstadium: 

Fr.  B.  hat  im  Anschluss  an  die  Suggestion  eine  detaillirte  Situation  gesehen. 
Sie  sah  die  Spinne  auf  der  Ananas,  diese  auf  einem  Teller,  der  auf  einem  Thee- 
brett  stand.  Das  Theebrett  stand  auf  einem  Tisch  des  Arbeitszimmers,  unter  dem 
Kronleuchter.  Sie  fährt  fort:  „Ich  sollte  nun  hmgehen,  den  Teller  fortzunehmen, 
und  machte  eine  Abwehrbewegung  mit  dem  Arm.  Die  Farben  besassen  noch  nicht 
die  Intensität  der  Wirklichkeit,  aber  die  Farbe  der  Spinne  war  mir  lebhafter  als 
die  Form.  Mit  der  Abwehrbewegung  war  auch  eine  starke  Ausdrucksbewegung 
im  Gesicht  verbunden.** 

6.  Versuch. 

Dr.  V. :  „Versetzen  Sie  Sich  in  ein  noch  tieferes  Schlafstadium.  Immer  tiefer 
hineinkommen  etc.  —  Sie  träumen  jetzt,  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  läuft. 
Halt,  1,  2,  3  ** 

Sehr  starke  Ausdrucksbewegung  des  Abscheus,  Andeutung  einer  fliehenden 
Bewegung. 

Ananas  wird  zum  Kiechen  vorgehalten.  Es  besteht  gänzlicher  Appetitmangel. 
Fr.  B.  empfindet  einen  ausgesprochenen  Ekel  vor  der  Ananas,  ist  sehr  stark  ver- 
stimmt. Der  Geruch  von  der  Ananas  getrennt  ist  schwach  unangenehm.  Zwischen- 
Vorstellung  zwischen  dem  Geruch  und  der  Ananas  kommen  ihr  nicht  zum  Bewusstsein. 
Im  Versuchsstadium  kommen  ihr  als  Zwischenvorstellungen  zwischen  Geruch 
Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    IX.  10 


146  ▼^n  Straaten. 

und  Ekel  die  Ananas  und  die  Spinne  zum  Bewusstsein.  Die  VonteUang  der 
Ananas  trennt  sie  nicht  mehr  von  der  Spinne. 

£&  besteht  starker  Kopfschmerz.  Von  dem  Traum  hat  Fe  B.  im  wachen  Zu- 
stand keine  Erinnerung.     Die  Schlaftiefe  war  grösser  als  daa  Torige  MmL 

Versuchsstadium: 

Fr.  £. :  ,,Der  Traum  war  sinnlich  lebhaft.  Die  Situation  war  mnalog*  der  in 
vorhergehenden  Traum.  Die  Farben  waren  noch  lebhafter.  Ich  habe  den  Tramn 
noch  weiter  gesponnen.  Ich  wollte  mich  zwingen,  den  Teller  wegzunehmen.  Die 
Spinne  kam  auf  mich  zu,  wobei  ich  dann  eine  Abwehrbewegimg  machte.  Zogldch 
hatte  ich  ein  ausgesprochenes  Angstgefühl  Die  Gestalt  der  Spinne  war  ganz 
deutlich.    Der  Kopfschmerz  hat  jetzt  etwas  nachgelassen.*' 

7.  Versuch. 

Dr.  V.:  ,,Schön  tief  hineinkommen,  immer  noch  tiefer  schlafen.  —  Jetzt 
träumen  Sie:  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  läuft  —  Halt,  1.  2,  3.** 

Geringe  Ausdrucksbewegungen.    Ananas  zum  Kiechen  vorgetetzt. 

Fr.  B. :  ,,Das  Kiechen  giebt  mir  ein  schwach  angenehmes  GefuhL  Essen  mochte 
ich  die  Frucht  nicht.  3Ieine  Stimmung  ist  eine  gleichgültige.  Bin  weder  heiter 
noch  verstimmt.**  Dr.  V.:  ,,Haben  Sie  nicht  geträumt?**  Fr.  B.:  ,.Ich  entsinne 
mich  nicht.** 

Versuchsstadium: 

Fr.  B. :  „Ich  habe  noch  tiefer  geschlafen  als  das  letzte  MaL  Die  Tranm- 
vorstellung  war  weniger  intensiv.  Schwach  sinnlich  lebhaft.  Keine  Farbe.  Wenig 
Bewegung.  Situation  weniger  complex.  Die  Traumbilder  tauchten  nur  für  einen 
Moment  auf,  imd  waren  unzusammenhängend,  hielten  mich  nicht  gefangen.  Die 
Ekeleropfindung  war  sehr  schwach.  Ich  spürte  eine  geringe  Contraction  der  Ge- 
sichtsmusculatur. 

8.  Versuch. 

Dr.  V.:  .,Nun  sehr  tief  einschlafen.  Noch  immer  tiefer  hineinkommen,  noch 
immer  mehr.  —  Sic  träumen  jetzt,  dass  über  die  Ananas  eine  Spinne  läuft.  Halt, 
1,  2,  3." 

Keine  Ausdrucksbewegungen.     Ananas  zum  Riechen  vorgehalten. 

Fr.  B. :  „Geruch  ist  mir  direct  angenehm.  Ich  habe  Appetit,  die  Ananas  zo 
essen.  Geringe  Heiterkeit  vorhanden.  Dr.  V.:  ..Haben  Sie  geträumt?**  Fr.  B.: 
„Nein,  ich  entsinne  mich  nicht.** 

Versuchsstadium: 

Fr.  B. :  j.Der  Schlaf  war  tief.  Ich  habe  nur  die  Wörter  Ananas  und  Spinne 
gehört,  aber  diese  \V("»rtor  haben  kein  Traumbild  ausgelöst.  Von  der  Spinne  habe 
ich  nur  einen  Schatten  gesehen,  aber  nicht  mit  der  Ananas  combinirt.  Bei  dem 
Wort  Ananas  sah  ich  eine  ^^anzc  Ananas.  £ine  Organompfindung  des  £kels  wurde 
nicht  ausgelöst. 

Dit!  zwtnte  Versuchsreihe  zeigt  im  VVesentlicheo  dieselben  Verhält- 
nisse, wie  die  erste.  Wir  sehen  bis  zum  Schluss  zunehmende  Vertiefung 
des  Zustandes.  Bei  dem  4.  Versuch  beginnen  Ausdrucksbewegungen, 
die  im  6.  \>rsuch  ihren  Gipfelpunkt  erreichen,  im  7.  Versuch  noch 
angedeutet  sind ;   und    im   8.  Versuch  fehlen.     Die  Amnesie  ist  im  6. 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  147 

'  Versuche  partiell  yorhanden ,  und  ist  seit  dem  6.  Versuch  eine  voll- 
ständige. Die  Lebhaftigkeit  der  ausgelösten  Traumbilder  nimmt  bis 
zum  6.  Versuch  zu,  erreicht  hier  ihren  Gipfelpunkt ,  um  im  8.  Ver- 
such einen  ToUständigen  Nullpunkt  zu  erreichen.  Der  bis  zum  6.  V^- 
snch  zunehmende  Mangel  an  Kritik  gegenüber  den  Traumbildern  liess 
nicht  etwa  bei  den  weiteren  Versuchen  nach.  Es  handelt  sich  also  bis 
zum  6.  Versuch  um  Vertiefung  des  Schlafzustandes  bei  erhaltenem 
üapportverhältniss,  von  da  an  unter  gleichzeitigem  Verlust  des  Bapport- 
verhältnisses. 

Was  nun  die  Nachwirkung  dieses  affectbetonten  Traumes  anbe- 
langt;  so  constatiren  wir  hier  eine  vollständige  Proportionalität  zwischen 
der  Intensität  des  Auftretens  und  seiner  Nachwirkung.  Bei  dem  6. 
Versuch,  wo  der  Traum  einerseits  am  lebhaftesten  gewesen  war,  andrer- 
seits im  Wachsein  eine  vollständige  Amnesie  fär  denselben  besteht,  ist 
der  durch  den  Geruch  der  Ananas  ausgelöste  Ekel  am  intensivsten. 

Das  also,  was  schon  aus  theoretischen  Gründen  als  wahrscheinlich 
angesehen  werden  konnte,  ist  auch  empirisch  durch  ein  derartiges  Ex- 
periment bewiesen:  Die  Proportionalität  zwischen  momentaner  In- 
tensität der  Suggestiv  Wirkung  und  der  Dauer  ihrer  Nachwirkung. 
Die  Intensität  einer  Suggestivwirkung  und  damit  also 
auch  die  Nachhaltigkeit  ihrer  Folgewirkung  ist  aber  am 
intensivsten,  wenn  sie  in  dem  Zustand  gegeben  wird, 
den  wir  eben  mit  O.  Vogt  als  tiefste  Hypnose  bezeichnen, 
nämlich  als  tiefsten  Schlaf  bei  erhaltenem  Rapportver- 
hältniss. 

II.  Die  Methodik  zur  Erreichung  der  gewünschten 

Gestalt  der  Hypnose. 

Im  zweiten  Theil  wollen  wir  uns  mit  der  Frage  beschäftigen,  wie 
man  am  besten  eine  möglichst  tiefe  Hypnose  erzielen  kann,  d.  h.  einen 
möglichst  tiefen  Schlaf  mit  Erhaltung  des  Rapportverhältnisses.  Zu 
diesem  Zweck  hat  mich  0.  V  o  g  t  in  verschiedener  Weise  hypnotisirt.  Ich 
lasse  die  einzelnen  Protokolle  wörtlich  folgen,  und  werde  den  einzelnen 
die  epikritischen  Bemerkungen  folgen  lassen.  Die  wörtliche  Aufführung 
der  Protokolle  soll  daneben  den  Zweck  haben,  einen  Einblick  in  O.  Vogt 's 
Methode  zu  gewähren,  die  vor  Allem  auch  deshalb  eine  absolute  Ab- 
hängigkeit der  Ausdehnung  und  der  Tiefe  der  Schlafhemmung  von  den 

Verbalsuggestionen  erstrebt,   weil  man  auf  diese  Weise  in  den  Stand 

10* 


148  ^^^  Straaten. 

gesetzt  wird,  die  für  jeden  eiDzelnen  Fall  gewünschte  Gestaltung  der 
Schlafhemmung  zu  erzielen. 

Gerade  in  diesen  Worten  fasst  O.  V  o  g  t  neuerdings  die  Forderung  zu« 
sammen,  die  er  an  die  hypnotische  Technik  stellt  Er  sucht  die  Mög- 
lichkeit einer  nicht  nur  dem  Individuum,  sondern  auch  den  jedesmaligen 
durch  die  momentane  Bedingungen  geschaffenen  Anfordemngen  des 
Individuums  entsprechenden  Tiefe  und  Ausdehnung  der  Schlafhemmuog 
zu  erstreben.  Diesem  Zweck  kann  natürlich  ausschliesslich  die  Verbal- 
suggestion dienen.  O.  Vogt  ist  deshalb  immer  mehr  noch  von  der 
Anwendung   der  sogenannten  physikalischen  Methode  zurückgegangen. 

Dazu  muss  noch  hervorgehoben  werden,  dass  es  darauf  ankommt, 
dass  nicht  nur  Verbalsuggestionen  gegeben  werden,  die  su^estive 
Folgewirkungen  haben,  sondern  dass  diese  Verbalsuggestionen  von  dem 
zu  hypnotisirenden  so  assimilirt  und  realisirt  werden,  wie  es  dem 
Wunsche  des  Experimentators  entspricht. 

Wir  kommen  nun  zu  den  Experimenten,  die  im  Ganzen  7  Sitzungen 
umfassen : 

1.   Hypnose. 

Verf.  ist  auf  einer  Chaiselongue  bequem  hingestreckt  und  von  einer  dünnen 
Decke  bedeckt.  Neben  Dr.  V.  und  einem  Protokollanten  befindet  sich  Niemand 
im  Zimmer.  Die  einzelnen  Hypnosen  dauerten  1 — 2  Minuten.  Dr.  V.  legt  seine 
rechte  Hand  auf  Verf.'s  Stirn  und  spricht  in  langsamer  Weise  Folgendes:  y,^un 
sehen  Sie  gerade  aus.  —  (ianz  allmählich  werden  Sie  unter  meiner  Hand  eine 
Wärme  fühlen.  —  Die  Wärme  geht  allmählich  auf  die  Augenlider  über.  —  Fahlen 
Sie  schon  etwas?"  Verf.  fühlt  einen  Heiz  an  den  Augen.  —  Dr.  V.:  „Dieser  Reix 
wird  nun  zunehmen  und  führt  zum  Augenschluss.  Sie  fühlen  als  ob  Uinen  die 
Augen  zugedrückt  würden.  —  Sie  werden  ganz  schön  ruhig  werden.  —  Ganz  schön 
ruhig.  —  Die  Augenlider  werden  immer  schwerer,  der  Augenspalt  wird  immer 
enger.  Sie  merken  schon,  wie  der  Augcnspalt  enger  wird,  nicht  wahr?"  —  Verf: 
„Ja."  —  Dr.  V. :  „Immer  enger  wird  der  Augenspalt,  die  Augenlider  werden  von  unten 
nach  oben,  und  von  oben  nach  unten  gezogen.  Es  kommt  eine  behagliche  Ruhe  über 
Sie,  immer  mehr.  Die  Augenlider  werden  sich  immer  mehr  zusammenkrampfen, 
und  der  Widerstand  gegen  den  Augenschluss  schwindet  immer  mehr."  —  Ks  tritt 
Augenschluss  ein.  —  Dr.  V.  fährt  fort :  „Das  nächste  3Ial  werden  Hinen  die  Augen 
nun  noch  schwerer  und  Sie  werden  noch  ruhiger  werden.  Jetzt  zähle  ich  bis  3 
Dann  machen  Sie  die  Augen  wieder  auf.     1  —  2  —  3." 

Verf.  giebt  Folgendes  zu  Protokoll:  „Zunächst  empfand  ich  ein  geringes  Wärme- 
gefühl und  Schwere  in  der  Stirne,  dann  ein  Kitzelgefühl  in  den  Augen.  Ich  be- 
obachtete im  Anschluss  an  Ihre  diesem  Reize  angeknüpfte  Suggestion  eine  Asso* 
ciation  luit  einer  in  Ihrem  Vortrage  gemachten  Bemerkung  über  Ausnutzung  ge- 
wisser subjectiver  Erscheinungen  zur  Erzielung  der  Hypnose.**  —  Dr.  V.:  „Haben 
Sie   vor  dem  Augens(;hluss   etwas   fixirt,   oder  haben  Sie  gleichgültig   vor  sich  hin 


Zur  £j*itik  der  hypnotischen  Technik.  149' 

gesehen?**  —  Verf.:  „Ich  habe  ziemlich  gleichgültig  zur  Decke  geschaut,  ohner 
einen  bestimmten  Punkt  zu  fixiren.  Ich  bemerkte,  wie  mir  die  Decke  allmählich 
undeutlicher  wurde,  und  wie  zu  gleicher  Zeit  die  Empfindung  der  Schwere  in  den 
Augenlidern  auftrat  und  zunahm.  Obwohl  ich  die  Ueberzeugung  hatte,  dass  ich 
die  Augen  noch  offen  halten  konnte,  so  gab  ich  der  Empfindung  der  Schwere  in 
den  Augenlidern  willig  nach  und  schloss  die  Augen. 

Eine  geringe  Unruhe,  die  ich  anfänglich  hatte,  wurde  durch  die  dagegen  ge- 
richteten Suggestionen  aufgehoben.  Es  stellte  sich  das  Gefühl  der  Behaglichkeit 
ein,  was  nach  dem  Lidschluss  stärker  wurde,  und  zugleich  hatte  ich  die  Neigung 
tiefer  zu  athmen."  —  Dr.  V.:  „Wie  stand  es  mit  Ihrer  Indifferenz,  hatten  Sie  ein 
spontanes  Sichgehenlassen  oder  hatten  Sie  noch  ein  ausgeprägtes  Interesse  am  Vor- 
gang?" Verf.:  „Ich  verfolgte  den  Vorgang  mit  Interesse,  verspürte  aber  gegen 
Ende  eine  Abnahme  desselben."  Dr.  V.:  „Wie  würden  Sie  die  Hypnose  nennen?" 
„Ich  würde  sie  einen  oberflächlichen  Schlummerzustand  nennen." 
2.  Hypnose. 

Dr.  V.  legt  seine  Hand  wieder  auf  Verf.s  Stirn  und  giebt  dann  folgende 
Suggestionen:  „Jetzt  werden  Sie  wieder  Wärme  unter  meiner  Hand  fühlen.  — 
„Sehen  Sie,  Ihr  Blick  wird  schon  wieder  trüber,  die  Decke  wird  Ihnen  immer 
verschwommener,  und  nun  wird  die  Wärme  wieder  auf  die  Augenlider  übergehen, 
und  ganz  allmählich  werden  sich  die  Augenlider  mehr  und  mehr  zusammenziehen. 
—  Sie  empfinden  ein  Eitzelgefühl  in  den  Augen,  das  sich  inmier  mehr  verstärkt, 
und  Ihnen  die  Augen  zusammenzieht.  —  Immer  mehr.  —  So  (im  Moment  des 
Augensehlusses),  immer  fester  ziehen  sie  sich  zusammen,  immer  mehr,  und  allmäh* 
lieh  kommt  auch  wieder  eine  behagliche  Kühe  über  Sie;  es  wird  Ihnen  so  wohl, 
80  behaglich.  Sie  kommen  mehr  und  mehr  in  eine  behagliche  Buhe  hinein.  —  Sie 
werden  immer  gleichgültiger,  lassen  Sich  immer  mehr  gehen,  die  Selbstbeobachtung 
hört  immer  mehr  auf,  und  macht  einer  Neigung  zur  Ruhe  Platz.  —  Immer  mehr 
kommen  Sie  in  eine  behagliche  Buhe. .  —  Sie  vergessen  allmählich  Alles,  was  um 
Sie  her  vorgeht,  es  kommt  ein  völliges  Entspannen  des  ganzen  Körpers  über  Sie.  — 
Sie  werden  immer  träger  und  müder.  Immer  weniger  denken  Sie  an  sich,  immer 
mehr  vergessen  Sie  Sich  selbst  und  Sie  werden  immer  ruhiger.  —  Nun  werden  Sie 
Ton  Mal  zu  Mal  tiefer  in  die  Hypnose  kommen.  Immer  tiefer.  —  Nun  zähle  ich 
bis  3.  Dann  wachen  Sie  auf.  1  —  2  —  3." 
Dr.  V.:  „Wie  war  es?" 

Verf.:  „Da  sich  die  erste  Suggestion  der  Wärme  nicht  sofort  realisirte,  trat 
in  mir  die  Vorstellung  auf,  dass  ich  diesmal  nicht  zu  beeinflussen  sei.  Dass  mir 
die  Decke  nicht  verschwommen  erschien,  verstärkte  mich  in  dieser  Meinung.  Als 
ich  aber  einen  Augenblick  nach  erfolgter  Suggestion  nochmals  hinschaute,  sah  ich, 
dass  sich  diese  Suggestion  doch  realisirt  hatte,  und  zugleich  trat  eine  Tendenz  zum 
Augenschluss  ein.  Während  der  Suggestionen  der  Ruhe  und  der  Gleichgültigkeit 
störte  mich  der  Gedanke,  dass  es  nicht  gut  möglich  sei,  sich  selbst  zu  vergessen, 
während  man  sich  beobachten  soll.  Hierauf  folgte  Ihre  Suggestion  von  dem  Ver- 
schwinden der  Selbstbeobachtung.  Diese  Suggestion  machte  durch  den  Umstand, 
dass  sie  gerade  in  diesem  Moment  gegeben  wurde,  einen  tiefen  Eindruck  auf  mich 
und  realisirte  sich  sofort."  Dr.  V.:  „Wie  war  Ihr  Schlummer?  War  er  tiefer  oder 
ebenso  tief,  wie  das  letzte  Mal?"  Verf.:  „Er  war  tiefer."  Dr.  V.:  „Wie  war  es 
mit  dem  Strassenlärm?"     Verf.:  „Ich  erinnere  mich  nicht,   ihn  gehört  zu  haben* 


150  ^^^  8traaten. 

Auch  meiner  Süuation  war  ioh  mir  nicht  mehr  bewnsst.  Yon  der  So^g^stion  an, 
dasa  die  Selbitbeobachtong  schwinden  würde,  war  fiir  Ihre  Worte  leichte  Amnesie 
da.  Der  Gesammtzustand  war  angenehm."  Dr.  V.:  „Wenn  Sie  das  Einschlafen  in 
der  Hypnose  mit  dem  gewöhnlichen  Einschlafen  vergleichen,  beobachteD  Sie  dann 
irgend  einen  Unterschied  zwischen  beiden?"  Verf.:  „Nein,  das  Geföhl  der  behag- 
lichen Ruhe  und  die  Abschwächung  des  Bewusstseins  entspricht  vollständig  dem 
Zustande  beim  gewöhnlichen  Einschlafen." 

3.  Hypnose. 

Dr.  V.  legt  wieder  die  Hand  auf  Verfs  Stirn  und  giebt  folgende  Suggestionen: 
„Jetzt  geht  es  noch  viel  schneller.  Sie  haben  noch  grössere  Tendenz  zum  Augen- 
Bchluss.  Sie  kommen  sehr  schön  zur  Ruhe,  immer  mehr.  Die  Selbstbeobachtung 
lässt  nach.  Jede  störende  Ursache  schwindet.  Sie  kommen  immer  mehr  zur  Rohe 
und  es  kommt  eine  wohlige  Behaglichkeit  über  Sie.  Sie  haben  ganz  das  Gefühl 
des  normalen  Einschlafens.  Sie  kommen  immer  mehr  in  ein  seliges  Sichselbst- 
vergessen und  werden  immer  ruhiger.  Sie  werden  durch  Nichts  gestört  und  dieser 
Zustand  ist  Ihnen  so  angenehm,  so  behaglich.  Sie  konmien  immer  tiefer  hinein, 
immer  tiefer  in  einen  angenehmen  Schlummerzustand.  Nichts  stört  Sie,  Sie  werden 
immer  ruhiger.  Nun  vertieft  sich  ihr  Zustand  das  nächste  Mal  noch  mehr.  Nun 
zähle  ich  bis  3,  dann  machen  Sie  die  Augen  auf.    1  —  2  —  3." 

Dr.  V.:  „Wie  war  es?"  Verf.:  „Gleich  nach  Augenschluss  trat  die  Vorstellmig 
meiner  Situation  und  der  Umgebung  auf.  Besonders  lebhaft  war  mir  das  Bild  von 
Fr.  B.,  wie  sie  am  Tische  sitzend  Aufzeichnungen  machte.  Ich  glaube,  dass  meine 
Aufmerksamkeit  deshalb  auf  Er.  B.  gelenkt  wurde,  weil  ich  das  Eratzen  ihrer  Feder 
hörte."  Dr.  V.:  „Wie  war  es  mit  dem  Strassenlärm?"  „Meine  Anfinerksamkeit 
wurde  von  Fr.  B.  durch  den  Strassenlärm  abgelenkt,  den  ich  als  unangenehm  em- 
pfand, und  der  mich  an  einem  tiefern  Einschlafen  hinderte.  Gegen  Schluss  wurde 
ich  gegen  den  Lärm  gleichgültiger,  ich  kam  in  ein  Stadium  der  behaglichen  Ruhe.'' 
Dr.  V. :  „Hatte  sich  Ihr  Zustand  im  Ganzen  vertieft  im  Vergleich  mit  dem  letzten 
Male?"  Verf.:  „Ich  glaube  nicht."  „Ich  muss  noch  hinzufügen,  dass  ich  merkte, 
wie  Sie  gegen  Schluss  leiser  sprachen."  Dr.  V.:  „Sehr  viel  leiser?"  Verf.:  „All- 
mählich leiser,  die  Stimme  nahm  immer  mehr  ab."  (Abnahme  der  Sensibilität^  da 
Dr.  V.  in  Wahrheit  nicht  so  leise  gesprochen  hatte.)  Dr.  V. :  „Wie  waren  die  Ge- 
danken, springend  oder  stetig?"  Verf.:  „Die  Gedanken  waren  stetig."  Dr.  V.: 
„Wie  war  ihre  Intensität?"  Verf.:  „Gegen  Schluss  constatirte  ich  eine  Abnahme.^ 
Dr.  \\:  „Hatten  Sie  schon  lebhaftere  Traumbilder?"     Verfl:  ,>Nein." 

4.  Hypnose. 

Dr.  V.:  „So  —  entsprechend  dem  Sachverhalt  —  diesmal  sind  Ihnen  die 
Augen  schon  von  selber  zugefallen.  Sehen  Sie,  Sie  kommen  immer  mehr*  hinein. 
Nun  kommt  eine  angenehme  Gleichgültigkeit  gegen  Alles,  was  Sie  omgiebt,  über 
Sie.  Sie  haben  das  Gefühl  der  Ruhe  und  der  Müdigkeit.  Immer  schwerer  wird 
diese  Müdigkeit,  immer  tiefer  wird  die  Ruhe.  Immer  tiefere  Müdigkeit  kommt 
über  Sie.  Meine  Angaben  haften  immer  weniger  bei  Ihnen,  immer  weniger.  Sie 
werden  einfach  müde,  Sie  werden  ganz  gleichgültig,  ebenso  gleichgültig  wie  Abends 
vor  dem  Einschlafen.  Es  kommt  ein  angenehmer  seliger  Schlummer  über  Sie,  ganz 
von  selbst,  ganz  ohne  dass  Sie  etwas  dazu  thun.  Ihr  Schlummer  wird  immer 
tiefer,  mehr  und  mehr;  immer  tiefer.  Die  Sinne  schwinden  mehr  und  mehr.  Immer 
mehr  kommt  ein  seliges  Vergessen  über  Sie.     Sie  werden  gleichgültig  gegen  den 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  151 

Lärm  auf  der  Strasse.  Meine  Worte  wirken  nicht  störend  auf  Sie.  Sie  hören  Alles 
wie  aus  weiter  Ferne,  immer  leiser,  und  Sie  kommen  immer  tiefer  zur  Ruhe,  immer 
tiefer,  mehr  und  mehr.  Sie  empfinden  mehr  und  mehr  ein  spontanes  Sichgehen- 
lassen, eine  tiefe,  behagliche,  selige  Ruhe.  Jetzt  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie 
die  Augen  wieder  auf.    1  —  2  —  3." 

Verf. :  „Ich  stand  von  Anfang  an  unter  dem  Einflüsse  der  Suggestionen.  Ich 
hatte  ganz  das  Gefühl,  als  ob  ich  schlief,  aber  ohne  vollständige  Bewusstseinsauf-^ 
lösung.  Der  Zustand  entsprach  vollständig  den  gegebenen  Snggestionen.  Am 
Schluss  war  ich  entschieden  tiefer.  Ich  hatte  während  der  Hypnose  etwas  Herz- 
klopfen." Dr.  V.:  „Erinnern  Sie  Sich  noch  meiner  Suggestionen?"  „Ich  erinnere 
mich  nicht  mehr  des  Wortlauts.**  „Wodorch  sind  Sie  erwacht?"  Verf.:  „Sie  sagten 
„Zähle  bis  3,  dann  sind  Sie  wach."  Dr.  V.:  „Haben  Sie  das  wirklich  gehört  oder 
haben  Sie  es  sich  nur  gedacht?"  Verf.:  „Das  hab'  ich  mir  wohl  nur  gedacht.  Ich 
erinnere  mich  aber  3  gehört  zu  haben." 

6.  Hypnose. 

Dr.  V.:  „Jetzt  kommen  Sie  immer  tiefer  hinein,  immer  mehr  zur  Kühe. 
Immer  mehr  Schlaf  senkt  sich  auf  Sie.  Sie  merken,  dass  der  Schlaf  tiefer  wird. 
Sie  haben  das  Gefühl,  auf  dem  Wege  zu  sein,  tiefer  hineinzukommen.  Immer 
mehr  vergessen  Sie  Sich  selber.  Immer  mehr  verfallen  Sie  in  einen  tiefen  Schlal 
Mehr  und  mehr  vergessen  Sie  Sich.  Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  Sie  haben 
immer  weniger  Bewusstsein  von  Ihrer  Umgebung,  von  Ihrem  Ich,  bis  sie  ganz  ein- 
schlafen. Immer  tieferes  Sichselbstvergessen  kommt  über  Sie.  Immer  seligerer 
Schlaf  senkt  sich  auf  Sie.  Immer  weniger  wissen  Sie  von  Sich,  ohne  Ihr  Zuthun 
kommt  immer  mehr  Schlaf  über  Sie.  Jetzt  zähle  ich  bis  3.  Dann  werden  Sie 
wach.    1  —  2  —  3." 

Zeitdauer  der  Hypnose:  2  Min.  32  See. 

Verf. :  „Während  der  Hypnose  hatte  ich  Herzklopfen,  was  meine  Aufmerksam- 
keit von  den  Suggestionen  ablenkte.  Indem  ich  darüber  nachdachte,  was  die  Ur- 
sache sein  könnte,  fiel  mir  ein,  dass  ich  schon  beim  Herkommen  des  Hypnotisirens 
wegen  unruhig  war  und  Herzklopfen  bekam.  Für  das  gegenwärtige  Herzklopfen 
fand  ich  keinen  Grund.  Der  Zustand  war  oberflächlicher  und  ich  hatte  das  Gefühl 
von  Unruhe.  Ich  würde  den  Gesammtzustand  einen  unruhigen  oberflächlichen 
Schlaf  nennen.  Das  Bewusstsein  war  gegen  Ende  verdunkelt.  Nur  war  meine  Auf- 
merksamkeit noch  schwach  auf  das  Aufwecken  gerichtet,  und  ich  kann  mich  der 
Art  des  Aufweckens  entsinnen."    (112  Pulsschläge.) 

6.  Hypnose. 

„So,  jetzt  werden  Sie  ganz  tief  hineinkommen.  Das  Herzklopfen  schwindet 
immer  mehr  und  an  seine  Stelle  tritt  ein  wohliges,  angenehmes  Gefühl  der  Behag- 
lichkeit. Es  kommt  eine  völlige  selige  Ruhe  über  Sie.  Sie  fühlen  keine  Aengstlich- 
keit,  kein  Herzklopfen,  keine  Unruhe.  Es  ist  Ihnen  so  wohl,  so  ruhig.  Immer 
ruhiger  werden  Sie,  immer  ruhiger.  Der  Zustand  wird  immer  behaglicher.  Sie 
fühlen  Sich  so  wohl,  so  behaglich.  Immer  mehr  senkt  sich  wohlthuender  Schlaf  auf 
Sie.  Nichts  stört  Sie  mehr,  und  es  kommt  ein  richtig  behagliches  Wohlbehagen 
über  Sie,  ein  angenehmer  Schlaf.  Sie  geben  Sich  diesem  Schlaf  immer  mehr  hin. 
Immer  weniger  denken  Sie  an  Sich.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die 
Augen  auf.    1—  2—  3." 

Zeitdauer  der  Hypnose:  3  31in.  26  See.    Puls  92. 


152  ^An  Straaten. 

Verf. :  ;, Von  Ihrer  Suggestion  betreffend  das  Schwinden  des  Herzkloplens  ist  mir 
die  Erinnerung  bewahrt.  Ich  habe  darauf  deutlich  das  rasche  Verschwinden  des 
Herzklopfens  verspürt.  Unter  diesem  Eindruck  kam  ich  rasch  in  einen  tiefen 
Schlaf^ustand,  den  ich  von  allen  für  den  tiefsten  halte.  E»  war  ein  ▼ölligea  Selbst- 
vergessen vorhanden." 

Einige  BemerkuDgen  allgemeinerer  Art,  die  sich  nicht  ausschliess- 
lich auf  die  Erfahrungen  der  ersten  Sitzung  stützen,  sondern  sich  zum 
Theil  auch  auf  Beobachtungen  beziehen,  die  ich  in  späteren  Sitzungen 
gemacht  habe,  möchte  ich  gleich  im  Anfang  erwähnen. 

Ich  hatte  häufiger  Gelegenheit  gehabt,  O.  Vogt  h3rpnotisiren  zu 
sehen.  Die  prompte  Erzielung  hypnotischer  Zustände  der  rerschie- 
densten  Grade  bei  eine;-  Anzahl  Personen  hatten  mich  von  O.  Vogt 's 
Autorität  auf  dem  Gebiete  des  Hypnotismus  überzeugt,  imd  so  trat 
ich  denn  mit  der  Erwartung  an  die  Versuche,  dass,  wenn  ich  überhaupt 
zu  hypnotisiren  sei,  es  0.  Vogt  gelingen  müsse.  Die  Idee,  dass  der 
Hypnotiseur  nicht  die  nöthige  Gewandtheit  besitzt,  ist  mächtig  genug, 
die  gegebenen  Suggestionen  unwirksam  zu  machen.  Das  habe  ich 
in  0.  Vogt's  Poliklinik  beobachtet.  Eine  Frau,  die  längere  Zeit  von 
O.  Vogt  hypnotisch  behandelt  worden  war,  wurde  von  einem  Collegen, 
der  die  Methodik  beherrschte,  hypnotisirt.  Es  gelang  ihm  erst  nach 
mehreren  Versuchen  eine  Hypotaxie  zu  erzielen.  Ein  tieferes  Schlaf- 
stadium konnte;  nicht  erreicht  werden,  weil  die  Frau  die  Idee  hatte, 
dass  dieser  Arzt  es  nicht  verstand.  Sie  war  leicht  hypnotisirbar,  und 
wurde  von  mir,  nachdem  sie  erfahren  hatte,  dass  ich  in  O.  Vogt's 
Poliklinik  schon  häutig  die  Hypnose  angewandt  katte,  mit  Leichtigkeit 
in  tiefe  Hypnose  versetzt.  Daraus  geht  für  uns  hervor,  dass  der  Arzt, 
der  sich  des  Hypnotismus  zu  Heilzwecken  bedient,  seinen  Patienten 
die  nöthige  Achtung  vor  seinem  Können  beibringen  muss. 

Auf  di(;  Wichtigkeit  günstiger  physikalischer  Bedingungen  ist  schon 
häutig  aufmerksam  gemacht  worden. 

Ich  wurde  in  einem  behaglich  warmen  Zimmer  hypnotisirt..  Jedoch 
durch  eine  zu  grosse  Wärme  wurde  in  Folge  des  damit  verbundenen 
Unbehagens  die  Hypnose  einige  Male  störend  beeinflusst,  woraus  folgt, 
dass  man  auch  solche  nebensächlich  erscheinenden  Dinge,  wie  Tempe- 
ratur, zu  berücksichtigen  hat.  Ferner  lag  ich  auf  einer  sehr  bequemen 
Chaiselongue.  Ich  habe  mich  davon  überzeugt,  dass  eine  zufaUig  ein- 
genommene unbequeme  Lage  auch  störend  wirken  kann,  indem  dadurch 
häutig  di(5  Aufmerksamkeit  von  den  Suggestionen  abgelenkt  wird. 
Eine  Patientin  erklärte  mir  nach  einer  Hypnose,  die  Suggestionen 
hätten  nicht  auf  sie  einwirken  können,  weil  sie  in  ihrer  Aufmerksamkeit 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  153 

häufiger  durch  einen  unbequem  sitzenden  Kragen  gestört  worden  sei. 
Es  ist  vielleicht  nicht  unwichtig,  den  Patienten  in  dieser  Hinsicht 
möglichst  entgegenzukommen. 

Ein  Zimmer,  wohin  der  Lärm  der  Strasse  nicht  dringen  kann,  ist 
ohne  Zweifel  das  passendste  für  hypnotische  Experimente  oder  Be- 
handlung. Das  Zimmer,  in  dem  ich  hypnotisirt  wurde,  war  dem  Ge- 
räusch der  Strasse  in  massigem  Grade  ausgesetzt.  Aber  trotzdem  ich 
sehr  empfindlich  gegen  Lärm  von  jeher  gewesen  bin,  so  gelangen  die 
Experimente  doch,  weil  O.  Vogt  durch  seine  Suggestionen  die  störenden 
Eindrücke   in   ihrer  Wirkung  herabzusetzen  resp.  aufzuheben  verstand. 

Ausser  0.  Vogt  und  Frau  B,  nahm  Niemand  an  der  Hypnose 
Theil.  Durch  ihre  Gegenwart  wurde  meine  Ungezwungenheit  in  keiner 
Weise  beeinträchtigt.  Ich  würde  es  aber  als  sehr  unangenehm  empfunden 
haben,  wenn  sich  im  Zimmer  noch  eine  Person  aufgehalten  hätte,  die 
etwa  durch  ihr  Gebahren  ein  Misstrauen  den  hypnotischen  Experimenten 
gegenüber  gezeigt  hätte,  oder  bei  dem  ich  ein  Misstrauen  vermuthet 
hätte.  Es  hätte  mich  zu  sehr  geärgert,  für  einen  Betrüger  angesehen 
zu  werden,  als  dass  ich  die  nöthige  Ruhe  für  die  Experimente  be- 
wahrt hätte. 

Dass  schon  ein  auffälliges  Zuschauen  eines  Dritten  genügt,  um 
die  Hypnose  zu  stören,  habe  ich  in  der  Poliklinik  beobachtet.  Ich  hatte 
schon  mehrere  Male  bei  einem  12jährigen  Mädchen  tiefe  Hypnose  er- 
zielt. Als  dasselbe  nun  einmal  beim  Hypnotisiren  von  einem  Dritten 
aufmerksam  beobachtet  wurde,  konnte  ich  nur  Hypotaxie  erzielen.  Ein 
tieferes  Stadium  war  trotz  aller  Sorgfalt  nicht  zu  erzielen.  Das  Kind 
verrieth  eine  gewisse  Beunruhigung.  Als  ich  es  nun  noch  einmal 
hypnotisirte,  nachdem  der  BetreflFende  sich  entfernt  hatte,  war  es  mir 
leicht,  wiederum  tiefe  Hypnose  zu  erzielen. 

Es  erscheint  mir  aus  diesem  Grunde  zweifelhaft,  dass  sich  der 
Hypnotismus  für  klinische  Demonstrationen  eignet,  wenigstens  soweit 
es  sich  nicht  um  dafür  eingeübte  Personen  handelt. 

Wie  aus  den  Experimenten  hervorgeht,  wurden  bei  mir  die  Sug- 
gestionen stets  in  der  Form  freundlicher  Versicherung  ihres  baldigen 
Eintritts  gegeben.  Befehlsform  wurde  nicht  angewandt.  Diese  würde 
mich  persönlich  unangenehm  berührt  haben,  und  hätte  meine  Opposition 
herausgefordert.  Wenn  ich  mich  hypnotisiren  lasse,  so  geschieht  es 
doch  mit  meinem  Willen.  Ich  bedarf  dazu  nur  der  Anleitung  des 
Hjrpnotiseurs,  indem  er  durch  seine  Suggestionen  bei  mir  die  Schlaf- 
vorstellung wecken  soll.    Ein  Befehlen  hat  da  doch  eigentlich  keinen  Sinn. 


]54  ^'^^  Straaten. 

Demonstrationen  hatten  auf  mich  wohl  nur  suggestiven  Eünfloss, 
während  sie  für  voreingenommene  Menschen  den  grossen  Werth  haben, 
dass  mit  einem  Schlage  die  Vorurtheile,  die  durch  den  Missbrauch  des 
Hypnotismus  und  den  Kraftspruch  von  Autoritäten  entstandeu  sind, 
beseitigt  werden. 

Was  nun  die  1.  Sitzung  speciell  betrifft,  so  verfolgen  die  Suggestionen 
der  ersten  Hypnose  den  Zweck,  den  Augenschluss  herbeizuführen,  und 
ein  Gefühl  der  Behaglichkeit  und  Ruhe  zu  schaffen.  Dieses  geschiebt 
zum  Theil  mit  geschickter  Ausnutzung  von  bei  mir  auftretenden  sub- 
jectiven  Empfindungen.  Nachdem  ich  O.  Vogt  mitgetheilt  hatte,  dass 
ich  an  meinen  Augen  ein  Kitzelgefuhl  hatte,  knüpft  er  daran  die 
Suggestion,  dass  sich  der  Beiz  vermehren  würde.  Meine  dabei  auf« 
tauchende  Erinnerung  an  eine  früher  gemachte  Bemerkung  O.  Yogt's 
über  die  Ausnutzung  subjectiver  Erscheinungen  vereitelte  zwar  diese 
Suggestion,  während  sich  aber  die  Suggestion,  dass  meine  Lidspalte 
allmählich  enger  würde,  realisirt,  nachdem  O.  Vogt  mich  darauf 
aufmerksam  gemacht  hatte,  dass  eine  Verengung  schon  eingetreten  war. 

Die  Suggestionen  der  zweiten  Hypnose  sind  schon  zum  Theil  auf 
die  Herbeiführung  eines  Schlafzustandes  berechnet.  Es  wird  auch  schon 
ein  tieferer  Zustand  erzielt. 

Die  Eigenart  der  Methode  O.  Vogt's  kommt  in  dieser  Hypnose 
schon  mehr  zur  Geltung,  weil  er  durch  das  Examen  nach  der  1.  Hypnose 
erfahren  hatte,  welche  Erscheinungen  sich  in  dieser  Hypnose  eingestellt 
hatten.  Diese  Erscheinungen,  Verschleierung  des  Blickes,  Kitzelgefuhl 
in  den  Augen,  Schwinden  der  Selbstbeobachtung,  werden,  da  ihr  Ein- 
treten sehr  wahrscheinlich  ist,  geschickt  verwendete  Die  Suggestion 
des  Schwindens  der  Selbstbeobachtung  realisirte  sich  deshalb  so  intensiv, 
weil  sie  im  Momente  gegeben  wurde,  wo  mich  der  Gedanke  störte, 
dass  die  Selbstbeobachtung  beim  schwindenden  Bewusstsein  an  Schärfe 
abnehmen  müsse.  Die  Idee,  dass  O.  Vogt  diese  Reflexion  ahnte,  rief 
einen  grossen  Eindruck  auf  mich  hervor,  und  erhöhte  meine  Suggesti- 
bilität  in  nicht  geringem  Maasse. 

Aus  diesen  Thatsachen  geht  für  unsere  Methode  hervor,  dass  der 
Hypnotiseur  durch  eine  feine  Beobachtung  objectiver  Erscheinungen, 
durch  ein  genaues  Eingehen  auf  subjective  Erscheinungen  des  zu 
Hypnotisirenden  bestrebt  sein  muss,  geeignetes  Material  für  seine 
Suggestionen  zu  sammeln ;  mit  einem  Worte,  der  Hypnotiseur  muss  sich 
ganz  genau  den  individuellen  Tendenzen  des  zu  Hypnotisirenden  an- 
passen.    Wir  können  daraus  gleich  den  Schluss  ziehen,  dass  die  Verbal- 


Zur  Kritik  der  hypnotifchen  Technik.  155 

BuggestioDy  so  gehandhabt,  nie  zur  Schablone  werden  kanu^  dass  sie 
femer  eine  gute  psychologische  Schulung  voraussetzt,  und  dass  sie,  was 
sehr  wichtig  ist,  die  Garantie  bietet,  dass  unangenehme  Zufalle,  die  ja 
nur  durch  autosuggestive  Associationen  oder  gemüthliche  Erregungen 
entstehen  können,  vermieden  werden. 

Auch  die  Suggestionen  der  3.  Hypnose  suchen  eine  Vertiefung  des 
Schlafes  zu  erstreben.  Ihr  Inhalt  entspricht  im  Wesentlichen  dem  der 
Torhergehenden  Hypnose,  und  knüpft  wieder  an  meine  individuellen  Ten- 
denzen und  Befürchtungen  an.  Als  störendes  Moment  ist  der  Strassen- 
lärm  zu  erwähnen.  Wenn  derselbe  auch  nicht  intensiver  war,  wie 
vorher,  so  wirkte  er  deshalb  störend,  weil  die  Aufmerksamkeit  sich 
speciell  auf  ihn  lenkte,  was  durch  die  Frage  nach  dem  Lärm  beim 
Examiniren  der  zweiten  Hypnose  bedingt  war.  Dasselbe  Verhalten 
habe  ich  bei  einigen  Patienten  in  O.  Vogt's  Poliklinik  beobachtet. 
Nach  einigen  Hypnosen  erkundigte  ich  mich  danach,  ob  sie  den  Lärm 
auf  der  Strasse  gehört  hätten.  Sie  antworteten,  der  wäre  ihnen  nicht 
aufgefallen,  oder  sie  hätten  ihn  nicht  gehört  etc.  Wenn  ich  dann  nach 
der  folgenden  Hypnose  sie  wieder  examinirte,  so  erklärten  sie,  sie  hätten 
nicht  so  gut  «einschlafen  können,  weil  der  Lärm  gestört  hätte,  oder  weil 
der  Lärm  ihre  Aufmerksamkeit  abgelenkt  hätte  etc. 

Hier  entdecken  wir  also  einen  Nachtheil  des  Examinirens.  In 
diesem  Falle  ist  er  sehr  gering.  Aber  er  ist  doch  geeignet,  uns  in  Betreff 
des  Fragens  wichtige  Fingerzeige  zu  geben.  Wir  müssen  unsere  Fragen 
derartig  stellen,  dass  die  Aufmerksamkeit  des  zu  Hypnotisirenden  nicht 
auf  störend  wirkende  Dinge  gelenkt  wird,  dass  in  ihm  durch  dieselben 
nicht  nachtheilig  wirkende  Autosuggestionen  wachgerufen  werden. 
Daraus  erkennen  wir,  mit  wie  viel  Tact  und  Vorsicht  das  Examiniren 
zu  geschehen  hat. 

Während  in  der  4.  Hypnose  unter  weiterer  Anwendung  auf  Ver- 
tiefung des  Schlaf zustandes  hinzielender  Suggestionen  ein  sehr  tiefes 
Schlafstadiüm  hervorgebracht  wird,  ist  die  Schlafhemmung  in  der 
6.  Hypnose  eine  weniger  ausgedehnte,  und  der  Schlaf  gewinnt  durch 
eine  Eigenthümlichkeit ,  nämlich  durch  das  während  der  Hypnose 
auftretende  Herzklopfen  und  die  damit  verbundene  Unruhe  einen 
nuruhigen  Character.  Hier  zeigt  sich  nun  so  recht,  wie  nothwendig 
das  Examiniren  ist.  Wäre  O.  Vogt  diese  Erscheinung  verborgen  ge- 
blieben, so  hätten  sich  auf  Grund  von  Autosuggestionen  das  Herz- 
klopfen und  die  Unruhe  in  folgenden  Hypnosen  sehr  wahrscheinlich 
wiederholt,    sie    hätten    stärkere   Grade    annehmen,    und   eine    Menge 


156  ▼t^Q  Straateo. 

anderer  unangenehmer  Erscheinungen  im  Gefolge  haben  können.  — 
O.  Vogt  ist  aber  auf  Grund  der  Mittheilung  Ton  dem  Herzklopfen 
in  der  Lage,  durch  geeignete  Suggestionen  in  der  folgenden  Hypnose 
das  Herz  zu  beruhigen  und  die  Unruhe  zu  beseitigen.  Der  hypnotische 
Zustand  erlangt  nach  wenigen  Suggestionen  eine  derartige  Tiefe,  dass 
Amnesie  auftritt.  Dieser  Erfolg  ist  wohl  dadurch  bewirkt,  dass  die 
Realisation  der  gegen  das  Herzklopfen  und  die  Unruhe  geiichteteD 
Suggestionen  meine  Suggestibilität  stark  steigerte.  Demnach  kann  dem 
Hypnotiseur  das  Auftreten  von  harmlosen  Organempfindungen  etc.^  wenn 
er  in  der  Lage  ist,  dies  zeitig  genug  zu  merken,  willkommen  sein. 

II.  Sitzung. 

1.   Hypnose. 

Dr.  V. :   „So,   nun  fühlen  Sie  wieder  eine  Wärme  unter  meiner  Hand.     Diese . 
Wäruie  geht  allmählich  auf  die  Augenlider  über.    Nun  empfinden  Sie  eine  Schwere 
in  den  Augenlidern.    Ihr  Blick  wird  trübe,  Sie  sehen  immer  ondeatlicher.    Immer 
schwerer  werden  Ihre   Augenlider,    immer  schwerer.    Immer  mehr  ziehen  sich  die 
Augenlider  zusammen,  immer  mehr,  und  es  kommt  eine  behagliche  Hohe  über  Sie. 
Ihr  Herz   wird   immer  ruhiger  (Auflegen  der  Hand  auf  das  Herz).     Die  Aihmung 
wird   immer   ruhiger.    (Suggestion   sofort  realisirt,   merkliche   Verlangsamang  des 
Atheniholens.)     Ihr   Herz    wird    immer   ruhiger,    das  Herzklopfen  lässt   mehr  und 
mehr   nach.      Sie    kommen   immer   mehr   zur    Ruhe.    Das  Herzklopfen    lässt   ganz 
schön   nach.   Sie   werden   immer  ruhiger."     (Längere  Pause.)    Hierauf  leiser:   „So. 
jetzt  kommen  Sie  immer  mehr  zur  Ruhe,  es  kommt  eine  selige,  behagliche  Schläfing- 
keit  über  Sie,  eine  völlige  Gleichgültigkeit  gegen  Alles,  Ihre  Selbstbeobachtung  hört 
auf,    Sie    fühlen   von  Ihrem    Herzen   nichts.     Sie   kommen   ganz   schön   zur   Ruhe.** 
(Pause.)     „Nun  zähle  ich  bis  3.     Dann  sind  Sie  wach.     1  —  2  —  3." 

Dr.  V.:  ,.Nun,  wie  war  es?" 

Verf.:  „Nachdem  Sie  durch  Ihre  Suggestionen  den  Augenschluss  hervor- 
gerufen hatten,  suchte  ich  die  Augen  wieder  zu  öffnen,  wie  ich  mir  vor  der  Hypnose 
vorgenommen  hatte.  Je  mehr  ich  versuchte,  um  so  krampfhafter  contrahirte  sich 
der  Musculus  orbicularis.  Ich  stand  dann  sofort  von  ferneren  Versuchen  ab.  Am 
Anfang  der  Hypnose  hatte  ich  auch  Herzklopfen;  nach  Ihrer  Suggestion,  dass  das 
Herzklopfen  aufliören  würde,  hörte  dasselbe  auf;  ich  fühlte  mich  dann  sehr  be- 
haglich. Meine  Aufmerksamkeit  wurde  dann  gleich  auf  das  Ciavierspielen  (in  der 
Etage  über  dem  Versuchszimmer)  gelenkt.  Ich  empfand  das  Ciavierspielen  als 
sehr  störend  und  unangenehm.  Gegen  Ende  der  Hypnose  wurde  ich  gegen  das 
Spielen  gleichgiltiger.  Ich  kam  tiefer  in  den  Schlaf  hinein."  Dr.  V.:  „Haben  Sie 
noch  meine  Worte  gehört?"  Verf.:  „Ich  weiss,  wie  Sie  mich  aufgeweckt  haben.** 
Dr.  V. :  „Was  habe  ich  vorher  gesagt?"  „Daran  erinnere  ich  mich  nicht  mehr  ganz 
deutlich.  Ich  glaube,  Sie  haben  gesagt,  ich  würde  tiefer  hineinkommen,  ich  würde 
gegen  alle  (Tcräusche  gleichgiltiger."  (Dr.  V.  bemerkt,  dass  er  die  Geräusche  gar  nicht 
erwähnt  habe.  Fr.  B.  liest  Verf.  den  Passus  über  die  Gleichgiltigkeit  vor.)  Verf.: 
„Jetzt  erinnere  ich  mich  deutlich,  dass  ich  Ihre  Suggestionen  bezüglich  der  Gleich- 
giltigkeit auf  die  Geräusche  bezogen  habe.     Daraufhin  realisirte  sich  die  Suggestion 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  157 

•  in  Beziehung  auf  die  Geräusche  und  das  Klavierspielen."  Dr.  V.:  „Waren  Sie  be- 
wusstlos?"  Verf.:  „lUein  Bewusstsein  war  gegen  das  Ende  stark  verdunkelt,  ich 
war  gegen  Alles  indifferent." 

2.  Hypnose: 

Dr.  V.:  „So,  nun  lassen  Sie  nur  die  Augen  möglichst  lange  auf.  Sehen  Sie, 
es  geht  noch  schneller.  Nun  werden  Sie  gegen  Geräusche  noch  indifferenter  werden, 
und  es  kommt  eine  selige  Ruhe  über  Sie,  ein  so  behaglicher  Schlummer,  der  immer 
mehr  zunimmt,  Sie  Alles  vergessen  macht,  und  Sie  in  richtigen  Schlaf  überfuhrt. 
Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  Der  Zustand  nähert  sich  immer  mehr  dem  ge- 
wöhnlichen tiefen  Nachtschlaf.  Nun  zähle  ich  bis  3,  dann  machen  Sie  die  Augen 
wieder  auf.  1.  2,  3.  —  1,  2,  3.  —  1,  2,  3.  —  1,  2,  3.  —  1,  2,  3."  Beim  2.  Mal 
Augen  offen,  ohne  vollständiges  Erwachen.  Beim  ö.  Mal  ganz  wach.) 
Dr.  V.:  „Nun,  wie  war  es?" 

Verf.:  „Ich  gerieth  rasch  in  einen  tiefen  Schlaf  zustand.  Es  trat  zwar  eine 
Vorstellung  meiner  Situation  in  mir  auf  Die  Vorstellung  nahm  aber  an  Lebhaftig- 
keit immer  mehr  ab,  und  verschwand,  ohne  von  einer  anderen  abgelöst  zu  werden." 

3.  Hypnose:  „So,  nun  lassen  Sie  die  Augen  möglichst  lange  auf.  So,  nun 
fallen  Sie  Ihnen  schon  fest  zu.  Immer  mehr  zieht  es  die  Augenlider  zusammen. 
Immer  mehr.  Sie  kommen  ganz  tief  hinein.  Ihre  Sinne  schwinden  Ihnen  voll- 
ständig. Ihre  Ueberempfindlichkeit  gegen  die  Geräusche  schwindet  ganz;  die 
existiren  einfach  nicht  mehr  für  Sie.  Sie  schliessen  Sich  ganz  von  der  Aussenwelt 
ab.  Es  ist,  als  wären  für  Sie  keine  Geräusche  mehr  da.  Immer  tiefer  kommen 
Sie  hinein.  Sie  geben  Sich  voll  und  ganz  einer  angenehmen  Gleichgiltigkeit  hin. 
Sie   kommen  immer  tiefer  hinein.    So,   immer  mehr  werden   Sie   hineinkommei^." 

-  (Pause.)  Immer  mehr,  immer  tiefer.  (Störung  des  Versuches  durch  zweimaliges 
Klopfen  an  der  Thüre.)  Nun  zähle  ich  bis  3,  dann  machen  Sie  die  Augen  auf. 
1,  2,  3.  —  1.  2,  3."     Zeitdauer  der  Hypnose:  3  Min.  15  See. 

Verf.:  „Der  Zustand  war  auch  diesmal  ein  sehr  tiefer.  Ich  habe  wohl  noch 
Klavierspielen  gehört,  war  aber  vollkommen  gleichgiltig  dagegen.  Ebenso  gegen 
Klopfen  an  der  Thür  und  Rauschen  von  Kleidern.  Das  fesselte  mein  Interesse  in 
keiner  Weise." 

4.  Hypnose: 

Dr.  V. :  „So,  nun  fallen  Ihnen  die  Augen  noch  viel  schneller  zu.  Nun  kommt 
immer  mehr  Gleichgiltigkeit  gegen  alle  Geräusche  über  Sie.  Lassen  Sie  Sich  ein- 
fach gehen.  Gerade  dieser  Indifferentismus  ist  der  erste  Schritt  zum  Schlaf.  Der 
Schlaf  kommt  einfach.  Sie  beobachten  Sich  nicht  mehr.  Sie  vergessen  Sich  mehr 
und  mehr.  Der  Schlaf  senkt  sich  einfach  über  Sie.  Ohne  dass  Sie  daran  denken. 
Immer  mehr  kommen  Sie  zur  Kühe.  Immer  mehr.  Und  Sie  kommen  allmählich 
in  einen  tiefen  Nachtschlaf.  Nichts  stÖrt  Sie  mehr.  Sie  schlafen  einfach,  vergessen 
Sich  vollständig.  Nun  zahle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die  Augen  wieder  auf. 
1,  2,  3."     (Zeitdauer:  4  3Iin.  15  See.) 

Verf.:  „Ich  befand  mich  in  einem  ziemlich  tiefen  Schlafzustand.  Durch  das 
Glavierspielen  wurde  ich  nur  im  Anfang  gestört.  Später  war  ich  vollkommen  in- 
different dagegen.  Ich  bin  durch  eine  Eigenthümlichkeit  gestört  worden,  nämlich 
dadurch,  dass  meine  Aufmerksamkeit  auf  das  Ticken  Ihrer  Uhr  gelenkt  wurde, 
das  ich  ganz  deutlich  hörte."  Dr.  V.:  ^Hören  Sie  das  Ticken  jetzt  noch?"  Verf. 
(nach  scharfem  Hinhorchen) :   „Nein,  jetzt  nicht."     (Die  Uhr  ging  in  derselben  Ent- 


1^  van  Straaten. 

femung^  unter  denselben  Umständen  weiter.)  Dr.  Y.:  „Hörten  Sie  das  Ticken  wie 
im  Traum  oder  mehr  wie  in  Ueberempfindlichkeit?*'  Verfl:  |,XJeber  den  Untenchied 
bin  ich  mir  nicht  klar.  —  Meine  Aufmerksamkeit  concentrirte  sich  derart  auf  das 
Ticken,  dass  ich  den  Wortlaut  und  den  Inhalt  der  gegen  Ende  der  Hypnose  ge- 
gebenen Suggestionen  nicht  kenne. ^ 

6.  Hypnose. 

Dr.  V.:  ^So,  nun  wird  es  noch  schneller  gehen.    Es  wird  Ihnen  unter  meiner 
Hand  wieder  warm  werden.     Die  Augen  fallen  Ihnen  wieder  zu.     So>   ganz  fest« 
Sie  kommen  immer  tiefer  hinein.    Sie  werden  so  angenehm  ruhig   werden,   durch 
nichts  gestört  werden.    (Dr.  V.  hebt  Verf.s  linken  Arm  hoch.)    Sie  kommen  immer 
mehr  zur  Ruhe.    Ganz  schön  kommen  Sie  zur  Ruhe.    (Dr.  V.  legt  seine  Hand  auf 
Verf.s  Herz.)     Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.     So,  immer  tiefer,   ganz  schon. 
(Arm  kataleptisch).    Immer  mehr  kommen  Sie  hinein.    Ganz  schön.    Immer  mehr. 
(Tiefe  Respirationen  des  Verf.s).     Ganz  schön  kommen  Sie  zur  Ruhe.    Sie  athmea 
immer  gleichmässiger.    Immer  mehr  wird  nun  die  Athmnng  ruhig  und  Sie  werden 
so  schön  ruhig.     Ihre  Athmung  wird  noch  immer  ruhiger  werden.     Sie   komm^i 
noch  immer  tiefer  hinein.    So  jetzt  schlafen  Sie  immer  mehr.    Sie  empfinden  immer 
weniger  jede  Störung.     (Arm  sinkt  allmählich).     Immer  mehr  kommen   Sie  zur 
Ruhe.    (Arm   wird   beim  Emporheben  wieder  steif).    Immer  mehr  noch  zur  Ruhe. 
(Arm    steifer.)     Sie    versinken  in   seligen   Schlummer.     Sie  kommen   noch  immer 
tiefer  hinein.    Ganz  schön  tief.    (Dr.  V.  öffnet  Verf.8  Hand,  die  Finger  bleiben  in 
gegebener   Stellung.)      Immer   mehr    noch    kommen   Sie   hinein,    ganz    schon   tief 
kommen  Sie   zur  Ruhe.     Immer  mehr   kommt  eine   selige  Ruhe  über  Sie.      (Ann 
schlaffer,   liegt  auf  Dr.  V.'s  Knie   auf.)     Immer   tiefer  noch  kommen  Sie  hinein. 
Ganz  schön,  immer  tiefer  noch  kommen  Sie  hinein.    (Arm  schlaff,  sinkt  beim  Auf- 
heben schlaff  herab.)      Nun   zähle   ich   bis  3,   dann  machen  Sie  die  Augen   wieder 
auf.     1.  2.  3." 

(Zeitdauer  der  Hypnose :  7  Min.    Katalepsie  1  Min.  nach  Beginn  der  Hypnose, 
Ende  der  6.  Min  vorbei). 

Dr.  V.:  „Nun,  wie  war  es?"    Verf:  „Ich  befand  mich  bald  in  Hypnose.     Dann 
ergriffen  Sie  meine  Hand  und   hoben   meinen  Arm   empor."      Dr.  V.:   „Wie  lange 
hielt  ich  den  Arm?"     Verf.:  „Etwa  •/,  der  Zeit."     Dr.  V.:  „Haben  Sie,  als  ich  den 
Arm   emporgehoben  habe,    eine  Idee,    eine  Vorstellung  angeschlossen?*'     „Ich  war 
neugierig  zu  beobachten,  was  mit  meinem  Arm  jetzt  passiren  würde,  und  ich  fühlte, 
dass  mein  Arm  und  meine  Hand  in  jeder  gegebenen  Stellung  verharrte."     Dr.  V.: 
„Hatten  Sie  einen  Moment  die  Vorstellung,  dass  Katalepsie  eintreten  würde?"    Verf.: 
„Ich  bin  mir  keiner  Autosuggestion  bewusst,  dass  mein  Arm  steif  werden  musste.*' 
Dr.  V.:    „Sind   Sie    eingeschlafen,    als   der  Arm   sank   oder  wurden  Sie    wacher?* 
Verf.:  „Gegen  Schluss   kam  ich  tiefer  in  die  Hypnose."     Dr.  V.:  „Haben  Sie  den 
Arm  auf  der  Decke  gefühlt,  als  er  Ihnen  zum  Schluss  niedersank ?**     Verf.:  „Nein." 
Dr.  V.:   ,,\Vie    war  es  mit  der  gesteigerten  Respiration?"    Verf.:  „Dieselbe   wurde 
wohl  durch  das  Gefühl  der  Behaglichkeit  und  ein  starkes  Lustgefühl  erregt."   Dr.  V.: 
„Wie   war   Ihr  Zustand   am  Schluss?"     Verf.:    „Es  ist  mir  nichts  vom  Schluss  be- 
wusst."    Dr.  V.:  „Wie  sind  Sie  geweckt  worden?"     Verf.:  „Ich  vermute  mit  1,  2,3. 
—  Ich  habe  fast  das  Gefühl,  als  ob  ich  einen  Traum  gehabt  hätte.     Ich  finde  aber 
kein  Thema  dafür." 

Bern.:  Etwa  1  Stunde   nach  der  Sitzung  erinnerte  ich  mich,  dass  ich  bei  der 


Zur  Ejitik  der  hypnotischen  Technik.  159 

Beobachtung  der  auftretenden  Katalepsie  ein  starkes  Lustgefühl  über  das  Gelingen 
derselben  hatte,  und  es  wurde  mir  klar,  dass  ich  einen  Irrthum  begangen  hatte, 
indem  ich  glaubte,  geträumt  zu  haben.  Zu  dieser  Vermuthung  kam  ich  auf 
Grund  der  wiederholten  Erfahrung,  dass,  wenn  ich  beim  Erwachen  aus  dem  ge- 
wöhnlichen Schlaf  ein  Lustgefühl  hatte,  dasselbe  meist  auf  angenehme  Traume 
zurückzufuhren  war,   deren  ich  mich  nach  einigem  Nachdenken  entsinnen  konnte. 

In  der  ersten  Hypnose  versuchte  ich,  nach  Augenschluss  die  Aug^i 
wieder  zu  öffnen.  Es  gelingt  mir  nicht;  der  Musculus  orbicularis  con- 
trahirte  sich  krampfhaft.  Das  psychologische  Zustandekommen  dieses 
Phänomens  berührt  unser  Thema  nicht  weiter.  Es  verdient  aber  des- 
halb hier  erwähnt  zu  werden,  weil  es  als  ein  untrügliches  Zeichen 
hypnotischer  Beeinflussung  auf  den  Hypnotisirten  eine  die  Suggestibilität 
erhöhende  Wirkung  ausübt,  und  die  Realisation  der  folgenden  Sug- 
gestionen  erleichtert.  Aus  dieser  Beobachtung  könnte  man  nun  leicht 
den  Schluss  ziehen,  dass  solche  Phänomene  im  Interesse  der  Steigerung 
der  Suggestibilität  erzielt  werden  müssten,  etwa  in  der  Art:  ;,Ihre 
Augen  sind  jetzt  fest  geschlossen,  Sie  können  sie  jetzt  nicht  mehr  auf- 
machen. Je  mehr  Sie  es  versuchen,  um  so  mehr  ziehen  sich  die 
Augenlider  fest  zusammen.^  Oder  man  könnte  nach  Augenschluss 
einen  Arm  emporheben  und  erklären:  „Der  Arm  ist  jetzt  ganz  steif, 
Sie  können  ihn  nicht  mehr  bewegen.^  Diese  Methode  birgt  einige 
Gefahren  in  sich.  Realisirt  sich  eine  so  auffällige  Suggestion  nicht, 
so  wird  die  Suggestibilität  eher  beeinträchtigt  als  gefordert.  Würde 
der  Hypnotiseur  die  Augen  zuhalten,  oder  das  Bewegen  des  Armes 
erschweren,  so  liegt  die  Gefahr  nahe,  dass  dies  vom  Patienten  gemerkt 
und  für  plumpen  Betrug  gehalten  wird.  Manche  werden  fernerhin  beim 
Hervorrufen  solcher  Phänomene  das  Empfinden  haben,  dass  diese  nur 
durch  eine  gewaltige  Schwächung  ihrer  Willenskraft  zu  Stande  kommen 
können.  Da  nun  aber  die  Ansicht,  dass  durch  das  Hypnotisiren  die 
Willenskraft  geschwächt  wird,  allgemein  noch  sehr  verbreitet  ist,  und 
zu  einer  gewissen  Scheu  vor  dem  Hypnotisiren  Veranlassung  gegeben 
hat,  so  sollte  man  sie  nicht  noch  mehr  durch  derartige  Experimente 
provociren.  Nur  da,  wo  von  Seiten  des  Patienten  ein  Zweifel  an 
seiner  Beeinflussbarkeit  besteht,  würde  dieses  Mittel  anzuwenden  sein. 

Als  ein  die  Hypnose  störendes  Moment  tritt  wieder  Herzklopfen 
auf.  Da  es  aber  zeitig  bemerkt  wird,  so  wurde  es  durch  mehrfache 
Suggestionen  beseitigt,  und  so  durch  Realisation  dieser  Suggestion  die 
Suggestibilität  noch  mehr  gesteigert. 

Beachtenswerth  ist  noch,  dass  ich  die  Suggestion  der  Gleichgiltig- 
Iceit,  meinem  Bedürfniss,   dem   störenden  Einfluss  des  Klavierspielens 


160  ^&i3  Straaten. 

entrückt  zu  werden,  entsprechend  so  auslege,  als  wenn  sie  speciell 
gef^en  das  Klavierspielen  gerichtet  wäre.  Man  glaubt  fast,  hieraus 
schliessen  zu  müssen^  dass  es  empfehlenswerth  sei,  die  Suggestionen 
möglichst  allgemein  zu  formuliren,  wenigstens  im  Anfang,  wo  man  mit 
den  individuellen  Eigenheiten  des  zu  H}3)notisirenden  nocht  nicht  ver- 
traut ist,  um  denselben  so  Gelegenheit  zu  geben,  die  Suggestionen, 
seinem  Bedürfniss  entsprechend  anzupassen.  In  vielen  Fällen,  besonders 
bei  Hysterischen  ist  es  aber  wüuschenswerth,  den  Autosuggestionen 
möglichst  wenig  Kaum  zu  geben,  damit  die  Hypnose  die  beabsichtigte 
Richtung  nicht  einbüsst. 

In  den  beiden  folgenden  Hypnosen  sehen  wir  unter  der  Einwirkung 
auf  Vertiefung  des  Schlafzustandes  hinzielender  Suggestionen,  eine 
grössere  Vertiefung  des  Schlafes  eintreten.  Es  besteht  ein  voUiger 
IndifTerentismus  gegen  die  Geräusche. 

In  der  5.  Hypnose  trat  trotz  ihrer  langen  Dauer  erst  gegen  Ende 
derselben  eine  tiefere  Schlafhemmung  auf.  Wenn  ich  diese  Beob- 
achtung mit  denen  der  3.  Sitzung  vergleiche,  so  neige  ich  dazu,  dafür 
die  Hervorrufung  der  Katalepsie  verantwortlich  zu  machen. 

Wenn  auch  nicht  direct  zu  unserem  Thema  gehörig,  wollen  wir 
doch  noch  2  Punkte  kurz  berühren. 

Es  ist  interessant,  zu  constatiren,  wie  in  der  4.  Hypnose  neben 
der  ausgedehnten  Schlafhemmung  speciell  für  das  Ticken  der  Uhr  ein 
Wachsein  besteht,  und  nun  in  Folge  dieses  partiellen  Wachseins  eine 
derartige  Ueberempfindlichkeit  für  das  Ticken  der  Uhr  vorhanden  ist, 
dass  ich  es  deutlich  wahrnehme,  während  ich  im  Wachen  gar  nicht 
dazu  im  Stande  war. 

Was  die  Katalepsie  der  5.  Hypnose  anbelangt,  so  bin  ich  mir 
absolut  nicht  bewusst,  das  Zustandekommen  derselben  irgend  wie  durch 
die  Idee,  oder  die  Erwartung  ihres  Eintritts  oder  Befürchtung  ihres 
Nichteintritts  beeinflusst  zu  haben.  Es  handelt  sich  also  um  Bern- 
h (»i m ' s  passive  Katalepsie.  Sie  trat  mit  zunehmender  Schlafhemmung 
auf,  und  verschwand,  als  diese  noch  wesentlich  mehr  zunahm.  Es  ist 
das  ja  ein  Verhalten,  wie  es  den  mir  damals  noch  nicht  bekannten 
zahlreichen  Beobachtungen  0.  Vogt 's  entspricht,  ohne  in  seiner 
Isolirtheit  besondere  Beweiskraft  zu  haben. 

III.  Sitzung. 

1.   Hypnose. 

Dr.  V.:  „So,  nun  werden  Sic  schön  zur  Ruhe  kommen.    Die  Augenlider  fidlen 
Ihnen  immer  mehr  zu.     Ganz  schön,  immer  mehr.     Immer  fester  schlieseen  sich  die 


Die  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  161 

Augen.  Nun  kommen  Sie  ganz  schön  zur  Ruhe.  Vergessen  Sich  immer  mehr. 
Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein  in  einen  angenehmen  Schlaf  Nichts  stört  Sie 
mehr.  Sie  werden  durch  keine  Geräusche  gestört.  Sie  kommen  einfach  in  einen 
seligen  behaglichen  Schlaf.  Immer  mehr  yergessen  Sie  Sich.  Immer  mehr  nimmt 
der  Schlaf  zu,  immer  mehr  verstärkt  sich  der  Schlaf.  Sie  schlafen  ganz  schön  ein. 
Sie  kommen  mehr  und  mehr  zur  Ruhe  (Suggestionen  zunehmend  leiser  gegeben), 
werden  durch  nichts  gestört.  Oanz  und  gar  vergessen  Sie  Sich.  Immer  mehr 
kommen  Sie  hinein.  (Pause.)  Immer  mehr  Müdigkeit  senkt  sich  auf  Sie.  (Arm 
wiederiioH  emporgehoben.)  Immer  mehr  Schlaf  kommt  über  Sie.  (Arm  wurde 
kataleptisch.)  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein.  (Arm  beginnt  zu  erschlaffen.) 
Immer  fester,  immer  tiefer  wird  der  Schlummer,  immer  tiefer  die  Ruhe.  Sie 
kommen  Tollständig  in  einen  behaglichen. Schlaf;  immer  mehr  kommen  Sie  zur 
Ruhe.  (Bisherige  Zeitdauer  4^/4  Min.  Immer  mehr  kommen  Sie^  hinein,  immer 
tiefer.  Ganz  tief  kommen  Sie  hinein.  Ihr  Zustand  vertieft  sich  immer  mehr.  Sie 
kommen  in  einen  ganz  tiefen  Schlaf.  (Pause.)  Immer  tiefer  werden  Sie  hinein- 
kommen. Immer  mehr.  (Es  wird  2  Mal  an  die  Thür  geklopft.  Der  darauf  wieder 
emporgehobene  Arm  zeigt  von  Neuem  Katalepsie.  £r  beginnt  aber  bald  wieder 
zu  erschlaffen.  Darauf  Sprechen  im  Nebenzimmer.  Jetzt  wieder  Katalepsie  des 
Armes.  Die  Schlafsuggestionen  gehen  während  der  Zeit  weiter.  £s  wird  im  All- 
gemeinen die  Katalepsie  am  linken  Arm  geprüft;  wiederholt  werden  aber  kurze 
Prüfungen  am  rechten  Arm  vorgenommen.  Hierbei  zeigte  sich  die  Katalepsie 
rechts  weniger  ausgeprägt.)  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein.  Es  kommt  immer 
mehr  Schlaf  über  Sie.  Nichts  stört  Sie  mehr.  (Pause.)  Arm  senkt  sich.  Arm 
liegt  auf  Dr.  Vogts  Arm  auf,  leicht  steif.  Hand  senkt  sich,  tiefes  Aufathmen.  Arm 
schlaff.  (15  Min.  16  See.)  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die  Augen  auf. 
1  _  2  —  3.    1  —  -2  —  3.«     Zeitdauer  17  Min. 

Dr.  V.:  „Nun  wie  war  es?" 

Verf.:  „Ich  erinnere  mich  der  Art  des  Weckens;  was  Sie  kurz  vorher  gesagt 
haben,  weiss  ich  nicht.  Ich  merkte  wieder,  dass  Sie  meinen  linken  Arm  ergriffen, 
ihn  emporhoben,  und  dass  sich  eine  Katalepsie  einstellte.  Ich  wunderte  mich,  dass 
der  Arm  in  dieser  für  ihn  nicht  ganz  bequemen  Stellung  nicht  müde  wurde.'' 
Dr.  V.:  „Haben  Sie  in  beiden  Armen  was  gemerkt?"  Verf.:  „Ich  hatte  das  Ge- 
fühl, als  ob  der  rechte  Arm  nicht  so  steif  war."  Dr.  V.:  „Und  als  Ihr  Arm 
herunter  fiel,  wurde  da  Ihr  Zustand  tiefer  oder  oberflächlicher?"  Verf.:  „Ich  kam 
tiefer  hinein."  Dr.  V.:  „Wie  lag  der  Arm,  als  er  heruntergesunken  war?"  Verf. 
giebt  eine  Lage  an,  die  der  Arm  einige  2ieit  vor  dem  fraglichen  Zeitpunkt  ein- 
genommen hat.  Die  Endlage  ist  ihm  nicht  bewusst.  Dr.  V.:  „Habe  ich  Ihren 
Arm  wieder  in  die  Höhe  gehoben?"  Verf.:  „Ist  mir  nicht  bewusst."  Dr.  V.: 
„Wie  oft  habe  ich  Ihren  rechten  Arm  angefasst?"  Verf.:  „Zwei  Mal."  (In  Wirklich- 
keit dreimal.)  Dr.  V.:  „Haben  Sie  auch  das  Klopfen  gehört?"  Verf.:  „Ja.  das 
habe  ich  gehört,  ich  wurde  etwas  wacher  dadurch." 

2.    Hypnose. 

Dr.  V. :  „So,  nun  kommen  Sie  wieder  zur  Ruhe,  ganz  schön.  Die  Augenlider  werden 
Ihnen  immer  schwerer.  Sie  kommen  immer  mehr  zur  Ruhe.  Immer  tiefer  kommen 
Sie  hinein.  Sie  empfinden  ein  Aufhören  aller  Selbstbeobachtung.  Auf  nichts  achten 
Sie  mehr.  Immer  mehr  kommen  Sie  in  einen  tiefen  Schlaf,  in  eine  angenehme 
Behaglichkeit  und  Ruhe.  Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein  in  ein  seliges  Selbst- 
Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    IX.  11 


Ig2  ^'>^Q  Straaten. 

vergessen.  Immer  mehr  kommen  Sie  zur  Rahe.  Immer  mehr  Kühe  und  Müdig- 
keit senkt  sich  auf  Sie.  Ganz  schön.  Immer  mehr  kommen  Sie  zur  Rahe.  Ganz 
tief  kommen  Sie  hinein.  (Arm  schlaff.)  Immer  mehr  Ruhe  kommt  aber  Sie. 
(3^/t  Min.)  Immer  mehr  Müdigkeit  senkt  sich  auf  Sie.  So,  immer  mehr  noch.  Sie 
kommen  immer  mehr  noch  in  einen  tiefen  behaglichen  Schlummer.  (Beide  Arme 
kataleptisch.  4  Min.  20  See.)  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein,  immer  mehr  noch 
zur  Ruhe.  Sie  lassen  den  Schlaf  einfach  an  Sich  herankommen,  über  Sich  ergehen, 
noch  immer  mehr.  (Arme  kataleptisch.  Pause.)  —  Immer  mehr  kommen  Sie  zur 
Ruhe.  Ganz  schön.  (Arme  schlaffer.)  Immer  mehr  seliges  Selbstvergessen  kommt 
über  Sie.  Immer  tiefer,  immer  mehr  noch  kommen  Sie  hinein,  immer  mehr  ver- 
lieren Sie  Ihr  Bewusstsein.  Inuner  tiefer  kommen  Sie  hinein,  immer  mehr  werden 
Sie  allgemein  einschlafen.  Kein  Affect,  keine  Aengstlichkeit  stört  Sie.  Sie  schlafen 
immer  mehr  und  mehr  ein,  immer  tiefer.  (15  Min.  10  See.)  Nun  zähle  ich  bis  3. 
Dann  machen  Sie  die  Augen  auf.    1  —  2  —  3." 

Zeitdauer  der  Hypnose:  17  Min. 

Dr.  V.:  »Nun,  wie  war  es  diesmal?*^ 

Verf. :  „Zunächst  haben  Sie  meinen  linken  Arm,  dann  meinen  rechten  empor- 
gehoben. Sie  blieben  in  der  ihnen  gegebenen  Lage  stehen.  Dann  haben  Sie  die 
Lage  etwas  gewechselt.'^  Dr.  V.:  „Haben  Sie  einen  Unterschied  zwischen  beiden 
Armen  gespürt,  waren  Sie  gleich  steif?"  Verf. :  „Der  linke  Arm  war  steifer.**  Dr.  V.: 
„Haben  Sie  hierfür  eine  Idee,  eine  Vorstellung  gehabt?^  Verf.:  „Ich  hatte  für 
einen  Moment  die  Idee,  der  Grund  könnte  darin  liegen,  dass  ich  als  Linkser 
grössere  Muskelkraft  im  linken  Arm  habe.  loh  erkannte  aber  sofort,  dass  dieser 
Grund  hinfällig  sei.  —  Dr.  V.:  „Was  geschah  nun  weiter?"  Verf.:  „Die  Arme 
senkten  sich,  ich  bin  aber  meiner  Sache  nicht  sicher.''  Dr.  V.:  „Hat  sich  die 
Hypnose  vertieft?"  Verf.:  „Gegen  £nde  war  sie  tief."  Dr.  V.:  „Nachdem  die 
Arme  heruntergesunken  waren,  wie  haben  Sie  da  gelegen?"  „Verf.:  „Ich  weiss 
nicht,  wie  sie  gelegen  haben."  Dr.  V. :  „Wie  sind  Sie  aufgewacht?**  Verf. :  „Wieder 
mit  1,  2,  3.  Sie  weckten  mich  mit  den  Worten:  Jetzt  zähle  ich  bis  3  etc.  Von 
den  vorhergehenden  Suggestionen  weiss  ich  nichts." 

Die  Suggestionen  als  solche  sollten  den  Zweck  haben,  den  Schlaf 
möglichst  zu  vertiefen.  Das,  was  erreicht  worden  ist,  unterscheidet 
sich  nicht  wesentlich  von  dem  tiefen  Grad,  der  in  der  vorhergehenden 
Sitzung  erreicht  wurde,  und  dabei  haben  diese  Hypnosen  die  4-  bis 
5  fache  Zeit  von  denen  der  zweiten  Sitzung,  mit  Ausnahme  der  letzten 
Hypnose,  gedauert.  Nach  der  gewöhnlichen  Art  und  "Weise,  wo  bei 
geschicktem  Vorgehen  sich  die  Hypnosen  von  Sitzung  zu  Sitzung  ver- 
tiefen, hätte  ein  tieferer  Schlafzustand  erreicht  werden  müssen.  Der 
Grund,  warum  dieses  Zie  nicht  erreicht  worden  ist,  ergiebt  sich,  glaube 
ich,  aus  meinem  Bewussts(Mnsinhalt.  Ich  bin  gegen  die  äusseren  Ge- 
räusche im  Wesentlichen  indifferent  geworden,  auch  gegen  die  ein- 
förmigen, fast  immer  dieselben  Worte  wiederholenden  Suggestionen 
bin  ich  so  gleichgiltig,  dass  für  sie  eine  ausgeprägtere  Amnesie  besteht, 
dagegen    erhalten    die    Erscheinungen    der    Katalepsie    während    der 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  XgS 

Hypnose  mein  Bewusstsein  beschäftigt.  Ich  hatte  den  Eindruck,  dass 
diese  Beschäftigung  mich  am  tieferen  Einschlafen  hinderte.  Erst  im 
Momente,  wo  die  Katalepsie  schwand,  wurde  auch  mein  Bewusstsein 
leerer,  und  kam  ich  tiefer  hinein.  Wenn  nun  auch  das  Schwinden 
der  Katalepsie  als  solcher  als  ein  Ausdruck  zunehmender  Schlaftiefe 
aufzufassen  ist,  so  glaube  ich  doch,  dass  die  wesentliche  Zunahme  der 
Schlaftiefe  nach  dem  Schwinden  der  Katalepsie  nicht  nur  auf  die  fort- 
schreitende Vertiefung  der  Schlafhemmung,  sondern  zum  Theil  auch 
auf  das  Schwinden  einer  meine  Aufmerksamkeit  anziehenden  Erscheinung 
zurückzuführen  ist.  Für  unsere  Methode  wäre  daraus  zu  folgern,  dass 
wir  alle  die  Experimente  wie  Katalepsie  und  ähnliche,  soweit  sie  nicht 
ganz  speciell  indicirte  sind,  als  die  Erzielung  tiefer  Schlafzustände  be- 
hindernd zu  vermeiden  haben. 

Als  eine  nebensächliche  Einzelheit  sei  übrigens  aus  dieser  Ver- 
suchsreihe noch  hervorgehoben,  dass  parallel  einem  allgemeinen  Wach- 
werden, wie  es  in  der  zweiten  Hypnose  durch  Klopfen  und  Sprechen 
im  Nebenzimmer  erfolgt,  auch  die  Atonie  wieder  in  Katalepsie  über- 
ging, eine  Erscheinung,  die  ja  den  von  O.  Vogt  behaupteten  Paralle- 
lismus bestätigt. 

IV.  Sitzung. 

1.  Hypnose. 

Dr.  V.:  „So,  nun  lassen  Sie  die  Augen  möglichst  lange  auf.  Nun  fühlen  Sie 
eine  leichte  Wärme  unter  meiner  Hand,  nicht  sehr  warm,  da  Ihre  Stirne  sehr  heiss 
ist.  So,  nun  fallen  Ihnen  die  Augen  zu.  Sie  werden  gegen  die  Musik  gleichgiltig. 
Ihr^erz  schlägt  langsam,  Sie  werden  vollständig  gleichgiltig.  Eine  vollständige 
Indifferenz,  eine  wohlige  selige  Ruhe  kommt  über  Sie.  Jetzt  immer  mehr.  Immer 
mehr  kommen  Sie  zur  Ruhe.  Ganz  tief  kommen  Sie  hinein.  Sie  vergessen  Sich 
immer  mehr,  immer  gleichgiltiger  werden  Sie.  Jetzt  werde  ich  Sie  wecken  und 
das  nächste  Mal  kommen  Sie  tiefer  hinein.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen 
Sie  die  Augen  auf.  1,  2,  3.  Zeitdauer :  1  Min.  27  See.  Verf. :  „Der  Schlummerzustand 
war  massig  tief.  Als  das  Auffallendste  gilt  mir  eine  vollständige  Crleichgiltigkeit 
gegenüber  dem  Klavierspielen.  Ich  war  stets  selir  empfindlich  gegen  derartige 
Störungen  beim  Studiren  oder  Einschlafen.  Dr.  V.:  „Haben  Sie  vielleicht  noch 
die  Psychologie  der  Suggestionen  betreffend  Interessantes  auszusagen,  z.  £.  ob  ich 
Fehler  gemacht  habe."  Verf.:  „Es  ist  mir  nichts  derartiges  zum  Bewusstsein 
gekommen." 

2.  Hypnose. 

Dr.  V. :  „So,  nun  kommen  Sie  ganz  schön  hinein.  Ihre  Augen  werden  immer 
schwerer.  Die  Augenlider  fallen  Ihnen  ganz  fest  zu,  ganz  fest.  Diesmal  kommen  Sie 
tiefer  hinein.  Sie  werden  ganz  gleichgiltig.  Ihre  Gedanken  beschäftigen  Sie  nicht 
mehr  so  intensiv.  Sie  bleiben  bei  einem  Gedanken  hängen,  der  blasst  auch  immer 
mehr  ab.    So  nähern  Sie  Sich  immer  mehr  einer  Bewusstlosigkeit.  —  Immer  mehi* 

11* 


104  ^c^°  Straaten. 

kommen  Sie  in  den  Zustand  des  normalen  Einschlafens.  Immer  mehr  kommen  Sie 
zur  Ruhe.  Immer  tiefer.  Sie  schliessen  Sich  immer  mehr  ab,  vergessen  Sich  immer 
mehr.  So  kommen  Sie  in  einen  tiefen,  wohligen  Schlaf.  Nun  zahle  ich  bis  3: 
dann  machen  Sie  die  Augen  wieder  auf.    1,  2,  3.'' 

Verf.:  „Ich  kam  ziemlich  rasch  in  einen  Schlummerzustand.  Ich  gab  mir  die 
Vorstellung,  dass  ich  zu  Hause  im  Bett  läge  und  kam  so  tiefer  hinein.  Augen- 
blicklich ist  mir  nicht  klar  bewusst,  wie  Sie  mich  geweckt  haben.  Ich  wurde 
etwas  von  dem  Gedanken  beunruhigt,  die  Experimente  würden  nicht  geUngen." 

3.  Hypnose. 

Dr.  V :  „So^  nun  kommen  Sie  wieder  ganz  schön  hinein.  Sie  sind  ganz  frei  tod 
jeglicher  Aengstlichkeit.  So,  mehr  und  mehr  werden  Sie  jetzt  hineinkommen  in  ein 
Tollständiges  Vergessen,  in  eine  grosse  Gleichgiltigkeit.  Sie  haben  nicht  die  Idee, 
es  würde  nicht  gehen.  Solche  Gedanken  schwinden  vollständig.  Indessen  kommt 
eine  selige  Ruhe  über  Sie  und  dieser  behagliche  Zustand  nimmt  Sie  vollständig 
gefangen.  Sie  vergessen  die  Situation  um  Sich  herum.  (Pause.)  Immer  mehr 
kommen  Sie  hinein,  immer  mehr  zur  Ruhe.  Nichts  mehr  von  störenden  Ideen  be- 
herrscht Sic,  dass  Sie  nicht  tiefer  hineinkommen  können  u.  s.  w.  ,  Sie  werden  ganz 
frei  von  dieser  Aengstlichkeit  sein.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die 
Augen  auf.  1,  2,  3.  1,  2,  3.  1.  2,  3.  (Erfolgloses  Zählen.)  Nun  zähle  ich  noch- 
mals bis  3.  Dann  werden  Sie  vollständig  aufwachen,  ganz  wach  und  frisch  sein.  — 
1,  2,  3.  It  2,  3.  (Erfolglos.)  Also  jetzt  zähle  ich  bis  3,  dann  gehen  Ihnen  die 
Augen  wieder  auf  und  Sie  werden  ganz  frisch  und  wach  sein,  1,  2,  3.  (Erfolg- 
loses Zählen.  —  Atonie  des  linken  Armes.  Linker  Arm  wird  5  Mal  gehoben  in 
2  Min.  6  See.  Dann  werden  in  50  See.  14  Bewegungen  mit  dem  linken  Arm  vor- 
genommen.) Nun  zähle  ich  bis  3,  dann  werden  Sie  g^anz  schön  aufwachen.  1.  2, 3. 
(Erfolgloses  Zählen,  Arm  kataleptisch.  Athmung  tief.  Dr.  V.  legt  seine  Hand  auf 
Verf.s  Stirn.)  Dr.  V.:  „So,  nun  fühlen  Sie  die  Wärme  unter  meiner  Hand.  Nun 
zähle  ich  bis  3,  dann  sind  Sie  wach.  1,  2.  3.  (Pause.)  So.  nun  werden  Sie  ganz 
schön  mit  mir  sprechen  können.  Oeflnen  Sie  den  Mund.  (Realisirt  sich.)  Strecken 
Sie  die  Zunge  vor,  so,  nun  ziehen  Sie  sie  wieder  zurück.  Warum  wachen  Sie  nicht 
auf?"  Verf.:  „Ich  möchte  weiter  schlafen."  Dr.  V.:  „Ist  das  der  einzige  Grund ?^ 
Verf.:  „Ich  glaube,  es  ist  unmöglich  für  mich,  wach  zu  werden,  da  ich  keinen  Impob 
dazu  habe.  Ich  will  nicht  aufwachen."  Dr.  V.:  „Warum  entspricht  es  nicht  Ihrem 
Willen?"  (Keine  Antwort.)  „Warum  entspricht  es  nicht  Ihrem  Willen?  WicP 
Verf.:  „Ich  liege  hier  so  behaglich."  Dr.  V.:  „Wo  liegen  Sie  denn?  (^Keine  Ant- 
wort.) „Wo  liegen  Sie  denn?  Wie?"  Verf.:  „Im  Sprechzimmer^"  Dr.  V,:  ,Jst 
es  Ihnen  leicht,  auf  meine  Fragen  zu  antworten?"  Verf.:  „Ja,  sehr  leicht."  Dr.  V.: 
„Hören  Sie  die  Geräusche  von  drausscn?"  Verf.:  „Ja."  Dr.  V.:  „Können  Sie  Sich 
nicht  ganz  dagegen  abschliessen?*^  Verf.:  ,.Nein,  nicht  gänzlich.  Ich  höre  noch 
ein  dumpfes  Hollen."  Dr.  V.:  „Stellen  Sie  Sich  mal  etwas  vor,  z.  B.  das  Gesicht 
Ihrer  Frau.  Sehen  Sie  sie  lebhafter  als  im  Wachen  oder  constatiren  Sie  keinen 
Unterschied?"  Verf.:  „Ich  sehe  Sie  jetzt  entschieden  lebhafter."  Dr.  V.:  „So,  nun 
wachen  Sie  bitte  auf.  1,  2,  3."  —  Erwachen  erfolgt.  10  Min.  19  See.  Dr.  V.:  „Wie 
stellen  Sie  Sicrh  jetzt  im  Wachen  das  Gesicht  Ihrer  Frau  vor,  lebhafter  als  in  der 
Hypnose  ?"  Verf. :  „Ich  stelle  es  mir  jetzt  auch  noch  klar  vor,  viel  klarer,  als  wie  ich  es 
heute  Morgen  that.'  Dr.  V. :  ,.  Wissen  Sie  über  den  ganzen  Zustand  der  Hypnose  noch 
etwas ?^*     Verf.:    „Sie   versuchten   mich   zu  wecken.      Dabei  legten  Sie  Ihre  Htnd 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  }65 

auf  meine  Stirn  und  zählten  bis  3.  (Verf.  weiss  von  den  früheren  Weckversuchen 
nichts,  der  Versuch,  bei  dem  Dr.  V.  die  Hand  ihm  auf  die  Stirn  legt,  ist  der  erste 
ihm  bewusste.)  Dr.  V.:  „Warum  sind  Sie  dann  nicht  aufgewacht?"  Verf.:  „Ich 
fühlte  mich  so  sehr  behaglich  und  Ihre  Suggestion  machte  auf  mich  keinen  Ein- 
druck." Dr.  V.:  „Wissen  Sie,  was  ich  mit  Ihnen  machte?"  Verf.:  „Sie  haben 
meinen  Arm  hin-  und  herbewegt."  Dr.  V.:  „Und  als  er  kataleptisch  wurde,  trat 
da  ein  Unterschied  in  der  Schlaftiefe  auf?"  Verf.:  „Ich  hatte  das  Gefühl,  als 
wurde  ich  wacher."  Dr.  V. :  „Haben  Sie  Ihren  Körper  gefühlt  oder  hatten  Sie  nur 
Bewusstsein  von  Ihrem  Geiste?"  Verf.:  „Ich  habe  an  meinen  Körper  gar  nicht 
gedacht." 

4.  Hypnose. 

„So,  nun  werden  Ihnen  die  Augen  ganz  schön  schwer.  Die  Augenlider  werden 
ganz  schön  zusammengezogen.  Sie  haben  selber  den  Willen,  tiefer  und  fester  ein- 
zuschlafen. Gleichzeitig  werden  Sie  von  keinem  Gefühl  der  Unsicherheit  oder 
Furcht,  dass  es  nicht  gehen  könnte,  bedrückt.  Immer  mehr  entsteht  ein  tiefer 
Schlaf.  Sie  haben  flen  Willen,  tief  und  fest  einzuschlafen,  wie  Sie  es  jetzt  immer 
Abends  gemacht  haben.  (Pause.)  Immer  mehr  stellen  Sie  Ihre  Aufmericsamkeit 
in  den  Dienst  der  einen  Idee,  in  tiefen  Schlaf  zu  kommen.  Sie  haben  keine 
Aengstlichkeit,  keine  Unruhe  mehr.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  gehen  Ihnen  die 
Augen  wieder  auf,  indem  Sie  selber  den  Willen  haben,  wieder  aufzuwachen." 
1,  2,  3.    1,  2,  3." 

Zeitdauer:  4  Min.  6  See. 

Verf. :  „Ich  hatte  den  Willen,  fest  einzuschlafen."  Dr.  V.:  „Wie  hat  sich  dieser 
Wille  geäussert,  wie  trat  er  auf?"  „In  der  Form,  dass  ich  mich  abzuschliessen 
versuchte  gegen  alles  Störende,  gegen  Vorstellungen,  Gedanken,  Empfindungen. 
Ich  unterdrückte  Sie,  wurde  immer  indifferenter  dagegen  und  kam  so  mit  Leichtig- 
keit in  ein  tieferes  Stadium.  —  Von  dem  Aufwecken  ist  mir  noch  bewusst,  dass 
ich  mit  meinem  Willen  aufwachen  sollte.  Von  den  Suggestionen  ist  mir  nur  noch 
bewusst,  dass  ich  mit  meinem  Willen  einschlafen  würde  und  kein  Gefühl  von  Un- 
sicherheit und  Furcht  dabei  hätte.    Die  anderen  habe  ich  nicht  mehr  aufgefasst." 

Im  Gegensatz  zur  dritten  Sitzung  sind  diesmal  Experimente  wie 
die  Feststellung  der  Katalepsie  vollständig  fortgelassen.  Die  3  ersten 
Hypnosen  verfolgen  dasselbe  Princip.  Es  werden  Suggestionen  einfach 
in  der  Form  der  ruhigen  Versicherung  ihres  baldigen  Eintritts  gegeben, 
und  in  ähnlicher  Weise  gewisse  störende  Momente  wie  Herzklopfen 
tmd  die  störende  Idee  des  Nichtgelingens  unterdrückt.  Auf  diese  Weise 
wird  in  der  dritten  Hypnose  ein  so  tiefer  Schlafzustand  geschafifen, 
dass  sogar  das  Bapportverhältniss  verloren  geht.  Diese  Form  ruhiger 
Versicherung  unter  Anpassung  an  individuelle  Eigenthümlichkeiten,  so- 
wie die  dabei  erfolgende  zunehmende  Vertiefung  der  Hypnose  kann 
als  der  eigentliche  Typus  des  Vogt' sehen  Verfahrens  aufgefasst 
werden.  Es  ist  in  wenigen  Minuten  ein  tiefer  Schlafzustand  erreicht; 
während  bei  der  3.  Sitzung  in  einer  unverhältnissmässig  längeren  Zeit 
eine  solche  Tiefe  nicht  erreicht  wurde. 


166  ^'^^  Straafen. 

Als  Complication  der  3.  Hypnose  tritt  dann  Verlust  des  sogenannten 
Rapportverhältnisses  auf;  das  heisst,  ein  Erwecken  durch  die  eingeübte 
Form  „1,  2,  3^  gelingt  nicht.    Der  weitere  Verlauf  der  Hypnose  zeigt 
O.  V  o  g  t '  8  Verfahren,  das  Rapportverhältniss  wieder  herzustellen.    Er 
ruft  zunächst  durch  Erregung  des  Muskelsinns  ein  ganz  partielles  Er- 
wecken hervor  (Eintritt  der  Katalepsie),  dehnt  dieses  Wachsein  dann 
allmählich  soweit  aus,   dass  er  sich  mit  mir  unterhalten  kann,   und  so 
die   wenigstens  zur  Zeit  bestehende  Ursache  des  Nichterwachens  fest- 
stellt.   Nachdem  O.  Vogt  dann  noch  diesen  Zustand  zu  einem" psycho- 
logischen Experiment  ausgenutzt  hat,   erweckt  er  mich,  indem  er  sich 
meiner  Anschauung  von  der  Ursache  des  Nichterwachens  anpasst,  und 
mich  deshalb  bittet,  zu  erwachen. 

Es  sei  als  psychologisch  wichtig  nebenbei  bemerkt,  dass  ich  mir 
ein  visuelles  Erinnerungsbild  während  der  Hypnose  wesentlich  lebhafter 
vorstellen  konnte,  wie  im  Wachen,  und  auch  einen  Teil  dieser  Leb- 
haftigkeit noch  im  Wachen  reproduciren  konnte. 

Au  die  Erfahrung  nun  der  dritten  Hypnose,  dass  es  dem  Verf. 
angenehm  erscheint,  die  Realisation  von  Suggestionen  abhängig  von 
seinem  Willen  zu  wissen,  knüpft  O.  Vogt  in  der  4.  Hypnose  an,  indem 
er  die  Suggestion  eines  autosuggestiv  entstehenden  Schlafes  giebt,  wie 
Verf.  ihn  bereits  weiter  unten  folgenden  Erörterungen  zu  Folge  an 
sich  beobachtet  hatte.  Es  wurde  ein  ziemlich  tiefer  Schlafzustaud 
erzielt.  Der  Versuch  möge  vor  Allem  zeigen,  in  welcher  Form  man 
sich  individuellen  Wünschen  anpassen  kann  und  unter  Umständen  an- 
passen muss. 

V.  Sitzung. 

1.  Hypnose: 

Dr.  V.  (spricht  auf  Bitte  des  Protokollanten  die  Supfgestionen  langsamer  aus 
als  bisher):  „So,  jetzt  werden  Sie  panz  schön  hineinkommen.  Nun  wird  es  Ihnen 
ß:anz  8chön  warm  unter  meiner  Hand.  Und  diese  Wärme  nimmt  immer  mehr  za. 
Nun  fallen  Ihnen  die  Aufäßen  immer  mehr  zu.  So.  immer  mehr.  So,  ganz  fest 
fallen  Ihnen  die  Augen  zu,  dass  sie  sich  ordentlich  zusammenkrampfen.  Immer 
mehr  kommen  Sic  hinein.  Sie  schliessen  Sich  von  Allem  ah,  indem  immer 
mehr  in  Ihrem  ßewusstsein  die  Idee  verschwindet,  Sie  könnten  nicht  in  tiefen 
Nachtschlaf  verfallen.  Sie  sind  jetzt  auf  dem  besten  Wege  zum  tiefen  Nacht- 
schlaf und  dieser  Zustand  nimmt  jetzt  immer  mehr  zu.  Sie  kommen  mehr 
und  mehr  hinein.  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein.  Immer  mehr.  Immer 
tieferem  festeren  Schlaf  nähern  Sie  Sich  jetzt  mehr  und  mehr,  diesem  behaglichen 
molligon  Zustande,  der  Sie  mehr  und  mehr  zum  tiefen  Nachtschlafe  fuhrt.  Nun 
werden  Sie  das  nächste  Mal  noch  tiefer  hineinkommen.  Sie  werden  mehr  und  mehr 
Sich  dem  tiefen  bewusstlosen  Schlafe  nähern,  der  angenehm  auf  Sie  einwirkt.    Ich 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  167 

werde  jetzt  einen  Moment  die  Hypnose  unterbrechen.    Ich  zähle  bis  3,  dann  machen 
Sie  die  Augen  auf.    1,  2,  3."    (Zeitdauer  2  Min.  54  See.) 

Verf.:  „Ich  fühlte  mich  wenig  bocinfluaat.    Ich  habe  alle  Suggestionen  gehört 
und  verstanden.    Gegen  Ende  kam  ich  etwas  tiefer  hinein,  und  hatte  das  Bestreben, 


2.  Hypnose: 

Dr.  y.:  „So,  diesmal  werden  Sie  allmählich  mehr  hineinkommen.  Mehr  und 
mehr  senkt  sich  der  Schlaf  über  Sie.  Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  Immer 
mehr  ist  Ihnen,  als  wenn  Sie  im  Bett  lägen.  Sie  schlafen  einfach  mehr  und  mehr 
ein,  geradeso  wie  Abends,  wenn  Sie  Sich  zu  Bett  legen.'  Sie  vergessen  Sich  mehr 
und  mehr.  Ihr  ganzes  Ichbewnsstsein  schwindet.  Immer  mehr  nimmt  der  Schlaf 
zu.  £ine  richtige  vollständige  Schläfrigkeit  übermannt  Sie.  Und  dieser  Schlaf  ist 
so  behaglich,  dass  Sie  nur  den  einen  Wunsch  haben,  Sich  ihm  ganz  und  gar 
hingeben  zu  können.  (Pause.)  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein.  Immer  mehr 
nähern  Sie  Sich  diesem  tiefen  Schlafe.  Sie  vergessen  Sich  ganz,  hören  auch  nicht 
mehr  auf  meine  Worte.  Sie  werden  durch  Nichts  mehr  gestört.  Immer  mehr 
kommen  Sie  hinein.  Sie  haben  gar  nicht  mehr  die  Idee,  dass  es  nicht  gehen 
könnte.  Sie  werden  vollkommen  gleichgiltig  und  kommen  immer  tiefer  hinein. 
Das  nächste  3Ial  kommen  Sie  noch  tiefer  hinein,  nun  zähle  ich  bis  3,  dann  machen 
Sie  die  Augen  auf.    1,  2,  3."    (Zeitdauer  8  Min.  5  See.) 

Verf.:  „Ich  war  wohl  um  ein  Geringes  tiefer,  als  das  letzte  Mal.  Die  Ge- 
räusche hörte  ich  gerade  so  laut,  wie  im  Wachen,  nur  als  ich  zum  Schluss  eine 
dagegen  gerichtete  Suggestion  hörte,  nahmen  sie  meine  Aufmerksamkeit  weniger 
in  Anspruch,  als  bis  dahin.  (Es  ist  keine  Suggestion  gegen  den  Lärm  gegeben. 
Die  Suggestion,  „Sie  werden  durch  Nichts  mehr  gestört,  wurde  auf  den  Lärm  be- 
zogen.) Dann  wurde  ich  wohl  noch  dadurch  am  tieferen  Einschlafen  gestört,  dass 
ich  Vergleiche  anstellte  zwischen  den  Suggestionen,  die  Sie  mir  gaben,  und  meinen 
abendlichen  Autosuggestionen.  Femer  störte  mich  etwas  der  Druck  Ihrer  Hand. 
Dann  hatte  ich  auch  noch  das  Gefühl,  dass  es  nicht  gelingen  v;ürde.^  Dr.  V.: 
„Weshalb?"    Verf.:  „Ich  weiss  es  nicht,  ich  habe  keinen  bewussten  Grund  dafür." 

3.  Hypnose: 

Dr.  V.:  „So,  jetzt  kommen  Sie  immer  mehr  hinein.  Immer  mehr.  Immer 
tiefer.  Es  wird  Ihnen  so  richtig  behaglich  zu  Muthe.  Sic  können  Sich  zunächst 
ganz  schön  auf  das  concentriren,  was  ich  Sie  jetzt  fragen  werde:  Weshalb  sind 
Sie  heute  nicht  tiefer  hineingekommen?  Sie  können  Sich  jetzt  ganz  schön  darauf 
hin  beobachten.  Nun,  was  finden  Sie?  (Schweigen.)  Nun  kommen  Sie  tiefer  hinein, 
dass  Sie  nichts  mehr  stört.  Ihre  Augen  schliessen  sich  immer  mehr  zu.  Immer 
mehr  können  Sie  Sich  beobachten,  immer  mehr  concentriren.  Nun,  finden  Sie  etwas? 
Wie?"  Verf.:  „Ich  habe  das  Gefühl  der  Verlegenheit,  weil  ich  noch  keinen  Grund 
weiss,  und  habe  in  Folge  dessen  Herzklopfen  bekommen."  Dr.  V. :  „So,  nun  werden 
Sie  schön  ruhig.  Das  Herzklopfen  lässt  ganz  schön  nach.  Das  wird  vollständig 
wieder  verschwinden."  (Das  Herzklopfen  hört  auf.)  „So,  nun  können  Sie  Sich  noch 
immer  besser  concentriren.  Sie  werden  Sich  jetzt  der  Sache  so  richtig  hingeben 
können."  Verf.:  „Jetzt  fällt  es  mir  ein.  Ich  hatte  das  Gefühl,  dass  Sie  nicht  mit 
der  ganzen  Aufmerksamkeit  suggerirten.  Das  hat  mich  schon  in  der  ersten  Hypnose 
beschäftigt."  Dr.  V.:  „Weshalb  hatten  Sie  das  Gefühl?"  Verf.:  „Weil  Sie  einige 
Male   unsicher  im  Ausdruck  waren."     Dr.  V.:  „Wie  das?"     Verf.:  „Sie  zögerten 


168  ▼AQ  Straaten. 

einige  Male  mit  dem  Aussprechen.'^  Dr.  V.:  ,^Da8  war  kein  Zögern.  Ich  habe 
blos  langsamer  gesprochen,  weil  Frau  Bosse  beim  Nachschreiben  nicht  so  rasch 
mitkommen  konnte.  Das  will  ich  jetzt  vermeiden.  So,  jetzt  werden  Sie  mal  sehen, 
dass  es  besser  geht.  (Suggestionen  in  rascherem  Tempo  gegeben  und  so  entachie* 
dener  klingend.)  Immer  gleichgiltiger  werden  Sie  gegen  meine  Worte.  Sie  achlieasen 
Sich  immer  mehr  ab,  und  es  kommt  jetzt  ein  so  seliger  Schlaf  über  Sie.  Dieser 
Schlaf  nimmt  nun  immer  mehr  zu.  Und  es  senkt  sich  ein  so  seliges  Gefahl  von 
Müdigkeit  auf  Sie.  Sie  geben  Sich  dem  so  ganz  hin.  Sie  lassen  Sich  einfach  gehen. 
Keine  Empfindung,  kein  Gefühl  stört  Sie  mehr.  Sie  kommen  immer  mehr  in  einen 
Zustand  wie  beim  tiefen  Nachtschlaf.  Und  dieser  Zustand  nimmt  immer  mehr  an 
Tiefe  zu.  So,  jetzt  mehr  und  mehr.  Sie  schliessen  Sich  mehr  und  mehr  ab.  So, 
jetzt  zähle  ich  bift  3,  dann  machen  Sie  die  Augen  wieder  auf.    1,  2,  3.'^ 

Zeitdauer:  9  Min.  35  See. 

Dr.  V.:  „Als  Sie  Sich  in  der  Hypnose  beobachteten,  konnten  Sie  da  besser 
nachdenken,  als  im  Wachen?**  Verf.:  „Ja,  viel  schärfer."  Dr.  V.:  ,J[n wiefern 
schärfer?^*  Verl:  „Ich  konnte  in  der  Hypnose  die  Suggestionen  und  die  Eindrücke 
der  vorigen  Hypnose  besser  ins  Gedä6htniss  zurückrufen. '^  Dr.  V.:  „Hatten  Sie, 
als  Sie  den  Grund  fanden,  die  Vorstellung,  das  ist  der  Grund ?^  Verl:  n^<^h  habe 
die  sichere  Gewissheit,  dass  es  der  Grund  war."  Dr.  V.:  „Wie  war  die  Schlafliefe 
gegen  Ende  hin?"  Verf.:  „Ich  war  auf  dem  besten  Wege  einzuschlafen,  hatte 
keine  störenden  Vorstellungen  und  Gedanken.  Ich  hatte  auch  den  Eindruck,  dass 
Ihre  Suggestionen  temperamentvoller  gegeben  wurden,  und  dass  sie  so  besser  auf 
mich  einwirkten." 

4.   Hypnose. 

Dr.  V.  (lebhaft  gegebene  Suggestionen):  „So.  jetzt  werden  Sie  Sich  immer 
mehr  der  Ruhe  hingeben.  So,  immer  mehr.  Ihre  Augenlider  schliessen  sich  immer 
fester  zu.  Immer  mehr  Müdigkeit  senkt  sich  auf  Sie.  Immer  tiefer  kommen  Sie 
hinein,  Sie  vergessen  Sich  mehr  und  mehr.  So,  immer  mehr.  Es  kommt  jetzt  eine 
80  mollige,  behagliche  Ruhe  über  Sie.  Sie  schlafen  gerade  so  ein,  wie  Abends  beim 
Zubettegehen.  Ihr  ganzes  Ichbewusstsein  schwindet.  Sie  vergessen  die  ganze 
Situation,  und  es  ist  Ihnen  gerade  so  zu  Mute,  wie  Abends  beim  Einschlafen.  Immer 
mehr  und  mehr  kommen  Sie  zur  Ruhe.  Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  (Pause.) 
Immer  mehr  werden  Sie  jetzt  einschlafen.  Der  Schlaf  nimmt  immer  mehr  zu,  ver- 
tieft sich  mehr  und  mehr.  Sie  haben  keine  Idee  mehr,  nicht  schlafen  zu  können. 
Sie  fühlen,  wie  meine  Worte  auf  Sie  einwirken.  (Pause.)  Sie  haben  das  Gefühl, 
tiefer  hineinzukommen.  Immer  mehr  nimmt  die  Müdigkeit  zu.  Jetzt  zähle  ich  bis 
3.  dann  werden  Sie  Ihre  Augen  öffnen.  1,  2,  3.  1,  2,  3."  Zeitdauer  6  Min.  1  See. 
Verf.:  „Ich  habe  mich  in  einem  massig  tiefen  Schlafzustand  befunden,  in  dem  die 
Bilder  von  mehreren  Personen  auftauchten.  Die  Lebhaftigkeit  derselben  war  ver- 
schieden. Einige  waren  sehr  klar  und  deutlich,  fast  als  wenn  ich  sie  leibhaftig 
gesehen  hätte,  andere  waren  aber  sehr  verschwommen.**  Dr.  V. :  „Hörten  Sie  noch 
Geräusche?"  Verf.:  „Ich  erinnere  mich  nicht,  welche  gehört  zu  haben."  Dr.  V. 
„Haben  Sie  meine  Suggestionen  gehört?"  Verf.:  „Ich  habe  sie  wohl  gehört,  aber 
nicht  aufgefasst,  weil  mich  meine  Bilder  zu  lebhaft  beschäftigten." 

Die  Suggestionen,  die  in  den  verschiedenen  Hypnosen  der  fünften 
Sitzung    gegeben  wurden,    unterscheiden    sich   inhaltlich   nicht   weiter. 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  169 

Die  ganze  Zeit  hindurch  sind  Suggestionen  gegeben,  die.  sicher  geeignet 
waren,  einen  tiefen  Zustand  zu  erzielen.  Sie  passten  sich  durchaus 
meinen  ii^dividuellen  Tendenzen  und  Befürchtungen  an. 

Das,  was  die  Suggestionen  der  ersten  2  Hypnosen  im  Gegensatz 
zu  der  3.  und  4.  Hypnose  characterisirty  ist  der  Umstand,  dass  sie  zur 
Erleichterung  des  Protokollirens  etwas  zögernd  gegeben  wurden.  Ein 
solches  Zögern  macht  den  Eindruck  dlBr  Unsicherheit,  und  es  ist  inter- 
essant, in  welcher  Weise  ich  in  der  zweiten  Hypnose  darauf  reagire, 
ohne  mir  der  in  der  Unsicherheit  gelegenen  Ursache  klar  bewusst  zu 
werdeiL 

Ich  bin  während  dieser  Hypnose  in  einen  Zustand  gerathen,  in 
dem  ich  durch  Dinge  mich  stark  belästigt  fühle,  die  mich  nie  gestört 
hatten,  resp,  nicht  in  so  intensivem  Grade.  Das  Geräusch  auf  der 
Strasse  ärgert  mich  in  einer  auffallend  empfindlichen  Weise. 

Ich  hatte  schon  häufiger  stärkere  Geräusche  während  der  Hypnosen 
gehört,  ohne  in  dem  Maasse  durch  dieselbe  belästigt  zu  werden.  Wie 
sehr  ich  nach  einer  Suggestion  ve'rlange,  die  mich  gegen  das  Geräusch 
indifferent  macht,  zeigt  der  Umstand,  dass  ich  die  Suggestion  „Sie 
werden  durch  nichts  gestärkt,"  direct  auf  den  Lärm  beziehe.  Daraus 
erkennt  man  zugleich,  dass  ich  den  guten  Willen  hatte,  einzuschlafen. 
Mich  genirt  femer  der  Druck  von  0.  Vogt's  Hand.  Dies  ist  sehr 
bezeichnend  für  meine  momentane  Empfindlichkeit.  Ferner  komme 
ich  noch  auf  den  Gedanken,  Vergleiche  anzustellen  zwischen  0.  Vogt's 
Suggestionen  und  meinen  Autosuggestionen,  die  ich  mir  zu  jener  Zeit 
Abends  gab  zur  Herbeiführung  hypnotischer  Zustände.  Ich  befinde 
mich  in  einem  Zustande,  wo  ich  keinen  Ruhepunkt  finde. 

Die  dritte  Hypnose  zeigt  uns,  wie  man  derartig  nicht  klar 
bewusste  störende  Momente,  in  diesem  Falle  die  Unsicherheit  in  der 
Aussprache  der  Suggestionen,  im  eingeengten  Bewusstsein  durch  die 
Selbstbeobachtung  aufdecken  kann,  um  sie  so  weiterhin  zu  beseitigen 
oder  zu  vermeiden. 

Dass  mich  die  Unsicherheit  in  dem  Aussprechen  der  Suggestionen 
genirte,  wird  jeder  erklärlich  finden,  der  jemals  die  Rede  eines  un- 
sicheren Redners  gehört  hat.  Der  Zuhörer  ist  in  solchen  Fällen  häufig 
noch  beunruhigter  als  der  Redner  selbst. 

Wir  sehen  also,  dass  ein  Hypnotiseur,  der  sich  der  Verbal- 
suggestionen bedient,  nur  dann  auf  einen  durchschlagenden  Erfolg 
rechnen  kann,  wenn  er  im  Stande  ist,  bei  einer  Fülle  gutgewählter 
Ausdrücke  und  Redewendungen  mit  voller  Sicherheit  seine  Suggestionen 


170  "^^^  Straaten. 

geben  zu  können.  £in  grosser  Theil  der  Misserfolge  bei  Anfängern 
ist  ganz  sicher  darauf  zurückzuführen,  dass  ihnen  sozusagen  der  nötbige 
Schneid  im  Suggeriren  abgeht.  Das  habe  ich  in  der  Polikliiuk  einmal 
beobachten  können.  Eine  Patientin,  die  schon  längere  Zeit  ron  O.  Vogt 
hypnotisirt  worden  war,  wurde,  da  sie  leicht  zu  hypnotisiren  war,  von 
einem  Anfänger  hjpnotisirt.  Die  Frau  gerieth  nur  in  einen  ober- 
flächlichen hypnotischen  Zustand.  Die  Heilsuggestkuien  machten  gar 
keinen  Eindruck.  Sie  hatte  sich  während  der  Hypnose  unruhig  gefohlt 
und  war  sehr  unbefriedigt.  Als  ich  mich  nach  den  Gründen  bei  ihr 
erkundigte,  erzählte  sie  mir,  das  unsichere  Sprechen  des  Hypnotiseurs 
wäre  daran  Schuld  gewesen.  Wer  gute  Erfolge  erzielen  will,  bedarf 
längerer  Uebung  im  Suggeriren.  Ablesen  der  Suggestionen  oder  Aus- 
wendiglernen derselben,  was  beides  schon  vorgeschlagen  ist,  kann  die 
Uebung  nicht  ersetzen. 

VI.  Sitzung. 

1.   Hypnose. 

Dr.  V.  (die  Suggestionen  werden  in  lobhafter  Sprechweise  gegeben) :  ^So,  nan 
fallen  Ihnen  die  Augen  ganz  schön  zu.  Sie  kommen  ganz  schön  hinein.  £s  be- 
herrscht Sie  nur  noch  die  Idee,  tief  hineinzukommen.  Sie  haben  ganz  das  Oeftih], 
wie  Abends,  wo  Sie  gar  nichts  stört.  Sie  lassen  Sich  mehr  und  mehr  von  der 
Müdigkeit  gefangen  nehmen.  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein,  Sie  vergessen  Sich 
immer  mehr.  Nichts  mehr  stört  Sie.  Ihre  Gedanken  machen  keinen  Eindruck 
mehr  auf  Sie  und  Sie  schlafen  e})enso  leicht  ein  wie  Abends.  Nichts  stört  Sie 
mehr.  Sie  fiihlen  Sich  so  wohlig,.9o  behaglich,  so  mollig.  Das  nimmt  immer  mehr 
zu.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die  Augen  wieder  auf,  und  das 
nächste  3Ial  werden  Sie  noch  tiefer  hineinkommen.  1,  2,  3.  1,  2,  3."  Zeitdauer: 
5  Min.  55  See. 

Verf.:  „Ich  befand  mich  in  einem  angenelimen  Schlummerzustand,  in  welchem 
sich  mir  ein  Bild  aufgedrängt  hat.  das  mich  für  den  grössten  Theil  der  Hypnose 
beherrschte.  Es  war  ein  bestimmtes  Zimmer  mit  einer  neuen  Zimmereinrichtung. 
Ich  habe  mir  das  Zimmer  mit  der  neuen  Einrichtung  ausgestattet  vorgestellt. 
Dr.  V.:  „War  es  lebhafter  als  im  Wachen?**  Verf.:  „Ja."  Dr.  V.:  „Haben  Sie 
gewusst.  da'sa  Sie  hier  lagen?"  Verf.:  ,.Ich  glaube  nicht,  dass  ich  daran  gedacht 
habe,  aber  andrerseits  war  die  Vorstellung  des  Zimmers  auch  nicht  so  lebhaft,  dass 
ich  geglaubt  hätte,  wirklich  darin  zu  sein.  Manchmal  fiel  mir  das  Bild  auseinander, 
so  dass  ich  3Iühe  hatte,  es  wieder  zusammenzustellen."  Dr.  V.:  „Wie  waren  die 
Farben?"  Verl.:  „Die  Farben  waren  etwas  verschwommen,  aber  fast  so,  als  ob  ich 
das  Zimmer  gesehen  hätte."  Dr.  V. :  „Haben  Sie  meine  Worte  gehört?"  Verf.:  „Ja, 
aber  ihr  Kindruck  war  nicht  derartig,  dass  dadurch  das  Bild  verwischt  worden  sei." 

2.    Hypnose. 

Dr.  V.:  ,.So.  nun  wird  Ihnen  wieder  ganz  schwer  in  den  Augenlidern.  Nun 
fallen  Ihnen  die  Augen  schön  zu.  Immer  fester.  So,  jetzt  kommen  wieder  Traum- 
bilder in  Ihr  Bewusstsein.  die  Sie  mit  Intensität  fesseln.    Sie  vergessen  dabei  voll« 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  \J\ 

ständig  das,  was  Sie  umgiebt.  Nun  lassen  die  Traumbilder  nach,  es  bleibt  nur 
ein  Bild  haften,  das  auch  allmählich  an  Intensität  nachlässt.  So,  und  nun  kommen 
Sie  mehr  und  mehr  in  richtigen  Schlaf.  Das  ist  der  Weg,  der  Sie  in  den  richtigen 
Schlaf  einführt.  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein.  Immer  mehr  vergessen  Sie  Sich. 
Ihre  Aufmerksamkeit  wird  mehr  und  mehr  getrübt.  Die  Vorstellungen  blassen 
immer  mehr  und  mehr  ab,  und  schliesslich  liegen  Sie  im  tiefen  traumlosen  Schlafe 
da.  Ganz  allmählich  tritt  der  Schlaf  auf.  (Pause.)  Immer  mehr  kommen  Sie 
hinein.  Immer  tiefer  kommen  Sie  zur  Buhe.  Immer  tiefer.  Nun  zähle  ich  bis  3, 
dann  gehen  Ihnen  die  Augen  wieder  auf  und  das  nächste  Mal  kommen  Sie  dann 
noch  tiefer  hinein.     1,  2,  3.^    Zeitdauer:  3  Min.  55  See. 

Verf.:  „Durch  Ihre  Suggestionen  wurde  ich  auf  ein  Traumbild  gelenkt.  Das 
hat  mich  dann  auch  allmählich  verlassen.  Ich  bin  durch  Zucken  im  linken  Bein 
und  durch  Herzklopfen  gestört  worden;  für  das  Herzklopfen  kann  ich  keinen 
Grund  anfuhren."  Dr..V.:  „Wie  war  die  Schlaftiefe?**  Verf.:  „Nicht  grösser  wie 
das  vorige  3Ial."  Dr.  V.:  „Wodurch  sind  Sie  geweckt  worden?"  Verf.:  „Durch 
1.  2,  3." 

3.  Hypnose. 

Dr.  V.:  „Nun  lassen  Sie  die  Augen  möglichst  lange  auf.  Die  Augenlider 
fallen  Ihnen  mit  aller  Gewalt  zu.  Versuchen  Sie  nur,  sie  aufzumachen,  es  geht 
trotzdem  nicht.  (Ein  Oeffnen  erfolgt  nicht.)  Und  es  übermannt  Sie  eine  so  >grohlige 
Blüdigkeit.  alle  Aengstlichkeit  schwindet,  alles  Herzklopfen  lässt  nach.  Sie  fiihlen 
einfach  immer  mehr  eine  zunehmende  Schläfrigkeit.  Immer  mehr  lässt  das  Herz- 
klopfen nach.  Immer  mehr  kommen  Sie  zur  Ruhe.  Immer  tiefer.  Immer  mehr 
vergessen  Sie  Sich.  So.  immer  mehr.  Immer  mehr  Schlaf  senkt  sich  über  Sie,  so 
richtiger  Schlaf,  richtiger  molliger  Schlaf.  Der  ist  Ihnen  so  angenehm  und  Sie 
fühlen,  wie  er  tiefer  wird,  und  immer  mehr  zunimmt.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann 
machen  Sie  die  Augen  auf.     1,  2,  3.     1,  2.  3."     Zeitdauer:  2  3Iin.  24  See. 

Verf.:  „Ich  fühle  mich  noch  furchtbar  schläfrig.** 

4.  Hypnose: 

Dr.  V.:  .,Mit  aller  Macht  fallen  Ihnen  jetzt  wieder  die  Augen  zu.  Mit  aller 
Macht  bricht  jetzt  der  Schlaf  über  Sie  herein,  ganz  gehörig.  So,  jetzt.  Immer 
mehr,  immer  tiefer.  So,  jetzt.  Immer  mehr  Schlaf.  Sie  haben  das  Verlangen,  in 
tiefen  Schlaf  zu  kommen.  Sie  werden  ganz  und  gar  vom  Schlaf  übermannt.  So, 
immer  tiefer,  immer  mehr.  Jetzt  gehen  Ihnen  die  Augen  wieder  auf.  1,  2,  3." 
Zeitdauer  1  Min.     Kurz  dauerndes  Oeffnen  der  Augen. 

5.  Hypnose: 

Augen  spontan  geschlossen.  Dr.  V. :  •  „So,  immer  mehr,  immer  tiefer.  Sie 
sind  so  schläfrig.  Immer  mehr,  immer  mehr.  Sie  worden  ganz  ruhig.  Immer  mehr. 
Es  ist  Ihnen  so  behaglich.  Gar  nichts  stört  Sie.  So,  immer  mehr.  Schöner, 
wohliger  Schlaf  senkt  sich  auf  Sie.  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein.  Immer  mehr. 
Immer  tiefer.  So,  jetzt  kommen  Sie  gehörig  hinein.  Immer  tiefer.  Sie  vergessen 
Sich  vollständig.  Immer  tiefer.  Immer  mehr  noch.  Vollständiger  Schlaf  über- 
mannt Sie.  Immer  tiefer,  ganz  gehörig.  Nun  zähle  ich  bis  3,  dann  machen  Sie 
die  Augen  auf.     1,2,3.     1,2,3.     1,2,3."    Zeitdauer:  2  Min.  5  See. 

Verf.:  ,.Ich  bin  jetzt  wieder  etwas  mehr  wach  wie  zwischen  der  4.  und  5. 
Hypnose.**  Dr.  V.:  „AVie  war  der  Schlaf?**  Verf.:  ,,Es  war  ein  mit  grossem 
Müdigkeitsgelühl  gepaarter  Schlaf.** 


]72  van  Straaten. 

6.  Hypnose: 

Dr.  V.:  ,,So,  immer  mehr  kommen  Sie  hinein.  Jetzt  kommt  wieder  dieselbe 
Müdigkeit  über  Sie.  Ihre  Augenlider  ziehen  sich  krampfhaft  zusammen.  Ganz 
furchtbar  müde  werden  Sie.  Ganz  furchtbar  müde.  Ganz  gehörig  müde.  Sie 
fühlen  Sich  dabei  so  richtig  schläfrig.  So,  immer  mehr.  Ganz  schön.  Ganz  tief! 
So,  nun  zähle  ich  bis  3,  dann  machen  Sie  die  Augen  auf.  1,  2,  3.  1,  2.  3."  Zeit- 
dauer: 0  Min.  52  See. 

Verf. :  „Diesmal  war  das  Schlafstadium  ein  sehr  tiefes.  In  dieser  Sitzung  sind 
die  Schlafstadien  im  Ganzen  tiefer,  der  Schlaf  ist  schwerer.'*  Dr.  V. :  „Haben  Sie 
dafür  einen  Grund ?^^  Verf.:  .,Ich  kann  es  mir  nicht  anders  denken,  als  dass  Ihre 
Suggestionen  dies  bedingen."  Dr.  V.:  ., Waren  denn  meine  Suggestionen  anders?*' 
Verf.:  .,Sie  wurden  mit  mehr  Leidenschaft,  mit  mehr  Feuer  gegeben." 

7.  Hypnose: 

Die  Saggestionen  werden  diesmal  mit  fast  überstürzender  Schnelligkeit  ge- 
geben. Dr.  V.:  „So,  nun  werden  Sie  todtmüde.  Die  Augenlider  schliessen  sich 
krampfhaft  zusammen.  Sie  kommen  immer  tiefer  hinein,  Sie  kommen  immer  tiefer 
hinein,  und  es  wird  Ihnen  so  selig,  so  mollig  zu  Muthe,  so  ganz  gehörig.  Immer 
tiefer,  immer  mehr.  So,  jetzt  mehr  und  mehr.  So,  jetzt  senkt  sich  die  Müdigkeit 
nur  so  auf  Sie.  Immer  mehr  krampft  es  die  Augenlider  zu.  Immer  tiefer.  Mit 
aller  Macht  kommen  Sie  hinein.  So,  jetzt,  jetzt.  Immer  mehr.  So,  jetzt.  Sie 
fühlen  kein  Herzklopfen.  Sie  kommen  in  richtigen,  tiefen  Schlaf.  Immer  mehr. 
Immer  tiefer.  Immer  mehr  seliger  Schlaf  senkt  sich  auf  Sie.  So,  immer  mehr. 
Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein,  ^un  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die 
Augen  auf.     1,  2,  3.**    Zeitdauer:  1  Min.  27  See. 

Verf.:  „Ich  war  weniger  müde  als  vorher,  auch  war  die  Schlaftiefe  nicht  so 
gross.     Ich  hatte  das  Empfinden,  dass  Sie  zu  rasch  sprachen  und  das  störte  mich.^ 

8.  Hypnose. 

Dr.  V.:  „So,  nun  behalten  Sie  nur  so  lange,  als  wie  Sie  können,  die  Augen 
auf.  Immer  fester  fallen  Sie  Ihnen  zu.  Nun  kommt  ordentlich  Müdigkeit  über 
Sie.  So,  nun  kommen  Sie  ganz  anders  hinein.  Immer  schwerere  Müdigkeit  senkt 
sich  über  Sie.  Immer  mehr,  immer  mehr.  So,  nun  wieder  so  schwere  Müdigkeit, 
wie  vorhin.  So,  jetzt  kommt  sie  immer  mehr.  Immer  mehr  Ruhe  überkommt  Sie. 
Immer  mehr  ordentlich  schwere  Müdigkeit.  Nun  zähle  ich  bis  3,  dann  machen  Sie 
die  Augen  auf.     1,  2,  3."     Zeitdauer  1  Min.  30  See. 

Verf.:  „Ich  bin  sehr  müde.** 

9.  Hypnose. 

Dr.  V.:  „So,  nun  überkommt  Sie  wieder  die  Müdigkeit.  So,  nun  kommen 
Sie  mehr  hinein.  So.  jetzt  immer  mehr.  Immer  mehr.  So,  jetzt  wirke  ich 
wieder  so  richtig  auf  Sie  ein.  So,  jetzt.  Immer  mehr.  Immer  mehr.  Es  über- 
mannt Sie  einfach  die  31üdigkeit.  Die  Müdigkeit  senkt  sich  nur  so  auf  Sie.  Mit 
aller  Macht  kommen  Sie  in  den  Schlaf  hinein.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen 
Sie  die  Augen  auf  und  kommen  das  nächste  Mal  noch  tiefer  hinein.  1,  2,  3.** 
Zeitdauer:  54  See. 

Verf.:  „Bin  noch  sehr  müde.** 

10.  Hypnose. 

Dr.  V.:  „So  nun  kommen  Sie  immer  mehr  hinein.  Immer  mehr.  Sie  werden 
todmüde.    Sie  kommen  ordentlich   hinein.     Immer  mehr,   immer  mehr  senkt  sich 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  173 

der  Schlaf,  die  Schlafhemmung  auf  Sie,  Immer  schläfriger  werden  Sie.  Sie  ver- 
gessen Sich  immer  mehr.  Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  So  jetzt.  Immer  mehr. 
Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die  Augen  wieder  auf.  1,  2,  3.  1,  2,  S." 
Zeitdauer:  1  Min.  6  See. 

Verf.:  ,,Bin  so  todmüde,  möchte  die  Augen  am  Uebsten  nicht  aufmachen.  Ich 
befand  mich  in  einem  tieferen  Schla&tadium,  wie  das  letzte  Mal.'' 

11.  Hypnose. 

Dr,  V. :  „So,  nun  kommen  Sie  immer  tiefer  hinein.  Immer  mehr.  Die  Müdig- 
keit nimmt  immer  mehr  zy,  dass  Sie  so  richtig  schön  einschlafen.  Ganz  todmüde 
werden  Sie.  Sie  vergessen  Sich  immer  mehr.  Die  Müdigkeit  bringt  Sie  immer 
mehr  in  wirklichen  angenehmen  Schlaf.  Nun  zähle  ich  bis  3,  dann  machen  Sie  die 
Augen  auf.    1,  2,  3."    Zeitdauer:  1  Min.  49  See. 

Verf.:  „Ich  ^ühle  mich  etwas  leichter." 

Dr.  V.:  „Haben  Sie  geschlafen?"  Verf.:  „Nein,  aber  ich  war  auf  dem  bestem 
Wege." 

12.  Hypnose. 

Dr.  V. :  „So,  nun  lassen  Sie  die  Augen  möglichst  lange  auf.  So,  nun  schliessen 
sich  die  Augen  wieder  fest  zu.  Immer  mehr  kommt  Müdigkeit  und  Ruhe  über 
Sie  und  damit  dann  auch  richtiger  Schlaf.  Die  Müdigkeit  senkt  sich  immer  mehr 
und  mehr  auf  Sie.  Sie  vergessen  Sich  ganz,  bis  Sie  schliesslich  einschlafen.  Immer 
mehr,  immer  tiefer.  So,  jetzt  mehr  und  mehr.  Immer  mehr  schlafen  Sie  ein. 
Immer  mehr  übermannt  Sie  behaglicher  Schlaf,  so  richtig  wohliger  Schlaf,  dabei 
ist  kein  Gefühl  von  Schwere  vorhanden,  es  ist  einfach  ein  behaglicher  molliger 
Schlaf  mit  angenehmen  Erwachen.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  sind  Sie  wieder 
wach.    1,  2,  3.     1,  2,  3.    1,  2,  3,"    Zeitdauer:  1  Min.  35  See. 

Verf. :  „Ich  habe  ziemlich  fest  geschlafen.  Der  Schlaf  war  ganz  anderer  Art. 
Mir  ist  so  ruhig  und  behaglich  zu  Muthe.  Vorher  fühlte  ich  in  der  Hypnose  und 
nach  derselben  eine  fast  unüberwindliche  Müdigkeit.  Dieser  Zustand  war  geradezu 
unangenehm.  Ich  war  so  furchtbar  müde,  dass  ich  mich  kaum  regen  mochte. 
Dr.  V. :  „Waren  die  Zustände  gleich  tief?"     Verf. :  „Dieser  letzte  war  wohl  tiefer." 

13.  Hypnose. 

Dr.  y.:  „So,  nun  schliessen  Sie  die  Augen  wieder.  Nun  senkt  sich  behag- 
licher Schlaf  auf  Sie,  ganz  wie  der  letzte.  £s  wird  Ihnen  so  richtig  wohl  zu  Muthe. 
Nichts  unangenehmes  ist  dabei,  es  ist  ein  richtig  wohliger  Schlafzustand,  wie  er 
Ihnen  erwünscht  und  willkommen  ist.  Mehr  und  mehr.  Immer  mehr  kommen 
Sie  hinein.  Immer  mehr  senkt  sich  mollige  Schläfrigkeit  auf  Sie.  Immer  mehr 
richtiges  tiefes  Vergessen.  Alle  Selbstbeobachtung,  alles  Interesse  hört  auf. 
Sie  werden  ganz  gleichgültig.  Immer  tiefer  und  tiefer  kommen  Sie  hinein.  Sie 
schlafen  immer  tiefer  ein.  Das  ist  ein  so  schönes,  seliges  Gefühl.  Immer  mehr  und 
mehr.  Immer  tiefer.  £s  ist  Ihnen  so  behaglich  zu  Muthe,  es  ist  ein  so  seliges 
Sichselbstvergessen,  dem  Sie  Sich  ganz  und  gar  hingeben.  Nun  zähle  ich  bis  3. 
Dann  machen  Sie  die  Augen  auf.    1,  2,  3.     1,  2,  3.'*    Zeitdauer:  2  Min.  27  See. 

Dr.  V.:  „Wie  war  es  jetzt?"  Verf.:  „Ich  befand  mich  in  einem  tiefen  ange- 
nehmen Schlaf.  Ich  war  wohl  zum  Schluss  bewusstlos.  Ich  weiss  nicht,  wie  ich 
geweckt  worden  bin.** 


174  VAi^  Straaten. 

Bezüglich  des  Inhaltes  unterscheiden  sich  in  dieser  Sitziuig  die 
Suggestionen  von  1 — 10  von  den  3  letzten.  In  den  ersten  10  Hypnosen 
wird  darauf  Werth  gelegt,  dass  mich  eine  übermannende  Schläfrigkeit 
und  Müdigkeit  befallen,  die  mich  zum  Schlaf  zwingen.  Die  Suggestionen 
realisiren  sich  sehr  intensiv,  aber  der  daraus  resultirende  Schlaf  war 
mir  ein  durchaus  unangenehmer.  In  den  letzten  Versuchen  wurde  auf 
eine  angenehme  Gestaltung  des  Schlafes  mehr  Nachdruck  gelegt.  Bei 
anscheinend  sonst  gleichen  Bedingungen  erzielte  die  zweite  Form  nicht 
nur  einen  subjectiv  angenehmeren,  sondern  gleichzeitig  auch  einen 
tieferen  Schlaf.  Ich  habe  in  der  13.  Hypnose,  obwohl  diese  Hypnose 
nur  2  Min.  24  See.  dauerte,  direct  geschlafen. 

Was  nun  die  Betonung  der  Suggestionen  anbelangt,  so  wurde  sie 
die  ganze  Zeit  hindurch  mit  grosser  Lebhaftigkeit  und  grossem  Eüfer 
gegeben.  Sie  contrastiren  darin  ebenso,  wie  in  ihren  Besultaten  voll- 
ständig zu  den  ersten  Hypnosen  der  5.  Sitzung.  Absichtlich  hat 
O.  Vogt  in  der  7.  Hypnose  die  Lebhaftigkeit  so  gesteigert,  dass  sich 
die  Suggestionen  sozusagen  überstürzten.  Diese  übertriebene  Lebhaftig- 
keit zeitigte  entschieden  ein  wenig  gutes  Resultat.  Die  grosse  Wichtig- 
keit der  Betonung   zeigt  uns   diese  Sitzung  also  in  frappanter  Weise. 

YIL  Sitzung. 

1.  Hypnose: 

Dr.  V.:  ,,So,  nun  sehen  Sie  mich  an.  Nun  wird  Ihnen  wieder  warm  unter 
meiner  Hand.  Nun  fallen  Ihnen  die  Augenlider  zu,  und  es  kommt  ordentliche 
Müdigkeit  über  Sie,  nicht  unangenehme,  sondern  wohlige  Müdigkeit.  Immer  mehr. 
3Iit  aller  Macht  kommt  sie.  Immer  mehr.  Immer  stärker.  Immer  mehr  nimmt 
sie  zu.  Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  Dieses  Mal  ist  es  Ihnen  gar  nicht  un- 
angenehm zu  Muthe,  es  ist  eine  so  wohlige  Müdigkeit,  die  Sie  übermannt,  in  die 
Sie  immer  tiefer  liineinsinken.  Das  ist  eine  so  angenehme  Müdigkeit,  die  Sie 
überkommt.  Nun  zähle  ich  bis  8,  dann  gehen  Ihre  Augen  wieder  auf.  1,  2,  3." 
Zeitdauer:  1  Min.  22  See. 

Verf. :  „Ich  wurde  rascli  von  einer  angenehmen  Müdigkeit  ergriffen.  Ich 
incK'hte  diese  Art  mit  der  Müdigkeit  vergleichen,  wie  sie  sich  mitunter  nach  der 
Mahlzeit  ernstellt.     Die  Schlaftiefe  war  gering.** 

2.  Hypnose: 

Dr.  V. :  „Nun  kommt  noch  mehr  Kühe  über  Sie,  und  Sie  kommen  noch  mehr 
liinein.  Immer  mehr  kommen  Sie  zur  Kühe.  Immer  mehr  senkt  sich  Ruhe  über  Sie. 
Immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  So,  mehr  und  mehr.  So.  ganz  schön  kommen  Sie 
hinein,  ganz  schön  kommen  Sie  zur  Ruhe.  Immer  tiefer.  So,  mehr  und  mehr  senkt  sich 
3lüdigkeit,  wohlige  behagliche  Bindigkeit,  ein  angenehmes  Gefühl  des  Vergessens  auf 
Sie.  So,  immer  tiefer.  So,  immer  mehr.  0,  so  schöne  wohlige  Müdigkeit  kommt  mit 
aller  Macht  über  Sie.  Nun  zUlile  ich  bis  8,  dann  machen  Sie  die  Augen  auf,  und 
das  nächste  Mal  kommen  Sie  noch  mehr  hinein.    1,  2,  3."     Zeitdauer:  1  Min.  22  Sec^ 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  175 

Verf.:  .,Ich  glaube  nicht,  dass  ich  tiefer  wie  vorhin  war.  Ich  habe  die  Ge- 
räusche auf  der  Strasse  und  das  Ticken  der  Uhr  gehört.  .  Der  Zustand  war  sehr 
angenehm. 

3.  Hypnose. 

Dr.  y. :  ,fNun  kommen  Sie  ganz  schön  hinein.  Die  Müdigkeit  kommt  einfach 
über  Sie,  eine  so  selige  Müdigkeit.  Ehe  Sie  Sich  versehen,  werden  Sie  so  müde, 
dass  Sie  nicht  mehr  auf  meine  Worte  achten  können.  Sie  kümmern  Sich  immer 
weniger  um  sie,  \md  lassen  Sich  in  einen  behaglichen  Schlaf  hineinlullen.  Immer 
mehr.  Mit  aller  Macht  kommen  Sie  jetzt  hinein.  So  jetzt,  Ihr  Athem  verlangsamt 
sich,  eine  so  selige  behagliche  Müdigkeit  tritt  jetzt  mit  aller  Macht  auf,  ohne  dass 
Sie  etwas  dazu  thun,  und  diese  Müdigkeit  senkt  Sie  immer  mehr  hinein.  Immer 
mehr  kommen  Sie  hinein,  immer  tiefer,  und  es  kommt  ein  so  seliger  Schlummer 
über  Sie,  der  immer  mehr  zunimmt.  Immer  tiefer,  immer  mehr.  So,  und  das 
nächste  Mal  kommen  Sie  noch  tiefer  hinein.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen 
Sie  die  Augen  wieder  auf.     1,  2,  3/*    Zeitdauer:  3  Min.  37  See. 

Verf.:  „Das  Gefühl  einer  behaglichen  Müdigkeit  war  stark  ausgesprochen. 
Am  Schlaf  hat  nicht  viel  gefehlt;  ich  war  in  einem  tieferen  Schlafstadium  als  das 
letzte  Mal.'* 

4.  Hypnose. 

Verf.  schliesst  die  Augen,  die  er  kaum  offen  halten  konnte.  Dr.  V.:  „Immer 
mehr  kommen  Sie  hinein  in  einen  richtigen  seligen  Schlaf.  Mit  aller  Macht  senkt 
er  sich  auf  Sie,  und  Sie  fühlen  Sich  so  selig,  nichts  hindert  Sie  mehr,  tiefer  ein- 
zuschlafen; es  ist  ein  seliges  Selbstvergessen.  Immer  mehr  kommen  Sie  hinein. 
Immer  tiefer  hinein.  So,  immer  mehr  hinein.  Immer  mehr  hinein  in  ein  richtiges 
seliges  Sichselbstvergessen,  in  einen  so  richtig  schönen  Schlaf.  Nichts  mehr  hindert 
Sie,  und  Sie  haben  das  Gefühl  hinterher,  ganz  fest  geschlafen  zu  haben.  Dieser 
Schlaf  erquickt  Sie  genau  so.  wie  ein  tiefer  Nachtschlaf.  Immer  tiefer  hinein. 
Immer  tiefer.  (Pause.)  Immer  mehr.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen  Sie  die 
Augen  wieder  auf.    1,  2,  3.    1,  2,  3.*'    Zeitdauer:  3  Min.  42  See. 

Verf.:  „Das  Gefühl  der  Müdigkeit,  das  ich  noch  beim  Einschlafen  verspürte 
war  nicht  so  stark  ausgesprochen.  Der  Schlaf  war  tiefer  und  sehr  erquickend. 
Ich  war  noch  bewusstlos."  Dr.  V.:  „Was  war  noch  im  Bewusstsein?**  Verf.: 
,Jm  Moment  habe  ich  nur  eine  summarische  Erinnerung,  dass  ich  nicht  bewusstlos 
war,  bin  aber  für  den  Inhalt  amnestisch.  Es  fiel  mir  auf,  dass  bei  zunehmender 
Schlaftiefe  die  Respiration  oberflächlicher  wurde.** 

5.  Hypnose. 

„Nun  kommen  Sie  noch  mehr  hinein.  Immer  mehr  Müdigkeit  senkt  sich  auf 
Sie.  Sie  schliessen  die  Augenlider  fest  zu.  und  es  kommt  eine  richtige  mollige 
Müdigkeit  über  Sie,  eine  richtig  behagliche  Müdigkeit.  Immer  tiefer  und  tiefer 
kommen  Sie  hinein.  Sie  vergessen  Sich  mehr  und  mehr.  Immer  schönere  3Iüdig- 
keit  kommt  über  Si*»,  mehr  und  mehr,  tiefer  und  tiefer.  Immer  mehr.  Immer 
tiefere  Müdigkeit  senkt  sich  auf  Sie.  So,  immer  tiefer  kommen  Sie  hinein.  Immer 
mehr  vergessen  Sie  Sich.  Ihr  Bewusstsein  wird  immer  leerer,  mehr  und  mehr 
kommen  Sie  in  einen  Schlafzustand.  Immer  mehr  kommt  ein  Schlafzustand  zum 
Ausdruck.  (Pause.)  Immer  mehr  vergessen  Sie  Sich.  Immer  tiefer,  immer  tiefer. 
(Pause.)    Immer  mehr  vergessen  Sie   Sich.    Immer  mehr.    Durch   nichts  lassen  Sie 


176  ^^^  Straaten. 

Sich  stören.  Sie  kommen  ganz  tief  hinein.  Nun  zähle  ich  bis  3.  Dann  machen 
Sie  die  Augen  auf.  1,  2,  3.  1,  2,  3.  1,  2,  3.  (Laut:  1,  2.  3.)  Zeitdauer:  6  Min.  Id  See. 
„Verf.:  „Ich  bin  noch  sehr  schläfrig."  Dr.  V.:  „1,  2,  3.  1,  2,  3.'^  Vert: 
„Ich  glaube^  dass  ich  gut  geschlafen  habe."  Dr.  V.:  „Wissen  Sie  noch  etwas  ?^ 
Verf.:  ,Jch  kam  sehr  rasch  in  einen  tiefen  Schlaf  und  weiss  nichts  mehr." 

An  die  Erfahrung  der  letzten  Hypnose  der  6.  Sitzung  anknüpfend, 
sind  hier  in  lebhaftem,  aber  nicht  zu  schnellem  Tempo  Suggestionen 
für  ein  behagliches  Einschlafen  gegeben.  Dieselben  erzielen  in  der 
6.  Hypnose  eine  vollständige  Amnesie. 

Man  könnte  hier  nun  die  Frage  aufwerfen,  ob  in  diesen  Fällen 
nicht  schliesslich  ein  allgemeiner  tiefer  Schlaf  hervorgerufen  wäre,  und 
nicht  etwa  ein  Schlaf  mit  Rapportverhältm'ss,  das  heisst,  eine  tiefe 
Hypnose.  Sehen  wir  doch  in  der  3.  Hypnose  der  4.  Sitzung,  dass  sich 
wenigstens  die  Suggestion  des  Erweckens  nicht  mehr  ohne  Weiteres 
realisirte.  Hier  ist  nun  vom  Standpunkt  der  Vogt 'sehen  Methodik 
Folgendes  zu  erwidern:  Es  ist  jedenfalls  unvergleichlich  leichter,  aus 
dem  suggestiv  hervorgerufenen  tiefen  allgemeinen  Schlaf  eine  Hypnose 
zu  schaffen,  wie  aus  dem  normalen  Wachsein.  Die  Methodik  zur  Er- 
reichung  dieses  Ziels  haben  wir  in  jener  obigen  3.  Sitzung  bei  der 
Wiederherstellung  des  Rapportverhältnisses  kennen  gelernt.  Es  kam 
uns  aber  bei  unseren  Versuchen  auf  die  methodisch  wichtige  Frage 
zunächst  an,  in  welcher  Weise  man  am  leichtesten  durch  Verbal- 
suggestion einen  tiefen  Schlaf  hervorruft,  ohne  speciell  darauf  zu  achten, 
ob  er  die  Unterart  der  tiefen  Hypnose  oder  die  eines  tiefen  allgemeinen 
Schlafes  darstellte. 

Die  specielle  Frage  nach  der  möglichst  besten  Art  und  Weise, 
eine  tiefe  Hypnose  zu  erzielen,  ist  eben  im  Wesentlichen  gelöst,  wenn 
suggestiv  überhaupt  nur  eine  tiefe  Schlafhemmung  erzielt  wurde. 

(Schluss  folgt.) 


Selbstbeobachtungen  in  der  Hypnose. 

Eine  Studie  von 

Dr.  Harcinowski,  Ding.  Arzt  am  Inselbade  bei  Paderborn. 


II. 

Zur  Technik  der  hypnotischen  Suggestionen. 

A.   Allgemeine  Bemerkungen. 

Wohl  Jeder,  der  sich  mit  vorliegendem  Thema  beschäftigt,  hat  es 
gelegentlich  empfunden,  ein  wie  misslich  Ding  es  ist,  sich  auf  seinen 
Instinct,  sein  feines  Taktgefühl  verlassen  zu  müssen,  wenn  man  den 
krausen  Gedankengängen  eines  Patienten  nachspürt.  Und  doch  ist  uns  die 
Erkenntniss  derselben  nöthig,  wenn  anders  wir  einen  wirksamen  Einfluss 
auf  die  Vorstellungswelt  unserer  Kranken  gewinnen  wollen.  Der  jeweilige 
Vorstellungsinhalt  beherrscht  den  Menschen;  den  ersteren  günstig  be- 
einflussen heisst  in  den  meisten  Fällen,  den  letzteren  seiner  Heilung 
entgegen  führen.  Wie  könnten  wir  da  einen  besseren  Wegweiser  finden, 
um  das  verworrene  Knäuel  von  hindernden  Autosuggestionen  zu  ent- 
wirren, als  das  Studium  der  psychischen  Vorgänge  an  der  Hand  von 
Selbstbeobachtungen  I  Von  diesem  Gedanken  war  ich  ausgegangen  und 
bin  nun  am  Schluss  meiner  Arbeit  darüber  erstaunt,  dass  eine 
Menge  anscheinend  unbedeutender  Kleinigkeiten  eine  so  wichtige  Rolle 
spielen  und  die  Fragen  der  Technik  zu  so  complicirten  Gebilden  ge- 
stalten. Es  Hessen  sich  da  vielleicht  eine  Menge  Regeln  aufstellen,  was 
zu  thun,  was  zu  vermeiden  wäre,  —  aber  das  könnte  zu  starrem  Sche- 
matismus ausarten,  der  gerade  hier  am  wenigsten  am  Platze  ist,  wo  es 
sich  um  ein  ständiges  Anschmiegen  an  das  intime  Seelenleben  des  Kranken 
handelt.    Jeder  wird   sich   da  seine  eigene  Wege  bahnen,  aber  nicht 

Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    IX.  12 


178  ^^-  Marcinowski. 

ohne  Nutzen  wird  man  die  Pfade  studiren,  die  andere  —  ihrer  per- 
sönlichen  Natur  entsprechend  —  gegangen  sind.  Das  Ziel  bleibt  immer 
die  Beeinflussung  des  Vorstellungsinhaltes,  des  massgebendstea  Factors 
in  unserem  psychischen  Dasein.  Die  Psychotherapie  im  weiteren,  und 
die  Hypnotherapie  im  engeren  Sinne  kennt  eigentlich  keine  anderen 
Ziele,  und  ihre  Technik  will  nichts  Anderes  lehren,  als  wie  man  dies  am 
geschicktesten  anfangt. 

1.  Vorbedingungen. 

Eine  Hauptschwierigkeit  stösst  dem  Hypnotiseur  gleich  zu  Anfang 
auf,  der  Umstand,  dass  zwei  Menschen  sich  selten  von  vorne  herein  so 
gut  verstehen,  dass  sich  die  BegriflFe,  welche  beide  mit  den  Worten  des 
Hypnotiseurs  verbinden,  wenigstens  ungefähr  decken.  Wie  will  man  aber 
den  Vorstellungsinhalt  eines  Menschen  ummodeln,  der  einen  falsch 
versteht?  Was  nützen  die  schönsten  Suggestionen,  wenn  sie  falsch 
assimilirt  werden !  Deshalb  soll  jeder  hypnotischen  Cur  eine  belehrende 
VorbereituDg  vorangehen,  deqn  sonst  sind  die  Begriffe,  welche  der 
Patient  mit  dem  Wort  Hypnose  verbindet,  schon  allein  im  Stande,  einen 
Wall  von  Hindernissen  gegen  unser  Bemühen  aufzubauen,  den  zu  zer- 
stören oft  unmöglich  ist,  —  Begriffe  übrigens,  in  welchen  der  Grund  zur 
Production  pathologischer  Zustände  liegt,  die  die  Hypnotherapie  in 
Verruf  bringen  können,  und  nur  dadurch  zu  vermeiden  sind,  dass  man 
eben  vorher  Klarheit  in  die  Anschauungen  seiner  Kranken  bringt. 
Viele  sagen  einem  nun  nicht  Alles,  —  um  so  emsiger  muss  man  fragen 
und  forschen ;  denn  selbst  wo  man  des  vollen  Vertrauens  sicher  zu  sein 
glaubt,  ruht  oft  gleichsam  auf  dem  Grunde  ein  kleines  unbeachtetes 
Hinderniss,  das  uns  nicht  vorwärts  kommen  lässt.  Ich  erinnere  mich 
an  eine  Dame,  welcher  die  Hypnosen  zunächst  vorzüglich  bekamen,  die 
aber  durch  den  Gedanken  an  die  dadurch  verursachten  Kosten  gestört 
wurde  und  trotz  freundschaftlicher  Stellung  zu  ihrem  Arzte,  denselben 
nicht  aufklärte. 

Meine  Aufzeichnungen  bestehen  darüber  eigentlich  überhaupt  nur  aus 
solchen  sogenannten  Kleinigkeiten,  und  ihre  Besprechung  will  keines- 
wegs eine  erschöpfende  Abhandlung  der  technischen  Frage  darstellen; 
sie  ist  lediglieh  eine  Studie,  ein  Skizzenbuch  mit  vielen  kleinen  Details 
aus  meinen  eignen  Hypnosen. 

Die  eben  angedeuteten  Vorbereitungen  fielen  bei  mir  fort,  da 
mir  z.  Z.  die  Suggestionslehre  theoretisch  wie  praktisch  geläufig 
war.     Die   psycliophysisehe  Constellation  war  allso  im  Allgemeinen  als 


Zar  Technik  der  hypnotischen  Suggestionen.  179 

günstige  gegeben.  Nur  im  Speciellen  Hess  sie  manchmal  zu  wünschen 
übrig,  und  dies  lag  an  Dingen ,  die  man  zu  vermeiden  trachten  soll. 
Geistige  Ermüdung  stellt  meines  Erachtens  eine  eutschiedene 
Coutraindication  für  die  Vornahme  hypnotischer  Versuche  dar,  welche 
eine  gewisse  Concentrationsfahigkeit  beanspruchen.  Femer  soll  die  all- 
gemeine Stimmung  eine  ruhige  sein ,  man  soll  Zeit  haben ,  und  sich 
nicht  mit  dem  Gedanken  hinlegen,  „wirst  du  auch  um  11  Uhr  da  oder 
dort  sein  können,  wie  du  verabredet  hast."  Das  war  öfters  bei  mir 
der  Fall  gewesen  und  hat  die  Versuche  gestört,  auch  gelegentlich  zu 
emotioneller  Unruhe  geführt.  Etwas  Aehnliches  las  ich  in  den  Fällen 
von  Selbstbeobachtung,  welche  Wetterstand  publicirte.  Dort  war  es  eine 
EftUÜaduug  zu  Mittag  gewesen,  welche  die  störende  Unruhe  hervorrief. 

Im  Allgemeinen  war  ich  erstaunt,  zu  constatiren,  dass  meine  ge- 
naue Kenntniss  von  der  ganzen  Suggestionslehre  kein  Hindemiss  dafür 
war,  dass  sioh  Suggestionen  bei  mir  prompt  erfüllten.  Ich  erwähne 
dies,  weil  man  sehr  häufig  meint,  die  ganze  Psychotherapie  werde  sich 
in.  Nichts  verflüchtigen,  sobald  erst  alle  Welt  über  ihr  Wesen  aufgeklärt 
sein  würde.  Nun,  dem  scheint  doch  nicht  so  zu  sein,  und  unsere  viel- 
geschmähte Arbeit  wird  nicht  so  vergänglich  sein,  als  unsere  Gegner 
meinen,  welche  Charlatanerie  von  ernstem,  wissenschaftlichen  Streben 
nicht  zu  unterscheiden  wissen  und  Hypnose  mit  Humbug  identificiren. 

Hat  man  nun  in  dem  Patienten  durch  Aussprachen  Furcht  und 
Misstrauen  beseitigt,  oder  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unter- 
drückt, was  am  leichtesten  wohl  durch  entsprechende  Demonstration 
anderer  Hypnotisister  gelingt,  so  versucht  man  den  so  Vorbereiteten 
einzuschläfern. 

2.  Die  Sinnesreize. 

Welche  Rolle  dabei  die  allgemeinen  Schlafgewohnheiten  und  das 
Femhalten  von  Sinnesreizen  spielen,  habe  ich  bereits  erwähnt  (vgl.  p.  26). 
Ich  betone  hier  nochmals,  dass  ich  alle  diese  Nebenumstände  als  sehr 
wesentliche  empfunden  habe,  und  ihre  bahnende  Wirkung  nie  mehr  unter- 
schätzen werde.  Das  in  der  Hypnose  zu  Staude  kommende  Abstumpfen 
der  Sinnesorgane  gegen  Reize  rauss  um  so  mehr  unterstützt  werden, 
als  es  sich  im  Beginn  derselben  häufig  —  wie  früher  ausgeführt  —  um 
eine  Herabsetzung  der  Schwellenwerte  handelt,  die  dauernde  Störungen 
hervorrufen  kann,  wie  die  Hyperacusis  bei  meinen  Versuchen.  Diese 
äusseren  Ruhebedingungen  habe  ich  in  I.  und  II.  eingehender  geschildert, 

wie  das  Verdunkeln  des  Zimmers,  das  Vermeiden  von  Lärm,  das  Hin- 

12* 


IßO  ^''-  Marcinowski. 

legen  und  Zudecken  etc.  Diese  Ruhe  hat  nicht  nur  den  Zweck^  die 
Vorstellung  vom  Fernbleiben  jeder  Störung  zu  wecken,  sondern  verhindert 
auch  die  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  von  dem  Vorhaben  des  Arztes. 
Unaufmerksame  Menschen  sind  schwer  zu  hypnotisiren  und  Neurasthe- 
niker  sind  wohl  deshalb  so  wenig  zu  beeinflussen,  weil  ihnen  die  Fähig- 
keit mangelt  y  an  einer  Zielvorstellung  festzuhalten ,  jede  gebotene 
Gelegenheit  benützend,  auf  Nebenwege  abzuweichen  und  ,,irrlichterirend 
hin  und  her^  zu  springen.  Um  so  kleiner  braucht  hier  der  Reiz  zu  sein, 
der  genügt,  um  zu  stören,  und  um  so  mehr  muss  man  bedacht  sein, 
diesen  Aeusserlichkeiten  Genüge  zu  thun. 

Die  meisten  Suggestionen  sind  rein  verbale,  aber  man  thut  sicher 
gut  daran,  die  Wirkung  der  Worte  durch  körperliche  Momente  zu 
unterstützen.  Vogt  legte  die  Hand  auf  mein  aufgeregtes  Herz,  und 
ich  empfand  die  wohlthuende  Wirkung  davon;  desgleichen  auch,  wenn 
die  Hand  über  momentan  aufgeregte  oder  gespannte  Muskelgruppen 
hinstreichelte.  Auch  die  Vogt' sehe  Manier,  eine  Hand  auf  der  Stirn 
des  Hypnotisirten  liegen  zu  lassen,  hat  etwas  ungemein  Beruhigendes. 
Zugleich  giebt  diese  Manier  eine  Handhabe,  sofort  beim  Beginn  des 
Einschlafens  eine  Suggestion  zu  ertheilen,  die  sich  sehr  leicht  realisirt. 
nämlich  die  der  Wärme.  Vogt 's  Frage  ,.  jetzt  wird  Ihnen  schon  ganz 
schön  warm  unter  meiner  Hand ;  —  fühlen  Sie  das  ?"  lenkt  die  Aufmerk- 
samkeit auf  ein  sich  mit  eioer  gewissen  Sicherheit  einstellendes  Phänomen 
hin  und  zugleich  von  allerlei  störenden  Gedankengängen  ab.  Gleich- 
wohl erfordert  bereits  diese  Suggestion  eine  gewisse  Vorsicht,  denn 
wenn  der  Hypnotiseur  eine  feuchte  kalte  Hand  hat,  oder  der  Hypno- 
tisirte  eine  auffallend  warme  Stirn,  so  kommt  selbst  eine  eintretende 
Congestion  nicht  zur  entsprechenden  Empfindung  (I.  1.)  und  dies  zu 
einem  Zeitpunkt,  wo  von  einer  intensiven  Suggestionswirkung  noch 
nicht  die  Rede  ist  und  Erwartung  sowohl,  wie  Kritik  sehr  lebhaft  sind. 

Diese  Erwartung  ist  oft  in  störender  Weise  gespannt,  und  deshalb 
thut  man  gut,  sie  abzulenken  oder  ihr  eine  bestimmte  Form  zu  gehen, 
d.  h.  sie  mit  Vorstellungen  zu  erfüllen,  welche  bahnend  wirken,  wie  die 
Erinnerung  an  frühere  Hypnosen  oder  an  gewohnte  Situationen,  wie  den 
Mittagschlaf  (TII.  6.),  oder  an  bestimmte  Schlafgewohnheiten.  Man  erfahrt 
solche  Dinge  durch  fortgesetztes  Aushorchen,  das  um  so  nöthiger  ist, 
als  die  Patienten  spontan  nicht  genug  Rechenschaft  ablegen.  Ich  selbst 
habe  eine  lange  Weile  gekämpft,  ehe  ich  Vogt  darauf  aufmerksam 
machte,  dass  mich  die  fest  aufgelegte  Stirnhand  am  bequemen  Aus- 
strecken  hinderte   und   meine  Hypnose  deshalb  störte,  und  erst  beim 


Zur  Technik  der  hypnotischen  Suggestionen.  1^1 

14.  Male  (III.  1.)  habe  ich  um  Abhülfe  gebeten.  Ein  andermal  \i^ar 
mir  das  feste  Auflegen  der  Hand  wieder  Bedürfnis,  ein  Beweiss,  mit 
welcher  Geduld  sich  der  Hypnotiseur  den  Launen  seiner  Kranken  an*- 
passen  muss,  denen  man  hierbei  am  besten  jeden  Wunsch  erfüllt. 

Ist  allgemeine  Beruhigung  eingetreten,  Muskelspannung  wie 
Lächeln  etc.  ausgeglichen,  so  richtet  sich  die  ganze  Kraft  der  Sugges^ 
tionen  auf  den  Augenschluss.  Ist  derselbe  in  normaler  Weise  er- 
folgt, so  hat  man  meist  gewonnenes  Spiel.  Aber  er  muss  als  echte 
Suggestionswirkung  auftreten,  also  spontan  erfolgen,  sonst  hat  der 
Hypnotisirte  nicht  den  erwünschten  Eindruck  davon,  wähnt  sich  nicht 
beeinflusst,  wird  durch  actives  Nachhelfen  wieder  munterer  (I.  3.),  und 
der  Hypnotiseur  selbst  täuscht  sich  vollkommen  über  den  Grad  seines 
Einflusses.  Im  Gegentheil  ist  es  viel  richtiger,  den  Kranken  zu  energischer 
Gegenwehr  gegen  die  Zusammenziehung  des  Orbicularis  aufzufordern; 
denn  der  Widerstand  verstärkt  die  Empfindung  von  der  beginnenden 
Contraction  und  weckt  die  Vorstellung  von  der  eingetretenen  Sugges*- 
tionswirkung,  welche  Vorstellung  nun  ihrerseits  den  Gedanken  der 
Wehrlosigkeit  bedingt  uod  den  Widerstand  lähmt,  so  dass  die  Augen* 
lider  sich  nur  um  so  schneller  senken.  Thun  wir  dies  nicht  spontan, 
80  fehlt  dem  Augenschluss  auch  jenes  den  ganzen  Körper  durchrieselnde 
Lustgefühl,  welches  Vielen  die  Hypnose  so  lieb  macht  und  einen  aus- 
gezeichneten Anknüpfungspunkt  für  allgemeinere  Heilsuggestionen  bietet 
(allgemeines  Wohlbehagen  etc.) 

Der  erfolgte  Augenschluss  bewirkt  sofort  ein  mehr  oder  weniger 
weitgehendes  Abschliessen  gegen  die  Ausseuwelt,  eine  grössere  allgemeine 
Ruhe,  ein  Umstand,  der  ängstlichen  Gemüthern  zur  plausiblen  Begründung 
unseres  Vorgehens  dienen  kann,  wenn  Jemand,  wie  es  zuweilen  vorkommt, 
sich  scheut,  die  Augen  zu  schliessen.  Der  Augenschluss  hat  auch  deshalb 
eine  so  grosse  Bedeutung  in  der  Hypnose,  weil  er  —  namentlich  dem 
Laien  —  als  Zeichen  eingetretener  Schlafhemmung,  sowie  das  Oeffnen  der 
Augen  als  Zeichen  des  Wachseins  gilt.  Dass  dies  Letztere  namentlich 
durchaus  nicht  immer  zutrefl*end  ist,  haben  wir  am  Ende  der  III.  6.  Hypnose 
gesehen,  wo  ich  eine  recht  merkwürdige  Figur  abgegeben  haben  muss. 
Zugleich  lehrt  uns  der  Vorgang,  dass  man  es  vermeiden  soll,  seine 
Hypnotisirten  ohne  Befehl  spontan  die  Augen  öffnen  zu  lassen.  Der 
Kopfschmerz,  welchen  ich  davongetragen  hatte,  ist  noch  das  Wenigste, 
was  einem  dadurch  zustossen  kann. 

Die  meissten  Hypnotiseure  pflegen  nach  Vorgang  unserer  Nancy  er 
Meister  die  einzelnen  Phasen  des  Augenschlusses  durch  Schilderung  der- 


132  ^'  MarciDowski. 

selben  zu  accompagniren.  Das  habe  ich  als  entschieden  richtig  em- 
pfunden, aber  zugleich  auch  die  Nothwendigkeit,  dabei  scharf  zu  be- 
obachten und  keine  Dinge  zu  behaupten,  die  nicht  da  sind.  Das  Ver- 
schleiern des  Blickes  durch  Ansammeln  der  Thränenflüssigkeit  bei 
mangelndem  Lidschlag,  ein  gewisser  starrer  Ausdruck  im  Auge,  das 
sind  Dinge,  die  man  deutlich  selber  empfindet,  und  denen  der  Hypno- 
tiseur gleichsam  auflauem  muss,  um  sie  sofort  zur  Suggestionirung  zu 
benutzen.  So  lange  man  dabei  vorsichtig  zu  Werke  gehen  muss,  wird 
man  den  Erscheinungen  manchmal  etwas  nachhinken,  aber  trotz  meiner 
technischen  Kenntnisse  haben  Sie  gelesen,  dass  ich  nicht  im  Stande 
war  bei  mir  selbst  zu  unterscheiden,  ob  Vogt  bereits  suggerirte  oder 
sich  noch  referirend  verhielt.  Zunächst  empfand  ich  mein  Percipiren 
der  ertheilten  Suggestion  als  ein  actives,  wenn  auch  die  Folgewirkung 
bereits  spontan  auftrat ;  später  wurde  auch  das  Percipiren  passiver  und 
ich  lag  da,  um  verwundert  und  interessirt  das  ohne  mein  Zuthun  sich  wie 
an  einem  fremden  Körper  abwickelnde  Geschehen  zu  beobachten. 

Ueber  die  Körperhaltung  des  Hypnotiseurs  möchte  ich  noch  ein- 
schalten, dass  ich  es  für  günstig  halte,  sich  so  zu  setzen,  dass  es  dem 
Kranken  einige  Mühe  macht,  seinem  Arzt  ins  Auge  zu  sehen.  Die  Hand  des 
Hypnotiseurs  soll  der  Stirn  so  aufliegen,  dass  die  Augäpfel  des  Patienten 
mit  Anstrengung  etwas  nach  oben  gerichtet  werden  müssen;  um  so 
schneller  wird  eine  Ermüdung  eintreten,  und  mit  ihr  der  Augenschluss. 

3.    Die   Stimme   und   Sprechweise   des   Hypnotiseurs. 

Dasjenige  Sinnesorgan,  welches  am  längsten  wach  bleibt  und  das 
Rapportverhältniss  aufrecht  erhält,  ist  das  Gehör,  Deshalb  sind 
störende  Geräusche  von  so  grosser  Wichtigkeit.  Des  Weiteren  will 
ich  nun  schildern,  welche  Regeln  ich  für  die  Stimme  des  Hypnotiseurs, 
Porm  und  Inhalt  seiner  verbalen  Suggestionen  aus  meinen  Beobachtungen 
abgeleitet  habe. 

Zunächst  ist  die  laute  Stimme  als  weckender  Reiz  zu  betrachten, 
und  wenn  es  auch  meist  nicht  nothwendig  ist,  so  ist  es  doch  natürlich, 
sich  ihrer  zur  Desuggestionirung,  zum  Wachbefehl  zu  bedienen.  Be- 
sonders, wenn  es  sich  um  ein  ungewöhnlich  eindringliches  Aufwecken 
handelt,  wie  es  bei  unvollständigem  Erwachen  und  zur  Beseitigung 
partieller  Erscheinungen  wie  Kopfschmerz,  Kältegefühl  etc.  vorkommt, 
unterstützt  die  laute  Stimme  wesentlich  die  Wirkung  der  verbalen 
Suggestion.  Auch  das  plötzhche  Entfernen  der  Stirnhand  beim  Wach- 
kommando trägt  zur  Ermunterung  bei,  und  diese  Thatsache  hat  Vogt 


Zur  Technik  der  hypnotischen  Suggestionen.  183 

noch  ausgiebiger  zur  Unterstützung  der  Suggestionen  benutzt,  wie  ich 
es  in  III.  b.  3.  auf  Seite  41  genauer  beschrieben  habe. 

Während  des  Einschlununems  ist  im  Gegensatz  zum  Aufwachen 
eine  leise  und  ruhige  Sprechweise  am  Platze.  Lautes  und  lebhaftes 
Sprechen  des  Hypnotiseurs  wird  da  direct  als  störend  empfunden  (V.  1), 
während  eine  gewisse  Monotonie  im  Stimmfall,  langsames  und  ruhiges, 
oft  bis  zum  Flüstern  gedämpftes  Zureden  etwas  ungemein  Beruhigendes 
und  Einlullendes  hat.  Auf  ein  geflüstertes  Wort  muss  man  nebenbei 
genauer  hinhören,  als  auf  ein  laut  gesprochenes,  und  dadurch  wird  die 
Aufmerksamkeit  wiederum  mehr  daraufhin  concentrirt,  von  Nebensäch- 
lichem und  etwaigen  Störungen  mehr  und  mehr  abgelenkt.  (III.  4.  u.  V.  2.) 

4.  Form  und  Inhalt  der  verbalen  Suggestionen. 

Analoge  Verhältnisse  finden  wir  für  den  Inhalt  der  verbalen 
Suggestionen  zu  berücksichtigen.  Es  ist  meinem  Empfinden  nach 
störend  und  deshalb  unangebracht,  seine  Suggestionen  selbst  bei  Leuten, 
die  wie  ich  der  Hypnose  nicht  als  Laien  gegenüber  stehen,  in  com- 
plicirte  Formen  und  wissenschaftliche  Ausdrücke  zu  kleiden,  und  diese 
Form  noch  dazu  öfter  zu  wechseln,  wie  ich  es  in  III.  3  beschrieb  und 
mehrmals  monirte,  wenn  sich  Vogt  gewissermaassen  im  Eifer  dazu 
hinreissen  Hess.  Der  Inhalt  der  allgemeinen  Suggestionen  sei  im  Gegen- 
theil  in  schlichte  einfache  Worte  gekleidet,  die  sich  immer  und  immer 
wieder  wiederholen  (11  b.  2.  und  3  und  lU  1 — 4,  VI.)  Das  mag  ermüdend 
für  den  Hypnotiseur  sein,  aber  es  ist  imgemein  wirksam,  auch  hier 
einlullend  durch  seine  Monotonie.  Die  einzelnen  Redewendungen  ge- 
winnen Kraft  dadurch,  dass  sie  zur  Gewohnheit  werden;  wenn  sie  ein- 
mal von  Erfolg  begleitet  waren,  so  bleiben  sie  mit  der  Idee  der  Wirk- 
samkeit associirt,  und  ihre  Anwendung  in  der  nächsten  Sitzung  ist  ver- 
möge der  Erinnerung  hieran  von  um  so  eclatanterem  Erfolg  begleitet.  So 
wächst  der  Grad  der  Beeinflussung  durch  Summation  und  Kumuliren 
dieser  einfachen,  sich  immer  fester  einnistenden  Vorstellungscomplexe,  — 
viel  mehr,  als  es  durch  wechselvolle  und  geistreiche  Fassung  der  verbalen 
Suggestionen  möglich  ist.     In  übertragenem  Sinne   gilt  auch   hier   das 

alte :  gutta  cavat  lapidem .     Es  sind  trotz  der  oben  aufgestellten 

Regel  eine  Menge  Variationen  des  einfachsten  Themas  möglich,  in  Be- 
tonung, Ausdruck  und  Eindringlichkeit  der  Redeweise,  das  eine  Mal 
schleppend  und  gleichsam  selbst  müde  sprechend,  das  andere  Mal  immer 
dringlicher  flüsternd,  bis  man  den  Kranken  überwunden  hat,  „über- 
wältigt" wie  ich  mich  11.  b  pag.  11  ausdrückte. 


1Q4  ^'  Mftrcinowski. 

An  vielen  Stellen  findet  sich  bei  mir  auch  die  Notiz,  dass  die 
Dauer  der  Suggestionswirkung  von  der  ständig  wiederholten  Suggestions- 
ertheilung  abhängig  ist ;  blieb  letztere  aus,  so  liess  die  erstere  in  ober- 
flächlicher Hypnose  oft  nach,  und  ich  wurde  munterer. 

Ich  habe  obige  Ausführungen  für  um  so  wesentlicher  gehalten,  weil 
ich  femer  die  Beobachtung  machte,  dass  man  sehr  bald  in  eine  aus- 
gesprochene Abhängigkeit  vom  Wortlaut  der  Suggestion  geräth.  So 
wie  die  ständige  Wiederholung  der  einzelnen  Suggestionen  zur  Oe- 
wohnheit  wird,  die  man  nicht  ohne  Störung  entbehren  kann,  me  in  YL  3^ 
wo  der  Lidchluss  ausblieb,  so  kann  auch  jedes  einzelne  Wort  Bedeutung 
gewinnen.  Das  macht  unser  Handeln  oft  recht  mühsam,  denn  es  ver- 
langt vom  Hypnotiseur  eine  volle  angespannte,  concentrirte  Hingabe 
an  seine  momentane  Aufgabe,  die  sich  durch  Routine  schwer  ersetzen 
lässt;  es  erfordert  jenes  Anschmiegen  an  die  Ideengäoge  des  Hypno- 
tisirteu,  von  dem  ich  schon  mehrfach  sprach.  Die  IX.  Sitzung  ist  ein 
gutes  Beispiel  für  das,  was  ich  damit  sagen  will.  Die  ganz  geringen 
Abweichungen  vom  wirklichen  Geschehen,  wie  sie  dort  in  den  Worten 
„allmählich*"  und  „Zunahme  der  Wärme"  in  ihrem  Gegensatz  zu 
„fluthweise"  und  „räumlicher  Ausdehnung^  zum  Ausdruck  kamen,  ge- 
nügten, um  die  der  Suggestion  gegenüber  bestehende  Neigung  zur 
Kritik  wachzurufen. 

Handelt  es  sich  einerseits  darum,  fehlerhafte  Worte  beim  Hypno- 
tiseur zu  vermeiden,  so  muss  man  andererseits  auch  damit  rechnen, 
dass  noch  so  geschickt  ertheilte  Suggestionen  falsch  assimilirt  werden 
können,  und  so  oft  anders  wirken,  als  sie  gemeint  waren.  Als  üeber- 
gang  zu  dieser  Erscheinung  möchte  ich  auf  die  Verwirklichung  der 
Traumsuggestionen  in  VI.  4  pag.  17  hinweisen.  Mehr  oder  weniger  wird 
schliesslich  jede  Suggestion  erst  noch  spontan  verarbeitet  und  dem 
jeweiligen  Vorstellungsinhalt  anjiepasst. 

Wenn  ich  von  Anschmiegen  im  Wortlaut  rede,  so  möchte 
ich  dabei  hervorheben,  welche  Worte  mir  als  besonders  gut  gewählte  in 
Eriunenmg  geblieben  sind.  Sie  betreflfen  meist  die  Gefuhlstöne,  wie 
Ruhe,  —  Frieden,  —  behaglich  faules  Daliegen,  —  wonnig,  sich  dem 
Zustand  hinzugeben  —  immer  tiefer  sinken  —  Alles  vergessen,  —  gleicb- 
gültiij  wenleu  etc.  etc.,  und  geben  die  einzelnen  Empfindungen  vorzüg- 
lich wieder.  Aber  man  hüte  sich,  sie  anzuwenden,  wenn  man  nicht 
zugleich  annehmen  kann,  dass  sie  2\uf  guten  Boden  fallen.  Nichts  ruft 
die  Kritik  nu^ir  wach,  als  das  fehlerhafte  Zusammentreffen  von  lautem 
Geräusch  mit  Gleichgültigkeitssuggestion,   von  muskulärer  Unruhe  und 


Zur  Technik  der  hypnotischen  Saggestionen.  185 

Sptmnangen  mit  SuggestioDen  der  Ruhe  und  des  Friedens.  Auf  der 
anderen  Seite  habe  ich  bereits  so  unscheinbare  Kleinigkeiten,  wie  das 
Zusammentreffen  des  Exspiriums  mit  den  Worten:  „tiefer  sinken^  als 
bahnend  für  das  Zustandekommen  der  Wirkung  empfunden  (Y.  2).  Dies 
Alles  mag  Manchem  in  der  That  kleinlich  erscheinen,  aber  ich  habe  an 
der  Hand  persönlicher  Empfindungen  die  Ansicht  gewonnen,  dass  wir 
gerade  diese  kleinen  Details  beachten  müssen,  da  in  ihnen  so  häufig 
der  Grund  für  das  Nichtgelingen  hypnotischer  Versuche  liegt. 

4.  Das  fractionirte  Verfahren. 

Nun  wird  man  allerdiBgs  bei  den  meist  üblichen  Hypnotisirungs- 
methoden  sehr  bald  in  die  Verlegenheit  gerathen,  dass  dem  Hypnotiseur 
die  Handhabe  dazu  zu  fehlen  scheint,  um  so  subtile  Vorgänge  in  der 
Gedankenwelt  der  Versuchspersonen  erkennen  und  benutzen  zu  können, 
und  damit  komme  ich  auf  den  Funkt  zu  sprechen,  dem  zu  liebe  ich 
obige  Kegeln  so  betont  habe.  Ich  erwähnte  Eingangs,  dass  meine 
Hypnosen  sämmtlich  nach  Vogt's  sogen,  fractionirten  Verfahren 
vorgenommen  wurden,  welches  bekanntlich  darin  besteht,  dass  man  in 
einer  Sitzung  mehrere  kurzdauernde  Hypnosen  vornimmt,  dieselben 
jedesmal  verlängernd  und  vertiefend.  Dies  Verfahren  bietet  uns  in  der  That 
so  bedeutende  Vortheile,  dass  es  wohl  in  Bälde  einen  grossen  Freundes- 
kreis erobert  haben  wird.  Wenn  auf  das  Anschmiegen  an  die  Ideen- 
gänge der  Kranken  wirklich  so  grosser  Wert  zu  legen  ist,  wie  ich 
meine,  so  giebt  uns  lediglich  dieses  Verfahren  den  Schlüssel  zu  den- 
selben in  die  Hand. 

In  den  Zwischenpausen  zwischen  den  einzelnen  Hypnosen  fragt 
man  den  Kranken  ganz  genau  über  all  seine  Empfindungen  aus 
und  kann  sich  dadurch  ein  ziemlich  genaues  und  zutreffendes  Bild 
von  seinen  Vorstellungen  schaffen,  die  man  dann  immer  weiter  zum 
Aufbau  seiner  Suggestionen  benutzt,  und  an  welche  anknüpfend  man 
die  nächstfolgende  Hypnose  durch  immer  schärfer  detaillirte  Sug- 
gestionen verstärken  kann,  ohne  befürchten  zu  brauchen,  damit  uner- 
wünschte Kritik  wach  zu  rufen  und  an  Autorität  einzubüssen,  kurz, 
das  Anschmiegen  wird  dadurch  erst  möglich  gemacht.  Man  erhält 
80  auch  ein  Urtheil  über  den  Grad  der  erzielten  Beeinflussung  und 
eine  Handhabe,  denselben  beliebig  tief  zu  gestalten.  So  kommt  man 
einerseits  rascher  zum  gewünschten  Ziel  und  andererseits  ist  man  leichter 
in  der  Lage,  etwa  auftauchende  pathologische  Erscheinungen  im  Keim 
zu  ersticken.    Der  Hauptvortheil  des  fractionirten  Verfahrens  liegt  also 


186  ^'  Marcinowski. 

darin^  dass  man  die  Hypnotisirten  gewissermaassen  in  der  Hand  behält, 
Grad  und  Art  der  BeeinflussuDg  immer  beherrscht,  die  Hypnose  also 
beliebig  gestalten  kann,  während  der  Patient  bei  anderen  Methoden 
leicht  entschlüpft,  seinen  Vorstellungsinhalt  unserer  Kenntniss  entzieht, 
und  auf  dem'  Wege  der  Autosuggestioa  Zustände  producirt,  welche 
man  nicht  gewollt  und  beabsichtigt  hat,  die  therapeutisch  werthlos 
sind,  und  die  gegebenen  Falles  einen  pathologischen  Character  annehmen 
können,  wenn  man  die  Technik  nicht  genügend  beherrscht.  In  diesem 
Sinne  stellen  meine  Versuche  gewissermaassen  Normalhypnosen  dar,  wie 
sie  von  Vogt  geübt  und  gelehrt  werden.  Man  übersehe  auch  nicht, 
wie  wesentlich  man  sich  die  ganze  mühsame  Arbeit  erleichtert,  indem 
man  durch  das  in  jeder  Sitzung  mehrmals  vorgenommene  Einschläfern 
und  Aufwecken  den  Kranken  ganz  anders  einübt,  in  ganz  anderem 
Maasse  zu  schnellem  Gehorchen,  zu  einem  stets  anspruchsfahigen  Rapport^ 
verhältniss  erzieht,  als  dies  bei  den  sonst  üblichen  Hypnotisirungs- 
methoden  der  Fall  ist. 

Aehnliche  Vortheile,  wie  die  Technik  aus  dem  Ausfragen  des 
Hypnotisirten  in  den  Zwischenpausen  zwischen  den  einzelnen  Versuchen 
zieht,  gewinnt  man  dadurch,  dass  man  seine  Hypnotisirten  an  die  Vor- 
stellung gewöhnt,  dass  man  im  Schlafe  sprechen  könne.  Ist  diese 
zunächst  etwas  fremdartige  Idee  assimilirt,  so  ergiebt  sich  daraus 
ein  A'eriiältniss,  welches  beiden  Theilen  nützlich  wird.  Glückt  es  schon 
sehr  häufig,  durch  Analysiren  dieser  oder  jener  Störung,  die  sich  be- 
merkbar machte,  dieselbe  in  ihrer  Genese  zu  ergründen  und  dann  logisch 
zu  beseitigen,  während  die  Versuchsperson  völlig  wach  ist,  so  ist  es  um 
so  leichter,  solche  Störungen  zu  unterdrücken  und  sich  dem  Ideengange 
des  Kranken  anzuschmiegen,  wenn  man  sich  in  jedem  Momente  während 
der  Hypnose  selbst  Auskunft  holen  kann.  Alle  meine  Versuche  waren 
fast  durchweg  durch  dieses  Verhältniss  characterisirt,  ich  gab  über  alles 
spontan  Auskunft,  was  mir  aufstiess  und  was  ich  für  mittheilenswerth 
ansah.  Ohne  diesen  Umstand  wäre  es  wohl  kaum  möglich  gewesen,  in 
diesen  Versuchen  so  —  für  meinen  Zweck  —  ergiebige  Resultate  zu 
erreichen. 

Die  Schwierigkeiten,  die  sich  dabei  herausstellten,  machten  die 
Sache  für  mich  um  so  interessanter,  und  die  Technik  hat  aus  den  ent- 
sprechenden Vorgängen  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  man  durch  ein- 
gehendes Ausfragen  in  den  Zwischenpausen  wie  während  der  Hypnose, 
event.  durch  analytisches  Vorgehen  den  Grund  der  Störung  und  ihre 
Associationen  aufdecken  muss,  um  sie  dann  logisch  zersetzen,  auflösen  und 


Zur  Technik  der  hypnotischen  Suggestionen.  187 

dadurch  beseitigen  zu  können,  falls  dies  nicht  schon  spontan  geschehen 
ist,  sobald  die  Analyse  fertig  vorliegt. 

B.  Einzelne  specielle  Bemerkungen. 

1.  Der  Kopfschmerz. 

Nun  geben  mir  noch  einige  specielle  Suggestionen  Gelegenheit 
zur  Erörterung  technischer  Fragen.  Am  5.  Tage  war  ich  mit  Kopf- 
schmerzen zu  Vogt  gekommen  und  hatte  von  ihm  erwartet^  dass  er 
dieselben  beseitigen  werde.  Dieses  gelang  nicht,  und  ich  schob  sehr 
natürlich  die  Schuld  daran  Vogt's  Verhalten  in  die  Schuhe,  der  von 
vornherein  betont  hatte,  dass  diese  Art  Kopfschmerzen,  welche  aus 
dem  Morgenschlaf  heraus  entstehen,  schwer  zu  beeinflussen  seien.  Ich 
empfang  diese  Worte  sofort  als  eine  höchst  unangebrachte  Zerstörung 
meines  Glaubens  und  machte  hinterjirein  aus  meiner  Ansicht  kein  Hehl. 
Vogt  hielt  aber  au  der  Richtigkeit  seines  Verhaltens  fest,  und  war 
der  Meinung,  dass  es  viel  besser  sei,  den  Misserfolg,  wo  er  wie  hier 
wahrscheinlich  war,  vorherzusagen  und  dadurch  eventuell  zu  verschulden, 
als  den  Glauben  au  die  Macht  und  Autorität  des  H}7)notismus  dadurch 
zu  erschüttern,  dass  man  einen  Erfolg  vermissen  lässt,  den  man  an- 
scheinend selber  erhofft  und  erwartet  hat.  Ich  habe  mich  dieser  An- 
schauung schliesslich  fügen  müssen  und  glaube  in  der  That,  dass  man 
in  zweifelhaften  Fällen  lieber  einmal  zu  vorsichtig  sein  soll,  als  dass  man 
die  schon  ohnehin  oft  nöthige  Dreistigkeit  seiner  Suggestionen  zuweit  treibt. 

2.  Divide  et  impera. 

Bei  der  Ertheilung  specieller  Suggestionen  stösst  man  wiederholt 
auf  Schwierigkeiten,  welche  sich  dadurch  beseitigen  lassen,  dass  man 
sie  gewissermaassen  in  kleinere  Abschnitte  zerlegt  und  Schritt  vor  Schritt 
vorgehend  stückweise  zur  Realisation  bringt.  Dies  Vorgehen  ist 
ja  genügsam  bekannt,  ich  bringe  es  an  dieser  Stelle  zur  Sprache, 
da  ich  seine  Wirksamkeit  selber  deutlich  empfunden  habe.  In  der 
VII.  Sitzung  war  der  linke  Arm  wach  und  kalt  geworden,  und  die 
Wärme  und  Scblafsuggestion  versagte  vollkommen,  bis  Vogt  sich  ent- 
schloss,  dieselbe  nach  obigem  Grundsatze  zu  ertheilen ;  was  auf  einmal 
zu  viel  war,  gelang  so  in  kleinen  Abschnitten. 

Die  ganze  Art  und  Weise,  wie  man  Jemanden  einschläfert,  indem 
man  das  Einschlummern  in  viele  kleine  Phasen  zerlegt,  ist  ja  schon  an 
sich  ein  solches  Vorgehen,  von  dem  man  zur  Verwirklichung  mancher 
nicht  erfüllter  Suggestion  noch  viel  mehr  Gebrauch  machen  sollte,  als 
in  der  Literatur  angegeben  wird. 


188  Dr.  Marcin owski. 

3.  Vorgefasste  MeinuDgen. 

Diese  Ueberschrift  umfasst  ein  grosses  Kapitel  von  HindernisseD, 
welche  unsere  Bemühungen  oft  gänzlich  vereiteln,  und  Wirkungen  ber- 
Torrufen,  welche  unseren  Absichten  direct  zuwider  laufen.  Wenn  specielle 
Suggestionen  auf  solche  Vorurtheile  stossen,  so  hat  man  es  meist  mit 
sogen,  inadäquaten  Vorstellungen  zu  thun,  welche  sich  die  Versuchs- 
personen nicht  ohne  Weiteres  aufnöthigen  lassen,  und  an  solchem  wohl- 
gepanzerten Wall  von  Autosuggestionen  prallt  dann  meist  auch  die  beste 
Technik  ab. 

Auch  hier  gilt  der  Anfangs  so  betonte  Satz:  kleine  Ursachen,  grosse 
Wirkungen.  Wie  geringfügig  ist  das  Raisonnement  in  I.  2,  welches  — 
halb  unbewusst  —  dazu  führte,  dass  die  so  allgemein  geübten  Stre\phongen 
mich  in  dem  geschilderten  Maasse  störten  und  weckten.  Auch  in  AHLII.  8 
führen  die  Streichungen  nicht  zum  beabsichtigten  Ziel,  und  als  in  VII.  2. 
Vogt  die  specielle  Suggestion  der  Amnesie  ertheilte,  so  entstand  aus 
dem  Gegensatz  der  beiderseitigen  Zielvorstellungen  ein  aufgeregtes  Er- 
wachen. Aus  der  Unüberwindlichkeit  solcher  vorgefasster  Meinungen 
zieht  die  Technik  wohl  am  besten  den  Schluss,  dass  man  solche  Klippen 
am  richtigsten  umsegelt,  und  keine  Kraft  vergeudet,  um  schliessUch 
nur  mit  seiner  Autorität  daran  so  zerschellen.  Denn  immerhin  wird 
trotz  aller  Geschicklichkeit  das  Resultat  das  sein,  dass  der  Hypnotisirte 
sich  noch  weniger  beeinflusst  glaubt,  als  dies  so  wie  so  schon  der  Fall  ist. 

Es  lag  ein  merkwürdiger  Widerspruch  in  dem  eben  erwähnten 
Empfinden,  dem  ich  in  meinen  Protokollen  ja  wiederholt  Ausdruck 
gegeben  habe.  Die  Neigung  zur  Kritik,  die  wohl  jeder  in  sich  verspürt, 
kann  schon  lange  einer  gewissen  Kritikhemmung  Platz  gemacht  haben, 
einer  Neigung  zum  für  wahr  halten  des  Gehörten,  welche  durch  die  zu- 
nehm(»nde  Trägheit  der  Gegenvorstellungen  zu  Stande  kommt,  —  und  noch 
immer  fehlt  das  volle  Empfinden  des  Beherrschtseins,  welches  manchmal 
erst  hinterdrein  (III.  5)  auf  Umwegen  zur  Erkenntniss  gelangt.  Diesen 
Widerstreit  zwischen  der  Idee  wollenzukönnen  und  der  trotzdem  be- 
stehenden WillenssclilaftTieit  (IV.  4)  allein  der  Methode  Vogt  zuschreiben 
zu  wollen,  welcher  seinen  Patienten  gegenüber  stets  betont,  dass  der 
Bestand  ihres  persönlichen  Willens  in  jedem  Momente  gewahrt  bleibe, 
halte  ich  für  verfehlt,  nachdem  ich  in  der  Litteratur  auch  von  anderer 
Seite  die  Schilderung  ähnlicher  Empfindungen  gefunden  habe.  So 
schreibt  Bleuler  in  seiner  Selbstbeobachtung:  „Durch  die  folgenden 
Suggestionen  wurde  mein  bewusster  Gedankeninhalt  nicht  anders  als  im 


Zur  Technik  der  hypnotischen  Suggestionen.  189. 

Wachen  beeinflusat,  deunoch  realisirten  sich  dieselben  zum  grössten 
Tbeil/'  ^)  Das  drückt  dasselbe  aus,  als  ich  im  Sinne  habe,  die  Verwunde- 
rung darüber,  dass  Symptome  eingetretener  Hypnose  da  sind,  während 
kein  entsprechendes  Empfinden  daran  im  Intellect  vorhanden  ist,  der 
sich  genau  wie  im  Wachen  zu  verhalten  scheint. 

4.  Die  suggestive  Katalepsie. 

Diese  und  ähnliche  Gedankengänge,  auch  event.  missglückte  Sug- 
gestionen rufen  sehr  leicht  den  Wunsch  nach  gewaltsamer  Beein- 
flussung wach,  und  so  fehlerhaft  es  sonst  ist,  ohne  Noth  Theatercoups 
wie  die  suggestive  Katalepsie  etc.  anzuwenden,  hier  können  solche  Dinge 
einmal  am  Platze  sein  (IV.  3).  Ein  gefährliches  Experiment  scheint 
mir  das  allerdings  trotzdem  zu  bleiben,  denn  nur  allzu  oft  habe  ich  die 
Suggestion  der  kataleptischen  Starre  unverwirklicht  gefunden  oder  als 
Liebeoswürdigkeit  der  Versuchsperson  entlarvt.  Die  Vorbedingungen 
für  die  Realisation  dieser  Suggestion  waren  bei  meiner  VIL  3  Hypnose 
sehr  günstige  :  der  Wunsch,  sie  verwirklicht  zu  sehen,  war  wach,  die 
Empfindungen  in  VII.  2  legten  die  Idee  des  Gelingens  sehr  nahe,  und 
doch  misslang  die  Sache  so  gründlich,  wie  sonst  nichts  in  meiner  ganzen 
Versuchsreihe.  Woran  lag  das?  Ich  weiss  es  nicht;  aber  es  mahnt 
aufs  Neue  zur  Vorsicht  mit  diesem  Experiment,  an  welchem  so  manche 
Autorität  zu  Grunde  gegangen  ist. 

Die  suggestive  Katalepsie  als  Maassstab  für  die  Tiefe  der  Hypnose 
2U  benutzen,  wie  es  fast  allgemein  geübt  wird,  muss  ich  deshalb  ent- 
schieden bekämpfen.  Einmal  leistet  dies  Symptom  durchaus  nicht  das, 
was  man  von  ihm  erwartet,  zweitens  braucht  man  solche  Dinge  nicht, 
wenn  man  sich  des  geschilderten  fractionirten  Verfahrens  bedient,  welches 
uns  viel  sicherere  Wegweiser  an  die  Hand  giebt,  und  drittens,  soll  man 
alle  Mätzchen  und  jedem  gebildeten  Menschen  entschieden  zum  mindesten 
unbehagliche  Kunststücke  vermeiden,  welche  wir  als  Schaustellungen 
^u  sehen  gewohnt  sind,  und  welche  dem  Laien  als  totale  Willens- 
beraubung vorschweben.  Auch  darum  sollen  wir  sie  vermeiden,  weil 
unserem  Vorgehen  sonst  in  diesem  Sinne  Schwierigkeiten  und  Vorwürfe 
erwachen  könnten.  Keinem  Menschen,  auch  nicht  dem  Hülfe  heischenden 
Schwerkranken  ist  es  gleichgültig,  ob  er  sich  als  Spielball  der  bizarren 
I^aunen  seines  Hypnotiseurs  zu  wähnen  hat. 

Vom  Standpunkt  der  Technik  aus  ist  die  Vornahme  der  sug- 
gestiven Katalepsie  also  zu  verwerfen  als  unnöthig  und  event.  schädlich. 

*)  Forel.  Hypnotisraus,  p.  216 f. 


190  ^^'  Marcinowiki. 

Sie  wird  als  unangenehmer  Zwang  empfanden,  ist  von  unangenehmen 
Sensationen  begleitet,  führt  oft  zum  Aufwachen  und  nicht  zum  Vertiefen 
des  Schlafes,  ist  also  unzweckmässig  und  schadet  durch  nicht  fiealisiren 
der  Autorität  des  Hypnotiseurs  viel  mehr  und  viel  öfter,  als  ihr  die 
verwirklichte  Suggestion  nützt.  Hierzu  kommt  die  nicht  wegzuleugnende 
Empfindung  des  zur  Schau  gestellt  Seins  und  des  Zwanges  zu  lächer- 
lichen Handlungen,  welche  nur  als  psychologische  Elxperimente  zu- 
lässig sind.  Wenn  wir  dies  unseren  Patienten  gegenüber  erklären,  so 
werden  wir  uns  viele  Freunde  damit  werben,  welche  sich  durch  die  ge- 
kennzeichneten Kunststücke  von  einer  Behandlungsart  abgestossen  fühlen, 
die  ihnen  und  vielen  anderen  von  Vorurtheilen  Befangenen  hätte  segens- 
reich sein  können. 

In  diesem  Sträuben  gegen  inadäquate  Vorstellungen  liegt  zugleich 
der  Schutz,  den  unsere  Kranken  vor  uns  finden,  und  in  ihnen  die  Idee 
dieses  Geschütztseius  gross  zu  ziehen,  halte  ich  für  eine  sehr  wichtige 
technische  Maassnahme,  denn  vielen  giebt  dies  nicht  nur  die  erwünschte 
Ruhe,  sondern  ermöglicht  überhaupt  erst  ihre  Hypnotisirung  durch  Be- 
seitigung der  schwersten  Vorw^ürfe,  welche  man  der  ganzen  Hypno- 
therapie  je  machen  konote.  Ich  glaube  —  nach  meinen  allerdings  ge- 
ringen Erfahrungen  —  mit  Vogt,  dass  der  Versuch,  Jemandem  eine 
allgemein  als  inadäquat  geltende  Vorstellung  aufzunöthigen,  nur  dann 
glücken  wird,  wenn  sie  dem  Vorstellungsleben  des  Hypnotisirten  doch 
nicht  so  ganz  fremd  ist,  wie  man  annahm.  Anderenfalls  kommt  die 
Suggestion  überhaupt  nicht  zur  Realisation,  sie  wird  gewissermaassen 
unterdrückt,  oder  es  kommt  zur  Unruhe,  zum  Widerstreben,  zum  Auf- 
wachen, je  nach  dem  Grad  der  Affectbetonung,  in  ähnlicher  Weise, 
wie  es  bei  der  mir  ertheilten  Suggestion  der  Amnesie  der  Fall  war 
(VII.  3j.  Darum  betont  Vogt  mit  so  grosser  Berechtigung,  dass 
Niemand  gegen  seinen  Willen  hypnotisirt  werden  könne,  und  dass  jeder 
s(»iner  Patienten  auch  ihm  geg(»nüber  in  jedem  Augenblick  zur  Aus- 
nutzung seines  Willens  im  Stande  sei. 

Mag  dies  auch  de  facto  nicht  immer  ganz  zutreffend  sein,  denn 
ein  gewisses  Ohnmachtsgefühl  ist  stets  vorhanden,  und  aus  tiefster 
Schlafheramung  wird  kein  Willensakt  uns  wecken,  wenn  dieselbe  nicht 
erst  durch  andere  Reize  oberflächlicher  gestaltet  worden  ist,  —  jeden- 
falls ein  ungemein  beruhigendes  Moment  für  unsere  Patienten  in  dieser 
AVillenssuggestion  und  zur  vollen  Würdigung  der  Hypnotherapie  als 
einer  Willensschulung  —  nicht  Willensberaubung  —  führt  diese 
Anschauung  «gewiss. 


Referate  und  Besprechungen. 


Knopfj  Dr.  H.  E.^  Sprachgymnastische  Behandlung  eines  Falles 
von  chronischer  Bulbärparalyse.    Therapeutische  Monatshefte.    1899,  2. 

In  einem  Falle  von  chronischer  Bulbärparalyse  erzielte  der  Verfasser  durch 
eine  drei  Monate  währende  sprachgymnastische  Behandlung  bemerkenswerthe  Er- 
folge. Vor  der  Behandlung  war  die  Sprache  des  Patienten  fast  unverständlich, 
80  dass  er,  um  sich  vollkommen  verständlich  machen  zu  können,  eine  Schiefertafel 
zu  Hilfe  nehmen  musste;  insbesondere  waren  die  Vocale  stark  näselnd  und  im 
Klange  fast  gleichlautend  die  Zischlaute  und  Nasallaute  waren  ebenfalls  nicht 
differencirt,  das  „B"  von  den  Gaumenlauten  nicht  zu  unterscheiden.  Nach  der 
Behandlung  vermochte  der  Patient  langsam  aber  durchaus  verständlich  zu  sprechen, 
einige  Vocale  wurden  ohne  nasalen  Beiklang  gesprochen.  Nur  trat  leicht  Ermüd- 
barkeit ein,  und  blieb  schnelles  Sprechen  nach  wie  vor  unmöglich.  Die  sprach- 
gymnastische Behandlung  hatte  noch  die  günstige  Nebenwirkung,  dass  die  Beweg- 
lichkeit des  Unterkiefers  leine  grössere  wurde,  und  dieser  fast  in  normaler  Weise 
nach  vorn  und  unten  bewegt  werden  konnte,  was  vorher  nicht  möglich  war. 

Kurz  nach  der  Entlassung  aus  der  ärztlichen  Behandlung  entzog  leider  ein 
tödtlich  endender  apoplectischer  Insult  den  Patienten  der  weiteren  ärztlichen  Be- 
obachtung. Jedenfalls  ermuntert  das  Resultat,  das  Knopf  erzielte,  zu  weiteren 
Versuchen  mit  der  sprachgymnastischen  Therapie  bei  der  einer  ärztlichen  Behandlung 
im  Allgemeinen  so  unzugänglichen  echten  chronischen  Bulbärparalyse.  Wir  haben 
eben  hier  wieder  einen  Beweis  dafür,  dass  zielbewusstes  therapeutisches  Vorgehen 
auch  bei  schweren  organischen  Erkrankungen  des  Centralnervensystems  zwar  nicht 
Heilung,  so  doch  wesentliche  functionolle  Besserung  zur  Folge  haben  kann. 

Ct  r  o  t  j  a  h  n  -  Berlin. 

Rosiriy  Dr.  H.,  Ueber  die  compensatorische  Uebungstherapie  der 
Tabes  dorsalis.     Die  Therapie  der  Gegenwart.     1899,  1. 

Die  von  v.  Leyden  zuerst  empfohlene,  von  Frenkel  und  Goldscheider 
systematisch  ausgebildete  Behandlung  der  Tabes  durch  zweckmässige  gymnastische 
üebungen  wird  vom  Verfasser  einer  Besprechung  unterzogen,  in  der  weniger  die 
theoretischen  Erwägungen,  auf  denen  sich  diese  neue  Theorie  aufbaut,  als  Hinweise 
für  die  practische  Ausführung  der  üebungen  gegeben  werden.     Als  Richtschnur 


192  Referate  und  Besprechaogen. 

giebt  der  Verfasser  ungefähr  folgende  Reihenfolge  der  Uebnngen  mn:  Hebungen. 
Seitwärtsbewegangen,  Beugungen  und  Streckungen  der  unteren  Extrenütaten  in 
Rückenlage,  Uebereinanderschlagen  der  Beine.  Kreisbewegungen.  Berührungen  der 
Zehen.  Hin-  und  Herrutschen  der  Füsse  auf  einem  in  das  Bett  gelegten  Brett. 
Hebungen  am  M  c  r  k '  sehen  Kletterstuhl  u.  A.  m.  Die  genannten  Bewegungen  stellen 
die  leichteren,  also  etwa  für  die  Torgernckteren  Fälle  des  paraplectischen  Stadiums 
passenden  Uebungen  dar.  Sie  sind  zunächst  dreimal  täglich  nur  eine  Viertelstunde 
lang  zu  machen.  Ermüdung  des  Patienten  ist  thunlichst  zu  vermeiden,  wie  über- 
haupt stets  der  Arzt  sich  zu  vergegenwärtigen  hat.  dass  er  nicht  wie  bei  der  ge- 
wöhnlichen Gymnastik  die  Muskelkraft  üben,  sondern  die  Coordinatsfahigkeit  der 
noch  intact  innervirten  Muskeln  so  steigern  will,  dass  sie  die  Functionen  der 
übrigen  übernehmen  können.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Behandlung  werden  Geh- 
übungen an  Barren  ähnlichen  Apparaten  und  später  auf  freier  Bahn  gemacht,  da- 
neben in  der  Kückenlage  Treffnbungen  am  Pendel-  und  Fusskegelapparat.  Die 
nöthigen  Apparate  sind  von  Thamm  (Berlin,  Karlstrasse)  und  Maquet  (Berlin, 
Beuthstrasse)  zu  beziehen.  Auch  für  die  weniger  wichtige  Gymnastik  der  obereo 
Extremitäten  sind  recht  sinnreiche  Apparate  angegeben. 

Wir  vermissen  in  der  Arbeit  Rosin's  einen  Hinweis  auf  die  eigenartige 
Unterstützung,  die  der  compensatorischen  Uebungstheorie  in  geeigneten  Fällen  aus 
der  Zuhülfenahme  der  hypnotischen  Suggestivbehandlung  erfahren  kann. 

Gr  o  tj  a  h  n  -  Berlin. 

Orassl,  Dr.  G.j  Die  Hansen'sche  Lehre  vom  Bevölkerungsstrom 
und  die  Erneuerung  des  Gelehrtenstandes,  insbesonders  in  Alt- 
bayern. Friedreich 's  Blätter  für  gerichtliche  Medicin  und  SanitÄtspoliieL 
1899.  1. 

Die  Wissensgebiete  der  Medicin  und  der  Nationalökonomie,  wie  überhaupt 
die  der  Biologie  und  der  Sociologie  sind  nicht  so  streng  von  einander  zu  scheiden. 
dass  sie  nicht  manclierlei  wichtige  Berührungspunkte  und  ineinander  ßiessende 
(Grenzlinien  aufwiesen.  Es  ist  daher  nur  zu  billigen,  wenn  Aerzte  w^ie  hier  Grassl 
auch  einmal  gesellschaftswissenschaftlichen  Fragen  ihre  Aufmerksamkeit  zuwenden, 
wie  wir  ja  auch  umgekehrt  nicht  selten  Nationalökonomen  auf  den  Pfaden  der 
Medicin  antrettcn.  z.  li.  in  den  Fragen  der  Bevölkerungslehre,  der  Massenemährung 
u.  a.  m.  Die  Ausführungen  Grassl's  sind  im  Sinne  des  von  seinen  engeren  Fach- 
genossen durchaus  nicht  allgemein  anerkannten  Bevölkerungsstatistikers  Hansen 
gehalten  und  suchen  in  der  Veränderung  des  Verhältnisses  der  Stadtbevölkerung 
zur  LandbeviUkerung  eine  Gesetzmässigkeit  nachzuweisen,  die  wir  nicht  anerkennen 
kJinnen.  Uebor  die  Ergänzung  des  Gelehrtenstandes  durch  vom  Lande  zugewanderte 
Elemente  finden  wir  manche  troffende  Bemerkung.  Bedauerlich  ist  die  Neigung 
des  Verfassers,  aus  spärlichem  Material  grossartige  Schlussfolgerungen  zu  ziehen. 
Auch  die  bovcilkerungspolitischeu  Vorschläge,  in  denen  der  Verfasser  durch  künst- 
liche Büttel  den  Zuzug  der  ländlichen  Bevölkerung  in  die  Stadt  hemmen  will, 
wären  am  besten  fortgeblieben.  G  rot  Jahn -Berlin. 


Zur  Kritik  der  liypnotisclien  Techniic. 

Von 

Theodor  yan  Straaten. 

(Aus  O.  Vogt 's  Neurologischem  Institut.) 

I^Schluss.) 


Wir  gehen  nunmehr  zu  der  Frage  nach  Erzielung  autosuggestlTer 
Bewusstseinszustände  über. 

Ich  habe  eine  Keihe  von  Versuchen  gemacht,  die  geeignet  sind, 
zur  Lösung  dieser  interessanten  Frage  beizutragen.  Diese  Versuche 
haben  nach  meiner  Ansicht  um  so  grösseren  Werth,  als  sie  ursprüng- 
lich nicht  den  Zweck  wissenschaftlicher  Verwerthung  verfolgten,  sondern 
aus  einem  rein  practischen  Bedürfnisse  hervorgegangen  waren,  wes- 
wegen sie  umsomehr  frei  von  vorgefassten  Meinungen  sind.  Die 
ersten  Versuche  bestanden  in  der  autosuggestiven  Herbeiführung  eines 
allgemeinen  tiefen  Schlafes.  Sie  wurden  von  mir  zur  Bekämpfung  von 
Schlaflosigkeit,  an  der  ich  seit  ca.  1 V«  Jahr  litt,  veranstaltet.  Die  Störung 
bestand  in  der  Schwierigkeit,  einzuschlafen.  Es  dauerte  meistens  eine 
Stunde,  bis  ich  einschlief.  Manchmal  noch  längere,  selten  kürzere 
Zeit.  Ich  träumte  viel  und  schlief  häufig  unruhig,  so  dass  ich  mich 
Morgens  beim  Aufwachen  noch  schläfrig  und  abgespannt  fühlte. 
Wachte  ich  in  der  Nacht  auf,  was  nicht  selten  geschah,  so  hatte  ich 
ebenfalls  oft  mit  der  Schwierigkeit  des  Einschlafens  zu  kämpfen. 

Diese  Versuche  sind  nun  zu  drei  verschiedenen  Zeitperioden  ge- 
macht worden.  Die  ersten  Versuche  fallen  in  eine  Periode,  wo  ich 
mich  mit  der  Lehre  vom  Hypnotismus  nur  erst  in  sehr  geringem 
Maasse  beschäftigt  hatte.  Von  der  einschlägigen  Literatur  war  mir 
nur  ForeTs  Lehrbuch  bekannt.  Die  zweite  Reihe  von  Versuchen 
wurde  zu  einer  Zeit  gemacht,  wo  ich  die  grundlegenden  Werke  studirt 
hatte,  die  Methode  0.  Vogt 's  genauer  kennen  gelernt  und  ver- 
schiedenen hypnotischen  Demonstrationen  beigewohnt  hatte.  Die  dritte 
Reihe  von  Versuchen  habe  ich  im  Anschlufs  an  die  hypnotischen  Ex- 
perimente gemacht,  die  O.  Vogt  mit  mir  vorgenommen  hat,  und  die 
ich  im  zweiten  Theil  meiner  Arbeit  mitgetheilt  habe. 

Zeitschrift  für  Hypnotismus  •i^.    IX.  13 


194  ^^^  Straaten. 

Die  Besultate  meiner  Veraucbe  stehen  in  entschiedenem  Gegen- 
satz zu  der  Anschauung,  dass  durch  den  Hypnotismus  der  Wille  ge- 
schwächt und  die  Selbstständigkeit  beschränkt  wird.  Sie  bestätigen 
im  Gegen theil  die  Ansicht  0.  Vogtes,  dass  durch  den  Hypnotismiil 
eine  Erhöhung  der  Selbstständigkeit  und  eine  Steigerung  des  Willeni 
erzielt  werden  kann. 

Ueber  die  ersten  Versuche  können  wir  rasch  hinweggehen.  An- 
geregt durch  die  Leetüre  von  Forel's  Lehrbuch,  versuchte  ich  auf 
Grund  ForeTs  Anschauung,  dass  der  Schlaf  als  die  directe  Folge 
eines  psychischen  Vorgangs,  einer  Autosuggestion  zu  betrachten  sei, 
durch  bewusste  Autosuggestionen  Abends  im  Bett  den  Schlaf  zu  er- 
zeugen. Diese  Versuche  habe  ich  zu  wiederholten  Malen  gemacht 
Sie  blieben  aber  ohne  Erfolg.  Das  Misslingen  der  Versuche  fährte  ich 
auf  das  mangelhafte  Vertrauen  zurück,  was  ich  den  Autosuggestionen 
entgegenbrachte. 

Als  ich  nun  während  eines  Cursus  über  Psychotherapie  bei 
O.  Vogt  einen  Einbhck  in  Ö.  Vogt 's  Methode  gewonnen  hatte,  und 
nachdem  uns  O.  Vogt  Patienten  vorgeführt  hatte,  die  durch  eine 
hypnotische  Cur  von  ihrer  Schlaflosigkeit  befreit  und  darauf  eingeübt 
waren,  nach  einem  Schluck  gewöhnlichen  Wassers  einzuschlafen,  drängte 
sich  mir  der  Gedanke  auf,  die  einige  Monate  vorher  gemachten  Ver- 
suche wieder  aufzunehmen.  Ich  bediente  mich  bei  diesen  Versuchen 
der  Suggestionsform,  wie  ich  sie  bei  den  Demonstrationen  kennen  ge- 
lernt hatte.     Ich  kam  jedoch  wiederum  nicht  zum  Ziele. 

Es  fol^t  nun  die  dritte  Reihe  von  Versuchen,  die,  wie  ich  schon 
hervorhob,  im  Anschluss  an  die  hypnotischen  Experimente,  die  O.Vogt 
mit  mir  vornahm,  gemacht  wurden. 

Den  ersten  Versuch  machte  icl»  nach  der  dritten  Sitzung.  Die- 
selbe hatte  Nachmittags  zwischen  4  und  6  stattgefunden.  Den  Abend 
verbrachte  ich  in  gewohnter  Weise,  und  begab  mich  um  die  gewohnte 
Zeit  zur  Rulie.  Im  Bette  legte  ich  mich  möglichst  bequem  auf  die  rechte 
Seite,  legte  meine  rechte  Hand  auf  die  Stirn  und  gab  mir  mit  leise 
murmelnder  Stimme  Suggestionen  desselben  Inhalts,  wie  die  Sug- 
gestion(Mi  ().  V'ogt's:  Wärnieempfindung  auf  der  Stirn,  Schwere  in  den 
Augenlidern,  Indifferenz  gegen  Geräusche,  Gefühl  von  Behaglichkeit 
und  Ruhe,  Müdigkeit  und  Schläfrigkeit.  Ich  beobachtete,  dass  die 
Suggestionen  der  Wärnieempfindung  unter  meiner  Hand,  der  Schwere 
in  den  Augenlidern    nach   mehrfacher  Wiederholung   der  Suggestionen 


Zur  Krilik  der  hypnotischen  Technik.  195 

sich  realisirten.  Durch  das  Gefühl  der  Schwere  und  durch  ein  ge- 
ringes Kitzelgefühl  an  den  Augen  wurde  die  Tendenz  zum  Augen- 
schluss  mehr  und  mehr  gesteigert  Derselbe  erfolgte.  Indem  icli  nun 
mit  den  Suggestionen:  Indifferenz  gegen  Geräusche,  Gefühl  von  Be- 
haglichkeit und  Ruhe,  Müdigkeit,  Schläfrigkeit  fortführ,  dieselben  in 
verschiedenen  Variationen  wiederholend,  gerieth  ich  in  kurzer  Zeit  in 
einen  Zustand  von  Somnolenz.  Während  dieses  Zustandes  wiederholte 
ich  nunmehr  die  Suggestionen  eines  tiefen  und  traumlosen  Schlafes. 
Bald  wurde  ich  zu  träge,  mit  den  Suggestionen  fortzufahren.  Ich 
fühlte,  wie  mein  Bewusstsein  sich  immer  mehr  verdunkelte.  Ich  ver- 
sank dann  plötzlich  in  den  Schlaf.  Ich  schlief  die  ganze  Nacht  hin- 
durch ununterbrochen.  Am  Morgen  erwachte  ich  mit  dem  Gefühl  des 
Ausgeruhtseins  und  der  Frische.  Von  Schläfrigkeit  und  Müdigkeit  war 
keine  Spur  vorhanden.  Ich  war  mir  nicht  bewasst,  geträumt  zu  haben. 
Ich  hatte  Lust,  gleich  aufzustehen. 

Diese  Thatsachen  hatten  meine  Erwartungen  überstiegen  und  er- 
muthigten  mich  zu  weiteren  Versuchen.  Den  Anreiz  dazu  empfing  ich 
aber  nicht  mehr  allein  aus  dem  Bedürfuiss,  mich  von  der  Schlaflosig- 
keit dauernd  zu  befreien,  sondern  mich  interessirte  nun  auch,  festzu- 
stellen, ob  wirklich  die  Suggestionen  den  Schlaf  herbeigeführt  hatten, 
oder  ob  diesen  Thatsachen  andere  Momente  zu  Grunde  lagen.  Ich 
neigte  a  priori  zu  der  Ansicht,  dass  die  Suggestionen  ausschliesslich 
den  Schlaf  herbeigeführt  hatten  und  bei  einer  genaueren  Beurtheilung 
meiner  Lage  kam  ich  zu  dem  Schluss,  dass  in  meinen  Verhältnissen 
und  Lebensgewohnheiten  sich  nichts  geändert  hatte,  was  einen  Einfluss 
auf  meinen  Nachtschlaf  hätte  ausüben  können.  Glückten  nun  ausser- 
dem zahlreiche  Versuche  ohne  Ausnahme,  so  glaubte  ich  den  aus- 
schliesslichen Einfluss  der  Suggestionen  für  gesichert  halten  zu  dürfen. 
Demnach  suchte  ich  an  den  folgenden  5  Abenden  in  der  oben  be- 
schriebenen Weise  Schlaf  zu  erzielen.  Ich  kam  jedes  Mal  in  kurzer 
Zeit  zum  Ziel.  Bei  den  3  letzten  Versuchen  erfolgte  das  Einschlafen 
in  einer  Zeit,  die  ich  auf  etwa  3—5  Minuten  schätze.  Ohne  Aus- 
nahme war  der  Schlaf  ein  tiefer  und  erquickender.  Ich  erwachte 
Morgens  ohne  eine  Spur  von  Müdigkeit.  Ich  wurde  nur  einige  Male 
durch  Lärm  auf  der  Strasse  geweckt,  verfiel  dann  aber  mit  Zuhülfe- 
nahme  von  Suggestionen  in  kurzer  Zeit  wieder  in  Schlaf. 

Um  nun   in   den    Einfluss   der  Suggestionen    noch   mehr   Einblick 

zu  haben,   versuchte  ich   an    den  nächsten   drei  Abenden  einzuschlafen, 

ohne  mir  in  der  angegebenen  Weise  Suggestionen  zu  geben.     Ich  legte 

13* 


196  ^1^  Straaten. 

mich  wiederum  möglichst  bequem  hin  und  verhielt  mich  ganz  passir. 
Bald  tauchten  Gedanken  auf,  die  meine  Aufmerksamkeit  auf  sich 
lenkten.  Unterdrückte  ich  sie,  so  traten  andere  dafür  in  mein  Be- 
wusstsein.  Ich  spürte  keine  Tendenz  zu  schlafen  und  ich  fühlte  das 
Bedürfniss,  die  Suggestionen  in  Anspruch  zu  nehmen,  mit  Hülfe  deren 
ich  in  kurzer  Zeit  in  Schlaf  gerieth. 

Die  Erfolge,  die  ich  jetzt  mit  meinen  Suggestionen  hatte,  brachte 
ich  in  Zusammenhang  mit  den  HypnotisirungSTersuchen.  Diese  Idee 
führte  mich  zu  folgendem  Experiment. 

Ich  ging  wieder  zur  gewohnten  Zeit  zur  Ruhe,  suchte  eine  mög- 
lichst bequeme  Lage  einzunehmen,  legte  meine  Hand  wiederum  auf 
die  Stirn,  und  gab  mir  wieder  mit  leise  murmelnder  Stimme  Sug- 
gestionen. Dabei  versuchte  ich  mich  im  Geiste  in  die  beim  Hypnoti- 
siren  bestehende  Situation  zu  versetzen.  Ich  suchte  die  Lebhaftigkeit 
dieser  Vorstellung  dadurch  zu  unterstützen,  dass  ich  bei  den  Sug- 
gestionen die  Stimme  0.  Vogt's  nachahmte.  Durch  das  Hören  der 
Suggestionen  in  diesem  Tone  wurde  die  Lebhaftigkeit  der  Vorstellung 
auch  in  hohem  Grade  angeregt.  Das  Einschlafen  erfolgte  dabei  in  sehr 
kurzer  Zeit.  Ich  habe  dieses  Experiment  mehrere  Male  mit  demselben 
Erfolg  gemacht. 

Ich  versuchte  nunmehr^  mich  allmählich  von  den  Suggestionen  un- 
abhängig zu  machen.  Um  dies  zu  erreichen,  sprach  ich  die  Sug- 
gestionen nicht  mehr,  wie  ich  bisher  gethan  hatte,  mit  leise  murmelnder 
Stimme,  sondern  nur  noch  mit  kaum  vernehmlichem  Flüstern,  und  ging 
dann  auch  bald  dazu  über,  dieselben  überhaupt  nicht  mehr  ausza- 
sprecheii,  sondern  sie  mir  nur  noch  vorzustellen.  Mit  beiden  Arten 
hatte  ich  gleichen  Erfolg. 

Bei  all  diesen  Versuchen  trat  nun  natürlich  der  Schlaf  nicht  jedes 
Mal  in  gleich  kurzer  Zeit  ein,  sondern  das  eine  Mal  rascher,  das  andere 
Mal  langsamer.  Einen  grossen  Einfluss  besass  in  dieser  Hinsicht  der 
Gemüthszustand.  Gemüthserregungen  heiterer  und  angenehmer  Art 
liesseu  sich  durch  Suggestionen  leichter  beschwichtigen,  als  solche  de- 
prirairender  Art.  Letztere  stellten  insofern  dem  Einschlafen  grössere 
Schwierigkeiten  entgegen,  als  es  viel  schwerer  war,  sie  durch  Suggestionen 
zu  imterdrücken.  Ich  war  jedoch  im  Staude,  selbst  bei  heftigeren 
Erregungen  deprimirender  Art  in  kurzer  Zeit  den  Schlaf  zu  erzeugen. 
Ich  erwachte  eines  Nachts  mit  einem  Gefühl  von  Unruhe,  das  durch 
einen  Traum  veranlasst  war,  der  gewisse  mir  unangenehme  Dinge  zum 
Gegenstand   gehabt  hatte.     Indem   ich  mich   im  Wachen  noch  weiter 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  197 

hiermit  beschäftigte,  wurde  das  Gefühl  Doch  mehr  gesteigert.  Als  ich 
nun  einschlafen  wollte,  liess  mich  das  peinigende  Gefühl  nicht  zur 
Ruhe  kommen.  Ich  lenkte  nuo  meine  Suggestionen  gegen  die  Unruhe, 
indem  ich  mir  wiederholt  die  ruhige  Versicherung  gab,  dass  die  Unruhe 
schwinden  würde,  und  einem  behaglichen  ruhigen  Gefühl  Platz  machen 
würde.     Ich  gerieth  bald  in  einen  erquickenden  Schlaf. 

Ich  ging  nun  dazu  über,  ohne  Benutzung  detaillirtej^  Suggestionen 
durch  einfache  Concentration  auf  die  Idee:  „Ich  werde  jetzt  ein- 
schlafen^ mich  in  einen  Schlafzustand  zu  versetzen.  Ich  wählte,  wie 
ich  es  bisher  stets  gethan  hatte,  die  zum  Einschlafen  geeignetste  Zeit, 
die  Zeit  des  Schlafengehens.  Nach  einigen  Versuchen  gelang  es  mir 
ohne  Weiteres,  diese  Idee  festzuhalten,  ohne  dass  die  einzelnen  Partial- 
zielyorstellungen,  mit  denen  ich  früher  das  Einschlafen  hervorgerufen 
hatte,  mir  bewusst  wurden.    Ich  erzielte  so  einen  Schlaf. 

Aus  dieser  Form  hat  sich  dann  im  weiteren  Verlauf  der  Modus 
entwickelt,  nach  dem  ich  jetzt  einschlafe.  Wenn  ich  mich  jetzt  Abends 
ins  Bett  lege,  schliesse  ich  die  Augen  und  schlafe  in  ganz  kurzer  Zeit 
ein,  ohne  dass  mir  die  Schlafzielvorstellung  irgendwie  klarer  ins  Be- 
wusstsein  kommt.  Nur  dann,  wenn  innere  Erregungen  drohen,  mich 
für  längere  Zeit  wachzuhalten,  bediene  ich  mich  umständlicherer  Sug« 
gestionen.  Solche  suggestiv  wirkende  Zielvorstellungen  kommen  mir 
also  für  gewöhnlich  jetzt  nicht  mehr  oder  kaum  mehr  zum  Bewusstsein. 
Dass  aber  ihr  physiologisches  Correlat  doch  wirksam  ist,  scheint  mir 
aus  dem  geschilderten  stufenweisen  Schwinden  der  Zielvorstellungen  aus 
dem  Bewusstsein  zur  Genüge  hervorzugehen. 

Ich  habe,  wie  ersichtlich,  bisher  von  den  Versuchen  zur  Zeit  des 
Schlafengehens,  berichtet.  Ich  habe  ähnliche  Versuche  aber  auch  zu 
anderen  Zeiten  gemacht.  Da  es  mir  erwünscht  war„  die  Fähigkeit  zu 
besitzen,  die  Zeit  der  Arbeit  durch  kleine  Pausen  eines  erquickenden 
Schlafes  zu  unterbrechen,  so  versuchte  ich  zu  verschiedenen  Tageszeiten 
durch  Suggestionen  einen  Schlafzustand  zu  erzielen.  Zu  den  ersten 
Versuchen  wählte  ich  die  Zeit  nach  dem  Mittagessen,  später  auch  Zeit- 
punkte, wo  ich  gerade  ein  Bedürfniss,  mich  auszuruhen,  verspürte. 
Zwar  ist  es  mir  nicht  gelungen,  jedes  Mal  tiefen  Schlaf  zu  erzeugen, 
aber  ich  war  von  Anfang  an  im  Stande,  Schlafzustände  zu  erzielen, 
die  mir  ein  volles  Ausruhen  ermöglichten. 

Dadurch,  dass  ich  mir  die  Vorstellungen  von  dem  Eintreten  der 
einzelnen  Phasen  des  Einschlafens  und  zwar  bei  zunehmender  Einübung 
in  immer  weniger  complexer  und  bewusster  Form,  wachrief,  gelang  es 


198  ▼«>  Siraateo. 

mir,  den  Schlaf  zu  erzielen.  Dies  war  mir  nicht  möglich  gewesen, 
weder  zu  der  Zeit,  wo  ich  nur  Forel's  Lehrbuch  kamite,  noch  zu 
einer  Zeit,  wo  ich  bereits  eine  ganze  Reihe  Ton  Hypnosen  gesehen 
hatte,  und  schon  in  mir  genau  dieselben  Zielvorstellungen  henrorrief, 
die  später  wirksam  waren.  Nachdem  ich  nun  aber  hypnotisirt  worden 
war,  nachdem  also  dieselben  Zielvorstellungen  von  aussen  in  mir  ge- 
weckt, eine  suggestive  Folgewirkung  gehabt  hatten,  gelang  es  mir  nun- 
mehr durch  willkürliche  Hervorrufung  derselben  Vorstellungen  einen 
gleichen  Effect  zu  erzielen.  Es  fragt  sich,  worauf  diese  Aendemng  in 
der  suggestiven  Kraft  der  willkürlich  von  mir  hervorgerufenen  Ziel- 
vorstellung des  Einschlafens  zurückzuführen  ist.  Meiner  Ansicht  nach 
können  zwei  Factoren  in  'Betracht  kommen.  Der  eine  ist  der  der  Ein- 
übung, der  andere  ist  der,  dass  nach  glücklich  erfolgter  Erzielung 
meiner  Hypnotisirung  durch  Fremdsuggestiouen  mein  Glaube  an  die 
Möglichkeit  der  Autohypnotisirung  zugenommen  und  in  Folge  dessen 
die  Zielvorstellung  in  ihrer  suggestiven  Folgewirkung  durch  hemmende 
Zweifel  weniger  gestört  wurde.  Ich  muss,  soweit  ich  durch  die  Selbst- 
beobachtung meines  jedesmaligen  Bewusstseinsinhaltes  diese  Frage  ent- 
scheiden kann,  hervorheben,  dass  ich  entschieden  mehr  Zweifel  dem 
Gelingen  meiner  Versuche  bei  der  ersten  Versuchsreihe  nach  der  Leetüre 
von  ForeTs  Lehrbuch,  als  nach  den  Vogt 'sehen  Demonstrationen 
entgegenbrachte.  Dagegen  habe  ich  einen  unterschied  in  meinem  Ver- 
trauen zum  Gelingen  zwischen  den  erfolglosen  Bemühungen  vor,  und 
meinen  erfolgreichen  Versuchen  nach  meiner  Fremdhypnose  nicht  con- 
statiren  können.  Ich  möchte  daher  diese  Frage  nicht  weiter  entscheiden. 
Allgemein  kann  mau  wohl  annehmen,  dass  beide  Factoren  in  Betracht 
kommen.  Wie  die  Bedeutung  jedes  einzelnen  dabei  auch  sein  mag, 
das  für  uns  Wichtige  ist  der  Umstand,  dass  man  nach  Erzielung  ge- 
wisser Bewusstseinszustände  durch  Fremdsuggestion  diese  durch  Auto- 
suggestion wieder  liervorrufen  kann,  während  ihre  autosuggestive  EJr- 
zielung  vor  ihrem  Erreichen  durch  Fremdsuggestion  eine  tinmöglichkeit  ist. 
Nachdem  ich  mit  der  Anwendung  von  Autosuggestionen  zur  Er- 
reichung des  Schlafes  Erfolg  gehabt  hatte,  so  versuchte  ich  auch  mit 
Autosuggestionen  gegen  andere  Störungen  anzukämpfen.  Ein  acuter 
Magencatarrh,  den  ich  mir  einmal  zugezogen  hatte,  bot  mir  dazu  Ge- 
legenheit. Ich  erwachte  eines  Morgens  mit  den  Symptomen:  Mattig- 
keit, Uehelkeit,  Kopfschmerzen.  Ich  gab  mir  zunächst  die  Suggestionen, 
dass  die  Mattigkeit  verschwinden  würde,  dass  sie  einem  Gefühl  von 
Frische  den  Platz   räumen   würde.      Unter   der  Einwirkung   in   diesem 


Zur  Kritik  der  hypnotisohen  Technik.  199 

Sinne  häufig  wiederholter  ZieWorstellungen  hatte  ich  thatsächlich  das 
Gefühl  einer  Abnahme  der  Mattigkeit  Ich  verliess  dann  plötzlich  das 
Bett,  machte  kalte  Uebergiessungen  des  Kopfes,  rieb  meinen  Körper 
kalt  ab,  und  unter  der  fortwährenden  Versicherung,  dass  die  mir  da- 
durch zu  Theil  gewordene  Erfrischung  anhalten  würde,  dass  die  Kopf- 
schmerzen verschwinden  würden,  kleidete  ich  mich  rasch  an,  fühlte 
mich  ganz  wohl,  arbeitete  nach  dem  Frühstück  den  ganzen  Morgen. 
Später  hatte  ich  nur  ein  geringes  Gefühl  von  Mattigkeit. 

Auch  habe  ich  verschiedene  Male  Kopfschmerzen  suggestiv  be- 
seitigt. Ich  gehe  dabei  in  folgender  Weise  vor.  Ich  trinke  ein  Glas 
Citronenwasser,  mit  der  Verdicherung,  dass  der  Kopfschmerz  ver- 
schwinden wird.  In  einigen  Minuten  fühle  ich  den  Schmerz  nicht 
mehr.  Auch  andere  Störungen,  Gefühl  von  Unruhe,  Traurigkeit  u.  s.  w, 
kann  ich  suggestiv  beeinflussen. 

Sodann  habe  ich  versucht,  durch  Autosuggestion  jenen  Zustand  zu 
schafien,  den  O.  Vogt  den  Zustand  des  eingeengten  Bewusstseins 
nennt,  und  der  bei  mir  schon  in  der  dritten  Hypnose  der  fünften  Sitzung 
hervorgerufen  wurde  zur  Erforschung  der  Ursache,  die  mich  in  der 
ersten  und  zweiten  Hypnose  dieser  Sitzung  an  dem  Einschlafen  ge- 
hindert hatte.  In  diesem  Zustande  konnte  ich  mich  der  einzelnen  Ein- 
drücke der  voraufgegangenen  Hypnose  genauer  entsinnen  und  fand  auf 
diese  Weise  den  Grund,  der  mir  im  Wachsein  verborgen  geblieben 
war.  Auch  schon  in  der  dritten  Hypnose  der  vierten  Sitzung  wurde 
ich  im  eingeengten  Bewusstsein  aufgefordert,  mir  eine  bestimmte 
Person  vorzustellen.  Es  war  in  diesem  Zustande  die  Lebhaftigkeit 
des  Erinnerungsbildes  klarer  als  im  Wachsein. 

Eben  jenen  Zustand  habe  icti  versucht,  durch  Autosuggestionen 
zu  schafl'en,  und  in  diesem  Zustande  die  Lebhaftigkeit  von  Vorstel- 
lungen geprüft. 

Ich  will  versuchen,  jenen  Zustand  zu  beschreiben.  In  diesem  Zu- 
stande bin  ich  mir  meiner  Situation  und  meiner  Umgebung  weniger 
klar  bewusst.  Je  tiefer  der  Zustand  ist,  um  so  stärker  ist  der  Grad  des 
Dunkelbewusstseins.  Gegen  anhaltende  Geräusche  bin  ich  in  diesem 
Zustande  indifferent.  Bei  plötzlichen  Geräuschen  werde  ich  bisweilen 
wach,  und  habe  dabei  auch  genau  das  Gefühl  des  Wachwerdens,  wie 
aus  dem  Schlafe.  Dabei  wurde  mir  auch  manchmal  inne,  dass  ich 
mich  meiner  augenblicklichen  Situation  nicht  bewusst  gewesen  war. 
Meine  Aufmerksamkeit  ist  fest  auf  den  Gegenstand  gerichtet,  von  dem 
ich  mir  eine  Vorstellung  verschaffen   will.     Jedesmal,  wenn  ich   mir 


200  ^^^  Straaten. 

etwas  vorstelle,  habe  ich  dabei  ein  Gefühl  yod  SpamiiiDg,  das 
lieh  abDimmt,  je  deutlicher  die  Vorstellung  wird,  und  mit  sonehmender 
Deutlichkeit  der  Vorstellung  macht  dasselbe  allmählich  einem  Grefühl 
des  Entspanntseins  und  einer  gewissen  Befriedigung  Platz.  Mit  jedem 
neuen  Gegenstand  wiederholt  sich  derselbe  Process.  Der  Grad  der 
Tiefe  des  Zustandes  ist  ein  wechselnder.  Meist  besteht  eine  Tendenz 
zum  Wachwerden,  so  dass  ich  mich  wieder  der  Suggestionen  bedienen 
muss,  um  die  gehörige  Tiefe  zu  schaffen ;  bisweilen  besteht  eine  Tendenz 
zum  Einschlafen.  Erwache  ich  aus  diesem  Schlaf,  so  finde  ich  beim 
Erwachen  die  Aufmerksamkeit  wieder  auf  den  Gegenstand  eingestellt, 
den  ich  vorgenommen  hatte. 

In  diesem  Zustande  habe  ich  lu  wiederholten  Malen  Personen, 
Thiere,  auch  complexere  Situationen,  z.  B.  Landschafben  mir  vorzu- 
stellen  versucht,  und  stets  gefunden,  dass  die  Lebhaftigkeit  der  Er- 
innerungsbilder eine  grössere  war,  als  im  wachen  Zustande.  Auch 
konnte  ich  mich  in  diesem  Zustande  viel  besser  der  Träume  entsinnen, 
die  ich  in  der  Nacht  gehabt  hatte,  und  fand  eine  Menge  Details,  die 
mir  im  wachen  Zustande  nicht  eingefallen  waren,  auch  selbst,  wenn 
ich  mich  mit  aller  Schärfe  auf  den  Traum  concentrirt  hatte. 

Wie  wir  femer  nach  O.  Vogt  wissen,  erfahrt  die  Zunahme  oder 
Abnahme  der  Bewusstseiusbeleuchtung  einer  mit  einem  Gefühl  ver- 
bundenen V^orstellung  eine  proportionale  Veränderung  der  Intensität 
des  Gefühls.  Während  ich  eine  stärkere  Gefühlsbetonung  im  Zustande 
des  eingeengten  Bewusstseins  im  Allgemeinen  bestätigen  kann,  so 
habe  ich  bisher  doch  zu  wenig  darauf  mein  Augenmerk  gerichtet,  um 
zu  einem  endgiltigeu  IJrtheil  gelangt  zu  sein. 

Mich  hat  hauptsächlich  interessirt,  den  Zustand  des  eingeengten 
Bewusstseins  durch  Autosuggestion  zu  schaffen  und  in  diesem  Zustande 
die  Lebhaftigkeit  der  Vorstellungen  zu  prüfen,  um  durch  die  ver- 
mehrte Lebhaftigkeit  derselben  die  Existenz  des  eingeengten  Bewusst- 
seins zu  beweisen. 

Dabei  hatte  ich  nicht  speciell  im  Auge,  gerade  jenen  Zustand  des 
systematisch  eingeengten  Bewusstseins  zu  schaffen,  der  in  seiner 
Graduirung  von  Schlafhemmung  und  Wachsein  den  für  psychologische 
Selbstbeobachtung  geeignetsten  Zustand  darstellt.  Dagegen  möchte 
ich  einen  Punkt  hervorheben,  über  den  zu  urtheilen  meine  Versuche 
mir  ermöglichen.  Zwischen  dem  von  mir  hervorgerufenen  eingeengten 
Bewusstsein  und  dem  Bewusstseinszustand  der  gewöhnlichen  Concen- 
tration  der  Aufmerksamkeit  habe  ich  einen  ganz  principiellen  genetischen 


Zur  Kritik  der  hypnotischen  Technik.  201 

Gegensatz  gefunden.  Wenn  ich  mich  entschliesse,  meine  Aufmerksam- 
keit auf  irgend  etwas  zu  richten,  so  beobachte  ich  in  meinem  Bewusst- 
sein  als  auslösende  Zielvorstellung  die  Idee,  mich  auf  etwas  concen- 
triren  zu  wollen.  Es  lässt  sich  dann  durch  Versuche  feststellen,  dass 
diese  Idee  neben  der  Concentration  der  Aufmerksamkeit  als  zweite 
unmittelbare  Folge  die  der  Abstumpfung  gegen  Störungen  nach  sich 
zieht.  Ich  habe  dabei  nicht  die  Idee  gehabt,  mich  gegen  diese  Störungen 
abzuschliessen ,  sondern  meine  auf  ein  bestimmtes  Object  gerichtete 
Aufinerksamkeit  hatte  unmittelbar  diese  Abschliessung  zur  Folge.  Wo 
nun  stärkere  Störungen  meine  Aufmerksamkeit  von  dem  als  Ziel  der 
Aufmerksamkeit  erwählten  Object  abziehen,  tritt  nun  allerdings  die 
Idee  auf,  speciell  diese  Störungen  aus  meinem  Bewusstsein  zu  ver- 
drängen. Diese  Erscheinung  ändert  aber  nichts  an  dem  Thatbestand, 
dass  die  primäre  Zielvorstellung  die  der  Concentration  auf  das  dazu 
erwählte  Object  darstellt.  Ganz  anders  bei  der  Erzielung  des  ein- 
geengten Bewusstseins.  Hier  ist  die  primäre  Vorstellung  die  einer 
Schlafhemmung,  und  damit  eine  Unempfindlichkeit  gegen  Störung  zu 
schaffen. 

Also,  das  was  bei  dem  gewöhnlichen  concentrirten  Arbeiten 
höchstens  secundär  hinzukommt,  tritt  hier  primär  auf  und  hat  die 
grosse  Concentrationsfähigkeit  zur  secundären  Folge. 

Damit  ist  der  Gegensatz  noch  nicht  erledigt.  Wenn  ich  mich  zu 
concentrirter  Arbeit  entschliesse,  enthält  die  zu  dieser  Arbeit  fährende 
Zielvorstellung  das  Moment  des  WoUens,  während  bei  Erzielung  des 
eingeengten  Bewusstseins  ich  in  mir  die  Idee  wecke,  dass  diese  Schlaf- 
vorstellung passiv  und  spontan  auftreten  wird. 

Bei  einer  solchen  autosuggestiven  Erzielung  gewisser  Bewusstseins- 
zustände,  wie  ich  sie  beschrieben,  handelt  es  sich  um  die  willkürliche 
Hervorrufung  suggestiv  wirksamer  Zielvorstellungen.  Ich  habe  durch 
meine  active  Aufmerksamkeit  die  Idee  hervorgerufen,  dass  diese  oder 
jene  Erscheinung  nunmehr  ohne  mein  weiteres  Zuthun  auftreten  würde. 
Es  handelt  sich  um  Suggestionen  in  der  strengen  Definition,  wie  sie 
O.  Vogt  giebt.  Wenn  nun  solche  Folgewirkungen  im  Anschluss  an 
voraufgegangene  Fremdsuggestionen  nunmehr  willkürlich  hervorgerufen 
werden  können,  so  ist  damit  der  Machtbereich  des  Willens  ausgedehnt. 
Hiermit  ist  dann  aber  bewiesen,  dass  Fremdsuggestionen 
in  der  richtigen  Form  angewandt,  durchaus  zurWillens- 
stärkung  führen  können  und  nicht  eine  Willensschwä- 
chung zur  Folge  zu  haben  brauchen. 


Kritische  Bemericungen  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Lehre 

vom  Hypnotismus. 

Von 

Dr.  philos.  Leo  Hlrschlaff,  Arzt  in  Berlin. 

(Schluss.) 


Wenn  wir  versucheD,  in  eine  Kritik  der  von  Vogt  aufgestellten, 
geistvollen  Hypothesen  über  das  Wesen  des  Schlafes  und  der  hypnoti- 
schen Phänomene  einzutreten,  so  können  wir  uns  im  Allgemeinen  mit 
den  psychologischen  Grundanschauungen  einverstanden  erklären,  von 
denen  Vofrt  ausgeht  und  deren  knappe  und  präcise  Darstellung  als 
ein  unbestreitbares  Verdienst  dieses  Autors  bezeichnet  werden  muss,  um 
so  mehr,  als  gerade  bei  der  Durchsicht  der  hypnotischen  Literatur, 
von  der  wir  einen  kleinen  Abriss  gegeben  haben,  der  Eindruck  nicht 
ausbleiben  kann,  dass  eine  schärf(»re  Präcisiou  der  psychologischen 
Grundbegriffe  und  eine  sorgfältigere  psychologische  Durchdringung  und 
Prüfung  der  Anschauungen  recht  häufig  am  Platze  wäre.  Gegen  den 
Aufbau  der  Vogt 'sehen  Theorien  im  Einzelnen  haben  wir  dagegen 
einige  Bedenken,  deren  Darlegung  freilich  keineswegs  das  hervor- 
ragende Verdienst  des  Autors  um  den  Fortschritt  der  hyp notist ischen 
Wissenschaft  schmälern  soll.  Diese  Bedenken  richten  sich,  indem  wir 
von  allen  Kleinigkeiten  absehen,  vornehmlich  gegen  folgende  3  Punkte: 
1.  gegen  die  Auffassung  der  Localisation  der  Bewusstseins Vorgänge  im 
Gehirn;  2.  gegen  die  Ausdehnung  des  BegriflFes  der  Suggestion  und 
die  darauf  beruhende  Beobachtuugsmethode  Vogts;  endlich  3.  gegen 
seine  Meinung  über  das  Wesen  des  hypnotischen  Schlafes  und  speciell 
der  partiellen  Wachzustände  als  hypnotischer  Zustände.  Da  die  ad  2 
und  3   aufgeführten  Bedenken   sich   mehr  gegen   einige  später   zu  re- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Uypnotismus.      203 

ferirende  Arbeiten  desselbeo  Verfassers  beziehen,  so  beschränken  wir 
uns  an  dieser  Stelle  auf  den  ersten  Einwand,  den  wir  gegen  die  Auf- 
fassung von  der  Localisation  der  Bewusstseinsvorgänge  im  Gehirn  er- 
heben wollen.  lieber  diese  Frage,  die  von  einschneidender  Bedeutung 
nicht  nur  für  die  Theorie  des  Schlafes,  sondern  noch  mehr  für  viele 
andere  Probleme  ist,  siod  sich  die  modernen  Psychologen  noch  immer 
nicht  einig.  'Während  eine  grosse  Zahl  derselben  geneigt  ist,  jede 
Einzelvorstellung  und  -Wahrnehmung,  überhaupt  jeden  psychischen  In- 
halt in  einer  besonderen  Ganglienzelle  der  Hirnrinde  aufgespeichert  zu 
denken,  gerade  so,  wie  es  Vogt'  thut.  wenn  er  auf  den  Sitz  der 
Schlafvorstellung  im  Gehirn  die  Neurokyme  zuströmen  lässt,  sind 
andere,  darunter  Wundt  und  wir  selbst  der  Meinung,  dass  diese 
Hypothese  unbewiesen  und  unzutreffend  sei.  Indem  wir  in  dieser  Be- 
ziehung auf  Wundt 's  ^^•)  vortreffliche  Ausführungen  gegen  Ziehen 
im  X.  Bande  der  „Philosophischen  Studien'^  hinweisen,  bemerken  wir, 
dass  die  Frage  der  Localisation  keineswegs  so  einfach  gelöst 
werden  kann,  wie  es  der  oben  erwähnten  Anschauung  entspricht.  Was 
wir  bisher  über  die  Leistungen  des  Gehirns  wissen,  berechtigt  uns 
wohl  zu  der  Behauptung,  dass  die  Intactheit  des  Gehirns,  speciell  der 
Hirnrinde,  eine  wesentliche  Bedingung  für  das  Zustandekommen  der 
geistigen  Vorgänge  ist,  ebenso  wie  z.  B.  die  Durchlässigkeit  der 
Ureteren  eine  nothwendige  Bedingung  für  den  normalen  Ablauf  der 
XJrinsecretion  darstellt.  Was  aber  darüber  hinausgeht,  ist  mehr  als 
zweifelhaft  und  experimentell  durch  nichts  bewiesen.  Ja,  es  ist  sogar 
im  höchsten  Maasse  unwahrscheinlich,  dass  eine  Localisation  der  ein- 
zelnen Vorstellungen  in  der  Weise  stattbat,  wie  es  Ziehen,  Vogt 
und  viele  andere  meinen,  wonach  die  Rindenzelle  einfach  den  psychi- 
schen Inhalt  in  sich  birgt.  Dagegen  spricht  schon  der  ungeheure 
Reichthum  der  Vorstellungen  und  der  Möglichkeiten  einer  Combination 
unter  ihnen.  Wollte  man  diese  Art  der  Erkläiiing  zulassen,  so  wäre 
damit  jedes  Problem  der  Psychologie  gelöst:  man  hätte  nur  die  Auf- 
gabe, die  psychische  Analyse  des  betreffenden  Vorganges  auszuführen, 
um  dann  auf  das  Spiel  der  Neurokyme  zu  verweisen,  die  zwischen  den 
Ganglienzellen  hin-  und  hereilen  und  die  Geschäfte  der  Psyche  be- 
sorgen. In  Wahrheit  bietet  diese  Auffassung  nur  ein  Bild,  von  dem 
wir  mit  Sicherheit  sagen  können,  dass  es  in  dieser  Gestalt  nicht  zu- 
treffend sein  kann :  unsere  Kenntnisse  werden  dadurch  nicht  bereichert. 
Daher  hat  Lipps^^')  Recht,  wenn  er  vor  der  physiologischen  Ver- 
bildlichung der  psychologischen  Erkenntnisse  warnt. 


204  Leo  Hinchlaff. 

Bevor  wir  das  zweite  Bedenken  erläutern,   das  wir  gegen  die  An- 
schauungen Vogt 's   aufstellen  zu  müssen  glaubten,  referiren  wir  zu- 
nächst die  Arbeiten,  die   zur  Theorie   der  Hysterie  Beitrage   geliefert 
haben.     In  erster  Reihe  ist  hier  eine  psychologische  Studie   Land- 
mann's^*')  zu  nennen,   der  die   von  Pierre  Janet***)   aufgestellte 
Theorie   der  Hysterie   bekämpft.      Jan  et  und  Las^gue   hatten  den 
Geisteszustand  der  Hysterischen  durch  Zerstreutheit  und  Gleichgiltig- 
keit    gekennzeichnet    und    die   Wurzel    der    Hysterie    in    der     y^Ich- 
Wahrnehmung'^   gesucht.      Nach  ihnen   wird   das  Ich-Bewusstsein  ge- 
bildet  aus  den  Bewusstseinselementen,    die  gleichzeitig   in   der   Seele 
vorhanden  sind.      Je   beschränkter  das   Bewusstseinsfeld,    desto    mehr 
gewöhnen  sich  die  Kranken,  gewisse  Empfindungen  unter  der  Sehwelle 
des  Bewusstseins  liegen  zu  lassen,  weil  sie  sie  nicht  in  das  Ichbewusst- 
sein  aufnehmen  können.     Die  hysterischen  Anästhesien   entstehen  also 
nach  Jan  et  dadurch,   dass  die  psychologisch  vorhandenen  Elementar- 
empfindungen zwar  erfasst,  aber  nicht  mehr  in  das  Ichbewusstsein  aufge- 
nommen werden;  femer  durch  Schwäche  und  Gleichgiltigkeit,  wodurch 
die  Patienten  das  Interesse  und  die  Aufmerksamkeit  für  ihre  Empfin- 
dungen einbüssen.     Gegen  diese  Auffassung  wendet  sich  Land  mann, 
indem  er  darauf  aufmerksam  macht,   dass  die  Analyse  der   seelischen 
Vorgänge  3  Bestandtheile  aufzeige,   nämlich  den  Inhalt  einer  Vorstel- 
hmg,   das  Bewusstsein  dieses  Inhaltes   und   das  Bewusstsein  der   dabei 
stattfindenden  Thätigkeit.      Die  Localisation  des  Inhaltes  der  Vorstel- 
lungen  verlegt  Laudmann  in   die   subcorticalen  Gehimganglien,   das 
Bewusstsein   der  Vorstellungsinhalte   dagegen  ebenso  wie  das  Bewusst- 
sein der  Vorstellungsthätigkeit  in  die  Grosshirnrindenzellen.     Der  Vor- 
stellungsact    entsteht    also    nach    ihm    normaler  Weise    dadurch,    dass 
diejenigen   Hirnrindenzellen,    von   denen   der  Inhalt  der  Vorstellungen 
bewusst  gemacht  wird,  mit  denen  verbunden  sind,  von  denen  die  Vor- 
stellungsthätigkeit bewusst  gemacht  wird.     Eine  hysterische  Anästhesie 
kann  demnach  durch   dreierlei  Störungen   zu  Stande  kommen:    1.   der 
Empfindungsinhalt  wird  nicht  bewusst  gemacht;   dann  weiss  man,  dass 
man   fühlt,   aber  nicht   was  man   fühlt;    2.   die  Empfindungsthätigkeit 
wird  nicht  bewusst;   dann  weiss  man  nicht,  dass   man  fühlt:    3.    beide 
werden   nicht   bewusst;    dann    fehlt  jedes   Zeichen    einer   Empfindung. 
Mit  Hülfe  dieser  Theorie  gelingt  es  leicht,  jede  noch  so  merkwürdige 
Erscheinung  des  byfterischen  S}'mptoroencomplexes   zu  erklären.     Das 
Verhalten  der  Reflexe  bei  hysterischen  Anästhesien,  das  Verhalten  der 
Pupillen    bei   hysterischen   Amaurosen,   die   paradoxen   Erschein angen, 


JLritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  HypnotiBmus.     205 

die  bei  farbenblindeD  Hysterischeu  beobachtet  worden  sind:  dies  Alles 
bietet  der  Erklärung  nicht  die  geringsten  Schwierigkeiten  mehr.  Die 
Amnesien  entstehen  durch  Unthätigkeit  der  Nervenfäden,  die  die  Hirn- 
rindenzellen untereinander  verbinden ;  die  Abulien  der  Hysterischen 
kommen  dadurch  zu  Stande,  dass-  die  Bewegungsvorstellungen  in  den 
subcorticalen  Gefühlsganglien  nicht  mehr  jene  Erregung  erwecken, 
durch  welche  die  motorischen  Centren  zur  Auslösung  der  Muskel- 
contractionen  gereizt  werden;  der  normale  Wille  endlich  ist  eine  psy- 
chische Thätigkeit,  die  darin  besteht,  dass  durch  eine  Bewegungs- 
vorstellung das  Gefühl  der  Lust  zur  Auflösung  bestimmter  Muskel- 
thätigkeiten  erregt  wird.  Wir  sehen  also,  dass  alle  Erscheinungen  des 
normalen  und  krankhaften  Seelenlebens  auf  dem  Boden  der  Land- 
m an n'schen  Theorie  leicht  ihre  Erklärung  finden;  schade  freilich,  dass 
dies  nur  solange  der  Fall  ist,  als  man  die  aufgestellten  Hypothesen  nicht 
mit  kritischen  Augen  mustert.  In  Wahrheit  nämlich  ist  die  vermeint- 
liche psychologische  Analyse  der  Seelenacte  in  die  3  oben  erwähnten 
Bestandthcile  durchaus  keine  psychologische,  sondern  vielmehr  eine 
logische  Analyse,  deren  Bestandthcile  sich  im  Bewusstsein  auch  bei 
schärfster  Selbstbeobachtung  discret  nicht  nachweisen  lassen.  Daher 
ist  es  von  vornherein  verkehrt,  für  diese  logischen  Abstractionen  eine 
anatomische  Localisation  im  Gehirn  zu  suchen.  Man  müsste  denn,  um 
ein  analoges  Beispiel  anzuführen,  zur  Erklärung  des  Zustandekommens 
der  Vorstellung  eines  Tisches  annehmen,  dass  die  Vorstellung  eines 
drei-  oder  vierbeinigen  Gegenstandes,  die  Vorstellung  einer  bestimmten 
Farbe  und  Form,  die  Vorstellung  der  Grösse,  des  Gewichtes  etc.  im 
Gehirn  besonders  localisirt  wären  und  sich  vereinigen  müssten,  um  die 
Vorstellung  des  Tisches  entstehen  zu  lassen.  Alle  diese  Eigenschaften 
sind  in  abstracto,  rein  logisch  betrachtet,  zweifellos  Componenten  der 
Tischvorstellung;  in  psychologischem  Sinne  jedoch  sind  sie  es  ebenso- 
wenig, wie  sich  in  unserer  Selbstbeachtung  das  Bewusstsein  einer 
Vorstellung  von  dem  Inhalte  oder  der  Thätigkeit  derselben  isoliren  lässt. 
Während  Land  mann  die  von  Jan  et  inaugurirte  Auffassung  der 
Hysterie  bekämpft,  haben  Ranschburg  und  Hajös^*^)  Veranlassung 
genommen,  die  Jane  tische  Theorie  zu  bestätigen.  Nach  ihren  Aus- 
führungen sind  die  hysterischen  Anästhesien  und  Amnesien  Folge- 
zustände der  Einengung  des  Ichbewusstseins,  welche  sich  auf  Grund 
einer  absoluten  oder  relativen  Verminderung  der  associativen  Energie 
einstellt.  Im  Gegensatze  dazu  bemerkt  Döllken^^^),  dass  für  das 
Zustandekommen  der  Anmesie  der  Hypnotisirten  nicht  die  Associations- 


206  I'eo  Hirschlaff. 

störuDg,  soudern  vielmehr  die  Perceptionsvermindenmg  als  wesentlich 
angesehen  werden  müsse,  da  ja  sonst  auch  die  Paranoiker  amnestisch 
sein  müssten.  Zugleich  bezeichnet  er  als  einen  Fortschritt  in  der 
Theorie  der  Hysterie  die  Erkanntniss,  dass  dieser  Erkrankung  nicht 
eine  allgemeine  reizbare  Schwäche  des  Nervensystems,  wie  früher  an- 
genommen, zu  Grunde  liege,  sondern  vielmehr  nur  eine  Schwäche  ge- 
wisser Theile,  verbunden  mit  einer  compensatoriscfaen  Uebererregbarkeit 
anderer  Theile  des  Nervensystems,  eine  Thatsache,  auf  die  auch  die 
Erscheinung  der  electiven  Suggestibiiität  zurückzufuhren  ist.  Auch 
nach  der  von  Vogt  gegebenen,  oben  ausführlicher  dargestellten  Theorie 
entstehen  die  hysterischen  Anästhesien  durch  Herabsetzung  der  Erreg- 
barkeit der  betreffenden  Centren  in  Folge  von  Anämie,  sind  also  als 
partielle  Schlafzustände  des  Gehirns  aufzufassen;  während  bei  der 
Katalepsie  eine  Stauung  der  Neurokyme  durch  Verminderung  der  corti- 
caleii  Ableitung  postulirt  wird. 

Wir  treten  nunmehr  in  die  Besprechung  des  wichtigsten  Punktes 
der  Lehre  vom  Hypnotismus  ein,  von  dem  die  zukünftige  Bedeutung 
dieser  wissenschaftlichen  Disciplin  fast  ganz  und  gar  abhängig  ist:  wir 
meinen  die  Definition  des  Begriffes  der  Suggestion  und  die  Auffassung 
ihres  eigentlichen  Wesens.  Der  Bedeutung  des  Gegenstandes  ent- 
sprechend wollen  wir  auf  diesen  Punkt  ein  wenig  ausfuhrlicher  ein- 
gehen. Eine  der  wesentlichsten  Sünden  der  Vertreter  der  hypnotisti- 
schon  Wissenschaft  besteht  darin,  dass  sie  den  Begriff  der  Suggestion 
zu  weit  fassen.  So  definirt,  um  einige  Beispiele  herauszugreifen, 
Berillon  **-):  „La  Suggestion  est  Fart  d'utiliser  Taptitude  que  pre- 
sente  un  sujet  k  transformer  Tidee  regue  en  acte";  und  er  gründet 
darauf  die  Principien  einer  neuen  Suggestiv-Pädagogik ,  die  wir 
an  anderer  Stelle  ^^•^)  bereits  ausführlicher  abgelehnt  haben.  Stell***) 
geht  von  der  Auffjissung  aus,  dass  die  Suggestion  nichts  weiter  sei 
^als  eine  Idee,  eine  Vorstellung,  die  in  uns  durch  verschiedene  Mittel 
seitens  der  organischen  und  imorganischen  Aussenwelt  wachgerufen 
wird  und  die  nun  den  Ausgangspunkt  für  weitere  Denkprocesse  für 
uns  bildet,  ohne  dass  uns  dieser  ursächliche  Zusammenhang  stets  klar 
zum  Bewusstsein  kommt".  Von  diesem  Standpimkte  aus  fallt  es 
natürlich  dem  Autor  leicht,  die  ganze  Entwickelung  und  Geschichte  der 
Menschheit,  die  Wunderthaten  Christi  ebenso  wie  die  Gewohnheit  des 
Tabaksgenusses,  auf  Suggestion  zurückzuführen.  Auch  Tyko  Brunn- 
berg ^*^),  der  den  Hypnotismus  als  pädagogisches  Hilfsmittel  empfiehlt, 
rrklärt    „das    ganze    psychische  Geschehen  als  eine  zusammenhängende 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     207 

Reihe  Dalürlicher  Suggestionen".  Jedoch  sind  die  Autoren,  die  den 
Begriff  der  Suggestion  in  der  Definition  bereits  so  weit  fassen,  dass 
sie  die  Erzeugung  jeder  Wahrnehmung  oder  Vorstellung  durch  äusseren 
Anlass  darunter  verstehen,  immerhin  in  der  Minderzahl.  Für  sie  ist, 
wie  Lipps  mit  Recht  bemerkt,  das  Wort  Suggestion  zu  einem  schäd- 
lichen Modewort  geworden.  Wir  werden  freilich  unten  nachweisen 
können,  dass  auch  die  grosse  Mehrzahl  derer,  die  den  Begriff  der 
Suggestion  enger  definiren,  in  Wahrheit  doch  ihren  theoretischen  Aus- 
führungen sowohl  wie  ihrem  practischen  Vorgehen  einen  entschieden  zu 
weit  gefasaten  Begriff  der  Suggestion  zu  Grunde  legen. 

Das  specifische  Merkmal,  das  nach  Bergmann ^^®)  die  Suggestion 
von  den  gewöhnlichen  Vorstellungen  unterscheidet,  ist  der  graduelle 
Intensitätsunterschied,  der  zwischen  beiden  statthat:  die  suggerirte 
Vorstellung-  wird  mit  halluciuatorischer  Deutlichkeit  erblickt.  Zum 
Beweise  dafür,  dass  die  Realisation  der  Suggestionen  lediglich  eine 
Folge  ihrer  ausserge wohnlichen  Inteusität  sei,  erinnert  Bergmann  an 
die  vorzeitigen  Reactioneu  im  Wachzustande,  die  auch  nichts  Anderes 
seien  als  Hallucinationen  oder  intensive  Vorstellungen,  die  sich  in  Folge 
ihrer  Intensität  von  selbst  realisiren.  Dabei  besteht  zwischen  der 
physiologischen  Hallucination,  wie  sie  in  der  Hypnose  hervorgerufen 
werden  kann,  und  der  pathologischen  Hallucination  ein  bemerkens- 
werter Unterschied.  Die  physiologische  Hallucination  kommt  zu  Stande 
durch  Hervorrufung  einer  anderen  Vorstellung  von  grosser  Intensität 
und  Deutlichkeit,  so  dass  der  richtige  Eindruck  dadurch  zurück- 
gedrängt wird;  die  pathologische  Hallucination  dagegen  resultirt 
aus  der  mangelhaften  Function  der  peripheren  Apparate  oder  aus 
Störungen  der  Apperception.  Ein  ähnlicher  Gedanke  scheint  auch 
Liebeault^*^)  vorzuschweben,  wenn  er  von  einer  Verstärkung  der 
Vorstellungen  durch  Gefühle  spricht,  gerade  wie  die  Aureole  den  Kopf, 
den  sie  umgiebt,  stärker  hervortreten  Hesse. 

Ein  anderes  Merkmal,  das  die  Suggestion  gegenüber  anderen 
seelischen  Vorgängen  zu  characterisiren  geeignet  ist,  wird  von  Lichten- 
stern^**»)  folgendermaassen  ausgedrückt:  „Suggestion  ist  die  that- 
sächliche  Hervorrufung  eines  seelischen  oder  körperlichen  Zustandes 
nur  durch  Hervorbringung  der  Ueberzeuguüg,  dass  er  bestehe."  Wollte 
man  der  von  Friedmann  ^*'*)  entwickelten  Theorie  folgen,  so  wäre 
allerdings  diese  Ueberzeugung  die  unausbleibliche  Folgeerscheinung 
der  abnormen  Intensität  der  erweckten  Vorstellung.  Der  Definition 
V.  Lichtenstern's    entspricht    ziemlich    genau    die   Definition,    die 


208  I^eo  Hirschlaff. 

ForeP*^)  von  dem  Begriffe  der  Suggestion  gegeben  hat,  wenn  er 
sagt:  „Als  Suggestion  bezeichnet  man  die  Einengung  einer  dynamischen 
Veränderung  im  Nervensystem  eines  Menschen  oder  in  solchen  Funo» 
tionen,  die  vom  Nervensystem  abhängen,  durch  einen  anderen  Menschen 
mittelst  Hervorrufung  der  bewussten  oder  unbewussten  Vorstellung,  dass 
jene  Veränderung  stattfindet  od^r  bereits  stattgefunden  hat  oder  statt- 
finden wird." 

Eine  ausführliche  Untersuchung  über  den  Begriff  der  Suggestion 
verdanken  wir  Vogt  und  Lipps.  Vogt^**)  definirt  die  Suggestion 
als  „eine  affectlose  Zielvorstellung  mit  abnorm  intensiver  Folgewirkung^. 
Als  Zielvorstellung  bezeichnet  er  „die  Vorstellung  von  dem  Auftreten 
eines  ihrem  Inhalte  nach  in  der  Zielvorstellung  enthaltenen  psycho- 
logischen Vorganges".  Die  abnorm  intensive  Folgewirkung  beruht 
nicht  auf  einer  starken  Gefuhlsbetonung,  sondern  auf  dem  Object- 
inhalt  der  Zielvorstellung  als  solcher.  Das  physiologische  Correlat  der 
Zielvorstellung  kann  in  Folge  von  Einübung  wirken,  ohne  selbst  den 
Intensitätsgrad  des  Bewusstwerdens  zu  erreichen.  Die  Zielvorstellnng 
enthält  stets  das  physiologische  Correlat,  den  Objectinhalt,  auf  den 
sich  die  Folgewirkung  bezieht.  Da  wo  die  Zielvorstellungen  eine 
Hemmung  enthalten,  ist  der  Objectinhalt  jenes  positive  Moment,  das 
entweder  durch  Absorption  oder  nach  dem  Modus  der  Schlafhemmung 
die  Negation  erzielt.  An  einer  anderen^Stelle  giebt  Vogt  zu,  dass 
es  auch  affectstarke  Zielvorstellungen  imd  Suggestionen  gäbe ;  doch 
seien  die  affectiven  Suggestionen  von  den  einfachen  Gefühlswirkungen 
zu  unterscheiden.  Bevor  wir  diese  Auffassung  kritisiren,  referiren  wir 
zunächst  zwei  vortreffliche  Arbeiten  von  Lipps,  die  dem  gleichen 
Gegenstande  gewidmet  sind.  In  einem  Vortrage  in  der  Münchens 
Psychologischen  Gesellschaft^ ^)  wendet  sich  Lipps  gegen  Wundt***), 
der  die  Suggestion  zurückführt  auf  eine  Einengung  des  Bewusstseins 
auf  die  durch  Association  erregten  Vorstellungen.  Diese  Auffassung 
verwirft  Lipps  auf  Grund  folgender  Argumente:  1.  es  ist  nicht 
immer  eine  Einengung  vorhanden,  sondern  manchmal  sogar  sehr  viele 
Vorstellungen  auf  einmal  gegeben;  2.  alle  Vorstellungen  werden  durch 
Associationen  erregt;  3.  zwischen  passiver  und  activer  Aufmerksamkeit 
(die  letztere  soll  bei  der  Suggestion  lahmgelegt  sein)  besteht  kein 
Unterschied,  da  beide  Ausfluss  unserer  Activität  sind.  Eine  Ein- 
engung ist  bei  dem  Vorgange  der  Suggestion  nur  in  dem  Sinne  vor- 
handen, als  eine  Hemmung,  Lähmung,  Ausschaltung  der  Gegenvorstel- 
lungen  erforderlich  ist;    aber  dies   ist  nicht  eine  Einengung   des  Be- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Uypnotismus.     209 

wnsstseios,  sondern  vielmehr  der  Erreguugsfabigkeit  der  potentiell  in 
uns  gegebenen  Vorstellungen  oder  der  Ausstrahlung  der  erregenden 
Wirkung  der  associativ  verlaufenden  Bewegung.  Daher  definirt  Lipps 
selbst:  „Suggestion  ist  die  Erzeugung  eines  über  das  blosse  Dasein 
einer  Vorstellung  hinausgehenden  psychischen  Vorganges  in  einem  In- 
dividuum seitens  einer  Person  oder  eines  von  jenem  Individuum  ver- 
schiedenen Objectes,  wofern  das  Zustandekommen  der  fraglichen  psy- 
chischen Wirkung  unter  Bedingungen  stattfindet,  die  nicht  als  adäquate 
bezeichnet  werden  können".  Adäquate  Mittel  zur  Erzeugung  eines 
Urtheils  sind:  Gründe;  zur  Erzeugung  von  Empfindungen:  sinnliche 
Reize ;  zur  Erzeugung  von  Willensacten :  das  Bewusstsein  vom  Werthe 
eines  Objectes  oder  Gewohnheit.  Dagegen  kommt  bei  der  Suggestion 
die  psychische  Wirkung  zu  Stande  „durch  eine  in  ausserordentlichem 
Maasse  stattfindende  Hemmung  oder  Lähmung  der  über  die  nächste 
r^producirende  Wirkung  der  Suggestion  hinausgehenden  Vorstellungs- 
beweguug".  In  der  diesem  Vortrage  folgenden  Discussion  stellt 
V.  Schrenck-Notzing  eine  etwas  abweichende  Definition  der  Sug- 
gestion in  folgenden  Worten  auf:  „Suggestion  ist  Einschränkung  der 
Associationstliätigkeit  auf  bestimmte  Bewusstsein  sinhalte,  lediglich 
durch  Inanspruchnahme  der  Erinnerung  und  Phantasie,  in  der  Weise, 
dass  der  Einfluss  entgegenwirkender  Vorstellungsverbindungen  ab- 
geschwächt oder  aufgehoben  wird,  woraus  sich  eine  Intensitätssteigerung 
des  suggerirten  Bewusstseinsinhaltes  über  die  Norm  ergiebt.  Bei  In- 
dividuen, die  im  Augenblicke  der  Erzeugung  eines  psychischen  In- 
haltes noch  nicht  über  Gegenvorstellungen  verfügen  (Thieren,  Kindern, 
Wilden,  Ungebildeten)  kennzeichnet  sich  der  betreflfende  psychische 
Inhalt  erst  dann  als  suggerirt,  sobald  er  ^eine  Intensität  gegenüber  der 
erst  nachträglich  gebildeten  (im  Sinne  der  Correctur  und  Hemmung) 
entgegenwirkenden  Vorstellungen  in  der  oben  genannten  Weise  be- 
hauptet." In  noch  ausführlicherer  und  klassisch  grundlegender  Weise 
hat  Lipps  seinen  oben  gekennzeichneten  psychologischen  Standpunkt 
in  dieser  Frage  vertreten  in  einem  Vortrage  in  der  philos.-philol. 
Classe  der  k.  b.  Academie  der  Wissenschaften  zu  München  vom 
6.  März  1897. 

Zur  Kritik  der  von  Vogt  und  Lipps  aufgestellten  Definitionen 
des  Suggestionsbegrifi*es  haben  wir  Folgendes  zu  bemerken:  Wenn 
Vogt  neben  der  abnormen  Intensität  der  psychophysischen  Vorgänge, 
die  wir  bereits  oben  als  ein  Characteristicum  der  Suggestionen  erkannt 
haben,   das  Auftreten  einer  Zielvorstellung   zum  Zustandekommen   der 

Zeitschrift  für  Hypnotiamus  etc.    IX.  14 


210  ^o  Hincbkff. 

ErscheinuDgen  für  erforderlich  hält,  so  müssen  wir  dies  aus  psycho- 
logischen Gründen  bestreiten.  Es  mag  wohl  vorkommen,  dass  eine 
solche  Ziel  Vorstellung  ausnahmsweise  im  ßewusstsein  der  Hypnotisirten 
auftritt  und  zur  Realisation  der  Suggestionen  beiträgt;  z.  B.  wenn  sich 
die  Suggestion  der  Katalepsie  verwirklicht,  weil  der  Hypnotisirte  in 
Folge  der  Worte  des  Hypnotiseurs  in  Aufregung  geräth  und  iiirchtet^ 
der  Hypnotiseur  könne  eine  so  grosse  Gewalt  über  ihn  haben,  dass  er 
in  der  That  diese  für  ihn  unangenehme  und  befremdliche  Erscheinung 
hervorrufen  könne.  Aber  solche  affectstarken  Suggestionen  sind,  wie 
Vogt  selbst  bemerkt,  selten.  Von  diesen  Ausnahmen  abgesehen,  giebt 
es  aber  in  dem  Bewusstsein  der  Hypnotisirten  keine  Ziel  Vorstellungen, 
ebenso  wie  wir  keine  Zielvorstellung  in  unserem  Bewusstsein  entdecken 
können,  wenn  wir  willkürlich  den  Arm  erheben.  Die  Annahme,  dass 
die  Zielvorstellungen  unbewusst  vorhanden  sein  könnten,  müssen  wir 
ebenfitlls  ablehnen,  da  unbewusste  Vorstellungen  für  uns  eine  contra- 
dictio  in  adjecto  sind.  Auf  dem  gleichen  Standpunkte  scheint  übrigens 
auch  Vogt  zu  stehen,  da  er  erklärt,  „dass  die  Supposition  von  unbe- 
wussten  oder  unterhewussten  psychischen  Erscheinungen  zum  Zwecke 
der  Ausfüllung  der  psychischen  Causalreihe  unzulässig  sei,  wenigstens 
vom  psychologischen  Standpunkte  aus.'*  Die  Zielvorstellungen,  mit 
denen  vielfach  auch  die  moderne  Psychologie  arbeitet,  indem  man  sie 
bei  den  Willkürbewegungen  als  einen  nothwendigen  Bestandtheil  hin- 
stellt, mögen  vielleicht  logische  Postulate  sein:  psychologischen  Beob- 
achtungen entspringen  sie  nicht. 

Das  Wesentliche  der  von  Lipps  aufgestellten  Begriffsbestimmung 
der  Suggestion  scheint  uns  in  den  „inadäquaten  Bedingungen"  gelegen 
zu  sein,  die  nach  ihm  das  ch.iracteristische  Merkmal  der  Suggestionen 
sind.  Auch  v.  Seh  renck-N  otzing  scheint  auf  das  Gleiche  hinaus- 
zukommen, wenn  er  von  der  Abschwächuug  oder  Aufhebung  des  Ein- 
flusses entgegenwirkender  Vorstellungsverbiudungen  spricht.  Hiermit 
ist  in  der  That  ein  neuer  Factor  gegeben,  der  geeignet  sein  dürfte,  die 
Suggestionen  von  allen  anderen  Seeionvorgängen  scharf  und  präcise 
abzugrenzen.  Wenn  ich  einem  Wachen  sage,  er  sei  ein  Hund  und 
werde  auf  allen  Vieren  im  Zimmer  umherspringen  und  bellen,  so  lacht 
er  mich  aus,  weil  seine  Urtheiiskraft  ihm  die  betreffenden  Gegenvur- 
stellun^^'en  zur  Verfügung  stellt  und  ihm  beweist,  dass  er  kein  Huud 
ist.  Sage  ich  dagegen  das  Gleiche  einer  Somnambulhypnotischen,  so 
wird  sieh  meine  Behauptung  realisireu.  Was  ist  bei  diesem  Vorgange 
wesentlich?  Auf  Seiten  des  Hypnotiseurs  die  Thatsache,  dass  die  auf- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.      211 

gestellte  BehauptuDg  uDmotivirt  und  unsinoig,  der  Wirklichkeit  wider- 
sprechend ist;  auf  Seiten  der  Hypnotisirten,  dass  sie  trotzdem  in  die 
Wirklichkeit  übersetzt  wird.  Diese  beiden  Bestandtheile  sind  für  das 
Zustandekommen  einer  Suggestion  im  engeren  Sinne  erforderlich:  eine 
unmotivirte  und  der  gegenwärtigen  Wirklichkeit  widersprechende  Be- 
hauptung auf  der  einen  und  die  Annahme  und  Ausführung  derselben 
auf  der  anderen  Seite,  deren  psychische  Ursache  wir  iinten  erläutern 
werden.  Nur  wenn  wir  an  diesem  strengen  BegriflFe  der  Suggestion 
festhalten,  ist  dieselbe  ein  von  den  sonstigen  seelischen  Vorgängen  ab- 
grenzbares Phänomen.  Demnach  sind  fast  alle  „Suggestionen",  die  wir 
in  therapeutischer  Beziehung  anwenden,  überhaupt  keine  Suggestionen 
im  strengeren  Wortsinne.  Wenn  wir  einem  Patienten  sagen,  er  solle 
oder  werde  sich  von  jetzt  an  bemühen,  eine  vernünftige  Lebensweise 
zu  führen,  er  werde  guten  Appetit,  Schlaf,  Stuhlgang  haben  und  sich 
nach  dem  Erwachen  wohl  fühlen,  so  sind  das  keine  eigentlichen  Sug- 
gestionen, sondern  vielmehr  Rathschläge,  Ermahnungen,  Hoffnungen 
und  Wünsche,  die  sich  auch  im  wachen  Zustande  mehr  oder  weniger 
realisiren  würden,  da  sie  ja  durchaus  richtig  und  motivirt  sind.  Nur 
die  experimentellen  Suggestionen,  vor  deren  Anwendung  wir  am  An- 
fange unserer  Arbeit  gewarnt  haben,  sind  wirkliche  Suggestionen  sensu 
strictiori.  Da  wir  gesehen  haben,  dass  die  Kunst  des  Hypnotiseurs 
darin  bestehen  muss,  seine  Heil- „Suggestionen"  möglichst  wahrheits- 
gemäss  zu  motiviren,  so  können  wir  die  Behauptung  rechtfertigen,  dass 
ein  geschickter  Hypnotiseur  weniger  Gebrauch  macht  von  den  Sug- 
gestionen als  vielmehr  von  psychotherapeutischen  Vorstellungen,  Rath- 
schlägen  und  Ermahnungen.  Fügen  wir  hinzu,  dass  die  Realisation 
der  eigentlichen  Suggestionen  fast  ausschliesslich  auf  die  tiefen  Som- 
nambulhypuosen  beschränkt  ist,  und  dass  diese  tiefen  Hypnosen,  wie 
oben  nachgewiesen,  aus  ethischen  Gründen  verwerflich  sind,  so  haben 
wir  unseren  Standpunkt  in  dieser  Frage  dahin  zu  präcisiren.  dass  der 
therapeutische  Hypnotismus  weder  von  einer  eicrentlichen  Hypnose  noch 
von  wirklichen  Suggestionen  Gebrauch  machen  dürfe.  Eine  eingehendere 
Begründung  dieses  Standpunktes  kann  erst  weiter  unten  erfolgen. 

In  guter  Uebereinstimmung  über  die  soeben  von  uns  entwickelte 
Ansicht  über  das  AVesen  der  Suggestion  stehen  die  Definitionen,  die 
William  Hirsch^**)  und  Agathon  de  Potter  ^*'^)  diesem  BegriflFe 
gegeben  haben.  William  Hirsch  definirt:  „Suggestion  ist  die  Er- 
zeugung von  Empfindungen,  Stimmungen  und  Vorstellungen,  welche  sich 

zu  ihren   physiologischen  Erregern   in   einem   inadäquaten    Verhältniss 

14* 


212  Leo  HirschUff. 

befindeD.  Unter  physiologischen  Erregem  ist  nicht  nur  der  eigentliche^ 
auslösende  Reiz,  sondern  die  gesammten  Componenten  verstanden,  die 
das  physiologische  Correlat  einer  psychischen  Erscheinung  in  eindeutiger 
Weise  bestimmen.  Eine  suggerirte  Vorstellung  ist  daher  eine  inducirte 
Wahnvorstellung,  unterschieden  nur  durch  eine  geringere  Stabilität" 
In  ähnlichem  Sinne  definirt  Agathon  de  Potter:  „Die  Suggestion 
ist  nicht  ein  Act,  durch  den  eine  Idee  dem  Gehirn  eingeführt  und  von 
ihm  acceptirt  wird,  wie  Bernheim  behauptet  hat,  sondern  das  ist 
Belehrung  und  Beweis.  Mau  suggerirt  vielmehr  falsche  oder  zweifel- 
hafte Ideen,  deren  Wahrheit  möglich,  dem  Subject  aber  noch  nicht 
bewiesen  ist."  Wir  fügen  noch  einmal  hinzu,  dass  dies  wesentlich  für 
die  experimentellen  und  nur  für  einen  kleineren  Theil  der  therapeu- 
tischen Suggestionen  Geltung  hat,  wie  oben  nachgewiesen. 

Bevor  wir  das  Kapitel  der  Definition  der  Suggestion  verlassen, 
müssen  wir  noch  an  einen  Factor  erinnern,  der  nach  unserer  Auffassung 
für  das  Wesen  derselben  characteristisch  ist  und  dessen  wir  schon  früher 
Erwähnung  gethan  haben.  Man  hat  behauptet  —  und  nicht  ganz  mit 
Unrecht  —  dass  für  das  Wesen  der  Suggestiv- Phänomene  der  psychische 
Zwang  kennzeichnend  sei,  unter  dem  sich  die  Suggestionen  dem  Gehirn 
des  Hypnotisirten  passiv  aufdrängen  und  sich  realisiren.  Besonders  die 
Nancy'er  Schule  hat  diesen  passiven  Zwang  urgirt  und  darin  einen 
characteristischen  Unterschied  vom  Wachleben  gefunden.  Indessen 
müssen  wir  daran  festhalten,  dass  hierin  nicht  eine  durchgängige  Eigen- 
thümliclikeit  der  Suggestionen  gegeben  sein  könne.  Wir  haben  oben 
den  Nachweis  erbringen  können,  dass  eine  ganze  Zahl  von  Suggestionen 
therapeutischer  und  experimenteller  Natur  sich  im  Gegenthoile  dadurch 
characterisirt,  dass  die  Activität  der  Hypnotisirten,  freilich  ohne  dass 
diese  sich  über  diesen  Umstand  klar  zu  sein  brauchen,  zur  Realisirung 
der  Suggestionen  mit  herangezogen  wird.  Wir  hatten  gesehen,  dass 
die  Suggestion  der  Vesication  sich  nicht  in  der  Weise  realisiren  kann, 
dass  das  psychopbysische  Correlat  der  erweckten  Vorstellung  eine  directe 
Wirkung  auf  die  Haut  der  Hypnotisirten  entfaltet,  sondern  vielmehr 
nur  unter  der  Bedingung,  dass  die  active  Mithülfe  der  betreffenden 
Versuchsperson  nicht  unterbunden  wird.  Wir  hatten  es  wahrscheinlich 
gemacht,  dass  auch  bei  der  Realisirung  anderer  Suggestionen  das 
Gleiche  stattfände,  so  bei  der  Suggestion  des  Stuhlganges,  der  Heilung 
von  Warzen,  der  Verwandlung  der  Persönlichkeit  etc.  Ja,  wir  können 
sogar  behaupten,  dass  diese  active  Mithülfe  der  Patienten  in  den  meisten 
Fällen  unerlässlich   und   für  den  Erfolg  der  Suggestivbehandlung  aoi* 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.       213 

schlaggebend  ist.  Zwar  giebt  es  eine  Reihe  von  Fällen,  hauptsächlich 
bei  Somnambulhypnotischen,  bei  denen  es  zur  Entfernung  eines  be- 
stehenden Kopfschmerzes,  einer  Anästhesie  oder  irgend  eines  anderen 
krankhaften  Symptomes  genügt,  die  völlig  unmotivirte  Suggestion  zu 
geben,  das  betreffende  Symptom  sei  bereits  verschwunden  oder  werde 
sofort  verschwinden.  In  den  meisten  Fällen  ist  jedoch  der  Hergang 
der,  dass  wir  in  der  Hypnose  die  Versicherung  geben,  es  werde  all- 
mählich eine  Besserung  der  bestimmten  Krankheitserscheinungen  ein- 
treten. Tritt  diese  Besserung  dann  nach  mehr  minder  langer  Zeit  ein, 
so  glauben  wir,  dass  nicht  die  Suggestion  allein  daran  schuld  sei, 
sondern  dass  dieselbe  in  das  gesammte  associative  Milieu  des  Seelen- 
lebens Eingang  gefunden  und  alle  dort  verfügbaren  Kräfte  in  den 
Dienst  der  gegebenen  Suggestivvorstellung  gebracht  habe.  Die  Ueber- 
zeugung,  die  Hoffnung,  der  Glaube,  dass  die  Besserung  eintreten  werde, 
wirken  dabei  zweifellos  mit;  aber  sie  wirken  nicht  so  unmittelbar  und 
ausschliesslich,  wie  in  dem  erst  erwähnten  Falle,  den  wir  als  den  Typus 
einer  echten,  hypnotischen  Suggestion  im  engeren  Sinne  bezeichneten. 
Im  Gegensatze  dazu  möchten  wir  in  der  zweiten  Art  der  Realisation 
der  gegebenen  Heilvorstellung  mehr  einen  psychotherapeutischen  Vor- 
gang erblicken,  da  es  sich  um  Factoren  handelt,  deren  Wirksamkeit 
nicht  an  den  hypnotischen  Zustand  als  solchen  gebunden  ist.  Wir  er- 
achten es  jedenfalls  für  geboten,  diese  beiden  Möglichkeiten  sowohl  in 
psychologischer,   wie  in  therapeutischer  Hinsicht  zu  unterscheiden. 

Es  schliesst  sich  an  diese  Erörterung  die  Auffassung  des  Begriffes 
der  Suggestibilität,  über  die  eine  Einigung  unter  den  Autoreu  noch 
nicht  erzielt  ist.  Bergmann  ^*^)  behauptet,  die  Suggestibilität  sei 
ein  Zustand  von  gesteigerter  Intensität  der  Vorstellungen,  ein  Ueber- 
schreiten  der  psychischen  Reizschwelle,  jenseits  deren  die  Vorstellung 
ihren  rein  psychischen  Character  verliert  und  sich  rein  automatisch 
realisirt.  Dabei  sei  es  nicht  nöthig,  wie  er  behauptet,  eine  Lähmung 
von  ürtheil  und  Willkür  anzunehmen,  denn  es  sei  eine  Fundamental- 
eigenschaft des  menschlichen  Geistes,  Vorstellungen  von  genügender 
Intensität  unwillkürlich  zu  objectiviren.  Die  Suggestibilität  sei  also 
kein  specifischer  Bewusstseinszustand.  Vogt  unterscheidet,  was  psy- 
chologisch von  Interesse  ist,  die  Suggestibilität,  das  heisst  die  Fähig- 
keit, Suggestionen  zu  realisiren,  von  dem  Festhalten  der  suggestiv  er- 
zeugten Constellationsverhältnisse.  DöUken^*')  erklärt  die  Sug- 
gestibilität mit  Jendrassik  als  eine  Zustandsänderung  in  den 
associativen  Bahnen   und  Centren.     Denn   mit  der  Reizempfänglichkeit 


214  J^eo  Hirschlaff. 

nehme  auch  die  Möglichkeit  ab  einer  quantitativ  normalen  Verbindung 
der  einzeluen  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen,  ähnlich  wie  bei  der 
Ermüdung  und  dem  Genüsse  von  Narcoticis,  z.  B.  Alcohol:  die  Sinne 
functioniren  normal,  während  die  Associationen  spärlicher  geworden 
sind.  Der  Zustand  verminderter  Empfänglichkeit  der  Centreu  in  der 
Hypnose  hat  nach  Döllken  nicht  den  Character  einer  Lähmung  in 
Folge  von  Vergiftung  oder  Ermüdung,  sondern  es  handelt  sich,  wie 
Jendrassik  nachgewiesen,  nur  um  eine  Aufhebung  der  Erregbarkeit 
der  verbindenden  Elemente,  so  dass  eine  Restitution  der  Nerven- 
elemente nicht  stattzufinden  brauche.  Döllken  fugt  hinzu,  dass  nicht 
nur  die  Bahnen  in  ihrer  Erregbarkeit  verändert  sind,  sondern  dass 
auch  der  Zelltonus  herabgesetzt  oder  erhöht  sei.  Liebeault '*•) 
setzt  die  Suggestibilität  in  Parallele  zur  Willensschwäche;  B^rillon 
behauptet,  die  Suggestibilität  stehe  im  directen  Verhältniss  zur  in- 
tellectuellen  Entwickelmig  des  Subjectes,  während  William  Hirsch 
den  entgegengesetzten  Standpunkt  vertritt.  Diese  Gegensätzlichkeit 
ist  leicht  verständlich,  wenn  man,  analog  der  oben  gegebeneu  Aus- 
einandersetzung über  das  Wesen  der  Suggestion,  auch  zwei  Arten  der 
Suggestibilität  unterscheidet.  In  dem  einen  Falle,  der  zumeist  in  den 
oberflächlichen  und  mitteltiefen  Hypnosen  verwirklicht  ist,  ist  weder 
die  Perceptionsfahigkeit  der  Sinnesorgane,  noch  die  höheren  seelischen 
Functionen  des  ürtheilens  und  WoUens  erheblich  verändert:  häufig 
sogar  tritt  gerad(»zu  eine  Verschärfung  dieser  Functionen  ein,  wie  sie 
ja  auch  zur  Verwirklichung  der  Heilvorstellimgen  meist  wünschens- 
werth  und  erforderlich  ist.  In  der  tiefen  Hypnose  dagegen,  in  der 
sich  unmotivirte  Suggestionen  verwirklichen,  können  sämmtliche  an- 
gegebenen Functionen  vermindert  bis  aufgehoben  sein.  Am  meisten 
characteristisch  und  als  specifisches  Merkmal  der  hppnotischen  Suggesti- 
bilität im  engcHMi  Sinne  anzustehen,  ist  dabei  nach  unserer  Auffassung 
die  Verminderung  der  Urtheilsfähigkeit,  die  Kritiklosigkeit,  die  in  dem 
Nichtauftroten  der  Gegenvorstellungen  sich  zeigt.  Während  w^ir  mit 
Berillon  in  der  erst  erwähnten  Art  der  Suggestibilität  im  weiteren 
Sinne  einen  normalen  und  psychologisch  leicht  verständlichen  Vorgang 
erblicken,  dessen  therapeutische  Verwerthung  wir  uns  nicht  entgehen 
lassen  sollten,  obwohl  wir  ihn  freilich  nicht  als  Suggestibilität  an- 
erkennen, halten  wir  die  zweite  Form  der  Suggestibilität  im  engeren 
Sinne  aus  hygienischen  und  ethischen  Gründen  für  schädlich,  in  Ueber- 
einstimmung  mit  William  Hirsch  und  Grossmann. 

Wir  kommen   zur  Begrifi'sbestimmung  und  Eintheilung  der  hypno- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwart.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     215 

tischen  Zustände.  In  dieser  Beziehung  hat  Max  Hirsch^ •^)  ver- 
sucht, die  früher  üblichen  Eintheilungen  der  Hypnose,  die  schon  Moll 
mit  zwingenden  Gründen  abgelehnt  hat,  durch  eine  Modification  zu 
ersetzen.  Er  unterscheidet  4  Arten  und  Grade  hypnotischer  Zustände : 
1.  die  Captivation,  d.  i.  ein  Wachzustand,  in  dem  Suggestionen  an- 
genommen werden;  2.  die  Somnolenz,  ein  passiver  Ruhezustand  des 
Gehirns;  3.  die  Schlafillusion;  4.  die  Somnambulhypnose.  Dagegen 
unterscheidet  Crocq-fils '®^),  dessen  Auffassung  wir  uns  unten  an- 
schliessen  werden,  nur  2  Typen  des  hypnotischen  Schlafes:  a)  den 
somnambulo'iden  Zustand,  in  dem  Bewusstsein  und  Sensibilität  erhalten 
sind;  b)  den  somnambulen  Zustand  mit  Verlust  des  Bewusstseins  und 
der  Sensibilität,  mit  Automatismus  und  Amnesie.  Ferrand^*^)  er- 
innert an  den  Unterschied  zwischen  hypnogenen  imd  narcotischen 
Schlafmitteln  und  gruppirt  die  hierher  gehörigen  Erscheinungen 
folgendermaassen :  1.  das  hypnotische  Stadium,  in  dem  eine  Auf- 
hebung des  Bewusstseins  und  der  Willensthätigkeit  in  Folge  Alteration 
der  Grosshirnrinde  statthaben  soll;  2.  das  narcotische  Stadium,  indem 
ein  Verschwinden  aller  peripheren  Reflexe  eintritt,  weil  das  Rücken- 
mark und  die  Basalganglien  afficirt  sind;  3.  das  lethargische  Stadium, 
bei  dem  auch  die  vitalen  Reflexe,  Circulation  und  Respiration,  er- 
löschen und  in  Folge  dessen  Coma  und  Tod  eintritt.  Nach  D  ö  1 1  k  e  n  ^«^) 
ist  ein  Suggestivzustand  (v.  Schrenck-Notzing)  in  folgenden  Fällen 
vorhanden:  1.  im  Wachbewusstsein ;  2.  im  Schlaf;  3.  in  der  Hypnose; 
4.  im  natürlichen  Somnambulismus;  5.  bei  hysterischen  Zuständen; 
6.  bei  Intoxicationszuständen ;  7.  bei  Psychosen.  Freilich  ist  hier  die 
Suggestibilität  quantitativ  und  qualitativ  verschieden.  Die  Hypnose 
kann  nach  Döllken  in  Schlaf  übergehen  oder  sich  mit  ihm  verbinden, 
ebenso  wie  sie  in  einen  hysterischen  Zustand  übergehen  und  sich  mit 
ihm  verbinden  kann.  Nach  Vogt  endlich  sind  hypnotische  Zustände 
solche,  die  realisirte  afl'ectlose  Suggestionen  aufweisen;  diese  wiederum 
bestehen,  wie  wir  gesehen  haben,  in  dem  Auftreten  einer  afi'ectlosen 
Zielvorstellung  mit  abnorm  intensiver  Folgewirkung.  Wir  selbst  unter- 
scheiden, wenn  es  auf  das  Wesen  der  Sache  ankommt,  mit  Gross- 
mann eine  oberflächliche  und  eine  tiefe  Hypnose.  Die  oberflächliche 
Hypnose  unterscheidet  sich  nach  unserer  Auffassung  in  keinem  wesent- 
lichen Punkte  vom  Wachzustande.  Sie  stellt  einen  Zustand  behaglicher 
Ruhe  dar,  der  mit  mehr  oder  weniger  Müdigkeit  und  Schläfrigkeit 
verbunden  sein  kann,  bei  dem  aber  die  höheren  Functionen  des  Seelen- 
lebens, speciell  das  Gedächtniss  und  das  Urtheils vermögen,  unangetastet 


216  Leo  Hirschlaff. 

bleibeD.  Zwar  können  auch  in  diesem  Zustande  einzelne,  scheinbar 
echte  Suggestionen  gelingen,  wie  z.  B.  Anästhesien,  HypotAxien  und 
andere  Hemmungszustände.  Indessen  ist  der  Weg,  auf  dem  sich  diese 
Suggestionen  eventuell  realisiren,  ein  anderer  als  der  bei  tiefen  Hy- 
pnosen; es  liegt  nicht  eine  directe,  zwangsmässige,  unwiderstehliche 
Wirkung  vor,  sondern  vielmehr  eine  indirecte  Wirkung,  zu  deren  Ent- 
stehung die  active  Mithülfe  des  Hypnotisirten  erforderlich  ist,  indem 
er  willkürlich  seine  Aufmerksamkeit  concentriert  oder  ablenkt  oder 
Aehnliches  mehr.  Daher  gelingen  liier  nur  solche  Suggestionen,  die 
mau  auch  willkürlich  im  Wachzustande  realisiren  kann.  Denn  es  ist 
leicht  möglich,  wie  bereits  oben  nachgewiesen,  im  Wachzustande  den 
Vorgang  der  Hypotaxie  oder  der  Unmöglichkeit  des  Augenschlusses, 
sowie  anderer  Hemmungen  an  sich  selbst  jederzeit  zu  produciren. 
Mit  Hnd(»ren  Worten:  es  handelt  sich  hier  nicht  um  einen  eigentlichen 
hypnotischen  Zustand  im  engeren  Sinne  des  Wortes,  sondern  vielmehr 
um  einen  pseudohypnotischen,  hypnoiden,  somnambuloiden  Zustand. 
Dass  auch  dieser  Zustand  therapeutisch  wirksam  und  werthvoll  sein 
kann,  beweist  zunächst  in  eminentem  Maasse  die  Erfahrung.  Aber 
auch  abgesehen  von  dieser  können  wir  uns  vorstellen,  dass  in  diesem 
Zustande  eine  ganze  Zahl  therapeutisch  wirksamer  Momente  und  Fao- 
toren  gegeben  sei.  Als  solche  mögen  Erwähnung  finden:  1.  die  Ruhe 
des  gesammten  Organismus,  die  bei  dieser  oberflächlichen  Hypnose 
eintritt  und  deren  wohlthätig(>  Wirkung  nicht  weiter  betont  zu  werden 
braucht;  2.  die  geistige  Concentration,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  die 
es  ermöglicht,  dass  die  Heil  Vorstellungen  und  Ermahnungen,  die  wir 
geben,  schärfer  aufgefasst  und  fester  gehalten  werden,  als  es  im  schnellen 
Flusse  des  Wachlebens  möglich  wäre;  3.  der  Glaube,  die  Ueber- 
zeuguug,  dass  die  Therapie  helfen  werde,  eine  Hoffnung,  die  durch  das 
Neuartige  der  Sache  wesentlich  unterstützt  wird  u.  s.  f.  Kurzum, 
jeder  Factor,  der  bei  der  hypnotisch-suggestiven  Behandlung  überhaupt 
therapeutische  Wirksamkeit  besitzt,  hat  auch  in  diesem  pseudohypno- 
tischen Zustande  seine  Geltung. 

Der  oberflächlichen  Hypnose  gegenüber  steht  die  tiefe  oder  nach 
unserer  Auffassung  die  eigentliche  Hypnose  sensu  strictiori.  Sie  kenn- 
zeichnet sich  durch  eine  tiefe  Alteration  des  Seelenlebens.  Während 
Bewusstsein  und  Wille,  die  beiden  Functionen,  deren  Veränderung 
durch  die  Hypnose  gewöhnlich  behauptet  werden,  in  Wahrheit  intact 
bleiben  oder  sogar  eine  Steigerung  erfahren  können,  wird  vielmehr  das 
Gedächt niss   und  die  Freiheit  des  Willens,   die    als  eine  Wirkung   des 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismus.     217 

Urtheilsvermögens  aufzufassen  ist,  mehr  oder  weniger  abgeschwächt 
oder  aufgehoben.  Denn  nur  die  Unterdrückung  der  im  Wachzustande 
vorhandenen  Kritik  ermöglicht  die  Realisirung  der  unmotivirten,  hy- 
pnotischen Suggestionen.  Eben  aus  diesem  Grunde  aber  folgern  wir, 
dass  die  tiefe  Hypnose  zu  therapeutischen  Zwecken  nicht  oder  nur 
ausnahmsweise  angewendet  werde,  zumal  die  wahrhaft  therapeutischen 
Factoren  derselben  auch  in  der  oberflächlichen  Hypnose  vorhanden 
sind.  Wir  kommen  somit  zu  der  paradox  erscheinenden,  aber  im  Vor- 
hergehenden gerechtfertigten  Behauptung :  der  therapeutische  Hypnotis- 
mus hat  weder  von  einer  eigentlichen  Hypnose  noch  von  wirklichen 
Suggestionen  Gebrauch  zu  machen ;  nur  der  Experimentator  hat  es  mit 
den  im  strengeren  Sinne  hypnotischen  Phänomenen  zu  thun.  Es  wäre 
daher  nicht  unangebracht,  wenn  mau  den  Namen,  den  man  heute 
diesem  therapeutischen  Verfahren  giebt,  in  einer  dem  Sinne  ent- 
sprechenden Weise  abänderte.  Da  m  der  oberflächlichen  Hypnose 
von  einem  Schlafe  gar  keine  Rede  sein  kann,  da  die  eventuell  vor- 
handene Müdigkeit  und  Schläfrigkeit  nur  ein  völlig  accidentelles  Be- 
gleitsymptom ist,  während  der  therapeutische  Werth  des  Zustandes 
vielmehr  in  der  Concentration  der  Aufmerksamkeit  zu  suchen  ist,  so 
wäre  es,  schon  um  der  irrthümlichen  Auffassung  vorzubeugen,  denen 
die  Patienten  fast  stets  unterliegen,  entschieden  zweckmässiger,  von 
einem  Zustande  der  „Epistasie"  (fj  BTtLaxaotg  =  Aufmerksamkeit)  und 
von  einem  „epistatischen"  Heilverfahren  zu  sprechen.  Da  jedoch  diese 
Namen  sich  schwerlich  einbürgern  werden,  so  ziehen  wir  es  vor,  statt 
der  Hypnose  von  einem  suggestivtherapeutischen  und  psychotherapeuti- 
schen Verfahren  zu  sprechen.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  die  Herren 
CoUegen,  die  der  Sache  des  Hypnotismus  zwar  nicht  feindlich,  aber 
doch  immerhin  fremd  gegenüberstehen,  von  dieser  Kenntniss  Notiz 
nehmen  wollten;  es  würden  dann  viele  unzweckmässige  Contrasug- 
gestionen, die  sie  den  Patienten  mit  auf  den  Weg  geben,  vermieden 
werden. 

Bevor  wir  auf  Grund  der  gegebenen  Auffassung  die  Indicationen 
der  Suggestivtherapie  ableiten,  möchten  wir  nicht  unterlassen,  einiger 
hypnoseähnlicher  Zustände  Erwähnung  zu  thun,  die  in  der  Literatur 
berichtet  werden.  So  spricht  Liebeault ^^ij  yo^  einem  „physiologi- 
schen Passivzustand",  der  unter  Umständen  im  Wachleben  eintritt. 
Er  erinnert  zu  diesem  Zwecke  an  ein  Experiment  von  Dupotet,  dem 
es  gelang,  bei  wachen  Bauern  Wasser  suggestiv  in  Rothwein  zu  ver- 
wandeln, und  der  constatirte,  dass  diese  angebliche  Verwandlung  trotz 


218  Leo  Hirschlaff. 

völligen  Wachseins  der  Betreffenden  2  Tage  lang  anhielt  Auch  die 
FascinatioDsmethode  Braid's  soll  nach  Liebeault  auf  einem  ähn- 
lichen Zustande  beruhen.  Dass  wir  dieser  Auffassung  nicht  beipflichten 
können,  geht  aus  dem  vorher  Gesagten  zur  Grenüge  hervor.  Auf  eine 
abnorme  Abart  der  Hypnose,  wie  es  deren,  nebenbei  bemerkt,  mehrere 
giebt,  macht  D öl Iken^®*)  aufmerksam.  Er  hat  hysterische  Hypnosen 
durch  blosses  Auflegen  der  Hände  bei  Verschluss  der  Sinnesorgane 
eintreten  sehen ;  dabei  bestand  geringere  Suggestibilität  und  allerhand 
hysterische  Symptome.  Auch  von  anderer  Seite,  wir  nennen  nur 
Freud  und  Breuer,  sowie  Löwenfeld,  Brügelmann  u.  A.,  ist 
gezeigt  worden,  dass  durch  die  üblichen  hypnosigenen  Mittel  statt 
einer  normalen  Hypnose  in  einzelnen  Fällen  ein  hysterischer  Zustand 
erzeugt  werden  kann.  Es  wäre  hier  am  Platze,  auch  der  partiellen 
Wach-  und  Schlafzustände  zu  gedenken,  die  Vogt  aufgestellt  und  zum 
Zwecke  experimentalpsychologi^cher  Studien  benutzt  und  empfohlen  hat; 
doch  sparen  wir  uns  deren  Darlegung  für  den  Schluss  unserer  Arbeit  auf. 
Die  Indicationen  des  Hypnotismus,  der  Suggestivbehandlung  und 
der  Psychotherapie  sind  von  drei  Gesichtspunkten  abhängig:  1.  von  der 
Persönlichkeit  des  Kranken;  2.  von  der  Natur  der  Krankheiten;  3.  von 
der  Art  der  anzuwendenden  Heilfactoren.  Was  den  ersten  Punkt  an- 
betrifft, so  giebt  es  zweifellos  eine  ganze  Anzahl  von  Menschen,  die 
für  die  Suggestivtherapie  (im  weiteren  Sinne)  geradezu  prädisponirt 
erscheinen.  Wir  meinen  nicht  nur  diejenigen,  die  sehr  leicht  in  tiefe 
Hypnose  zu  bringen  sind,  ohne  dass  wir  mit  absoluter  Sicherheit  schon 
jetzt  den  Grund  für  diese  Thatsache  anzugeben  vermögen ;  sondern 
vielmehr  die  bei  Weitem  grössere  Gruppe  derjenigen,  die  für  seelische 
Eindrücke  leicht  zugänglich  und  besonders  empfänglich  sind  und  deren 
Empfänglichkeit  fast  stets  auch  in  der  Art  ihrer  Erkrankung  oder 
vielmehr  in  der  Art  ihrer  seelischen  Reaction  auf  ihre  Erkrankung 
zum  Ausdrucke  gelangt.  Diese  Indication  ist  keineswegs  auf  functio- 
nelle  Krankheitszustäude  beschränkt.  Wir  würden  kein  Bedenken 
tragen,  einen  Kranken,  von  dem  wir  wissen,  dass  er  leicht  in  tiefe 
Hypnose  kommt  und  in  derselben  Heilsuggestionen  annimmt,  bei  jeder 
auch  organischen  Erkrankung  hypnotisch-suggestiv  zu  behandeln ;  denn 
als  symptomatische  Therapie  ist  die  Hypnose  auch  in  solchen  Fällen 
berufen,  Günstiges  und  WerthvoUes  zu  leisten,  selbst  wenn  sie  nur 
dazu  dient,  die  allgemein-hygienischen  Suggestionen  des  Appetits,  Stuhl- 
gangs, Schlafes,  der  Stimmung  und  Schmerzlosigkeit  etc.  zu  realisiren. 
Natürlich    kann   in  diesen   Fällen   die  Hypnose   nur   ein  accidentelles 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  y.  Hypnotismns.     219 

Unterstützungsmittel  sein,  das  neben  den  sonstigen  Heilfactoren  heran- 
gezogen wird.  Ebenso  bei  der  zweiten  Gruppe  derer,  bei  denen  eine 
functionelle  Complication  organischer  Leiden  vorliegt,  wie  das,  eine 
geeignete  SeelenbeschafifeDheit  der  Kranken  vorausgesetzt,  bei  jedem 
Leiden  der  Fall  seiu  kann.  Auch  hier  würden  wir  keinen  Anstand 
nehmen,  die  functionelle  Complication  auf  psychischem  Wege  zu  be- 
kämpfen. 

Die  zweite  der  angegebenen  Indicationen  basirt  auf  der  Natur  der 
Krankheiten.  Hier  sind  es,  von  den  soeben  erwähnten  Ausnahmefällen 
abgesehen,  vorzugsweise  die  functionellen  Neurosen  und  Psychosen,  die 
der  Suggestivtherapie  mit  V ortheil  unterworfen  werden.  Dazu  gehören, 
um  Einiges  aufzuführen,  in  erster  Reihe  die  Neurasthenie,  Hysterie  und 
Hypochondrie  in  allen  ihren  Variationen  und  Modificationen,  sodann 
die  Melancholie  und  die  Zwangsvorstellungen,  die  psychosexuellen  Er- 
krankungen, der  Alcoholismus,  der  Morphinismus,  die  functionellen 
Sprachstörungen,  die  Enuresis  nocturna,  die  Neuralgien,  einzelne 
Formen  der  Chorea  und  Epilepsie,  der  Myoclonien  u.  s.  f.  Schon  aus 
dieser  Zusammenstellung,  die  leicht  erweitert  werden  könnte,  folgt, 
dass  die  Suggestivtherapie  keineswegs,  wie  behauptet  wird,  auf  die 
Hysterie  und  die  hysterischen  Erkrankungen  beschränkt  ist;  vielmehr 
bieten  gerade  diese  Erkrankungen  den  Bemühungen  der  Suggestiv- 
Therapeuten  nicht  selten  den  grössten  Widerstand. 

Die  letzte  der  aufgeführten  Indicationen  leitet  sich  aus  der  Natur 
der  Heilfaetoren  ab,  die  wir  bei  der  Suggestivtherapie  zur  Anwendung 
bringen.  Es  ist  genügend  betont  worden,  dass  diese  Natur  eine  rein 
functionelle  ist  und  da^s  das  suggestive  Zustandekommen  der  in  der 
Literatur  berichteten  organischen  Phänomene  im  Gegensatze  zu  den  bis- 
herigen Anschauungen  als  eine  indirecte  Wirkung  aufzufassen  ist.  Ob- 
wohl wir  an  dieser  Thatsache  festhalten,  ist  es  doch,  wie  oben  aus- 
einandergesetzt wurde,  möglich,  auf  suggestiv-therapeutischem  Wege 
auch  organischen  Erkrankungen  näher  zu  treten.  Je  mehr  wir  in  die 
Strucfur  der  menscliHchen  Seele  Einblick  gewinnen  werden,  um  so  mehr 
wird  uns  diese  Thatsache  verständlich  erscheinen ;  sie  ist  von  einem 
weit  ausschauenden  Denker,  Friedrich  Eduard  Beneke ^®^),  bereits 
vor  60  Jahren  vorausgeahnt  worden,  als  er  den  Versuch  machte,  alle 
Greistes-  und  Seelenkrankheiten  nicht  somatisch,  sondern  psychisch  zu 
gruppiren  und  abzuleiten. 

Zum  Schlüsse  unserer  Ausführungen  möge  uns  die  von  Vogt  in- 
augurirte  „hypnotische  Experimentalpsychologie"  beschäftigen.  Vogt^**) 


220  Leo  flirschlaff. 

schlägt  vor,  den  Zustand  des  eingeengten  Bewusstseins  zu  expenmental- 
psychologischen   Selbstbeobachtungen   zu   benutzen.     Nach  seiner  Auf- 
fassung ist  die  Suggestion  im  Stande,   das  psychologische  Bxperimen- 
tiren    durch   Hervorrufuug    von    Beobachtungsobjecten ,    durch    gleich- 
massige    Gestaltung    der    psychophysischen    Constellation    und    durch 
Hebung  der  Selbstbeobachtung  zu  fördern.    Er  zeigt,  dass  Beobachtungs- 
objecte,   die   sonst  experimentell  nicht  oder  nur  schwer  erzielbare  Be- 
wusstseinserscheinungen    darstellen ,     sowie    Ausfallserscheinungen    auf 
suggestivem  Wege   leicht  hervorgerufen  werden  können,   und  zwar  mit 
einer   derartigen   Feinheit   der  Graduiruug,   dass   z.  B.  22   verschieden 
intensive  Schmerzabstufungen  erzielt  werden  köunen.    Die  psychophysio- 
logische Constellation  ferner  könne  gleichmässiger  gestaltet  werden  durch 
suggestive   Beeinflussung    ihrer   Bedingungen:    einmal   durch    specielle 
Suggestionen  und   dann   durch  Schaffung   einer  auf  alle  sich  nicht  am 
Experimente    betheiligenden   Bewusstseiuselemente   beziehende    Schlaf- 
hemmung.     Die    Selbstbeobachtung    eudlich    könne   gehoben    werden: 
1.  durch  specialisirte  Intensitätsverstärkung  oder  Hemmung;    2.  durch 
Einengung  des  Wachseins  auf  die  am  Experiment  betheiligten  Bewusst- 
seiuselemente.    Als   geeignete  Form   der  Hypnose  zum  Experimentiren 
empfiehlt  Vogt  das  systematische  partielle  Wachsein,  das  für  alle  zum 
Systeme   des  Experimentes  gehörenden  Bewusstseinselemente  ein  volles 
Wachsein,    für   die  übrigen   aber   eine   tiefe    Schlafhemmuug   aufweist 
In  diesem  Zustande  hat  Vogt  an  sich  selbst  und  an  geeigneten  Ver- 
suchspersonen experimentirt  und  eine  ganze  Reihe  interessanter  Resultate 
zu  Tage  gefördert.     Es  gelang  ihm  u.  A.  bei  der  Analyse  der  Gefühle 
ein  hedonistisches  und  ein  sthenisches  Moment  in  der  Gefühlsbetonung 
z.  B.  bei  Tönen   voneinander   zu  trennen,   wobei  die  Versuchspersonen 
die  einzelnen  Töne,   die   ihnen    zur  Beobachtung  vorgeführt  wurden,  in 
gesetzmässiger   Weise   analog   den   Tonhöhen   bald    erhebend    und    an- 
genehm, bald  erschlaffend  und  unangenehm,  oder  erschlaffend  und  an- 
genehm,  oder   hebend  und  unangenehm  fanden  u.  s.  f.     Ebenso  führte 
Vogt   eine  grosse  Zahl   von  Druck-   und  Schmerzversuchen   aus.   bei 
denen  er  suggestiv  die  Druck-  und  Schmerzvorstellung  stufenweise  all- 
mählich steigerte  und  die  Gefühlsreihe,  die  flieser  Steigerung  entsprach, 
analysiren  liess.     Auch   con)plexe  Gefühle    der  Angst,    Freude,  Furcht 
wurden  auf  dem  gleichen  AVege  bearbeitet.     Ja,    es  gelang  ihm  sogar, 
eine  Aufgabe  zu  lösen,    um  die  die  Psychologen  bisher  vergeblich  sich 
bemüht   haben:    die  Aufgabe,    das  Angenehme   eines  Tones   und  eines 
Geruches   miteinander   zu   vergleichen.     Dabei   wird  zunächst   die  Er- 


Kritische  Bemerkungen  über  d.  gegenwärt.  Stand  d.  Lehre  v.  Hypnotismug.     221 

inneniDg  an  beide  EmpfinduDgen  bis  zur  sinnlichen  Lebhaftigkeit  herror- 
genifen;  dann  werden  die  anderen  psychischen  Elemente  unterdrückt 
und  die  Gefühle  isolirt  reproducirt  und  verglichen. 

Wir  glauben  nicht,  dass  der  verdiente  Forscher  mit  diesen  Vor- 
schlägen auf  dem  richtigen  Wege  ist.  Die  Einwendungen,  die  wir 
gegen  die  „hypnotische  Experimentalpsychologie"  im  Sinne  Vogt 's 
zu  machen  haben,  können  kurz  dahin  präcisirt  werden:  1.  Das  syste- 
matische partielle  Wachsein  ist  kein  hypnotischer  Zustand.  Wenn 
schon  die  oberflächliche  Hypnose,  die  wir  zu  therapeutischen  Zwecken 
verwenden  und  die  auf  einer  diffusen  Hemmung  der  Hirnrinde  beruhen 
soll,  nach  unserer  Auffassung  keine  eigentliche  Hypnose,  sondern  nur 
ein  somuambuloider  Zustand  mit  Concentration  der  Aufmerksamkeit 
ist,  so  gilt  das  mit  noch  grösserer  Berechtigung  von  dem  systematisirten 
partiellen  Wachsein  Vogt 's.  Auch  hier  handelt  es  sich  nur  um  eine 
einfache  Concentration  der  Aufmerksamkeit  auf  die  zu  beobachtenden 
Bewusstseinsobjecte,  ein  Zustand,  der  für  die  psychologische  Selbst- 
beobachtung sehr  werthvoll  ist,  der  sich  aber  von  dem  bisher  Be- 
kannten in  keiner  specifischen  Weise  unterscheidet.  Echte  Suggestionen, 
von  denen  wir  oben  gesprochen  haben,  sind  in  diesem  Zustand  nicht 
realisirbar.  2.  Der  Begriff  der  Suggestion  wird  von  Vogt  zu  weit 
gefasst  und  die  mögliche  Wirkung  derselben  überschätzt.  Wenn  wir 
einem  oberflächlich  Hypnotisirten  sagen,  er  solle  sich  jetzt  eine  Ton- 
empfindung von  bestimmter  Höhe  vorstellen,  so  ist  das  noch  lange 
keine  Suggestion :  das  Gleiche  kann  jederzeit  auch  im  Wachzustande 
geschehen.  Und  wenn  Vogt  glaubt,  dass  er  durch  Suggestion  Kopf- 
schmerz und  andere  störende  Empfindungen,  sowie  die  nicht  zum  Ex- 
perimente gehörigen  Bewusstseinselemente  unterdrücken  könne,  so  über- 
schätzt er  die  Wirkung  seiner  Suggestionen.  Denn  selbst  wenn  die 
von  ihm  gewünschte  Wirkung  eintreten  sollte,  so  tritt  sie  nicht  als 
eine  directe  Folge  der  gegebenen  Suggestion  ein,  sondern  das  Ver- 
suchsobject  bemüht  sich,  wozu  eine  Hypnose  wiederum  nicht  erforder- 
lich ist,  seine  Aufmerksamkeit  von  den  zu  beseitigenden  Empfindungen 
abzulenken  und  auf  die  zu  beobachtenden  Bewusstseinselemente  zu 
concentriren,  wobei  ein  affectives  Moment,  das  Interesse  an  den  Be- 
obachtungsobjecten,  gleichfalls  eine  Rolle  spielt.  Von  selbst,  auf  pas- 
sivem, zwaugsmässigem.  psychophysiologischem  Wege,  ohne  actives  Zu- 
thun  der  Versuchsperson  realisirt  sich  diese  Suggestion  in  der  ober- 
flächlichen Hypnose  zweifellos  nicht.  Zudem  ist  eine  gleichmässige 
Gestaltung  der  psychophysischen  Constellation  auch  durch  Realisiruug 


222  ^^  Hirschlaff. 

derartiger  Vorstellungen  noch  nicht  gegeben.  Selbst  wenn  man  an- 
niminf,  dass  die  gegebene  Suggestion  sich  —  direct  oder  indirect  — 
verwirklicht,  so  kann  dies  doch  nur  auf  psychischer  Seite  geschehen^ 
während  die  physiologische  Grundlage  und  in  Folge  dessen  auch  die 
physiologische  Wirkung  dieser  Erscheinungen  auf  die  psychophysische 
Constellation  unbeoinflusst  bleiben  muss.  Wenn  wir  einem  oberflächlich 
Hypnotisirten,  der  stark  übermüdet  ist,  sagen,  die  Müdigkeit  ver- 
schwinde und  mache  einem  Gefühle  des  Wohlbehagens  und  der  Frische 
Platz,  so  kann  im  günstigsten  Falle  dieser  Wunsch  auf  psychischem 
Gebiete  in  Erfüllung  gehen,  insofern  das  Gefühl  der  Müdigkeit 
schwindet  und  einem  anderen  Gefühle  weicht;  die  Müdigkeit  selbst 
aber,  und  damit  ihre  physiologischen  Folgen  auf  die  Constellation, 
bleiben  bestehen.  3.  Vo  g  t  verkennt  das  Wesen  der  Selbstbeobachtun«?. 
Während  es  wohl  möglich  ist,  die  Thatsachen  des  Bewusstseins  durch 
Selbstbeobachtung  direct  zu  ergründen,  lässt  diese  Methode,  ebenso 
wie  jede  andere  Methode,  im  Stich,  sobald  es  sich  darum  handelt,  die 
Causalzusammeuhänge  zwischen  diesen  Thatsachen  zu  ermitteln.  Wie 
wir  an  anderer  Stelle^*')  nachgewiesen  haben,  ist  die  psychologische 
Selbstbeobachtung  der  Natur  der  Sache  nach  niemals  im  Stande, 
Causalzusammeuhänge  festzustellen;  dazu  gehören  Urtheils-  und  Schluss- 
processe,  denen  die  eigenthümliche  Evidenz  der  Selbst beobaclitung  ab- 
geht. Wenn  deshalb  Vogt  behauptet,  die  Analyse  der  Bewusstseins- 
erscheinungen  im  Zustande  des  eingeengten  Wachbewusstseius  auf  dem 
Wege  der  unmittelbaren  Selbstbeobachtung  vornehmen  zu  können,  so 
verkennt  er  das  Wesen  der  Selbstbeobachtung,  die  zu  einer  derartigen 
Analyse  als  solche  überhaupt  nicht  befähigt  ist.  Ja  sogar,  die  logische 
Reflexion,  die  zu  dieser  Aufgabe  unerlässlich  ist,  könnte  im  Zustande 
des  eingeengten  Bewusstseins  nicht  einmal  ausgeführt  werden,  wenn  es 
sich  wirklich  um  einen  hypnotischen  Zustand  im  engerenWortsinne  handelte, 
da  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  gerade  das  Urtheilsvermögen  in  diesem  Zu- 
stande gestört  ist.  Wenn  daher  Vogt  eine  ganze  Zahl  von  Beobachtungen 
über  Causalzusammenhänge  veröflentlicht,  die  er  im  Zustande  des  ein- 
geengten Wachseins  durch  directe  psychologische  Analyse  gewonnen  haben 
will,  so  ist  er  in  Wahrheit  einer  Fehlerquelle  unterlegen,  vor  der  man 
sich  bei  psychologischen  Beobachtungen,  zumal  auf  diesem  Gebiete,  nicht 
genug  in  Acht  nehmen  kann;  statt  der  wirklichen  Causalzusamnien- 
häuge  hat  er  eine  Reihe  von  Autosuggestionen  erhalten,  die  er  durch  die 
Art  seines  Vorgehens  bei  den  Versuclispersonen  künstlich  gezüchtet  hat 
Wir  erkennen   somit   an,   dass  die  Concentration   der  Aufmerksamkeit 


Literatur-Verzeichniss.  223 

auch  in  dem  von  Vogt  angegebenen  Zustande  des  systematischen 
partiellen  Wachseins,  unter  Umständen  für  die  psychologische  Be- 
obachtung sehr  geeignet  und  noth wendig  ist,  behaupten  aber,  dass 
weder  der  Zustand,  um  den  es  sich  handelt,  noch  die  Kräfte  und  Er- 
scheinungen, die  darin  zur  Geltung  kommen,  in  irgend  einer  specifischen 
Weise  von  den  bisher  bekannten  Methoden  abweichen  oder  denselben 
überlegen  sind.  Die  Bedeutung  des  Hypnotismiis  für  die  Psychologie 
liegt  nach  unserer  Auffassung  nicht  in  der  Methode  der  Beobachtung, 
die  in  allen  Fällen  die  gleiche  ist,  sondern  vielmehr  in  den  mit  psycho- 
logischer Kritik  gewonneneu  Thatsachen  des  Seelenlebens,  die  auf  diesem 
Gebiete  zur  Erscheinung  kommen  und  die  geeignet  sein  dürften,  auch 
auf  die  normale  Structur  des  Seelenlebens  interessante  Streiflichter  zu 
werfen. 

Wir  sind  am  Ende  unserer  kritischen  Wanderung.  Wir  haben 
vieles  Wer th volle  hervorgehoben,  vieles  Nichtige  abgelehnt.  Wir  er- 
heben keinen  Anspruch  darauf,  irgend  eine  der  hierher  gehörigen 
EVagen  gelöst  zu  haben.  Wir  haben  uns  darauf  beschränken  wollen, 
den  Weg  zu  weisen,  auf  dem  diese  Fragen  einer  wissenschaftlichen 
Vertiefung  in  therapeutischer  und  psychologischer  Beziehung  fähig  und 
bedürftig  sind. 


Literatur-  Yerzeiclmiss. 

(Vergl.  die  dem  Texte  beigefügten  Zahlen.) 

1)  Albert  Moll:  Der  Hypnotismus,  III.  Aufl.     Berlin  1895. 

2)  Augu8t  Forel:  Der  Hypnotismus,  III.  Aufl.     Stuttgart  1895. 

3)  Bernheim:   Hypnotisme,    Suggestion,  Psychotherapie.     Paris  1891  u.  v.  a.  m. 

4)  van  Renterghem  und  van  Ecden:  Psychotherapie.     Paris  1894. 

ö)  Charles  Lloyd-Tuckey:   Psychotherapie,   übersetzt  von  Tatzel   nach  der 
III.  Aufl.  d.  Orig.    Neuwied  1895. 

6)  L.  L  o  e  w  e  n  f  e  1  d :  Lehrbuch  der  gesammteo  Psychotherapie  mit  einer  einleiten- 

den Darstellung  der  Hauptthatsachen  der  medicinischen  Psychologie. 

7)  St  oll:  Hypnotismus  und  Suggestion  in  der  Völkerpsychologie.     Lpz.  1894. 

8)  ßaldwin:  Psychologie  der  Kinder.     Berlin  1898. 

9)  Pierre  Janet:  L'automatisme  psychologique.     Paris  1889. 

10)  Hans  Schmidkuuz:  Psychologie  der  Suggestion.     Lpz.  1894. 

11)  Wilhelm  Wundt:  Studie  über  Hypnotismus.     Lpz.  1886. 

12)  Max  Hirsch:  Zur  Begriffsbestimmung  der  Hypnose.    D.  Med.  Ztg.  1895,  Nr.  91. 

13)  Wegner:  Nervosität  u.  psychische  Heilbehandlung.    De.  Ztsch.,   Bd.  V,  1895. 

14)  Liebeault:  Du  sommeil  etc.     Paris  1866.    Neue  Aufl.  1889. 


224  ^^0  Hirschlaff. 

15)  H.  AV.  Tatzel:    Warum    wird    der  Werth   des   therapeutischen    Hypnotismus 

Doch  immer  so  wonig  erkannt?    Ds.  Ztsch.,  Bd.  IV.  1895. 

16)  Forel:  cf.  2. 

17)  (rrossmaun:  Die  Erfolge  der  Suggestionstherapie  bei  organischen  Lälimungen 

und  Paralysen.     Vortrag  auf  der  66.  Naturforscher  Versammlung  in  Wien  1894. 

18)  Korbiniau  Krodmann:  Zur  3Iethodik  der  hypnotischen  Behandlung.    Diese 

Ztsch.,  Bd.  VI,  1897. 

19)  A.  Dnllken:  Beiträge  zur  Physiologie  der  Hypnose.    Ds.  Ztsch..  Bd.  IV.  1895. 

20)  Bonjour:  cf.  Revue  de  l'hypnot.,  Bd.  X.  1896. 

21)  Wo  tt  erst  ran  (i:  a)  Die  Heilung  des  chron.  Morphinismus  etc.  mit  Suggestion 

und   Hypnose,    b)   Ueber   d.   künstlich   verlängerten  Schlaf,   bes.   bei  d.  Be- 
handig. d.  Hyst. 

22)  John  F.  Word:   The   treatment  by  Suggestion    with  and  without   Hypnosis. 

Journal  of  mental  diseases,  Bd.  XLIII,  April  1897. 

23)  Paul  Farez:  l)o  Tapplication  de  la  Suggestion  chez  les  alienes.    Rev.  de  Thypn., 

Bd.  XII,  1898. 

24)  L  i  0  b  e  a  u  1 1 :  Classification  des  dcgres  du  sommeil  provocjue.  Rev.  d.  Thypn..  1886. 

25)  Bernheim:  De  la  Suggestion  dans  l'etat  hypnot.  etc.    Paris  1886. 

26)  (»  rossmann:  Zur  Suggestiv-Behandlung  der  Gelenkkrankheiten,  mit  besonderer 

Berücksichtigung  des   chron.   Gelenkrheumatismus   u.   d.  Gicht.     Ds.  Ztsch.. 
Bd.  III,  1894. 

27)  v.  Schrenck-Notzing:  cf.  Congress  für  Psychol.    3Iünchen  1896. 

28)  Hilger:  ibid. 

29)  H.  Delius:    Krfolge   der  hypnot.-suggest.  Bohandlg.  in  d.  Praxis.     D.  Ztsch., 

Bd.  V,  1897. 

30)  W.  Brü  gel  mann:    Suggestive   Erfahrungen    «.    Beobachtungen.     Ds.  Ztsch., 

Bd.  IV.  18Ü5. 

31)  St  ad  e  Im  an  n:    Einige  Bemerkungen   zu   den   suggestiven  Erfahrungen  u.  Be- 

obaclitangcu  Brügelmanu's.     Ds.  Ztsch.,  Bd.  IV,  1895. 

32)  L.  Loewenfcld:  Hypnot.  od.  hyst.  Somnambulismus.    Ds.  Ztsch.,  Bd.  V,  1896. 

33)  Oscar  Vogt:   Spontane  Somnambulie   in  der  Hypnose.    Ds.  Ztsch.,   Bd.  VIL 

1898. 

34)  Croc«!  fils:  l/hyi)notismo  Hcientiti(iue.     Paris  1892. 

35)  F.  Kühler:  Experimentelle  Studien  auf  d.  Gebiete  d.  hypnot.  Somnambulismus. 

36)  v.  Krafft- Kbing:  Expcrim.  Studie  auf  d.  Gebiete  d.  Hypnot..  2.  Aufl.    Stutt- 

gart 1889. 

37)  Jolly:    Hypnotismus   und   Hysterie.     Münch.  med.  Wochenschr.   1894,   Xr.  13. 

38)  V.  S  c  h  r  e  n  c  k  -  N  o  t  z  i  n  g :  cf.  Jahresberichte  über  Hypnot.  etc.    Rev.  de  Phypn., 

Bd.  IX,  X  etc. 

0 

39)  E.  (iley:  Etudc  sur  quelques  conditions  favorisants  l'hypnose  chez  les  animaux. 

J/annee  j)sychol.     Tl.  Jahrgang  1896. 

40)  Warthin:  cf.  Literatur- re))ersiclit  v.  Sclirenck-Notzing.     Rev.  de  Thj-pn.. 

Bd.  IX,  1894. 

41)  C.  Ringier:  Zur  Redactiou  der  Suggestion  bei  Enuresis  nocturna.    Ds.  Ztschr.. 

Bd.  VI,  1847. 

42)  ('ullere:    1/iucontinenoe   d'urino   et   son  traitement  par  Suggestion.     Arch.  de 

Neuro).  1886,  Nr.  7. 


Literatur- Yerzeichniss.  225 

43)  C.  Ringier:  Einige  Betrachtungen  zur  Suggestiybehandlung.    Diese  Ztschr., 

Bd.  III,  1894. 

44)  Tat z ei:  Diese  Ztschr.,  Bd.  IV,  1896. 

45)  A.  Vpisin:  Hystöro-catalepsie.    Revue  de  Thypnot.,  Bd.  X,  1895.    * 

46)  Stembo:  Bemerkungen  zur  Suggestivtherapie.    1896. 

47)  Tis  sie:  a)  Traitement  des  phobies  par  la  Suggestion  et  par  la  gymnastique 

medicale.    Rev.  de  l*hypn.,  Bd.  X,  1895.    b)  Reves  provoquees  dans  un  but 
therapeutique.    Ibid. 

48)  Ewald  Hecker:  Ueber  das  Verhältniss  der  psychischen  Behandlung  im  Wach- 

zustand zur  hypnot.  Therapie.     Vortrag  auf  dem  Congress  1897. 

49)  Paul  Ranschburg:  Beiträge  zur  Frage  der  hypnotisch-suggestiven  Therapie. 

50)  Loewenfeld:  cf.  6. 

51)  Tb.  Ziehen:  Psychotherapie.    Lehrbuch  d.  allgem.  Therapie  u.  d.  theräpeut. 

Methodik  v.  Eulenburg  und  Samuel.    Berlin  u.  Wien  1898. 

52)  William  Hirsch:  Was  ist  Suggestion  und  Hypnotismns.    Berlin  1896. 

53)  F.  Reguault:  Philies  et  phobies  alimentaires.     Rev.  de  l'hypn.,  Bd.  X,  1895. 

54)  Arie  deJong:  Üeber  Zwangsvorstellungen.  Vortrag  auf  d.  Moskauer  Congress. 

55)  Kornfeld  und  Bikeles:    cf.  Literaturübersicht  v.  Schrenck  -  Notzing. 

Rev.  de  l'hypn.,  Bd.  IX,  1894. 

56)  F  o  r  e  1 :  Durch  Spiritismus  erkrankt  und  durch  Hypnotismus  geheilt.    Ds.  Ztsch., 

Bd.  III,  1894. 

57)  Bernheim:  De  Tattitude  cataleptiforme  dans  la  fievre  typhoide  et  dans  cer- 

tains  etats  psychiques.    Rev.  de  l'hypn.,  Bd.  X,  1895/96. 

58)  J.  Milne  Bramwell:   Personally  observed  Hypnotic  Phaenomena;  and  what 

is  Hypnotisme?  Proceedings  of  the  Society  of  Psychical  Research  Part  31,  1896. 

59)  £.  B^rillon:  Des  Indications  de  la  Suggestion  hypnotique  en  pediatrie.    Rev. 

de  rhypn.,  Bd.  X,  1895. 

60)  H.  Stadelmann:  Der  acute  Gelenkrheumatismus  und  dessen  psychische  Be- 

handlung. 

61)  Bernheim:  La  therapeutique  suggestive  dans  les  affections  pulmonaires.    Rev. 

de  Phypn.,  Bd.  X,  1895. 

62)  E.  Berillon:  cf.  Revue  de  l'hypnot.,  Bd.  X,  1895. 

63)  Schmeltz:    Operations   chirurgicales    faites    pendant  le  sommeil  h^-pnotique. 

Rev.  de  l'hypn.,  Juli  1894. 

64)  C.  Bauer:  Aus  d.  hypnot.  Poliklinik   d.  Herrn  Prof.  Forel  in  Zürich.    Diese 

Ztschr.,  Bd.  V,  1897. 

65)  C.  Ger  st  er:  Ein  Fall  v.  hyster.  Contractur.    Ds.  ZUch.,  Bd.  III,  1894. 

66)  R.  V.  Krafft-Ebing:  Zur  Suggestiv-Behandlung  d.  Hyst.  gravis. 

67)  id.:   Arbeiten  aus   d.   Gesammtgebiet   d.   Psychiatrie  u.   Neuropath.,   Heft  III, 

Leipzig  1898. 

68)  A.  Voisin:   Emploi   de  la  Suggestion  hypnotique  dans  certaines  formes  d'alie- 

nation  mentale.     Paris  1897. 

69)  Goldscheider:  lieber  die  Behandlung  des  Schmerzes.    Berl.  klin.  Wochenschr. 

1896,  Nr.  3-5. 

70)  O.  Rosenbach:  Nervöse  Zustände  u.  ihre  psychische  Behandlung.    Berlin  1897. 

71)  Durand  de  Gros:  L'hypnotisme  et  la  morale.     Rev.  de  l'hypn.,  Bd.  X,  1895. 

72)  Gross  mann:  Der  Process  Crynski.     Ds.  Ztsch.,  Bd.  III,  1894. 
Zeitschrift  für  Hypnotismus  etc.    IX.  15 


23 A  L^  Hinchlftff. 

78)  V.   Sohrenck-Notzing:    Ueber   Suggestion  und  Erinnerongsfalsehmig  im 
Berchtold-Process. 

74)  W.  Preyer:  Ein  merkwürdiger  Fall  von  Fascination.    Berlin  1894. 

75)  van  Velsen:   Histoire  d'un  cas  de  lethargie.    Rev.  de  I'hypn.,  Bd.  X,  1896. 

76)  Stadelmann:  Tod  durch  Vorstellung.    Ds.  Ztsch.,  Bd.  III,  1894. 

77)  Gley:  cf.  39. 

78)  Schütz:  Der  Hypnotismus,  Philos.  Jahrbuch  1896  u.  1897. 

79)  Haas:  cf.  Literaturbericht  v.  Schrenck-Motzing.    R.  de  lliypn.,  IX,  1894. 

80)  M.  Benedikt:  Hypnotismus  u.  Suggestion.     Wien  1894. 

81)  Liebeault:  Criminelle  hypnot.  Suggestionen.    Grunde  u.  Thatsachen,  welche 

für  dieselbe  sprechen. 

82)  B  e  r  i  1 1  o  n :  Les  suggestions  criminelles  envisagees  au  point  de  vue  des  faux 

tömoig^ages  saggeres.     Rev.  de  Thypn.,  Bd.  XI,  1896. 

83)  0.  Thilo:  Zur  Behandlung  der  Gelenkneuralgieen. 

84)  H.  Stadelmann:  Der  Psychotherapeut.     Würzburg  1896. 

85)  Delboeuf:  cf.  ReT.  de  Thypn.,  Bd.  XI,  1896. 

86)  id.:  ib. 

87)  Bonjour:  Neue  Experimente  über  den  Einfluss  der  Psyche  auf  den  Körper. 

88)  E.  Berillon:  Ein  Fall  von  Sycosis,  9  Monate  ohne  Erfolg  von  Dermatologen 

behandelt,  durch  das  zweimalige  Gebet  einer  alten  Frau  geheilt.     Rev.  de 
rhypn.,  Bd.  X,  1895. 

89)  C.  Liebermeister:  Saggestion  und  Hypnotismus  als  Heilmittel.    Handbuch 

von  Pentzold  u.  Stintzing.     1896. 

90)  Th.  Ziehen:  cf.  51. 

91)  W.  Brügelmann:  cf.  30. 

92)  F.  C.  Hansen   und   Alf.  Lehmann:    Ueber  unwillkürliches  Flüstern.     Eine 

kritische  und  experimentelle  Untersuchung  der  sog.  Gedanken- üebertragung. 
Wundt's  Philos.  Stud.,  Bd.  XI,  1895. 

93)  V.  Schrenck-Notzing:  Ein  experimenteller  u.  kritischer  Beitrag  zur  Frage 

der  suggestiven  Hervorrufung  circumscripter  vasomotorischer  Veränderungen 
auf  der  äusseren  Haut.     Ds.  Ztsch.,  Bd.  IV,  18%. 

94)  E.  Berillon:  L'hypnotisme  et  l'orthopedie  mentale.     Paris  1898. 

95)  S.  Freud:  Zur  Aetiologie  der  Hysterie.     Vortrag  im  Wiener  Verein  f.  Neurol. 

u.  Psychiatrie  1896. 

96)  H.  Stadelmann:  Zur  Therapie  der  durch  Vorstellungen  entstandenen  Krank- 

heiten.    Wiener  Congress. 

97)  E.  Sokolowaki:  Hysterie  und  hysterisches  Irresein.     Centralblatt  f.  Nerven- 

heilkunde u.  Psychiatrie  1896. 

98)  Boettiger:    Ueber  Neura8th.  u.  Hysterie   u.   d.  Beziehungen   beider  Erkran- 

kungen zu  einander.     Vortrag  im  ärztl.  Verein  zu  Hamburg  am  27.  IV.  1897. 

99)  L.  Loewenfeld:   Ueber   einen  Fall   v.   hyst.  Somnambulismus.     Ds.  Ztschr. 

Bd.   VI,  1897. 

100)  Leuch:  cf.  ds.  Ztschr.,  Bd.  VI,  1896. 

101)  A.  Forel:  ib. 

102)  Didier:  Kleptomanie  u.  Hypnotherapie.     Halle  1896. 

103)  O.  Vogt:  Ds.  Ztschr.,  Bd.  VIII,  1899. 

105)  Sommer:  Diagnostik  der  Geisteskrankheiten.     Lpz.  1897. 


LttiBFatuT^Verzeichmsf.  22T 

106)  Tyko  Brunnberg:  Die  Bedeutung  d.  Hypnotismus:  als  pädagogisches  Hilfe« 

mittel.    Uebers.  von  Tatze).    Berlin  1896. 

107)  Bourdon:  Onychophagie  et  habitudes  automatiques,  onanisme  etc.    Rev.  de 

l'hypn.,  Bd.  X,  1895. 

108)  Berillon:  cf.  94  und  viele  andere  Schriften.  ^* 

109)  Crocq  fils:  L'hypnotisme  scientifique.     Paris  1896. 

110)  A.  ForeU  Der  flypnotismus  in  d.  Hochschule.    Ds.  Ztschr.,  Bd.  IV,  1896. 

111)  Tatz^el:  cf.  15. 

112)  J.  Bergmann:  Ist  die  Hypnose  ein  physiol.  Zustand? 

113)  A.  Voisin:  cf.  Rev.  de  Phypn.,  Bd.  IX,  1894. 

114)  C.  Schaffer:  Suggestion  u.  Reflex.     Jena  1895. 

115)  A.  Döllken:  cf.  19. 

116)  Grocq  fils:    Etat  de  la  sensibilite  et  des   fonctions  intellectuelles  chez  \e9^ 

hypnotises.     Vortrag  auf  dem  Congress  1894. 

117)  J.  M.  Br  am  well:  On  the  appreciation  of  time  by  somnambules.    Congress« 

118)  V.   Bechterew:    cf.   Literaturbericht    v.   Schrenck  -  Notzing.     Rev.   de 

l'hypn.,  Bd.  IX,  1894. 

119)  M.  L.  Patfizi:  II  tempo  di  reazione  semplice  studiato  in  rapporto  della  curva 

pletismografica  cerebrale.     Riv.  sperim.  di  Frenetria  vol.  23,  11,  1897. 

120)  O.  Vogt:  Spontane  Somnambulie  in  der  Hypnose.    Ds.  Ztsch.,  Bd.  VI,  1897. 

121)  Wetterstrand:  Selbstbeobachtungen  während  des  h3rpnot.  Zustandes.     An- 

gaben zweier  Patienten.     Ds.  Ztschr.,  Bd.  IV,  1896. 

122)  Max  Hirsch:  Ueber  Schlaf,  Hypnose  u.  Somnamb.     D.  medic.  Wochenschr., 

1895,  Nr.  26. 

123)  Liebeault:    Das  Wachen  ein  activer  Seelcnzustand,   der  Schlaf  ein  passiver 

Seelenzustand.     Ds.  Ztschr.,  Bd.  III,  1894. 

124)  Berillon:   Notice  sur  l'institut  psycho-physiologique   de  Paris.     Appendice:. 

Applications  de  la  methode  graphique  ä  l'etude  de  Thypnotisme.    Paris  1897. 

125)  V.  Schrenck-Notz  ing:  cf  Döllken  19. 

126)  Liebeault:  cf.  123. 

127)  Landmann:    Ueber  functionelle   Gehirnstörungen.     £ine  psycholog.   Studie 

128)  van  de  Lanoitte:  La  Suggestion  et  le  fonctionnement  du  Systeme  nerveux. 

Rev.  de  l'hypn.     1896. 

129)  Pupin:  La  theorie  histologique  du  sommeil.    Rev.  de  l'hypn.     1896. 

130)  Held:    Lieber  d.  histol.  Bau  d.  Nervenzellen.     I.  Versammig.  mitteldeutscher 

Neurol.  u.  Psychiater  in  Leipzig  1897.    Id.:  cf.  Arch.  f.  Anat.  u.  Physiol. 

131)  Schleich:    Schmerzlose   Operationen.     Psychophysik    des    natürl.    u.    ktinstl. 

Schlafes.     II.  Aufl.     Berlin  1897. 

132)  Krarup:  cf.  Literaturbericht  v.  Schrenck-Notzing.     Revue  de  l'hypnot., 

Bd.  IX,  1894. 

133)  J.  Milnc  Bramwell:  cf  58. 

134)  O.  Vogt:  Zur  Kenntniss  des  Wesens  und  der  psychol.  Bedeutung  des  Hypno- 

tismus.     Ds.  Ztschr.,  Bd.  V,  1896. 

135)  Münsterberg:   Aufgaben,  Methoden  u.  Ziele  der  Psychologie.     Berlin  1892. 

136)  W.  Wundt:  Philos.  Stud.,  Bd.  X. 

137)  Th.  Lipps:  Zur  Psychologie  der  Suggestion.     Vortrag  in  d.  Psychol.  Gesell- 

schaft. Abth.  München  am  14.  I.  1897. 

15* 


288  ^o  HinchlAff.    Literatur- VeneichniM. 

138)  Landmann:  cf.  127. 

139)  Pierre  Janet:  Der  Geisteszustand  Hysterischer.    Wien  u.  Lpz.  1885  o.  a.  m. 

140)  Ranschburg  und  Hajos:  Neue  Beiträge  zur  Psychologie  des  hysterischea 

Geisteszustandes.     1897. 

141)  A.  Döllken:  cf.  19. 

142)  E.  Berillon:  cf.  94. 

143)  L.  Hirse  hl  äff:   Die   angebliche  Bedeutung  des  Hypnotismus  für  die  Päda- 

gogik.   Ztschr.  f.  pädag.  PsychoL  I.  3.    Berlin  1899. 

144)  Stoll:  cf.  7. 

145)  Tyko  Brunnberg:  cf.  106. 

146)  Bergmann:  cf.  112. 

147)  Liebeault:  cf.  123. 

148)  V.  Lichtenstern:  lieber  seelische  Einwirkungen  (Suggestion)  im  militärischen 

Leben.    Militärwochenblatt  1896. 

149)  M.  Friedmann:  Ueber  den  Wahn.    Mannhein  1897. 
160)  A.  forel:  cf.  2. 

151)  O.  Vogt:  Die  Zielvorstellung  der  Suggestion.    Ds.  Ztschr.,  Bd.  V,  1896. 
162)  Th.  Lipps:  cf.  137. 

153)  W.  Wundt:  cf.  11. 

154)  William   Hirsch:    Die  menschliche  Verantwortlichkeit   und   die   moderne 

Suggestionslehre.     Berlin  1896. 

155)  Agathon  de   Potter:   Etüde  sur  l'hypnotisme.     Journal  de  Neurologie  et 

d'hypnol.  1896. 

156)  Bergmann:  cf.  112. 

157)  Döllken:  cf.  19. 

158)  Liebeault:  cf.  123. 

159)  E.  Berillon:  Des  indications  de  la  Suggestion  hypnotique  en  pediatrie.    Rev. 

de  Ihypn.,  Bd.  X,  1895. 

160)  Max  Hirsch:  cf.  12. 

161)  Croeq  fils:  cf.  34. 

162)  Ferrand:  La  mcdication  hypnogogicjue.    Rev.  de  Phypn.     1896. 

163)  Döllken:  cf.  19. 

164)  Liebeault:   p.  123. 

165)  Friedrich  Eduard  Bcneke:  Beiträge  zu  einer  reinseelen wissenschaftlichen 

Bearbeitung   der   Seclenkrankheitskundc.     Lpz.  1824  u.   Das  Verhältniss  von 
Seele  u.  Leib.     ib.  1826. 

166)  O.  Vogt:   Die   directe   psychologische   Experimentalmethode  in  hypnotischen 

Bewusstseinszustäuden.     Ds.  Ztschr.,  Bd.  V,  1897. 
167}  L.  Hirschlaff:   Ueber  das  Wesen  der  Beobachtung  und  Selbstbeobachtung. 
Berlin  1896. 


Kurze  Bemerkung  zu  den  vorstehenden  kritischen  Bemerkungen 

Hirschlaff's. 

Von 

Oskar  Yogt. 


Den  kritischen  Bemerkungen  Hirschlaff's  hahe  ich,  wie  auch 
anderen  Arbeiten,  die  nicht  meinen  Standpunkt  theilten,  die  Aufnahme 
in  die  yon  mir  redigirte  Zeitschrift  gestattet.  Ich  glaube  Aber  speciell 
in  diesem  Falle,  wo  gerade  ein  grosser  Theil  der  von  mir  vertretenen 
Lehren  angegriffen  wird,  eine  kurze  Antwort  schuldig  zu  sein.  Ich 
muss  zuDächst  gestehen,  dass  eine  ganze  Reihe  kritischer  Bemerkungen, 
die  der  Herr  Verfasser  angeblich  von  mir  vertretenen  Lehren  widmet, 
durchaus  meine  Zustimmung  haben.  Denn  der  Verfasser  hat  in  einer 
ganzen  Reihe  von  Fällen  mir  Lehren  zugeschrieben,  die  ich  niemals 
vertreten  habe.  Wo  habe  ich  z.  B.  —  wie  es  Ziehen  thut  — 
die  einzelnen  Vorstellungen  in  einzelne  Ganglienzellen  verlegt?  Wo 
habe  ich  behauptet,  dass  man  Erschöpfungszustände  —  denn  das  ver- 
steht Verf.  doch  wohl  unter  „starker  Uebermüdung"  —  durch  die 
Suggestion  ihres  Verschwindens  beseitigen  könne?  Wo  habe  ich  ferner 
erklärt,  dass  die  unmittelbare  Selbstbeobachtung  Causalanalysen  auf- 
decken kann?  Dass  dazu  Urtheil-  und  Schlussprocesse  gehören,  habe 
ich  eingehend  erörtert.  Dass  allerdings  diese  Schlussfolgerungen  bei 
meinen  Versuchspersonen  ausschliesslich  Autosuggestionen  sein  sollten^ 
ist  eine  Behauptung,  die,  von  einem  Autor  aufgestellt,  der  nicht  meine 
Experimente  wiederholt  hat,  zu  einer  fruchtbaren  Discussion  nicht 
fuhren  kann.  Wenn  Verfasser  weiter  behauptet,  dass  sich  mit  den  Sug- 
gestionen, die  ich  meinen  Versuchspersonen  im  Zustand  des  eingeengten 
Bewusstseins  gebe,  Willensäusserungen  der  Versuchspersonen  verbänden, 


230    Oskar  Yogi.    Kurze  ßemerkung  zu  den  kritischen  Bemerkungen  Srechlaff^i. 

SO  ist  das  wiederum  eine  unleugbare  Thatsache,  auf  die  ich  von  Aufang 
an  aufmerksam  gemacht  habe.  Ob  ferner  das  von  mir  beschriebene 
systematische  partielle  Wachsein  ein  hypnotischer  Zustand  ist  oder 
nicht,  häDgt  von  der  Begriffsbestimmung  der  hypnotischen  Zustände  ab. 
Ich  meine  aber,  dass  man  da  doch  der  historischen  Entwickelung  des 
Begriffs  etwas  Bechnung  tragen  muss.  Dass  sich  übrigens  das  syste- 
matisch eingeengte  Bewusstsein  genetisch  absolut  unterscheidet  von 
einer  willkürlichen  Concentration  der  Aufmerksamkeit,  kann  nur  der- 
jenige bestreiten,  der  keine  eigenen  Erfahrungen  auf  diesem  speciellen 
Gebiete  hat.  Ich  verweise  speciell  auf  die  Ausführungen  in  der  Arbeit 
van  Straaten's.  ^)  Ich  stimme  mit  dem  Verfasser  vollständig  darin 
überein,  dass  man  gegenüber  psychologischen  Forschungen  nicht  kritisch 
genug  sein  kann. 

Aber  wie  ich  immer  wieder  betont  habe,  ist  eine  Kritik  meiner 
Angaben  nur  möglich,  wenn  man  meine  Experimente  wiederholt,  f^ie- 
manden  wird  eine  vorurtheilsfreie  Nachprüfung  meiner  Angaben  mehr 
freuen  als  mich.  Aber  eine  Kritik,  welche  diese  Bedingungen  nicht 
erfüllt,  scheint  mir  von  keinem  wesentlichen  Nutzen  zu  sein. 

Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  noch  einem  Missverständnisd 
ein  für  alle  Male  vorbeugen.  Auch  derjenige  Autor,  welcher  unter 
meinen  Anregungen  eine  Arbeit  verfasst,  trägt  für  dieselbe  einzig  und 
allein  Verantwortung.  Ich  vermeide  vollständig,  bei  mir  arbeitende 
Herren  in  ihren  Schlussfolgerungen  oder  auch  nur  in  ihrer  sprach- 
lichen Darstellung  zu  beeinflussen.  So  muss  ich  natürlich  auch  jede 
Verantwortung  zurückweisen.  Dann  muss  ich  noch  einen  eigentlich 
selbstverständlichen  Punkt  hervorheben.  Die  Zeitschrift  will  auch  dem 
practischen  Arzt  practische  Belehrungen  bringen.  Solche  Arbeiten 
würden  heutzutage  vollständig  ihren  Zweck  verfehlen,  wenn  sie  in  der 
Form  einer  psychologischen  Schulsprache  abgefasst  wären.  Sie  be- 
dürften dann  stets  eines  besonderen  Lexikons.  Solche  Arbeiten  be- 
tonen ihren  speciellen  Zweck  von  vornherein.  Daraus  mögen  dann 
aber  andere  Autoren  sofort  ersehen,  dass  solche  Arbeiten  nicht  einen 
Rückschluss  auf  Ausführungen  gestatten,  die  einen  mehr  theoretischen 
Zweck  verfolgen. 

M  Siehe  oben  Seite  201. 


Casuistische  Mittheilungen. 

Eine  hypnotische  Entfettungacur. 

Von 

Dr.  Tatzel  -  München. 


Der  Patient,  ein  Mann  von  30  Jahren  und  einem  Körpergewicht  von  316  Pfund 
liatte  bereits  verschiedene  Kuren  durchgemacht,  deren  Erfolge  aber  nur  gering  und 
von  kurzer  Dauer  waren.  Er  unterzog  sich  der  hypnotischen  Kur  in  der  HoflF- 
nung,  durch  Suggestion  die  nöthige  Energie  zu  erhalten,  eine  ihm  angemessene 
Lebensweise  und  Diät  consequent  und  dauernd  durchführen  zu  können.  Es  wurde 
ihm  ein  Zettel  gegeben  mit  den  genauesten  Vorschriften  über  seine  künftige  Lebens- 
weise ;  über  Diät,  körperliche  Bewegung,  Schlaf  u.  s.  w. ;  während  der  vierwöchent- 
lichen Kur  wurde  ihm  täglich  mit  Erfolg  suggerirt,  dass  er  jene  Vorschriften  con- 
sequent und  unabweichlich  befolgen  müsse.  In  den  ersten  zwei  Wochen  zeigte  sich 
keine  Gewichtsabnahme,  in  den  nächsten  vierzehn  Tagen  verlor  er  fünf  Pfund ;  seither 
ist  ein  Vierteljahr  verflossen,  auch  jetzt  noch  macht  sich  eine  stete,  langsame 
Abnahme  des  Körpergewichtes  geltend ;  nach  der  letzten  erst  kürzlich  cingetoffenen 
Meldung  beträgt  dieselbe  jetzt  40  Pfund.  Sicherlich  ist  bei  der  consequenten 
Durchführung  der  vorgeschriebenen  Lebensweise  noch  ein  weiterer  Fortschritt  in 
der  Abnahme  des  Körpergewichtes  zu  erwarten  bis  dann  allmählich  ein  Stillstand 
eintreten  wird.  Dabei  fühlt  sich  der  Patient  ausserordentlich  wohl,  viel  gesünder 
und  leistungsfähiger  wie  früher. 

So  zeigte  sich  gerade  in  der  Behandlung  solcher  Krankheiten,  deren  Grund- 
lage 'Willensschwäche  und  Energielosigkeit  ist,  die  ganze  Ueberlegenheit  der  hyp- 
notischen Suggestion  jeder  anderen  Therapie  gegenüber. 

Als  characteristisches  Gegenstück  sei  die,  in  einem  der  ersten  Kurorte  von 
einem  bekannten  Arzt  ausgeübte  Entfettungskur  beigefügt.  Es  soll  nur  die  Massage 
geschildert  werden: 

„Der  Kranke  liegt  flach  auf  dem  Sopha,  mit  etwas  an  den  Leib  angezogenen 
Beinen,  um  die  Bauchmuskulatur  zu  erschlaffen.  Zuerst  pufft  der  Arzt  mit  ge- 
ballter Faust  die  Magengegend,  schwach  beginnend  und  immer  stärkere  Puffe  ver- 
setzend, schliesslich  die  Faust  so  tief  wie  möglich  in  die  Magengrube  eindrückend. 


232  ^*  Taizel.    Casuistische  MittheUimgeii. 

Dann  kommt  das  Kneifen  —  der  Arzt  fasst  die  fetten  Banchdecken  möglichst  breit 
horizontal  zwischen  seine  beiden  Hände  imd  zerqaetscht  die  Fettträubchen  derselben 
so  kräftig,  dass  braune  and  blaue  Flecke  entstehen;  dabei  wimmern  und  wehklagren 
die  Kranken;  das  ist  der  schmerzhafteste  Theil  der  Procedur. 

Fndlich  springt  der  Arzt  in  ganzer  Person  auf  den  Leib  des  Kranken,  so 
dass  seine  beiden  Knie  tief  in  die  Magengrube  hineindrücken  and  hockt  so  lange 
auf  dem  Kranken,  bis  dieser  anfangs  5-,  später  7-,  IQ-  und  zuletzt  2(Kmal  tief  Athem 
geholt  hat. 

Die  Kur  macht  auf  den  Zuschauer  einen  unheimlichen  Eindruck,  er  glaubt, 
die  Därme  müssten  bei  dem  Knieen  zerquetscht  und  das  Herz  geschädigt  werden; 
aber  die  Kranken  gewöhnen  sich  dran.«  — 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie  seit  dem  Jahre  1896« 

(5.  FortsetzuDg.) 


93.  G,  Digttj  Essai  sur  la  eure  präventive  de  l'hysterie  feminine 
par  l'education.    Paris.    Felix  Alcan.    1898.    96  S. 

Die  Arbeit  stellt  eine  Doctorarbeit  dar.  Dass  eine  Anfängerin  auf  dem  Gebiet 
der  Medicin  nicht  einem  solchen  Thema  vollständig  gewachsen  ist,  war  vorauszu- 
sehen. So  findet  man  denn  auch  Sätze  wie:  ^Die  Hysterische  hat  das  heisseste 
Verlangen,  ihr  Leiden  zu  behalten*^  (p&g*  10).  Andererseits  enthält  die  Arbeit 
einige  gute  Bemerkungen,  wenn  dieselben  auch  sehr  allgemein  und  wenig  präcis 
gehalten  sind. 

Verf.  will  jugendlichen  Kranken,  „Novizen  der  Hysterie",  durch  erzieherische 
Einflüsse  helfen.  Sie  bekämpft  zunächst  eine  einseitige  Zurückführung  der  Hysterie 
auf  eine  unabänderliche  Heredität.  Diese  stellt  vielfach  nur  eine  Disposition  dar, 
die  dann  unter  ihr  günstigen  Bedingungen  manifest  wird.  Zu  diesen  Bedingungen 
gehört  eine  falsche  Erziehung  (pag.  19).  Die  Erziehung  hat  ein  gemüthliches 
Gleichgewicht,  eine  Einheit  der  Persönlichkeit  zu  erstreben,  sie  hat  jede  Neigung 
zur  Unwahrheit  und  zum  Theaterspielen  zu  unterdrücken,  nach  Kräften  immerfort 
durch  Beschäftigung  die  Aufmerksamkeit  zu  fesseln.  „Uebergrosses  Leiden  und 
Ueberarbeitung  erzeugt  vielleicht  eine  Neurasthenie,  aber  keine  oder  fast  keine 
Hysterie."  Zunächst  ist  eine  möglichst  einheitliche,  von  ungleichen  Eindrücken 
freie  Erziehung  zu  erstreben.  Als  eine  die  Concentration  der  Aufmerksamkeit 
fesselnde  und  daher  dazu  erziehende  Beschäftigung  wird  die  mit  Mathematik  em- 
pfohlen. Bei  schwerer  Nervosität  der  Mutter  ist  eine  Entfernung  aus  dem  Hause 
zu  fordern.  Schliesslich  wird  zur  Vorsicht  gemahnt  bezüglich  des  Anhörens  und 
des  AuBübens  von  Musik.  0.  Vogt. 

94.  Sante  de  Sa^tictis,  I  sogni  et  il  sonno  nell'  isterismo  e  nella 
epilessia.     Rom.    D.  Alighieri.    1896.    217  S. 

Nach  einer  historischen  Einleitung  über  die  Beziehungen  der  Träume  zum 
Mysticismus,  über  die  Methoden  der  Erforschung  der  Träume  und  über  die  klinische 
Bedeutung  der  Träume,  kommt  Verf.  zu  seinen  eigenen  Studien  (pag.  41).  Verf. 
hat  zu  seinen  Feststellungen  ausschliesslich  hysterische  und  epileptische  Kranke  mit 


234  Zosammenstellung  der  Literatur  tiber  Hysterie. 

sicherer  Diagnose  gewählt.  Alle  zweifelhaften  Fälle  oder  Kranke,  die  noch  andere 
krankhs/te  Erscheinungen  hatten,  hat  er  ausgeschlossen.  Verf.  hat  die  Kranken 
speciell  nach  ihrem  Schlaf  und  ihren  Träumen  gefragt  und  hat  ihre  Angaben  durch 
die  Angehörigen  und  das  Wachpersonal  prüfen  lassen.  Dabei  versuchte  Verf.  ein 
^Stigmate  onirica'',  d.  h.  ein  durch  bestimmte  £igenthämlichkeiten  des  Schlafes 
characteristisches  Moment  bei  den  Hysterischen  und  ein  „Sindrome  nottuma**  bei 
den  Epileptikern  zu  etabliren.  Verf.  untersuchte  1.  die  allgemeine  Gestaltung  des 
Schlafes,  2.  Häufigkeit  der  Träume.  3.  ihren  Inhalt  und  speciell  den  üblichen  emotio- 
nellen  Inhalt,  4.  die  Beziehung  zwischen  dem  Traum-  und  dem  Wachleben  in  den  ver- 
schiedenen Stadien   der  Erkrankung,   5.  das  Erinnerungsvermögen  für  die  Träume. 

Verf.  hat  98  Fälle  von  Hysterie  untersucht:  43  Frauen  und  10  Männer  der 
grossen  und  45  Frauen  der  kleinen  Hysterie,  femer  45  vom  grand  mal,  21  vom 
petit  mal  und  25  ehemalig  von  Epilepsie  befallen  gewesene  Kranke. 

Die  Resultate  des  Verf.  sind  folgende: 

Ebensogut  wie  bei  den  Hysterischen  ist  bei  den  Epileptischen  habituelle 
complete  Insomnie  selten,  dabei  bei  den  Letzteren  noch  seltener  als  bei  den 
Ersteren. 

Eine  periodische  completelnsomnie  findet  sich  in  beiden  Krankheiten, 
und  zwar  speciell  bei  Personen,  die  sonst  tief  schlafen. 

Eine  partielle  Insomnie  ist  häufig  bei  der  kleinen  Hysterie  und  dem 
|)etit  mal.  sowie  bei  den  leichteren  Schläfern  der  grande  hysterie  und  des  grand  mal 

Von  den  53  Fällen  von  grande  hysterie  waren  21  tiefe,  32  leichte,  von 
den  45  Fällen  Von  petite  hysterie  4  tiefe,  41  leichte,  von  45  Fällen  des  grand 
mal  27  tiefe.  18  leichte,  von  21  Fällen  von  petit  mal  8  tiefe,  13  leichte 
und  von  25  Fällen  ehemaliger  Epilepsie  18  tiefe  und  7  leichte  Schläfer. 

Schlafwandeln  fand  sich  bei  1  hysterischen  Person;  ehemalig  war  es  bei 
6  Hysterischen  und  4  Epileptischen  aufgetreten. 

Schlafsprechen  war  habituell  bei  9  Hysterischen  und  2  Epileptikern  und 
episodisch  bei  12  Hysterischen  und  5  Epileptikern. 

PI (')tz liebes  Aufschrecken  aus  dem  Schlaf  ist  beinahe  gleich  häufig 
bei  petite  hysterie  und  petit  mal ;  abnehmend  häufig  bei  grande  hysterie,  grand  maL 
ehemaligen  Epileptikern. 

Hypnagogische.Hallucinationen  sind  zu  constatiren  bei  der  Hälfte 
der  an  grande  hysterie  Leidenden,  bei  38  von  45  an  petite  hysterie  Leidenden,  bei 
6  von  45  an  grand  mal  Leidenden,  bei  12  von  21  an  petit  mal  Leidenden  und  bei 
0  von  25  früheren  Epileptikern. 

Sehr  häufiges  Alpdrücken  bei  6  grande  hysterie,  bei  0  petite  hysterie,  bei 
10  grand  mal  und  7 — 8  petit  mal,  0  bei  den  ehemaligen  Epileptikern. 

Bezüglich  der  Häufigkeit  und  des  Inhaltes  der  Träume  ist  Folgendes 
hervorzuheben : 

Von  den  53  Fällen  von  grande  hysterie  waren  35  mittelmässige  Träumer. 
10  starke  Träumer  und  8  Nichtträuraer.  Von  den  45  Fällen  von  petite  hysterie 
waren  41  starke  Träumer  und  4  Nichtträumer.  Von  den  45  Fällen  von  grand  mal 
waren  10  starke  Träumer,  20  mittelmässige  Träumer  und  15  Fälle,  die  fast  nicht 
träumten.  Von  den  21  Fällen  von  petit  mal  waren  16  starke  Träumer,  4  nüttelmässige 
Träumer,  1  (ein  Nachtwandler)  träumte  gar  nicht.  Von  den  25  ehemaligen  Epi- 
leptikern träumten  13  sehr  selten  und  10  nie,  blos  2  waren  starke  Träumer. 


Zusammenstellung^  der  Literatur  über  Hysterie.  235 

Ungünstig  für  das  Auftreten  von  Träumen  sind  ausser  dem  vorgefifchrittenen 
Alter  und  der  minderwerthigen  Intelligenz  Längerbestehen  der  Krankheit  und  das 
•Vorhandensein  des  grossen  Anfalles,  speciell  des  epileptischen. 

Die  Häufigkeit  und  der  Inhalt  der  Träume  sind  bei  Epileptischen  mehr  als 
bei  Hysterischen  von  meteorologischen  Bedingungen  abhängig. 

Die  Träume  der  Epileptiker  sind  weniger  complicirt  als  die  der  Hysterischen. 
Bei  den  letzteren  handelt  es  sich  um  ganze  Romane ,  bei  den  ersteren  sind  es 
^Panorama''  und  schnell  voiMibergehende  Visionen. 

Bei  den  Hysterischen  herrschen  die  makrozooskopischen  Träume  und  die  des 
Contrastes  (zum  Wachsein)  vor,  bei  den  Epileptikern  die  erotischen  und  Träume 
^osser  Veränderungen  am  eigenen  Körper. 

In  keinem  Fall  von  Hysterie  waren  Träume  die  Ursache  der  Hysterie,  wohl 
•aber  gelegentlich  diejenige  einzelner  Anfalle. 

Eine  Zunahme  der  Zahl  und  der  Lebhaftigkeit  der  Träume  in  Verbindung 
mit  anderen  Störungen  des  Schlafes  zeigt  sich  fast  immer  als  eines  der  ersten 
Symptome  einer  beginnenden  Hysterie,  speciell  der  durch  innere  Momente  aus- 
gelösten. Verf.  bezeichnet  diese  Erscheinung  als  „onirisches  Stigma"  der 
Hysterie. 

Meist  existirt  ein  proportionales  Verhältniss  zwischen  Schwanken  in  der 
Stärke  dieses  Stigmas  und  derjenigen  der  Gesammterkrankung.  Nur  in  einzelnen 
sehr  schweren  Fällen  zeigte  si9h  ein  umgekehrt  proportionales  Verhältniss. 

Ein  Einfluss  der  Träume  auf  die  Stimmung  des  nachfolgenden  Tages  ist  evident. 

Auch  bei  der  Epilepsie  giebt  es  ein  „nächtliches  Syndrom",  welches 
dem  onirischen  Stigma  der  Hysterischen  ähnelt,  aber  sich  in  einer  Reihe  aus  der 
vorstehenden  Gegenüberstellung  hervorgehender  Punkte  von  diesem  unterscheidet. 

0.  Vogt. 

95.  Dr.  Ernst  Barth,  Das  hysterische  Zwerchfellasthma.  Berlin. 
Klin.  Wochenschr.  1898,  Nr.  42,  43. 

Verf.  giebt  im  ersten  Theil  seiner  Abhandlung  einen  Ueberblick  über  die  je 
nach  der  verschiedenen  Localisation  der  Störung  verschiedenen  Symptome  der  Ath- 
mungsstörungen  und  bespricht  dieselben  eingehend  nach  ihrer  diflferenzial-diagnos- 
tischen  Bedeutung.  Er  theilt  sodann  folgenden  Fall  von  hysterischem  Zwerchfell- 
asthma —  wie  er  das  Symptomenbild  zu  benennen  vorschlägt  —  mit. 

Ein  23  Jahre  alter  nicht  belasteter  UnterofQcier  erkrankte  im  Mai  1897  an 
Athemnoth,  nachdem  er  schon  früher  einmal  nach  anstrengendem  Commandiren  an 
14  Tage  anhaltender  Stiramlosigkeit  gelitten  hatte.  Trotzdem  that  er  seinen  Dienst 
weiter,  bis  er  sich  am  19.  April  1898  krank  meldete.  Bei  der  Untersuchung  wurde 
constatirt  kein  Fieber,  keine  Cyanose,  keine  Oedeme,  starke  Dyspnoe.  Auf  eine 
starke  3  Secunden  dauernde  mit  Hilfe  aller  auxiliären  Inspirationsmuskeln  vorge- 
nommene Inspiration  folgte  eine  ungefähr  ebenso  lange  mit  starker  Anstrengung 
der  Exspiratoren  und  krampfhaften  Zuckungen  der  Bauchmuskeln  verbundene  Ex- 
spiration, dann  eine  4 — 5  Secunden  anhaltende  Athempause,  so  dass  nur  4 — 5  Athem- 
zü^e  in  der  Minute  zu  Stande  kamen.  Es  bestand  eine  ausserordentlich  starke 
Blähung  beider  Lungen,  so  dass  eine  Herzdämpfung  nicht  zu  erhalten  war,  ohne 
katarrhalische  Erscheinungen,  ohne  Husten,  ohne  Auswurf,  vesiculäres  Athmen, 
Tiefstand  des  Zwerchfells  auch  während  der  Ausathmung;   der  Puls  war  auffallend 


236  Zpsammenstellaiig  der  Ldteratar  über  Hysterie. 

dünn  nnd  Bchwach  gespannt,  84  regelmämig,  die  Herztöne  dampf  and  leise.  Fat. 
klagte  Schmerzen  in  Brost  und  Leib.  Auffallend  war  das  Missrerhältniss  zwischen 
den  beängstigenden  Athmungserscheinungen  und  dem  Verhalten  des  Kranken,  der 
ruhig  zu  seiner  Unterhaltung  lesend  im  Bette  sass,  sich  lebhaft  aufrichten  und  be- 
wegen konnte,  nachts  ganz  gut  ohne  Beschwerden  mit  ruhiger  Athmung  schlief 
Dieses  subjective  Verhalten,  der  Mangel  jeder  Veränderung  in  den  Luftwegen, 
jeder  Oedeme  und  Cyanose,  das  Fehlen  der  Erscheinungen  während  der  Nacht  und 
der  Umstand,  dass  die  Dyspnoe  stärker  wurde,  wenn  sich  der  Kranke  beobachtet 
sah,  veranlassten  den  Verf..  der  anfangs  wegen  der  Erscheinungen  von  Seiten  des 
Herzens  und  des  Pulses  wohl  an  ein  cardiales  Asthma  gedacht  hatte,  sehr  bald  seine 
Diagnose  auf  einen  hysterischen  tonischen  Zwerehfellkrampf  zu  stellen,  obwohl  sich 
hysterische  Stigmata  nicht  feststellen  Hessen. 

Der  Zwerchfellkrampf  ging  nach  zwei  Wochen  ganz  unvermittelt  in  eine 
Zwerchfelllähmung  über,  zu  der  sich  nach  wenigen  Tagen  clonische  Krämpfe  der 
Bauchmuskeln  gesellten.  Die  Symptome  der  Lungenblähung  und  der  Herabsetzung 
des  arteriellen  Druckes  verschwanden  damit,  die  Athembeschwerden  bestanden  je- 
doch weiter  und  eine  sehr  hartnäckige  Obstipation  trat  hinzu.  „Die  Behandlung 
bestand  neben  Faradisirung  der  Nn.  phrenici  in  dem  Unterricht  bezw.  in  dem  Ein- 
üben der  richtigen  Athmung.*^ 

Verf.  weist  in  Anschluss  an  seinen  Fall  auf  den  von  Wernicke^)  beschriebenen 
nervösen  Athmungstypus  hin,  den  jener  auf  eine  lusufficienz  der  Nn.  phrenici  bei 
Hysterischen  zurückführt  und  als  Asthma  phrenicum  bezeichnet  Das  unter  Asthma 
phren.  zusammengefasste  Symptomenbild  sei  zu  erweitem,  da  Verf.  auch  seinen  Fall 
dazu  gerechnet  wissen  w^ill. 

Die  Entstehung  der  Erkrankung  ist  Verf.  geneigt  auf  Ueberanstrengung  zu- 
rückzuführen, da  auch  die  früher  aufgetretene  Heiserkeit,  die  nicht  allein  auf  einer 
katarrhalischen  Entzündung,  sondern  auch  auf  ungenügender  Adduction  der  Stimm- 
bänder beruhte,  nach  einer  Anstrengung  beim  Commandiren  sich  entwickelte.  Er 
meint,  dass  bei  körperlichen  Anstrengungen  durch  die  erhöhten  Anforderungen  an 
die  Kespirationsthätigkeit  eine  Parese  oder  Paralyse  des  Zwerchfells  entstehen  kann 
„Indem  nun  immer  stärkere  Innervationsirapulse  nöthig  werden,  die  beabsichtigte 
Bewegung  auszulösen,  kann  der  Fall  eintreten,  dass  die  beabsichtigte  Contraction 
nicht  wieder  nachlässt,  oder  dass  der  verstärkte  Impuls  auf  die  Antagonisten  über- 
greift und  nunmehr  gewisse  Bewegungen  auslöst.'*  Auf  diese  Anschauung  stützt 
sich  auch  die  Therapie,  welche  „auf  der  Einübung  zeitlich  und  quantitativ  richtig 
abgestufter  Willensimpulse  auf  die  einzelnen  Muskelgruppen"  beruht. 

Tecklenburg-  Leipzig. 

96.  Ziehen-y  Hysterie.  —  Artikel  in  der  Heal-Encyclopädie  der  gesammten 
Heilkunde.    III.  Auflage.     1896.    S.  302-390. 

Aus  der  vorliegenden  umfangreichen  Bearbeitung  der  Hysterie,  welche  das 
gesammtc  Erfahrungsmaterial  über  dieses  Gebiet  in  prägnanter  und  zugleich  er- 
schöpfender Weise  zur  Darstellung  bringt,  sollen  hier  nur  einzelne,  grössere  Be- 
deutung beanspruchende  Punkte  herausgegriffen  werden. 


*)  W  ernicke,    Die   Insufficienz    der    Nervi    phrenici   und   ihre    Behandlung. 
Monatsschr.  f.  Psych,  und  Nervol.  1898.  S.  200. 


Zusammenstellungr  der  Literatur  über  Hysterie.  237 

Verf.  bezeichnet  die  Hysterie  als  eine  chronische,  allgemeine  func- 
tionelle  Neurose,  d.  h.  er  zählt  sie  zu  jenen  Krankheiten  des  Nervensystems, 
welche  nach  unseren  augenblicklichen  pathologisch-anatomischen  Kenntnissen  nicht 
auf  einer  wahrnehmbaren  Veränderung  des  Gewebes,  sondern  auf  einer  Störung 
der  Function  beruhen." 

Aus  der  ungemein  reichhaltigen  Symptomatologie,  welche  Verf.  bis  ins  kleinste 
Detail  verfolgt,  sollen  nur  die  Hauptsymptome  genannt  werden.  Zu  denselben 
rechnet  Verf.: 

1.  Anomalien  der  Stimmung  und  des  Characters. 

2.  Krampfanfälle  von  typischem  Verlauf,  innerhalb  dessen  ein  Stadium  coordi- 
nirter  Bewegrungen  auftritt. 

3.  Lähmungen  theils  mit^  theils  ohne  Contractur. 

4.  Sensible  und  sensorische  Störungen. 

5.  Druckpunkte. 

Gemeinsam  ist  allen  diesen  Hauptsymptomen  der  Hysterie  ein  Merkmal,  die 
Veränderbarkeit   durch  Vorstellungen,   doch  kommt  demselben  keine  absolute  Be- 
deutung zu,  da  es  ja  gelegentlich  auch  bei  anderen  Krankheiten  zu  beobachten  ist. 
Im  Allgemeinen  klassificirt  Verf.  die  Symptome  in  4  Gruppen: 
L  Intervalläre  somatische  Symptome. 
II.  Den  hysterischen  Anfall. 

III.  Intervalläre  psychische  Symptome. 

IV.  Hysterische  Psychosen. 

Unter  den  intervallären  psychischen  Symptomen  bespricht  Verf.  den  psychischen 
Zustand  der  Hysterischen  ausserhalb  der  Krampfanfälle  und  vollentwickelten  Psy- 
chosen in  allen  seinen  elementaren  pathologischen  Aeusserungen.  Ein  Hauptgewicht 
legt  er  dabei,  wie  die  Mehrzahl  anderer  Autoren,  auf  die  Affectstörungen  (die 
Maasslosigkeit  und  Labilität  der  Affecte  und  die  krankhafte  Stimmungslage),  welche 
neben  der  enormen  Suggestibilität  den  Urquell  für  den  Polymorphismus  des  hyste- 
rischen Krankheitsbildes  abgeben. 

Die  hysterischen  Psychosen  decken  sich  im  Grunde  mit  den  gleichnamigen 
Psychosen  nicht  hysterischer  Individuen,  nur  dass  sie  aus  der  Grunderkrankung 
gewisse  Characterzüge  übernehmen.  Verf.  unterscheidet  die  maniakalische  Exaltation, 
die  melancholische  Verstimmung  und  die  Paranoiaformen.  Den  Dämmerzustand 
der  Hysterischen  bezeichnet  Verf.  als  acute  hallucinatorische  Paranoia. 

In  den  theoretischen  Erörterungen  über  die  Natur  der  functionellen  Störungen 
bei  Hysterie  uod  über  die  sog.  hysterische  Veränderung  des  Nervensystems  wendet 
sich  Verf.  gegen  jede  der  einzelnen  bislang  aufgestellten  Hypothesen;  er  pflichtet 
keiner  in  vollem  Umfange  bei,  gesteht  aber  zu,  dass  jede  einen  richtigen  Kern 
in  sich  habe.  Zweifellos  ist  nach  seiner  Ansicht  an  der  von  Moebius  haupt- 
sächlich vertretenen  Lehre  das  eine  richtig,  dass  die  hysterischen  Symptome 
durch  Vorstellungen  in  ungewöhnlicher  Weise  beeinflussbar  sind.  Verf.  geht  sogar 
soweit  zu  sagen,  das  einzige  Merkmal,  welches  ganz  allgemein  den  hysterischen 
Symptomen  zukomme  und  sonach  das  Wesen  derselben  am  präcisesten  zusammen- 
fasse, bleibe  die  Beeinflussbarkeit  durch  Vorstellungen.  Andererseits  entlehnt 
Ziehen  der  Janet 'sehen  Lehre,  welche  die  Einschränkung  des  Bewusstseins- 
feldes  und  der  psychischen  Verknüpfungsfähigkeit  als  das  wesentliche  Kennzeichen 
der  Hysterie  betrachtet,  einen  Gnmdgedanken,  indem  er  Associationsstörungen  bei 


238  ZotammenftelluDg  der  Literatur  über  Hysterie. 

dem  Zustand ekommen  yieler  hysterischer  Symptome  eine  grosse  Rolle  spielen 
lÄsst:  „Normale  associative  Verknüpfungen  functioniren  nicht  (Afonction).  oder 
ungenügend  (Hypofunction) ,  während  andere  in  abnormem  Grade  fdnctioniren 
(Hyperfunction)."  Schliesslich  erkennt  Verf.  neben  der  Jan  et*  sehen  AnfTassung 
auch  der  Annahme  von  Charcot  eine  gewisse  Berechtigung  zu,  welcher  mit 
Oppenheim  geneigt  ist,  einen  primären  Ausfall  resp.  eine  primäre  abnorme 
Intensitätssteigerung  einzelner  Empfindungen  und  Vorstellungen  für  die  hysterischea 
Symptome  verantwortlich  zu  machen. 

Gemäss  diesem  Vermittlungsstandpunkte  schreibt  Verf.:  „Die  einzelnen  Sym- 
ptome stellen  die  veischiedensten  Abweichungen  von  den  normalen  Erregungen 
dar,  Uebererregungen  und  Uebererregbarkeit,  Herabsetzung  der  Erregung  und  der 
Erregbarkeit.  Ein  grosser  Theil  ist  direct  auf  psychische  Veränderungen  —  hypo- 
chondrische Vorstellungen,  Associationsbeschränkungen,  primären  functionellen  Ver-^ 
lust  von  Vorstellungen  und  Empfindungen  —  mit  zu  beziehen;  für  einen  kleineren 
Theil  ist  ein  solcher  Zusammenhang  nicht  nachweisbar." 

Localisatorisch  sind  die  hysterischen  Symptome,  nach  der  Ansicht  Zi ebenes, 
theils  auf  functionelle  Veränderungen  der  Hirnrinde,  theils  auf  ähnliche  Verände- 
rungen nicht  corticaler  Theile  des  Centralnervensystems  zu  beziehen. 

Brodmann -Jena. 

97.  Oppenheim^  Die  Hysterie.  Lehrbuch  der  Nervenkrankheiten,  ü.  Auf- 
lage.    1898. 

Im  Gegensatz  zu  anderen  Autoren  verlogt  O.  den  Ort  der  hysterischen  Ver- 
änderung in  die  Hirnrinde.  Er  meint,  es  handle  sich  bei  der  Hysterie  dem  Wesen 
nach  wahrscheinlich  um  moleculare  Veränderungen  im  Centralnervensystem,  ins- 
besondere in  der  Hirnrinde  und  zwar  um  „eine  Steigerung  der  feinen  Differenzen 
in  der  Organisation  des  Centralnervensystems,  welche  schon  bei  Gesunden  ange- 
nommen werden  müssen,  um  die  Unterschiede  in  der  Erregbarkeit  der  verschiedenen 
Personen,  Geschlechter,  Racen  zu  erklären." 

Klinisch  bezeichnet  er  die  'Hysterie  als  ein  „Seelenleiden,  welches  seinen  Aus- 
druck nicht  in  intellectuellen  Störungen,  sondern  in  Anomalien  des  Characters  und 
der  Stimmung  findet  und  sein  innerstes  Wesen  hinter  einer  fast  unbegrenzten  Zahl 
körperlicher  Erscheinungen  verbirgt." 

Als  unabänderlichen  Grundzug  in  dem  Geisteszustände  der  Hysterischen  er- 
klärt Verf.  einerseits  die  abnorme  Reizbarkeit  und  den  jähen  Stimmungswechsel» 
andererseits  die  gesteigerte  Einbildungskraft  oder  ßeeinflussbarkeit  durch  Vor- 
stellungen. 

Anfallswcise  auftretende  Störungen  des  Seelenlebens  bei  Hysterie  sind: 

1.  Angstzuatände. 

2.  Hallucinatorische  Delirien. 

3.  Somnambule  und  liypnoide  Zustände,  zu  welchen  die  Katalepsie,  die  Lethargie,, 
hysterische  Schlafattaqucn  und  der  Somnambulismus  zählen. 

4.  Eigentliche  Psychosen,  welche  nur  gewisse  hysterische  Züge  in  ihrem.  Ver- 
laufe darbieten,  eigentlich  aber  eine  Combination  von  Geistesstörung  mit  Hysterie 
darstellen.  —  Zwangsvorstellungen  sind  nicht  zum  Bilde  der  Hysterie  zu  rechnen, 
sondern  fallen  auf  Kosten  der  gleichzeitig  bestehenden  psychopathischen  Degene- 
ration. Brodmann- Jena. 


ZusammenstelluDg  der  Literatur  über  Hysterie.  239 

98.  Magnanj  Delires  dans  Tepilepsie  et  Thysterie.  Progr^s  m^dical 
1896  m  Nr.  16  p.  241. 

Yerf.  stellt  den  constitutionellen  Geist esstöruDgeD,  welche  auf  dem  Boden 
einer  speciellen  Prädisposition  entstehen,  die  accidentellen  gegenüber,  d.  h. 
solche  Geistesstörungen,  welche  pathognomonisch  sind  für  eine  ganz  bestimmte, 
unmittelbar  auslösende  Ursache  (facteur  productif),  Schritt  für  Schritt  den  Schwan- 
kungen dieser  Ursache  folgen,  mit  ihr  entstehen,  mit  ihr  verschwinden  und  wieder- 
kehren, vorübergehend  oder  dauernd  sind,  je  nachdem  die  Entstehungsursache 
nur  einen  illoment  wirksam  bleibt  oder  die  nervösen  Centren  für  immer  schädigt. 

Zu  den  accidentellen  Geistesstörungen  gehören  in  erster  Reihe  jene  secundären 
psychopathischen  Zustände,  welche  aus  den  Neurosen  hervorgehen,  insbesondere  der 
äysterie  und  £pilepsie,  und  welche  sich  an  convulsivische  Krisen  anschliessen  oder 
an  deren  Stelle  treten.  Sie  besitzen  stets  einen  wohlausgeprägten  Character,  der 
ihren  specifischen  Ursprung  verräth. 

Davon  zu  trennen  sind  jene  anderen  Delirien,  welche  unabhängig  von  den 
Anfällen  der  Epilepsie  und  Hysterie  auftreten  können.  Diese  Formen  sind  ge- 
wissermaassen  autonom  und  existiren  selbständig  neben  der  Neurose. 

1.  Die  epileptischenGeistesstörungen  zerfallen  in  folgende  Unterformen : 

a)  Postepileptische  Delirien.  „Jeder  paroxystische  Zustand  der  epileptischen 
Neurose,  Krampf  oder  Vertigoanfall ,  kann  von  intellectuellen  Störungen  gefolgt 
sein."  Die  speciüschen  Merkmale  derselben  sind:  Automatismus  während  des  An- 
falls und  consecutive  Amnesie  für  den  ganzen  Vorgang. 

Der  Automatismus  kennzeichnet  sich  durch  unbewusste,  unmotivirte  Trieb- 
handlungen (Impulsionen),  welche  entweder  nur  einige  Augenblicke  dauern  und 
z.  B.  in  dem  Versuch  der  Strangulation  bestehen  oder  sich  über  längere  Zeit  er- 
strecken und  zu  complicirten  Acten,  grossen  Reisen  etc.  führen.  Solche  Acte 
gleichen  vollkommen  den  somnambulen  Zuständen  mit  dem  einzigen  Unterschiede, 
dass  die  Erinnerung  niemals  wiederkehrt,  obwohl  spätere  Attaquen  sehr  häutig  die 
früheren  mit  grosser  Treue  reproduciren. 

Alle  derartigen  Störungen  sind  nur  Theilerscheinungen  des  epileptischen  Irreseins 
im  Allgemeinen,  das  entweder  ein  diffuses  oder  ein  systematisirtes  ist. 

Die  diffuse  epileptische  Psychose  kann  unter  verschiedenen  Formen  verlaufen : 
einer  maniakalischen.  melancholischen,  stupiden  oder  extatischen,  einer  periodischen 
oder  alternirenden.  Hallucinationen  sind  dabei  constant;  sie  bestimmen  vielfach  das 
Krankheitsbild   durch   ihren   Inhalt   und  tragen  zur  Systematisation  des  Delirs  bei. 

Eine  Art  Systematisation  besteht  auch  beim  epileptischen  Somnambulismus, 
welcher  sich  häufig  an  einen  initialen  postparoxysmalen  deliranten  Zustand  an- 
schliesst.  Der  Kranke  wird  von  einer  bestimmten  fixen  Idee,  bald  mystischen,  bald 
erotischen,  bald  persecutorischen .  bald  expansiven  Characters  beherrscht  und 
handelt  dementsprechend.  Die  Dauer  beträgt  nie  über  3  Wochen  und  es  besteht 
immer  eine  totale  Amnesie  für  alles  Vorgefallene.  Das  Delirium  ist  für  den 
Kranken  ein  unbekannter  Roman,  den  er  zum  ersten  Male  hört. 

b)  Die  unabhängig  von  epileptischen  Attaquen  auftretenden  intellectuellen 
Störungen  sind  als  Epilepsia  larvata  (Morel)  oder  psychische  Aequivalente 
(Maudsley)  beschrieben  worden.  Sie  hinterlassen  eine  scharf  umschriebene,  totale 
Bewusstseinslücke  im  Leben  des  Patienten  und  sind  eigentlich  den  postepileptischen 
Delirien  gleichzustellen. 


840  Zusammeostellung  der  Literatur  über  Hysterie. 

c)  Präepileptische  Delirien,  welche  unmittelbar  dem  convuUivischen  An&ll 
vorangehen  sollen,  bestreitet  Verf.  Dieselben  sind  nichts  änderet  als  eine  Steigemog 
der  habituellen  Affectivität  der  Epileptiker  und  hinterlassen  keine  £rinnerongB- 
lücken.  „Damit  ein  Delir  eine  Spur  im  ßewusstsein  zurücklasse,  muss  das  Gehirn 
zuerst  Yon  einer  Entladung  betroffen  sein.  Der  Anfall  ist  die  erste  Bedingang  der 
Bewusstlosigkeit  und  der  Amnesie.^ 

d)  Dauernde  Veränderungen  des  Geisteszustandes  der  Epileptiker  sind: 

er.  Die  epileptische  Characterveränderung,  die  krankhafte  Gemüthsreizbarkeit. 

ß.  Die  epileptische  psychische  Degeneration,  eine  völlige  Desequilibration  der 
Geisteskräfte  mit  Störungen  auf  allen  Gebieten  (Intelligenz,  Willensthätigkeit  und 
Sinnesfunctionen)  mit  intercurrenten  Delirien,  sowie  mit  episodischen  Syndromen, 
bestehend    in   Zwangsvorstellungen,  Triebhandlungen   und  bewussten  Hemmungen. 

2.  Die  psychischen  Störungen  bei  Hysterischen  lassen  sich  eben- 
falls in  2  Gruppen  unterbringen: 

a)  in  solche,  welche  nur  eine  Episode  des  convulsi vischen  Anfalles,  gewisser- 
maassen  das  Endstadium  desselben  darstellen,  sehr  kurz  dauern  und  inhaltlich 
durchaus  durch  die  Hallucinationen  bestimmt  sind.  Dies  sind  die  eigentlichen 
hysterischen  Delirien; 

b)  in  solche,  welche  ganz  unabhängig  von  den  hysterischen  Anfällen  auftreten. 
Aus  denselben  ist  eine  Form  herauszugreifen,  welche  die  postparoxysmellen  Delirien 
reproducirt  und  demnach  als  ein  Aequivalent  des  hysterischen  Anfalls  bezeichnet 
werden  kann.  Verf.  meint,  es  könne  sich  dabei  um  eine  Art  rudimentären  Anfalls 
handeln. 

Alle  übrigen  P'ormen  der  hysterischen  Psychosen  unterscheiden  sich  in  nichts 
von  den  gewöhnlichen  Psychosen,  „man  kann  daher  bei  der  Hysterie  alle  Formen 
der  Geistesgestörtheit  beobachten",  sie  tragen  jedoch,  wie  Verf.  meint,  meist  das 
Kennzeichen  einer  psychischen  Degeneration,  sind  degenerative  Psychosen,  wie  ja 
auch  die  Hysterie  an  sich  der  Ausdruck  einer  Entartung  des  Individuums  ist 
„Die  Hysterie  erscheint  uns  mehr  als  ein  episodischer  Zufall,  aufgepfropftauf  einen 
degeuerativen  Boden. **  Brodmann- Jena. 

99.  Raymond,  „Les  Delires  ambulatoires  ou  les  Fugues".  Le^ons 
sur   les  maladies   du   systi^me    nerveux   1896,   Legon  XXXI  und  XXXII,   591 — 637. 

Verf.  definirt  den  Begriff  des  „Delire  ambulatoire"  oder  der  „Fugue"  als 
eine  impulsive,  scheinbar  zweckvolle  Handlung  von  zusammengesetztem  und  wohl- 
geordnetem Charactcr  mit  totaler  Amnesie.  Er  versteht  darunter  jenes  den 
Franzosen  längst  bekannte  psychopathologische  Phänomen,  daa  verschiedentlich 
theils  als  somnambuler  Automatismus,  als  automatisches  Herumwandem  (automatisme 
ambulatoire).  als  Dromomanie.  Dämmerzustand  etc.  beschrieben  worden  ist  und 
von  einer  Reihe  französischer  Autoren  als  hysterischer  Somnambulismus  resp.  Auto- 
matismus dem  Krankheitsbilde  der  Hysterie  untergeordnet  wurde.  Zu  deutsch  Hesse 
sich  das  Symptom  am  besten  als  „Wandertrieb"  wiedergeben. 

Dasselbe  besteht  darin,  dass  ein  Kranker  anscheinend  motivlos  sich  aus  seinen 
AUtagsverlüiltnissen  entfernt,  in  einer  Art  „zweiten  Bewusstseins"  (etat  second) 
längere  oder  kürzere  Zeit  (selbst  mehrere  Monate)  umherreist,  sich  dabei  durchaus 
zweckmässig  benimmt,  seiner  Umgebung  kaum  auffällt  und  dann  zum  eigenen  Er- 
staunen plötzlich   an   einem   ganz  fremden  Orte  zu   sich  konmit  ohne  auch  nur  die 


Zusammenstellung  der  Literatur  über  Hysterie.  g4t 

geringste  Erinnerung  an  die  Vorgänge  der  Zwischenzeit,  an  die  Dauer  seiner 
Reise,  an  die  Veranlassung  zu  derselben,  an  sein  eigenes  Verhalten  etc.  zu  be- 
sitzen. ' 

Verf.  beschreibt  zunächst  folgenden  Fall: 

F.,  30jähriger,  intelligenter,  tüchtiger  Bahnbeamter,  aus  einer  schwer  neuro* 
pathisch  belasteten  Familie  stammend,  bei  deren  Mitgliedern  mehrfach  hysterisch 
somnambule  Zustände,  Krämpfe  und  selbst  Schwachsinn  vorgekommen  sind,  hat 
schwere  erschöpfende  fieberhafte  Tropenkrankheiten  durchgemacht,  sich  in  letzter 
Zeit  geistig  sehr  überanstrengt,  ist  durch  den  Tod  seiner  ersten  Frau  gemüthlieh 
stark  erschüttert  worden  und  verfallt  nun  plötzlich  in  unmittelbarem  Anschluss  an 
einen  geringfügigen,  jedoch  ungewohnten  Alkohol^xcess  in  einen  dämmerhaften 
Zustand,  in  dem  er  für  8  Tage  das  Bewusstsein  seiner  selbst  verliert,  eine  Reise 
von  Nancy  nach  Brüssel  unternimmt  und  hier  völlig  amnestisch  für  das  Vorge- 
fallene aufwacht.  Als  er  wieder  zu  sich  kam,  fand  er  sich  auf  freiem  Felde  im 
Schnee  liegend,  völlig  erschöpft,  mit  heftigen  Kopf-  und  Magenschmerzen;  es  war 
Nacht  und  mit  Mühe  konnte  er  sich  einem  Strassenbahngleise  entlang  zu  einer 
Stadt  hinschleppen,  wo  er  erfuhr,  dass  er  sich  in  Brüssel  befände  und  dass  8  Tage 
verfiossen  seien  seit  jenen  letzten  Ereignissen ,  die  noch  in  seinem  Gedächtnisse 
haften  geblieben  waren.  Er  erinnert  sich,  dass  er  nach  längerer,  aufreibender  geistiger 
Thätigkeit  eine  Arbeit  eben  fertiggestellt  hatte  und  nun  an  dem  Morgen  des  be- 
wussten  Tages  zu  seiner  Zerstreuung  in  ein  Cafe  eintrat,  wo  er  mit  einigen  Bekannten 
Billard  spielte,  mehrere  Glas  Bier  trank  und  dann  wegging,  um  mit  einem  Freunde 
zusammen  Mittag  zu  speisen.  Er  erinnert  sich,  dass  er  auf  dem  Wege  zur 
Wohnung  mitten  auf  einer  Brücke  plötzlich  von  einem  intensiven  Kopfischmerz  be- 
fallen wurde.  Ort,  Zeit  und  äussere  Umstände  dieses  Vorkommnisses  sind  ihm 
noch  genau  erinnerlich.     Von  jenem  Augenblick  ab  jedoch  ist  die  Erinnerung  völlig 

geschwunden. 

Da  nachher  eine  spontane   Wiederkehr   der  Erinnerung    eintrat,    ergab    die 

psychologische  Analyse  genauen  Aufschluss  über  den  ganzen  Vorgang  und  damit 
einen  gewissen  Einblick  in  die  Psychogenese  und  das  Wesen  des  krankhaften 
Zustandes. 

Körperlich  bot  der  Patient  zunächst  eine  Reihe  nervöser  Beschwerden  (Kopf- 
schmerz, allgemeines  Gliederzittem,  Gefühl  von  Schwäche  und  Abgeschlagensein 
Abstumpfung  des  Geschmackes);  wirkliche  hysterische  Stigmata  (Sensibilitäts- 
störungen, Gesichtsfeldeinengung  etc.)  bestanden  nicht.  Ob  hysterische  Krämpfe 
den  Zustand  eingeleitet  resp.  beendet  haben,  konnte  nicht  in  Erfahrung  gebracht 
werden.  Ein  Hypnoseversuch  misslang  wegen  der  Befangenheit  und  Aengstlichkeit 
des  Kranken. 

Während  der  Beobachtung  im  Krankenhause  wurde  nun  zuerst  festgestellt, 
dass  P.  im  Traume  von  den  Erlebnissen  während  seiner  Flucht  redete ;  sodann  fand 
er  ein  mit  einer  Adresse  in  Brüssel  versehenes  Billet  in  der  Rocktasche ;  dieses  gab 
ihm  den  Anlass,  zunächst  nach  einem  Stützpunkte  in  seinem  Gedächtnisse  zu 
suchen  und  die  folgenden  Nächte  kamen  ihm,  anknüpfend  an  die  auf  das  Billet 
bezüglichen  Vorgänge,  in  einem  Zustande  natürlichen  Halbschlafes  immer  mehr 
Erinnerungen  zurück,  aus  denen  er  allmählich  den  Zusammenhang  der  Gescheh- 
nisse reconstruirtc.  Es  stellte  sich  heraus,  dass  P.  seit  Wochen  auf  Grund  einer  ver- 
leumderischen Anschuldigung  seitens  seines  Bruders  beständig  von  dem  Gedanken 
Zeitschrift  für  Hypnotisraus  etc.    IX.  16 


9^(1  Zoutmmenetellnxig  der  Literatur  über  Hyiterie. 

gequält  gewMen  war,  vor  der  Polizei  fliehen  zu  rnuzseiu  Aji  jenem  Tzge  war  unter 
dein;  £influ88  des  Alkohols  diese  Idee  mit  einer  impulsiven  Macht  über  ihn  ge- 
kommen, verstärkt  vielleicht  durch  ganz  natürliche  Vorwurfe,  welche  er  sich  darüber 
machte,  dass  er  sich  im  Zustande  der  Trunkenheit  mit  einem  Weibe  vergangen 
bfiite.  Von  dieser  Idee  getrieben,  irrte  P.  8  Tage  lang  umher,  fuhr  von  Ort  zu 
Ort^  wollte  sich,  aller  Mittel  bar,  in  die  Fremdenlegion  anwerben  lassen  und  wachte 
schliesslich,  von  Hunger  und  Frost  fast  erstarrt,  unter  dem  Einfluss  der  sich  ihm 
aufdrängenden  körperlichen  Schmerzen  und  durch  eine  enorme  Willensanstrengung 
aus  seinem  traumhaften  Zustande  au£ 

Die  Analyse  des  Falles  ergab  also  als  treibende  Kraft  för  die  Flucht  des  P. 
eine  affectstarke  Vorstellung,  eine  Suggestion;  diese  Vorstellung  setzte  sich  in 
einem  Moment  verminderter  geistiger  Widerstandskraft  (Alkohol)  in  eine  impulsive 
Handlung  um  und  führte  zu  einer  Art  somnambulem  Zustande  mit  nachfolgender 
totaler  Amnesie. 

Verf.  wirft  nun  die  Frage  auf,  unter  welches  klinisch-ätiologische  Krankheits- 
bild der  Fall  zu  rechnen  sei.    Das  Vorkommen  ähnlicher  Zustände  ist  bekannt: 

1.  bei  Epilepsie  und  zwar  besonders  im  Anschlnss  an  Anfälle  von  absences 
und  vertiges.  Gemeinsam  ist  der  epileptischen  Fugue  mit  dem  geschilderten 
Krankheitsbilde  der  unwiderstehliche,  impulsive  Character  der  Handlung  und  die 
totale  Amnesie.  Als  Unterscheidungsmerkmale  sind  hervorzuheben:  die  kürzere 
Daner  der  epileptischen  Fugue,  die  Beziehung  derselben  zu  anderen  epileptischen 
Symptomen,  welche  deren  Anfall  einleiten  oder  unterbrechen  (vereinzelte  Zuckungen, 
Zungenbiss,  Urinabgang,  sterboröser  Schlaf)  und  schliesslich  der  ungeordnete,  oft 
gewaltthätige  Character  der  Triebhandlungen,  kurz  die  ausgeprägtere  Dissociation 
der  geistigen  Vorgänge.     „Der  Epileptiker  handelt  wie  ein  Automat." 

2.  Der  Wandertrieb  der  Degenerirten  (Fugue  des  psychastheniques. 
J  an e  t).  Die  Handlung  entspricht  hier  einem  nicht  immer  ganz  unbewussten  Impuls; 
der  Kranke  folgt  einem  unbestimmten  inneren  Triebe,  ohne  zu  wissen  warum  und 
ohne  demselben  zu  widerstehen.     Es  besteht  keine  Amnesie. 

3.  Bei  Hysterischen  sind  zweifellos  somnambule  und  automatische  Zustände 
von  traumhaftem  Bewusstsein,  welche  den  Kranken  zu  einer  fluchtähnlichen  Hand- 
lung verleiten,  am  häutigsten.  Characterisch  für  die  hysterische  Fugue  ist  a)  der 
unwiderstehliche  Trieb  zur  Handlung,  die  Impulsion.  b)  die  Coordination  und 
Ueberlegung  bei  allem  Handelp,  welche  auf  einen  dauernden  Rapport  mit  der  Um- 
gebung hinweisen,  c)  das  Schwinden  der  Amnesie  im  künstlichen  Somnambulismus 
oder  im  somnambulen  Traum. 

Letztere  Merkmale  treffen  bei  dem  kranken  P.  alle  zu;  es  handelt  sich  also 
um  einen  hysterischen  Dämmerzustand.  Verf.  meint«  die  hysterische  Fugue  sei 
eine  su^gerirte  Handlung,  welche  sich  während  eines  hysterischen  Somnambulismus 
abspiele.  Der  triebartige  Character  der  Handlung  erkläre  sich  durch  die  Macht 
der  Suggestion,  die  Amnesie  durch  den  Somnambulismus.  Mit  anderen  Worten, 
die  hysterische  Fugue  (Dämmerzustand)  sei  nur  die  Manifestation  einer  fixen  Idee 
auf  hysterischer  Basis,  welche  zur  Abspaltung  einer  von  dem  übrigen  Bewusstseina- 
inhalte  isolirten  Vorstellungsrcihe,  zur  Bildung  eines  sog.  „zweiten  Bewusstseins^ 
(etat  second)  führt,  dessen  Inhalt  mit  den  Vorgängen  des  wachen  Zustandes  ausser 
aller  associativer    Verknüpfung  steht    und    daher   von   Amnesie    gefolgt    ist.      Der 


Zusaxnmenstelliiiig  der  Litevator  über  Hysterie.  ^243 

SomnambnlismQs   schwinde  mit  der  saggestiven  Idee  und  gleichzeitig  kehre  aiie& 
die  Erinnerung  an  das  Vorgefallene  wieder. 

Differentialdiagnostisch  hebt  Verf.  hervor,  dass  die  Entscheidung,  ob  es  sich 
um  einen  hysterischen  oder  epile{>tischen  oder  einen  psychasthenischen  Zustand 
handle,  auf  die  pathologische  Vergangenheit  des. Kranken,  auf  den  Oharacter  deir 
Fague  selbst,  sowie  auf  eventuelle  Nebenerscheinungen  derselben  zu  stützen  sei; 
Als  Hauptmerkmale  sind  zu  beachten: 

a)  der  Grad  der  Amnesie,  welche  die  hysterische  und  epileptische  Fugue  von 
den  psychasthenischen  Impulsionen.  Tnebhandlungeu  unterscheidet; 

b)  der  Grad  der  Coordination  und  der  Vemnnftigkeit  in  den  Handlungen, 
welche  die  Fugues  im  eigentlichen  Sinne,  als  hysterische  Erscheinungen,  von  den 
Abscencezuständen  und  dem  delire  procursif  der  Epileptiker  trennt. 

Die  Ueberlegung  und  Ordnung  im  Handeln,  die  Entwicklung  einer  „zweiten 
Persönlichkeit"  im  Sinne  eines  sich  über  längere  Zeit  erstreckenden  Doppel- 
bewusstseins,  sowie  endlich  die  Möglichkeit  der  Erzeugung  des  künstlichen  Somnam- 
bulismus mit  Wiedererweckung  der  verlorenen  Erinnerungen  bezeichnet  Verf.  als 
beweisend  für  Hysterie.  Dieser  Complex  von  Erscheinungen  ist  nur  bei  der 
typischen  Fugue  anzutreffen  und  daher  ist  dieselbe  auch  der  Hysterie  unterzuordnen. 
Ob  es  überhaupt  einen  epileptischen  Somnambulismus  giebt,  vermag  Verf.  nicht  zu 
entscheiden,  er  möchte  es  jedoch  auf  Grund  seiner  Erfahrung  bezweifeln. 

Therapeutisch  empfiehlt  Verf.  in  allen  derartigen  Fällen,  abgesehen  von  der 
gegen  die  constitutionelle  Schwäche  gerichteten  AUgemeinbehandlung  eine  specielle 
Psychotherapie,  und  zwar  die  Bekämpfung  der  triebartigen  Motive  (idee  fixe),  im 
besonderen  bei  den  Psychasthenikern  die  Wachsuggestion,  bei  Hysterischen  die 
psychoanalytische  Erforschung  der  krankhaften  Vorstellungen  in  der  Hypnose. 

Im  gerichtlich-medicinischen  Sinne  sind  alle  während  einer  Fugue  (Dämmer- 
zustand) begangenen  Handlungen  straffrei;  die  Kranken  sind  nicht  verantwortlich 
zu  machen  für  ihr  Thun  und  Lassen  und  bedürfen  der  Unterbringung  in  einem  Asyl 

Br  od  mann -Jena. 

100.  V.  Krafft-Ehing,  Ueber  Dämmer-  und  Traumzustände.  Arbeiten 
aus  dem  Gesammtgebiet  der  Psychiatrie  und  Neuropathologie.  III.  Heft.  1898, 
pag.  22—95. 

Die  Dämmer-  und  Traumzustände  werden  vom  Verf.  definirt  als  Reactions- 
erscheinungen  des  Bewusstseinsorgans  auf  unbekannte  Veränderungen  desselben, 
die  bei  verschiedenen  functionellen  und  organischen  Erkrankungen  des  Central- 
nervensystems  episodisch  vorkommen  können.  Phänomenologisch  sind  sie  den  noch 
physiologischen  Zuständen  des  Halbschlafes  und  des  Traumes  zur  Seite  zu  stellen, 
68  sind  Zustände  von  traumhafter  Bewusstseinstrübung. 

Früher  waren  derartige  Zustände  nur  sicher  bekannt  in  klinischem  Zusammen- 
hang mit  der  Epilepsie  und  sie  wurden  als  „epileptoide^  bezeichnet.  Verf  selbst 
hat  in  zwei  getrennten  hier  zum  Wiederabdruck  gelangten  Aufsätzen  aus  den 
Jahren  1875  und  1877  eine  Keihe  interessanter  Beobachtungen  über  epileptisches 
Irresein  mit  Dämmerzuständen  veröffentlicht.  In  einem  dritten  Aufsatze  aus  dem  Jahre 
1S98  geht  er  auf  Grund  seiner  reicheren  Erfahrung  weiter  und  beweist,  dass  solche 
Zustände  nicht  nur  bei  Epilepsie,  sondern  auch  im  Rahmen  der  Neurasthenie,  dei* 
Hysterie,,  des  Alkoholismus,  der  progressiven  Paralyse  und  der  Lues  cerebraiis  vor- 

16* 


j^  ZaBammenateliiing  der  Literatur  über  Hysterie. 

kommexL  Ohne  die  Schwierigkeiten  der  Aufgabe  zu  verkennen,  unternimmt  er  den 
Versuch,  klinisch  differenzirende  Merkmale  der  auf  der  Grundlage  der  Terschiedenen 
Orundkrankheiten  sich  entwickelnden,  als  Dämmerzustande  zu  bezeichnenden,  Be- 
wusstseinsstörungen  aufzudecken  und  dadurch  eine  differentielle  Diagnose  der  ätio» 
logischen  Formen  zu  ermöglichen.  £r  weist  von  Tornherein  darauf  hin,  dass  positive 
Stigmata  einer  bestimmten  Neurose  nur  mit  Vorsicht  zu  verwerthen  sind,  „da  sie 
das  gleichzeitige  Bestehen  einer  anderen  Neurose  und  deren  ausschlaggebende  Be- 
deutung für  das  concrete  Zustandsbild  nicht  ausschliessen.**  Bei  der  Hysterie 
komme  die  weitere  Schwierigkeit  dazu,  dass  sich  Dämmere  und  Traumsostände 
jnonosymptomatisch  und  dauernd  als  psychische  Aequivalente  von  Hysteria  gravis- 
Anfällen  ausbilden  können,  während  bei  Dämmerzuständen  aus  Alkoholintoxicationen 
an  die  Complication  mit  Alkoholepilepsie  gedacht  werden  miiss& 

Entscheidender  für  die  Diagnostik  ist  der  Nachweis  einer  bestimmten  aus- 
lösenden Ursache  und  zwar  sprechen  palpable  occasionelie  Momente  von  cerebral 
•erschöpfender  Wirkung  (InanitioUi  Surmenage,  Agrypnie)  fiir  einen  neurasthenischen, 
psychische  Noxen  (Affect)  für  einen  hysterischen,  und  organisch  wirkende  Noxen, 
(Alkohol,  innere  Stoffwechsel- Vorgänge)  mehr  für  einen  epileptischen  Dämmerznstand. 
Das  Schwergewicht  der  Diagnose  muss  vorläufig  auf  das  Gesammtkrankheitsbüd,  auf 
Entstehung,  Verlauf  des  Anfalls  und  die  Begleiterscheinungen  der  betr.  Neurose 
gelegt  werden. 

Die  epileptische  Natur  eines  Dämmer-  oder  Traumzustandes  lässt  sich, 
nach  Verf.,  erschliessen  aus  dem  Zusammenhalt  mit  der  Ananmese  und  eventuellen 
intervallären  Erscheinungen.  Die  Dämmerzustände  selbst  sind  ausgezeichnet  „durch 
ganz  planlose  unmotivirte,  bewusstlose  Handlungen  und  in  einigen  Fällen  durch 
regelmässig  wiederkehrende,  expansive,  zu  Zeiten  überwältigende  krankhafte  Vor- 
stellungen. In  den  Zuständen  von  Delirium  nähern  sich  die  Kranken  ekstatischen 
und  somnambulen  Krankheitsbildern.  Ihr  Bewusstsein  ist  tief  gestört,  gestattet 
jedoch  ein  scheinbar  bewusstes  Bandeln  und  Sprechen." 

Verf.  publicirt  10  Beobachtungen,  bei  denen  sich  als  Aequivalente  der  psy- 
chischen Symptomcomplexe  des  petit  mal  und  grand  mal  zwei  Formen  tiefer 
Störungen  des  Bewusstscins  von  stunden-  bis  wochenlanger  Dauer  finden:  theils 
protrabirto  Analoga  der  epileptischen  Bewusstseinspauscn  (absences)  und  der  inter- 
paroxysmellen  Dämmerzustände .  theils  Zustände  vom  Character  des  Deliriums. 
Ausser  diesen  psychischen  Störungen  zeigen  uns  einzelne  Fälle  gemeine  epileptisch 
convulsive  Anfälle,  andere  lassen  Zeichen  einer  dauernden  Störung  im  Central- 
nervensystem  erkennen,  wie  Kopfweh.  Reizbarkeit,  ängstliche  Träume  oder  auch 
intervalläre  motorische  Symptome  und  zwar  Neigung  zu  partiellen  tonischen 
Krämpfen.  Zittern,  Nystagmus  etc.  Eine  neuropathische  Constitution  verräth  sich 
manchmal  schon  durch  Kindcrconvulsionen.  Der  Ausbruch  der  Neurose  erfolgt  ge- 
wöhnlich in  der  Pubertät. 

Auf  die  Schilderung  der  Fälle  im  Einzelnen  kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 

Die  neurasthenischen  Dämmerzustände  kommen  hinsichtlich  ihr^ 
Häufigkeit  an  zweiter  Stelle.  Verf.  theilt  zwei  einschlägige  Beobachtungen  mit 
Im  3Littülpunkte  des  Krankheitsbildes  stehen  hier  jeweils  allgemeine  nervöse  Be- 
schwerden, krankhafte  Reizbarkeit,  Schwindel,  Schlaflosigkeit,  schwere  Träume  etc. 
Die  Krinnerung  an  die  Vorgänge  während  der  Bewusstseinsstörung  ist  eine  lücken- 
hafte und  summarische.     Die  Dauer  erstreckt  sich  nur  über  wenige  Tage. 


Zusammenstellungf  der  Literatur  über  Hysterie»  24^ 

Verf.  rechnet  im ter  diese  Rubrik  auch  den  von  Raymond  als  ^transitorische 
Hysterie  und  d^donblement  de  la  personnalit^^  beschriebenen  Fall.  ^)  £r  bezeichnet 
denselben  als  einen  Dämmerzustand  von  typisch  neorasthenischem  Gepräge. 

Dämmer-  und  Traumzustände  bei  Hysteri&chen  hat  Verf.  in  fünf 
Fällen  beobachtet.    Die  Fälle  sind,  kurz  skizzirt,  folgende: 

1.  14 jähr.  Dienstmädchen,  früher  gesund,  zeigt  jeweils  im  Anschluss  an  Ge- 
müthsbewegungen  3  mal  einen  psychischen  Ausnahmezustand  von  4 — 5  Tagen.  Sie 
ist  traumhaft  verändert,  läuft  planlos  umher,  äussert  einseitigen  Ideenkreis  mit 
Vergiftungsideen  und  Selbstmordtendenz.  Die  Apperception  der  Aussenwelt  fehlte 
Plötzliches  Erwachen  wie  aus  einem  Traum.  Amnesie.  Keine  Stigmata  hysteriae 
während  der  Anfälle,  später  links  Ovarie.  Schwere  hysterische  Attaquen  von  epilep« 
toidem  Character. 

2.  ISjähr.  Spiti^l Wärterin,  früher  schwere  Hysterie,  pathologische  Lügnerin, 
beschuldigt  sich  plötzlich,  ihren  Vater  mit  Chloroform  getödtet  zu  haben,  sie  ist 
traumhaft  verloren,  desorientirt,  ganz  auf  delirante  Vorstellungen  concentnrt; 
somatisch  besteht  Analgesia  totalis  und  Clavus.  Rasch  lucid,  4tägiger  Erinnerungs- 
defect.     Anlass:  Liebesaffaire. 

3.  22  jähriger,  erblich  belasteter,  nervöser  Techniker,  erkrankt  infolge  eine^ 
Q^müthsbewegung  an  einem  tobsuchtsartigen  Delirium,  zeig^  tief  getrübtes  Be- 
wusstsein,  Hemmung,  Desorientirtheit.  Erwachen  plötzlich  mit  Amnesie.  Während 
des  Delirs  keine  Stigmata,  nachher  Hypästhesie,  Hypalgesie  und  concentrische 
Gesichtsfeldeinengnng,  sowie  .Hysteria  gravis-Anfälle. 

4.  16jährige  Tabakverkäuferin,  gesund,  nicht  belastet.  Nach  psychischem 
Schok  traumhafter  Bewusstseinszustand  mit  wahnhaften  Ideen  12  Tage  lang.  Thnm 
Correctur  des  Wahns,  aber  dämmerhafter  Zustand  bleibt  2  Wochen.  Nachher  nur 
ganz  summarische  Erinnerung.  Nie  Stigmata  hysteriae.  Später  Entwicklung  einer 
selbstständigen  Melancholie. 

(  ö.  26jährige  Krankenwärterin,  schwer  belastet,  emotive  Natur,  Weinkrämpfe, 
pathologischer  Affect  mit  Suicidtendenz.  Ohne  nachweisbare  Ursache.  Anfall 
von  transitorischer  Geistesstörung  mit  traumhafter  Verfassung,  Selbstanklagewahn, 
delirantem  Ideenkreis,  theatralisch  affectvollem  Gebahren.  Scharf  umgrenzte 
Erinnerungslücke.    Dauer  9  Tage. 

Bei  den  vorerwähnten  Fällen  findet  sich  als  ätiologisches  Moment  durchwegs 
ein  psychisches  Trauma.  Als  begünstigenden  umstand  für  die  Entstehung  von 
Dämmer-  und  Traumzuständen  bei  Hysterischen  bezeichnet  Verf.  auch  die  Leichtig- 
keit, mit  welcher  solche  Kranke  in  Autohypnose  gelangen.  Die  Autohypnose  kann 
sich  spontan  einstellen  unter  dem  Einfluss  bestimmter  Sinnesreize  oder  Vor» 
Stellungen  namentlich  im  Affect,  oder  sie  ist  das  Product  einer  posthypnotischen 
Suggestion. 

Diagnostisch  ist  darauf  zu  achten: 

1.  dass  ein  Dämmer-  oder  Traumzustand  Aequivalent  eines  Hysteria  gravis» 
Anfalles  sein  kann  und  sich  dann  durch  Reizung  einer  hysterogenen  resp.  spas- 
mogenen  Zone  plötzlich  coupiren  lässt; 

2.  „dass  man  auf  hypnotischem  Wege  bei  den  betreffenden  Individuen  den- 
selben   Ausnahmezustand    und    damit    das   Gedächtniss    für    das    in   Autohypnose 


^)  Raymond,  Clinique  des  mal.  du  syst.  nerv.    Ref.  pag.  240 ff. 


34$:  ZüMttnmeiwtollaiig  der  Literatur  ftber  Mjtfceria. 

Erlebte  herrorrufen  kann.  Ein  solches  Experiment  beweist  sicher  die  aatohypno- 
tische  und  damit  hysterische  Natur  eines  Dämmer-  und  Tranministandes.'' 

Alkoholische  Traumzostände  lassen  sich,  nach  Ansicht  des  Verfassen, 
noch  nicht  mit  Sicherheit  von  hysterischen  und  epileptischen  AeqoiTalenten  (rer- 
mittelt  durch  Alkoholepilepsie)  abtrennen. 

Es  handelt  sich  dabei  ebenfalls  um  eine  Art  Traumwachen,  eine  Art  Somnam- 
bulismus, „in  welchem  die  Betreffenden  anscheinend  ganz  bei  sich  sind,  oompücirte 
Handlungen  vollziehen,  aber,  aus  diesem  Zustand  zu  sich  gekommen,  von  allem 
Yorgefallenen  nicht  das  Mindeste  wissen**.    Verbrecherische  Handlungen  sind  häufig. 

Verf.  berichtet  über  2  Fälle  aus  seiner  eigenen  Er&hrung.  Die  Diagnose 
lässt  sich  nur  per  exdnsionem  stellen.  Brodmann- Jena. 

101.  GaiMfr,  lieber  einen  eigenartigen  hystejrischen  Dämmer- 
zustand. Vortrag,  gehalten  in  der  VersamtnTung  der  mitteldeutschen  Psychiater 
und  Neurologen  zu  Halle  1897.  —  Arch.  f.  Psychiatr.  XXX,  S.  633,  1898. 

.  Verf.  berichtet  über  4  Fälle  eines  ihm  bisher  unbekannt  gebliebenen  psychi« 
sehen  Symptomcomplexes,  welche  eine  Anzahl  gemeinsamer  Zuge,  aufweisen  und 
daher,  nach  seiner  Ansicht,  als  eine  einheitliche  Gruppe  aufzufassen  sein  dürften. 

Seine  Beobachtungen  betreffen  4  criminelle  Individuen,  welche  aus  der 
Untersuchungshaft  in  die  Anstalt  überfuhrt  worden  waren  und  sdion  durch  diesen 
Umstand,  abgesehen  von  der  Absonderlichkeit  ihres  psychischen  Verhaltens,  txh 
nächst  den  Verdacht  der  Simulation  erwecken  mussten.  Bezüglich  der  persönlichen 
Anteeedentien  sei  vorausgeschickt,  dass  bei  sämmtlichen  Fällen  die  psydhische 
Wirkung  einer  längeren  üntersuciiungshaft  vorausging;  ein  Fall  hatte  viele  wirtk- 
schaftliche  Sorgen  durchgemacht  und  war  dadurch  zum  Verbrecher  geworden,  zwei 
andere  hatten  schwere  Kopfverletzungen  mit  ßewusstlosigkeit  erlitten. 

Klinisch  boten  die  Kranken  in  ihrem  äusseren  Verhalten  sämmtlich  ein 
Krankheitsbild  dar,  das  dem  der  acut  hallucinatorisch  Verwirrten  am  meisten 
ähnlich  ist.  Abweichend  davon  war  ihre  eigenartige  Reactionsweise  auf  Anreden 
und  ihre  sprachliche  Ausdrucks  weise,  welche  die  gröbsten  Widersprüche  bei  schein» 
bar  geordneter  Perception  und  vorhandenem  Spraohverständniss  zu  Tage  förderte. 
Verf.  schreibt:  „Die  auffälligste  Erscheinung,  welche  sie  darboten,  bestand  darin, 
dass  sie  Fragen  allereinfachster  Art,  die  ihnen  vorgelegt  wurden,  nicht  richtig  zu 
beantworten  vermochten,  obwohl  sie  durch  die  Art  ihrer  Antworten  kundgaben, 
dass  sie  den  Sinn  der  Fragen  ziemlich  erfasst  hatten."  Die  Kranken  wusstea 
weder  ihre  Namen  noch  ihr  Alter  anzugeben,  über  Ort  und  Zeit  waren  sie  voll- 
kommen unorientirt,  verkannten  die  Umgebung,  konnten  nicht  zählen  und  nicht 
rechnen,  Fragen  wurden  vielfach  überhört  oder  nur  langsam  und  wie  mit  grosser 
Zerstreutheit  beantwortet ,  aufgenommene  Eindrücke  sofort  wieder  vergessen. 
Ueber  das  Vorleben,  die  Familie,  früher  erworbene  Kenntnisse  wurden  durchaus 
falsche,  widersinnige  Angaben  gemacht. 

Somatisch  bestanden  in  allen  Fällen  hysterische  Stigmata  und  zwar  hyperal- 
getisohe  und  analgetische  Erscheinungen. 

Dieses  Zustandsbild  dauerte  wenige  Tage,  dann  trat  plötzliche  Klärung  des 
Bewusstscins  ein  unter  gleichzeitigem  Verschwinden  der  Sensibilitätsstörungen. 
Das  Verhalten  war  ein  völlig  geordnetes  und  ud auffälliges,  nur  dass  eine  totale 
Erinnerungslücke    für    die    ganze    Krankheitsepisode    zurückblieb,     während    die 


Zasammenstellimgf  der  Läteratur  aber  Hysterie.  S|4? 

Erinnerung  für  die  irähere  normale  Zeit  unverändert  zurfickkeiirte.  — Bei  mehreren 
Kranken  traten  Recidive  auf  mit  analogem  psychischem  Verhalten.  '■  ^ 

Verf.  bezeichnet  den  wechsehiden  Bewusstseinszustand  mit  Erinnerungsdefecten 
als  characteristisch  für  die  acute  hysterische  Geistesstörung.  Dis  Znsammentreffen  mit 
somatischen  Erscheinungen  der  Hysterie  kennzeichne  den  Gesammtzustand  geradd^ 
zu  als  hysterischen  Dämmerzustand.  Brodmann -Jena.  • 

102.  BinswangeTf  lieber  einen  eigenartigen  hysterischen  Dämmer» 
zustand  (Ganser).  Casuistische  Mittheilung.  —  Monatsschr.  f.  Psychatr.  u.  Neu- 
rol.  1898,  in.  Bd.,  pag.  175. 

Anknüpfend  an  vorstehende  Veröffentlichung  Gans  er 's  berichtet  Verf.  über 
eine  ganz  analoge  Beobachtung  aus  der  psychiatrischen  Klinik  zu  Jena.  Auch  er 
bezeichnet  die  eigenartige  paroxystisch  auftretende  psychische  Störung  als  eine 
hysterische  und  rechnet  sie  den  Dämmerzuständen  zu.  ' 

Fall:  24 jähriger  Bautechniker,  erblich  nicht  belastet,  ohne  jegliche  krank- 
hafte Antecedentien,  als  fleissiger,  nüchterner,  ernster  Mann  bekannt,  macht  nach 
einem  mehrtägigen  leichten  Unwohlsein  mit  Kopfschmerzen,  Nahrungsverweigerung 
und  allgemeinem  Krankheitsgefühl  einen  ganz  unmotivirten  Suioidversuch  durch 
Strangulation. 

Er  wird  im  Bette  liegend  mit  einer  Schnur  um  den  Hals  aufgefunden  und 
befindet  sich  in  einer  Art  stuporösen  Zustandes  mit  allgemeiner  motorischer 
Hemmung;  er  reagirt  kaum  auf  Anroden,  ist  nur  für  Augenblicke  zu  fixiren,  ver- 
mag seinen  Namen,  Geburtsjahr  etc.  nicht  anzugeben,  ist  örtlich  und  zeitlich  völlig 
unorientirt,  kennt  die  einfachsten  Begriffe  nicht,  antwortet  auf  elementare  Fragen 
langsam  und  abgerissen  das  unsinnigste  und  widerspruchsvollste  Zeug. 

Somatisch  ist  bei  der  Aufnahme  ausser  einer  Aufhebung  des  Gaumenreflexes 
nichts  Besonderes  nachweisbar,  erst  nach  3  Tagen  zeigt  sich  Hypalgesie  am  ganzen 
Körper  und  Analgesie  an  den  Extremitäten. 

Der  Verlauf  zeigt  leichte  Schwankungen  in  dem  Bewusstseinszustande ;  bald 
etwas  freier,  sprachlich  weniger  gehemmt,  giebt  seinen  Namen  und  Aufenthaltsort 
richtig  an,  dann  wieder  völlig  unorientirt,  ganz  im  Unklaren  über  sich  und  die 
einfachsten  Dinge,  ohne  jede  Erinnerung  an  seine  Vergangenheit. 

Am  sechsten  Tage  plötzliche  völlige  Klärung  des  Bewusstseins  mit  absoluter 
Amnesie  für  die  Zeit  seiner  Erkrankung.  Die  Erinnerung  schneidet  scharf  mit 
dem  Abend  jenes  Tages  ab,  an  dem  er  seinen  Strangulationsversuch  gemacht  haben 
muss.  Patient  weiss  aber  gar  nichts  davon,  er  kann  auch  keinen  Grund  dafür  an- 
geben. Alle  Versuche,  durch  Suggestivfragen  Erinnerungsbilder  für  das  Vorge- 
fallene zu  wecken,  sind  erfolglos.  Fat.  weiss  nur,  dass  er  die  Tage  vorher  in  Folge 
seines  Unwohlseins  auf  dem  Zimmer  zubrachte  und  meist  zu  Bett  lag.  Von  der 
Strangulation  weiss  er  nichts.  Für  die  frühere  Zeit  dagegen  besteht  ganz  intactes 
Erinnerungsvermögen. 

Verf.  erörtert  noch  die  Frage,  ob  der  Dämmerzustand  vielleicht  durch  den 
Snicidversuch  ausgelöst  sein  könnte;  er  verneint  dieselbe  jedoch  und  somit  bleibt 
der  Fall  ätiologisch  insofern  unaufgeklärt,  als  sich  überhaupt  nicht  die  geringsten 
Anhaltspunkte  für  den  Ausbruch  der  hysterischen  Psychose  nachweisen  Hessen. 

Brodmann -Jena. 


248  ZusammenBtellung  der  Literatur  über  Hyaterie. 

103.  Bohn,  Ein  Fall  von  doppelten  Bewusstsein.  Inaog. -Diaa. 
Breslau  1898.    54  Seiten. 

Aus  den  umfangreichen  theoretischen  Auseinandersetzungen,  welche  Verf.  dem 
easuistischen  Beitrag  vorausschickt,  ist  Positives  nicht  zu  entnehmen.  £r  glaubt 
die  pathologische  Zweiheit  des  Seelenlebens  in  einem  Individuum  in  3  Grund- 
Symptome : 

1.  die  doppelte  psychische  Leistung  (Doppelvorstellung,  Doppel  Wahrnehmung 
und  Doppelthätigkeit), 

2.  die  Spaltung  der  Persönlichkeit  in  2  verschiedene  neben  einander  in 
Action  tretende  psychische  Einheiten, 

3.  den  Wechsel  der  Persönlichkeit,  die  sowohl  als  einmalige  Unterbrechung 
der  Persönlichkeit,  wie  als  sog.  altemirendes  Bewnsstsein  zu  Tage  tritt.  Ob  VerL 
mit  dieser  schematisirenden  Sonderung  der  Wissenschaft  einen  besonderen  Dienst 
geleistet  hat,  bleibt  doch  füglich  zweifelhaft.  Neues  ist,  wie  gesagt,  in  seinen 
Ausfuhrungen  ebenso  wenig  enthalten. 

Der  Fall  ist,  kurz  skizzirt,  der  folgende: 

22  jähriges  Fräulein,  von  jeher  chlorotisch,  nervös,  an  Migräne  leidend,  hat 
seit  dem  Tode  ihres  an  Paralyse  verstorbenen  Vaters,  den  sie  bis  in  die  letzten 
Krankheitsstadien  pflegte,  hypnagoge  Visionen  und  Akoasmen,  die  sich  im  Laufe 
der  Zeit  zu  Wachhallocinationen  und  zu  deliriösen  Zuständen  steigern. 

Es  besteht  dauernd  depressive,  melancholische  Stimmung  und  Neigung  zum 
Alleinsein;  dieses  führt  zu  pathologischer  Träumerei,  zum  selbstständigen  Auf- 
treten gewisser  Vorstellungsrcihen  und  Erinnerungen  und  schliesslich  zur  Unter- 
brechung der  Persönlichkeit  mit  Sejunction  umschriebener  Vorstellung^reihen. 

Einmal  simulirt  Pat.  eine  sehr  complicirte  Liebesgeschichte  mit  einem  in  der 
Feme  weilenden  Bräutigam  und  führt  eine  umfangreiche  fingirte  Correspondenz ; 
sie  corrigirt  schlicsslicb  diese  Gedankengänge,  in  denen  sie  ganz  aufgegangen  war; 
ein  anderes  Mal  veranstaltet  sie  Collecten  unter  erdichtetem  Auftrag  und  wird 
wegen  Schwindelei  verhaftet,  später  ins  Krankenhaus  eingeliefert.  Sie  hat  hier 
schwere  hysterische  Anfälle  und  hysterische  Delirien,  lebhafte  Hallucinationen  im 
Gebiete  der  Gesichts-,  Gehörs-  und  Berührungsempfindung,  keine  Krankheitseinsicht 
Heilung  nach  Wochen.    Hocligradige  Gedächtnissdefecte. 

Den  Schluss  der  Arbeit  bilden  einige  aus  der  Luft  gegriffene,  schwächliche 
Ausfälle  gegen  die  Hypnose  und  deren  ärztliche  Anwendung. 

Brod  mann -Jena. 

104.  P.  Janet,  Hysterische,  systematisirte  Contractur  bei  einer 
Ekstatischen.  —  Münchener  med.  Wochenschr.     1897.     pag.  856. 

42  Jahre  alte  Patientin,  neuropathische  Mutter,  litt  in  der  Kindheit  an 
nervösem  Husten,  seit  ihrem  7.  Jahre  an  hysterischem  Erbrechen.  Vor  8  Jahren 
(am  Weilinachtsfeste)  erkrankt  sie  mit  heftigen  nächtlichen  Schmerzen  in  den 
unteren  Extremitäten;  allmählich  entwickelt  sich,  nach  oben  bis  zum  Becken  fort- 
schreitend, eine  starre  Extensionscontractur  beider  Beine,  dabei  kann  Patientin  mit 
Sicherheit  stehen,  gehen  und  sogar  Treppen  steigen,  sie  hebt  sich  dabei  aber  nur 
auf  den  Fussspitzen,  Sohlen  und  Absatz  sind  vollständig  vom  Boden  abgehoben. 
Objectiver  Befund  negativ. 

Leber   die    Entstehung   dieser  systematisirten   Contractur  wird   bekannt,   dass 


ZaaammenstellQiig  der  Literatur  über  Hysterie.  249 

Patientin  von  Jugend  auf  exaltirte  religiöse  Gefühle  hat,  zuweilen  in  eine  Art 
ekstatischen  Dämmerzustandes  verfällt,  in  Anbetung  vor  Gott  versinkt  und  sich  und 
die  Umgebung  dabei  vergisst.  In  solchen  Ekstasen  fühlt  sie  sich  zum  Himmel  empor- 
getragen, ihr  Körper  wird  aufgehoben,  sie  berührt  nur  noch  mit  den  Füssen  den 
Boden  und  sie  glaubt  in  die  Luft  zu  entschweben.  Nach  einer  mit  ähnlichen  reli- 
giösen Verzückimgen  verbundenen  Andachtsübung  am  AVeihnachtsabend  waren  die 
ersten  Erscheinungen  der  Contractur  aufgetreten. 

Es  handelt  sich  demnach  um  einen  durch  religiöse  Ekstase  hervorgerufenen 
monoideistischen  Somnambulismus,  als  eine  Art  des  hysterischen  Anfalls,  während 
dessen  eine  vorherrschende  Vorstellung  ohne  Wechsel  im  Vordergrunde  des  Be- 
wusstseins  verharrt.  Diese  Vorstellung  fuhrt  zu  der  entsprechenden  motorischen 
Reaction,  welche  sich  zu  einer  Dauer  contractur,  einer  psychogenen  (hysterischen) 
systematisirten  Contractur,  fixirt  hat.  Brodmann- Jena. 

106.  V.  Krafft-Ebingj  Ueber  Ecmnesie.  Arbeiten  aus  dem  Gesammtgebiete 
der  Psychiatrie  und  Neuropathologie.    lU.  Heft   pag.  193. 

Unter  Ecmnesie  versteht '  man  seit  der  ersten  Publication  von  Blanc- 
Fontenille  (1887)  einen  transitorischen  psychischen  Ausnahmezustand  bei  Hyste- 
rischen in  Form  einer  periodischen  Amnesie,  welcher  darin  besteht,  dass  der  Kranke 
in  einen  früheren  Lebensabschnitt  zurückversetzt  erscheint,  denselben  nochmals 
mit  augenscheinlicher  Treue  durchlebt  und  dann  für  die  Zeit  von  der  durch- 
träumten Episode  bis  zur  Gegenwart  temporär  amnestisch  ist. 

Die  Dauer  eines  solchen  Zustandes  dürfte  nicht  über  Stunden  oder  Tage  be- 
tragen; wenn  ganz  protrahirte  Anfälle  auftreten,  entstehen,  nach  Ansicht  des  Ver- 
fassers, „Uebergänge  zur  ,double  vie',  insofern  die  Bewusstseinskreise  zweier  Be- 
wusstseinszustände  niemals  sich  schneiden  und  jeder  derselben  sein  eigenes  Gedächt- 
niss  und  seinen  eigenen  Inhalt  hat.**  Damit  begreife  sich  die  Amnesie  für  die  Aus- 
nahmezustände. 

Spontan  erscheine  die  Ecmnesie  im  Zusammenhang  mit  Hysteria  gravis- 
Insulten,  sowie  äquivalenten  hypnoiden,  autohypnotischen  oder  auch  provocirten 
hypnotischen  u.  dgl.  Zuständen.  Experimentell  lasse  sie  sich  durch  hypnotische 
Suggestionen  oder  auch  durch  Reizung  bestimmter  Stellen  der  Körperoberfläche 
hervorrufen. 

Die  mitgetheilten  Beobachtungen  sind  folgende: 

1.  Fall  (Blanc -Fönte  nille).*)  32  Jahre  altes  Dienstmädchen,  viel  kränklich, 
nervös,  hat  nach  heftiger  Gemüthsbewegung  mit  25  Jahren  den  ersten  hysterischen 
Krampfanfall.  Fortdauer  der  Anfälle,  später  seltener,  statt  dessen  Schlafattaquen. 
Im  Anschluss  an  die  Anfälle  Delirien,  welche  die  Ereignisse  der  Gemüthsbewegung 
zum  Inhalt  haben  und  mit  absoluter  Erinnerungslosigkeit  für  alle  Erlebnisse  seit 
diesem  Zeitpunkt  verbunden  sind.  „Sobald  man  den  deliranten  Zustand  durch 
Compression  des  linken  Ovariums  beseitigte,  war  die  Kranke  wieder  richtig  orien- 
tirt  und  die  Continuität  ihrer  Erinnerung  hergestellt."  Auch  nach  Schlafattaquen 
wurden  ganz  analoge  Zustände  von  delire  ecmnesique,  aber  mit  wandelbarem  Inhalt 
und  verschiedene  Lebensepochen  repräsentirend,  beobachtet. 


*)  Etüde  sur  une  forme  particuli^re  de  delire  hysterique  (Delire  avec  Ecmnesie). 
Bordeaux  1887,  pag.  60. 


260  ZosammaöftellaDg  der  Literatur  über  Hysterie. 

Als  besonders  merkwürdig  hebt  Verf.  hervor  „die  Treue  der  Reprodaction 
der  Terschiedenen  Lebensabschnitte,  die  die  grosste  schaospielerische  Leistung  über- 
treffende Natürlichkeit  der  Darstellung  .  .  .  die  innere  Uebereinstimmung  ond  den 
Mangel  jeglichen  Widerspruchs  in  den  Situationen  gegenüber  den  Terfanf^HchBten 
Kreuz-  und  Querfragen  seitens  der  Aerzte^.  „Dies  erstreckte  sich  soweit,  dass  Pat 
hemianästhetisch  nur  in  Episoden  ihres  Lebens  war,  wo  dieses  Symptom  schon  be- 
standen hatte,  sonst  nicht,  und  dass  auch  spasmo-  und  hypnogene  Zonen  nur  dann 
zu  finden  waren,  wenn  solche  in  dem  Leben^ibschnitt  der  eben  durchtraumt 
wurde,  bereits  ausgebildet  waren. 

Verf.  hält  diese  Reproductionstreue  in  der  Reactivirung  vergangener  Leben»- 
abschnitte  für  ganz  aussergewöhnliche  Gedächtnissleistungen  und  glaubt  sie  nur  er- 
klären zu  können  durch  die  Thatsache,  „dass  das  in  frühere  Lebenszeiten 
spontan  oder  künstlich  zurückversetzte  Individuum  in  einem  Aus- 
nahmezustand III  sich  befindet,  in  welchem  eine  Modification 
seines  Bewusstseins  eingetreten  ist,  ein  Unterbewusstsein,  in 
welchem  Gedächtnissbilder,  die  dem  Oberbewusstsein  nie  mehr 
erreichbar  sind,  eventuell  leicht  zugänglich  und  reprodacirbar 
werden.*'  Wunderbar  bleibe  dabei  nur,  dass  eventuell  eine  Auto-  oder  Fremd- 
suggestion, oder  auch  nur  eine  Associationsspur,  die  bei  spontan  oder  künstlich  ge- 
schaffenem UI.  Zustand  ins  Unterbewusstsein  hinabreicht ,  ganze  Reihen  von  Er- 
innerungen zu  wecken  vermöge. 

2.  Fall.  17  jähriges  Dienstmädchen,  aus  schwer  neuropathischer  Familie,  mit 
12  Jahren  schwere  Verbrennung  durch  Petroleumexplosion,  2  Tage  nachher  erster 
hysterischer  Anfall;  seit  Erkrankung  ihrer  Grossmntter  (Gemüthserschüttemng) 
gehäufte  Hysteria  gravis-Anfälle ,  meist  Lethargus  mit  einzelnen  Convulsionen, 
seltener  epileptoide  Phase  und  grand  mouvements.  Postparoxysmales  Delirium  von 
mehreren  Stunden,  das  sich  um  ein  Erlebniss  in  ihrem  10.  Jahre  dreht  und  Amnesie 
hinterlässt. 

Hypnose  gelingt;  nachher  psychischer  Ausnahmezustand  mit  scheinbarer 
Lucidität  und  freiem  Associivtionsspiel  innerhalb  desselben.  Pat.  ist  in  das  10. 
Lebensjahr  zurückversetzt,  benimmt  sich  ganz  entsprechend  ihrer  angenommenen 
Rolle,  reproducirt  mit  allen  Einzelheiten  den  betr.  Lebensabschnitt;  die  Sprache. 
Schrift,  Geberden,  Kenotnisse,  Personen  etc.  werden  demselben  durchaus  angepasst. 

„Die  Erinnerung  und  Association  war  in  der  ihr  erschlossenen  Lebensphase 
und  weiter  rückwärts  prompt  und,  wie  es  scheint,  gesteigert.  Für  alles  Reale  be- 
stand in  diesem  Zustand  aufgehobene  Apperception ,  oder  es  wurde  illusorisch  in 
die  wahnhafte  Situation  einbezogen  .  .  .^  „Vollständig  aus  dem  Bewusstsein  aus- 
geschaltet waren  alle  Vorgänge  des  Lebens  seit  dem  10.  Jahre." 

Nach  etwa  1  Stunde  schläft  Pat.  ein  und  erwacht  dann  mit  completer  Amnesie 
zum  normalen  Bewusstsein.  Verf.  theilt  mit,  dass  einerseits  durch  hypnotische 
Suggestion  dieser  psychische  Ausnahmezustand  künstlich  erregt  werden  konnte  und 
dass  es  andererseits  möglich  war,  denselben  durch  Streichungen  der  Stirn  in 
Hypnose  und  von  da  in  den  Wachzustand  überzuführen. 

Beseitigung  der  Anfälle  gelang  für  längere  Zeit  durch  Hypnose. 

8.  Fall.  19 jähriger  Commis,  wird  auf  den  Strassen  herumdämmernd  auf- 
gegriffen, ist  verstört,  traurig,  macht  Selbstanklagen,  kurz  befindet  eich  in  einem 
deliranten  Dämmerzustand,   der  sich   nach  6  Tagen   plötzlich  löst  unter  Amnesie. 


Zvsamnienstellang  der  Literatur  über  Hysteriei.  851 

£b  stellt  sich  heraus ,  dass  er  in  letzter  Zeit  viel  Aerger  und  .Ueberanstrengung 
gehabt  und  seines  Dienstes  entlassen  worden  war. 

Zweimalige  Wiederkehr  eines  ähnlichen  Zustandes  mit  traumhaft  deliriöser 
unrichtiger  R^roduction  eines  thatsachHchen  Erlebnisses.  Die  Vita  ante  acta  wird 
rückwärts  gut  erinnert,  während  für  die  folgenden  Ereignisse  jegliche  Erinnerung 
fehlt.  Fat.  benimmt  sich  dabei  ganz  anders  wie  in  luciden'Z^ten,  ist  gereizt,  barsch, 
klagt  über  Kopfweh,  wacht  mit  dunkeln  Erinnerungssparen  an  die  Anf&lle  auf.  — 
Ausserdem  werden  convulsive  Hysterieanfälle  beobachtet. 

Auf  die  interessanten  Ausführungen  des  Verf.  über  die  Beziehungen  dieser 
Zustände  zu  den  hypnotischen  Bewusstseinsveränderangen  einzugehen,  würde  hier 
zu  weit  fähren.  Verf.  sucht  die  Ecmnesie  dadurch  zu  erklären,  «dass  in  dem 
psychischen  Ausnahmezustand,  in  welchem  sie  beobachtet  wird,  die  associative 
Thätigkeit  aus  der  in*  die  Helligkeit  des  Traumbewusstseins  eingestellten  LebenS'' 
episode  schrankenlos  retrograd  möglich  ist,  während  Associationen  in  die  jenseits 
liegende  Lebenszeit  nicht  zu  Stande  kommen  können,  diese  deshalb  yerdunkelt, 
ecmnestisch  bleibt".  Warum  dies  der  Fall  ist,  resp.  nicht  der  Fall  ist,  sagt  Verf. 
auch  nicht.  Brod mann- Jena. 

108.  ^ursfner.  Die  Zurechnungsfähigkeit  der  Hysterischen.  (Referat 
auf  der  Jahresversammlung  deutscher  Irrenärzte  am  16.  Sept.  1898.)  < —  Arch.  f. 
Psychiatrie  XXXI.  3.  1890. 

Unter  den  schwierigen  Problemeo,  die  dem  praktischen  Psychiater  in  foro 
entgegentreten  können,  gehört  mit  zu  den  schwierigsten  die  Beurtheilung  der  Zurech- 
nungsfähigkeit  Hysterischer.  Es  ist  ein  anerkennenswerthes  Verdienst  Hes  Verfassers, 
die  dürftige  Literatur  auf  diesem  Gebiete  um  einen  werthvollen  Beitrag  bereichert 
zu  haben. 

Verf.  lässt  in  seiner  Arbeit  allenthalben  einen  scharf  präcisirten  Standpunkt, 
der  vielleicht  nicht  allseitig  Anklang  finden  dürfte,  erkennen.  Es  mag  daher 
aweckraässig  erscheinen,  die  leitenden  Gesichtspunkte  ans  dem  übrigen  Inhalte 
herauszuschälen  und  sie  an  die  Spitze  des  Referates  zu  stellen,  da  sie  auf  jeden 
Einzelfall  Anwendung  finden  müssen. 

Verf.  vertritt  in  erster  Reihe  den  Standpunkt,  dass  der  Psychiater  bei  der 
Beurtheilung  der  Zurechnungsfähigkeit  einer  hysterischen  Person  in  einem  gegebenen 
Augenblicke  sich  nur  von  dem  jeweiligen  Bewusstseinszustande,  d.  h.  dem  Vor- 
handensein und  dem  Grade  der  Bewusstseinstrübung  leiten  lassen  darf. 

Zweitens  hebt  er  hervor,  dass  wir  unser  Augenmerk  in  zweifelhaften  Fällen 
immer  auf  gewisse  somatische  Störungen,  denen  für  die  Diagnose  der  Hysterie  ein 
pathognomonischer  Werth  beizumessen  ist,  zu  richten  haben.  ' 

Drittens  warnt  er  davor,  allgemein  giltige  Kennzeichen  aufzustellen,  die  bei 
der  Beurtheilung  aller  Hysterischen  massgebend  sein  sollen;  individualisirende 
Behandlung  des  Einzelfalles  thue  hier  mehr  noth  wie  anderswo. 

Viertens  stellt  Verf.  —  und  darin  dürfte  er  den  schärfsten  Widerspruch  bei 
seinen  Fachcoltegen  erfahren  —  unter  Hinweis  auf  die  eigenartigen  Beziehungen 
der  hysterischön  Geistesanomalien  zum  heutigen  Strafgesetz,  das  Postulat  der  ge« 
minderten  Zurechnungsfähigkeit  auf. 

Im  Einzelnen  giebt  Verf.  zunächst  einen  Ueberblick  über  die  Qualität  der 
Delicte,  die  besonders  häufig  Anlass  geben,  die  Zurechnungsfähigkeit  der  Hyste- 


252  Zasammenstellong  der  Literatur  aber  Hysterie« 

rischen  zu  prüfeD.  Er  weist  hin  auf  die  interessante  Differenz,  welche  die  Epilep- 
tiker und  Hysterischen  vor  dem  Forum  darbieten.  Die  Ersteren  stellen  bekanntlich 
ein  Hauptcontingent  von  Vergehen  gewaltthätiger  Art,  wie  Körperverletzung, 
Brandstiftung  etc.,  während  bei  den  letzteren  Eigenthomsvergehen  characteristiscfa 
sind.  Verü.  selbst  hat  unter  26  Fällen  von  Hysterie,  die  eine  forensische  Bedeutung 
erlangten,  14  Mal  Anklage  wegen  Diebstahls  gefunden. 

Die  Psychosen,  durch  welche  bei  Hysterischen  die  Zurechnnngsfahigkeit 
beeinträchtigt  resp.  aufgehoben  werden  kann,  unterscheidet  Verf.  in  2  Gmppen: 

1.  in  transi torische  Geistesstörungen,  d.  h.  in  solche,  welche  in  Beziehung  zu 
den  Anfällen  stehen; 

2.  in  dauernde  psychische  Anomalien. 

Was  die  ersteren  (die  transito rischen  psychischen  Störungen  bei 
Hysterie)  betrif!l,  so  ist  zunächst  auf  die  grosse  Variabilität  der  Anfälle  selbst,  sowohl 
hinsichtlich  ihrer  Intensität  als  Extensitöt  als  auch  ihrer  Häufigkeit  hi  neu  weisen, 
sowie  auf  die  enormen  mit  dem  Anfall  häufig  parallel  gehenden  Schwankungen  in 
dem  Verhalten  des  Bewusstseins.  Von  dem  schweren,  durch  hochgradige  Bewusst- 
seinstrübung  oder  völlige  Bewusstlosigkeit  ausgezeichneten,  von  der  Epilepsie  kaum 
zu  trennenden  Hysteria  gravis- Anfalle  bis  zu  den  leichtesten,  oft  kaum  wahrnehm- 
baren rudimentären  Insulten  (wenig  hervortretende  Aenderungen  des  äusseren 
Habitus,  Farbenwechsel,  vereinzelte  mimische  Bewegungen,  auffallende  sprachhche 
Reaction  oder  im  Gegensatz  dazu  plötzliches  Verstummen)  sind  zahllose  Uebergangs- 
formen  mit  ebenso  verschiedenem  Bewusstseinszustande  möglich. 

Diese  mit  dem  Anfall  direct  zusammenhängenden  Bewusstseinsanomalien, 
welche  Gegenstand  forensischer  Beurthcilung  werden  können,  lassen  sich  in  5  Gruppen 
eintheilen : 

a)  Psychische  Prodromalerscheinungen  des  hysterischen  Anfalls. 
Dieselben  sind  sehr  selten  und  bestehen  häufig  in  automatischen  Handlungen« 
welche,  wenn  sie  crimineller  Art  sind,  zur  Begutachtung  der  Zurechnungsfahigkeit 
Anlass  werden  können.  Maassgebend  für  den  Gerichtsarzt  ist  dabei  immer  die 
Entscheidung  der  Frage,  ob  das  Bewusstsein  überhaupt  schon  getrübt  war  und  in 
welchem  Grade  eine  Entscheidung,  die  sich  häufig  nur  nach  dem  vorhandenen 
Erinnerungsdefect  richten  kann.  Verf.  selbst  ist  der  Ueberzeugung,  dass  eine 
totale  Amnesie  für  die  hysterische  Prodrome  nicht  vorkomme,  dass  dagegen  ein 
retrograder  partieller  Gedächtnissausfall  nach  einem  hysterischen  Anfalle  möglich 
sei.  Immerhin  müsse  man  bei  diesbezüglichen  Angaben  der  Patienten,  angesichts 
der  unbestreitbaren  Neigung  zur  Lüge,  zur  Confabulation,  sehr  vorsichtig  sein. 

b)  Die  postparoxysmellen  psychischen  Störungen  bei  Hysterie 
besitzen  die  grösste  Bedeutung  für  den  forensischen  Psychiater.  Sie  bieten  eben- 
falls zahlreiche  klinisclie  Formen  dar;  in  ihren  schwersten  Graden  lassen  sie  sich 
kaum  von  dem  grand  mal  intellcctuel  der  Epileptiker  unterscheiden.  Es  treten 
nicht  nur  Stimmungsanomalien,  Sinnestäuschen  und  Störungen  auf  motorischen 
Gebieten  auf,  sondern  pathologische  Umgestaltungen  des  Bewusstseinsinhaltes  mit 
Wahnideen  und  krankhaften  Handlungen.  In  derartigen  Fällen  dürften  wohl  kaum 
Zweifel  an  der  Unzurechnungsfähigkeit  aufkommen.  Schwieriger  ist  die  Bo- 
urtheilung,  wenn  es  sich  um  intercurrente  Irreseinsformen  handelt,  wo  lucidere 
Perioden  mit  Stadien  tieferer  Bewusstseinstrübung  abwechseln.  Im  Allgemeinen 
wird  auch   hier   der  Satz  Giltigkeit  haben,   „dass  die  nachfolgende  Amnesie   den 


Zusammenstella ng  der  Literatur  über  Hysterie.  353 

Gradmesser  für  die  Stärke  der  Bewusstseinstrübung'  abgiebt**,  doch  treten  auch 
hier,  besonders  bei  periodischem  Verlauf  der  Geistesstörung,  dem  Begutachter  oft 
unüberwindbare  Schwierigkeiten  entgegen.  Verf.  lässt  für  die  lucideren  Phasen 
einen  totalen  Erinnerungsdefect.  wie  er  von  den  Kranken  oft  behauptet  wird,  nur 
dann  als  glaubhaft  gelten,  wenn  jene  int^rcurrent  auftreten  und  von  neuen  Exa- 
cerbationen gefolgt  sind. 

c)  Ah  weitere  Form  der  trausitoriechen  hysterischen  Psychose  ist  der  post- 
paroxysmelle  somnambule  Zustand  zu  nennen.  Die  Frage,  ob  während 
desselben  bestimmte  Erinnerungsbilder  mit  analogen  krankhaften  Impulsen^  welchen 
die  gleichen  strafbaren  Handlungen  entspringen,  vorkommen,  lässt  Verfl  noch  offen. 

d)  .Die  Existenz  einer  sog.  hysterischen  Moria,  als  Analogon  zu  der 
epileptischen  Moria,  ist  zweifelhaft.  Verf.  hat  bei  juvenilen  Individuen  nach 
leichten  Anfällen  Krankheitsbilder  gesehen,  die  in  einer  unbegründeten  kindisch 
heiteren  Stimmung  mit  Kededrang  (Verbigeration)  und  motorischer  Unruhe  be- 
standen und  vielleicht  hierher  zu  rechnen  wären. 

e)  Noch  strittiger  ist  die  Frage  nach  dem  Vorkommen  hysterischer  Aequi- 
valente,  sog.  Dämmerzustände.  Jedenfalls  wären  dieselben  nach  Ansicht  des 
Verf.  symptomatologisch  von  epileptischen  Aequivalenten  nicht  zu  unterscheiden,  und 
man  hätte  nach  eventuellen  somatischen  Begleiterscheinungen  der  Hysterie  zu  fahnden. 

Als  zweite  Hauptgruppe  der  hysterischen  Psychosen  werden  vom  Verf  jene 
unabhängig  von  Anfällen  und  dauernd  bestehenden  Anomalien  des  Geisteslebens 
znsammengefasst,  die  man  auch  kurzweg  als  hysterisches  Temperament  be- 
zeichnet und  die  in  einem  mehr  oder  weniger  starken  ethischen  Defect,  der 
Neigung  zur  Unwahrheit,  einer  gereizten,  boshaften,  oft  raschem  Wechsel  unter- 
worfenen Stimmung  bestehen,  vermöge  welcher  die  Kranken  vielfach  mit  dem 
Strafgesetz  in  Confliet  gerathen.  Die  besondere  Schwierigkeit  in  der  Beurtheilung 
der  Zurechnungsfähigkeit  solcher  Kranken  liegt  darin,  dass  der  psychische  Status 
hei  denselben  oft  in  der  schroffsten  Weise  wechselt  und  dass  demnach  aus  ihren 
eigenen  Angaben  überhaupt  gar  keine  Anhaltepunkte  zu  gewinnen  sind.  Die  Lust 
zu  fabuliren  wird  sie  auch  in  foro  zu  falschen  Aussagen  verleiten. 

Die  Ansicht,  dass  es  sich  dabei  immer  um  unbewusste  Lügen  handelt 
(Vibert),  theilt  Verf.  nicht,  er  giebt  aber  zu,  dass  die  Sucht  zum  Lügen  ein  auf 
krankhafter  Basis  entstandenes  Symptom  sei,  das  häufig  durch  einen  —  nicht 
immer  pathologischen  —  ethischen  Defect  noch  gesteigert  werde. 

Die  praktischen  Consequenzen,  die  Verf.  aus  diesen  Deductionen  gezogen  hat, 
lassen  sich  dahin  zusammenfassen: 

Erstlich :  es  reicht  die  Feststellung  von  hysterischen  Anfällen  allein  nicht  aus^ 
einen  Angeklagten  zu  exculpiren.  Verf  möchte  das  Bestehen  von  Insulten  nicht 
einmal  im  Sinne  mildernder  Umstände  verwerthen. 

Zweitens:  bei  den  zu  den  Anfällen  in  Beziehung  stehenden  Geistesstörungen 
ist  der  Grad  der  Bewusstseinstrübung  ausschlaggebend  für  die  Begutachtung  der 
Zurechnungsfähigkeit. 

Drittens:  bei  der  hysterischen  Character Veränderung  wird  der  stricte  Nach- 
weis, dass  zur  Zeit  der  That  eine  krankhafte  Störung  der  Geistesthätigkeit  im 
Sinne  des  Gesetzes  vorlag,  meist  nicht  gelingen,  obwohl  man  die  Ueberzeugung 
haben  kann,  dass  bei  der  Ausführung  der  strafbaren  Handlung  krankhafte  Momente 
mitgewirkt  haben.  Brodmann -Jena. 


254  ZaMtmmeDstellinig  der  literator  über  Hyiterie. 

109.  WoUenbergy  Die  forensische  Beurtheilangder  Krampfkranken, 
insbesondere  der  Hysterisehen  (Vortrag  im  ärxtL  Verein  Hamburg  29.  Not. 
1898).     Ref.  der  Manch,  med.  Wochenschr.  1898  pag.  1608. 

Die  geistigen  Störungen,  welche  bei  Krampfkranken  rorkommen,  sind  zweck- 
mässig in  transitorische  und  habituelle  zu  scheiden. 

Als  hysterische  transitorische  Irreseinsformen  kommen  haupt- 
sachlich in  Betracht  a)  die  so  oft  mit  dem  Krampfanfall  verbundenen  Delirien, 
b)  ^die  nicht  selten,  eine  schwere  Hysterie  einleitenden  hallucinatorischen  Erregungs- 
zustände", c)  die  kurzdauernden  traumartigen  Bewusstseinsstörungen ;  letztere  bieten 
bei  der  Hysterie  wie  bei  der  Epilepsie  der  forensischen  Beurtheilung  oft  ganz  be- 
sondere Schwierigkeiten.  Bei  Hysterischen  können,  nach  den  eigenen  Erfahrungen 
des  Redners,  die  in  solchen  Zuständen  auftauchenden  Vorstellungen  nach  Art  der 
posthypnotischen  Suggestion  auf  die  Handlungen  der  betreffenden  Individuen  auch 
nach  Rückkehr  des  normalen  Bewusstseins  einen  bestimmenden  Einfloss  gewinnen 
und  Anlass  zu  strafbaren  Handlungen  (falsche  Anschuldigung,  sogar  Selbstanklagen 
etc.)  werden. 

Als  habituelle  psychische  Störungen  der  Krampfkranken  sind  bei  den 
Epileptikern  zu  nennen  jene  „unsocialen  und  gefährlichen  Eigenschaften,  die  den 
sog.  epileptischen  Character  ausmachen''. 

Einen  „hysterischen  Character*'  als  Analogon  zu  dem  epileptischen  giebt  es 
nicht.  Characterveränderungen  bei  Hysterischen  beruhen,  wo  solche  vorhanden 
sind,  auf  der  gleichzeitig  bestehenden  allgemeinen  Degeneration  als  Ausfluss  einer 
psychopathischen  Belastung.  Dagegen  entspringen  aus  der  hysterischen  Disposition 
selbst  heraus  krankhafte  Abweichungen  des  Geisteslebens,  wie  das  „Zurücktreten 
des  kalt  abwägenden  Verstandes  (Löwenfeld),  die  Lebhaftigkeit  des  Gefühls- 
lebens und  der  Phantasie,  die  erleichterte  Entäusserung  der  Affecte  und  die  sich 
daraus  ergebende  Neigung  zu  impulsiven,  triebartigen  Handlungen",  welche  bei  der 
Beurtheilung  der  habituellen  Zurechnungsfähigkeit  dieser  Personen  sehr  in  Rech- 
nung gebracht  werden  müssen.  Die  mangelnde  Keproductionstreue  der  Hysterischen 
in  Folge  von  Erinnerungsfäbchungen,  Phantasieproducten,  Träumereien  und  Trug- 
wahrnehmungen ist  bekannt. 

Hinsichtlich  der  Zurechnungsfähigkeit  Hysterischer  vertritt  Redner  (im  Gegen- 
satz zu  Fürstner)  den  Standpunkt,  dass  das  Bestehen  schwerer  hysterischer 
Störungen  fast  ausnahmslos  die  Befürwortung  einer  milderen  Beurtheilung  recht- 
fertige. Auch  dann,  wenn  zur  Zeit  der  Begehung  der  Straflhat  sich  noch  keine 
manifesten  Krankheitszeichen  darboten,  vielmehr  erst,  gewissermaassen  als  patho- 
logische Heaction  auf  die  Gemüthsbewegungen  des  Strafverfahrens,  nachträglich  die 
Hysterie  oflfenbar  werde,  müsse  man  eine  schon  vorher  bestehende  krankhafte  An- 
lage supponiren.  welche  eine  dauernde  Quelle  strafbarer  Handlungen  werden  könne. 
Man  dürfe  dann  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Zurechnungsfähigkeit  auch  schon 
für  eine  weiter  zurückliegende  Epoche  ausschliessen  oder  wenigstens  das  Bestehen 
begründeter  Zweifel  hervorheben. 

Hysterische,  welche  von  jeher  Anzeichen  einer  hereditären  psychopathischen 
Belastung  erkennen  Hessen,  sind  nach  Ansicht  Wollenberg's  in  allen  Fällen 
auch  retrospectiv  zu  exculpiren.  Brod  mann -Jena. 


ZosammenstelluDg  der  Literatur  über  Hysterie.  255 

9 

110.  Vigouroux,  Obsession  et  impulsion  pyromaniaques  chez  une 
d^ffenSree  hystSriqoe.    Anoal.  med.  psych.  1897,  V.  B.  238 — 247. 

Die  Frage,  ob  es  uDwiderstehliche  Triebe  (impulsions  irr^sistibels)  bei 
Hysterischen  giebt,  ist  noch  unentschieden;  die  einen  nehmen  die  Existenz  rein 
hysterischer  Triebhandlungen  an  (Ritti  und  Pitres),  die  andern  setzen  dieselben, 
wenn  sie  neben  Hysterie  bestehen,  auf  Kosten  der  gleichzeitig  bestehenden 
psychischen  Degeneration  (Colin). 

Verf.  theilt  folgenden  Fall  mit: 

A.  G. ,  19 jähriges  Dienstmädchen,  erblich  belastet,  Ton  Kindheit  auf  bi- 
zarrer Character,  zu  Lügenhaftigkeit  und  Goqnetterie  geneigt,  zeigte  vom  17.  Jahre 
ab  die  ersten  auf  Hysterie  bezüglichen  Erscheinungen  (Globus,  Muskelschwäche  und 
linksseitigen  Mammarschmerz).  Sie  begeht  mit  dem  19.  Jahre  ohne  äussere  Veran- 
lassung an  3  aufeinander  folgenden  Tagen  in  der  Behausung  ihrer  Herrschaft 
Brandstiftung.  Sie  weiss  zunächst  allen  Verdacht  von  sich  abzulenken,  macht 
sogar  selbst  Fenerlärm  und  hilft  jedesmal  als  Erste  bei  den  Löscharbeiten.  Zum 
Geständniss  gebracht,  verwickelt  sie  sich  bezüglich  der  Motivirung  ihrer  That  in 
offenkundige  und  unlösbare  Widersprüche,  welche  das  Gericht  veranlassten,  eine 
Untersuchung  des  Geisteszustandes  der  Angeklagten  anzuordnen. 

Das  ärztliche  Gutachten  erkannte  auf  Hysterie  und  beschränkte  Verantwort- 
lichkeit, mit  der  Begründung,  dass  die  G.  „im  Hinblick  auf  die  Neurose,  von  der 
sie  befallen  sei,  sich  von  der  Bedenklichkeit  ihrer  Acte  keine  Rechenschaft  geben 
konnte  und  dass  bei  einer  Hysterischen  Einflüsse,  welche  den  normalen  Geist  gar 
nicht  berührten,  zu  Gesetzesübertretungen  und  Verbrechen  hintreiben  können". 

Aus  der  Untersuchung  der  Kranken  sind  folgende  Momente  hervorzuheben. 
G.  ist  körperlich  gut  entwickelt  und  von  gesunder  Beschaffenheit;  sie  bietet  eine 
vollständige  linksseitige  Hemianästhesie  der  Haut  und  Schleimhäute  für  alle 
Qualitäten  (Berührung,  Druck,  Schmerz,  Temperatur,  faradische  Ströme,  Geschmack, 
Geruch  und  Gehör)  dar;  das  linke  Gesichtsfeld  ist  concentrisch  eingeengt,  ohne 
Dyschromatopsie  zu  zeigen,  der  Muskelsinn  an  der  linken  Rörperhälfte  aufgehoben. 
\Jeber  der  linken  Mamma  besteht  eine  hy  per  ästhetische  Zone.  Der  Pharynxreflex 
ist  erhalten.     Somnambulismus  wurde  nicht  beobachtet. 

Ueber  die  Motive  ihrer  Strafthat  befragt,  schützt  die  Kranke  bald  Rache  wegen 
roher  Behandlung  vor,  bald  will  sie  von  Feinden  ihrer  Dienstherrschaft  aufgestachelt 
worden  sein,  bald  behauptet  sie,  sie  habe  ihren  Geliebten  durch  den  Brandschaden 
Arbeitsgelegenheit  verschaffen  wollen,  dann  wieder  beziehtet  sie  ihren  Geliebten  als  Com- 
plicen ;  sie  beschuldigt  ferner  eine  Reihe  von  Personen  der  Mitthäterschaft.  erkennt 
heute  Aussagen,  die  sie  gestern  unter  Eid  abgegeben,  als  falsch  an.  kurz  sie  giebt  in 
ihrem  ganzen  Verhalten  einen  Mangel  an  zugkräftigen  Motiven  kund,  sie  verräth, 
dass  sie  diesen  Mangel  selbst  fühlt  und  durch  neue,  offenbar  erdichtete  und  un- 
wahre Erklärungsversuche  zu  verdecken  sucht.  Erst  6  Monate  nach  geschehener 
That  gesteht  sie  den  Anstaltsärzten,  dass  sie  schon  seit  2  Jahren  dauernd  an  dem 
krankhaften  Triebe  leide,  Feuer  anlegen  zu  müssen  und  dass  sie  von  diesem  Triebe 
manchmal,  besonders  in  der  Einsamkeit  mit  solcher  Heftigkeit  crfasst  werde,  dass 
sie  demselben  nur  durch  Flucht  in  Gesellschaft  entrinnen  könne.  Sie  behauptet, 
die  Brandstiftung  unter  dem  Zwange  eines  solchen  Triebes  begangen  zu  haben,  sie 
hält  den  Trieb  jedoch  selbst  nicht  für  eine  ausreichende  Erklärung  für  die  Begehung 


256  Zasammenstellung  der  Literatur  über  Hjvterie. 

der  That.    Als  körperliche  Begleiterscheinuogen  der  zwangsartigeo  Idee  nennt,  sie 
Herzklopfen,  Ohrensausen  und  Eingenommensein  des  Kopfes. 

Verf.  erörtert  die  Frage,  in  welchem  Verhältniss  diese  criminelle  That  resp. 
die  derselben  zu  Grunde  liegenden  impulsiven  Handlungen  zur  Hysterie  stehen  und 
er  meint,  dass  die  der  Hysterie  eigenthümlichen  Störungen  der  Willensthätigkeit 
sehr  wohl  eine  Verminderung  der  Widerstandskraft  gegen  die  krankhaften  Triebe 
(gesteigerte  Suggestibilität)  bedingen  konnten.  Andererseits  hebt  er  henror,  dass 
die  Hysterie  nur  auf  dem  Boden  einer  erblichen  Entartung  erwachsen  sei  und  dass 
die  hier  vorliegenden  Zwangsgedanken  und  Triebhandlungen  (obsessions  et  im- 
pulsions)  nur  der  Ausdruck  einer  hereditären  Degeneration  seien.  Das  gehe  schon 
aus  der  Art  der  krankhaften  Triebe  hervor,  welche  bei  Degenerirteu  dauernd  vor- 
handen seien,  immer  dieselbe  Form  beibehalten  und  bei  einer  bestimmten  Gelegen- 
heit zur  That  führen,  während  die  hysterischen  Impulsionen  sehr  yariabel  seien 
und  rein  zufällig  als  Ausdruck  einer  fixen  Idee  auftreten. 

Brodmann- Jena. 


Mittheilung. 

In  seinem  neurologischen  Institut  (Berlin  W.  Magdeburgerstr.  16) 
wird  Dr.  O.  Vogt  am  26.  IX.  99  zwei  vierwöchentliche  Aerztecurse 
beginnen  : 

1.  Allgemeine  Psychotherapie  mit  normalpsycho- 
logischer  Einleitung. 

2.  Hirnanatomischer  D emonstrationscurs. 


Ueber  den  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  Icörperlichen  und 

psychischen  Functionen. 

Vortrag 

gehalten  in  der  psychologischen  Gesellschaft  zu  München  am  18.  Mai  1899 

von 

Dr.  Franz  Carl  Müller,  Nervenarzt  in  München. 


Das  Thema,  welches  ich  heute  vor  Ihnen  zu  behandeln  die  Absicht 
habe^  liegt  etwas  abseits  von  den  Fragen,  die  wir  sonst  in  unserer  Ge- 
sellschaft erörtern.  Sie  werden  wenig  Psychologisches  finden,  ich  hoffe 
aber,  dass  die  spärlichen  Andeutuügen,  die  ich  ihnen  geben  kann,  Aus- 
blicke gestatten,  von  denen  aus  später  auch  für  unsere  Specialwissen- 
schaft reife  Früchte  erhofft  werden  können.  — 

Die  Lehre  von  den  Einwirkungen  des  Lichtes  auf  den  thierischen 
Organismus  ist  zwar  eine  alte,  aber  sie  hat  in  jüngster  Zeit  grosse 
Fortschritte  gemacht  und  bedeutsame  Forschungsresultate  aufzuweisen, 
besonders  der  Amerikaner  Kellogg  wirkte  in  dieser  Hinsicht  bahn- 
brechend. 

Wie  es  aber  oft  zu  gehen  pflegt,  haben  sich  Laien  verfrüht  der 
Sache  angenommen,  und  so  wurde  einerseits  da^  Lichtheilverfahren  bei 
den  Fachleuten  discreditirt,  andererseits  von  Sachverständigen  auf  eine 
Bahn  gedrängt,  die  für  die  Folge  nichts  Gutes  versprechen  lässt.  Wir 
wollen  sehen,  was  bisher  an  fixirten  Ergebnissen  zu  finden  ist,  und  ich 
hoffe,  Sie  über  den  derzeitigen  Stand  der  Angelegenheit  genügend  in- 
formiren  zu  können.  Vorher  aber  muss  ich  einige  physikalische  Er- 
örterungen anstellen,  die  Manchem  wohl  etwas  weitschweifig  erscheinen 
werden,  aber  dennoch  nothwendig  sind. 

Alles  Lebendige,  aber  auch  das  scheinbar  Todte  in  der  Natur  be- 
wegt sich,   denn  wo  Stoff  ist,  ist  Kraft  und  Kraft  ist  ohne  Bewegung 

Zeitschrift  fttr  Hypnotismiu  etc.    IX.  17 


268  ^T^T^  ^^^^  MfiUer. 

sieht  denkbar.  Nach  Virchow  ist  das  Leben  gegenüber  den  all- 
gemeinen BewegungsTorgängen  in  der  Natur  zwar  etwas  Besonderes, 
aber  es  bildet  doch  keinen  diametralen  Gegensatz  zn  denselben, 
sondern  nur  eine  besondere  Art  der  Bewegung,  welche,  von  der  grossen 
Constante  der  allgemeinen  Bewegung  abgelöst,  neben  derselben  und  in 
steter  Beziehung  zu  ihr  abläuft.  —  Es  ist  bei  der  strahlenden  Wärme, 
beim  Licht  und  bei  der  Electricität  nachgewiesen,  dass  sich  diese 
Kräfte  in  Wellenbewegungen  äussern.  In  ihren  Eigenschaften  sind  die 
Wellen  sehr  yerschieden^  während  das  Licht  sehr  kleine  Wellen  hat 
(die  Röntgen-Strahlen  vermuthlich  die  kleinsten),  sind  die  Wellen  der 
ausstrahlenden  Electricität  nach  Untersuchungen  von  Heinrich  Hertz 
theilweise  meterlang. 

Die  Schnelligkeit  der  Lichtwellen  ist  kaum  fassbar.  Vernon 
Brys  photographirte  fliegende  Geschosse  im  8-millionsten  Theil  einer 
Secunde ;  in  dieser  Zeit  legte  die  Kugel  einen  Weg  von  V«oo  Millimeter 
zurück.  Noch  empfindlicher  wie  die  photographische  Platte  ist  die 
Netzhaut  unseres  Auges. 

Welche  Kräfte  durch  solche  Lichteinwirkungen  ausgelöst  werden 
können,  zeigt  ein  von  Gautier  und  Heli er  unternommener  Versuch: 
Wasserstoff  und  Chlor  zu  gleichen  Theilen  gemischt  bleibt  im  Dunkeln 
monatelang  reactionslos  —  ein  einziger  Lichtstrahl  genügt,  um  unter 
Explosion  Chlor-Knallgas  zu  erzeugen.  —  Jede  Hausfrau  weiss,  dass 
das  Licht  die  organischen  Farben  bleicht,  aber  auch  die  anorganischen 
Farben,  selbst  Edelsteine,  wie  Smaragd,  Chrysopras,  bleichen  unter 
dem  kalten,  von  allen  Wärmestrahlen  befreiten  Licht  —  Haben  wir  nun 
die  chemischen  Wirkungen  des  Lichtes  kurz  berührt,  so  kommen 
wir  auf  den  physikalischen  Einfluss  desselben:  Ich  möchte  daran 
erinnern,  dass  Crystallisationsvorgänge  im  Lichte  leichter  vor  sich  gehen 
als  im  Dunkeln,  und  wenn  man  eine  Flasche  in  ein  Gefass  mit  heissem 
Wasser  hineinstellt,  so  beschlägt  sich  hauptsächlich  die  dem  Lichte  zu- 
gekehrte Seite. 

Die  Frage,  was  Licht  eigentlich  ist,  wird  durch  zwei  Hypothesea 
beantwortet:  Nach  Huyghens  ist  das  Weltall  von  einem  ausser- 
ordentlich feinen,  elastischen.  Alles  durchdringenden,  gewichtsloseo 
Stoffe,  dem  Licht- Aether ,  erfüllt,  dessen  wellenartige  Bewegung  wir 
als  Licht  empfinden.  Nach  Newton  entströmt  dem  leuchtenden  Körper 
ein  feiner  Stoff,  der  mit  ungeheuerer  Geschwindigkeit  in  die  UmgebuDg 
hinausgeschleudert  wird. 


Uober  den  Einfloss  dei  Lichtet  auf  die  körperlichen  n.  psychischen  Fanctionen.     259 

Die  Lichtwellen  legen,  ohne  dass  die  Wellenlänge  irgend  welche 
Unterschiede  machte,  in  der  Secunde  einen  Weg  Ton  420D0  geo- 
graphischen Meilen  zurück.  Wenn  das  Licht  durch  einen  schmalen 
Spalt  auf  ein  Prisma  fällt,  so  wird  es  in  ein  breites  Farbenband  — 
das  sogenannte  Spectrum  —  aufgelöst,  das  einen  kleineren  sichtbaren 
und  einen  grösseren,  an  beiden  Endpunkten  vorhandenen  unsichtbaren 
Thdil  enthält.  Am  meisten  in  der  ursprünglichen  Bahn  des  weissen 
Lichtes  verbleiben  die  blauen  und  violetten  Strahlen;  mehr  gebrochen 
sind  die  ultravioletten  Strahlen,  die  wahrscheinlich  von  einzelnen  Thieren, 
(Ameisen),  aber  von  den  Menschen  nicht  gesehen  werden.  Bei  den 
violetten  und  ultravioletten  Strahlen  ist  die  Wärmeentwickelung  sehr 
gering,  aber  die  chemische  Wirkung  sehr  gross,  weshalb  man  dieselben 
auch  chemische  Lichtstrahlen  nennt.  Die  rothen  und  infrarothen 
Strahlen  zeigen  starke  Wärmeentwickelung  und  geringe  chemische 
Potenz.  —  Uebrigens  neigt  man  in  der  Physik  neuerdings  der  An- 
schauung zu,  dass  es  nur  Eine  Energie  des  Lichtäthers  giebt,  indem 
jeder  Strahl  als  Wärme-,  als  Licht-  oder  als  chemischer  Strahl  wirken 
könne,  je  nach  den  Eigenschaften  des  lichtabsorbirenden  Körpers. 

Die  Wellenlänge  der  violetten  Lichtstrahlen  ist  geringer  als  die 
der  rothen ;  während  das  Roth  in  der  Secunde  420  Billionen  Schwingungen 
macht,  hat  das  äusserste  Violett  790  Billionen.  Wie  Wärme  und 
Electricität,  so  kann  auch  Licht  aufgestapelt  werden,  auf  welcher  That- 
sache  die  Erscheinung  der  Phosphorescenz  beruht.  VonPluor- 
escenz  sprechen  wir,  wenn  mit  dem  Aufhören  des  Lichtreizes  die 
Wirkung  sofort  verschwindet ;  auch  die  dunkeln  Spectrumstrahlen  können 
gewisse  Körper  leuchtend  machen  —  wir  heissen  diese  Erscheinung 
Calescenz.  — 

Nach  diesen  wohlbekannten  Auseinandersetzungen  kommen  wir  auf 
den  psychischen  Einfluss  des  Lichtes.  Vergegenwärtigen  Sie  sich 
unbefangen  die  Stimmung  und  Arbeitsfrendigkeit  des  Menschen  an 
trüben  und  an  sonnend urchäutheten  Tagen!  Welch'  gewaltiger  Unter- 
schied !  Dort  starre,  todtenähnliche  Ruhe,  hier  frisch  pulsirendes  Leben ! 
Jeder  Gresunde  hat  ein  grosses  ausgesprochenes  Lichtbedürfniss.  Wer 
aus  dem  Lichte  der  Grossstädte  heraus  in  die  finsteren  Gassen  kleiner 
Orte  verbannt  wird,  der  fühlt  sich  beklommen.  Jedes  unserer  Feste 
wird  instinctiv  durch  Lichtwirkungen  verschönert  oder  überhaupt 
möglich  gemacht;  jedes  lebende  Wesen  drängt  sich  zum  Lichte. 

Auch  in  der  Religion  sehen  wir  diesen  Drang  des  Menschen  zur 

Sonne.     Bei  den  Griechen  wurde  Helios  verehrt,    bei   den  Römern 

17* 


260  Ftkbz  Carl  Müller. 

pflegten  die  vestalischen  Jungfrauen  das  heilige  Feuer,  bei  den  Ger- 
manen .war  Baldur,  der  Liclitgott,  einer  der  beliebtesten  Gt>tter. 
Millionen  von  Menschen  beten  die  Sonne  als  die  Spenderin  von  Licht, 
Wärme  und  Leben  an.  Menschen,  die  nach  lange  dauernder  Dunkel- 
heit plötzlich  dem  vollen  Sonnenlichte  ausgesetzt  werden,  erfahren  eine 
starke  seelische  und  körperliche  Beeinflussung,  wie  es  andererseits 
lichtarme  Individuen  giebt,  die  nur  wenige  Minuten  lang  helles  Licht 
vertragen  können.  Alle  geistesfrischen  und  körperlich  gesunden  Menschen 
lieben  das  Licht;  interessant  ist  eine  Erzählung  über  Lombroso,  der 
bei  seinen  Arbeiten  der  Sonne  von  Zimmer  zu  Zimmer  folgt  und  auf 
diese  Weise  ein  wandelndes  Arbeitszimmer  hat.  Am  Besten  soll  er 
im  vollen  Sonnenschein  bei  weitgeöffneten  Fenstern   arbeiten  können. 

Auch  in  der  Thierwelt  ist  das  Lichtbedürfniss  deutlich  aus- 
gesprochen. Die  Insecten  fliegen  ins  Licht,  die  Vögel  rennen  sich  ao 
den  Fenstern  der  Leuchtthürme  die  Köpfe  ein,  Fische  werden  Yom 
Lichte  geradezu  hypnotisirt. 

üeber  den  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  Psyche  des  Menschen  giebt 
eine  amerikanische  Statistik  interessante  Aufschlüsse,  indem  man  nach- 
weisen konnte,  dass  an  trüben  Tagen  um  10  %  weniger  Arbeit  geleistet 
wird  als  an  sonnigen.  In  den  lichtarmen  Monaten  sind  Selbstmorde 
und  Verbrechen  häufiger  wie  im  Sommer ;  dabei  ist  aber  nicht  zu  ver- 
gessen, dass  in  den  sonnigen  Monaten  die  Lebensbedingungen  leichter 
erfüllt  werden  als  im  Winter. 

Auch  in  der  Völkerpsychologie  spielt  das  Licht  eine  RoUe:  Im 
sonnigen  Süden  entwickelt  sich  eine  andere  Musik,  eine  andere  Malerei 
als  im  trüben  Norden.  Dort  lachender  Himmel  und  lachende  Lebens- 
lust in  sorglosen  Gemüthern,  hier  trübe  Wochen  und  Monate,  ernste, 
schwermüthige  Lebensauffassung  imd  Neigung  zum  Grübeln  und  Phüo- 
sophiren;  dort  rascher  Entschluss  und  geringe  Arbeitslust,  hier  ernste, 
auf  Wochen  hinaus  vorbereitete  Arbeit.  — 

Nicht  uninteressant  ist  die  Abneigung  einzelner  Thierrassen  gegen 
gewisse  Farben:  wir  erinnern  an  die  Wuth  der  Stiere  und  Truthähne 
beim  Vorhalten  rother  Tücher. 

Dass  der  Mond  auf  den  Menschen  wirkt,  ist  bekannt :  während  er 
einzelne  Individuen  beruhigt,  erregt  er  das  Nervensystem  anderer  und 
erzeugt  einen  somnambulen  Zustand,  dem  man  den  Namen  Luna- 
tismus  gegeben  hat.  Es  wäre  noch  an  die  Thatsache  zu  erinnern, 
dass  mitunter  zwischen  den  einzelnen  Sinnen  directe  Beziehungen  be- 
stehen. So  berichtet  P  a  r  v  i  1 1  e  von  einem  Studenten,  der  bei  hohen  Tönen 


Ueber  den  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  n.  psychischen  Funktionen.    261 

helle  und  bei  tiefen  Tönen  dunkle  Farben  sah.  Liszt  und  Bülow 
hatten  ein  Farbengehör  und  endlich  giebt  es  nach  den  Untersuchungen 
Ton  Everson  sogar  einen  Farbengeschmack.  Ueber  alle  diese  Ver- 
hältnisse wurde  in  unserer  Gesellschaft  gelegentlich  des  Vortrages  über 
audition  color^e  schon  eingehend  discutirt. 

Was  den  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  Pflanzen  betrifft,  so 
brauchen  wir ^ nur  den  Namen  v.  Sachs  zu  nennen,  um  die  epoche- 
macheude  Entdeckung  dieses  Forschers  auf  dem  Gebiete  des  Helio- 
tropismus ins  Gedächtniss  zurückzurufen.  —  Bei  einer  der  lichtbedürf- 
tigsten Pflanzen,  Phycomyces  niteus,  genügt  die  Verdunkelung  von 
einer  Stunde,  um  eine  deutliclfe  Wachsthumshemmung  zu  erzeugen. 
Die  gelben  Strahlen  sind  von  hoher  Bedeutung  für  die  Thätigkeit  des 
Chlorophylls,  welches  im  Dunkeln  nicht  entwickelt  wird,  wodurch  die 
Pflanze  eine  ihrer  Hauptaufgaben  im  Haushalte  der  Natur  nicht  er- 
füllen kann;  man  spricht  in  diesem  Falle  von  etiolirten  Pflanzen;  die 
Pflanze  atbmet  Sauerstoff  aus  und  Kohlensäure  ein.  Das  Thier  ver- 
braucht Sauerstoff  und  producirt  Kohlensäure.  Eines  ist  ohne  das 
andere  nicht  lebensfähig.  Die  Kohlensäure  der  atmosphärischen  Luft 
wird  aber  für  die  Pflanze  erst  durch  das  Licht  zur  Nahrung;  ohne 
Licht  müsste  trotz  vorhandener  Kohlensäure  die  Pflanze  verhungern, 
ohne  Licht  würden  die  Kräfte  nicht  frei,  welche  in  den  chlorophyll- 
haltigen  Zellen  die  Abtrennung  des  Sauerstoffes  von  der  Kohlensäure 
besorgen  und  damit  die  Umwandlung  des  Kohlenstoffes  in  organische 
Substanz. 

Interessant  ist  auch  ein  Versuch  von  C 1  a  y  t  o  n ,  nach  dem  Bohnen,  die 
bei  matter  Beleuchtung  wuchsen,  in  der  4.  Generation  unfruchtbar  waren. 

Die  Wirksamkeit  der  verschiedenen  Farben  ist  durch  zahlreiche 
Versuche  bestätigt:  gleich  grosse  Exemplare  derMimosa  pudica  wuchsen 
in  derselben  Zeit  unter  rothem  Licht  42  cm,  unter  grünem  15  cm, 
unter  blauem  gar  nicht.  Aehnlich  wie  das  Tageslicht  wirkt  das  elec- 
trische  Licht,  mit  dessen  Hülfe  man  es  erreichen  kann,  dass  eine  Pflanze 
während  der  24  Stunden  des  Tages  keine  Ruhezeit  hat.  Es  würde  zu 
weit  führen,  auf  diese  interessanten  Forschungen  näher  einzugehen. 

In  der  Thierwelt  reagiren  schon  die  niedersten  Organismen  auf 
das  Licht.  Fliegeneier,  Larven  entwickeln  sich  am  besten  unter  blauem, 
am  schlechtesten  unter  grünem  Lichte.  Verstümmelte  Glieder  wachsen 
bei  den  Amphibien  im  Lichte  rascher  nach  wie  im  Dunkeln.  Nach 
den  Untersuchungen  von  J.  Loeb  sind  auch  die  Thiere  heliotropisch 
wie  die  Pflanzen  und  zwar  positiv  und  negativ.    Hierher  gehören  auch 


262  Frani  Carl  Maller. 

die  AssimilatioQsversuche.  Im  Dunkeln  gehaltene  Hunde  schieden  um 
20%  weniger  Kohlensäure  ans  als  solche,  die  dem  Lichte  ausgesetit 
waren.  Wenn  weisses  Licht  ein  Thier  in  einer  Zeiteinheit  veranlasst, 
100  Theile  Kohlensäure  zu  produciren,  bringt  blaues  122  Theile,  grünes 
128,  gelbes  175,  rothes  94,  violettes  87.  Dass  bei  dieser  Stoffwechsel- 
äoderung  nicht  nur  die  Augen,  sondern  auch  die  Haut  betheiligt  ist, 
zeigt  der  Umstand,  dass  die  Herausnahme  der  Augen,  ja  selbst  des 
Gehirns  an  den  Resultaten  wenig  änderte. 

Diese  festgestellte  Thatsache  veranlasste  Koran yi  zu  der  Hypo- 
these, dass  durch  das  Licht  Muskelrefleze  ausgelöst  werden,  dnrdi 
welche  die  Zersetzungsvorgänge  erhöht  werden.  Anzufügen  wäre  noch 
eine  Entdeckung  Graffenberger's,  wonach  das  Hämoglobin  im 
Dunkeln  abninmit. 

Wohl  am  meisten  studirt  ist  der  £influss  des  Lichtes  auf  die 
Bacterien.  Duclaux,  welcher  zuerst  mit  Reinculturen  arbeitete,  wies 
nach,  dass  das  Licht  zuerst  die  Bacterien  in  ihrem  Wachsthum  hemmt 
und  später  tödtet.  Er  bezeichnete  in  Folge  dessen  das  Licht  als  das 
beßte  bactericide  Mittel,  das  wir  kennen.  Ohne  auf  die  grosse  Literatur 
auf  diesem  Gebiete  näher  einzugehen,  möchten  wir  nur  die  Versuche 
Dieudonue's  streifen.  Directes  Sonnenlicht  tödtet  den  Micrococcus 
prodigiosus  nach  spätestens  2^0  Stunden,  zerstreutes  Licht  erst  nach 
6  Stunden,  electrisches  Licht  in  einer  Stärke  von  900  Kormalkerzen 
tödtete  nach  9  Stunden,  Glühlicht  nach  11  Stunden.  Was  die  Farben 
anbetrifft,  so  stellte  sich  heraus,  dass  die  rothen  und  gelben  Strahlen 
des  Spectrums  den  Bacterien  unschädlich  sind,  die  grünen  leicht  ent- 
wickelungshemmend,  die  blauen,  violetten  und  ultravioletten  rasch  tödtend. 

Buchner  ging  einen  Scliritt  weiter  und  führte  die  sogenannte 
Selbstreinigung  der  Flüsse  auf  die  Mithülfe  des  Lichtes  zurück,  wobei 
er  zu  dem  Resultate  kam,  die  Betheiligung  des  Sauerstoffes  bei  diesen 
Vorgängen  ganz  zu  leugnen  und  den  Werth  der  Wärmestrahlen,  die 
von  den  Wasserschichten  absorbirt  werden,  als  gering  zu  bezeichnen. 
Eb  ist  nur  ein  Schritt,  von  diesen  Beobachtungen  ausgehend  den  Ein- 
fluss  des  Lichtes  auf  inficirte  Thiere  zu  studiren.  Mäuse,  die  mit 
Milzbrandculturen  geimpft  waren,  wurden  zum  Theil  im  Dunkeln  ge- 
halten, zum  Theil  in  der  Beleuchtung  durch  eine  Glühlampe  von 
16  Normalkerzen.  Die  ersteren  gingen  nach  drei  Tagen  zu  Grunde 
und  hatten  zahlreiche  Milzbraudbacillen  im  Blute ;  als  man  die  anderen 
nach  10  Tagen  tödtete,  fanden  sich  im  Blute  nur  Involutionsformen  der 
Bacillen   und   an   der  Impfstelle   nur   örtüche   Veränderungen.     Wenn 


lieber  den  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  u.  psychischen  Fonotionen.     26S 

wir  mit  diesem  Resultate  die  Wirkung  unserer  Antiseptica  auf  die 
virulenten  Microorganismen  vergleichen,  so  fallt  die  Entscheidung  ohne 
Weiteres  zu  Gunsten  des  Lichtes  aus.  Die  Sporen  der  Tetanusbacillen 
sind  nach  48  stündiger  Einwirkung  von  5procentiger  Carbolsäure  noch 
nicht  vernichtet.  lOprocentige  Schwefelsäure  war  nach  24  Stunden 
wirkungslos.  Es  ergaben  Tetanussporen  noch  Culturen,  nachdem  sie 
in  4procentiger  Borsäurelösung  190  Stunden  gelegen  hatten,  in  5pro- 
centiger  Salicylsäurelösung  48  Stunden,  in  Jodoformpulver  69  Stunden, 
in  absolutem  Alcohol  150  Stunden,  in  Aether  139  Stunden,  in  5pro- 
centiger  Eisenvitriollösung  120  Stunden.  Sublimat  tödtet  in  einer 
Lösung  von  1  :  1000  erst  nach  zwei  Stunden. 

Es  ist  nicht  unangebracht,  an  dieser  Stelle  einige  Worte  Raum's 
zu  citiren.  Er  sagt:  „um  so  mehr  bedarf  die  Frage  nach  dem  Ein- 
fluss des  Lichtes  auf  die  pathogenen  Bacterien  noch  einer  weiteren  Be- 
ai-beitung,  als  sie  befähigt  ist,  sowohl  unsere  hygienischen  Maassnahmen 
als  auch  unser  therapeutisches  Thun  zu  modirtciren."  Schon  1829  sagte 
Sertürmer:  „unsere  Wohnungen  und  Hospitäler  werden  einst  be- 
stimmt wie  Treibhäuser  eingerichtet  werden,  damit  das  Licht,  selbst 
des  Mondes  und  der  Sterne,  ungehindert  zutreten  kann.''  —  v.  Voit 
äussert  sich  in  folgender  klarer  Weibe:  „Unzweifelhaft  ibt  im  hellen 
Sonnenlicht  und  an  heiteren  Tagen  mit  der  ganzen  Stimmung  auch  die 
Zersetzung  im  Körper  eine  andere  als  bei  trübem  Himmel.  Die  Er- 
regungen der  Sinnesuerven  sind  es,  welche  auf  den  StoflVechsel  ein- 
wirken, sei  es,  dass  sie  direct  das  Nervensystem  erregen  oder  dass  sie 
durch  Reflexübertra.u;ung  auf  die  Muskeln  einwirken,  wodurch  in  letz- 
teren die  Zersetzung  zunimmt.  Dabei  braucht  es  nicht  immer  zu  wirk- 
lichen Muskelheweguugen  zu  kommen,  welche  allerdings  bei  stärkeren 
Erregungen  der  Sinnesnerven  zweifellos  hervortreten  und  meist  die  Ur- 
sachen des  erhöhten  Gas  wechseis  sind." 

Die  Empfindlichkeit  des  menschlichen  Auges  ist  am  grössten  für 
Strahlen  mittlerer  Brechbarkeit,  sie  nimmt  gegen  das  rothe  Ende  des 
Spectrums  eher  ab  als  gegen  das  blaue.  Electrisches  Licht  steigert  die 
Sehschärfe.  Gaslicht  ^  vermindert  dieselbe.  Auch  bei  geschlossenen 
Augenlidern  haben  wir  noch  Farbenerapfindungen;  die  meisten  Menschen 
können  roth  und  blau  noch  unterscheiden.  Die  Lichtempfindung  Hy- 
pnotisirter  ist  nach  der  Angabe  Eulenburg's  reducirt;  interessant  ist 
eine  Mittheilung  von  H  a  r  1  e  s  s .  dass  an  menschlichen  Leichen  die 
Pupille  noch  30  Stunden  nach  dem  Tode  reagiren  kann  —  eine  Beob- 
achtung, die  von  den  Augenäzten  als  falsch  bezeichnet  wird.    Platen 


864  ^njiz  Carl  MäUer. 

konnte  nachweisen,  dass  die  Sauerstoffaufnahme  im  Lickte  steigt;  die 
Athmung  wird  im  Dunkeln  oberflächlicher  und  schneller  —  ein  Indi- 
viduum, das  im  gelben  Licht  in  der  Minute  19  Mal  geathmet  hatte, 
athmete  im  grünen  17  Mal,  im  rothen  nur  15  Mal. 

Es  wird  behauptet,  dass  die  Haarerzeugung  im  Lichte  grösser 
sei  als  im  Dunkeln.  Wie  das  Licht  auf  die  unbedeckte  Haut  wirkt, 
wissen  wir  aus  der  alltäglichen  Erfahrung.  Dass  dabei  nicht  die 
Sonnenwärme  allein  maassgebend  ist,  zeigt  der  Umstand,  dass  auch 
bei  kalter  Witterung  Leute,  die  zu  vorübergehenden  Waffenübungen 
einberufen  sind,  in  kurzer  Zeit  eine  gebräunte  Gesichtsfarbe  bekommen. 
Wie  das  Sonnenlicht,  so  wirkt  auch  das  electrische  Licht,  das  bei  kurzer 
Dauer  eine  einfache  Bräunung,  bei  längerer  den  sogenannten  elec- 
trischen  Sonnenstich  erzeugt.  Arbeiter  in  Schmiedewerken,  in 
welchen  der  electrische  Strom  zum  Zusammenschweissen  der  Metalle 
benutzt  wird,  werden  stundenlang  nach  der  Einwirkung  des  electrischen 
Lichtes  von  heftigen  Schmerzen  in  der  Haut  heimgesucht  Dass  dabei 
die  Wärme  eiue  geringe  Rolle  spielt,  beweist  die  Thatsache,  dass  die 
Giesser,  die  sich  höheren  Temperaturen  aussetzen  müssen,  an  dieser 
Affection  nicht  erkranken  imd  dass  die  Wärmeentwickelung  beim 
Schweissverfahren  gering  ist. 

Auch  den  sogenannten  Sonnenstich  (Lisolation)  halten  viele 
Autoren  für  eine  reine  Lichtwirkung  und  unterstützen  diese  Annahme 
durch  die  Thatsache,  dass  der  Gletscherbrand  auch  bei  Tempera- 
turen unter  dem  Gefrierpunkte  auftritt.  Nach  den  Untersuchungen 
von  Unna  hat  die  Haut  in  dem  Pigment  ein  Schutzmittel  gegen  die 
Sonnenstrahlen.  Folgerichtig  nimmt  die  Intensität  der  Hautfarbe  vom 
Aequator  gegen  die  Pole  ab.  Ob  diese  Anschauung  nicht  das  post 
hoc  mit  dem  propter  hoc  verwechselt?  Dass  aber  das  Pigment  schützt, 
das  beweist  uns  ein  Versuch  von  Bewies.  Er  bestrich  sich  vor  einer 
grösseren  Bergpartie  einzelne  Theile  des  Gesichts  mit  brauner  Farbe 
und  zwar  mit  dem  Erfolge,  dass  das  Sonneneczem  überall  dort  fehlte, 
wo  er  gefärbt  und  ausgesprochen  vorhanden  war,  wo  er  dies  unterlassen 
hatte.  Dass  die  Wirkungen  des  Lichtes  sich  nicht  auf  die  obersten 
Schichten  der  Haut  beschränken,  sondern  tiefer  gehen,  beweist  nach- 
stehendes Experiment:  wenn  man  Chlorsilber,  das  in  kleine  Glas- 
röhrchen eingeschmolzen  ist,  mit  Hülfe  eines  Troicarts  Thieren  unter 
die  Haut  bringt,  so  schwärzt  sich  dasselbe  bei  denjenigen  Thieren,  die 
dem  Lichte  ausgesetzt  werden,   und  bleibt  bei  den  im  Dunkeln  gehal- 


lieber  den  Einflass  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  a.  psychischen  Functionen.     265 

tenen   unverändert.    Diese  Thatsache  wurde  durch  eine  Nachprüfung 
Uibeleisen's  bestätigt. 

Noch  wäre  eine  Keihe  von  Versuchen  anzuführen,  welche  die  Be- 
deutung des  Lichtes  beweisen.  Winslow  fand,  dass  das  Wachsthum 
der  Kinder  in  den  lichtarmen  Monaten  keine  Fortschritte  macht. 
Kinder,  die  längere  Zeit  im  Dunkeln  gehalten  werden,  haben  gegen- 
über solchen,  die  dem  Lichte  ausgesetzt  sind,  eine  um  ^/^  Grad  tiefere 
Körpertemperatur.  Wer  dächte  dabei  nicht  an  die  Voit'sche  Theorie 
von  den  durch  das  Liebt  ausgelösten  Muskelreizen?  Wenn  neben 
vielen  Anderen  Esmarch  das  häufige  Vorkommen  von  Tuberculose 
und  Malaria  in  bestimmten  Districten  auf  die  finsteren  Wohnungen  be- 
zieht, so  darf  man  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  diese  Wohnungen 
auch  andere  hygienische  Nachtheile  haben  (Feuchtigkeit,  schlechte  Ven- 
tilation) und  wenn  Willibald  Gebhardt  manche  Nervenkrankheit 
auf  das  Tragen  dunkler  Kleider  zurückführt,  so  möchte  ich  als  Nerven- 
arzt dazu  bemerken,  dass  derjenige  Stand,  welcher  beruflich  sein  Leben 
lang  schwarz  gekleidet  ist,  statistisch  die  wenigsten  Nervenkrankheiten 
aufweist. 

Endlich  führen  einzelne  Forscher  das  endemische  Vorkommen  des 
Cretinismus  in  einzelnen  wenig  besonnten  Gebirgsthälern  auf  den  Licht- 
mangel zurück;  dem  ist  entgegenzuhalten,  dass  dortselbst  chronische 
Lizucht  herrscht  und  dass  dieser  Cretinismus  auch  im  Flachland  auf- 
tritt, wo  einzelne  Gemeinden  in  der  Diaspora  aus  religiösen  Gründen 
sich  von  der  Verbesserung  ihres  degenerirten  Blutes  durch  Heirathen 
mit  sogenannten  Fremden  fernhalten. 

Trotz  der  vielen  Citate  habe  ich  Vieles,  was  die  Literatur  enthält, 
übergehen  müssen,  weil  die  wichtige  Frage,  wie  das  Licht  auf  den 
kranken  Organismus  wirkt,  drängt. 

Es  macht  sich  in  der  jüngsten  Zeit  eine  gewisse  Lichtbewegung 
geltend,  die  freilich  zuerst  in  Laienkreisen  bemerkbar  war.  Vornehmes 
IgQoriren  neuer  Forschungsresultate,  auch  wenn  sie  überraschend 
klingen,  ist  weniger  vornehm  als  thöricht  und  wem  es  unter  den 
Gollegen  unsympathisch  erscheint,  sich  mit  so  modernen  Dingen,  die 
noch  nicht  einmal  abgeklärt,  viel  weniger  ausgereift  sind,  zu  beschäf- 
tigen, der  denke  an  die  autoritativen  Worte  Hufeland^s:  „Vier 
Himmelsgaben,  die  man  mit  Becht  als  die  Schutzgeister  alles  Lebenden 
bezeichnen  kann,  giebt  es:  Luft,  Wärme,  Licht  und  Wasser;  obenan 
aber  steht  das  Licht  !^' 

Schon   die   alten    Römer,    mit   denen  jede   gründliche    deutsche 


266  ^^*ranz  (^arl  Müller. 

Forschung  beginnt,  falls  sie  sich  nicht  gar  auf  die  Bibel  berufen  kann^ 
hatten  auf  ihren  Hausdächern  Solarien,  in  denen  sie  Sonnenbäder 
nahmen,  und  die  römischen  Aerzte  verordneten  dieselben  gegen  Gicht 
und  Rheumatismus.  Am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  beschloss  der 
italienische  Kliniker  Loretti  sein  Lebensstudium  über  die  Tuberkulose 
mit  dem  Ausspruch,  dass  diese  Krankheit  nur  mit  Eisen  und  Licht  sieg- 
reich bekämpft  werden  könnte,  üeberhaupt  machte  sich  schon  vor  hundert 
Jahren  eine  gewisse  Bewegung  für  die  Lichttberapie  geltend:  Villet 
heilte  Wassersüchtige  in  14  Tagen  durch  täglich  mehrstündige  Be- 
sonuimg;  der  sächsische  Leibarzt  Carus  schwärmte  für  Lichtcuren 
bei  der  Hypochondrie,  worunter  man  damals  auch  die  moderne  Neur- 
asthenie begriff.  Später  beschäftigten  sich  Emmet  und  Snegireff 
mit  dem  Sonnenlicht  und  empfahlen  dasselbe  gegen  Utei  usblutungeu ; 
üuiseppe  heilte  Gelenkentzünduuj^en  damit.  —  Li  neuester  Zeit  war 
es  vorzugsweise  der  Schweizer  Kickli,  ein  Laie,  der  in  seinem  Buche 
(Die  atmosphärische  Cur)  die  Vorzüge  der  Sonnenbäder  begeistert 
anpries  und  in  Vclden  (Kraiu)  eine  SonnenbadeanstJilt  errichtete.  Sein 
tSchüler  war  der  Arzt  Ott  erbein  (Die  Heilkraft  des  Sonnenlichtes) 
und  diesem  folgte  eine  Reihe  anderer  „Naturlieilkuudiger":  Lab  mann, 
Dock.  Disque,  Böhm,  Kühner.  Die  von  L a h m a n n  eingeführten 
Luftlichtbäder  resp.  deren  Werth  wird  am  besten  von  dem  Erfinder 
selbst  durch  eine  von  iiim  edirte  Plu  togr.iphie  ilhistrirt.  auf  der  sich 
acht  nackte  Männer  im  Freien  im  Schnoegcstöbej'  anscheinend  sehr 
Wühl  befinden.  Es  ist  bezeichnend,  dass  der  grössere  Theil  der  Ver- 
treter der  Lichttherapie  dem  Stande  der  so][^enannten  Naturärzte  an- 
gehört, welche  sich  dem  Laien  gegenüber  gerne  als  von  der  Wissen- 
schaft emancipirt  hinstellen.  Ihre  offenkundigen  Fehler  in  den  Heil- 
bestrebuugen,  ihre  der  Logik  nicht  immer  entsprechenden  Schlüsse  imd 
vor  Allem  ihre  Stellungsnahme  ge^^en  die  Wissenschaft  schadeten  dem 
neuen  Heilverfahren  in  der  ärztlichen  Welt.  Erst  der  Amerikaner 
Kellogg,  der  einwandsfrei  in  einer  dem  bekannten  Hydropathen 
Winternitz  gewidmt'ten  Jubiläumsschrift  für  das  Lichtheilverfahren 
eintrat,  gab  uns  Aerzten  den  Muth  nachzuprüfen  —  und  dies  wurde 
mit  grossem  Eifer  gethan. 

In  erster  Linie  müssen  wir  den  Fehler  vermeiden,  der  vielfach 
gemacht  wird  und  sich  durch  Heilerfolge  der  sogenannten  Freiluftcur 
bei  der  Tnberculose  erklärt.  Es  wäre  unlogisch,  daraus,  dass  vermehrte 
Sauerstofizufuhr  der  kranken  Lunge  nützt,  das  Licht  als  heilkräftig  be- 
zeichnen zu  wollen.     Auch  der  Glaube  vieler  Autoren,  dass  die  Sonnen- 


lieber  den  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  u.  psychischen  Functionen.     267 

bäder  deshalb  nutzbringend  sind,  weil  sie  die  Schweissabsonderung  er- 
höhen nnd  damit  infectiöse  Stoflfe  entfernen,  ist  zum  Theil  richtig, 
aber  wir  müssen  uns  hier  nur  auf  die  reine  Lichtwirkung  beschränken 
und  aus  den  vorhandenen  VeröflFentlichungen  alles  das  ausschliessen, 
was  unbrauchbar  und  unverstanden  ist. 

Ich  muss  an  dieser  Stelle  bedauern,  dass  die  Versuche  mit  den 
einfachen  Lichtbädern  nur  das  Eine  Resultat  ergehen  haben,  dass  sie 
auf  die  Stimmung  und  auf  den  Stoffwechsel  günstig  einwirken.  —  Viel 
interessanter,  wenn  auch  noch  nicht  einwandsfrei,  wäre  die  Thatsache, 
dass  an  unheilbaren  Krankheiten  Leidende  (Krebs,  Gehirnerweichung, 
Endstadium  der  Schwindsucht)  auch  im  lange  fortgesetzten  Sonnenbade 
keine  Pigmentvermehrung  erfahren,  während  Heilbare  rasch  gebräunt 
werden.  Rickli  schreibt  das  dem  Unistande  zu,  dass  bei  consumirenden 
Krankheiten  zu  viel  rothe  Blutkörperchen  verbraucht  werden,  womit  die 
Hautpigmentirung,  unmöglich  gemacht  wird.  Ausgedehnter  sind  die 
mit  electrischem  Licht  gemachten  Versuche,  auf  deren  Installirung 
man  dadurch  kam,  dass  das  Sonnenlicht  nicht  immer  im  gewünschten 
Moment  zur  Verfügung  steht. 

Ich  UIU8S  kurz  ein  solches  electrisches  Bad  beschreiben :  denken 
Sie  sich  einen  circa  1^2  Meter  hohen,  an  der  Innenfläche  mit  Spiegel- 
glas ausgekleideten  Kasten  von  1  Quadratmeter  Grundfläche.  Der- 
selbe ist  innen  mit  regelmässig  angeordneten  Glühlampen,  ungefähr  50 
"von  je  20  —  25  Kerzenstärke,  besetzt  nnd  hat  oben  eine  Oeffnung,  durch 
welche  der  Kopf  des  Badenden  schaut  und  vorne  eine  Eingangsthüre. 
Sobald  der  Kranke  in  unbekleidetem  Zustande  auf  einem  im  Kasten 
befindlichen  Stuhle  Platz  genommen  hat,  wird  der  Stromkreis  ge- 
schlossen und  der  Badende  allseitig  von  Licht  umflossen.  Die  Temperatur 
im  Innern  des  Kastens  steigt  laugsam ;  trotzdem  athmet  der  Badende 
ständig  frische  und  kühle  Luft,  deren  Zufluss  man  durch  Oeffnung 
eines  Fensters  erleichtern  kann.  Statt  der  Glühlampen  nimmt  man 
auch  Bogenlampen  und  braucht  dann  deren  4  von  je  1000  Normal- 
kerzen. Das  Spectrum  des  Bogenlichtes  ist  continuirlicher  und  hat  ein 
ununterbrochenes  Farbenbaud,  wogegen  das  Sonnenlicht  von  den  bekannten 
Frauenhofe r'schen  Linien  durchzogen  ist.  Ein  wirklicher  Unterschied 
zwischen  beiden  Lichtarten  ist  aber  in  der  Therapie  nicht  zu  verzeichnen. 

Die  auffälligste  Wirkung  dieser  Bäder  ist  die  Erhöhung  der 
Körpertemperatur,  mit  welcher  lebhafte  Transpiration  verbunden 
ist,  die  raschci'  und  leichter  erfolgt  als  im  Dampikastenbad.  Da  der 
Dampf  einen  Druck  auf  die  Haut  ausübt  und  damit  die  Oeffnung  der 


268  Frmsiz  Carl  Müller. 

Foren  enchwerty  so  findet  sich  nach  solchen  Bädern  bei  schwächlichen 
Personen  leicht  eine  gewisse  Mattigkeit,  die  bei  Lichtbädern  ausbleiben 
soll.  —  Wie  das  electrische  Lichtbad  auf  das  Herz  wirkt,  wissen  wir 
aus  neuen  Untersuchungen  Uibeleisens;  der  Puls  war  bei  24®  B. 
unverändert  und  betrug 

zwischen  25  und  30®  R 78  in  der  Minute, 

„         30     „     35  0  R Ö8    »     n  11 

r,        36     „     40®  R 110    „     „ 

«         41      „     46®R 118    „     „ 

«         46     „     48®  R 130    „     „ 

bei    50®  R U2    „     „ 

Es  giebt  Versuche,  in  denen  man  bis  auf  60®  R.  stieg.  Magere  und 
mittelstarke  Personen  vertragen  ohne  Beschwerden  eine  Temperatur 
bis  zu  43  ®  sehr  gut.  Fette  Personen  fühlen  schon  bei  38  ®  eine  gewisse 
ünbehaglichkeit.  Selbstverständlich  hat  die  Schweissabgabe  eine  Ver- 
minderung des  Gewichts  im  Gefolge.  Dieselbe  beträgt  bei  42  ®  und 
35  Minuten  Dauer  im  Mittel  ein  Kilo;  bei  späteren  Bädern  ist  die 
Gewichtsabnahme  geringer.  Nach  dem  Bad  folgt  eine  Abkühlung, 
dann  Ruhe  und  endlich  Massage.     Dies  zur  Technik!  — 

Kalinczeck  (Zur  curativen  Anwendung  des  electrischen  Licht- 
bades, Prager  med.  Wochenschrift  1898,  23)  hat  mit  Baruch  im 
Marienbader  Neubade  Versuche  augestellt  und  herausgefunden,  dass 
eine  starke  Schweissproduction  erst  bei  34®  R.  eintritt.  Dies  stimmt 
mit  den  Angaben  von  Winternitz  nicht  überein,  der  dies  schon  bei 
27  ®  R.  fand.  Das  subjective  Befinden  war  bis  45  ®  C.  nicht  unangenehm; 
die  Gewichtsabnahme  schwankte  von  200 — 750  Gramm,  Puls  und  Ath- 
mung  gingen  erst  jenseits  von  45  ®  C.  stark  in  die  Höhe. 

Von  grossem,  wissenschaftlichem  Interesse  ist  die  scheinbare  That- 
sache,  dass  durch  Lichtbäder  die  Zahl  der  rothen  Blutkörper- 
chen vermehrt  wird.  Es  ist  dies  in  fast  allen  Fällen,  die  in 
neuester  Zeit  beobachtet  wurden,  constatirt  worden,  weshalb  ich  nicht 
anstehe,  einige  sehr^instructive  Beobachtungen  Uibeleisen's  hier  an- 
zuführen. Während  der  normale  Mensch  in  einem  Gubikmillimeter 
Blut  circa  5  Millionen  rothe  Blutkörperchen  hat,  finden  sich  bei  der 
Bleichsucht  oft  nur  4,  auch  3  Millionen.  Da  die  rothen  Blutkörperchen 
die  Träger  des  lebenswichtigen  Oxyhämoglobins  sind,  so  ist  es  begreif- 
lich, das  eine  solche  Verminderung  auch  das  Gesammtbefinden  wesent- 
hch  beeinträchtigt,  üibeleisen  fand  bei  einer  19jährigen  bleich- 
•üchtigen  Dame   zu  Beginn    der  Cur  3  200000   rothe  Blutkörperchen; 


Ueber  den  Einfiuss  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  u.  psychischen  Functionen.     269 

nach  dem  6.  Lichtbade  4000000;  in  einem  anderen  Falle  stieg  nach 
7  Bädern  die  Zahl  von  2  800  000  auf  3  900  000,  dabei  verminderte  sich 
die  Pulsfrequenz  von  125  pro  Minute  auf  die  Norm,  so  dass  die 
Patientin  nach  13  Lichtbädern  gesund  entlassen  werden  konnte. 

Es  ist  in  den  letzten  Jahren  eine  interessante  Beobachtung  ge- 
macht worden,  dass  nämlich  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  im 
Hochgebirge  gradatim  mit  der  Erhöhung  über  dem  Meeresspiegel  zu- 
nimmt und  zwar  bis  zu  7  Millionen,  ebenso  wie  die  Erythrocyten  nach 
Kaltwasser-Proceduren  eine  starke  Vermehrung  erfahren.  Ein  leb- 
hafter Streit  entbrannte  und  noch  ist  die  Frage  nicht  gelöst,  ob  wir 
es  mit  einer  localen  oder  universellen  Vermehrung  des  Blutfarbstoffes 
bei  diesen  Beobachtungen  zu  thun  haben.  Hier  ist  auch  gar  nicht  der 
Platz,  auf  diese  Frage  näher  einzugehen,  da  wir  nur  referiren  wollen. 

Ich  habe  vor  ca.  10  Jahren  ausgedehnte  Versuche  über  den  Hämo- 
globingehalt des  Blutes  bei  der  Neurasthenie  gemacht  und  das  Resultat 
in  meinem  „Handbuch  der  Neurasthenie"  veröffentiicht.  Dabei  ergab 
sich,  dass  viele  Nervenschwache  hämoglobinarm  sind,  so  dass  ich  keinen 
Anstand  nahm,  die  Modekrankheit  unseres  Jahrhunderts  als  eine  Blut- 
krankheit aufzufassen.  Wenn  wir  die  Verhältnisse  bei  der  Bleichsucht 
mit  meinen  Ergebnissen  vergleichen,  so  liegt  es  nahe,  dass  ich  lebhaft 
dafür  stimme,  auch  die  Neurastheniker,  vorerst  freilich  nur  experimentell, 
mit  Lichtbädern  zu  behandeln.  Die  diesbezüglichen  Versuche,  welche 
ich  gemeinschaftlich  mit  Uibeleisen  anstelle,  sind  noch  im  Gange, 
jedoch  noch  nicht  so  weit  gediehen,  dass  irgend  ein  abschliessendes 
ürtheil  möglich  wäre.  — 

Kellogg  hat  ungefähr  40000  Lichtbäder  gegeben  und  kommt 
zu  folgendem  Schlüsse:  „Es  erwiesen  sich  dieselben  namentlich  werth- 
▼oll  bei  Fettsucht,  Rheumatismus,  Zuckerharnruhr, 
chronischer  Nierenentzündung  und  bei  allen  Krankheiten,  die 
mit  Verlangsamung  des  Stoffwechsels  verbunden  sind.  Es 
ist  das  wirksamste  aller  schmerzstillenden  Mittel  und  leistet 
als  Tonicum  und  Nervinum  gute  Dienste  bei  Neurasthenie 
und  Schwächezuständen  des  centralen  Nervensystems.'^ 
In  einer  neueren  Arbeit  (Das  elektrische  Lichtbad,  med.  mod.  1899, 
1  u.  2)  bezeichnet  L  H.  Kellogg  als  das  einzig  wirksame  Agens  des 
electrischen  Lichtbades  die  Hitze.  Es  wird  zwar  das  Dampfbad,  das 
russische  und  römische  Bad,  das  heisse  Wasser  nicht  ganz  verdrängen, 
aber  wegen  der  Leichtigkeit  der  Anlage  und  Unterhaltung,  sowie  wegen 
der  Reinlichkeit  weiteste  Verbreitung  finden. 


2  70  Franz  Carl  Müller. 

Below  hat  im  Laufe  des  heurigen  Somiuers  in  seiner  Anstalt 
in  Berlin  einem  ärztlichen  Publikum  eine  Keihe  von  lichtbehandelt^n 
Fällen  vorgestellt:  Neurasthenie,  Bronchialasthma,  Neural- 
gien, Syphilis;  Lupusfälle  waren  nicht  darunter.  Er  gab  seine 
Beobachtungen  in  Gemeinschaft  mit  Kattenbracker  heraus,  doch 
macht  die  Broschüre  den  Eindruck,  als  sei  sie  mehr  für  den  Laien 
berechnet.  Gärtner  kritisirte  die  Below' sehen  Besultate  in  einem 
Vortrag,  den  er  in  der  Berliner  medicinischen  Gesellschaft  hielt  und 
kam  zu  dem  Schlüsse: 

1.  Es  sind  die  Glühlichtbäder  Heissluftbäder,  in  denen  der  Orga- 
nismus durch  gesteigerte  Perspiration  und  Verdunstung  des  Seh  weisses 
sich  abzukühlen  und  seine  Temperatur  zu  regulireu  vermag,  während 
bei  Dampfbädern  eine  Abkühlung  durch  Verdunstung  des  Schweisses 
unmöglich  ist. 

2.  Der  Kranke  hat  den  Kopf  ausserhalb  des  Kastens  und  athmet 
frische  Luft. 

Beide  Vorzüge  haben  aber  auch  die  Kastendampfbäder.  Gärtner 
stimmt  mit  B  e  h  r  e  n  d  darin  überein,  dass  die  Behandlung  der  Syphilis 
mit  Licht  ohne  Quecksilber  energisch  beaufsichtigt  werden  müsste,  weil 
dadurch  leicht  der  richtige  Augenblick  der  Behandlung  übersehen  wird. 

Freystadtl  hat  Entfettungscureu  bis  zu  45  Pfund  ohne  Diätr 
änderungen  und  ohne  Schädlichkeiten  durchgeführt.  Gebhardt  machte 
auf  der  Naturforschcrversammlun^  in  Braunschweig  den  Vorschlag, 
man  möge  ihn  mit  Bacterieucultureu  impfen  und  er  würde  im  Licht- 
kasten alle  Schädigungen  leiclit  üb(».rwintlen.  Ersteres  wäre  ein  heroischer 
Entschluss,  letzteres  ist  dagegen  eine  Behauptung,  die  über  den  Rahmen 
des  bis  jetzt  wissenschaftlich  Festgestellten  hinausgeht. 

Die  Naturheilkunde  schreckt  auch  vor  dem  Ausspruch  nicht 
zurück,  dass  Syphilis,  die  durch  Quecksilbercureu  verschleppt  oder 
unterdrückt  wurde,  durch  Lichtbäder  geheilt  werden  könne.  Es  geht 
mit  diesem  alten  Vorwurf  wie  mit  den  immer  wieder  geäusserten  Be- 
denken über  die  Impfung.  Die  Sachverständigen  wissen  durch  Erfah- 
rung und  Statistik,  dass  die  Syphilis  nur  durch  Quecksilber  relativ  ge- 
heilt werden  kann  und  dass  seit  der  Zwangsimpfung  die  Pockenfälle  auf 
ein  Mininmm  reducirt  wurden.  Trotzdem  remonstrireu  die  dii  minorum 
gegen  diese  Mittel  und  haben  damit  den  Beifall  der  urtheilslosen  Menge. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dass  das  Sonnenlicht  die  wunderbaren  Wir- 
kungen, die  es  auf  das  Wachsthum  von  Pflanzen  und  Thieren  ausübt^ 
durch   die    kurzwelligen  blauen,  violetten   und   ultravioletten   Strahlen 


Ueber  den  fiinflass  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  n.  psychischen  Functionen.     271 

vermittelt,  welche  ja  auch  im  Bogenlicht  enthalten  sind.  Diese  An« 
nähme  veranlasste  schon  vor  sechs  Jahren  Benedikt  Friedländer 
zu  dem  Vorschlage,  man  solle  versuchen,  das  Bogenlicht  in  die  Therapie 
einzuführen.  Dies  that  vor  Allem  Niels  R.  Finsen  in  Kopenhagen, 
der  bei  der  Behandlung  des  Lupus  wirklich  aufsehenerregende  Erfolge 
erzielte.  Ueber  dieselben  berichtet  neuerdings  Sophus  Bang  in  der 
Monatsschrift  für  practische  Dermatologie  (1899,  I). 

Die  Vorrichtung  zur  Concentrirung  des  electrischen  Bogenlichtes 
ist  so  getroffen,  dass  die  Strahlen  zuerst  durch  zwei  Linsen  parallel 
und  dann  durch  zwei  weitere  Linsen,  zwischen  denen  sich  eine  20 — 30  cm 
dicke  Wasserschicht  bewegt,  convergent  auf  die  behandelte  Stelle  ge- 
leitet werden.  Die  Linsen  sind  aus  Bergcrystall ;  damit  gelingt  es,  die 
meisten  Bacterien  im  Reagensglas  in  2  bis  60  Secunden  zu  tödten ;  da 
aber  das  Blut  die  Fähigkeit  besitzt,  die  bi;echbaron  Strahlen  zu  ab- 
sorbiren,  so  muss  man  die  Haut  möglichst  blutleer  macheu  und  dies 
gelingt  durch  Aufdrücken  eines  Glases,  das  aus  zwei  Bergcrystallplatten 
besteht,  zwischen  denen  gleichfalls  kaltes  Wasser  strömt.  —  Bang 
glaubt,  dass  bei  täglich  zweistündiger  Application  die  Behandlung 
mindestens  4—6  Monate,  unter  Umständen  aber  auch  2  Jahre  dauern 
kann.  Finsen  wendet  Bogeniampen  mit  einer  Stärke  bis  zu  80  Am- 
peres au  und  erzeugt  kaltes  Licht  dadurch,  dass  er  das  Licht  durch 
eine  blaugefärbte  Wasserschicht  hindurchtreten  lässt;  bis  zum  Ende 
1898  hat  er  246  Fälle  von  Lupus  behandelt  und  in  60%  anscheinende 
Heilung  erzielt.  Seine  Versuche  wurden  von  Sarason  nachgeprüft, 
desgleichen    von  Kernig,  Kosloffski,   Ewald    und    G-ebhardt. 

Der  Amerikaner  Thay er  hat  concentrirtes,  also  durch  eine  Linse 
gesammeltes  Sonnenlicht  bei  Hautkrebsen  verwendet,  Andere  haben  die 
Hauttuberculose  auch  mit  einem  electrischen  Scheinwerfer  behandelt, 
dessen  Lampe  eine  Stärke  von  12  Amperes  hatte.  Später  stellte  sich 
heraus,  dass  man  gleichzeitig  die  sogenannte  Aquapunctur  angewandt 
hatte,  also  die  Haut  mit  einem  nadelscharfen,  unter  grosser  Gewalt 
wirkenden  Wasserstrahl  reizte  und  an  den  Geschwürsenden  Granu- 
lationen erzielte.  Derartige  Erfolge  auf  das  Conto  der  Lichttherapie 
setzen  zu  wollen,  ist  unwissenschaftlich,  denn  Heilwirkungen  der  reinen 
Aquapunctur  sind  den  Hydropathen  seit  Langem  bekannt. 

Rationell  sind  überhaupt  nur  die  Versuche  Finsen 's:  er  erreichte 
Entzündungen  der  verschiedensten  Grade,  vom  einfachen  Erythem  bis 
zur  Blasenbildung  und  zur  starken  Anschwellung  der  Haut.  Interessant 
kt  die  Heilung  der  Kahlköpfigkeit  durch  Licht;  es  ist  tbatsäcblich  ge- 


379  Franz  Carl  Müller. 

langen,  durch  directe  Bestrahlung  nach  einigen  Wochen,  in  schwereren 
Fällen  nach  Monaten,  kahle  Inseln  auf  dem  Kopfe  zu  behaaren,  natür- 
lich nur  solche,  auf  denen  die  Haarwurzeln  unversehrt  geblieben  waren 
und  nur  der  Haarschaft  einem  Pilze  zum  Opfer  gefallen  war. 

Es  giebt  Optimisten,  auch  unter  den  Aerzten,  welche  der  Licht- 
therapie  dies,elbe  Bedeutung  zumessen,  wie  der  Electrotherapie. 

Wir  haben  bisher  bei  unseren  Betrachtungen  immer  nur  auf  das 
weisse  Licht  Bezug  genommen.  Es  ist  aber  naheliegend,  dass  das 
farbige  Licht  Wirkungen  haben  kann,  die  im  weissen  Licht  nur  un- 
klar zur  Beobachtung  kommen.  Die  Wellen  des  rothen  Lichtes  machen 
in  der  Secunde  450  Billionen  Schwingungen,  die  des  violetten  790 
Billionen,  also  auch  für  die  rein  mechanische  Auffassung  schon  ein 
gewaltiger  Unterschied.  Wir  wissen,  dass  roth  und  gelb  den  Eindruck 
des  Freundlichen,  Behaglichen,  blau  den  des  Kalten,  Ernsten  macht. 
Schon  im  Mittelalter  spielte  die  rothe  Farbe  eine  Rolle  iu  der  Pocken- 
therapie :  man  verhängte  die  Fenster  mit  rothen  Tüchern  und  in  Japan 
giebt  man  den  pockenkranken  Kindern  rothes  Spielzeug.  Mehr  Me- 
thode haben  die  Versuche,  das  farbige  Licht  bei  Greisteskranken  anzu- 
wenden. Der  Erste,  der  sich  damit  beschäftigte,  war  Ponza;  er 
schrieb  der  rothen  Farbe  erregende,  der  blauen  und  violetten  be- 
ruhigende Wirkung  zu  und  brachte  seine  Melancholiker  in  roth  be- 
leuchtete, seine  Tobsüchtigen  in  blaue  oder  violette  Zimmer.  Seine 
1876  herausgegebenen  Resultate  veranlassten  eine  Nachprüfung  in  Eng- 
land. Dort  brachte  man  einen  schwer  Melancholischen  in  ein  mit 
gelben  Tapeten,  gelber  Decke  und  gelbem  Fussboden  ausgestattetes, 
nach  Süden  gelegenes  Zimmer.  Sobald  die  Sonne  ins  Zimmer  schien, 
war  dasselbe  von  goldigen  Lichtfluthen  durchwogt.  Einen  zweiten 
Kranken,  der  die  Nahrung  verweigerte,  brachte  man  in  ein  himmel- 
blaues Zimmer;  einen  Tobsüchtigen  schloss  man  in  einen  violett  be- 
leuchteten Raum  ein  und  in  allen  drei  Fällen  soll  der  Erfolg  über- 
raschend gewesen  sein;  ob  er  dauernd  war,  ist  leider  nicht  anzugeben. 
Zu  ähnlichen  günstigen  Resultaten  gelangte  Da  vi  es,  nur  fand  er,  dass 
grelle  Beleuchtung  leicht  Kopfschmerzen  hervorruft. 

So  interessant  auch  diese  Versuche  sein  mögen,  so  sind  sie  doch 
nicht  einwandsfrei,  denn  wir  wissen  aus  der  Erfahrung,  wie  sehr  die 
verschiedenen  Farben  durch  das  Auge  auf  das  Gemüth  wirken.  Für 
die  wissenschaftliche  Verwerthung  wäre  es  nöthig,  farbige  Lichtbäder 
auf  den  Körper  wirken  zu  lassen,  ohne  dass  das  Auge  betheiligt  ist 
Zu  diesem  Zwecke  setzte  üibeleisen   zwei  Neurastheniker   in   den 


lieber  den  Einfluss  des  Lichtes  auf  die  körperlichen  u.  psychischen  Functionen.     273 

rothbeleuchteten  Lichtkasten.  In  diesen  beiden  Fällen  wurde  von  den 
betreffenden  Kranken  eine  günstige,  erfrischende  Wirkung  angegeben. 
Wie  weit  sich  dieselbe  durch  Suggestion  erklären  lässt  und  wie  weit 
sie  durch  die  Beleuchtung  allein  erzielt  worden  wäre,  muss  weiteren 
Versuchen  überlassen  werden. 

Farbiges  Licht  studirte  übrigens  schon  im  Anfange  der  sechziger 
Jahre  der  amerikanische  G-eneral  Pleasanton  und  fand,  dass  violettes 
Licht  auf  die  Entwickelung  junger  Thiere  besser  wirkt  als  gewöhnliches 
Licht.  Eondratiew  studirte  an  septisch  inficirten  Thieren  und  con- 
statirte,  dass  die  Sepsis  je  nach  der  Farbe  des  benutzten  Lichtes  ver- 
schieden abläuft:  bei  Lichtabschluss  ist  das  Fieber  geringer,  aber  die 
Entkräftung  geht  rascher  vor  sich.  Grün  entspricht  völligem 
Lichtmangel,  Violett  erhöht  das  Fieber,  erhält  aber  die  Kräfte,  Roth 
kommt  dem  Violett  nahe.  Weiss  drückt  die  Temperatur  herunter.  Der 
günstige  Verlauf  der  ganzen  Krankheit  ist  am  raschesten  in  Weiss, 
dann  folgt  Violett,  dann  Roth  und  dann  Grün,  dann  Lichtabschluss. 

Eine  eigenartige  Methode  stammt  von  Babitt,  die  erOhromo- 
pathie  nennt  Er  benützt  1 — 2  Liter  fassende  Gefasse  aus  blauem, 
rothem,  grünem  Glase,  durch  die  er  das  Licht  concentrirt  auf  die 
kranke  Stelle  bringt;  damit  will  er  Gicht,  Rheumatismus,  Bronchitis 
geheilt  haben.  Sein  Schüler  Schmitz  erfand  einen  Apparat,  Ther- 
mostat, der  im  Stande  ist,  Tabes,  Sehnervenatrophie,  Tuberculose 
im  letzten  Stadium  zu  bessern.  Unter  Anderem  behauptet  er,  vom 
Sonnenlicht  strahlen  die  feinsten  Kräfte  aus  imd  diese  Feinheit  wird 
nur  durch  die  ebenfalls  der  Neuzeit  angehörende  Entdeckung  der 
psychomagnetischen  Od- Ausstrahlung  bei  sensitiven  und  hochorganischen 
Menschen  übertroffen.  Wer  das  Aetheratomgesetz  genau  kennt,  weiss 
auch,  dass  alle  Dinge  ihre  besonderen  Essenzen  und  Aetheratome  aus- 
strahlen müssen,  gleich  Ebbe  imd  Fluth,  Pulsion  und  Repulsion,  Ein- 
und  Ausathmen,  negativer  und  positiver  Polarisation. 

Wir  sind  nun  einerseits  in  Gebiete  gelangt,  in  die  zu  folgen  der 
nüchternen  Forschung  nicht  gut  möglich  ist,  andererseits  streiften  wir 
die  Lehre  vom  0  d  und  ich  bin  überzeugt,  dass  nach  den  langen 
medicinischen  Auseinandersetzungen  jetzt  jedes  psychologische  Herz 
lauter  schlägt.  Freiherr  von  Reichenbach  hat  mit  seiner  „Od" 
genannten  Naturkraft,  die  zwischen  Electricität,  Magnetismus,  Licht 
und  Wärme  steht,  begeisterte  Anhänger,  aber  noch  mehr  absprechende 
Richter  gefunden.  Er  experimentirte  mit  farbigem  Lichte  und  fand, 
dass  grüne  Lichtstrahlen  im  Stande  sind,  bei  sensitiven  Menschen  Ohn- 

Zeitschrift  für  Hsnpnotismns  «to.    IX.  18 


274  Franz  Carl  Müller. 

machten  und  Krämpfe  zu  erzeugen.  Er  machte  seine  Versuche  an  einem 
matten  Spectrum  des  Mondlichtes  und  liess  seine  Versuchsobjecte  mit  einem 
Stabe  die  yerschiedenen  Farben  des  Spectrums  durchlaufen.  Sobald 
dieselben  auf  Grün  kamen,  fielen  sie,  entweder,  wenn  sie  hochsensitir 
waren,  wie  vom  Blitze  getroffen  nieder  oder  sie  empfanden  als  stärkere 
Naturen  widrige  Gefühle,  die  aufhörten,  sobald  der  Stab  in  eine 
andere  Farbe  kam.  Er  fand  femer,  dass  positives  und  negatives  Od 
auf  Metalle,  Holz  und  Wasser  verladen  werden  kann,  mit  denen  man 
die  stärksten  Einwirkungen  auf  den  Menschen  auslöst. 

In  dem  ersten  Taumel  des  Entzückens  über  die  Entdeckung  der 
Böntgen-Strahlen  glaubte  man,  sie  mit  dem  Od  identificiren  zu 
können.  Man  ist  aber  bald  davon  zurückgekommen.  Wir  wissen,  dass 
die  Röntgen-Strahlen  die  kleinste  Wellenlänge  haben,  etwa  den  fünf- 
zehnten Theil  der  ultravioletten  Lichtstrahlen.  Diese  Böntgen-Strahlen 
wirken  auf  Pflanzen  nicht  heliotropisch  und  sind  dem  Insektenauge 
sichtbar;  sie  haben  keinen  merklieben  Einfluss  auf  die  Athmung  der 
Thiere,  verursachen  aber  eine  mehrstündige  Erregung.  Bieder  con- 
statirte,  dass  an  ausserhalb  des  Thierkörpers  auf  gutem  Nährboden  be- 
findlichen Bacterien  durch  Bestrahlung  mit  Böntgen-Licht  die  Fort- 
entwickelung rasch  gestört  werden  kann,  was  Bergmann  nach  seinem 
Vortrag  auf  der  letzten  Naturforscherversanmilung  bezweifelt.  Heil- 
erfolge sahen  Sinapius  bei  der  Tuberculose,  Despeignes  wandte 
die  Strahlen  bei  einem  Magenkrebs  an,  der  sich  verkleinerte;  nach 
Franzi  US  verzögert  sich  die  Tollwuth,  endet  schliesslich  aber  doch 
mit  dem  Tode.  Bekannt  sind  die  Veränderungen,  die  das  Böntgen- 
Licht  auf  der  Haut  hervorruft,  aber  weniger  bekannt  ist  die  That- 
Sache,  dass  es  sonst  normal  sehende  Menschen  giebt,  welche  die 
Knochen  einer  durchleuchteten  Hand  nicht  sehen  können.  Ob  diese 
Böntgen-Strahlen-Blindheit  ein  Analogen  zur  Farbenblindheit  ist,  wage 
ich  nicht  zu  unterscheiden. 

Aus  all  dem  Gesagten  geht  hervor,  dass  die  Lichttherapie  zweifel- 
los eine  Zukunft  hat,  aber  um  dieselbe  auszubilden,  bedarf  es  strenger 
und  rein  wissenschaftlicher  Forschungen.  Es  geht  damit  wie  mit  allen 
neuen  Heilmitteln,  die  zuerst  überschätzt  und  dann  unterschätzt  werden. 
Es  wäre  schade,  wenn  der  gute  Kern,  der  in  der  Sache  liegt,  durch 
die  falschen  und  voreiligen  Schlüsse  optimistischer  Therapeuten  zer- 
stört würde. 

Am  Schlüsse  meines  Vortrages  ist  es  mir  eine  angenehme  Pflicht, 
Seiner  Excellenz  Herrn  Generallieutenant  Freiherm  von  Branca  für 
gütige  Unterstützung  bei  Beschaffung  der  Literatur  meinen  wärmsten 
Dank  auszusprechen. 


Casuistische  Beiträge  zur  Psychotherapie. 

Von 

Dr.  L,  Seif,  Nervenarzt  in  München. 


Fall  1. 


Fräalein  F.,  28  Jahr,  hereditär  belastet,  war  schon  als  Kmd  reizbar,  empfind- 
lich und  launenhaft.  Später  nahm  dies  noch  zn.  Sehr  nervös  ist  sie  erst  seit  5 
Jahren,  nachdem  sie  durch  den  plötzlichen  Tod  ihres  Verlobten  schwere  Gemüths- 
erregung^en  durchgemacht  hatte.  Durch  mehrere  Jahre  dauernde  ZwangsTorstel- 
lungen  waren  innerhalb  eines  mehrmonatlichen  Anstaltsaufenthaltes  im  Ja^e  1896 
Tollständig  abgeheilt 

Als  sie  im  Februar  1896  in  meine  Behandlung  trat,  klagte  sie  über  schlechten 
Schlaf,  Appetitlosigkeit,  schmerzhaften  Druck  auf  dem  Scheitel,  Angstgefühle,  Herz- 
klopfen, plötzlich  auftretende  tiefe  Verstimmungen  und  heftige  Hustenbeschwerden 
in  Folge  chronischer  Bronchitis.  Sie  bekleidete  damals  zum  ersten  Male  in  ihrem 
Leben  eine  Stelle  und  zwar  als  Erzieherin  in  einer  hiesigen  Familie,  fühlte  sich 
aber  in  dieser  Stelle  recht  unglücklich. 

Die  Behandlung  bestand  in  einfachen  Wasseranwendungen  und  suggestiv- 
therapeutischen  Maassnahmen.  £s  gelang  schon  in  der  ersten  Sitzung,  Somnam- 
bulismus zu  erzielen.  Schlaf,  Appetit  und  Allgemeinbefinden  besserten  sich  nun 
zusehends,  sie  wurde  viel  heiterer  und  kam  auch  ihren  beruflichen  Verpflichtungen 
mit  einer  gewissen  Freudigkeit  nach;  indes  kehrten  schon  bei  ganz  geringfügigen 
Anlässen,  häufig  auch  äusserlich  unmotivirt,  jene  oben  geklagten  plötzlichen  Ver- 
stimmungen, Angstgefühle  und  der  Druck  auf  dem  Scheitel  trotz  dagegen  ge- 
richteter Suggestionen  immer  wieder. 

Dieses  auffallende  Verhalten,  dass  ein  Theü  der  krankhaften  Erscheinungen 
der  Suggestion  wich,  der  andere  aber,  scheinbar  unmotivirt,  immer  wiederkehrte, 
sowie  Anregungen,  die  ich  damals  aus  Breuer  und  F  r  e  u  d  's  Arbeiten  über  Hysterie 
empfangen,  veranlassten  mich,  im  Juni  1896  in  tiefer  Hypnose  mit  Hülfe  der  Hyper- 
mnesie  eine  Psychoanalyse  jener  Gemüthsveränderungen,  über  deren  intellectuelles 
Substrat  etwas  auszusagen  die  Kranke  im  Wachzustande  nicht  vermochte,  zu  ver- 
suchen.   Das  Ergebniss  war  folgendes: 

Vor  10  Jahren,  eines  Morgens,  als  sie  ausging,  stiess  sie  plötzlich  auf  der 
Strasse  auf  eine  ihr  sonst  ganz  unbekannte  Dame,  von  der  sie  die  Nacht  vorher 
geträumt  hatte.  Sie  behauptete,  nie  vorher  jene  Dame  gesehen  zu  haben.  Dieses 
eigenthümliche  Ereigniss  machte  sie  im  ersten  Augenblicke  ganz  verwirrt  und  be- 

18* 


276  ^'  Seif. 

stürzt,  doch  dachte  sie  weiter  nicht  mehr  daran,  machte  ihre  Einkäufe,  blieb  aber, 
ohne  zu  wissen  warum,  den  ganzen  Morgen  verstimmt.  Nachmittags  ging  sie  mit 
ihrer  Schwester  spazieren  und  wurde  dabei  plötzlich  von  einer  heftigen  Verstim- 
mung, Unruhe  und  einem  sehr  schmerzhaften  Druck  auf  dem  Scheitel  befallen  und 
weinte,  ohne  dass  sie,  von  ihrer  Schwester  darnach  gefragt,  den  Grund  angeben 
konnte.  Auf  meine  Frage,  was  für  Gedanken  sie  sich  denn  bei  jenem  zufälligen 
Zusammentreffen  gemacht  habe,  erwiderte  sie,  sie  habe  in  jenem  Augenblicke  ver- 
rückt zu  sein  geglaubt.  —  Während  sie  mir  dies  Alles  erzählte,  kam  sie  sichtlich 
in  eine  wachsende  Unruhe  tmd  Erregung  und  wiederholte  mehrmals,  „so  *  etwas 
könne  nur  Abnormen  passiren,  sie  müsse  abnorm  sein".  Da  das  „Abreagiren"  kein 
Ende  nehmen  wollte  und  die  Erregung  noch  zunahm,  beruhigte  ich  sie  nun,  auf 
'alle  Einzelheiten  ihrer  Darstellung  eingehend,  und  stellte  ihr  den  ganzen  Vorfall 
als  durchaus  harmlos  und  erklärlich  dar,  und  belehrte  sie  ungeföhr,  dass,  wie  eine 
Wunde,  solange  ein  Fremdkörper  in  ihr  stecke,  nicht  heilen  können,  so  auch  ihre 
Angst,  ihre  Verstimmung  und  ihr  Kopfdruck  immer  wieder  habe  auftreten  müssen, 
da  jener  Schrecken  und  jene  beunruhigenden  Gedanken  seitdem  immer  in  ihr  ge- 
steckt hätten;  nun  aber  sei  sie  darüber  ganz  klar  und  beruhigt  und  damit  jenes 
Vorkommniss  mit  allen  seinen  unangenehmen  Folgen  ein  für  allemal  überwunden 
und  sie  von  jetzt  ab  also  gesund. 

Nach  dem  Erwachen  Amnesie  imd  Euphorie.  Sie  erklärt,  sich  so  behaglich 
zu  füUen,  wie  schon  seit  Langem  nicht  mehr.  In  mehreren  folgenden  Sitzungen 
wurden  jene  Suggestionen  von  ihrer  nunmehr  dauernden  Heilung  wiederholt  und 
variirt. 

Ich  habe  das  Fräulein  seit  jener  Zeit  noch  oftmab  gesehen  und  bekomme  seit 
1  Jahre  von  ihrer  Familie  und  ihr  selbst,  da  sie  von  hier  fortgezogen  ist,  von 
Zeit  zu  Zeit  Nachrichten. 

Sie  ist  seitdem  in  ihrem  ganzen  Wesen  viel  freier  und  frischer.  Jene  tiefen, 
langdauernden  Gemütbsdepressionen  sind  verschwunden ;  nur  sehr  selten  mehr  traten  bei 
ihr  Verstimmungen  auf  und  dann  nur  von  geringer  Intensität  und  Dauer.  Auch 
der  Kopfschmerz  kam  viel  seltener.  Die  Verstimmungen  bei  der  Erinnerung  an 
den  Tod  ihres  Verlobten  waren  in  den  letzten  Jahren  leichter  geworden;  sie 
hatten  schliesslich  unter  der  Wirkung  der  Suggestion  einer  ruhigen  Kesignation 
Platz  gemacht. 

Soll  ich  das  Gesammtresultat  mit  wenigen  Worten  bezeichnen,  so  kann  ich  es 
nur  eine  weitgehende  Besserung  nennen,  eine  vollständige  Heilung  ist  es  nicht,  da 
nur  die  Quantität  und  Frequenz  der  krankhaften  Erscheinimgen,  nicht  aber  das 
Qualitative,  das  Hysterische  derselben,  von  der  Behandlung  beeinflusst  wurde. 

Nach  Breuer  und  Freud  aber  hätte  man  hier  eine  vollständige 
Heilung  erwarten  sollen,  nicht  eine  bloss  symptomatische.  Jene 
Forscher  gingen  von  der  Thatsache  aus,  dass  Gefühle  sich  isolirt  im 
Bewusstsein  halten  können,  deren  intellectuelles  Substrat  unter  die  Be- 
wusstseinsschwelle  gesunken  ist,  also  imbewusst  bleibt.  An  diese  Er- 
fahrung knüpften  sie  ihre  neue  Therapie  der  Hysterie :  das  intellectuelle 
Substrat  ins  Bewusstsein  zu  heben,  und  damit  den  „eingeklemmten 
Affect"  abzureagiren. 


Gasuistisohe  Beiträge  zur  Psychotherapie.  277 

Wenn  es  nur  auch  damit  immer  gethan  wäre!  Es  wäre  dies 
wirklich  ein  Wunsch,  aufs  innigste  zu  wünschen. 

Aber  was  lehrt  die  Erfahrung  darüber? 

Unter  den  vielen  Fällen  von  Hysterie,  die  ich  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  zu  untersuchen  und  zu  behandeln  Gelegenheit  hatte,  habe  ich 
vielmals  solche  von  ähnlicher  Zusammensetzung,  wie  es  der  oben  an- 
geführte ist,  gesehen. 

Die  Schwierigkeiten  beginnen  aber  gleich  beim  Aufdecken  des  in- 
tellectuellen  Substrates.  Bei  dem  Rühren  an  alten,  unangenehmen  Er^ 
innerungen  sind  häufig  emotionelle  Verschlimmerungen  das  nächste 
Resultat.  Es  kann  da  gar  nicht  genug  Vorsicht  und  Individualisirungs- 
kunst  angewendet  werden. 

Dabei  will  ich  hier«  ganz  absehen  von  der  von  O.  Vogt^)  schon 
hervorgehobenen  schädigenden  Wirkung  der  hierbei  angewendeten 
Wachsuggestion,  wie  sie  Freud  angegeben.  Eine  weitere  Schwierig- 
keit hat  es  mit  dem  Abreagiren.  Unser  Fall  oben  zeigte  es  in 
typischer  Weise.  Ich  war  nur  gezwungen,  da  des  Reagirens  kein  Ende 
wurde,  mit  der  Fremdsuggestion  einzugreifen  und  die  Gefiihlsstärke 
des  unlogischen  intellectuellen  Substrates  durch  logische  Correctur  des 
letzteren  aufzuheben,  was  auch  gelang. 

Beiläufig  will  ich  hier  nur  erwähnen,  dass  in  manchen  schweren 
Fällen  trotz  logischer  Correctur  des  intellectuellen  Substrates  die 
Emotion  bestehen  bleibt,  was  m.  E.  darauf  zurückzuführen  ist,  dass 
solchen  Falles  der  Gefühlston  der  corrigirenden,  logischen  Gegen- 
vorstellungen zu  schwach  ist,  um  die  an  Intensität  überlegene  Emotion 
zu  paraJysiren. 

Dazu  kommt  noch  eine  wichtige  Thatsache,  die  die  endgiltige  Be- 
seitigung hysterischer  Gefühlsstörungen  oft  genug  zu  einer  „crux" 
macht.  Einmal  setzt  sich  durch  jahrelange  Dauer  die  Verstimmung  in 
Folge  Einübung  immer  fester  und  verbindet  sich  dann  häufig  mit 
schwer  zu  beseitigenden  Autosuggestionen,  ein  ander  Mal  erleidet  sie 
im  Laufe  der  Zeit  durch  immer  neue  Einwirkungen  Veränderungen, 
dass  sie  schliesslich,  d.  h.  zur  Zeit  der  Psychoanalyse,  ein  Totalgefuhl 
.darstellt,  in  das  die  jene  neuen  Einwirkungen  begleitenden  Gefühle  als 
Oomponenten  eingegangen  sind,  deren  sämmtliche  intellectuelle  Elemente 
aber  zu  „heben"  unmöglich  werden  kann. 

Eine   andere  Form  der  Beseitigung   intellectueller  Substrate   als 


»)  Diese  Zeitschrift,  Bd.  VIII,  pag.  352  ff. 


278  I".  Seit 

die  oben  besprochene  wnrde  von  O.  Vogt  in  der  suggestiven  Amnesie, 
wie  er  sie  bei  seinen  Experimenten  oft  mit  Glück  anwendete,  ange- 
geben und  von  Stadelmann  als  Vergessenheitssuggestion  besonders 
empfohlen. 

Leider  aber  haben  die  Erfahrungen  in  der  Praxis  nicht  gehalten, 
was  Stadelmann 's  Erwartungen  versprochen.  Der  Grund  dafiir 
wird  wohl  darin  zu  suchen  sein,  dass  es  einmal  bei  vielen  Fällen  nicht 
gelingt,  die  Hypnose  so  weit  zu  vertiefen,  um  eine  tiefer  gehende 
Amnesie  für  das  intellectuelle  Element  mit  Erfolg  zu  suggeriren, 
während  ein  ander  Mal  wohl  die  Suggestion  gelingt,  der  Erfolg  aber 
durch  eine  die  Amnesie  auf  associativem  Wege  wieder  aufhebende 
Einwirkung  nur  von  kürzerer  oder  längerer  Dauer  ist. 

Das  Haupthindemiss  aber,  eine  vollstän^'ge  Heilung  der  Hysterie 
zu  erzielen,  liegt  m.  E.  in  der  der  Hysterie  eigenthümlichen  Disposition, 
gelegentlich  auf  ähnlichem  Wege  wie  bei  früheren  Störungen  immer 
wieder  ähnliche  Störungen  zu  contrahiren,  und  in  der  Unzulänglichkeit 
unserer  heutigen  Mittel,  jene  Disposition  aufzuheben. 

Immerhin  ist  es  ein  grosses  Verdienst  von  Breuer  und  Freud, 
der  Psychotherapie  der  Hysterie  neue  Wege  gezeigt  zu  haben,  wenn 
auch  ihre  Verallgemeinerungen  (auch  die  über  die  sexuelle  Ursache 
der  Hysterie)  sich  als  vielfach  irrthümlich  herausgestellt  haben.  Ausser 
der  hypnotischen  Suggestion  bleibt  aber  auch  dem  ganzen  übrigen 
Rüstzeug  der  Psychotherapie  noch  viel  dabei  zu  thun  übrig.  Ausser- 
ordentlich viel  danken  wir  aber  O.  Vogt,  der  mit  seiner  ausge- 
zeichneten Methode  des  partiellen  systematischen  Wachseins  das  Studium 
der  hysterischen  Erscheinungen  erst  in  wissenschaftliche  Bahnen  ge- 
leitet hat  und  damit  es  möglich  machte,  in  exacter  Weise  eine  sym- 
ptomatische Besserung  und  Heilung  jener  Erscheinungen  zu  erzielen. 

Fall  2. 

Frau  F.,  25  Jahr,  kam  am  30.  Nov.  18%  zu  mir  und  erzählte  mir,  sie  stamme 
Yon  nervösen  Eltern  und  sei  schon  als  Kind  au%eregt,  reizbar  und- unstet  gewesen. 
Eigentlich  krank  sei  sie  erst  seit  2  Jahren  und  zwar  seit  folgendem  Vorfall:  Sie 
hatte  von  ihrer  Tante  das  Versprechen  erhalten,  in  die  in  einigen  Tagen  statt- 
findende Vorstellung  der  Walküre  gehen  zu  dürfen,  mit  der  hinzugefügten  Voraus- 
setzung, dass  sie  nicht  vorher  unwohl  würde.  Schon  lange  von  der  Sehnsucht  er- 
füllt, „die  Walküre**  einmal  zu  sehen,  war  sie  nun  ganz  ausser  sich  vor  Freude, 
aber  auch  zugleich  von  einer  ge^sdssen  Angst  erfüllt,  der  Theaterbesuch  könne 
durch  das  Eintreten  der  Periode  vereitelt  werden.  Am  Tage  des  Theaterbesuches 
trat  wirklich  die  Regel  ein,  was  sie  indes  der  Tante  verheimlichte.  Sie  ging  Abends 
ins  Theater,   nachdem   sie  schon   den  ganzen  Tag  über  durch   das  Eintreten  der 


Gasuistische  Beiträge  snir  Psychotherapie.  279 

Regel  in  einer  zunehmenden  Erregung  sich  befunden  hatte.  Diese  Erregung 
sdiwoll  im  Theater,  'wo  sie  sich  auf  der  Gallerie  unter  vielen  Menschen  befand, 
plötzlich  zu  einem  heftigen  Angstzustande  an,  der  von  einem  furchtbaren  den 
Athem  beklemmenden  Druck  in  der  Magengegend,  heftigen  Kopfschmerzen, 
Schwindel  und  einem  Lähmungsgefühl  im  ganzen  Körper  begleitet  war.  Dieser 
Zustand  dauerte  nun  mehrere  Tage,  verschwand  dann  für  kurze  Zeit  und  zeigte 
die  Tendenz,  immer  wieder,  länger  und  heftiger  aufinitreten.  Als  neu  kam  zu 
diesen  Erscheinungen  von  jenem  Tage  an  eine  Angst  vor  jeder  Berührung  mit 
Menschen  und  die  Unföhigkeit,  ohne  Begleitung  auf  der  Strasse  zu  gehen,  was  sie 
selbst  mit  dem  Auftreten  des  Angstzustandes  unter  den  vielen  Menschen  und  mit 
der  sie  auf  dem  ganzen  Heimwege  vom  Theater  begleitenden  Angst,  bei  ihrem 
Schwächegefühle  nicht  nach  Hause  zu  kommen,  erklärte.  Ausserdem  klagte  sie 
über  sehr  labile  Stimmung.  In  Folge  der  vielen  misslungenen  Garen,  die  'sie 
durchgemacht,  hatte  sie  noch  dazu  die  Autosuggestion,  unheilbar  zu  sein. 

Nach  einiger  Schwierigkeit  gelang  es,  sie  in  Hypotaxie  zu  bringen.  Das  Re- 
sultat der  17  mit  ihr  vorgenommenen  Hypnosen,  die  immer  die  obige  Tiefe  bei- 
behielten, war,  dass  sie  jedesmal  ruhiger,  heiterer  und  hoffhungsfreudiger  von 
dannen  ging,  um  dann  nach  mehr  minder  kurzer  Zeit  wieder  rückfällig  zu  werden. 
Ich  rieth  schliesslich  ihrem  Manne,  der  durch  seine  ungeduldige  und  ängstliche  Art 
ungünstig  auf  sie  wirkte,  sie  in  eine  Anstalt  zu  bringen,  um  dort  in  einem  gün- 
stigeren Milieu  die  Behandlung  fortsetzen  zu  lassen.  Damit  trat  sie  aus  meiner 
Behandlung  aus.  Einige  Monate  später  erzählte  mir  ihr  Mann,  sie  sei  ihm  nicht  in 
die  Anstalt  gegangen,  weil  sie  sich  vor  diesem  Schritte  fürchtete,  sie  sei  aber  seit- 
dem bedeutend  ruhiger,  gehe  gelegentlich  wieder  allein  aus  und  in  Gesellschaft, 
ihre  übrigen  krankhaften  Erscheinungen  seien  viel  milder. 

In  diesem  Falle  stand  also  das  intellectuelle  Substrat  vollständig 
klar  im  Bewusstsein;  doch  genügte  zur  Beseitigung  der  Emotion  die 
eigene  logische  Correctur  des  Substrates  ebensowenig  wie  die  durch 
die  Suggestion  versuchte,  da  die  gefühlsstarke  und  nicht  zu  über- 
windende Autosuggestion  der  Unheilbarkeit,  wie  ich  oben  unter  Fall  1 
zu  begründen  suchte,  durch  ihre  grössere  Gefühlsintensität  überwog. 
Erst  die  mit  einem  stark  negativen  Gefühlston  verknüpfte  Vorstellung 
von  der  Anstaltsintemirung  und  die  von  dieser  ausgelöste  lustbetonte 
Vorstellung  der  Freiheit  übernahmen  die  helfende  Bolle  und  vermochten 
einigermaassen  den  hysterischen  Erscheinungen  das  Gleichgewicht  zu 

halten. 

Fall  3. 

Frau  M.,  32  Jahr,  schwer  belastet  (Vater,  Mutter  und  ein  Bruder  waren  geistes- 
krank), kam  am  14.  Mai  1898  wegen  heftiger  Angstzu8tände,^tiefer  Verstimmungen  und 
Schlaflosigkeit  in  meine  Behandlung.  Als  Ursache  dafür  gab  sie  an,  sie  sei  vor 
einem  Vierteljahre  während  der  Abwesenheit  ihres  31annes  auf  einer  Reise  des 
Nachts  plötzlich  aus  dem  Schlafe  aufgeschreckt  und  glaubte  in  jenem  Momente  die 
Thüre  ihres  Schlafzimmers  sich  etwas  bewegen  zu  hören  und  gleichzeitig  sei  es  ihr 
wie  eine  Vorahnung  gewesen,  ihr  Mann  müsse  sterben;  denn  das  allein  habe  „der 


280  L.  Seif. 

Geist^  mit  der  Thürbewegung  anzeigen  wollen.  Die  Aa£Fegang  und  Angst,  die 
eioh  daran  anschloss,  nahm  noch  sehr  viel  mehr  zu,  als  ihr  Mann  am  nächsten  Tage 
mit  einem  Unwohlsein  nach  Hause  kam,  und  blieb  auch  dann  noch  unvermindert 
bestehen,  als  ihr  Mann  schon  wieder  vollständig  hergestellt  war.  Ihre  Xrankheits- 
einsieht  war  nur  unvollkommen.  Mit  tiefer  Unruhe  kam  sie  immer  wieder  auf 
,,ihre  unglückselige  Eigenschaft  der  Vorahnung",  deren  Besitz  sie  immer  unglück- 
lich machen  werde.  Ich  versetzte  sie  in  tiefen  Schlaf  (Somnamb.),  in  dem  sie 
durch  die  das  Unlogische  il^er  Vorstellungen  corrigirenden  und  andere  beruhigende 
Suggestionen  ihre  psychische  Ruhe  wiederfand.  Weitere  10  Sitzungen  befestigten 
das  Erreichte  und  stellten  einen  regelmässigen,  guten  Schlaf  wieder  her.  Sie  weiss 
sich  nun,  wie  sie  mir  erst  jüngst  mittheilte,  frei  von  Vorahnungen  und  Aberglauben 
und  ist  dauernd  wohl  geblieben. 

Fall  4. 

Fräulein  H.,  21  Jahr,  belastet  (Vater  excentnsch,  Mutter  hysterisch,  Bruder 
imbecill),  wurde  im  Alter  von  5  Jahren  von  einem  Dienstmädchen  zur  Onanie  an- 
gehalten, der  sie  von  da  ab  sehr  oft  sich  hingab.  Mit  13.  Jahren  verführte  sie  ihre 
Erzieherin  zum  sexuellen  Verkehr  mit  dem  männlichen  Geschlechte.  Sie  fühlte 
sehr  häufig  mit  Abscheu  das  Entehrende  und  Schimpfliche  ihres  Thuns  bis  zum 
taedium  vitae  und  machte,  wie  mir  ihre  Mutter  mittheilte,  drei  Selbstmordversuche 
mit  Aufhängen.  Trotzdem  gab  sie  sich  immer  wieder  von  Neuem  unter  dem,  wie 
sie  sagte,  zwingenden  Drucke  ihrer  sexuellen  Reizbarkeit  allen  möglichen,  oft  tief 
unter  ihr  stehenden  Männern  hin.  Vor  3  Jahren  bei  Gelegenheit  einer  sie  sehr 
aufregenden  Kneippkur  zeigte  sie  zum  ersten  Male  grosse  hysterische  Anfälle.  Un- 
empfindlichkeit  der  linken  Körperhälfte,  Schlaflosigkeit,  Reizbarkeit  und  sehr 
launenhaftes  und  impulsives  Wesen.  Ende  vorigen  Jahres  wurde  sie  von  einem 
Studenten  guter  Hoffnung.  Während  der  ganzen  Schwangerschaft  war  sie  von 
allen  sexuellen  Perversitäten  ganz  frei  und  auch  guten  Allgemeinbefindens. 

Als  ich  sie  am  1.  October  1896.  7  Wochen  nach  der  glücklichen  Entbindung 
von  einem  kräftigen  Mädchen,  besuchte,  fand  ich  sie  hochgradig  erregt,  vor  Allem 
über  die  seit  14  Tagen  mit  furchtbarer  Heftigkeit  wieder  auftretenden  sexuellen 
Empfindungen  und  Triebe.  Sie  onanirte  wieder  bei  Tag  und  Nacht  und  war  sehr 
launenhaft.  Auch  die  grossen  Anfälle  waren  schon  mehrere  Male  wiedergekehrt. 
Oftmals  äusserte  sie  die  Absicht,  sich  und  ihr  Kind  zu  tödten. 

Während  der  Untersuchung  zeigte  sie  für  kurze  Zeit  Mutismus,  ausserdem 
grosse  motorische  und  psychische  Unruhe.  Sie  ist  gross,  schlank,  von  massigem 
Ernährungszustände,  Brüste  gut  entwickelt. 

Hysterogene  Zonen:  Brüste,  Jugulum,  Epigastrium  und  linkes  Ovarium. 

Die  Untersuchung  der  Sensibilitüt  ergab  linksseitige  Hemianästhesie  und  die 
mir  auch  sehen  bei  anderen  Fällen  aufgefallene  Thatsache,  dass  bei  wiederholter 
Prüfung  derselben  anästhetischen  Stelle  Berührungs-  und  Schmerzempfindung  all- 
mählich ganz  zurückkehrte. 

Als  ich  sie  einschläferte,  zeigte  sie  sofort  die  Anfangserscheinungen  des  hy- 
sterischen Anfalles,  der  aber  schon  nach  wenigen  Secunden  unter  entsprechenden 
Suggestionen  nachliess  und  einem  tiefen  Schlafe  (Somnamb.)  Platz  machte. 

Im  Ganzen  fanden  6  hypnotische  Sitzungen  statt,  unter  deren  Wirkung,  die 
durch  Wasseranwendungen  noch  unterstützt  wurde,  das  Befinden  der  Kranken  von 


Casuistische  Beiträge  zur  Psychotherapie.  281 

Tag  za  Tag  sich  hob.  Sie  wurde  immer  ruhiger,  die  Verstimmungen,  Mord-  und 
Selbstmordgedanken  traten  ganz  zurück,  ebenso  auch  ihre  sexuellen  Parästhesien ; 
die  Anfälle  blieben  aus.  Dagegen  beschäftigte  sie  sich  sehr  fleissig  im  Haushalte. 
Ein  Jahr  später  noch  erzählte  mir  der  Hausarzt,  sie  befinde  sich,  abgesehen 
von  gelegentlichen  geringeren  nervösen  Störungen,  ganz  wohl.  Seitdem  habe  ich 
nichts  mehr  von  ihr  gehört. 

Als  besonders  interessant  an  diesem  Falle  möchte  ich  die  That- 
sache  hervorhebeD,  dass  während  der  Gravidität  der  Verlauf  des  hysteri- 
schen Erscheinungscomplexes,  speciell  der  sexuellen  Erscheinungen  und 
der  Anfälle,  eine  Unterbrechung  erfuhr,  deren  Ursache  wohl  in  der 
ganzen  Umwälzung  des  Organismus  und  der  damit  verbuDdenen  psy- 
chischen Veränderung  zu  suchen  sein  wird. 

Die  tägliche  Beobachtung  ist  recht  reich  an  bitteren  und  trüben 
Erfahrungen,  wenn  oft  Aerzte,  ausgehend  von  falschen  Verallgemeine- 
rungen der  eben  hervorgehobenen  Thatsache,  und  irregeleitet  durch 
veraltete  Vorurtheile  den  Eltern  solcher  hysterischer  Töchter  voreilig 
den  Sath  geben,  diese  zu  verheirathen,  „dann  sei  die  Hysterie  gleich 
^eheilt^'.     Ja,  wenn  nur  nicht  die  schwere  Enttäuschung  erst  nachkäme! 

Fall  5. 

Herr  F.,  38  Jahr,  aus  gesunder  Familie,  früher  immer  gesund,  von  sehr  gutem 
Ernährungszustände,  hatte  mit  22  Jahren  eine  Gonorrhoe  und  linksseitige  Orchitis 
durchgemacht.  Dadurch  sehr  beunruhigt,  wagte  er  aus  Furcht  vor  Wieder- 
ansteckung nicht  mehr  den  Ooitus  auszuüben.  Vor  einem  halben  Jahre  nun  verlobte 
-er  sich  und  entdeckte  dabei  alsbald  zu  seinem  grossen  Schrecken,  dass  er  sich  jedes- 
mal in  Gegenwart  seiner  Braut  impotent  fühlte.  Ein  guter  Freund,  Arzt,  rieth  zu 
dem  täglich  zweimaligen  Gebrauche  kalter  Sitzbäder,  „dann  würde  es  schon  gehen^. 
Als  er  mich  im  September  1895  in  meiner  Sprechstunde  besuchte,  war  er  hoch- 
gradig erregt  und  erzählte  mir,  er  sei  seit  6  Tagen  verheirathet,  auf  der  Hochzeits- 
reise und  „complet  impotent''.  Die  sehr  schwachen  Erectionen  erloschen  schon  ante 
portas.  Die  Untersuchung  ergab:  linker  Hoden  verhärtet,  rechter  ohne  abnormen 
Befund.  Ich  stellte  nach  dem  Ergebnisse  der  psychischen  Untersuchung  die  Diagnose 
auf  psychische  Impotenz  und  versprach  Heilung.  Ganz  leicht  wurde  bei  ihm  Hypo- 
taxie  mit  Amnesie  erzielt.  Nach  2  Hypnosen,  die  ich  durch  Faradisation  der  Sym- 
physen-, Lendenmarks-  und  Dammgegend  unterstützte,  bekam  er  kräftige  Erectionen, 
worüber  er  sehr  glücklich  war.  Ich  sagte  ihm,  er  wäre  nun  so  weit,  dass  es  ganz 
gut  ginge,  aber  er  solle  noch  mit  dem  Versuche  warten.  Am  nächsten  Tage  kam 
er  freudestrahlend,  es  wäre  sehr  gut  gegangen,  aber  —  trotz  lange  fortgesetzten 
Coitirens  sei  es  zu  keiner  Ejaculation  gekommen.  Ich  beruhigte  ihn  darüber  noch 
in  einer  letzten  Hypnose.  Am  nächsten  Tage  musste  er  heimreisen,  da  sein  Ur- 
laub zu  Ende  war.  —  Juni  1896  besuchte  er  mich  und  erzählte  mir,  er  sei  seit 
der  Behandlung  ganz  potent,  seine  Frau  im  sechsten  Monate  schwanger.  Doch 
wollte  in  den  ersten  Monaten  nach  der  Behandlung  trotz  kräftigster  Erectionen 
and  vollständiger  potentia  coeundi  keine  Ejaculation  eintreten  (eine  neue  Bestätigung 


282  I*.  Seif. 

für  die  schwere,  langsame  Erregbarkeit  des  Ejaculationscentrums !)  Erst  am  Weihr 
nachtsabend,  wo  er  sehr  yergnügt  mit  seiner  Frau  zosammengesessen  und  durch 
Pansch  sehr  aufgeräumt  geworden  war,  beschloss  zum  ersten  Male  die  Ejaculation 
den  Beischlaf  und  seitdem  immer. 

Fall  6. 

Herr  G.,  56  Jahre  alt,  trat  Ende  October  1897  wegen  Schlaflosigkeit,  die  sich 
auch  mit  Morphium  nicht  ganz  beheben  Hess,  ängstlicher  Verstimmung  und  grosser 
Reizbarkeit,  unter  der  er  seine  Umgebung  oft  schwer  leiden  liess,  sowie  wegen  all- 
gemeiner Schwäche  und  fast  vollständiger  Appetitlosigkeit  in  meine  Behandlung. 

Als  Ursache  seines  Leidens  ergab  sich  bei  der  Untersuchung  weit  fortge- 
schrittene Tuberculose  der  Lungen  und  des  Darmes.  Was  ihn  am  meisten  quälte, 
war  die  anhaltende  Schlaflosigkeit,  die  allen  Mitteln,  auch,  wie  oben  gesagt,  dem 
Morphium,  das  ihm  nur  Unbehagen  und  Unruhe  machte,  trotzte. 

Anfangs  fand  täglich  eine  hypnotische  Sitzung  statt,  später  nur  mehr  jeden 
anderen,  dritten  oder  vierten  Tag.  Schon  nach  der  vierten  Hypnose,  in  der  der 
Kranke  in  Somnambulismus  gekommen  war,  wurde  ein  zehnstündiger,  ununter- 
brochener, erquickender  Schlaf  erzielt;  das  Morphium  aber  blieb,  ohne  von  dem 
Kranken  vermisst  zu  werden,  dauernd  aus  der  Behandlung  fort. 

Schon  von  Anfang  der  Behandlung  an  erzog  ich  ihn  zur  Autohypnose,  was 
ihm  von  der  vierten  Hypnose  an  auch  ganz  leicht  gelang,  und  so  schlief  er  von 
da  ab  täglich  bis  zu  18  und  mehr  Stunden,  durch  4  Monate  bis  fast  zu  seinem 
Tode  am  20.  Febr.  1898.  Ausserordentlich  hob  sich  sein  psychisches  Befindeu. 
Seine  Angst,  Verzweiflung  und  oft  brutale  Reizbarkeit  gingen  zurück;  er  wurde 
dankbar,  liebenswürdig  und  hatte  für  seine  Umgebung  wieder  freundliche  Worte. 

Mit  dieser  Hebung  des  subjectiven  Befindens,  die  auch  von  einer  solchen  des 
körperlichen,  Besserung  des  Appetit«,  erfolgreicher  suggestiver  Beseitigung  der 
Leibschmerzen,  begleitet  war,  kam  er  nun  in  einen  Zustand  behaglicher  Euphorie, 
der  bis  zum  Tode  dauerte. 

Einen  Tag  vor  seinem  Tode  und  den  Todestag  selbst,  gelang  es  nicht  mehr, 
ihn  einznschlälem. 

Unter  der  natürlich  immer  fortschreitenden  Inanitioa  war  es  nämlich  diese 
beiden  Tage  zum  Auftreten  von  Ideenfiucht,  Illusionen  und  Hallncinationen  meist 
heiteren  Characters  gekommen,  die  ihn  zu  sehr  ablenkten. 

In  diesem  Falle,  wo  alle  Aussicht  auf  Heilung  oder  Besserung 
von  vornherein  ausgeschlossen  war,  hatte  die  Behandlung  nur  die  eine 
Aufgabe,  die  Schmerzen  zu  beseitigen  und  Kühe  und  Schlaf  zu  schaffen 
und,  mit  einem  Worte  es  zu  sagen,  für  Euthanasie  zu  sorgen,  deren 
Schaffung  in  dieser  Form  wohl  nur  die  Suggestivtherapie  leistet,  die 
darum  in  solchen  und  ähnlichen  Fällen  nicht  genug  empfohlen  werden 
kann,  besonders  in  ihrer  Anwendung  wie  hier,  als  Dauerschlaf. 

Ich  glaube,  auch  Hirschlaff  würde  solchen  Falles  von  der  „Ver- 
werflichkeit tiefer  Hypnosen  aus  ethischen  Gründen^'  einmal  absehen 
und  sein  „ausnahmsweise^^  gelten  lassen. 


Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe. 

Von 

A.  Grohmanii- Zürich. 


Ich  möchte  durch  vorliegende  Zeilen  die  Aufmerksamkeit  der  Fach- 
männer im  Grebiete  der  Suggestion  auf  die  grosse  suggestive  Wirkung 
aufmerksam  machen,  die  durch  Briefe  ausgeübt  wird  und  speciell  durch 
Briefe  auf  einem  Gebiete,  das  ich  hier  hervorheben  werde. 

unter  den  verschiedenen  Graphologen,  die  sich  in  der  vierten 
Seite  unserer  Zeitungen  für  Gharacterauslegung  nach  Handschriften  an- 
bieten, macht  sich  besonders  ein  P.  P.  Liebe  in  Augsburg  durch 
pomphafte  Annoncen  bemerkbar. 

Aus  Bekanntenkreisen,  durch  zweite  Hand,  erhielt  ich  kürzlich  eine  grapho- 
logische Schrifbauslegung,  die  ein  mir  Unbekannter  sich  für  eine  gute  Geldsumme 
von  diesem  Graphologen  hatte  ausstellen  lassen.  Beigelegt  war  die  Broschüre 
^Seelen-  und  Char acter- Analyse  von  P.P.Liebe,  Augsburg,  Selbstverlag." 

Die  Schriftauslegung  lautet  wörtlich: 

(Umsetzung  des  Stenogramms.) 
Psychographologisches  Portrait. 
Wissenschaftlich-unparteiisch.  Comb.  Orig.  Methode. 
Auf  Grund  gesandter  Schriftprobe. 

Wenn  die  Festigkeit  Ihres  Characters  auch  keineswegs  phänomenal  genannt 
werden  kann,  so  ist  sie  doch  um  ein  gutes  Theil  bedeutender  als  bei  den  Durch- 
schnittsmenschen. Sie  sind  erfinderisch  beanlagt  und  verfügen  über  eine  Dosis 
Mutterwitz,  sind  in  Bezug  auf  die  Lebensauffassung  mehr  ernst  als  heiter,  im  All- 
gemeinen offen  und  ferner  accurat.  Im  aufgezwungenen  Verkehr  mit  Menschen, 
denen  Sie  gesellschaftlich  und  geistig  überlegen,  zeigen  Sie  Besonnenheit  und  wenig 
Mittheilsamkeit,  sofeme  Sie  nicht  durch  scheinbar  absichtloses  Sondiren  entdecken, 
dass  ein  guter  Kern  vorhanden. 

Bei  sonst  ahlichem  Bildungsgrade  offenbart  sich  in  wichtiger  Conversation  ein 
Widerspruchsgeist,  der  sich  jedoch  nicht  bis  zur  Streitlust  steigert  und  auf  eine 
vielleicht  tyrannische  Art  Ihres  Wesens  unmöglich  schliessen  lässt. 

Der  sich  breit  machenden  Gemeinheit  gegenüber  sind  Sie  ein  stolzer  Gharacter, 
der  aber  das  „noblesse  oblige^  hochhält  und  deshalb  eine  gewisse  Berechtigung  zu 
diesem  Stolze  hat.    In  sittlicher  Beziehung  haben  Sie  durch  mühsam  selbsterworbene 


284  ■^'  (rrohmann. 

Grundsätze  und  gefestig^te  Anschauungen  manche  Errungenschaft  zu  verzeichnen. 
Bezüglich  ihrer  Geistesart  kann  Ihnen  aber  der  Vorwurf  der  Manierirtheit  nicht 
ganz  erspart  bleiben.  Hier  wirken  Sacht  nach  Ausserordentlichem,  Phantastik  und 
eine  wenn  auch  nicht  verschrobene,  so  doch  nicht  immer  einfache  gediegene  Origi- 
nalität zusammen,  nicht  in  dem  Maasse,  dass  sich  öfter  ein  Hang  zur  Confiision 
einstellen  könnte.  Unleugbar  ist  es  ja  ein  den  Blick  in  die  Tiefen  nicht  scheuender 
und  nach  Keinem  und  Hohem  strebender  (reist,  der  mir  aus  diesen  Zügen  entgegen 
schaut.  Sie  neigen  in  manchem  Zuge  Ihrer  Anschauungsweise  ein  wenig  zum  Ueber- 
menschen,  nicht  zum  Nitzscheaner,  eher  sieht  es  nach  einem  Uebermenschen  in  der 
Aesthetik  aus.  Nun  finden  sich  auch  schwache  Anzeichen  von  Süffisance,  Un- 
gebundenheit  und  frohes,  jedoch  nicht  schaumweinartiges  Geniessen  und  stärkere, 
von  Leidenschaftlichkeit,  riesiger  Selbstliebe,  geistiger  Herrschsucht  und  excen- 
trischen  Launen. 

Ihr  Geist  äussert  manchmal  eine  wirklich  grandiose  Lebhaftigkeit;  zum  TheU 
rührt  diese  von  einem  sehr  incitablen  Nervenzustand  und  von  der,  wenn  durch  ein 
homogenes  Wesen  hingerissen,  in  Ihrem  Herzen  mächtig  fluthenden  Leidenschaft. 
Das  Ungestüm  derselben  übersteigt  dann  bei  Weitem  Ihre  Selbstbeherrschungs- 
fahigkeit,  die  übrigens  auch  Ihrer  Widerpruchslust  nicht  recht  gewachsen  ist. 
(Siehe  eine  analoge  Gonstatirung  am  Eingange.) 

Es  kann  Sie  nicht  wundem,  wenn  ich  zu  sagen  habe,  dass  Sie  im  schroffen 
Gegensatze  zu  dem  vorherigen  Ausspruche  Perioden  absoluter  geistiger  Unfrucht- 
barkeit und  innerer  Oede  zu  überwinden  haben  und  ich  brauche  dieses  nicht  zu 
commentiren. 

Sie  sind  in  einer  von  Ihnen  gewünschten  GeseUigkeit  schlagfertig,  intelligent, 
selbstbewusst,  kein  Spielverderber,  und  müssen  mir  dennoch  zugeben,  dass  Sie  Ihre 
schönsten  Stunden  zumeist  der  Einsamkeit  verdanken,  deren  gerade  Ihr  NatnreU 
zu  Zeiten  zwecks  innerer  Ausreife  und  Sicherung  des  Gewonnenen  bedarf.  Aber 
auch  Ihr  eigenartig  veranlagtes  Gemüth,  das  Augenblicke  kennt,  in  welchen  Sie  für 
Freude  unempfänglich  sind,  sehnt  sich  oft  nach  Stunden  der  Zwiesprache  mit  Ihrem 
eigenen  Innern  und  noch  mehr  nach  dem  Zusammenklang  mit  einem  Wesen,  das 
Ihre  frohlebigcn  Gefülile  und  Ihre  herben  Empfindungen,  Ihre  Staub-  und  Ihre 
Stürmergedanken  erkennt,  Sie  selbst  als  Ganzes  nimmt  und  die  rechte  Kunst  des 
Unterscheidens  und  mitlebenden  Zuhörens  versteht. 

In  Punkten  von  Belang  ist  Ihnen  eine  seltene  Einfachheit,  Herzenswärme  und 
ruhige  suchende  Abwägung,  dann  reges  Handeln  eigen. 

Die  scharfen  Ecken  wird  Zeit  und  Ausreife  abschleifen. 

Der  Meister  d.  w.  Psychographologie  P.  P.  Liebe,  pädag.  Schriftsteller. 

Hätte  Herr  Liebe  geschrieben,  dass  sein  Client  zwischen  150  und  2(X)  Oenti- 
meter  gross  sei,  so  hätte  er,  meiner  Meinung  nach,  eine  determinirtere  Erklärung 
abgegeben  und  noch  eher  einen  leicht  nachweisbaren  Irrthum  riskirt,  als  mit  seiner 
Characterschilderung. 

Aber    uninteressant    wäre    eine    solche   Maassangabe    gewesen.      Auf   das 
Interessante  kommt  es  aber  hier  gerade  au. 

Die  Expertise  ist  jedenfalls  ein  Muster  darin,  dass  sie  lauter  Aussprüche 
liefert,  die  alle  auf  Menschen  mit  recht  verschiedener  Anlage  passen. 

Also,  die  Characterfestigkeit  des  mir  unbekannten  Herrn  X.  soll  sich  zwischen 
den  beiden  Grenzen  des  „Phänomenalen**  einerseits,  und  des   „um  ein  gutes  Theil 


Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe.  286 

Bedeutendem  als  bei  den  Durchschnittsmenschen"  andererseits,  befinden.  Und  wie 
gerne  drückt  der  moderne,  pessimistisch  angelegte  Mensch  diesen  Durchschnitts- 
menschen tief  herab! 

Der  mir  unbekannte  Herr  X.  soll  auch  erfinderisch  beanlagt  sein.  Ich  bitte 
Herrn  Liebe,  mir  erstens  die  Menschen  zu  zeigen,  die  es  nicht  sind,  und  dann 
zweitens  die,  die  es  nicht  zu  sein  glauben. 

Wie  wohl  thut  die  Entdeckung,  dass  man  zu  den  gelegentlich  „absichtlich 
Sondirenden"  gehört.  Und  dass  man  dazu  gehört,  das  hat  Herr  Liebe  ganz 
allein  durch  die  Schrift  herausbekommen.  Der  Mann  kennt  mich,  dich,  sich  und 
uns  alle  also  ganz  genau. 

Der  „nicht  bis  zur  Streitsucht  sich  steigernde  Widerspruchsgeist''!  Ganz  der 
Herr  Ich  in  allen  Gassen! 

Herr  X.  hat  auch  viel  Freiheit  in  der  Wahl,  wo  er  sich  placiren  will:  hier 
das  „nicht  schaumweinartige  Gewissen **,  dort  „Leidenschaftlichkeit'',  und  gleich 
daneben  die  „manchmal  grandiose  Lebhaftigkeit''.  Irgend  einer  dieser  Sperrsitze 
wird  Herrn  X.  sicherlich  ^ehagen.    Wahrscheinlich  belegt  er  alle  drei. 

Die  Perioden  „absoluter  geistiger  Unfruchtbarkeit ** !  Wie  zutreffend  für  Herrn 
X.,  Y.  oder  Z. !  Bei  mir  stellt  sich  dieser  Zustand  gleich  nach  Tisch  ein,  und  wenn's 
Schweinecotteletts  gab,  noch  mehr. 

Ich  erinnere  mich  dunkel  eines  Herrn,  dessen  Namen,  Alter,  Herkunft,  Natio- 
nalität und  Beruf  ich  leider  ganz  vergessen  habe,  der  auch  an  dieser  Krankheit 
leiden  soll.    Er  soll  als  Palliativmittel  mit  Erfolg  ein  Sopha  angewandt  haben. 

Aber  auch  die  periodisch  eintretende  „innere  Oede"  ist  g^ut  und  echt  und 
hausbacken.  Auch  Herr  X.  wird  sie  nicht  ableugnen  können.  Folglich  ist  er  „ge- 
troffen". Aber  dieser  innerlich  öde  Herr  X.  wird  zum  Trost  gleich  darauf  auf- 
merksam gemacht,  dass  er  ja  „in  von  ihm  gewünschter  Geselligkeit  intelligent"  sei ! 
Wie  nett! 

Das  „eigenartige  Gemüth"  —  (wer  hat  denn  ein  anderes?)  —  ist  dann  auch 
„für  Augenblicke"  der  Freude  zugänglich! 

Und  damit  das  Ganze  seinen  Werth  behält,  und  der  Empfänger  beim  Nachlesen 
in  späteren  Jahren  durch  noch  eine  Extra-Bestätigimg  erfreut  wird,  sind  unterdess 
„die  scharfen  Ecken  durch  Zeit  und  Ausreife  abgeschliffen". 

Und  wenn  dann  die  Hälfte  aller  dieser  Allgemeinheiten  stimmt,  wie  schönt 
Wie  hat  er  mich  doch  erkannt! 

Nehmen  wir  hinzu,  wie  dehnbar  die  meisten  psychologischen  Begriffe,  be- 
sonders für  die  nicht  wissenschaftlich  Geschulten  unter  den  Kunden  des  Herrn 
Liebe  sein  mögen,  wie  überhaupt  für  so  viele  Halbgebildete  „Psychologisches" 
und  alles  Unklare  auf  dem  Gebiete  des  Spirituellen  zusammenfällt,  wie  sehr  die  bei 
vielen  Menschen  vorhandene  Gier  nach  Briefen,  das  Verlangen,  von  sich  sprechen 
zu  hören,  vorliegt,  so  lässt  sich  die  Anerkennung  verstehen,  die  Herr  Liebe  bei 
seinen  Kunden  erwirbt,  und  von  der  ich  weiter  unten  sprechen  will.  Die  Gefühls- 
duselei mancher  Menschen  ist  gar  gross,  der  Wunsch,  das  theuer  Bezahlte  auch  als 
werthvoll  zu  erkennen,  beeinfiusst  sicherlich  das  Urtheil  von  Manchem.  Das  Ganze, 
diese  Bespiegelung  der  eigenen  Person  durch  einen  Andern  ist  auch  für  die  Meisten 
kein  alltäglicher  Vorgang.  Schon  in  seiner  Eigenschaft  als  Rarität  thut  da  der 
Brief  seine  Wirkung. 

Absichtlich  gehe  ich  hier  nicht  auf  das  Sachliche  in  der  Kunst  der  Grapbo- 


286  A.  Grohmann. 

logie  ein.  Die  mag  bestehen.  Ich  weiss  von  ihr  zu  wenig,  wenn  ich  auch  weiss, 
wie  die  Beoriheilung  nach  Form,  Inhalt,  Calligraphie  etc.  einer  Schrift  zur  Be- 
nrtheilong  eines  Menschen  mit  benutzt  werden  kann.  Wie  weit  obige  Schrift- 
Auslegung  auf  den  Mann  passt,  auf  den  sie  sich  bezieht,  weiss  ich  nicht,  ist  auch 
hier  gleichgültig  und  uninteressant.  Ich  möchte  hauptsächlich  auf  das  suggestire 
Element  des  Briefes  hingewiesen  haben. 

Dieses  suggestive  Element  können  wir  uns  aber  dann  erst  gut  vorstellen  und 
«s  völlig  bemessen,  wenn  wir  erfahren,  welcher  Art  die  Menschen  sind,  auf  die  es 
zu  wirken  bestimmt  ist.  Sehen  wir  uns  nun  die  Geistesbeschaffenheit  der  Kunden 
des  Herrn  Liebe  etwas  näher  an.  Das  können  wir,  indem  wir  seine  Broschüre 
„Seelen-  und  Character- Analyse^  durchnehmen. 

Nummer  eins:  Es  ist  auf  gutem  Papier,  sehr  schön  gedruckt  und  ausg^attet: 
^nz  artig  und  nett.    Auch  das  wollen  wir.    Auch  das  wirkt. 

Zur  passenden  Einleitung  wird  Göthe  und  Schopenhauer  citirt  Dann 
geht's  gleich  an  den  Preiscourant  für  die  Expertisen  des  Meisters. 

Wir  sehen  da,  dass  er  Expertisen  zum  Preise  voA  6  bis  100  Mark  liefert 
Auch  kommen  Gutachten  vor  über  die  zu  erwartende  Harmonie  für  Verlobte  und 
solche,  die  es  werden  wollen. 

Sehr  geschickt  macht  sich  ein  Wink  an  die  Herren  Professoren,  —  der  aber 
wohl  auf  ganz  Andere  wirken  soll:  Die  Herren  an  der  Universität,  die  mir  als 
sehr  zweckmässige  Schriftproben  gerne  ihre  Collegienhefte  einsenden,  mochte  idi 
dringend  bitten,  ihre  Hefte,  um  Verwechslungen  bei  der  Retoumirung  zu  ver- 
meiden, sehr  genau  zu  bezeichnen  etc.  Telegrammadresse :  Magister  Liebe  Augsburg. 

Arbeit  eines  Mannes,  der  sein  Leben  einer  grossen  Idee  opfert  (Zwar  schon 
sehr  abgenutzt;  zieht  aber  noch  immer.) 

Bei  dem  Stadium  meiner  Arbeiten  kann  ich  mit  vollem  Rechte  vorherige 
Sammlung  des  Geistes  verlangen;  deshalb  auch  mein  Ansinnen,  sich  in  meine 
Elaborate  nur  in  Nachtstunden  zu  vertiefen.  (!) 

Ich  schätze,  —  jeder  Verständige  wird  mir  das  nachfühlen,  —  meine  Arbeit 
so  hoch  ein,  dass  nur  von  einer  Vergütung  für  den  Zeitaufwand,  nicht  von  einer 
„Bezahlung''  gesprochen  werden  kann. 

Man  hat  sich  daran  gewöhnt  (!),  sich  in  Lebensfragen,  welche  Delicatesse, 
einen  tief  eindringenden  Forscherblick  in  alle  Winkelzüge  der  menschlichen  Ge- 
danken, Gefühlsrichtung  und  Leidenschaften  verlangen,  sich  an  mich  zu  wenden.  — 

Als  ehrlicher  Mensch  wehrt  sich  auch  Herr  Liebe  dagegen,  dass  er  als 
etwas  Anderes  angesehen  werde ,  als  er  ist.  So  viele  seiner  Clientinnen  wollen 
in  ihm  den  Ahasver,  den  Uebermenschen,  den  Seelenzauberer,  den  Magnetiseur  in 
der  Feme,  den  finstem  Mann  mit  dem  düstem  Blicke,  den  Einsiedler  in  der  Stadt, 
^en  Ascet  im  Gehrocke  erblicken. 

Dann  kommen  viele  Citate  grosser  Männer,  alle  so  gewählt,  dass  ein  kritik- 
loser Leser  etwas  wie  eine  Empfehlung  der  Graphologie  herauslesen  kann.  (Sehr 
bewährtes  Mittel:  Man  fährt  auf  hohen  Rädern.) 

Mit  der  Erklärung,  dass  es  seinen  Stolz  tief  verletze,  wie  ein  Wunderdoctor 
Zeugnisse  vorlegen  zu  müssen,  werden  beglaubigte  Danksagungsschreiben  angeführt 
von  einer  Fürstin,  mehreren  Grafen,  Baronen,  Professoren  und  vielen  andern  Grossen 
<ler  Gesellschaft. 

Eine  grosse  Zahl  von  L  i  e  b  e  's  Kunden  finden,  dass  seine  Schriftauslegungen 


Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe.  287 

eine  unheimliche  Genauigkeit  hätten,  für  Viele  übersteigt  sie  alle  Be- 
griffe. Einer  erklärt,  Herr  Liebe  könne  das  Zeug  nicht  hallucinirt  haben,  und 
dass  er  der  geistigen  Textur  beikomme.  Auch  ihm  ist  er  ein  AhasTer.  Das  Geld, 
das  an  Herrn  Liebe  bezahlt  wird,  sei  hohe  Zinsen  tragendes  Kapital.  — 

Auch  für  einen  Kabbalisten  wird  der  Mann  in  Augsburg  angesehen.  (Und  wie  die 
Fortsetzung  zeigt,  ist  er  es  auch  in  der  That :  für  die,  die  sich  ankabbalisten  lassen.)  — 

Einer  ist  seiner  bangen  Zweifel,  ob  er  seiner  Braut  würdjg 
sei,  erst  dadurch  Herr  geworden,  dass  er  von  Herrn  Liebe  ein  (vermuthüch 
gutes)  Characterzeugniss  erhielt.  Dafür  will  er  aber  auch  der  Jünger  des  grossen 
Meisters  werden.  — 

Ein  Ligenieur  schreibt:  Sie  haben  es  fertig  gebracht,  mich  alten  Jungen  weich 
zu  kriegen.  — 

Liebe's  seltene  Talent  wird  auch  als  eines  geschildert,  das  ihn  (Liebe) 
yielleicht  noch  zerstören  wird!  —  , 

Höchstes  menschliches  Wissen.  — 

Einer  verdankt  der  empfangenen  Gharacterauslegung  eine  neue,  stolze  und 
freudige  Lebensanschauung.  — 

Hellseher,  Seelenzauberer,  unheimlich-richtige  Gharacteristik,  ganz  pa£P beim 
Bmpfang !  Nagel  auf  den  Kopf.  — 

Ein  Wiener  hat  den  Vorsatz  sich  zu  bessern,  und  bittet  Herrn  Liebe  zu 
diesem  Unternehmen  um  eine  Schriftauslegung.  (!)  — 

Eine  Gräfin  in  einem  Bade  dankt  Herrn  Liebe.  (Vielleicht  hat  da  das  Bad 
gewirkt.)  — 

Grösster  Seelenforscher.  —  Genialer  Meister!  — 

Einen  hat  es  „geradezu  erschreckt",  dass  Herr  Liebe  in  der  Characteristik 
auf  einen  „dunklen  Punkt"  hinweist;  —  denn  er  ist  Besitzer  eines  solchen.  Wie 
Herr  Liebe  das  nur  wissen  konnte?  — 

Eine  Dame  bereut  Herrn  Liebe  nicht  vor  ihrer  unglücklich  abgelaufenen 
Wie  psychographologisch  consultirt  zu  haben.  — 

Einer  war  entsetzt,  zu  sehen,  dass  Liebe  das  Pathologische  in  ihm  er- 
kannt habe.  — 

Unheimliches  Gefühl,  sein  ganzes  Innere  wie  einen  auFgespiessten  Schmetter- 
ling vor  Augen  zu  sehen.  — 

Kanzler  unter  den  Menschenkennern!  — 

Ein  Kunde  rühmt :  Ich  bin  glücklich,  einmal  verstanden  worden  zu  sein.  Man 
mache  sich  die  Vorstellung:  dreissig  Jahre  bald  gelebt  haben,  in  fast  allen  Erd- 
theilen  gereist  zu  sein,  mit  Menschen  so  verschiedenen  Schlages  etwas  verkehrt  haben 
und^doch  nie  vorher  verstanden  worden  sein!  Ein  Fremder,  ein  Ausländer  andern 
Berufes,  anderer  Bildung,  andern  Geistes,  nie  gesehen,  nie  gesprochen  —  P.  P.  Liebe 
—  ist  der  einzige  Erdenpilger,  der  mich  jetzt,  bis  heute,  versteht!  — 

Ein  Schriftsteller  und  Theologe  schreibt  Herrn  Liebe:  Ich  weiss  wirklich 
nicht,  ob  ich  den  psychologisch-charaoterologischen  Tiefblick  eines  Shakespeare 
mehr  an  Ihnen  bewundem  soll,  oder  den  Scharfsinn  etc.  .  .  .  und:  Ihre  Kunst 
wird  mit  Ihnen  aussterben!  (Leider  wird  sie  das  nicht.  Die  Druckerschwärze  und 
die  Gewissen,  die  nicht  aussterben,  werden  dafür  sorgen.)  — 

Dann  dichtet  ihn  Einer  an.  (Später  thun  es  noch  mehrere  Andere.)  —  Hauch 
ans  einer  andern,  höhern  Sphäre,  der  mich  da  anweht!  — 


288  A.  Grrohmann. 

£ine  Dame  bestätigt  den  £mpfang  von  Liebe^s  Schriftauilegnng  und  er- 
klärt: Heute  yerstehe  ich  noch  nicht  Alles,  aber  Sie  sagen  die  Wahrheit.  (Die 
wird  sich  in  den  nächsten  Tagen  ins  volle  Verständniss  hineinsoggeriren;  das 
wette  ich).    Sie  schliesst  mit  einem  Grusse  an  den  Priester  der  müden  Seelen!  — 

£iner  hat  schwere  Träume  bekommen,  als  Nachwirkung  von  Liebe's  Aus- 
legung.— 

Von  einem  Clienten  berichtet  Liebe,  dass  er  ihm  36  Seiten  geschrieben  habe. 

Phänomenale  Kunst,  Offenbarung  Gottes.  — 

Wäre  ich  Spiritist,  —  (was  nicht  ist,  kann  werden!)  —  würde  ich  glauben, 
Sie  hätten  mit  meinem  Astralgeist  Zwiesprache  gehalten.  — 

Ihr  Werk  loben,  ist  hier  zu  banal.  — 

Würdigster  Vertreter  dieser  Wissenschaft.  — 

Staunende  Bewunderung. 

Zielyerheissende  Wegleitung,  Fascinirend.  — 

Ich  werde  Ihr  Urtheil  über  meine  Handschrift  meiner  Freundin  mittheilen, 
fürchte  aber,  dass  sie  geradezu  erschrecken  wird!  Jedenfalls  wird  ihre  warme 
Freundschaft  für  mich  eine  Probe  bestehen.  (Die  Freundin  soll  nämlich  erst  durch 
Liebe's  Auslegung  ihre  Hacken  kennen  lernen.)  — 

Einige  Bemerkungen  will  ich  zur  Frleichterung  (der  bestellten  Ausleg^ung !) 
noch  beifügen ;  doch  nein,  ich  bringe  die  Zeilen  gleich  zur  Post.    (Ist  auch  besser !) 

Sie  haben  mit  einer  tödtlichen  Sicherheit  meine  geheimsten  Empfindungen 
klar  gelegt.  — 

Seltene  Genialität,  graphologische  Leistungsföhigkeit  phänomenal!  (Zeug- 
nisse dieser  Art  sind  viel  vertreten.)  — 

Monumentales  Werk.  — 

Plötzliches  Licht.  — 

Im  März  laufenden  Jahres  traf  mich  ein  Schlag,  vor  welchem  ich  mich  furcht- 
bar fürchtete;  ich  dachte  mit  Zähneklappem  daran,  er  könnte  mich  treffen,  stellte 
mir  vor.  ihn  nicht  überleben  zu  können,  und  als  derselbe  eintraf,  vergoss  ich  keine 
Thräne,  ja  war  fröhlich  sogar,  übermüthig.  Niemand  sah  mir  auch  nur  die  geringste 
Spur  eines  Kummers  an.  (Hierauf  kommt  nach  einer  romantisch>sentimental-hyste- 
rischen  Schilderung  einer  18 Jährigen  die  Bemerkung:)  Nur  meine  grosse  Vorliebe 
für  Thiere  ist  mir  von  jener  Zeit  geblieben.  — 

Eine  schreibt,  sie  könne  heute  gar  nicht  weiter  schreiben;  sie  müsse  erst 
ruhiger  werden.   — 

Eine  Dame  erklärt,  dass  ihr  einige  Eigenschaften,  die  Herr  Liebe  an  ihr 
entdeckt,  schon  durch  Jesus  aufgedeckt  worden  seien.  — 

Wie  traurig,  dass  Ihre  höchste  Kunst  nicht  übertragbar  ist  und  mit  dem 
Entdecker  zu  Grabe  getragen  wird.  — 

Einer  hat  sich  durch  Liebe  erst  kennen  gelernt,  und  sendet  ihm  die  Schrift 
seiner  Frau  zur  ßeurtheilung  zu.     Er  will  die  jetzt  auch  kennen  lernen.  — 

Eine  glückliche  Mutter  schreibt:  „Meine  Tochter  ist,  ich  darf  sagen,  das  Ideal 
der  Reinheit,  lieb  und  lebensfroh,  und  mit  süssem  Gesang  begabt!  Sollten  Sie  je 
Sehnsucht  haben,  uns  kennen  zu  lernen  —  meine  Tochter  schwärmt  ja  für  Ihre 
Dichtungen  mehr  als  mir,  oflfen  gesagt,  lieb  ist,  —  so  sind  Sie  herzlich  willkommen. 
(Wie  zur  Entschuldigung  setzt  sie  gleich  drauf  hinzu:)  Vielseitige  Bildung  gemessen 
Frauen  auch  selten.  — 


Einiges  über  Suggesüon  durch  Briefe.  289 

Einer  an  Bord  eines  österreichischen  Kriegsschiffes  in  Ganada  beschreibt  das 
Zusammentreffen  einiger  Zufälligkeiten  und  fragt  den  Augsburger,  ob  das  auf 
geistiger  Telegraphie  beruhe?  — 

Eine  Dame  dankt  dem  Meister  für  seine  Photographie  und  findet,  dass  er  Tiel 
Aehnlichkeit  mit  dem  angeödeten  Zola  habe.  — 

Ein  Rechtsanwalt  schreibt:  Da  ich  zur  Zeit  nahe  daran  bin,  mich  zu  yer- 
ehelichen,  so  wäre  es  mir  nicht  uninteressant,  zu  wissen,  was  ich  für  einen  Gharacter 
habe,  obwohl  ich  dies  eigentlich  schon  wissen  sollte,  da  ich  mich  ziemlich  viel  mit 
Selbststudium  und  Selbstbildung  beschäftige.  — 

Einer  aus  Niedermendig  schreibt,  sein  Staunen  wolle  kein  Ende  nehmen  und 
bestellt  gleich  des  ferneren  ein  Gutachten  über  die  Harmonie  zweier  Bekannter.  -— 

Ein  braver  Mann  in  Miesbach  erklärt :  Ich  möchte  gut  werden.  Bestellt  dazu 
Schriftauslegung.  — 

Ein  Mann  aus  Linz  schreibt :  Mit  welchem  Gefühl  ich  Ihre  Auslegung  meiner 
Schrift  las,  kann  ich  Ihnen  etwa  so  erklären:  Ein  Wüstenreisender,  der  seinen 
Durst  nur  aus  eklen  Pfützen  stillen  konnte,  erblickt  vom  Rande  einer  Erhöhung  aus 
unter  sich  einen  spiegelklaren  See,  voll  des  köstlichsten  Wassers.  Er  steigt  hinunter 
und  weidet  sich  an  seinem  klaren  Spiegelbilde,  etc.  etc.  ...  So  geht's  eine  Seite 
lang  weiter  und  dann  bestellt  dieser  lechzende  Wüstenreisende  noch  eine  zweite 
Auslegung  für  sich.  (!)  Geld  folgt  separat.  (Er  trinkt  sich,  für  den  Bedarf 
der  Zukunft,  wie  das  „Schiff  der  Wüste"  den  Ranzen  voll.)  — 

Die  Ausführung  des  Portraits  ist  geradezu  grossartig  und  werde  ich  mich 
immer  und  immer  wieder  in  dasselbe  vertiefen.  — 

Einer  will  in  seinem  Naturheil  verein  Vorträge  über  Liebe  und  dessen  Wissen- 
schaft halten  und  bittet  um  Material.  Vom  grössten  lebenden  Meister  weiss  die 
Welt  so  gut  wie  nichts!  S'ist  doch  ne  wahre  Affenschande!  — 

Einer  schreibt:  Sie  sind  mir  unheimlich!  Er  beruhigt  sich  aber  und  be- 
kommt derartigen  Respect  vor  dem  Augsburger,  dass  er  in  einem  zweiten  Schreiben 
berichtet,  er  wäre  hocherfreut,  wenn  er  die  Kunst  des  Herrn  Liebe  als  Welt- 
ereigniss  überall  bekannt  machen  könnte.  In  unserer  materiellen  Zeit  eine  Oase 
mitten  in  der  Wüste.  In  einem  dritten  Schreiben  erfahren  wir  aber,  dass  er  den 
„Spiegel"  (des  Herrn  Liebe,  d.  h.  dessen  Schriftauslegung)  jetzt  täglich  zur 
fland  nehme.  In  einem  vierten  Schreiben  wird  der  Mann  unausstehlich:  er  hat 
flieh  mittlerweile  ins  Poetische  hinauf  begeistert.  — 

Aus  der  Bierstadt  Gulmbach  schreibt  Einer,  dass  er  sich  auf  10  bis  12  Jahre 
in  sein  Leben  hat  zurückerinnern  müssen,  um  alles  das  zu  finden,  was  zur  Aus- 
legung Liebe's  passt.  (Aber  wer  recht  fleissig  sucht,  der  findet;  auch  manchmal 
luviel.)  — 

Eine  Gräfin  verhimmelt  den  Augsburger:  Er  hat  sie  ganz  erkannt!  Sie  sehnt 
flieh  nach  einer  mündlichen  Besprechung  mit  ihm.  Bis  jetzt  sei  sie  34  Jahre  un- 
verstanden durch's  Leben  gegangen.  — 

Genius;  Meister;  um  die  Menschheit  verdient.    Magister  magistrorum. 

mit  fast  unheimlicher  Genauigkeit  meine  streng  behüteten  Gedanken 

u&d  Anschauungen  bioslegte,  welche  mich  zu  Ihrer  enthusiastischen  Anhängerin 
BiMhten.  — 

Eine  hat  weihevolle  Stunden  erlebt,  jedesmal  wenn  sie  Abends  des  Augs- 
bnrgers  Zeilen  durchlas.  — 

Zeittfchrift  für  Hypnotismus  etc.   IX.  19 


390  •^*  Grohmann. 

Einer  hatte  bei  L i e b e  schon  die  dritte  Beortheilang  bestellt,  und  die  letite 
sei  einzig!  (Wie  waren  denn  die  vorigen?) 

Ein  Bildhauer  in  Rom  sendet  dem  Meister  eine  kleine  von  ihm  hergestellte 
Ghmppe  ^Das  Geheimniss*'.  Einer  erzählt  da  einem  Andern  von  der  Kunst  und 
Wissenschaft  des  Meisters  yon  Augsburg,  das  der  Menschheit  bisher  ein  G^heim- 
niss  war.  — 

Eine  Eopenhagerin  bestellt  beim  Meister  die  Auslegung  der  Schrift  einer 
Dame,  die  neu  in  ihren  Bekanntenkreis  getreten  sei  und  die  sie  gerne  toU  und 
ganz  kennen  lenvBn  möchte.  — 

Ein  junges  Mädchen  berichtet,  dass  sie  das  Bild  des  Augsburgers  ins  Herz 
geschlossen  habe  und  dafür  auch  dem  Augsburger  ihr  Bild  zusende.  — 

Eine  Andere  hat  die  Schriftausleg^ung  mit  wachsender  Aufregung  ge- 
lesen.    Wirkung  übernatürlich;  sie  ist  vollständig  aufjg^edeckt.  — 

Ein  Kunde  hat  die  Schriftausleg^g  mit  Schaudern  gelesen.  — 

Eine  Budapesterin  schreibt:  Dass  ein  vollendeter  Denker  weibliche  Herzans- 
zartheit besitzen  kann,  war  mir,  der  Vielleserin,  bisher  unbekannt.  Ich  kann  es 
nur  durch  das  geheimnissvolle  Gesetz,  das  Sie  an  das  andere  Geschlecht  bindet^ 
erklären.  Beim  Lesen  der  meisterlichen  Zuschrift  wurde  sie  bis  in  die  Läppen 
bleich!  (Also  vor  dem  Spiegel  gestanden?  —  Oder  nur  eingebildet?)  Dann  starrte 
sie  ins  Weite  und  konnte  nicht  weiter  lesen!  (Der  schönste  hysterische  Zauber.) 

Ein  Stadtvicar  sieht  sich  vom  Augsburger  Meister  mit  wahrhaft  röntgen- 
strahl enmässigem  Scharfblick  durchschaut.  (Es  geht  zu  wie  bei  den  Para- 
noikem  im  Irrenhause,  die  durch  die  zuletzt  entdeckten  Naturkräfte  durchfiüiren 
werden.)  — 

Jetzt  kommt  ein  Brief  von  Jemand,  den  ich  für  ein  Weibchen  gehalten  hatte, 
bis  ich  den  Schluss  gelesen  hatte.  Es  ist  aber  ein  Männchen,  das  da  schreibt:  Id 
aufrichtiger  Liebe,  verehrter  Meister!  Mein  hochgeschätzter  Herr  Liebe!  Soeben 
ertönt  vom  Thunne  der  geheimnisvolle  Schlag  —  zwölf.  Mitternacht!  (Der  Leser 
befieissige  sich  jetzt  des  Gruseins.)  Ich  bin  allein!  ....  Ihr  mir  heiliger  Brief! 
Eine  unaussprechliche  Freude  hat  mir  Ihr  Bild  gemacht.  Weil  auf  mir,  du  freies 
Auge,  —  Uebe  deine  ganze  Macht,  —  Ernste  milde  thränenreiche,  —  Unergründlich 
süsse  Nacht!  etc.  Dann  kommt  ein  süsses  Deingedenken.  Meine  Pulse 
klopften  stärker,  als  ich  lesen  konnte,  Sie  beschäftigen  sich  mit  mir!  Was  Sie 
mir  sind,  vermögen  Worte  nicht  auszudrücken;  doch  wenn  es  eine  Sprache  der 
Seele  giebt,  die  in  freier  herzinniger  Verehrung  sich  äussert,  dann  fühle  ich's,  dass 
ich  davon  durchglüht  und  berauscht  bin.    (Vielleicht  sex.  perv.?)  — 

Einen  Mann  aus  St.  Blasien  haben  die  50  Mark  Honorar  Anfangs  stutzig  ge- 
macht ;  je  mehr  er  aber  des  Meisters  Arbeit  genau  durchstudirt.  desto  mehr  kommt 
er  zur  Ueberzeugung,  dass  das  Gelieferte  gar  nicht  im  Verhältniss  steht  zur  Leistung; 
so  sehr  werthvoll  ist  es.  Trotzdem  er  schon  früher  wusste,  dass  er  Fähigkeiten  und 
Leidenschaften  habe,  so  ist  er  sich  doch  erst  jetzt,  durch  Meister  Liebe,  übw 
das  Alles  recht  klar  geworden,  wo  er  die  „Auslegung*'  so  recht  im  tieftten  Innern 
erfasst  hat.  — 

Einen,  ich  weiss  nicht  wie  angehauchten  Dragonerleutnant  freut  es,  in  Liebe's 
Schreiben  die  vielen  kleinen  Züge  wieder  zu  erkennen,  die  er  selbst  schon  an  sich 
gefunden  hat.  — 

Ein  Client  dankt  dem  Meister  für  die  Begutachtung  der  Schrift  seiner  Frao. 


Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe.  291 

Erst  durch  sie  hätte  er  manche  Eigenschaft  seiner  Frau  entdeckt,  die  ihm  bisher 
entgangen  war.  (!)  — 

Eine  Dame  in  Rom  bestellt  von  Neuem  beim  Augsburger,  wie  sie  dies  schon 
vor  vier  Jahren  gethan  hat,  eine  Schriftauslegung.  Will  sehen,  ob  sie  sich  mittler- 
weile geändert  hat.  (Gute  Idee.)  Nach  Empfang  der  Auslegung  liefert  sie  in  einem 
neuen  Schreiben  eine  Yerhimmelung  des  Herrn  Liebe.  Aber  der  Gedanke  an 
diesen  Herrn  Liebe  lässt  sie  nicht  ruhen:  Sie  schreibt  eine  Reihe  Briefe  an  ihn. 
Ln  fünften  Briefe  heisst  es:  Alles,  Alles,  was  in  mir  ist,  was  jemals  in  mir  war 
and  sein  wird,  wird  Ihnen  ewig,  ewig  danken !  Sie  sind  mein  treuester  Freund  und 
ich  wünsche,  dass  Sie  es  ewig,  ewig  bleiben  möchten !  Dann  will  sie  wissen,  ob  der 
Augsburger  jung  ist,  in  der  Mitte  der  Jahre,  oder  ein  alter  Mann,  ob  er  glücklich 
und  im  Besitz  eines  Weibes  und  lieber  Kinder  oder  einsam.  Das  mächtige  Ge- 
fühl,   das  mich  zu  Ihnen  zieht,   wie  ich  es  nie,  nie  etc Das  Vollgefühl  des 

Lebens  hätte  ihr  der  Augsburger  beigebracht.  Lechzende  Seele  etc.  Beichte  etc. 
Läuterung  etc.  Sie  der  Mensch,  der  Alles,  Alles  versteht.  Im  sechsten  Brief  wird 
die  Person  schon  langweilig.  Yermuthlich  auch  für  den  Augsburger,  denn  dieser 
Brief  ist  ihr  letzter.  — 

Ein  Mann  aus  Pirna  im  Sachsenlande  fühlt  sich  ausserordentlich  gekräftigt, 
wenn  er  ab  und  zu  des  Meisters  Zuschriit  liest.  — 

Eine  Clientin  in  Baden-Baden  schreibt:  Welch  ein  Reichthum  an  Begabung 
und  an  Kunst !  Ja,  Ihnen  gehört  die  Welt,  Sie  haben  die  Zügel  des  uns  Unbewussten 
in  den  Händen!  Dann  nietschelt  sie  etwas  Passendes  hinzu.  Dann  erzählt  sie  von 
ihrem  Schwanken  zwischen  Begeisterung  und  Lebensekel  und  andern  interessanten 
Wundem  und  berichtet,  dass  das  Alles  in  ihrer  Familie  traditionell  sei.  Heute 
sei  wieder  so  ein  Umschwung  über  sie  gekommen  und  den  verdanke  sie  dem  Augs- 
burger. (Sonderbar!  Ich  hatte  erwartet,  dass  sie  das  sich  selber  verdanke,  aber 
nein,  der  Augsburger  ist  Schuld  daran.  Er  hat  den  Umschwung  mit  seinem  Kunst- 
werk hervorgerufen.)  — 

Eine  Sie  berichtet  über  das  Herzklopfen,  das  sie  beim  Oeffhen  von  Liebe's 
Schreiben  gefühlt,  und  ein  Er  berichtet  von  seinen  Seufzern.  (Ich  finde,  dass 
der  Mann  etliche  dieser  Seufzer  nach  Augsburg  telephoniren  könnte  zur  Ansicht 
als  Muster  ohne  Werth.  Thut  er  es  nicht,  so  werden  Andere  noch  darauf  kommen. 
Die  Zukunft  wird  das  jedenfalls  bringen.  Das  wird  dann  die  Zeit  sein, 
wo  es  neben  den  Graphologen  auch  Seu&erologen  geben  wird.)  — 

Eine  Baronin  anerkennt,  dass  sie  es  ganz  Herrn  Liebe  verdankt,  dass  sie 
jetzt  intensiv,  ja  sogar  selbstquälerisch  über  ihr  Selbst  nachzudenken  Veranlassung 
hat.  Und  das  Alles  nur  mit  des  Augsburgers  Schriftauslegung!  Die  Occultisten 
nennen  sie  eine  Zauberin  oder  Hexe.  — 

Ein  Mann  (es  ist  diesmal  glücklicherweise  wieder  einmal  ein  Mann,  aber  was 
für  einer)  schreibt :  Wenn  Alles  still  und  ruhig  ist,  flüchte  ich  gern  zu  Ihren  Zeüen 
Qnd,  einsam  bei  der  Lampe  Schein,  lasse  ich  Ihre  Worte  auf  mich  wirken;  dann 
ergreife  ich  wohl  die  Feder  und,  angeregt  durch  die  Kraft  und  Schönheit  Ihrer 
Thesen,  werfe  ich  meine  Gedanken  aufs  Papier.  So  werde  ich  nach  und  nach  zu 
jedem  Ihrer  Aussprüche  Coramentare  zusammentragen  zum  Werke  der  Selbst- 
erkenntniss  und  zur  Läuterung.  Sollten  Sie  noch  für  mich  arbeiten  wollen,  so 
finden  Sie  anliegend  Schriftproben  von  zwei  Männern.  In  einem  neuen  Schreiben 
bewundert  er  die  Auslegung  der  zwei  neueingesandten  Schriftproben.    Ich  kann  es 

19' 


292  -^^  Grohmann. 

nicht  glauben,  dass  es  Ihnen  möglich  ist,  ans  den  Schriftzügen  allein  das  Wesen 
der  Menschen  aufis  Tiefste  zu  ergründen;  Sie  sind  offenbar  mit  dem  Seherblick  be- 
gabt. Sie  kennen  jedenfalls  das  grosse  Geheimniss,  direct  mit  der  uns  allen  ge- 
meinsamen Seele  zu  schauen.  Zum  Schluss  verspricht  er,  den  Augsburger  anzudichten.  — 

Ein  Herr  aus  Wien  kommt  fast  gar  nicht  aus  dem  Staunen  heraus.  — 

Der  Folgende  überliefert  sich  eigentlich  der  Polizei.  Nachdem  er  die  Arbeit 
Liebe's  gehörig  verherrlicht,  erklärt  er,  es  hätte  ihn  frappirt,  dass  Liebe  ihm 
ein  „doppeltes  Ich^  in  seinem  Schreiben  aufoctroirt  hatte ;  denn  das  beweise,  wie  klar 
Liebe  ihn  durchblickt  habe.  Mit  dem  „doppelten  Ich"  könne  ja  nichts  Anders 
gemeint  sein,  als  sein  Doppelsehen.  Das  entspreche  natürlich  den  beiden  Gehim- 
fiemisphären.  Er  habe  ein  Augenleiden.  Er  könne  nicht  stereoscopisch  mit  seinen 
zwei  Augen  sehen,  da  das  linke  kurzsichtig,  das  rechte  weitsichtig  sei.  (Lieber 
Simplicius !  Wenn  du  so  gerne  mehrere  Ichs  herum  trägst,  so  kannst  du  noch  mehr 
bekommen,  als  blos  deine  zwei!  Neben  deinem  kurzsichtigen  linken  und  dem 
weitsichtigen  rechten  Auge  würde  sich  dein,  vermuthlich,  blindgeborenes  Hühner- 
auge ganz  gut  als  drittes  im  Bunde  ausnehmen.  Du  hast  dann  drei  Ichse.  Die 
dem  dritten  Auge  von  rechtswegen  zukommende  dritte  Gehirn-Hemisphäre  kann 
ein  Mann  wie  du  gut  entbehren,  und  der  Augsburger  wird  dir  sicherlich  den  dazu 
nöthigen  Dispens  ertheilen.  Aber  du  darfst  dann  nicht  weiter  grübeln  und  vielleicht 
auf  die  heilige  Dreieinigkeit  verfallen.    Die  Analogien  sind  für  dich  Glatteis.)  — 

Ein  Unbefriedigter  erklärt,  gar  nicht  einmal  zu  wissen,  was  ihn  befriedigen 
könnte.    Er  stöhnt  vor  Ungeduld  und  dankt  dem  Meister.  — 

Dann  nietschelt  ihn  eine  Hamburgerin  an,  und  ihr  Mann  lässt  den  Augs- 
burger noch  dazu  grüssen,  anstatt  ihm  zu  fluchen.  — 

Dann  wieder  einmal  drei  ganz  gewöhnliche  Verherrlichungen  des  Meisters 
durch  drei  Damen.  — 

Eine  Clientin  rühmt  die  Energie,  mit  der  Liebe  für  die  Verbreitung  und  den 
Glauben  an  seine  Wissenschaft  strebt.  (!)  Dann  citirt  sie  eine  lange  Reihe  grosser 
Geister  und  bestätigt  in  einem  neuen  Schreiben  den  Empfang  der  bestellten  Schrift- 
beurteilung. Ihre  geheimsten  Gedanken  hat  der  Augsburger  errathen.  Sie  bittet 
um  die  Erlaubniss,  dem  Manne  in  Augsburg  die  fernere  Entwickelung  ihres  Da- 
seins später  berichten  zu  dürfen.  Sie  bedauert,  nur  10  Mark  senden  zu  können, 
citirt  Schöngeister  und  schliesst:  Die  Wurzel  aller  Sorge  ist  das  „Ich".  — 

Eine  Wormserin  schreibt:  Sie  können  sich  leicht  denken,  verehrter  Meister, 
dass  ich  stets  in  einer  Unruhe  lebe,  sobald  ich  über  Ihren  Gesundheitszustand  in 
Ungewissheit  bin.  Nicht  uninteressant  dürfte  für  Sie  ein  Buch  sein,  welches  in 
ausgezeichneter  Weise  über  die  Krankheit  der  geistig  Ueberreizten  handelt  und 
kann  ich  wohl  versichert  sein,  dass  Ihnen  das  Werkchen,  was  Ihnen  separat  über- 
sandte, eine  kleine  Freude  macht.  Arbeiten  Sie,  bitte,  nicht  mehr  soviel!  Sie 
müssen  mir,  Sie  müssen  der  hastenden  (!)  und  suchenden  Menschheit  noch  lange 
erhalten  bleiben,  Sie  müssen  mehr  Rücksicht  auf  Ihren  Gesundheitszustand  nehmen. 
Sie  haben  gewiss  die  Herausgabe  eines  grossen,  für  die  Menschheit  von  g^rosser 
Bedeutung  seienden  Werkes  vor.  Ich  glühe  förmlich  darnach,  mich  hineinzustürzen 
in  jene  Sphären,  welche  nur  Ihre  Sprache  in  unserer  Brust  zu  erwecken  vermag. 
Wäre  die  Welt  nicht  so  real,  ich  würde  annehmen  können,  in  Ihrem  Werke  liege 
der  Hauch  Ihres  Geistes,  das  tiefe  Gefühl  Ihrer  Seele  darin,  und  zwar  so,  dass 
beim  Lesen  sich  nicht  blos  der  Gedanke  ins  Innere  schleicht,  sondern   dass  man 


Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe.  29S 

sich  förmlich  so  fühlt,  als  wäre  von  Ihnen  eine  Hypnose  über  Einen  gekommen. 
Mir  dünkt  es  immer  so.  Wenn  ich  Sie  lese,  stehe  ich  vollkommen 
im  Bann  Ihrer  Seele,  aber  nicht  mein  Geist  allein  ist  es,  der  sich  angeregt 
fühlt,  sondern  es  ist  eigenthümlich,  wie  auch  selbst  die  Nerven,  das  Blut 
unter  Ihrem  Worte,  dem  die  Sprache  Sklavin  ist,  erregt  war.  Ich  weiss  nicht,  ob 
es  Andere  beim  Lesen  Ihrer  Schriften  auch  so  geht,  aber  so  viel  kann  ich  aus 
den  gedruckten  Briefen,  die  Sie  besitzen,  ersehen,  dass  es  noch  Manche  giebt,  die 
von  derselben  Meinung  eingenommen  werden,  wie  ich.  (Schönste  Suggestion  zur 
Bildung  einer  langen  Kette  von  Kundinnen :  Jede  will  sehen,  ob's  auf  sie  auch  so 
wirkt,  spricht  oder  schreibt  davon  und  schleift  Andere  nach.)  Dann  beschreibt  sie 
weiter:  Ich  komme  mir  vor,  als  hätte  ich  meinen  Kopf  an  Ihre  Brust  gelegt  und 
das  ganze  innere  Wesen  strömte  nun  in  mich  über,  so  voll,  so  stark.  Sie,  der 
Weltüberblickende,  Sie  sind  mein  Freund  und  Vater  zugleich!  Eine  Stärke,  eine 
Kraft,  ein  Muth  fliesst  daraus,  dass  man  sich  leicht  über  das  Geschlecht  des  Andern 
hinweg  hebt.  Dann  theilt  diese  unbefriedigte  Weltbummlerin  mit,  dass  sie  nächstens 
.  nach  Paris  reisen  wird,  und  nicht  weiss,  ob  sie  dann  nach  London  oder  Rom  gehen 
3oll.  In  einem  fernem  Schreiben  beschreibt  sie  dem  Augsburger,  wie  der  Augs- 
burger aussieht,  damit  er  das  auch  weiss :  Das  blasse,  von  Schmerzen  und  seelischem 
Leiden  gemarterte  Angesicht  ist  von  dem  Hauch  Ihres  Geistes  umgeben,  blickt 
«ntsagend  auf  die  Lebensbahn!  Ihr  Inneres  verblutet!  Ihr  Herz  hat  ausgerungen! 
Nicht  mit  Alles  vernichtendem  Blick,  nein!  mit  weiser  Erkenntniss  sieht  man  her- 
sb,  giebt  dem  durstigen  Menschenherzen  labende  Erquickung,  dem  ringenden 
forschenden  Geiste  weist  man  die  Bahnen,  die  er  wandeln  soll.  —  So  geht  es  eine 
lange  Strecke  weiter,  bis  sie  den  Augsburger  zum  Vorbild  eines  Geisterfürsten  er- 
hebt. —  (Aber  ich  muss  jetzt  um  Verzeihung  bitten.  Diese  Wormserin  ist 
«in  Wormser.  Ich  sehe  es  eben  au^  der  Schlussformel.  Ich  hatte  so  viel  echt 
Weibliches  aus  den  vielen  im  Buche  fettgedruckten  Stellen  des  Briefes  heraus- 
gelesen,   dass   ich  nicht  denken  konnte,  dass  der  Autor  ein  Mann  sein  könnte.)  — 

Ein  Lehrer  (also  diesmal  ist  es  ganz  sicherlich  ein  Mann)  schreibt:  Ihre 
Arbeit,  überhaupt  die  Möglichkeit,  dass  ein  Mensch  eine  solche  phänomenale  Arbeit 
des  Geistes  schaffen  kann,  ist  mir  wie  eine  Predigt  gegen  den  Materialismus  vor- 
gekommen, nur  viel  überzeugender  und  beweiskräftiger  als  eine  wirkliche  Predigt, 
dass  wir  zu  etwas  bessern  geboren  sind.  0,  dass  die  Menge  eine  solche  Predigt 
verstünde.  — 

und  noch  ein  Mann,  diesmal  ein  liebender:  Mit  Staunen  und  Bewunderung 
habe  ich  gefunden,  dass  Sie  nach  der  kurzen  Schriftprobe  ein  so  ausserordentlich 
treffendes  Portrait  meiner  lieben  Braut  entworfen,  wie  ich  es  nach  zehnjähriger 
Bekanntschaft  mit  ihr  so  präcise  und  so  fein  detaillirt  zu  malen  mir  nicht  zuge- 
traut hätte.   — 

Ein  Mann  aus  Ecuador  schreibt:  Ich  kann  Ihre  Beweggründe  (zum  grapho- 
logischen Dienste)  nur  ahnen,  aber  nicht  voll  erkennen.    (Schwachmatikus!)  — 

Eine  Dame  in  Kopenhagen  verdankt  dem  Augsburger  ihre  Erweckung  und 
liefert  eine  ellenlange  Epistel.  Schliesst  mit  der  Behauptung,  der  Augsburger 
hätte  ihren  Lebensweg  vor  Reue  bewahrt.  — 

Ich  bin  nun  in  diesem  Büchlein  des  Herrn  Liebe  in  einen  ganzen  Harem 
flchöner  Damen  gerathen  und  möchte  mir  eine  davon  aussuchen.  Ich  nehme  mir 
natürlich  die,  die  mir  am  besten  gefällt.    Das  ist  eine  Dame,  die  schreibt:   Nur 


S94  -^  Grohmann. 

die  Langweiligkeit  des  Badelebens  von  Swinemtinde  und  Baden-Baden  hat 
mich  veranlasst,  mich  an  Sie  zu  wenden.  Die  gehört  mir!  Sie  passt  entschieden 
nicht  zu  den  Andern  nnd  Herr  Liebe  wird  sie  mir  wohl  abtreten.  Er  passt  aoch 
gar  nicht  zo  ihr. 

Qnd  nun  muss  ich  noch  etwas  sagen  von  wegen  der  vielen  Damen.  Wie, 
zom  Teufel,  kommt  denn  dieser  Herr  Liebe  zu  seinem  so  suggestiv  wirkenden 
Namen?  Für  sein  Metier  könnte  er  gar  keinen  Bessern  haben.  Alle  Damen 
laufen  ihm  nach.  Wenn  er  Krautmeier  heissen  würde,  oder  nur  Meier,  oder 
Stengelhuber  oder  auch  nur  Huber,  oder  wenn  er  heissen  würde  wie  ich,  dann 
ging^  es  ihm  sicherlich  ebenso  miserabel  wie  mir,  und  er  müsste  sich  mit  der 
Liebe  einer  Einzigen  begnügen.  Das  Schicksal  hat  ihn  ganz  entschieden  un- 
gerechterweise protegirt.  Oder  sollte  ihn  vielleicht  der  liebe  Gott  umgetauft  haben, 
zur  Belohnung,  und  in  Anerkennung  alles  dessen,  was  er  für  die  Damen,  nnd  die 
Damen  für  ihn  geleistet  haben?  Jedenfalls  bin  ich  dem  Herrn  Liebe  neidig. 

Nun  kommt  aber  ein  Kapitel,  das  mich  mit  Herrn  Liebe  doch  wieder  aus- 
söhnt :  Er  liefert  Beurtheilungen  von  Graphologen  über  sich,  an  die  er  seine  Hand- 
schrift eingesandt  hat.  Herr  Liebe  giebt  dadurch  den  besten  Beweis,  dasa  er 
etwas  auf  sein  Fach  hält,  dass  er  andere  Graphologen  auch  leben  lassen  will  und 
dass  er  sich  bemüht,  den  Leser  zu  befähigen,  ein  eigenes  und  correctes  Urtheil  über 
ihn  zu  gewinnen.    Also  Herr  Liebe  wird  unter  Anderem  so  beurtheilt: 

Entweder  sind  Sie  etwas  blasirt,  oder  Sie  verachten  manchen  Lebenagenuss 
aus  Princip.  Femer:  Die  seelischen  Kräfte  sind  in  eminenter  Spannung  und  es 
kennzeichnen  sich  deutlich  die  Spuren  geistiger  Ueberanstrengung.  — 

Bedeutend  nervös.  — 

Herr  Liebe  ist  auch  undurchdringlich.  Hoffentlich  ist  das  etwas  An- 
genehmes. — 

Sie  unterschätzen  nicht  Ihre  Kenntnisse.    Bedeutendes  Talent.  — 

unbeschränkte  Noblesse.  — 

Grossartige  Kenntnisse  und  Fähigkeiten.  Absolut  anormal.  —  Sie  einen  den 
Philosophen  mit  dem  Cavalier.  —  So  geht  es  weiter. 

Endlich  ein  glänzendes  Kapitel:  Der  Meister  fühlt,  dass  er  dem  Leser  etwas 
schuldig  ist,  nachdem  schon  soviel  über  ihn  geschrieben  worden  ist,  von  vielleicht 
nicht  ganz  Competenten,  und  er  glaubt,  dass  jetzt  ein  ernstes  Wort  der  Aufklärung 
am  Platze  ist.  Kurz,  er  schildert  sich  selbst,  damit  ja  Niemand  über  ihn 
im  Zweifel  sei.  Durch  dieses  Kapitel  hat  mich  Herr  Liebe  vollständig  gewonnen. 
Eine  Art  väterliches  Protector-Gefühl  für  ihn  entsteht  in  mir.  Ich  glaube,  dass 
der  Mann  noch  einmal  mein  Patient  werden  wird.  Dann  lass  ich  ihn  meine 
Kaninchen  füttern  und  im  Garten  kann  er  Kohl  rüsten  und  Rüben  schaben.  Das 
wird  ihm  gut  thun.  Herr  Liebe  gehört  entschieden  in  eine  Aiistalt  wie  die 
meine,  die  „nicht  einmal  nervös  sein  Wollende"  aufnimmt  und  verflegrt.  Also, 
Herr  Liebe  schildert  sich  selbst: 

Mit  12  Jahren  hat  er  Hamlet  gelesen;  mit  13  den  ersten  Selbstmordversuch 
gemacht. 

Heute  verachte  ich  das  Gros  der  Menschheit  ebenso  gründlich,  wie  ich  mich  in 
der  Liebe  zum  Einzelnen  vollständig  vergehen  kann. 

Er  hat  eine  unheimliche,  tödtliche  Buhe.  —  Ausnahmenatur.  — 


Einiges  über  Snggesüon .  durch  Briefe.  296 

Wahrend  ich  manchmal  den  Anschein  eines  pedantischen  Gelehrten  erwecke, 
bin  ich  in  Wirklichkeit  ein  heissblätiger  Mensch,  der  heute  zu  den  Füssen  eines 
seelenstolzen  Weibes  sitzt,  beim  Scheiden  ceremoniell  die  Fingernagel  berührt«  und 
dann  in  seiner  Stube  mit  Thränen  kämpft,  am  andern  Tage  ein  lyrisches  Gedicht 
macht,  eine  Stunde  später  sich  in  ein  Problem  vertieft  und  Abends  in  der  ver- 
stecktesten Theaterloge  einem  Faustdarsteller  enthusiastisch  applaudirt.  — 

Ich  bin  sicherlich  das  Werkzeug  einer  hohem,  als  menschlichen  Macht,  da 
ich  sonst  längst  imtergegangen  wäre.  — 

Tauscht  den  ßeruf  nicht  mit  einem  Potentaten.  Was  ihn  bei  seiner  Arbeit 
schändlich  und  schmutzig  erscheint,  ist  die  ordinäre  Pfennigrechnerei,  der  er  sich 
unterziehen  muss  und  die  täglich  seine  Nerven  peitscht.  — 

Er  nennt  sich  auch  das  Versuchskaninchen  für  sich  selber.  — 

Ich  finde  das  gar  nicht  erstaunlich,  denn  der  Augsburger  hat  in  einem  vorher- 
gehenden Kapitel,  —  mit  der  Aufschrift  „Mein  Arbeitsgebiet",  —  angegeben,  was 
er  Alles  betreibt. 

Aufgeführt  wird  hierbei  unter  Anderem  auch  die  Psychometrie.  Das  ist 
ja  schrecklich !  Das  Kapitel  unterzeichnet  er  ausdrücklich  diesmal  nicht  als  Meister, 
sondern  als  der  blosse  Mensch  P.  P.  J.  Liebe.  In  einem  Kapitel  „Idiosynkrasien** 
giebt  Herr  Liebe  zu  erkennen,  wie  er  unter  Larven  die  einzig  fühlende  Brust: 
Er  schildert,  welch  schreckliche  Menschen  diese  andern  sogenannten  Menschen, 
—  mit  Ausnahme  des  Herrn  Liebe  —  sind.  Wenn  er  auf  der  Strasse  dahin 
schlendert,  wo  er  so  viele  Leute  und  so  wenig  Physiognomien  sieht,  dann  blinzelt 
ihn  oft  einer  aus  der  Klasse  der  behaglichen  Sumpfbrüder  an.  Dann  trifft  er 
Bankzettel-Parvenüs  und  güterschlachtende  Zerstörer  der  lieben  Landwirtschaft  mit 
impertinentem  Blicke. 

Das  berührt  ihn  natürlich  wie  der  rohe  Peitschenknall  des  Fuhrknechts.  — 
Trottoirbummler-Milieu.  —  Alltägliches  Gesindel.  —  Schildkrötenaugen  und  Circus- 
Glown-Physiognomien  mit  einem  starken  Stich  in  das  Vorstadtpossenhafte.  —  Vom 
Neugierpöbel  wird  er  angestarrt,  wenn  seine  Stime  Gedanken  kund  giebt.  —  Noli 
me  tangere!  —  Strass^nkehrer  der  Gelehrtenrepublik.  —  Gewandte  Hausknechte 
für  geistigen  Diebstahl.  Jünger  der  Ramsch-Literatur.  —  Dickhäuter.  —  Es  ist 
gemein,  sagt  Hamlet  —  Dann  nietschelt  auch  er.  —  Dann  giebt's  Handlangerseelen 
und  elende  Stümper.  — 

Der  Kothurn  seiner  Wissenschaft  ist  angebellt  worden.  —  Er  reisst  den  Rene- 
gaten und  Weltredoutenbrüdem  die  Larve  herunter.  Die  nach  wahrer  Bildung 
Strebenden  haben  ihn  auf  den  Schild  gehoben.  —  Bedientennaturen  mit  blöden 
Augen.  —  Der  Löwe  ist  des  nicht  endenden  Schreites  mit  meuterischen  Käfig- 
ihieren  satt  und  sehnt  sich  nach  der  Wüste  des  Schweigens. 

Es  folgt  ein  Kapitel  über  die  Werke  des  Herrn  Liebe.  Die  Titel  lauten: 
Seelengeheimnisse,  Seelenaristokraten,  Seelenlappalien,  Der  Menschenfeind,  Jahr- 
hundert-Moderne etc. 

Diese  Werke  werden  von  Liebe  und  Andern  dadurch  kritisirt  und  recensirt 
dass  die  Person  des  Herrn  Liebe  wieder  auf  dem  Präsentirteller  herumgereicht 
wird:  Herr  Liebe  als  Uebermensch,  Herr  Liebe,  der  für  Andere  lebt.  Er  ist 
der  Mann  mit  dem  abgekühlten  Idealismus.  —  Ihr  Buch  hat  mich  vollständig  um- 
gekrämpeltl  —  Wirft  Leuchtkugeln  ins  Innere  der  Menschen.  —  Du  giebst  elec- 
trisch  Licht !  —  Des  Weltverächters  kalte  Ironie.  —  Hauch  feinerer  Erkenn tniss.  — 


g96  -^  Grohmann. 

Dknn  lässt  sich  der  Meister  von  einer  seiner  vielen  Verehrerinnen  ansingen, 
wie  fc^gt:  Adlerartig  wolltest  da  in  die  Höhe  schweifen  und  einsam  im  Lichte 
Deine  Kreise  ziehn!  — 

Sodann  folgt  ein  Appell  Liebe^s  an  die  deatschen  Frauen,  und  dann  eine 
sehr  schöne  Erklärung:  Liebe's  Werke  sind  Selecta  und  nur  für  ganz  feine  Seelen 
geschrieben.  Die  Auflage  ist  wegen  der  Rarität  solcher  Seelen  auf  nur  900  Exem- 
plare festgesetzt  worden,  daher  das  Einzelexemplar  entsprechend  theuer. 

Dann  giebt's  noch  viel  anderes  Schöne,  dann  werden  grosse  Männer,  darunto' 
auch  ein  gewisser  Liebe,  citirt,  und  dann  heisst's  am  hintern  Deckel  des  270  Seiten 
dicken  Buches :  Die  Raben  flattern  schon ;  es  ist  noch  zu  früh.  Dann  wieder  etwas 
Schönes  und  endlich  etwas  Lateinisches,  das  sich  ja  immer  gut  macht:  Alüs  in- 
serviens  consumor.    (Das  heisst:  Er  frisst  die  Andern  alle  auf!) 

Als  Schlussvignette  ein  Schwan  (wohl  von  wegen  der  Leda). 

Und:  Nachdruck  verboten. 

Ich  denke,  dass  die  Leser  dieses  Blattes  zu  sachverständig  sind, 
als  dass  ich  sie  anf  alle  Beeinflnssungs-Möglichkeiten  und  -Formen  auf- 
merksam machen  müsste,  die  durch  einen  solchen  Briefverkehr,  wie  den 
Liebe's  mit  seinen  Kunden,  bei  neuropathisch  oder  psychopathisch, 
schwachsinnig  oder  autosuggestiv  veranlagten  Menschen  bewirkt  werden 
kann. 

Jedenfalls  ist  es  interessant,  zu  sehen,  wie  dieser  grosse  Mann, 
der  wohl  ungeiähr  ein  überspannter  hysterischer  Paranoiker  sein  wird, 
sich  ein  Publikum  zu  schaffen  weiss,  das  treu  zu  ihm  hält  und  bei 
dem  er  Schule  machen  kann. 


Ich  möchte  jetzt  von  einer  zweiten  Sache  berichten,  die  mir  mit 
der  ersten  sehr  verwandt  zu  sein  scheint. 

In  Zeitungsannoncen  finden  wir  gelegentlich  Einladungen  „zu  geist- 
reichem Briefwechsel  mit  gebildeter  Dame".  Was  mag  da  wohl  Alles 
angebändelt  werden! 

Wie  sich  nun  Alles  organisirt  und  systematisirt,  so,  scheint's,  hat 
sich  auch  diese  Briefwechslerei  organisirt.  Ich  habe  wenigstens  seit 
Jahren  schon  mehrere  Annoncen  gelesen,  in  denen  sich  Vereine,  Ge- 
schäftsfirmen etc.  in  verschiedenen  Grossstädten  als  Vermittler  zu 
diesem  und  auch  zu  andersartigem  Briefverkehr  anbieten.  So  z.  B. 
ein  „Weltverein",  der  seineu  Sitz  in  München  hat,  und  eine  „Inter- 
nationale Correspondenzassociation"  in  Wien,  u.  A.  m. 

Die  Angelegenheit,  die  ich  weiter  unten  schildere,  hat  mich  mit 
dem  Prospect  eines  solchen  Vereins  bekannt  gemacht    Gegen  Bezahlung 


Einiges  über  Saggestion  durch  Briefe.  897 

eines  Jahresbeitrags  wird  der  Name  des  Neueintxetenden  in  ein  Buch 
eingetragen,  dass  der  Verein  jedes  Jahr  oder  sonstwie  periodisch  heraus- 
giebt  und  an  die  Mitglieder  versendet.  Es  enthält  die  Namen  und 
Adressen  derer,  die  für  dieses  Jahr  als  Mitglieder  anerkannt  werden, 
nnd  bei  Jedem  wird  angegeben,  für  was  er  sich  besonders  interessirt 
und  welche  Sprachen  er  spricht,  etc.  Der  Zweck  des  Vereins  ist,  jedem 
Mitglied  zu  ermöglichen,  an  vielen  Orten,  die  über  den  ganzen  Erdball 
verbreitet  sind,  mit  Anderen  correspondiren  zu  können.  Austausch  von 
Briefmarken  wird  als  eine  der  Sachen  genannt,  die  da  von  Vortheil 
sein  können.  Ich  vermuthe,  dass  die  neuesten  Ausgaben  auch  schon 
bis  zur  Idee  vom  Austausch  von  Ansichtspostkarten  gediehen  sind, 
denn  es  soll  ja  Alles  emporkommen,  was  „gesunde  Keime"  hat.  und 
es  giebt  doch  kaum  eine  gesündere  Dummheit,  als  die  Ansichtspost- 
kartensammlerei. 

Gelegenheit  zum  Lernen  von  modernen  Sprachen  durch  Brief- 
wechsel wird  auch  genannt. 

Das  Verlangen  nach  Auskünften  der  verschiedensten  Art  soll  für 
Andere  das  Motiv  zum  Beitritt  werden.  Briefwechsel  mit  gebildeter 
Dame  leuchtet  aber,  noch  mehr  als  es  ausdrücklich  gesagt  ist,  als  einer 
der  wichtigen  und  interessanten  Kerne  des  Pudels  hervor. 

An  einen  dieser  Prospecte  erinnere  ich  mich  d(»shalb  ganz  be- 
sonders, da  er  auf  dem  Titelblatt  mit  zwei  artigen  kleinen  Bildchen 
verziert  war,  die  die  reinsten  Suggerir-  und  Animir-Vignetten  sind. 
Eines  stellt  das  briefschreibende  Männchen  vor,  das  andere  —  na  natür- 
lich! —  das  briefschreibende  Weibchen.  Er  hoch  oben  im  schneeigen 
Norden;  sie  im  fernen  Süd  —  Sehnsucht  k  la  Heine.  Man  blickt  zu 
einem  verschneiten  Dachkammerfenster  ins  Innere:  Ein  schöner  Mann 
mit  Vollbart  schreibt  da  bei  der  Lampe  Schein  an  einem  Briefe.  Dies- 
mal hat  der  Mann  wohl  die  lange  stinkende  Tabackspfeife  auf  die  Seite 
gelegt ;  der  Beschauer  sieht  wenigstens  nichts  von  einer  solchen.  Und 
das  ist  gut,  denn  manche  Damen  lieben  die  Pfeifen  nicht.  Im  anderen 
Bilde  sitzt  eine  schlanke  Schöne  auf  einer  Veranda,  mit  einer  Brief- 
mappe vor  sich  auf  dem  Tische,  von  Blumen  und  Palmen  umgeben. 
Sie  denkt  einen  Augenblick  darüber  nach,  was  sie  dem  nördlichen 
Kerl  stecken  soll.  Zu  diesem  Zwecke  erhebt  sie  das  liebe  Köpfchen 
und  sinnt  sinnend  in  die  sinnende  Feme. 

Zwei  meiner  Patientinnen,  die  in  meinem  Institute  zu  arbeiten  hatten,  wollten 
•ich  Arbeitsschürzen  machen  lassen.  Die  nächstbeste  Nähterin  wird  herbeigerufen, 
bedient  die  Damen  und  kommt  so  einige  Male  in  mein  Haus.    Sie  sieht,  dass  es 


298  ^'  Grohmann. 

bei  ihren  beiden  Kundinnen  nicht  ganz  richtig  ist  im  Oberstübchen,  und  erfahrt, 
in  welchem  Verhältniss  sie  zu  mir  stehen. 

Einmal  traf  ich  die  Nähterin  allein.  Etwas  schüchtern,  aber  in  guter  Art 
sagte  sie  zu  mir,  dass  sie  sich  für  mein  Unternehmen  interessire.  Sie  glaube,  daas 
ich  wohl  viele  Erfahrungen  sammeln  könne,  wie  einem  gedrückten  Gemüthe  n 
helfen  sei,  etc.  Die  Unterredung  hatte  vielleicht  fünf  Minuten  gedauert  und  das 
war  das  letzte  Mal,  dass  ich  sie  jemals  gesehen  habe.  Desto  mehr  aber  erfuhr  ich 
von  ihr  durch  ßriefe. 

Es  mochten  etwa  zwei  Jahre  vergangen  sein,  als  ich  von  ihr  aus  einem  an- 
deren Ort  einen  Brief  erhielt.  Ob  ich  mich  ihrer  aus  der  kurzen  Unterhaltung  vor 
zwei  Jahren  erinnere?  Sie  fühle  sich  tief  unglücklich.  Es  sei  ihr  Schreckliches  zu- 
gestossen  und  nicht  der  eigenen  Mutter  könne  sie  mittheilen,  was  es  sei.  Und 
wenn  auch  fremde  Schuld  vorliege,  so  habe  sie  sich  doch  selber  noch  mehr  anzu- 
klagen. Sie  fände  keine  Ruhe.  Ich  sei  der  Einzige  ihrer  Bekannten,  der  etwas 
vom  kranken  Gemüth  verstände.  Sie  bitte  mich,  ihr  zu  rathen,  was  sie  in  ihrer 
verzweifelten  Lage  beginnen  solle.  Ihr  Gewissen  sei  belastet.  Sie  glaube  nicht, 
dass  irgend  Jemand  ihrem  unglücklichen  Gemüthszustand  gerecht  werden  könne, 
als  nur  ich. 

Ich  hatte  sie  aus  dem  flüchtigen  Zusammentrefifcn  vor  zwei  Jahren  als  ein 
gesundes  junges  Mädchen  von  lebhafter  Auffassung,  etwa  25  Jahre  alt,  in  der  Er- 
innerung. Aus  ihrem  Briefe  gewann  ich  die  YorsteUung,  dass  es  sich  um  eine 
melancholische  Depression  nach  heftigen  Gemüthsbewegungen  handeln  müsse.  Ich 
schrieb  ihr«  dass  ich  ihr  gerne  beistehen  wolle.  Sie  solle  mir  das  Erlebte  aus- 
führlich schildern;  sie  könne  hierbei  positive  Angaben,  wie  Namen  und  Adressen 
von  Personen  etc.,  die  in  der  Sache  verwickelt  seien,  zur  Wahrung  der  Discretion 
weglassen.  Ich  lege  mehr  Gewicht  auf  Erkenntniss  der  Anschauungen  und  Gefühle, 
die  sie  in  der  Sache  erworben  habe. 

Wie  weit  sie  meinen  Auftrag,  ausführlich  zu  sein,  ausdehnen  würde,  konnte 
ich  nicht  ahnen:  Nach  wenigen  Tagen  erhielt  ich  das  ausführlichste  Material,  das 
ich  jemals  in  meinem  Verkehr  mit  Patienten  erhalten  habe.  Ein  Handkoffer 
mittlerer  Grösse  war  angefüllt  mit  vielen  Hunderten  von  Briefen.  Der  Prospect 
und  ein  Mitgliederverzeichniss  eines  der  Vermittlungsvereine  für  briefliche  Bekannt- 
schaften war  dabei  und  mehrere  Photographien  eines  Herrn.  Eine  Reihe  von 
graphologischen  Expertisen  mit  ihren  Belegen  etc.  kam  auch  zum  Vorschein.  Das 
Centrura  all  dieser  Herrlichkeiten  war  der  Anfang  zur  „ausfuhrlichen"  Beschreibung 
der  Angelejrenheit.  Die  Fortsetzungen  zu  diesem  Anfang  liefen  in  rascher  Folge  in 
den  nächsten  Wochen  ein.  Sie  erreichten  den  Umfang  von  über  200  Seiten  Gross- 
actenformat,  eng  beschrieben,  in  guter  fester  Handschrift.  Keine  Wiederholung, 
nichts  zur  Sache  nicht  Gehörendes  war  am  Inhalte  auszusetzen.  Aber  ausführhch 
war  es  allerdings  und  die  Gefühle  waren  genau  beschrieben. 

Das  Mädchen  hatte  einige  Monate,  bevor  ich  sie  in  meinem  Hause  sprach, 
sich  von  ihren  Eltern  frei  gemacht.  Sie  hatte  ihre  Selbstständigkeit  erstrebt,  hatte 
die  ärmlichen  und  sie  drückenden  Verhältnisse  in  einem  kleinen  Orte  verlassen 
und  war  Nähterin  in  der  Grossstadt  geworden,  wo  sie  sehr  schwere  Kämpfe  um 
ihre  Existenz  erdulden  musste.  Durch  eine  Zeitungsannonce  hatte  sie  von  dem 
Brief- Verein  gehört,  war  ihm  beigetreten  und  hatte  einen  Briefwechsel  mit  mehreren 
Herren   an  fernen   Orten  begonnen.    Siehe  Beilagen-Bündel  1,  2,  3,  4  etc.     Tags 


Einiges  über  Suggestion  dnrch  Briefe.  299 

arbeitete  sie  nnd  Abends  ging's  fieberhaft  an  die  Correspondenz,  diesem  Labsal  für 
die  Arme,  die  „sonst  nichts  Geistiges'^  zu  gemessen  hatte.  Aus  diesem,  dem  ersten 
Theil  ihrer  Mittheilungen  mit  all  seinen  Beilagen  gewann  ich  Einblick  in  ein  weit 
verzweigtes  Netz  von  Correspondenzen,  denn  mehrere  Correspondenten  des  jungen 
Mädchens  schilderten  auch  die  Correspondenzen,  die  sie  vorher  mit  andern  Mit- 
gliederinnen  geführt  hatten.  Mehrere  verheirathete  Männer  waren  darunter,  und 
manche  ihrer  Correspondenzen  führten  zu  persönlichen  Bekanntschaften  und  allerlei 
Allotria,  Gefühlsduseleien,  Schwärmereien  —  oder  auch  zu  geschlechtlichen  Excessen, 
je  nach  der  Anlage  dieser  Herren  und  Damen.  Ein  Mönch  in  einem  Kloster  schlosa 
seine  Correspondenz  mit  meiner  Clientin  mit  der  Erklärung,  er  dürfe  nicht  mehr 
weiter  schreiben,  sein  Prior  hätte  die  Sache  entdeckt.  Einige  Koutiniers  im  Fache 
dieser  .,brieflichen  Liebschaften"  waren  jedenfalls  sehr  expert  in  der  Kunst  des 
„Herumkriegens".  Alle  diese  Correspondenzen  meiner  Clientin  nahmen  bald  ein 
Ende.  Nur  eine  verfolgte  sie  weiter  und  diese  eine  führte  zu  ihrem  Unglücke. 
Das  Hervortreten  des  lasciven  Elements  hatte  sie  bewogen,  die  Anderen  fahren  zu 
lassen.  Einige  hatten  wyklich  die  Sauglocke  geläutet.  Dieser  Eine  schrieb  ihr 
Monate  lang  höchst  anständige  Briefe.  Was  sie  aber,  mehr  als  der  Inhalt  seiner 
Briefe  fascinirt  haben  soll,  war  —  seine  Handschrift!  Diese  Handschrift  ist  aller- 
dings eine  sehr  seltsame,  sehr  schöne  und  charactervolle,  interessante.  Einige  Ge- 
dichte des  Mannes,  nicht  von  der  einfältigsten  Art,  imponirten  ihr.  Die  Briefe 
wurden  auf  beiden  Seiten  immer  leidenschaftlicher,  und  aus  dem  Tempo  von  einem 
pro  Woche  wurde  bald  einer  jeden  zweiten  Tag.  Auch  ihre  Photographien  hatten 
sie  schon  ausgetauscht.  Nach  den  verschiedenen  Bildern,  die  mir  ihren  Liebhaber 
vorführten,  muss  er  ein  schöner,  grosser  Mann  von  gewinnender  Erscheinung  ge- 
wesen sein:  Martialisch. 

Sie  hatte  sich  schon  bis  über  die  Ohren  in  den  Mann  verliebt,  als  sie  von 
ihm  den  ersten  Brief  erhielt,  in  dem,  jetzt  auch  er,  aber  in  der  ästhetischesten 
Form,  anfing,  auf  ihre  Sinnlichkeit  zu  wirken.  Er  träume  jede  Nacht  von  ihr  und 
halte  ihren  weissen,  zarten  Leib  umschlungen.  Nach  und  nach  wurde  er  immer 
glühender  in  diesem  Artikel,  aber  niemals  roh.  und  kein  gemeines  Wort  fiel  vor. 
Die  Wirkung  auf  das  Mädchen  war  die  des  intensivsten  Glücksgefühls.  Aber  sie 
bat  ihn  dabei  immer  wieder,  gewisse  Worte  nicht  zu  schreiben.  Das  sei  Sünde. 
Sie  liebe  ihn  rein.  Sie  wollte  ihm  jetzt  ganz  angehören.  Sie  sprach  in  ihren 
Briefen  von  ihrer  bevorstehenden  Vereinigung,  als  etwas  ganz  Selbstverständlichem. 
Er  schrieb  ihr  nun,  dass  er  leider  verheirathet  sei.  Für  sie  war  das  ein  schwerer 
Schlag.  Sie  überschüttete  ihn  mit  Vorwürfen,  noch  mehr  in  ihren  Gedanken  als 
durch  Worte  in  ihren  Briefen.  Sie  hatte  die  Vorstellung,  dass  sie  sich  ihm  auf- 
lade, wenn  sie  ihm  zu  sehr  zeige,  dass  sie  auf  eine  Heirath  gerechnet  hatte.  Sie 
wollte  nun  ihm  gegenüber,  —  .,dem  sie  ja  doch  so  viel  Glückseligkeit  zu  verdanken 
gehabt  habe",  —  mehr  die  wahre  Freundin,  neben  der  ..treuen  Gattin",  die  er 
zu  Hause  hätte,  herauskehren.    Aber  seine  Briefe  besiegten  sie. 

Sie  lebte  damals  in  kümmerlichsten  Verhältnissen  dahin.  Selten  konnte  sie 
sich  Fleischkost  gestatten.  Mit  Thee  feuerte  sie  ihre  Nerven  an  für  die  nächtlichen 
Briefkämpfe  mit  dem  Manne,  der  ihre  Phantasie  ganz  erfüllt  hatte.  „Ein  grosser 
Plan"  entstand  in  ihrem  Gehirn.  Lange  Wochen  wälzte  sie  die  Sache  hin  und 
her.  Der  Mann  hatte  ihr  geschrieben,  dass  er  seine  Frau  gar  nicht  liebe.  (Das 
schien  sie  vorher  nicht  gewusst  zu  haben !)    Da  hatte  sie  ja  ein  Hecht  auf  ihn ! 


300  ^  Grohmann. 

Sie  verwarf  das  Ganze  und  griff  dann  den  Plan  immer  wieder  auf.  Sie  legte  ilmi 
nun  die  Sache  vor.  Er  solle  entscheiden.  Er  habe  sie  zu  dem  gemacht,  was  sie 
jetzt  sei,  unglücklich  und  zerrissen  mit  sich  selbst.  Er  könne  sie  jetzt  haben.  Die 
Sache  könne  so  gemacht  werden.  Die  Eltern,  die  sie  oft  besuchen  und  ohne  deren 
Erlaubniss  sie  Zürich  nicht  verlassen  könne,  müssten  zuerst  für  die  Erlaubnias  zu 
ihrer  Auswanderung  in  das  Land  ihres  Geliebten  —  (es  handelte  sich  um  eine 
weite  Eisenbahnreise]  —  gewonnen  werden.  Auf  Briefpapier  mit  gefUlschtem 
Firmakopfe,  das  sie  bei  einem  Buchdrucker  bestellen  würde,  hätte  er  ihr  einen 
Brief  zu  schreiben.  Er  —  (ein  Beamter)  —  hätte  darin  als  Chef  einer  Moden- 
handlung unter  Erwähnung  einer  fingirten  Zeitungsannonce  sie  als  Angestellte  „für 
seine  Damenmäntelfabrikation'*  zu  engagiren.  Die  Eltern  sehen  ihre  knappen  Ver- 
hältnisse und  würden  beim  Vorzeigen  des  Briefes  der  Wegreise  der  Tochter  nichts 
in  den  Weg  legen,  froh,  dass  sie  eine  Anstellung  und  sicheres  Brot  gewonnen  habe. 
Sie  reist  dann  nach  der  Stadt  X,  die  in  der  Nähe  des  Wohnortes  des  Geliebten 
liegt,  würde  dort  eine  bescheidene  Kammer  miethen,  eine  Nähmaschine  auf  Ab- 
zahlung nehmen,  sich  als  Nähterin  in  der  Zeitung  empfAlen,  und  den  Kampf  um's 
Brot  dort  aufnehmen,  so  gut  und  so  schlecht,  wie  sie  ihn  hier  gehabt. 

Dort  wolle  sie  ganz  ihm  gehören,  so  oft  er  abkommen  könne  von  seinem 
Dienst.  Sie  werde  sich  ihm  dort  ganz  schenken,  wenn  sie  nur  seine  Liebe  habe. 
Alles  Andere  sei  ihr  dann  gleich.  Mit  ihm  könne  sie  auch  die  Schande  tragen. 
Und  seine  Frau  könne  sie  ja  auch  nicht  mehr  betrügen. 

Seine  Antwort  war  eine  abwinkende:  Närrisches  Mädel!  Und  so  verliebt! 
Denke  an  die  vielen  Gefahren  der  Entdeckung.  Abwarten!  Auch  er  sehne  sich 
nach  ihr,  etc.  — 

Sie  war  empört.  Sie  wollte  ihn  nun  vergessen.  Aber  sie  war  drin,  sie  konnte 
nicht  mehr  heraus.  Nach  mehreren  Wochen  war  wieder  der  alte  Briefwechsel  mit 
seinen  himmelstürmenden  Wehklagen.  Jetzt  wollte  sie  dieselbe  Sache  auf  anderem 
Wege  erreichen,  gab  manches  Stück  Geld  aus  für  Annoncen,  um  eine  Stellung  in 
der  Nähe  des  Geliebten  zu  erwerben.  (Das  weniger  abenteuerliche  Project  war 
also  erst  das  zweite.)  Nichts  wollte  sich  zeigen.  Um  jene  Zeit  war  sie  auch  in 
Zürich  bedrängt,  sie  hatte  sich  verschuldet,  war  zurückgekommen  in  ihren  Arbeits- 
leistungen, die  Miethe  war  nicht  bezahlt,  sie  wurde  gedrängt.  Sie  gab  den  un- 
nützen Kampf  endlich  auf  und  zog  sich  ins  elterliche  Haus  zurück,  wo  sie  nun 
Mühe  hatte,  ihre  inneren  Kämpfe  vor  der  Mutter  zu  verbergen. 

Hier  sah  sie  sich  als  unnütze  3Iitesserin  am  Tische  ihrer  Eltern,  die  auch  mit 
vielem  3Iissgeschick  zu  kämpfen  hatten.  Da  schrieb  sie  dem  Geliebten,  dass  nichts 
mehr  sie  hindern  werde,  das  erste  Project  auszuführen.  Alles  kam  zur  Ausfuhrung. 
Ein  trauriger  Abschied  —  und  doch  in  innerer  Freude,  unverstanden  von  den 
Eltern  —  und  sie  verlässt  das  Haus. 

An  einer  kleinen  Bahnstation  war  das  bestellte  Zusammentreffen.  Sie,  die  sich 
Unbekannten,  umarmen  sich  stürmisch,  lassen  sich  ins  nächste  Hotel  fahren  und 
hier  erfolgt  die  üebergabe  und  der  Empfang  alles  Ersehnten  und  Erträumten. 

Mitten  in  der  Nacht  quält  sie  der  interessante  Mann  noch  mit  Schilderungen 
seiner  bisherigen  Don-Juanstreiche,  die  er  ihr  bisher  verschwiegen  hatte.  Neben 
ihr  liegend  und  Cigaretten  rauchend,  erzält  er,  wie  er  seine  Schwägerin  verfuhrt 
habe  u.  dgl. 

Nächsten  Tag  reist  sie  mit  dem  Manne  in  ein  Städtchen,  wo  sie  sich  in  be- 


Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe.  301 

seheidensten  Verhältnissen  niederlässt,  eine  Nähmaschine  miethet,  Empfehlungs- 
karten drucken  und  austragen  lässt,  und  nun  mit  billigster  Nahrung  bei  viel  The& 
und  im  Winter  in  einer  ungenügend  geheizten  Dachkammer  der  Dinge  hant,  die 
da  kommen  sollen.  Sie  erklärt  bei  Schilderung  aller  dieser  Einzelheiten,  dass  sie 
damals  nichts  bereut  hätte.  Sie  hätte  sich  ihr  Glück  erkämpft,  ihr  Gewissen  sei 
ruhig  gewesen,  sie  hätte  das  erobert,  wozu  sie  ein  Recht  hatte  und  hätte  es  er- 
obert, ohne  die  Gefühle  Anderer  zu  beleidigen.  Wer  gelitten  und  gekämpft,  wie 
de,  und  dabei  Andere  geschont,  wie  sie,  dürfe  das  eroberte  Glück  auch  voll  ge- 
messen.   Das  sei  aber  eben  damals  gewesen,  dass  sie  die  Sache  so  angesehen  habe. 

Die  nächst  ferneren  Schicksale  des  Mädchens  sind  für  unser  Thema  von  wenig 
Interesse.  Ich  überspringe  sie  daher  und  nehme  den  Faden  ihres  Abenteuers  erst 
dort  wieder  auf,  wo  Briefe  und,  jetzt  auch  Graphologen,  das  Schicksal  meiner 
Clientin  mitbestimmen  halfen. 

Nach  schweren  Erlebnissen  und  Kämpfen  war  sie  später  wieder  ins  elterliche 
Haus  zurückgekehrt.  Hier  ging  es  ihr  allmählich  schlechter,  sie  gerieth  immer 
mehr  in  richtige  Gehirn-Grübeleien.  Sie  hatte  Niemand,  dem  sie  sich  anvertrauen 
konnte  in  den  schmerzlichen  Erinnerungen  über  das  Erlebte.  Im  Centrum  all  ihrer 
Gespinste  stand  als  grosse  Frage  vor  ihr:  Ist  dein  Geliebter  ein  schlechter 
Mensch?  Aus  dem  Briefwechsel  mit  ihm,  den  sie  noch  immer  fortsetzte,  glaubte 
aie  diese  ihr  allerwichtigste  Frage  nicht  lösen  zu  können.  Sie,  die  Ungebildete, 
kam  nun  auf  die  Vorstellung,  dass  nur  die  Schriftausiegung  eines  Graphologen  ihr 
diese  Frage  beantworten  könne. 

Ihre  italienische  Berufsschwester  hätte  vielleicht  die  Kartenschlägerin  aufge- 
sucht; die  cultivirtere  Deutschschweizerin  ging  zum  Graphologen.  Ich  muss  aber 
meine  Clientin  wegen  des  grossen  Vertrauens,  das  sie  zu  g^phologischen  Aus- 
legungen hatte,  noch  dadurch  in  Schutz  nehmen,  dass  ich  erwähne,  wie  sie  zum 
ersten  Male  auf  die  Vorstellung  gekommen  war,  dass  das  grosse  Orakel  bei  den 
Graphologen  zu  finden  sei.  Der  starkverbreitete  „Tagesanzeiger  der  Stadt  Zürich** 
bringt  in  seinem  „Briefkasten*'  —  einem  wahren  Tummelplatz  von  Naivetäten  — 
in  immer  neuer  Wiederholung  die  redactionelle  Empfehlung  eines  Graphologen  in 
Ztirich  für  viele  angefragten  Fälle,  in  denen  Personen  erklären,  dass  sie  nicht 
wissen,  ob  sie  dem  Character  eines  Anderen  trauen  dürfen,  z.  B.  bei  Anstellungen, 
unglücklicher  Liebe  etc.  Also,  die  Leetüre  dieser  Empfehlungen  hatte  meine 
Clientin  zuerst  auf  diesen  Ausweg  geführt. 

Sie  wollte  also  wissen,  ob  ihr  Verführer  ein  schlechter  Mensch  sei,  und  ihn 
„auf  ewig'*  aufgeben,  wenn  er  das  sei.  Jener  Graphologe  wurde  also  mit  der  Be- 
nrtheilung  der  Schrift  des  Geliebten  beauftragt.  Da  seine  Expertise  ihr  nicht 
genügte,  —  über  das  „Gut  oder  Schlecht**  enthielt  sie  nichts,  —  so  wurden  noch 
andere  Graphologen  herangezogen.  (Leider  hat  sie  sich  nicht  an  den  grossen 
Augsburger  gewandt,  sonst  hätte  sie  Welleicht  erfahren  können,  dass  auch  ihrem 
Geliebten  ein  Mittagsschläfchen  gut  thut.)  Alle  diese  Expertisen  fand  ich  in  dem 
Handkoffer  meiner  Clientin.  Ich  bin  durch  ihre  Leetüre  weder  graphologisch, 
noch  psychologisch,  noch  auch  „psychographologisch*'  einen  Schritt  weiter  gekommen. 
Das  nur  nebenbei  und  ohne  irgend  welche  Animosität  gegen  diese  Herren  Schwarz- 
künstler. 

Nachdem  sie  gehörig  Geld  geschwitzt  hatte,  gab  sie  endlich  den  unnützen 
Appell  an  diese  Wissenschaft  auf. 


302  ^  Grohmann. 

Unterdes  gerieth  sie  in  immer  tiefere  Verstimmung.  Mehrere  Monate  nadi 
ihrer  Heimkehr  ins  Elternhaus  erlitt  sie  einen  acuten  Anfall  von  Melancholie;  wohl 
keinen  sehr  schweren,  denn  in  den  besseren  Intervallen  war  sie  im  Stande,  jenen 
Hunderte  Seiten  langen  Bericht  an  mich  zu  liefern.  Auch  war  mir  die  relatire 
Gleichmässigkeit  und  Festigkeit  ihrer  Schrift  aufgefallen.  Den  ersten  Tag  mit 
einiger  Besserung  ihrer  Stimmung  und  besserer  Ueberlegung,  benutzte  sie,  um  an 
mich  jenen  ersten  Brief  zu  schreiben,  der  mir  die  ganze  Angelegenheit  zofuhrte. 
Von  Aerzten  wollte  sie  nichts  wissen.  Sie  fühlte  sich  krank  in  den  Erinnerungen 
und  für  das  sucht  ein  junges  Mädchen  ihres  Standes  die  Hülfe  w^o  anders.  Und 
ihr  einen  Irrenarzt  vorzuschlagen,  wäre  noch  aussichtsloser  gewesen.  Wer  kennt 
nicht  diese  Abneigung  des  Volkes.  Den  Arzt,  den  ihr  die  Mutter  kommen  lien 
und  aufdrängte,  wies  sie  kurzerhand  weg. 

Wie  weit  hier  Hysterie  oder  vielleicht  nur  hysterischer  Character  und  viel- 
leicht ein  ethischer  Defect  vorliegt,  werden  die  sachverständigen  Leser  besser  be- 
urtheilen  können  als  ich.  Die  Bekenntnisse  des  Mädchens  haben  auf  mich  in  aüen 
ihren  Details  den  Eindruck  der  Wahrheitsliebe  gemacht  —  von  beabsichtigter 
Schönfärberei  und  Sichinteressantmachen  ging  für  meine  Erkenn tniss  nichts  hervor 

—  aber  ich  möchte  auf  Grund  ihrer  blossen  Selbstschilderung  nicht  abschätzen, 
wie  weit  sie  vielleicht  ihre  Erinnerungen  unabsichtlich  fälschte. 

Ich  kann  sagen,  dieses  Mädchen  wurde  gesund  geniu  so,  wie  sie  krank  ge- 
worden war.  Sie  war  brieflich  unglücklich  verliebt  geworden,  und  mit  Briefen 
arbeitete  sie  sich  zur  Genesung  empor.  Vielleicht  that  ihr  das  Ablegen  ihrer  aus- 
führlichen schriftlichen  Beichte  wohl.  Wer  mag  da  entscheiden,  was  da  Alles 
mitwirkte?  Ihr  Verstand  hatte  sie  die  Situation  wohl  ziemlich  klar  erkennen  lassen. 
Ausserhalb  der  ganz  schweren  Stunden  mit  einem  leichten,  d.  h.  noch  ziemlidi 
gerechtfertigten  Versündigungswahn  und  einem  apathischen  Zubettliegen  hatte  sie 
die  bestimmte  Erwartung,  durch  mich,  und  nur  durch  mich,  der  Heilung  zugeführt 
zu  werden,  und  da  war  meine  Aufgabe  keine  schwere.  Was  in  ihrer  Lage  auch 
vielleicht  stark  mitgewirkt  haben  mochte,  war  die  Erinnerung  an  einige  Worte 
einer  meiner  beiden  Patientinnen,  einer  hysterischen  jungen  Dame,  für  die  sie 
seinerzeit  die  Arbeitsschürzen  genäht  hatte.  Die  Hysterische  musste  damals  einen 
ihrer  gewissen  Tage  gehabt  haben;  sie  hatte  mich  der  Nähterin  gegenüber  etwas 
verhimmelt,  und,  wohl  um  sich  interessant  zu  machen,  hatte  sie  ihr  die  „schreck- 
lichen Leiden''  geschildert,  aus  denen  ich  sie  zu  erretten  daran  sei.  Das  Mitleid 
mit  dieser  „so  unglücklichen  Patientin"  hatte  die  arme  Nähterin  gerührt;  kurz, 
diese  Worte,  von  denen  ich  jetzt  erst,  so  verspätet,  erfuhr,  hatten  auf  die  Nähterin 
gewirkt  und  so  war  ich  für  sie  Derjenige,  welcher. 

Ich  rieth  der  Patientin  zu  absoluter  Ruhe.  Sie  solle  jetzt  nur  aufstehen  und 
arbeiten,  wenn  sie  entschieden  Lust  dazu  habe.  Dann  erklärte  ich  ihr  meine  feste 
üeberzeugung,  dass  sie  gesund  würde.  Auf  ihre  Affaire  wolle  ich  erst  eingehen, 
wenn  ich  mich  von  ihrer  vollen  Genesung  überzeugt  hätte;  ihr  dann  allerdings 
auch  nicht  meine  ganz  offene  Meinung  vorenthalten.  Sie  wurde  bald  besser  und 
dann,  wie  sie  sagt,  ganz  geheilt,    hat  mir  die  rührendsten  Dankesbriefe  geschrieben 

—  für  mich  die  allerüberzeugendsten  Beweise  von  wahrer  Genesung  (dies  natürlich 
nur  im  Sinne  der  Melancholie),  und  war  nach  mehreren  Monaten  wahrscheinlich 
ungefähr  so  weit  normal  als  vor  Beginn  des  Briefwechsels  mit  dem  Geliebten. 

Und  so  habe  ich  nur  angenehme  Erinnerungen  an  diese  Patientin.    Nor  Eines 


Einiges  über  Saggestion  durch  Briefe.  303 

konnte  ich  ihr,  und  mit  ihr  ihren  Graphologen,  nie  verzeihen :  Sie  hatte  sich  zuerst 
an  diese  Schwarzkünstler  gewandt  und  dann  erst  an  mich!  Und  doch  hatte  ich 
ihr  so  treu  gedient  in  meinen  Eigenschafben  als  Gratis-Berather  und  väterlicher 
Freund  in  der  Feme,  als  Quasi-Kartenschläger,  Graphologe  ad  hoc  und  Correspondenz- 
Fsychiater:  Erst  durch  mich  wurde  sie  bewogen,  den  Mann  in  der  Feme,  mit  dem 
sie  so  viel  durchgemacht  hatte,  als  einen  schlechten  Menschen  anzuerkennen  und  ihm 
„auf  ewig'*  den  Laufpass  zu  geben. 

Die  Entdeckung  seiner  Schlechtigkeit  verdankt  sie  mir  allein.  Und  nur  mit 
ein  paar  armseligen  Cubikfuss  Kofferinhalt  habe  ich  das  herausbekommen.  Herr 
Liebe  hat  mir  darin  nicht  geholfen.    Er  wird  mir  das  bezeugen  können. 

Wenige  Monate  nach  dieser  durch  mich  ausgesprochenen  Verdammung  war 
es,  dass  ein  junger  Landsmann  meiner  Clientin  nähertrat.  Er  war  aus  einem  fernen 
Lande  gekommen,  um  sich  eine  Frau  zu  holen  und  er  hatte  es  eilig.  Er  heirathete 
meine  Clientin  und  nahm  sie  viele  Tausende  Meilen  mit  sich  fort  in  seine  Colonie. 

In  ihrem  Abschiedsbriefe  an  mich  hiess  es :  sie  werde  sich  aufrichtig  bemühen, 
eine  gute  Frau  und  Mutter  zu  werden. 

Nicht  immer  findet  Verschwendung  von  Material  statt. 

Sie  kam  in  ein  Land,  wo  es  keine  Briefträger  giebt.  Das  wird  wohl  das 
richtige  Klima  für  sie  sein. 


Dass  für  diese  Patientin  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  eine 
„briefliche  Behandlung"  zulässig  war,  wird  mir  wohl  jeder  Arzt  zu- 
geben, der  sich  auf  die  Suggestionstherapie  versteht.  Und  ich  glaube, 
dass  die  Fälle,  wo  eine  briefliche  Behandlung  —  die  doch  sonst  so 
recht  nach  dem  Curpfuschen  schmeckt  und  eines  ehrlichen  Arztes  un- 
würdig ist  —  gerade  das  Richtige,  oder  noch  zulässig  ist,  gar  nicht  so 
selten  sein  mögen.  Es  hat  eben  Alles  seine  Ausnahmen.  Einiges  hierher 
Gehöriges,  das  ich  aus  meinen  Erfahrungen  schöpfe,  möchte  ich  hier 
anfuhren :  Ich  habe  bei  Hysterischen  (beider  Geschlechter)  und  andere 
bei  Fällen  von  constitutionellem  Schwachsinn,  Dementia  paranoides  und 
Dementia  praecox  (die  in  nicht  ganz  jugendlichem  Alter  eingesetzt 
hatten,  z,  B.  mit  dem  25. — 30.  Jahre),  Patienten  kennen  gelernt,  die, 
mit  einem  reichen  Erinnerungsleben,  aber  geschwächt  im  Wollen  und 
im  Intellect,  in  der  Entschlussfähigkeit  beeinträchtigt,  oder  geplagt 
Ton  Zweifelsucht  und  anderen  Zwangsvorstellungen,  im  hohen  Grade 
bereit  sind,  sich  der  Autorität  Anderer  zu  fügen.  Viele  dieser  waren 
durch  Briefe  ganz  besonders  leicht  zu  suggeriren.  Entweder  durch- 
gehends  oder  auf  speciellem  Gebiete  sind  sie  folgsam,  gewärtigen 
fremde  Beeinflussung  und  wollen  ohne  sie  nicht  sein.  Es  trifft  sich 
manchmal  so,  dass  man  auf  Grund  von  eingesandtem  Material  (Selbst- 
schilderungen im  Verein  mit  Schilderungen  durch  Andere,  auch  durch 


304  A.  Grohmann. 

Aerzte)  einen  guten  Ueberblick  über  einen  solchen  Fall  gewinnt,  auch 
ohne  dass  man  den  Patienten  persönlich  kennen  lernt.  In  gewissen  Fällen 
darf  manches  das  nur  auf  Grund  der  genauen  Körperinspection  und 
mündlichen  Unterhaltung  festgestellt  werden  kann,  ignorirt  werden,  wenn 
das,  was  zu  verordnen  ist,  dieses  Andere,  Unbekannte,  nicht  treffen  kann« 
Welches,  mir  nicht  bekannte,  mitconcurrirende  Leiden  jener  Patientin 
z.  B.  hätte  durch  meine  Verordnung  etwa  getroffen  und  verschlechtert 
werden  können?  Hätte  sie  vielleicht  gleichzeitig  einen  Magencatarrb 
oder  Mensesbeschwerden  gehabt,  so  hätte  das  genügend  vernünftige 
Mädchen  sicherUch  den  Arz  tan  ihrem  Orte  dafür  zu  Eathe  gezogen, 
und,  wenn  nicht,  mein  Rath,  wie  sie  ihre  Melancholie  zu  behandeln 
habe,  hätte  ihr  in  diesem  Nebenleiden  nicht  geschadet.  Ich  will  ja 
mit  alle  dem  nicht  briefliche  Verordnungen  empfehlen,  aber  ich  glaube, 
dass  sie  manchmal  zuzulassen  sind. 

Ich  glaube  sogar,  dass,  wo  sie  am  Platze  sind,  sie  sehr  am  Platze 
sein  können :  Die  specifische  suggestive  Wirkung,  die  Geschriebenes  auf 
manche  Menschen  hat,  kann  da  Wirkungen  zu  Tage  bringen,  die  weit 
über  das  im  mündlichen  Verkehr  Mögliche  geht. 

In  unserer  verkehrsreichen  Zeit  —  und  sie  wird  natürlich  immer 
verkehrsreicher  —  haben  wir  allen  Grund,  die  vielen,  durch  die  Cultur 
neu  eingeführten  oder  wesentlich  bereicherten  und  umfangreicher  ge- 
wordenen Erscheinungen  des  menschlichen  Contacts  kennen  zu  lernen. 
Dass  durch  Briefe  sehr  viel  Schicksal  bestimmt  wird,  und  dass  durch 
Briefe  die  merkwürdicjsten  und  verhängnissvollsten  Beeinflussungen,  be- 
sonders geistes-  und   willeusschwacher  Menschen   entstehen,    ist  sicher. 

Und  für  mich  steht  fest,  dass  Viele  durch  das  geschriebene  Wort 
stärker  zu  beeinflussen  sind,  wie  durch  den  mündlichen  Verkehr. 

Unter  meinen  vielen  einschlägigen  Erinnerungen  an  Gesunde  und 
Kranke  taucht  das  Bild  eines  guten  und  liebenswürdigen  deutschen 
Gelehrten  hervor.  Er  war  Privatdocent.  Er  und  seine  verwittwete 
Mutter  lebten  jahrelang,  fast  wie  ein  Ehepärchen,  im  innigsten  Anschluss 
aneinander,  einsam  dahin.  Die  Mutter  stirbt.  Eine  Haushälterin  zieht 
ein  und  der  Gelehrte  verlebt  zwei  und  ein  halbes  Jahr  als  Einsiedler,  aber 
wie  mir  schien,  ganz  behaglich  und  unbesorgt  dahin,  bis  ihm  an  einem 
grossen  Reinmachetage,  wo  allerlei  Möbel  verstellt  und  verrückt  wurde, 
die  Haushälterin  einen  versteckt  gefundenen  Brief  übergiebt.  Es  war 
ein  zurückgelassenes  Schreiben  der  Mutter,  viele  Jahre  vor  ihrem  Tode 
verfasst.  Sie  spricht  da  von  einer  Sache,  die  sie  mündlich  nie  erwähnt 
hatte:   Wenn   ich  sterbe,   musst  du  dir  ein  gutes  liebes  Mädchen  zur 


Einiges  über  Suggestion,  durch  Briefe.  305 

Frau  nehmen.  Du  sollst  und  kannst  nicht  allein  leben.  Du  bist  gar 
nicht  dazu  geschaffen.  Du  hast  nicht  nöthig,  aufs  Geld  zu  sehen. 
Nehme  ein  gutes  Mädchen,  die  dich  lieb  hat  —  Für  ihn  stand  das 
fest :  Die  Mutter  hat  dich  genau  gekannt.  Und  er  heirathete.  Und  er 
nahm  die  Haushälterin. 


Wir  haben  besonders  im  Briefverkehr  mit  defecten  Menschen 
äusserst  vorsichtig  zu  sein.  Für  specielle  Gruppen  von  Defecten  kann 
die  Erfahrung  und  Einsicht  eines  Einzelnen  sich  derart  entwickeln, 
dass  er  mit  ihr  zum  Wohle  dieser  Defecten  operiren  kann. 

Sehr  oft  ist  mir  aufgefallen,  welch  merkwürdige  Einflüsse  meine 
Briefe  bei  manchen  der  vielen  Psychopathen  hatten,  die  brieflich  bei 
mir  angefragt  hatten  wegen  Eintritt  in  meine  Anstalt.  Vorkommnisse 
wie  das  folgende  gehören  dabei  zu  den  alltäglichsten. 

Einem  Patienten  war  von  seinem  Arzte  meine  Anstalt  verordnet 
worden.  Er  lieferte  mir  bei  der  ersten  Anfrage  kein  Material  zur  Er- 
kennung seines  Falles,  klagte  nur  über  gelegentlichen  Kopfdruck  und 
frug  an,  wann  er  mich  sprechen  könne.  Ich  schrieb:  Nächste  Woche ; 
später  würde  ich  vielleicht  verreisen.  Nun  folgte  eine  Reihe  von  Briefen 
(wie  ich  sie  oft  von  unentschlossenen  Psychopathen  zu  lesen  bekomme), 
worin  er  verschiedene  Zweifel  äusserte,  z.  B.  ob  es  nicht  besser  wäre, 
jetzt  noch  abzuwarten  u.  dgl.  Vielleicht  entschlösse  er  sich  später,  zu 
kommen.  Zu  diesem  Zwecke  solle  ich  ihm  genau  angeben,  wann  und 
auf  wie  lange  ich  verreise.  Ich  kenne  diese  Pappenheimer,  und  würde 
mich,  engagirt  nach  verschiedenen  Richtungen,  durch  die  jeweilig  vor- 
liegenden Anfragen,  in  ein  Netz  von  Compromissen  begeben.  Ich  ant- 
wortete daher :  Ich  kann  mich  in  Bezug  auf  Datum  und  Dauer  meiner 
Reise  nicht  binden.  Er  sei  auf  nächsten  Mittwoch  9  Uhr  Vormittags 
vorgemerkt.  Punctum!  Der  Mann  kam  pünktlich  zu  dieser  Zeit  und 
fünf  Minuten  nach  Eintritt  ins  Zimmer  hatte  er  mich  schon  mitten  ins 
Centrum  seiner  Qualen  gesetzt.  Er  dankte  mir  mit  überströmenden 
Ausdrücken  dafür,  dass  ich,  ohne  auf  seine  Zweifel  zu  reagiren,  ihm 
einfach  einen  ganz  bestimmten  Tag  zur  Berathimg  vorgeschrieben 
habe.  Der  Mann  war  ausgeprägt  zweifelsüchtig  und  jahrelang  in  den 
grössten  Selbstmartern  hin  und  her  geschwankt,  unfähig  zu  jeglichen 
Entschlüssen.  Ich  hatte  ihm  mit  meinem  ganz  bestimmten  Wort  die 
Pistole  vor  die  Brust  gehalten  und  kein  Zaudern,  Ueberlegen  und 
Zweifeln  gestattet.  Diesem  festen  Worte  und  nur  ihm,  verdanke  er, 
dass  er  überhaupt  hätte  kommen  können  u.  dgl.  m. 

Zeitschrift  für  Hypnotismns  etc.    IX.  20 


306  '^-  C^rohmann. 

Ein  anderer  meiner  Patienten,  schon  lange  im  Hause  —  begabt 
mit  einem  gewissen  kritischen  Blicke :  um  sich  her  Alles  sondirend,  wie 
weit  es  wohl  ansznnützen  wäre  für  seine  Genesung  —  bestellte  bei  mir 
folgende  Worte  auf  einen  Zettel  zu  schreiben : 

Lieber  Herr  So  und  so,  Zürich! 
Es  wird  schon  gehen.    Machen  Sie,  was  ich  gesagt  habe 
und  halten  Sie  nur  aus! 

Ihr  ergebener  A.  Grohmann. 

Ich  beeilte  mich,  diesen  Zauber  auf  Bestellung  zu  liefern,  und 
besser  hab'  ich's  nie  gehabt.  Genau  erklärte  mir  der  Mann  —  sehr 
unnöthiger  Weise  —  wie  es  doch  immer  gut  sei,  Alles  Schwarz  auf 
Weiss  bei  sich  zu  haben.  Jetzt  brauche  er  nur  in  die  Tasche  zu  langen 
und  meinen  Brief  hervorzuziehen,  um  sich  an  meine  Wegleitung  und  an 
seine  Vorsätze  zu  erinnern.    Dann  sei  Alles  wieder  richtig  und  im  Gleis ! 

Seien  wir  aufrichtig!  Es  ist  doch  manchmal  so  sehr  leicht,  ge- 
wisse Patienten  zu  behandeln^  dass  man's  als  eine  schwierige  Kunst 
bezeichnen  müsste,  den  unrichtigen  Weg  zu  finden. 


Zahlreich  waren  die  Fälle,  in  denen  das  Eintreffen  eines  Briefes 
meine  Patienten  in  der  merkwürdigsten  Weise  beeinflusst  hat.  Auf 
den  ersten  Blick  könnte  ich  sagen:  Da  ist  Alles  möglich!  Bei  ge- 
nauem Zusehen  entdeckt  man  freilich,  dass  auch  hier  Alles  gesetzmässig 
zugeht:  Mjig  der  eingelaufene  Brief  sein,  wie  er  mag,  immer  ist  für 
seinen  Empfänger  und  alle  diese  interessanten  und  interessirten  Herrn 
Mitpatienten,  die  sich  vielleicht  in  die  Angelegenheit  mischen,  das  Eine 
feststehend :  Zwischen  dem  gegebenen  Individuum,  der  empfangenen 
Nachricht  und  dem  durch  sie  hervorgerufenen  Affecte  liegt  als  ganz 
bestimmtes  und  einzig  mögliches  Verbindungsglied  ein  ganz  bestimmtes 
krankes  Gehirn  mit  seinem  Jetztzustaude  und  seinen  aufgespeicherten 
Erinnerungen. 

Wie  viel  Ueberstürzung  und  Erzeugung  von  Affecten  liegt  nicht 
in  jener  Nebengattung  von  brieflichem  Verkehr,  dem  Telegraphiren  und 
dem  Telephoniren! 

Die  Gesellschaft  hat  sich  diesen  neuen  Formen  des  Verkehrs  an- 
zupassen. Der  technische  Erfinder  hat  nur  das  Instrument  geschenkt; 
wie  die  Gesellschaft  mit  ihm  fertig  wird,  ist  ihre  Sache,  —  und  unter 
Opferung  des  Lebensglückes  und  der  Gemüthsruhe  Tausender  ihrer 
Mitglieder  erreicht  sie  —  und  auch  nur  einen  Theil  —  jener  Anpassung. 


Einiges  über  Suggestion  darch  Briefe.  307 

die  dem  Erfinder  mit  seinem  meistens  nur  technischen^  aber  nicht 
gesellschafts-psychologischen  Blick  in  die  Zukunft  vorgeschwebt  hat. 

Viele  Opfer  dieser  modernen  Verkehrseinrichtungen  fallen  dem 
Arzte  in  die  Hände.  Beim  Einen  hat  sie  eine  schwere  Berufsneurose 
entwickelt,  er  ist  ihr  reines  Opfer  geworden.  Beim  Anderen  hat 
der  Missbrauch  der  Verkehrseinrichtung,  oft  bei  Benutzung  zu  ganz 
eitlen  und  unnützen  Zwecken,  den  Ausbruch  einer  Krankheit  bewirkt, 
die  nur  in  seiner  krankhaften  oder  schwachen  Veranlagung  lag. 

Die  moderne  Caffeehaus-  und  Theaterbummelei  z.  B.  ist  für  viele 
psychopathische  Städter  nur  die  letzte  Schule  in  ihrer  Selbstschwächung. 
Das  viele  Eisenbahnfahren  erzeugt  bei  manchem  Commis  voyageur 
sexuelle  Ueberreizung.  Und  das  Romanelesen  der  beschäftigungslosen 
reichen  Dame  führt  auf  andere  Abwege. 


Mir  kommt  es  vor,  als  ob  sich  bei  den  von  mir  zuerst  geschilderten 
Brief  Wechselgelegenheiten  „in  aller  Stille"  eine  Sache  entwickelt  hat, 
die  noch  recht  stark  um  sich  greifen  kann.  Denn  Viele,  die  Romane 
lesen,  wollen  auch  Romane  erleben.  Die  arme  Nähterin  in  ihrer  Ver- 
einsamung und  die  Reiche  in  ihrer  Langenweile  können  da  hineinfallen. 

Die  Erziehung  wirkt  zwar  als  Hemmschuh.  Mancher,  der  jede 
Frau  zu  umschlingen  sofort  bereit  wäre,  thut  es  nicht,  weil  seine  Er- 
ziehung ihn  daran  hindert  und  das  sittsame  Mädchen  kann  im  gewöhn- 
lichen Verkehr  die  uneinnehmbare  Festung  sein. 

Im  Briefwechsel  tritt  aber  für  Beide  die  Wirkung  der  Erziehung 
sehr  zurück,  denn  wir  werden  nur  wenig  in  der  Richtung  des  Brief- 
schreibens erzogen,  sondern  fast  nur  in  der  Richtung  des  Benehmens 
im  persönlichen  Verkehr. 

Es  kommen  dann,  beim  geschilderten  Briefverkehr,  diese  zwei  Fac- 
toren,  glaube  ich,  vor  Allem  zur  Geltung:  Beim  Manne  die  polyga- 
mische Anlage,  wie  man  das  Ding  benennt,  bei  der  Frau  das  Ober- 
stübchen, die  Gefühlsduselei,  die  Phantasie,  die  Gehirngrübelei:  Wie 
der  Mann  meistens  gleich  mit  seinen  Genitalien  liebt,  so  die  Frau  recht 
oft  „nur"  im  leicht  suggerirten  Oberstübchen.  Der  beim  persönlichen 
Verkehr  vorliegende  Hemmschuh  des  allereingefleischtesten  Schicklich- 
keitsgefuhls  tritt  für  sie  zurück,  wo  sie  es  nicht  mit  einem  real  vor  ihr 
stehenden  Manne  zu  thun  hat.  Das  wird  wohl  die  Norm  sein.  Es  kann 
aber  natürlich  auch  bei  einem  oder  bei  beiden  Partnern  der  Fall  umge- 
kehrt liegen,  oder  es  treten  für  einen  Theil  Motive  ganz  neuer,  anderer 

Art  ein,  z.  B.  Gelderwerb  durch  Erpressung  etc.,  die  das  Heizmaterial 

20* 


308  ^'  Grohmann.    Einiges  über  Suggestion  durch  Briefe. 

für  sein  Triebwerk  liefern,  oder  es  giebt,  wie  ja  meist  im  Leben,  ein 
mixtum  compositum  von  Tielen  Motiven. 

Unter  dem  Schutzmantel  jenes  Nichtpersönlich  einander  Gegenüber- 
Stehens  wachsen  dann  die  Vorstellungen  und  ihre  Wirkungen  auf  das 
gesammte  Triebleben  heran,  bis  die  Stunde  naht,  wo  auch  der  schwä- 
chere —  d.  h.  hier  sittlichere  —  Theil  diesen  Schutzmantel  wegwirft 
und  man  reif  geworden  ist  für  Dummheiten. 

Für  mich  ist  es  ganz  bezeichnend,  dass  aus  einigen  Mittheilungen 
in  jenem  Koffer  meiner  Clientin,  die  die  Erlebnisse  ihrer  verschiedenen 
Partner  schildern,  folgendes  hervorgeht :  Mehrere  von  ihnen,  ebenso  ihr 
Verführer  in  jener  Nacht  ihres  ersten  Zusanmienseius,  berichten,  dass 
sie  nach  einer  langen  Correspondenz  mit  hohen  Erwartungen  an  das 
erste  Rendezvous  mit  ihren  Gorrespondentinnen  herangetreten  seien. 
Aber  sie  seien  enttäuscht  gewesen.  Dia.  Dämchens  seien  ganz  anders 
und  minderwerthiger  gewesen,  als  sie  sich  während  des  Briefschreibens 
ausgemalt  hätten.  Für  die  hätten  sie  lieber  gar  nicht  mit  der  Corre- 
spondenz angefangen!    Das  trifft  den  Kern  der  Sache. 

Dass  es  so  viele  Leute  giebt,  die  sich  durch  Geschriebenes  so 
leicht  beeinflussen  lassen,  mag  vielleicht  zum  Theil  daher  kommen,  dass 
eben  früher  Gedrucktes  und  Geschriebenes  viel  weniger  vorkam  und 
OS  mehr  nur  wichtigere  Sachen  betraf,  wie  z.  B.  Gesetze,  Verträge  etc. 
Daher  wurde  dem  Gedruckten  und  Geschriebenen  als  solchem  schon 
ein  grösserer  Werth  beigelegt,  den  es  auch  wirklich  besass.  Jetzt  ist 
es  zwar  zur  allgemeinen  Verfügung  und  dadurch  entwerthet  worden, 
aber  wir  haben  die  Wirkung  durch  unsere  Voreltern  doch  in  uns  auf- 
genommen. 

Es  giebt  viel  Geld,  viel  Zeit,  viel  Schlechtigkeit  und  viel  Dummheit 
und  Krankheit.  Das  Alles  associrt  sich  mit  den  Verkehrsmitteln  und 
den  gesammten  modernen  technischen  Hülfsmitteln  unserer  Cultur, 
und  so  .erzeugt  die  Gesellschaft  immer  wieder  neue,  moderne,  culturelle 
Mittel  zur  Erregung  und  Beeinflussung  und  zum  moralischen  Fallisse- 
ment; für  den  Einen  das,  für  den  Anderen  jenes. 

Briefe  spielen  hierbei  eine  wichtige  Rolle.  Ich  kann 
mit  den  wenigen  mir  zu  Gebote  stehenden  Beispielen  nichts  bew^eisen. 
Aber  ich  möchte  auf  diese  wichtige  Erscheinung  hinweisen.  Ich 
empfehle  sie  der  Aufmerksamkeit  der  Sachkenner  und  Beobachter  auf 
dem  Gebiete  der  Psyche, 


Referate  und  Besprechungen. 


Sante  de  Sanctis,  Una  Yeggente.  Ballettino  della  Societä  Lancisiana  degli 
Ospedali  di  Roma.    Anno  XIX,  fasc.  1.  1899.    26  Seiten. 

Die  vorliegende  Abhandlung  enthält  die  Ergebnisse  einer  Studie  über  das 
12jährige  Banemmädchen  Sestilia  Calderina  zu  Migliano  in  der  Provinz 
Perugia  in  Italien,  das  im  vorigen  Jahre  viel  von  sich  reden  machte  und  be- 
sonders vom  Januar  bis  zum  Mai  1898  die  ganze  Umgegend  seines  Heimatortes 
durch  seine  Predigten,  Weissagungen,  Mittheilungen  aus  der  anderen  Welt  u.  s.  w. 
in  Staunen  versetzte  und  dies  um  so  mehr,  als  die  angebliche  Heilige  weder  lesen 
noch  schreiben  kann,  nie  zur  Schule  ging  und  vor  dem  Ausbruch  ihrer  Wunder- 
gabe auch  die  Kirche  und  den  religiösen  Unterricht  nicht  gerade  häufig  besuchte, 
nur  einmal  des  Jahres  beichtete  und  niemals  communicirte. 

Die  Anfangs  October  1898  vom  Verfasser  vorgenommene  Prüfung  ergab  unter 
anderem  folgenden  anamnestischen  Befund:  Die  Kranke  ist  blass,  braun,  von  sym* 
pathischem  Ausdruck,  Körpergrösse  1,40  m.  Schlank  und  gut  gebaut,  obwohl  von 
etwas  gebückter  Haltung.  Leichte  Asymmetrie  des  Gesichts.  Zygomaticus,  Orbita 
und  Stirn  rechts  mehr  hervortretend  als  links.  Leichte  Functionsstörung  der 
mimischen  Antlitzmuskeln  rechts.  Defect  in  der  Aussprache  der  Laute  s  und  r 
(das  r  wird  ein  wenig  französisch  ausgesprochen).  Helix  der  Ohrmuscheln  imregel- 
massig,  die  Darwinschen  Knötchen  deutlich  erkennbar.  Das  Mädchen  ist  scrophulös. 
Die  Kranke  scheint  erblich  belastet,  obwohl  beide  Eltern  gesund  sind.  Der 
Grossvater  väterlicherseits  starb  als  72  jähriger  an  Kummer,  ein  Bruder  desselben 
litt  im  Irrenhausd  zu  Pompeji  an  Melancholie.  Ein  Verwandter  mütterlicherseits 
ist  Idiot,  ein  Bruder  der  Kranken  tuberkulös. 

Als  kleines  ELind  zeigte  die  Kranke  nichts  Besonderes,  sie  war  jedoch  von 
lebhaftem  Temperament  und  inteUigent.  Gegenwärtig  überschreitet  ihre  Intelligenz 
nicht  die  mittlere  Norm.  Bis  zum  18.  November  1897  hatte  sie  niemals  Anfälle, 
sie  war  unwissend,  wie  fast  alle  Mädchen  jener  Gegend.  Sie  hatte  weder  von  der 
Madonna  zu  Lourdes  noch  von  der  zu  Pompeji,  noch  von  anderen  ähnlichen 
wunderbaren  Dingen  gehört.  Sie  hatte  ebensowenig  auf  Jahrmärkten  oder  sonstwo 
Somnambule  oder  Gaukler  u.  s.  w.  gesehen. 

Am  Morgen  des  18.  November  fühlte  sie  sich  zum  ersten  Male  unwohl.  Sic 
legte  sich  darauf  nieder  und  schlief  den  ganzen  Tag  lang  so  tief,  dass  die  Mutter 


310  fteferate  und  Besprechong^. 

sie  am  Abend  nur  mit  Gewalt  und  darch  heftiges  Schütteln  erwecken  konnte.  Der 
nächste  Tage  verlief  ohne  Anfall.  Am  folgenden  verfiel  sie  fast  zor  selben  Zeit 
für  viele  Stunden  in  gleich  tiefen  Schlaf,  nachdem  sie  znvor  eigenthümliche  Reib- 
bewegungen  der  Hände  und  Kälteschauer  gezeigt  hatte.  Von  nun  an  wiederholten 
sich  die  Anfälle  regelmässig  einen  Tag  um  den  andern,  immer  von  jenen  Beib- 
bewegungen  und  oft  auch  von  Zuckungen,  wenn  auch  nicht  sehr  intensiven,  des 
ganzen  Körpers  eingeleitet.  Anfangs  trat  der  Anfall  immer  zur  gleichen  Tageszeit 
ein,  allmählich  verzögerte  sich  derselbe  täglich  um  weniges,  bis  er  schliesslich  immer 
am  Abend  oder  in  der  Nacht  eintrat.  Bei  den  ersten  Anfällen  schlief  die  Kranke 
ruhig  ohne  zu  sprechen  und  hatte  nach  dem  plötzlichen  Erwachen  keine  Erinnerung 
von  dem,  was  vorgefallen  war.  Später  fing  sie  während  des  Schlafes  an  zu  reden. 
Sie  rief  anfangs  nur  die  Namen  der  Eltern  und  sprach  unzusammenhängende  Sätze. 
Diese  wurden  später  zu  längeren  Reden  und  detaillirten  Erzählungen  über  das,  was 
sie  an  den  Tagen  zuvor  und  in  den  Stunden  vor  dem  Anfall  erlebt  hatte.  Noch 
später  sprach  sie  über  Verstorbene,  die  sie  gekannt  und  über  Dinge,  die  sie  vor 
langer  Zeit  erfahren  hatte.  Nach  ungefähr  zwei  Monaten  (Januar  1898)  sprach  die 
Kranke  während  der  ganzen  Zeit  des  Schlafes.  Den  Inhalt  ihrer  Beden  bildeten 
nun  Blumen,  Engel,  das  Paradies,  das  Fegefeuer,  die  Hölle,  die  Heiligen,  die  Ver- 
storbenen u.  s.  w.  Sie  verkehrte  mit  den  Abgeschiedenen  und  beschrieb  ebenso- 
wohl schreckliche  Visionen  wie  auch  Segnungen. 

Im  Februar  und  März  1898  trat  eine  Veränderung  ein.  Die  Anfälle  dauerten 
fort  (Eintritt  gegen  8  oder  9  Uhr  Abends),  aber  die  Kranke  spricht  nicht  mehr 
immer  wie  sonst  während  der  ganzen  Zeit  des  Schlafes,  sondern  schläft  zuweilen 
in  der  Nacht  ruhig,  um  gegen  Morgen  ihre  Reden  zu  beginnen.  Meistens  sind 
während  des  Schlafs  die  Augen  geöfihet.  Nach  dem  Erwachen  erinnert  sie  jetzt 
zuweilen  etwas  aus  den  Traumerlebnissen. 

Am  Gharfreitag.  der  ein  Tag  des  Anfalles  war,  blieb  dieser  aus.  Die  Kranke 
gab  an,  dass  sie  heute  mit  Niemand  reden  könne.  (nOggi  non  ho  con  chi  dis- 
correre.  il  Signore  e  morto".) 

Der  Inhalt  der  Heden  ist  fortdauernd  mystisch.  Sie  berichtet  aus  dem  Leben 
Christi,  über  die  Mirakel  verschiedener  Heiligen  und  der  3Iadonna,  ermahnt  zur 
Busse  u.  8.  w. 

Seit  Ende  August  tritt  in  ihren  Reden  eine  gewisse  Gigia  auf  (Verf.  vormuthet 
die  Ettorre  di  Napoli)  und  spricht  mit  ihr  über  Ereignisse  der  Zukunft. 

In  der  Folge  hat  die  Kranke  auch  während  des  Tages  und  in  anfallsfreien 
Nächten  Erscheinungen  und  Visionen.  Gott  und  die  Madonna  ertheilen  ihr  Befehle 
(„la  Madonna  ha  gli  occhi  piü  splendidi  degli  spccchi,  d  bella  come  un  raggio  di 
sole"),  sie  macht  mysteriöse  Reisen  in  weite  Fernen. 

Sie  ist  äusserst  zurückhaltend  gegen  Erwachsene,  die  sie  befragen,  zeigt  auch 
eine  ausgesprochene  Schlauheit  und  Verstellungskunst  („il  dottorc  pesca  (tenta), 
che  io  gli  dica  tutte  le  mie  cose,  ma  mica  gliele  dico"  .  .  .,  ...  „siete  troppo 
grandi  (adulti)  .  .  .  i  grandi  hanno  la  vista  grossa  .  .  .  Gerte  cose  belle  le  possono 
veder  solo  i  piccoli  (bambini  e  fanciuUi)  che  sono  innocenti").  Einer  siebenjährigen 
Schwester  lasst  sie  ihre  Visionen  sehen,  tadelt  sie  aber  dann  sehr,  als  sie  erfährt, 
dass  die  Schwester  darüber  Mittheilungen  gemacht.  Seitdem  es  einem  Arzt  ge- 
lang,  sie  zu  hypnotisiren,   in  welchem  Zustand  sie  sprach,    wie  in  ihren  Anfällen, 


Referate  und  Besprechungen.  31 X 

gelingt -dies  Niemand  wieder.  Sie  wiedersetzt  sich  jeder  genaueren  Prüfung,  es 
war  unmöglich,  die  Sensibilität  an  ihr  festzustellen. 

In  letzter  Zeit  ist  die  Kranke  reizbar  und  leicht  verletzt,  sie  weint  leicht  und 
zeig^  sich  oft  feindlich  gesinnt  gegen  ihre  Umgebung. 

Seit  dem  Ausbruch  der  Krankheit  ist  das  Mädchen  sehr  religiös  geworden. 
Beim  Weiden  der  Schafe  sieht  man  sie  oft  knieen  und  beten.  Dio  Eltern  brachten 
sie  zweimal  zum  Sanctuarium  derMadonna  delle  Grondicie,  um  vom  Himmel 
die  Heilung  zu  erflehen. 

Der  Verfasser  berichtet  dann  noch  über  einige  angebliche  Weissagungen  der 
Kranken,  über  die  aber  keine  völlig  übereinstimmenden  Angaben  zu  erhalten  waren 
und  die  sichtlich  auf  Associationsverbindungen  zurückzuführen  sind. 

Die  Bedeutung  und  das  Hauptinteresse  des  beschriebenen  Falles  liegt  wohl 
darin,  dass  die  einzelnen  Entwicklungsphasen  der  Krankheit  deutlich  zu  verfolgen 
sind  und  ein  Verdienst  des  Verfassers  ist  es,  dieselben  unter  Anwendung  der 
modernen  psychologischen  Erkenntnisse,  soweit  es  die  Umstände  gestatteten,  zu 
einem  klaren  Verständniss  gebracht  zu  haben. 

Von  hysterischen  Anfällen  allgemeinen  Characters,  verflochten  mit  Schlaf- 
zuständen und  gefolgt  von  vollständiger  Amnesie,  geht  die  Krankheit  über  in  einen 
Zustand  des  Schlafredens  (sonniloquio),  es  folgt  ein  Stadium  des  reve  delirant 
(Gnislain),  das  dann  in  den  Traum-  und  Dämmerzustand  übergeht.  Die 
Amnesie  nach  dem  Erwachen  ist  weniger  vollständig,  die  Kranke  ist  im  Stande, 
etwas  über  den  gehabten  Anfall  zu  berichten.  Endlich  dauert  der  Inhalt  des 
pathologischen  Traumes  auch  während  des  Wachbewusstseins  fort,  die  Kranke  be- 
findet sich  in  einem  Zustande  vollständigen  mystisch-prophetischem  Deliriums,  das 
man  als  „hysterische  Psychose  mit  delirircnden  Traumanfällen''  bezeichnen  kann. 
(Delirio  onirico  nach  De  Sanctis). 

Der  Verfasser  wirft  die  Frage  auf,  ob  die  Entwickelung  der  Krankheit  mit 
dem  gegenwärtigen  Stadium  abgeschlossen  sei  und  kommt  zu  dem  Ergebniss,  dass, 
wenn  nicht  das  Auftreten  der  Pubertät  dem  Ganzen  eine  sexuelle  Färbung  geben 
wird  (erinnert  wird  an  das  tragische  Ende  Urbano  Grandier's  und  die  Ursu- 
linerinnen  zu  Loudun  1635)  oder  wenn  nicht  einmal  die  Carabinieri  eintreten 
werden  oder  das  Interesse  des  Publikums  schwindet,  die  Krankheit  sich  zu  einer 
wirklichen  Theomanie  entwickeln  könne  und  das  einfache  Mädchen  von  Migliano 
als  Prophetin  und  Heilige  Anerkennung  finde.  Der  Verfasser  denkt  wohl  an 
Lazzaretti,  Consulheiro,  Louise  Lateau  u.  a. 

Fein  sind  die  psychologischen  Fingerzeige  des  Verfassers  in  Bezug  auf  die 
allmähliche  und  stetige  Zunahme  der  Traumvorstellungen,  bedingt  durch  das  der 
Kranken  entgegengebrachte  Interesse  der  Bevölkerung  und  die  Fragen,  die  man 
an  sie  richtet,  durch  den  engen  Connex,  in  dem  sie  sich  zur  Kirche  stellt,  die 
Wunder  der  Madonna  delle  Grondicie  und  der  Heiligen,  die  man  ihr  erzählt  u.  s.  f. 
„Unbewusst"  empfangene  Eindrücke  der  weiteren  rcproduciren  sich  im  Traume 
hallucinatorisch  mit  der  Lebhaftigkeit  wirklicher  Sinneseindrücke.  Ein  Hauptfactor 
für  die  Erklärung  des  vorliegenden  Falles  ist  femer  die  Autosuggestion.  Verf« 
fügt  hinzu:  „In  Sestilia  ist  weder  irgend  etwas  von  Telepathie  noch  von  Te- 
le s  t  e  s  i  e  nachweisbar,  und  überhaupt  können  Thatsachen  dieser  Art  vielleicht  eben- 
falls durch  wissenschaftliche  Hypothesen  erklärt  werden  (Tamburini)". 

Zur  Diagnose  der  Krankheit  sei  noch  erwähnt,  dass  mit  dem  Verfasser  gegen* 


312  Referate  nnd  Besprechangen. 

wärtig  die  yierte  Periode  (attaque  de  delire)  der  grande  attaqae  hj- 
sterique  der  Schule  Charcot's  hauptsächlich  in  Betracht  komme. 

Den  Schlnss  der  Abhandlung  bilden  noch  einige  geschichtlich-psychologische 
Hinweise. 

Je  mehr  sich  die  Psychopathologie  auf  die  durch  die  normale  Psychologie 
gewonnenen  Erkenntnisse  stutzt,  um  so  grösser  wird  andererseits  der  Nutzen  sein, 
den  die  letztere  aus  den  Resultaten  der  ersteren  zu  ziehen  vermag.  £e  steht  zu 
wünschen,  dass  ähnliche  Fälle  dieser  Art  durch  eine  gleich  sorgfältige  Anal3r8e  unter- 
sucht worden.  Kiesow-Turin. 

WiUiam  James,  Talks  to  Toachers  on  Psy  chology:  and  to  Students 
on  some  ofLife's  Ideals.    New- York,  Henry  Holt  and  Company.  1899.  301  S. 

Das  Buch  zerfällt  in  die  beiden  Theile  ""Talks  to  Teachers''  und  „Talks 
to  Students'\  Das  Ganze  ist  eine  Bearbeitung  von  Vorträgen,  die  der  Verfasser 
in  Cambridge  und  an  anderen  Orten  der  Vereinigten  Staaten  vor  einigen  Jahren 
gehalten  hat. 

Der  erste  Theil  des  Buches  „Talks  to  Teachers"  enthält  15  Kapitel  Im 
ersten  ""Psychology  and  the  Teaching  ArV  spricht  James  sich  sehr  lobend 
aus  über  das  amerikanische  Schulwesen,  sowie  über  den  Enthusiasmus  der  Lehrer 
und  deren  Verlangen,  in  die  Psychologie  eingeführt  zu  werden,  um  ihren  Beruf 
mit  immer  grösserem  Erfolge  ausüben  zu  können.  Die  Psychologie,  so  führt 
James  aus,  kann  dem  Lehrer  eine  bedeutende  Hülfe  sein,  aber  dennoch  darf  der 
Einfluss,  den  sie  auf  den  Unterricht  auszuüben  vermag,  nicht  überschätzt  werden; 
denn  wenn  auch  die  hier  in  Betracht  kommenden  Methoden  im  letzten  Grunde 
den  psychologischen  Gesetzen  entsprechen  müssen,  so  können  sie  doch  nicht  ohne 
Weiteres  von  diesen  abgeleitet  werden.  Der  grosse  Nutzen  der  Beschäftigung  mit 
der  Psychologie  besteht  für  den  Lehrenden  nach  James  besonders  darin,  dass 
diese  Wissenschaft  vor  der  Anwendung  fehlerhafter  Methoden  schützt,  dass  sie 
femer  das  instinctiv  erworbene  Lebrverfahren  in  richtiger  Weise  zu  beleuchten 
und  endlich  das  Interesse  des  Lehrers  für  die  Individualität  der  Schüler  zu 
wecken  vermag. 

Ueber  das  in  Amerika  mit  besonderem  Fleiss  betriebene  Studium  der  Psy- 
chologie des  Kindes  spricht  sich  der  Verfasser  dahin  aus.  dass,  so  nützlich  dasselbe 
auch  sein  möge,  es  doch  nicht  als  eine  unerlässliche  Pflicht  dem  Lehrer  aufgebürdet 
werden  dürfe.  Er  verficht  mit  Entschiedenheit  die  Anschauung,  dass  Tüchtigkeit 
im  Lehramt  und  Tüchtigkeit  im  Betreiben  der  Psychologie  des  Kindes  durchaus 
nicht  immer  zusammenfallen:  "The  best  teacher  may  be  the  poorest  contributor  of 
child-study  material,  and  the  best  contributor  may  be  the  poorest  teacher."  "The 
most  general  Clements  and  workings  of  the  mind  are  all  that  the  teacher  absolutelj 
needs  to  be  acquainted  with  für  his  purposes". 

Im  2.  Kapitel  "The  Stream  of  Consciousness"  giebt  der  Verf.  eine 
kurze  Darstellung  seiner  bekannten  Auffassung  vom  Bewusstsein,  er  streift  dabei 
frühere  Anschauungen  vom  Bewusstsein  und  schliesst  das  Kapitel  mit  einem  Citat 
aus  W u n d t ' 8  Abhandlung  „Ueber  psychische  Causalität  und  dasPrincip 
des  psychophysischen  Parallelismus**  (Philos.  Studien  XI,  121fF.). 

Das  S.Kapitel  ist  betitelt:  "The  Child  as  a  Behaving  Organism".  Die 
-heutige   Psychologie   betont   im   Gegensatz   zu   früheren   Anschauungen    auch   die 


Referate  und  Besprechimgen.  313 

practische  Seite  dieses  Studiums.  Diese  Seite  liat  für  die  Lehrenden  besonderen 
Werth  und  wird  daher  vom  Verfasser  in  dieser  Darstellung  auch  besonders  hervor- 
gehoben. "You  should  regard  your  professional  task  as  if  it  consisted 
chiefly  and  essentially  in  training  the  pupil  to  behavior"  (das  Wort 
in  seinem  weitesten  Sinne  gefasst). 

Im  4.  Kapitel,  Education  and  Behavior  wird  die  Erziehung  definirt  als 
„the  Organisation  of  acquired  habits  of  oondnct  and  tendencies  to 
b e h a V i o r".  "You  should  get  into  the  habit  of  regarding  them  (die  Eindrücke, 
die  der  Lehrer  auf  den  Schüler  hervorbringt)  all  as  leading  to  the  acquisition  by 
him  (d.  Schüler)  of  capacities  for  behavior  —  emotional,  sociali  bodily,  vocal,  tech- 
nical  or  what  not.** 

In  den  folgenden  Kapiteln  —  "The  Necessity  ofReaction''  —  "Native 
Beactions  and  Acquired  Reactions" —  **What  the  Native  Reactions 
are"  —  giebt  der  Verfasser  practische  Rathschläge  und  Regeln  für  eine  erfolg- 
reiche Erziehung.  "No  reception  without  reaction,  no  impression 
without  correlative  expression."  Ein  Eindruck,  der  in  dem  Schüler  keine 
Reaction  hervorruft,  ist  ein  verlorener  und  psychologisch  unvollständiger.  Der 
Lehrer  soll  sich  mit  den  angeborenen  Reactionen  seiner  Schüler  (Furcht,  Liebe, 
Wissbegierde.  Nachahmung,  Ehrgeiz  u.  s.  w.)  vertraut  machen  und  diese  je  nach 
dem  gegebenen  Fall  auszunutzen,  zu  unterdrücken  oder  umzumodeln  versuchen. 

Kapitel  8  —  **The  Laws  of  Habits"  —  behandelt  die  Macht  der  Gewohn- 
heit, Kapitel  9  die  Ideenassociation  —  "Association  of  Ideas".  "The  teacher 
can  formulate  bis  function  to  himself  therefore  in  terms  of  association  as  well  as 
in  terms  of  native  and  acquired  reaction.  It  is  mainly  that  of  building  up 
nseful  Systems  of  association  in  the  pupil's  mind." 

Im  10.  und  11.  Kapitel  behandelt  Verf.  das  Interesse  und  die  Aufmerk- 
«amkeit  ("Interest  —  Attention").  Der  Lehrer  soll  in  seiner  Thätigkeit 
immer  von  den  bereits  vorhandenen  Interessen  des  Schülers  ausgehen  und  hieran 
anknüpfend  neue  Interessen  in  ihm  zu  wecken  suchen.  Die  Aufmerksamkeit  soll 
nicht  zu  oft  direct  erzwungen  werden,  es  wird  erzieherisch  mehr  erreicht,  wenn 
dieselbe  durch  geschickte  Behandlung  des  Gegenstandes  immer  wieder  von  Neuem 
angefacht  wird. 

Im  12.  Kapitel,  in  dem  der  Verfasser  die  Gedächtnissthätigkeit  ("Memory") 
einer  Betrachtung  unterzieht,  kommt  er  zu  dem  Schluss:  "There  can  be  no 
improvement  of  the  general  or  elementary  faculty  of  memory; 
there  can  only  be  improvement  of  our  memory  for  special  Systems 
of  associated  things."  James  bemerkt  nebenbei,  dass  die  jetzt  veraltete 
Methode  des  Auswendiglernens  gegenwärtig  vielleicht  doch  zu  sehr  verachtet  werde ; 
sie  bessere  freilich  nicht  an  sich  die  elementare  Thätigkeit  des  Gedächtnisses,  wohl 
aber  liefere  sie  ein  höchst  nützliches  Material  für  die  Denkthätigkeit. 

Die  letzten  drei  Kapitel  dieses  ersten  Theiles  behandeln  die  Erwerbung  von 
Vorstellungen,  so\^ie  die  Apperception  und  den  Willen  ("the  Acquisition  of 
Ideas,  Apperception,  the  Will").  Ganz  allgemein  gesprochen  kann  die  Er- 
eiehungsthätigkcit  aufgefasst  werden  als  "the  process  ofacquiring  ideas  or 
conceptions".  Die  Apperception  ist  nach  James  "nothing  moro  than 
the  act  of  taking  a  thing  into  the  mind."  Die  Willenshandlung  ist  nach 
James  stets  eine  Resultante  des  Aufeinanderwirkens  von  Impulsen  und  Hemmungen. 


314  Referate  and  Besprechongen. 

Der  Verfasser  Teriheidigt  sich  in  dieser  Darstelliing  gegen  solche,  die  ihn  tls 
Katerialisten  auffassen«  £r  hebt  aosdrücklich  hervor,  dass  er  sich  nicht  xa  der 
materialistischen  Weltanschannng  bekenne. 

Der  zweite  Theil  des  Baches  —  ''Talks  to  Stadents"  —  enthalt  drei 
Kapitel.  Im  ersten  —  ''the  Gospel  of  Relaxation"  —  empfiehlt  der  Yerfasser, 
sich  aaf  das  James -Lang  ersehe  Gesetz  stützend,  seinen  Landsleaten,  stets  nach 
äasserer  Rohe  za  streben,  aas  der  dann  die  innere  folgern  würde.  Die  Unrohe  der 
Amerikaner  wird  als  eine  schlechte  Gewohnheit  bezeichnet. 

In  den  beiden  letzten  Xapiteln  —  ''On  a  Certain  Blindness  in  fiaman 
Beings"  und^What  Makes  a  Life  Significant?"  —  findet  die  individaaüstisehe 
Philosophie  einen  enthusiastischen  Aasdrack.  „Die  practische  Consequenz  einer 
solchen  Philosophie,''  sagt  der  Verf.  im  Vorwort,  „ist  die  wohlbekannte  demo- 
kratische Achtung  vor  der  Heiligkeit  der  Individualität,  —  sie  ist  in  jedem  Falle 
die  äusserliche  Toleranz  gegen  alle,  die  nicht  selbst  intolerant  sind." 

F.  Kiesow-Turin. 

V,  Bechterew,  Heber  die  Bedeutung  der  gleichzeitigen  Anwen- 
dung hypnotischer  Suggestionen  und  anderer  Mittel  bei  der  Be- 
handlung des  chronischen  Alkoholismus.  — Centralblatt  für  Nervenhefl- 
kunde  und  Psychiatrie.    April  99.    X.  Bd. 

Verf.  theilt  die  Resultate  seiner  seit  etwa  94  gemachten  Beobachtungen  über 
die  Wirkung  der  hypnotischen  Behandlung  von  Alkoholikern  mit  In  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  kamen  Heilungen  zu  Stande.  Nur  bedurfte  es  zur  Sicherung  des 
Erreichten  von  Zeit  zu  Zeit  einer  Wiederholung  der  Suggestionen.  Auch  bei  pe- 
riodischer Trunksucht  hat  Verf.  mehrere  gute  Erfolge  erzielt.  —  In  Bezug  auf  die 
Ansicht  einiger  Autoren,  dass  die  Häufigkeit  der  Recidive  in  Abhängigkeit  von 
dem  Grade  der  Degeneration  steht,  ist  Verf.  zu  keinem  Schluss  gelangt.  Es  er- 
scheint ihm  aber  das  umgebende  Milieu  ein  wichtiger  Factor  zur  Herbeiführung 
eines  Recidivs. 

Auch  während  der  Anfälle  von  Säuicrwahn,  abgesehen  von  starken  Erregungs- 
zuständen der  Kranken,  aber  trotz  fortbestehender  Sinnestäuschungen  kann  die 
Hypnose  nach  Verf.'s.  Ansicht  augenblicklich  Besserung  des  subjectiven  Befindens 
zur  Folge  haben.  Besonders  wichtig  erscheint  ihm  in  solchen  Fällen  die  Suggestion 
zur  Herbeiführung  eines  tiefen  kräftigenden  Schlafes. 

Die  all  ergünstigste  Wirkung  ist  nach  Verf  s.  Ansicht  in  Rücksicht  auf  die 
mit  dem  Alkoholismus  verbundenen  somatischen  Störungen  zu  erzielen  durch  eine 
Combination  der  Hypnose  mit  anderen  Mitteln,  eine  Behandlungsart,  der  VerL  sich 
seit  längerer  Zeit  zugewandt  hat.  So  verordnet  Verf.  neben  der  suggestiven  Be- 
handlung hydrotherapeutische,  beruhigende,  erforderlichenfalls  regulatorische  und 
tonisirende  Mittel. 

Auf  Grund  seiner  Erfahrungen  erscheint  dem  Verf.  also  die  psycho-somatische 
Behandlung  als  die  rationellste.  van  Straaten- Berlin. 

V.  Schrefik-Notzing.  Zur  suggestiven  Behandlung  des  conträren 
Geschlechtstriebes  und  der  Masturbation.  Eine  Berichtigung.  Central- 
blatt für  Nervenheilkunde  und  Psychiatrie.    Mai-Heft  1899. 

Den  Inhalt  dieser  kleinen  Abhandlung  bildet  eine  Entgegnung  auf  einen  von 


Referate  und  Besprechungen.  315 

V.  Bechterew  verfassten  und  in  Nr.  109  obigen  Centralblattes  erschienenen  Auf- 
satzes.^) Verf.  spricht  v.  B.  die  Originalität  des  Gedankens  der  Suggestivbehand- 
lung  Gonträrsexueller  ab,  indem  er  darauf  hinweist,  dass  schon  vor  10  Jahren 
T.  Erafft-Ebbing,  Ladame  und  Verf.  die  ersten  Beobachtungen  suggestiver  Be- 
handlung Gonträrsexueller  veröfifentlicht  haben  und  seither  eine  ganze  Reihe  von 
Arbeiten  über  dieses  Thema  erschienen  sind.  Als  Beleg  führt  Verf.  verschiedene 
Arbeiten  an.  van  Straaten-Berlin. 

Wühelm  Strohmayer,  lieber  Enteritis  membranacea  und  Golica 
mucosa.    Jena  1898.    Dissertation. 

Das  Krankheitsbild  der  Enteritis  membranacea,  das  Verf.  zunächst  entwirft, 
möchte  ich  in  etwas  ausführlicherer  Weise,  als  es  der  Rahmen  eines  Referats  erlaubt, 
darstellen,  da  es  wohl  nicht  allgemein  bekannt  sein  mochte.  Der  an  chronischen 
Magen-,  Darmbeschwerden  und  Obstipation  leidende  Patient  wird  in  unregelmässigen 
Intervallen  von  intensiven  kolikähnlichen  Schmerzen  befallen,  mit  denen  noch  eine^ 
Menge  anderer  Beschwerden  einhergehen.  Die  Schmerzen  sind  entweder  über  den 
ganzen  Leib  verbreitet,  oder  werden  in  die  Seiten  oder  den  Rücken  verlegt  oder 
genau  dem  Verlaufe  des  Colon  transversum  und  Descendens  lokalisirt.  Die  meisten 
Kranken  empfinden  dabei  ein  lebhaftes  Entleerungsbedürfniss,  das  sich  bis  zum 
qualvollen  Stuhldrang  steigern  kann.  Derselbe  hält  stundenlang,  oft  tagelang  an. 
Im  Anschluss  an  diese  Anfälle  werden  eigenthümliche  schleimige,  bisweilen  membra- 
nöse  Massen  entleert,  die  verschiedenste  Form  und  Grösse  haben.  Es  sind  entweder 
unregelmässig  geformte  Membranen  von  verschiedenster  Dicke,  die  auf  den  ersten 
Bück  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  Groupraembranen  haben,  oder  mehr  lange 
Fäden  mit  klumpigen  Anschwellungen,  oder  baumförmig  verzweigte  Gonvolute, 
wieder  andere  zeigen  netz-  oder  lappenförmigo  Configurationen,  oder  endlich  sind 
sie  mehr  röhrenförmig,  entweder  massiv  mit  Längsfalten  cannelirt  oder  bisweilen 
hohl.    Die  Massen  sind  grauweiss  oder  gelblich ;  auch  braune  Färbungen  kommen  vor. 

Nachdem  Verf.  im  Anschluss  hieran  eine  Zusammenstellung  der  seit  den  70  er 
Jahren  über  Aetiologie,  Wesen  und  Therapie  der  Enteritis  membranacea  aufge- 
stellten Ansichten  der  Autoren  gemacht  hat,  bringt  er  6  Fälle  von  Enteritis  mem- 
branacea zur  Veröffentlichung,  von  denen  zwei  umsomehr  unser  Interesse  bean- 
spruchen, als  hierbei  nach  verschiedenen  erfolglosen  Behandlungsmethoden  durch 
Faradisation  mit  suggestiver  Beeinflussung  resp.  Hypnotismus  ein  dauernder  Heil- 
erfolg erzielt  worden  ist. 

In  dem  einen  Fall  handelt  es  sich  um  eine  41jährige  Patientin.  Dieselbe 
hatte  1893  heftige  Magenschmerzen  mit  Bluterbrechen,  seit  jener  Zeit  dyspep- 
tische  Beschwerden.  1895  kam  sie  in  poliklinische  Behandlung.  Sie  klagte  haupt- 
sächlich über  schmerzhafte  Stuhlentleerung  mit  Abgang  von  grösseren  Fetzen. 
Man  constatirte  bei  ihr  Zeichen  von  Hysterie.  Wegen  Retroflexio  uteri  wurde  bei 
ihr  im  Herbst  1895  die  Ventrifixura  uteri  vorgenommen,  wobei  eine  Narbe  am 
Pylorus  mit  Adhäsionen  der  Umgebung  entdeckt  und  eine  Lösung  der  Adhäsionen 
gemacht  wurde.  Bis  zum  Herbst  1896  war  das  Befinden  der  Patientin  gut.  Im 
Dezember   kam   sie   wieder   in   poliklinische  Behandlung.     Sie   klagte   über   Ver- 


')  Vgl.  V.  Bechterew,  Die  suggestive  Behandlung  des   conträren  Geschlechts- 
triebes und  der  Masturbation.    Diese  Ztschr.  Bd.  8  pag.  370. 


316  Referate  und  Besprechangen. 

dauungsbeschwerden,  Seitenstechen,  Schmerzen  im  Rücken  und  unter  dem  Rippen- 
bogen etc.  Vom  Status  ist  bemerkenswerth :  Cornea  anästhetisch;  Ovarie;  Wirbel- 
säule druckempfindlich.  Patientin  wurde  mit  Acid.  hydrochloric,  Ol  Sesam,  und 
kalten  Abwaschungen  behandelt.  Im  Anfang  des  Jahres  1897  hatte  Patientin  za 
wiederholten  Malen  schmerzhafte  Stuhlentleerungen  mit  Abgang  von  grossem 
Fetzen. 

Patientin  wurde  nun  faradisch  behandelt  und  suggestiv  beeinflusst  (be- 
züglich Ernährung,  Stuhlgang  und  der  übrigen  körperlichen  Beschwerden),  worauf 
eine  bedeutende  Besserung  eintrat.  Im  Mai  des  Jahres  klagte  sie  wieder  über 
Mattigkeit  und  yiel  Durst,  im  Juni  stellten  sich  wieder  Schmerzen  im  Rücken  em, 
Schmerzen  beim  Stuhlgang  und  Fetzen  im  Stuhl.  Nach  wiederaufgenommener 
Faradisation  mit  suggestiver  Beeinflussung  und  Einnehmen  von  Liq.  ferr.  manga- 
nat.  peptonat.  verschwanden  die  Hauptbeschwerden.  Das  lästige  Durstgefnhl,  Sod- 
brennen nach  dem  Essen  und  Kreuzschmerzen  blieben  bestehen.  Membranen 
wurden  im  Stuhl  nicht  mehr  beobachtet. 

Im  zweiten  Fall  handelt  es  sich  um  eine  26jährige  Patientin,  die  im  Jahre 
1895  in  die  Behandlung  von  Dr.  Petersen  Düsseldorf  trat.  Im  19.  Lebensjahr 
hatte  sich  bei  ihr  hochgradigste  Obstipation,  Appetitlosigkeit,  Uebelkeit,  furcht- 
bares Gefühl  von  Aufgetriebensein  des  Leibes  eingestellt.  Nach  der  Nahrungs- 
aufnahme lästiges  Würgen  und  Aufstossen ;  Ausbleiben  der  Menses,  Schmerzen  beim 
Uriniren  und  Urinverhaltung.  Dabei  unlöschbarer  Durst,  jedoch  Unvermögen  zu 
trinken,  weil  sofort  Uebelkeit  eintrat.  In  den  folgenden  Jahren  versuchte  Patientin: 
1890  ein  Nordseebad,  1891  klimatischen  Kurort,  dann  Vj^  Jahre  lang  Massage. 
Am  meisten  wurde  sie  belästigt  durch  das  Gefühl  des  Aufgetriebenseins,  verbunden 
mit  krampfartigen  Schmerzen  im  Leib.  Die  Obstipation  wurde  vergeblich  be- 
kämpft. Patientin  war  psychisch  auf's  Tiefste  dcprimirt.  Hereditäre  Belastung 
war  auszuschliessen ;  ebenso  waren  keine  Zeichen  von  Hysterie  vorhanden.  Stets 
fanden  sich  im  Stuhl  *;2 — '/*  ni  lange  Schleimfaden  von  verschiedener  Dicke,  so- 
wie kirsch  grosse  Schleim  klumpen,  wenn  nach  langen  Schmerzen  auf  ein  Laxans 
Stuhl  erfolgte. 

Patientin  wurde  zunächst  täglich  2  mal  2  Stunden,  oft  auch  Abends  vor  dem 
Zubettegehen  h^'pnotisirt.  Die  krampfartigen  Leibschmerzen  und  das  Gefühl  von 
Aufgetriebensein  verschwanden.  Der  Appetit  hob  sich;  der  Stuhlgang  wurde  ge- 
regelt. Schleimfetzen  befanden  sich  nach  einigen  Wochen  nicht  mehr  im  Stuhl 
Die  Menses  kehrten  wieder,  das  Körpergewicht  nahm  zu,  und  das  psychische  Ver- 
halten der  Patientin  besserte  sich  zusehends.  Ende  November  1896  war  die  Pa- 
tientin wieder  so  weit  hergestellt,  dass  sie  ihren  Beruf  als  Lehrerin  wieder  aus- 
füllen konnte,  und  seitdem  ein  ganz  erträgliches  Leben  führt. 

Was  die  Therapie  allgemein  betrifft,  schlägt  Verf.  für  die  Dauer  des  paroxys- 
malen Zustandes  zur  Entleerung  der  Schleimmassen  Darmirrigationen  vor.  Als 
die  Hauptsache  erscheint  ihm  die  Behandlung  der  nervösen  Erkrankung  und  der 
habituellen  Verstopfung.  Das  erstere  will  er  erzielen  durch  Elektricität,  Massage, 
active  und  passive  Gymnastik,  neben  einem  geeigneten  diätetischen  und  psychischen 
Regime.  Zur  Beseitigung  der  chronischen  Obstipation  erscheint  ihm  die  Sug- 
gestionstherapie resp.  Hypnose  als  ganz  besonders  geeignet,  auch  schreibt  er  dieser 
Therapie  einige  Bedeutung  hinsichtlich  des  nervösen  Leidens  zu. 

van  Straaten-Berlin. 


Referate  und  Besprechungen.  317 

Dr.  Aug.  Hoffmann:  Ueber  die  Anwendung  der  physikalischen 
Heilmethoden  bei  Nervenkrankheiten  in  der  Praxis.  (Sammlung  zwang- 
loser Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  Nerven-  und  Geisteskrankheiten.  Heraus- 
gegeben von  Dr.  K.  Alt.    II.  Bd.    Heft  3  u.  4.) 

Zu  den  physikalischen  Heilmethoden  im  Gegensatze  zur  Pharmakotherapie 
und  Ernährungstherapie  sind  zu  rechnen  die  mechanischen  Heilmethoden,  die  Hydro- 
therapie, Electro-/ Balneo-,  Klimatotherapie  und  die  Anwendung  der  comprimirten 
oder  verdünnten  Luft.  Gerade  für  Behandlung  der  Nervenkrankheiten  werden  sie 
in  der  Praxis  noch  viel  zu  wenip:  angewandt.  Daran  ist  einerseits  die  so  vollständig 
verschiedene  Beurtheilung  des  Werthes  dieser  Heilmethoden  schuld  —  besonders 
discreditirt  wurden  sie,  als  eine  Anzahl  von  Autoren  ihre  günstigen  Wirkungen 
ganz  auf  Suggestion  zurückführen  zu  müssen  glaubten  —  andererseits  aber  auch  die 
mangelhafte  Kcnntniss  und  Uebung  seitens  der  practischen  Aerzte  in  diesen  Methoden, 
die  auf  den  Hochschulen  so  ziemlich  ganz  vernachlässigt  wurden.  Zwar  werden  sie 
auch  jetzt  schon  von  Specialisten  angewandt,  doch  ist  vor  zu  grosser  Zersplitterung 
zu  warnen  und  jedem  practischen  Arzt  die  Ausbildung  in  den  physikalischen  Heil- 
methoden und  ihre  Anwendung  dringend  zu  rathen.  da  nicht  jeder  Kranke  in  der 
Lage  ist,  eine  Specialanstalt  aufzusuchen.  Verf.  will  nur  diejenigen  der  Methoden 
besprechen,  deren  Anwendung  in  der  allgemeinen  Praxis  ausführbar  ist  und  rechnet 
zu  diesen  Hydrotherapie.  Electrotherapie ,  die  mechanischen  Heilmethoden,  die 
Suggestion  und  Hypnose. 

Verf.  bespricht  die  physiologische  Wirkung  der  verschiedenen  Wasseranwen- 
dungen auf  den  menschlichen  Körper  und  greift  aus  den  zahlreichen  Anwendungs- 
formen  diejenigen  heraus,  die  für  die  Praxis  verwendbar  sind.  Als  solche  zieht  er 
in  den  Bereich  seiner  Betrachtungen  Vollbad,  Halbbad,  Abwaschungen  und  Ab- 
klatschungen, Abreibungen,  Packungen,  Sitz-  und  Fussbäder,  Soole-  und  Kohlen- 
saurebäder.  Wann  ihre  Anwendung  indicirt  ist,  muss  im  einzelnen  Falle  entschieden 
werden. 

Die  geringen  Erfolge  der  Electrotherapie  in  der  Praxis  schreibt  Verf.  zum 
grossen  Theil  der  ünkenntniss  der  Aerzte  zu,  die  in  Folge  dessen  mit  mangelhaften 
Apparaten  nach  ganz  verkehrten  Methoden  die  Electricität  anwenden.  In  aus- 
führlicher Weise  werden  daher  vom  Verf.  die  physikalischen  und  physiologischen 
Erscheinungen  der  Electricität  besprochen,  die  Anwendungsformen  und  Indicationen 
wieder  nur  mit  einigen  allgemeinen  Bemerkungen  gestreift.  Sehr  richtig  wird  be- 
merkt, dass  wir  uns  erst  dann  ein  Urtheil  über  den  Werth  einer  electrischen  Cur 
werden  bilden  können,  wenn  stets  genau  angegeben  werden  die  Dichte  des  Stromes, 
die  Stellung  des  wirksamen  Pols  und  die  Dauer  der  Anwendung.  Auch  H.  warnt 
vor  zu  starker  und  zu  langer  Anwendung. 

Von  den  mechanischen  Heilmethoden  werden  Massage  und  Gymnastik  ganz 
kurz,  die  Frenkel'sche  Methode  der  Ataxiebehandlung  ausführlicher  besprochen; 
durch  letztere  sah  auch  Verf.  einige  Fälle  günstig  becinflusst.  Kurz  erwähnt  werden 
noch  die  Nage  Haschen  „Handgriffe",  die  Suspensionsmethode  von  Sayre,  die 
Aückenmarksdehnung  von  de  la  Tourette  und  Chipault,  deren  Erfolge  zweifel- 
haft sind. 

Sonderbarer  Weise  wird  nun  hier  unter  den  physikalischen  Heilmethoden  auch 
die  Suggestion  und  Hypnose  behandelt,  „trotzdem  sie  als  psychische  Heilmethode 
eigentlich  eine  ganz  besondere  Stellung  einnimmt."     Warum?    Weil  Boss b ach 


318  Keferate  und  Besprechun^n. 

sie  dazu  zählt.  Zwar  am  verkehrten  Ort,  so  findet  die  arg  geschmähte  Hypnose 
jetzt  doch  wenigstens  hin  und  wieder  Erwähnung  in  den  Lehrbüchern,  wenn  auch 
meist  noch  eine  nicht  gerade  sehr  wohlwollende.  Auch  Oppenheim  widmet  in 
der  n.  Auflage  seines  Lehrbuchs  der  Nervenkrankheiten  dem  Hypnotismus  und  der 
Hypnose  ganze  zwei  Seiten.  Ich  kann  es  mir  nicht  versagen,  den  äusserst  charac- 
teristischen  Inhalt  dieser  zwei  Seiten  hier  kurz  anzugeben.  Die  Angabe,  dass  80  % 
aller  Menschen  hypnotisirbar  sind,  sei  stark  in  Zweifel  zu  ziehen.  Den  breitesten 
Raum  in  der  Darstellung  beansprucht  natürlich  die  von  Charcot  gegebene  Schil- 
denmg  jener  drei  Stadien  der  Hypnose,  obgleich  Verf.  gleich  hinzufügt,  dass  es 
Kunstproducte  sind  und  keine  Bedeutung  für  die  £rkenntniss  vom  Wesen  der  Hyp- 
nose haben!  (Warum  also  werden  sie  angeführt?  Nur  aus  Pietät  oder  ans  Un- 
kenntniss  der  neueren  und  besseren  Ansichten  ?  Ref.)  Natürlich  wird  auch  die  alte 
schlechte  Eixirmethode  zur  Herbeiführung  der  Hypnose  empfohlen  und  angegeben, 
das  Erwachen  einfach  durch  den  Zuruf:  Erwachen  Sie !  oder  durch  Anblasen  herbei- 
zuführen !  0.  lässt  der  Hypnose  wenigstens  so  viel  Gerechtigkeit  widerfahren,  das 
er  ihre  günstige  Wirkung  und  Anwendbarkeit  bei  einer  Reihe  von  nervösen  Zu- 
ständen zugiebt,  andererseits  aber  zur  Vorsicht  mahnt,  da  „sie  die  Erscheinungen 
einer  schweren  Hysterie  hervorrufen  kann.*' 

Das  nicht  ganz  drei  Seiten  umfassende  Capitel,  das  Ho  ff  mann  der  Hypnose 
widmet,  enthält  hauptsächlich  die  bekannte  B ernhe im ^ sehe  Beschreibung  von  der 
Einleitung  der  Hypnose.  Auch  er  erwähnt  besonders  wieder  die  Fixationsmethode 
zur  Herbeiführung  der  Hypnose  und  hält  leichten  Schlaf  zur  Heilwirkung  meistens 
für  genügend,  überhaupt  die  Hypnose  zur  günstigen  Beeinflussung  einzelner  Symp- 
tome für  wohl  geeignet,  auch  ihre  Anwendung  bei  Kindern  für  angebracht.  Wenn 
auch  alle  übrigen  dieser  vom  Verf.  aufgestellten  Thesen  nur  sehr  bedingte  Zu- 
stimmung finden  können,  so  ist  wenigstens  die  letzte  um  so  mehr  anzuerkennen, 
als  es  immer  noch  Autoren  giebt,  welche,  wie  esSaenger  auf  der  III.  Versammlung 
mitteldeutscher  Psychiater  und  Neurologen  in  Jena  leider  wieder  that,  die  Hypnose 
für  künstliche  Hysterie  erklären  und  ihre  Anwendung  bei  Kindern  gänzlich  ver- 
werfen. So  lange  sich  unsere  Gegner  noch  so  wenig  mit  der  einschlägigen  Literatur 
beschäftigen,  dass  sie  wie  Oppenheim  bei  der  Beschreibung  der  Erscheinungen 
der  Hypnose  immer  noch  auf  die  veralteten  Charcot'  sehen  Anschauungen  zurück- 
greifen müssen,  und  die  von  neueren  Autoren  längst  verworfenen  und  als  schädlich 
erkannten  Methoden  anwenden,  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  sie  nur  von  Miss- 
erfolgen zu  berichten  wissen. 

In  dem  Schlusscapitel  wird  die  Anwendung  der  physikalischen  Heilmethoden 
bei  einzelnen  Krankheiten  des  Nervensystems  besprochen  und  zwar  bei  peripheren 
Nervenkrankheiten,  Rückenmarkskrankheiten,  Gehimkrankheiten ,  Neurosen  ohne 
bekannte  anatomische  Grundlage.  Die  hier  besprochenen  therapeutischen  Maass- 
nahmen  sind  so  allgemein  gehalten  und  enthalten  so  wenig  Neues,  auch  sind  die 
Gruppenbezeichnungen  so  unbestimmt  und  so  wenig  ersichtlich,  was  Verf.  dazu  ge- 
rechnet wissen  will,  dass  es  sich  nicht  lohnt,  darauf  näher  einzugehen,  nur  einige 
Einzelheiten  sind  hervorzuheben.  Bei  den  „auf  einzelne  Nervengebiete  beschränkten 
Krämpfen"  ist  nach  der  Ansicht  des  Verfs.  „von  der  Suggestionsbehandlung  kein 
dauernder  Erfolg  zu  erwarten."  Bei  seinen  Anschauungen  über  die  Hj-pnose  nimmt 
es  mich  nun  allerdings  nicht  Wunder,  dass  Verf.  zu  diesen  Resultaten  gekommen 
ist,  dann  hätte  er  sich  aber  wenigstens  durch  die  Literatur  darüber  belehren  lassen 


Referate  und  Besprechungen.  319 

sollen,  dass  es  gerade  diese  Fälle,  die  Zwerchfell-,  Gähn-,  Husten-Eitlmpfe  u.  s.  w., 
die  Tics,  Chorea  u.  s.  w.  sind,  bei  denen  die  hypnotische  Behandlung  ihre  glänzendsten 
Resultate  zeitigt.  Unter  den  Neurosen  ohne  bekannte  anatomische  Grundlage  werden 
sonderbarer  Weise  Neurasthenie  und  Hysterie  als  völlig  analoge  Zustände  besprochen, 
die  auf  gleichem  pathologischen  Processe  beruhen,  wenigstens  werden  sie  immer 
neben  einander  aufgeführt.  Bei  ihnen  hat  der  Verf.  ebenfalls  durch  Hypnose  trotz 
^Jahrelangem  redlichem  Bemühen  nie  mehr  als  vorübergehende  Erfolge  erzielt. *< 
Auch  hier  können  wir  dem  Verf.  nur  rathen,  sich  durch  die  Erfolge  Anderer  eines 
besseren  belehren  zu  lassen.  Ueberhaupt  scheint  der  Verf.  eine  befremdende  Tren- 
nung zwischen  Hypnose,  Suggestion  und  Psychotherapie  vorzunehmen,  die  zu  den 
sonderbarsten  Widersprüchen  führt,  was  nicht  der  Fall  sein  könnte,  wenn  er  sie 
zusammen  als  Gttnzes  behandelte  in  ihrer  Anwendung  und  in  ihrer  Wirkung,  wie  es 
unbedingt  geschehen  muss.  So  sagt  Verf.:  i,Mag  man  gerade  bei  diesen  Krank- 
heiten (Neurasthenie  und  Hysterie)  den  suggestiven  Einflüssen  bei  den  Heilwirkungen 
den  meisten  Kaum  gewähren,  so  ist  es  doch  mindestens  auffällig,  dass  dieselben 
hypnotischer  und  rein  suggestiver  Behandlung  nur  in  den  seltensten  Fällen  mit 
dauerndem  Erfolg  zugängig  sind'';  also  mit  anderen  Worten:  Mag  auch  die  Sug- 
gestion bei  diesen  Fällen  den  grössten  Theil  der  Heilwirkung  ausmachen,  so  hat 
sie  doch  bei  ihnen  keinen  Erfolg.  Er  räth  daher  gerade  zur  Anwendung  der  an 
deren  Heilmethoden  z.  B.  des  faradischen  Pinsels,  erklärt  aber  dann  seine  Wirkung 
durch  die  Vorstellung,  dass  eine  Heilwirkung  eintritt,  und  schliesst:  „Letzteres  ist 
das  suggestiv  wirksame."  Derartige  den  Widerspruch  in  sich  tragende  Sätze  können 
nur  entstehen,  wenn  man  zusammengehörige  Begriffe  in  der  Weise  auseinanderreisst, 
wie  es  Verf.  thut. 

Wenn  auch  die  Nützlichkeit  und  Zweckmässigkeit  der  in  einzelnen  Abschnitten 
für  den  Practiker  gegebenen  Belehrungen  zugegeben  werden  kann,  so  muss  anderer* 
seits  hervorgehoben  werden,  dass  die  ganze  Arbeit  doch  viel  zu  skizzenhaft  ausge- 
fallen ist  und  viel  zu  wenig  auf  die  allein  lehrreichen  concreten  Fälle  eingeht,  um 
in  der  Praxis  ein  zuverlässiger  Kathgeber  zu  sein.  Sollte  sie  nur  eine  Skizze  sein 
und  den  Arzt  eben  nur  auf  neue  Hülfsmittel  hinweisen,  so  liegt  dafür  kein  Be- 
dürfniss  vor,  will  sie  aber  wirklich  practisch  wirken,  so  scheint  sie  mir  diesen 
zweck  verfehlt  zu  haben.  Wie  man  wirklich  practische  Therapie  lehrt,  das  hat 
uns  in  geradezu  mustergiltiger  Weise  Binswanger^)  gezeigt  in  den  der  Therapie 
gewidmeten  Kapiteln  seines  Lehrbuchs  der  Neurasthenie,  aus  denen  sich  jeder 
practische  Arzt  über  die  Anwendungsweise  der  physikalischen  Heilmethoden  — 
natürlich  mit  Ausnalime  der  Hypnose  —  in  der  erschöpfendsten  Weise  informiren 
kann.  Tecklenburg-Leipzig. 

Hans  Haenelj  Die  psychischen  Wirkungen  des  Trionals.  Psycho- 
logische Arbeiten  von  Emil  Kraepelin.  Zweiter  Band,  2.  Heft.  Leipzig,  Verlag 
von  Wilhelm  Engelmann.    1897.    S.  326—398. 

Die  Versuche,  welche  ungetähr  über  die  Dauer  eines  Jahres  sich  erstrecken, 
hat  Verf.  an  sich  selbst  angestellt.  Grössere  körperliche  Anstrengungen,  sowie  der 
Genuss  von  Narcoticis  wurden  vermieden.    Es  wurden  „Addirv ersuche"  und 


^)  Binswanger.  Pathologie  und  Therapie  der  Neurasthenie.    Jena,  Gustav 
Fischer  1896.    Ref.  in  d.  Zeitschr.,  Bd.  V,  pag.  367. 


320  Eeferate  und  Besprechungen. 

„Zahlenlerncn*'  nach  dem  Verfahren  ron  Oehrn,  „Wahlreactionen", 
„Ergographenversuche",  „Schreibversuche",  „Leseversoche^,  r,^^^' 
fassungsversuche",  „Associationsversueho*'  und  ^Wahlreactionen 
nach  körperlicher  Arbeit*'  zur  Prüfung  der  Einwirkung  des  Trionals  gewifatt. 
Selbstverständlich  wurden  dieselben  Experimente  auch  ohne  dieses  Mittel  ausgeführt, 
um  die  normale  psycliische  Leistung  zu  ermitteln.^) 

Die  Ergebnisse  der  einzelnen  Versuchsreihen  werden  zahlenmässig  angegebea 
und  gesondert  besprochen.  Auf  die  Einzelheiten  einzugehen,  ist  hier  nicht  möglich. 
Es  mag  genügen,  das  Schlussresultat  aus  den  sämmtlichen  Versuchen  hier  wörtlidi 
wiederzugeben.    Es  lautet: 

I.   Trional  beeinträchtigt   die  Auffassung   und  verändert  sie 
zugleich  im  Sinne  einer  Vermehrung  von  IllusioneiL 

n.   Trional  erschwert  die  centrale  Auslösung  coordinirter  Be- 
wegungen. 

Daraus  erklärt  sich  hinlänglich  seine  erfolgreiche  Verwendbarkeit  als  Schlaf- 
mittel.  Die  Zuführung  einer  kleineren  oder  grösseren  Dosis  hat  auf  die  Versuche 
keinen  wesentlichen  Unterschied  ergeben.  Lautenb  ach -Berlin.      "*" 

Georg  von  Voss,  Ueber  die  Schwankungen  der  geistigen  Arbeits- 
leistung. Psychologische  Arbeiten  von  EmilKraepelin.  Zweiter  Band.  3.-  Heft. 
Leipzig,  Verlag  von  Wilhelm  Engelmann.    1898.    S.  399—449. 

Die  Versuche  wurden  mit  dem  Kraepel  in 'sehen  Apparat  aasgefuhrt.  ab 
Methode  wurde  diejenige  der  fortlaufenden  Additionen  gewählt.  (Die  Kicfatigkut 
der  Summen  wurde  nicht  beachtet.)  Versuchspersonen  waren  der  VerL  selbst,  ein 
Dr.  O.  und  cand.  med.  D.  Die  Experimentirzeit  betrug  bei  den  beiden  letzteren 
4  Tage  je  eine  Stunde,  bei  ersteren  8  Tage  je  eine  Stunde.  Die  Lebensweise  der 
Versuchspersonen  während  dieser  Zeit  war  gleichmässig ,  in  Bezug  auf  AJcohol 
waren  sie  abstinent. 

Die  Resultate  dieser  Versuche  werden  betrachtet  in  Hinsicht  auf  „die  Länge 
der  Additions  Zeiten"  und  auf  deren  „Abweichungen  vom  Mit  tel  wert  h*, 
femer  wird  ,,die  Dauer  der  Schwankungen"  berücksichtigt.  Auch  bei  diesen 
Versuchen  kommen  „persönliche  Verschiedenheiten"  in  Betracht,  insofern 
als  CJewöhnung,  Uebung,  Antrieb  etc.  sich  bei  den  einzelnen  Versuchspersonen  ver- 
schieden äussern.  Auf  eine  Wiedergabe  der  Einzelheiten,  welche  in  einer  Anzahl 
Tabellen  dargestellt  und  im  Anschluss  daran  jedes  Mal  besprochen  werden,  kann 
hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 

Die  am  Schluss  dieser  Abhandlung  gegebene  „Zusammenfassung  der 
Ergebnisse'*  vergleicht  die  gefundenen  Resultate  mit  denjenigen  früherer  Autoren 
und  findet,  dass  die  Arbeitsschwankungen  den  Aufmerksamkeitsschwankungen  ent- 
sprechen, welche  in  centralen  Processen  begründet  sind. 

Lautenbacli-  Berlin. 

')  Da  das  Trional  bekanntlich,  wie  Verf.  auch  selbst  angiebt,  noch  am  folgenden 
Tage  nachwirkt,  so  kann  ich  das  Verhalten  an  demselben  aber  nicht  als  normal 
betrachten.     Anm.  d.  Ref. 


Der  Fall  Sauter. 

(Mordversuch  und  suggerirte  AustiftuDg  zu  neunfachem  Morde.) 

Verhandlung  vor  dem  oberbayrischen  Schwurgericht  in  München  am  2.  Oct.  1899. 

Von 

Dr.  Freiherm  Ton  Schrenck-Notzing- München. 


I. 

München,  den  21.  Juni  1899. 

Anklageschrift 

des  kgl.  Staatsanwaltes  am  kgl.  Landgerichte  München  I 

gegen 
Sauter,  Katharina,  geboren  den  28.  Juli  1855  zu  München,  daselbst  beheimathet, 
«ussereheliche  Tochter  der  Anna  Utz,  später  verehelichte  Hermann,  katholisch, 
Metzgermeistersehefrau  hier,  seit  18.  April  1899  in  Untersuchungshaft  im  kgl.  Land- 
gerichtsgefängnisse München  I,  noch  nicht  bestraft, 

wegen 
Mordversuch  u.  A. 
Gegen   die   oben  bezeichnete  Person   erhebe  ich  hiermit  folgende  Anklage: 
Katharina  Sauter  erscheint  hinreichend  verdächtig: 

L  Den  Entschluss,  einen  Menschen  zu  tödten,  durch  vorsätz- 
liche und  mit  Ueberlegung  ausgeführte  Handlungen  bethätigt  zu 
haben,  welche  einen  Anfang  der  Ausführung  des  beabsichtigten, 
aber  durch  einen  von  ihrem  Willen  unabhängigen  Umstand  nicht 
2ur  Vollendung  gekommenen  Verbrechens  des  Mordes  enthalten, 

indem  sie 
in  der  Zeit  zwischen  Mitte  Februar  und  April  1899  in  ihrer  Wohnung  im  Erd- 
geschoss  des  Hauses  Nr.  4  an  der  Buttermelcherstrasse  in  München  in  der  Absicht, 
ihren  Ehemann  Anton  Sauter  zu  tödten,  diesem  ein  nach  ihrer  Meinung  hierzu 
geeignetes  Pulver  in  die  von  ihm  benutzten  Socken  streute,  wobei  jedoch  daa 
Verbrechen  durch  den  von  ihrem  WiUen  unabhängigen  Umstand,  dass  das  ange- 
wandte Mittel  —  geschabte  Enzianwurzel  —  vollkommen  unschädlich  war,  nicht 
zur  Vollendung  gelangte; 

Zeitschrift  für  Hypnotismns  eto.   IX.  21 


322  ▼•  Sehrenck-Notzing. 

H.  fortgesetzt  in  Ausführung  eines  einheitlichen  rechts- 
widrigen Entschlusses  einen  Anderen  zur  Begehung  eines  Ver- 
brechens  schriftlich  und  mündlich  aufgefordert  und  an  letztere 
Aufforderung  die  Gewährung  von  Vermögensvortheilen  geknüpft 
zu  haben, 

indem  sie 
in  Ausführung  eines  einheitlich  gefassten  Entschlusses,  mehrere  ihr  missliebige 
Personen  aus  dem  Leben  zu  schaffen,  an  verschiedenen  Tagen  in  der  Zeit  von 
Mitte  Februar  bis  15.  April  1899  mündlich  und  am  14.  April  1899  Abends  gegen 
7  Uhr  unter  gleichzeitiger  schriftlicher  Aufzeichnung  ihres  Verlangens  die  Musikers- 
ehefrau Katharina  Gänzbauer  in  deren  Wohnung  im  ersten  Stocke  des  Hausea 
Nr.  9  an  der  Falmstrasse  in  München  aufforderte,  folgende  Personen  in  der  nach- 
bezeichneten Beihenfolge  zu  tödten,  nämlich 

1.  ihren  Ehemann,  den  Metzgermeister  Anton  Sauter  hier, 

2.  Mathilde  2iauner,  Directrice  hier, 

3.  Therese  Zauner,  Ladnerin  hier, 

4.  Franziska  Becher,  Kindsmädchen  bei  Sauter  hier, 

6.  Adam  Bachmaier,  Schenkkellner  hier,  früher  bei  Sauter. 

6.  Elisabeth  Koch,  Polizeicommissärswittwe  hier, 

7.  ihre  3  Kinder  Josef,  Otto  und  Katharina  Sauter  hier, 

wobei  sie  der  Gänzbauer  für  den  Fall  des  Gelingens  der  Tödtung  der  Torbenannten 
Personen  die  sämmtlichen  Kleider  ihres  Ehemannes  Anton  Sauter,  dann  ein  Paar 
Brillantohrringe  und  zuerst  100,  später  IdO,  350  und  endlich  1000  Mk.  versprach 
und  ihr  schon  während  obigen  Zeitraumes  öfter  unentgeltlich  Fleisch,  zweimal 
kleinere  Geldbeträge  und  am  15.  April  1899  nochmals  6  Mk.  gab.  Das  Ergebnisa 
der  Voruntersuchung  ist  Folgendes: 

Katharina  Sauter  unterhielt  seit  dem  Sommer  1898  ein  Liebesverhältniss  mit 
dem  Schauspieler  Georg  Seufert  hier  und  hegte  die  Absieht,  sich  mit  diesem  za 
verehelichen,  sobald  ihre  bestehende  Ehe  gelöst  wäre.  Zu  letzterem  Zwecke  fasste 
sie  den  Entschluss,  ihren  Ehemann  Anton  Sauter,  mit  dem  sie  in  unglücklicher 
Ehe  lebte,  zu  beseitigen  und  wandte  sich  deshalb  ungefähr  Mitte  Februar  188^ 
an  die  Musikersehefrau  Therese  Gänzbauer  hier,  welche  ihr  als  Wahrsagerin  und 
Kartenschlägerin  bekannt  war. 

Bald  nach  dem  ersten  Besuch  machte  sie  Letzterer  den  eigentlichen  Zweck 
ihres  Kommens  klar  und  verlangte  von  ihr,  sie  solle  ihr  behilflich  sein,  ihren 
Ehemann  auf  unauffällige  Weise  zu  beseitigen.  Dieses  Verlangen  stellte  Sauter 
immer  dringender  und  Hess  ihren  festen  Entschluss,  um  jeden  Preis  den  Tod  ihres 
Mannes  herbeizuführen,  mit  solcher  Bestimmtheit  durchblicken,  dass  die  Gänzbauer 
sich  entschloss,  scheinbar  auf  ihr  Verlangen  einzugehen,  um  dadurch  zu  verhüten, 
dass  die  Sauter  selbst  Hand  anlege,  und  weil  sie  hoffte,  dass  die  Sauter  doch  bald 
wieder  zu  einer  besseren  Einsicht  kommen  werde. 

Frau  Gänzbauer  gab  daher  vielleicht  Ende  Februar  oder  etwas  später,  genau 
kann  sie  diese  Zeit  nicht  mehr  bezeichnen,  der  Sauter  ein  Pulver,  das  sie  in  die 
Socken  ihres  Mannes  streuen  sollte  und  welches  die  Eigenschaft  habe,  ihren  Mann  ganz 
unauffällig  zu  beseitigen. 

In  Wirklichkeit  war  es  geschabte  Enzianwurzel  und  hatte  natürlich  keine 
tödtende  Kraft. 


Der  FaU  Saater.  323 

Frau  Sauter  hat  dieses  Pulver  thatsächlich  angewandt  und  es  in  die  Socken  ihres 
Ehemannes  gestreut,  um  ihn  dadurch  zu  tödten.  Sie  leugnet  zwar  den  Gebrauch 
des  Pulvers,  aber  sie  wird  dadurch  überführt,  dass  die  Gänzbauer  auf  Eid  hin  angiebt, 
dass  die  bei  der  Sauter  in  deren  Wohnung  vorgefundene  und  zu  Gerichtshanden 
gebrachte  Menge  des  besagten  Pulvers  mindestens  um  einen  Theelöffel  weniger  sei, 
als  sie  ihr  ausgehändigt  habe,  und  dass  die  Sauter  kurze  Zeit,  nachdem  sie  das  Pulver 
erhalten  habe,  wieder  zu  ihr  gekommen  sei  und  sogleich  zu  ihr  gesagt  habe: 
„Was  hast  du  mir  denn  jetzt  da  gegeben,  mein  hundshäuterner  Kerl  —  ihren 
Mann  meinend —  verreckt  ja  nicht,  er  frisst  für  Sechse  und  läuft  wie  ein  WieseJ," 
wodurch  sie  die  nutzlose  Anwendung  des  Pulvers  der  Gänzbauer  vorwarf,  obwohl 
sie  alle  Socken  ihres  Mannes  vollgestreut  habe. 

Frau  Sauter  hat  aber  bei  ihren  häufigen  Besuchen  bei  der  Gänzbauer  auch  noch 
die  Beseitigung  weiterer  Personen  als  nur  ihres  Ehemannes  verlangt,  indem  sie 
alle  Jene  getödtet  wissen  wollte,  welche  ihrer  Verbindung  mit  dem  Schauspieler 
Seufert  hindernd  im  Wege  stehen  würden. 

Sie  forderte  die  Gänzbauer  auf,  vor  Allem  ihren  Ehemann  zu  beseitigen, 
dann  aber  auch  eine  Mathilde  Zauner,  die  Geliebte  des  Schauspielers  Seufert, 
deren  Schwester  Therese,  dann  ihr  Eindsmädchen  Franziska  Becher,  einen  früheren 
Metzgerburschen  Adam  Bachmaier,  dann  eine  Elise  Koch,  welche  einmal  bei 
Sauter's  wohnte,  endlich  ihre  Kinder  Josef,  Otto  und  Katharina.  Sie  versprach 
der  Gänzbauer  zuerst  100  Mk.,  dann  immer  mehr,  150,  360  und  sogar  1000  Mk., 
wenn  sie  es  zu  Wege  brächte,  dass  diese  Personen  unauffällig  aus  der  Welt  gingen. 
Sie  versprach  ihr  ferner  die  Kleider  ihres  Mannes  und  ein  Paar  Brillantohrringe. 
Gleichzeitig  suchte  sie  durch  kleinere  Gaben,  wie  Fleisch  und  Geldbeträge,  die 
Gänzbauer  für  ihr  Vorhaben  zu  gewinnen. 

Frau  Gänzbauer  ging  auf  diese  Zumuthung  scheinbar  ein  und  verlangte  die 
Photographieen  der  Personen,  welche  sie  aus  der  Welt  schaffen  sollte. 

Die  Sauter  überbrachte  ihr  hierauf  die  Bilder  der  oben  bezeichneten  Personen. 

Insbesondere  aber  am  14.  April  1899  hat  sie  die  Gänzbauer,  welche  in- 
zwischen Anzeige  bei  der  kgL  Polizeidirection  München  erstattet  hatte,  zu  bereden 
versucht,  die  Tödtung  der  ihr  misslicbigen  Personen  endlich  auszuführen. 

Das  zwischen  der  Gänzbauer  und  Sauter  an  diesem  Tage  geführte  Gespräch 
wurde  von  dem  Sicherheitscommissär  Bossert  und  dem  Criminalwachtmeister 
Malkmus  ohne  Wissen  der  Sauter  belauscht  und  giebt  Letzterer,  als  Zeuge  ver- 
nommen, an,  dass  die  Sauter  von  der  Gänzbauer  nochmals  befragt  wurde,  wie  sie 
denn  eigentlich  die  Beseitigung  der  verschiedenen  Personen  bewerkstelligt  haben 
wolle.  Frau  Sauter  habe  der  Gänzbauer  hierauf  nochmals  ihre  Absicht  klar  aus- 
gesprochen und  sie  aufgefordert,  der  Sache  «endlich  ein  Ende  zu  machen. 

Als  Frau  Gänzbauer  hierauf  erwiderte,  in  5  bis  6  Tagen  seien  schon  einige 
todt,  sagte  die  Sauter:  „Länger  darf  es  wenigstens  mit  dem  Alten  nicht  dauern." 

Als  die  Gänzbauer  fragte,  auf  welche  Art  die  Leute  beseitigt  werden  sollten, 
entgegnete  Frau  Sauter,  dass  es  ihr  am  liebsten  wäre,  wenn  sie  der  Schlag  treffe, 
aber  nicht  in  ihrem  Hause,  damit  sie  kein  Verdacht  treffe. 

Die  Gänzbauer  legte  der  Sauter  sodann  ein  Blatt  Papier  vor,  damit  sie  darauf 
schriftlich  die  Reihenfolge  und  die  Namen  der  Personen  schreibe,  welche  beseitigt 
werden  sollten. 

Frau  Sauter  schrieb  hierauf  folgenden,  bei  den  Acten  befindlichen  Zettel: 

21* 


324  '^-  Schrenck-Notzing. 

Anton,  bis  Dienstag  geh  du  ins  Himmelreich    f    f    + 

Mathilde,  geh  du  ins  Himmelreich    f    f    f 

Theres    f    f    f 

Franziska,  geh  du  ins  ewige  Reich    i*    i*    i* 

Adam    i*    i*    i" 

Elisabeth,  gehst  in  das  ewige  Beich    +    i*    "f 

Josef,  Otto,  Katharina,  3  Kinder  geht  ins 

Hierdurch  hat  Frau  Sauter  auch  schriftlich  die  Aufforderung  an  die  Gänzbauer 
gestellt,  die  bezeichneten  Personen  zu  tödten. 

Nach  den  Aussagen  des  Zeugen  Malkmus  hat  die  Sauter  bei  der  vorerwähnten 
Unterredung  mit  der  Gänzbauer  derselben  öfter  wiederholt,  dass  sie  dieselbe  belohnen 
werde  und  zwar  versprach  sie  ihr  100  Mk.  sofort,  wenn  der  Alte  —  ihr  Ehemann 
Anton  Sauter  —  weg  sei,  ebenso  dessen  sämmtliche  Kleider ;  ebenso  versprach  sie 
der  Gänzbauer  ein  Paar  Ohrringe  und  noch  weiteres  Geld,  wenn  alle  Personen 
beseitigt  seien. 

Frau  Sauter  gebrauchte  hierbei  unt^r  Anderen  auch  folgende  Worte: 
„Du  bekommst  Alles  bei  Heller  und  Pfennig,  Geld,  Ring,  Kleider,  mehr  wird*« 
nicht  brauchen.  Sei  aber  vorsichtig,  damit  es  nicht  heisst,  ich  habe  ihnen  was 
angethan,  wie  du  es  machst,  das  ist  mir  gleich,  nur  bis  Dienstag  muss  er  —  ihr 
Ehemann  —  weg  sein,  mit  Resel  pressirt  er  nicht  so.  Adam  und  Koch  müssen 
gleich  nach  dem  Alten  kommen ;  Adam  ist  wohl  krank,  es  geht  so  nicht  mehr  lange 
bei  ihm  und  ein  Schlag  trifft  ihn  ja  so  leicht.  Resel  kann  in  6  Wochen,  die 
Einder  erst  bis  Mitte  Juli  daran  kommen." 

Gegenüber  diesen  Zeugenaussagen  kann  dem  Leugnen  der  Angeschuldigten 
ein  Gewicht  nicht  beigelegt  werden.  Diese  Handlungen  sind  gemäss  R.St.G^. 
§§  211,  43,  49»,  74  als  ein  Verbrechen  des  Versuches  zu  einem  Verbrechen  des 
Mordes  in  sachlichem  Zusammentrefifen  mit  einem  fortgesetzten  Vergehen  der 
Aufforderung  zur  Begehung  eines  Verbrechens  zu  verfolgen. 


II. 

Die  Terhandlimg  ^) 

vor  dem  oberbayrischen  Schwurgericht  am  Montag,  den  2.  October  1899. 

Schon  vor  Beginn  der  festgesetzten  Zeit  machte  sich  vor  dem  Schwurgerichts- 
saale ein  grosses  Gedränge  bemerkbar.  Ein  starkes  Polizeiaufgebot  regelte  den 
Verkehr.  Die  Controlle  beim  Betreten  des  Saales  wurde  mit  Rücksicht  auf  die 
colossale  Zahl  der  Neugierigen  mit  grösster  Strenge  und  Genauigkeit  durchgeführt, 
in  wenigen  Minuten  war  der  Zuschauerraum,  in  den  noch  einige  Reihen  Bänke 
provisorisch  eingestellt  waren,  bis  zum  letzten  Platze  gefüllt.  Das  weibliche  Ele- 
ment war  besonders  stark  vertreten. 

Die  Anklage  vertritt  Staatsanwalt  Dr.  Schneider,  die  Vertheidigung  führt 
Rechtsanwalt  Dr.  Beraetein.    Der  Gerichtshof  wird  gebildet  aus  dem  Vorsitzenden 


2  Nach  den  Stenograph.  Berichten  in  den  „Münchner  Neuesten  Nachrichten**, 
ugsburger  Aben&eitung"  und  dem  „Bayrischen  Kurier*'« 


Der  Fall  Sauter.  326 

Oberland esgerichtsrath  Klein  und  aas  den  Beisitzern,  den  Landgerichtsräthen 
Dr.  Kothgangl  und  Külilmann. 

Die  Spannung  der  Zuschauer  erreichte  ihren  Höhepunkt,  als  die  Angeklagte, 
von  einem  Schutzmann  begleitet,  in  den  Saal  geführt  wurde.  Alles  erhob  sich 
von  den  Sitzen,  um  „sie"  zu  sehen.  Die  Augen  zu  Boden  schlagend,  nahm  sie  auf 
der  Anklagebank  Platz.  Sie  zeigt  ein  völlig  gebrochenes  Aussehen.  Ihr  Antlitz 
ist  von  einer  geisterhaften  Blässe;  die  Wangen  sind  tief  eingefallen,  die  Augen 
glanzlos  in  den  von  dunklen  Bingen  umgebenen  Augenhöhlen  steckend.  Sie  trägt 
ein  schwarzes  Seidenkleid  mit  Spitzen,  ein  rothgelb  garnirtes  Capothütchen  auf 
dem  schwarzen  Haare.  Einen  kurzen  hastigen  Blick  sendet  sie  auf  die  sie  mit  athem- 
loser  Spannung  betrachtende  Menge.  Dann  stiert  sie,  während  gesetzliche  Forma- 
litäten erledigt  werden,  vor  sich  auf  den  Boden.  Nach  einem  langen  Blicke  auf 
die  ernste  schweigsame  Schaar  der  Geschworenen  bricht  sie  in  convulsivischeß 
Weinen  aus  und  verhüllt  lange  Zeit  mit  dem  Taschentuche  ihr  Gesicht. 

Zur  Verhandlung  sind  15  Zeugen  und  3  Sachverständige,  Professor  Dr. 
Messerer,  Oberarzt  Dr.  Vocke  und  Dr.  Frh.  v.  Schrenck-Notzing,  geladen. 

Vor  Eintritt  in  die  Verhandlung  stellt  der  Staatsanwalt  den  Antrag,  die 
OefTentlichkeit  aus  Gründen  der  Sittlichkeit  ganz  oder  theilweise  auszuschliessen. 
Das  Gericht  bcschliesst,  die  Oeffentlichkeit  nur  während  der  Vernehmung  der 
Zeugin  Gänzbauer  auszuschliessen.  Nach  Verlesung  des  Eröffnungsbeschlusses  wird 
in  das  Verhör  der  Angeklagten  eingetreten.  Zunächst  wird  constatirt,  dass  die 
Angeklagte  seit  25  Jahren  verheirathet  ist  und  9  Kinder  gebar,  wovon  5  noch 
am  Leben  sind  und  zwar  im  Alter  von  5 — 18  Jahren. 

Die  Angeklagte  stellt  sowohl  den  Mordversuch  an  ihrem  Ehemann,  als  auch 
die  Anstiftung  zur  Beseitigung  anderer  Personen  entschieden  in  Abrede  und  er- 
zählt den  Sachverhalt  wie  folgt:  Sie  habe  die  Kartcnschlägerin  Gänzbauer  im 
Januar  laufenden  Jahres  kennen  gelernt  und  zwar  sei  sie  von  einer  ihr  bekannte];! 
Frau  an  erstere  empfohlen  worden.  Die  Gänzbauer  habe  ein  Ei  in  ein  Wasserglas 
geschlagen  und  habe  ihr  daraus  wahrgesagt.  Die  Gänzbauer  habe  gesagt,  sie  sehe 
in  dem  Glas  lauter  Grabsteine ;  das  bedeute,  dass  in  nächster  Zeit  in  der  Sauter'schen 
Familie  verschiedene  Todesfälle  eintreten  würden ;  auch  der  Mann  und  drei  Kinder 
der  Sauter  seien  darunter;  es  seien  mindestens  7 — 8  Gräber  zu  sehen. 

Ferner  sagte  die  Gänzbauer,  die  Sauter  werde  noch  zwei  grosse  Geldgewinnste 
machen  und  im  Herbst  werde  sie  ihr  Geschäft  verkaufen  und  sich  auswärts  etwas 
Anderes  kaufen ;  in  einem  Jahre  werde  sie  glücklich,  in  zwei  Jahren  überglücklich. 
Ferner  habe  die  Gänzbauer  gesagt,  die  Sauter  hätte  schon  früher  zu  ihr  kommea 
sollen,  nachdem  ihre  Ehe  schon  seit  Jahren  eine  unglückliche  gewesen  sei.  Da- 
durch, dass  die  Gänzbauer  sich  gut  über  die  Verhältnisse  der  Sauter  unterrichtet 
zeigte,  sei  letztere  veranlasst  worden,  der  ersteren  alle  ihre  Familienangelegenheiten 
anzuvertrauen.  Der  Plan,  die  verschiedenen  Personen  zu  beseitigen,  sei  nicht  vou 
ihr,  sondern  von  der  Gänzbauer  ausgegangen.  Letztere  habe  gesagt,  sie  habe  mehr 
Gewalt  als  irgend  sonst  Jemand,  ihr  könnte  nicht  einmal  ein  Gerichtsherr  etwas 
anhaben.  Das  Pulver,  das  nach  Annahme  der  Anklage  zu  dem  Mordversuch  be- 
nutzt wurde,  habe  ihr  die  Gänzbauer  allerdings  auf  ihren  Wunsch  gegeben;  aber 
sie  habe  das  Pulver  nicht  zur  Beseitigung  ihres  Mannes  gewollt,  sondern  sie  habe 
geglaubt,  durch  die  Anwendung  des  Pulvers  werde  ihr  Mann,  der  oft  sehr  heftig 
und  gewaltthätig  gewesen  sei,  beruhigt.    Sie  habe  das  Pulver  lediglich  für  eip 


■326  ^*  SchreDck-Notzing. 

Sympatfaiemittel  gehalten.  Ihr  Mann  habe  sie  öfters  mit  dem  Revolver  and  dem 
Messer  bedroht;  auch  habe  er  ihr  vor  ihren  Kindern  so  schmähliche  Namen  ge- 
geben, dass  sie  dadurch  die  Achtung  ihrer  Kinder  eingebüsst  habe.  Die  ehelichen 
Zwistigkeiten  seien  hauptsächlich  dadurch  entstanden,  dass  sich  immer  fremde 
Leute  in  ihre  Familienangelegenheiten  einmischten;  ihr  Mann  sei  sehr  kleinlich 
gewesen  und  habe  Alles  geglaubt.  Sie  habe  in  den  25  Jahren  ihrer  Ehe  nichts 
Anderes  gewollt,  als  das  Beste  ihres  Mannes  und  ihrer  Kinder  und  habe  das 
Geschäft  grösstentheils  allein  geführt.  Die  Ausdrücke  „Hundshäuterner  Kerl*'  etc. 
gebraucht  zu  haben,  will  sich  die  Angeklagte  nicht  mehr  erinnern,  sie  giebt  aber 
die  Möglichkeit  zu,  dass  sie  diese  in  ihrer  Aufregung  gebraucht  haben  könne.  Dass 
sie  mit  Seufert  ein  intimes  Yerhältniss  gehabt  habe,  giebt  die  Angeklagte  nach 
anfänglichem  Leugnen  ebenfalls  zu,  dagegen  stellt  sie  den  intimen  Umgang  mit 
anderen  Männern  in  Abrede.  Davon,  dass  ihr  Mann  bis  zum  Namenstag  des 
Seufert  ^weg"  müsse,  sei  nie  die  Rede  gewesen,  ebenso  wenig  habe  sie  die  Be- 
seitigung der  anderen  Personen  gewünscht.  Alle  diese  Mordpläne  seien  von  der 
Gänzbauer  ausgegangen,  die  bei  jeder  Gelegenheit  gesagt  habe,  der  und  der  müsse 
auch  noch  weg;  wenn  es  nach  dem  Willen  der  Gänzbauer  gegangen  wäre,  wäre 
halb  München  vergiftet  worden.  Die  Angeklagte  leugnet  auch,  der  Gänzbaoer 
eine  Belohnung  versprochen  zu  haben.  Den  Zettel,  auf  welchem  clie  Reihenfolge 
der  Beiseiteschaffung  der  verschiedenen  Personen  angegeben  ist,  habe  sie  lediglich 
auf  die  Aufforderung  der  Gänzbauer  hin  geschrieben;  sie  habe  gar  nicht  gewusst, 
wie  die  Gänzbauer  dazu  komme,  und  sie  sei  einfach  von  dieser  überrumpelt  worden. 
Es  wird  noch  constatirt,  dass  die  Angeklagte  dem  Seufert  zu  dessen  Namenstag 
einen  Brillantring  um  660  Mk.  gekauft  hatte,  der  aber  nicht  in  die  Hände  des 
•Seufert  gelangte,  weil  inzwischen  die  Verhaftung  der  Sauter  erfolgte.  Es  wird 
sodann  zur  Zeugenvernehmung  geschritten.  Herr  Seufert  ist  nicht  erschienen, 
sondern  hat  von  Oesterreich  aus,  woselbst  er  sich  aufhält,  ein  ärztliches  Zeug^nias 
eingesandt,  dass   er   durch  Krankheit   am  Erscheinen  verhindert  sei. 

Zunächst  spricht  sich  der  als  Sachverständiger  vernommene  Apotheker 
Dr.  Bedall  dahin  aus,  dass  es  mit  dem  von  der  Frau  Sauter  angewendeten  Enzian- 
Pulver  vollständig  unmöglich  sei,  einen  Menschen  aus  dem  Leben  zu  schaffen; 
es  sei  lediglich  ein  Mittel  zur  Anregung  der  Verdauung. 

Der  Zeuge  Dr.  Custor  wird  sodann  auch  noch  als  Sachverständiger  beeidigt 
und  erklärt  auf  die  Fragen  des  Sachverständigen  Freiherrn  Dr.  v.  Schrenck- 
Notzing,  dass  die  Angeklagte  an  Blutungen,  Schwindelanfällen  und  damit  ver- 
bundener Gleichgiltigkeit  und  Zerstreutheit  litt.  Sie  habe  oft  zu  Zeiten  arbeiten 
'müssen,  zu  denen  sie  eigentlich  arbeitsunfähig  gewesen  wäre.  Auf  die  Frage  des 
Landgerichtsarztes  Professor  Dr.  Messer  er,  ob  die  Angeklagte  je  unzurechnungs- 
fähig oder  geistig  gestört  gewesen  sei,  so  dass  sie  nicht  für  ihre  Handlungen  ver- 
antwortlich gemacht  werden  könne,   muss  jedoch  Dr.  Custor  mit  Nein  antworten. 

Die  Zeugin  Fanny  Becher,  bei  deren  Erscheinen  die  Angeklagte  in  "Wein- 
krämpfe verfällt,  giebt  an,  dass  die  Angeklagte  gegen  ihre  Kinder  wohl  streng, 
immer  aber  für  sie  besorgt  war  und  es  ihnen  an  Nichts  fehlen  Hess.  Ihrem  Mann 
gegenüber  war  die  Angeklagte  kurz.  Streitigkeiten  gab  es  zwischen  den  Eheleuten 
nur,  wenn  der  Mann  etwas  von  seiner  Frau  erfuhr,  was  nicht  recht  war.  Miss- 
handelt hat  der  Mann  die  Frau  nie.  Von  einer  Drohung  gegen  die  Zeugin  weiss 
diese  nichts;  nur  sagte  die  Angeklagte  einmal,  wenn  die  Zeugin  bei  einer  Dienst- 


Der  Fall  Sauter.  927 

«ntlassung  auch  das  Hetzen  anfange,  lasse  sie  sie  einsperren.  Zur  Gänzbauer  ging 
^e  Zeugin  mit  der  Angeklagten  nach  vorhergegangener  Besprechung  der  Beiden 
^nter  sich.  Die  Zeugin  erzählt  ferner  von  den  schwindelhaften  Manipulationen 
■der  Gänzbauer.  Diese  habe  schlimme  Einflüsse  auf  die  Leute  geübt,  die  zu  ihr 
kamen.  Von  Drohungen  ihres  Mannes  hat  die  Angeklagte  der  Zeugin  auch  er- 
zählt. Das  Verhör  der  Zeugin  über  den  Gesundheitszustand  der  Angeklagten  wird 
bis  zum  Ausschluss  der  Oeffentlichkeit  ausgesetzt. 

Zeuge  Anton  Heiler,  Metzgermeister  und  Magistratsrath,  weiss  nicht,  dass 
<Lie  Frau  Sauter  ihre  Kinder  schlecht  behandelt  hat.  Der  Zeuge  kennt  die  Ange- 
klagte nur  als  tüchtige  Geschäftsfrau. 

Auch  die  Zeugin  Stöckl,  eine  langjährige  Bekannte  der  Angeklagten,  giebt 
lan,  dass  die  Angeklagte  ihre  Kinder  gut  behandelt  habe.  Im  Frül\jahr  sei  die 
Angeklagte  zu  ihr  gekommen,  habe  geweint  und  habe  gesagt,  sie  sei  unglücklich. 

Die  Zeugin  Stiefel  deponirt  gleichfalls,  dass  sie  die  Angeklagte  seit  langen 
J'ahren  als  g^te  Mutter  und  tüchtige  Hausfrau  kenne. 

Die  Zeugin  Elise  Maier  war  bei  der  Sauter  bedienstet.  Sie  deponirt,  wie 
die  vorhergehenden  Zeugen,  dass  die  Angeklagte  alle  ihre  Kinder  lieb  hatte  und 
.eine  sehr  tüchtige  Hausfrau  und  Geschäftsfrau  war. 

Der  Metzgerbursche  Adam  Bachmaier  war  früher  18  Jahre  bei  Sauter.  Er 
hält  die  Angeklagte  für  etwas  barsch  gegen  ihre  Kinder,  aber  für  eine  fürsorgliche 
Mutter.  Zeuge  Bachmaier  steht  auch  auf  der  Todescandidatenliste.  Er  weiss 
keinen  Grund  dafür. 

Die  Angeklagte  giebt  an,  die  Gänzbauer  habe  gesagt,  er  müsse  weg,  weil  er 
so  lange  bei  Sauter  gewesen  und  zuviel  von  ihr,  der  Angeklagten,  wisse.  „Ich 
«ag^e  ihr  noch:  ,Was  der  weiss,  fürchte  ich  nicht.^  Die  Gänzbauer  aber  sagte: 
^er  ist  ja  schon  krank  und  an  dem  liegt  nicht  viel,  wenn  ich  ihm  etwas  anthue^'' 

Die  Zeugin  Anna  Wambrechtshammer,  Dienstmädchen  bei  Sauter,  giebt  an, 
dass  die  Angeklagte  wohl  streng,  aber  doch  pflichttreu  gegen  ihre  Kinder  war. 
Von  Streitigkeiten  zwischen  den  Eheleuten  weiss  die  Zeugin  nichts.  Von  einem 
•eingestreuten  Pulver  in  den  Socken  hat  die  Zeugin  nichts  gemerkt.  Dass  die 
^Sauter  die  eheliche  Treue  nicht  hielt,  hat  die  Zeugin  durch  Hörensagen  vernommen. 

Die  Zeugin  Mathilde  Zauner,  Directrice  bei  Bäcker  Seidl,  bezeichnet  den 
Verkehr  mit  Seufert  als  einen  lediglich  freundschaftlichen.  Die  Angeklagte  zeigte 
ihr  gegenüber  nie,  dass  sie  eifersüchtig  sei.  Sie  hätte  auch  gar  keinen  Grund 
dazu  gehabt.  Die  Annahme  der  Gänzbauer,  dass  Seufert  in  seinem  Verkehre  mit  den 
Schwestern  Zauner  Grund  zur  Eifersucht  gegeben  habe,  ist  der  Zeugin  unbegreiflich. 

Die  Zeugin  Therese  Zauner,  die  Frau  Sauter  schon  elf  Jahre  kennt,  behauptet, 
-dass  Frau  Sauter  ihre  Kinder  gut  erzogen  habe.  Auch  sie  kann  sich  nicht  vor- 
stellen, wie  sie  auf  die  Liste  der  zum  Tode  Bestimmten  kam. 

Frau  Elisabeth  Koch,  Polizeicommissärswittwe,  weiss  ebenfalls  keinen  Grund 
dafür  zu  finden,  dass  sie  auf  die  Liste  kam.  Frau  Sauter  habe  ihr  aus  der  Noth 
geholfen,  indem  sie  ihr  2000  Mk.  lieh.  Sie  habe  einen  Schuldschein  ausgestellt. 
'Dabei  sei  ausgemacht  worden,  dass  das  Geld  im  Falle  des  Todes  der  Mutter  der 
2eugin  zurückbezahlt  werden  solle,  lieber  die  Erziehung  der  Sauter'schen  Kinder 
weiss  sie  nichts  Nachtheiliges  zu  berichten.  Am  8.  April  sei  sie  zum  letzten  Male 
-mit  Frau  Sauter  zusammengekommen.  Dabei  habe  Letztere  kein  auffallendes  Be- 
nehmen an  den  Tag  gelegt. 


328  V-  Schpcnck-Notzing. 

Mit  der  Vernelimung  des  Criminalwachtmeisters  Malkmus,  der  am  14.  April 
mit  Commissär  Bossert  Frau  Gänzbauer  aufsuchte  und  dabei  Zeuge  des  zwischen 
der  Gänzbauer  und  der  Angeklagten  geführten  Gespräches  wurde,  nimmt  die  Ver- 
handlung für  die  Angeklagte  eine  ungünstige  Wendung.  Der  Zeuge  giebt  an,  er 
und  sein  College  hätten  durch  ein  an  der  Thüre  des  Nebenzimmers  angebrachtes 
Loch  Alles  gehört.  Auf  die  Anregung  der  Gänzbauer,  nun  müsse  die  Sache  ein* 
mal  vorwärts  gehen,  habe  die  Sauter  deutlich  erklärt,  bis  zum  Namenstag  des 
Schorschl  (Seufert)  müsse  er  (ihr  Mann)  weg  sein.  Im  Uebrigen  bestätigt  der 
Zeuge  die  schon  in  der  Voruntersuchung  Ton  ihm  angegebenen  Aeusscrungen  der 
Sauter  über  die  Reihenfolge,  in  der  die  Personen  beseitigt  werden  sollten  und 
wiederholt  bestimmt  auch  die  Aeusserung  der  Sauter  hinsichtlich  ihrer  Ver- 
sprechungen an  die  Gänzbauer.  Die  Sduter  habe  deutlich  gesagt,  es  wäre  ihr  am 
liebsten,  wenn  ihren  3Iann  der  Schlag  treffe,  aber  nicht  in  der  Wohnung,  damit 
kein  Verdacht  auf  sie  falle.  Anfangs  sei  die  Angeklagte  sehr  erregt  gewesen^ 
später  sei  sie  ruhiger  geworden.  Von  einer  Heirath  mit  Seufert  hat  der  Zeuge 
nichts  gehört. 

Auch  dieser  bestimmten  gravirenden  Aussage  gegenüber  bleibt  die  Sauter 
auf  ihrem  Leugnen  stehen,  schiebt  alle  Schuld  auf  Gänzbauer  und  behauptet,  dassy 
wenn  es  auf  Letztere  angekommen  wäre,  die  halbe  Stadt  weggeräumt  worden  wäre. 

Sicherheitscommissär  Bossert  hatte  nach  Anbringung  der  Anzeige  die  weiteren 
Recherchen   zu  pflegen   und  ebenfalls  die  arrangirte  Zusammenkunft  zwischen  der 
Sauter  und  Gänzbauer  zu  überwachen.    Die  Gänzbauer  war  dem  Zeugen  bis  zum 
14.  April  unbekannt.    Er  traf  die  Vorbereitungen  so,  dass   er  vom  Nebenzimmer 
aus  nicht  nur  hören,  sondern  die  Angeklagte  auch  sehen  konnte.    Die  Angeklagte 
verlangte,   dass  vor  Allem  ihr  Mann  weg  müsse.    Jedoch  solle   die  Sache   nicht 
auffällig  gemacht  werden,  damit  kein  Verdacht  auf  sie  falle.    Als  die  Angeklagte 
eintrat,  schien  sie  erregt  zu  sein.    Das  kam  daher,  dass  sie  vorher  bei  Seufert  war 
und  ihre   Zeit   knapp   geworden   war.     Später   war  ihre  Ruhe   so   starr,   dass  der 
Zeuge   empört  darüber  war   und  gerne  hervorgekommen   wäre.     Sie  nannte  mit 
grösster  Ruhe  die  Reihe  Derer,  die  weggeschafft  werden  sollten.    Auch  als  später 
auf  der  Strasse  Herr  Malkmus  sie  ansprach,  war   es  erstaunlich,   welche  Ruhe  die 
Frau  zeigen  konnte.    Der  Zeuge  hatte  mit  Bedacht  die  Gänzbauer  veranlasst,  der 
Angeklagten  schriftliche  Geständnisse  zu  entlocken.     Für  ihi'en  Mann  hatte  sie  nur 
die  Bezeichnung    „der  Hundshäuter"*.    Bei    der  Erwähnung   des   Seufert   war  sie 
geradezu  verzückt.    Der  Plan,   den  die  Angeklagte  entwickelte,   war  der,   dass  sie 
nach  dem   Tode  ihres  3Iannes   ins  Gebirge  gehen  wolle,   ihrer  „Nerven**   wegen, 
und  dass  inzwischen  die  Gänzbauer  die  Kinder  wegräumen  solle.    Ihre  Ruhe  war 
dabei  so  empörend,   dass  der  Zeuge   nahe  daran  war,  die  Verhaftung  sofort  vor- 
zunehmen.   Nicht  die  Gänzbauer,  sondern   die  Angeklagte   war   die  Macherin  der 
Pläne.     Die  Angeklagte  stand   unter  keinerlei  Druck  von   Seite   der   Gänzbauer. 
Als  Belohnung  waren   100  Mk.   und   dann  500  Mk.  genannt  worden,  wobei  noch 
mehr  versprochen  wurde.    Auch  die  Ohrringe,   die  sie  trug,  versprach  die  Ange- 
klagte der  Gänzbauer.     100  Mk.  und  die  KJeider  des  Mannes  sollte  die  Gänzbaner 
sofort  bekommen,  wenn   der  „Alte"   weggeschafft  sei  und   die  Angeklagte  ^ihren 
Schorsch"  haben  könne. 

um  3'/4  Uhr  wird  die  Verhandlung  wieder  aufgenommen,  nachdem  die  Oeffent^ 
lichkeit  der  Verhandlung  ausgeschlossen  worden  war. 


Der  Fall  Sauter.  329 

Es  kommt  sodann  zum  Aufruf  die  Zeugin  Katharina  Gänzbauer,  eine  Frau 
in  mittleren  Jahren^  die  sehr  aufgeregt  den  Gerichtssaal  betritt.  Auf  Antrag  der 
Vertheidigung  wird  die  Strafliste  der  Zeugin  verlesen.  Darnach  ist  die  Zeugin 
schon  21  3Ial  von  verschiedenen  Gerichten  vorbestraft,  und  zwar  wegen  Land- 
streicherei, Diebstahls,  gewerbsmässiger  Unzucht,  Vergehen  gegen  die  Sittlichkeit, 
Unterschlagung,  Betrug  und  Gaukelei.  Die  Strafen  sind  zum  Theil  ziemlich  er- 
heblich. 

Die  Zeugin  deponirt:  Die  Sauter  kam  mit  ihrem  Dienstmädchen  freiwillig 
zu  mir.  Ich  prophezeite  ihr  aus  einem  Ei,  dass  sie  in  ihrer  Familie  Sterbefälle 
haben  werde.  Sie  erzählte  mir  sodann  ihre  Verhältnisse,  erzählte  von  der  Eifer- 
sucht ihres  Mannes  und  von  ihrer  Liebe  zu  einem  gewissen  Seufert.  Sie  sagte, 
sie  möchte  ihren  Mann,  den  „hundshäutigen  Kerl*^,  los  werden.  Später  kam  sie 
mit  dem  Ersuchen,  ich  möchte  ihr  helfen,  den  Mann  wegzuschaffen.  Ich  hatte 
die  Frau  nicht  für  vernünftig  gehalten,  und  habe  ihr  zugeredet,  solche  Pläne  auf- 
zugeben, wir  kämen  sonst  alle  Beide  ins  Zuchthaus.  Ich  gab  ihr  Enzianpulver 
und  sagte  ihr,  sie  solle  es  in  ihres  Mannes  Socken  streuen  oder  in  einen  Rock 
einnähen,  dann  werde  sie  vor  der  Eifersucht  ihres  Mannes  Ruhe  bekommen.  Ich 
gab  ihr  auch  den  Rath,  zu  beten,  dass  sie  auf  andere  Gedanken  komme.  Sie 
brachte  mir  dann  später  noch  eine  Anzahl  von  Photographien  und  sagte  mir,  ich 
soll  alle  diese  Leute  aus  dem  Wege  schaffen.  Dabei  redete  sie  von  ihrem  Manne 
in  den  abscheulichsten  Ausdrücken.  Sie  sagte  auch,  das,  was  ich  ihr  gegeben, 
tauge  nichts,  und  sie  machte  dabei  die  bereits  in  der  Voruntersuchung  bestätigte 
Aeusserung,  ihr  Mann  „esse  immer  noch  für  sechs  und  laufe  wie  ein  "Wiesel". 
Nicht  aber  um  ihren  Mann  zu  tödten,  gab  ich  ihr  das  Mittel,  son- 
dern um  ihr  und  mir  Ruhe  zu  schaffen.  Ich  habe  ihr  auch  gesagt,  das 
Mittel  tödte  nicht,  sondern  es  schaffe  ihr  nur  Ruhe  vor  ihrem  Manne.  —  Auf  den 
Vorhalt  des  Vorsitzenden,  dass  die  Zeugin  früher  gesagt  habe,  sie  habe  der  Ange- 
klagten das  Mittel  als  Mittel  zum  Tödten  gegeben  und  ihr  auch  gesagt,  dass  das 
Mittel  tödte,  behauptet  die  Zeugin  auf  Eid  hin,  sie  habe  der  Angeklagten  aus- 
drücklich gesagt,  das  Mittel  tödte  nicht,  es  schaffe  ihr  nur  Ruhe  vor  ihrem  Mann 
und  nehme  diesem  die  Gewalt  über  sie.  Des  Ferneren  deponirt  die  Zeugin, 
dass  die  Angeklagte  sie  immerfort  gedrängt  habe  unter  dem  Versprechen,  ihr  Geld 
und  die  eigenen  Ohrringe  zu  geben,  wenn  sie  (Zeugin)  der  Angeklagten  ein  Mittel 
zur  Beseitigung  des  Mannes  gäbe.  Daraufhin  erst  habe  die  Zeugin  der  Ange- 
klagten das  Enzianpulver  gegeben. 

Auf  Antrag  des  Staatsanwaltes  und  des  Verthcidigers  wird  die  Aussage  der 
Zeugin  zu  Protokoll  genommen,  wobei  besonders  Nachdruck  darauf  gelegt  wird, 
dass  die  Zeugin  der  Angeklagten  nicht  erklärte,  dass  das  Pulver  tödtlich  wirke, 
sondern  dass  sie  nur  gesagt,  dass  ihr  das  Pulver  Ruhe  vor  ihrem  Mann  schaffen  würde. 

Weiter  deponirt  die  Zeugin,  es  seien  ihr  in  stetiger  Steigerung  von  der  An- 
geklagten bis  zu  1000  Mk.  geboten  worden,  wenn  sie  (Zeugin)  bis  zum  Namenstag 
ihres  „Schorschols^  den  Mann  aus  dem  Wege  räume.  Die  Zeugin  kommt  hierauf 
zu  dem  Verhältnisse  der  Angeklagten  mit  dem  Schauspieler  Seufert  und  weiteren 
Liebhabern  der  Sauter,  welche  Niederlegungen  delicater  Natur  sind,  jedoch  zur 
Thatsache  selbst  wenig  Bezug  haben.  Einen  Theil  der  Photographien  habe  die 
Sauter  per  Dienstmann  zur  Zeugin  geschickt;  auch  habe  sie  die  kostbaren  G^ 
schenke,  welche  für  den  Seufert  bestimmt  waren.    Zeugin  habe  sich  an  ein  Bureau 


880  ^*  Schrenck-Notiing. 

gewendet,  als  ihr  die  Sache  nicht  mehr  geheuer  vorkam,  und  hierdurch  sei  die 
Sache  zur  Anzeige  gekommen.  Die  Begegnung  in  der  Wohnung  der  G^nzbauer, 
woselbst  die  Tödtung  der  betreffenden  Personen  auf  eine  Liste  geschrieben  wurde, 
schildert  die  Zeugin  ebenso,  wie  in  der  Anklageschrift  angegeben.  G«nzbauer 
giebt  an,  dass  sie  die  Liste  der  zu  tödtenden  Personen  wohl  der  Saut«r  angesagt 
habe,  jedoch  nur  auf  deren  Wunsch,  damit  die  Reihenfolge  feststehe,  wie  die 
Sauter  die  Personen  zu  tödten  wünschte.  Auch  habe  sie  der  Sauter  angeratheo, 
weisse  Mäuse  zu  kaufen,  welche  ihrem  Manne  das  „Genick  abbeissen"^.  Die  Sauter 
habe  ihr  aber  Geld  gegeben,  um  weisse  Mäuse  anzuschaffen,  was  sie  auch  gethao 
hätte;  denn  sie  gebe  zu,  dass  sie  Alles,  was  sie  der  Sauter  vorgemacht  habe,  den 
ganzen  Hokuspokus  selbst  nicht  glaube;  auch  bezüglich  der  Prophezeiung,  da« 
Mitglieder  der  Sauter'schen  Familie  bald  sterben  müssen,  giebt  die  Gänzbauer  zu, 
dass  sie  dies  Vorherzusagen  nur  deshalb  vermöge,  da  —  alle  Menschen  sterben 
müsstenl  Die  Zeugin  wird  von  Staatsanwalt,  Vertheidiger  und  einzelnen  Ge- 
schworenen ordentlich  ins  Gebet  genommen.  Auch  muss  am  Schlüsse  ihres  Ver- 
hörs die  Zeugin  zugeben,  dass  sie  der  Sauter  vorgemacht  habe,  sie  habe  Mittel, 
welche  geeignet  sind,  Zuneigung  oder  Abneigung  bei  Jemand  hervorzurufen.  — 
Sofort  wird  nun  von  Seiten  des  Vorsitzenden  der  Zeugin  klargemacht,  dass  sie 
unter  Umständen  sich  eines  Betruges  bezichtige,  und  deshalb  auf  diesbezügliehe 
Fragen  die  Antwort  verweigern  könne.  —  Die  Gänzbauer  erklärt  jedoch  mit 
seltener  Offenheit,  dass  sie  selbst  nichts  von  ihren  Prophezeiungen  geglaubt  habe, 
sie  wahrsage  eben  den  Leuten  nur  das,  was  ihnen  angenehm  sei  (!).  —  Bezogliefa 
jder  Tödtungsabsicht  der  Sauter  an  ihren  Kindern  und  den  anderen  Leuten  eiidärt 
•die  Gänzbauer  damit,  dass  die  Sauter  alle  Leute  „weg^  haben  wollte,  welche  ihr 
im  Wege  standen,  oder  um  das  Verhältniss  der  Angeklagten  mit  dem  Seufert 
wusston.  Als  Motiv  der  Anzeigeerstattung  giebt  sie  an,  damit  die  Sauter,  welche 
■sie  für  nicht  zurechnungsfähig  erklärte,  verwahrt  werde  (!). 

Als  letzter  Zeuge  erscheint  der  Ehemann  der  Frau  Sauter,  Herr  Metzger- 
meister  Anton  Sauter.  Derselbe  erklärt,  sich  als  Zeuge  vernehmen  zu  lassen. 
Seine  Frau  fängt  laut  zu  weinen  an.  Herr  Sauter  giebt  an,  er  sei  seit  25  Jahren 
mit  der  Angeklagten  verheirathet,  er  sei  mit  ihr  im  Ehescheidungsprocesse,  weil 
sie  ihm  untreu  gewesen,  wie  schon  im  ersten  Jahre  ihrer  Ehe,  so  auch  heute  noch. 
Seine  Frau  habe  verschiedene  Verhältnisse  gehabt,  mit  einem  Metzgermeister 
Sumpcr  u.  A.;  von  dem  Verhältnisse  mit  Seufert  habe  er  zu  spät  effahren.  Sr 
giebt  zu,  dass  er  seine  Frau  einmal  mit  Erschiessen  bedroht  habe;  Pulver  habe 
er  keines  in  seinen  Socken  entdeckt ;  wenn  ihn  einmal  die  Füsse  gebrannt  hätten, 
so  könne  dies  von  den  Stiefeln  auch  herkommen.  Auch  mit  den  Kindern  sei  sie 
bis  zur  letzten  Zeit,  woselbst  sie  dieselben  manchmal  mit  Schimpfworten  belegt 
.hatte,  sehr  gut  gewesen.  Vor  3  Jahren,  als  sie  gerade  ein  Verhältniss  mit  einem 
jungen  Burschen  gehabt  habe,  haben  sie  in  ihn  gedrungen,  ein  Testament  zu 
machen,  bis  er  sich  eine  solche  Anspielung  verbeten  habe. 


Der  Fall  Sauter.  331 

in. 

Outachten  der  SachyerstäiidigeiL  ^) 

Der  Sachverständige  Oberarzt  Dr.  Vocke  leitete  sein  Parere  mit 
dem  Hinweis  auf  das  Aufsehen  ein,  das  die  „Afifaire^  seinerzeit  erregt 
hatte.  Als  damals  die  Kunde  zu  ihm  gedrungen  sei,  dass  eine  bisher  un- 
bescholtene und  angesehene  Bürgersfrau  verhaftet  worden  sei,  weil  sie  eine 
Beihe  Ton  Personen,  darunter  sogar  den  eigenen  Ehemann,  aus  der  Welt 
habe  schaffen  wollen,  da  haben  wohl  Viele,  darunter  auch  ich,  gedacht, 
dass  man  es  mit  einer  geisteskranken  Person  zu  thun  habe.  Auch  die 
Staatsanwaltschaft  erachtete  es  für  angezeigt,  nach  dieser  Richtung  hin 
Erhebungen  zu  pflegen  und  Frau  Sauter  beobachten  zu  lassen.  Herr 
Prof.  Dr.  Messerer  und  ich  unterzogen  uns  dieser  Aufgabe  im  Qre- 
fSngniss  am  Anger.  Die  Frage  ist  nun  die:  Hat  sich  die  Sauter  zur 
Zeit  der  That  in  einem  Zustand  von  Bewusstlosigkeit  oder  krankhafter 
Störung  ihrer  geistigen  Kräfte  befunden,  durch  den  ihre  freie  Willens- 
bestimmung  ausgeschlossen  war?  Bei  Beantwortung  dieser  Frage  muss 
man  berücksichtigen,  dass  sie  sich  heute  nicht  ohne  Gewandtheit  ver- 
theidigte  und  ein  gutes  Gedächtniss  aufzuweisen  hatte.  Bei  mündlichen 
Unterredungen  im  Gefangniss  sind  mir  nun  allerdings  Zweifel  in  die 
Zurechnungsfahigkeit  der  Sauter  aufgestiegen.  Durch  die  lange  Haft, 
durch  ihre,  wenn  auch  selbstverschuldete,  unglückliche  Ehe,  durch  ihr 
körperliches  Leiden,  namentlich  aber  dadurch,  dass  sie,  nachdem  die 
Sache  aufgekommen  war,  von  ihrer  Familie  gänzlich  Verstössen  worden 
ist  und  ihr  bis  dahin  genossenes  Ansehen  verloren  hat,  ist  ihr  Gemüths- 
zustand  wie  überhaupt  ihr  ganzer  psychischer  Zustand  derart  geworden, 
dass  man  ihn  nicht  mehr  als  normal  bezeichnen  kann.  Ich  würde  Be- 
Borgniss  tragen,  sie  sich  selbst  zu  überlassen.  Allein  ich  habe  nichts 
wahrnehmen  können,  was  dafür  sprechen  würde,  dass  sie  zur  Zeit  der 
That  geisteskrank  gewesen  wäre.  Die  Zeugin  Gänzbauer  sagte,  sie 
habe  an  Verfolgungs-,  Liebes-  oder  Mordwahn  gedacht  Für  Annahme 
eines  Verfolgungswahns  sind  absolut  keine  Anhaltspunkte  gegeben,  und 
es  kann  als  Motiv  zur  Handlung  von  diesem  kaum  die  Bede  sein. 
Auch  in  Bezug  auf  die  Annahme  von  Mordwahn  haben  sich  irgend- 
welche positive  Anhaltspunkte  nicht  ergeben.    Dass  die  Sauter  endlich 


^)  Die  Gutachten  von  Dr.  Vocke  und  Med.-Rath  Dr.  Messerer  sind  dem 
läeferat  in  der  „Münchner  Zeitung''  entlehnt. 


332  ▼•  Schrenck-NotEing. 

namenlos  verliebt  war,  hat  der  Gang  der  Verhandlnng  ergeben,  nnd 
wenn  anch  nach  dem  Sprichworte  Liebe  blind  macht,  so  kann  keine 
ßede  davon  sein,  dass  sie  der  Zurechuungsfähigkeit  beraubt.  Was 
nun  die  Beseitigung  des  Ehemannes  anbelangt,  so  ist  es  wahrscheinlich 
und  logisch  begreiflich,  dass  sie  es  gerne  gesehen  hätte,  wenn  ihr  Mami 
gestorben  wäre,  aber  psychologisch  ganz  unlogisch  ist  es,  wenn  sie  in 
dem  Zettel  die  Beseitigung  einer  Keihe  anderer  Personen  verlangt.  Es 
ist  feroer  aus  dem  Vorleben  der  Angeklagten  psychologisch  nicht  er- 
klärbar, wie  sie,  die  ihre  Kinder  gut  erzogen  hat  und  eine  musterhafte 
Hausfrau  war,  auf  einmal  dazu  kommen  sollte,  ihren  Kindern  etwas 
zu  thun  und  warum  sie  gerade  bei  zwei  eine  Ausnahme  gemacht  wissen 
wollte.  Noch  schwerer  begreiflich  ist  es  wegen  der  übrigen  AjDzahl 
Personen,  die  ihr  nie  etwas  in  den  Weg  gelegt  hatten,  mit  denen  sie 
theilweise  freundlich  verkehrte.  Am  auffallendsten  ist  es,  warum  sie  die 
Koch  beseitigen  wollte,  mit  der  sie  so  freundschaftlich  war,  dass  sie 
ihr  mit  Geld  aushalf.  Die  unglückliche  Ehe,  die  heftigen  Blutungen 
seit  mehreren  Jahren  und  das  seit  zwanzig  Jahren  währende  Unter- 
leibsleiden  lassen  es  als  zweifellos  erscheinen,  dass  sich  die  Sauter  in 
einem  abnormen  Zustand  befand,  der  durch  die  Gänzbauer  genährt 
wurde.  Nun  geschah  das  Unglaubliche:  dass  die  Frau  vollkommen 
von  den  Prophezeiungen  der  Gänzbauer  eingenommen  war.  Es  muas 
also  fremder  Einfluss  geherrscht  haben.  Es  muss  dann  die  Gänzbauer 
sehr  bald  gemerkt  haben,  dass  sie  der  Sauter  etwas  Angenehmes  sage, 
wenn  sie  von  den  Todesfällen  spreche.  Dadurch  gewann  die  Gänzbaner 
das  unbedingte  Zutrauen  der  Sauter.  Bedenkt  man  nun  ihre  Gemüth»- 
depression,  so  kommt  man  dazu,  zu  sagen,  dass  der  bewusste 
Zettel  grösstentheils  das  Product  einer  von  der  Gänzbauer  ausgeübten 
Suggestion  war.  Das,  was  die  Sauter  unterschrieb,  war  Formel  einer 
Kartenschlägcrin.  Dann  geht  es  Schlag  auf  Schlag.  Das  Auffallende 
ist  nur,  dass  von  dem  anzuwendenden  Mittel  nichts  gefunden  wurde. 
Die  ganze  Sitzung  vom  14.  April  stand  unter  dem  Einfluss  der  Gänz- 
bauer. Es  ist  kein  vernünftiger  Grund  einzusehen,  warum  die  Sauter 
die  Personen  beseitigt  wissen  wollte.  Es  ist  daher  wahrscheinlich,  dass 
die  Frau  Sauter  in  Folge  der  Erlebnisse  der  letzten  Monate  und  ihrer 
Gesundheitsverhältnisse  sich  zur  Zeit  in  einem  Zustande  der  Ver- 
zweiflung befand.  Sie  war  zur  Zeit  der  That  nicht  geistig  gestört, 
noch  hat  sie  sich  in  einem  Zustande  befunden,  durch  den  ihre  freie 
Willensbestimmung  ausgeschlossen  gewesen  wäre.  Sie  ist  aber  eine 
Person,  die  ganz  sicher  ihrer  Ueberlegung  damals  nicht  so  Herr  war, 


Der  FaU  Sauter.  333 

dass  Jemand  nicht  in  weitgehendstem  Maasse  seinen  unheilvollen  Einfluss 
hätte  ausüben  können,  und  ich  habe  die  feste  Ueberzeugung,  dass  die 
ganze  Scene  vom  14.  April  das  Product  des  Einflusses  der  Frau  Gänz- 
bauer ist.  Die  Frau  Sauter  stand  geradezu  unter  dem  psychischen 
Bann  der  Gänzbauer.  Unter  diesem  ist  die  Proscriptions- Liste  ent- 
standen, weil  es  sonst  psychologisch  unerklärlich  ist,  wie  die  Sauter 
Personen,  denen  sie  gewogen,  ist  beseitigen  wollte.  Die  aufgestellte 
Liste  ist  nicht  das  Product  der  Frau  Sauter,  sondern  der  Gänzbauer. 
Der  zweite  Sachverständige,  Medizinalrath  Prof.  Dr.  Messerer, 
sagt  aus:  Ich  hatte  den  Auftrag  bekommen,  den  Geisteszustand 
der  Frau  Sauter  zu  untersuchen  und  mich  zu  ihr  ins  Gefangniss 
begeben,  mit  ihr  gesprochen  und  meine  Beobachtungen  ange- 
stellt. Ich  will  mich  kurz  fassen  und  mein  Resultat  mittheilen:  Ich 
habe  keinerlei  Störung  in  der  Geistesthätigkeit  der  Angeklagten  wahr- 
genommen, wodurch  ihre  freie  Willensbestimmung  aufgehoben  gewesen 
wäre.  Wenn  ich  sagen  soll,  was  für  einen  Eindruck  die  Angeklagte 
auf  mich  gemacht  hat,  so  geht  mein  Gutachten  dahin,  dass  sie  in 
sexueller  Hinsicht  sehr  erregbar,  dass  sie  femer  dumm  und  heftig 
ist.  Dass  sie  in  sexueller  Hinsicht  sehr  erregbar  ist,  das  brauche  ich 
wohl  nicht  des  Weiteren  auszuführen,  dass  sie  dumm  ist,  beweist  ihr 
ganzer  Verkehr  mit  der  Gänzbauer,  dass  sie  heftig  ist,  hat  die  heutige 
fiauptverhandlung  ebenso  klar  bewiesen.  Man  erstaunt,  wenn  man  hört, 
dass  eine  Frau  den  Auftrag  gegeben,  zehn  Menschen  umzubringen, 
wenn  man  dies  ohne  Erklärung  hört;  wenn  man  aber  weiss,  dass  sie 
mit  den  Proscribirten  im  besten  Einvernehmen  gelebt  hat,  so  muss 
man  sagen,  das  kann  nur  ein  Narr  thun.  Das  Verhalten  wird  erst  ver- 
ständlich, wenn  man  sich  in  die  Situation  der  Frau  Sauter  hineindenkt,  und 
namentlich,  wenn  man  den  Einfluss  der  Frau  Gänzbauer  berücksichtigt. 
Offenbar  hatte  Frau  Sauter  den  Wunsch  gehabt,  dass  ihr  Mann,  mit  dem 
sie  sich  nicht  vertrug,  aus  dem.  Leben  scheide,  sie  hat  den  Wunsch 
l^ehabt,  mit  dem  Geliebten  ungestört  zusammenleben  zu  können,  da 
kommt  sie  nun  mit  der  Kartenschlägerin  zusammen,  die  setzt  ihr  die 
Erfüllung  ihrer  Wünsche  in  sichere  Aussicht.  So  ist  es  sehr  leicht 
begreiflich,  dass  sie  sich  der  Gänzbauer  ganz  überantwortete,  und 
zweifelsohne  hat  die  Gänzbauer  einen  grossen  Einfluss  auf  die  An- 
geklagte ausgeübt.  Ich  habe  wiederholt  mit  der  Sauter  gesprochen 
und  sie  hat  immer  überzeugend  und  klar  geredet.  Bezüglich  des  Mord- 
versuchs an  ihrem  Mann  hat  sie  gesagt,  sie  wollte  ihn  nicht  umbringen, 
cflondem  ihn  nur  in  ihre  Gewalt  bekommen.     Vor  vier,  fünf  Monaten 


334  ▼•  Schrenck-Notsng. 

ist  die  Frau  noch  ganz  anders  gewesen.  Jetzt  ist  sie  bleich,  einge&llen, 
weinerlich,  lebensüberdrQssig.  Sie  hat  mir  gesagt,  sie  werde  in  die  lar 
gehen,  wie  es  anch  ausfallen  werde,  sie  habe  Alles  yerloren,  die  Famifie^ 
das  Qeldj  die  Kinder.  Vor  Monaten  noch  war  sie  heftig  und  drohte, 
sie  werde  die  Oänzbauer  meineidig  machen.  Soll  ich  mein  Qutachtea 
zusammenfassen,  so  muss  ich  sagen,  dass  ich  die  Angeklagte  für  toU- 
ständig  zurechnungsfähig  halte,  dass  aber  wohl  ihre  Unterleibsleiden 
Yon  schädigendem  Eiinfluss  auf  ihre  Denkfähigkeit  gewesen  sind.  Idi 
betone,  eine  geistige  Unzurechnungsfähigkeit  im  Sinne  des  Paragraph 
61  ist  nicht  gegeben. 

Dr.  Frhr.  tou  Schrenck-Notzing  giebt  das  nachfolgende 
hier  ausführlich  wiedergegebene  Gutachten  ab: 

Meine  Ausführungen  stützen  sich  einmal  auf  das  Studium  der 
Acten,  ferner  auf  eine  mehrmalige  persönliche  Untersuchung  der  An« 
geklagten  in  der  Angerfrohnfeste,  und  endlich  auf  das  Ergebniss  der 
heutigen  Hauptrerhandlung. 

Frau  Katharina  Sauter,  Metzgermeistersgattin  ist  44  Jahre  alt. 
Vater  (Qastwirth)  starb  im  Alter  Ton  64  Jahren  angeblich  an  Nieren- 
leiden, ebenso  die  Mutter  an  Nierenerkrankung,  62  Jahre  alt.  Vaters- 
bruder köpf-  und  nierenleidend,  Vatersschwester  im  E^makterium, 
geistig  nicht  normal.  Eine  Schwester  der  Patientin  starb  in  Folge  einer 
Frühgeburt.  Die  häufigen  Nierenleiden  in  der  Familie  sind  möglicher- 
weise auf  Alcoholmissbrauch  zurückzuführen. 

Frau  S.  will  in  der  Schule  nur  mittelmässig  gelernt  haben.  Ihre  Men- 
struation trat  ungewöhnlich  früh,  schon  mit  11  Jahren  ein  und  zwar  unter 
Schmerzen.  Mit  12  Jahren  Oophoritis  und  Peritonitis.  Den  anormalen 
Erscheinungen  in  den  Entwickelungsjahren  entsprechen,  wie  das  öfter  zu 
beobachten  ist,  die  krankhaften  Symptome  im  Klimakterium.  Mit  14 
Jahren  Gelenkrheumatismus.  Mit  .6  Jahren  trat  die  Angeklagte  in 
den  Dienst,  mit  17  Jahren  Defloration;  18  Jahre  alt  verehelichte  sie 
sich.  Schon  damals  waren  die  Menstruationen  regelmässig  begleitet 
▼on  erheblichen  Störungen  des  Allgemeinbefindens. 

Im  Ganzen  gebar  Frau  S.  7  Kinder,  erlebte  1877  den  ersten 
Abortus  und  musste  sich  wegen  schwerer  Unterleibsstörungen  einer 
2  Jahre  dauernden  ärztlichen  Behandlung  unterziehen.  Trotzdem  bei 
der  dritten  Schwangerschaft  1883  von  Neuem  Abortus.  Endometritis, 
Uterinblutimgen  mit  Lebensgefahr.  In  den  Jahren  IxQAy  87,  91,  94 
wiederum  Schwangerschaften,  Uterinblutungen,  Ejrampfadem  und  andere 
Unterleibsstörungen. 


Der  FaU  Sauter.  335 

1893  auf  94.  Sturz  Ton  einer  Treppe  mit  darauffolgender  Früh- 
geburt Patientin  will  bewusstlos  gewesen  sein.  Offenbar  Gehirner- 
schütterung. Ein  Kind  der  Frau  S.  starb  1887  an  Tuberculosen  ein 
zweites  1892  an  Masern  und  Pneumonie. 

Dass  die  fortgesetzten  Störungen  der  Unterleibsfunctionen  bei  einer 
schon  durch  erbliche  Belastung  reizbaren  Frau  einen  nachhaltig  schäd- 
lichen Einfluss  auf  die  nervösen  und  psychischen  Vorgänge  ausüben 
mussten,  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Begründung.  So  finden  sich  auch 
eine  ganze  Reihe  von  Anhaltspunkten,  die  bereits  vor  dem  Klimak- 
terium bestanden  und  sich  mit  dem  Eintritt  desselben  erheblich 
steigerten. 

Seit  etwa  1^2  Jahren  ist  Frau  S.  in  das  Klimakterium  eingetreten, 
wie  aus  der  Unregelmässigkeit  der  menstrualen  Functionen  hervorgehtr 
Bald  Amenorrhoe  während  dreier  Monate,  bald  minimaler  Blutabgang 
in  Abständen  von  14  Tagen.  Das  Klimakterium  ist  bekanntlich  für 
reizbare  Frauen  eine  gefahrliche  Zeit,  weil  vielfach  bei  dieser  Ge- 
legenheit schlummernde  Dispositionen  zu  geistigen  und  sonstigen  Er- 
krankungen zum  Ausdruck  gelangen. 

Schon  seit  Jahren  leidet  Frau  S.,  wie  auch  der  Hausarzt  be- 
stätigt, an  schweren  Migräneanfällen  mit  Schwindel,  Erbrechen,  Gefühle 
Ton  Betäubung  etc.  Zeitweise  dadurch  völlige  Arbeitsunfähigkeit.  In 
letzter  Zeit  Zunahme  des  Schwindels,  so  dass  Frau  S.  genöthigt  war^ 
sich  festzuhalten  und  an  einem  Stocke  zu  gehen.  Während  der  Menses 
Steigerung  der  nervösen  Erregbarkeit,  Empfindlichkeit  gegen  Geräusche. 

Hierzu  traten  besonders  während  der  letzten  Jahre  eine  auffallende 
geistige  Verstimmung,  eine  gemüthliche  Depression,  die  oft  länger  an- 
hielt, ohne  dass  äussere  Veranlassung  dazu  vorhanden  gewesen  wäre. 
Dazu  ein  Gefühl  der  Unsicherheit,  schwimmender  Bewegungsempfindung, 
cutane  Hyperästhesieen,  Empfindung  von  Jucken  und  Brennen  auf  der 
Haut,  krankhafte  lästige  Empfindungen  von  Hitze,  Congestivzustände 
(besonders  im  Kopf).  Erhebliche  Schlafstörungen,  schwere  Träume,, 
hypnogogische  Hallucinationen  mit  dem  Character  der  Verfolgung.  So 
glaubt  die  Angeklagte  z.  B.,  dass  sich  Jemand  in  ihr  Schlafzimmer 
eingeschlichen  habe.  Sie  will  sogar  wachend  Gesichtshallucinationen 
gehabt  haben. 

Herzklopfen,  Angst,  Beklemmung.  In  letzter  Zeit  Zunahme  der 
melancholischen  Verstimmung.  Sie  ist  zerstreut,  vergesslich,  wie  der 
Hausarzt  auch  bestätigt,  ihre  Aufinerksamkeit  leidet  Man  darf  also 
mit  Becht  annehmen,  dass  in  Folge  nervöser  Anlage  und   schwerer 


336  ^-  Schrenck-Notzing. 

Erkrankungen   die    psychische    Widerstandsfähigkeit   seit 
Eintritt  der  Wechseljahre  erheblich  herabgesetzt  ist. 

Dafür  sprechen  sowohl  die  anamnestischeu  Angaben,  wie  auch  der 
gegenwärtige  Befund  der  Untersuchung. 

Frau  S.  macht  auf  mich  den  Eindruck  einer  Hysteropathie, 
d.  h.  einer  Person,  die  im  Sinne  der  Hysterie  mit  ihrem  Nerrensystem 
auf  Schädlichkeiten  reagirt.  Diese  Art  der  Reactin  ist  ja  auch  bei 
weiblichen  Unterleibsstörungen  eine  ungemein  häufige  nervöse  Er- 
krankungsform. 

In  Bezug  auf  ihren  Character  war  Frau  S.  eine  aufgeweckte,  geistig 
regsame  Frau,  tüchtig  in  ihrem  Geschäft,  im  Haushalt,  eine  fürsorgliche 
Mutter  und  Gattin.  Sie  zeigte  zeitweise  grosse  Energie  und  Selbst- 
überwindung. Andererseits  war  sie  ebenso  heftig,  aufbrausend  und  zu 
Affecten  geneigt,  wie  sie  gutmüthig  und  mitleidig  sein  konnte.  So 
liess  sie  sich  hinreissen  zu  Thätlichkeiten  gegen  ihre  Kinder;  —  aber 
während  der  Krankheit  war  sie  ihnen  die  hingehendste  aufopferndste 
Pflegerin.  So  half  sie  der  Frau  Koch  in  der  Noth  mit  2000  Mark, 
ohne  sie  je  an  ihre  Schuld  zu  mahnen. 

Wie  die  meisten  Hysterischen,  war  auch  sie  dem  Stimmungswechsel 
sehr  unterworfen ;  unmotivirte  Lustigkeit  wechselte  mit  Auffallen  trau- 
riger Stimmung.  Wenn  in  letzter  Zeit  die  depressive  Verstimmung 
die  Oberhand  behielt,  so  war  wohl  daran  das  häusliche  Unglück  mit 
Schuld.  Femer  sind  weitere  characteristische  Züge  ihres  Characters: 
Impulsives  Verhalten,  überschwängliche  Phantasiethätigkeit,  Putzsucht, 
Coquetterie.     „Kleider,**  sagte  sie  mir,  „sind  meine  einzige  Freude." 

*  Wie  sie  selbst  zugiebt,  ist  sie  auch  durchaus  nicht  frei  von  hyste- 
rischer Lügenhaftigkeit.  Neben  der  gesteigerten  Einbildungskraft,  einer 
grossen  Lebendigkeit  psyschischer  Vorgänge  bestehen  völlige  Urtheils- 
losigkeit,  Mangel  an  Kritik,  Geschwätzigkeit  und  Rührseligkeit. 

Hysterische  Personen  dieser  Art  sind  in  der  Regel  krankhaft 
suggestibel  und  werden  leicht  das  Opfer  irgend  welcher  äusseren  Ein- 
drücke, von  Verführungen  vollsinniger  Verbrecher  etc.  Ihr  Hemmungs- 
vermögen ist  eben  geschwächt.  So  können  ihre  Einbildungen  auch 
das  ganze  Denken  und  Handeln  beherrschen  und  sind  stärker  als  alle 
Gegen vorstellimgen  und  sittlichen  Grundsätze.  Ohne  erkennbare  Beweg- 
gründe gelangen  solche  Kranke  zu  monströsen,  läppischeu,  ja  auch  zu 
criminellen  Handlungen.  Es  fehlt  ihnen  die  verstandesmässige  Ver- 
arbeitung der  Lebenserfahrungen.  Plötzliche  Gefühlswirkungen  können 
maassgebend  sein.   Mitunter  zeigt  sich  auch  bei  ihnen  ein  träumerisches 


338  ^*  Schrenck-Notzing. 

nerTÖsen  und  psychischen  Widerstandsunfähigkeit  im 
Sinne  der  Hysterie  inFolge  einer  offenbar  auf  erblicher 
Anlage  beruhenden  neuropathischen  Disposition,  sowie 
in  Folge  zahlreicher  schwerer  ünterleibsleiden  und  des 
seit  IV9  Jahren  eingetretenen  Klimakteriums. 

Mit  dieser  Feststellung  ist  aber  die  Frage  der  Zurechnungsfahigkeit 
Ton  Frau  Sauter  noch  nicht  genügend  beantwortet;  vielmehr  erscheint 
dazu  die  Prüfung  des  vorliegenden  Sachverhaltes  sowie  eine  Würdigung 
der  Einwirkungen  nothwendig,  welche  abergläubische  Ceremonien  und 
Handlungen  auf  ungebildete  und  geistig  widerstandsunfähige  Menschen 
auszuüben  vermögen. 

Das  gemeingefährliche  Treiben  der  Somnambulen  wurde  eingehend 
studirt  von  Gilles  de  laTourette.  Nach  seinen  Mittheilungen  be- 
stehen in  Paris  500  Somnambulencabinets  mit  40000  Anhängern 
(d.  h.  im  Jahre  1888).  Dieselben  verfügen  über  20  Specialzeitschriftra 
und  haben  die  Ausbeutung  der  Gläubigen  vollkommen  organisirt.  So 
giebt  es  in  Paris  Ober-,  Unter-Somnambulen ;  somnambules  de  naissance 
de  Premier  ordre,  Specialisten  für  Schatzausgrabungen  (bei  Yorher- 
bezahlung  von  1000  frcs.),  für  verlorene  Gegenstände,  Karten- 
schlägerinnen  für  Liebes-  und  Reiseangelegenheiten,  Sybillen  für  £S- 
weiss  und  Kafifeetropfen,  für  Bleigiessen,  von  denen  eine  in  7  Monaten 
22000  frcs.  verdient  hatte.  Auf  das  Treiben  in  den  Kliniken  für  an- 
gewandten Magnetismus  brauche  ich  an  dieser  Stelle  nicht  einzugehen, 
da  in  Frankreich  die  strenge  Durchführung  des  Kurpfuschereiverbots 
bereits  diesen  "gemeingefährlichen  Bestrebungen  ein  Ende  gemacht  hat 

Die  in  der  heutigen  Hauptverhandlung  aufgedeckte  Thätigkeit  der 
Frau  Gänzbauer  in  München  deckt  sich  ganz  mit  ihren  Pariser  Vor- 
bildern. Auch  sie  zeigt  dieselbe  staunenerregende  Sicherheit  in  der  Be- 
handlung ihrer  dienten,  auch  sie  verstand  es  Eindruck,  auf  die  An- 
geklagte zu  machen  und  deren  Privatverhältnisse  auszuspüren.  Diese 
Münchner  Pythia  wusste  ihr  harmloses,  bethörtes  Opfer  ganz  in  den 
Netzen  des  Aberglaubens  zu  verstricken  und  den  seelischen  Zustand 
desselben  für  ihre  Interessen  auszubeuten. 

Nun  ist  jedoch  Aberglauben  an  sich  keine  Greisteskrankheit,  kann 
also  auch  nicht  ohne  Weiteres  zur  Anwendung  von  §  51  des  Reichs- 
strafgesetzbuches führen.  Denn  den  abergläubischen  Handlungen  fehlt 
nicht  das  Merkmal,  dass  sie  bewusst  sind  und  bewusst  ausgeführt  werden. 
Dagegen  sind  abergläubische  Vorstellungen  Suggestionen  im  eminenten 
Sinn  des  Wortes«    Sie  können  wie  ein  Zwang  wirken,   alle  Gregenvw- 


Der  Fall  Sanier.  389 

Stellungen,  jede  psychische  Hemmung  aufheben  und  ein  Individuum  so 
vollkommen  beherrschen,  dass  Ehre,  Familie,  Vermögen,  kurz  Alles  den- 
selben geopfert  wird.  Das  Characteristische  crimineller  Handlungen 
durch  Aberglauben  ist  das  scheinbare  Fehlen  sonst  meist  aufzufindender 
Motive  fiir  die  Thäter.  So  kann  auch  der  völlig  geistig  Gesunde  aus 
abergläubischen  Vorstellungen  heraus  zu  Gesetzesverletzungen  gelangen« 
Natürlich  wird  der  geistig  Beschränkte,  Ungebildete  urtheils-  und 
characterschwache  Mensch  mit  verkümmerter  Moral  und  ohne  religiös^ 
Glauben  dem  verhängnissvollen  Zauber  solcher  abergläubischen  Vor- 
stellungen eher  verfallen,  als  eine  intelligente  gebildete  und  religiöse 
Persönlichkeit  mit  festen  Moralbegriffen.  Die  Unwissenheit  allein  ist 
also  noch  kein  hinreichender  Grund  für  Befreiung  von  Strafe. 

Das  gemeinsame  Motiv  für  abergläubische  Handlungen,  welches  vnr 
auch  bei  der  Frau  Sauter  antreffen,  ist  häufig  der  Wunsch  das  Be- 
streben, aus  einer  bestimmten  Situation  befreit  zu  werden;  diese 
Situation  kann  ein  seelischer  Zwang,  ein  Kunmier  sein;  sie  kann  aber 
ebensowohl  in  der  Nothlage  äusserer  Verhältnisse  (Armuth  u.  s.  w.) 
bestehen. 

Wenn  nun  schon  der  Aberglaube  auf  geistesgesunde  urtheilsschwahe 
Menschen  einen  verhängnissvollen  Einfluss  auszuüben  vermag,  so  ver- 
fallen ihm  Psychopathen  und  geistig  geschwächte  Individuen  um  so 
leichter.  Dieser  Umstand  fallt  mildernd  ins  Gewicht  bei  Beurtheilung 
der  Angeklagten,  die,  wie  ich  glaube,  im  Vollbesitz  ihrer  geistigen  Ge- 
sundheit wohl  kaum  in  dieser  Weise  das  Opfer  abergläubischer  Bräuche 
und  Ceremonien  geworden  wäre. 

Offenbar  suchte  die  Metzgersgattin  die  Somnambule  zunächst  aus 
purer  Neugier  auf;  dann  aber,  als  sie  einmal  gefangen  und  geködert 
war,  wirkten  diese  abergläubischen  Vorstellungen  wie  ein  psychischer 
Zwang,  aus  dem  sie  sich  nicht  mehr  losmachen  konnte,  auch  wenn  sie 
gewollt  hätte.  Sie  fühlte  sich,  wie  sie  selbst  sagt,  unfrei  wie  unter 
einem  suggestiven  Bann. 

Das  ganze  Verfahren  der  Frau  Gänzbauer  war  auch  danach  an- 
gethan,  die  Einbildungskraft  der  hysterischen  Patientin  zu  erhitzen. 
Ich  erinnere  nur  an  die  Turteltauben,  die  weissen  Mäuse,  die  Lichter 
und  den  sonstigen  Hocus-Pocus  der  Hellseherin.  Genug,  die  Ange- 
klagte erblickte  in  der  Wahrsagerin  eine  Prophetin  mit  übernatürlichen 
Kräften,  der  Niemand,  auch  die  weltliche  Gerechtigkeit  nicht,  ^twas  an- 
haben könne.   Sie  glaubte  fest  daran,  dass  Frau  Gänzbauer  im  Stande  sei, 

einen  geheimniss vollen  Einfluss  auf  das  Schicksal  der  Menschen  aasxu- 

22* 


340  '^^  Schrenck-Notzing. 

üben.    Aus  diesem  blinden  Glauben  erklärt  sich  auch  ihre  naive  Bitte: 
„Bichten  Sie  es  doch,  dass  der  Schorchl  kommt.'' 

Wie  andere  psychisch  bekümmerte  Personen  ihren  Trost  in  reli- 
giösem Zuspruch  finden,  so  fand  sie  Erleichterung  in  der  Aussprache 
mit  Frau  Gänzbauer;  sie  folgte  darin  dem  inneren  Bedürfniss,  Trost 
zu  erhalten  und  Belehrung.  Schon  das  Unerlaubte  ihrer  ausserehelichen 
Beziehungen  und  der  Wunsch,  die  Liebe  ihres  Schauspielers  nicht  zu 
verlieren,  machten  ihr  die  Aussprache  mit  einem  Geistlichen  unmöglich. 
Sie  erwartete  also,  —  das  geht  aus  Allem  hervor  —  durch  Schicksals- 
fügungen Erleichterung  ihrer  Situation. 

Die  Schicksalsfügungen,  welche  Frau  Gänzbauer  hellsehend  voraus- 
sagen und  herbeiführen  zu  können  vorgab,  waren  natürlich  dem  Fall, 
d.  h.  den  Wünschen  der  Clientin  angemessen ;  sie  konnten  also  nur 
bestehen  in  einem  Verschwinden  der  unbequemen  Personen  von  der 
Bildfläche.  Diese  Lösung  sollte  entsprechend  der  Voraussage  in  harm- 
loser Weise  durch  eine  natürliche  Todesart  (Schlaganfall,  Krankheit  etc.) 
erfolgen.  Nun  war  die  einzige  Person,  welche  das  hauptsächlichste 
Hindemiss  für  die  verliebte  Ehefrau  darstellte,  deren  Gatte,  der  Metzger- 
meister Sauter.  Die  schon  beim  ersten  Besuch  aus  dem  tropfenden 
Eiweiss  imbestimmt  prophezeiten  Sterbefalle  in  der  Familie  Sauter 
nahmen  später  eine  concreto  Gestalt  an.  Die  Hoffnung,  dass  sie  durch 
seinen  Tod  aus  ihrer  Situation  erlöst  werde  und  zwar  baldigst,  blieb 
ihr  einziger  Trost  Und  wurde  allmählich  in  Folge  ihrer  Urtheilsschwäche 
zu  einem  festen  unerschütterlichen  Glauben,  so  dass  sie  seinen  baldigen 
Tod  selbstverständlich  fand.  Schliesslich  sprach  sie,  wenn  man  den 
eidlichen  Depositionen  der  Prophetin  Glauben  schenken  darf,  ganz  un- 
verblümt von  dem  „Verrecken  des  Hundshäutemen''. 

Wie  und  ob  sich  nun  aus  diesen  Ideengängen,  welche  eine  Er- 
lösung aus  der  traurigen  Lage  durch  Todesfalle  in  Aussicht  stellten,  der 
Wunsch  entwickelte,  dem  Schicksal  ein  wenig  zu  Hülfe  zu  kommen,  das- 
selbe zu  beschleunigen  durch  Anwendung  magischer  und  sympathetischer 
Mittel,  das  nachträglich  aus  den  Gesprächen  der  zwei  Frauen  festzu- 
stellen und  somit  die  Schuldantheile  für  beide  genau  abzumessen, 
erscheint  besonders  mit  Hinblick  auf  die  Unzuverlässigkeit  und 
Frivolität  der  eidlich  deponirten  Mittheilungen  der  Gänzbauer  ganz  un- 
mögliclu 

Sicher  ist  aber,  dass  die  Wahrsagerin  die  Dummheit  der  Frau  Sauter 
systematisch  ausbeutete,    die  Angeklagte   durch    ihren  Hocus-Pocus 


348  ^*  Schrenck-Notzing. 

ihrer  Helferin  ging  sie  rahig  ihren  Tagesgeschäften  nach  und  auch  ein 
geübter  Psychologe  hätte  nichts  von  dem  fürchterlichen  Mordplan  be» 
merken  können,  den  sie  soeben  entworfen  hatte.  Die  Möglichkeit  Trost 
za  finden  und  die  Hoffiiung  auf  eine  baldige  Erlösung  waren  meines 
Erachtens  ihre  einzigen  Leitmotive,  die  sie  veranlassten,  jeden  auch 
den  widersinnigsten  Wunsch  ihrer  Herrin  zu  erfüllen. 

Nur  so  werden  ihre  scheinbar  sinnlosen  Handlungen  psychologisch 
begreiflich. 

Sie  war  von  Frau  G^zbauer  so  fascinirt,  dass  sie  in  dem  Zu- 
stande suggestiver  Abhängigkeit  deren  Ideen  zur  Ausführung  brachte. 

Trotzdem  aber  kann  Frau  Sauter  nicht  als  völlig  unzurechnungs- 
fähig im  Sinne  des  Gesetzes  angesehen  werden.  Denn  weder  bestand 
eine  sichtbare  Geisteserkrankung  noch  ein  ausgesprochener  Dämmer- 
znstand des  Bewusstseins.  Denn  io  den  Pausen  zwischen  den  einzebien 
Besuchen  der  Kartenschlägerin  machte  ihr  Verhalten  einen  ganz  ver* 
nünftigen  Eindruck.  Auch  wäre  eine  verstandesmässige  Verarbeitung 
der  Erlebnisse  bei  ihrer  Prophetin  nachträglich  wohl  möglich  gewesen. 
Sie  hat  aber  vielleicht  aus  innerer  Bequemlichkeit,  aus  Dummheit  oder 
aus  Liebesthorheit  diese  Correctur  nicht  angewendet,  —  die  anti- 
socialen Antriebe,  das  Resultat  ihrer  Verbindung  mit  der  G&izbau^ 
nicht  bekämpft.  Darin  liegt  die  Hauptschuld!  Wenn  ihr  das  Straf« 
barkeitsbewusstsein  wohl  fehlte  —  das  geht  aus  ihrem  ganzen  Ver- 
halten hervor  —  so  war  ihr  doch  die  Möglichkeit,  sich  für  Ausführung 
oder  Unterlassung  der  ihr  zur  Last  gelegten  Haudlungen  zu  entscheiden 
durch  die  allerdings  bestehende  krankhafte  Störung  der  Geistesthätigkeit 
nicht  völlig  abgeschnitten. 

Wohl  aber  erscheint  ihre  Zurechnungsfahigkeit  in  Folge  hystero- 
pathischer  psychischer  Schwäche  und  ihres  Klimakteriums  sowie  in 
Folge  der  suggestiven  Wirkung  abergläubischer  Vorstellungen  erheblich 
herabgemindert. 

Ob  nun  der  Grad  ihrer  aus  krankhaften  Ursachen  entstandenen 
Willenseinschränkung  genügend  ist,  um  sie  im  Sinne  des  Gesetzes 
willensunfrei  erscheinen  zu  lassen,  diese  Entscheidung  liegt  in  dem 
fireien  Ermessen  der  Herren  Geschworenen! 


Der  Fall  Sauter.  343 

IV. 
Schlags  der  Yerhandlimg. 

Nachträglich  wird  noch  als  Zeugin  die  Schneidermeisterin  Schilling  yernommen, 
die  nach  den  in  der  Verhandlung  gemachten  Angaben  der  Gänzbauer  ebenfalls 
für  die  Beseitigung  vorgemerkt  war.  Die  Zeugin  kann  gar  keine  bestimmten 
Angaben  nach  irgend  einer  Bichtung  hin  machen  und  kann  sich,  wie  die  meisten 
anderen  Zeugen,  nicht  erklären,  warum  sie  Yon  der  Sauter  aus  dem  Leben  ge- 
schafft werden  sollte.  Damit  wurde  die  Vernehmung  der  Zeugen  und  Sach» 
verständigen  geschlossen  und  es  werden  die  Fragen  zur  Verlesung  gebracht,  die 
den  Geschworenen  zui:  Beantwortung  vorgelegt  werden  sollen.  Die  erste  bezieht 
sich  auf  den  Mordversuch  an  dem  Manne  der  Angeklagten,  dem  Metzgermeister 
Anton  Sauter,  die  zweite  Frage  gilt  der  Anstiftung  zum  Mordversuche  an  den  auf 
der  Liste  stehenden  Personen. 

Nach  Wiederaufnahme  der  Sitzung  beginnt  der  Herr  Staatsanwalt  Dr. 
Schneider  das  Plaidoyer:  Meine  Herren  Geschworenen,  Sie  sind  berufen,  heute 
einem  Familiendrama  ein  Ende  zu  machen,  das  die  weitesten  Kreise  seit  einem 
halben  Jahre  in  Spannung  erhält.  Man  fragte  sich,  wie  ist  es  möglich,  dass  eine 
Frau,  die  bereits  25  Jahre  verheirathet  ist,  auf  den  Gedanken  kommen  konnte, 
ihren  Mann  und  ihre  Kinder  zu  ermorden,  nur  um  ihrer  Leidenschaft  zu  einem 
Schauspieler  fröhnen  zu  können.  Die  Frau  ist  auf  die  Kunde  von  ihrem  ver- 
brecherischen Vorhaben  hin  verhaftet  worden,  doch  sie  hat  noch  Andere  in  ihr 
Verderben  hineingezogen.  Ihr  Mann  hat  sich  von  ihr  scheiden  lassen,  die  Kinder 
sind  jetzt  mutterlos,  eine  andere  Frau,  die  ihrem  Liebesverhältniss  Vorschub  ge- 
leistet, ist  gestorben  aus  Gram  über  die  eigene  Schande  und  darüber,  dass  ihr  Kind  aus 
Scham  in  den  Tod  gegangen  war.^)  Doch  darum  handelt  es  sich  heute  nicht.  Sie 
haben  lediglich  über  die  Schuld  in  dem  heute  besprochenen  Verbrechen  zu  ent- 
scheiden. Bei  Betrachtung  der  Schuldfrage  wird  es  sich  hauptsächlich  darum 
handeln,  ob  sie  annehmen,  dass  bei  der  Angeklagten  vollständige  Unfähigkeit  zu 
freiwilliger  Selbstbestimmung  vorlag.  Sie  haben  das  Urtheil  der  Sachverständigen 
gehört,  sie  sind  daran  nicht  gebunden,  sondern  vollständig  frei.  Nur  ist  zu  be- 
merken, dass  geminderte  Zurechnungsfähigkeit  die  Schuld  nach  dem  Wortlaut  des 
Gesetzes  nicht  aufhebt,  sondern  nur  das  Strafmaass,  das  die  Richter  bestimmen, 
beeinflusst.  Die  Herren  Sachverständigen  haben  übereinstimmend  ausgesagt,  dass 
sie  eine  vollständige  Bewusstlosigkeit  im  Sinne  des  Paragraphen  51  für  nicht  ge- 
geben erachten.  Ich  selbst  habe  die  Angeklagte  besucht  und  die  gleiche  Wahr- 
nehmung gemacht,  und  auch  das  Verhalten  der  Angeklagten  in  der  heutigen 
Hauptverhandlung  ist  ein  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Annahme.  Eine  andere 
Frage  ist  es,  ob  nicht  die  Angeklagte  gewissen  verbrecherischen  Anwandlungen 
und  Einflüssen  besonders  stark  zugänglich  gewesen.  Das  ist  aber  bei  dem  vor- 
liegenden Falle  nicht  unbedingt  anzunehmen.  Was  blieb  der  Frau  Sauter,  wenn 
sie  doch  den  Schauspieler  heirathen  wollte,  anders  übrig,  als  ihren  Mann  zu  be- 
seitigen?   Auch  die  Beseitigung  der  für  eine  neue  Ehe  hinderlichen  Kinder  und 


*)  Dieser  Doppelselbstmord  betriff't  eine  mit  Frau  Sauter  befreundete  Wittwe 
and  deren  Tochter.  Die  Genannte  hatte  der  Sauter  für  ihre  Zusammenkünfte  ein 
Zimmer  vermiethet  und  war  wegen  „Kuppelei^  bestraft  worden. 


344  ^-  Schrenck-Notzing. 

ebenso  der  Dienstboten,  die  ihren  Lebenswandel  kannten,  mosste  ihr  erwünscht 
gewesen  sein.  Auch  die  Aengstlichkeit  bei  Au&tellang  der  bewnssten  Liste  ist 
ein  Beweis  dafor,  dass  die  Angeklagte  sich  ihrer  Verbrechen  bewusst  war. 

Anschliessend  recapitulirt  der  Staatsanwalt  den  Hergang  der  AfTaire  noch 
noch  einmal  kurz  und  föhrt  dann  fort:  Es  steht  sicher  fest,  dass  die  Angeklagte 
ihren  Mann  beseitigen  wollte  und  dass  sie  ihm  das  Pulver  in  der  Absicht  in  die 
Socken  streute,  ihn  damit  zu  yergiften.  Dass  das  Pulver  die  gewünschte  Wirkang 
nicht  ausübte,  lag  nicht  in  der  Bestimmung  der  Angeklagten.  Es  handelt  sich 
hier  also  um  einen  Mordversuch  mit  untauglichen  Mitteln.  Das  Strafgesetzbuch 
stellt  die  Auffassung  dieses  Falles  dem  jeweiligen  Gerichte  anheim.  Doch  steht 
das  Reichsgericht  auf  dem  Standpunkte,  dass  man  nicht  den  Erfolg,  sondern  die 
Absicht  strafen  müsse  und  bestraft  also  auch  den  Mordversuch  mit  untauglichen 
Mitteln.  In  dem  vorliegenden  Falle  ut  die  verbrecherische  Absicht  ganz  offenbar. 
Dazu  kann  man  nicht  einmal  behaupten,  dass  das  Pulver  wirklich  ganz  unschädlich 
war.  Durch  Aussage  eines  Sachverständigen  ist  festgestellt,  dass  das  Pulver,  wenn 
•s  mit  offenen  Wunden  in  Berührung  kommt,  sehr  wohl  schlimme  Wirkungen 
hervorrufen  kann.  Was  die  üebrigen  anlangt,  die  die  Angeklagte  hat  umbringen 
wollen,  so  ist  allerdings  bei  der  oder  jener  möglich,  dass  die  Gänzbauer  sie  be- 
stimmt hat,  sie  auf  die  Liste  zu  setzen.  Bei  den  Kindern  aber  und  den  Dienst" 
boten  ist  es  nicht  geboten,  dies  anzunehmen.  Ferner  ist  auch  durch  die  Angaben 
der  beiden  PoUzeicommissäre  bewiesen,  dass  sie  mit  ruhiger  Ueberlegung  gehandelt 
hat.    Diese  Punkte  werden  Ihnen  genügen,  dass  Sie  die  Schuldfrage  bejahen. 

Um  8V4  Uhr  Abends  ergriff  unter  allgemeiner  Spannung  der  Vertheidiger 
B.-A.  Bernstein  das  Wort,  der  in  wirklich  klarer  und  logisch  scharfer  Weise  dar- 
legte, dass  die  Sauter  unmöglich  die  That  verübt  haben  konnte,  oder  wenn  ja, 
nicht  ins  Zuchthaus,  sondern  ins  Irrenhaus  gehöre.  Redner  führte  u.  A.  aus: 
Als  mich  Frau  Sauter  ersuchen  Hess,  ihre  Vertheidigung  zu  übernehmen  und  sie 
besuchte,  glaubte  ich  einer  ausserordentlich  interessanten  und  grossen  Verbrecherin 
gegenüberzutreten.  Ich  glaubte  das,  weil  ich  nichts  Anderes  wusste,  als  was 
Tausendc  und  Tausende  von  der  Sauter  wussten.  Wenn  ich  damals  gewusst  hätte, 
was  ich  jetzt  weiss,  und  wenn  die  öffentliche  Meinung  das  gewusst  hätte,  was  sie 
jetzt  weiss,  dann  hätten  ich  und  Letztere  das  grosse  Interesse  an  der  Sache  nicht 
gehabt.  Man  hätte  die  Ansicht  bekommen,  dass  eine  dumme  Person  zu  unüber- 
legten Schritten  verleitet  worden  ist.  Als  ich  mit  ihr  mehrmals  conferirt  und  die 
Acten  eingesehen  hatte,  verwandelte  sich  mir  das  Bild  vollständig  und  heute  ist 
sie  für  mich  aus  einer  Verbrecherin  zu  einer  Unglücklichen  geworden.  Die  RoUe 
der  Frau  Gänzbauer  dagegen,  die  Anfangs  nur  als  die  loyale  Person  erschien,  die 
durch  ihre  Anzeige  furchtbare  Verbrechen  verhindert,  erschien  heute  in  einem 
ganz  anderen  Lichte.  Redner  widerlegt  nun  den  Staatsanwalt  dahin,  dass,  wenn 
derselbe  die  traurigen  Folgen  der  That  der  Frau  Sauter  zugeschoben  hat,  dieselbe 
an  dem  traurigen  Geschick  der  Frau  Sauer  und  Tochter  völlig  unschuldig  sei. 
Sie  war  lediglich  bei  einer  Wahrsagerin  und  ist  mit  einem  Schauspieler  gegangen. 
Hätte  Herr  Sauter  gewusst,  wie  sich  die  Sache  in  Wirklichkeit  verhält  und  nicht, 
wie  sie  in  der  Zeitung  dargestellt  war,  würde  der  Mann  heute  seelisch  anders  zu 
seiner  Frau  stehen  und  die  Kinder  würden  ebenfalls  anders  von  ihrer  Mutter 
denken.  Die  Frau  Sauter  habe  doch  jedenfalls  einen  viel  glaubwürdigeren  Ein- 
druck gemacht  als  die  Gänzbauer.    Sie  hat  von  allem  Anfang  an  aus  ihrem  Thun 


Der  FaU  Saater.  345 

kein  Hehl  gemacht.  Sie  hat  gesagt,  es  wäre  mir  nicht  unlieb  gewesen,  wenn  ihr 
Mann  gestorben  wäre,  aber  bei  Seite  schaffen  wollte  ich  ihn  nicht.  Der  Herr 
Staatsanwalt  wusste  nicht  ein  einziges  glaubhaftes  und  wahrscheinliches  Motiv  für 
die  That  anzugeben.  Der  Herr  Staatsanwalt  sagte,  wer  10  Menschen  umbringen 
will,  ist  ein  grosser  Verbrecher,  und  ich  sage,  wer  10  Menschen  tödtet  ohne  Grund 
dazu,  ist  Terrückt.  Was  die  Gänzbauer  als  Motiv  angegeben  hat,  ist  Unsinn. 
Eine  Frau,  die  so  freundschaftlich  mit  den  Leuten  verkehrt  wie  die  Sauter,  tödtet 
dieselben  nicht.  Selbst  wenn  die  Sauter  die  Strafliste  der  Gänzbauer  hätte,  wäre 
es  eine  Ungeheuerlichkeit,  ihr  die  beabsichtigte  Tödtung  von  so  viel  Menschen 
in  die  Schuhe  zu  schieben.  Massenmorde  sind  selten,  aber  Massenmorde  ohne 
Grund  giebt  es  nicht.  Um  ihren  „Schorsch^  ganz  zu  besitzen,  brauchte  sie  ja 
nur  die  Ehescheidungsklage,  nicht  aber  das  Zuchthaus  zu  riskiren.  Dabei  wird 
der  Frau  ein  glänzendes  Zeugniss  ausgestellt.  Eine  solche  Frau  verwandelt  sich 
nicht  über  Nacht  in  eine  zehnfache  Mörderin.  Das  ist  einfach  nicht  möglich,  denn 
auch  der  einfache  Mörder  hat  einen  viel  weiteren  Weg  zu  seinem  schauerlichen 
Ziel,  aber  die  Mutterliebe  opfert  nicht  so  schnell  ihre  Kinder.  Redner  fertigt 
nun  an  der  Hand  der  Strafliste  die  Zeugin  Gänzbauer  tüchtig  ab,  legte  dar,  dass 
sie  die  Unwahrheit  gesagt  habe,  da  das,  was  sie  gesagt,  nicht  wahr  sein  könne 
und  führte  dann  aus,  dass  der  Gänzbauer  für  diese  Geschichte  der  Platz  der 
Sauter  gehören  würde.  Sie  war  die  Unheilstifterin,  der  böse  Dämon,  der  das  ganze 
Unglück  heraufbeschworen.  Redner  befasst  sich  nun  eingehend  mit  der  Frage  der 
Strafbarkeit  des  sogenannten  ungeeigneten  Versuches,  über  die  sich  die  Wissen- 
schaft noch  nicht  einig  sei  und  schliesst:  Was  die  Frau  Sauter  gethan,  ist  kein 
Verbrechen,  sondern  eine  Dummheit,  die  ist  aber  nicht  strafbar.  Wenn  sie  gegen 
die  moralischen  Gesetze  verfehlt  hat,  so  ist  sie  schwer  genug  dafür  bestraft  worden« 

Nach  kurzer  Replik  wurde  das  Urtheil  gesprochen. 

Um  10  Uhr  Abends  zogen  sich  die  Geschworenen  zur  Berathung  zurück. 
Deren  Obmann  (Brauereidirector  Pollich)  konnte  schon  nach  einviertelstündiger 
Berathung  unter  athemloser  Spannung  den  Wahrspruch  verkünden,  durch  den 
beide  Schuldfragen  verneint  wurden.  Die  Angeklagte  weinte  und  schrie  bei 
Verkündigung  des  Wahrspruches,  der  sie  völlig  fassungslos  machte,  während  er  vom 
Auditorium  —  ein  Zeichen  des  Umschwungs  der  Stimmung  —  mit  leisem  Beifall 
aufgenommen  wurde.  Es  bedurfte  eindringlichen  Zuredens  des  Vertheidigers  und 
Staatsanwaltes,  um  sie  so  weit  zu  beruhigen,  dass  sie  das  Urtheil  anhören  konnte. 
Der  Gedanke  an  ihre  ruinirte  Existenz,  an  ihr  zerstörtes  Familienleben  Hess  sie 
immer  wieder  in  neue  Thränen  ausbrechen.  Das  Abends  halb  11  Uhr  verkündete 
Urtheil  lautete  unter  Aufhebung  des  Haftbefehls  auf  Freisprechung. 


V. 
Crimlnal'psychologische  Bemerkmigeii  zum  Fall  Sauter. 

Der  in  der  vorstehenden  Darlegung  geschilderte  Fall  Sauter  ist  in 
mehrfacher  Beziehung  psychologisch  und  forensisch  von  hohem  Interesse. 
Er  beweist  von  neuem,  dass  der  suggerirte  Verbrecher  oder  der  unter 


346  ^-  Schrenck-NoUing. 

fremdem  Einäoss  handelnde  psychisch  Minderwerthige  resp.  Gteistes- 
kranke  kein  so  seltener  Typus  ist,  als  man  annehmen  könnte.  Wahrend 
im  Jahre  1896  das  oberbayrische  Schwurgericht  im  Falle  Czynski  zimi 
ersten  Mal  in  Deutschland  über  ein  mit  Hülfe  von  Suggestion  ausge- 
führtes Verbrechen  Recht  zu  sprechen  hatte,  führte  der  berühmte  vom 
1. — 14.  October  1896  dauernde  Frocess  Berchtold  eine  Anzahl  suggerirter 
Zeugen  vor  die  Münchner  Geschworenen,  —  und  wenige  Jahre  später, 
am  2.  October  1899,  erfolgte  ebenfalls  durch  das  oberbayrische  Schwur- 
gericht in  München  die  erste  Freisprechung  einer  Ange- 
klagten, die  unter  dem  suggestiven  Einfluss  einer  anderen 
Person  das  Strafgesetz  verletzt  hatte.    (Fall  Sauter.) 

Diese  neue  Thatsache  wird  gewiss  zu  einer  besseren  Würdigung  und 
Erkenntniss  der  strafrechtlichen  Bedeutung  der  Suggestion  von  Seiten 
der  gesetzgebenden  Factoren  und  der  Sicherheitsorgane  beitragen. 

Die  bisher  erschienene  Literatur  über  Suggestion  in  Beziehung  zum 
Strafrecht  beschäftigt  sich  meines  Erachtens  zu  sehr  mit  dem  soge- 
nannten hypnotischen  Verbrechen,  d.  h.  sie  berücksichtigt  einseitig  den 
strafrechtlichen  Missbrauch  eines  ad  hoc  hypnotisirten  Menschen.  Die 
Oerichtspraxis  zeigt  nun  aber,  wie  ausserordentlich  selten  dieser  Fall 
eintritt,  und  andererseits  liefert  die  Kenntniss  der  hypnotischen  Er- 
scheinungen dem  Fachmann  ziemlich  zuverlässige  Hülfsmittel  zur 
Aufdeckung  solcher  bisher  mehr  im  Laboratorium  als  im  Leben  ausge- 
führter hypnotischer  und  posthypnotischer  Verbrechen. 

Dagegen  scheint  die  criminelle  Suggestion  im  wachen  Zustande, 
ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  mit  dem  Bewusstsein  des  Zweckes  oder 
in  Form  einfacher  Verführung  geübt  wurde,  eingehendere  Aufmerk- 
samkeit und  Berücksichtignng  zu  erheischen  bei  den  Psychologen  und 
Juristen,  als  ihr  bisher  zu  Theil  geworden  ist.  Man  kann  , William 
Hirsch*  darin  vollkommen  beistimmen ,  dass  die  hypnotische  resp. 
suggestive  Zwangshandlung  eines  geistesgesunden  Menschen,  soweit  sie 
Gesetzesverletzungen  zum  Gegenstand  hat,  jedenfalls  zu  den  grössten 
Seltenheiten  gehört.  Und  in  der  That  handelte  es  sich,  wenn  man  die 
bekannt  gewordene  forensische  Kasuistik  auf  diesem  Gebiete  durch- 
blättert und  den  sexuellen  Missbrauch  in  Narkose,  Schlaf  oder  schlaf- 
artigen Zuständen  bei  Seite  lässt,  bei  den  suggerirten  Verbrechern  fast 
niemals  um  geistig  ganz  intacte  Personen.  Die  Möglichkeit,  Willens- 
äusserungen eines  Menschen  zu  beeinflussen,  hängt  ab  von  der  indivi- 
duellen Widerstandsfähigkeit;  die  schwierige  Aufgabe  der  Sachver- 
ständigen bei  solchen  zweifelhaften  Fällen  der  Zurechnungsfahigkeit, 


Der  Fall  Sauter.  347 

wird  darin  bestehen,  den  Grad  der  Wehrlosigkeit  gegen  die  ausgeübten 
Einflüsse  möglichst  genau  festzustellen  und  nachzuweisen,  ob  und  in- 
wiefern krankhafte  Eaetoren  die  Willensthätigkeit  herabgesetzt  haben. 
Da  es  aber  weder  für  die  strafrechtliche  Zurechnungsfähigkeit  noch 
für  den  Typus  der  geistigen  Abweichungen  der  von  der  Norm,  d.  h. 
denjenigen  des  ,,geistig  krankhaften^  eine  absolute  Grenze  giebt,  so  kann 
die  Yon  dem  Sachverständigen  verlangte  Abwägung  solcher  Impon- 
derabilien grosse  Schwierigkeiten  bereiten  und  zu  den  spitzfindstigen 
Discussionen  führen.  Ja  die  Beantwortung  solcher  Fragen  hängt  nicht 
zum  mindesten  von  den  individuellen,  Anschauungen  des  Gerichtshofes, 
der  Intelligenz  der  Geschworenen  und  den  subjectiven  Anschauungen 
der  Sachverständigen  ab.  Was  der  eine  Gutachter  als  angeborene  oder 
erworbene  geistige  Beschränktheit,  als  leichten  Schwachsinn  in  das  Ge- 
biet des  Krankhaften  verweist,  erscheint  vielleicht  dem  anderen  als  ein 
auch  innerhalb  normaler  Grenzen  vorkommender  Mangel  an  Begabung ! 
Leichter  zu  beurtheilen  sind  Fälle,  wo  das  Nervensystem  nachweisbar 
durch  traumatische  Ursachen,  Vergiftung  (Alcohol,  Morphium  etc.) 
oder  durch  bestimmte  Erkrankungen  (Hysterie,  Neurasthenie,  Epilepsie) 
gelitten  hat.  Für  Personen  mit  Zuständen,  die  nicht  zur  Annahme 
des  vollen  Ausschlusses  der  freien  Willensbestimmung  aus  krankhafter 
Störung  der  Geistesthätigkeit  berechtigen,  also  in  ihrer  freien  Willens- 
thätigkeit lediglich  gehemmt  erscheinen,  hat  man  mit  Kecht  den  Aus- 
druck der  „verminderten  Zurechnungsfähigkeit"  neuerdings 
vielfach  angewendet. 

Psychische  Abweichungen  dieser  Art  kommen  nun,  wie  Kirn  ^)  ge- 
zeigt hat,  auch  unter  dem  Einfluss  der  Menstruation,  der  Pubertät, 
der  Gravidität  und  des  Klimakteriums  zu  Stande ;  ferner  gehören  dazu 
die  noch  unbestimmbaren  Anfangszustände  vieler  sich  laugsam  ent- 
wickelnder Seelenstörungen. 

Ganz  besonders  wichtig  für  die  Frage  der  Suggerirung  von  Ver* 
brechen  sind  die  Characterveränderungen  durch  Hysterie,  angefangen 
von  den  leichtesten  Symptomen,  dem  einfachen  „hysterischen  Temperament'^ 
bis  zur  ausgesprochenen  Psychose;  allerdings  beruht  nach  der  An- 
schauung von  Wellenberg^)  das,  was  man  hysterischen  Character  be- 
zeichnet, in  den  Zügen,   die  besonders  leicht  zum  Verbrechen  führen, 

^)  Kirn,  lieber  geminderte  Zurechnungsfähigkeit.  Viert eljahresschr.  für 
gerichtl.  Medicin.    3.  Folge.    Band  XVI,  Heft  2. 

')  Wollenberg,  Die  Grenzen  der  strafrechtlichen  Zurechnungsfähigkeit  bei 
psychischen  Krai^kheitszuständen.    Zeitschr.  für  Psychiatrie.    1899.    £d«  66  Heft  4. 


348  ^-  Scbrenck-Notziiig. 

nicht  anf  Hysterie,  sondern  auf  einer  allgemeinen  psychopathischen 
Degeneration.  Auf  die  weitgehende  Aehnlichkeit  gewisser  nicht  leicht 
erkennbarer  und  ins  Normale  hereinragender  traumartiger  Zustande 
der  Hysterie  und  der  Posthypnose  ist  wiederholt  von  Freud,  Wollenberg 
u.  a.  aufmerksam  gemacht.  Sicherlich  bietet  das  Vorherrschen  des  Phan- 
tasie- und  Gefühlslebens  über  das  Verstandesmässige,  die  abnorm  leichte 
Auslösung  von  Geföhlsreactionen,  die  Neigung  zur  Dissociation  einen 
besonders  günstigen  Angriffspunkt  für  Suggestionen  und  Autosu^estionen 
(Monoideismus). 

Der  Nachweis,  „hysterischer  Stigmata^  oder  von  „Krampfanfallen^ 
kann  in  gewissen  Fällen  unmöglich  sein,  hat  also  für  die  G-erichts- 
praxis  keine  erhebliche  Bedeutung.  ^)  Dagegen  ist  das  Handeln  Hyste- 
rischer, worin  ich  Delbrück  beistimme,  oft  riel  krankhafter,  als  es  aut 
den  ersten  Blick  erscheint,  inwieweit  jedoch  die  Zurechnungsfälligkeit 
beeinträchtigt  wird  durch  die  Hysterie,  lässt  sich  nur  nach  Maassgabe 
des  Gesammtbildes  beurtheilen. 

Je  normaler,  gesunder,  moralisch  widerstandsfähiger  eine  Person 
ist,  um  so  weniger  wird  sie  Gefahr  laufen,  das  Opfer  einer  criminellen 
Suggestion  zu  werden,  —  je  energieloser,  sittlich  defecter,  psychisch 
schwächer  sich  ein  Mensch  zeigt,  um  so  leichter  wird  er  der  Ver- 
führung erliegen,  die  in  Form  einer  Suggestion  auf  ihn  ausgeübt  werden 
kann.  Aus  diesem  Grunde  laufen  solche  Individuen  am  meisten  Gefahr, 
suggerirte  Opfer  eines  vollsinnigen  Verbrechers  zu  werden,  bei  denen 
die  Fähigkeit,  ihren  Willen  durch  sittliche  Vorstellungen  bestimmen  zu 
lassen,  also  Gegenvorstellungen  zu  bilden,  in  Folge  krankhafter  Vor- 
gänge oder  von  Entwicklungsmängeln  beeinträchtigt  oder  aufgehoben 
ist.  Der  Grad  dieser  Beeinträchtigung  kann  verschieden  stark  sein 
und  wird  das  Kriterium  abgeben  für  die  Annahme  voller  Willensfreiheit, 
resp.  der  verminderten  oder  aufgehobenen  Zurechnungsfähigkeit.  In 
dieser  Thatsache  liegt  auch  der  Grund,  warum  es  sich  in  der  Mehr- 
zahl der  in  der  Literatur  bekannt  gewordenen  Fälle  suggerirter  Ver- 
brechen um  psychopathische,  hysterische  oder  schwachsinnige  Naturen 
handelte. 

So  war  Gabriele  Bompard,  das  Instrument  des  Mörders 
Eyraud,  eine  moralisch  defecte  hysterische  Person,  die  Baronesse 
Zedlitz,  das  Opfer  der  sexuellen  Gelüste  der  Czynski,  eine  psychisch 
schwach  begabte,   erblich  stark  belastete   Dame,  Frau  von  Porta, 


*)  Delbrück,  Gerichtliche  Psychopathologie.    Leipzig  1897,  S.  165. 


360  ^«  SchreDck-Notsing. 

den  yenteckien  Detektifs  ihrem  Opfer  den  Mordplan  so  zn  sagen  in 
Feder  dictirte  und  die  ganze  Unterhaitang  in  diesem  Sinne  nach 
mit  den  Polizeiorganen  vereinbarten  Gesichtspunkten  leitete.  Bei  der 
Unmöglichkeit  des  Nachweises  der  Terbrecherischen  Absicht  kann  der 
Gerichtshof  durch  Verhältnisse  dieser  Art  in  die  Lage  kommen,  weder 
den  Urheber  noch  den  Thäter  bestrafen  zu  können. 

Nur  die  ausserordentliche  psychologische  Schwierigkeit  und  Selten- 
heit dieses  Falles  lässt  die  vollkommene  Irreleitung  der  Polizei  e^ 
klärlich  erscheinen.  Allerdings  wäre  es  wohl  die  Pflicht  der  Behörden 
gewesen,  sich  über  das  Vorleben  der  Denunziantin  und  die  Gesundheit 
der  Angeklagten  zu  vergewissem,  bevor  man  eine  so  furchtbare  An- 
klage, wie  die  des  Mordes  erhob!  Dass  diese  wichtige  Aufgabe  von  der 
Verteidigung  erst  gelöst  werden  musste,  dass  man  die  Liste  dar 
81  fachen  Vorbestrafung  der  Eartenschlägerin  wegen  schwerer  Gesetzes- 
verletzungen erst  wenige  Tage  vor  der  Hauptverhandlung  nach  einer 
mehrmonatlichen  Untersuchungshaft  der  Angeklagten  beibrachte,  dass 
man  ohne  Weiteres  auf  Grund  einer  einzigen  Zeugin,  die  von  der  Aus- 
beutung abergläubischer  Schwindeleien  lebte,  zur  Verhaftung  der  bisher 
nicht  vorbestraften  Angeklagten  schritt,  das  sind  unverantwortliche 
MissgrifTe  der  Münchner  Behörden,  die  das  Vertrauen  der  Bevölkerung 
zu  den  Sicherheitsorganen  nicht  zu  steigern  im  Stande  sind.  Ebenso- 
wenig kann  die  ganze  Art  und  Weise,  wie  mit  Hülfe  der  übel  be- 
leumundeten Wahrsagerin  die  Aufdeckung  des  Kapitalverbrechens 
inscenirt  wurde,  Billigung  finden.  Mit  folgendrai  treffenden  Sätzen 
recapitulirt  die  Münchner  freie  Presse  (Nr.  226,  1899)  das  Ergebniss 
des  Processes: 

„Dummheit  und  Aberglauben  in  Verbindung  mit  schweren  mora- 
lischen Defecten  haben  eine  Frau  ins  Unglück  gestürzt  und  sie  zur 
Verbrecherin  gestempelt.  Hochgradige  sittliche  Verkonmienheit  und 
verbrecherische  Verschlagenheit  haben  die  Aermste  ins  Verderben 
hineingeführt,  und  eine  ihre  Aufgabe  völlig  verkennende  Polizei  hat 
Handlangerdienste  geleistet.  Statt  Verbrechen  zu  verhüten,  hat  sie 
Verbrechen,  wenigstens  im  Anfangsstadium  des  Versuchs,  constmiren 
helfen.  Wir  sind  überzeugt,  wenn  die  Polizeibehörde  die  Sauter  nach 
der  Denunciation  der  Gänzbauer  vorgeladen  und  ihr  ernstlich  ins  Ge- 
wissen geredet  hätte,  so  wäre  der  ganze  traurige  Process,  dieses  Denk- 
mal hochgradiger  Uncultur,  erspart  geblieben  und  hätte  weder  die  Ge- 
rechtigkeit noch  sonst  jemand  Schaden  genonmien.  Freilich:  Fiat 
Justitia!  ist  die  Devise  unserer  Staatsmoral,   mag  darüber  auch  die 


Der  FaU  Sauter.  351 

Welt  ZU  Grande  gehen.  Woran  es  der  Polizei  in  diesem  Falle  fehlte, 
das  ist  das  Yerständniss  für  die  Tragik  des  Lebens  und  für  die  Motive 
der  Schnld,  sowie,  last,  not  least,  der  Tact.^ 

Kanm  irgend  ein  Gebiet  menschlicher  Verirrongen  zeigt  einen  so 
günstigen  Boden  zur  Entfaltung  von  Suggestivwirkungen  als  der  Aber- 
glauben. Derselbe  stellt  sich  stets,  wie  von  Löwenstimm^)  tre£fend 
ausgeführt  wurde,  als  ein  Product  der  Unwissenheit  und  ünentwickeltheit 
ganzer  Volksklassen  dar  und  führt  gar  nicht  selten  zur  Yerttbung 
ausserordentlich  grausamer  Verbrechen.  Nach  Löwen  stimm  müssen 
Personen,  die  aus  abergläubischen  Lnpulsen  handeln,  einer  Strafe  unter- 
zogen werden,  weil  sie  vollkommen  bewusst  verfahren.  Trotz  des  be- 
stehenden gesetzlichen  Verbotes  der  Gaukelei,  Wahrsagerei  etc.  ist  auch 
heute  noch  sowohl  in  den  grösseren  Verkehrscentren,  wie  auch  auf  dem 
Lande  der  Aberglaube  in  verschiedenen  Formen  weit  verbreitet.  Das 
Weissagen  (alias  Hellsehen),  Kartenschlagen  erfreut  sich  heute  noch, 
wenigstens  in  München,  einer  fast  ebenso  grossen  Beliebtheit  und  einer 
ebenso  grossen  Verbreitung,  wie  die  gesetzlich  gestattete  Kurpfuscherei 
mit  Sympathiemitteln,  animalischem  Magnetismus  etc.  Selbst  in  der 
Weltanschauung  der  Gewohnheitsverbrecher  sind  abergläubische  Sitten 
häufig  anzutrefifen. 

Da  Verbrechen  aus  Aberglauben  durch  Furcht  vor  Strafe  nicht 
verhütet  Verden,  so  sind  eine  wissenschaftliche  Erforschung  des  Aber- 
glaubens, wie  sie  von  Lehmann,  Stell,  Grooss  u.  a.  bereits  durch  aus- 
gezeichnete Arbeiten  angel)ahnt  wurde,  neben  gesetzlich  vorbeugenden 
Maassregeln,  vor  allem  aber  eine  vernünftige  Erziehung  und  Volksauf- 
klärung wohl  als  die  wirksamsten  Mittel  zur  Bekämpfung  desselben 
anzusehen.  Kirche  und  Schule  können  in  diesen  Punkte  eine  ideale 
Aufgabe  erfüllen. 

Das  Suggestiymoment  im  Aberglauben  ist  ausführlich  vonStolP) 
gewürdigt  und  neuerdings  auch  von  Bechterew.')  Die  Geschichte 
der  Schamanen,  Propheten,  Heiligen,  Visionäre,  der  Massenpsychosen 
bietet,  ein  überreiches  Feld  für  das  Studium  der  Suggestionslehre.  Erst 
durch  die  letztere  sind  zahlreiche  räthselhafte  Erscheinungen  in  der 
Geschichte  der  Völker  und  einzelner  Personen  dem  psychologischen 
Verständniss  erschlossen  worden.  Und  ohne  Kenntniss  derselben  würden 


^)  Löwenstimm,  Aberglaube  und  Strafrecht.    Berlin  1897.    Rade. 

*)  S  t  o  1 1 ,  Suggestion  u.  Hypnotismus  in  der  Yölkerpsychologie.    Leipzig  1894. 

*)  Bechterew,  Suggestion  und  ihre  sociale  Bedeutung.  Leipzig,  Georgi,  1899. 


362  ▼•  Schrenok-NotKing. 

Richter  und  Geschworene  solchen  auffallenden,  scheinbar  motivlosen 
Gesetzesyerletzungen  gegenüber,  wie  sie  der  Fall  Sauter  gezeigt  hat, 
zu  yerhängnissYollen  Justizirrthümem  verleitet  werden.  Nach  diesen 
und  manchen  neueren  Erfahrungen  gewinnt  es  den  Anschein,  als  ob 
die  Lehre  von  den  suggestiven  Erscheinungen  auch  auf  dem  Gebiet  der 
Criminal-Psychologie  eine  grössere  Aufgabe  zu  erfüllen  habe,  als  man 
bisher  auch  in  den  Kreisen  der  Fachgenossen  geahnt  hat!  Möge  sie 
im  Stande  sein,  auch  nach  dieser  Bichtung  berechtigten  Erwartungen 
und  Anforderungen  im  vollen  ümiange  zu  entsprechen! 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwiricung  in  ihrer  ärztlichen 

Bedeutung. 

Eine  programmartige  Uebersicht 

von 

Oskar  Yogt. 


Die  folgenden  AusfÜhrangen  sollen  in  knappster  Form  die  medi- 
cinischeBedeutnng  der  verschiedenenFormen  seelischer 
Einwirkungen  anf  Geist  und  Körper  behandeln.  Es  handelt  sich 
also  nur  um  eine  programmartige  Uebersicht,  wie  sie  ans  meinen  dies- 
bezüglichen Studien  resultirt.  Dabei  wird  der  Lehre  von  den  ärztlich 
wichtigen  Folgewirkungen  seelischer  Erscheinungen  nur  soweit  Rechnung 
getragen^  als  es  sich  um  eine  Zusammenstellung  der  verschiedenen 
Formen  psychischer  Erscheinungen  und  ihrer  Folgewirkungen  handelt. 
Dagegen  werden  wir  nicht  näher  auf  die  Modificationen  der  verschie- 
denen Folgewirkungen  eingehen,  soweit  diese  von  der  Art  des  jedes- 
maligen Bewusstseinszustandes  abhängen.  Eine  Suggestion  im 
Wachsein  und  in  der  Hypnose,  ein  affectstarkes  Erinnerungsbild  im 
Moment,  wo  unser  Bewusstsein  von  anderen  Bewusstseinserscheinungen 
erfüllt  ist,  und  im  Zustand  eines  Traumes  werden  in  ganz  verschiedener 
Weise  unser  weiteres  psychophysisches  Leben  beeinflussen.  Es  soll 
aber  Sache  einer  besonderen  Arbeit  sein,  die  vom  normalen  Wach- 
sein abweichenden  Zustände  mit  Rücksicht  auf  die  jedesmaligen  Ver- 
änderungen der  ärztlich  wichtigen  Folgeerscheinungen  psychischer 
Phänomene  zu  schildern.  Wir  wollen  im  Folgenden  auf  diese  Fragen 
nicht  näher  eingehen,  sondern  uns  eben  auf  die  verschiedenen  Ein- 
wirkungsformen seelischer  Erscheinungen  beschränken. 

Dabei  sind  drei  Sichtungen  zu  unterscheiden,  in  dexien  diese 
Einwirkungsformen    eine    medicinische   Bedeutung    gewinnen    können. 

Zeitoehrift  für  Hypnotismns  etc.   IX.  28 


354  Oskar  Vogt. 

Zunächst  sind  sie  im  Stande,  Elrankheitserscheinungen  heirorzorufen« 
Wir  haben  es  hier  mit  einer  Disziplin  zu  thun,  die  wir  als  Psycho« 
pathogenie  bezeichnen  wollen.  Sie  umfasst  die  Lehre  yob  allen 
jenen  krankhaften  PhänomenoD,  welche  durch  seelische  Ursachen  yer- 
anlasst  werden.  Eine  zweite  Richtung,  in  der  seelische  Einwirkungen 
für  uns  von  Bedeutung  werden,  ist  die  therapeutische.  Es  kommen 
hier  die  verschiedenen  psychischen  Einflüsse  in  Betracht,  durch  die  wir 
pathologische  Erscheinungen  irgend  welchen  Ursprungs  mit  Erfolg  be- 
kämpfen. Schliesslich  resultirt  aus  der  Thatsache,  dass  gewisse  krank«* 
hafte  Erscheinungen  psychischen  Ursprungs  sind,  die  ärztliche  For- 
derung der  Vermeidung  solcher  pathogen  wirkender  Bewusstseinser- 
scheinungen  und  damit  eine  neue  Disciplin,  diePsychoprophylaxe. 
Ihre  Aufgabe  ist  es,  die  Wege  zu  erforschen,  auf  welchen  schädliche 
Bewusstseinserscheinungen  nach  Kräften  in  ihrem  Auftreten  verhindert  , 
werden  können. 

Der  specielle  Zweck  der  weiteren  Zeilen  ist  nun  der  Nachweis 
der  grossen  Mannigfaltigkeit  solcher  medicinisch-wichtigen  Formen 
seelischer  Einwirkung  und  die  Auffordenmg  zu  einer  bisher  leider  nicht 
erfolgten  gleichmässigen  Bearbeitung  des  ganzen  Gebietes.  Wohl 
nie  hat  eine  neue  medicinische  Disciplin  so  langsame  Fortschritte  g^ 
macht,  wohl  nie  ist  eine  mit  solcher  Gehässigkeit  bekämpft  worden^ 
wie  die  Lehre  von  der  medicinischen  Bedeutung  der  seelischen  £2r* 
scheinungen.  Der  Grund  liegt  für  den  Eingeweihten  nicht  so  sehr 
verborgen.  Es  liegt  in  dem  für  das  Gros  der  Aerzte  charakteristischen 
Mangel  an  normalpsychologischem  Wissen  begründet,  dass  bis  auf  den 
heutigen  Tag  dieser  ganzen  Lehre  so  wenig  Verständniss  entgegen- 
gebracht und  so  wenig  Bedeutung  beigemessen  wird. 

Immerhin  dringt  die  Anerkennung  dieser  Lehre  mehr  und  mehr 
durch  und  vergrössert  sich  die  Zahl  der  Forscher,  die  sich  um  ihre 
Vertiefung  verdient  gemacht  haben.  Seit  dem  Tage,  wo  Bernheim 
die  Aufmerksamkeit  der  wissenschaftlichen  Welt  auf  die  Lehren  Li6- 
beault's  lenkte  und  Charcot  durch  den  Nachweis  der  Entstehung 
hysterischer  Erscheinungen  durch  Vorstellungen  eine  Psycho-Pathogenie 
begründete,  hat  die  Erkenntniss  ärztlich  bedeutungsvoller  seelischer 
Einwirkungen  an  Umfang  immer  mehr  zugenommen«  Zunächst  ist  die- 
jenige Form  seelischer  Einwirkung,  die  wir  als  Suggestion  ^)  bezeichnen, 


*)  Vgl.  über  den  Begriff  der  Suggestion  0.  Vogt,  Die  Zielvorstellung  der 
Suggestion.    Diese  Zeitschr.,  Bd.  V,  und  die  weiteren  Ausfüllrangen» 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen  Bedeutung.     355 

das  Object  zahlreicher  Studien  geworden.  Weiterhin  ist  dann  speciell 
die  Psychogenie  der  Hysterie  und  verwandter  Neurosen  gefördert 
worden.  Daneben  ist  es  vor  Allem  das  Verdienst  O.  Rosenbach *8^) 
schon  relativ  früh  eine  Beibe  psychogenetischer  Mechanismen  aufgedeckt 
zu  haben,  die  nicht  in  den  Rahmen  der  Suggestion  hineingehören  und 
die  andererseits  sich  auch  nicht  nur  bei  y,NervÖ8en"  bemerkbar  machen: 
Insbesondere  hat  dieser  Autor  auch  auf  die  therapeutische  Bedeutung 
der  Erkenntniss  solcher  psycho-pathogenetischer  Mechanismen  aufinerk- 
sam  gemacht.  Den  Begriff  der  Psychotherapie  haben  u.  a.  Loewen- 
feld*),  Ziehen*),  v.  Schrenck-Notzing*)  weiter  auszudehnen 
sich  bemüht.  Eine  Reihe  von  Arbeiten  sind  in  jüngster  Zeit  der 
speciellen  Frage  der  Beschäftigungstherapie  gewidmet.^)  Das  was 
endlich  v.  Leyden  und  Goldscheider*)  in  neuerer  Zeit  über  die 
medicinische  Bedeutung  der  Reize  ausgeführt  haben,  fallt  meiner  An- 
sicht nach  in  der  Hauptsache  in  unser  Thema.  Alle  die  Reize,  deren 
Wirksamkeit  irgendwie  hervortreten,  verlaufen  nicht  ohne  psychischen 
Parallelvorgang.  Von  diesem  auszugehen .  erscheint  uns  aber  aus 
erkenntnisstheoretischen  Gründen  rathsamer*^  als  von  einer  physio- 
logischen Theorie.  Schliesslich  sei  noch  eine  Arbeit  Oppenheim 's®) 
erwähnt,  in  der  er  von  der  pathogenen  Bedeutung  der  Leetüre  spricht 
und  damit  ein  Kapitel  der  Psychoprophylaxe  berührt. 

An  diese  Arbeiten  soll  sich  die  folgende  Uebersicht  als  eine  kurze 
Zusammenfassung  meiner  eigenen  Studien  anschliessen.  Gleichzeitig 
soll  sie  auf  die  einzig  vernunftgemä^se  Begründung  dieser  gesammten 
Erscheinungen   hinweisen,    auf  ihre   Begründung   nämlich   durch   die 


^)  ^?1*  ^®  Sammlung  einer  Reihe  von  Arbeiten  dieses  Autors  in  Rosen- 
bach,  Nervöse  Zustände  etc.    Berlin  1897.   Referat  diese  Zeitschr.,  £d.  VI,  pag.  62 ff. 

*)  Loewenfeld,  Lehrbuch  der  gesammten  Psychotherapie.  Referat  in 
dieser  Zeitschr.,  Bd.  VI,  pag.  55  ff. 

')  Ziehen,  Psychotherapie.    Referat  in  dieser  Zeitschr.,  Bd.  VTTT,  pag.  318 f. 

*)  V.  Schrenck-Notzing,  Psychotherapie.  Referat  in  dieser  Zeitschr., 
Bd.  Vm,  pag.  370f. 

*)  Soweit  sie  auf  Nervenkranke  Bezug  haben,  sind  sie  citirt  in  0.  Vogt, 
Zur  Indication  der  Beschäftigungstherapie  bei  functionellen  Nervenkranken.  Wiener 
klinische  Rundschau  1900. 

*)  V.  Leyden  u.  Goldscheider,  Elektrotherapie  in  ihren  ^Erkrankungen 
des  Rückenmarks*'.  Wien  1897,  pag.  200 ff.  und  Goldscheider,  Die  Bedeutung 
der  Reize  für  Pathologie  u.  Therapie.    Leipzig  1898. 

')  Vgl.  darüber  weiter  unten! 

^)  Oppenheim,  Nervenkrankheit  und  Leetüre.  Deutsche  Ztschr.  f.  Nerven- 
heilkunde, Bd.  14. 

28* 


366  Oskar  Vogt. 

Er  fahr  angsthat  Sachen  der  normalen  Psychologie.  Frühere 
Arbeiten^)  aus  meiner  Feder  haben  wohl  hinreichend  bewiesen,  dass 
ich  physiologischen  Interpretationen  psychischer  Phänomene  dprchaus 
nicht  abhold  bin.  Sehe  ich  doch  in  der  Ergründung  der  physiologischen 
ParallelvorgäDge  psychischer  Erscheinungen  ein  wichtiges  heuristisches 
Princip  I  Aber  man  darf  niemals  —  wie  ich  auch  nie  zu  betonen  ver- 
gessen habe  —  die  geringe  empirische  Grundlage  solcher  Ideengänge 
vergessen.  Eine  einzige  neue  Erkenntniss  im  Gebiete  der  functionellen 
Mechanismen  des  Centralnervensystems  kann  alle  bisherigen  physio- 
logischen Theorien  über  den  Haufen  werfen.  Dagegen  liefert  uns  die 
empirische  Psychologie  ein  Thatsachenmaterial,  dessen  Sicherheit  nur 
ein  ÜEtlscher  erkenntnisstheoretischer  Standpunkt  verkennen  kann.  Dass 
nach  einer  vollständigen  Concentration  der  willkürlichen  Aufmerksamkeit 
auf  die  Absicht  der  willkürlichen  Ausführung  einer  Armbewegung  diese 
wirklich  erfolgt,  das  ist  eine  Erfahrungsthatsache,  die  noch  niemals 
eine  Ausnahme  gezeigt  hat  und  die  deshalb  ungeheuer  viel  sicherer 
dasteht  als  irgend  eine  physiologische  Theorie  nervöser  Erregungen  von 
motorischen  Centren  und  ihren  Folgewirkungen.  Auch  das,  um  noch 
ein  Beispiel  zu  erwähnen,  was  wir  von  Erregung  und  Hemmung  psy* 
chischerseits  wissen,  ist  wesentlich  fester  fundirt  als  die  Erkenntniss 
ihrer  physiologischen  Seite,  selbst  wenn  man  diese  Erkenntniss  nicht 
auf  eine  moderne  histologische  Theorie  zustutzt.  So  glaube  ich  die 
Lehre  von  den  medicinisch  wichtigen  Formen  seelischer  Einwirkungen 
auf  Geist  und  Körper  besser  zu  begründen,  wenn  ich  nachweise,  dass 
jene  Erscheinungen  Specialfälle  allgemeinerer  psychischer  Erfahrungs- 
thatsachen^)  darstellen,  als  wenn  ich  dieselbe  durch  unsichere  physio- 
logische Hypothesen  zu  stützen  suche. 

Wir  wollen  dabei  speciell  von  der  Erfahrungsthatsache  ausgehen, 
dass  —  neben  allen  übrigen  realen  Bewusstseinserscheinungen  —  auch 
insbesondere  alle  diejenigen,  welche  eine  medicinisch  wichtige  Folge- 
wirkung haben,  das  gemeinsame  Charakteristikum  aufweisen,   dass  sie 


')  Vfi^l«  0.  Vogt,  Physiologischer  Erklärungsversuch  der  Suggestion  in  Forel, 
Hypnotismus,  3.  Aufl.  1895,  und  meine  yier  Abhandlungen  „Zur  Kenntniss  des 
Wesens   und   der  psychologischen   Bedeutung  des  Hypnotismus''.    Diese  Zeitschr., 

Bd.  ni  u.  IV. 

')  Eine  sehr  knappe  Zusammenstellung  der  für  dieses  unser  Bestreben  wich- 
tigen  Erfahrungsthatsachen  der  normalen  Psychologie  findet  sich  in  O.  Vogt, 
Normalpsychologische  Einleitung  in  die  Psychopathologie  der  Hysterie.  Diese 
Zeitschr.,  Bd.  VIII.  Bezüglich  der  in  den  folgenden  Ausführungen  angewandten 
Nomenclatur  verweise  ich  hiermit  ein  für  alle  Male  auf  jenen  ArtikeL 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen  Bedeutung.     357 

stets  ein  intellectuelles  Moment  enthalten.  Dieses  stellt  ent- 
weder eine  Empfindung  oder  das  Erinnerungsbild  an  solche  Empfin« 
düngen,  d.  h.  eine  Vorstellung,  dar.  Es  braucht  aber  nicht  in  allen 
Fällen  bewusst  zu  werden.  Es  ist  unter  Umständen  nur  eine  unter  der 
Bewusstseinsschwelle  verlaufende  Ehrregung  seines  materiellcD  Parallel- 
Torganges  nöthig,  um  bereits  eine  für  uns  bedeutsame  Folgewirkung 
zu  veranlassen. 

Diese  Folgewirkungen  selbst  sind  in  einem  Theil  der  Fälle  un- 
mittelbar auf  die  Eigenthümlichkeiten  der  intellectuellen  Bestandtheile 
der  betreffenden  Bewusstseinserscheinungen  zu  beziehen.  Dabei  können 
diese  intellectuellen  Bestandtheile  bald  durch  ihre  Intensität,  bald 
durch  ihre  Qualität  den  für  uns  wichtigen  Einfluss  ausüben«  Da- 
neben giebt  es  aber  auch  mittelbare  seelische  Einwirkungen  intel- 
lectueller  Momente.  Die  letzteren  sind  zum  Theil  durch  die  Gefühls- 
töne der  in  Betracht  kommenden  intellectuellen  Erscheinungen  ver- 
anlasst. Zum  Theil  werden  sie  direct  oder  indirect  von  secundären 
intellectuellen  Erscheinungen  ausgelöst,  die  ihrerseits  erst  associativ 
von  primären  BewusstseinserscheinuDgen  angeregt  wurden.  So  gelangen 
¥rir  zur  Unterscheidung  von  vier  Hauptgruppen  seelischer  Einwirkungen. 
Diese  können  hervorgerufen  werden  durch; 

1.  die  Intensität  der  intellectuellen  Erscheinungen, 

2.  die  Qualität  intellectueller  Erscheinungen, 

3.  Gefühle  und 

4.  associativ  geweckte  nach  Modus  1 — 3  wirksame  Bewusst- 
seinserscheinungen. 

Dabei  wollen  wir  nicht  versäumt  haben,   darauf  hinzuweisen,   dass 
diese  Classification  gleich  jeder  anderen  solche  Wirkungsformen   von- 
einander trennt,  die  vielfach  in  einer  und   derselben  realen   seelischen ' 
Einwirkung  miteinander  vereinigt  sind. 

Weiterhin  können  wir  bei  jeder  der  genannten  Formen  seelischer 
Einwirkung  zwei  einander  entgegengesetzte  Untergruppen  medi- 
zinisch bedeutsamer  Wirkungen  unterscheiden.  Einmal  kann  nämlich 
•das  Vorhandensein  einer  seelischen  Einwirkung  und  ein  anderes 
Mal  das  Fehlen  derselben  eine  ärztlich  wichtige  Wirkung  nach  sich 
ziehen. 

Unter  Zugrundelegung  dieser  Classification  wollen  wir  uns  dann 
nunmehr  der  Betrachtung  der  einzelnen  Einwirkungsformen  zuwenden. 


368  Oskar  Vogt. 

A.  Unmittelbar  wirksame  Intellectnelle  Erschelnnngeii. 

Als  erste  Form  seelischer  EinwirkuDg  wollen  wir  also  diejenige 
betrachten,  bei  welcher  intellectnelle  Erscheinungen  durch  ihre  In- 
tensität die  ärztlich  wichtige  Wirkung  auslösen.  Dabei  dehnen  wir 
den  Begriff  der  Intensität  auch  auf  eine  grössere  Zahl  schwächerer 
und  auf  einzelne  an  sich  schwache  aber  lange  dauernde  intel- 
lectnelle BewusstseinsYorgänge  aus.  Denn  das  wirksame  Agens  bleibt 
in  den  eben  genannten  Fällen  ebenfalls  die  Intensität.  Sesultirt  doch 
eine  solche  aus  der  Summirung  der  schwächeren  Vorgänge !  Auf  der 
anderen  Seite  tritt  die  Qualität  der  wirksamen  intellectuellen  Erschei- 
nungen gegenüber  der  Intensität  vollständig  in  den  Hintergrund. 

1.  Das  Vorhandensein  intensiver  intellectueller  Erscheinungen. 

Durch  ihre  Intensität  können  intellectnelle  Erscheinungen  einmal 
hemmend  und  andererseits  bahnend  oder  erregend  wirken.  Diese 
Thatsache  fuhrt  zu  einer  entsprechenden  weiteren  Eintheilung  der 
durch  ihre  Intensität  wirksamen  intellectuellen  Erscheinungen  in  die- 
jemgen,  welche  einen  hemmenden  und  diejenigen,  welche  einen  bahnenden 
Einfluss  ausüben. 

a)  Durch  ihre  Intensittt  hemmtnd  wirkende  intellectuelle  Erscheimmgen. 

Die  auf  diese  Weise  zustande  kommende  Hemmung  kann  nun 
wiederum  eine  zum  mindesten  zweifache  Ursache  haben.  Zunächst 
kann  eine  intensive  intellectuelle  Erscheinung  zu  einer  Erschöpfung 
und  Ermüdung^)  führen,  und  auf  diese  Weise  die  Erregbarkeit 
gewisser  Bewusstseinserscheinungen  stark  herabsetzen.  Neben  dieser 
flemmungsform  kommt  eine  zweite  dadurch  zustande,  dass  die  psycho- 
physische  Energie  anderweitig  absorbirt  wird.  Die  durch  einen 
solchen  Mechanismus  gehemmte  Bewusstseinserscheinung  zeigt  einen 
verminderten  Grad  von  Erregung:  nicht  etwa  weil  ihre  Erregbarkeit 
an  und  für  sich  eine  Einbusse  erlitten  hat,  sondern  weil  ihr  nicht  die 
anderweitig  absorbirte  Reizenergie  in  genügender  Menge  zugeführt  wird. 

a)  Durch  Hervorrufung  von  Erschöpfung  und  Ermü- 
dung  hemmend   wirkende   intellectuelle  Erscheinungen. 


^)  lieber  die  Begriffe  „Erschöpfung"  und  ^Ermüdung"  (letztere  =  „Schlaf- 
hemmung"  vgl.  0.  Vogt,  „Zur  Kenntniss  des  Wesens  u.  der  psychoL  Bed.  des 
Hypnot.  Diese  Ztschr.,  Bd.  III;  0.  Vogt,  Zur  Indication  der  Beschäftigungs- 
therapie.   Wien.  klin.  Kundschau  1900. 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen  Bedeutung.     359 

Als  normalpsychologische  Beispiele  der  Erschöpfung  und 
Ermüdang  können  wir  den  Zustand  nach  dem  Anhören  einer  Wagnerschen 
Oper  oder  nach  einer  grossen  Bergtour  anführen. 

Das  pathologische  Paradigma  der  Erschöpfung  ist  die  Neu- 
rasthenie. Ihre  Genese  kann  die  sein,  dass  zu  intensive  Empfindungen 
und  VorstelluDgen  einen  Erschöpfungszustand  hervorrufen,  der  nicht 
durch  eine  kurze  Ruhe  wieder  ausgeglichen  wird  und  sich  gerade  da- 
durch als  einen  krankhaften  Zustand  documentirt.  Es  ist  gewiss 
richtig,  dass  man  in  der  Vorgeschichte  Neurasthenischer  meist  auch 
starke  Gremüthsbewegungen  nachweisen  kann.  Ob  aber  in  solchen 
Fällen  die  Gefühlselemente  dieser  Gemüthsbewegungen  als  solche  auch 
die  Neurasthenie  mitbedingt  oder  nur  durch  ihre  RückwirkuDg  auf  den 
intellectuellen  Bewusstseinsinhalt  ^)  eine  indirecte  pathogene  Wirkung 
ausgeübt  haben,  muss  noch  eine  offene  Frage  bleiben.  Jedenfalls 
können  wir  aber  constatiren,  dass  es  keine  Gemüthsbewegungen  ohne 
intensive  und  lang  anhaltende  intellectuelle  Bewusstseinserscheinungen 
giebt.  Das  Vorhandensein  intensiver  intellectueller  Erscheinungen  ist 
also  überall  da  über  allem  Zweifel  nachgewiesen,  wo  Gemüthsbewegungen 
festgestellt  sind.  Mit  Recht  wird  man  daher  wenigstens  einen  Theil 
der  neurasthenischen  Erscheinungen  auf  sie  beziehen.  Als  besonders 
instructiv  für  die  pathogenetische  Bedeutung  durch  ihre  Dauer  intensiv 
werdender  intellectueller  Erscheinungen  erweisen  sich  die  sogen.  Be- 
schäftigungsneurosen, die  man  auch  als  localisirte  und  systematisirte 
Neurasthenien  bezeichnen  könnte.  Neben  demjenigen  Beschäftigungs- 
neurosen, wie  sie  die  Waschfrau,  die  Näherin,  der  Musiker,  der  Schreiber 
XL  s.  w.  darbieten,  sei  hauptsächlich  auch  auf  solche  wesentlich  circum- 
scripte  neurasthenische  Zustände  hingewiesen,  welche  wir  bei  „geistigen^ 
Arbeitern  finden,  wenn  sie  sich  längere  Zeit  in  einseitiger  Weise  be- 
thätigt  haben,  ohne  dass  gleichzeitig  andere  Schädigungen  des  Nerven- 
systems aufgetreten  sind. 

Eine  therapeutische  Bedeutung  gewinnt  die  Hemmung  durch 
Erschöpfung  in  den  Fällen,  wo  man  einen  Schmerz  oder  eine  andere 
Sensation  durch  eine  „Ueberreizung'^  beseitigt,  wie  man  z.  B.  eine  Top- 
algie durch  starkes  Faradisiren  der  schmerzhaften  Körperstellc  zum 
Schwinden  bringen  kann.  Hier  handelt  es  sich  also  darum,  dass  eine 
pathologisch   stark   erregte  Bewusstseinserscheinung   durch    eine   vor- 


^)  Vgl.  darüber  0.  Vogt,  Normalptychol.   Einleitung  etc.     Die«?  Zeitichr, 

Bd.  vnL 


360  Oskar  Vogt. 

Übergehende,  noch  stärkere  Erregung  erschöpft  und  so  in  ihrer  Er- 
regbarkeit herabgesetzt  wird.  Aber  selbstrerständlich  kann  eine  solche 
Herabsetzung  der  Erregbarkeit  nur  eine  vorübergehende  Dauer  zeigen. 
Wo  Heilwirkungen  auf  diese  Weise  erzielt  werden,  treten  noch  andere 
psychische  Momente  ^),  wie  z.  B.  Autosuggestion,  secundär  in  Thätigkeit 
Hierher  gehört  femer  einer  der  Mechanismen,  durch  welche  die 
stärkere  Erregung  gewisser  hysterogener  Zonen  die  durch  ihre  schwä- 
chere Erregung  ausgelösten  hysterischen  Erscheinungen  coupirt.  Da, 
wo  man  mit  Erfolg  diesen  therapeutischen  Handgriff  anwendet,  beob- 
achtet man  zunächst  eine  Zunahme  des  hysterischen  Phänomens  und 
dann,  oft  sehr  plötzlich,  ein  mehr  oder  weniger  vollständiges  Schwinden : 
der  Erschöpfnngs-  und  Ermüdungszustand  ist  eingetreten.  In  enge 
Beziehung  zu  diesem  therapeutischen  Verfahren  möchte  ich  das  von 
Breuer  und  Freud  beschriebene  Verfahren  des  Abreagirens  stellen. 
Nachdem  eine  Bewusstseinserscheinung  durch  gesteigerte  Concentxation 
der  Aufmerksamkeit  auf  dieselbe  einige  Zeit  in  stärkster  Weise  erregt 
war,  nimmt  ihre  Erregbarkeit  durch  Erschöpfung  und  Ermüdung  so- 
weit ab,  dass  dieselbe  zur  Zeit  nicht  mehr  jenen  Grad  von  Erregung 
ermöglicht,  der  die  Voraussetzung  der  hysterischen  Folgewirkung  ist. 
Aber  wie  bei  allen  übrigen  Fällen  von  therapeutischen  Erfolgen  durch 
Hervorrufung  der  Erschöpfung  ist  auch  ein  eventueller  Dauererfolg 
des  „Abreagirens"  nur  auf  secundär  hinzugetretene  Heilfactoren  zurück- 
zuführen. 

ß)  durch  Absorption  der  psychophysischen  Energie 
hemmend  wirkende  intellectuelle  Erscheinungen. 

Eine  normalpsychologische  Hemmung  durch  Absorption 
der  psychophysischen  Energie  beobachten  wir  bei  jedem  Wechsel  des 
•Bewusstseinsinhaltes.  Eine  neue  Bewusstseinserscheinung  kann  nicht 
in  den  Mittelpunkt  des  Bewusstseins  treten,  ohne  dass  gleichzeitig  die 
ihr  vorangegangene  schwände. 

Eine  pathologische  Bedeutung  gewinnt  diese  Erscheinung  in 
der  Thatsache,  dass  Schmerzen,  Zwangsvorstellimgen  und  andere  krank- 
haft intensive  intellectuelle  Erscheinungen  das  Auftreten  anderer  Be- 
wusstseinserscheinungen  hemmen  und  so  die  Entschluss-  und  Arbeits- 
fähigkeit des  betreffenden  Kranken  stark  herabsetzen. 


*)  Uebcr  einige  andere  dafür  in  Be4:racht  kommende  psychophysische  MediÄ- 
nismen  siehe  die  Bemerkungen  über  die  eventuelle  Heilwirkung  durch  Absorption 
wirkender  iutellectueller  Erscheinungen  unter  ß. 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen  Bedeutung.     361 

Der  therapeutische  Werth  der  Hemmung  krankhafter  Er- 
scheinungen durch  anderweitige  Absorption  der  psychophysischen 
Energie  ist  ein  sehr  grosser. 

Eine  erste  Form,  die  aber  gleichzeitig  die  geringste  Bedeutung 
hat,  ist  die:  durch  Hervorrufung  eines  Schmerzes  oder 
anderer  stärkerer  Sensationen  eine  krankhafte  Sensation  oder 
gelegentlich  auch  pathologische  Affectzustände  zu  beseitigen.  Es  ist 
auch  hier  wieder  selbstverständlich,  dass  die  Hervorrufung  eines  neuen 
Schmerzes  unmittelbar  nicht  zur  Dauerheilimg  einer  anderweitigen 
krankhaften  Sensation  führen  kann.  Aber  in  manchen  Fällen  genügt 
es  Kranken,  die  längere  Zeit  an  einem  ständigen  (nur  hallucinirten) 
Schmerz  gelitten  haben,  nur  zu  zeigen,  dass  ihr  Schmerz  beseitigungs- 
fähig ist,  um  damit  die  Bedingungen  für  die  Fortdauer  jener  Halluci- 
nation  auf  immer  zu  zerstören.  Zu  anderen  Malen,  z.  B.  bei  zeitweise 
auftretenden  krankhaften  Affectzuständen,  z.  B.  Angstanfällen  oder 
hysterischen  Attaquen,  ist  schon  viel  gewonnen,  wenn  uns  auf  diese 
Weise  die  Coupirung  der  einzelnen  Anfälle  gelingt.  In  vielen  Fällen 
endlich  darf  man  annehmen,  dass  eine  immer  wieder  erneute  Vornahme 
eines  in  diese  Rubrik  fallenden  therapeutischen  Eingriffs  allmählich  an 
Stelle  der  pathologischen  psychophysischen  Constellation,  der  die  krank- 
hafte Sensation  entspricht,  eine  andere  schafft  und  auf  diese  Weise 
schliesslich  eine  Heilung  herbeiführt  oder  wenigstens  einen  der 
wirklich  heilenden  Factoren  bildet.  Dabei  kommt  eine  solche  Aen- 
derung  der  psychophysischen  Constellation  in  der  Weise  zustande,  dass 
durch  die  immer  erneute  Hemmung  die  krankhaft  intensiv  erregte  Be- 
wusstseinserscheinung  allmählich  infolge  der  vielfachen  Verminderung 
ihrer  Erregung  an  Erregbarkeit  einbüsst  und  andererseits  die  beständige 
Wiederholung  derselben  therapeutischen  Procedur  emen  neuen  Bewusst- 
seinszustand  schafft,  der  mehr  und  mehr  an  Erregbarkeit  zunimmt 
und  so  allmählich  dauernd  die  psychophysische  Energie  absorbirt,  ohne 
noch  immerfort  von  aussen  einer  besonderen  Anregung  zu  bedürfen. 
Die  krankhafte  Bewusstseinserscheinung  ist  nunmehr  dauernd  gehemmt, 
ohne  dass  noch  die  Therapie  fortgesetzt  zu  werden  braucht. 

Eine  zweite  Form  ist  die  der  Zerstreuung.  Dieselbe  wird  im 
Allgemeinen  entschieden  mehr  angewendet,  als  sie  es  verdient.  Immer- 
hin ist  aber  ihre  therapeutische  Bedeutung  nicht  zu  unterschätzen. 
Sie  ist  da  indicirt,  wo  eine  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit  nur  vor- 
übergehend nothwendig  ist.  Dabei  muss  die  Zerstreuung  so  gestaltet 
sein,  dass  sie  im  Stande  ist,  die  Aufmerksamkeit  des  Kranken  zu  fesseln. 


362  Oskar  Vogt. 

Wenn  ein  Kranker  z.  6.  durch  einen  einfachen  Spaziergang  nicht  hin- 
reichend abgelenkt  wird,  so  ist  dieser  durch  einen  Ritt  oder  eine 
Yelocipedfahrt  etwa  zu  ersetzen  u.  s.  f. 

Im  Allgemeinen  und  namentlich  bei  schweren  Kranken  ist  eine 
dritte  hierhergehöreDde  Therapie  der  Zerstreuung  weit  überlegen:  die 
Beschäftigung,  die  Verrichtung  social  nützlicher  Arbeit.  Ich  halte 
diese  Form  der  Absorption  der  psychophysischen  Energie  für  einen  der 
allerwichtigsten  psychischen  Heilfactoren.  Speciell  bei  gewissen  Gruppen 
von  Nervenkrankheiten  spielt  sie  eine  ganz  besondere  therapeutische 
Rolle.  Ich  habe  erst  kürzlich  die  Indication  und  die  Gestaltung  solcher 
„Arbeitscuren^  an  anderen  Stellen  eingehend  erörtert^),  so  dass  ich 
hier  nicht  näher  auf  dieses  Thema  eingehen  möchte. 

Nur  das  sei  noch  erwähnt,  dass  wir  in  der  Arbeit  auch  das  beste 
Prophylactikum  gegen  Recidive  solcher  krankhafter  Zustande 
haben,  die  durch  egocentrisches  Denken  ausgelöst  werden.  Ebenso  ist 
eine  richtig  gewählte  und  zeitlich  passend  angeordnete  Zerstreuung 
sehr  gut  verwendbar  zur  Verhinderung  des  Auftretens  mancher  nervöser 
Zustände. 

b)  Durch  ihre  Intensität  erregend  wiricende  Inteliectuelie  Erscheinungen. 

Die  andere  Wirkung  intensiver  intellectueller  Erscheinungen  ist, 
wie  wir  schon  ausgeführt  haben,  die  erregende  oder  bahnende! 
Diese  Wirkung  hat  ihren  Grund  in  der  allgemeinen  Thatsache,  dass 
wiederholte  Erregung  einer  Bewusstseinserscheinung  ihre  Erregbarkeit 
steigert.  Den  Process  dieser  Steigerung  der  Erregbarkeit  hat  Exner 
als  „Bahnung"  benannt.  Man  bezeichnet  dementsprechend  diese  er- 
regende, d.  h.  die  Erregbarkeit  steigernde,  Wirkung  wiederholter  Er- 
regungen als  eine  bahnende. 

Beispiele  aus  dem  normalen  Seelenleben  sind  das  gesteigerte 
Unterscheidungsvermögen  für  Farben,  welches  den  Maler  vor  dem 
Laien  auszeichnet,  und  die  grössere  Lebhaftigkeit  solcher  Erinnerungs- 
bilder, die  besonders  oft,  sei  es  als  Empfindungen,  sei  es  auch  nur 
als  Erinnerungsbilder,  in  uns  aufgetreten  sind. 

Von  pathog euer  Bedeutung  wird  eine  solche  Bahnung  bei  allen 
den  Krauken,  die  eine  egocentrische  Einengung  ihres  Denkens  aus- 
zeichnet.    Die  beständige  Beobachtung  dessen,  was  in  ihnen    vorgeht, 

^)  0.  Vogt,  Ueber  Beschäftigungstherapie  bei  functionellen  Nervenkranken. 
Psychialr.  Wochenschrift  1899.  0.  Vogt,  Zur  Indication  der  Beschäftigungs- 
therapie bei  functionellen  Nervenkranken.    Wiener  klin.  Bundschau  1900. 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlicher  Bedeutung.     363 

das  fortwährende  Daraufachten,  ob  nicht  irgend  eine  Sensation  da  ist 
und  auf  die  Erkrankung  dieses  oder  .jenes  Organes  hinweist,  steigert 
die  Erregbarkeit  solcher  Sensationen.  Auf  diese  Weise  können  ander- 
weitig bedingte  krankhafte  Bewusstseinserscheinungen  verstärkt  werden, 
aber  es  können  solche  auch  überhaupt  erst  so  über  die  Schwelle  des 
Bewusstseins  gehoben  werden. 

Hierher  gehört  auch  eine  der  Ursachen  für  das  hallucinatorische 
Fortbestehen  ursprünglich  organisch  bedingter  Schmerzen.  Ein  Kranker 
consultirte  vor  Jahren  vergeblich  wegen  einer  Neuralgie  alle  ärztlichen 
Capacitäten.  Die  Neuralgie  blieb,  von  geringen,  vorübergehenden 
Besserungen  abgesehen,  die  gleiche.  Lange  hat  der  Kranke  nunmehr 
auf  jede  weitere  ärztliche  Behandlung  verzichtet.  Und  erst  durch 
langes  Zureden  seiner  Freunde  hat  er  sich  zu  einem  erneuten  thera* 
peutischen  Versuch  entschlossen.  Und  siehe  da,  in  sehr  kurzer  Zeit 
verliert  er  seine  Neuralgie.  Ist  in  einem  solchen  Falle  der  letzte  Arzt 
geschickter  als  die  früheren?  Keineswegs.  In  jener  ersten  Periode 
handelte  es  sich  um  eine  echte  Neuralgie.  Weiterhin  war  aber  an  die 
Stelle  der  organisch  bedingten  Schmerzempfindung  ihr  durch  die  lange 
Dauer  der  Neuralgie  so  erregbar  gewordenes  Erinnerungsbild  getreten. 
Dank  dieser  grossen  Erregbarkeit  jenes  Erinnerungsbildes  genügte  die 
Furcht  vor  dem  Schmerz  zu  seiner  Fortdauer.  Als  dann  aber  eine 
erneute  ärztliche  Behandlung  das  Vertrauen  des  Elranken  zu  gewinnen 
und  seine  Furcht  vor  dem  Schmerz  zu  beseitigen  verstand,  war  damit 
der  Schmerz  geheilt. 

Was  wir  eben  für  die  neuralgischen  Schmerzen  ausgeführt  haben, 
gilt  auch  für  andere  Bewusstseinserscheinungen,  die  ursprünglich  eine 
organische  Ursache  hatten,  über  diese  hinaus  aber  dank  ihrer  ge- 
steigerten Erregbarkeit  fortbestehen.  Es  kann  so  vor  Allem  eine  ganz 
specielle  (systematisirte)  Suggestibilität  für  dieses  oder  jenes  Krankheits- 
phänomen bei  einer  verhältnissmässig  geringen  allgemeinen  Suggesti- 
bilität entstehen.  Es  ist  das  eine  Thatsache,  die  von  vielen  Aerzten 
bisher  noch  viel  zu  wenig  beachtet  wird.  An  eine  echte  Neurasthenie 
kann  sich  ein  die  gleichen  subjectiven,  aber  nunmehr  rein  psychogenen 
Symptome  aufweisendes  postneurasthenisches  Stadium  anschliessen. 
Recidive  von  Rheumatismus,  von  sogen.  Erkältungen,  von  Darmsymp- 
tomen etc.  können  eine  derartige  psychische  Genese  haben. 

Therapeutisch  kommt  die  bahnende  Wirkung  intensiver  oder 
häufiger  intellectueller  Erscheinungen  überall  da  in  Betracht,  wo  die 
Erregbarkeit  nach  Kräften   zu  steigern  ist.    So  gelingt  es  z.  B.   eine 


364  Oskar  Vog^t. 

Reihe  hysterischer  Sensibilitätsstönmgen  durch  periphere  Reize,  z.  R 
durch  FaradisatioD,  durch  grosse  Stimmgabeln,  durch  Temperatoireize 
zu  beseitigen,  ohne  dass  man  einen  solchen  Heilerfolg  ausschliesslich 
auf  Suggestion  zurückzufuhren  hat.  Während  nun  eine  solche  Beein- 
flussbarkeit  hysterischer  Sensibilitätsstqrungen  durch  derartige  pe- 
riphere Reize  meiner  Ansicht^)  nach  für  sie  characteristisch  ist,  giebt 
es  weiterhin  gewisse  Folgezustände  organischer  Erkrankungen  des 
Nervensystems,  die  ebenfalls  einer  derartigen  Therapie  zugänglich  sind. 
Ich  constatire  heute  bei  einem  Tabetiker  eine  Herabsetzung  der 
Sensibilität,  die  vom  Fuss  bis  zur  Höhe  des  Nabels  reicht.  Nach  einer 
faradischen  Sitzung  reicht  die  Sensibilitätsstörung  nur  noch  bis  zu  den 
Knieen.  Wie  ist  dieses  zu  erklären?  An  eine  Association  zwischen 
organischen  und  hysterischen  Erscheinungen  kann  ich  in  diesem  Falle 
nicht  glauben,  denn  auch  eine  längere  Beobachtung  des  Kranken  weist 
durchaus  nicht  auf  eine  hysterische  Veranlagung  desselben  hin.  Ebenso 
ist  an  eine  Autosuggestion  nicht  zu  denken,  denn  der  Kranke  ist  sich 
erst  der  ja  noch  nicht  sehr  ausgeprägten  Sensibilitätsstörung  vor  Kurzem 
durch  eine  anderweitige  ärztliche  Untersuchung  bewusst  geworden.  Die 
Erklärung,  die  ich  für  einen  derartigen  Heilerfolg  gebe,  ist  folgende: 
die  Tabes  ist  nicht  eine  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  chronisch 
verlaufende  Krankheit,  sondern  sie  tritt  schubweise  auf.  Ein  jeder 
derartiger  Schub  ist  nun  nicht  nur  von  Symptomen  begleitet,  die  auf 
die  durch  diesen  Schub  zerstörten  nervösen  Elemente  zu  beziehen  sind, 
sondern  auch  von  auf  Druck  durch  die  acuten  Entzündungsprocesse 
zurückzuführenden  sogenannten  Fernwirkungen.  Auf  eine  wirkliche 
Zerstörung  nervöser  Elemente  war  in  dem  vorliegenden  Falle  die 
Sensibilitätsstörung  bis  zum  Knie,  auf  eine  Femwirkung  die  darüber 
gelegene  zurückzuführen.  Als  der  Kranke  zu  mir  kam,  war  bereits 
die  vor  einigen  Wochen  aufgetretene  organische  Grundlage  jener  Fem- 
wirkung beseitigt.  Aber  in  Folge  der  vorübergehend  organisch  ver- 
anlassten Functionsaufhebung  und  damit  bedingten  Joftctivität  der  be- 
treffenden nervösen  Elemente  war  auch  für  die  Folgezeit  eine  Herab- 
setzung der  Erregbarkeit  der  Sensibilität  bedingt.  Und  es  bedurfte 
besonders  starker  Reize,  um  die  verminderte  Erregbarkeit  zu  beseitigen 
und  wieder  zu  einer  normalen  zu  gestalten.  In  ähnlicher  Weise 
möchte  ich  auch  die  Erfolge  der  von  Frenkel  empfohlenen  „Uebungs- 


*)  Vgl.  0.  Vogt,  Zur  Kenntniss  d.  Wesens  und  der  psychol.  Bed.  d.  Hypnot. 
Diese  Ztschr.,  Bd.  lU,  pag.  326,  Anm.  4. 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen  Bedeutung.    865 

therapie^  bei  Tabischen  und  die  analogen  Kesoltate  bei  anderen  orga- 
nischen Lähmungen  durch  systematische  motorische  üebungen  inter* 
pretiren.  Hier  handelt  es  sich  um  eine  Hebung  der  herabgesetzten 
Fnnctionsfahigkeit  durch  vermehrte  Zuführung  von  Reizen,  ohne  dass 
man  an  das  compensatorische  Eintreten  anderer  nervöser  Elemente  zu 
appelliren  braucht  Es  handelt  sich  z.  B.  um  eine  kleine  Blutung 
in  die  innere  Kapsel.  In  Folge  der  Druckerscheinungen  sind  die 
Ausfallserscheinungen  zunächst  grösser  ab  sie  der  Zahl  der  direct 
zerstörten  Fasern  entsprechen.  Wenn  der  Kranke  nun  in  diesem 
Stadium  das  gelähmte  Körperglied  zu  innerviren  sucht,  so  wird  die 
psychophysische  Energie  nicht  in  die  motorische  Bahn  abfliessen  können, 
weil  diese  zur  Zeit  leitungsunfähig  ist.  Aber  irgendwo  muss  diese 
psychophysische  Energie  hinfliessen  irnd  so  werden  bei  den  wiederholten 
vergeblichen  Innervationsversuchen  anderweitige  von  der  motorischen 
Region  abgehende  Leitungsbahnen  immer  wieder  erregt  werden.  Treten 
nun  auch  allmählich  die  Resorptionsprocesse  auf,  und  heben  sie  die 
Fimctionsunfähigkeit  der  nicht  zerstörten  Nervenbahnen  auf,  so  werden 
immerhin  noch  zunächst  jene  Bahnen,  in  welche  die  psychische  Energie 
während  der  letzten  Zeit  abgeflossen  ist,  an  Erregbarkeit  die  recon- 
valescenten  Nervenbahnen  übertreffen.  Die  Folge  davon  ist,  dass  auch 
jetzt  Lmervationsversuche  in  Folge  anderweitiger  Ableitung  der  psycho- 
physischen  Energie  zu  recht  geringen  Bewegungen  des  betreffenden 
Körpergliedes  führen.  Es  bedarf  da  erst  längerer  systematischer  üebung, 
also  der  besonderen  Zuführung  bahnender  Reize,  um  den  reconvales- 
centen  Nervenbahnen  wieder  die  nothweudige  Leitungsfahigkeit  zu 
geben  und  so  die  erreichbare  Bewegungsfahigkeit  herzustellen. 

Von  dieser  bahnenden  Wirkung  intellectueller  Vorgänge  machen 
wir  schliesslich  überall  da  Gebrauch,  wo  wir  durch  ihre  Summirung 
erst  zur  Erzielung  der  gewünschten  therapeutischen  Erfolge  gelangen. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  zur  Illustrirung  solcher  Summirung 
bahnender  intellectueller  Erscheinungen  das  Vorgehen  des  Arztes  bei  der 
Erzielung  einer  Hypnose.  Der  Arzt  zeigt  zunächst  dem  neuen  Pa- 
tienten einige  Hypnosen  schon  länger  behandelter  Kranker.  Die  Pro- 
cedur  war  bei  den  verschiedenen  Fällen  dieselbe.  Der  Arzt  legte  die 
Hand  auf  die  Stirn  der  Patienten,  suggerirte  durch  Worte  eintretende 
Wärme,  Schwere  in  den  Augenlidern  und  allmähliches  Einschlafen. 
Als  der  Arzt  nun  den  neuen  Patienten  Yomimmt  und  seine  Hand  auf 
dessen  Stirn  legt,  da  weiss  der  Patient  bereits,  welche  Suggestionen 
jetzt  kommen  werden.    So  beobachtet  man  denn   auch  gelegentlichi 


dMf  ein  Patjent  tofort  in  eine  Hypnose  TerfSüt.  In  den  mpitfew  flDen 
aber  bedarf  es  doch  noch  detaillirter  Verbaboggestioiien,  nm  xom 
Ziek  zu  komm^i.  Und  doch  r^en  diese  Wcnte  in  dem  Pktientea 
keine  neuen  Gedanken  an,  sondern  sie  steigern  nur  die  soggeslife 
Kraft  bereits  in  ihm  reger  Vorstelhmgen.  Sie  haben  also  eine  weseift- 
Kdi  bahnende  BoDe.  Gresetzt,  der  Arzt  hat  non  die  Hypooee  er- 
reicht. Die  Klagen  des  Patienten  beziehen  sich  anf  einen  nerrösen 
Hagenschmers.  Wenn  der  Arzt  non  dazu  kommt,  anf  diesen  snggcBtiT 
einzawirkeDy  so  legt  er  zur  Zeit,  wo  er  die  entspredienden  Yerbal- 
snggestionen  giebt,  gleichzeitig  die  Hand  anf  die  Magengegend  des 
Patienten.  Er  weiss  nämlich  aus  EIrfahmng,  dass  dorch  ^eichapitjge 
periphere  Reize  in  der  Gegend  des  Korpertheiles,  in  den  der  Kranke 
seine  Beschwerden  projicirt,  die  suggestive  Wirkung  der  Verbal- 
suggestion gesteigert  wird.  Also  auch  hier  handelt  es  sich  um  nichts 
anderes  als  um  eine  solche  Summirung  bahnender  Beize. 

Was  nun  in  dem  eben  analysirten  Beispiele  der  Arzt  mit  seiner 
Hand  thut,  lässt  sich  oft  in  noch  Tollkommenerer  Weise  durch  locale 
electrische  Beize  erreichen  ^). 

Im  Allgemeinen  spielt  aber  die  Qualität  der  Beize  eine  durchaus 
untergeordnete  Bolle.  Die  Summirung  möglichst  vieler  Beize 
ist  in  den  hierher  gehörigen  Fällen  das  Ausschlag  gebende. 

2.  Das  Fehlen  intensiver  intellectneller  Erscheinungen. 

Bisher  hatten  wir  von  den  Einwirkungen  zu  vieler  oder  zu  starker 
iDtellectueller  Erscheinungen  auf  Geist  und  Körper  gesprochen.  Wir 
miisseu  uns  nun  den  Folgen  des  Gegentheils  zuwenden,  den  Folgen 
zu  weniger  und  zu  schwacher  intellectueller  Erscheinungen.  Indem 
wir  das  nunmehr  thun,  wollen  wir  gleich  hervorheben,  dass  uns  hier 
eine  Beihe  von  Fragen  entgegentreten,  die  zur  Zeit  nicht  zu  beant- 
worten sind. 

a)  Das  Fehlen  durch  ihre  Intensität  hemmender  Intellectueller  Erschelnungsn. 

a)  Das  Fehlen  durch  Hervorrufung  von  Erschöpfung 
und  Ermüdung  hemmend  wirkender  intellectueller  Er- 
scheinungen. 

Als  ein  Beispiel,  dass  eine  gewisse  Erschöpfung  zur  normalen 


^)  Wir  haben  da  dann  aber  gleichzeitig  wiederum  ein  Beispiel  von  einer 
psychischen  oder,  richtiger  ausgedrückt,  psychophysischen  Wirkung  des  electrischen 
Reizes,  die  ausserhalb  des  Bahmens  der  Suggestion  fällt. 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen  Bedeutung.     367 

Bethätigung  des  Seelenlebens  nothwendig  ist,  kann  wohl  die  Ab- 
hängigkeit des  Schlafes  von  einem  gewissen  G-rad  von  Erschöpfung 
dienen.  Eine  solche  Abhängigkeit  ist  meiner  Ansicht  nach  über  allem 
Zweifel  erhaben.  Haben  wir  doch  in  einer  anderen  Abhandlung  ^)  die 
Erschöpfung  als  die  einzige  Ursache  für  den  Schlaf  der  Neugebomen 
ausfindig  machen  können. 

Diese  Abhängigkeit  kann  vielleicht  auch  eine  pathologische 
Folgewirkung  annehmen,  nämlich  bei  gewissen  Hysterischen.  Es  giebt 
Hysterische,  die  sich  wochen-  und  eventuell  jahrelang  in  einem  Dämmer- 
zustand befinden,  der  zum  mindestens  sehr  viele  Aehnlichkeit  mit  einem 
partiellen  Schlaf  hat,  wenn  er  nicht  seinem  physiologischen  Wesen 
nach  überhaupt  mit  ihm  identisch  ist.  Solche  Hysterische  leiden 
eventuell  gleichzeitig  an  einer  sehr  ausgesprochenen  Agrypnie.  Sie 
verfallen  oft  sehr  lange  nicht  in  einen  wirklichen  allgemeinen  Schlaf. 
Hierauf  hat  Sollier*)  vor  Allem  aufmerksam  gemacht.  Aber  die  Er- 
klärung, die  S  Olli  er  für  dieses  Phänomen  giebt,  ist  überhaupt  keine 
Erklärung.  Dieser  Autor  sagt,  derartige  Hysterische  schlafen  nicht, 
weil  sie  nicht  gleichzeitig  zwei  „Schlafe^  schlafen  können.  Damit  ist 
das  Problem  aber  gamicht  berührt.  Wenn  wirklich  der  Dämmerzustand 
dieser  Kranken  einen  partiellen  Schlaf  darstellt,  so  ist  die  Frage  die: 
warum  geht  dieser  partielle  Schlaf  nicht  zeitweise  in  einen  allgemeinen 
über?  Zur  Beantwortung  dieser  Frage  möchte  ich  an  gewisse  hyp- 
notische Experimente  erinnern.  Es  hat  schon  viel  Erstaunen  hervor- 
gerufen, dass  ein  kataleptischer  Arm  so  langsam  ermüdet.  Woher 
kommt  das?  Der  Katalepsie  geht  eine  starke  Herabsetzung  der  Sen- 
sibilität parallel.  Die  Summe  von  Empfindungen,  die  von  einem  kata- 
leptischen  Arm  angeregt  wird,  ist  bedeutend,  geringer  als  die,  welche 
ein  willkürlich  in  die  Luft  gehaltener  Arm  auslöst.  Wenigstens  theil- 
weise  in  Folge  dieser  Verringerung  der  intellectuellen  Erscheinungen  tritt 
die  Erschöpfung  wesentlich  langsamer  auf.  Femer  bringe  ich  hiermit 
die  Thatsache  in  Verbindung,  dass  psychologische  Selbstbeobachtungen 
im  Zustand  des  systematischen  partiellen  Wachseins  (d.  h.  einer  par- 
tiellen Hypnose)  unvergleichlich  viel  weniger  ermüdend  wirken  als 
solche,  die  im  normalen  Wachsein  ausgeführt  werden.  Auch  hier  ist 
die  Summe  der  erregten  intellectuellen  Erscheinungen  in  der  partiellen 
Pypnose  eine  weit  geringere  als  im  Wachsein.    Wir.  verstehen  so  den 

*)  0.  Vogt,  Spontane  Somnambulie  in  der  Hypnose.    Diese  Ztschr.,  Bd.  VL 
•)  So  Hier,  Genese  et   natüre  de  Physt^rie.    1897.    Heferat  dieser  Ztschr., 
Bd.  Vin,  pag.  21  ff. 


368  '  Oskar  Vogt. 

geriDgeren  Orad  von  Müdigkeit,  den  das  Experimentireu  in  der  par- 
tiellen Hypnose  im  Vergleiche  zu  demjenigen  im  normalen  Wachsein 
hervorruft.  In  einem  verwandten  Bewusstseinszustand  befinden  sich  nun 
die  oben  näher  geschilderten  Hysterischen.  Ihr  Bewusstseinsinhalt  ist 
ein  sehr  eingeengter.  So  verstehen  wir  das  wesentlich  verminderte 
Auftreten  von  Erschöpfung.  Wenn  wir  nun  mit  dieser  geringeren  Er- 
schöpfung die  Schlaflosigkeit  jener  Kranken  in  Verbindung  bringen,  so 
finden  wir  dafär  auch  darin  eine  Stütze,  dass  diese  Kranken  gar  nicht 
in  einem  normalen  Verhältnissen  entsprechenden  Grade  über  Müdigkeit 
klagen  und  unter  ihrer  Agrypnie  leiden. 

Therapeutisch  kommt  eine  Verminderung  der  erschöpfend 
wirkenden  intellectuellen  Erscheinungen  in  der  Form  ärztlich  verord- 
neter Ruhe  in  Betracht.  Eine  Indication  dazu  ist  überall  da  gegeben, 
wo  zu  viele  und  zu  starke  intellectuelle  Vorgänge  zu  neurasthenischen 
Zuständen  geführt  haben. 

Diese  Ruhe  kann  in  dreifacher  Weise  verordnet  werden:  erstens 
in  der  Form  einer  ruhiger  gestalteten  Lebensweise,  zweitensio 
derjenigen  von   zeitweise   vollständiger  IJnth&tigkeit,    drittens 
in  derjenigen  von  Schlaf.    Die  zeitweise  ünthätigkeit  kommt  ^unsl 
in  der  Gestalt  von  Ruhepausen,  welche  in  die  Arbeitszeit  eingeadiBlieit 
werden,  und  dann  in  derjenigen   einer  kürzeren   oder   längeren  Auf- 
hebung aller  Bethätigung  unter  gleichzeitiger  Verordnung  von  Bettruhe 
in  Anwendung.    Die   intensivste   Form   der  Ruhe   wird    vom  Schlafe 
gebildet.    Neben  dem  spontanen  Schlaf  kann  Schlaf  durch  Erziehung, 
Suggestion   oder   durch  Narcotica    erzielt  werden.    Es  können   dabei, 
wie  bei  der  ünthätigkeit  gewisse  Schla^ausen   in  die  Arbeitszeit  ein- 
geschaltet werden  oder  es  kann  eine  „Schlafcur^  in  Anwendung  kommen, 
bei   der   die  Patienten   selbst   ganze  Wochen   und  Monate    wesentlich 
schlafend  verbringen.    In  der  Art  und  Weise,  wie  speciell   ich  solche 
Schlaf  euren  gestalte,  darüber  hat  Brodmann  ^)  eingehend  berichtet. 

Eine  Verminderung  der  erschöpfend  vrirkenden  intellectuellen  Er- 
scheinungen ist  schliesslich  auch  das  beste  Prophylactikum  vor 
einer  Erschöpfung. 

ß)  Das  Fehlen  durch  Absorption  wirkender  intellec- 
tueller  Erscheinungen. 

Eine    im  Gebiet    des    normalen    Seelenlebens    liegende  Folge- 


^)  Brodmann,  Zar  Methodik  der  hypnotischen  Behandlung.    Diese  Ztschr., 
Bd.  Vn,  pag.  20flf. 


Die  möglichen  Formen  seelischer  Einwirkung  in  ihrer  ärztlichen  Bedeutung.    369 

Wirkung  einer  zu  geringen  Zahl  die  psychische  Energie  absotbirender 
intellectueller  Erscheinungen  ist  die  in  solchen  Fällen  zu  Tage  tretende 
Einseitigkeit  des  Bewusstseinsinhaltes  und  der  seelischen  Bethätigung. 

Eine  pathologische  Gestalt  nimmt  diese  Erscheinung  da  an, 
wo  Einförmigkeit  des  Lebens  oder  Unthätigkeit  zu  pathogenem  Wach- 
träumen, Grübeln  und  Denken  an  die  eigene  Person  führt. 

Therapeutisch  ist  die  Zahl  die  Aufmerksamkeit  in  Anspruch 
nehmender  intellectueller  Erscheinungen  überall  da  zu  beschränken,  wo 
die  psychische  Leistungsfähigkeit  den  an  sie  gestellten  Anforderungen 
nicht  genügt.  Sollen  intellectuell  schwach  befähigte  oder  an  einer 
krankhaften  Ermüdbarkeit  leidende  Menschen  noch  in  den  Stand  gesetzt 
werden,  social  nützliche  Arbeit  zu  verrichten,  so  ist  diese  eben  ver- 
hältnissmässig  einförmig  zu  gestalten.  Speciell  bei  der  Lebensregelung 
leicht  erschöpfbarer  Lidividuen  ist  dieser  Gesichtspunkt  vielfach  ausser 
Acht  gelassen.  Ich  habe  dementsprechend  in  meinen  bereits  citirten 
Abhandlungen  über  Beschäftigungstherapie  bei  functionellen  Nerven- 
kranken speciell  darauf  aufmerksam  gemacht  imd  möchte  mich  daher 
hier  damit  begnügen,  darauf  hingewiesen  zu  haben.  Auch  da,  wo  es 
sich  darum  handelt,  nicht  Constitutionen  leicht  erschöpf  bare  Individuen, 
sondern  solche,  die  an  einer  acuten  Erschöpfung  erkrankt  sind,  all- 
mählich wieder  zu  ihrer  früheren  Leistungsfähigkeit  zu  erziehen,  muss 
man  das  Tagesprogramm  relativ  einförmig  gestalten.  Nur  so  kommt 
das  Moment  der  Einübung  derartig  stark  zur  Geltung,  dass  man  bereits 
bei  einer  an  sich  geringen  Leistungsfähigkeit  relativ  hohe  Leistungen 
erzielt,  und  damit  ein  Resultat  erreicht,  welches  hinwiederum  vor 
Allem  dadurch  günstig  wirkt,  dass  es  das  Selbstvertrauen  und  die 
HofiEnungsfireudigkeit  der  Patienten  hebt. 

Schliesslich  ist  eine  relative  Einförmigkeit  der  Bethätigung  auch 
das  beste  Prophylactikum  vor  einer  zu  grossen  Verausgabung 
psychophysischer  Energie. 

b)  Das  Fehlen  durch  ihre  lirtentlttt  erregender  iniellectiieller  Erscheinungen. 

Unser  Wissen  von  der  Nothwendigkeit  intellectueller  Vorgänge 
für  unser  seelisches  und  körperliches  Wohlbefinden  ist  noch  ein  sehr 
geringes.  Wir  wissen  heute,  dass  jedes  Organ  zu  seiner  normalen 
Entwicklung  und  seinem  normalen  Bestände  functioniren  muss  oder 
wie  wir  uns  ausdrücken,  funcüoneller  Beize  bedarf.  Aber  wie  sich 
diese  Frage  speciell  für  das  Gehirn  gestaltet,  darüber  liegen  noch  keine 
näheren  Untersuchungen  vor. 

Zeitschrift  fttr  HypnotiBmos  etc.   IX.  24 


370  OAar  Vogt. 

Im  normalen  psychischen  Leben  äussert  sich  das  Fehlen  einer 
hinreichenden  Zahl  bahnender  intellectneller  Momente  z.  B.  darin,  dass 
daraus  eine  relative  Leistungsunfahigkeit  seelischer  Bethatignngen  re- 
snltirt.    Wir  sprechen  dann  Ton  einem  Mangel  an  üebnng« 

ESne  pathologische  Form  nimmt  diese  Erscheinung  weiterhin 
in  den  bereits  oben  erwähnten  Fallen  posthemiplegischer  Functions« 
herabsetzung  an,  wo  diese  nur  eine  Torübergehende  organische  Grund- 
lage hatte  und  hinterher  nur  auf  fnnctioneller  Grundlage  weiterbesteht 

Die  hierher  zu  rechnende  Therapie  und  Prophylaxe  hat  alle 
jene  intellectuellen  Erscheinungen  nach  Kräften  zu  bekämpfen  oder 
zu  yermeiden,  welche  durch  ihre  Bahnung  eine  pathogene  Bedeutung 
gewonnen  haben  oder  zu  gewinnen  drohen.  Spedell  wollen  wir  in 
diesem  Zusammenhang  darauf  aufmerksam  machen,  dass  wir  auch  zur 
Vermeidung  eines  psychischen  Nachstadiums  oder  psychischer  ReddiTe 
acute,  sich  stark  psychisch  äussernde  Krankheiten  möglichst  schnell 
zu  beseitigen  bemüht  sein  müssen,  damit  diese  nicht  erst  sehr  leicht 
erregbare  Erinnerungsbilder  zurücklassen. 

Fortsetzung  folgt. 


Casuistische  Beiträge  zur  Psychotherapie 

Von 

Dr.  Seif,  Nervenarzt-München. 

(2.  Jüittheilung.) 


Fall  7. 

Fräulein  S.,  28  Jahre,  hereditär  belastet  (Mutter  geisteskrank,  Vater  berühmter 
Gelehrter,  sehr  nervös),  ist  eine  hochbegabte  und  fleissige  Künstlerin.  Unter  dem 
Einflüsse  heftiger  Gemüthserregungen  und  beruflicher  üeberanstrengung  entwickelte 
sich  vor  ca.  5  Jahren  unter  steter  Zunahme  eine  schmerzhafte  Empfindlichkeit  der 
Augen  gegenüber  Licht,  Lesen,  Zeichnen,  Malen  und  Schreiben,  so  dass  sie 
schliesslich,  um  den  ausserordentlich  unangenehmen  Beschwerden  zu  entgehen,  zu 
einer  höchst  peinlichen  Unthätigkeit  sich  verdammt  sah.  Die  schmerzhafte  Em- 
pfindlichkeit irradiirte,  wenn  die  sie  auslösende  Thätigkeit  nicht  alsbald  unter- 
brochen wurde,  nach  der  Stirne,  den  Schläfen,  dem  Scheitel  und  Hinterkopf. 
Gemüthliche  Erregungen  begünstigten  Eintritt,  Dauer  und  Intensität  der  Erschei- 
nungen. Ohne  die  obengenannten  Umstände  trat  der  beschriebene  Zustand  nie 
ein;  dann  war  und  blieb  der  Kopf  frei. 

An  anderen  Krankheitserscheinungen  bestanden  noch:  Neigung  zu  Migräne 
bei  den  menses,  labile,  launenhafte  Stimmung  mit  Tendenz  zu  chronischer  tiefer 
Verstimmung,  Rückenschmerzen  und  grosse  Ermüdbarkeit.  Die  objective  Unter- 
suchung ergab  am  7.  ü.  1897:  Beide  Bulbi  sehr  druckempfindlich,  doppelseitige 
Ovarie,  Steigerung  der  Haut-  und  Sehnenreflexe,  sowie  der  cutanen  Sensibilität. 
Nach  4  Hypnosen,  in  denen  jedes  Mal  nur  Hypotaxie  erreicht  werden  konnte  und 
die  Suggestionen  durch  leichtes  Reiben  und  Streichen  der  Bulbi  und  der  Stirne 
unterstützt  wurden,  war  die  Dame  soweit  gebessert,  dass  die  Lichtempfindlichkeit 
verschwand  und  sie  wieder  malen,  lesen,  zeichnen  und  studiren  konnte,  ohne 
Beschwerden  davon  zu  haben.  Unter  der  Fortsetzung  der  Behandlung  ging  damit 
auch  die  Hebung  des  psychischen  Befindens  sowie  der  körperlichen  Frische  und 
Leistungsfähigkeit  Hand  in  Hand,  so  dass  sie  nach  im  Ganzen  16  Hypnosen  als 
frei  von  krankhaften  Erscheinungen  entlassen  werden  konnte. 

Drei  Monate  später  kam  durch  grosse  Gemüthserregungen  in  Folge  der  Er- 
krankung und  ^es  Todes  des  von  ihr  sehr  geliebten  Vaters  ein  Rückfall,  der  nach 
9  Hypnosen  wieder  beseitigt  wurde.  Seitdem  blieb  sie,  abgesehen  von  noch  zwei 
kleinen,  unbedeutenden,  ebenfalls  durch  Aufregungen  bedingten  Rückfällen,  die 
sie  in  ihrer  Arbeitsfähigkeit  nur  wenig  störten  und  nach  wenigen  Sitzungen  ge- 
heilt wurden,  fast  frei  von  jenen  Erscheinungen. 

Ganz  ähnlich  yerhält  es  sich  mit  folgendem  Falle : 

Fall  8. 

Herr  v.  K.,  19  Jahre,  schwer  belastet  (Grossvater  und  Urgrossvater  väter- 
licherseits starben  an  Paralyse,  Vater,  Mutter  und  eine  Schwester  sind  sehr  nervös), 

24* 


37S  I>r.  Seil 

'HygkerO'SeaTM9iheniker^  bekam  im  Anirhlnw  md  eine  Khwere  Inflnennf  it  i  mfc  iiiig 
Tor  2  Jahren  folgende,  allmählich  sonehmeode  Beschwerden:  SdM>n  nack  eiaigen 
Minuten  Lesens,  Schreibens  oder  angestrengten  Denkms  steBten  üA  Stunden  und 
Tage  daaemde  Schmerzen  in  beiden  Augäpfeln,  sowie  intensire  Kopfaehmengn 
ein,  die  ,ywie  ein  Band'  um  den  Kopf  empfanden  wurden  and  jeder  Itftisiidliing 
zu  trotzen  schienen. 

Dazu   klagte   er  ober  grosse  Reizbarkeit,   Schlaflosigkeit,   rasch  wechsrinde 
Stimmung  und  hiufige  Selbstmordgedanken.    Korperlich  fohlte  er  sich  sehr  krlltig. 

Objeetire  Untersuchung  9.  X.  1897:  Pat.  ist  gross,  kräftig  gebaat«  blsMi 
Innere  Organe  gesund.  Sehnen-  und  Knochen -Reflexe  gesteigert.  AngemciDe 
Hypalgesie  der  Haut  auf  Nadelstiche.    Lebhafter  Tremor  der  Zunge  und  der  Hände. 

Herr  K.  war  sehr  begabt  und  hatte  am  Gymnasium  immer  gute  Fortadiritte 
gemacht.  Mit  dem  Auftreten  der  Augenschmerzen  aber  wollte  es  mit  dem  Lernen 
und  Arbeiten  nicht  mehr  gehen  und  er  musste  die  EJasse  repetiren.  Da  er  anch 
hier  in  Folge  seiner  Krankheit  nicht  Torwarts  kam,  wurde  er  der  Schule  entnommen. 

Ich  unternahm  nun  mit  ihm  eine  6  Monate  dauernde  hypnotische  Behandhing, 
in  der  er  im  Ganzen  68  Mal  hypnotisirt  wurde  (Hypotaxie).  Errt  nach  40  Hjrpnoaen 
war  er  so  weit  gebessert,  ohne  besondere  Beschwerden  täglich  1 — ^2  Standen  sn 
studiren.  Ueber  diese  Zeit  hinaus  nahmen  die  Beschwerden  zu,  doch  waren  sie 
nie  mehr  ron  der  früheren  Heftigkeit.  Am  Schlosse  der  Behandlnng  trat  er  in 
eine  „Presse^  ein,  wo  er  nicht  nur  dem  ca.  6stondigen  Unterrichte  ohne  eriieblidie 
Beschwerden  zu  folgen  rermochte,  sondern  auch  noch  seinen  Hansan%aben, 
deren  Anfertigung  einige  Stunden  Zeit  in  Anspruch  nahm,  gerecht  wurde. 

Kamen  wohl  auch  noch  gelegentlich  bei  Ueberanstrengung  Kopf-  and  Augen- 
schmerzen,  so  waren  sie  doch  nie  mehr  ron  der  froheren,  jede  geistige  Thätigkeit 
lähmenden  Intensität. 

Ich  habe  Herrn  Ton  K.  nochmals,  Vt  «J&hr  nach  der  Entlassung  aas  der  Be- 
handlung, nachdem  er  sein  Fähnrichs-Examen  bestanden,  gesehen,  wo  er  sich  trotz 
der  vorausgegangenen  Anstrengungen  desselben  guten  Befindens  erfreute. 

Die  beiden  unter  7  u.  8  mitgetheilten  FaUe,  die  ich  noch  durch 
mehrere  ähnliche  hätte  vermehren  können,  gehören  jenem  Krankheita- 
bilde  an,  das  Möbius  als  ,,Apraxia  algera''  beschrieben  hat.  Immer 
fiand  ich  auch  jene  j^Aufhebung  der  Function  wegen  Schmerzhaftigkeit 
der  Function'^  bei  hereditär  schwer  belasteten  Individuen,  üeber  die 
Zugehörigkeit  der  Symptome  der  Apraxia  algera  zum  Symptomen- 
complex  der  Hysterie  kann  m.  E.  kein  Zweifel  bestehen. 

Was  Prognose  und  Behandlung  betri£ft|  so  muss  ich  Möbius  im 
Ganzen  Recht  geben,  wenn  er  erstere  schlecht  nennt.  Doch  beweisen 
die  beiden  mitgetheilten  Fälle,  wenn  es  auch  nur  weitgehende  Besse- 
rungen sind,  dass  solche  Besserungen  möglich  sind,  und  die  Suggestiv- 
therapie in  manchen  Fällen  dieser  für  die  damit  Befallenen  so  entsetz- 
lichen und  qualvollen  Krankheit  mehr  zu  nützen  vermag  als  ihr 
Möbius  zutraut.    Dagegen  habe  ich  von  der  Anwendung  der  Lokal- 


Casuistische  Beiträge  zur  Psychotherapie.  373 

therapie  gegenüber  jenen  Störungen  nur  Misserfolge  und  Verschlimme- 
ruDgen  gesehen  und  kann  ich  deswegen  mit  Möbius  nicht  genug 
davor  warnen. 

Fall  9. 

Herr  M.,  32  Jahre,  belastet  (Mutter  nervös,  deren  Schweste^^  geisteskrank, 
die  eigene  Schwester  Hysterica),  wurde  nach  beruflicher  Ueberarbeitung  1888/90 
und  kurz  darauf  folgender  schwerer  Influenzaerkrankung  nervös  und  litt  oft  an 
Kopfweh  und  Schlaflosigkeit.  Nach  schweren  gemüthlichen  Erregungen  gesellten 
sich  dazu  1894  die  Erscheinungen  des  acuten  umschriebenen  Hautödems  (Quincke). 
Anfallsweise,  fast  täglich,  meist  nach  Aufregungen  traten  an  den  verschiedensten 
Stellen  des  Körpers,  in  der  Lenden-  und  Leistengegend,  in  den  Kniekehlen,  im 
Nacken,  in  den  Augenlidern,  an  Armen  und  Beinen  umschriebene  ödematöse 
Schwellungen  der  Haut-  und  des  Unterhaut-Bindegewebes  auf,  die,  über  die  Haut 
der  Umgebung  erhaben  und  gegen  diese  sich  scharf  abhebend,  einen  Umfang  bis 
zu  12  qcm  zeigten  und  durch  den  Finger  einzudrücken  waren.  Die  begleitenden 
subjectiven  Störungen  bestanden  in  sehr  unangenehmer  Spannung,  selten  in  Jucken 
oder  Schmerzen.  Die  SchweUungen  setzten  meist  des  Abends  ein,  um  am  nächsten 
Vormittag  wieder  zu  verschwinden.  Dabei  war  der  Schlaf  regelmässig  gestört. 
Auch  bestand  an  den  Tagen,  wo  die  Oedeme  auftraten,  fast  regelmässig  Gonsti- 
pation  und  Polyurie,  die  möglicher  Weise  auf  gleichgeartete  Oedeme  in  der  Darm- 
und Harnröhrenschleimhaut  zurückzuführen  waren.  Die  Augenlider  schwollen  oft 
derart  zu,  dass  vollständige  Ptosis  bestand.  Meist  war  es  die  rechte  Körperhälfte, 
die  von  den  Oedemen  befallen  wurde. 

Körperlich  zeigte  der  Pat.  allgemeine  H3rpersensibilität,  besonders  rechts  und 
Steigerung  der  Patellarefleze.  Psychisch  bestand  grosse  Willensschwäche;  oft 
zeigte  er  ein  träumerisches,  apathisches  Wesen,  andere  Male  war  er  ausgelassen 
lustig. 

Verschiedene  Guren,  die  er  zur  Heilung  der  lästigen  Beschwerden  durch- 
gemacht, Bäder,  Waschungen,  Einreibungen  etc.,  waren  vollkommen  erfolglos  ge- 
blieben. 

Die  hypnotische  Behandlung  begann  am  2.  VI.  1897  (Somnambulismus)  und 
richtete  sich  vorzugsweise  auf  die  Hebung  des  psychischen  Befindens. 

Nach  7  Hypnosen  war  sein  Wesen  frisch  und  energisch,  seine  Stimmung 
gleichmässig  heiter,  sein  Schlaf  gut.  Die  Oedeme,  die  ihn  durch  3  Jahre  fast 
täglich  belästigt  hatten,  traten  vom  13.  VL  1897—15.  IV.  1898,  also  in  10  Monaten 
(immer  aber  nach  psychischen  Erregungen)  im  Ganzen  noch  15  Mal  auf.  Seitdem 
ist  er  frei  geblieben. 

Ich  habe  noch  mehrere  solche  Fälle  mit  ähnlich  gutem  Ausgange 
beobachtet,  so  dass  ich  Oppenheim's  schlechter  Prognose  dieses 
Zustandes  nicht  beipflichten  kann.  Oppenheim  meint  ja  auch  bei 
der  Besprechung  der  Therapie :  y^Auch  die  Psychotherapie  dürfte  hier 
am  Platze  sein/'  Ja,  nach  meinen  Erfahrungen  mehr  als  irgend  eine 
andere  Therapie! 


Referate  und  Besprechungen. 


ESmer,  Dr.  med.  A,,  pract  Arzt  in  Stattgart,  Psychiatrie  und  Seelsorge, 
BerUn  (Reuther  &  Reichard)  1899,  gr.  8<»,  343  S.  5  M. 

Die  Arbeit  will  ,,einen  Beitrag  zur  Verstandigaiig  zwischen  Psychiatrie  nnd 
Seelsorge  liefern**,  aber  mit  der  Einschränkung,  dass  das  Buch  mehr  dem  Seelsorger, 
bezw.  dem  (christlichen)  Pablüram  als  dem  Psychiater  dient  Der  Nebentiiel:  „Ein 
Wegweiser  zur  Erkennung  nnd  Beseitigung  der  Nervenschäden  nnserer  Zeit,**  der 
wie  der  Haupttitel  zeitgemäss  and  oft  versacht  ist,  will  auch  in  dieser  mehr  laien- 
haften Hichtong  verstanden  werden !  Der  Autor,  dessen  Elaborat  mit  reicher  neuro- 
klinischer  Erfahrung  sich  erhebt  über  die  psychiatrische  Kenntniss  des  Durchschnitts- 
arztes,  über  eine  gediegene  Belesenheit  in  philosophischer  und  religiöser  (aber 
leider  nicht  theologischer)  Literatur  verfugt,  von  ernster  Lebensauffassung  des 
Yolkswohls  durchdrungen,  in  seiner  Schlichtheit  und  Umfassung  des  gesammten 
Materials  schon  im  Allgemeinen  dem  Arzte  zu  empfehlen  ist,  will  besonders  die 
psychiatrische  Grundposition,  dass  Geisteskrankheiten  Gehimkrankheiten  sind,  durch 
die  Verständnisslosigkeiten  der  mannigfaltigsten  Lebensbeziehungen,  namentlich 
der  sittlich-pädagogisch-juristisch-religiösen  durchführen,  und  verdient  damit  den 
Dank  derer,  die  belästigt  durch  Yorurtheile  ihren  wissenschaftlichen  Standpunkt 
zum  Wohl  der  Patienten  festhalten  und  nach  einheitlicher  Klärung  —  irgendwie 
gehört  auch  dies  zur  Wissenschaft  —  der  wechselseitigen  Beziehungen  zwischen 
allgemeiner  Weltanschauung  und  besonderer  psychiatrischer  Wissenschaft  verlangen. 
Der  Inhalt  des  Buches,  der  wenig  8cha.rf  gegliedert  und  oft  sich  wiederholend,  be- 
sonders auch  die  psychiatrische  crux  einer  befriedigenden  Eintheilung  der  Geistes- 
abnormitäten durchfühlen  lässt,  behandelt  nach  kurzen  Vorbemerkungen  über  Zweck 
der  Schrift,  Werth  der  Psychiatrie  für  Seelsorge  und  Vereinbarkeit  beider,  1.  die 
Geisteskrankheiten^  2.  die  Minderwerthigkeiten,  um  dann  die  „Voraussetzungen 
und  Consequenzen  der  Lehre''  über  den  Character  der  Geisteskrankheiten  zu  ziehen. 
Dabei  lassen  sich  jene  Mängel  des  Inhalts  entschuldigen  mit  der  Neuheit  dieses 
Beginnens,  die  Psychiatrie  zu  popularisiren,  mit  der  psychischen  Bewusstseinseinheit 
und  der  daraus  resultirenden  Aehnlichkeit  der  Krankheitssymptome  in  verschiedenen 
Fällen.  Dagegen  scheinen  auch  principielle  Mängel  von  allgemeinerem  Interesse 
vorzuliegen,  die  aufgezeigt  werden  sollen,  um  den  Verfasser  vielleicht  zu  ver- 
lassen, in  der  2.  Auflage,  die  nicht  zweifelhaft  ist,  seine  Arbeit  durchzusehen.    Bei 


Referate  und  Besprechungen.  375 

> 

den  vielen  Citaten  anderer  Art  fehlt  es  an  Angabe  von  psychiatrischer  und  theo- 
logischer Literatur  für  den  Antipoden,  sei^s  Arzt,  sei's  Theolog,  der  fortarbeiten  möchte. 
Vielleicht  hätte  Körner  von  Kräpelins*  Lehrbuch  oder  von  der  auch  zu  beson- 
deren Zwecken  zugeschnittenen:  Gerichtlichen  Psychopathologie  von  Delbrück 
(Leipzig,  Joh.  Am br. Barth)  u.  A.  manches  entlehnen,  sicherlich  aber  solche  Ar- 
beiten citiren  können.  Andrerseits  musste  A  c  h  e  1  i  s ,  Lehrb.  der  Pract.  Theologie  (Leip- 
zig, Hinrichs  2.  Afl.)  nachgelesen  werden;  auch  der  rtihrige  Verlag  hätte  auf  dem 
Umschlag  Köstlin,  Lehre  von  der  Seelsorge  und  Einiges  aus  seiner  pädagogisch- 
psychologischen Literatur  anzeigen  sollen.  Den  Vorwurf  des  Feuilletonistischen 
würde  Köm  er  sich  mit  Recht  verbitten,  warum  dann  nicht  den  Anspruch  des 
Wissenschaftlichen  völlig  erheben?  Dann  wäre  voraussichtlich  der  eigentliche  Haupt- 
abschnitt über  die  Seelsorge  (S.  313 — 334,  eigentlich  nur  321 — 334)  weniger  dürftig 
und  oberflächlich  ausgefallen.  Der  Mangel  theologischer  Literaturkenntniss  wird 
unangenehm  empfunden  auch  namentlich  bei  der  versuchten  Lösung  einzelner 
Probleme,  die  sich  etwa  als  Fragen  nach  dem  Persönlichkeitswerth  zusammenfassen 
lassen;  dabei  bringt  Verfasser  die  angebliche  üeberschätzung  des  Körpers  auf 
Kosten  des  Geistes,  die  Leugnung  der  Willensfreiheit  u.  A.  zur  Sprache,  immer 
vom  Standpunkt  des  modernen  Naturforschers  und  Christenmenschen  zugleich  aus. 
Es  fragt  sich  nur,  ob  diese  letztere  höhere  Synthese  rein  logisch  denkbar  ist, 
die  heterogenen  Aussagen  der  Psychiatrie  und  gewöhnlidien  Lebensanschauung 
äusseriich  zusammenzukitten.  Diese  Frage  drängt  sich  noch  ernstlicher  auf  z.  6. 
-bei  der  Behandlung  der  leidigen  Dämonen-  und  religiösen  Ekstasen-Frage.  Kurz, 
das  führt  auf  meinen  Wunsch,  die  von  Römer  verschmähte  Psychologie  doch  ein- 
mal zu  versuchen.  Die  Theologie  laborirt  noch  bedenklich  am  Mangel  psycho- 
logischer Auffassung  religiöser  Thatsachen,  die  doch  so  nahe  liegt,  aber  nicht  minder 
wird  bei  der  Tunnelirung  der  Psychiatrie  heute  zu  einseitig  auf  der  einen  Seite 
des  sog.  psychophysischen  Parallelismns  gearbeitet,  ja  die  Psychologie  ausdrücklich 
abgelehnt  in  Folge  der  psychotheoretischen  Unzulänglichkeit  der  höheren  Gentren. 
Wird  jedoch  erst  die  Psychologie  als  Psychotheorie ')  versucht  und  verstanden,  dann 
eröfinen  sich  überraschende  Ausblicke  auf  das  weite  Feld  der  angewandten  Psycho- 
logie, aus  dem  R.  ein  Kapitel  auswählte,  aber  die  Seelsorge  wird  auch  als  ein 
psychotherapeutisches  Mittel  ersten  Ranges,  als  ein  Naturheilmittel  ohne  die 
„mechanischen  Nachtheile''  etwa  der  Suggestion  begriffen.  Das  Evangelium  will  ja 
den  Optimalwerth  für  egopetale  wie  egofugale  Functionen,  kurz  für  die  Psychik  des 
,.ganzen  Menschen**  darstellen  (vgl.  Evang.  Johannis  10,  11).  Solche  vertiefte 
Verknüpfung  von  Psychiatrie  und  Seelsorge  würde  beiderlei  Thatsachen  besser  aus- 
söhnen, als  Römer  wollte  und  konnte  nach  dem  Herkommen  früherer  Versuche. 
G.  Vorbrodt. 

^)  Die  Naturwissenschaft  ist  erst  zu  dem  heutigen  Erfolge  vorgedrungen, 
seitdem  sie  von  der  „Empirie**  zur  Theorie  aufstieg.  Zur  Theorie  der  Psychologie 
gehört  namentlich  auch  die  Psycho  b  i  o  logie,  und  diese  ist  wiederum  nicht  nur 
Bio  genese,  wie  die  physiologische  Biologie  mit  der  überwiegenden  Betrachtung 
des  Entstehens,  sondern  auch  nach  Analogie  eines  Vitalismus  Psychobio k i n e s e 
mit  der  Betrachtung  der  Functionen  innerhalb  der  fertigen  „Sphären**  (Asso- 
ciationssph.),  Centren,  Systemen  u.  dergl. 


376  Referate  and  Beeprechongen. 

Dr.  M,  Abramcwicz,  Behandlung  des  chronischen  Alcoholismus 
yermittels  des  Hypnotismus.    (Gaaeeta  lekardca.    J.  1899.    Nr.  79  n.  80l) 

Nach  mehr  als  6 jähriger  Erfahrung  im  Gebiete  der  Behandlung-  des  efaro- 
nischen  Alcoholismus  kommt  der  Verfasser  zu  folgenden  Schlüssen :  1.  Die  hypno- 
tische Behandlung  des  chronischen  Alcoholismus  giebt  nicht  minder  gute  Brfolge, 
als  die  Behandlung  in  speciellen  Anstalten.  Sie  verzeichnet  um  vieles  bessere 
Resultate  im  Vergleiche  mit  pharmaceutischen  Mitteln,  die  hauptsächlich  blos 
suggestiv  wirken.  2.  Die  hypnotische  Behandlung  ist  leichter  ausfahrbar,  als  die 
in  Anstalten.  Sie  ist  billiger  und  bequemer,  weniger  zeitraubend,  sie  stört  nicht 
die  Patienten  in  ihrer  Fachbeschäftigung.  3.  Der  Hypnotismus  ist  am  erfolg- 
reichsten bei  reifen,  geistig  und  moralisch  entwickelten  Patienten,  die  also  ihre 
Leidenschaft  los  werden  wollen.  Solche  sind  binnen  kurzer  Zeit  heilbar.  4.  Bei 
längerer,  Jahre  dauernder  Behandlung  ist  jeder  Alcoholiker  heilbar,  wenn  er  nicht 
hereditär  belastet,  geisteskrank  oder  stark  degenerirt  ist  und  wenn  er  langdaoemdem 
Einflüsse  ausgesetzt  ist.  5.  Man  soll  den  Kranken  in  Schlaf  versetzen,  während 
er  in  normalem  Geisteszustand  ist.  Es  kann  jedoch  der  Patient  (obwohl  schwer) 
sogar  im  Zustande  acuter  Intoxication  eingeschläfert  werden,  wobei  der  be- 
ruhigende Einfluss  des  Hypnotismus  auf  das  alcoholische  Irresein  sichtbar  ist.  6.  Dss 
radicale  Unterbrechen  des  Alcoholgenusses  ruft  nicht  ein  Delirium  hervor,  kann  es  im 
Gegentheil  zum  Verschwinden  bringen.  7.  Wenn  der  Patient  schon  während  der 
Behandlung  nicht  zum  Entbehren  des  Alcohols  zu  bewegen  ist,  ist  er  als  unheilbar  zu 
betrachten.  8.  Wenn  die  Behandlung  über  ein  Jahr  dauert,  sollen  die  Zwischen- 
zeiten zwischen  den  Sitzungen  immer  grösser  werden.  9.  Das  Verbinden  der 
hypnotischen  mit  der  pharmaceutischen  Behandlung  giebt  keine  besseren  Resultate, 
als  die  hypnotische  Behandlung  allein.  10.  Die  Suggestion,  welche  zwar  schon  bei 
leichtem  Schlafe  oder  sogar  auf  den  wachen  Patienten  eine  wohlthuende  Wirkung 
hat,  ist  jedoch  im  tiefen  Schlafe  am  erfolgreichsten.  11.  Die  Behandlung  ver- 
mittels des  Hypnotismus  ist  am  besten  in  gehörigen  Anstalten  zu  vollziehen. 
12.  Die  correcte  hypnotische  Behandlung  ruft  weder  Complikationen  hervor,  noch 
schädigt  sie  die  Gesundheit  des  Patienten  und  beschränkt  nicht  seine  Individualitat. 

Dr.  M.  Blassberg-Krakau. 

Dr.  S.  Hiffierf  Ueber  specifischen  Dämmerzustand  des  Bewusst- 
seins  in  der  posthypnotischen  Periode.    (Gazeta lekarska.  J.1899.  Nr.41.) 

Der  Verfasser  beobachtete  binnen  einigen  Jahren  oft  einen  Dämmerzustand 
bei  Hypnotisirten  in  der  po8th3rpnotischen  Periode,  der  sich  in  falschem  Begriffe 
der  Zeit  und  des  Ortes,  Sinnlosigkeit  und  Naivität  der  Antworten  und  gedämmertem 
Bewusstsein,  jedoch  ohne  Sinnestäuschungen  äusserte.  Er  ist  dem,  von  Ganser 
und  Binswanger  als  „speeifisch  hysterischen^  beschriebenem,  aber  auch  bei 
Psychosen  vorkommenden  Dämmerzustande  ganz  ähnlich. 

Dr.  M.  Blassberg-Krakau. 

Dr.  M.  Smtakkiy  Ueber  Suggestivbehandluug  des  perversen 
Sexualtriebes  bei  Männern.     (Przegl^d  lekarski.    J.  1899.    Nr.  22.) 

Der  Verfasser  beschreibt  einen  Fall,  den  er  in  der  psychiatrischen  Klinik 
von  Prof.  Krafft-Ebing  beobachtete.  Er  betraf  einen  jungen  Mann,  der  wegen 
acquirirten  perversen   Sexualtriebes    (Masturbatio,  Coitus  inter  femora,   Immissio 


Beferate  und  Besprechungen.  377 

penis  in  os)  und  wegen  Alcoholismus  in  der  Klinik  behandelt  wurde.  Nach 
16  Sitzungen,  in  denen  Suggestionen  im  tiefen  hypnotischen  Schlafe  gegeben 
wurden,  rerliess  der  Patient  als  geheilt  die  Klinik. 

Dr.  M.  Blassberg-Krakau. 

M,  Menddsohn,  Hypurgie.  Separatabdruok  aus  der  Bealencyklopädie  der 
gesammten  Heilkunde.  Herausgeber  Prof.  Dr.  A.  Eulenburg,  Berlin.  Zweite 
Auflage.    Urban  u.  Schwarzenberg,  Wien  und  Leipzig. 

„Hypurgie  ist  die  auf  wissenschaftlichen  Grundlagen  beruhende  Lehre  von 
der  Verwendung  der  Mittel  der  Krankenpflege  zur  Herbeiführung  therapeutischer 
Effecte.^  vTtov^yeXv  bedeutet  Hilfsmittel,  Unterstützungsmittel  anwenden.  Nach 
Ansicht  des  Verfassers  war  die  Schafifung  einer  solchen  Benennung  unerlässlich, 
da  das  Wort  Krankenpflege  auch  noch  die  Begriffe  Krankenversorgung  und 
Krankenwartung  umfasst.  Unter  Krankenversorgung  versteht  der  Verfasser  y,die 
Institutionen  und  Vorsorgen,  welche  es  ermöglichen,  dass  ein  jeder  Kranke,  auch 
in  der  bedrängtesten  Situation  und  gegenüber  einem  noch  so  gehäuften  Bedürfnisse, 
zu  jeder  Zeit  und  an  jedem  Orte  ein  zureichendes  Unterkommen,  eine  möglichst 
ausreichende  Behandlung  und  Pflege  finde.^  Theilweise  wird  denn  auch  das,  was 
unter  diese  beiden  Begriffe  fällt,  ausgeschieden. 

Der  gewünschte  therapeutische  Effect  soll  in  möglichst  milder  Weise  herbei- 
geführt werden,  das  ist  der  Standpunkt,  von  dem  der  Verfasser  ausgeht.  Mit  der 
Herrschaft  der  nichts-als-arzneilichen  Therapie  ist  es  zu  Ende.  Nicht  nur  allein 
die  grossen  Dosen  führen  zum  Ziele,  sondern  die  bewusste  und  anhaltende  Ver- 
wendung kleiner  Gaben  zeitigt  oft  die  gleichen,  wenn  nicht  bessere  Resultate,  ja 
die  Gombination  verschiedener,  nach  gleicher  Bichtung  hin  wirkender  Arznei- 
körper in  recht  kleinen  Dosen  übt  unter  Umständen  vortheilhaftere  Wirkung  aus 
als  ein  einzelnes  reichlicher  bemessenes  Heilmittel,  allein  schon  durch  die  Aus- 
schaltung der  mit  grossen  Gaben  fast  immer  einhergehenden  Nebenwirkungen. 
In  Folge  dieser  Erwägungen  hält  Verfasser  eine  grössere  Berücksichtigung  der 
Heilmittel  der  Krankenpflege  für  dringend  geboten. 

Der  Stoff  gliedert  sich  in  zwei  Theile:  a)  die  Krankenpflege  und  ihre  Heil- 
mittel; b)  die  therapeutische  Wirkung  der  Krankenpflegeheilmittel. 

Unter  den  Heilmitteln  der  Krankenpflege  sind  auch  die  psychischen  Mittel 
erwähnt.  Verfasser  ftihrt  die  therapeutische  Wirkung  der  Ablenkung  und  Zer- 
streuung an.  Ferner  macht  er  auf  den  Effect  einer  zweckmässigen  Gestaltung  und 
Einrichtung  des  Krankenzimmers  aufmerksam,  um  endlich  die  Beschäftigung  der 
Patienten  und  ihren  Umgang  mit  dem  Arzt  und  dritten  Personen  als  Heilmittel 
zu  erwähnen.  Weil  der  Baum,  der  dem  Verfasser  zu  Gebote  stand,  jedoch  sehr 
beschränkt  war,  konnte  nicht  mehr  wie  ein  Hinweis  gegeben  werden. 

Im  zweiten  Theil  werden  die  hauptsächlichsten  therapeutuchen  Einwirkungen, 
für  deren  Beeinflussung  in  der  internen  Medicin  sich  Indicationen  ergeben,  fest- 
gesteUt;  so  die  schlaf  machende  Wirkung  der  Krankenpflegeheilmittel,  die  anästhe- 
sirende  Wirkung,  die  tonisirende  Wirkung  u.  s.  w. 

Aus  dem  Absatz  über  die  schlafmachende  Wirkung  der  Krankenpflegeheil- 
mittel möchte  Ref.  noch  die  Ansichten  des  Verfassers  über  das  Zustandekommen 
des  Schlafes  erwähnen.  „Der  natürliche  Schlaf  kommt  durch  eine  functionelle 
Unthätigkeit   der  Gehirnzellen  zu  Stande,   durch   eine   Herabsetzung  von   deren 


378  Referate  und  Besprechungen. 

Function ;  eine  Functionsherabsetzung,  welche  stets  mit  einem  Zustande  von  Anämie 
verbunden  ist,  und  die  zum  Teil  von  dieser  Anämie  abhängt,  zum  Theil  durch 
direct  wirkende  Substanzen,  welche  Producte  der  allgemeinen  Gewebsabnutzung 
während  des  Lebensprocesses  und  des  Stofifwechsels  sind  und  die  sich  in  den  Zellen 
des  Gehirns  und  in  deren  Umgebung  anhäufen,  hervorgerufen  wird."  —  Gründe, 
die  gegen  diese  Theorie,  sprechen,  sind  den  Lesern  der  Zeitschrift  für  Hypnotismus 
wohl  hinreichend  bekannt. 

Die  Krankenpflegehiilmittel,  die  der  Verfasser  anführt,  wie  Regelung  der 
körperlichen  Bewegungen  in  der  Zeit,  welche  dem  Schlaf  mehr  oder  minder  un- 
mittelbar vorangeht;  systematische  Fernhaltung  aufregender  Eindrücke  u.  s.  w., 
wirken  suggestiv ;  ausdrücklich  erwähnt  werden  aber  Suggestion  und  Hypnose  auch 
da  nicht,  wo  Verfasser  die  medicamentösen  und  andersartigen  Schlafmittel  erwähnt. 

Auch  bei  der  Besprechung  der  purgirenden  Wirkungen  der  Krankenpflege- 
heilmittel  vermisst  man  die  Anführung  der  Suggestion. 

Isenberg- Berlin. 

E,  W.  Scripture,  The  new  psychology.  London  1897.  Walter  Scott, 
Ltd.  Paternoster  Square.    600  S. 

The  new  psychology  nennt  der  Verfasser  sein  Werk,  um  damit  gleich  anzu- 
deuten, dass  er  der  lediglich  speculativen  Erforschung  psychologischer  Thatsachen 
ablehnend  gegenübersteht.  Er  hütet  sich  jedoch  in  die  andere  Einseitigkeit  zu 
verfallen  und  nur  die  durch  Anwendung  von  physikalischen  und  rechnerischen 
Methoden  gewonnenen  Resultate  gelten  zu  lassen.  Beides  soll  den  gebührenden 
Platz  erhalten,  die  Selbstbeobachtung  und  die  objective  FeststeUung  der  Thatsachen. 

In  seinem  Werke  wollte  der  Verfasser  „die  springenden  Punkte  und  funda- 
mentalen Methoden"  der  Psychologie  ohne  grosse  Ueberlastung  mit  Detail  der 
Kenntniss  vermitteln.  In  der  Einleitung  bespricht  der  Verfasser  die  Mittel,  die 
uns  dienen,  um  unsere  Beobachtungen  und  die  daraus  zu  ziehenden  Schlüsse  mög- 
lichst cxact  zu  gestalten.  In  dem  Haupttheil  werden  die  einzelnen  psychologischen 
Methoden  und  die  damit  gewonnenen  Ergebnisse  unter  den  Rubriken  Zeit,  Energie 
und  Raum  vereinigt.  Im  Schlusstheil  wird  ein  kurzer  Abriss  der  Geschichte  der 
Psychologie  gegeben.  Durch  Einschaltung  von  vielen  Abbildungen  und  Kurven 
wird  der  Text  anschaulicher  gemacht. 

Obgleich  der  Verfasser  die  Wichtigkeit  der  Selbstbeobachtung  in  der  Ein- 
leitung betont,  kommt  sie  doch  viel  zu  wenig  zu  ihrem  Rechte.  Man  kann  wohl 
sagen,  dass  der  Verfasser  in  übergrosser  Vorsicht  —  die  mit  Hülfe  von  Apparaten 
gewonnenen  Thatsachen  berücksichtigte,  bei  denen  die  Selbstbeobachtung  entweder 
gar  nicht  oder  nur  in  beschränktem  Maasse  nöthig  war.  Ganze  Gebiete  fallen  in 
Folge  dessen  fort  oder  finden  nur  eine  nur  streifende  Berücksichtigung.  Um  nur 
einige  herauszugreifen,  auf  die  Frage  nach  dem  Bewusstsein,  der  Hypnose  u.  s.  w. 
findet  man  keine  Antwort,  die  Psychologie  der  Sprache  u.  s.  w.  fehlt.  Das  Kapitel 
über  „Time  of  volition"  beginnt  z.  B.:  „Ausser  den  Empfindungen  beobachten  wir 
verschiedene  Processe,  die  wir  für  gewöhnlich  willkürliche  Vorgänge  oder  Willens- 
akte nennen."  Eine  weitere  Definition  des  Begriffes  Willen  wird  nicht  gegeben. 
Die  Gefühle  werden  nur  mit  einem  kurzen  Kapitel  bedacht,  vom  Schlaf  wird  nur 
über  die  wechselnde  Tiefe  berichtet.  Man  wird  eben  durch  den  Titel  verleitet, 
mehr  zu   erwarten,   als   der  Verfasser  zu   geben  beabsichtigt  hat.    Ueber  die  ein- 


Beferate  und  Besprechungen.  379 

zelnen  Apparate*  zu  psychologischen  Experimenten  über  die  Art  und  Weise  des 
Experimentirens  und  über  die  kritische  Verarbeitung  des  so  gewonnenen  Materials 
kann  man  sich  jedoch  sehr  gut  orientiren.  Is enb er g- Berlin. 

H.  Oppenheim^  Nervenkrankheiten  und  Leetüre.  Deutsche  Zeitschrift 
für  Nervenheilkunde,  S.  242—253. 

Auf  Grund  von  Erfahrungen,  die  Verf.  in  seiner  Praxis  gemacht  hat,  kommt 
er  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  in  unserer  modernen  Literatur  und  namentlich  in 
der  Tagespresse  sich  immer  mehr  geltend  machende  Sucht  nach  der  Darstellung 
von  Krankheitszuständen  und  Krankheitserscheinungen  als  eine  Gefährdung  des 
Volkswohls  anzusehen  ist.  Derartige  Darstellungen  bilden  besonders  für  Nervöse 
und  n«rvös  Veranlagte  eine  reiche  Quelle  für  krankhafte  Ideengänge.  Aus  dem- 
selben Grunde  rügt  Verf.  die  Unsitte,  dass  über  die  Vorträge,  die  in  ärztlichen 
Gesellschaften,  Congressen  und  dergl.  gehalten  werden,  Mittheilungen  in  die  Tages- 
presse gelangen.  Gegen  eine  vernünftige  Aufklärung  des  Publikums  hat  Verf. 
natürlich  nichts  einzuwenden.  Ebenso  zieht  Verf.  mit  beredten  Worten  gegen 
diejenigen  zu  Felde,  die  die  Wissbegier  des  Publikums  in  reklamehafter  Weise  für 
bestimmte  Zwecke,  für  ihr  persönliches  Interesse,  oder  für  das  Interesse  eines  Gur- 
ortes,  einer  Heilanstalt,  eines  Heilmittels  u.  s.  w.  auszubeuten  suchen,  da  gewöhnlich 
auch  derartige  Schriften  eine  Menge  Material  enthalten,  das  einen  ungünstigen 
Einfluss  auf  leicht  erregbare  Menschen  auszuüben  im  Stande  ist. 

Hier  möchte  Bef.  noch  ergänzend  hinzufügen,  dass  derartige  Schriften  im 
Verein  mit  den  marktschreierischen  Annoncen,  die  man  in  vielen  Tagesblättern, 
ja  sogar  Witzblättern  findet,  bei  der  oft  plumpen  Art,  mit  der  sie  das  Publikum 
für  ein  bestimmtes,  den  wissenschaftlichen  Forschungen  und  bewährten  Erfahrungen 
oft  hohnsprechendes  therapeutisches  Verfahren  zu  gewinnen  suchen,  geeignet  sind, 
in  weiten  Kreisen  das  Ansehen  des  Aerztestandes  zu  schmälern,  und  das  Vertrauen 
zum  Arzte  zu  untergraben.  Wer  sich  speciell  mit  den  functionellen  Nervenkranken 
zu  beschäftigen  hat,  der  weiss  die  grosse  Macht  des  Vertrauens  zu  würdigen,  und 
wird  stets  ein  ausgesprochener  Feind  dieses  Unwesens  sein. 

Verf.  weist  femer  kurz  hin  auf  den  die  Nervosität  fördernden  Einfluss  der 
Mord-,  Baubmord-,  Lustmord-,  Selbstmord-Berichte. 

Was  die  schöngeistige  Literatur  betrifft,  so  steht  Verf.  der  modernen  Bichtung, 
das  Pathologische  zur  Darstellung  zu  bringen,  feindlich  gegenüber.  Ais  besonders 
schädlich  hebt  Verf.  die  Behandlung  des  Sexuellen  in  der  modernen  Literatur 
hervor. 

Zum  Schluss  behandelt  Verf.  die  Frage,  welche  Leetüre  vom  sanitären  Stand- 
punkt empfohlen  werden  darf.  Als  ein  wandsfrei  gelten  ihm  die  einfach  belehrenden 
wissenschaftlichen  Schriften  und  Werke,  soweit  sie  der  geistigen  Befähigung  und 
Auffassungskraft  des  Lesers  angepasst  sind  und  sich  von  den  oben  näher  bezeich- 
neten Wissensgebieten  fernhalten.  Bei  der  Prüfung  des  Poetischen  glaubt  Verf. 
die  Werke  von  Dickens,  Cervantes  und  Beuter  als  ein  vortreffliches  Diätetikum 
der  Seele  erklären  zu  können.  Die  Aufstellung  allgemeiner  Satzungen  erscheint 
ihm  bei  der  Verschiedenheit  der  individuellen  Bedürfnisse  und  Empfänglichkeit 
unmöglich.  Den  ästhetischen  Genuss  hält  Verf.  für  eine  Heilpotenz  von  grossem 
Werthe.  p  van  Straaten -Berlin. 


380  Referate  and  Bespreehnngeo. 

MoehiuMj  P.  J.,  Dr.  med.  et  pkü,  Vermifclite  Anfsätie.    Hell  V  der 
neurologischen  Beiträge.    1898. 

Im  jöngiten  Hefte  seiner  neurologischen  Beitrage  hat  Moebias  eine  A««mlil 
Ton  Ao&atsen  sosammengestellt,  die  schon  an  anderer  Stelle  pnblicirt  sind.  Nor 
drei  derselben  behandeln  Tliemata  ans  der  neurologischen  Kasuistik.  nSmlieh  IL 
A.  üeber  Hemihjpertrophie.  B.  Zur  Lehre  Ton  der  Osteoarthropathie  hypertro- 
phiante  pneniniqae.    C.  lieber  Acromegalie. 

Die  fibrigen  17  Aointse  behandeln  Fragen  allgemeinen  Interesses,  sind  im 
firischen,  lebhaften  Stil  geschrieben  und  regen  theils  in  freudigem  BeifalL  theils  za 
lebhaftem  Widersprach  an. 

In  der  1.,  2.  und  14.  Abhandlang  betont  der  Verfiuser  mit  Recht  den  endo- 
genen ürsprong  so  vieler  krankhafter  Zustande,  besonders  der  Nerrenkrankheiten. 
Aber  aus  der  Eintheilung  der  Krankheitsursachen  in  äussere  und  innere  auch  eine 
Eintheilung  der  Krankheiten  selbst  in  exogene  und  endogene  xu  constmiren,  halten 
wir  für  Terfehlt,  da  bei  den  meisten  pathologischen  Zuständen  sowohl  äussere  wie 
innere  Momente  ätiologisch  betheiligt  sind. 

Den  grossten  Raum  nehmen  die  Aufiätse  ein,  in  denen  Moebins  in  mehr 
oder  weniger  geschickter  und  mehr  oder  weniger  Tcrsteckter  Weise  seine  bekannte 
Anregung  mr  Errichtung  Ton  Nerrenheilstätten  für  Minderbemittelte  auaspinnt 
Sogar  die  begeisterte  Schilderung  des  für  das  katholische  Ordenswesen  durchaus 
nicht  typischen  CSiartreuser  Klosters  muss  diesem  Zwecke  dienen. 

Minderwerthig  sind  die  Auftätse,  in  denen  der  Verfasser  sich  auf  das  Gebiet 
der  Staats-  und  Gesellschaftswissenschaften  bsgiebt,  so  in  dem  Aufintz  über  die 
Veredelung  des  menschlichen  Geschlechts.  Materiell  sntreffend  und  sogleich  formeU 
ToUendet  ist  dagegen,  was  uns  Moebius  cum  Schluss  über  Chereot  und  den 
theologisirenden  Leipziger  Irrenarzt  Heinroth  zu  sagen  weiss. 

Gro  tj  ahn  -  Berlin. 


Lippert  k  Co.  (O.  Pitx'scbe  Bn^dr.),  ¥ 


/