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^ O sJ i ^
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ZEITSCHRIFT FÜR HYPNOTISMÜS,
PSYCHOTHERAPIE,
SOWIE ANDERB
PSTGH0PHTSI0L06ISGHE UND PSYCH0PATH0L06ISGHE F0BSGHDN6BN
BAHD 8.
ZEITSCHRIFT FÜR HYPHOTISIÖS
PSYCHOTHERAPIE
SOWIE ANDERB
PSYCHOPHYSIOLOGISCHE IM) PSYCHOPATHOLOGISCHE
FORSCHUNGEN,
BAND 8.
MIT BEITRÄGEN VON
Db. BsBTSCHINOSB(ZÜBI0H), DB.£BODMAini(jBNA), Db.CbAMKB(S0HLA0HTXN8ES), DB.GBA»nB
(Zübioh), Db. Gbotjahn (Bbblin), Db. fiiLaBB (MAODBBXTBa), Db. Hibsohlaff (Bbblih),
Db. Kibsow (Tttbin), Db. Lautbmbaoh (Bbblin), Db. Naef (Zübigh), Db. PLBTTBNBBBa
(IfAODKBUBG), Db. V. BbNTEBGHEM (AhBTEBDAM) , Db. Y. SCHBBNGK-NOTSINa (MÜNOHKr),
Db. y. Stbaatbn (Bbblin), Db. Tecklenbubo (Lbipzio), Db. Vogt (Bbblin) Db. Wolvf
(Münstbblinobn)
UHTBB BESOHDESBB FÖRDSBIII6 TOI
PROF. A. FOREL
HSRiüSQSGEBra TOB
DR. 0. VOGT.
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LEIPZIG 1899
YEBLAG VON JOHANN AMBBOSIUS BABTH
Nachdruck Yorbehalten.
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Inhalts-Yerzeichniss.
Band 8.
Originalartikel.
C. Graeter, Ein Fall yon epileptischer An^nesie durch Hyper-
mnesie beseitigt 129
L. Hirse hl äff, Kritische Bemerkungen über den gegenwärtigen
Stand der Lehre vom Hypnotismus 267, 321
Y. Kenterghem, 3. Bericht über die in der psychotherapeutischen
Klinik in Amsterdam erhaltenen Resultate . 1
T. Schrenck-Notzing, Das angebliche Sittlichkeitsvergehen
des Dr. K. an einem hypnotisirten Kinde 193
O.Vogt, Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie 65
— Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der
Hysterie 208
— Zur Kritik der psychogenetischen Erforschung der Hysterie . 343
Literaturübersichten.
H. Bertschinger, Psychische Zwangszustände. Deutsche, fran-
zösische und englische Literatur der Jahre 1896 u. 1897 . . 164
(Arbeiten yon: Donath, E.ehm, Freud, Mendel, Flatau,
Bechterew, Löwenfeld, Brero, Bollach, Dornblüth,
Pitres et Kegis, Julia, Konstantinowsky, de Jong,
Vallon et Marie, Sollier, Pitres et ß^gis, Mickle, Ellis).
Lautenbach, Die geometrisch-optischen Täuschungen und ihre
psychologische Bedeutung . . . ' 28, 272
— VI —
Mte
M. Naef, Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der
Paranoia 84
(Arbeiten yoq: Wernicke, J. Koch, F. Gerlach, M. Koppen,
Vorster, R. Sandberg, Hert^, H. Schlöss, Brassert,
Krause, Neiaser, Salgo, Linke, S. Fread, L. Roncoroni,
Friedmann.)
P. Plettenberg, Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen
Leib und Seele 106
(Arbeiten von: Stumpf, Erhardt, Wentscher, Schwarz,
Höfler, Paulsen, Heymann's.)
— Die neuesten Abhandlungen und Untersuchungen über die Er-
müdung der Schuiyugend 228
(Arbeiten von: Friedrich, Ebbinghaus.GriessbachyVannot,
Wagner, Kemsies, Brahn, Schiller. Binet et HenrL)
T. Schrenck-Notzing, Literaturzusammenstellung über die Psy-
chologie und Psychopathologie der vita seinialis. 11. I£I. 40, 275
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie aus den Jahren
1896, 1897 und 1898. 3. Fortsetzung : 172, 842
(Arbeiten von: v. Holst, Ziehen, Rueda, Ungenannt, Bech-
holm, Yalude, Claude, Sänger, Vedeler, Weir Mitchell,
Biernacki, Guisy, Crocq fils et Marlow, Sollier.)
Referate und BesprechungeiL
Aim6, Etüde clinique du dynamisme psychique 319
Baldwin, Die Entwickelung des Geistes beim Kinde .... 185
W. y. Bechterew, Suggestion und ihre sociale Bedeutung . . 356
— Bewusstsein und Himlocalisation 358
— Die suggestive Behandlung des conträren Geschlechtstriebes und
der Masturbation 370
Belfiore, Magnetismo e ipnotismo 307
Benjamin, Ueber den physiologischen und pathologischen Schlaf 127
Bourneyille, R^cherches cliniques et t^hrapeutiques sur l'^pi-
lepsie, l'hysterie et Tidiotie 296
Delbrück, Gerichtliche Psychopathologie 54
Dheur, L'6tat de la sensibilitß chez quelques melancholiques . . 57
Finkeinburg, Ueber einen Fall evidenter Gesundheitsschädigung
durch hypnotisirende Einwirkung 376
Freud, Die Sexualität in der Aetiologie 366
Fuchs, Therapie der anomalen Vita sexualis bei Männern mit
Berücksichtigung der Suggestivbehandlung 373
— VII —
Goldscheider u. Flatau, Nonnale und pathologische Anatoiiiin
der Nervenzellen AHO
Goldscheider, Physiologie der Hautsinnesnerron 807
— Physiologie des Muskelsinnes 807
Henri, Ueber die Raum Wahrnehmungen des Tastsiniioi . . .181
Hösel, Association und Localisation 1117
V. Erafft-Ebing, Psychopathia sexualis ........ A7
Lehmann, Aberglaube und Zauberei IHiS
Möbius, üeber das Pathologische bei Goethe UM
— üeber J. J. Bousseau's Jugend 371
Näcke, Dämmerzustand mit Amnesie nach leichter (lehirti-
erschütterong, bewirkt durch einen heftigi;n Hchlag um (innkUt VM
Oetiker, Casuistischer Beitrag zur Kenntnis« änr RririnKfungf»-
fiUschnngen .,.,,,,, I9ft
Sänger. Snbjectife Dyspnoe , , , . HH
Schleich. Schmerzlose Operationen. Oertlicbi? htfVkn\mun mit
indifferenten Flfitsigkeiten^ Psychophysik dm tuMMahtfti nmi
kBimlifhfii Schlafes m^
T. Schrenek'Xotzing, Betträge zur {(irtn$AM^m Hwrih^lunn
TOD SicikUbnlSTergeben mit l>e§onderer h^Mckmchüifutin tUff
Y^G^jipautmt psychotexueller Anomalien .,,»,.,» VIS
— PfTdtrtCÄMaguDe Vlh
Sciitij^r^ 3K*fTendehnnng oder niebt? 371
Y^r^r^Iix. BoBng im KemtiMtm der ikmäiirU'Kgkrn$$)cut$ii*^ . 947
Wxxii. Sftt^w der Philowidue ^a, tm
— TicfMuufBiL vMT Hensdiei»' imd TUeisMade 9«
— GjuuO!J» ter PtycLologie *•*
Z:^x>x.. fwfOMaßsnfAt , %%H
Lippert k Co. (G. P&tz^sche Bachdr.), Naambors a. S.
^Dritter Bericht über die in der psychotherapeutischen Clinik in
Amsterdam erhaltenen Resultate während den Jahren 1893-1897.
Von
Dr. A. W. yan Benterghem.
Gelegentlich des ersten in Paris vom 8. bis zum 12. August 1889
abgehaltenen internationalen Congresses für experimentellen und thera-
peutischen Hypnotismus habe ich einen Bericht über die Resultate^)
gegeben, die sich in der ersten Periode (1887 bis 1889) der Existenz
der von meinem Freimde van Eeden und mir gegründeten Clinik
fiir Psychotherapie herausgestellt haben. 1894 habe ich zusammen mit
Dr. van Eeden einen zweiten Bericht über die folgenden 4 Jahre
publicirt, der unter dem Titel Psychotherapie^) erschienen ist. Das
erste Kapitel dieser Psychotherapie ist im dritten Bande dieser Zeit-
schrift ') abgedruckt worden. Ein Referat über unsere Resultate sehen
wir femer im 4. Bande ^) dieser Zeitschrift.
In einer neuen Mittheilung ^) habe ich über die im Jahre 1893
bis 1897 erzielten Resultate berichtet. Aber diese Mittheilung war
weniger ausführlich als die vorhergehenden ; daher bringe ich dieselben
Resultate hier in ausführlicherer Form wieder. Ich bin auch bei der
gleichen Classification geblieben.
Meine Ansicht über die Psychotherapie im Allgemeinen und die
Suggestionsmethode im Speciellen ist im 5. Elapitel meiner Plaudereien
über Liebeault et son Ecole zu finden. ®) Dort habe ich auch ein
Bild meiner Clinik entworfen. Ich will nur noch einmal hervorheben,
dass ich das suggestive Moment als den Hauptfactor, nie aber als den
einzigen Factor der Psychotherapie ansehe. TabeUe A. giebt die
Generalübersicht über die 3. Behandlungsperiode. Tabelle B. enthält
die Details aus dieser Periode.
^) Compte rendu etc. Bruxelles, A. Nancereau 1889.
*) Psychotherapie Paris Soc. d'lfedit. scientif. 1894.
') Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. HI, pag. 85 ff. und pag. 97 ff.
^) Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. IV, pag. 175 ff.
*) Revue de Psychologie clinique et therapeutique 1898.
•) Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. VII, pag. 54 ff.
Zeitschrift für Hypnotiimni etc. VIII. I
9 A. W. TU ReoUrghttm.
Tabelle C. giebt die Oeneralübersicbt über die gesammten Falle
Ton der GrUndung meiner Clinik in Öoos am 6. Hai 1887 bis zam
30. Juni 1897. Sie enthält 1677 F&lle, ron denen 911 in die Zeit
meines ZosammeDwirkens mit Dr. ran Eeden üMen.
TabeUe A.
Geoeralübersicht der vom 1. Juli 1693 bis zum 30. Juni 1697
bebandelteu Fälle.
') In dieten ITällea wurde die Behandlung nach einsr oder cwei Sitiungen
eb gebrochen.
*) Unvollständige Anöstheiie.
') Vollständige Anäithetie.
Dritter Bericht. g
Tabelle B.
Detaillirte Uebersicht der vom 1. Juli 1893 bis zoni 30. Juni 1897
behaodelteD Fälle.
A. I.
Apoplexia oerebr&lu (DemeuK,
ApöpL oerebr. (Hemiplegie) .
., „ (Psrüthesie) .
Atrophie des Nervoa optici
Senile Semenz, Diabetes
MyeUtit . . .
Traiunat. NeuritJt d.
brachial. , .
Beri-Beri . .
Oehimsypbilis .
Multiple Sclerote
^Cepbalalgie)
'Aboalie)
'Compl. m. Organ. Erb.}.
Phobien)
'Cephalalgie)
^Phobien)
Compl. m. organ. Taubheit
Schlaflosigkeit . . . .
Anorexie
Schmerzen
Phobien
Compl. m. Otitis int. . ,
Schwindel*)
Comp], m. Nephritis chron.
Schwindel
Aboulie .
Phobien .
Lidknkmpf
Kopfschmerz
Comp. m. org. Ueraleiden
Anorexie
Erotisches Delir ....
Orarialgie, Metrorhagie •)
Hypochondrie
Abonlia .
ZomanfäJle
UaatriBche Stdnmgei
Honierscher Schwmdel
Paraplegie
Furcht voreinernothwend.
Operation ')
iten. *) Hatte eine Operation ohne Erfolg
war ohne Eri'olg gewesen,
der Behandlung 9). Y. 9Ö.
ihlaf von 3 WocTien. T Hat sich hernach
rsogen.
A. W. T«n B«iiter^li«in.
') Heilnng in einer einii^en Sitznng durch Waohinggeitio)
A. W. TU Bonterghen
3!
') I bedeutet Tollgtändige Anästhesie mit Änmesie.
II bedeutet voUstindige Äniuttiene ohne Amnesie.
III bedeutet niiTollitändige AnästheBie.
Dritter Bericht.
Tabelle C.
QeDeralübersicht der vom 6, Mai 1887 bis zum 30, Juni 1897
bebandelten Fälle.
') Die Behandlung wurde nach einer oder zwei Sitnmgen abgebrocbeD.
*] tfnvollat&Ddige Anütheaie.
•) VollständiKe Anästhesie.
Literaturübersichten.
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie aus den Jaliren
1896, 1897 und 1898.
(3. Fortsetzung.)
60. Dr, von Holstf Ueber die besondere Form von Hysterie,
wie sie in allgemeinen Krankenhäusern zur Beobachtung kommt.
Separatabzug. 21 S.
Verf. stellt auf Grund seiner klinischen Erfahrungen den Satz auf, dass man
zwei grosse Gruppen der Hysterie zu unterscheiden habe: die Hysterie der Ge-
bildeten und die der Ungebildeten. Diesen Satz sucht Verf. in den weiteren Aus-
fohningen zu erklären.
Verf. stellt zunächst die psychogene Entstehung der Hysterie fest. Dabei
gehören psychische Defecte nicht zum Krankheitsbild. Verf. wendet sich dabei
speciell gegen Sokolowsky. ^) Femer bekämpft Verf. die Auffassung der Hysterie
als eine Psychose. Jede wirkliche psychische Störung von der blossen Stimmungs-
anomalie bis zur completen Psychose bildet eine Erweiterung des gewöhnlichen
Bildes der Hysterie und ist nicht ein Characteristicum derselben.
Die psychogene Entstehung der Hysterie führt Verf. nun auf vier Typen
zurück :
1. Das psychische Trauma ruft „unmittelbar als abnorme Reflexwirkung
auf den Körper das rein somatische Krankheitsbild der Hysterie ohne irgend
welche psychische Störung" hervor.
2. Das psychische Trauma bewirkt gleichzeitig eine Störung der psychischen
Functionen, und zwar — wie Liebermeister schon hervorgehoben — der
niederen, d. h. der Gefühle, Stimmungen und Triebe.
3. Das psychische Traimia ruft unmittelbar die körperlichen Folgen, aber
erst allmählich psychische Störungen hervor.
4. Das psychische Trauma ruft einen Seelenzustand hervor, den man als
inneren schweren Gonflict bezeichnen kann. Dieser setzt sich allmählich ins
Körperliche um oder kann zu einer tief gehenden psychischen Störung führen.
^) Vgl. Diese Ztschr., Bd. VI, pag. 389 f.
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 11
In allen diesen f^en ist eine — meist hereditäre — neuropathische Anlage
wohl Bedingung.
Mit dem Umstand, dass bei gebildeten Kranken das psychische Leben eine
grössere Bolle als bei Ungebildeten spielt, hängt dann nach dem Verf. zusammen,
dass der Typus 1 fast nur bei Ungebildeten, der Tjrpus 4 fast nur bei Gebildeten
Torkommt. Typus 2 und 3 kommen bei beiden Gruppen vor; aber sie zeigen bei
dem Ungebildeten Torherrschend körperliche, bei dem Gebildeten vorzüglich psy-
chische Symptome.
Unter 2780 ungebildeten Nervenkranken fand Verf. 544, d. h. 19,20 <^/o Hyste-
rische; dabei waren von den 1800 Männern 108, d. h. 6,0% und von den 980
Frauen 436, d. h. 44,59% hysterisch. Unter den ungebildeten Hysterischen be-
fanden sich 19,86% Männer, unter den Gebildeten 10,37%. Es tritt die Hysterie
also bei ungebildeten Männern häufiger auf als bei gebildeten.
Entsprechend den psychischen Complicationen der Hysterie der Gebildeten
ist ihre Prognose ungünstiger als diejenige der Ungebildeten. Ebenso ist die
Therapie anders zu gestalten. Sie hat beim eingebildeten im Wesentlichen eine
symptomatische zu sein. Dementsprechend ist hier auch eventuell die rein sym-
ptomatisch wirkende hypnotische Behandlung indicirt (Verf. scheint nur die Hypnose
als Suggestivmittel zu kennen!). Beim Gebildeten ist eine psychische Allgemein-
behandlang indicirt. 0. Vogt.
61. Trof, Ziehen- JenAj Ueber eine neue Methode der Entlarvung
der Simulation einer halbseitigen hysterischen Taubheit bezw.
Blindheit. — Mittheilung auf dem III. mitteldeutschen Psychiatercongress in
Jena 1. Mai 1898.
Das von Ziehen angegebene Verfahren besteht kurz in Folgendem: Man
spricht der zu explorirenden Person, die beispielsweise eine rechtsseitige Taub-
heit vorgiebt, eine grössere Zahl (10 — 15) genau notirter Worte abwechselnd bald
bei offenem, bald bei geschlossenem linken Ohr vor und lässt die Explorandin
immer diejenigen Worte, welche ihr bei offenem linken Ohr zugeflüstert wurden,
nachsprechen. Wenn man nun diese Person nachher auffordert, alle nachgesprochenen
Worte zu wiederholen, so wird sie, falls sie eine Simulantin, d. h. auf dem rechten
Ohre nicht taub ist, die auf dem rechten resp. linken Ohre gehörten Worte nicht
mehr auseinander zu halten vermögen; sie wird auch Worte recapituliren, die ihr
bei geschlossenem linken Ohre vorgesagt worden waren, die sie also nach ihrer
Angabe nicht hätte hören dürfen, da ja das rechte Ohr taub sein sollte.
Diese Methode hat den Vorzug, auf rein psychologische Gesetze sich zu
stützen; sie entgeht dadurch allen jenen Vorwürfen und Einwänden, die gegen die
physikalischen Simulationsproben der Hysterischen erhoben worden sind. Die
Praxis wird über ihre Brauchbarkeit zu entscheiden haben.
Brodmann -Jena.
62. Ruedttf Maladie des tics associ^e ä Thysterie. Rev. de l'hypnot.
11. 1896. No. 6.
Verf. berichtet über einen mit „Tickkrankheit" complicirten Fall von Hysterie,
bei dem die rein hysterischen Erscheinungen auf psychotherapeutischem Wege zum
Verschwinden gebracht wurden, während dieTicks bestehenblieben. Als differential-
X2 Zasammenstellung der Literatur über Hysterie.
diagnostische Merkmale zwischen echter maladie des tics and hysterischem Tick
hebt er hervor:
1. dass der hysterische Tick plötzlich, meist in Folge einer (^emothsbewegong,
entstehe, während die sog. Tickkranivheit ganz allmählich aus unbekannter Ur-
sache sich entwickelt;
2. die absolut gute Prognose der hysterischen Ticks im Gegensatz zu der
meist schlechten Prognose der eigentlichen Tickkrankheit. Letztere pflegt nach
Ansicht des Verfassers auch den hypnotischen Suggestionen nicht zu weichen.
Brodmann- Jena.
63. Contribution ä l'etude de Tassociation de Thysterie ayec
les differentes mala dies. These pour le doctorat en m^decine. Paris 1896.
Imprimerie des Theses de la faculte de medecine de Paris.
Nach einem kurzen hysterischen Rückblick auf die älteren Bearbeitungen
seines Themas beschreibt Verf., dessen Name nicht genannt ist, bisher noch nicht
veröffentlichte Beobachtungen aus der Klinik von Babinski, welche alle Compli-
cationen schwerer Hysterie mit einer anderen Erkrankung des Nervensystems be-
treffen. Wir können die Fälle nur ganz kurz skizziren.
1. Fall: Hirntumor und Hysterie.
Bei einer 38 jähr. Frau, die mit Wahrscheinlichkeit syphilitisch war, fanden
sich neben den Symptomen einer intracraniellen, die rechte Hemisphäre schädigenden
Geschwulst, die im Laufe von 5—6 Jahren allmählich zu Tage getreten war, Er-
scheinungen, die sich nur auf Hysterie beziehen Hessen. Sie zeigte eine totale
sensible und sensorielle Hemianästhesie der rechten Seite, welche unter dem Ein-
fluss des galvanischen Stromes (nicht des faradischen) zeitweilig verschwand. Be-
merkenswerth ist noch der Umstand, dass von dem rechten Auge aus weder direct
noch indirect (links) eine Pupillenreaction auf Lichteinfall zu erzielen war.
2. Fall. Cerebrale Kinderlähmung und Hysterie.
Der Fall ist dadurch interessant, dass bei einem sehr jugendlichen Individuum
(3ViJährigen Knaben), das schon in der ersten Zeit seines Lebens eine Monoplegia
cruralis dextra cerebralen Ursprungs (Steigerung der Sehnenreflexe, normales
electrisches Verhalten) darbot, sich bereits vom zweiten Jahre ab hysterische
Symptome bemerkbar machten. Das Kind zeigte zunächst nur eine hochgradige
gemüthliche Erregbarkeit, später hatte es Weinkrämpfe und schliesslich kam es zu
vollentwickelten hysterischen Anfällen, die sich bis zu 15 Mal an einem Tage
wiederholten. Besserung der Anfälle durch Suggestion. Hysterische Dauersymptome
(Stigmata) waren nicht vorhanden.
3. Fall: Syphilis mit Gelenkaffection und Hysterie.
37 jähr. Kranke, 1890 Syphilis, 1891 Contusion des linken Fusses, 1892 allge-
meiner Gelenkrheumatismus, 1895 Arthropathie tibiotorsalis links mit Atrophie des
linken Beines. Ausserdem bestanden blitzartige Schmerzen in beiden Beinen und
Gürtelempflndungen, Verlust des Muskelsinnes in den Beinen, Incoordination der
Bewegungen in allen Extremitäten, linksseitige Hemianästhesie, conoentrische Ein-
engung der Gesichtsfelder mit Herabsetzung der Sehschärfe, Verlust des Rachen-
reflexes und Blasenschwäche. Verf. glaubt alle diese Symptome mit Ausnahme der
Affeotion des linken Fussgelenkes, welche sicherlich syphilitischer Natur ist (arthrite
s^che), der Hysterie zuschreiben zu können. Gegen Tabes, an die in erster Reihe
Zusammenstellaxig der Literatur über Hysterie. 13
gedacht werden muss, spricht das Eehlen des Robertson' sehen und West phal-
Bchen Zeichens, der normale Augenspiegelbefund, das atypische Verhalten der
Gehstörungen. £s liegt nach Ansicht des Verf. eine Vortäuschung von Tabes
durch Hysterie und eine Complication von hysterischen mit syphilitisch arthritischen
Erscheinungen vor.
4. Fall: Maladie des tics und Hysterie.
Der Fall zeigt eine sehr grosse Aehnlichkeit mit dem von Rueda veröffent-
lichten. Auch hier begann der Tick ganz allmählich, ohne äussere Veranlassung
und zwar bereits im 10. Jahre, unabhängig von Hysterie; erst später traten dazu
die hysterischen Erscheinungen und zwar sowohl Attaquen wie Dauersymptome.
Auch hier Heilung der Hysterie, zunächst einer ausgeprägten spastischen Lähmung
des linken Beines mit Tremor, später der Sensibilitätsstörungen durch wenige
h3rpnoti8che Sitzungen, während der Tick bestehen blieb.
5. Fall: Opticusatrophie und Hysterie.
42 Jahre alte Frau, erblich nicht belastet. Erampfanfälle seit dem 11. Jahre,
bei jeder Periode einsetzend. Etwa im 20. Jahre Lues; Verlust der Haare, im
24. Jahre pustula maligna, mit 31 Jahren Abort und verschiedene Hautulcerationen,
mit 39 Jahren Abnahme des Sehvermögens auf dem rechten Auge. Mit 42 Jahren
ophthalmoskopisch: Opticusatrophie rechts. Functionen Hemiparese und Hemi-
anästhesie aller Qualitäten auf der rechten Eörperhälfte, Heilung der motorischen
und sensiblen Symptome in 3 hypnotischen Sitzungen.
6. Fall: Hereditäre Syphilis und Hysterie.
Ein 19jähr. Typograph, der seit seiner Kindheit Zeichen angeborener Lues
hatte und seit seinem 10. Jahre an Erampfanfällen litt, bekam ganz plötzlich, ohne
nennenswerthe Ursache eine Paraparese beider Beine. Ausserdem bestand eine
totale rechtsseitige Hemianästhesie, monoculäres Doppelsehen, concentrische Gesichts-
feldeinengung auf beiden Augen, unwillkürlicher Urinabgang, Gürtelgefuhle, Polyurie.
Im Verlaufe einiger Monate trat spontaner Rückgang der Beschwerden ein
und dann unter dem Einfluss suggestiver Faradisation eine vorübergehende Heilung
aller Störungen, auch der Parese. Verf. schliesst aus diesem Befund, insbesondere
aus dem Krankheitsverlauf auf die hysterische Natur der sensibeln und motorischen
Störungen. Ueber die Natur der KrampfanfäUe äussert sich Verf. nicht.
Brodmann- Jena.
64. Bechholnit Recherches bibliographiques, statistiques et cli-
niques sur les maladies mentales d'origine traumatique. Paris 18%.
189 Seiten.
Verf. vertritt im Gegensatz zu einer Reihe anderer Autoren die Ansicht, dass
es keine specifische traumatische Psychose gebe, sondern dass jede Form geistiger
Erkrankung durch ein Trauma hervorgerufen werden könne; er theilt die trauma-
tischen Psychosen ein in acute, subacute und chronische und unterscheidet von den
letzteren folgende Formen : 1. die traumatische Idiotie, 2. die traumatische Degene-
ration, 3. die traumatische Epilepsie, 4. die traumatische Paralysis progressiva,
6. die traumatische Verrücktheit. Diese kann sich entweder direct an das Trauma
anschliessen oder sie kann secundär entstehen aus einer Amentia, einer Melancholie
oder Manie.
Die acuten traumatischen Psychosen sind in der Arbeit nicht berücksichtigt.
X4 Zasammenstellang der Literatar über Hysterie.
Verf. beschränkt sich vielmehr, onter Zug^ndlegung einer recht ausführlichen
Bibliographie über dieses Thema, auf die chronischen Formen. Er theilt 80 klinische
Beobachtungen mit, welche nach Alter, Geschlecht, ätiologischen Complicationen
(Heredität, Alcoholismus, Lues etc.), Art des Traumas, Symptomen und nach dem
Verlauf und Ausgang der Erkrankung in übersichtlichen Tabellen verarbeitet sind.
Diese Zusammenstellung ist sehr anerkennenswerth und man wird sich aus
dm Tabellen mit Leichtigkeit ein Urtheil über den Stand der Frage nach den
verschiedenartigen Formen der traumatischen Psychosen bilden können, um so mehr
als einzelne Fälle recht prägnante Typen darstellen. Es muss aber leider befiremden,
dass Verf. den traumatischen Psycho-Neurosen, der traumatischen Hysterie, Neur-
asthenie, Hypochondrie in dieser Arbeit, die sich doch lediglich mit den psychischen
Veränderungen nach Trauma beschäftigt, gar keinen Platz gegönnt hat.
Brodmann -Jena.
■
65. Valude, Quelques phenomenes hysteriques oculaires traites
par la Suggestion therapeutique. — Bev. de Thypnot. 11. No. 6. 1896.
Verf. theilt 4 Fälle von hysterischen Augenstörungen mit, von denen 3 durch
larvirte Suggestionen geheilt worden waren.
1. Fall: 20 jähr. Dienstmädchen erblindet nach einem leichten Schlag auf das
rechte Auge fast total auf dem Auge: nur Lichtschein; daneben besteht Mydriasis
und leichte Accommodationsparese. Objectiv nihil. Prüfung mit Prismen ergiebt
Doppelbilder des angeblich blinden Auges. Heilung durch Pseudooperation (pointo
de feu) und mehrtägigen Occlusivverband.
2. Fall: 13 jähr. Kind, Schlag auf das Auge, totale Erblindung mit maximaler
Mydriasis (reactionslose Pupille!). Prismenprüfung wie im Fall 1. Belehrungs-
versuch erfolglos. Verdacht auf Simulation. (Ref. vermag den Zusammenhang der
genannten Symptome mit Simulationsverdacht nicht zu ergründen.)
3. Fall: Doppelseitige hysterische Ptosis bei einem 16 jähr. Mädchen ohne
jede auffindbare Ursache, ganz plötzlich entstanden ; kein Blepharospasmus. Heilung
durch Wasserinstillationen und Occlusivverband.
4. Fall: Ein 16 jähr. Mädchen, das wegen Symblepharon operirt werden soll,
bekommt während der Beobachtungszeit spontane Blutungen in den Conjunctival-
sack. Kein Trauma, Menses nicht sistirt. Diagnose : blutige Thränen auf hyste-
rischer Grundlage. Heilung unter Occlusivverband. Brodmann- Jena.
66. Claudej Troubles oculaires d'origine hysterique. — Revue de
l'hypnotisme 10. 1897.
Eine 29 jähr. Frau zeigt nach einem apoplectiformen Anfall: rechtsseitige
Hemiparese und Hemianästhesie, doppelseitige Augenstörungen und eine Reihe
hysterischer Stigmata. An den Augen bestand rechts : vorübergehende Amblyopie,
Dyschromatopsie und monoculäre Diplopie, dauernd reflectorische Pupillenstarre;
links: vorübergehend Amblyopie, dauernd Mydriasis mit völligem Fehlen der Licht-
reaction und Abschwächung des Accommodationsreflexes. Veränderung der Pupillen
trat ein unter Atropin- und Eserin Wirkung sowie im hypnotischen Schlaf. Diagnose:
Hysterie. Möglichkeit einer Combination von Hysterie mit einer vorübergehenden
organischen Läsion. ßrodmann-Jena.
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 15
B7. Dr, 8, Sander-Hamburg (Städtisches Krankenhaus), Ueber Augen-
maskelstörungen bei Hysterie. — Nach einem Vortrage gehalten auf dem
m. Gongresse mitteldeutscher Psychiater und Neurologen 1. Mai 1898 in Jena.
Vortragender giebt zunächst einen kurzen Ueberblick über die versehiedenen,
den hysterischen Bewegungsstörungen des Auges zu Grunde gelegten theoretischen
Anschauungen. Als ein relativ einfaches und zur kritischen Beleuchtung des frag-
lichen Problems vorwiegend geeignetes Gebiet bezeichnet er die hysterische Ptosis ;
er beschränkt sich deshalb in seinen Ausführungen auf die bei Hysterie vorkommen-
den Bewegungsstörungen an den Lidern und glaubt, dass man an der Hand der-
selben sehr wohl im Stande sei, einige alte Streitfragen zu entscheiden.
Aus der sehr reichhaltigen Literatur über hysterische Ptosis, über .welche
Vortr. eingehend referirt, sollen hier nur einige wichtigere Arbeiten hervorgehoben
werden. Vortr. erwähnt, dass Hodge schon 1871 Ptosis bei einem 16 jähr, hyste-
rischen Mädchen in einer electrischen Sitzung heilte, dass Dorval 1884 durch
Suggestion spastische Ptosis erzeugen konnte, dass Zehnder durch Jodpinselung
einen Blepharospasmus beseitigte und gleichzeitig eine echte Ptosis erzeugte, die
nachher einer Kaltwasserbehandlung wich; er geht dann ferner auf die Theorie
Oharcot's ein, der jede hysterische Ptosis als einen spastischen Zustand erklärte,
citirt die von Pausier aufgestellten Formen der hysterischen Ptosis (tonischer,
clomscher und pseudoparalytischer Blepharospasmus), bespricht die umfangreichen
Mittheilungen von Nonne und Beselln^), den Fall von Hitzig^) und schhesslich
die Monographie von Schmidt-Rimpler, welch letzterer bei einem 16jährigen
Mädchen eine nicht spastische Ptosis sah, die durch Druck auf bestimmte Punkte
momentan verschwand und durch Hypnose zur dauernden Heilung gelangte.
Vortragender selbst bekam 8 Fälle von hysterischer Ptosis zu Gesicht und
theilt diese Beobachtungen an der Hand von sehr characteristischen photographischen
Nachbildungen mit.
Sechs Fälle von S. entsprechen der von Charcot aufgestellten spastischen
Form der hysterischen Ptosis. Als kennzeichnendes Merkmal dieser Form sieht
man, dass der freie Rand des unteren Lides an dem erkrankten Auge höher steht
und gerader verläuft als an dem gesunden ; ferner sind in allen Fällen deutlich die
Ton Charcot beschriebenen, den Lidrändem parallel verlaufenden Querfältchen
zu erkennen. In 2 Fällen ist ausserdem ein Tieferstehen der einen Augenbraue zu
constatiren; es ist also hier die epitarsale, peritarsale und orbitale Partie des
Orbicularis contrahirt, während in den 4 anderen Fällen, wo keine Differenz der
Augenbrauen vorhanden ist, nur ein Spasmus der epitarsalen Partie besteht.
In 2 weiteren Fällen schliesslich, welche Vortragender an Abbildungen de-
monstrirt, handelt es sich um exquisit schlaffe Ptosis auf hysterischer Grundlage.
Es war hier gleichzeitig eine dauernde Differenz in dem Grade der Ptosis auf
beiden Augen vorhanden. Damit ist, nach Ansicht S.*s, auch die Behauptung von
Schmidt-Bimpler vnderlegt, dass die hysterische Ptosis auf ein einfaches, will-
kürliches Erschlaffen des Levator palpebr. zurückzuführen sei. S. bestreitet die
Möglichkeit, dauernd einen Lidheber mehr erschlaffen zu lassen als den anderen.
Vortr. behauptet also, in üebereinstimmung mit Hitzig, Schmidt-Rimpler
^) Nr. 31 dieser Zusammenstellung.
') Nr. 32 dieser Zusammenstellung.
16 ZnsammenBielluzig der Idteratnr über Hysterie.
u. A., dass es 2 Formen des Geschlossenseins der Lider bei Hysterie gebe: eine
schlaffe und eine spastische Form, and er schliesst sich in der Erklärung dieser
beiden Formen Hitzig an, welcher dieselben entweder als den Ausdruck eines
Reizzustandes oder in seltenen Fällen als Zeichen einer Lähmung auffasst.
Zum Schlüsse bespricht Vortr. noch in Kürze die Frage der hysterischen
Pupillenstörungen. Er stellt das Vorkommen einer echten hysterischen Lichtstarre
der Pupillen mit Mydriasis in Abrede, dagegen giebt er zu, dass eine reflectorische
Pupillenstarre durch einen langdauemden Spasmus Iridis, wie ihn Vortr. selbst bei
Hysterie beobachtet hat, vorgetäuscht werden könne. Die Mydriasis der Hyste-
rischen dagegen möchte er stets auf eine Complication mit einem organischen
Nervenieiden oder auf Täuschung zurückführen. Li 2 Fällen war es dem Vortr.
auch gelungen, den Gebrauch eines Mydriaticums nachzuweisen.
Reflectorische Pupillenstarre im hysterischen Anfall ist nach Ansicht Sang er 's
«benfalla nicht sicher erwiesen. Ein Fall, den er selbst beobachtete, lässt eine
Combination mit Epilepsie nicht mit Sicherheit ausschliessen.
Aus der sehr anregenden Discussion, die sich an den Vortrag anschloss, sei
heryorgehoben, dass Oppenheim auf seinen früher veröffentlichten Fall von echter
hysterischer Ptosis mit totaler Amaurose und mit Convergenzkrampf zurückkam;
und bezüglich der bei Hysterischen vorkommenden reflectorischen Pupillenstarre
zur äussersten Vorsicht mahnte. O. selbst hat 15 Fälle beobachtet, in denen die
Lichtstarre der Pupillen ausnahmslos auf Lues oder beginnende Tabes oder pro-
gressive Paralyse, nie auf die Hysterie selbst zurückzuführen war. Bruns giebt
das Vorkommen einer schlaffen hysterischen Ptosis zu, erklärt dieselbe aber, identisch
wie Schmidt-Rimpler, nur als ein passives Herabfallenlassen des Oberlides.
Hysterische Mydriasis mit reflectorischer Pupillenstarre leugnet £. stricte. Stintzing
theilt einen Fall von unzweifelhaft schlaffer Ptosis auf hysterischer Grundlage mit,
die sicherlich von einer willkürlichen Mitwirkung seitens der Patientin gänzlich
unabhängig war. Möbius hält streng an seinem Standpunkte fest, dass es keine
hysterischen Augenmuskellähmungen gebe und dass jede isolirte reflectorische
Pupillenstarre ein Tabessymptom sei. Im Schlusswort weist Sänger noch darauf
hin, dass wir angesichts der in jüngster Zeit sich mehrenden aussergewöhnlichen
hysterischen Symptombilder immer mehr an dem alten Begriff der Hysterie irre
werden müssten und dass wir vielleicht in Bälde zu einer organischen Interpretation
mancher hysterischer Erscheinungen gedrängt würden. Brodmann- Jena.
68. VedeleTj Dysmenorrhoea hysterica. Arch. f. Gynaecologie. Bd.54.
1897. pag. 324.
Verf. stellt gegenüber der in gynäkologischen Kreisen vorwaltend vertretenen
mechanischen Theorie der Dysmenorrhoe, welche die Ursache des dysmenorrhoischen
Symptomcomplexes lediglich in localen Erkrankungen der Genitalorgane sucht, eine
nervöse auf; er geht so weit, die Dysmenorrhoe als ein cerebrales Leiden, als eine
Theilerscheinung der Hysterie zu bezeichnen und bemüht sich, diesen Standpunkt
an der Hand von 57 Krankheitsfällen, von denen 13 eine eingehendere Besprechung
besonders von neurologisehen Gesichtspunkten aus erfahren, zu begründen.
Verf. führt als wesentlichen Grund für seine Ansicht an, dass die Dysmenorrhoe
zeitlich mit der Menstruation meist gar nicht zusammenfalle, dass sie vielmehr fast
stets nachher und im Begleit anderer hysterischer Erscheinungen einsetze. Sie ist
ZnsammensteUong der Literatur über Hysterie. 17
nicht selten das Aeqniyalent eines Yollentwickelten hysterischen Anfalls mit Aura,
tonischen und clonischen Krämpfen. Die Schmerzen sind dabei gewöhnlich nicht
mit Blutaustritt verbunden, sondern letzterer kommt erst mit dem Nachlassen der
Schmerzen. Ausnahmsweise ist der Verlauf ein umgekehrter.
In der Zwischenzeit zwischen den Menses bestehen bei 80^/0 aller Kranken
theils manifeste, theils latente Anzeichen einer hysterischen Neurose, locale und
allgemeine Beschwerden der yerschiedensten Art.
Therapeutisch empfiehlt Verf., ganz im £inklang mit seiner Theorie, aus-
schliesslich eine Behandlung des hysterischen Allgemeinleidens und zwar eine
psychische Behandlung in einer Anstalt. Brodmann -Jena.
69. Weir Mitcheüy The relations of neryons disorders in women
to pelyic disease. — Uniy. med. Magaz. IX. 1897. pag. 389.
Aus den sehr interessanten Ausführungen des heryorragenden Neurologen
können wir hier nur die auf die Hysterie bezüglichen berücksichtigen.
Verf. stellt einen directen caasalen Zusammenhang der Hysterie (wie anderer
Nervenerkrankungen) mit Genitalaffectionen in Abrede. Die Hysterie ist kein
Genitalleiden, sie ist vielmehr das Product anderer primärer schädigender und
pradisponirender Momente, wie der HerediüLt, socialer Factoren etc.; dort wo
man congenitale Atrophien und Verkümmerungen der Genitalien neben Hysterie
findet, sind beide gleichwerthige Symptome ein und derselben Grundursache, einer
allgemeinen Entwickelungsstörung.
Acceptirt man diese Anschauung, so kann man eine Berechtigung zu opera-
tiven Eingriffen an den Genitalien bei Hysterie nicht anerkennen, vor Allem ist
die Laparatomie nach den Erfahrungen des Verf. und nach den in der Literatur
bekannt gewordenen Fällen principiell zu verwerfen. Die Oophorectomie nützt in
der Mehrzahl der Fälle nicht nur nichts, sondern sie führt eine directe Verschlech-
terung des nervösen Zustandes herbei. In den spärlichen Fällen, in denen Erfolge
berichtet wurden, ist Suggestion nicht auszuschliessen.
Als besonders beachtenswerth sei noch die Ansicht des Verfassers hervor-
gehoben, dass Epilepsie niemals von den Genitalien, weder von physiologischen
noch von pathologischen Vorgängen an denselben ausgelöst werden könne und dass
alle sog. epileptischen Anfälle dieser Art einfache hysterische Attaquen seien.
Brodmann- Jena.
70. Biemackij Zur Aetiologie der functionellen Neurosen (Hysterie
und Neurasthenie). Neurolog. Centralblatt 1898. No. 6, pag. 260 ff.
Die kleine Abhandlung vertritt den Gbrundgedanken, „dass der pathogenetische
Schwerpunkt bei functionellen Neurosen nicht im Nervensystem liegen kann** und
unternimmt den kühnen Versuch, das Wesen der Hysterie und Neurasthenie rein
chemisch zu erklären.
Verf. hat bei der Blutuntersuchung von Neurasthenikern und Hysterischen
zufällig eine Veränderung der Blutsedimentirung gefunden in dem Sinne, dass das
Blut bei Neurasthenie sehr langsam sedimentirte und nur ganz wenig Fibrin
(l,7<^/go statt 2®/m) ausschied, während das Blut bei Hysterie abnorm rasch sedi-
mentirte und einen Fibringehait von 4^/oo aufwies. Umfangreiche Controlunter-
suchungen an ca. 60 ELrankheitsfäUen haben diese Beobachtung bestätigt und dem
Zeitsdirift fttr Hypnotismiis etc. YIII. 2
18 Zoiammeiistelliiiig der Liieratnr über Hysterie.
Verf. den Beweis gebracht, dass bei Hysterie und Neurasthenie der Gehalt an
Fibrinogenen, sowie das Verhältniss der Fibrinmenge zur Fibrinogenmenge „oonstant
abnorm** sind.
Verl stellt nun ohne nähere Begründung — eine solche ist übrigens zuge-
standenermaassen heutzutage gar nicht möglich — die Behauptung auf, dass
diese oonstanten Sedimentirungsbefnnde die specifischen Veränderungen und die
primären Ursachen des hysterischen resp. neurasthenischen Symptomcomplexes seien ;
sie sind nach Ansicht des Verf. der Ausdruck pathologischer OxydationsYorgänge
und die Hysterie resp. Neurasthenie würden demnach „Erkrankungen ganz von
demselben Wesen sein, wie die Zuckerkrankheit, Gicht, krankhafte Adipositas,
überhaupt pathologische Zustände, welche auf abnormen Ozydationsprocessen im
Organismus beruhen**. Einen indirecten Beweis für die Bichtigkeit seiner These
sieht Verl darin, dass die hystero-neurasthenische Neurose auch secundär als Folge
verschiedenartiger Constitutionskrankheiten auftreten kann, so bei Chlorose, Gicht,
Morbus Basedowi etc. Die subjectiyen Beschwerden bei diesen Erkrankungen, so
Ifihrt der Verf. ans, sind die Symptome der Hystero-Neurasthenie und die chloro-
tische Neurose ist durch nichts zu unterscheiden von einem idiopathischen hystero-
neurasthenischen Symptomcomplex.
Referent möchte sich einer Kritik der vorgezeichneten Hypothesen enthalten, so
lange nicht eine Bestätig^ung der behaupteten „constanten Sedimentirungsanomalien**
von anderer Seite stattgefunden hat. Als erwähnenswerth mag nur noch hervor-
gehoben werden, dass Verf ein Verständniss der Hysterie auf chemischem Wege für
leichter hält als auf psychologischem; so sucht er z. B. das Zustandekommen hyste-
rischer Symptome durch Autosuggestionen in der Weise zu interpretiren, dass er
kurzer Hand erklärt: die Froducte der hystero-neurasthenischen Oxydation modi-
fieiren die Suggestibilitöt in analoger Weise, wie der Weingeist den Gang der
Associationen. — Damit ist allerdings der Schleier der Suggestion wesentlich gelüftet.
Soweit die Theorien des Verf.! Wie es mit der practischen Erfahrung des-
selben bestellt ist, mag der Sachkundige daran erkennen, dass er die Hysterie und
Neurasthenie für „eigentlich unheilbar** hälL Brodmann- Jena.
71. Ghiisy, Dr. BartheUmy^ Un cas d'anurie hyst^rique avec elimi-
nation suppl^mentaire d'ur^e ayant dur6 douze jours chez une
femme hyst^rique gu^rie complStement. Journal de neurologie et d^hypno-
logie. 1898. 8.
39 Jahre alte Wittwe in den ärmlichsten Verhältnissen, welche seit dem Tode
ihres Mannes hysterische Anfälle mit Convulsionen und Hallucinationen hat. Bei
der Nachricht von dem Tode des Sohnes erneuter Anfall, darnach Parese der
Unterschenkel, 4 — 5 Tage später unstillbares Erbrechen, Verminderung der Urin-
menge, der nur alle 2 oder 3 Tage gelassen wird, jedes Mal etwa nur eine Kaffee-
tasse voll. Am 8. Tage starker Katarrh mit Ausfluss einer gelblichen, nach Urin
riechenden Flüssigkeit aus Nase, Augen, Ohren und Vagina.
Verf. findet am 9. Tage eine blasse, anämische Kranke mit halboffenem Munde,
der weder weiter geöffnet, noch geschlossen werden kann, Augen- und Nasenschleim-
haut sind congestionirt, geschwollen und geröthet Von ihnen herab und ebenso
aus den Ohren fliesst unaufhörlich eine serumartige, etwas trübe, ammoniakalisch
riechende Flüssigkeit, deren Analyse einen Gehalt an reinem Harnstoff von 3,64 ®/o
ZoBammenstelliing der Idterator über Hysterie. 19
auf ein Liter ergiebt. Ebenso enthält das Erbrochene Harnstoff. Seit 9 Tagen
will sie nur etwa ein halbes Weinglas Urin gelassen haben. Mit dem Katheter
wird nur eine ganz minimale Menge aus der Blase entleert. Es besteht weder
Schweissaosbruoh noch Diarrhoe.
Ausserdem wurde beobachtet Parese der Extremitäten, besonders der linken,
Anästhesie des Gesichts, des Nackens, der Ohren; Hyperästhesie der Stirn und der
behaarten Kopfhaut; unvollständige Anästhesie der Glieder an der Vorderseite,
ebenso inselförmige Stellen an der Vorderseite des Bumpfes. Normal war die
Sensibilität der glänzen Rückseite.
Im Verlaufe der Behandlung hörte das Erbrechen auf, die Sensibilitäts- und
Motilitätsstörungen gingen zurück, die Urinmenge begann sich allmählich zu heben,
nach 14 Tagen 6 — 600 gr; die Kranke wurde mit einer Urinmenge von 1000 gr
entlassen.
Verf. wirft dann die Frage auf, wie man sich die Erscheinimg der hysterischen
Anurie erklären könne und wie denn die Ausscheidung des Harnstoffs durch Magen,
Naae etc. zu Stande komme. Die Erklärung des Verf. ist jedoch sehr oberflächlich
«md berührt nur die allerselbstverstimdlichste Seite der ganzen Frage. Denn was
bietet uns der Verf. denn Neues, wenn er erklärt, eine Gemüthserregung setzt auf
reflectorischem Wege das vasomotorische Gentmm im Rückenmark in Thätigkeit,
das auf den Bahnen des Sympathicus eine Zusammenziehung der renalen Gefässe
und damit ein Stocken der Urinausscheidung bewirkt. Der im Blut zurückgehaltene
und sich häufende Harnstoff regt nun andere Drüsen und die Schleimhäute zur
Hypersecretion an und wird von diesen ausgeschieden. Diese physiologische Seite
der Vorgänge ist ja eine längst bekannte Thatsache, viel wichtiger und der Er-
klärung bedürftig ist dagegen das psychische Moment des ganzen Vorgangs, die
Frage, wie ist es überhaupt möglich, dass ein psychischer Vorgang einen so ein-
schneidenden Einfluss auf die Function eines Organes ausüben kann, und wie kommt
es, dass im vorliegenden Falle von Hysterie sich dieser Einfluss gerade auf die
Nieren und nicht auf jede andere beliebige Drüse geltend macht. Diese Fragen
werden vom Verf. überhaupt nicht angeworfen. Tecklenburg-Leipzig.
72. «7. Crocq fila et Q, MarUno, Un cas d'apoplexie hystörique ayant
simul^ ä s'y m^prendre une apoplexie protub^rantielle avec Syn-
drome de Millard-Gubler. Journal de neurologie et d'hypnologie. 1898. 9.
Verf. will im Gegensatz zu anderen Autoren, besonders Achard, die Be-
zeichnung als hysterische Apoplexie nur auf diejenigen Fälle angewandt wissen, in
denen den Lähmungserscheinungen „ein plötzlicher Verlust des Bewusstseins, der
Sensibilität und Motilität, ohne wesentliche Veränderung der respiratorischen und
ciroulatorischen Functionen*' vorausgegangen ist, sonst mtisste man die Uuzahl von
hysterischen LÄhmungen, die alle mehr oder weniger plötzlich entstanden sind,
ebenfalls dazu rechnen. Die hysterische Apoplexie kommt vor bei Männern und
Frauen, sie bevorzugt das mittlere Lebensalter; oft gehen ihr andere hysterische
Erscheinungen voraus, oft ist sie die erste ; manchmal hat sie Prodrome, manchmal
keine; oft tritt sie nach Gemüthsbewegungen auf, oft ohne jede ersichtliche Ursache.
Der Kranke stürzt plötzlich zusammen mit völliger Bewusstlosigkeit und all den
Erscheinungen, die auch bei der organischen Apoplexie vorkommen, nur soll nach
frfiheren Autoren das Athmen nicht stertorös, das Gesicht nicht congestionirt sein,
2*
20 Znsammenstellaiig der Literstar über fiyiterie.
sondern den Aasdmck des mhigfen Schlafes haben. Die Tjahninng kann eine nn-»
vollständige sein, dagegen ist immer eine flemianästhesie sn beobachten. Die
Facialisparese, die entweder auf der der Extremitätenlähmnng entsprechenden oder
entgegengesetzten Seite sitzt, wird nur yorgetänscht dnrch den von Charcot be-
schriebenen Spasmus glosso-labialis der anderen Seite. Bei rechtsseitigem Sitz der
Hemiplegie kann vorübergehende Aphasie beobachtet werden.
Bei Stellung der Differenzialdiag^ose ist zu achten auf eventuelle hysterische
Antecedentien, Alter, Syphilis, Atherom, Herzfehler, etwaige vorhergehende Gemüths*
erregungen, Eintritt des Anfalls selbst, auf die Symptome von Seiten des Circa»
lations- und Kespirationssystems. Hierbei hebt Verf. hervor im Gegensatz zu der
nach anderen Autoren gegebenen obigen Symptomatologie, dass die Diagnose noch
erschwert werden kann wie in seinem Fall, in dem das Gesicht stark congestionirt^
die Kespbation geräuschvoll schnarchend und ausgesprochen stertorös war. Wesent-
lich erleichtert wird die Differenzialdiagnose, sobald der Elranke wieder zum Be-
wusstsein gekonmien ist. Die Pseudoparalyse des Facialis lässt sich dann daran
erkennen, dass in der spastischen Musculatur der anscheinend gesunden Gesichta-
hälfte kleine Zuckungen, in der anscheinend gelähmten, dagegen ganz normal»
Bewegungen bei mimischer Anregung auftreten. Femer tritt dann das Vorhanden-
sein der Hemianästhesie und des epigastrischen Reflexes hervor, die bei den or-
ganischen Apoplexien gewöhnlich fehlen. Das Verhalten des Facialis kann eine
Hemiplegia altemans vortäuschen.
Der vom Verf. beobachtete Fall betrifiFt eine Frau von 23 Jahren. Sie ist
belastet, hat vor einem Jahre schon hysterische Delirien gehabt, war dann acht
Monate gesund. Sechs Wochen vor dem Fintritt ins Hospital (am 11. Februar)
plötzlich Astasie- Abasie, Verfolgungs- und Suicidalideen, Fehlen der Patellarreflexe,
Einengung des Gesichtsfeldes. Verschwinden sämmtlicher Erscheinungen in wenigen
Tagen, dafür aber Auftreten von grossen hysterischen Anfällen, welche unter
hypnotischer Behandlung bald verschwinden, bald wieder auftreten. Am 1. April
fällt die Kranke plötzlich zusammen, bewusstlos, Gesicht stark congestionirt, die
Glieder schlaff, linke Seite gelähmt, Gesicht nach links gewendet, der rechte Mund-^
winkel scheint herabzuhängen, die Furchen und Falten der Haut erscheinen un-
deutlicher als links. Die Respiration ist stertorös, hebt und öffnet den rechten
Mundwinkel, die Zunge fällt nach hinten und muss wegen der Respirationshindening^
vorgezogen werden. Urin und Stuhl zurückgehalten, vollständige Anästhesie. Die
Erscheinungen bleiben fast dieselben bis zum 4., nur tritt eine Contractur im Beine
auf in halber Flexionsstellung. Dann kehrt das Bewusstsein zurück, die Athmung
wird leichter» Schlucken und Sprechen sind jedoch noch unmöglich, Zuckxmgen in
der spastischen, normale Bewegungen in der anscheinend paralytischen Gesichts-
hälfte, Anästhesie der linken Seite ausser im Gesicht, Ovarie. Bis zum 25. April
sind allmählich alle Erscheinungen verschwunden und die Kranke wird, ohne wieder
einen Anfall gehabt zu haben, entlassen.
Verf. ist der Ansicht, dass erst am dritten Tage die Diagnose auf hysterische
Apoplexie gegenüber einer organischen bulbären Apoplexie, einer hemiplegia altemans
zu stellen war und zwar auf Grund der folgenden Erscheinungen : 1. Der schnellen
Besserung ; 2. des Auftretens von spasmodischen Oontractionen in der contracturirten
Gesichtshälfte ; 3. der normalen Contractionen auf der pseudoparalytischen Gesichts-
leite beim Lachen; 4. der Anästhesie; 5. der Ovarie; 6. der Contractur der
unteren Extremität. Tecklenburg-Leipzig.
ZuiAmmenftellang der Literatur über Hysterie. 21
73. P.Sottier, Gendse et natare de l'hy8t§rie. 2 Bände. 526 u. 333 S.
Paris 1897. F^lix Alcan.
Der erste Band enthält die theoretischen Ansführong^n des Verf., der zweite
bringt zur Erhärtung seiner Ideen 20 Beobachtungen. Verf. fasst die ersteren am
Ende des 1. Bandes foigendermaassen zusammen:
„Die Hysterie ist eine functionelle materielle Erkranku ng des
Oehirnes, die in einem looalisirten oder allgemeinen, Torüber-
gehenden oder dauernden Schlaf (engourdissement ou sommeil)
Ton Hirncentren besteht und je nach den ergriffenen Centren
Tasomotorische, trophische, viscerale, sensorielle oder sensible,
motorische oder psychische Erscheinungen zur Folge hat und je
nach ihren Variationen, ihrer Intensität und Daner sich durch
Tornbergehende Anfälle, dauernde Stigmata oder Faroxysmen
äussert. Die Hysterischen sind Vigilambule, deren Sohlafznstand
mehr oder weniger tief, mehr oder weniger ausgedehnt ist.**
Diese Zusammenfassung seiner Ausfuhrungen von Seiten des Verf. enthält
zunächst — das sei gleich hier hervorgehoben — nichts über die Genese, sondern
ausschliesslich Aeusserungen über die Natur der hysterischen Erscheinungen.
Wenn nun Verf. glaubt, der Erste gewesen zu sein, der hysterische Bewusst-
aeinszustände auf Schlaf hemmungen zurückgeführt habe, so irrt er sich entschieden.
Diese Ansicht hat z. B. Ref. bereits seit Jahren vertreten.^)
Wenn Verf. dann weiter glaubt, durch Zurückfuhrung der hysterischen Be-
wnsstseinszustände auf Schlafhemmungen die bisherigen psychologischen Theorien
^durch eine physiologische** zu überbieten, so ist dazu Folgendes zu bemerken.
Wohl jeder, der in den letzten Decennien eine wichtige Arbeit über die Hysterie
veriasst hat, stand auf einem psychophysiologischen Standpunkt.*) Er hat deshalb
much immer, wo er in der Hysterie psychische Veränderungen constatirte, das
\gleichzeitige Vorhandensein materieller Abnormitäten als selbstverständlich v^oraus-
gesetzt. Wenn nun der Verf. die materiellen Abnormitäten unter den Begriff des
Schlafes zusammenfasst, so bezeichnet er damit die materielle Natur dieser Abnor-
miUiten durchaus nicht näher. Denn wir kennen die physische Ghnmdiage des
•43chlafes nicht. Die Schlafhemmung können wir nur näher psychologisch definiren.')
Der Begriff „Schlaf ist also vorläufig wesentlich nur ein psychologischer Begriff.
Nun hat aber — das wird aus den weiteren Ausführungen hervorgehen — der
Verl den Begriff der Schlafhemmung nicht einmal in der Schärfe angewandt, die
wir ihm vom psychologischen Standpunkt aus geben können. So kann Bef. in den
Sohlussfolgerungen des Verf. nicht nur nicht bezüglich unserer Kenntniss von der
materiellen Grundlage der Hysterie einen Fortschritt sehen, sondern er kann in
ihnen überhaupt keine wesentliche Vertiefung der Hysteriefrage erblicken.
') ^S^' 2. B. Vogt, Zur Kenntniss des Wesens und der psychol. Bedeutung
des Hvpnotismus. Diese Ztsclir., Bd. III, pag. 326, Anm. 4.
^ Wenn Verf. gelegentlich Bd. I, pag. 260 erklärt, dass selbst die Physio-
Pkychologen aus dem „Gedanken** ein „rhänomen besonderer Art** machten, »das
mäk selbst bestimmt und sich beinahe ausserhalb des Organismus offenbart**, so
beweist Verf. damit, dass er die Lehre der „Physio-Fsychologen** einfach nicht ver-
standen hat.
*) Vgl. O. Vogt, lieber die Natur der suggerirten Anästhesie. Diese Ztschr.,
Bd. VU, pag. 33651
22 Zoiftinmenitellong der Literatur über Hysterie.
Verf. geht yon den retrograden Amnesien der Hysterischen aus. Diese rufen
in dem Beobachter den Gedanken wach, als ob die Hysterischen, „seit Jahren ein-
geschlafen^, beim Aufhören der Amnesien „erwachten**, indem sie glaobten daa
Datum zu haben, an dem sie „eingeschlafen** waren. Weiter fuhrt Verf. dann aas,
dass überhaupt die Beobachtung des ganzen Ghebahrens der Hysterischen in uns
die Idee hervorrufen muss, dass wir „somnolente** Personen in den Hysterischen
vor uns haben.
Verf. geht dann des Naheren auf einen für ihn sehr wichtigen Punkt ein:
auf die Insomnie der Hysterischen. Er hebt in einer dem Bef. allerdings etwas
za weit gehenden Weise die bisher klinisch sehr vernachlässigte Thatsache hervor,
dass die Hysterischen constant Störungen ihres Nachtschlafes zeigen. Diese Insomnie
will Verf. nun dadurch erklären, dass die Hysterischen bereits in einem patho-
logischen Schlafznstand sich befänden und sie doch nicht zwei Mal auf ein Hai
schlafen könnten. Es wird wohl Niemand eine solche Erklärung anerkennen. Wo
immer der normale Schlafzustand eintritt, muss der vorhergehende Bewusstseins-
zustand diesem weichen. Beim normalen Menschen weicht das Wachsein dem
Sohlafzustand. Bei dem Neurastheniker, der an Insomnie leidet, weicht das Wach-
sein nicht einem solchen Schlafzustand. Ist deshalb das Wachsein des Neurasth^
nikers ein Schla£sustand? Dieselbe Frage lässt sich aber für das hysterische Be-
wusstsein wiederholen. Ja wir können sogar einen Schritt weitergehen. Wenn wir
erst oberflächlich schlafen und dann allmählich tiefer einschlafen, so beruht daa
doch darauf^ dass die Schlafhemmung sich ausdehnt und vertieft. Wenn nun der
Hysterische eine solche circumscripte Schlafhemmung hat: warum dehnt diese sich
Nachts nicht zu dem Zustand eines allgemeinen tiefen Schlafes aus? Hier scheint
dem Ref. das Problem der hysterischen Insomnie zu liegen. Für diese Frage-
stellung finden wir aber keine Antwort beim Verf.
Im Gegensatz zu dieser Insomnie ist dann aber die leichte Hypnotisirbarkeü
mancher Hysterischer hervorzuheben. Hier konnte sich Verf. dann aber vollständig
überzeugen, dass es der „einfache und reine hypnotische Somnambulismus** war,
den er erzielte, nie aber der natürliche Schlaf. Verf. macht darüber keine detail-
lirten Angaben. Er giebt seine Hypnotisirmethode nicht an. Dass er seinerseits
bei seinen Hypnotisirversuchen spontane Somnambulien und ähnliche Zustände aus-
gelöst hat, ist sehr gerne möglich. Verf. fügt — das sei hier nur nebenbei bemerkt
— hier und da eine Bemerkung über den Hypnotismus hinzu. Daraus geht hervor
dass Verf. durchaus nicht auf diesem Gebiete zu Hause ist. Wir wollen deshalb
auch seinen Bemerkungen keine weitere Beachtung schenken.
Verf. stützt dann des Weiteren seine Anschauung, dass die Hysterie einen
Schlafisustand darstelle, darauf, dass es ihm gelungen ist, durch den in der Hypnose
gegebenen einfachen Befehl, zu erwachen, eine vollständige Heilung von Hysterien
mit den mannigfaltigsten Symptomen zu erzielen. Da, wo er nicht sofort eine
Beseitigung aller Symptome erreichte, ist er dann zum partiellen „Erwecken*'
der noch bestehenden Schlafzustände übergegangen. Als Mittel dazu dienten dem
Verf. 1. weitere Befehle in der Hypnose, 2. eine Fixation der Au&nerksamkeit auf
die schlafenden Bewusstseinselemente durch Worte oder durch mechanische Reize
und 3. die Isolirung, über deren Wirkungsweise Verf. sich nicht äussert. Dass die
unter 2 genannten Mittel durch Erwecken wirkten, ging daraus hmror, dass sie
ganz dieselben Reaotionen hervorriefen, wie der Befehl, zu erwachen. So ist der er-
Zusammezutellimg der Idterator über Hyiterie. 83
reichte therapeatische Erfolg dem Verf. yon Neuem eine StütM for leiae Anffassimg
der Hysterie als eines Schla£Enstandes.
„Aus einer Hypnose erweckt"» so berichtet Verl in seiner 1. Beobaohtnng
(Bd. n, pag. T)f „frage ich M. plötzlich: »Wenn Sie am Tage nmhergehen und
arbeiten, schlafen Sie dann oder wachen Sie?< Sie sieht mich an, zögert und ant-
wortet: »Ich weiss nicht; ich bin immer, als wenn mir alles eigeschlafen wäre (je
suis toujours comme engourdie).« »Also«, antworte ich, >weil Sie es nicht wissen,
wollen wir es antersachen.€ Ich schläfere sie ein und sage ihr, vollständig, absolut
Yollständig zu erwachen, wenn ich ihr über die Augen blase. Sie erwacht, reibt
sich die Augen, blickt um sich, glaubt (statt im Jahre 1894) im Jahre 1890 zu sein,
erkennt nichts von ihrer Umgebung, hat aber einen Theil ihrer hysterischen Sym-
ptome verloren. Verf. legt grossen Werth darauf, dass er dieses JElesultat durch
den Befehl, vollständig zu erwachen, erzielt hat. Dem Bef. scheint aus dem
B>esultat, den der Befehl zu erwachen zeitigte, nichts weiter hervorzugehen, als
dass es sich um eine Hemmang handelte, die durch eine Vorstellung plötzlich
theilweise beseitigt wurde. Denn die Patientin, die zuvor erklärt hatte, ,Je suis
comme engourdie" hatte nach Ansicht des Ref. die Aufforderung, vollständig zu
erwachen, doch einfach so aufgefasst, dass sie unter Beseitigung des „engourdisse-
ment** erwachen sollte.
Ueber die Beactionen nun, die Verf. constant beobachtete, wie immer er auch
den sich als Anästhesie äussernden Schlaf beseitigte oder — wie sich der Verf.
ausdrückt — die Sensibilität erweckte, sei Folgendes hervorgehoben. Verf. constatirt
zunächst als Reactionen der Extremitäten bei allmählicher Bückkehr der
Sensibilität: erstens unempfiindene unwillkürliche Bewegungen, dann mehr oder
weniger dunkel empfundene unwillkürliche Bewegungen, darauf Parästhesien in
dem betreffenden Eörpertheil und dann schliesslich Bückkehr der Sensibilität:
und zwar zunächst der Schmerz-, dann der Tastempfindung und schliesslich des
Muskelsinnes, umgekehrt wie ihr Verschwinden bei Sensibilitätsstörungen. Vom
Kuskelsinn kehren zuerst die Bewegungs- und dann die Lageempfindungen zurück.
Bezüglich des Verhältnisses zwischen Motilität und Sensibilität betont Verf., dass
bei absoluter Anästhesie eine vollständige Paralyse besteht. Er bestätigt so die
von Ddllken und Ref. beobachtete Thatsache. Verf. ist weiter bestrebt, eine
Reihe hysterischer Bewegungsstörungen, wie Zittern, choreatische, athetotische
und atactische Bewegungen auf Störungen der Sensibilität zurückzuführen.
Es sei schliesslich hervorgehoben, dass Verl beim Schwinden einer suggerirten
Anästhesie (bei hysterischen Personen) dieselben Reactionen beobachtete und dass
er femer während der Anästhesie einer Extremität eine Hyperästhesie in der
Gegend der betreffenden Rückenmarksanschwellung und der betreffenden Grosshim«
rindenregion beobachtet hat. Ref. hat bei mehr als 20 theils hysterischen, theils
nicht hysterischen Versuchspersonen durch Wachsuggestionen Anästhesien einer
Extremität bis zu deren Paralyse herbeigeführt. Er hat niemals weder bei der
Suggestion, noch bei der Desuggestion solche Reactionen beobachtet, wie sie Verf.
beschreibt. Ebenso wenig fand er einen cerebralen oder einen medullären Druck-
punkt
Ver£ behandelt dann die Anästhesie des Intestinaltractus, der Ge-
schlechtsorgane, der Brustorgane, des Gesichts, der Augen, des Ge-
hörs und die Eneheinungen beim Verschwinden derselben. Alle diese Organe
24 Zaasmmenstellnng der Literatur fiber Hysterie.
können in Folge eines Schlafes der betreffenden Himcentren anasthetasch werden.
Diese Anästhesie erstreckt sich auch auf die über ihnen liegenden Hautstellen. Bei
ihrer Beseitigung treten (soweit möglich) zunächst unempfundene, dann empfundene
unwillkürliche Bewegungen und darauf Parästhesien auf.
Verf. steUt schliesslich die Existenz einer Anästhesie des Gehirns fest!
Bei ihrem Schwinden treten Anfangs unempfundene, dann empfundene Bewegungen
des Kopfes auf, ihnen folgen Parästhesien. Mit Schwund der Anästhesie Beseitigung
der Yorhandenen psychischen Störungen und derjenigen der körperlichen Sensibilität.
Bezüglich der Beseitigung der retrogrraden Amnesie sei noch herrorgehoben, dass
die Patienten kurz die ganze Zeit seit Beginn ihrer Krankheit nochmals durch-
lebten.
Im 3. Kapitel wendet sich Verf. der Interpretation der somatischen
Erscheinungen der Hysterie zu. Ver£ äussert sich hier zunächst über die
Paralysen und Contracturen der traumatischen Hysterie. Sie sind
nicht die Folge einer Idee, sondern die directe Folge von Sensibilitätsstörangen
nnd diese hin¥nedernm sind auf die Shokwirkung oder bei bereits Hysterischen
eventuell auch auf eine rein mechanische Verschlimmerung vorhandener Sensibilitäts-
störungen zurückzuführen. £benso wie diese motorischen Störungen sind alle
Verdauungsstörungen auf Sensibilitätsstörungen zurückzuführen. Dabei macht
Verf. nebenbei die Bemerkung, dass zuerst immer der Specialsinn schwinde, und
dann erst der Tastsinn und resp. der Muskelsinn. Als erste Störung der Sensibilität
des Magens ist nach Verf. der Verlust des Appetits ; der „specifischen*' Empfindung
des Magens anzusehen. Hier möchte Ref. nur bemerken, dass einer persönlichen
Mittheilnng des verstorbenen Physiologen Ludwig zu Folge auf Grund von Thier-
experimenten angenommen werden muss, dass der Hunger nicht durch den Magen,
sondern durch den Darm ausgelöst wird. Die Atonie des Magens führt Verf. auf
Anästhesie der Mnscularis zurück, wie endlich auch ein Rapport zwischen Anästhesie
der Mucosa und Drüsensecretion besteht. Weiterhin sieht Verf. in der Ob-
stipation auch nur eine Sensibilitätsstörung und weiterhin nur einen Schlaf des
visceralen Rindencentrums. Kennt Verf. wirklich keine hysterische Obstipation
ohne Anästhesie der Bauchwandungen? Dasselbe gilt von Blasenstörungen.
Aenderungen der Nierensecretion führt Verf. auf Aenderungen des Blutdrucks
und des Gefässvolumens zurück. Den Mutismus, das Stottern, Spasmen
des Larynx, Niessen, Gähnen, Asthma u. s. w. sind nur auf Sensibilitäts-
störungen zurückzuführen. Dass, um nur noch an eine der zuletzt erwähnten Er-
scheinungen ein kritisches Wort anzuknüpfen, der Mutismus in der Form der Sen-
somobilitätsstörung auftreten kann, ist sicher richtig. Aber es giebt auch anderer-
seits sicher Fälle, wo bei Mutismus die Sensibilität intact ist. Ref. möchte femer
kurz auf die Arbeit Kattwinkel's^) hinweisen, aus der hervorgeht, dass das
Fehlen des Würgreflexes durchaus nicht auf Anästhesie der Schleimhaut zu schliessen
gestattet. Die Pseudoangina pectoris ist Folge einer Störung der Sensibilität
des Herzens. Die vasomotorischen Störungen der verschiedensten Art sind
auf den Schlaf eines vasomotorischen, das hysterische Fieber auf denjenigen eines
thermischen Rindencentrums zurückzuführen.
^) Kattwinkel, Die Aufhebung des Würffreflexes und ihre Beziehung zur
Hysterie. Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 57. Vgl. das bezügliche Referat in der
Ztsehr. f. Hypn., Bd. VI, pag. 2d5, diese Zusammenstellung, Nr. 6.
Zusammensteilnng der Literatar üb«r Hysterie. 26
Im 4. Kapitel giebt Verf. eine Interpretation der psychischen Erschei-
nungen der Hysterie, und zwar zunächst die der Anfälle. Die classischen An-
fälle Charcot's mit den 4 Stadien unterscheiden sich von den leichteren nur durch
grössere Intensität des auftretenden Schlafzustandes. Die letzteren theilt Verf. mit
P. Jan et in zwei Hauptgruppen. Nach einer emotioneUen Aura tritt mehr oder
weniger ausgeprägte Bewusstlosigkeit ein und dann folget entweder ein convulsiTes
oder ein syncopales Stadium. Verf. interpretirt diese Attaquen in der Weise, dass
zunächst eine zunehmende Anästhesie auftritt, diese in der Bewusstlosigkeit ihren
Gipfel erreicht, um dann allmählich zu yerschwinden, auf diese Weise die Gon-
▼ulsionen als Keactionen des Erwachens der Sensibilität der Extremitäten nach sich
ziehend; oder aber die Anästhesie befällt wesentlich nur die Eingeweide. Dann
handelt es sich um die syncopale Form der Attaque. Nimmt Verf. also niemals
eine Bewusstlosigkeit bei syncopalen Anfällen an? Wenn aber, dann muss Verf.
doch zugeben, dass die Anästhesie in syncopalen Anfällen auch die Extremitäten etc.
befallen kann. Wenn weiter die hysterische Syncope in einen allgemeinen Schlaf
übergegangen ist, ein Vorkommen, das der Verf. anerkennt, ist da nicht auch eine
Anästhesie des äusseren Körpers yorhanden? Ref. hat femer in einer ganzen
fteihe von syncopalen Anfällen völlige Anästhesie des Körpers nachweisen können.
In anderen allerdings war diese Anästhesie weniger ausgeprägt.^) Aber selbst
wenn die Zurückführung der verschiedenen Formen von hysterischen Attaquen auf
verschiedene Grade der Anästhesie richtig wäre, warum reagiren dann verschiedene
Personen auf eine gemüthliche Erregung mit verschiedenen Schlafraständen ? Hierauf
giebt uns Verl aber keine Antwort.
Entsprechend seinem „physiologischen^ Standpunkt leugnet Verf., dass die
Erinnerungsbilder von peinlichen Erlebnissen, die in den hysterischen Delirien immer
wieder auftreten, diese selbst auslösen. Vielmehr treten zunächst Sensibilitätsstörungen
auf. Diese führen einen von früher her associirten Bewusstseinszustand (Stat de per-
sonnalit^) herbei und erst dann treten als diesem eigen jene betreffenden Erinnerungs-
bilder hervor. Als Hauptbeweis führt Verf. an, dass er einige Hysterien g^eheilt
habe, ohne jene Erinnerungsbilder zu beseitigen, einfach durch Erweckung der
Sensibilität. Hef. sieht darin durchaus keinen Beweis, dass jene Erinnerungsbilder
nicht doch noch bei der Pathogenese jener Anfalle von Bedeutung gewesen seien.
Verf. hält durchaus für möglich, dass in den Beobachtungen des Verf. jene Er-
innerungsbilder bei den Patienten erst nach dem Auftreten von Sensibilitätsstörungen
bewusst geworden sind. Aber sie können trotzdem — wie es Freud und Breuer
nach Ansicht des Ret in unzweideutiger Weise gezeigt haben — zuvor in einem
„bewusstseinsunfahigen*' Zustand pathogen gewirkt haben. Andererseits muss aber
dem Verf. gegenüber betont werden, dass — und zwar nach Ansicht des Ref. die
grössere Mehrzahl — Fälle von Hysterien, denen unzweifelhaft der von Freud
und Breuer zuerst aufgedeckte Mechanismus zu Grunde lieget, heilen, ohne dass
man jene Erinnerungsbilder direct zu beeinflussen sucht. Es liegt in einem thera-
pentischen Erfolg, wie ihn der Ver£ zu verzeichnen hat, noch gar kein Beweis für
die Unabhängigkeit solcher Delirien von gewissen Erinnerungsbildern.
Verf. bekämpft — das sei nebenbei bemerkt — entschieden mit Recht P. J a n e t ,
*) Vgl. 0. Vogt, Zur Kenntn. d. Wes. u. d, psych. Bed. d. Hypnot. Diese
ZtMhr., Bd. III, pag. 327 f.
26 Zmammenstelliing dar lateratnr über HyiUrie.
wenn dieser jene in den Delirien immer wieder auftretenden Bewnastseinserschei-
nnngen als „idSes fixes** bezeichnet. Man könne die Ideen dagegen als „persistirende^
bezeichnen, da sie am längsten dem Einschlafen widerständen.
In dem folgenden Abschnitt, der den Somnambolien gewidmet ist, behandelt
Verf. in eingehender Weise den Hypnotismos and die Suggestion. Ref. hat schon
oben des Verf. Verständniss für diese Fragen characterisirt. Verf. bringt dorchans
nichts Neues, sondern wärmt gewisse Behauptungen der Char cot 'sehen Schule
wieder auf. Verf. meint an einer Stelle, er wende den eigentlichen Hypnotismus
überhaupt nicht an. Wenn er ihn aber nicht anwendet, so kennt er ihn auch nicht
und so können uns auch seine Ansichten nicht weiter interessiren.
Im 5. Kap. behandelt Verf. die Stigmata.
Bezüglich der Anästhesie hebt Verf. zunächst hervor, dass er in den fie-
actionen, die durch die Sensibilitätsstörung yeranlasst wird, auch für die Intensitäts-
unterschiede nicht mehr zu Bewusstseinserscheinung^n führender Sensibilitäts-
störungen einen Maassstab habe. Dann behauptet der Ver£, dass eine Hemianästhesie
oder localisirte Anästhesien nie isolirt vorkommen. Stets ist die andere Seite, resp.
die Umgebung auch hypästhetisch. Das häufigere Auftreten linksseitiger Sensi-
bilitätsstörungen sei darauf zurückzuführen, dass die rechte Himhälfte weniger
fhnctionire und deshalb leichter einschliefe. Als Ursachen von Anästhesien führt
Verl an: Chloroformirung, Hypnose, Kälte, locale Verletzung, irgendwie bedingte
Unbeweglichkeit eines Körpertheils und Gemüthsbewegungen.
Die Druckpunkte führt Verf. auf einen mittleren Grad von Herabsetzung
der Sensibilität zurück. Die Ovariendruckpunkte verlegt Verf. bald in den Genital-
apparat, bald in den Darm, bald in die Bauchmuskeln. Die Druckpunkte veran-
lassen den Verf. des Weiteren zu einer Behauptung, die — wenn sie wahr wäre —
eine sehr folgenschwere seL Verf. glaubt constatirt zu haben, dass die einem Organ
übergelagerte Haut stets dieselbe Sensibilitätsstörung zeigt wie das darunter ge-
legene Organ. Nun macht Verf. auch den umgekehrten Schluss. Verf. schliesst
von einer Sensibilitätsstörung der Haut auf eine verwandte des darunter liegenden
Organs. Diese Schlussfolge speciell auf das Gehirn anwendend, glaubt Verf. nun
aus einem Druckpunkt an der Schädeldecke auf eine circumscripte Anästhesie oder
Schlaf des darunter gelegenen Himrindentheils schliessen zu dürfen. Nun behauptet
Verf. weiter — wie wir schon oben sahen — dass bei Anästhesie der Extremitäten
die über den betreffenden Eindencentren befindlichen Schädelstellen Druckpunkte
zeigten. Verf. hat femer einen Farallelismus zwischen dem Auftreten gewisser
derartiger Druckpunkte am Schädel und demjenigen der Anästhesie der verschie-
denen inneren Organe gefunden. Er glaubt auf diese Weise die Rindencentren
jener Organe gefunden zu haben. Aehnliche Schlüsse macht Verf. fur's Rücken-
mark. Ref. hat bereits oben hervorgehoben, dass er Druckpunkte am Schädel bei
Anästhesie der Extremitäten nicht hat nachweisen können. Andererseits hat er die
psychogene Natur der Druckpunkte am Schädel öfter feststellen können. Zu den
speciellen Behauptungen des Verf. möchte Ref. schliesslich die Bemerkung machen,
dass man in der Hysterie auch Druckpunkte über dem Stimhim beobachten kann.
Bezüglich der Amyosthenie giebt Verl an, dass sie peripherer Natur und
durch Gefasslähmung bedingt seL Im Uebrigen führt er die motorischen Stigmata
auf Sensibilitätsstörungen zurück.
Schliesslich stellt Verf. die Amnesien, Aboulien und Veränderungen des Cha-
Znsunmenstelliiiig der Liieratar über Hysterie. 27
raciers als Folgeerscheinungen von Sensibilitatsstömngen hin, die ihrerseits ja nur
ein Ausdruck eines Schla&ustandes der cerebralen Oentren seien. Dabei sei noch
erwähnt, dass YerL Zwangsrorstellungen, Zwangshandeln und Phobien nicht in das
Krankheitsbild der Hysterie gerechnet wissen will.
Im 6. £ap. giebt Verf. das Resum^ seiner Anschauungen. Ref. hat dieses
an den Anfang des Referats gestellt. Verf. berührt hier kurz auch die Aetiologie.
Diese sieht er in irgend einer Erschöpfung der yerschiedensten Art. Der Schlaf-
zustand ist dann die Dauererschöpfung, die bei einer zu grossen Erschöpfung jedes
Organs eintritt.
Ref. hat geglaubt, eine Arbeit, die beinahe 900 Seiten umfasst, so ausführlich
referiren zu müssen. Ref. leugnet durchaus nicht, dass die Arbeit eine Reihe inter-
essanter Einzelheiten enthalt, Einzelheiten, die meist nicht in diesem Referat be-
rücksichtigt werden konnten. Aber einen wesentlichen Fortschritt kann Ref. in
dem Werke nicht sehen.
Aus den ganzen Ausführungen geht hervor, dass das Wort „Schlaf" ein inhalt-
loses Wort bleibt. Ja Verf. giebt ihm nicht nur nicht die mögliche psychologische
Schärfe, sondern er yermengt diesen Begriff sogar mit dem der Erschöpfung. Yerf.
steht eben nicht auf der Höhe unseres psychophysiologischen Wissens.
An weiteren Ghrundfehlem muss dem Verf. vorgeworfen werden : sein einseitiges
Beobachtungsmaterial und seine ünkenntniss von der Macht der Suggestion und
affectstarker Erlebnisse.
Verf. hat nur alte Fälle von schwer anästhetischen Hysterischen beobachtet.
Er hat so vielfach psychophysiologische Mechanismen, die in jenen Fällen richtig
waren, verallgemeinert.
Verf. hat femer in ünkenntniss der Rolle, die entschieden die Suggestion
oder affectstarke Erlebnisse spielten, ganz falsche Schlüsse gezogen. Ref. will nur
an die Druckpunkte des Gehirns erinnern.
Die Grundbestrebungen des Verf., die hysterischen Erscheinungen auf Schlaft
hemmungen zurückzuführen und die Rolle der Suggestion einzuschränken: diese
Grundbestrebungen sind nach Ansicht des Ref. durchaus richtig. Aber ein Kampf
gegen psychologische Interpretation zu Gunsten einer physiologischen kann nach
Ansicht des Ref. nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn jedes einzelne Phänomen
■orgfaltig darauf untersucht wird, ob es seiner Genese und seiner Natur nach eine
schärfere psychologische oder physiologische Präcisirung ermöglicht. Dabei haben
wir von der nnumstösslichen Thatsache auszugehen, dass uns psychische Erschei-
nungen primär gegeben sind. Diese haben dann aber auch ein erstes entscheidendes
Wort zu sprechen, d. h. es ist die directe Selbstbeobachtung, die einzig
and allein die Hysteriefrage vertiefen kann. Wird Verf. sein Beobachtungsmaterial
erweitem und seine Beobachtungsmethode ändern, dann werden weitere Arbeiten
des Verf. ganz anders wichtige Beiträge zur Hysteriefrage liefern, als das vorliegende
Werk es thut. 0. Vogt.
Die geometrisch-optischen Täuschungen und ihre psychologische
Bedeutung.
Eine Zasaminenstellaiig der neaeren Literatur.
Von
Dr. B. Lantenbach.
Angabe der benutzten Literatur:
1. W. W u n d t . Die geometrlBch-optischen Täuschungen. AbhandL d. Kgi. Sachs.
Ges. d. Wiss. Math.-phys. Gl. XXIV, Nr. 2.
2. Derselbe, Zur Theorie der raumlichen Gesichtswahmehmungen. Philos. Stnd.
XIV, 1. Heft.
3. Th. Lipps, Raumästhetik und geometrisch-optische Tauschungen. Schriften
d. Ges. f. psychol. Forsch., Heft 9/10 (ü. Sammlung).
4. Derselbe, Die geom.-opt. Täuschungen (Vorl. Mitthlg.) Zeitsch. f. Psych, u. Phys.
d. Sinnesorg. XII, S. 39 u. 276.
5. Derselbe, Bemerkung zu Heymans' Artikel, Quantitative Unters, über die
ZöUner'sche u. Loeb'sche Täuschung. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg.
XV, S. 132.
6. Helmholtz, Physiologische Optik IL Aufl. 1896.
7. Thi6ry, Ueber geometrisch-optische Täuschungen. Philos. Stud. XI. S. 907
u. 603, XII, S. 67.
8. Arrer, Ueber die Bedeutung der Convergenz- und Aeoommodationsbewegungen
för die l^efenwahmehmung. Philos. Stud. XLH, S. 116 u. 222.
9. F. C. Müller-Lyer, Zur Lehre von den optischen Täuschungen. Ueber
Contrast und Confluxion. Zeitschr. f. PsychoL u. Physiol. d. Sinnesorg. IX,
S. 1 und X, S. 421.
10. G. Heymans, Quantitative Untersuchungen über das ,, optische Paradoxon".
Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. IX, 221.
11. Derselbe, Erwiderung. Ebenda XI, S. 432.
12. „ Erwiderung. Ebenda Xm, S. 474.
13. „ Quantitative Untersuchung über die Zöllner'sche u. Loeb'sche Täuschung.
Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. XIV, S. 101.
14. G. E. Müller, Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. Zeitschr. f. Psych.
u. Phys. d. Sinnesorg. X, S. 1 u. 321.
Die geometrisch-optischen TäuschoDgen und ihre psychologische Bedeutung. 2^
15. Höfler, Erüxnmnngscontrast. Zeitschr. f. Psychol. und Physiol. d. Sinnesorg.
^, o. 99*
16. Derselbe. Zur Analyse der Vorstellungen von Abstand und fUchtung. Zeitschr.
f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. X, S. 223.
17. Richard Simon, Zur Lehre von der Entstehung der coordinirten Augen-
bewegungen. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. Xu, S. 102.
18. Ernst Burmester, Beitrag zur experimentellen Bestimmung geom.-opt.
Täuschungen. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. XII, S. 365.
19. E. B. Titchener, Entgegnung. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg
Xn, S. 396.
20. K. Ueberhorst, Eine neue Theorie der Gesichtswahmehmung. Zeitschr. f.
Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. XTTT, S. 64.
21. fleine, Demonstrationen des Scheiner'schen Versuches nebst Betrachtungen
über das Zustandekommen der Raumwahmehmvorstellungen. Zeitschr. f. Psych,
u. Phys. d. Sinnesorg. XIV, S. 274.
22. Hugo Münsterberg, Die yerschobene Schachbrettfigur. Zeitschr. f. Psychol.
D. Physiol. d. Sinnesorg. XV, S. 184.
23. Franz Hillebrand, In Sachen der optischen Tiefenlocalisation. Zeitschr. f.
Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. XVI, S. 71.
24. JaquesLoeb, lieber Oontrasterscheinungen im Gebiete der Raumempfindungen.
Zeitschr. £. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. XVI, S. 298.
26. Derselbe, lieber die optische Inversion ebener Linearzeichnungen bei einäugiger
Betrachtung. Pflüg. Arch. XL.
26. Willibald A. Nagel, lieber das Aubert'sche Phänomen und verwandte
Täuschungen über die verticale Richtung. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol.
d. Sinnesorg. XVI, S. 373.
27. Wilh. Filehne, Die geometrisch-optischen Täuschungen als Nachwirkungen
der im körperlichen Sehen erworbenen Erfahrung. Zeitschr. f. Psych, u. Phys.
d. Sinnesorg. XVII, S. 16.
28. Hermann, Handbuch der Ph3r8iologie.
29. Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886.
Da in letzter Zeit die Literatur über „geometrisch-optische Täuschungen" sich
beträchtlich gemehrt hat, und diese Erscheinungen nicht mehr nur an sich, sondern
besonders in Bezug auf ihre Entstehung und weiterhin auf ihre Bedeutung für die
Raumvorstellung sowie andere Probleme der allgemeinen Psychologie erörtert worden
■ind, so dürfte auch in dieser Zeitschrift eine kurze Besprechung dieses Themas
gerechtfertigt erscheinen.
Wir wollen in dieser Abhandlung die geometrisch-optischen Täuschungen unter
folgenden Gesichtspunkten betrachten:
I. die geometrisch-optischen Täuschungen an sich und
U. die geometrisch-optischen Täuschungen in ihrer psychologischen Bedeutung.
L Theil.
Bei dem Studium der reichhaltigen Literatur über die „geometrisch-optischen
Täuschungen*' muss es auffallen, dass wir nur in den wenigsten Abhandlungen eine
Definition dieses Ausdrucks finden. — Die Bezeichnung „geometr.-opt. Täuschungen*'
30 ^ Laatenbsch.
ist von J. Oppel in die WisseiiBchafb eingeführt und von allen anderen Forschem
einfach übernommen worden, ohne dass wir, wie bei den meisten anderen Begriffen,
eine genaue firklarang darüber erhalten haben, was man unter geometrisch-optischen
Täuschungen yersteht. Diese aufiallige Thatsache mag wohl ihren Grund darin
haben, dass es bei der grossen Mannigfaltigkeit der unter diesem Namen znsammen-
gefassten äusserst zahlreichen Erscheinungen nicht gut möglich ist, gemeinschafUiehe
Kerkmale auüsufinden, die für alle optischen Tauschungen characteristisch sind.
Dies kann um so weniger der Fall sein, als die Meinungen der Physiologen und
Psychologen, die sich mit dem Problem der „geometrisch-optisoheii Täuschungen**
beschäftigt haben, weit auseinander gehen. Während die Einen die Erklärung für
diese Täuschungserscheinungen in physiologischen Vorgängen suchen, iwiAM^
Andere rein psychologische Processe für das Zustandekommen derselben ver»
antwortlich, und wieder Andere erklärm dieselben auf psycho-physiologischem
Wege. Aber nicht nur für die Gesammtheit der geometrisch-optischen Kuschungen
ist bis jetzt keine einheitliche Erklärung erzielt worden, auch die einzelnen
Täuschungen werden von den verschiedenen Gelehrten ganz verschieden gedeutet.
So ist denn der Name geometrisch-optische Täuschungen von allen Forschem bei-
behalten worden, weil er keinerlei Stellungnahme über die Entstehung derselben
involvirt, wie dies andere Bezeichnungen, wie „Augenmuskeltäuschnngen", „Con-
trast**- und „Gonfluxionstäuschungen**, „ästhetisch-mechanische Täuschungen** oder
auch „optische Urtheilstäuschungen** etc. thun, die alle eine bestimmte Auffassung
über das Wesen dieser Täuschungen von vornherein erkennen lassen.
Im Anfange, als diese Beobachtungen bekazmt wurden, betrachtete man sie
einfach als Abnormitäten des Sehens, die durch Irreleitungen des Urtheiles bewirkt
würden, oder aus ganz unbekannten Ursachen entständen. Die einzelnen Erschei-
nungen wurden zufällig und von verschiedenen Beobachtern gefunden und demzu-
folge auch getrennt und verschieden interpretirt. Eine systematische Zusammen-
stellung und gemeinsame Erklärungsmethode für die verschiedenen Täuschungs-
erscheinungen wurde erst später versucht.
So sagt auch Wundt^), welcher diesen Täuschungen neuerdings eine grössere
Arbeit gewidmet hat, nur ganz allgemein: „In Wahrheit handelt es sich hier um
Fehler in der Auffassung räumlicher Strecken, Richtungen und Kichtungsunter-
schiede, die an ganz beliebigen Objecten auftreten können** ; im Uebrigen*) beschränkt
er sich auf die Angabe negativer Merkmale. Die ausführlichste Definition giebt L i p p s ,
indem er sagt: „Geometrisch-optische Täuschungen sind Täuschungen über Formen,
Gh'össen, Bichtungen, die lediglich durch die Beschaffenheit der Fonnen, die Grössen-
Verhältnisse, die Lage und Richtung der Formen oder Formelemente zu einander
oder innerhalb des Sehfeldes bedingt, also von Farben und Helligkeitsverhältnissen,
soweit diese nicht etwa die Beurtheilung der Form der Objecte bedingen, ebenso
vom Bewusstsein der Entfernung der räumlichen Gebilde vom Auge und dergl.
unabhängig sind.**
In diesem Satze ist sofort der subjective Standpunkt gekennzeichnet, das „ästhe-
tische** Erklärungsprincip Lipps' klar ausgesprochen. Ich möchte hier die folgende
^) Abhdlg. d. EgL Sachs. Ges. d. Wissensch. Mathem.-phy8ik. Gl. XXIV, 2,
S. 55.
*) Zur Theorie der niumlichen Gesichtswahmehmungen. Philos. Stud. XIV,
1. Heft, S. 27 u. 81.
Die geometrifch-optisehen l^iuchiingeii und ihre psychologische Bedeutung. 31
allgemeine Definition anfuhren: Oeometrisch-optische Täuschungen sind
solche optischen Vorstellungen über Lage, Richtung und Grrösse
Yon Gegenständen, welche den objectiven, durch Messung fest-
gestellten Verhältnissen nicht entsprechen, die aber trotzdem
allgemein bei Menschen mit normalen Augen entstehen.
Am übersichtlichsten und logischsten yon aUen systematischen Eintheilungs«
yersuchen erscheint mir die Methode von Wundt, die wir darum unserer Be-
trachtung zu Ghmnde legen wollen. Wundt unterscheidet folgende Arten geome-
trisch-optischer Täuschungen:
I. umkehrbare perspectiTische Täuschungen,
n. yariabele Streckentäuschungen,
HL constante Streckentäuschungen,
IV. yariabele Richtungstäuschungen,
V. constante Bichtungstäuschungen,
VI. Associationstäuschungen.
Da nach dem oben Gesagten jede allgemein gültige Characteristik der geome-
tiisch-optischen Täuschungen noch fehlt, so können wir uns im Weiteren noch
weniger wundem, dass auch keine einheitliche Classification derselben yorhanden ist.
BcYor wir auf das eigentliche Thema zu sprechen kommen, wollen wir noch
den methodologischen Gang bezgl. der ursächlichen Erklärung betrachten, den
Wundt bei seiner Betrachtung innehält. Wenn mehrere Trugmotiye gleichzeitig
yrirken, muss zur Feststellung des Antheils eines jeden die betr. Täuschungsfigur
analysirt werden. Wo zwei Trugmotiye zur Erklärung einer Täuschung führen,
muss eine Variation gesucht werden, welche ein Trugmotiy eliminirt, sodass nun
entschieden werden kann, welches das ursprüngliche, das primäre Motiy der
Täuschung ist. Und drittens ist auf die Möglichkeit der ümkehrung einer Täuschung
SU achten und besonders auf die subjectiyen Bedingungen, unter denen sie sich bei
objectiyer Nichtyeränderung yollzieht.
Unter „umkehrbaren perspectiyischen Täuschungen^ sind solche Er-
scheinungen zu yerstehen, bei denen planimetrische Zeichnungen perspecti-
können, Vorstellungen im Beschauer yeranlassen, die in doppeltem Sinne stattfinden
▼ische d. h. conyex oder concay sein können, je nachdem bald der eine, bald der
andere Theil der Figur dem Beschauer zugekehrt erscheint. Das Auftreten dieser zwei
yon einander yerschiedenen Vorstellungen hängt nach Wundt 's Ansicht einzig
und allein yon den Stellungen und Bewegungen des Auges ab, und zwar so, dass
immer der zuerst fixirte Punkt oder derjenige, von welchem die Bewegung des
Auges ihren Ausgang nimmt, dem Beschauer näher zu liegen scheint, was Ref.
auch bestätigen kann. J. Loeb hat bei seinen dsbzl. Beoachtungen dieselben
Wahrnehmungen gemacht. Er fand auch, dass die Fig. 1 gewöhnlich conyex er-
schien, dass sie jedoch in das concave Bild überging, wenn sie mit zunehmender
Geschwindigkeit vom Beschauer entfernt wurde, aber wieder conyex erschien, wenn
sie dem Auge wieder näher gebracht wurde. Die Inversion tritt aber nicht ein,
wenn die Bewegung der Figur so langsam ist, dass das Auge den einmal gewählten
Hxationspunkt festzuhalten vermag, eine Thatsache, die auch von Loeb beobachtet
ymrde, und gewiss ein sicheres Zeichen für die Richtigkeit der Wundt' sehen
3S
R. Laatenbaeh.
Fig. 1.
lleinniig ist, daas das Eintreten der concftTen oder der eonrezen VortteUnng nur
Tom Fixirpiinkte oder der Fixationslinie, also von Aagfenbewegungen bestimmt
wird. Trotzdem hat Loeb^) seine Beobachtungen ganz anders gedeutet; nach ihm
kommt es bei diesen Umkehmngen nur auf die mit dem „Willen*" yerbundea»
Innervation, nidit auf die wirklich ausgeführte Augen-
bewegung an.
Obwohl also Loeb für diese Täuschungen einerseits die
physiolog^che Bedingung in Form von „Innervation^ zugiebt,
verfällt er andererseits doch in den Fehler, den „Willen*' als
primäres Motiv anzusehen, anstatt eine wirkliche Muskelaction
als Grundbedingung anzunehmen. — Die am meisten besprochene
hierher gehörige Täuschung ist die Schroeder 'sehe Tr e p p e n -
figur, welche öfter (Helmholtz, Hering) zum Beweis für
die Thätigkeit der „Phantasie** oder „Einbildungskraft** bei
dem Zustandekommen der umkehrbaren perspectivischen Täusch-
ungen herangezogen worden ist, die sich aber folgerichtig nach
der Wundt' sehen Theorie erklären lässt. Unsere Figur 1
bringt eine andere hierher gehörige Täuschung.
Es entsteht hier die Frage, können die oben besprochenen Täuschungen ans
den Augenbewegungen allein erklärt werden, oder müssen nicht doch zu diesen
physiologischen Motiven solche psychologischer Natur hinzukommen, um die Täuschung
hervorzubringen? Mit anderen Worten, wie kommt es, dass einer bestimmten Art
der Fixation und der Blickbewegung auch eine bestimmte Art der perspectivischen
Vorstellung entspricht? Und weiter, warum fixiren wir eine Zeichnung bald so und
bald so? Auf die letztere Frage lautet die Antwort, dass die Art, wie wir eine
Zeichnung mit unserem Blick durchlaufen, gewöhnlich von „unberechenbaren Be-
dingungen** abhängt, dass sie aber, wie bei der Betrachtung der oben besprochenen
l^lguren, willkürlich sein kann, dass jedoch auch dieser „Wille** weder die Vor-
stellung der Täuschung hervorruft, noch etwa die Augenbewegung hervorbringt,
um eine bereits vorhandene Vorstellung in die Erinnerung zurückzurufen, sondern
dass er nur eine bestimmte Augenstellang bewirkt, welche nun ihrerseits, ganz un-
abhängig von jenem, die mit dieser Stellung verbundene Vorstellung erzeugt.
Hiermit tritt uns die erste Frage entgegen, inwiefern ist eine bestimmte
perspectivische Vorstellung mit einer bestimmten Augenstellung ver^
bunden. Dieses Factum ist allerdings nur psychologisch zu begründen, denn
das Bild, das ein und dieselbe Zeichnung auf der Netzhaut erzeugt, muss dasselbe
sein, gleichgültig, ob wir diesen oder jenen Punkt zuerst fixiren oder unseren Blick
auf dieser oder jener Kante der Figur entlang bewegen. Es können die Augen-
bewegungen in einer bestimmten Richtung also nur frühere Vorstellungen oder
Elemente früherer Vorstellungen in das Bewusstsein zurückrufen, bei welchen die*
selben Bewegungen und Stellungen des Auges maassgebend waren. Diese früher
gehabten Vorstellungen von Objecten oder „Erinnerungsbilder** sind aber nicht
fertig in uns vorbereitet, sondern nur in Form von Anlagen und Fragmenten
vorhanden. Dieser Vorgang der „Vorstellungsassociation'* wird als „Assimi-
^) J. Loeb, Ueber die opt. Inversionen ebener Linienzeichnungen bei ein-
äugiger Betrachtung. Pflüg. Arch. XL, S. 274.
Die geometrisch-optischen Täuschangen und ihre psychologische Bedeutang. 83
lation^ bezeichnet. Da in Wirklichkeit yon einem Körper die dem Auge zunächst
gelegenen Theile naturgemäss zuerst fixirt und mit dem Blick yerfolgt werden, so
müssen in Folge dessen auch umgekehrt die zuerst fixirten Punkte oder Theile
einer Figur dem Beschauer als näher liegend erscheinen. Femer ist in der Ruhe-
lage des Auges die Blicklinie nach unten gerichtet, sodass wir die Gegenstände
mit nach aufwärts gerichteter Blickbewegung verfolgen, also die nach unten ge-
legenen Theile einer Figur uns zugekehrt sein müssen, was den Thatsachen ent-
spricht. Wir haben also bei den umkehrbaren perspectivischen Täuschungen ge-
funden, dass für das Zustandekommen derselben physiologische und psychologische
Motive wirksam, und dass die physiologischen die primären, die psychologischen
die secundären Bedingungen der Tauschung sind, wie Wundt zuerst gefunden
hat. Thiery weicht hier wie überall insofern von Wundt ab, als er die per-
apectivische Vorstellung als primäre Ursache der Täuschung betrachtet.
Es bleibt nun zu untersuchen, ob diese Regel auch für die übrigen Kategorien
der geometrisch-optischen Täuschungen gültig ist.
Unserer Eintheilung zu Folge kommen jetzt die yariabeln Strecken-
täuschungen in Frage, eine Ghmppe geometrisch -optischer Täuschungen, die
zuerst von Oppel entdeckt worden ist, und bei welcher zwei Täuschangs Vorstel-
lungen neben einander hergehen : eine Grössen- und eine perspectivische Täuschung.
Es fragt sich also zunächst, welche von diesen Täuschungen die primäre ist, d. h. ob
die Grössentäuschung die perspectivische Täuschung bewirkt oder umgekehrt.
Wundt hat diese Frage in dem Sinne beantwortet, dass die Grössentäuschung
die Ursache der perspectivischen Täuschung ist, was daraus hervorgeht, dass sie
bestehen bleibt, wenn man die Zeichnung so modificirt, dass die perspectivische
Nebenwirkung wegfällt. — Die am meisten erörterte Täuschung dieser Art ist die
von Müller-Lyer entdeckte und nach ihm benannte Täuschung, welche Fig. 2
A. Fig. 2. B.
seigt. Dabei erscheint A > B. Die Interpretation dieser Täuschung ist von vielen
Seiten und von den verschiedensten Standpunkten aus versucht worden. Müller-
Lyer selbst sagt zur Erklärung der Entstehung dieser Täuschung wörtlich^): „Mau
hält die beiden Linien für verschieden gross, weil man bei der Abschätzung nicht
nur die beiden Linien, sondern unwillkürlich auch einen Theil des zu beiden
Seiten derselben abgegrenzten Raumes mit in Anschlag bringt. ''
Es ist also nicht ein einziges Trugmotiv wirksam, sondern es sind deren zwei,
zwischen denen eine „Complexität" stattfindet; es wirken Confluxion und Contrast
gleichzeitig bei dem Zustandekommen dieser Täuschung. Diese Erklärung wird
von Heymans') bekämpft, welcher die Täuschung als einen „Bewegpingscontrasf^
auffasst. (Wie Müller-Lyer an einer anderen Stelle darthut, liegt den Angriffen
*) F. C. Müller-Lyer, Ueber Contrast und Confluxion, Zeitschr. f. Psych.
u, Phys. d. Sinnesorgane IX, S. 2.
*) Heymans, Quantitative Untersuchungen über das „optische Paradoxon''.
Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. IX, S. 221.
Zeitschrift fttr Hypnotismus etc. YIII. 3
34 ^- Laot^nbach.
H e y m a n 8 ' gegen seine Theorie freilich ein Missverständniss zu Grunde.) W u n d t
unterscheidet neben der Grössentäuschung eine perspectivische Täuschung,
welch' letztere Thi^ry^) sogar in den Vordergrund stellt, was von Wundt als
irrthümlich bewiesen wird, weil die Grössentäuschung auch ohne die perspectivische
Täuschung auftreten kann, also die primäre ist. Wundt bringt die Entstehung
der Täuschung in Einklang mit seiner Theorie von den Fixationslinien. Die Strecke
A in Fig. 2 wird darum grösser geschätzt, weil die Schenkel der Winkel eine
Verlängerung in der Richtung dieser Linie Torstellen, also ein Motiv zur Fort-
setzung der Bewegung in derselben Richtung bieten, B dagegen erscheint kleiner,
weil hier durch die Winkelschenkel von entgegengesetzter Richtung eine Hemmung
der Bewegung existirt. In dieser Auffassung wird Wundt noch bestärkt durch
die Delboeuf 'sehen Kodificationen der Müller-Lyer'schen Täuschungsfigur,
welche sämmtlich durch den Einfluss der Fixationslinien erklärt werden, was auch
mit den quantitativen Messungen der Delboeuf 'sehen Zeichnungen Thiery's
übereinstimmt. Lipps findet die Erklärung für diese Täuschung in der „Coin-
^^idenz** entgegengesetzt gerichteter Thätigkeiten, wobei deren Grenzpunkte die
gemeinsamen Grenzpunkte verschieden gerichteter Ausdehnungen sind. Filehne
macht seinem Princip gemäss, wonach alle geometr.-opt. Täuschungen als Nach-
wirkungen früher gehabter Erfahrungen zu betrachten sind, auch hier der Einfiuss
halbgeweckter Erfahrung geltend.*)
Wir kommen nun zu der dritten Classe der geometrisch-optischen Täuschungen,
den „Constanten Streckentäuschungen", die sich hauptsächlich auf die
Ueberschätzung verticaler Distancen gegenüber horizontalen erstrecken (vgl. Fig. 3).
Bei diesen fällt die perspectivische Vorstellung
weg, ebenso wie auch die Fortsetzung bezw.
Hemmung der Bewegungen des Auges bestimmter
Fixationslinien entlang, und somit die Möglich-
keit der Umkehrung der Täuschung. Dieselben
können nur durch Asymmetrien des Auges be-
- dingt werden. Der reguläre Astigmatismus kann
aber als Erklärungsmoment nicht weiter in Frage
kommen, als es sich hier um Täuschungen handelt,
die individuell ziemlich constant und auch bei
verschiedenen Individuen gleichmässig sind, und
die nicht wie die durch Astigmatismus hervorge-
rufenen Bildverzerrungen durch eine entsprechende
-p. n Brille aufgehoben werden können. Es können daher
nur primäre musculäre Asymmetrien
diese Täuschungen verursachen. Da für die Richtigkeit dieser Behauptung aller-
dings in erster Linie negative Gründe angeführt werden, so hat sie einstweilen nur
einen hypothetischen Werth. — Nach der mechanischen Theorie von Lipps wird
die Ueberschätzung verticaler Distancen gegenüber horizontalen auf die Wirkung
der Schwerkraft zurückgeführt: die horizontale Ausdehnung ist gegen die Schwere
neutral, während die verticale in Wechselbeziehung zu derselben steht.
^) Thiery, Ueber geometrisch-optische Täuschungen. Philos. Stud. XII,^
S. 73 u. s. f.
«) Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. XVII, S. 2ö.
36 H. Lautenbach.
während Hoppe an Stelle des Bewegungscontrastes einen Kichtungscontrast setzt.
Hering interpretirt diese Täuschung als eine Wirkung der perspectivischen Vor-
steUung. Die Kundt'sche Hypothese, wonach die Abstände nach der Länge der
Linien beurtheilt werden, ist experimentell unhaltbar und jetzt verlassen worden.
Eine Modification, die auf denselben Motiven der Ueberschätzung spitzer Winkel
basirt, ist die Kreisbogen-Figur von Wund t und die Trapeze von Müll er -Ly er,
bei denen die bedingenden Geraden nur nicht wirklich gezogen, sondern nur vor-
gestellt sind.
Dasselbe ist auch an den He ymans' sehen Mustern der Fall. ^) Heymans
aber hält die Grösse des Neigungswinkels, unter dem sich die verticalen und trans-
versalen Linien schneiden, für die secundäre Ursache der Täuschung, die ungleiche
Entfernung der Querstriche von den Hauptlinien für die primäre, obwohl die Zu-
nahme der Täuschung mit der Abnahme der Winkelöfihung doch auf das Gegen-
theil hinweist. Nachdem wir festgestellt haben, dass diese Täuschungen durch die
Unterschätzung spitzer Winkel und deren Folgeerscheinungen bewirkt werden, so er-
hebt sich die weitere Frage, warum wir denn spitze Winkel unterschätzen. Nach
Helmholtz') ist diese Thatsache aus den Netzhautbildem zu erklären, indem
nämlich deutlich abgegrenzte kleine Grössen grösser erscheinen. Nun giebt aber
Helmholtz selbst zu, dass diese Täuschungen: sowohl die Zöllner 'sehe wie
ihre Analoga bedeutend verringert werden, wenn man die Zeichnungen starr fixirt ;
daraus geht doch zweifellos hervor, dass der Grund zur Täuschung nicht aus der
Beschaffenheit des Netzhautbildes hervorgehen kann, da dieses doch eine constante
Grösse ist, also auch eine constante Täuschung her^'orbringen müsste, was, wie
gesagt, der Erfahrung widerstreitet. Es kann also für das Zustandekommen dieser
Täuschung nicht das Netzhautbild allein verantwortlich gemacht werden, sondern
wir müssen mit Wundt den Einfluss der Blickbewegung mit in Betracht ziehen.
Derselbe macht sich natürlich bei starrer Fixation w^eniger geltend als bei bewegtem
Auge, wodurch die jeweilige Vergrösserung oder Verkleinenmg der Täuschungen
folgerichtig sich ableiten lässt. Mit dieser Auffassung stimmt im Grunde auch
Delboeuf überein.
Die „Constanten Richtungstäuschungen^ bestehen in einer schein-
baren Abweichung von der Lothlinie bei senkrechten Geraden, die auf zwei Punkten
einer Horizontalen errichtet sind. Die Täuschung tritt selbstverständlich nur bei
monocularer Betrachtung ein, da bei binocularer die Fehler beider Augen sich
aufheben. In Zusammenhang mit dieser Täuschungsform steht die Richtungs-
täuschung bei der Recklinghausen'schen Schachbrettfigur, wobei es sich um
die Richtung indirect gesehener Linien handelt. Recklinghausen selbst ver-
suchte diese Erscheinung dioptrisch zu erklären, was sich aber als falsch erwiesen
hat; vielmehr entstehen die constanten Richtungstäuschungen aus dem Zusammen-
wirken von Netzhautbild und Blickbewegung, also ps^'chophysiologisch.
Endlich erübrigt es noch, auf diejenigen Täuschungen einzugehen, welche ihre
Entstehung der Association in erster Linie verdanken, während, wie wir gesehen
^) Heymans, Quantitative Untersuchungen über die Zolin er 'sehe und
Loeb'sche Täuschung. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, Bd. XIV,
S. 101 ff.
«) Physiol. Optik, S. 705.
Die geometriBch-optischen Tänschuogen nnd ihre psychologische Bedeatnng. 3f
haben, bei allen vorher betrachteten Tänschongsformen der psychologische Vorgang,
den man Association nennt, erst durch physiologische Processe bedingt warde,
Wundt bezeichnet ans diesem Grunde die hierher gehörigen Täuschungen als
„Associationstäuschungen''. Bei. diesen werden gleich grosse Gebüde in-
mitten congruenter Figuren : Linien, Winkeln, Kreisen etc. für verschieden gehalten
und zwar, wenn die Grössenunterschiede der umgebenden Innren unbedeutend
sind, wird das von grösseren umgebene Gebilde auch für grosser gehalten, sind
dagegen die zwei gleiche geometrische Gebilde einschliessenden Stücke von ganz
verschiedener Grösse, so erscheint das von kleinen Gebilden eingeschlossene be-
deutend grösser als das von grossen umgebene. Im ersteren Falle wirkt die
Angleichung, im- letzteren der Gegensatz oder Gontrast, mit welchem
gleichzeitig auch eine perspectivische Vorstellung Hand in Hand geht. Eine
M^dification dieser Associationstäuschungen bilden die auf demselben Princip be-
ruhenden sog. „Zwischenraumtäuschungen'': Strecken, durch grössere Zwischen-
räume getrennt, erscheinen grösser als gleich grosse, durch kleinere Zwischenräume
getrennt in Folge der Angleichung (vgl. Fig. 6), und Zwischenräume, von grösseren
Figuren eingeschlossen, erscheinen kleiner als gleich grosse, von kleineren Figuren
eingeschlossene, in Folge der Contrastwirkung (vgl. Fig. 6). Nach der mechanischen
■ ^.^.a
Fig. 5. Fig. 6.
Theorie von Lipps wird die Täuschung dadurch hervorgebracht, dass die Kraft
der Ausdehnung, wenn ein Gebilde von grösseren Figuren eingeengt ist, geringer
ist und dasselbe daher verkleinert erscheinen muss. Im Uebrigen hebt Lipps^
noch den Umstand hervor, dass bei gleichen Kreisen, die in einem Falle von
grösseren, im anderen von kleineren Kreisen umgeben sind, die Ueberschätzung
des letzteren Kreises sich in's Gegentheil verwandelt, wenn die Entfernung der
kleineren Kreise von dem in der Mitte liegenden grossen Kreise stark vergrössert
wird; es ist also für das Zustandekommen dieser Täuschung eine in beiden Fällen
^) Tb. Lipps, Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, S. 222.
38
R. Lautenbach.
gleiche Distanz der Nebenkreise vom Hanptkreis Voraussetzung. — Thiery, der
diese Täuschungen einer Untersuchung unterzogen hat % sucht sie aus dem Princip
seiner perspectivischen Theorie abzuleiten, was mir jedoch nicht zwingend erscheinen
will, da ich zuerst die Grössentäuschung e;npfinde und dann erst die perspectivische
Nebenvorstellung.
Wie wir bei der Erörterung der verschiedenen Täuschungen gefunden haben,
ist es nicht immer möglich, die einzelnen Ursachen einer Täuschung zu isoliren,
sondern bald bewirkt die eine Bedingung eine Verstörkung der Täuschung, während
die andere eine Verminderung derselben hervorruft. Wir wollen daher im Folgen-
den im Anschluss an Wundt noch die bekanntesten Fälle solcher complicirten
A.
Fig. 7.
B.
Täuschungen betrachten. Fig. 7 zeigt eine solche Complicatiostäuschung, wie
ich sie kurz nennen will. Darin erscheint A niedriger als B, die horizontalen Be-
grenzungslinien dagegen scheinen in A länger zu
sein als in B. £s findet dabei also ein Zusammen-
wirken variabeler und constanter Täuschungen statt.
Auf eventuell drei Täuschungsmotiven beruht die
von O p p e 1 beschriebene Täuschung der zwei gleich-
schenkeligen Dreiecke. £s compliciren sich darin
eine Streckentäuschung, eine constante Grössen-
täuschung und eine Winkeltäuschimg. Gegenstand
vielseitiger Erörterungen ist die hierher gehörige
Poggendorff'sche Täuschung gewesen, welche
Fig. 8 veranschaulicht. Zum Zustandekommen dieser
Täuschung tragen drei verschiedene Motive bei,
welche sich summiren: die Ueberschätzung spitzer
W^inkel, die Ueberschätzxmg verticaler Strecken und
die Ueberschätzung ausgefällter Strecken. Die
Loeb^sche Täuschung ist wohl, wie Wundt an-
nimmt, auf das Recklinghausen'sche Muster
zurückzuführen. Loeb selbst weist sie jedoch mit
Hülfe der Contrasttheorie nach, und Heymans')
identificirt sie mit der Zöllner' sehen Täuschung.
Eine Complication von physiologischen Täuschungs-
momenten und associativen bietet die Müller-
Fig. 8. Ly er 'sehe Kreisfigur (vgl. Fig. 9), wobei ein dem-
selben Kreise zugehöriges Segment einem grösseren concentrischen Kreis anzugehören
M Ueber geometrisch-optische Täuschungen. Philosoph. Stud. XIL S. 84.
*) Heymans, Untersuchungen über die Zöllner 'sehe und Loeb 'sehe
Täuschung. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. XIV, S. 119 fif.
Die geometrisch-optischen Tänschangen und ihre psychologische Bedeutung. 39
scheint und analog mit diesem ist die Täuschung, bei der von zwei gleich grossen,
unter einander befindlichen Kreissegmenten das untere für kleiner geschätzt wird
Fig. 9.
Fig. 10.
als das obere. Complicationen von Contrasttäaschungen bieten die Fig. 10 u. 11 dar.
Das innerhalb eines grösseren Vierecks gelegene kleinere Viereck erscheint grösser
als der gleichgrosse isolirt gelegene. Thiery*) führt diese Erscheinung auf per-
spectivische Wirkungen zurück, während Delboeufsie als „Attractionswirkung"
des grösseren Vierecks bezeichnet. Als eine Associationswirkung ist es endlich auch
H-
Fig. 11.
zu betrachten, dass die gleichen Abstände zwei auf Geraden, wenn diese lang sind,
kleiner erscheinen, als wenn sie kurz sind (Fig. 11).
(Schluss folgt.)
*) Thiery, Ueber geom.-opt. Täuschungen (Philosoph. Stud. XII, S. 107).
Literaturzusammenstellung
über
die Psychologie und Psycliopathologie der vita sexualis
von
Dr. Freiherm tob Schrenck-Notsing- München.
(Fortsetzung.)
Wenn der UmÜBing dieses Referates auch ein ausfuhrlicheres Eingehen
auf die hochinteressanten historischen Beziehungen der vita sexualis nicht
gestattet, so möge doch ein kurzer Hinweis auf die Schrift Dr. Itosen-
haum's „Geschichte der Lustseuche im Alterthum" nebst aus-
ftihrlichen Untersuchungen über den Venus- und Phallusculty Bordellei
voCaog ^Xeia der Skythen, Päderastie und andere geschlechtliche Aus-
schweifungen der Alten (1. Auflage 1839, 4. Auflage Halle 1888) deswegen
gestattet sein, weil sie für die weiterhin zu besprechenden Arbeiten ein
wichtiges Quellenwerk darstellt. Wie Verfasser an der Hand der Original-
texte nachweist, waren bereits im Alterthum alle Arten geschlechtlicher
Ausschweifung bekannt und zum Theil viel verbreiteter als in der Gegen-
wart. Er zeigt dann femer, dass durch den Missbrauch der Geschlechts*
Werkzeuge einer Verbreitung der im Altertum bereits bekannten Geschlechts-
krankheiten Vorschub geleistet wurde, und geht ausfuhrlich ein auf die
Entstehung der Päderastie aus der ursprünglich reinen Paidophilie im
alten Athen. Die Folge der Unzucht der Pathici und Kinäden war die
vo€aog S'i^keia, die zum Weib machende Krankheit , d. h. die Um-
wandlung des männlichen Typus in den weiblichen (Skythen-Krankheit). Ja
man hatte sogar im Alterthum die Ansicht, dass die Pathici mit der Anlage
zu dem Laster geboren werden konnten (angeborene conträre Sexual-
empfindung). Die Kennzeichen der Androgynen, wie sie von den Schrift-
steilem jener Zeit beschrieben werden, der Aufzug, Gtmg, Blick, ihre
Stimme etc. stimmen vollständig überein mit den Merkmalen der heutigen
Efl'eminirten. Schon die alten Autoren, wie z.B. Aristoteles, betonen
in der Erörterung der Ursachen dieser Abweichung von der Natur die
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 41
krankhafte Phantasie der Androgynen. umgekehrt waren auch die
Tribadie, die lesbiBche Liebe bei dem weiblichen Geschlecht im Alterthum
gebränchlich (sogar mit Hülfe eines aus Leder gefertigten künstlichen
Penis = Skiaßccv). Falle von Nymphomanie, Satyriasis werden nicht selten
beschrieben. Auch die Sodomie scheint, wie die anderen Arten des sexuellen
Abusus, aus den religiösen Culten der asiatischen Länder nach Griechenland
und Italien gekommen zu sein. Die Schlangen im Aesculaptempel sollen
für solche Zwecke abgerichtet worden sein, während die römischen Frauen
sich mit Vorliebe der Esel bedienten. Auch die Coprophagie, das Trinken
von Schweiss und Urin waren im Alterthum bekannt ; eine besondere sexuelle
Bedeutung hatte das Trinken von Menstrualblut. Auch für das Vorkommen
des Fetischismus eroticus lassen sich Belegstellen finden, und so sehen
wir aus dem interessanten Werke Bosenbaum's, dass die hauptsäch-
lichsten Aeussernngsformen der Psychopathia sexualis im Alterthum schon
bekannt waren und theilweise bereits richtig als Symptome psychischer Er-
krankung gedeutet wurden.
Die klinische Casuistik für die Psychopathologie der vita sexualis in
neuerer Zeit beginnt mit der von Frank el ausführlich mitgetheilten
Beobachtung, welche betitelt ist: „Homo mollis^ (S. Medic. Ztg., heraus-
gegeben vom Verein für Heilkunde in Preussen, Bd. 22, 1853, S. 102).
Der Patient, um den es sich handelte, hatte anfanglich seine Mutter
im Nähen und Sticken unterstützt, und es dann zu einer so beträchtlichen
Kunstfertigkeit in allen weiblichen Arbeiten gebracht, dass er besonders
durch seine Stickereien und durch sein Gardinenaufstecken einen grossen
Saf und eine gewisse Wohlhabenheit erlangte. In Folge der Beschäftigung
mit weiblichen Arbeiten ergab er sich weibischer Eitelkeit, zerstörte sorg-
^ügst seinen Bart, legte sein Haar in Locken, stopfte sich Busen und
Hüften ausy und benutzte jede Gelegenheit, sich als Frauenzimmer zu
maskiren.
Was anfangs blos läppische Affeetation gewesen, wurde allmählich zur
anderen Natur, der Ton seiner Stimme, von Natur aus tief, wurde fein und
kreischend, und der Gang trippelnd. Blank kam um obrigkeitliche Er-
lanbniBS ein, sich weiblich kleiden zu dürfen, und obwohl abschlägig be-
tchieden, zeigte er doch eines Tages unter dem Namen „Friederike Blank^
seine Verlobung mit einem fremden Handwerker an. Patient, dessen Ge-
gchlechtsiheile normal gebildet, näherte sich Männern, vollzog als Frau ge-
kleidet den Coitus mit jungen Leuten, welche er so geschickt zu täuschen
wusste, dass sie glaubten, ein Weib vor sich zu haben. Der After war
stark erweitert und eingerissen. Bei seiner Arretirung tödtete er sich durch
einen Sprung ins Wasser.
Nach diesen Mittheilungen gewinnt es den Anschein, als ob Blank
durch die Handhabung weiblicher Arbeiten, zu der ihn seine Mutter an-
hielt, weiblich wurde. Es handelt sich allerdings hier, wie Westphal
bemerkt, um einen an Schwachsinn und Moral insanity leidenden Menschen,
was auch durch andere perverse Neigungen (z. B. Stehlen) bestätigt wird.
Warum hier bei nachweislichen Erziehungseinflüssen aus originärer
Anlage conträre Sexualempfindung entstanden sein soll, ist nicht einzusehen.
42 ▼• Schreoek-Xotzing.
Für unsere AnfEassimg interessant and bestätigend ist die IGttheilimg
des Directors der Strafanstalt in Brandenburg an TTestphal, dass die
Handhabung weiblicher Arbeiten bei Hannem in den Stralanstalten die Ur-
sache weiblichen Benehmens werden könne.
Grandlegend für die weitere Bearbeitung des Gebietes wurde West-
phaTs Mittheilnng: „Die contrare Sexualempfindung , Symptom eines
nearopathischen, psychopathischen Zustandes (Archir für Psychiatrie, Bd. 11,
Berlin 1870, S. 73). Er fahrte die Bezeichnung: „contrire Sexual-
empfindung" in die Wissenschaft ein und betonte das Angeborensein dieser
Geschlechtsanomalie, stand aber bei Beurtheilung derselben offenbar unter
dem Einflass der aach von ihm ausfuhrlich citirten Schriflen Ton Ulrichs
und Casper. Er legt ein zu grosses Gewicht auf die Gleichartigkeit der
Autobiographien solcher Personen, ohne dabei die Schädlichkeit ungünstiger
äusserer Momente und Erziehungseinflüsse genügend zu ¥rürdigen. In der
ersten Beobachtung WestphaTs handelt es sich um Homosexualität eines
Weibes , das seit frühester Jagend onanirte , in dem Alter von 18 bis
23 Jahren 5 Wochen hindurch täglich in einem Bett mit ihrer Cousine
schlief und jede Nacht mit ihr sich geschlechtlich befriedigte. Jedes dieser
beiden Momente für sich könnte bei einer psychopathisch angelegten Person
— um eine solche handelte es sich hier — genügen, um schliesslich Um*
kehnmg der Geschlechtsempfindung zu erzengen.
So werthvoll und grandlegend für die ganze Psychopathia sexualis
Westphal's Beobachtungen sind, sie liefern nicht, wie er sagt, „den
unwidersprechlichen BeweiB** für die Angeborenheit der conträren
Sexualempfindong, wohl zeigen beide Fälle eine schwere erbliche Belastung,
die sich aber unter ausschlaggebender Wirkung occasioneller Momente erst
zur conträren Sexaalempfindung entwickelten. Beide Patienten zeigen von
Jugend auf einen leichten Grad psychischer Schwäche; als eins der
Symptome derselben entwickelte sich auf äussere Anregung die Geschlechts-
verirrung.
Auch in der zweiten Beobachtung WestphaTs handelt es sich um
vorzeitiges Erwachen des Geschlechtstriebes (im achten Jahr). Der Patient,
welcher in seiner Jagend Vorliebe für weibliche Beschäftigung gehabt
haben will, sagt aber selbst: „Mit Frauen geschlechtlichen Umgang zu
pflegen , habe ich Neigung gehabt, jedoch selten, da ich fürchtete hässlich
zu werden." Demnach bestand Trieb zum Weibe, wie auch seine späteren
Geschlechtsrapporte mit weiblichen Personen zeigen. „Von Männern Hess
Patient sich, wie er selbst sagt, nicht brauchen, trotz vieler An-
erbietungen. Dagegen onanirte auch er als ganz junger Mensch; über den
diese Acte begleitenden Yorstellungsinhalt erfuhren wir nichts. Es handelt
sich hier um eine ganz defecte moralische Persönlichkeit; nicht etwa ein
Trieb zum Manne (deren Anerbietungen er vorher und auch später im
Krankenhause energisch zurückwies), sondern allein Gelderwerb ver-
anlasste ihn zur Verkleidung als Weib. Und erst jetzt passte er sich, dem
materiellen Gewinn zu Liebe , seiner weiblichen Bolle an , verkehrte aber
nichtsdestoweniger noch mit weiblichen Prostituirten , die ihn im vollen
Rausch nach Hause begleiteten. ** Ausserdem schlief er einmal angeblich
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 43
ÜB Weib mit einer Köchin in einem Bett, will sie aber nicht berührt
haben (?). Endlich Hess er sich eine Reihe von Diebstählen zu Schulden
konunen.
Auch hier handelt es sich offenbar, wie Westphal richtig bemerkt, um
einen Schwachsinnigen. Bei seiner Verhaftung litt Patient an Gonorrhoe.
Das sexuelle Moment lässt sich in diesem Falle gewiss nicht im Sinne an-
geborener conträrer Sexualempfindung verwerthen. Seine Vorliebe fiir
Frauenkleider und das Spielen der weiblichen Rolle erklärt der Umstand
genügend, dass ihm dadurch eine bequeme Einnahmequelle erwuchs.
Endlich braucht man einem liederlichen schwindelhaften Menschen nicht
jede Mittheilung zu glauben, wozu noch die bei Schwachsinnigen vor-
kommende Phantasielügnerei (Pseudologia phantastica) das Ihrige bei-
getragen haben kann. Sein sexuelles Fühlen ist ursprünglich normal; es
handelt sich nach unserer Meinung um einen Fall von angeborenem
Schwachsinn, der neben anderen Symptomen, allerdings erst später, auch
als Product bestimmter Einwirkungen diejenigen conträrsexualer Neigungen
darbot.
Das Verdienst der Arbeit Westphal 's besteht in dem Nachweise
des pathologischen Characters resp. Zwanges der conträren Sexualempfindung
und in seiner Auffassung derselben als Theilerscheinung eines neuro- resp.
psychopathischen Zustandes, nicht aber in der Betonung des erblichen
Momentes, wozu er mehr durch die Schriften von Ulrichs und C asper
als durch seine eigenen Beobachtungen veranlasst wurde.
An die Arbeit von Westphal schlössen sich eine Anzahl casuistischer
Mittheilungen, von den hier folgende erwähnt sein mögen.
Schminke: Ein Fall von conträrer Sexualempfindung, Archiv für
Psychiatrie, IH. Bd. I. Heft 1871, S. 277.
Scholz: Bekenntnisse eines an perverser Oeschlechtsrichtung Leidenden.
Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medicin, Bd. XIX 2. Heft S. 321.
Oock: Ein Beitrag zur Kenntniss der conträren Sexualempfindung,
aus der Würzburger Psychiatr. Klinik, Archiv für Psychiatrie 1876, Bd. V
2. Heft, S. 564.
Servaes: Zur Kenntniss von der conträren Sexualempfindung,
VI. Bd. des Archivs für Psychiatrie 1876, 2. Heft, S. 484.
Stark: „Ueber conträre Sexualempfindung", AUgem. Zeitschr. für
Psychiatrie, 33. Bd., BerUn 1877, S. 209.
Kelp: Ueber den Geisteszustand der Ehefrau Katharina Margarethe
L — r, conträre Sexual empfindung, Allgem. Zeitschr. für Psychiatrie, Bd. 36,
S. 716 ff.
Wie in der früher schon erwähnten Schrift des Referenten ') aus-
führlich nachgewiesen wurde, lassen sich die Fälle von Schminke,
Gock und Servaes nicht für die originäre Anlage conträr sexueller
Neigungen verwerthen ; die Beobachtungen von Scholz (Effeminatio,
Onanie, horror feminae) und Stark sind nicht genau genug beschrieben,
*) V. Schrenck-Notzing. Die Suggestionstherapie bei krankhaften Er-
scheinungen des Geschlechtssinnes.
44 ▼• Sehrenck-Notzingf.
um mit in Rechnimg gezogen werden zu können, wahrend es sieb bei
Kelp um erworbene Homosexualität handelt.
Im Jahre 1877 erschien die erste Veröffentlichung von v. Krafft*
Ebing „lieber gewisse Anomalien des Geschlechtstriebes^ im Archiv für
Psychiatrie Bd. YII, S. 291; 1881 eine weitere Arbeit über dasselbe
Thema. Die Studien dieses Autors wurden bald darauf in einem Bande
unter dem Titel „Psychopathia sexualis^ zusammengefasst , herausgegeben
und erlebten den für ein wissenschaftliches Buch unerhörten Erfolg Ton
zehn Auflagen bis zum Jahre 1898. Durch die bahnbrechenden Forschungen
Krafft-Ebing's ist die wissenschaftliche Bearbeitung eines so zu sagen
neuen Oebietes erst erschlossen worden; ihm gebührt das unbestreitbare
und bleibende Verdienst, eine Psychologie und Psychopathologie der vita
sexualis — wovon bis dahin kaum die bescheidensten Ansätze bestanden, —
ins Leben gerufen und zum ersten Mal die verschiedenen Gfruppen der
psychosexualen Erkrankungen nach den Grundsätzen klinischer Analyse und
Terminologie beschrieben und auf Gesetze zurückgeführt zu haben.
Das grundlegende Werk Krafft-Ebing's legt einerseits Zeugniss
ab für den feinen psychologischen Scharfblick und das tiefe menschliche
Mitgefühl seines Autors, andererseits hat es durch seine vielseitige Anregung
einen neuen Literaturzweig geschaffen; denn die seit dem Erscheinen der
Psychopathia sexualis veröffentlichten Schriften und Arbeiten über das
sexuelle Problem in wissenschaftlicher und belletristischer Form bilden schon
für sich eine kleine Bibliothek.
Man kann, wie Verfasser schon in der Einleitung zu dem oben er-
wähnten Werke ^) ausführte, darüber streiten, ob es richtig ist, das Gebiet
der Anomalien des Geschlechtstriebes gesondert zu behandeln, anstatt es der
Psychiatrie an geeigneten Stellen einzufügen. Gewiss sind es in der Regel
nur Symptome einer constitutionellen Erkrankung oder eines Schwäche-
zustandes des Gehirns, die uns in den mannigfaltigen Formen der sexuellen
Per Versionen entgegentreten.
Ausserdem hat man auf den Schaden hingewiesen, der durch Publicationen,
wie die Psychopathia angestiftet werden kann. Sicherlich wäre das Erscheinen
von zehn Auflagen dieses Buches nicht erklärlich, wenn die Verbreitung des-
selben nur in der wissenschaftlichen Welt erfolgt wäre.
Es lässt sich also gar nicht bestreiten, dass das pornographische
Interesse des Laienpublicums an der grossen Verbreitung einen namhaften
Antheil hat. Aber trotz dieses Uebelstandes steht doch der Schaden, den
eine Pathologie des Geschlechtstriebes in unberufenen Köpfen anstiften
kann, in keinem Verhältniss zu dem dadurch gestifteten Nutzen. Die Ge-
schichte lehrt, dass der üranismus schon vor dem Erscheinen der
Psychopathia enorm verbreitet war. Der Richter hat sich fortwährend
mit sexuellen Delicten zu befassen, bei denen die Zurechnungsfahigkeit der
Angeklagten in Frage kommt. Dem Arzte selbst sind die in den Lehr-
büchern der Psychiatrie nur stiefmütterlich behandelten psychosexualen
Anomalien vielfach eine Terra incognita. Die genaue Kenntniss der Ur-
') V. Schrenck-Notzing, Suggestionstherapie, S. 9.
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 45
Bachen und Entwicklongsbedingungen bei Geschlechtsverirrungen, des Ein-
flusses, den erbliche Ajilage, Erziehung, die Wahrnehmungen des Lebens,
sowie die socialen Verhältnisse der heutigen verfeinerten Cultur darauf
haben, ist gradezu die nothwendige Voraussetzung zu einer vernünftigen
Prophylaxe des Geschlechtslebens, zu einer sexuellen Erziehung. Ohne
sorgfältiges Studium der Umstände, welche die Erkrankung des Trieblebens
herbeiführen, könnten wir niemals an eine wirksame Therapie denken. Den
meisten dieser unglücklichen Patienten — v. Krafft-Ebing nennt sie
Stiefkinder der Natur — fehlt die Krankheitseinsicht; ähnlich wie Geistes-
kranke ohne Verständniss für die ethische Entwicklung des Menschen,
fühlen sie sich glücklich in ihrer krankhaften Triebrichtung. Daher ent-
schliessen sich trotz der grossen Verbreitung des üranismus so wenige zu
einer ärztlichen Behandlung. Während die terminalen Formen der ab-
normen Geschlechtsthätigkeit ihr Ende im Irrenhaus finden, bilden grade
die zweifelhaften Fälle, bei denen Entwicklungsmängel oder scheinbare
Lasterhaftigkeit eine zutrefiende Diagnose sehr erschweren — man kann
sagen die Begel. Gradezu unerlässlich aber ist eine gründliche Kenntniss
der Lehre von den Verirrungen des sexuellen Trieblebens vor Gericht. Die
mitgetheilten Gründe sind schwerwiegend genug, um die Nothwendigkeit
eines Handbuches zu rechtfertigen. Grade weil die Anschauung des Ver-
fassers in einigen Punkten von derjenigen Krafft-Ebing 's abweicht,
erscheint es als besondere Pflicht, das grosse Verdienst, welches sich der
letztere um die wissenschaftliche Bearbeitung dieses ganzen Gebietes er-
worben hat, zu betonen und in vollem Umfange anzuerkennen.
Der Kürze halber soll im Verlauf dieses Referats nur die zehnte 1898
erschienene Auflage besprochen werden, nachdem wir vorher einiger Autoren
gedacht haben, die fast gleichzeitig mit v. Krafft-Ebing oder bald nach
Erscheinen der ersten Auflagen der Psychopathia , — wenn auch schon
theilweise durch dieselbe beeinflusst — dennoch wichtige und selbstständige
Beiträge geliefert haben.
Das Studium der sexualen Anomalien wurde in dem Jahrzehnt nach
dem Erscheinen der ersten Arbeiten K r a f f t - £ b i n g 's hauptsächlich durch
folgende Autoren gefördert : ^)
Las^gue (les exhibitionistes, Union mSdicale, Mai 1877), Bitti
(de Tattraction des sexes semblables Gaz. hebd. de med. et de chir. 1878).
Tamassia (Inversione sessuale, Biv. speriment. di freniatria e di med.
legale Heft 6, 1878). Gross (Geschlechtliche Verirrungen 1878, Encyclopädie
des Erziehungs- und Unterrichtswesens). Lombroso (l'uomo delinquente,
2. Heft 1878, deutsch von Frank el 1888), Encycl. des ges. Erziehungs-
nnd Unterrichtswesens von K. A. Schmidt 1878. Pürckhauer
(Verbrechen wider die Sittlichkeit an einem 16jährigen Mädchen, Friedi'.
Blätter 1879, S. 368). Brouardel (£tude critique sur la valeur des
signes attribuös ä la Päderastie, Annales d^hygiene 1880, No. 28, p. 182).
Menesclou (Bapport de Las^gue, Brouardel et Motet, Annales d'hygiene
^) Man vergl. hierzu die bibliographischen Zusammenstellungen bei Moll,
V. Krafft-Ebing und v. Eulenburg.
46 ▼• Schrenck-Notzing.
publique 1880, pag. 439). Moreau (Des aberrations du Bens gSn^iqne,
Paris 1880). Lacassagne (Arch. di psichiatria ed antropologia crimi-
nale I pag. 438, 1880). Contague (Notes sur la Sodomie, Lyon ni6d.
No. 35 und 36, 1880). Lombroso (Arch. di psichiatr. 1881—83 [re£
in Goldammer 's Archiv Bd. 30]). Kowalewski (Forensich psychia-
trische Analysen, russisch 1881). Lacassagne (De la criminalitö chez les
animaux la Revue scientifique XXIX, Paris 1882, S. 27). Charcot-
M a g n a n (Liversion du sens genital et autres perversions sexuelles, Archives
de neurologie No. 7 und 12, Paris 1882). Krueg (Perverted sexuel
instinkts Brain Vol. lY, London 1882). Sterz (Beitrag zur Lehre von
der conträren Sexualempfindung, Jahrb. für Psychiatrie, 3. Bd., Wien 1882).
Blum er (A case of perverted sexual Instinct, American, joum. of
Insanity 1882 July). Cohn (Augenkrankheiten bei Masturbanten, Neurol.
Centralbl. 1882, pag. 63). Hoffmann (Päderastie, Real-Encyclopädie der
ges. Heilkunde Bd. X, pag. 294, 1882 und im 2. Heft 1886). Maschka
(Unzucht wider die Natur, Handbuch der gerichtl. Medicin 1882, Bd. Uly
pag. 176). Bernhardi (Der üranismus, Berlin 1882). Holländer
(Ein Beitrag zur Lehre von der conträren Sexualempfindung, Allgem.
Wiener med. Ztg., 27. Jahrg., Nr. 38, 1882, S. 407). Kiernan
(Besponsability in sexual perversion. Am. Joum. of Neurol. and Psych. 1882).
Krueg (Perverted sexual instinct Brain Vol. IV, London 1882). Raggi
(Aberrazione del sentimento sessuale in un maniaco ginecomasta, La
salute 1882, No. 11, pag. 86). Kirn (üeber die klinisch forensische Be-
deutung des perversen Sexualtriebes, Allgem. Zeitschr. für Psychiatrie
Bd. 39, S. 216, Berlin 1883). Babow (Zur Casuistik der angeborenen
conträren Sexualempfindung, (Ilentralbl. für Nervenheilkunde, Jahrg. 6, 1883,
S. 186 und Zeitschr. für klin. Medicin, Bd. 17, Berlin 1890, S. 129 ff.).
Guyot (La prostitution 1883). Hammond (Sexual impotence in the
male New York 1883, deutsche TJebersetzung der 2. Auflage von
Salinger 189 1 Berlin). Lombroso (Amori anomali e precoci nei
pazzi Arch. di psich. 1883). Shaw and Ferris (Perverted sexual
instinct, Joum. of nerv, and ment. dis. 1883 No. 2). Krauss (Die
Psychologie des Verbrechens 1884, Tübingen pag. 173). Anjel („Ueber
eigenthümliche Fälle perverser Sexualerregung", Archiv fiir Psychiatrie 1884,
15. Bd.). Martineau (Le^ons sur les d^formations vulvaires et anales,
Paris 1884). Leo Taxil (La prostitution contemporanie 1884). Garnier
(Onanisme seul et ä deux, sous toutes ses formes, Paris 1884). Sa vage
(Case of sexual perversion on a man. The Journal of mental science
VoL XXX, Oct. 77, 1884). 0-1 ey (Les alterrations de Tinstinct sexuel
Revue philosophique 1884). Chevalier (De Tinversion de Tinstinct
sexuel Paris 1885, 2. Aufl., 1893). Magnan (Ann. m^d. psychol. 1885,
pag. 485). Mantegazza (Anthropologisch-culturhistorische Studien über
die Geschlechtsverhältnisse des Menschen, Jena 1885 — 86). Blumen-
stock (Conträre Sexualempfindung, Beal - Encyclopädie d. ges. Heilk.
2. Aufl. Bd. VI, 1885). Magnan (Des anomalies, des aberrations et des
perversions sexuelles, Annales medico-psychologiques, 43 ann^e 1885 S. 454
und 1886: Anomalies du sens genital), [vgl. auch Möbius: Psychiatr.
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 47
Yorl. Y. Magnan , Leipzig 1892, Heft 11 und III, S. 35 £f.]. Lacassagne
(Attentats ä la pudenr, Archiv d'anthropol. criminelle etc. 1886, Bd. I
8. 59 £P.). Tarnowsky (Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechts-
sinnes, Berlin 1886). Keuss (Aberrations du seus genösique, Annales
d'hygiene publique 16. tome 1886). Saury (£tude clinique sur la folie
hdr^ditaire 1886). S6rieux (Recherches cliniques sur les anomalies de
rinstinct sexnel 1886). Brouardel (Gaz. des hopitaux 1886 und 87,
derselbe in No. 60 ebenda 1887, Erotomanes, exhibitionistes, nymphomanes,
masturbateurs). Lombroso (Der Verbrecher, deutsch von Fränkel 1887,
8, 119). Kowalewski (Ueber Perversion des Geschlechtssinnes bei
Epileptikern, Jahrb. für Psychiatrie 7. Bd. Heft 3, 1887). Ball (Sur la
folie erotique, Enc^phale 1887, pag. 190). Bin et (Le fStischisme dans
Tamour, Revue philosophique XXIV 1887, 8. 143 und 252).
Von den hier genannten Autoren war Lasägue der erste, der die
Exbibition als Krankheitserscheinung auffasste und auf das periodische
Auftreten derselben bei bestimmten Individuen sowie ihre volle Gleichgültig-
keit gegen die äusseren Umstände hinwies.
In Italien begannen das Studium der sexuellen Anomalien um dieselbe
Zeit Tamassia, Ritti und Lombroso. Die beiden ersteren betonen
den congenitalen Gharacter mancher Fälle sexueller Inversion, während
Lombroso das occasionelle Moment und die krankhafte Ideenassociation
besonders hervorhebt, ohne aber deswegen die Bedeutung des erblichen
Faktors zu negiren.
„Eine solche krankhafte Neigung entwickelt sich, wie Lombroso
von den Verbrechern sagt, in irgend einer schlimmen Stunde, besonders
wenn man noch Kind ist, und verschwindet unter dem Einfluss einer guten
Erziehung. Sie bleibt aber, wenn sie auf einen günstigen (durch Ent-
wicklungsschäden dazu beanlagten) Boden fallt und wenn man es unter-
lässt, sie zu bekämpfen. Während sonst bei den meisten Menschen die
Reminiscenzen solcher Eindrücke höchstens in untergeordneter Weise durch
Ideenassociation einen Einfluss zu üben vermögen, wirken sie bei besagten
Snbjecten, wie gewisse Virusarten, indem sie sich nicht nur fixiren, sondern
nach und nach den Organismus durchdringen, bis sie sich desselben ganz
bemächtigt haben und unwiderstehlich zu Handlungen, meist verbrecherischer
Art, antreiben. Daraus erklären sich die seltsamen Verirrungen von Obscönität
und Liebesneigung, die wir bei hereditär beanlagten Individuen schon seit
ihrer Jugend auftreten sehen. '^
Auch Brouardel, der schon früher (1880) die Ansicht T ar die us,
dass Deformitäten der Eichel von päder astischen Gewohnheiten herrührten,
widerlegt hatte, legt grossen Werth auf die Schädlichkeit der Erziehung
und äusserer Einflüsse beim Zustandekommen von Verirrungen des Ge-
schlechtstriebes. Für die forensische Beurtheilung sexueller Perversionen
ist, wie Tarnowski^) bemerkt, der Fall Menesclou lehrreich. Im
Jahre 1880 wurde nämlich der 19 jährige Menesclou, welcher ein vier-
jähriges Mädchen an sich gelockt, genothzüchtigt , dann erdrosselt und in
*) Tarnowski, loc. cit., S. 28, 29.
48 ^- Schrenck-Notzing,
Stücke zerschnitten hatte, zum Tode verurtheilt. „Zum Bedauern und zur
Schande der Wissenschaft gaben die als Experten fungirenden Irrenärzte
Lasögue, Brouardel und Motet trotz der offenbaren sohweren Form
psychischer Entartung des Angeklagten ein für ihn ungünstiges Ghitachten
ab, indem sie ihn für vollkommen zurechnungsfähig erklarten und der
Kranke wurde guillotinirt. Bei der Untersuchung von Menesclou's Gehirn
im anthropologischen Laboratorium erwies es sich, dass beide Stimlappen,
die erste und zweite Schläfenwindung und ein Theil der Occipitalwindungen
erweicht waren.
Das erste zusammenfassende wissenschaftliche Werk neuerer Zeit über
die Erkrankungen der vita sexualis wurde im Jahre 1880 von Moreau de
Tours (vergl. die obige Literaturzusammenstellung) herausgegeben. Ver-
fasser hatte bei Abfassung desselben noch keine Kenntniss von den
WestphaTschen und Krafft-E bin gesehen Forschungen. Die Ein-
leitung desselben bildet ein historischer Bückblick auf das Vorkommen der
„aberrations du sens g^n^sique^ bei den römischen Kaisem und Kaiserinnen,
im ^littelalter und zur Zeit der französischen Könige. Darauf folgt eine
Besprechung der ätiologischen Faktoren unter Berücksichtigung von Alter,
Constitution, Klima, Temperament, Jahreszeit und Nahrung. Unter den
ausführlich erörterten Bildungsfehlern der Genitalien nimmt der Hermaphro-
ditismus in seinen verschiedenen Formen den ersten Platz ein. Hieran
schliesst sich eine Erörterung der genitalen Erkrankungen und physio-
logischen Stöningen (Menstruation). Im folgenden Capitel wird der erb-
liche Faktor sowie die nachtheilige Einwirkung ungünstiger äusserer
Einflüsse für das Zustandekommen sexueller Verirrungen kurz erörtert.
Mit Recht weist schon Moreau bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass
Neuropathen eine specielle Disposition besitzen zur Inscenirung sexueller
Excesse und zur Erwerbung dauernder Anomalien, welche in Form fixer
Ideen auftreten können. Aus dem weiteren Inhalt des Werkes ist noch
die Eintheilung Moreau 's nach den einzelnen Symptomen interessant.
Er unterscheidet „les intelligences anomales^ (Störung der GeLites-
thätigkeit, Schwachsinn, moralische Idiotie) und rechnet dazu die meisten
Fälle von Exhibition, Päderastie, Sodomie, Saphismus.
Als zweite Form bespricht er die Formen von Irrsinn, welche mit der
sexuellen Function der Genitalien eng verknüpft sind (f o 1 i e de
puberte, de menstruation, de Tage critique, folie utero-
ovarienne, folie post connubiale). Die dritte Gruppe umfasst
die Erotomanen (sentimentaler Idealcultus). Die körperliche Liebe spielt
hierbei nur eine Nebenrolle; solche Individuen sind in der Regel nach
Moreau keusch und schamhaft (religiöse Schwärmerinnen). Die vierte
C 1 a s 8 e bespricht die Nymphomanie bei Mädchen unter acht Jahren
(Onanismus), Mädchen im Pubertätsaltor , erwachsenen weiblichen Personen
und bei Greisinnen.
U. A. führt Verfasser hierfür das Beispiel einer 79 jährigen (^eisin
an mit erotischen Delirien, in denen sie Arbeiter zu sich aufs Zimmer
rief und ihnen obscöne Anträge aller Art machte. Sie hatte keine Er-
innerung nach Ablauf der Dilirien an den Inhalt derselben. Das folgende
50 ^' Schrenck-Notzing.
sie entkleidet badeten nnd gab sich einige Jahre älter schliesslich der Onanie hin.
Oft genügte der Anblick eines männlichen Gliedes znr Erection nnd zum
vollen Orgasmus. Gleichgiltigkeit gegen Weiber. Im 17. Lebensjahre
verkleidete sich Patient als Mädchen und legte seitdem für weibliche
Toilette y Handarbeiten etc. grosses Interesse an den Tag. Volle Homo-
sexualität.
Charcot und Mag n an gaben dem Patienten den Rath, bei etwaigen
Erregungen in seiner Phantasie ein Weib für einen Mann zu substituiren.
Er bemühte sich auch vielfach, das zu thun, zumeist vergeblich. Nach
mehrmonatlichen Kämpfen hatte er schliesslich einen kleinen Erfolg und
gelangte sogar so weit, dass er geschlechtliche Beziehungen zu einem Weibe
anknüpfen konnte, die in ihm selbst angenehme Empfindungen hervorriefen.
Der psychische Effect war ausgezeichnet, und nach einigen Tagen hatte er
schon Ruhe von seinen früheren Empfindungen. Als er jedoch Paris fär
einige Zeit verliess , und dadurch gezwungen war , den alten Hang durch
seine Vernunft allein zu bekämpfen, begann die unnatürliche Neigung bald
wieder ihn zu beherrschen.
In diesem Fall nahm man ausser zur psychischen Behandlung seine
Zuflucht zur Hydrotherapie (kalte Begiessungen und Douchen) und zu
Bromkali, was die Intensität und Dauer seiner Anfälle verringert haben soll,
ohne jedoch ihre Häufigkeit zu beeinflussen.
Vorstehende Beobachtung erschien mir aus mehreren Gründen mit-
theilenswerth. Sie zeigt, wie zuerst durch äussere Anregung die Auf-
merksamkeit des (> jährigen Knaben auf männliche Genitalien und Onanie
gelenkt wird. Bei der Nachahmung des Actes stand das Gesehene als
Eriunerungsbild vor dem geistigen Auge des Knaben. Die pathologische
Association ist damit angeknüpft; sie wird betont mit Lustgefühl und
erstarkt mit der Häufigkeit der Wiederholung dieses Bildes. Damit
schwindet die Anspruchsfähigkeit der einseitig in Beschlag genommenen
Phantasie des Patienten für heterosexuelle Reize. Die Rückwirkung auf
seinen Charakter bleibt nicht aus; er trägt weibliche Kleidung im Garne val,
spielt mit Puppen etc.
Das pathologische Product der in Folge einer wahrscheinlich erblichen
neuropathischen Anlage ermöglichten Züchtung soll dann durch methodische
Selbstdisciplin , durch Substitution weiblicher Vorstellungen bei conträr-
sexualen Erregungen bekämpft werden. Das gelingt bis zu einem gewissen
Grade , der richtige Weg zur Heilung ist damit unzweifelhaft gefunden ;
eine hypnotische Behandlung hätte dem Patienten seine Aufgabe erleichtert.
Der zweite weniger interessante Fall betrifft einen erblich belasteten
Onanisten mit dem Zwang, seine Aufmerksamkeit auf das Gesäss von
Weibern und besonders von Kindern zu richten. Dabei melancholische
Verstimmung.
Die dritte von Magnan imd Charcot berichtete Beobachtung be-
zieht sich auf eine erblich belastete hypochondrisch verstimmte Persönlichkeit
und Schuhfetichismus. Zwar will dieser Patient zufolge seiner Autobiographie
schon seit dem siebenten Lebensjahre durch ein unwiderstehliches Verlangen
gequält worden sein, die Schuhe der Weiber daraufhin anzusehen, ob sie
Psychologie ond Psychopathologie der vita sexualis. 51
mit Nägeln beschlagen worden seien. Indessen ist nicht genau angegeben,
welche äusseren Anregungen den Patienten zu solchen Vorstellungen Ver-
anlassung boten. Er verband derartige Gedanken mit seinen onanistischen
Manipulationen und ging dann in seiner Phantasie auch zu grausamen
Handlungen über, indem er den Mädchen die Eisen auf die Fusssohlen
nagelte etc.
In dem vierten berühmten Falle von Charcot und Magnan
coincidirte das Eintreten der ersten geschlechtlichen Erregung mit dem An-
blick der Nachtmütze, welche ein mit ihm im Bett schlafender Verwandter
in demselben Augenblick auf den Kopf setzte. Nächste Erection als
Patient eine alten Dienerin die Nachtmütze aufsetzen sah. Dadurch
bildete sich eine Association zwischen zwei Wahmehmungsinhalten in dem
Alter, wo Associationen namentlich imter dem Einfluss lebhafter Gefühls-
erregung sehr stark sind. Schliesslich beherrschte das Bild der Nachtmütze
das sexuelle Leben derart, dass die Vorstellung dieses Gegenstandes conditio
sine qua non für die Erection wurde.
Beobachtung 5 der beiden Autoren betrifft einen Schürzenfetischisten,
der im Alter von 15 Jahren eine Schürze im Winde flattern sieht; er
nimmt sie, bindet sie um, um darunter zu masturbiren. Aus dem zeitlichen
Zusammenfallen der Schürzenwahrnehmung und der sexuellen Erregung ent-
steht eine Ideenassociation, die zur Zwangsvorstellung bei der üblichen Prä-
disposition des Patienten werden konnte und wirklich wurde. In dieser
Weise wurde die geschlechtliche Richtung des Patienten bestimmt. Bei
dieser Gelegenheit mögen die Anschauungen Magnan 's über die Ge-
schlechtsanomalien Platz finden, wie er sie nach seiner ersten Veröffent-
lichung in mehreren späteren Arbeiten vertreten hat. In seiner Abhandlung
„Ueber krankhafte Antriebe zu Verbrechen" führt er neben dem Mordtrieb,
Stehltrieb, Trieb zum Feueranlegen an vierter Stelle die verkehrten ge-
schlechtlichen Triebe an. In der Mehrzahl solcher Fälle ist nach M. bei
solchen Personen Schwachsinn, in der Minderzahl die Zwangsvorstellung
(Obsession) anzutreffen. Eine seltene Form ist nach M. das Verlangen nach
Begattung mit Thieren. — Gegen die Einreihung gewisser perverser
Richtungen des Geschlechtstriebes in die Klasse der Zwangsvorstellungen
hat Moll Bedenken erhoben.^) Auch Ball wendet gegen Magnan ein,
dass es nicht gerechtfertigt sei, eine besondere Geisteskrankheit anzunehmen,
die als degeneratives Irresein zu bezeichnen sei. Trotzdem sind aber die
drei Autoren über die Thatsachen einig.
In weiteren Arbeiten über den Gegenstand unterscheidet Magnan bei
den sexuellen AnomaUen vier Classen
1. Selbstständige Thätigkeit des Centrum genitospinale. Einfacher
Reflexvorgang (spinaux) z. B. Onanie bei vollständigen Idioten.
^) Magnan: Ueber krankhafte Antriebe zu Verbrechen, nach einem im Jahre
1892 auf dem Gongress für eriminoUe Anthropologie zu Brüssel erstatteten Berichte
„robsession criminelle morbide", deutsch von Möbius in den Psychiatr. Vorlesungen
von Magnan. Leipzig 1893.
•) Moll: Libido sexualis, S. 686.
4*
68 ▼• Schrenck-Notzing.
2. Der Reflexbogen geht durch die Binde der Hinterhaaptalappeii
(spinauz c6r6braux). Das Bild einer Person des anderen G^chlechts
ohne Bücksicht auf ihre Eigenschaften setzt den spinalen Apparat in Thätig-
keit. Instinctives Handeln.
3. Betheiligong des Stimhims. Krankhafte Beaction in geschlecht-
licher Beziehung. Seelische Vorgänge rufen sexuelle Empfindung vor;
nur sind sexuelle Vorstellungen und Gefühle abnorm (spinaux cör6braax
post6rieurs).
4. Alleinige Thätigkeit des Stimhims. Ekstatische Erotomanen
(c^röbraux ant^rieurs oder psychiques). Abscheu Tor dem
Sexualverkehr.
Zu Klasse 1 gehört die instinctive Onanie Blödsinniger,
deren Leben nur vegetativ verläuft. Bei der zweiten Ghruppe scheint eine
gewisse Selbstständigkeit der nach hinten von den Gentralwindungen liegen-
den Theile der Hirnrinde zu bestehen, welche beim Entstehen der Sinnea-
wahmehmungen und Triebe erregt werden. Wegen Fehlen der höheren
geistigen Hemmungen lösen Wahrnehmungen allein Triebhandlungen aus
(Nymphomanie, Satyriasia). Bei der dritten Stufe spielen, wie bei
Gesunden Ueberlegungen und Willensacte mit. Aber Fühlen und Denken
ist abnorm. Krankhafte geschlechtliche Liebe zu speciellen Personen,
Kindern, Verkehrung des geschlechtlichen Empfindens (Inversion du
sens genital). Nach Magnan macht sich diese Störung schon in früher
Jugend geltend, also bevor fehlerhafte Erziehung und lasterhafte Gewohn-
heit den Menschen verderben können. Die von Magnan als Beweis heran-
gezogenen Fälle lassen nun aber gerade das Hauptargument vermissen,
nämlich die objective Feststellung, dass das Triebleben lediglich endogen
sich in die homosexuelle Bichtimg entwickelte, ohne den maassgebenden Ein-
fluss äusserer Factoren. Dagegen betont Magnan mit vollem Becht das
Zwangsmässige solcher Neigungen; er fügt den etwas kühnen Satz
hinzu: Die Störung ist rein cerebral, man könnte sagen, es handle sich
um ein weibliches Gehirn im männlichen Körper und um-
gekehrt. Femer rechnet Magnan zu dieser dritten Klasse auch den
Fetischismus. Bei der vierten Gruppe handelt es sich um Liebe ohne
sinnliches Verlangen (keine Onanie).
Auf das rein Willkürliche, Hypothetische der anatomischen Gesichts-
punkte Magnans, die sich auch weiterhin keine Anerkennung verscha£Ft
haben, soll hier nicht näher eingegangen werden. Wie soll man es z. B.
verstehen, wenn Magnan die Angst bei der Onomatomanie dadurch zu
erklären sucht, dass das Sehcentrum ein Schriftbild verlange?
Li seinen Ausführungen über Exhibition (für welche eine psychopathologische
Analyse nicht gegeben wurde) spricht Verfasser die Meinung aus, dass die
wahren Exhibitionisten, bei denen ein krankhafter zwingender Trieb zu
Grunde liege, selten seien. Unter den acht von Las^gue beschriebenen
Fällen sind zwei mit Alterschwachsinn, einer mitHerderkrankung
des Gehirns, einer mit progressiver Paralyse und wahrscheinlich
ein Epileptischer. Es giebt rein triebmässige Exhibition ohne
Erinnerung daran, eine andere Form mit vollkommener Krankheitseinsicht;
Psychologie ond Psychopathologie der vita sezualis. 53
femer tritt mitunter Manustnpratio und Frottage (Scheuem des
Gliedes an dem Körper des Partners mit Bevorzugung des Gesässes) auf.
Man kann, wie Magnan mit Recht betont, die Kranken nur nach dem
zu Grunde liegenden krankhaften Zustand beurtheilen. Die Motivirung fSr
dieselbe Handlung kann grundverschieden sein, was besonders für die foren*
sische Beurtheilung solcher Fälle schwer ins Gewicht fallt
Weitere casuistische Beiträge im Sinne Westphal's und v. K r a f f t -
E hing 's zum Theil unter Betonung der hereditären Disposition lieferten
femer Krueg, Hollaender, Sterz, Kirn, Blumer, Babow,
Savage, Kiernan.
Zusammenfassende Arbeiten über die Frage der Päderasthie und geni-
talen Missbildungen wurden nach dem Standpunkte des damaligen Wissens
veröffentlioht von Martine au und Hoff mann, während Mas chka (1882),
Gley (1884), Blumenstock (1885) zusammenfassende Beferate über
Unzucht wider die Natur, die conträre Sezualempfindung und sonstige
Anomalien der vita sexualis darboten. Ebenso übergehen wir an dieser
Stelle die Quellenwerke von Taxil und Yves Guyot über Prostitution,
sowie die Arbeit von Oohn (vergl. die Literatur). Bernhardi's An-
schauung, wonach die conträre Sexualempfindung nur beim passiven Theil
angeboren sei, widerlegt Moll. Von besonderem Interesse dagegen er-
scheinen die von Baggi berichteten Arten sexueller Perversität zu sein;
es handelt sich dabei hauptsächlich um Geisteskranke (Maniakalische), die
sich als Frauen dünken und dementsprechend mit Männern umgehen (Wahn
der Geschlechtsverwandlung). ^ In der Beobachtung von Shaw und F e r r i 8
konnte ein physisch und psychisch gut entwickelter Mann seine conträr
sexuellen Gelüste bekämpfen und unterdrücken. — Für die Psychopathologie
des FetiBchismus ist ein von Lombroso mitgetheilter Fall lehrreich. Der
betre£Pende psychopathisch veranlagte Patient erlitt in der Kindheit ein
trauma capitis. Seit dem 3. oder 4. Lebensjahre hatte er Erectionen; die
geschlechtliche Erregung trat auf beim Anblick weisser Gegenstände, weisser
Wände, aufgehängter gestärkter weisser Wäsche. Die Berührung und das
Zerknittern solcher Wäschestücke bewirkte wollüstige Erregungen. Vom
9. oder 10. Lebensjahre an masturbirte er beim Anblick weisser gestärkter
Wäsche. Schliesslich stahl er, wurde in Strassenprügeleien verwickelt und
am Ende wegen Mordes zum Tode verurtheilt. (Fortsetzung folgt.)
^) Moll, Libido sezualis, S. 312.
*) Vgl. auch Hammond, A Treatise of insanity in its medical relations.
New-York 1883.
Referate und Besprechungen.
Ä. Ddbrückt (Gerichtliche Psychopathologie, ein kurzes Lehrbuch für
Studierende, Aerzte und Juristen. Leipzig, Joh. Ambr. Barth. 1897.
Das Buch umfasst 224 Seiten mit einem 7 Seiten langen Register. £r zerfallt
in einen allgemeinen und einen speciellen Theil.
I. Allg. Theil. Umfasst 70 Seiten und trennt sich in 4 Kapitel, von denen
das 3. und 4. sich mit der psychiatrischen Beurtheilung des Exploranden im All-
gemeinen und mit den besonderen Aufgaben des SachTerständigen im Process-
y erfahren beschäftigen. Das erste Kapitel „über die Grundbegriffe der gerichtlichen
Psychologie" und das zweite — in 5 Paragraphen geordnet — „über die wichtigsten
rechtlichen Fragen, welche zu psychiatrischer Begutachtung Veranlassung geben**,
sind zum Zwecke eines Referates die wichtigsten. Sie enthalten die allgemeinen
Anschauungen des Yerf. über den Begriff und die Stellung einer „gerichtlichen
Psychopathologie". Diese Anschauungen sind nicht neu, sie sind von anderen und
früheren Autoren bereits erwähnt, doch, im Bestreben, sie mit dem Gresetz, dessen
Voraussetzungen und seinen starren Formeln in Einklang zu bringen, abgeschwächt
worden und so bisher ohne allgemeine Geltung geblieben. So einfach sachlich,
consequent, ohne Deutelei, dabei nicht schroff und ohne alle Polemik enthält sie
als Lehrsätze kein Lehrbuch. Der Verfasser giebt zunächst die Abgrenzung des
Begriffes einer gerichtlichen Psychopathologie; er findet, dass ihre Hauptau%abe
darin bestehe, eine besondere Gruppirung und Betonung der bei den einzelnen
Psychosen beobachteten Krankheitserscheinungen zu schaffen, je nachdem aus
solchen letzteren für den Kranken rechtliche Collisionen entstehen können. Diese
Fassung, wie sie z. B. Gramer in seinem, ebenfalls 1897 erschienenen Leitfaden
der gerichtlichen Psychiatrie vertritt, ist ihm jedoch zu eng. Es würde daraus
folgen, dass der Gerichtsarzt sich auf die rein klinische Beurtheilung des Falles zu
beschränken hätte. Damit aber wäre der „gerichtlichen Psychiatrie" die Berech-
tigung genommen, als eine besondere Wissenschaft zu gelten; sie wäre nur eine
Hülfswissenschaft. Vielmehr erweitert D. ihren Begriff bedeutend und bringt sie
in einen Vergleich mit der Hygiene, deren Au%aben auch weit über das Ziel einer
rein klinischen Beurtheilung hinausgehen. Diese Bedeutung der gerichtlichen
Psychiatrie erhellt aus folgendem Fundamentalsatz, den der Verf. seinen weiteren
Referate und Besprechungen. 55
Ausführungen vorausstellt: „Der Begriff der Geisteskrankheit ist kein absoluter;
eine irgend näher zu bezeichnende Grenze zwischen geistiger Gesundheit und
geistiger Krankheit giebt es nicht, vielmehr sind die Uebergänge zwischen beiden
fliessend.*' Schon in seiner Arbeit ^^Ueber die pathologische Lüge etc." 1891 sehen
wir den Verfasser von der Wichtigkeit dieser Uebergangsfalle überzeugt. Er
ist nicht der Ueberzeugung, dass ihre Zahl mit dem Fortschreiten der Psychiatrie
sich verringern wird, sie bestehen und werden bestehen, objectiv. Sie sind es,
welche zu Schwierigkeiten in der Beurtheilung und zu Differenzen zwischen Richter
und Sachverständigen führen, und es thut Noth, dass künftig diese Differenzen
auf andere Weise geschlichtet werden und eine Verständigung erzielt wird, welche
der psychiatrischen Wissenschaft mehr entspricht, als seither. Die Psychiater
machten bisher Concessionen, um sich dem geltenden Recht und seinen Grundlagen,
dem Dualismus und der Lehre vom freien Willen, anzupassen, imd es kam zur Er-
findung einer Menge von Spitzfindigkeiten, z. B. „relativer Willensfreiheit **, „ge-
wöhnlicher und organisch bedingter" Characterfehler etc., die alle vor dem unbe-
fangenen Blick nicht bestehen können. Bis in die achtziger Jahre schien den
Juristen die dualistische Weltanschauung und die Lehre vom freien Willen zur
Constrnirung der Begriffe von Schuld und Strafe unentbehrlich. Seitdem ist ein
Umschwung eingetreten. Es giebt nunmehr Strafrechtslehrer, welche, wie Hertz
und Liszt, bei Aufstellung ihrer Definitionen der Zurechnungsfähigkeit die Lehre
vom freien Willen ganz aus dem Spiel lassen. Mit diesen in der Rechtswissenschaft
neuen Anfibssungen kann der Psychiater sich befreunden.
Nach einem kurzen Rückblick auf die Entwickelung des Strafbegriffs kommt
Verf. zu der Feststellung, dass nunmehr, in Hinblick auf den Strafzweck, nicht
mehr, wie früher das „quia peccatum est", sondern das „ne peccetur" betont wird.
Dieser Zweckgedanke bedarf das Postulat des freien Willens nicht. Hierdurch fällt
der absolute Gegensatz zwischen „Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähig-
keit" und „Krankheit und Gesundheit" zusammen, ihre Relativität wird anerkannt
Nunmehr ist die Möglichkeit vorhanden, den neuen, bisher unmöglichen Begriff
der verminderten Zurechnungsfähigkeit zur Anerkennung zu bringen.
Die verminderte Zurechnungsfähigkeit war bereits früher in manchen Landesgesetz-
gebungen geltend, in neueren verschwand sie wieder. Im Artikel 9 des Vorentwurfes
zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch findet sie sich wieder: „War die geistige
Gesundheit oder das Bewusstsein des Thäters nur beeinträchtigt oder war er geistig
mangelhaft entwickelt, so ist die Strafe zu mildern; sie fällt ganz weg, wenn der
Thäter verwahrt oder versorgt wird." Wenn man dagegen geltend macht, dass
die Institution der „mUdemden Umstände** genüge, um der thatsächlich vermin-
derten Zurechnungsfahigkeit Rechnung zu tragen, so ist diese Argumentation falsch;
denn es handelt sich in solchen Fällen nicht um eine quantitativ andere Strafe,
sondern um eine qualitativ andere Behandlung, und diese Thatsache ist von
principieüer Bedeutung. Es werden z. B. vermindert zurechnungsßüiige Alcoholiker
in ein Trinkerasyl, Epileptiker theils in eine Irrenanstalt, theils in eine Anstalt für
EpUeptische, Schwachsinnige in besondere Anstalten, moralische Idioten in besondere,
für sie zu errichtende Anstalten gehören etc. Es leuchtet ein, dass die Gonse-
qnenzen der verminderten Zurechnungsfähigkeit ganz andere sind, als die der
mildernden Umstände. Nach Cramer genügen diese letzteren; freilich gehört er
zu den Autoren, die das fast gänzliche Verschwinden der Uebergangsfalle in Aus-
56 Referate und Besprechungen.
sieht stellen. Bezüglich der moralischen Idioten, die ein Hauptcontingent der
„Gewohnheits'^yerbrecher ausmachen, sieht sich unser Autor auf dem Punkte des
Zusammentreffens mit den Ansichten modemer Criminalisten, welche sog. „Straf-
absonderungshäuser" für dieselben wünschen.
Für die Berechtigung einer yerminderten Zurechnungsfähigkeit fuhrt D.
weiter an, dass ja das Gesetz bei jugendlichen Personen eine solche bereits aner-
kenne. Nach einer näheren Ausfuhrung dieser, doch sehr für seine Sache sprechenden
Thatsache wendet er sich in § 2 den Maassnahmen bei Geisteskrankheit der Unter-
suchungs- und Strafgefangenen zu. Für die Wahl der Anstalt ist bei solchen die
Art der Geistesstörung maassgebend. Ist diese ausgesprochen, so gehören sie in
eine Irrenanstalt ; andernfalls, bei moralischen Idioten, kommen die „Strafabsonderungs-
häuser^ in Betracht.
Es folgt nun in den weiteren §§ die Besprechung der civilrechtlichen Hand-
lungsfähigkeit. Auch sie ist ein relativer Begriff und wird in der Rechtswissenschaft
sowohl theoretisch als practisch als solcher anerkannt. Warum nicht auch die Zu-
rechnnngsfähigkeit ?
üeber die beiden nächsten Paragraphen, sowie Kap. 3 und 4 können wir in
unserem Referate hinweggehen, da sie nichts Besonderes, worin sich D. von anderen
Autoren unterschiede, enthalten ; nur möchten wir auf die schönen Ausführungen in
§ 3 „die Untersuchung der Simulanten'^ hinweisen.
n. Theil. £r enthält die Schilderung der einzelnen Krankheitsbilder mit der
für das Thema wichtigen Hervorhebung einzelner Krankheitserscheinungen, wie sie
zu rechtlichen CoUisionen führen können. Beispiele werden nicht angeführt, statt
dessen verweist Verf. in der Vorrede auf die Gutachtensammlung aus dem Burg-
hölzli, herausgegeben von Kölle. Die Classification ist, wie Verf. selbst ausspricht,
keine maassgebende : Kap. 1 § 1 „die manischen und melancholischen Seelen-
störungen*^ § 2 „die Verrücktheit'^ § 3 „der acute Wahnsinn, die Erschöpfungs-
zustände, der secundäre Blödsinn, die Verblödnngsprocesse'' ; Kap. 2 § 1 „die De-
mentia paralytica", § 2 „der Altersblödsinn'', § 3 „andere organische Formen";
Kap. 3 „die Vergiftungen", § 1 „der Alcoholismus", § 2 „Morphinismus, Cocainis-
mus — Fieberdeliriam, acute Vergiftungen durch Chloroform, Stickstoffoxydul" u. a.;
Kap. 4 „die sog. „Neurose", § 1 „die Epilepsie", § 2 „die Hysterie", § 3 „die
traumatische Neurose"; Kap. 5 „die konstitutionellen Störungen", § 1 „die Abnor-
mitäten des Geschlechtstriebes", § 2 „die Zwangsvorstellungen", § 3 „die Stinmiungs-
anomalien", § 4 „die krankhaften Triebe", § 5 „die ethischen Defecte" (das mora-
lische Irresein); Kap. 6 „die Entwickelungshemmungen".
Unter diesen Kapiteln heben wir als besonders wichtig und neue Gesichts-
punkte enthaltend hervor : Kap. 1, § 3 in denen die neuesten Ansichten über gewisse
Psychosen berücksichtigt sind : Kräpelin's „Verblödungsprocesse". Der Verf. ist
so vorsichtig, hinzuzufügen, dass diese noch eine Streitfrage sind. Femer das über
den Alcoholismus, Kap. 3 § 1 Gesagte, wo nachdrücklich vertreten wird, dass
Trinker Kranke sind und nicht bestraft, sondern bei Zeiten in besonderen An-
stalten geheilt werden sollen. Neues findet sich femer in dem Kapitel „Hysterie",
wo der Hauptnachdruck auf der Autosuggestion ruht und daraus all' die verschieden-
fachen Symptome erklärt werden und wir auch dem Symptom der sog. Pseudologia
phantastica wieder begegnen, über welche Verf. in dem friiher erwähnten Buche
klare und eingehende Studien niedergelegt hat. In ähnlicher Weise wie die Hysterie
5g Referate und Besprechungen.
Er hat nach einem bestimmten Plane an allen Kranken alle Empfindungsarten
durchgeprüft und dadurch zu einheitlichen Gesichtspunkten zu gelangen versucht.
Er beschränkt sich darauf, die gefundenen Resultate rein beschreibend wiederza-
geben an der Hand von kurzen Krankengeschichten ohne eine Erklärung der Er-
scheinungen zu versuchen. Nach einem kurzen, durchaus nicht erschöpfenden ge-
schichtlichen Ueberblick, in dem er besonders hervorhebt, dass frühere Arbeiten
immer nur einzelne Empfindungsqualitäten berücksichtigen und nie grössere Reihen
von Kranken nach einheitlichen Gesichtspunkten prüften, stellt er ein Untersuchungs*
Schema und seine Methode fest. Nach der Meinung des Verfs. gelänge es dem
Untersucher leicht, eine Beeinflussung der Untersuchungsresultate durch die psy-
chische Verfassung des Kranken zu vermeiden. Auf Grund seiner an zehn Elranken
angestellten Beobachtungen kommt Verf. zu folgenden Resultaten: Störungen der
Sensibilität sind die Regel bei allen Formen der Melancholie. Immer wurden ein
Verlust oder eine beträchtliche Verminderung der Schmerzensempfindung ge-
funden bei Erhaltung der Berührungsempfindung. Die Analgesie kann universell
oder fast universell sein oder sich auf einzelne Zonen beschränken, die symmetrisch
oder asymmetrisch, auch unilateral liegen können. Oft ist eine Verzögerung der
Empfindung zu constatiren. Die Berührungsempfindung war in ^j^ der Fälle im
Bereich der analgetischen Zonen etwas herabgesetzt. Die Empfindimg electrischer
und thermischer Reize ist in einer Anzahl von Fällen ebenfalls herabgesetzt. Oft
bestand Aufhebung der Reflexe, 4 Mal Steigerung des Patellarreflexes. Hyper-
ästhesie von geringer Ausdehnung und wechselnder Localisation. Störungen der
Sinnesorgane: Verminderung oder Aufhebung des Geruchsvermögens zugleich mit
Aufhebung der Berührungsempfindlichkeit der Schleimhaut; Herabsetzung der
Geschmacks- und Gehörsempfindung, der Sehschärfe verbunden mit Einengung des
Gesichtsfeldes. Verminderung des Hunger- und Durstgefühies, einmal gesteigerter
Durst; fast immer Kopfschmerzen und Hallucinationen.
Tecklenburg -Leipzig.
Dr. M. Säw^e?*-Magdeburg : Subjective Dyspnoe bei Trockenheit der Nasen-
schleimhaut, sowie der Rachen- und Kehlkopfschleimhaut (Münch. Med. Wchschr.
Nr. 15 1898).
Sänger hat 1893 einen Lebensversicherungsbeamten behandelt, dessen Dyspnoe
eine autosuggerirte war. Patient, dessen Luftwege, Nase etc. absolut kein locales
Athmungshindemiss aufwiesen, auch überhaupt keine Möglichkeit für das gelegent-
liche Auftreten eines solchen boten, also weder Schwellung, Polypen, Missbildung,
noch auch Secretanhäufung, dessen Luftwege vielmehr durch das Bestehen einer
Rhinitis sicca abnorm weit und leicht durchgängig waren, klagte darüber, dass
er bei geschlossenem Munde nicht genügend Luft bekomme. Sänger theilt mit,
dass ihm seiner Zeit der Fall nicht recht klar gewesen sei und dass er nur ut ali-
quid fiat gegen die Rhinitis Ausspülungen mit einer verdünnten Jod-Glycerin-Lösung
verordnet habe. Er war damals sehr erstaunt, als Patient nach mehrtägiger An-
wendung dieses Mittels, welches seiner früher blassen und trocknen Nasenschleimhaut
die normale Röthe und Feuchtigkeit wiedergegeben hatte, sehr zufrieden erklärte,
„er habe jetzt vollkommen Luft".
Da bei Rhinitis sicca die Empfindlichkeit der in der Nasenschleimhaut be-
findlichen Nervenendigungen herabgesetzt ist, da ferner bei der Trockenheit der
Referate und Besprechungen. 59
Nasenachleimhaut die hindurchstreichende Inspirationsluft keine Verdunstung und
also auch nicht den bei der normalen Nase auftretenden Kältereiz hervorruft, so
argamentirt der Verfasser, dass der Patient dadurch dyspnoetisch wurde, dass er
eben glaubte, keine Luft durch die Nase zu bekommen. Diese Dyspnoe, deren in
der larjmgorhinologischen Literatur noch nicht Erwähnung gethan ist, kommt bei
Patienten mit Rhinit. sicca häufig vor und wird von den Patienten selbst, oft da-
durch zum Verschwinden gebracht, dass dieselben aus eigenem Antrieb Wasser
au&chnauben, oder durch Reizung mit Schnupftabak eine Hypersecretion, also An-
feuchtong der trocknen hypästhetischen Schleimhaut hervorrufen.
H i 1 g e r - Magdeburg.
WUh. Wundfs System der Philosophie. 2. umgearbeitete Auflage
Leipzig, W. Engelmann's Verlag. 1897.
Die nachfolgenden Blätter wollen keine Kritik dieses nunmehr in zweiter
Auflage vorliegenden Werkes versuchen, sie wollen nur den wesentlichen Inhalt
desselben, in dem der Verf. seine Weltanschauung in abgerundeter Form nieder-
gelegt hat, für diejenigen Leser dieser Zeitschrift, die dem W u n d t 'sehen Gedanken-
kreise etwa femer stehen, in gedrängter Kürze objectiv zusammenfassen.
Vorweg mag bemerkt werden, dass, obwohl Form und Methode der Dar-
stellung im Vergleiche mit der i. J. 1889 erschienenen Auflage die gleichen ge-
blieben sind, einzelne Abschnitte des Werkes dennoch nicht unerhebliche Ver-
änderungen und Umarbeitungen erfahren haben. Insbesondere gilt dies von den
die Erkenntnissprobleme, sowie die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes
behandelnden Theilen.
Es scheint uns von Wichtigkeit, die Einleitung in das die Arbeit eines ganzen
Lebens voraussetzende Werk etwas ausführlicher darzustellen. Hieran wird sich in
den folgenden Heften die Wiedergabe der weiterei^ Gedanken des Verfassers
schliessen.
Einleitung: Aufgabe der Philosophie, Gliederung der Einzelwissenschaften.
Eintheilung der wissenschaftlichen Philosophie.
Vielgestaltig und reich an Widersprüchen, führt Wundt aus, ist das Bild, das
wir aus einer Betrachtung der Geschichte der Philosophie und der Bedingungen,
unter denen sie sich entwickelte, gewinnen. Selbst auf die Frage, was Philosophie
seif erhalten wir in den verschiedenen Zeitabschnitten ihres Bestehens kaum eine
allgemeingültige Antwort. Dennoch giebt es einen Punkt, der in allen ihren Wand-
lungen übereinstimmend erscheint. Es ist dies ihr bald ausdrücklieh betonter, bald
unausgesprochen verfolgter Zweck: „Er besteht überall in der Zusammen-
fassung unserer Einzelkenntnisse zu einer die Forderungen des
Verstandes und die Bedürfnisse des Gemüthes befriedigenden
Welt- und Lebensanschauung.*' Hiermit kann aber ihre Begrif&bestimmung
noch nicht erschöpft sein; denn bald mit der Philosophie verbündet, dann wieder
sie bekämpfend oder selbst von ihr angefochten theilen den gleichen Zweck zwei
andere grosse Gebiete menschlicher Geistesthätigkeit : die der Philosophie meist
ab geschlossene Weltanschauung vorauigehende Religion und die aus ihr hervor-
gegangenen Einzelwissenschaften. Die Philosophie nimmt zwischen beiden eine
mittlere Stellung ein und hat ihr Verhältniss zu beiden klar zu legen. Wundt
bespricht zunächst das Verhältniss der Philosophie zur Religion.
60 Keferate und Besprechungen.
„Ans ethischen Wünschen und Forderungen gestaltet dieBeli-
gion ihre Weltanschauung. Das Gemüthsbedürfniss steht ihr un-
bedingt über dem Verstandesbedürfniss.** Ursprünglich beide HotiTe
in sich vereinend, sieht sie sich in dem Momente der Philosophie als einer neuer-
wachten Geistesthätigkeit und zwar feindlich gegenübergestellt, in dem sich das
theoretische Interesse von dem practischen, das intellectuelle von dem religiösen
zu scheiden anfängt: „Mit dem Kampfe gegen die Mythologie der Volks-
religion beginnt daher alle Philosophie. An die Stelle der rohen
Naturerklärung durch menschenähnliche Beweger setzt sie den
Versuch einer begrifflichen Auffassung des Kosmos. ** Diese Scheidung
der Interessen ist aber nicht so zu verstehen, als sei das religiöse fortan aus ihr
geschwunden, vielmehr theilt auch sie mit der m3rthologischen Auf&ssung von Anfang
an die Verfolgung beider Ziele und in dem Meinungsuntersohied, der aus der jeweils
zugestandenen Berechtigung des einen vor dem anderen erwuchs, erblickt Verl die
Hauptquelle der zahlreichen Kämpfe, die die Philosophie im Laufe der Zeiten nach
innen wie nach aussen zu führen hatte. Diese Fortwirkung des religiösen Inter-
esses innerhalb der Philosophie zeigen die Systeme des Alterthums in ihrem Ringen
nach einem geläuterten Monismus (Parmenides, Anaxagoras, Plato, Aristoteles, die
Stoa), dies zeigen nicht minder die Gedankenentwickelung der Antike fortführend
die philosophischen fiichtungen der Neuzeit: „Die Philosophie eines Des-
cartes, Spinoza und Leibniz ist so gut wie die eines Augustinus
undAnselmus zu einem wesentlichen Theile speculativeTheologie.
Ob dieser religiöse Trieb in der Begründung eines bestimmten
Glaubenssystems seinen Ausdruck findet, wie bei den Heroen der
christlichen Philosophie, oder ob er sich nur in der Anpassung an
kirchliche Lehren bekundet, wie bei Leibniz, oder ob er endlich
den bestehenden Glaubenslehren völlig frei gegenübersteht, wie bei
Spinoza, all das ändert im Grunde wenig an dem Wesenscharacter
dieser speculativen Metaphysik.'* Freilich hat es nicht an Versuchen ge-
fehlt, die Gebiete des Glaubens und des Wissens von einander zu trennen und der
Philosophie ausschliesslich die Bearbeitung der intellectuellen Probleme zuzuweisen
(der scholastische Nominalismus, der spätere Empirismus und Poeitivismus, selbst
in der kantischen Philosophie finden sich solche Bestrebungen), aber eine solche abso-
lute Scheidung hat sich immer nur als eine scheinbare erwiesen ; selbst in der nega-
tiven Beantwortung der Frage nach der Berechtigung des religiösen Interesses
innerhalb der Philosophie sieht Verf. nur das Zugeständniss , dass dieselbe das
religiöse Denken und Handeln doch nicht völlig aus der Allgemeinheit menschlicher
Lebensäusserongen auszuschliessen vermag. Religiöse und wissenschaftliche Welt-
anschauung sind nach Wundt nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen, deren
Motive zwar nicht zusammenfallen, die aber als in demselben Menschengeiste Platz
findend niemals mit einander in Widerstreit gerathen dürfen. Während Verf.
hier der Philosophie ihrer Stellung gemäss die Aufgabe zuweist, die Beziehungen
jener beiden Betrachtungsweisen zu einander zu prüfen, hebt er aber weiter mit
Nachdruck hervor, dass sie sich nie vermessen darf, Religion durch Philosophie er^
setzen zu wollen; die Philosophie vermag weder Religion zu schaffen noch neu zu
erzeugen, ihr Verhalten der Religion gegenüber ist vielmehr iu erster Linie ein
theoretisches, nicht ein practisches und ihr Zweck demgemäss, die Religion zu be-
62 Referate und Besprechungen.
gewonnenen Erkenntnisse noch längere Zeit unter dem philosophischen Einflüsse
des Zeitalters befangen, so tritt doch das rein theoretische Interesse immer sieg-
reicher hervor und dieses Vorwiegen der intellectuellen Interessen gelingt um so
früher, je einfacher die Probleme sind, am die es sich handelt: „Diese Thal-
Sache liefert zugleich einen deutlichen Beweis für die befreiende
Kraft, die hier die Theilung der wissenschaftlichen Arbeit ausübt.*'
Wie die Philosophie auf die einzelnen Erkenntnissgebiete, so wirken bestimmte
Zweige derselben auf jene zurück. In dieser Wechselwirkung theilen sich seit dem
Beginn der Neuzeit hauptsächlich die Mathematik einerseits (Descartes, Spinoza,
Leibniz bis auf Kant) und die Naturwissenschaften andrerseits (die englische Er-
fahrungsphilosophie). Diese Wechselwirkung, obwohl an sich begreiflich, hat aber
dann einmal dazu geführt, dass die Einzel Wissenschaften in einseitiger Beschrankung
auf einzelne, bestimmten Wissensgebieten entnommene Gesichtspunkte die Philo-
sophie durchaus beherrschten, wie andererseits dazu, dass diese, in dem Wahne
auf die Arbeit der Einzel Wissenschaften verzichten zu können, die letzteren
als illegitime betrachtete. Indem so die Philosophie naturgemäss immer mehr
an Einfluss verlieren musstc, bildeten jene beiden Gebiete in unserem Jahr-
hundert schliesslich zwei wissenschaftliche Systeme, die in den wichtigsten Punkten
nicht übereinstimmten, es entstanden philosophische Systeme, die sich mit den
positiven Wissenschaften nur noch in einzelnen Punkten berührten: ,J)as Symptom
einer unhaltbaren Lage der Dinge!'* Den Grund dieses Zwiespalts sieht
Verf. vor allen Dingen darin, „dass die Philosophie in jenen Systemen be-
sondere, von der Erkenntnissweise der übrigen Wissenschaften
verschiedene Wege des Erkennens für sich in Anspruch nimmt." „Dieser
Ausspruch,'* fährt Verf. fort, „entspringt aber wieder daraus, dass die Philosophie
noch immer geneigt ist, im directen Anschluss an die antike Philosophie sich als
Wissenschaft schlechthin zu betrachten, ohne zu erwägen, dass mittlerweile durch
die Entstehung der Einzelwissenschaften auch für sie völlig veränderte Beding^ungen
eingetreten sind. Statt den Thatbestand dieser Wissenschaften rückhaltlos als die
Basis anzuerkennen, von der sie auszugehen habe, beginnt sie ihre Arbeit mit der
Forderung, alles noch einmal von vom anzufangen, wobei es dann nicht ausbleiben
kann, dass vollgeprüfte Gesichtspunkte, die einem bestimmten Umkreis von Einzel-
erkenntnissen entnommen werden, auf andere Gebiete übertragen werden, oder
dass gar da und dort die wissenschaftlich geprüfte Erfahrung es sich getallen
lassen muss, durch die gewöhnliche Erfahrung, die diese Probe nicht bestanden
hat, ersetzt zu werden.**
Auch die englische Erfahrungsphilosophie ist diesen Verirrungen nicht ganz
fern geblieben. Wundt hält ihr entgegen, dass sie, indem sie ihre Hauptaufgabe
in der Anwendung der empirischen Psychologie auf die Probleme der Erkenntniss-
theorie und der practischen Ethik erblickt, bei aller Anerkennung ihrer vorzüg-
lichen Leistungen doch darauf verzichten muss, wissenschaftliches System zu sein.
Ebenso ist nach Wundt dem ihr verwandten neueren französischen Positivismus.
trotzdem derselbe sonst die Einzelwnssenschaften als Grundlage anerkennt, in seiner
Beschränkung auf eine systematische Uebersicht der hauptsächlichsten Einzelg^ebiete
und ihre Unterordnung unter gewisse leitende Gesichtspunkte die Selbstständig-
keit der philosophischen Aufgabe nahezu abhanden gekommen, seine besondere
Stärke ist die Form der Begriffsentwickelung: „Die Systeme des Positivis-
Beferate und Besprechungen. 63
mas sind daher zumeist bemüht, auf einen unmittelbar dem posi-
tiven Wissen entnommenen Inhalt irgend einen äusseren Begriffs-
schematismus in üiberall gleichförmiger Weise anzuwenden, ein
Verfahren durch welches diese Systeme, wie man namentlich an
Herbert Spencer sehen kann, der sonst auf ganz anderer Grund-
lage ruhenden speculativen Methode im Sinne Hegels merk-
würdig nahe gerückt werden."
Indem Wundt den von der Philosophie stete Verfolgten allgemeinen Zweck, wie
er oben dargelegt wurde, „Zusammenfassung der Einzelerkenntnisse zu einer die
Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemüthes befriedigenden
Welt- und Lebensanschauung*', auch heute noch als wirksam anerkennt und der
nach ihm, wie nochmals hervorgehoben sein mag, ein rein theoretischer, der
Erkenntniss dienender sein soll, will er diesen dem heutigen Standpunkt der Wissen-
schaft angepasst wissen. In diesem Sinne definirt Wundt die Philosophie „als die
allgemeine Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissen-
schaften vermittelten allgemeinen Erkenntnisse zu einem wider-
spruchslosen System zu vereinigen hat." Mit dieser Definition unter-
scheidet sich die Philosophie der Gegenwart von früheren Auffassungen in zwei
Punkten: „Erstens: die Philosophie ist nicht Grundlage der Einzel-
witsenschaften, sondern sie hat diese zu ihrer Grundlage; und
zwar hat sie sich mit vollem Bewusstsein auf diesen Boden zu
stellen und daher jede einseitige Bevorzugung wissenschaftlicher
Gesichtspunkte, die nur einem beschränkteren Gebiete entlehnt
sind, zu vermeiden. Zweitens, indem die Philosophie ihren Zweck
darin sieht, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu einem
widerspruchslosen System zu verbinden, tritt sie wiederum jenen
selbstregulirend und 'richtunggebend gegenüber. Ueberall. wo
sich zwischen den Auffassungen auf verschiedenen Gebieten ein
Widerspruch herausstellen sollte, ist es die Philosophie, die den
Grund derselben aufzuklären und dadurch wo möglich den Wider-
spruch zu beseitigen hat." — Indem so der Philosophie die Aufgabe zufällt,
die Arbeit der Einzelwissenschaften, in denen alle von ihr zu bearbeitenden Prob-
leme vorbereitet sein müssen, weiter zu führen und zu vollenden, ist sie im eigent-
lichen und einzig möglichen Sinne wissenschaftliche Philosophie.
Die Eintheilung der Wissenschaften soll nach Verf. weder nach
Zwecken, noch nach Verfahrungsweisen oder Hülfsmitteln, sondern ausschliesslich
nach rein logischen Gesichtspunkten geschehen. Den Ausgangspunkt für eine
solche Classification bilden demnach die Gegenstände, mit denen sich die einzelnen
Wissensgebiete beschäftigen, doch wiederum nicht die Gegenstände an sich, sondern
die Begriffe, zu deren Bildung sie Anlass geben (vergl. hierzu Wundt^s Philos.
Studien Bd. V, S. Iff. „Die Classification der Wissenschaften ist eine rein
logische, die der Kruste ist in erster Linie eine ästhetische Aufgabe"). Indem
Verf. so eine Eintheilung nach formalen und realen Wissenschaften gewinnt,
fallt in die erste Kategorie die Mathematik mit allen ihren einzelnen Disciplinen.
Ihre allgemeine Aufgabe definirt- Wundt als „die Untersuchung aller über-
haupt denkbaren formalen Ordnungen und Ordnungsbegriffe." In
consequenter Weiterführung der durch die Trennung der Mathematik von den
64 Beferate und Besprechungen.
übrigen Wissenschaften gegebenen Abstraction theilt Verf. die realen Wissen-
schaften dann weiter in Natur- und Geistes Wissenschaften, Ton denen die
ersteren sich mit realen Eigenschafben beschäftigen, die wir auf als von uns ver-
schieden wahrgenommene Dinge beziehen, während die letzteren die Eigenschaften
der Dinge in ihrer Verwandtschaft mit unserem eigenen Sein unmittelbar erfassen
und zu untersuchen sich bemühen. Verf. hebt aber ausdrücklich hervor, dass
diese Scheidung nicht so aufgefasst werden dürfe, als existire eine von der körper-
lichen verschiedene geistige Welt: «^ie körperliche und die geistige Welt
sind in Wahrheit nur eine einzige für uns untheilbare Erfahrungs-
welt, die eine Naturseite und eine geistige Seite darbietet
In derselben Weise aber, wie die Mathematik als rein formale Wissenschaft
von den realen Eigenschaften der Dinge abstrahiren kann, dies aber nicht die
realen Wissenschaften von jener zu thun vermögen, sind wiederum auch die Natur-
wissenschaften fähig, von der geistigen Seite der von ihr behandelten Gegenstände
abzusehen, während die Geisteswissenschaften niemals die Naturseite und die Natur-
bedingungen der von ihnen untersuchten Vorgänge übersehen können: „In
diesem Sinne verwirklicht sich daher in dem System der Wissen-
schaften ein allmählicher Uebergang von abstracterer zu concre-
terer Betrachtung, und die volle Bealität der Erfahrungswelt
kommt eigentlich erst in denjenigen Gebieten zur Geltung, die am
Ende der Beihe stehen, in den Geisteswissenschaften."
Die Naturwissenschaften gliedert Wundt weiter in die Behandlung der
an sich immer an einander gebundenen Naturvorgänge und Naturgegen-
stände. Von diesen fällt die Untersuchung der ersteren in Gebiete, die Ver£
als abstracte und concrete Naturlehre bezeichnet und von denen das erstere
auch allgemeineDynamik genannt, ein Uebergangsgebiet zwischen Ifathematik
und Naturwissenschaft bildet, während sich mit dem letzteren, der speciellen Lehre
von den Naturvorgängen, die Physik und die Chemie beschäftigen. Die Unter-
suchung der Naturgegenstände umfasst die Lehre von den Weltkörpem (Astronomie),
sowie die Lehre von der Erde (Geographie) und den einzelnen irdischen Objecten«
Je nachdem es sich hier um die inneren Beziehungen dieser Objecte zu einander
oder um diese zur Erde handelt oder schliesslich die Naturvorgänge wieder an
Naturgegenständen untersucht werden sollen, ergeben sich die weiteren Unter-
abtheilungen: die systematische Naturgeschichte (Mineralogie, Botanik,
Zoologie, systematische Thierkunde, vergleichende Anatomie, normale und patho-
logische Anatomie des Menschen), die specielle Geographie (Orographie,
Hydrographie, Geognosie, Pflanzen- und Thiergeographie), die physikalisch-
chemischen Wissenschaften (Astromechanik und Astrophysik, Geophysik,
Physik und Chemie der Mineralien und der Organismen oder Physiologie mit ihren
Unterelntheilungen und den sich daran anschliessenden speciellen medicinischen
Disciplinen, die Entwickelungsgeschichte (Kosmologie, Geologie, Entwicke-
lungsgeschichte der Pflanzen, der Thiere, des Menschen).
(Fortsetzxmg folgt.) F. Kiesow-Turin.
Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie.
Von
Oskar Togt.
lieber die Aetiologie der Hysterie gehen heute noch die Ansichten
der Autoren weit auseinander. Mit Bücksicht darauf möchte ich im
Folgenden einen Ideengang und eine darauf basirende Methodik näher
begninden, die mich in der Erkenntniss des genetischen Mechanismus
der Hysterie wesentlich weiter geführt haben.
Jeder, der sich etwas mit hysterischen Erkrankungen befasst hat,
wird zu der in dieser Zeitschrift bereits von ForeP) ausgesprochenen
Ansicht gelangen, dass die Hysterie „kein abgeschlossenes Kjrankheits-
bild, sondern ein pathologischer Symptomencomplex" ist. Die einzelnen
Kranken, so möchte ich diesen Gedanken etwas detaillirter fassen,
zeigen bald diese, bald jene hysterischen Symptome und zwar entweder
dann als einzige krankhafte Erscheinungen oder aber associirt mit
anderweitigen pathologischen Phänomenen. Aus dieser Thatsache er-
giebt sich dann für die Methodik unserer ätiologischen Forschung, dass
wir die ursächliche Begründung der einzelnen Symptome zu unter-
suchen haben.
Hier muss dann aber noch auf einen Punkt aufmerksam gemacht
werden. Es herrscht durchaus keine Einigung darüber, was nun Alles
an krankhaften Erscheinungen zu den hysterischen zu rechnen sei.
Immerhin giebt es aber genügend Phänomene, die von allen Autoren
als hysterisch bezeichnet werden. Diese müssen wir zunächst in ihrer
Genese erforschen. Wird es uns gelingen, für sie eine gemeinsame
*) Forel, Der Unterschied zwischen der Suggestibilität und der Hysterie.
Ztschr. f. Hypn., Bd. V, pag. 93.
Zeitschrift für Hypnotismns eto. VIII. 5
66 Oskar Vogt.
Ursache zu erkennen, so können wir dann eventuell mit Hülfe der so
gewonnenen schärferen ätiologischen Definition den Kreis der hyste-
rischen Erscheinungen genauer begrenzen. Unsere Aufgabe ist also
— allgemein gefasst — die, möglichst mannigfaltige, aber typisch
hysterische Phänomene auf ihre Entstehungsursache hin zu untersuchen.
Schon ehe ich nun zu diesem Zwecke jene Methode anwenden
lernte, die ich weiter imten auseinandersetzen will, führte mich die ein-
fache klinische Beobachtung in Verbindung mit dem Studium einzelner
hypnotischer Phänomene zur Erkenntniss zweier Gruppen ätiologisch
verschiedener Symptome. Die einen bildeten selbstständige Primär-
symptome, die anderen von diesen abhängige Secundärerschei-
n u n g e n. Primäre Sensibilitätsstörungen haben Motilitätsveränderungen,
wie die Amyosthenie ^), die Parese •), die Paralyse ^), die Katalepsie •)
zur unabweislichen Folge. Ich habe darauf schon in meinen verschie-
denen Publicationen hingewiesen und will hier nicht schon einmal Ge-
sagtes wiederholen. Umgekehrt kann sich der Hysterische — was ich
auch schon anderweitig ausgeführt habe — eine Paralyse in der Form
einer vollständigen Aufhebung der Sensibilität suggeriren. *) In einem
solchen Fall kam die Sensomobilitätsstörung in der suggestiv wirkenden
Zielvorstellung der Paralyse dem Kranken zum Bewusstsein. Dem-
entsprechend stellt dann die Lähmung das Primär- und die Anästhesie
das Secundärsymptom dar. In dieser Weise können von zwei in cau-
salem Zusammenhang zu einander stehenden Erscheinungen bald die
eine, bald die andere das Primärsymptom bilden. Ich will nur noch
kurz aus einer früheren Arbeit*) erwähnen, dass ich in einem Falle
die von Charcot entdeckte cutanomusculäre Uebererregbarkeit auf
eine Dysästhesie der Haut als Primärsymptom habe zurückführen
können. Hierher gehört ferner die Unerregbarkeit specifischer Sinnes-
erapfindungen bei tactiler Anästhesie des betreffenden Sinnesorgans,
z. B. die Aufhebung des Geschmacks bei Schwund der Druckempfind-
Uchkeit der Zunge. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt
werden, dass es Nachahmungsautomatien, Echolalien, Anmesien und
zahlreiche andere Erscheinungen giebt, die nicht eine selbstständige
Aetiologie, wozu ich auch die associative Verknüpfung rechne, haben,
») Vgl. diese Zeitschr., Bd. III, pag. 327.
•) Münchener Fsychologencongressbericht, pag. 254.
») Vgl. diese Zeitschr., Bd. III, pag. 326 ff.
*) Diese Zeitschr., Bd. V, pag. 187.
*) Diese Zeitschr., Bd. IV, pag. Iö5.
Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. 67
sondern eine nothwendige Folgeerscheinung anderer hysterischer Sym-
ptome darstellen.
Die Erkenntniss derartiger Abhängigkeiten zwischen verschiedenen
Erscheinungen erfolgt durch die Feststellung ihres gemeinsamen Auf-
tretens: einmal bei verschiedenen Hysterischen und dann bei Normal-
menschen in Folge der Suggestion des einen Symptoms. Schhesslich
wird die nunmehr näher zu begründende Methode meist nur die Ent-
stehung von Primärsymptomen aufdecken.
Bezüglich dieser Methode haben mich die Literatur und eigene
normalpsychologische Erfahrungen zu folgendem Ideengang geführt.
Die in der Literatur angegebenen Ursachen kann man in prädispo-
nirende und auslösende eintheilen. Bei einer solchen Unter-
scheidung schien mir, dass auf die letzteren zuerst die Untersuchung
gerichtet werden müsste. Denn diese sind der directen Beobachtung,
ja eventuell einer experimentellen Hervorrufung zugänglicher als jene.
Die Momente nun, welche von den Autoren als eigentlich auslösende
Ursachen bezeichnet werden, kann man in somatische und psy-
chische eintheilen. Unter diesen waren es die letzteren, die mir aus
gleich zu schUdemden normalpsychologischen Gründen für den Beginn
der Untersuchung geeigneter schienen. Ich habe deshalb in meiner
ätiologischen Forschung zunächst die Frage zu beantworten gesucht,
wie weit hysterische Erscheinungen auf psychische Ursachen zu-
rückzuführen sind. Mit Rücksicht auf diese Fragestellung habe ich
die folgende Methode bei Hysterischen angewandt. Ich hatte ursprüng-
lich die Idee, auf diese Weise die psychische Aetiologie gegenüber der
somatischen abzugrenzen. Meine Untersuchungen haben mir nun —
dieses von mir selbst durchaus nicht erwartete Ergebniss will ich nur
kurz anführen — kein einziges hysterisches Primärsymptom aufgedeckt,
das nicht psychisch ausgelöst war. In Folge dieser Thatsache hat
meine Methode natürlich wesentlich an Bedeutung gewonnen. Und sie
wird es immer mehr, wenn weitere Untersuchungen somatische Aus-
lösungen hysterischer Phänomene immer mehr ausschliessen sollten.
Unter den psychischen Ursachen werden von den Autoren haupt-
sächlich Suggestionen und Gemüthsbewegungen genannt. Ich kann
nun als Resultat zahlreicher Experimente für den Normalmenschen
folgende Sätze aufstellen. Eine Suggestionswirkung oder ein reales
Gefühl, resp. dessen physiologische Folgewirkung ist stets an das Sub-
strat eines intellectuellen Vorgangs gebunden und überdauert nicht
dessen Erregung. Die letztere kann unter der Schwelle des Wach-
68 Oskar Vogt.
bewusstseins Terlaufen. Aber sie giebt sich dadurch kund^ dass sie in
einer geeigneten Hypnose diese Schwelle überschreitet und bei jeder
Aenderung ihrer Intensität eine proportionale Einwirkung auf die von
ihr abhängige Erscheinung ausübt. ^) Ich will diese folgenschweren
Sätze kurz durch einige Beispiele näher beleuchten.
Wenn ich bei einem Menschen, der an Obstipation leidet, suggestiv
Stuhlgang erziele, so erfolgt dieser unter Einwirkung einer Idee oder
physiologisch gesprochen unter dem Eintluss einer vom Grosshim aus-
gehenden centripetalen Bahnung. Wenn nun diese meine Suggestion
für immer die Obstipation beseitigt, so ist dieser Dauererfolg physio-
logisch nicht etwa so zu erklären, dass nunmehr tiefere Centren eine
gesteigerte Functionsthätigkeit erreicht haben, sondern immerfort ist es
die erhalten gebliebene cerebrale Bahnung, die jene Wirkung zur Folge
hat. Dieses geht aus folgenden Erfahrungen hervor. Ich gebe jenem
Menschen im Somnambulismus neben jener Stuhlgangsuggestion A noch
eine Suggestion B. Er war hernach im Wachsein für A und B gleich-
massig amnestisch. Dabei hat A eine suggestive Dauerwirkung zil*r
Folge gehabt, während B wirkungslos geblieben ist. Wenn ich nun
nach längerer Zeit den betreffenden Menschen von Neuem in Hypnose
versetze und ihn nach den Suggestionen frage, die ich ihm in jener
ersten Hypnose gegeben habe, so erinnert er sich entweder allein an
A oder wenigstens viel schneller an A als an B. Aus diesem günstigeren
Verhalten von A gegenüber der hypnotischen Hypermnesie schliesse ich,
dass sein iutellectuelles Substrat, seine Dauerwirkuog bethätigend, immer
wieder erregt wurde, während das bei B nicht der Fall war. Hierin
bestärkt mich die weitere Erfahrung, dass die von A abhängige Dauer-
wirkung sofort verschwindet, wenn ich nunmehr eine vollständige Amnesie
von A auch für die Hypnose, d. h. eine weitgehende Verminderung
der Erregbarkeit von A suggerire.
Eine analoge Beweisführung kann man für Affectwirkungen geben^
wie ich übrigens anderweitig eingehend nachgewiesen zu haben glaube.^
Hier sei deshalb nur ein kurzes Beispiel angeführt. Ein durchaus
normaler Mensch erwacht eines Morgens verstimmt. Er erklärt mir,
ganz unbegründeter Weise deprimirt zu sein. Hier haben wir also ein
depressives Gefühl, ohne dass sein intellectuelles Substrat im Bewusst-
^] Aehnliche Anschauungen sind in den letzten Jahren von P. Jan et ausge-
sprochen. Vgl. Janet, Idees fixes et nevroses. pag. 142 ff., 167, 215 ff.
') Vgl. meine 2. Fortsetz. „Zur Kenntn. d. Wes. u. d. psycho!. Bed. d. Hjrpü."
Diese Zeitschr., Bd. IV.
Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. 69
sein sei. Wenn ich nun diesen Menschen in geeigneter Weise hypno-
tisire, so findet derselbe bei entsprechender Concentration seiner Auf-
merksamkeit in einem Traume, für den er im Wachsein amnestisch
war, die Ursache seiner Verstimmung. Suggerire ich nun gleich darauf
eine tiefer gehende Amnesie für den Traum, so schwindet damit auch
die Verstimmung.
Ich habe zahlreiche Fälle darauf untersucht und stets gefunden,
dass sich, wo immer ein reales Gefühl oder ein Gefühlselement ohne
ein intellectuelles Substrat ins Bewusstsein trat, das letztere stets im
suggestiv eingeengten Bewusstsein der Selbstbeobachtung offenbarte.
Dabei trat nun immer eine schon oben angedeutete Erscheinung zu
Tage. In oder bereits kurz vor dem Moment, wo das bis dahin nicht
bewusste intellectuelle Substrat der betreffenden Person zum Bewusst-
sein kam, nahm die emotionelle Erscheinung an Intensität zu. Dies
kam natürlich daher, dass der wachsenden Erregung des intellectuellen
Substrates eine Intensitätszunahme des emotionellen Momentes parallel
ging-
In einem Theil der Fälle schwand dann nach kurzer Zeit das emo-
tionelle Phänomen vollständig, ohne dass ich durch eine besondere
Suggestion die Erregung seines intellectuellen Substrates zu beeinflussen
gesucht hatte. Die Analyse dieser Fälle ergab dann, dass die betreffende
Person entweder
1. das nunmehr erkannte intellectuelle Substrat willkürlich tiefer
als zuvor unter die Schwelle des Bewusstseins gedrängt hatte, und
daher nunmehr auch das emotionelle Moment aus dem Bewusstsein
schwand, oder
2. ein unlogisches intellectuelles Substrat, z. B. das eines Traumes,
logisch corrigirt und so seiner Gefühlsstärke beraubt hatte, oder
3. ihrerseits nichts zu diesem Verschwinden des emotionellen Phä-
nomens beigetragen hatte. Hier war es einfach aus dem Bewusstsein
geschwunden. Meiner Ansicht nach handelt es sich in diesen Fällen
um eine Erschöpfung des Centrums für den materiellen Vorgang des
intellectuellen Substrates.
Analoge Erscheinungen zeigten sich bei dem Bewusstwerden suggestiv
wirkender Zielvorstellungen.
Die Nachforschung nach solchen psychophysisch wirksamen, aber
dunkel- oder unbewussten Parallelvorgängen intellectueller Erscheinungen
habe ich nun im Laufe meiner Untersuchungen methodisch sehr ver-
voUkomnmen können. Ich lernte jenen Bewusstseinszustand schaffen,
70 Oskar Yogi.
den ich als systematisches partielles Wachsein zuerst auf dem Münchener
Psychologencongress zur Sprache gebracht und dann in dieser Zeit-
schrift eingehender beschrieben habe, ^) Ich kann mich daher hier sehr
kurz fassen. Ich ging von dem sogenannten monoideeistischen Charact^r
der Hypnose des normalen Menschen aus, d. h. von der Thatsache,
dass man die hypnotische Schlafhemmung ihrer Ausdehnung und Tiefe
nach — wenigstens in weitgehendem Maasse — beliebig. regeln kann.
So habe ich dann einen Bewusstseinszustand suggestiv zu erzielen ge-
sucht, in welchem die Schlafhemmung ausschliesslich solche Bewusst-
seinselemente befiel, die zur wissenschaftlichen Selbstbeobachtung keine
Beziehung hatten, ja diese nur störten. Der Versuch gelang. Ich
lernte einen Bewusstseinszustand schaffen, wo das Wachsein auf das
zur Selbstbeobachtung erforderliche System von Bewusstseinselementen
eingeengt ist und wo in Folge dieser Einengung bei Erhaltensein voll-
ständiger Kritikfähigkeit und eigener Initiative die Concentrations-
fahigkeit der psychischen Energie eine wesentliche Steigerung zeigt
Nach dem geschilderten Einblick in das normalpsychologische Ge-
schehen habe ich diese Methode an Hysterischen auszuführen versucht.
Wenn hysterische Symptome Suggestions- und Gefühlserscheinungen
darstellten, dann müsste, so war meine Ueberlegung, die im passend
eingeengten Wachsein erfolgte Analyse des einem hysterischen Phänomen
parallel gehenden Bewusstseinsinhaltes die suggestiv oder emotionell
wirkenden intellectuellen Momente aufdecken. Eine exacte Selbst-
beobachtung im Zustand des systematisch eingeengten
Wachseins sollte uns, das war meine Idee, die Genese
jener hysterischen Erscheinungen aufdecken, die sug-
gestiven oder emotionellen Ursprungs wären.
Ist dieser Gedanke realisirbar? Das war die Frage, die ich zu-
nächst auf Grund zu sammelnder Erfahrungen zu beantworten hatte.
Sie umschloss eine Reihe von einzelnen Fragen, denen wir jetzt näher
treten wollen.
Wir wollen eine exacte Selbstbeobachtung und zwar nicht nur von
Seiten zu hysterischen Phänomenen neigender Personen, sondern sogar
zur Zeit des Vorhandenseins hysterischer Erscheinungen.
Sind nun überhaupt hysterisch veranlagte Individuen einer wissen-
schaftlichen Selbstbeobachtung fähig? Diese stellt an die Versuchs-
*) Vogt, Die directe psychol. Experimentalmethode in hypnot. Bewusstseins-
zuständen. Diese Zeitschr., Bd. V.
Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. 71
Personen eine ganze Reihe von Anforderungen. Zunächst müssen sie
als Naturanlage das Vermögen einer kritischen, nüchternen Selbst-
beobachtung mit auf den Weg bekommen haben. Diese Veranlagung
ist meiner Ansicht nach so selten, dass ich sie unter hundert Menschen
höchstens einem zuspreche. Sie ist entschieden viel weniger häufig als
die Fähigkeit zur exacten Beobachtung der Aussenwelt. Diese Natur-
anlage muss nun aber weiter ausgebildet werden. Die angehende Ver-
suchsperson muss in einer systematischen Selbstbeobachtung geschult
werden. Gerade bei so schwierigen Problemen, wie sie uns hier inter-
essiren, bei Analysen von Gefühlen und Erkennung von zeitweise dunkel-
oder unbewussten Bewusstseinselementen, ist die Schulung in weit-
gehendstem Maasse erforderlich. Gleichzeitig muss die Versuchsperson
lernen, dem richtig Beobachteten nun auch einen adäquaten sprachlichen
Ausdruck zu geben. Noch auf zwei grosse Fehlerquellen muss auf-
merksam gemacht werden: auf die theoretische Voreingenommenheit
und auf zu schnelle Verallgemeinerungen von Beobachtungsresultaten
auf Seiten der Versuchsperson.
Es fragt sich nun, ob Hysterische je derartigen Forderungen ge-
nügen können. Zunächst sind natürlich Kinder und weiterhin alle
Ungebildeten ausgeschlossen. Ich will weiter gerne zugeben, dass man
den Hysterischen im Allgemeinen noch mehr die Fähigkeit einer
kritischen Selbstbeobachtung absprechen muss als den Normalmenschen.
Aber es giebt Ausnahmen ! Ebenso wie es Hysterische giebt von hoher
ethischer Bildung, von selten grosser Intelligenz, von einer bewunderungs-
würdigen Willensstärke, so giebt es auch solche, die eine tiefgehende
Wahrheitsliebe und eine treffliche Selbstbeobachtungsgabe besitzen. Es
ist Sache des Arztes, solche Hysterische zu erkennen.
Ihnen muss man dann die genügende Erziehung in der psycho-
logischen Selbstbeobachtung zu Theil werden lassen. Man beginnt zu-
nächst mit einfachen Versuchen, etwa mit Prüfungen der Unterschieds-
erapfindlichkeit. Hier hat man dann auch einen objectiven Maassstab
für die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Selbstbeobachtung. All-
mählich kann man dann eine derartige Versuchsperson auf die Analyse
complicirterer Erscheinungen vorbereiten. Die Versuchsperson muss
eben lernen, ihre Aufmerksamkeit bald auf dieses, bald auf jenes
Element eines vorhandenen Bewusstseinscomplexes einzustellen. Sie
muss weiter lernen, das Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden. Sie
muss darüber unterrichtet sein, welche Fragen sie zu lösen hat.
Aber bezüglich dieser letzten Punkte hat man mit grösster Vorsicht
72 Oskar Vogt.
zu verfahren. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass man die
Versuchsperson vor einer theoretischen Voreingenommenheit zu schützen
}iat. Hier wird seltener als bei Fachpsychologen das literarische Vor-
studium dieselbe erzeugen. Die drohende Gefahr ist dagegen eine Be-
einflussung von Seiten des Experimentators. Gerade bei Versuchen in
hypnotischen Bewusstseinszuständen kann in Folge des engeren Ver-
hältnisses zwischen Versuchsperson und Experimentator leicht eine
theoretische Voreingeuommenheit des Experimentators auch auf die
Versuchsperson übergehen. Hierzu kommt noch, dass zwischen hyste-
rischen Versuchspersonen und dem Experimentator des Weiteren die
enge Beziehung der Patienten zum Arzt besteht. Der beste Schutz ist
hier, dass der Experimentator selbst sich von jeder Voreingenommen-
heit freihält, dass er nicht davon ausgeht, etwas beweisen zu wollen,
sondern dass er einfach empirisches Material sammeln will, unbekümmert
um das eventuelle ßesultat.
Aber die andere oben erwähnte Fehlerquelle — übrigens nur eine
Unterart der eben geschilderten — ist nicht weniger gross. Die Ver-
suchsperson darf nicht die Resultate ihrer Analysen verallgemeinem,
sie darf nicht etwa sich der Idee hingeben, dass ein einzelner erkannter
psychophysischer Mechanismus nun allen ihren krankhaften Erschei-
nungen zu Grunde lege. Ich sehe in derartigen Vorkommnissen die
grösste Fehlerquelle. Hier schützen am besten : Objectivität des Expe-
rimentators und eine beständige Ermahnung der Versuchsperson, Ver-
allgemeinerungen zu vermeiden, nur zu beobachten imd keine Schlüsse
zu ziehen.
Wir haben bisher gesehen, dass hysterisch veranlagte Men-
schen gute Selbstbeobachter sein können. Wir müssen nun
untersuchen, ob sie diese Fähigkeit auch wahrend des Auftretens hyste-
rischer Elrscheinungen behalten. Die psychologische Selbstbeobachtung
ist nur möglich, wenn der Beobachter 1. beobachten will, 2. dieses
Wollen dadurch in die That umsetzen kann, dass ihm das genügende
Quantum psychischer Energie zur Verfügung steht und 3. jene Bewnssi-
seinseleraente eine genügende Erregbarkeit zeigen, welche zu den für
die Analyse nothwendigen Vergleichen und Urtheilen erforderlich sind.
Daraus ergeben sich dann aber auch die Bedingungen, denen Hysterische
genügen müssen, um zur Zeit für die psychologische Analyse geeignet
zu sein. Ihre psychophysische Energie darf durch die Krankheits-
erscheinungen nicht soweit absorbirt oder herabgesetzt sein, dass ihnen
die Absicht der Selbstbeobachtung gar nicht kommt oder wenigstens
Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. 73
Dicht für sie ausführbar ist. Ferner dürfen sie im Abgeben kritischer
XJrtheile nicht behindert sein. Bei allen diflfiisen hysterischen Bewusst-
seinstrübuDgen ist unsere Methode deshalb von yoroherein ausgeschlossen.
Alle jene Bewusstseinselemente, welche die Basis zu eigener Initiative
und zu kritischer exacter Selbstbeobachtung bilden, müssen ausserhalb
des Klreises der hysterischen Störung sich befinden.
Wir haben oben gesehen, dass das Bewusstwerden des intellectuellen
Substrates eines bis dahin isolirt im Bewusstsein vorhandenen Gefühls
oder der suggestiv wirkenden Zielvorstellung eine Ekacerbation des emotio-
nellen Phänomens, resp. der Suggestionswirkung zur Folge hat. Diese
Exacerbation ist auch bei der Analyse hysterischer Zustände, soweit diese
emotionellen oder suggestiven Ursprungs sind, theoretisch zu erwarten,
wie auch bereits von Breuer und Freud ^) vor Beginn meiner eigenen
Studien beschrieben. Gesetzt, eine unter durchaus befriedigenden Ver-
hältnissen begonnene Analyse hätte derartige Zustände zur Folge, wie
sie Breuer und Freud*) später eingehender beschrieben haben, so
ist es klar, dass damit die Fortsetzung einer wissenschaftlichen Analyse
wegen Absorption aller psychischen Energie und Bewusstseinstrübung
unmöglich geworden wäre. Ich habe nun gefunden, dass die Intensität
derartiger Exacerbationen der hysterischen Erscheinungen im Anschluss
an entsprechende Analysen neben individuellen starke temporäre Schwan-
kungen zeigen. Diese letzteren hängen nach meinen Erfahrungen von dem
psychischen Gesammtgesundheitszustand des Patienten ab. Je nach diesem
ruft die Analyse einer hysterischen Erscheinung ein wirkliches Recidiv,
die von Breuer und Freud beschriebene stark abgemilderte kurze
Repetition bei mehr oder weniger ausgeprägtem Erhaltenbleiben des
Rapportverhältnisses oder schliesslich nur eine Exacerbation hervor,
die den Gesammtbewusstseinszustand als solchen unbeeinflusst lässt.
Dieselben Patienten haben zu verschiedenen Zeiten die verschiedenen
Intensitäten in der Reaction auf das Bewusstwerden der pathogenen
intellectuellen Momente gezeigt. In Zeiten, wo es ihnen schlecht ging,
wo hysterische Erscheinungen häufiger und intensiver auftraten, riefen
derartige Analysen directe Recidive hervor. Besserte sich der Patient,
so liess die Intensität dieser Reactionen nach, um wieder an Heftigkeit
zuzunehmen, wenn der gesammte Krankheitszustand sich wieder ver-
schlechterte. Es ist nun klar, dass eine wissenschaftliche Analyse nur
^) Breuer and Freud, Ueber den psychischen Mechanismus hysterischer
Phänomene. !Neurol. Centralbl. 1895.
■) Breuer und Freud, Studien über Hysterie. Wien 1896.
74 Oskar Vogt.
dann möglich ist, wenn sie Reactionen zur Folge hat, die nicht den
Gesammtbewusstseinszustand ungünstig beeinflussen. Wir kommen so
zu dem Kesultat, dass Hysterische ausschliesslich dann für unsere
Methode geeignet sind, wenn nicht nur die Beobachtungsfähigkeit vor
der Analyse nicht durch das hysterische Phänomen beeinträchtigt wird,
sondern diese auch während der Analyse dank einer weit-
gehenden Besistenzfähigkeit gegen das Bewusstwerden
pathogenerintellectuellerElemente keine Verminderung
erfährt.
Aber diese Feststellung, dass die Analyse eventuell sogar ein echtes
Recidiv veranlassen kann, führt uns zu der weiteren Frage, ob denn
unsere Methode so absolut harmlos wäre. Wir müssen uns doch stets
vergegenwärtigen, dass Hysterische, die sich uns anvertraut haben, nicht
Versuchsobjecte, sondern Patienten sind, die Heilung suchen. Breuer
und Freud haben bekanntlich ihre Methode der Psychoanalyse, zu
der ich weiter unten noch Stellung nehmen werde, ja direct als eine
neue Therapie beschrieben, indem sie den mittelstarken Reactionen,
wie sie sie allein beschrieben haben, eine Heilwirkung zusprechen.
Ich kann den Verfassern beipflichten, dass man in einzelnen Fällen
ohne alle Fremdsuggestion eine Bessening beobachtet. Aber hier ist
zunächst der autosuggestive Factor durchaus nicht auszuschliessen.
Gelegentlich konnte ich ihn sogar direct nachweisen. Weiterhin zeigen
meine Erfahrungen, und diese beziehen sich auch auf einen Hauptfall der
Breuer-Freud' sehen Arbeit, dass derartige Heilwirkungen durchaus
nicht von der Dauer sind, wie man vor Allem dann vermuthen müsste, wenn
die Theorie der Wiener Autoren richtig wäre.') Länger anhaltende Erfolge
habe ich dann beobachtet, wenn ich auf den nunmehr erkannten Mechanis-
mus suggestiv oder anderweitig psychotherapeutisch einwirkte. Dagegen
habe ich in einer Reihe von Fällen, und gerade in denjenigen, die das
typische „Abreagiren" zeigten, ^vie es Breuer und Freud beschrieben,
keinen Erfolg oder sogar eine Verschümmerung des Zustandes beob-
achtet. Ich halte deshalb die Anwendung meiner Methode
erst dann für erlaubt, wenn die ganze andere Therapie
fehlgeschlagen hat und wenn man andererseits die hypno-
tische Technik vollständig beherrscht und auch eine
Menge Zeit zur Verfügung stellen kann. Andererseits aber
haben mir meine Erfahrungen gezeigt, dass man mit Hülfe der Einsicht,
^) Aebnlich äussert sich P. Janet^ N^vroses et idees fixes, pag. 163.
Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. 75
die uns meine Methode in die Genese der pathologischen Phänomene
giebt, eine derartig individualisirende Behandlung einschlagen kann, dass
diese noch solche Kranke bessert, die jeder anderen Therapie trotzten.
Man könnte daran denken, noch in etwas anderer Form im thera-
peutischen Interesse der Kranken meine Methode einzuschränken. Zu-
gegeben, dass die Analyse der hysterischen Bewusstseinszustände in
schwersten Fällen allein die richtige Heilbehandlung ermöglicht, so
brauchte man ihr zu diesen therapeutischen Eingriffen doch nicht die
für eine wissenschaftliche Erkenntniss der Genese hysterischer Erschei-
nungen nothwendige Exactheit zu geben. Die letztere setzt — ^ wie wir
gesehen haben — eine Erziehung in der Selbstbeobachtung voraus.
Ist eine solche Selbstbeobachtung nicht aber im höchsten Grade
schädlich für jeden Hysterischen? Eine Lenkung der Aufmerksamkeit
des Kranken auf seine Person in der Form, dass er beständig mit
Angst und Sorge auf sich achtet und durchaus falsche Causalbeziehungen
zwischen seinen pathologischen Erscheinungen und harmlosen äusseren
Vorgängen ausklügelt, eine derartige Selbstbeobachtung ist gewiss der
grösste Feind des Nervenarztes. Aber die Aufmerksamkeit, die der
Kranke den Vorgängen seines Bewusstseins zuwendet, um diese in
ihrem Mechanismus zu erkennen, befreit ihn von falschen Vorurtheilen,
liefert ihm die Basis zu einem psychohygienischen Leben und ermöglicht
ihm gelegentlich sogar selbst pathologische Erscheinungen zu beseitigen.
Brodmann ^) hat einige meiner hierher gehörenden Beobachtungen
mitgetheilt. Wo daher bei einem Hysterischen die psy-
chische Analyse seiner Krankheitserscheinungen in-
dicirt ist, darf man dieser auch ein wissenschaftliches
Gepräge geben.
Aus allen diesen Ausführungen geht also hervor, dass eine exacte
Selbstbeobachtung in sehr bedingtem Maasse bei hysterisch Veranlagten
zur Zeit hysterischer Phänomene möglich ist und auch aus therapeu-
tischen Gründen als geboten erscheint. Wir hatten nun ja die Absicht,
die Leistungsfähigkeit dieser Selbstbeobachtung durch Schaffung des
partiellen systematischen Wachseins zu steigern. Wir haben deshalb
nunmehr uns der Frage zuzuwenden, ob wir diese suggestive Einengung
des Bewusstseins bei hysterisch Veranlagten zur Zeit krankhafter Er-
scheinungen erzielen können. Es ist das tibereinstimmende Resultat
*) "Vgl. K. Brodmann, Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. Diese
Zeitschr., Bd. VII, pag. 241 ff.
76 Oskar Vogt.
meiner ganzen Erfahrungen, dass die Erzielung einer normalen Hypnose,
d. h. die Erzielung einer Scblafhemmung, deren Tiefe und Ausdehnung
— wenigstens annähernd — im Belieben des Experimentators steht,
bei Hysterischen schwieriger als beim Normalmenschen zu erreichen ist.
Und doch ist eine im Sinne des Experimentators echt monoideeistische
Hypnose die Voraussetzung der Erzielung des systematisch eingeengten
Bewusstseins. Aber diese Schwierigkeiten lassen sich nach meinen
Erfahrungen überwinden. Bei genügender Geduld und vollständigem
Beherrschen der hypnotischen Technik kann man den starren Character
der Hypnosen der Hysterischen beseitigen und die Flexibilität der
Normalhypnose erzielen. Während ich von nervös-normalen Frauen
bei 70 ^Iq in der ersten Sitzung die Somnambulhypnose erziele, habe ich
bei meiner besten hysterischen Versuchsperson erst nach 700 und bei
meiner zweitbesten erst nach 200 Sitzungen einen normalen Somnam-
bulismus erreicht. Was also den Einfluss hysterischer Erscheinungen
auf die Erzielung der geeigneten Hypnose anbelangt, so kann ich in
Bezug darauf meine Erfahrungen dahin zusammenfassen, dass hysterische
Phänomene, die nicht die Selbstbeobachtungsfähigkeit beeinträchtigen,
auch nicht dauernd die Hypnotisirbarkeit unmöglich machen. So
kommen wir zu dem Resultat, dass die Hysterie bei einer sonst
geeigneten Versuchsperson auf die Erzielung des passen-
den partiellen systematischen Wachseins wohl erschwe-
rend, nicht aber hindernd wirken kann.
Ohne auf die hypnotische Technik im Einzelnen einzugehen, möchte
ich aber doch auf zwei Punkte hinweisen. Die Hypnotisten haben
meist den sog. automatischen Gehorsam, die Abhängigkeit vom Hypno-
tiseur und die Unterdrückung der Individualität als das Erstrebens-
werthe angesehen. Unsere hypnotische Technik — wie sie in der
Arbeit Brodmann's^) eine monographische Darstellung gefunden —
erstrebt das Gegentheil : Entfaltung der Individualität und Ausdehnung
des Machtbereichs des eigenen Willens. Halte ich einen derartigen
Character der Hypnose schon in der Therapie für meist indicirt, so ist
er für die von mir erstrebten psychologischen Analysen eine unerläss-
liche Bedingung.
Die Art und Weise, das partielle systematische Wachsein zu er-
zielen, kann eine zweifache sein. Entweder kann man das normale
^) Brodmann, Zar Methodik der hypnotischen Behandlung. Diese Ztschr.,
Bd. VI und Vn.
Zur Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. 77
Wachsein suggestiv einengen oder einen allgemeinen Schlafzustand er-
weitern. Speciell bei Hysterischen kommen nun ziemlich häufig spontane
somnambule Zustände vor, die suggestiv hervorzurufen und dann zu
dem passenden partiellen systematischen Wachsein auszudehnen, tech-
nisch *) öfter leichter fällt als die entsprechende Einengung des Wach-
seins. Hierauf möchte ich kurz aufmerksam gemacht haben.
Unter Berücksichtigung aller Einschränkungen, die aus unseren
den bisherigen Ausführungen zu Grunde liegenden Erfahrungen hervor-
gehen, ist also eine exacte Selbstbeobachtimg hysterischer Symptome
im Zustand des partiellen systematischen Wachseins möglich. Wir
haben dann aber noch zu untersuchen, ob für die hysterischen Erschei-
nungen jene Gesetze Giltigkeit haben, die nach unseren Erfahrungen
für die entsprechenden normalen Phänomene bestehen und auf die wir
unsere ganze Methode aufgebaut haben. Es fragt sich, ob auch in
der Hysterie alle auftretenden Gefühle nur im Bewusstsein eventuell
des intellectuellen Substrates entbehren und ob auch das intellectuelle
Substrat aller hysterischen Gefühls- und Suggestionswirkungen in dem
geeigneten partiellen systematischen Wachsein bewusst wird. Hier kann
natürlich ausschliesslich die Erfahrung entscheiden. Diese hat mich
nun gelehrt, dass die für die Normalpsychologie von mir erkannten
Beziehungen der Suggestions- und Gefühlswirkungen zu ihren intellec-
tuellen Substraten in der Hysterie keine principielle Ausnahme
machen. Immerhin muss aber constatirt werden, dass eine Bewusst-
seinsbeleuchtung mancher hysterogener intellectueller Momente sehr
viel schwieriger ist als bei Normalmenschen. Es giebt in der Hysterie
gewisse willkürlich hervorgerufene Amnesien. Ich stimme darin nun
vollständig mit Freud ^) überein, dass gerade diese gelegentlich schwierig
zu beseitigen sind. Immerhin ist auch diese Schwierigkeit keine un-
überwindliche. Von dieser Seite her steht also der Anwendung meiner
Jlethode nichts im Wege.
Ich möchte diese nun kurz an der Hand einiger Beispiele practisch
beleuchten.
I. Eines Tages wollte ich einer ehemaligen Patientin, die schon längere Zeit
kein hysterisches Phänomen mehr gezeigt hatte und die sich durch ein besonders
gutes Gedächt niss auszeichnete, einen Kopfschmerz suggestiv fortnehmen, als ich
ZOT Antwort erhielt: „Das können Sie ja nicht, das haben Sie ja nie gekonnt."
*) Bezüglich der Technik vgl. Vogt, Spontane Somnambulie in der Hypnose.
Diese Ztschr., Bd. VI und VII.
•) Breuer und Freud, Studien über Hysterie, pag. 46.
78 Oskar Vogt.
Es war dieser Patientin von autoritativer Seite einst erklärt worden, dass die
suggestive Fortuahme eines Kopfschmerzes den Beweis liefere, dass dieser Kopf-
schmerz nur „eingebildet" sei. Der Gedanke aber, für eine eingebildete Kranke zn
gelten, erregte in ihr die stärksten AfTecte. So hatte dieselbe Patientin, die ich
inzwischen von zahlreichen anderen hysterischen Erscheinangen befireit hatte, volle
IVt Jahre der Suggestion des Schwindens eines gelegentlich auftreteodeii Kopf-
schmerzes Widerstand entgegensetzt. Dann war es mir allmählich gelnngfen, auch.
für diese Suggestion die Patientin zugänglich zu machen. Im Verlauf von weiteren
IVs Jahren hatte ich ungefähr 10 Mal den Kopfschmerz beseitigt. Nach einem
weiteren Vierteljahr beobachtete ich dann plötzlich jene systematische Amnesie für
alle gegen Kopfschmerzen erfolgreich gewesenen Suggestionen. Auch in dem sofort
eingeleiteten partiellen systematischen Wachsein gelang es erst nach vieler Mühe,,
die Amnesie zu beseitigen. Ich ging dann zur Analyse der Genese der Amnesie nber.
Ich: n Was beobachten Sie in Eirem Bewusstsein im Zusammenhang mit der
Amnesie.*'
Sie: „Klar im Bewusstsein habe ich jetzt das Erinnerungsbild von jener Scene,
wo mir N. die Erklärung machte, dass wirklicher Kopfschmerz nicht wegsuggerir-
bar sei. Ich bin durch ein neuliches Vorkommniss wieder an N. und die mit ihm
verlebten Scenen erinnert worden. Gleichzeitig beobachte ich in meinem Bewasat-
sein den Gedanken, dass es verabscheuenswert he Augendienerei sei, wenn ich sagen
würde, Sie hätten mir den Kopfschmerz genommen, da mein Kopfschmerz doch
wirklich, imd nicht eingebildet sei. Es ist noch etwas im Bewusstsein. Aber das
Analysirte beherrscht mich so, dass ich dieses Dunkelbewusste nicht erkennen kann.
Wollen Sie mir, bitte, das Analysii*te suggestiv aus dem Bewusstsein nehmen!"
Ich: „Die Scene mit N und der Gedanke von der Augendienerei schwindet
aus dem Bewusstsein!"
Sie: „Es handelt sich um einen neuen Gedanken, aber derselbe tritt noch so
undeutlich hervor."
Ich: „Er wird jetzt deutlicher."
Sie: „Ich kann ihm noch keine Worte geben."
Ich: „Er wird noch deutlicher!"
Sie: „Ich beobachte jetzt in mir die peinliche Idee, dass ich geschaospielert
hätte, als ich früher behauptete, Sie hätten mir den Kopfschmerz genommen.
Gleichzeitig macht sich ein anderer Gedanke bemerkbar. Aber die peinliche Idee»
geschauspielert zu haben, steht jetzt so im Mittelpunkt des Bewusstseins, dass Sie
mir ihre Intensität zunächst herabsetzen müssen."
Ich: „Diese Idee wird nun zurücktreten!"
Sie: „Ich habe jetzt einfach den Gedanken, an die Idee, geschauspielert za
haben, nicht mehr zu denken, sondern mich auf etwas Anderes zu concentriren.
Indem ich das aber thue, schwindet nicht nur die Idee, geschauspielert zu haben,
sondern auch jede Erinnerung daran, das mir der Kop&chmerz je von Ihnen ge-
nommen sei."
Die Analyse ergab also eine willkürliche Hervorrufung jener systematischen
Amnesie.
UL Eine meiner Patientinnen hat — wie sie selbst seit dem Jahre 1879 weiss —
eine hypnogene Zone über dem zweiten Halswirbel. Ein Druck auf diese Gegend^
von ihr selbst oder irgend jemand anders ausgelöst, führt zunächst ein Absterben
Zur Methodik der ätiologischen £rforschuDg der Hysterie. 79-
der Extremitäten und weiterhin den Eintritt eines rapportlosen Schlafes herbei.
Ich fordere sie nun auf, im gewöhnlichen Wachsein zu beobachten, was in ihrem
Bewusstsein vor sich ginge, wenn sie durch einen leisen Druck ein Absterben der
Extremitäten herbeiführe. Sie giebt dann an, sie habe dunkelbewusst an eine
Situation gedacht, aber sie habe diese nicht klar erkennen können. Ich versetze
sie jetzt auf ihre Bitte in den Zustand des eingeengten Bewusstseins. Darauf ent-
wickelt sich folgendes Gespräch.
Sie: n^ch sehe jetzt deutlich eine Scene. Es war im Jahre 1879, dass mein
Vetter G. an einem Sommerabend in unserer Landwohnung zu N. gerade Ciavier
gespielt hatte. Er drehte sich dann zu uns herum. Ich bat ihn, im Spiel fortzu-
fahren. Er erklärte, müde zu sein und legte dabei seinen Arm um meinen Hals.
In diesem Moment fing ich an zu zittern, meine Glieder wurden kalt. Ich bin
hingefallen und habe mein Bewusstsein verloren.''
Ich: „Hatten Sie irgendwelche ideale Beziehungen zu Ihrem Vetter?"
Sie: „Durchaus nicht. Wie Sie wissen, hatte ich damals bereits für den
Mann ein Interesse, für den ich es noch jetzt habe. Mein Vetter hat mich oft so
umarmt. Weder er, noch ich haben dabei an irgend etwas Weiteres gedacht."
Ich: „Warum hat dann jene Umarmung den Anfall ausgelöst. Drücken Sie
Sich noch einmal auf den Druckpunkt und beobachten Sie, ob noch etwas Anderes
in Zusammenhang damit im Bewusstsein existirt!"
Sie: „Ich beobachte jetzt deutlich das visuelle Bild eines weissen Stückes
Tuch. Ich finde aber gar keinen Zusammenhang."
Ich: „Beobachten Sie Sich weiter!"
Sie: „Ich sehe jetzt im Geiste eine ganze Scene. Ich bin mit meiner Mutter
in L."
Ich: „Wann war das?"
Sie: „Das war 1863."
Ich: „Wie alt waren Sie damals?"
Sie: „Ich war 10 Jahre alt. — Ja jetzt ist mir die Scene ganz klar. Ich liege
in dem grossen Bett, in dem ich mit Mama schlief. Meine Mutter hatte ihren
Arm unter meinen Kopf geschoben, so dass ich mit dem Hals auf ihrem Arm lag.
Ich hatte Herzklopfen und Kälte im ganzen Körper. Meine Mutter beruhigte mich
und ich schlief so ein. Jetzt weiss ich auch, was dieses weisse Stück Tuch zu
bedeuten hatte. Es war jenes Stück Bettzeug, auf das zuletzt noch meine Augen
fielen, ehe ich diese zumachte. Ich weiss jetzt auch, warum ich so erregt war,
Herzklopfen und abgestorbene Glieder hatte. Es war damals in L. ein junger
Mann, der meine verwittwete Mutter heirathen wollte. Derselbe war am Nach-
mittag gekommen und hatte, auf die Photographie des von mir so verehrten Pflege-
bmders hinweisend, gesagt, dass er noch ebenso hübsch sei wie dieser. Ich hatte
ihm dann als Antwort gegeben : Er sehe gerade so dumm aus wie dieser klug. Der
betreffende Mensch sei darauf in grosse Wuth gerathen, habe den Kahmen jener
Photographie zertrümmert und die Patientin auch thätlich bedroht. Daher sei sie
80 erschrocken gewesen und am Abend dann von der Mutter in der obigen Weise
beruhigt und eingeschläfert."
Ich: „Finden Sie in Ihrem Bewusstsein eine Beziehung zwischen dieser Scene
und der aus dem Jahre 1879?"
Sie: Diese Beziehung ist die, dass 1879 dasselbe Porträt meines Pflegebruders
80 Oskar Vogt.
über dem Ciavier hing wie damals in L. — Aber nein, die Beziehung ist viel enger.
Kurz vor jener Scene 1879 war der ehemalige Freier meiner Mutter eu einem
kurzen Besuch zu uns gekommen. Ich hatte mich naturlich der firuheren Scene
wohl erinnert. Dieser ^lensch hatte eine wundervolle Stimme und er hatte uns
gerade aus derselben Oper Theile vorgesungen, aus der mein Vetter an jenem
Abend Partien gespielt hatte. Ja wir hatten sogar meinem Vetter gesagt, dass
jener Mensch die betreffenden Partien gesungen hatte."
£in nunmehr auf die Halsgegend ausgeübter Druck löst keine pathologische
Erscheinung mehr aus. Ich wecke jetzt die Patientin. Sie kennt genau den Inhalt
dessen, was sie im eingeengten Bewusstscin ausgesagt hat. Auf meine Frage g^ebt
sie weiterhin an, sich immer der berichteten Scenen auch im Wachsein erinnert zu
haben. Es seien ihr aber niemals deren Beziehungen zu dem hypnogenen Druck-
punkt klar geworden.
III. Ich taste den Stirnschädcl einer Patientin, die sich selbst in den Zustand
des eingeengten Wachseins versetzt hatte, auf Druckpunkte ab. Als ich eine be-
stimmte Stelle links drücke, zuckt sie zusammen. Auf meine Frage, was in ihrem
Bewusstsein vor sich gegangen sei. erklärt sie, dass sie sich erinnert habe, wie sie
diese Stelle beiderseits früher öfter stark gedrückt habe, um durch den entstehenden
Schmerz einen vorhandenen Kopfschmerz zu mildem. Sie giebt ausdrücklich an,
nicht etwa jetzt einen Schmerz erwartet oder gefürchtet zu haben, sondern an das
frühere Erlebniss als ausschliesslich der Vergangenheit angehörig gedacht zu haben.
Ich drücke jetzt die homologe Stelle der anderen Seite. Patientin fühlt keinen
Schmerz. Auf meine Frage über ihren Bewusstseinsinhalt giebt sie an, sie habe
die entsprechende Association unterdrückt. Ich fordere sie jetzt auf, die Association
auch zu unterdrücken, wenn ich sie links drücke. Der Druck löst jetzt auch links
keinen Schmerz aus. Umgekehrt erziele ich jetzt rechts einen Schmerz, wenn die
Patientin hier nicht jene Association unterdrückt. Ich fordere die Versuchsperton
jetzt auf, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Association einzustellen, um deren
üefiihlsbetonung zu analysiren.
Sie: „In der Gefülilsbetonung herrscht ein deprimirendes Gefühl vor, daneben
beobachte ich ein unangenehmes Gefühl."
Ich: „Gehört diese Gefühlsbetonung als primitives Gefühl zu dem Erinne-
rungsbild des durch Druck hervorgerufenen Schmerzes oder ist es dieser Vorstellung
nur associirt?"
Sie: „Die Ueberlegung weist ja von vornherein daraufhin, dass das Gefühl
ein associirtes ist, denn der Druckschmerz kann nicht als solcher ein derartiges
Gefühl hervorrufen. Aber ich erkenne das Gefühl bisher nicht als associirtes. Ich
will mich noch weiter beobachten. — tletzt beobachte ich ein dunkelbewnsstes
intellectuelles Moment. Aber ich kann es nicht erkennen. Nehmen Sie mir, bitte,
die Vorstellung von dem Druckschmerz."
Ich: „Die Vorstellung vom Druckschmerz tritt jetzt zurück!"
Sic: „Jetzt erkenne ich es. Es ist die Vorstellung von dem Kop&chmerz,
um dessen willen ich den Druckschmerz hervorrief. Aber es ist noch etwas dabei.
Nehmen Sie mir auch dieses Erinnerungsbild vom Kopfschmerz."
Ich: „Die Vorstellung vom Kopfschmerz tritt zurück!"
Sie: „Ja, jetzt weiss ich die Ursache der Depression. Diese ist daran ge-
knüpft, dass ich zu Anfang unserer Experimente vielfach diese wegen auftretenden
Zar Methodik der ätiologischen Erforschung der Hysterie. 81
Kopfschmerzes unterbrechen musste. Wenn ich die Erinnerung daran, sowie die
an den Kopfsohmerz unterdrücke, so ist die Vorstellung von dem Druckschmerz
nur ganz schwach gefühlsbetont."
Ich: ,,Ich will Sie jetzt drücken, und dann assocüren Sie abwechselnd dieses
schwach und dann das stark gefühlsbetonte Erinnerungsbild vom Druckschmerz!"
Sie: „Wenn ich bei Ihrem Druck das gefühlsschwache Erinnerungsbild
associire, so empfinde ich keinen Schmerz. Associire ich statt dessen das gefuhls-
starke, so beobachte ich den alten Schmerz.''
Hier ergab also die Analyse, dass ein Schmerz dadurch hervorgerufen wurde,
dass der Patient sich einfach einer früheren Situation erinnerte, in der er diesen
Schmerz gehabt hatte, dass aber diese Erinnerung nur dadurch pathogen wurde,
dass sich ein intensives Gefühl associirte.
Gerade durch diese Beispiele hoffe ich gezeigt zu haben, in welcher
Weise ich die ätiologische Erforschung der Hysterie anzugreifen vorschlage.
Sie illustriren am besten auch, wie sich meine Methode von derjenigen
Breuer's und Freud's und derjenigen P. Janet's unterscheidet.
Von den beiden Wiener Autoren hat Breuer im Wesentlichen
nur die Anregungen gegeben, während Freud ^) die Methode weiter
ausgebildet hat. Das Gemeinsame in der Freud 'sehen und meiner
Methode besteht nun eigentlich nur darin, dass wir beide, Kinder und
Ungebildete, ausschliessen. Im üebrigen handelt es sich bei Freud
nicht um eine Analyse des gegenwärtigen Bewusstseinsinhaltes, sondern
um eine erweiterte Anamnese. Diese Erweiterimg sucht der Autor
nun nicht etwa durch Erzielung eines ganz bestimmten partiellen syste-
matischen Wachseins zu erreichen, sondern meist einfach durch specia-
lisirte Wachsuggestionen und selten einmal durch Schaffung einer
beliebigen Hypnose. Dann glaube ich, dass Freud sich theoretisch
von vornherein so verrannt hat, dass er nicht jene Objectivität besitzt,
die in diesen delicaten Fragen dem Experimentator eigen sein muss.
In engerer Beziehung stehe ich zu P. Janet.*) Dieser Forscher
hat wenigstens versucht, in den augenblicklichen Bew]isstseinsinhalt des
*) Vgl. ausser den beiden bereits citirten Werken : Freud, Ueber den Mecha-
nismus der Zwangsvorstellungen und Phobien. Neurol. Centralbl. 1895; Freud,
Ueber die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Sjmptomen-
complex als Angstneurose abzutrennen. Neurol. Centralbl. 1895 ; Freud, Bemer-
kungen über die Abwehr-Neuropsychosen. Neurol. Centralblatt 1896; Freud, Zur
Aetiologie der Hysterie. Wiener klin. Rimdschau 1896. (Referate aller dieser
Arbeiten finden sich in dieser Ztsohr., Bd. IV.) Freud, Die Sexualität in der
Aetiologie. Wien. klin. Hundschau 1898.
*) VgL vor Allem P. Janet, Accidents mentaux des hysteriques, Paris 1894,
und die Sammlung von Aufsätzen: Nevroses et idöes fixes. I. Paris, Alcan, 1898.
Dieses Buch wird noch eingehend in dieser Ztschr. besprochen werden.
Zeittchrüt für Hypnotismos etc. YIII. 6
82 Oskar Vogt.
Ejrauken Einblick zu erhalten. Er hat sich hier — ich sehe von seinen
anderen Methoden, z. 6. dem sog. automatischen Schreiben, ab — der
Hypnose bedient. Der Unterschied zwischen unseren Methoden betrifft
aber die Exactheit. P. Jan et hat an ungebildeten Spitalmedien seine
Versuche angestellt. Von einer psychologischen Schulung dieser war
keine B^de. Ebenso wenig genügten die von F. Jan et eingeleiteten
Hypnosen den von mir an sie gestellten Anforderungen. Schliesslich
hat Jan et eine eingehendere Selbstanalyse durchaus nicht erstrebt,
wie denn überhaupt in Frankreich bisher ein Verständniss für die
directe psychologische Experimentalmethode kaum existirt.
Aber auch bei den Fachgenossen anderer Länder werde ich —
dessen bin ich gewiss — wenig Verständniss und Beachtung finden.
Die meisten dieser stehen psychologischen Interpretationen und psycho-
logischen Methoden verständnisslos, ja oft direct feindselig gegenüber.
Ich theile ja als Empiriker ihren Standpunkt einer geschlossenen Natur-
causalität und einer nicht causal begründeten psychischen Reihe. Dem-
entsprechend gebe ich gerne zu, dass eine psychologische Definition nie
das letzte Wort in der Hysterie zu sprechen haben wird. Aber so
wie die Verhältnisse heute liegen, muss das, was psychisch erkennbar
ist, auch mit psychologischen Methoden erforscht werden.
Dass nun in der Aetiologie der Hysterie der psychische Factor
eine Bolle spielt, davon bin ich ausgegangen. Die Klarstellung seiner
Bolle durch eine Methode, die sich des directen psychologischen Er-
kenntnis smittels, d. h. der Selbstbeobachtung, bedient, war mein Be-
streben. Möge dieses wenigstens hier und da eine vorurtheilsfreie
Prüfung finden! Ich bin fest überzeugt, dass die von mir empfohlene
Methode einer solchen Stand halten und auch über die Hysterie hinaus
in der Erforschung der Genese anderer pathologischer Erscheinungen,
wie z. B. der Zwangsvorstellungen, der Pseudologia phantastica, der
Abnormitäten ded Sexuallebens, von Nutzen sein wird.
Zusammenfassung.
1. Frühere Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass
beim Normalmenschen die Selbstbeobachtung im par-
tiellen systematischen Wachsein die intellectuellen
Substrate emotioneller oder suggestiver Erscheinungen
stets aufdecken kann und so ein Mittel an die Hand
giebt, die emotionelle oder suggestive Natur einer Er-
scheinung zu erkennen.
Zur Methodik der 'ätiologischen Erforschung der Hysterie. 83
2. Neuere Beobachtungen haben mir gezeigt, dass
diese Aufdeckung der intellectuellen Substrate auch
für alle hysterischen emotionellen und suggestiven Er-
scheinungen möglich ist.
3. Deshalb halte ich es für angezeigt, dass wir die
ätiologische Erforschung der Hysterie in der Weise in
Angriff nehmen, dass wir zunächst festzustellen suchen,
wie weit die hysterischen Erscheinungen auf Gefühls-
nnd Suggestionswirkungen zurückzuführen -sind.
6*
Zur neueren Literatur über die Psycliopathologie der Paranoia.
Von
Dr. Max Naef- Zürich.
Die nachstehende Literaturzusammenstellung erhebt nicht den Anspruch darauf,
Yollstäudig zu sein ; sie umfasst yielmehr nur die dem Referenten zugänglichen ein-
schlägigen Arbeiten aus den Jahren 1896 und 1897. Wenn dabei die deutschen
Autoren ganz bedeutend überwiegen, so rühi*t dies nicht nur von der leichten Zu»
gänglichkeit ihrer Arbeiten her, sondern es scheint überhaupt das Studium der
^fParanoiafrage** ein Lieblingsgebiet gerade der deutschen Psychiater geworden m
sein. In sozusagen sämmtlichen Publicationen derselben, welche sich mit den
paranoischen Psychosen beschäftigen, wird die Frage nach der psychologischen
Genese der Paranoia, wenn nicht ausführlich abgehandelt, so doch wenigstens ge-
streift. Und in der That, die Frage nach der Entstehung und dem Wesen der
paranoischen Wahnbildung ist ein interessantes Problem, das den denkenden
Forscher anziehen und fesseln muss und das viel mehr als eine Reihe anderer Psy-
chosen von jeher eine Erklärung herausgefordert hat. Während z. ß. die Melancholie
und Manie sich in der Hauptsache auf eine pathologische Steigerung auch beim
normalen Menschen vorkommender Symptome zurückführen lassen, so erscheint das
Wesen der Paranoia, auf den ersten Blick wenigstens, viel frappirender und der
menschlichen Natur fremder. Der Widerstreit der Meinungen ist denn auch noch
ein sehr lebhafter und kaum lassen sich zwei Bearbeiter des Themas auffinden, die
in ihren Ansichten einig gehen. Auch in dem Zeitraum, den die nachfolgende
Zusammenstellung umfasst, sind eine Reihe bedeutender Arbeiten publicirt worden,
welche, zum Theil weiter ausgreifend, bemüht sind, Licht und Yerstöndniss in die
Psychopathologie und Psychologie zu bringen. Ueberhaupt ist die ganze Paranoia-
frage dazu angethan, diese beiden Disciplinen in hohem Grade zu fördern, da
nothwendiger Weise die richtige Erkenntniss pathologischer Denkprocesse auch die
normale Psychologie bereichern muss. Dass unter diesen Umständen das vorliegende
Thema durchaus im Bereiche des erweiterten Programms dieser Zeitschrift liegt,
braucht wohl nicht mehr besonders hervorgehoben zu werden.
36 Max NaeC
Logik bestehen können, läset sich erklären durch eine Lockerang in dem Gefüge
der Associationen, welche als Sejunction bezeichnet wird. Sie fuhrt zum Zerfall
der Individualität und ist eine Folge der vorausgegangenen acuten Geistesstörung,
deren eigentliches Wesen sie ausmacht. Den Folgen der Sejunction, die als Aus-
fallssymptome zu bezeichnen sind, stehen die Sinnestäuschungen als Reizsymptome
gegenüber, ßeide stehen in engem Zusammenhang und es ist vieUeicht die Hallu-
cination aufisufassen als eine Anstauung der Nervenenerg^e, die bewirkt wird durch
die von der Sejunction gesetzte Continuitätsunterbrechung. Den Hallucinationen
verwandt, ebenso entstehend wie diese und in sie übergehend sind die oben er-
wähnten autochthonen Ideen.
Auch motorische Störungen, namentlich akinetische und parakinetische können
zum Ausgangspunkt von £rklärungswahnideen werden, die dann eine Mittelstellung
zwischen den somato- und autopsychischen Wahnideen einnehmen. Ist einmal die
Tendenz zur Wahnbildung vorhanden, so können auch normale Vorgänge wie der
Schlaf oder geringe Störungen der gewöhnlichen Lebensfunctionen die Grundlage
für Erklärungswahnideen abgeben.
Die Sejunctionsby-pothese erklärt auch die Uncorrigirbarkeit der Hallucinationen,
da durch die Sejunction die Association mit normalen Vorstellungen und die Er-
weckung von Gegenvorstellungen unmöglich gemacht oder doch erschwert wird.
Für die auffällig häufig vorkommenden, gewöhnlich als „Stimmen*' bezeichneten
Sprachhallucinationen gebraucht W. den Ausdruck Phoneme. Dieselben spielen
aber nicht nur eine Holle als Ursache von Wahnideen, sondern es kommt ihnen
auch die Bedeutung zu, den erklärenden Verfolgungs- oder Grössenwahn in Worte
zu fassen und dadurch um so gewichtiger zu gestalten.
Ist schon im normalen Leben jede Wahrnehmung von einer Gefühlsbetonung
begleitet, so findet sich häufig bei paranoischen Zuständen eine krankhafte Gefühls-
betonung bei an und für sich richtigen Wahrnehmungen. Dies kann zur Ent-
stehung des ßeziehungswahnes führen. Der Beziehungswahn ist, wie die klinische
Erfahrung lehrt, als ein Vorstadium der Hallucination zu bezeichnen und beruht
auf einem krankhaften Reizzuwachs, der aber nicht die gleiche Höhe wie bei den
Hallucinationen erreicht, begleitet von sejunctiven Vorgängen. Andeutungen von
Beziehungswahn finden sich nicht selten bei Gesunden, wenn sie in eine ihnen
aussergewöhnlich erscheinende Situation gerathen. Auch der Beziehungswahn kann
auto-, allo- oder somatopsychischen Ursprungs sein.
Eine bei den sog. alten Fällen häufig zu beobachtende Erscheinung ist der
retrospective Erklärungswahn, dessen Bedeutung darin besteht, den veränderten
Bew^usstseinsinhalt mit den alten intacten Resten in Uebereinstimmung zu bringen.
Unter dessen Einfluss gerathon die Kranken auf die abentheuerlichsten Wahnideen;
doch ist der Vorgang an und für sich nicht krankhaft, sondern im Gegentheil die
Reaction eines noch normal functionirenden Gehimmcchanismus.
Die nachträgliche Correctur früherer Erinnerungen nennt W. retrospectiven
Beziehungswahn. Er führt z. B. den an Grössenwahn leidenden Patienten dazu,
Persönlichkeiten, an die er sich aus seiner Jugend erinnert, im Sinne seines Wahnes
umzudeuten. Analogien dieses Vorgangs kommen ebenfalls beim Ghesunden vor.
Streng von diesem Phänomen zu scheiden ist die Erinnerungsfälschung, die nicht
auf eine qualitative Umdeutung der Erinnerungen hinausläuft, sondern die Erinne-
rung im Sinne des Plus (Confabulation) oder des 3Iinus fälscht.
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 87
Die auf dem Erklärungswahn und der nachträglichen Gorrectur des Bewusst-
seinsinhaltes beruhenden Vorgänge, von denen namentlich der letztere wegen seiner
mit grübelnder Gedankenarbeit verbundenen Entstehung zu einer irreparabeln
Fälschung führt, machen zusammen den Begriff der Systematisirung des Wahnes
aus und bedingen in den chronischen Fällen die Unheilbarkeit. Auch der Er-
klärungswahn imd die nachträgliche Gorrectur sind freilich nur die Folgen der
stattgefundenen Sejunction ; ebenso haben die verschiedenen Arten der Erinnerungs-
fälschung eine Lösung der Associationen zur Voraussetzung. Es beruht also die
gesammte inhaltliche Bewusstseinsveränderung auf einer Sejunction oder Associations-
lösung und es ist nach W. Geisteskrankheit als derjenige Vorgang zu definiren,
wobei durch Erkrankung des Nervenparenchyms Lösungen von Associationen statt-
finden.
Schliesslich kommt Verf. auf die überwerthigen Ideen zu sprechen, die den
Zwangsvorstellungen imd autochthonen Ideen verwandt sind, aber nicht wie diese
als fremde Eindringlinge empfunden werden, sondern dem Wesen der eigenen Per-
sönlichkeit zu entspringen scheinen. Sie werden deshalb nicht als krankhaft, sondern
als vollkommen berechtigt angesehen. Die überwerthigen Ideen verdanken ihre
Entstehung der Erinnerung an ein besonders affectvolles Erlebniss ; sie können ent-
weder noch in der Gesundheitsbreite liegen oder aber und zwar besonders durch
Hinzutreten anderer psychotischer Symptome zu Geisteskrankheit führen. Die über-
werthige Idee kommt besonders gern dann zu Stande, wenn das betr. Erlebniss
sich schwer mit dem übrigen Bewusstseinsinhalt vereinbaren lässt und wenn es von
einem besonders hohen Grade des Afifectes begleitet war. Durch das Hinzutreten
des Beziehungs- und Erklärungswahnes, sowie durch nachträgliche Gorrectur des
Bewusstseinsinhaltes kann es aus unbedeutenden Anfängen zur Entwickeluug eines
Wahnsystemes kommen. Eine Heilung ist im Anfang noch durch Erregung kräftiger
Gegenvorstellungen möglich.
Zum Schlüsse beschreibt Verf. die verschiedenen Verlaufstypen, die die Para-
noia nehmen kann und unterwirft dieselben auf Grund seiner AusführuDgen einer
Analyse. Mit einem kurzen historischen Excurs, worin nochmals und im Gegensatz
EU den Anschauungen Griesinger's die fast ausschliesslich secundäre Natur des
Verfolgungs- und des Grössenwahns betont wird, beschliesst der Verf. diesen äusserst
anregenden gedankenreichen Theil seines Werkes.
2. J.Koch, Die überwerthigen Ideen. Gentralblatt für Nervenheilkunde
und Psychiatrie. 1896. S. 177.
Auf Grund von drei beobachteten Fällen, die mitgetheilt werden, bekennt sich
Verf. als Freund der Lehre Wernicke^s von den überwerthigen Ideen. Die-
selben kommen aber nur vor bei gleichzeitig vorhandener andauernder oder vor-
übergehender psyohopathischer Minderwerthigkeit. Die überwerthigen Ideen können
auch in der Mehrzahl und dann je nach der Gelegenheitsursache abwechselnd auf-
treten. Die partielle Störung ist zwar das Dominirende, der Boden, auf dem sie
auftritt, ist aber immer schon zuvor geschädigt. Verf. hofPt von einer Vertiefung
in die Lehre Wernicke's eine Förderung des Verständnisses zahlreicher krank-
hafter Geisteszustände.
88 Hax Naef.
3. «7. Kochj Noch einmal die überwerthigen IdeeD. Centralblatt für
Nervenheilkunde und Psychiatrie. 1896. S. 363.
Bei weiterem Studium der überwerthigen Ideen kommt Verf. ca der Über-
zeugung, das8 die eigentliche fixe Idee sehr häufig ist, aber immer auf dem Boden
einer angeborenen oder erworbenen psychopathischen Minderwerthigkeit entsteht
Der Unterschied Ton der Paranoia liegt darin, dass in Folge Fehlens einer fort-
schreitenden Beziehungssucht zu der einen Idee keine anderen sich hinzogesellen
und somit kein System entsteht. Auch ein Theil der sog. Querulanten gehört
hierher, so dass man auch bei ihnen von einer circumscripten Autopeyohoae im
Sinne Wernicke's reden kann. Ob die fixen Ideen zu den Psychosen gehören
oder aber als selbstständige elementare Anomalien psychotischen Characten ao&a*
fassen sind, lässt Verf. unentschieden. Der Boden, auf dem sich die Idee einnistet,
ist wohl ein psychotischer Gesammtzustand ; die überwerthige Idee aber, sofern sie
den Betroffenen kaum in Anspruch nimmt, erscheint als selbststandige, elementare
Anomalie. In anderen Fällen dagegen kann die circumscripte, psychotische Idee
so übermächtig werden, dass sie das gesammte Geistesleben bestimmt und daraus
ein psychotischer Gesammtzustand resultirt.
4. J. Kochj Ein drittes Mal die überwerthigen Ideen. Ceniralblatt
für Nervenheilkunde und Psychiatrie. 1896. S. 586.
Seinen beiden vorangehenden Ausführungen über dieses Thema fugt Verf.
noch Folgendes bei : Unter den überwerthigen Ideen sind physiologische und patho-
logische zu unterscheiden. Die erstere kann auf physiologischem oder auf krank-
haftem Boden entstehen. Eine physiologische überwerthige Idee auf gesundem
Boden ist z. B. diejenige eines Erfinders, der sich unausgesetzt mit demselben
Problem befasst. Eine solche Idee kann auch eine ganze Familie, ein Volk, oder
einen Culturkreis beherrscheD. Die physiologische überwerthige Idee kann zu
pathologischen Handlungen Anlass geben. Meistens ist dann aber der Träger der
Idee von psychopathischer Minderwerthigkeit. Manche dieser Handlungen (wie sie
z. B. unter dem Einfiuss einer Massensuggestion bei Revolutionen begangen werden)
werden nachher von den Betheiligten selbst nicht mehr begriffen. Die an sieh
selbst pathologische überwerthige Idee entsteht immer auf einem psychotisch g^e-
schädigten Boden.
5. F. Oerlactiy Querulantenwahn, Paranoia und Geistesschwäche.
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, Band LH, S. 433.
Verf. wendet sich gegen den Usus, die Bezeichnung Querulantenwahn als
fertige Diagnose zu gebrauchen. Das Queruliren ist vielmehr stets nur ein Symptom
entweder von Paranoia oder von Geistesschwäche. Ohne den Nachweis einer dieser
beiden Grundkrankheiten darf von Querulantenwahn nicht gesprochen werden. Die
Constatirung der Paranoia als des Motivs zum Queruliren unterliegt oft bedeutenden
Schwierigkeiten, weil sie erst in Entwickelung begriffen ist; leichter ist im Allge-
meinen der Nachweis der geistigen Schwäche.
Oharacteristisch für die Paranoia ist nicht die Kritiklosigkeit, vielmehr die
falsche Werthbemessung bestimmter Vorstellungsreihen, namentlich solcher der
Ich-Reihe. Der Paranoiker ist ein pathologischer Egoist. Aus Berechnung, nicht
aber aus Ueberzeugung ist er im Stande, sich der Anschauungsweise seiner Um-
Zar neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 39
gebang anzupassen; schliesslich gelangen durch die Macht des Affectes doch die
dominirenden Vorstellungen zum Durchbrach nach aussen. Der Egoist will eben
nur, der Paranoiker dagegen muss.
Bei der Geistesschwäche gelangen solche Vorstellungsreihen entweder gar
nicht zur Ausbildung, oder sie werden wieder gelockert. Hier herrscht die Kritik^
losigkeit Yor und der Affect ist im Stande, jeder beliebigen, sonst wenig betonten
Vorstellangsreihe zom Durchbruch zu verhelfen. Dabei kommt es nur zur Bildung
▼on Ptoeudo- Wahnideen, die auf Grund von Leichtgläubigkeit entstehen und nicht
fixirt sind.
Lasst sich weder Paranoia noch Geistesschwäche nachweisen, so kann von
Querulantenwahn nicht gesprochen werden. Es bleiben dann allerdings noch Fälle
deutlichen Querulirens übrig, die anders erklärt werden müssen, und für welche
Wernicke die überwerthige Idee zu Hülfe genommen hat. Es wird nun ein
Fall mitgetheilt und analysirt, bei welchem sich keine Spuren bestehender Geistes-
schwache finden, dem aber auch paranoische Symptome fehlen; denn stets stehen
dabei nicht das vermeintlich verletzte Hecht des Querulirenden, sondern der unrecht
handelnde Beamte und dessen Beschützer im Yordergnmd des Interesses. Der
Qaerulirende wurde also im vorliegenden Fall wirklich durch eine überwerthige
Idee bestimmt. Aber nicht die Art der überwerthigen Idee ist das entscheidende,
sondern die Thatsache, dass sich überhaupt eine bestimmte Idee dauernd auf dem
Wellengipfel befindet. Der Querulant leidet also nicht an einer überwerthigen Idee,
vielmehr an der Ueberwerthigkeit einer Idee. Im vorliegenden Falle war diese
Ueberwerthigkeit nicht die Folge eines krankhaften Zwanges, sondern ein Ausfluss
der fireien Willensbestimmung; eine psyohopathische Grundlage fehlt somit und es
ist der betr. Querulant für gesund zu erklären.
6. M. Koppen, Der Querulantenwahnsinn in nosologischer und
forensischer Beziehung. Archiv für Psychiatrie, Band XXYUI, S. 221.
Beim Querolanten erfolgt die Bildung falscher Vorstellungen nicht auf Grund
von Sinnestäaschungen. Die Wahnideen sind nicht auf den ersten Blick als solche
erkennbar, sondern erst nach genauer Einsicht in die Verhältnisse. Die Behaup-
tongen des Querulanten sind zwar nicht vernünftig, wohl aber vernünftelnd,
raisonirend. Dieselbe Art der Wahnbildung wird auch bei Hypochondern, Hyste-
rikern und Alkoholikern beobachtet. Die Wahnbildung beim Querulanten ist eine
vollkommene und es genügt dafür Wernicke's Ausdruck „überwerthige Idee"
nicht. Wichtig für die Wahnbildung ist eine Störung auf dem Gebiete des Affectes,
wie eine kritiklose Leidenschaftlichkeit oder eine dauernde der bei Manie vor-
kommenden ähnliche Stimmungsanomalie oder eine schon in der Jugend sich
geltend machende Neigung zu Verbrechen. Der Grad der Intelligenz ist ohne
wesentlichen Einfluss auf die Entstehung des Querulantenwahnsinns ; zuweilen
wurden xuvor schon andere Psychosen durchgemacht. Als ätiologisches Moment
ist häufig eine psychische Degeneration anzusehen, entstanden entweder durch erb-
liche Belastung oder durch schädigende Einflüsse im Fötalleben oder in früher
Jugend. Daneben kommen auch die für andere Psychosen bekannten Ursachen in
Betracht. Erlittene Kränkungen des Bechtsgefühls sind dagegen von geringer
Bedeotnng. Gegen die Lehre Wernicke' s, den Querulantenwahnsinn als circum-
aeripte Sionmg «ofeafassen, verhält sich der Verf. ablehnend.
90 Max Naef.
7. VorsteTy Ueber einen Fall von geringgradiger chronischer
Compression der Medulla oblongata und des obersten Halsmarks
durch den Proc. odontoid. bei einem Paranoiker. Zugleich ein Bei-
trag zur Entstehung der Wahnideen durch Allegorisirung körper-
licher Empfindungen. AUgem. Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. fiTT, S. 314
Bei einem Pai'anoiker mit ausgesprochenem Verfolgungs- und Grossenwahn,
der an Tuberculose starb, ergab die Autopsie eine Compression der Uebergangs-
stelle des Rückenn^arkes in die Medulla oblongata in Folge Verengerung des
Wirbelcanales durcl alte cariöse Processe. Während an der Druckstelle nur gering-
fügige atrophische Veränderungen constatirt wurden, fand sich in der Höhe des
zweiten Cervicalnerven ein diffuser entzündlicher Proccss, der namentlich die Ra,
die hinteren Wurzeln an ihrer Eintrittsstelle ins Rückenmark und die Hinterstrange
betraf. Nun war im Leben an dem Patienten eine etwas steife Kopfhaltung auf-
gefallen, sowie die Gewohnheit, sich mit der Faust gegen Hinterkopf und Nacken
zu schlagen, während Lähmungserscheinungen vollständig fehlten. Unter vielen
anderen hatte der Patient auch die Wahnidee, sein Rückgrat werde ausgebohrt,
sein Nacken mit Electricitat und Hohlspiegeln bearbeitet. Diesen Wahnideen lagen
offenbar nicht, wie sonst anzunehmen, Parästhesien zu Grunde, sondern sie sind
durch den myelitischen Process zu erklären, da ja Erkrankungen der hinteren
Wurzeln erfahrungsgemäss von heftigen Schmerzen begleitet werden. Wie im
Traume sinnliche Eindrücke verschiedenster Art wahnhaft gedeutet werden, so hat
hier eine Allegorisirung dieser Symptome zu Wahnideen stattgefunden. Die Para-
noiker sind hierzu besonders geneigt, wofür noch eine Reihe von Beispielen ange-
führt werden. Die Kenntniss dieser auf Allegorisirung körperlicher Sensationen
beruhenden Wahnideen ist wichtig, weil unter Umständen durch therapeutische
Maassnahmen auch das psychische Verhalten beeinflusst werden kann. Im Uebrigen
ist der grösste Theil der Arbeit dem pathologisch-anatomischen Theil des Themas
gewidmet.
8. R. Sandberg, Zur Psychopathologie der chronischen Paranoia.
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, Band LII, S. 619.
Verf. gründet seine Ansicht über die Genese der primären Verrücktheit auf
W e s t p h a 1 ' 8 Arbeiten. Das Primäre ist eine Veränderung derjenigen Elemente,
in welchen die Eindrücke zur bewussten Wahrnehmung gelangen; die Wahnideen
sind eine secundäre Folge der dadurch veränderten Auffassung der Aussenwelt.
Der erstere Process ist pathologisch, der letztere dagegen ein psychologischer Vor-
gang. Die anfänglich entstehende Rathlosigkeit hat von Anfang an einen pessi-
mistischen Anstrich und führt unfehlbar zum Beeinträchtigungswahn, und zwar in
Folge der feinen, aber Alles durchdringenden und umfassenden Veränderung der
Aussenwelt. Misstrauen ist der characteristische AfiFect der Paranoia; dieses Miss-
trauen führt zu der allgemeinen Idee des Beeinträchtigtseins. Es erzeugt also die
Transformation des Ich den Wahn und nicht umgekehrt. Der Grossenwahn ist erst
consecutiv und entsteht durch Reflexion. Die Art der Wahnideen ist von äusseren
Verhältnissen abhängig, weshalb eine wissenschaftliche Eintheilung darnach onzu*
lässig ist. Zur Erklärung der Sinnestäuschungen ist Verf. geneigt, einen Reiz in
denselben Rindenelementen anzunehmen, deren Veränderung schon die unrichtige
Auffassung der Aussenwelt zur Folge hatte. Sie sind nicht subcorticalen Ursprungs,
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 91
wie Meynert glaubt. Sie entstehen auf derselben ßasis wie die "Wahnideen und
bewegen sich in denselben Bahnen. Unwichtig zwar für die Genese des "Wahnes,
weil meist accessorisch entstehend, sind sie doch wichtig als Mittel zur Befestigung
desselben.
Als positiven Beweis für die ünnöthigkeit der Annahme einer pathologischen
Intelligenzschwäche führt Verf. Folgendes aus : Für die Fähigkeit der Kritik maass-
gebend ist die Grösse des vorhandenen Yorstellungsmaterials, die Intensität der
elementaren Anschauung und die Art und Vollständigkeit der beim Auftauchen
einer Vorstellung stattfindenden Associationen. Fehler in einem dieser drei Factoren
bevnrken kritische und logische Mängel, also beim Gesunden den Irrthum. Die
Wahnideen entsprechen nun dem Irrthum nicht; sie verdanken ihre Entstehung
nicht dem Fehlen von Gegenvorstellungen. Wesentlich ist vielmehr das Fehlen des
Krankheitsbewusstseins und dies rührt davon her, dass eben der Träger der be-
wnssten Wahrnehmung, die Hirnrinde selber in ihrer Totalität krankhaft verändert
ist. Die krankhafte Täuschung kann deshalb gar nicht als solche empfunden, sondern
muss für echt gehalten werden. Die Kritik ist also nicht geschwächt, sondern be-
einflusst. Die Analogie der Wahnidee beim Gesunden ist nicht der Irrthum, sondern
die Stimmungsänderung, wie sie z. B. der Alkohol und die Narcotica bewirken, der
Fanatismus etc., wobei es sich immer nicht um eine Aufhebung, sondern um eine
Bestechung der Kritik handelt.
Es ist somit möglich, schliesst der Verf., auch ohne Annahme einer patho-
logischen Intelligenzschwäche zu einem psychologischen Verständniss der chronischen
Paranoia zu gelangen.
9. HertZy Wahnsinn, Verrücktheit, Paranoia? Allgem. Zeitschrift für
Psjxhiatrie, Bd. LH, S. 701.
Verf. tritt in diesem Aufsatz für die Beibehaltung des Wahnsinns als einer
besonderen nur durch das Vorhandensein von Hallucinationen ausgezeichneten
Psychosenform ein. Nach einem vorausgehenden Stadium des Misstrau ens erfolgt
das Auftreten der Hallucinationen, die als idiopathisch bezeichnet werden. Unter
264 Aufnahmen fand H. 87 Fälle von Wahnsinn. Er wird als die „lebenskräftigste"
aller Geisteskrankheiten bezeichnet. Mit einer Literaturzusammenstellung, die bis
1818 zurückgreift, schliesst die Arbeit, die vom Standpunkte der Psychopathologie
aus kaum ein Interesse bietet.
10. H. Schlöss, Ueber die Beziehungen zwischen Melancholie und
Verrücktheit. Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie. 18%. S. 114.
Verf. gelangt zu der Ansicht, dass die schon von verschiedenen Autoren her-
vorgehobenen Beziehungen, welche zwischen der Melancholie und Paranoia bestehen,
eine scharfe Trennung der beiden Krankheitsformen gar nicht zulassen. Allgemein
wird angenommen, dass bei der Melancholie die Depression die primäre Störung
ist und dass die Wahnvorstellungen erst secundär als Erklärungsversuche für die
Affectstörung hinzutreten. Bei der Verrücktheit dagegen, die namentlich in ihren
acuten, hallucinatorischen Formen viel Aehnlichkeit mit der Melancholie hat, sollen
die Wahnideen gleich von Anfang an das Krankheitsbild beherrschen und den
Affect bedingen. Dieses Unterscheidungsmerkmal ist aber nach Verf. nicht allgemein
gültig, denn in vielen Fällen von Paranoia sind die Wahnideen ebenfalls nur ein
92 ^Ax Naef.
Erklärungsversuch für das yorherrschende Gefühl unbestimmter Angst. Ueberhanpt
können sich sozusagen alle Symptome, die als characteristisch für Melancholie gelten,
auch bei Paranoia finden und umgekehrt, wie an Hand verschiedener Kranken*
geschichten und früherer Autoren gezeigt wird. Beide Krankheiten können sich
aneinander anschliessen und auseinander entwickeln. Eine schärfere Trennung wäre
nur dadurch zu erzielen, dass man die Hallucinationen vom Krankheitsbilde der
Melancholie ausschliessen würde, wodurch allerdings die Zahl der all Melancholie
zu bezeichnenden Fälle sehr zusammenschrumpfen würde. Wert bezweifelt also die
Bichtigkeit der allgemein geltenden Ansicht über die Art der Wahnbildung bei
der Melancholie, ist vielmehr mit Kraepelin der Meinung, dass die Störung im
Gebiete des Fühlens und Wollens und der Wahn der Ausdruck einer einheitlichai
elementaren Störung seien.
11. Brassertj Ueber secundäre Paranoia. Allgem. Zeitschrift für Psy-
chiatrie, Band LU, S. 772.
Nach einer einleitenden Zusammenstellung der einschlägigen Literatur theilt
Verf. die Krankengeschichten mit, auf welche sich seine Ausführungen stutzen. Er
beobachtete nenn Fälle von Melancholie, bei welchen nach einer gewissen Zeit an
Stelle des Versündigungswahnes Verfolgungswahn trat und unter gleichzeitigem
Auftreten von Gehörshallucinationen der U ebergang in einen unheilbaren para-
noischen Zustand stattfand. Ebenso kamen ihm zwei Fälle von Manie vor, bei
denen vorübergehend Verfolgungswahnideen aufbraten, die aber beide in Heilung
übergingen. Nicht ganz ö^/q der von B. beobachteten Paranoia-Fälle sind derart
seeundärer Natur. Die postmelancholisohe Form ist häufiger als die postmania-
kaÜsche. Erbliche Belastung begünstigt einen solchen Verlauf. Der bis dahin
Melancholische fängt an, Alles, was in der Umgebung geschieht, auf sich selber zu
beziehen, lacht plötzlich laut auf, schliesslich können Hallucinationen constatirt
werden. Besonders unangenehme Gehörshallucinationen bewirken, dass die Schuld
vom eigenen Ich auf die Umgebung abgewälzt wird ; bisweilen spielen auch Gesichts-
täuschungen eine Rolle. Im weiteren Verlauf der postmelancholischen Paranoia
erscheinen zuweilen Remissionen und mehr melancholische Zwischenstadien ; schlieas-
licli erfolgt Ausgang in Demenz. Heilungen kommen kaum vor. Seltener ist die
postmanische Form der secundären Paranoia. Erbliche Belastung und recidivirende
Manien disponiren dazu. Der von B. in zwei Fällen beobachtete Verlauf, plötzliches
Auftreten des Verfolgungswahnes und Ausgang in völlige Heilung nach kurzer
Dauer ist als eine zufällige Ausnahme zu betrachten.
12. Krause, Ueber Zustände von Verwirrtheit mit Aufregung oder
Stupor im Beginne und Verlaufe der chronischen Paranoia. Monats-
schrift für Psychiatrie und Neurologie. 1897.
Auf Grund von sieben ausführlich mitgetheilten Krankengeschichten wird vom
Verf. der Nachweis geleistet, dass Zustände von acuter Verwirrtheit in Form von
Aufregung oder von Stupor sowohl als Einleitung einer chronischen Paranoia als
auch in deren ganzem Verlaufe vorkommen können, während z. B. Kraepelin
einen solchen Zusammenhang in Abrede stellt. Die dabei vorkommenden Hallu-
cinationen und Wahnideen entstammen oft dem Material der zu Grunde liegenden
Paranoia. Der Kenntniss dieser Zustände kommt practische Bedeutung für Diagnose
und Prognose zu.
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 93
13. Cl. NeisscTy Paranoia und Schwachsinn. Allgem. Zeitschrift für
Psychiatrie. Band LIIl, S. 241.
Verf. bekennt sich als Gegner der namentlich von Hitzig wieder vertretenen
Lehre, dass der Paranoia ein primärer Intelligenzdefect als ein wesentliches Symptom
zu Grunde liege. Um sich in der streitigen Frage überhaupt verstehen zu können,
darf vor Allem der Begriff der Paranoia nicht zu weit gefasst werden und nicht
beständig Symptomencomplexe und Krankheitsformen miteinander vermengt werden.
In der Lehre von der Paranoia spielen noch immer Dogmen, alte wie neue, eine
allzugrosse Holle. Um zu einem Verständniss zu gelangen, sind nicht die ver-
schiedenen Arten der Wahnäusserung, vielmehr die Pathogenese zu studiren. Für
die folgenden Betrachtungen auszuschliessen sind nach Verf. die originäre Paranoia,
weil hier ein sehr labiler Affect und eine sehr lebhafte Phantasie mitspielen und
ein Theil der psychischen Leistung sich unterhalb der Schwelle des Bewusstseins
vollzieht. Dies lässt die Einfälle fix und fertig erscheinen ohne die Möglichkeit
einer Controle ihrer Genese. Hier handelt es sich also um Primordialdelirien im
Sinne Griesinger's, wie sie aber der eigentlichen chronischen Paranoia nicht
zukommen. Ebenso sind diejenigen Fälle auszuschliessen, wo auf psychopathischer
Grundlage bestimmte Vorstellungen dominirend werden oder sich fixiren, wie bei
Hypochondrie; endlich auch die residuären Geistesstörungen. Das Hauptcharacte-
risticum der noch bleibenden Formen ist eine von Anfang bis zum Ende andauernde
Bildung von Wahnideen, nicht die blosse Existenz solcher. Immer kommen dabei
Hallucinationen vor, abgesehen von den querulirenden Formen, die aber wieder
anders zu beurtheilen sind.
Eine Reihe von Autoren haben nun der so präcisirten Paranoia den Schwach-
sinn als wichtiges Symptom zugeschrieben, allerdings mit verschiedener Auffassung.
liaoh Griesinger kann der Paranoiker seinen Irrthum nicht corrigiren, weil die
Vorstellungen eine allgemeine Abschwächung erlitten haben und ganze Vorstellungs-
reihen überhaupt verloren gegangen sind. Es fehlen die zur Correctur nöthigen
Gegenvorstellungen oder sie sind doch zu schwach. Griesinger 's Darstellung ist
achon deshalb anfechtbar, weil er den Process der chronischen Wahnbildung über-
sieht und nur mit von vornherein iixirten Wahnvorstellungen rechnet. Nach Koch
fuhrt die Paranoia meist rasch zu einer Schwäche des Gefühlslebens und des Wollens,
-die eine Correctur veininmöglicht und auch zur Folge hat, dass der Inhalt des
Wahnes auf den Paranoiker gar nicht den Eindruck macht, wie es bei einem Ge-
sunden zu erwarten wäre. Auch nach Jastrowitz führt die Paranoia unfehlbar
zum Blödsinn, von dem sich deutliche Zeichen oft schon in sehr frühen Stadien
bemerkbar machen. Diesen Blödsinn bezeichnet er als einen geistigen Defect, der
durch qualitativ veränderte, fremde Bestandtheile ausgefüllt wird.
Kraepelin sieht den Beweis der bestehenden psychischen Schwäche schon
in der blossen Thatsache, dass Wahnideen bestehen, ohne corrigirt zu werden.
Anderweitige Intelligenzdefecte brauchen daneben gar nicht zu bestehen, kommen
aber gewöhnlich mit der Zeit zur Beobachtung. Aus dem Bestehen eines Wahn-
aystems schliesst also Kraepelin nicht nur auf Verrücktheit, sondern direct auch
auf Schwachsinn. Nun ist aber nach Verf. eine kritische Fähigkeit, die einer-
aeite so unzulänglich ist, dass sie das Bestehen von Wahnideen zulässt, auf anderen
Gebieten aber ihre volle Schuldigkeit thut, ein psychologisches Unding. Aber auch
klinisch ist diese Darstellung unrichtig, da viele Paranoiker ihren Wahn erst nach
94 Max Naef.
langem verzweifeltem Kampfe acceptiren und selbst kritische Bedenken dagegen
entwickeln, und da von Haus aus schwachsinnige Individuen durchaas nicht be-
sonders absurde Wahnideen entwickeln, wie es sonst der Fall sein müsst«. Hitzig,
direct aus der klinischen Beobachtung schöpfend, föhrt die bei der Yerrücktheit
angenommene geistige Schwäche zurück auf eine Armuth an Yorstellongen and
an associativen Verknüpfungen. Dagegen wendet der Verf. ein, dass es eben dem
fremden Beobachter unmöglich ist, ganz in das Wahngebäude des Kranken einza-
dringen und dem Paranoiker deshalb vielfach mit Unrecht Armuth an in Wirklich-
keit einfach nicht erkannten Vorstellungen und Associationen derselben vorgeworfen
wird. Femer fehlt dem Paranoiker vollständig das Krankheitsgefühl; er setzt et
deshalb naturgemäss auch bei Anderen nicht voraus, was wiederum einen Theil
seiner Handlungsweise erklären lässt. Auch die Behauptung Hitzig' s, dass für
den Paranoiakranken das Zcugniss seiner Sinne nicht existire, ist zurückzuweiBen.
Den Sinnen Anderer glaubt er allerdings nicht, den seinigen aber felsenfest. Noch
überzeugender wirken allerdings die Hallucinationen. Entgegen der Ansicht
Hitziges und Anderer tritt Verf. dafür ein, dass die Hallucinationen nicht nor
intensiver, sondern überhaupt qualitativ verschieden wirken wie die normalen
Sinneswahrnehmungen. Nicht auf ihrem Inhalt, sondern auf ihren physio-psyoho»
logischen Beziehungen beruht ihre Macht. Die Hallucinationen beeinflussen den
Vorstellungsablauf direct ohne das Dazwischentreten der Reflexion, etwa nach Art
der Suggestion im Gegensatz zum blossen Zureden. Der Kranke glaubt nicht an
die Hallucinationen; er wird von ihnen beherrscht. Als wichtigstes Argament für
seine Auffassung führt Hitzig den terminalen Defectzustand an, der wahrschdniich
organisch begründet sei und sich besonders durch die Lockerung der normaler
Weise zwischen Afi'ect und Vorstellung bestehenden Beziehungen äussere. Da-
gegen wendet Verf. ein, die letztere Erscheinung könne ebensowohl durch eine
aUmähliche Abstumpfung der Gemüthsreaction in Folge der steten Wiederholung
erklärt werden und es sei überhaupt die Beaction auf normale Sinneseindrucke
mit derjenigen auf Hallucinationen nicht direct vergleichbar. Ferner ist die Demenz
überhaupt nicht so hochgradig, wie Hitzig annimmt, was am besten aus den oft
erst spät auftretenden und noch einen ganz erheblichen Bestand geistiger Fähig-
keiten offenbarenden Erregungszuständen hervorgeht. Es ist deshalb auch die
Ansicht Ziehen 's, der nur eine Pseudodemenz annimmt, nicht absolut zorack-
zuweisen. Endlich spricht der Nachweis eines terminalen Defectes nicht dafür,
dass die geistige Schwäche schon ein Frühsymptom der Paranoia sei; denn die
meisten Geisteskranken haben bei langer Dauer einen psychischen Defect im Gefolgt
Aus den Details der Hypothese Hit zig 's geht hervor, dass er entgegen dem
gewöhnlichen Sprachgebrauch den Ausdruck Demenz für einen umschriebenen Aus-
fall geistiger Functionen gebraucht. Es wäre also auch durch die Annahme dieser
Theorie der Nachweis, dass die allgemeine geistige Schwäche ein Anfangssymptom
der Paranoia sei, noch nicht geleistet.
14. J, Salgöf Noch einmal Paranoia und Schwachsinn. Allgem.
Zeitschrift für Psychiatrie, Band LIII, S. 897.
Verf. hält die bekannte Streitfrage, ob der Schwachsinn einen wesentlichen
Bestandtheil des paranoischen Symptomencomplexes ausmache, für sehr wichtig,
da ihre Entscheidung für die Characterisirung der diagnostischen Einheit sowie
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 95
für die Prognose der Paranoia von grosser Bedeutung ist. Eine sichere Entschei-
dung wäre möglich, wenn wir zu einer vollkommenen Klarlegung des Begriffes
Schwachsinn gelangen würden oder aber durch den Nachweis der cerebralen Ver-
änderungen, aus denen sich mit Sicherheit auf das Bestehen von Schwachsinn
schliessen Hesse. Beides ist aber einstweilen noch unmöglich und es beruht die
Abschätzung des Schwachsinnes auf der Begabung und fachmännischen Erfahrung
des Beobachters. Zur Untersuchimg der vorliegenden Frage besonders geeignet
ist der Querulantenwahnsinn, der ohne Zwang der Paranoia eingereiht werden
kann, weil derselbe unschwer in allen Fällen den Schwachsinn bei äusserlich gut
erhaltenem Raisonnement erkennen lässt.
Verf. gehört nicht zu denjenigen, die schon im blossen Auftreten einer Wahn-
idee einen Beweis für das Vorhandensein des Schwachsinnes erkennen; wohl aber
in der Unfähigkeit, die krankhafte Apperception einer Erwägung und Controle zu
unterziehen. Die Herabsetzung der Intelligenz erfolgt nicht plötzlich, sondern ist
das Product eines chronisch progredirenden Krankheitsprocesses und ergiebt sich
mit Nothwendigkeit aus den cerebralen Ursachen der Psychose. Die ersten An-
fange der Paranoia ist Verf. geneigt, sehr weit zurückzudatiren und er nimmt für
die Mehrzahl der Fälle, nicht nur für die sog. originäre Form an, dass der Ur-
sprung in den Jahren der Pubertät zu suchen sei, wo sie unter dem Bilde der
Neurasthenie erscheine. Ebenso langsam erfolgt in anderen Fällen die Ent Wickelung
aus Zwangsvorstellungen heraus. In beiden Fällen bildet eine Einengung des
Bewusstseins, eine Verarmung des Bewusstseinsinhaltes das erste, oft übersehene
Symptom. Zur intacten Intelligenz des geistig voll Gesunden ist das Vorhandensein
einer gewissen Summe erworbener psychischer Elemente nothwendig, sowie die
Möglichkeit einer unbehinderten, wechselseitigen Wirksamkeit derselben (Association).
Dieses freie Zusammenspiel derjenigen Elemente des psychischen Lebens, die eine
innere Gemeinschaft haben, kann Bewusstsein genannt werden und die Behinderung
dieses Zusammenspiels bedeutet also eine Störung des Bewusstseins. Als Ursache
dieser Störung könnte in Betracht kommen entweder eine vermehrte Kraft einzelner
Bewusstseinselemente oder aber eine verminderte Fähigkeit zur Wechselwirkung
der übrigen. Die erstere Annahme trifft zu bei den noch im Gebiete des Physio-
logischen liegenden „überwerthigen Ideen" ; auf dem Gebiete der Pathologie da-
gegen kommt nur die zweite Möglichkeit zur Geltung; und es beruht also die
anscheinende Uebermacht der einen Elemente auf der Schwäche der anderen. Die
nberwerthige Idee verdankt ihre Stärke dem Umstände, dass sie auch die anderen
psychischen Kraftcentren in ihren Dienst stellt; der Grössen wahn des Paralytikers
dagegen ist nur möglich durch das Aasbleiben einer jeden associativen Controle.
80 wird die Einengung des Bewusstseins gleichbedeutend mit einer Verarmung
des Bewusstseinsinhaltes und kann schliesslich zur Bewusstseinsleere führen, wie sie
beim Stupor oder aquirirten acuten Blödsinn gefunden wird.
Schon im normalen Leben sind vorübergehende Einengungen des Bewusstseins
häufig und immer verbunden mit ängstlicher Verstimmung und innerer Unruhe;
man denke an den Arzt, der sich des Gedankens nicht erwehren kann, ein Recept
falsch dosirt zu haben, an den Gassirer, der immer wieder befürchtet, seine Gasse
schlecht verschlossen zu haben, während Beiden in Wirklichkeit noch nie ein solches
Mingeschick passirt ist Diese Zustände bilden den Uebergang zu den Zwangs-
▼orsteUungen, welche auf einer Behinderung des Associationsmechanismus beruhen.
96 Max Naef.
Sobald diese „Bewusstseins-Ebbe* vor aber ist. erfolgt die kritisehe Benrtheiliiiig
des Torangegangenen krankhaften Znstandes: wahrend derselben aber onterM^ieidet
er sich in nichts von wirklicher Geisteskrankheit Die Zwangsrorstelliuigen sind
der Melancholie am nächsten verwandt, bei welcher die Bewosstaeinteinengoiig eine
dauernde ist.
Das Jahre lang andauernde Stadium, das die Paranoia durchlauft, bevor sie
die Versorgung des Kranken in einer Anstalt nothwendig macht, wird gewöhnlich
als Neurasthenie bezeichnet. Es ist characterisirt durch zunehmende psychische
Insufficienz und Abnahme des geistigen Interessekreises. Dadurch wird der Boden
für Hallucinationen und Wahnideen vorbereitet, die nunmehr schon kritiklos ent-
gegengenommen werden. Der Schwachsinn ist also nicht ein Symptom der Paranoia
neben anderen, sondern eine Entwickelungsbedingung derselben. Er bedeutet eine
Art Disposition in Form einer schweren Beeinträchtigung des Gesammtsottandes
der psychischen Individualität. Auch das formale Denken documentirt, wenn es
auch scheinbar wohl erhalten ist, den Schwachsinn ; denn es werden die psychischen
Elemente immer nur nach der einen Seite associirt, die gerade zur Begründung und
Erläuterung der Wahnideen dienlich ist. Die Neurasthenie darf nicht als primiro
Störung der Paranoia als einer secundären Krankheit gegenübergestellt werden.
Sie bildet vielmehr das Prodromalstadium und kann in Heilung übergehen, bevor
sie zur Entwickelang der vollen Psychose geführt hat.
16. lAnhCj Zur Pathogenese des Beachtungswahnes. Allgem. 2jeit-
schrift für Psychiatrie, Bd. LUI/ S. 562.
Verf. wurde zu seiner Arbeit angeregt durch die Lehre Sandberg's über
die Genese der Paranoia. Sandberg nimmt als primäre Ursache eine Verände-
rung der Erinnerungsbilder an, welche dem Kranken als eine psychologische Ver-
änderung der äusseren Eindrücke zum Bewusstsein komme. Die dadurch hervor-
gerufene Rathlosigkeit Iiabe von vornherein einen pessimistischen Character und
führe unfehlbar zum Beeinträchtigungswahn. In diesem Gedankengang findet \erL
eine Lücke, indem die von AVestphal betonte Uebergangsstufe des Beachtongs-
wahnes nicht berücksichtigt ist, aus welchem erst der Verfolgungswahn entspringt.
In Folge dessen sieht sich Sandberg genöthigt, diese Rathlosigkeit von vorn-
herein als pessimistisch gefärbt anzusehen und das Misstrauen als den characte-
ristischen Affect der Paranoia zu betrachten. Hiergegen wendet der Verf. ein»
dass Misstrauen gar kein Affect sei und will an dessen Stelle die gespannte
Erwartung setzen, mit welcher nach Art der Affecte auch körperliche Begleit-
erscheinungen und zwar unangenehmer Art verbunden sind. Dieser der Angst
nahe verwandte Affect ist die Ursache des Pessimismus. Er ist dann pathologisch,
wenn ihm ein Object von ungenügender Bedeutung zu Grunde liegt, oder wenn
das Object ganz fehlt. Das letztere trifft im Anfange der Paranoia zu. So lange
sich der Kranke noch bewusst ist, dass sein Affect eines Objectes entbehrt, ist er
nur unruhig, zerstreut, in der Erwartung eines unbestimmten Etwas. Sobald sich
das aber ändert und die primäre Natur des Affectes nicht mehr erkannt wird, so
tritt der Bcachtungswahn auf und zwar auf die Weise, dass der Affect zum Be-
wusstsein gelangt, im gleichen Momente, wo eine bei solchen Zuständen ohnehin
besonders lebhaft erfolgende Sinneswahrnehmung zu Stande kommt. Die gleich-
giltigsten Wahrnehmungen gewinnen so eine Bedeutung für den Kranken und der
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 97
Beachtongswahn ist da. Es wird also die durch den krankhaften Affectzustand
bedingte Steigerung der Intensität der Sinneswahmehmung zur Grundlage des
Wahnes und es ist Sandberg dahin zu corrigiren, dass wie die Kleinheitsidee der
Depression, die Grössenidee der Euphorie, so die Beachtungsidee der gespannten
Erwartung entspricht.
16. S. Freudf Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuro-
psychosen. 3. Analyse eines Falles von chronischer Paranoia.
Neurologisches Centralblatt 1896, S. 442.
Durch die Psycho- Analyse eines Falles von chronischer Paranoia gelangt Verf.
zum Residtate, dass dieser und somit voraussichtlich auch noch andere ähnliche
Fälle mit der Hysterie und den Zwangsvorstellungen zu der von ihm und Breuer
au%estellten Gruppe der Abwehr-Psychosen gehören, welche durch die Verdrängung
peinlicher Erinnerungen entstehen.
Ein misstrauisches Vorstadium mit unbestimmtem Beachtungswahn, dann die
plötzliche Idee, beim Auskleiden beachtet zu werden und damit zusammenhängende
Vorsichtsmaassregeln, abnorme Sensationen in den Genitalien, Hallucinationen weib-
licher Nacktheiten und endlich Gehörshallucinationen bilden die wichtigsten Züge
des mitgetheilten Krankheitsbildes.
Als Ausgangspunkt der ganzen Krankheit eruirte Verf. die Thatsache, dass
die Pat. im Alter von 6 Jahren, ohne sich zu schämen, sich öfters ihren Ge-
schwistern nackt gezeigt hatte. Daher rührte ein krankhaft gesteigertes Scham-
gefühl, nackt gesehen zu werden und im Anschluss an den Anblick badender
Frauen kam es zu den erwähnten Gesichtshallucinationen. „Es war ein unver-
ändertes Stück der alten Vorwurfserinnerung und sie holte jetzt an Schämen nach,
was sie als Kind versäumt hatte." Der Anfang der Verstimmung ergab sich als
zusammenfallend mit einer Unterredung, worin ein auf ihre Brüder bezüglicher
Satz vorkam, der geeignet war, an die früheren Vorkommnisse zu erinnern. Dieser
Satz wurde nun aber aus der Erinnerung verdrängt, die restirende Empfindung
eines erlittenen Vorwurfs an einen folgenden bedeutungslosen Satz geknüpft und
da der Inhalt keinen Anhaltspunkt bot, auf dessen Ton bezogen. Die Stimmen
waren im Anschluss an die Leetüre eines harmlosen Buchabschnittes, dessen theil-
weise Reproduction sie bildeten, aufgetreten. Die nähere Analyse ergab, dass
gleichzeitig durch andere Stellen des Buches in der Patientin Gedanken sexuellen
Inhalts angeregt wurden, welche Vorwürfe über ein dem Kindertramna analoges
Erlebniss bedeuteten; dass dagegen ein verdrängender Widerstand sich erhob und
deshalb die harmlosen Stellen eine Verstärkimg im Bewusstsein erfuhren, welche
ihr Lautwerden als Stimmen bewirkte. Die Stimmen waren also ein allerdings
sehr entstelltes Symptom einer Wiederkehr des Verdrängten.
Das Besondere, die Genese der Paranoia von derjenigen der Hysterie und der
Zwangsvorstellungen Unterscheidende, sieht Verf. darin, dass der Vorwurf nicht als
berechtigt angesehen wird und gleichsam eine Protection in Form des Misstrauens
gegen Andere stattfindet, während bei den beiden anderen Psychosen der als be-
rechtigt anerkannte Vorwurf durch das primäre Abwehrsymptom des Selbstmiss-
tranens verdrängt wird.
Den sog. Symptomen der secundären Abwehr, welche bei Paranoia als solche
fehlen, würde dann die Ichveränderung entsprechen, wodurch der Paranoiker seine
Persönlichkeit den aufgetauchten Wahnideen anpasst.
Zeitschrift fttr Hypnotismus etc. VIII. 7
98 Max Naefl
17. L. Roncoronif Physiologische Genese der Paranoia. Allgem.
Zeitschrift für Psychiatrie, Band LIV, S. 336.
Verf. zieht in den Kreis seiner Betrachtangen nur die echte degeneraüye
Paranoia, welche als Rudiment in Form von fixen Ideen und Phobien oder in
completer Form auftreten kann. Ursächlich kommen in Betracht angeborene pra-
disponirende, erworbene prädisponirende und veranlassende Momente. Sie wirken
indirect durch Störung des Chemismus oder direct durch Aenderong der Vor-
stellungen und Associationen. Häufig sind die Ursachen paraphysiologischer Art,
d. h. sie können dem Gesunden zwar nichts anhaben, rufen aber beim Disintegrirten
Störungen hervor. Disintegnrt wird der zu Geisteskrankheit Pradisponirte genannt,
so lange die geistige Erkrankung noch nicht ausgebrochen ist. Die Paranoia kann
aufgefasst werden als ein besonderer andauernder Zustand der psychischen Func-
tionen erblichen Ursprungs, in welchem manche Vorstellungen eine aussergewöhn-
liehe Lebhaftigkeit und Persistenz annehmen. Diese bilden dann den Kern der
Wahnideen. Die hereditäre psychische Prädisposition beruht auf einer Alteration
der höheren Centren und äussert sich in schrankenlosem Selbstvertranen, Egoismus,
abwecliselnder Energielosigkeit und Hyperthätigkeit etc. Als Gelegenheitsurtache
kommt besonders häufig der Alcohol in Betracht.
Schon beim normalen Menschen kann eine sehr affective Vorstellung die
Oberhand über die anderen gewinnen, aber stets nur vorübergehend und nicht
unwiderstehlich; beim Disintegrirten dagegen bekommen manche Vorstellungs-
gruppen eine ausserordentliche Gewalt und Nachhaltigkeit, während andere umge-
kehrt ihre Kraft völlig verlieren. Zuerst erleiden die höchst entwickelten Centren
eine Störung ; dies führt zu einer Verringerung ihrer normalen Hemmungsthätigkeit
und dadurch wird das Ueberwiegen einzelner Vorstellungen begünstigt. Diese
Kemvorstellungen verhindern die Bildung von weiteren Attractionscentren von
Vorstellungen; diejenigen, welche einer Systematisirung entgegenwirken könnten,
bleiben unbenutzt und der abnorme Ideenkern consolidirt sich.
Neben den Wahnvorstellungen finden sich auch die Kerne normaler, ja sogar
genialer Ideengänge, welch letztere in ihrer Entstehung durch die Alteration der
höheren Centren sogar begünstigt werden. Die Schwäche und Geringwerthigkeit
vieler Vorstellungen führt zu Phrenasthenie, d. h. unheilbarer Unwissenheit und
diese begünstigt wie schon beim Gesunden, so erst recht beim Disintegrirten die
Entstehung von Wahnideen. Der Erscheinungscomplex der Disintegrirung beruht
also auf der Vereinigung abnormer Stärke und Nachhaltigkeit der einen und
Schwäche und Geringwerthigkeit der anderen Vorstellungen. Daraus geht hervor,
dass nicht nur die Associationsbahnen, sondern auch die Projectionscentren von
der Störung betroffen sein müssen. Die Entwickelung der Wahnideen beim Prä-
disponii-ten wird begünstigt durch mannigfache körperliche Sensationen und Vor*
gänge in der Aussen weit, vor Allem aber durch Hallucinationen und Illusionen;
diese sind ein häufiges Begleitsymptom, aber für die Genese der Wahnideen nicht
nothwendig. Sie verdanken ihre Entstehung vielleicht einer besonders intensiven
Keproduction von Vorstellungen.
Die Paranoia ist schwer heilbar, weil sie eine Krankheit der intellectueUen
Vorstellungen ist, welche tiefer im Gehirne wurzeln als die Gefühle und weil sie
besonders bei Prädisponirten auftritt. Zu einer vollständigen Demenz kommt es
bei der typischen Paranoia selten. Die Annahme, dass die Kritik eine Schädigung
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 99
erleide, wird zurückgewiesen; es sei denn, man verstehe unter der Kritikfähigkeit
etwas ganz Anderes, als es im Allgemeinen geschieht. Was als Kritiklosigkeit er-
scheint, ist in Wirklichkeit Unwissenheit und Missverständniss.
Nachdem Verf. die yerschiedenen Symptome einer kurzen Besprechung unter-
zogen hat, zieht er eine Parallele zwischen der Paranoia und Epilepsie. Beide
Krankheiten betreffen zuerst die höheren Centren, wodurch diese die Herrschaft
über die anderen verlieren, die sich nun einzeln unabhängig machen. Dieser
Process vollzieht sich bei der Epilepsie anfallsweise, bei der Paranoia mehr conti-
nuirlich. Diejenigen Vorstellungen, die zu dem Kern der Wahnideen keine Be-
ziehungen haben, gehen allmählich zu Grunde; das Gleiche geschieht aber auch im
Laufe der Zeit mit den übermässig stark betonten Vorstellungen. Auf diese Weise
kommt der Schwachsinn zu Stande. Derselbe Mechanismus, wie ihn Verf. für die
Genese der Paranoia annimmt, liegt wahrscheinlich allen Geisteskrankheiten zu Grunde.
Schon die zahlreichen Uebergänge und Combinationen der verschiedenen Formen
machen eine einheitliche Auffassung nothwendig. Den Schluss der Arbeit bUdet
eine Uebersicht der Geisteskrankheiten nach der Eintheilung Morselli's und die
Glassißcirung der Paranoia nach diesem System.
18. M, Friedmann, lieber die Beziehungen der pathologischen
Wahnbi düng zu der Entwickelung der Erkenntnissprincipien,
insbesondere bei Naturvölkern. Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 52,
S. 393.
Zur Lösung der Paranoiafrage hält es Verf. für nothwendig, das Studium der
Völkerpsychologie herbeizuziehen und zwar insbesondere auf die primitiven Stufen
des Urtheilsverfahrens zurückzugreifen. Die auffallende Thatsache, dass inmitten
normaler Denkformen der paranoische Wahn concipirt und für wahr gehalten wird,
lässt sich nicht, wie es bisher vielfach geschehen, dui'ch die Annahme einer krank-
haften Veränderung eines die oberste Instanz bildenden logischen Urtheilsverfahrens
erklären ; denn dieses könnte als einheitliches Seelenvermögen nur in toto geschwächt
sein, nicht aber bald richtig functioniren, bald völlig versagen. Diese Annahme
ist aber durchaus nicht nothwendig, denn Verf. will zeigen, dass die subjective
Ueberzeugung gar nicht abhängig ist von der Ausführung des logischen Verfahrens ;
dies beweisen zur Genüge die Geisteskranken, die Träume, Politik, Religion, Vor-
artheil und Suggestion. Es hat vielmehr überhaupt jede kraftvolle Vorstellung die
Tendenz, für wahr genommen zu werden ; logisches Schlussverfahren und subjective
Ueberzeugung dürfen also durchaus nicht als unzertrennlich angesehen werden,
wie dies auf Grund philosophischer Theorien lange geschehen. Auch der Paranoiker
artheilt nach Analogie und Causalität, also nach Vernunftsgrundsätzen; nur die
Ausführung des logischen Verfahrens ist überstürzt, also pathologisch, nicht aber
dessen Grundlage.
Gestützt auf zahlreiche, einer umfangreichen Literatur entnommenen Beispiele
entwickelt nun Verf. zunächst die Entwickelung der logischen Denkgewohnheiten
bei den Naturvölkern. Auf der primitivsten Stufe herrscht der unbegrenzte Analogie-
schluss. Er lässt die Gestirne für Gegenstände der täglichen Umgebung ansehen,
führt zum Fetischismus und ist auch heute noch in Gestalt des Glaubens an die
bekannten verschiedenen Omina erkennbar. Der dabei herrschende Mangel jeder
Kritik lässt alles Ungewohnte als schrecklich erscheinen und bewirkt eine ungeheure
7*
100 ^^x Naef.
Leichtgläubigkeit. eder Sinn für das Gesetzmässige fehlt; daher die Unfreiheit
des Wilden, dem nichts unmöglich, aber auch nichts nothwendig vorkommt. Da
stets nur wenige Vorstellimgen verbunden werden, fehlt jede Voraussicht der Zu-
kunft. Um so grösser ist die Macht der Grewohnheit, die unbewusst Gesetze für
das practische Leben schafft und verbunden mit dem Uebersehen geringfügiger
Verschiedenheiten die ersten Abstractionen liefert. Auch die Naturerklärung der
Wilden beruht auf dem einfachsten Analogieschluss. Wo eine Ursache nicht offen
daliegt, wird eine Kraft und Absicht nach menschlicher Art vorausgesetzt. Auf
dem Boden eines solchen Geisteslebens vollzieht sich das Urtheilen nach gewohn-
heitsmässigen Ideenverknüpfungen; das post hoc, ergo propter hoc steht noch in
voller Geltung und das Unbekannte wird durch einfachen Identitätsschluss dem
Bekannten angegliedert. Eine andere Möglichkeit als die gewohnte nächstliegende
Analogie wird gar nicht erwogen und dennoch der Schluss für zuverlässig wahr
gehalten. Es sind demnach bei den Naturvölkern Identität, zeitliche Folge und
unkritische beliebige Verknüpfung die einzigen ausgesprochenen Verstandesprincipien.
Bei den Culturvölkern dagegen wird die Wahrheit ausserdem durch Reflexion
gesucht und es kommt zur Kritik und Opposition gegen die vulgäre Volksmeinung.
Lange Zeit suchte man so das Wirkliche am sichersten durch die Abstraction zu
erkennen. Bei den orientalischen Culturvölkern herrschte in Folge Mangels jedes
kritischen Gedankens neben dem primitiven Analogieschluss ein enormes Autoritäts-
bedürfniss; das inductive Denken lag noch völlig brach, weshalb zufällige Ent-
deckungen nicht verwerthet wurden. Wo selbstständiges Denken auftrat, suchte
es die Wahrheit durch Abstraction zu erreichen und eine solche konnte in ihrer
ganzen Anschauungslosigkeit zum Bekenntniss und zur Quelle der Ueberzeugung
einer ganzen Kaste werden (Brahmanen).
Auch bei den Hellenen gewannen die kühnsten Abstractionen überzeugende
Wahrheit, wie ihre verschiedenen philosophischen Systeme beweisen. Dass zwischen
Wirklichkeit in der Natur und Denkbarkeit im Geiste ein Unterschied sei, kam
ihnen nicht zum Bewusstsein. Eine empirische Begründung wurde nicht versucht^
sondern gerade das, was für die Form der geistigen Betrachtung eines Dinges
wesentlich und nützlich erschien, nun auch als das Wesentliche des Dinges erklärt
und hinein verlegt (Platonische Idee). Durch Widerlegung aller anderen möglichen
Erklärungen wurde die Wirklichkeit noch bekräftigt, die somit der besten Denk-
barkeit entsprach. Von dieser Zeit ab datirt die Lehre, dass eine kritische Methode
die Grundlage jeder subjectiven Ueberzeugung bilden müsse.
Den besten Beweis, wie Ideen ohne logische Begründung subjective Wahrheit
erlangen können, bildet das Christenthum, das in den ersten Jahrhunderten seines
Bestehens in seiner autoritativen Macht den heute aufgestellten Gegensatz von
Wissen und Glauben durchaus noch nicht kannte. Glauben war das erlösende
Verdienst und deshalb konnten auch auf wissenschaftlichem Gebiet ein Plato>
Aristoteles etc. ihre Alleinherrschaft uneingeschränkt behaupten; daher der Sieg
der Autorität selbst über die sinnliche Wahrnehmung, wie er sich in den Zeugnissen
der Hexenprocesse findet, und daher das Postulat, dass zu einem gebildeten Begriff
unbedingt auch ein Object vorhanden sein müsse.
Erst die Masse der empirisch gefundenen Thatsachen brachten das deductive
Denken in Misscredit. Durch das Ziehen der richtigen Analogie und das Auffinden
der richtigen Beziehung zwischen Ursache und zeitlicher Folge fand man die Nator»
102 ^^^ ^&ef.
allgemeiner Kritiklosigkeit, des Schwachsinnes. Dem gegenüber stellt Verf., in
beiden Theorien einen richtigen Kern anerkennend, den Satz aof, daas die Wahn-
bildung anders als das normale Urtheil vor sich geht und eine soggerirte Idee
darstellt, die bei voller Klarheit des Subjectes auftauchen kann und zwar, weil dem-
selben eine Widerstandslosigkeit gegen mächtige Vorstellungen, insbesondere sinn-
liche Eindrücke zukommt. Diesen Zustand bezeichnet er als active Autosugg^sti-
bilität und erklärt ihn mit der excentrischen Anlage verwandt. Zum Beweise dieser
Auffassung werden am Besten frische, einfache Paranoiafälle herbeigezogen, bei
denen eine machtvolle äussere Wahrnehmung die das Krankheitsbild beherrschende
Wahnidee erzeugt hat.
Zunächst unterzieht nun Verf das normale Urtheil einer näheren Betrachtang
und hebt auch hier wieder hervor, wie auch falsch gebildete ürtheile ohne logische
Grundlage von dem Ich als wahr angenommen werden, ohne dass dabei eine
Hintergehung stattfindet oder der Intellect ein minderwerthiger wäre. Nach den
Lehren der modernen Psychologie wählt bei der Beurtheilung eines Objectes die
Apperceptionskraft unter den zahlreichen sich bietenden Associationen activ die
richtige aus; darauf wird beim normalen Denken dieses vorläufige Urtheil einer
Reflexion unterworfen, welche es durch das Bewusstwerden des Urtheilsmotives
und den Ausschluss anderer Associationen bestätigt, oder andei*nfalls verwirft. Erst
mit dieser zweiten inductiven Etappe des Urtheils wäre die Ueberzeugung der
snbjectiven Wahrheit verbunden. Aus der Thatsache, dass mit Zunahme der
Kenntnisse und Vervollkommnung der Methoden die Zweifel trotzdem an Zahl nnd
Macht immer mehr zunehmen, dass femer ohne jeden Beweis für wahr gehaltene
ürtheile auch heute noch in grosser Zahl Geltung haben und dass auch Jedes
wissenschaftliche Urtheil einen axiomatischen Abschluss enthält, folgert Verf, dass
die Reflexion nicht die psychologische Grundlage der Ueberzeugung bildet, sondern
dass diese vielmehr schon in der ersten Etappe des Urtheils liegt. Die auf die
inductive Reflexion aufgebaute Ueberzeugung ist nur eine theoretische, auf die
Methode, nicht auf das Resultat basirte. Es handelt sich nun für den Verf. darum,
den psychologischen Impuls kennen zu lernen, der zum Festhalten einer bestimmten
Vorstellungsverbindung antreibt und so zu Glaubens- und Suggestivurtheilen führt.
Zu diesem Zwecke unterzieht Verf auf Grund einer umfangreichen ethno«
logischen Literatur die Formen und Mechanik des Urtheils bei den Naturvölkem
einer eingehenden Untersuchung. Man hat sich dabei einerseits vor einer Unter-
schätzung ihrer Verstandeskräfte, andererseits aber auch besonders davor zu hüten,
zu viel von unserer Denkungsart in ihren Geist zu verlegen. Wenn der Wilde den
Schatten und die Seele für das Gleiche hält u. dgl., so geschieht dies nicht auf
Grund eines deductiven Denkprocesses nach Erkenntniss der analogen Punkte,
sondern schon das blosse gleichzeitige daran Denken genügt zur Herstellung einer
engen Association, einer Identitätsgleichung. Das begriffliche Denken ist noch
wenig ausgebildet. Je tiefer die Culturstufe, desto weniger abstracte Begriffe
werden gebildet und es vollzieht sich das Denken thatsächlich nach körperlich-
sinnlichen Associationen. Schon bei höheren Thieren trifft man vielfach Wahl-
handlungen, die den Anschein der Reflexion erwecken; dieselben beruhen auf der
Gewalt früher erworbener Vorstellungsassociationen ohne richtiges Bewusstsein des
Motivs und ohne Zerlegung des Erinnerungscoroplexes in dessen Vorstellungs-
elemente. Demgegenüber äussert sich der Fortschritt des Denkens beim Menschen
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 103
in der Leichtigkeit der Association nach Analogien und in der Entwickelung der
Phantasie, d. h. des zusammenhängenden Denkens in der Erinnerung. Ein wichtiges
Zeugniss des primitiven Keflectirens sind die verschiedenen Mythologien, auf deren
Studium Verf. noch grosse Erwartungen setzt. Dieselben stellen durchaus nicht
etwa ernst gemeinte Erklärungsversuche vor, sondern sind ein Spiel der Phantasie
zur Ausmalung des zeitlichen Anfanges. Wenn einzelne derselben trotzdem autori-
tative Macht gewannen, so rtihrt dies einzig von der Absicht und dem Ziel der
Denkarbeit bei ihrer Entstehung her und so folgert denn der Verf. : „Die Wahrheit
des Resultates liegt in dem Bewusstsein, ein practisches Ziel dabei zu verfolgen
und in der Abwesenheit klar vorgestellter Widersprüche." Ein sehr wichtiger
Fortschritt liegt in der Verknüpfung der Analogie mit der zeitlichen Folge, welche
den Naturvölkern das Säen, die Erfindung von Werkzeugen etc. brachte. Daraus
resultirt die mächtigste aller Denkgewohnheiten, „mit Aehnlichem die gleiche
Wirkung zu verbinden, welche an der Ausgangsvorstellung das Lidividuum frappirt
und beschäftigt hatte". Drängt sich diese Erwartung recht lebhaft auf, so wird
sie alsbald zum Urtheil. Auch rein theoretische Schlüsse sind auf das Handeln
der Naturvölker von mächtigem Einfluss und es entstehen daraus die absurdesten
und abentheuerlichsten Gebräuche und Sitten, wofür Verf. eine Keihe von Bei-
spielen anfuhrt. Stets werden dabei zahlreiche Analogien und Beziehungen einfach
als Identitäten behandelt und immer kommt die exquisit sinnliche Denkweise zum
Vorschein. Als Ergebniss der zahlreichen für die Denk- und Anschauungsweise
der Naturvölker beigebrachten Beispiele hebt Verf. hervor, dass die auf Grund
einer Identitätsgleichung nach irgend einer Beziehung gebildeten Associationen
durch das Hinzutreten der gespannten Erwartung subjective Wahrheit erlangen.
Nach Widersprüchen wird dabei nicht gesucht; wo sich aber solche geradezu auf-
drängen, für gewöhnlich die Association fallen gelassen.
Ist jedoch ein äusserer Eindruck besonders lebhaft und mit grossem Affect
verbunden, so folgt daraus eine besondere Heaction. Der Eindruck wird in
directe Beziehung zum Subject gesetzt ; es kommt zur Eigenbeziehung. Vor Allem
sind es Pein, Missgescbick und Tod, die eine solche Heaction nach sich ziehen.
Von solchen Suggestiveffecten aus entsteht der religiöse Cultus als eine Reaction
des Menschen gegen mächtige Eindrücke (Tod, Himmelserscheinungen etc.),
nicht aber aus einem theoretischen Erklärungsbedürfhiss ; auf gleiche Weise sind
eine Reihe merkwürdiger, oft furchtbarer Sitten der Naturvölker (Tabu- Verbote,
Blutrache, Panphobien etc.) zu erklären. Eindrücke, die stabil ohne zu schaden
wiederkehren, werden dem Menschen vertraut. Er verlegt dann entweder direct
eine menschliche Persönlichkeit in die betr. Objecte oder aber diese sind nur der
Menschen wegen da und Alles, was mit ihnen geschieht, hat Bezug auf das mensch-
liche Leben. Auf demselben Grundsatze beruht die teleologische Weltanschauung
and die theistische Religion überhaupt, welche die consequenteste Eigenbeziehung
des Menschen im optimistischen Sinne vorstellt. Dagegen werden ungewohnte, auf-
£allende Einzel Wahrnehmungen durchwegs pessimistisch aufgefasst und ihnen eine
feindliche Eigenbeziehung zugeschrieben. Durch viele Beispiele lässt sich beweisen,
mit wie grosser Ueberzeugung stets ungewöhnliche Wahrnehmungen und Unglücks-
fälle associirt werden. Fast immer werden dabei noch Menschen als Mittelpersonen
angenommen, denen gegenüber es zu ausgesprochenem Verfolgungswahne kommt
(entaprechend dem Hezenglauben des Mittelalters). Diese Wirkungen werden als
104 Max Naef.
unerklärlicher Zauber betrachtet, nicht etwa durch Reflexion gefunden. Dem zur
Abwehr dienenden Gegenzauber wird in Gestalt der verschiedensten hypnotisirenden
und fascinirenden Orgien ein hoher Suggestiveffect yerliehen.
Um diese in der gesammten Geschichte der Menschheit erkennbare Tendenz
zur Eigenbeziehung starker äusserer Eindrücke erklären zu können, sieht Verf. in
dem gesammten Nervensystem ein Reactions- und Beziehungsorg^n, in welchem
starke Eindrücke direct den Impuls der Abwehr oder des Zugreifen« erwecken.
Der paranoische Wahn verdankt nun seine Entstehung ebenfalls einer Sug^
gestivassociation , welch letztere genauer definirt wird als „die impulsive direete
Verknüpfung einer zweiten Vorstellung — oft der eigenen Person — mit einer
eindrucksvollen Primärvorstellung oder Wahrnehmung zu einem maassgebenden
Urtheil". Sie ist also ein durch den ihm innewohnenden Impuls zum Festhalten
der Association ausgezeichnetes Primärurtheil im Gegensatz zu dem logischen
Urtheil. Das Primärurtheil, obwohl es die Grundlage unserer zahlreichsten und
wichtigsten Ideen bildet, A\Tirde bisher immer verkannt und als ein Defecturtheil
angesehen, wobei aus irgend einem Grunde auf die Ausübung der Intelligenz ver-
zichtet werde. So wurde auch die Suggestivwirkung als auf einem temporären
Intelligenzdefect beruhend aufgefasst, somit als ein passives Phänomen. In Wirk-
lichkeit ist aber bei jedem Suggestivurtheil auch ein activer Factor, die gesteigerte
Vorstellungsthätigkeit mit im Spiele. Auf den historischen Abschnitt mit dessen
Beispielen zurückkommend, hebt Verf. hervor, dass bei den Naturvölkern allgemein
nicht eine defecte Reflexion, sondern gar keine solche angestellt wird und dass die
frappirenden und die erwarteten Associationen direct als wahr gelten. Der Asso-
ciation selber wohnt der Impuls inne, die sich aufdrängende Vorstellungsverknüpfung
festzuhalten. Bei einer bestimmten Gruppe von Associationen wird die lieber-
Zeugung geradezu eine active, überwältigend mächtige und zwar gewöhnlich in der
Richtung einer Eigenbeziehung; dies eben sind die Suggestivassociationen.
Verf. untersucht nun, warum und wie der Mensch dazu gekommen, dem
Primärurtheil zu misstrauen, dasselbe, theoretisch wenigstens, erst nach kritischer
Prüfung für überzeugend zu halten und so den Unterschied von Wissen und Glauben
aufzustellen. Auf Grund des historischen Abschnittes zeigt er, dass erst die Ab-
sicht, dabei etwas Wahres zu erdenken, der Reflexion ihre Geltung verleiht, dass
die eine, einst für treff'lich gehaltene Methode später verachtet wird und einer
anderen Platz macht, während die Primärurtheile unter allen Umständen Geltung
haben, dass also die Reflexion an sich überhaupt nicht überzeugt. Nur in der
Theorie hat sich der Wahrheitsbegriff verschoben und ruht nun auf der empirisch
erschlossenen sinnlichen Wirklichkeit; die Grundlage der subjectiven Ueberzeugung
dagegen ist die alte geblieben.
Die bei gesteigerter Vorstellungsthätigkeit entstehenden Suggestivurtheile
rufen nicht nur momentane, sondern auch Dauerwirkungen im Bereich der Norm
wie des Pathologischen hervor. Die Geschichte ist reich an Beispielen, wie durch
einen mächtigen Eindruck das Leben eines Menschen in ganz andere Bahnen ge-
lenkt wurde. Ganz besonders mächtig ist die Suggestividee der persönlichen Eigen-
beziehung geblieben und die Beeinflussungen, welche der Paranoiker heut zu Tage
in seiner exaltirten Vorstellungsthätigkeit durch alle möglichen physikalischen
Apparate erfährt, bedeuten genau dasselbe wie die Zauber-Einflüsse, an die die
Naturvölker glaubten. Da aber die Naturerscheinungen allgemein als gesetzmässig
Zur neueren Literatur über die Psychopathologie der Paranoia. 106
verlaufend bekannt sind, so ist es fast nur noch der Mensch, der das Object krank-
haft gesteigerter Eigenbeziehung wird, in Form des Beachtungs- und Verfolgungs-
wahnes. An einer Reihe von Beispielen zeigt Verf., dass Suggestivassociationen
vom Character des Verfolgungswahnes recht häufig auf Grund einer quälenden
Grundstimmung bei nervöser Erregung oder depressiver Verstimmung auftreten,
ohne dass es dabei zum Ausbruch einer eigentlichen Psychose kommt, denn zum
Unterschied vom paranoischen Wahn tritt rasche Besserung ein oder es bleibt doch
die Wahnidee stets isolirt. In einer zweiten Keihe von Beobachtungen prägt sich
der gewaltige suggestive Einfluss bestimmter äusserer Eindrücke, welche durch die
Erregung starker Vorstellungen direct überzeugend wirken, besonders deutlich aus
und Verf. erachtet hierbei die Suggestion nicht in minderem Grade als wirksam
als bei der Entstehung hysterischer Zustände und fixer Ideen.
Zur Paranoia selber sich wendend, handelt es sich für den Verf. ebenfalls
wesentlich um den Nachweis, dass auch die paranoische Wahnidee eine Suggestiv-
association ist und es wird derselbe an drei mitgetheilten Fällen geführt. Das
beim einen derselben beobachtete als Oscilliren der Wahnidee bezeichnete Symptom,
d. h. ein Wechsel in dem Einfiuss der Wahnidee je nach der täglichen Stimmung,
spricht schon allein dagegen, dass das kritische Vermögen bei der Entstehung der
Paranoia im Spiele sei, da dasselbe unmöglich solchen Schwankungen unterworfen
sein könnte. Ebensowenig ist die Heilung ein Werk des Intellectes; die Wahn-
ideen hören einfach auf, Geltung zu haben; ihre Unrichtigkeit wird selten zuge-
standen. In aUen drei Fällen bildet ein äusseres Ereigniss den Ausgangspunkt
derjenigen Wahnidee, die fortan das ganze Erankheitsbild beherrscht. Jedes Mal
liegt eine naheliegende Association vor. Ein Versuch zur Motivinmg wird über-
haupt nicht gemacht. Es entspricht also der Vorgang der früheren Definition des
Snggestivurtheiles. Als besonders wichtige Resultate der Untersuchung werden
noch hervorgehoben: Die auffällige Gleichartigkeit der Wahnbildung immer im
Sinne des Beachtungs- und Verfolgungswahnes hat ihi*e Erklärung darin gefunden,
dass diese Art der Association von jeher schon bei den Naturvölkern die Reaction
auf starke, peinliche Eindrücke war. Femer ist damit das Verständniss für die
Genese des Suggestivurtheils eröffiiet worden und es hat der active Factor der ge-
steigerten Vorstellungsthätigkeit im Gegensatz zu dem bisher stets betonten passiven
Factor der verminderten Intelligenz die gebührende Würdigung gefunden.
Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib und Seele.
Zusammengestellt von
Dr. Paul Plettenberg.
Das Studium der hypnotischen Erscheinungen, dessen VertieAing diese Zeit-
schrift ihren Ursprung verdanktf ohne dieselbe als ihr einziges Ziel zu verfolgen,
führt uns immer wieder auf das Problem der Beziehungen des Psychischen zum
Körperlichen zurück. Es ist mehr als manches andere psychologische Problem dazu
angethan, unser besonderes Interesse zu erwecken, weil wir in einer früher nicht
bekannten Weise beständig körperliche Keactionen als Folge von Vorstellungen
beobachten. Mit Rücksicht darauf wird es gerade im Interesse dieser Zeitschrift
liegen, die literarischen Neuerscheinungen, die sich mit diesem psychologischen
Grundproblem beschäftigen, zur Kenntniss zu bringen.
Dabei bedient sich Ref. folgender Bezeichnungen. Unter Materialismus
ist diejenige philosophische Auffassung der Wirklichkeit verstanden, welche Körper
oder Bewegungen als die Urformen des Wirklichen ansieht und auch alle Bewusst-
Seinsvorgänge aus ihnen erklärt; der Spiritualismus (oder Idealismus) da-
gegen führt alle materiellen oder körperlichen Vorgänge auf ein geistiges Sein oder
Geschehen als das eigentlich Wirkliche zurück. Der Dualismus nimmt an, dass
das Geistige und das Körperliche zwei voneinander verschiedene und selbstständige
Substanzen vorstellen, während der Monismus Geist und Körper beide nur als
zwei verschiedene Seiten eines Wesens betrachtet, welches durch diese zugleich
völlig bestimmt ist; nach ihm ist die Seele die innere Einheit dessen, was wir von
aussen als den zu ihr gehörigen Leib anschauen. Man bezeichnet daher den
Monismus auch als Zweiseitentheorie. Der Monismus lässt sich nach
zwei Seiten hin weiter entwickeln; wir unterscheiden den idealistischen Mo-
nismus, der auf den Standpunkt der Erkenntnisstheorie sich stellend die Aussen-
welt wesentlich als Bewusstseinserscheinung betrachtet, und den materialistischen
oder agnostischen Monismus, der das Körperliche und das Geistige als die
beiden Erscheinungsformen des unerkennbaren Dinges an sich auffasst.
Unter psychophysischem Parallelismus versteht man die Ansicht,
dass einem jeden psychischen Vorgange ein bestimmter physischer parallel geht,
oder dass zwischen psychischen und physischen Vorgängen ein Band vorhanden sei
Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib und Seele. 107
derart, wie es in einer mathematischen Function zweier Variabein gegeben ist.
Diese Annahme ist aber nur als ^^heuristisches oder regulatives Principe
anzusehen, worunter nach Kant zu verstehen ist eine Annahme, die zur Kegelung
der wissenschaftlichen Forschung bestimmt ist, ohne eine selbstständige Bedeutung
zu beanspruchen, also ein durch Zweckbetrachtung an die Spitze gestelltes Princip. *)
Als solches Hesse sich der Parallelismus mit jeder der obigen vier Richtungen ver-
einigen, da er über die metaphysische Grundlage des zeitig gleichen Auftretens
beider Erscheinungsweisen nichts aussagt. Der Materialist und der Spiri-
tualist, beide können eine Parallelität zwischen geistigen und körperlichen Pro-
cessen annehmen; hinterher führt der erstere die Bewusstseinsvorgänge auf physi-
kalische zurück, während der letztere die Körperwelt als blosse Erscheinung erklärt.
Endlich bedienen sich der Monist und der Dualist dieses Princips; der letztere
nimmt abet im Rahmen der allgemeinen Vorstellung einer Parallelität noch im
Besonderen eine Wechselwirkung zwischen Geist und Materie an.
Man unterscheidet endlich empirischen und metaphysischen Paral-
lelismus. Der empirische drückt einfach aus, dass in derselben Zeit, wo wir
das Vorhandensein gewisser Himprocesse anzunehmen berechtigt sind, gleichzeitig
Bewusstseinsvorgänge stattfinden. Der metaphysische Parallelismus geht
über die Erfahrung des Selbstbewusstseins hinaus und nimmt, indem er zu einer
Allbeseelung führt, überall da, wo materielle Vorgänge stattfinden, auch das Vor-
handensein psychischer Vorgänge an. Beide Richtungen sind in dieser Zeitschrift
schon eingehend dargestellt worden, die erstere von Vogt; „Zur Kenntniss des
Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotismus" '), die letztere von
Forel: „Gehirn und Seele".«)
Die folgende Zusammenstellung ist von dem erkenntnisstheoretischen Stand-
punkte aus abgefasst, dass zwischen psychischen und physischen Erscheinungen ein
grundsätzlicher Gegensatz besteht. Eine der neueren Arbeiten Külpe's: „Ueber
die Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen"*) wird als in
dieser Zeitschrift erschienen im Folgenden nicht referirt werden.
Carl Stumpft Eröffnungsrede beim dritten internationalen Con-
gress für Psychologie 1897. (J. F. Lehmann, München 1897). 16 Seiten.
Verf. giebt in seiner Eröflfnungsrede des Congresses eine Uebersicht über die
Entwickelung der Ideen über das Verhältniss zwischen dem Psychischen und Phy-
sischen in den letzten Decennien.
Fe ebner, der Begründer der Psychophysik, ist bestrebt gewesen einer mo-
nistischen Auffassung das Wort zu reden, wonach geistige und körperliche Vorgänge
zwei Seiten eines und desselben Vorgangs, Leib imd Seele nur die äussere und
innere Erscheinungsweise eines und desselben Wesens sind. So poetisch und ver-
lockend diese Zweiseitentheorie auch ist, so bleibt sie doch dunkel, und es gelingt
ihr nicht, die heterogene Natur des Physischen und des Psychischen anders als
durch Gleichnisse zu erläutern, die doch wieder auf dualistischer Auffassung be-
ruhen. Man hat daher heute in der Psychologie nur darin Fechner^s Lehre
^) Külpe, Einleitung in die Philosophie, pag. 24.
•J Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. III, pag. 277.
•j Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. III, pag. 1.
*) Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. VII, pag. 97.
108 Paul Plettenberg.
festgehalten, dass die Vorgänge auf beiden Gebieten durchweg parallel gehen, ohne
jemals aufeinander zu wirken oder zu gemeinsamer Wirkung sieh zu verbinden.
£ine \^''ech8elwirkung zwischen beiden ist also ausgeschlossen und zwar : 1. weil die
beiden Processe heterogener Natur sind, 2. weil die automatischen Bewegungen
zeigen, dass der Organismus aus rein physischen Kräften dieselben Leistungen toU-
bringt, wie sie den Seelenthätigkeiten zugeschrieben werden, und 3. weil nach dem
Princip der Erhaltung der Energie Bewegung immer nur Bewegung erzeugen und
von Bewegung erzeugt werden kann. Nach dieser Ansicht laufen also beide Welten
selbstständig nebeneinander, jede als wenn die andere nicht existirte.
Der Verfasser trennt zwei Formen der Parallelitätslehre voneinander. Die
eine nimmt nur in der Reihe der physischen Processe die Causalität an; die
Glieder der psychischen Reihe wirken ebensowenig aufeinander wie Schatten- und
Spiegelbilder. Causalität wird also gerade demjenigen Gebiete abgesprochen, aus
dessen Erscheinung allein wir den Begriff der Causalität schöpfen, dagegen wird
sie dem Gebiete ausschliesslich zugeschrieben, in welchem sie niemals wahrgenommen,
sondern nur angenommen werden kann. Die andere Form nimmt auch für das
Psychische einen ununterbrochenen Causalzusammenhang an und schreibt zu dem
Zwecke dem ganzen Weltall Seelenleben zu, wodurch das Räthsel des Zusammen-
hangs von Physischem mit Psychischem nicht verringert wird. Nach der Ansicht
des Referenten stehen aber diese beiden Formen der Parallelitätslehre durchaus
nicht schroff gegenüber; man kann als Empiriker in der Psychologie bei der That-
sache stehen bleiben, dass die psychische Reihe keine causale ist, und doch als
Philosoph in der Metaphysik diese Reihe zu einer zusammenhängenden ergänzen.
Die Psychologie als Einzelwissenschaft darf aber nicht mit metaphysischen Be-
trachtungen belastet werden.
Die Consequenz der Naturforschung, insbesondere die Entwickelungslehre,
treibt den Verfasser zur Annahme einer Wechselwirkung zwischen beiden Reihen.
Die Welt in allen ihren Theilen ist als ein causal zusammenhängendes Ganzes auf-
zufassen, worin jedes Wirkliche seine Arbeit leistet und keines von der allgemeinen
Wechselwirkung »ausgeschlossen ist; weshalb sollte also die gesammte Welt des
Psychischen von der Wirklichkeit in diesem Sinne, von der Wechselwirkung, aus-
geschlossen sein? Verf. wendet sich nun gegen die oben angeführten drei Punkte.
1. Die Gleichartigkeit der Erscheinungen ist seit Hume nicht mehr Vorbeding^g
für die Giltigkeit der Causalität ; die Erfahrung allein kann lehren, was als Ursache
und Wirkung zu einander gehört. 2. Neben den automatischen Bewegungen
existiren auch solche mit Bewusstsein. Die centralen Vorgänge müssen irgend eine
Verschiedenheit besitzen, die dem Mangel und dem Vorhandensein des Bewusstseins
in beiden Fällen entspricht. 3Ian kann nun in dem einen Falle das Bewusstsein
selbst als zu den Bedingimgen gehörig annehmen, unter denen die betreffende, uns
bewusste Bewegung entsteht. Dann aber können die automatischen Bewegungen
nicht mehr gegen die Annahme einer Wechselwirkung entscheiden. 3. Auch das
Gesetz von der Erhaltung der Energie, welches gar nicht verlangt, dass Energie
stets in Form von Bewegung erhalten bleibt, lässt sich mit der Annahme einer
Wechselwirkung in Einklang bringen, sobald man das Psychische als eine Anhäufung
von Energien eigener Art ansieht, die ihr genaues mechanisches Aequivalent haben.
Gewisse psychische Functionen wären dann mit einem fortwährenden Verbrauch,
andere mit einer ebenso fortwährenden Erzeugung physischer Energie verknüpft,
Neaere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib und Seele. 109
und diese Transformation geschähe nach dem Princip der Erhaltung der Energie.
Wir erhielten auf diese Weise „eine psychophysische Mechanik, die die geistigen
Vorgänge in den allgemeinen gesetzlichen Causalzusammenhang einfügte und da-
durch erst zu einer wahren monistischen Anschauung hinführte. Gerade die All-
gemeingiltigkeit des Causalzusammenhangs und die Einheitlichkeit der letzten und
höchsten Gesetze muss von einem einheitlichen Weltganzen verlangt werden".
Gegen diese Ansichten des Verfassers wäre Folgendes anzuführen. Zur An-
wendung des Begriffs der Causalität fehlt uns vorläufig der experimentelle Beweis
für die zeitliche Aufeinanderfolge der physischen und psychischen Processe und
umgekehrt. Referent schliesst sich ganz den Worten Külpe's^) an: „Wir wissen
weder, dass die Empfindung, welche durch einen Lichtreiz veranlasst wird, dem
centralen Nervenprocess, den man als ihre unmittelbare Bedingung anzusehen hat,
nachfolgt, noch dass der Entschluss zu einer bestimmten Handlung der central-
motorischen Innervation, welche die Muskeln in Thätigkeit setzt, vorausgeht. Ja,
es unterliegt begründetem Zweifel, ob wir jemals über das zeitliche Verhältniss
dieser beiden Vorgänge zu einander aus der Beobachtung irgend etwas auszusagen
im Stande sein werden. So bedeutet denn die Annahme einer psychophysischen
Wechselwirkung von diesem Gesichtspunkt aus eine Transcendenz über das uns zu
Gebote stehende Wissen hinaus. Sie erscheint somit als metaphysische, speculative
Specialisinmg eines Zusammenhangs, über den sich nach wissenschaftlichen Gründen
nur in vorsichtiger, allgemeinerer, diese besondere Deutung neben anderen zulassen-
der Form urtheilen lässt."
Was die Uebertragung des Energiebegriffs in das psychische Gebiet angeht,
80 ist auch diese nur eine metaphysische Speculation; ob man das Recht hat, den
Begriff der Energie auf solche Weise zu erweitern, ist überhaupt noch nicht Gegen-
stand einer Untersuchung gewesen. So sehr uns auch die Aussicht auf eine psycho-
physische Mechanik verlocken könnte, ziehen wir doch den sicheren Weg der Er-
fahrung vor.
Noch einen zweiten Weg eröffnet Verfasser allen denen, welchen die Aner-
kennung einer psychischen Form der Energie schwer fällt. Die psychischen Processe
sollten anzusehen sein, wie es Külpe präcise formulirt, einerseits als Nebeneffecte
der physischen Processe, andererseits als Nebenbedingungen derselben, wobei in
dem einen Falle kein Verlust, in dem anderen kein Gewinn physischer Energie
stattfinde. Da bei einem solch unklaren Verhältniss kaum noch von Ursache und
Wirkung die Rede sein kann, fuhrt dieser Weg nach Ansicht des Referenten noth-
wendig zum Parellelitätsprincip zurück.
So lange also nicht der Causalzusammenhang zwischen beiden Reihen, sowie
die Möglichkeit für die Annahme einer psychischen Energie empirisch nachgewiesen
wird, hat die Psychologie als Erfahrungswissenschaft festzuhalten an dem Princip
des psychophysischen Parallelismus in der Form, dass nur eine fimctionelle Be-
siehang zwischen den entsprechenden Gliedern der physischen und der psychischen
Reihe als bestehend angenommen wird.
F. Erhardtj Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele. Eine
Kritik der Theorie des psychophysischen Parallelismus. (Leipzig, O. R. Reisland.
1897.) 163 Seiten.
*) Külpe. Ueber die Beziehungen etc. Ztschr. f. Hypnot., Bd. VII, pag. 106.
110 Paul Plettenberg.
Die Absicht des Verfassers ist, zunächst die Möglichkeit einer dualistischen
Anschauung auf Grund einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele nachzu-
weisen; Verf. selbst vertritt schliesslich einen rein idealistischen Standpunkt, der
an Stelle der materiellen Welt eine unbegrenzte Vielheit immaterieller Kräile aetst.
Im ersten Kapitel giebt Verf. nach einer kurzen historischen Entwickelang
des modernen Parallelismus eine scharfe Umgrenzung der zwei Formen, in denen
dieser heutzutage auftritt. Dies ist einmal der universelle Parallelismus, in der
Einleitung vom Ref. metaphysischer genannt. Danach giebt es nirgends ein körper-
liches Sein, mit dem nicht auch seelisches Leben verbunden wäre und umgekehrt;
die körperliche und die geistige Welt stehen sich dabei überall wie Aeusseres und
Inneres einander gegenüber, ohne dass jemals zwischen ihnen eine causale Beziehung
stattfindet. Die Vorgänge in der Körperwelt müssen daher stets aus körperlichen,
die in der geistigen Welt aus geistigen Ursachen erklärt werden. Die zweite Form
bezeichnet Verfasser als psychophysischen Parallel ismus im engeren Sinne, in der
Einleitung vom Ref. empirischer genannt. In dieser zweiten Form tritt er dann
auf, wenn er nur auf das Verhältniss des uns erfahrungsmässig bekannten Seelen-
lebens zu dem Körper bezogen wird ; dabei bleibt also die Frage nach der Beseelt-
heit der Natur ganz aus dem Spiele. Diese Form muss sich daher bei der Er-
klärung der scheinbaren Einwirkung des Körpers auf die Seele mit der Behauptung
begnügen, dass gewissen physischen Processen gewisse seelische Vorgänge ent-
sprechen, ohne doch deshalb von ihnen causal her>'orgerufen zu sein. Hier ist swar
die physische Causalitätsreihe in sich geschlossen, das Geschehen in der geistigen
Welt ist aber weit davon entfernt; es sind vielmehr immer nur einzelne und noch
dazu sehr kleine Strecken, auf denen die geschlossene Folge von Veränderungen
in der Köi-perwelt von parallelen psychischen Vorgängen begleitet wird. Beide
Formen stimmen aber nach dem Verf. darin überein, dass sie in erster Linie eine
AVcchselwirkung zwischen Leib und Seele leugnen; sein ganzes Können setzt er
im Folgenden daran, der Möglichkeit einer solchen das Wort zu reden.
Im zweiten Kapitel versucht Verf. die Widerlegung der principiellen Ein-
würfe gegen die Wechselwirkung. Als solcher Einwurf gilt erstens die Verschieden-
heit von Leib und Seele, wie sie für den empirischen Standpunkt in Wirklichkeit
vorhanden ist; eine Wechselwirkung, behauptet man, sei nur zwischen gleichartigen
Dingen zu begreifen. An Hume, Schopenhauer, Lotze zeigt Verf., dass der
eigentliche Act des Wirkens in der Natur uns aber immer unerklärlich bleibt, dass
wir nie werden angeben können, wodurch das Wirken überhaupt zu Stande kommt.
Mithin kann uns auch die Ungleichartigkeit von Leib und Seele nicht mehr hindern,
die Möglichkeit einer Wecksei Wirkung anzunehmen. — So lange wir aber die
wesentliche Eigenschaft der Materie in der räumlichen Ausdehnung sehen, behält
dies Argument immer noch eine gewisse Scheinbarkeit. Sie schwindet jedoch ganz,
wenn wir dem Verf. folgen in der Entwickelung seiner metaphysischen Ansichten
über die Materie, sowie seines erkenntnisstheoretischen Idealismus. Die Körper
fasst er als Aggregate von immateriellen Kräften auf, und daher ist es ihm selbst-
verständlich, dass die Seele in einem solchen System immaterieller Kräfte, dem sie
selbst mit angehört, auch befähigt sein muss, Wirkungen zu empfangen und Wir-
kungen auszuüben. Für seinen erkenntnisstheoretischen Idealismus verschwindet
überhaupt die ganze materielle Welt und damit auch die absolute Ungleichartigkeit
zwischen Geist und Körper.
Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib und Seele. Hl
Der zweite Einwand beruht auf dem Gesetze der Causalität: „Jede Verände-
rung hat ihre Ursachen.'' Wenn man nun behauptet, dieses Gesetz verlange, dass
physische Erscheinungen nur physisch, psychische Erscheinungen nur psychisch er-
klärt werden, so wird etwas in das Gesetz hineingelegt, was auf keine Weise in
ihm liegt, und damit ist dieser Einwand nichtig geworden.
Drittens beruft man sich auf die Gesetze der Mechanik. Diese geben die
allgemeinsten Hegeln über die Bewegung der Körper. Da diese rein äusserliche
Veränderungen in der Welt des Raumes sind, so wird behauptet, dass bei An-
wendung der mechanischen Principien auch nur äussere Verhältnisse, äussere Ur-
sachen in Betracht kommen können, wodurch wieder die Wirkung der Seele auf
den Körper ausgeschlossen wäre. Verf. führt Folgendes dagegen an. Die Gesetze
der Mechanik geben nur gewisse allgemeine Regeln an, denen die Bewegungen in
der Natur gehorchen müssen. Welches aber die Beschaffenheit dieser bewegenden
Kräfte ist, bleibt ihr ganz gleichgiltig, mag es Druck, Stoss, Gravitation, electrische
Anziehung, chemische Affinität, teleologische Einwirkung oder endlich der bewusste
Wille sein. Wir sind also berechtigt, auch psychische Bewegungsursachen anzu-
nehmen. — Wenn es ferner oben hiess, es kämen nur äussere Ursachen in Betracht,
und wenn man darunter körperliche versteht, so ist auch dies nach der Ansicht
des Verfassers unberechtigt. Es besteht nicht die geringste Möglichkeit dem Be-
griffe einer äusseren Ursache ohne Weiteres den einer körperlichen Ursache unter-
zuschieben. Zwar unterscheiden wir häufig psychische und physische Processe als
innere und äussere, aber daraus folgt bei Weitem nicht, alle äusseren nun als
materielle Ursachen betrachten zu müssen. Um dies noch klarer zu machen, kommt
Verf. auf den Sitz der Seele zu sprechen, der doch irgend wo innerhalb des Körpers
sein muss; angenommen, die Seele wirke nun auf den Körper, so müssen diese
Wirkungen auf den Körper von bestimmten Punkten im Räume ausgehen, die
gegenüber den Punkten, auf die gewirkt wird, immer etwas Aeusseres sind. Da-
durch tritt also die Seele selbst zu allen Theilen des Körpers, auf die sie wirkt,
in ein äusseres Verhältniss , und damit fallen auch diese Einwände gegen die
Wechselwirkung.
Viertens lehnt man die Annahme einer Wechselwirkung ab auf Grund der
geschlossenen Naturcausalität : „Alle Vorgänge in der Natur müssen aus Natur-
ursachen erklärt werden" ist die nächstliegende Interpretation dieses Princips. und
indem man die Naturursachen gerade den geistigen, seelischen Kräften gegenüber-
setzt, würde demnach auch dieses Princip eine Wechselwirkung ausschliessen. Verf.
bemüht sich nun zu zeigen, wie willkürlich dieses Ausschliessen der psychischen
Kräfte aus der Reihe der Naturkräfte sei, dass sie vielmehr mit der Forderung
einer mechanischen Naturerklärung im weiteren Sinne vollständig vereinbar seien.
Das vielgebrauchte Argument der Forderung, alle Vorgänge in der äusseren Natur
stets aus materiellen körperlichen Ursachen zu erklären, löst sich für den Verf. in
ein völliges Nichts auf bei der Frage, welches diese Kräfte seien; denn alle Kräfte
seien ihrem Wesen nach unräumliche, dynamische Principien, die zwar an den
Körper gebunden, aber nicht selbst von körperlicher Beschaffenheit sind. Versteht
man die Materialität der Naturkräfte in diesem Sinne, dass sie ihre Wirksamkeit
▼on bestimmten Körpern aus entfalten, so verschwinden wieder alle Schwierigkeiten
für die Einwirkung der Seele auf den Körper, denn diese ist nur ein Specialfall
der allgemeinen Einwirkung der Naturkräfte auf die Körper.
112 Paul Plettenberg.
Der letzte Einwand stützt sich auf das Gesetz von der Erhaltung der Energie,
welches aussagt, dass die Summe aller Energfie constant ist, dass also nirgends ein
Quantum Energie verloren gehen, nirgends ein solches gewonnen werden kann.
Nun aber, sagen die Gegner der Wechselwirkung, wäre Umsetzung von Bewegung
oder Kraft in Denken, in reine Bewusstseinsvorgänge nicht« Anderes als Ver-
nichtung von Energie, dagegen Ursprung von Bewegung aus rein Geistigem nichts
Anderes als Entstehung aus nichts. Nach obigem Princip ist also eine Wechsel-
Wirkung ausgeschlossen. Aber ganz abgesehen von der Möglichkeit, die dorch-
gangrige Giltigkeit des Energieprincips auf organischem Gebiete in Zweifel zu ziehen,
enthält unser Princip absolut keine Aussage über die Formen der umgebildeten
lebendigen Kraft und ebenso wenig über die darauf anwendbaren Kräfte. Es ist
daher durchaus unberechtigt, dabei stets nur an anorganische, d. h. physikalisch-
chemische Kräfte zu denken, vielmehr ist auch der Anwendung orgranischer Kräfte
freier Spielraum gelassen. So lange ferner nicht nachgewiesen ist, dass der Aus-
tausch von Wirkungen zwischen Leib und Seele den quantitativen Bestimmungen
des Energieprincips widerspricht, so lange hat man auch noch das vollste Recht,
die hierher gehörigen Angriffe zurückzuweisen. Da ein solcher Nachweis bisher
nirgends erbracht ist, sucht Verf. im Folgenden die psychischen Erscheinungen in
die vom Erhaltungsgesetze eingeschlossenen Energieformen mit einzugliedern.
In einem weiteren Abschnitte setzt Verf. noch einmal seine metaphysischen
Ansichten über die Materie sowie seinen erkenntnisstheoretischen Idealismus aus-
einander, soweit dieselben bereits in den vorangehenden Erörterungen erwähnt waren.
Im Schlusskapitel versucht Verf. den positiven Nachweis für die Nothwendig-
keit der Annahme einer Wechselwirkung zu bringen, indem er zeigt, dass Empfin-
dungen, Wahrnehmungen und Gefühle sich allein durch Annahme einer Wirkung
des Körpers auf die Seele, die wülkürlichen Bewegungen und Willenshandlungen
durch Annahme einer Wirkung der Seele auf den Körper ohne jede Schwierigkeit
erklären lassen, während die parallelistische Theorie in zahllose Schwierigkeiten
geräth. Aus derThatsache endlich, dass es Erscheinungen — nämlich die psychischen
— giebt, welche sich nachweislich nicht aus physikalischen und chemischen Ursachen
ableiten lassen, folgert Verf., dass das dogmatische Postulat einer mechanischen,
d. h. physikalisch -chemischen Naturerklärung jede innere Berechtigung verliert;
einem wirklichen Verständniss erschliessen sich diese Naturerscheinungen erst durch
die Ueberzeugung, dass es speciüsch organische, teleologisch wirkende Kräfte sind^
welche dieselben in erster Linie bedingen.
Diesen klar und fesselnd vorgetragenen Ausführungen gegenüber verweist
Ref. im Ganzen auf die vorangestellte Einleitung, in welcher auf den psycho-
physischen Parallelismus als ein heuristisches Princip hingewiesen worden ist;
in Bezug auf die einzelnen Punkte gelten die bei der vorangehenden Besprechung
gegebenen Erörterungen.
M. Wentscher^ Ueber physische und psychische Causalität und
das Princip des psycho-physischen Parallelismus. (Ambrosius Barth,
Leipzig 1896.) 122 Seiten.
Verf. bekennt sich zu Lotze's philosophischen Grundsätzen. Er verwirft den
Parallelismus und sucht auf besondere W^eise die Annahme einer Wechselwirkung
zu ermöglichen.
114 Paul Plettenberg.
kinetische umgewandelt und zwar an Grösse gleich der ursprünglichen. 2. Bin im
labilen Gleichgewicht befindlicher Körper wird durch eine Stosskraft aus seinem
Gleichgewicht gebracht. Ist er gefallen, so ist die am Schlüsse der Bewegung
Torhandene kinetische Energie gleich der Summe der ursprünglichen, durch die
Höhe der Körperlage bedingten potentiellen Energie und der durch die Stoaskralt
erzeugten Energie. Aus diesen Beispielen sucht der Verfasser abzuleiten, dass bei
einer Umsetzung von potentieller in kinetische Energie unter keinen Umständen
durch die Umsetzung selbst Energie aufgewendet werden kann und daif. Im
ersten Falle stimmt dies auch, aber nur weil sich hier die potentielle Energie des
Steines von selbst in kinetische umsetzt; keine neue „Kraft ** tritt wirkend hinzu,
denn die Attractionskraft der Erde wirkte schon von Beginn der Bewegrang an.
Im zweiten Falle tritt aber die Stosskraft als Ursache der Umwandlung hinzu, und
durch sie wird die Energie vergrössert. Es lässt sich also allgemein aussprechen:
„Geht die Umwandlung potentieller Energie in kinetische ohne Eingreifen nener
„Kräfte" vor sich, so bleibt die Energiesumme dieselbe; ist dazu das Eingreifen
anderweitiger Kräfte nöthig, so wird stets durch dieselbe die Energiesnmme ver-
grössert". Unzweifelhaft würde also auch dann, wenn die Ueberführung Ton
potentieller in kinetische Energie durch einen vom Psychischen ausgeübten Im-
puls stattfinden sollte, die vorhandene physikalische Energie dadurch yergrössert
werden müssen.
Die weiteren metaphysischfp Untersuchungen führen den Verf. schliesslich
zu folgendem Weltbilde: In der grossen Welt des Physischen mit ihren allgemein-
gesetzlichen Zusammenhängen lässt sich eine Reihe von Gebilden erkennen, die
zwar aus physischem Material hergestellt erscheinen, doch aus rein physikalischen
Zusammenhängen in ihrem Zustandekommen nicht erklärbar sind: die Welt der
Organismen (Mikrokosmen). In ihnen finden wir eine Aufspeicherung grösserer
Energiemengen derart, dass sie den Einflüssen des umgebenden Naturgeschehens
nach Möglichkeit entzogen wird. Sie erhalten ihre Auslösung von einer anders-
woher stammenden Gesetzlichkeit, um dann wieder im Gebiete des Physischen in
Wirksamkeit zu treten. Weiterhin findet man eine Keihe solcher Organismen
durch das Band eines psychophysischen Mechanismus verbunden mit den subjectiTen
Innenwelten psychischer Wesen, so dass eine zweckmässige Beeinflussung möglich
wird. Diese psychischen Subjocte sind mit eigener Gesetzmässigkeit ausgestattet
(logischer, mathematischer, ethischer und ästhetischer Art), durch die sie ans der
Zeitreihe äusseren, lediglich mechanischen Geschehens herausgehoben sind. Aber
indem sie wieder auf Grund ihres psycho-physischen Mechanismus im Stande sind,
ihren zeitlos gegebenen, lediglich inhaltlichen Beziehungen und Zusammenhängen
durch Handlungen in der Welt des Physischen eine neue Art von Wirklichkeit zu
verschafifen, greifen sie selbstthätig in den zeitlichen Verlauf jenes äusseren Ge-
schehens ein. Die Welt des Physischen erscheint geradezu darauf angelegt, psychi-
schen Wesen von lediglich subjectiver Natur als objectives Bethätigungsfeld von
Willensregungen zu dienen, in denen inhaltliche für das Leben des Subjects be-
deutsame Beziehungen und Zusammenhänge ihren Ausdruck zu finden vermögen.
Bei der Entwicklung dieser Ansichten kommt Verf. vielfach auf den psycho-
physischen Parallelismus zu sprechen. Er kann sich mit der Annahme eines solchen
aus mehrfachen Gründen nicht einverstanden erklären, unter denen wir folg'ende
hervorheben. Die Entstehung der Empfindung rein aus psychischen Zusammen-
Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib und Seele. 115
hängen ist unmöglich, sowie umgekehrt in jeder Willenshandlung ein Fall des
Hereingreifens von ausserhalb alles zeitlichen G-esohehens stehenden, lediglich inhalt-
losen, sachlichen Zusammenhängen in den Ablauf jenes Geschehens gegeben ist.
Femer fehlt nach der Ansicht des Verfassers für die Einheitlichkeit der psychischen
Acte ein physisches Gorrelat, und endlich bleibt ihm bei der Annahme des Pa-
rallelismns das zeitliche Zusammenfallen der einzelnen, zugeordneten Glieder uner-
klärlich, während doch alles ausdrücklich ausgeschlossen ist, wodurch ein solches
Schritthalten begründet sein könnte. Schliesslich giebt er aber zu, dass auch bei
der Annahme einer Wechselwirkung immerhin ein Parallelismus stattfinden könne,
nur nothwendig dürfe er nicht sein. Auch sei es für diese Vorstellungsweise völlig
gleichgiltig, ob wir den Parallelismus vollständig durchgeführt denken oder nur
theilweise, nur müsste bei den Willensvorgängen, den logischen, mathematischen,
ethisch-ästhetischen Processen das Psychische, dagegen bei allen Wahrnehmungen
das Physische als das Prius anzusehen sein, durch welches der entsprechende Pa-
rallelvorgang erst geweckt wird.
H, Schwarz, Das Verhältniss von Leib und Seele. Monatshefte der
Gomenius-Gesellschaft Bd. VI, 1897. (R. Gärtner, Berlin.) 20 Seiten.
Verfasser vertritt die dualistische Richtung und behauptet dabei die Möglich-
keit einer Vermehrung physischer Energie durch psychische Einflüsse.
In der Einleitung wird die geschichtliche Entwickelung des metaphysischen
Verhältnisses zwischen Leib und Seele gegeben. Von Descartes aus, der alle
Bewegungen der thierischen Körper rein mechanisch erklärte, entwickelte sich diese
Ansicht nach zwei Richtungen weiter; einmal bei Hobbes zum metaphysischen
Phänomenalismus (Materialismus), der auch das psychische Leben aus den leiblichen
Vorgängen direct ableitet, also auch Empfindungen und Vorstellungen nur als Be-
wegungen innerer Theile des Körpers ansieht; das andere Mal bei Spinoza im
metaphysischen Parallelismus, der die Bewegungen unseres Körpers und die Re-
gungen unserer Seele als zwei verschiedene Seiten eines und desselben identischen
Vorgangs an einer und derselben identischen Substanz erklärt. Diese methodische
Denkweise, die mit wohl überlegtem Plane bei der Erklärung des physischen,
körperlichen Geschehens alle ausserphysischen Einflüsse ausschaltet, wurde im
19. Jahrhunderte von der modernen Naturwissenschaft erneuert und vertieft. Nach
der Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der lebendigen Kraft sind heute
die Physiker überzeugter als je, dass es keinen Eingriff* psychischer Einflüsse in das
Getriebe der nervösen Grosshimrindenprocesse geben kann ; jede nicht mechanische
Erzeugung neuer Bewegung oder nicht mechanische Abänderung in der Richtung
der Bewegung müsste verbunden sein mit einer Vergrösserung der vorhandenen
£nerg^e, was dem obigen Naturgesetz widerspräche. Man erneuerte daher die An-
sichten Ilobbes' und Spinoza's, und damit treten im 19. Jahrhundert die Systeme
beider Philosophen neu belebt wieder auf.
Verfasser zeigt alsdann die Unzulässigkeit des modernen Phänomenalismus
(Materialismus). Wenn dieser behauptet, die Bewusstseins Vorgänge seien absolut
unselbständig und abhängig, ausschliesslich die Gehirnprocesse seien selbständig und
unabhängig und die ersteren von den letzteren ein blosser schemenhafter Neben-
erfolg, so fällt diese Ansicht erstens durch die Thatsache, dass die Mannigfaltig-
keit der Bewusstseinsvorgänge diejenige der nervösen Vorgänge, durch die sie
mechanisch erklärt werden sollen, bei weitem übertrifft; zweitens durch die Un-
8*
116 Paul Plettenberg.
möglichkeit begreiflich zu machen, dass, wenn ein ganzer Complez von
Rindenüasem in Erregung ist, nicht ein einheitlicher, in seinen JBinzelheiten nn-
analysirbarer Gesamteindruck erlebt wird, sondern complexe innere Zustände Ter-
schiedeuer Art sich im Bewusstsein abspielen, d. h. es müsste erwartet werden,
dass unser Bewusstsein in beständigem Wechsel Ton Gesammtempfindong so Ge-
sammtempfindung verläuft, statt dessen zeigt es weit grössere Verschiedenheit, weit
feinere Nuancen, den unanalysirbarenGesammtempfindungen treten auflösbare Empfin-
dungen zur Seite, es kommt zu Wahrnehmungen, Vorstellungen, ürtheilen, Erinne-
rungen, BrCflexionen. Alle diese Verschiedenheiten in der inneren Zusammenfassung
des Einzelnen können mechanisch nicht erklärt werden. Es ist für uns daher kein
Zweifel, dass es ein besonderes selbständiges Bewusstseinsleben giebt.
Verfasser wendet sich nun zu der Ansicht des metaphysischen ParaUeliBmua,
Nach diesem ist das psychische Leben aus eigenen Zusanmienhängen ohne jeden
Einfluss von aussen her zu begreifen; wie das Reich des Physischen besitzt auch
das der psychischen Vorgänge einen in sich geschlossenen Zusammenhang, aber
zwischen beiden Reihen besteht ein Band der Art, dass, wenn dieselben physischen
Vorgänge da sind, auch dieselben psychischeu Vorgänge eintreten. Dies Band giH
nur als ein thatsächliches, keineswegs soll es die psychischen Vorgänge von Seiten
der physischen erklären. Aber auch dieser metaphysische Parallelismus kommt
nach Ansicht des Verfassers über gewisse Punkte nicht hinweg. Einmal sei es ihm
immöglich zu erklären, wie eine im Bewusstsein befindliche Empfindung yerstirkt
werden könne bei gleichzeitiger Verstärkung des äusseren Reizes; letztere wird
einfach durch irgend welche Energieabgabe von anderer Stelle her erreicht, wie
aber nun auf dem psychischen Gebiete die analoge Verstärkung der Empfindung
entsteht, sei nicht zu verstehen. Denn dort ist ja Alles unverändert geblieben, es
ist daher, als wenn die Empfindung von selbst an Stärke zugenommen habe.
Zweitens sei die Thatsache der Gedankenmittheilung nicht zu verstehen unter der
Voraussetzung einer Ableitung von Geistigem rein aus Geistigem. Denn durch
Mittheilung können psychische Zustände nicht weitergegeben werden, wie etwa im
Physischen die Bewegung von einem Körper zum anderen. Man habe zwar nun
eine Allbeseeltheit, gleichsam psychische Atome, zu Hülfe genommen, aus deren
Wechselwirkung und gegenseitiger Mittheilung der psychischen Zustände unsere
eigene Empfindung entstehen würde. Damit sei äusserlich eine consequente Durch-
führung gewonnen; bei genauerer Betrachtung zeige es sich aber doch, dass die
Subjectivität der psychischen Vorgänge, ihr Wirklichsein nur im Subject und
für dasselbe die Vorstellung unmöglich mache, dass ein psychischer Inhalt von In-
dividuum zu Individuum übergehe, ohne dabei seinen Character vollständig in
ändern. Darüber könne nur die unsinnige Annahme hinweghelfen, dass in allem
Physischen, auch dem mit den fremden Seelenäusserungen verknüpften, schon ein
unserem eigenen Subject zugehöriges Psychisches vorhanden sei.^)
Was diese beiden dem Parallelprincip entgegengehaltenen Punkte angeht, so
ist nach der Ansicht des Referenten der erste sehr wohl mit demselben zu ver-
einigen, wenn der verstärkte äussere Reiz als selbständiges Glied der physischen
Reihe angesehen wird, dem dann in der psychischen Reihe ein eben solch selbst-
*) Vergl. Wentscher, üeber physische und psychische Causalität und das
Princip des psycho-physischen Parallelismus, pag. 63.
Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib und Seele. 117
standiges Glied, nämlich die verstärkte Empfindung entspricht. Was den zweiten
Punkt betrifiPt, so liegt m. E. dieser Anschauung des Verfassers eine gänzlich
falsche Auffassung des Grundgedankens des metaphysischen Parallelismus zu Grunde.
Bei der Gedankenmittheilung findet auf materieUer Seite folgender Process statt.
Zunächst ein complicirter Vorgang im Gehirn des Denkenden, dann der sehr com-
plicirte Vorgang der Innervation, darauf die weniger complicirte Erregung ver-
schiedener Schallwellen, auf welche wieder complicirte Vorgänge einer centri-
petalen Leitung in das Gehirn des Recipienten und schliesslich ein sehr complicirter
Vorgang im Gehirn desselben folgt, der dem Anfangsgliede dieser Reihe annähernd
analog ist. Eine Gleichwerthigkeit existirt hier auf materieller Seite ausschliesslich
nur bei dem ersten und dem letzten Gliede, während zwischen den Schallwellen
imd dem Himvorgang auf materieller Seite von Gleichwerthigkeit gar nicht die
Rede sein kann. Sobald aus irgend einem Grunde der Recipient disponirt ist, mit
einem anderen Gehimvorg^ange zu reagiren, werden ja dieselben Schallwellen
diesen anderen Gehimvorgang hervorrufen. Trotzdem aber sprechen wir von einem
oausalen Zusammenhange zwischen diesen Processen, aus welchen die materielle
Reihe bei einer Gedankenübertragung zusammengesetzt ist. Dieselbe Schluss-
folgening macht nun ein metaphysischer ParalleUsmus för die psychische Reihe.
Getrea dem Satze, dass die Natur keinen Sprung macht, nimmt der metaphysische
PtenUelismns zwischen den einzelnen bewussten Erscheinungen da, wo diese sieh
Bicfai causal bedingen, Aequivalente unbewusster Natur an. Aber diese psycluschen
Yoigmnge, die dnmal den Himprocess des Denkenden und des Recipienten be-
^^eüen, und jene, die die Schallwellen zu ihrem parallelen materiellen Vorgange
haben, konnten qualitativ ebenso verschieden sein, wie Schallwellen and Himprocess,
ofane dass deshalb die psydusche Reihe ihrer Gausalität entbehrt. Worin das Aequi'
Talente des Bewosst-Psyduschen und des Cnbewusst-Psyehischen liegt, wird — im
Oegeusafae xa den Aequivalenten in der materiellen Welt — unserer Erkenntoiss
stets abgehen, weil eben das Unbewusst-Psychisehe an sich unerkennbar ist.
Dem Verfasser blnbt aof Grand der obigen zwei Einworfe nichts übrig, als
£e Ann^hm^ des gew^DÜehen Lebens, dass jede psychische Beeinflussong Ando'er
dareh Mitlheifamg oder auf welchem Wege es sei eine vemritteke ist and zwar
dermri^ dass sie durch das Gebiet des Physischen hindorehgehi. Giebt es aber
men Knihws Tom Physischen aof das Psychische, so ist aoeh damit 6er omg«*»'
kehrte Finflnss vom Pbychisehen aof Physisdies nicht leicht zorfidkzinreiseii< ja er
sieh als eine imaariileibliehe Conseqoem sowohl vom Standpaiikie der bk^
Oeseise der Entwiekefaingsldire ab auch dorch psydbologische fJnter'
ober die Wüleaeefieb n issf and ihr Terliihmss zu anderen seetischeo
BsgBiiftf 11 htwtimm. Ycrf. kommt damit zur hmmhmn eiaer Wtf^btt^Awviant^
^JBi■4h^m mid Pn-chischem and sacht san das ütiiß^ rotk der ÜT'
Eaergie daasit in ffSnklang xa XmDf^iOL Die Aiinshm^r vieier PkiV>'
Rehmke. Wemti eher o. A^ die Verwaadhmg der fnA/aaüttOem m
verwirft Verf. aaf Qrvad w^
welche die vorhaad^!««
118 Paul Plettenberg.
des Gesetzes der £nergieerhaltaDg ein Eingriff psychischer Causalit&t in den Ab-
lauf mechanischer Vorgänge nicht stattfinden darf, und der Ansprach der Psycho-
logen, dass er wegen der Thatsachen des Willenlebens und dem Bescheide der
biologischen Entwickelungsgesetze dennoch stattfinden muss, unversöhnlich gegen
einander. Um aus diesem Dilemma zu kommen, schlägt nun Verf. den Ausweg
vor. anzunehmen, dass zwar für den Zusammenhang physischer Kräfte das Gese^
von der Erhaltung der Energie seine Richtigkeit hat, dass aber durch aosssr-
physikalische Einflüsse eine Vermehrung der physischen Energie möglich sei ; durch
den Einfluss der Seele werde also, indem sie den Anstoss zur Umwandlung poten-
* tieller in kinetische Energie giebt, ein gewisses Quantum physischer Energie neu-
geschaffen. Dann sei die dualistische Auffassung des Verhältnisses von Leib und
Seele verbunden mit der Annahme einer Wechselwirkung in sich geschlosMn la
Ende geführt.
Auf dem Wege, den Verf. einschlägt, um die Annahme einer Wechselwirkung
zu ermöglichen, kann Ref. ihm nicht folgen, da die nöthigen festen Anhalteponkte
fehlen. Wenn es auch wahr ist, dass der negativ geformte Satz: „Physische Energie
kann nicht aus physischer Energie erzeugt werden, ohne dass ein gleiches Quaatuo^
anderer physischer Energie verbraucht wird" neben der gewöhnlich gebräuchlifihl
positiven Umformung: „Jegliche vorhandene physische Energie muss aus ver-
brauchter physischer Energie entstanden sein" noch eine andere: „Physische ESneigie
kann ausser aus verbrauchter physischer Energie auch durch ausserphysikalische
Factoren erzeugt werden" logisch möglich lässt, so ist doch erst empirisch die
Richtigkeit der letzten Form zu ergründen. Ref. schliesst sich daher ganzKülpe's
Worten an:') „Die Schwarz'sche Conception wird so lange als blosse mathe-
matische Fiction zu gelten haben, als nicht irgend welche positiven Gründe für ein
derselben entsprechendes reales Verhalten angeführt werden. Eine solche empi-
rische Begründung für die Annahme einer Vermehrung der vorhandenen physi-
kalischen Energie durch psychische Einflüsse dürfte ihr einigermaassen schwer
werden, wenn man an eile die Beobachtungen denkt, die eine Geltung des
Energiegesetzes für die Gesammtheit der psychophysischen Processe wahrscheinlich
machen".
Alois Höfler f Psychologie. (Wien und Prag bei F. Tempsky.) 1897.
604 Seiten.
A. Höfler giebt in seiner neu erschienenen Psychologie im § 17 eine Be-
sprechung der metaphysischen Theorien von den Beziehungen zwischen Leib und
Seele und neigt dabei zu einer dualistischen Ansicht.
Bei der Deutung der Thatsachen vom Zusammensein seelischer und leiblicher
Vorgänge nehmen nach dem Verf. schliesslich alle Forschungen metaphysischen
Character an. Es gilt dies in gleichem Maasse von der einen wie der anderen der
beiden Grundauffassungen, nach welchen sich die bisherigen Versuche zur Lösung
des Problems scheiden lassen in die zwei grossen Gruppen der Causalitäts- und
der Identitäts theorien.
Unter Causalitätstheorien versteht Verf. alle diejenigen, welche mehr
*) Külpe. Ueber die Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vor-
gängen. Zeitschrift für Hypnotismus. Jahrgang VII, pag. 112.
Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib und Seele. 119
oder minder den naiyen Ueberzeag^ngen des vorwissenschaftliohen Denkens nahe
bleibend eine Einwirkung des Psychischen auf das Physische und eine ebensolche
des Physischen auf das Psychische lehren, also eine Wechselwirkung. Doch betont
er, dass durch diese Bezeichnung die falsche Vorstellung von einer Gegen- oder
Rückwirkung entstehen könne; er vermeidet daher den Ausdruck Wechselwirkung
geflissentlich. Man nennt diese Theorien auch wohl Dualismus und zwar so-
wohl die populäre Ansicht von der Zweierleiheit von Leib und Seele, wie alle
Theorien, welche an der Verschiedenheit der physischen und psychischen Erschei-
nungen und der ihnen zu Grunde liegenden Substanzen oder sonstigen metaphy-
sischen Realitäten festhalten.
Mit Identitätstheorien oder Monismus bezeichnet Verf. sowohl die-
jenigen, welche lehren, dass Psychisches auf Physisches oder auch umgekehrt zurück-
führbar sei, oder dass das Physische und das Psychische nur zwei Seiten eines und
desselben metaphysischen Realen seien.
Dabei sind folgende ünterformen zu unterscheiden. Das Geltenlassen einer
Zweierleiheit von Erscheinungen, physischen und psychischen, nennt Verf. phäno-
menalen Dualismus, dagegen wäre phänomenaler Monismus die Forde-
rung, auch diese zweierlei Erscheinungen auf nur eine zurückzuführen, wo demnach
physischer und psychischer Monismus zu trennen wären. Entsprechend bezeichnet
Verf. die Annahme von zweierlei resp. nur einer Substanz, welche den beibehaltenen
Erscheinungen zu Grunde liegend zu denken seien, substanziellen Dualismus
beziehungsweise Monismus. Da es ferner denkbar ist, dass eine Theorie nicht
ausschliesslich bei den Phänomenen stehen bleiben, aber doch auch nicht gerade
den Substanzbegriff, sondern etwa den abstracteren von „Dingen an sich" zu deren
metaphysischer Ausdeutung heranziehen mag, so werden der substanzielle Daalismus
bezw. Monismus nur specielle Formen eines metaphysischenDualismus bezw.
Monismus darstellen.
Verf. begnügt sich damit, die hauptsächlichsten dieser Theorien einer kritischen
Betrachtung zu unterwerfen. Bei der Besprechung der Causalitätstheorien unter-
scheidet er zwei Tjrpen möglicher Causationen. Typus I: (Ursache physisch, Wir-
kung psychisch) = Sinnesempündung. Typus II: (Ursache psychisch, Wirkung
physisch) = gewollte Leibesbewegung. Bei der wissenschaftlichen Prüfung dieser
dualistischen Theorie entsteht als erste Schwierigkeit, dass Leib und Seele auf
einander wirken sollen, trotzdem beide toto genere verschieden sind. Zweitens
nimmt man grössten Anstoss an dem obigen Typus II, weil hier der Wille un-
mittelbar ein Quantum Materie in Bewegung setzen oder sonstige physikalische
oder chemische Veränderung in ihr hervorbringen würde, was gegen das Gesetz von
der Erhaltung der Energie verstösst, nach welchem physische Arbeiten nur unter
Aufwand äquivalenter physischer Energien zu Stande kommen können. Aus dem
Bestreben, alle diese Schwierigkeiten zu beseitigen, sind die Identitätstheorien oder
monistischen Anschauungen hervorgegangen. Zu diesen gehört zunächst der
Materialismus (nach des Verfassers Bezeichnungsweise ein physischer Monismus),
die einzige Theorie, für die Verf. nichts Positives anzuführen hat und die durch
den Hinweis auf die „Evidenz der inneren Wahrnehmung" entschieden abgelehnt
wird. Die entgegengesetzte Richtung des Spiritualismus (des substanziellen, psy-
chischen Monismus) erwähnt Verf. nur, um dann eingebend auf die Betrachtung der
120 ^aul Fletienberg.
neaesten Form des Monismus zo kommen, unter welcher die yom Ret in der Ein-
leitung Monismus genannte zu yerstehen ist
Diese stützt sich bei ausdrücklicher Leugnung des Substanzbegrifib gerade für
das Gebiet der psychischen Erscheinungen auf die Hypothese des uniTerBeUen
(metaphysischen) Paralielismus und die Hypothese Ton den zwei Seiten (ygL die
Bezeichnungen in der Einleitung des Ref.). Nach letzterer sind die physischen und
die psychischen Erscheinungsreihen nur zwei Seiten eines und desselben meta-
physischen Realen. In Folge dessen muss in Rücksicht auf die Evidenz der inneren
Wahrnehmung und auf die Evidenzlosigkeit der äusseren Wahrnehmung angenommen
werden, dass die psychische Seite die Darstellung der Wirklichkeit ist, dass die
physische Seite dagegen zur äusseren Erscheinung herabsinkt. Ver£ Yermisst nun
jede weitere Erklärung des metaphysischen Verhältnisses dieser zwei Seiten zu
ihrem realen Untergrunde und knüpft daran auch terminologische Bedenken, die
ihn schliesslich veranlassen, noch einmal zu der Gausalitätstheorie zurückzukehren
und die gegen sie geäusserten Bedenken ernstlich zu prüfen.
Verf. lässt also den psycho-physischen Parallelismus als heuristisches Princip,
das mit einer jeden metaphysischen Richtung in Verbindung zu bringen ist, ganz
unberücksichtigt, sowie er auch speciell den empirischen Parallelismus, der gendt
für die Psychologie als Einzelwissenschaft allein maassgebend gewesen wäre, gar
nicht erwähnt.
Bei der nochmaligen Besprechung der Gausalitätstheorie (Dualismus) zeigt sich dem
Verf., dass beide gegen sie erhobenen Einwände, nämlich der von der Heterog^neitat
von Leib und Seele und der aus dem Energiegesetze abgeleitete, gegenstandlos sind,
letzterer unter Berufung auf die Erklärung Boltzmanns, dass mit dem Energie-
satze eine Einwirkung des Psychischen auf das Physische nicht unverträglich sei,
wenn man annähme, dass diese Einwirkung normal gegen die Niveauflache erfolge.
Aber dennoch meint Verf., dass die Gausalitätstheorie nur dann das Uebergewicht
über die Identitätstheorie wieder erhalten werde, wenn ihr populärer Gausalbegriff
einer logischen und erkenntnisstheoretischen Läuterung unterzogen, oder besser
wenn er durch Entfernung des Merkmals der Succession überhaupt durch einen
weiter gefassten Abhängigkeitsbegriff ersetzt werde. Es ist klar, dass der Ver£ auf
solche Weise schliesslich zu der von uns vertretenen Ansicht einer functionellen
Beziehung zwischen psychischen und physischen Erscheinungen, wie sie der psyoho-
physische Parallelismus lehrt, zurückkommt. Er schliesst mit den Worten : „In der
Sache selbst aber bescheiden wir uns damit, darauf hingewiesen zu haben, wie die
metaphysischen Theorien von den Beziehungen zwischen Leib und Seele, weit ent-
fernt, schon zu irgend einem Abscbluss gelangt zu sein, welcher von den berufenen
Vertretern der Physik, Physiologie, Psychologie und Metaphysik für einen end-
giltigen gehalten würde, vielmehr noch auf lange hinaus ein Problem bilden werden,
das dem philosophischen Denken immer neuen Stoff geben und wahrlich „des
Schweisses der Edlen werth" sein wird."
Paulsen, Einleitung in die Philosophie. (6. Auflage. W. Hertz,
Berlin 1897.)
In unser Referat sei mit hineingezogen, was Paulsen in der neuerschienenen
6. Auflage seiner Einleitung in die Philosophie') über das uns hier interessirende
') Bei dieser Gelegenheit sei auf dies Werk besonders hingewiesen. In seiner
Neuere Arbeiten über das Yerhältniss zwischen Leib und Seele. 121
Thema bringt. Er selbst bezeichnet seinen metaphysischen Standpunkt als einen
paraUelistischen Monismus mit idealistischem Vorzeichen. Im ersten Kapitel des
ersten Buches wird das ontologische Problem, die Frage nach der Natur des Wirk-
lichen eingehend behandelt. Nach einer geschichtlichen Darstellung der Entwioke-
lung desselben wird der Materialismus mit seinen Folgen kritisirt, und nachdem
die Annahme einer Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen Ereig-
nissen als im Widerspruch mit dem Gesetze der Erhaltung der Energie befunden
ist, die parallelistische Theorie nach Fe ebner und Wundt durchgeführt. Bei
Besprechung des ersten Hauptsatzes der paraUelistischen Theorie: „Physische Vor-
gänge sind niemals Wirkungen psychischer" werden die automatischen Bewegungen
als Beweis herangezogen, und es wird auf die Bewegungen der Nachtwandler so-
wie auf die posthypnotische Wirkung der Suggestion hingewiesen. Beide Beispiele
scheinen - dem Keferenten nicht zutreffend ; der Nachtwandler handelt mit getrübtem
Bewnsstsein, aber mit coneentrirterer psychischer Energie, da er schwierigere Sachen
auszuführen im Stande ist als sonst, und die Person, welche einen in der Hypnose
empfangenen Befehl ausfuhrt, thut dies bei vollem Bewusstsein, nur die Motive
ihrer Handlungsweise sind ihr unbekannt. Der zweite Hauptsatz : „Psychische Vor-
gänge sind niemals Wirkimgen physischer'' wird mit Hilfe der Ällbeseelung con*
lequent durchgeführt. Im Folgenden bekennt sich Verfasser als Anhänger des
Voluntarismus und der Actualitätstheorie, jedoch scheinen dem Referenten die von
Külpe^) der letzteren entgegengehaltenen Punkte noch einer Beantwortung und
eventuellen Widerlegung zu bedürfen.
Bezeichnet Verf. sein System selbst als einen Monismus mit idealistischem Vor-
seichen, so erscheint der Monismus in Bezug auf dieses Vorzeichen doch immer
in einer solchen Form, dass er der Naturwissenschaft möglichst Rechnung trägt
nnd somit auch bei den Vertretern derselben Verständniss und Zustimmung zu
finden vermag.
G. Heymana, Zur Parallelismusfrage. Zeitschrift für Psychologie und
Physiologie der Sinnesorgane, herausgegeben von Ebbinghaus und König. Bd. XVII,
Heft 1 u. 2. (Joh. Amb. Barth, Leipzig.) 1898.
Verfasser vertritt die Ansicht des idealistischen Monismus, der nach ihm die
einfachste und natürlichste Anschauung des Verhältnisses zwischen Geist und
Materie ist.
All unsere Erkenntniss bauen wir aus Bewusstseinsinhalten auf, aus einer in
•ietigem Wechsel begriffenen Vielheit von Vorstellungen, Gefühlen, Urtheilen, Be-
■irebnngen. In dem Wechsel dieser psychischen Erscheinungen lehrt uns die Er-
fahrung gewisse innere Gesetzmässigkeiten, aus denen wir die psychischen Gesetze
und mit ihnen die psychische Causalität abstrahiren. Eine Klasse von Bewusst-
seinsinhalten ordnet sich solcher Gesetzmässigkeit aber nicht unter, nämlich die
ISmpfindungen und die aus Empfindungen zusammengesetzten Wahrnehmungen; sie
bekannten meisterhaften Darstellungsweise macht Verfasser bekannt mit den Pro-
blemen der Metaphysik, der Erkenntnisstheorie und, wenn auch nur kurz, desjenigen
der Ethik. „Uebendl setzt der Verfasser das ganze Gewicht seiner gewinnenden,
Eebensvrürdigen Darstellungsweise ein, um einer modernen, die Gegensätze ver-
tohnenden Weltanschauung das Wort zu reden.^ (Knlpe, Einleitung in die Philo-
sophie, pag. 3.)
^) Kulpe, Einleitung pag. 190—193.
122 Paol Plettenberg.
kommen and gehen ohne die Spur einer regehnässigen Verbindung mit yorhar-
gehenden Bewusstseinsinhalten. Da für diese innerhalb unserei BewoBstseina die
Ursache nicht za finden ist, wir eine solche nach den Gansalgesetzen aber Tonu»-
setzen müssen, so setzen wir sie folgerichtig ausserhalb desselben und gelangen so
zum Begriff einer Welt ausserhalb des Bewusstseins. Bald finden wir Gründe an-
zunehmen, dass auch in dieser Welt feste Gesetze herrschen; wir konmien snm
Begriffe der physischen Causalität. Die Erforschung der sie constitnirenden Gesetie
bildet die Aufgabe der Naturwissenschaft.
Kenntniss von der Existenz des Ausserbewussten erhalten wir nur dadurehy
dass dasselbe in unser Bewusstsein hinein wirkte; alle Kenntniss von dem Weien
des Ausserbewussten kann daher nichts anderes sein als die Gesammtheit aQer
dieser möglichen Wirkungen in unser Bewusstsein. Dass alle sogenannten „teoon-
dären*' sinnlichen Qualitäten, die vom natürlichen Denken den Dingen Selbst m-
geschrieben werden, nur Inhalte unseres Bewusstseins sind, ist allgemein bekannt»
dass dies auch bei den „primären", den geometrischen-mechanischen Qualitäten der
Fall ist, lässt sich leicht zeigen. Denn wenn wir z. B. einem Dinge einen be-
stimmten Ort zuschreiben, so heisst dies nur, dass im bewussten Gesichtsfeld das
von dem Dinge erzeugte Bild zwischen den von anderen Dingen erzeugten Bilden
eine bestimmte Stelle einnimmt u. s. w. Kurz alle Eigenschafben der Körper sind
nur ihre Wirkungen auf unser Bewusstsein, das Ding an sich, das Reale, bleibt nna
unbekannt. Hierin finden wir aber schon die Keime des Parallelismus. Denn wenn
die Gesammtheit der unter den Begriff Natur zusammengefassten Erscheinungen
nichts weiter ist als das System aller möglichen Eindrücke, die die ausserhalb
unseres Bewusstseins ablaufenden Prooesse in unser Bewusstsein hinein zu erzielen
im Stande sind, und wenn, wie das Causalgesetz fordert, jedem wirklichen Prooesee
ein ganz bestimmter Gomplex solcher Einwirkungen in das Bewusstsein hinein ent-
spricht, so muss die Reihe der wirklichen Processe, die wir die primäre nennen
wollen, der Reihe unserer Bcwusstseinswahrnehmungen , der secundären, parallel
sein. d. h. zwischen der uns verborgenen Causalität des Wirklichen und der Pro-
jection desselben in unser Bewusstsein hinein muss eine durchgehende Correspon-
denz stattfinden. Diese Betrachtungen führen uns schon an die Schwelle der
monistischen Lehre, die wir überschreiten, sobald wir zu der Annahme berechtigt
sind, dass die psychischen Vorgänge Glieder jener bisher unbestimmt gelassenen,
primären Reihe vorstellen. Nun ist es aber Thatsache, dass innerhalb weiter
Grenzen zwischen Hirnprocessen und Bewusstseinserscheinungen ein functioneller
Zusammenhang stattfindet, ganz abgesehen von der Art desselben. Dafür lassen
sich viele Beweise anführen. Klar liegt es am Tage bei denjenigen psychischen
Erscheinungen, welche unseren Verkehr mit der Aussenwelt im weiteren Sinne ver-
mitteln, bei den Empfindungen und Bewegungs Vorstellungen. Also Himprocesse
und Bewusstseinserscheinungen entsprechen einander. Was ist aber dabei unter
Hirnprocessen zu verstehen? Nach den oben gegebenen Erklärungen des Auiser-
bewussten kann es nichts anderes sein, als uns unbekannte reale Processe, die in
bestimmter Weise ins Bewusstsein hinein wirken würden, wenn wir die Vermitte-
lung der Sinnesorgane dabei ermöglichten, oder wie sich Verf. ausdrückt, wenn
günstige Adaptations Verhältnisse herbeigeführt würden. Darunter ist die Gesammt-
heit der positiven und negativen Bedingungen zu verstehen, welche erfüllt sein
müssen, um eine genaue und erschöpfende Wahrnehmung des functionirenden Ge-
Neuere Arbeiten über das Verhältniss zwischen Leib and Seele. 123
hims zu ermöglichen. Dass die Wissenschaft noch nur ausnahmsweise und sehr
unvollständig diese Bedingungen zu verwirklichen vermag, ist für unsere Betrach-
tungen gleichgiltig. Die oben gefundene Correspondenz zwischen Hirnprocessen
und Bewusstseinserscheinungen lässt sich nun folgendermaassen ausdrücken: „Sa
oft jene Bewusstseinsprocesse vorkommen, sind reale Vorgänge gegeben, welche
unter günstigen Adaptationsverhältnissen bestimmte Himprocesswahmehmungen
erzeugen würden." Indem nun Verf. jene realen, nicht wahrgenommenen, sondern
vorausgesetzten, ihrem eigenen Wesen nach völlig unbestimmt gelassenen Vorgänge
als nicht verschieden von den entsprechenden Bewusstseinsprocessen, vielmehr mit
ihnen identisch erklärt, erhält er das Fundament seiner idealistisch-monistischen
Anschauung. Die psychischen Vorgänge sind demnach die realen Vorgänge, die
sich als functionirendes Gehirn in unser Bewusstsein projiciren. Verf. erklärt diese
Hypothese für die einfachste und zunächstliegende.
Nunmehr wendet sich Verf. dazu, die Parallelität der psychischen Vorgänge
und der Hirnprocesswahrnehmungen zu untersuchen. Dass eine solche überhaupt
besteht, ist nach dem Obigen klar. Es ist aber zu bemerken, dass zwar jedem
psychischen Vorgange eine bestimmte Gehimprocesswahrnehmung zugeordnet ist, dass
diese letztere aber durchaus nicht thatsächlich gegeben sein muss. Vielmehr müssen
dazu die Adaptationsbeding^gen erfüllt sein; sobald wir dies aber als geschehen
erachten, und dazu sind wir berechtigt, da dabei nur äussere zufällige Umstände
mitsprechen, sind wir im Stande, neben der realen Reihe der psychischen Vorgänge
eine ideale Reihe von Hirnprocesswahrnehmungen anzunehmen. Beide Reihen sind
ihrem Wesen nach Bewusstseinserscheinungen, also besteht zwischen den Gliedern
beider keine eigentliche Heterogeneität. Von einer solchen überhaupt lässt sich
nur reden in Rücksicht auf die Gesetze, welchen die einzelnen Reihen unterworfen
sind. Jede Hirnprocesswahmehmung ist durch einen psychischen Vorgang als ihre
wirkende Ursache bestimmt ; da nun die psychischen Vorgänge nach festen Gesetzen
verlaufen, müssen es auch die secundären. Die Gesetze der primären psychischen
Reihe bringen aber den Zusammenhang der betreffenden Vorgänge selbst, die der
secundären Reihe den Zusammenhang bestimmter indirecter Wirkungen derselben.
Daraus folgt, dass für beide Reihen parallele aber inhaltlich verschiedene Gesetze
herrschen. Und in dieser Verschiedenheit der herrschenden Gesetze sieht Verf. die
ganze Heterogeneität der beiden Reihen.
Da beide Reihen in lückenhaftem Zustande gegeben sind und vielfacher Er-
gänzungen bedürfen, untersucht Verf. eingehend die Möglichkeit und Nothwendig-
keit einer Inter- und Extrapolation derselben. Dabei sei als für uns von Interesse
hervorgehoben, dass Verf. dem sogenannten Unbewusst-psychischen eine grössere
Realität zuspricht als dem physiologischen. Alsdann erweitert er die oben ge-
gebenen psychologischen Anschauungen zu einer idealistisch-monistischen Welt-
anschauung und stellt diese zum Schlüsse den beiden anderen, dem Materialismus
and dem Dualismus, sowie älteren Einwänden gegen den Monismus gegenüber.
Von besonderem Interesse ist für uns das, was Verf. dem Dualismus entgegenhält.
Dieser zeigt sich ihm als überhaupt nicht consequent durchführbar. Denn nach
ihm ist der psychische Vorgang nicht sinnlich wahrnehmbar zu denken, vielmehr
sinnlich unwahmehmbar, also unsichtbar, untastbar, also physisch unwirksam. Dabei
soll aber derselbe psychische Vorgang Wirkung und Ursache von Hirnprocessen^
Träger eines bestimmten Quantums physischer Energrie, kurz er soll physisch wirk-
124 -P*^ Flettenberg. Neuere Arbeiten über d. YerhältniM iwiiehen Leib u. Seele.
•am lein, also ein offenbarer Widerspmcb. Femer bereitet dem Dnaliamtu der
Satz von der Erhaltung der Energie die grotsten Schwierigkeiten. Endlich ist
nach der Ansicht des Verf. der idealistische Monismus dem Dualismus vorzuziehen
auch als Arbeitshypothese ; nach der letzteren Anfihssung schliesst sich Psychologie
und Physiologie gegenseitig vollständig aus, während nach der ersteren den beiden
Schwesterwissenschaflen zwar geschiedene, aber durchaus parallele Wege zu-
kommen und für jede die Möglichkeit gegeben ist, sich tür die eingeschlagene
Richtung an der anderen zu orientiren, wo ihr eigener Weg streckenweise un-
sicher wird.
Das vom Verf. dargebotene System erweist sich überall als ein harmonisches,
in sich geschlossenes, conseqaent durchgeführtes metaphysisches System und verdient
als solches Beachtung, jedoch wird es in seiner einseitigen, abstracten Form viel-
&ch bei den Naturwissenschaftlern wenig Verständniss und Zustimmung finden.
Dass im Uebrigen eine mehr materielle Richtung des Monismus, die als Zwei-
seitentheorie eine prägnante Bezeichnung vom Verfasser erhält, so ganz als ver-
altet hingestellt werden kann, erscheint dem Ref. als ein einseitiger Standpunkt.
Referate und Besprechungen.
OeHketf FritZj Casuistischer Beitrag zur KenntnisB der Erinne-
rungsfäUchangen. Allgem. Zeitscbr. für Psychiatrie. 64. Bd., Heft 1 u. 2.
Verf. referirt die Ansichten der Autoren, die bisher über das gleiche Thema
geschrieben haben und sucht darnach den Begriff festzulegen. Drei bestimmte
Arten stellt zuerst Kraepelin auf, nämlich:
1. Einfache, d. h. freientstehende oder eigentliche Erinnerungsfälschungen.
2. Assocürende, d. h. solche, die durch Anknüpfung scheinbarer Erinnerungen
an einen yorliegenden Eindruck die Vorstellung entstehen lassen, als ob derselbe
schon eine £olle in der eigenen Vergangenheit gespielt hat.
3. Identificirende, d. h. Verlegung des ganzen gegenwärtigen Wahmehmnngs-
eomplexes noch einmal ganz identisch als Erinnerung in die Vergangenheit (Er-
innenmgstauschnng).
Die Falle des Verf. gehören zu der ersten Art. Kraepelin ist der Meinung,
dasB Erinnerungsfölschungen nur bei intellectuell Geschwächten vorkommen und
sich von der Erinnerung an Hallucinationen, deren Inhalt immer eine ziemliche
ConstaDz zeige, namentlich durch einen starken Wechsel des Inhalt« unterscheiden ;
eine Ansicht, der Ton anderen Autoren, namentlich Delbrück, widersprochen
wurde. Forel and Bernheim haben auf die suggerirten Erinnerungsfälschungen
anfiiieriksam gemacht. Kraepelin findet das Auftreten Ton Erinnerungsfalschungen
bei Paralyse, Dementia senilis, Manie und Melancholie, Sander und Neisser
bei Verrficktheit, Delbrück bei den pathologischen Schwindlern and Lügnern.
Es folgen dann die ausfohrlichen Krankengeschichten der rom Verf. beob-
schteten Falle. Im ersten Falle handelt es sich om einen Paranoiker, Beginn des
Leidens mit GehorshaUucinationen, spater traten Grossenideen aof^ die allmählich
immer mehr den Stempel des Schwachsinns tragen. Der zweite ist ein paranoischer
Tabiker mit stark beeintriditigtem Erinnerungsrermögen. Beide haben ausser-
ordentficb zahlreiche Erinnenmgsfalschangen, auf denen sich ihre Wahnideen auf-
bauen. Afifangi jedenfalls ohne erhebliche InteUigenzdefecte. Den Umstand, da«
all dieee Geschehnisse in der Vergangenheit liegen, dass sie sieh ihrer also erst
imditrigficli m erimkem scheinen, erklären beide Kranken sehr characteristiscfa
dadardi. dase sie wahrend der Vorkommnisse betäabt worden wären« iHdareh
aefaon krimufklinep sich ihre Angaben als ErinnenrngifüschnDgen. Auch om Er-
126 Referate und Besprechimgeii.
innemngen an hallucinirte Ereignisse konnte es sich nicht handeln, da nachgewiesen
werden konnte, dass die Patienten zu der Zeit, während der sich die £reigni8ae
angeblich zugetragen haben sollten, sich vollständig ruhig verhielten und sich
irgend einer gleichgiltigen Beschäftigung, Mahlzeiten oder Schlaf hingaben. Im
Gegensatz zu der langsamen Entwickelung der beiden ersten Fälle steht der dritte,
in dem sich innerhalb von 14 Tagen bei einem jungen Mädchen ganz acut neben
bestehender unbestimmter Angst die Erinnerung^fälschungen entwickelten, die an
einen harmlosen Spaziergang und ein Gespräch im Laden anknüpfend eine ganze
Liebesgeschichte vorspiegeln. In dieser Zeit macht die Kranke noch einen so ge-
ordneten Eindruck, dass Monakow sie noch für gesund hält. Acht Tage später
muss sie in die Irrenanstalt gebracht werden, aus der sie nach sieben Monaten mit
der Diagnose „Wahnsinn mit Erinnerungsfälschungen*' ungebessert entlassen wird.
In diesem Falle giebt die Kranke an, die vermeintlichen Ereignisse — hier die
Anträge ihres vermeintlichen Bräutigams jedes Mal vergessen und sich ihrer
erst später wieder bei einem neuen Antrag erinnert zu haben, weil ihr die grosse
Aufregung wohl die Erinnerung nahm, wie sie selbst vermuthet. Der vierte Fall
ist der von Forel in seinem „Hypnotismus" erwähnte.
Näher auf die Einzelheiten der Krankengeschichten einzugehen, würde die
Grenzen des Referates überschreiten, sie könnten auch nur durch wörtliche Wieder-
gabe wirklich belehrend wirken, sind daher im Original nachzulesen. Auf Ghrund
seines Materials kann der Verf. sich der Ansicht Kraepelin's über die Ent-
stehung der Erinnerungsfälschungen nicht anschliessen, auch ist er der Meinung,
dass es kein Mittel giebt, um in jedem Falle sicher dificrential-diagnostisch zwischen
Erinncrungsfälschung, Erinnerungstäuschung und Erinnerung an Hallucinationen
und Träume unterscheiden zu können. Tecklenburg-Leipzig.
Näcke, Dr. P., Dämmerzustand mit Amnesie nach leichter Ge-
hirnerschütterung, bewirkt durch einen heftigen Schlag ins Ge-
sicht. Neurol. Centralbl. 1897, 24. Selbstbeobachtung.
Verf. wurde früh 8 Uhr bei der Krankenvisite von einem Paranoiker mit der
flachen Hand heftig auf die Mundgegend geschlagen, so dass er umfiel. Er schlug
beim Falle nirgends mit dem Kopfe auf. war bewusstlos, wurde aufgehoben und
auf ein Sopha gesetzt. Nach wenigen Secunden erhob er sich, traf Anordnungen
bezüglich des Kranken, notirte den Vorfall in sein Notizbuch, besuchte noch drei
weitere Stuben und sprach mit den Insassen, öÜnete, ohne die letzte Stube beauoht
zu haben, die Corridorthür und begab sich nach seiner im Nebenhause gelegenen
Privatwohnung. Für den ganzen Zeitabschnitt von Empfang des Schlages bis zum
Eintritt in die Wohnung besteht vollkommene Amnesie. N. äussert dann zu seiner
Frau, er glaube von einem Kranken geschlagen worden zu sein, da es in seinem
Notizbuch stände, stellt ein und dieselbe Frage drei Mal hintereinander, setzt sich
auf das Sopha und bemerkt, dass er nicht wisse, wie er in die Wohnung gekommen
sei, und ob er die Visite beendet habe. All das hat er später ebenfalls vergessen.
Eine Stunde später explorirt er einen Imbecillen und stellt ein Gutachten
über ihn aus. Am Nachmittage zeigt sich noch Vergesslichkeit. sowie die Unfähig-
keit, sich wissenschaftlich zu beschäftigen. Den ganzen Tag über hatte er wüsten
Xopf mit Druck in der Stirngegend, sonst bestand keinerlei Störung in irgend
einem somatischen Gebiete. Am nächsten Tage wieder normaler Zustand.
Referate und Besprechungen. 127
Obgleich alle übrigen Erscheinungen einer Gehimerschütterung fehlten ausser
der kurzen Bewusstlosigkeit, glaubt N., dass es sich um eine indirecte Gehirn-
erschütterung gehandelt habe, der ein ca. 10 — lö Minuten währender Dämmer-
zustand folgte mit totaler Amnesie für die während desselben ausgeführten ziemlich
complicirten Handlungen. Verf. weist auf die forensische Bedeutung der Beob-
achtung hin, welche zeigt, dass schon nach einem einfachen Schlage ins Gesicht
ein Dämmerzustand eintreten kann; besonders hält er diese Möglichkeit für gegeben
bei Kindern, die von ihren Lehrern so häufig ins Gesicht geschlagen werden. Zum
Schluss verbreitet sich N. über den Werth der Selbstbeobachtung, die für die
psychologische Forschung die besten Resultate fordern kann, indem er zugleich
Yor den damit verbundenen Fehlem warnt. Tecklenburg-Leipzig.
Benjamifij Dr. Bich., Deber den physiologischen und pathologi-
schen Schlaf. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 54. Bd., 6. Heft.
In den bisherigen Abhandlungen haben sich die verschiedenen Autoren fast
immer mit dem pathologisch verminderten Schlaf beschäftigt, Verf. will daher eine
Lücke ausfüllen, wenn er sich in der vorliegenden Arbeit die Aufgabe stellt, den
pathologisch vermehrten Schlaf bei den verschiedenen Neurosen und Psychosen zu*
sammenfassend zu behandeln. Als Einleitung dazu citirt er an der Hand der
Literatur ganz kurz die verschiedenen Theorien, die bezüglich der Physiologie des
Schlafes aufgestellt worden sind, und kommt zu dem Schluss, dass sie sich meist
für einen Zusammenhang mit dem Gefässsystem aussprechen. In derselben Weise
werden dann die Arbeiten citirt, in denen eine pathologische Schlafsucht beschrieben
ist, und denselben fünf eigene Fälle hinzugefügt. In den letzteren wurde die
Diagnose auf Paranoia (mit Imbecillität), Hysterie. Dementia ffabes?), Melancholie
(mit Hysterie), Poliencephalitis sup. gestellt; dieselben bieten für einen Kliniker
nichts Neues.
Auf Grund der fremden und eigenen Beobachtungen kommt Verf. zu der
Ansicht, dass die pathologische Schlafsucht nicht eine selbstständige Krankheit ist,
sondern immer nur ein Sympton einer anderen psychischen oder somatischen Er-
krankung. Diese Erkenntniss im Verein mit den in derartigen lallen von anderen
Aatoren erhobenen anatomischen Befunden lassen den Veif. zu dem Schluss ge-
langen, dass einerseits die .«Aufhebung jedes aus der Aussenwelt stammenden Sinnes-
reizes^, andererseits die Reizung gewisser Centren durch nach länger andauernder
Gehimthätigkeit im Blute auftretende Stoffe Schlaf zur Folge haben. Solche
Gentren sind f,die der Mednlla oblongata, des centralen Höhlengrau^ schliessÜch die
des dicht unter dem Boden des Aquaeduct. Sylvii, in der Regio subthalamica nahe
dem rothen Kern der Haube gelegenen L u y s ' sehen Körpers.'* „Welches nun auch
das anatomische Substrat für den Schlafzustand ist, so ist jedenfalls die Function
des Schlafcentrums abhängig von bestimmten im Blute kreisenden und von dem-
selben aus wirkenden Substanzen."
IHe Arbeit ist eine fleissige Literatarzusammenstellung, enthält aber durchaus
nidits Originelles. Tecklenburg-Leipzig.
Dr. Hätel, Association und Localisation. Allgem. 2ieitschr. t Psy-
ebiatne, M. B<L, 3. Heft.
Aos den im contraren Gegensatz zu einander stehenden Anschauungen der
Asftoran über Associadoo und Localisation im Centralnervensystenif die sich in
128 Referate und Besprechangen.
den Namen Hitzig-Munk und Goltz, Wernicke-Sachs and Flechsig
verkörpern, will Verl das thatsachlich Erwiesene herausnehmen und durch seine
eigene vermittelnde Anschauung zur Klärung beitragen. Durch alle Anhänger der
Localisationslehre ist eben nur erwiesen, dass bestimmte Stellen des Centralorgans
in functioneller Verknüpfung mit bestimmten peripheren Organen stehen, d. b. dasi
alle associativen Vorgänge gebunden sind an das Vorhandensein von Ganglienzellen
und Nervenfasern und an das Vorhandensein von specifischen Endorganen; wie
aber der associative Vorgang zu Stande kommt, darüber ist noch nichts bekannte
Unsere Sinnesorgane sind vermöge der ihnen innewohnenden specifischen Eneiigie,
d. h. der Eigenschaft auf specifische Reize in bestimmter Weise zu reagiren, im
Stande, die verschiedenartigen chemischen und physikalischen Reize, die sie treffen*
zu transformiren, in einen einheitlichen homologen Reiz umzusetzen, der dem g^e-
sammten leitenden Nervensystem adäquat ist, d. h. von jeder Nerven&ser weiter-
geleitet werden kann, da man anzunehmen berechtigt ist, dass die Nerven£&seni
morphologisch und chemisch unter sich alle gleich sind. Dagegen haben die nach
ihren morphologischen und chemischen Eigenschaf ben ausserordentlich verschiedenen
Ganglienzellen eine regulatorische Thätigkeit, d. h. sie haben die Aufgabe, die an-
langenden homologen Reize in bestimmte weitere Bahnen zu überführen und dadurdi
eben den Associationsvorgang selbst darzustellen. Nicht anders ist es bei dem sog.
motorischen Apparat, nur ist der Verlauf hier ein umgekehrter. Nicht die Ghinglien-
zelle ist motorisch, nicht sie ist Träger der specifischen Eigenschaft, sondern auch
hier wieder das periphere Organ, der Muskel. Die sogenannte motorische Zelle
kann wieder nur den einheitlichen, für alle Fasern leitbaren, homologen Reis aus-
senden, den die fälschlich motorisch genannte Faser auf die Endplatte im Muskel
überträgt ; hier erst erfolgt die Transformirung in den specifischen motorischen Reis.
Auch Vorgänge wie die Auslösung einer Bewegung durch einen Lichtreiz, also das
Verlaufen eines sensorischen Reizes auf einer motorischen Bahn, und ähnliche er-
klären sich hiernach zwanglos, weil eben alle unter sich gleichen Bahnen denselben
einheitlichen Reiz leiten, der sein specifisches Gepräge erst durch Transformirung
im Endorgan erhält. „Dann aber ist unser ganzes Nervensystem mit Ausnahme
unserer peripheren Sinnesapparate ein Associationsorgan, und Associationsleistungen
entstehen überall da, wo überhaupt Nervenbahnen existiren, demnach sowohl in
corticalen, subcorticalen Gentren, wie in den Sinnescentren und Associationscentren
Flechsig 's und alle Fasern, periphere, Projections-, Commissuren-, Associations-
fasem sensu proprio nehmen an den Associationsvorgängen lebhaften Antheü.**
Mit dieser Anschauung lassen sich auch die nach Exstirpationen von Munk und
Goltz beobachteten Erscheinungen vereinbaren, in ihr würden sich die wider-
streitenden Ansichten miteinander versöhnen lassen, auch die Associationscentren
Flechsig's finden darin Platz, wenn man annimmt, dass in den sog. Sinnescentren
Associationen einfacherer psychologischer Natur „mit elementaren sinnlichen An-
theilen**, in den Flechsig 'sehen Gentren Associationsäusserungen höherer Ordnung
zu Stande kommen.
Die ersten Prämissen, die aus dem „thatsächlich Erwiesenen" ihre Berechtigung
schöpfen, erscheinen sehr klar und annehmbar; sobald der Verf. aber dieses ver^
lässt und sich auf das Gebiet der Hypothese begiebt, zu den complicirteren Auf-
gaben der Ganglienzellen übergeht, verliert die Anschauung und am Schluss kann
man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er der Localisationstheorie doch wieder
Zugeständnisse macht. Tecklenburg-Leipzig.
Ein Fall von epileptischer Amnesie, durch hypnotische Hyper-
mnesie beseitigt.
Von
Carl Graeter, cand. med.
Im letzten Heft des Yorigen Jahrganges dieser Zeitschrift wurde
Ton Herrn Dr. Naef^) ein Fall von hysterischer Amnesie beschrieben,
bei welchem durch Herrn Prof. Forel die Erinnerung durch Suggestion
in der Hypnose zurückgerufen worden war. Kaum hatte der betreffende
Patient, dessen Rückreise von Australien im somnambulen Zustande
80 allgemeines Interesse erregt hatte, die Züricher Heilanstalt, in der
ich zu dieser Zeit als Unterassistent thätig war, verlassen, als daselbst
ein ähnlicher Fall zur Behandlung kam, bei dem aber die Amnesie
nicht auf hysterischer, sondern auf epileptischer Grundlage beruhte.
Da über die Unterschiede zwischen epileptischer und hysterischer
Amnesie noch sehr widersprechende Meinungen existibren imd in der
Literatur nur spärliche Angaben darüber zu finden sind, dürfte zur
Bereicherung der Casuistik schon die blosse Beschreibung dieses Falles
Ton Werth sein.
Noch wichtiger aber ist der Umstand, dass dieser Fall eine günstige
Gelegenheit zur experimentellen Prüfung einer wichtigen Frage geboten
hat, der Frage nämlich, ob bei dauernden Amnesien nach epileptischem
Irresein eine Wiederherstellung des Gedächtnisses durch die Hypnose
in gleicher Weise möglich sei, wie bei hysterischen Amnesien. Mein
hochverehrter Lehrer, Herr Prof. Forel, dem ich diese Frage vorlegte,
zweifelte an der Möglichkeit ihrer positiven Lösung, da er die Bewusst-
^) Max Naef: Ein Fall von temporärer, totaler, theUweise retrog^rader Am-
nesie durch Suggestion geheilt. Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. VI, 1897.
Zeitschrift für Hypnotismas etc. Vm. 9
130 Carl Graeter.
seiDSstöniDg während eines epileptischen Anfalles für zu tief^ die Per-
turbation der Himfunction für zu gross hielt. Diese Anschauung tritt
auch in der erwähnten Arbeit von Herrn Dr. Naef zu Tage. Auf
Seite 37 seiner Abhandlung, sagt er, dass ,.die Erfolge der suggestiven
Therapie und die Art des Auftauchens der Erinnerungen in seinem
Falle nicht mit einer epileptischen Geistesstörung in Einklang zu bringen''
seien. StrümpelP) geht sogar noch weiter. In einer Abhandlung
über retrograde Amnesien berichtet er über einen sehr interessanten
Fall von 3 — 4 monatlicher retrograder Amnesie, die er bei einer trau-
matiscben Epilepsie im Anschluss an einen heftigen Krampfanfall and
ein Gesichtserysipel beobachtet hatte. Er sucht dieselbe als eine „echt
organische, unheilbare", auf einer „Vernichtung der Gedächtniss-
eindrücke" beruhende Amnesie zu deuten und sie in Gegensatz zu
stellen zu den „heilbaren hysterischen" Amnesien, bei denen die
Ursache der Störung in einer Hemmung der associativen Thätigkeit
liegt. An eine Wiedererweckung der Erinnerungen durch Suggestion
wäre daher nach Strümpell in diesem Fälle nicht zu denken.
Wenn ich mich nun trotzdem nicht von der Unmöglichkeit einer
solchen Heilung überzeugen konnte, so bestimmte mich dabei die Er-
wägung, dass die Annahme von der organischen, unheilbaren Natur
der epileptischen Amnesie nicht durch Thatsachen gestützt ist und
dass wir, bloss a priori, nicht wissen können, ob der Erinnerungsdefect
wirklich ein so tiefgreifender ist, dass er durch die gesteigerte Er-
innerungsfähigkeit — die Hypermnesie — der Hypnose nicht beseitigt
werden könnte. Dies war nur durch den Versuch zu entscheiden.
Und das Gelingen eines solchen Versuches wurde sehr wahrscheinlich
gemacht durch die Thatsache, dass Alzheimer^) eine Anzahl Fälle
von sehr umfangreichen rein epileptischen Amnesien*) veröffentlicht
hat, bei welchen die Erinnerungen spontan wiederkehrten. Aus dieser
Thatsache geht hervor, dass auch bei der Epilepsie und nicht nur bei
der Hysterie grössere Erinnerungsdefecte vorübergehender Natur
^) Strümpell: Ueber einen Fall von retrograder Amnesie nach traoma-
tischer EpUepsie. (Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde, Bd. VIII.)
*) Alzheimer: Ueber rückschreitende Amnesie bei der Epilepsie. (Allgemeine
Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. LIII, 1897.)
*) — Eine derselben erstreckte sich anf IVa Jahre; sie war anfjgretreten
nach einem Stägigen epileptischen Paroxysmus; Pat, 32 Jahre alt, litt seit dem
15. Lebensjahre an 14tägigen, typischen nächtUchen Anfällen mit donischen
Krämpfen und totaler Bewosstlosigkeit. Fast regelmässig kam es dabei zu Zangen-
bissen.
Ein Fall von epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 131
Torkommen. Eine sogenannte organische Störung, wie sie z. B. von
Strümpell bei Epilepsie angenommen wird, ist demnach bei ihnen
ausgeschlossen.
Nun finden wir sogenannte bleibende Amnesien, d. h. solche,
die weder von selbst noch durch Befragen im Wachznstande wieder
zurückgehen, nicht nur bei der Epilepsie, sondern auch bei der Hysterie.
Warum sollten sie bei der Epilepsie auf sogenannten organischen De-
fecten und bei der Hysterie nur auf functioneller Störung beruhen?
Stichhaltige Beweise sind dafür nicht erbracht worden. Bei den blei-
benden hysterischen Amnesien ist die Wiedererweckung der Erinnerungen
durch die Hypnose gelungen, warum sollte sie nicht auch wenigstens
bei einem Theil der epileptischen gelingen? Denn, wenn Amnesien
epileptischer Natur vorkommen, bei denen die Erinnerungen spontan
wiederkehren, wie viel eher werden diese Amnesien zu beseitigen sein
in der gesteigerten Erinnerungsfähigkeit der Hypnose.
Es handelt sich also um die experimentelle Lösung dieser Frage
und Herr Prof. Forel hatte die Güte, mir diesen Fall zu überlassen.
Ich ergreife die Gelegenheit, ihm für sein, mir in so hohem Maasse
zu Theil gewordenes Wohlwollen, für seine Winke und Ba,thschläge, an
dieser Stelle meinen herzlichen Dank auszusprechen.
Wir hatten es in unserem Falle mit einer totalen sogenannten
bleibenden Amnesie von 7 Tagen zu thun, die im Anschluss an ein
Delirium auf alkoholeleptischer Basis mit nachfolgendem stuporösen
Dämmerzustande aufgetreten war. Die Wiedererweckung der Erinne-
nmgen durch die Hypnose gelang nicht nur vollständig für diese,
sondern auch noch für drei weitere Amnesien, die von früheren Jahren
her bestanden und von denen sich die eine sogar auf einen Krampf-
anfall bezog. ^)
^) Eine theilweise Bestätigung unseres Itesultates fanden wir nachträglich in
einer Notiz aus K. Brodmann: „Zur Methodik der hypnotischen Behandlung**,
das einige Zeit nach Beendigung unseres Versuches zur Veröffentlichung kam.
(Zeitschr. für Hypnotism., Bd. VII, 1898, pag. 34). Sie lautet: „Was speciell
hysterische Amnesien anbelangt, so verfügt Vogt über eine grosse Reihe solcher
fmie. £r hat dieselben in der Hypnose stets beseitigen können. Andererseits hat
er nie für den eigentlichen epileptischen Anfall (wohl für den postepilep-
tisehen Dämmerungszustand) die Amnesie beseitigen können. Auf diese
Weise konnte er — ähnlich wie auch Breuer und Freud — in mehreren Fällen
Ton Hysterie, die von den ersten Autoritäten für Epilepsie erklärt worden waren,
die richtige Diagnose stellen und dann auch durch eine erfolgreiche Behandlung
verificircn.**
9*
182 Cwl Graeter.
Id Anbetracht dieses Resultates könnte man Tersncht sein, die
geheilte Amnesie als eine hysterische zu erklären.^) Aus den nadi-
folgenden ausführlichen Schilderung des Krankheitsbildes geht, wie idi
glaube, die Unrichtigkeit dieser Annahme deutlich henror. Auf die
Einzelheiten dieser SchilderuDg und der Darstellung des Vorgehens
beim Hypnotisiren berufe ich mich auch um allfalligen anderen Ein-
wänden zu begegnen. Möglich wären deren wohl noch folgende:
1. Fat. habe sowohl seine Amnesie, als auch das Wiederauftauchen
seiner Erinnerungen simulirt. 2. Die Erinnerungen hätten auch ohne
hypnotische Behandlung wiederkehren können, und 3. seien dem Fat
in der Hypnose nicht eine gesteigerte Erinnerungsfähigkeit oder Hyper-
mnesie, sondern die Erinnerungen selbst suggerirt worden.
Die Krankengeschichte des Patienten.
Aufnthmtttatiit imd Aimiriism.
Gotthilf Hubschmid, Seidenfärber, 25 Jahre alt, wird am 19. Nov. 1897 ge-
fesselt and in Begleitung von 2 Polizisten in die Züricher kantonale Irrenheilanstalt
Burghölzli gebracht.
Im ärztlichen Zeugniss heisst es, er habe seit einiger Zeit sinnlos getnmken,
Selbstmordgedanken geäussert, seine Umgebang bedroht und (nachdem er seine
Nothmunition') geöffnet) mit Gewehr und scharfen Patronen manipulirt.
Bei seiner Ankunft befindet er sich in einem stuporösen Dämmerzustande, der
einen Tag andauert: er erscheint sehr reizbar, misstrauisch und verstockt; ist von
allgemeinem Tremor befallen, der sich namentlich an Händen und Zunge deutlich
zeigt; er hat am linken Zungenrande eine Bissnarbe, wässerige, glänzende Augen,
dazu einen dämmernden, zerstreuten, in sich gekehrten Blick. Andere körperliche
Symptome sind an ihm nicht zu finden. Wird er von jemand angeredet, so scfaast
er denselben unwillig mit einem misstrauischen, drohenden, stechenden Seitenblidke
an, einem Hunde vergleichbar, der beim Fressen oder Schlafen gestört wird. Aul
Fragen einfachster Art giebt Pat. gehörigen, prompten Bescheid, aber immer in
gereiztem, abweisendem Ton. Auf complicirtere oder irgendwie ihm verfänglich er-
scheinende Fragen antwortet er entweder gar nicht, oder nur mit einem ablehnenden,
verstockten „ich weiss nicht", oder eine Zeit immer mit „Ja".
Alles was nach langem Beiragen aus ihm heraus gebracht wird, ist, dass er
Kopfweh habe, vergangene Nacht nicht geschlafen habe, weil ihn zwei „Kerle" ge>
quält hätten und er Augenfiimmern und Ohrensausen gehabt habe, dass er seit
5 Wochen zu viel trinke — Wein, Bier und Schnaps — , dass er nach Amerika habe
^) Wie es nach obiger Notiz von Brodmann, Vogt, Breuer und Freud
in ähnlichen Fällen auch gethan haben.
*) Nach Absolvirung seiner Rekrutenschule erhielt bis zu diesem Jahr jeder
schweizerische Infanterist eine zugelöthete Buchse mit 30 scharfen Patronen mit
nach Hause, zur sofortigen Bereitschaft für den Kriegsfall Leichtfertiges Umgehen
mit derselben war ein Fall von kriegsrechtlicher Bedeutung.
Ein Fall too epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 133
gehen wollen, durch Betrag daran verhindert worden und deshalb ins Trinken
hinein gerathen sei. Er weiss nicht, wo er sich befindet und wenn man ihm es
sagt, scheint es ihn nicht zu berühren; im nächsten Augenblick hat er es schon
wieder rergessen und er Terfallt wieder in sein dumpfes Brüten, aus dem er nur
durch eindringliches Anrufen und Befragen wieder au&uwecken ist. Selbstmord-
gedanken stellt er in Abrede; von Gewehr und scharfen Patronen will er auch
nichts wissen.
Am 20. finden wir ihn wieder bei Tollem Bewusstsein, nach einer unruhigen,
beinahe schlaflosen Nacht. Er ist höchst verwundert zu hören, dass er sich in einer
Irrenheilanstalt befindet. Vergebens strengt er sich an, sich zu erinnern, wie er
hierher gekommen sei und was er vergangene Woche gethan habe.
Es zeigt sich eine Amnesie, die sich rückwärts auf eine ganze Woche zu er-
strecken scheint. Das Kopfweh, das ihn noch plag^, verschwindet im Laufe des
Tages, um am Nachmittag des 21. mit erhöhter Stärke wieder au&utreten. Die
folgenden Tage befindet er sich angeblich wohl, scheint aber noch in sehr gedrückter
Stimmung zu sein, und sich immer noch vergebens zu bemühen, sich an die Ereig-
nisse der vergangenen Woche zu erinnern.
Er führt während dieser Zeit in der Anstalt ein ziemlich zurückgezogenes
Leben, spazirt oft für sich im Gang auf und ab, eine Cigarre rauchend. Hie
und da beschäftigt er sich stillschweigend mit häuslichen Arbeiten, Kartenspielen
oder Lesen.
Am 23. wird folgende Anamnese von ihm erhoben, die ich hier durch
einige spätere Angaben noch vervollständige. Vater nahm sich in Folge von Trunk-
socht das Leben. Mutter an Wassersucht gestorben. Von seinen zwei älteren
Brüdern war der eine hie und da schwermüthig und trinkt, der andere starb un-
gefähr im 40. Lebensjahr an einem Hirnschlag, war ebenfalls Trinker. Zwei
Schwestern des Fat. sind dem Trünke ergeben, während drei andere massiger sein
«ollen. Ein jüngerer Bruder ist auch schon vollendeter Potator. Geisteskrankheiten
oder epileptische Anfälle sind dem Fat. in der Familie nicht bekannt.
In seiner Jugend sah Fat. bis zum 8. oder 9. Jahre oft Gestalten, wie Engel
und weisse Frauen. Einmal erschien ihm, während er in der Schule sass, eine
solche weisse Frau, die seiner Mut^r glich. Fat. war an einem Frohnfastentag ge-
boren, und nach der Aussage der alten Leute im Dorf sollten die Frohnfastenkinder
derartige Visionen haben. Er wurde deshalb auch oft bei Processionen als Kind
mn die Spitze des Zuges gestellt. Später wurde er ungläubig und der Spuk ver-
ging. Immerhin bleibt es für uns als merkwürdiges Zeichen kindlicher Suggesti-
bilität nicht ohne Interesse.
In der Schule war Fat. geschickt und immer unter den besseren Schülern;
gerne hätte er die Secundarschule besucht, doch fehlten ihm hierzu die Mittel. Er
kam in eine Färberei. Im Verkehr mit seinen Kameraden wurde Fat. bald ein
Opfer der Trinksitten, gegen die er sich anfangs trotz des Spottes seiner Freunde
widersetzt hatte. Im Rausch war er jähzornig, gebärdete sich oft wie ein Ver-
r&ckter, tanzte, lachte, johlte, sang und fluchte durcheinander, auf der Strasse fing
er mit jedem Streit an, bedrohte oft auch seine Umgebung mit Waffen, die ihm
gerade in die Hände fielen. Einmal konnte ein Unglück nur mit genauer Noth
verhindert werden, als er Jemandem mit gezücktem Bajonett nachjagte. Am fol-
genden Tag hatte er sein Abenteuer für gewöhnlich vollständig vergessen.
134 Carl GrMter.
So soll er im Jahre 1894 an einem Sonntag Abend Ton seinen Kamermden
bewusstlos vor dem Hause gefunden und hineingetragen worden sein. Am Montag
erwachte er mit starkem Kopfweh und Schwindelgefühl, hatte keine Ahnung von
dem. was er am Sonntag und Samstag gethan hatte und was ihm während dieser
Zeit zugestossen war. Drei Tage blieb er zu Bett, angeblich „bei halbem Bewnsst-
sein". Die ganze Wocrhe hatte er noch Kopfweh. Mit Hülfe seiner Freonde
konnte er sich allmählich wieder an das erinnern, was er am Samstag gemacht
hatte. Aber der Sonntag war ihm für immer aus dem Gedächtniss entschwunden.
Angeblich in nüchternem Zustande erhielt er einige Monate später, ohne alle
äussere Ursache bei der Arbeit einen Schwindelanfall. BewussUos ßel er zn Boden
und kam erst nach einigen Aagenblicken wieder zu sich.
1895 wollte er sich, wie ihm seine Freunde nachträglich erzählten, im Rausch
als er allein in seinem Zimmer war. das Messer in die Brust stossen. wurde aber
von einem eintretenden Kameraden noch rechtzeitig am Arm gehalten, so dass der
Stoss abglitt und Fat. mit einer Hautverletzung davon kam. Nur mit grosser
Mühe gelang es dem Freunde, gegen den er sich nun wandte, sich seiner zu e^
wehren und ihm die Wafife zu entwinden. Am folgenden Tag wusste Fat. nichts
mehr davon, hatte überhaupt vergessen, was er an diesem Tag gethan hatte und
weiss es mit Ausnahme des ihm nachträglich erzählten bis zur Stunde nicht.
Diese Angaben werden von seinen Kameraden und Kostleuten bestätigt und
durch ähnliche Geschichten ergänzt.
Fat. leidet, wie alle seine Geschwister, an grosser Reizbarkeit und heftigem
Jähzorn, eine Charactereigenthümlichkeit. die er von seinem Vater geerbt haben
will. Er ist oft schwermüthig und dann wieder überlustig. Morgens erwacht er
nicht selten mit Kopfweh, besonders nach sehr tiefem Schlaf. Wenn er nicht be-
trunken ist, arbeitet er immer sehr fieissig und gewissenhaft. In letzter ZsH
wechselte er momentaner Verstimmungen wegen öfter seine Stelle.
Dieser unstete Sinn veranlasste auch seine jetzige Erkrankung, indem er den
Entschluss, mit einer Gesellschaft nach Brasilien auszuwandern, in ihm reifen Hess.
Die Abreise war auf den 8. November 1897 festgesetzt und alles für dieselbe gerüstet,
die Koffer schon verschickt, als die beiden Leiter des Zuges, Secundarlehrer Keller
und Bildhauer Zumstein mit der Kasse durchbrannten. Dem Fat. erwuchsen da*
durch grosse Verluste. In seinen Hoffnungen getäuscht und stellenlos, ergab er
sich dem Trünke nun erst recht und brachte den ganzen Tag im Wirthshause so.
Eine kleine Besserung trat ein für 3 Tage, die er gezwungener Weise zu ob-
ligatorischen Schiessübungen in der Kaserne zubrachte. Freitag den 12. Not. wurde
er aus dem Militärdienst entlassen und kam in vollständig betrunkenem Zustande
nach Hause.
Samstag Vormittag, den 13. November, versorgte er am Morgen seine Militär-
effecten, schrieb an seinen früheren Arbeitgeber, dass er bereit sei, am Montag,
den 15. Nov., die Arbeit wieder aufzunehmen.
Was nun weiter mit ihm geschah, bis zu seinem Eintritt in die Heilanstalt,
von dem hat Fat. auch nicht eine blasse Ahnung. Wir stehen vor einer totalen,
scharf umgrenzten, temporären Amnesie, einer Lücke im Gedächtniss des Patienten,
die trotz all seiner Bemühungen nicht durch die leiseste Spur einer Erinnerung zu
überbrücken ist.
Die nächste etwas vage Erinnerung des Fat. datirt angeblich vom Sonntag
Ein Fall von epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 136
Morgen (den 21. Nov.). Er war soeben vom Schlaf erwacht, sah sich um ; er wusste
nicht, wo er war und konnte den Ort nicht erkennen. Das Eisengitter vor dem
Penster fiel ihm besonders auf. Als ein Mann (der Wärter) zu ihm kam, fragte er
ihn, wo er sei und yemahm mit Schrecken, dass er sich im — Irrenhaus befinde.
Thatsächlich ereignete sich nun dieses nicht am Sonntag, sondern am Samstag,
den 20. Nov., so dass sich demnach die Amnesie des Pat. auf 7 Tage hin erstreckte.
Soweit die Anamnese des Pat. Bei anderen Personen wurden
einstweilen noch keine weiteren Erkundigungen eingezogen, da Pat.
bypnotisirt werden sollte und ich nicht in den Fehler verfallen wollte,
dem Pat. beim Hypnotisiren oder Befragen die Erinnerungen selbst zu
BUggeriren. Alles, was Pat. aus der Zeit, die seinem Gedächtniss ent-
schwunden war, von anderer Seite, ohne dass ich es verhindern konnte,
erfuhr, war, dass er zu viel getrunken habe und in die Anstalt ver-
bracht worden sei (an welchem Tage sagte man ihm nicht), weil er
Leute mit Gewehr und scharfen Patronen bedroht und Selbstmord-
gedanken an den Tag gelegt habe. Er konnte das kaum glauben.
Diese Aussagen und seine Erinnenmgslosigkeit deprimirten ihn sehr,
und er hoffte und suchte immer noch, dem wahren Sachverhalt auf die
Spur zu kommen. Doch vergebens ! Und nach einer Frist von einigen
Tagen wurde endh'ch am 25. November mit der Hypnose begonnen.
Nach 7 Sitzungen war die Amnesie vollständig aufgeklärt und in
3 weiteren Sitzungen die früheren Amnesien ebenfalls erledigt. Zwischen
den einzelnen Sitzungen wurde hie und da eine Pause von einem oder
mehreren Tagen eingeschaltet und eifrig darnach geforscht, ob während
derselben auch ohne Hypnose eine frische Erinnerung auftauchen würde,
was sich jedoch nie ereignete. Nur einmal, nach einer Sitzung, wurde
eine geringfügige Verbesserung angebracht. Die Thatsache, dass die
Anmesie wirklich durch Suggestion geheilt worden, kann nun keinem
Zweifel mehr unterliegen, und es bleibt uns vor der Hand nur noch
der Einwand der Simulation. Es ist bekannt, dass bei Hysterischen
und Epileptikern immer mit ihrer Möglichkeit zu rechnen ist.
Ich war mir dessen von Anfang an wohl bewusst, und immer
darauf bedacht, alle Aussagen und Gebärden des Pat. auf ihre Wahr-
haftigkeit zu prüfen und womöglich einer Controlle zu unterwerfen, so
dasfi auf diese Weise eine Simulation vom Pat. auf die Länge nicht
hätte durchgeführt werden können. Die Wahrhaftigkeit des Pat. liess
wohl hie und da zu wünschen übrig und er gestand selbst, dass er sich
kein Gewissen daraus mache, zur Erlangung eines Vortheils Jemand
zu hintergehen oder etwas vorzutäuschen.
136 Ourl QrMiier.
Nichtsdestoweniger halte ich in diesem Fall eine Simulation mit
Sicherheit für ausgeschlossen. Tausend kleine Einzelheiten in dem
Verhalten des Fat sprechen gegen eine solche: — sein Zustand beim
Eintritt in die Anstalt, die Art und Weise, wie die Amnesie zu Tage
trat und die wieder auftauchenden Erinnerungen reproducirt wurden,
der ungeheuchelte Afifect, in den Fat. dabei gerieth, die peinliche Gte-
wissenhaftigkeit, mit welcher Fat. die Erinnerungen wiedergab, ergänzte
und verbesserte, die Skepsis, die er dem Hypnotisiren gegenüber an
den Tag legte, bis er sich wider seinen Willen von dessen Wirksamkeit
tiberzeugen musste, etc. etc. — das alles war so ungeheuchelt und
tiberzeugend, dass auch nicht einem der Anstaltsärzte, die Oelegenheit
hatten ihn zu beobachten, die Möglichkeit einer Simulation in den
Sinn kam. Alle Angaben des Fat. sind, wo nur irgend möglich, auf
ihre Richtigkeit untersucht worden : durch V ergleichung mit den polizei-
lichen Rapporten und ärztlichen Attesten, durch Verhör der in der
Erzählung erwähnten Personen, durch augenscheinliche Besichtigung
der Localitäten. Dabei hatte ich es ganz besonders auf etwaige Er-
innerungstäuschungen abgesehen, da mir viel daran lag, ihre Ursachen,
d. h. ihr Zustandekommen kennen zu lernen und ein eigentliches Studium
daraus zu machen. Es waren ihrer sehr wenige, weniger als in den
gewöhnlichen Erzählungen von Leuten im Wachzustande.
Die Schärfe und Lebhaftigkeit der Erinnerungen im hypnotischen
Zustande malmten mich, wenigstens ftir den ersten Theil der Amnesie
geradezu an einen Fhonographen und erregten bei Leuten, die die Qe*
schichte des Fat. kannten, hochgradiges Erstaunen, da ihre eigenen
Erinnerungen an Genauigkeit hinter den genannten weit zurtickbUeben.
Ein schönes Beispiel hypnotischer ^ypermnesie.
Bei uncontrollirbaren Aussagen oder solchen, die sich nicht be-
stätigten, wird dies in den nachfolgenden Aufzeichnungen besonders
bemerkt werden, im gegenteiligen Falle wird die Bestätigung still-
schweigend vorausgesetzt.
Da durch Auslassung nebensächlicher oder sich oft wiederholender
Episoden die nachfolgende Erzählung ohne Schwächung des Habitus-
bildes bedeutend gekürzt werden konnte, so sind eine Menge auffallend
bestätigter Aussagen weggefallen, und das Verhältniss der unbe-
stätigten könnte in Folge dessen leicht grösser erscheinen als es in
Wirklichkeit ist, ein umstand, auf den deshalb besonders hingewiesen
werden musste.
Ein Fall Ton epilepÜBcher Amnesie durch hypnotisehe Hypennnesie beseitigt. 137
Aufzug aus dm Aiifzeichmnigeii DImt die hypnotitchen Sitzungen.
L Sitzung (25* XI* 1897)* Fat. wird mit anderen Fat. zusammen von Herrn
Frof. Forel hypnotisirt, verfallt sofort in tiefen Schlaf mit Catalepsie, Anästhesie
für Nadelstiche und nachheriger Amnesie.
Er erhält ganz allgemein die Saggestion, er werde sich nach dem Erwachen
genau an Alles aus der vergessenen Zeitperiode wieder erinnern und dasselbe dem
Referenten, der ihn in Zukunft hypnotisiren werde, mittheilen. Nach dem Er-
wachen besteht die Amnesie des Fat. wie zuvor.
Er wird daher nach einer halben Stunde nochmals hypnotisirt, diesmal vom
Referenten. Während des Schlafes, der die gleiche Tiefe wieder erreicht, wird Fat.
in die Zeit seiner Entlassung aus der Kaserne versetzt und aufgefordert, sich die-
selbe genau zu vergegenwärtigen: Jetzt sei es Samstag Morgen, er sei soeben auf-
gestanden, habe sein Frühstück eingenommen, seine Militäreffecten aufgeräumt,
den Brief an seinen Arbeitgeber geschrieben, verklebt und seinem Kameraden
Wiederkehr übergeben. Alles, was er damals und im Verlauf des Tages gemacht
habe, führe er jetzt in Gedanken wieder aus. Dann wird ihm versichert, er werde
sich an dies alles nach dem Erwachen noch erinnern und dem Referenten darüber
berichten; er werde ihm sagen können, ob er Wiederkehr begleitet habe oder nicht,
wo er denselben wieder gesehen habe, wo er zu Mittag gegessen habe, ob er seinen
Nachmittag zu Hause, oder im Freien, oder im Frohsinn ^) (Wirthschafb, in der Fat.
oft verkehrte), oder im Caf§ Bema, im Bellevue, in der Rheinfelder Bierhalle, oder
beim Bosshard etc. zugebracht habe u. s. w. u. s. w.
Nachdem sich Fat. beim Erwachen aus der Hypnose die schlaftrunkenen
Augen ausgewischt, frage ich ihn, ob ihm etwas eingefallen sei. Er giebt zur Ant-
wort: nein, er wisse nichts. Ich frage weiter, wo er am Samstag nach dem Auf-
läumen seiner Militäreffecten zu Mittag gegessen habe. Da verbreitet sich nach
exiem kleinen Augenblick ein Lächeln über sein nachdenkliches Gesicht und er sagt :
„•1a jetzt weiss ich's. Als ich den Brief geschrieben hatte, ging ich zum Mittag-
essen in das Caf(§ Bema.^ Was aber weiter geschah, weiss er nicht; seiner Sache
iit er aber ganz gewiss. Im weiteren Verlaufe des Gespräches unterbricht er sich nun
potzlich und ruft: „Halt, jetzt fällt mir's ein, was ich im Cafe Bema machte. Ich
tnf dort einen Färber, mit dem ich zu Mittag ass. Nach dem Essen begleitete
mich derselbe die Langstrasse, dann die Brauerstrasse hinauf, die — Kanonengasse
hinunter, Militär- und Kasemenstrasse hinauf über die Gessnerbrücke, nach der
Bahnhofstrasse, durch die Beatengasse, über den unteren Mühlesteg in die Rhein-
felder Bierhalle. Dort ass ich noch einmal zu Mittag. Nach einer Stunde brach ich
wieder auf, ging über den Bahnhofsplatz etc. etc. in den Frohsinn, vor welchem
ich mich von meinem Begleiter verabschiedete.^ Weiter kommt Fat. heute in
leiner Erzählung nicht, den Namen des Färbers kann er nicht angeben, er sah ihn
»ei dieser Gelegenheit zum ersten Mal. Seine Angaben konnten diesmal darum
loch nicht bestätigt werden.
^) lieber die Lebensgewohnheiten des Fat., seine Freunde und Bekannnten etc.,
"vorden einige Tage vor Beginn der hypnotischen Sitzungen bei ihm genaue Er-
kindigungen eingezogen; und die gleicnen Fragen wurden ihm schon einige Male
T«r Beginn der Sitzungen vorgelegt, ohne dass er sie beantworten konnte.
138 Carl Graeter.
In der II* Sitzimsr Tom 26* XL wird in gleicher Weise vorgegangen, wie du
1. Mal und Fat. aufgefordert, seine GeBchichte weiter zu verfolgen. Nach dem Erwachen
aus der Hypnose fahrt er in seiner Erzählung fort, wo er stehen geblieben war. Er
referirt über seinen Aufenthalt im Frohsinn, über die Antwort, die ihm sein Arbeit-
geber hatte zukommen lassen, in der er ihm sagen Hess, er könne am Montag die
Arbeit wieder aufnehmen. Schliesslich erzählte er, wie er am Samstag, um Mitter-
nacht herum, mit schwankendem Gang, allein den Heimweg angetreten habe. In
seinem weiteren Bericht über den folgenden Tag, den 14. Nov., entwirft uns Fat.
ein nettes Sonnt agsidyll, ein Stück Leben aus dem Volke. Der Morgen wird mit
Kaffee und Kirsch eröffnet. Dann macht unser Fat. mit einem Kameradon einen
kleinen Katerbummel durch die Stadt, wird vor dem Frohsinn von der dicken
Wirthin auf perfide Weise hereingelockt und nicht wieder hinausgelassen. Er bleibt
den ganzen Nachmittag sitzen, trinkend und ,Ja8scnd^, bis in die späte Nacht. Im
Lauf des Abends wird er zu wiederholten Malen, wegen Nichtigkeiten, die ihn
meist nichts angehen, in irgend einen Streit verwickelt, sei es aus Gerechtigkeits-
und Ordnungssinn oder in Folge der durch den Alkohol gesteigerten Querulirsucht.
Gegen den einen stösst er Drohungen aus. weil derselbe die Wirthin nicht bezahlen
will, bis die Polizei, angelockt durch den Lärm, einschreitet. Einem 2. eilt Fat.
mit dem Schlagring nach, weil derselbe von aussen, aus Rache, die Fensterscheiben
eingeschlagen hat. Einen 3. jagt er aus dem Wirthshaus, weil er angeblich das
Klavier so miserabel tractirt hatte und mit einem 4. und 5. geräth er in heftigen
Streit, weil sie behaupten, er „halte es mit der Kellnerin" u. s. w. Schliesslich leert
er in einer Aufwallung seine Flasche über den Tisch, verlässt das Local, um einem,
dem er Rache geschworen, nachzueilen. Draussen fallt er nach manchen Aben-
teuern seinen Freunden in die Hände, die, ebenfalls schwer beladen, den Fat. glück-
lich nach Hause bringen. Das alles erzählt Fat. mit einer peinlichen Gewissen-
haftigkeit und Ausführlichkeit, indem er ganz wortgetreu uns wiedergiebt, was der
gesagt und dieser gemeint und er darauf erwidert habe u. s. f., jetzt noch schimpfend
und grollend über diese „chaibe Hallunkchc''. Am folgenden Morgen (Montag den
15. Nov.) war natürlich von Arbeit keine Rede. Er stand spät auf und ging bei
Zeiten wieder in den Frohsinn.
Am 27« und 28. XI. wird Fat. nicht hypnotisirt, es tauchen während dieeer
Zeit trotz eindringlicher Nachfrage keine neuen Erinnerungen auf.
Am 28. XI. erhält Fat. ohne unser Mitwissen Besuch von seinen Freunden.
Dieselben erzählen ihm, dass er am Dienstag Abend (16. Nov.) zu Hause ganz ver-
wirrt gewesen sei, immer geschimpft, die Fenster aufgerissen, zu saufen verkngty
aber nichts erhalten habe. Dann habe er seine Uhr zertreten wollen, sei aber dran
verhindert worden, habe gesagt, heute Nacht mache er seinem Leben ein Ende,
habe das geladene Gewehr zum Fenster hinaus in den Garten geworfen, dass es im
Boden stecken blieb. Vom Garten aus habe er es dann mit sich nach dem Froh-
sinn genommen, wo es ihm abhanden gekommen sei. Darob sei er ganz untrost^
lieh geworden, habe geschimpft und geflucht und habe nur mit vieler Mühe zir
Heimkehr bewogen werden können. Am anderen Morgen sei er fort in albr
Frühe, sein Gewehr zu suchen und alsdann im Frohsinn von der Folizei verhaftet
worden.
Dies erzählt Fat. dem Referenten am Abend des 28. XI«9 aber in ziemlich
gleichgültigem Tone, fast als ob es einen Dritten anginge. Er kann sich mit diin
£in Fall yon epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 139
besten Willen nicht an diese Vorkommnisse erinnern und ist von ihrer Realität
nicht recht überzeugt, obschon er zugiebt, dass er es wohl glauben müsse; denn so
würden ihn seine Freunde doch nicht anlügen.
Auf die nächste Hypnose war ich nach dieser Mittheilung sehr gespannt.
ni« Sitzmigy am 29« XL Wider Erwarten fiel in dieser Sitzung die Aus-
beute recht mager aus. Fat. kommt in seiner Erzählung nicht weiter als bis zum
Dienstag Morgen. Am Montag hat er nicht viel mehr erlebt als das alltägliche.
Ich übergehe Alles und erwähne nur in Kürze eine kleine Ergänzung, die er zu
seiner früheren Erzählung machte, weil die Art, wie er darauf kam, nicht ohne In-
teresse ist. Er erzählt: „Am Monntag Nachmittag war ich allein im Frohsinn. Ich
sass vor einem Glase Bier mit schwerem Kopf und sann über mein Elend nach" —
da macht Fat. eine Pause, um, wie aus seinem nachdenklichen Gesicht zu schliessen
ist, seine damaligen Gedanken sich zu vergegenwärtigen. — Doch plötzlich ruft er
aus: ,.Halt, da hab' ich was zu erzählen vergessen. Am Montag Morgen erhielt
ich nämlich von meinem £ruder aus Basel einen Brief. In diesem ging er mich
am 15 Frs. an. Ich wollte ihm antworten, war aber so aufgeregt, dass ich es nicht
fertig brachte, denn ich dachte an meine verfehlte Reise, meine verlorenen
Koffer u. s. w. und begriff nicht, wohin all mein gespartes Geld in den letzten
Tagen hingegangen war und das liess mir keine liuhe. Diese und ähnliche Ge-
danken über meinen Bruder waren es, die mir am Nachmittag im Frohsinn wieder
aufstiegen und mich fast zu erdrücken drohten.
lY. Sitzang, 30« XI. 1897« Zunächst berichtigt Fat nach dem Erwachen
aus der Hypnose einige frühere Angaben. In der I. Sitzung hatte er gesagt, dass
er am Samstag den 12. Nov. im Cafe Berna die Bekanntschaft eines Färbers ge-
macht habe u. s. w. (vide Pag. 137). Dies, giebt Fat. an, sei nicht richtig. Am
Samstag sei er immer allein gewesen bis am Abend, sei in den Strassen und Wirth-
Bchaften herum geschlendert, habe über die Auswanderungsgeschichte nachgedacht,
sich über den elenden Betrug und Schwindel und alles, was ihm in den Weg ge-
kommen sei, geärgert und sich immer gesagt, wenn nur diese „chaibe Hallunkche"
(Secundarl ehrer Keller und Zumstein) auf die Finger bekämen etc.
Erst am Dienstag, den 16. Nov. habe er besagten Färber kennen gelernt, als
er wieder, wie am Samstag, im Cafe Berna zu Mittag ass. Den weiten Weg nach
der Rheinfelder Bierhalle, machte er ebenfalls nicht am Samstag, sondern am
Dienstag und zwar deswegen, um sich in der Nähe desselben einen Schlagring zu
kaufen, da er den seinen am Sonntag Abend verloren hatte. Das Mittagessen, das
er in der Rheinfelder Bierhalle bestellt hatte, konnte er gar nicht essen; denn
kaum hatte er eine Gabel voll zu sich genommen, so „roch'' ihm die ganze
Schlechtigkeit der beiden Schurken (Keller und Zumstein), die ihn schon den ganzen
Nachmittag verfolgten, wieder auf. Alles kochte in ihm, er wurde unruhig auf
seinem Stuhl und verspürte plötzlich ein starkes Stechen im Kopf. Er redete
nichts mehr, während der Andere das bestellte Mittagessen verzehrte. Als er
fertig war, fragte ihn ein Kamerad, was ihm fehle. Das gehe ihn nichts an, gab
ihm Fat. zurück, brach auf und beide gingen dann längere Zeit schweigend neben-
einander, bis Fat. sich verabschiedete, da er allein sein wollte. „Ich hatte'', er-
zählte er weiter, „eine solche Wuth auf diesen Keller, dass ich darob ganz wirr
wurdc, je mehr ich der Sache nachstudirte. Da bemerkte ich, dass ich den Leuten
auffiel und sie mir nachschauten. Ich wusste nicht, ob ich vielleicht etwas dummes
140 Cvl Ghraeter.
geschwatzt oder Jemand ohne Wissen beleidigt hatte. Knn ich fing an sn glauben,
dass ich verfolgt werde nnd deshalb hielt ich in meiner Rocktasche den Schlagring
krampfhaft in der Hand, jeden Augenblick znr Yertheidigong bereit, fidls einer
etwas wollte**. So kam er gegen 3 Uhr Nachmittags im Frohsinn an, dort schlackte
er rasch ein Glas Bier herunter, und verfiel dann wieder in sein Brüten und seine
Grübelei. Das Dienstmädchen, in welches er, beiläufig gesagt, yerliebt war, firagte
ihn, was ihm denn eigentlich fehle, er sei ja ein ganz anderer Mensch. Das gfehe
sie nichts an, erwiderte er, er sei nicht katholisch, es sei nicht nöthig, dass er ihr
aUes beichte. Sie suchte ihn auf alle mögliche Weise zu trösten. Heute wollte e«
ihr jedoch nicht recht gelingen.
Nach einiger Zeit verlangte er nun plötzlich Tinte, um einen Brief zu schreiben,
Papier und Couvert hatte er schon bei sich. Dann schrieb er angeblich: „Lieber
Bruder Gottlieb, mit schmerzerfülltem Herzen theile ich Dir mit, da%9 ich bis und
mit heute — "^); weiter kam er nicht, das Wasser trat ihm in die Augen, er
zitterte gewaltig vor Aufregung, fletschte mit den Zähnen and das Kopfweh (das
ihn von nun an überhaupt nicht mehr verliess] nahm so zu, dass er nicht mehr
weiter schreiben konnte und den begonnenen Brief wieder zu sich steckte. £r
trank weiter, von Gram erfüllt ; verfiel dann plötzlich in ein ingrimmiges, gellendes
Lachen*) und dachte bei sich: ., Jetzt versaufist du, was da hast und machst dann
deinem Leben ein Ende**. £& trieb ihn fort von einer Wirthschaft in die andere,
da einen Schnaps stürzend, dort ^/i 1 zu sich nehmend. Nirgends hielt es ihn
mehr fest. Dm ihn herum ertönte fortwährendes Geflüster; doch sah er Niemand.
Das steigerte seine Aufregung. Er kam nach Hause. Die Leute fragten, was ihm
fehle, — „nichts** — , ob er zu Nacht essen wolle, — „ich habe keinen Hangfer** — ,
Er stieg in sein Zimmer, schlag auf der Treppe den Kopf an einer Kante an, was
ihm eine Fluth von Flüchen entlockte. Er trat ins Zimmer, verriegelte die Thür.
Obschon Niemand im Zimmer war, brannte darin schon ein Licht. Er war ent-
schlossen, sich das Leben zu nehmen. Er suchte nach einem Messer oder einem
Strick, fand aber nichts. Er zitterte immer mehr und das Kopfweh nahm zu. Da
kam ihm der Gedanke an sein Gewehr. Er fand es im Kasten, streifte den Lauf-
deckel ab, schleuderte das Käppi, das ihm in den W^eg kam, in eine Ecke, nahm
seine Nothmunition , erbrach die Büchse, lud sein Gewehr mit 13 Patronen, warf
die Büchse aaf den Boden und wollte nun sofort anlegen. Er besann sich aber
eines bessern: — „hier sei nicht der richtige Ort, die Leute hätten den Schrecken
nicht verdient**. — Er nahm seine Photographie und diejenige seiner „Ersten*' zu
sich, schrieb Name, Wohnung, Heimathsort und Datum der Geburt in sein Notiz-
buch, und wollte auch den Grund seiner Handlung hinzuschreiben; ob er es wirk-
lich gethan, ist ihm nicht erinnerlich. Dann löschte er das Licht, schaute zum
Fenster hinaus, ob Niemand in der Nähe sei, sicherte das Gewehr und warf es,
den Lauf nach vom zum Fenster hinaus in den Garten. Niemand bemerkte es. *)
^) Dieser Brief vnirde ihm später von der Polizei abgenommen. Er ist mit
zierlicner, etwas zittriger Schrift geschrieben und laatet: „Lieber Brader Gottlieb!
Mit schmerzerfülltem Herzen theile Dir noch höflichst mit, dass ich mit . . .*'
*) Das eigenthümliche (^^ebahren, das Zittern, das Zähnefletschen, die Thränen
und das gellende Lachen des Pat. fielen der KeUnerin sehr auf und alles, was er
sagte, wird fast Wort für Wort von ihr bestätigt.
^) Am nächsten 31orgen erzählte er es selbst andeutungsweise der Kostfirau.
Auch fand man im Garten noch die Spuren davon.
Ein Fall Ton epileptischer Amnesie dorch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 141
Hierauf yerliess er das Zimmer. Dronten fragte ihn der Kostmeister, was denn
mit ihm sei, er werde noch verrückt und hiess ihn in die Stube treten, in welcher
zwei Kameraden und die Kostfrau sich befanden. £r gehorchte, verlangte aber
einen halben Liter Wein, da ihm vor Durst der Hals brannte. Als man ihm den
Wein nicht gleich bringen wollte, sprach er mit drohender Gebärde : „dann werde
ich mir schon verscha£fen'^ Der Wein wurde geholt. Fat. fragte, wie viel er koste
und da der Kostmeister nichts annehmen wollte, stellte er IVt Frs. auf den Tisch.
Der Kostmeister sagte, er verkaufe keinen Wein. „Dann rühre ich das Geld auf
den Boden hinunter**, schrie Fat., worauf die Kostfrau das Geld wegnahm mit den
Worten, er werde später froh sein, dasselbe wieder zurückzuerhalten. Sie tranken
nun zusammen und als die Flasche leer war, verlangte Fat. sogleich eine zweite,
worauf die gleiche Geschichte wieder losging, bis die Kostfrau zum zweiten
Mal das Geld zur Aufbewahrung in Empfang nahm. Hierauf zog Fat. seine Uhr
hervor, er wollte sie verkaufen und forderte dafür 5 Frs. Als man ihm die nicht
geben wollte, legte er die Uhr auf den Boden, erhob den Fuss und sagte, wenn
sie keine 5 Frs. werth sei, wolle er sie lieber zertreten, dann bekomme sie gar
Niemand. Als ihm zuletzt nach langem Hin- und Herreden die Uhr für 5 frs.
abgenommen worden war, fing er sofort einen neuen Streit an, und so ging es
weiter unter fortwährendem Zanken und Queruliren, unter beständigen Drohungen
und Andeutungen von Seiten des Fat., dass er etwas Schicksalsschweres vorhabe,
von dem sie keine Ahnung hätten. Während er nun die Leute so quälte und sie
ihn zu beschwichtigen suchten , ging einer der Anwesenden hinaus. Fat. lief ihm
sofort nach, da er ihm nicht traute, um zu schauen, was er thun werde. Einen
Augenblick drauf kamen Beide wieder herein, worauf Fat. sein Glas austrank und
sagte, das sei jetzt sein Abschied, sie sollten sich ihn noch einmal ansehen; vor
Rührung standen ihm die Thränen in den Augen. Er lud die Freunde ein, im
Frohsinn mit ihm seinen Abschied zu feiern; er wolle allein hingehen, sie würden
ihn aber dort treffen.^) Er ging hinaus, verbarg sich draussen und benützte einen
Augenblick, da er Niemanden sah, sein Gewehr, das mit dem Lauf im Boden
steckte, herauszuziehen und sich wie ein Dieb davon zu machen. Beim Heraus-
ziehen des Gewehres schlug er sich den Ellbogen am Gartenzaun an, was ihn
fürchterlich erboste. Auf Umwegen gelangte er zum Frohsinn, versteckte in einem
anliegenden Höfchen sein Gewehr und trat ein, sofort einen halben Liter Wein
fast in einem Zuge leerend. Seine Freunde erschienen und es wiederholten sich
die zu Hause vorgekommenen Scenen. Li Folge von Kleinigkeiten, die Fat. alle
furchtbar tragisch auffasste, gingen die gleichen Zänkereien wieder los und man
hatte jedes Mal die grösste Mühe, ihn zu beschwichtigen. In den ruhigeren Mo-
menten dachte er nach über die Schlechtigkeit, mit der man es mit ihm getrieben
und die ihn jetzt so tief ins Elend gestürzt habe, dass er nicht einmal seinem
^) Die Kostfrau giebt an, sie habe das Geld nicht in Empfang ^enonmien,
dasseloe sei auf dem Tuche liegen geblieben bis zum anderen Morgen. Sie habe im
Geff entheil den Fat. aufgefordert, dasselbe zurückzunehmen, er werde später noch
fron darüber sein. Den ganzen Abend, fügt sie bei, habe Fat. durcheinander ge-
weint, gedroht und gelacht, die Leute misstrauisch und scharf angeschaut, sei oft
plötzlich aufgefahren, um nach der Thür zu sehen, habe Niemand hinausgelassen,
und wenn Jemand dazu Miene machte, gedroht, von dreifachem Mord (??) ge-
sprochen und gesagt, es gäbe sicher noch ein Unglück. Im Uebrigen wird alles
Wort für Wort bestätigt.
142 Carl Graeter.
armen Bruder helfen könne. Das Wasser trat ihm in die Augen Tor Rührung und
vor Schmerz. Einmal schaute er auf die Uhr an der Wand, schoss dann plötzlich
auf, eilte hinaus um zu sehen, ob das Gewehr noch am riohtigen Ort« sei. Drauosen
stiess er mit dem Knie an einen Handkarren. Unter Fluchen und Schimpfen
schlenderte er ihn weg. Darauf erblickte er sein Gewehr, es war noch, wo er et
hingestellt hatte. Beruhigt ging er in die Wirthschaft zurück; sprach aber von
da an mit Niemand mehr ein rechtes Wort. Nach einiger Zeit rannte er wieder
hinaus, fand weder Wagen noch Gewehr und eine furchtbare Aufregung bemächtigte
sich seiner. Als seine Kameraden ihm nachfolgten und auf den Lärm, den er ver-
führte, die Kellnerin mit einem Licht erschien, steigerte sein Aerger sich noch
mehr. Eine hinzugekommene Frau fragte, ob er ein Gewehr suche. £r fuhr sie
an, wenn sie etwas davon wisse, solle sie es sagen. Da erzählte sie, eine Frau
habe dasselbe genommen und in s anliegende Haus hinein getragen. Wuthentbrannt
stürmte er nun auf dieses Haus zu, zog an der Glocke so stark er nur konnte,
polterte an der Thür, schrie und brüllte aus Leibeskräften, bis seine Freunde ihn
mit Gewalt wegzogen. Mit %ielcr Mühe gelang es ihnen allmählich, ihn jsu be-
schwichtigen und auf das Zimmer eines seiner Kameraden za bringen. Dieser ver-
sprach, ihn für diese Nacht nicht aus den Augen zu lassen.
Fat. war die ganze Nacht sehr unruhig und schlief nur ein bischen gegen
Morgen. Schon vor Tagesanbruch machte er sich auf den Weg, sein Gewehr zu suchen.
In den Strassen war noch alles still, es war ßnster und mochte ungefähr halb 6 Uhr
Morgens sein. Fat. ging direct nach dem Frohsinn. Er war zum äussersten ent-
schlossen und hielt für den Fall eines Angriffs seinen Schlagring krampfhaft fest.
Vor dem Frohsinn musste er noch lange warten, bis ihm endlich aufgethan wurde.
Er verlangte sein Gewehr, schmähte, schimpfte, drohte; doch es half ihm nichts.
Erst hielt man ihn hin durch freundliches Zureden; dann zeigte man ihm das Ge-
wehr, das man beim Nachbar geholt hatte, Hess es ihn sogar besichtigen ; nahm ea
ihm aber, während er ein Glas Bier hinabstürzte, rasch wieder weg, auf Nimmer-
wiedersehen. Im Zorn verliess Fat. das Local, da ihm die Kellnerin nicht einmal
mehr Wein oder Schnaps geben wollte. Wieder ging's von einer Wirthschaft in
die andere. Einen Augenblick war er auch zu Hause, um seine Uhr ku suchen,
die er versetzen wollte. Er glaubte sie zu Hause vergessen zu haben, da er sich
angeblich nicht mehr an den gestrigen Vorfall mit derselben erinnerte. Doch er
fand sie nicht und die Kostfrau, bei der er sich nach derselben erkundigte, und
die ihn an den gestrigen Vorfall erinnerte, gab sie ihm nicht heraus.*) So kehrte
*) Die Kostfrau giebt an, sie habe geglaubt. Fat. „thue nur der Gleichen*' sich
nicht mehr an den Vorfall mit der Uhr zu erinnern, um dieselbe eher wieder zu
erhalten. Als sie ihm die TThr nicht geben und ihm den Eingang ins Haus ver-
wehren wollte, soll er nach ihrer Aussage thätlich geworden sem und ihr mit
allerlei Drohungen einen panischen Schrecken eingejagt haben. So z. B. habe er
scharfe Patronen in den Mund genommen und gesagt, wenn sie ihn nicht einlasse,
werde er sofort drauf beisscn, dass es ihm den Schädel versprenge, und mit ihm
das ganze Haus in die Luft jage. Sie liess ihn ein, doch sobald er wieder fort
war, zeigte sie ihn auf der Polizei an. Fat. habe grauenhaft ausgesehen, sinnlos
betrunken, mit blutigem Gesicht, da er mitten auf der Strasse rohes Fleisch ge-
gessen habe. — Was die vom Fat. in den Mund gesteckten Patronen anbelan^
so werden diese von ihm erst gelegentlich der Erzählung eines späteren Anlasses
erwähnt. Er will die Patronen während seines ersten polizeilicnen Verhörs im
Munde gehabt haben. Thatsächlich wurde er aber dort bloss darüber ausgefragt
Ein Fall von epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 143
er unverrichteter Dinge nach dem Frohsinn zurück und wurde um halb 12 Uhr von
der Polizei verhaftet. Nun wurde er von Wache zu Wache, von einer Instanz zur
anderen geführt, und überall wieder von Neuem verhört. SchliessUch kam er gegen
Abend im Frauenmünsteramt , dem polizeilichen Sanitätsposten an. üeber seinen
Aufenthalt daselbst berichtet er uns folgendes: „ Dann ging's durch viele
Gänge in ein Zimmer. Dort sass ein Herr, so viel ich mich erinnere, war er
schwarz gekleidet. Es war schon Nacht. Der Herr, wahrscheinlich ein Arzt, fragte
mich, wie ich heisse, ob ich einen Bruder habe und anderes mehr, — ich weiss
nicht mehr so recht was. Ich konnte nicht recht antworten, verstand auch nicht
alles, was er mich fragte. — Ich kann mich noch erinnern, dass ich immer nach
dem gleichen Ort hinschaute, weil ich dort etwas wie eine Menschengestalt sah.
Der Herr fragte mich, was ich dort sähe. Ich antwortete, ich wisse wohl was und
lachte falsch und ingrimmig vor mich hin. — Dann kam ich wieder in das Arrest-
local, konnte aber nicht schlafen. Rings um mich herum sah ich Menschen, die
auf mich eindrangen. Ich wollte auf sie los, stiess aber mit dem Kopfe gegen die
Wand. Ich fror und zitterte die ganze Nacht und war sehr aufgeregt. Als end-
lich der Morgen kam, führte man mich in ein Zimmer hinauf. Unterwegs fiel mir
auf, dass ich eine blutbefleckte Hand hatte. Als ich darüber nachdachte, woher
das Blut wohl kommen könne, fiel mir ein, dass ich mir Nachts gegen Morgen den
Mund mit der Hand abgewischt hatte. Doch konnte ich mich nicht erinnern, mich
verletzt zu haben. Im Zimmer waren mehrere Herren. Ich kannte aber Niemand. ')
Ich kümmerte mich nicht um das, was um mich vorging. Man bot mir Kaffee an ;
ich weigerte mich, denselben zu trinken. Da wurde er mir zwangsweise ein-
gegossen. Ich gerieth darob in heftigen Zorn. Es schoss wieder in mir auf. Ich
sah eine Menge Leute , die mich auslachten , sprang auf sie zu und schlug auf sie
ein. Es war aber etwas Weiches, auf das ich schlug und ich merkte, dass es
Ueberröcke waren, die an der Wand hingen. Ich hörte jedoch nicht auf zu toben;
68 entspann sich ein Hingen zwischen mir und den anwesenden Herren oder Poli-
^ten, die mich halten wollten. Ich wurde auf den Kücken gelegt und an Händen
und Füssen gefesselt. Ich lag nun am Boden und wusste nicht mehr recht was
geschah. Ich hörte so etwas von Spital und Telephoniren, wurde weggetragen in
einen Wagen und dann gings fort, wahrscheinlich hierher.'*
Dies alles erzählte Fat. in der IV. Sitzung vom 30. Nov. Als er geendet
hatte, war er nicht wenig aufgeregt, aber erleichtert und froh, dass er die Sache
endlich herausgebracht. Bis dahin — meinte er — habe er an die Geschichte mit
dem Gewehr nicht recht geglaubt, doch jetzt sei er ganz davon überzeugt, ,.es sei
ihm jetzt, als habe er einen Stein vom Herzen, da er aus dieser Ungewissheit
heraus sei. Auch werde er sich in Zukunft wohl hüten, wieder zu trinken. Kein
Tropfen Alkohol solle mehr über seine Lippen kommen; denn so etwas wolle er
ein zweites Mal nicht wieder durchmachen.
Während der Erzählung wuchs die Aufregung des Fat. von Etappe zu Etappe.
Bei dem Selbstmordversuch erreichte sie ihren Höhepunkt und blieb fast bis zu
Bnde auf demselben stehen. Dabei wurde seine Sprache lallend, sein Blick bald
Der übrige Inhalt der endlosen, mit der Kostfrau geführten Gespräche, ist, sonst
Wort für Wort bestätigt, der Kürze halber hier weggelassen worden.
^) Obschon der Stodtarzt, der ihn am Abend verhört hatte, auch unter den-
selben war.
144 C^ Gnteter.
finster drohend, bald stier in sich gekehrt oder miBstranisch und laaemd. Oft
übermannte ihn der Zorn, sein Blick wurde starr; er ballte die Faust und rer-
wünschte anter Fluchen und Schimpfen seine Widersacher und sein Gesicht ra
einem schmerzhaften Orinsen Tendehend, brach er darauf wieder in sein bitteres,
hämisches, sich selbst verhöhnendes Lachen aus, wobei sein Blick den unheimlichsten
Ausdruck annahm. — Kurz, er lebte alles noch einmal durch. Es war ihm dabei
so bitter ernst, seine Angaben lauteten alle so bestimmt, so klar und pracia, und
alle die kleinen Details waren so natürlich wiedergegeben, dass es unmöglich war,
an der Bichtigkeit seiner bewegten Erzählung zu zweifeln. Und doch stimmte
etwas nicht. Es fehlte in der Erzählung ein Tag: Der Pat. wurde nicht am
Donnerstag, wie er behauptete, sondern erst am Freitag ins Burghölzli gebrachL
Dieser Irrthum des Pat. schien mir bei der einförmigen Lebensweise des Fat. am
wahrscheinlichsten dadurch zu Stande gekommen zu sein, dass sich Pat. an zwei
Tagen um die gleiche Zeit in der gleichen Situation befunden hatte und in der
Erzählung bei der ersten angekommen, dieselbe mit der zweiten yerwechselte und
im Anschluss an diese letztere in seiner Erzählung fortfuhr. Hiedurch kamen die
Erinnerungen an die Ereignisse des dazwischen liegenden Tages nicht zur Asso-
ciation. Ganz ähnlich war es ihm ja schon einmal aus Anlass seines Mittagessens
im Cafe Bema ergangen (vide pag. 139). Das Weitere wird uns über die Richtig-
keit oder Unrichtigkeit meiner Vermuthung belehren. Einstweilen wurde dem
Pat. davon noch nichts gesagt, in der HofiGuung, dass er auch diesmal von selbst
auf seinen Lrthum kommen werde.
Von dem Auftreten der Gesichtshallucinationen an im Frauenmünsteramt, am
Abend des 17. Nov. (resp. des 18.) ^) scheint die Bewnsstseinsstörung des Pat. einen
höheren paroxysmellen Grad erreicht zu haben. Am Morgen des 18. (resp. 19. Not.)
ging sie allmählich, vielleicht aber auch plötzlich, vielleicht nach einem Augenblick
totaler Bewusstlosigkeit in den von uns am 19. beobachteten stuporösen Dämmer-
zustand über und scheint dementsprechend auch einen tieferen Grad von Amnesie
hinterlassen zu haben. Die Amnesie scheint hier in diesem Augenblicke entstanden
zu sein und sich von diesem Zeitpunkt an vorwärts, über die Zeit des Dämmer-
zustandes, rückwärts, als retograde Amnesie, über die Erinnerungen der früheren
Tage entwickelt zu haben. Dieser leichtere retrograde Theil der Anmesie wäre
somit au%eklärt. Ob uns dies auch für den noch übrigen, primären, dem Dämmer-
zustand entsprechenden Theil gelingen werde, sollte die Zukunft entscheiden.
Am 1« Bez. wird Pat. nicht hypnotisirt. Er erzählt oder dictirt dem IUI
die gestrige Geschichte noch einmal und zwar mit den gleichen Worten und iast
mit der gleichen Ausführlichkeit, ohne dass ihm dabei etwas Neues einfällt.
Auch die nächste Sitzmig vom 2. Dez« förderte, wie zu erwarten war, nicht
viel Neues an den Tag. Die spärlichen Erinnerungen nach der ersten Hjrpnose
sind undeutlich, nebelhaft; sie werden unsicher und bruchstückweise vorgebraeht
mit den beständigen Zusätzen: „ich glaube" und „ich weiss nicht recht". Eine
zweite kurz darauf hervorgerufene Hypnose bringt etwas mehr Klarheit in die
Situation. Neue Erinnenmgen treten in den Gesichtskreis. Die alten werden
schärfer und ihre Einzelheiten deutlicher erkannt. Doch lassen sie alle an Sohärfa
und Klarheit noch sehr zu TTvninschen übrig, so dass es den weiteren Sitzungen vor-
*) Vide Berichtigung vom 4. December (pag. 145).
Ein Fall von epileptischer Amnesie darch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 145
behalten bleibt, sie besser auszumalen und zu einem wohlbegründeten Gtanzen zu-
«ammenznfdgen.
Einige Beispiele werden den Vorgang leicht verständlich machen. Nach der
ersten Hypnose sagt er unter anderm, er erinnere sich noch dunkel an ein grosses
Gebäude, eine Treppe und ein Zimmer, in das er nach Beendigung der Fahrt ge-
führt worden sei. Er würde es aber nicht wieder erkennen. Einige Herren hätten
ihn ausgefragt, dann sei er durch einen langen Gang geführt imd, wenn er nicht
irre, auch gebadet worden. — Wo ihm die Fesseln abgenommen worden, ob die
Herren, die ihn ausgefragt, schon Yor ihm im Zimmer gewesen seien und ob er
wirklich gebadet habe u. s. w., wisse er nicht anzugeben und hege darüber bloss
Vermuthungen.
Nach der zweiten Hypnose sagt er mit ziemlicher Bestimmtheit, er erinnere
sich jetzt, dass man ihm im Wagen die Fussfesseln und im Zimmer die Hand-
fesseln abgenommen, dass die Herren erst nach ihm eingetreten seien. Ja selbst
über die vollständige Bartlosigkeit des einen, der nach seinem Namen, seinem AUer
und anderen Einzelheiten sich erkundigt habe, konnte er Auskunft geben; über
das Bad spricht er sich mit Bestimmtheit aus und erinnert sich, daselbst gezittert
und gefroren zu haben und alsdann durch Gänge, eine Treppe hinauf und ins Bett
geführt worden zu sein, was alles der Wirklichkeit entspricht (wie es mir nach
vollständiger Beendigimg der hypnotischen Sitzungen von den Mitbetheiligten be-
stätigt worden ist).
Am 3* Bee« wird Fat. nicht hypnoüsirt, erhält aber die Mittheilung, dass er
nicht Donnerstag den 18. , sondern Freitag den 19. seinen Eintritt ins Bnrghölzli
gemacht habe und somit ein ganzer Tag in seiner Erinnerung fehle.
TL Sitzung vom 4* Bec« Fat. ist seinem Fehler noch nicht auf die Spur
gekommen, er wird deshalb in der Hypnose noch einmal darauf aufmerksam ge-
macht und aufgefordert, genau auf den Fehler zu achten, während Ret ihm kurz
«eine ganze von ihm erzählte Geschichte noch einmal vor Augen führen werde,
wie es schon am Tag vorher im Wachzustand geschehen sei, dann werde er sicher
auf den Fehler kommen und alle bestehenden Lücken in der Erzählung ausfüllen
können.
Nach dem Aufwachen behauptet er noch eine Zeit lang mit der grössten Be-
stimmtheit, er sei am Mittwoch verhaftet und am Donnerstag hierher gebracht
worden bis er plötzlich stutzig wird und sagt : „Nein, es kann doch nicht sein, denn
als ich auf dem Polizeiposten verhört wurde, hiess es, es sei der 18. Nov., dass
wäre also nach unserer Rechnung Donnerstag und somit wäre ich Donnerstag ver-
haftet und Freitag ins Burghölzli gebracht worden und hätte am Mittwoch und
nicht am Dienstag meine Nothmunition geöffiiet*\ Ein Gedanke ruft den anderen
und im Nu ist der ganze Irrthum aufgeklärt.
Am Dienstag Nachmittag, den 16. Nov. kommt Fat. nach dem Vorfall mit dem
Färber im Frohsinn an. Dort fragt ihn, wie wir gesehen haben, die besorgte
Kellnerin, wo es ihm fehle. Er antwortet ihr, er sei nicht katholisch und brauche
ihr nicht zu beichten etc. (vergl. pag. 140). Nan schreibt er aber nicht den oben
erwähnten Brief, sondern versucht die Zeitung zu lesen, woran ihn jedoch seine
Aufr*egung verhindert. Er zittert, hat Kopfschmerzen etc., geht fort in alle mög-
lichen Wirthschaften. Er schwankt , ist ganz verwirrt und kommt um Mittemacht
nach Hause, erfüllt von den trübsten und unglücklichsten Gedanken. Doch an
Zeitschrift für Hypnotismus eto. ym. 10
146 Oui Gneter.
Selbstmord dachte er noch nicht. Nachts schlief er schlecht und hatte einen
Traum. Es träumte ihm von Särgen. Er erwachte am Mittwoch mit Kopfweh«
brennendem Gefühl im Hals und Durst. Er fürchtete einen Hirnschlag su be-
kommen und zitterte am ganzen Körper. Nichtsdestoweniger trat er seine tägliehe
Wanderung an, unterwegs sich stärkend mit Schnaps, Wein, Bier und Magenbitter.
Sein Traum verfolgte ihn, er fragte sich beständig, ob wohl die Säige etwas su
bedeuten hätten.
Die alten Gedanken stiegen wieder in ihm auf, er wurde traurig, machte
sich und dem Schicksal Vorwürfe darüber, dass er seinem Bruder nicht geholfen
habe u. s. w.
Und jedes Mal, wenn die Wuth gegen den Keller wiederkehrte, brauste er
auf, verliess das Wirthshaus, in dem er sich gerade befand, ging in ein anderes
und dort ging die gleiche Geschichte von Neuem an.
G^gen 2 Uhr gelangte er glücklich wieder in den Frohsinn. Wieder fragte
ihn die Kellnerin, was ihm denn fehle, und wieder antwortete er ihr, er sei nicht
katholisch und brauche nicht zu beichten. Daraufhin versuchte er den oben er^
wähnten Brief zu schreiben und hernach fasste er den Entschluss , sich das Leben
zu nehmen, was ihm jedoch, wie wir weiter sahen, misslungen ist.
Der Irrthum kam also dadurch zu Stande, dass Fat. bei der Unterredung mit
der Kellnerin in seiner Erzählung vom Dienstag Nachmittag auf den Mittwoch
Nachmittag überspringt, wo er sich in der gleichen Situation befand. Dieser
Associationsfehler wird dadurch sehr erleichtert, wenn nicht geradezu verursacht,
dass ihm seine Kameraden am 28. Nov. unrichtiger Weise gesagt hatten, er habe
am Dienstag mit Gewehr und scharfen Patronen manipalirt und sei am Mittwoch
verhaftet worden, während in Wirklichkeit alles einen Tag später geschah.
Ueber seine Erlebnisse im Fraumünsteramt macht Fat. noch einige erwähnens-
werthe Zusätze, von welchen wir die folgenden anfuhren : „Auf dem Sanitätsposten
fragte mich der Arzt, d. h. der Herr im schwarzen Kleid, ob ich nicht einen
Bruder habe mit einem schwarzen Bart, der schwermüthig sei und ins Spital ver-
bracht wurde, weil er bei einem Starz von einer Tanne die Kniescheibe gebrochen
hatte. Ich wollte antworten und sagen, ja, das sei mein Bruder, brachte aber kein
Wort hervor. Das regte mich auf. Meine Beine und Arme zogen sich krampfhaft
zusammen. Dann übernahm mich wieder die Wuth auf diesen Keller, den ich
jetzt wie einen Schatten vor mir sah, so dass ich immer nach dem gleichen Ort
hinschaute und mich der Herr fragte, was ich dort eigentlich sähe u. s. w. (wie
schon oben erzählt). Später glaubte ich wieder, ich sei in einer Wirthsohaft, lachte
wie ein Verrückter, verlangte Wein und Bier, hielt den Arzt für den Wirth, baute
die Fäuste, stiess allerlei Verwünschungen aus und wurde immer wirrer im Kopf
u. 8. w. — Schliesslich führte man mich in das Arrestlokal, durch einen weiten
Gang an einem Brunnen vorbei, an dem ich Wasser trank. Nachdem man mir
die Schuhe entfernt hatte, legte ich mich auf die Fritsche, konnte aber nicht
schlafen, denn alsbald sah ich zwei Gestalten, den Zumstein und den Keller, die
auf mich eindrangen. Ich fuhr auf sie los, stiess aber an die Wand, stürzte kraftlos
zu Boden und blieb einige Augenblicke liegen, bis das Treiben von Neuem begann.
So ging's die ganze Nacht. Selten kamen einige ruhigere Momente, in denen ich
über all mein Elend nachdenken konnte. Mir war's als drehe sich alles in meinem
Kopfe. Ich hatte starkes Kopfweh, Ohrensausen; zitterte und fror. Auch die
Ein Fall yon epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 147
Zunge that mir einmal weh, ich wischte mir den Mund mit der Hand ab und am
Morgen merkte ich, dass ich Blut am Finger hatte u. s. w.'*
Der Stadtarzt, dem nachher die Erzählung des Fat. zur ControUe unterbreitet
wurde, sagt, Fat. sei am Donnerstag Abend, als er ihn sah, fortwährend in sich
zusammengekauert auf seinem Stuhl gesessen und habe fast immer nach dem
gleichen Orte hingeschaut, gelacht, geschimpft, mit den Zähnen gefletscht, gepoltert,
habe ihn wirklich für einen Wirth gehalten und Wein von ihm verlangt. Auch
die krampfhaften Contractionen seiner Arme und Beine seien von ihm beobachtet
worden. Es stimme sozusagen alles. Nur von dem schwermüthigen Bruder mit
der Fatellarfractur, wisse er nichts. Er habe den Fat. allerdings nach seinen Ge^
schwistem gefragt und speciell nach dem Bruder, an welchen dieser den angefangenen
Brief adressirt hatte. ^) Von einem anderen Bruder und dem Sturz von einem
Baume sei aber nie die Rede gewesen. Hingegen habe Fat., ab man ihm die
Schuhe auszog, mit dem Fuss einen der Folizisten einen derartigen Schlag auf das
Knie versetzt, dass derselbe jetzt noch (3 Wochen nach dem Vorfall) an seiner
Contusio genu darnieder liege. Am folgenden Morgen habe er darauf den Fat.
gefragt, ob er wisse, dass er vorigen Abend einen Folizisten am Knie verletzt habe.
Fat. habe ihm darauf nicht geantwortet. Es sei möglich, dass Fat. die Frage nach
seinem Bruder und die Frage nach der Knieverletzung zusammengeworfen habe.
Eine vernünftige Antwort habe er von ihm nie erhalten können.
Bleibt uns noch die letzte Vii* Sitzmig TOm 5. Bee. zur Besprechung ttbrig.
Durch eine erste Hypnose wird nichts wesentliches zu Tage gefördert und Fat.
ein zweites Mal und zwar diesmal im Wachzustand hypnotisirt, cataleptisch und
anästhetisch gemacht. Darauf wird ihm ein „Nervenstrom" im Kopf suggerirt, der
alles Neblige noch vollständig aufklären soll. In diesem Zustand direct befragt,
^ebt uns Fat. in zusammenhängender Weise einen vollständigen, mit zahlreichen
Details bespickten Bericht über seine Ankunft und seinen Aufenthalt im Burghölzli,
bis zum Zeitpunkt, da er wieder vollständig bei klarem Verstände war. Seine Aus-
sagen werden nachträglich alle mit Ausnahme eines kleinen Irrthums vom Aerzte-
und Wartpersonal bestätigt.
Somit wären wir mit der AufkläruDg der Amnesie an unserem
2iiele angelangt. Dass dem Fat. die Erinnerungsfähigkeit durch Sug-
gestion wiedergegeben wurde, daran wird jetzt Niemand zweifeln können.
Höchstens könnte noch eingewandt werden, dass die Erinnerungen nach
einigem Zuwarten von selbst, ohne jede fremde Hülfe wieder hätten
auftauchen können. Dem haben wir jedoch entgegenzuhalten, dass, wie
wir weiter oben schon bemerkten, bei unseBem Fat. solche Amnesien
schon aus früheren Jahren her (1894 und 95) bestanden, die zwar nur
jeweilen einen Tag umfassten, aber trotz ihrer geringen Ausdehnung
bis jetzt noch keine Spur einer Heilung zeigten. Ich unternahm nun
das Ezperimentum crucis und suchte in drei weiteren Sitzungen durch
Suggestion den Fat. auch von diesen Amnesien zu befreien, was ohne
^) Die beiden Brüder sind nicht identisch.
10*
148 C)arl Oraeier.
Weiteres gelang. Trotz der Jahre, die seit der Entstehung derselben
verflossen waren, konnten noch einige Angaben aus den ausführlichen
Erzählungen des Fat. sicher bestätigt werden.
In zwei Fällen handelte es sich um eine Art von Dipsomanie. Nachdem Fat.
schon eine ganze Woche, angeblich in Folge eines schweren Kommers, mehr ab
gewöhnlich getrunken hat, macht er sich eines Sonntag Morgens schon in aller
Erühe auf die Beine, zieht den ganzen Tag von einem Wirthshaus in das andere,
überall Schnaps, Wein, Bier in unglaublichen Mengen durch die Gargel jagend.
Im ersten Fall wurde er Nachts um 11 Uhr bewusstlos mit blutendem Gesicht auf
der Treppe des Hauses gefunden und hineingetragen ; das zweite Mal war er glück-
lich zu Hause angekommen und eben im Begriff sich, wie schon erzählt, das Messer
in die entblösste Brust zu stossen, als ein Freund in sein Zimmer trat und ihm
in den Arm fiel, so dass das Messer abglitt und Fat. mit einer blossen Scharfang
davon kam. Beide Male wusste er am folgenden Tage nichts von dem Yor&lL
Der ganze vorher gehende Tag war überhaupt vollständig aus seiner Erinnerong
geschwunden. Beide Male war Fat. 3 Tage lang noch stark benommen and Utt
noch eine volle Woche an heftigem Kopfweh. Eine dritte Amnesie, ebenfalls aas
dem Jahre 1894, verdankte ihren Ursprung einem leichten Erampfanfall und er-
streckte sich auf die Zeit von ca. 2 Stunden, lieber diese und sogar über den
Krampfanfall selbst machte Fat. im hypnotischen Schlaf sehr bestimmte und ziem-
lich detaillirte Angaben, die aber leider keiner üontroUe unterzogen werden
konnten, weshalb ich sie hier übergehe.^)
Becapitnlation ; Amnesie; weiterer ErankheitsTerlauf; Diagnose.
Bevor wir an die Besprechung einzelner Symptome und der weiteren
BeobachtuDgen am Fat. während seines Anstaltsaufenthaltes übergehen
und zur Aufstellung einer Diagnose schreiten, wollen wir das aus der
Erzählung des Fat. gewonnene Krankheitsbild kurz noch einmal zu-
sammenfassen.
Die Entstehungsgeschichte der letzten Amnesie des Fat. ist eine
ähnliche wie die der beiden früheren eintägigen Amnesien. Nachdem
Fat. wieder eine ganze Woche sinnlos getrunken, finden wir ihn an
einem Nachmittag, es war Samstag, den 13. Nov. 1897, in trauriger
missmuthiger und gedrückter Stimmung. Er schlendert durch die
Strassen der Stadt, schleppt sich von Ejieipe zu Kneipe, ärgert sich
über alles; ist nachdenklich, in sich gekehrt und brütet und grübelt
über sein Schicksal nach, speciell über eine elende Schwindelei, der er '
vor einiger Zeit zum Opfer gefallen und die ihm seine schönsten Aos-
wanderungs- und Zukunftspläne vernichtet hat. Abends kehrt Fat
betrunken mit schwankendem Gang nach Hause zurück. Dies geschieht
^) Vergl. über diese Amnesien die Anamnese, pag. 133.
£iii Fall von epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 149
alles zu eioer Zeit, da seine Leidensgefährten, die der gleichen Schwin-
delei zum Opfer gefallen waren, längst wieder zu ihrer gewohnten
Arbeit zurückgekehrt sind. So lebt er Tag für Tag dahin. Seine
trübe Stimmung und seine Reizbarkeit nehmen zu; er ist beständig
aufgeregt und aus seinen Grübeleien kristallisirt sich ein Gedanke
immer deutlicher heraus, — die Wuth über diese beiden Schwindler,
den Keller und den Zumstein, die mit der Kasse der Auswanderungs-
gesellschaft durchgebrannt sind und die jetzt allein an all seinem Elend
Schuld sein sollen, — eine typische Grübelei für einen Epileptiker
oder epileptisch veranlagten Alkoholiker.
Am Dienstag, den 16. Nov., verspürt er am Nachmittag plötzlich
ein starkes Stechen im Kopf, es ekelt ihm vor dem Essen; er wird
unruhig ; seine Aufregung nimmt zu ; er zittert ; wird je länger je mehr
in sich gekehrt, reizbar und verstockt. Er fühlt aller Leute Augen
auf sich gerichtet, glaubt sich verfolgt und hält sich zur sofortigen
Vertheidigung bereit. Nachts schläft er schlecht und träumt von Särgen.
Am folgenden Tag verfolgt ihn der Traum, dessen Bedeutung er
zu ergründen sucht, bis er plötzlich am Nachmittag in einem Augen-
blick, da ihn der Gedanke an sein allzugrosses Elend überwältigt, den
festen Entschluss fasst, sich das Leben zu nehmen. Vorher will er
aber noch alles "versaufen", was er hat. Von da an hat er keine Ruhe
mehr. Es treibt ihn in wilder Flucht von Wirthshaus zu Wirthshaus.
Die gestrigen Symptome, — Aufregung, Kopfschmerzen, Tremor, Durst,
brennendes Gefühl und Trockenheit im Hals, der leichte Verfolgungs-
wahn, — haben alle an Stärke zugenommen. Zu alledem hört er
heute noch beständiges Geflüster um sich herum, ohne jedoch Jemand
zu sehen.
Seine Aufregung wächst, er geht nach Hause, dort begeht er das
Unerhörte und erbricht die Patronenbüchse. Nachdem er das Gewehr
geladen, wirft er es zum Fenster hinaus, um sich draussen unbemerkt
davon zu machen und sich das Leben zu nehmen. Wechselvoll wie
seine nunmehrigen Schicksale ist auch seine Stimmung, besonders bei
dem Abschied, den er von seinen Bekannten und vom Leben nimmt.
Bald ist er weich gestimmt und zu Thränen gerührt, bald lacht er in
sich hinein voll Ligrimm und Hohn. Im nächsten Augenblick schon
fangt er wieder an vor Wuth und Zorn mit den Zähnen zu knirscheUi
die Fäuste zu ballen, auf den Boden zu stampfen, zu fluchen, zu
schimpfen und zu queruliren. Seine Rohheit und Brutalität kennt dabei
keine Grenzen. Daneben ist er voll Misstrauen und Argwohn gegen
160 Carl (htteier
alle Menschen. Er wittert fortwährend einen Anschlag auf seine Person
und befürchtet sein Plan, sich das Leben zu nehmen, könnte entdeckt
und sein Gewehr entwendet werden. Das Letztere geschieht wirklich
und kaum wird er es inne, als ein Wuthanfall bei ihm ausbricht. Mit
Mühe und nur unter Anwendung von Gewalt lässt er sich beschwich-
tigen und auf das Zimmer eines Freundes bringen.
Dort verbringt er eine sehr unruhige, fast schlaflose Nacht und
am Morgen des 18. XI. beherrscht ihn nur noch der Gedanke, sein
Gewehr zu suchen imd — zu Trinken. Sein Bewusstsein scheint schon
etwas mehr gestört. Nur zum Theil erinnert er sich an seine gestrigen
Anfalle. Er beginnt allerlei sinnlose Handlungen, so dass seine Um-
gebung nicht mehr an seiner Verrücktheit zweifelt, und ihn auf der
Polizei anzeigt. So z. B. wirft Pat. mitten auf der Strasse seinen Hut
zur Erde, tanzt darauf herum, singt und heult und lacht und schimpft
in wildem DurcheiDander. Er nimmt Patronen in den Mund und beisst
darauf, um seinen Schädel zu zersprengen, das ganze Haus in die Luft
zu jagen u. s. w. Er achtet immer weniger auf seine Umgebung. Was
man ihm sagt, versteht er oft falsch oder gamicht. Manches übersieht
er oder giebt ihm eine falsche Deutung. Das Alles ist aus seiner Er-
zählung in der Hypnose deutlich zu erkennen, indem er immer mehr
von seinem subjectiven Befinden, dagegen w^eniger von seiner Umgebung
spricht, auch etwas mehr Fehler in seine Erzählung einschleichen läset.
Am Abend fangt er an zu hallucinireu und zu deliriren. Da er sich
in einem Wirthshaus glaubt, hält er den Arzt für den Wirth. Seine
Aufregung erreicht den Gipfelpunkt. Den Lehrer Keller erblickt er
in schattenhafter Gestalt vor sich, während sich seine Glieder krampf-
haft zusammenziehen. Nachts wiederholen sich diese Delirien in kurzen
Intervallen. Er sieht immer zwei Gestalten vor sich (den Keller und
den Zumstein). Sie dringen auf ihn ein; er setzt sich zur Wehr;
springt auf sie zu; stösst mit Kopf und Füssen an die Wand des
Arrestlokales, die er negativ weghallucinirt hatte. Erschöpft fällt er
zu Boden und bald darauf fängt die Jagd von Neuem an. Die ganze
Nacht wird Pat. von seinen Hallucinationen geplagt. In etwas luci-
deren Intervallen hat er Ohrensausen und Augenflimmem, und sein
Kopfweh und Tremor sind stärker denn je. Auch schmerzt ihn einmal
seine blutende Zunge, an der er sich irgend eine Verletzung zuge-
zogen hat.
Am Morgen verweigert er die Nahrung, kennt seine Umgebung
nicht mehr, kümmert sich auch nicht um sie. Nach einem letzten
£in Fall Yon epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 161
deliriösen Anfall geht sein Aufregungszustand allmählich in einen
stuporösen Dämmerzustand über. In diesem Zustand kommt er in die
IrrenheUanstalt. Er ist sehr stark benommen^ hat noch heftiges Kopf-
weh, kümmert sich nicht um seine Umgebung, wUl weder hören noch
sehen, was um ihn hemm vorgeht und wünscht nur, dass man ihn in
Suhe lasse. In sich gekehrt, reizbar und verstockt, versunken in stumpf-
sinniges Brüten reagirt er nur auf sehr energisches, eindringliches
Fragen. Auf complicirtere Fragen antwortet er überhaupt gamicht,
oder nur mit einem abweisenden, gereizten „Ja^. Die Ereignisse der
letzten Tage hat er vollständig vergessen; er weiss nur noch, dass er
Nachts sehr wenig geschlafen, weil zwei „Kerle" ihn beständig gequält
hätten, doch auch das entschwindet seinem G^edächtniss im Laufe des
Tages.
Am Morgen des 20. Nov. ist er wieder bei klarem Verstände,
zeigt sich aber für die letzten 7 Tage vollständig erinnerungslos und
leidet überhaupt an einem schlechten Gedächtniss, was an Folgendem
zu erkennen ist.
Am Samstag Morgen, den 20. Nov., weiss Fat. noch, dass er in
der Nacht von Freitag auf den Samstag wenig geschlafen, weil fort-
während einer sang, „ich hatt' einen Kameraden'^ Dienstag, den 20. Nov.,
weiss er nichts mehr davon. Ueberhaupt hat er am Dienstag nur noch
ganz vage Erinnerungen über das, was er am Samstag, Sonntag und
sogar am Montag gethan hat. So glaubt er, er sei am Sonntag Morgen
wieder zu sich gekommen und habe am Sonntag Morgen den Wärter
gefragt, wo er sich befinde und wieso er hierher gekonmien sei, während
sich das Alles am Samstag Morgen ereignet hatte. Er erinnert sich
nicht, am Montag Morgen bei der grossen Visite den Referenten und
einige andere Herren gesehen zu haben, während er später in der
Hypnose sich an alle Anwesenden genau erinnert, sogar derjenigen
Herren, die er seither nicht mehr erblickt.
Das Kopfweh des Fat. verschwand allmählich im Laufe des 20. Nov.,
zeigte aber am Nachmittag des 21. ohne äussere Ursache plötzlich
«ine starke Exacerbation, um nachher vollständig wieder zu verschwinden.
Nachdem das Bewusstsein des Fat. wieder hergestellt war, wurde
mit der Hypnose begonnen, um den Fat. 1. von seiner Amnesie zu
befreien und 2. um ihm die Totalabstinenz von alkoholischen Getränken
zvL erleichtem.
Bei dem successiven Wiederauftauchen der Erinnerungen entpuppte
sich auch nach und nach die Natur der Amnesie, d« h. des Symptomes,
152 Carl Graeter.
das uns hier vor Allem interessirt. Nach den Bezeichnungen von Rib ot ^
ist sie eine totale temporäre, nach Janet^) eine localisirte, theilweise
retrograde Amnesie. Der retrograde Character derselben, zeigte sich
erst bei ihrer Aufhebung. Denn erst bei ihrer Aufhebung wurden wir
durch die Erzählung des Pat. bekannt mit seinem Geisteszustand aus
und vor der Zeit der Entstehung der Amnesie, und dieser Geistea»
zustand, die daraus resultirenden Handlimgen und die Art des Wieder-
auftauchens der Erinnerungen an dieselben, geben die Anhaltspunkte
ab, nach denen man bei einer Amnesie unterscheidet: 1. Einen pri-
mären, dem Dänmierzustand, der die Amnesie verursachte, entsprechen-
den Theil und 2. einen retrograden Theil. Dieser retrograde Theil^
entstanden im Anschluss an den primären, erstreckt sich, von Beginn
der Geistesstörung an, nach rückwärts auf die vorhergehenden Tage.
Bei unserer Amnesie sind die beiden Theile, nicht, wie bei den meisten
retrograden Amnesien, scharf von einander abgegrenzt, sie gehen all-
mählich in einander über, wie auch die Bewusstseinsstörung nicht
plötzlich, sondern allmählich sich entwickelte.
Am Anfang der Erzählung des Fat., d. h. also bei der Aufklärung
des retrograden Theiles der Amnesie, lauten die Angaben, gleich beim
ersten Auftreten der Erinnerungen bestimmt, klar und präcis; auch
sind sie wohl geordnet nach den Gesetzen der Association.
Mit dem Bericht über das Auftreten der Hallucinationen und dem
Eintreten des Dämmerzustandes am 5. und 6. Tage der vergessenen
Zeitperiode, werden die Erinnerungen nebelhafter, unklarer. Sie sind
in der Hypnose viel schwerer hervorzurufen. Bei ihrem ersten Auf-
treten sind sie meist nicht in logischer Weise mit einander verknüpf^
sondern wie Bilder aus einer nebelhaften Landschaft treten sie zunächst
einzeln, da und dort, mit undeutlichen verschwommenen umrissen aus
dem Dunkel der Amnesie hervor, zuerst diejenigen, die beim Entstehen
den stärksten Eindruck hinterlassen hatten und erst nach, durch weitere
Hypnosen, gesteigerter Erinnerungsfähigkeit reihen sich in logischer
Verknüpfung die übrig bleibenden an ; die Ersteren selbst werden dabei
klarer, deutlicher, mid das Ganze gestaltet sich zu einem einheitlichen
Bilde, das allerdings stellenweise noch einige kleine Lücken aufweist.
Am Anfang werden diese Erinnerungen aus der Zeit des Dämmer-
zustandes mit den beständigen Zusätzen „ich glaube^', „es scheint mir^^
und „ich weiss nicht recht*' hervorgebracht, und erst in den späterem
') Ribot, Das Gedächtniss und seine Störungen.
-) Janet, PAmnesie hysterique (Arch. de Neurol. XXIV. 1892). "
Ein Fall von epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypennnesie beseitigt. 153
Hypnosen gelangt Fat. zur sicheren Ueberzeugung, dass die Sache sich
wirklich „so^^ zugetragen habe.
Wir sagten, dass diese Störung des Gedächtnisses gleichzeitig sich
ausbildete mit dem Auftreten der Hallucinationen des Fat. am Abend
des 5. Tages der vergessenen Zeitperiode.
Aber schon vorher, nämlich im Laufe des 5. Tages und am Abend
des 4. Tages, zeigen sich einige Vorboten derselben, indem Fat. in
seiner Erzählung über diese Zeit, sich manche Ungenauigkeiten und
Fehler zu Schulden kommen lässt, und am Morgen des fünften die
Vorfalle des vorhergehenden Abends zum Theil vergessen hat.
Diese letztere Thatsache zeigt uns deutlich, dass, in diesem Falle
wenigstens, die primäre totale Amnesie in Beziehung auf ihre Entstehung,
nichts Anderes als eine hochgradige, continuirliche Amnesie ist, indem
die während des Dämmerzustandes erworbenen Sinneseindrücke nur sehr
kurze Zeit im Bewusstsein haften bleiben und sofort „dissociirt" werden.
Dafür sprechen noch : erstens, das aUmähliche Ausklingen der Bewusst-
seinsstörung in eine sogenannte Gedächtnissschwäche, die ja nichts
Anderes als eine continuirliche Amnesie ist, und zweitens der Umstand,
dass sich Fat. bei seinem Eintritt ins Burghölzli noch erinnert, in der
Nacht von zwei „Kerlen" verfolgt worden zu sein, dasselbe aber rasch
Tergisst.
Was die Fehler und Ungenauigkeiten in der Erzählung betriflft, so
scheint es mir hier am Flatze, dieselben etwas näher ins Auge zu fassen,
da das Studium derselben für das Verständniss der Amnesie und deren
Beseitigung nicht ohne Wichtigkeit ist.
Zunächst begegnen wir solchen Irrthümem, wo Treue und Schärfe
der einzelnen Erinnerungsbilder nichts zu wünschen übrig lassen, aber
die zeitliche Reihenfolge derselben gestört ist. Sie beruhen auf einer
fehlerhaften Association, wie folgendes Beispiel beweist:
Am Mittwoch Nachmittag wiederholt sich unter gleichen Umständen ein Vor-
faU, der am Dienstag Nachmittag passirt war. Im Augenblick, da nun Fat. in seiner
£rzählung an diesem Vorfall vom Dienstag Nachmittag angelangt ist, entgleist er
and springt auf den Mittwoch Nachmittag über, alle Ereignisse vom Mittwoch
Abend an den Vorfall vom Dienstag Nachmittag anreihend.
Dies geschieht um so leichter, als er, durch eine diesbezügliche Mittheilung
seiner Kameraden vor der Hypnose irre geführt worden war. Es hatten ihm diese
gesagt, dass sein Selbstmordversuch am Dienstag Abend stattgefunden habe, während
er sich thatsächlich am Mittwoch ereignet hatte (vergl. pag. 145).
Gewöhnlich bleibt nun dadurch, wie auch dieses Beispiel zeigt, im
Gedächtniss eine Lücke bestehen, deren sich Pat. gar nicht bewusst
164 Carl Graeter.
wird. Es bleiben eine Anzahl von Erinnerungen dissocürt.
für diese At]^ von Fehlem ist, dass Pat. mit der grossten Bestimmtheil
auf seinem Irrthnm beharrt. Die Treue und Klarheit der ESrinnerungs-
bilder verleihen ihm das Geflihl der Sicherheit. Dies dauert so lang,
bis Fat. plötzlich durch einen zufälligen EinfiEdl oder irgend eine Ueber*
legung sieht, dass etwas nicht stimmt, den Lapsus entdeckt und nun
Schlag auf Schlag die noch fehlenden Erinnerungen associirt Diese
Fehler sind natürlich in der gesteigerten Erinnerungsfähigkeit der
Hypnose viel seltener als bei Reminiscenzen aus dem täglichen Leben
im Wachzustand. Nichtsdestoweniger kommen sie in unserem Falle
auch bei der Aufklärung des retrograden Theiles der Amnesie vor,
was bei der grossen Gleichförmigkeit im Leben des Pat. nicht zu ver-
wundern ist.
Eine zweite Kategorie von Fehlem findet sich fast nur bei der
Wiederherstellung des Gedächtnisses für den primären dem Dämmer-
zustand entsprechenden Theil der Amnesie. Ln Zusammenhang damit
steht die weitere Thatsache, dass ihre jeweiligen Ursachen durdi
Hjrpnose nicht beseitigt werden können. Diese Ursachen können be-
stehen: 1. In einer momentanen Unachtsamkeit des Pat. zur Zeit der
ursprünglichen Sinneswahmehmung. 2. In irgend einer Störung der
Aperception und Perception, sei es durch eine abendliche Ermüdung
oder eine Alkoholintoxication, sei es durch das Eintreten des Dämmer-
zustandes mit der langsam fortschreitenden Dissociation des Bewussl-
seins und der allgemeinen Erschwerung der Sinneswahmehmung. Wenn
aber schon die Sinneswahmebmuiigen fehlerhaft, unvollständig, undeutlich
und verschwommen sind, vrieviel mehr werden es trotz aller hypnotischen
Hjpermnesie die Erinnemngen an dieselben sein? Zu alledem kommt
noch hinzu, dass die Eriunemngen bei der allgemeinen Unsicherheit
durch Autosuggestion fehlerhafte Verbesserungen erfahren können.
In Folgendem führe ich nun einzelne Beispiele für diese Art von
Erinnerungstäuschungeu an, betone aber, dass es oft schwer hält, die
einzelnen der obgenanuten causalen Momente auseinander zu halten, da
dieselben selten allein, sondern gewöhnlich in Verbindung mit einander
auftreten und oft mit irgend einer AssociatioflsstöruDg verbunden sind.
Am 17. Nov. (dem fünften Tag der vergessenen Zeitperiode) werden dem Fii.
auf dem Polizeiposten von seinen Efifecten abgenommen : ein angefangener Brief! ein
Bleistift, 80 Cent mit Portemonnaie, ein Schlagring, ein Tischmesser, eine Uhrketie,
vier Photographien und 15 Patronen. Alles giebt Pat. nach der Hypnose genau
an, nur in der Anzahl der Photographien und Patronen täuscht er sich; offenbar
\«'ar diese zu gross, und er hatte sie sich nicht besonders gemerkt. — Zwei Photo-
Ein Fall von epileptischer Amnesie durch hsrpnotische Hypermnesie beseitigt. 165
graphien, giebt er an, seien es gewesen und zum mindesten ebensoviel Patronen.
Wir sehen aus diesem Beispiel , dass den Fat. bei dieser Art von Irrthümem, im
Gegensatz zu den früheren, ein Gefühl der Unsicherheit beherrscht. Der Fehler
lieg^ hier an der Undeutlichkeit der aufgenommenen Wahrnehmungen und in Folge
dessen leidet auch das Erinnerungsbild.
Hierher gehört auch eine Art von Erinnerungsverfalschungeii, die
sich bei grosser ErmüduDg einstellen, also namentlich für Neurastheniker
characteristisch sind. Man glaubt von einer Sache, die man blos zu
thun beabsichtigte, sie sei ausgeführt worden. Das Uebergangs-
Stadium zu dieser Verfälschung bilden jene unangenehmen Situationen,
in denen man vergeblich sein Gehirn zermartert, um von irgend einer
Absicht zu erfahren, ob man sie auch wirklich ausgeführt hat, oder nicht.
So erinnerte sich Pat. nicht mehr, ob er an jenem Abend (Mittwoch, den
17. November), als er sein Gewehr aus dem Schrank geholt und die Nothmunition
erbrochen hatte, die Gründe zu seinem beabsichtigten Selbstmord wirklich in sein
Notizbuch niedergelegt hatte oder bloss mit dem Gedanken umgegangen sei, es
za thun. So glaubt er mit seinen Freunden nach dem misslungenen Selbstmord-
versuch im Wirthshaus „zam Matten^rten^ und im „Strauss*' gewesen zu sein,
obschon ihn damals seine Freunde an der Ausführung seiner Absicht gehindert hatten.
Ein weiteres Beispiel haben wir (pag. 146 flf.) schon des Ausfuhrlichen
behandelt. Es fuhrt uns mit dem Pat. zurück in die Zeit seines epi-
leptischen Deliriums, wo er von Hallucinationen verfolgt wurde, seine
Umgebung verkannte, Illusionen über dieselbe hatte, sie zum Theil
negativ weg hallucinirte und nicht beachtete. Kein Wunder, wenn in
der nachherigen Erzählung über diese Zeit, Irrthümer mit unterlaufen
konnten.
Die Erschwerung der Sinneswahrnehmung, und die Dissociation des
Bewusstseins des Pat. war an diesem Abend so gross, dass er sich
trotz der dadurch hervorgerufenen Panik, nicht einmal bewusst war,
einem Anderen einen Fusstritt ertheilt zu haben. Was der Arzt damals
von ihm verlangte, hat er wohl auch nicht verstanden. Er hörte etwas
von einem Bruder und einem Knie, wurde dadurch an seinen Bruder
erinnert, der die Kniescheibe gebrochen hatte und glaubte, der Arzt
frage ihn nach diesem. Möglich ist es auch, dass diese Ueberlegung
erst nachträglich in der, Hypnose stattfand, so dass also die an sich
mangelhaften Erinnerungen durch Ergänzungen autosuggestiver Art
noch fehlerhaft verbessert worden wären.
Als letztes Beispiel erwähne ich eine Erinnerungsfälschung, über
deren Ursache ich keinen sicheren Aufschluss erhalten konnte.
Fat. wurde von einem Polizisten auf eine andere Wache geführt, als er unter-
wegs einem Herrn zurief, er brauche ihn nicht so anzuglotzen und so dumm zu
156 Carl Graeter.
lachen, sonst wolle er ihm schon dafür thun. wenn er schon in Begleitung eines
Polizisten sei. Daraufhin erzählt Fat. weiter, habe der Herr auf italienisch gefiragt,
was er begangen habe, worauf Fat. ebenfalls auf italienisch geantwortet habe:
„Non ho mica rubato (habe nichts gestohlen); e meglio di andar via** (gehen Sie
Ihres Wegs) etc. und der Folizist habe im Anschluss daran dem Herrn noch n-
gerufen, er solle machen, dass er fortkomme, sonst nehme er ihn auch mit. —
Hierzu bemerkt der betreffende Folizist, Fat. habe allerdings einem Herrn etwu
zugerufen , aber italienisch sei es nicht gewesen. £r selbst (der Folizist) habe m
dem Herrn nichts gesagt, sondern den Fat. zur Ruhe gemahnt und ihn aufge-
fordert, ihm zu folgen, worauf Fat. noch eine Zeitlang vor sich hingebrummt hätte,
er habe nicht gestohlen, man brauche ihn nicht so etc.
Weno diese falschen Angaben etwas mehr sind als eine blosse
Prahlerei, so wäre dies(»r Fall, der Autosuggestibilität des Patienten
wegen als eine Pseudologia phantastica aufzufassen, wie sie Delbrück^)
in seiner „Pathologischen Lüge" beschreibt.
Pat., der einige Male die Tendenz zeigte, zu seinen Gunsten zu
retouchiren, hat mit seinen Sprachkenntnissen renommirt und dann selbst
an diese kleine Tarasconade geglaubt. Vielleicht hat er die Episode
auch mit einer wirklich vorgefallenen verwechselt. Angetrunkene reden
ja bekanntlich g(»rn in fremden Sprachen.
Aus dieser Vergleichung der Fehler des Pat. geht hervor:
1. Dass die Amnesie des Pat. der Hauptsache nach eine Associations-
Störung ist, ausserdem aber für einzelne Erinnerungen auch mangelhafte
Sinneswahmehmungen aus der Zeit des Dämmerzustandes in Betracht
fallen.
2. Dass die Wiederherstellung des Gedächtnisses in der Hypnose
nur soweit gelingt, als durch sie die Aufmerksamkeit auf die vergessenen
(„dissociirteu'O Erinnerungen coucentrirt — eine Hypermnesie geschaffen
— wird und dadurch nach den Gesetzen der Association die bestehenden
Dissociationen beseitigt werden. Fehlerhafte Sinneswahmehmungen
können nachträglich durch die Hypnose natürlich nicht verbessert werden.
Alzheimer*-*) hebt als besonders characteristisch für die auf
epileptischer ßasis beruhende Amnesie die Erfahrung hervor: dass es
dem Epileptiker keine Ruhe lässt bis er die Gedächtnisslücke so gut
wie möglich durch die Aussagen Anderer ausgefüllt hat, während den
Hysteriker seine Amnesie nur wenig beunruhige. Ganz in Ueberein-
stimmung damit sehen wir, dass die Amnesie des Pat. schwer auf
^) Delbrück: Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler.
1891. Verlag von Ferd. Enkc, Stuttgart.
^) Alzheimer: Ueber rückschreitende Amnesie bei Epilepsie. Allgem. Zeit-
schrift für Psychiatrie, Bd. LIII 1897.
Ein Fall von epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 157
seinem Herzen lastete, er konnte es kaum glauben, dass er mit Gewehr
und scharfen Patronen manipulirt habe und grübelte den ganzen Tag
darüber nach, wie das sich wohl möchte zugetragen haben. Sein Un-
vermögen sich zu erinnern deprimirte ihn sehr. Mit der Beseitigung
der Amnesie verschwand auch diese Depression. Der Hauptwechsel
in der Stimmung des Pat. trat ein am 30. Nov., dem Tag, an welchem
Pat. in der Hypnose zurückgeführt wurde in jene Schreckenszeit seines
Selbstmordversuches und seines alkoholepileptischen Deliriums. Die
Erlebnisse dieser Zeit traten während der hypnotischen Hypermnesie
des Pat. mit solcher Deutlichkeit und Klarheit vor sein Auge, dass er
sie mit allen ihren Aufregungen fast in Wirklichkeit noch einmal durch-
zuleben schien und seinen damaligen Geisteszustand im höchsten Affect
schilderte. Und ähnlich, wie in den von Breuer und Freud ^) be-
schriebenen, durch die kathartische Methode geheilten Fällen von
Hysterie, war auch Pat. nach dieser Aufregung in Folge der hypno-
tischen Hypermnesie wie umgewandelt. Jetzt konnte er wieder auf-
athmen. Er war befreit von all seinen Zweifeln und Grübeleien, von
einem unbestimmten Gefühl des Druckes, das centnerschwer auf ihm
gelastet, ihn in jeder Beziehung gehemmt und beengt hatte. Diese
Aufhebung eines krankhaften Zustandes hatte jedoch, wie leicht er-
sichtlich, ihre Ursache nicht wie in den Fällen von Breuer und
Freud in dem von ihnen genannten „Abreagiren" auf ein früheres
psychisches „Trauma", sondern lediglich in der Beseitigung der Amnesie.
Die Erinnerungen an seinen früheren Geisteszustand machten auf
ihn einen derartigen Eindruck, dass er sich verschwor, in seinem Leben
keinen Tropfen Alkohol mehr über seine Lippen zu bringen ; denn „so
etwas" wollte er nicht wieder durchmachen. Früher hatte er allerdings
schon Aehnliches betheuert, doch schien er es mehr den Anstaltsärzten
zu Gefallen gethan zu haben. Man sah, er glaubte nicht so recht an
die Erzählungen der anderen Leute und an die grosse Gefahr des
Trinkens. So haben auch die meisten Trinker, in Folge von Erinne-
nmgsdefecten, keine rechte Einsicht in ihren wirklichen Zustand und
ihre Handlungen aus der Zeit ihrer Alkoholintoxication. Sie wollen
nicht begreifen, dass man die Abstinenz von ihnen verlangen könne imd
werfen ihrer Frau, den übrigen Angehörigen und den Aerzten vor,
man übertreibe, verleumde und beschimpfe sie. In solchen Fällen
*) Breuer und Freud: Stadien über Hysterie, 1895. Verlag von Franz
Deutike. Leipzig und Wien.
168 Carl Graeter.
wird es zweifellos von Nutzen sein, den Trinkern durch die Hypnose
ihr ganzes bisheriges Leben oder einige herzergreifende Scenen aus
demselben vor Augen zu führen, bevor man sie zu überreden sucht,
vom Alkohol zu lassen. — Diesmal schien es also dem Pat. mit seinem
Entschluss wirklich ernst zu sein. Wir werden im weiteren Verlauf
der Krankengeschichte sehen, wie er denselben durchgeführt hat.
In der nun folgenden Zeit mischt sich Pat. etwas mehr unter die
anderen Patienten. Er ist im Ganzen fröhlicher, aufgeräumter als früher,
manchmal sogar in der ausgelassensten Stimmung. In einer solchen lacht,
gesticulirt, discutirt und renommirt er vor den anderen Patienten mit
allerlei Geschichten und Heldenthaten aus seinem früheren Leben, sidi
selbst ganz vergessend und doch nur von sich redend und an sich
denkend. Andere Tage jedoch beobachtet er sich und ist wieder
finster, bissig ujid unzugänglich.
Im persönlichen Verkehr mit dem Pat. fallt vor Allem an ihm
auf: eine gewisse Förmlichkeit und Manirirtheit in all seinen Bewe-
gungen. Sie sind gesucht. Pat. gefällt sich in gewissen würdevollem,
wichtigthuerischen theatralischen Attitüden, die aber keineswegs mannig-
faltiger Natur sind. Es zeigt sich dies in der Art, wie er die Hand
zum Grusse reicht, in seiner Haltung, wenn er mit den Leuten redet,
in der Art, in der er die Karten mit einem gewissen Schneid und
theatralischer Geste auf den Tisch wirft u. s. w., namentlich aber in
seinem Blick und seiner Miene, wenn er die Leute, mit denen er redet,
so von der Seite mustert, mit einem etwas misstrauisch, lauernden,
stechenden, drohenden, herausfordernden und etwas überlegenen und
starren Blick. Er scheint überall einen kleinen Anschlag auf seine
Person zu wittern, jeden Augenblick sprungbereit, sich auf seinen
Widersacher zu stürzen. Besonders liebt er es, mit wichtiger, bedeutongs-
und geheimnissvoller Miene über Kleinigkeiten, besonders Ungerechtig-
keiten, die ihm widerfahren sein sollen, andeutungsweise zu reden.
In seinen Erzählungen ist Pat. ziemlich umständlich^), holt weit
aus, hat Mühe bei der Sache zu bleiben und das Wichtige von dem
Nebensächlichen zu trennen. Lässt man ihn eine Geschichte zum
zweiten Mal erzählen, so wiederholt er dieselbe mit der gleichen Aus-
führlichkeit und den gleichen Worten wieder. Er drückt sich überhaupt,
nach Art der Epileptiker, immer gern in einigen gleichen ihm eigenen
^) Von dieser Umständlichkeit kann man sich einen Begriff machen, wenn
man bedenkt, dass die obigen Au&eichnüngen aus den hypnotischen Sitsongen
weniger als die Hälfte ihrer ursprünglichen Ausführlichkeit betragen.
Ein Fall Ton epileptischer Amnesie darch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 159
BedewenduBgen aus. Er wurde deswegen von seinen Kameraden schon
oft dafür ausgelacht. Als Beispiel erinnere ich blos an seinen Aus-
druck ^,er sei nicht katholisch'', ,,er brauche nicht Alles zu beichten'',
den er vorbringty so oft sich ihm nur die Gelegenheit dazu bietet.
In der Anstalt war Fat. arbeitssam, zeichnete sich durch Gewissen-
haftigkeit und Ordnungsliebe aus. Doch zeigte er sich dabei sehr
selbstsüchtig, und es war immer schwer ihn zu einer auch noch so ge-
ringen Dienstleistung zu bewegen. Gründen war er dabei nicht zu-
gänglich; denn mit seinem Egoismus zeichnete er sich noch durch
einen hartnäckigen, beschränkten, oft etwas schrullenhaften Eigensinn
aas. Femer ist Fat. sehr empfindlich, reizbar und jähzornig und geräth
leicht wegen lächerlicher Kleinigkeiten in heftige Zomausbrüche, wobei
sein Blick einen auffallig impulsiven starren Ausdruck annimmt.
Am 19. Nov. litt Fat. ohne nachweisbare Ursache an heftigem
Kopfweh und war an diesem und am folgenden Tage sehr missmuthiger
Stimmung. Es waren am 19. Dec. 28 Tage seit dem 21. Nov., an
welchem er am Nachmittag vom gleichen Kopfweh befallen war; und
28 Tage später, am 16. Januar 1898, sollte, wie wir alsbald sehen
werden, das gleiche Kopfweh wieder auftreten. Dazwischen war Fat.
oft in der ausgelassensten Laune, besonders in der Zeit um Neujahr
herum.
Am 4. Jan. 1898 wurde Fat. versuchsweise aus der Anstalt ent-
lassen, nachdem er sich zuerst in einen Abstinenzverein hatte aufnehmen
lassen. Die erste Zeit nach seinem Austritt aus der Anstalt ging Fat.
regelmässig zur Arbeit, erschien aber trotz zahlreicher mündlicher und
schriftlicher Einladungen nie mehr in den Sitzungen seines Vereins.
Als ich das erfuhr, dachte ich mir sofort, dass vielleicht die Kellnerin
aus dem Wirthshaus zum „Frohsinn", der er immer noch sehr zugethan
war, dahinterstecke. Ich hatte mich nicht getäuscht. Am 20. Jan. 1898
wollte ich ihn am Abend aufsuchen, fand ihn aber nicht zu Hause.
Vergangene Nacht, so hörte ich zu meinem Bedauern, war Fat. erst
um 3 Uhr oder um 4 Uhr Morgens in schwer betrunkenem Zustande
heimgekehrt und hatte alle Leute im Hause durch sein fürchterliches
Glockenläuten und Gepolter aug dem Schlaf geweckt. Diesen Vor-
mittag sei er gegen 11 Uhr wieder fort und sitze jetzt wahrscheinlich
wieder im Wirthshaus. Schon in der Nacht vom 16. auf den 16. sei
er sehr spät, gegen 12 Uhr oder 1 Uhr Nachts nach Hause gekommen
und sei wahrscheinlich auch betrunken gewesen, wenigstens habe er
sehr laut gethan. Sonst sei er immer sehr frühzeitig nach Hause ge-
160 Carl Graeier.
kommen und habe wahrscheinlich nie ein geistiges Getränk genossen.
Ich ging nun sofort zum ,,Froh8inn'^, der Stammkneipe des Pat. und
fand denselben richtig dort. Er sass hinter einem Glase Bier, schwer
betrunken, mit dämmerndem Blick, schlaffen, ausdruckslosen Zügen,
wässrig glänzenden, gerötheten Augen und schlaff herunterhängenden
Gliedern. Bei meinem Eintreten blickte er nach mir, that aber, als
ob er mich nicht kenne. Ich beobachtete ihn einen Augenblick. Müde
liess er seinen Kopf Yomüberhangen und lehnte ihn schliesslich mit
der Stirn auf den Tisch. Ich trat zu ihm und legte meine Hand auf
seine Schulter und rief ihn beim Namen. Zuerst reagirte er nicht
Plötzlich fuhr er aber auf, ergriff ein Messer, das auf dem Tisch lag,
erhob dasselbe mit drohender Gebärde, alles das so rasch, dass ich
kaum Zeit hatte, einen Schritt zurückzutreten. Dann legte er, da
Andere ihm in den Arm fielen, das Messer langsam und würdevoll,
mit theatralischer Gebärde wieder auf den Tisch. Da jeder weitere
Versuch, mit dem Pat. ein Gespräch anzuknüpfen, erfolglos war, yer-
liess ich das Lokal und wendete mich an den Polizeichef des Quartiers,
dem ich die Selbst- und Gemeingefährlichkeit des Pat., falls er des
Alkohols nicht vollständig entwöhnt werde, auseinandersetzte und bean-
tragte, diesen über Nacht auf die Polizeiwache und am folgenden
Morgen vor den Stadtarzt führen zu lassen, behufs weiterer Beförderung
in die Irrenheilanstalt. Am folgenden Tage begegnete ich zufällig dem
Pat. auf der Strasse. Er erzählte mir, dass er die Nacht auf der
Polizeiwache verbracht habe, am Morgen aber wieder freigelassen
worden sei. Er gab mir ferner an, dass er zum ersten Mal am 16. Jan.
wieder getrunken habe und zwar im „Frohsinn", wo er schon einige
Male der Kellnerin wegen wieder hingegangen war. Am 16. habe er
Nachmittags an heftigen Kopfschmerzen gelitten.
Am 22. Jan. wurde Pat. auf weitere Beschwerde von der Anstalt
aus polizeilich eingebracht. Dort angekommen, machte er seiner Wuth
gegen mich mit grosser Erbitterung, in den rohesten Ausdrücken und
thätlichen Drohungen Luft. Er behauptete, man wolle ihn als verrückt
hinstellen, um ihm eine kleine Erbschaft, die er kürzlich gemacht habe,
aus den Händen zu spielen. Aber er werde sich schon Recht zu ver-
schaffen wissen, denn er sei nicht verrückt. Diese Aufregung dauerte
mehrere Tage, dann beruhigte Pat. sich ein wenig. Leider musste ich
zwei Wochen nach der Wiederaufnahme des Pat. meiner Studien
wegen die Anstalt verlassen, so dass ich ihn nicht weiter beobachten
konnte. Aber so lange ich mich noch im Burghölzli aufhielt, sprach
Ein Fall yon epileptisclier Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 16].
er kein Wort mehr mit mir, obschon ich eifrig bemüht war ihn durch
Freundlichkeit und allerlei Aufmerksamkeiten umzustimmen. Man konnte
ihm die Sache darstellen, wie man wollte, er nahm keine Vernunft an.
So viel über den weiteren Erankheitsverlauf des Pat. und seinen
typisch epileptischen Character. Den Rückfall und die Wiederaufnahme
des Pat. in 'das Krankenhaus habe ich deshalb mit solcher Ausführ-
lichkeit wiedergegeben, weil sich bei dieser Gelegenheit der epileptische
Character des Pat. wieder mit aller Deutlichkeit zeigte. Seine impulsive
Gewaltthätigkeit und Brutalität, sein hartnäckiger beschränkter Eigen-
sinn, sowie der impulsiv starre Ausdruck seiner Augen waren hier
auffallender denn je. Ebenso auffällig war die Angabe des Pat., er
sei Sonntag, den 16. Jan. 1898 wieder von Kopfschmerzen heimgesucht
worden. Das macht bis zum 21. Nov. und 19. Dec. 1897 gerade
2 X 28 und 28 Tage, — eine Periodicität im Wechsel seines Allgemein-
befindens, die sehr für epileptische Anlage spricht. Auffällig ist femer
der Umstand, dass Pat. seinen Aussagen und den Aussagen dritter
Personen nach, am Vorabend eines solchen kritischen Tages wieder zu
trinken anfing. Es steht dies im Einklang mit den anamnestischen
Angaben des Pat. über die Entstehung seiner früheren Amnesien und
lässt die Vermuthung aufkommen, dass hier eine mehr oder weniger
ausgesprochene, in Verbindung mit der Epilepsie auftretende, perio-
dische Dipsomanie vorliegt. Denn merkwürdig ist, dass diese
früheren Anfälle von Dipsomanie, welche mit einem von Amnesie ge-
folgten Dämmerzustande aufhörten, alle auf einen Sonntag fallen^),
gerade wie die von uns beobachteten Kopfwehattaquen und gemütho
liehen Depressionen und dass sie abwechselten mit Zeiten übergrosser
Lustigkeit, in denen sich Pat mit dem Trinken, wenigstens am Anfang,
etwas mehr zusammennahm, bis durch irgend eine Verstimmung, ver-
bunden mit den allmählich wieder gesteigerten Alkoholdosen, plötzlich
der alte, unglückselige und unüberwindliche Trieb in ihm wieder er-
wachte. Eäne solche periodische Dipsomanie ist ja häufig mit den
Symptomen der EpUepsie verbunden. Kraepelin sieht in ihr sogar
nichts Anderes als eine Form der Epilepsie.
^) Das genaue Datum dieser Tage konnte ich leider nicht mehr feststellen,
80 dass der Beweis, dass auch sie um 28 Tage oder ein Vielfaches von 28 Tagen
voneinander und von den beobachteten kritisdien Tagen abstehen. Jedenfalls
erscheint es sehr wahrscheinlich, da alle diese Tage auf einen Sonntag fallen.
Zeitsebrifl fttr Hypnotismns etc. VIIL ^^
X6S ^'^^ Graeter.
ScUuss.
Nach Schulbegriffen haben wir es also hier mit einer Epilepsie la
thiiD. Ich fasse kurz die Thatsachen, die dafür sprechen, noch zu-
sammen. Es sind deren zwei Gruppen. In die erste gehören die so-
genannten Dauersymptoroe, von denen einzelne auch bei Hysterie toi^
kommen können, die aber in ihrer Gesammtheit den Character des
Fat. zu einem, nach beutigen Begriffen, typisch-epileptischen stempeln.
Die zweite Gruppe bilden die acuten Krankheitssymptome. Die Mehr-
zahl derselben gilt als typisch für Epilepsie, doch sind auch einige
darunter, die für sich allein sowohl als hysterische, als auch als epi-
leptische Symptome gedeutet werden könnten.
Die Dauersymptome lassen sich schon im vollständig nüchternen
Zustande, im Abstinenzstadium, des Fat. erkennen, werden aber schon
durch leichte Alkoholintoxication erheblich gesteigert. Sie sind: Sehr
wenig mannigfaltige, wichtigthuerische , etwas umständliche, gesuchte
Attitüden und Gebärden, Umständlichkeit beim Erzählen, mangelhaftes
Auseinanderhalten von Haupt- und Nebensache, eigene stereotype Rede-
wendungen, Ordnungssinn, Gewissenhaftigkeit und Fleiss, daneben un-
stetes Wesen, das namentlich durch den Alkoholgenuss sehr erhöht wird,
eine gewisse Förmlichkeit im Verkehr, das Misstrauen gegen alle Lieute,
die Selbstsucht und Selbstgefälligkeit, der hartnäckige, bomirte Eigen-
sinn, die SchruUenhaftigkeit und Autosuggestibilität, die Querulirsucht,
die Eitelkeit, das geheimnissvolle Wichtigthun mit den unwichtigsten
Sachen, die Benommirsucht, die Grübelsucht, die Reizbarkeit, der
Jähzorn, die impulsive Gewaltthätigkeit und Brutalität, der auffallige
Wechsel in der Stimmung des Fat. und der Ausdruck seiner Augen.
Was die acuten Krankheitssymptome betrifft, so müssen wir zu-
gestehen, dass das Hauptsymptom für Epilepsie, die periodischen
Krampfanfälle fehlen. Allerdings hat Fat angeblich einmal einen
Krampfanfall gehabt, der aber ebensogut, wenn vom Fat nichts Weiteres
sonst bekannt wäre, als hysterisch gedeutet werden könnte. Hingegen
sind zahlreiche Aequivalente und Andeutungen von solchen vorbilden,
die in ihrer Form für Epilepsie hinwiederum sehr typisch sind : so das
periodisch auftretende Kopfweh, verbunden mit Zuständen psychischer
Depression und Dipsomanie; die sogenannten pathologischen Rausch-
zustände mit der äusserst wecbselvollen Stimmung, mit impulsiven
Gewaltthätigkeiten, gesetzwidrigen Handlungen und Selbstmordversuchen,
mit nachherigem Stupor und totaler Amnesie und schliesslich das aus-
Ein Fall von epileptischer Amnesie durch hypnotische Hypermnesie beseitigt. 163
fiihrlich beschriebene alkohol-epileptische Delirium, gefolgt von einem
stuporösen Dämmerzustand und 7 tägiger totaler, zum Theil retrograder
Amnesie. Die verschiedenen Verletzungen der Zunge und des Gesichtes,
die sich Fat. bei solchen Gelegenheiten zuzog, sprechen ebenfalls für
Epilepsie. Dies Alles, in Verbindung mit dem Fotatorium des Fat.,
seiner Geschwister und des Vaters sichert uns die gleich bei der Auf-
nahme desselben gestellte Diagnose der Alkohol-Epilepsie.
Symptome, die ausschliesslich für Hysterie gesprochen hätten,
haben wir auch nicht eines gefunden, es wäre denn die, bis heute je-
weilen schwer ins Gewicht fallende Thatsache, dass die Amnesie des
Fat. durch die Hypnose hat beseitigt werden können. Doch da gerade
dieses Symptom, auf seinen diagnostischen Werth hier geprüft werden
soll, so darf es in unserem Falle nicht zur Diagnose verwendet werden.
Zu zeigen, dass es überhaupt nicht als ein sicheres Ejriterium der
Hysterie anzusehen ist, war der Zweck unserer Arbeit.
IV
Psychische Zwangszustande.
Bafertte aos der deotschen, firanzosischen und eng^Lschen Literatur der Jahre 1896
QDd 1897.
Von
Dr. H. Bertoehing^r, Secimdararzt in Rheinan.
I. Deatoehe Literatur Aber psyehiselie Zwaagsrastiaia.
Zur XenntnisB des Anancasmus (psychischer Zwangszustande) von
Dr. Julius Donath, Budapest. Archiv für Psychiatrie. 1896.
An dem Krankheitsbilde, das im Jahre 1877 Westphal unter dem Namen
„Zwangsvorstellungen*' aufgestellt hat, ist seither im Wesentlichen nichts geändert
worden, nur Weniges ohne Belang wurde hinzugefügt.
Magnan, Thomsen, Sommer u. a. treten für die Zwangsvorstellungen als be-
sonderes Krankheitsbild ein. Kraepelin rechnet sie zur Neurasthenie, Wille and
Jastrowitz sahen sie bei anderen Geisteskrankheiten und behaupten mit Schule,
dass sie in andere Geisteskrankheiten, auch Paranoia übergehen können, was Fair et
leugnet und Sander nur in Bezug auf Melancholie zugiebt. 31eynert und Fair et
betrachten das Auftreten von Paranoia bei Zwangsvorstellungen als Combination
zweier Krankhoitsbildcr. Jastrowitz und Berger leugnen das Fehlen einer emo-
tiven Grundlage. Thomscn unterscheidet idiopathische und deuteropathische
Zwangsvorgänge.
Allen Zwangsvorgängen gemeinsam ist die zwingende Gewalt ihres Auftretens,
das seltene Fehlen der Einsicht, dos Auftreten von Ang^tzuständen bei Widerstand
gegen sie.
Für die verschiedenen Arten der psychischen Zwangszustande, zu denen der
Verfasser auch Tic convulsif, Dipsomanie und sexuelle Perversitäten rechnet, nicht
aber die Phobien mit primärem AngstafTect, schlägt er an Stelle der verschiedenen
gebräuchlichen Namen die gemeinsame Benennung „Anancasmus'' vor.
Im Gegensatz zu den Autoren, welche das Fehlen von Hallucinationen her-
vorheben, theilt Verfasser die Krankengeschichte einer jungen Frau mit, W9lche
neben häufigen traurigen Verstimmungen an harmlosen, nicht weiter verarbeiteten
Gesichtshallucinationen und seit dem 11. Jahre an ausgeprägten Zwangrsvorftel-
lungen und -befürchtungen litt, gegen die sie sich mit den raffinirtesten Mitteln la
schützen suchte. Sie war intelligent, arbeitsfähig, stammte aus einer enorm psycho-
pathisch belasteten Familie, in der auch Tuberculose und Diabetes vorkam. Sug-
gestiv- und Hydrotherapie blieben erfolglos.
Fsychisohe Zwangszustände. 165
Wesen und Mechanismus der Zwangsneurose. Dr. S. Freud, Wien.
Neurologisches Oentralblatt, Mai 1896.
Ist bereits in dieser Zeitschrift referirt worden. Vgl. Freud, Weitere Be-
merkungen über die Abwehr-Neuropsychosen. Bd. IV. pag. 260.
Beiträge zur Lehre von den Zwangsvorstellungen und ver-
wandten Krankheitserscheinungen. Paul Behm. Neurologisches Gen-
tralblatt, October 1897.
Zwangsvorstellungen sind nur ein Symptom. Sie kommen vor bei Gesunden,
bei Neurasthenie, Hypochondrie, Epilepsie, Heilungen mit Defect, in der Recon-
▼alescenz. Ihre Grenzen gegen die Gesundheit sind noch fliessendere als gegen
andere Ejtinkheiten. Sie fähren nie zu verbrecherischeD Handlungen, treten nie
plötzlich^ häufig unter dem Einfluss körperlicher Krankheiten auf und beruhen auf
einer functionellen Störung der Hirnrinde, meistens mit secundärer Erkrankung
sympathischer Gtinglien. Der Beginn fällt häufig schon in das Kindesalter. Die
Prognose ist leidlich, die Therapie psychisch.
Berkhan sah guten Erfolg bei Anwendung von Gewalt und Ermüdung.
UeberZwangsvorstellungen. E.Mendel. Neurologisches Gentralblatt,
Januar 1898.
Im Widerspruch zu Westphal, der seine Zwangsvorstellungen und Morel,
der sein delire emotif streng von den Psychosen abgrenzte, werden gegenwärtig
überall Zwangsvorstellungen gesehen, spricht man sogar von Zwangsirresein und
bezeichnet mit Anancasmus eine besondere Geisteskrankheit.
Als Zwangsvorstellungen bezeichnet man:
1. Gewisse unter bestimmten äusseren Umständen mit Gewalt auftretende
Vorstellungen, die zu Angstzuständen oder Zwangshandlungen führen können (Ge-
witterfurcht, Nyktophobie, Arithmomanie etc.), die auch bei gesunden Leuten vor-
kommen können und keine Degenerationszeichen, sondern Folge von Erziehungs-
fehlem oder schlechter Angewohnheit sind. Man könnte sie physiologische Zwangs-
▼orstellungen nennen.
2. Uebermässig sich vordrängende Wahnideen Geisteskranker.
3. Ganz besonders häufig hypochondrische Befürchtungen, z. B. Agarophobie,
die gewöhnlich nach einem auf offenem Platz ohne Nähe menschlicher Hülfe ent-
standenen Schwindel- oder Ohnmachtsanfall sich entwickelt und eine Angst vor
der damals empfundenen Angst ist; Furcht vor Scheeren und Messern, die sich
auf die Befürchtung gründet, sich solcher Instrumente bei etwa plötzlich ein-
tretender Geisteskrankheit zum Selbstmord bedienen zu können, Koero, Obsession
dentaire, ein Theil der Zoophobien und folie du toucher. In allen diesen Fällen
find die Zwangsvorstellungen secundär, das Primäre ist die Hypochondrie.
4. Hysterische Zwangsvorstellungen mit gewöhnlich sexuellem Inhalt, Eifer-
uohtswahn, auf den Urindrang gerichtete Zwangsvorstellungen. Erythrophobie.
5. Epileptische Zustände, Zwangrsvorstellungen, die als Aura oder postepüep-
tieoh oder als Aequivalente von echten Anfällen auftreten.
6. Zwangsvorstellungen, die darauf beruhen, dass sich beim Denken der Asao-
ekttionsTorgang von Ursache und Wirkung oder Gontrastassodationen vordrängen,
F]rege-, Zweifel-, Grübelsncht.
169 H. Bertschinger.
Nor Zwangs voratellungen dieser sechsten Gruppe entsprechen den West phal-
sehen. Morel nannte sie Paranoia rudimentaria.
Alle übrigen sind nur Symptome anderer Krankheiten.
£in sehr eingeschränkter Gebrauch des Ausdruckes Zwangsvorstellungen ist
sehr zu empfehlen.
Ueber die Beziehungen zwischen Tic g^n^ral und ZwangSTor-
stellungen. Dr. G. Fla tau. Centralblatt für Nervenheilkunde und Psydiiiatrie
1897, Februar.
Unter Hinweis auf einen Fall Freud 's, bei dem beim gleichen Individuum
Tic gSneral und psychische Zwangsvorgänge vicariirend auftreten, veröffentlicht
Fla tau drei Fälle, in denen beide Störungen in Ascendenz und Descendens
vicariiren.
Der erste Fall betrifft eine Frau, die seit ihrer Jugend an Zwangsvorstellungen
leidet, während ihr normal intelligenter Sohn zwangsmässig in die Hände klatscht
und flucht und dabei Tic g^neral aufweist. Im zweiten Fall hat ein 13 jähriges
Mädchen seit dem fünften Jahre Zwangsvorstellungen mit Angstzuständen, dessen
Mutter als Kind ähnliche Erscheinungen hatte, während deren Schwester und ihr
Sohn an Tic gen^ral leiden. Im dritten Fall leidet ein 9 jähriges Mädchen an
krampfhaften Bewegungen, Hustenanfallen und zwangsmässigem Ausstossen von
Worten und Lauten, seine Mutter an Zwangsvorstellungen und -impulsen und
Angstzuständen, seine Grossmutter war nervös.
Ueber das Zwangssprechen als selbstständiger pathologischer
Zustand. Prof. W. v. Bechterew. Neurologisches Centralblatt 1896, December.
£ine von Prof. Bechterew in der Versammlung der Aerzte der Peters-
burger Klinik für Geistes- und Nervenkranke demonstrirte Kranke zeigte als bei-
nahe einziges Krankheitssymptom Yerbigeration , die, wie er glaubt, impulsiver
Natur, ein Zwangsact, ist.
Die Frröthungsangst als eine besondere Form von krankhafter
Störung. Prof. W. v. Bechterew. Neurologisches Centralblatt 1897, MaL
Ein 20 jähriger Mann, der schon früher sehr leicht, aber auf adäquate Ur-
sachen hin, erröthete, leidet seit 9 Jahren an heftigem Bothwerden mit Gefühl von
Blutandrang, Hitze und Spannung im Gesicht, das eintritt, sobald er in Geselischaft
ist, sobald er sich beobachtet fühlt, wenn er daran denkt, sogar auch wenn er
allein ist. Bei schlechter Beleuchtung, wenn seine Aufmerksamkeit anderweitig ganz
in Anspruch genommen ist, oder wenn er sich unbeobachtet fühlt, erröthet er
nicht. Nach Ausbruch der Röthe fühlt er eine gewisse Erleichterung, aber der
Gedanke, erröthet zu sein, lässt ihn bald aufs Neue erröthen. Erröthet er ohne
vorhergehendes Angstgefühl, aus adäquater Ursache, so ruft dies Ereignis wieder
Erröthungsangst hervor. Vor ganz nahestehenden Personen und Leuten, die seine
Schwäche kennen, erröthet er nicht. Hitze wirkt begünstigend, Kälte hemmend
auf den Vorgang. Er zeigt dabei keinerlei geistige oder körperliche Anomalien,
stammt aus gesunder Familie. Sein Zustand macht ihn sehr unglücklich. Die
erste Hypnose hatte einen 24 stündigen Erfolg, weitere Sitzungen blieben erfolglos.
Ein zweiter, 35 jähriger Mann erröthet seit 4 Jahren ohne Grund, sobald er
in Gesellschaft kommt, an Jemandem vorübergeht oder Jemand ihn ansieht. Das
Psychisobe Zwangszastände. 167
Leiden Yerschlimmerte sich nach und nach und ist durch den Willen total unbeein-
flussbar. Alkoholgenuss hatte nur vorübergehenden guten Erfolg, dem Verschlim-
merung folgte. Die Hypnose blieb erfolglos.
Die in diesen zwei Pällen in Erscheinung getretene Krankheit ist eine Special-
form der pathologischen Angst, die dem Erröthen immer Torangeht. Sie beruht
auf einer psychisch bedingten Erregung der Yom Verfasser beschriebenen vaso-
motorischen Itindencentren, die ausser vasoconstrictorischen noch activ vasodilata-
torische, den Blutdruck vermindernde Elemente enthalten und bei Kranken mit
Erröthungsangst besonders leicht psychisch erregbar sind.
Im Gegensatz zu Pitres und Regis betont Bechterew das Auftreten der
Krankheit schon vor der Pubertät (in einem seiner Fälle schon im elften Jahr).
Auch er erwartet mehr von Autosuggestion als von Hypnose und rieth dem zu
Folge einem seiner Kranken, sich jeden Abend vor dem Schlafen die Suggestion
zu geben versuchen, seine Krankheit werde demnächst verschwinden.
Neue Beobachtungen über die Erröthungsangst. Prof. W. von
Bechterew. Neurologisches Centralblatt 1897, November.
An Hand von zwei Fällen von typischer Erröthungsangst bei einem 24 jährigen
nervös belasteten Manne, der seit dem zehnten oder zwölften Jahre onanirte und
bei einem 34jährigen, der von Alkoholgenuss momentane Erleichterung mit nach-
folgender Verschlimmerung spürte und bei heiterem Wetter weniger als bei trübem
erröthete, weist Verfasser darauf hin, dass Onanie, Neurasthenie, Heredität eine
gewisse ätiologische Bolle zu spielen scheinen und klimatische Einflüsse vorhanden
seien. Femer macht er darauf aufmerksam, dass die Kranken hie und da eigen-
thümliche Hülfsmittel erfinden und ausführen (in seinem Falle Verlassen des
Zimmers beim Herrannahen des Erröthens).
Ueber musikalische Zwangsvorstellungen. L. Löwenfeld,
München. Vortrag, gehalten in der Section lU des internationalen Gongresses für
Psychologie in München. Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 1897,
Februar.
Bei einer 30 jährigen, hereditär belasteten Frau traten während eines Anfalles
Ton leichter periodischer Melancholie neben Verstimmung, psychischer Anästhesie,
Selbstmordideen und Angstzutänden fortwährend Vorstellungen von heiteren Me-
lodien auf, was die Kranke sehr quälte. Je nach momentaner Verschlimmerung
oder Besserung der übrigen Krankheit traten die Melodien stärker oder schwächer
hervor und hörten mit der Heilung der Melancholie definitiv auf.
Hie und da fühlte sie auch den Zwang, sich den Fingersatz schwer zu
spielender Melodien vorzustellen, was sie aufregte und ihren Zustand verschlimmerte.
Die Melodien Hessen sich durch Willensanstrengung nicht aus dem Bewusst-
sein verdrängen und machten der Ejranken einen fremden, aufgedrungenen Eindruck.
Dauernd und in solcher Intensität fand Löwen feld musikalische Zwangs-
vorstellungen nur bei nervösen und psychischen Leiden, besonders Neurasthenie»
Hysterie und Melancholie. Sie kommen auch bei Leuten vor, die sich nicht in-
tensiv mit Musik befassen, bei denen von musikalischer Ueberanstrengung nicht die
Rede sein kann. Bei musikalisch Hochgebildeten sind die musikalischen Zwangs-
vorstellungen häufig trivialen Inhaltes und deshalb um so peinlicher. Besonders bei
Leuten , die ohne viel Musikverständniss das Hauptgewicht auf die Technik legen,
168 H. BertMhinger.
kommen neben acoitisohen auch motorische ZwangsTontellangen Tor. Aueh der
Zwangtimpule , die Melodien dorch Pfeifen eta lant werden su kesen, wurde be-
obachtet. Hie und da rauben die musikalischen Zwangsvorstellangen den Kranken
den Schlaf, yerursachen Herzklopfen, Angstzustände, Uebelkeit, Aufregung, Ver-
wirrtheit und Lebensüberdmss, sind aber gewöhnlich viel weniger intensiv.
Entsprechen sie Melodien, bei deren Einstudiren etc. sich die Kranken musi-
kalisch überanstrengt haben, so liegt der Erscheinung vielleicht functionelle Hyper-
ämie mit chronischem Reizzustand gewisser oorticaler Elemente in der Hönphire
zu Grunde.
Bedingungen zum Zustandekommen musikalischer Zwangsvorstdlungen in
pathologischer Stärke sind: 1. Beschäftigung mit Musik, 2. ein durch ein be>
liebiges Moment hervorgerufener Erschöpfungszustand des Gehirns.
Häufig kommen daneben oder mit ihnen alternirend noch andere Zwang»-
Vorstellungen oder Phobien vor.
Bemerkenswerth ist der heitere Charakter der Melodien bei Melancholikern,
der triviale bei musikalisch Hochgebildeten. Aehnliche Contrastassociationen
wurden auch bei anderen Zwangszuständen beobachtet.
Im Anschluss an obigen Vortrag berichtet Dr. Mingazzini über einen jungen
Mann, der Nachts dem unwiderstehlichen Drange nachgeben musste, Melodien zu
singen, die ihm Tag und Nacht im Kopfe herum gingen.
Koro, eine eigenthümliche Zwangsvorstellung. P.C. J.vanBrero,
Bnitenzorg, Java. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 1897.
Nach Mittheilungen von L. Blonk, Militärarzt, giebt es in Celebes Leute,
deren Penis hie und da die Neigung hat, in die Bauchhöhle sich zurnckzuzieken,
was, wenn es wirklich dazu kommt, den Tod der Kranken herbeiführt. Der Zu-
stand tritt in Anfällen von stundenlanger Dauer auf und ist von heftigem Angst-
gefühl begleitet.
Van Brero hält dies für eine psychische Krankheit, und zwar trotzdem
keine eigentliche Krankheitseinsicht besteht, nicht für eine Wahnidee, sondern für
eine Zwangsvorstellung. Die niedrige Stufe des Erfahrungs- und Kenntnissbeeitzes,
der mächtige Einfluss des Affectes und vielleicht auch locale religiöse Auffassungen
der halbwilden Einwohner von Celebes erklären es, dass die Kranken die Unmög-
lichkeit des von ihnen gefürchteten Ereignisses nicht einzusehen vermögen.
Bollach, Ueber einenPall von wiederholter Selbstverwundung
in Folge Zwangshandlung. Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte, 1897.
Eine 40 jährige, ledige Frauensperson kam innerhalb 2 Jahren sechs Mal in
Spitalbehandlung und zwar zuerst wegen eines Panaritiums, hierauf wegen schein-
barer Tuberculose am gleichen Finger, an welchem das Panaritium gesessen und
dann noch vier Mal nacheinander wegen einer eiternden Fistel am einen Unter-
schenkel, die jeweilen nach einiger Zeit geheilt wurde. Anfänglich sah man die
Krankheit für tuberculose Ostitis an, es stellte sich dann aber heraus, dasa die
Kranke selber Suppenknochensplitterchen sich unter die Haut gestossen hatte.
Immer wieder riss sie die Verbände ab, bis sie versiegelt wurden, riss sich einen
Grosszehennagel aus, wollte die Amputation des Beines erzwingen, schien Überhang
Freude am Schmerz zu haben. Ihre Selbstverwundungen gab sie nie zu, bevor n*
überführt war.
Psychifche Zwangszostände. 169
Da keinerlei bysterische Stigmata nachweisbar waren, siebtBoUac h die Selbst-
Terwondnngen als Zwangshandlungen an.
Zur Behandlung Yon Zwangs- und Angstzuständen. Dr. 0. Dorn-
blüth, Nervenarzt in Rostock. AerztUche Monatsschrift. Heft 3.
Angst- und Zwangszustände sind eine besondere, für sich bestehende Krank-
heit. Sie können zwar bei einfacher Melancholie und, in wenig ausgeprägter und
«elbstständiger Weise, auch etwa im Beginn einer Paranoia oder Dementia para-
lytioa vorkommen, haben aber mit den eigentlichen Psychosen sonst nichts zu thun.
Die Ausdrucksbewegongen eines AiPectes können diesen selber hervorrufen,
so kann z. B. durch Intoxication bewirktes Herzklopfen ganz wesenlose Furcht,
d. h. Angst, erzeugen. Bei Neurasthenikem kann durch allerlei Eufälligkeiten ganz
besonders leicht ein Affect hervorgerufen werden.
Der Verfasser unterscheidet 4 Gruppen von Angstznständen.
In einer ersten Gruppe entstehen anscheinend spontan mit oder ohne be-
kannte Ursache Zustände inhaltsloser Angst von sehr verschiedener Intensität, fast
immer mit körperlichen Sensationen und Erscheinungen verbunden, die sogar recht
oft allein vom Kranken angegeben werden. In einer zweiten, der ersten nabe-
stehenden Reihe von Fällen ist die Angst Folge neurasthenischer Empfindungen
(s. B. kann Herzklopfen Angst vor drohendem Herzschlag erwecken).
Drittens kann die Angst an bestimmte Zufälle oder Unfälle sich anknüpfen
als Furcht vor Wiederkehr des schon einmal erlebten. Hierher gehört die Agaro-
phobie und Siderodromophobie.
Viertens kann die Angst „primär als Uebertreibung physiologischer Empfin-
dimgen oder Befürchtungen^ auftreten. Agarophobie kann auch so entstehen,
femer gehören hierher Elaustro-, Mono-, Nykto-, Anthropophobie u. s. w.
Häufig ist völlige Krankheitseinsicht vorhanden, das Bewusstsein ganz klar,
•ber doch der Aifect mächtiger als der Wille. Ueberanstrengung und Ermüdung
lassen den Affect besonders mächtig werden und begünstigen sein Eintreten.
Die Zwangsvorstellungen drängen sich wider Einsicht und Wille in das Be-
woastsein ein. Beim Gesunden, besonders bei Abspannung und Ermüdung auf-
tretende, analoge Erscheinungen können leicht sofort durch bewusstes Denken und
den Willen corrigirt werden. Bei Neurasthenie können sie aber in pathologischer
Stirke und unwiderstehlich auftreten, ja. eine förmliche „Spaltung der Psyche'*
durch sie za Stande kommen. Selten kommt es aber dabei zu Zwangshandlungen,
z. B. Verbrechen, die dem Willen des Kranken direct widersprechen. Meistens
ioMem sie sich als übertriebene Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit, Grübelsucht,
Bcrohrongsliircht. Die sehr häufigen sexuellen und blasphemischen Zwangsvontel-
longen fahren nie zu entsprechenden Handlungen, aber mehr£sch zn Selbstmord.
Die Grenze zwischen Zwangsvorstellungen und Angstzuständen ist keine
, da häufig nicht festzustellen ist, welche Componente primär, welche se-
ist.
Die bbher angewandte Therapie besteht in Bade- und Kaltwassercuren, elec-
nnd suggestiver Behandlung mit sehr unsicherem und meist nur vorüber-
gcbendem Erfolg. Viel bessere Resultate erreichte der YeAmo' durch Anwendung
dar Opinmcur. ähnlich wie sie oft bei Behandlung der Melancholie angewandt
wM. Bettruhe ist in schweren Fällen und besonders im Beginn sehr zu empfehlen.
170 H. Bertschinger.
wenn auch nicht absolut noibwendig, hat doch Verfasser schon erfolgreiche Goren
gemacht, während deren die Kranken ihrem Berufe nachgingen. Andere Narootioa
sind nicht in gleicher Weise wirksam wie das Opium, bei dem die Wirkung die An-
wendung überdauert. Am besten wird es in Pillen oder Tabletten zu 0.03 gegeben,
wovon mit täglich 4 Stück nach dem Essen zu nehmen angefangen wird. Jeden fünften
Tag wird um 1 Stück gestiegen. Die erste Wirkung auf den krankhaften Affeet
wird gewöhnlich bei einer Tagesdosis Yon 0,6 verspürt, selten verschwindet er unter
1,0, oft erst bei 1,5 — 2,0 täglich. Auch diese hohen Gaben machen nie üble Er-
scheinungen. Die Abgewöhnung erfolgt langsam, in 6—8 Wochen. Wichtig ist
quantitativ und qualitativ genügende Kahrungsauihahme und besonders bei Bett-
ruhe Sorge für regelmässige Defäcation, die durch diätetische Maassnahmen, Friesa-
nitzumscbläge um den Leib oder Cascara Sagrada bewirkt wird.
Können die hie und da bei Opiumverabreichung auftretenden unangenehmen
Magenerscheinungen nicht durch langsames Ansteigen, gelegentliches Nachlassen,
Diätänderung, Zusatz von Rhabarber oder Wein zum Opium u. dergl. bekämpft
werden, oder weichen gewisse unangenehme nervöse Nebenwirkungen (Zusammen-
schrecken im Schlaf, Nachtschweisse) abendlichen Bromnatriumgaben (1,0—1,5) nicht,
so kann das Opium häufig erfolgreich durch Codein-Knoll ersetzt werden, von dem
0,1 ungefähr 0,25 Opium entspricht. Es wird am besten in Pillen zu 0,015 gegeben,
die man steigend giebt bis zum Eintreten der gewünschten Wirkung, um dann
nach 8 — 14 Tagen langsam wieder zu sinken.
Auch bei ganz alten Fällen hat Verfasser mit dieser Methode dauernde
Besserungen erzielt.
n« Französisohe Literatur ttber pgyehische ZwangsiastlBde.
Sömeiologie des obsessions et des idöes fixes. Vortrag der Herren
Fitres nnd R^gis in der socicte de neuropathologie et de Psychiatric in Moskau.
Archives de neurologie 1897, November.
Das Zwangsirresein (obsessions) ist ein krankhafter Geisteszustand auf emotiver
Gh-undlage. Die „Emotion", der ängstliche Affeet, ist ein constantes und unerlass-
liches Element des Zwangsirreseins. Ohne die Angst giebt es kein Zwangrsirresein,
dagegen giebt es Formen ohne jede Zwangsvorstellung (idee fixe) oder Zwangs-
handlung, der Angstaffect ist das Wesentliche. Li allen Fällen findet man patho-
logische Beeinflussbarkeit des Gemüths (emotivite pathologique) und vasomotoriache
Phänomene.
Bei vielen Zwangsirren wechselt der Gegenstand der Zwangsvorstellung oder
er ist ein vielfacher. Die Angst bleibt aber immer dieselbe. Oft beginnt eine
Zwangsvorstellung mit reinem Angstgefühl und hört mit reiner Angst auf. Die
Stärke des Affectes wächst femer nicht mit der Intensität der Zwangsvorstellung,
sondern im Gegentheil, je mehr sich die Verstandesthätigkeit hineinmischt, desto
geringer wird der Affeet.
Formen des Zwangsirreseins:
Da allen Formen des Zwangsirreseins eine affective Störung zu Grrunde liegt,
so wird diese auch am richtigsten zum Eintheilungsprincip gemacht.
In einer ersten Beihe von Fällen besteht ein Zustand reiner Zwangsangtt,
unbestimmter Form oder systematisirt und in diesem Fall einen Uebergmng bildend
Psychische Zwangszustände. 171
za der zweiten Gruppe, in der noch Zwangsvorstellungen (idSes fixes) zur Angst
hinzukommen«
1. Etat obaedant ä anxi^te diffuse ou panophobique.
Ein beständiger gemüthlicher Spannungszustand entlädt sich anfallsweise auf
alle möglichen, oft sehr geringfügigen, äusseren Veranlassungen hin. Die Anfälle
können in Form Ton plötzlichem Auffahren mit Athmungsbeklemmung mitten im
Schlaf eintreten.
Bierher gehört die „Erwartungsangst" (attente anxieuse), bei der ganz triviale
Erlebnisse die absurdesten Beitirchtungen hervorrufen (z. B. ein Hustenstoss des
Hannes erweckt bei dessen Frau die Befürchtung, er bekomme eine Lungen-
entzündung, zwei vor ihrem Haus sich unterhaltende Personen lassen sie befürchten,
es sei eines ihrer Kinder zum Fenster hinausgefallen u. s. w.); die y,Zwangsang8t'',
ein beliebiges, äusseres Moment, löst einen intensiven Angstzustand aus, dem eine
Art Aura vorangehen kann, er ist oft mit einer Zwangsvorstellung verbunden und
Ton körperlichen, respiratorischen, vasomotorischen, secretorischen Erscheinungen
begleitet; die „Panphobie*', ein nicht seltener Zustand (z. B. ein Herr bricht regel-
mässig beim Erklären seiner Gemäldegallerie in Tbränen aus, pachtet einen Wächter,
der die Frösche in seinem Garten hüten muss u. s. w.).
2. Etat obsedant avec anxiSt^ systSmatisö ou monophobique.
Sind diese Zwangsbefürchtungen constitutionell begründet, so sind es auf be-
stimmte Objecto gerichtete chronische Unlust- oder Furchtgefühle (Bcrührungs-
liircht, Blutscheu, Furcht vor schneidenden Instrumenten, Wasserscheu etc.). Diese
Formen kommen vor bei hereditär belasteten, treten schon in früher Kindheit oder
zur Zeit der Pubertät auf. Sie können für sich allein bestehen und unverändert
dieselbe Form behalten, gewöhnlich aber folgen verschiedene Formen nacheinander
oder vielmehr, unter einer Anzahl verschiedener Zwangsbefürchtnngen pradomi-
nirt eine.
Die erworbenen Formen kommen ebenfalls bei belasteten Individuen vor. Sie
treten gewöhnlich im 30. — 50. Lebensjahr plötzlich auf im Anschluss an ein Trauma
oder eine Gemüthserschütternng, besonders wenn vorher lange Krankheit oder Er-
müdung einen prädisponirenden Zustand geschaffen hatten. Freud nennt diese
Zustande traumatische Angstpsychosen.
3. Etat obsedant avec anxi^te intellectuelle ou monoiddique, Obsession propre-
ment dite. Eigentliches Zwangsirresein.
Eine scharfe Grenze zwischen reinen Zwangsbefürchtungen (phobies) und
eigentlichem Zwangsirresein (obsession) existirt nicht. Sobald das von Zwangs-
befnrchtungen heimgesuchte Individuum auch in den zwischen den Paroxysmen
liegenden Pausen sich mit dem Inhalt derselben zu beschäftigen beginnt, ist eigent-
liches Zwangsirresein da. Diese üebergangszustände sind ungemein häufig.
Die characteristischen Angstzustände finden sich auch in Fällen von Zwangi-
irretein, denen kein Stadium reiner Phobie vorausgegangen ist.
• Je deutlicher die intellectuelle Störung wird, um so mehr verschwindet der
AlTect.
Ball nennt die Zwangsvorstellungen „impulsions intellectoellei*', da zu jeder
Idee ein motorisches Element gehört, man pflegt aber die einfache Zwangsvorttel-
fanig zn unterscheiden von den Zwangsimpulsen.
Obsessions id^atives (idee fixe pathologique) , „einfache Zwangsrontel-
172 H. Beriachmger.
lungen** tragen den Charmkter von etwas anwillkürUchem, sie stehen aoiMrlialb dee
gewöhnlichen Gedankenganges. (Eine dorch Willensanstrengung überwindbare.
rudimentäre Zwangsvorstellung zeigen jene Iiente, denen ein gehörtes Wort, «ne
Melodie nicht aus dem Kopf kommen wollen.) Die ZwangsTcnvtellong hat einen
parasitären, automatischen Charakter, scheint ausseriialb des Gehirns entstanden,
bildet eine Art Bewusstseinsrerdoppelung. Während sie als etwas Fremdea Tom
Bewusstsein peinlich empfunden wird, wird im Gegensatz dazu die Wahnidee mit
allen Consequenzen in dasselbe aufgenommen.
Ihr Inhalt ist ein eminent yerschiedener. Am häufigsten sind Noeophobien.
Der Zustand ist gewöhnlich gleich nach dem Erwachen, seltener Abends am
unerträglichsten. Der Schlaf ist gewöhnlich fest, doch können die Zwangsrorstel-
lungen, namentlich bei Hysterischen, auch in Träumen auftreten. Die Arbeits-
fähigkeit ist häufig, auch während der Anfälle, immer in den Intervallen, erhalten.
Periodisches, paroxysmales Auftreten ist die Regel. Continuirlich sind sie selten.
Die Kranken halten ihren Zustand gewöhnlich geheim, offenbaren sich nur
in der Verzweiflung dem Arzt zu ihrer momentanen Erleichterung.
Obsessions impulsives, Zwangsimpulse, bilden die zweite Art des Zwangs-
irreseins. Ein motorisches Element ist auch in den einfachen Zwangsvorstellungen
vorhanden. Gewöhnlich bleiben die Impulse latent. Selten fuhren sie zu Ver-
brechen, gewöhnlich nur unter Mitwirkung noch eines anderen Factors, Degeneration,
Schwachsinn, Alkoholismus, Morphinismus, Wahnideen, Ansteckung durch Beispiel
oder Lectüre. Häufiger ist impulsiver Selbstmord. Die Zurechnungsfahigkeit ist
bald als beinahe intact, bald als völlig aufgehoben zu betrachten.
Zwangshallucinationen werden von Morel und M. J. Fair et geleugnet, von
Stefani, Seglas und Catsara sind aber welche publicirt worden. S 6 glas
unterscheidet zwischen solchen, die durch eine Zwangsvorstellung hervorgerufen
diese begleiten und solchen, die zwangsmässig auftreten. Die ersteren nennt er
obsessions hallucinatoires, die letzteren hallucinations obsSdantes.
Das acute Zwangsirresein tritt nach heftiger Gemüthserschütterung oder im
Anschluss an eine Infectionskrankheit auf. Es tritt gewöhnlich in Form diffuser
oder systematisirter Zwangsangst mit continuirlicher, heftiger Angst auf, ist heilbar
und hinterlässt Krankheitsoinsicht und -erinnerung.
Die chronische Form hat entweder intermittirenden Charakter mit gans fireien
Pausen und Krisen, die nur beim Wiedereintreten der provocirenden Ursache sich
einstellen, oder am häufigsten remittirenden, mit Paroxysmen und auch während der
Intervalle gesteigerter Gemüthserregbarkeit. Seltener sind die continuirlichen
Formen, am häufigsten davon die Folie du doute.
Die Dauer der chronischen Formen zählt nach Monaten und Jahren. Dur
Ausgang bt Heilung oder Unheilbarkeit.
Degeneration, Heredität, schleichender Beginn. Vorherrschen der intellectudlen
Störung verschlechtern die Prognose. Die diffusen Zwangsbefurchtungen sind selben
unheilbar.
Recidive können unmittelbar auf die Heilung folgen, kommen aber gewohnlidi
erst nach jahrelanger freier Zwischenzeit vor.
Die einzelnen Recidive gleichen sich häufig sehr genau bei den
Kranken.
Psychische Zwangszustände. 173
L'impalsiYit^ morbide, Vortrag yon Dr. D. Marti y Julia, Barco*
Wa, gehalten in der Society de Neuropathologie et de Psychiatrie in Moskau.
Archives de neurologie 1897, November. Der Vortragende stellt folgende fünf
Sätze auf:
1. Es giebt keine physiologische Impulsivität
2. Was man so nennt, ist nur eine vollständige Entwickelung psychomotorisch
functioneller Reflexbogen, die im Individuum und dessen Vorfahren aufgehoben
waren.
3. Mit der Benennung „pathologische Impulsionen" werden sehr heterogene
Dinge belegt.
4. Die pathologische Impulsivität ist kein Degenerationszeichen, sondern eine
krankhafte Störung Degenerirter.
5. Ihre Eigenschaften sind: Stürmisches Auftreten, Fihlen einer psycho-
logischen Aetiologie, sie haben keine Beziehungen zur Persönlichkeit, der Kranke
kann ihnen widerstehen, aber der Widerstand verursacht ihm Beängstigung, während
die Realisation des Impulses psychisches Behagen schafft mit Reue über das (Ge-
schehene, Auftreten in Paroxysmen.
Die nObsessions^ unterscheiden sich von den „id^es fixes*' folgendermaassen :
Die Obsession entsteht aus pathologischer Gemüthserregbarkeit. Ihre Form
hangt vom psychomoralischen Zustand der Person ab. Sie erhöht die emotionelle
Erregbarkeit bis zur Beängstigung, besteht continuirlich in wechselnder Intensität,
hat Tendenz bestehen zu bleiben, kann zu systematisirten Wahnideen führen, ver-
ändert die Persönlichkeit, ist eine Krankheit Degenerirter.
Die idee fixe tritt auf psychologischen Anstoss plötzlich auf als activ werden-
des psychisches Residuum bei functioneller Störung des Gehirns. Sie ist eine ein-
fache Idee oder ein elementarer psychischer Vorgang, ohne Beziehung zum Cha-
rakter der Person. Sie erzeugt von sich aus keine pathologische Gemüthserregbar-
keit, sondern nur die durch sie hervorgerufene Langeweile und Ermüdung. Sie
tritt nur auf, wenn das Individuum nicht anderweitig geistig beschäftigt ist, nur
in einem etat aprosexique. Sie bleibt mechanisch bestehen, erschöpft sich selbst,
wird nie assocürt. nie zur Wahnidee, verändert nie die Persönlichkeit. Sie ist eine
fimctionelle Störung, die in physiologischem oder im pathologischen Zustand, bei
Gesunden oder bei Degenerirten vorkoi^men kann.
Phenom^nes psychiques avee le caract^re d'irr^stibilito (ob-
•essions. Zwangsrorstellnngen;. Vortrag von Dr. J. Kons tantin owsky, Moskau,
gehalten in der societe de neuropathologie et de ptychiatrie in Moskau. Archives
de neorologie 1897, November.
Der Vortragende bestätigt:
L das Vorkommen von Zwangsvorstellungen im WestphaTschen Sinne nnd
aagt ferner, daas
2. alle psychischen Vorgänge Zwangscharacter annehmen können, dass
3l dieser allein nicht daza berechtige, sie den Zwangsvorstellongen betznzählen,
4. dass eine Reihe von Symptomen mit Zwangscharakter verschiedenen Arien
Too InieOige&zBiöningen zugezählt werden mossen,
b. seien HaOiicinatioDen nicht charakteristisch for Zwangsrorstelhingen mit
KiHÜdbeüeeinsäehi. Man treffe sie bei schon vorgeschrittener Dtmeaz,
I
174 ^* Bertschinger.
6. hält er die klinische Schätzung der Phänomene mit Unwiderstehliohkeita-
character für unerlässlich zu ihrer Eintheiinng.
Sur les obsessions Yon Dr. Arie de Jong^ Haye. Soci6t^ de neuro-
Pathologie et de psychiatrie in Moskau. Archives de neurologie 1897, NoTember.
Ist identisch mit der ausführlicheren Mittheilung desselben Autors: „lieber
Zwangsvorstellungen''. Diese Ztschr. Bd. 6 pag. 257.
Contribution k l'etude de quelques obsessions. Vortrag Ton
Vallon et Marie, medecins des asiles de la Seine, gehalten in der Society de
neuropathologie et de psychiatrie in Moskau. Archives de neurologie 1897, Noybr.
Die Zwangsvorstellungen sind im Allgemeinen Reize, die sich nicht über alle
nervösen Centren verbreiten, sondern nur partiell und dann in dem ergriffenen
Abschnitt mit um so grösserer Intensität. Je nachdem die sph^re cenesthetique,
sensitivo-sensorielle, motrice oder psychique hauptsächlich betroffen wird, entstehen
Obsession, emotionelles, hallucinatoires, impulsives oder intellectuelles oder deren
Combinationen.
Note sur le role de la memoire dans la folie du doute. M.Sollier.
Seanco de la socicto medico-psychologique. Archives de neurologie 1896, Juli.
In vielen Fällen von folie du doute spielt eine gewisse Gedächtnissschwäche
eine grossere Rolle als gemeinhin angenommen wird. Der Verfasser konnte sie in
mehreren Fällen nachweisen, und zwar betraf sie sowohl die Fähigkeit, Neues lu
erlernen, als die Möglichkeit, alte Erinnerungen wieder ins Bewusstsein treten zu
lassen. Es giebt zwei Arten von folie du doute, je nachdem die Kranken be-
fürchten, irgend etwas unterlassen oder aber irgend etwas begangen zu haben. Im
zweiten Falle wird eine Continuitätslücke im Gedächtniss, die vom Willen unab-
hängig und ohne Störung der Apperception besteht, durch die befürchtete Hand-
lung ausgefüllt.
HaUucinatio ns succedant ä des obsessions et k des idees fixes.
Dr. Larroussine. Archives de neurologie 18%, Juli.
Ein junger Mann, von väterlicher und mütterlicher Seite her erblich belastet,
leidet seit früher Jugend an folie du. doute. Nach und nach traten dazu noch
andere Zwangserscheinungen, Angst vor Hunden, Befürchtung, ein Verbrechen be-
gangen zu haben oder begehen zu müssen, Angst vor falscher Anklage, Furcht vor
entsetzlichen Strafen, die an ihm und seiner Familie vollzogen werden sollen. In
Folge all dieser quälenden Erscheinungen machte der Kranke eine Menge Selbst-
mordversuche. Im weiteren Verlauf traten noch lebhafte Gehörshallucinationen
auf. Er hörte Anklagen und Drohungen, das Grab, in welches er lebendig gelegt
werden sollte , graben , seinen Vater ihm das Essen verbieten , so dass er mit der
Sonde ernährt werden musste u. s. w. Nach und nach wurden die Stimmen leiser,
er unterhielt sich nicht mehr laut, sondern nur noch „im Geist" mit ihnen, nnd
nach einem Monat trat scheinbar Heilung ein.
La phobie de la rougeur. A. Pitres et A. Regis. Aus dem Gongr^
des alicnistes et ncurologistes de France et des pays de la langue fran^aise a Nancy,
5. August 1896. Archives de neurologie 1896, September und L'obsession de
1 a rougeur (Ereuthophobie). A. Pitres et E. Regis. Archives de neurologie
1897, Januar.
Psychische Zwang^zastande. 175
Das psychische Phänomen des Erröthens kann in gewissen Fällen der Aus.
gangspunkt eines eigenthümlichen pathologischen Geisteszustandes werden, den die
Verfasser früher £rythrophohie nannten, für den sie nun aber die correctere Be-
nennung ,,£reuthophobie^ {^Qtvd'og, Schamröthe) Torschlagen, d. h. die Angst vor
dem Erröthen oder die Zwangsvorstellung des Erröthens. Besonders die stärkeren
Grade dieser Krankheit kommen überwiegend häufiger beim männlichen Geschlecht
vor und zwar in der Jugend, aber erst nach eingetretener Pubertät, während vor-
her nur Neigung zu leichtem Erröthen bestand, die im Anschluss an irgend ein
zufälliges Ereigniss zur Erröthungsangst wird. Die betroffenen sind häufig neu-
rasthenisch und irgendwie erblich belastet, seltener hysterisch. Das Ueberwiegen
des männlichen Geschlechts erklärt sich aus dem Umstand, dass das das Erröthen
begleitende Gefühl der Verwirrung für den Mann besonders quälend ist, weil das
Errötben bei ihm eher als ein lächerliches Zeichen von Furchtsamkeit, Schwäche,
weibischem Wesen gilt, als beim Weibe, dem es im Gegentheil einen Reiz mehr verleiht.
Je nach dem durch das Erröthen hervorgerufenen psychischen Effect werden
drei Grade der Krankheit unterschieden:
1. Ereuthose simple. Sie besteht in der angeborenen oder erworbenen Eigen-
schaft sehr häufig und auf geringfügige innere und äussere Ursachen hin mehr oder
weniger intensiv zu erröthen. Beunruhigung oder Aufregung besteht dabei gar
nicht oder doch nur gerade im Augenblick des Erröthens.
2. Ereuthose emotive. Der Zustand ist vorübergehend, mit pathologischen
oder klimatischen Verhältnissen zusammenhängend oder besonders bei hereditär
nervös Belasteten ein dauernder. Er ist characterisirt, erstens (iurch ausserordent-
lich häufiges und heftiges Erröthen, besonders überall da, wo es gilt, sich zu „zeigen'^,
zweitens durch die dadurch bewirkte Belästigung oder Verlegenheit, die sich aber
nie zur Zwangsbefürchtung steigert, nur im directen Anschluss an eine Krise auf-
tritt und bald völliger Unbefangenheit Platz macht. Die Ereuthose emotive bessert
sich mit der Zeit.
3. Ereuthophobie , Ereuthose obsedante. Die Erröthungsangst ist constant,
zwangsmässig, äusserst peinlich und unaufhörlich.
Von den 8 Fällen, die hier angeführt werden, betreffen 7 Männer, von denen
einer 37, die anderen zwischen 20 und 30 Jahren alt, alle erblich belastet waren.
Immer war der Zustand bei trockener Hitze und grosser Kälte erträglicher
ab bei feuchter Wärme, am Morgen besser als Abends, Nachts, unter dem Schutz
der Dunkelheit am erträglichsten. Eintreten in öffentliche Locale, öffentliches Auf-
treten, der Gang zum Goiffeur kann wahre Angstparoxysmen hervorrufen, zur
Tortur werden, ebenso plötzliche Begegnung mit Bekannten, besonders mit Damen.
Gespräche über von fremden Personen begangene Vergehen, eigene oder in der
Gegenwart der Kranken von Anderen begangene Versehen und Verstösse, öffent-
liche gute Thaten bewirken Angstparoxysmen, da sie die Befürchtung erwecken,
in falschen Verdacht zu kommen oder der Prahlerei geziehen zu werden.
Den Erröthungs- und Angstkrisen gehen oft eigenthümliche Sensationen, Herz-
klopfen, unwillkürHühes Grimassiren, allgemeines Zittern voraus.
Die Röthe beschränkt sich gewöhnlich auf das Gesicht und kann sehr ver-
•ohiedene Intensität haben, die aber zur Grösse der Angstempfindung in keinem
Verhältniss steht. Sie ist gewöhnlich begleitet von subjectivem Wärmegefühl,
Schweissausbruch, sogar Urin- oder Kothabgang.
176 H. BerUohinger.
Vom Beginn der Krise an sind die Kranken erfüllt Ton der Angst, Ifieherfieh
zu werden, Anlass zu Spott oder Hohn za geben und können in diesem Zustand
dnroh einen Blick, ein Wort, eine Geberde, in maasslose Wath versetzt werden.
Die Kranken leben in beständiger Angst vor dem £rr<$then. qnälen sich auch
in den zwischen den Krisen liegenden Zeiten damit, grübeln ihrem Zostand nach
und machen ihn dadurch noch peinlicher, dass sie sich Niemandem als dem Arzt
anvertrauen und ihr Leiden möglichst zu verbergen suchen, indem sie sich itoliren^
verbergen und häufig an Selbstmord denken.
Hie und da ist die Erröthungsangst mit anderen psychischen Störungen, auch
a nderen Zwangsvorstellungen combinirt.
Willensanstrengung bewirkt das Gegentheil von dem Gewünschten, da schon
der Gedanke daran genügt, eine Erröthungskrise herbeizuführen. Aach der Ver-
such, gewaltsam die Aufmerksamkeit auf etwas Anderes zu concentriren , ist ge-
wöhnlich erfolglos.
Mit tausenderlei merkwürdigen J^litteln versuchen die Kranken die ausge-
brochene Röthe zu verdecken, sie schneuzen sich, verstecken sich hinter einer
Zeitung, bücken sich u. s. w. Ein sehr verbreitetes Mittel ist der Alkohol, theils
als Couragemittel, theils um durch dauernde alcoholische Röthang das Erröthen
weniger auffallend zu machen. Viele verlangen vom Arzt die anglaablichsten
Kadicaleingriffe, Tätowirung der Gesichtshaut, Ligatur der Carotiden a. s. w.
Bei der hysterischen Dame hatten Wachsuggestionen ein wenig Erfolg, in
allen anderen Fällen blieb die Therapie, auch die Hypnose, machtlos.
Die Verfasser glauben, dass der Erröthungsangst ein inneres emotionelles, eine
vasomotorische Veränderung darstellendes Phänomen zu Grunde liegt and zwar
aus folgenden Gründen:
Bei allen Fällen ging der eigentlichen Krankheit die Tendenz, abnorm leicht
zu erröthen, oft jahrelang voraus. Später kam dann das Gefühl der Bennrahignng
dazu und zum Schluss, als Complication, die Zwangsvorstellung. Die leichtesten
Formen werden nur durch die vasomotorische Störung charakterisirt, im zweiten
Grad kommt die Affect- und im dritten Grad noch die intellectuelle Störung, die
idee fixe, hinzu. Die Intensität der Röthe und der Angst stehen in keinem con»
stauten Verhkitniss zu einander.
Allerdings werden in der ausgebildeten Krankheit die Anfalle durch den Ge-
danken an das Erröthen ausgelöst, also durch die intellectuelle Componente, aber
da die Aufregung und Angst zu gleicher Zeit auftreten mit der id6e fixe, handelt
es sich nicht um eine einfache Idee, sondern um einen zusammengesetzten psy-
chischen Vorgang, wobei es sehr schwierig ist zu entscheiden, ob der inteUeotaelle
oder der emotionelle TheU prädominirt und vorangeht. Was die Kranken „Idee*'
nennen, ist eine „Furcht **, also ein vorwiegend aÖectives Moment, eine affective
Hypermncsie, ein spontanes Wiederaufleben einer vorangegangenen unangenehmen
Gcmüthserregung. Auch in den Zeiten zwischen den Krisen ist die idee fixe on-
zertrennlich mit einer Gemüthsbewegung verbunden.
Bei ganz plötzlichem Eintreten des Phänomens ist die Reihenfolge der A^
soheinungen die: Angstgefühl, Erröthen, quälende Gedanken.
Einflüsse, welche auf das Erröthen einwirken, z. B. atmoephäriache, beein-
flussen auch die Intensität der fixen Idee. Bei einem der Kranken trat bei trookener
Kälte kein Erröthen ein, auch wenn er daran dachte.
Psychische Zwängszostände. 177
Die Verfasser hofifen, dass durch geschickte und genaue Experimente über die
YEsomotorische Keflexerregbarkeit Klarheit geschaffen werden könne.
ni« Englisohe Literatur Aber psychische Zwangsziistände«
Mental Besetments by W. Julius Mickle M. D., E. R, C. P«, London.
Presidential address delivered at the fifby-fifth annual meeting of the medico-psy-
ehological assooiation, held in London 23 rd and 26 th July 1896. Journal of men-
tal science, October 1896.
In einem ersten Kapitel seiner Bede giebt der Verfasser eine kurze Skizze
dessen, was man unter obsessions or besetments versteht. Die Grundbedingung sei
in den meisten Fällen eine pathologische, mit Angstgefühl verbundenene Zwangs-
Torstellung, die den Befallenen um so mehr quält, je mehr er dagegen ankämpft.
Die Kranken fühlen sich unwiderstehlich gezwungen, gewisse sinnlose Handlungen zu
thun oder gewisse Worte auszusprechen, oder es tauchen ihnen immer wieder die-
selben Fragen auf oder die Befürchtung, irgend etwas verfehlt oder unterlassen zu
haben. Von diesen abulischen Formen verschieden sind die Zwangsbefiirchtungen,
die Furcht, krank zu werden, sterben, Selbstmord begehen zu müssen. Ganz leichte,
liaam pathologisch zu nennende Formen, können übergehen in schwere, gefährliche,
forensische Wichtigkeit besitzende.
Oft sind die obsessions ein Zeichen hereditärer Belastung. Sie haben Be-
ziehungen zu Neurasthenie, Hypochondrie, Hysterie, Melancholie, Paranoia, müssen
aber doch nosologisch von diesen Krankheiten getrennt werden. Sie können er-
worben werden, entstehen aber sehr häufig auf hereditärer Grundlage.
Der Verfasser giebt sodann einen kurzen Ueberblick über die verschiedenen
gebräuchlichsten Bezeichnungen verschiedener Arten von Zwangsirresein, und er
tritt für Fallenlassen der Bezeichnung ,,delire du toucher^* ein, da sie irretührend
und gefährlich sei und eigentlich das Gegentheil von dem sage, was sie wolle.
Im zweiten Kapitel wird die psychologische und klinische Stellung der beset-
ments erörtert.
Der Verfasser nimmt an, dass bei den Zwangsvorstellungen der Gedächtniss-
apparat in krankhafte Thätigkeit gerathe, dass die mit krankhafter Intensität sich
bahnbrechende Idee auf ihrem Wege die motorischen Gentren erregen könne. In
leichteren Fällen kann sie zurückgedrängt werden, in schwerren iat sie unwider-
stehlich.
Die Zwangsvorstellungen sind aber nicht nur durch Störung des Denkens be-
dingt, sondern beruhen auf Anomalien des Denkens, Fühlens und Wollens. In den
einen der Fälle wiegt die Störung des Denkens vor, in andern die des Fühlens
und in noch andern die des Wollens.
Der Verfasser gruppirt die verschiedenen Arten von Zwangsirresein unter
„The three D's**, nämlich in „besetments of Doubt, Dread and Deed", je nachdem
das krankhafte Denken, Fühlen oder Thun in dem betreffenden Falle die Haupt-
rolle spielt. In allen Fällen aber sind mehr weniger auch die andern zwei psycho-
logischen Functionen ergriffen.
Im dritten Abschnitt giebt der Verfasser einige allgemeine Züge des Zwangs-
irreseins an.
Oft sind die Zwangsvorstellungen mit neurasthenischen Symptomen vergesell-
seliaftet, entstehen gewöhnlich auf hereditärer Basis, sind remittirend oder paroxis-
Zeitadirift für Hypnotismus etc. YIU. 12
178 H. Bertschillger.
«
mal. Anfänglich ist Krankheitseinsicht vorhanden, oft stellt sich 8}^ter taediom
yitae ein, häufig sind unwiderstehliche impulsive Handlungen, dagegen fehlen in
uncomplicirten Fällen Hallucinationen immer. Die Paroxysmen werden oft durch
äussere Umstände beeinflusst.
Die Länge, Häufigkeit, Intensität der Paroxysmen wechseln stark in den ver-
Bchiedenen Fällen.
Im vierten Theil der Rede werden die „obsessions** differentialdiagnostisdi
beleuchtet.
Von der Epilepsie unterscheiden sie sich durch das Erhaltenbleiben des fie-
wusstseins, das nur in seltenen Fällen secundär getrübt wird, in Folge des ad
maximum gesteigerten Angstgefühls. Zwangshandlungen werden im Gegensati la
epileptischen impulsiven Thaten immer vom Gedächtniss genau registrirt.
Hysterie, Hypochondrie, zeitweilig sich starker aufdrängende Reminiscensen,
z. B. eine Melodie, Idyosynkrasien gehören nicht zu den „obsessions*', ebenacwenig
sogenannte Secundärempfindungen (Phonismen, Photismen etc.).
Zum Schluss warnt der Autor vor dem Gebrauch des Ausdruckes „fixe Idee^
für Zwangsvorstellung und wendet sich gegen die Bezeichnung der Zwangsvorstel-
lungen als „parasitisch** oder „quasiparasitisch**, da die Aehnlichkeit mit Parasiten
eine nur ganz oberflächliche sei.
Im 5. Kapitel beleuchtet der Autor die Uebergänge der Zwangsvorstellungen
in eigentliche Geisteskrankheit. £r warnt vor der Annahme, dass Zwangsivontal-
lungen immer nur eine leichte Art von Geistesstörung vorstellen. Häufig werden
die Morel 'sehen Unterscheidungsmerkmale von eigentlicher Geisteskrankheit (er-
haltene Einsicht, Fehlen von Hallucinationen und Illusionen, Fehlen der Verände-
rung der Persönlichkeit) nicht mehr zu constatiren sein.
Bei der gleichen Person können leichte Zwangsvorstellungen neben schweren
Angstzuständen und impulsiven, verbrecherischen Handlungen vorkommen. Leichte
Formen können nach und nach in schwere übergehen. Forensisch ist dies von
grösster Wichtigkeit.
Oft geht Zwangsirresein über in schwere Paranoia, die Krankheitseinsicht
geht häufig verloren, die Zwangsimpulse können unwiderstehlich werden, die Zwang»-
handlungen können belanglose, triviale Handlungen sein, aber auch zu Mord und
Selbstmord führen.
Den Uebergang von Zwangsirresein zu wirklicher Geisteskrankheit bezeichnet
der bestimmende Einfluss, welchen plötzlich die früher als solche erkannten Zwangs-
befürchtungen oder -Vorstellungen auf die Lebensführung des Betroffenen gewinnen.
Neben den Zwangsvorstellungen kommen dann noch andere Zeichen von
Geisteskrankheit vor, Verfolgungs- , Beziehungswahn, hypochondrische Sensationen
und Wahnideen, Hallucinationen etc.
Kleptomanie, Pyromanie etc. sind keine selbstständigen Krankheitsbilder,
sondern Symptomgruppen.
Im 6. Kapitel weist Mi ekle auf die vielfachen Analogien hin, die zwischen
der Denkweise von Paranoikem, gewissen an Zwangsvorstellungen und -handlongeii
Leidenden einerseits und dem Denken wilder, uncivilisirter Völker and Kindera
anderseits bestehen. Bei den Geisteskranken treten die alten Phasen der geistigen
Entwickelung , die sonst vergessen und von neuen überwuchert sind, wieder mehr
in den Vordergrund. Wie bei Wilden findet man bei ihnen häufig Vorliebe for
Psychische Zwangszustände. 179
Symbolistik , Aberglauben , Anwendung gewisser Worte und Handlungen, denen
eine geheimnisvolle, übernatürliche Macht und Bedeutung zugeschrieben wird u. s. w.
Beim Auftreten periodischer Verschlimmerungen kann femer bei Paranoia
sowohl als bei Zwangsirresein eine Art Doppelbewusstsein entstehen.
Daa 7. Kapitel ist der Beleuchtung der nosologischen Stellung des Zwangs-
irreseins und seiner Beziehungen zu andern Geisteskrankheiten gewidmet.
Nicht mit Unrecht wurde das Zwangsirresein schon als rudimentäre, abortive
Paranoia betrachtet. Es hat aber auch nahe Beziehungen und bietet fliessende
Uebergänge zu den einfachen degenerativen Formen, zu Paranoia, Imbecillität, moral
insanity, originärer Paranoia und Hebephrenie. Femer bringt sie Mickle in Be-
ziehung zu gewissen hypnotischen Zuständen und zur Hysterie.
Wie in der Hypnose gewisse Vorstellungen und Vorstellungsgruppen über-
mächtig werden können, und wie bei Hysterie ein zweites Bewusstsein in nur rudi-
mentärer oder vollkommener Ausbildung vorkommen kann, so zeigt sich auch beim
Zwangsirresein eine Tendenz zur Spaltung des Bewusstseins, ein radimentärer An-
fang zur Verdoppelung der Persönlichkeit. In beiden Fällen besteht eine ge-
steigerte Suggestibilität « Willensschwäche, verminderte Controlle, ein gewisses
Zögern und Zweifeln. Das Bewusstsein ist eingeengt, geschwächt, labil und im-
pulsiv. Die Wahrnehmungen und Vorstellungen werdA nicht ordentlich assooürt,
und daher rührt die Neigung zu Spaltung des Bewusstseins. Bei Hysterie mani-
festiren sich die fremden, eingedrungenen, vielleicht unterbewussten Ideen in
somatischen Störungen, im Gegensatz dazu suchen sie sich bei Zwangsirresein in
Affecten oder Handlungen Luft zu machen. In beiden Fällen kann ein emotioneller
Reiz sich über weite Nervenbahnen erstrecken und eine Reihe dramatischer Phä-
nomene hervorrafen durch Suggestion, als Ausdruck einer reizbaren nervösen
Schwäche.
Aenssem sich Zwangshandlungen in impulsivem Herumirren, so können sie
Bomnambulistischen Zuständen sehr ähnlich werden.
Der Tic convulsiv führt bei langem Bestehen zu Geisteskrankheit und ist oft
mit Zwangsvorstellungen vergesellschaftet. £r scheint überhaupt eine Varietät des
Zwangsirresein darzustellen. Häufig kommt neben Tic convulsiv auch Goprolalie
und zwangsmässige Echolalie und Echopraxie vor.
Die „Jumping desease*' der nordamerikanischen Indianer, das „Myriachit'^ in
Asiatisch-Sibirien und „Latha" der Malayen scheinen nahe verwandt, wenn nicht
identisch mit dem Zwangsirresein zu sein.
Viele perverse sexuelle Handlungen und Verbrechen können als Zwangsirre-
sein aufgefasst werden.
Im 8. Kapitel illustrirt der Redner an Hand von Krankengeschichten das in
den 7 ersten Kapiteln Gesagte.
Latha. A mental malady of the Malays. By W. Gilmore Ellis,
IL D., M. R. G. S., Medical-Superintendent, Governement Asylum. Singapore. The
Journal of mental science 1897, Januar. #
Latha ist der malayische Name eines eigenthümlichen Geisteszustandes, der
hauptsächlich bei Malayen, selten bei Eurasiern und Indiem vorkommt und viel-
leicht identisch ist mit dem liyriachit der Einwohner Sibiriens und Lapplands, der
Jumping-disease der Amerikaner und dem Bah-tschi der Siamesen.
12*
180 ^ Bertaching^. Ptychitche Zwangnastände.
Die Krankheit tritt periodisch, aniallsweise auf^ gewöhnlich durch irgend eine
plötzliche Gehörs-, Gesichts- oder Gefohlswahmehmong herrorgerofen. Sie kann
sehr Tenchiedene Formen annehmen, doch lassen sich swei Haoptgroppen Ton
einander trennen.
Die eine, die ,JI[imetic-Form** besteht im Wesentliehen darin, dass die Kranken,
die übrigens gewöhnlich bei Tollem Bewusstsein bleiben, zwangsmässig, ganz gegen
ihren Willen, aoflallige, ihnen vorgemachte Gesten nachahmen, und in der Nach-
ahmnng übertreffen, z. B. sich entkleiden, tanzen, Gegenstände zum Fenster hinaus
werfen n. dgl. ul, oder indem sie Laute, die sie hören« Melodien, Worte etc. nach-
ahmen.
Die zweite, paroxysmale Form, wahrscheinlich eine ganz andere Krankheit,
hat vielleicht gewisse Beziehungen zum Amok, und besteht im W*esentlichen in
Zwangshandlungen und Coprolalie. Die Befallenen stossen, sobald man sie z. B.
berührt, gewöhnlich immer die gleichen unanständigen Worte aus und fuhren mehr
oder weniger unsinnige Handlungen aus, werfen z. B. der nächststehenden Person
an den Kopf, was sie gerade in Händen haben u. s. w. In einer andern Reihe
von Fällen verursacht ein in ihrer Nähe laut ausgesprochener Name irgend eines
reissenden Thieres plötzliche Angstzustände mit sinn- und zwecklosen Flucht- und
Abwehrversuchen. Das BAusstsein ist häufig getrübt oder geschwunden, auch be-
steht oft Amnesie für die Anfölle.
Latha wird von den Malayen selber scharf von eigentlicher Geisteskrankheit
getrennt. Ausserhalb der Anfälle sind die Kranken bei gutem Verstand und
handeln und reden völlig vernünftig. Häufig kommt die Krankheit mehrfach in
einer Familie vor. Das weibliche Geschlecht prävalirt, ebenso das höhere Alter.
Mit der Keligion hat die Krankheit nichts zu thun.
Die Herzaction ist während der Anfälle beschleunigt, die Reflexe sind er-
halten.
Referate und Besprechungen.
Victor Henri, Ueber die Baumwahrnehmangen des TastBinnes.
Ein Beitrag zur experimentellen Psychologie. Berlin. Verlag von Renther und
Reichard. 1898. 228 S.
Der erste and bei Weitem grössere Abschnitt des vorliegenden Werkes ent-
hält eine Zosammenstellung der Thatsachenin Bezug auf den Raumsinn der Haut
und die Localisation der Tasteindrücke, sowie Erscheinungen physiologischer und
pathologischer Art (S. 1—160). Im zweiten Theile sind die Theorien über die
Raamwahrnehmungen im Gebiete des Tastsinnes enthalten. Am Ende ist ein voU-
stindiges Yerzeichniss der einschlägigen Literatur angefügt.
Zuerst bespricht der Verf. die verschiedenen Methoden zur Bestimmung der
Schwelle, welche seiner Ansicht nach kein bestinmiter Werth ist, weil „derUeber-
gang von der Unmerklichkeit zur Merklichkeit ein stetiger ist^, es existiren also
nur annähernde Schwellenwerthe. Eingehend werden dann die Methoden zur
Schwellen-Bestimmung von Vierordt, G. E. Müller und Fechner erörtert,
wobei sich Verf. den Ausführungen Vierordt's im Allgemeinen anschliesst. Es
folgen darauf die Resultate aus den Untersuchungen über die Schwelle. Eine
wesentliche Modification erfährt die Schwelle durch die Uebung und die geistige
' Ermüdung, wie aus den Arbeiten von Griesebach und V a n n o d hervorgeht,
während körperliche Anstrengrmg fast gänzlich wirkimgslos auf die Schwelle
iii. Dieser Einfluss der Uebung und der Ermüdung ist „centraler^ Natur, insofern
nicht die Empfindung selbst, sondern die Deutung derselben verändert wird.
Bei Blinden ist der Raumsinn feiner als bei Sehenden, wie die zahlreichen Versuche
Czermak's und anderer Forscher übereinstimmend zeigen, ebenso sind bei Kindern
die Schwellen kleiner als bei Erwachsenen und bei natürlich oder künstlich aus-
gedehnter Haut wiederum grösser, als bei normaler Beschaffenheit.
Unter künstlichen Bedingungen ergeben sich folgende Schwellenwerthe
Wärme, Hyperämie und mechanische Reizung der Haut verkleinem die Schwelle,
während sie durch Anämie und Kälte vergrössert wird. Durch den electrischen
Strom wird die Schwelle an der Anode vergrössert und an der Kathode verringert,
doch tritt diese Wirkung erst nach einiger Zeit auf. Bei Reizung der Haut durch
Säuren etc. wird die Schwelle vergrössert. Narcotica erhöhen die Schwellenwerthe
in verschiedenem Maasse. Der Einfluss von Krankheiten aller Art auf die Schwelle
182 Referate und Besprechungen.
ist bald yergrössemd, bald verkleinernd. Alle diese Befunde gelten für die
simultane Berührung, bei successiver Berührung werden die Schwellenwerthe
kleiner was in noch höherem Maasse der FaU ist, wenn man vor der Berührung
des zweiten Punktes die Spitze vom ersten wegnimmt. In Bezug auf lÄnien hat
sich ergeben, dass ohne Richtung die Schwelle grösser ist als bei succeanver Be-
rührung zweier Punkte und kleiner als bei simultaner Berührung; für Ldnien mit
Angabe der Richtung ist der Schwellenwerth demjenigen bei der simultanen Be-
rührung mit zwei Punkten ungefähr gleich. Für Figuren erhielt Binet bei einer
hysterischen Frau andere Resultate als bei normalen Individuen. Bei der Bewegung
einer Spitze über die Haut erhält man eine viel kleinere Schwelle als bei der
simultanen Berührung mit zwei Spitzen, doch ist der Schwellenwerth an den ver-
schiedenen Stellen verschieden.
Nach dieser sehr erschöpfenden Uebersicht über die Schwelle bringt YerL
einige Beobachtungen über die „Unterschiedsschwelle'', um dann wieder
genauer auf die „Richtigkeit der räumlichen Vorstellungen im Gebiete
des Raumsinnes der Haut" einzugehen. Weber hat gefunden, dass die
Entfernung zweier mit Spitzen berührter Hautpunkte um so kleiner erscheint^ je
grösser die betr. Schwelle ist. Fechner, Camerer u. A. haben dieses Verhalten
bestätigt Wundt, Jastrow und Washburn haben beobachtet, dass die
scheinbare Distanz der Spitzen kleiner ist als die reale und unabhängig von visnalen
Vorstellungen ; das Gegentheil behauptet Goldscheider, womit die Untersuchungen
des Verf. 's für grosse Distanzen übereinstimmen, was er jedoch aus der Vor>
Stellung von der Grösse des berührten Körpertheils erklärt, weil sofort eine Unter-
schätzung stattfand, sobald er der Versuchsperson ein Modell des Armes vorlegte.
Hinsichtlich des Auftretens der sog. Vexirfehler hat sich ergeben, dass sie mit
der Zunahme der Entfeniung numerisch abnehmen. Das Zustandekommen der
Vexirfehler erklären einige Autoren (W undt.G. E. Müller) rein physiologisch,
andere (Fechner, Camerer, Nichols) wieder durch Contrast, Erwartung u. s. £
psychologisch. Verf. glaubt, dass „die Vexirfehler allerdings an rein physio-
logische Ursachen gebunden sind, ihr Vorkommen aber durch wissentliches Ver-
fahren beeinflusst wird.'' Damach wird der Fall des Längeren erörtert, wo zwei
Hautstellen, deren gegenseitige Entfernung verändert werden kann, mit je einer
Spitze berührt werden. Hierher gehört der Versuch des Aristoteles, welcher
von vielen späteren Forschern (Descartes) behandelt und auch in unserer Zeit
von Czermak, Robertson, Rivers neu beobachtet worden ist. Intensiv be-
schäftigt mit diesem Experiment hat sich der Verf. selbst in dem psychologischen
Institut in Göttingen. Als Versuchspersonen wurden auch zwei frühzeitig Er-
blindete beobachtet. Das Gesammtresultat dieser Untersuchungen fasst H. selbst
in dem Satze zusammen : „berührt man die Endphalangen von zwei Fingern suerst
bei der normalen Lage der Finger und dann dieselben Hautstellen in gleicher
Weise bei der gekreuzten Lage der beiden Finger, so scheinen die beiden Be-
rührungsstellen in beiden Fällen fast in derselben Lage zu einander zu liegen;
diejenige, die rechts bei der normalen Lage erscheint, erscheint auch rechts bo
der gekreuzten Lage, obgleich die Berührung objectiv hier links ist. Wenn bei
der normalen Lage die Berührungsstellen sehr nahe an einander liegen, so scheinen
sie auch bei der gekreuzten Lage einander sehr nahe zu liegen, obwohl objectiv
die Berührungen in der gekreuzten Lage weit von einander entfernt sind." — -
Referate und Besprechungen. 183
Täuscliungen, welche dem Aristotelischen Muster ähnlich sind, kann man auch an
anderen Stellen erhalten. Am Ende des ersten Capitels folgt noch eine kurze
Darstellung der Untersuchungen über die Wahrnehmungen von Linien, Bewegungen
und Formen. Nach den übereinstimmenden Beobachtungen von Volkmann^
Dressler, Parrish und Nichols erscheint eine Linie stets kleiner als eine
Spitzendistanz, nach denjenigen von Czermak, Vierordt und Fechner er-
scheint die durchlaufene Strecke kleiner als die Entfernung der Punkte. Die Wahr-
nehmung Ton Formen ist für verschiedene Körperstellen und ihre Lage verschieden.
Endlich werden noch einige Fälle von Macroästhesie und Polyästhesie sowie ein
Fall von Jliacropsie mitgetheilt.
Das zweite Capitel handelt von der Localisation der Tasteindrücke. Bei der
Localisation können wir drei Formen unterscheiden: „Localisation mit Be-
rührung und Bewegung*', „visuelle Localisation" und „Localisation
mit Beschreibung". Die erste Methode zur Bestimmung der Feinheit rührt
von Weber her und wurde später auch von Kottenkampf, Ullrich^ Lewy,
Barth und Pillsburg angewandt. Die Versuchsperson hat bei geschlossenen
Augen mit dem Finger die gereizte Hautstelle zu berühren (Berührungsmethode)
oder zu zeigen (Bewegungsmethode). Daran reihen sich die eigenen Untersuchungen
des Verf.^8. Dieselben sind in vier Heihen angestellt und erstrecken sich zunächst
auf die Localisation der Bewegung, welche für sich allein eine sehr ungenaue
Localisation abgiebt. — Die visuelle Localisation ist lediglich von Volk-
mann geprüft worden. Verf. selbst hat nun fünf Versuchsreihen über dieselbe
angestellt und gefunden, dass die Fehler um so kleiner sind, je mehr Anhaltspunkte
sich in der Nähe des Punktes befinden und je characteris tischer die Tastempfindung
ist. Zwischen dem berührten und gezeigten Punkte findet keine Reciprocität statt,
"wie Wundt annimmt. Bei der gekreuzten Lage werden die Finger verwechselt;
dies gilt ebenso für Blinde. Doch bestehen individuelle Unterschiede in der
Sicherheit und Intensität der Verwechselung. Nach G. E. Müller können sogar
die Finger der zwei Hände verwechselt werden. — Die Localisation mit Be-
ichreibung ist wenig genau und wird hauptsächlich bei Kranken angewandt.
Loa dritten Gapitel des ersten Theils werden physiologische und pathologische
Thatsachen angeführt. Daraus geht hervor, dass gewisse Localisationsbewegungen
fein reflectorisch und vom Rückenmark abhängig sind, und dass diese reflectorische
Localisation nur annähernd ist. Bei der Reizung einer Nervenbahn des Haut-
sinnes können Empfindungen entstehen, welche identisch den Empfindungen sind,
welche bei Reizung der peripheren Endigungen entstehen; es können aber auch
Empfindungen entstehen, die nie peripher entstehen. Li beiden Fällen wird die
Empfindung in die Peripherie projicirt (Gesetz der excentrischen Projection oder
JSxtemalisation). Es folgen hier einige Beobachtungen über Reizungen der corti-
calen Zone, der inneren Capsel, des verlängerten Marks und des Rückenmarks
sowie der Nerven, und im Anschluss daran eine Besprechung der Mitempfindung,
der verschiedenartigen Empfindungen bei Amputirten. Die amputirten Theile
werden gewöhnlich zu nahe und zu klein vorgestellt. Electrische Reizung des
betreffenden Amputationsstumpfes stellt die normale Empfindung wieder her,
Störungen der Localisation treten weiterhin auf bei Transplantation der Haut
nnd bei Nervenkrankheiten. Dieselben können jedoch nach der Heilung wieder
▼erschwinden. Auch durch Erkrankung innerer Organe kann die Sensibilität beein-
184 Referate und Befprechnngen.
trächiigt werden, wie He ad nachweist; ebenso durch Rückenmarkakrankheiten.
In manchen Fällen führt eine Verietcnng des Rückenmarks aber sogar eine Stei-
gerung der Empfindlichkeit herbei. Ans dem Umstände, dass bei S^ranken Tielfaeh
die Raumschwelle vergrössert ist, während die Localisation normal ist and umge-
kehrt, ergiebt sich die Unabhängigkeit des Raumsinnes der Haut Ton
der Localisation der Tasteindrncke.
Im zweiten Theile seiner Abhandlung kommt Verf. zu den verschiedenan
Theorien über die Raumwahmehmungen im Gebiete des Tastsinnes. Dabei ist
SU untersuchen, ob die Räumlichkeit angeboren ist oder nicht und in diesem Falle,
wie sie sich entwickelt und worin für das entwickelte Bewusstsein das nLumliehe
Moment einer Tastempfindung besteht.
Die nativistischen Theorien von Hering, James und Stumpf be«
haupten, dass „dem unentwickelten primitiven Bewusstsein jede Tastempfindon^
räumlich erscheint, und dass diese Räumlichkeit eine Eigenschaft oder
ein Theilinhalt der Tastempfindung selbst ist**. Dagegen behaupten
J. Müller, £. H. Weber und Lotze, dass „an jeder Tastempfindung eines
Neugeborenen das Moment der Räumlichkeit unterschieden werden kann, dass aber
diese Räumlichkeit nicht ein Theilinhalt der Empfindung selbst,
sondern eine immanente Eigenschaft der Seele oder des Bewnsst-
scins ist".
Dieser nativistischen steht die genetische Auffassung gegenüber, die ihrer^
seits annimmt, dass „der Tastempfindung des primitiven unentwickelten Organismna
keine Räumlichkeit zukommt. Die Tastempfindungen werden für das BewasstseiD
erst im Laufe der Entwickeln ng räumlich.'* Diese Theorie ofienbart sich in drei
verschiedenen Phasen. Herbart und Lipps sagen, dass „die Empfindungen des
Tast- und des Gesichtssinnes im primitiven Bewusstsein noch keine Räumlichkeit
haben; letztere entsteht als Resultat einer gewissen Cbmbination
dieser an sich unräumlichen Empfindungen, während nach der Meinung
der englischen Empiristen Brown etc. und Wundt und Steinbach diese
Räumlichkeit nur mit Hülfe anderer Empfindungen gebildet wird.
Verf. kann sich keiner der herrschenden Theorien gaLz anschliessen, seine Ansicht
besagt, „dass die Tastempfindung im primitiven Bewusstsein kein Moment der
Räumlichkeit haf; diese entsteht im Laufe der Entwickelung, sie ist aber
durchaus nicht eine Zusammenstellung oder „chemische Mischung*'
unräumlicher Elemente.** Diese Hypothese wird vom Verf. selbst jedoch
nur als möglich angenommen. — Das zweite Capitel des zweiten Theils enthalt
noch eine kurze Zusammenfassung der im ersten Theil angegebenen Thatsaohea
und die Theorie der Empfindungskreisc von Weber und die Theorie der Local*
zeichen von Wundt und Lotze. Alle diese Theorien leiden an verschiedenen
Mängeln. Am Schlüsse skizzirt Verf. noch seine eigene Theorie; es exiatirt im
Rückenmark eine gewisse anatomisch-physiologische Einrichtung, in Folge deren
ein periplierer Reiz refiectorische Bewegungen hervorruft, die ein Tastorgan in die
Nähe der gereizten Stelle bringen; diese Einrichtung ist als angeboren anzusehen.
Es entstehen dann Associationen zwischen Tastempfindungen und Gesichtsbildeni,
für weiche die Uebung von wesentlichem Einflüsse ist.
Anm. d. Ref.: Wenn diese Arbeit auch weniges Neues bietet, so giebt lie
doch viele Winke für den Forscher, wo in diesem für die gesammte Psychologie
Keferate und Besprechungen. 185
und Philosophie äusserst wichtigen Gegenstände noch Experimente nothig sind.
Ausserdem ist sie eine bedeutende Erleichterung für spätere Studien, indem sie
eine übersichtliche und genaue Zusammenfassung der Litteratur enthält, welche
der Verf. mit grossem Fleisse erschöpfend zusammengetragen hat.
La Utenbach -Berlin.
Jamea Mark Baldwin, Die Entwickelung des Geistes beim Kinde
und bei der Rasse. Berlin, Verlag von Kenther & Beichard. 1898. 466 8.
In der Einleitung kennzeichnet der Verf. gleich seinen Standpunkt. Der
Entwickelungsgedanke ist der leitende, die Untersuchung ist eine genetische.
Wir haben nicht mehr die alte Vorstellung von der Seele als einer bestimmten
iixirten Substanz mit bestimmten Attributen, sondern einer wachsenden, sich ent-
wickelnden Thätigkeit. Daher können wir auch nicht mehr wie früher den er-
wachsenen ausgebildeten Menschen als Object zum Studium der Geistesfunctionen
nehmen, sondern wir müssen den Geist in seinen einfachsten Verhältnissen, in seinen
Aeussernngen beim Kinde untersuchen und seine allmähliche Weiterentwickelung
beobachten. Die Analyse des Geistes ist beim Kinde viel correcter und die Schlüsse
sind viel sicherer, da bei ihm die Erscheinungen des Bewusstseins noch nicht
reflectiv, sondern ganz rein sind. Vor den Versuchen mit Thieren verdient die
Beobachtung des kindlichen Geisteslebens den Vorzug, weil die Analogie mit dem
erwachsenen Menschen eine ganz sichere ist, während die Schlütsse vom Thier auf
den Menschen immerhin anfechtbar sind. Ebenso sind die physiologischen Processe
in dieser Zeit noch einfacher, und das Experiment im weitesten Sinne des Wortes
ist noch zuverlässiger. Freilich muss man sich auch hier vor einer zu weitgehenden
Verallgemeinerung der Beobachtungen und der daraus zu ziehenden Schlüsse hüten,
denn es sind nicht alle Kinder gleichmässig erblich veranlagt, ebensowenig ist die
Entwickelung des Nervensystems eine gleiche, sondern individuell verschieden. Es
ist nicht ein fester Zeitpunkt, sondern das Eintreten einer Erscheinung vor einer
anderen als Norm anzunehmen. Nur dadurch ist es möglich, die Gesetze des
Wachsthums des menschlichen Geistes kennen zu lernen. — Wie in der Biologie
ist auch in der Psychologie nicht nur eine ontogenetische, sondern auch eine phylo-
genetische Entwickelung zu beobachten. Die Entwickelung des Geistes beim
Individuum und diejenige bei der menschlichen Rasse bis zu ihren thierischen
Vorfahren zurück, müssen im Zusammenhang betrachtet werden, um ein vollstän-
diges Bild zu erhalten. Denn für die Entwickelung des Geistes besteht das bio-
genetische Grundgesetz, der Parallclismus zwischen individueller und Stamm-
entwickclung ebensowohl wie für den Körper. In der individuellen Entwickelung
des menschlichen Geistes kann man vier Epochen unterscheiden: eine „affective^S
eine „Epoche der objectiven Beziehung'', eine „Epoche der subjectiven Beziehung"
und eine „sociale und ethische Epoche''. Diese Abschnitte sind naturgemäss nicht
scharf von einander geschieden, sondern gehen ebenso gut allmählich in einander
über, wie bei der Entwickelung der Rasse, wo ebenfalls i-ier entsprechende Stadien
vorhanden sind: das Stadium vieler wirbellosen Thiere, der niederen Wirbelthiere,
der höheren Wirbelthiere und des Menschen selbst. Diese Analogie zwischen
Organ- und Geistesentwickelung geht sogar soweit, dass auch hier wie dort Modi-
ficationen in derselben stattfinden, die „abgekürzte" und die „gehäufte" Entwicke-
lung zu beobachten sind, ebenso wie sich der Einfluss der natürlichen und der
186 Referate und Besprechungen.
künstlichen Züchtung verschieden geltend macht. — Im zweiten Capitel der Ein-
leitung giebt Verf. seine Methode an, wie man ein Kind zu studieren hat. £s
kommen auch hier wie überall Beobachtung und Experiment zur Anwendung. Die
gewöhnliche Beobachtung ist ungenau, und das Experimentiren ebenÜBdls gewöhnlieh
mehr nachtheilig als förderlich für die Kindespsycholog^e. Verf. stellt nun eine
neue Methode des Experimentirens auf, die „dynamogenetisch e**, welche in
der Wechselbeziehung zwischen Beschafienheit und Intensität eines sensorischen
Reizes und der dadurch hervorgerufenen Bewegung und des Kraftaufwandes besteht.
Diese Reaction ist abhängig von der Qualität des Reizes und der Distanz, so dass
die Dynamogenie D = -^ ist, wobei q die Qualität des Reizes und d die Distanz
des reizenden Gegenstandes vom Kinde bedeutet. Wenn es sich um Farbenwahr*
c
nehmungen handelt, so muss diese Formel folgenden Werth annehmen : D = -nr,
d. h. die Stärke der Dynamogenie ist gleich der Farbe c durch die Distanz d.
Die zahlreichen Experimente hat Verf. an seinem eigenen 9 Monate alten Kinde
vorgenommen und gefunden, dass die Anziehungsreihe für die verschiedenen
Farben: blau, roth, weiss, grün, braim ist, wie bei Binet und verschieden von
Frey er. Ebenso konnte eine sichere Distanz-Association festgestellt werden, in^
dem die Reactionen von 10 — 16 Zoll regelmässig abnehmen. An demselben Kinde
stellte Verf. vom 4. — 10. Monat über die „Rechtshändigkeit'' Versuche an, welche
ihn zu der Annahme führen, dass zwischen der Entstehung der Sprache und der
Entstehung der Rechtshändigkeit eine fundamentale Verbindung bestehen muss.
Darauf folgen im nächsten Capitel Experimente über die malende Nachahmung.
Während vorher keine Nachahmungen bei den Zeichnungen des Kindes zu erkennen
waren, änderte sich dieses Verhältniss mit dem 27. Monat, wo eine deutliche Nach-
zeichnung der Vorlage zu erkennen war, also eine Combination zwischen Bewusst-
sein und Muskelbewegung. Diese „malende Nachahmung*' bildet nun, wie Verf.
weiter ausführt, die Grundlage der Handschrift. Die Entstehung der Handschrift
erklärt Verf. aus einem Zusammenwirken von drei verschiedenen Empfindungsreihen,
der Reihe der gesehenen Formen, der Reihe der Muskelempfindungen und der
Reihe der gesehenen Bewegungen.
Ein bedeutsames Moment für die Entwickelung des Geistes bilden die Sug-
gestionseinflüsse. Die Suggestion tritt beim Kinde in verschiedenen auf einander
folgenden Stadien auf: als physiologische Suggestion, sensomotorische Suggestion,
ideo-motorische Suggestion. Dazu kommen die halbbewusste Suggestion bei Er-
wachsenen, die hemmende Suggestion und die hypnotische Suggestion. Aus allen
diesen Suggestionsformen, die einzeln ausführlich besprochen werden, geht die
Wahrheit des dynamogenetischen Gesetzes hervor, welches darin besteht,
„dass einfach eine Handlung auf einen Reiz folgt **.
Im zweiten Theil des Buches sucht Verf. die Frage zu beantworten, wie ein
Organismus überhaupt eine neue adoptive Bewegung erwerben kann. Nach dem
dynamogenetischen Gesetz bewirkt jeder organische Reiz Veränderungen in den
Bewegungen. Die Individuen werden aber nur auf wohlthätige Reize reagirt
haben, wodurch die daraus resultirenden Bewegungen festgehalten werden. Zu
diesem Factor der natürlichen Selection der Art gesellt sich noch ein zweiter, die
„functionelle Reaction" des Individuums, wonach unter den verschiedenen auf ein
Referate und Besprechungen. 187
und denselben Organismus einwirkenden neuen Heizen nur diejenigen erhalten
bleiben, welche nützliche Bewegungen hervorrufen. ,,Es setzt also die Lebens-
geschichte der Organismen yon Beginn an die Gegenwart des organischen Analogons
für das hedonische Bewusstsein voraus." Die Accomodation an neue Reize ist aber
nur dann möglich, wenn das Organ auf Grund von früheren Vorgängen sich vor-
bereiten kann, solche Reactionen hervorzubringen, die diese Art des Reizes für
dasselbe zu bewahren suchen. Dies führt zu dem ,,Gesetz des Ueberschusses",
welches lautet: »Die Accomodation eines Organismus an einen Reiz wird durch
fortgesetzte oder wiederholte Handlung auf diesen Reiz hin erreicht; und diese
Wiederholung wird erreicht nicht durch eine von vornherein stattfindende Selection
dieses Reizes oder der angemessenen Muskelbewegungen '), sondern durch die an-
nähernde Wiederherstellung desselben durch Aeusserungen der Energien des Or-
ganismus, die so sehr als möglich für die excessive Reizung deijenigen motorischen
Organe concentrirt werden, die am besten sich durch frühere Gewöhnung dazu
eignen, diese Reizung zu erhalten."
Dieses Gesetz zu erklären ist die Aufgabe der folgenden Capitel. Es giebt
eine phylogenetische Fi^e: wie ist die Entwickelung des organischen Lebens vor
sich gegangen? und eine ontogenetische : wie ist es möglich, dass ein Organismus
eine neue und besser angepasste Function erhält? Für dep Psychologen ist die
letztere Frage von grösserer Wichtigkeit. Eine Antwort auf diese Frage haben
die Biologen Spencer und Bain zu geben versucht; nach dieser Theorie ist die
erste Adaption ontogenetisch, nach Ansicht der Psychologen ist sie phylo-
genetisch. Verf. selbst nimmt den Spencer-Bain'schen Standpunkt ein. Diese
Theorie wird, wie im Folgenden gezeigt wird, von den Vererbungstheorien nicht
beeinflusst. Nach einigen weiteren Abschweifungen über die organische Selection
und den „richtenden Factor", kommt Verf. auf die Entstehung des Bewusstseins
zu sprechen, dessen Anfang im Leben nirgends gefunden werden kann. Auf der
einen Seite steht also die Gewohnheit als Tendenz des Organismus, die vitalen
Reizungen zu erlangen und zu bewahren, auf der anderen Seite die Accomodation
als das Resultat der Gewohnheit (Capitel VIII enthält eine Erörterung über den
Ursprung der motorischen Haltungen und des Ausdrucks). Capitel IX — XIII be-
handeln den Typus der Reaction, in dem diese beiden Grundprincipien Gewohnheit
und Accomodation ihren Ursprung haben. Die Adaption im weitesten Sinne
äussert sich als „organische Nachahmung", „bewusste Nachahmung" und „Wollen".
Jede organische Anpassung in einer wechselnden Umgebung ist eine Erscheinung
biologischer oder organischer Nachahmung. Der organischen Nachahmung
Bchliesst sich die höhere Form der bewussten Nachahmung an, welche durch
die Suggestion wesentlich beeinflusst wird. Die dauernde Anstrengung nun, welche
ein Kind macht, um Etwas nachzuahmen, ist die erste Bethätigung desWollens,
dessen Wesen und Entstehung sehr eingehend erörtert wird. — „Jede Function,
die äusserlich als Gewohnheit in der Handlung einer Person erscheint, zeigt sich
auch innerlich als Gewohnheit in den Bewegungen der Inhaltselemente des Geistes",
sagt der Verf. weiter und knüpft daran Betrachtungen über „die innerliche Sprache"
and den „innerlichen Gesang" oder mit anderen Worten über die Frage, was
^) Ich kann diese Einschränkung mit dem vorher erwähnten Vorgang der
„functionellen Selection" nicht in Einklang bringen. Anm. d. Ref.
138 Referate und Besprechungen.
denken wir uns bei Worten und Melodien? Bei diesen Vorgingen findet eine
„sensori -motorische Association" statt. Diesem selben Gesetze folgt auch der Za-
stand der Aufmerksamkeit, es ist überhaupt jeder geistige Znstand ein
Complex von sensorischen und motorischen Elementen, und jeder
Einfluss, der die einen verstärkt, sucht auch die anderen in yer-
stärken. «
Den letzten Abschnitt des Werkes bildet eine aUgemeine Zusammen£aMaDg
der im Vorhergehenden besprochenen Thatsachen und Theorien. Durch die Ge-
wohnheit oder die Tendenz eines Organismus, wohlthätige Processe fortdauern sa
lassen, werden die günstigen Reizungen durch die eigenen Bewegungen festgehalten.
Das zweite Grundprincip ist die Accomodation, wonach ein Organismus sich an
mehr complicirte Zustände der Reizung dui*ch Leistung yon mehr complicirteii
Functionen adaptirt. Beide Grundprincipien stehen in Wechselwirkung. Dieselbe
verlangt, dass die Reaction ihren Reiz erhält, und dass dieser Reiz wiederum die
Reaction wiederholt — die „circuläre Reaction".
Ref. möchte nur bemerken, dass die Anordnung des Stoffes und die Ver-
theilung in die einzelnen Capitel nicht immer den Forderungen strenger Logik
entspricht. Davon abgesehen aber, bietet das vorliegend^V^erk Baldwin's, wie
es von diesem Autor zu erwarten war, einen werthvoUen Beitrag für die Psycho-
logie des Kindes im Besonderen und damit für die Psychologie überhaupt. Viele
neue Gedanken darin dürften andere Autoren anspornen zu weiterer Erforschung
dieses wissenschaftlich ungeheuer interessanten Problems von der Entstehung und
Entwickelung der geistigen Vorgänge im Individuum und weiterhin in den Rassen.
Lautenbach-Berlin.
Wilh. Wu7idf8 System der Philosophie. 2. umgearbeitete Auflage
Leipzig, W. Engelmann's Verlag. 1897. (Fortsetzung.)
Die Geisteswissenschaften theilt Wundt in solche, die sich mit den
Geistesvorgängen und in andere, die sich mit den Geisteserzeugnissen
beschäftigen. Mehr aber noch als wie bei den Naturwissenschaften ist, wie Wundt
ausfuhrt^ hier hervorzuheben, dass diese Scheidung nur eine Abstraction ist, aofem
namentlich das Geisteserzeugniss selten den relativ beharrenden Character des
Naturgegenstandes an sich trägt und nur im Zusammenhang auf den es erzeugenden
Vorgang zu begreifen ist. Die Lehre von den geistigen Vorgängen umsohliesst
nach Wundt die Psychologie mit allen ihren Einzeldisciplinen : die Thier-
Psychologie („Entwickelung der Bewusstseinserscheinungen in der Reihe der
lebenden Wesen**), die Psychologie des Kindes und die Völkerpsycho-
logie („psychische Entwickelungsgeschichte des Menschen und die psychologisohe
Deutung der hauptsächlichsten menschlichen Geistesschöpfungen**), die Psyeho-
physik („Beziehungen de» geistigen Lebens zu körperlichen Vorgängen"). ,,Die
letztere Aufgabe führt zugleich zur naturgeschichtlich-psychologischen Betrachtung
der Entwickelung des Menschen und der Völkerstämme, wie sie die Au%abe der
Anthropologie und der Ethnologie bildet, die daher in diesem Sinne als
specielle psychophysische Disciplinen anzusehen sind.** Die Psychologie ist
nach Wundt die Grundlage aller Geisteswissenschaften, ala all-
gemeine Geisteswissenschaft liefert sie nach ihm die Erklämngsgründe für die
einzelnen Geisteserzeugnisse.
Referate und Besprechungen. 189
Die Wneensdiaften, welche sich mit den Geisteserxengnissen Wschiiftigen,
theilt Wandt in solche, welche die ailgemeinen Eigenschaften und £nt.^tehun|r9*
bedingungen derselben im Auge haben (diePhilologie. lugleioh allgemeine Wijtten*
Schaft Ton den Geisteseneugnissen), ferner in solche, welche die tugehörigen Gebiete
des geistigen Lebens untersuchen (die Gebiete der wirtschaftlichen l^ultur, des
Staates, der Rechtsordnung, der Religion, der Kunst, der Wissenschait). n^^it*
Nationalökonomie, die Politik, die systematische Reohtswissen*
Schaft, die Religionswissenschaft, die Kunsttheorie, die speoielle
Methodologie der Wissenschaften treten so der Philologie, dortm Hiilfs-
mittel sie überall zu ihren Zwecken verwerthen. als besondere Geisteswissenschaften
gegenüber"). £ndlich gehören hierher diejenigen Wissensgebiete, welche die Ent*
stehung der Geisteserzeugnisse zum Gegenstande haben (d iohistorischen Wisse n-
Schäften in allen ihren Zweigen).
Ausgeschlossen sind von dieser Eintheilnng die angewandten und die Lehr-
disciplinen, die nach Wundt „nicht selbstständige Einzel Wissenschaften, sondern
Theilgebiete bestimmter allgemeinerer Wissenschaften sind.** So ist z. H. die
Pädagogik ein Anwendungsgebiet der Psychologie, zugleich aber greifen die
practischen Fragen derselben überall in die philosophische Ethik über. Eine ähn-
liche Stellung weist Wundt der Theologie zu: „auf der einen Seite, insoforn sie
es mit dem Ursprung, der Geschichte und Kritik einer bestimmten Keligions-
anschauung und ihrer Glaubensurkunden zu thun hat, ist sie ein Theil der allge-
meinen Religionswissenschaft und mit dieser auf die Hülfe der Philologie, der (be-
schichte und der Psychologie angewiesen; auf der anderen Seite aber, da sie ausNordom
über die allgemeine religiöse und ethische Bedeutung der besonderen (^laubons-
anschauung, der sie dient, Rechenschaft geben will, steht sie in naher Beziehung zur
Philosophie.**
Wir haben endlich noch zu erfahren, wie Wundt die wissenschaftliche
Philosophie als solche eintheilt. Nach dem oben dargelegten allgemeinen Zweck
und der ihr yon Wundt zugewiesenen Aufgabe kann die Philosophie den WisNens-
inhalt nach seiner Entstehung und nach der systematischen Verbindung
seiner Principien untersuchen, oder, wie Wundt dies auch anders ausdrückt,
ÜB können die hier in Betracht kommenden Probleme in Bezug auf das werdende
oder das gewordene Wissen bearbeitet werden. Hieraus ergiebt sich die Ein-
theilang der allgemeinen philosophischen Wissenschaften ohne Weiteres von selbst,
sie zerfallen in die beiden grossen Gebiete der Erkenntniss- und der Prin*
eipienlehre.
Die Erkenntnisslehre umfasst einen formalen Theil, die formale Logik
ond einen realen Theil, die Geschichte der Erkenntniss und die Erkennt-
nisstheorie. Die letztere, mit der formalen Logik zusammen die I>ogik im
weiteren Sinne ausmachend, zerfällt in die Unterabtheilungen der allgemeinen
Erkenntnisstheorie und der Methodenlehre. Die formale Logik steht
mr realen EriLenntnisslehre im selben Verhältniss, in dem die Mathematik zu den
Erfahningswissenschaften steht.
Für die Prineipienlehre behält Wundt die Bezeichnung Metaphysik
beL Dir lalU die Angabe zu, „die allgemeinen Ergebnisse der Einzel-
wiasensekaften in ihrem systematischen Zusammenhang darzu-
leges und zo einem widerspruchslosen System zn rerknüpfen«*' Ein
190 Referate und BesprechangeiL
specielier Theil der Principienlehre mnfasst die Philosophie der HaÜiematiky wie die
Philosophie der Natur- und der Geisteswissenschaften, von denen jeder sich wieder
in allgemeinere und speciellere Theile zerlegen lässt. „So stehen namentlieh der
allgemeinen Naturphilosophie die philosophische Kosmologie und Biologie gegenüber.
Wegen der Gebundenheit des geistigen Geschehens an die Lebenserscheinongen
bildet die letztere zugleich den Ilebergang zur Philosophie der Geisteswiasen-
schoften. Diese selbst sucht zunächst mittelst der Thatsachen der Psychologie und
unter Zuhölfenahme der £rkenntnis8theorie eine zusammenhängende AuffiMSung
des geistigen Lebens zu begründen. Dieser philosophischen Psychologie ordnen
sich dann die verschiedenen Gebiete unter, die sich auf einzelne Richtungen des
geistigen Lebens bezeichnen. Als solche treten namentlich drei bedeutsam berror:
Sittlichkeit, Kunst, Religion. Ihnen entsprechen Ethik und Rechts-
philosophie, Aesthetik, Keligionsphilosophie. Durch die Zusammen-
fassung dieser Theile unter dem Gesichtspunkte der Entwickelung sucht endlich
die Philosophie der Geschichte eine historische Gesammtanschauong des
geistigen Lebens der Menschheit zu gewinnen und mit der durch die sonstigen
Hülfsmittel der Philosophie begründeten allgemeinen Weltanschauung in Beaehimg
zu bringen."
Erkenntnisstheorie und Metaphysik bilden somit die Grundwissen-
schaften der Philosophie.
Der erste Abschnitt des Werkes handelt vom Denken, dem nothwendigen
Werkzeug aller Erkenntniss. An der Frage, was das Denken sei, fuhrt Wund^
aus, kann keine Philosophie vorüber; sie hat vor allem die Merkmale aufsuchen,
durch welche es sich von anderen Thatsachen und Vorgängen unterscheidet.
Indem der Verfasser den Begriff des Denkens allmählich zu entwickeln sucht,
leitet ihn die unmittelbare Erfahrung zu einer ersten, nicht weiter zurückfuhrbaren,
sondern als ein Gegebenes hinzunehmenden Bestimmung. Er bezeichnet das Denken
als subjective Thätigkeit. „Kein ruhendes Ding, sondern immerwährendes
Geschehen ist es zugleich eigenstes Selbsterlebniss.'' Aber hiermit kann der Begriff
nicht erschöpft sein ; denn wie das Denken sind auch Vorstellen, Fühlen und Wollen
subjective Tbätigkeiten. Was aber diese von jenem unterscheidet, ist, dass sie die
elementaren Functionen ausmachen, aus denen alles Denken sich aufbaut: „Kein
Denken ohne Vorstellungsinhalt, kein Vorstellungsinhalt ohne Gefühlsregung, keine
Gefühlsregung ohne Willensrichtung." W^ie aber diese Functionen bei jeder Denk-
thätigkeit betheiligt sind, so enthält auch diese wiederum nichts, das sich nicht in
jene Vorgänge zerlegen Hesse: „Kein besonderes Geschehen neben jenen anderen
Erlebnissen ist also das Denken, sondern seine ganze Eigenthümlichkeit kann nur
auf der Art und Weise beruhen, wie sich in ihm jene allgemeinen Elemente des
Bewusstseins verbinden.*' Hier warnt aber Wundt vor dem Missverständniss,
diese Elemente als isolirt im Bewusstsein vorkommend aufzufassen. Die Bewusstseins-
inhalto, wird weiter gezeigt, sind uns vielmehr immer nur als ein an sich untrenn-
bares Ganze gegeben und die Zerlegung derselben geschieht einzig und allein durch
unsere eigene Abstraction. Die Erzeugnisse dieser Abstraction dürfen daher nie
zu selbstständigen Dingen erhoben werden.
Ein anderes Missverständniss erwächst dem Verfasser aus den Bezeichnungen
der Sprache. Indem die Sprache durch die Bildung der Substantive aus verbalen
Formen für das begrifiliche Denken überall den vergänglichen Vorgang in einem
Referate und Besprechungen. 191
dauernden Ausdruck festzuhalten sucht, entsteht, wie Wundt zeigt, in uns selbst
leicht die Neigung, diese Umformungen auf den Gegenstand als solchen zu über-
tragen und auch diesem Beharrlichkeit und Selbstständigkeit zuzuschreiben, während
es in Wirklichkeit innere psychische Objecte in gleichem Sinne wie relativ
beharrende äussere Dinge mit yeränderlichen Eigenschaften und Zuständen
nicht giebt: „Vorstellen, Fühlen, Wollen sind überall Handlungen,
Ereignisse*^ Der Verfasser zeigt dann weiter, dass unter den genannten psy-
chischen Vorgängen insbesondere derjenige des Vorstellens zu dem Begriff von
Objecten, als von dauernd ausser uns existirenden Dingen Anlass gegeben habe,
während beim Fühlen und Wollen die Objectivirung meistens darauf beschränkt
geblieben sei, „dass man die einzelnen Thatsachen zwar als Formen des Geschehens
anerkannte, sie aber an gesonderte transcendente Substrate knüpfte, an ein Willens«
und Gefühlsvermögen, auf die sich nun um so mehr die Beharrlichkeit von Gegen-
ständen übertragen lässt/* Wundt wird nicht müde, zu betonen, dass man, obwohl
man das Hülfsmittel der Sprache bei keiner wissenschaftlichen Untersuchung ent-
behren könne, den durch sie gebildeten substantivischen Ausdruck niemals als ein
gegenständliches Ding ansehen dürfe.
In der weiteren Ausführung erfahren wir, dass jedes Denken gleichzeitig
ein Wollen ist. Dieses Wollen aber ist nach Wundt keine neben dem Vor-
stellen und Fühlen selbstständig einhergehende psychische Function, sondern es ist
in einem noch unentwickelten Stadium bereits in dem Gefühl eingeschlossen. Die
Scheidung von Fühlen und Wollen beruht nach dem Verf. wiederum nur auf einer
Abstraction, er bezeichnet dieselbe als Abstraction zweiter Ordnung: „Dem
Fühlen und Wollen als der Seite unserer Erlebnisse, die wir nicht auf Aussendinge,
sondern nur auf uns selbst beziehen, stellen wir zunächst die Objecte und die diesen
entsprechenden subjectiven Vorgänge, die Vorstellungen, gegenüber, um dann erst
in einer zweiten Unterscheidung auch noch jene nicht auf Objecte bezogenen Ele-
mente nach ihrem unmittelbaren Erfolg in Gefühle und Willensregungen zu scheiden.**
Obwohl nun Fühlen und Wollen stets aufs engste mit einander verbunden sind,
giebt es, wie Wundt weiter zeigt, dennoch Gefühle, die für den Willensact eine
epecifische Bedeutung haben. Es sind dies diejenigen, welche als Begleiterschein-
ungen einer Handlung und deren unmittelbaren Erfolg auftreten. Sie sind zugleich
diejenigen, deren Zusammenhang das ausmacht, was wir unser Ich nennen:
,J)ieses Ich ist daher nichts anderes, als die Verbindung der fortwährend sich
wiederholenden Thätigkeitsgefühle mit schwankenden, aber in einzelnen ihrer Be-
standtheile, namentlich denen, die sich auf den eigenen Körper beziehen, ebenfalls
relativ constanten Empfindungen und Vorstellungen." Von hier aus gewinnt der
Verfasser für den Begriff des Denkens eine weitere Bestimmung, in Folge seiner
Beziehung auf das wollende Ich ist dasselbe selbstbewusste Thätigkeit Aber
auch mit dieser näheren Begrenzxmg ist der Begriff noch nicht allseitig bestimmt;
denn da, wie Wundt weiter entwickelt, jeder Willensact wohl eine selbstbewusste
Thätigkeit ist, nicht aber ohne Weiteres zugleich als Denkact aufgefasst werden
ksjm, so fehlt für die vollgtUtige Definition des Begriffs noch ein drittes, den Inhalt
desselben Betreffendes, das Wundt schliesslich in der beziehenden Thätig-
keit des Denkens findet, wie sich dieses an allen Erfahrungsinhalten, namentlich
aber an der Vorstellungsseite desselben entwickelt hat. Der Verf. wird hier dazu
geführt, das Verhältniss der Aufinerksamkeit zum Denkacte klar zu stellen. Beide
192 Referate und Besprechnngen.
Functionen sind nach ihm nicht identisch. Indem die Anfinerksamkeit irgend
welchen £rfahrung8inhalt willkürlich zu erfassen vermag, wird sie Tielmehr rar
Vorbedingung des Denkens: .«Denken und Aufmerksamkeit sind Func-
tionen gleicher Art. aber verschiedener Stufe.*^ Ebenso bespricht der
Verf. das Verhältniss der unwillkürlichen Associationen von Vorstellungen zu den
willkürlichen Denkacten. Er bezeichnet dasselbe folgendermaassen : ,^er Mechanis-
mus der Associationen ist einerseits die yorbereitende Werkstätte des Denkens: er
macht diesem die von ihm verwcrthbaren Beziehungen verfügbar, da er in jedem
Augenblick zahlreiche Verbindungen herzustellen strebt, unter denen sich regelmässig
auch die für die Zwecke des Denkens tauglichen befinden. Indem auf solche Weise
verschiedene Associationen mit einander in Kampf gerathen, ist es aber der will-
kürlich fixirte Zweck des Gedankenlaufs, der einer bestimmten, diesem Zweck ent-
sprechenden Verbindung vor anderen den Vorzug giebt. Andererseits ist die
Association die Bewahrerin der Erwerbungen und Ergebnisse des Denkens, indem
alle die Beziehungen, die durch dieses entstanden sind, in Associationen übergehen
und als solche dem Denken zu künftigem Gebrauche bereit liegen."
Fassen wir das Vorstehende nochmals kurz zusammen, so würde nach Wandt
das Denken als subjective, selbstbewusste, beziehende Thätigkeit zu
definiren sein.
Der 2. Theil dieses Abschnittes betrifil die Formen des Denkens. Der
Verfasser spricht zunächst über Urtheile und Begriffe.
Das Urtheil wird nach dem JPrincip der Dualität des Denkens ent-
wickelt, d. h. nach dem Princip, nach welchem durch die Thätigkeit des Denkens
das Urtheil aus einer ursprünglichen Einheit, die eine anschauliche (primäres UrtheU),
oder eine begriffliche (secundäres Urtheil) sein kann, immer in zwei Glieder zerlegt
wird und zwar so, dass nach einer ersten Zerlegung in zwei Hauptglieder jedes
derselben wiederum zweigliedrig wird u. s. f. (Subject und Prädikat, Verbum und
Object, Nomen und Attribut, Verbum und Adverbium).
Begriff ist nach Wundt Jeder aus dem Yorstellungsinhalt des Bewnstt-
seins entstandene Denkinhalt". Indem das beziehende Denken, fuhrt der Verf. aus,
aus bestimmten, ursprünglich unmittelbar gegebenen Vorstellungen bestimmte
Eigenschaften und Zustände heraushebt und auf andere Vorstellungen überträgt,
entsteht durch die Mithülfe der Sprache ein System symbolischer Bezeichnungen,
die von dem entwickelten Denken fortan an die Stelle der unmittelbaren Vor-
stellungen, der „Unterlagen der Begriffe**, gesetzt werden, weshalb die Untersuchung
der Denkformen sich zunächst auf die Betrachtung der sprachlichen Formen des
Denkens gründen muss. Es wird aber weiter hervorgehoben, dass bei der Bildong
dieser sprachlichen Formen nicht ausschliessUch logische Bedingungen wirksam sind,
sondern dass hierbei ebensowohl psychologische Nebenbedingungen mitwirken:
„Die grammatischen Formen dürfen darum auch nicht ohne Weiteres in logische
übertragen werden, sondern sie sind zunächst als ein aus gemischten psychologisch-
logischen Bedingungen entstandenes Erzeugniss zu betrachten, von dem aus durch
Analyse und Abstracüon auf die fundamentalen Denkfonnen selbst zurückzugehen ist.^
F. Kietow-Turin.
(Schluss folgt.)
Das angebliche Sittlichkeitsvergehen des Dr. K. an einem hypno-
tisirten Kinde.
Von
Dr. Freiherm von Schrenck-Notzing -München.
Einleitung.
Wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lehren, gehören
Sittlichkeitsvergehen an hypnotisirten Personen jedenfalls nicht zu den
häufigeren Vorkommnissen der Kriminalistik, obwohl sie immerhin
unter den Verbrechen an und durch Hypnotisirte eben wegen ihrer
öfteren Beobachtung im Vergleich zu anderen Vergehen das Haupt-
interesse in Anspruch nehmen. Ungleich häufiger aber dürften auf
diesem Gebiet fälschliche Anschuldigungen von Aerzten und Hypnoti-
seuren wegen geschlechtlichen Missbrauchs sein, obwohl in der Fach-
literatur über derartige Fälle bisher kaum etwas bekannt geworden
ist. Wenigstens ist es dem Verfasser nicht gelungen, in der Gasuistik
ähnliche Berichte, wie den nachfolgenden aufzufinden. Und doch er-
scheint zum Schutz des häufig genug ungerecht angegriffenen Aerzte-
standes sowie zur Vermeidung ungerechter Verurtheilung die Publikation
solcher für die Betheiligten in hohem Grade nachtheiliger Verwickelungen
und Untersuchungen als dringende Nothwendigkeit — als unabweisbare
Pflicht, damit im Wiederholungsfalle dem Arzt und Untersuchungs-
richter Mittel zur Belehrung, Aufklärung und zum richtigen Ver-
ständniss der Sachlage geboten werden.
Strassmann^) weist nachdrücklich auf das häufige Vorkommen
von fälschlichen Anschuldigungen wegen Sittlichkeitsvergehen hin.
Nach Schauenstein*) waren von 1200 in Frankreich während der
^) Strassmann, Lehrbuch der gerichtl. Medicin. Stuttgart, Enke. 1895.
«) Schauenstein, Neuer Pitaval, Bd. VI, 1847.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. VIII. 13
194 ^* 'Sohrenck-Notxing.
Jahre 1850 — 54 eingereichten Klagen dieser Art 500 nnbegröndet und
in England sollen aaf einen erwiesenen Fall 12 unerwiesene kommen.
Neben den Sinnestäuschungen und Wahnideen Verrückter ver-
anlassen besonders Hysterische und Kinder mit lebhafter Eünbildnngs-
kraft solche Anklagen. Zu den Zuständen der Willen- oder Bewnsst-
losigkeit, wie sie § 176 des Reichs>Straf-Gfesetzbuches voraussetzt, gehört
seit neuerer Zeit die Hypnose.
Der im Nachfolgenden beschriebene Fall ist abgesehen von seiner
forensischen Bedeutung auch dadurch interessant, dass er lehrt, wie
unüberlegte Suggestionen, Ttäume von Hypnotisirten , angebliche
Beminiscenzen aus der Hypnose zu einer mehrere Monate hindurch
bis in alle Details sorgfaltig geführten richterlichen Untersuchung Ver-
anlassung bieten konnten. Der angeschuldigte Arzt, um den es sich
im Nachfolgenden handelt, war Assistent eines Krankenhauses in
München; als Klägerin trat die 13 jährige Magdalene S., Tagelöhners-
tochter auf, welche in diesem Spital ärztlich behandelt wurde.
Krankengeschichte der Kltgerin.
liagdalene S., geb. 15. Juli 1885. wurde aufgenommen am 21. Juli d. J. Di»
Anamnese ergab Folgendes:
Mit 3 Jahren hat das Kind Frieseln (Masern?) und Scharlach gehabt^ nach
dieser letzten Krankheit sollen beide Füsse gelähmt gewesen sein. Das linke Bein
besserte sich nach einiger Zeit, während das andere Bein in seiner Bewegungs-
fahigkeit beschränkt blieb. Dann g^ing das Kind 4 Jahre lang in die Schule, und
lag während dieser Zeit einmal im Spital zur Behandlung des gelähmten Beins.
Fat. wurde im Spital damals mit Gipsverband behandelt und erhielt eine Maschine,
die sie seitdem trug.
Vor 3 Jahren begann Fat. mit Bauchbeschwerden zu erkranken. Diese Leib-
schmerzen traten seitdem in Zwischenräumen von einigen Wochen in Anfallen auf.
Dabei bestanden Diarrhoe imd Erbrechen und starkes Aufgetriebensein des Leibes.
Beim letzten Anfall, welcher vor einigen Tagen auftrat, soll Fat. bei Beginn ohn-
mächtig hingestürzt sein mit Schaum yor dem Munde. Die Ohnmacht dauerte
4 Stunden; Fat. hatte alsdann noch 4 Tage lang Leibschmerzen, Erbrechen and
einen colossal aufgetriebenen Leib. Der herbeigerufene Arzt constatirte BauohfeU-
entztindung. Fat. soll in den letzten Monaten rapid abgemagert sein; als Orund
giebt die Nachbarin, welche das Kind ins Krankenhaus gebracht, da die Eltern den
ganzen Tag ausser dem Hause sind, die ungünstigen socialen Verhältnisse an,
mangelhafte Ernährung und gänzliche Aufeichtslosigkeit von Seiten der Eltern.
Vater angeblich gesund, doch soll er seit mehreren Jahren grosse Schmenen
an den Füssen haben. Mutter hüstelt seit langer Zeit, hat auch Unterleibsbeschwerden.
Vier Geschwister leben im Alter von 10-17 Jahren; angeblich husten alle, eine
Schwester von 16 Jahren hat ausserdem noch Epilepsie. Ein Bruder von 23 Jahren
Das angebliche SitUichkeitsvergeheii des Dr. K. an einem hypnot. Kinde. 196
ist kürzlich gestorben, derselbe war nur 10 Tage krank; Todesursache unbekannt;
angeblich soll er an „Bauchdrüsen*' gelitten haben.
Status praesens:
Ein sehr abgemagertes, massig kräftig entwickeltes Hädchen; Gesichtsfarbe
sehr blass; Lippen blass livid, die sichtbaren Schleimhäute ebenfalls sehr blass«
Kein Ohren-, kein Naseniiuss. Keine Oedeme, keine Exantheme, keine Drüsen-
Schwellungen, keine Asymmetrie des Schädels. Die Wirbelsäule gekrümmt, es be-
steht eine linksseitige Scoliose im Bereiche der unteren Brust und oberen Lenden-
wirbel mit Ausgleich im oberen Brust- und unteren Halswirbeltbeil. Rachenorgane
normal, Zunge feucht, rein. Thorax flach, Supra- und Infraclaviculargruben ein-
gesunken, rechter epigastr. Winkel. Von hinten gesehen erscheint der Thorax in
seinen unteren Partien in Folge der Scoliose links seitlich vorgewölbt, rechts ein-
gesunken. — Lungenbefund : RV in der Lifraclaviculargrube Schall yielleicht etwas
kürzer wie LV, sonst überall lauter Schall. lieber den Spitzen keine Schall-
di£ferenz. RHO ist der Schall yielleicht etwas kürzer wie LfiO. Han hört RHO
verlängertes, etwas verschärftes Exspirium, keine Rhonchi; sonst überall H beider-
seits reines Yesiculärathmen. RV über der Spitze und der Infraclaviculargrube
derselbe Befund wie RHO, sonst RV wie LV reines Vesiculärathmen. Athmung
gleichmässig, nicht frequent. Herzbefund: Dämpfung normal. Spitzenstoss im
vierten Litercostalraum etwas innerhalb der linken Mammillarlinie fühlbar und sicht-
bar. Herztöne vollkommen rein. Abdomen: Das Becken stark schief gestellt, die
Spina ant. sup. os. ilei steht links einige Centimeter höher als rechts. Das Ab-
domen weich, etwas aufgetrieben, in der Gegend des Nabels druckempfindlich, giebt
überall tympanitischen SchaU. Die peristaltischen Bewegungen der Därme sichtbar.
Kein Leber-, kein Milztumor. Urin ohne Befund. Stuhl diarrhoisch, unverdaut.
Nervensystem: Psyche normal. Motilität: sämmtliche Gelenke frei in ihren Be-
wegungen, insbesondere auch die rechte Hüfte. Beim Gehen hinkt jedoch Pat.
und hält das rechte Bein im Kniegelenk etwas flectirt. (Der Gang erinnert an
den Gang der an Coxitis Leidenden.) Keine Krampfzustände, keine Spasmen der
Kuflculatur, jedoch zeigten die Muskeln des rechten Ober- und Unterschenkels zeit-
weilig stark fibrilläre Zuckungen. Sensibilität erhalten. Sphincteren normal. Keine
vasomotorischen Störungen. Die Musculatur des ganzen rechten Beines ausser-
ordentlich reducirt gegenüber links. Maasse: Gesammtlänge des rechten Beins
(von der Spina ant. sup. os. ilei bis zur Spitze der fünften Zehe 70,5 cm; davon
fallen auf den Oberschenkel 34,6, auf den Unterschenkel 36,0 cm. Gesammtlänge
des linken Beins beträgt 74,5 cm, die des Oberschenkels 38,0 cm, des Unterschenkels
96,5 cm. Der Umfiemg des rechten Oberschenkels (15 cm oberhalb des oberen
Bandes der Patella gemessen) beträgt 16,0 cm, der des linken Oberschenkels 26,0 cm.
Der Umfang des rechten Unterschenkels (15 cm unterhalb des oberen Randes der
Patalla) beträgt 13,0, der des linken Unterschenkels 20,0 cm. Die oberen Extremi*
taten zeigen keine Differenzen. Die Reflexe: Die Sehnenreflexe links normal;
Patellar- und Achillessehnenreflex rechts erloschen, der Tricepssehnenreflex rechts
erhalten. Die Hautreflexe überall auslösbar. Die eleotrische Erregbarkeit der
Muskeln und Nerven der Ober- und Unterextremitäten beiderseits bei Prüfung mit
Caradischem Strome vollkommen erhalten.
24. VII. Pat. hat bisher kein Erbrechen gehabt. Stuhl breiig, ohne Be-
sonderheit, Abdomen weich, nicht aufgetrieben, nicht druckempfindlich, der Magen
13*
196 ^' Sohrenck-Notzing.
achelnbar nicht dilatirt. Urin ohne Befand. Lungenbefnnd normal, nirgend!
Rhonchi; HKO keine Schallverkürzung mehr nachweisbar. Herzbefund nonnaL
28. VII. Keine Aenderung des Befundes. Stuhl regelmässig, normal. Ab-
domen normal. Bisher kein Erbrechen, keine Ohnmachtsanfälle beobachtet worden.
1. VIII. Fat. wird auf Wunsch der Eltern entlassen (als gebessert).
Therapie: Während ihres Aufenthaltes im Krankenhause tägliche Faradi-
sation.
Die Diagnose wurde auf Inactivitätsatrophie des rechten Beines and all-
gemeine Nervosität gestellt.
Sachdarstellung des angeschuldigten Arztes.
Am Mittwoch, den 27. Juli (genau vermag ich nicht das Datum anzugeben)
rief ich das Kind Magdalene 8., geb. am 15. Juli 1885, in mein Zimmer. Als sie
in demselben war, schloss ich die Thür, damit ich nicht, wie schon mehrere Male
bei früheren Hypnoseversuchen, durch den plötzlichen Eintritt von Schwestern oder
Gollegen gestört würde. Ich sagte der Fat., sie möchte sich aufs Sopha setsen
und den vorgehaltenen Gegenstand, es war mein Perkussionshämmerchen, scharf
ansehen und an nichts anderes als ans Schlafen denken. Nach einiger Zeit, nach-
dem ich ihr suggerirt, dass sie müde sei und ganz fest schlafen würde, sagte ich
ihr, sie schlafe nun sehr tief, sie könne die Augen nicht mehr öffnen, was ihr auch
trotz Anstrengung nicht mehr gelang. Nachdem ich das Kind somit in Schaf ver-
senkt hatte, nahm ich einen der Arme meiner Fat. und hielt denselben horizontal,
um zu sehen, ob der cataleptische Zustand der Muskeln eingetreten war. Als ich
dies bestätigt fand, als icii sah, dass die Arme und Hände jede ihnen gegrebene
passive Stellung beibehielten, sagte ich ihr, sie kimne ihre von mir geschlossene
Hand nicht mehr öfifnen, was ihr auch nicht mehr gelang. Dann nahm ich eine
Nadel und prüfte ihre Sensibilität, dieselbe war vollkommen erlosohen; Fat. sog
die Hand, in die ich stach, nicht zurück, nachdem ich ihr suggerirt, dass sie nichts
mehr fühle. Nun sagte ich ihr, sie solle aufstehen, was sie bereitwillig that. Dann
gfing sie auf mein Geheiss hin zur Thür, klopfte dort dreimal an und kam. genau
allen meinen Befehlen gehorchend, wieder zum Sopha zurück, wo sie sich wieder
niederlegte. Alsdann nahm ich den Griff meines Bartpinsels, welcher aus Hiolx
gefertigt war und entfernte Achnlichkeit mit einem Gummidietzel = Gummisauger
— hatte, wie ihn auch hier in 31ünchcn die kleinen Kinder noch bis zum dritten
und vierten Jahre zur Beruhigung in den Mund gesteckt bekommen. Ich steckte
diesen Holzgri£f der Fat. in den Mund und suggerirte ihr, es sei ein Dietzel, sie
möge nur daran ziehen und lutsohea Die Suggestion des Saugens an einem Gununi«
dietzel schien mir bei meiner Fat. deshalb sehr geeignet zur Früfung ihrer Sinnet-
empfind nngen, weil sie wie jedes Kind genau einen Gummisauger kennt, und so konnte
ich diesen Versuch genau in Parallele stellen zu jenem von Frof. Bern heim an-
gestellten, welcher einem Manne in Hypnose den Bleistift in den Mund gab und
ihm suggerirte, es sei eine Oigarre, worauf dieser Fat. denn auch an dem Bleistift
saugend rauchte und Rauchwolken von sich blies. Bei meiner Fat. nahm ich ein»
mal den Griff aus dem Mund und fragte sie, ob der Grift' aus Holz oder ob es ein
wirklicher Dietzel sei, worauf sie schwieg. Dass der Ausdruck Dietzel hier in
München in der Volkssprache für das Membrnm virile gebraucht wurde, war mir
Das angebliche Sittlichkeitsvergehen des Dr. K. an einem hypnot. Kinde. 197
■
damals bei der Hypnotisirnng meiner Patientin vollständig unbekannt, ich erfuhr
dies erst später von meinen CoUegen. Ich sagte meiner Fat. alsdann, sie solle
sich davon überzeugen, dass ich ihr einen Dietzel in den Mund gesteckt habe, sie
möge denselben nur anfassen. Darauf nahm sie erst eine, dann beide Hände,
tastete an dem Griff herum, schwieg aber und sagte nicht, dass es ein Dietzel sei.
Nun steckte ich der Pat. den Holzgriff wieder in den Mund und befahl ihr, weiter
an demselben zu ziehen. Ich ging alsdann einige Schritte von ihr fort, und legte
ihr ein Handtuch lose über die Augen, ihr suggerirend, sie würde ruhig und tief
weiter schlafen und gar nichts mehr sehen. Ich fühlte das Bedürfniss zur Urin-
entleerung, ging in Folge dessen zu meinem Nachtgeschirr, welches in meiner Nacht-
kommode einige Schritte vom Sopha entfernt stand und urinirte. Ich ging aus
mehreren Gründen nicht aus dem Zinmier, einmal, weil ich aus den von mehreren
Autoren beschriebenen H3rpnoseversuchen wusste, dass die hypnotischen Personen,
sobald sie nicht mehr unmittelbar unter der Macht des Hypnotiseurs stehen, mit-
unter sofort wieder erwachen; dann aber wollte ich auch den Hergang der nun
einmal von mir eingeleiteten Hypnose genau beobachten und drittens kam es mir
darauf an, meine Fat. nicht allzu oft zu hypnotisiren, womöglich gleich bei der
ersten Hypnose, die ich gerade an jenem Tage an ihr vornahm, therapeutisch mit aller
£nergie erfolgreich auf sie einzuwirken und um dies zu können, hätte ich noch längere
Zeit die eingeleitete Hypnose fortsetzen müssen. Da mir selbst aber die Handlung
des ürinirens peinlich war, legte ich der Fat. ein Handtuch über, durch welches
sie, selbst wenn sie hätte erwachen sollen, mich nicht sehen konnte. Als ich bald
darauf wieder zu Magdalene S. trat, hatte dieselbe noch immer den Griff meines
Bartpinsels in dem Munde. Ich nahm denselben in meine Hand, warf das ihr über-
gelegte Tuch auf mein Bett und legte ihr etwas Salz auf die Zunge, indem ich ihr
suggerirte, es sei Zucker, sie solle denselben nur hinunterschlucken, er sei sehr süss.
Als ich dies gesagt, schrak Fat. plötzlich zusammen, und schlug die Augen auf;
sie machte ein ganz verstörtes Gesicht und fing etwas an zu weinen. Sie beruhigte
sich jedoch bald wieder, als ich ihr gesagt, es sei ja nichts passirt, ich hätte ihr
niir etwas Salz gegeben. Dann liess ich sie aus dem Zimmer in ihren Saal, in den
ich mich ebenfalls nach einiger Zeit begab. Ich traf die Fat. im Bett liegend und
sagte sie mir auf meine Frage, weshalb sie denn zu Bett gegangen, dass sie un-
wohl sei und Kopfschmerzen habe.
Aus der Anamnese ergab sich (cf. Krankengeschichte) Folgendes:
Seit 3 Jahren litt Pat. an Bauchbeschwerden, sie bekam in Zwischenräumen
Ton einigen Wochen anfallsweise heftige Leibschmerzen, begleitet von Erbrechen
und Durchfällen und starkem Aufgetriebensein des Abdomens. Vor einigen Tagen
soll Fat. in einem solchen Anfall ohnmächtig hingefallen sein mit Schaum vor dem
Monde. Die Ohnmacht hat angeblich 4 Stunden gedauert, die Leibschmerzen
hielten 4 Tage an, es trat Erbrechen und ein „colossales^ Aufgetriebensein des
Leibes auf. Der herbeigerufene Arzt constatirte Bauchfellentzündung.
Ich konnte bei der objectiven Untersuchung (cf. Krankengeschichte), die natür-
lich im Saal in Gegenwart von Collegen und Schwestern vorgenommen wurde,
ansser einer starken, schon lange bestehenden Atrophie des rechten Beines absolut
nichts pathologisches an ihren inneren Organen nachweisen, was mir nur einiger-
maassen die in der Anamnese erwähnten Krankheitssymptome erklärte. Da nun
mach hier im Hospital bis zu dem Tage, an welchen ich Patientin hypnotisirte,
198 ▼• Schrenek-Notiiiig.
absolut keine krankhaften Erscheinungen, insbesondere kein Erbrechen, Ohmnachts-
anfall, Auigetriebensein des Abdomens sich zeigten, so erschienen mir diese in dar
Anamnese angegebenen Erscheinungen als Symptome einer Hysterie oder der
Simulation. Deshalb glaubte ich auch mit Tollstem Rechte, bei dieser Fat Hyp-
nose in Anwendung bringen zu dürfen, um ihr in derselben die Suggestion aa
geben, dass sie in Zukunft nie wieder derartige Erscheinungen bekommen würde,
wie sie dieselben vor ihrer Aufnahme ins Hospital gehabt hatte.
Sehrelben des Rechtsanwalts F. an den Yerfiisser.
Euer Hochwohlgeboren
erlaube ich mir hierdurch anzufragen, ob Sie in nachstehender Sache bereit waren,
sieh gutachtlich über hypnotische Sinnestäuschungen erotischen Inhalts und über
die posthypnotischen Erinnerungstauschungen gleichen Inhalts zu äussern.
Der pract. Arzt Dr. K. wurde zweier Verbrechen des § 176 Zifil 3 und 174
Ziff. 3 des Reichsstrafgesotzbuches angeschuldigt. Es wird demselben zur Last ge-
legt, er habe ein 13 jähriges Mädchen Magdalena S. in einen hypnotischen Zustand
versetzt, sodann demselben sein Glied in den Mund gesteckt und schliesslich in den
Mund urinirt, nachdem er vorher ein Tuch um den Kopf des Mädchens gebunden
habe, durch das aber die S. alles hätte sehen können. Nach dem Erwachen wiD
das Mädchen noch das entblösste Glied des Dr. K. erblickt haben.
Des Weiteren soll Dr. K. nach einem mit der 9 jährigen N. vorgenommenen
Hypnotisirexperiment (Dr. K. versuchte zweimal dieses Mädchen zu hypnotisiren,
jedoch immer erfolglos) dem kleinen Mädchen die Röcke in die Höhe gehoben,
dasselbe so auf sein Knie gesetzt und geschaukelt haben, dass seine Knieseheibe
die blossen Geschlechtstheile des Kindes berührt hätte.
Ein dritter Fall, dessen man ursprünglich den Dr. K. noch beschuldigen la
können geglaubt hatte, stellte sich nach dem Verhör des betreffenden Mädchens
Crcscenz L. als durchaus unverfänglich dar. Es dürfte für die Beurtheilung der
beiden anderen Fälle von Werth sein, dass die Aussage dieses J^lädchens genaa
mit den Angaben des Dr. K. übereinstimmt. Letzterer giebt an, er habe das Kind
in Hypnose versetzt, die Sensibilität durch Nadelstiche geprüft, dem Mädchen nook
etwas Salz auf die Zunge gelegt.
Die S. machte ihren Eltern die oben geschilderte Erzählung und veranlassten
dieselben die Anzeigeer«tattung.
Gelegentlich der von dem Polizeikommissär gepflogenen Recherchen — es
wurden hierbei verschiedene Kinder, die Dr. K. in dem Krankenhause hypnotittii
hatte, vernommen, gab die N. obige Sachdarstellung.
Ich erlaube mir beizufügen, dass die S. den mit ihr im gleichen Saale
untergebrachten Mädchen N. und Creszenz L. ihr angebliches Erlebniss ersahlt
hatte. Herr Dr. K. beruft sich gegenüber den erhobenen Beschuldigungen auf
den von ihm in dem anruhenden Schriftstück niedergelegten Thatbestand.
Der Vorfall mit der N. dürfte bei dem Gutachten wohl ausser Betrachton^
bleiben, da er sich ereignete nach erfolglosem Hypnotisirversuche und meines
Erachtens damit erklärt werden kann, dass die N. unter dem unmittelbaren Ein-
drucke des von der S. Gehörten das von ihr selbst Erlebte schilderte und hier-
bei durch ihre erhitzte Phantasie, vielleicht auch durch eine suggestive Frage des
Das angebKohe SittHohkeitsyergehen des Dr. K. an einem hypnot. Kinde. 199
reoherchirenden Commissara zu einigen Aassohmtickungen verleitet wurde, die die
Handlung des Dr. K. objectiv als Sinnlichkeitsakt erscheinen lassen können.
Die gegen Dr. K. eingeleitete Untersuchung schwebt derzeit erst im Sr-
mittelungsstadium. Begreiflicher Weise hat aber Dr. K. ein grosses Interesse daran^
zu erreichen, dass es überhaupt nicht zur £röfi&iung des Hauptverfahrens bezw.
nicht einmal zur Erhebung der förmlichen Anklage durch den Staatsanwalt kommt.
Ich stelle daher an Euer Hochwohlgeboren Namens meines Clienten das er-
gebene Ersuchen, sich recht bald zu dem Falle S. in Form eines Gutachtens
äussern zu wollen, da ich es nicht für ausgeschlossen halte, dass durch Beifügfung
Ihres Gutachtens die Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens veranlasst
werden könnte.
Indem ich um baldgef. Rückäusserung bitte, ob Sie zur Erstattung des GKxt-
achtens bereit sind, zeichne ich
Mit vorzüglicher Hochachtung
Rechtsanwalt F.
Ontachten des Terfassers.
I.
Zur objectiven gutachtlichen Würdigung des als bekannt vorausgesetzten That-
bestandes mögen einige allgemeine Bemerkungen') aus der Psychologie der Sug-
gestionslehre hier Platz finden.
Unter Hypnose ist nichts anderes zu verstehen als ein durch Suggestion er-
zeugter Schlafzustand, dessen Intensität variirt zwischen dem Stadium der leichtesten
Somnolenz mit völlig erhaltenem Bewusstsein bis zum Tiefschlaf mit nachfolgender
Amnesie.
Die Hypnose unterscheidet sich vom normalen Schlaf durch das sug-
gestive Abhängigkeitsverhältniss vom Hypnotiseur und von äusseren Beizen. Ver-
tieft sich der Schlaf derart, dass kein Rapport der Sinnesorgane mit der Aussen-
welt mehr besteht, so hört auch die Möglichkeit des Suggerirens auf.
Wie im Traum, werden nun im Zustande der hypnotischen Dissooiation
ÜQSsere Eindrücke und Reize falsch gedeutet und der Hypnotisirte kann, wie der
Träumende, zum willenlosen Spielball seiner Einbildungskraft werden.
Beliebige, durch eigne Reproduction oder durch fremde Einwirkung wachgerufene
Vorstellungsreihen beherrschen das geistige Leben des Hypnotisirten vollständig.
Man kann nun, wie bekannt, alles Mögliche suggeriren: Handlungen, Ge-
fühlstäuschungen, Erinnerungsfälsohungen, Illusionen, Hallu-
einationen. Der Hypnotisirte ist bei einigermaassen tiefer Hypnose nicht im
Stande, Geträumtes, wirklich im Schlaf Erlebtes, blosse Erinnerungen, Phantasie-
produkte oder Suggerirtes von einander zu unterscheiden. Ihm fehlt die Elritik
über die in ihm entstehenden Vorstellungsreihen durch im normalen wachen Zu-
stande maassgebende, hemmende und corrigirende Gegenvorstellungen.
') Wenn auch vorausgesetzt werden darf, dass die in Theil I angefahrten Dar-
legungen aus der Suggestionslehre allen Lesern dieser Zeitschrift bekannt sind, so
durften sie doch in dem Gutachten nicht fehlen, da in juristischen Kreisen die
Kenntniss derselben bis jetzt durchaus nicht in der erforderlichen Weise ver-
breitet ist.
200 '^' Schrenck-Notzing.
Man kann sogar durch posibypnotische Suggestion auf die EEandlongen des
Hypnotisirten nach dem Erwachen Einflnss nehmen und den Glauben in ihm er-
wecken, dass diese Handlungen seinem eigenen freien Willensentschlcme ent-
sprungen seien.
Natürlich hängt die Wirksamkeit der Suggestion ab Ton dem Grade der
individuellen Empfänglichkeit, von der Stärke der in dem lodiYidnam
sonst maassgebenden Gegenvorstellungen (z. B. sittlichen Gegenwirkung). Der
Hypnotisirte kann sich also, je mehr er wach ist, je weniger tief die Uypnoee iit|
um so erfolgreicher gegen ihm- uns3rmpathi8che Einwirkungen wehren.
Demnach wird nicht jede Suggestion angenommen und realisirt.
Das Gedächtnissan die Erlebnisse in der Hypnose ist nach dem Erwacben
ungemein verschieden. Es kann ganz fehlen (Amnesie), es kann theilweiae oder
ganz vorhanden sein, letzteres namentlich in Hypnosen leichteren Grades. Oft nnd
die Erinnerungen, wie nach einem Traum, lückenhaft verwischt, verfälscht. Man
ist aber im Stande, die entschwundenen Bilder durch Suggestion- zu wecken und
das besonders in einer neuen Hypnose.
Wie von Kr äfft -E hing in seinem Lehrbuch der gerichtlichen Psychopatho-
logie betont, kann die Vornahme einer neuen Hypnose von Gerichtswegen
im Indicicnbewcis von Werth sein. Denn auch der Grad der individuellen Suggesti-
bilität und Widerstandsfähigkeit ist hieraus für den Fachmann zu erkennen. Immer-
hin würden nachträglich in einer neuen Hypnose geweckte Erinnerungen an die
Vorgänge in vorhergehenden Hypnosen nur den Werth informatorischer
Aussagen besitzen, niemals aber für sich allein ein juristisches Beweismittel dar-
stellen können. Denn bei Simulanten, verlogenen Personen, Hysterischen und
Phantasielügnem, denen der Trieb zur Unehrlichkeit tief im Character liegt, sind
falsche Angaben ganz gewöhnlich, wie überhaupt das Product von Autosuggestionen
(Einbildungen, Selbsteingebungen) Vcrsuchsobject und Beobachter in gleicher Weise
irreleiten können.
Die schon im normalen Leben zu beobachtenden Fehlerquellen des Ge-
dächtnisses, der Rückerinnerung spielen im kindlichen Geistesleben und bei den
hypnotischen Erscheinungen wegen mangelnder Correctur eine viel grössere JEtoUe.
Daher kann in den betreffenden Personen die bona fides, das Gefühl für die
Richtigkeit ihrer Angaben wohl vorhanden sein. Auch ein Gemisch von Lüge und
Erinnerungsfälschung von minder bewusster Aufschneiderei und wahren Angaben
lässt sich mitunter beobachten. Lüge und Irrthum kommen in mannigfaltigen
Mischformen vor.
Deswegen ist die Glaubwürdigkeit von Personen, deren alleinige Aussage z. B.
bei Anschuldigungen von weitgehender Wichtigkeit fiir das Schicksal einer zweitan
Person werden kann, psychologisch mit besonderer Sorgfalt zu prüfen.
Der Einfluss einer momentanen Gemüthsstimmung, Aifecte, Zu-
stände psychischer Erregung disponiren in hervorragender Weise zu Fehlem in
der Reproductionstreue. Lebhafte Erinnerungen an einschneidende frühere Erleb-
nisse können von hypnotisirten Somnambulen sehr wohl mit augenblicklichar
Wahrnehmung vermischt, verbunden werden und zu Irrthümem, Verwechselungen
Veranlassung bieten. Dass solche Ereignisse von ihren Berichterstattern geglaubt
werden, ist noch kein Beweis für ihre objective Richtigkeit.
Wie Kinder schon für Suggestionen mehr empfänglich sind, so halten ne
Das angebliche Sittlichkeitsvergehen des Dr. K. an einem hypnot. Kinde. 201
auch mitunter die Erinnerung an ihre Termeintlichen Erlebnisse mit einer merk-
würdigen Zähigkeit fest und aufrecht.
Es möge hier nur erinnert werden an die bekannte Begebenheit in Tisza
Eslar. Ein 13 jähriger Knabe bildet sich ein, gesehen zu haben, wie ein Christen-
mädchen in der Synagoge gemordet sei. Trotz dreimonatlicher Trennung von den
Seinigen, trotz flehentlicher Bitten, die Wahrheit zu sagen, versicherte er vor Ge-
richt: „Ich habe es gesehen".
Ich selbst konnte beobachten, dass ein 5 jähriges Mädchen 9 Monate hindurch
bei den Eltern und Aerzten den Glauben zu erwecken wusste, sie sei die Urheberin
zahlreicher Verbrechen, welche, wie sich später herausstellte, ihre hysterische
Kinderwärterin (Zerstörungstrieb) vornahm. Alle Strafen, Absperrungsmaassregeln,
Erziehungseinflüsse waren nicht im Stande, das suggestive Abhängigkeitsverhältniss
zu brechen, in welchem dieses sonst normale Kind mit ihrer Wärterin stand.
Für die Begehung von Sittlichkeitsvergehen an Hypnotisirten, wie
sie schon wiederholt Gegenstand richterlicher Verfolgung geworden sind, kommen
mehrere Gesichtspunkte in Betracht.
In den bisher bekannt gewordenen Fällen dieser Art ist in der Regel das
unzweifelhafte Vorhandensein eines hypnotischen schlafartigen
Zufltandes während der Handlung selbst nachgewiesen worden, um solche Ver-
brechen zu begehen , muss die Willensfreiheit des Opfers völlig ausgeschaltet
werden, wie das die tieferen Grade der Hypnose mit sich bringen. Dieselben
sind zweifellos als Zustand von Bewusstlosigkeit oder Willenlosigkeit im Sinne
des § 176 des Keichsstrafgesetzbuches aufzufassen. Sie sind meistens von
völliger Erinnerungslosigkeit (Amnesie) nach dem Erwachen begleitet
oder von sehr lückenhafter Beproduction des Vorgefallenen. Aber diese absolute
Widerstandsunfähigkeit ist auch in den tieferen Stadien der Hypnose bei unsym-
pathischen Einwirkungen durchaus nicht die Regel. Dieselbe tritt meist erst als
Product suggestiver Dressur ein nach einer mehrfachen Hypnotisirung, oder bei
von Natur äusserst suggestiblen Personen.
Wie Delboeuf, Forel und andere Forscher gezeigt haben, sind verbreche-
rische Suggestionsexperimente so lange kraftlose Handlungen, als sie nicht ver-
stärkt werden durch eine zum Verbrechen vorhandene Anlage oder Dispo-
sition zu dem betreffenden Vergehen. So werden z. B. erfahiningsgemäss Befehle,
flieh zu entkleiden, einen Diebstahl zu begehen. Jemanden zu küssen oder dergl.
von manchen Hypnotisirten gar nicht, von anderen mit grossem Widerstreben aus-
geführt. Der Widerstand kann sehr energisch sein.
Die Hypnotisirten pflegen namentlich in der ersten Hypnose nur die ihnen
angenehmen Suggestionen, welche keinen Eingriff in ihre moralische Unabhängig-
keit mit sich bringen, so z. B. alle auf den Heilzweck ausgehenden Eingebungen
zu realisiren. Die durch langjährige Erziehung fest gewordenen und tief ein-
gewurzelten sittlichen Vorstellungen üben eine starke Gegenwirkung gegen ver-
brecherische Attentate und diese Suggestion ist in der Regel stärker, als der
äoMere Zwang durch erstmalige Fremd-Eingebung. Allerdings existiren je nach
den persönlichen Qualitäten alle Schattirungen zwischen hartnäckigem Widerstand
and völliger Hingebung. Personen mit schwachem sittlichem Gefühl und grosser
Saggerirbarkeit sind natürlich in der Hypnose noch viel leichter zu verführen, als
im Wachzustände.
202 ▼• Sehrenek-Notnng.
Somit hat aach die LeiBtungsfähigkeit der Saggestion ihre gani
bestimmte Grenze und der Verbrecher, der sich dieses Mittels bedienen worde,
errichtet ein sehr ansicheres Gebäude und ist leicht zu überführen. In den
leichteren Stadien, namentlich bei einer erstmaligen Hypnotiairang, genügen die
antagonistischen Kräfte der moralischen Gegenvorstellungen TÖUig, anerwfiiiMlite
criminelle Suggestionen energisch und erfolgreich zurückzuweisen.
II.
Die weitere Aufgabe dieses Gutachtens wird darin bestehen . zu untersuchen,
wie weit die vorstehend erörterten Forschungsergebnisse sich auf die dem Dr. K.
zur Last gelegte That anwenden lassen.
Magdalene S. . welche am 11. Sept. auf mein Verlangen mir von deren
Vater vorgestellt wurde, machte auf mich den Eindruck eines abgemagerten, kränk-
lichen, zurückgebliebenen und verwahrlosten Kindes. Ihre äussere Erscheinung
lässt nicht auf ihr Alter schliessen. sondern sieht einer 7jährigen ähnlich. Sie
hinkte beim Betreten des Zimmers und zeigte weder in ihrer Sprechweise noch in
ihrer ganzen Art etwas Anziehendes. Die nähere Beschreibung ihres körperlichen
Status ergiebt ihre den Acten beigelegte Krankengeschichte. Vater und Tochter
stellen das Sittlichkeitsattentat so dar, wie es in den Acten deponirt wurde. Der
Tagelöhner S. erwiderte auf Befragen, dass man unter „Dietzel** im Volksmund
ebensowohl den Gummisauger der Kinder als auch das männliche Glied verstehe.
Magdalene will während der ganzen Handlung des Arztes völlig wach gewesen
sein. Daher erinnere sie sich deutlich aller Einzelheiten. Sie habe femer darch
das ihr über den Kopf gelegte Handtuch das Glied des Dr. K. gesehen, üeber
andere nicht mit dem Attentat zusammenhäns^ende Suggestionen des Dr. K. weiss
sie nichts Näheres anzugeben. Die Mittheilung von dem Vorgefallenen habe sie
der Pflegeschwester erst gemacht, als diese sie über die Vorgänge in der Hypnose
befragte.
Bei der Wichtigkeit der Aussage des Kindes und den Widersprüchen in der-
selben erschien mir behufs möglichst genauer Feststellung des Vorgefallenen and
Weckung der Erinnerung daran die Herbeiführung einer neuen Hypnose
(in Gegenwart eines Zeugen) nöthig zu sein. Die theoretischen Darlegungen des
ersten Theils enthalten für die Berechtigung dieses Vorgehens die nöthige Be-
gründung. Ich theilte dies dem Kinde mit und versuchte es in eine liegende
Stellung auf dem Sopha zu bringen. Magdalene S. zeigte sich widerspenstig, wollte
durchaus nichts davon wissen, fing an zu schreien und zu weinen und geberdete
sich sehr uuartig. Schliesslich schlug sie wüthend mit Händen und Füssen am aioL
Ich rief den Vater herein. Dieser suchte auf sein Kind Einfluss zu gewinnen, sie
zu überzeugen durch gütliche Zurede. Aber ganz vergeblich. Sie setzte auch dras
Vater heftigen Widerstand entgegen, der sich bei Drohungen und Schlägen des
Vaters nur noch steigerte. Sie warf sich auf den Boden, hielt sich an der Thor
fest, lärmte, schrie und tobte in einer sehr boshaften und ungezogenen Art Je
mehr der Vater in sie drang, um so heftiger wurde der Anfall. Die Scene daoerta
länger als 20 Minuten und erweckte den Eindruck, den dieses offenbar vielfach aof
sich selbst angewiesene Kind einen eigenwilligen verstockten Character, besitM
vielleicht einen gewissen moralischen Defect, wie man ihn bei nervösen, hyiterischea
Dm Bafvft&iM 5r«tfW ftAifito * cngeteen d«t Dir. K, «a «uMm Vrrft^'^ KMk MS
Xadcax not flawr mm Ufcn and SiaoHnKi hiofifr üIld<^tK l>i^ ISlMWÜtt wiw««^^
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BcoDcdbcsinnercii i« nodi die llilüieiluiur d<« V»i«^n>« wumfr^K d«9 Kind
bereits cicsal Gefreii*t«iid eines Sitiliehkeii^rerfreKen* ^>it\vrd<M\
mL £ixi aSter HauL fiüirte das Kind an einen einsamen i>ii und nrinirte ihm in
den Mnnd. £§ sptehe sich also damab genan das gleiche Vergehen an dem Kinde
ab, wie es im Toriiefenden Fall dem Dr. K. mr I^ast gelegt wird«
Die erste Möglichkeit wäre die, dass das Attentat auf die SittllehVeit
des Kadcbens sich so zogetragen hatt^, wie sie es selbst darstellte
JedenfisUs encbeinen dann ihre Mittheilungen über die sonstigen Suggetiioneiu
die doch Dr. K. jedenfalls behufs Herbeiführung einer Ueferen Hypnose xorgv«-
nommen haben müsste, lückenhaft und dieser Gedächtnissmaugel aufHUlig. Nach
ihren eignen Angaben müsste sie das Bild des Schlafes simulirt haben , indem sie
in dem Arzt den Glauben an das Vorhandensein eines hypnotischen Zustandet «u
erwecken wusste. Aber noch merkwürdiger berührt der Umstand, dass sie ohnt«
■ich zu widersetzen, obwohl sie doch Zeugin der Vorbereitungen tu dorn Attentat
war und das entblösste Glied durch das Tuch hinduroh vorher wahrgenommen
haben will, willig den Wünschen des Dr. K. nachkam, indem sio wirklich
Saugbewegungen und onanistische Manipulationen an dem Ultede des Arttca vor-
nahm. Erst als er seinen Urin in ihren Mund entleerte, also beim letitten Act d«^t
ihr bereits von früher in seinen Einzelheiten bekannton Dramas reagirte sie im
gegentheiligen Sinn ! Ist es nun überhaupt psychologisch wahrscheinlich und denk-
bar, dass ein Mädchen von der hartnäckigen EigenwUligkeit und St^lbstündigkclt,
wie sie Magdalene mir gegenüber bewies, trotz ihrer frUhoren Erfahrung auf
sexuellem Gebiet, trotz aller Warnungen und Belehrungen ihres Vaters, In dem
Ton ihr selbst behaupteten Vollbesitz ihres freien Willens, sich ein »weites Mal
einen so raffinirten und in seiner Ausführung umständlichen Angriff auf Ihre Ge-
schlechtsehre hätte gefallen lassen, dass sie ein Opfer desselben werden konnte?
Warum erhob sie sich nicht sofort bei den ersten Versuchen, entrüstet über die
2amuthungen des Arztes und verliess das Zimmer? Warum rief sie nicht um
Hülfe? Warum schrie und weinte sie nicht, wie sie es sonst zu thun pÜegt, wenn
ihr etwas Unangenehmes widerfährt? Abgesehen von der in der Art der sexuellen
Bethätigung höchst auffälligen Uebereinstimmung beider geschlechtlicher Vergehen
ladt Magdalene S. durch ihre eigne Sachdarstellung den Verdacht der Himulation
auf sich. Denn sie simulirte das Bild der Hypnr>se, erniedrigte sich zum Work-
seng der eigenartigen sexuellen Gelüste des Arztes, um dann nachträglich gegen
ihn die schwere Anklage wegen Sittlichkeitsdelicts zu veranlassen!
Die zweite Möglichkeit wäre die, dass das Mädchen sich wirklich In
•einer Hypnose leichteren Grades befand, über deren Bestehen sie sich s(*lb«t täuschte.
Indessen wäre bei einem so tiefen verbrecherischen Kingriff in ihre HellMtändlgkeit,
wie im theoretischen Theil gezeigt wurde, die Fähigkeit des Widerstandes kaum ab-
banden gekommen. Sie hatte aus der leichten Benommenheit schon bei den ersten
aexneUen Manipulationen des Arztes erwachen müssen.
£s ist psychologisch nahezu ausgeschlossen, dass in Hypnosen leichteren Ora'Je«
gegen den Willen der betreffenden Versuchsf>ersonen tief greifemJe criminelle
^agg«stäonen besonders bei erstmaliger Hypnotisirung angenommen und realisirt
204 V. Schrenck-Notzing.
Die dritte Möglichkeit ist diejenige des Bestehens einer tiefen HypnoM.
Die Angaben des Dr. E., wonach die hypnotisirte Magdalene S. Handlungen
automatisch ausführte und selbst Sinnestäuschungen zugänglich war, lassen auf das
Vorhandensein einer solchen schliessen. Aber auch in diesem Falle wäre ebenfalls
in Anbetracht der erstmaligen Einschläferung der £rfolg für die Realieirung Ton
unsympathischen Eingebungen mit sexueller Tendenz zum mindesten zweifelhaft
gewesen. Beobachtungen, in denen schon bei einer ersten Hypnose solche Tei^
brecherischen Suggestionen gelingen, gehören zu den Seltenheiten, zu den Aus-
nahmen.
Wenn aber überhaupt eine H y p n o s e leichteren oder tieferen Grades
bestand, so stellt ^das Erinnerungsvermögen der betreffenden Versuchs-
person nach dem Erwachen ein ganz unzuverlässiges Mittel zur Feststellung der
wirklichen Vorgänge im hypnotischen Zustande dar. Dasselbe ist , wie in dem
ersten Theil ausgeführt wurde, allen möglichen Täuschungen und Fehlerquellen aus-
gesetzt und wird um so unzuverlässiger und lückenhafter, je tiefer die Hypnose
war, bis zur völligen Amnesie, lässt sich also, wie schon erwähnt, abgesehen von
seiner informatorischen Bedeutung als juristisches Beweismittel ebensowenig ver-
wenden, wie die mehr oder minder verschwommenen Erinnerungsbruchstücke aus
den Träumen des normalen Schlafes.
Die vierte Möglichkeit besteht bei dem wirklichen Vorhandensein einer
Hypnose in einer traumhaften Verknüpfung lebhafter Erinnerungsvorstellungen an
das frühere sexuelle Erlebniss mit den Suggestionen und sonstigen Wahrnehmungen
in der Hypnose zu einem Gesammtbilde aus Dichtung und Wahrheit, dessen Inhalt
nachträglich von der j^lagdelene S. erinnert worden wäre. Für diese Annahme
sprechen verschiedene schwerwiegende Argumente. Es ist eine bekannte Thatsache,
dass der hypnotisirte oder somnambule Träumer von den Producten seiner Ein-
bildungskraft autosuggestiv völlig beherrscht werden kann. Die Suggestion des
Saugens an einem „Gummidietzel** konnte sehr wohl die Reminiscenz an jenes erste
sexuelle Attentat in dem Kinde wachrufen; beiden Erlebnissen war das Saugen
an einem weichen Gegenstande sowie der salzige Geschmack gemeinsam ; das Wort
„Dietzel" als Bezeichnung für das männliche Glied konnte möglicherweise auch
dem Kinde nicht unbekannt sein. Wenigstens lässt hierauf das Verhalten der
Patientin nach den Schilderungen von Dr. K. schliessen ; denn sie blieb trotz ihrer
offenbar gesteigerten Empfänglichkeit für die Suggestion des Arztes ihm auf seine
Frage, an was sie sauge, die Antwort schuldig; dieses Verhalten würde sich in
dem genannten Sinne durch Verlegenheit oder Schamhaftigkeit erklären lassen.
Hatte sich aber einmal die Phantasie mit der autosuggestiven Verarbeitung
jener für ihr kindliches Geistesleben tief einschneidenden Erinnerungsvorgänge be-
schäftigt , so war das ganze weitere Verhalten des Arztes dazu angethan , den
Argwohn der Hypnotisirten , es handle sich um eine Wiederholung des früheren
sexuellen Attentats, zu bestärken, d. h. dem autosuggerirten Traum neue Nahrung
zuzuführen. Durch das für das Versuchsobject befremdliche Verhüllen der Augen
musste dieser Verdacht sich steigern ; zur Gewissheit wurde die Vermuthung der
Träumenden, als sie aus der vermeintlichen Gesichtswahmehmung oder aus dem
Hören des Geräusches beim Uriniren in das Nachtgeschirr schloss, dass der Arst
sein Glied entblösst habe und ein Bedürfniss verrichtete. Die phantastische Um-
deutung oder illusionirende Uebertragung der äusseren wirklichen Vorgänge (z. B.
Das angebliche Sittlichkeitsvergehen des Dr. E. an einem hypnot. Kinde. 205
auch des Salzgeschmackes) aaf den Inhalt des herrschenden Traumbildes wurde
ergänzt durch die hallucinatorische Schöpfung der ohne Kritik und Hemmung
thätigen Einbildungskraft. So wurden aus dem suggerirten Grummidietzel das
männliche Glied, die Saugbewegung und das Ergreifen desselben zu onanistischen
Manipulationen, das Verhüllen der Augen ein Hülfsmittel zur leichteren Ausführung des
Vorhabens, der Salzgeschmack zum Uringeschmack ; das Uriniren in den Mund der
Patientin muss nach ihrer Ansicht, wie beim ersten sexuellen Attentat dem Arzte
zur geschlechtlichen Befriedigung gedient haben; die nicht zu bestreitende That-
sache des ürinlassens wurde aber in Beziehung auf die träumende Persönlichkeit
unter dem dominirenden Einfluss der lebhaften Erinnerung an das frühere sexuelle
Delict umgedeutet , wozu der Geschmack des Salzes , welches ihr Dr. K. auf die
Zunge gab, beigetragen haben mag. Der Vorgang der Ejaculation als Mittel zur
geschlechtlichen Befriedigung war dem Kinde vielleicht noch unbekannt.
So entstand durch eine Verhängnis s volle Verkettung innerer und äusserer Um-
stände gcwissermaassen als letztes Glied der herrschenden Vorstellungskette a u t o •
suggestiv die Selbsttäuschung, der Arzt habe zum Zwecke geschlechtlicher
Befriedigung der Magdalene S. in den Mund urinirt.
Die Erinnerung an diese Traum erlebnisse kann nach dem Erwachen erst all-
mählich eingetreten oder geweckt sein. So war Magdalene vielleicht bei Besprechung
mit der Schwester trotz der aus der Hypnose zurückgebliebenen Spuren tiefer
affectiver Erregung noch nicht im Stande, alles anzugeben und erst nach den Unter-
redunefen mit ihren Zimmergenossinnen fielen ihr die Einzelheiten des Traumes
ein, die dann schliesslich zur Anzeige führten.
Oder aber die Verschmelzung der vielleicht theilweise undeutlkhen Remines-
cenzen aus der Hypnose mit der lebhaften Erinnerung an das frühere Erlebniss zu
einem Gesammtbilde ist möglicher "Weise ei-st nach dem Erwachen erfolgt, als der
Argwohn durch Gespräche mit anderen Kindern erregt und die Aufmerksamkeit
auf das sexuelle Gebiet hingelenkt war. In diesem Falle wäre die im wachen Zu-
stande erfolgte, unwillkürliche, rückwirkende Erinnerungsfälschung begünstigt durch
lebhafte Phantasiethätigkeit mit der Unfähigkeit und dem Streben, die Vorgänge
in der Hypnose möglichst genau zu recapituliren.
Wie im Schlafzustand, wären also auch hier die lückenhaften Erinnerungs-
bilder durch Elemente der früher erlebten Situation unwillkürlich ergänzt. Nach
dieser Auffassung dachte die Magdalene S. noch nicht in dem Augenblick an den
Angriff auf ihre Geschlechtsehre, als die barmherzige Schwester sie befragte. Viel-
mehr bekam dieser Argwohn erst später den Werth einer subjectiven üeberzeugung.
Welche der 2 Variationen der vierten Möglichkeit psychologisch die
grösste Wahrscheinlichkeit für sich hat, das möge nach freiem Ermessen entschieden
werden.
Für die vierte Möglichkeit einer autosuggestiven Erinnerungs-
fälschung inderHypnose oder einer retroactivenPseudoreminiscenz
im wachen Zustande spricht aber auch die ganze sonstige Sachlage. Vor Allem
kommt hier die Persönlichkeit des Arztes in Betracht, eines Mannes, der das
volle Vertrauen seiner Vorgesetzten geniesst und sich nie eine Pflichtverletzung zu
Schulden kommen Hess. Ausserdem scheint derselbe seine kranken Kinder alle nach der
gleichen 3Iethode hypnotisirt zu haben imd machte fast bei allen die gleichen
Suggestionsexperimente, wie sich durch Zeugenaussagen erweisen lässt.
206 ^' Schrenck-Notring.
Bekanntlich kommen sexaelle Handlungen, wie die in Frage stehenden, bei
abgelebten Roues, deren in Abnahme begriffene geschlechtliche Potenz immer neuer
Reizmittel bedarf, sowie bei krankhaften nnd senilen Personen Tor. FürdasYer-
handensein einer solchen perversen Geschmacksrichtung lasst sich
bei Dr. K. nicht der geringst« Anhaltspunkt finden. £s wäre psychologisch ganz
unbegreiflich, wie dieser sexuell normal empfindende und beruflich Tertrauenswürdige
Arzt dazu hätte kommen sollen, eine vom Standpunkte sexueller Befriedigung
ganz sinnlose und widerliche Handlung an einem derartig yerwahrlosten, änsBerlich
nicht anziehenden, hinkenden, körperlich zurückgebliebenen Kinde zu vollziehen!
Allerdings war sein Verhalten mindestens sehr unvorsichtig; denn bei
einem tieferen Eindringen in die Suggestionslehre hätte er wissen müssen, dass
die Hypnotisirten und speciell die 'Somnambulen feine psychische
Reagentien darstellen auf alle äusseren Eindrücke, dass sie dieselben im Sinne
ihrer Träumereien und Suggestionen zu verarbeiten pflegen, dass es also für
den Arzt zur Sicherung seiner Standesehre ein Gebot des Selbstschutzes ist, in
zweifelhaften Fällen Zeugen beizuziehen, soweit das mit der Wahrung des ärzt-
lichen Amtsgeheimnisses vereinbar erscheint. Aber dieser Punkt kommt in öffent-
lichen Kliniken weniger in Betracht, als in der Privatpraxis.
Das wenig sorgsame und mit den Regeln der Suggestivbehandlung
nicht vereinbare Verhalten des Dr. K. bot allerdings die Veranlassung,
dass eine so schwere Anschuldigung mit einem Schein von Recht gegen ihn er-
hoben werden konnte.
Diese Erfahrung lehrt aber von Neuem, dass man den zu therapeutischen
Zwecken Hypnotisirten keine anderen Suggestionen eingeben soll,
als für seine Heilung nöthig sind, dass man femer die meist unter-
schätzte Bedeutung der Autosuggestionen bei Hypnotisirten zu berück-
sichtigen hat.
Vor Allem verlangt dieses Specialgebiet, genau wie andere Specialfächer, um-
fassende Sachkenntniss und gründliches Vorstudium, damit der therapeutische
Hypnotismus nicht für die Schulden aufzukommen hat, welche un-
vorsichtiger ärztlicher Dilettantismus auf dem psychologischen Gebiete
der Suggestion an}iäufb.
Nach der vorstehenden ausführlichen Begründung fasse ich also mein Gut-
achten dahin zusammen:
Die Aussage der 13jährigen Magdalene S. bietet, wenn andere
Beweismittel für das dem Dr. K. zur Last gelegte Vergehen nicht vorliegen,
keine hinreichende Gewähr für die Richtigkeit des von ihr be-
haupteten Vorfalles. Violmehr erscheint dieselbe als Product
falscher autosuggestiver Deutung von Wahrnehmungen in der
Hypnose und von rückwirkender Erinnerungsverfälschung, in-
sofern es sich nicht um bewusste Simulation handelt. Keinesfalls kann eine
solche durch Fehlerquellen getrübte Aussage psychologisch oder
juristisch als Beweismittel dienen. Dagegen bietet der ganze
Thatbestand keinerlei Anlass, an der meines Erachtens glaub-
würdigen Sachdarstellung des angeschuldigten Dr. K. zu zweifeln.
Das angebliche Sittlichkeitsyergehen des Dr. K. an einem hypnot. Kinde. 207
Sehlnss.
In der Voruntersachung wurden die von Dr. K. hypnotisirten Kinder, das
Wartepersonal des Krankenhauses, der Vorstand desselben vernommen, ohne dass
andere för den Angeschuldigten nachtheilige Momente sich ergaben, als die im
Vorstehenden erwähnten.
Somit sah sich die Staatsanwaltschaft veranlasst, das Ver-
fahren gegen den Dr. K. einzustellen.
Der Yorstehend beschriebene Fall aber lehrt von Neuem eindringlich,
dass die Anwendung des hypnotischen Heilverfahrens ihre bestimmten
R^eln und Indicationen besitzt, welche auch von sonst noch so tüchtigen
Aerzten erlernt und mit grösster Sorgfalt berücksichtigt werden müssen,
genau wie andere Methoden der ärztlichen Behandlung. Es wäre aber
ganz falsch, für die unangenehmen Folgen eines imrichtigen und un-
▼OTsichtigen Vorgehens die Sache selbst verantwortlich zu machen
wie das leider nur zu gern geschieht und die Flinte ins Eom zu
werfen! Mag das Lehrgeld, welches mitunter bezahlt werden muss,
auch theuer sein die Leistungsfähigkeit der suggestiven Heilmethode
in der Hand eines mit den Grundsätzen ihrer Anwendung hinreichend
yertrauten Arztes wird dadurch nicht berührt!
Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der
Hysterie.
Von
Oskar Yogt.
Einleitung.
Die folgenden Ausführungen entsprechen einem Wunsche, der mir
aus dem Leserkreis entgegengetreten ist. Sie sollen demjenigen, der
sich bisher nicht in die betreffende Literatur vertiefen konnte, die
normalpsychologische Grundlage für das Verständniss meiner weiteren
Aufsätze über die hysterischen Erscheinungen liefern. Sie wollen diese
Lektüre aber auch dem psychologisch Geschulten erleichtem. Die
psychologische Nomenclatur ist eine höchst verwirrte. Man muss sich
heutzutage erst in den einzelnen Autor hineinlesen. Mit Rücksicht
auf diese Sachlage wird man in den folgenden Paragraphen eine kurze
Definition der von mir gebrauchten psychologischen Begriffe finden.
Es giebt in der Psychopatliologie Phänomene, die von den normal-
psychologischen qualitativ verschieden sind. Wo wir zum Beispiel
durch eine locale Zerstörung einer Hirnrindenpartie eine Ausfalls-
erscheinung beobachten, haben wir ein Phänomen vor uns, das in der
normalen Psychologie nicht seinesgleichen hat. Denn die Hemmung
des tiefsten Schlafes bedeutet ja stets nur eine Herabsetzung, nie aber
einen Ausfall functioneller Vorgänge. In Bezug auf die Hysterie haben
mich nun meine gesammten Studien zu der Ansicht geführt, dasa alle
psychopathologischen Erscheinungen, welche uns im Krankheitsbild der
Hysterie entgegentreten, nur Intensitätsveränderungen normaler Phä-
nomene darstellen. Um so gebieterischer tritt dann aber die Forderung
auf, bei der Erforschung der Hysterie von der normalen Psychologie
auszugehen. Ist es doch klar, dass unser Wissen vom normalpsycho-
logischen Geschehen jeder Zeit besser fundirt oder wenigstens fun-
Norznalphysiologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 209
dirbar sein wird als das yod pathologischen Erscheinungen. Denn die
Urquelle alles psychologischen Wissens, die Erkenntniss durch die
directe Selbstbeobachtung, wird sich stets beim normalen Individuum
exacter gestalten lassen als beim kranken.
Allerdings muss gleich hier betont werden, dass die normal-
psychologische Basis, von der wir in unseren Studien ausgehen wollen,
noch eine sehr unsichere ist. Wir können es den „Fachpsychologen"
in ihrem Streben nach möglichst exacter Arbeit nicht verdenken, wenn
sie meist nur Sinnespsychologie treiben. Aber uns Aerzten nützen
derartige Studien wenig. Für uns sind die Gesetze der psychischen
Synthese und vor Allem die des Gefühlslebens bedeutungsvoll. Und
hier versagen die Arbeiten der „Fachpsychologen" fast vollständig.
So wird sich nicht vermeiden lassen, dass die folgenden Ausführungen
eine persönliche Färbung tragen. Auf manche Fragestellung, zu der
uns gerade das Studium der Hysterie fuhrt, fand ich in der vorhandenen
Literatur überhaupt keine Antwort. So wurde ich hier zu eigenen
Untersuchungen ^) gezwungen , Untersuchungen , während welcher ich
eine Reihe früher vertretener Anschauungen habe aufgeben müssen und
mich in vielen Punkten den von Wundt^) ausgesprochenen Lehren
genähert habe.
Wenn so auch unsere normalpsychologische Basis nicht eine absolut
gesicherte ist, so kann es ihr selbst doch nur zum Nutzen dienen, wenn
wir von ihr in unseren Untersuchungen ausgehen. Es ist von vorn-
herein zu erwarten, dass die hysterischen Erscheinungen manche psy-
chischen Zusammenhänge schärfer erkennen lassen werden als normale
Phänomene. So kann das Studium der Hysterie eine günstige Rück-
wirkung auf unser normalpsychologisches Wissen haben, kann dieses
bestätigen oder richtig stellen. Wir werden am Schluss unserer ge-
sammten Ausführungen darauf näher eingehen und so dieselben mit
einer Kritik unserer Ausgangspunkte beendigen.
§ 1. Verschiedene Grade der Bewusstseinsbeleuchtung.
Eine Bewusstseinserscheinung wird als„klarbewusst" bezeichnet,
wenn sie dem sich beobachtenden „Subject" oder „Ich" deutlich er-
*) Vgl. besonders: Vogt, Zur Kenntniss des Wesens und der psychologischen
Bedeutung des Hypnotismus. Vier Abhandlungen. Diese Zeitschr., Bd. III u. IV
and Vogt, Die directe psychologische Experimentalmethode in hypnotischen Be-
wnsstseinszuständen. Diese Zeitschr., Bd. V.
•) Vgl. vor Allem: Wundt, Grundriss der Psychologie. 3. Aufl. 1898.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. YIII. 14
210 Oskar Vogt.
kennbar ist. Wird eine Stimmgabel in meiner Nähe angeschlagen und
richte ich auf den entstehenden Ton meine Aufmerksamkeit, so wird
dieser mir klar bewusst werden. Eioe Bewusstseinserscheinung wird
^dunkelbewusst^ genannt, wenn das Subject gerade noch ihr
Dasein wahrnimmt, aber nicht ihre Qualitäten erkennt. In jedem Moment
empfangen wir unzählige Reize, während nicht einmal immer einer Ton
diesen Tielen eine klar bewusste Erscheinung auslöst. Eänige Yon diesen
Reizen lösen aber doch wenigstens dunkelbewusste Erscheinungen aus.
Von diesen ist ein Theil nur deswegen dunkelbewusst geblieben, weil ihm
nicht unsere Aufmerksamkeit zu Theil wurde. Er blieb dunkelbewusst,
weil er „unbeachtet" blieb, wäre aber klarbewusst geworden, wenn
ihm unsere Aufmerksamkeit zu Theil geworden wäre. Wenn wir auf
der Strasse in Gedanken versunken gehen, so rufen eine Reihe von
Objecten dunkelbewusste Gesichtsempfindungen in uns wach. Sobald
wir auf sie achten, werden diese Empfindungen klarbewusst. Neben
diesen wegen ihres Unbeachtetseins nur dunkelbewussten Erscheinungen
giebt es aber auch solche, die dunkelbewusst bleiben resp. erst dunkel-
bewusst werden, wenn wir ihnen imsere volle Aufmerksamkeit schenken.
Zu diesen gehört z. B. manches Element eines complexen Gefühls und
so manche Empfindung, die von den Organen unseres Körpers aus-
gelöst wird. „Unbewusste" Vorgänge sind solche, welche dem Subject
nicht unmittelbar zum Bewusstsein kommen. Als „bewusstseins-
fähig" wird jede Bewusstseinserscheinung benannt, die in einem ge-
gebenen Moment einer Bewusstseinsbeleuchtung fähig ist. Derartig
nicht erregbare Erscheinungen sind „bewusstseinsunfähig'*.
§2. Bewusstseinserscheinungen und materielle Parallel-
vorgänge.
Als eine nicht sicher bewiesene, aber sehr wahrscheinlich gemachte
Thatsache und gleichzeitig als ein für die Physiologie, sowie für die
Psychologie fruchtbarer Gedanke und deshalb als ein „heuristisches
Principe stellen wir den Satz auf, dass gleichzeitig mit jedem Bewusst-
seinsvorgang ein „materieller Parallelvorgang" (wahrscheinlich
in der Hirnrinde) stattfindet. Die Zahl solcher unter sich gleichartiger
materieller Parallelvorgänge ist grösser als diejenige der Bewusstseins-
vorgänge. Ich kann z. B. eine eingeübte Bewegung ausführen, während
meine ganze psychische Energie anderweitig absorbirt ist, d. h. ohne
dass mir die Ausführung der Bewegung zum Bewusstsein kommt. loh
bin berechtigt, in solchen Fällen anzunehmen, dass der materielle Vor-
Normalpsychologische Einleitnag in die Psychopathologie der Hysterie. SU
gaDg, der einer bewussten Ausführung dieser Bewegung parallel geht^
auch während der unbewussten Vollziehung stattfand, ohne eine quali-
tative Aenderung zu zeigen. Es giebt also Phänomene, die nur in der
Form von materiellen Parallelvorgängen ohne „psychisches Correlat"
{=r bewusste Begleiterscheinung) auftreten, also unbewusst bleiben, ob-
gleich sie sich in der physiologischen Betrachtung (= von der materi-
ellen Seite aus) von den bewussten wahrscheinlich nur in ihrer Inten-
sität unterscheiden. Wo wir also im Folgenden von einem materiellen
Parallelvorgang oder einer rein physiologischen Existenz sprechen, soll
damit angedeutet sein, dass wir ein Geschehen annehmen, das nur in
seiner Intensität von einem zum Bewusstsein kommenden verschieden ist.
§3. Intellectuelleund emotionelle Bewusstseinsbestand-
theile.
Die Elementaranalysen der Bewusstseinserscheinungen fuhren zur
Unterscheidung von zwei Klassen von psychischen Phänomenen: den
„intellectuellen" und den „emotionellen" Erscheinungen.
Die iutellectuellen Erscheinungen (die Empfindungen (Wahr-
nehmungen W u n d t s) und deren Erinnerungsbilder) :
1. werden stets von dem Ich in die Aussenwelt, wozu auch der
Körper mit Einschluss des Gehirns des Ichs gehört, projicirt. Bei der
Wahrnehmung einer Farbe, eines Tons, einer Berührung meiner Haut,
eines Kopfschmerzes, beobachte ich stets, dass ich diese Empfindungen
zu irgend einem Punkte der Aussenwelt in Beziehung setze.
2. lassen sich ihren qualitativen Eigenschaften nach nie so grup-
piren, dass je zwei Gruppen einander entgegengesetzt sind und dabei
durch einen Indiflferenzpunkt in einander übergehen. Der Geschmacks-
qualität stehen nicht eine, sondern wenigstens drei andere Ge-
schroacksqualitäten gegenüber. Da wo wir zwei Gegensätze haben, wie
2. B. bei Hell-Dunkel, giebt es in der Stufenreihe vom Hell zum Dunkel
nicht eine Stufe, wo überhaupt nichts ezistirt, sondern immer ist eine
Empfindung von einem Etwas vorhanden, das mehr hell oder mehr
dunkel ist.
3. sind in ihren materiellen Parallelvorgängen an verschiedene
Hegionen der Hirnrinde gebunden. So sind die der Gesichtsempfindungen
an den Hinterhauptslappen, die der Gehörsempfindtmgen an den
Schläfenlappen geknüpft. Daraus folgt, dass in Folge einer localisirten
Bildungshemmung oder Erkrankung einzelne qualitative Gruppen in-
tellectueller Erscheinungen ausfallen können.
14*
212 Oskar Vogt.
4. treten in zwei ausgeprägt verschiedenen Erscheinungsformen auf:
derjenigen der Empfindungen und derjenigen der Erinnerungsbilder
solcher Empfindungen. Vgl. § 4.
Die emotionellen Erscheinungen oder Gefühle
1. stellen sich dem Ich als absolut subjectiv, ohne alle Beziehung
zu irgend einem Punkte der Auss.enwelt dar. Diese Thatsache ist
nicht so leicht zu beobachten, da sich für gewöhnlich die Gefühle so
eng mit Empfindungen verbinden, dass sich ihre Eigenschaften schwer
erkennen lassen. Kann das gewöhnliche Wachbewusstsein die „Ort-
losigkeit^ der Gefühle nun aber nur abstrahiren, so kann man im ein-
geengten Bewusstsein diese direct beobachten. Hier zeigt sich, dass
das angenehme Moment, das durch einen Ton hervorgerufen wird, nicht
in die Gegend, wohin wir den Ton verlegen, noch ins Ohr, noch in
irgend einen anderen Körpertheil projicirt wird: dass dieses Moment
vielmehr einen rein subjectiven Character hat.
2. lassen sich ihren Qualitäten nach stets zu Paaren gruppiren,
die einen directen Gegensatz zu einander bilden und durch einen In-
difi'erenzpunkt in einander übergehen. Leiseste Berührungen der Haut
sind weder angenehm noch unangenehm. An Intensität zunehmende
Berührungen werden nun zunächst inmier angenehmer. Nimmt die
Intensität weiter zu, dann nimmt das angenehme Moment wieder ab.
Bei einer ganz bestimmten Intensität beobachtet man weder ein ange-
nehmes, noch ein unangenehmes Gefühl. Wir haben den Indifferenz-
oder Nullpunkt erreicht. Bei weiterer Intensität tritt nun das unan-
genehme Gefühl auf. Wie so dem Angenehmen (Wundts Lust) das
unangenehme (Wundts Unlust) gegenübersteht, so bilden weitere
Gegensätze das hebende und das verstimmende Gefühl (Wundts Er-
regung und Beruhigung), das spannende und lösende, das der Activität
(der Thätigkeit) und das der Passivität.
3. sind in ihren verschiedenen Qualitätenpaaren nicht an die
Functionen bestimmter Partieen des Centralnervensystems gebunden.
Dieses können wir daraus schliessen, dass die Pathologie niemals den
isolirten Schwund eines der erwähnten Gefühlspaare nachgewiesen hat.
Es handelt sich in allen pathologischen Fällen inmier nur um die Ver-
schiebung zu Gunsten der einen der beiden entgegengesetzten Gefühle,
4. zeigen keine Differenzirung, welche derjenigen der intellectuellen
Erscheinungen in Empfindungen und Vorstellungen analog wäre.
Normalpsycholofjrische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 213
§ 4. EintheiluQg der intellectaelIeD Erscheinungen.
Die intellectuellen Elemente zerfallen in Empfindungen (Wahr-
nehmungen) und deren Erinnerungsbilder.
I. Die Empfindungen
1. zeigen sinnliche Lebhaftigkeit. Die unmittelbare Wahrnehmung
einer Farbe und die Erinnerung an diese Wahrnehmung zeigen nicht
die gleiche Deutlichkeit. Wir bezeichnen jene Deutlichkeit, die den
unmittelbaren Wahrnehmungen eigen ist, als sinnliche Lebhaftigkeit.
2. ziehen in ausgeprägtem Maasse die Aufmerksamkeit des Subjectes
auf sich. Wenn wir uns auf irgend etwas concentriren wollen, während
um uns herum starker Lärm ist, so „stört" uns dieser an jener Con-
centration. Das heisst aber nichts anderes, als dass die durch die
Lärmreize ausgelösten Empfindungen gegen unseren Willen unsere Auf-
merksamkeit auf sich ziehen. Dieselbe Erscheinuog beobachten wir,
wenn wir uns der Wahrnehmung einer complexen Empfindung, z. B.
derjenigen eines Gemäldes hingeben. Die einzelnen Theile des Ge-
mäldes ziehen ihrerseits unsere Aufmerksamkeit an, sie leiten dieselbe.
3. werden in engem Zusammenhang damit immittelbar auf die
Aussenwelt bezogen. Wo immer wir eine Empfindung haben, ziehen
wir aus ihr den Schluss, dass ausser unserem Ich etwas existirt, welches
diese Empfindung in uns auslöst. Dabei führt uns zu diesem Schluss
entschieden viel weniger die sinnliche Lebhaftigkeit der Empfindung
als vielmehr der Umstand, dass wir unsere Aufmerksamkeit durch
etwas ausser unserem Willen Befindliches angezogen fühlen.
4. sind in Folge ihrer Entstehung durch periphere ßeize insofern
objectiv, als alle Personen, die sich unter den gleichen Wahmehmungs-
bedingungen befinden, dieselben Empfindungen haben. Meine Nachbarn
im Theater werden z. B., wenn sie mein Sehvermögen haben, auch
die gleichen Empfindungen von den Vorgängen der Bühne haben.
IL Die Erinnerungsbilder insgesammt unterscheiden sich von den
Empfindungen in Punkt 4. Ihnen geht in Folge ihrer centralen Erregung
der objective Gharacter ab. Bei mir ruft eine Empfindung associativ
ein anderes Erinnerungsbild wach als bei irgend einer anderen Person.
Die Erinnerungsbilder selbst zerfallen wieder in Vorstellungen,
Hallucinationen und Illusionen.
Die Vorstellungen
1. zeigen eine individuell verschieden intensive, aber meist keine
absolut sinnliche Lebhaftigkeit. Wenn wir eine grössere Reihe von
Personen nach der Lebhaftigkeit ihrer Vorstellungen fragen, so wird
214 Oskar Vogt.
der grössere Theil von vornherein ihren Vorstellungen die sinnliche
Lebhaftigkeit absprechen. Vom kleineren Theil werden die meisten
sich sinnlich lebhaft einzelne Objecte in der Luft, d. h. in einem Milieu,
das selbst kein Gesichtsbild hervorruft, vorstellen können. Bei nur
wenigen wird die sinnliche Lebhaftigkeit soweit gehen, dass sie so leb-
haft etwa eine Person auf einem realen Stuhl sitzend sich vorstellen
können, dass die Theile des Stuhles, die verdeckt werden würden, wenn
die Person wirklich da sässe, nicht mehr wahrgenommen werden. Eine
sogenannte negative Hallucination vollends, d. h. sich Luft an Stelle
eines Objectes vorzustellen, so dass dieses überhaupt nicht mehr wahr-
genonmien wird, aber auch nichts anderes an seine Stelle tritt, liegt
nach meinen Erfahrungen nicht mehr im Bereiche des Normalen.
2. ziehen in weit weniger ausgeprägtem Maasse die Aufmerksamkeit
des Subjectes auf sich.
3. werden nicht unmittelbar auf die Aussenwelt bezogen. Soweit
sie dabei direct als Wiederholungen früherer Einwirkungen der Aussen-
welt aufgefiftsst werden, stellen sie Erinnerungsbilder im engeren
Sinne des Wortes dar. Wenn ich eines Freundes gedenke und das
visuelle Bild seiner Physiognomie in meinem Bewusstsein auftaucht, so
habe ich bei dem Be\vu8stwerden dieser Vorstellung zugleich die Idee,
dass diese Vorstellung eine weniger deutliche Wiederholung jenes Ein-
druckes ist, den das Gesicht meines Freundes früher in mir hervor-
gerufen hat. In anderen Fällen sind wir uns bewusst, dass eine
Vorstellung in der gegenwärtigen elementaren Zusammensetzung sich
nicht auf ein Object bezieht, das in der Aussenwelt existirt hat. Es
handelt sich dann um ein Phantasiebild. Ich erinnere schliesslich
an eine letzte Gruppe von Vorstellungen, den Zielvorstellungen.
Ihr Inhalt ist der von dem zukünftigen Eintreten irgend eines psycho-
physiologischen Geschehens. Vor der Ausführung einer Handlung stelle
ich mir durch Combination von Eriimerungselementen früherer Erleb-
nisse das Resultat der ausgeführten Handlung im Geiste vor. Eine
andere Gruppe von Zielvorstellungen lösen die Suggestionserscheinungen
aus. Vgl. § 9.
Die Hallucinationen
1. zeigen sinnliche Lebhaftigkeit,
2. ziehen in ausgeprägtem Maasse die Aufinerksamkeit des Subjects
auf sich.
3. werden (falschlicher Weise) unmittelbar auf die Aussenwelt
bezogen.
Kormalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 216
Die Illusioiien unterscheiden sich nur dadurch von den Hallu-
cinationen (und darin weiterhin von allen Vorstellungen), dass sie bis
zu gewissem Grade objectiv sind. Sie werden durch einen thatsäch-
lichen Sinnesreiz ausgelöst. Aber das Verhältniss der Illusion zu
dem sie auslösenden Sinnesreiz ist nicht das allgemein gültige. Der
Sinnesreiz hat nicht die ihm „adäquate^' Empfindung hervorgerufen.
Wenn jemand ruhig im Bett liegt und träumt, Schlittschuh zu laufen,
so ist das eine Traumhallucination. Wenn man dagegen in der Nähe
eines Schlafeuden hämmert und die durch diese Hammerschläge im
Schlafenden ausgelösten Sinnesreize das Erinnerungsbild von Kanonen-
schüssen sinnlich lebhaft hervorrufen, dann handelt es sich um eine
Illusion.
§.5. Associativ ausgelöste und frei aufsteigende Er-
innerungsbilder.
Die Erinnerungsbilder (im weiteren Sinne des Wortes) werden ent-
weder durch vorangegangene Empfindungen oder Erinnerungsbilder
„associativ" angeregt oder aber sie treten anscheinend ohne diesen
Grund „frei" im Bewusstsein auf. Hier muss nun bemerkt werden,
dass die geübte Selbstbeobachtung, und speciell die durch Einengung
des Bewusstseins verschärfte die Zahl solcher anscheinend frei auf-
steigender Erinnerungsbilder sehr einschränkt, indem sie nachweist, dass
ein Erinnerungsbild durch eine vorangegangene intellectuelle Erscheinung
angeregt war, die ihrerseits nur ganz dunkelbewusst war oder für das
Wachbewusstsein überhaupt nur als physiologischer Process existirt
hatte. Ich kann das Vorkommen solcher rein physiologisch bedingter
Associationen auch mit Hülfe von Suggestionen direct demonstriren.
Ich gebe A. einerseits die Suggestion, dass bei jeder Berührung des
rechten Armes in ihm die Vorstellung einer rothen Farbe auftauchen
solle und andererseits mache ich den rechten Arm anästhetisch. Be-
rühre ich jetzt den Arm, so empfindet A. nicht die Berührung trotz
darauf eingestellter Aufmerksamkeit, aber bei jeder meiner nicht von
A. empfundenen Berührungen tritt doch die Vorstellung von der rothen
Farbe in A auf.
Die associativen Vorgänge selbst kommen dadurch zu Stande, dass
die Vorstellung B., welche durch die intellectuelle Erscheinung A. hervor-
gerufen wird, mit A. gewisse Elemente gemeinsam hatte. Die gemein-
samen Elemente erregen dann die anderen elementaren Bestandtheile
von B., weil diese gesammten Elemente früher zu gleicher Zeit
216 Oskar Vogt
oder in unmittelbarer zeitlicher Folge aufgetreten waren.
So löst ein rothes Tuch das Erinnerungsbild einer rothen Hose ans.
Die gemeinsamen Bestandtheile der beiden intellectuellen Elemente ist
die rothe Farbe. Die rothe Farbe war aber früher im Ge8ammd)ild
der rothen Rose im Bewusstsein aufgetreten. Es ist also das zeitliche
Moment; das gemeinsame oder direct auf einander folgende Auftreten
im Bewusstsein, welches die Grundlage zu späterer associativer Er-
regung von Erinnerungsbildern schafft.
Es zeigt sich nun überall, dass solche associative Verknüpfungen
um so fester sind, je geringer die Zahl in einem Moment vorhandener
intellectueller Elemente ist. Die längere Wirksamkeit der Suggestionen
in der Hypnose beruhen ja darauf, dass in der Hypnose der Umfang
des Bewusstseins und damit die Complexität der intellectuellen Er-
scheinungen eingeengt ist und so länger dauernde associative Ver-
knüpfungen geschaffen werden. Aehnliche Beobachtungen zeigt die
Psychologie des Traumlebens. Habe ich am Morgen einer Velociped-
tour nur einfach die Idee gehabt, ich könnte während der Fahrt fallen,
so wirkt dieser Umstand viel weniger hemmend, d. h. jene Idee wird
während der Fahrt weniger stark und weniger oft associativ ausgelöst,
als wenn mir in der Nacht geträumt hat, ich wäre vom Velociped ge*
fallen. Und diese Hemmungsvorstellung wird um so stärker und nach-
haltiger associativ hervorgerufen, je tiefer der Schlaf der übrigen Be-
wusstseinselemente während des Traumes, d. h. je eingeengter das Be-
wusstsein war. Es ist das eine Erfahrung, die uns zum Theil die
Starrheit der Associationen der Hysterischen verständlich machen wird.
Unter den Formen, in denen uns die Associationsproducte ent-
gegentreten, müssen wir speciell eine besonders erwähnen. Eis ist die
des Cont raste s. Ich erzähle P. eine unwahrscheinliche Geschichte.
P. nimmt sie nun nicht einfach für wahr hin, sondern ihm kommt die
,.OoDtrastvorstellung", die Geschichte sei unwahr. Diese Contrast-
Vorstellung hindert P., der Geschichte einfach Glauben zu schenken.
So wird — und das ist aligemein der Fall — die Contrastvorstellong
zur ,.Hemmungs Vorstellung^ derjenigen, durch welche sie her-
vorgerufen wurde. Ich gebe N. eine Suggestion. N. hat aber die
Contrastvorstellung, die Suggestion könne sich nicht realisiren: und
siehe da! die Suggestion realisirt sich nicht. Ich will eine Handlang
besonders gut ausführen, aber diese Zielvorstelluug ruft die Contrast-
vorstellung wach, dass es mir nicht gelingen werde, meine Absicht aas-
zufuhren, und hemmt so die Realisation der Zielvorstellung.
Normalpsycho logische EinleituDg in die Psychopathologie der Hysterie. 217
Solche Contriistvorstellungen spielen in dem Bewustsein jedes
Menseben eine grosse Rolle: eine Rolle, die besonders dann hervor-
tritt, wenn solche Contrastvorstellungen von starken Gefühlen begleitet
sind. Vgl. § 11.
*
§ 6. Das intellectnelle Substrat der Gefühle.
Jedes Gefühl ist an eine intellectnelle Erscheinung gebunden.
Letztere stellt sein „intellectuelles Substrat" dar. Wo wir
ein angenehmes Moment im Bewusstsein beobachten, werden wir auch
meist ein dazu gehöriges intellectuelles Substrat in uns entdecken.
Diese Zugehörigkeit giebt sich dadurch kund, dass die Zunahme oder
Abnahme der Bewusstseinsbeleuchtung des intellectuellen Substrats
im Allgemeinen auch eine proportionale Veränderung jenes Gefühls
veranlasst. Ich trete aus einem kalten Baum in ein geheiztes Zimmer.
Die Empfindung der Wärme zieht zunächst lebhaft meine Aufmerk-
samkeit auf sich. Gleichzeitig beobachte ich ein ausgeprägt angenehmes
Gefühl in mir. Allmählich gewöhne ich mich aber an die Wärme.
Die Empfindung der Wärme tritt im Bewusstsein zurück und mit ihr
jenes Gefühl. Stelle ich nun aber willkürlich meine Aufmerksamkeit
auf die Wärme ein, so nimmt diese Empfindung wieder an Bewusstseins-
beleuchtung zu. Gleichzeitig beobachte ich aber eine entsprechende
Zunahme des angenehmen Gefühles.
Wenn ich des Weiteren von einem „Grunde" meiner Befürchtung,
einer „Ursache" meines Schreckens oder vom „Ziel" meiner Willens-
bethätigung spreche, so handelt es sich dann immer um nichts anderes
als solche intellectnelle Substrate.
Diese intellectuellen Substrate brauchen nun nicht stets, wenn ihr
Gefühl im Mittelpunkt unseres Bewusstseins steht, ebenfalls klar be-
wusst zu sein. Sie können dunkelbewusst sein, ja sie können nur als
materieller Parallelvorgang existiren. Im letzteren Falle sind sie da-
durch erkennbar, dass sie im Zustand des geeigneten systematischen
partiellen Wachseins über die Schwelle des Bewusstseins zu erheben
sind. Ich hypnotisire z. B. W. und suggerire ihm einen lächerlichen
Traum. Während des Traumes wecke ich W. dann plötzlich. Hatte
der Schlaf eine bestimmte Tiefe erreicht, so ergiebt sich, dass W. sich
beim Erwachen heiter aufgelegt zeigt und lacht. Auf die Frage nach
dem Grunde der Heiterkeit giebt er an, sie nicht begründen zu können.
Der intellectnelle Trauminhalt ist ihm also zur Zeit nicht bewusst.
Enge ich nun suggestiv sein Bewusstsein ein und steigere ich so die
218 Oskar Vogt.
ConcentratioDsfähigkeit seiner Aufmerksamkeit, so erkennt W. jetzt
unter gleichzeitiger Zunahme der Heiterkeit deren ursächliche Be-
gründung durch den Trauminhalt : d. h. er erhebt jetzt das intellectuelle
Substrat der Heiterkeit über die Schwelle des Bewusstseins.
Damit aber das Gefühl ohne sein intellectuelles Substrat ins Be-
wusstsein treten kann, muss eine Bedingung erfüllt sein. Dieses intellec-
tuelle Substrat muss zuvor öfter bereits im Bewusstsein gewesen sein.
§ 7. Die Folge Wirkungen der Gefühle.
Wo immer ein Gefühl auftritt, zieht dieses secundäre Veränderungen
des augenblicklichen Erregungszustanc^es des Centralnervensystems
nach sich.
Diese „secundärenlnnervationsänderungen** beeinflussen
einerseits in einer für die einzelnen Gefühle specifischen Weise den
weiteren Inhalt des Bewusstseins. Es sind dies die psychischen
Folge Wirkungen der Gefühle. Sobald ich z. B. meine Aufmerk-
samkeit auf eine Bewusstseinserscheinung einstelle, nimmt diese an
Klarheit zu. Hierher gehört auch die Thatsache, dass Heiterkeit
meinen Voratellungsablauf beschleunigt, dass der Zorn mir jene Vor^
Stellungen hemmt, die mir die Selbstbeherrschung geben sollen.
Neben diesen centralen Innervationsänderungen giebt es nun
andererseits im Anschluss an das Auftreten von Gefühlen Abflüsse von
nervöser Energie in periphere Organe. Es handelt sich hier um die
körperlichen Rückwirkungen. Diese stellen Aenderuugen in
der Inneration des Blutgefässsystoms, der Athmung, der Skeletmusku-
latur etc. dar. Ich will nur an das Erbleichen beim Schreck er-
innern.
Diese körperlichen Rückwirkungen lösen nun zum Theil ihrerseits
wieder Empfindungen aus: secundäre Organempf iudungen.
Das als Gefühlswirkung auftretende Herzklopfen führt zur Empfindung
des Herzklopfens. Muskelcontractionen, die der Concentration der
Aufinerksamkeit folgen, führen zu Spannungsempfindungen.
Es stellt sich somit der vollständige Bewusstseinscomplex eines
Gefühls dar als:
intellectuelles Substrat -j- Gefühl -f- secundäre Innervationsänderung
mit ihrer psychischen Aeusserung (psychischer Folge Wirkung -f- secun-
därer Organempfindung).
Es ist nun für uns wichtig, zu constatiren, dass ebenso wie das
Gefühl eine stärkere Bewusstseinsbeleuchtung haben kann als sein
Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 219
Substrat, die psychische Aeusserung der Innervationsänderuog stark
hervortreten kann, während das Gefühl dunkelbewusst oder gar un-
bewusst bleibt. Wiederhole ich das obige Experiment mit W. und
gebe ihm bei etwas grösserer Einengung des Bewusstseins die Suggestion
des lächerlichen Traumes, so kann ich erreichen, dass W. beim plötz-
lichen Erwecktwerden in sich einen „grundlosen" Trieb zum Lachen
ohne jede Spur von Heiterkeit constatirt. Hier deckt dann natürlich
die Selbsbeobachtung im eingeengten Bewusstsein neben dem intellec-
tuellen Substrat auch das heitere Gefühl auf.
§ 8. Eintheilung der Gefühle.
Unter den Gefühlen zeichnet sich ein Paar dadurch aus, dass es
mehr als alle anderen Gefühle als Ausdruck des allgemeinen
Bewusstseinszustandes aufzufassen ist. Es sind dieses die Ge-
fühle der Activität und Passivität. Sie geben sich kund in dem Phä-
nomen der activen und passiven Aufmerksamkeit.
Die übrigen Gefühle sind dadurch characterisirt, dass ihr Auftreten
durch die Eigenschaften ihres intellectuellen Substrates
wesentlich mit bestimmt wird. Sie stellen die Gefühlstöne ihrer
intellectuellen Substrate dar.
Ob ein zur Zeit noch unbewusster materieller Parallelvorgang die
passive und weiterhin die active Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird,
hängt vor Allem vom allgemeinen Bewusstseinszustande ab. Wenn ich
intensiv meine Aufmerksamkeit auf etwas concentrire, werden Reize
der Aussenwelt ihrerseits nicht meine Aufmerksamkeit auf sich
ziehen, die bei geringerer anderweitiger Ablenkung meiner Aufmerk-
samkeit es sicherlich gethan hätten. Andererseits kann jede beliebige
intellectuelle Erscheinung das Substrat der passiven, wie der activen
Aufmerksamkeit werden. Zu Zeiten, wo mein Bewusstsein von anderen
Erscheinungen leer ist, schiessen mir z. B. Erinnerungsbilder durch
den Kopf oder nehmen mich Träumereien gefangen, die in anderen
Momenten nicht über die Schwelle des Bewusstseins kommen würden.
Das Gegenstück bilden die Bedingungen für die übrigen Gefühle.
Es hängt besonders vom Inhalt einer Nachricht ab, ob sie mich heiter
oder traurig stimmt. Es ist in erster Linie die Intensität, die den
Grad des Unangenehmen eines Schmerzes bestimmt. Ebenso liegt es
vor Allem in den Eigenschaften des intellectuellen Substrates, ob dieses
einen Schrecken, eine Angst, eine Hoffnung auslöst.
220 Oskar Vogt
§9. Aufmerksamkeit, WillenshandluDg und Suggestions-
erscheinung.
I. Die Selbstbeobachtung lehrt, dass nur immer eine sehr wenig
complexe Bewusstseinserscheiuung in einem gegebenen Moment klar
bewusst sein kann. Ein anderes Bewusstseinsphänomen kann darauf
erst dann klar bewusst werden, wenn das erstere diese Beleuchtung
eingebüsst hat. Wir können so von einer ihre Objecte beständig
wechselnden Bewusstseinsbeleuchtung sprechen. Dieses Phänomen stellt
das der Aufmerksamkeit dar.
Mit diesem Phänomen verbindet sich nun entweder das Gefühl der
Passivität oder das der Activität. Zieht eine Bewusstseinserscheinung
ihrerseits unsere Aufmerksamkeit auf sich, dann haben wir es mit der
passiven Aufmerksamkeit zu thun. Richten wir unsere Aufmerk-
samkeit auf etwas, dann tritt das Activität sgefühl in Erscheinung: es
handelt sich um die active Aufmerksamkeit.
Dabei lehrt die genaue Selbstbeobachtimg, eventuell durch Ein-
engung des Bewusstseins unterstützt, dass jede Bewusstseinserscheinung
auf dem Wege zur klaren Bewusstseinsbeleuchtung zunächst das Substrat
der passiven und dann das der activen Aufmerksamkeit bildet. Im Gegen-
satz zur passiven Aufmerksamkeit zeigt die active eine stärkere Con-
centration der Bewusstseinsbeleuchtung an. Dieses Verhältniss lässt
sich näher noch dahin präcisiren, dass keine Bewusstseinserscheinung
klar bewusst werden kann, ohne gleichzeitig Substrat der activen Auf-
merksamkeit zu sein. Andererseits kann sich die active Aufmerksam-
keit aber nur solchen Objecten zuwenden, die zuvor solche der passiven
Aufmerksamkeit gebildet haben.
Nehmen wir zur lUustriruug dieser Sätze zwei extreme Beispiele!
1. Während ich über ein Problem nachdenke, stört mich immer
wieder eine Schmerzempfindung. Das sich bei jeder einzelnen Störung
abspielende Aufmerksamkeitsphänomen ist Folgendes. Die Schmerz-
empfindung sucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Früher
oder später gebe ich nach. Die Schmerzempfindung tritt jetzt in den
Mittelpunkt des Bewusstseins. Aber gleichzeitig ist an Stelle des
passiven Gefühls das active getreten. Das Moment des Nachgebens
bildete hier den Wendepunkt.
2. Ich will mir den Namen einer Pflanze in mein Bewusstsein zu-
rückrufen. Beobachte ich mich dabei, so ergiebt sich, dass bald dieses,
bald jenes Erinnerungsbild, zunächst passiv meine Aufmerksamkeit auf
sich zieht, auf diese Weise dunkelbewusst wird und dann die Ver-
Normalp sychologis che Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 221
anlassuDg giebt, dass sich meine active Aufmerksamkeit ihm zuwendet.
Die Substrate der passiven Aufinerksamkeit lenken auch hier die active
Aufmerksamkeit. Aber die Intensität des activen Gefühls ist hier eine
viel stärkere, die Rolle der activen Aufmerksamkeit eine viel grössere.
Diese Beispiele stellen die vorkommenden Extreme dar. In beiden
Fällen ist passive und active Aufmerksamkeit beteiligt. Aber diese
Fälle zeigen entgegengesetzte Stärkegrade. Im ersteren Fall zwingt
sozusagen das Substrat der passiven Aufmerksamkeit, die Schmerz-
empfindung, die active Aufmerksamkeit. Im zweiten Fall ist ein solcher
Zwang nicht vorhanden. Im ersteren Fall ist das Substrat der activen
Aufmerksamkeit durch das der passiven von vornherein ziemlich ein-
deutig bestimmt. Im zweiten Fall existirt im Rahmen der directen
Erkennbarkeit eine gewisse Freiheit. Das Substrat der passiven Auf-
merksamkeit hat nicht diesen ausschlaggebenden Einfluss. Im ersten
Fall handelt es sich um die Folgewirkung wesentlich passiver
Aufmerksamkeit, im zweiten um solche wesentlich activer
Aufmerksamkeit.
n. Ueberall nun, wo das active Gefühl auftritt, ist damit jenes
Moment vorhanden, das nach den Resultaten der Selbstbeobachtung
die Aeusserungen unseres „Willens** characterisirt. Die un-
mittelbar durch Substrate der passiven Aufmerksamkeit angezogene
active Aufmerksamkeit stellt die primitivste Form einer Willensäusserung
dar. Eine solche Aeusserung wird zur Willenshandlung, wenn
sich die active Aufmerksamkeit einer Zielvorstellung zuwendet und
deren Realisation herbeiführt. Soweit sich solche Zielvorstellungen auf
Bewegungen beziehen, handelt es sich um „äussere" Willenshandlungen,
soweit sie Denkprocesse zu ihrem Object haben, um „innere".
Die Zielvorstellungen fürWillenshandlungen können nun einer wesent-
lich passiven oder aber einer wesentlich activen Aufmerksamkeit ihren Ur-
sprung verdanken. Imersten Fall sprechen wir von einerTriebhandlung,
im zweiten von einer Willkürhandlung. Wenn eine Beleidigung ohne
alle Contrastvorstellungen die unmittelbare Vorstellung einer rächenden
Handlung hervorruft und diese sich realisirt, so haben wir eine Willens-
bandlung der ersten Gruppe vor uns. Geht dagegen der Ausführung
einer Zielvorstellung eine Auswahl unter mehreren voran, dann gehört
die Gesammterscheinung in die zweite Gruppe. Solche Willkürhand-
langen stellen immer zusammengesetzte Willenshandlungen dar, da die
Auswahl als solche eine in sich abgeschlossene innere Willenshandlung
bildet Die Vorstellungen, auf deren associativer Wirkung die Entstehung
222 Oskar Vogt.
einer Ziel Vorstellung für eine Willenshandlung zurückzufahren ist, be-
zeichnet man als „Motive".
Alle Zielvorstellungen von Willenshaudlungen haben nun nicht
etwa nur die Vorstellung vom zukünftigen Eintritt irgend einer Combi-
nation von Erinnerungsbildern zum Inhalt, sondern zugleich das Moment,
dass der Eintritt durch den Willen, d. h. unter dem Auftreten des
Activitätsgefühls sich vollziehen soll. So enthält also die Ziel-
vorstellung der Willenshandlung als solche das Activi-
tätsgpfühl.
Di(^ Zic'lvorstellung tritt zunächst meist als Gesammtzielyorstellung
auf. So habe ich z. B. die Gesammtzielvorstellung, in der Luft den
Buchstaben U mit dem Finger beschreiben zu wollen. Damit sich nun
diese Gesammtzielyorstellung realisirt, muss ich dann meine active
Aufmerksamkeit den einander folgenden Phasen der Gesammtbewegung,
d. h. den Partialzielvorstellungen, zuwenden. Ich muss an die gegen-
wärtige Lage meines Fingers und meines Armes anknüpfen und daran
nun der Reihe nach die Partialzielvorstellungen anschliessen. Diesen
muss dann die ganze active Aufmerksamkeit zugewandt werden.
Dieser ganze Process wird sich als Bewusstseinserscheinimg ver-
einfachen, je eingeübter er ist. Wie jedes Substrat eines Gefühls, so
kann auch die Zielvorstelluug einer Willenshandlung nur ab materieller
Parallelvorgang existiren (vgl. § 6). Ja auch das Gefühl braucht
nicht hewusst zu werden, damit Folgewirkmigen entstehen, die physio-
logisch Willenshandlungen gleichen (vgl. § 7). Es handelt sich dann
um „automatische Acte." Solche Acte setzen aber stets voraus,
dass die Zielvorstellung bei früheren Gelegenheiten be\\Tisst war. Sie
können sich also nur auf eingeübte Handlungen beziehen, z. B. den
aufrechten Gang, das Klavierspiel eines Virtuosen etc. Uebrigens
glaube ich, dass in diesen Fällen bewusste Momente riel weniger oft
fehlen als man es gewöhnlich annimmt, dass sie vielmehr in manchen
dieser Fällen dunkelbewusst, aber unbeachtet sind.
III. Neben diesen Ziel Vorstellungen der Willenshandlungen giebt
es — wobei üebergänge durchaus nicht fehlen — eine zweite Gruppe
von Ziel Vorstellungen. Es sind dies diejenigen, deren Realisation
Suggestionserscheinungen darstellen. Die Zielvorstellungen
selbst werden als Suggestionen bezeichnet, sei es nun, dass sie sich
realisiren, dass sie suggestive Folgewirkungen oder SuggestioDser-
scheinungen nach sich ziehen, sei es, dass sie mit dieser Absicht hervor-
gerufen, aber ohne suggestive Folgewirkungen geblieben waren.
Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 223
Solche Suggestionen treten als Producte wesentlich passiver Auf-
merksamkeit ins Bewusstsein. Dies geschieht dabei entweder durch
direct äussern Einfluss als associative Folgewirkung einer Sinnes-
empfindung. Wir sprechen dann von Fremdsuggestionen. Oder
aber sie entstehen aus innern Gründen (associativ oder eventuell frei auf-
steigend, vgl. § 5). Wir bezeichnen sie dann als Autosuggestionen.
Dabei haben die hierher gehörigen Zielvorstellungen den Inhalt,
dass sie sich ohne das Auftreten eines ausgesprochen activen Gefühls,
sozusagen ohne das Zuthun dös Ichs, realisiren werden. ^Der Schlaf
wird ganz von selbst auftreten," „Sie werden einfach die Müdigkeit
constatiren," ,.Sie werden Appetit bekommen": das ist der Inhalt von
Fremdsuggestionen. „Oh, wenn ich nur nicht wieder einen Husten-
anfall bekomme" oder „Ich werde ja schon wieder ganz heiss, ich falle
sicher wieder in Ohnmacht" : das sind echte Autosuggestionen. D i e S u g -
gestion enthält ein ausgesprochenes Passivitätsgefühl.
Entsprechend diesem passiven Moment der Zielvorstellung kann
sich diese auch realisiren, ohne dass ihr die active Aufmerksamkeit
speciell zugewandt wird. Die Suggestion realisirt sich, ohne dass sich
ein besonderes Gefühl der Activität bemerkbar macht.
Ein letzter Gegensatz besteht in der verschiednen Häufigkeit der
Realisation der beiden Gruppen von Ziel Vorstellungen. Will eine Person
ihr Bein hochheben, so vollzieht sich auch diese Bewegung. Gebe ich
darauf dieser Person die Suggestion, es würde sich die Beinbewegung
noch einmal wiederholen, aber dieses Mal nicht als Willenshandlung,
sondern ganz spontan, so bleibt die von mir angeregte Zielvorstellung
aller Wahrscheinlichkeit nach ohne entsprechende Folgewirkung. Nur
in ganz vereinzelten Fällen, unter ganz besondern Bedingungen, zu
denen vor Allem eine vorhergehende Einübung gehören würde, würde
sich die Suggestion realisiren. In diesem Sinne können wir sagen, dass
die Ausführung einer Willenshandlung eine normale, die Realisation
einer Suggestion aber eine abnorme Folgewirkung einer entsprechenden
Zielvorstellung darstellt.
Nur der Vollständigkeit halber soll noch erwähnt werden, dass
natürlich auch die Zielvorstellung einer Suggestionserscheinung aus-
schliesslich als physiologischer Vorgang existiren kann.
§ 10. Die Gefühlstöne.
1. Bezüglich der Gefühlstöne der intellectuellen Erscheinungen ist
zunächst festzustellen, dass im Allgemeinen die Erinnerungsbilder die
Gefühlsbetonung der entsprechenden Empfindimgen behalten.
224 Oskar Vogt
2. Es ist dann hervorzuheben, dass man zwischen dem primären
Gefühlston und secuudären associirten Gefühlstönen unter-
scheiden muss.
Jede intellectuelle Erscheinung hat einen primären Gefühlston.
Diesem primären Gefühlston können sich secundäre associiren. Die
Association von Gefühlstönen kommt immer nur durch die Association
entsprechend gefühlsbetonter intellectueller Erscheinungen zu Stande.
Zwischen den intellectuellen Erscheinungen A. und B. ist eine enge
associative Verknüpfung entstanden. Tritt A. ins Bewusstsein, so ruft
es jetzt sofort auch B. wach. Die Gefühlstöne von A. und B. ver-
schmelzen dabei zu einem Totalgefühl. Bei öfterer Wiederholung dieses
Vorkommnisses wird — wenn die Aufmerksamkeit sich nicht weiter
auf B. richtet — B. immer weniger bewusst, ohne dass deshalb (vgl,
§ 6) sein Gefühlston im gleichen Maasse an Bewusstseinsbeleuchtung
abnimmt. Auf diese Weise ändert sich das Totalgefühl, das durch A.
hervorgerufen wird, nicht wesentlich. Bei weiteren Erregungen von A.
kann B. fürs Wachbewusstsein nur noch als physiologischer Process
existiren. Der Selbstbeobachtung erscheint dann das Totalgefühl, das
durch A. hervorgerufen wird, nicht anders als ein primärer Gefühlston.
Es ist dann Sache der Selbstbeobachtung im eingeengten Bewusstsein,
ein solches Totalgefühl zu analysiren.
Auf solche Associationen sind alle stärkeren Gefühlstöne zurück-
zuführen. Werden dabei diese Gefühle so stark, dass sie durch ihre
secuudären Innervationsändenmgen den weiteren Bewusstseinsinhalt, sowie
die Skeletmuskulatur beeinflussen, so bezeichnet man sie als Affecte.
§ l\, Beeinflussung des weiteren Bewusstseinsinhalts
durch starke Gefühlstöne.
Unter sonst gleichen Erregungsbedingungen bestimmt die Stärke
der Gefühlsbetonung die Intensität der Bewusstseinsbeleuchtung. Der
Concentration der Bewusstseinsbeleuchtung liegt dabei wohl bald eine
primäre Steigerung der Erregung, bald eine Hemmung des übrigen
Bewusstseinsinhaltes zu Grunde.
Die folgenden Thatsachen sind nur Specialfalle der eben genannten.
1. Von 2 Vorstellungen, die sonst gleich häufig und gleich lange
im Bewusstsein existirt haben, wird die gefählsstärkere lebhafter auf-
treten. Ein Erinnerungsbild wird also um so sinnlich lebhafter sein,
je gefühlsbetonter es ist.
2. Von 2 Vorstellungen, die sonst gleiche Chance im associativen
Nonnalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 225
Wettbewerb haben, wird die gefiihlsstärkere ins Bewusstsein treten.
Wir verstehen so, warum die Erinnerungsbilder von gefühlsstarken Er-
lebnissen öfter im Bewusstsein wieder auftauchen als solche gefühls-
schwacher Empfindungen. Es folgt daraus weiter, dass unter sonst
gleichen Bedingungen das gesammte Bewusstseinsleben um so monotoner
ist, je mehr gefühlsstarke Erlebnisse es durchgemacht hat.
3. Willenshandlungen werden um so leichter ausgeführt, je gefühls-
stärker das Motiv dazu ist.
4. Man kann zwischen „gefühlsschwachen" und „affect-
starken^ Suggestionen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nicht
nur durch die Selbstbeobachtung möglich, sondern die suggestiven Folge-
wirkungen affectstarker Zielvorstelluugen geben sich auch dadurch kund,
dass sie einer Beeinflussung durch anderweitige Zielvorstellungen weit
schwerer zugänglich sind, als die gefühlsschwacher Zielvorstellungen.
Der Realisation der gefühlsschwachen Suggestion liegt die individuell
und temporär stark schwankende „Suggestibilität" zu Grunde,
während die Eealisation einer affectstarken Suggestion neben der Sug-
gestibilität die specifische Wirkung des Affectes als auslösenden Factor
aufweist.
5. Da wo gefühlsstarke Contrastvorstellungen existiren, können
diese direct die Realisation von Willensvorstellungen und Suggestionen
hemmen. Vgl. § 5.
§ 12. Über Hemmungen.
Unter „Hemmung" verstehen wir die Herabsetzung der Erreg-
barkeit einer Bewusstseinserscheinung.
Man kann zwei Stadien in der Intensität einer solchen Hemmung
unterscheiden: das einer leichteren Henmiung entsprechende „Reiz-"
und das einer tieferen Hemmung entsprechende „Lähmungsstadium".
Im Reizstadium ist die Sunmie der von einer Bewusstseinser-
scheinung ausgehenden associativen Anregungen herabgesetzt Es ist
eine „Dissociation" (= verminderte Association) vorhanden. Aber
die Erregbarkeit der gehemmten Bewusstseinserscheinung selbst ist nur
soweit herabgesetzt, dass sie, wenn sie erregt wird, sogar eine abnorm
intensive Erregung zeigt. Diese Übererregurg ist darauf zurückzu-
führen, dass die Verminderung der von dem erregten Bewusstseins-
element ausgehenden associativen Anregungen eine „Stauung" der
Erregung in dem einmal erregten Element veranlasst.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. VIU. 1&
226 Oskar Vogt
Im Lähmungszustand ist eine normal intensive Erregung der
gehemmten Bewusstseinserscheinung nicht mehr möglich.
§ 13. lieber Schlafzustände.
Der Schlaf stellt eine solche Hemmung der Bewusstseinsvor-
gänge dar.
Dabei ist die den natürlichen, wie den suggestiv ausgelösten Schlaf
darstellende „Schlafhemmung" dadurch characterisirt, dass sie:
1. plötzlich auftreten und plötzlich verschwinden kann. Icli er-
innere nur an die plötzliche Einleitung und Unterbrechung einer
Hypnose.
2. durch periphere Beize, soweit diese nicht durch ihre Einförmig-
keit oder associativ im ent>;egengesetzten Sinne wirken, vermiudert oder
aufgehoben wird. Es sei nur des Aufweckens durch Anrufen oder
durch Aufiütteln gedacht.
3. nur eine soweit gehende Herabsetzung der Function darstellt,
dass für die stattfindenden psychophysischen Vorgänge secundär eine
hypnotische Hypermnesie möglich ist. In einer späteren Hypnose kann
sich ein Individuum während eines Schlafes nicht gehörter Worte und
nicht empfundener Berührungen erinnern.
Es laAsen sich nun in Bezug auf die Tiefe und die Ausdehnung
der Schlafhemmung eine Reihe von Unterarten unterscheiden. Das
Reizstadium der Hemmung tritt nur im „oberflächlichen", das
Lähmungsstadium im „tiefen** Schlaf entgegen. Die Schlaf hemmung
kann alle Bewusstseinselemeute befallen. Dann handelt es sich um
einen „allgemeinen" Schlaf. Sie kann aber nur ein Theil der Be-
wusstseinselemeute befallen. Wir sprechen dann von einem „parti-
ellen" Schlaf. Im bewusstlosen Schlaf haben wir es mit einem all-
gemeinen tiefen, im gewöhnlichen Traumzustand mit einem allgemeinen
oberflächlichen, bei hypnagogischen Hallucinationen mit einem parti-
tiellen oberflächlichen, bei dem Nachtwandeln mit einem partiellen tiefen
Schlaf zu thun.
Bei den partiellen Schlafzuständen können wir noch der Locali-
sation der Schlafliemmung entsprechend drei Unterarten unterscheiden.
Die partielle Schlaf hemmung kann ganz „diffuser" Natur sein. Sie
kann „localisirt" sein, d. h. alle diejenigen Bewusstseinselemente
befallen, die in ihren physiologischen Correlaten ein gemeinsames
„Centrum" bilden. Sie kann schliesslich „systematisirt" sein. Sie
betriiFt dann ein logisch verknüpftes System von Bewusstseinselementen.
Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. 827
Die Kehrseite des partiellen Schlafzustandes ist das „partielle
Wachsein" der nicht von der Schlafhemmung befallenen Bewusstseins-
elemente. Wenn ein Teil der Bewusstseinselemente in Schlafhemmung
verfallen ist, so ist die Zahl der im normalen Wachsein möglichen
Associationen vermiudert. Die Zahl der von einem erregten Bewusst-
seinselement ausgehenden associativen Anregungen ist dementsprechend
eingeschränkt. Daraus resultirt dann eine abnorm grosse Erregung,
resp. Erregbarkeit für die wach gebliebenen Bewusstseinselemente: ein
Phänomen, das dem Reizzustand leicht gehemmter Bewusstseinselemente
gleichkommt, sich aber ätiologisch von diesem dadurch unterscheidet,
dass das abnorm erregte Bewusstseinselement selbst nicht gehemmt ist.
Jenes „systematische partielle Wachsein" , in dem alle
die Bewusstseinselemente, die zur Lösung eines gegenwärtigen psycho-
logischen Problems durch die Selbstbeobachtung nötig sind, wach,
dagegen die übrigen Bewusstseinselemente in Schlafhemmung versetzt
sind, ist dasjenige, in dem wir unsere Analysen des „eingeengten"
Bewusstseins vorgenommen haben.
16*
Die neuesten Abhandlungen und Untersuchungen über die
Ermüdung der Schu^ugend.
Zasammengestellt von
Dr. Paul Flettenberg.
Das Grenzgebiet zwischen Psychologie, Physiologie und Pädagogik ist nodi
nicht allzu lange der Betrachtang unterzogen worden. Zwar sind die physiologischen
und psychischen Wirkungen geistiger Arbeit eingehender, wenn auch noch bei
weitem nicht erschöpfend behandelt worden z. B. von Mosso^), Kraepelin*)
und seinen Schülern'), aber doch immer nur in physiologischen Laboratorien an
Erwachsenen. Erst in neuerer Zeit ist auch für die Schule die Bedeutung des fir-
müdungsthemas erkannt worden, uud eine ganze Keihe von Schulhygienikem hat
sich bemüht, auf experimentellem Wege festzustellen, wann die Ermüdung des
Schülers beginnt, wann sie ihr Maximum erreicht, wie Vor- und Nachmittagsunterricht
sie beeinflussen. Aber trotz einer Anzahl recht tüchtiger und eingehender Unter-
suchungen bleibt noch viel weitere Arbeit übrig, um durch Klärung und Ergänzung
der bisherigen Resultate sichere Schlüsse und Anforderungen ansprechen zu können.
Zur Bestimmung der Einwirkung eines längeren Unterrichtes auf den Geistes-
zustand der Schulkinder sind verschiedene Verfahren angewandt worden, die sich
in Bezug auf den Verlauf der Unterrichtsstunde mit Ebbinghaus^) in 2 Haupt-
klassen trennen lassen. In der ersten ist man ausgegangen von einer bestimmten
*) Mosso: Ueber die Gesetze der Ermüdung. Archiv für Physiologie 1890
und: J)ie Ermüdung. -Aus dem Italienischen übersetzt von J. Glinzer. Leipzig,
Hirzel. 1892.
*) Xraepelin: Ueber geistige Arbeit. Jena 1894 und: Zur Hygiene der
Arbeit. Jena 1896.
') Oehrn: Experimentelle Studien zur Individualpsychologie. Psychologische
Arbeiten I pag. 92 — 162. — Bettmann: Ueber die Beeinflussung einfacher ps.
Vorgänge durch körperliche und geistige Arbeit. Psychologische Arbeiten I pag.
152 — 208. — Amberg: Ueber den Einfluss der Arbeitspausen auf die -geistige
Leistungsfähigkeit. Psychol. Arbeiten I pag. 300 — 377.
^) Ebbinghaus: Ueber eine neue Metnode zur Prüfung geistiger Fähigkeiten
und iure Anwendung bei Schulkindern. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie
der Sinnesorgane. Hd. XIII pag. 402.
Die neoMten Abhandlg. u. üntenaohiingen über die Ermüdung d. Schuljugend. 389
einzelnen Art des Unterrichts, hat diese einige Zeit hindurch auf die Kinder wirken
lassen und aus den Ergebnissen dann auf die Wirkung anderer Unterrichtsgegen-
stände und einer grösseren Onterrichtsdauer geschlossen. So hat z. B. Höpfner^)
die Schüler zwei Stunden lange Dictate schreiben lassen und aus dem Ausfall der- ,
selben das Fortschreiten der Ermüdung beurtheilt; analog Burgerstein*) durch
einstündiges elementares Rechnen und Richter') durch einstündige algebraische
Rechnungen oder durch einstündige griechische Formenextemporalien. So werth-
Yoll diese Untersuchungen auch sind, so haben sie dennoch den Nachtheil, dass,
wie Ebbinghausu. A. betonen, „eine Schulstunde im allgemeinen etwas wesentlich
Anderes ist als ein solcher andauernder Rechenversuch oder als ein zwei Stunden
fortgesetztes Dictat^. Man wird daher sicherere, maassgebendere Resultate erzielen,
wenn man den Unterricht so bestehen lässt, wie er durch Stunden- und Lehr-
plan gegeben ist, und sich von Zeit zu Zeit auf geeignete Weise gewissermaassen
Stichproben für die Leistungsfähigkeit yerschafift. Unter den älteren Arbeiten ge-
hören die von Sikorsky^) und Laser'^) dieser zweiten Sauptklasse an.
Für das Verständniss des folgenden wird es nöthig sein, sich den Verlauf
einer solchen Prüfungsarbeit vorzustellen. Anfangs geht die Arbeit stets langsam
▼on statten, der Schüler versteht sich noch nicht recht dazu, er muss sich erst
hineinarbeiten, der Arbeit anpassen. Dann aber wächst die Geschwindigkeit in
dem Maasse, wie er an die Arbeit gewöhnt wird: dieUebung macht sich geltend.
Nun tritt allmählich die Ermüdung ein, zunächst noch verdeckt durch die Uebung,
aber immer mehr und mehr an der Abnahme der Geschwindigkeit und der Güte
der Arbeit bemerkbar; kurz vor dem Ende beflügelt oft die Aussicht auf den nahen
Schluss der Arbeit noch einmal die Thätigkeit des Schülers. Uebung und Ermü-
dung beeinflussen also die Thätigkeit des Schülers am hauptsächlichsten; nebenher
sprechen aber noch viele andere individuelle Factoren mit, wie Gemüthsverfassung,
Character, Aufmerksamkeit, Wille u. s, w. Die beste Methode zur Ermittelung
der geistigen Ermüdung würde nun diejenige sein, welche den Einfluss der Uebung
bei Anfertigung der Prüfungsarbeit möglichst beschränkt, damit die Wirkung der
Ermüdung von Anfang an deutlich hervortritt.
Zur Feststellung der geistigen Ermüdung bei Schülern sind bisher folgende
6 Methoden angewandt worden:
1. Die Dictirmethode. Die Schüler müssen Dictate schreiben und zwar
entweder in ihrer Muttersprache oder auch in einer fremden Sprache. Letzteres
ist namentlich in Gestalt von sogenannten Formenextemporalien in Anwendung
gekommen. Nach Bin et und Henri^) ist diese Methode allen anderen vorzu-
^) Höpfner: Ueber geistige Ermüdung von Schulkindern. Zeitschrift für
Fi. und Ph. der Sinnesorgane. Bd. VI pag. 191—229.
*) Burfferstein: Die Arbeitscurve einer Schulstunde. Zeitschrift für Schul-
gesundheitspflege. 1891.
■) Richter: Unterricht und geistige Ermüdung. Fries und Meier's Lehrproben
und Lehrgänge. Heft 45.
*) Sikorsky: Sur les eflets de la lassitude provoquSe par les travaux in-
tellectuels chez les enfants k Tage scolaire. Annales dliygiäne publique. 1879.
pag. 458—464.
*) Laser: Ueber geistige Ermüdung beim Schulunterrichte. Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege. 1894.
•) Bin et et Henri: La fatigue inteUectuelle. Paris 1898. pag. 332.
830 ^Aul Flettenberg.
ziehen, da eineraeiU die Schüler daran gewöhnt sind Dictate zu schreiben und es
im Wesen des Dictats liegt, dass ein störender Einfloss der Uebung sich weniger
breit macht; andererseits bietet sich bei der Feststellong der Fehler keine Schwie-
rigkeit, wie bei den anderen Methoden. Endlich würde es möglich sein, die Fehler
psychologisch zu ordnen and daraus die psychologische Nator der Ermüdung ab-
zuleiten. Dagegen bringt diese Methode die nicht zu unterschätzende Schwierig-
keit mit sich, bei einer längeren Reihe yon Versuchen die inneren Schwierigkeiten
einer ganzen Gruppe von Dictaten gleich gross zu machen, damit ein Vergleich
der Ergebnisse überhaupt gestattet ist, wenn richtige Resultate verlangt werden.
Hierher gehören die oben erwähnten Arbeiten von Sikorsky, Höpfner, Richter.
2. Die Rechenmethode. Hier hat man gewöhnlich die Schüler Additionen
von 20 stelligen Zahlen und Multiplicationen einer 20 stelligen Zahl mit einer Izifi^
rigen ausführen lassen. Dabei tritt aber die im Lauf der Arbeit erreichte Uebung
so störend auf, dass sie anfangs die Ermüdung ganz und gar verschleiert. Solche
Rechnungen dürfen aber nur während kurzer Zeit verlangt werden; im entgegen-
gesetzten Falle (Burgerstein 1 Stunde) sind sie für den Schüler eine ungewohnte
Thätigkeit, die überdies ausserordentlich einförmig und langweilig wirkt; bald wird
sein Interesse an der Sache, sein Eifer aufhören und einem Widerwillen gegen
diese Arbeit Platz machen, so dass die Fehlerzahl kein deutliches Bild der Eimü-
dung geben kann. In einem Falle sind von den Schülern algebraische Operationen
(EJammemauflÖsen) verlangt worden, wodurch nach der Ansicht des Referenten
allerdings die entsetzliche Monotonie der obigen Rechenaufgaben beseitigt wird,
der nicht zu unterschätzende Einfluss der Uebung bleibt aber auch hier bestehen.
Diese Methode wurde angewandt von Burgerstein, Laser, Richter.
3. Die Methode des Zahlengedächtnisses. Das Zahlengedächtnist
lässt sich auf folgende Weise prüfen. Entweder man giebt den Schülern gedruckte
Zahlenreihen von solcher Länge, dass sie dieselben nicht gleich beim Lesen im
Gedächtniss behalten können, und lässt sie dieselben so lange laut lesen, bis sie
sie endlich fehlerlos wiederholen; die Zahl der nöthigen Wiederholungen lässt auf
die Gedächtnissstärke schliessen ; oder man spricht den Schülern in gewissem Tempo
Zahlenreihen von 6 — 10 Ziffern vor und lässt sie jede nach dem Anhören aus dem
Gedächtniss niederschreiben. Der erste Weg findet sich in der oben angegebenen
Arbeit von Oehrn, bei Schülern ist bisher nur der zweite Weg eingeschlagen
von Ebbinghaus und von diesem selbst als weniger geeignet für Massenexpen*
mente mit wechselnden Lehrern und vollbesetzten Klassen befunden worden, wu
unten weiter erörtert werden wird.
4. Die Combinationsmethode besteht darin, dass die Schüler einen mit
Lücken versehenen Text möglichst schnell, sinnvoll und mit Berücksichtigung der
verlangten Silbenzahl ausfüllen müssen. Bei Besprechung der Ebbinghaus'schoi
Abhandlung wird auch diese von ihm ersonnene Methode eingehender behandelt
werden.
5. Die Methode der Bestimmung der Sensibilität der Haut, zu-
erst von Griessbach angewandt, beruht auf der Beobachtung, dass geistige Er-
müdung das Empfindungsvermögen der Haut vermindert. Die eingehendere Be-
sprechung dieser Methode folgt unten.
6. Die Methode der Bestimmung der Muskelkraft. Schon Moito
hat mit Hülfe seines „Ergographen" durch die Abnahme der Muskelkraft auf die
Die neuesten Abhandig. a. Untersuchungen über die Ermüdung d. Schaljugend. 231
Grösse der geistigen Ermüdung geschlossen. Dieser Apparat besteht aus zwei
Theilen; der eine dient zum Stützen des Armes und der Hand und lässt nur den
Mittelfinger frei, welcher mit einem Gewichte belastet ist. der zweite Theil zeichnet
die periodischen Contractionen des Mittelfingers auf einen rotirenden, berussten
Cylinder als „Ermüdungscurve" nieder. Diese letztere ist unter gleichen Verhält-
nissen und im ausgeruhten Zustande immer dieselbe, durch vorhergehende Arbeits-
leistung — auch geistiger Art — jedoch verändert sie sich, indem die Grösse der
Ordinaten schnell abnimmt. Durch Vergleich dieser Curven lässt sich also auf den
Ermndungszustand schliessen.
^ach diesen einleitenden Worten sollen einige die Ermüdung der Schuljugend
behandelnde Neuerscheinungen eingehender besprochen werden.
Johann Friedrich^ Untersuchungen über die Einflüsse der Arbeits-
dauer und der Arbeitspausen auf die geistige Leistungsfähigkeit
derSchulkinder. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane,
Bd. Xni, 53 Seiten.
Verf. benutzt zu seinen Untersuchungen die Dictir- und die Rechenmethode,
der eigentliche Unterricht bleibt dabei ungestört. Er stellt sich eine dreifache
Aufgabe, indem er zu bestimmen sucht: 1) das Verhältniss des Qualitätsverlaufs
tier Arbeiten zur Arbeitszeit, 2) den Einfluss der gegenwärtig bestehenden Unter-
richtsdauer auf geistige Leistungsfähigkeit der Schulkinder, 3) die Wirkung ein-
geschobener Arbeitspausen. Zu dem Zwecke stellt er seine Untersuchungen zu ver-
schiedenen Zeiten des Unterrichts an. nämlich Vor- und Nachmittag jedes Mal vor
Beginn des Unterrichts und nach Schluss jeder einzelnen Lehrstunde. Dabei waren
der Prüfung wegen die drei Vormittag- respective die zwei Nachmittagstunden
entweder hintereinander ohne jede Pause gehalten, oder es wurden Pausen von
8 oder 15 Minuten, im günstigsten Falle also Vormittags 2 Pausen von 15 Minuten,
Nachmittags 1 Pause von 15 Minuten eingeschoben. Diese Pausen wurden stets
durch Ruhe. Nahrungsaufnahme und Befriedigung körperlicher Bedürfnisse ausgefüllt.
Li einem Falle war die am Nachmittag abgehaltene erste Stunde Turnunterricht.
Es ergaben sich für den Verf. 11 verschiedene Versuchsfälle. Selbstverständlich
&nd an einem Tage immer nur ein Versuch statt, so dass sich die Untersuchungen
über mehrere Wochen ausdehnten, noch dazu, da Verf. sich sowohl der Dictir-
als auch der Rechenmethode bediente. Als Versuchsobjekte benutzte er die 51
Schüler seiner Klasse im Durchschnittsalter von 10 Jahren. Der Unterricht an sich
blieb ganz unberührt, so dass die Untersuchungen der in der Einleitung erwähnten
«weiten Hauptklasse angehören.
Zur Anwendung der Dictirmethode stellte sich Verf. mehrere Dictate zu-
sammen, jedes von 12 Sätzen mit annähernd gleicher Buchstabenzahl (21 — 28) und
alle von gleicher Schwierigkeitsstufe, inhaltlich und formell den Schülern nichts
Neues bietend. Die zum Schreiben des Dictats gegebene Zeit betrug 30 Minuten.
Bei der Correctur der Dictate wurde ein falscher, eingeschobener, ausgelassener
Buchstabe, ebenso wie ein eingeschobenes oder ausgelassenes Wort als ein Fehler
gerechnet. Auch Selbstcorrecturen wurden — allerdings besonders — gezählt,
kalligraphische Verbesserungen dagegen ausser Betracht gelassen. Bei Anwendung
der Bechenmethode wurde den Schülern immer eine Serie von 10 Aufgaben ge-
geben, bei denen eine Addition von zwei 20 stelligen Zahlen und eine Multiplication
232 P*al Plett6nb«rg.
einer solchen mit einer Is teiligen Zahl zwischen 2 und 6 aufeinander folgten.
Die Arbeitszeit betrog hier 20 Minuten. Bei der Correotur wurden Fehlerserien
als 1 Fehler gerechnet, wie es nach Ansicht des Ref. das einzig Richtige ist ; kalli-
graphische Verbesserungen galten nicht als Selbstoorrecturen.
Beide Methoden Hessen dasselbe Resultat erkennen: 1) Was zunächst den in-
neren Verlauf der Arbeiten angeht, so Hessen mit einer einzigen Ausnahme alle
deutlich eine Qualitätsabnahme gegen den Schloss der Arbeit wahrnehmen. Daraus
folgt, dass mit der Zunahme der Arbeitszeit eine Abnahme der QuaHUlt Hand in
Hand geht. 2) In Bezug auf den Einfluss der Unterrichsdauer auf die geistige
Leistungsfähigkeit der Schulkinder zeigte sich, dass der Anzahl der Schulstunden
eine Abnahme der Arbeitsqualität entspricht, d. h. je länger die vorangehende
Anstrengung durch den Unterricht war, je grösser war die Fehlerzahl. Am Schlosse
eines ununterbrochenen dreistündigen Vormittagunterrichtes und eines unonter-
brochenen Naohmittagunterrichtes waren die Leistungen am schwächsten. Beim
Beginn des Nachmittagunterrichtes zeigten die Schüler noch nicht die geistige
Frische wieder wie am Morgen vor dem (Jnterrichtsbeginne, trotzdem sie eine drei-
stündige Pause zur Erholung gehabt hatten. Auch eine Turnstunde verringerte
die geistige Leistungsfähigkeit der Schüler bedeutend; während ein vorher ge-
liefertes Dictat als Fehlersumme 35 oder 0,229 % aufwies, ergab der Versuch nach
der Turnstunde als Fehlersumme 127 oder 0,827 %. 3) Die eingeschobenen Arbeits-*
pausen endHch erwiesen sich durchweg als günstig. Den besten Einfluss übte
die vormittägige Doppelpause.
Aus diesen Resultaten zieht Verf. den Schluss, dass die Frage nach der Kürzong
der gegenwärtig geltenden Unterrichtszeit von 60 Minuten schHesslich doch in be-
friedigender Weise gelöst werden müsse. Er verlangt nach jeder Schulstunde f9r
die Kinder eine Pause von 8— -10 Minuten zu körperHcher und geistiger Erholung,
zu neuer Kraftsammlung für die kommende Stunde. Was dabei an Ausdehnung
des Unterrichts verloren gehe, werde an Intensität gewonnen werden. Auf die
Frage, ob der Nachmittagunterricht vollständig auBniheben sei, geht Verf. nicht
weiter ein, jedoch verlangt er, dass Nachmittags nur leichtere Gegenstände wie
Gesang, Schönschreiben u. s. w. zur Behandlung kommen.
Alle diese Wünsche kann Ref. nur unterstützen, namentlich das Verlangen
nach stündlichen Pausen werden alle Pädagogen nachempfinden; nicht allein die
geistige Ermüdung, sondern auch die Lufternenerung in so angefüllten Classen
lässt uns diese Forderung unumgänglich nothwendig erscheinen. Die Versuche des
Verf. entsprechen den in der obigen Einleitung ausgesprochenen Bedingungen, dass
sie den Stundenplan an und für sich nicht umstossen dürfen; sie sind vielmehr als
Stichproben der Leistungsfähigkeit während des gewöhnlichen Unterrichts zu ge-
wissen Zeiten anzusehen. Auch der Vorwurf fällt weg, dass die verlangte Arbeit
die Schüler zu lange Zeit zu einer für sie interesselosen Thätigkeit zwinge ; vielleicht
hätte die Zeit auch noch auf 15—20 Minuten reducirt werden können, sonst aber
war die Arbeit den sonstigen Leistungen der 10jährigen Schüler durchaus ange-
messen und den sonstigen Classenarbeiten ähnlich. Es wäre demnach gegen diese
Untersuchungen nur der Einwand zu erheben, dass sie sich nur auf die Glasse als
Ganzes, auf die Durchschnittsleistung beschränken, dagegen die Ermüdung des ein-
zelnen Schülers nicht weiter verfolgen; doch wäre bei so überfuUten Classen ein
solches Verfahren auch mit den grössten Schwierigkeiten verknüpft.
Die nenesten Abhandig. u. Untersachungen über die Ermüdung d. Sohi4jagend. 233
H. Ebbinghaus: Ueber eine neue Methode zur Prüfung geistiger
Fähigkeiten und ihre Anwendung bei Schulkindern: Zeitschrift für
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. XIII pag. 401. 60 Seiten.
Verf. benutzt zur Feststellung der geistigen Ermüdung der Schulkinder sowohl
die alte Hechen- sowie die Gedächtnissmethode und eine neue von ihm selbst er-
sonnene^ die Combinationsmethode. Der Unterricht selbst blieb unberührt.
Die Veranlassung zu den Untersuchungen des Verf. gab eine vom Magistrat
der St«dt Breslau im Juli 1895 an die hygienische Section der Schlesischen Gesell-
Schaft für vaterländische Cultur gerichtete Bitte um eine gutachtliche Aeusserung
über den fünfstündlichen Schulunterricht. Die Section erweiterte ihren Kreis durch
Zuziehung einer Anzahl von Medicinern und Schulmännern, und auch der Verf.
als Professor der Psychologie an der Universität Breslau wurde zur Theilnahme
aufgefordert. Die Commission hatte sich dann mit der Wahl einer geeigneten
Methode zu beschäftigen. Aus den schon oben in der Einleitung angegebenen
Gbünden wurde beschlossen, eine solche zu wählen, bei welcher der Unterricht
■einen gewöhnlichen Gang behält, mit welcher vielmehr nur von Zeit zu Zeit durch
ein geeignetes Reagens festgestellt wird, wie der Unterricht bis dahin geistig ge-
wirkt hat. Ab eine solche wurde die Griessbach'sche hingestellt. Aber wegen
der noch zu besprechenden unbekannten Beziehung zwischen geistiger Ermüdung
und der Abstumpfung der Hautsensibilität kam man wieder davon ab und be-
Bchloss die Rechenmethode anzuwenden. Die Commission wollte sich jedoch nicht
auf diese beschränken, sondern der Frage so vielseitig wie nur möglich gegenüber-
treten. Es wurde daher noch die Gedächtnissmethode hinzugenommen. Aber
beide Methoden sind relativ niedere und einseitige Bethätigungen des Geistes und
geben von der eigentlichen Verstandes- und Denkthätigkeit, auf deren Beein-
flussung durch den Schulunterricht es doch wesentlich ankommen würde, kein
rechtes Bild. Um nun auch in dieser Beziehung Klarheit zu gewinnen, ersann
Verf. die Aufgabe, die Lücken eines der Fassungskraft der Schüler angemessenen
Frosatextes möglichst schnell, sinnvoll und mit Berücksichtigung der verlangten
Silbenzahl auszufüllen, also die sogenannte Combinationsmethode,
Die Commission beschloss mit Hülfe dieser drei Methoden eine vergleichende
Vorprüfung anzustellen und damit zugleich die Brauchbarkeit der Gedächtniss-
und Combinationsmethode zu prüfen. Mit Bewilligung der staatlichen und
städtischen Behörden fand diese Prüfung statt an einem Gymnasium und einer
höheren Mädchenschule an drei je 14 Tage auseinander liegenden Mittwochen der
Monate Februar und Wirz 1896.
Die Rechenmethode wurde nach der von Burgerstein eingeführten Art an-
gewandt bei Beginn des Unterrichts und nach jeder Stunde ; die Arbeitszeit betrug
10 Minuten. Bei Anwendung der Gedächtnissmethode wurden den Schülern Reihen
von 6 — 10 Ziffern vorgesagt mit gleichbleibender Geschwindigkeit, und sofort nach
dem Anhören mussten sie dieselben niederschreiben. Dies wurde 6 Minuten lang
fortgesetzt. Für die Combinationsmethode hatte sich Verf. durch Vorversuche
bemüht, die verschiedenen Texte auf denselben Grad durchschnittlicher Schwierig-
keit zu bringen. Auch hier betrug die Arbeitszeit 6 Minuten. Bei der Correctur
wurde folgender Weg eingeschlagen. Bei den Rechenleistungen wurde nicht wie
von Burgerstein verfahren, der jede falsche Ziffer des Resultats einfach als
Fehler rechnete. Auf diese Weise erhält man von den Leistungen der Schüler ein
234 Paul Plettcnberg.
viel zu schlechtes Bild, denn ein thatsächlicU nur einmal gemachter Fehler zieht
sich mit seinen Conseqaenzen darch die ganze Kechnong bis in Ende. In diesen
Fällen ist aber nar der wirkliche Fehler zu rechnen. Bei der GedachtniMmethode
ist einmal einfach abgezählt worden, wie viele von den vorgesagten ZifTerreihen
falsch oder unvollständig niedergeschrieben sind, ohne Rücksicht auf Zahl oder
Art der Fehler. Das andere Hai ist die Art der Fehler berücksichtigt worden,
nämlich ob Ziffern fohlen oder durch falsche ersetzt sind, oder ob sie an &lsche
Stelle gesetzt sind. Dabei wurden ganz vergessene Ziffern als ganze, umgesetste
richtige Ziffern als halbe Fehler gerechnet. Endlich bei der Combinationsmethode
wurde eine übersprungene Silbe als halber Fehler, jede sinnwidrig ausgefüllte l^be
und jeder Verstoss gegen die vorgeschriebene Silbenzahl als ganzer Fehler ge-
rechnet. Die Gesammtsumroe der Fehler wurde von der Brnttozahl der ausge-
füllten Silben abgezogen und der so erhaltene Werth als Maass für das Quantum
der richtig geleisteten Arbeit betrachtet; hatte also ein Schüler 50 Lücken aos-
gefüllt. 10 aber ausgelassen und 20 sinnwidrig, so war 50 — ^% — 20 = 25 das
Quantum seiner Leistung. Zu dieser Art, die Fehler anzurechnen, erlaubt sich Bet
Folgendes zu bemerken. Bei der Gedächtnissmethode ist nichts dagegen einzu-
wenden, halbe und ganze Fehler zu rechnen, nur dürfen beide nachher nicht n
einer Zahl vereinigt, vielmehr getrennt zur Bcurtheilung der Leistungen heran-
gezogen werden ; ebenso bei der Combinationsmethode. Allzu willkürlich erscheint
Ref. ferner, dass die Anzahl der nicht ausgefüllten von der Gesammtsumme der
ausgefüllten Lücken noch einmal abgezogen wurde, auf diese Weise erhält man
Zahlen, die doch der Wirklichkeit nicht entsprechen. Verf. erkennt selbst diese
Mängel an, schreibt ihnen aber practisch nur geringe Bedeutung zu. Nach An-
sicht des Ref. ist es ein besonderer Nachtheil der CombinaUonsmethode, dass die
Silbenausfüllung eines und desselben Textes verschiedene Schwierigkeiten bieten
kann; sie steht darin entschieden der Rechenmethode nach.
Bei 11 — 12000 Einzelleistungcn hat Verf. nicht das ganze eingegangene Material
verwerthen können, sondern sich vorwiegend auf die Unterklassen beschränkt ; seine
Erfahrungen thcilt er als Folgende mit:
I. Ueber die practische Handhabung der drei Methoden. Von allen drei
Methoden gab die Gedächtnissmethode die auffallendsten Resultate; die Fehler-
zahlen nach den einzelnen Stunden schwankten ganz ausserordentlich und konnten
unmöglich durch die Stunden selbst erklärt werden. Vielmehr kommt in erster
Linie die Individualität des Lehrers dabei in Betracht ; der eine spricht laut und
langsam der andere weniger laut und schneller. Femer aber spielt das Verhalten
der Schüler eine grosse Rolle; denn während bei Rechen- und Combinations-
methode die nebeneinander sitzenden Schüler durch die verschiedene Schnelligkeit
des Arbeitens bald auseinandergerissen werden, bleibt bei der Gcdächnissmethode
die Arbeit in jedem Augenblicke dieselbe, so dass Vorsagen, Ablesen u. dergl. bald
einreisst, allerdings nicht bei allen Lehrern gleich, so dass dadurch die starken
Schwankungen in der Felilerzahl sich von selbst erklären. Verf. findet daher diese
Methode für grosse Massenexperimente mit wechselnden Lehrern und vollbesetzten
Klassen nicht geeignet.
Deutlich bemerkbar machte sich bei allen drei Methoden die Tendenz der
Schüler bei längeren und häufig wiederkehrenden Untersuchungen im guten Willen
Die seuestexi Abhandig. u. Untersuchnngen über die ErmüduDg d. Schuljugend. 235
nachzulassen, die Sache nicht mehr ernst zu nehmen und sich über entgegen
tretende Schwierigkeiten durch absichtlichen Unsinn hinwegzuhelfen.
II. Beziehungen der drei Methoden zu geistiger Leistungsfähigkeit. Im
Groesen und Ganzen lässt sich aus den Resultaten ersehen, dass mit zunehmendem
Alter die geistige Leistungsfähigkeit zunimmt, wie von vornherein zu erwarten
.war. Was nun die einzelnen Methoden angeht, so treten die einzelnen Klassen-
leistungen bei der Gombinationsmethode yiel mehr auseinander, als bei den anderen ;
sie eignet sich also zur Feststellung der mittleren Leistungsfähigkeit am besten.
Auch innerhalb einer einzelnen Klasse hat Yerf. dieselbe zu betrachten rer-
sncht, indem er die Schüler nach der Rangordnung in drei Gruppen ordnete, also
die oberen, mittleren und unteren Schüler zusammenfasste und nun die Durch-
■chnittsresultate jeder Gruppe allein berechnete. Dabei fand sich, dass bei An-
wendung der Gedächtnissmethode die Fehlersumme für die drei Gruppen fast ganz
gleich ausfiel; wenn Unterschiede vorhanden waren, so waren sie eher zu Gunsten
der schlechten Gruppe. Daraus folgt Verf., dass das einfache, mechanische Be-
halten und Wiederholen bei den besseren Intelligenzen im Durchschnitt nicht
stärker, sondern eher eine Spur schlechter entwickelt ist, als bei den schlechteren.
Die Rechenmethode zeigte mit nur einer Ausnahme das wunderbare Resultat, dass
zwar das erste Klassendrittel die beste Leistung zu verzeichnen hatte, dass dann
aber das letzte Drittel kam und schliesslich das mittlere mit der grössten Fehler-
zahl. Die Gombinationsmethode endlich zeigte das deutlichste Resultat; die Menge
und die Güte der geleisteten Arbeit nahm vom obersten zum untersten Drittel
jeder Klasse durchweg ab. Hier würden wir also das, was unter geistiger Fähig-
keit zu verstehen ist, wohl am besten illustrirt sehen.
III. Verschiedenheit der Knaben- und Mädchenleistungen. In den untersten
Klassen stehen die Mädchen ausnahmslos bei allen drei Methoden hinter den gleich-
altrigen Knaben zurück. Anders fand Verf. die oberen Klassen beschaffen. Die
oberste Mädchenklasse entsprach der Untersecunda A. Im Rechnen überflügelten
die Mädchen die Knaben nicht unerheblich, dagegen standen sie ihnen in den
anderen beiden Methoden nach. Dies erklärt Verf. durch das verschiedene Lebens-
alter; das der Mädchen betrug im Durchschnitt 15,6, das der Knaben 17 Jahre.
Verglich Verf. die Klassen desselben Durchschnittsalters, nämlich die Obertertia A
mit der ersten Mädchenklasse, so geschah den Knaben, deren Combinations-
leistungen nun denjenigen der Mädchen nachstanden, insofern Unrecht, als sie erst
im fünften, die Mädchen dagegen im sechsten Schuljahre standen. Beim Heran-
siehen der Mittelklasse U II B waren die Resultate ungefähr gleich. Als sicheres
Resultat ist demnach nur das auszusprechen, dass die Mädchen die im 11. Lebens-
jahre bestehende geistige Ueberlegenheit der Knaben im 16. Lebensjahre so gut
wie vollständig eingeholt haben.
rV. Ermüdung. Verf. betont, dass der Ertrag der Untersuchungen ein
rmeherer gewesen wäre, wenn die Wirkungsweise der einzelnen Methoden nicht
unbekannt gewesen wäre. Mit Rücksicht auf die ganzen Umstände, namentlich auf
das bereitwillige Entgegenkommen der königlichen und städtischen Behörden ist
dies sehr zu beklagen und wäre durch vorangegangene Untersuchungen im physio-
logischen Seminare vielleicht zu vermeiden gewesen.
Die Gedächtnissmethode, die schon bei der Feststellung der Leistungsfähigkeit
in Stich gelassen hatte, zeigt sich auch hier unanwendbar, denn nach dem Unter-
236 ^»^ Plettenberg.
richte worden bei ihrer Anwendung weniger Fehler gemacht als Tor demaelben,
was sicherlich nicht Folge eines besseren Gedächtnisses, sondern einzig und allein
der Uebung zuzuschreiben ist. Es machte sich der Uebelstand bemerkbar, dass die
Schüler die vorgesprochene Reihe in Gruppen von 3 — 5 Zahlen zerlegen und so
ihrem Gedächtniss nachhelfen.
Die Rechenmethode liefert dasselbe Ergebniss, welches schon Burgerstein
und Laser gefunden hatten. Die Quantität der Leistungen nimmt anfangs zn nnd
erreicht in der dritten Stunde ihr Maximum, dann bleibt sie entweder nahezu con-
stant, oder fällt wieder um ein Geringes. Doch ist auch hier schwer zu entscheiden,
ob diese Abnahme eine Folge der Ermüdung oder etwa des nachlassenden Interesses
und der entstehenden Langeweile ist. Die Resultate der Combinationsmethode
lassen sieh auch nicht mit Bestimmtheit ven/verthen, da zu den eben erwähnten Punkten
noch hinzukommt, dass die zu verschiedenen Zeiten bearbeiteten Texte vielleicht
nicht von vollkommen gleicher Schwierigkeit war. Sicher lässt sich nur aussprechen«
dass die unteren Klassen als Wirkung des mehrstündigen Unterrichts eine allmählich
und glcichmässig zunehmende Abschwächung ihrer geistigen Leistungsfähigkeit er-
leiden und zwar eine Abschwächung nicht für diese oder jene minderwerthige
geistige Bethätigung. sondern für die eigentliche Verstandesarbeit. Ob nun aber
diese Ermüdung eine schädliche ist, geben uns die Zahlen auch nicht weiter an;
um darüber ein Urtheil zu erhalten, hält es Verf. für nöthig, dieselben Unter-
suchungen einmal nach längeren Ferien und das zweite Mal 6 — 8 Wochen später
anzustellen. Aber es bleibt ihm auch sehr fraglich, ob die fünfte Unterrichtsstunde
wenn nicht schädlich so doch überhaupt nützlich ist und einen Vortheil bietet, der
für das Opfer an Zeit und Kraft auf Seiten der Lehrer wie der Schüler ein an-
gemessenes Aequivalent bildet.
Was die Untersuchungen im Grossen und Ganzen angehen, so sind Fleiss und
Ausdauer, die Verf. für sie geopfert hat, zu bewundern. Leider hat das gesteckte
Ziel nicht erreicht werden können wegen mancher den Methoden anhaftenden
Unzuträglichkeiten. Es ist sehr zu bedauern, dass sich dieselben nicht vorher be*
seifigen Hessen in dem Sinne, wie es Verf. selbst angiebt, so dass die mit Einver-
ständniss der Behörden angestellten Versuche ein abschliessendes Urtheil ergeben
hätten.
H. Grieasbach: Ueber Beziehungen zwischen geistiger Ermüdung
und Empfindungsvermögen der Haut. Archiv für Hygiene Bd. XXIV.
pag 124. 88 Seiten. (Auch separat unter dem Titel: Energetik und Hygiene des
Nervensystems in der Schule. München und Leipzig, Oldenbourg. 1896.)
Verf. lässt, um die durch den Unterricht erzeugte Ermüdung der Schüler zu
bestimmen, den Unterricht selbst ganz unberührt. Von den angegebenen Methoden
wendet er die fünfte an, welche sich auf die Empfindlichkeit der Haut stützt.
In einer Einleitung bespricht Verf. die vor ihm angestellten Versuche und
Methoden, um dann die Auseinandersetzung seiner eigenen Methode anzuschliessen.
Sie fusst auf der von ihm beobachteten, bisher unbekannten Thatsache, dass £Qm-
ermüdung die Sensibilität der Haut herabsetzt. — Wir sind im Stande, Tast-
eindrücke räumlich zu unterscheiden, aber nur in gewesen Grenzen, und dies«
Grenze ist für verschiedene Hautgebiete verschieden. Die ersten diesbezüglichen
Versuche sind von E. H. Weber angestellt, welcher bestimmte, „wie klein die
Die neuesten Abhandlg. u. Untersuchungen über die £rmüdung d. Schi4jngend. 237
Entfernung zweier gleichzeitig die Haut treffenden punktförmigen Eindrj^cke ge-
macht werden kann, ohne dass ihre gesonderte Wahrnehmung aufhört; mit anderen
Worten, welches der minimale Abstand zweier Hautpunkte ist, deren Reizung noch
deutlich verschiedene Ortsvorstellung erweckt/^ Diese Minimalstrecke ist von
Fechner Raumschwelle genannt worden. „Da nun die Aufmerksamkeit im
Augenblicke des Versuchs einen verkleinernden Einfluss auf die Raumschwelle aus-
übt, so ist es sehr begreiflich, dass geistig ermüdete Personen, die mit zunehmender
Abspannung immer weniger Aufmerksamkeit besitzen, eine entsprechende Ver-
grosserung der Raumschwelle zeigen.*' Es ist daher klar, dass man -in der Prüfung
des Empfindungsvermögens der Haut eine neue Methode zur Ermittelung geistiger
Ermüdung hat, vorausgesetzt, dass im Zustande physiologischen Gleichgewichts die
analogen Prüfungen vorgenommen werden, um einen Vergleich und damit ein Maass
der Ermüdung zu ermöglichen.
Verf. benutzte bei seinen Versuchen zweierlei Zirkel, solche mit sehr scharfen
Spitzen und solche mit Kugelspitzen, bei letzteren wurden im Allgemeinen grössere
Werthe erhalten. Um die Au&nerksamkeit während des Versuches rege zu erhalten
und der Gewöhnung an die Reize entgegenzuwirken, berührte er bald mit beiden,
bald nur mit einer Spitze. Da nun an verschiedenen Hautstellen Messungen in der
Längs- und Querrichtung verschiedene Werthe ergaben, diese Verschiedenheit aber
für den Zweck des Verf. nicht weiter ergründet zu werden braucht, so sind alle
Messungen von ihm in der Querrichtung zur Längsachse des Kopfes beziehungs-
weise der Extremitäten genommen worden. Als Versuchsstellen wählte er: Stirn,
Jochbein, Nasenspitze, Roth der Unterlippe, Daumenballen der rechten Hand, Kuppe
des rechten Zeigefingers. Die Hauptzahl der Versuche ist angestellt worden mit
Schülern des Gymnasiums und der Oberrealschule zu Mülhausen im Elsass. „Um
nun aber ein Urtheil darüber zu haben, wie sich die durch die Schule hervor-
gerufene geistige Ermüdung von der bei anderweitiger geistiger Beschäftigung auf-
tretende Himermüdung unterscheidet," dehnte Verf. seine Untersuchungen auch aus
auf Kaufmannslehrlinge, die Vor- und Nachmittag Rechnungen und Correspondenzen
in verschiedenen Sprachen zu erledigen hatten, femer auf junge Männer, die theils
in einer mechanischen Weberei , theils in Maschinenwerkstätten practisch thätig
waren und ihre ganze Aufmerksamkeit dabei auf ihre Arbeit zu concentriren hatten.
Die Thätigkeit aller dieser Personen wurde durchaus unverändert gelassen, da die
Messungen Morgens und Nachmittags vor Beginn und nach Schluss der Arbeit, bei
den Schülern auch nach jeder Lehrstunde vorgenommen wurden. Zur Feststellung
der physiologischen Normen wurde ein arbeitsfreier Tag benutzt. Verf. betont,
dass die von ihm gefundenen Werthe für die physiologischen Normen niedriger
sind als die bisher in der Literatur dafür angegebenen und giebt als Grund dafür
an, dass geistige Ermüdung bei den früheren Untersuchungen über den Raumsinn
nicht berücksichtigt wurde. Im Uebrigen findet er bei Schülern zwischen dem 11. und
19. Lebensjahre nur geringe Unterschiede für diese Normen.
Aus den für die Messungen an Schülern gegebenen Tabellen ersehen wir nun
Folgendes. In vielen Fällen, namentlich in den mittleren und oberen Klassen, sind
die Werthe vor dem Beginn des Unterrichts um 7 Uhr noch über der normalen
Grösse, was zu der Vermuthung führt, dass in solchen Fällen die Scblafzeit eine
unzureichende war. Nach jeder Stunde nahmen die Werthe im Allgemeinen zu,
so dass also die Erholungspausen nicht ausreichten; oft war selbst nach der zwei-
238 ^*ul Plettenberg.
ständigen Mittagspause um 2 Uhr Nachmittags die nonnale SeDsibilität noch niobt
zurückgekehrt, so dass die Raumschwelle wahrend des Nachmittagsunterrichtes ihreo
höchsten Werth erreichte. In einzelnen Fällen nahm sie um das Dreifache, in einen
sogar um das Fünffache zu. Die grösste Ermüdung trat schon nach der ersten
Stunde ein, wenn eine Klassenarbeit in ihr geschrieben wurde, und sie blieb dann
ziemlich gleichmässig bis zum Ende des Unterrichts bestehen. Es zeigt sich ferner,
dass auch die Turnstunde nicht nur keine Erholung, sondern ziemlich bedeutende
Ermüdung gebracht bat. Der Unterrichtsstoff sowie auch die Behandlung dewelben
zeigte sich nicht ohne Einfluss auf die geistige Ermüdung, denn diese war am b^
deutendsten nach dem Unterrichte in den alten Sprachen, in der Geschichte nnd in
den mathematischen Fächern und um so stärker, je mehr Gedächtnissleistungen Ter-
langt wurden. Es scheint daher dem Verf. eine weise Vertheilung der Unterrichtt-
fächcr geboten.
Diesen an Schülern gemachten Erfahrungen gegenüber zeigte sich die geistige
Ermüdung bei Kaufmannslehrlingen. Schülern der Weberschule und Volontairen der
Maschinenfabrik verschwindend klein, für Morgens 7 Uhr und Mittags 2 Uhr waren
die Wertlie mit den physiologischen Normalen fa9t identisch.
Auf Grund der Thatsacbe, dass bei den jetzigen Verhältnissen das müde Ge-
hirn von der Schule aufs Neue in Anspruch genommen wird, ehe es sich Tollstandig
erholt hat, und dass dies auf die Dauer nur zu ernster Schädigung der G^esondheit
führen kann, folgert Verf., „dass kein Schulknabe und selbst kein Erwachsener ohne
Gefahr ilir seine Gesundheit Tag ein Tag aus geistig so lange zu arbeiten im
Stande ist. wie es der heutige höhere Unterricht bei strenger Durchfohrong er-
heischt!" In Folge dessen verlangt Verf., und Ref. schliesst sich ihm darin toII
an, zunächst Abschaffung des wissenschaftlichen Nachmittagsunterrichtes, wie et im
Gymnasium zu Mülhausen der Fall ist; eine täglich dreimalige Beanspruchung des
Gehirns seitens der Schule — die Anfertigung der häuslichen Arbeiten wurde die
dritte sein — würde auf diese Weise vermieden. Gymnastische Uebung^n und
Tumspiele mögen den Nachmittag ausfüllen. Den Anfang des Vormittagsunter-
richtes wünscht er stets, auch im Sommer, auf 8 Uhr, für die jüngeren Schuler anf
9 Uhr festgesetzt. Mit abgekürzten Stunden liesse der Unterricht sich dann Inf
^ tl Uhr beziehungsweise 1 Uhr ausdehnen. Dies Verfahren ist nach Ansicht dei
Verf. viel weniger gefährlich als wissenschaftlicher Nachmittagsunterricht. Da dem
Verf. ferner Gelegenheit geboten wurde. Messungen an Schülern der Oberrealaehnle
während der schriftlichen und mündlichen Abschlussprüfung vorzunehmen, dnroh
die seine Ansichten und Behauptungen nur bestätigt wurden, so schliesst er nach
einer Besprechung der Examina überhaupt mit dem Wunsche, dass die Abechlnm-
prüfung bald wieder abgeschafft werden möge.
Enthalten wir uns der Beurtheilung dieser Vorschläge für eine Breorganisation
des Stundenplanes und gehen nur auf die vorgeschlagene Methode der Messung
der Ermüdung ein, so ist in erster Linie anzuerkennen, dass sie in deutlicher Weise
eine Zu- und Abnahme geistiger Ermattung zeigt. Eine Hauptschwierigkeit liegt
nur darin, dass die mathematische Beziehung zwischen geistiger Ermüdung und
Hautempfindlichkeit unbekannt ist. ^) Macht ein Schüler bei geistigen Arbeiten Ton
^) Vgl. Ebbinghaus: Ueber eine neue Methode u. s. f., pag. 406. — Bin et
et Henri: La fatigue intellectuelle, pag. 327.
Die neuesten Abhandig. u. Untersuchangen über die Ermüdung d. Schuljugend. 239
gleicher Art, Länge und Schwierigkeit einmal 1%. das andere Mal 2^/o Fehler, so
kann man behaupten, dass seine geistige Leistungsfähigkeit im zweiten Falle nur
halb 80 gross als im ersten war; giebt aber bei einem Schüler die Messung der
Hautempfindlichkeit einmal 3 mm und ein anderes Mal 6 mm, so folgt hieraus
durchaus nicht, dass die geistige Leistungsfähigkeit im zweiten Falle auf die Hälfte
zurückgegangen sei. Vielleicht ist es möglich durch gleichzeitige Anwendung der
Griessb ach 'sehen und einer anderen Methode hier etwas Klarheit zu schaffen.
Ferner ist auch noch nicht erwiesen, dass jede geistige Ermattung eine VerriDgcrung
der Hautempfindlichkeit mit sich führt ; es wäre sehr wohl denkbar, dass ein Schüler
ermüdet ist, ohne dass es die Messung der Eaumschwelle bei ihm anzeigt. End-
lich müsstc noch durch Untersuchungen festgestellt werden, bei welcher Abnahme
der Hautsensibilität die entsprechende geistige Ermüdung als gesundheitsgeüihrliah
anzusehen ist. Bis zur Erledigung dieser Fragen ist es rathsam, neben dieser Me-
thode eine der älteren zur Controlle anzuwenden, dadurch würden sich die Resultate
Tielleicht gegenseitig ergänzen, berichtigen, erhärten.
Th. Vannot: La fatigue intellectuelle et son influence sur la sen-
sibilite cutanee. Dissert. med. Bern 1896. Imprimerie Bey et^ Malavallon.
Grenöve. 61 Seiten.
Verf. hat Versuche nach der Grriessbach 'sehen Methode angestellt und ge-
langt mit ihr zu fast identischen Resultaten.
58 31essungen wurden vorgenommen an Schülern der Realschule und des
Gymnasiums zu Bern, aber nicht wie Ton Griessbach nach jeder Stunde, sondern
um 8 Uhr vor dem Schulanfang, um 10 Uhr während der Pause, um 12 Uhr beim
Schulschlusse, um 2 Uhr nach dem Mittagbrod und um 4 resp. um 5 Uhr am Ende
des Nachmittagsunterrichtes. Die Hautstellen, an denen die Raumschwelle gemessen
wurde, waren dieselben wie bei Griessbach.
Die vom Verf. gefundenen Resultate bestätigen die Griessb ach 'sehen An-
gaben mit der einzigen Ausnahme, dass vom Verf. auch nach der Zeichenstunde
eine Abnahme der Hautempfindlichkeit constatirt werden konnte, wogegen Griess-
bach derselben den Werth einer Erholungsstunde zugeschrieben hatte. Dies mag
«inmal an der besonderen Art des Zeichnens gelegen haben, kann aber auch von
dem besonderen Eifer und Interesse der Versuchspersonen für den Zeichenunterricht
verursacht sein. Bemerkenswerth ist, .dass Verf. in einem Falle eine Abhängigkeit
der Hautempfindlichkeit von der Temperatur beobachtet hat. Beim Vergleiche
der Messungen an Realschülern und derjenigen an Gymnasiasten findet Verf. eine
ipröesere Ermüdung bei den ersteren, was Folge der grösseren Anzahl mathematischer
Liehrstunden sein mag. Auch in den vom Standpunkte der Hygiene ausgesprochenen
Porderungen schliesst sich Verf. ganz an Griessbach an.
An diese Untersuchungen knüpft Verf. noch die Behandlung der Frage, ob
durch anstrengende Gehirnarbeit nicht auch eine Aenderung in der Empfindlichkeit
der Nerven gegenüber Schmerzerregungen stattfindet. Mit Hülfe eines eigens da-
zu construirten Apparates, des Algesiometers, hat Verf. bei denselben Schülern
und zugleich mit den soeben besprochenen Messungen die Empfindlichkeit gegen
Schmerz untersucht und beim Vergleich dieser Resultate mit den vorigen gefunden,
dass der durch Unterricht ermüdete Schüler gegen Schmerzgefühle empfindlicher
240 Paul Plettenberg.
ist als der geistig frische, dass also mit der Abnahme der Hautempfindlichkeit eine
durch die Gehimermüdung veranlasste Hyperalgesie verbunden ist.
L, Wagner: Unterricht und Ermüdung. (Sammlung von Abhandlangen
aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie. Bd. I Heft IL)
134 Seiten.
Verf. hat eine grosse Anzahl Ermüdungsmessungen nach Griessbach'acher
Methode an Schülern des neuen Gymnasiums in Darmstadt angestellt. Den ersten
Theil füllen überaus anschaulich dargestellte Resultate der bei Schülern der i^uarta,
der Unter- und Obertertia und der Untersecunda vorgenommenen Bestimmongen,
an die sich zwar einzelne Besprechungen anknüpfen, die eigentlichen Schlöase weiden
aber erst im zweiten, dem allgemeinen Theile gezogen, dem wir folgendes entnehmen.
Verf. folgert aus seinen Versuchen, dass die Griessb ach 'sehe Methode
thatsäohlich brauchbar ist, um Ermüdungsgrade festzustellen und quantitativ m
vergleichen. Ist auch nicht von einer directen Proportionalität zwischen asthe>
siometrischen Distanzen und Ermüdungszunahmen zu sprechen, so kann man doeh
sagen, grosse ästhesiometrische Distanzen lassen auf grosse, massige Abstände auf
massige Ermüdung schliessen.
Als Kennzeichen der in Folge des Schulbetriebs auftretenden sogenannten
Ueberbürdung gilt dem Verf. dauernd herabgesetzte Sensibilität bei der MehnaU
der Schüler einer Klasse, und daraufhin musterte er die gewonnenen Resultate.
Er findet, dass dies in keiner der Klassen der Fall war; allerdings fanden sich
in Quarta wiederholt Ermüdungsgrade, die die Norm überschritten, aber dies
hatte seinen Grund jedenfalls darin, dass die Messungen am Ende des Schuljahres
angestellt wurden. Bei einzelnen Schülern ist allerdings eine Ueberbürdung ra
constatiren; dies ist aber einerseits die Folge davon, dass eine gewisse Antahl
der Schüler die Begabung, wie sie die höheren Schulen verlangen, nicht besitit;
diese müssen eben den Mangel ihrer Begabung durch erhöhte Thätigkeit aossn*
gleichen suchen. Andererseits aber macht auch die Person des Lehrers unver-
gleichlich viel mehr aus als der Stoff. Es würden daher auch diese einzelnen IlUle
von Ueberbürdung wegfallen, wenn ungenügend veranlagte Schüler von höheren
Schulen fem blieben und wenn jeder Lehrer hinreichend mit hygienischen, physio-
logischen und psychologischen Thatsachen vertraut wäre. Es sollten daher in der
Lehramtsprüfung auch Kenntnisse der Schulhygiene verlangt werden, die durch
Vorlesungen über Schulhygiene zu vermitteln wären.
Auch die Methode, nach der unterrichtet wird, ist von grosser Bedeutung.
Unter Anschluss an die Herb art 'sehe Methode verlangt Verf, dass der Unter-
richt so eingerichtet werde, dass die Stunde unter Lustgcföhl, zum mindesten ohne
Unlustgefnhl verläuft. Ref. stimmt dem vollständig bei, weil so allerdings ein
grosser Theil der Haus- und Gedächtnissarbeit entbehrlich wird.
Verf. bespricht alsdann in aller Kürze die Sünden der Eltern in Bezug auf
Schlafzeit, Musikunterricht und Ernährung ihrer Kinder. Es fand sich bei 28*j^
der untersuchten Schüler eine mangelhafte Schlafzeit, bei */s der musiktreibenden
Kinder, dass sie gerade zu den schwächsten ihrer Klasse gehörten, endlich bei mehr
als 50 ^/o der 11 bis 12 jährigen Schüler, dass sie Abends regelmässig Bier oder so-
gar Wein als Getränk erhielten. Von diesen Alkohol geniessenden Schülern zeigte
die Hälfte nervöse Symptome; Verf. hält es daher mit Recht für das richtigste^
Die neuesten Abhandlg. u. Untersuchungen über die Ermüdung d. Schuljugend. 841
dem noch in der Entwickelung begriffenen Organismus unter allen Umständen den
Alkohol in jeder Form ganz fem zu halten. Femer warnt Verf. aufs eindringlichste
davor, die Kinder vorzeitig in die Schule zu schicken ; der vermeintliche Zeitverlust
wird reichlich ausgeglichen dm*ch regelmässige Versetzungen und normale körper-
liche und geistige Entwickelung.
Die übliche Pausenordnung findet Verf. auf Grund seiner Messungen im All-
gemeinen richtig. Jedoch zeigt die Beibehaltung von höheren, einmal erfolgten
Ermüdungsgraden, dass stärkeren Ermüdungen gegenüber, also besonders nach
Klassenarbeiten, die üblichen Pausen zur Erholung nicht ausgereicht haben. Verf.
empfiehlt daher in diesem Falle die Pausen zu verlängern, falls man nicht vor-
zieht, sie überhaupt auf 15 Minuten auszudehnen.
Von den angestellten Messungen fanden 90 nach Turnstunden statt und so-
mit ist Verf. im Stande, über die Wirkungen derselben folgende Thatsachen an-
zuführen. Angenommen wird dabei, dass nach der vorangegangenen Lehrstunde
durch die Pause eine vollkommene Erholung stattgefunden habe. Nur 8 von 90
Schülern (9®/o) zeigten nach der Turnstunde völlige Erholung; rechnet man einen
durch das Turnen erfolgten Ermüdungsgrad von nur 1 mm noch als Erholung, so
waren 21 von 90 Schülern (23 ^/^^ erholt; rechnet man in analoger Weise 2 mm
Ermüdung noch als Erholung, so waren es 32 von 90 (36,5%), und verfährt man
endlich selbst bei 3 mm noch analog, so ergaben sich 37 von 90 (41 ®/o), also immer
noch nicht die Hälfte. Es steht als fest, dass dem Turnen der geistig regene-
rirende Einfluss nicht zugeschrieben werden darf, der vielfach angenommen wird.
Dabei ist zu betonen, dass die obigen Zahlen noch geringer ausgefallen sein würden,
wenn nicht mehrere der betreffenden Turnstunden Spielstunden gewesen wären.
Es sind also die Turnstunden in ihrer Wirkung für Ermüdung anderen Unterrichts-
stunden völlig gleichzustellen; gerade so wie körperliche Ermüdung eine geistige
herbeiführt, bedingt auch geistige Ermüdung eine körperliche. Daraus folgt ein-
mal, dass es unhyg^enisch ist, Turnstunden zwischen andere Lehrstunden zu legen,
femer dass dieselben möglichst in Spielstunden zu verwandeln sind. Auch diese
wirken bei Schülern, die sich voll und ganz daran betheiligen, immer noch ermüdend
genug. Diese Spielstunden sind auf den Nachmittag zu verlegen, der von allem
wissenschaftlichen Unterrichte frei zu halten ist. Denn die vom Verf. an 31 Schü-
lern am Nachmittage nach einer dreistündigen Pause vorgenommenen Messungen
leigten, dass nur 2 (7%) völlig erholt waren, welches Resultat sich auch nur auf
16% erhöhte, wenn man noch 1 mm Ermüdung als Erholung ansah. Diesen Zahlen
gegenüber ist leicht einzusehen, was eine Messung um 2 Uhr mitten während der
Yerdauungsthätigkeit hätte ergeben müssen. Verf. ist daher ganz entschieden gegen
den wissenschaftlichen Nachmittagsunterricht, durch welchen eine dreimalige Be-
anspruchung des jungen Gehirns herbeigeführt wird, nämlich: Vormittagsunterricht,
Nachmittagsunterricht und Hausaufgaben. Er führt auch mit Hecht die nach-
theüige Anstrengung des Unterrichtenden dabei ins Feld ; denn die Schüler können
■ich der Schädigung bis zu gewissem Grade durch Unaufmerksamkeit entziehen,
der Lehrer nicht. Für den Vormittagsunterricht empfiehlt er jede Lehrstunde auf
45 Minuten zu beschränken und die Pausen auf 10 — 15 Minuten auszudehnen, gegen
Sehluss des Vormittags wäre sogar eine noch weitere Verkürzung der Stunden
wünachenswerth. Dabei müssen die Lehrstunden nach psychologischen Gtesichts-
ponkten, nach der Grösse der Inansprachnahme der geistigen Kraft vertheilt werden.
Abgesehen von der Person des Lehrers, die unvergleichlich mehr ausmacht als der
Zeitschrift für HypnoUsmos etc. Yin. 16
242 P^^ Plettenberg.
Stoff, darf doch in gewissem Grade von einem fiinflasse des Stoffes geredet werden,
und dieser ist vom Verf. darch arithmetische Mittel aas den Messongen eimittelt
worden. Setzt man den durch die Mathematik henrorgebrachten durchschnittlichen
Ermüdungfigrad = 100, so ergab 'sich für Latein 91, Griechisch 90, Tomen 90,
Geschichte 85, Geographie 85, Rechnen 82, Französisch 82, Deutsch 82, Natorkonde
80, Zeichnen 77, Religion 77. Dabei spielt offenbar eine grosse Rolle die Wich-
tigkeit, die die Schüler den verschiedenen Fächern beilegen; sicherlich würde nch
an einer Realanstalt eine andere Reihe ergeben. Mit einer alle Resultate zusammen-
fassenden Uebersicht schliesst Verf. seine beachtenswerthe Abhandlung.
Für Ref. war es interessant aus den angegebenen Messungen zn erfahren, ob
durch die fünfte Lehrstunde eine wesentlich höhere Ermüdung der Schüler be-
wirkt würde als durch die vierte. Es fand sich bei den Messungen der Raum-
schwelle am Jochbein in Quarta im Mittel nach der ersten Unterrichtsstunde 16,5,
nach der vierten 15,1 und nach der fünften 15,5. Bei den Messungen in Unt«^
tertia entsprechend 13,4. 12,7, 12,9 und endlich in Obertertia 12,4, 13,1, 13,4. Diese
Zahlen geben deutlich an, dass bei einem fünfstündigem Vormittagsunterricht am
Ende der fünften Stunde die Ermüdung sich nicht wesentlich von derjenigen von
der ersten Stunde unterscheidet. Es kann somit gegen den Vormittagsunterricht
vom hygienischen Standpunkte aus kein Bedenken erhoben werden.
F. Kemsies: Die Arbeitshygiene der Schule auf Grund von Er-
müdungsmessungen. ^) Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der
pädagogischen Psychologie und Physiologie. Bd. LI Heft I) 64 Seiten.
Verf. hat mit Hülfe der Rechenmethode, ferner aber auch mit dem Ergo-
graphen von Mosso eine Anzahl Ermüdungsmessungen angestellt, erstere bei
57 Schülern der vierten Klasse einer sechsklassigen Volksschule zu Berlin, letztere
bei denselben und bei Schülern der fünften Realschule zu Berlin.
Was die ersteren Versuche angeht, so legt Verf. das Hauptgewicht auf die
(Qualität der Leistungen. Rechenstücke erweisen sich geeigneter als Dictate, weil
diese stets subjective Ungleichheiten enthielten, die Rechenarbeiten wurden ans
dem eben absolvirten Klassenpensum für Kopfrechnen gewählt, enthielten denmaeh
eine schwierige Denkoperation. Gegenüber früheren Versuchen kommt hier die er-
müdende Schreibarbeit sowie die andauernde Schreibhaltung des Körpers in WegfalL
Jedes Arbeitsstück enthält 12 Exempel aus dem Zahlenkreis 1 — 1000, je drei für
jede Grundoperation, und für jedes Exempel wurde anfangs 1 Minute angesetzt, um
jedoch die Wirkung einer längeren Arbeitszeit zu erforschen wurde später auch
IVt Minuten, einmal sogar 2 Minuten gegeben. Um störende Factoren wie Un-
geduld, Unlust oder gesteigerten Arbeitsantrieb auszumerzen, wurden die Versuche
mitten in der betreffenden Lehrstunde angestellt.
Aus den berechneten Klassendurchschnitten ergab sich zum Theil in Ueberein-
stimmung mit den Erfahrungen der Lehrpraxis, dass der erste und zweite Wochen-
tag die günstigsten Resultate lieferten, der Sonnabend dagegen die ungünstigsten;
dass für jeden Tag die erste Schulstunde die beste Arbeitszeit des Tages, die letzte
die schlechteste ist; dass ausserordentliche Anstrengungen in einer Lehrstunde sich
*) Vorläufige Mittheilungen einiger Ergebnisse dieser Versuche wurden in der
Deutschen Medicinischen Wochenschrift, Jahrgang 1896. Nr. 27, veröffentlicht unter
dem Titel: Zur Frage der Ueberbürdung unserer Schuljugend.
Die neuesten Abhandlg. u. Untersuchangen über die Ermüdung d. Schuljugend. 243
in den folgenden ungünstig bemerkbar machen ; und endlich dass langsames Arbeiten
bessere Arbeitsqualität bedingt. Diese Ergebnisse stimmen mit den Erfahrungen
des Ref. überein mit Ausnahme des Umstandes, dass der Montag ausgezeichnet sei
durch den am Sonntag erworbenen Vorrath an geistiger Frische und Widerstands-
kraft; Ref. hat vielmehr auf Grund früherer Ergebnisse stets vermieden, Klassen-
arbeiten auf den Montag zu legen, da Zerstreutheit und Indisposition den Aus&ll
derselben stets ungünstig beeinflussten.
Bei Betrachtung der Einzelleistungen findet Verf. vier verschiedene Arbeits-
typen heraus. Der erste Typus zeichnet sich dadurch ans, dass die Schüler mit
vorrückender Zeit besser arbeiten, der zweite umgekehrt, dass die Schüler morgens
am meisten und besten arbeiten; den dritten repräsentiren die Schüler, deren
Leistungen an einer bestimmten Stelle des Vormittags ihr Maximum erreichen,
vorher steigen und nachher fallen, bei einem vierten Typus endlich zeigen sich in
den mittleren Zeitlagen Depressionen. Um Durchschnittszahlen für diese Arbeits-
typen zu gewinnen, that Verf den gewagten Schritt, an verschiedenen
Tagen angestellte Versuche, welche sich in Bezug auf die Zeit ergänzen, zu einer
vollständigen Tagesreihe zu combiniren, ja fehlende Stundenwerte durch Interpolation
zu fiziren. Damit wird aber der Umstand, dass an den verschiedenen Tagen schon
durch den Stundenplan verschiedene Zustände herrschten, dass aber auch sicher
verschiedene psychologische i\nd physiologische Factoren die Resultate beeinflussten,
einfach unberücksichtigt gelassen. Auf Grund der so gewonnenen Zahlen kommt
Verf. zu dem Schluss, dass die Beantwortung der Ueberbürdungsfrage von der Be-
obachtung der individuellen Arbeitsverhältnisse unserer Schüler ausgehen muss,
also der Arbeitstypen, auf welche im gegenwärtigen Lehrverfahren nicht genügende
Rücksicht genommen wird. Der Ueberbürdung fallen in erster Linie die Schüler
anheim, die ihr Arbeitsoptimum in den ersten Stunden erreichen. Eine sogenannte
absolute Ueberbürdimg, d. h. andauernde Ermüdung bei tieferen Functions-
stomngen (vgl. Wagner: dauernd herabgesetzte Sensibilität) war nicht zu
constatiren.
Eine zweite Versnchsgmppe, welche die Bestimmung der Arbeitsgeschwindig-
keit betraf, diente als Vorversuch für Ergographenmessungen ; wir entnehmen der-
selben das wichtige Ergebniss, dass am Ende eines einstündigen Versuches weder
die Arbeitsgeschwindigkeit noch der Arbeitswerth einen sicheren Schluss auf Er-
müdung gestatteten, während der Ergograph überall ein enormes muskulöses
Minus anzeigte und alle vier Schüler starke subjective Ermüdung empfanden.
Eine grössere Anzahl Messungen hat Verf. vorgenommen mit Hülfe des Ergo-
graphen an Schülern verschiedener Klassen einer Gemeindeschnle sowie der fünften
Realschule zu Berlin. Bei allen diesen Messungen erweist sich der Ergograph als
der sicherste Indicator für Ermüdung. Lässt sich das Sinken der Aufmerksamkeit,
der Qualität und Quantität durch den Willen der Schüler noch verdecken, so ist
dies bei der Abnahme der Muskelkraft durchaus nicht der Fall. Es zeigt sich
femer, dass ein» normale geistige Arbeit zunächst eine Vermehrung der muskulösen
Leistung erfolgen lässt, der bei längerer Fortdauer eine Depression folgt, bei einer
relativ grösseren geistigen Arbeit tritt die muskulöse Minderleistung schon nach
kurzer Zeit ein.
Wie Wagner mit Hülfe der Griessbach'schen Methode, so hat auch Verf.
auf seine Weise die einzelnen Unterrichtsgegenstände in ihrer Wirkung untersucht
16*
941 Pikul Plettenberg.
und folgende Beihe gefunden: Tomen, Mathematik, Fremdsprachen, Beligion,
Dentsoh, Natorwissenschaften und Geographie, Geschichte, Singen und Zeichnen.
Diese Aufeinanderfolge mag sehr wohl der den einzelnen E&chem Ton den Beal-
schiilem beigelegten Wichtigkeit entsprechen. Verf. stützt darauf sein VeriaBgen,
dass die Aufeinanderfolge zweier anstrengenden Unterrichtsstunden im Lections-
plane yermieden wird, dass yielmehr ein gewisser Ausgleich zwischen den einzelnen
Fächern, ja selbst ein Ausgleich zwischen mehr und weniger anstrengenden Thatig-
keiten in den einzelnen Lehrstunden erzielt werde.
Auf Grund seiner Ergographenmessungen erklärt Verf. die Ansicht für fiüseh.
dass die Stimmung und das Interesse, welche der Unterricht erreget, die Ermüdung
yerhinderten, dass also der Unterricht Lustgefühl erzeugen müsse. Nicht selten
fand sich bei den Schülern kein Gefühl der Ermüdung, während der Ergograph
doch eine ganz geringe Muskelleistung zeigfte, und in der Thal trat auch bald das
Gefühl allgemeiner Abspannung ein.
Bei dieser Art der Untersuchung erg^ebt sich dem Verf. ab Kriterium einer
etwaigen Ueberbürdung eine während einer längeren Zeit andauernde Muskd-
depression. Aus einer Anzahl Messungen liess sich z. B. an fünf Quartanern eine
solche mit Bestimmtheit ablesen, so dass die Frage der zeitweiligen Ueberbürdung
der Schüler unserer höheren Lehranstalten vom Verf. im bejahenden Sinne beant-
wortet wird. Bef. findet die Anzahl der zu Messungen herangezogenen Schüler
einer Klasse zu gering, um darauf das Verlangen stützen zu können, dass die
Schule diese Ueberbürdung beseitige; mit Wagner hält er dazu für nöthig, dass
die Mehrzahl der Schüler einer Klasse dieselbe Depression zeigen. Aber dennoch
folgt auch nach Ansicht des Bef. hieraus die Nothwendigkeit, dass auf diese aus
irgend welchen Gründen leicht ermüdenden Kinder besondere Bücksiohten ge-
nommen und ihnen geeignete Arbeitsbedingungen verschafiPt werden müssen.
Wir ersehen aus dieser Abhandlung, wie vorzüglich sich der Ergograph als
Indicator für Ermüdungsbestimmungen bewährt; aber dennoch gilt hier das gleiche
wie bei der Griessbach'schen Methode: es fehlt uns sowohl die mathematische
Beziehung zwischen Ermüdung und Abnahme der Muskelkraft als auch die Be-
stimmung derjenigen andauernden Muskeldepression, mit welcher eine als gesund-
heitsgefährlich anzusehende geistige Ermüdung verknüpft ist.
M, Brahn: Die Geisteshygiene in der Schule. (Deutsche medicinische
Wochenschrift, 1897, Nr. 26, pag. 419—422.)
Verf. beschränkt sich darauf die Ergebnisse der Forschungen über Ermüdung
und Ueberbürdung einerseits und über physiologische Entwickelung des Kindes
andererseits auseinander zu setzen und daraufhin vom Standpunkte des Arztes
einige prac tische Vorschläge über Unterricht und Ferien zu machen, die wir im
Folgenden anführen.
Die Unterrichtslänge hat sich nach dem Alter der Schüler zu richten. Di»
liLnge einer Lehreinheit darf für das Alter von 6 — 9 Jahren nur 20—25 Minuten
betragen, von 9 — 12 Jahren 30 — 35 Minuten, für die höheren Lebensjahre 40—50
Minuten, und diese Zahl darf sie nur in den höchsten Klassen der höheren Lehr-
anstalten unter besonderen Umständen überschreiten. Die Zahl der Lehrstunden
an einem Tage soll vom 6.-9. Jahre von täglich 2 zu 3 Stunden aufsteigen, vom
9. — 12. Jahre von täglich 3 zu 4 Stunden, und vom 12. Jahre an soll ^albnahlieh
Die neoesten Abhandig. a. Untenachungen über die Ermüdung d. Schaljagend. 346
die fünfte Stunde hinzugefügt werden. Nachmittagsunterricht ist zu beseitigen.
Dementsprechend schwankt die Länge der Pausen; sie ist mindestens 10 Minuten,
bei 30—36 Minuten Unterricht ist sie nach der zweiten oder dritten Lehreinlieit
auf 15 Minuten zu erhöhen, bei 40 Minuten Unterricht und noch darüber ist mit
einer Pause von 10 Minuten zu beginnen und dieselbe mit jeder Stunde um
5 Minuten zu erhöhen. Ref. findet die Ausführung eines solchen Stundenplanes
mit den grössten Schwierigkeiten verknüpft, für grössere Anstalten unmöglich;
müssten doch schon die Klassen mit verschiedener Länge der Lehreinheit und der
Pausen in getrennten (Gebäuden untergebracht werden , damit sie sich durch die
mit den Pausen nothwendig verbundene Unruhe nicht gegenseitig stören würden.
So wünschenswerth die Durchführung solcher Vorschläge auch wäre, ebenso weit
sind wir von der Erfüllung dieses Wunsches entfernt.
Weit leichter auszufüllen ist das Verlangen des Verf bei Anordnung der
lß%cher auf dem Stundenplane Rücksicht zu nehmen auf den Ermüdungswerth« der
einzelnen Fächer (vgl. oben Wagner und Kern si es); Turnen ist nie zwischen
zwei andere Lehrstunden zu legen.
Was die Anordnung der Ferien angeht, so sind diese nach den physiologischisn
Entwickelungsschwankungen des Kindes im Laufe des Jahres zu legen, welche aber
erst einer eingehenden Beobachtung zu unterziehen sind. Vollständig bekannt sind
aber die Entwickelungsschwankungen des Kindes im Laufe der Jahre bis zur
Pubertät hin, und auch auf diese ist Rücksicht zu nehmen von Seiten der Schule.
Namentlich das 10. und 11. Jahr bedarf der Schonung und sollte daher mehr zur
Vertiefung des vorhandenen als zu reicher Aufnahme neuen Wissens verwandt
werden. Der Schwerpunkt des Unterrichts muss aus dem Kindesalter in das Alter
der kräftigen Pubertät verlegt werden.
Endlich verlangt Verf. mit Kemsies, dass von der Schule Rücksicht ge-
nommen werde auf schwächere Schüler; die Möglichkeit eines gesundheitsgemässen
Unterrichts ist an die Bedingung geknüpft, körperlich schwache, geistig minder-
befähigte, nervös prädisponirte Schüler in kleineren Abtheilungen besonders zu
unterrichten, wie es schon seit mehreren Jahren von R. Seyfert an der Volks-
•chole zu Zwickau mit Erfolg durchgeführt ist.
H. Schüler :DerStundenplan. Ein Kapitel aus der pädagogischen Psycho-
logie und Physiologie. (Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der päda-
gogischen Psychologie und Physiologie. Bd. I. Heft I.) 65 Seiten.
Verf. giebt uns in seiner äusserst werthvollen Abhandlung ausser einer Kritik
der vorhandenen Methoden zur Messung der Ermüdung den Weg an, den die
Sehule selbst gehen muss, um sich behufs annähernd richtiger Beurtheilung der
Arbeitskraft und der Leistungen der Schüler während des Unterrichts Beobachtungs-
material zu schaffen und zwar solches, welches der Wirklichkeit, den alltäglichen
Verhältnissen entspricht. Es dienen ihm dazu schriftliche Klassenarbeiten, Memorir-
versnche und eigentliche Denkarbeiten, wie sie der Untemcht in seinem Gbinge
mit sich bringt.
Der erste Theil behandelt den Schulanfang, den Schulschluss und die da-
zwischen liegenden Unterbrechungen der Unterrichtsthätigkeit. Kann man auch
aas den Ergebnissen der Versuche von Mosso, Kraepelin, Burgerstein,
Sikorski, Höpfner richtige Folgerungen für die Thätigkeit in der Schule nicht
246 ^Aul Plettenberg.
■
ohne bedeutende Einschrankang und Oorrector ziehen, da sie aüe an ca
Einförmigkeit der Aufgaben leiden und überhaupt dem gewöhnlichen Schulunter-
richt durchaus nicht entsprechen, so ist doch sicher, dass im Schulunterrichte wie
bei jeder körperlichen und geistigen Arbeit Ermüdung stattfindet, und dass nur
der Schlaf ein rollkommenes Ausgleichsmittel ist. Dieser ist mit Axel Key fSr
das Alter von 6—18 Jahren auf 12 — 9 Stunden zu bemessen, und danach hat sich
der Schulanfang zu richten. Doch lässt sich Bestimmtes darüber nicht festsetzen,
denn die Verhältnisse der einzelnen Gross- und Kleinstödte sprechen mit. Im All-
gemeinen wird der Schulanfang in Grossstädten im Sommer weiter hinau^eachoben
werden müssen, da hier die Schüler nicht wie in kleineren Städten und auf dem
Lande schon um 8, 9 IThr Abends die nöthige Ruhe zum Schlafe finden werden.
Selbstverständlich hat sich der Schulanfang auch nach dem Alter der Schüler zu
richten; im Allgemeinen sollte für die drei ersten Schulklassen der Unterricht nicht
▼or 9 Ohr beginnen. Verf. ist durchaus gegen den Gebrauch während des ganzen
Sommersemesters den Unterricht schon um 7 Uhr beginnen zu lassen; er empfiehlt
die Einrichtung am Gymnasium zu Giessen. wo seit langen Jahren erst von Pfingsten
an der Unterricht bis auf TV« vorgeschoben wird. Bei der Bestimmung des Schnl-
schlusses hat man mit den zwei Möglichkeiten zu rechnen, den wesentlich geistige
Thätigkeit fordernden Unterricht auf Vor- und Nachmittag zu veriheilen oder ihn
auf den Vormittag allein zu legen. Den Unterricht überhaupt auf den Vormittag
zu beschränken ist bei der von den Lehrplänen vorgcscliriebenen hohen Stundenzahl
wenigstens für die höheren Klassen unmöglich. Die zweite Möglichkeit bringt einen
fün^tündigen Vormittagsunterricht mit sich, und da ein solcher die Schüler nicht
in höherem Maasse ermüdet als ein vierstündiger (vgl. die Schlussbemerkung des
Kef. zu der oben besprochenen Abhandlung von Wagner), dem sich nach einer
zweistündigen Mittagspause noch zwei Lehrstunden anschliessen. so ist eine solche
Einrichtung der früheren weit vorzuziehen, noch dazu, da durch die zwischen-
gelegten Pausen die fünf Stunden wesentlich verkürzt werden. Was die Pausen
angeht, so empfiehlt Verf., dem Gange der Ermüdung entsprechend die Arbeitspausen
entweder foridauemd wachsen oder die Arbeit leichter werden zu lassen, am besten
wäre es, beides zu verbinden. Als Muster fuhrt er die Verhältnisse am Gymnasium
zu Giessen an. *) Verf. sieht es als selbstverständlich an, dass in den Pausen jede
Fortsetzung der in den Schulstunden geübten geistigen Thätigkeit ausgeschlossen
wird, und Kef. schliesst sich diesem Verlangen durchaus an. Den Grund dafür, dass
bei den höheren Schulen an kleineren Orten an der alten Einrichtung des gleieh-
M Vgl. pa^. 12 : n Am Gymnasium in Giessen wird seit 1883 folgende Pausen-
ordnung eehanahabt : Die Vorschulen und die Klassen VI und V nach der ersten
Stunde 10 Minuten, alle Klassen nach der zweiten Stunde 15 Minuten, nach der
dritten Stunde 10. nach der vierten ebensoviel. Dabei mindert sich die Dauer der
Stunden, je weiter der Vormittag vorrückt : bei dem Schulan£uig um 8 Uhr ist die
erste Stunde nur für die Schüler von IV aufwärts voll, für die übrigen betragt sie
nur 55 Min., die zweite beträgt für die kleineren Schüler 48 Min., für die j^rosseren
53, die dritte tur alle Schüler 47 Min., die vierte 50. die fünfte 40 Min.; der Unterricht
sohliesst um 12^4 Uhr. so das^ um 1 Uhr. der hier gewöhnlichen Essenszeit, alle
Schüler zu Hause sind. Im Winter, d. h. vom 1. Nov. bis zum Schluss des Winter-
semesters. l>eginnt der Unterricht um 8*t Uhr. Dabei währt die erste Stande für
die Schüler bis V einschliesslich 50 Min., für die übrigen 55. die zweite für alle
Schüler 50. die dritte ebensolange, die vierte nur 45 und die fünfte nur 40 Min.
Der Unterricht schliesst präcis 1 Uhr.**
) i e nenesten Abhandig. u. üntersachongen über die Ermüdung d. Schuljagend. 247
artigen Vor- und Naohmittagsnnterrichts so festgehalten wird, während gerade hier
die neaere Eintheilung mit Leichtigkeit durchzuführen wäre, findet Verf. nur im
^Hängen am Hergebrachten neben der Sorge, was man mit den
Kindern anfangen solle, wenn sie nicht auch einige Stunden des
Nachmittags die Schule in Aufsicht und Verwahr nähme. Der
Unterricht beginnt um 2 Uhr, also zueinerZeit, wo die Verdauung
noch nicht beendet ist; die Wirkung der Mahlzeit bezüglich der
Ermüdung wird durch zweistündigen Unterricht YÖllig aufge-
hoben, und nach dem Unterricht müssen die Schüler alsbald wieder
— und gerade im Winter — an ihre Hausarbeiten gehen. Diese
physiologisch und psychologisch verkehrten Verhältnisse werden
zwar einigermaassen durch die guten Luftverhältnisse, die ein-
fachere Lebensweise und die ländliche Ruhe dieser kleinen Städte
compensirt; aber sie erklärenzum Theil, warum auch hier bereits
die Zeitkrankheiten der Neurasthenie, Bleichsucht und Scrophu-
lose in grosser Ausdehnung auftreten."
Ln zweiten Theile bespricht Verf. die Vertheilung der Lehrzeit auf die ein-
zelnen Lehrgegenstände. Bei dieser Gelegenheit kommt er auf die Untersuchungen
Griessbach's, Wagner's und Ebbinghaus' zu sprechen. Die von den beiden
ersten durch Messungen mit dem Aesthesiometer aufgestellten Thatsachen finden
sich sämmtlich schon auf dem Wege der Beobachtung abgeleitet in früheren Ab-
handlungen des Verfassers, ^) was sehr wichtig ist, da wir über den psycho-physio-
logischen Zusammenhang zwischen geistiger Thätigkeit und Herabsetzung der Sen-
sibilität noch nichts wissen. Was die Ebbingh aus 'sehen Versuche angeht, so
kann sie Verf. selbst in der vorsichtigen Art, wie sie angestellt wurden, nicht für
geeignet ansehen, den wirklichen Einfluss des Schulunterrichts festzustellen; die
Rechenmethode leidet unter der grossen Langweiligkeit des anhaltenden Rechnens,
die Gedächtnissmethode forderte eine die Kräfte des Durchschnittsschülers über-
steigende Thätigkeit und die Combinationsmethode, so geistreich sie auch sei, brachte
eine dem Schüler ganz ungewohnte Thätigkeit mit sich, bei der der grosse Einfluss
der Uebung und Gewöhnung nicht wirken kann. Es müssen vielmehr Proben ge-
funden werden, die dem wirklichen Unterrichte entnommen und in ihm ohne
Schädigung des Unterrichts durchzuführen sind. Verf. giebt nun den Weg an, wie
die Schule sich selbst ein derartiges Beobachtungsmaterial schaffen kann, das der
Wirklichkeit, den alltäglichen Verhältnissen entspricht. Dabei setzt er voraus, dass
die Untersuchung in der Hand von Klassenlehrern liegt, die mit einem ausgedehnten
Stundensatze in ihrer Klasse vertraut sind.
Als bestes Versuchsmaterial bieten sich die schriftlichen Klassenarbeiten, doch
dürfen dieselben nie eine längere Zeit als höchstens 40 Minuten beanspruchen, und
femer muss dem Schüler bekannt sein, dass die Ergebnisse der Arbeiten nie zu
seinem Nachtheile bei Beurtheilung seiner Reife verwandt werden, wie es im
Groesherzogthum Hessen thatsächlich auf Verordnung des Ministeriums der Fall
ist Auf diese Weise ist ein Faktor, der auf schwache Schüler, auf ängstliche und
nervöse Naturen seine schlimme Wirkung übt, beseitigt. Endlich empfiehlt Verf.
M H. Schiller: Entsprechen unsere Stundenpläne den Anforderungen päda-
ogiscner Psychologie? In Frick u. Meier, Lehrproben und Lehrgänge. Heft 14. —
~ Schiller: Die schulhygienischen Bestrebungen der Neuzeit. Frankfurt a.M 1894.
If
348 Pa^ Flettenberg.
solche Extemporalien, die nach Torgesprochenem deutechen Text sofort in der
fremden Sprache niedergeschrieben werden; störende Gedanken können sieh hier
Tiel weniger eindrängen, und der Aus&ll wird sich meist nor nach dem Mmum»
und der Sicherheit der Kenntnisse unterscheiden. Von 5 zu 6 Minuten ist fon
den Schülern die abgelaufene Minutenzahl nach Angabe des Lehrers an die SteBe
zu schreiben, an der sie grade beschäftigt sind. Dadurch wird dem Lehrer er-
möglicht, die Oeschwindigkeit der Arbeit sowie die etwaige Abnahme der Arbeits-
kraft und ihre Folgen zu bestimmen. Ebenso lässt sich der Einfluss der Uebnng
uÄd endlich die geistige Ermüdang an Fehlem besonderer Art feststellen. Der
Eintheilnng der Fehler in besondere Kategorien legt Verf. den grössten Werth
bei. Neben diesen schriftlichen Proben muss aber auch dem mündlichen Unter-
richte Beobachtungsmaterial abgewonnen werden. Dazu dienen zunächst «Me-
morirversuche an mntter- und fremdsprachlichen Stoffen am An-
fang, in der Mitte und am Ende der Stunde, ferner in der ersten
bis fünften Stunde. Um zu einigermaassen brauchbaren Ergeb-
nissen zu gelangen, müssen die Memoriraufgaben von annähernd
gleicher Schwierigkeit sein, was bei Gedichten, kleinen Lese-
stücken, Yocabeln, Regelbeispielen, Einprägung mathematischer
Formeln und Lehrsätze, Jahreszahlen, geographischen £ii|sel-
heiten und Zahlen verhältnissmässig leicht herbeizuführen ist, da
es auf die Exactheit eines naturwissenschaftlichen Versuchs dabei
nicht ankommt". Zu diesen einfachen Gedächtnissübungen gesellen sich dann
solche, die auf die eigentliche Denkarbeit ausgehen. ^Hierbei ist in erster
Linie an Eztemporirübungen im Uebersetzen fremdsprachlicher
Schriftsteller zu denken, weil sich auch hier am leichtesten an-
nähernd gleichwerthige Aufgaben stellen, und die Ergebnisse sich
am leichtesten feststellen und buchen lassen. Ihnen zunächst
könnten kurze zusammenziehende Referate über einen bekannten
Gegenstand, einfache Beschreibungen, Dispositionen u. a. in Be-
tracht kommen. Endlich müssen eine besonders wichtige Rolle
Uebungen spielen, bei denen sich die Anffassungsfähigkeit und
damit die Möglichkeit ungeminderter Aufmerksamkeit feststellen
lässt für etwas, was der Lehrer ohne Benutzung eines Buches Tor-
spricht, Yorerzählt, erklärt, zeigt". Solche Versuche sind so häufig, wie
möglich anzustellen, und Verf. hält es dabei am zweckmässigsten, wenn für dieeen
Zweck die Klasse in nicht mehr als fünf Gruppen getheilt wird und in jeder
Stunde die Schüler einer solchen Gruppe geprüft werden. Endlich sind diese Be-
obachtungen nicht auf Wochen und Monate zu beschränken, sondern auf eine
Schülergeneration, also auf 6 — 9 Jahre auszudehnen. Erst dann werden wir in der
Lage sein, zu entscheiden, ob und in welcher Richtung in unserem höheren Schnl-
wesen Aenderungen nöthig werden.
Was nun die psychologisch richtige Anlage des Stundenplanes angeht, so ist
die erste Stunde stets denjenigen Fächern zu überlassen, welche regelmässige
Klassenarbeiten verlangen ; jedes derartige Fach erhält also wöchentlich mindestras
eine Anfangsstunde. Da die erste Stunde am meisten ermüdet, muss die zweite
Stunde für solche Gegenstände gewonnen werden, welche mehr die Ergebnisse des
gesanmiten Unterrichts inhaltlich verwerthen, wie Religion, Deutsch, Geschichtet
Die neuesten Abhandlg. u. Untersuchungen über die Ermüdung d. Schuljug^end. S49
Ideographie und schon durch den Stoff an und für sich interessiren. Nach der
zweiten Stunde findet am Gymnasium zu Giessen eine Pause von 16 Minuten statt,
durch welche eine bedeutende Herabsetzung der Ermüdung zu erwarten ist; mithin
wird die dritte Stunde dem mathematischen und fremdsprachlichen, die vierte dem
fremdsprachlichen Unterrichte zuertheilt. In die fünfte Stunde, wo die Schüler am
wenigsten leistungsföhig sind, müssen wieder Unterrichtsgegenstände gelegt werden,
die sie besonders interessiren, wie Naturwissenschaften, Zeichnen, Schreiben, Singen,
Spielen. Bei Beibehaltung des gewöhnlichen Nachmittagsunterrichtes fallen die
eben angeführten Disciplinen in die vierte Vormittagsstunde, während die erste
Nachmittagsstunde für die fremden Sprachen anzusetzen ist. In diesen ist dann
eine vorwiegend befestigende und wiederholende Thätigkeit auszuüben. Solche
Fächer, denen nur zwei Wochenstunden zukommen, empfiehlt Verf. aus methodischen
Oründen auf zwei nacheinanderfolgende Tage zu legen, wenn nicht gar unmittelbar
hintereinander anzusetzen.
Ausführlich bespricht Verf. alsdann die Concenlration des Unterrichts, wobei
wir als besonders wichtig die Forderung erwähnen, auch für die obere und oberste
Stufe die Concentration in der Person des Lehrers durchzufahren. Liegen z. B.
die sprachlich-historischen Fächer in einer, die mathematisch-naturwissenschaftlichen
in einer anderen Hand, so lässt sich durch Hintereinanderlegung der ersteren resp.
der letzteren erreichen, dass der Lehrer eine angefangene Gedankenarbeit durch
zwei bis drei Stunden fortsetzt, z. B. eine an die griechische Leetüre anknüpfende
Meditation auch durch die eigentlich dem Deutschen und der Geschichte ange-
hörigen Stunden, wenn nur bei nächster Gelegenheit in den letzten Disziplinen
dasselbe geschieht. Auf diese Weise „bleibt Zusammengehöriges bei-
sammen und vermag dadurch um so rascher und zugleich um so
energischer zu wirken. Zeit und Kraft werden gespart, weil nicht
in jeder Stunde die abgebrochene Arbeit erst wieder aufge-
nommen werden muss."
Zum Schlüsse kommt Verf. auf die Forderung Kraepelins und Anderer
(Kemsies,Brahn)zu sprechen, die Schüler nach ihrer Arbeitsfähigkeit in Gruppen
zu trennen. Er zeigt, dass die Durchführung einer solchen Maassnahme auf grosse
Schwierigkeiten stossen würde. Dagegen verlangt er zur Entlastung schwacher
Schüler erstens, dass die Eltern ihre Kinder nur den Schulen zuführen, welche
für deren geistige Kraft die richtigen sind, zweitens die Verminderung der Zahl
der Gymnasien und die Vermehrung derjenigen der Realschulen und Fachschulen
mit nur einer fremden Sprache. Allerdings müsste dann auch die Kriegsverwaltung
davon Abstand nehmen, die Eiigährigenberechtigung an die Erlernung zweier
fremden Sprachen zu knüpfen.
Der überall fesselnden Abhandlung, deren ruhiges, sachgemässes Urtheil be-
sonders anzuerkennen ist, sind Normalstundenpläne im Anhange beigegeben.
A. Binet et V. Henri: La fatigue intellectuelle. (Paris, Schleicher
fröret) 1898. 338 pag.
Die Verf. stellen sich die Aufgabe, in diesem Lehrbuche Alles zu vereinigen,
was die Frage des Einflusses der geistigen Arbeit auf den Organismus und ver-
schiedene psychische Functionen angeht, um zum Schlosse zu zeigen, daas die Frage
250 I^ftol Flettenberg. Die neuesten Abhandlungen und Untennohinigen etc.
der Ueberbnrdung der Schüler, so viel auch darüber von Aerzten nnd Pädagogen
hin und her gestritten worden ist. noch weit Ton ihrer endgültigen Entscheidung ist.
Das Buch zerfällt naturgemäss in zwei grosse Abschnitte; in dem ersteren
werden die physiologischen, im zweiten die psychologischen Wirkungen der geistigen
Arbeit besprochen. Der erste behandelt in sieben Kapiteln den Rinflniw derselben
auf das fierz, die Blutcirculation, den Blutdruck, die Körperwärme, die Atfamung,
die Muskelkraft und den Stoffwechsel. Für uns würde hier nur das Torletzte Ka-
pitel von besonderem Interesse sein, weil es die Beschreibung des Ergographen
Ton Mosso und der von ihm angestellten Versuche enthält Der zweite TheQ
bespricht in drei Kapiteln die in physiologischen Laboratorien namentlich durch
Kraepelin und seine Schüler an Erwachsenen angestellten Untersuchungen, die
als Vorbereitungen anzusehen sind zu den in den folgenden vier Kapiteln bespro-
chenen Versuchen in der Schule. Hier werden die einzelnen Methoden, wie wir
sie oben angegeben haben, erklärt, die einzelnen Untersuchungen von Sikorski,
Höpfner, Friedrich, Burgerstein, Laser, Bichter, Ebbinghaus und
Griessbach eingehend, bisweilen in breitester Form erörtert, in ihren Besultaten
beurtheilt und mit einander verglichen. Ein Schlusskapitel fasst alle Resultate
noch einmal dahin zusammen, dass wir von einer endgültigen wissenschaftlichen
Behandlung der geistigen Ermüdung noch weit entfernt sind, wenn uns auch die
Methoden, die zu einer solchen nöthig sind, die Wege gebahnt haben.
Referate und Besprechungen.
P. J. MoebiuSj „Ueber das Pathologische bei Goethe". Leipzig 1898,
Job. Ambr. Barth. Ein Buch von 208 Seiten, für ein breiteres Publicum bestimmt
Wer Goethes Leben und Werke kennt, dem sind wohl, von der Unbegreif-
lichkeit des Genies einmal ganz abgesehen, von jeher einige Erscheinungen in
psychologischer Beziehung an ihm aufgefallen, für welche die Erklärungen der
Biographen und Literarhistoriker nicht ausreichen konnten; wenn man es nicht
einsah, musste man es fühlen. Hauptsächlich gehören dahin die Selbstmord-
gedanken zur Wertherzeit und das Anfallsartige in der poetischen
Fruchtbarkeit. Es ist eigentlich selbstverständlich, dass zur Erklärung solcher
Phänomene das Wissen von Gelehrten obengenannter Art ganz insufficient, ja ge-
eignet ist, das Dunkel noch zu verstärken, was hier waltet. Wenn sie die Er-
klärung dennoch unternehmen, so gehörte das tbeils schon zur Vollständigkeit,
theils reizt es ja. ilir solche besonderen Zustände die Ursachen zu suchen. Dass
diese jedoch, nach herkömmlicher Weise, stets auswärts, in den Verhältnissen, ge-
sucht wurden, statt die besondere Reactionsweise des Subjects oder ein unerhört
complicirtes Innenleben desselben zu betonen, worin trotz aller noch so mannigfach
gehäuften, von aussen wirkenden Verhältnisse noch ein Rest blieb, ein unerklar-
barer Rest, das ist das Fehlerhafte, man möchte sagen Leichtsinnige, Flüchtige,
an diesen Biographien und Erklärungsversuchen. Sie sind eine wie die andere,
alle sehr genau eingehend auf das Aeussere; auf das Innere jedoch nur, insofeni
es durch jenes erklärt werden soll; und dann soll es eben auch erklärt sein! Wenn
Referate und Besprechangen. 251
Goethe selbst, wie wir bald boren werden, kaam über die psychologische Erklärungs-
weise hinausging, so entschuldigen ihn die über 100 Jahre, die seitdem verflossen
sind; und doch findet man bereits bei ihm den Ansatz zu einer physiologischen
Erklärungsweise, wenn man nur z. B. an die Bemerkung denkt, welche er seinem
Ausspruch über diejenigen Stellen Schillers hinzufügte, an denen Tieck etwas aus-
zusetzen hatte. Sie heisst, nach Hoebius S. 125 „Unsere Correspondenz, welche
die Umstände, unter welchen Wallenstein geschrieben worden, aufs Deutlichste vor-
legt, wird hierüber den wahrhaft Denkenden zu den würdigsten Betrachtungen
Teranlassen und unsere Aesthetik immer enger mit Physiologie, Pathologie imd
Physik vereinigen, um die Bedingungen zu erkennen, welchen einzelne Menschen
sowohl als ganze Nationen, die allgemeinsten Weltepochen so gut als der heutige
Tag unterworfen sind." Jene von Tieck getadelten Schillerstellen hatten nach
Goethe eine pathologische Ursache. Die hier von Goethe vorausgeforderte, natur-
wissenschaftliche Forschung sollte, meint man, schon längst in der Biographik mehr
Eingang gefunden und unsere Erkenntniss historischer Personen beträchtlich be-
reichert haben. Damit wäre auch unsere Eenntniss oder gar Erkenntniss dessen,
was man Genie nennt, um ein Stück weiter gekommen. Aber es ist noch wenig
geschehen. Vor Allem ist es die Scheu vor dem Begriff des Pathologischen, die
ein frisches Zugreifen hindert; er hat ncch keine Gleichberechtigung mit anderen
naturwissenschaftlichen Begriffen. Wie er jetzt noch allzu eng von uns erfasst ist,
wie wir allzu wenig mit ihm rechnen, da er uns noch nicht recht handlich, noch
zu fremd und abstossend ist, so will nicht leicht Jemand der erste sein, ihn auch
nur ganz behutsam, sozusagen homöopathisch, bei der Beurtheilung übermensch-
licher, von uns hochverehrter Gestalten anzuwenden. * Trotzdem ist es vielleicht der
in der eigenthümlich glücklichen Mischung enthaltene Zusatz von Pathologischem,
der das Genie schafft. Deshalb müssen wir in unserer Betrachtungsweise von Per-
sonen und Verhältnissen, sei es im Allgemeinen, sei es im Einzelnen und Einzigen,
dem Pathologischen mehr Baum gönnen, es uns gewohnter, freundlicher machen,
damit wir von ihm lernen und uns zuletzt mit ihm versöhnen in dem Gedanken,
dass es zwar für sich ein Gift ist und viele zerstört, dass es aber auch eine freund-
liche Macht ist und uns giebt in Einzelnen, was es in Tausenden vernichtet.
Zu solchen Gedanken etwa regt das vorliegende, lebendig geschriebene Büch-
lein an. Der Stoff gliedert sich im Ganzen in eine längere, das Pathologische im
Allgemeinen und soweit Goethe davon Kenntniss hatte, berührende Einleitung von
88 Seiten, in eine Reihe von Kapiteln, welche das Pathologische in den von Goethe
geschaffenen poetischen Figuren betrachtet, und zuletzt in 5 Kapitel, die die patho-
logischen Momente in ihm selbst und seiner Familie nachweist. Selbstverständlich
ist das letztere das interessanteste und wichtigste, in dem auch die beiden früher
genannten auffalligen Erscheinungen in so geistreicher wie einfacher Weise ihre
Erklärung finden.
In der Einleitung wird zunächst hervorgehoben, wie zwischen geistiger
Gesundheit und Krankheit keine scharfe Grenze sei und wie man sich nicht den
Glauben angewöhnen dürfe, dass nur in den Anstalten psychisch Kranke sich be-
fanden. Insbesondere solcher auf der Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit
stehenden seien im Leben viele anzutreffen, nur habe man dieser Thatsache bisher
SQ wenig Beachtung geschenkt, ein plumper Materialismus in der medicinischen
Eniehung habe bisher alles Geistige als quantit^ negligeable behandelt, und wenn
262 Referate and Betprechongen.
auch jetzt überall psychiatrische EHiniken erbaut worden seien, so lasse docli der Besacii
derselben zu wünschen übrig und fehle es noch vielfach an der Einsicht, das 8 der
psychiatrische Sinn nicht blos in der psychiatrischen Klinik ron
Nutzen sei. Scharfsichtige Irrenärzte hätten schon lange den ^ck über die
Hauern der Anstalt hinaus gerichtet, um das Psychopathologische in seiner sJliiifih-
lichen Abstufung bis zur evidenten Geisteskrankheit zu studiren. Für die inttlidie
Auffassung gebe es eine Norm einerseits, das Abnorme andererseits. Das Almorme
abbr sei gleichbedeutend mit krankhaft, degenerirt und stets wie dies mit Mangeln
und Beschwerden verknüpft. Das Interesse am Pathologischen wachse, wie die
schöne Litteratur zeige; der herrschende Dualismus resp. Spiritualismas habe bis-
her das Verständniss der krankhaften Geisteszustände gehindert, sie fälschlieher-
weise dem Theologen und Philosophen überwiesen, bis Bedürfhisse der Praxis sie
den Aerzten überlieferten, die an der Hand der Erfahrung und naturwiasenaehalUieher
Betrachtungsweise der Psychiatrie die Stellung erzwungen, die sie heate inne hat
Nach einigen populär- wissenschaftlichen Erörterungen über das Verhiltniss
von Leib und Seele, über den Begriff der Geisteskrankheit etc. wendet sich Yerf.
zu Goethe und dessen Anschauungen vom Pathologischen. Goethe war vermntbUoh
Dualist und. als Dichter, natürlich Psychiker. denn dem Dichter ist der Wahnsimi
der höchste Grad der Leidenschaft. „Dei^ leidenschaftliche Mensch,** sagt Moebins,
„ist (im Sinne des Dichters) der eigentlich Gesunde, gerade ihm aber droht die
Gefahr des Wahnsinns. Eben deshalb hat der Dichter Interesse am Wahnsinn und
sozusagen Respect vor ihm. Wie könnte ihn eine Geisteskrankheit anziehen, deren
Ursache eine ansteckende Fieberkrankheit wäre? Macht nicht die unglfickliohe
Liebe oder Kummer, Sehnsucht wahnsinnig, so ist der Wahnsinn dichterisch fiber^
haupt nicht brauchbar.*' In Wirklichkeit verhält sich die Sache natürlich anders.
Dies wird vom Verf. nun auseinandergesetzt und hinzugefügt, dass die Leiden-
schaftlichkeit bereits ein krankhaftes Symptom ist, wie es an Tasso, Roimeaii,
Lenz, Lenau offenbar geworden. Mit hervorragender Leistungsfähigkeit auf einer
Seite muss sich nach ganz natürlichen Gesetzen auf anderer Seite eine Yerminde-
rung verbinden, es muss Einseitigkeit entstehen und damit ein gewisser Ghrad von
ErankhafLigkeit; das Mittelmässige ist nicht interessant; „die problematiichep
Naturen**, das Abweichende, Abnorme forderten von jeher das Interesse des
Dichters. Goethe und Shakespeare haben die meisten pathologischen Gharaetere.
Doch kann der Dichter das Pathologische nur bis zu einem gewissen Grade branohen,
nämlich nur soweit es noch einigermaassen psychologisch motivirt werden kann;
sonst wird es unverständlich. Goethe, als Psychiker, sucht die pathologischen JBr-
scheinungen natürlich psychologisch auszulegen, auch wo das nicht mehr möglich
ist. So z. B. bei seiner Besprechung der Ophelia und noch fehlerhafter bei LUa,
deren Geisteskrankheit er durch seelische Einwirkung rasch abheilen lässig an-
schliessend an alte, auch jetzt noch populäre Vorstellungen und ohne Einsidit in
den tiefen Grund einer solchen Störung. Es giebt eigentlich nur eine seelische
Krankheit, deren Symptome ausschliesslich seelisch vermittelt sind, die Hysterie, die
man deshalb auch die Dichterkrankheit nennen könnte und die zu diagnoatieiren
man bei poetischen Figuren oft versucht ist.
Wenn man nachforscht, wie Goethe zur Kenntniss krankhafter GeistesroatSode
gekommen ist, so kann es nur sein, weil er in seiner Umgebung solche oft be-
obachtete oder davon las, ohne dass er eigentlich je spedell psychiatrische Stadien
Referate und Besprechungen. 253
betrieb, obwohl er sich yiel mit Medicin und dergl. befasste. Ja er halte sogar
einen Widerwillen gegen Irrenanstalten und hatte, wie er schreibt, „schon genug
an denjenigen Narren, die frei umhergehen.'^ Die Irrenpflege war zur Jugendzeit
Qoethes mangelhaft, später, wie es scheint, wenigstens in Frankfurt von 1775 ab
besser und wohl überhaupt nicht überall so schlimm wie vor Pinel im Bicetre. An
der Weimarschen Irrenpflege hat sich Goethe niemals betheiligt. BezüglicJ^ einiger
bei Goethe oft wiederkehi ender Begriffe macht Moebius nun noch erläuternde
Bemerkungen. So war das Wort „Hypochonder" viel im Gebrauch; dieser Begriff
hatte damals einen weiteren Umfang und bezeichnete man damit reizbare, finstere
Leute, Nervenschwache, Melancholische, an Verfolgungswahn leidende etc., ähnlich
wie man jetzt alles Mögliche „nervös" nennt. „Melancholisch" hatte ungefähr den
gleichen Sinn wie heute, „wahnsinnig" hiess etwa soviel wie geisteskrank über-
haupt, speciell ab^r wenn der Betreffende allerlei „GriUen", d. h. Wahnideen
hatte. Das W^rt „ Verrücktheit-* war selten ; so wurde die Geschichte von der „pil-
gernden Thörin" auch Geschichte von einem „verrückten Mädchen" genannt, ohne
dass dies aber im jetzigen psychiatrischen Sinn passte.
Moebius geht nun im IL Theil über zur Betrachtung der von Goethe ge-
schaffenen pathologischen Figuren. Trotzdem es der längste Theil ist, kann sich
das Referat hier am kürzesten fassen. Werther ist nach Moebius ein Degcnere
sup^neur, bei dem es ohne äusseren Anstoss zum Selbstmord nicht unbedingt hätte
kommen müssen; ihn einen Melancholiker zu nennen wäre falsch. Der im gleichen
Roman geschilderte Hebephrenische ist nach der Natur gezeichnet, es ist der junge
Etechtscandidat Clauer, der im Goethischen Hause wohnte; nur die Aetiologie
— unglückliche Liebe — ist hier nicht ausreichend. In Lila folgt Goethe einem
alten Vorbild aus dem Jahre 1660; der Effect (Heilung) darin wäre nur bei einer
Hysterischen möglich; Goethe wollte in diesem Stücke wohl nur zum Ausdruck
bringen, dass man sich aus krankhaften Seelenstimmungen durch Hinwendung
zur Wirklichkeit befreien könne. Allerdings fallirte er mit dieser Theorie bei dem
kranken Plessing, den er auf der Harzreise besuchte. Aus „Faust" interessirt nur
Gretchens Verwirrtheit, die besser als bei Ophelia, ihrem Vorbild, motivirt er-
scheint durch vorausgegangene Schwangerschaft und Geburt, was indess wohl
Goethe nicht bewusst war. Einige durch zufällige Associalion entstandene Flick-
Terse geben der gebundenen Rede mehr Naturwahrheit, als sie vorher die Prosa
hatte. In „Iphigenie" bleibt uns der Anfall des Orestes und seine Heilung unver-
ständlich. Den Tasso wollte Goethe wohl nicht als Faranoiker hinstellen, seine
erste Idee wurde später durch allzuenge Anlehnung an das Geschichtliche ver-
schlechtert, da die „Grillen" wahrhaftiger Verfolgungswahn sind. Ref. will hier nicht
Tergessen, die Bemerkung von Moebius anzuführen, dass in diesem Falle auch viel-
leicht manches MedicinalcoUegium hereingefallen sein würde. Es folgen nun noch die
Gestalten des Harfenspielers, Mignon. Graf und Gräfin, „schöne Seele", Aurelie,
alle aus Wilhelm Meister. Danach Benvenuto Cellini; aus Wahrheit und Dichtung
Lenz (Dementia praecox) und Zimmermann, der bekannte Verfasser der „Einsam-
keit", als pathologische Personen aus Goethes Bekanntenkreise; femer Patholo-
gisches aus den Walverwandtschafben, Wanderjahren und den kleineren Erzäh-
lungen und einiges über das „Wunderbare" und „Dämonische", wovon Goethe so
oft spricht.
Ein Rückblick auf dies alles lehrt, dass Goethe bezl. der Geistesstörungen in
einer einseitigen psychologischen Auffassung befangen war, dass ihm das tiefere
264 Referate and Besprechungen.
Yentändniss fehlte und er den Wahnsinn nur als Steigerung der LeidenachafteB
oder Folge der Leidenschaftlichkeit ansah. Die von ihm theilweise aas der Phan-
tasie geschaffenen pathologischen Figuren entbehren der Naturwahrheit, nur die
nach dem Leben geschilderten^ wie jener Hebephrene im Werther und der Graf in
Wilhelm Meister, sind wohlgetroffen. Trotz alledem war der Dichter über seine
Zeitgenossen hinaus von der Wichtigkeit des Pathologischen im menschlichen Leben
durchdrungen, erkannte es mit seinem realistischen Blick, sobald es sich ihm zeigte,
und — was die Hauptsache ist — nannte es beim Namen.
Der III. Theil beschäftigt sich mit dem Pathologischen an Goethes Person
selbst. Die 6 Kapitel behandeln 1. seine Familie, 2. seine Jugend« 3. sein Mannet-
alter, 4. sein Greisenalter, 5. seinen Tod. 6. seine Nachkommen. Wie erwähnt,
sind hier die beiden in der Einleitung des Heferates genannten Punkte am inter-
essantesten. Es soll nur kurz bezüglich Nr. 1 hervorgehoben sein, dass Moebins
wie viele andere, Goethe ebenfalls als ein Beispiel für die richtige Beobachtung
Schopenhauers betrachtet, wonach die Söhne die intellectuellen Eigenschaften
von der 3Iutter, die moralischen, die Character begründenden vom Vater erben;
doch ist er keineswegs mit einer so scharfen Trennung der Psyche einverstanden
und macht auf das Bedenkliche darin aufmerksam. In Goethes Vater war das
Pathologische stark, wie es sich besonders im Alter zeigte, wo es überwucherte;
in der Mutter jedoch war es gering. Schopenhauers Lehre als richtig an-
genommen, musste der Grossvatcr Textor stark ins Gewicht fallen, und es scheint,
nach seinen „Ahnungen und Träumen" zu schlicssen, dass, wenn auch latent, eine
dichterische Anlage in ihm steckte. Eine stark pathologische Natur war Goethes
Schwester Comclic, und es ist daraus, dass zwei so verschiedene Menschen von
einem Elternpaar abstammen konnten, zu schliessen, dass es nicht so sehr auf das
Was, sondern viel mehr auf das Wie einer Mischung ankommt, damit sie gut ausfalle.
Bezüglich Goethes Jugend kommt Moebius zunächst auf das Körperliche in
sprechen und führt eine Stelle aus einem Brief Goethes an, die sich ausnehme wie
die Ananmcsc eines Hypochonders. Man ist wirklich erstaunt über diese Masse
hypochondrisch er Klagen, die im Wesentlichen auf Verdauungsbeschwerden hinaus-
laufen, für die der Betroffene zum grossen Theil den Kaffee (!) — in Leipzig! —
verantwortlich macht. G. scheint hauptsächlich viel an Verstopfung gelitten haben.
Die Blutung, die G. in Leipzig hatte und selbst auf „Lungensucht" schiebt, lassi
Moebius in ihrer Ursache unaufgeklärt. Hätte G. selbst recht, so könnte mög-
licherweise ein 2. Blutbrechen, was er im Jahre 1830 hatte, damit zusammenhängen.
vielleicht in Folge eines Narbcnaneur^'smas. Gegen Schwindsucht spricht aber sonst
Gs. ganzes Leben, welches sich mit einer solchen Krankheit nicht vertragen hatte.
Eher muss man annehmen, dass bei dem Blutspeien die Geschwulst links am Halse
mit im Spiele war, die G. hinterher erst erwähnt, die aber damals vorhanden und
vermuthlich ein Absccss war. Die Verdauungsbeschwerden könnten auch an eine
Magenblutung gemahnen, und schliesslich wäre es auch nicht unmöglich, dass es
eine „nervöse Blutung" war. deren wirkliches Vorkommen nach Moebius bei
jugendlichen Nervösen ausser Zweifel ist. (locthe war nervös, reizbar und lebte in
einem fortwährenden starken Wechsel seiner Stimmungen. Nun ist es merkwürdig
zu sehen, wie G. seit dem Strassburger Aufenthalt in einen wunderbaren Erregungs-
zustand geräth, gepaart mit kolossalem Schaffensdrang. Dieser Zustand fesselt den
Blick des Psychiaters, Moebius verweilt länger dabei, aber er kann ihn nicht ent-
räthseln. Er vergleicht ihn mit der manischen Erregung, mit der er wenigstens
Referate und Besprechangen. 255
eine formale Aehnlichkeit habe; und dies ist gewiss richtig. Hier hält sich leider
Moebius zurück, direct das Wort „pathologisch*' anzuwenden. Was schadet es
denn? Und zumal die zur gleichen Zeit auftretenden Schwankungen der Stimmung
bis zur tiefsten Melancholie und die dazu gehörenden Selbstmordgedanken ! Goethe
selbst sucht« die letzteren psychologisch zu erklären, und zwar in allgemeiner Weise,
während Bielschowsky das Gleiche thut, nur dass er specielle Gründe dafür
bringt; natürlich alles äusserlich. Hier wird unser Autor am lesenswerthesten, da
trifft er den Nagel auf den Kopf und drängen sich geistreiche Dicta ; z. B. : ,,Da8
Taedium yitae der Jugend ist offenbar eine Erscheinung aller Zeiten und der ver-
schiedensten Völker. Der junge Buddha sah, dass nichts Bestand habe, und er
Temeinte das Leben. Der junge Schopenhauer schrieb das 4. Buch von Wille
und Vorstellung . . .^ „Man könnte sagen, dass es eben hochbegabten Menschen
eigen sei, den Zwiespalt zwischen dem Ideal und der relativen Nichtigkeit der Welt
besonders schmerzlich zu empfinden ..." „In der Theorie zwar kann man Pessimist
bleiben, aber ein Gefühlpessimist ist eigentlich nur der junge Mensch. Je älter man
wird, um so mehr hängt man am Leben. Das Taedium vitae der Alterskrankheit
Melancholie hat mit dem hier besprochenen Taedium vitae nichts gemein, dieses ist
ein Merkmal der Lebensfülle, jenes ist der Ausdruck des Zusammenbruchs der per-
sönlichen Lebenskraft . . .^ „Man wird den Lebensüberdruss der Jugend psycho-
logisch nicht vollständig erklären können. Es steckt etwas Organisches darin.
Das fühlt ja auch Goethe, der das Physische bei der Sache dem Arzte überlassen
will. Wenn nur der Arzt etwas Rechtes wüsste! Das Thatsächliche ist, dass her-
vorragende Menschen nicht selten in ihrer Jugend eine Zeit des Lebensüberdrusses
durchzumachen haben und dass, wenn der Selbstmord vermieden wird, diese
Stimmung später von selbst aufhört. Daraus, dass die Sache unter den ver-
schiedensten Lebensverhältnissen im Wesentlichen dieselbe ist, kann man darauf
schliessen, dass ihre Ursache im Menschen selbst liegt, daraus, dass sie beim Durch-
schnittsmenschen fehlt, darauf, dass sie in innerer Beziehung zu der einseitigen
Gehirnentwickelnng steht, ein Theil der Abnormität ist, die das Genie darstellt,
sozusagen die ihm eigene Jugendkrankheit." Die für diesen Zustand in Anspruch
genommenen Ursachen sind blosse Gelegenheitsursachen, denen Goethe selbst eben
auch zu viel Gewicht beilegte. Ueberhaupt nennt Moebius die Lehre vom Milieu,*
dass dieses allein den Menschen schaffe, wie er ist, „eine dumme und widerwärtige
Lehre", wobei man dann an die Denkart erinnert wird, nach der in einem bis vor
Kurzem vielgelesenen Buche von Goethe gesagt ist, dass er ein ganz gewöhnlicher
Schuhmacher geworden wäre, wenn er in dem nöthigen Mili^ geboren und erzogen
worden wäre. Für den oben geschilderten Zustand pathognomonisch findet Moebius
auch den Umstand, dass nämlich in den Briefen jener Zeit Goethe nichts darüber
•rwähnt. Die Production des Werkes war, wie nach Goethe selbst, so nach Moebius.
die endgiltige Katharsis von dem Pessimismus und Taedium vitae. Er überstand
die Krankheit, sonst hätte ihm ein Schicksal ä la Lenz gedroht.
In seinem Mannesalter erscheint Goethe ruhig und klar, das Pathologische ist
minimal. Auffallend ist zu hören, wie Goethe so leicht weinte. Zwar hatte er
das, wie es scheint, mit vielen seiner Zeitgenossen gemein ; wenn man aber genauer
zusieht, so ist zu erkennen, dass der Mann Goethe von Zeit zu Zeit Schwankungen
hatte, die man als W^iederkehr der jugendlichen Erregung bezeichnen kann. Es
ist dies etwas Pathologisches oder wenigstens mit pathologischen Zuständen Ver-
wandtes, es erinnert an die periodischen Psychosen, wie sie nicht nur in der Irren-
266 Keferate und Befprecbnngen.
anstalt beobachtet werden, sondern auch draussen an Fallen von sog. „Kerroaitit".
Der erste Anfall pflegt in der Jagend zu erscheinen. Bei Goethe setzte er jedes Mal
ein mit der Wiederkehr der „Herzenspoesie'* und erotischer Erregung ; so z. B. beim
2. römischen Aufenthalt und noch eine Zeit lang fort in Weimar. Etwas gelinder
iu den Jahren 1796—97. Von 1798—1807 war er trocken, unfruchtbar, 1806—180»
trat wieder eine „Verjüngung" auf, ebenso im Alter von 65 Jahren 1814, alt er
den Divan schrieb. Diese eigenthümliche Erscheinung wird natürlich von den Bio-
graphen wieder psychologisch erklärt. Allein diese Erklärungen reichen nicht ans^
wie schön es sich auch anhören mag, wenn es heisst „die Liebe rief die Lieder
hervor; wenu Goethe dies und dies Weib kennen lernte, ergoes er seine Gefühle
in die Lieder*'. Nein, nach Moebius heisst es: „hübsche junge Mädchen und
Frauen hatte Goethe immer in seiner Nähe. Aber er verliebte sich nur, wenn die
Zeit gekommen war**; und Goethe selbst fühlte, dass das Dichten über ihn kam
wie ein Fieber, dass er unter einem organischen Zwange stand, dass er „mosste^.
Die Wiederkehr der erregten Zustände hat keine bestimmte periodische Begel,
doch dauern die Erregungen selbst ziemlich gleich lang, etwa 2 Jahre. Die letzte
setzte im Jahre 1831 ein und dauerte etwa IVt Jahr. Für dieses hohe Alter ist
das etwas Erstaunliches, von der gewöhnlichen Erfahrung Unerfassbares. Goethe
selbst äussert sich darüber : „Solche Männer und ihresgleichen sind geniale Natoren,
mit denen es eine eigene Bewandtniss hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät,
während andere Leute nur einmal jung sind.** Bezüglich der Producte der mhigen
Zeiten ist zu sagen, dass sie relativ denen der erregten weit nachstehen und lange
nicht dieselbe packende Wirkung hatten und haben, wenn sie auch, absolut be-
trachtet, sich dem Besten anreihen. Ausser diesen auffälligen periodischen Erre-
gungszuständen scheinen bei Goethe sehr häufig wechselnde Stimmungen eingetreten
zu sein, und als eine weitere, sehr an das Pathologische gemahnende Erscheinung,
die sich vielfach bei Nervösen findet, ist die seelische Spaltung zu nennen („die
zwei Seelen** wie Goethe sich ausdrückt), derzufolge er Faust und Mephisto in Einer
Brust vereinte und zur Zeit der leidenschaftlichsten Erregung und höchsten gemüth-
liehen Revolution sich selbst wie von Aussen her mit einer unheimlich ruhigen
Kritik betrachten konnte.
lieber Goethes Tod und seine Nachkommen ist das Nähere bekannt, und wenn
auch für diesen Theil die geistreichen kritischen Bemerkungen von Moebius ihr
Anziehendes haben, so dürfte doch bisher der Kern des Buches in der Hauptsache
referirt sein. Der Schluss kann nur sein, dass es ein fesselndes Buch ist, flüsng
und gelenkig geschrieben, ohne viel theoretisch-wissenschaftlichen Ballast, sodass et
für den gebildeten Laien fast verständlich sein dürfte. Man muss sagen „fast'',
denn die Psychiatrie ist schwer populär zu machen, und fühlt sich nicht leicht
Jemand hindurch, der nicht länger practisch damit zu thun gehabt hat. Wenn der
Biograph und sonstige Laie wenigstens nur glaubt, was hier geschrieben steht,
ohne dagegen zu opponiren, und selbst seinen Blick ins Leben richtet, so kann er
zu einer gewissen Erfahrung kommen, die ihm hilft, das Geglaubte noch etwas ver-
ständlicher zu machen. Der Haupt vorzug, den Ref. an diesem Buch findet, ist in
der Einleitung des Referates genannt: er besteht sozusagen in einem gewissen
Gefühl der Versöhnung, die man danach mit jener dunklen Macht, dem Patho-
logischen, empfindet. Man sieht es hier einmal nicht zerstörend, sondern hilfreich
das höchste Menschliche hervorzubringen, ja sogar dazu nothwendig.
W o 1 f f - Mnnsterlingen.
Kritische Bemericungen über den gegenwärtigen Stand der Lehre
vom Hypnotismus.*)
Von
Dr. philos. Leo Hirschlaff, Arzt in Berlin.
Seit dem Erscheinen der classischen Lehrbücher des Hypnotismus
von MolP), ForeP), Bernheim*) u. A., zu denen sich in neuerer
Zeit die zusammenfassenden Werke von yan Renterghem^) und
▼ an Eeden, Lloyd-Tuckey '^) und Loewenfeld*) gesellt haben,
hat die Wissenschaft des Hypnotismus in Theorie und Praxis mannig-
fache Bereicherungen erfahren, die einer zusammenhängenden Dar-
stellung noch nicht unterworfen worden sind. Während firüher nur
wenige hervorragende Vertreter der Wissenschaften sich mit dem Problem
der hypnotischen Phänomene in wohlwollender Weise beschäftigten,
ist die Kenntniss dieser Dinge -gerade in den letzten Jahren so weit
vorgeschritten, dass die Lehre vom Hypnotismus sowohl in der Praxis
der medicinischen Therapie, wie in den theoretischen Wissenschaften
immer mehr Boden gewinnt. Wie jedes Mal, wenn ein neues Gebiet
erschlossen wird und sich allmählich zu einer Wissenschaft consolidiert,
so tritt auch hier die Nothwendigkeit ein, auf der im Grunde genommen
jeder wissenschaftliche Fortschritt beruht: Kritik zu üben an den
Leistungen und Ergebnissen der Forschung, das wissenschaftlich Werth-
voUe von dem Werthlosen zu sondern und aus der vorurtheils&eien
Beobachtung der Thatsachen Material zu gewinnen zu einer immer
schärferen Fassung der Begriffe und vor Allem zur sachlichen Erklärung
der beobachteten Erscheinungen. Gerade in dieser Beziehung hat sich
in den letzten Jahren vielleicht ein Nachlass der Bemühungen geltend
gemacht. Anstatt den Begriff der Suggestion, der seit Delboeuf's
Ausspruche auf dem 1892 er Congresse für experimentelle Psychologie in
*) Nach einem Vortrage, gehalten am 30. VI. 1898 in der Psychol. GeseÜBchaft,
Abtheilung Berlin.
Zeitschrifk fUr Hsrpnotismtts etc. Vin. 17
268 ^^0 Hirschlaff.
London im Mittelpunkte der Discussion steht, immer schärfer zu prft-
cisiren imd gegen verwandte Erscheinungen abzugrenzen, hat sich die
Neigung herausgebildet, beinahe jeden seelischen Act als Suggestion
zu bezeichnen oder doch auf Suggestion bezw. Autosuggestion zorück-
zufiihren, so dass das Characteristische dieses Begriffes sich immer mehr
verliert. Ein Beispiel für diese Behauptung liefert u. A. Stoll^ in
seiner Schrift über die Bedeutung der Suggestion in der Völkerpsycho-
logie. Er erklärt hierin jede Vorstellung, die in uns durch verschiedene
Mittel seitens der organischen und anorganischen Aussenwelt wach-
gerufen wird, für eine Suggestion, und führt auf Grund dieser Verall-
gemeinerung des Begriffes fast die ganze Entwicklung der Menschheit,
sowie sämmtliche Erscheinungen der Weltgeschichte auf Suggestion
zurück. Religion und Erziehung, die Wunderthaten Christi und die
Gewohnheit des Tabakgenusses, die Anregung der Speichelsecretioo
durch den Anblick einer Citrone: Alles das ist nach ihm Suggestion.
Die von Bald win*), Janet*), Schmidkunz^®), Wundt^^) u. A.
gegebenen Definitionen der Suggestion leiden an dem gleichen Fehler.
Auch der Begriff der Hypnose beginnt von seiner characteristischen
Prägung immer mehr einzubüssen. Schon Moll hatte darauf aufmerksam
gemacht, dass bei der sog. oberflächlichen Hypnose von einer Schlaf-
ähnlichkeit gar keine Bede sei; MazHirsch^^ hatte in Erkenntniss
dieser Thatsache den Ausdruck Captivation einführen wollen, der sich
aus später zu erörternden Gründen nicht empfiehlt; und es besteht
in der That kein Zweifel darüber, dass zwischen der oberflächlichen
und der tiefen, somnambulen Hypnose ein so grundlegender Wesens-
unterschied besteht, dass sie weiter nichts als den Namen gemeinsam
haben. Die weitere Ausführung dieser Behauptung soll den nach-
folgenden Zeilen vorbehalten bleiben. Wir möchten jedoch schon an
dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Erkenntniss geeignet sein
dürfte, die noch heute vielfach bestehende und zum Theil sicherlich
nicht unbegründete Abneigung vieler Psychologen und Mediciner gegen
die Anwendung der Hypnose zu zerstören. Es ist deshalb nach
unserer Meinung bedauerlich, dass der verdiente Herausgeber dieser
Zeitschrift für die von ihm inaugurirte, werthvoUe Methode der psy-
chologischen Selbstbeobachtung im eingeengten Bewusstseinszustande
den Namen eines hypnotischen Zustandes verwendet, trotzdem das
Wesen dieses Zustandes, wie wir später ausführen werden, durchaus
nicht in den Merkmalen begründet ist, die für eine wirkliche Hypnose
characteristisch sind.
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 259
Diese Missstände der Namengebung führen uns zu einem anderen
Uebelstand, der sich in der Literatur des Hypnotismus, wie auch in
seiner practischen Handhabung, unangenehm bemerkbar macht: die
mangelnde Unterscheidung des therapeutischen und des experimental-
psychologischen Hypnotismus. Es muss endlich einmal mit Nachdruck
darauf hingewiesen werden, dass die therapeutische Hypnose etwas
gänzlich Anderes ist und mit gänzlich anderen Mitteln arbeitet als die
zu experimentellen Zwecken eingeleitete Hypnose, die nicht selten ge-
eignet ist, der Versuchsperson geradezu Schaden zu bringen. Es ist
werthlos imd unverständig, Kranke in der Hypnose die bekannten
Scherze ausfuhren zu lassen, indem man sie veranlasst, Kartoffeln statt
Obst zu essen, Dinge zu sehen, die nicht vorhanden sind, oder Dinge
zu übersehen, die thatsächlich existiren; selbst das Unvermögen, die
Augen zu öffiien oder die sich um einander drehenden Hände einhalten
zu können, die Kunst, Muskelsteifigkeiten und -Erschlaffungen auf
Befehl des Hypnotiseurs eintreten zu lassen, ist, wie schon der Kreis-
physicus Wegner^^) in Lissa sehr treffend erkannt hat, therapeutisch
werthlos und manchmal eher schädlich als nützlich, obwohl diese Ex-
perimente zum Zwecke psychologischer Studien sehr interessant und
werthvoU sein können. Ich hoffe, unten den Nachweis erbringen zu
können, dass nicht nur der Zustand, der zu therapeutischen Zwecken
eingeleitet wird, sich von der experimentellen Hypnose unterscheidet,
sondern dass sogar die therapeutischen Suggestionen in ihrem Wesen von
den eigentlich experimentell zu studirenden Suggestionen grund-
verschieden sind.
Wenn man die Literatur der Erfolge der hypnotischen Behand-
lung durchblättert, so staunt man über die Mannigfaltigkeit der Krank-
heiten, die der hypnotischen Behandlung mit Erfolg unterzogen worden
sind. Es giebt zur Zeit keine fimctionelle oder organische, körperliche
oder seelische Erkrankung, bei der nicht Ebrfolge der hypnotischen Be-
handlung berichtet wären. Lungenschwindsucht, Warzen, Krebse
sämmtlicher Organe, Gelenkrheumatismus, Furunculose, Geisteskrank-
heiten und was man sonst sich wünschen und erdenken kann: Alles
weicht gänzlich oder zum Theil der Kunst des Hypnotherapeuten. Es
soll mir nicht einfallen, diese thatsächlich erzielten Erfolge irgendwie
bestreiten zu wollen. Zwar sind es manchmal vielleicht nur scheinbare
oder schnell vorübergehende Besserungen, die in der Literatur als
complete Heilungen sich darstellen, und nicht selten ist die Diagnose
der Krankheitszustände oberflächlich und fehlerhaft, von anderen Ein-
17*
260 I^M Hinchkfi
Wendungen abgesehen. Trotzdem wird man nicht omhin können« an-
zuerkennen, dass die H^-pnotherapie thataacblich grosse und über-
raschende Erfolge auch bei organischen Erkrankungen zu Stande bringt
Indessen wäre es höchst verfehlt, sich bei dieser Thatsache zu be-
ruhigen. Es erwächst uns yielmehr die Aufgabe, das therapeutische
Agens ausfindig zu machen, das diese Erfolge der Hypnose und der
Suggestivtherapie hervorbringt Denn dass die Hypnose kein speci-
fisches Heilmittel ist in dem Sinne, wie das Chinin etwa gegen manche
Malariaerkrankungen, das ist dem Eingeweihten schon lange ein offenes
Geheimniss. Wie wirkt also diese Art der Therapie und wie sind ihre
Erfolge zu erklären ? Das ist die Frage, die bisher zu wenig beachtet
worden ist, und zu deren Lösung wir einen kleinen Beitrag leisten zu
können hoffen. Aus der Beantwortung dieser Frage wird sich zugleich
ergeben, ob die Hypnotherapie als solche geeignet ist, in den Schatz
der allgemeinen Therapie aufgenommen zu werden; oder ob vielleicht
der Hypnose ganz bestimmte, eng be-grenzte Indicationen zukommen,
während die Psychotherapie im Wachzustande bei den übrigen Er-
krankungen ergänzend eintritt.
Dies sind im Wesentlichen die Gesichtspunkte, die uns bei der Ab-
fassung der vorliegenden Arbeit leiteten, um sie durchführen zu
können, wollen wir eine kritische Uebersicht der Literaturerzeugnisse
der letzten 4 Jahre veranstalten, ohne auf absolute Vollständigkeit der
referirten Arbeiten Gewicht zu legen. Wir ziehen es deshalb vor, das
Thema nach bestimmten Gesichtspunkten zu gruppiren, und werden die
Literatur der besprochenen Werke am Schlüsse der Arbeit aufitihren.
Wir sehen dabei von dem rein Hypothetischen, Speculativen, das leider
einen grossen Theil der hypnotischen Literatur ausmacht, mehr oder
weniger ab und beschränken uns in der Hauptsache auf dasjenige, was
dauernd werthvoU und für die Praxis oder Theorie des Hypnotismos
gewinnbringend erscheint. Auf die ältere Literatur, deren Kenntniss
vorausgesetzt werden muss, kann nur soviel Rücksicht genommen
werden, als zur Präcisirung der erreichten Fortschritte nothwendig ist
Wir wollen unsere Darlegungen in einen practischen Theil gliedern,
der im Wesentlichen denjenigen Forschungsergebnissen gewidmet seiu
soll, die in practischer Beziehung, insbesondere für die therapeutische
Handhabung des Hypnotismus, von Bedeutung sind, und in einen theo-
retischen Theil, der die psychologischen Fortschritte der theoretisch«!
Lehre im weitesten Sinne behandelt.
Zunächst soll uns die Methode des Hypnotisirens beschäftigen.
4
Kritische Bemerknngen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismos. 261
wie sie jetzt von den meisten nnd hervorragendsten Vertretern des
Faches als zweckmässig und bewährt anerkannt und geübt wird. Die
früher üblichen Methoden, wie sie auf die Empfehlung von Oharcot,
Hansen, Luys noch vor kaum 2 Jahrzehnten fast ausschliesslich an-
gewendet wurden, können jetzt im allgemeinen als verlassen gelten. Die
Fixationsmethoden nach Braid haben der Liöbeault^*)- Bern heim-
Wetter Strand 'sehen Methode das Feld räumen müssen, die die
Suggestion als hauptsächlichstes Hjpnotisirungsmittel verwerthet. in
der neueren Literatur, deren Besprechung wir uns zur Aufgabe gesetzt
haben, hat TatzeP^) noch einmal auf die Nachtheile der älteren
Methoden hingewiesen. ForeP*) warnt vor der Anwendung der Fixa-
tionsmethoden wegen der unangenehmen Folgeerscheinungen derselben,
die sich in Kopfschmerz, Schwindel, Uebelkeit u. s. w. äussern. Gross-
mann^^ macht gegen die Fixation geltend, dass sie zur Selbsthypnose
Veranlassung geben könne. Dass von ihm selbst angewendete Ver-
fahren, das sich in vielen Fällen sehr brauchbar erweist und auf einer
Combination der Fascinations- und Suggestionsmethode beruht, be-
schreibt er in einem Vortrage auf der 66. Naturforscherversammlung
in Wien 1894. Eine ausführliche Darstellung aller Bedingungen einer
guten Hypnose giebt Brodmann^^) in seiner Abhandlung: Zur Me-
thodik der hypnotischen Behandlung. Er empfiehlt die fractionirte
Methode Vogt 's, die in der wesentlich suggestiven Hervorrufung
mehrerer kurzer Hypnosen hintereinander besteht, und zählt alle die
mannigfachen Massnahmen und Vorsichtsmassregeln auf, die ein sorg-
fältiger Hypnotiseur treffen muss, um Erfolg zu erzielen und unan-
genehme Nebenwirkungen zu vermeiden. Zur Vertiefung der Hypnose
bei Kranken, die den Bemühungen des Hypnotiseurs absichtlich oder
unabsichtlich Widerstand leisten, giebt D öl Iken '•) folgenden Trick
an: man solle die Kranken nach einem fruchtlosen Hypnotisirungs-
versuche aufstehen und einige Minuten im Zimmer umhergehen lassen ;
es trete dann stets ein sonderbares Gefühl von Schwere und Druck im
Kopfe ein, das auf eine sich sofort anschliessende Hypnose begünstigend
und vertiefend einwirke. Bonj our ^^)-Lausanne giebt den beherzigens-
werthen Kath, den Hypnotisirten die Suggestion zu ertheilen, dass sie
weder sich selbst hypnotisiren, noch von anderen, es sei denn zu Heil-
zwecken, in Hypnose versetzt werden könnten. Der hypnotische Dauer-
schlaf, der in einer künstlichen Verlängerung einer oberflächlichen oder
tiefen Hypnose über Wochen oder Monate hinaus mit mehr minder kurzen
täglichen Unterbrechungen besteht, ist von Wetterstrand *^) zuerst
262 J^eo HinchlAff.
angewendet und empfohlen worden. Bei schwerer Hysterie, zumal bei
hysterischen Geistesstörungen, aber auch zur Behandlung des chronischen
Morphinismus, Cocainismus, Alcoholismus etc. ist diese Methode über-
aus brauchbar und giebt unter Umständen glänzende EIrfolge selbst da,
wo Einzelhypnosen die Wirkung versagen. Eine vereinfachte Methode
des Hypnotisirens beschreibt J o h n F. W o r d. **) Er lässt die Patienten
sich bequem hinsetzen oder hinlegen, die Augen schliessen, die Muskeln
entspannen und bis zu 20 Minuten in dieser Stellung verharren, indem
er höchstens noch die Hand auf ihre Stime legt und Schlaf suggerirt
Wenngleich man mit dieser Methode tiefe Hypnosen nur ausnahms-
weise erzielen wird, halten wir das Verfahren dennoch für viele Fälle
für ausreichend ; wir werden später zu untersuchen haben, worauf die
Heilwirkung einer solchen Therapie beruht. Farez^') schlägt neuer-
dings vor, während des natürlichen Schlafes besonders bei Geistes-
kranken Suggestionen zu ertheilen; er will von diesem Verfahren vor-
zügliche Erfolge gesehen haben. Wir haben weder über die Aus-
führbarkeit der Methode noch über ihre Resultate eigene Erfahrungen,
glauben aber, dass dieser Vorschlag der kritischen Nachprüfung ebenso
werth wie bedürftig ist. Die Frage, ob Massenhypnose oder Einzel-
hypnose zweckmässiger sei, wird von den meisten Autoren zu Gunsten
der Massenhypnose entschieden. Wir glauben mit Moll, dass die
Einzelhypnose in den meisten Fällen geeigneter ist. Da das Wesent-
liche bei jeder hypnotischen Behandlung die Suggestionen sind, die man
im hypnotischen Zustande den Kranken giebt und die der individuellen
Eigenart der Krankheit und des Kranken in jedem einzelnen Falle genau
angepasst sein müssen, während die Hypnose als solche, wie wir unten
sehen werden, nur einen sehr geringen Heilwerth für sich beanspruchen
kann, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das übliche System
der gleichzeitigen Hypnotisirung mehrerer Kranken unhaltbar und un-
zweckmässig ist.
Eine Frage von einschneidender Bedeutung für die Praxis des
Hypnotisirens sowohl, wie für den wissenschaftlichen Ausbau der Theorie,
wie später gezeigt werden wird, ist die Frage, ob eine oberflächliche
oder tiefe H}'pnose zur Anwendung zweckmässiger sei. Unter einer
tiefen Hypnose verstehen wir einen Zustand, der durch wesentliche Ab-
weichungen von dem normalen Geisteszustände gekennzeichnet ist, als
da sind: gänzliche Aufhebung der ürtheils- und Kritikfähigkeit, nach-
folgende Amnesie und Realisation von posthypnotischen Suggestionen.
In der Regel wird sich dieser Zustand auch für den weniger Ein-
r
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismos. 263
geweihten als ein wirklicher Schlaf oder etwas sehr Aehnliches darstellen,
ohne dass wir damit zu der Eintheilnng der Grade der Hypnose uns
bekennen wollen, di^Forel, Liöbeault^*), Bernheim ^*), Gross-
mann u. A. in der Literatur vertreten haben, gegen die sich Moll
in seinem Lehrbuche des Hypnotismus mit bemerkenswerthen Gründen
wendet. Verstehen wir also, ohne den theoretischen Erwägungen vor-
zugreifen, unter einer tiefen Hypnose eine solche, die von dem normalen
Wachzustande in wesentlichen Merkmalen abweicht, so sind die Mei-
nungen der Autoren über die oben aufgeworfene Frage zur Zeit noch
getheilt. Grossmann**) verwirft die tiefe Hypnose aus mehrfachen
Gründen: 1) mit van Eeden aus ethischen Gründen, deren nähere
Darlegung überflüssig sein dürfte ; 2) weil sie meistens auf verbalem
Wege nicht gelingt; 3) weil wegen der Amnesie die Mithülfe des Pa-
tienten ausgeschaltet wird. Döllken und von Schrenck-Notzing*')
fügen diesen Gründen die Erfahrungsthatsache hinzu, dass die Tiefe
der Hypnose durchaus nicht parallel gehe mit der Suggestibilität ;
Wegner betont, dass gerade die werthvoUen Wirkungen der Suggestiv-
behandlung in der oberflächlichen Hypnose gerade so gut erzielt werden
können wie im somnambulen Zustande. Auf der anderen Seite tritt
Wetterstrand bei Morphinisten für eine möglichst tiefe Hypnose
ein, da die erzieherische Wirkung der Behandlung sich mit der Tiefe
der Hypnose steigere. Vogt und seine Schule, Hilger,^®) Brod-
mann u. A. sind in jedem Falle für möglichst tiefe Hypnose; ja, sie
befürworten sogar eine planmässige Erziehung zur Somnambulhypnose,
die Vogt in einem Falle durch 600, in einem anderen Falle durch
700 Hypnotisirungsversuche erreicht hat. Wir selbst nehmen in dieser
Frage einen vermittebiden Standpunkt ein. Da wir der Meinung sind,
dass bei der therapeutischen Verwendung der Hypnose von den ge-
wöhnlich ausgeführten experimentellen Scherzen kein Gebrauch zu
machen sei, so vermeiden wir in allen gewöhnlichen Fällen eine tiefe
Hypnose durchaus. Wir vermeiden es sogar principiell, uns selbst
experimentell davon zu überzeugen, ob die Hypnose tief oder ober-
flächlich ist, ob der Hypnotisirte im Stande ist, die Augen von selbst zu
ö£Enen, ob auf Befehl cataleptische Erscheinungen eintreten und positive
oder negative Hallucinationen sich verwirklichen. Aucl) die nach-
folgende Amnesie, sowie die Hervorrufung von posthypnotischen Sug*
gestionen, die nicht direckt einen Heilzweck verfolgen, erscheint uns
für die therapeutische Hypnose werthlos und schädlich. Diese Spiele-
reien sollten in der Therapie keinen Platz finden; sie haben nur für
864 ^o Hirschlaff.
den Experimentalpsychologen Interesse and Bedentung. Die Heil-
suggestionen, die sich in der Hypnose wirksam erweisen, sind tob
gänzlich anderem Charakter als diese experimentellen Suggestionen, und
bedürfen zu ihrer Realisation keiner erheblichen Abweichung vom nor-
malen Geisteszustände. Daher ist es besser, wenn die Urtheilsfahigkeit
der Patienten in der Hypnose ungestört bleibt, sodass zur Verwirk-
lichung der therapeutischen Suggestivvorstellungen die eigene Energie
der Kranken mit herangezogen wird. Jedoch giebt es Ausnahmen, wo
Yon diesem principiellen Standpunkte abgewichen werden muss. Es
giebt eine Reihe von Fälleu, in denen eine tiefe Somnambulhypnoee so
leicht eintritt, dass es beinahe schwerer hält, den Eintritt dieses Zu-
standes zu verhindern, als ihn hervorzurufen. Nach unserer Erfahrung
sind dies diejenigen Fälle, in denen eine schwere Schädigung des Cen-
tralnervensystems von vorzugsweise functionellem Oharacter vorliegt,
also Fälle von schwerer Hysterie und hysterischen Psychopathien, acutem
und chronischem Alcoholismus, Morphium-, Cocain-, Haschisch- und
Chloroform-Vergiftung u. s. f. In diesen Fällen haben wir die Hyp-
nose meist überaus leicht eintreten sehen — einige Fälle von Hysteria
gravis ausgenommen — und wir sind mit dem Erfolg der tiefen Hyp-
nose stets zufrieden gewesen; wir glauben, dass man schädliche Folgen
in ethischer Beziehung bei einiger Vorsicht wohl vermeiden kann, wenn-
gleich die positiven Heilerfolge in solchen Fällen auch durch eine minder
tiefe Hypnose ebenso schnell und ebenso günstig erzielt werden können.
Ohne diese Indication jedoch würden wir eine tiefe Hypnose zu thera-
peutischen Zwecken für unberechtigt imd zwecklos erachten. Wir
leugnen durchaus nicht, dass eine tiefe Somnambulhypnose mit allen
Merkmalen derselben bei ganz Gesunden durchaus möglich ist und sogar
oft sehr leicht eintritt. Aber wir verwerfen die Anwendung dieser
tiefen Hypnose als zwecklos und ethisch schädlich, es sei denn bei Er-
füllung der oben präcisirten Indicationen oder zu experimentellen Zwecken.
Nur bei einzelnen Ausnahmefällen, bei denen das therapeutisch wirksame
Princip der Hypnose lediglich in dem Wunderglauben beruht, den die
Patienten der Hypnose entgegenbringen, halten wir eine Abweichung
von diesem Standpunkte für erlaubt und verwenden hier selbst die ex-
perimentellen Scherze, die von den Kurpfuschern planlos in jedem Falle
verwandt werden. Auch bei Kindern und Ungebildeten, die kein Ver-
ständniss für die therapeutischen Absichten des Arztes haben, halten
wir ein derartiges Vorgehen in einzelnen Fällen für statthaft Wo aber
die hier aufgeführten Indicationen nicht zutreffen, beschränken wir uns
Kritiflche Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 265
prinoipiell auf eine oberflächliche Hypnose, bezw. auf einen hypnose-
ähnlichen Zustand, dessen weitere Characteristica zu beschreiben, später
xmaere Aufgabe sein wird.
Wir besprechen nunmehr die Phänomenologie des Hypnotismus,
soweit sie in den letzten Jahren eine Bereicherung erfahren hat. D e -
lins ^*)-Hannover giebt an, was schon Wetterstrand behauptet hatte,
dass das Warmwerden der Hände ein Zeichen eingetretener Hypnose
sei. Wir können einen Zusammenhang dieser entweder zufälligen oder
durch Suggestion bedingten Erscheinung mit der Hypnose nicht er-
kennen. Brügelmann^^) theilt einen Fall von erotischer Erregung
in der Hypnose mit, der mit völliger Amnesie einherging, und der in
der Literatur eine lebhafte Discussion hervorgerufen hat. Stadel-
mann^^) fuhrt mehrere Fälle erhöhter Sexualität aus seiner Erfahrung
an. Loewenfeld^') weist darauf hin, dass es sich hier nicht um ein
hypnotisches, sondern ein hysterisches Phänomen handle. Wir selbst
haben die Beobachtung gemacht, dass diese erhöhte Sexualität in der
Hypnose, die wir mehrfach gesehen haben, nur dann eintritt, wenn
wahrend der Hypnose eine Berührung des Patienten stattfindet, wie sie
häufig angewendet wird in Gestalt des Auflegens der Hände auf die
Stirn etc. Ohne diese physische Berührung, deren sinnlich erregende
Wirkung wohl auch im Wachzustande, wenn auch im geringeren Maasse
beobachtet werden kann, haben wir eine erotische Exaltation auch bei
sexuell hyperästhetischen Hystericis nicht eintreten sehen. Diese Er-
kenntniss hat uns zugleich in den Stand gesetzt, das in B^de stehende
Phänomen zu vermeiden, während die directe Suggestion sich relativ
machtlos dagegen erwies; nur die prähypnotische Suggestion, dass eine
solche Erregung in der Hypnose nicht eintreten werde, war in einigen
Fällen von Erfolg begleitet. Von einem umfassenderen Gesichtspunkte
aus hat Vogt '^) diese Frage in einer trefi'lichen Monographie über die
spontane Somnambulie in der Hypnose bearbeitet. Nach ihm sind, wie
wir später ausführlicher erörtern werden. Schlaf und Hypnose in ihrem
Wesen identisch. Die Träume des tiefen Schlafes entsprechen einem
drcumskripten, systematisch eingeengten Wachsein; sie sind mehr
weniger logisch, zusammenhängend mit der Persönlichkeit, zeigen Am-
nesie und motorische Aeusserungen verschiedener Art. Die gleichen
Characteristica finden sich bei der spontanen Somnambulie in der tiefen
Hypnose. Die Träume des oberflächlichen Schlafes dagegen beruhen
auf einer diffusen Dissociation des Bewusstseins ; ihr Inhalt ist unlogisch
und unzusammenhängend mit der Persönlichkeit; sie verlaufen ohne
266 Leo Hinohlaff.
Amnesie und ohne motorische Aeussenmgen. Träume yon dieser Art
finden sich in der oberflächlichen Hypnose vor. — Döllken und
Crocq fils'^) zeigen, was freilich in der älteren Literatur bereits be-
kannt war, dass die Amnesie der Hypnotisirten nicht immer eine Toll-
ständige zu sein braucht sondern dass vielfach einzelne Wahrnehmungen,
sei es im Wachzustände, sei es in Träumen des normalen Schlafes oder
einer späteren Hj-pnose, zur Erinnerung gelangen, besonders wenn sie
von lebhaftem Affect begleitet waren oder wenn zufallig später dieselben
Associationen eintreten. Ferner macht Crocq fils auf die interessante
Erscheinung der electiven Suggestibilität aufmerksam, die in hysterischen.
hysterisch-hypnotischen und narkotisch-hypnotischen Zuständen nicht
selten beobachtet wird. Z. B. ist für die Haschisch-Hypnose besw.
-Narkose die Lustrauschsuggestion besonders characteristisch^ während
der Alcoholisirte eine vorzugsweise Neigung zu Kraftproben und lu
sexuellen Vorstellungen und Handlungen zeigt. — Köhler'^)-Elberfeld
hat die bekannten Versuche von v. Krafft-Ebing**) wiederholt und
kritisch beleuchtet, in denen eine Umwandlung der Persönlichkeit durch
Suggestion herbeigeführt wird. Seine Versuchsperson, der 22-jährige
Arthur Rieck, zeigt dieselben merkwürdigen Erscheinungen, die von
K rafft- Eb in g seiner Zeit, freilich unter dem Widerspruche fast
aller Autoren auf eine Reproduction früherer Erinnerungen zaröck-
ge führt hatte. Simulation glaubt Köhler ausschliessen zu dürfen.
In ein 2-jährige3 Kind verwandelt, betet die Versuchsperson das Vater-
unser; als Mädchen urinirt er ritu feminarum; criminelle Suggestionen
glücken, Vesication dagegen nicht. Köhler zieht aus seinen Be-
obachtungen den Schluss, dass es sich bei dieser Umwandlung der
Persönlichkeit nicht um eine reine Reproduction alter Erinnerungsvor-
gänge handle, wie von K rafft -E hing angenommen hatte, sondern
dass nur eine partielle Reproduction mit Einmischung von Thatsachen
aus der Gegenwart stattfinde. Wir glauben mit Jelly'') und von
Schrenck-Notzing'^), dass es sich hierbei nur um Thatsachen ans
der Gegenwart handelt, die die Versuchsperson zu einer geschickt ge-
spielten Komödie verarbeitet. Freilich veranlasst sie zu dieser Komödie
nach unserer Meinung nicht die Simulation oder die Lust zu schau*
Spielern, wie andere behauptet haben, sondern vielmehr der suggestive
Befehl, dessen sie sich, so gut sie kann, zu entledigen gezwungen fühlt
— Gley '•) hat die Erscheinungen der Hypnose bei Fröschen studirt und
gefunden, dass junge und abgemagerte Frösche leichter zu hypnotisiren
sind, als erwachsene und kräftige Thiere. Auf die physiologischen und
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 267
psychologischen Consequenzen, die er aus diesen Versuchen zieht,
werden wir später einzugehen haben. Als Curiosum sei erwähnt, dass
Warthin *®)-Michigan die Wirkung der Musik an Hypnotisirten zu
studiren unternahm. Er fand an mehreren Versuchspersonen, die sich
ausnahmslos aus gesunden Medicinem zusammensetzten, dass der Wal-
kürenritt von Wagner die Pulszahl und -Spannung vermehrte, die Re-
spiration von 18 auf 30 p. m. steigerte und Bewegung aller Muskeln
hervorrief, sowie reichlichen Schweis auf der Haut; zugleich trat die
Empfindung eines feurigen Laufes durch den Raum auf. Aehnliche
Wirkungen traten bei anderen Musikstücken hervor, während im wachen
Znstande keine von diesen Erscheinungen beobachtet wurde. Wir
glauben, dass nur ein sehr geringer ßruchtheil dieser Wirkungen phy-
siologischer Natur ist und somit freilich auch im wachen Zustande bei
gehöriger Aufmerksamkeit sich feststellen lassen müsste; alles übrige
ist znm Theil auf Suggestion zuriickzuführen, da die Versuchspersonen
von dem zu erwartenden EflFect der Untersuchung zweifellos unter-
richtet waren, zum Theil aber auch vielleicht auf ein gewisses Mit-
träumen in der Hypnose, das eine mehr willkürliche Erregung der ge-
schilderten Art zur Folge hatte.
Wir kommen zur Praxis des Suggerirens. Während man sich
früher darauf beschränkte, die Suggestionen in der Weise zu ertheilen,
dass man einfache affirmative Behauptungen aufstellte und deren Ein-
treten in überzeugenden Tone versicherte, ist man jetzt immer mehr
zu der üeberzeugung gekommen, dass ein derartiges, plumpes Ver-
fahren unzweckmässig ist und in den seltensten Fällen zum Ziele führt.
Es ist ein Verdienst von Grossmann, mit Nachdruck darauf hin-
gewiesen zu haben, dass man die Suggestionen motiviren und plausibel
machen muss. Anstatt also zu sagen, dass ein Schmerz, über den ein
Patient klagt, nach der Hypnose verschwunden sein werde, muss man
vielmehr in der Weise vorgehen, dass eine thatsächliehe Veränderung
der Schmerzempfindung durch Aufhebung von Hautfalten und Drücken
derselben, oder durch blosses Auflegen der warmen Hand etc. hervor-
gerufen und sodann zunächst nur ein Nachlassen imd allmähliches Ge-
riogerwerden der Schmerzen suggerirt wird. Ringier*^) und Cul-
1er re*^) haben diese Redaction der Suggestion bei der Enuresis noc-
turna der Kinder ausführlich beschrieben. Ringier analysirt z. B.
die einzelnen Krankheitserscheinungen und suggerirt dann je nach der
Ursache der Erkrankung, die ein Mal in Angstgefühlen, ein ander Mal
in ungenügendem Erwachen oder in einem Mangel des Geruchssinnes
268 ^eo Hinchlaff.
oder der EmpfiDdlichkeit der Urogenitalschleimhaut gelegen sein kaii%
nicht nur, dass die betreffende Erscheinung eintrete, oder yerschwinde,
sondern wie sie eintrete und dem Bewusstsein sich darstelle« ür ver-
anschaulicht und malt gleichsam die therapeutische SuggesüvTcrstelliiiig
aus ; in geeigneten Fällen unterstützt er die Wirksamkeit der Suggestion
auch dadurch, dass er ihr einen mehr thatsächlichen, greifbaren InhiU
giebt, wie es schon von Bernheim und anderen empfohlen worden
ist. Auch für die Behandlung der Neurasthenie giebt Ringier*')
einige vortreffliche Bathschläge. fk zeigt, dass durch den Versuch,
die neurasthenischen Beschwerden direct wegzusuggeriren , dieselben
yielmehr bestärkt und grossgezogen werden ; es komme vielmehr darauf
an, das verworrene Denken der Neurastheniker zu corrigiren, das be-
ständige Belauschen des kranken Gebietes, die verkehrten Auslegungen
der vorhandenen Erscheinungen abzusuggeriren und so nicht die Symp-
tome, sondern die psychopathischen Ursachen der Erkrankung zu be-
kämpfen. In ähnlichem Sinne veröffentlicht T atz el^^) einen Fall von
hysterischen Anfallen, in dem er bei directer Suggestion keine Wirkung
sah. Es waren Krampfanfälle vorhanden, die nur Nachts auftraten.
Die directe Suggestiou, dass die Anfälle nicht mehr auftreten würden,
versagte vollkommen. Dagegen trat eine prompte Wirkung ein, als
die Suggestion gegeben wurde, dass die Patientin nicht mehr so fest
schlafen und auch im Schlafe auf sich achten und an das denken werde,
was ihr gesagt worden sei, sodass sie beim ersten Anzeichen des An-
falles wach sein uud auf diese Weise die Anfälle vermeiden würde. —
Auch Wetterstrand empfiehlt, bei der Behandlung der Morphinisten
keine Täuschung von Seiten des Arztes anzuwenden, ebenso wie man
jedes Schelten und jede sittliche Entrüstung vermeiden solle, im wachen
Zustande sowohl wie in der Hypnose. Auf einen Hinderungsgrund, der in
tiefer Hypnose vielleicht uicht ganz selten in die Erscheinung tritt,
macht Voisin^^) aufmerksam, dass uämlich in der tiefen, mit Catar
lepsie verbundenen Hypnose die Patienten häufig nicht hören, was der
Hypnotisirende spricht, so dass die Suggestionen sich nicht realisiren
können. Man wird sich deshalb jedes Mal, wenn eine Suggestion in
tiefer Hynose misslingt, durch Fragen davon überzeugen müssen, ob
der Hypnotisirte die Suggestion, die man ihm gegeben, überhaupt ver^
standen hat. Eventuell kann man in solchen Fällen vor dem Schlafe,
also prähypnotisch, die Suggestion ertheilen, dass der Schlaf nicht so
tief sein werde und dass die Person jedes Wort des Hypnotiseurs ver-
stehen werde. Auch in anderem Sinne emptiehlt sich die von S t e m b o ^*)
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 269
schon früher vorgeschlagene; prähypnotische Suggestion. Wir haben
es zweckmässig gefunden, die psychotherapeutische Correctur der ver-
kehrten Auffassungen und Vorstellungen der Kranken, von der wir oben
gesprochen haben, nicht nur in der Hypnose vorzunehmen, sondern sie
auch vorher im Wachzustande anzuwenden, so dass sich der Patient
von der Richtigkeit der gegebenen Aathschläge und Ermahnungen auch
im Wachzustande überführt. Diese Ueberzeugung wirkt dann sichtlich
begünstigend auf die Wirkung der in der Hypnose gegebenen Sug-
gestionen ein; der Zeitverlust, der freilich damit verbunden ist, wird
durch die Verstärkung des Effectes ausgeglichen. — Tissiö*') hat
den Vorschlag gemacht, willkürlich in der Hypnose hervorgerufene
Träume als Heilsuggestionen zu verwerthen. Er suggerirt bei Phobien
imd Zwangvorstellungen z. B., dass der Kranke im Traume Handlungen
ohne Angst ausführen werde, die er im wachen Zustande nur mit Angst
ausfuhren kann, und lockert so allmählich die Association zwischen
den Handlungen und den sich daran knüpfenden, krankhaften Affect-
zuständen. Eine sehr lehrreiche Darstellung der Gründe, aus denen
manche Personen der Suggestion gegenüber sich refractär verhalten,
giebt Bernheim in einem Aufsatze des X. Bandes der Revue de
l'hypnotisme. Er unterscheidet unter den Menschen, die eine Sug-
gestion nicht annehmen, 3 Gruppen: 1) absolut Refractäre, die jedem
hypnotischen Versuche kategorisch widerstehen; sie sind jedoch sugge-
ribel, wenn man die Suggestion in eine andere Form, wie Electricität
oder Massage kleidet; 2) solche, welche scheinbar lenkbar sind, indem
sie sich körperlich hingeben; da sie sich aber innerlich, geistig nicht
hingeben, so scheitert jede Suggestion an der Autosuggestion, dass sie
nicht beeinflusst werden können ; 3) solche, welche der Schlafsuggestion
nicht widerstehen können und sogar amnestisch werden, aber keine
therapeutische Suggestion annehmen. In dieser letzten Gruppe sind
wieder 2 ünterabtheilungen zu unterscheiden: a) solche, die in der
Hypnose ihren Widerstand aufgeben und ihre Schmerzen verlieren, im
Wachzustande jedoch ihre Beschwerden durch Autosuggestion wieder
hervorrufen; b) solche, die auch in der Hypnose Ihre Schmerzen be-
halten, weil sie gleich mit der Autosuggestion einschlafen, dass sie sie
behalten würden. Im Falle 3b suggerirte Bernheim ein Mal in
folgender Weise: „Ich sehe wohl, dass ich ihre Schmerzen durch die
Suggestion nicht heben kann. Sie haben eine gute Natur: Ihre Organe.
sind nicht krank ; Ihre Krankheit wird im Laufe der Zeit infolge Ihrer guten
Constitution von selbst heilen.^' Quod factum est. Die Emotionstherapie,
270 Lm HincUaff.
die Heck er ^^) zur Ergänzung und theilweise zum Ersätze der Hypno»
therapie vorschlägt, dürfte sicherlich nur mit sehr grosser Vorsicht anwend-
bar sein und in den meisten Fällen nicht zum Ziele fuhren. Dass man durch
Spott, Grobheit, Erregung von Furcht und anderen Affecten im Wach-
zustande hier und da bei einigen Patienten etwas erreichen wird, mag
wohl richtig sein, und es wird Sache des ärztlichen Tactes sein, zu
entscheiden, ob und inwieweit diese Factoren ein Mal zur Erreichung
des Heileffectes mit heranzuziehen seien. Zu einer allgemeinen Methode
eignet sich dieses Verfahren jedenfalls nach unseren Erfahrungen nicht
— Wir haben schon in der Einleitung erwähnt, dass der Ereiaphyaicas
Wegner in Lissa in einer kleinen, vortrefflichen Abhandlung ausge-
führt hat, dass der Werth der psychischen Behandlung nicht im Schlafe
und nicht darin besteht, dass die Kranken allerhand Faxen machen
können, wie eine Kartoffel für einen Apfel essen etc., sondern dass die
Hauptsache vielmehr die geistige Erziehung sei, die man dem Patienten
zutheil werden lasse. In guter Uebereinstinmiung mit dieser Auffassang
des therapeutischen Effectes der hypnotischen Behandlung steht der
Hinweis von Kanschburg^*), der uns späterhin noch Gelegenheit zu
einigen theoretischen Erörterungen geben wird, dass nämlich nicht selten
die Hypnose nicht als solche gleichsam specifisch heilbringend wirke,
sondern dass vielmehr die Suggestion, die der Kranke mit der Hypnose
verbindet, mit anderen Worten also der Glaube an die Heilkraft der
Hypnose, den eigentlichen therapeutischen Effect des Verfahrens bedinge.
Auch Loewenfeld*®) und Ziehen*^) haben in ihren Darstellungen
der Psychotherapie diesem Gesichtspunkte Raum gegeben.
Obwohl wir uns vorbehalten, am Schlüsse die Ergebnisse unserer
üebersicht zusammenhängend darzustellen, möchten wir doch schon an
dieser Stelle einige Bemerkungen einschalten, die auf den Umschwung,
der sich allmählich in der practischen Handhabung der Suggestivtechnik
vollzogen hat, hinzudeuten geeignet sind. Von theoretischen Erwägungen
und Definitionen ganz abgesehen, die uns erst im zweiten Theile unserer
Ausführungen beschäftigen sollen, finden wir in der Art und Weise,
wie man heute zu suggeriren bestrebt ist, eine inmier grössere An»
näherung an das, was wir stets auch im wachen Zustande betrieben
haben oder doch wenigstens haben betreiben sollen, und was man heute
mit dem stolz klingenden Namen der Psychotherapie belegt. Man hat
einsehen müssen, dass die Methode des Suggerirens, die im Anfange
der Lehre vom Hypnotismus den eigenartigen, mystischen Stempel auf-
gedrückt hat und die so ganz aus dem Rahmen des früher lieblichen
Kritische Bemerkiingen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre t. Hypnotismus. 271
heranszufallen schien, therapeutisch eigentlich ziemlich werthlos ist.
Auch der Hypnotiseur ist, wenn wir eine triviale Redensart gebrauchen
dürfen, heute darauf angewiesen, mit Wasser zu kochen; seine Sug-
gestionen hören alLxiählich auf, wie William Hirsch ^^) nicht unzu-
treffend gesagt haty inducirte Wahnyorstellungen zu sein und verwandeln
sich statt dessen in ärztliche Ermahnungen und psychotherapeutische
Belehrungen. Der Zauber, der die Hypnose und die Hypnotiseure
firüher wie der Glorienschein den Kopf eines Heiligen umrahmte, be-
ginnt allmählich zu schwinden und an Wirksamkeit einzubüssen, womit
seine Berechtigung für einzelne Fälle keineswegs bestritten werden soll.
Im Allgemeinen jedoch treten jetzt diejenigen Factoren in der Technik
der Hypnose sowohl, wie der Suggestivtherapie hervor, denen die
wahre therapeutische Bedeutung des Verfahrens zukommt, und die bei
Weitem nicht so sehr von den auch sonst bekannten Factoren der The-
rapie abweichen, als es bisher den Anschein hatte. Ob es zweckmässig
ist, eine Heilsuggestion, die sich von einer gewöhnlichen Behauptung
oder Versicherung kaum principiell unterscheidet, fdrderhin noch als
Suggestion zu bezeichnen, wollen wir später untersuchen, wenn wir uns
die Frage vorlegen, welches das wesentlichste Merkmal des Begriffes
der Suggestion sei. Für jetzt möge uns der Nachweis genügen, dass
die therapeutische Suggestion weder mit einer positiven oder negativen
Hallucination, noch mit einer Perversion der Sinnesempfindungen etwas
zo thun hat, ebenso wie der Hypnotherapeut, von seltenen Ausnahmen
abgesehen, von der Hervorrufung vonLähmungen und Contracturen so-
wohl, wie von der Verwandlung der Persönlichkeit, sowie von den
anderen, psychologisch interessanten Experimenten Abstand nehmen
kann oder vielmehr nehmen muss, wenn er seine ärztliche Befugniss
nicht überschreiten will.
Nachdem wir die Technik der Suggestion in der Hypnose be-
sprochen und dabei gefunden haben, dass die Bedeutung der hypnotischen
Suggestion sich in der Begel nur auf die nämlichen Factoren, als da
sind Erziehung, Ermahnung, motivirende Ueberzeugung und Belehrung
etc., gründen kann, wie sie auch im wachen Zustande sich als wirksam
erweisen, ist es interessant, zu sehen, welche Bedeutung der Suggestion
im Wachleben von den einzelnen Autoren zugemessen wird. Regn-
anlt**) weist in einer Reihe von Fällen nach, dass die Vorliebe oder
der Ekel vor gewissen Speisen durch Suggestion entstanden sei. Je
nach der Auffassung des Begriffes der Suggestion liesse sich über diese
Behauptung streiten. Sicherlich wird man jedoch zugeben müssen^
272 Leo Hirschlaff.
dass Abneigung und Vorliebe für gewisse Speisen nicht selten durch
zufallige oder unmotivirte Verknüpfung von angenehmen oder unin-
genehmen Affecten mit den Geschmackseindrücken zu Stande kommt, in-
sofern, als diesen Associationen eine sachliche Berechtigung nicht zu-
kommt. — lieber die Entstehung von Zwangsvorstellungen macht Arie
de Jong^^) einige interessante Bemerkungen. Er weist nach, dass es
sich dabei um Autosuggestionen handelt, und betont, dass man f&r
diese stets einen suggerirenden Factor, eine cause suggSrant« aufsuchen
müsse ; so sei z. B. häufig für die Agoraphobie der suggerirende Factor
das Schwindelgefühl, das die Kranken aus irgend welchem Orunde ein
Mal oder auch häufiger beim Gehen über einen Platz empfunden haben.
Kornfeld ^^) imd Bikeles betonen die Rolle der Suggestion und der
Träume bei der Entstehung von Grössenideen, z. B. bei Paralytikern.
Es ist von Werth, zu bemerken, dass Grössenideen vielen Geistes-
kranken nicht nur suggerirt werden können, sondern dass sie ihnen in
der That nicht selten durch die suggestiven Fragen des nach einem
Wahnsyst^m fahndenden Arztes suggerirt werden. — Forel**) ver-
öffentlicht einen Fall einer Erkrankung, die durch die Beschäftigung
mit dem Spiritismus entstanden und durch Anwendung des Hypnotis-
mus geheilt worden sein soll ; es bandelt sich um eine hallucinatorische
Paranoia. In dieses Kapitel des Vorkommens hypnotischer Phänomene
im Wachleben gehört wohl auch die Beobachtung Bernheims^^, der
nach Typhus und anderen Infectionskrankheiten, aber auch bei gänzlich
Gesunden ohne jede Suggestion cataleptiforme Zustände, femer Om-
tracturen^ automatische Bewegungen u. s. w. hat eintreten sehen. Er
erklärt diese Erscheinungen durch eine Herabsetzung der intellectuellen
Initiative, in der das Gehirn die Idee der passiv hervorgerufenen
Stellung festhält. Wir glauben, dass diese Phänomene in den Rahmen
der hysterischen Autosuggestionen hineingehören.
Zur Statistik der Hypnose haben van Renterghem und van
Eeden einen werthvoUen Beitrag geleistet. Sie berichten über 1089
Fälle, die in ihrer ausschliesslich der Psychotherapie im weitesten Sinne
gewidmeten Klinik in Amsterdam behandelt wurden. Von diesen ver-
hielten sich 5,33 % der Hypnose gegenüber refractär; 42,78 % kamen
in leichten Schlat; 40,87 % in tiefen Schlaf; 11,61 % wurden som-
nambul. Von den Behandelten waren 529 Männer, 560 Frauen; es
wurden alle Krankheiten ohne Unterschied aufgenommen, üeber die
Erfolge der Behandlung werden wir weiter unten referiren. — Bram-
welP*) studirte die Frage, ob es leichter sei, gesunde oder nerven-
Xritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 278
kranke Personen in Hypnose zu briogen, an einem grösseren Material.
Er fand, dass von 100 nerrengesunden Personen kein einziger sich re-
firactär erwies; 12 wurden leicht, 40 tief, 48 somnambul hypnotisch.
Es zeigten sich 92 Erfolge beim erstem Male, während bei den anderen
höchstens 4 Versuche noth wendig waren. Bei 100 anderen Personen
hingegen, die ausnahmslos schwer nervenkrank waren, fand sich fol-
gendes procentuale Verhältniss: refractär waren 23, leicht hypnotisirt
wurden 35, tief 13, somnambul 29. Von dieser G-ruppe wurden 61
beim ersten Male hypnotisirt, während die höchste Versuchszahl 16
betrug. Wenn auch zugegeben werden muss, dass diese Statistik auf
äusserste Exactheit keinen Anspruch erheben darf, da es schwer &llt
und fast gänzlich dem subjectiven Ermessen des Hypnotiseurs und der
Versuchsperson anheimgegeben scheint, zu entscheiden, ob eine Person
schon leicht hypnotisirt ist oder noch nicht, abgesehen von anderen
Schwierigkeiten, so ist doch hierdurch ein Beweis für die Behauptimg
geliefert, die Forel schon früher aufgestellt hatte, dass gesunde Per-
sonen leichter zu hypnotisiren sind, als I«] ervenkranke. Dass dadurch
unsere früher erhobenen, ethischen Einwürfe gegen die tiefen Som-
nambulhypnosen nicht widerlegt werden, bedarf keiner ausdrücklichen
Erwähnung. Die Versuche, die BSrillon*^*) an Kindern angestellt
hat, und die im Grossen und Ganzen das gleiche Resultat ergaben,
sollen in einem der folgenden Abschnitte eine Besprechung finden, der
die pädagogische Bedeutung des Hypnotismus erläutert.
Hieran schliesst sich die Darstellung der Erfolge der hypnotischen
Behandlung. Zunächst soll an dieser Stelle der Erfolge gedacht werden,
die in der Klinik von van Renterghem und van Eeden erzielt
wurden. Das Resultat der Behandlung, die sich auf Kranke aller Art
erstreckte, war: erfolglos behandelt wurden 17,81%; leichte Besserung
erfuhren 21,02%; wesentliche Besserung 23,69%; Heilung 28,29%;
Erfolg unbekannt bei 9,18 %. Leider fehlt bei dieser Statistik die
Angabe der durchschnittlichen Dauer der Behandlung. Von den
sonstigen Erfolgen, die in der neueren Literatur berichtet worden sind,
möchten wir folgende bemerkenswerthere hervorheben: Grossmann
hat bei organischen Lähmungen gute Erfolge von der Suggestions-
behandlung gesehen; er giebt eine Darstellung seiner Auffassung über
die Art des Zustandekommens dieser Erfolge auf der 66. Naturforscher-
Versammlung in Wien 1894. Stadelmann •®) hat die Hypnose in
mehreren Fällen von acutem Gelenkrheumatismus mit gutem Erfolge
verwendet. Wetter Strand veröffentlicht eine Reihe von Fällen, in
Ztitwhrifl für Hypnotismus ete. Vni. 18
274 ^^o Hirschlaff.
denen chronischer Morphinismus, Opiumgenuss, Cocainismus und Chlora-
lismus durch Suggestion und Hypnose geheilt wurden. Bernheim *^)
hat Lungenaffectionen, auch Phthisen, durch Suggestion gebessert, indem
er ihnen die reissenden und stechenden Schmerzen in der Brust und in
den Gliedern, die Schlaflosigkeit und die Nachtschweisse nahm. B£-
rillon^^ hat bei Tabikern viele Störungen durch Suggestion zu be-
seitigen vermocht, was nicht Wunder nehmen darf, da sicherlich auch bei
der Bückenmarksschwindsucht viele rein functionell bedingte Beschwerden
vorkommen. Schmeltz*^) machte die Amputation einer Mamma
wegen eines grossen Mammasarkoms in der Hypnose und betont dabei,
dass man dem Kranken vor einer solchen Amputation nicht den Tag
nennen dürfe, an dem sie operirt werden sollen; man laufe sonst Ge-
fahr, die Hypnose misslingen zu sehen, wegen der Angst, die das Ein-
schlafen verhindert. Wir haben ähnliche Erfahrungen bei Zahneztrac-
tionen in Hypnose gemacht. Bauer ^^) hat die casuistischen Erfolge
der Poliklinik For eis veröffentlicht, Delius diejenigen seiner eigenen
Praxis, üeber Hysteria gravis haben Gerster •*) und von Krafft-
Ebing**) Mittheilungen gemacht. Gerster veröffentlicht einen Fall
von hysterischer Contractur und Aphonie, der durch Wachsuggestion
geheilt wurde, v. Krafft-Ebing spricht sich sehr resignirt über die
hypnotisch-suggestive Behandlung der Hysterie aus, indem er angiebt,
dass die meisten Fälle misslingen und der Erfolg die Ausnahme bildet.
In neuster Zeit theilt derselbe Verfasser '^ einen Fall von Hysteria
gravis mit, wo die Suggestivbehandlung wiederum versagte, während die
Castration einen dauernden Erfolg herbeiführte. Nach unserer Erfah-
rung ist durch consequente und sorgfältige Psychotherapie, die in ge-
eigneten Fällen mit einer hypnotischen Behandlung combinirt werden
kann, auch bei der schwersten Hysterie unbedingt stets ein Erfolg zu
erzielen, wenn Arzt und Patient die erforderliche Ausdauer besitzen;
die chirurgische Behandlung der Hysterie betrachten wir ebenfalls nur
unter dem Gesichtswinkel der Suggestion. — Endlich sei noch erwähnt,
dass Voisin'®) seit vielen Jahren Geisteskranke jeder Art hypnotisch
behandelt und geheilt haben will; seine Mittheilungen darüber sind
jedoch werthlos, da er auf eine exacte Begründung der Diagnose Ver-
zicht leistet. (Fortsetzung folgt)
Literaturzusammenstellung
über
die Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis
von
Dr. Freiherm von Schrenck-Notzing - M ü n c h e n.
(2. Fortsetzung.)
Wie ans dem oben erwähnten Werk von Krauss hervorgeht, be-
richtete D e m m e einige Fälle von Sadismus (activer Algolagnie). Dieselben
betreffen Personen, welche durch Zufügung von Schmerzen, Verletzungen
nnd Yerwundnngen weiblicher Personen in geschlechtliche Erregung kommen.
Die Stärke der Verletzung, der Anblick von Blut kann dabei Bedingung
für den Eintritt der Ejaculation werden. Einem derartigen Individuum
koimten 50 Angriffe mit Lancetten, Uäckelnadeln etc. nachgewiesen werden.
In einem anderen Fall betraf die Verwundung nur die weiblichen Geschlechts-
theile. In weiterer Steigerung dieser grässlichsten aller G-eschlechtsver-
irrungen kommt es zum Trinken des Blutes, zum Lustmord und völligen
Verstümmeln des gemordeten Opfers.
Blumröder^) und Lombroso^ führen solche Verstümmlungen an.
So berichtet auch Tardieu^ von einem Onanisten, der 7 — 8 Mal pro Tag
masturbirte, bei wohlentwickeltem heterosexuellem Trieb. Dieser sagt: „In-
dem ich masturbirte, versetzte mich meine Einbildungskraft in ein mit
Frauen, die in meiner Gewalt standen, gefülltes Gemach. Indem ich an
ihnen meine Leidenschaft befriedigte, marterte ich sie in meinen Gedanken
zu meiner Lust in jeglicher Weise, steUte sie mir dann todt vor und be-
fleckte ihre Leichen. Zuweilen stieg mir der Gedanke auf, eine männliche
Leiche zu zerschneiden, doch das kam selten vor und ich empfand
davor Abscheu. '' Patient ging dann zur practischen Ausführung seiner
^) Blumröder „lieber Lust und Schmerz". Friedreich^s Magazin für Seelen-
kunde. 1830. Bd. II, S. 5.
•) Lombroso, „Verzeni e Agnolette". Roma 1874.
') Attentats aux moenrs. Paris 1878, S. 114.
18*
276 ^- Schrenck-Notzing.
Phantasien über, masturbirte zuerst beim Anblick aufgeschlitzter Thierleichen,
tödtete dann Hunde und grub schliesslich menschliche Leichen aus. ,, Alles,
was man mit einem lebenden Weib empfindet, '^ sagt er, „ist gar nichts im
Vergleich mit dem von mir gehabten Genuss. Ich bedeckte alle ihre Körper-
theile mit Küssen, drückte sie mit der Ejraft eines Eisenden an mein Hers,
mit einem Wort, ich überhäufte sie mit den feurigsten Liebkosungen. Dann
machte ich mich daran, die Leiche zu zerstückeln, ihre Eingeweide heraos-
zuziehen etc.''
Dass die Entwickelung periodisch auftretender sexueller AbnormitSten
auch ohne vererbte psychopathische Constitution möglich ist, zeigen die
Mittheilungen von Anjel. Li einem seiner Fälle handelte es sich um
einen verheiratheten erblich nicht belasteten Mann, der durch Beschadigong
am Kopf eigenthümliche Anfalle bekam, von starker Beklemmung, Schlaf-
losigkeit, Reizbarkeit, Appetitverlust und Verstimmung. La diesem Zustande
wirkten kleine Mädchen auf ihn erregend; sogar die Anwesenheit seiner
fünf- und zehnjährigen Töchter, sowie Kindergeschrei im entfernten Zimmer
hatten Erectionen zur Folge. Schliesslich lockte er kleine Mädchen an
einsame Orte und entblösste ihre Geschlechtstheile. Die AnflQle dauerten
8 — 14 Tage. Er erinnerte sich danach an alles und lebte in der anfiallB-
freien Zeit auch in sexueller Beziehung als normaler Mensch. Bei Be-
urtheilung dieses Falles erscheint es fraglich, ob jene sexuellen Neigungen
zu Kindern und unreifen weiblichen Personen nicht schon vor der Er-
krankung als unschädliche und durch den normalen Sexualverkehr stets
gezügelte Gedankenrichtung bestanden. Die XJnwiderstehlichkeit dieser sonst
beherrschten Neigungen wäre dann ein Symptom jenes durch die AnfiÜle
provocirten Erregungszustandes.
Während Anjel diesen Fall als epileptisches Aequivalent aof&sst,
wendet Tarnowski dagegen ein, dass die lange Andauer der Zustände,
das Fehlen der Bewusstseinstrübung und epileptischer Prodrome (Aura) gegen
Epilepsie spreche. Tarnowski zählt diese Beobachtung zu den Fällen
periodischer Manie.
Während Westphal, v. Krafft-Ebing, Moll und in Berufung
auf diese, man kann sagen die Mehrzahl der Autoren, in ihren Beobachtungen
den Hauptaccent auf die erbliche Belastung legen, sind einige Mittheilungen
in dem äusserst interessanten Werke Hammond's über perverse Sexual-
empfindungen durch die besondere Berücksichtigung der occasionellen
Momente für uns lehrreich. Allerdings weist auch Hammond darauf hin,
dass Fälle, in denen ein Individuum die Wahnvorstellung hat, dass es dem
anderen Geschlecht angehöre (v. K r a f f t - E b i n g ' s Wahn der G^schlechts-
verwandlung), nicht mit Beobachtungen jener Art verwechselt werden dürften,
da „sie eine wirkliche Monomanie darstellen, und selten mit anderen krank-
haften Erscheinungen des Geschlechtstriebes verbimden sind'^
Die Bedeutung, welche Erziehungsfactoren und äussere Einflüsse durch
die pathologische Association bei erblichen Neuropathen in der Entstehung
sexueller Perversionen gewinnen können, wird durch folgende Beobachtungen
Hammond's deutlich illustrirt :
Ein Dienstmädchen lehrte einen 7 jährigen erblich belasteten Eoiaben
Psychologie und Psychopathologie der vita sexoalis. 277
in seinem Hause onaniren. Einstmals brachte sie an seinem Penis mittelst
ihres Fusses eine Erection heryor, ohne den Schuh abzunehmen, und hierbei
empfand Patient zum ersten Mal Vergnügen. Von da an geschlechtliche
Erregung und Erectionen beim Anblick, später beim blossen Gedanken an
einen Frauenschuh. Onanie inmitten von Frauenschuhen, die rings um ihn
herum in allen möglichen Stellungen standen. Darauf psychische Onanie
durch Vorstellung von Schuhen. In der Schule sinnliche Erregung durch
die Schuhe der Lehrerin. Theilweise Verhüllung der Schuhe durch lange
Frauenkleider rief besonderen Reiz hervor. Um die sinnliche Erregung zu
Yergrössem, ergriff er eines Tages einen Schuh seiner Lehrerin, empfand
sofort grösseres Vergnügen als je zuvor. Geschlechtlicher Orgasmus. Trotz
Bestrafung Wiederholung des Attentats mit gleichem Erfolg. Später rief
die blosse Erinnerung an den Schuh der Lehrerin Samenerguss hervor.
Dann entwendet er einem Dienstmädchen einen Schuh und ejaculirt
ononistisch das Sperma in denselben. Neue Variation, indem er bei jeder
neuen Masturbation jedesmal einen anderen Schuh benützte. Zu diesem Zweck
stahl er Schuhe. Nackte Frauen oder Männer riefen nur Ekelgefühl hervor.
Dachte nie an sexuellen Verkehr.
Verkaufte fernerhin in einem Krämerladen Schuhe. Beim Anpassen sexuelle
Erregung. Einmal beim Anpassen starke Erection ohne Orgasmus, Bewusst-
seinsverlust und epileptischer Anfall. Die krankhafte Ideenassociation zwischen
Frauenschuhen und Geschlechtsfunction löste wiederholt Anfalle aus, obwohl
Patient mit der lasterhaften Gewohnheit zu brechen suchte. Traumpollutionen
mit Schuhvorstellungen und epileptischen Anfällen. Entschluss zu heirathen,
Impotenz in der Ehe. Auf Eath von Hammond hing er über sein Bett
einen Frauenschuh auf, gleichzeitig Brombehandlung. Der Coitus gelingt
nun ohne epileptische Anfölle. Später geregelter Geschlechtsverkehr alle
10 Tage. Die Vorstellung der Frauenschuhe stellte sich noch ab und zu
wieder ein, jedoch ohne ihn sinnlich zu erregen.
Dieser ungemein merkwürdige Fall giebt, wie Hammond sagt, einen
Fingerzeig, dass ein starker Wille auch bei einem nicht sehr intelligenten
Manne abnorme Triebe wieder in die natürlichen Bahnen zu lenken vermag.
Ein anderer Patient Hammond's, ein Cigarrenhändler, sah in früher
Kindheit einen Hund sich mit einer Hündin paaren. In dem Glauben, dass
dies vom Anus aus geschehe, führte er nun sich selbst einen hölzernen
Bleistift in die entsprechende Oeffiiung seines eigenen Körpers. „Dies hatte
ihm localen Schmerz verursacht, aber zugleich auch eine eigenthümliche an«
genehme Empfindung, deren Localisation er zunächst noch nicht angeben
konnte. Nach einigen Tagen wiederholte er den Versuch mit ähnlichem
Erfolg, aber dieses Mal mit dem Stiel einer Zahnbürste, den er vorher gut
geölt hatte. Wieder empfand er ein angenehmes Gefühl und zwar genau in
dem Penis. Hieraus entwickelte sich bei dem Patienten passive Päderastie.
Die locale Beizung vom Mastdarm aus genügt für sich allein, um
Erectionen zu produciren, also sexuell erregend zu wirken, wie das bei
impotenten Wüstlingen wiederholt durch operative Entfernung von Fremd-
körpern aus dem Mastdarm nachgewiesen ist.
278 ▼• Schrenck-Notzing.
Aas der Päderastie entwickelte sich beim Patienten contrare Sexaal-
empfindung, er legte Frauenkleidung an, nannte sich ,,Lida'' und hatte nie-
mals Neigung zu Frauen, seitdem das undifferenzirte Geschlechtsgefühl einen
bestimmten Inhalt bekommen hatte. Er bekam später epileptiforme Anfflle,
will die Päderastie mindestens 10000 Mal theils activ theils passiv betrieben
haben. Der Hang, Weib zu sein, wurde bei ihm (wie bei den Pathici des
Alterthums und einigen Patienten Krafft-Ebing's) so gross, dass er
wiederholt daran dachte, sich seine Genitalorgane abzuschneiden.
Auch in nachstehender Beobachtung Hammond's scheint die ge-
legentliche locale Heizung der Ausgangspunkt der Perversion geworden
zu sein.
Ein 12 jähriger Knabe wurde eines dummen Streiches wegen in der
Schule stark gestraft, kurz darauf halbstündige Erection und eigenthümlicbe
Gefühle in der Eichel, die ihm bis dahin fremd waren. Denselben Nach-
mittag ging er mit einem anderen Knaben baden und leg^ im Wasser beim
Schwimmen seine Hände auf die Schulter des anderen. Er hatte dies oft
auch früher gethan, ohne dass dadurch je eine geschlechtliche Erregung
hervorgerufen wurde. Diesmal berührte sein Penis gerade die Glutäalregion
seines Freundes und sofort hatte er genau dieselben Empfindungen wie nach
den Schlägen und ebenfalls Erection. Sie waren schon nahe am TJfer und
ohne, dass er sich dessen bewusst wurde, übte er Päderastie aus. Von nun
an trieb er dies Laster immer weiter, theils passiv, hauptsächlich und mit
Vorliebe aber activ. Sexuelle Erregung aber durch nackte Männer, Onanie.
Yorstellungsinhalt : Glutäalregion eines Mannes, Traumpollution päderastischen
Inhalts. Frauen konnten ihn nicht im Geringsten sinnlich erregen. Er
blieb activer Päderast.
Die Behandlung Hammond's befreite ihn ganz von seinen perversen
Neigungen. Dieselbe bestand in ,, Mathematikstudium, Hydrotherapie, Cau-
terisation an Nacken, Brust und Lendenwirbeln, Brompräparaten, Familien-
verkehr'^ Nach einer Reihe von Monaten wesentliche Besserung. Sexuelle
Neigungen zu Frauen, Ehe.
Das auch in sonstiger Beziehung lehrreiche Werk von Hammond
enthält femer Mittheilungen über das angeborene und acquierirte Fehlen
des Geschlechtstriebes. Verfasser führt für die temporäre Impotenz durch
geistige Ablenkung, sowie durch geistige TJeberanstrengung Beispiele an
(Furcht, Beschäftigung mit mathematischen Problemen etc.). Vielfach konnte
dieser Autor nach sexuellen Excessen als Folgeerscheinung epileptische
Anfälle beobachten. Bei einem seiner Patienten wurde durch die Friction
der Mastdarmschleimhaut sexuelle Erregung, durch die Berührung der glans
penis aber ein epileptischer Anfall hervorgerufen. Auch über Onanie durch
Zusammenwirken von Sinnes- und Vorstellungsreizen (ideelle Cohabitation)
und ihre Folgen für die Potenz berichtet H. Er legt überhaupt den
äusseren umständen, den geschlechtlichen Ausschweifungen im Kindesalter
onanistischen und sonstigen sexuellen Excessen beim männlichen und weib-
lichen Geschlecht als Ursache für eine Abschwächung und schliesslichen
Verlust der Potenz eine grössere Wichtigkeit bei, als die meisten anderen
Autoren.
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 279
Von den Werken und Arbeiten ^) über Onanie möge an dieser Stelle
wenigstens das Ausführlichste von G-arnier kurze Erwähnung finden.
Dasselbe ist insofern interessant, als unter dem Titel y,Onanie'' (Onanisme
Beul et k dexa) so ziemlich alle verkehrten Richtungen des Geschlechts-
triebes beschrieben sind.
Der erste Abschnitt umfasst Definition, Ursprung, sexuelle Ver-
schiedenheiten, allgemeine und locale Ursachen, Zeichen, Folgen und Be-
handlung der Onanie. Abschnitt II behandelt die Masturbation beim
Manne in verschiedenen Lebensaltem, ebenso diejenige beim Weibe (Man-
ölisation). Der dritte Abschnitt erörtert die mechanischen Hilfs-
mittel zur Onanie, der vierte den Onanismus vulvovaginalis, speciell
die Tribadie oder den Clitoridismus (Gegenseitiges Reiben der
weiblichen Genitalien, eventuell Benutzung einer vergrösserten Clitoris an
Stelle des Penis). Der fünfte Abschnitt beschäftigt sich mit dem
buccalen Onanismus (Benutzung der Lippen und Zunge zur Reizung der
Genitalien) und dem Saphismus (buccale Onanie zwischen Frauen).
Im sechsten Abschnitt finden sich Ausführungen über Onanie
mammaire (d. h. onanistische Reizung der Brüste und Brustwarzen).
Die siebente Gruppe umfasst die Erscheinungen des Onanismus analis
(Päderastie und Sodomie). Unter Päderastie versteht Garnier lediglich
die Liebe zwischen Männern in jeder Art sexueller Bethätigung, während
er als Sodomie den analen Coitus bei Männern und Frauen bezeichnet.
Der letzte achte Abschnitt behandelt die Onanie an Thieren oder
Bestialität. Nach einer ausführlichen Erörterung der Folgen und Ge-
fahren der Onanie unter Berücksichtiguug erblicher Verhältnisse und prä-
disponirender psycho- und neuropathischer Zustände bespricht Garnier
die Behandlung von Onanisten. Dazu gehören 1. Ueberredung, 2. hygienische
und specielle Verordnungen, 3. Zwangsmaassregeln und mechanische Ver-
hinderungsmittel, 4. operative Eingriffe. Die Indication für die einzelnen
Behandlungsformen richten sich nach dem speciellen Fall.
Im Jahre 1885 erschien die erste zusammenhängende französische Dar-
stellung über sexuelle Inversion von Chevalier; derselben folgte
1892 die zweite Auflage. In dem ersten Theil dieses Werkes stellt Che-
yalier folgende für die Sexualität maassgebenden Gesetze auf:
L Die anatomische Constitution ist maassgebend für das Geschlecht; die
Function hängt von dem Organ ab (Gesetz der geschlechtlichen Differenzirung).
*) Wenn Fürbringer in seiner Besprechung der Onanie in der Real-Encycl.
d. med. Wissensch. 1888 die Existenz einer Literatur über diesen (Gegenstand negirt,
so erscheinen im Gegensatze hierzu doch folgende Arbeiten (ausser Garnier) er-
wähnenswerth : 1. T i s s o t , Tonanisme Paris 1886 (auch deutsch ersch.). 2. Christian
(Charenton), l'onanisrae. Extr. du Hist. encycl. des sciences medicales. 1882.
3. V. K r a f f t - E b i n g , lieber Irresein durch Onanie bei Männern. AUgem. Zeitschr.
für Psych. 1874, S. 425. 4. üef feimann, Handbuch der öfFentl. und privaten
Hygiene des Kindes 1881, S. 368. 5. Pouillet, De Tonanisme de la femme.
2. 6d. Paris 1877. 6. Robinson, Klinische Beobachtungen über Pollutionen beim
weibl. Geschlecht. Med. Ag. 1889, Nr. 7. 7. Spitzka, Die Selbstbefleckung im
Verhältniss zu Geisteskrankheiten. Boublin Journal 1887. 8. Peretti, Ueber
Geisteskrankheit bei Onanisten. Pract. Arzt 1881. XI.
280 V- Schrenck-Notzing.
2. Die entgegengesetzten Q^schleohter ziehen sioli von Nfttar an, die
gleichen stossen aich ab (Gesetz der sexuellen Attraotion).
8. Die entgegengesetzten Geschlechter ziehen sich ursprünglich um so
stärker an, je weniger Aehnlichkeit sie untereinander haben, je ausge-
sprochener ihre Sexualität ist ; die gleichen Geschlechter stossen sich um so
weniger ab, je weniger ihre Sexualität entwickelt ist.
4. Die Differenzirung der secundären Geschlechtscharactere ist um so toU-
kommener, je civilisirter und höher entwickelt das Milieu ist, in welchem sie sieh
eut¥dckeln ; eine hoch entwickelte Sexualität ist ein Ausdruck des Fortschritte.
Bei der näheren Begründung dieser Gesetze giebt Oheyalier eine üeber-
sicht über die Geschlechtsunterschiede und bezeichnet den Mann als ein intelleo-
tuelles, das Weib als ein instinctives Wesen. Die Anpassung der geschlecht-
lichen Organisation an ihren Zweck hält Verfasser für eine Nothwendigkeit.
Das Eänd ist für ihn ein spinales (Virchow), asexueUes Wesen; ent
mit dem Wachsthum und der Entwickelung der Genitalien kommen die
Geschlechtsunterschiede zum Vorschein (Pubertät; geschlechtlidie Beife).
Mit dem Alter wird das Geschlecht wieder neutral ; nach Gh. hat das weib-
liche Alter überhaupt mehr einen männlichen Character. Wenigstens trans-
formirt sich der weibliche Körper nach dem Klimaktermin in diesem Sinne.
Bei der grossen Variabilität teratologischer Unterschiede und fehler-
hafter anatomischer Abweichungen von der Norm (speciell auch an den
Genitalien, hält Verfasser das gemischte Vorkommen maskuliner und femi-
niner Formen und Attribute speciell auch auf dem Gebiet der Psyche und
des Gharacters für erwiesen. ,,Die Beispiele zeigen, dass die moralische
(geistige) Androgynie und Gynandrie eine unvermeidliche Folge des organischen
Bimorphismus ist.''
Für den tiefgreifenden Einfluss des anatomischen Verhaltens der Geni-
talien auf die Psyche macht Verfasser mit Becht die körperliche und seelische
Veränderung der Eunuchen und Kastraten geltend. Die Veränderungen,
welche bei Männern und Frauen nach dem Aufhören der sexuellen Functionen
sich zeigen, führt Chevalier auf die nach Darwin vorhandenen latenten
sexuellen Charactere zurück.
Die Geschichte, die Ethnographie und Länderkunde beweisen, dass im
Allgemeinen das Weib durch seine plastischen Formen, seine Thätigkeiten
sich dem männlichen Typus bei primitiven und wilden Völkern, ebenso wie
in den niederen Volksolassen (besonders dem Arbeiterstande) und bei den
Bauern mehr annähert, während in den höheren gebildeten Klassen der
Bevölkerung, bei den Städtern der weibliche Typus stärker zum Aus-
druck kommt. Es bestünde also hiemach für die Erziehung die Pflicht,
diesen Antagonismus der Geschlechter zu befördern. Indessen beeinträchtigen
diesen Entwickelungsgang der modernen Liebe die socialen Verhältnisse,
der Kampf ums Dasein, die Herrschaft des Geldes, die Eitelkeit, die In«
toxicationen und die Degeneration in all ihren Formen. Chevalier ninmit
nun ferner an, dass auch diese Gesetze Ausnahmen erleiden können, indem
ein Missverhältniss zwischen der Bichtung persönlicher geschlechtlicher
Neigungen und den anderen Factoren der Sexualität vorkommen kann.
So kann ein morphologisch dem männlichen Geschlecht zugehöriges
Wesen nach Ch. psychisch weiblich angelegt sein und es entsteht die Er-
scheinung der sexuellen Inversion. Die Einheit des Ich ist gestört, da
Psychologie und Psychopathologie der vita scxualis.
281
zwei Geschlechter sich in einer Person vorfinden. Und dieser Widerspruch
gegen die Natur ist so alt, wie die Menschheit überhaupt. Verfasser kommt
nun auf die verschiedenen Classificationen der geschlechtlichen Verkehrung
SU sprechen und giebt einen historischen und anthropologischen TJeberblick
über das Vorkommen und die Verbreitung der Homosexualität. Unter den
Ursachen der Inversion, von denen der zweite Abschnitt handelt, giebt es
objective (sociale äussere Bedingungen) und subjective (Krankheit,
Entwickelungsfehler, Degeneration). In Bezug auf die Dauer derselben
unterscheidet Verf.: 1. temporäre, 2. constante und 3. periodische Inversion.
Er unterscheidet das isolirte Vorkommen der Aberration von dem mit anderen
Symptomen pbysischer, moralischer Störung begleiteten Auftreten derselben.
Die congenitale Inversion, die Verkehrung im eigentlichen Sinne des
Wortes fösst Verf. als ein Degenerationszeichen auf; dieselbe zeigt sich als
enrte Aeusserung des sexuellen Instinctes und tritt ohne äussere Erziehungs-
einflüsse ins Dasein.
Die nachstehende Uebersicht giebt die Klassification Chevalier's
nach den ätiologischen Momenten wieder:
I.
I.
Erworbene artificielle
Inversion
aus
1. Päderastie oder Saphismus
Wollust.
2. Päderastie oder Saphismus aus
Profession.
3. Päderastie oder Saphismus aus
Zwang (Fehlen von Frauen).
4. Päderastie oder Saphismus aus
Furcht (vor Geschlechtskrank-
heiten und den Folgen des Coitus).
Sociologische
Factoren
des Milieus.
§
^
i
dB
1.
Mehr oder weniger aus-
gesprochene Qeschlechts-
losigkeit in Folge man-
gelhafter Entwickelung
der Genitalien und Hück-
wirkung auf die secun-
dären Geschlechts- Cha-
ractere.
n.
(a)
Erwachen während
der Adolescenz.
(b)
Congenital (aus dem
fötalen Leben stam-'
mend).
Weibl. Typus.
Männl. Typus.
Hypospadie.
Vergrösserte Clitoris.
Hermaphrodismus.
2.
Geschlechtskrankheit
mit bestimmten Störun-
gen des Nervensystems.
III.
Manie.
Melancholie.
Periodisches (circuläres) Irresein.
Chronisches Delirium.
Erblicher Irrsinn (Idiotie, Imbecillität etc.).
EpUepsie.
Allgemeine Paralyse.
Dementia senilis.
^
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S fl
O Q
TJ-g
^ §
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8g
'S S
*-§
o
282 ^' Schrenck-Notzing.
IV.
III. Congenitale Yerkehrimg / _ ( Individuelle Factoren.
des Geschlechtstriebes. \ -L^egeneraüoii. | ErbUchkeit
Der grösste Theil der zweiten Hälfte des Werkes besteht in der weitem
Ansführung und Begründung dieser Eintheilung unter Anführung zahlreicher
Krankengeschichten.
Der fünfte und letzte Abschnitt des interessanten Buches erörtert die
forensische Bedeutung der gesclflechtlichen Yerkehrung nach den jeweiligen
Gesetzen im Alterthum, in der Gegenwart und in der Zukunft und bietet
eine ausführliche Anleitung zur ärztlichen Untersuchung homosexueller Per-
sonen.
Lacassagne, der Lehrer Chevaiier's, unterscheidet die psycho-
sexuellen Erkrankungen nach ihrem quantitativen und qualitativen Verbalten.
Zur ersteren Classe gehören Zustände einer Steigerung oder Ver-
minderung des Geschlechtstriebes, Onanie, Satyriasie,
Nymphomanie, momentane genitale Krisen, gelegentliehe
Triebsteigerung (Menopause, puerperale Folie etc.) einerseits, und ge-
wohnheitsmässige oder momentane Frigidität, Impoteni,.
Fehlen der libido, Erotomanie auf der anderen Seite.
Die nach ihrer Qualität unterschiedenen Formen sind:
1. Die Verkehrung des Geschlechtstriebes bei beiden Ge-
schlechtern: Päderastie und Tribadismus.
2. Verirr ungeu des Geschlechtstriebes im engeren Sinne,
nämlich: Nekrophilie, Bestialität und Nihilismus für fleisch-
lichen Verkehr (uihilismc de la chair), Azoophilie (Chevalier),
Fetischismus in der Liebe (Binet).
lieber die in dieser Arbeit nicht näher angeführte casuistische firan-
zösische Literatur vergleiche man das Werk Chevalier 's, in welchem
dieselbe ziemlich vollständig berücksichtigt ist.
Weitere Beiträge zur Psychologie und Pathologie der Ge-
schlechts Verhältnisse lieferte der bekannte Florentiner Oelehrte
Mantegazza. Dieselben sind in belletristischer Form populär geschrieben
und durch die zahlreichen Auflagen in deutscher TJebersetzung im grösseren
Publikum bereits so bekannt geworden, dass wir an dieser Stelle uns mit
der Erwähnung seiner Hauptwerke ^Psychologie der Liebe** und
„Hygiene der Liebe" begnügen. Dieselben bieten auch lür den Ge-
lehrten — trotz ihres Maugels an Gründlichkeit und wissenschaftlicher
Tiefe — manche geistvolle Anregung. Dagegen darf die dritte Arbeiti
„Anthropologisch kulturhistorische Studien über die Ge-
schlechtsverhältnisse der Menschen", als ein interessantes 'Quellen-
werk bezeichnet werden , in welchem für das Studium des Sexuallebene
wichtige literarische Nachweise aus dem Völkerleben und der Geschichte
zwanglos zusammengestellt sind. Besonders interessant sind die Mittheilnngen
des Autors über die Schamhaftigkeit und Keuschheit bei den verschiedenen
Kassen. Die Art der Auffassung und Beurth eilung des Sexual-
verkehrs ist ungemein verschieden. Bei vielen Völkern wird die Hingabe
des Mädchens als eine natürliche Handlung, und nicht als Schuld betrachtet
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 283
„Dort wo diese Handlung einfach nur als die Befriedigung eines natür-
lichen Bedürfnisses angesehen wird, überlassen sich Männer und Frauen der-
selben mit voller Freiheit und ohne Gewissensbiese. Wo man aber, um
zum Tempel zu gelangen, alle Barrikaden des Schamgefühls, der socialen
Gesetze, der religiösen Vorschriften und der öffentlichen Meinung über-
schreiten muss, da wird die Umarmung zur ernsten, schwierigen und sehr
▼erwickelten Angelegenheit und die heutige Liebe verirrt sich auf die
schlüpfrigen Pfade der Selbstbefleckung und Prostitution.^
S. 62 : „Für die spitzfindigen Theologen des Mittelalters sind alle
Arten des Erotismus und der Wollust, welche die menschliche Phantasie
erfunden hat, ebenso viele Todsünden, weil die XJmarmung voll idealer
Moralität den einzigen Zweck der Fortpflanzung mit dem möglichst geringen
Vergnügen und der leisesten, und unmerklichsten Berührung der Körper
erreichen solle."
Der Mensch hat die Phantasie und das Wörterbuch der Ausschweifung
erschöpft. In jeder Sprache sind die Genitalien, der Coitus ausserordentlich
reich an Synonymen, und die französische Sprache des 16. Jahrhunderts
hat allein mehr als 300 Wörter, um die Umarmung und mehr als 400
Namen, um die Organe des Mannes und der Frau zu bezeichnen.
Ausführlich berichtet Mantegazza über die Anwendung erotischer
Wohlgerüche, aufregender Mittel, sowie über sociale die verschiedenartigen
Verstümmlungen der Sexualorgane, über die Stellung der Frau, Heiraths-
kontrakte, Hochzeitsreisen, die Prostitution etc. Von den Verirrungen der
Xiiebe (Onanie, Tribadismus, Sodomie, Bestialität) handelt ein besonderes
Kapitel.
Er weist nach, dass die Polygamie ausserordentlich verbreitet ist,
während Polyandrie selten vorkommt. Dagegen sieht er die Mono-
gamie als die einzig moralische Form der Ehe für die menschliche Ge-
sellschaft an.
Auch die Stellung der Prostitution war bei den verschiedenen
Völkern ungemein verschieden, sie wurde von einigen geduldet, von anderen
mit den religiösen Gülten eng verbunden (Venus Militta, Venus TJrania etc.).
In Griechenland gab es neben der Venus Pandemos und Urania
noch eine Venus Hetäre, Venus Peribasia, Kallypigos und un-
zählige andere. Die Courtisanen Athens, welche in der Oultur-
geschichte eines der interessantesten Kapitel darstellen, waren in drei grosse
Hauptkategorien geschieden: Die Dicteriaden (zur Befriedigung des
erotischen Bedürfnisses des niederen Volkes lebten sie in öffentlichen
Häusern), die Aleutriden (Flötenspielerinnen und lascive Tänzerinnen
bei Privatbanketten) und drittens die Hetären, welche bei ihrer hohen
Bildung, ihrem Verstände und ihrer feinen Erziehung sich nur denen hin-
gaben, die sie bevorzugten.
Dufour^) schildert ausführlich die sociale Stellung der letzteren im
Gegensätze zur geduldeten Prostitution, wie sie eine Folge der christlichen
Moralanschauung sein musste, wie fplgt:
») Dufour: Histoiro de la Prostitution. Bd. LEI, S. 374.
284 ^'- Schrenck-Xotzing.
„Die griechischen Hetären, sagt dieser Autor, hatten vor den ver-
heiratheten Frauen sehr viel voraus. Freilich erschienen sie bei den reli-
giösen Geremonien nur in einiger Entfernung, freilich nahmen sie nicht an
den Opfern theil, und gaben keinen Bürgern das Leben! Aber sie warea
der Schmuck der feierlichen Spiele, der kriegerischen TJebungen, der
soenischen Darstellungen; sie allein konnten in Wagen spazieren fahren;
wie Königinnen geschminkt, in Seide und Gold strahlend, mit entblösstem
Busen und unbedecktem Haupte bildeten sie das gewählte Pnblikuin in den
Gerichtssitzungen, in den Hednerkämpfen, in den Yersammlnngen der
Akademie. Sie waren es, welche dem Phidias, Apelles, Praxiteles und
Zeuxis Beifall klatschten, nachdem sie ihnen ihre unnachahmlichen ModeUft
geliefert; sie hatten Euripides und Sophokles, Mänandros, Aristophanes
und Eupolis begeistert und sie ermuthigten sie, sich die Palme des Theaten
streitig zu machen. In schwierigen Angelegenheiten folgte man ihren Bat-
schlägen, wiederholte man überall ihre Aussprüche, ihre Kritik wurde g»>
fürchtet, nach ihrem Lobe war man begierig. Trotz ihrer Sitten, trota dem
öffentlichen Aergemiss, das ihre Profession erregte, brachten sie schönen
Thaten, edlen Unternehmungen, grossen Characteren und erhabenen
Talenten ihre Huldigungen dar. Ihr leicht beweglicher, gebildeter,
vollendeter Geist erregte um sich herum den Wetteifer der Schönheit und
die Forschung nach dem Guten, verbreitete Lehren über den Geschmack,
vervollkommnete die Literatur, Wissenschaft und Künste, indem* sie die-
selben mit dem Schleier der Liebe entfachten. Hierin lag ihre Kraft^
ihre Verführung. Gewiss waren sie die Quelle vieler Yerderbnisa, vieler
Verschwendung, vieler Thorheiten, gewiss verdarben sie die Sitten, ver-
schlechterten sie einige öffentliche Tugenden, schwächten sie die Gharactere,
erniedrigten sie die Gemüther; aber zugleich gaben sie die Veranlassung
zu den grossartigsten Gedanken, den ehrenvollsten Thaten des Muthes und
des Patriotismus, zu genialen Werken und reichen Schöpfungen in Poesie
und Kunst."
Bei dem engen Zusammenhange der Prostitution mit sexuellen Ver-
irrungen und Erkrankungen, und bei der heutigen niedrigen Stufe dieses
nothwendigen TJebels erschien die Wiedergabe der vorstehenden Schilderung
an dieser Stelle (aus dem Werke Mantegazza's) zweckmässig.
TJm den Bedürfnissen des menschlichen Herzens, welche in der heutigen
Form der Ehe nach Mantegazza nicht mehr die erforderliche Befriedigung
finden können, entgegenzukommen und das Liebesleben wieder auf eins
höhere Stufe zu heben, stellt Verfasser am Schlüsse seines Werkes zn diesem
Zweck folgende Erfordernisse auf.
1. Weniger Unwissenheit in geschlechtlichen Dingen bei den jungen
Leuten.
2. Freie Wahl bei beiden Geschlechtem. Kein Zwang durch die
Eltern, kein Contract.
3. Weniger Heuchelei.
4. Wiederherstellung der Würde der Ehe durch eine von weisen Ge-
setzen imigebene Ehescheidung.
5. Anerkennung der freien geschlechtlichen Liebe, aber völlige
Psychologie und Psychopathologie der \'ita sexualis. 285
Trennung derselben von der monogamen Ehe mit dem Zwecke der Familien-
begründung.
Eine weitere zusammenhängende Darstellung der ^^Krankhaften
Erscheinungen des Geschlechtssinnes'' lieferte im Jahre 1886
Tarnowski (Petersburg) und zwar theilweise angeregt durch die Arbeiten
Yon y. Krafft-Ebing, Lombroso, Charcot und Magnan. Dieser
Kliniker unterscheidet die Perversität auf Grundlage erblicher
Belastung von der erworbenen geschlechtlichen Perversität.
Zu. der ersteren Gruppe rechnet er die angeborene conträre Sexual-
empfindung, die periodische Perversität des Geschlechts-
fiinnes, sowie die sexuelle Perversität des Epileptikers.
In die Erscheinungen der erworbenen geschlechtlichen Perver-
sität gehören: Erworbene und senile Päderastie (im Alters-
blödsinn) und solche im paralytischen Blödsinn. Die dritte
Gruppe bilden complicirte Formen geschlechtlicher Perversität^
Ein Theil der im Vorstehenden besprochenen Literatur und Casuistik
ist auch dem Werke Tarnowski's zu Grunde gelegt. Derselbe er-
kennt den Typus der geborenen Päderasten an, räumt aber der Bedeutung
ungünstiger Erziehungseinflüsse einen grösseren Spielraum ein, als die
meisten anderen Autoren. Besonders wird bei den schwach entwickelten
Formen nach Tarnowski die Bichtung der geschlechtlichen Thätigkeit
durch die Umgebung bestimmt. Diese Aufstellung ist insofern nicht richtig,
als gerade die Formen des Fetischismus immer lediglich durch äussere
Homente ihren Inhalt und ihre eigenartige Richtung bekommen. Und gerade
manche Falle dieser Art gehören zu den schwersten Formen psychosexueUer
Erkrankung. T. betont die Wichtigkeit der Erziehung. Eltern
und Lehrer sollen gewisse weibische Neigungen bei kleinen krankhaft dis-
ponirten Knaben nicht begünstigen ; man möge ihn verspotten, damit er sich
zusammennimmt, „von weiblicher Gesellschaft entfernt, in angestrengter Weise
mit Leibesübungen beschäftigt, stets für die geringste Andeutung von
Gagnetterie, übermässige Zärtlichkeit und überhaupt für jede Aeusse-
Tung frauenhafter Triebe gerügt und bestraft, erreicht der Jüngling das
Pubertätsalter bei strenger Erziehung. Der von Geburt an krankhaft herab-
gesetzte Trieb zum weiblichen Geschlecht, und der durch Erziehung abge-
schwächte perverse Geschlechtssinn machen ihn im Anfang dieser Lebens-
periode hinsichtlich sexueller Genüsse gleichgiltiger, als es seine im selben
Alter stehenden Kameraden sind/' Beim Misslingen der ersten Versuche
heterosexuellen Verkehrs (in Folge heftiger Erregung oder häufiger Pollution)
soll doch der Verkehr mit weiblichen Personen fortgesetzt werden, besonders
mit ein und derselben Person; die sexuelle Perversität nimmt dann ab und
schliesslich wird aus dem Jüngling, der von Geburt aus zu perverser Ge-
schlechtsthätigkeit disponirt war, ein Mann mit normaler Geschlechtsfunction,
der zum Familienleben befähigt ist.'' Beferent kann in angenommener
Voraussetzung des wirklichen Vorhandenseins einer angeborenen Disposition
zu perverser Geschlechtsentartung aus vielfacher Erfahrung diesen goldnen
Segeln Tarnowski's nur beistimmen.
Die Periodicität der anormalen Befriedigung des Geschlechts-
286 ^'- Schrenck-Notzing.
triebes äussert sich besonders häufig in der Oestalt aciiyer Päderastie und
Flagellation. Die Kranken befriedigen ihren perversen Trieb zwei, drei
Male im Laufe des Jahres, nicht öfter^ und pflegen in der übrigen Zeit
normalen Verkehr mit Weibern. Je deutlicher die Feriodicität solcher
Anfälle von Perversität ausgeprägt ist, um so intensiver ist die krankhafte
Störung, und um so mehr nähert sie sich der Form periodisch auftretender
maniakalischer Erregung, d. h. einer der terminalen Aeosseningsweisen
pscyhischer Entartung. Wie in anderen Formen periodischen Irreseins, sind
die Kranken ausserhalb des Anfalls vollständig Herren ihrer geistigen Fähig-
keiten. Zu dieser Art sexueller Entäusserung gehört die Exhibition, die
Thierschändung, Nekrophilie etc.
Tarnowski beobachtete, dass Perversität der Geschlechtsthätig-
keit und Epilepsie häufig zusammen auftreten, indem beide auf dem
Boden erblicher Belastung entstehen und im Allgemeinen die Folge der
nmälichen ätiologisch psycliischen Degeneration bewirkenden Momente bilden.
Neben den epileptischen Masturban ten kommen am häufigsten vor die epi-
leptischen activen Päderasten. Im Verlauf der Epilepsie sind auch, wenn
auch selten, eigenthümliche Formen perverser Geschlecht st hätigkeit be-
obachtet, deren Bedeutung den äquivalenten epileptischen Psychosen ^eich-
komrat. Bewusstseinstrübung ist dabei die Regel (z. B. Nothzuchtsattentate).
Neben der Erotomanie (krankhafte Neigung mit platonischem Cbaracter,
sich zu verlieben) kennt Verfasser eine Päderastomanie = übertriebene
Liebesneigung eines Homosexuellen.
In Bezug auf die erworbene Päderastie betont T. die schäd-
liche Wirkung der Masturbation bei heranwachsenden Knaben, der Internate,
des Zusammenschlafens von Zöglingen, die Bedeutung des Nachahmungs-
triebes, des Beispiels, der Verführung, der gesteigerten Phantasiethätigkeit,
sowie die Bolle methodischer Demoralisation; daneben kommt sie selbst-
ständig als Ausfluss der Sittenverderbniss mancher Individuen vor.
Mit Becht betont T. den wichtigen Punkt der Intensität der G^schlechts-
begierdü bei verschiedenen Individuen und in verschiedenen Lebensaltern,
und bei verschiedenen Nationen und Ba^en : »Bei sinnlichen Personen bildet
nicht selten die Geschlechtsfunction im Laufe einer gewissen Lebensperiode
die Hauptaufgabe der Existenz, wenn ilmen die Befriedigung versagt wird,
so werden sie Masturbanten und seltener Päderasten.^ Es kann aber auch
ein eigenthümliches Gemisch von Mannesschwäche und geschlechtlichen Aus-
schweifungen, von physischer Decrepidität und geistiger Verderbtheit vor-
kommen.
Auf die sexuell perversen Handlungen im Altersblödsinn
(Päderastie, Exhibition, Benutzung von Kindern etc.), sowie in der pro-
gressiven Paralyse soll hier nur hingewiesen werden.
Ferner beobachtete Tarnowski Fälle von Priapismus (stetige
unwillkürliche Erection mit herabgesetzter Sinnesbegierde ohne Wolln^
gefühl und langsamer Samenentleerung) in acuter Form nach Canthariden
und in Folge der Anwendung mechanischer Beizmittel, femer in Folge von
Erkrankungen der urogenitalen Sphäre. In dem Fall eines Soldaten dauerte
der Priapismus 2 Jalire und nahm auch nach wiederholtem Coitus nicht
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 287
ab. Später waren der Act des Beischlafs und die Samenentleerung von
heftigem Schmerz begleitet.
Den Schluss des interessanten Buches bildet eine Besprechung ver-
schiedener complicirter Formen geschlechtlicher Perversität. Derselbe enthält
lüttheilungen über päderastische Prostitution in grossen Städten , über
sexuelle Yerirrungen der römischen Kaiser, über Veränderungen am After
als Folgeerscheinungen der Päderastie (z. B. bei sodomitischer Nothzucht),
sowie eine Anleitung zur Untersuchung sexuell perverser Personen für
forensische Zwecke.
Unter weiteren Arbeiten französischer Forscber sei an dieser Stelle
der Arbeit Ball's über erotischen Irrsinn gedacht. Ball unter-
scheidet :
I. die Erotomanie oder Irrsinn (folie) der keuschen Liebe,
1. erregende Form (aphrodisiaque),
n. SexuelleUebererregbarkeit
TTT. Sexuelle Perversion
2. unzüchtige Form,
3. hallucinatorische Form,
4. Satyriasis oder Nymphomanie.
1. die Blutgierigen,
2. die Nekrophilen,
3. die Päder asten,
4. die Invertirten (= Homosexuellen).
Mit Recht weist Bin et in seiner grundlegenden Studie über den
Fetischismus in der Liebe darauf hin, dass dieser Classe sexueller
Entartung kein Platz in der Eintheilung Ball 's eingeräumt ist. Er zählt
sie zu Classe III als Unter ab th eilung 5.
Unter Fetischismus eroticus versteht B i n e t die Abhängigkeit der
sexuellen Erregung von körperlichen oder seelischen Theilen einer Person
oder von leblosen Gegenständen. Je nach dem G-rade des Auftretens
unterscheidet Bin et den „grossen'^ von dem „kleinen'^ Fetischismus.
So giebt es nach ihm Liebhaber für das Auge, für die Hand, für die
Haare, für den Geruch, für die Stimme. So kann eine bestimmte Form
der Hand bei dem Hand-Fetischisten Erection hervorrufen, während ihn die
Besitzerin der Hand im Uebrigen ganz kalt lässt. Der Fetischismus zeigt
also die Tendenz, mit Hilfe der Einbildungskraft das geliebte Object zu
isoliren. Der Theil wird schliesslich unabhängig vom übrigen Körper.
Binet stellt nun die Theorie auf, dass im Leben jedes Fetisclüsten ein
Ereigniss anzunehmen sei, welches die Betonung gerade dieses einzigen
Eindruckes mit Wollustgefühlen determinirt hat. Das Alter der Pubertät
und der erste sexuelle Rapport sind für dieses Entstehen einer Association
der Ideen (par contignitd) besonders gefährlich. Die den ersten sexuellen
Bapport begleitenden erotischen Gedanken kehren wieder, können zur Zwangs-
▼orstellung werden und schliesslich den geschlechtlichen Geschmack und das
sexuelle Leben überhaupt beherrschen.
In dem oben erwähnten, von Magnan berichteten Fall des Nacht-
mützenliebhabers coincidirte das Eintreten der ersten geschlechtlichen Er-
regong mit dem Anblick der Nachtmütze, welche ein mit ihm im Bette
288 V. Schrenck-Notzing.
schlafender Verwandter in demselben Angenblick auf den Kopf setiie.
Nächste Erection, als er eine alte Dienerin die Nachtmütze anfsetaen sah.
Dadurch bildete sich eine Association in dem Alter, wo Asscoiationen über-
haupt sehr stark sind. — Ein Schürzenfetischist sieht mit 15 Jahren eine
Schürze im Winde flattern, er nimmt sie, bindet sie sich um, um darunter
zu masturbiren. Die hier angeknüpfte Ideenassociation wird snr Zwangi-
vorstellung, weil Patient erblich prädisponirt ist, und bestimmt seine ge-
schlechtliche Richtung.
B i n e t hat den psychischen Zustand, in dem Associationen von eolehsr
Tragweite zu Stande kommen, mit einem Zustand erhöhter Suggesübilitit
passend verglichen. An sich sind oft die Gegenstände der Anknüpfung
sexueller Erregung unfähig, Befriedigung zu bieten; die Reproduction der
damit assocürten Vorstellungen und Empfindungen ist es, die ihnen ihre
Bedeutung giebt. Damit wird auch das in diesen Yerirrungen immer wieder
auftauchende Streben nach Verallgemeinerung und Abstraction erkläiüch,
welche die Aberration im Laufe der Zeit völlig verändern kann. £in Haam,
der eine bestimmte Frau mit rothem Haar liebte, konnte schliesslich kein
rothes Haar mehr sehen, ohne geschlechtlich erregt zu werden. Der frühere
Liebhaber einer Italienerin bekam beim Anblick italienischer Kostüme regd-
massig Erection. Ueberhaupt üben die Eigenschaften, welche wir einmal
in einer Person geliebt haben, immer wieder bei anderen grosse Anziehungs-
kraft auf uns aus.
Der Schuhfetischist zeigt zunächst eine Vorliebe für den nackten
weiblichen Fuss, eine Neigung, die ohne Streben nach Isolirung und ohne
separate sexuelle Erregung physiologisch zu nennen ist. Der bekleidete
weibliche Fuss bildet die TJebergangsform und die Liebe für Schnhnigel
das pathologische Endresultat.
Die Erblichkeit ist, wie Binet mit Brecht bemerkt, nicht fShig, der
Erkrankung ihre characteristische Form zu geben. Aber wenn man aneh
die Hypothese der Erblichkeit zugeben würde, so bestünde doch die Pflidit
nachzuweisen, wie die durch Erblichkeit fortgepflanzte Krankheit von den
Vorfahren erworben ist ; denn die Erblichkeit erfindet nichts, schafft niohtB
Neues ; sie hat keine Einbildungskraft, kein Qedächtniss. So hat man anch
die contrüre Sexualempfindung für ein Spiel der Natur angesehen. West-
p h a 1 und seine Nachfolger haben nach Binet zu grossen Werth anf die
Form der Perversion gelegt. Merkwürdig ist die Thatsache einer pervereen
Bichtung, nicht aber das Object für dieselbe. So muss nach Binet die
sexuelle Inversion erklärt werden, wie der Fetischismus. Oft ist das finstere
Ereigniss vergessen, welches den Ausgangspunkt für die Verirmng darbot
und den Geschmack für das eigene Geschlecht determinirte. Ein ander«
Umstand, ein anderes Ereigniss hätten den Inhalt des sexuellen Wahnsystoiu
anders gestaltet und derselbe Mann, der heute Männer liebt, konnte mrter
anderen Umstünden Liebhaber für Schuhnägel geworden sein. Alle diese
perversen Entäusserungen des Geschlechtstriebes sind Symptome desselben
pathologischen Zustande? ; meist handelt es sich um degenerirte Individuen
mit einer neuropathischen erblichen Anlage. Auch bei den Hermaphroditen
sind oft die durch einen Irrthum über das wirkliche Geschlecht entstandenen
Psychologie und Psychopathologie der vita sexnalis. 289
■
Gewohnheiten und Beschäftigungen für den sexuellen Geschmack maassgebend
geworden. Den meisten dieser Perversen ist ein frühzeitiges Heraustreten
des G^chlechtstriebes gemeinschaftlich.
Eines der interessantesten Beispiele für die pathologische Bolle einer
verkehrten Ideenverknüpfung auf sexuellem Gebiet liefert nach Bin et die
Entwickelung der sexueUen Yerirrungen Bousseau's^). Verfasser giebt
eine ausführliche Beschreibung dieses Falles. Eine andere interessante
Beobachtung derart ist von Tarnowski berichtet.^ Die Neigung zu Pelz-
werk nahm bei einem 12 jährigen Masturbanten ihren Ausgangspunkt von
der körperlichen Berührung mit einem Hündchen, das der Patient zuweilen
mit in sein Bett nahm. TJebergang: Coiucidenz der Onanie und Betasten
des Hundes. Schliesslich brachte die Berührung des Hundes aUein Erregung
und Samenentleerung hervor. Später konnte er nur noch durch die Be-
rührung von Pelzwerk überhaupt geschlechtlich erregt werden. Es handelte
sioh auch hier um die Wirkung pathologischer Association mit der Tendenz
snr Verallgemeinerung bei einem Degenerirten.
Das Bestreben, die Ursache des Vergnügens und der sexuellen Erregung
stärker hervortreten zu lassen, deutet ein Suchen nach stärker wirkenden
Seizen an, was nach B i n e t eine geschwächte Keactionsfähigkeit der Nerven
voraussetzt und daher in der Geschichte und Physiologie als ein Zeichen
der Decadence aufzufassen ist. Schon die Wilden lassen die Körpertheile,
welche sie verehren, stärker hervortreten; die Eingeborenen Westamerikas
formen ihre BEaare in Knoten, um den Kopf zu vergrössern; die Chinesen
suchen ihre Füsse zu verkleinem, die Europäerinnen wollen die weibliche
Brust durch Schnürleiber stärker hervortreten lassen. Die Gourtisane färbt
die Lider, um das Auge zu vergrössern und das Weiss leuchtender zu
machen. Auch bei den Conträrsexualen findet sich das Streben zu ver-
grossem. So übertreibt der Urning, welcher das Weib copiren will, die
specifisch weiblichen Eigenschaften oft bis zur Oarricatur, und umgekehrt
das Weib in Männerkleidung die männlichen.
Die Enthaltsamkeit, mit der die Thatsache der specifischen sexuellen
Seaction auf nicht überall erreichbare Beize bei den geschlechtlich Verirrten
häufig genug verbunden ist, steigert ihre Einbildungskraft und das Streben
nach Befriedigung.
Der Inhalt der geschlechtlichen Verirrungen kann im Laufe der Zeit
Veränderungen erfahren durch das Bestreben solcher Patienten, zu verall-
gemeinern, zu isoliren und zu vergrössern. Diese 3 Eigenschaften
sind nur verschiedene Ausdrucksformen der einzigen der menschlichen Ein-
iMldnngskraft anhaftenden Neigung zur üebertreibung. Durch patho-
logische Verhältnisse und Abstinenz kann dieselbe gesteigert werden.
Gegen die für die weitere Erforschung der vita sexualis bedeutsam
gewordene Associationslehre Binet's haben v. Krafft-Ebing*)
^] Rousseaa: Confessions part I livre I.
•) Tarnowski loc. cit.
»)v. Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, 10. Aufl. 1898, S. 146.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. YIU. 19
290 ▼• Schrenck-Notzing.
und M o 1 P) Einwendungen erhoben. Ersterer rechnet die y,Schnh- und
Fussfetischisten*' zu den Masochisten (= passiven Algolagniaten), weil das
Sichtretenlassen mit Füssen masochistisohe Gelüste ausdrücke. Für die
Erklärung andenr Formen der sexuellen Psychopathologie als den Fetischii-
mus hält V. Kr äfft- E hing Bin et 's Lehre weder erforderlich noch ge-
nügend. Die Associationen, auf denen der erotische Fetischismus beruht nnd
bei ihm nicht ganz zufallige. Die Möglichkeit fetLschistischer ABsociation
ist nach v. Krafft-Ebing durch die Beschaffenheit der Objecto vor-
bereitet. Ausserdem erkläre diese Theorie (wie Chevalier bemerkt) weder
die Päcocität homosexueller Triebe, . noch die Aversion gegen das andere
Geschlecht. Moll dagegen behauptet, dass der Fetischist trotz seiner
Neigung zu isoliren, die Beziehung zu einem bestimmten Individuum nicht
verliere, sondern sogar ein solches in der Phantasie hinzu ergänze, wenn
es nicht vorhanden sei. Moll und Havelock Ellis^) sehen in dem
Fetischismus nur quantitative Differenzen in der Abweichung vom NonnaleUi
dagegen in den homosexuellen Trieben qualitative Unterschiede. Ausserdem
ist die Differenzirung des Geschlechts beim Fetischismus deutlich ausgeprägt
Wenn z. B. das Gezüchtigtwerden eine sexuelle Bedeutung gewinnt, so ist nach
Moll ererbt die Disposition zur Verknüpfung der Demüthigung mit dem
Geschlechtstrieb. Wenn nun die nach Moll ererbten Dispositionen (oder
Reactionsfahigkeiten) nicht gerade auf bestimmte Objecte sich beziehen, so
können doch nach seiner Meinung sexuelle Reactionsfahigkeiten bestimmter
Art vererbt werden, z. B. die Neigung zur Unterwerfung unter das Weib
und ähnliches. Von den Zufallen des Lebens hängt es dann ab, welches
Symbol für diese Unterwerfung gewählt wird.
Gegenüber diesen Einwendungen lässt sich sehr wohl
Binet's Lehre vertheidigen. Zunächst ist zu bemerken, dass nach
mehrfachen Beobacungen des Referenten die Erscheinungen des Sadis-
mus und Masochismus (von ihm als Algolagnie bezeichnet) sich in ganz
gleicher Weise auf dem Wege der Zwangsassociation entwickeln ans
zufälligen äusseren Umständen, wie der Fetischismus. Was die weiteren
Formen der sexuellen Perversionen betrifft, so ist hier ein abschliessendes
Urtheil nach der heutigen Sachlage noch nicht zu bilden; vielmehr ist in
den casuistischen Mittheilungen der endogene und exogene Factor
sorgfaltig zu berücksichtigen und in seiner Wirksamkeit für das Zustande-
kommen der betreffenden Verirrung gegen einander abzuschätzen. Das
vorzeitige Erwachen sexueller Dränge kommt bei sonst gesunden
Personen ebenfalls vor, und wird ganz besonders häufig bei erblicher psycho-
oder neuropathischer Disposition beobachtet. Dasselbe ist nur ein Zeichen
besondererTriebstärke, hat aber mit Sichtung und Lihalt des Trieb-
lebens an sich nichts zu thun (Unterschied der Quantität und Qualität).
Fetischisten können die Beziehung zum Individuum, das den Ausgangs-
punkt bildete, ganz verlieren und reconstruiren durchaus nicht immer
^) Moll: Libido sexaalis 1898, S. 318 u. 4%.
') Havelock Ellis: Die Theorie der conträren Sexaalempfindung. Central«
blatt für Nervenheilkimde u. Psych. Febr. 1896.
Psychologie nnd Psychopathologie der vita sexualis. 291
in ihrer Phantasie Individuen hinzu. Es kommt eben dieser Fall neben
den von Moll erwähnten vor.
Was nun die Moll 'sehe Theorie von dem Angeborensein von
bestimmten Dispositionen oder Beactionsfähigkeiten auf
specifische äussere Beize und Objecto betrifft, so wird der
Brennpunkt der Frage hierdurch wieder lediglich zurückgeschoben,
aber nicht gelöst. Denn man kann bekanntlich nur als bestimmte Disposition
etwas erben, was die Vorfahren bereits als automatisirte Gewohnheit
besassen, also irgendwo einmal erworben haben müssen. Zunächst ist
zu erweisen, dass die Vorfahren jener sexuell pervers angelegten Personen
solche Gewohnheiten besassen und zweitens, wann zum ersten Mal dieselben
Auftraten resp. wann und wie sie erworben wurden. Bei Beantwortung dieses
letzten Punktes wird von Neuem die Frage nach pathologischen Zwangs-
associationen auftauchen. Schliesslich ist jene Annahme, dass nämlich die
!Brblichkeit so enge Grenzen ziehe und bereits die Art einer späteren
Zwangsassociation auf sexuellem Gebiet präformirt habe, nur Analog^eschluss,
aber noch kein hinreichender Beweis. Die zahlreichen Beobachtungen, in
denen der Inhalt einer sexuellen Verirrung einer anderen Platz macht,
in denen die ganze Bichtung des Triebes wechselt, die Labilität und
leichte Bestimmbarkeit des sexuellen Trieblebens bei Degenerirten überhaupt,
sprechen gegen eine solche enge Begrenzung und präformirte Deter-
mination des geschlechtlichen Trieblebens. (Fortsetzung folgt.)
19
Die geometrisch-optischen Täuschungen und ihre psychologische
Bedeutung.
£ine Zosammenstellang der neueren laterstur.
Von
Dr. R. Lautenbach.
n. Theil.
Wir haben bisher aus der Fülle der geometrisch-optischen Täusohnngen die
bekanntesten Fälle kennen gelernt und bei den einzelnen auch schon gesehen, da«
ihre Erklärung von den verschiedenen Forschem oft principiell verschieden gegeben
wird. Wenn wir nun von den Erklärungsversuchen absehen, die sich nur auf
einzelne Täuschungsfiguren beziehen, also die Theorien betrachten, zu vAlchen das
Gesammtgebiet der geometrisch-optischen Täuschungen hinführt, so können wir im
G-runde drei Theorien unterscheiden, von denen die beiden ersten von Helmholti*)
als nativistische und empiristische Theorie bezeichnet worden sind,
während wir die von Wundt begründete als genetische zu bezeichnen haben.
Die nativistische Theorie geht bis auf Johannes Müller zurück and iat vmi
Hering*) weiter ausgebildet worden. Den Ausgangspunkt dieser Theorie bilden
die Thatsachen, dass unsere ganze Gesichtsempfindung räumlich ist^ und dasi
das Sehen normalerweise binocular ist. Die physiologische Grundbedingung
der Raumwahmehmung ist die anatomische Anordnung und Zuordnung der Neti-
hautpunkte. Als psychologische Momente kommen die „Erfahrung** unddflr
„Wille*' hinzu. Die Erfahrung lässt uns gegenwärtige Eindrücke auf gehabte
zurückführen, woraus sich denn auch die meisten optischen Täuschungen als auf
durch die Erfahrung gewonnene Gewohnheiten des perspectivischen Sehens ansehoi
lassen. Während dieser Einfluss der Erfahrung immerhin secundär ist, kommt
demjenigen des Willens primäre Bedeutung zu. Dies wird deutlich in dem Satw
Mach's^) ausgesprochen, der wörtlich lautet: „Der Wille Blickbewegongen aus-
zuführen oder die Innervation ist die Raumempfindung selbst.** Auf eine kritische
Helmhol tz, Physiol. Optik, I. Aufl., S. 435.
Hermann, Handbuch der Physiologie EQ, 1, S. 343.
') Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen.
Die geometriBoh-optisclien Täaschungen und ihre psychologische Bedeutung. 293
Analyse dieser Theorie im Einzelnen einzugehen, liegt nicht im Rahmen dieser
Arbeit, es möge nur bemerkt werden, dass die nativistische Theorie zwar richtig
ein psychophysisches Princip für das Zustandekommen der räumlichen Vorstellung
annimmt, dass sie aber in physischer Beziehung die anatomischen Motive ans^tt
der fonctionellen zu sehr in den Vordergrund stellt und in psychologischer durch'
das Hineinziehen des „Willens^ (was doch nur ein Wort an Stelle einer Analyse ist)
SU einseitig auf sensorische Functionen Werth legt und die motorischen vernach-
lässigt.
Die empiristisohe Theorie von Helmholtz^) besagt, dass die Bauman-
Behauungen ein „Froduct der Erfahrung und Einübung** sind. Demzufolge sind die
geometrisch-optischen Täaschungen Irreleitungen unseres Urtheils oder „Urtheils-
täuschungen", die durch einen anormalen Gebrauch der Sehorgane entstehen. Bei
einer kritischen Prüfung der Stützpunkte dieser Theorie zeigt sich, was hier nicht
naher ausgeführt werden kann, dass auch sie mannigfache Widersprüche in sich
flchliesst und ihre eigentliche Aufgabe, aus an sich unräumlichen Empfindungen das
Entstehen räumlicher Vorstellungen zu erklären, ungelöst lässt.
Während nun die nativistische Theorie die Gesichtswahrnehmungen im Grunde
als angeboren, die empiristische als aus der Erfahrung entstanden betrachtet, be-
steht, was von beiden Theorien unbeachtet bleibt, noch eine dritte Möglichkeit,
nämlich die allmähliche Entwickelung derselben. Hiermit kommen wir auf eine
dritte, die von Wundt aufgestellte genetische Theorie.
Dieselbe erscheint um so natürlicher als sie mit den allgemeinen Organisations-
bedingungen insofern übereinstimmt, als sie individuelle und generelle Ent-
wickelung nebeneinander berücksichtigt. In Hinsicht auf die hypothetischen
Elemente, welche auch sie enthält, bezeichnet sie Wundt*) selbst als „Theorie
der complezen Localzeichen*'. Hier wird man zuerst die Frage aufwerfen,
was ist ein Localzeichen? Dieser Hülfsbegriff ist von Lotze in die Wissen-
schaft eingeführt worden und bedeutet in seiner Allgemeinheit „irgend ein
Datum für unser Bewusstsein, das für die Localisation eines Eindrucks bestimmend
ist.*' Diesen Begriff des Localzeichens kann man in zwei Formen zerlegen und
^einfache** und „complexe Localzeichen** unterscheiden. Dass wir es in unserem
Falle mit „complexen** Localzeichen zu thun haben, ergiebt sich daraus, dass,
wie wir im ersten Abschnitt dieser Abhandlung an dem Zustandekommen der
geometrisch-optischen Täuschungen gesehen haben, die Gesichtswahmehmungen das
Product verschiedener Factoren sind, aus deren Zusammenwirken erst die betr.
Wahrnehmung entsteht, nämlich aus einer Synergie des optischen und des Be-
wegungs-Apparates des Auges oder, was dasselbe ist, aus der vereinigten Thätigkeit
der sensorischen und motorischen Nerven. Wir haben also auch zwei Systeme
▼on Localzeichen, eines für das „Netzhautbild** und eines für das „Bewegungsbild**.
Die Localzeichen der Netzhaut haben wir uns als eine Mannigfaltigkeit von zwei
Dimensionen vorzustellen, diejenigen der Spannungsempfindungen des Auges als
eine solche von einer Dimension. Wenn nun „die Spannungsempfindungen
des Auges, ein Continuum von einer Dimension bildend, mit dem
?
Helmholtz, Physiologische Optik, II. Aufl.
Wundt, Zur llieorie der räumlichen Gesichtswahmehmungen. Philos.
Studien XIV, 1. fl., S. 98.
294 A- Lautenbach.
zweidimensionalen, aber ungleichartigen Continunm der Netshaut-
localzeichen associativ yerBchmelzen, erzeugen sie ein gleieh-
artiges Continuum von zwei Dimensionen, das heisst eine Raam-
empfindung."*)
Diesen Schlusssatz zu zergliedern und in seinen Einzelheiten weiter atUEoluhreii,
würde ausserhalb der Grenzen dieser Zeitschrift sein. Wer sich eingehender mit
diesem Gegenstande beschäftigen will, möge darüber den betr. Abschnitt*) in
Wundt nachlesen.
Wenn wir an dieser Stelle, wo wir die haupträchlichsten Theorien über das
Zustandekommen der Gesichtswahmehmungen in ihren Grundzügen kennen gelernt
haben, noch einmal rückwärts blicken und den Gedankengang uns nochmals Ter-
gegenwärtigen, so wird es uns klar werden, dass überhaupt alle die Torhergehenden
Erörterungen nur auf Grund der Thatsachen der geometrisch-optischen Täuschungen
möglich waren. Ob wir den einen oder den anderen theoretischen Standpunkt
theilen, wir müssen anerkennen, dass uns die Erscheinungen der geometrisek-
optischen Täuschungen erst in den Stand gesetzt haben, die Bildung Ton Sinnes-
wahmehmungen zu beobachten. Auf keinem anderen Beobachtungsgebiet laset sidi
die Entstehung einer Sinnesvorstellung so genau verfolgen, wie bei den geometrisch-
optischen Täuschungen. Wir haben gesehen, wie wir eine Gesiehtsvorst^llung be-
liebig verändern können, je nachdem wir diesen oder jenen Punkt einer Zeichnung
zuerst fixiren, diese oder jene Linie mit unserem Blick zuerst durchlaufen, wir
haben gesehen, wie Täuschungen entstehen und verschwinden, je nachdem wir eine
Figur monocular oder binocular betrachten und wenn wir die Lage der Figur
durch Drehung variiren. Wir haben damit den Einfluss physiologischer
Motive feststellen krmnen, femer haben uns die Täuschungen durch Angleichung
und Contrast, die wir unter dem Namen Associationstäuschungen behandelt haben,
gezeigt, dass auch psychologische Momente bei der Entstehung von Gesichts-
wahmehmungen eine Bolle spielen.') Aber nicht allein die Thatsache, dass eine
Gesichtsvorstellung das Product physiologischer und psychologischer Factoren ist^
können wir bei dem Studium der geometrisch-optischen Täuschungen erkennen,
sondern bis zu einem gewissen Grade sogar den Antheil des physiologischen und
denjenigen des psychologischen Processes constatiren. So können wir denn be-
haupten, dass die geometrisch-optischen Täuschungen es sind, deren Studium wir
unser Wissen über die Haumvorstellung grösstentheils verdanken, womit ihre Be^
deutung für die allgemeine Psychologie selbstverständlich ist.
Da diese Verhältnisse von weitgehender Bedeutung sind, so wollen wir dieselben
zum Schlüsse noch etwas näher betrachten. Zu diesem Zwecke müssen wir zu den
umkehrbaren perspectivischen Täuschungen zurückkehren, weü gerade die optischen
Erscheinungen dieser Gruppe die bei den Gesichtswahmehmungen stattfindenden
psychischen Processe am Klarsten erkennen lassen. Wir haben gefunden, dass die
Fig. 1 (eine durch drei gerade Linien gebildete körperliche Ecke) convex erscheint,
wenn man eine der Geraden von der Spitze aus durchläuft, und dass sie umgekehrt
*) Ich führe diesen Satz Wundt*s wörtlich an, weil er mir von der aller-
grössten Bedeutung für die Theorie der Raumvorstellung zu sein scheint.
>) Philos. Studien XIV, 1. Heft, S. 13 u. f. S.
') Hiermit soll der Einfluss der psychologischen Motive nicht etwa auf die
„Associationstäuschungen*' beschränkt werden.
Die geometrisch- optischen TäuschuDgen und ihre psychologische Bedeutung. 295
concay erscheint, wenn man am entgegengesetzten Ende anfängt. In diesem Falle
(und in allen ähnlichen verhält es sich ebenso) sehen wir, dass die Blickbewegung und
die damit verbundenen Spannungsempfindungen des Auges einen entscheidenden Ein-
fluss auf die Raumvorstellung ausüben, und zwar hat das Auge die Tendenz, die Objecto
von den näher gelegenen zu den entfernteren Punkten zu fixiren. Die Augen-
bewegungen bewirken nun Empfindungen, und diese lösen ihrerseits erst frühere
adäquate Vorstellungen aus. Doch werden niemals fertige Vorstellungen, ja nicht
einmal bestimmte Elemente von gehabten Vorstellungen wachgerufen, sondern eine
grössere Anzahl von Erinnerungselementen, die nur annähernd mit dem neuen
Eindruck tibereinstimmen. Diese Erinnerungselemente wirken dann associativ oder
genauer ausgedrückt assimilirend (weil es sich um Elemente gleichartiger Ge-
bilde handelt) auf den immittelbaren Bindruck, welchen das Object hervorruft, und
dieser kann nun seinerseits selbst wieder auf die reproducirten Elemente zurück-
wirken. Diese Processe gehen simultan vor sich, d. h. inducirende und inducirte
Vorstellung bilden ein gleichzeitiges Associationsproduct, welches inducirende und
inducirte Elemente derartig nebeneinander enthält, dass wir sie in dem Vorstellungs-
ganzen nicht von einander unterscheiden können. Die Verschmelzung oder Assi-
milation dieser verschiedenen Elemente erfolgt wahrscheinlich durch Verdrängung
ungleicher und durch Angleichung ähnlicher Vorstellungselemente.
Wir können also an dem Zustandekommen der umkehrbaren perspectivischen
Täuschungen wie bei keiner anderen Erscheinung die Assimilations- und somit die
Associationsvorgänge überhaupt erkennen ; „sie bestehen in jedem einzelnen
Palle aus einer Menge elementarer Verbindungsprocesse zwischen
den Bestandtheilen der Vorstellungen."
In Beziehung auf das Zustandekommen der Raumvorstellung wurde schon bei
den umkehrbaren perspectivischen Täuschungen gezeigt, dass hierbei die Augen-
bewegungen eine hervorragende Rolle spielen. Noch deutlicher ergiebt sich die
Richtigkeit dieser Behauptung aus dem Studium der Strecken- und Richtungs-
täuschungen. Es möge hier nur nochmals hervorgehoben werden, was dort ein-
gehender erörtert worden ist, dass weder aus dem Netzhautbilde, noch aus dem
Bewegungsbilde allein die Entstehung räumlicher Gesichtswahmehmungen zu er-
klären ist. sondern dass das räumliche Sehen auf einer Wechselwirkung dieser
zwei verschiedenen Bilder beruhen muss. — Die perspectivische Vorstellung ist bei
den Strecken- und Richtungstäuschungen nur eine fiülfsvorstellung, bei welcher
dieselben Gesetze der Angleichung und Verdrängung wirken, wie bei den umkehr-
baren perspectivischen Täuschungen. Sie bieten uns daher einen neuen Beweis für
die Richtigkeit des bei diesen Gesagten. Ebenso, al^er in noch eclatanterer Weise
thon dies die Associationstäuschungen, weil sie zeigen, dass Angleichungsprocesse
in der That stattfinden. Denn wir wissen aus den betreffenden Erscheinungen, wie
sie im I. Theil dieser Abhandlung erörtert worden sind, dass Objecto von geringem
Grössenunterschiede für gleich gehalten werden durch Angleichung, und dass
umgekehrt gleiche Objecto, wenn sie von verschieden grossen umgeben sind, für
ungleich angesehen werden durch Gontrast.
Referate und Besprechungen.
^Recherches cliniques et th^rapeutiques sar l'^pilepsie, l'hyt-
terie et l'idiotie, compte-rendu du service des enfants idiots, ^pUeptiques ei
arrieres de Bicetre pendant Taimee 1896 par B<mmeviÜe avec collaboration de Mm.
Mettetal, Noir (J.), ßegnault, Rellay Vaquez et Boyer (J.). Vol. XVIL« Par»,
auz bureaux du Progrds m^dical, F^ix Alcan 6diteur.
Aus dem zweiten, klinischen, auf 249 Seiten 18 Abhandlungen enthaltenden
Theile dieses 17. Bandes Bourneville 'scher Y eröfifeutlichungen , welcher die
Gasuistik obgenannter Krankheiten um eine Anzahl äusserst minutiös beschriebener,
lehrreicher Fälle vermehrt, beanspruchen wohl das äctuelle Interesse am meiatea
eine Anzahl von Vorträgen über Myxoedema infantile und dessen Behandlung mit
Schilddrüse (Nr. III. IV, X— IV). £s sei zunächst das Bild der „Idiotie myxoedö-
mateuse" oder „Idiotie compliquee de cachexie pachydermique** oder „Myxoeddme
infantile" nachskizzirt, wie es B. in Nr. X, S. 135 seinen Ausführungen voranstellt
Sie äussert sich in einer Entwickelungsbemmung auf psychischem Grebiete — Idiotie
verschiedenen Grades — und einer solchen auf physischem — Zwergwuchs mit
tiefen Ernährungsstörungen und Fettsucht. Die £j*auken bieten folgende Er-
scheinungen: der Kopf ist vorn schmal, hinten voluminös, mit starken Seitenhöckem;
die Stirn ist niedrig, seitlich zusammengedrückt, die vordere Fontanelle offen, aooli
bei älteren. Die Haare sind meist dick, borstenähnlich, nicht überall gleich volL
Die behaarte Haut ist gewöhnlich von eczematösen Eruptionen bedeckt. Die
hässliche Physiognomie drückt Stumpfheit, Apathie aus, das Profil ist noch hässlicher
wegen des stark hervortretenden Prognatismus. Die Lider sind aufgedunsen, blaai-
bläulich, verdecken mehr oder weniger die Bulbi und sind meist mit Ciliarblepharitii
afficirt. Die Nase ist platt, die Wangen sind gebläht, hangend. Mund breit, Lippen
verdickt, bläulich, die untere umgestülpt. Die Zunge ist allseitig vergrössert und
zeigt sich in der Mundöffnung. Die Zähne stehen ohne Richtung, sind cariös, die
2. Dentition ist unvollständig; das Kinn fehlt fast. Die Ohren sind ohne Miss-
bildung. doch verdickt, wachsartig blass, von ödematösem Aussehen, ohne aber die
Spur des Fingereindruckes zu behalten. Hals dick, kurz. Eopf in die Schultern
gedrückt. Die genaueste Untersuchung lässt keine Spur einer
Schilddrüse entdecken. In den Sub- und Supra-Claviculargruben, unter den
Achseln und an anderen Stellen finden sich schlecht abgegrenzte Pseudolipome.
Referate und Besprechungen. 297
Der Thorax zeigt Deformationen, besonders an den unteren Rippen, die nach aussen
stehen ; Wirbelsäule mehr oder weniger deviirt. Unterleib sehr gross, breit, frosch-
artig; meist Nabelhernie, andere Male Inguinalhemie. Becken verengt. Genitalien
meist in der Entwickelung gehemmt. Extremitäten dick, kurz, rhachitisch yerbogen,
Gelenke knotig, Hände und Fasse cyanotisch, verdickt, von pachydermem Aussehen.
flaut fast unbehaart, blass, trocken, faltig, stellenweise ichthyotisch , im Gesicht
gelblich, wachsartig, ähnlich wie bei Cachectischen. Verdauung leidlich, Appetit
•ehr massig, Widerwillen gegen Fleisch. Kauen beschwerlich. Häufig besteht habi-
tuelle Obstipation, daher oft Hämorrhoiden oder Prolaps des Mastdarmes. Re-
spiration behindert, kommen leicht ausser Athem. Der Athem ist übelriechend. Puls
klein, meist frequent. Grosse Empfindlichkeit gegen Kälte. Bei zahlreichen Unter-
iochungen fand sich im Urin kein Eiweiss. Schweissabsonderung stets unvoll-
kommen; auch in der grössten Hitze schwitzen sie nicht. Ihre Stimme ist rauh,
gellend, der Gang tölpisch, sie haben Widerwillen gegen Bewegung. Der Ge-
schlechtstrieb fehlt, Onanie, so gewöhnlich bei anderen Idioten, wurde nicht beob-
achtet. Sensibilität erscheint normal, soweit das bei der begrenzten Aeusserungs-
fahigkeit beurtheilt werden kann. Die Idiotie ist nie so tief, wie diejenige nach
Meningitis, Sclerose oder congenitaler Entwickelungshemmung des Gehirns. Keine
!nc8, keine Kopf bewegungen nach vor- und rückwärts, kein Zähneknirschen. Auf-
merksamkeit und Gedächtniss sind vorhanden. Sie werden reinlich, lernen allein
essen, sich ankleiden, waschen etc. Meist sind sie sanften, anhänglichen Gharacters
doch kommen bei manchen auch Zornanfalle vor.
Diese, hier abgedruckte Beschreibung des Krankheitsbildes machte B. gelegent-
Ueh einer Mittheilung an die Soci^te m^dicaie des hopitaux im Januar 1896. Er
stellte Hftmfti« 6 Fälle vor, von denen 3 bereits erfolgreich mit Schilddrüse be-
handelt waren und 2 in der nächsten Zeit behandelt werden sollten. Wir kommen
auf diese beiden zurück, nur soll vorher in Kurzem der Inhalt einer Discussion er-
wähnt werden, welche sich in der Gesellschaft bei B.'s Ankündigung erhob:
Guinon spricht von der Gefährlichkeit der subcut. Inject, von Extract. thy-
leoid. bei jungen Personen (B.'s Fälle hatten ein Alter von 38. 30, 20, 13, 4, 3
Jahren; die letzten beiden standen vor der Behandlung). Es seien Todesfälle be-
richtet; wahrscheinlich nicht alle. Dagegen habe die innerliche Darreichung nach
•einer Er&hrung keine schlimmen Folgen und gute Resultate.
Marfan bittet um genaue Präcision der Technik B.'s. Er habe einem 3 jährigen
Kinde mit congenit. Myxödem Vio ^^^ einem Viertellappen Hammelschilddrüse ge-
geben und schon am folgenden Tage schwere Symptome gesehen: 40^, extrem be-
schleunigten Puls, verfallenes Gesicht; dabei Verschwinden des Myxödems in
48 Stunden unter starker Desquamation, Durchbruch von 3 Zähnen in 8 Tagen,
iber wegen des schlechten Befindens nicht gewagt, fortzufahren. Damach habe er
Terschiedenen Kindern im 1. Jahr die englischen „tabloids*^ gegeben und auf ^4
oder Vs Gabe stets beobachtet: Pulsbeschleunigung, Fieber, Abmagerung mit Ca-
diezie. Die Wirkung sei evident, die Präparate gefährlich.
Bourneville: Injectionen und Succus thyr. seien nutzlos. Frische Schild-
druse, ^/t — 1 lob. würden gut ertragen, doch gehöre auch genaue Aufsicht dazu, da-
aiit bei bedrohlichen Symptomen (Erbrechen, Lähmung, Zittern, Lypothymie) sofort
tosgesetzt werde. Bei manchen Fällen gebe er aller 2 Tage ^/t lob. Ein frischer
Lob. wiege ungefähr 2 gr.
298 Referate und Besprechungen.
Ren du: £r habe ein 4 jähriges myxödem. Kind mit 1 Pastille von Borroughs
und Welcome, London, täglich behandelt und nach 2 Monaten erstaimlicben Er-
folg gesehen: 6 frische Zähne, lebhaftere Intelligenz, Zunahme des Interesses.
BS der e wünscht Orammeintheilung ; man müsse das Herz controlirexi, hier
drohe die Gefahr auch ohne Fieber.
Fernet hält diese Furcht für übertrieben. Nach Graver trete Puls-
beschleunigung oft ein in Fieberkrankheiten und adynamischen Zuständen schon
bei blosser Lageyeränderung; sie sei nicht gleich auf Intoxication zu benehen.
Bourneville: Das Gewicht der gegebenen Menge Gland. thyr. sei genau
bestimmt worden: 1,25 — 2 gr mit Fett und Gewebe.
H a y e m. £s scheine schwierig, diese Medication zu bestimmen. Das Gewicht
der Drüsen, ihr Gehalt an activen Stoffen sei kaum zu eruiren. Man solle auf gut
dosirte Präparate recarriren wie die englischen, welche geprüft seien.
Beclöre spricht schliesslich von der ganz yerschiedenen Wirkung finscher
Schilddrüse auf verschiedene Kranke. Die einen ertrugen hohe Dosen lange gut,
die anderen geringe Dosen wenige Tage schlecht. £r giebt noch ein Mittel der
Conserrirung an.
Bourneville stellte nun in der Sitzung am 22. Januar 1897 seine beiden
behandelten Patienten vor und schildert das Resultat iA Xr. XI in seiner genauen,
detaillirten Weise mit Hinzufugung von Tabellen und Photographien:
1. Pat. Lucie Borj..., geb. 1892, aufg. 10. October 1895. Specielles: Eltern
blutsverwandt. Mutter erlitt während der Schwangerschaft einen Sturz. Normale
Geburt, 3 kg. Erst mit 8 Monaten unterscliied sich das Kind von anderen, die
Zunge verdickte sich und erschien in der Mundspalte; die übrigen Symptome
kamen später. Mit 8 Monaten 1 Zahn, Pat. lernte nur an der Hand gehen, geht
schwerfällig, spricht einige Worte wie „dada'', „tatain", soll die Bekannten kennen,
schläft ruhig, ergreift nur langsam, hat Obstipation. Defäcation und Uriniren
scheint schmerzhaft. Respiration geräuschvoll. Bei der Aufnahme alle Symptome
des Myxödems. Offene Fontanellen: hinten 1:1V,, vom 6:5 cm. Coryza mit
serös-schleimigem Ausiluss. Respiration 15 — 16, Puls 80. Dentition: 6 IncisivL
Rectaltemp. 36^ — 37". Behandlung mit Salzbädern, Sir. ferri-jod., Leberthran, Geh-
übungen. 1. Behandlung mit frischer Schilddrüse 18. Januar bis 31. Juli 1896
'den Juni hindurch und sonst auch mehrere Tage lang ausgesetzt), im Ganzen
während 166 Tagen 36,075 gr. Sogleich in den ersten Tagen verschwand die Lid-
schwellung, die Bulbi wurden sichtbarer, L. fixirte Personen und folgte ihren Be-
wegungen (früher nicht). Schon am 25. Januar Bulbi ganz sichtbar, Zunge inner-
halb des Mundes ; L. ist immer in Bewegung, greift nach Allem in ihrer Nähe, ver-
sucht zu plappern und lacht, wenn man mit ihr spricht. Am 29. Januar ist die
Stimme schon fast wie bei Normalen. Vom 29. Januar bis 2. Februar wurde aus-
gesetzt wegen folgender Symptome: Fieber, Weinen, Agitation, Sichkratzen am
ganzen Körper und Manipulationen an den Fingern, „als ob sie dieselben lang-
ziehen wollte". Vom 3. Februar fingen die Haare an auszufallen, dieselben werden
weicher. Empfindlichkeit gegen Kälte dauert fort. Am 8. Februar Desquamation
an Händen und Füssen : die Athmung ist leichter, der 3Iund geschlossen. 9. Febr.
Das Kind liebkost die Eltern, versucht Vorgemachtes nachzumachen. 11. Will,
dass man sich fortwährend mit ihm beschäftige. Alles interessirt sie. 16. Kauen
geht ordentlich vor sich. Freut sich beim Besuch der Eltern sozusagen ver-
Referate und Besprechungen. 299
ständnissYoU. 17. £s wachsen neue, weichere Haare; Zahnweh, 2 Zähne wollen
durchbrechen. 1. bis 6. März wieder leichtes Fieber, Sichkratzen, An-den-Fingem-
ziehen, als ob sie sie verlängern wolle, Erbrechen, Diarrhöe. Damach wieder täglich
Besserung. Zeigt einiges Yerständniss für Vorgänge um sie her, weiss, dass sie
spazieren gehen wird, wenn sie den Hut aufbekommt etc. Ende März brechen wieder
Zähne durch. Mai: sagt durch Gesten „guten Tag*^, „nein'', stets heiter, Hände
und Füsse normal, oft Schwitzen am Kopf. 11. Mai 39,9^. 18. Mai Schwäche, starke
Schweisse. 25. Mai schon ähnlich anderen Kindern; versucht, nachzumachen, spricht
„Papa", hält sich aufrecht. Schlaf etwas unruhig. Im Juni etwas Diarrhöe ; Sprache
entwickelt sich langsam „papa", „auvoir", „attends" .. . Cbaracteränderung: chole-
risch, sucht sich zu kratzen, zieht sich an den Haaren. Im Juli: „Fapa'^, „caca",
„pain ay est" (ga y est), „auvoir" (au revoir) etc.; deutet mit dem Zeigefinger,
wenn es etwas will, unterscheidet Personen, ist fester auf den Beinen, will immer
aufrecht sein. Anfang August Gastro-enteritis. Nach und nach beginnen, nach Auf-
hören der Cur, die meisten myxöd. Erscheinungen wieder zu kommen: Fett-
infiltration, Pseudolipome, Gesichtsaufschwemmung, Verdickung und Missgestaltung
der Lippen, Zunahme der Hände und Füsse, Wachsfarbe, Stumpfwerden des Ge-
sichtsausdruckes, Verdickung der Zunge etc. Nur Sprache und Gang bleiben ge-
bessert. Es wurde nun vom 3. October bis 31. December eine 2. Schilddiüsen-
behandlung durchgeführt (28,75 gr). Sie erholte sich rasch wieder, liebt jetzt Be-
wegung, verlangt selbst nach dem Topf, wird bald allein gehen können etc. Was
nun das Wachsthum anlangt, so hat L. in 1 Jahr 11 cm zugenommen. Nach
Quetelet wächst ein Kind dieses Alters 6 cm im Jahre; das Wachsthum L.'s war
also fast doppelt so rasch. Das Gewicht gelangte unter Schwankungen von 8,600
auf 10,500 kg. Die Kopfdurchmesser haben zugenommen, die Fontanellen sind
kleiner geworden. Besonders bemerkenswerth war der Fortschritt der Dentition,
sie ist complet geworden bis auf 2 Zähne. Auch der Stimmumfang hat zuge-
nommen.
Ueber die 2. Pat. Aline K., geb. 1891, aufgen. 1895, erwähnen wir kurz, dass
sie von mütterlicher Seite durch Trunksucht belastet war und der Vater auch
Plattnase und kleinen Wuchs zeigte. Mit 8 Monaten 1. Zahn, keine Krankheiten,
mit 2 Jahren noch unreinlich, sprach noch nicht, hatte starken Bauch, Umbiiical-
Hemie, offene Fontanellen. Sie war zornmüthig und blieb es. Ihre Aufmerksam-
keit ist fixirbar, sie ist anhänglich, etwas intelligenter als die vorige. Besonders
besteht noch Alopecia partialis, Desquamatio furfur. der Haut. Schon vor der
Schilddrüsenbehandlung zeigte sich gelinde Besserung. Die 1. Behandlung (166 Tage,
37,04 gr) erzielte eine grosse Besserung, ein Aussetzen von 2 Monaten führte zu
einem Rückfall, jedoch von geringerem Grade als beim 1. Fall, und die 2. Behand-
lang brachte den Erfolg zurück, immerhin langsamer als bei B. Das Gewicht fiel
unter Schwankungen von 12,500 auf 11,200 kg, die Grössenzunahme betrug 10 cm
(normal 5) in 1 Jahr, die Schädeldurchmesser nahmen zu, die Fontanellen sind fast
geschlossen, ebenso verbesserten sich Gebiss und Stimme. Die Intelligenz war in
jeder Beziehung geweckter, das Vocabular hatte zugenommen, obwohl langsam, die
Zomanfälle waren geschwunden, das Kind war fast ganz normal, anstelle der Faul-
heit war Bewegungslust getreten.
Einen 3., neueren Fall beschreibt Verf. in Nr. lU und IV. Es handelt sich
um ein myxöd. Kind von 4 Jahren, beiderseits erblich belastet; Geburtsasphyxie
300 Referate und Besprechungen.
wegen zu grossem Kopf. Blöde Physiognomie, Aufmerksamkeit zuweilen fbdrbar,
manchmal ein Lächeln, kennt seine Eltern. Sprache fehlt. Stehen und Gehen un-
möglich. (TreifTahigkeit mangelhaft. Gewicht 11,100 kg. Grosse 0,68 m. Das £ind
starb am 10. Tage der Behandlung ; es hatte an den ersten beiden Tagen je Vt ^o^-
und am 4. und 6. je 1 gr Gland. thyr. bekommen, an den übrigen Tagen war aus-
gesetzt. Die Wirkung war: Verschwinden der Cyanose, Verringerung der Pachy-
dermie an Händen und Füssen, Verkleinerung der Zunge mit Schluss des Mnndes,
Lidabschwellung, spontane Stühle (vorher obstipirt), grössere Lebhaftigkeit, Tem-
peraturerhi'thujig. Ge^-ichtsabnahmc um 1^ i kg. Als Todesursache war eine Lnngen-
affection anzusehen, welche mit Temperaturerhöhung und EUsselgeräuschen schon
3 Tage vor der Behandlung constatirt war. Die Behandlung konnte nicht Schuld
sein, weil die Gaben klein waren und das Kind noch obendrein einen grossen Tbeil
davon von sich gab. So vertrug z. B. ein Kind von 5 Monaten Vt lob. (= 1,5 gr)
in 11 Tagen mit Aussetzung nur eines Tages ohne Störungen, besonders ohne solche
von Seiten der Athmung und Temperirung. Ausserdem verschwinden die Haupt-
erscheinungen, welche Gefahr melden, schnell, nach 24 Stunden, und waren solche
hier nioht vorhanden lepilcpt. Anfalle. Tachy cardio. Zittern. Lähmungen, fiaut-
affectiouen etc.). Leider war die Autopsie nicht gestattet.
In Xr. XIV zeigt Verf. an einer Anzahl von kurz skizzirten Fällen die
Wirkung der Schilddrüsenbehandlung auf Gewicht und Grösse von Idioten mit
Myxoodem. Fettsucht und Zwergwuchs. Es sind zunäi*hst 4 Fälle von Idiotie my-
xöd.. davon wir bereite 2 referirt haben. Die beiden anderen sind: 1. W., 21 Jahre
alt, 88 cm gros;«, in den letzten 7 Jahren nicht mehr gewachsen. Eine 1. Cur von
4 ^lonatcn brachte ihn auf 92 cm, eine 2.. ebensolange aut 96 cm ; das Gewicht
fiel von 21.200 auf 19.800 kg. Bei einer 3. Cur wuchs er auf 99 cm. Ein Puber-
tätsforisobritt zeigte sich nicht. 2. G. . 14 Jahre alt, seit 1 Jahr nicht mehr ge-
wachsou. 89 oiii. Er wuchs in 4 Monaten 6 cm i95 cm^il. in weiteren 4 Monaten
wiederum G cm ^1.01 m). Das Gewicht tiol zuerst von 16.700 auf 14,900 und stieg
dann auf 15.900 kg. Auch hier kein Einfluss auf Pubertätsentwickelung. — Es
folgen nun 3 Fälle von fettleibigen Idioten: 1. D.. 11 Jahre alt, war zuletzt in
Vm Jahren von 26 auf 29 kg und von 1.07 auf 1.08 m gestiegen. 1. Behandlung
3S Monate: 26 kg. 1.13 m: ohne Behandlung 2 Monate: 28 kg. 1,14 m: der Hals
ging um 2. das Abdomen um 7 cm zurück. Bei einer 2. Behandlung ' '« J^hr lang
ging das Ciowicht auf 23.500 kg zurück, die Grösse stieg auf 1.165 m. 2. 14 Jahrs
alt. ** Jahr Behandlung: Gewicht fiel zuerst von 41 auf 40. stieg dann auf 43,900
und sank darnach auf 41.900 kg. Die Gri^sse stieg von 1360 auf 1395 m. 3. Mädchen,
11 Jahre alt. war in den letzten *« Jahren von 1.17 auf 1.20 m gewachsen, wog
31 kg. Nach 4 monatlicher Behandlung 1.21 m — 29.500 kg. Nach 2 monatlicher
Nichtbehandlung 1.235 m. 81 kg. Nach einer 2.. 5 monatlichen Behandlang sank
das Gewicht von 33 auf 30.500 und stieg auf 33.500 kg: Gri^sse von 1,235 auf 1,26 m.
Zuletzt noch 8 Fälle von Idiotie mit Zwergwuchs: 1. Mädchen, 15 jährig, wuchs in
den letzten 3 Jahren je 2 cm. 1. Behandlung 5 Monate: 3 cm GrÖssenzu nähme,
2. Behandlung 1. Monat: Zunahme 1 cm. Gewicht 30—29—31 kg. 2. Knabe,
23 Jahre ah. bei Bohandlung von 7 Monaten stieg das Gewicht gleich anfangtich
von 42.500 auf 43.5lW und sank sodann auf 41.700 kg. Die Grosse stieg von 1,46
auf 1,46 m. Bei einer weiteren. 2 monatlichen Behandlucg blieb die Grösse gleich;
auch vor der Behandlung war sie 3 Jahre gleich geblieben. 3. Knabe, 16 Jahre
Keferate und Besprechungen. 301
alt, 1. Behandlung 7 Monate: Gewicht 32-29— 37,200 kg, Grösse von 1,27 auf
1,29 m. In der folgenden Behandlung 34 kg, 1,30 m. 4. Knabe, 24 Jahre alt, Be-
handlung 4^2 Monate: Gewicht 36,900—37,500—30,400 kg, Grösse 1,40—1,435 m.
Nahm bei der 2. Behandlung an Grösse nicht zu. 5. Mädchen, 23 Jahre alt, Be-
handlung 150 Tage: Gewicht 37 38,980—37 kg, Grösse 1,425— 1,455m. Nach der
2., 4 monatlichen Behandlung 1,47 m. 6. Knabe, 16 Jahre alt, Behandlung 143 Tage r
Gewicht 26,700-25,500—27,500 kg, Grösse 1,32—1,35 m. 2., 2 monatlicher Be-
handlung : 1,355 m. 7. Knabe, 19 Jahre alt, Vt jährige Behandlung : 32,900-27,700 kg,
Grösse 1,47—1,49 m. 2. Behandlung IV« Monat mit frischer Drüse, dann nach
1 Monat Aussetzung 1 Monat lang mit Tabletten Welcome: 1,495 m. 8. Mädchen,
Hysterie und Zwergwuchs. 70 Tage Behandlung mit Thyreoidin-Capseln Yvon;
Grösse nahm 5 mm zu.
Von den in Nr. XU geschilderten Blutuntersuchungsresultaten sei Folgendes
erwähnt. Sie wurden vonVaquez an einer Anzahl von 9 Myxödematösen (jungen
and älteren) beobachtet. Zunächst fand er, dass, wie auch Kraepelin und
Schotten anmerkten, die Anzahl der rothen Blutkörperchen normal sein kann.
Indessen ist sie bei jugendlichen Individuen gewöhnlich vermindert und vergrössert
sich langsam im Laufe einer Behandlung, welche protrahirt werden muss ; ihre Ver-
mehrung steht relativ zur Steigerung des Hämoglobin werthes zurück. Ist ihre An-
zahl von Anfang an vergrössert, so ist stets locale Stase die Ursache hiervon. Auch
die von Kraepelin bemerkte Vergrösserung der rothen Blutkörperchen wurde
beobachtet; auch diese geht bei der Behandlung zurück. Ausserdem wurden ein-
mal bei einer jungen und einmal bei einer älteren Person kernhaltige rothe Blut-
körperchen gefunden, die ebenfalls bei der Behandlung verschwanden; sie pflegen
sich sonst nur bei Leukämie und extremer Anämie zu finden. Was die weissen
Blutkörperchen betrifft, so wurde die von Mendel, Schotten etc. gemeldete
Leucocytose nicht beobachtet. Bei der Behandlung trat eine Vermehrung der mo-
nonucleäien im Verhältniss zu den polynucleären ein.
Die, in Nr. XIII von Pajaud mittelst genauer Tabellen gegebenen Harn-
untersuchungen an 3 Myxödematösen können nicht wiedergegeben werden. Es
sei nur bemerkt, dass kein Eiweiss gefunden wurde, im Gegensatz zur Meinung
verschiedener Autoren, welche glauben, dass Eiweiss sich im Urin der meisten solcher
Kranken finde.
Bourneville zieht aus dem Vorstehenden keine Schlüsse auf die physiologische
Function der Schilddrüse. Es ist auch wohl keinem Autor, ausser H. Munk (nach
Oppenheim citirt), mehr zweifelhaft, dass die Krankheit thatsächlich in einem
Functionsausfall der Schilddrüse begründet ist. Es darf darnach angenommen
werden, dass die Theorie von einer circulatorisch-regulativen Function dieses Organs,
wie sie von vielen Physiologen und Klinikern gelehrt wird (oder wurde), fallen
wird zu Gunsten einer chemischen, etwa im Sinne von Kraepelin, Oppen-
heim etc. In des letzteren neuester Auflage des „Lehrbuches der Nervenkrank-
heiten, 1898^ findet sich die Reproduction zweier Abbildungen nach Railton-
Smith, ein Cretinengeschwisterpaar vor und nach der Behandlung darstellend,
au8 denen die erstaunliche Wirkung der Schilddrüsen-Gur evident in die Augen fällt.
Den übrigen Theil des Buches bildet eine Keihe von casuistischen Beiträgen
zu verschiedenen Formen infantiler Hirnkrankheiten. Sie sind äusserst minutiös
ausgeführt, besonders was Anamnese und Status anbetrifft. Zu einigen findet sich
der macroscopische Sectionsbefund, bei den anderen interessirt das Klinische.
302 Referate und Besprechungen.
In Nr. I beschreibt Verf. einen Fall von „Pareso-analgf^sie droite avec panaris
analg^siques ou maladie de Morvan. H^mipl^gie droite et parapl^e inferieore*.
Es handelt sich um einen 22 jährigen Mann, stark belastet durch Trunksucht, Nerren-
krankheiten und Gonsanguinität in der Ascendenz. Die Mutter erlitt in den ersten
Monaten der Schwangerschaft einen starken Sc^hreck vor einem gelähmten JBetÜer,
dessen Lähmung ganz gleich gewesen sein soll wie später die des Kinde«. Dieses
war bei der Geburt und bis zum Alter von 2 Jahren normal. Dann bekam es in
3 Anfällen wiederholt Convulsionen, über die das Genauere fehlt und in deren Ge-
folge die Zeichen der cerebralen Kinderlähmung auftraten. Die ganze rechte Seite
blieb im Wachsthum zurück und war schwächer als die linke, und ausserdem be-
stand eine Paralyse der linken Unterextremität. Ebenso blieb jetzt die Intelligenz
zurück und wurde das Kind starrköpfig, untractabel, reizbar etc. Das Interessante
an dem Fall war nun eine Sensibilitätsstörung an beiden Unterarmen und Händen
und der rechten Achselgegend, welche hier nach dem Befund im 15. Jahre mit-
getheilt werden soll: „Bei geschlossenen Augen erkennt der Kranke gut die Ob-
jecte. welche man ihm in die Finger und auf die Rückenseite der Hand und des
Armes legt. Er fühlt den Nadelstrich auf Arm und Vorderarm. Er fühlt jedoch
niclit, wenn man mit dem Finger über die analgetische Zone reibt oder mit dem
Pinsel darüber fährt; ebenso nicht die Berührung grosser Gegenstände, wenn man
sie fest auf seine Hand drückt.** Schmerzempfindung: Links Anästhesie in Hand-
schuhform bis 2 Querfinger breit über dem Handgelenk. Auf Unterarm und Arm
15 mm. Rechts die gleiche Ausbreitung mit Ausnahme des Thenar. Auf Arm und
Unterarm 5 mm. Thcrmoanästhesie links 2—3 Querfingerbreiten weiter als die
Analgesie, rechts ebenso, aber auch auf dem Thenar. Rechts besteht auch auf dem
inneren oberen Drittel des Armes und in der Achsel Analgesie und Thermoanalgesie
mit Erhaltung der tactilen Sensibilität. Das Gefühl für die Lageveränderungen der
Arme etc. ist erhalten. Auf diese Sensibilitätsstörungen wurde man durch die
Schmerzlosigkeit einiger Panaritien aufmerksam, welche sich der Kranke im Lauf
der Zeit zugezogen hatte, sowie auch dadurch, dass er, zuerst aus Ungeschick,
später aus Renommage sich mehrmals an den Händen verbrannte, ohne Schmerzen
zu haben.
Zu diesem Fall von Morvan' scher Krankheit bemerkt B., dass diese von neueren
Autoren, z. B. Joffroy und Achard, mit der Syringomyelie zusammengeworfen
und für eine klinische Varietät derselben gehalten werde. Er selbst stehe auf
Seite Charcot's, der sie wohl für ähnlich in gewissen Zügen, doch mit Unrecht
zusammengeworfen hielt. Nach Oppenheim kann ihre Zugehörigkeit zur Glioiii
nach neueren Beobachtungen nicht bezweifelt werden.
Nr. II. „Idiotie symptomatique d'atrophie c6r§brale; pachymeningite ; kyste
de la dure-mcre." Es handelt sich um ein kaum belastetes 3 jähriges Kind, das
bei der Geburt starke Asphyxie zeigte und dessen Mutter während der Schwanger-
schaft einen grossen Schreck erlitt, weil sie einen epileptischen Anfall mit ansehen
musste. In Folge der Asphyxie traten 3 Tage nach der Geburt an mehreren Tagen
hintereinander Ve stündige Convulsionen des rechten Armes auf; am 9. Tag be-
merkte man, dass das Kind blind sei. Es machte Handbewegungen gegen die
Stirn, als wolle etwas verscheuchen, und litt seit Erscheinen des 1. Zahnes (18. Monat)
an Zahnknirschen und schlug oft den Kopf gegen die Bettstelle (Gruomanie). Bei
der Aufnahme zeigte es sich leicht hydrocephal, blind, wenig hörend; konnte nicht
Referate und Besprechungen. 303
sprechen, schrie nur. Die 1. Dentition war bis auf 20 Zähne vorgeschritten. Der
rechte Arm war rigide, spontan fast unbeweglich, die Finger contracturirt : linker
Arm normal. Das linke Bein war länger, die Bewegung im rechten Oberschenkel-
gelenk schmerzhaft. Stehen unmöglich, Diarrhöe, Unreinlichkeit. Viel Schlaf, da-
awischem Schreie, viel Weinen. £in Jahr nach dem Eintritt Tod unter fort-
schreitendem Marasmus, Tuberculose, Diarrhöe. An den Oberextremitäten hatten
sich starke Contracturen ausgebildet, das linke Bein war rechtwinklig über das
rechte geknickt, welches in Extension stand. Die Reflexe waren beiderseits ver-
stärkt. Bei der Autopsie fand sich eine Cyste der Dura hinten zwischen den Hemi-
sphären auf dem Kleinhirn aufliegend (330 gr Flüssigkeit); die Dura selbst war
dort fast knorpelig verdickt. Im Uebrigen bestand eine ausgebreitete Meningo-
Encephaütis, ähnlich wie sie bei Dementia paralytica gefunden wird, mit Atrophie,
besonders der linken Hemisphäre. Worauf der Autor besonders aufmerksam
macht, war eine Synostose der Pfeilnaht, die indessen für sich keine Entwickelungs-
hemmung des Gehirns hätte veranlassen können, weil die anderen Nähte nicht
ossiflcirt waren. Vielmehr lag der (irund im Bestehen der Hirnhautentzündungen.
Von den im Bicetre-Museum vorhandenen ca. 300 Idioten-Schädeln bestand die
Pfeilnaht-Synostose nur bei 6.
Nr. IX. „Meningo-encephalite chronique ou idiotie meningo-encephalitique."
Ein 13 jähriges, stark belastetes Mädchen, dessen Mutter ^'iel an Migräne litt, welche
aber während der Schwangerschaft ausblieb. Das Kind war normal bis zum
18. Monat; da bekam es Convulsionen am ganzen Körper in Art eines Status
24 Stunden lang und 2 Tage später 48 Stunden lang, wonach es 14 Tage zu Bett
blieb unter Fieber, Phantasiren, Zähneknirschen. Damach blieb es anscheinend ge-
sund, hatte mit 2Vs Jahren complete Dentition, kam mit 7 Jahren in die Schule
und lernte hier erst ^j^ Jahr nichts, darnach aber Lesen und Schreiben; sonst half
es der Mutter im Haus. l^Iit 8 Jahren litt es mehrfach an Ascariden, sonst war
es in Ordnung, da wiederholt sich im 11. Jahr der Krampfanfall mit 2 stündiger
Bewusstlosigkeit : Das Kind fiel um, verdrehte die Augen, Arm und Bein waren rechts
starr ; links nichts ; keine Zuckungen. Nach dem Anfall waren Mund und rechte Gesichts-
hälfte nach rechts verzogen. Die rechte Seite blieb einige Tage lang schwach. Nach
3 Monaten ebensolcher Anfall, wieder rechts, mit 4 Stunden Bewusstseinsverlust,
worauf 3 Wochen Unfähigkeit zum Gehen und 14 Tage Sprachlosigkeit folgten.
Nach und nach stellten Gang und Sprache sich wieder her. Von diesem Zeit-
punkte ab stellte sich eine Characterveränderung ein, das Mädchen wurde un-
gehorsam, starrsinnig, zu Zorn und Thätlichkeiten geneigt, fing an stehlsüchtig zu
werden und versuchte mehrmals, Feuer anzulegen. Appetit übermässig stark. Mit
12 Jahren wiederum Anfall, wonach sich die Hemiplegie der rechten Seite deut-
licher ausprägte. Nun folgte durch ein Jahr bis zum Tode der Verfall unter all-
mählicher Abmagerung und meningitischen Symptomen (Cris, Zähneknirschen etc.),
et bildete sich starke Oontractur der Extremitäten aus, rechts etwas mehr. Bei der
Autopsie fand man die Dura adhärent, 3Ieningo-£ncephalitis über beide Hemi-
ephären ausgebreitet, derart stark, dass sich die ganze graue Substanz losriss und
die weisse sichtbar wurde; nur die Centralwindungen waren ziemlich gut erhalten.
Alio Veränderungen wie bei der fortgeschrittenen Dementia paralytica £r-
waohsener. Von Syphilis war bei den Eltern nichts vorhanden, der Vater der
Matter wurde erst nach der Geburt der Toohter luetisch.
304 Referate und Besprechnngen.
Nr. YIII. ^Jdiotie conipl^te: Psendo-porenc^pbalie double/' Der Fall ist
ohne genügende Anamnese and ohne Statns. Es ist nnr bekannt, dase die Mutter
hysterisch war und während der Schwangerschaft einen Sturz erlitt. Nach deren
unglaubwürdigen Angaben hätte sich das Kind in den ersten Jahren gut entwickelt»
Mit 2V'ft Jahren Pocken. 3 — 5 jährig Anfälle vpn Ag^itation mit Kopfichleiidenv
Zerstörungssucht, Schlagen. Später bekam es Huskelstei6gkeit links am Hmls und
längs der Wirbelsäule. £s war sehr mager, wies das Essen zurück, litt an Er-
brechen und Kopfweh. Bei der Autopsie (9 Jahre alt) zeigten sich 2 alte Heerde
in Gestalt von Pseudo-Cysten rechts und links. Die linke war kleiner, schmaler,
länglich und nahm die 2. Temporalwindung ein, die ganz zerstört war. Die rechte
umfasste den ganzen Insellappon und die Hälfte des Lob. temp. Sie hatten keine
Verbindung mit den Seitenventrikeln. Ausserdem bestand ausgebreitete Sclerose
und Atrophie.
Nr. VI. „Idiotie congenitale par arret de developpement.** Die Gehimaeetioa
dieses 6jährigen, an Pneumonie gestorbenen, mit den Zeichen der acquirirten
Syphilis, wie breiten Condylomen und Drüsenschwellungen, aufgenommenen JT^nH—
ergab nichts Anormales an den Hirnhäuten, dagegen eine ganz mdimentare and
anormale Hemisphärenmorphologie. Es war stark belastet, erschien bei der Gebart
normal und fing mit 4 Monaten an, die Zeichen einer gestörten Himentwickelung
zu bieten. Es konnte den Kopf nicht aufrecht halten, liess ihn nach rechts hängen,
knirschte oft mit den Zähnen und grimassirte. Mit 2 Jahren hatte es ca. 6 Monate
lang in Zwischenräumen von 3 — 15 Tagen convulsive Krisen, welche sich auf einige
Grimassen am Mund beschränkteu. Mit 3 Jahren näciitliche Furchtanfälle mit
Agitation. Darnach hatte es Gelbsucht und zeigte den Tic, sich die Haare auszn-
reisscn und sie zu betrachten, indem es sie rasch in den Händen heromdrehte;
damit war es fortwährend beschäftigt. 3Iit 4 Jahren trat ein häufiges Kopfiücken
nach vom und hinten hinzu. In der Schule lernte es nichts, kauerte in einer Ecke
und kümmerte sich um Niemand. Es blieb unreinlich, lernte mit 3 Jahren gehen
und mit 4 Jahren ein wenig sprechen.
Nr. YII. „Sclerose cerebrale hemispherique : idiotie, hdmiplligie droite et
Epilepsie consecutives.*' Es handelt sich um einen 21jährigen, besonders durch
Trunksucht belasteten Mann. Bei der Geburt normal, dx)ch asphyctisch. Bis mm
6. Jahre Bettnässen. 3üt dem 5. Jahr traten, als das Kind zu Bett lag, eines
Abends Con^nilsionen auf. die zunächst nur einige Minuten dauerten, sich jedoch in
der gleichen Nacht durch ca. 5 Stunden hindurch nach Art eines Status wieder-
holten und starke Zuckungen, besonders rechterseits, darboten. Von da ab täglich
3 Monate lang bis zu 1 Stunde dauernde convulsive Krisen. Nach dieser Zeit er^
schien eine rechtsseitige Paralyse, die Glieder dieser Seite waren rigide. Zwar
lernte er wieder gehen, doch zog er das Bein nach und blieb der Arm ganz lahm.
Die Intelligenz blieb von da ab ganz nieder, ebenso veränderte sich der Character
zum Schlimmen. Früher sanft, war er jetzt reizbar, brutal etc. Bis zum 15. Jahre
erschienen keine Anfälle mehr, doch blieb die Lähmung bestehen, ebenso die In*
telligenzhemmung. Er begriff in der Schule nichts. Gelegentlich eines Zomaffectes
trat des Nachts der erste epileptische Anfall auf mit besonders rechtsseitigen Con-
vulsionen. Einige Tage später dasselbe. Nun repetirten sie häufig des Nachts.
Bei Tag traten sie nicht auf, wenn man den Knaben nicht legte. Aach einige
wenige Starrsuchtsanfalle wurden beobachtet. Status (16 jährig): Rechter Arm an
Referate nnd Besprechungen. 305
den Rumpf gedrückt, Vorderarm flectirt, Hand stark flectirt, Daumen an der zweiten
Phalanx stark extendirt, am Zeige-, Mittel- und Ringfinger die Mittelphalangen
extendirt, die Endphalangen halbflectirt, am kleinen Finger alle Phalangen in
Halbflexion. Passiv leicht zu flectirender, dagegen schwer zu streckender Unterarm.
Die rechte Unterextremität etwas weniger entwickelt, leicht flectirt, Fuss etwas
hangend. Bei Aufforderung, das Bein zu heben, spannt es sich, geräth in Zittern,
laast sich aber bewegen, und es macht zugleich in sehr rein associrter Bewegung
der linke Arm die Spannung und Hebung mit. Manchmal erhält man an beiden
UnterextremitSten Phänomene von spinaler Epilepsie, doch sind die Sehnenreflexe
nicht sehr ausgeprägt. Sensibilität ungestört, beiderseits gleich. Aura wegen des
psychischen Znstandes nicht eruirbar. Pat. ist stumpf, lemun^lhig, gedächtnisslos.
Oft Zomanfälle. Epileptische Anfälle später auch bei Tage. Starkes Onaniren,
Kleiderzerreissen etc. Tod mit 21 Jahren im Status epilepticus. Brombehandlung
war erfolglos. Die Autopsie ergab (zur Erklärung des Syndroms: Stat de mal
oonvnlsif, Hemiplegie und Idiotie, Epilepsie) atrophische Sclerose der ganzen linken
Hemisphäre mit Yentrikeldilatation , Verdickung des Schädels auf dieser Seite,
secundäre Degeneration der corp. mamill., pedunc. cerebr. etc. Zwei schön ausge-
ffihrte Tafeln machen den Unterschied zwischen beiden Hemisphären deutlich.
Ausserdem fügt der Verf. noch genaue vielfältige Maasse des Skelettes hinzu,
welche die Entwickelungshemmung der rechten Eörperhälfte gut illustriren. Unter
neinen Reflexionen befindet sich die Bemerkung, dass bei dieser Epilepsie nach
dem ersten Anfall oft eine Pause von Monaten bis Jahren eintritt, dass Schwindel-
anfölle selten sind und dass die Anfälle serienweise aufzutreten pflegen.
Nr. XVIII. „Imbecillite ; parapl4gie spasmodique (Maladie de Little)." 21 jähr.,
von beiden Seiten belasteter Mann. Die Mutter erlitt während der Schwangerschaft
starke Blutverluste. Bei der Geburt war das Kind normal, nach 11 Monaten aber
„so mager wie ein Stuck Holz", und die Entwickelung der Intelligenz verzögerte
sieh. Nicht lange nachher nahm die Mutter wahr, dass das Kind anfing auszu-
sehen, als ob es ganz zusammengezogen würde ; wenn man ihm die flectirten Beine
streckte, so gingen sie wieder in Flexion zurück. Mit 2 Jahren konnte es sich
nicht auf den Beinen halten ; man glaubte, es litte an P o 1 1 'scher Krankheit. Erst
mit 6 Jahren fing es an. mit Stütze zu gehen; bis dahin war es auch unreinlich.
Der Character war sanfl, es hatte die Thiere gern ; mitunter war es zornig, reizbar.
Es war imbecill, bildungsimfähig. Die Untersuchung im 11. Jahr ergab keine
Verkrümmung der Wirbelsäule, Anorchydie, an den oberen Extremitäten nichts
Anormales. An den unteren Extremitäten alle Gelenke in Halbflexion, das Becken
gegen den Oberschenkel geneigt, daher der Oberkörper nach vom überhangend,
die Oberschenkel flectirt und adducirt, besonders der linke, sich von der Medianen
entfernend; der linke Fuss stark nach aussen gewendet, die Füsse platt, beim
Gehen nicht mit der ganzen Sohle den Boden berührend. Kauernde Haltung,
krummbeiniger, sehr mühsamer Gang. Dagegen kann er sich laufend besser be-
wegen, doch geschieht es ebenfalls schwerfällig, sodass man alle Augenblicke
ffirchtet, er möchte faUen. Die Bewegungen sind behindert durch Gontractur ver-
schiedener Muskelgruppen und Gelenksteifigkeit, besonders in den Knieen. Die
Hnke Seite ist noch etwas steifer. Es besteht leichte Syndactylie beiderseits zwischen
der 2. und 3. Zehe. Die Kniereflexe sind verstärkt, am meisten links; man erhält
durch Flectiren des Fusses epileptoide Trepidation beiderseits, welche auch von
Zeitachlift fOr Hypnotismus etc. VUI. ^
306 Referate und Besprechungen.
selbst auftritt, je nachdem die Füsse gelagert werden. Es besteht Urinincontinens.
Die Behandlung bestand in Leberthran, syrup. ferr.-jod., Bädern, Douchen und
Gelenkübungen. Die Störungen sind gleich geblieben. Ein ganz geringer Pubertats-
fortschritt hatte noch statt, die Anorchydie verwandelte sich in Cryptorchydie rechts.
Nr. XVI und XVII behandeln 2 Fälle von infantilem resp. juvenilem Aleo-
holismus. 1. „Alcoolisme; hcmiplegie gauche et Epilepsie cons^cutives. SdtoMe
atrophique; pachymeningite et meningo-encephalite.*' Es handelt sich um einen
10jährigen Knaben mit erblicher Belastung, besonders durch Trunksucht. £r ent-
wickelte sich ordentlich, war in der Schule gut. 4 Jahre alt, bekam er eines
Abends Erbrechen. Er schlief darnach ein, ward aber des Morgens bewosstlos und
kühl gefunden und blieb 3 Tage in diesem Zustande unter fortwährenden Con-
vulsionen. besonders links. Der Mund war nach links verzogen, die ganxe linke
Seite gelähmt, der Vorderarm flectirt, der Daumen eingezogen. Er blieb 14 Tage
zu Bett, die Convulsionen kehrton öfters wieder, jedoch mit stets längeren Zwiachen-
pausen. Man kam endlich dahinter, dass das Kind die Gewohnheit hatte, die
Reste aus den Gläsern der Gäste zu trinken, welche in dem Gasthof seines Gross-
vaters verkehrten, bei welchem es wohnte. An jenem Tag der Kramp&nfälle hatte
es über alles Maass getrunken. Von dieser Zeit ab blieb es in der Intelligenz ver-
mindert, wurde interesselos und reizbar. Die Lähmung besserte sich theüweise.
nach 15 Monaten konnte der Knabe wieder ziemlich gut gehen, doch blieb das
linke Bein schwächer; der linke Arm blieb ganz lahm. Die epileptischen Anfalle
bestanden fort, stets mehrere an einem Tage mit ungefähr Stägigen Intenrallen.
In der letzten Zeit erschienen sie fast täglich. Ausserdem traten auch Schwindel-
anfälle auf und Zuckungen an der linken Seite. In allen Anfällen, besonders den
Schwindelanfällen, ging der Urin ab. Die Krankheit nahm progressiv zu, fahrte
zu psychischer Degeneration (Demenz, Stottern. Drang, fortzulaufen etc.). Man
constatirte linkerseits eine geringe Entwickelungshemmung. Brom, Jodeisensymp
ohne P^rfolg, allmählicher Verfall unter Hinzutritt tuberculöser Affection. Die
Autopsie ergab eine im Ganzen verkleinerte rechte Hemisphäre (262 gr weniger ab
links), die Sylvische Furche breit, die Insel sichtbar, die Windungen um diesen
Ort in atrophischer Sclerose, besonders die Centralwindungen. Die rechte Hemi-
sphäre war gut entwickelt, doch auch hier (wie auch links) eine ausgebreitete
Meningo-Encephalitis , allerdings mit geringerer Zerstörung der Gehimsubstans
als links.
2. „ Alcoolisme : in^tabilite mentale, crises hysteriformes, guSrison.** Ein 12 jähr.
Knabe, dessen Mutter an Migräne leidet, sonst nicht belastet, stets etwas hoch-
fahrend, schwer zu beliandeln, ungehorsam, bekommt plötzlich Zomanfalle auf
Kleinigkeiten hin, schlägt, droht, tritt, zerstört. Sehr bald nach Beginn dieser
Anfälle ein hysterischer Anfall, ohne Ursache, während des Mittagessens : fallt von
Stuhl, Glieder schlaff, Bewusstlosigkeit ; nach 10 31 inuten Erwachen, Weinen. Drei
Tage später dasselbe auf einige tadelnde Worte hin; darnach noch des Geileren,
aber ohne Verlust des Bcwusstseins , mehr in der Art der ZornannUie: Auch
Cephalalgie; kein Schwindel. Der Knabe, Sohn eines Weinhändlers, hatte schon
seit Langem unbeobachtet sich gewöhnt, seines Vaters Weinsorten zu studiren.
Seit dem 5. Jahr Onanie. Intellectuell lebhaft, malitiös, ohne Ausdauer, reizbar,
grossspre(!herisch, \iclwillig, oppositionsiustig und trotz bestehender Furchtsamkeit
geneigt zu halsbrecherischen Grossthaten. Auf Widerspruch ZomanfaUe. Ein Zorn-
Referate und Besprechungen. 307
anfall gleich bei seiner Aufnahme verschwand sehr bald bei Nichtbeachtung. Unter
psychischer, consequenter Behandlung wurde er nach 3 Monaten geheilt.
Betreffs des frühzeitigen Alcoholismus setzt hier der Verf. hinzu, dass im
Anfang der £ntwickelung8zeit noch eine 3. Form desselben beobachtet werde: die
Dipsomanie. Sie habe alle Symptome wie die beim Erwachsenen. Wenn aber bei
diesem die Intelligenz sich wiederherstellen könne, so werde die des Jugendlichen
geschwächt und stehe in der Gefahr, vernichtet zu werden, wenn die Anfälle sich
häuften.
Zum Schluss sei noch die kurze Tabelle angeführt, welche B. in Nr. XY zur
Ulostrirung der Schuld des Alcoholismus an der Production von Degenerirten,
Id]|^ten, Epileptikern, moralischen Idioten, Instabeln, Perserven etc. giebt. Er sagt,
er habe sich schon seit Langem mit diesem Thema beschäftigt und bei Erhebung
der Anamnese genau Nachfrage gehalten nicht nur bezüglich der Eltern, sondern
der Ascendenz soweit wie möglich und auch der Umstände, in denen die Conception
erfolgte, der Schwangerschaft etc.
Auf 1000 gerechnet fand er Alcoholismus
beim Vater von ....... 471 Kindern
bei der Mutter von 84 „
bei Vater und Mutter von ... 65 „
fehlende Angaben bei 171 „
keinen Alcoholismus 209 „
In 67 Fällen fand die Conception während Trunkenheit des Vaters statt; in
24 anderen war es wahrscheinlich. Wolff-Münsterlingen.
BeJfiore, „Magnetismo e ipnotismo^. Ulrico Hoepli editore, Milano 1898.
Ein Octavbändchen von 377 Seiten aus der Sammlung „Manuali Hoepli*'.
Der Stoff ist in 28 Kapiteln behandelt, wozu noch ein Anhang von 40 Seiten
kommt.
In einer Vorrede bemerkt der Verf., dass der animalische Magnetismus, nach-
dem er von Charcot den Händen der Charlatane entrissen und in das Dominium
der Wissenschaft versetzt sei, überall, speciell in Frankreich, viele Publicationen
hervorgerufen habe. Von Italienern hätten das Wissen um diesen Gegenstand be-
reichert Lombroso, Morselli, Tamburini, Seppilli, Dal Pozzo, Silva
u. A. Gleichzeitig mit den Arbeiten dieser Autoren sei auch sein Buch erschienen
und nunmehr in 3. Auflage fast vergriffen. Eine Erneuerung erscheine ihm wünschens-
werth einestheils wegen der neuen Wege, welche dem Experimentalstudium der
psychischen Phänomene durch den Gegenstand eröffnet worden seien, anderentheils
inibesondere wegen der zahlreichen therapeutischen Anwendungen, die er bei den
mannigfachen neuropathischen Affectionen erfolgreich finde. Er folge im Ganzen
der von Bernheim eingeschlagenen Kichtung, das Buch sei bestimmt für Aerzte
wie Laien.
Im I. Kap. : „Un po' di storia" (1 — 18) erwähnt Verf. kurz, wie schon zu den
Zeiten des Plinius der Magnet in Pulverform zu Heilzwecken in Anwendung ge-
wesen sei und wie er dann später dem Albertus Magnus und insbesondere dem
Paracelsus zu mannigfachen Curen gedient habe. Gilberts Buch „Ueber den
Magnetismus" wird genannt, der Jesuit Kircher, der dem Magnetftmus in der Ge-
nese der Naturerscheinungen eine grosse Rolle zuwies, als Erfinder des Begriffes
20»
308 Referate und Besprechungen.
„Kagnetismus animalis" bezeichnet. Die Geheimwissenschafl der Egypter. Indier,
Hebräer, Galdäer, Griechen, Römer („manus salutares", Sybillen) passirt Kerne in
raschem Zuge. Ihre üebertragung auf das Christenthnm imd ihre theilweiae Um-
wandlung in eine Teufelswisscnschaft im Glauben des Hittelalters wird weiter Ter-
folgt. Die Besessenen und Ekstatiker, die einerseits dem Scheiterhaufen Terfiden,
andererseits, wie Theresa und Katharina, heilig gesprochen wurden, kommen cor
Sprache. Sie waren nicht nur auf Seite der Katholiken zahlreich, sondern andi
auf protestantischer. So wurden 7 Ekstatiker 1549 zu Nantes lebendig verbrannt
l^ie epidemische Wirkung dieser Zustände findet Berücksichtigung in Erwähnung
der „Trembleurs" unter den Protestanten, welche nach Aufhebung des Edicts Toa
Nantes in Frankreich verblieben, und der Convulsionäre von Saint Medard. Mack
der helleren Köpfe wird gedacht, welche die Erscheinungen der Ifagie, Wahr-
sagerei etc. auf ihre wahren Ursachen zurückführten. So entging es z. B. Pom-
ponazzo, der im 15. Jahrhundert schrieb, nicht, dass die heilende Wirkung der
Reliquien fortbestand, auch wenn sie durch Hundsgebeine ersetzt wurden, es be-
durfte nur des festen Vertrauens. Natürlich kam sein Buch: „De naturalium effeo-
tuum admirandorum causis, seu de incantationibus" auf den Index. Mit den Be-
sessenen erschienen natürlich die Exorcistcn; und waren nicht genug Besessiene
vorhanden, so wurden solche künstlich geschaffen aus bestochenen feilen Dimen.
Es gab in Frankreich im Jahre 1600 300000 Hexen! Sie fielen in Liethargie, Cata-
leppie und Somnambulismus. Die Exorcisten machten gute Geschäfte, bis Richelieu
dem Treiben ein Ende machte. Nach Erwähnung der Amulette etc. als Mittel der
Suggestion und der Omplialoscopisten des Athos kommt Verf. auf die merkwürdigen
indischen Fakire, über die er sich etwas eingehender verbreitet, ohne eine Er-
klärung zu geben. 3fit dem Irländer Greatrakes. der durch magneüsche pasies,
und mit Joseph Gassner, der durch blosses Berühren heilte, schliesst das Kapitel
Kapitel II, S. 19 — 30, beschäftigt sich mit Mesmer und seiner Erklämng
des animalen Magnetismus als eines universalen Vitalfiuidums und enthält die
wechselreiche Geschichte seines Lebens. Sein Geburtsort heisst nicht Veilner, mt
der Autor schreibt, sondern Weiler bei Stein a. Rh., und sein Tod erfolgte nicht
zu Mcsburg, sondern zu Meersburg a. B., welcher Ort dem Ref. gerade gegenüber-
liegt, während er schreibt. Als berühmterer und glücklicherer Zeitgenosse Mei-
mers wird der Graf von Cagliostro genannt, der als Josef Balsamus zu Palermo
geboren war und 1790 zu Rom starb. Mesmer und seinen Schülern entging, nach
Verf., der Zustand des Somnambulismus bei ihren Objccten, die ersten Falle hier--
von beobachtete der Marquis von Puys^gnr im Jahre 1784; die Phänomene der
Catalepsie beobachtete 1786 Pet^tin. Nach der Zeit der französisciien Revolution
war im Jahre 1815 der Abt Faria wieder der erste, welcher die Aufinerksamkait
Europas auf den ^lagnctismus lenkte. £r verlegte dessen Ursache allein ins Ob-
ject, und da er durch blosse Suggestion, durch den Befehl einzuschlafen, magneti-
sirte, so verschwand nach ihm der ganze grosso Apparat Mesmers und der Met*
moristen. Die Studien wurden von anderen fortgeführt, und es erschienen die
Arbeiten von D^leuze, Bertrand, Georget, Du Potet etc. Nachdem im
Jahre 1827 die französische Akademie der Medicin einen Bericht Hussons über
den Gegenstand weder angenommen, noch auch abgelehnt hatte, wurde im Jahre
1837 das Urtheil Dubois' von ihr angenommen, welcher erklärte, dass der som-
nambule Zustand eine Illusion sei.
Referate und Besprechungen. 309
Kap. m, S. 30—35, handelt von Braid und seinen Erklärungen des Magne-
tismus, sowie der Anwendung, die er zu Heilzwecken davon machte. Zu gleicher
Zeit mit ihm, jedoch Ton ihm unabhängig, trat in Amerika (irimes auf mit einer
Electrobiologie und demonstrirte auch die Wirkung der Suggestion im Wach-
zustand. Ihm folgte in Deutschland die odomagnetische Theorie von Keichen-
bach und bald erschienen in Frankreich die Arbeiten von Li^bault, Riebet
und Gharcot und in Deutschland die von Heidenheim, Grützner,
Berger u. A.
Kap. IV, S. 36—40, enthält die Definitionen von Braid, Dal Pozzo,
Richer, Morselli (experimentelle Neurose). Das Wort „Hypnotismus" be-
schränkte Braid auf die Fälle mit Amnesie. Die von Lidbault angeführte
Procentzahl der Hypnotisirbaren hält Verf. für zu hoch, doch sind auch nach ihm
die refractären bei weitem in der Minderzahl. Das weibliche Geschlecht ist mehr
prädisponirt als das männliche, schon wegen der grossen Häufigkeit der Hysterie
bei den Weibern. Relativ jugendliche Personen sind ebenfalls leichter hypnotisirbar,
ebenso Kinder, doch sollte die Anwendung bei letzteren beschränkt sein, weil das
noch in der Entwickelung begriffene Nervensystem in Schaden kommen kann
(Rieh er). Nach Bremaud wird die Disposition erhöht durch Epilepsie, Chlorose,
nervöse Schwäche nach sexuellen Excessen, Alkoholismus, sowie durch das blinde
Vertrauen zur Macht des Hypnotisirenden, durch guten Willen und Aufioaerksam-
keit. Hinderlich sind Zustände, welche die Concentration des Gehirns verhindern,
wie gewisse Cerebralleiden , z. B. Idiotie, Wahnsinn, Hypochondrie, progressive
Paralyse.
Kap. V, S. 40—45, schildert die Methoden, um den hypnotischen Schlaf zu
erlangen. 10 von einander nicht sehr verschiedene, auf Fixation und Passes be-
ruhende Arten werden angeführt, als erste die von Deleuze, auch die von Braid,
Charcot und Hansen, und zuletzt die Suggestion.
Kap. VI, S. 46 — 50, spricht zunächst von den Bedingungen, welche erfüllt
sein müssen, wenn die Hypnose gelingen soll, wie Stille, richtige Stimmung, An-
wendung verschiedener Methoden bei verschiedenen Individuen etc. Als ein Bei-
spiel von „Hypnose aus Irrthum*' wird die Erzählung Braid s über seinen Freund
Walker angeführt, welcher beim Hypnotisiren selbst in tiefen Schlaf verfiel,
während derjenige, welcher hätte schlafen sollen, wach blieb. Länger als 20 bis
90 Minuten solle man den Versuch, einzuschläfern, nicht ausdehnen, sondern lieber
auf gelegenere Zeit warten. Danach spricht Verf. von dem bald plötzlichen, bald
Isngsameren Uebergang vom Wachen in den Schlaf, den je nach den angewendeten
Methoden verschiedenen Phänomenen des geschaffenen Zustandes, von der Länge
des künstlichen Schlafes, dass er meist kürzer sei als normal, selten länger (16 bis
18 Standen), und von dem Rapport zwischen Object und Subject, wofür LiSbaults
Erklärung angeführt wird.
In Kap. VII, S. 61—63, treffen wir wieder Historisches und zwar über Auto-
bypnose und „morbus hypnoticus". Von beiden Zuständen giebt Verf Beispiele und
trennt sie ab vom gewöhnlichen Noctambulismus. Der Morbus hypnoticus entsteht
ohne Beziehung zu einer äusseren Ursache. Es scheint^ dass Socrates solche Zu-
stände hatte, eine aus Plato citirte Stelle soll es beweisen. Die 3 Fälle von Dros-
dow betreffen neuropathische Individuen, ein anderer Fall ist von Vizioli be-
schrieben, ein weiterer von Lombroso; folgen noch 2 Fälle von Luys und ein
310 Referate und Besprechungen.
Hinweis auf Kichers „grande hysterie". woraus auch noch einige Falle angeführt
werden. Den Schluss bildet der von P feudi er aus Wien beschriebene Fall Ton
tiefer Lethargie, die dem Tode ähnlich sah. Verf. fugt hinzu, dass der Morbos
hypnoticus wolil nur bei neuropathischen Personen beobachtet werde, insbesondere
bei hysterischen und epileptischen; er unterscheidet davon diejenigen Fälle, in
denen öfters hypnotisirte Individuen die Neigung beibehalten , von selbst eina-
schlafen.
Kap. VIII, S. 63 — 71, enthält die Interpretation der hypnotischen Phänomene
nach Mesmer, Braid, Humpf, Bernheim, Schneider, Berger, Heiden-
heim, DepinCf Espinas, Barety, Dal Pozzo.
Kap. IX, S. 71 — 75, enthält die Beobachtungen von Hypnose bei Thieren.
Kap. X, S. 75—103, bringt die Charcot'sche Auffassung des Hypnotismni,
die Trennung in grossen und kleinen Hypnotismus, in die 3 Stadien der Lethargie.
Catalepsie, Somnambulic . . . , die Bekämpfung dieser Lehre durch Bernheixn
und Beaunis und einen Zusatz, welcher besagt, dass heutzutage Niemand mehr
an Charcots Einthcilung festhalte. £s folgt darauf die Phänomenologie des
Hypnotisirten bez. Sensibilität, Muskelsinn. Muskelkraft. Gesicht, Gehör, Ge-
ruch, Erinnerung, die etwas ausführlicher behandelt werden, danach die Er-
klärungsversuche von Beaunis und Lombroso betreffs des Zeitschätzungs-
vermögcns der Hypnotisirten, die Beschreibung des Verhaltens des Intellects und
der aft'ectiven Fähigkeiten, und zuletzt noch einiges SpM;cielle über den catalep-
tischen Zustand.
In Kap. XI, S. 104 — 109. wird die Frage der Simulation aufgeworfen, beson-
ders betreffs der Hysterischeu wogen deren Neigung zu Lüge und Täuschung. Ali
Eutlarvungsmittel dienen die Zeichen der Ermüdung an Musculatur und Athmnng,
wenn das Individuum cataleptisch erscheinen wull. ferner die Unmöglichkeit, je^ies
Anzeichen von Schmerz zu unterdrücken, die Empfindung der Complementärfarben.
Als ein gutes Mittel führt Verf auch das Verhalten der Pupillen bei Suggerining
von Hallucinat innen an; lässt man die halluc. Gegenstände näher und ferner rucken,
so verändert sich beim Simulanten die Pupillcnweite.
Kap. XII, S. 109 — 125, handelt von der Eascination (Captation). Von anderen
Autoren als ein Zwischenstadium der Hypnose angesehen, ist sie nach Verf. etwas
Besonderes für sich, zwar verwandt mit der Hypnose, doch nicht identisch, denn
es fehlt der Schlaf. Morselli nennt sie einen „status hypnoides^. Während des
sich an ihre Erscheinung knüpfenden Mysticismus widmet ihr Verf. relativ viel
Kaum. In diesem Kapitel handelt es sich um das Historische. Schon den Alten
(Aristoteles, Plinius, Plutarcli) war der Einiiuss eines Individuums auf andere in
Form der Fascination bekannt; sie glaubten, dass vom Subject ein Fluidum ans-
uche. In der Mytholopfic erscheint sie als Meduse. Der Cimber, der den Marios
niclit töten konnte, stand unter dem Einduss der Fascination. Auch auf Thiere
konnten Menschen diesen Einfiuss ausüben; es wird von Pythagoras erzählt, dass
er einen Adler in solcher Weise bändigte. Auch Beispiele von Fascination von
Thieren durch Thiere werden angefiihrt (Schlange und Vogel, die Sage von der
fascinircnden Macht der Kröte, der von Tissandier in der „Nature*' erzahlte Fall
von 2 Eidechsen etc.). Aus dem Mittelalter werden Stellen der Schriften von
Leonardo Vairo und Olaus Magnus citirt. Nicht nur der Blick, auch die Stimme
kann diesen Einiiuss ausüben, daher die sogenannten „magischen Gesänge**, „incan-
Referat« und Besprechungen. 311
tationes*' (Sirenen in der Mythologie). Auf der Beobachtung der Erscheinung der
Fascination beruht der Aberglaube vom „bösen Blick*' (n™^^ occhio", neapoL
Jettatura*). Das Wort „Fascination" ist abgeleitet Ton „Fascinus", Beiname des
Priap. Um vor Unglück und bösem Einfluss zu bewahren, wurde dieser Gott an-
gerufen, sein Glied verehrt und an vielen Orten zum Schutze abgebildet. Nach
unserem Autor deuten darauf hin auch die vielen Abbildungen und Nachbildungen
dieses heiligen Gegenstandes, die bei den Ausgrabungen in Pompeji gefunden worden
sind. Wie indes dem Referenten scheint, hatten sie nicht den oben genannten
Zweck, das Böse von dem Orte fern zu halten, wenn damit nicht etwa der Ehe-
mann gemeint war; denn diese Kunstwerke hatten eine mehr oder weniger ver-
borgene Stätte in den Boudoirs der feinen Damen. Wie Ref. sich selbst tiberzeugen
konnte, sind es theilweise obscöne Gemälde, welche die verzwicktesten Stellungen
beim Coitus darstellen, theilweise Gebrauchs- und Schmuckgegenstände in Form
eines oft abenteuerlich gestalteten Penis. Die in der Stuttgarter Bibliothek befind-
liche Copie des „Mus^e royal des Naples: peintures bronzes et statues ^rotiques du
cabinet secret**, dessen Original sich in Paris befindet — es soll die einzige Copie
sein — lässt keinen Zweifel über den Zweck dieser Machwerke aufkommen, die
wohl nur der Ausdruck der sexuellen und überhaupt nervösen Ueberreizung und
Schwäche und der Degeneration in jenem Zeitalter sind. Auf den alten Glauben
von der bewahrenden, schützenden Kraft des Phallus führt der Autor auch die Be-
wegung der Hand nach dem eigenen Gliede hin zurück, welche noch heutzutage
im Gebrauch sein soll, wenn Jemand sich vor dem bösen Blick schützen will. Die
Alten hatten noch andere Arten von Schutzhandlungen; so schreibt Aristoteles:
„Ne vero fascino laederer, ter in gremium meum despui", Tibull: „Despuit in moUes
et sibi quisque sinus", Plinius und Martial: „Et digitum porrigito medium". Die
gleiche Bedeutung soll das moderne „far le castagne" haben, wobei die Hand ge-
schlossen wird, sodass der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger hervorschaut.
Kap. Xni, S. 125 — 134, handelt von der Fascination in neuerer Zeit. Danach
war Br^maud der erste, der dieses Phänomen genauer untersuchte. Verf. giebt
dessen Beschreibung, wonach es nichts anderes sei, als man von der Wirkung des
Schlangenblicks auf den Vogel beobachtet hat. Das Object erwacht, respective
wird wieder mobil auf Anblasen. Denn das Hauptsymptom ist die spontane Im-
mobilität. Diese paart sich mit Echopraxie, d. h. die Befallenen stehen unter dem
Zwang, alles nachzumachen, was der Fascinierende vormacht, sogar selbstgefähr-
liche Handlungen. Später herrscht mehr oder weniger vollständige Amnesie. Nach
Bremaud sind nur Männer in diesen Zustand zu versetzen, Frauen fallen wegen
ihrer grösseren Impressionabilität direct in Catalepsie. Je länger übrigens der
Faacinationszustand dauert, um so mehr hat er die Neigung> in den cataleptischen
überzugehen, oft schon nach wenigen Minuten und plötzlich. Bremaud hält die
Fascination für das 1. Stadium in der hypnotischen Reihe. In einem Anhang
dieses Kapitels kommt Verf. auf die Schaustellungen zu sprechen, welche ein ge-
wisser Donatus vor mehreren Jahren in Mailand und Turin gab, die viel von sich
reden machten und in der Hervorrufung von Fascinationszuständen bestanden; ein
Veto des obersten Gesundheitsrathes machte ihnen ein Ende.
In Kap. XIV, S. 134 — 141, folgt die Beschreibung folgender, der Fascination
ähnlichen Zustände: des Latah der Malaien, des Myriachit in Sibirien und des
Jumping in Nordamerika.
312 Referate und BeepredhoDgeiL
In den 7 folgenden Kapiteln ist die Suggestion behandelt. Gharcot folgend,
sagt Verf., dass eine Wirkung der Suggestion nur im cataleptischen nnd aomnam-
bnlen Zustand möglidi sei; ausserdem im Wachzustand. Demgemass handelt
Kap. XV, S. 141—148, von der Suggestion in der Catalepsie. Sie geschieht
auf dreierlei Art: 1. durch den Muskelsinn, 2. durch das Gesicht, 3. durch du
Wort. Hauptsächlich kommt in diesen Zustand Nr. 1 in Betracht; es folgt davon
eine kurze Schilderung nnd hierauf die Bemerkung, dass die Suggestion durch Ge-
sicht und Wort in ihrer Wirkung hier zusammenfalle mit der im somnambulen Za-
stande angewendeten.
Kap. XVI, S. 149 — 166, betrifft die Suggestion im somnambulen Znstand und
zwar die intrahypnotische. Von Gassner und Faria unbewusst angewendet^ gab
Braid ihrer Anwendung eine grosse Ausdehnung. Nach einigen kurzen Bemer-
kungen über Suggestionen durch Muskel- und Gesichtssinn geht Verf. zur Schil-
derung der Verbalsuggestion über. Er spricht von suggerirten Handlungen, LUfc-
mungen. Sensibilitätsänderungen, Hallucinationen , von negativen Hallucinationen,
von der Amnesie, von der Objectivation des Typus etc., alles im Sinne von
Bernheim, indem er zumeist diesem Autor und Riebet Beispiele entnimmt
Danach folgt noch in Kürze einiges über die Wirkung der Musik auf den Hypno-
tisirten. Bei Besprechung der suggerirten Hallucinationen erwähnt der Autor, dass
diese bei manchen Objecten nach dem Erwachen fortdauern, aus welchem umstand
schwere Schädigungen entstehen können; daraus folge, dass man die Hallacination
hinwegsuggeriren muss, bevor man die Person weckt.
Kap. XVII, S. 166—199, befasst sich mit den posthypnotischen Suggestionen.
Sie werden eingetheilt in vier Kategorien: 1. insofern sie die Sinne betreflfien,
2. motorische, 3. psychische, 4. auf die vegetativen Functionen wirkende. Es
folgen Beispiele und specielle Bemerkungen besondere von Dal Pozzo, Kicher,
Binet, Ferä. Aus einem Experiment Dal Pozzos an emem jungen Burschen,
den er durch Suggestionen an den Strassen der Stadt irre gemacht hatte, ist
bemerkenswcrtb, wie der Junge durch verschiedene Collisionen. die er dadurch
hervorrief, in einen aufgeregten Zustand gerieth, der die Gefahr psychischer
Erkrankung nahe legte. Durch erneute Hypnose mit bezl. Gegensuggestionen
wurde er wieder hergestellt und Amnesie erzielt. Auch bezL der negativen Halla-
cination werden Experimente Dal Pozzo's angeführt. Auch hier kam es zu ge-
fährlichen Erscheinungen in Folge des Schreckens vor scheinbar wunderbaren Situa-
tionen. Deshalb ermahnte vorher Dal Pozzo seine Medien ausdrücklichst, dass
sie sich über nichts wundern sollten, was sich auch ereigne. Die Interpretation
der negativen Hallucination geschieht nach P. Rieh er: die W^irkung des hinWeg-
suggerirten Objccts auf den äusseren Sinn bleibt bestehen, nur dringt der Eindruck
nicht ins Bewusstsein. Zum Beweis wird der Complementärfarben- Versuch angeführt.
Im Verlauf weniger Tage pHegt die negative Hallucination von selbst zu schwinden,
das Object wird gesehen und schliesslich erkannt. Verf. kommt in diesem Kapitel
auch auf die criminelle Suggestion zu sprechen und bringt Versuche von Gilles
de la Tourette. Er warnt vor zu häufiger Wiederholung derselben bei einer
Person, da daraus wahre criminelle Gewohnheiten entstehen könnten. Es folgt nun
eine kurze Besprechung der psychischen Suggestion, dabei ein schöner Fall von
Dal Pozzo, danach einiges über das Suggeriren von Träumen mit der Bemerkung,
dass solche Träume sich von anderen unterscheiden durch grössere Klarheit, mehr
Referate und Bespreohungfen. 318
ZasammeDhang und ein gewisses logisches Band zwisolien den einzelnen, wenn auch
wunderlichen Scenen. Nach einigen Bemerkungen über die suggestive BeeinHuisung
der Gefühle kommt zum Schluss die Wirkung der Suggestion auf die Tisooralo
Sensibilität, Hunger, Durst, Uriniren, Menstruation, Toinporatur eio.
In Kap. XYIII, S. 200-204, erhalten wir eine thoilwcise Einschränkung des
▼orher Gesagten bezl. der Macht der Suggestion auf den Willen, die als vollkommen
dargestellt wurde. Hier werden Fälle von Pitres und Eichet angeführt, In
welchen der Suggestion Widerstand entgegengesetzt wurde. Ho erklärte ein Oliject
von Pitres — der einzige Fall in seiner Art — , dass sie sich nicht eher werde
wach machen lassen, bis er eine minder unbequeme Suggestion gegeben Imben
würde; er wollte sie nämlich 24 Stunden aphasisch machen, sie ging aber nur auf
5 Minuten ein.
Kap. XlXf S. 204 — 206, handelt von der Wachsuggestion. Nach Verf. gehört
in der Regel dazu, dass das Object sensibel und bereits öftere Male dem hypiio-
tiachen Znstand unterworfen gewesen sei; allerdings seien auch einige Beispiele «tr*
folgreicher Wachsnggestion bei früher nie hypnotisirten Objccten bekannt. Mau
kmnn durch Wachsuggestionen Modiücationen der Sensibilität, der Motilität, Hallu'
cmationen etc. herbeiführen; schwieriger Illusionen wegen <ler Wirkung der
ioaeren Umgebung, welche richtig percipirt wird. Es ist demna/;h, «agt V«;rf., der
HTpnotismos nicht die nothwendige Vorbedingung der Suggestion. Nach 15 e a u n i s
ist der Zustand, in dem die Wachsuggestion wirkt, weder ein hypnotisch';r, n'K:h
wacher. £r unterscheidet ihn vom hypnotischen Schlaf durch folgende Merk*
: das Object scheint ganz wach, hat die Augen offen, i«t in KapfK/rt mit dttr
elL erinnert fich sehr gut an das was man um es her sagt und thut uwi
iJka was es selbst gesprochen und gethan hat: die Erinnerung fehlt nur in
einzigen Punkt, nämlich bezL der gegebenen Suggestion; und hierdurch n^f
dnrcli Kfine Docilitit nähert sich dieser Zustand dem somoambuien.^
Kap. XJL S. 201—219, betrifft die mentale Suggestion—Gedanken üUrrtragung.
ErwaLrung der 3 indischen Ljogmen-Schulen. welche über weite Knif'trtmuü
aui: «aaiiier im hrpriOtiMrben Zustand in Verbindung stehen sollen , ffru^r dfrr
T«j Camberland, Siccard. Preyer. k^/mmi Verf. liauptwi/^blMi
dit V€r^^ti3t2iciiangen von P. Janet im Aogost lÄß in der Itfeiue phii//'
«fttnupfr rü tftnfciüii und fuhrt sie thellwel^se ac.. Er Mrtzt rorh<fr aiAt^ifau^i^T^
4am cji Zal] ^er Bc^obacLtungen bisher za k^ein »ei und di«seil>en zj wenig t'^ßt*'
ttvlor. «■>!.: -itiier k"'ii.e m^n ^n-Anlich noch nicht ^mu «Jeiiken, <i*:u ^ ß*-yi*:ut\%sA
mm wiMmsö-iiftLc-ii zd betr&ch^en.
1*5. XXL S- 21^-&L haiideh roit dem M*^nfcti*T£A» der Hoj/j^ettj'/n ms^-I
iMwr^ Zwaaiaü^riigeiasr:. unrtrfi^^eii ci*: Sui^ger»>>Jt«T;* dem Oeterz der A^t'/*
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jHMpisa. jii. T-eua luai; lüdLi ^e::is,L: I>fc. Pizz^ fLLr ejit»* FaX! suu iXi «eu'.üi^ns.
314 Referate und Besprechung^en.
Kap. XXII, S. 224—229 ist betitelt: „Analogien zwischen physiologischem
und künstlichem Schlaft. Sie sind nach Verf. nicht ganz identisch, obgleich ge-
wisse Analogien zwischen beiden bestehen. „Man kann,** so sagt er mit einer
Reihe yon Autoren, „den hypnotischen Schlaf betrachten als ein Uebergangsstadimn.
als ein Verbindungsglied z^^ischen Wachen und physiologischem Schlaf. Dann
hätten wir folgende Abstufung: Intellect, Bewusstsein, Wille in voller Thätigkeit
(Wachen); begrenzte Thätigkeit einiger geistigen und körperlichen Functionen, Fehlen
der ControUe der höheren, die Ideen ordnenden Centren (Träume) ; mehr oder wenigwr
geschwundenes Bewusstsein und Hypo- bis Abulie. die seelischen Functioiien auf-
gehoben, doch auf Reize, wie hier die Suggestion, im Stande, aus ihrem Torpor
zu erwachen und sich in ihrer stärksten Wirksamkeit zu zeigen (hypnotischer Som-
nambulismus); relative Bewiisstlosigkeit imd absolute Abulie, Aufhebung der will-
kürlichen Motilität und der intellectuellen Wirksamkeit, Triumph des vegetativen
Lebens („physiologischer Schlaf)'^* Diese Auffassung lässt also die Annahme der
3Ieinung Gilles de la Tourette'a^^nicht zu, welcher den natürlichen Somnam-
bulismus als Vorläufer der Hysterie ansieht und den künstlichen als Transformation
derselben. Der erstere Fall kann zwar statthaben, für den zweiten aber muss bemerkt
werden, dass absolut gesunde Individuen oft leichter in somnambulen Zustand zu
bringen sind, als hysterische. Xoch folgt eine kurze Erwähnung der Versuche
31 OS SOS über das Verhalten der cerebralen Circulation während des physiologischen
Schlafes und, im Vergleiche dazu, derjenigen von Salvioli und Tamburini und
Seppilli über die cerebrale Circulation während des hypnotischen Schlafes. Der
physiologische Schlaf setzt eine Herabminderung der cerebralen Blutmenge und
eine Vermehrung der peripheren. Umgekehrt sollte nach Salvioli im hypno-
tischen die cerebrale Blutmenge zunehmen, derselbe also einen Erregungszustand
der nervösen Centren darstellen und der physiologische die Ruhe des Gehirns.
Tamburini und Seppilli constatirten aber, wenigstens für die Lethargie, das
gleiche circulatorische Verhalten wie M o s s o für den physiologischen Schlaf.
Kap. XXIII. S. 229—235. handelt von „Wille, Bewusstsein, Impulsen beim
Hypnotisirten",
Kap. XXIV, S. 236-241, von Zuständen, welche mit dem thierischen Magne-
tismus verwandt sind. Als solche passiren hier mit Hervorhebung der ähnlichen
wie der verschiedenen Symptome: Hysterie, Catalepsic, Narcolepsie, Thomsen'sche
Krankheit, artiticiellcr Narcotismus (Alkohol, Opium, Belladonna etc.) und die
Träume.
In Kap. XXV, S. 241 — 258, werden die allfälligen Nachtheile des Hypnotismos
besprochen. Hier nimmt Verf. einen mittleren Standpunkt ein zwischen den Autoren,
welche allzu sorglos sind, und denjenigen, welche die Scliädlichkeit übertreiben;
doch gewinnt man den Eindruck, als ob Verf. etwas mehr den letzteren zuneige.
Er kommt zunächst auf die „Mesmerscnen Crisen" zu sprechen, die im Grunde
nichts als eine Erweckung der Hysterie aus ihrem latenten Zustand darstellten, und
geht danach über zu einer Besprechung der Schaustellungen des schon früher er-
wähnten Donatus, bei denen ebenfalls eine Reihe von bösen Zufällen beobachtet
wurde. Lombroso allein l)eobachtete deren 16, sie werden kurz hier skizzirt;
ebenso einige von Charpignon, worunter einer von Suicid.
Wenn man, sagt Verf., mit Älorselli übereinstimmt, dass die Hypnose keine
Krankheit sei, so muss sie doch als ein besonderer Zustand angesehen werden, der
Referate und Besprechungen. 315
nicht ganz identisch mit dem normalen Schlaf ist; denn — so fährt er fort — wie
könnten sich sonst bei manchen Individuen wahre post-hypnotische Delirien ent-
wickeln, wie spontaner Somnambulismus entstehen, wie in einer grossen Anzahl von
Fällen der Hysterismus manifest werden? Der gewöhnliche Schlaf erweist sich in
seiner kräftigenden Wirkung als Wohlthäter, dem hypnotischen kann man diese
Eigenschaft nicht immer nachsagen ; denn der Hypnotisirte erwacht oft leidend, der
Kopf thut ihm weh, er ist müde und beklagt sich über Mattigkeit oft auch während
des Schlafes. Durch eine kritiklose, laienhafte, übertriebene Anwendung der Hyp-
nose kommt es zu den schlimmen Erscheinungen wie bei Donatus, und wie sie
Ton vielen Autoren beschrieben werden. JBernheim ist im Ganzen ohne grosse
Sorge, und wenn er auch selbst angiebt, dass bei Prädisponirten schlimme Folgen
entstehen können, so meint er andererseits wieder, dass bei oft hypnotisirten Per-
sonen, bei denen die Gefahr allzu leichter Hypnotisir- und Suggerirbarkeit vor-
handen sei, das Heilmittel nahe bei dem Uebel liegt. Man müsse nur suggeriren,
dass kein anderer Mensch sie hypnotisiren könne. Aber dieses Mittel hält nicht
lange vor, wie Verf. selbst erprobte. Es kam zu ihm eine Frau, welche von
Dt, Adriani eine solche Suggestion bekommen hatte, die dieser nicht zurück-
nehmen wollte. Es gelang mit blossen Reden nicht, die Person zu veranlassen, sich
hypnotisiren zu lassen. Darauf gab ihr B. allerhand Arbeit, die er ihr abnahm und
nach ihrem Wunsch bezahlte, und nach kurzem gelang es, sie zu überreden. Die
Suggestion Adriani's sagte sie erst in der Hypnose, vorher hatte sie nur Ent-
schuldigungen gebraucht, wie, sie sei nicht disponirt u. a. Bei gesunden Personen
sieht Verf. im Hypnotisiren keine Gefahr, wenn man vorsichtig und planvoll zu
"Werke geht. Nie solle man den Hypnotismus zum Gegenstand öffentlicher Neugier
machen und nur dann seine Zuflucht zu diesem Mittel nehmen, wenn die Noth es
erfordert zum Heile des Kranken.
Kap. XXVI, S. 258—270, enthält die Warnung vor hypnotischen Schau-
stellungen, wie wir sie von Verf. schon vorher öfters haben aussprechen hören,
femer ein Decret der hohen Inquisition vom August 1856, gezeichnet von Cardinal
Macchi, welches sich in ähnlichem Sinn ausspricht, und den Rapport von Bailly zu
Mesmers Zeiten.
In Kap. XXVII, S. 270 — 298, enthält Beiträge zur therapeutischen und päda-
gogischen Anwendung der Hypnose. Zunächst sind es einige Notizen über die
Benutzung der Anästhesie durch die Chirurgen; darauf folgen in etwas längerer
Beschreibung 7 von Verf. selbst behandelte Fälle. Vorher steht noch die Be-
merkung, dass diese Therapie nur bei neuropathischen Individuen angewendet werden
könne, welche keine anatomische Läsion aufweisen. „Der Hypnotismus ist erfolg-
reich angewendet Worden bei Chorea, hysterischen Contracturen und Lähmungen,
verschiedenen Neuralgien, hysterischen Krämpfen, Spasmus der üretra, 3Iorphino-
manie, Dysurie, Amenorrhoe und bei unzähligen anderen neuropathischen Affec-
tionen".
Sein 1. Fall betrifft eine Frau mit Cephalalgie, Hyperästhesie des Blasenhalses
und Tenesmus, Amenorrhoe; nach wenig mehr denn 8 Tagen verschwanden diese
Klagen durch hypnotische Suggestion; jetzt, nach 10 Jahren, ist die Frau noch
davon frei. Die weiteren Fälle betreffen Hysterische:
Nr. 2 ein junges Mädchen mit grossen hysterischen Anfällen, bilateraler com-
pleter Amaurose, perversen Gemüths^ichtungeu, Paraplcgie inf. bilat.. Aphasie,
316 Referate und Besprechungen.
Aphonie. Diese Leiden lösen sich nach den jeweiligen Suggestionen ab, nach denen
die vorher bestehenden verschwunden waren. Es fiel dabei auf, wie oft man durch
Wachsuggestion besser zum Ziele kam, als durch hyynotische. Auch der folgende
Fall war mit Wachsuggestion besser zu behandeln:
Nr. 3 ein junges Mädchen mit schmerzhaften Menses (Schmerzen in der Liain-
bal- und Uteringegend), Ovarialgie, Anorexie, Blutspeien, wandernden hysteriachen
Neuralgien. Kältegefühl, Stimmungswechsel; später noch Convulslonen and taiuend
andere hysterische Erscheinungen. Insbesondere die Raschheit, mit der durch
Wachsuggestionen die Erscheinungen wie hin weggeblasen wurden, war hier merk-
würdig; freilich wurden sie fast stets durch andere abgelöst oder kehrten sie,
wenigstens theilwcise, nach kürzeren oder längeren Zeiträumen zurück; nur einige
blieben gleich von Anfang an fort, z. B. das Blutspeien. Durch eine consequente,
geduldige, stets wieder aufgenommene Behandlung wurde Genesung erreicht, die
jetzt schon 6 Jahre dauert.
Es seheint die Wachsuggestion ferner noch auszuzeichnen, dass gerade die
schwersten Fälle, d.h. solche von grosser Intensität und langer Dauer der Leiden,
exact auf sie reagirten. während die ebenfalls angewendete hypnotische ganz erfolg-
los blieb. Ein solcher Fall ist
Nr. 4 ein junges 3lädchcn mit completcr Amaurose des rechten Auges seit
10 Jahren.
Ebenso Nr. 5, ein Mädchen mit Paraplegie, Convulsionen, Contracturen, and
Nr. 6, ein Knabe mit Hystero-Epilepsie, der zuerst mit hypnotischer Suggestion
von Feinen zahlreichen Anfällen befreit, statt deren aber sofort von klassischem
Pararayoclouus multiplex befallen wurde, welcher der hypnotischen Suggestion
widerstand, auf Wachsuggestion aber zum Verschwinden gebracht wurde. Es sei
daher, schliesst der Verf., der hypnotische Schlaf zum Heilzweck nicht unentbehr-
lich, man erhalte bei imprcssionablen Personen mit der Wachsugjjestion glänzende
Resultate, nur müsse sie geschickt geleitet sein. Eine grosse Hülfe in solchen
Fällen sei ihm der Magnet gewesen. Derselbe übe auf die Einbildungskraft des
Kranken starken Einiluss, und das sei für das Gelingen der Suggestion von im-
mensem Wcrthe.
Der 7. Fall des Verf. ist sexueller Art und so interessant, dass er fast wört-
lich hier angeführt werden soll. „Eines Tages" erzählt Verf.. ,.stellte sich uns ein
junger Toskaner von etwa 25 Jahren vor. Verwaltungsbeamter in Neapel. Staris
erregt, äusserte er frank und frei die Idee, dass er sich selbst umbringen werde,
wenn wir ihn nicht curirten. Er habe schon erfolglos den grössten Theil der Kli-
niker Neapels consultirt und sei es nun müde. Die Sache lag so: Er hatte Tor
nicht langer Zeit ein Vcrhältniss mit einem jungen Mädchen, und dieses sagte eines
schönen Tages zu ihm, wenn er sie verlasse, solle ihm mit keiner anderen der
Goitus gelingen. Nach einigen Monaten befreite er sich bei passender Gelegenheit
von jener Person, um nicht mehr zu ihr zurückzukehren. Von da an hatte er
keine Ruhe mehr. Jedes Mal, wenn er jetzt mit einem Frauenzimmer zusammen-
kam, rausste er sich seiner Impotenz schämen, und doch war ihm das bis vor wenig
Monaten noch nie passirt. Ganz desperat kehrte er zur ersten zurück, die ihn mit
der simpelsten Suggestion, noch dazu ganz ohne bewusste Absicht, unglücklich ge-
macht hatte. Natürlich gelang es da wieder sofort. Das Verhältniss konnte wieder
nicht von langer Dauer sein und nach abermaliger Trennung war die alte cmx
Referate und Besprechungen. 317
wieder da. Das Leben ward ihm unerträglich, und er hätte sich sicherlich selbst
getodtet, wenn er nicht befreit worden wäre von der Suggestion jenes Mädchens,
welches er gezwungen war zu fliehen, die er doch immer im Kopf behielt und vor
deren Wohnung zu spaziren ein unwiderstehlicher Trieb ihn täglich zwang. Nach
wenig Augenblicken Hess er sich in Somnambulismus versetzen. Er wurde suggerirt,
dass er die vergessen habe, die ihn unglücklich gemacht, und dass er nach der
2. Sitzung wieder stärker sein werde als je vorher. So kam es auch. Noch be-
kam er die Suggestion, er werde nun bei seiner früheren Freundin impotent
sein, wenn er wieder mit ihr anbandle; auch das gelang, und der Kranke war
gesund."
Einige Versuche, die Hypnose bei Geisteskranken anzuwenden, werden nun
noch angeführt, so von Voisin, Dumontpallier, Lombroso, Seglas, und
dabei betont, wie selten hier Erfolge seien und wie es sich in günstigen Fällen
stets um Hysterische oder Hystero-Epileptische gehandelt habe. Bezüglich der
Heilwirkung des hypnotischen Schlafes an sich, ohne weitere Suggestion, stimmt
Verf. der Ansicht bei, dass es sich in solchen Fällen um Autosuggestion handle,
da das Individuum beim Einschläfern weiss, dass der Arzt eine therapeutische Ab-
sicht dabei hat. üeber die pädagogische Anwendung der hypnotischen Suggestion
seien bisher die Erfahrungen noch zu gering, um ein Urtheil zu erlauben. Die Be-
obachtungen von Voisin und Liebault, denen es gelang, bei einigen jugend-
lichen Personen mit verbrecherischen Anlagen eine Umwandlung des Characters zu
erzielen, eröffnen keine üble Aussicht, und wenn auch Blum ilecht habe mit
seinem moralischen Standpunkte, dass die Erziehimg aus dem Menschen keine
Maschine machen dürfe, so sei das für gut geartete Kinder gewiss richtig und die
Suggestion hier verwerflich, in jenen anderen Fällen aber von perverser, unbild-
samer, schlimmer Anlage müsse man auf alle akademischen Erörterungen über Moral
and Willensfreiheit verzichten und zu dem Mittel greifen, welches allein allenfalls
noch Hoffnung gebe.
Kap. XXVIII, S. 228 — 836, behandelt den Hypnotismus vom gesetzlichen
Standpunkte. Es werden hier eine Reihe Fragen aufgeworfen, welche einerseits
Verbrechen an Hypnotisirten (hauptsächlich stuprum) betreffen, andererseits Ver-
brechen durch Hypnotisirte in Folge crimineller Suggestionen. Im Ganzen werden
diese Fragen beantwortet im Sinne solcher Autoren, welche sich mit dieser Seite
des Hypnotismus speciell befasst haben, wie Gilles de laTourette, Li^geois,
Lombroso etc. Eine Heihe weiterer Beispiele aus deren Erfahrung dient zur
Ergänzung des Theoretischen der Sache. Das ganze Kapitel ist ein Beweis davon,
nach wieviel Seiten hin vom gesetzlichen Standpunkt der Hypnotismus Interesse
bietet, wie sehr eine gesetzliche Regelung am Platze, aber auch wie schwer eine
solche ist, da ein jeder einzelne Fall wieder seine Besonderheiten hat und einer in-
dividuellen Behandlung und Beurtheilung bedarf.
Im Anhang findet sich dann auf 40 Seiten die breit und genau ausgeführte
Geschichte eines Hysterischen (pathologischen Schwindlers), wobei es sich, unter
vielen von demselben angesponnenen Intriguen, im Wesentlichen um eine phanta-
sirte Heirathsgeschichte handelt, von der es Wunder nimmt, dass sie von der
dabei betheiligten und betrogenen Klasse von Personen (auch ein Arzt ist dabei)
nicht frühet durclischaut wurde. Der Held heisst Paolo Conte, der Process spielte
im Jahre 1889.
318 Referate und BesprechuDgen.
Ein kurzes Resume über dieses Buch lehrt, dass es das Wesentliche über deb
behandelten Gegenstand durchaus enthält; der Arzt wie der Laie wird dadurch
zweifellos gut informirt. Insbesondere dem historischen Theil ist ein grosser Kaum
gewährt, und es finden sich in diesem Theil eine schöne Anzahl interessanter Daten.
In seinen Anschauungen und Erklärungen folgt Verf. wesentlich denjenigen von
Liebault und Bernheim, wobei indes die stricte Scheidung zwischen catalep-
tischem und somnambulem Zustand verwundern muss, wie sie in den Kapiteln über
die Suggestion enthalten ist. Die stark in den Vordergrund geschobene Verwandt-
schaft zwischen Hysterie und hypnotischen Zuständen beengt etwas zu sehr nament-
lich den therapeutischen Theil, in welchem man gern auch andere Fälle suggefltiv
behandelt sähe, als immer blos Hysterie und wieder Hysterie, zumal ja in der
Vorrede auf die Ausdehnung hingewiesen wird, welche die Therapie auf die mannig-
fachsten Leiden in den letzten Jahren gewonnen hat.
W o 1 f f - Münsterlingen.
Th. Ziehen i Psychotherapie. Aus d. Lehrbuche d. allg. Therapie ron
Eulenburg u. Samuel. Urban u. Schwarzcnberg. Berlin u. Wien 1898. 8^ 1,60 M.
Von der Definition ausgehend, dass die Psychotherapie diejenige Therapie sei,
die durch psychophysische Erregungen heile , die auf dem W^ege der Empfindung
und Vorstellung bezw. Ideeuassociation dem Kranken mitgetheilt werden, theilt
Verf. das Arbeitsgebiet der Psychotherapie folgendermaassen ein : 1. Psychotherapie
der psychischen Symptome der psychischen Krankheiten ; 2. Psychotherapie körper-
licher Begleitsymptome der psychischen Krankheiten (vasomotorischer und anderer
Innervationsstörungen) ; 3. Psychotherapie der psychischen Begleitsymptome der
körperlichen Krankheiten; 4. Psychotherapie körperlicher Symptome körpeiiicher
Krankheiten (vasomotorischer und anderer Innervationsstörungen) ; 5. Psychotherapie
der psychischen Nebenwirkungen der Somatotherapie ; 6. Psychotherapie des Patienten-
gehorsams (ärztliche Pacdagogik s. str.]. Die Behauptung, dass die Psychotherapie
lediglich symptomatisch wirke, lehnt der Verf. ab; jedoch glaubt er, dass ihr Ge-
biet auf die sog. functionellen Veränderungen sich beschränke. Die Methoden der
Psychotherapie theilt Ziehen ein in affectiv wirksame Methoden, unter denen er
ein gegenwirkendes und ein strafendes bezw. belohnendes Verfahren unterscheidet;
und in intollectuell wirksame Methoden, die wiederum in motivirende und Suggea-
tivmethoden eingetheilt werden. Letztere Eintheilung ist dadurch bedingt, dass
Verf. unter dem Begriffe der Suggestion eine therapeutisch wirksame Vorstellung
versteht, die nicht durch motivirende Vorstellungen eingeführt wird. Die moti-
virenden Methoden wirken entweder durch Zerstörung von VorsteUungen und
Vorstellungsverknüpfungen, oder durch Neubildung solcher. Die Suggeations-
methoden werden entweder im Wachzustande oder in der Hypnose angewandt.
Die Darstellung ihrer Technik, sowie der angeblichen Gefahren, die mit der Hy-
pnose verbunden sein sollen, lässt viel zu wünschen übrig und steht keineswegs auf
der Höhe der Zeit. Nach dieser Besprechung der psychotherapeutischen Methoden
und ihrer Technik zwerden im weiten Theile die Indicationen dieser Methoden auf
Grund der oben gegebenen Eintheilung des Arbeitsgebietes der Psychotherapie er-
örtert. Die Affectstörungen bei Geisteskranken und Neurasthenikem, die Halla-
cinationen und Illusionen, Wahn- und Zwangsvorstellungen, sowie die Defecte der
Intelligenz werden bei den psychischen Erkrankungen abgehandelt und die An-
Beferate und Besprechungen. 319
^endbarkeit der yerschiedenen psychotherapeutischen Methoden bei ihnen besprochen.
Unter den psychischen und körperlichen Symptomen der körperlichen Erkrankungen,
die der Psychotherapie nach Z. zugänglich sind, figuriren Schmerzen, Parästhe-
«ien, Lähmungen und Contracturen bei funotionellen Erkrankungen, während die
Lähmungen, welche als Symptome organischer Krankheiten des Nervensystems
auftreten, ^nur gelegentlich in unkritischem Uebereifer in den Bereich der Psycho-
therapie gezogen worden sind^; femer asthmatische Beschwerden, Störungen der
3Iagen- u. Darmthätigkeit and die Schlaflosigkeit. Ueber die hypnotische Therapie
der Menstruationsstörungen, sowie über die suggestive Beeinflussung der Gicht und
des chron. Gelenkrheumatismus äussert sich Verf. sehr sceptisch. theilweise direct
absprechend. In der Gesammtübersicht über die Leistungen der Psychotherapie
kommt Z. zu dem Ergebnisse: „Psychotherapie kommt in jedem Krankheitsfalle in
Betracht. Ohne Psychotherapie flickt man Schuhe oder oculirt man Pflanzen^ heilt
aber keinen empfindenden und vorstellenden Organismus, wie ihn der Mensch doch
nun eben einmal darstellt.^
Dieser Schlusssatz ist sicherlich das Beste an dem ganzen Werke. Um die
Un Vollkommenheit der Darlegungen Ziehens zu entschuldigen, wird man freilich
berücksichtigen müssen, dass die Psychotherapie eine junge Wissenschaft ist, die
noch im Entstehen begriffen ist; sowie dass der geringe Umfang der Arbeit viele
Beschränkungen nothwendig machte. Warum aber der Verf. mangels eigener Er-
fahrangen, wie er selbst an einigen Stellen zugesteht, sich ein absprechendes Urtheil
über Dinge leistet, die er noch nicht einmal aus der Literatur genügend zu kennen
scheint, ist dem Ref. unverständlich geblieben. Die Literaturangaben sind mehr
als dürftig. Immerhin lässt sich nicht verkennen, dass sich manche treffende Be-
merkung, sowie einige werthvoUe Ansätze zu einer wissenschaftlichen Psychotherapie
in der Arbeit vorfinden, die das Werk lesenswerth machen.
L. Hir schlaff- Berlin.
Dr. Henri Aimi, Etüde clinique du dynamisme psychique. (Paris,
O. Doin 1897. 2ö3 S.)
Die Arbeit stellt eine Sammlung von Krankengeschichten aus der Bern-
heim'sehen Klinik dar. Da die Krankengeschichten direct nach den von Bern-
heim selbst geschriebenen oder unter seiner Aegide am Krankenbette verfassten
ProtocoUen wiedergegeben sind, so sehen wir in der Sammlung eine willkommene
Gelegenheit, einen Einblick in die Thätigkeit der Klinik zu Nancy während der
letzten Jahre zu thun. Wir empfehlen unsem Fachgenossen bestens von dieser
Gelegenheit durch Leetüre des Buches Gebrauch zu machen.
Den Titel des Werkes möchten wir übersetzen: „Antheil der Psyche an der
Entstehung und Heilung der Krankheiten''.
In Bezug auf den Antheil, den die Psyche an der Entstehung der Krank-
heiten hat, finden wir die bekannten Anschauungen der Nancyer Schule wiederge-
g:eben. Die Bedeutung von Gemüthsbewegungen, femer der schädliche Einfluss
«iner falschen ärztlichen Behandlung auf Grund einer falschen Diagnose, die nur
eine körperliche locale Erkrankung, nicht aber den seelischen Ursprung berück-
sichtigt, sind seit den ersten Veröffentlichungen der Nancyer Schule vielfach
Gegenstand der literarischen Erörterung gewesen. Daneben ist es die Erklärung
der Autosugestion und die Verfolgung derselben im Verlaufe der ELrankengeschichte,
320 Referate ond Besprechungen.
welche durch das Verdienst der Nancyer Schule eine ungeahnte Klarheit in die
Beurtheilung des Zusammenhanges der Erscheinungen gebracht hat.
Diese Klarheit ist es auch, die uns bei den von Dr. Aim6 wiedergegebenen
Krankengeschichten erfreut, wenn sich auch der Autor mit Recht weit davon
entfernt hält, Alles erklären zu wollen.
In der Therapie ist neben der Hypnose die Wachsuggestion und namentlich
auch die moralische Einwirkung auf den Kranken in reichem Maasse zur Anwendung
gekommen.
Wir können das offene Geständniss, dass sich eben mit Hypnose nicht ABei
erreichen lässt, nur mit Freuden begrüssen und erblicken darin einen wesentlichen
Fortschritt der Nancyer Psychotherapeuten, wenn diese auch sich darin dnrekaw
irren, dass der von ihnen jetzt eingenommene Standpunkt in unserer Literatur
etwas Neues sei.
In wie weit man nun aus diesen Krankengeschichten auf die gesammten
psychotherapeutiscl\en Leistungen der Nancyer Klinik wird schliessen können, lassen
wir dahingestellt, immerhin geben dieselben, da auch gänzliche lüsserfolge nicht
verschwiegen sind, einigen Anhalt hierzu. Wir möchten hierbei nur darauf auf-
merksam machen, das die vorgeführten Falle doch zum grossen Theil von vorn-
herein ziemlich günstig lagen, da es sich vielfach om Leute niederen Standes,
häufig Landleute aus der Umgegend von Nancy und jüngere Personen handelt,
deren hervorragende Suggestibilität fiir jeden Psychotherapeuten ausser aller Dii-
cussion steht. Zugleich vermisst man häufig eine Controle der Dauer des Hell-
effectes und hat bei manchen Fällen direct den Eindruck, dass die Beobachtungt-
zeit viel zu kurz ist (s. z. B. Krankengeschichte 26, wo ein Fall von geheflter
Enuresis nocturna sich schon nach 2 Wochen der Behandlung entzog). Dem steht
gegenüber, dass eine gfrosse Zahl der Krankengeschichten nicht nur von psycho-
therapeutischem, sondern überhaupt von allgemein neurologischem Interesse sind.
Wir finden unter 76 mitgetheilten Krankheitsbildcm die Angaben von 51
Heilungen (1 ungcheiltes Reoidiv ist mitgetheilt), 4 Besserungen, 3 gänzlichen Mi»-
orfolgen. Sämmtlich geheilt sind die Fälle von functionellen Schmerzempfindnngen
(8 Fälle), hysterischen Krämpfen (9 Fälle), hysterischer Amaurose (2 Falle). Sämmt-
lich ungehcilt sind die Fälle von Hypochondrie (2 Fälle). Bemerkens werth sind
dann neben einer Reihe von Fällen mit sehr interessanten hysterischen Symptomen
[Paramyoi'lonus multiplex (1 Fall, Heilung), h^^sterische Pseudotympanie (1 FUl,
Heilung), Dischromatopsie (1 Fall. Heilung), Pseudomeningitis (1 Fall, Heilung)]
die Combination von Hysterie mit Epilepsie in 3 behandelten Fallen, wobei es
stets gelang, die Hysterie zum Verschwinden zu bringen, während die Epilepsie
weiter bestand. Hilger- Magdeburg.
Kritische Bemerkungen Ober den gegenwärtigen Stand der Leiire
vom Hypnotismus.
Von
Dr. philos. Leo Hlrschlaff, AVzt in Berlin.
(1. Fortsetzung.)
Nachdem wir die Erfolge der hypnotischen Behandlung berichtet
haben, die in der Literatur der letzten Jahre a« fgefuhrt worden sind,
wollen wir die Vomrtheile und Gefahren besprechen, die noch immer
Ton manchen Seiten mit dem Begri£fe der Hypnose yerknüpft werden.
Die Thatsache freilich, dass die ernst zu nehmenden Gegner des Hypno«
tismus immer spärlicher werden, ist ein erfreulicher Beweis dafür, dass
die Wissenschaft des Hypnotismus auch in weiteren ärztlichen und
psychologischen Ejreisen immer mehr Boden gewinnt. Immerhin melden
sich noch immer einige Gegner der Hypnose zum Worte. So erklärt
Goldscheider*') — ohne Angabe näherer Gründe — die Hypnose für
eine nicht menschenwürdige Sklaverei, obwohl er an demselben Orte
yersichert, dass die schönste und höchste Aufgabe des Arztes sei, die
E[ranken von Schmerzen zu befreien. Rosenbach ^^) behauptet mit
Recht, dass die psychische Beeinflussung niemals Kraft schaffen, sondern
nur die VertheiluDg der Kraft zweckmässig regulieren könne. Wie er
aber daraus der psychischen Behandlung einen Vorwurf machen will,
ist uns nicht recht verstäDdlich. Denn Kraft schaffen kann wohl nur
die ErnähruDg. Ist deshalb jede andere Therapie verwerflich?
Durand de Gros'^) widerlegt die Anschuldigung derer, die in
der Hypnose ein moralisches Unrecht erblicken. Es handele sich gamicht
um eine Unterschiebung des Willens beim Hypnotisiren, so dass die
Frage der Moral hier nicht am Platze sei. Dass in der Hypnose
weder das Bewusstsein aufgehoben ist, noch Willensschwäche eintritt,
Zeitschrift fttr Hypnotismoi etc. VIII. 21
322 ^^^ Hinchlaff.
ist längst von Moll und Anderen erkannt und betont worden. Wir
glauben allerdings, wie schon früher angedeutet, dass die tiefe und die
oberflächliche Hypnose yom ethischen Standpunkte aus verschieden be-
urtheilt werden müssen. Während wir kein Bedenken dagegen sehen
können, eine oberflächliche Hypnose einzuleiten, bei der sich der
Hjrpnotiseur darauf beschränkt, Heilsuggestionen zu geben, die im
Grunde genommen durch nichts sich von dem unterscheiden^ was wir
auch im wachen Zustande den Patienten sagen, liegen die Verhältnisse
bei der tiefen Hypnose anders. Hier werden unter Umständen Halla-
cinationen hervorgerufen, es werden Willensvorgänge ausgelost, die dem
normalen Wachzustande fernliegen, mit einem Worte: es werden „un-
motivirte^ Suggestionen realisirt. Das kann unter Umständen nützlich
und nothwendig sein, ebenso wie es unter Umständen nützlich und noth-
wendig ist, einem Kranken Morphium oder andere schwere Gifte zu
geben. Aber wie es verwerflich wäre, jeden Schmerz, über den ein
Kranker klagt, durch Morphium bekämpfen zu wollen, so ist es noth-
wendig, für die Anwendung dieser tiefen Hypnose, in der eine Alte-
ration des normalen Geisteszustandes eintritt, bestimmte streng einzu-
haltende Indicationen aufzustellen. Eine wahllose Anwendung der tiefen
Hypnose mit „unmotivirten" Suggestionen — die Erläuterung zu diesem
Begriffe wird unten gegeben werden — verwerfen auch wir aus ethischen
Gründen.
In forensischer Beziehung ist die Hypnose in den letzten Jabreti
vielfach Gegenstand einer eifrigen Discussion geworden. Wir erinnern
an die verschiedenen sensationellen Processe, die Veranlassung gegeben
haben, die Frage der criminellen Suggestionen einer näheren Betrachtung
zu unterziehen. Das Resultat des bekannten Processes Czynski war.
dass die Frage des hypnotischen Verbrechens verneint wurde, überein-
stimmend mit den Gutachten von Hirsch und Fuchs, denen sich
Grossmann "-^) in einer ausführlichen Schrift anschliesst, während
Grashey, von Schrenck-Notzing und Preyer die Frage in
bejahendem Sinne beurtheilton. Ein Seitenstück zu diesem Processe
bildet der Process Berchthold, in dem vonSchrenck-Notzing'*)die
Frage der Beziehung der Suggestion zur Erinnerung aufrollte, um die
Glaubwürdigkeit der Zeugen kritisch zu beleuchten.
Einen merkwürdigen Fall von Fascination hat Preyer '*) veröffent-
licht, ohne jedoch den zwingenden Nachweis zu erbringen, dass die
Suggestion das bewegende Motiv zu der seltsamen Handlungsweise der
Frau Ellida von Porta gewesen sei. v. V e 1 s e n '^'^) veröffentlicht einen
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 323
Fall von Lethargie in Folge verbrecherischen Hypnotisirens ; ferner
einen zweiten Fall, in dem in Folge fehlerhaften Hypnotisirens Hysterie
ausgelöst wurde : beide wurden übrigens wiederum durch Hjrpnose ge-
heilt. Stadelmann ^^) knüpft einige Bemerkungen an den Tod der
Ellia von Salamon und erörtert die Frage, ob durch die blosse Vor-
stellung der Tod hervorgerufen werden könne; diese Möglichkeit dürfte
ebenso nahe liegen, wie die Frage, ob durch die blosse Vorstellung
der Tod aufgehoben oder vermieden werden könne. Verfasser selbst
hat Gelegenheit gehabt, in einem forensischen Gutachten der Frage der
criminellen Hypnose näher zu treten. Wir sind der Ueberzeugung,
<la8s man in solchen Situationen sehr schari' unterscheiden müsse
zvrischen der eigentlichen Hypnose s. str. und der hysterischen Auto-
hypnose. Vielleicht in den meisten einschlägigen Fällen dürfte es sich
um den letzteren Zustand handeln, so dass der forensische Nachweis
der Schuld des Angeklagten nicht geführt werden kann, es sei denn.
dass der Hypnotisirende von dem hysterischen Oharacter der betreffenden
Person Eenntniss erlangt hätte und seine verbrecherischen Absichten
auf die Ausnützung dieses Umstandes gründete.
Eine andere, mehr physiologische Gefahr der H}'pnose hat Gley '')
bei dem Studium von Thierhypnosen entdeckt. Er fand bei der
Hypnose von jungen Fröschen Verlangsamung des Pulses, ja sogar
Stillstand der Athmung und der Herzthätigkeit bis zum Tode ; und er
knüpft an diese Versuche die Warnung, junge Kinder zu hypnotisiren,
da bei ihnen die gleichen Erscheinungen auftreten könnten. Es ist
uns räthselhaft, wie diese seltsamen Resultate zu Stande gekommen
sind; wir gestehen, eine Hypnose von Fröschen noch nie gesehen oder
auch nur für möglich gehalten zu haben. Wie dem auch sein mag, so
ist sicherlich die Hypnose der Thiere, die ja vielfach beschrieben
worden ist, ein Zustand, der dem der menschlichen H3rpnose nicht
ohne Weiteres analog gesetzt werden darf, da er auf gänzlich anderem
Wege hervorgerufen wird und andere Erscheinungen aufweist.
Dass es heute noch Professoren der Theologie giebt, die die Hypnose
verwerfen, kann nicht wunder nehmen. Dass die Verblendung dieser
Gegner aber so weit geht, ohne Kenntniss der Wissenschaft die Be-
hauptung in die Welt zu setzen, dass die Besessenheit nichts weiter
sei als eine diabolische Hypnose, dass der Hypnotismus ein moralisches
Gift sei und eine Schädigung der Menschen an Leib und Seele hervor-
bringe etc., soUte man kaum glauben, wenn nicht S c h ü t z ^^) und H a a s '^)
mit schwer verständlichem Eifer dafür Sorge getragen hätten, dass diese
21»
3S4 l^eo Hinohlmff.
Anschauungen der Nachwelt nicht vorenthalten bleiben. Auch Bene-
dikte^), der bekannte ,,Neuropathologe" ergeht sich in eigötzlichan
Schmähungen des Hypnotismus. E!r erklärt die Hypnose als dne
Gehirnstarre und behauptet, dass an die Stelle dieses gemeinschädlichen
und unwürdigen Verfahrens — risum teneatis amici — die Behandliuig
mit dem Magneten gesetzt werden müsse.
Nach dieser Ezcursion in das Gebiet des Spasshaften kehren wir
zu den ernsten Forschern und Forschungen zurück. Die Frage
der criminellen Suggestionen, die, wie wir soeben gesehen haben, nicht
selten zum Ausgangspunkte von Angriffen gegen die therapeutische An-
wendung der Hypnose gemacht wird, ist von Li^beault^^) mit Kück-
sieht auf die früheren, negativen Versuche Delboenf's einer emeaten,
experimentellen Untersuchung unterworfen worden. Liöbeault kommt
zu dem Schlüsse, dass criminelle Suggestionen prindpiell sehr wohl
möglich sind, aber nur unter gewissen exceptionellen Bedingungen ; und
zwar 1) nur bei Somnambulen; 2) nur bei einem Theile der Sonmam-
bulen; 3) nur wenn die betreffenden Versuchspersonen von der iq
gebenden Suggestion ahnungslos überrascht werden, so dass sie ksine
Gelegenheit haben, im wachen Zustande einen Widerstand dagegen
auszubilden. Diese Bedingungen, die Liebeault nur für die Beali-
sirung crimineUer Suggestionen aufstellt, haben wir sogar in allgemei-
nerem Sinne bestätigt gefunden. Wenn man einer Versuchsperson, mit
der man in der Somnambulie experimentiren will, vorher sagt, welche
Experimente man mit ihr machen wolle, so misslingen sie stets, sobald
die Versuchsperson sich aus irgend welchen Gründen vorsetzt, dagegen
Widerstand zu leisten. Entgegen der Behauptung also, dass die sonder-
baren Erscheinungen der Somnambulhypnose nur auf der Dressur der
Individuen beruhen, liegen die Verhältnisse vielmehr häufig umgekehrt
Die nichtsahnende Versuchsperson, mit der man zum ersten Male ex-
perimentirt, realisirt alle, noch so unsinnigen Suggestionen. Die
dressirte Versuchsperson dagegen realisirt — es sei denn absichÜich.
um dem' Hypnotiseur einen Gefallen zu thun — keine unsinnigen Sug-
gestionen, von der sie vorher Eenntniss erlangt hat, auf die sie vor-
bereitet ist. Zu einem ähnUchen Resultate, wie LiSbeault, ist auch
Durand de Gros gekommen, der die Frage der Möglichkeit von
Verbrechen in der Hypnose ebenfalls bejaht. Der Hervorrufung falscher
Zeugenaussagen durch Suggestionen, wie sie im Processe Berchthold vod
von Schrenck-Notzing behauptet worden ist, ist B6rillon®*) ex-
perimentell nähergetreten. Er fand, dass es bei Erwachsenen in 80%
Kritische Bemerkangen über d. gegenwärt. Stand, d. Lehre t. HypnotismaB. 3S6
der Fälle gelingt, durch blosse Wachsuggestion ErinneruDgstäuschungen
hervorzurufen.
Dieser Erörterung über die Frage der criminellen Suggestionen
mögen einige kritische Bemerkungen folgen, die sich auf einige in der
neueren Literatur berichtete Wirkungen der Suggestirtherapie beziehen
und die uns zu der Frage nach der Erklärung der durch Suggestion
hervorgerufenen Erscheinungen, sowie zu einer schärferen Fassung des
Begriffes der Suggestion überleiten sollen. Zuvor jedoch wollen wir
uns einer Pflicht der Objectivität entledigen, indem wir noch eines selt-
samen Gegners der Suggestivtherapie gedenken. T h i 1 o ^^ behauptet in
der Monatsschrift für Unfallheilkunde 1897, dass die Gelenkschmerzen
der Hysterischen nicht auf psychogenem Wege entstehen, sondern sich
aus denselben Ursachen entwickeln, wie bei anderen Sterblichen auch.
Auf Grund dieser Thatsache, die übrigens noch niemals ernsthaft be-
stritten worden ist, behandelt Thilo hysterische Contracturen mit
Gyps- und Schienenverbänden, passiven Bewegungen etc.; und er ist
naiy genug zu behaupten, dass dabei jede Suggestion ausgeschlossen sei.
Aber seine souveräne Verachtung der Suggestion hat doch wenigstens
eine Grenze. Wenn nämlich die von ihm behandelten Patienten ge-
bessert aus der Behandlung entlassen sind, so stellt ihnen Thilo Rück-
fälle in sichere Aussicht, falls sie nicht ein Jahr lang in seiner Anstalt
mit Massage, Heilgymnastik und Bädern weiter bebandelt werden.
Vielleicht findet dieser Gebrauch der Suggestion bei einer vorurtheils-
loseren Nachwelt die gebührende Anerkennung.
Es dient sicherlich nicht zum Fortschritte der hypnotischen Wissen-
schaft und zur Förderung ihrer Anerkennung in weiteren, wissenschaft-
lichen Kreisen, wenn die Erfolge der hypnotischen Behandlung von
Seiten einiger Autoren gar zu unkritisch publicirt werden. So veröffent-
licht Stadelmann ^^) 87 sehr ausführliche Krankengeschichten mit allen
nothwendigen Suggestionen, die jedoch an einem schwerwiegenden Fehler
laborisiren : nämlich dass die hinzugefügten Diagnosen von Magenkrank-
heiten, Epilepsie etc. rein willkürlich und unwissenschaftlich sind, da
man schon aus der Leetüre der Fälle den Eindruck gewinnt, dass es
sich um hysterische Zustände handelt. Noch verfehlter scheint es uns,
Fälle von Eczema, Furunkulosis, Urticaria, ulcerirendem Mammacarcinom
o« 8. w. zu veröffentlichen, die durch hypnotische Behandlung gebessert
oder gar geheilt sein sollen. Ohne den thatsächlichen Erfolg der
hypnotischen Behandlung anzweifeln zu wollen, was uns gänzlich ferne
liegt, müssen wir doch gestehen, dass derartige Veröffentlichungen so-
326 ^o Hirsohlafif.
lange nur den Zweck haben, die allgemeine Meinung über die Leistungen
der Hypnose zu verwirren, solange wir nicht dahin streben, die eigent-
liche causa efficiens dieser therapeutischen Einwirkung ausfindig zu
. machen. Denn dass die Suggestion als solche auf directem Wege im
Stande sein sollte, eine bestehende Hautkrankheit zu beseitigen, kann
man nur annehmen, wenn man sich jeden Restes wissenschaftliclieu
Denkens entledigt hat. Und doch stehen derartige Veröffentlichungen
von Seiten anerkannter und hervorragender Vertreter des Hypnotismus
nicht vereinzelt da. So beschreibt Delboeuf **), dem allerdings seine
Eigenschaft als Laie zur Entschuldigung dient, die Heilung einer seit
11 Jahren bestehenden Elinderlähmung durch Suggestion in 1 Monat.
Wir fragen; worauf gründet sich die Diagnose „Ejnderlähmung^ in
diesem Falle; und ist die Heilung in der Weise zu verstehen, dass die
urspiünglich von der Lähmung befallenen Muskeln durch die Behand-
lung wieder functionsfahig geworden sind? In einem anderen Falle will
Delboeuf***) die Heilung einer 8 Jahre lang bestehenden Arthritis de-
formans in einer einzigen Sitzung erreicht haben. Wir fragen wiederum :
was versteht Delboeuf in diesem Falle unter „Heilung"? Ebenso
unverständlich sind uns die Erfolge, die Bon jour®') veröffentlicht hat,
um den Einffuss der Psyche auf den Körper zu zeigen. Es gelang ihm
nämlich, Warzen nach einer einmaligen Suggestion im Wachzustande
in einem Zeiträume von 5 Tagen bei 4 Monaten zu heilen. Das Ver-
trauen Bonjour's in diese wunderbare Wirkung seiner Wach-
suggestionen ist um so erstaunlicher, als er seiner Publication eine
Bemerkung hinzufügt, die nach unserer, unten ausführlicher zu erläutern-
den Auffassung recht wohl geeignet sein könnte, auf den wahren, ur-
sächlichen Zusammenhang dieser Ereignisse Licht zu werfen. Er giebt
nämlich an, dass die Heilung bei denjenigen Personen später zu Stande
komme, die nach der Sitzung mit dem Kratzen und Schneiden der
Warzen fortfahren. Anstatt aber aus dieser Beobachtung den Schluss
zu ziehen, dass die Wachsuggestion bei den geheilten Personen zunächst
keinen anderen Effect gehabt habe, als sie zum Aufhören des fort-
währenden Misshandelns der Warzen zu bestinmien, und dass dadurch
allein schon das spontane Abfallen der Warzen beduigt sein könnte,
kommt Bonjour zu dem erheiternden Resultate, dass die Warzen
öfters durch einen nervösen oder psychischen als durch einen physischen
Reiz gebildet würden. Auch B6rillon*®), dessen Verdienste um die
Ausbreitung der Lehre vom Hypnotismus gewiss jeder anerkennen wird,
hat es sich nicht versagen können, einen Fall von Sykosis zu veröffent-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. HypnotismuB. 327
liehen, der 9 Monate ohne Erfolg von Dermatologen behandelt und
Bodann durch das zweimalige Gebet einer alten Frau geheilt wurde.
Als ob der Begriff der Spontanheilung gänzlich verloren gegangen
-wäre! Der grösste Ruhm in dieser Beziehung gebührt jedoch Luys,
dessen Phantasie schon so viele wunderliche Blüthen gezeitigt hat.
Dieser Forscher stellte in der Sitzung der Soci6t6 de Biologie vom
81. August 1894 einen 28 jährigen Koch mit hysterischen Anfallen vor,
-dem vor 5 Jahren der kleine Finger der rechten Hand exarticulirt
urorden war. Nichtsdestoweniger fühlte der Patient in der Hypnose
Schmerzen, wenn man die Stelle, die dem amputirten Gliede entsprach,
stach oder kneipte, imd gab jedes Mal richtig den Schmerz an. Er
bekam auch in Folge dessen — horribile dictu — ein Erythem sowie
eine Lymphangitis an dem betreffenden Vorderarme.
Diese Blüthenlese, die sich leicht um ein Bedeutendes vermehren
Hesse, dürfte indessen bescheidenen Ansprüchen genügen. Solange
derartige Anschauungen und „Erfolge^' von hervorragenden Vertretern
des Faches veröffentlicht werden, können wir es keinem ernsthaften
und wissenschaftlich denkenden Forscher verargen, wenn er sich der
Iiehre vom Hypnotismus gegenüber ablehnend verhält. Hoffentlich er-
leben wir bald die Zeit, wo die publicirten Heilerfolge der Hypno-
iherapie sich auf exact begründete Diagnosen stützen und wo man sich
nicht mehr damit begnügt, die wunderbarsten Erfolge zu berichten,
sondern sich die Frage nach einer wissenschaftlichen Erklärung ihres
Zustandekommens vorlegt. Bisher liegen in dieser Beziehung nur einige
unvollkommene Andeutungen vor, die wir an dieser Stelle einer aus-
führlicheren Erörterung unterziehen müssen, da sie den Ansatz zu einem
Fortschritte der hypnotischen Wissenschaft enthalten. Als missglückt
zu betrachten sind in dieser Beziehung leider die Versuche von Lieber-
meister^*) und Ziehen ^^), die in den modernen Handbüchern der
Therapie von Penzoldt-Stintzing und von Eulenburg-Samuel
die Darstellung der Hypno- und Psychotherapie übernommen haben.
Zur Characteristik dieser Darstellungen seien wenige Worte gestattet,
liiebermeister theilt in dem Werke von Pentzold und Stintzing
die zu verwendenden Suggestionen ein in 1) directe; 2) indirecto;
3) conträre; 4) unbestimmte Suggestionen. Wenn man schon geneigt
aein wird, über die dritte Gruppe der conträren Suggestionen den Kopf
2U schütteln, bei der man den Patienten das Qegentheil von dem be-
fehlen soll, was man zu erreichen wünscht, so erscheint doch die vierte
Gruppe der unbestimmten Suggestionen in einem noch merkwürdigeren
8S8 I^M> Hixvchlaff.
liebte. Diese anbestimmten Suggestionen werden nämlich von Lieber-
meister selbst dahin definirt, dass bei ihnen weder Arzt noch Patient
wisse, was bezweckt wird. Bei diesem Yerüahren dürften wohl anch,
nm nicht aus dem Bahmen der ganzen Therapie heranszaÜBdlen, die
Erfolge yyUnbestimmt'' sein ; und es kann daher nicht wunder nehmeii,
wenn Liebermeister die Behauptung aufstellt: es sei leichter^ durch
Hypnose einen gesunden Menschen hysterisch zu machen, als eine
Hysterie dauernd zur Heilung zu bringen. Viel werthvoUer ist dem-
gegenüber die Psychotherapie Ziehen's, die in dem Lehrbuche der
allgemeinen Therapie von Eulenburg und Samuel erschienen iaL
Besonders die Definition der Suggestion, die Ziehen in dieser Arbeit
giebty wird uns später noch zu beschäftigen haben. Auffallend ist
jedoch, dass Ziehen die Wirkung der Psychotherapie auf die soge-
nannten functionellen Veränderungen beschränkt, trotzdem in der Lite-
ratur zu Hunderten von Malen Heilerfolge von organischen Eriurankungen
Teröffentlicht sind. Es dürfte zwecklos sein, diese Erfolge einfach
wegzuleugnen, oder sie, wie Z i e h e n es thut, „einem unkritischen üeber-
eifer*' zur Last zu legen. Vielmehr ist die Aufgabe, die uns daraus
erwächst, nach der wirksamen Ursache dieser Erfolge zu fahnden.
Einen Schritt zur Lösung dieser Frage, von der die wissensdiaft-
liche Zukunft der Lehre Tom Hypnotismus abhängig ist, haben die
folgenden Arbeiten gethan, die wir nunmehr besprechen wollen. Zu-
nächst hat Brügelmann*^) eine sehr einfache, experimentelle Lösung
fär das Problem der Telepathie gefunden, das schon seit längerer Zeit
die Wissenschaft beunruhigt hatte. Er hat nämlich den Nachweis
geführt, dass die telepathischen Hallucinationen der Somnambolen, die
er untersuchte, in sämmtlichen Fällen falsch waren. Dieses Besultat
bestätigt den alten Satz, dass es leicht ist, zu prophezeien, wenn das
fiintreffen der Prophezeiung nicht controllirt wird. Mit dem Problem der
Gedankenübertragung haben sich Hansen und Lehmann**) kritiBch-
experimentell beschäftigt. Sie wiesen nach, dass eine deutliche Flüst6^
spräche möglich sei bei völlig geschlossenem Munde und minimalen,
fast unsichtbaren äusseren Bewegungen. Die hypnotische Hyperacous
wurde in geistreicher Weise durch die Verwendung zweier Hohlspiegel
nachgeahmt. Sie fanden bei ihren Experimenten, dass durch dieses
Flüstern eine „Gedankenübertragung'^ zu Stande konmie, die in 76%
der Fälle zu richtigen Ergebnissen führte. Den werthTollsten Beitrag
zur Kritik der hypnotischen Phänomene jedoch hat von Schrenck-
Notzing**) geleistet, in seinem Beitrag zur Frage der suggestiven Hei^
Kritische Bemerkongen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismui. 329
▼ormfong circumscripter vasomotorischer VerändemDgen auf der äusseren
Haut. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes ist eine ausführliche
Besprechung am Platze. Bei dem nicht hysterischen Dienstmädchen
eines Arztes, welches nur eine geringe vasomotorische Uebererregbarkeit
der Haut zeigte, wurde durch Suggestion das Phänomen der Vesication,
die Hervorrufung einer Wasserblase an einer vorher bezeichneten Stelle
beobachtet. Dm den Versuch wissenschaftlich exacter zu gestalten,
wurde das Mädchen einem Gollegium von 12 Aerzten und Professoren
der Medicin zur Beobachtung übergeben und in Gegenwart derselben
das Experiment mit der Vorsichtsmaassregel wiederholt, dass über die
bezeichnete Stelle ein sorgfaltiger, versiegelter Verband gelegt wurde.
Bei der nach 24 Stunden erfolgten Abnahme des Verbandes wurde
an der bezeichneten Stelle eine circumscripte Röthung mit mehrfachen
kleinen Bläschen, ein Erythema buUosum, constatirt. Nun wurden,
zumal sich der Verband an einigen Stellen einer Verletzung verdächtig
erwies, noch schärfere Cautelen eingeführt, indem der Arm, an dem
die Vesication beobachtet werden sollte, eingegypst und eine ständige,
Tag und Nacht andauernde Ueberwachung der Versuchsperson durch-
geführt wurde. Bei der Entfernung des Verbandes fand sich eine
circumscripte Hautröthung ohne Blasenbildung, jedoch nicht an der
Dorsalseite des Vorderarms, wo es suggerirt worden war, sondern an
der Volarseite des Armes, die durch den Gypsverband minder sorg-
flUtig geschützt war. Zugleich wurde eine Perforation des Verbandes
durch eine Haarnadel gefunden, die trotz der andauernden Ueber-
wachung unbemerkt geblieben war. Endlich wurde beobachtet, dass
noch nach der Abnahme des Verbandes ein häufigeres Beiben der
gerötheten Stelle stattfand, um dieselbe möglichst lange zu erhalten.
Dieses Ergebniss veranlasste zu einem letzten Experiment, in dem alle
erdenklichen Vorsichtsmaassregeln getro£fen wurden: es wurden beide
Arme eingegypst und immobilisirt, femer die Versuchsperson Tag und
Nacht von Medicinern beobachtet und nicht aus den Augen gelassen.
Das Resultat war nunmehr ein völlig negatives: weder Blasenbildung
noch Hautröthung war durch die Suggestion hervorgerufen worden.
T. Schrenck-Notzing zieht aus diesen interessanten Experimenten
den Schluss, dass die Behauptung suggestiv erzeugter Vesication nicht
erwiesen sei und in das Keich der Uebertreibung gehöre. Wie wir
meinen, mit Unrecht. Wir glauben vielmehr, dass aus dieser werth-
ToUen Reihe von Experimenten, deren Erfolg in umgekehrter Proportion
%a den aufgewandten Controllmaassregeln stand, ganz andere und
330 I^eo üirsehlaff.
bedeutsamere Schlüsse gezogen werden müssen. Wir halten es for
-verfehlt, angesichts dieser Ebcperimente in den Ruf derer eingostimman,
die in jeder ungewöhnlichen Erscheinung, die nicht ohne Weitere! in
den Rahmen der naturwissenschaftlichen Formeln hineinpasst^ Betrog
oder Simulation wittern. Vielmehr können wir nicht umhin, das Re-
sultat des ersten Eixperimentes, bei dem von einem wissenschafUichflB
Beobachter eine Vesication nach suggestiver Beeinflussung geseha
wurde, für ebenso wahr und unumstösslich zu halten, wie das negative
Ergebniss des letzten Versuches. Das Problem liegt für uns vielmehr
in der Erklärung des Zustandekommens dieser Resultate. Dass die
directe Suggestion als solche nicht im Stande ist, das Phänomen der
Vesication zu erzeugen, ist durch den Ausfall des letzten Experimentes
klar und eindeutig bewiesen. Woher kommt es aber, dass bei geringerer
Beaufsichtigung das Phänomen entsprechend der Suggestion dennoch
ganz oder theilweise zu Stande kam? Die Annahme einer blosseD
Simulation scheint mir zu diesem Behufe unmotivirt und unfruchtbar;
obwohl es keinem Zweifel unterliegen kann, dass die Blasenbildung
durch eine willkürliche Mithülfe der Versuchsperson zu Stande gekonmieip
ist. Aber das Lehrreiche daran ist die Thatsache, dass die Versuchs-
person in Folge der Suggestion sich veranlasst sah, alle ihre Elräfte in
den Dienst der Ausführung des aufgetragenen Befehles zu stellen. Sie
hatte, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, augenscheinlich selbst eiii
Interesse daran, dem Wunsche des Hypnotiseurs auf irgend eine Weise
nachzukommen, und ihre Bemühungen waren in der That von Erfolg
gekrönt, solange sie nicht gehindert wurde, mit allen ihr zur Verfügung
stehenden Mitteln zu arbeiten. In dieser Thatsache können wir keines-
wegs den Versuch einer Täuschung erblicken: wir halten vielmehr für
wesentlich, dass die hypnotisirte Person auf irgend einem Wege bestrebt
ist, dem erhaltenen Befehle nachzukommen. Hierin scheint uns zugleich
eine Wurzel für die £h*klärung vieler aussergewöhnlicher Erscheinungen
der hypnotischen Phänomenologie gegeben zu sein : die in der Hypnose
gegebenen Suggestionen realisiren sich nicht immer direct gleichsam
psycho-physiologisch, indem sie eine directe Veränderung im Nerven-
system hervorbringen, sondern häufig auf einem indirecten Umwege,
indem sich der Hypnotisirte bemüht, der erhaltenen Suggestion in irgend
einer, mehr minder willkürlichen Weise gerecht zu werden. Für diese
Erklärung der Wirkungsweise mancher Suggestionen sprechen vielerlei
Thatsachen. Giebt man z. B. einem H}7)notisirten die Suggestion, seine
Herzthätigkeit werde sich beschleunigen, so realisirt sich diese Sog-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 331
gestion in der Weise, dass — sei es aus Angst, sei es willkürlich, in
dem Wunsche, dem Befehle des Hypnotisetirs nachzukommen, — die
Frequenz der Athmung sich vermehrt und in Folge dessen secundär
die Herzthätigkeit thatsächlich beschleunigt wird« Aehnlich verhält es
sich mit der suggestiven Behandlung der Obstipation. Fast stets ist
diese Erkrankung zurückzufuhren auf eine Vernachlässigung der hygie-
nischen Lebensgewohnheiteu. Begiebt sich nun der Kranke, der an
diesem Uebel leidet, in hypnotische Behandlung, so wird der geschickte
Hypnotiseur ihm das Eintreten des Stuhlganges zu einer Zeit suggeriren,
wo derselbe physiologisch am leichtesten erfolgt, also Morgens bald
nach dem Aufstehen, oder eine Stunde nach der Mahlzeit. Was ge-
schieht nun? Während der Kranke früher den leisen Mahnungen seines
Verdauungssystemes keine Beachtung geschenkt und sich eben dadurch
die Obstipation zugezogen hatte, achtet er jetzt, sei es aus Neugier, sei
es in Folge der erhaltenen Suggestion, eifrig auf das geringste An-
zeichen, das ihm die Neigung, zu Stuhle zu gehen, verräth. Ist der
Stuhlgang für 8 Uhr Morgens suggerirt, so wird er etwa schon um
V,8 Uhr sich innerlich sagen: „ich bin doch neugierig, ob die Sache
eintreffen wird" ; die leisesten Bewegungen der Därme, denen er früher
keine Beachtung geschenkt hat, widmet er jetzt die gespannteste Auf-
merksamkeit, und siehe da: es gelingt ihm, vielleicht mit geringer
willkürlicher Ni^hhülfe, die erhaltene Suggestion zu realisiren. Natürlich
kann sich der psychologische Vorgang in einem solchen Falle auch
anders abspielen. Statt der Neugier oder der aufmerksamen Erwartungs-
spaonung kann ein affectives Moment, etwa eine gewisse Aengstlichkeit,
durch das Eintreten des Stuhlganges bei einer unpassenden Gelegenheit
überrascht oder gestört zu werden, den gleichen Endeffect hervorrufen.
Auf demselben Wege denken wir ims auch, wie schon oben angedeutet,
das Zustandekommen der von Stadelmann, Bonjour, BSrillon
u. A. berichteten Heilerfolge bei Warzen und anderen Hauterkrankungen.
Es ist zweifellos, dass bei vielen Hautkrankheiten das fortwährende
Betasten, Reiben, Kratzen der erkrankten Stellen eine Hartnäckigkeit
des Processes bedingt, die an und für sich nicht in dem Character der
Krankheit begründet sein mag. Wird nun durch die Suggestion er-
reicht, dass diese Schädigungen fortfallen, so kann vielleicht schon
dadurch oft die natürliche Neigung der Krankheiten zur Spontanheilung
snm Ausdruck gelangen. Noch viele andere Erscheinungen in der
Hypnose fügen sich diesem Erklärungsprincip. So haben wir schon
früher angedeutet, dass wir in den Krafft-E hing' sehen Experimentey
332 ^^o HincUaff.
über die Verwandlung der Persönlichkeit nichts weiter als eine geschickte
Komödie erblicken können, deren Veranlassung freilich nicht die Neigung
zur Simulation, sondern nur das Bestreben ist, die eriudtenen Sug-
gestionen 80 gut wie möglich auszuführen. Am deutlichsten aber er-
hellt dieses Bestreben vielleicht aus dem Studium der hypnotischen
Eixperimente, die an Kindern von B^rillon, Bramwell u. A. aor
gestellt wordeo sind. B^rillon*^), auf dessen werthvolle Arbeiten wir
in einem der folgenden Kapitel näher eingehen werden, giebt zur Fest-
stellung der Suggestibilität der Ejnder folgendes Experiment an: Er
bittet das zu untersuchende Kind, mit gespannter Aufmerksamkeit
einen Stuhl anzublicken, der in einer gewissen Entfernung in der £d:e
des Zimmers aufgestellt ist. Sodann giebt er folgende Suggestion:
„Sieh aufmerksam diesen Stuhl an; du wirst, trotz deines Wieder-
strebens, das unwiderstehliche Bedürfniss fühlen, dich dorthin zu setzen.
Du wirst gezwungen sein, meinem Befehle zu gehorchen ^ weichet
Hindemiss sich auch seiner Verwirklichung entgegenstellen mag.^' Die
meisten Kinder führen in der That diesen Befehl aus und werden dann
fiir leicht hypnotisirbar erklärt: auch in der Hypnose gelingt es bei
ihnen leicht, ähnliche Suggestionen zu realisiren; sie legen auf Wunsch
des Hypnotiseurs krankhafte Neigungen und Ungezogenheiten, wie
Nägelknabbern, Onaniren, Furchtsamkeit, die Sucht zu lügen und zn
stehlen etc. ab und werden artig und brav. In diesem Resultate, das
gewiss von allen Seiten dankbar anerkannt werden wird, können wir
trotzdem keine eigentliche Suggestivtherapie im engeren Sinne des
Wortes erblicken. Es handelt sich nach unserer Auffassung um einen
Act des Gehorsams und der Belehrung : die Kinder fügen sich — je
intelligenter sie sind, um so leichter — den mit Milde und Ernst ge-
gebenen Ermahnungen, zumal wenn sie von der ungewohnten und in
ihrer Vorstellung höheren Autorität des Arztes ausgehen. Es handelt
sich also, um den Kern der Sache zu treffen, nicht um einen hypnotisch-
suggestiven Vorgang im engeren Sinne, sondern um ein psycho-thera-
j)eutisches Verfahren, das sich auf dieselben Factoren gründet, die in
der Pädagogik allgemein wirksam gefunden werden.
Es wäre ein Leichtes, die Beispiele, die für die von uns gegebene
Erklärung mancher hypnotischen Erscheinungen und Erfolge sprechen,
beträchtlich zu vermehren. Wir hoffen jedoch, schon durch das An-
geführte den Nachweis erbracht zu haben, dass nicht selten die in der
Hypnose oder im wachen Zustande gegebene Suggestion nicht direct
wirkt, sondern vielmehr auf indirectem Wege, indem sie die Neigung
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 333
der Person wachruft, dem erhaltenen Befehle willkürlich nachzukommen.
Wir betonen ausdrücklich, dass dieses Erklärungsprincip zunächst nur
für eine, allerdings ziemlich grosse Reihe von Erscheinungen gilt, ohne
dass wir den Versuch machen wollen, alle hypnotischen Phänomene
darauf zurückzufuhren. Es wird gewiss manche voreilige Gegner des
Hypnotismus geben, die nach Kenntnissnahme dieser Erklärung zu dem
Terfehlten Ergebnisse kommen, dass die ganze Hypnose und die Suggestiv-
therapie doch nur Komödie und Schwindel seien. Dass hiesse jedoch,
das Kind mit dem Bade ausschütten. Wir sehen keine Veranlassung
ein, die thatsächlichen Erfolge der hypnotischen Behandlung zu leugnen
oder auch nur zu discreditiren, trotzdem wir bestrebt sind, sie auf
einem natürlicheren Wege zu erklären, als es bisher üblich war. Wenn
auch die Wirkung der Suggestion, die wir einem Hypnotisirten geben,
dass er zu einer angegebenen Zeit Stuhlgang haben werde, nicht so
vorgestellt werden darf, dass die psychophysiologische Erregung, die
das Aequivalent der erweckten Suggestivvorstellung ist, vom Hirn
direct in das Gedärm hinabrutscht — man nennt das dann eine vom
Grosshirn ausgehende centrifugale Bahnuog — und dort zur festge-
setzten 2ieit die gewünschte Wirkung hervorbringt, so bleibt doch das
Besultat der therapeutischen Einwirkung das gleiche; und wenn es
einmal nothwendig sein sollte, was ja freilich nicht der Fall sein wird,
zu irgend einem therapeutischen Zwecke eine Wasserblase auf der
Haut eines Kranken zu erzeugen, so darf es dem Arzt sehr gleich-
gütig sein, ob die blosse Suggestion diesen Effect hervorgebracht oder
ob der Kranke selbst willkürlich durch Reiben, Kratzen etc. ein wenig
nachgeholfen hat, um die Realisirung der Suggestion herbeizuführen.
Inwiefern das angegebene Erklärungsprincip geeignet ist, zu einer
schärferen Definition des Begriffes der Suggestion zu führen, werden
wir im theoretischen Theile ausführlicher erörtern. An dieser Stelle
sollen nur einige Hinweise hinzugefügt werden, die für die richtige
Auffassung des Folgenden nothwendig sind. Zunächst scheint uns aus
der obigen Darstellung hervorzugehen, dass der zwangsmässige Character,
der vielfach den Suggestionen als Characteristicum zugeschrieben wird,
in recht zahlreichen Fällen fehlt. Statt dessen werden die Suggestionen
häufig, sei es aus Gehorsam, aus Gefälligkeit oder in Folge der Ueber-
redang des Hypnotiseurs, mehr minder willkürlich ausgeführt. Einen
Beweis für diese Behauptung erblicken wir auch darin, dass in der
Hypnose nichts ausgeführt werden kann, was nicht unter Umständen
auch willkürlich ausgeführt werden könnte: für das motorische Gebiet
334 l'«o HirschlafT.
weDigstens ist diese Thatsache offensichtlich. Zugleich erklärt unsere
Auffassung noch eine andere Erscheinung, die bisher nicht genügend
in der Theorie der Suggestionslehre berücksichtigt worden ist: die
Erscheinung, dass nur diejenigen hypnotisirbar und snggeribel sind, mit
geringen Ausnahmen, die sich willkürlich dazu hergeben, die damit
einverstanden sind, die keinen äusseren oder inneren Widerstand da-
gegen leisten. Kein Wunder! Wenn die Suggestionen sich vielfach
auf dem Wege realisiren, dass die Versuchspersonen veranlasst werden,
willkürlich das auszuführen, was ihnen aufgetragen wird, ohne dass ein
eigentlicher Zwang dazu vorliegt so ist es klar, dass das nicht geschehen
wird, wenn die Versuchsperson aus irgend welchen Gründen es nicht
will. Der scheinbar zwangsmässige Character, der der Sealisirong der
Suggestionen dennoch manchmal anhaftet, kommt entweder dadurch
zu Stande, dass die Hypnotisirten sich über das eigentliche Motiv ihrer
Handlungen nicht klar sind, oder durch gewisse Angstvorstellnngen,
die in einer Zahl von Fällen mit>rirken, um die Realisirung der Sug-
gestion herbeizuführen.
Der Anschauung entsprechend, dass die Hysterie in enger Ver-
wandtschaft mit den Phänomenen der Hypnose stehe, wollen wir einige
kritische Bemerkungen zu der modernen Auffassung der Hysterie
machen, zu denen die Arbeiten der letzten vier Jahre Veranlassung
geben. Eine ausführlichere Zusammenstellung der gesammten Literatur
über Hysterie aus den Jahren 1896 und 1897 ist in dieser Zeitschrift
erschienen, auf die wir deshalb verweisen. Die Anregung zu einem
wesentlichen Fortschritte in der Lehre von der Hysterie verdanken wir
Freud und Breuer*^'*), die in ihren Arbeiten auf eine psychische
Aetiologie der Hysterie hinweisen, die durch Analyse im h^'pnotischen
Zustande erkannt worden war. Es handelt sich nach ihrer, durch aus-
führliche Krankengeschichten begründeten Auffassung, gewöhnlich um
ein infantiles sexuelles Trauma, dessen unbewusste Erinnerung später
die hysterischen Symptome hervorbringt. Gelingt es, den hierdurch
verursachten, „eingeklemmten" AÖect durch die Erhebung ins Bewusst-
sein gleichsam zu befreien und dann abzureagiren. so sei hiermit die Be-
•liiigiing zur Heilung des Zusbindes gegeben. Diese Auffassung enthält
nach unserer Meinung einen sehr werthvollen und richtigen Gesichts-
punkt, insofern, als hier zum ersten Male in einer Anzahl von Fällen
der J^aohweis erbracht wird, dass der Hysterie eine psychische Aetiologie
/u Grunde liegen kann: sie erscheint uns jedoch fehlerhaft, wenn die
Ergebnisse dieser immerhin beschränkten Beobachtungen auf die AU-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 335
gemeinheit der Fälle übertragen werden. In demselben Sinne hat
Stadelmann ^®) einige Fälle publicirt, in denen nicht ein sexuelles
Trauma, sondern irgend ein anderer beliebiger Affect die Hysterie
Terursacht hatte. Zugleich modificirt er die kathartische Methode, die
Freud und Breuer in dem Sinne einer affectiven Erinnerung und
einer associativen Correctur verwendet hatten, dahin, dass er (lir die
psychische ' Ursache der Erkrankung Amnesie suggerirt. Wir haben
▼on dieser Modification nie einen Erfolg gesehen. Auf eine andere
psychische Ursache, die der Hysterie zu Grunde liegen kann, macht
Sokolowski^*^ aufmerksam. Nach ihm ist die eigentliche Aetiologie
der Hysterie die psychische Degeneratioh des Individuums. Der Ent-
artete wird durch die Anfordeningen des Lebens auf die Minder-
werthigkeit seiner Geisteskräfte aufmerksam und ist bestrebt, seineu
Zustand durch Kranksein zu beschönigen. Es handelt sich also um
eine Krankheitsintention mit dem ausgesprocheneu Zwecke, über die
eigene psychische Schwäche durch fingirtes Kranksein sich zu trösten
und die Mitwelt zu täuschen. „Hysterie^, so definirt Sokolowski
auf Grund dieser Erwägungen, „ist Kranksein als Aequivalent des
psychischen Gleichgewichtes bei subjectiv empfundener Unzulänglichkeit
entarteter Individuen." Wir möchten jedoch auch diese Auffassung
nur für eine beschränkte Zahl von Fällen anerkennen, wie denn im
Grande genommen jeder Fall von Hysterie Besonderheiten in der
Aetiologie zeigen kann. So haben wir in einiger Uebereinstimmung
mit der soeben erörterten Definition in einer Beihe von Fällen gefunden.
dass die Hysterie dadurch zu Stande gekommen war, dass die Be-
treffenden nach zu hohen und an und für sich unerreichbaren Zielen.
sei es materieller, intellectueller oder ethischer Vollkommenheit strebten,
in diesem Streben scheiterten und nunmehr — halbwiUkürlich — hyste-
risch wurden, ohne dass eine besondere Entartung der Individuen als
Disposition zu Grunde lag. Doch möchten wir auch diese Beobachtung
nicht verallgemeinem. Auch der Selbstbeschädigungstrieb, den Boet-
tiger*') für das Characteristicum der Hysterie erklärt, kann in diesem
Sinne einmal ausnahmsweise zur Entstehung oder zur Fortdauer einer
Hysterie mit Veranlassung geben, wenngleich es uns unmöglich erscheint,
alle Symptome der Hysterie auf diese eine Wurzel zurückzuführen:
Sehr treffende Bemerkungen über den Geisteszustand der Hysterischen
macht Loewenfeld^®), indem er die Einseitigkeit der früher üblichen,
Oh arcot' sehen Anschauung rügt, wonach alle Hysterischen launen-
haft, bösartig, lügnerisch etc. sein sollen. Loewenfeld weist vielmehr.
336 ^«o Hinchlaff.
im Einklang mit seinen früheren Publicationen, darauf hin, daaa ein
nicht unbeträchtlicher Theil der Hysterischen überaus werthToUe,
liebenswürdige und schätzenswerthe Geistes- und Seeleneigenschaften
mit ihren hysterischen Beschwerden yerbindet. lieber die Erscheinimg
der hysterischen Sonmambulie. die von Loewenfeld,Brügelmann,
Döllken, Vogt n. A. beschrieben worden ist, sind schon oben einige
Bemerkungen gemacht worden. Der Unterschied zwischen Hysterie
und Hypnose bezw. Suggestiyphänomenen hat Veranlassung gegeben
zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen Leuch*^**) und ForeP**),
bei Grelegenheit einer Chorea- Epidemie in einer Schweizer Schule. L e u c k
erklärte den in einer Schule epidemisch im Anschluss an einen Fall
von echter Chorea auftretenden Tremor für ein hysterisches Phänomen,
während F o r e 1 die Suggestion dafür verantwortlich machen will. Der
Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen, der uns sogleich weiter
beschäftigen wird, wird von Forel dahin erklärt, dass unter Hysterie
eine pathologisch erhöhte Autosuggcstibilität zu verstehen sei, während
eine gewisse Suggestibilität im Bereiche des Normalen liege. D i d i e r ^^)
macht in einer Studie über die hypnotische Behandlung der Klepto-
manie darauf aufmerksam, dass Träume eine gewisse Bedeutung fir
die Entstehung hysterischer Symptome haben können, indem sie den
Impulsions-Ausgaogspunkt für den Wachzustand bilden. Diese be-
merkenswcrthe Beobachtung führt uns zu den interessanten Studien,
die Vog t *"^) kürzlich über die Aetiologie der Hysterie veröffentlicht hat.
Vogt macht hier den Versuch, einzelne hysterische Symptome durch
Analyse des gegenwärtigen Bewusstseinsinhaltes im Zustande des partieU
eingeengten, systematischen Wachseins auf eine psychische, intellectuelle
oder emotionelle Ursache zurückzuführen, deren Causalzusammenhang
mit der Erkrankung vorher unbewusst geblieben war. Mit dieser Auf-
fassung können wir uns im Allgemeinen einverstanden erklären, da wir
selbst häufig ti^elegenheit hatten zu beobachten, dass eine emotionell
wirksame Autosuggestion die jedesmalige Ursache für das Auftreten
oder Andauern irgend eines hysterischen Symptomes oder Zustandes
bildete. Im Einzelnen jedoch haben vnv gegen die Methode Vogt's
einige Bedenken. Es will uns scheinen, als wenn der Causalzusanmien-
hang, den Vogt durch die Psychoanalyse der Kranken im eingeengten
Wachbewusstsein ausfindig macht, nicht selten durch die Methode des
Ausfragens den Kranken suggerirt wird oder vielmehr, genauer aas-
gedrückt, dass die Kranken durch das Ausfragen und die damit sich
verbindenden eigenen Bemühungen, den Sachverhalt zu ergründen, ver-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt Stand d. Lehre y. Hypnotismos. 337
leitet werden, autosuggestiv CausalzusammenhäDge zu constmiren, die
objectiy nicht zutreffend sind. So werthyoll die Selbstbeobcchtung als
Methode der psychologisphen Forschung ist und wiewohl wir zugeben,
dass sie die einzige, grundlegende Methode ist, die zur Lösung der
]>8ychologischen Probleme führen kann, so müssen wir doch daran fest-
halten, dass die Selbstbeobachtung als solche principiell nur die That-
sachen des Seelenlebens, aber niemals den Gausalzasammenhang dieser
Thatsachen zu ergründen yermag. Wenn man also behauptet, dass
zwei seelische Thatsachen mit einander in ursächlicher Verbindung
stehen, so kann diese Behauptung niemals durch den Hinweis auf die
Ergebnisse der Selbstbeobachtung erwiesen werden, sondern entweder
experimentell oder dadurch, dass man einen inneren, logischen Zu-
sammenhang zwischen den beiden Erscheinungen nachweist. SoYiel an
dieser Stelle über die psychologische Experimentalmethode Vogt 's,
deren ausführlichere Kritik wir dem theoretischen Theile vorbehalten
müssen.
An den Schluss unserer Betrachtungen über die Hysterie möchten
wir einige Bemerkungen setzen, die den Gebrauch der Worte: hyste-
risch, functionell und suggestiv zu klären versuchen sollen. Es giebt
nach unserer Meinung zwei gebräuchliche Anwendungsarten des Be-
griffes: hysterisch. Die eine engere bezieht sich auf den bekannten
Symptomencomplex der Hysterie im eigentlichen Sinne, deren Cardinal-
zeichen Krämpfe, motorische Paresen oder Contracturen, tactile und
sensorische Anästhesien sind. Im weiteren Sinne des Wortes wird
jedoch alles dasjenige als hysterisch bezeichnet, was functionellen Ur-
sprungs ist, ohne Theilerscheinung einer Hysterie im engeren Sinne zu
sein: hierher gehören z. B. auch alle neurasthenischen Symptome, sei
es, dass sie vereinzelt oder zu einem KJrankheitsbilde vereinigt auf-
treten; femer viele Myoclonien, choreatische Erscheinungen, Tetanie,
alle nicht organisch bedingten Psychosen etc. Wenn man nun häufig
die Behauptung aufstellt, die hypnotischen Phänomene seien von hyste-
rischem Ursprung oder Gharacter, so trifft diese Behauptung zu, solange
man den weiteren Begriff des Hysterischen verwendet, wonach er mit
dem Begriffe des Fimctionellen identisch ist. Denn dass die Suggestiv-
erscheinungen ihrem Wesen nach fimctionelle Veränderungen des Nerven-
systems darstellen, darüber kann kein Zweifel walteü, obwohl damit
keineswegs gesagt ist, dass sie nicht in ihren Erfolgen sich auf orga-
nische Krankheiten erstrecken können, wie früher behauptet. Es wäre
aber verfehlt zu sagen, dass die Hypnose nichts weiter sei als eine
Zeitoehrift für Hypnotiamos etc. Vm. 22
338 L^o Hinchlaff.
künstlich provocirte Hysterie, weDn man unter Hysterie im engeren
Sinne das oben angedeutete, bekannte Krankheitsbild yersteht. Die
Definition F o r e 1' s , die wir oben erwähnten, erscheint uns nicht ge*
eignet, den Unterschied zwischen Hysterie und Hypnose zu markireD,
da im Grunde benommen auch alle Fremdsuggestionen erst in dem
Augenblicke wirTsam werden, wo sie sich im Bewusstsein der Personen
in Autosuggestionen umwandeln, sodass ein durchgreifender Wesens-
unterschied zwischen den wirksamen Fremdsuggestionen und den spon-
tanen Autosuggestionen nicht besteht oder doch wenigstens nicht m
einem Ausgangspunkte der Definition der Hysterie und Hypnose ge-
macht werden kann. Es genügt nach unserem Dafürhalten, danm
festzuhalten, dass die unter normalen Umständen vorhandene Suggesti-
bilität bei der Hysterie in irgend einer Form schon im Wachleben
pathologisch gesteigert ist.
Wir kommen zur Besprechung der Frage, inwiefern die hypno-
tistische Wissenschaft geeignet ist, die Pädagogik zu unterstützen und
zu fördern. Diese Frage wird von S o m m e r ^®^) in seiner Diagnostik der
Geisteskrankheiten a limine abgelehnt und als Utopie bezeichnet, während
Tyko Brunnberg^®*), Bourdon*®^ und vor Allem Bfirillon"*)
dem Hypnotismus eine grosse Bedeutung für die Pädagogik vindiciren.
B6rillon, der das Verdienst hat, diese Frage im Jahre 1886 auf
dem Nancy'er Congresse der französischen Gesellschaft für den Fort-
schritt der Wissenschaften angeregt und seitdem ununterbrochen in
zahlreichen Schriften und Vorträgen eifrig gefordert zu haben, glaubt,
dass mit Hülfe des Hypnotismus eine Art Orthopädie der Seele ge-
schaffen werden könne, die die Zukunft der Pädagogik darstelle. Nach-
dem er sich im Anfange darauf beschränkt hatte, die Hypnose als ein
werthvolles Ergänzungsmittel in der klinischen Pädagogik zu bezeichnen,
das bei lasterhaften und entarteten Kindem erst dann — und zwar
durch den Arzt — Anwendung finden sollte, wenn die Hülfsmittel der
normalen Pädagogik erschöpft seien : ist er im weiteren Verlaufe seiner
Arbeiten dahin gelangt, das Gebiet der hypnotischen Pädagogik immer
mehr zu erweitem und auch auf normale Kinder, sowie auf die Ent-
wickelung normaler psychischer Eigenschaften — unter Mitwirkung der
Lehrer — auszudehnen. Nicht nur die Fälle von Kleptomanie und
Onaiiismus, von Onychophagie und den Characterstörungen, die bei
Chorea, Hysterie und Epilepsie nicht selten beobachtet werden, femer
von Lügenhaftigkeit, übertriebener Aengstlichkeit etc. wurden in den
Bereich einer vom Arzte geleiteten, hypnotisch-suggestiven Behandlang
Krititche Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre y. HypnotiBmus. 339
gezogen, sondern es wnrde der Hoffnung Baum gegeben, dass es ge-
lingen werde, die Aufmerksamkeit und das Gedächtniss der Kinder
auf gleichem Wege zu vermehren, ihre natürlichen Fähigkeiten und
Anlagen zu wecken und auszubilden, die Intensität und Modalität der
Wahrnehmungen zu verändern, das Bewusstsein zu erleuchten und zu
kläreu, mit einem Worte, die intellectuellen und ethischen Anlagen der
Kinder zu entwickeln. Wir sind der Meinung, dass die Suggestion und
Hypnose in der Hand des sachverständigen Arztes ein überaus werth-
Tolles Hülfsmittel ist, um Krankheiten und krankhafte Neigungen der
Kinder, wie die oben aufgezählten, zu beseitigen, nachdem alle anderen
Bemühungen zu diesem Behufe fehlgeschlagen sind ; von solchen Fällen
Teröffentlicht B^rillon selbst eine grosse Zahl, in denen ein sehr
günstiger und dauernder Effect erzielt wurde. Die Hoffnung jedoch,
dass die Suggestivmethode jemals in der Hand des Lehrers geeignet
sein dürfte, bei der Entwickelung der normalen Anlagen der mensch-
lichen Seele berücksichtigt zu werden, können wir nicht theilen. Wir
wollen versuchen, diesen ablehnenden Standpunkt mit einigen Worten
zu begründen. Die Definition, die BSrillon von der Suggestion und
der Suggestibilität giebt, erscheint uns zu weit. Nach ihm ist die
Suggestibilität die Fähigkeit, eine empfangene Vorstellung in eine
Handlung umzusetzen, also diejenige Fähigkeit des Menschen, auf der
allein die Möglichkeit einer Erziehung und seelischen Entwickelung
beruht. Wie B6rillon den Grad dieser Suggestibilität experimentell
abmisst, ist bereits oben angeführt worden. Wir verstehen unter Sug-
gestion — unter Vorbehalt späterer theoretischer Erörterungen — nur
diejenige seelische Beeinflussung, die sich entweder gänzlich unmotivirt
oder auf Grund unlogischer Motive vollzieht. In der Fähigkeit, normal
motivirte Vorstellungen in Handlungen umzusetzen, erblicken wir da«
gegen nur einen Act d^ Gehorsams, der Ueberzeugungskraft , der
Belehrung, d. s. Factoren, die im wachen Zustande jederzeit auch ohne
Anwendung der Hypnose wirksam sind, und zwar um so wirksamer,
je intelligenter und ethisch gebildeter die Versuchspersonen sind, mit
denen man operirt. Wenn also B^rillon die Kinder hypnotisirt und
ihnen Suggestionen ertheilt, um sie intellectuell und ethisch zu fordern,
80 thut er im Grunde genommen nichts anderes, als was die Pädagogen
im Wachzustande betreiben, freilich in einer Form, die von der üblichen
stark abweicht. Aber diese hypnotische Form, in die er die Suggestiv-
wirkung einkleidet, ist überflüssig und schädlich. Man kann die gleichen
Wirkungen auch ohne sie erzielen ; ja, es widerspricht dem Wesen der
22*
840 Leo flirtohUffl
Pädagogik, zu derartigen Hiilfsmitteln ihre Zuflucht zu nehmen. Wenn
wir es recht erkennen, so hat die Pädagogik die Aufgabe, die Lehren,
die sie giebt, möglichst sachlich zu motiviren, indem sie den Kindern
die begründete Ueberzeuguiig beibringt, dass diese Lehren werthToUe
imd zweckmässige Ziele und Lebensregeln darstellen; zur Sri^oizang
darf höchstens das Motiv der persönlichen Autorität herangezogen
werden, je jünger die Kinder und je weniger sie im Stande sind, die
Gründe, die man ihnen yorführt, zu begreifen. Die Nothwendigkeit,
sich geistig zu entwickeln und ethisch zu handeln, darf aber unseres
Erachtens niemals eine von aussen her zwangsmässig aufgedrängte,
unmotivirte und mystische sein, wie es die Kinder in der Hypnose
empfinden : dass hiesse vielmehr, von vornherein auf den Gebrauch der
Beine verzichten und statt d.essen sein Leben lang auf Krücken za
wandeln, was zweifellos möglich, aber wohl keineswegs wünschenswerth
wäre. Wir meinen also: die Suggestionen, die B^rillon zur An-
wendung in der normalen Pädagogik empfiehlt, sind eigentlich gar keine
Suggestionen im strengeren Sinne des Wortes, wie ja auch in der
Therapie die unmotivirten Suggestionen möglicht eingeschränkt werden
müssen; es ist in Folge dessen unnöthig und schädlich, sie in eine
hypnotische Form zu kleiden, da sie im wachen Zustande ebenso gat
und dazu in ethisch werthvollerer Weise verwirklicht werden. Es in
ein Zeichen einer ungenügenden Fähigkeit in der Pädagogik, wenn es
dem Lehrer nicht gelingt, im wachen Zustande den etwaigen Wider-
stand des Kindes zu entwaffnen : die Aufgabe des Lehrers ist nicht^ die
Seele des Kindes nach Art einer passiven Phonographenwalze zu be-
schreiben, sondern die Activität der kindlichen Seele in die richtigen
Bahnen zu lenken. Dazu ist die h^-pnotische Suggestion ebenso wenig
im Stande, wie es mit Hülfe der Ruthe gelingt, ethische Vorstellungen
in die Seele des Kindes zu pflanzen. t
Zum Schlüsse unserer Betrachtungen über die practischen Port-
schritte auf dem Gebiete des H}^notismus möchten wir einen Vorschlag
hervorheben, der von verschiedenen Seiten gleichzeitig gemacht worden
ist, um die Wissenschaft vom Hypnotismus endlich zu der verdienten
Anerkennung zu bringen. 0 r o c q f i 1 s ^®®) hat in einem Berichte an den
Minister des Innern und des öffentlichen Unterrichts in Belgien die
Bitte ausgesprochen, den Hypnotismus in den akademischen Studien-
plan einzufügen. ForeP^^) hat die gleiche Nothwendigkeit erkannt und
betont ; auch T a t z e P* ^) führt die Thatsache, dass der Werth des thera-
peutischen Hypnotismus noch immer so wenig erkannt wird, mit Bedit
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärl Stand d. Lehre t. flypnotismns. 341
darauf zurück, dass selbst von denjenigen, die den Hypnotismus practisch
vertreten, theilweise zu wenig Mühe und Sorgfalt auf die Erlernung
dieses schwierigen Studiums verwendet wird: auch er fordert deshalb
eine akademische TJnterweisimg in dieser schwierigen, aber ausserordent-
lich werth vollen Disciplin. Wir können uns diesen Wünschen nur an-
schliessen. Wir würden es als einen grossen Fortschritt begrüssen,
wenn die an den Hochschulen lehrenden Mediciner und Psychologen
ihr Interesse auch diesem, gewiss nicht uninteressanten Theile der
Wissenschaft zuwendeten, wobei sicherlich vieles von dem verworfen
werden müsste, was heutzutage von unkritischer Seite behauptet und
verfochten wird, während auf der anderen Seite sicherlich auch vieles
dauernd Gute und Werthvolle bestehen bliebe, das der leidenden
Menschheit ebenso wie der Wissenschaft sich nutzbar erweisen könnte.
(Zweiter Theil folgt.)
Zur Kritik der psychogenetisclien Erforscliung der Hysterie.
Von
Oskar Togt«
In einem ersten Artikel ^) bin ich zu der Forderung gekonimeOi
die ästiologische Erforschung der Hysterie in der Weise in Angriff
zu nehmen, dass wir zunächt festzustellen suchen ; wie weit die hyste-
rischen Erscheinungen auf Gefühls- und Suggestionswirkungen zurück-
zuführen sind. Diese Forderung basirte auf der Behauptung, dass die
Selbstbeobachtung gewisser Kranken im Zustand eines geeignet einge-
engten Bewusstseins im Stande wäre, alle diejenigen intellectuellen Er-
scheinungen aufzudecken, die durch ihre Gefuhlsbetonung oder ihre
suggestive Wirkung gegenwärtige hysterische ELrscheinungen ausgelöst
hätten. Diese Behauptung hinwiederum suchte ich hauptsächlich durch
zwei Thatsachen meiner Erfahrung zu stützen. Die erste war die, dass
sich die hysterischen Phänomene, soweit sie durch Gefühle oder sug-
gestiv ausgelöst sind, bezüglich der Erkennbarkeit der entsprechenden
intellectuellen Substrate, resp. Zielvorstellungen nicht von den normalen
Erscheinungen gleichen Ursprungs unterscheiden. Die andere war die,
dass die hysterische Veranlagung, sowie einzelne hysterische Symptome
nicht jedes Individuum an einer exacten Selbstbeobachtung hindern.
Das also, was ich auf Grund meiner Erfahrung als richtig hinzustellen
mich für berechtigt glaubte, war die Thatsache, dass die hysterische
Erkrankung nicht einer Methode, die mir in der Normalpsychologie
so gute Dienste gethan hatte, ein unüberwindliches Hindemiss ent-
gegenstellte.
^) O. Vogt, Zur Methodik der ätiologlschea Erforschong der Hysterie. Diese
Ztschr., Bd. VIII, pag. 65 flf.
Zur Kritik der psychogenetisohen Erforschung der Hysterie. 343
Einen Punkt hatte ich in jenem ersten Artikel nicht berührt: die
Yerwerthbarkeit der fraglichen Methode in der Nonnalpsychologie.
Ich hatte mich eben darauf beschränkt, nachzuweisen, dass diese Yer-
werthbarkeit durch eine hysterische Erkrankung nicht Einbusse erlitt.
Wie weit aber überhaupt diese Methode im Stande ist, exacte Resultate
zu liefern, berührte ich nicht weiter. Die folgenden Zeilen sollen diese
Frage — natürlich immer unter specieller Berücksichtigung unseres be-
sonderen Zweckes — näher erörtern.
Schon der absolut nicht zu vereinfachende primäre Mechanismus
der Selbstbeobachtung, wie er uns bei der Feststellung einer Eigen-
schaft einer Bewusstseinserscheinung entgegentritt, ist ein complicirter.
Jede einzelne ihn zusammensetzende psychische Operation entbehrt
absoluter Exactheit und kann eventuell zu verhängnissvoUen Fehler-
quellen führen. Die Anforderungen nun, die wir an die Selbstbeobach-
tung zu stellen haben, sind aber noch complicirter. Wir wollen nicht
nur das Vorhandensein von Bewusstseinserscheinungen und deren Eigen-
schaften, sondern causale Beziehungen zwischenverschiedenen
Bewusstseinserscheinungen «feststellen. Es ist von vomherein klar, dass
für die Selbstbeobachtung mit dieser Complication unserer Aufgabe
die erreichbare Exactheit ihrer Lösimg abnimmt. Es ist deshalb a
priori der Zweifel berechtigt, ob sich bei solchen causalen Analysen
noch eine derartige Genauigkeit erzielen lässt, dass man überhaupt
wissenschaftliche Resultate erreicht. Treten wir dieser Frage zunächst
näher!
I.
Selbstbeobachtung und Causalanalyse«
Die folgenden Erörterungen werden einmal die Fehlerquellen der
nncomplicirten primären Selbstbeobachtung und dann diejenigen be-
handeln, welche dadurch entstehen, dass man von der Selbstbeobachtung
Oausalananlysen fordert. Sie werden gleichzeitig die Art und Weise der
grösstmöglichsten Verminderung dieser Ungenauigkeiten und schliesslich
die Frage erörtern , ob die nicht zu beseitigenden Mängel noch die
wissenschaftliche Yerwerthung solcher Analysen ermöglichen.
1. ungenauigkeiten der primären Selbstbeobachtung.
üeberall, wo eine Yersuchsperson auf Grund der Selbstbeobachtung
eine Eigenschaft einer Bewusstseinserscheinung feststellen will, hat sie
zunächst diese Eigenschaft zu beobachten. Sie muss ihre Aufmerksam«
344 Oskar Vogt.
keit auf dieselbe concentriren. Nun ist aber das VermögeD einer der-
artigen Concentration der Aufmerksamkeit nicht nur nach Zeit und
Individuum verschieden, sondern überhaupt ein begrenztes. Dieser
Umstand verleiht schon von vornherein jeder Selbstbeobachtung den
Character einer nur relativen Exactheit. Eine solche Concentration der
Aufmerksamkeit stellt — wie weiterhin hervorzuheben ist — eine Will-
kürhandlung dar. Diese Willkürbandlung hat wie jede ihre Zielvor-
stellung und führt zu einer Einstellung der Aufmerksamkeit, die der
Zielvorstellung entspricht. Es ist deswegen nöthig, dass der Experi-
mentator stets in der Versuchsperson die richtige Zielvorstelluhg an-
regt. Diese Bedingung kann aber unerfüllt bleiben und so zu Fehlem
fLlhren. Gesetzt zum Beispiel, ich will ein complicirtes Gefühl analysiren
lassen , so ist es sehr leicht möglich, dass die Versuchsperson auf ein
anderes Elemeüt ihre Aufmerksamkeit einstellt, als ich zur Zeit be-
absichtige. Schliesslich ist die Concentration der Aufmerksamkeit —
wie jede Willenshandlung — von Motiven abhängig. Dieser umstand
bietet die Möglichkeit einer neuen Fehlerquelle dar. So sehen wir^
dass die unmittelbare Beobachtung einer Bewusstseinserscheinung nicht
nur stets bloss eine relative Exactheit zulässt, sondern direct zu schweren
Fehlem führen kann.
Um dann weiter über die beobachteten Eigenschaften der frag-
lichen Bewusstseinserscheinung ein Urtheil fallen zu können, muss ich sie
mit mehr oder weniger ähnlichen Erinnerungsbildern vergleichen. Will
ich z. B. entscheiden, ob eine gegenwärtige Farbenempfindung die von
„rein Weiss" ist, so hat eine diesbezügliche Erkenntniss zur Voraussetzung,
dass ich die gegenwärtige Empfindung mit Erinnerungsbildern früherer
Empfindungen von Weiss vergleiche und so zu einem Schluss komme.
Ein solcher Vergleich wird mehr oder weniger fein sein. Davon wird
dann aber die Exactheit meines Schlusses abhängen. So wird z. B.
ein Maler noch Beimischungen von irgend einer Farbe erkennen, wo
das ungeübte Auge dazu nicht im Stande ist. So wird weiterhin jemand
um so genauere Vergleiche ziehen können, je lebhaftere Erinnerungs-
bilder ihm zur Verfügung stehen. Bietet so schon dieses unerlässliche
Vergleichen in Folge Mangels an genügend ähnlichen oder genügend
lebhaften Erinnerungsbildern die Gefahren grosser Ungenauigkeit, so
kommt dazu noch, dass das Vergleichsurtheil durch irgend welche vor-
gefasste Meinungen oder dergleichen ungünstig beeinflusst werden kann.
Die Versuchsperson hat schliesslich ihr Urtheil in Worte zu fassen.
Auch hier ist die erreichbare Exactheit eine begrenzte. Worte wie
Zur Kritik der psychogenetiscben Erforschung der Hysterie. 346
„Angenehm", „Lust", „Heiterkeit" werden selbst von den Pachpsycho-
logen verschieden gebraucht. Und doch kann die sprachliche Fassung
einer psychologischen Selbstbeobachtung nur dann wissenschaftlichen
Werth haben, wenn sie im Hörer, resp. Leser jene Bewusstseinser-
ßfcheinungen wieder hervorruft, welche die sprachliche Aeusserung ver-
anlassten. Eine absolute Congruenz ist aber auch hier nicht zu erreichen.
So ist schon bei der einfachen Beobachtung einer Eigenschaft einer
Bewusstseinserscheinung in der mannigfaltigsten Art die Grundlage für
Fehlerquellen gegeben. Keine jener drei der einfachen Selbst-
beobachtung zu Grunde liegenden geistigen Opera-
tionen bietet die Möglichkeit einer absoluten Exacth^it
dar. Jede aber kann zu schwerwiegenden Trugschlüssen führen.
Die Frage nun, wie die möglichen Fehlerquellen der primären
Selbstbeobachtung nach Kräften vermieden werden können und ob sie
in ihrer geringsten Ausdehnung noch wissenschaftlich verwerthbare Re-
sultate liefern, ist längst von den Psychologen entschieden worden.
Auswahl von Natur zur Selbstbeobachtung befähigter und vorurtheijsfreier
Versuchspersonen und gründliche Einübung dieser ist der Weg, der
zur möglichsten Einschränkung von Ungenauigkeiten führt. Dass sich
bei Erfüllung dieser Bedingungen genügend exacte Eesultate er-
zielen lassen, ist eine von allen Psychologen getheilte Ansicht. Diese
stützt sich dabei auf die Thatsache, dass die subjectiven Wahrnehmungen
der Versuchsperson als congruent den objectiven Einwirkuugen des Ex-
perimentators befunden wurden.
2. Die Exactheit der Causalanalysen.
Wir haben schon in der Einleitung hervorgehoben, dass wir an
die Selbstbeobachtung complicirte Anforderungen zu stellen haben.
JSs handelt sich nicht nur um irgend eine Eigenschaft einer psychischen
Erscheinung, sondern um die Frage , ob die betreffende Erscheinung
emotionellen oder suggestiven Ursprungs ist. Die Versuchsperson muss
za diesem Zweck beobachten, ob ein Parallelismus zwischen
der Intensität jenes Phänomens und der Stärke der Be-
wusstseinsbeleuchtung einer intellec tu eilen Erscheinung
besteht. Das Beobachtungsobject ist also viel complicirter als die
Feststellung einer bestinmiten Eigenschaft einer Bewusstseinserscheinung.
Die Versuchsperson hat nicht nur zwei Bewusstseinserscheinungen zu
beobachten, sie hat nicht nur die Intensität der genetisch zu ergrün-
denden Erscheinung und daneben die Stärke der Bewusstseinsbeleuch-
346 Oskar Vogt
tuDg eines intellectuellen Phänomens festzustellen, sondern sie hat zu-
gleich die zeitliche Beziehung zwischen den Veränderungen dieser beiden
Momente zu erkennen. Dazu kommt, dass sie dabei noch dem er-
schwerenden Umstand Rechnung tragen muss, dass gewisse Stärkegrade
der Bewusstseinsbeleuchtung des intellectuellen Phänomens unter der
Schwelle des Bewusstseins verlaufen. Sie sind also der Selbstbeobach-
tung unzugänglich und müssen aus den bewussten Stärkegraden recoih
struirt werden. Die Beobachtung der bewussten Stärkegrade in ihrem
Verhältniss zur Intensität des genetisch zu ergründenden Phänomens
hinwiederum wird aber durch ein anderes Moment sehr behindert. So»
bal4 ich eine Bewusstseinserscheinung einer psychologischen Beobadi-
tung unterziehe, tritt sie in neue associative Beziehungen: und zwar
einmal mit den Vergleichsobjecten und dann mit dem sprachlichen Aus*
druck, den ich meiner Beobachtung gebe. Nun ist aber für eine be«
stimmte Intensität eines bestimmten Gefühls mit Bücksicht auf das
Centrum des materiellen Parallelvorgangs des intellectuellen Substrates
dieses Gefühles eine bestimmte Form der Zuleitung und Ableitung der
nervösen Beizenergie characteristisch. Selbstverständlich wird diese
Form der nervösen Zuleitung und Ableitung durch Entstehung neuer
associativer Beziehungen modificirt. ^) Auf diese Weise kann ein zuvor
bestehender Parallelismus zwischen einer eine emotionelle Folgewirknng
darstellenden psychischen Erscheinung und seinem intellectuellen Sub-
strat verschwinden. Aehnliche Verhältnisse können bei suggestiv ausge-
lösten Erscheinungen vorkommen. Wie ich zuerst inForels^ Hypno-
tismus ausgeführt habe und wie sich Lipps ^) später auch ausgesprochen
hat, ist das eigentliche Wesen der Kealisation einer Suggestion in einer
abnormen Stauung der psychophysischen Reizeuergie («=3 psychischen
Energie) oder — was eben dasselbe ist — in einer verminderten Ab-
leitung der Reizenergie in associative Bahnen zu suchen. Wenn dem
so ist, dann ist es klar, dass die Schaffung neuer Associationen die sug-
gestive Kraft einer Zielvorstellung herabsetzen muss. So kann es dann
konmien, dass eine Zielvorstellung mehr und mehr bewusst wird, ohne
dass das Phänomen, welches die suggestive Folgewirkung der Zielva^
Stellung darstellt, an Intensität zunimmt.
Es ist klar, dass diesen verschiedenen Momenten nur derjenige
^) Hierauf ist von Breuer und Freud in eingehender Weise hingewisMiL
Vgl. ihre „Studien über Hysterie".
') Forel, Der Hypnotismus. 3. Aufl., pag. 122.
^) Lipps, Zur Psychologie der Suggestion. Diese Ztschr. Bd. VI.
Znr Kritik der psychogenetischen Erforschung der Hysterie. 347
Rechnung tragen kann, der auf diesem Gebiete eine ausgedehntere Er-
fahrung hat. Diese gewährt allein die Möglichkeit, die entstehenden
Unzulänglichkeiten auf ihr geringstes Maass zurückzufuhren.
Damit sind nun aber noch nicht die Schwierigkeiten erschöpft,
denen wir bei dem Versuch der Aufdeckung wirksamer intellectueller
Erscheinungen begegnen. Wir haben festgestellt, dass die Versuchs-
person einen Parallelismus zwischen der Intensität des genetisch zu
erklärenden Phänomens und der Stärke der Bewusstseinsbeleuchtung
einer intellectuellen Erscheinung zu constatiren hat. Nun sind aber
die Intensität einr psychophysischen Folgewirkung und die Bewusstseins-
beleuchtung einer intellectuellen Ursache durchaus nicht zwei so ohne
Weiteres zu vergleichende Grössen. Der Begriff des P^allelismus ist des-
halb von sehr vager Natur. Gesetzt zum Beispiel, eine intellectuelle Er-
scheinung A hat ein Gefühl B zur Folge. A ist zur Zeit unter der Schwelle
des Bewusstseins. Nun ist ein dem Gefühl B ähnliches Gefühl D
früher öfter als die Gefühlsbetonung eines intellectuellen Substrates C
aufgetreten. Die Versuchsperson kommt deshalb auf den Gedanken,
dass im vorliegenden Falle 0 die Ursache von B sei. Stellt jetzt die
Versuchsperson ihre ganze Aufmerksamkeit auf G ein, so wird sein
Gefühlston D ebenfalls intensiver werden. Bei der Aehnlichkeit nun
zwischen B und D kann die Versuchspeiyon die Zunahme von D für
eine solche von B halten. Diese Verwechselung wird noch sehr unter-
stützt durch den Umstand, dass gleichzeitig im Bewusstsein existirende
Gefühle zu einem Gesammtgefuhl verschmelzen. So constatirt die
Versuchsperson einen scheinbaren Parallelismus und kommt weiterhin
zur Annahme durchaus falscher intellectueller Ursachen. Aehnliche
Ueberlegungen gelten für die Aufdeckung von Zielvorstellungen, die
suggestiv wirken.
Wie ist nun diese Fehlerquelle nach Kräften zu vermeiden ? Meine
Versuche haben wir zwei Anhaltspunkte gegeben. Nach längerer Ein-
übung lernt die Versuchsperson feinere qualitative Nuancen in der
elementaren Zusammensetzung der Gefühle scharf unterscheiden. Sie
wird dann ähnliche Gefühle wie B und D unterscheiden können. Dann
aber ist weiter noch hervorzuheben, dass meist derartige scheinbare
Intensitätszunahmen emotioneller oder suggestiver Folgewirkungen bei
Aufdeckung eines falschen intellectuellen Substrats eine sehr geringe
ist im Verhältniss zur Zunahme bei dem Bewusstwerden der wahren
intellectuellen Ursache. Um aber die für das Aufdecken wahrer
intellectueller Ursachen characteristische Intensitätszunahme erkennen zu
348 Oskar Vogt.
können, muss die Versuchsperson ebenfalls ErfalHungen haben. So ist
eine längere Einübimg Voraussetzung, um mit hinreichender Sicherheit
jenen Parallelismus zu erkennen, der auf ein Causalverhältniss zu
schliessen berechtigt. Zwei Beispiele mögen dieses noch näher illustriren!
Ich frage U., eine nicht weiter in der psychologischen Selbstbeobachtuiig ge-
übte Versuchsperson, ob er gegenwärtig Appetit habe, eine Pflaume zu essen. U.
erklärt: ,,Mit grösstem Vergnügen; denn es ist meine Lieblingsfiracht". Ich ver-
setze nunmehr U. in eine tiefe Hypnose und rufe in ihm einen somnambulen Traum
des Inhaltes hervor, dass or eine Pflaume essen will und beim Einbeissen auf einen
Wurm stösst. U. hat während der einzelnen Phasen des Traumes entsprechende
Bewegungen gezeigt. Während er bei dem Gedanken eine Pflaume essen zu können,
lächelte, hat er während der zweiten Hälfte des Traumes einem starken Ekel Aus-
druck gegeben. Ich wecke jetzt U. Er ist für den Traum amnestisch und giebt
an, nichts Besonderes in sich zu beobachten. Ich reiche jetzt U. eine Pflaume und
bitte ihn, sie zu essen. U. lehnt dies dankend ab. Nach dem Grund gefragt, er-
klärt er, er habe erst zu Mittag Pflaumen gegessen, er habe jetzt keinen Appetit
Ich bitte ihn, trotzdem die Pflaume zu nehmen. Er nimmt sie in die Hand, giebt
sie mir aber sofort zurück. Nein, er wolle jetzt keine Pflaume essen. Es sei das
nicht gesund, so zwischendurch Obst zu essen. Ich bitte ihn nochmals. Er nimmt
die Pflaume wiederum, führt sie gegen den Mund, giebt sie mir dann aber schnell
wieder zurück. „Ich sehe", erklart ü.. „dass sie auch keine essen. Es wäre doch
sehr unhöflich von mir, allein eine Pflaume zu essen". Auf eine entsprechende
Frage von meiner Seite erklärt dann U., dass er keinen andern Grund habe, die
Pflaume nicht zu essen. Aber die genannten Gründe riefen direct in ihm einen
Ekel hervor bei dem Gedanken, die Pflaume essen zu müssen. Ich versetze ü.
nunmehr in ein geeignet eingeengtes Bewusstsein und frage ihn, ob er jetzt mir
noch einen andern Grund für seinen Ekel angeben könnte. Er erklärt nach kurzem
Besinnen, dass der in der vorhergehenden Hypnose suggerirte Traum der einzige
Grund seines Ekels gewesen sei. Ich suggerire ihm nun ein Unbeeinflusstbieiben
durch dieses Traumbild. Wieder geweckt, verzehrt er jetzt durchaus mit Behagen
die Pflaimie.
In diesem Fall suchte also die in solchen Beobachtungen ungeübte
Versuchsperson den vorhandenen Ekel kritiklos auf intellectuelle Sub-
strate zurückzuführen, die in ihr früher mehr oder weniger ähnliche Gre-
fühle hervorgerufen hatten. Ganz ähnliche Beobachtungen sind ja Yon
allen Autoren beschrieben, die posthypnotische Realisationen von Sug-
gestionen behandelten. Soweit die Versuchspersonen für die ihnen ge-
gebenen Suggestionen amnestisch waren, suchte sie ihr Handeln durch
Motive zu erklären, die früher mehr oder weniger ähnliche Handlungen
ausgelöst hatten. Vergleichen wir damit das Verhalten einer in der
Anstellung derartiger Causalanalysen eingeübten Versuchsperson!
Ich suggerire der Versuchsperson A. in tiefer Hypnose, dass A. ein besonders
lächerliches Bäckerkostüm, das auf einem kürzlich stattgefundenen Costümball all-
gemeine Heiterkeit hervorgerufen, vor sich sähe. Die Suggestion realisirt sich in
Zur Kritik der psychogenetischen Erforschung der Hysterie. 349
Form eines somnambulen Traums. Aus A.'s Reden ergiebt sich, dass A. sich auf
dem Costümball glaubt. A. giebt seiner Heiterkeit über jenes lächerliche Gostüm
lauten Ausdruck. Darauf wecke ich A. A. giebt an, sehr heiter zu sein und Trieb
zum Lachen zu verspüren. A. erklärt ferner zu vermuthen auf Grund fniherer Er-
&hrungen, dass ich A. einen Traum suggerirt habe. A. kann aber im Wachsein
nch nicht auf diesen Traum besinnen.
Ich: „Ist es die lächerliche Scene, die wir gestern zusammen erlebt haben?"
A. : „Nein, denn wenn ich an diese Scene denke, so beeinflusst diese nicht in
nennenswerter Weise meine Heiterkeit und meinen Trieb zum Lachen."
Ich: „Ist es der Witz, den P. Ihnen gestern erzählt hat?"
A. : Nein, denn er hat jetzt ebensowenig Einfluss auf mich gehabt, wie die
lächerliche Scene. — Ich kann im Wachsein nicht das intellectuelle Substrat meiner
Heiterkeit aufdecken."
Ich: „Rufen Sie sich dann 'mal eine ganz geringfügige Einengung des Be-
wusstseins hervor!"
A. : „Ich beobachte jetzt im Bewusstsein das visuelle Bild einer Bäckermütze.
Dieses Bild macht mich lachen. Das Lachen erscheint mir ganz albern. Trotzdem
aber constatire ich eine Zunahme meiner Heiterkeit. Auf Grund meiner früheren
Erfahrungen muss ich eine Beziehung zwischen der Bäckermütze und der Heiter-
keit annehmen. Einzelheiten dieses vermutheten Zusammenhanges bekomme ich bei
diesem Grade von Bewusstseinseinengung nicht heraus. Ebensowenig beobachte ich
eine andere Bewnsstseinserscheinung, die meine Heiterkeit steigert".
Ich: „Engen Sie jetzt Ihr Bewusstsein weiter ein!"
A.: „Jetzt sehe ich vor mir das ganze lächerliche Bäckercostüm, das ich auf
jenem Gostümfest gesehen habe. Gleichzeitig nimmt meine Heiterkeit stark zu. Mir
erscheint aber die Heiterkeit immer noch nicht logisch begründet."
Ich : „Beobachten Sie sich darauf, wie es gekommen ist, dass dieses Bild eines
Bäckercostüms zu einer Heiterkeit in Ihnen geführt hat!"
A. : „Ich will mich darauf beobachten. — Ich sehe mich jetzt auf jenem Gostüm-
balL Direct vor mir ist dieses Bäckercostüm". A. lacht laut. Dann fährt A. fort :
^a jetzt wird es mir klar. Ich habe dieses geträumt. Und mitten in dem Traum
haben Sie mich plötzlich geweckt".
Ich: „Wie ist dieser Traum entstanden?"
A. : „Ich habe inzwischen noch etwas beobachtet. Als ich feststellte, dass ich
diesen Traum gehabt hatte, nahm meine Heiterkeit weiter zu. Dann aber ist sie
schnell geschwunden."
Ich: „Wie erklären Sie sich diese Abnahme?"
A. : „Ich habe mir gesagt, es sei doch lächerlich, durch solch einen Traum der-
artig in seiner Stimmung beeinflusst zu sein. Darauf sind die Heiterkeit und der
Lachtrieb geschwunden. Ich kann jetzt an das Bäckercostüm denken, ohne meine
sor Zeit leicht ernste Stimmung zu verlieren. — Sie haben mich gefragt, wie der
Traum entstanden war. Ich will darüber nachdenken. — Sie haben ihn mir sug-
gerirt. Entsprechend Ihren Worten habe ich die Traumbilder gesehen. Im Moment
hatten mich die Traumbilder vollständig gefangen genommen. Ich war ihnen gegen-
über absolut kritiklos. Ich habe sie für wirklich gehalten und hatte meine wirk-
liche Situation ganz vergessen."
Wir sehen in diesem Fall, mit welcher Sicherheit die geübte Ver-
360 Oskar Vogt
Suchsperson die uns von yornherein bekannte Ursache der Heiterkeit
aufgedeckt hat.
Es muss hier nun aber hervorgehoben werden, dass eine längere
Einübung zu einer andern Fehlerquelle fuhren kann. Die Versuchs-
person kann eine yoreingenommene Meinung über das Verhältniss
zwischen zwei Bewusstseinserscheinungen A und B haben. Sie kaoBr
je nachdem sie an ein Causalverhältniss zwischen A und B glaubt oder
nicht, sich ein solches Auftreten yon A und B suggeriren, wie es dem
angenommenen Causalyerhältuiss entsprechen würde. Dabei kann der
ganze primäre Mechanismus der Selbstbeobachtung genügend esset
functioniren. Und doch werden wir ein fehlerhaftes Resultat erzielen.
Freud hat bereits diesen Punkt berührt.^) E2r bestreitet wenig-
stens die Möglichkeit, durch Fremd Suggestion das Resultat einer Ana-
lyse in dieser Weise beeinflussen zu können. Ich möchte durchsos
nicht ein solches Vorkommniss in Abrede stellen. Eine viel wichtigere
Rolle spielen da aber noch Autosuggestionen, die in Yorurtheilen oder
unberechtigten VerallgemeineruDgen ihre Begründung haben. Immer-
hin muss ich aber Freud darin beistimmen, dass sich meist die cau-
sale Beziehung zwischen einer intellectuellen Ursache und ihrer emo-
tionellen oder suggestiven Folgewirkung mit solcher Gewalt der Selbst-
beobachtung aufdrängt, dass sich die Versuchsperson schon zur An-
nahme einer causalen Beziehung verpflichtet glaubt, wo sie die Einzel-
heiten dieses Zusammenhangs noch nicht überschaut, wo also noch jedes
Raisonnement, wie es einer Suggestion zur Basis zu dienen pflegt, fehlt
Hierzu kommt nun noch der Umstand, dass es bei zuverlässigen
Versuchspersonen ein Mittel giebt, die Fehlerquelle stets zu vermeiden.
Die Versuchsperson muss sich darauf beobachten, ob Suggestionen
irgendwie das Resultat ihrer Analyse beeinflussen. Wie ich bereits in
meinem ersten Artikel behauptet habe, lassen sich alle suggestiven
Wirkungen im eingeengten Bewusstsein durch Aufdecken ihrer Ziel-
vorstellungen erkennen. Habe ich daher in einer kritischen Selbst-
beobachtung hinreichend geübte Vorsuclispersonen, so werde ich der-
artige Beeinflussungen aufdecken und damit vermeiden können.
Damit scheint mir die theoretische Würdigung aller der Mängel
die einer Causalaiialyse durch die Selbstbeobachtung anhaften können,
erledigt zu sein. Ich habe sie absichtlich so eingehend erörtert, um
darzuthun, dass mir die mannigfachen Fehlerquellen, die meiner Me-
^) Breuer und Freud, Studien über Hysterie, pag. 260.
Zur Kritik der psychogenetischen Erforschung der Hysterie. 351
thode drohen, wohl bewusst sind. Um gute Golgische Präparate
zu erzielen, muss man eine Reihe meist üblicher technischer Proceduren
Tenneiden, weil diese das Gelingen in Frage stellen. Die Möglichkeit
dieser Vermeidung ist aber an eine Kenntniss aller schädlich wirkenden
Proceduren gebunden. In ähnlicher Weise setzt auch unsere Methode
eine genaue Kenntniss aller möglichen Fehlerquellen voraus. Nur so
werden wir diese soweit einschränken können, dass wir im Stande sind,
wissenschaftlich verwerthbare Analysen zu erzielen.
Ist nun aber auch bei genügender Kenntniss der Fehlerquellen
ihre erforderliche Einschränkung möglich ? Wir haben oben festgestellt,
dass die wissenschaftliche Verwerthbarkeit der primären Selbstbeobach-
tung durch den experimentellen Nachweis einer genügenden Congruenz
aswischen den subjectiven Wahrnehmungen und den objectiven Ursachen
dieser Wahrnehmungen bewiesen ist. Der wissenschaftliche Werth von
Oausalanalysen kann ebenfalls nur auf experimentellem Wege erbracht
werden. Ich habe zahlreiche von mir hervorgerufene emotionelle und
suggestive Folgewirkungen einer Causalanalyse unterzogen und habe
überall da — wo ich von vornherein die Fehlerquellen nach Kräften
verminderte — eine durchaus befriedigende Congruenz zwischen meinen
Einwirkungen und den Eesultaten der Oausalanalysen feststellen können.
Die Selbstbeobachtung einer dazu befähigten und ein-
geübten Versuchsperson vermag causale Beziehungen
zwischen verschiedenen Bewusstseinserscheinungen auf-
zudecken.
Wir haben damit die Möglichkeit einer Causalanalyse einer kritischen
Besprechung unterzogen. Nun enthält aber die von mir empfohlene
Methode noch ein zweites wesentliches Moment. Auch dieses kann die
Kritik herausfordern. Ich meine den umstand, dass wir die Analyse
in einem suggestiv eingeengten Bewusstsein vornehmen lassen.
Dieser Punkt soll uns im Folgenden beschäftigen !
IL
Selbstbeobachtung und eingeengtes Bewusstsein.
Dass eine wissenschaftliche Selbstbeobachtung in einem geeigneten
systematischen partiellen Wachsein möglich ist, sehe ich als erwiesen
an« Das, was ich in Bezug darauf in meinen früheren Arbeiten^)
*) Vgl. vor Allem: O. Vogt, Die directe psychologische Experimentalmethode
in hypnot. Bewusstseinszuständen. Diese Ztschr. Bd. V.
362 Oskar Vogt.
behauptet habe, kann ich auf Grund meiner weiteren Erfahrung toII-
ständig aufrecht erhalten. Dazu kommt noch, dass ich die Freude
habe, constatlren zu können, dass auch der Begründer der directen
psychologischen Experimentalmethode , W u n d t '), neuerdings diese
Möglichkeit zugiebt. Dagegen sind es zwei andere Punkte, die mir
einer Erörterung bedürftig erscheinen. Zu dieser Meinung fuhren mich
gewisse methodologische Angaben Freuds. Sie betreffen einmal die
Nothwendigkeit des eingeengten Bewusstseins für die Causalanalyse und
dann das Verhalten des Experimentators.
1. Zur Nothwendigkeit der Bewusstseinseinengung.
Freud hat bei seinen Versuchen, die — wie ^ir schon herror-
gehoben haben -) — im Wesentlichen nur eine Erweiterung der Anamnese
darstellen, angegeben, dass er ohne Nachtheil auf eine Hypnose hat ver-
zichten können. Auf der einen Seite hat Freud — wie wir ebenfalls
schon ausgeführt haben — niemals das geeignete systematische par-
tielle Wachsein zu erstreben gesucht, sondeni nur eine beliebige Hyp-
nose. Auf der anderen Seite operirte er meist so, dass er durch ganz
specialisirte Waclisuggestionen eine Hypermnesie für eine einzelne Yor-
stelhmg zu erstreben suchte. Auf die schädlich suggestive Wirkung
solcher Wachsuggestiouen werden wir im nächsten Abschnitt zurückzu-
kommen haben. Hier muss ein anderer Punkt hervorgerufen werden. Die
Freud 'sehen Wachsuggestionen hatten manchmal wohl nur deshalb
ein positives Kesultat, als sie den Kranken zu einem Geständniss ver-
anlassten. Ein Kranker aber, der erst zu Geständnissen veranlasst
werden muss, ist für exacte Versuche ungeeignet. Eine erste
Anforderung, die wir an unsere Versuchspersonen stellen müssen, ist
die, dass sie rücklialtlos, mit absoluter Offenheit alles sagen, was ihre
Selbstbeobachtung sie erkennen lässt. Ich weiss sehr wohl, dass diese
Forderung nur ausnahmsweise erfüllbar ist. Ich habe aber auch immer
behauptet, dass zuverlässige Versuchspersonen sehr selten sind. Die
Frage also nach geeigneten Kniffen, den Widerstand der Krauken gegen
gewisse Geständnisse zu überwinden, interessirt uns nicht in dem gegen-
wärtigen Zusammenhang.
Die Frage von dem Werth der Bewusstseinseinengung für die von
uns erstrebten Causalanalysen kann nur durch Parallelversuche gelöst
^) Wundt, Grundriss der Psychologie. 3. Aufl.. pag. 326 f.
») Diese Ztsclir. Bd. VIIL pag. 81.
Zur Kritik der psychogenetiichen Erforschung der Hysterie. 363
werden. Die Frage muss methodologisch in ähnlicher Weise gelöst
werden, wie die, ob oberflächliche oder tiefe Hypnosen vom therapeutischen
Standpunkt den Vorzug verdieoen. Ich habe nun alle vorgenommenen
Causalanalysen zunächst im Wachsein, dann im wenig stark und dann
im stärker eingeengten Wachsein vornehmen lassen. Dabei verhielt
sich die Leistungsfähigkeit der Selbstbeobachtung im Wachsein zu der
im schwach eingeengten Bewusstsein, wie die letztere zu der im stark
eingeengten Bewusstsein. Stellen wir die Analysen im gewöhnlichen
Wachsein derjenigen im systematischen partiellen Wachsein gegenüber,
80 ergiebt sich folgendes Resultat. In einer grossen Beihe von Fällen
wurde im eingeengten Bewusstsein eine causale Beziehung aufgedeckt,
wo eine vorangegangene Analyse im Wachsein dazu nieht im Stande ge-
wesen war. In den Fällen, wo bereits die Selbstbeobachtung im Wachsein
solche Zusammenhänge nachwies, ergab eine daran angeschlossene Ana-
lyse im systematisch eingeengten Wachsein ein viel exacteres und an
Details reicheres Bild von der Genese der darauf zu untersuchenden
Erscheinung. Ich habe früher^) von diesem eingeengten Bewusstsein
behauptet, dass es für den die directe psychologische £xperimentalmethode
pflegenden Psychologen eine Art Microscop darstelle. Die Besultate
der Analyse in jenem Bewusstseinszustand verhalten sich zu denen des
Wachseins wie die der microscopischen Anatomie zu denjenigen der
macroscopischen. Dementsprechend würde ich es direct für
falsch halten, die Einleitung des eingeengten Bewusst-
seins da zu unterlassen, wo ich wissenschaftliche Ana-
lysen vornehmen will. Wir haben oben gesehen, dass die Causal-
analyse sehr weit hinter einer absoluten Ehcactheit zurückbleibt. Daraus
allein resultirt bereits die Forderung, alles anzuwenden, was die Analyse
jenem Ideal näher bringt.
Das Verhalten des Experimentators.
In diesem Abschnitt habe ich mich gegen zwei Momente zu wenden,
welche die Freudsche Methode characterisiren. Wir haben soeben
festgestellt, dass dieser Autor specialisirte Wachsuggestionen anwendet,
um die gegenwärtige Bewusstseinsunfähigkeit gewisser intellectueller Elr-
scheinungen zu beseitigen. Wir haben nun auf der andern Seite die
Möglichkeit constatirt, dass unter dem Einfluss von Suggestionen die
Selbstbeobachtung zur Behauptung irriger Causalbeziehungen führen
1) Diese Ztschr. Bd. V, pag. 218.
ZeiUehrift für HypnoUsmuf eto. YIU. 23
354 Oikar Vogt
kann. Ich kann eben nicht mit Freud die Unmöglichkeit solcher
suggestiven Beeinflussungen behaupten. Unter solchen Umstän*
den werden wir detaillirte Suggestionen zur Erzielung
einer speciellen Hypermnesie auf das Aengstlichste Ter-
meiden. Wir sind dazu um so mehr verpflichtet^ als sich uns g^en-
über die hysterische Person nicht nur in der Abhängigkeit eines Hypno-
tisirten , sondern auch der eines Kranken befindet. ^) Im Gegentheil,
wir müssen — wie wir schon oben hervorgehoben haben — immer
darauf fahnden, ob nicht derartige suggestive Einwirkungen in der Ver-
suchsperson nachzuweisen sind, sei es, dass sie einem äussern Einfluss,
sei es, dass sie inneren Gründen ihren Ursprung verdanken.
Dann ist es noch ein Punkt, der entschieden die Kritik herausfor-
dert. Bei der Freudschen Methode ist es der Experimentator,
welcher aus den einzelnen Angaben der Kranken die causalen Zu-
sammenhänge herausconstruirt. Hier fehlt dann natürlich von vorne
herein jene eingehende Controlle der Oausalanalyse durch die Selbst-
beobachtung, wie wir sie als unerlässliche Bedingimg dann ansehen,
wenn wir die Exactheit unserer Methode anerkannt wissen wollen. Der
Experimentator muss sich jeder derartigen Construction enthalten. Er
muss die gesammte Analyse, die Aufdeckung aller cau-
salen Beziehungen der Versuchsperson überlassen. Nur
da, wo eine zuverlässige Versuchsperson causale Beziehungen feststellt,
haben wir jene Ekactheit vor uns, von der wir verlangen können, dass
sie wissenschaftlich ernst genommen wird, da sie nicht nur die grösst-
möglichste Exactheit in der Causalanalyse aufweist, sondern gleichzeitig
eine Exactheit, die durch die positiven Resultate dieser Methode als
eine genügende hingestellt wird.
Mit diesen letzten Worten haben wir dann aber von Neuem den ent-
scheidenden Moment in der Kritik unserer Methode berührt. Keine
Dialektik wird einer Methode zur Anerkennung verhelfen. Es ist nur
ihre Ausbeute, die dazu im Stande ist. Diese wird, soweit sie spedell
für hysterische Erscheinungen in Betracht konmit, uns später be-
schäftigen. Erst hernach aber wird sich der Leser ein Bild von der
Brauchbarkeit meiner Methode machen können. Eine Kritik hat bis
dahin zu warten und sich dann auf Erfahrungen zu stützen, welche
die meinigen zu entkräften geeignet sind.
0 Vgl diese Ztechr. Bd. VIH, pag. 72.
Zar Kritik der hypnogenetlBclien Erforschung der Hysterie. 355
Zusammenfiissimg.
1. In einem vorangehenden Aufsatz habe ich die
Forderung, die ätiologische Erforschung der Hysterie
mit einer Aufdeckung aller suggestiv und emotionell
Ausgelösten hysterischen Phänomene zu beginnen, damit
begründet, dass in gewissen Fällen diese Aufdeckung
•eben so gut möglich ist wie die normaler suggestiven
and emotionellen Folgewirkungen.
2. Für die letzteren existirt diese Möglichkeit in
hinreichend ezacter Weise.
3. Diese hinreichend exacte Weise hat zur Voraus-
setzung, dass vorurtheilsfreie, zur kritischen Selbstbe-
obachtung geeignete und in Causalanalysen hinreichend
geübte Personen zu den Versuchen ausgewählt werden,
dass ihnen dabei der Vortheil des eingeengten Bewusst-
86 inszuTheil wird, dass sie durch specielle Suggestionen
nicht beeinflusst werden, und dass man ihnen die ge-
sammte Causalanalyse überlässt. Nur so werden die
Schwierigkeiten der letzeren überwunden werden.
23»
Referate und Besprechungen. *
W, von BeditereWy Saggestioiiand ihre sociale Bedeatung. Leipqf»
Arthur Georgi, 1899.
£ine Beeinflosaang unserer Seelensphäre ist auf zweierlei Art möglich. Alles
was das persönliche Bewusstsein dem loh durch bewusstes Umgestalten und innert
Aufarbeitung einverleibt, beruht auf der „logischen üeberzeugung*', was in unmittel-
barer üebertragung mit Umgehung des Willens, ja oft sogar des Bewnsstseina der
Psyche eingeimpft wird, beruht auf der ^Suggestion". Zwischen beiden steht dia
Beeinflussung durch „Befehl und Beispiel", welche Bestandtheile der Suggestioa
und der logischen Ueberzeogung enthalten. Damach ist Suggestion ^eiae besondere
Art der Beeinflussung eines Individuums durch ein anderes, welche von letzterem
mit oder ohne Absicht, ohne Vorwissen oder auch in bestimmtem EinverstandnisM
mit ersterem ausgeübt wird". Die Suggestion wirkt daher unmittelbarer, der
Umfang ihres Ausbreitungsgebietes ist daher grösser. Am besten wirken Suggestionen
in der Hypnose „einer künstlich erzeugten Varietät des normalen Schlafes". Die
Gefahr verbrecherischer Suggestionen hält B. nicht für gross, da sich seiner Ansicht
nach dazu nur schon zu Verbrechen disponirte Individuen eignen. Auch B. betont^
dass die Suggestibilität nicht direct proportional ist der Tiefe der Hypnose.
Zur suggestiven Einwirkung ist jedoch nicht immer hypnotischer Schlaf nöthig,
auch Wachsuggestionen wirken in geeigneten Fällen ebenso nachhaltig und tief-
gehend. Einige Beispiele von Wunderdoctoren und Propheten werden angefahrt
mit ihren auf Suggestion beruhenden Einwirkungen auf ihre Zeitgenossen. Ak
correlative Suggestion ist die unwillkürliche und unbeabsichtigte gegenseitige Be-
einflussung der Menschen untereinander zu bezeichnen.
Wenn man sich nun die Frage vorlegt, auf welche Weise die Beeinflussung
nun eigentlich vor sich geht, so ist jedenfalls eine telepathische Üebertragung von
Gedanken und Seelenzuständen bisher durch nichts bewiesen, dagegen ist am ein-
leuchtendsten die Üebertragung durch die Sinnesorgane. Bekannt ist die suggestive
Einwirkung durch Gehör und Gesicht, durch den Tast-, Muskel- und Geruchssinn.
Das Gebiet der unwillkürlichen und unbewussten Suggestionswirkung ist ausser-
ordentlich umfassend, am überzeugendsten kommt dieselbe in der Üebertragung
krankhafter Seelenzustände zum Ausdruck, in dem inducirten Wahnsinn, den
Massenhallucinationen und -illusionen. Es werden mehrfache Beispiele angefahrt
Heferate und BesprechnngeiL 3B7
Ton Hassenilliuionen bei Seeleuten, religiösen Hallncinationen ganzer BeyÖlkerangen,
Tom suggestiven Einflnss mancher Familienlegenden auf die Handlangen der Mit-
glieder dieser Familien, zn dem in vielen Fällen noch verstärkend die Anto-
anggestion hinzukommt. Als besonders lehrreiche Beispiele erinnert B. hier an die
Erscheinungen des besonders in Russland blühenden Sectenwesens , die psycho-
pathischen Epidemien, deren Infectionsstoff meist dem religiösen Yorstellungsleben
der Menschen entstammt. B. schildert als Beispiele einige Besessenheitsepidemien,
die verrückten und hysterischen Convulsionäre, den Hexenglauben, die Exorcisten,
alles Beispiele , die schon von anderen , in besonders erschöpfender Weise von
St oll, beschrieben und hinsichtlich des Antheils, den an ihnen die Suggestion hat,
untersucht worden sind.
Fast die ganze nun folgende Hälfte von B's. Au&atz wird eingenommen von
der Geschichte einer in den letzten Jahren in Südrussland aufgetretenen religiösen
psychischen Epidemie, des Maljovannismus, der schon einmal 1893 der Gegen-
stand specieller Studien Ssikorski's gewesen ist. Der Urheber dieser Epidemie
war Kondrat Maljovanny, ein im März 1892 in das Hospital in Kiew einge-
lieferter chronisch Geisteskranker. Er ist durch Trunksucht der Eltern belastet,
felbst dem Trünke bis zu seinem 40. Lebensjahre ergeben und litt seit vielen
J'ahren an Schlaflosigkeit, Schwermuth mit Suicidalideen. In dieser Stimmung kam
er unter den Einfluss stundistischer Lehren und durch diese zum religiösen
Prophetenthum mit religiösen Uebungen, Predigten und Ekstasen, die sich bis zu
Zittern und Krämpfen des ganzen Körpers steigerten. Weiter stellten sich dann
bald Hallncinationen und Wahnideen ein. Die Krämpfe und Sinnestäuschungen
iheilten sich oft auch einigen von seinen Anhängern mit, die ihm in grosser Menge
snliefen. Ausführlich werden dann noch an der Hand der in Kiew und in der
Irrenanstalt in Kasan aufgenommenen Krankengeschichten die Wahnideen M's. ge«
•cbüdert, der sich für den Sohn Gottes und den Verkünder des wahren Evangeliums
hält. Seine Lehren fanden über tausend Anhänger, die ihre Arbeit liegen Hessen,
ihren Besitz veränsserten und unter Essen und Gebet den nahen Weltuntergang
erwarteten.
Die Entstehung der Psychose bei Maljovanny denkt sich Verfasser folgender-
maassen. M. besass ein in Folge der Belastung und des Alkoholismus geschwächtes
Nervensystem. Die seit seinem Uebertritt zum Stundismus unausgesetzte intensivste
Beschäftigung mit religiösen Ideen führte in dem Zustande der Ekstase gewisser-
maassen auf autosuggestivem Wege zu Hallncinationen, diese erzeugen wieder
suggestiv die Wahnideen, „eine Reihe von Hallucinationen sehen wir seine Psyche
mit suggestiver Gewalt beeinflussen, sein Bewusstsein sich dienstbar machen und
ihn selbst schliesslich zu jenem Predigerthum hinfuhren."
Die von Ssikorsky untersuchten Anhänger M's. zeigten vielfach dieselben Züge
wie ihr Meister, dieselben Wahnideen, Zuckungen, Hallucinationen und zwar hatten
SO Proc. der Untersuchten besonders Geruchshallucinationen, femer Hallucinationen
des Gemeingefühls, das Gefühl der Leichtigkeit, GewichÜosigkeit und Körperlosig-
keit. Die Krämpfe tragen den Character der kleinen und grossen Hysterie:
^Unter allgemeinem Lärm, Geschrei und Durcheinander sieht man die Einen bin-
ttflnsen, wie vom Blitze getroffen, andere entzückt oder kläglich schreien, weinen,
springen, in die Hände klatschen, sich selbst gegen die Stirn oder vor die Brust
•ehlagen, an den Haaren reissen, mit den Füssen stampfen, tanzen, alle möglichen
3gg Referate und Beiprechmigeii.
Töne lind Rufe von sich i^ben. entiprecfaend den yenduedenen EmotioniKiis&ide»
von Freude, Gluck. Verzweiflnngf Furcht. Entsetzen, Erstaunen. Andacht, des
A nsdmck physischen Schmerzes, der Geruchs- und fl*«»>immnlr«w^m^hwiiing- q. t. w.
Noch Andere ahmen Hundegebeilt Pferdegewieher und sonstige wilde Tonee nach.
Hüuiig währen die Krämpfe bis zu yoller Erschöpfung." Die Convnljäonen, denea
die XatjoTanniten grosse Bedeutung beimessen, da sie sie für Aeuasemn^n eines
fföttWehen Princips in den 3Ienschen halten, traten am lülufigsten und intenaiTBiea
in ihren Versammlungen und besonders in ihren Andachtsznsammenkünflen ao^
seltener unter anderen Verhältnissen. Welche Elolle der Suggestion bei der £ni-
Rtehnng der Erscheinungen zukommt, geht schon daraus hervor, dass sie am vtirkitai
nnd häufigsten in den Versammlungen auftreten und eine ausserordentliche Aehn-
lichkeit mit den bei dem Propheten Maljovanny selbst beobachteten haben.
Auf denselben suggestiven Einflüssen beruhen die ganz analogen Erseheinungen
hei anderen Secten, den Chlysten. Duchoborzen und Skopzen. Nicht nur rohe und
ungebildete Bevölkerungen jedoch unterliegen diesem Banne der Suggestion, sondern
auch hochstehende, denn auch in den Anschauungen des Mysticismna, Spiritisnuis
und Theosophismus sind die suggestiven Einflüsse nicht zu vermissen.
Ausser diesen direct psychopathologisch zu nennenden Epidenden erzeugt die
wechselseitige Saggestion auch psychische Epidemien, die nicht als pathologisch
im engeren Sinne zu bezeichnen sind. Als solche sind nach B. anzusehen die
Panik, die Kreuzzüge, viele in Volksversammlungen und -ansammlungen, in Kriegen
zu Tage tretenden Erscheinungen. Die g^sse sociale Bedeutung der Suggestion
liegt einerseits in der Zusammenschweissung der seelischen Einzelexistenzen zu dem
grossen Bewusstsein der Massen, andererseits in der Steigerung der Activitat und
Aggressivität der Hassen, die unter dem unmittelbaren Banne der Suggestion der
iingelieuerston Krafbentfaltungen und Wirkungen fähig sind. Daraus erklärt sieh
auch der gewaltige Einfluss, den viele historische Persönlichkeiten wie Jeanne
(i'Arc, Mahomet, Poter der Grosse, Napoleon mit Hülfe der Massen, deren Ideen
lind Wünsche sie in sich zu verkörpern wussten, auf die Völkergeschichte ausgeübt
hnhen. Daraus erhellt auch die historische Bedeutung des Individuums gegenüber
der Masse. Unter vielem Schlimmen lässt sich also auch vieles Gute in dem socialen
Leben der Menschheit auf die Wirkung der Suggestion zurückfuhren.
Verfasser bekennt am Schlüsse selbst, dass es nicht möglich ist in einer knnen
Iletrachtung dem Stoffe gerecht zu werden. Ausser der sehr interessanten 6e-
sohlrhto der Maljovanniten enthält die Arbeit, wie wir gesehen haben, wohl kaum
etwas Neues. Tecklenburg-Leipzig.
W, von Bechterew, Bewusstsein und flirnlocalisation. Leipzig,
Arthur Geurgi. 18U8.
Pms Seelenleben setzt sich zusammen aus bewussten und unbewuasten Thatig-
keiten. Der augenfälligste Typus einer einfachen unbe¥rus8ten Thätigkeit ist der
Uetlex und sein Sitz gewöhnlich ein untergeordnetes Centrum des NenrensysteBS.
l>a jedoch auoli einfachste Ucflexthätigkeit oft mit Bcwusstseinserscheinungen ein-
heritehen kenn, so entsteht die Frage, ob Bewusstsein auch in den niederen Gentren*
dem Hits der Uetlexe zu Stande kommen kann. Davon geht B. ans nnd definirt
sunäohst den HegritT des Bewusstseins im weiteren Sinne als „die Qesammtheit
alles dessen, was das Individuum aus sich selbst heraus in Er&hmng bringen kann,
Keferate und Besprechungeii. 369
alles dessen also, was das Gebiet der Innenwelt angeht'', unsere Kenntniss von
dem eigenen Bewosstsein stammt allein aus der Selbstbeobachtung, von dem Anderer
aus deren Mittheilungen der Resultate ihrer Selbstbeobachtung. Sehen wir von
diesen Mittheilungen ab, die bei allen anderen Beobachtungsobjecten ausser dem
Menschen so wie so wegfallen, so bleiben uns als objective Kennzeichen zur Beur-
theiiung des Bewusstseinszustandes nur die Bewegungserscheinungen übrig, die
eventuell den Ausdruck der Bewusstseinsthätigkeit bilden, deren Zweckmässigkeit
an und für sich jedoch noch kein Criterium für die Annahme einer bewussten
Thätigkeit sind, wie einige Autoren annehmen, da auch unbewusste reflectorische
Vorgänge zweckmässig sein können. Der Unterschied liegt in der bei aller Zweck-
mässigkeit stereotypen Starrheit des auch mit Bewusstseinselementen verknüpften
Reflexes gegenüber der mannigfachen Anpassungsfähigkeit der „willkürlich wählenden"
bewussten Bewogungserscheinung , welche auf der individuellen Erfahrung beruht.
^Wo immer Bewegung das Merkmal individueller oder willkürlicher Wahl trägt,
da giebt es bewusste Diöerenzirung der äusseren Eindrücke und Gedächtniss —
die ersten und grundlegenden Erscheinungen des Bewusstseins.**
Diese Erscheinungsformen des sich in Bewegfungen „bethätigenden'^ Bewusst-
seins untersucht nun B. von den niedrigsten Stufen thierischer Organismen bis
hinauf zum Menschen und ist bestrebt darnach ein Urtheil über den Sitz des Be-
wusstseins zu erlangen.
Wie keine Bewusstseinsäusserung gedacht werden kann ohne Zusammenhang
mit dem Lebendigen, so sind auch in jedem Lebendigen die Bedingungen für die
JSntstehung eines Bewusstseins gegeben, mithin ist Bewnsstsein das Gemeingut aller
thierischen Wesen. Das lehrt uns schon die Beobachtung der niedersten Lebe-
wesen, bei denen die Differenzirung eines besonderen Nervengewebes noch nicht
zustande gekommen ist und wohl gleichmässig alle Theile des einzeUigen Organismus
Träger des primitiven psychischen Lebens sind. Sobald sich dagegen Nerven-
gewebe diflerenzirt hat, wird dieses zum Träger der psychischen Erscheinungen
und zwar sind diese auf den niedersten Stufen in der Gesammtheit der Ganglien
localisirt ohne Bevorzugung bestimmter Theile, bei den höheren Gliederthieren da-
gegen erscheint schon das grosse Brustganglion als der Sitz der Seelenthätigkeit
Weitere Beobachtungen lehren nun bei den Fischen Bewusstsein in Hemisphären-
him und subcorticale graue Ganglien zu localisiren. Mit den letzteren sind auch
Amphibien noch im Stande ausser Haut- und Muskelempfindungen auch optische
Eindrücke in sich aufzunehmen. Auf Grund seiner eigenen Beobachtungen an
hemisphärenlosen Vögeln spricht sich B. dafür aus, dass auch die Vögel noch be-
fiükigt sind mit den subcortioalen Ganglien Tast- und Muskelempfindungen und
wenigstens quantitative Lichtperceptionen aufzunehmen, dagegen ^8^^^^ ^^^ feinere
Peroeption ihrer Empfindungen, die zusammengesetzte Bewusstseinsarbeit, die
Bildung der Vorstellungen in den Hemisphären des grossen Gehirns vor Bich.**
Bei den Säugern berechtigt nichts mehr zu der Annahme von Bewusstseinsvor-
gangen in subcorticalen Centren, vielmehr erscheinen alle von hemisphärenlosen
Sängern ausgeführten Bewegungen als Beflexvorgänge, jedenfalls entbehren dieselben
mich B. aller „äusseren Anzeichen für das Vermögen zu innerlich motivirten, be-
wussten Handlungen*'. Ebensowenig ist bisher einwandsfrei nachgewiesen worden —
trotzdem sich öfter Stimmen dafür erhoben — dass in dem Gehimstamm oder
£iickenmark des Menschen sich bewusste Vorgänge abspielen.
360 fteferate und Betprechnngen.
Wenn nun auch das Hemisphärenhim nnd in diesem ipedell die Binde ak
der Ausgangspunkt bewosster Seelen thätigkeit anzusehen ist. so ist deahalb noek
nicht jede Thätigkeitsäusserung desselben auch von Bewusstsein begleitet, aonden
ein grosser Theil derselben entfällt in das Gebiet des Unbewussten. Doch laswa
sich alle diese unbewussten Vorgänge z. B. automatische Bewegungen auf firoher
bewusste zurückfuhren und auch die Reflexe sind nichts als die Reste einer firaharsn
Seelenthätigkeit; überhaupt ist anzunehmen, dass phylogenetisch betrachtet aEe
nervöse Thätigkeit ursprünglich bewusst gewesen ist. Diese Ansicht erhält eine
Stütze durch die Thatsache der vicarürenden Function des Himgewebes, weldw
darin besteht, dass die den sensiblen oder motorischen Gentren, deren Thätigkeit
also mit Bewusstsein yerknüpft ist, benachbarten Himtheile, obwohl sie Torher
nicht Träger von Bpwusstseinserscheinungen waren, nach Zerstörung jener Gentzcn
deren Functionen zum Theil übernehmen, also nun eine bewusste Thätigkeit ent-
falten. Das geht aus dem Nachweis hervor, dass die gestörten Functionen eines
Centrums der einen Hemisphäre nicht nur durch die andere Hemisphäre, sondern
auch durch die in der Umgebung des verletzten Centrums gelegenen Himtheile
compensirt werden. Dass für gewöhnlich unbewusste Nerventhätigkeit auch la
einer bewussten werden kann geht auch daraus hervor, dass unsere für gewöhnüob
dem Willen und Bewusstsein entzogene Herzthätigkeit bei krankhaften Zuständen
zu einem bewussten Vorgang werden kann und es Leute giebt, die ihre Hen-
thätigkeit von ihrem Willen in Abhängigkeit bringen können. Aber nicht nur
unbewusst thätige Rindengebiete können die mit Bewusstseinserscheinungen ver-
knüpften Functionen anderer Rindengebiete übernehmen, sondern auch bei den
Säugethieren können die dem Grosshirn innewohnenden bewussten Functionen nach
Verlust des Grosshims auch auf niedere subcorticale Centren übergehen, welehe
für gewöhnlich nur der Reflexthätigkeit dienen. Denn B. ist der Ansicht^ dass die
an dem Goltz 'sehen grosshirnlosen Hunde beobachteten Erscheinungen thatsäeh-
lich auf bewussten Vorgängen und nicht nur auf eine Reflexthätigkeit zurückiu*
führen sind. In ganz besonderem Grade ist nach B's. Erfahrungen das Hirn des
neugeborenen Thieres im Stande die Defecte nach Zerstörung einzelner Himtheile
durch das vicariirende Eintreten anderer zu compensiren.
Wie die functionelle Entfaltung der nervösen Elemente abhängig ist von der
fortschreitenden Markentwickelung, so denkt sich B. auch die Bewusstseinslocalisation
abhängig von der Markentwickelung an den Fasern und der Ausbildung der Kenren-
zellen, so dass das in gewissem Grade doch auch schon dem Neugeborenen eigen-
thümliche Bewusstsein seinen Sitz im Rückenmark und den subcorticaien Ganglien
hat und dann allmählich mit der höheren Entwickelung emporrückt bis es seiiM
endg^tige Localisation im vollentwickelten Hemisphärenhim erreicht. Die LoeiJ&f
sation des Bewusstseins wird also in der Ontogenie innerhalb derselben Stalsn-
leiter wechseln wie es früher für die Phylogenie nachgewiesen wurde.
Tecklenburg-Leipaig.
Ä. Goldacheider und E. Flatau, Normale und pathologische Ana-
tomiederNervenzellen. Verlag von Fischer's Medicin. Buchhandlung H. Kon-
feld, Berlin 1898, 140 S.
In dem ersten Capitel dieser Arbeit geben die Verf. die Technik zur Anfer-
tigung geeigneter Präparate an, welche im Wesentlichen nach der Nissl 'sehen
Referate und Besprechungen. 361
Methode hergestellt werden. Das zweite Capitel handelt von der normalen Stnictur
der Kerrenzellen. Bei der Untersuchung nach der NissTschen Methode findet
srnn, dass die Nervenzellen aus einer geformten und einer nicht geformten
Substans bestehen, und dass die geformte Substanz nicht bei allen Nervenzellen
gleichförmig auftritt, sondern dass es viele Formen von Nervenzellen giebt, die
eben durch die Beschaffenheit der geformten Substanz characterisirt sind. Auf die
•af Grund dieser Verhältnisse angegebene Eintheilung der Nervenzellen, wie sie
Ton Nissl vorgeschlagen ist, kann in diesem Referat nicht eingegangen werden.
Die „geformte Substanz'' selbst besteht aus verschieden (schollen-, spindel-, kappen-
jßnnigen) gestalteten Gebilden mit unregelmässig gezackten Rändern, den Nissl' sehen
Zellkörperchen. Dieselben sollen jedoch nach den Untersuchungen Held 's
«nt durch die Einwirkung der Fixirungsmittel entstanden, also in der lebenden
Nervenzelle als solche noch nicht vorhanden sein, sondern in dem alkalischen oder
ventralen Protoplasma der Nervenzelle gelöst sein. Andere Forscher, wie v. Len-
h o 1 8 6 k und Marinesco, halten die N i s s 1 'sehen Zellkörperchen für präf ormirt. Die
^mohtgeformte Substanz*', die sich bei der Nissl'schen Methode nicht färbt, ist die
Zwischensubstanz, Substance achromatique, Grundsubstanz oder
Grnndmasse des Nervenzellenprotoplasmas. Die Frage nach der morpho-
logischen Beschaffenheit dieser Zwischensubstanz ist noch unentschieden, doch ist
ttan im Allgemeinen der Ansicht, dass sie eine fibrilläre Structur habe und
In die Fäden der Protoplasmafortsätze und des Axencylinders übergehe, v. Len-
lioss^k und Held sind dagegen auf Grund eingehender Studien zu dem Resultate
gekommen, dass die Zwischensubstanz eine netz- oder waben förmige Bildung
ist. Ausser diesen zwei constanten Substanzen findet sich in manchen Zellen noch
heDgelbes oder auch dunkelbraunes Pigment, von denen das erstere mit dem Alter
sonehmen soll. — Ueber den Kern der Nervenzelle ist die wissenschaftliche £r-
kenntnisB zur Zeit noch sehr mangelhaft. Seine Lage erscheint unwesentlich, seine
Groflte in den verschiedenen Zellenarten wechselnd. Nach van Gebuchten ent-
hilt der Kern an seiner Peripherie oder im Innern das Kernkörperchen, über die
Stroeturverhältnisse und die chemische Natur des Kerns gehen die Meinungen der
Fomoher noch weit auseinander.
Bezüglich der Structur der Nervenzellen lässt sich sagen, dass dieselbe mit
der Localisation und Function zusammenhängt. Die motorischen Nerven-
E eilen zeigen in verschiedenen Rückenmarksregionen verschiedene Formen. Die
Kerne besitzen ein grosses Kernkörperchen oder zwei kleinere, die entweder gleich
oder verschieden gross sind. Innerhalb des Kernkörperchens haben die Verf. noch
„adiwarz aussehende Pünktchen von unbekannter Bedeutung** gesehen. Während
die motorischen Zellen ein eckiges Aussehen haben, sind die Spinalganglien-
t eilen beim Menschen nach v. Lenhoss^k mehr kugelförmig und auffallend gross
(00 — 80 (i) und von einer Kapsel umgeben, welche mit der Zwischensubstanz der
Zelle zusammenhängt und in die Endoneuralscheide des Axencylinders sich fortsetzt.
Die Nisfl'schen Zellkörperohen sind in Form kleiner Körnchen vorhanden, welche
Jodoeh bei den verschiedenen Thieren verschiedene Grössen zeigen. Am Rande
dir Zelle sollen diese Zellkörperchen sich oft zu einem „Randschollenkranze** ver-
einigen. Beim Menschen fand v. LenhossSk, dass diese gefärbten Zellkörperchen
mdit in den Spinalganglienzellen vorkommen. In morphologischer Hinsicht ist
die Ghrondsubstanz oder Zwischensubstanz körnig-wabenartiger Natur. In
362 Referate und Befprechnngeii.
diesen Spinalnerrenzellen findet sich beim Menschen das gelbe Pigment in
Menge als bei Thieren. Der Kern ist stets von einer Membran umgeben, das Ken-
körperchen ist beim Menschen sehr gross und immer nur in Einzahl Torhandea.
Das ,,Kemgeriist" ist nach v. Lenhossek acidophil, nach LeTi basophiL
An die Besprechung der Morphologie der NenrenzeUe schliessen die Verl ob
Capitel über ,.die Nervenzellen im physiologischen Zustande der Thatig^keit nad
der Ruhe". Um das Verhalten der Nenrenzellen in dem ersteren Zustande a
studiren, haben die meisten Forscher directe Reize durch den electrischen Stroa
einwirken lassen. Dieses Verfahren halten die Verf. mit Recht für nicht einwandi-
frei, weil hierbei die Electricität an und fiir sich Veränderungen phyaikalisdh
chemischer Natur in der Zellsubstanz hervorrufen kann. Zar Eliminirung dies«
störenden Nebeneinflusses schlagen die Verf. vor, nicht den Zellkörper des gereisten
Neurons selbst, sondern denjenigen eines anderen Nearons, welche durch eine Reizung
des Gortez in Thätigkeit gesetzt sind, za untersuchen. Die Beschaffenheit dtf
Nervenzellen im Zustand der Ruhe, heisst es weiter, sollte man nicht nach vorher
gegangener Anstrengung derselben studiren, sondern nach Aufhebung der Function
durch operative Eingriffe. Ausserdem müsste man sich auch anderer als der
Nissl'schen Methode bedienen, weil bei derselben die Veränderungen der Grund-
oder Zwischensubstanz nicht genügend zu erkennen sind.
Den weitaus grössten Theil der Arbeit nimmt der Abschnitt über „patho-
logische Veränderungen der Nervenzellen" ein. Was die „directe
traumatische Einwirkung" betrifft, so kommt nach den Experimenten Marinesco'i
eine Neubildung von Nervenzellen nicht vor. — In Hinsicht auf „die Veränderungen
der Nervenzellen bei indirecter traumatischer Einwirkung" fand Fiat au in
Uebereinstimmung mit anderen Forschem deutliche Veränderungen in den betreffeii*
den Zellen, d. h. excentrische periphere Lage des Zellkernes und Zerfall der
Niserschen 2iellkörperchen in eine pulverförmige Masse sowie Hypertrophie der
gesammten Zellen. Nach dem Stadium des Zerfalls folgt dann eine Restitution der
Zelle, jedoch nur dann, wenn die Nervenenden gut zusammenwachsen, unterbleibt
dies, so degenerirt die Zelle. Die Frage, warum die motorischen Zellen nach einem
Trauma des peripheren Nerven verändert werden, ist zur Zeit noch nicht endgültig
entschieden, obwohl zahlreiche Erklärungsversuche bereits vorliegen, lieber „die
Veränderungen der sensiblen Spinalganglienzellen bei traumatischer Einwirkung^
sind die Untersuchungen noch nicht zahlreich genug, um ein Urtheil darüber se
fällen und noch weniger im Stande, die Frage zu beantworten, ob durch eine Ver
letzung eines Neurons nur dieses selbst, oder ob auch ein mit diesem in Verbin-
dung stehendes Neuron alterirt wird. Immerhin scheint man die letztere Frage
bis jetzt zu bejahen.
Mit grosser Ausführlichkeit werden im Folgenden „die Veränderungren der
Nervenzellen nach toxischen und infectiösen Einwirkungen" behandelt. Die Experi-
mente, welche nach dieser Richtung hin von den verschiedenen Gelehrten angestellt
worden sind, hier wieder zu geben, würde zu weit fuhren; als Ergebnist dieser
Untersuchungen iässt sich vorläufig nur sagen, dass die Wirkung der yer8chiedeoe&
Gifte auch verschiedene Alterationen in den Zellen hervorrufen, und dass dasselbe
Gift auf die verschiedenen Zellenarten verschiedene Veränderungen bewirkt« und
dass „eine regelmässige Beziehung zwischen den Vergiftungssymptomen eineneits
und den histologischen Veränderungen andererseits nicht besteht." Auch abnorme
Referate und Besprechungen. 363
Temperaturen haben Ghromatolyse in den Nervenzellen zur Folge, wie die Verf. an
Kaninchen bewiesen haben, und womit die Befunde anderer Forscher bei Menschen,
welche in hohen Fiebertemperaturen gestorben waren, übereinstimmen. Im fünften
Gapitel finden sich noch einige Angaben über „pathologische Veränderungen
der Nervenzellen beim Menschen". In den .,Schlu88bemerkungen"
werden die nach Anwendung der Nissl'schen Methode erreichten 'Ergebnisse kurz
recapitulirt, nachdem aber zugegeben worden ist, dass dieselbe über die Verände-
mngen der „wesentlichen Bestandtheile^* der Nervenzelle, d. L die Zwischensubstanz,
keinen genügenden Aufschluss giebt, weil gerade dieser für die Function der Zelle
wichtigste Zelltheil bei dem von Nissl angewandten Verfahren ungefärbt bleibt.
Am Ende möchte Bef. bemerken, dass in der vorliegenden Abhandlung, welche
als Zusammenstellung der neueren Literatur über dieses Gebiet entschieden zu
begrüssen ist, die eigenen Untersuchungen ihrer Autoren, hauptsächlich in Bezug
auf die normale Nervenzelle, doch relativ spärlich sind, und dass bezügliche allge-
meinere Schlussfolgerungen aus den Beobachtungen zu sehr vermisst werden.
Lautenbach -Berlin.
Alfred Lehmanitt Aberglaube und ZaubereL Deutsch von Dr. Petersen.
Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke 1898. 566 S.
Das obige Werk, über dessen ersten Abschnitt seiner Zeit referirt wurde,
ist nunmehr vollständig erschienen. Verf. geht nach seinen Erörterungen über die
verschiedenen Formen des Aberglaubens und der Magie im Alterthum und Mittel-
alter, wo er seine grösste Blüthezeit hatte, auf die Verfallsperiode desselben ein.
Nicht die Reformation hat die Magie als Ganzes bekämpft und vernichtet, sondern
die Wissenschaft. Der erste, welcher gegen die Zauberei auftrat, war Agrippa
und seine Schule, dann waren es vor allen Dingen die Entdeckungen Galilei 's,
Kepler's, Guericke's und Huyghen's. Doch dauerte es bis zum Anfang des
18. Jahrhunderts, bis die Hexenprocesse aufhörten. Das zweite Kapitel seines
Buches widmet Verf. den magischen oder Geheimwissenschaften, wobei
er zuerst auf die „heilige Kabbala" als dem grundlegenden Werke der alten Ge-
heimwissenschaften näher eingeht, um dann den Ursprung der verschiedenen Ge-
heimwissenschaften, der Theurgie, der Astrologie und der Alchemie der Aegypter
eingehender zu behandeln. Darauf folgt ein Ueberblick über die gelehrten Magier
Tom Alterthum bis zum Beginn der Neuzeit, wo Cornelius Agrippa die ver-
schiedenen Ansichten in ein grosses System brachte und von einer „natürlichen
Magie*' sprach, deren Grundgedanken in seiner „Occulta Philosophia*' nieder-
gelegt sind. Nach einer sehr ausführlichen Behandlung dieses Gegenstandes geht
Verf. zu dem Einfluss von Paracelsus über und zeigt dann weiter, wie die An-
sichten der gelehrten Magier allmählich im Volke verbreitet worden sind und
•ich zum Theil bis auf den heutigen Tag erhalten haben. — Der dritte Abschnitt
des Buches enthält eine ausführliche Abhandlung über Spiritismus und Occul-
tismns von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, über dessen Entwickelung und
über die mannigfachen Formen in den verschiedenen Ländern und femer über die
hervorragendsten Vertreter dieser Lehre und die wichtigsten Begebenheiten auf
diesem Gebiete. Es liegt ausserhalb des Rahmens dieses Referats, die Einzelheiten
dieser vielbesprochenen spiritistischen Lehren eingehender zu betrachten; wer sich
genauer darüber zu informiren wünscht, möge das Lehmann 'sehe Buch selbst
364 Refente und Besprechiixigan.
lesen. Den Standpunkt des Verf. kennzeichnet der Schlnsssatz, welcher lautet:
^Kein besonnener Forscher wird in unseren Tagen von romherein die Moglichkrit
leugnen, dass es noch unbekannte Kräfte in der menschlichen Natur g^ben kann.
Eins aber ist sicher: bis jetzt ist es noch Keinem gelungen, einen un-
umstösslichen Beweis fiir die Existenz derartiger Kräfte zu liefern.'
Der Tier te Abschnitt handelt yon den ,,magischen Geisteszuständen*.
Die magischen Kräfte sind nicht physischer, sondern psychischer Natur, und ihr
Mittelpunkt ist der Mensch selbst Das Beobachtungsrermogen des Menaehen Bt
jedoch nicht absolut zuyerlässig, sondern wird durch mancherlei Umstände beeiii-
flusst, wodurch die vielen Beobachtungsfehler zu Stande kommen, und ferner
kommen, wenn man die Aufmerksamkeit auf einen bestinmiten Punkt concentrirl,
andere gleichzeitige Reize nicht zum vollen Bewusstsein, und die Auffassung wird
um so undeutlicher, je mehr sich die Aufmerksamkeit auf yerschiedene gleichzeitige
Reize vertheilt. Hieran schliesst sich eine Aufzahlung und Erklärung der Fehler
des normalen menschlichen Boobachtungsrermögens, sowie des £rinnerungffTe^
mögens, welches auch wieder an sich eine reichliche Fehlerquelle ist. Viel be-
deutender sind aber die Fehler des Beobachtungsvermögens unter anormalen
Umständen. In erster Linie wirken Gemüthsbewegung und Befangenheit
hindernd auf die exacte Beobachtung, während Uebung und Einsicht dieselbe
fordern, was auch, bei der grossen Bedeutung der Beobachtungsfehler für den
Aberglauben, noch experimentell nachgewiesen worden ist. In der Folge fuhrt der
Verf. dann weiter aus, wie die unwillkürlichen Zitterbewegungen eine
grosse Anzahl magischer Bewegungen herrorrufen können, und auch das Ge-
dankenlesen und Uebertragen auf ihnen beruht. — Das allgemeinate und
darum auch das bei Weitem wichtigste Phänomen im Gebiete des Aberglaubens
ist der Traum, welcher gewöhnlich im Schlafznstand yorkommt. Die Be-
dingung für das Eintreten des Schlafes ist die Erschlaffung der Auf-
merksamkeit, wie der Verf. näher ausführt. Im Schlafe hat das Bewusstseinslebea
seinen Fortgang, eben in Form des Traumes, doch ist der tiefeSchlaf wahr-
scheinlich stets traumlos. Es folgen dann weitere Erörterungen über den
Gharacter und die Ursachen der Träume. Verf. bezeichnet die Traumbilder ab
Hallucinationen und führt die verschiedenen typischen Traumformen auf phy-
siologische Reize zurück. In Bezug auf den Inhalt der Träume bemerkt der
Verf., dass jüngere Leute in der Regel yon solchen Begebenheiten träumen, die
kurz yorher ihr Gefühlsleben stark bewegt haben, während ältere vorwiegend von
weiter zurückliegenden oder gleichgültigen Dingen träumen. Verf. nimmt wmter
an, dass die Traumbilder yon den Menschen auf sehr niedrigen Entwickel ungsstufen
für volle Wirklichkeit gehalten worden sind, und dass daraus unmittelbar
der Glaube an Geister hervorgegangen sei. Dass man den Traumen eine be-
stimmte Bedeutung beilegt, beruht nach dem Verf. darauf, dass der Menseh
dieselben mit späteren Ereignissen in Verbindung bringt, was wohl
darauf zurückzuführen ist, dass er sich der Traumbilder gar nicht mehr genau ge-
nug erinnert, oder aber die Träume enthalten häufig solche Gegenstände, welche
der Mensch wünscht und hoflt, und die darum manchmal sich auch verwirklichen,
oder es handelt sich um Ereignisse, die dem Wach-Bewusstsein bereits verloren
gegangen sind. Ueberhaupt sind die meisten Träume weder wahrsagender,
noch weissagender Art. Doch war es natürlich, dass man, nachdem einmal
Heferate und Besprechungen. 3g5
irgend ein Traum eine Weissagung enthalten hatte, jedem beliebigen eine solche
coschrieb, so dass sich eine ganze Traumdeutekunst entwickelte. An den Traum
schliesst sich das Nachtwandeln an, was dann eintritt, wenn die Bewegungs-
Yorstellungen sehr stark sind, was jedoch nur bei jugendlichen Individuen nor-
maler Weise vorkommt, während es bei Erwachsenen immer krankhait ist. Die
Handlungen der Nachtwandler hält Verf. für durchaus nicht wunderbar, sondern
im Allgemeinen für ganz automatisch. Im Folgenden wendet sich der Verf.
gegen die Theorie vom unter- und Ober-Bewusstsein, indem er erklärt, dass das
ünbewusste denselben Gesetzen folgt wie das bewusste Seelenleben und die sog.
„Ahnungen'' und „HaUucinationen" auf psychische Vorgänge zurückfuhrt. Endlich
entkleidet der Verf. noch die Crystallvisionen und Conchylienauditionen ihres
mystischen Schleiers und behauptet, dass die noth wendige Bedingung für
das Auftauchen unbewusster Vorstellungen im Bewusstsein ein
plötzlicher Schafzustand ist, in seiner mildesten Form eine blosse
Distraction, der aber unmerkbar in einen mehr oder weniger tiefen,
der Hypnose ähnlichen Zustand übergehen kann. Zu den automatischen
Bewegungen übergehend, bemerkt der Verf., dass die physikalischen Medien Be-
trfiger seien, und der Spiritismus überhaupt aufgehört habe, als wissen-
schaftliches Problem zu existiren; ebenso hält er die Hellseherei für
unsinnig. Entsprechend ihrer grossen Wichtigkeit widmet der Verf. der Suggesti-
bilität und den Suggestionen ein längeres Kapitel und zeigt, dass viele
Formen des Aberglaubens, wie der Hexenglaube, die Astrologie etc. einfache
Suggestiv-Wirkungen sind. Da die Ansichten des Verf. über die Suggestion mit
den in dieser Zeitschrift vertretenen übereinstimmen, so ist ein näheres Eingehen
»of die Einzelheiten hier nicht nothwendig. Daran schliesst sich eine Besprechung
der Hypnose, als dem „durch Suggestion hervorgerufenen partiellen
Schlafzustand'', in welchem einzelne Sinne geschärft sind, was für die Ge-
schichte der magischen Kräfte der Somnambulen und für die Gedankenüber-
tragung von grosser Bedeutung gewesen ist, und wodurch auch noch viele an-
dere Handlungen, die vielfach als Wirkungen von „Geistern" angesehen werden^
sich natürlich erklären lassen. Auch narcotische Mittel haben bei manchen
Formen des Aberglaubens eine Rolle gespielt, doch ist nach dem Verf. auch dabei
die Hypnose das entscheidende Moment. Von der grössten Bedeutung für den
Aberglauben und Spiritismus ist ferner die Hysterie und die Hystero-Hypnose
gewesen, die letzte ist nach dem Verf. dadurch von der normalen Hypnose ver-
schieden, „dass sie ihr in ihren Wirkungen völlig entgegengesetzt, ein künst-
lich hervorgerufener hysterischer Anfall ist". In diesem Zustande kann
ein ToUkommener Wechsel der Persönlichkeit eintreten, und darauf beruht die
„fiostase" und die „Besessenheit", von denen in der Geschichte des Aber-
gkuibens die Bede ist, und als deren Ursachen von den Spiritisten noch heute
übernatürliche „Geister" angesehen werden. Seinen eigenen Standpunkt in allen
Fragen, welche den Gegenstand dieses lesenswerthen Werkes bilden, drückt der
Verf. deutlich in dem Schlusssatze aus: „Die verschiedenen normalen und
anormalen seelischen Thätigkeiten genügen, um die wesentlichsten
abergläubischen Anschauungen zu erklären. Der Aberglaube ist
eben vollständig in der menschlichen Natur begründet, indem er
theils auf schlechter Beobachtung und falscher Auslegung der
366 Referate und fiesprechongfen.
Natnrphänomene, theils auf Mangel anKenntnifls nnd VerBtändniii
der Beelischen Zustände nnd Thätigkeiten beraht**
Lau tenbach -Berlin.
W. TFundf, Orundriss der Psychologie. 3. verbesi erie Aoflage. Leip-
zig, Engelmann. 1898. 403 S.
Als ein sehr erfreuliches Zeichen, dass das Interesse für Psychologie sunimmt,
können wir hiermit constatiren, dass der Torliegende Grundriss in weniger sli
2 Jahren 3 Auflagen erlebt hat.
Die 3. Auflage ist um 10 Seiten vermehrt worden. Im Anschloss an neuen
eigene Arbeiten über die geometrisch-optischen l^uschungen hat Verf. das Kapitel
über räumliche Vorstellungen erweitert. Die Hauptvermehmng bezieht sich auf
Erweiterung der Kapitel über den Mythus, die Sitte und den allgemeinen Charakter
der TÖlkerpsychologischen Entwickelungen. Schliesslich haben die Kapitel über
Hypnose und die psychische Entwickelung des Kindes eine Vermehrung dordi
Hinzufugung einiger methodologischen Bemerkungen erfahren. Verf. giebt jetit
die Möglichkeit einer directen psychologischen Experimentalmethode in den partiell
hypnotischen Zuständen zu, wenn er auch — und das mit grossem Recht! — nr
äussersten Vorsicht mahnt. Bezüglich der Methode in der Kinderpsychologie fuhrt
Verf. aus, dass Experimente nur bei grösseren Kindern möglich seien, während der
psychologischen Beurtheilung der objectiven Symptome, die uns allein das kleine
Kind darbietet, die experimentellen Erfahrungen des reifen Bewusstseins za Grande
zu liegen haben. O. Vogt
W. Wundtf Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele.
3. umgearbeitete Auflage. Hamburg, L. Voss. 1897. 619 S.
Das psychologische Erstlingswerk Wundt^s ist nunmehr in 3. Auflage •^
schienen. Die 2. Auflage, die 1892 nach einem Menschenalter der ersten folgte,
stellte eine völlige Umarbeitung der ersten dar. Die 3. trägt vor Allem der M-
cisirung, die seit 1892 Wundt^s Gefuhlslehre gefunden, Rechnung. Diese Ajh
schauungen sind ja in dieser Zeitschrift genügend besprochen worden, so dass es keinei
weitern Eingehens auf dieselben bedarf. Daneben sind hauptsächlich die Kapitd
über die Lehre von den Zeitvorstellungen und dem zeitlichen Verlauf der Bewuat-
seinsvorgänge entsprechend der in seinem Grundriss der Psychologie gegebenen
Darstellung verändert worden. O. Vogt.
8. Freud, Die Sexualität in der Aetiologie. Wiener
Rundschau. 12. Jahrg. 1898.
Verf. führt hier von Neuem aus, dass die echte Neurasthenie mit Kopfdrack»
Ermüdbarkeit, Dyspepsie, Stuhlverstopfung, Spinaliritation etc. stets auf ezcaniTe
Masturbation oder gehäufte Pollutionen zurückzufuhren sei und die sich in Ajengit»
lichkeit, Schwindel, Schlaflosigkeit, Schmerzsteigerung etc. äussernde Angatneuioee
in der Zurückhaltung oder der unvoUkonmienen Befriedigung der Libido texnalä
ihren Grund habe. Die causale Therapie sei damit gegeben. Im G^enaati m
diesen „Actualneurosen^' seien die ,,Psychoneuro8en" Hysterie und ZwangsTonteUn
auf sexuelle Erlebnisse der frühen Kindheit zurückzufuhren. Verf. giebt schEeei-
lich an, dass er die kathartische Methode, die er nunmehr als „psychoanalytiaGlie''
Therapie bezeichnet, wesentlich vervollkommnet hat. Verf, hat jetzt DauerheiloiifeA
Referate and Besprechungen. 367
enielt. Seine Methode passt aber nicht für Kinder, Schwachsinnige, Ungebildete,
alte Leate and schliesslich nur für Kranke, die einen psychischen Normalzustand
haben. 0. Vogt.
Ä. GoldschMeTj Physiologie der Hantsinnesnerven. Leipzig,
J. A. Barth. 1898. 432 S. Viele Figuren im Text und 5 Tafebi. Preis 12 M.
Als eine allen interessirten Kreisen sicheriich willkommene Gshe liegt uns
hier ein erster Band von „Gesammelte Abhandlungen von A. Ooldsoheider"
Tor. Die Arbeiten Goldscheide r's über die Hantsinnesnerven repräsentiren ein
lintwickelungsstadium in unserer Lehre von jenem Gebiet. Ihre Kenntnissnahme
ift unentbehrlich für jeden, der sich über die hierher gehörigen Fragen orientiren
wilL Da nun andererseits die Arbeiten in zum Theil schwer zugänglichen Archiven
erschienen sind, so ist die vorliegende Zusammenstellung freudig zu begrüssen. Sie
enthält mit einer einzigen Ausnahme alle einschlägigen Veröffentlichungen des Verf.
0. Vogt.
A. Ooldscheider, Physiologie des Muskelsinnes. Leipzig, J. A. Barth.
1896. 323 S. Preis 8 M.
Dieser 2. Band der „Gesammelte Abhandlungen*' des Verf. reiht sich würdig
dmn ersten an. Er enthält 13 Au&ätze des Verf., die zwischen 1887 bis 1893 in
Tomehiedenen Zeitschriften erschienen sind. O. Vogt.
iMcien MouHnj Le diagnostic de la suggestibilit^. Paris, soci^t6
d'^dition scientifiques. 105 Seiten.
Verfasser hat schon im Jahre 1878 eine Beobachtung gemacht, welche er
fi^endermaassen wiedergiebt : Wenn er einer vor ihm stehenden Person seine beiden
flachen Hände auf die Schulterblätter legt, so wird die Person, wenn sie suggestibel
iati dort ein Gefühl von Wärme oder Kälte empfinden und femer, wenn die beiden
Hinde wieder abgehoben werden, sich nach hinten gezogen fühlen und in vielen
nUen wirklich das Gleichgewicht verlieren, so dass sie gehalten werden muss, um
nicht nach hinten zu fallen. Der Verfasser sieht in diesem Verfahren ein Mittel,
die Soggestibilität einer Person zu prüfen und femer hält er dasselbe für therapeutisch
Torwerthbar. £r veröffentlicht 3 Fälle von funotioneller Neurose (hysterische Neu-
roee, neurasthenischer Schwindel und hysterische Verwirrung), in denen er das Ver-
fahren mit Erfolg angewendet hat. Hilger-Magdeburg.
Voegdin, Dr. JJ., Beitrag zur Kenntniss der Stirnhirn-Erkran-
k na gen. Allgem. Zeitschr. für Psychiatrie, 64. Bd., 4. Heft.
Neben der normalen Anatomie und der Entwickelungsgeschichte verlangt auch
die Pathologie ihre Bedeutung für die Erforschung der Bestimmung der verschie-
dansn Himtheile. Verf. ist in der Lage, folgenden klinisch und pathologisch-
Aiatomisch beobachteten Fall beizutragen. Am 7. Aug. 1893 wurde eine 39 Jahre
•He, firühere Krankenwärterin in die Freiburger Klinik aufgenommen. Keine Be-
bftong, keine erheblicheren körperlichen Erkrankungen, 76 doppelseitige Linsen-
eztraction wegen Cataract. Seit 86 krankhaft gesteigerte religiöse Schwärmerei,
die immer mehr zunahm und sich schliesslich in Versündigungsideen und ent-
sprechenden Busshandlungen äusserte. Auch in der EJinik melancholisch weiner-
368 Beferate und Beflpreohimgen.
liches Verhalten, hält sich sehr zurück, spricht wenig, sei von den Angehängt»
böswillig hergebracht worden, damit diese ihr erspartes Geld bekommen; ne m
unwürdig, habe nicht genug gebetet, müsse büssen. Am 11. Oct. epüeptiseh«
Anfall, der sich in der Folge mehrfach wiederholte. Damach Steigerung dn
melancholischen Verstimmung mit Neigung zu Selbstbeschadignng und Kahnmgi-
verweigerung, kurze Zeit unterbrochen Ton freudiger Stimmung mit der VorateUasg,
dass ihr yergeben sei, dass sie Gnade gefunden habe. Die Anfalle bilden ätk
immer deutlicher aus und treten im Mai mit initialem Schrei, Convnlaionen ud
Incontinenz auf. Die körperlichen und geistigen Kräfte nehmen immer mehr ab,
die Kranke wird immer stumpfer und blöder und erliegt am 10. Juni 1896 eÜMr
Pneumonie.
Die Dura war ziemlich dick, an der Pia nadelkop%ro8se fibröse Verdickungen,
sulzige Flüssigkeit in den subarachnoidalen Räumen. £in von der Hypophyns aoi-
gehender hühnereigrosser, glatter, graugelblicher Tumor, über dessen Natur niditi
weiter gesagt wird, hat die beiden Temporallappen zur Seite, den rechten Stin-
lappen nach Yorn gedrängt; er ist die Pia vor sich herdrängend in die Basis dfli
linken Stirnlappens hincingewuchert, an dessen innerer Seite er in einer waünui-
grossen glatt wand igen Höhlung liegt, welche in keinem Zusammenhange mit dm
Ventrikel steht, sondern Ton ihm durch eine dünne Lage Marksubstans getreont
ist. Noch deutlicher treten diese Veränderungen nach Härtung in Küller'sohv
Flüssigkeit hervor, besonders eine Vergrösserung der linken Hemisphäre gegenfibir
der rechten, die sie am Stimhim um l'/s cm überragt, und die Verschmalemi«
der Gyri in yerschiedenen Bezirken.
Microscopisch zeigen sich von der oberen nach der unteren Stimwindong n
allmählich abnehmende Entzündungserscheinungen, die sich rechts auf die Ka be-
schränken, während links starker Geiässreichthum und Leukocyten in der Himzüids
zu constatiren waren. Femer fanden sich in den Stirnwindungen der linkm
Hemisphäre starke Degenerationen, Verschwinden oder Aufquellung und ZerM
der Tangentialfasern, Abnahme oder Degeneration der Ganglienzellen. Die schmale
Marklage, die zwischen der Tumorhöhle und dem Ventrikel stehen geblieben W^
zeigt Andeutung radiärer Fasern, dagegen keine Tangentialfasern und wenige degt-
nerirte Ganglienzellen. Schnitte vom vorderen Himpol liessen GefösserweiterBHf
und RuDdzelleniniiltration erkennen, femer Tangentialfaser- und GangliennllcB-
Schwund, Zelldegenerationen links viel stärker ausgesprochen als rechts. Aehnhokt
Veränderungen im Gyrus rectua. An den Scheitelläppchen geringerer Grad toa
Atrophie und Entzündung, ausgeprägte Atrophie der Randzone in der linken
Central Windung, Temporalwindungen ausser Entzündung der Pia fast normal, ebenso
Uynis fomicatus, Cuneus und Medulla, während die Rinde des Occipitalhims deat-
liche V^erschmälerung zeigte.
Für die gefundenen Veränderungen macht Verf. den Tumor verantwortlieh«
welcher einmal die localen Zerstörungen hervorrief, zum Anderen aber einen Ent-
zündungsreiz bildete, dessen Folgen \(ieder Vermehrung der Oerebrospinalflüasigkeit
und Druckatrophie entfernterer Himtheile wurden. Beim Zusammenhalten des
klinischen und des pathologisch • anatomischen Bildes kommt Verf. zu folgender
Ansicht: Der Anfangs vielleicht nur langsam wachsende Tumor äusserte sich beim
Beginn der Erkrankung in Reizerscheinungen, die sich mehr auf das Stimhim
beschränkten, d. h. in einer „Veränderung im ganzen Wesen der Persönlichkeit^
Referate and Besprechungen. 369
insbeBOndere in ihrer Beziehung zur Aussenwelt*' (im Sinne Flechsiges), in den
üeberschätzungs- und Unterschätzungsideen. Bei zunehmender Grösse dehnen sich
^e Eteizungen auch auf benachbarte Gebiete, hier die motorische Zone, aus und
bedingen die epileptischen Anfälle, während ein weiteres Wachsthum dann Atrophie
mit Ausfallserscheinungen, deren Schluss der terminale apathische Blödsinn bildet,
berbeigeföhrt und die Reizsymptome yerdeckt.
Dieser V^ersuch, die klinischen Erscheinungen aus dem anatomischen Befunde
in der angegebenen Weise zu erklären und durch diese Erklärung die Lehre yon
den Flechsig 'sehen Centren, für deren Existenz bisher doch wohl noch kein Be-
weis erbracht ist, stützen zu wollen, erscheint doch etwas gewagt.
T e ekle nburg- Leipzig.
Schleichf Schmerzlose Operationen. Oertliche Betäubung mit
indifferenten Flüssigkeiten. Fsychophysik des natürlichen und
künstlichen Schlafes. Dritte Auflage. Berlin, Springer 1896. 276 Seiten,
6 Mark.
Das Yorliegende Buch hat im Laufe eines Jahres zwei Auflagen erlebt —
eine Thatsache, die mehr ab anerkennende Worte eines Recensenten geeignet sein
dürfte, die Aufmerksamkeit auch deijenigen Fachkreise auf sich zu lenken, welche
noh bisher gegenüber den vom Verf. angebahnten Neuerungen noch immer in
einer kühlen Reserve oder in völliger Ablehnung gehalten haben.
Den chirurgischen Theil, welcher sich auf die operative Technik und auf die
modificirte Narcose bezieht, können wir hier übergehen. Er bringt im grossen
Oanzen, abgesehen von einigen technischen Ergänzungen und operativen Erläute-
rungen, die für den practischen Chirurgen allerdings von Werth sein werden, keine
Abweichungen von der zweiten Auflage. Ref möchte deshalb seinen früheren
Anirfuhrungen über die Infiltrationsanästhesie (Diese Zeitschrift, Bd. VI, pag. 248)
Niohts hinzufugen. Sie wird mit der Zeit, soweit sich aus der bisherigen Literatur
enehen lässt, für jeden Fractiker unentbehrlich werden und damit empfiehlt sich
ein Stadium des Verfahrens aus dem Originalwerke von selbst.
Die „Fsychophysik des Schlafes", welche Verf. für den grundlegenden und
wichtigsten Theil seiner Arbeit hält, hat eine Umarbeitung oder eine exactere
Begründung in dieser Auflage leider nicht erfahren. Der äusserst lockere Zu-
eemmenhang, der zwischen den anatomisch völlig haltlosen Speculationen über die
feinere Mechanik des Gehirnes und den practisch so bedeutungsvollen Entdeckungen
des Verf. auf dem Gebiete der Localanästhesie besteht, tritt hier noch schärfer zu
Tage. Das Buch würde, nach Ansicht des Ref., doppelt an Werth gewinnen, wenn
diese beiden Gebiete in einer späteren Ausgabe völlig von einander getrennt würden.
Uebrigens hat der Verf. seine theoretische Fosition durchaus nicht zu festigen
Termocht. Er vermag die von histologischer Seite (Weigert) gegen ihn unter-
nommenen Angriffe mit exacten Gegenbeweisen nicht zu widerlegen, er zieht sich
deshalb auf einen „mehr erkenntniss theoretischen Standpunkt** (den er, nebenbei
bemerkt, in den älteren Auflagen den Fsychologen so sehr vorgeworfen hat) zurück
und beschränkt sich darauf, über die Functionen des Gehirns nachzudenken, d. h. zu
pbantasiren, statt das Organ zu untersuchen. Mit billigem Spott ergeht er sich
über die mühevollen Ergebnisse der neuesten microscopischen Technik, ohne die-
selbe auch nur hinreichend zu kennen und übersieht dabei die heftigsten Streiche,
Zeitschrift für Hypnotismas ste. ym. 24
370 Referate und Beflprechimgeii.
die gegen ihn geführt werden. Die Held 'sehen Untersochungen über den Zd-
sammenhang der Neurone unter einander, welche das Fundament seiner Ldue
untergraben, bleiben von ihm yöllig unbeachtet. Damit ist ausser seinem System
auch seine Methode gerichtet. Brodmann- Jena.
V. BechteretDy Die suggestiye Behandlung des contraren Ot-
schlechtstriebes und der Masturbation. Gentralbl. f. Nervenheilkande.
Febr. 1899.
Verf. Iheilt zwei casuistische Fälle mit, welche homosexuelle Tendenzen Te^
bunden mit Onanie bei Männern darstellen, die ganz wesentlich durch acddentdle
Vorkommnisse bedingt sind. Im ersten Falle war yorübergehend durch die hyp-
notische Suggestion ein wesentlicher Erfolg erzielt worden, aber die Behandlung
wurde vorzeitig abgebrochen. Im zweiten Falle wurde eine Heilung endelt, die
Behandlung aber noch nicht ab abgeschlossen betrachtet.
Ohne auf die Einzelheiten dieser Fälle einzugehen, die in die LiteratB^
Zusammenstellung von y. Schrenck-Notzing gehören, sei die Arbeit hier er
wähnt wegen der allgemeinen Bemerkungen, die der Verfasser daran knüpft.
Verf. hat schon in einer ganzen Reihe yon Fällen die hypnotische Suggestion
zur Behandlung yon Onanie mit den besten Erfolgen angewandt, und hält diese
Art der Behandlung auch für sehr geeignet in Fällen yon conträrer Sexual-
empfindung. Er empfiehlt dieselbe bei allen jenen Zuständen, bei welchen krank-
hafte Neigungen in die Erscheinung treten, besonders auf der Grundlage yoritandener
Willensschwäche wie z. B. bei chronischem Alkoholismus, Morphinismus, Zwangs-
ideen, Kleptomanie etc.
Verf. ist der Ansicht, dass zur Erreichung guter Heilerfolge in den meisten
Fällen mehrfache Anwendung der Suggestion erforderlich ist. Dabei steht die
Dauer der suggestiven Behandlung in directer Abhängigkeit einerseits von der
Schwere, und Individualität des Einzelfalles, andererseits von dem Grade der
Suggestibilität des Individuums. Ist eine tiefe Hypnose nicht zu erreichen, wendet
Verf. mit Erfolg die Wach- oder Halbwachsuggestion an. Eine Gombination von
Suggestion mit andern therapeutischen Maassnahmen wie Bädern, Brom etc. hält
Verf. für besonders nützlich.
Aus den gesammten Angaben geht hervor, dass der Verf. die therapeutiseiie
Suggestion in derselben Weise anwendet, wie sie seit einer Reihe von Jalun
von Bernheim, Forel und anderen gehandhabt wird.
yan Straaten-Beriin.
V. Schrenck-Notzing^ Psychotherapie (Suggestion, Suggestivthe-
rapie). Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde. 3. Aufl. Wien, Urbaa o.
Schwarzenberg. 149 S. 1899.
In der neuen Auflage der Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde be-
handelt Verf. das Kapitel Psychotherapie. Die ganze Disposition erscheint dsm
Ref. nicht sehr scharf^ wenn auch im Uebrigen die meisten Gebiete der Psycho-
therapie Erwähnung gefunden haben.
Auf alle Einielheiten einiugehen, loheint uns nicht möglich, da die Arbeit
schon ielb«r die ^i>— lit*n Funkte in gedrängter Uebersicht bringt. Am inhatti-
reiehsten « ~ ttel VI über daa suggestive (hypnotische) fiefl-
Keferate und Besprechungen. 371
In der theoretischen Erklärung schliesst sich der Verfasser der Ansicht von
O. Vogt an, dessen Verfahren er zur £rzieluDg der Hypnose in renitenten Fällen
den Vorzug giebt, während er sonst sein eigenes Verfahren zur Einleitung der
Hypnose anwendet. Dasselbe besteht darin, dass vor den liegenden Patienten der
Luys'sche rotirende Hohlspiegel derartig aufgestellt wird, dass das Auge ein
wenig geblendet ist. Während der Patient den Spiegel fixirt, legt Verf. die Hand
auf die Stirn und suggeiirt Schlafsymptome. Gewöhnlich schliessen die Patienten
sehr bald die geblendeten Augen ; darauf wird der Spiegel abgestellt. Das schnur-
rende, monotone Geräusch des rotirenden Spiegels wirkt ermüdend auf das Gehör.
Die weiteren Suggestionen werden im Bernheim 'sehen Verfahren angewendet.
Der Auffassung Vogt 's Ton der Hypnotisirbarkeit steht er skeptisch gegenüber.
Dann behandelt er kurz die Gefahren des Hypnotismns und betont dabei, dass
dieselben zum grössten Theil durch Unwissenheit des Hypnotiseurs entstehen. Auch
dem Breuer-Freud' sehen Abreagiren steht er skeptisch gegenüber. Zum Schluss
betont er, dass das hypnotische Heilverfahren die stärkste Form der psychischen
Behandlung darstellt. Im folgenden Kapitel, welches die einzelnen Krankheits-
formen behandelt, giebt Verf. eine üebersicht der Eeilerfolge, die ein Excerpt
der G^esammtliteratur darstellen, wie sie dem Wesen einer solchen Zusammenfassung
entspricht, ohne viel Originelles zu enthalten. Cr am er- Schlachtensee.
P. <7. MöbiuSy Ueber J. J. Bousseaus Jugend. Beiträge zur Kinder-
forsohung. Langensalza, Beyer u. S. 1899. 29 S.
Der Verf., der in seiner erschöpfenden Skizze vom Standpunkte des Irren-
antes J. J. Rousseau analysirt und zu dem Ergebniss kommt, dass Rousseau
parmnoiakrank war, trägt viel, wenn nicht Alles zur richtigen Beurtheilung Rousseaus
bes. Die kleine Arbeit ist sehr anziehend geschrieben und dürfte besonders für
Hdagogen und Rousseau-Freunde von höchstem Interesse sein.
Gramer- Schlachtensee.
H, SehiissleTy Nervendehnung oder nicht?! Bremen, Verlag von G. F.
▼. Halem. 1899. 86 S.
Verf. theilt in seiner Brochüre, die manches Kritiklose und zum Widerspruch
Anreizende enthält, auf Grund beigefugter Krankengeschichten die Resultate mit,
die er mit der blutigen Nervendehnung bei Tabes und chronischen Erkrankungen
des Bückenmarks erzielt hat, und die nicht nur Stillstand und Besserung der
Krankheiten herbeigeführt, sondern sogar Vorgänge der Regeneration zur Folge
gdbabt haben sollen.
Verf. setzt sich mit seiner Veröffentlichung in Widerspruch zu den heute
geltenden Anschauungen über die Wirksamkeit des Verfahrens, deren suggestive
Wlilning er bestreitet. Auf seine Erklärung der Tabes hätte er besser verzichtet,
nd dmittr mehr Kritik auf seine Krankengeschichten verwenden sollen.
Gramer- Schlachtensee.
•. fidrendb-iVbtnn^, Beiträge zur forensischen Beurtheilung von
BiiiliehkeitsTergehen mit besonderer Berücksichtigung der
Fatkogenese psychosexueller Anomalien. Sonderabdruck aus dem Archiv
flr Oriminsl-Anthropologie und Criminalistik, Bd. I. 1899.
Die Aibeit liefert einen neuen Beitrag zu der vom Verf. in seinen bekannten
9A*
37S Referate and fiesprechongen.
grosseren Arbeiten vertretenen Lehre, daas die sexaellenAnomalien „Prodnete
angönstiger äusserer Anlässe bei vorhandener erblicher neoropathiacher Goufti-
tution und Labilität des Trieblebens darstellen.** Gestützt auf die Beobachta^gaa
an sechs instructiven Fallen, die er dem an anderer Stelle veröffentlichten Katoiil
zufügt, bekämpft v. Schrenck-Notzing mit Olück jene ältere Lehre rem Ent-
stehen der sexuellen Anomalien aus originärer Anlage, die v. K rafft- Ebiaf
in seiner Theorie der embryonalen Bisexualität wieder aufgenommen and aneh von
Moll neuerdings in abgeschwächter Form vertreten wird. Bezüglich der Ani-
führungen von forensischem Interesse sei auf die Arbeit selbst verwiesen. Hm
interessirt uns die Pathogenese und die auf diese sich aufbauende Therapie.
Im 1. Fall handelt es sich um eine 39 Jahre alte, männlich entwickelte Penoo,
die seit der Militärzeit homosexuellen Umgang in Form mutaeller Onanie od
des Coitus interruptus pflog; ausserdem solitäre Onanie unter ausschliesslich homo-
sexuellen Vorstellungen; gegenüber dem weiblichen Geschlechte ist Patient voll-
kommen impotent Im Uebrigen bestehen die Zeichen einer mittelschweren Nou^
asthenie auf erblicher Grundlage. Die Entstehung der sexuellen Anomalie tii
occasionellen Einflüssen bei einem psychopathisch Disponirten Vuat sich in dieifla
Falle deutlich nachweisen. Patient wurde nämlich in seinem 12. Lebenijahre von
einem Mitschüler zu wechselseitiger Onanie verfuhrt, die er später auch allein ontar
Vorstellung männlicher Personen regelmässig und häufig ausfühi^. Der noch
undifl'erenzirte Trieb wurde somit beim ersten Aufflackern in unrichtige fiahnsn
gelenkt, also schon zu einer Zeit, in der, wie Verf. mit Recht hervorhebt» 6m
Knabe noch gar nicht im Stande war, „die zur Gorrectur einer solchen Anomslis
erforderlichen Gegenvorstellungen zu bilden, resp. dieselben aus den Sinnesmhi^
nehmungen des normalen Geschlechtsverkehrs abzuleiten."
Ganz ähnlich liegt die Pathogenese im 2. und 3. FalL Beide Male entstsad
die 'Triebanomalie aus mutueller Onanie im frühsten Knabenalter bei allerdinp
belasteten Personen. Im 3. Falle führte missglückter Goitusversuch mit weiblicher
Person nur zur Befestigung der conträren Sexualempfindung.
Im 4. Fall handelt es sich um einen erblich nur wenig belasteten, geistig im
Uebrigen normalen Mann, der trotz glücklicher Ehe exhibitionis tischen
Neigungen, die sich in der Entblössung seiner Genitalien vor jungen Mädchen
äusserten, nicht widerstehen konnte, obgleich diese ihn wiederholt aaf die Anklsgt-
bank gebracht hatten. Auch hier setzt die Genese mit einer eigenartigen Anregung
des eben erwachenden Geschlechtslebens ein. Patient wurde nämlich schon im
10. Lebensjahre von einem einige Jahre älteren Schulmädchen zum Entblossen
seiner Geschlechtstheile veranlasst. Durch fortgesetzte sexuelle Spielereien worden
diese und ähnliche erste Eindrücke zu Zwangsvorstellungen, deren Patient nicht
Herr werden konnte; der Gedanke, dass junge Mädchen durch den Anblick seiner
entblössten Genitalien ungewöhnlich geschlechtlich erregt werden müssten, trieb ihn
von Zeit zu Zeit mit unwiderstehlicher Gewalt zur Exhibition.
Im 6. Fall handelt es sich ebenfalls um exhibitionistische Neigungen, entwickelt
auf dem Boden frühzeitig begonnener und jahrzehntelang fast täglich geübter Onams
unter lebhafter Vorstellung männlicher und weiblicher Genitalien. Normaler Bei-
schlaf gelang zwar, bot aber niciit entfernt den Genuss der onanistischen KTHOsmi
Eine Badehausscene, bei der Patient bemerkte, dass seine Genitalien von einer
Nachbarin durch ein Astloch beobachtet wurde, liess ihn die Exhibition seiner
Beferate und Bespreohongen. 873
Geschlechtstheile vor Frauen als den höchsten Grad geschlechtlicher £rregung,
dessen er lähig war, kennen lernen. Trotzdem Patient später heirathete und seinen
ehelichen Pflichten regelmässig nachkam, yermochte er seine exhibitionistisohen
Gelüste nicht zu unterdrücken.
Im 6. Fall bestand larvirte passive Algolagnie, deren Entstehung Ton
.Schrenck-Notzing durch das Auftreten von mächtigen sexuellen Gefühlen in
einer Zeit des Knabenalters, in der Patient durch die Leetüre Ton Indianergesohichten
ganz erfüllt war, erklärt. Vorstellungen von Martern, Erniedrigung und Aushalten
Ton Qualen yerknüpfben sich mit den noch nicht differencirten sexuellen Trieben
des phantasiereichen Knaben.
In allen Fällen ist also der Keim zur Anomalie bereits zu einer Zeit gelegt
worden, in der dem Patienten noch jede eigene Erfahrung über den normalen
Geechlechtsverkehr fehlen musste. In allen Fällen ist aber auch eine mehr oder
weniger starke erbliche Belastung yorhanden, die ätiologisch doch wohl mehr in
das Gewicht fällt, als es Yerf. in dem an sich anerkennenswerthen Bestreben den
Binflnss occasioneller Momente mehr als bisher zur Geltung zu bringen erkennen
liest. Liegt keine erbliche Belastung vor, dürfte doch in der Regel eine im Knaben-
.aiter erworbene Neigung zu homosexuellem Umgang später ihre Correctur durch
lieteroeexuellen Verkehr finden. Ob, wie Verf. annimmt, gelegentlicher, aber fort-
gesetzter homosexueller Verkehr (in Gefangnissen, Internaten u. s. w.) bei normalen
Peceonen zur Ausbildung wirklicher conträrer Sexualempfindung mit Impotenz
gegenüber dem weiblichen Geschlecht führen kann, erscheint uns fraglich. Unbe-
dingt beistimmen muss man aber der Warnung des Verfassers „die Erklärungs-
frincipien um den Factor angeborener, im Embryo präformirter sexueller Gescbmacks-
richtungen auch bei jenen Fällen zu vermehren, die sich als reines Product ungünstiger
inseerer Anlässe bei vorhandener erblicher neuropathischer Constitution und Labi«
Htit des Trieblebens darstellen.**
In den meisten der mitgetheilten Fälle war die Suggestivbehandlung von
gutem Erfolg. Im 1. Fall führte die hypnotische Behandlung zur Aufnahme hetero-
MxneUer Beziehungen und versprach Beseitigung der homosexuellen Neigongen,
wurde aber zu friih abgebrochen. Im 2. Fsll gelang es durch Anwendung der
Igfpnotischen Behandlung, einen geregelten heterosexuellen Verkehr herbeizuführen.
Andi im 4. Fall erzielte die Suggestivbehandlung erhebliche Besserung. Im 3. Fall
wurde die Anomalie durch 65 hypnotische Sitzungen gänzlich und dauernd geheilt.
G r o t j a h n - Berlin.
Dr. Alfred Fuek». Therapie der anomalen Vita sexualis bei
Minnern mit Berücksichtigung der Suggestirbehandinng. 136 S.
Slirttgari, fintce, 1899.
Ohne der kritischen Erwähnung dieser Arbeit von Seiten v. Schrenek-
;ing*s in seinem Sammelreferat vorzugreifen, sei hier eine kurze Inhaltsangabe
fiuches gegeben.
Verl weist in der Einleitung kurz darauf hin, daes es bisher noch nicht ge-
ist, anatomische Substrate für die sexuelle Sphäre zu entdecken und bei
der Geschlechtsempfindung pathoL Veränderungen im Gentraiorgan oder
Lsstengsbahn za finden. Zum Theil handle es sidi wohl nur um psychologische,
nm psyefaopethisehe Probleme. Es könne daher kein Anspruch auf unfehlbar
Heibnethoden gemacht werden.
374 Aeferate und BetprechnngeiL
Indem Verf. kurz die Prophylaxe berohrt, hebt er herror, daa die propliy-
laktischen Maassregeln dieses Gebietes sich zum grossen TheU dem Bahmen du
irstlichen Wirkungskreises entzögen. Sie kamen nur auf dem Gebiete der Kindsr-
erziehang und bei der Frage der fiheschliessong in Betracht.
Was die Therapie dieses Gebietes belangt, erblickt der Verf. ein
Hinderniss für den Fortschritt derselben in dem mangelnden Interesse der
wärtigen öffentlichen Krankenanstalten, und darin, dass die Erkenniniss diesei
Leidens dorch den Bann der Gesetze niedergehalten wird. Verf. steht auf dn
Standpunkte, dass der Perverssexaelle als der des Glückes enterbte schonende KSek-
sicht und liebevolle Behandlang verdiene. £in Mensch, für den das traurige Be-
wnsstsein abnormer Veranlagung das ganze Leben hindurch eine Qoal seL die ilin
der Neurasthenie und flysteroneurasthenie in die Arme treibe, sei als Kranker an-
zusehen. Als Verbrecher dürfe er nicht angesehen werden, da er unter dem Zwangt
eines ihn beherrschenden, Vernunft und Willen lähmenden Trieber handle. Ver£
fordert daher eine humane Behandlung dieser Leidenden, und schlägt als Stnis
für Delicte Perverssexueller eine zwangsweise Intemirung in Heilanstalten vor, die
unter Aufeicht des Staates stehen. Verf. glaubt zu dieser Forderung nmsomdr
berechtigt zu sein, als der Sachkundige der von Natur Goniraren und Perreit-
sexucUen von dem Verbrechern, die nicht von Natur aus zu einer anormalen Be-
friedigung des Geschlechtstriebes gezwungen seien, zu unterscheiden vermöge. Br
erinnert hierbei an die von v. Krafft-Ebing aufgestellten Unterschiede zwischen
Perversion und Perversität. Indem er am Schluss der Einleitung die Frage dff
Kindererziehung nochmals berührt, sucht er diese Unterschiede auch für die Kinder-
erziehung zu erweiten. Bei angeborener conträrer Sexualempfindung fordert er
Erziehung in einer Anstalt.
Im allgemeinen Theil geht Verf. nach kurzer Erörterung der Frage der firfo-
lichkeit der Perversität, wobei er sich den Ansichten v. Krafft-Ebing 's anschlieeit,
zunächst auf die Besprechung der Therapie der Masturbation über. Die Behand-
lung der psychischen, wie der actuellen Onanie erscheint ihm gleich wichtig.
Zunächst führt er das Traitement moral als wichtiges therapeutisches Agens
an, wobei er die Anweisung gicbt, dem Patienten die Onanie als die Wurzel der
sexuellen Perversitäten hinzustellen. Hierbei erörtert er zugleich die Frage der
Folgen der Onanie. Nach seiner Meinung kann dieselbe keine organische Er-
krankungen provociren. Bei Belasteten könne zwar die Masturbatio nimia die
Grundlage für eine schwere an Psychose grenzende oder in eine Psychose über-
gehende Neurasthenie bilden etc. Die Masturbatio sei aber nur als das venn-
lassende Moment, nicht als die Ursache anzusehen. — Für hartnäckige FiOs
schlägt er als erfolgreiches Verfahren die continuirliche Ueberwachung vor.
In zweiter Linie erwähnt er die diätetischen Maassnahmen. Er giebt An-
weisung über die Regelung der Bewegungen, wobei er Reiten und Radfahren ab
schädlich verwirft, er erörtert die Ernährungsweise, wobei er als Principien auf-
stellt, erstens eine hinreichende Kost, um eine Zunahme des Körpergewichts zu er-
zielen, oder aber, wo letzterer genügend ist, eine Abnahme zu verhindern, sweiteni
eine blande Diät, welche aber dem erstgenannten Ziele in keiner Weise ein Hinde^
niss entgegensetzen darf. Was den Schlaf betrifft, sucht er einen ausreichend tiefon
und traumlosen Schlaf durch hydriatische Proceduren hervorzurufen, wobei er fBOt
Unterstützung, wenn nöthig die Hypnotika heranzieht.
Referate und Besprechungen. 375
Neben der Regelung der Diät, der Arbeit und des Schlafes empfiehlt er noch
hydropathische Maassnahmen und Herabsetzung der Anspruchsfähigkeit des Ejecu-
lationscentrums. Gegen die bei Masturbation häufig beobachteten Störungen der
Herzthätigkeit empfiehlt er faradische Pinselung der Herzgegend oder Anlegen des
Leiter'schen Kühlapparats. Die häufig vorhandenen Störungen der Darmfunction
▼eriieren sich nach seiner Ansicht durch die Allgemeinbehandlung.
Im folgenden Kapitel, das Verf. der Therapie bei abnorm gesteigerter An-
spmcbsfahigkeit des Ejeculationscentrums widmet, führt er an, dass die im vorigen
Kapitel besprochenen Maassnahmen auch hier einzugreifen haben; eine Ergänzung
erkennt er in der Anwendung des galvanischen Stromes (stabil, Gathode am Peri-
neum, Anode in der Gegend des Ejeculationscentrums, 2—3 Minuten bei 2 — 3 M. A.
— labil, bei stabUer Cathode, Perineum oder Fussbad, die Anode längs der Haupt-
nervenstämme am Genitale« bei gleicher Dauer und Intensität) und der Kühlsonde. —
Das dritte Kapitel hat die hypnotische und suggestive Behandlung zum Gegen-
stand. Verf. ist der Ansicht, dass die Perverssexuellen schwer zu hypnotisiren
sind. Wenn ihm nun auch, besonders bei Perverssexuellen, der tiefste Grad der
Hypnose für die Suggestionen am besten geeignet erscheint, so zeigt ihm doch die
Erfahrung, dass auch bei weniger tiefen Graden gute Heilerfolge erzielt werden
koxmen. Er führt dies darauf zurück , dass , wie er sagt, sich doch meist irgend
eine weniger widerstandsfähige Stelle in dem pathologischen Triebleben des Per-
Tersen vorfindet, wo sich unsere therapeutischen Bemühungen einschleichen und
allmählich Wurzel fassen können.
Die Suggestionsbehandlung hat nach seiner Ansicht erst dann zu beginnen,
wenn mit der Masturbation die neurasthenischen Beschwerden durch die oben be-
sprochenen therapeutischen Maassnahmen beseitigt sind.
Betrefiis der zu wählenden Tageszeit ist Verf. der Ansicht, dass man einen
Zeitponkt auswählt, in welchem ein ausgesprochenes Ruhebedürfniss und zugleich
Verlangen nach Schlaf vorhanden ist.
Was die Technik betrifit, benutzt Verf. die Methode der Fixation von Auge
xa Auge. Auch die Methode von Wetterstrand findet seinen BeifaU. Ueber
die weiteren Bemerkungen, die sich hieran knüpfen, zu referiren, ist nicht nöthig,
da sie nur Bekanntes enthalten.
Auch die Wachsuggestion erkennt Verf. als günstig wirkend an.
Nachdem Verf. weiterhin erörtert hat, dass die Autosuggestionen und Fremd-
snggestionen, die zu den perversen Anomalien geführt haben, häufig durch Jahr-
aefante cultivirt, äusserst festhalten, und durch Gontrasuggestionen schwer zu ver-
treiben sind, macht er femer die Wirkung der Suggestionen von günstigen Neben-
nmstanden abhängig und kommt zu dem Schluss, dass eine Behandlung in einer
Axistalt unbedingt nöthig sei.
In den Fällen, wo die suggestive Behandlung scheitert, kann nach seiner
Meinung durch andere Methoden und des Traitement moral gute Erfolge erzielt
werden.
Den Fortbestand einer eingetretenen Heilung macht er abhängig von der
Alkoholabstinenz, und dem Sistiren der Masturbation. Es muss daher schon während
der Suggestionsbehandlung in dieser Richtung gewirkt werden. Als ergänzendes
Gegenmittel gegen die Masturbation wirkt nach seiner Ansicht ein regelmässiger
Oesehlechtsgennss, resp. das Eingehen einer Ehe.
376 Bafnmte und Bcaprechoiign.
Bin Bimtmi de« «pedeUen Theila «rpebt die folg«ndB TUmO«.
Tsn Strftkten-ITiMbsdtB.
Dr. Karl FMcOt^itrg, Ueber e{a«ii VbM «Tiaenter QesTiiidbeiti-
aehidlgnng durch hypootiiirende Einwirkang.
In einer nen enohieoenen Sknunlnng von AbhkTidlimgBn and Tortfigea i»
Terb. ') findet rieh unter anderen meiit h ygieniachen Inhalti aneh ein im Jahre 18B
gelialteuer Vortrag ttber obigf Thema. Ein triiher genmder, aber etwa« nerrä
reranltgter, intelligenter jnnger Mann Ton 18 Jahren vnrde Ton dem bekannla
Wandennagnetiienr Hamen in einer «einer Öffentlichen ünterhaltnngavoratollnng»
hTpnotisirt, ei wurden ihm die Terachiedensten wideriinnigiten Handinngen od
Halladnationen niggerirt, wodarcb der jonge Mann lohliecalich «o erreg:t inirde,
daM man einKhritt and ihn nach Haas brachte. Von dem Tage an bekam er An-
flUle, die man nach F.'b Schilderung nar ab hjtteriiohe Anfälle mit hallndnatorisehen
Delirien anteben kann. F. hebt auch hervor, data sie ebento waren wie die Anfille,
die er an Charcot'a Hypootiairten gesehen hatte. F. ist der Ansicht, „das* es
sich am eine Tetanitinmg eines bestimmt begrenzten Abscbnittea des psychischen
Organes mit ooDTnUiTen Zottänden, die im übrigen Kerrensystem eich auslösen,
handelt" Er warnt dringend TOr dem nnbemfeaen Hypnotisiren durch Laien.
Tecklenbarg-Leiprig.
I. Pits'sehe Bnchdr.) , Nanmbus a. S,
ZEITSCHBIFT FÜB HYFITISIUS
PSYCHOTHERAPIE
SOWIE ANDERE
SYCHOPHYSIOLOGISCHE UND PSYCHOPATflOLOGISCHE
FORSCHUNGEN.
BAND 9.
MIT BETTRIGEN von
Nl Ach (SnuBBBüBQ)« Dr. Bi.aiwiieimi (Eeakaü), Dk. BBODMAnr (Jsna), Pbop. BDrewANexs
Imma^ A. GaoHMAnr (Zükgb), Dr. Grotjahh (Brrlih), Dr. Hhorr (KAeDRBURe), Dr.
mcHLAPF (Bkrus), Dr. Ibrhbxbo (Bsrun), Dr. Laütkhragh (Brrldi), Dr. MARcnfOWSKi
^AitmMmms), Dr. F. G. Müllkr (MüHCHXir), Dr. t. ScHRSHCK-NoniNe (Mühchiv), Dr. Srif
ttacHRv), Dr. tax Straatrh (Brrlin), Dr. Tatxrl(Mühchrh), Dr. TscxLBXRURe (Lripco),
Dr. O. Yoer (Brruh), Dr. Yorbrodt (ALr-jRSSNin).
Ulm nsoKDnn PteDnuK« m
PROF. A. FOREL
nUUSGKBBDI TOI
DR. 0. VOGT.
LEIPZIG 1900
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BAJELTH
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalts-Yerzeicliniss.
Band 9.
Originalartikel.
Aeh, Ueber geistige Leistungsfähigkeit im Zustand des einge-
engten Bewusstseins 1
Binswanger, Zur Oasuistik der Agraphie 84
Grohmann, Einiges über Suggestion durch Briefe 283
Hilger, Zur Casuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie 47
Hirschlaff, Kritische Bemerkungen über den gegenwärtigen
Stand der Lehre vom Hypnotismus 65, 202
Marcinowski, Selbstbeobachtungen in der Hypnose ... 5, 177
Müller, Ueber den Einäuss des Lichtes auf die körperlichen und
psychischen Functionen 257
V. Schrenck-Notzing, Der Fall Sauter 321
Seif, Casuistische Beiträge zur Psychotherapie 276, 371
V. Straaten, Zur Kritik der hypnotischen Technik . . . 129, 193
Tatzel, Eine hypnotische Entfettungskur 231
Vogt, Kurze Bemerkungen über die vorstehenden Bemerkungen
Hirschlaffs 229
— Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen
Bedeutung. 1 253
Literatorübersichten.
V. Schrenck-Notzing, Literaturzusammenstellung über die Psy-
chologie und Psychopathologie der vita sexualis. 3. Fortsetzung 98
— IV —
Stito
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie seit dem Jahre
1896. 5. u. 6. Fortsetzung 113, 828
(Arbeiten von: ünverricht, Wollenberg, Soury, Brealer,
Baymond, Böttger, Stembo, Schütte, Schnitze, Hoff-
mann, y. Hösslin, y. Krafft-Ebing, Brealer, Bichter,
König, y. Krafft-Ebing, Kraepelin, Delbrück, D^ga,
Sanctis, Barth, Ziehen, Oppenheim, Magnan, Raymond,
y. Krafft-Ebing, Ganser, Binswanger, Janet, y.Krafft-
Ebing, Füratner, Wollenberg, Vigoaroux.)
Referate und BespreolnmgeiL
Abramowiczy Behandlung des chronischen Alcoholismus mittelst
Hypnotismus . 376
y. Bechterew, Hypnotische Suggestion bei chronischem Alco-
holismus 314
Eulenburg, üeber Arbeitscuren 61
Grassl, Die Hansen'sche Lehre vom Bevölkerungsstrom . . . 19S
Haenel, Die psychischen Wirkungen des Trionals S19
Higier, üeber spedfischen Dämmerzustand des Bewusstseins in
der posthypnotischen Periode 876
Ho ff mann, Physicalische Heilmethoden bei Nervenkranken . . 817
James, Talks to Teachers on Psychology SIS
Knopf, Sprachgymnastische Behandlung eines Falles von chro-
nischer Bulbärparalyse 191
Mendelsohn, Hypurgie 377
Moebius, Vermischte Aufsätze 880
Oppenheim, Nervenkrankheiten und Leetüre 879
Patrick, Some Peculiarities of the Secondary Personality . . 68
Bosin, lieber die compensatorische üebungstherapie der Tabes
dorsalis 191
Köm er, Psychiatrie und Seelsorge 874
Sanctis, Una Yeggenta 309
V. Schrenck-Notzing, Suggestive Behandlung des conträren
Geschlechtstriebes 314
Scripture, The new psychology 378
Strohmeyer, Enteretis membranacea 318
Switalski, Ueber Suggestivbehandlung des perversen Geschlechts-
triebes 376
V. Voss, Ueber Schwankungen der geistigen Arbeitsleistung . . 320
lieber geistige Leistungsfähigiceit im Zustande des eingeengten
Bewusstseins.
Von
Dr. Narziss Ach-Strassburg i. E.
In eingehender Weise hat Vogt ^) auf die Anwendbarkeit der auf
Selbstbeobachtung Yon Bewusstseinserscheinungen beruhenden directen
psychologischen Forschungsart in solchen Bewusstseinszuständen hin-
gewiesen, bei denen die Möglichkeit einer stärkeren Concentration der
Aufmerksamkeit gegeben ist. Er benutzte hierzu vor Allem den Zu-
stand des systematischen partiellen Wachseins. Wie für
die subjective Form des Experimentirens, also „für das Studiimi aller
derjenigen psychischen Phänomene, bei denen EJrinnerungsbilder den
wesentlichen Bestandtheil bilden^, so lässt sich auch für die objective
Art der psychologischen Forschung die angegebene Methode mit Erfolg
benutzen.
Besonders beachtenswerth erscheint mir ihre Verwendung für die
sogenannten fortlaufenden Methoden, bei denen wie beim Ad-
diren (Kraepelin) oder Auswendiglernen von Zahlenreihen (Ebbing-
haus), einzelne Gebiete des psychischen Geschehens durch gleichmässig
ablaufende Arbeit in Anspruch genommen werden. Wenn mir auch
bis jetzt nur eine recht geringe Zahl Yon Versuchen zur Verfügung steht,
so erscheint es mir doch nicht zwecklos, auf die Erhöhung der geistigen
Arbeitsleistung hinzuweisen, wie sie sich nach meinen Erfahrungen im
Zustande des systematisch eingeengten Bewusstseins einstellt, und die
▼ortheilhafte Anwendung der in Bede stehenden Art psychologischer
Forschung auch bei continuirlicher geistiger Arbeit darzuthun.
») ni. Intern. Congr. f. Psych. 1897, 8. 260 ff. — Diete Zeitichr., Bd. V, 8. 7 ff.
und 180 ff.
Z«iUehiift fOr Elypnotismas etc. IX. 1
2 Naräes Ach.
Als unberechenbare Einwirkung auf die Versuchsergebnisse, ins-
besondere der fortlaufenden Arbeit kann die Beeinflussung des Bewusst-
seins durch ablenkende Störungen, durch Zwischengedanken oder äussere
Beizeinwirkungen y betrachtet werden. Wohl kann eine hierdurch be-
dingte Ungleichmässigkeit der Arbeitsleistung, der Forderung Krae-
pelin's ^) entsprechend, durch Häufung der Beobachtungen unschädlich
gemacht werden. Doch wird sich mit dem Verschwinden dieser unbe-
absichtigten Beeinflussungen, wie es der Zustand des eingeengten Be-
wusstseins ermöglicht, die Leistungsfähigkeit in der vorliegenden Be-
schäftigung ihren psychophysischen Bedingungen folgend durch eine
grössere Genauigkeit auszeichnen, wobei die Möglichkeit der erhöhten
Aufmerksamkeitsspannung in einem Ansteigen der geleisteten Arbeit
zum Ausdruck kommt. Auch Schwankungen in der Stimmung, die bei
der Durchführung fortlaufender Aufgaben zuweilen hinderlich sind,
können im eingeengten Bewusstsein ausgeglichen werden. Daneben
werden sich die Begleiterscheinungen der continuirlichen Arbeit, die
psychophysischen Aufmerksamkeitsschwankungen, die Uebung, Anregung,
Ermüdung und Erholung in ihrem Einfluss auf die Arbeitsleistung
klarer und ausgesprochener nachweisen lassen. Die Wirkung der
Müdigkeitsgefiihle und der in Gestalt von Antrieben einsetzenden
Willensimpulse wird dagegen wohl in den Hintergrund treten. Die
Betrachtungsweise der verwickelten Arbeitscurve wird
demnach klarer und eindeutiger, ein Umstand, der an sich
schon zur Prüfung der Vogt' sehen Methodik auffordern müsste, be-
sonders da, wie bereits Vogt ausgeführt hat, zur Erzielung des par-
tiellen systematischen Wachseins die Suggestibilität jedes nervengesunden
Menschen genügt.
Da zur genauen Ausführung der angedeuteten Einzelheiten umfang-
reiche Reihen eingehender Versuche nöthig sind, wie sie mir leider in
Folge von Mangel an Versuchspersonen nicht zur Verfügung stehen,
so möchte ich vorerst nur auf die allgemeine Erhöhung der Arbeits-
leistung im Zustande des eingeengten Bewusstseins hinweisen.
Als fortlaufende Arbeit benutzte ich das Addiren einstelliger
Zahlen. Die Ausführung jeder Addition wurde durch einen Strich
markirt, was nach den Feststellungen Amberg's®) als zulässig er-
^) Kraepelin, Der psychologische Versuch in der Psychiatrie. Psych. Ar-
beiten, I. Bd., S. Iff.
') Amberg, üeber den Einfluss von Arbeitspausen auf die geistige LeistongB-
fähigkeit. Kraepelin's Psychol. Arbeiten, I. Bd., S. 300 ff.
üeber geistige Leistungsfähigkeit im Znstande des eingeengten Bewusstseins. 3
scheint. Auch hatte die Versuchsperson K. bereits zu Beginn der
ersten Hypnose durch wochenlange andersartige Versuche eine hoho
üebung im Addiren erreicht. Der Schlaf war gleich in der ersten
Sitzung tief. Aus diesem Schlafe wurde E. durch die sich auf die
vorliegende, bekannte Aufgabe beziehende Suggestion partiell erweckt,
während für die übrigen nicht am Experimente betheiligten Bewusst-
seinselemente die Schlafhemmung weiter dauerte. Wenn ich mich den
AusführuDgen Vogt 's anschliesse, so bestand die affectlose Zielvor-
stellung ihrem positiven Inhalte nach darin, dass der Versuchsperson
aufgetragen wurde, sie werde wie sonst mit möglichster Anspannung der
Aufmerksamkeit arbeiten; der negative Inhalt der Zielvorstellung be-
stand in der Empfindungsunfahigkeit gegen Tast- und Gehörseindrücke.
Nur das Schlagen der fünf Minuten-Uhr, das von der Versuchsperson
durch einen Querstrich angezeigt wurde, sollte gehört werden.
In der folgenden Zusammenstellung sind die Ergebnisse von vier
Versuchstagen, 2 Normaltagen (6. und 10. Juli) und 2 Hypnose-Tagen
(8. und 9. Juli), vorgeführt. Die Versuchszeit war Morgens 9 Uhr eine
halbe Stunde lang, die in der Tabelle der Versuchsanordnung ent-
sprechend in je 6 Abschnitte mit den Additionsergebnissen von jedes Mal
5 Minuten abgetheilt ist.
Anzahl der gemachten Additionen.
Zeit
6. VII. 1898
8. vn.
9. vn.
10. YIL
Normal
Hypnose
Hypnose
Normal
1. Fünf Minuten
349
404
408
366
2. ,
363
462
411
366
3' n n
348
439
418
376
4
346
419
440
411
5. » n
343
420
452
326
6« » »
359
415
367
361
•
Summe der Addit. der ersten
25 Minuten
1739
2134
2129
1843
Leider können wir die letzten fünf Minuten zu einer vergleichenden
Betrachtung nicht heranziehen, da K. am 9. VII. bereits nach 25 Mi-
nuten wieder vollständig erwachte, und sich seine Additionen in Folge
dessen hier sehr stark der Norm nähern. Das Steigen der Leistung
im Zustande des eingeengten Bewusstseins ist augenfällig. Ohne auf
Einzelheiten einzugehen, will ich nur anführen, dass die Besserung der
1*
4 Narziu Ach.
ersten 26 Minuten an den beiden Hypnose-Tagen gegenüber den Nomud-
tagen 681 Additionen oder 19 ^^^ der Normalleistung beträgt Die
abnorm intensive Folgewirkung des eingeengten Be-
wusstseinszustandes hat eine Steigerung der Arbeits-
leistung um fast einFünftel des Normalen herbeizuführen
vermocht. In mannigfachen Beispielen hat Vogt auf partiell erhöhte
Leistungsfähigkeit im Zustande des eingeengten Wachseins hingewiesen.
Die erwähnten Untersuchungen bilden eine Bestätigung dieser E^
fahrungen.
Da es sich bei den vorliegenden Versuchen um eine künstliche
Erhöhung der geistigen Widerstandsfähigkeit handelt, so e^
giebt sich hieraus die Unmöglichkeit, den Zustand des systematisch
eingeengten Bewusstseins zur Untersuchung der individuell verschieden
starken Ablenkbarkeit, einer Grundeigenschaft der geistigen Persön-
lichkeit, zu verwenden. Doch wird die vergleichende Untersuchung von
Arbeitsleistungen, die unter dem Einflüsse ablenkender Reize vor sidi
gehen und solcher, die im Zustande des eingeengten Bewusstseins, abo
ohne Störung ablaufen, nicht ohne Nutzen für die Frage nach der
geistigen Widerstandsfähigkeit sein.
Die spärlichen, von mir mit Zeitmessung ausgeführten Experimente
(Reactionsversuche) sind bis jetzt noch ohne greifbaren Erfolg geblieben.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose.
£ine Studie von
Dr. Marcinowski, Ding. Arzt am Inselbade bei PaderborD.
Diese Zeilen schreibe ich nieder auf Veranlassung von O. Vogt,
welcher bekanntlich eine ganze Sammlung ähnlicher Selbstbeobachtungen
besitzt. Die Publication der meinigen war anfangs keineswegs be-
absichtigt. Die Experimente hatten für mich zunächst lediglich den
Zweck, die Empfindungen des Hypnotisirten am eigenen Körper kennen
zu lernen, um mich so besser in die psychische Verfassung meiner
Patienten hinein denken zu können. Aeussere Umstände und Oompli-
cationen, die dabei eintraten, legten uns aber bald den Gedanken nahe,
diese Selbstbeobachtungen seien ein geeignetes Demonstrationsobject
für mancherlei Geschehnisse, die sich im Rahmen normal psycho-
logischer Vorgänge abspielen ; jedenfalls enthalten ihre Details eine
Anzahl feinerer technischer Fingerzeige und werfen hier und da auch
ein Streiflicht auf die mannigfachen offenen Fragen unserer Special-
wissenschaft; doch davon am Schluss.
O. Vogt hatte es also unternommen, mich einzuschläfern, und
wählte hierzu die von ihm eingeführte Form des sogen, fractionirten
Verfahrens.
Brodmann hat dasselbe in dieser Zeitschrift jüngst eingehend
geschildert, so dass ich über die technischen Details heute kurz hin-
weg gehen kann. Ich legte mich auf ein Chaiselongue nieder, deckte
mich mit einem Plaid zu, Vogt verdunkelte das Zimmer etwas durch
Herabdrehen der Gasflammen und nahm neben mir Platz. Die üblichen
Vorbereitungen, auf welche mit Recht so grosser Werth gelegt wird,
wie theoretische Belehrung etc. fielen bei mir fort. Vogt legte
6 Dr. MarcinowskL
seine Hand auf meine Stirn, forderte mich auf, gerade vor mich
hin zu sehen, also nach der Zimmerdecke, und begann sofort mit
ruhigem, behaglichem Stimmfall meine Aufmerksamkeit auf die sich
einstellenden Empfindungen des Einschlafens zu richten; Wärme der
aufgelegten Hand, Erscheinungen am Orbicularis oculi etc. gaben dazu
Gelegenheit. Dabei erkundigte er sich nach der Realisation der Sog-
gestionen und Hess mich antworten. Bald hatte ich mich gewohnt,
auch ohne Fragen zu erzählen, was mir etwa auffiel. Auf diese Art
liess sich zu Beginn jeder Sitzung der Grad meiner Disposition und Sug-
gestibüität leicht prüfen. Bald nachdem der Augenschluss erfolgt war,
wurde ich zunächst wieder aufgeweckt und nach allen Details mein»
Empfindungen ausgefragt. Die nächsten Hypnosen derselben Sitzong
wurden dann allmählich immer länger und tiefer gestaltet. Die Sug-
gestionen erstreckten sich bei mir naturgemäss lediglich auf die Er*
zielung eines ruhigen hypnotischen Schlafzustandes.
lieber meine Person habe ich hier noch einzuschalten, dass ich
noch niemals hypnotisirt worden war ; vor Jahren hatte ich mich einem
äusserst gewandten Hypnotiseur gegenüber vollkommen refractär ei^
wiesen, obwohl ich mich keineswegs gegen die Hypnose gesträubt hatte,
welche mir vorher von anderen demonstrirt worden war. Damals war
ich etwa 17 Jahre alt. Ich habe mich jetzt als Arzt seit längerer
Zeit mit der Psychotherapie theoretisch und practisch vertraut ge-
macht und mehrfach selber Hypnosen zu Heilzwecken eingeleitet, auch
des öfteren andere Kollegen hypnotische £lxperimente vornehmen sehen.
Ferner will ich der Vollständigkeit halber einige Characteristica
meiner psychischen Veranlagung anführen, da auch auf die Berück-
sichtigung dieser Momente vom Hypnotiseur seinen Kranken gegenüber
Bücksicht genommen werden soll. Dass diese oft die specielle Gestaltung
hypnotischer Zustände beeinflusst, braucht hier wohl nicht erst erörtert
zu werden.
Ich gehöre nicht zu den ruhigen Menschen, sondern neige ent-
schieden zur Nervosität, vulgo Neurasthenie. Ich verfüge über ein vor-
zügliches Auffassungsvermögen, aber die frühere Treue des Gedächt-
nisses ist schon lange nicht mehr vorhanden; so leicht ich mir einen
Gedankengang assimilire, so wenig zähe halte ich ihn fest. Ich habe
gegen früher entschieden an Fähigkeit zu concentrirter Aufmerk-
samkeit eingebüsst und schiebe dies auf einen gewissen Hang zum
Wachträumen; ich bin nicht wie früher im Stande, auftauchende Ge-
dankenreihen immer zu unterdrücken, so dass ich häufig zu schnell
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 7
handle. Hieraus verstehe ich Manches^ was ich in der Hypnose an mir
beobachtet habe. Mein Schlafbedürfniss ist ziemlich gross, mein Schlaf
ruhig und meist traumlos. Derselbe wird seit längerer Zeit fast alle
Nächte von Perioden von Halbschlummer unterbrochen, da meine Frau
mehrmals der Kinder wegen aufsteht. Für diese Perioden fehlt mir
nur sehr ausnahmsweise das Erinnerungsvermögen. Aeusserlich schlafe
ich dabei ruhig weiter, weiss aber alles, was um mich vorgeht.
Zum Kapitel der Autosuggestionen habe ich noch zu erwähnen,
dass ich zur Zeit von eigentlicher Hypnosenliteratur nur die grösseren
Werke von ßernheim, Wetterstrand undPorel genauerkannte,
und mich für diese Selbstbeobachtungen absichtlich naiv gehalten habe.
Von Selbstbeobachtungen war mir nur die Bleulersche bekannt
(F 0 r e 1 , Hypnotismus, p. 216 f.). Die Zeitschrift für Hypnotismus habe
ich erst nach Fertigstellung der Protokolle vorgenommen und hoffe, dass
ich so vermieden habe, Zustände darum zu produciren, weil ich sie vorher
studirt hatte, oder Beobachtungen zu machen, weil ich im Vorurtheil
befangen, sie unbewusst so machen wollte, um so werthvoUer war es mir,
hinterher Bestätigungen von Anschauungen zu lesen, die sich mit den
meinigen oft wörtlich deckten, und unbeeinäusst mit meinen Schluss-
folgerungen zu Resultaten gelangt zu sein, zu denen auch andere ge-
konmien waren. Diese Art und Weise, wie ich zu ihnen gelangt bin,
dürfte auch den objectiven Werth meiner Beobachtungen erhöhen.
Bleuler stellt am Ende seiner Selbstbeobachtung die Frage auf,
ob die h3rpnotischen Zustände sehr mannigfacher Natur seien, oder
mehr eine gewisse Gesetzmässigkeit aufwiesen. Die folgenden Zeilen
mögen ihm darauf die Antwort geben, dass hypnotische Zustände trotz
ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit nirgends eines gesetzmässigen Zu-
sammenhanges mit den normalen psycho-physiologischen Geschehen ent-
behren, und dass wir in der That begründete Aussicht
haben, den Gesetzen dieses Geschehens mit Hülfe der
Selbstbeobachtung in eingeengten Bewusstseinszustän-
den, wie sie die Hypnose darstellt, mehr und mehr auf
die Spur zu kommen.
Ich kann hier natürlich nur einen kleinen Bruchtheil von all dem
wiedergeben, was ich in der Hypnose empfunden und beobachtet habe.
Ich würde sonst zu ausführlich werden müssen. Ich habe deshalb auch
nur die wesentlichsten Vorkommnisse geschildert, und von der Wieder-
gabe des weitläufigen Wortlauts der ertheilten Suggestionen Abstand
genommen, da ich dieselben doch nicht hätte wortgetreu angeben können.
8 Dr. Marcinowsld.
Die Protokolle sind .von mir unmittelbar nach den Sitzungen Terfiunl
Ihr Inhalt dürfte genau genug angegeben sein, um Unklarheiten in der
Darstellung zu Termeiden.
I. Sitzung: Donnerstag Abend Vt6 Uhr. 4 Versuche.
1. Hypnose.
Beim Hinlegen zeigt sich starkes Herzklopfen und es tritt eine eigenartige
Aufregung ein, für welche ich keine Erklärung habe finden können, ein psychisdiei
Substrat für dieselbe fehlte in meinem Bewusstsein vollkommen. Unter der auiF*
gelegten Hand und geeignetem Zuspruch beruhigt sich das Herz bald.
Die die erste Hypnose einleitenden Suggestionen realisiren sich schnelL Ich
theile während derselben Vogt meine Beobachtungen mit. Das Wärmegefnhl der
auf die Stirn gelegten Hand ist nur schwach angedeutet; den Grund hierfür findet
Vogt in einer starken Eigenwärme meiner Stirn. Meine Aufregung ist nun ent-
sprechenden Suggestionen vollständig gewichen. Der Augenschluss kommt folgender-
maassen zu Stande, während Vogt diese Erscheinungen in Form verbaler Sag-
gestionen begleitet: Zunächst hebt sich das Unterlid, so dass das Gesichtsfeld nach
unten kleiner wird, zugleich tritt dabei mehr Thränenfeuchtigkeit vor die Pupille,
und verschleiert den freien Blick etwas; das Zwinkern hört auf, ich merke, wie
der Blick starr wird, die Gegenstände verschwimmen mit undeutlichen Grenzen,
das untere Lid hebt sich immer mehr, und plötzlich senkt sich das obere IM
herunter, die Augen sind geschlossen. Ein unendlich wohlthuendes Gefühl durch-
strömt den Körper, man glaubt noch tiefer in die Kissen zurückzusinken; ich strecke
mich aus, und ein tiefer, wollüstiger Athemzug hebt die Brust; dann ebbt die
Kespirationsthätigkeit ab, weit unter die Norm sinkend, und die Athmung bleibt
während der Hypnose leise, oberflächlich und auffallend langsam. Ruhe, behagliches
sich gehen lassen, Lustbetonung sind der Inhalt der einfachen verbalen Suggestionen.
Ich verhalte mich dabei ganz passiv, beobachte zunächst die hellen Kontrastbilder
der Dcckenstnkatur. die sich meinem Augenhintergrund eingeprägt hatte, und welche
als röthlich leuchtende Figuren die Zeichnung der Decke auf dem nun schwarzen
Untergrund meines visuell sonst leeren Bewusstseins wiedergaben. Es tritt eine
unendlich behagliche Kühe ein. Ich glaube, all dem Widerstand leisten zu können,
will es aber nicht und fühle nicht das geringste Bedürfniss dazu, denn mir ist
so sehr wohl. Trotzdem versuche ich eine kleine Probe; als Vogt mit der
Suggestion des Erwachens beginnt, öffne ich die Augen, ohne den Befehl dazu
abzuwarten. Es gelingt sofort, vielleicht allerdings nur darum so leicht, wefl die
Suggestion des Erwachens schon eingeleitet war. Dies geschah mit den Worten:
„Wenn ich jetzt bis 3 zähle, so gehen Ihre Augen auf, und Sie sind wieder gans
schön frisch und munter. Eins, zwei, drei!" Die ganze Suggestion wurde mit etwas
erhobener, lebhafter Stimme gegeben.
2. Hypnose tritt bereits schneller ein, ist auch etwas tiefer. Die oben näher
beschriebenen optischen Kontrastbilder gehen wirr durcheinander. Durch alle
Glieder geht ein eigenthümliches Ziehen. In der Muskulatur machen sich Spannungen
bemerkbar, die namentlich im Gesicht immer mehr zunehmen und sich dort schliesslieh
unwiderstehlich bis zum Lächeln steigern. Ich habe dies zwar als Lächeln em-
pfunden, meine aber, dass der Vorgang der war, dass die Vorstellung des Lächelns
erst durch den Spasmus geweckt wurde. Ich erinnere mich dabei, dieses Lächeln
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 9
bei Vielen Hypnotisirten gesehen zu haben, und dass ich dabei immer gedacht hatte,
daas sie sich in der That über die Hypnose lustig machten. Es ist dies aber höchstens
als ein Verlegenheitslächeln über die eigenthümliche Situation aufzufassen, in der
man sich komisch vorkommt, wenn es eben überhaupt als die Folge einer Reflexion
aoÜEufassen ist, und nicht umgekehrt diese Reflexion erst die Folge der
empfundenen Muskelspannungen darstellt. Diese Muskelspannungen
traten schliesslich zwangsweise auf, d. h. ich hatte das Gefühl, mich ihnen gegen-
über gehen lassen zu müssen, ohne dabei zu vergessen, dass ich sie in jedem
Moment durch kräftigen Willen unterdrücken konnte; ich hatte aber absolut kein
Bedürfniss dazu. Die Muskelunruhe und der Spasmus der mimischen Muskeln liess
auf wiederholte Yerbalsuggestion sehr bald nach.
Dr. V. macht nun starke Streichungen über den linken Arm und suggerirt
das Auftreten von Wärme in demselben. Diese Suggestion realisirt sich nicht,
sondern ich mache Y. darauf aufmerksam, dass ich durch die Streichungen ent-
schieden mehr geweckt werde. Mir waren dieselben unangenehm. Später nach
dem Aufwachen fand ich auch den Grund dafür. Ich selbst pflege nämlich beim
Hypnotisiren die Streichungen nur ganz leicht und den Körper kaum berührend
auszuführen. Als ich bei V. zuerst die Anwendung so fester Streichungen sah,
hatte ich immer den Gedanken gehabt, dass dieselben nicht so wirksam sein könnten,
als die von mir geübten. Dies war, wenn ich mir dieses Zusammenhanges auch
zanächst nicht bewusst war, der Grund, warum mich diese Streichungen störten.
Schnelles vollkommenes Erwachen auf Kommando.
3. Hypnose.
Augenschluss erfolgt rasch, aber zunächst unvollständig; die Augen bleiben
eine Zeit lang halb offen, wobei ich für einige Zeit etwas munterer werde. Ich
hatte nämlich dem Gefühl des Augenschliessens zu früh nachgegeben, früher als bis
ea unwiderstehlich wurde. Diesmal sprach V. viel auf mich ein, vor allem Ruhe und
behagliches Daliegen suggerirend. Das Gefühl des völligen Sichhingebens an die
Rohe war geradezu wonnig, die Glieder schmiegten sich völlig ihrer Unterlage an.
Ich hatte dabei immer das Gefühl, als ob V. mit seinen Suggestionen etwas später
käme, als sich dieselben verwirklichten; die Bewusstseinserscheinung war schon da,
als ich seine Worte hörte. Dieselben betrafen auch das Lächeln ; der Spasmus sollte
nicht wieder auftreten, und in der That hatte ich diesmal zu meiner Verwun-
derung nicht den Drang zum Lächeln, sondern empfand zugleich mit der Ruhe
deutlich ein Erschlaffen der ganzen Muskulatur, auch im Gesicht ; die Wangen hingen
mir schlaff herunter. V. schien das auch zu bemerken, aber ich konnte in Gedanken
nicht recht unterscheiden, ob das Eintreten des Phänomens suggerirt war, oder ob
es umgekehrt nur geschickt zur Suggestion benutzt wurde, weil sein Eintreten bemerkt
worden war. Mein Empfinden bei ruhiger, nicht mit dem Gefühl der Anstrengung
verknüpfter Selbstbeobachtung war bei allen Suggestionswirkungen das des spon-
tanen Eintritts, verbunden mit einem ausgesprochenen Gefühl der Passivität. In
dieser Hypnose mache ich auch die Bemerkung, dass ich genau fühlen konnte, wie
meine Bulbi nach oben und innen gedreht waren, etwas, was mir einige Tage zuvor
in wachem Zustand trotz angestrengten Bemühens nicht möglich gewesen war.
Ich hatte also während der Hypnose volle Kritik, auch bemerkte ich, dass
ich alles in der Aussenwelt Vorgehende auffasste, genau wie im Wachen. Das
10 Dr. MarcinowskL
Bedürfniss aber, zu prüfen, ob ich mich noch bewegen könne, wie es in der zweiten
Hypnose aufgetaucht war, fehlte mir.
4. Hypnose.
Dieselbe war nur wenig tiefer. Die Worte von V. wurden mir aber immer
gleichgültiger ; ich hörte sie, ohne darauf hinzuhören. Der Strassenlärm wurde ebenso
laut wie vorher empfunden, trotz gegen theiliger Suggestion, aber ich bewahrte ihm
gegenüber ein grösseres Gefühl der Kühe ; er weckte in mir an undeutliche Träume
erinnernde Bilder: ein Hund bellte z. B., und ich sah ihn zugleich vor mir. als ob
ich lebhaft träumte.
Abbruch der Versuche für heute, da sich die Hypnose nicht weiter TertiefU.
Frisches erquicktes Gefühl nach dem Aufwachen. Ich bemerkte noch am Tage
darauf, dass gewisse Erinnerungsbilder des während der Hypnose Vorgeüalleneii
von ungewohnt starker sinnlicher Lebhaftigkeit waren und auch fernerhin blieben.
Beim Fortgehen versichert mir V., dass ich erstaunt sein werde, wie gross der
Unterschied zwischen heute und dem nächsten Tage sein würde. Obwohl ich mir
sofort bewusst war, dass diese so oft gehörten Worte eine Suggestion darstellten,
so fehlte mir doch zu meiner Verwunderung die volle Kritik hierfür trotz wachen
Zustaudes ; ich empfand die Wirkung der Worte, und konnte mir nicht klar darüber
werden, ob sie Vogt 's wirklicher IJeberzeugung entsprachen oder lediglich auf
Suggestivwirkung berechnet waren. Dieser Gedanke beschäftigte mich lange Zeit,
ohne selbst nach Wochen an dem Status etwas zu ändern.
II. Sitzung: Freitag Abends V36 Uhr. Am Abend vorher hatte ich mich
eingehend über hypnotische Zustände unterhalten und war darauf des Nachts in
einen tiefen bleischweren Schlaf versunken, eine SchlafTorm, die von meinem ge-
wohnten Schlaf wesentlich abwich.') Bei Beginn der Versuche tritt wieder starkes
Herzklopfen auf, lässt sich aber leicht beruhigen. Die Haut ist heute auffallend kühler
wie gestern, so dass sich auch die Wärmesuggestion der aufgelegten Hand leichter
realisirt. Es worden 5 kurze Hypnosen hervorgerufen. Die Beeinflussung ist aber
heute nur eine ganz geringe^ und der Beginn der Schlafhemmung lässt zum Theil
recht lange auf sich warten. In der Hypnose selbst tritt auch nicht jene wohlige
Entspannung und Ruhe auf wie gestern, sondern der ganze Körper bleibt etwas
erregt, wie nach einer seelischen Aufregung, einzelne Muskelgruppen, so im Ge-
sicht, zeigten leichte Zuckungen. Es ist mir heute nicht möglich, jene wohlthuende
Gedankenlosigkeit hervorzurufen und zu empfinden. Die Vorstellungen jagen sich
und wechseln rasch. Die gegebenen Suggestionen ärgern mich; Vogt's Stimme
ist mir störend laut, und die Wortfolge zu schnell. Ich bitte nun Y., das Zimmer
mehr zu verdunkeln ; umsonst, jeder weitere Versuch ist immer weniger erfolgreich.
Ich habe schliesslich nur das Gefühl, dass ich mit geschlossenem Auge daUege und
mich ärgere. Beim dritten 3Ial realisirt sich die Wärmesuggestion auf der Hast
an Armen, Brust und Hals auffallend stark und hält auch noch nach der Hypnose
längere Zeit an, desgleichen bleibt das Gefühl von dem Druck der Hand an der
Stirn bestehen. Beim vierten Versuch tritt der Augenschluss ungleich ein und
zwar zuerst rechts, mit dem Gefühl des Krampfes verbunden. In demselben Moment
breche ich selber den Versuch ab, und zu gleicher Zeit tritt ein kürzerer Krampf
der Orbicularis auf, der das Auge, während ich mich erhebe, ganz schliesst. £s
*) Cfr. pag. 7 oben.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. H
fehlte bei allen Versuchen die Intensität des Bedürfnisses zum Augenschluss und
jedes Lustgefühl; welches gestern die einzelnen Proceduren in so ausgesprochenem
Maasse begleitete. Hin und wieder liessen die Spannungen in den Muskeln ruck-
weise nach, was man wörtlich sehr richtig als „tiefer sinken ** bezeichnen kann ; aber
es kam dabei zu keiner andauernden Ruhe und Erschlaffung.
Nach einer Pause von einer halben Stunde Wiederholung der Versuche. 4 kurze
Hypnosen. Die Zeit bis zum Augenschluss dauert noch länger wie vorher ; nament-
lich der völlige Schiusa erfordert mehrere Minuten. Die Stimmung ist im All-
gemeinen ruhiger, aber immer noch treten Muskelspannungen auf. Es spielt sich
ein richtiger Kampf ab ; ich empfinde genau das Auf- und Abwogen zwischen Auf-
wachen und tieferen Einschlummern, welches wieder meist ruckartig erfolgt. Beim
dritten Versuch habe ich unter sehr lebhaftem Zuspruch und energischen, rasch
hintereinander wiederholten Suggestionen plötzlich die Empfindung, nunmehr über-
wältigt zu werden und meinen heute so schlecht disponirten Zustand verschwinden
zu fühlen. Leider wird der Zuspruch gleich darauf wieder ruhiger, und sofort
wird auch die Hypnose wieder oberflächlich. In den beiden ersten Versuchen
jagten sich die verschiedensten Bilder und Vorstellungen ohne ersichtlichen Zu-
sammenhang, ohne Beziehungen zu einander; am 3. und 4. war das Bewusstsein
meist völlig leer. Der Grad der Beeinflussung war im Ganzen nur ein sehr ge-
ringer gewesen.
Der Grund für diese unerwartet eingetretene Oomplication war zunächst nicht
ersichtlich, wurde aber von mir sofort mit der ungewöhnlichen Form des vorauf-
gegangenen Nachtschlafes in Verbindung gebracht, ohne dass es mir dabei möglich
gewesen wäre, mich irgend eines Traumbildes oder dergleichen zu erinnern.
III. Sitzung: Sonnabend 10 Vi — UV« Uhr Vormittags. Mein Nachtschlaf war
wie gewöhnlich verlaufen. ^) Zunächst wurden drei ganz kurze Versuche gemacht.
I>ie Hand wurde auf meine Bitte ganz lose auf die Stirn aufgelegt, weil sie, fest
an die Stirn gedrückt, mich in unbequemer Weise am wohligen Ausstrecken ge-
hindert hatte. Heute kein Herzklopfen. Der Augenschluss erfolgt rechts und links
wieder gleichmässig, nur tritt dabei nicht wie bei I. das Gefühl des Schwindens
der Sinne auf, und die Lider werden auch trotz darauf gerichteter Suggestion
ebenso wenig wie gestern schwer oder müde. Der Zwang zum Schliessen der
Augenlider ist ein ganz anders gearteter als bei I. Während sie sich da mit einem
anendlich behaglichen Gefühl heruntersenkten, ein Gefühl, gegen das mir gar nicht
der Gedanke kam, mich wehren zu wollen, ist es heute jedes Mal ein ausgesprochener
£rampf des Orbicularis, den ich nicht überwinden kann. Mit grosser Anstrengung
gelingt es mir, den Lidspalt etwas zu erweitem. Durch diese Bewegung kommt
mir aber der krampfhafte Zustand des Muskels nur imisomehr zum Bewusstsein,
und das Gefühl des Zwanges wird deshalb nur noch mehr verstärkt, je mehr ich
mich dagegen wehre. Schliesslich sehe ich die Nutzlosigkeit meiner Bemühungen
ein ; der Wille zum Widerstand lässt nach, ich gebe den Kampf auf, und der letzte
schmale Kest der Lidspalte schliesst sich, aber ohne jede lustbetonte Müdigkeits-
empfindung. Die einzelnen einfacheren Suggestionen der Wärme, der Ruhe und
der Erschlaffung, der nachlassenden Spannung in der Zwerchfellgegend, wo sich
leise Spasmen störend bemerkbar machen, erfüllen sich prompt. Die eintretende
') Cfr. pag. 7 oben.
12 Dr. Marcinowski.
Realisation wird als Folge der Suggestion erkannt, und das Oefnhl des Beeinflussi-
werdens ist im Bewusstsein vorhanden. Die einzelnen Realisationen sind aber nicht
von Dauer, sie erfolgen zwar nnmittelbar, lösen sich aber gleich darauf wieder langsam,
und so stellt sich der ganze Vorgang als ein wogender Kampf dar, der mich in
seiner Form und seiner körperlichen Empfindung an eine Rutschbahn erinnert, die
nach steilerem Abfall ein allmähliches Steigen in stetiger Wiederholung zeigt. Das
Empfinden hierbei ist das des körperlichen Sinkens und Gehoben werden« ; daher
das Aufbauchen des erwähnten Vergleichbildes. Dieser Wechsel von Einschlafen
und Aufwachen war aber im Gegensatz zu der Abwehr des fremdartigen Empfindens
eines Augenmuskelkrampfes ein lustbetonter. Der Strassenlärm ist mir wie gestern
sehr unangenehm, weil er mich an der völligen Hingabe hindert, ebenso störte
es mich wie gestern, dass Herr V. die Suggestionen in schneller Wortfolge giebi
und sie in complicirte, fachwissenschaftliche Ausdrücke kleidet, oftmals derselben
Suggestion eine wechselnde Form gebend. Es macht mir, der ich scharfe and spiti-
findige Dialectik gewohnt bin, hier Mühe, den Worten zu folgen, und ich bitte am
monotonere und etwas „ungebildetere*' Suggestionen.
Kleine Pause. Unterhaltung über den Zustand. Ich erwähne hierbei meiM
Gewohnheit, mich oft noch kurz vor Tisch zu einem kurzen, erquickenden Schlafe
hinzulegen, der immer stark lustbetont ist.
Es folgen drei längere Versuche. Allen gemeinsam ist wieder der krampfhafte
Augenschluss , wie bei 1. bis 3. Eindringliche Suggestion der Schläfrigkeit und
Müdigkeit, sowie der Erinnerung an das Lustgefühl, welches ich am ersten Tage
empfunden hatte, realisirt sich ganz allmählich und langsam, erreicht aber nicht
jene Intensität wonnigen Gefühls wie bei I. Bei ruhiger, leiser Sprechweise werde
ich allmählich gleichgültiger gegen Worte und Aussengeräusche, von denen nur
noch die ganz lauten meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In der Pause zwischen
5 und 6 kommt mir erst nach dem Aufwecken, das wie stets ohne Mühe geschieht,
auf einmal ein starkos Gefühl von 3Iüdigkeit zum Bewusstsein, und ich erkenne
jetzt erst im Wachen den weitgehenden Grad der stattgehabten Beeinflussung. So
bald ich mich hochrichte, lasse ich mich mit einer gewissen Willensschlaffheit so-
gleich wieder zurückfallen, und gebe der angenehmen Müdigkeit nach. Ich gebe
meinem Empfinden mit den Worten Ausdinick: „wenn mir das zu Hause passirte.
so würde ich nun sagen, Kinder, lasst mich mal eine Viertelstunde zufrieden, ich
muss mich ein bischen hinlegen."
Ich lege mich nun auf die Seite. Der Augenschluss erfolgt wieder krampf-
haft; Suggestion des erwähnten Mittagschlafes, und des ersten Stadiums gewöhn-
lichen Einschlafens. Dieselbe ist mir, wahrscheinlich als gewohnte Vorstellung, an-
genehm. Darauf überlässt mich V. mir selbst, entfernt auch die Hand von der
Stirn. Nach längerer Zeit, ausgefüllt mit angenehmer Ruhe, habe ich das Gefohlt
dass ich doch nicht tiefer einschlafen könne ; es überkommt mich schliesslich etwas
wie Langeweile und ich öffne die Augen spontan, ohne Befehl. Ich hatte
stets gemeint, dass ich einfach nur die Augen zu öfihen brauche, um wieder im
wachen Zustande zu sein, und glaubte dies heute um so mehr, als ich mich unbe-
einfiusst wähnte, sollte aber sofort eines Besseren belehrt werden. Ich setzte mich
auf und musste dabei ein starkes Gefühl von Müdigkeit überwinden. Kaum war ich
dann aber einige Schritte gegangen, als ich auch schon einen Stuhl nehmen und
meinen Kopf aufstützen musste ; ein unbezwingliches Gefühl von Schläfrigkeit über-
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 13
mannte mich einfach, war stärker als mein Wille. Erst drei Mal wiederholte, ener-
^sche Wachsuggestion unter Händedruck auf die Schläfengegend brachte mich wieder
in normale Verfassung. Ich war also durch die Müdigkeitssuggestion doch so stark
beeinfiusst, ohne das in der Hypnose selbst empfunden zu haben, und dies machte
sich um so stärker geltend, als ich ohne Aufwecken den Versuch selbstständig ab-
gebrochen hatte. Ein unangenehmer Kopischmerz verfolgte mich übrigens noch
den ganzen Tag trotz angestrengter ablenkender Arbeit und yerliess mich erst
ziemlich plötzlich Abends gegen 8 Uhr.
Interessant war heute unter Anderem der Unterschied zwischen lustbetonten
gewohnten und imangenehmen ungewohnten Vorstellungen zu constatiren.
rV. Sitzung:
Sonntag IOV4— UVi-
1. und 2. Kurze Versuche zur Prüfung der Suggestibilität. Augenschluss erfolgt
heute ohne Spannung und ohne Krampf. Wärme schnell realisirt. Die Suggestion
der Müdigkeit und Schwere in den Lidern wird in Gegensatz zu dem gestrigen
Krampf gesetzt und als normale gewohnte Empfindung hingestellt. Ruhe imd
Lustbetonung vorhanden. Störung durch grelles Sonnenlicht wird durch Herab-
lassen der Markise beseitigt. Suggestibilität ist ausgesprochen vorhanden.
3. Längere Hypnose. Die eigenen Gedanken stören mich und lassen mich
nicht tiefer kommen. Ich sage mir in Gedanken rhythmisch mit den Athem-
bewegungen fortwährend die Worte her: „nicht nachdenken, nicht nachdenken'',
später, als der Strassenlärm wieder sehr laut ist: „nicht hören, nicht hören*'. Es
glückt damit, Gedanken und Geräusche etwas zu unterdrücken, aber nur für kurze
Zeit, dann lenken sie plötzlich wieder die Aufmerksamkeit auf sich, und in dem-
selben Augenblick werden sie wieder als sehr laut bewusst. Alle darüber und
über Anderes angestellten Reflexionen machen mir einen traumhaften Eindruck
und verlieren immer mehr an Activität; die Gedanken tauchen von selbst auf.
Trotzdem habe ich die ausgesprochene Idee, nicht beeinflusst zu sein; ich weiss,
dass ich unter dem Einfluss der Suggestion stehe, habe aber keine entsprechende
Empfindung davon. Es ist dies ein eigenthümlicher Zwiespalt, dem ich aber nicht
anders Worte zu leihen vermag. Der aber weckt den Gedanken des Zweifels in
mir und zugleich den Wunsch nach gewaltsamerer Beeinflussung.
Nach längerer Pause 4. Versuch. Augenschluss trotz Aufforderung zur
Gegenwehr schnell erzielt und lustbetont. Lebhafte Suggestion der Müde und
Schwere, des sich nicht mehr bewegen Wollens. Es tritt keine Lust zur Prüfung
der Wirkung ein. Ich weiss genau, ich kann mich bewegen; aber sobald ich den
motorischen Impuls gebe, so lässt der Wille dazu auch schon nach, und es kommt
höchstens zu Unruhe oder Zuckungen in einzelnen Muskeln. Schliesslich gebe ich's
auf, habe aber nicht das Gefühl des absoluten Beherrschtseins. Ich erachte dies
dabei in Gedanken als eine Folge der Vogt'schen Methode, welche beabsichtigt, den
Bestand des eigenen Willens zum unantastbaren Bewusstseinsbesitz werden zu lassen«
Auch hier bleiben die Reflexionen traumhafter, passiver Natur.
V. Sitzung:
Montag 10"/4— llVi Vorm.
1. Versuch, nur ganz kurz zur Prüfung der Disposition. Ich empfinde von
▼omherein Ruhe und Behaglichkeit und habe das Gefühl, dass die Experimente
h^ate gut glücken würden.
14 Dr- Marcinowski.
Augenschluss erfolgt sehr schnell. Wärme stark realisirt. SchlAfhemmnng
lustbetont. Keine Spasmen in der Muskulatur bemerkbar.
2. Versuch, wird etwas länger ausgedehnt. Ich werde dabei in Folge der
darauf gerichteten Suggestionen ruhig und gleichgiltig gegen die Aussenwelt
Einfache Verbalsuggestion, die Tiefe der Schlafhemmung betrefifend, und mit ruhiger
gedämpfter Stimme gegeben, sind mir angenehm und bewirken stets nnmittelbar
darauf tieferes Einsinken in den Schlummerzustand, besonders dann, wenn die
Suggestion zeitlich mit dem Exspirium zusammentrifft, welches in der Rückenlage
schon an und für sich von dem Gefühl des Zurücksinkens begleitet ist.
3. Versuch, Zustand wie bei 2. Zu Beginn lege ich den Kopf anders als ge-
wöhnlich, sehe dadurch neue ungewohnte Bilder vor mir an der Wand und fühle
mich dadurch absolut wach. Ich nehme wieder die gewohnte Lage ein und sehe
die Decke an, wie bei den früheren Hypnosen. Sehr lebhafte Suggestionen und
schnelles Sprechen monire ich als störend. Ich komme dann allmählich in einen
Zustand tieferer Schlafhcmmung und fühle wieder meine zunehmende Gleichgiltig-
keit gegen die Aussenwelt. Der Strassenlärm ärgert mich nicht mehr so, ich habe
nicht mehr den lebhaften Wunsch, ihn nicht zu hören, er hält meine Aofnierksanh
keit nicht mehr gefesselt. Diese Empfindungen entsprechen genau den darauf
hinzielenden Suggestionen.
4. Längere Hypnose, ich komme noch etwas tiefer hinein. Es tauchen tot
mir zusammenhanglose Bilder auf, die ganz flüchtiger Natur sind, und mir nur
dunkel bewusst werden. Einzelne davon knüpfen hin und wieder an ein Geräusdi
draussen an. Ich sage zu Dr. Vogt, dass ich träume.
5. Versuch. Noch länger und noch tiefer, bei völlig erhaltener und bewnsster
Kritik meiner Situation. Ich beobachte ohne Anstrengung oder Aufinerksamkeit
alle Details, wie im Theater, die Träume fangen wieder an, sind zunächst noch
sehr flüchtig, werden dann aber lebhafter: Wagen fahren. — Männer gehen, —
Alles durcheinander jagend, ohne erkennbare associative Verknüpfung. Ich sageV.,
dass eine furchtbare Unordnung in meinem Gehirn herrsche. Suggestion, dass die
Bilder sich nicht so jagen sollten, in geringerer Menge auftreten, dafür aber deut-
licher werden sollten. Zunächst wird mein Bewusstsein darauf leer. Alles ist
schwarz. Dann kommen die Träume wieder und werden immer sinnlicher. Der
Wagen kommt wieder, — es ist ein Taxameter. — es kommt mir so vor, als ob
der Kutscher betrunken ist, — ich muss darüber lächeln, — ein Frauenzimmer
geht vorüber, sieht sich um und lacht auch, — auf der Strasse schnelles Pferde-
getrappel, — das Geräusch überträgt sich auf die Person, sie läuft, trippelt, und mm
finde ich das wieder komisch, und verziehe mein Gesicht zum Lachen, was ich
deutlich fühle. Jetzt denke ich an gestern Nachmittag, wo ich im Menschen-
gewühl unter den Linden ging, — die Menschenmenge wächst immer mehr, — un-
zählige Wagen rasseln näher, — auch der Kaiser kommt, wie gestern, — immer mehr
Equipagen, — die Situation droht gefahrlich zu werden, — in demselben Moment
wird auch schon ein Mensch überfahren, — Alles stürzt daher, — immer mehr
Menschen, — Militär mit rothen Federbüschen kommt in Front angelaufen etc. etc.
Beim üeberfahren des Menschen wird der Traum schliesslich affectbetont, die
Situation regt mich lebhaft auf, ich hole ängstlich und tief Athem , verliere aber
dabei nicht das Bewusstsein der Situation, weiss wo ich bin und dass ich träume,
weiss, dass ich jeden Moment wach sein könnte, wenn ich wollte, und beobachte
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 15
interessirt den jagenden Character der rasend schnell sich entwickelnden Traum-
bilder. Ich werde mitten in Träumen in der üblichen Weise geweckt, bin sofort
munter.
6. Einschlafen erfolgt sehr schnell. Es tauchen wieder einzelne Traumbilder
auf: — eine Gasse, — wo ist das ? — Ja, richtig, das muss in Breslau sein, — ich
war vor 14 Tagen noch dort — aber es sieht fremd aus — nein, es ist doch die
Ghisse, die ich meine, sie führt nach dem Hof des Magdalenen-Gymnasiums — und
nun sehe ich mich als Knabe da spielen und befinde mich von dem Moment an in
der Lage eines Menschen, der in einen Stereoskopkasten hineinguckt, und vor dessen
Augen ein Bild nach dem andern herunterklappt, nur geht dies hier äusserst schnell
vor sich. Dieser Traum hat einen absolut anderen Character, wie der im 5. Versuch.
Die Bilder sind von stereoskopischer Plasticität und stellen deutliche, complexe Er-
innerungsbilder von wirklichen Begebenheiten meiner Kinderzeit dar, welche mir
als wahr bekannt sind. Sie folgen ungemein rasch hinter einander, und ich fühle,
wie eines das andere durch angesprochene Associationen ablöst. Begebenheiten, die
durch ihren Inhalt eng mit einander associirt sind, tauchen in ganzen Reihen schnell
hinter einander auf, und erinnern mich einen Moment an ähnliche Vorkommnisse
bei den Freud-Breuer 'sehen Analysen. Nach einer ganz kleinen Pause kommt
dann wieder eine neue Serie, alles ohne jeden chronologischen Zusammenhang, nur
dem Inhalt oder einzelnen Inhaltsmomenten nach zusammengehörig, aber alles meine
Kindheit betreffend, soweit ich sie in Breslau verlebt habe, also bis zu meinem 10. Lebens-
jahre. Keine einzige phantastische Vorstellung kommt dazwischen. Beispiele:
1. Bild: Ich pflegte sehr früh des Morgens mit meinem Vater spaziren zu gehen,
— 2. Bild: wir kaufen dann in einem Keller frische warme Semmeln, — 3. Bild:
der Spaziergang führt zu Teichen, wo ich Salamander fange, — 4. Bild : Salamander-
zucht zu Hause, — — neue Serie: — a) der alte Portier — b) seine Frau —
c) deren Katze — d) Quälerei derselben — e) dieselben fanden im Garten statt —
f) Spiele daselbst — g) meine Wohnung auf einem Weidenbaume — h) Unfug von
da ans — i) Spiegelblenden der Kindermädchen draussen — k) anderer Unfug
draussen etc. So jagte ein Bild das andere, aber jedes ist für sich abgerundet.
Einmal bewege ich dabei meine Lippen wie zum Sprechen, so lebhaft sind die
Traume. Allen Träumen in 5 und 6 fehlt auffallender Weise jedes acustische
Phänomen; es sind stumme Büder, nur zum Ansehen. An Strassenlärm weiss
ich mich nicht zu erinnern. Auffallend ist hier namentlich der scharf getrennte,
absolut verschiedene Character der Träume in 5 und 6. Ihr Auftreten war rein
passiver Natur.
Ich war an diesem Tage gegen ^j^l Uhr frisch aufgewacht und hatte dann
dennoch bis 8 geschlafen. Von diesem Morgenschlaf war ich mit ziemlich heftigem,
dumpfem Kopfschmerz erwacht und hatte dies Dr. V. mitgetheilt. Es gelang aber
weder in den einzelnen Hypnosen, noch nachher im Wachen unter Zuhülfenahme
von starkem üeberreiz, durch schmerzhaften Druck auf die Kopfnerven (supraorbitalis,
Ramus temporalis), die Schmerzen wirksam zu bekämpfen. V. hatte dies voraus-
gesagt, da die sich den Morgenschlaf anknüpfenden Kopfschmerzen in der Regel
einer therapeutischen Beeinflussung sehr unzugänglich sind.
Im Allgemeinen scheint das Hindemiss, welches sich der Beeinflussung am
zweiten Tage entgegen gestellt hatte, nunmehr gänzlich überwunden zu sein.
16 Dr. Marciuowski.
VI. Sitzung:
Dienstag *;4ll— 11 Uhr Vorm.
Einige Zeit vor dem Beginn der Versuche macht sich eine gewisse Dimhe
im ganzen Körper bemerkbar, dem Gefühl einer unbestimmten ErwartoDg ühnliBh,
1. Ganz kurzer Versuch. Augenschluss erfolgt schnell. Warmesoggestii»
realisirt sich stark. Die Erregung nimmt zu, begreift in erster Linie die Mnskolatiir;
leises allgemeines Ziehen im Körper, hie und da fibrDläre Zuckungen, das plotiEek
zu ziemlich heftigem Zähneklappem führt. Ich kann es nicht unterdrücken, und
habe dabei das Gefühl der Willensschwäche, d. h. ich nütze meinen Willen nickt
genug aus und weiss das. Ich fühle , dass ich mich nicht so anstrenge, als idi
könnte, ich lasse mich gehen. Schnelles Aufwecken beseitigt diese Erscheinimgen.
2. Augenschluss schnell, energische Ruhesuggestion. Das Muskelzittera lud
Zähneklappern deutet sich noch einige Male an, dann tritt Tollkommene Koke
und Schlaffheit ein, trotzdem ein stark schmerzhafter Krampf im rechten Fun
entsteht. Derselbe schwindet sonst nur. wenn ich aufstehen oder den Foss gegsa
eine harte Fläche anstemmen kann. Ich kämpfe mit mir, ob ich das thim soU.
Heute gelingt es mir aber, durch grosse Willensanstrengung, unterstützt dorch die
energische Suggestion, Schmerz und Krampf zu überwinden, bis er allmählich Ton
selbst nachlässt. Die Hypnose vertieft sich darauf rasch, ich werde wieder gleieh-
giltig gegen die Worte des Hypnotiseurs, und höre nur selten darauf hin. £s taachio
bei sonst leerem Bewusstsein einzelne wenige, ganz undeutliche Traumbilder auf.
3. Der Lidschluss erfolgt nur ganz langsam und unyollständig, ich bleibe dabei
wach und empfinde schliesslich genau, woran das liegt. Vogt wollte mich nämliA
versuchsweise allein einschlafen lassen und mir fehlte ohne die bereits gewohate
verbale Suggestion die Möglichkeit hierzu. Wenige Worte genügen sofort, um
die Augen zum Schluss zu bringen und Müdigkeit und Ruhe hervorzamfen. . Last-
betonter Erschlaffungszustand, die Geräusche ärgern mich nicht, starke Gleichgiltigkot
Die ErschlaiTungs- und Ruhesuggestionen rufen in mir heute wieder das auch von
V. in seine Suggestionen hineingewobene Gefühl des in I. beschriebenen, hiDr
gegossenen Daliegens hervor. Ich halte nun die Hände über dem Bauch gefattet»
eine dieser Vorstellung widersprechende Lage. Es taucht in Folge dessen dsi
Bedürfniss in mir auf, die Hände zu lösen und schlaff bei Seite zu legen. Ich widM^
strebe diesem Bedürfniss, worauf dasselbe immer stärker wird, und schliesslich zo
einem sehr unangenehmen Gefühl in den Händen führt, bis ich nachgebe und die
Hände bei Seite lege. Sofort tritt tiefe lustbetonte Ruhe ein.
Darauf beobachte ich eine Art von Träumen, welche ich als Gedankentraoms
ohne Bilder bezeichnen möchte. Sie sind flüchtiger Natur, treten passiv auf and
lassen mit einer auffallenden Durchsichtigkeit associative Anknüpfungen an Ge-
räusche und auch associative Verknüpfungen unter sich erkennen. Ich fühle, wis
dieser Zustand des eingeengten Bewusstseins leichter und schneller die bestehenden
associativen Verbindungen aufdeckt; die Dinge fallen mir schneller ein, ohne dsM
ich danach zu suchen brauche. Da V. keine weiteren verbalen Suggestionen giebt,
werde ich langsam wieder wacher. Rasches Aufwachen auf BefehL
4. Lidschluss erfolgt schnell. Ich komme rasch tiefer, der ungemein Isote
Strassenlärm stört mich aber sehr und ich gelange nicht zu behaglicher Ruhe. Da Y.
nicht spricht, werde ich immer wieder wacher und bitte um Traumsnggestionen. Ich
war nicht im Stande, die Träume activ hervorzurufen. Die Suggestion der Tranm'
SelbstbeobachtuDgen in der Hypnose. 17
bilder war erst zu allgemein gehalten und realisirte sich deshalb nicht. Ich habe das
Gefühl, dass dies so nichts nutzt, und bitte um speciellere Suggestionen. Sie werden
gegeben, aber nicht ganz in der Form, wie ich es erwartet habe. Ich glaubte mich
zu phantastischen Träumen disponirt, wie sie gestern beim 5. Versuch auftauchten,
während V. an die in V. 6. bezeichneten Scenen anknüpfte. Nun träumte ich zwar,
aber immer abwechselnd, bald nach Typus V. 5., bald nach V. 6., wobei die ein-
zelnen Bilder sich nicht vermengten, und nur insofern associatiye Verknüpfung
zeigten, als sie dieser Art nach zusammengehörten, ähnlich dem wechselnden Inhalt
auf den einzelnen Seiten des bekannten H offm an n' sehen Romans „Kater Murr".
Die Träume waren auch nicht so plastisch, nicht so sauber und deutlich abgerundet
wie gestern, wurden aber gleichwohl gelegentlich afifectbetont : Eine aufgeregte
Menschenmasse rief lautes und schnelles Athmen hervor, das mir zwar nicht recht
motivirt vorkommt , dass ich aber trotz dieser Kritik nicht unterdrücke. Die Träume
verblassen sofort wieder, als Vogt aufhört, dieselben zu suggeriren; ich fühle, wie die
Hypnose wieder oberflächlicher wird. G&rade will ich um neue Suggestionen bitten,
als V. mich aufweckt. Obwohl ich glaubte, zum Schluss nur ganz oberflächlich ge-
schlafen zu haben, bin ich nach dem Erwachen noch immer benommen, und muss
wiederholt um energischen Wachbefehl bitten.
Diese Versuchsreihe ist characterisirt durch die starke Abhängigkeit des Zo-
■tandes von den andauernden Suggestionen. Ich bemühte mich vergebens, irgend
etwas selbst hervorzurufen, nicht einmal zum spontanen Augenschluss kam ich, und
musste Vogt schliesslich darum bitten, und das Alles bei erhaltener klarer Kritik
und trotz des Gefühls, eigentlich noch immer keinen tieferen Grad von Beinflussung
erreicht zu haben.
VII. Sitzung: Mittwoch 10 — 11 Uhr Vorm. 1. Kurze Einleitungshypnose er-
giebt hohe Suggestibilität und die gestern beobachtete starke Abhängigkeit vom
Wortlaut der Suggestionen.
Der 2. Versuch ergiebt zunächst nichts Neues. Ich komme rasch in tiefere
Hypn. Geräusche und Stimme des Hypn. bleiben bald unbeachtet, ähnlich als wenn
man während einer Unterhaltung an ganz andere Dinge denkt. Die suggerirten
Träume realisiren sich nur sehr langsam und verhältnissmässig undeutlich. Sie
werden laut Suggestion an das zwischen 1 und 2 geführte Gespräch angeknüpft.
(Aufnahme von Athmungscurven.) Aber der Traum ist gewissermaassen mühsam;
ich habe die Empfindung an seinem plastischen Zustandekommen mitzuarbeiten,
ich male mir den Inhalt derselben activ aus, während ich ihn träume, sehe aber
die Bilder ziemlich lebhaft vor mir.
Indessen bemächtigt sich meines Körjiers ein so ausgesprochenes Gefühl von
Müdigkeit und bleierner Schwere, wie ich es bisher in diesem Grade nicht gekannt
habe. Zugleich wird die ganze Haut intensiv wann, ich bleibe aber klar in meiner
Beobachtungsfähigkeit und fasse die Sache wohl richtig so auf, als ob der Körper
jetzt trotz erhaltener geistiger Kritik ganz tief schläft. An diesem Erschlaffung»,
zustand nimmt auch die Aluskulatur der Hautgefässe und der Blutcapillaren Theil
daher die Wärmeempfindung. Das Bewusstsein wird leer, nur die Fähigkeit zur
Beobachtung ist wach geblieben. Ich habe dabei ein Gefühl in den Gliedern,
namentlich in den Armen, welches in mir den Gedanken weckt, dieselben schliefen
so tief, dass ein Griff von Vogt zur Herstellung der Katalepsie ausreichen müsste*
Aufwecken rasch und vollständig.
Zeitschrift fdr Ilypnotismus etc. IX. 2
lg Dr. 3Iarcinow8ki.
3. Versuch. Kancher Lidschluss. Aufmorksamkcit so auf die VorgäDge in der
Hypnose gerichtet, dass Ueräusche gänzlich ignorirt werden. Detaillirtere Suggestion
von Schwere und Müdigkeit roalisirt sich schnell, dem Befehl folgend erst im rechten
Arm, dann im linken, und schliesslich im ganzen übrigen Korper. Der Zustand ist
sofort so tief, wie vorher bei 2. Nun ergreift V. meinen linken Arm. stellt ihn
aufrecht und versucht mehrere Minuten lang suggestive Katalepsie her\'orzarufeiL
aber die Suggestion realisirt sich absolut nicht, auch nicht einmal andeutangs-
weise, der Arm bleibt schlaff; dagegen resultirt ein sehr interessanter ZastAnd.
über den ich mich trotz der weitgehenden somatischen Schlafhemmung genau unter-
halte und Auskunft gebe. Es handelt sich um ein partielles vollkommenes Auf-
wecken des linken Armes bis zur Schulter durch die mit obigen Versuchen ver-
bundenen passiven Bewegungen desselben. Ich hebe ihn ungehemmt und mühelos,
mache sogar unwillkürliche Gesten mit ihm beim Sprechen, jedem leisesten Willens-
impuls folgt er sofort, wie im völligen Wachsein; aber ausser ihm ist der ganze
übrige Körper in einer starken Hciiimung befangen, gewissermaassen gefesselt. Nor
mit gewaltiger Willensanstrengung gelingt es mir, einige Bewegungen mit dem
rechten Arm anzudeuten. £r ist bleischwer und sinkt zurück. Der Willensimpnb
ist trotz der Anstrengung zu schwach: ich bin den schlafenden Gliedern gegenüber
nicht zu energischen Impulsen fähig. Die Haut ist wie in 2 warm, sonderbarer
Weise ist aber der ganze linke wache Arm sehr kalt, was sich auch objectiv nach-
weisen lässt, und V. stellt fest, dass er gegenüber dem übrigen Körper auffallend
blass sei, also stark contrahirte Hautgefässe aufwiese. Die dem linken Arm gegen-
über versuchten Wärme- und Schlafsuggestionen gelingen bis zu einem gewissen
Grad, müssen aber Schritt für Schritt vorgehend gegeben werden. Schliesslich
bleibt nur ucm-Ii die ulnare Kaute des Unterarms und der Hand kalt und blass.
Nunmehr wollte V. die augenscheinlich vorhandene Tiefe der Hypnose aus-
nutzen und suggerirte .\inuesie. Dies ruft aber sofort die heftigsten Gegenvorstellungen
wach. Die Idee, nach der Hypnose wonu'iglich die Fähigkeit zu verlieren, die
heute besonders interessanten Vorgänge aufzeichnen zu können, führt zu lebhaftem
mit Krregung verbundenen Sträuben. Diese Abwehr ist mit dem Bewusstsein ver*
bunden, dass mein Wille die Situation vollkommen beherrsche, und dass es nicht
möglich sein dürfe uu»! werde, mir die ungewollte Amnesie aufzudrängen, die Ab-
wehr tauchte aber rein jja^siv auf. Schnelles, vollständige Erwachen auf Befehl
Das Kältegefühl im linken Arm bleibt auch nach dem Aufwachen noch längere
Zeit bestehen und lässt sich auch durch energisches Reiben meinerseits nicht ver-
ändern. Erst als V. diese Manipulation selber vornimmt und sie mit energischen
Wachsuggestionen verbindet, lässt der Krampf in der Gefässmuskulatur allmählich nach.
Vlll. Sitzung:
Donnerstag 10— lOV-, Uhr.
1. Kurze Hypnose. Augenschluss erfolgt auffallend langsam. Dabei habeich
nach einigem Nachdenken die Enipüudung. dass dies mit den dabei auftauchenden
Erinnerungsbildern des gestrigen Abends zusammenhängt. Ob diese als Ursache für
den verspäteten Lidschluss wirken, oder ob umgekehrt der verspätete Lidschluss die
Erinnerung au gestern weckt, kann ich dabei nicht genau unterscheiden. Es handelte
sich darum, dass ich ein junges Mädchen zu therapeutischen Zwecken hj'pnotisirt
hatte und dabei von der üblichen Reihenfolge der Suggestionen insofern abgewichen
war, dass ich zunächst ihre Aufmerksamkeit auf allgemeine körperiiche Sym-
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 19
ptome lenkte und den Lidscbluss anfangs weniger betonte. So war zwar ein für
das erste Mal schnelles Einschlafen erzielt worden, aber bei verhältnisamässig langsam
«intretendem Lidscbluss. Dies Erinnerungsbild tauchte in mir auf und mag, mir
unbewusst, seinen Einfluss geltend gemacht haben, so dass sich V. nach dem Grunde
dieser bei mir nicht gewohnten Erscheinung erkundigte. Das passiv auftauchende
Erinnerungsbild lenkte meine Aufmerksamkeit auch entschieden von der eigenen
Hypnose und von Vogtes Worten ab.
2. Die Hemmung des Lidschlusses ist nach dieser Analyse und der Aussprache
über dieselbe beseitigt. Die Augen schliessen sich schnell und ich fühle, wie ich
rasch tiefer komme. Ich £alte die Hände über der Brust, es ist mir aber nur kurze
Zeit möglich, sie so zu halten ; die Suggestion der Schlaffheit zwingt mir wiederum
das Bedürfniss auf, sie an die Seite heruntergleiten zu lassen. Ich fühle, wie diese
Suggestion durch das Erinnerungsbild an die Vorgänge aus der früheren Hypnose
(cfr. VI, 3) verstärkt wird. Darauf vertieft sich wie damals die Schlafhemmung
rasch. Der Körper wird von wohliger Wärme überrieselt, die Gefässmuskulatur
entspannt sich, die Glieder werden bleischwer wie gestern, und der somatische
Schlaf tritt wieder ein. Aber aufs Neue spielt die Erinnerung an frühere Hypnosen
hinein; mit dem bleischweren Gefühl tritt dessen associative Verbindung mit dem
(gestrigen Zustande in Wirkung, und der linke Arm wird genau wie gestern wach.
£r wird auch nicht warm, sondern ich habe im Gegensatz zum übrigen Körper
«ine kühle Empfindung (als ich 3 Tage später beim Dictiren des Manuscripts an
diese Stelle komme, tritt im wachen Zustand das intensive Kältegefühl im linken
Arm wieder auf und bleibt ca. V4 Stunde lang bestehen). Lange kämpfe ich mit
dem Entschluss, Bewegungen zu versuchen. Es ist ein starker Widerstand dagegen
vorhanden und ich theile dies V. mit. Schliesslich ermanne ich mich zu dem Versuch
and kann den linken wachen Arm genau so gut bewegen, wie gestern, während es
mir nur mit grosser Anstrengung gelingt, den rechten zu rühren. Ich fühle,
welchen Widerstand die Gelenke bieten, der Arm fällt bleischwer herab. Uebrigens
konnte V. diesmal keinen objectiven Unterschied in der Wärme zwischen rechts
und links wahrnehmen. Es handelte sich also wohl nur um eine Erinnerung auf
Tomehmlich psychischem' Gebiet, während bei dem erwähnten Dictat der Unter-
schied in der Wärme der beiden Hände wieder ein stark auffallender und objectiv
ohne Weiteres nachzuweisender war.
Vogt streicht den linken Arm, energisch Wärme suggerirend. Dieselbe ver-
wirklicht sich aber ebenso unvollständig, wie gestern. Im Gegentheil, die mit den
Streichungen verbundenen Bewegungen wecken mich auf. V. überlässt mich dann
mir selbst und bekämpt nur meine Tendenz, die Erscheinungen scharf zu beobachten.
Ich fühle dann aber wie früher, dass der Schlaf meines Körpers allmählich immer
leichter wird, es kehrt Leben in die Glieder zurück, sie sind nicht mehr so blei-
schwer und müde, und ich spüre etwas wie Erquickung nach Schlummer. V. weckt
mich auf, nachdem ich ihm dies mitgetheilt habe.
3. Schnelleres Einschlafen, ich komme aber nicht tief. Starke Hyperacusis;
der Strassenlärm bt meiner Empfindung nach unerträglich laut, V. findet das
Gegentheil. Die Hypnose ist ganz oberfiächlich und unergiebig. Die Idee, mich
selbst beobachten zu wollen, verhindert augenscheinlich das Eintreten tieferer, an
Bewusstlosigkeit erinnernde Zustände vollkommen. Ich werde rasch aufgeweckt
und glaube kaum, beeinflusst gewesen zu sein.
2*
20 ^f* Marcinowski.
IX. Sitzung nach drei mal 24 Std. Pause, nm die starke Tendenz zur Seibit«
beobachtang abzuschwächen:
Sonntag 10—11 Uhr Vorm.
Vor Beginn des 1. Versuches sprechen wir noch über TerSchiedene Dingt,
während ich schon daliege. Diese Stellung und die ganze Umgebung ruft mir
dabei einige Male das Gefühl eintretender Hypnose wach, so dass ich den Augei-
schluss direct bekämpfen muss.
1. Derselbe erfolgt dann sehr schnell und erinnert mich lebhaft an I. £inige
Unruhe in der Muskulatur kann ich nicht unterdrücken, sowohl das Lächeb ib
auch das in VI. beobachtete Zähneklappem wird angedeutet. Ich bitte, mir ait
der Hand die Wangen zu streichen, und dadurch die Beruhigungssuggestion n
unterstützen. Allmählich lässt die Unruhe nach, und so tritt unter dem £inflaw
der Worte jener ausgesprochene Erschlaffungszustand auf, der sich auch wieder vi
die Gefässmuskulatur erstreckt, nur die linke Hand bleibt kalt. Ich mache dimf
aufmerksam und V. suggerirt unter Berührung derselben Wärme mit den Wortes:
„Sie fühlen, wie sie allmählich wärmer wird." Das Wort allmählich ruftmäni
Kritik wach, da sich der Ausdruck nicht dem thatsächlichen Geschehen anschmiegt
Die Wärme kommt nämlich dadurch zu Stande, dass sich peristaltische Wellen toi
Erschlaffung der Muscularis über die Glieder crgiessen, die mit dem Gefühl der Wiiii»>
Congestion ycrbunden sind. Ich mache V. auf diesen Unterschied aufmerksam, soffii
darauf, dass dies von ihm so häutig angewandte Wort „allmählich*' überhaupt uf
meine Zustände nur selten gepasst hätte. V. suggerirt in Folge dessen eine fluthwciii
Zunahme der Wärme. Aber schon wieder wird meine Kritik wach , denn die Flith-
wellen betreffen nicht den Wärmegrad, wie V. meint, sondern die räumliehi
Ausdehnung desselben ; jede Welle schreitet über die Grenzen des erwärmten Gehieto
weiter hinaus, dieselben peripherwärts erweiternd. Es sind diese Wellen parslW
zu setzen mit dem Auf- und Abwogen des Einschlnmmerns und wieder Aufwacheu^
wie ich es bereits geschildert habe. ^) Diese Erscheinung tritt auch heute dentüA
auf, und ich erkenne dabei die Ursache für ein eigen thümliches Gefühl in des
Augäpfeln, welches das tiefere Einsinkon in Schlummer begleitet. Dasselbe kommt
dadurch zu Stande, dass zu gleicher Zeit mit dem Moment des Vertiefens der
Hypnose, die Bulbi wie beim Lidschluss ad maximum nach oben und innen g**
wendet werden.
Geräusche ärgern mich heute nicht. Zwischen Kritik und Gleichgfiltiglnn
wogt die Stimmung auf und ab. Ich rufe mir activ eine Menge Traumbilder hcrrtir,
ähnlich dem Typus V. 6. gestaltet, nur wahrscheinlich ihrer activen Kator eat
sprechend langsamer ablaufend; sie betreffen eine viel spätere Lebensepoch
wie in V. 6.
Nach dem Aufwecken fühle ich mich leicht benommen. Ich glaube, ziemUv
lange gelegen zu haben, vielleicht V j Stunde, und finde zu meiner grossen Vefr
wunderung eine leichte Amnesie angedeutet. Es macht mir Mühe, mich an dit a
eben noch klar bewussten Vorgänge zu erinnern, und das Nachdenken ist mir S*
meinem halbdrisigcn Zustand lästig. Schliesslich überwinde ich das Gefühl, ksnft
mich aber absolut nicht besinnen, was ich V. noch erzählen wollte, und gebe • ^
endlich auf, die Sache herauszukriegen. Mit dem Moment aber, wo V. seine Hand
') Cfr. II. b, pag. 11 u. III. 1—3.
i
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 21
aaf meine Stirn legt und die 2. Hypnose einzuleiten beginnt, weiss ich wieder Alles
und sage dies. V. nimmt die Hand fort und in demselben Augenblicke will sich
wieder Alles verwischen. £s gelingt mir aber, die ausreissenden Gedanken noch
gewiasermaassen beim letzten £nde zu erwischen und festzuhalten, so dass ich nun
V. die beabsichtigte Mittheilung machen kann, nämlich, dass ich schon vor Beginn
der 1. Hypnose durch die ganze Situation meinen Zustand derart beeinflusst ge-
fohlt hatte, wie ich es bereits schilderte.
2. Hypnose. Dieselbe ist nicht ganz so tief wie 1, was ich daran merke,
dass mich der Strassenlärm nicht so gleichgültig lässt. Active und passive Träume
gehen durcheinander, bald Phantasmen, bald affectbetonte Bilder wie bei V. 5,
oder auch Erinnerungsbilder wirklicher Begebenheiten. Der active Traum erinnert
genau an wache Zustände, wenn ich mich meinen Gedanken hingebe.^) Heute
«onstmirte ich ein einfaches Perimeter für mein Sprechzimmer, ohne dass ich seit
Tielen Monaten mit diesem Plan zu thun gehabt hätte. Diese Arbeit hatte die
Form eines Traumes, in welchem ich das fertige, sich stets in der Construction
dem jeweiligen Gedankengang anpassende Instrument mit Patienten versuchte;
sinnliche Lebhaftigkeit der Bilder war ausgesprochen vorhanden. Bei den Er-
innerungsbildern wirklicher Begebenheiten trat deren associative Verknüpfung unter-
einander wieder klar hervor. Z. B. : Ich sehe einen runden gelben Fleck, —
ich denke an Sonne, — dies weckt in mir die Erinnerung an ein modernes Bild,
wo ein 3Iann seine beiden Arme der Sonne entgegenstreckt, — darauf fällt mir ein
Blatt aus dem Skizzenbuch meiner Mutter ein, wo sie selbst in ähnlicher Haltung
and unter Bezug auf die Worte: „Ich grüsse dich, Frau Sonne!" skizzirt worden
war (doppelte Association Sonne und Haltung), — von da komme ich auf die
Künstlerin, die das gezeichnet hatte, — etc. etc.
Im Ganzen war der Somatische Schlaf diesmal nicht so tief wie bei VII, die
Benommenheit der geistigen Functionen dagegen bedeutend stärker ausgeprägt,
als je zuvor.
X. Sitzung:
Dienstag, Vorm. 10 — 11 IJhr.
1. Hypnose. Wärmesuggestion realisirt sich sehr schnell und auffallend stark,
ich empfinde die Congestion in die Haut der Stirn und der Augenlider brennend
heiss. Die Augen schliessen sich sehr schnell; unter tiefem Aufathmen und einem
wanderbar wonnigen Lustgefühl strecke ich mich und sinke sofort in jene angenehme
Erschlaffang. Die Athmung wird darauf ganz flach und langsam, nachdem noch
eine Weile lang im Anschluss an das erste tiefe Aufathmen sehr ausbiegige Bespi-
rationsbewegungen gemacht wurden, die der Ausdruck jener stark lustbetonten
Erregung des ganzen Körpers waren. Ich erinnere mich nicht, jemals ein solch rausch-
artiges Empfinden gehabt zu haben, ausser bei sexuellen Erregungen. Zugleich
ergoss sich auch die heisse Congestionswelle über die Gliedmaassen und ich kam
schnell in tiefere Hypnose. Jetzt fiel mir ein, dass wir das letzte Mal verabredet
Balten, dass ich mir Watte in die Ohren stecken wollte, um mehr gegen die mich
so stark belästigenden akustischen Reize geschützt zu sein. Ich fürchtete mich,
durch dieselben in diesem Zustand gestört zu werden, der mir heute besonders gut
disponirt erschien. Ich erinnerte V. deshalb an unsere Abrede und er weckte mich
*) Cfr. Einleitung, pag. 6.
22 ^r. Marcinowski.
auf. Ich bedaure das sehr, da die folgenden Yersnche leider nicht gehalten haben,
-was der erste versprach. Dieser erste hatte kaain eine Minute in Anspruch ge-
nommen. Ich verstopfe mir die Ohren mit Watte.
2. Bereits der Lidschluss erfolgt langsamer und zögernd, Wärmesuggettion
realisirt sich nicht, da der Kopf noch roth und heiss war. Ich kritisire staik
an V's. Worten. Suggestion traumlosen, somatischen Schlafzns tandes ana YIL %
pag. 17 kommt aber nach suggestiver Beseitigung der V. mitgetheilten Neigung
zum Kritisiren zur Verwirklichung. £s juckt mich nun etwas an der Nase, und
ich will CS wegwischen, unterlasse es aber und mache dabei folgende Beobachtung.
Diese Willensregung tauchte in mir auf, als gerade der somatische ^) Schlaf ein-
zutreten begann, und ich konnte nun die Tiefe desselben gewiasermaaasen mesMO,
wenn ich meine Absicht, die Hand zum Gesicht zu fuhren, zu yerwirklichen suchte.
Zuerst bewegte ich die Hand noch ganz leicht, aber beim Heben des Armes er-
lahmte mein Wille, und nun wurde die Ausführung der Absicht bei jedem
weiteren Versuch dazu immer geringer, schliesslich kam es. je tiefer der soma-
tische Schlafzustand wurde, nur noch zu leisem Zucken der Finger, am Ende nur
noch zu einem, ich möchte sagen, psychischen Ruck. Ich constatirte femer die
sehr herabgesetzte psychische Energie, eine behagliche Trägheit, einen stark ver-
langsamten Ablauf der diesen Willensimpuls ausmachenden psychischen Thätigkdt
Eben dieser langsame Ablauf Hess mich aber einen Blick in den Mechanismus
des Willensactes thun, dessen einzelne Phasen auseinandergezogen vor mir lagen.
Erst taucht der Gedanke auf: „ich möchte mir das Juckende wohl weg-
wischen.'^ — Dieser Gedanke führt zu einer Bejahung seitens des Willens:
,Ja ich will es mir wegwischen,*' — diese Absicht lässt in mir den £nt-
schluss reifen, es zu thun; — aber von da bis zur Ausführung ist noch ein
langer Weg. Ich schwanke hin und her, ehe ich den Willensimpuls motorisch
umsetze, und die That selbst kostet mich während der ganzen Bewegung andauernde
Energie. Die aber leistet mein Nervensystem nicht mehr, und der Impuls zur
That erlahmt auf halbem Wege, wie eine grosse Kegelkugel, die eine Frau mit
kolossalem Kraftaufwand schleudert, und die schon auf halber Bahn so friedlich
zur Ruhe kommt. So sind meine motorischen Impulse in der Hypnose alle ge-
wesen. Aber erst heute ist es mir so klar zum Bewusstsein gekommen, ein wie
complicirter Vorgang solche Willensäussenmg ist, die sich in eine ganze Anzahl
scharf getrennter Componenten zerlegen lässt.
Nach dem Erwecken bemerke ich erstaunt, dass eine leichte Anmesie ein-
getreten ist. Ich beobachte eine gewisse vergnügt behagliche Stimmung beim
Aufwachen, habe kein Bedürfniss weiter nachzudenken und mich gross zu bewegen.
Ich fühle an meinem Gesichtsausdruck, wie ich noch so daliege, dass ich denselben
schon oft bei anderen Hypnotisirten beobachtet habe. Vogt fragt mich; wie ich
aber antworten will, fühle ich die angedeutete Amnesie. Ich versuche, mir das eben
Erlebte ins Gedächtniss zu rufen, aber das Nachdenken erlahmt rasch, wie vorher der
Willensimpuls auf motorischem Gebiete; ich fühle mich zu behaglich gedankenfanl
und mit einem vergnügten : „na dann nicht"' lege ich mich zur nächsten Hypnose
zurecht. Wie widersprechend ist diese Stimmung zu meiner erregten Gegenwehr
gegen die gegebene Suggestion der Amnesie am VII. Tage!
1) ('fr. VJI. 2, 3.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 23
3. 4. ? Ich bin jetzt nicht mehr im Stande, anzugeben, ob ich heute dreimal oder
viermal eingeschläfert wurde, manches spricht für das Eine, manches für das Andere.
Die einzelnen Hypnosen gehen mir durcheinander und ich kann mich für die richtige
Unterbringung der einzelnen Beobachtungen heute nicht verbürgen. Die letzte
Hypnose war nur kurz und wurde von mir selbst abgebrochen, da sich trotz der
Watte in den Ohren die Hyperakusis, an der ich litt, so unangenehm bemerkbar
machte, dass sie sogar zu emotionellen Abwehrbewegungen und motorischen Un*
willensäusserungen mit Unruhe des ganzen Körpers führten. Ich konnte nicht still
liegen bleiben und richtete mich unwirsch und völlig wach auf, die Versuche ab-
brechend. Ich war mir bewusst, dass der Strassenlärm in keinem Yerhältniss zu
dem Grad meiner Erregung stand.
Hiermit beschliesse ich die Protocolle meiner Hypnosen. Dieselben
wurden sämmtlich — wie schon oben erwähnt — unmittelbar nachher
skizzirt und sind mit Ausnahme einiger stilistischer Feilungen wörtlich
wiedergegeben.
Im Folgenden will ich nun den Versuch machen, dasjenige zu-
sammenzufassen, was ich als Hypnotiseur aus diesen Vorgängen gelernt
habe und was ich als objectiven Thatbestand festnageln möchte. Da
sich meine Ausführungen lediglich an das gegebene Material halten
sollen, so können sie dementsprechend keine vollständige Darstellung
hypnotischer Zustände geben.
I.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände.
L Was ist Hypnose?
Die erste Frage, die uns immer wieder vorgelegt wird, lautet
„Was ist Hypnose?", und wir selbst sind darüber noch lange nicht
einig. Zwei Meinungen stehen sich in dieser Frage gegenüber. Die
Einen plagen sich mit spitzfindigen, dem unbefangenen Leser oft ge-
künstelt erscheinenden Definitionen, und wollen mit ihnen beweisen, dass
die hypnotischen Zustände etwas vom normalen, physiologischen Ge-
schehen Abweichendes sind. Sie machen eine scharfe Trennung zwischen
Hypnose und dem gewöhnlichen Schlaf, der ihnen so wesentlich ver-
schieden vom hypnotischen dünkt, dass sie sogar wie Döllken^) beide
') A. D ö 1 1 ke n , Beiträge zur Physiologie der Hypnose. Cfr. d. ßd. IV, pag. 65.
24 ^f* lUreiDOwski.
Zustände sich mischen lassen können, ohne dass eine wesentliche Ver-
schmelzung eintritt.
Die Anderen sehen in solchen Bildern nur Uebergänge zum Schlaf
üebergänge, die nur durch gewisse quantitative unterschiede bedingt sind.
Ich bekenne mich zur zweiten Partei und zwar speciell zu den
Lehren, wie sie in den letzten Jahren von Vogt vertreten sind. Für
uns ist Schlaf und Hypnose nur durch den Grad der Tiefe und der
Ausdehnung der Schlafhemmuug unterschieden. Je nachdem man nun
mehr die Sclilafhemmung oder mehr das Wachbleiben ins Auge fasst,
spricht man von partiellem Schlaf oder partiellem Wachsein, resp. von
eingeengtem Bewusstsein. Letzteres kommt dem Zustande concentrirter
Aufmerksamkeit im Wachen am nächsten, der uns auch für alles an-
dere blind und taub werden lässt (Typus des zerstreuten Grelehrten).
Gemeinsam ist beiden nahe verwandten Zuständen die grössere Leistungs-
fähigkeit der psychischen Kräfte auf dem Punkt, auf welchem sie
concentrirt sind.
Dies beides, den Vergleich der Hypnose mit dem gewöhnlichen
Schlaf und den Werth des eingeengten Bewusstseins will ich zunächst
an der Hand meiner Protokolle durchgehen.
Wenn wir die Hypnose nun aber mit Schlaf im gewissen Sinne identi-
ficiren wollen, so fehlt uns zum vollgiltigen Beweise vor Allem eine
genügende Erklärung des Schlafes selbst. Die Coincidenz desselben
mit einem mehr weniger schwankenden Grad von Gehimanämie ist
eigentlich das Einzige, was man sicher davon weiss. Woher stammt
das Dunkle in dieser Frage? AVarum sind alle, auch die zutreffendsten
Lösungen immer noch unbefriedigend? Ich selie den Grund davon
darin, dass man bei der Aufstellung von Schlaftheorien meist nur den
b e w u s s t (» n Inhalt der Psyche in Eechuung gezogen hat. Eine wirklich
befriedigende Theorie ist aber deshalb so schwierig, weil das, was wir
als den Besitzstand unseres Bewustseins ansehen, nur ein ganz kleiner
Bruchtheil von dem vollen Inhalt dessen ist, was wir in unserem ganzen
Leben percipirt und als Erinnerungsbilder aufgespeichert haben, die
nur unterhalb der Schwelle unseres Bewusstseins ruhen, gelegentlich
spontan auftauchen, oder auch durch zielbewusst hervorgerufene Hyper-
muesie dazu veranlasst werden können, die aber immer ein integrirender
Bestandtheil unserer sogen. Psyche bleiben und an der Gestaltung unserer
psychischen Persönlichkeit auch aus dem Unter- und Unbew^ussten heraus
theilnehmen.^)
*) Cfr. Krankengeschichte Frl. E. (folgt in Abschnitt 7) und viele public. Ana-
lysen z. B. die Freud 'sehen Fälle von Hysterie etc.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 25
Ja noch weiter zurück liegt die Aetiologie unserer Zustände.
Sie können Wirkungen von Ursachen darstellen, die vor Beginn unserer
persönlichen Existenz wirksam wurden, denn diese ist nur ein kleines
Glied in einem grossen, continuirlichen Lebensprocess. Um so schwieriger
muss uns die Erforschung eines Zustandes sein, je mehr er in so uralten
Trieben seine Wurzeln hat und uns bereits als Reflex^) vererbt und
tiberliefert worden ist, wie der Schlaf.
Erst mit dem Augenblicke, wo derselbe aufhört, reiner Reflex-
act zu sein, beginnt die Möglichkeit, die Hypnose mit ihm zu ver-
gleichen. Sein Eintritt ist in erster Linie ein gewohnheitsmässiger.
Gewohnheit aber ist eine Einübung, eine Bahnung, deren Componenten
schliesslich unter die Schwelle des Bewussten hinabsinken und von da
aus wirken. Man vergleiche auch, was Forel in seiner Schlussbe-
merkung zu der Bleuler 'sehen Selbstbeobachtung sagt. -) Dort schreibt
er der unterbewussten Grosshimthätigkeit eine sehr grosse Rolle
bei den Suggestionswirkungen zu. Den Mechanismus solcher durch
Tiel tausendfache Wiederholungen gefestigter Gewohnheiten zu erkennen,
ist natürlich um so schwerer, je tiefer er unter die Schwelle des Be-
wusstseins heruntergesunken ist, wenn man auch hoffen darf, dass er
hier beim Problem des Schlafes nicht so unzugänglich sein wird, >\de
es rein somato -physiologische Functionen unseres Körpers sind.
Viel Unklarheiten haben auch die verschiedenen Bewerthungen
der Erschöpfungszustände in die Schlaftheorien gebracht, und oft zu
einseitiger Ueberschätzung der Ermüdung geführt. Mir scheint dieselbe
nur einer der vielen Wege zu sein, die nach Rom führen, und ich kann
in ihr lediglich einen der verschiedeneu Associationscomplexe erblicken,
die im Rahmen der Gewohnheit zur Schlafvorstellung hinführen und
dieselbe reflexartig auslösen. Dasselbe gilt auch für andere zu Gehirn-
anämie führenden Zustände wie Verdauungsmüdigkeit, protahirte wanne
Bäder, hydropathische Einpackungen etc.
Die hypnotischen Zustände knüpfen nun so eng an diesen Vor-
stellungscomplex des Einschlafens an, dass wir uns ohne denselben eine
Hypnose überhaupt nicht recht denken können. Schon daraus sollte
man die im Grunde bestehende Identität beider Zustände scbliessen,
die ich mir so vorzustellen geneigt bin, dass ich Hypnose und Som-
nambulismus als specielle Theilerscheinungen allgemeiner Schlafzustände
*) Cfr. Vogt, Reflectorischer Schlaf der Neugeborenen. Spont. Somnamb.
i. d. Hypn., Bd. VI, pag. 91.
«) Cfr. ForeK Der Hypnotismu3, III. Aufl., pag 222.
26 ^i"- Harcinowski.
auffasse. Ich vergleiche nach den an mir gemachten Erfahrungen die
Hypnose mit einem, in die Länge gezogenen, aber meist an?oll-
ständigen L e. partiellen Einschlafen, welches sich nach den
personlichen Vorstellungen gestaltet, die Jeder mitbringt, — eine De-
finition, welche das partielle Wachbleiben irgend welcher psychischer
oder anderer Functionen in sich schliesst.
2. Die Rolle der Sinnesreize in der Hypnose.
Eine Vorstellung wird nun um so kräftiger wirken, je weniger sie
auf Gegenvorstellungen stösst, und je weniger die Aufmerksamkeit von
ihr abgelenkt wird. Beides betrifft mit die wichtigsten Kunstgriffe bei
der geschickten Einleitung einer Hypnose. Bestimmte Gruppen von
Gegenvorstellungen vermeidet man am besten durch Entfernen alles
der gewünschten Situation Widersprechenden, also durch Berticksicli-
tigung allgemeiner Schlafgewohnheiten wie Lage, Femhalten von äusseren
Reizen und durch Hervorrufen von entsprechenden Erinnerungsbilderai
So wirkte es entschieden bahnend für die Erziehung der Hypnose,
dass V. mich auf ein Ruhebett legte, mich zudeckte, das Zimmer ver-
dunkelte etc.^), ferner, dass er mich an meinen gewohnten Mittagsschlaf
vor Tisch erinnerte.') Leider konnten wir den Strassenlärni , der so
störend in meinen Versuchen war, nicht in gleicher Weise ausschalten.
Wie hinderlich er schliesslich wurde, geht aus einer grossen Zahl von
Anmerkungen im Protokoll hervor. Ich habe speciell für die akustischen
Eindrücke eine ganze Skala aufstellen können, die von der absoluten
Unterdrückung jeder akustischen Empfindung, bis zur unangenehmsten
Hyperakusis reicht.
a. Nichtshörend, „entendre", tiefer Schlaf mit Amnesie. Vergl.
Protokoll Frl. E. (folgt in Abschnitt 7).
b. Nicht hinhörend, „ecouter'*, gänzliches Ignoriren und Unter-
drücken akustischer Reize bei vollständig anderweitig absorbirter
Aufmerksamkeit, so während der Traumzustände in V. 6 (pag. 15)
oder bei VII. 3 (pag. 18).
c. Gleichgiltigkeit gegen dunkel zum Bewusstsein
kommende Reize, so bei V. 3u. 4 (pag. 14); auch der
Stimme des Hypnotiseurs gegenüber VI. 2 (pag. 16), oder bei
VII. 2 (pag. 17), wo sich dieser Zustand am typischsten markirte.
*) Cfr. pag. 5.
*) Cfr. III. Sitzung, pag. 12.
Zur Psychologie der hypnotiachen Zustände. 27
d. Hin und wieder wird die Aufmerksamkeit passiv gefesselt,
schwankender Zustand zwischen dunkel bewusstem und be-
wusstem Hören; so bei V. 4 u. 5 (pag. 14) und bei III. 4
(pag. 12), wo nur die ganzen lauten Geräusche eine JEU>lle
spielen, — oder auch bei IV. 3 (pag. 13), wo ich den Versuch
machte, die Geräusche activ unter die Reizschwelle hinabzu-
drücken.
e.| Alles hörend, gleichgiltig dagegen V. 3 (pag. 14) u. IX. 1 (pag. 20).
f. — — Ruhe dagegen bewahrt 1.4 (pag. 10) u. IX. 2 (pag. 21).
g. — — dadurch abgelenkt und gestört III. 3 (pag. 12)
[ u. VI. 4 (pag. 16).
h. — — dadurch geärgert II. 1 (pag. 10) u. VIII. 3 (pag. 19).
i. — — der Unmuth äussert sich durch emotionelle Aus-
* drucksbewegungen VIII. 3 u. X. Schluss (pag. 23).
Diese Hyperakusis war merkwürdiger Weise durchaus nicht die
Folge einer momentanen Indisposition, sie findet sich direct neben den
ergiebigsten Versuchen. VIII. 3.
Nächst den akustischen Reizen waren körperliche Unbequem-
lichkeiten am störendst^n, besonders wenn es sich um Vorkommnisse
handelte, die man reflectorisch oder bewusst mit Abwehrbewegungen
2u beantworten pflegt, die hier in der Hypnose unterdrückt wurden,
um keinen Widerspruch mit der ertheilten Ruhesuggestion aufkommen
zu lassen (cfr. das Jucken an der Nase in X. 2, den schmerzhaften
Wadenkrampf in VI. 2, ferner verschiedene Störungen durch Sekret-
ansammlung im Nasenrachenraum bei Rückenlage im Stadium einer
acuten Rhinitis).
Dasselbe gilt von der Empfindlichkeit gegen Licht (II.) ; grelles
Sonnenlicht stört hier, wie es auch im Schlaf stört. Namentlich war
mir der Wechsel von hell und dunkel sehr peinlich, als Wolken ab-
wechselnd vor der Sonne herzogen.
Das Abstumpfen gegen die Sinneseindrücke ist erst ein Symptom
des eingeengten Bewusstseins, sobald die Aufmerksamkeit auf etwas
anderes concentrirt ist, oder in noch höherem Maasse erst das Zeichen
starker Vertiefung der Schlafhemmung, in der diese Einengung schliess-
lich 80 weit getrieben ist, dass so gut wie nichts mehr wach bleibt,
d. h. allgemeiner tiefer Schlaf eintritt. Immer aber fordert die Ge-
wohnheit ihre Rechte, und ungewohnten Reizen gegenüber tritt die
Schlafhemmung event. nicht auf.
28 ^^- Marcinowski.
Analog zu diesen Erfahrungen war nach kurzer Zeit die Ange-
wöhnung an die hier stetB gleich bleibende Situation des Hypnotisirt-
werdens eine so starke, die Bahnung durch die öftere Widerholung eine
so glatte geworden, dass ich vor der IX. Sitzung ohne ertheilte Sug-
gestion in Hypnose zu sinken drohte, nur weil ich mich bereits einige
Minuten in der entsprechenden Lage und theilweise unter dem Ein-
drucke derselben Sinnesreize befand. Auf der anderen Seite sind
bereits ganz kleine Abweichungen vom gewohnten Turnus störend, eine
andere Körperhaltung und dadurch bedingte ungewohnte visuelle Ein-
drücke V. 3 (pag. 13) genügen bereits, um das Einschlummern zu ver-
hindern; ja das Fehlen der gewohnten Verbalsuggestionen beim Lid-
schluss VI. 3 (pag. 16) liess denselben schon ausbleiben.
3. Der Lidsehluss.
Das Zustandekommen des Lidschlusses ist ein sehr
verschiedenes und zeigte eine grosse Mannigfaltigkeit. Der bei 1. 1
geschilderte Vorgang dürfte als der normale gelten können. Die Zeit-
dauer bis zum völligen Augenschluss ist oft selbst in derselben Sitzung
sehr verschieden. In gut disponirter Stimmung erfolgt derselbe schnelli
und ist um so mehr lustbetont, je schneller er erfolgt (IX. 1 pag. 20).
Eine warme Blutwelle begleitet ihn in der Regel, mit einem tiefen
Athemzug streckt sich der Körper aus. Der Lidschluss soll aber
passiv auftreten; wenn man dem activ nachhilft, so wacht man wieder
melir auf (I. 3 pag. 9) je länger man aber dem Bedürfniss des Augen-
schlusses widerstrebt, desto schneller tritt er ein (IV. 4 pag. 13). Dies kann
sich bis zum Gefühl des Zwanges, ja des Krampfes steigern, (IIL wobei
das Gegenarbeiteu gegen die Muskelcontraction die letztere uatürUch
nur um so mehr zum Bewusstsein bringt). Der noch dazu rechts und
links ungleich starke Krampf des Orbicularis, wie ich ihn in IL 4
notirte, ist eine entschieden abnorme Erscheinung, der wie allen an
Zwang erinnernden und mit activem Widerstand verbundenen Vor-
kommnissen die Lustbetonung vollkommen abgeht. Lustbetont sind
meiner Erfahrung nach nur die spontan auftretenden, mit dem Gefühl
der Passivität verknüpften Ercheinungen , welche mit adäquaten Vor-
stellungen einhergehen, wozu ein Orljiculariskrampf (II. u. III) sicher
nicht gehört, der auch nicht mit der Idee des Einschlafens associirt
ist; — es giebt also auch einen Lidschluss in der Hypnose, dem diese
Association eventuell fehlt.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 29
4. Das Athmen.
Die zeitlich nächstfolgende Erscheinung betrifft die Respira-
tion. Dieselbe wurde alsbald nach Eintritt der Hypnose derart lang-
sam und oberflächlich, wie ich es bei Schlafenden nie beobachtet zu
haben glaube (I pag. 8). Das Athembedürfniss war ein ausserordentlich
geringes. Abweichend davon war es nur der erste Athemzug nach er-
folgtem Lidschluss, der unter wohligem Ausstrecken des Körpers recht
behaglich tief zu sein pflegte. Im Uebrigen wurde jede Erregung, z. B.
affectbetonte Träume von lebhafteren Athembewegungen begleitet (V. 5
pag. 14 u. VI pag. 17), genau wie im Wachen, bezw. im gewöhnlichen
Schlaf.
5. Die Träume.
Dies leitet uns zur Betrachtung der Träume, des Bewusstseins-
inhaltes in der Schlafhemmung. Ich kann hier natürlich nur von
denen sprechen, die ich in den vorliegenden Versuchen erlebt habe.
Ich erwähnte bereits, dass ich zu Wachträumen neige. Dies hängt
damit zusammen, dass ich jahrelang Landpraxis mit weiten Wegen
gehabt habe und auf diesen immer einsamen Wegen mir allerhand aus-
zumalen pflegte. Wissenschaftliches, Novellistisches, Pläne etc., alles
durcheinander. Ich erwähnte auch bereits, dass diese Angewohnheit
mich jetzt in der Arbeit oft störe. Das Auftauchen der Träumereien
ist dabei von theilweise passivem Character, geistige Ermüdung be-
günstigt 4^selbe.
Da diese Träumereien oftmala dazu führen, dass ich mein augen-
blickliches Vorhaben vergesse, an Häusern und Strassen vorbei gehe,
wo ich hin wollte, — Dinge nicht beachte, die mir begegnen etc., so
18t dies wohl bereits als eine gewisse Einengung des Bewusstseins unter
Abstumpfung gegen die Aussenwelt, also als partielle Schlafhemmung
zu bezeichnen.
Diesem Zustand am nächsten liegen die Vorgänge aus der Hypnose
VI 3 (pag. 16), die ich als Gedankenträume ohne visuelle
Bilder bezeichnete; sie gehören ganz oberflächlicher Schlafhemmung
an. Eng daran schliessen sich ähnliche Träume mit erhaltener
Denkthätigkeit und sinnlicher Lebhaftigkeit der visuellen
Bilder in VII und IX. (Messung der Athmungsthätigkeit — Perimeter-
construction.) Der Inhalt erinnert an das bei den Wachträumen erwähnte
Plänemachen, auch empfand ich die Denkthätigkeit als actives Mit-
30 ^^- Marcinowski.
arbeiten an der Gestaltung des Traumes und seines logischen Inhalts;
dasselbe wurde zum Theil sogar durch den Widerstand gegen Ablenkungen
recht mühsam (VII. 2 pag. 17). Der Tr&um selbst trug aber bereits
einen stark phantastischen Character und wurde der Hauptsache nach
immer passiverer Natur; activ hervorzurufen war derselbe nicht immer
(vergl. VI. 4 mit IX. 1).
Die weiteren Phasen in der Entstehung eines ganz wirreu Träumens
finden wir in einer grösseren Anzahl von Hypnosen vertheilt, die ich
hier in entsprechender Reihenfolge gruppiren will. Dieses Träumen
ist nunmehr rein passiver Natur.
Zunächst tritt ein Zustand ein. in dem das Bewusstseiu leer
ist. Ihm entspricht der Begriff des „an Nichts denken^ und der visuelle
Eindruck des ;,schwarzen Nichts" — sit venia verbo — aber hier gut
es in Bildern sprechen, um sich verständlich zu machen, Bilder übrigens,
die nicht ad hoc construirt wurden, sondern die sich spontan in der
Hypnose aufdrängten und oft die betreffenden Empfindungen recht
treffend wiedergeben (cfr. I. 1, II. 2, 3 u. 4, und V, 5).
Die nächste Phase bilden traumhafte Reflexionen (IV. 3).
Die Gedanken verwirren sich allmählich, verlieren ihren zuerst noch
etwas trägen Character, überstürzen sich und geh(»n schliesslich in zu-
sammenhangloses Jagen über (II. b. 1, 2). Ganz dunkel tauchen nun
(» i n z el n e T r a u mb i 1 d e r hin und wieder auf, kaum zu erkennen, visudl
nur (»ben angedeutet (VI. 2.) Bald vermehren sich die Bilder, werden
erkennbarer, bleiben aber zusammenhanglos und tiüchtiger Natur (V. 4),
bis schliesslich ein furchtbares Durcheinander von nunmehr
sinnlich lebhaften Traumbildern da ist (V. 5). Allmählich
lässt die Zahl der Erscheinungen nach und sie gruppiren sich zu einer
zusammenhängenden, fortlaufenden Handlung wenn auch total
unsinnigen Inhalts; der Ablauf bleibt rasend schnell (V. 6).
Dies sind die Träume des oberflächlichen Schlafes, wie
sie Vogt^) als diffuse Dissociation beschrieben hat. Sie sind suggestiver
Beeinflussung zugänglich (die Entstehung der letztgenannten Phase (V. 5)
war von der entsprechenden Suggestion eingeleitet). Diese Traum-
bilder knüpfen häufig an Sinnesreize an (cfr. den Hund in I. 4, das
Wagenrollen und Pferdegetrappel in V. 6). Auffallend ist die sinn-
liche Lebhaftigkeit der mit solchen Sinnesreizen associirten und durch
sie geweckten visuellen Begleiterscheinungen.
^) Vo<jrt. Spontane Somnambulie in der Hypnose, ßd. VI, pag. 80.
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. ' 31
Einen absolut anderen Character zeigen die Traumbilder in V. 6. :
inniger Zusammenhang mit der Persönlichkeit, klare Associationisreihen,
circumscripter begrenzter Inhalt etc. kennzeichnen sie als zur Som-
nambulie oder zum tiefen Schlaf gehörig (cfr. Vogt ibid.). Nur die
Amnesie fehlte wegen der hier abnorm gesteigerten Aufmerksamkeit
auf die Vorgänge.
Uebergänge zwischen den Traumzuständen der oberflächlichen
und der tiefen Schlafhemraung fanden statt in VI. 4 und IX. 2.
Einen kleinen Widerspruch mit Vogt 's Definition der Träume
des oberflächlichen Schlafes, denen er motorische Aeusserungen wohl
— im Interesse scharfer und daher unnatürlicher Trennung — abspricht, ^)
habe ich noch an den beobachteten Erscheinungen zu constatiren. Im
Verlauf des Traumes in V. 5 habe ich nämlich gelegentlich Lächeln
producirt und auch beim Ueberfahren des Mannes dem entsprechenden
Affect Ausdruck gegeben, ebenso in VI. 4 (vergleiche auch das bei
den Respirationsbewegungen Gesagte). Die Sprechbewegungen in V. 6
gehören dagegen bereits der Gruppe der somnambulen Träume an.
6. Nochmals Hypnose und Schlaf.
Den Vergleich all dieser erwähnten hypnotischen Zustände mit
dem gewöhnlichen Schlafe würde nun D ö 1 1 k e n -) als zutreffend zu-
gestehen, da in ihnen Träume auftraten; das wären dann seine ^Hyp-
nosen mit Schlaf". Hypnosen ohne Träume sind nach ihm aber vom
Schlaf ganz wesentlich zu unterscheiden. Ich vermag dieser Darlegung
nicht zu folgen. Ich müsste dann ja oftmals in derselben Sitzung bei
einzelnen Versuchen einmal während der Hypnose geschlafen haben, das
andere Mal lediglich hypnotisirt worden sein. Wenn er im Hinblick
auf die plastische Kraft der Suggestion gesagt hätte, man kann mittels
derselben alle möglichen Zustände produciren und in der Hypnose als
einem Zustand gesteigerter Suggestibilität auch selbst den Schlaf, — so
würde ich diese Anschauung verstehen können. Der Schlaf wird dann
doch wenigstens nicht in einen wesentlichen Gegensatz zur Hypnose
gebracht.
Alles, was Döllken als wesentliche Unterschiede aufführt, kann
ich weder für logisch berechtigt, noch als mit meinen Selbstbeobach-
tungen übereinstimmend erachten. Wenn „Chorea und Paralysis
agitans^ erst im Schlaf aufliören, so beweist das nur die Vogt 'sehe
») Ibid. pag. 80.
«) Bd. IV, pag. 89.
32 ^' Marcinowski.
Anschauung des quantitativen Unterschieds in der Tiefe der Schlaf«
hemmung, aber keinen qualitativen. Eine ^Desorientirung" tritt
auch natürlich erst dann ein, wenn die Schlafhemmung ihre Ausdehnung
auch über die betreffenden Centren erstreckt, also der Quantität nach
zunimmt; auf die Localisation derselben kommt es wohl erst recht nicht
an, die weisst unbegrenzte Combinationen auf. Wenn die Schlaf-
hemmung sich nun so weit ausdehnt, dass an Stelle der ReizstanuDg
im Centrum. dessen Erregungsfähigkeit selbst abnimmt und schliesslich
aufhört, so ist auch das wieder nur ein quantitativer Unterschied,
der sich in der „Verminderung der Suggestibilität'' und
schliesslich in ihrem ,,Aufhören^ äussert, das „Rapportver-
hältniss^ ist damit aufgehoben. Also auch diese beiden Dinge sind
mit der Vogt' sehen Theorie erklärt. Ich habe nicht die Absicht^
auch noch nicht die genügenden Unterlagen, die Frage nach dem ver-
meintlichen y,I"nterschied zwischen Schlaf und Hypnose hier erschöpfend"
zu behandeln. Ich wollte nur die meiner Meinung nach richtige und
klare Auffassung Vogt 's den Erörterungen Döllkens gegenüber
stellen. Letzterer wollte „aus seinen Erfahrungen den Kachweis
bringen, dass es eine Form von Hypnose giebt, welche nicht Schlaf ist,**
VT hat aber m. £. nur erwiesen, dass es eine Form von Hypnose giebt,
welche noch nicht Schlaf ist (Schlaf im Sinne des Laien gebraucht),
üebrigens sollte man doch sehr vorsichtig sein in der Verwerthung
subjectiver Aeusserungen von Hypnotisirten. Wenn DöUken von
solchen die Ansicht gehört hat, dass die Empfindungen in der Hypnose
nicht an Schlaf erinnerten, so darf man nicht vergessen, dass es erstens
eine sehr geringe Zahl von Menschen giebt, die durch ihre Vorbildung
befähigt sind, hier ihrer Meinung über das Thema einen sachlich
correcten Ausdruck zu geben ; dazu gehören psychologische Kenntnisse
und dialektische Schulung. Zweitens aber giebt es sehr Viele, die
den Doli ke naschen Versuchspersonen entgegengesetzte Angaben
machen. Das wird wohl wesentlich mit vom Fragesteller abhängen,
und nicht frei von Suggestion sein, ganz abgesehen von der jeweiligen
Form der Hypnose. Solche Aeusserungen haben m. E. nach keinen
Werth.
7. Die gesteigerte Fähigkeit der Selbstbeobachtung im eingeengten
Bewusstsein.
Docli T»un zurück zu meinen eingenen Beobachtungen, bei denen
für mich eine der eigenthümlichsteu Thatsachen die war, dass ich im
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 33
Stande war, sie überhaupt zu machen, — dass ich bei allen Vorkomm-
nissen der klare Beobachter bleiben konnte, ja sogar viel schärfer sah,
als im Wachen. Der Vergleich . mit einem Zuschauer war insgemein
autre£Fend (V. 6).
Es handelte sich also um eine Erhaltung der vollen Kritik selbst
achlafabnlichen Zuständen gegenüber. Dieselbe Hess erst nach, als
die Schlafhemmung auch die bis dahin wachen Centren ergriff. Durch
meine Tendenz, die Vorgänge scharf zu beobachten, wurde bewirkt,
dass dies erst sehr spät einzutreten begann (Vill. 3 pag. 19). Erst
im Verlauf des X. 2. Versuches wurde die psychische Energie aus-
gesprochen träge und bei IX. 2 ist psychische im Gegensatz zur soma-
tischen Schlaf hemmung angedeutet ; dass es vorerst überhaupt zu keiner
tiefen Somnambulie kam, fand neben der Hyperakusis seinen Grund
hierin.
So widersprechend es unserem gewöhnlichen Denken zunächst
erscheint, dass man sich selbst in einem solchen Zustand beobachten,
ja noch schärfer beobachten kann, so einleuchtend wird uns der Process,
wenn wir diese Thatsache an der Hand unserer Definition betrachten.
Es handelt sich ja um ein partielles Einschlafen, und ein par-
tielles Wachbleiben. Hier speciell gelangten die somatischen Func-
tionen eher zur Ruhe, als die intellectuellen. Wie weit diese somatische
Schlafhemmung bei erhaltener Kritik gehen kann, haben wir in VII. 2 u. 3
und Vin. 2 gesehen, wo ich meinen Körper bleischwer, wie einen
fremden daliegen fühlte. Auf der anderen Seite demonstrirte dieser
anstand in klarer Weise, wie ein einzelner Theil des Kör{)ers, mein
linker Arm, partiell wach sein und functioniren konnte, während der
übrige Körper in tiefer Schlafhemmung gefesselt dalag (VII. 3 u. VIII. 2).
Ich glaube, man kann mit kunstvoll ersonnenen Experimenten keine
klareren Beispiele herstellen, um die Thatsachen des partiellen Wach-
seins und der partiellen Schlafhemmung, und mit ihr die Möglichkeit
einer erhaltenen wachen Kritik zu illustriren, als diese ungekünstelten,
ohne Zuthun von selbst producirten Resultate darstellen.
Vergegenwärtigen wir uns den Mechanismus dieser Vorgänge, wie
er von Vogt beschrieben worden ist, so wird uns klar, warum die
erhaltene Kritik so scharf ist. Die Reizenergie trifft auf ein bestimmtes
Gentrum, und gleitet im Wachen von da in alle möglichen Bahnen
weiter. Ist der Reiz stark genug, so richtet sich die Aufmerksamkeit
auf ihn, erst passiv, später activ. Dabei concentrirt, verengt sich be-
xoits das Bewusstsein auf dieses Centrum, eine Menge Associations-
Zeitsohrift fttr Hypnotismos eto. IX. 3
34 ^^' Marcinowski.
bahnen werden ausgeschaltet, nur einige wenige bleiben in Function,
und werden demgemäss desto lebhafter angesprochen.
Dies ist aufmerksame Denkarbeit im Wachen. Nun engt sich
durch die auftretende Schlafhemmung das Bewusstsein immer mehr
ein, die Reizenergie, die vorher gewissermassen das Centrum nur pasaiite,
staut sich darin, die Beize summiren sich, kumuliren, und das fährt
dazu, dass die Beizschwelle selbst wesentlich herabgesetzt und folglich
derselbe Beiz als ein stärkerer empfunden wird. Deshalb sind die
visuellen Begleiterscheinungen von Sinnesreizen so sinnlich lebhaft, wie
der Hund in I. 4, deshalb sind die Erinnerungsbilder von dem in
diesem Zustand Vorgefallenen so viel deutlicher, als gleichwerthige
Erinnerungsbilder aus dem Wachen (I. Schlussbemerkung). Die sinn-
liche Lebhaftigkeit ist eben der Ausdruck für eine stärkere Empfindung
und diese kann demselben Beiz gegenüber nur durch Herabsetzung
des Schwellenwertes zustande kommen. Auch die starke HyperakusiB
findet hierin ihre Erklärung, sowie auch die Zunahme der sinnlicheD
Lebhaftigkeit der Traumbilder bei zunehmender Tiefe der Schlaf-
hemmung i. e. Einengung.
Noch später kommt es dann, wenn die Hemmung auch auf das
Beizcentrum selbst übergeht, zum Erlahmen der Kritik, auch ein psy-
chischer Schlaf tritt ein (IX. 2), wie ich es hier gegenüber dem
eigenthümlichen somatischen bezeichnet habe. Das Centrum selbst
wird immer weniger erregbar, Gleichgültigkeit tritt an Stelle der Auf-
merksamkeit; schliesslich hört die AuspruchsfKhigkeit ganz auf, es ist
tiefer, totaler Schlaf eingetreten.
Unter den Erscheinungen, die mir im Zustande des eingeengten
Bewusstseins besonders klar wurden, spielte die Durchsichtigkeit
der associativen Verknüpfungen, der Mechanismus der
Entstehung, Entwickeluug und des Ablaufs von Ge-
dankenreihen eine grosse Bolle. Von den hierauf bezüglichen Be-
obachtungen habe ich nur sehr wenige in den Frotocollen ausgefährt
Es ist auch schwierig, dieselben in einer für jeden Dritten klaren Form
zu Papier zu bringen, ohne dabei durch die weitgehende Detaillimng
zu ermüden. Deshalb bringe ich für obige Sätze auch nicht so viel
Belege, als es bei der Wichtigkeit dieser augenblicklich so activen
Frage mein Wunsch ist. Zur Illustration kann ich daher nur auf
einzelne gröbere. Aufzeichnungen hinweisen, wie auf die Träume in
V. 6 und IX. 2, wo ich Beispiele von solchen, der Form, dem Inhalt
oder zufalligen Kleinigkeiten nach assocürten Bilderreihen angab,
Zur Psychologie der hypnotischen Zustände. 35
ferner an V. 5, wo die Vorstellungsreihen an Sinnesreize anknüpfen,
(Wagenrollen, Pferdegetrappel) und von ihnen ihren Ausgang nehmen.
A. Organempflndangen.
Zu solchen Sinnesreizen gehören indirect auch die Organempfin-
dungen. So rief z. B. die rein muskuläre Unruhe im Gesicht die
Idee des Lächelns wach (I. 2). Ich neige mich der Ansicht zu, dass
dieses Lächeln, welches so viele Autoren erwähnen, fast immer falsch
gedeutet, d. h. als wirkliches Lächeln aufgefasst worden ist Dies ist
um so wahrscheinlicher, als sich leichte Muskelunruhe zu Beginn vieler
Hypnosen einzustellen pflegt, ein gewisser Reizzustand, welcher der
Er8chla£fung vorauf geht (IX. 1). Diese Unruhe ist manchmal als
emotionelle aufzufassen, und erinnert dann an analoge Verhältnisse des
wachen Zustandes ^) ; meist aber schien sie rein motorischer Natur zu
sein wie hei I. Diese leisen Spasmen nahmen aber auch gelegentlich
einen heftigeren Character an, es traten isolirte Zuckungen auf (II. 2,
VI. 2), die tonische Contraction des Orbicularis in II. 4 u, III, sowie
das Zähneklappem (VI) war direct als krampfhaft zu bezeichnen.
Ebenso wie diese Beizerscheinungen war auch der Erschlaffungs-
zastand der Muskulatur klar zu beobachten. Ich fühlte genau, dass
mein Gesichtsausdruck schlaff wurde, meine Wangen herunter hingen,
(I. 3), ich empfand das völlige, hingegossene Daliegen (I. u. VI. 3). Dieser
Erschlaffungszustand hatte, wie mehrfach erwähnt, stets ein Lustgefühl
zur Begleitung, und ging schliesslich in diesen eigenthümlichen, ato-
nischen Zustand über, den ich als somatischen Schlaf bezeichnet habe.
Sein Gegenstück, die Katalepsie, habe ich nicht kennen gelernt.
Ebenfalls der Beobachtung zugängig bis in feine Nuancen hinein
waren auch die Vorgänge in der glatten Muskidatur der Blutgefässe
(IX., 1). Auch hier spielen sowohl Spasmen und Kältegefühl, als auch
Erschlaffung und Wärmeempfindung eine Rolle (II. VII. VIII. IX).
Die congestive Wärme begleitet viele Erscheinungen und ist lust-
betont; sie kann eine grosse Intensität erreichen (X. 1) und ist im
Allgemeinen um so stärker, je tiefer die Schlafhenmiung wird (VIII).
Möglicherweise liegt das darin begründet, — das Verhältniss ist natür-
lich wechselseitig aufzufassen — dass mit dem Blutstrom nach den
weit offenen fiaatgefassen, welche bekanntlich eine grosse Capacität
besitzen (^s der Gesammtblutmasse), die Gehirnanämie und mit dieser
die Tiefe der Schlafhemmung zunimmt. Man kommt dabei unwill-
>) Vergl. 11. ». pag. 10 Mitte u. III. 1—3.
3*
36 ^* liarcinowskL
kürlich in die Versuchung, in dem Zustand der Vasomotoren und ihrem
.wecbseUiden Spiele einen Schlüssel zu suchen für die mannigfiachen
Bäthsel der Schlafzustände. Indess sind die blosse Hyper- und Anämie
des Hirnes oder einzelner Provinzen desselben denn doch zu rohe Dinge,
als dass sie so subtilen Vorgängen gegenüber zur Erklärung hinreichten.
Mach der Hypnose stellt sich manchmal ein leichtes Frösteln ein,
also ein Spasmus der Gefasse in der Haut (VII), den ich auch Ton
anderen Personen her kenne und gelegentlich nach zu langem Mittags-
schlaf beobachtet habe, eine Nachwirkung übrigens, die sich suggestiT
sehr leicht beeinflussbar erwies.
Die Form, in welcher die Erschlaffung auftrat, war sehr ver-
schieden je nach der Stimmung. Bei I war schon vorher eine gewisse
Wärme der Haut zu constatiren, welche so intensiv war, dass sie die
Empfindung der aufgelegten Stirnband des Hypnotiseurs übertönte.
In n. a traten die Wärmewellen conform mit der allgemeinen Unrohe
unregelmässig und springend auf, und waren von abnormer Intensitit;
in VII. Vm. u. IX. dagegen war bei ruhiger Stimmung die Form
der peristaltischen Ausdehnung des Phänomens schön zu beobachten.
Die Verschärfung der Beobachtungsfahigkeit Organempfindungen
gegenüber fiel bei der Constatirung der Bulbusstellung in L 3 and
der Bulbusbewegungen IX. 1 um so mehr auf, da sie mir vorher im
Wachen nicht gelungen war. Alle diese Beobachtungen drängten sich
passiv auf, ohne Anstrengung meinerseits.
B. Die Willensäusserungen.
Die Fähigkeit, zu beobachten, wurde naturgemäss durch Uebung
gesteigert, was sich z. B. darin aussprach, dass meine Protokolle un-
absichtlich immer ausführlicher wurden.
Dabei wurde mir der Mechanismus der Willensäusserungen, vom
Auftauchen des Motivs bis zur Umsetzung des Impulses in die Aus-
führung immer klarer ; der träge Ablauf des ganzen Vorganges ( VIH. S
u. X. 2), das auseinander und gleichsam in die Länge Gezogene desselben
liess die einzelnen Gomponenten sehr gut differenziren. Auch hier spielten
Organempfindungen am motorischen Apparat eine Rolle und dienten
mir stellenweise als Anhalt zur Beurtheilung meines Zustandes (Messung
der Schlaftiefe an dem Grad der activen Bewegungsfahigkeit des rechten
Armes in X. 2). Diese Vorgänge sind wohl um so beweisender für die
Möglichkeit derartiger Beobachtungen, als ich sie völlig unbeabsichtigt
producirte und ohne eingehendere Kenntniss von Publicationen wie der
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 37
V 0 g t ' 8 Über die psychologische Experimentalmethode Bd. IV d. Z. etc. ;
die erhöhte Fähigkeit zur SelbstbeobachtuDg im Zustand des eingeengten
Bewusstseins bezw. in der Hypnose erscheint mir somit durch meine
Beobachtungen von Neuem erhärtet.
Die Details im Protokoll IV. 4 u. X. bedürfen hier keiner weiteren
Erläuterung. Ich habe darin angedeutet, einen wie complicirten Process
eine Willensäusserung darstellt. Zugleich tauchen eine Menge psycho-
logischer Fragen auf, die mit dem Begriff des Willens zusammen
hängen, wohl einem der heiss umstrittensten Begriffe unseres Denkens
überhaupt. Die Discussion hierüber erscheint an diesem Platz um so
weniger unwichtig, als gerade die Vorstellungen, die jeder damit ver-
knüpft, dem Hypnotiseur oft grosse Schwierigkeiten bereiten können,
and nicht zum wenigsten die Ursache von vielen Anfeindungen bilden,
welche das Hypnotisiren als eine Gefahr, als Willensberaubung u. dergl.
hinstellen. Die hypnotischen Zustände scheinen nun in der That geeignet
zu sein, auf dem Wege der Selbstbeobachtung mehr Klarheit in die mit
diesem Begriffe verbundenen Vorstellungscomplexe zu bringen. Das
was ich bis jetzt an der Hand meiner Protokolle hierüber vorbringe,
kann natürlich lediglich die Anregung zu genaueren systematischen
Studien geben wollen, und will keineswegs bereits als Resultat gelten.
Interessant wäre es da z. B. festzustellen, wie weit zurück sich eine
Handlung in ihre einzelnen Componenten und Motivirungen auflösen lässt,
festzustellen, worin eigentlich das Wollen besteht, sowie die bis zur Läh-
mung und gänzlichem Fehlen jedes Willens fortschreitende Schwächung
des Wollens zu beobachten. Des Weiteren käme hierbei als besondere
Abart des Willens das Widerstreben, der Widerstand und der Kampf
zwischen verschiedenen Motiven in Frage. All diese Phasen von Willens-
äasserungen wurden in den wenigen Sitzungen beobachtet und müssen
sich sehr wohl einem systematischen Studium zugänglich machen lassen.
Immer aber wird man sich dabei vergegenwärtigen müssen, dass die
psychische Persönlichkeit keine einheitliche Grösse darstellt, sondern
einem vielgliedrigen Parlament gleicht, dessen Beschlüsse uns erst nach
manchem Für und Wider und vielen im Dunkeln liegenden Motivirungen
und Schiebungen als Wille imponirt.
Wie sich eine Willensäusserung in einzelne Componenten zerlegen
lässt, habe ich in X. 2 genauer beschrieben. Diese Eintheilung ent-
spricht nun nicht etwa einer philosophischen Betrachtung, sondern giebt
ohne weitere Kritik das wieder, was sich mir als beobachtet aufge-
drängt hat. Hier tauchte die zu Grunde liegende Idee auf als das Be-
38 ^r. Marcinowski.
dürfniss, eine körperliche Störung zn beseitigen, so wie sie auch bei
anderen entsprechenden Gelegenheiten an Organempfindungen anknfipfte
(cfir. YI. 3, wo ich die Hände löste und bei Seite legte). Das Bedürfniss
zur Prüfung, ob denn wirklich die Bewegungsfahigkeit eingeschlafen sei,
tauchte auch gelegentlich als Folge einer leisen Unruhe in der oder
jener Muskelgruppe auf; dieselbe weckt den Zweifel an der bestehenden
Schlafhemmung und mit ihm die Idee und das Bedürfiiiss zur Prüfong.
Auf solche auftauchende Idee reagirt jetzt ein anderer Bezirk der
psychischen Persönlichkeit mit einem Willensakt, der sich noch weiterhin
in kleine Unterabtheilungen zerlegen lässt. Das, was wir nun aber ge-
meinhin als Willen bezeichnen, ist erst in dem Augenblick vorhanden,
wo das psychische Geschehen mit dem Gefühl der Activität verbunden
auftritt.*) Dies Gefühl lässt sich schwer definiren, ist aber durch das
Wort „Activität" m. E. sehr gut ausgedrückt. Das passiv meine Auf-
merksamkeit anregende Jucken (cfr. X. 2, pag. 22) und das Bedürfiiiss,
das Störende zu enttemen, ist etwas, ich möchte sagen, Unpersönliches,
dem die active Bejahung mit dem „ich will es wegwischen^ als eine
Person gegenübertritt, ein Handelndes einem Geschehen gegen-
über. Hier gibt es keine sprunglosen Uebergänge, hier sind Gegensätze
vorhanden, wie schon von anderer Seite constatirt wurde. Diese Acti-
vität lässt ihre nähere Motivirung nun meist unbewusst und fuhrt da-
durch zur Piction der Willensfreiheit. Die Form des Willens, d. h.
warum man sich im gegebenen Falle gerade so und nicht anders ent-
scheidet, ist die gesetzmässige Reaction des Individuums auf die gegebene
Gelegenheitsursache, das Resultat von tausendfachen bewussten und
unbewussten Ursachen imd Ereignissen, welche den momentanen Vor^
Stellungsinhalt ausmachen. Wie sehr die auftretende Willens form
von dem jeweiligen Vorstellungsinhalt absolut abhängig ist, kam oft
recht gut zum Ausdruck, und liess die Motivirung derselben bis zu einem
gewissen Grade erkennen ; sei es, dass es sich z. B. um eine Situation
handelt, welche dem speciellen Vorstellungscomplexe widerspricht und
deshalb beseitigt wird (VI. 3), oder dass es zum activen Vervollständigen
einer Situation kommt, welche dem Vorstellungsinhalt adäquat ist. Sehr
bald aber liess sich bei zunehmender Tiefe der Schlafhemmung eine
immer grössere Trägheit des Ablaufs der Willensthätigkeit beobachten,
die schliesslich zu einer völligen Lähmung des Willens führte, für welchen
Zustand ich auf das Bild mit der Kegelkugel hinweisen möchte, das
*) Cfr. Vogt, Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der
Hysterie. Bd. VIII. d. Z.. pag. 223.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 39
sich mir während der Hypnose aufgedrängt hat (X. 3 pag. 22). Eigen-
thümlich war bei ähnlichen Situationen der Kampf mit dem Wider-
spruch, der in dem Bewusstsein lag, wollen zu können, und doch nicht
zü wollen, — zu wissen, Widerstand leisten zu können, imd es doch
nicht zu thun (VI). Die Vogt 'sehe Technik will es zum unantast-
baren Bewusstseinsinhalt werden lassen, dass der Bestand des eignen
Willens des Hypnotisirten ein gesicherter bleibt. Diese Idee verwickelte
mich in die angedeuteten Widersprüche, sobald die Schlafhemmung auf
die Willensbethätigung selbst übergriflF. In X. 2 war der Willensprocess
ein 80 träger, das Bedürfniss zu wollen ein so geringes geworden, dass
es nur noch zur Andeutung des Willens, nicht aber zur Ausführung
kam. Das, „ich kann wohl, wenn ich nur energisch wollte", was ich mir
dabei innerlich sagte, war nichts als eine Entschuldigung vor mir selbst
für mein als energielos empfundenes Nichtwolleu. Der grösste Theil aller
Vorgänge in der Hypnose war aber jedenfalls ohne alle als integrirender
Bestand theil des Wollens hingestellte Activitätsempfindung, und diejenigen
Handlungen, welche spontan, oder sogar in gewissem Sinne zwangs-
weise auftraten, zeichneten sich durch das gänzliche Fehlen von
Wollen aus, und fanden ihre Motivirung statt dessen in einem un-
erklärt aufwachendem Bedürfniss, welches sich gelegentlich bis zum un-
widerstehlichen Trieb steigert — ohne Activität, ohne Willen.
Unerklärt muss ich auch die Beobachtung lassen, die sich Jedem
im Wachen so oft aufdringt, dass die active Concentration sehr oft
nicht zum Ziele führt, und dasselbe um so weniger erreicht, je mehr
man danach strebt, — wie beim Suchen nach einem momentan entfallenen
Namen etc. Das insensive Wollen, der lebhafte Wunsch, in tiefere
Hypnose zu gelangen, ist sehr oft das grösste Hinderniss dazu, und ein
ander Mal gelingt die Hypnose im Handumdrehen und zu grösster Ver-
wunderung ist selbst Andeutung von Amnesie vorhanden (IX. 1 pag. 20).
Andererseits führen Organempfindungen und motorische Unruhe,
sobald sie Formen annehmen, die die Psyche aus ihrem trägen Zu-
stande aufrütteln, zu heftigem Widerstreben; so in HI, wo der Lid-
krampf auftrat. Aber auch hier, schon zu Beginn der Hypnose, war
der WiUe nicht mehr stark genug, er erlahmte unter dem Gefühl der
Anstrengung, die es kostete, gegen den Krampf des Muskels anzu-
kämpfen, und die den Gedanken des „gezwungen seins^ in mir wachrief.
Es sind dies ja Vorgänge, die wir im täglichen Leben so oft beobachten,
imd worauf Furcht und Muth beruhen; der Vorstellungsinhalt lähmt
die Thatkraft, wenn er Momente enthält, welche ein Nichtgelingen etc.
40 ^r. Marcinowiki.
nahe legen. Auch bei dem in VI geschilderten Zähneklappem glaube
ich, dass es sich um einen recht mangelhaften Widerstand dagegeo
handelte, um ein „sich gehen lassen^ dem Zustand gegenüber, der mir
als Zwang imponirte. Ich glaubte, diesen krampfhaften Zuständen eben-
sowenig widerstehen zu können, wie beim krampfhaften Lidschluss (111).
Der Vorstellungsinhalt bleibt eben immer wieder der maassgebende Factor
in der Gestaltung des Wollens, und darauf basirt ja schliesslich jeder
EinHuss, den Dinge und Personen auf uns haben können, wie unsere
Suggestionslehre in so grossem Maasse dargethan hat. Hierauf basiit
auch die Möglichkeit, den Willen, bezw. seine Schwäche oder Stärke
zum Gegenstand der Erziehung oder psycho-therapeutischer Bemühungea
machen zu können. Eine Willensfreiheit im philosophischen Sinne
brauchen wir aber dazu nicht, so sehr wir auch ihre Fiction bei unserea
Patienten in technischer Hinsicht zu berücksichtigen haben, üebrigeu
betrifft das Kegeln der Pädagogik, die auch von Nichtdeterministen an«
erkannt worden sind. Auch hat die Lehre von der Bahnung durch
öfteres Auftauchen desselben Vorstellungsinhaltes längst volksthümliche
Formen angenommen, — das Sprichwort „ce n'est que le prämier pai
qui coüte" besagt nichts anderes, als z. B. die Thatsache, dass in ViLL
das Lösen der gefalteten Hände ohne den starken Kampf, also leichter
vor sich ging, da es durch die Erinnerung an eine identische Situatkm
(VI. 3) bedingt war. Auch Kälte des linken Armes, sein partielles Wach-
bleiben wiederholte sich in VIII. 2, ja selbst im Wachen (pag. 19) etc.
Ebenso wie Vorstellungen bahnend wirken, können sie auch beab*
sichtigte Wirkungen hemmen, so beim Streichen (I. 2), wo meine Tor-
gefasste Meinung Vogt 's Absicht zuwiderlief, oder bei Lidschluss in
VIII. 1, wo ein dunkeles Erinnerungsbild ausreichte, um die Suggestions-
wirkung zu paralysiren.
Diese Vorgänge weisen für das Verständniss eine gewisse Durchsich*
tigkeit auf, die aber sofort aufhört, sobald es sich um mehr oder weniger
zwangsweise auftretende Zustände handelt, deren Ursachen viel tiefer
im Unbewussten zu suchen sind, und gegen welche wir unsere Ohnmacht
sehr bald einsehen. Am ausgesprochendsten war dieses Ohnmachts-
gefiihl gegenüber der Schlafhemmung selber, aber erst mit dem
Moment, wo ich wach sein wollte (m. 5) ; während der Hypnose selbst
hatte ich niemals den Zweifel, sofort wach sein zu können, sobald ich
es wollte, wie überhaupt das Gefühl des Beeinflusstseins fast nie dem
wirklichen Grad der Schlafhemmung entsprach (VL 6). Wiederholt ist
es so gewesen, dass das Aufwachen aus vermeintlich ganz oberfläch-
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 41
licher Hypnose ein unvollständiges war und mir erst hinterher (Ende VI)
deren Tiefe zum Bewusstsein kam, und zw^r auf dem Wege eines
logischen Schlusses, nicht durch entsprechendes Empfinden. Dies führt
uns zur Betrachtung des Aufwachens aus der Hypnose.
C. Das Erwachen.
Auch hier treffen wir auf Schritt und Tritt auf dieselben Ver-
hältnisse, die uns vom gewöhnlichen Schlaf her bekannt sind. Aus
oberflächlicher Hjrpnose erfolgte das Aufwachen schnell und leicht, lag
zum Theil noch völlig im Bereich spontaner EntSchliessung (I. u. III.).
Aus tieferer Hypnose kam die Wirkung des Kommandos träge zu
Stande, ich fühlte mich benommen und behaglich faul (IX. 1). Bei
noch tieferer Schlafhemmung wurde das Aufwachen immer langsamer,
das Kommando musste mehrmals wiederholt werden, das gedankenfaule
Daliegen war noch ausgesprochener (VI. 4). Zur Beseitigung dieser
Benommenheit war sogar oft eine Desuggestionirung im Wachen noth-
wendig (III. 6), wobei der lebhafte akustische Beiz, auf welchem das
Kommando zum Aufwachen beruht, durch Druck der Schläfengegend
mit den fest aufgelegten Händen und plötzliches Loslassen bei Be-
endigung des Wach-Kommandos verstärkt wurde. Diese Desuggestio-
nirung bezog sich nicht nur auf das allgemeine Erwachen, sondern auch
auf bestehen gebliebene partielle Schlafhemmungen, so z. B. auf den
unangenehmen, mit Kältegefühl verbundenen Contractionszustand der
Hautgefässe, der wunderbarer Weise durch Frottiren allein nicht be-
seitigt wurde ; es war eine verbale Suggestion dazu nothwendig (VII. 3
pag. 18) — ein Beweis fQr die unbewusste, oder jedenfalls unempfundene
starke Abhängigkeit aller somatischen Functionen von psychischen Centren.
Das unvollkommene Aufwachen war in Folge dieser Abhängigkeit
besonders ausgesprochen, wo ich die Schlafhemmung ohne Kommando
spontan durchbrochen hatte (III. 6). Die Folge war, dass ich zunächst
auf dem Sopha, dann sogar mitten in der Stube aufs Neue von der
Schlafhemmung übermannt wurde. Zudem gesellte sich ein unangenehmer
Kopfschmerz als Folge hinzu, den ich sonst ebenso wenig wie irgend
einen anderen unangenehmen Folgezustand nach den zahlreichen
Hypnosen kennen gelernt habe.
D. Die Analysen cansaler Beziehungen.
Bei der Erklärung dieser Folgezustände, sowie der Motivirung des
unvollkommenen Aufwachens versagte die von mir erreichte Steigerung
42 Dr. Marcinowski.
der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung in der Hypnose. Aber bisweilen
drängte sich jedoch eine dunkelbevoisste Idee gleichsam als Wegweiser aol
Hierzu rechne ich die mir nachträglich klar gewordene Motivirnng meines
Verhaltens den Streichungen gegenüber (I. 2), femer die Beziehungen
des stark verlangsamten Lidschlusses in VUI. 1 zu der am Abend Yorb€r
selbst vorgenommenen Hypnose, und vor allem die eigenthümliche
Störung meiner ganzen psychophysischen Constellation, die sich bei der
II. Sitzung und in der Folge geltend gemacht hat. Ich wies sofort
auf die ungewohnte Form des vorangegangenen Nachtschlafes hin, ohne
dafür einen Grund angeben zu können, warum darin eine Erklärong
für diese Complication liegen solle. Das Abweichende in der Schlaf-
form war auch keineswegs so ausgeprägt gewesen, dass es sich mir
unter allen Umständen als auffallend hätte aufdrängen müssen; schon
in dem Umstand, dass es dies that, erblicke ich jetzt, — hinterher
— einen Beweis dafiir, dass meine Yermuthung, dass Traumerlebnisse
dieser Nacht die Störung verursachten, richtig war. Für die Traum-
vorgänge selbst war ich völlig amnestisch, nicht aber für deren Be-
ziehungen. Es müssen sich in der Nacht vorher unangenehme Dinge
in meiner Yorstellungswelt abgespielt haben, welche unterhalb der
Schwelle des Bewusstseins recapitulirt wurden, alsYogt mich hypno-
tisiren wollte, und nun ohne die Amnesie zu durchbrechen, zu schein-
bar unmotivirter hochgradiger Erregung führten, die für mich einen
rein körperlichen Oharacter hatte, da mir das ihr zu Grninde liegende
seelische Substrat momentan nicht zugänglich war.
In analoger Weise ist wohl auch bereits das Herzklopfen und die
ganze Erregung vor den ersten Hypnosen als eine Empfindung zu be-
trachten, welche aus dem Unbewussten heraus ihre Motivirung findet,
(cfir. Vogt Bd. ^^, pag. 83.) Auch der Kopfschmerz am 6. Tage ist
als das Residium eines unangenehmen somnambulen Traumes anfinh
fassen, für den Amnesie bestand. Ich bin überzeugt davon, dass de^
selbe zu beseitigen gewesen wäre, wenn es gelungen wäre, die Amnesie
für das causale Moment zu durchbrechen.
Wenn diese Amnesie bei mir nicht beseitigt wurde, so muss be-
merkt werden, dass das gamicht in der Absicht des Experimentiiens
lag. Wir wollten nur eine „gewöhnliche'^ Hypnose erzielen, Zustände,
die dem gewöhnlichen Einschlafen glichen, aber nicht das von Vogt
beschriebene für psychologische Analysen geeignetere systematiscbe
partielle Wachsein. Es war nur mein grosses Interesse an den auf-
tretenden Phänomenen, welches die von Vogt erstrebten Hypnosen so
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 43
umgestalteten, dass sie eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Vogt 'sehen
yyVersuchsstadium'^ bekamen.
Statt dessen möchte ich mir erlauben, hier ein Beispiel aus der
Praxis anzuführen, welches die Möglichkeit und den practischen Werth
Ton analytischem Vorgehen in der Hypnose belegen soll.
Neigung zu somnambulen Träumen, ständige Wiederholung eines
solchen unter starker Affectbetonung, patholog. Folgezustand:
glaubt Schwindsucht zu haben. Heilung durch Hypnose.
Frl. £., 21 Jahre alt, nervengesund ; Anamnese ohne Belang. Leichte Anämie.
Von Jugend auf Neigung zu somnambulen Träumen und Sprechen im Schlaf; ist im
Schlaf öfters über alles Mögüche ausgefragt worden ; es besteht für diese Vorgänge
Tollkommene Amnesie.
Während einer Periode freundschaftlichen Verkehrs in meiner Familie kommt
es gelegentlich an den Tag, dass dies sonst sehr verständige und ruhige Mädchen
seit Jahren unter der Idee leidet, schwindsüchtig zu sein, und glaubt, nicht lange
leben zu können. Um ihre Angehörigen nicht zu ängstigen, hat sie sich fast nie
darüber geäussert. Ausser anämischen Magenbeschwerden klagt sie nur über Schmerz
iD der linken Brust (Gegend des linken Oberlappens), der sie oft Nachts aufweckt.
Dabei sind keinerlei objective Symptome, Husten oder Catarrh etc., je zu eruiren
gewesen. Nach dem Zustandekommen dieser so ständig quälenden Angst, welche
ihr im Grunde so heiteres Gemüth oft schwer bedrückt, giebt sie an, dass in der
Verwandtschaft viel Tuberculose herrsche und dass im Hause der Eltern viel von
der Erblichkeit solcher Zustände und Dispositionen die Rede war.
Das war sehr wenig zur Erklärung einer so quälenden und jahrelang fest-
sitsenden Idee. Alle Versuche, sie durch Vemunftsgründe zu überzeugen, der Hin-
weis auf die Unmöglichkeit, dass jahrelang eine Phthise mit Schmerzen einher gehen
könne, ohne auch noch andere, einer so schweren Entzündung entsprechende ob-
jectiTe Erscheinungen zu setzen, scheiterten an der abweisenden Antwort, ich könnte
ilir doch mit aller Logik die Schmerzen nicht wegdisputiren, und die Angst, die sie
beherrsche, könne sie nicht unterdrücken ; sie thäte es weiss Gott von Herzen gerne,
wenn sie dazu im Stande wäre. Während ihrer Pensionszeit wäre eine liebe Freundin
Ton ihr an Lungenschwindsucht gestorben ; sie habe sie noch mit pflegen helfen, und
könne seit der Zeit den Gedanken nicht los werden, dass ihr ein ähnliches Schicksal
berorstehe.
Wir beschliessen darauf auf meinen Kath, einen Versuch mit Hypnose zu
machen, um diese Angst zu beseitigen. Patientin ist sehr ungläubig und erwartet
nioht das Geringste davon.
Die Hypnose wird nach Vogt 's sog. fractionirter Methode eingeleitet. Gleich
in der ersten Sitzung wurde beim 3. Versuch tiefe Hypnose mit Amnesie erreicht.
Suggestion der Beruhigung und des Aufhörens der Angst in Verbindung mit ein-
dringlicher logischer Ueberredung. Die Hypnose wurde als selu* wohlthuend em*
pftniden und erweckte lebhaftes Interesse in der Patientin. Der Erfolg war aber
ansser einer gewissen Beruhigung zmiächst nur gering. In den folgenden Sitzungen
gelingt es nun sehr leicht, die Patientin dazu zu bringen, sich in der Hypnose aus-
firagen zcT lassen, wie im Schlafe. Bereits beim 3. Male gingen die immer klareren
44 i^r. Marcinowski.
Angaben dahin, dass die Schmerzen haaptsächlioh Nachts auftraten, wenn Patientia
unter starker AlTectbetonung aufwachte. Die Affectbetonung wird als Folge angili-
gender Träume erkannt, welche seit dem Tode der Freundin auftreten. Bei näheren
Nachforschen werden nun auch die Beziehungen des Schmerzes zu dem Traommhtlt
aufgedeckt, die Amnesie für den letzteren Schritt für Schritt beseitigt. fSs ergiebt
sich schliesslich, dass die Schmerzen genau dieselbe Localisation aeigten, wie bä
der verstorbenen Freundin, welche wochenlang gerade darüber geklagt hatte. Du
£nde des unglücklichen Mädchens hatte seiner Zeit einen sehr tiefen Bindraek ge-
macht, die Pflege etc. mit ihren Strapazen in einer reizeropfänglichen Entwickelungi-
Periode war dazu gekommen, und im Anschluss daran kam ein Traum von besondenr
Lebhaftigkeit — Patientin neigte dazu — zu Stande, in welchem sie sich wtSbA,
— anknüpfend an die häuslichen Erörterungen über Heredität — in die SitaatM
der kranken Freundin versetzt sah. Seit dieser Zeit war der Schlaf stets unmUf,
und wenn ihr auch der Inhalt dieser ängstlichen Störungen unbekannt blieb, so »*
kannte sie denselben nunmehr deutlich als ständige Wiederholungen desselben TrannMi
Es war bereits in der 3. Sitzung gelungen, unterstützt durch Streichimgei,
zunächst den Schmerz zu beseitigen, und dann, anknüpfend an die starke Lmk*
betonung und Ruheempfindung in der Hypnose traumlosen, ungestörten NaohtieMif
mit analogen Empfindungen zu befehlen und zu erzielen. Nachdem die Genese dv
Angst aufgeklärt war, zeigte sich Patientin auch plötzlich für logische Zeriegm^
des ganzen Zustandes empfänglich, die entsprechende Aufklärung wurde aber prift-
cipiell zunächst nur in HY[)nose gegeben. Die Wirkung war eine überrasebends^
der Schmerz trat nicht mehr auf. der Schlaf war von bisher nicht gekannter A*-
quickung gefolgt und völlig traumlos. die Angst vollkommen verschwunden. Patientn
konnte sich nicht genug darüber wundem, dass sie über Alles ohne qaalende b-
pfinduug sprechen konnte, ihre Dankbarkeit war überschwenglich. Zur Sieberang dM
Resultates wurde sie noch ein 5. und 6. Mal hypnotisirt, jedes Mal unter mfibs*
losem Erreichen tiefen Somnambulismus und völliger Amnesie für alle Vorgangs ii
der Hypnose einschliesslich meiner oben näher bezeichneten log^cben Erörtenu^ges
über ihren Zustand.
6 Wochen danach erkimdigto ich mich nach dem erreichten Resultat sad
erhielt folgende Antwort : „Deinem Mann theile bitte mit, dass ich ihm zu grosssB
Dank verpflichtet bin, da er mir geholfen hat. Ich fühle immer mehr, dasi ff
Recht gehabt hat. Ich schlafe jetzt immer ausgezeichnet und kann ganz rnhif
an die Sache denken, ohne dass sie mich im Mindesten aufregt. Ich bin sii
ganz anderer Mensch, seit ich von dem Angstgefühl befreit bin. Hoffentlich bleibt
das so und kehrt nie wieder."
Ich antwortete ihr hierauf und gab ihr in meinen Zeilen noch einmal mit te
in der Hypnose gebrauchten Worten eine kurze Erklärung ihres Zustandes, zngkiek
die Anweisung, diese Zeilen ungestört und allein zu lesen und sich vorher dis
ganze Situation unserer hypnotischen Sitzungen recht lebhaft in Erinnemiig ft
rnfen. Das solle sie thun, sobald ihr irgend ein Zweifel an der Richtigkeit meiaff
Behauptung oder der Dauer der erreichten Heilung auftauche. Dann solle äs
meine Zeilen laut lesen und dabei an meine Worte denken ; so werde sie vor Bask-
fällen stets gesichert sein. — Bis jetzt hat das alles seine Schuldigkeit gethan, wd
ich glaube, dass die Art dieser „schriftlichen Suggestion*' sehr wohl geeignet
wird, einen Schutz für das Mädchen zu bUden.
Selbstbeobachtungen in der Hypnose. 45
gelang es neben einer Anzahl Gelegenheitsnrsachen für eine
Vorstellung, welche das Mädchen schwer deprimirte, einen Traum als
den HauptstörenMed zu ermitteln^ eine Beziehung, welche erst im hyp-
Dotisohen Zustand klar wurde. Der Umstand, dass in der Verwandt-
schaft tuberculöse Erkrankiingen vorgekommen waren, dass davon und
Ton der Erblichkeit dieser Verhältnisse öfters in der Familie die Rede
gewesen war, die relative Zartheit des jugendlichen, etwas chlorotischen
Mädchens, die tödüiche Erkrankung einer lieben Freundin an Schwind-
sucht, das alles zusammen ist noch nicht genug, um eine Jahre lang
andauernde Angst vor ähnlichem Ende in dieser Intensität hervorzu-
rufen. Ein Hauptargument war für sie der seit Jahren bestehende
Schmerz in der linken Brust, der sie oft Nachts störte, so dass sie
darüber aufwachte. Die ganze Schilderung weckte sofort den Verdacht,
dass es sich um keine normale Erscheinung handelte, und sehr bald
liess sich auf dem Wege einfachster Analyse während der Hypnose
der Zusammenhang feststellen, dass die zur Nacht auftretenden Schmerzen
nrnd die Angst vor Schwindsucht die Folge eines sich ständig wieder-
holenden Traumes waren, der aus der Zeit der Erkrankung ihrer
Freundin herstammte, welche an genau derselben Stelle der Brust den
schmerzhaften Sitz des Leidens gehabt hatte. Derartige Beispiele sind
schon oft beobachtet worden und die Entstehung mancher Phobie etc.
wurde auf ähnlichem Wege analysirt und was noch wichtiger ist, —
auch beseitigt. Bei Frl. E. gelang es in wenigen Sitzungen, eine voll-
ständige Heilung zu erzielen.
Die Hypnose hat nicht blos einen TV erth als Zustand, in dem sich
derartige Erscheinungen vermöge der erhöhten Fähigkeit zur Selbst-
beobachtung analysiren lassen, sondern hat auch die Eigenschaft, dass in
ihr krankhaft fixierte Ideen in ganz anderem Maasse der logischen Auf-
lösung zugänglich sind als im Wachen, bei nicht eingeengtem Bewusstsein.
Es ist das das, was Vogt die essentielle Wirkung der Hypnose ge-
nannt hat. ^) Auf diese Art gelangt der pathologische Gedankengang
XU correcter Bewusstseinsbeleuchtung und findet in dieser eine Correctur.
Aber die Möglichkeit, diese Correctur veranlassen zu können, gewinnt
man sehr oft erst aus dem Material, welches uns die Analyse in die
Hand giebt
In gleicher Weise gestaltet sich die Ueberwindung von Störungen
und Schwierigkeiten, wie sie im Verlauf der Hypnose selbst auftreten
') Cfr. Vogt's Krankengeschichte des an „inneren FoUotionen^ leidenden
Studenten in Brodmann, Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. Diese
ZeitMhr., Bd. VH, pag. 31.
46 I^r- Marcinowski.
(I. 2 Streichungen VIII. Lidschluss). Dabei scheint mir aber ein Ver-
halten mit zu spielen, welches dem ,,Abreagiren^' Freuds^) sehr ähn-
lich sieht. Die Störung nämlich, welche zur Aufdeckung ihrer nn-
bewussten Motivirung durch Analyse Veranlassung gab^ ist beseitigt»
sobald die Analyse gelungen ist (VIII. 1).
8. Die Oefühlstone in der Hypnose.
Es erübrigt nur noch, den Gefühlstönen einige Beachtung za
schenken, deren ich bereits mehrfach an entsprechender Stelle gedacht
habe. In ihrer Schilderung finde ich bei den von Wetterstrand
publicirten Selbstbeobachtungen (Wetter Strand, Fall U) das Za-
treffendste, was ich je darüber gelesen habe. Der Mann malt die Lnsi-
betonung seiner hypnotischen Zustände vorzüglich aus ; seine Schildenug
ist ein Gedicht^ welches wie Siegfrieds Waldweben anmuthet, in welchem
das gedankenfaule, behaglich einlullende Hindämmern die Stimmung
und Empfindung lustbetonter Hypnose so trefiOich wiedergiebt, dass ich
keine besseren Worte hierfür finden kann (vergl. 1. 1 und X. 1). Dies be-
trifft Empfinduugen in der Hypnose im Allgemeinen. Im SpecielleB
erscheint mir diese Lustbetonung an alle Vorgänge geknüpft, wdche
eine Lösung und Hingabe darstellten, so an den Lidschluss, soweit er
nicht als Krampf auftrat und dadurch unangenehme Gefühle weckte,
dann an das tiefere Sinken in Schlummer, das sich bei mir zu der in
II. und III. geschilderten wellenförmigen Curve gestaltete. Femer waren
es die Erschlaffungszustäude der Muskulatur, insbesondere der Gefils»-
muskeln, welche von stärkeren Lustgefühlen begleitet waren. Die In-
tfmsität der Lustbetonung war proportional der Intensität der Erschlaffuqg
sowie der Schnelligkeit ihres Eintritts.
Im Gegensatz dazu waren alle mit Zwang und Widerstreben ve^
bundenen Vorkommnisse unlustbetont, wie ich bereits an anderer Stelk
gesagt habe. Am schärfsten war die Unlust bei dem Symptom der
Ueberempfindlichkeit gegen Geräusche ausgeprägt (X. Schluss). Beim
Versuch, Katalepsie hervorzurufen (VII. 3) hatte ich dagegen keine den
Schilderungen anderer Autoren entsprechende Empfindung; die ganxe
Sache liess mich mehr wie in dem I. Falle von Selbstbeobachtung bei
Wetterstrand höchst gleichgiltig. Auf diesen Versuch komme ich
nunmehr im zweiten Theil meines Aufsatzes zu sprechen, welcher dae-
jeuige beleuchten soll, was wir in technischer Hinsicht aus meinen Selbst-
beobachtungen für Fingerzeige für unser Verhalten als Hypnotiseure
entnehmen können. (Schluss fblgi)
') Breuer und Freud, Studien über Hysterie.
Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie.
Von
Dr. W. HUger.
In den Jahren 1896 — 99 habe ich 7 an genuiner Epilepsie lei-
dende Patienten der hypnotischen Behandlung unterworfen. Eine son-
stige specifische Behandlung fand nicht statt mit einer einzigen Aus-
nahme, welche in Krankengeschichte II ausdrücklich erwähnt ist.
I. Die Arbeiterin Marie Po.. 22 Jahre alt, ohne bemerkenswerthe erbliche Be-
laaiang (1 Schwester der Mutter litt zeitweise an starken Kopfschmerzen, die
Grossmatter väterlicherseits litt an „Gicht^) trat am 26. I. 1896 in meine
Behftndlung.
Die Krämpfe, welche seit Dezember 1894 also etwas über 1 Jahr sich gezeigt
haben, werden von der Familie mit einer Verbrennung in Zusammenhang gebracht,
welche die Patientin erlitten hat. Die Mutter beschreibt die Anfälle als starke
Znckiingen, welche in der Nacht auftreten und etwa 5 Minuten lang dauern und
▼on starkem Uebelbefinden am Morgen gefolgt sind. Eine zweite Kategorie von
Anfallen besteht in dem Auftreten von Schwindel und Geistesabwesenheit am
Tage. An die letzteren Anfälle hat Patientin nachher Erinnerung, an die ersteren
nicht. Ich beobachtete später selbst während Anfällen der ersteren Art. dass die
Pnpülen nicht auf Belichtung reagirten. (Notiz über Anfall am 19. I. 1897: Sie
ist bewusstlos. schlägt mit den Armen, die Pupillen erweitern und verengem sich
synehrom, fast rhythmisch. Notiz über Anfall am 3. lU. 1897: Keine Pupillen-
reaktion während des Anfalls, nach dem Anfall gute Reaktion.)
Patientin, welche sehr chlorotisch war und an erschwertem Stuhl und mangel-
haftem Appetit litt, wurde vom 25. I. bis 15. 4. 1896 in 20 zweistündigen Sitzungen,
in welchen sie somnambul war (Amnesie), hypnotisirt und bekam ausserdem täglich
1 Würfel Hämoglobin. Der Stuhl und Appetit besserten sich, die Krampfanfälle traten
wahrend dieser Behandlungszeit nur allwöchentlich auf, während sie vorher etwa
4 mal in det Woche aufgetreten waren. — Trotzdem verliess Patientin die Be-
handlang, machte eine Kneipp'sche Kur etc. durch, die Anfälle nahmen an
Zahl ZQ.
48 W. Hüger.
Am 29. XII. 1896 kam sie wieder in meine Behandlung, ich Hess sie Morguii
und Nachmittags mehrere Stunden in Hypnose schlafen, vom 27. L 1897 ab wurde
■ie ständig im Bette gehalten und schlief dauernd ausser den Essenszeiten, dabei
allgemeine Körpermassage. Später, von Anfang Mai ab, lag sie nur die HÜfie
des Tages in H3rpno8e. die andere Hälfte benutzte sie zu kleinen Beschäftigongen etc.
Bei dieser über 5 Monate ausgedehnten ausgiebigen hypnotischen Behandlnng,
welche mit guter Ernährung verbunden war, zeigte sich eine Besserung der An-
falle. Die starken Convulsionen, welche in der Zeit ihrer Kneipp'schen Knr oft
4 mal am Tage aufgetreten waren, wurden wieder seltener und blieben bii n
11 Tagen weg. Die kleinen Anfälle traten in derselben Welse zurück.
Schliesslich brach sie aber die Behandlung wieder ab, weil sie zu Hause bei
ihren kleinen und kleinsten Geschwistern unentbehrlich war.
Sic blieb dann eine 2^itlang gebessert, die Mutter gab im Dezember 1897 an,
dass gelegentlich die Anfälle 3 Wochen ausgeblieben seien, später wurden die An-
fälle aber wieder häufiger (mit Exacerbationen zur Zeit der Menstruation) und im
Oktober 1898 fertigte ich ihr ein Invaliden-Attest aus. welches sie wegen dauernder
Erwerbsunfähigkeit von mir erbat. Im April 1899 traf ich sie mit ihrer Mutter.
Sie hat wieder alle Tage Anfalle, ist abgemagert und machte mit ihren blassen,
eingefallenen starren Zügen einen traurigen Eindruck.
Da sie während der Anfälle Worte von sich gab (Notiz vom 2. IV. 1897 : JSvAi
doch^. „lass das^, „wo ist denn Karl?" [ihr Bruder]) so versuchte ich im Ansddnss
an die Fr eud^ sehen VerölTcntlichungen nachher in der Hypnose nach psychischen
Traumen (unter Anderem sexuellen Attentaten) zu fahnden und psychische VorgingB.
welche mit den Anfällen in Verbindung stehen könnten oder während der Anfalle
statthätten, zu reproduciren. Sie antwortete aber auf jede Frage verneinend.
II. Der Arbeiter Gustav Bo.. geboren zu D., wohnhaft zu M.-S.. trat sn
2. Sept. 1896, damals 21 Jahre bei mir in Behandlung.
Ich kannte ihn seit etwa 6 Jahren als Epileptiker, er kam jetzt zu mir, wttl
er durch seine Krankheit gänzlich arbeitsunfähig sei.
£r ist der Sohn eines Landarbeiters, der nach Aussage seiner Frau, der
Mutter des Patienten, stets ein braver, nüchterner, fleissiger Mann gewesen tit^
bis 1881 stets gesund war. dann an „Asthma*' litt und daran 1882 starb, üeber
die Eltern des Vaters ist nichts bekannt, von einer Schwester des Vaters wein die
Mutter nur. dass nichts bemerkenswerthes vorliegt, ein Bruder des Vaters wsr
unfleissig und hat einen Sohn der träge ist und Anfälle von Jähzorn hat, im Uebrigen
sind sämmtliche Geschwister (noch 3 Brüder) des Vaters ihr als körperlich und
geistig gesunde Leute bekannt und ebenso deren zahlreiche Kinder und sämmt-
liche Enkelkinder.
Die Mutter ist eine gesunde ruhige Frau, sie giebt an, dass ihre Eltern sowohl
wie ihre 4 Geschwister sämmtlich stets nervengesund gewesen sind, ebenso die
Kinder und Enkelkinder dieser Geschwister.
Die Geschwister des Patienten sind mir bekannt, von denselben litt 1 Bruder
an Knochencaries (ist ausgeheilt), eine Schwester an migräneartigem Kopftchmeri.
alle übrigen sind körperlich und geistig gesund, ebenso deren Kinder.
Die Mutter des Patienten hat vor seiner Geburt 6 mal geboren und 3 mal
Fehlgeburten gehabt, keine Todtgeburten. Die Kinder, auch Patient nicht, haben
nicht an Ausschlägen gelitten.
Zar Kasuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie. 49
Mit Blei etc. hat weder Patient noch seine Eltern jemals zu thun gehabt.
Von Kinderkrankheiten werden nur Masern berichtet, hat keine Zahnkrämpfe
oder dergl. gehabt.
Kopfverletzungen werden in Abrede gestellt. —
Die Krankheit, wegen derer Patient zu mir kommt, wird von den Angehörigen
rarückgefuhrt auf eine starke Gremüthserschtitterung durch Schreck, welche Patient
im Alter von 8 Jahren erfahren hat. In Rücksicht auf spätere nothwendige Er-
örterungen gebe ich den Vorgang nach Schilderung der Mutter und des Bruders
Karl ausführlich wieder. G. wurde mit seinem Bruder Karl in den Keller ge-
schickt, um dort Kartoffel zu holen. Ein Mitbewohner des Hauses, Heine mit
Namen, war um diese Zeit in einem Verschlage des Kellers beschäftigt und machte
sich den „Scherz'', die ahnungslosen Kinder mit tiefer Bassstimme zu erschrecken.
Der Bruder fiel mit der Lampe in der Hand zu Boden, G. kam dann, wie seine
Mutter erzahlt, nach oben gestürzt, in höchster Erregung, umklammerte die Knie
einer Nachbarin und schrie: „Es sitzt wer im Keller, der macht uns zu graulen."
Die Mutter suchte ihn zu beruhigen, auch der Heine gab sich darin Mühe und
ftellte sich später sehr freundschaftlich zu dem kleinen G. Nach Vs oder höchstens
1 Monat bemerkte die Mutter, dass er gelegentlich es „in den Kopf kriegte'', er lehnte
•mck z. B. starr an die Wand, stöhnte, als wolle er etwas sagen und „könne es nicht hoch
kriegen", fasste die Umstehenden an, fiel bei späteren Anfällen auch hin, bekam Tom
14. Lebensjahr dann immer häufiger Anfälle und t. 16. Lebensjahr ab traten oft 4 — ö An-
fille täglich auf, sodass ein Anfall in den andern überging. Die längste Pause zwischen den
Anfälle war gelegentlich 8 Tage, nach einer solchen Pause traten die Anfälle aber dann
besonders heftig auf. Die Anfälle traten theils urplötzlich auf, wie es scheint, ohne Aura,
theils gab er vor dem Anfall kurze Laute Ton sich, theils ging denselben eine Ver-
wirrung voraus, in welcher er auf die Strasse lief, die Kinder mit seinem ausgezogenen
Rock schlug, auch wohl seine Mutter angriff und sie stiess und zerrte. Nach den
Anfällen war er häufig irre, verlangte von seinen Vorgesetzten auf der Arbeits-
ftitte augenblicklich höheren Lohn und wurde dann aus der Arbeit entlassen. —
Die Schilderung welche die Angehörigen von den eigentlichen Gonvulsionen und
deren Begleiterscheinungen (Bettnässen) machen, weichen in Nichts von dem typischen
Bild des epileptischen Anfalls ab. Er kam öfter nach einem solchen Anfall zu mir
mit zerbissener Zunge, geschwollener Wange, auch einmal einer fleischwunde, die
er sich beim Sturz aus einer Bodenlucke zugezogen hatte.
Ich erfahre, dass nach den Anfällen häufig, vielleicht fast immer, nachher dem
Patienten von dem Anfall erzählt worden ist, und wie mir die Mutter mittheilt,
ist öfter in der Familie nach dem Ablauf eines Anfalles in Gegenwart des Patienten
die Rede davon gewesen, dass, wenn jener Schreck mit dem Heine nicht gewesen
w&re, er auch keine Anfälle haben würde.
Ich habe dann während der Behandlung solche Anfälle beobachtet und gebe
meine kurzen Notizen hierüber wieder:
Anfall 17. XII. 1896. 10 ühr starker Schrei, bewusstlos. Klonische Zuckungen
aber den ganzen Körper. Pupillen bewegen sich unregelmässig.
Anfall 16.11. 1897. Pupillen contrahiren sich nicht auf Licht, bewegen sich
Tielmehr unabhängig vom Licht und dehnen sich bei einem Hustenstoss weit aus.
Blntlger Schleim aus dem Munde.
Anfall 17. II. 1897. Unfreiwilliger ürinabgang, Durchnässung des Ruhebettes.
ZeiUehrift für Hypnotismns ete. IX. ^
50 W. HUger.
Anfall 14. XI. 1898. Ich werde gerufen, weil man in der Kammer, in welcher
er liegt, die Laute ,,Au" n^^'* h^t ausstossen hören. Finde ihn im Goma. StertoroMi
Athmen mit Schaum vor dem Munde, Cyanose. Pupillen reagiren nicht auf lidit,
aind ungleich, werden während der Belichtung weit und ▼erengem sich wieder ob»
Einfluss der Belichtung. Später (nach etwa 5 Minuten) wieder Reaction der Popilkii.
auch GonjunctiTalreflex, gesteigerter Patellarreflex, kein Fussldonoa, kein Gremasfeei«'
reflex. — £r reag^rt dann wieder auf Anrede, antwortet aber Sinnloses.
Ich fiige hier noch das Wesentliche über den Status somaticns hinsu, weldus
ich den Notizen vom 23.111. 1899 entnehme.
Sehr wohl gebauter Körper, keine Degenerationszeichen (als einzige ,yAb-
normität** findet sich eine starke Ausbildung des Protub. ocdpitaL externa) stalte
Knochenbau, besonders starker Gesichtsschädel, guter Haarwuchs, tadellose ZShnt*
sehr kräftige Muskulatur. 2 kleine, nicht angewachsene Narben auf dem Scheitel,
Percussion des Schädels etwas empfindlich. Narben der Zunge, Narben am Knia
Sonst nichts Abnormes (Herz normal, Urin kein Eiweiss, kein Zacker etc., Es-
flexe normal. Ophthalmoskopischer Befund normal etc.). Nach allen diesen Daten
dürfte die Diagnose „genuine Epilepsie** wohl gesichert sein und bei der nicht sakr
starken erblichen Belastung (ein etwas abnormer Onkel und Vetter — die Krank-
heit des Vaters war wohl eine rein somatische) der äusseren Schädlichkeit (Schreck)
eine wesentliche Bedeutung in der Aetiologie zuzumessen sein.
Die Behandlung des Patienten, welche, wie erwähnt, am 2. IX. 1896 begonnoi
wurde, war nun bis zum October 1898, also zwei Jahre hindurch, eine rein peyofao-
therapeutische. — Patient hatte gleich in der ersten Sitzung einen tiefen ScUaf
mit Amnesie beim Erwachen. Ich benutzte diesen Somnambulismus zur Analjse
des Bewusstseinszustandes, über deren Resultat ich am Schlüsse dieser Mittheihiiig
berichten möchte und zur Anwendung des Dauerschlafes. Patient hat 8 Monats
hindurch (vom 2. IX. 1896 bis 1. V. 1897) täglich von 24 Stunden 18 "/« Stund«
geschlafen. Er kam Morgens gegen 8 Uhr zu mir und schlief bis 1 Uhr^ ass dam
zu Mittag, ging etwas spazieren etc., legte sich um 3 Uhr Nachmittags wieder hin
und schlief bis Abends 9 Uhr. Sonntags schlief er nur bis 1 Uhr hier. Dabei
schlief er die Nächte zu Hause, etwa von 11 Uhr Abends bis ^j^l Uhr Morgens.
Er fühlte sich bei diesem Dauerschlaf sehr wohl, lächelte in Hypnose behaghcJi
(gelegentliche, beim Liegen auftretende Kopfschmerzen und Leibschmerzen liessui
sich leicht wegsuggeriren) und erklärte im Wachzustande, dass er sich wie nea-
geboren fühle.
Es konnte dann auch eine wesentliche Besserung constatirt werden. Vom
2. IX. 1896 bis 24. IX. 1896 hatte Patient allerdings noch 8 starke Anfälle. Dann kommt
aber eine Pause bis zum 27. X. 18%. Von da ab traten die Anfalle in grossersn
Pausen auf. So am 27. X., 28. X., 31. X. 1896 je ein Anfall, dann am la XL 1896
ein rudimentärer Anfall, am 17. XII. 1896, am 16. 11. und 17. 11. 1897, am 23. HL
1897, am 2L IV. 1897, also mit Pausen von 1 bis 2 Monaten. Am 1. V. 1897
war er dann nicht mehr zu halten, er trat in Arbeit und kam nicht zur Behand-
lung. Er hatte dann vom 1. V. bis 14. V. allnächtlich Anfälle, blieb aber dans
frei bis Anfang Juli, wo er in einer Nacht 3 AnfäUe hatte. Dann eine Pause bis
16. X. 1897, also über Vi Jahr. Auch der Gharacter der Anfälle war ein anderer
geworden. Während die früheren gehäuften Anfalle häufig am Tage auftraten nnd
eine schwere Reaction zurückliessen, kamen jetzt die Anfalle nur des Nachts. Seine
Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlang der Epilepsie. 51
Matter bemerkte, wie er Nachts karze Attacken bekam, er selbst stand aber stets
am Morgen aaf, fühlte sich wohl, klagte nicht über Schwäche, nicht einmal über
Kopfschmerzen und ging, als wenn überhaupt nichts passirt sei, an seine Arbeit.
Er war hierdurch in Stand gesetzt, seine Angehörigen auskömmlich zu ernähren. —
Auf mein Drängen kam er des Sonntags Morgens wieder zu mir zur Behandlung, wobei
er immer wieder Ausreden hatte, den einen oder anderen Sonntag nicht zu kommen.
£r hatte dann wieder eine Attacke am 25. XTT. 1897, also nach zweimonatlicher
Pause und von da ab wieder allmonatlich bis zum März 1898, wo er im Ganzen
10 nächtliche Anfälle hatte. Nachdem der April 1898 keine Anfälle aufgewiesen
hatte, traten am 16. V. und am 19. Y . 1898 je 1 Anfall und zwar zur Tageszeit auf.
Es zeigte sich aber hierbei kein postepileptisches Irresein, er war 1 Stunde nach
dem Anfall wieder bei Bewusstsein, schlief in der kommenden Nacht gut und ging
am anderen Tage wie gewöhnlich an seine Arbeit. Ich setzte nun durch, dass er
auch an gewöhnlichen Werktagen Abends nach der Arbeit zur Hypnose zu mir
kam und an solchen Werktagen, wo er keine Arbeit hatte, wieder den ganzen Tag
hier schlief, wobei er auch immer wieder gelegentlich Ausreden hatte, wegzubleiben.
Am 14. VI. 1898 trat wieder 1 Anfall auf der Arbeitsstätte auf, ebenfalls am 1. VIII.
1896 und 2. VIII. 1898 und 2. X. 1898 (Juli und September 1898 waren anfallsfrei).
Vom 8. X. 1898 bekommt er dann täglich (Abends) 3 g £al. brom. hat aber am
14. XI. 1898 hier einen (oben beschriebenen) Anfall, ebenso am 26. "^TT 1898,
26. Xn. 1898, 11. I. 1899, 12. n. 1899, 16. IL 1899, 17. n. 1899 (s. unten) unter
denen wieder mehrere am Tage auftraten. Dann war der März wieder anfEillsfrei,
und wurden seit 15. Ul. 1899 täglich 4,5 g Kai. brom. und seit 23. HI. 1899 täg-
lich 6,0 g verabreicht. — Die hypnotische Behandlung blieb auch bei dieser Medi-
oaüon dieselbe, Patient kam Abends zu einer 2 — 3 stündigen Hypnose, wobei es
allerdings immer wieder zu bedauern war, dass er häufig unpünktlich war. Er war eben
offenbar lieber Abends nach der Arbeit in seiner, wie es scheint sehr behaglichen
Häuslichkeit und imter seinen Angehörigen, bei denen er jetzt, wo er der Ernährer
ist, eine Rolle spielt, wie bei mir zum Schlafe auf seiner einsamen Bodenkammer.
Abgesehen yon einer Torübergehenden Arbeitslosigkeit nach dem Anfall am
11. I. 1899, der wieder auf der Arbeitsstätte stattfand, ist er also seit Beendigung
des Dauerschlafes (vom 1. V. 1897 ab — also fast 2 Jahre) stets erwerbsfähig ge-
wesen und hat seinen Posten als Handlanger mit Fleiss und Ausdauer versehen. —
Schon bei Beginn der Behandlung merkte man eine Hebung seiner Psyche.
Am 1. XL 1896 finde ich die Aussage seiner Mutter notirt : „man könne gar nicht
sagen, wie sehr er sich geändert habe, immer artig, recht fidel und spasshafb^.
„So hoch möchte er springen^.
In der That erschien er frischer, selbstbewusster, war in der Erzählung seiner
Erlebnisse geordneter und das lebhaftere Mienenspiel liess ihn intelligenter er-
scheinen.
Zur Ergänzung des Status füge ich hinzu: Er ist (Status Tom März 1899) ein
sehr guter Kopfrechner, behält vierstellige Zahlen sehr gut, seine Schulkenntnisse
sind ihm zum Theil noch sehr gut präsent, während er sich im Allgemeinen in
einem engen Vorstellungskreise bewegt. Er ist gutmnthig, gegen seine Angehörigen
sehr sorglich und sogar liebevoll zu nennen, mir gegenüber sehr folgsam, während
er den Dienstboten gegenüber leicht gereizt und heftig wird, dabei wird er ge-
legentlich bei einer Lüge ertappt und verstieg sich sogar nachweislich einmal mit
4*
6S W* Hilger.
Beihülfe seiner Mutter m einer kleinen Verontrenung von ihm anverferantem Ha»-
haltungsmateriaL — Zur anbedingten Abstinenz von jeglichem Alcohol, den er
übrigens nie besonders geliebt hatte, habe ich ihn seit Beginn der Behandlmig mit
Erfolg angehalten — ebenso wurde er durch Anhaltung zur Sparsamkeit, Sauber-
keit etc. günstig beeinflusst und namentlich durch hypnotische Suggestion stets
prompt Ton seinen häufigen Heirathsgedanken abgebracht«
Im lebhaften Gegensatze zu dem ToUstandig negativen Reeultat» welches dsr
Versuch einer „Analyse** bei der Patientin Marie Po. ergab, stehen die Angaben,
welche Patient Bo. mir bei dem Versuch einer Analyse gemacht hat. Wollte msa
diese seine Angaben ohne Weiteres yerwerthen, so müsste man annehmen, dass sr
Tor und während der Anfälle eine lebhafte geistige Thätigkeit gehabt hat, in
welcher die Eindrücke der Gegenwart mit Hallucinationen aus der Vergangenheit
▼eimischt auftraten und dass er für alles dieses eine deutliche Erinnerung bewshzt
hat, die er wenigstens in der Hypnose zu reproduciren im Stande seL Da diese
seine Angaben für die Beurtheilung des Falles von Interesse sein dürften und
namentlich auch einen casuistischen Beitrag für die Anwendung der Analyse bieten,
so sei es mir gestattet, dieselben hier wiederzugeben. Ich muss gestehen, dass ich
dem Inhalte derselben zunächst ohne genügende Kritik gegenüber^ stand und eist
später zu einer mir befriedigend erscheinenden Erklärung gekommen bin. Leider
habe ich vor der ersten Analyse (am 2. IX. 1896) versäumt, dieselben Fragen im
Wachzustande an ihn zu richtai, habe dies aber später nachholen können und
werde über das Ergebniss berichten. Uebrigens war ein „Hineinfragen** bei dsr
„Analyse** schon deshalb ausgeschlossen, weil ich damals über seine Vergangenheit
nur ganz wenig orientirt war und die Geschichte eines psychischen Traums, sovisl
ich mich erinnere, überhaupt nicht kannte. Ich habe die Aussagen des Patientsn
und meine Fragestellung nicht stenographirt, aber schon während der Sitzung und
zum Theil sofort nach der Sitzung niedergeschrieben. Man wird bemerken, da«
diese Wiedergabe durch Auslassung einiger von mir gestellter Fragen gekürzt ist
Ebenso unterlasse ich die Wiedergabe einer Erinnerung aus dem postepileptischeB
Verwirrungsstadium. Er giebt bei dieser „Erinnerung** auf meine Anfrage sogleich
an, dass ihm das später erzählt sei.
Hypnose am 2. IX. 18%. Patient schläft (wie oben schon angegeben som-
nambul). Er bekommt die Suggestion : „ „kann sprechen, schläft aber weiter, sqD er-
zählen, wie er einen Anfall bekommt** **. „Ist vom Schrecken gekommen, ich sass in
der Schule in Diesdorf*. „ „Ganz deutlich ?** ** „Ja, in der vierten Bank, rechts
war der Ofen, der Schullehrer vor mir, Otto Fricke las in der ersten Bank von
Karl dem Grossen". „„Was? ganz genau!**** „Wie er regiert hat — ** „„Auch,
wie er Wein gepflanzt hat?** ** „Ja, das kam nachher. Da schlug ich mit beiden
Fäusten auf die Bank, der Lehrer kam auf mich zu mit dem Stocke und sagte, idi
solle das sein lassen, darauf prügelte er mich, ich schlug dann immer noch mehr.
Die Prügel ftihlte ich nicht — ** „ „Ich denke, es ist vom Schrecken gekommen?" '
„Ja — ich wurde mit meinem Bruder — dem Harmonika-Mann ^) in den Keller ge-
schickt, da machte uns Jemand graulen. Der arbeitete an einer Bucht**. *) „„Sehen
Sie ihn jetzt ganz deutlich?"*** „Ja, — ** y,n^^ ^^^ ^^ ^ einen Rock an?*"*
*) Arbeitet jetzt in einer Harmonika-Fabrik.
*) Kellerverschlag.
Zur Kasuistik der hypnotisohen Bedeatong der Hysterie. 63
„Einen schwarzen*'. „ ,, Wo stand die Lampe etc. etc. ?*"* — „Er klopfte an die Bodit
und fragte: Könnt ihr auch beten? Da erschraken wir so — ich schlag mir die
Knochen kurz and klein and mein Brader wurde bewusstlos — **. „ n^^^ ^^^^ dann
der Anfall P**^ „ — Es war umgekehrt — mein Brader schlag sich kaput und ich
wurde bewusstlos, die Lampe liess ich vorher auf den Boden fallen, mein Vater
und meine Mutter kamen und mein Vater sag^e zu dem Mann — Heine hiess er —
„was haben Sie nun gemacht?** Der Mann meinte, das sei nicht so schlimm, er
habe uns nur graulen gemacht und gesagt: könnt ihr beten? — — Als loh
oben war, bekam ich Krämpfe, da rief mein Vater den Mann von oben (oberes
Stockwerk) herunter und zeigte auf mich; der Mann sagte: das würde sich wohl
wieder geben, je älter ich würde. — Mein Bruder legte sich damals hin und bekam
eine schlimme Hüfte**.
„„Wie kam denn nun der zweite Anfall von Schrecken?**** „Der Mann kam
in die Schule**. „ „Sehen Sie ihn, wo steht er?** ** „Er steht an der Thüre, nachher
kommt er herein, stellt sich neben den Lehrer und fragt, was ich gethan habe,
der Lehrer sagt es ihm, da sagt er, das kommt vom Schrecken, ich habe ihn
graulen gemacht, da sagt der Lehrer, das hätte er doch besser nicht thun sollen,
solche jungen Kinder, ^) da sagt er, das werde vorübergehen, je älter ich werde. —
Dann lag ich noch 2 Stunden mit dem Kopf auf dem Pult und wurde von 2 Jungen
nach Hause gebracht. Heine ging mit und ging dann weg, er ging zu seiner
Frau. Diese sagte, dass er das doch besser nicht gethan hätte**. „„Sahen Sie wie
er zu Hanse war?**** „Ja, ich ging mit. Nachher kam der Lehrer und erzählte
das meinem Vater, dass ich solchen Anfall gehabt hätte, mein Vater erzählte ihm,
dass das vom Graulen gekommen sei — wir wären in den Keller gegangen u. s. w.**
„,J^un sehen Sie wieder einen Anfall. Welchen?**** „Bei Eölsche in der
Fabrik**. „t|Wie ist das?**** „Ich arbeite mit meinem Bruder an der Maschine,
da sage ich zu meinem Bruder, mir ist so sonderbar, da sagt er, gehe hinauf, ich
gehe hinauf, da kommt der Anfall, ich falle den Fahrstuhl hinunter, anten in die
Maschine, die wird noch rechtzeitig abgestellt**. „„Sehen Sie das deutlich.****
„Ja**. „„Sehen Sie das Loch, ist es rund oder viereckig?**** „Viereckig**
wie ich daliege, kommt Herr Fölsche**. „„Was sagt er?'*** „Man müsse mich ent-
lassen tmd dann hat er in allen Fabriken rundgeschickt, sie sollten mich nicht an-
nehmen**. „„Ist denn sonst Niemand da?**** „Doch, der Heizer". „Wer noch?****
„Heine**. „Was thut er?**** „Er spricht mit Herrn Fölsche, das komme vom
Graulen etc., dann geht er weg**. „»Wie geht er?**** „Er geht das Bahngeleise
entlang, über den üebergang zum Schlachthaus, dann kann ich ihn nicht mehr
sehen. Nachher erzählt mir Herr Fölsche von dem Anfall**. „„Auch von Heine?****
„Ja**. „M^As denn?**** „Dass er dagewesen ist und gesagt hat, das kommt vom
Graulen**.
Ich gehe in dieser ersten Sitzung noch mehrere Anfalle durch — immer
findet sich die sinnlich lebhafte Vorstellung des Erzählten und immer auch diese
Hallucination des Heine. Er erzählt später (ebenfalls in der ersten Sitzung), dass
er vor dem Anfall den Heine im Keller versteckt gesehen habe und bejaht die
Frage, ob er denn vor allen Anfallen den Heine so versteckt gesehen habe. „„Wie
Sie bei Fölsche den Anfall gehabt haben auch?***' „Ja, ich sagte so meinem
*) Ausruf des Mitleids.
64 W. flüger.
Broder, tiehst da den da unten nicht, der macht uns graulen^ mein Broder tagte,
komme oben — da sah ich fleine immer im Keller und nachher kam er herauf". —
Hier war ja nun ein Anhaltepnnkt, um die Richtigkeit seiner Angaben zq eon-
trolliren. Es stellte sich dabei heraas, dass der Bruder sich zwar des AtiIW]|1« «p.
innerte, nicht aber irgend welcher Aeusserungen, welche Patient Toriier gethtii
hatte und in Bezug auf die Aeusserung „Siehst du den da unten etc." meint der
Bruder direct, das habe sich Patient wohl zusammengereimt. Auch der mir be-
kannte Fabrikbesitzer stellt eine derartige Aeusserung, wie er sie gethan haben
solle, direct in Abrede und ist Herr Fölsche (nach Mittheilung des Bruders) bei
dem hier geschilderten Anfall überhaupt nicht zugegen gewesen, aondem erst bei
einem zweiten Anfall, der sich erst am Nachmittage ereignete. Uebrigena emhlt
der Bruder auch das Erlebniss im Eartoffelkeller etwas anders wie Patient.
Ich habe dann bei späteren Anfallen immer sorgfaltiger die Aussagen dei
Patienten mit den Aussagen seiner Umgebung yerglichen, dabei stellten sich stets
Widersprüche heraus. Z. B. Anfall am 26. XII. 1898: Die Mutter berichtet, PaHent
hat auf 3 Stühlen ausgestreckt am Nachmittag geschlafen. Da hat er einen An&U
bekommen, ist aber nicht yon den Stühlen heruntergefallen. Patient macht in Hyp-
nose dann die ausführliche Angabe, dass er Ton den Stühlen gefallen sei, daas ihn
seine Mutter und seine Schwester wieder aufgerichtet habe etc., und nur in einem
Punkte trifft er das Richtige, dass ein Umstehender (sein Schwager) gesagt habe:
„wir wollen ihn liegen lassen, bis der Anfall vorüber ist".
Es war mir yergönnt, am 17. II. 1899 das Stadium nach einem AnfigJl zu be-
obachten und in demselben mit dem Patienten einen Versuch anzustellen, der für
die Frage, ob heilbare oder unheilbare Amnesie Ton Wichtigkeit und für meine
Stellungnahme zu dieser Frage im Toriiegenden Fall entscheidend war.
Am 16. n. 1899 (s. oben) hatte er einen Anfall gehabt, bei dem er sich
leicht am Finger yerletzte und einen kleinen Verband erhielt, am Nachmittag des
17. II. auch einen Anfall und am Abend (nach der Hypnose) wurde ich wieder
gerufen, ^r sei im Keller beim Kohlenholen hingefallen. Wie ich hinzukam, war
der Anfall gerade vorüber. Ich rede ihn an. er macht einen unbesinnlichen Ein-
druck, wie Jemand der aus der Narkose erwacht. Ich frage: „„Nun was ist
denn?"" — Er sagt nichts. — n»»^'"^ stehen Sie aufl"" Er erhebt sich. „„Wti
haben Sie denn da?"" (sein Verband an der Hand) — „Wo ich mich doch ge-
stossen habe." — »n^^i^ kommen Sie einmal endlich wieder regelmässig zur Be-
handlung."" „Bin ich denn heute nicht gekonmien?" — „„Ja aber länger müssen
Sie kommen."" — „Ja, wenn ich bis 7 oder 8 Uhr hier schlafe, dann kann ich sn
Hause nicht schlafen." — Ich beruhige ihn dann etwas, sage, er werde schon
immer gut schlafen und fahre fort: „„Nun gebe ich Frl. G. (welche anwesend
war) eine Mark für Sie, die sollen Sie morgen von ihr abfordern."" £r lächelt ^
„„Also was sollen Sie thun?"" — nVon Frl. G. die Mark abfordern."
Eine Prüfung der Pupillenreaktion ergiebt Trägheit derselben. — Er wird
dann von seiner Mutter abgeholt, ist störrisch als dieselbe ihm den Weg nach
Hause zeigen will.
Am 18. IL 1899 kommt er zur Behandlung, er kommt und geht, ohne nach
dem Gelde zu fragen.
Am Nachmittage kommt er wieder, fragt ebenfsdls nicht nach der Mark, ich
rede ihn dann an:
Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie. 56
Wachzustand. »„Was war denn gestern?""*) — „Nichts." — „„Haben
Sie sich ganz wohl befunden?"" „Ja." „„Waren Sie denn nicht hier?"" „Ja."
„„Was haben Sie denn gestern hier gemacht?"" „Geschlafen." „„Sonst nichts? —
Na, Sie sind doch auch sonst hier thätig gewesen!"" „Ja." „„Was haben Sie
denn gemacht?"" „Kohlen geholt und Stiefel geputzt."') „„Wann sind Sie denn
nach Hause geg^gen?"" — „Um */«''."') — „„Erinnern Sie sich denn gar nichts
mehr sonst von gestern?"" — „Nein." — „„Nun fällt es Ihnen wieder ein."" —
Schweigt. „Ich weiss nichts mehr."
Hypnose. Ich lege die Hand auf seine Stime: „„Nun fällt es Ihnen ein,
was gestern war, nun erzählen Sie einmal?"" — „Ich weiss nichts." Ich wecke
ihn und gehe im Wachzustände weiter.
Wachzustand. „„Nun was war denn gestern, denken Sie mal den Tag
über nach, was gestern war, Sie sind den Morgen aufgestanden und hierher ge-
kommen?"" — „Ja und Nachmittag wieder gekommen." — „„Was war denn am
Nachmittag?"" — „Das weiss ich nicht." — „„Ist denn gestern hier nichts passirt?"" —
„Nein."
Hypnose: „„Nun können Sie sagen, was gestern Nachmittag passirt ist?""
— „Da habe ich den Anfall gehabt." Ich wecke ihn, er ist amnestisch für
diese Unterhaltung in der Hypnose, ich gehe im Wachzustand weiter.
Wachzustand. „„Was ist denn gestern Abend passirt?"" — Schweigt. —
„„Nun können Sie sagen, was gestern Abend passirt ist?"" Schweigt. „„Erzählen
Sie einmal?"" — „Zehne?" (er hat mich nicht recht verstanden). „„Erzählen Sie
einmal, was gestern Abend passirt ist?"" — Schweigt. — „„Ueberlegen Sie einmal,
was gestern Nachmittag war, Sie sind henmter gekommen, was haben Sie denn
unten gemacht?"" — Schweigt. — „„Nun, fällt es Ihnen wieder ein?"" —
Schweig^.
Hypnose. „„Ueberlegen Sie einmal, was gestern Abend passirt ist?"" —
„Ich habe den Anfall gekriegt." — „„Ja? nun wissen Sie es ganz genau, nun
sagen Sie es."" Wecke ihn.
Wachzustand. „„Na, was war denn gestern Abend?"" — Schweigt erst,
dann: „Weiter weiss ich nichts." — „„Was denn?"" — „Dass ich den Anfall ge-
kriegt habe." — „„Wo haben Sie denn den Anfall gekriegt?"" — „Auf dem
Boden."*) — „„Und sonst noch wo?"" — „Nein." — „„Na, ich bin doch dabeige-
wesen."" — Schweigt. — „„Nun können Sie es sagen, wo ich dabei gewesen bin!"" —
„Unten im Hause."») — „„Wo denn?"" ,,In der Stube." — „„In welcher Stube?""
— Schweigt. „In der vorderen Stube." — „„In welcher vorderen Stube?"" „Die
nach der Strasse hinaus geht." — „„Entsinnen Sie sich ganz deutlich?"" — „Die
^) Diese eanze Unterredung^ ist von mir stenographirt und wortgetreu wieder-
gegeben. Ich liess ihn nach Einleitung derselben auf dem Sopha hinlegen und
wechselte wie angegeben mit Wachzustand und Hypnose ab, um möglichst genau
festzustellen, wie weit der Wachzustand für eine etwaige Behebung der Amnesie
genügen würde.
*) Seine gewöhnliche Verrichtung Abends nach der Hypnose.
') Thatsächlich war es 9 Uhr, als er am Abend des 17. 11. mit seiner Mutter
^ogging-
*) Er meint die Bodenkammer, in welcher er gewöhnlich hypnotisirt wird. Er
raih offenbar und zwar falsch.
*) Auch hier räth er wieder und zwar falsch.
66 W. Hilger.
erste. ** — „„Welche erste?*"* — „Wenn Sie hier Tons Haus herein gehen."*)*) —
„„Wissen Sie denn ganz deutlich, wie Sie da lagen ?•** — n«^*-** "~ »n^*^ ^"^
denn dabei?"« — „Fräulein, die Köchin.« ») — „„Sonst keiner?«« „Und die Mutter.«
— „„Sonst noch Einer?«« — „Fräulein G. und hier Herr Dr.« — „n^^^^ ^"^ '•■'
das?«« — „Hinten in der Stube.« «) — „„In welcher hinten in der Stabe?«« — Ja
der geraden Linie.« — „„In welcher geraden Linie?«« — „Da war die Stabe.« —
„„Wo haben Sie denn gelegen? Auf dem Fussboden?«« — Schweigt — spat«
„Ja.« — nn^o denn mit dem Kopf?«« — „Hier (zeigt nach rechts), mit den
Beinen da (zeigt nach links).« — „„Und was ist denn nachher gewesen? Habe ich
dann was gesagt, oder was gethan?«« — „Nein.« — „„Habe ich einem was ge-
geben für Sie?«« — „Nein.« — „„Habe ich nicht FräuL G. etwas gegeben fSr
Sie?«« Schweigt. — „„Was habe ich Fräul. G. gegeben für Sie? Non üUt ei
Ihnen wieder ein, wo der Anfall gewesen ist?«« — „Auf dem Boden!«
Hypnose. „„Nun fallt Urnen ein, wo der Anfall gewesen ist?«« — „lek
weiss nicht.« — „„Nun drücke ich recht stark, dann wissen Sie es wieder.«« —
„Unten in der Stube.« — „„Und was war denn nachher?«« — „Nachher bin itk
wieder munter geworden und aufgestanden.« — „„Habe ich denn was gesagt, oder
was gethan?«« — „Sie haben was gethan." — „„Was habe ich denn gethan?«' —
„Sie haben mich von meinem Leiden gerettet.*^ — „„Habe ich denn Einem wai
gegeben für Sie?«« — „Fräulein G.*' — „„J» was denn?«« — „Was zum JEn-
nehmen." — „„Sie schlafen doch ganz fest?«« — „Ja." — Ich suggerire mit JSrfolg
Katalepsie und Anästhesie des Armes (äussert geringen Schmerz bei starkem Nadel-
stich), wecke ihn, er ist vollkommen amnestisch für die Unterredung.
Wachzustand. „ „Nun wissen Sie auch, was ich FräuL G. gegeben habe?« **
— Schüttelt mit dem Kopf. Ich erzähle ihm dann den ganzen Vorgang: nvr^
habe Sie im Keller gesprochen und habe ihnen gesagt, dass Sie pünktlicher kommen
sollten etc. etc., Sie haben gesagt etc. etc., und habe Fräul. G. etwas gegeben für
Sie und gesagt, Sie sollten Sich das morgen geben lassen." " — ,.Ich soll mich du
geben lassen/' — „»»Na, was wars, unten im Keller wars, bei den Kohlen?**'* —
„Da habe ich mit den Füssen getreten und mit den Händen g^chlagen.*' — „„Und
was habe ich Fräul. G. gegeben?''« — „Weiter weiss ich nichts.**
Hypnose. „„Nun fällt es Ihnen wieder ein, was ich Fräul. G. gegeben
habe?"** — „Was für mich zum Einnehmen.« — «.,Nun fällt Ihnen wieder ein,
was ich Ihnen eben erzählt habe?'*** — ,4)ass ich wieder gesund werde und kann
gut schlafen.*' — „,»Und was habe ich Fräul. G. gegeben?**** — n^** ^^^i™ ^^
nehmen.** Wecke ihn. Er ist auch für diese Unterredung amnestisch.
In einer nochmaligen Hypnose gebe ich ihm die posthypnotische Suggestion,
eine Lampe auf meinen Tisch zu stellen. Er thut dies im Wachzustande und zeigt
sich dabei amnestisch für die Suggestion.
Am andern Tage 19. U 1899 erinnert er sich (im Wachzustande) dieser Vor-
nahme vom 18. U. 1899, es gelingt aber auch an diesem Tage weder im Wach-
zustande, noch in Hypnose die Amnesie für die erwähnten Vorgänge vom 17. IL
1899 zu beheben.
^) Er beschreibt also eine ganz bestimmte Stube, meine Wohnstube, welche
gleich am Hauseingange liegt.
*) Er hat diese Stuben gelegentlich betreten, irgend ein Anfall in denselben
ist aber mit Sicherheit auszuschliessen.
') Auch hier räth er wieder und zwar falsch.
Zar Kasuistik der hypnotischen Behandlung der Epilepsie. 67
Kommen wir nun auf die oben mitgetheilten „Analysen** zurück, so war jene
Aeusserung des Schwagers, „wir wollen ihn liegen lassen etc.** das einzige, was von
dem Patienten der Wirklichkeit entsprechend wiedergegeben wurden. Die An-
gehörigen versichern, dem Patienten diese Aeusserung nicht wieder erzählt zu
haben. Andererseits ist eine solche Aeusserung doch wieder so natürlich und nahe-
Kegend, dass ich nicht glaube, auf Grund derselben meine Beurtheilung der vor-
liegenden Frage ändern zu sollen. Ich sehe vielmehr auf Grund des vorliegenden
Materials in den Aussagen des Patienten Bo. Erinnerungstäuschungen, die bei
seinem keineswegs wahrheitsliebenden Character wohl besonders leicht auftreten
konnten und dadurch stets neue Nahrung erhielten, dass ihm nachweislich von
seiner Umgebung fast immer nach den Anfällen die Details derselben erzählt
wurden und auch das Erlebniss mit dem Heine immer wieder als Ursache der
ganzen Erkrankung hingestellt wurde.
In Bezug auf die Frage, wie weit er im Wachzustande über „Erinnerungen''
ans der Zeit früherer Anfälle Angaben machen konnte, beobachtete ich, dass er am
16. IX. 1896 im Wachzustande keine Aussagen machen konnte, dagegen sogleich
in der Hypnose die ausgiebigsten Mittheilungen machte, während er am 14. IX.
1896 auch im Wachzustande seine ganze Erzählung von Heine etc. producirte.
Ich schloss natürlich an die „Analysen" die Suggestion, dass er jetzt an der-
gleichen gar nicht mehr zu denken brauche, alles das vergessen werde etc. — In
der Hypnose nach dem Anfall am 9. IX. 1896 gab er dann an, er habe (während
des Anfalls) zu seinem Bruder gesagt, sie hätten nur älter sein sollen, dann hätten
sie den Heine tüchtig „verhauen" und später in der Hypnose am 26. XII. 1899
antwortete er auf meine Frage: „„Wo war denn Heine?"" „Heine, welcher
Heine?!" Er hatte ihn also thatsächlich vergessen.
Ich möchte hier der Meinung Ausdruck geben, dass auch dieser Suggestion
eine gewisse Bedeutung bei der Behandlung zuzuschreiben sei, denn sie schaltete
doch bei dem Patienten eine störende Gedankenreihe aus, mag dieselbe nun direct
von dem Erlebniss oder von den Erzählungen der Angehörigen abzuleiten sein —
und also auch der „Analyse", so wenig dieselbe auch einer Analyse von hysterischen
Zuständen an die Seite gestellt werden darf.
III. Arbeiter Friedrich W. zu S., 25 Jahre alt, consultirte mich am 19. X.
1896. Character der Krämpfe: Plötzliches Hinfallen (z. B. auf dem Perron der
Pferdebahn), Bewusstlosigkeit, Amnesie (weiss nicht, dass hinfiel und wie nach
Hause gekommen), gelegentlich Znngenbiss. Weiss keine Belastung anzugeben,
keine Gelegenheitsursache. Als Abnormität wird ein sehr starker Patellarreflez
mit Erschütterung des ganzen Körpers constatirt — sonst nichts Abnormes.
Die Hypnose gelingt, er ist fast somnambul, hat jedenfalls nach dem Erwachen
keine Erinnerung an eine Unterredung in der Hypnose. Er giebt in Hypnose auf
Befragen an, dass er vor dem Anfall und während desselben Feuerflammen, die
er auch als Gespenster bezeichnet, sieht. Es blieb dies die einzige Sitzung, er
blieb dann aus der Behandlung weg.
lY. Arbeiter (in einer Zuckerraffinerie) H. zu S., 24 ^t ^^^ ^^^t k<^m ^-^
23. IX. 1897 in meine Behandlung. Mutter war epileptisch. Er hat leichte und
schwere Anfälle, erstere mit Schwindel und Geistesabwesenheit, letztere mit Um-
fallen und Zungenbiss. Hat bis zum zweiten Lebensjahre Krämpfe gehabt und
jetzt seit 4 Jahren wieder.
58 W. Hilger.
Hypnose 24. IX. 1897. (Notiz: er hallacinirt sehr). Er giebt an, irahrend
eines Anfalls za einem Mitarbeiter gesagt zu haben: „Wo soll ich denn die Klan
(Syrnp) hernehmen"* — vor dem Anfall hat Jemand Kläre yerschüttet und er hat
sich geärgert „über die Schweinerei".
2. Fernerer Anfall : Er hat am Patemosterwerk Reinigung yorgenommen. Die
Mädchen auf der Etage darüber haben auch reine gemacht und haben seine
Maschine bespritzt, da hat er Anfall bekommen und im Anfall gesehen, wie Wasser
gespntzt wurde.
3. Fernerer Anfall : Es hat ihm Jemand gesagt, deine Braut ist ja im Kranken-
hause, sie hat sich verbrannt. Da hat er im Anfall die Braut im Krankenhause
gesehen (obgleich sie gar nicht im Krankenhause war) und sie hat ihm Vorwurfe
gemacht, weshalb er sie nicht besuche.
4. Fernerer Anfall: Seine Hauswirthin hat ihm gesagt, sie könne heute kein
Mittagbrot kochen, er solle sich Kaffee kochen — da hat er in der Fabrik An&ll
bekommen und nach dem Anfall in die Säle hineingerufen: „Mittag** — obglöeh
es noch viel Zeit vor Mittag war (Controle dieser Aussagen fehlt).
Behandlung: Er schlief täglich zwei Stunden in Hypnose. Ein Mitarbeiier
gab (am 4. X. 97) an, dass er jetzt lustig und munter sei, während er früher tief-
sinnig gewesen sei.
Vom 12. X. 1897 ab konnte er nur alle 2 Tage kommen. Am 8. XL 1897
erfahre ich, dass er unsolide gewesen ist. — Die Behandlung wird abgebrochen —
eine bemerkenswerthe Abnahme der Anfälle ist nicht notirt.
y. Herr Ba. aus D., 31 Jahre alt, tritt in Behandlung am 31. XII. 1897.
Schwere convergente und gleichartige Belastung. Als Kind schon Anfälle gehabt,
die Anfälle wurden stärker seit dem 16. Lebensjahre. Häufigkeit der Anfalle:
Alle l^/t — 2 Monate. Ich beobachte Anfälle mit Zungenbiss und Durchnässong
seines Ruhebettes.
Er giebt an, nach den Anfällen „Bilder*^ zu sehen, die er auch als Kind
„gehabt" hat (sieht seine verstorbene Mutter), er wird davon erschreckt.
In der Hypnose theilt er später noch mehrere Schreckbilder mit : Beerdigung,
wie er solche auf dem Lande gesehen hat, eine Leiche, weissgekleidet, mit rothen
Backen, Schlangen in seinem Arm (Gefühl, als wenn der Arm platzen würde), ein
Posten, der ihn beobachtet, eine Maus, alles dies hat ihn mit unerklärlicher Angst
erfüllt. £r erzählt diese Eindrücke sehr ausführlich, während er vor der Hypnose
und auch zunächst in der Hypnose angab, „ich kann das so gar nicht sagen, aber
3—4 Stunden nach dem Anfall, da hätte ich es gekonnt".
Der Grad der Hypnose ist schwer anzugeben, die Amnesie konnte nicht sidier
constatirt werden, wohl aber gelegentlich das Fehlen derselben, und habe ich auch
den Eindruck, dass er bei Befolgung der Suggestion der Katalepsie sein Bewusst-
sein mitwirken liess. Man würde also wohl nur von leichter Hypotaxie sprechen
können. Er wurde 6 Wochen hindurch täglich 5 Stunden (Sonntags etwa 3 Stunden)
hypnotisirt. Es gelang, seinen obstipirten Stuhl zu regeln mit Hülfe von suggerirtem
„Pulver" (Aqua fontana), Verbalsuggestion, Faradisation und Reiben des Abdomens
— die Anfälle wurden nicht beeinflusst.
VL Arbeiterin Charlotte B. zu S., 27 Jahre alt, kam am 17. I. 1898 in meine
Behandlung ; Mutter ist Potatrix und Verbrecherin. Patientin leidet an Anfällen seit
Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlang der Epilepsie. 59
10 Jahren. Character der Anfälle (nach der BeBchreibang ihrer Hauiwirthio) :
Plötzlich starrer Blick, sofortiges Hinfallen, Bewosatlotrigkeit, ConvulaioneD, Schaom
vor Hand, Znngenbiss. Daaer des Anfalls '/« Stunde, dann 1 Stunde lang Ver-
wirrung. Häufigkeit der Anfälle: Alle 4 Wochen. Es gelingt nicht, eine Hypnose
n ercieien, welche einen leichten Grad Ton Somnolenz Überschritte. — Nachdem
rie einige Tage zur Behandlung gekommen ist, auch während dieser Zeit eisen
AnfiiU gehabt hat, bleibt sie weg.
Vn. Alma Oe., Oakonomentoehter aus Z., 22 Jahre alt, kommt am 1. VI.
1896 in meine Bebandlnng. Keine hereditäre Belastung zu eroiren. Die Anfälle
bestehen seit dem 12. Lebensjahre, waren früher viel schlimmer (ConvuUionen.
Schaum vor dem Uond, Zungenbiss, Urinabgang), jetzt, nach Angabe der SÜef-
matter, tritt nur knrze Bewnsstlosif^keit auf mit Umfallen, kurzer Absence, nachher
Amnesie (zwei solcher Anfälle wurden auch von mir beobachtet). Häufigkeit der
Anfälle; Etwa alle 8 Tage. Die Untersuchung ei^iebt keine Abnormitäten. Die
HenitmatioQ bleibt hanSg ans. Grad der Hypnose: Leichte Hypotaxie.
Sie wird b Wochen hindurch in täglich 2 hypnotischen Sitzungen (jede zu
2 Stunden) behandelt.
Der Eintritt der Menstruation wird snggerirt, aber ohne greifbaren Erfolg,
da dieselbe erst nach 3 '/t wöchentlicher Behandlung eintritt.
Die Anfalle werden nicht beiuflnsst.
Nach einem Anfall am 14. VI. 1898 mache ich den Versuch einer Analyse. Sie
giebt an, sich im Schlafzimmmer (in der Wohnung ihrer Tonte) aufs Bett gelegt
und die Tante gerufen zu haben. — Sie sagt bei dieser Gelegenheit, dass sie bei
einem früheren Anfall [an meiner Wohnung) anch nach mir gerufen habe, ich hätte
es aber nicht gehört (ich war nicht zugegen als der Anfall begann und kam erat
B]^t«r hinzu). Dabei hat sie keine Erscheinungen gehabt, sie hat nur gefühlt, wie
es ihr in der Brust so hoch kam.
Ich faaee die wesentlicben Funkte zusammen:
Wir sehen in den Fällen I und II die ThaUache erhärtet, du>
die hypnotische Behandlung im Stande ist, das Krankheitsbild der ge-
nuinen Epilepsie im günstigen Sinne zu beeinflussen.
In Bezug auf die Frage, ob eine psychische Thätigkeit vor, während
und nach den ADfälleu reproducirt werden kann, fand ich folgendes:
Fall I. Die Patientin giebt kurze Ausrufe (Fragen, Ausrufe der
Abwehr) während des Anfalles von sich. Es gelingt in somnambuler
Hypnose nicht, einen psychischen Procesa, der diesen Ausrufen m
Grunde läge, zu reproduciren. Auch alle sonstigen Versuche, die An-
fälle auf psychische Traumen zurückzuführen oder überhaupt mit psy-
chischen Vorgängen in Verbindung zu bringen oder psychische Vor-
gänge während derselben nachzuweisen, sind vergeblich.
Fall II. Patient wird in somnambuler Hypnose aufgefordert, zu
erzählen, wie er einen Anfall bekommt. Er antwortet : „ist von Schrecken
gekommen" und theilt die Geschichte eines psychischen Traumas mit,
welches er in seiner Jugend erlitten. JQr beschreibt Erlebnisse vor,
während und nach den Anfallen, die er in sinnlicher Lebhaftigkeit
wieder vor sich sieht. Diese Scenen sind mit Hallucinationen aus der
Scene des psychischen Traumas vermischt. Ich forsche dann bei seinen
Zur Kasuistik der hypnotischen Behandlang der Epilepsie. 61
Angehörigen und sonstigen Zeugen jener Anfalle nach und constatire,
dass jene Scenen sich nicht so ereignet haben, wie er sie dargestellt
hat. Nur einmal ist eine gleichgültige Aussage eines dem Anfalle bei-
wohnenden Verwandten richtig wiedergegeben. Schliesslich constatire
ich bei einem von mir selbst beobachteten Anfalle eine absolut unheil-
bare Amnesie.
Fall m. Patient giebt in fast somnambuler Hypnose eine Dar-
stellung von optischen Erscheinungen, die bei ihm vor und während
des Anfalles auftreten.
Fall IV. Patient erzählt in somnambuler Hypnose psychische Ein-
wirkungen, welche jedesmal den Anfallen vorhergegangen sind. Er
giebt an, im Anfall Hallucinationen gehabt zu haben, welche mit diesen
Einwirkungen im Zusammenhang stehen und nach dem Anfall motorische
Entladungen, die ebenfalls aus diesen Einwirkungen resultiren. Eine
Controle dieser Angaben liegt nicht vor.
Fall V. Patient theilt in hypotaktischer Hypnose Schreckbilder
mit, welche ihn nach den Anfällen gequält haben.
Fall VI. Keine Enquete vorgenommen.
FaU VII. Patientin macht in hypotaktischer Hypnose die Mit-
theilung, dass und wo der Anfall stattgefunden. Sie kann femer nur
angeben, „dass es ihr in der Brust so hoch kam".
Diese Resultate sprechen, soweit sie positiv verwerthbar sind, gegen
die Annahme der Heilbarkeit der Amnesie bei genuiner Epilepsie.
Referate und Besprechungen.
O, W.Patrickf Some Peculiarities of the Secondary Pertonality.
Psychol. Rev. V. Nr. 6. 1898.
Der Verf. beschreibt automatische Aeusserungen (automatic utteruieM) dreier
von ihm untersuchter sogenannter Medien. Die Arbeit yerdient Beachtimg wegn
der Tendenz, aus welcher er derartige Erscheinungen zu erklären versacht. Seine
Forderungen lassen sich dahin zusammenfassen , dass man nicht immer wieder die
sogenannten berühmten Fälle untersuchen soll (F. denkt wohl besonders an den in
letzter Zeit viel besprochenen Fall der Mrs. Piper; Tergl. Rieh. Hodgeen, A
further Record of Observations of Certain Phenomena of Trance,
Proceedings of the Society for Psychical Research Part XXXTTT, Vol. XIQ, Feb. 1886
u. a.), sondern dass man eine grössere Anzahl möglichst einfacher Fälle stadiren eoUte,
um, da doch bei allen sich ungefähr die gleichen Merkmale zeigen, auf diese Weise
eine Erklärung für die complicirteren zu gewinnen. Es dürfte daran erizmeii
werden, dass in Amerika dem Studium dieser Erscheinungen in letzter Zeit viel-
fache Beachtung geschenkt worden ist (vergl. Harlow Gale, Psychical Re-
search in American Universities, Proceedings etc. Part XXXIII, VoLXIIL
Feb. 1898).
Diese sich eigentlich immer wiederholenden Merkmale sind nach Patrick
unter anderem: suggestibility , fluency, absence of reasoning power, exalted or
heightened memory, exalted power of constructiye imagination, a tendency to tuI-
garity or mild profanity, the profession of „spirit^ identity and of snpematoral
knowledge, a certain faculty of lucky or supematural perception .... which . . we
may call a kind of brilliant intuition''. Es muss femer hervorgehoben werden, dasi
P. alle telepathischen und spiritistischen Er kl ärungs weisen ausdrücklich verwirft fir
scheint der von Mr. Podmore gegebenen Erklärung zuzuneigen (St u dies in
Psychical Research, London, Kegan Paul, Trench, Trübner & Co. New York,
S. P. Putman^s Sons 1897. pp. 458. Eine Besprechung dieser Arbeit von Andrew
Lang befindet sich in dem oben erwähnten Februarhefte der Proceedings etc.
p. 604): ^One cannot indeed fail to be impressed by the similarity of these traiti
to what we know or conjccture about the primitive mind." P. spricht hier mit
Podmore von "instances of survival or rcversion'' und sagt zum Schloss, ohne
eine bestimmte Theorie aufstellen, sondern vielmehr nur den Weg einer Unter-
Referate und Besprechungen. 63
Buchungsmethodik zeigen zu wollen: "Still other peculiarities suggest the same
theory. such as the extreme suggestibility and motor Force of ideas, marks of anto-
matism and of the hypnotic state, and at the same time characteristic of the child
and savage mind. In close relation to this is the peculiar intimate connection
between ideas and organic, nutritive and circulatory processes, best shown in
hypnosis, and common to this group of phenomena. In view of such facts as
these, certain of the more simple physiological theories of double personality gain
considerable plausibility, such, for instanoe, as the revival of disuied and outgrown
brain tracts, particularly perhaps those of the less specialized hemisphere. The
frequent appearance in automatic writing of Spiegelschrift, which occurs also
among children^ lends some support to this view."
So sehr ich einerseits mit der hervorgehobenen allgemeinen Tendenz meines
Freundes Patrick einverstanden bin, so schwer wird es mir andererseits, in diesen
und ähnlichen Ausfährungen eine wirkliche Erklärung der in Rede stehenden Er-
scheinungen oder auch nur den Weg zu einer solchen erblicken zu können. Mir scheint
vielmehr, dass eine genaue Prüfung des allgemeinen psychischen Zustandes der be-
treffenden Medien auf Grund der Functionen des normalen Rewusstseins und ihrer
gesetzmässigen Beziehungen die erste Bedingung und der Ausgangspunkt für den
Erklärungsversuch dieser Erscheinungen sein müsste. Mir scheint weiter, dass die
wissenschaftliche Behandlang der Hypnose, wie sie namentlich auch von den Heraus-
gebern dieser Zeitschrift betrieben wird, auf die berichteten Erscheinungen einiges
liicht werfen dürfte. Ob dies bisher in hinreichendem Maasse geschehen ist, scheint
mir einigermaassen zweifelhaft. Patrick wie auch Hodgson und andere er-
wähnen die Hypnose, ohne sie aber, wie mir scheint, erschöpfend auszunutzen. Ich
glaube, es bedarf hiezu eines geübten und erprobten Spezialisten. Fassen wir
mit Wundt die Saggestion auf als „Association mit gleichzeitiger Verengerung
des Bewusstseins auf die durch die Association angeregten Vorstellungen (Hypno-
tiamus u. Suggestion, Phil. St. Bd. 8) und nehmen wir weiter an, dass schon der blosse
Vorsatz oder das Verlangen, ein solches Experiment anstellen zu wollen, im Sinne
einer Suggestion oder Aatosuggestion wirken kann, so wird schon dadurch der
hypnotische Zustand bei diesen Personen in mehr oder minder hohem Gh*ade hervor-
gerufen. Die einseitige Richtung der Aufmerksamkeit auf bestimmte, in irgend
einer Weise zu Stande gekommene abnorme Vorstellungsgruppen täuscht dann leicht
das vor, was Patrick und auch vor ihm andere eine secundäre Persönlichkeit nennen.
Die Annahme einer solchen scheint mir daher unnöthig. Wie leicht in der Hypnose
Vorstellungsreihen wachgerufen werden können, die im normalen Zustande ver-
gessen sind, ist bekannt. Es ist hierbei gleich, ob diese Vorstellungen ursprünglich
in der Hypnose suggerirt oder sonstwie durch das normale oder anormale Be-
wusstsein erworben wurden. Besonders der 3. der unten näher beschriebenen Fälle
Patrick's scheint mir durch die Annahme einer (vielleicht nur partiellen) Hyp-
nose durchaus erklärlich. P. giebt an, dass Henry W. leicht zu hypnotisiren war.
Es ist auffallend, wie oft „Laton** (der Name des angeblichen Geistes) auf das letzte
Wort der Frage reagirt. Vielfach durchkreuzen sich die suggerirten Vorstellungen
und ihre Theile mit solchen, die gleich anfangs vorhanden waren. Henry W. ist
schon früher einmal hypnotisirt worden. Man erfährt nicht, was in diesem Zustande
mit ihm geschehen ist. Eine Verwandte von ihm war Spiritistin. Es ist wahr-
scheinlich, dass, obwohl er selber nicht Spiritist ist und keine spiritistische Litte-
64 fleferate und Besprechungen.
ratar liest, doch aus jener Zeit Vorstellungen in ihm latent sind, die im Zustande
des automatischen Schreibens leicht geweckt werden. Patrick konnte nichti
über den angenommenen Namen Laton erfahren. Trotzdem dürften die constant
wiederkehrenden Vorstellungen ursprünglich auf eine nicht mehr su ermittelnde Weiss
mit diesem Namen assocürt gewesen sein. Man vemüsst in Patrick's Bericht
nähere Angaben über den Zustand des Henry W. während des Experimentes. Wsr
er sich dessen, was er las, klar bewusst? Wie schlug er das Blatt nm, wenn «
mit der einen Hand schrieb und in der andern das Buch hielt?
Um auf die übrigen beiden Fälle eingehen zu können, musaten die Angab«
etwas ausführlicher sein. Alle 3 I^le mögen nachstehend kurz beschrieboi
werden :
Der erste Fall betrifft ein weibliches Medium, das P. in einer kleinen Stadt
des Westens der Vereinigten Staaten fand. P. ist sicher, daas diese Frmn kdae
Betrügerin war. Sie gerieth zeitweise ,,into a trance". Nach dem Erwachen ist
sie sich der Aeusserungen, die sie in diesem Zustande gethan, nicht mehr bewual
Sie nimmt in demselben die Persönlichkeit eines Quäkerarztes oder eines klemea
Mädchens Emma an. Beide Persönlichkeiten gaben an, Geirter yerstorbener Men-
schen mit übernatürlichem Wissen begabt zu sein. Verf. unterhielt sich eine
Stunde lang mit „Emma". Diese erkannte den Wohnort und die Beschäftigung
des Verfassers.
Der 2. Fall Patrick's betrifft eine automatische Schreiberin. Sie gab wähmd
des automatischen Schreibens an, von dem Oeiste ihrer verstorbenen Matter be-
seelt zu sein. Auf Patrick's Frage schrieb sie correct, dass er 3 Schwestern uad
2 Brüder habe, dass die Brüder beide jünger seien als er und daas eine 6m
Schwestern jünger, die beiden anderen aber älter seien als er. Beim Schreiben d«
Namen der Schwestern wurde anfangs ein Versehen gemacht, das aber später
verbessert wurde.
Der 3. Fall des Verf. betrifft einen seiner Studenten, Henry W., der eben£dl%
wie schon oben bemerkt, ein automatischer Schreiber war. Er behauptete, waUh
matisch schreibend, der Geist eines gewissen Bart Laton zu sein. Um in den Zu-
stand des automatischen Schreibens zu gerathen, vertiefte sich die Versuchspersoo
in ein interessantes Buch oder in eine Zeitung, während die rechte Hand auf einen
Tische ruhte und auf die gestellten Fragen hier die Antworten niederschrieb.
Dr. F. Kiesow-Turin.
Eulenburg^ Ä., Ueber Arbeitscuren (Beschäftigungscuren) bei
Nervenkranken. Die Therapie der Gegenwart. 1899, 1.
Der Verfasser warnt vor den allzu grossen Hoffnungen, die neuerdings an die
Behandlung Nervenkranker durch Erziehung zur Arbeit, wie sie durch die bekannten
Anregungen 3ioebiu8' mehr als früher in der psychischen Therapie zur Discusöon
gestellt worden ist, geknüpft werden. Trotz seiner sceptischen Haltung erkennt
Eulenburg die Bestrebungen und Erfolge des Ingenieurs Grohmann, der in
Zürich unter den Auspicien Forel's ein in diesen Blättern schon eingehender ge-
würdigtes Beschäftigungsinstitut gründete, rückhaltslos an. Nur rechnet er die
Erfolge des Laien Grohmann mehr dessen pädagogischem Geschick und aof-
opferungsvollen Hingabe als der Curspecialität selbst zu.
G r o tj ah n- Berlin.
Kritische Bemerl(ungen über den gegenwärtigen Stand der Lelire
vom Hypnotismus.
Von
Dr. philos. Leo Hirschlaff, Arzt in Berlin.
(2. Fortsetzung.)
Wir kommen zum theoretischen Theile unserer Ausführungen. Der
erste Punkt, der uns hier beschäftigen soll, ist der alte Streit zwischen
der Schule Oharcot's und der Schule von Nancy. Seitdem Del-
boeuf auf dem 1892 er Congresse für experimentelle Psychologie in
London den paradoxen Ausspruch gethan : ,,I1 n'y a pas d'hypnotisme,
11 n'y a que de la Suggestion^ , schien es längere Zeit, als wäre der
Streit endgültig zu Gunsten der NaDcyer Schule entschieden. In der
neueren Literatur jedoch tauchen allmählich wieder Stimmen auf, die
die physiologische Auffassung Charcot's aufs Neue zu beleben und
zu vertheidigen suchen. Während Bergmann^^^) im Sinne der
Nancyer Schule die Hypnose als einen passiven Ruhezustand des Ge-
hirns bezeichnet und nur einen graduellen Unterschied der Suggestiv-
Phänomene gegen die Erscheinungen des normalen Wachzustandes gelten
lässt, wenden Voisin^^*) und Schaffer^^*) sich zum Theil wieder
der somatischen Auffassung Charcot's zu. Yoisin beschreibt einen
Fall von* hysterisch-epileptischen Couvulsionen, den er ohne Hülfe der
Schlafsüggestion, nur mit Hülfe des rotirenden Spiegels von Luys
hypnotisirte ; doch ist nicht abzusehen, warum die Autosuggestion des
Schlafes bei diesem Verfahren ausgeschlossen sein sollte. Eine syste-
matische Untersuchung über die physischen Erscheinungen in der
Hypnose hat Schaf f er veranstaltet. Er findet als constantes Symptom
der Hypnose eine sensomusculäre Uebererregbarkeit, die er ebenso wie
Zeitschrift fttr Hypnotismoa etc. IX. &
^6 Leo Hinchlaff.
die Suggestibilität als eine Theilerscbeinung der Hypnose anffasst. Auf
diese Weise versucht er, den Gegensatz zwischen den beiden Scholoi
zu vermitteln. Auch wir glauben, dass nicht Alles, was in der Hypnose
beobachtet wird, rein psychisch durch Suggestion zu Stande kommt»
sondern dass dabei physiologische Momente mitwirken, die von der
Suggestion relativ unabhängig sind. Auch der Eintritt der Hypnose
kann nach unserer Meinung ohne ausdrückliches, bewusstes Auftreten
einer Schlafsuggestion oder Autosuggestion sich vollziehen, wie auch
Vogt bei der später zu besprechenden Theorie des Schlafes gegen
LiSbeault und Delboeuf bestätigt.
Es folgen einige bemerkenswerthe Untersuchungen über die physio-
logischen und psycho-physiologischen Erscheinungen der Hypnose. Zu
diesem Kapitel hat Döllken^^'^) in erster Reihe einige treffliche Bei-
träge geleistet. Er fand in der Hypnose eine Abnahme der Perceptions-
fähigkeit der verschiedenen Sinne in bestimmter Reihenfolge; zuletzt
wurden stets das Gehör und das Empfindungsvermögen der Haut beein-
trächtigt Im Ganzen stellten sich die physiologischen Veränderungen in der
tiefen Hypnose folgendermaassen dar: 1. Das Auge war nach oben gerollt
in Convergenzstellung ; die Pupillen mittelweit, auf Lichteinfall und Aoco-
modation langsamer reagirend als sonst; anscheinend fand sich concentrische
Einengung des Gesichtsfeldes; der Augenspiegelbefund war negativ;
die Bewegungen der Augen normal; Sehschwäche bis zur Amaurose.
2. Die Prüfung des Gehörorganes ergab eine Herabsetzung der Gehör-
schärfe. 3. Das Gleiclie Hess sich bei der Geruchsprüfung feststellen.
4. Die Untersuchung des Tastsinnes der Haut ergab eine Herabminde-
rung der Empfindlichkeit des Berührungssinnes, ebenso der Schnelligkeit
der Localisatiou, und einen um 1 — 5 cm grösseren Irrthum bei der
Locnlisation als in der Norm ; ferner Hypalgesie, Thermhypästhesie,
Lageempiindung der Glieder häufig aufgehoben, nach Besinnen dag^^
vorhanden ; ebenso Hess sich bei der Sensibilitätsprüfnng durch Lenkung
und Concentration der Aufmerksamkeit die Perceptionsfahigkeit schon
nach 30 — 60 Secunden steigern. 5. Die Bewegungen in der Hypnose
waren träger als im Wachzustande. Auch eine Erschwerung des
Sprechens wurde vereinzelt in der Hypnose beobachtet. Bei plötzlichem
Eintritt der Hypnose oder plötzlichem Tieferwerden derselben zeigte
sich ein subjectives Hitzegefühl, dessen Grund wir allerdings in einer
accidentellen Autosuggestion erblicken. Derartige Autosuggestionen
dürften sich nach unserer Meinung nie vermeiden lassen, wo ein snb-
jectiv-wissentliches Verfahren der Beobachtung angewendet wird und
Kritiiche Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre y. Hypnotiemus. 159
ticherlich zum Theil angewendet werden muss. So verdankt z. B.
Döllken einen Theil seiner Beobachtungen dem Umstände, dass er
seine Hypnotiker bittet, alles Besondere, was sie fühlen oder bemerken,
in oder nach der Hypnose ihm mitzutheilen. Wir meinen, dass die
auf diese Weise gewonnenen Beobachtungen einer sehr strengen Kritik
bedürfen, besonders wenn sie sich auf den Causalzusammenhang zweier
firscheinxmgen beziehen. Eine weitere, werthvoUe Beobachtung von
Döllken betrifft die Erscheinungen, die als Folge einer suggerirten
Anästhesie irgend eines Sinnesgebietes auftreten. Es fand sich dabei
stets auf der gleichen Seite: 1. Aufhebimg des Schmerz-, Tast- und
Temperatorsiunes; 2. Verminderung bis Auf hebung des Kniephänomens
bei erschlaffter Musculatur; Unfähigkeit, feinere Bewegungen auszu-
fahren; 4. Gehstörungen; 5. Muskelkraft = 0 am Dynamometer; con*
oentrische Einengung des Gesichtsfeldes ; 7. Hypacousie; 8. Hyposmie;
9. Lageempfindung der Glieder undeutlich bis aufgehoben. Aehnliche
Beobachtungen sind schon früher von v. Bechterew und Lannegräce
Teröffentlicht worden.
Crocqfils^^*) hat den Nachweis erbracht, dass die Stärke der
Abnahme jeder Form der Sensibilität und der Ideenassociation im ge-
raden Verhältnisse zur Tiefe der Hypnose steht. BramwelP^') hat
Zeitschätzungsversuche au Hypnotisirteu veranstaltet: die Suggestion,
nach 4335 oder 11470 Minuten ein Kreuz auf ein vorliegendes Blatt
Papier zu machen, realisirte sich stets, gleichviel ob die Kopfrechnung
gestattet oder unterdrückt wurde, mit einem Fehler, der 5 Minuten
nicht überstieg. Bei Gelegenheit anderer Experimente gelang es dem*
selben Forscher, die Zahl und Spannung des Pulses zu beeinflussen,
die Unterschiedsempfindlichkeit der einzelnen Sinne deutlich zu steigern
und die Fähigkeit der Zeitschätzung, ebenso wie das Gedächtniss er-
heblich zu vermehren, v. Bechterew ^^®) prüfte die Dauer einfacher
psychischer Vorgänge in der Hypnose bei Hysterischen und fand die
einfache Reactionszeit und die Erkennungszeit verlängert, die Zeit des
Bechnens mit einfachen Zahlen dagegen verkürzt; durch Suggestion
gelang es ihm, eine Verkürzung der Reactionszeiten herbeizuführen,
unsere eigenen Erfahrungen stimmen mit diesen Versuchsergebnissen
nicht überein. Wir fanden keine Veränderung der einfachen psychischen
Vorgänge in der Hypnose — ein unwissentliches Versuchsverfahren
vorausgesetzt; — auch gelang es uns nie, durch speciell darauf ge-
richtete Suggestionen eine Veränderung zu erzielen. Doch sind unsere
Eizperimente in dieser Beziehung noch nicht völlig abgeschlossen.
5*
gg Leo Hinohlaffl
Patrizi^^*) hatte das seltene Glück, mit einem Knaben experimen-
tiren zu können, der eine Schädelöffnung zeigte. Er studirte die
Beziehungen der Aufmerksamkeitscurve zur Curve der VolumschwaD-
kungen des Gehirns. Die Aufmerksamkeitscurve wurde in der Weise
erzeugt, dass längere Zeit hintereinander in Pausen von 2 SeeundeD
einfache Schalbreactionen ausgeführt und graphisch gemessen wurdaa.
Das Ergebniss der Untersuchungen wird dahin ausgesprochen, duB
zwischen den Schwankungen der specifischen Activität der Hirnzellen,
wie sie in den angegebenen Aufmerksamkeitsyersuchen zum Ausdmdc
gelangen, und den Schwankungen der Girculation im Gehirn, wie öe
den Volumenveräuderungen desselben zu Grunde liegen, ein geeeti-
mässiger Zusammenhang nicht ezistirt.
Zur Auffassung der Träume hat Vogt^^^j einige werth?olle Bei-
träge geliefert. Während F o r e 1 ein ununterbrochenes Träumen während
des Schlafes annimmt, behauptet Vogt, dass dies nicht der Fall sein
könne, da zur Entstehung der Träume eine Ungleichmässigkeit der
centralen Erregbarkeit nothwendig sei; diese könne bei manchen Per-
sonen nicht zu Stande kommen, da sie sofort tief einschlafen« Vogt
unterscheidet mit Liebe ault 2 Arten von Träumen: 1. diejenigen des
oberflächUchen, 2. die des tiefen Schlafes. Den Träumen des ober-
flächlichen Schlafes liegt nach Vogt 's Theorie, die wir weiter unten
näher kennen lernen werden, eine diffuse Herabsetzung der centralen
Erregbarkeit zu Grunde. Die auftretenden Erinnerungsbilder haben
die Intensität von Emfindungen, daher ist der Träumende kritiklos;
ferner ist der Inhalt dieser Träume unlogisch und unzusammenhängend
mit der Persönlichkeit, cv. ihr entgegengesetzt. Die Träume des tiefen
Schlafes, die Vogt zur Erklärung der früher erwähnten Erscheinung
der spontanen Somuambulie in der Hypnose heranzieht, zeichnen sich
dagegen durch Amnesie und motorische Aeusserungen aus. Ihnen liegt
ein einseitig eingeengter Bewusstsoinszustand zu Grunde ; sie sind logisch
und von der Persönlichkeit des Träumenden abhängig. Die motorischen
Aeusserungen dieser Träume können in 3 Formen in die Erscheinung
treten: 1) als einfache Ausdrucksbewegungen, 2) als sprachliche Aeusse-
rungen, 3) als coinplicirte Handlungen. Wir können dieser Classi-
fication der Träume nach Vogt im Allgemeinen beistimmen, ohne
jedoch einen so scharfen Unterschied in Bezug auf den Zusammenhang
der Träume mit der Persönlichkeit des Träumenden finden zu können:
auch in den Träumen der tiefsten Somnambulhypnose haben wir aus-
nahmsweise Erscheinimgen angetroffen, die der Persönlichkeit der be-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre y. HypnotismoB. 69
treffenden Kranken zweifellos entgegengesetzt waren, ohne dass es sich
ain hysterische Symptome handelte.
Zwei Selbstbeobachtungen während des hypnotischen Zustande» sind
▼on Wetters trän d^*^) veröffentlicht worden; sie schliessen sich den
Beobachtungen an, die bisher von Obersteiner, Bleuler, Tatzel,
Vogt und Brodmann veröffentlicht worden sind. Im ersten Falle
handelte es sich um einen Neurastheniker, der 3 Monate lang täglich
eine halbe Stunde lang hypuotisirt und dadurch von seinen Beschwerden
geheilt wurde, die in Angtszuständen, Grübelsucht, Misstraueu, Un*
schlüssigkeit und Willensschwäche bestanden. Seine Beobachtungen
über die Hypnose stellen sich folgendermaassen dar: er fühlte, dass er
schlief; er hörte die fremden Stimmen und hörte sie doch wieder nicht;
er fühlte, dass er während des Schlafes eine grössere Macht über sich
hatte, als er geglaubt; dadurch trat eine Zunahme der Energie und
ein Gefühl von Glück und Kraft ein; die Suggestionen, die Wetter-
Btrand gab, wiederholte sich der Patient fortwährend in der Hypnose;
alle Experimente misslangen; als vernehmlichstes Resultat der wieder«
holten Hypnosen empfand und bezeichnet der Patient die Stärkung
seines Willens. Diese Beobachtung ist vorzüglich geeignet, die Be-
denken derer zu zerstreuen, die von wiederholten Hypnotisirungeu eine
Schwächung des Willens befürchten. Auch in dem zweiten Falle der
Wetterstrand 'sehen Veröffentlichung gab der Patient an, zu wissen,
dass er schlief, obwohl er den Zustand lieber als eine stille Ruhe, denn
als wirklichen Schlaf bezeichnen wollte; als besondere Annehmlichkeit
des Zustandes empfand er, dass keine peinigenden Gedanken, keine
unangenehmen Phantasien und unklaren Seelenäusserungen, wie sonst
im wachen Zustande, vorhanden waren; auch ihm prägten sich die
Worte des Hypnotiseurs so fest ein, dass er auch im Wachzustande
öfters daran erinnert wurde. Unsere persönlichen Erfahrungen an
Hypnotisirten, die ihre Beobachtungen über den hypnotischen Zustand
uns unaufgefordert mittheilten, stimmen mit den gegebenen Schilderungen
▼öUig überein.
Um die Theorie der Hypnose zu ergründen, hat man den hypno»
tischen Zustand seit Längerem in Parallele gesetzt zu dem natürlichen
Schlafe. Auch in der neueren Literatur ist die Frage nach der Iden-
tität von Schlaf und Hypnose mehrfach behandelt worden. Während
Forel beide Zustände im Wesentlichen für identisch hielt und Andere^
wie Kraepelin, Moll, Bernheim und Delboeuf mindestens eine
nahe Verwandtschaft zwischen ihnen gelten lassen wollten, behauptet
70 Leo HinohUff.
Pöllken, dass Schlaf und Hypnose principiell Ton einander ftr*
schieden seien : im Schlafe bestehe Desorientirung über Zeit und Baua,
dagegen in der Hypnose nicht; in der Hypnose dagegen sei Bappert
und gesteigerte Suggcstibilität, femer eine grössere PassiTität ab im
Schlafe^ eine Verlangsamung des Ideenablaufes und eine geringim
GefUhlsbetonung der Wahrnehmungen zu constatiren; endlich sei ei
möglich, die Personen nach Belieben in Schlaf oder Hypnose zu rer-
setzen. Auch Max Hirsch^--) spricht sich für eine Verschiedenheit
des natürlichen und künstlichen Schlafes aus, weil im normalen Schlafe
die Aufmerksamkeit gleichmässig vertheilt, in der Hypnose dagegen
einseitig concontrirt sei. LiSbeault^^^) und Vogt dagegen plai-
diren für eine Identification beider Zustände. LiSbeault giebt zwar
zu, dass kleine Unterschiede zwischen beiden vorhanden seien, wie z. B.
das Fehlen des Schlafbedürfnisses bei der Hypnose, sowie die Er-
scheinungen des Bapportes und der Katalepsie; indessen überwiegen
nach ihm die Aehnlichkeiten, die er in der Verlangsamung bis zum
Aufiiüren der Denkthätigkeit und der Bewegung, sowie in der Un-
empfindlichkeit für Sinnesreize, dem Augenschluss und der Entstehung
aus der Schlafvorstellung erblickt, zumal da beide Zustände in einander
übergeführt werden können. Vogt anerkennt im gleichen Sinne nur
einen quantitativen Unterschied zwischen dem natürlichen und künst-
lichen Schlafe, die nach ihm beide, wie wir später sehen werden, in
einer Herabsetzung der Erregbarkeit der Hirnrinde bestehen. Nach seiner
Meinung ist der Mechanismus des Schlafes stets der n&mliche, gleich-
viel wie derselbe ausgelöst wird ; der Rapport bildet keinen specifischen
Unterschied zwischen der Hypnose und dem Schlafe; im spontanen
Schlafe können ebenso wie in der Hypnose somnambule Bewusstseüis-
zuständc eintreten, die in eine Hypnose übergeführt werden können.
Auch das Argument MolTs, dass in der H}'pnose abnorme Bewe-*
gungen. wie sie bei Chorea, Athetose etc. sich vorfinden, nicht auf-
hören, während dieselben Bewegungen im natürlichen Schlafe sistiien,
wird von Vogt auf Grund mehrerer Beobachtungen widerlegt. Endlich
wird von Vogt noch die plethysmographische Untersuchung ins Feld
geführt, die für das Einschlafen beim spontanen Schlafe die gleiche
chanicteristische Ourve zeigt wie bei der Hypnose. In dieser Hinsicht
hat Berillon^-^) im Vereine mit Verdin in einem Falle von trau-
matischer Neurose die Untersuchungen Vogt 's in Bezug auf die Puls^,
Athmungs- und Herzstosscurve bestätigt. Im Uebrigen leugnet auch
Vogt nicht die Verschiedenheiten der beiden Schlafzustände in Bezug
Krititohe Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre y. Hypnotismoa. 71
auf Tiefe und Ausdehnung der Schlaf hemmung, Schnelligkeit des Ein*
tretens und hegleitende Sensationen; aber er hält diese Unterschiede
für secxmdärer und rein quantitativer Natur. Nach unserer Meinung
mit Unrecht. Denn wenn man sich an die klinische Beobachtung hält,
kann es nach unserem Dafürhalten keinem Zweifel unterliegen, dass
die Zustände des spontanen und des sog. provocirten Schlafes so weit
▼on einander yerschieden sind, dass eine qualitative Identification uns
unmöglich erscheint. Diese klinische Verschiedenheit erstreckt sich auf
alle 3 Phasen des Schlafvorganges : das Einschlafen, den Schlafzustand
selbst und das Erwachen. Das Einschlafen beim natürlichen Schlafe
gebt mehr oder minder langsam von Statten, bei der Hypnose dagegen
nicht selten blitzartig schnell, auf den einfachen, suggestiven Befehl.
Der Zustand während des spontanen Schlafes ist durch eine gänzliche
Aufhebung des Bewusstseins ausgezeichnet, die sich später als Des-
orientirung über Raum und Zeit, Unbeeinflussbarkeit durch äussere
Seize und die Empfindung einer einfachen Lücke in der Bewusstseins-
kette offenbart; während der Hypnotisirte sicherlich bei Bewusstsein
ist, wenn dieses auch noch so sehr eingeschränkt sein sollte; ebenso
wie er über Baum und Zeit orientirt bleibt, durch äussere Reize be-
einflussbar ist und trotz eventueller Amnesie mindestens die nachträg-
liche Empfindung hat, dass etwas mit ihm vorgegangen ist, auf dessen
flinzelheiten er sich freilich nicht sogleich besinnen kann. Endlich
erfolgt das Erwachen aus dem spontanen Schlafe langsam und allmählich,
während man die tiefste Somnambulh}'pnose durch das einfache Wort:
Wach! im Augenblick in den Wachzustand übertlihren kann. Diese
Unterschiede werden besonders in die Augen fallend, wenn man Ge-
legenheit hat, den spontanen Schlaf und den somnambulen Zustand
bei einer und derselben Person zu beobachten. Dabei leugnen auch
wir keineswegs, dass zwischen beiden Zuständen manche, allerdings
mehr nebensächliche Beziehungen obwalten, unter denen die die Hypnose
meist begleitende Müdigkeit vielleicht die auffallendste sein dürfte.
Auch lassen sich manche Uebergangsformen zwischen dem natürlichen
Schlafe und der Hypnose beobachten, die die Auffassung v. Schrenck-
Notzing's^'^) berechtigt erscheinen lassen, wenn er die hypnotischen
Zustände 1) in solche ohne Schlaf, 2) in solche mit Schlafillusion, 3) in
•olche mit wirklichem Schlafe eintheilt. Indessen glauben wir, dass
die Schlafähnlichkeit der Hypnose ein mehr accidentelles Symptom, um
nicht zu sagen, eine suggestive Tlieilerscheinung des hypnotischen Zu-
itaodes sei, der sehr wohl auch, wie wir uns experimentell überzeugt
72 ^''^o Hinchlafif.
haben, aus dem ErscheinuDgscomplex fortgelassen werden kann, ohne
dass der Zustand aufhört, die characteristischen Kennzeichen der Hy-
pnose darzubieten; denn diese characteristischen Zeichen sind, wie wir
ausführen werden, wesentlich psychischer Natur. Ob es therapeutisch
zweckmässig ist, die psychische Zustandsänderung, die wir mit dem
Namen der Hypnose belegen, auf dem Wege der Soggestion bezw.
Autosuggestion mit denjenigen physiologischen Symptomen zu com-
biniren, die eine gewisse, mehr oder minder weitgehende Schlafahnlicb-
keit repräsentiren, ist eine Frage, die hier nicht zur Erörterung steht,
die wir aber nicht ohne Einschränkungen bejahen möchten.
Die soeben gegebene Ausführung leitet uns ungezwungen über zur
Theorie des Schlafes und der Hypnose. Wir referiren zunächst etwas
ausführlicher die Ansichten der Autoren über diesen Punkt, obwoU
sie in der Mehrzahl mehr interessante Speculationen und geistroUe
Hypothesen, als wahrhaft brauchbare und der £[ritik Stand haltende
Theorien darstellen. Eine psychologische Theorie des Schlafes stellt
Li^beault^^') auf. Er erklärt den Schlaf, im Gregensatze zum
activen Wachzustände, als einen passiven Seelenzustand, in dem eine
Bewusstseinsspaltung nach 2 Richtungen hin stattfindet: 1) am Trag-
heitspole, wo die Aufmerksamkeit auf die Schlafvorstellung concentrirt
ist; 2) am Thätigkeitspole, wo die Aufmerksamkeit in verminderter
und ungeordneter Weise sich im Intellectuellen und Sinnlichen bethätigt
Je tiefer der Schlaf ist, desto mehr büsst der Geist des Schlafenden
nach Licbeault die Fähigkeit ein, über genügend reflectorische Auf*
merksamkeit zu verfügen, um logisch denken und mit der gleichen
Schärfe und Willenskraft handeln zu können wie im Wachleben.
Während des — künstlichen oder natürlichen — Schlafes strömt die
Aufmerksamkeit aus allen Centren und Nerven auf den centralen Sitz
der Schlafvorstellung zu, während sie beim Erwachen zu den sensiblen
Nerven - Endapparateu zurückkehrt und zugleich das Erinnerungs-
bild des Erwachens erweckt Die psychischen Erscheinungen beim
Einschlafen verlaufen also in centripetaler, beim Erwachen in centri-
fugaler Sichtung. Das Erwachen erfolgt, wenn die Aufmerksamkeit
den Weg in unser Gedächtniss und unsere Sinne gefunden hat. Diese
psychologische Theorie von der ungleichen Vertheilung der Denkthätig"
keiten auf 2 einander entgegengesetzte Pole findet eine physiologische
Analogie in dem Hinweis auf die einander entgegengesetzte Function
der Hirn- und fiückeumarkscentreu, gerade so wie auch den psychischen
Vorgängen physiologische „Himdynamismen" parallel laufen. Zur
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 73
Kritik dieser psychologischen Theorie haben viiv zu bemerken, dass sie
Tor Allem der psychologischen Beobachtung widerspricht. Denn 1) existirt
im Schlafe niemals, in der Hypnose aber überaus selten im Bewusstsein
eine Schlafvorstellung ; 2) ist die Aufmerksamkeit weder im Schlafe,
noch in der Hypnose vermindert und in ungeordneter Weise thätig, da
sie vielmehr im Schlafe gänzlich cessirt und in der Hypnose gesteigert
und concentrirt ist, wenn auch in einseitiger, durch die Suggestion be-
stimmter Richtung; nicht einmal die reflectorische Aufmerksamkeit
braucht in der Hypnose vermindert zu sein, obwohl wir im Allgemeinen
aus Zweckmässigkeitsgründen bestrebt sein werden, dies durch specielle
Suggestion zu erreichen. Die ganze „Theorie" stellt daher nichts weiter
dar als eine unglückliche, den Thatsachen der Beobachtung wider-
sprechende Verbildlichung einer auch für sich selbst verkehrten, physio-
logischen Hypothese; denn warum im Schlafe die Himdynamismen
centripetal, im Erwachen dagegen centrifugal verlaufen sollen, muss
bis auf weiteren Beweis dahingestellt bleiben. Der ßegriflf der Bewusst-
seinsspaltung endlich, die womöglich noch ins „Unbewusste" veriegt
werden soll, gehört nicht in eine wissenschaftliche Discussion.
Nach dieser .,psychologischen" Theorie mögen uns eine Reihe
physiologischer Theorien beschäftigen. In erster Reihe ist hier Land-
mann^*') zu nennen, obwohl wir uns vorbehalten müssen, eine aus-
führlichere Darstellung seiner Anschauungen erst bei der Besprechung
der Theorie der Hysterie zu bringen. Er behauptet, dass die Vorstel-
lungen von den subcorticalen Granglienzellen, das sämmtliche Bewusstsein
dagegen von den Grosshim-Rindenzellen gebildet werde: eine vollständige
Hypnose sei daher bedingt durch eine künstlich herbeigeführte Functions-
Unfähigkeit (Anämie) der sämmtlichen subcorticalen Ganglien und Hirn-
rindenzellen und beruhe auf einer Unthätigkeit der verbindenden Nerven-
f&den. Die Ejritik dieser Theorie soll später an dem bezeichneten Orte
erfolgen; hier genüge die Bemerkung, dass der Nachweis einer Anämie
des Gehirns im Schlafe zur Zeit noch nicht einwandsfrei erbracht ist
und dass selbst mit diesem Nachweise das Problem noch nicht erledigt
sein kann, wenn nicht zugleich der Beweis geführt wird, dass die Him-
ämie die primäre Ursache und nicht ein secundäres Begleitsymptom
des Schlafes ist.
Auf den neuesten Forschungsergebnissen der Histologie des Central-
nervensystems basirt die Theorie des spontanen und hypnotischen
Schlafes von van de Lanoitte.^*®) Nach Golgi und Ramon y
Oajal stehen die Nervenzellen untereinander nicht durch Contiuuität in
74 -Lm Hinchlaff.
Verbindung, sondern durch einfkche Contigoität der EndyersweigmigMi
der Achsencylinder einer Nervenzelle mit Protoplasmafortsätzen einer
anderen ; Lockerung oder Lösung des Contactes der Endbäumchen b»*
dingt daher Hemmung oder Ausfall der Leitnngsfahigkeit. Nim
beruhen alle Leistungen der Nervenelemeute auf Schwingangen oder
Strömungen, deren Fortpflanzung sich nach Art der electrischen In-
ductiou vollzieht. Es liegt daher die Annahme nahe, dass die fimctio-
nellen Störungen des Nervensystems^ unter Anderem auch die HjpnoM
und der normale Schlaf, auf einer Erschwerung oder Unterbrechmig
dieser Contactübertragung, also auf einer Unmöglichkeit der Ableitung
von Reizen beruhen, die ihre physiologisch-anatomische Ursache in der
Verkürzung resp. gänzlichen Vernichtung der unter normalen Verhält-
nissen den Contact herstellenden feinsten Endverzweiguugen der Neu«
rone hat. Diese Annahme ist leicht zu rechtfertigen, wenn man bedenkt,
dass die Nervenzellen nichts weiter als Amöben sind, die ihre Pseudo-
podien ausstrecken oder zurückziehen. Die Verlängerung resp. Ana-
sendung solcher flugerfürmiger Fortsätze würde die üebertragung des
nervösen Erreguugsvorganges von einem Neuron auf ein anderes
erleichtem, eine lobhaftere Thätigkeit der Nerven functionen auslösen, die
sich auf motorischem Gebiete zu erhöhter Reflexerregbarkeit, KrampfeD,
Contracturen und Convulsionen, auf sensiblem Gebiete zu Parästhesieo,
Hyperästhesien und Neuralgien, auf psychischem Gebiete endlich ra
hypomanischen, maniakalischen und deliranten Zufallen steigern kann;
während umgekehrt eine Zurückziehung dieser Ramificationen die
Lockerung und Verminderung der Communicationen zwischen den
Nervenelemcnteu; in Folge dessen eine Erschwerung oder Aufhebung
der nervösen Leistungen verursacht, z. B. Anästhesien, Paresen und
psychische Hemmungen. Thee. Caffee, Tabak, Alc^hol würde demnach
direct den Amöboismus der sich berührenden nervösen Endorgaoe
steigern, Morphin dagegen die Contactverbindungen lockern. Wie
Curare ausschliesslich die Endverzweigungen der motorischen Nerven
beeinflusst, so kann man annehmen, dass z. B. das Strychnin durch
Wirkung auf den oberflächlichen Contact der Nervenzellen- Veräste-
lungen die Veränderung der Reflexerregbarkeit hervorbringt: ebenso
könnten psychische Momente im Sinne eines Reizanstosaes oder einer
Concentration der psychischen Thätigkeit auf ein einziges Geiatesgebiet
wirken und die functionellen Zustände des Nervensystems verändern.
In diesem Sinne sollen die Suggestionen und der hypnotische Zustand
wirken. Nach van de Lanoitte wäre demnach der Hypnotiamas
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 75
im Stande, ein Ausstrecken oder Zurückziehen der Protoplasmafort-
sätze zu erzeugen, dadurch Hemmungscentren zu schaffen, krankhafte
Bahnen zu unterdrücken und unterbrochene Verbindungen wieder an-
zukuüpfen, kurz, die nervöse Induction herzustellen oder aufzuheben,
wo sie abnorm war, und in Folge dessen Contracturen, Lähmungen
und Schmerzen zum Verschwinden zu bringen. Bevor wir auf eine
Kritik dieser Theorie eingehen, müssen wir einer gleichen „histologischen"
Schlaftheorie Erwähnung thun, die von Pupin^^^) aufgestellt worden
ist Auch nach ihm sind alle functionellen Leistungen der Nerven-
elemente an die Contactstellen, articulations, derselben zu verlegen;
die Endverzweigungen der Protoplasmafortsätze der Nervenzellen sind
im Wachzustände in beständiger amöboider Bewegung. Im Schlafe
dagegen findet eine Erschwerung oder Aufhebung der Beizübertragung
statt, dadurch, dass die Protoplasmaverzweigungen den Ooutact mit den
Endbäumchen des benachbarten AchsencyUnders aufgeben oder lockern,
indem sie entweder seitlich abweichen oder, nach Analogie der Tentakel
niederer Organismen, durch Coutraction sich zurückziehen oder ver-
kürzen. Dieses Auseinanderweichen der Endverästelungen zweier Neu-
rone bewirkt eine Lücke in der Bahn, die so gross werden kann, dass
eine Erregungswelle dieselbe nicht mehr zu überspringen im Stande ist :
das nervöse Element kommt zur Ruhe, es schläft. Wie jedoch bei
hoher Spannung ein electrischer Strom trotz grossen Abstandes Funken
zwischen den beiden Polen übertreten lässt, so vermag auch hier ein
stärkerer Beiz die Distanz zu überwinden ; der Erregungsvorgang dringt
bis zum Gehirn vor und verursacht dort entweder Unterbrechung des
Schlafes oder die Entstehung von Träumen. Die Localisation dieser
Functionshemmung sind die Verbindungen zwischen den peripheren
und centralen sensitiven Neuronen, aber auch innerhalb der Grosshim-
eentren selbst, in den höheren Associationsbahnen. Die Entstehung
des Schlafes wird demnach von Pupin zurückgeführt: 1) auf Er-
schöpfung oder Ermüdung der nervösen Elemente; 2) auf das Fern-
halten äusserer Beize. Nicht das Gehirn allein, sondern fast alle
Neurone schlafen; es giebt nicht nur einen Schlaf, sondern so viele
partielle Scblafzustäude, als es Arten von Neuronen giebt.
Wir haben mit Absicht diese histologischen Speculationen in
breiterer Ausführlichkeit dargestellt, um zu zeigen, wie vortrefflich eine
Theorie allen Thatsachen, deren Erklärung man von ihr erwarten darf,
gerecht werden kann, trotzdem die Theorie selbst auf einer nachweislich
falschen Grundlage aufbaut. Diese Erscheinung darf freilich nicht
76 ^o Hinchlaff.
wunder nebmen, wenn mau bedenkt, dass an eine Theorie der nerrSsen
Functionen, die auf alle Beobachtungsthatsachen zugeschnitten sein
soll, im Grunde genommen nur eine einzige Forderung zu stellen ist:
d. i. zu erklären, auf welche Weise eine quantitative Veränderung —
Erleichterung oder Erschwerung, Bahnung oder Hemmung — der nei^
YÖsen Functionen zu Stande kommen kann. Zu diesem Behufe bieten
sich nun der wilden Speculation vielerlei Möglichkeiten dar. Mao
könnte z. B. annehmen, dass die Erregungswelle, das Neurokym, nicht
einmal, sondern mehrfach in den Nervenbahnen hin- und herläuft^ und
zwar je grösser der Beiz, desto häutiger und schneller, während im
Zustande der Ermüdung etwa eine chemische Veränderung der Nerven-
substanz im Sinne eines Zäher- oder Klebrigerwerdens derselben ein-
tritt, wodurch die Nervenwelle aufgehalten, gehemmt werden muss.
Man könnte fenier die Hypothese aufstellen, dass nach Art der Muskel-
contractiou auch die Nervenfasern die Fähigkeit haben, an- uud abzu«
schwellen, um auf diese Weise die Erscheinung der Bahnung und
Hemmung zu erklären. Man könnte endlich auf die Blut- und Lymph-
gefasse recurriren, die die Nervenbahnen begleiten; ja, selbst die
Schmidt-Lantermann' sehen Einkerbungen könnten zu dem Zwecke
herhalten, indem man ihnen zumuthet, sich nach Art der Venenklappen
aufzublähen und dadurch die Nervenwelle aufzuhalten; oder die von
Engelmann entdeckten, an der Stelle der Ranvier'schen Schnür-
ringe befindlichen, winzigen Discontinuitäten des Achsencyliiiders, die
sich nach dem Bedarfe und der Phantasie eines speculativen Kopfes
vergrössern oder verkleinern könnten. Warum sind alle diese Hypo-
thesen werthlos? Weil sie des Beweises ermangeln. Der gleiche Vor-
wurf trifft aber auch für die „histologische" Schlaftheorie von van de
Lanoitte und Pupin zu. Zwar sind amöboide Bewegungen der
dendritischen Verzweigungen der Ganglienzellen auch von einigen
Histologen behauptet worden. Indessen ist es unvorsichtig, auf solche
mit grosser Vorsicht aufzunehmenden Behauptungen hin weittragende
Theorien zu gründen, zumal wenn man bedenkt, dass nach einer alten
neurologischen Erfahrung die maximale Lebensdauer derartiger histo*
logischer Hypothesen die Zeitdauer von 5 Jahren nicht überschreitet.
Aber selbst angenommen, dass wirklich derartige amöboide Bewegungen
nicht in das grosse Eeich der Phantasie gehören, so dürfte schon eine
einfache Ueberlegung zeigen, dass für die Theorie der nervösen Func-
tionen hiermit nichts gewonnen ist. Die amöboiden Bewegungen der
Leucocyten des Blutes, die man unter dem Mikroskop bei geeigneter
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 77
VersachsanordnuDg direct beobachten kann, ermüden den Beobachter
darch die ausserordentliche Langsamkeit, mit der sie von Statten gehen.
Wenn aber dies schon in dem leicht beweglichen Blute stattfindet,
um wieviel mehr erschwert müssen diese Bewegungen erst im Gehirne
6ein, dessen Consistenz doch beträchtlich grösser ist als die des Blutes.
Daher ist ein so flottes ümherkrabbeln und Durcheinaoderkriechen der
Protoplasmafortsätze, wie es van deLanoitte und Pupin behaupten
und wie es zur Erklärung der Erscheinungen nothwendig wäre, sicher-
lich nur in einer besonders bevorzugten Phantasie möglich. Um das
Unglück vollständig zu maohen, hat Held'*®) auf Grund neuer Färbe-
methoden den Nachweis erbracht, dass beim neugeborenen Hunde zwar
da, wo die Endverzweigungen eines Achsencylinders und der Proto-
plasmaleib der Zellen zusammentreten, sich zuerst eine deutliche De-
marcationslinie findet, die aber im Laufe von einigen Tagen der Elnt-
wickelung verschwindet, so dass dann ein continuirlicher Uebergang
zwischen beiden, also eine Verwachsung der Neurone unter einander
stattfindet; eine Behauptung, die übrigens von Dogiel, Arnold,
Wagner u. A. bestätigt wird. Wohin kommen wir, wenn wir den
ephemeren Behauptungen der Histologen auf dem Fusse folgend
psychologische Constructionen ins Blaue hinein errichten ? Wir halten
es für förderlicher, gar keine Theorie aufzustellen, als sich in billigen
und unbegründeten Speculationen zu ergehen, die nur den einen Vor-
zug haben, dass sie noch leichter zu widerlegen als aufzustellen sind.
Nicht viel günstiger steht es um die Auffassung, die Schleich ^*^)
Als eine „Psychopbysik des natürlichen und künstlichen Schlafes^ preist.
Schleich bekämpft den unreellen, rein phantastischen Hemmungs-
mechanismus, mit dem überall gearbeitet wird. Er schreibt der Neuro-
glia die Bolle eines Isolationsmechanismus zu, deren active Function
in der Hemmung der electroiden Spannung der Achsencylinder u. s. f.
liegt. Die Actionsfähigkeit dieses Isolirapparates beruht auf einer
wechselnden Plasmafüllung der Neuroglia- Protoplasmamasse. Die
Mooszellen der Neuroglia, die die Achsencylinder umspinnen, wie die
Seidenfaden die electrischen Drähte, stehen in Verbindung mit den
perivasculären Lymphträumen der Hirngefässe, ferner mit tieferen sym-
pathischen Centren, durch die Vermittlung der Vasomotoren der Hirn-
gefässe. Daher der Einfluss der Blutfülle auf die Grossbimfunction,
der sich bei Schleich genau entgegengesetzt darstellt, als es der ge-
wöhnlichen Annahme entspricht; eine Erscheinung, die nur dadurch
ermöglicht wird, dass Thatsachen in dieser Beziehung noch nicht
78 -I^oo Hinchlaff.
bekannt sind. Nach Schleich bewirkt demnach HyperSmie stärkere
PiasmafüUung der isolirenden NeurogliaplasmazelleD , daher stärkere
Isolation, also Hemmung, i. e. Qliaaction; Anämie dagegen erzeugt
Neurogliaschwächung , verminderte Isolation, ungehemmte Erregungs-
fähigkeit der Ganglien, Vermehrung der Associationen etc. Schleich
fasst daher den natürlichen Schlaf auf „als einen durch Anpassung
oder Vererbung erlernten Mechanismus der Hemmung zwecks Aus-
schaltung des läsibeln, jüngsten, bildungs-, wachsthums- und schonungs-
bedürftigsten Theiles der Grosshirnrinde. Er tritt ein, wenn von den
Centren des schon definitiv regulirten, mehr vegetativen Lebena auf
dem Wege des Reflexes die Neuroglia in Action versetzt wird. Das
geschieht einmal periodisch und ist eine dem Organismus von aussen
aufgezwungene Nothwendigkeit (Eintritt der Nacht, Fehlen des Sonnen-
lichtes), oder aber er stellt sich atypisch ein, wenn dieser Reflex auf
andere Weise zur Auslösung gelangt (Uebermüdung, Hypnose, Stönmgen
der Gefass- und Nervenfunction etc.). ' Der Schlafende tritt damit
zurück in einen Zustand, in welchem eine Vorperiode psychischer
Fähigkeiten den einzigen Bestand des Bewusstseins ausmachte, und so
dürfte man den Schlaf, die Hypnose imd den Somnambulisums auf-
fassen als ein periodisches Zurücksinken in frühere Daseinsperioden.
Nach dieser Anschauung enthalten sowohl der künstliche Schlaf, wie
die cataleptischeu Zustände, sowie die somnambulischen Actionen der
Hypnose nichts Räthselhaftes mehr : es spielt sich eben Alles im Unter-
bewusstsein ab." Damit ist der rettende Anker gefunden: statt einer
Erklärung oder eines Beweises ein darwinistisches Schlagwort ; und was
sich dann noch nicht fügen will, kommt ins Unterbewusstsein. Zur
Kritik der Scbleich'schen Schlaftheorie lässt sich nicht viel sagen.
Der Atavismus und das Unterbewusstsein sind 2 Begriffe, mit denen
sich schlechthin Alles und noch einiges mehr erklären lässt: ihre An-
wendung in der Wissenschaft sollte daher als grober Unfug gerügt
werden. Werden die cataleptischeu Erscheinungen der Hypnose etwa
dadurch weniger räthselhaft, dadurch dass sie sich in einem unmöglichen
Unterbewusstsein abspielen? Ist denn jede Verminderung der psy-
chischen Functionen, mag sie nun dauernd oder vorübergehend sein,
blos deswegen schon eine Erscheinung des Atavismus, ein Zurück-
sinken in frühere Daseinsperioden, weil sich die Entwicklung der
Menschheit naturgemäss von einer niederen zu einer höheren Stufe
vollzogen hat? Wo steckt die Logik in dem Schlüsse: Früher war die
Menschheit geistig und seelisch minder entwickelt; heutzutage tritt ein
KriÜBche Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 79
periodischer Wechsel zwischen dem Yollbewussten Wachsein und dem
Schla&ostande ein, in dem die Thätigkeit der Seele vorübergehend
raht: also pendelt unser Dasein zwischen der früheren und der jetzigen
Daseinsperiode hin und her? Es ist schade, dass soviel Geist an so
nichtige Dinge verschwendet wird.
Um nicht eintönig zu wirken, besprechen wir nunmehr der Ab-
wechslung halber eine physiologische Theorie, die von Krampf'*)
aufgestellt worden ist. Dieser Autor erklärt die Hypnose durch primitive
Contraction der Carotis int. oder durch Erhöhung der nervösen Activität
in dem Plexus carot. int. und secundäre Erweiterung der A. carot. ext.
und A. vertebr. in Folge des Collateralkreislaufes. Die motorischen und
secretorischen Phänomene des hypnotischen Schlafes kommen dadurch
zu Stande, dass die erweiterten Halsarterien auf die benachbarten Nerven
[in, IV, VII(?)] drücken. Ausserdem soll das Rückenmark mehr Blut
erhalten, besonders durch die Aa. spinales post., welche dann direct
auf die hinteren, sensibel n Wurzeln des Rückenmarks drücken. Diese
Erregung pflanzt sich dann in den Verzweigungen der Wurzeln ent-
sprechend fort und ruft einen Reflextonus in den vorderen, motorischen
Wurzeln hervor, der sich in Catalepsie äussert. Die Catalepsie ent-
steht also durch Erhöhung der nervösen Energie in den motorischen
Vorderhomganglien, bewirkt durch Zufluss arteriellen Blutes. Zum
Beweise dieser Theorie dient der magere Hinweis, dass alle Methoden
des Hypnotisirens geeignet seien, die Erregung des Plex. carot. int.
hervorzurufen. Dieser Beweis scheint uns gänzlich unzureichend. Ab-
gesehen davon, dass eine rein physiologische Theorie, wie sie hier vor-
liegt, niemals geeignet sein kann, die Erscheinungen der Hypnose zu
erklären, da diese auf psychischem Wege ausgelöst werden, ist die
Hypothese, aufdieKrarup seine Anschauung stützt, zweifellos falsch.
Wenn auch die Halsarterien und die Aa. spinales post. sich noch so
sehr erweitern, — was zudem noch des Nachweises bedürfte — , so
könnte doch niemals dadurch ein Druck auf die Nerven bezw. die
sensibeln Wurzeln des Rückenmarks hervorgerufen werden, da die Ge-
fässe in der lockeren Umgebung, in der sie liegen, genügend Spielraum
haben, sich auszudehnen, ohne dass die Nerven dadurch gedrückt
werden. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, was wir für aus-
geschlossen halten, entspricht es der Erfahrung, dass durch einfachen
Druck auf den HI. IV. und VII Gehirnnerven die motorischen und
secretorischen Phänomene des hypnotischen Schlafes ausgelöst werden
können ?
gO Leo Ilirficbla£f.
Die beiden folgenden Theorien beschäftigen sich mehr mit einer
psychologischen Analyse des hypnotischen Zustandes, als mit einer Er*
klärung desselben ; eine Beschäftigung, die weit fruchtbarere Eigebnisse
zeitigt, als die planlose Speculation. Döllken characterisirt die
Hypnose als eine willkürliche Reduction der Sinneathätigkeit und der
associativen Thätigkeit auf ein Minimum (Einengung des BewuastseiiiB),
wobei aber nicht eine vollständige Ausschaltung dieser Thätigkeiten
staltfindet. Physiologische Bedingung für das Zustandekommen dieses
Ereignisses ist eine relative Himanämie, die vorwiegend die Binde mid
die corticalen Bahnen betrifft. Aus dieser Anämie resultirt ein be-
stimmter Tonus der Nervengebilde, welcher sie befähigt, bei Beizen,
die weit unter dem Schwellenwerth der Norm liegen, isolirt in einen
Zustand der besseren Ernähnmg uud Functionsfahigkeit zu gerathen.
Grund der Amnesie ist der Unterschied in der Erregbarkeit der Nerven-
gebilde gegen die Norm oder aber die geringen, associativen Ver-
knüpfungen der Beize. Aufwachen erfolgt durch successive oder
plötzliche Reizung aller Sinnescentren, entweder direct oder auf asaocia-
tivem Wege, wodurch der normale Tonus in den Hiruelementen wieder-
hergestellt wird. Ohne auf die physiologische Seite dieser Theorie
einzugehen, die uns ebenso unbewiesen und unbeweisbar scheint, wie
in den vorher erörterten Fällen, scheint uns die psychologische Analyse
Döllken 's auf dem richtigen Wege zu sein, wie wir sogleich Ge-
legenheit haben werden, näher zu begründen. Daher polemisirt er mit
Recht gegen die Auffassung Je ndrassik's, der lediglich in der Auf-
hebung oder Einschränkung der associativen Thätigkeit des Gehirns,
sowie gegen diejenige Wundt's, der in der einseitigen Richtung der
passiven Aufmerksamkeit und in der Functionshemmung der bei deo
Willens- und Aufmerksamkeitsvorgängen wirksamen Gentralgebiete und
Erregbarkeitssteigerung der Sinnescentren das Wesen der Hypnose
erblickt.
Nach BramwelP^^) ist die Hypnose kein Monoideismus, wie
man allgemein seit längerer Zeit anzunehmen pflegt, sondern ein Poly*
ideismus, ein erweitertes Bewusstsein, weil gleichzeitig eine Reihe von
Suggestionen sich realisiren können. Dieser Behauptung müssen wir
beipflichten, obwohl wir die Begründung Bramwell's ablehnen, wo-
nach das Bewusstsein in der Hypnose auf das umfangreichere Unter-
bewusstsein ausgedehnt ist. Wir meinen vielmehr, da wir ein Unter-
bewusstsein nicht kennen, dass sich das Bewiisstsein in der Hypnose
genau so verhalte, wie das Bewusstsein im Wachzustande. Ob der
Kritische BemerkuDgen über d. gegenwärt. Stand d. Lelire v. Hypnotisinus. 81
Umfang des Seelenlebens in der Hypnose eingeschränkt ist oder nicht,
hängt übrigens von dem Belieben des Hypnotiseurs ab, kann also nicht
zur Wesensbestimraung der Hypnose herangezogen werden. Die Be-
merkung Bramwells, dass nicht die Suggestionen das Wesen des
Hypnotismus bilden, sondern vielmehr die Annahme, die Realisirung
derselben, halten auch wir für zutreffend, im Gegensatze zur herrschenden
Anschauung, di^ den Begriff der Suggestion zu weit fasst und in Folge
dessen alle Erscheinungen der hypnotischen Phänomenologie mit diesem
Schlagworte erklärt zu haben glaubt.
Die vortrefflichsten Ausführungen über das Wesen des Hypnotis-
mus verdanken wir Vogt^**), dessen theoretische Darlegungen wir
hier leider nur kurz besprechen können. Vogt geht von den Lehren
der modernen wissenschaftlichen Psychologie aus, indem er sich auf
den Standpunkt des psychophysischen Parallelismus mit geschlossener
physischer Causalität stellt, den Münste rberg^**) in mustergiltiger
Weise entwickelt hat. Er stellt zunächst den Begriff der Constellation fest,
als den Qesammtmechanismus aller centralen Leitungen und Erregbar-
keitsverhältnisse: diese Constellation, von der die Stärke und deshalb
das Bewusstwerden der centralen Erregungen abhängig ist, ist die
Resultante aller bisherigen bewussten Erregungen des Centralnerven-
systems, aber auch aller unbewussteu und nutritiven Beeinflussungen.
Den von der Norm abweichenden Zustand der Constellation bezeichnet
er als Dissociation, wobei eine Steigenmg oder Herabsetzung der Er-
regbarkeit gewisser Centren stattflnden kann. Die Möglichkeit einer
solchen Veränderung beruht darauf, dass die in der Grosshimrinde
anlangenden nervösen Erregungen, Neurokyme, dort als functionelle
Reize wirken und den Stoffwechsel in den centralen Elementen steigern ;
in diesem gesteigerten Stoffwechsel besteht nämlich der materielle
Parallelvorgang der psychischen Erscheinungen. Die physiologische
Bedingung einer, jeden solchen Steigerung des centralen Stoffumsatzes
ist eine örtliche Zunahme der Stoffzufuhr, eine functionelle Hyperämie,
die aber nicht in einer Aenderung der Gesammtblutzufuhr besteht,
sondern in der günstigsten Verteilung des Blutes, unter der der Che-
mismus der nervösen Elemente des Gehirns am besten zu Stande kommt.
Diese Stoffzufuhr geschieht durch Veränderung der Zellen der^Capillaren
und durch Veränderung des Blutdruckes. Indessen sind die vasomo-
torischen Veränderungen als solche nicht genügend zur Erklärung des
Zustandekommens der psychischen Vorgänge; sie sind nur secundär
wirkende Momente, während die primären Ursachen in den neurody-
Zciticfaiift fttr HjpBotismiu etc. IX. 6
82 ^eo Hirschlafi'.
Hämischen Veränderuugen, i. e. der Zuleitung und Ableitung der Nen-
rokyine zu den verschiedenen Centren gesucht werden müssen, die nach
dem Wund t'schen Principe der Compensation der Functionen, d. L
der Functionshemmung eines bestimmten Centralgebietes durch Fuuctions-
steigerung anderer in Wechselbeziehung stehender Gebiete erfolgen.
Die von der normalen Constellation abweichende Dissociation kann
sich nun einmal als einseitige Bahnung repräsentiren, wie z. B. bei
dem Zustande der Kritiklosigkeit gegenüber Wahnideen und Hallu-
cinationcn ; oder aber als Herabsetzung der Erregbarkeit, i. e. Hem-
mung. £iue solche Hemmung im normalen Zustande stets untritiver
Art, kann beruhen 1) auf Erschöpfung, wobei die Dissimilation die
Assimilation überschritten hat und nun Mangel au zersetzbarem Stoff
statthat, wobei es nicht nöthig ist, eine Intoxication daneben anzu-
nehmen; 2) auf Herabsetzung der Stoffzufuhr oder Anämie, die auf
einen primären vasomotorischen Ketlex zurückzuführen ist, wie z. B.
bei Ermüdung und Schlaf. Die Hemmung äussert sich durch ver-
langsamte Fortpflanzung der Keurokyme; sie führt ferner durch Aus-
fall von einzelnen Elementen zur Vereinfachung der nervösen Vorgänge,
zur Moutonie, Ideenflucht und illusionären Umdeutung der Empfindungen.
Jedoch findet bei der Hemmung zughnch eine Steigerung der Erregung
in den einmal erregten Kiementen statt imd zwar 1) da die Zuleitung
stärker, weil beschränkter ist; 2) wegen der Hemmung in der Ab-
leituujL?. wodurch eine Stauung der functionellen Heize in dem Centrum
herbeigeführt wird, dem sie einmal zugeleitet worden. Diese Stauung
ist die Ursache des Kicht- Erwecktwerdens der Gegenvorstellungen,
sowie der sinnlichen Lebhaftigkeit der Erinnerungsbilder, also auch
der Kritiklosigkeit im Traume etc. Die auf diese vorausgeschickten
Darlegungen gegründete Schlaftheorie Vogts lautet nun folgender-
massen : ,. Die beim Einschlafen auftrett^nden n eurodynamischen Vorgänge
werden vun den Centren ausgelöst, denen ihrer Erregbarkeit ent-
sprechend die ankommenden Neurokyme dann zugeleitet werden, wenn
die Grosshirnrinde in ihrer Erregbarkeit durch Erschöpfung herabgesetzt
ist. Ein erstes solches Centrum ist das Beflexceutrum für die Schliess-
ung dos M. orbicul, oculi. Den Beginn dies(»r reflectorischeu Contraction
empfinden wir als Schwere in d(Mi Augen.** Dazu kommt ein yasomo-
tori^^ches Centrum, dessen Erregung zunehmende Anämie des Gross-
hirns bewirkt; es ist in der Medulla oblong, gelegen und die von ihm
aus erzeugte* Anämie ist die eigentliche Ursache des Schlafes. Die
reflectorischeu Erscheinungen, die den Schlaf herbeiführen, bringen
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. flypnotismus. 83
dann gewisse Empfindungen hervor, die wir als die des Müdeseins und
des Einschlafens bezeichnen und die einen motorischen Character an
sich tragen, d. h. die Fähigkeit haben, die ihnen zu Grunde liegenden
Bewegungen auszulösen ; sie associiren sich ausserdem mit der BegriflFs-
Vorstellung des Schlafes. Das Verhältniss zwischen der Wirkung der
Schlafvorstellung und derjenigen der Reflexcentren des Schlafes stellt
sich Vogt als ein wechselseitiges vor, nach Analogie der bahnenden
Beeinflussung subcorticaler Reflexvorgänge durch corticale Erregungen,
die Exner im Thierexperiment nachgewiesen hat. „Das Auskleiden, das
Schlafzimmer etc. erregen die Schlafvorstellung imd wii-ken deshalb
bahnend auf die Reflexcentren des Schlafes ein. Die beginnende
Thätigkeit der Reflexcentren erregt ihrerseits wieder die Schlaf Vorstel-
lung u. s. w. ; so tritt eine bahnende Wechselwirkung ein, wodurch
der Reiz allmählich verstärkt wird. Wenn wir ohne Erschöpfung ein-
schlafen, so geschieht es immer auf Grund associativer Verknüpfungen,
wobei uns sogar die Schlafvorstellung nicht direct bewusst zu werden
braucht; unbewusst ist sie aber immer im Spiel." Wie der normale
Schlaf, so verhält sich auch der hypnotische und der hysterische Schlaf,
die in ihrem Wesen von Vogt identificirt werden. Das Erwachen
erfolgt dadurch, dass die Erschöpfung des Grosshirns nachlässt und in
Folge dessen seine Erregbarkeit zunimmt. Daher werden die Neuro-
kyme wieder dahin geleitet, dem Schlafcentrum wird ein Theil der
Energie entzogen. Durch diese stärker werdenden Erregungen wird
dann auch das Centrum für functionelle Hyperämie im Grosshirn
stärker gereizt und die Schlafanämie beseitigt. Auf ähnlichem Wege
erklärt sich die Erscheinung der hypnotischen und hysterischeu Kata-
lepsie, bei der ein Glied eine ihm passiv gegebene Stellung beibehält.
Für gewöhnicli wird ein kleiner Theil jener nervösen Energie, die eine
jedesmalige Lage und Haltung eines Körpertheiles im Centrum des
Muskelsinnes erregt, nur in die motorische Bahn übergeführt, während
der grössere Theil anderweitig abgeleitet wird. Bei einem gewissen
Grade der Herabsetzung der Erregbarkeit der Grosshirnrinde dagegen
können die anlangenden Neurokyme nur noch an der Stelle der
directen Endigimg der ceutripetalen Bahn eine Erregung hervorrufen,
aber nicht mehr auf die Associationsbahnen irradiiren. Die Aeusserung
des Muskelsinnes in einer motorischen Bewegung muss dann aber eine
sehr starke sein, da die ganze zugeführte Reizeuergie an Ort und
Stelle bleibt: daher die Fixation der passiven Stellung. Auch die
hysterischen und suggestiven Anästhesien fugen sich diesem Erklärungs-
6*
84 i^eo Hirschlaff.
princip; sie beruhen nach Vogt auf einer Herabsetzung der Erregbar-
keit der betreffenden Centren, bedingt durch Anämie, sind also ab
ein partieller Schlaf aufzufassen. Ebenso ist die Realisation der post-
hypnotischen Suggestionen, sowie die schon früher erörterte Erschein
nung der spontanen Somnambulie in der Hypnose auf einen partiellen,
systematischen Schlaf- bezw. Wachzustand zurückzuführen. In dieser
Beziehung unterscheidet Vogt 3 Zustände, die er als ein systematisirtes,
localisirtes und allgemeines partielles Erwachen resp. partiellen Schlaf
bezeichnet. Beim systematisirten partiellen Erwachen ist nur ein
einzelner Vorstellungscomplex geweckt, wie z. B. in den eben an-
geführten Beispielen; beim localisirten partiellen Erwachen ist ein
einzelnes Rindencentrum geweckt ; das allgemeine partielle Wachsein end-
lich ist von diffusem Character, wie es z. B. bei übermüdeten Personen
zur Beobachtung gelangt. Sind beim partiellen Eh^achen die geweckten
Bewusstseinselemente vollständig wach, so sind sie wegen der Ein-
schränkung des Bewusstseinsumfanges zugleich abnorm stark erregt,
und es entsteht das Bild des eingeengten Bewusstseins. Inwiefern
dieser Zustand des eingeengten Bewusstseins geeignet ist, für eine
hypnotische Experimentalpsychologie yerwertet zu werden, soll uns erst
am Schlüsse unserer Darlegungen beschäftigen. (Schluss folgt.)
Zur Kasuistik der Agraphie.
Von
Prof. Binswanger - J e D a.
Auf dem Gebiete des aphasischeD Symptomcomplexes ist die Frage
über die fuDctionelle Bedeutung und auatomische Localisation der
Schreibstörungen noch eine offenstehende. Ich sehe im Hinblick auf
die zahlreichen neueren zusammenfassenden Bearbeitungen der Aphasie,
68 mögen hier nur diejenigen von Y. Monakow, Miralli6; Bastian
und Ziehen genannt werden, sowie im Hinblick auf das erschöpfende
Beferat von 0. Vogt in dieser Zeitschrift (Ig. 1897), von einer ein-
gehenderen Darstellung der strittigen Funkte ab. Es genügt für den
vorliegenden Zweck, darauf hinzuweisen, dass auch bei dem Studium
der agraphischen resp. dysgraphischen Störungen die Vermengung ana-
tomischer und functioneller Betrachtungsweise das wesentlichste Hinder-
niss der Verständigung ist. Am Deutlichsten tritt dies zu Tage, wenn
wir die Discussion über die „transcortical^-bedingten Störungen der
Sprache ins Auge fassen.
Die nachstehende Beobachtung ist nicht geeignet, zur Unterlage
der anatomischen Würdigung der Schreibstörungen zU dienen, indem
sie wegen der Ausdehnung und der Beschaffenheit der Himerkrankung
eine genauere Localisation dieser Störungen nicht zulässt. Sie vermag
aber über das functionelle Verhältniss zwischen motorischer und sen-
sorischer Aphasie resp. Agraphie Licht zu verbreiten. Sie ist femer
ein Beitrag zur Lösung der Frage, ob die Schreibstörungen in einem
directeo Abhängigkeitsverhältniss zu den Störungen der Sprachbewe-
gungen stehen. Es wird bekanntlich von manchen Forschem behauptet,
dass die Schreibbewegungen, soweit nicht sensorielle Störungen in
86 Prof. Binswanger.
Frage kommen, mit den motorischen Sprachstörungen eng zusammen-
hängen. Allerdings ist zuzugeben, dass die gesammt^n intensiveren
Störungen in der Bildung des inneren Wortes die schriftliche Ans-
drucksfUhigkeit stets beeinträchtigen. Doch 'ist auch Folgendes zu
berücksichtigen: Bei den Culturmenschen ist der schriftliche Ausdruck
des Wortes immer eine „nachträgliche" ^Errungenschaft ^), welche den
bereits bestehenden Besitz von Wortklangbildem, Wortlautbildem und
optischen Buchstabenbildem zur Voraussetzung hat. Es wird daher
dieser spätere Erwerb nur für ein ursprüngliches Abhängigkeits-
verhältniss der corticalen Sprechbewegungen und Schreibbewegungen
verwerthet werden können, während bei steigender Hebung die
Schreibbewegungen eine immer grössere Selbstständigkeit erringen und
sich von den Sprech bewegungen emancipiren werden. Dies wird auch
dadurch bewiesen, dass gebildete Patienten mit motorischer Aphasie
sich leichter schriftlich als mündlich ausdrücken können, (von Mo-
nakow hat auf diese Thatsache aufmerksam gemacht) selbst wenn sie
bei rechtsseitiger Hemiplegie die linke Hand zum Schreiben nehmen
müssen. Die Gegner der Annahme eines eigenen graphischen Centrums
erklären dies daraus, dass selbst bei ganz completer Wortstummheit
die innere Wortbildung auch mit Rücksicht auf die Lautcomponente
nie so radical aufgehoben sei, dass für den Wegfall der Sprechmus-
kulatur nicht noch ein gewisser Ersatz durch Muskelgruppen in anderen
Extremitäten möglich wäre. Es geschehe dies unter Benützung der
optischen Erinnerungsbilder für die Buchstaben, die mit Wortlauten
und -Klängen associirt werden (v. Monakow). Diese Beweisführung
ist kaum zu widerlegen für die vorstehend angeführten Fälle. Sie wird
aber unzureichend für solche Beobachtungen, bei welchen die Schreib-
störimg resp. totale Agraphie die wesentlichste Functionsstörung ist,
während die motorische Aphasie relativ unbedeutend ist und sensorielle
Sprachstörungen fehlen. Der hier mitzutheilende Krankheitsfall gehört
in diese Kategorie. Er ist deshalb geeignet, die Discussion über die
functionelle Bedeutung der Agraphie von Neuem anzuregen und zur
wiederholten Prüfung der von Weruicke, D6jerine, Mirallie,
V. Monakow über die Functionen der Sprach- und Schreibcentren ge-
äusserten Ansichten aufzumuntern.
Ist der relativ selbstständige Ausfall der cortico - motorischen
Schreibbewegungen klinisch erwiesen, so kann man der Agraphie den
') Wir sehen hier selbstverständlich von den Taubstummen ab.
Zur Kasuistik der Agraphie. 87
Character einer eigentlichen Bewegungsstörung nicht mehr absprechen,
so kann man die Agraphie nicht mehr als eine Stönmg gewisser asso-
ciativcr Erregungen auffassen, die lediglich durch Vermitteluug der
Werkstätte der Wortbildung dem Centrum für die Schreibmcchaiiik
(Armregion) zufliessen. v. Monakow stützt gegentheilige Ansichten auf
die Beobachtungen, in welchen'der Agraphische, welcher nicht hemi-
plegisch ist und nicht gleichzeitig an einer corticalen Sehstörung leidet,
fast immer richtig copiren oder doch mindestens die ihm zur Abschrift
vorgelegten Worte abzeichnen kann. v. Monakow zieht ferner die
schon von Wernicke, Dejerine u. A. ins Feld geführte Thatsache
heran, dass Patienten mit incompleter motorischer Aphasie und rechts-
seitiger Monoplegie doch noch eventuell mit dem Fuss und bei rechts-
seitiger Hemiplegie mit der linken Hand schreiben können. Er schliesst
aus solchen Erfahrungen, dass ein Verlust der kinästhetischen Empfin-
dungen für die Schreibbewegungen selbst dann nicht angenommen
werden kann, wenn bei motorischer Intactheit der rechten Hand
Aphasische ausser Stande sind, auch nur einen einzigen Buchstaben
mit dieser zu schreiben. Er lehnt es auch ab, in diesen Fällen die
totale Agraphie mit der Unfähigkeit, die optischen Erinnerungsbilder
der Buchstaben in die Schreibmechanik umzusetzen, zu erklären, viel-
mehr beruhe die Störung darauf, dass der Patient zunächst die Laut-
und Klangbilder der Worte innerlich nicht genügend wecken und sie
nicht in einzelne Buchstaben zergliedern könne. Der Kern der Störung
bei der Agraphie sei immer in der Beeinträchtigung der inneren
Wortbildung zu suchen, die Schreibstörung beruhe also in einer ge-
störten Umsetzung von Wortklängen resp. AVortlauten in die Schreib-
beweguugsbilder : Die Fehler beim Schreiben seien in letzter Linie
entweder Laut- oder Klangfehler. Diese ganze Beweisführung v. Mo-
nakow's ist für unsere Beobachtung nicht verwerthbar; sie besitzt
nur dann eine Bedeutung zur Erklärung der agraphischen resp. dys-
graphischen Störungen, wenn Letztere Begleiterscheinungen aus-
geprägter und prävalirender Störungen der Wortklang- resp. Wortlaut-
bildung sind. Tritt die Agraphie als vorherrschende, ja fast ausschliess-
liche Störung auf, so werden wir nicht umhin können, sie als eigentliche
Bewegungsstörung aufzufassen, welche aus dem Verlust der kinästheti-
schen Empfindungen für die Schreibbewegungen resp. der Schreibbe-
wegungsvorstellungen resultirt. — Wir heben hervor, dass wir bei all
diesen Deductionen nur die functionelle Bedeutung des Schreibens im
Auge haben. Es sind deshalb hier noch einige Bemerkungen über das
88 Prof. ßinswanger.
functionelle Centrum, der Schreibbewegungen am Platze« Dieses Centram
ist ein innctionelles, indem es innerhalb der grossen Gruppe der Einger-
resp. Handbewegungen ganz bestimmte, zum Zweck des Schreibens
coordinirle Innervationen umfasst, deren Mannigfaltigkeit und Exactheit
von dem Grade der Uebung abhängt. In wie weit dieses Ceutrumi
welches ganz bestimmte Associationen von Bewegungsimpulsen umfasst,
eine bestimmte anatomisch distincte Zellgruppe innerhalb der corticaien
Hand- und Fingerregion besitzt, muss bei dem Mangel einwandsfreier
makro- und mikroskopischer Leichenbefunde dahin gestellt bleiben. ^)
Die Möglichkeit halten wir theoretisch für gegeben, da sich ja
aych ein von den übrigen optischen Erinnerungsbildern getrenntes
visuelles Schriftzeichencentrum entwickelt hat. Die Entwickelung eines
besonderen AVorblautceutrums in der Broca'schen Region kann eben-
falls als Beweis gelten, indem sich innerhalb des grossen cortico-
motorischeu Gebietes für Lippen-, Zungen-, G-aumen- etc. Bewegungen
ein besonderer Coordinationsmechanismus für die complicirteuBewegungs-
Yorgän^e des sprachlichen Ausdrucks herausgebildet hat. ')
Bei dieser Auffassung ist die Anschauung fast selbstverständlich,
dass bei gleich sorgfältiger Ausbildung und Uebung von Schreib-
bewegungen mittels der Füsse resp. Zehen sich auch ein corticales
Schreibcentrum in der motorischen Fiissregion fuuctionell und vielleicht
auch anatomisch herausbilden kann. ^)
Auch die Fähigkeit mit der Schreibmaschine zu schreiben, wird
unter Aufwendung grösserer oder geringerer Mühe durch Uebung
erworben. Diese Art der Schreibbewegungen hat weniger Berührungs-
punkte mit derjenigen des gewöhnlichen Schreibens, als mit dem
M Ks ist neuerdings von Edler (vgl. Vogt a. a. 0.) aus gewissen indiriduollen
Eigenthümliclikeiten, welche joder Schrift zukommen, der Schlnss gezogen werden,
dass in der Nachlar^nhaft der corticaien Centren für Bewegung der rechten Hand
spocicile Zollen für die specifische Schrift der rechten Hand dienen. Der Grand,
warum bisher keine speciellc Erkrankung nachgewiesen wurde, liegt vielleicht darin,
dass die ZelKn räumlich kein specielles Centrum bilden. Zerstörung dieses Centrams
führt nach Edler nicht Agraphie, sondern nur den Verlust der characteristisch
geübten Handschrift herbei.
-) Freilich ist das Schriftcentrum ein den ursprünglichen motorischen und
sensoi'iellen corticaien Sj)rach(;entrcn an Bedeutung und Coustanz naclistehendes
Zentrum, das sicherlich individuell viel grösseren Schwankungen liiusichtlich der
Vervollkommnung unterliegt als die Erstereu.
') Die Frage, ob zu den Coordinntionsmechanismen der Schreibbewegungen
bestimmte Hewegungs Vorstellungen zugehöng sind und ob die willkürlichen Schreib-
bewegungen einer primären Erregung der Schreibbewegungsvorstellungen ent-
springen, besitzt mehr eine theoretische als practischc Bedeutung.
Zur Kasaistik der Agraphie. g9
Klavierspiel nach Noten, welches eine äusserst innige associative Ver-
knüpfung von Gesichts-, Bewegungs- und Gehörvorstellungen voraussetzt.
Bei denjenigen Personen, welche es im Schreiben mit der Schreib-
maschine zu einer grossen Fertigkeit resp. Vollkommenheit gebracht
haben, werden wir ebenfalls eine Art functionelles Oentrum, das auf
fein coordinirte Bewegungen abgestimmt ist, annehmen müssen.
Wir lassen nunmehr die Krankengeschichte, welche Veranlassung
zu diesem Aufsatze gegeben hat, folgen.
Julius Fietsch. Bürgermeister, geboren am 3. II. 1851, stammte aus ge-
sunder Familie und soll weder als Kind noch später krank gewesen sein. £r war
seit 1879 verheirathet und besass 2 gesunde Kinder. Potus gering. Ueber syphilitische
Infection ist nichts bekannt.
Nach Angabe seiner Frau wurden bei ihm Anfang April 1898 psychische
Veränderungen bemerkbar; er wurde vergesslich, machte Fehler beim Wiegen, las
eine Kirchenrechnung falsch vor, schrieb verkehrte Bemerkungen auf die von ihm
auszufertigenden Steuerzettel und gab. zur- Rede gestellt, an, dass er schwindlig im
Kopfe sei. Gegen Mitte April wurde die Sprache schlechter, schleppender, das
Benehmen thcilnahmlos, stumpf, der Gang taumelig, besonders beim Treppensteigen.
Schliesslich sprach er spontan gar nicht mehr, gab auf Fragen verkehrte Antworten,
sass oft stundenlang mit auf die Hände gestütztem Kopfe da, ass aber mit Appetit
and schlief gut.
Am 16. IV. 1898 wurde Patient von Herrn Collegen Ziehen in der Sprech-
stunde- untersucht und folgender Status aufgenommen :
R. Pupille > L.
Augenhintergrund normal (ohne Erweiterung!).
Gaumenhebuug L. < R.
Sämmtliche Facialis- und Hypoglossus-Innervationen L. erheblich stärker.
Schädel vor und über dem L. Ohr ditfus percussionsempiindlich.
Sehen intact.
Hörweite für Uhrticken L. 50, R. 25 cm.
Nelkenöl L. stärker gerochen.
Dynamometrisch R. 52 ^ L. 54^.
Patellar- j
Achillessehnen- l Reflexe symmetrisch, nicht gesteigert.
Anconäussehncn- j
Kein Romberg.
Wortverständniss absolut intact. Bezeichnung gesehener Gegenstände
Uhr? richtig bezeichnet.
Kette? richtig bezeichnet.
Federhalter? nicht bezeichnet.
Aermel';* = „Muskel".
Farben und Zahlen richtig bezeichnet.
7X8? „56".
18 + 9? nicht gerechnet.
90 Prof. BiDswaDger.
4 X 6? -24«.
ß + 3? „9^
a -T- l'f .weiBs nicht melir".
Datum? ^1697—98 — Dtcemlier — es peht immer xücLt iicrt-j«-'-
Schrift :
..Jema" statt Jen«.
..Leipzig;" &tatt Leipzif^.
..Schoül^jrij'* Etatt Sch<"'nbom.
Pferd rieht i;/ geseh rieben.
Lesen: Auslabsun^^en und phantastische UmgertaltcxigezL z. B.
Text: Den Anblick ebenso zahlreicher blassen der — .
Gele«en: ..Den zahlreichen Rückblick der — "
Als Fi et seh etwa 3 Wochen später {9. A'. 1898 iE die hiesig« Küiiik anf-
penommen wurde. Hess sich der folgende Befund erheben:
I.'elier mitte) grosser, hagerer Mann mit blassen Schleimhäuten und eisem
Gewicht von 70 kg.
Geringe Arteriosderose.
An den Lungen vereinzelte katarrhalische Geniusv'ho h~<rbmr: geiinger Hasten-
reiz: zuweilen tiefe Inspirationen.
Herzt«" ne dumj>f: Puls 68. regelmäsjig.
l'rin frei von Eiweis? und Zucker.
Leistendrüsen etwas verdickt : an Brust. Bauch und Rücken mehrere pigmen-
tirtc Warzen.
Pupillen mittelweit. R. [> L. : R. Lichtreaction ziemlich prompt und ans-
giebig. L. langsamer und weniger ausgiebig; accommodative Reactton beideneiti
vorhanden.
Beiderseits ausgeprägte Stauungspapille, links in stärkerem Maasse: R. PapUle
grau, Tergr«"i5sert. nicht scharf begrenzt, leicht vorgewölbt; Gefässe von mittlerer
Füllung; L. Papille ebenfalls verL'p'>ssen, vcfrgewölbt. nicht scharf begrenzt, grau-
roth; Gefässe etwas geschlangelt; in der Umgebung der Papille mehrere kleine
Blutungen.
Slimrunzeln symmetrisch.
Alundfacialis-Innervationen in Ruhe und bei activen Bewegungen H. wesentlich
schwächer alsL. : das Gaunien*iegel wird L. besser gehoben : die Zunge weicht stark
nach R. ab.
Armbeweguugen nicht atactisch: kein Tremor: keine aufifallende Herabsetzung
der grollen Kraft der Hände: dvnamometrische Leistung R. 65®, L. 55®; dagegen
fällt es aul*. duss der Krank*/ bei spontanen Bewegungen fast nur die linke Hand
benutzt, z. B. kratzt er sich mit der linken Hand hinter dem rechten Ohr; auf-
gefordert, mit der re<-hieu Hand allein einen Hemdenknopf aufeumachen, versucht
er dies, lässt aber bald ermüdet die Hand sinken und öffnet den Knopf ziemlich
geschickt mit der linken Hand nilein: auch beim Zuknöpfen, das er erat mit beiden
Händen versucht, benutzt er schliesslich nur die linke Hand. Kleine Handbew«>
gungen. wie Fingersjireizen, Faust machen. Daumenbewegungen etc. sind ungestört.
Beinbeweguueen nicht deutlich atactisch; ganz schwerfällig und langsam, sn-
wvücn etwas schwankend: geringe? Romberg'sches. Schwanken.
Sammtliche Haut- un.l Sehnenreflexe symmetrisch und von gewöhnlicher Stärke
Zur Kasuistik der Ag^raphie. 91
Leichte Steigerung der mechanischen Mnskelcrregbarkeit.
Prüfung der Berührnngsempfindlichkeit wegen des psychischen Zustandes des
Kranken nicht ausführbar; Schmerzempfindlichkeit und Muskelsinn anscheinend
erhalten.
Lebhafte Schmerzreaction tritt ein bei Druck auf die Supraorbital-, Schläfen-,
Occipital-, Infraorbital- und Mental-Punkte und zwar L. erheblich stärker als R.;
druckempfindlich ist ferner die ganze, etwa dem Ursprünge des Musculus temporalis
der L. Seite entsprechende Gegend und hier wieder besonders ein Punkt der Linea
semicircularis, der senkrecht über der Mitte des Jochbogens liegt, und ein solcher
senkrecht über dem Kiefergelenk ungefähr in der Höhe der Augenbraue. Angeblich
spontan keine Kopfschmerzen.
Geruch symmetrisch.
Gesichtsfeld erhalten (Fingerprüfung).
Gehör: Uhrticken beiderseits in ca. IVa m gehört.
Spracharticulätion ohne deutliche Störung.
In psychischer Hinsicht fällt zunächst der traumhafte, leere Gesichtsausdruck
auf; der Kranke erwacht gleichsam bei energischer Anrede und sieht dann gleich-
giltig, oft etwas lächelnd vor sich hin, während er für gewöhnlich stumpfsinnig
und theilnahmlos im Bette sitzt. Seine Antworten erfolgen langsam, wenn über-
haupt, und oft erst nach eindringlicher Wiederholung der Frage und sind theils
richtig, theils verkehrt. Seine Aufmerksamkeit erlahmt ungemein rasch. Allerlei
Aufibrderungen befolgt er Anfangs richtig, giebt aber bald durch 3Iienenspiel und
Inteijectionen sein Missbehagen über die ihn anstrengenden Untersuchungen zu
erkennen und gähnt dann oft. Feinere Prüfungen der Sinnescmpßndungcn sind
daher nicht durchführbar. Vorgesetzte Speisen nimmt er spontan zu sich, wobei
sich zeigt, dass sein Schluck vermögen ungestört ist; er besudelt sich aber oft beim
Essen und verunreinigt sich auch häufig mit Urin und Koth. Bei der Aufnahme ist
er weder örtlich noch zeitlich orientirt, glaubt in seinem Wohnorte Schönborn zu
sein, weiss das Datum nicht, erkennt den Arzt nicht als solchen und macht einen
sehr gehemmten Eindruck. Einen vorgehaltenen Löffel bezeichnet er richtig, ein
Schlüsselbund dagegen nicht; erst beim Hasseln mit den Schlüsseln nennt er das
richtige Wort. Aufgefordert, die Schlüssel (7) zu zählen, zählt er bis 3. Weitere
Antworten sind dann nicht mehr von ihm zu verlangen. Bei einer Untersuchung
am 10. y. 1898 weiss er, dass er in Jena ist.
Ein vorgehaltener Bleistift wird richtig erkannt und bezeichnet.
(Uhr?) Findet das Wort nicht, macht verlegene Aeusserungen, z. B. „es ist
ein schönes Ding".
(Ist es eine Uhr?) „Nein."
Pat. kann die Uhr auch nicht bezeichnen, als ihm dieselbe ans Ohr gehalten
und in die Hand gegeben wird.
(Streichholz?) Wird richtig bezeichnet. Auf die Frage, was man damit mache,
zündet er dasselbe, allerdings langsam, an der ihm gereichten Streichholzschachtel an.
(Schlüssel?) Wird richtig bezeichnet. Beim Vorlegen einer Anzahl von Streich-
hölzchen, die er zählen soll, zählt er bis 6, spielt dabei mit den Hölzchen, zählt
aber schliesslich auf eine erneute Aufforderung bis 20.
(7 X 8?) = 56.
(7 X 18?) -
92 Prof. Binswanger.
Er liest, indem er ganze Worte und Sätze auslässt, die einzelnen Worte richtig.
11. V. ßei der AniTorderung, seinen Namen zu schreiben, nimmt Pat. die
Feder zur Hand, macht verlegene, rathlose, schreibähnliche Belegungen. Bei dem
ersten Schreibversuch resultiren Zeichen, die an seinen Namen erinnern, ein Theil
eines grossen lateinischen F, ferner ein schlechtes lateinisches i, dann folgen noch
einige sinnlose Striche. £in zweiter und dritter Ansatz zum Schreiben ergiebt nur
unleserliche, Buchstaben vollständig unähnliche Striche; ebendenselben Erfolg hat
die AuHbrderung. die Zahlen ], 2. 3, 4 u. s. w. zu schreiben. Als ihm das Wort
„Jena'' dictirt wird, macht er ein grosses lateinisches M. Die Copie des vorgeschrie-
benen Wortes „Jena" ist unvollständig, indem zwar ein richtiges J geschrieben
wird, welchem aber nur unleserliche Hieroglyphen folgen. £in vorgeeeichnetes
Dreieck kann er nicht nachzeichnen, auch nicht mit der linken Hand.
Federhalter und Papier bezeichnet Pat. richtig, ein Tintenfass nicht, erkennt
es aber, nachdem ihm das Wort vorgesagt ist. Einen blauen Actendeckel nennt
er ,,grau"; ein weisses Blatt Papier kann er der Farbe nach nicht bezeichnen.
Ist es grün? „Nein." Ist es roth? „Nein".
» n ge^b? „ „ „ blau?
„ „ schwarz? „ „ „ weiss? „
Nachdem er einige Minuten ausgeruht hatte, antwortet er auf die Frage:
„Welche Far])e hat es denn?" „Weiss." Ein braunes Brett bezeichnet er richtig.
12. V. Ist ärgerlich, dass er nicht schreiben kann; früher habe er es doch
gekonnt.
Schriftlichen Aufforderungen, z. B. die rechte Hand hochzuheben, kommt er
richtig nach. Sucht aus mehreren vorgelegten Gegenständen Uhr und Schlüssel
richtig ans, benannte Streichhölzer als Schlüssel, Schlüssel richtig, Bleistift gar
nicht. Gähnte oft.
Kann seinen Namen aus vornreIo«:ten Buclistabentäfelchen nicht zusammensetzen:
erst „Fetichs" dann „Fitesch".
Als er „Jena" zusammensetzen soll, bringt er erst „Jean" heraus, entdeckt
aber, aufmerksam gemacht, es sei falsch, seinen Fehler und berichtigt ihn. „Mai"
bringt er nicht fertig; bei mehreren Versuchen immer „Mia".
16. V. Pat. ist heute stärker benommen, kommt aber allen Aufforderungen nach.
17. V. Pat. benennt vorgezeigte Objecto wie folgt:
(Schlüssel?) „Schlüssel." (Uhr?) „Uhr."
(Bleistift?) — (Ist es ein Bleistift?) „Ja."
(Blumen?) „Blumen." (Messer?) —
(Glas?) „Glas." (Geldbeutel?) „Geldbeutel.-
(Cigarre?) „Cigarre." (Streichholzschachtel?) —
(Ist es eine Streichholzschachtel?) „Ja freilich."
(Streichholz?) „Streichholz." (Buch?) „Buch."
(Thermometer?) -- (Tisch?) „Wenn ich nur auf den Namen
kommen könnte."
(Stiefel?) „Stiefel." (Handtuch?) —
(Fenster?) — (Ist es ein Fenster?) „Ja.'
(Spiegel?) — (Ist es ein Spiegel?) „Ja.'
(Flasche?) — (Ist es eine Flasche?) „Ja.'
(Cigarrenetui ?) „(Zigarrenetui."
u
u
u
Zur Kasuistik der Agraphie. 93
Fat bejaht übrigens nur, wenn ihm der richtige Gegenstand genannt wird,
sonst verneint er oder giebt gar keine Antwort. Er ist im Stande, alle Worte zu
wiederholen.
Am Nachmittag desselben Tages wird Pat. in der Klinik vorgestellt.
(Name?) „Ich heisse Alfred Fietsch."
(Alter?) „27 Jahre", „47 Jahre.«
Athmet tief, kratast sich bei weiteren Fragen mit der linken Hand.
(Geburtstag?) „21. Febr. 18. . und 13 . . . nee 13 nicht«
(Beruf?) „Landwirth."
(Seit wann hier?) „Na, ich weiss nicht."
(1 Monat?) „So lange ist es noch nicht."
(Staat ?) „Sachsen-Weimar."
(Haus?) „Das weiss ich nicht."
(Stadt?) „Ja . . . Ja . . ."
(Arzt?) „Ja . . . Doctor."
(Uhr?) „Uhr." —
(Bleistift?) „— Blei."
(Kreide?) „Kreide."
(Federhalter?) „Stuhlfeder."
(Stecknadel?) „Das ist eine Himmelserscheinung" (sieht dabei zum
Fenster hinaus).
(Schlüssel ?) „Schlüssel."
Pat. klagt jetzt öfter, dass es ihm schlecht gehe, weiss aber nicht anzugeben,
warum.
20. V. 98. Zweite klinische Vorstellung:
Zunge deviirt nach r. — Händedruck 1. > r. —
(}ang schwankend nach r. und 1.
Greift aus vorgelegten Gegenständen den Schlüssel heraus.
(Kreide?) „Das ist Kreide."
(Schlüssel?) — (wird ihm in die Hand gegeben, dreht ihn herum,
besieht ihn).
(Ist es ein Schlüssel?) „Ja."
(Sagen Sie Schlüssel!) „Na. na . . ."
Als Diagnose wird gestellt ein Tumor in der Gegend des Schreibcentrums.
Vorliegender Fall spricht gegen die Dcjcrine 'sehen Auffassungen, wohl aber, da
die Agraphie eine totale ist, die vorhandenen Andeutungen von motor. Aphasie
aber mehr als Hemmungs- resp. Ermüdungssymptome aufzufassen sind, während
sensorische Aphasie überhaupt auszuschliessen ist, für die Annahme eines besonderen
Schreibcentrums.
24. V. 98. Operation in Aethemarcose (Geh. Med.-Rath Riedel): Eröffnung
des Schädels. Nach der Eröffnung der Dura starker Prolaps der sehr weichen imd
brüchigen Gehimmasse. Die Hirnrinde war in der Form erhalten. Die Him-
substanz ist so weich, dass ein eingestochener Troicard durch sein eigenes Gewicht
tiefer einsinkt. Kein Abfluss von Flüssigkeit. Puls 160. Die Operation wird ab-
gebrochen, da sich kein Anhaltspunkt für den Sitz des Tumors ergicbt. Verband.
Temperatur Abends 38®; Puls 132, unregelmässig; Facialisparese rechts stärker
94 I^rof. Binswanger.
als liuks. Grobe motorische Kraft der Extremitäten rechts viel geringer; Pupillen
rechts grösser als links, fast iichtstarr; rechts etwas reagirend.
25. V. Temperatur 37®. Puls 144; starke Schleim absonderung, eitriger Aus-
wurf; links hinten in der Umgebung des Schulterblattwinkels handtellergroue
Dämpfung: rechts hinten oben Kosselgeräusche. Motorische Sprachstörung stärker.
Patient macht unwillige Abwehrbewegungen^ als er aufgefordert wird, Gegenstände
zu bezeichnen, er erkennt anscheinend Buch. Uhr und Schlüssel nicht; letzteren
doch schliesslich richtig. Abends Temperatur B9,l; Puls 152.
20. V. Temperatur 37.2; Puls 140; die Sprache besteht nur noch in einem
unverständlichen Gemurmel, aus dem gelegentlich noch Ja" zu verstehen ist.
27. V. Temperatur 37,3; Puls 128. Abends 37,7; Puls 104, Patient isst gut.
hustet weniger: Gang viel sicherer.
28. V. Vorbundwechsel; grosser gangränöser Prolaps, Entfernung einiger
loser Fetzen. Abends 37.(>; Puls 104.
29. V. Temperatur 37.6; Puls 108; Patient schläft viel.
30. V. Nachts stärkerer Husten; V^erband sanguinolent durchtränkt. Tempe-
ratur 37,7; Puls 124. Abends 38,9; Puls 112.
31. V. Verbandwechsel; Athmuug beschleunigt. Temperatur 39.3; Abends
39,0; Puls 124.
1. YI. Athmung stark beschleunigt, stertorös. Abends 39,0; Puls 144;
AthniuDg 48; inspiratorisehe Dyspnoe; links hinten etwas Knistern.
2. Vi. Temperatur 39.0;* Puls 176, sehr klein, Athmung 68. 12 Uhr Mittag
Exitus letalis.
Sectio u (5Va Stunden post mortem) von Herrn Geheimrath Müller.
Die Obduction er;jfub. abgesehen von einer diffusen eitrigen Meningitis
cerobro-spinalis an Basis und Convcxität, folgenden Befund:
Kochte lliilbkujrel auuiiliernd normal gewölbt; die linke im Stirntheil deutlich
einge-junken , cutsprechend der voi'dcren Hälfte der III. Stirnwindung und dem
Fuss der beiden vorderen Ceutralwindungen aus einer umfangreichen Lücke der
Pitt in (.iestalt eines rothgrauen, übelriechenden, fast breiig weichen Tumors vor-
gewölbt.
Linke Scitoukamnier beträchtlich erweitert , ihr Ependym trüb, leicht grau
verfärbt, auf der tieisteu Stelle dünner, röthlich grauer Eiter. Der rechte Gyrua
fornicat. in seiner vorderen Hälfte leii-ht eingebuchtet. Das Balkenkuie mehrfach
punktiörmiff sugillirt, weich, leicht gelb verfärbt. Die Windungen der medialen
Fläche der rechten Halbkugel durchweg deutlich. Die vordere Hälfte des linken
Gyr. loruicat. über die Mittellinie weggreifend; das Marklager weich, gelblich grau
verfärbt. Knie und Rostruni des Balkens gruppenweise ijunktfi^rmig sugillirt. Das
3Iarklüger der linken Halbkugel hinten massig fest, nach vorne zunehmend weicher
als normal. Das ganze Stirnhirn wird bis auf eine durchschnittlich 10 mm dicke
Schicht der orbitalen und der vorderen Fläche eingenommen von einer umfäng-
lichen, dünnen, rötlilich gelben Kiter enthaltenden, ringsum von theils gelblicher,
theils rötlilich grauer, zottiger, weicher (Tchirnsubstanz umgebenen Höhle, welche
nach aussen entiiprechend dem hinteren Ende der dritten Stirnwindung frei aus-
mündet. Die Seitenkammer auch rückwärts erweitert. Plexus grauweiss getrübt,
eitrig intiltrirt. das Ependym matt glänzend, gegen den mit der Seitenkammer
Zur Kasuistik der Agrapbie. 95
communicirenden Zerstörungsherd hin flach ulcerirt. Die Hirnsubstanz in der Um-
gebung der Lücke kranzförmig von feinen Blutaustritten besetzt.
Von den Stammganglien der Sehhügel erhalten, bleich, ebenso der innere
Linsenkem und innere Kapsel. Das vordere Ende des äusseren Linsenkerns, die
vordere Hälfte des Claustrums und die Inselwindungen sind zerstört. Die Mark-
Substanz des unteren Stirnhirns bis an das vordere Ende bräunlich gelb, etwas
weich, zerstreute kleinere Bluiaustritte führend. Das Unterhorn ist erweitert, das
Ependym trübe, vereinzelte kleine Blutaustritte aufweisend. Plexus bis an das
vordere Ende grauweiss getrübt. Die mikroskopische Untersuchung des in Formol
gehärteten Gehirns ergab ein Gliosarkom, welches im Centrum erweicht und
eitrig eingeschmolzen war und in der Umgebung zahlreiche Blutaustritte und
Nekrosen und im gesunden Gewebe kleine Metastasen zeigte.
Bei der Analyse der klinischen Symptome auf dem Gebiete der
Sprache resp. der Schrift ist vor Allem der psychische Zustand des
Patienten zu berücksichtigen. Es geht aus der Krankengeschichte
hervor, dass allgemeine intellectuelle Störungen das Krankheitsbild
eröifneten und ausgeprägte Herdsyraptome sich erst nachher einstellten.
Am Autfälligsten waren die Schwerbesinnlichkeit, Vergesslichkeit, die
rasche Ermüdbarkeit bis zur völligen geistigen Abstumpfung. Neben
der Denkhemmung tritt aber schon frühzeitig ein gewisser Grad von
Incohärenz und vielleicht auch schon von ürtheilsschwächung hervor.
All diese Symptome deuten darauf hin, dass schwere Schädigungen
der gesammten geistigen Leistungen vorhanden waren, welche je nach
dem Grade der Erholung resp. der Ermüdung des Patienten grossen
Schwankungen unterlagen. Ein Bild von den besonderen Störungen
der Sprache resp. der Schrift war deshalb nur bei längerer Beobach-
tung des Kranken und öfters wiederholten Untersuchungen, die sich
immer nur auf ganz kurze Zeit erstrecken kormten und bei beginnender
Ermüdung ausgesetzt werden mussten, zu gewinnen. Wir erwähnen
hier nur der einer Prüfung (am 10. V. 1898): Anfänglich war Patient
über Ort und Zeit vollständig orientirt, erkannte aucrh einen ihm vor-
gehaltenen Gegenstand und bezeichnete denselben richtig. Dann aber
konnten für einen anderen Gegenstand (Uhr) augenscheinlich die ver-
schiedenen Partial Vorstellungen (optische, acustische, tactile) nicht mehr
erweckt werden. Es fiel daher selbstverständlich der sprachliche oder
schriftliche Ausdruck für diese Objectvorstellungen aus. Eine kurze
Erholungspause genügte aber, um sowohl das Sprachverstäudniss als
auch den sprachlichen Ausdruck sowie relativ complicirtere intellectuelle,
Leistungen wieder zu ermöglichen. Auch die Lesest öruugen, welche?
die grösste Aehnlichkeit mit denjenigen bei diffusen Hirnrinden-
96 Prof. Binswanger.
erkrankuDgen (progressiver Paralyse) darboten, sind auf diese allge^
meinen Schädigungen der iutellectuellen Leistungsfähigkeit zu beziehen.
Wie das angezogene Beispiel lehrt, waren die Störungen des
sprachlichen Ausdrucks zum grossen Theil als Ermüdangs- resp.
Hemmungssymptome aufzufassen. Ausser letzteren Symptomen waren
Schreibstörungen vorhanden, welche nur als AusfaUssyniptome gedeutet
werden können. Während bei der ersten Untersuchung (16. IV. 98)
nur relativ geringfügige dysgraphische Störungen zu constatiren waren,
fand sich am 11. V. eine fast vollständige Agraphie vor: der Patient
konnte die Anfangsbuchstaben seines Namens in plumper, unvollständiger
Weise spontan schreiben, alle weiteren Schreibversuche ergaben nur
sinnlose Striche. Auch das Schreiben von Zahlen misslang. Beim
Schreiben einzelner Worte nach Diktat zeichnete Patient ein lateinisches
M, als ihm das Wort „Jena^ dictirt wurde. Auch das Copiren war
fast völlig aufgehoben, indem vom Wort „Jena^ nur der Anfiangs-
buchstabe J geschrieben wurde. Ebenso misslang das Nachzeichnen
eines einfachen Dreiecks sowohl mit der rechten wie mit der linken
Hand, üass diese ScIireibsUirungen ausser Zusammenhang mit Leae-
störungen stehen, beweist der erste Versuch am 12. V., bei welchem
Patient eine schriftliche Aufforderung zu einer Handlung ganz prompt
befolgte. Die Unfähigkeit, seinen Namen aus den ihm vorgelegten
Buchst^iben richtig zusammenzusetzen, glauben wir auf die Erschwerung
der psychischen Functionen, vor Allem auf die rasche Ermüdbarkeit
des Kranken zurückführen zu müssen und zwar deshalb, weil bei einem
späteren Versuche Patient das Wort Jena fehlerfrei zusammensetzte.
Auch bei diesem Versuche hatte der Kranke das Wort Jena zunächst
nicht richtig zusammengesetzt, dann aber als ihm gesagt wurde, „es
sei falsch^*, sich auf die richtige Form der Zusammensetzung besonnen.
Es kann somit keinem Zweifel unterliegen, dass in vorstehender
Beobachtung das wesentUchste, ja fast ausschliessliche stabile Ausfalls-
symptom die Schreibstörung war. Dass die Störungen des sprachlichen
Ausdrucks nur Theilerscheinungeu der transcorticalen Leitungserschwer-
ungen darstellen, geht u. A. aus den Sprachproben vom 17. V^. hervor,
bei welchen Patienten ihm vorgelegte Gegenstände prompt und richtig
bezeichnete, wenn es ihm gelang, die optischen Erinnerungsbilder der
vorgelegten Objecte wieder zu erwecken. Die sprachliche Bezeichnung
fiel meist dann aus, wenn er die gezeigten Gegenstände nicht wieder
erkennen konnte. Vereinzelt gelang die Erweckung der zugehörigen
optischen Partialvorstellungen , während die Leitung zum acuatischen
Zur Kasuistik der Agraphie. 97
Sprachceutrum versagte: Patient erkannte einen Gegenstand (z. B. einen
Tisch), konnte ihn aber sprachlich nicht bezeichnen. Es handelte sich
hier um eine wahre transcorticale, sensorielle, aphasische Störung. In
anderen Fällen konnte Patient nicht einmal durch Betasten der Gegen-
stände das zugehörige Wortklangbild und Wortlautbild reproduciren.
Es spricht dies deutlich für das Vorhandensein trauscorticaler Störungen
zwischen den Erinnerungsbildern und dem acustischen resp. motorischen
Sprachcentrum. Bemerkenswerth ist, dass eine Schädigung des Sprach-
Verständnisses niemals beobachtet wurde, dass also m. a. W. die Object-
vorstellungen imimer bei Erregung des acustischen Sprachcentrums
erweckt werden konnten. Auch in den Fällen, in welchen eine Er-
weckung der Objectbegriffe durch Erweckung der tactilen resp. optischen
Partialvorstellungen unmöglich war, gelang es durch Benennung des
Gegenstandes sofort, die Objectvorstellung wachzurufen. Bei diesem
Befunde ist es selbstverständlich, dass das Spontansprechen und das
Nachsprechen im ausgeruhten Zustande keine Störung aufwies, während
mit dem Eintritt der Ermüdung paraphasische Störungen in beiden
Fällen eintraten.
Diese Beispiele genügen wohl, um den früherhin ausgesprochenen
Satz zu rechtfertigen, dass die Störungen des sprachlichen Ausdrucks
vorzugsweise als Ermüdungserscheinungen aufzufassen waren.
Eine anatomische hirnlocalisatorische Würdigung des Falles ist,
wie wir schon Eingangs erwähnten, unmöglich. Es ist an dem Him-
präparate durchaus nicht mehr festzustellen, welchen Sitz und Umfang
das Gliosarcom im Marklager des Stirnlappens gehabt hat, da die con-
secutive Eiterung eine weitgreifende Zerstörung verursacht hatte. Nur
das Eine lässt sich auch jetzt noch erkennen, dass der Krankheits-
process das Marklager der vorderen Centralwindungen nach hinten hin
nicht überschritten hat, dass also eine materielle Läsion der sensoriellen
Antheile der Sprachfunctionen auszuschliessen ist.
Zeitschrift für HypnotisiuuN etc. IX.
Literaturzusammenstellung
über
die Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis
von
Dr. Freiberrn von Schrenck-NotsiDg- München.
(3. Fort«»etzung.)
Wie in der ersten Fortsetzung dieses Eieferates (vergL Band YIII
Heft I dieser Zeitschrift) ausgeführt wurde, sind die bahnbrechenden Arbeiten
Y. Krafft-Ebing's auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis in den
letzten 2 Jahrzehuten (1877 — 1899) vielfach beeinflusst worden durch
die frühere und gleichzeitige Literatur über den Gegenstand. Es erschien
deswegen augezeigt, die aus der ersten Hälfte dieser Zeitperiode (1877 — 1887)
stammenden Arbeiten zu referiren,. bevor die zahlreichen grundlegenden
Studien dieses Gelehrten Gegenstand der Erörterung werden konnten.
Wenn v. Krafft-Ebing kein anderes Verdienst für die medicinische
Wissenschaft sich erworben hatte, als die Erschliessung eines so zu sagen
neuen Wissenszweiges, wie sie seine Arbeiten über die Psychopathia sexualis
darstellen, sein Name bliebe fUr alle Zukunft untrennbar verknüpft mit
der Geschichte der Psychologie und Psychopathologie des Sexuallebens.
Ihm ist es hauptsächlich zu danken, dass die bis dahin mit heiliger Scheu
als ,,noli me tangere" betrachteten psychosexuellen Vorgänge einer wissen-
schaftlichen Erkenntniss und naturwissenschaftlichen Anschauung näher ge-
rückt wurden. Die Ideen und Anregungen, welche von seinen Schriften aus-
gingen, haben das geistige Leben unserer Zeit nachhaltig beeinflusst; erst
durch seine Arbeiten konnten die seelischen Probleme solcher Enterbten
des Liebesglücks Verständniss und richtige Beurtheilung finden. Deswegen
bieten aber auch die Werke K raff t -Ebi ng's Interesse ebensowohl für
den Etluker, den Aestbctikcr, wie für den Geistlichen, den Juristen und
Arzt! Kein Wunder, wenn die IVychopatliia sexualis trotz heftigster Be-
fehdun<( von Seiten der Collegen 10 Auflagen erlebte. Wie schon oben
betont wurde, ist der Schaden, den ein solches Werk wegen seines porno-
graphischen Interesses bei dem Laienpublikiun stiften kann, verschwindend
zu dem ungeheuren Nutzen der dadurch verbreiteten Erkenntniss und
Aurkliirung.
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 99
Im Nachfolgenden geben wir unter Au8]a88uung unwesentlicher casu-
istischer Beiträge eine üebersicht über Krafft- Ebing's Studien auf diesem
Gebiet: 1877 erschien der erste Aufsatz y. Krafft-Ebing's „üeber ge-
wisse Anomalien des Geschlechtstriebes*' im Archiv für Psychiatrie Bd. VIL
8. 291. Die ersten Arbeiten dieses Autors wurden 10 Jahre später in einem
Bande zusammengefasst, der unter dem Titel „Psychopathia sexualis ** (Stutt-
gart, Enke) erschien und in den Jahren 1886 — 1898 10 Auflagen erlebte,
die jedesmal umgearbeitet und dem jeweiligen Stande des Wissens angepasst
wurden. Weitere Arbeiten desselben Verfassers sind folgende: „Neue
Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis'*, 1. Auflage 1890,
2. 1891 (Stuttgart, Enke). „Der Conträrsexuale vor dem Strafrichter",
1. Auflage 1894, 2. 1895 (Lei{Aig, Deuticke); „üeber Irresein durch
Onanie bei Männern**, Allgem. Zeitschr. für Psychiatrie 1874, S.425; „lieber
psych osexuales Zwitterthum**, Internat. Centralbl. für die Physiologie imd
Pathologie der Harn- und Sexualorgane, Bd. I, Hefb 2; „Neurosen und
Psychosen durch sexuelle Abstinenz**, Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. Vm,
6. 1 u. 2; „Bemerkxmgen über geschlechtliche Hörigkeit^, Jahrbücher für
Psychiatrie, Bd. X, Heft 2 u. 3; „lieber Eifersuchtswahn beim Manne**,
Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. X, Heft 2 u. 3 ; „Zur Aetiologie der con-
trären Sexualempfindung**, Jahrbücher für Psychiatrie, Bd. XII, Heft 3;
„Zur Erklärung der conträren Sexualempfindimg**, Jahrbücher für Psy-
chiatrie, Bd. XIII, Hefb 1 ; „üeber Zoophilia erotica, Bestialität und Zoo-
erastie**, Zeitschr. für Psychiatrie, Bd. 50; „Heber Unzucht mit Kindern und
Paedophilia erotica**. Friedreich's Blätter für gerichtl. Medicin 1895; „Ueber
das Zustandekommen der Wollustempfindung und deren Mangel (Auaphro-
disie) beim sexuellen Act**, Intern. Centralbl. für die Physiologie und
Pathologie der Harn- und Sexualorgane, Bd. 11, S. 3 u. 4. Ein Theil dieser
in Zeitschriften zerstreuten Artikel kam unter Hinzufugung neuer Beiträge
(so „Zum Sadismujs**, „Zum Fetischismus**, „üeber Hyperaesthesia sexualis**
u. A.) zum Abdruck in dem IV. Heft von K rafft- Ebing 's „Arbeiten
aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie** (Leipzig,
Barth 1899).
Die hier im Einzelnen aufgeführten Bausteine zu den Forschungen des
Wiener Gelehrten sind in den neueren Auflagen der Psychopathia sexualis
eingehend berücksichtigt, so dass eine Beschreibung des Inhaltes dieses
Hauptwerkes, sowie seiner Denkschrift: „Der Conträrsexuale**, und der 1899
in dem III. Bande der „Arbeiten aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie**
erschienenen Aufsätze für den Zweck dieser Arbeit und, um die Anschau-
ungen des Verfassers kennen zu lernen, vollkommen ausreicht.
Die 10. (1898 erschienene) verbesserte und theilweise vermehrte Auf-
lage der Psychopathia sexualis ist in 5 Abschnitte eingetheilt.
Der erste enthält Fragmente einerPsychologiedes Sexual-
lebens. Verfasser bezeichnet darin das Geschlechtsleben als einen ge-
waltigen Factor im individuellen und socialen Dasein, als den mächstigsten
Impuls zur Bethätigung der Kräfte, zur Erwerbung von Besitz, zur Er-
weckung altruistischer Gefühle. Er verfolgt darauf die Entwicklungs-
phasen, durch welche im Laufe der Culturentwicklung der Menschheit das
100 V- Schrenck-Notzing.
(jeschlechtsleben bis zur heiitigen Sitte and Gesittung hindurch gegangen
ist. Die Versittlicbang des sexuellen Verkehrs erfuhr einen mächtigen Im-
puls durch das Christenthum, indem es das Weib auf gleiche sociale Stoie
mit dem Manne erhob und zur monogamen Ehe führte. Indessen weist
V. Krafft-Ebing darauf hin, dass auch die Polygamie, welche im alten
Testament anerkannt sei, auch im neuen nirgends ausdrücklich aufgehoben
werde, so dass tbatsächlich ohne Einwendungen der Kirche christliche
Fürsten , wie z. B. die merowingischen Könige Chlotar L, Charibert L,
Pippin I. und viele vornehme Franken in Polygamie gelebt bitten
Die psychologisch bedeutsamste Epoche fär das Geschlechtsleben ist die
Puberitätsent Wickelung. ^Jene anfangs dunklen unverständlichen Drange,
entstanden aus Empfindungen, welche bisher unentwickelte Organe im Be-
wusstsein wachriefen, gehen mit einer mächtigen Erregung des Gefühlslebens
einher.^ Der fremdartige Gefiihlsinhalt objectivirt sich dann oft in den nahe-
liegenden Gebieten der Religion und Poesie, in allen möglichen Schwärme-
reien (^wollüstiger Mystik) etc. Die Beziehungen zwischen dem religiösen
und sexuellen Fühlen zeigen sich in den brünstigen Handlungen mancher
Nonnen, in den Orgien gewisser Secten und auch in den Krankengeschichten
der religiös Wahnsinnigen. Auch die Selbstpeinigungsacte , die Untere
werfungsopfer, wie sie in allen Religionen angetroffen werden, können einen
geschlechtlichen Character bekommen. ,.Die religiöse Schwärmerei fuhrt
mitunter zur Ekstase, einem Zustand, in dem das Bewusstsein derart von
psychischen Lustgefühlen präoccupirt ist, dass die Vorstellung einer etwa
erduldeten Misshandlung nur ohne ihre Schmerzqualität percipirt werden kann.*^
Auch für die Weckung ästhetischer Gefühle zeigt sich der sexuelle
Factor einflussreich. Die Wärme der Phantasie wird durch das Feuer sinn-
licher Liebe erhalten. Daher begreift sich, dass die grossen Dichter und
Künstler sinnliche Katuren sind. „Indessen bleibt bei aUer Ethik, deren
die Liebe bedarf, um sich zu ihrer wahren und reinen Gestalt zu erheben,
ihre stärkste Wurzel die Siuulichkeit. Platonische Liebe ist ein Unding,
eine Selbstt^iuschung, eine falHche Bezeichnung für verwandte Gefühle.**
Auch auf das lebhaftere getschlechtliche Bedürfniss des Mannes weist
V. Krafft-Ebing hin gegenüber dem Weibe. „Dem mächtigen Drange
der Natur folgend ist er stürmisch und aggressiv in seiner Liebeswerbung,
(ileichwohl füllt das Gebot der Natur nicht sein ganzes psychisches Dasein
aus. Ist sein Verlangen erfüllt, so tritt seine Liebe temporär hinter anderen
vitalen und socialen Interessen zurück.'' Schliesslich folgen noch Bemer-
kungen über den „physiologischen Fetischismus".
Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den physiologischen
T h a t s a c h e n , welche dem Göschlechtsleben zu Grunde liegen. Dieselben
sind hinreichend bekannt, so dass wir nicht näher darauf eingehen. Für
Jjibido und Potenz sind auch hereditäre Einflüsse maassgebend; beim Weib
ist die Libido sexualis postmenstrual nach v. Krafft-Ebing am grössten.
Dio anatomisch - physiologischen Vorgänge (Hyperämie , Spermabereitung,
Ovulation) lösen in der Hirnrinde sexuelle Vorstellungen, Bilder und
Dränge aus. Verfasser geht dann auf den Vorgang der Erection und
Ejaculation näher ein. Er nimmt ferner für gewisse pathologische Fälle
Psychologie und Psychopathologie der Tita sexualis. IQl
«inen ZoBammenhang der G^mchswahmehmungen mit dem Geschlechtssinn
an, wie er ja bei Thieren unzweifelhaft besteht. Dass namentlich auch
durch S^izung der Nerven der Gesässgegend (Züchtigung, Geisselung) die
libido sexualis erregt werden kann, unterliegt keinem Zweifel und ist auch
Tom Referenten yiel^stch bestätigt worden. Die Geschichte der Flagellanten
im 13. bis 15. Jahrhundert bietet für diese Thatsache merkwürdige Bei-
spiele. Was die vom Verfasser besprochenen erogenen Zonen beim Manne
betrifiFt, so sind dieselben nicht nur, wie v. Krafft-Ebing meint« auf die
Haut der äusseren Genitalien beschränkt, sondern auch die Haut des Dammes,
der Anus, die Brustwarzen, Lippen und Zungenschleimhaut sind bei vielen
Männern erogen; in manchen selteneren Fällen kann die ganze Epidermis
diese Function übernehmen.
Der Schluss dieses Abschnittes wird durch die Darstellung der Actes
der Cohabitation gebildet.
Das dritte Kapitel enthält die allgemeine Neuro- und
Psychopathologie des Geschlechtslebens.
Auf die peripheren und spinalen Neurosen, welche in allen Lehrbüchern
der sexuellen Neurasthenie behandelt sind, soll an dieser Stelle nicht ein-
gegangen werden. Dagegen unterscheidet v. Krafft-Ebing bei den
cerebral bedingten Neurosen 1. die Paradoxie (Sexualtrieb ausserhalb der
Zeit anatomisch-physiologischer Vorgänge, im Kindes- und Greisenalter z. B.
bei der Dementia senilis), 2. die Anaesthesia sexualis (fehlender Ge-
schlechtstrieb, als angeborene oder erworbene Anomalie z. B. in Folge von
Castration,. 3. die Hyperästhesie (vennehrter Trieb, Satyriasis, Nympho-
manie), 4. die Parästhesie (Erregbarkeit des Sexuallebens durch inadä-
quate, also perverse Beize).
Die an Anaesthesia sexualis leidenden Individuen sind nach v. Krafft-
Ebing wohl immer degenerative Existenzen; als eine mildere Form dieses
Zustandes betrachtet er die „naturae frigidae'^ mit geringer Neigung oder
Abneigung gegen den Sexualverkehr ohne sexuelles Aequivalent und dem
Hangel jeder wollüstigen Erregung beim Coitus. Diese Fälle sind wohl
beim weiblichen Geschlecht viel häufiger, als v. Krafft-Ebing anzu-
nehmen scheint und nicht immer von Neuropathie begleitet. Es giebt
Autoren, welche den Procentsatz frigider Frauen auf 40 ^ \^ schätzen und
Seferent glaubt, dass diese Ziffer für die angelsächsische Bevölkerung sich
nicht weit von der Wahrheit entfernt. Dabei ist natürlich Klima, Rasse,
Abstammung zu berücksichtigen. Für die Beurtheilung der ganzen Frauen-
emancipation erscheint eingehende Erwägung dieses Punktes wichtig. Viel-
fach bleiben weibliche Personen sexuell unempfindlich, weil die betreffenden
männlichen Partner das sexuelle Fühlen der Frau nicht richtig zu ent-
wickeln verstehen, sind also nur scheinbare naturae frigidae!
Der krankhaft gesteigerte Geschlechtstrieb ist gewöhnlich
mit einer neuropathi sehen Constitution verbunden. Er kann die Gewalt
einer organischen Nöthigung gewinnen und die Willensfreiheit ernstlich ge-
fiQirden. Die Nichtbefriedigung des Dranges ist häufig mit Angstgefühlen
Terknüpft (Nothzucht, Bestialität). Casuistik weist zahlreiche hierhergehöriga
Fälle auf.
102 ▼. Schrenck-Notzing.
Den wichtigsten Theil des Werkes bilden die Ausftilinmgeii über di»
Parästhesie der Geschlechtsempfindung (Perversion des Ge-
schlechtstriebes). Als pervers bezeichnet v. Krafft-Ebing jede
Aeusserung des Geschlechtstriebes, die nicht den Zwecken der Natur , also
der Fortpflanzung entspricht. Die Perversität des geschlechtiichen Handefaifl
ist von der Perversion des Geschlechtstriebes zu anterscheiden. Die per-
verse Handlung kann lasterhaft sein, nicht bedingt durch die Krankhaftig-
keit der Persönlichkeit.
Die erste grosse Gruppe dieser Klasse umfasst geschlechtliche
Neigungen zu Personen des anderen Geschlechtes in per-
verser Bethätigung des Triebes.
Dazu gehört in erster Linie die Verbindung von Grausamkeit und
Wollust; Fälle in denen die geschlechtliche Erregung an die Ausübung
activer Gewaltthätigkeit gebunden ist, bezeichnet v. Krafft-Ebing als
Sadismus; solche dagegen, bei denen umgekehrt die geschlechtliche
Befriedigung durch Erduldung von Misshandlungen und Demüthigungen er-
folgt, als Masochismus. Auf das Unzulängliche dieser nach den Roman-
schriftstellern ,, Marquis de Sade'^ und ,, Sacher Masoch'* gebildeten Bezeich-
nungen wurde vom Referenten in seinen Arbeiten wiederholt aufmerksam
gemacht. Wir kommen auf diesen wichtigen Punkt noch im Verlauf des
Referates zurück.
Liebe und Zorn suchen nach Krafft-Ebing ihren Gegenstand auf,
wollen sich seiner bemächtigen und entladen sich naturgemäss in einer
körperlichen Einwirkung auf denselben; beide versetzen die psychomotorische«
Sphäre in heftigste Erregung und gelangen mittels dieser Erregung zu ihrer
normalen Aeusserung. Der Exaltationszustand wollüstiger Aufregung er-
zeugt den Drang, gegen das Object, welches den Reiz hervorruft, in der
intensivsten Art zu reagiren. Die scheinbar feindseligen und sinnlosen
Acte sieht der Verfasser in diesem Sinne als psychische Mitbewegungen
an. TJm aber eine starke Wirkung auszuüben, ist das stärkste Mittel die
Zufügung von Schmerz. Daher kann es in solchen Fällen zur Misshand-
lung, zur Verwundung und sogar zur Tödtung des Opfers kommen. Dazu
kommt, dass der Mann im Verkehr des Geschlechtes überhaupt die active
aggressive Rolle übernimmt (Erobern, Besiegen des Weibes). Es handelt sich
also beim Sadisimus um eine pathologische Steigerung der Begleiterschei-
nungen der psychischen vita sexualis ins Maasslose.
Beim „Masochismus^ wird das Individuum in seinem geschlecht-
lichen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht, dem Willen
einer Person des anderen Geschlechtes vollkommen und imbedingt unter-
worfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemüthigt und miss-
handelt zu werden. Diese Vorstellung wird mit Wollust betont.
Während der Sadismus als eine pathologische Steigerung des männ-
lichen Geschlechtscharacters in seinem psychischen Beiwerk angesehen werden
kann, stellt der Masochismus eine krankhafte Ausartung weiblicher specifischer
Eigenthümlichkeit dar. ^Im Masochismus entsteht eine Ekstase, in der die
steigende Fluth einer einzigen Empfindung jeden von der geliebten Person
kommenden Einfluss begierig verschlingt und mit Wollust überschwemmt*'
Psychologie und Psychopathologie der Tita sexualis. 103
Die Abhängigkeit eines Individuums von einem anderen des entgegen-
gesetsEten Geschlechtes kann in manchen Fällen bis zum Verlust jedes selbst*
ständigen Willens gehen, bis zu einer Abhängigkeit, welche den beherrschten
Theil zu Handlungen und Duldungen zwingt, die schwere Opfer am eigenen
Interesse bedeuten. Diese durch ein geringes Maass von Willenskraft gegen«
über dem unabhängigen Theil gekennzeichnete abnorme Abhängigheit eines
Menschen von einem anderen des entgegengesetzten Geschlechtes bezeichnet
V. Krafft-Ebing als ,, geschlechtliche Hörigkeit^. Zu den Er-
scheinungen der G^schlechtshörigkeit gehören die unbedingte Nachgiebig«
keit gegen die Launen der Gattin, Eheschliessungen mit notorischen Dirnen,
Aufopferung von Vermögen, Stellung und Familie einer Hetäre zu Liebe,
die mit Misshandlungen verbundene Abhängigkeit der Prostituirten vom
Zuhälter, der Frauendienst des Mittelalters etc. „Wenn die Vorstellung des
Tyrannisirt- Werdens lange mit der lustbetonten Vorstellung des geliebten
Wesens eng associirt war, so geht endlich die Lustbetonung auf die Tyrannei
selbst über und es ist Perversion eingetreten.*' Es giebt also nach
v. Krafft-Ebing in Folge associirender Gewohnheit erworbenen und
originären als Product der Vererbung auftretenden Masochismus. Der
perverse Trieb kann sich schliesslich auf rein symbolische die Unterwerfung
ausdrückende Handlungen richten, v. Krafft-Ebing stellt es direct in
Abrede, dass die passive Flagellation der Kern der Sache sei. Es findet
bei der Schmerzerduldung eine Uebercompensation des physischen Schmerzes
durch psychische Lust statt (Hallucination körperlicher Wollust).
Das Umgekehrte, nämlich die Begierde starker Einwirkung und schranken«
loser Unterwerfung der consors,' erscheint beim Sadismus als wesentlichster
Punkt. Es handelt sich also lediglich um active und passive Unterwerfung,
wobei die Art des Ausdrucks der Perversion nebensächlich wird.
,. Sadismus und Masochismus sind (entgegen der Auffassung Binet's
und des Verfassers) nur in dem Sinne Resultate von Associationen, in dem
alle complicirteren Erscheinungen des Seelenlebens Associationen sind. ^ Sie
sind nicht nach v. Krafft-Ebing das Resultat zufalliger Association,
sondern das Resultat präformirter bestimmter Bedingungen. So kann der
Anblick von Prügelscenen u. dgl. eine vorhandene pathologische Association
aus ihrer Latenz wecken, nicht aber eine solche neu entstehen lassen.
Wenn Sadismus und Masochismus bei einem Individuum auftreten, so
ist es lediglich die Vorstellung der Unterwerfung, welche activ und passiv
den Kern des Gelüstes bildet. Beide perversen Richtungen des Gesclilechts«
triebes betrachtet v. Krafft-Ebing als Grundformen psychosexualer
Perversion.
Wir haben die Theorie des Verfassers ausführlich wiedergegeben, ob-
wohl wir dieselbe durchaus nicht als zureichende Erklärung für alle derar-
tigen Fälle ansehen.
Am bezeichnendsten für den Zusammenhang von Wollust und Grausam-
keit sind die terminalen Formen des Sadismus, wie sie sich im Lustmord,
in der Schändung und Zerstückelung der Leichen zeigen. Dahin gehört
auch das Blutigstechen, Besudeln weiblicher Personen, die Knabengeisselung
(durch wollüstige Erzieher), sadistische Handlungen an Thieren etc. Eine
104 ▼. Schrenck-Notzing.
Uebergangsgruppe zu dem Masochismns stellen die Fuss- und Schuhfeti-
schifiten dar^ insofern das Treten mit Füssen dabei eine B,olle spielt. Ebenso
rechnet der Verfasser dazu: ekelhafte , Selbstdemüthigung involvirende Qe-
lüste, wie z. B. das Geniessen von Koth, Urin und Menstrualblut, das Lecken
an den Dejectionen, Geschwüren der Kranken etc.
Diesen Trieb zum Ekelhaften nennt y. Krafft-Ebing: „Koprolagnie^.
Eine weitere wichtige IGasse perverser Triebbethätignng bietet der
Fetischismus dar. „Unter Fetisch pflegt man" , wie v. Krafft-Ebing
bemerkt, „Gegenstände oder Theile oder blosse Eigenschaften von Gegenstan-
den zu verstehen, die vermöge associativer Beziehungen zu einer lebhafte
.Gefühle bezw. wichtiges Interesse hervorrufenden Gesammtvorstellung oder
Gesammtpersönlichkeit eine Art Zauber („fetisso^ portugiesisch) bilden, minde-
stens einen sehr tiefen, dem äusseren Zeichen (Symbol, Fetisch) an und für
sich nicht zukommenden, weil individuell eigenartig betonten Eindruck be-
wirken."
Die individuelle Werthschätzung bis zur Schwärmerei nennt man Feti-
schismus. Der erotische Fetischismus kann physiologisch sein, insofern in
der Liebe bestimmte aus der Gesammterscheinung genommene Theile und
Eigenschaften eine besondere Anziehungskraft üben.
Für den einen ist der blosse Körper, für den anderen die blosse Seele
ein Fetisch. Alle Theile einer weiblichen Erscheinung, besonders Haare,
Augen, Figur, Füsse und Stimme können zum Fetisch werden.
Der Fetischismus eroticus ist von dem Augenblick an als pathologisch
aufzufassen, wo ein vom Gesammtbilde der Person des anderen Geschlechtes
losgelöster Theileindruck alles sexuelle Literesse auf sich concentrirt, so dass
die anderen Eindrücke daneben verblassen, und die conditio sine qua non
für die geschlechtliche Potenz darstellt. Daneben kommen natürlich Ueber-
gangsformen vor, bei denen ein Coitus ohne Anwesenheit des Fetisch nicht
befriedigt.
Zur Erklärung dieser eigenthümlichen Verirrung zieht v. Krafft-
Ebing die AssociatioDslehre Bin et' s heran. Hiernach ist nämlich im
Leben jedes Fetiscbisten ein Ereigniss anzunehmen, welches die Betonung
gerade dieses einzigen Eindruckes mit Wollustgefühlen determinirt hat. Li
der Regel fällt dieses Ereigniss in die Jugend, in das Erwachen der vita
sexualis. Dasselbe fallt mit irgend einem sexuellen Theileindruck zusammen
und stempelt diesen für die Dauer des ganzen Lebens zum Hauptgegenstand
des sexuellen Interesses. Oft wird die Gelegenheit, bei welcher die Asso-
ciation entstanden ist, vergessen, nur das Resultat bleibt der Association
bewusst. Originär ist hier nur der allgemein zur Psychopathie, disponirte
Gharacter, die sexuelle Hyperästhesie solcher Individuen. Die bekannt ge-
wordenen Hauptfälle dieser Perversion betreffen zunächst Theile des weib-
lichen Körpers. So giebt es Hand-, Fuss-, Schuhfetischisten, Kleidongs-
fetischisten (für Taschentücher, Schürzen, Frauenröcke). Eine wichtige Gruppe
stellen die Haarfetischisten und Zopfabschneider dar wegen ihrer Conflicte
mit dem Gesetz. Sehr häufig onaniren die Fetischisten beim Anblick ü
Fetisch. Beim Stoff-Fetischismus spielen Pelzwerk, Sammt und Seide
hervorragende Rolle (Sacher Masoch). Der Thierfetisohismiis wird
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 105
V. Krafft-Ebing auch als Zoophilia erotica bezeichnet. So erklärt sich
mitunter die auffallende Vorliebe mancher Personen für Hunde und Katzen.
Der ganze Abschnitt ist von einer reichhaltigen Casuistik begleitet, auf
welche hier nicht näher eingegangen werden kann.
Den letzten Theil dieses Abschnittes nehmen die ausführlichen und
social, forensisch und psychologisch gleich wichtigen Darlegungen über
homosexuale oder conträre Geschlechtsempfindung ein. Die-
selbe betrifft Individuen, welche trotz anatomischer und physiologischer
Normalität in ihrer psychosexualen Persönlichkeit die ihrem G-eschlecht
entgegengesetzte Sexualempfindung darbieten. Nach v. Krafft-Ebing
tritt diese perverse Sexualität mit sich entwickelndem Geschlechtsleben spontan,
ohne äussere Anlässe zu Tage, als individuelle Erscheinungsform einer
abnormen Artung der vita sexualis, oder sie entwickelt sich nach einem
Verlauf in normalen Bahnen auf Grund schädlicher Einflüsse und erscheint
dann als erworbene Form. Die Entstehung dieser Erscheinung ist noch
rätfaselhaft und unaufgeklärt.
Somit theilt v. Krafft-Ebing die Yerkehrung der Geschlechtsempfin-
dong in 2 Gruppen:
a) die erworbene krankhafte conträre Sexualempflndung,
b) die angeborene krankhafte conträre Sexualempflndung.
Er unterscheidet in dem ümwandlungsprocess der Geschlechtsempfln-
dung 4 Stadien:
I. Stufe: Einfache Verkehrung der Geschlechtsempfin-
dung. Patient ist noch in activer Rolle und empflndet den Drang
zum eignen Geschlecht als Verirrung.
IL Stufe: E viratio und Defeminatio. Wandlung des Characters,
der Gefühle und Neigungen im Sinne einer weiblich fühlenden
Persönlichkeit.
m. Stufe : TJebergang zur Metamorphosis sexualis para-
n o i c a. Das körperliche Empflnden ist im Sinne der Transmutatib
sexus umgestaltet.
IV. Stufe: Metamorphosis sexualis paranoica. Wahn der
Geschlechtsverwaltung.
Voraussetzung zur Entwickelung der Homosexualität ist ein neuropa-
ihisches Nervensystem. Dasselbe kann ebensowohl erworben, als angeboren
sein. Zu der veranlagenden Ursache, der neuropathischen Belastung,
Bmss noch nach v. Krafft-Ebing die veranlassende Ursache treten,
damit die conträre Sexualempflndung in die Erscheinung treten kann. Als
erworbene krankhafte Erscheinung kommt sie nach dem genannten Autor
selten vor.
Die erworbene conträre Sexualempfindung durchläuft dieselben Stufen,
wie die angeborene. In der Entwickelung sind folgende Formen zu unter-
scheiden (v. Krafft-Ebing):
1. Bei vorwaltender homosexueller Empfindung bestehen Spuren hetero-
sexualer (psyc hose xuale Hermaphrodisip).
2. Es besteht nur Neigung zum eigenen Geschlecht (Homosexuali-
tät), Horror feminae (beschränkt auf die vita sexualis).
105 T. Schrenck-Notzing.
3. Das ganze psychische Sein (der Charakter) ist der abnormen Gte^
schlechtsempfindung entsprechend geartet (Effeminatio ond
Viraginität).
4. Die Körperform nähert »ich derjenigen, welcher die abnorme G^
schlechtsempfindung entspricht. Nirgends jedoch wirkliche Herma-
phrodisie. (AndrogynieundGynandrie.) Weiblicher Typus
(breite Hüften, runde Formen, reichliche Fettentwickelung, fehlende
spärliche Bartentwickelung, weibliche Gesichtszüge, feiner Teint^
iHstelstimme) ; beim Manne (Mammabildung mit Milchentwickelang
in der Pubertät).
Als wichtigste Ursachen für erworbene conträre Sexualempfindong
sind nach den genannten Quellen zu bezeichnen: Uebermässige Onanie,
welche Character, Triebleben und Nervensystem schadigt, zur mutuellen
Masturbation führt, und Furcht vor Schwängerung und Ansteckung, Weiber-
mangel etc.
Wenn die Verkehr ung der Geschlechts empfindung als Theilerscheinung
eines „neuropsychopathischen Zustandes*^, der hereditär bedingt ist, aoflritt,
so sind folgende Zeichen nach v. Krafft-Ebing's Lehre massgebend :
a) Vorzeitiges Erwachen des Geschlechtstriebes.
b) Schwärmerische Exaltation , zwingende Stärke des Triebes und
sexuelle Hyperästhesie.
c) Functionelle und anatomische Entartungszeichen.
d) Neurosen (Hysterie, Neurasthenie, epileptoide Zustände), reizbare
Schwäche des Lendenmarks.
e) Psychische Anomalien (originäre Verschrobenheit und schlechter
Intellect bei einseitiger hervorragender Begabung) bis zu Schwach-
sinn und moralischem Irresein.
f) Neurosen, Psychosen und Degenerationszeichen in der Ascendenz.
,,Das vererbende Moment ist die erworbene krankhafte Neigung zum
eigenen Geschlecht, die sich beim Descendenten als angeborene krankhafte
Erscheinung vorfindet." Gestützt wird diese Hypothese durch die That-
sache, dass auch seelische Eigenschaften und Gebrechen sich vererben können,
und dass Conträrsexuale mitunter Kinder zeugen.
Die am häufigsten vorkommenden geschlechtlichen Handlungen, wodurch
derartige Individuen Befriedigung finden, sind: Coitus inter femora, in
anum, in os, mutuelle, psychische und tactile Onanie, einfache Liebkosungen,
Exhibition. Erzwungener Verkehr mit dem Weibe greift an, während in-
adäquate homosexuelle Practiken voll befriedigen.
Gewöhnlich besteht keine Inclination zu unreifen Personen.
Zur Erklärung der angeborenen Homosexualität hat v. Krafft-Ebing
neuerdings die zuerst von Ulrichs und später (1883) von Chevalier
aufgestellte Hypothese einer pathologisch partiellen Entwickelung der dem
zur Entwickelung gelangenden Geschlecht entgegengesetzte Anlage von Centren
im Embryo herangezogen. Diese Anschauung geht wie schon bei Be-
sprechung der Arbeiten von Ulrichs erwähnt wurde, von der ursprüng-
lich bisexuellen Anlage im Embryo aus. Es entwickelt sich daraus ein
monosexuales Individuum, und die anatomische Anlagen des entgegengesetzten
Psychologie und Pt<ychopathologie der vita sexualis. 107
GeschlechtB treten zurück. Diese caract^res sexuels latente Darwin^B
können unter gewissen Umständen Bedeutung gewinnen und nach Chevalier
und y. K rafft- Eb in g Erscheinungen conträrer Sexualität hervorrufen.
Verfasser fügt eine ausführliche Darlegung der in Betracht kommenden
anatomischen Verhältnisse bei.
Diese Ausnahmen vom Gesetz der homologen Geschlechtsentwicklung
werden nach dem Verfasser durch klinische und anthropologische Beobach-
tungen gestützt (Eunuchenthum, Klimax präcox etc.).
Gegenüber der in der letzten Fortsetzung ausfuhrlich erörterten und
auch vom Brcferenten in seinen Schriften vertretenen Theorie von Bin et
macht V. Krafft-Ebing geltend, dass psychologische Earäfte zur Erklärung
einer solchen schwer degenerativen Erscheinung nicht ausreichen. Hier-
gegen drängt sich die Frage auf: Sind denn etwa schwere Fälle von Feti-
schismus weniger degenerativ, als solche conträrer Sexualempfindung? Und
doch reicht das associative Erklärungsprincip dem Verfasser zur Erklärung
dieser Anomalie — immer in Voraussetzung eines durch erbliche Belastung
widerstandsunfähigen Nervensystems — vollkommen aus!
Heferent konnte Fälle von Fetischismus beobachten, die an Schwere
des Krankheitszustandes in keiner Weise sich von den schweren Fällen
conträrer Sexualempfindung unterschieden und im Sinne v. Krafft-
Ebing 's genau so als degenerativ imponirten, wie manche Beobachtungen
von Masochismus und Homosexualität. Warum sollte also beim Zustande-
kommen der conträren Sexualempfindung und des Sadismus nicht dasselbe
möglich sein, was beim Fetischismus möglich ist! Denn der Unterschied
besteht ja nur im Inhalt, im Gegenstand des sexuellen Interesses, nicht in
der Form der Erkrankung.
Die den geistreichen und anregenden Ausführungen v. K r a f f t -E b i n g ' s
beigefügte, übrigens in der 10. Auflage seines Werkes beschränkte Casuistik
kann nach der Meinung des Heferenten nicht als ein hinreichender Beweis
erachtet werden für das Angeborensein der geschlechtlichen Geschmacks-
richtung; ebenso unzulänglich erscheinen die Mittheilungen über die be-
hauptete körperliche Transformation (Androgynie). Näheres hierüber bei
Besprechung der Arbeiten des Heferenten.
Den Abschnitt schliessen Bemerkungen über die Diagnose, Prognose
und Therapie der conträren Sexualempfindung ab. Die Aufgaben der Be-
handlung bestehen in Bekämpfung der Onanie und anderen, die Vita sexu-
alis schädigenden Momenten, femer in Beseitigung der neuropathischen Be-
gleits3rmptome und endlich liegt der Schwerpunkt der Aufgabe in der
psychischen, eventuell hypnotisch-suggestiven Bekämpfiing der conträren
Empfindungsweise und der Förderung heterosexualer Gefühle und Impulse.
Die Erfolge des Verfassers sind in diesem Sinne sehr befriedigend auch in
angeborenen Fällen. Aber nach v. Krafft-Ebing beweisen solche Hei-
lungen nichts gegen die Annahme des originären Bedingtsein der conträren
Sexualempfindung. Man ist also gezwungen anzunehmen, dass die Suggestion
im Stande ist, angeborene psychosexuelle Anomalien zu beseitigen — oder
die angeborene Determination des Inhalts der geschlechtlichen Triebrichtnng
in Frage zu stellen. Letztere Annahme ist offenbar die einfachere.
108 ▼• Schrenck-Notzing.
Der 4. Abschnitt des Werkes umfasst die specielle Pathologie,
nämlich die Erscheinungen des krankhaften Sexuallebens in verschiedenen
Formen und Zuständen geistiger Störung. In gedrängter Kürze
bespricht der Autor die Störungen des Sexuallebens bei psychischen Eot-
wickelungshemmungen, erworbeneu geistigen Schwächezuständen (nach Psycho-
sen, Apoplexie^ Kopfverletzung, durch Lues, Dementia paralytica), bei Epi-
lepsie, im periodischen Irresein bei der Manie (Satyriasis und Nymphomanie),
Melancholie, Hysterie und der Paranoia.
Der 5.. und letzte Theil des Buches erörtert ausführlich das
krankhafte Sexualleben vor dem Oriminal forum. Derselbe
ist für den Gerichtsexperten von höchstem Werthe und man wird es nicht
in Abrede stellen können, dass gerade die Verbreitung dieses TheUes der
V. Krafft-E hingesehen Forschungen auf die öffentliche und richterliche
Beurtheilung der krankhaften Sexualvergehen mildernd und aufklärend ge-
wirkt hat. Gerade in den schwierigen Grenzfällen zweifelhafter Zurech-
nungsfähigkeit dürfte kaum je eine Freisprechung erzielt worden sein, ohne
dass von Seiten der Vertheidigung und Sachverständigen die autoritativen
Darlegungen des Verfassers benützt wurden ! Schon dieser sine Punkt zeigt
den ungeheuren Nutzen einer sorgfaltigen psychologischen Analyse der Vita
sexuali», wie sie durch die Psychopath! a sexualis dargethan wird.
Die Criminalätatistik ergiebt eine traurige Thatsache, dass die sexuellen
Delikte eine fortschreitende Zunahme aufweisen. Zur Beurtheilung der-
selben sind neuro- und psychopathische Bedingungen vielfach ausschlag-
gebend. Auf die krankhafte Bedeutung vieler solcher monströser Hand-
lungen ist man erst in neuerer Zeit aufmerksam geworden. Aber ein per-
verser Act entspricht nicht immer einer Perversion der Empfindung, und
diese Perversion mups als krankhaft erwiesen werden. Die Entscheidung
liegt also in der Zurückführung der That auf die psychologischen Motive
(Abnonnitäten des Vorstellens und Fühlens) und in der Begründung jener
elementaren Anoraalieen als Theil erscheinung eines neuropsychopathischen
Gesammtzustandes. Diese psychopathischen Zustände können zu Sittlich-
keitsverbrechen führen und zugleich die Bedingungen der Zurechnungs-
fähigkeit aufheben, wenn 1. sittliche oder rechtliche Gegenvorstellungen (zur
Beherrschung des eventuell gesteigerten Geschlechtstriebes) entweder nie
erworben wurden oder durch Krankheit in Verlust geriethen, 2. wenn das
Bewusstsein getrübt und der psychische Mechanismus gestört ist, so dass die
etwa vorhandenen Gegenvorstellungen nicht wirksam werden konnten, 3. wenn
der Sexualtrieb pervers und unwiderstehlich ist.
Uebergehend zu den einzelnen Formen der Sittlichkeitsdelicte bespricht
Verfasser zunächst das Exhibitioniren (gröbliche Verletzung des öffent-
lichen Anstaudes durch Demonstration der Genitalien), welches häufig als
impulsive Handlung und im Dämmerzustand (Epilepsie) vorkommt. Eine
besondere Varietät der Exhibitionisten stellen die Frotteurs dar, welche
Öffentlich (z. B. im Gedränge) ihre Genitalien an anderen Personen zu reiben
oder zu pressen suchen. Von grösster Bedeutung für die forensische Praxis
sind die Nothzucht und der Lustmord; diese Verbrechen kommen vor
als impulsive Acte bei Imbecillen und Sadisten. Ebenso sind Körperver-
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. 109
letzungy Sachbeschädiguug, Thierquälerei auf Orund von Sadismus möglich,
feraer Raub und Diebstahl in Folge von Fetischismus (Diebstähle von Taschen-
tüchern, Beschädigung von Damentoiletten). Wichtig ist auch die Unzucht
mit Kindern, oft eine Folge der Paedophilia erotica. Bei dieser Krank-
heitsform handelt es sich um belastete Individuen, um ein primäres Auf-
treten der Neigung zu unreifen Personen des anderen Geschlechtes und um
unzüchtige Betastung und Onanisirung der Opfer. Es folgen dann weitere
Bemerkungen über Thierschändung. Unter Bestialität versteht
Verfasser die nicht pathologischen Fälle dieser Art, während er für die
krankhaften die Bezeichnung „Zooerastie^ angeführt hat. Auch diese
Yerirrung hält der Autor für originär und stellt sie im Punkte des Zu-
standekommens der conträren Sexualempfindung gleich. Eine diesbezügliche
Beobachtung (Nr. 202) würde im Gegensatz zu dieser Auffassung ein
geradezu typisches Beispiel abgeben für die Associationstheorie Binet's
und des Referenten ! Warum kann denn diese Theorie die Zooerastie nicht
ebenso gut erklären wie den Fetischismus? Und andererseits liegt für die
originäre Anlage dieser Yerirrung kein anderer Grund vor als ihre Uner-
klärlichkeit! Es folgen dann Ausführungen über die Zurechnungs-
fähigkeit Conträr-Sexualer. v. Krafft-Ebing plädirt mit vollem
Becht für Abschaffung der Bestrafung homosexueller Acte, soweit sie nicht
an Kindern und in der Oeffentlichkeit begangen werden, aus Gründen, die
hinlänglich bekannt sind und von ihm in seiner Broschüre „Der Conträrsexuale
vor dem Strafrichter" noch ausführlich erörtert sind. Dieses Kapitel
schliesst mit kurzen Bemerkungen über Amor lesbicus, Nekrophilie
und Incest.
Die Vorzüge des v. Krafft-Ebing 'sehen Werkes bestehen in der
klaren Gliederung und klinischen Gruppirung des reichhaltigen Materials,
in der treffenden und bereits in der Wissenschaft -eingebürgerten Ter-
minologie, sowie in der knappen, präcisen Form der Darstellung. Ebenso
übertrifft das Werk alle seine Vorgänger auf dem gleichen Gebiet in der
Feinheit psychologischer Analyse sow^bhl für die theoretischen wie für die
casuistischen Theile, in der Fülle anregender Ideen, in der liberalen, vor-
nehmen und humanen Auffassung dieser heiklen Fragen.
Als Nachtheile dagegen sind eine gewisse Ungleichheit in der Behand-
lung des Stoffes und eine zu einseitige theoretische Bearbeitung desselben
(ungenügende Begründung und Ueberschätzung der 'Erblichkeitstheorie) an-
zuführen. Doch mag die zukünftige Forschung auch weitgehende Modi-
ficationen den Aufetellungen des geistreichen Verfassers angedeihen lassen,
sein Verdienst um diesen AVissenszweig wird dadurch kaum verkleinert!
Einzelne Punkte seines Hauptwerkes hat v. Krafft-Ebing in beson-
deren Arbeiten weiter ausgeführt. So giebt die 2. Aullage seiner Schrift:
„D er Conträr sexuale vor dem Strafrichter,** die bereits erörterten
Ansichten des Verfassers in grösserer Vollständigkeit wieder. Er geht
hier besonders auf die Rechtsprechung anderer Staaten, auf die historische
Entwickelung der Frage, sowie das Inconsequente der Rechtspraxis ein.
Angefügt sind die oben erwähnten Abhandlungen zur Aetiologie
and zur Erklärung der conträren Sexualempfindung. In einer
HO V. Schrenck-Notzing.
Casuistik von 50 Fällen wird der Nachweis einer schweren erblichen Be-
lastung geführt und gezeigt, dass die ersten Begungen der conträren Sexaal-
empfindung in den meisten Fällen sehr frühzeitig, zwischen dem 5. und 15.
Lebensjahre, auftreten und zwar in der Sregel viel früher, als der Beginn
der Masturbation. v. Krafft-Ebing glaubt mit diesem Nachweis die
gegentheiligen Behauptungen Meynert's und des Beferenten zu widerlegen.
Nun ist aber vom Referenten dieThatsache einer hereditären neuro-
oder psychopathischen Belastung überhaupt niemals bezweifelt,
sondern in der Mehrzahl der eigenen Beobachtungen bestätigt worden; da-
gegen wurde mit schwerwiegenden Argumenten bezweifelt, dass in der Mehr-
zahl der Fälle die hereditäre Belastung für Art und Inhalt der krankhaften
sexuellen Triebrichtung maassgebend sei ! Es wurde also unter voller Ajier-
kennung einer erblichen neuropathischen Frädisposition das häufige Vor-
kommen einer angeborenen Determination des sexuellen Empfindens auf
bestimmte Objecte in Abrede gestellt, sondern für den Inhalt, für
das Object der psychosexuellen Zwangsempfindung sind in der Begel zu-
fällige schädliche Gelegenheitsursacben, an welche das geschwächte Associa-
tions vermögen, die leichte Bestimmbarkeit des Trieblebens anknüpfen, ver-
antwortlich zu machen. Es ist ein weiterer Irrthum, vorauszusetzen, dass
diese Schädlichkeit in allen Fällen in mutueller Onanie oder solitärer Mastur-
bation mit homosexuellen Vorstellungen bestehen müsse. Es genügt, wie
ich an anderer Stelle nachgewiesen habe, das Zusammenfallen, die Oleich-
zeitigkeit geschlechtlicher Erregung mit gewissen Sinneseindrücken. Die
aus den körperlichen Sexualvorgängen resultirenden lustbetonten Organ-
empfindungen, welche bei belasteten Individuen abnorm früh auftreten können
(schon im 5. Lebensjahr), werden in Folge der Unkenntniss der Individuen
auf gleichzeitige Sinneseindrücke, also falsch bezogen und in diesem Sinne
gedeutet. Die Beziehung zwischen gleichzeitiger Object-
und Körperempfindung führt zu einer inhaltlichen Störung
der Urtheilsassociation, und wenn in der Widerstandsun-
fähigkeit des Nervensystems, in der fehlenden Correctur
weitere günstigeVorbedinguugen geboten sind, so kann sich
dieselbe zu einer bleibenden Zwangsempfindung entwickeln
und schliesslich das ganze Geschlechtsleben beherrschen.
Wenn mau aber, wie v. K r a f f t - E b i n g es in der vorliegenden Arbeit gethan
hat, den zeitlichen Unterschied zwischen dem Aufbreteci der ersten conträr-
sexuellen Empfindung und dem Begiun der ersten Masturbation in 50 Fällen
tabellarisch festzustellen sucht, so ist doch wohl die grosse Unzuverlässig-
koit des Gedächtnisses für eine soweit in die Kinderzeit zurückreichende
genaue zeitliche Localisation zu berücksichtigen. Solche Angaben können
doch nur einen relativen Werth beanspruchen, wenn die Fehlerquellen rück-
wirkender Eriunerungsfälschunir und unbewusster Deutung im Sinne einer
vor^^efa.ssteD Meinuii*? nicht durch Aussagen dritter unabhängiger PersoneD
ausgeschlossen sind. Für einen wissenschaftlichen Beweis von solcher Trag-
weite, wie derjenige der angeborenen Präformation sexueller Geschmacks-
richtungen, dürften sie kaum ernsthaft ins Gewicht fallen können.
Wie schon oben erwähnt, hat v. Krafft-Ebing im IV. Heft seiner
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis. \\\
Arbeiten aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie
kürzlich (1899) eine weitere Serie von früheren Aufsätzen über die
Psycho- und Neuropathia sexualis gesammelt und herausgegeben.
Die ersten 2 Abhandlungen beschäftigen sich mit dem Thema der
„Unzucht mit Kindern und derPaedophilia erotica''. Zu den
3 Klassen nicht kranker Personen, welche solche Vergehen sich zu
Schulden kommen lassen, rechnet der Verfasser 1. Wüstlinge, welche für
ihre sexuelle Potenz ein neues Stimulans nöthig haben, 2. jugendliche
Masturbanten mit psychischer Impotenz, die im unzüchtigen Contact mit
kleinen Mädchen em Aequivalent für den ihnen unmöglichen Coitus suchen
und 3. iascive Dienstmägde, Bonnen, weibliche und männliche Verwandte,^
welche die ihnen anvertrauten Kinder sexuell missbrauchen. Die patho-
logischen Fälle betreffen Individuen mit geistigen Defect- und Entartungs-
zuständen sowie mit erworbener Geistesschwäche (Dementia senilis). Die
Paedophilia erotica kommt in gleicher Weise bei homosexuell wie bei hetero-
sexuell empfindenden Personen vor. Der krankhafte Character dieser Hand-
lungen wird durch eine Casuistik von S ausfuhrlichen Beobachtungen treffend
illustrirt.
Die 3 nächsten Aufsätze sind dem Masoc^hismus und Sadismus
gewidmet. In dem ersten derselben macht der Verfasser Front gegen die
vom Referenten für die Verbindung von Wollust und Grausamkeit vorge-
schlagene Bezeichnung „Algolagnie" (von äkyog = Schmerz und Xdyvog =
geschlechtlich erregt, Sadismus = active Algolagnie, Masochismus = passive
Algolagnie). Er führt hiergegen solche Fälle an, in denen die Flagellation
von Masochisten perhorrescirt wird und bei welchen die Vorstellung der
Demüthigung die Hauptrolle spielt, v. Krafft-Ebing glaubt, dass bei
solchen Personen die Bezeichnung „Algolagnie" nicht statthaft sei, höchstens
könnte man von „ideeller Algolagnie*' sprechen; denn solche Individuen
würden gründlich enttäuscht sein, weil das Mittel (die Züchtigung) den
Zweck nicht erreiche. Dagegen ist der Umstand geltend zu machen, dass
die schönförbende und übertreibende Phantasie niemals durch die Wirklich-
keit übertroffen wird. Zahlreiche Patienten dieser Art, Conträrsexuale,
Masturbanten und besonders Algolagnisten werden enttäuscht, sobald sie die
Producte ihrer Einbildungskraft zu realisiren versuchen. Sie erleben sozu-
sagen in ihren traumhaften Schwärmereien sexuelle Orgien, und werden
durch die Wirklichkeit ernüchtert. Natürlich haben alle diese Personen
ihr sehr variirendes individuelles System von VorsteDungen ; dass oft sehr
complicirte Bedingungen zu erfüllen sind, um dieses System in die Wirk-
lichkeit zu übersetzen, dafür giebt ja gerade die Kraf ft-Ebing*sche
Casuistik Beispiele in hinreichender Zahl. Der Unterschied der activen
und passiven Bolle ist in den Romanen von Marquis de Sade und Sacher
Masoch nicht in der Weise durchgeführt, dass sie zu einer Gegenüberstellung
dieser Schriftsteller berechtigte. Eine solche ist vielmehr willkürlich und
wenn die Namen eine gewisse Verbreitung gefunden haben, so geschah es wohl
nur, weil der erste wissenschaftliche Bearbeiter des Gebietes v. Krafft-
Ebing sie in dieser Weise anwendete. Immerhin sind sachliche Be-
zeichnungen in der Wissenschaft durchaus nicht zu entbehren und
112 ^- Schrenck-Noizing.
jedenfalls solcheu Benenuangen vorzuziehen, die nach Schriftitellem gebildet
sind, denen eine wissenschaftliche Bearbeitung der Sache ganz fem lag.
Femer sind diese sexuellen Verirrungen historisch viel älter als Marquis
de Sade und Sacher Masoch. Und ausserdem giebt es Fälle, wo keine
dieser Bezeichnungen passend erscheint, trotzdem es sich um Schmerz- Wollust
handelt. Die Fälle von Selbstverstümmelung und Autoflagellant ismua sind
passender als „onanistischeAlgolagnie'', die geschlechtliche Erregung
beim Anblick von Prügelscenen als „visuelleAlgolagnie^ zu bezeichnen.
Man kann ebenso von einer „zoophilen^, „bestialen", und „nekro-
phileu^ Algolagnie sprechen, je nachdem das Object der Misshandlung zum
Zwecke sexueller Erregung ein Thier oder eine Leiche ist. Schliesslich giebt
es eine Klasse von Fällen, bei denen der Schmerz ohne jede Nebenbedeutung
und phantastische Ausschmückung um seiner selbst willen eine Rolle spielt,
ohne Rücksicht auf active oder passive Bethätigung ! Es trifit kein einziges
der characteristischen Merkmale des Sadismus und Masochismus zu ; man ist also
schon vom Standpunkt der Logik berechtigt, diese Klasse „Algolagnie^ zu
benennen. Die typischen Falle von Sadismus, Masochismus würden der ideeUen
oder „symbolischen Algolagnie** beizuzählen sein. Selbst wenn man
die unwissenschaftlichen Bezeichnungen „Sadismus** und „MasochLsmns'^
beibehalten würde, könnte man den treffenderen, umfassenderen und den
üblichen Regeln der wissenschaftlichen Terminologie entsprechenden Aus-
druck „Algolagnie** nicht umgehen ; Sadismus und Masochismus wären nur
besondere, aber durchaus nicht die einzigen Formen der Algolagnie. Eine
Anzahl interessanter Beobachtungen des Autors beschliesst diese Gruppe
von Abhandlungen.
£h folgen dann ein ganz kurzer Aufsatz über „Fetischismus*' sowie
als an 5. Stelle eine Abhandlung „lieber Anaesthesia sexual is con-
genita", an 6. über ^Hyperaesthesia sexurflis**. Daran schliesst
sich eine interessante Mittheilung über ,,Die Castratio virorum**.
Ein Patient, welcher an Neurasthenia sexualis ex masturbatione nimia litt,
Hess bei sich die Castratio completa vornehmen, wurde aber dadurch weder
von seinen Pollutionen noch von seiner libido geheilt. Später trat bei
ihm an Stelle der Masturbation (/oitus mit Erectionsdauer bis zu 10 Minuten
und abschliessender Ejaculation (Prostatasecret) mit grossem Wollustgefühl.
Der 7. Aufsatz beschäftigt sich mit dem Zustandekommen der
Wollustempfindung und deren Mangel beim sexuellen Act.
Den Schluss dieser Sammlung bildet ein gerichtliches Gutachten über ein
v on dem Techniker Paul Gassen erfundenes Instrument zur
Behebung der Impotenz, genannt Erector. Dasselbe spricht sich
im günstigen Sinne für das besa«Tfte Instrument aus und wurde von Gassen
zu Reclamezwecken in Flugschriften, Zeitungsannoncen etc. benützt, trotz
des energischen Protestes von Seiten K rafft- E hing's. Uebrigens sind die
Meinungen über die Wirksamkeit des Erectors getheilt. Mit vollem Recht
warnt Krafft-Ebing davor, über solche Fragen sich gutachtlich vor Ge-
richt zu äussern, da die missbräuchliche Verwendung derselben zu Reclame-
zwecken wenigstens in Deutschland gesetzlich nicht verhindert werden kann.
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie seit dem Jahre 1896.
(4. Fortsetzung.)*)
74. Unverricht, Myoclonie. — Ealenburg's Real-Encyclopädie der gesammten
Heilkunde, HI. Auflage 1898, XVL Bd., pag. 269—284.
In der Torliegendcn Neubearbeitung der Myoclonie finden sich dieselben An*
Behauungen wieder, welche Verf. schon früher in der bekannten Monographie ver-
treten hatte. Er umgrenzt das Gebiet der Myoclonie sehr enge und scheidet eine
Keihe von anderen Autoren früher dem Symptombilde der Myoclonie eingereihter
Beobachtungen streng aus demselben aus, insbesondere ist er bestrebt, alle hyste-
rischen Krampfformen, welche zugestandenermaassen in ihrer äusseren Erscheinungs-
weise häufig eine gewisse Aehnlichkeit mit der Myoclonie haben, aus dieser zu
eliminiren.
Im Princip anerkennt er die von Friedreich zuerst gezeichneten Krankheite-
züge des Paramyoclonus multiplex als Grundform an, „nach welcher wir die Myoclonie
als eine selbstständige von den übrigen motorischen Neurosen unterschiedene
Affection abtrennen**. Er tritt für die Eigenartigkeit und Selbstständigkeit des
Krankheitsbildes des Paramyoclonus multiplex ein. nur dass er dasselbe mit einem
anderen Namen (Myoclonie) belegt und ihm einige neue aus der eigenen Er-
fahrung stammende symptomatische Characterzüge hinzufügt.
Die klinischen Merkmale der Myoclonie sind nach seinen, das Friedreich' sehe
Bild ergänzenden Beobachtungen folgende:
1. Betheiligung functioncll nicht zusammengehöriger einzelner Muskeln oder
auch Muskelgruppen an blitzartig ablaufenden clonischen Zuckungen ohne locomo-
torischen Effect. „Ganz willkürlich und regellos springt bald dieser bald jener
Muskel hervor."
2. Ungleichmässigkeit und Unregelmässigkeit der Zuckungen.
3. Symmetrisches Befallensein der Muskeln in der Mehrzahl der Fälle.
4. Beeinflussung durch äussere Momente:
a) Unterbrechung der Zuckungen im Schlaf, ausgenommen vereinzelte sehr
schwere Fälle;
>) Vgl. Bd. VI, pag. 290, Bd. VU, pag. 172 u. 342 und Bd. Vin, pag. 12.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 8
114 , Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
b) der besänftigende Einfluss der Willensanstrengung;
c) der steigernde Einfluss seelischer Erregungen;
d) der steigernde Einfluss der Anspannung der Aufmerksamkeit auf einen
bestimmten Körpertheil;
e) der steigernde Einfluss sensibler Reize.
Zum Unterschiede Ton Friedreich giebt er eine gelegentliche Betheiligung
der Gesichts-, Hals- und Rumpfmuskulatur an den myoclonischen Zuckungen xa
und vor Allem hebt er den ungünstigen Verlauf und die durchaus infauste Prognose
der Erkrankung hervor.
Diflerentialdiagnostisch bespricht er im Einzelnen die Beziehungen der Myoclonie
zur Hysterie, zur Chorea, zur Chorea electrica, zum Tic convolsif und zur Maladie
des tics.
Die letzteren beiden Formen haben nach U. überhaupt klinisch und sympto-
matologisch überhaupt keine Aehnlichkeit mit 3Iyoclonie und schliessen sich daher
von selbst aus diesem Krankheitsbilde aus. Von der Chorea unterscheidet sich
die Myoclonie hauptsächlich durch das Befallensein synergisch nicht zusammen
arbeitender Muskelgruppen.
Bezüglich der als Chorea electrica beschriebenen Bilder giebt er an, dass einige
Fälle mit joner Myoclonie übereinstimmen und unzweifelhaft in das Gebiet derselben
gehören; sie bilden „gewisserroaassen eine Uebergangsstufe zur Myoclonie*'.
Am meisten umstritten ist die Abgrenzung von der Hysterie, hatten doch
Autoritäten wie Möbius und Strümpell den Myoclonus nur als eine Unterform
der Hysterie bezeichnet.
Verf. hebt als untrügliches diflerentialdiagnostisches 3[erkmal die „Unnach-
ahmbarkeit der myoclonischen Zuckungen'' hervor. Während die hysterischen
Muskelactionen alle den willkürlichen Bewegungen ähneln und auch willkürfich
nachgemacht werden können, während alle hysterischen Krämpfe ihre Entstehung
aus der Willenssphäre ohne Weiteres erkennen lassen, ist bei dem myoclonischen
Krampf jeder Willcnseinfluss ausgeschlossen. Verf. schreibt : „Wenn wir bei einem
Menschen einen Rectus abdominis isolirt sich contrahiren sehen oder nur eine
Portion des Stemocleidomastoideus oder isolirte Zuckungen im Sartorins, so werden
wir mit gut begründetem Recht den hysterischen Character der Zuckungen ans-
schliessen können."
In diesem Punkte befindet sich Verf. entschieden im Irrthum; es sei nur auf
die neuerdings vielfach studirten isolirten Augenmuskellähmungen und Contracturen
auf hysterischer Basis hingewiesen, ganz zu geschweigen von anderen, der Unver-
richt 'sehen Auffassung widerstreitenden Thatsachen.
Die Myoclonie ist also, nach Unverricht, als eine völlig selbstständige
functionellc Nervenkrankheit, und den übrigen motorischen Neurosen gegenüber- und
gleichzustellen; sie beruht wahrscheinlich, wie schon Friedreich angenommen
hatte, auf einer Erkrankung der Ganglienzellen der grauen Vordersäulen des Rücken-
marks und ist von durchaus ungünstiger Prognose. Palliativ kann vorübergehend
durch Chloral und Brom genützt werden. Br od mann -Jena.
75. Wollenberg, Chorea, Paralysis agitans, Paramyocionus mul-
tiplex (Myoclonie). Nothnagels Handbuch, XII. Band. 1896.
Das was Verf. unter dem Kapitel Chorea und Paralysis agitans abhandelt.
Znsammensteilung der Literatur über Hysterie. 115
interessirt an dieser Stelle nicht; dagegen dürfte eine Besprechung der Myoclonie
und der „choreiformen Zustande", welche Verf. in einer ünterabtheilung beleuchtet,
am Platze sein.
Unter dem Begriff der „choreiformen Zustände** werden von Wollen-
berg eine Reihe heterogener Krankheitsbilder zusammengefasst. welche das eine
Gemeinsame haben, dass bei ihnen choreatische Bewegungen vorkommen; sie sind
jedoch nur als eine gelegentliche Complication der eigentlichen Grunderkrankung
aufzufassen.
Hierher gehören:
1. die Chorea posthemiplegica ;
2. die choreatischen Bewegungen nach cerebraler Kinderlähmung;
3. die Chorea hysterica;
4. die Chorea electrica, welche theils unter die rhythmische Chorea der Hysterie,
theils unter die sog. „Dubini'sche Krankheit** zu subsumiren ist.
Für die Diagnose der hysterischen Chorea ist von Wichtigkeit die Beeinfluss-
barkeit durch hypnotische Suggestionen. Verf. theilt 2 Fälle hysterischer Chorea
mit, die er durch Hypnose zur Heilung brachte.
In der Bearbeitung des Paramyoclonus multiplex bringt Verf. zunächst
in knapper, prägnanter Ausführung eine historische Uebersicht über die Wand-
lungen in der Lehre von der Myoclonie.
Persönlich bekennt sich Verf. einerseits als einen Gegner jener Auffassung,
welche die Myoclonie einfach in der Hysterie aufgehen lassen möchte, obwohl er
zugesteht, dass ein grosser Theil der als Paramyoclonus beschriebenen Fälle that-
sächlich zur Hysterie gehört; andererseits kann er sich auch nicht jenen Autoren
anschliessen, welche die Myoclonie auf Grund eines einzelnen S}nnptoms zu einem
Krankheitsbilde sui generis stempeln wollen; man kann nach seiner Ansicht „von
einem Symptomcomplex, wie er zum Begriff eines Krankheitsbildes gehört, nicht
sprechen, sondern nur von einem Symptom der myoclonischen Zuckung**, welches
allerdings ein oft sehr characteristisches Muskelspiel darbiete.
Verf. formulirt seine Anschauung über das Wesen der genannten Erkrankung
in folgendem Satze: „In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle scheint die sog.
Myoclonie nichts mehr zu sein als eine besondere Form der ticartigen Erkrankungen,
die sich wie diese auf dem Boden einer degener ativen Anlage entwickelt.''
Es berührt eigenthümlich, dass Verf. in diesem Zusammenhang (pag. 174) die
Chorea electrica kurzweg mit den myoclonischen Zuständen identificirt, während er
an anderer Stelle (pag. 98) dieselbe theils zur Hysterie rechnet, theils einer in-
fectiösen Erkrankung zuweist. Der Widerspruch, in den sich Verf. verwickelt, mag
ein Beweis dafür sein, wie wenig Klarheit noch in dem bunten Wirrwar gekünstelter
Krankheitsbilder herrscht. Brodmann- Jena.
76. Jules Soury^ Les Myoclonie s. Physiologie pathologique. — Annales
medioo-psychologiques 1897. V, pag. 399—422.
Der Character der Abhandlung ist ein vorwiegend kritisch referirender ; alle
bedeutenderen auf die Myoclonie und verwandte Gebiete bezüglichen Arbeiten
werden eingehend durchgesprochen und der Standpunkt der betr. Verfasser kritisch
beleuchtet; insbesondere erfährt auch die von den deutschen Autoren vielfach
nebensächlich behandelte oder ganz vernachlässigte physiologische bezw. physiologisch-
8*
115 ZusammenstellaDg der Latermtur aber Hyiterie.
pathologische Seite der Frage eine gebührende Würdigung. — Um WiedeTiioliinge&
zu Termeiden, können im Referat nur grundlegende Gesichtspunkte BerücksichtigaDg
finden.
Verf. bespricht zunächst das Verhältniss der myoklonischen Erscheinangen zur
Epilepsie. Er geht aus von den Studien Rüssel Reynold's, welche die merk-
würdige Thatsache ergeben haben, „dass fast drei Viertel der Epileptiker in ihren
interparoxystischen Zeiten, unter irgend einer Form, an motorischen Störungen
leiden". In den Zwischenräumen, welche die Anfälle von einander trennen, können
bei ein und demselben Individuum Zittern, Convulsionen, tonische und clonisehe
Spasmen vorhanden sein. Am häufigsten sind es clonisehe Zuckungen, die ihrer
Intensität nach sehr schwanken und bald nur in leichten, kaum merklichen Mnskel-
contractionen, bald in heftigen Erschütterungen des ganzen Körpers bestehen.
B r e s 1 e r fusst auf diese Veröffentlichungen und constatirt (wie Unverricht]
an eigenen Beobachtungen die Coexistenz der Myoclonie und der Epilepsie. Die
Hysterie ist (im Gegensatz zu Möbius. Strümpell, Hirt, Pitres) von der
Myoclonie stricte zu trennen. Er bezeichnet die mit Epilepsie combinirte Myoclonie
als spinale Epilepsie, d. h. als eine Erkrankung der motorischen Neurone erster
Ordnung auf der Grundlage einer „epileptischen Veränderung*'.
Büttichcr unterscheidet 2 T>'pen und rubricirt den einen, die Fried-
reich'sehe Krankheit, unter die Hysterie, den anderen, die Myoclonie nach Un-
verricht, unter die Chorea Huntington.
Lemoine rechnet den Paramyoclonus zur Choreafamilie und stellt ihn an
die Seite der Chorea electrica und der maladie des tics als ein „Syndrom mit
schwankenden Symptomen''. Andererseits betont er aber auch die prädisponirende
Rolle der Neurasthenie und das Vorkommen psychischer Begleiterscheinungen; er
neigt dazu, den Paramyoclonus der hysterischen und neurasthenischen Neurose zu
nähern.
Ziehen hat ebenfalls eine Vereinigung der einzelnen verwandten Bilder
versucht, andererseits aber auch wieder auf eine reinliche Scheidung heterogener
Dinge Bedacht genommen. Er fasst unter dem Begriff der selbstständigen Myoclonie
zusammen: den Paramyoclonus multiplex, die Chorea electrica, den Tic convulsii
und das essentielle convulsive Zittern namentlich neurasthenischer Personen bei
starken Schmerzreizen. Fieber, Frost etc. Von der selbstständigen Myoclonie zu
trennen sind: a) rctiectorisch ausgelöste myoclonische Zuckungen, wie der salta-
torischc Reflexkrampf und die clonischen Krämpfe in Amputationsstümpfen ; b) die
symptomatischen Myoclonien der Neurosen (Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie).
Brissaud besteht im Gegensatz zu Ziehen auf einer principiellen Ausein-
andcrlialtung der clonisch-spastischen Zustände (spasmes cloniques) von den Tics.
Die erstcreu seien ein reflectorischer Act und spinalen Ursprungs, die letzteren ein
cortical cerebraler Act und damit eine psychische Erkrankung, welche dem Einiloss
des Willens unterliegt.
DasH dem nicht immer so ist. beweist Soury an Beobachtungen, bei denen
Combinationen von myoclonischen Erscheinungen mit psychischen Störungen be-
standen. Es geht daraus hervor, wie wenig eine localisatorische Erklärung der
Erkrankung l)islang noch durchführbar ist.
Bezüglich der Pathogenese erörtert Soury all die widerstreitenden corticalen
(Raymond, Minkowski, Grawitz u. A.) und die spinalen Theorien des Myo-
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 1X7
donns (Friedreich, Unverricht, Bresler) und erwähnt auch die gänzlich
unhaltbare muskuläre Theorie von Pop off. Ihrer Originalität halber sei die
spinale Theorie Vanlaires besonders angeführt, der die eigentliche Ursache des
Mjoclonus in einer excessiven, durch periphere Reize ausgelösten resp. unterhaltenen
Erregbarkeit der sensitiven Elemente des Rückenmarks sieht.
Verf. selbst schliesst sich dem vermittelnden Standpunkte Lugaro 's an,
welcher die verschiedenen physiologischen Hypothesen zu vereinigen sucht. Er
betrachtet die clonischen Bewegungsformen „als pathognomonisch für eine specielle
Alteration des Centralnervensystems". Doch ist dieser Zustand weit davon entfernt,
immer nur die Folge einer Uebererregbarkeit des Rückenmarks zu sein, denn
gerade bei einem Falle Lugaro's waren die Reflexe, die ja doch einen Maassstab
für die Erregbarkeitsverhältnisse des Rückenmarks abgeben, nichts weniger als ge-
steigert. Die functionelle Schädigung der nervösen Elemente bei der 3Iyoclonie
besteht, ausser der Plötzlichkeit der- motorischen Entladung, darin, dass diese vor
sich geht, ohne durch Reize, welche normaler Weise den motorischen Antrieb
geben, ausgelöst zu sein.
Der innere Zustand der Nerven demente kann ein sehr verschiedener sein:
„Bald handelt es sich um eine angeborene Disposition wie bei der familiären
Myoclonie; bald um eine, an die Existenz einer Neurose geknüpfte eigenartige
dynamische Störung, wie in den der Hysterie, der Neurasthenie und der Epilepsie
associirten 3Iyoclonien; bald um die Wirkung abnormer in den Haushalt einge-
führter Stoffe, wie bei jenen Formen der Myoclonie. welche im Verlaufe von chro-
nischen Intoxicationen oder Infectionen (acutes Delirium) ausbrechen; bald endlich
um eine dynamische Störung als Ausfiuss einer organischen Erkrankung anderer
Nervenelemente, z. B. bei den Myoclonien, die im Gefolge der Tabes dorsalis der
disseminirten Sclerose etc. auftreten."
Die Myoclonie ist demnach nicht eine wesentliche und selbstständige Er-
krankung des Nervensystems, sie ist ein Symptom und zwar das Symptom oder
der Ausdruck jenes auf den verschiedenartigsten Schädlichkeiten beruhenden krank-
haften inneren Zustandes der Neurone, der sich in clonischen Entladungen kund-
giebt und den Lugaro „neuroclonischen Zustand" (^tat ncuroclonique) nennt.
Der Sitz dieser Erkrankung, resp. der Ursprung der myoclonischen Erschei-
nungen ist kein einheitlicher, sondern muss in jedem Einzelfalle bestimmt werden.
„1. Wenn die Myoclonie sich manifestirt durch fibrilläre Zuckungen isolirter
Muskelbündel wie bei dem fibrillären Zittern der Neurastheniker, bei der Chorea
-fibrillaris, in dem reinen Paramyoclonus nach Fr i edr eich muss sie als symptomatisch
betrachtet werden für den neuroclonischen Zustand der motorischen Protoneurone,
der Zellen der Vorderhömer, unter deren Einfluss die Muskelbündel stehen.
2. Wenn Myoclonie Zuckungen coordinirter Muskelgruppen erzeugt, wie bei
der Chorea electrica, bei dem gewöhnlichen Tic, so ist der neuroclonische Zustand
auf eine Erkrankung der subcorticalen motorischen Elemente zweiter Ordnung
zurückzuführen, welche grosse Gruppen directer motorischer Neurone unter ihrer
Herrschaft haben.
3. Endlich, wenn die clonischen Bewegungen den Character wirklicher psy-
chischer Acte haben, wie bei der maladie des tics, so entspringen sie einem neuro-
clonischen Zustande der psychomotorischen Neurone der Hirnrinde."
Zum Schlüsse zieht Verf. einen Vergleich zwischen den geschilderten myo-
118 Zusammenstellung der Literatur über Hysterie.
clonischen Erscheinungen und einer JEleibe psychischer Anomalien und kommt bo
dem Schlüsse, dass die impulsiven Handlungen, die fixen Ideen, die Obeessionen mit
jenen auf eine Stufe zu stellen seien. Beide seien im Grunde genommen „nur Yer-
schiedene functionelle Manifestationen«ein und desselben elementaren Zustandet der
NerTenzellen — jenes neuroclonischen Zustandes der Neurone**, deren Terachiedene
physiologische Function (in dem einen Falle rein psychische, in dem anderen rein
somatische Erscheinungen) sich lediglich aus der Verschiedenheit der anatomischen
Verknüpfung erkläre.
31it diesen letzteren Ausführungen scheint Verf. in jenes von Gefährdungen
nicht ganz freie Fahrwasser wissenschaftlicher Verallgemeinerungen gerathen m
sein, in dem man die moderne Forschung sich so häufig bewegen sieht
Brodmann -Jena.
77. J3re«2^r, Ueber Spinalepilepsie, Neurolog. Centralbl. 1896, pag. lOlfii
Obwohl die vorstehende Arbeit mit der Hysterie sich nur ganz vorübergehend
beschäftigt, mag sie in diesem Zusammenhang aus differentialdiagnostischen Gründen
kurz Erwähnung finden.
Verf. will unter „Spinalepilepsie*' jene Fälle epileptischer Neurose zusammen-
fassen, bei welchen die „epileptische Veränderung** (Nothnagel) auch zuerst oder
vorzugsweise sich im Rückenmark etablirt und erst nachträglich auf das Gehin
übergeht.
Er beschreibt nun 2 den Un verrieb tischen Beobachtungen „familiärer
Myoclonic^ durchaus analoge Fälle. Hier wie dort lag eine Complication mit
Epilepsie vor; hier wie dort entwickelte sich das eine Mal zuerst die typische
Epilepsie und dann erst traten myoclonische Erscheinungen auf, das andere Mal
wurde der Ausbruch des ersten epileptischen Anfalles von mehrtägigen myoclo-
nischen Zuckungen eingeleitet. Späterhin traten bei sämmtlichen Fällen die epilep-
tischen Anfälle im Krankheitsbild e ganz zurück gegenüber den Symptomen der
Myoclonie.
Indem Verf. ätiologisch die Möglichkeit einer psychischen Infection ausschliesst
und in dem Nachweis epileptischer Anfälle eine differentialdiagnostische Stütze für
die nicht hysterische Natur der Zuckungen zu haben glaubt, tritt er für die noso-
logische Einheit des myoclonischen Symptombildes mit der Epilepsie ein. Wo
Myoclonie mit Epilepsie combinirt ist, handle es sich um eine epileptische Myo-
clonie oder Spinalepilepsie, die als „eine durch die epileptische Veränderung be-
dingte „Erkrankung der motorischen Neurone erster Ordnung** an^
zufassen ist. — Die Frage, ob die ungemischte Myoclonie auch eine Neurose epi-
leptischer Natur ist, lässt Verf. offen, glaubt aber, dass es späterhin gelingen werde,
auch bei Fällen „reiner Myoclonie** die epileptische Veränderung des Kückenmarks
nachzuweisen, während alle zweifelhaften Fälle unter der Hysterie, Chorea und
maladie des tics unterzubringen seien. Br od mann -Jena.
78. Raymofidj Lebens sur les maladies du Systeme nerveuz 1896.
Le^on XXIX u. XXX. Des Myoclonies, pag. &51 — 591.
Im Anschluss an die klinische Analyse eines Krankheitsfalles, der eine Com-
bination von Paramyoclonus multiplex (im Sinne Friedreich' s), choreatischen
Bewegungen und gewöhnlichem Tremor darbot, bespricht Verf. alle einschlägigen
Ziuammenstellung der Idteratar über Hysterie. 119
besonders die differentialdiagnostischen Fragen. Sein Standpunkt ist wohl der-
jenige der meisten französischen Autoren; er verdient daher kurz gekennzeichnet
sn werden.
Verf. tritt zunächst deinr Bestreben entgegen, den Paramyoclonus multiplex
mls eine motorische Neurose sui generis yon den übrigen functionellen Krampf-
Eoständen völlig abzusondern. £r sucht im Gegentheil eine nosographische und
ätiologische Vereinigung der verschiedenen Combinationen und Modalitäten von
Krampferscheinungen unter einen gemeinsamen Sammelbegriff anzubahneu.
Wie schon Ziehen') 1888 unter dem gemeinsamen Namen der „Myoclonie'^
eine Reihe mit clonischen Muskelkrämpfen verlaufender Symptombilder zusammen-
fasate, so sucht auch Verf. nach einem generellen Merkmal für die nicht zu den
grossen motorischen Neurosen gehörenden clonisch-spastischen Zustände.
Als solches Merkmal anerkennt er die neuro- resp. psychopathische Disposition.
Jene Zustände sind alle der Ausdruck resp. das Erzeugniss einer degenerativen
Veranlagung. Sie lassen sich streng genommen weder klinisch noch ätiologisch von
einander trennen, denn sie bieten zahllose Combinationen und Uebergangsformen
dar, bestehen häutig neben einander, entwickeln sich aus einander und entstehen
nur auf dem Boden schwerer neuropathischer Prädisposition.
Als Sammelname für die hierher zu rechnenden Symptombilder schlägt Verf.
die Bezeichnung Myoclonie vor. £r subsimiirt diesem Krankheitsbegriffe 6 sympto-
matologisch verschiedene Formen:
1. Das fibrilläre Zittern, das sich namentlich bei Neurasthenikern, häufig auf
einige Muskelbündel beschränkt, findet.
2. Den Paramyoclonus multiplex — ausgezeichnet durch convulsivische Stösse
in einem isolirten Muskel ohne locomo torischen Effect.
3. Die sog. „Chorea fibrillaris^ — mit 2 zu identificiren.
4. Die Chorea electrica (Henoch, Bergeron), durch coordinirte Bewegungs-
formen characterisirt.
5. Den Facialistic.
6. Die Tickerkrankheit, welche in 2 Formen verlaufen kann, einer leichteren
ohne und einer schwereren mit psychischen Störungen (Echolalie, Koprolalie, fixe
Ideen).
Bezüglich der Pathogenese tritt Verf. für die corticale und snbcorticaie
Theorie der Myoolonien ein.
H3rsterische Krampfformen schliesst Verf. principiell aus dem Krankheitsbild
d«r Myoclonie aus und er trennt daher die Chorea rhythmica und den Spasmus
laltatoriuB, sowie die gewöhnlichen Formen des Tremors von derselben ab. £r ver-
wahrt sich ausdrücklich dagegen, die Myoclonis zur Hysterie zu rechnen, obwohl
er anerkennt, dass myoclonische Erscheinungen häufig mit den grossen Neurosen
aus einer Quelle, der erblichen Degeneration, entspringen und daher mit diesen
eombinirt sein können.
Die Prognose ist bei dem degenerativen Character der Krankheit ungünstig.
Symptomatische Erfolge sind durch Suggestion, aber auch nur durch diese, zu er^
sielen. Brodmann- Jena.
*) Ziehen, Ueber Myoclonus und Myoclonie. Arch. f. Psych. XIX, pag. 416.
120 Zusammenstellangf der Literatur über Hysterie.
79. BoetHger, Zam Wesen der Myoclonie (Paramyoclonas multi-
plex). •— Berl. klin. Wochenschr. 1896, Nr. 7.
Verf. discutirt die Difiercntialdiagnose zwischen Chorea chronica einerseits
und Chorea minor and Paramyoclonus andererseits.^ Seine Untersuchungen gipfeln
in dem Schlüsse, ,,dass die von Unverrioht unter dem Namen der Myoclonie
beschriebenen Fälle keine eigenartigen Krankheitsbilder darstellen, sondern sieh
mit d&m bekannten Bilde der Chorea chronica progessiva decken.** Diese beiden
Krankheiten (chron. Chorea und Myoclonie) seien nicht nur nahe verwandt, wie
Möbius und Gowers annahmen, sondern völlig identisch.
Verf. dürfte mit dieser Auffassung des Wesens der Myoclonie ziemlich isolirt
dastehen. Daraus, dass sich bei der chronischen Chorea in gleicher Weise wie
beim Paramyoclonus blitzartige clonische Zuckungen in einzelnen, gelegentlich auch
in symmetrisch gelegenen Muskeln nachweisen lassen, kann doch nicht die Wesens-
gleichheit dieser völlig verschiedenen Symptombilder abgeleitet werden.
Brod mann- Jena.
80. StembOj Ein Fall von Paramyoclonus multiplex mit Zwangs-
bewegungen. Berl. klin. Wochenschr. 1896, Nr. 44.
Der eigenthümliche vom Verf. mitgetheilte Fall bildet eine Bestätigung der
von den Franzosen vertretenen Anschauungen. Es giebt Combinationen von clo-
nischen Krampferscheinungen mit allen möglichen, den rein degenerativen Zuständen
zugehörenden psychischen Störungen. Hier handelt es sich um die Verbindung
einer dem Paramyoclonus am nächsten stehenden Krampfform mit Zwangsirresein
in der Form der Koprolalie, wie sie bei der Mehrzahl der maladie des tics con
vulsifs, einer typischen Krankheitsform der Deg^nercs, regelmässig vorkommt.
Trotzdem alle anderen Symptome der Hysterie fehlen, glaubt Verf. den Fall
der Hysterie zurechnen zu dürfen, im Besonderen der Hysterie monosymptomatique
von Pitres. (Sollte es sich, nach den vorhandenen Cardinalsymptomen zu schliessen,
nicht vielmehr um eine einfache maladie des tics handeln? Ref.).
Brodmann -Jena.
81. Schütte^ Ein Fall von Paramyoclonus multiplex bei einem
Unfallkranken. Neurol. Centralbl. 1897, 1.
Bei einem Unfallkranken entwickeln sich auf dem Boden einer traumatischen
Neurose allmählich (nach 5 Jahren) clonische Zustände, welche Verf. als Paramyo-
clonus multiplex auffasst. Verf. sieht in diesem Zusammentroffen einen Beleg dafür,
„dass Paramyoclonus und Hysterie zusammengehören**, während es doch für jeden
vorurtheilslosen Beobachter viel näher läge, anzunehmen, dass die Hysterie, wie es
so häufig geschieht, ihre Symptome auch in diesem Falle einer anderen Krankheits-
form entlehnt hat, dass also die myoclonischen Zuckungen nur als Symptom zu
der Hysterie in Beziehung stehen.
Etwas gewagt klingt auch die Behauptung, dass die hereditäre Disposition bei
dem Paramyoclonus überhaupt keine Rolle spiele (als ob die Hysterie von Hereditäts-
fragen völlig unberührt bliebe!); ebenso gewagt das Unterfangen, den klinischen
Symptomcomplex einer traumatischen Neurose einfach mit dem Begriff der Hysterie
zu verschmelzen. Brodmann -Jena.
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 121
82. Schultze^ Vortrag auf der Versammlung südwestd. Neurologen.
März 1897. Ref. im Neurol. Cbl. 1897.
L Chorea-, Poly- und Monoclonien.
Verf. bringt den Paramyoclonus in Beziehung zum Tic convulsif , den er als
^Myoclonie" den Polyclonieen gegenüberstellt. Mit der Hysterie habe der eigent-
Hohe Paramyoclonus nichts zu thun. Die von Unverricht als Myoclonie be-
schriebenen Fälle gehören nach seiner Ansicht zur Chorea hereditarea (Hunting-
ton Ch.).
IL Myotonie bei Magenektasie.
Da in dem mitgeteilten Falle eine anderweitige ätiologische Ursache für das
Auftreten der myotonischen Erscheinungen nicht auffindbar war, bringt Verf. die-
selben in causale Verbindung mit einer bestehenden Magenektasie. £r verweist
zur Stütze seiner Anschauung darauf, dass auch schon Kussmaul Fälle von Muskel-
krämpfen bei Magenektasie beschiieben habe.
83. HoffmanTtf Demonstration eines Falles von Paramyoclonus
multiplex auf hysterischer Basis. Deutsche med. Wochenschr. 1896. V. B.
Der Inhalt des Vortrags ist durch den Titel erschöpft.
84. V. Hösslinf Neuropathologische Mittheilungen : EinFallronMyoclonie.
Heilung durch Arsenikbehandlung. Münch. m. W. 1896. 12.
Vermuthlich eine Suggestivheilung hysterischer Krarapferscheinungen.
85. KrewcTj Ein Fall von Paramyoclonus multiplex. Deutsche Zeit-
schr. f. Nerrenheilk. 18%. IX.
Der Fall ist ohne besonderes Interesse. Brodmann -Jena.
86. V. Krafft-Ebing^ tJeber eine typische, an Paralysis agitans er-
innernde Form von hysterischem Schütteltremor. Wiener klinische
Wochenschr., 1898, Nr. 49, 1113.
Die Hysterie kann nicht nur organische Erkrankungen, sie kann auch Neurosen
vortäuschen. Unter den letzteren nennt Verf. auf Grund seiner Erfahrungen Tetanie,
Vertigo epileptica, Jakson-Epilepsie, Athetose, Chorea, Myoclonie, Tic convulsif und
Paralysis agitans.
Verf. reiht seinen früheren Beobachtungen 5 weitere Fälle von hysterischer
Zittemeurose an, welche ganz dem Bilde der Parkinson'schen Krankheit (Paralysis
agitans) entsprachen.
Sämmtliche Fälle betreffen jugendliche weibliche Individuen, welche körper-
liche Stigmata der hysterischen Neurose vermissen lassen und im Anschluss an ein
Trauma (mechanischer oder psychischer Schok ; nur einmal Infectionskrankheit) all-
mählich an mehr oder weniger ausgebreitetem grobschlägigen Zittern erkrankten.
„Die Entstehung der Zittemeurose ist eine allmähliche. Die corticale Bedeutung
des Zittems ergiebt sich aus seinem Zurücktreten in voller p»ychischer Ruhe und
im Schlafen, aus seiner bedeutenden Steigerung bei Intention, namentlich aber bei
Emotion."
Als differentialdiagnostisches Merkmal hebt Verf. hervor, dass bei Paralysis
agitans Intention geradezu beruhigend auf den Tremor wirkt und Gemüthserregungen
kaum einen Einfiuss auf die Intensität des Zittern ausüben, zum Mindesten die
Frequenz der Oscillationen nicht steigern. Characteristisch für den hysterischen
122 Zasammezutellung der Literatur über Hytterie.
Schüttelkrampf ist ferner „der polymorphe, in Intensität und Extensität überau
wechselnde Character des Zitterns, während die Qualität und der Ort derselben bei
Paralysis ag^itans durch lange 2ieit ganz unverändert sind*'. Ausserdem sind die
Zittererscheinungen der Paralysis agitans langsam progredient und unaufhaltsein,
„während die hysterische Zittemeurose bei allem Polymorphismus und grosser
regionärer Wandelbarkeit, wesentlich recht stationär bleibt**, vor Allem aber, wenn
auch nicht immer heilbar, so doch suggestiv beeinflussbar ist.
Von den übrigen Nehensymptomen der Paralysis agitans kann die motorische
Schwäche der Glieder durch eine hysterische Amyosthenie und der Rigor durch
Diath^e de contracture vorgetäuscht werden. Der psychische Ursprung dieser
Erscheinungen ist jedoch leicht nachweisbar. Brodmann- Jena.
87. Bretler^ Beitrag zur Lehre von der Maladie des Tics convul-
sifs (mimische Krampfheurosc). Neurolog. Contralbl. 1896.
Im Anschluss an die Mittheilung einer recht dürftig geführten Kranken-
geschichte, welche gar nichts Neues bietet, macht Verf. einige psychologische Be-
merkungen über den Entstehungsmechanismus der eigenartigen Krankheitsform der
Tickerkrankheit, im Speciellen ihrer einzelnen Hauptsymptome. Indem er behauptet,
dass die bei derselben vorkommenden Zuckungen ebenso wie die Störungen auf
psychischem Gebiete lediglich Ausdrucksbewegungen seien, nämlich der mimische
resp. sprachliche Ausdruck einer auf einen peinlichen Affect bezüglichen Abwehraction,
kennzeichnet er das Leiden als eine „Abwebrneurose" und stellt dasselbe mit den
von Breuer und Freud unter gleichem Namen beschriebenen Neurosen (Hysterie
und Zwangsvorstellungen) auf eine Stufe. Ob Verf. damit zur Klärung des Krank-
heitsbildes etwas beigetragen hat, ist sehr zweifelhaft. Unzweifelhaft dagegen ist
es, dass die Bereicherung unserer neuropathologischen Nomenclatur mit einer
neuen Bezeichnung „mimische Krampfneurose" durchaus überflüssig ist.
Brodmann- Jena.
91. Richter^ Die Bedeutung der sensibel-sensoriellen Störungen
bei Hysterie und Epilepsie und ihr Verhalten zu den Anfällen.
Arch. f. Psychiatr. XXXI H. 3.
Gestützt auf ein recht ansehnliches Material (128 Fälle: 71 Hysterische, 49
Epileptische und 8 Hystero-Epileptische) unternimmt Verf. den Versuch, die bisher
allgemein anerkannte pathognostiscbe Bedeutung sensibler und sensorieller Störungen
für die Diagnose der Hysterie resp. Epilepsie zu widerlegen.
Er fand 1. bei Hysterie
Sensibilitätsstörungen überhaupt in 59 von 71 Fällen =83%
Hemihypästhesie in 40,8 „
Fleokweise Anästhesie in 33,8 „
Allgemeine Hypästhesie, bes. Hypalgesie in 3,4^
2. bei Epilepsie
Sensibilitätsstörungen überhaupt in 31 von 49 Fällen s= 63%
Hemihypästhesie in 10.2 „
Fleckweise Hypästhesie in 40,6 „
Allgemeine Hypalgesie und Hypästhesie in 12,2 „
Das grösste Gewicht legt Verf. in seinen Untersuchungen auf die FeststeUung
der diagnostischen Verwerthbarkeit der concentrischen Gesichtsfeldeinengung. Die
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 123
Franzosen haben dieses Symptom bekanntlich als ein ^ Stigma der Hysterie^ auf-
gefasst und Möbius bezeichnete es noch neuerdings als ein „constantes Symptom
der traumatischen Neurose^. Verf. dagegen legt der conc. GFE. nur die Bedeutung
einer Ausdruckserscheinung gewisser psychischer und nervöser Störungen der betr.
Kranken bei. „Dbs Vorhandensein von psychischen und affectiven Anomalien bei
Hysterie in Form von Reizbarkeit, Launenhaftigkeit, Unaufmerksamkeit, leichter
Ermüdbarkeit, Unruhe etc. von allgemeinen nervösen Beschwerden wie Kopfdruck,
Schwindel, Zittern. Flimmern, Nebelsehen" . . . kurz das subjective Verhalten der
Kranken bei der Untersuchung sei am meisten geeignet, die Gesichtsfeldgrösse zu
beeinflussen.
In der That ist es dem Verf. gelungen, durch psychische Einwirkung auf die
Patienten während der Untersuchung das Gesichtsfeld in der grösseren Zahl der
FäUe auf die normale oder annähernd normale Ausdehnung zu bringen. Nur bei
24 von 71 Hysterischen mit anfanglicher conc. (}FE. vermochte er in Folge der
Torherrschenden psychischen und Stimmungsanomalicn (Willensschwäche, Apathie,
Angst, Launenhaftigkeit) trotz aller Bemühungen und Beeinflussungen keinen nor-
malen Oesichtsfeldumfang herzustellen.
Aehnlich verhält es sich mit den übrigen „hysterischen" Gesichtsfeldanomalien,
der Dyschromatopsie, dem Förster sehen Verschiebungstypus und dem Wi 1 b r a n d -
sehen Ermüdungstypus. Dem subjectiven Verhalten der Patienten kann daher,
80 folgert Verf., bei der perimetrischen Untersuchung nicht sorgsam genug Rech-
nung getragen werden.
Verf. bringt eine Reihe instructiver Krankengeschichten zum Beleg seiner
Anschauungen bei. Zum Referate eignen sich dieselben nicht, wir wollen uns da-
her darauf beschränken, die beherzigenswerthen Schlusssätze des Verf. im Wort-
laut zu citiren.
1. Die concentrische Gesichtsfcldeinengung der Hysterischen und Epileptischen
ist in der Regel eine Folge subjectiver nervöser Beschwerden und psychischer
Störungen.
2. Anfälle bewirken durch Steigerung genannter Erscheinungen eine grössere
Einschränkung des Gesichtsfeldes.
3. Durch psychische Einwirkung auf die Kranken bei der perimetrischen
Untersuchung gelingt es in der Regel, jene Erscheinungen in den Hintergrund zu
drängen und damit ein normales Gesichtsfeld zu erzielen.
4. Eine objectiv unabhängig von den genannten Krankheitszeichen stehende
concentrische Gesichtsfeldeinengung ist unter meinen Fällen (128) nicht beobachtet.
5. Die Gesichtsfelder für Farben sind in ihrer Lage auch bei Hysterischen
meistens nicht geändert.
6. Ein vorübergehender Wechsel in der Reihe der Farbenwahrnehmung ist
bei einem und demselben Falle beobachtet.
7. Keine Form von Sensibilitätsstörungen , auch die Hemianästhesie hat bei
Hysterie und Epilepsie a priori eine diflerential-diagnostische Bedeutung.
8. Ein gesetzmässiges Auftreten von Anästhesie nach den Anfällen bei Hysterie
ist nicht constatirt, sensible Störungen pflegen im Allgemeinen mit Verschlimmerung
und Besserung des AUgemeinzustandes aufzutreten und zu schwinden.
9. Sensible Störungen nach epileptischen Anfällen treten regellos auf; die-
selben sind selten und ohne Bestand.
124 ZosammenstellaDg der Literatur über Hyiierie.
Ref. möchte hier doch die Frage anknüpfen, ob die vom Verf. erzielten Re-
sultate, speciell die ^Erweiterung der Gesichtsfeldgrenzen und die FarbenTerschiebnng
nicht vielloiclit als Produet einer consequcnten und zweckmäasigen Wachsuggesticm
aufzufassen sein dürften. Eine solche Vermuthung liegt um so näher, als man ja
vielfach auch die hysterischen OesichtsfeldTeränderungen und Sensibüitatastoraz^^
kurzerhand als autosuggestiv entstanden zu erklären versucht. Der hohe Pkt>ceDt-
satz von Beeinflussungen durch den Verf. erklärt sich sehr einfach durch die an
sich gesteigerte Suggcstihilität bei Hysterischen. JB rodmann -Jena.
89. Königj Ueber epileptische und hysterische Krämpfe bei
gelähmten und nicht gelähmten idiotischen Kindern. Monatsschr. für
Psych, u. Neurol. IV. 1, 1898, pag. 285.
Verf. hat an der Irrenanstalt zu Dalidorf statistische I^ntersuchungen über
das Vorkommen von epileptischen und hysterischen Krämpfen bei Idioten ange-
stellt. £r kommt an der Hand eines sehr umfangreichen Materials, das er längere
Jahre hindurch sorgfältig beobachtete, zu dem Schlüsse, dass die Epilepsie im
Gegensatz zur Hysterie bei derartigen Kranken sehr häufig sei. Epileptische An-
fälle mit all den zahllosen Varietäten vom vollentwickelten Anfall bis zum einfachen
Vertigoanfall wurden in 76% der Kinder mit infantilen Himlähmungen beobachtet.
Epilftptisclie Anfülle bei nicht gelähmten Kindern sind seltener (der Procent-
satz ist in der Arbeit leider nicht angegeben. Ref.), sie unterscheiden sich aber nicht
prinoipicU von denen gelähmter Kinder, nur dass einseitige Krämpfe entschieden
zu den Ausnahmen gehören.
Hysterische Anfälle bei gelähmten wie nicht gelähmten Idioten kamen ^in
sehr beschränkter AnzahW zur Beobachtung. Verf. hebt ausdrücklich hervor, daas
er couccntriMclio Cicsichtsfoldeinongung und typische „gründe hysterie" je nur einmal
unter soinem Material zu beobachten Gelegenheit hatte. Leider fehlen auch hier
procciitucUo An<j'abeu.
Zum Schlüsse tritt Verf. der Frage nahe, wie sich die epileptischen Anfalle der
cerebralen Kinderlähmungen von denen gewöhnlicher Epileptiker unterscheiden; er
meint, dass die Unterschiede mehr in der geringeren Häufigkeit bezw. geringeren
Intensität dos Vorkommens gewisser Symptome, vor Allem dem Zurücktreten der
psychischen Erscheinungen und ,,der Seltenheit des brutalen Anfalles** liegen.
Der grösste Theil der verdienstlichen Arbeit besteht aus einer Reihe scharf
formulirtor Thesen und statistischer Zusammenstellungen, welche im Referat nicht
wiedergegeben werden können. Es sei deshalb auf das Original verwiesen.
Brodmann- Jena.
90. V. Krafft'Ebing, Das Irresein der Hysterischen. — Lehrbuch der
Psychiatrie. 6. Auflage. 1897, pag. 487.
Die bei der Hysterie constant vorkommenden psychischen Anomalien sollen
hier in der Darstellung, wie sie v. Krafft-Ebing giebt, in gedrängter Uebersicbt
gekennzeichnet werden.
Wenn wir von jenen elementaren Störungen absehen, welche als sog. „hyste-
rischer Character** einen integrirenden Bestandtheil der hysterischen Neurose aus-
machen und deren Grunderscheinungen, nach v. Krafft-Ebing, „das labile Gleich-
gewicht der psychischen Functionen, die enorm leichte Anspruchsfahigkeit und die
Zusammenstelluogr der Literatur über Hysterie. 125
ungewöhnlich intensiTe Heaction der Psyche und der rasche Wechsel der Erre||[unp[en
reizbare Schwäche)*' sind, so lassen sich noch 3 Typen von Zustandsbildcm des
(hysterischen Irreseins auseinanderhalten:
1. Transitorische Irreseinszustände. Dieselben haben vorwiegend
das Gepräge des Deliriums, dauern Stunden bis Tage, das Bewusstsoin ist auf tiefer
Traumstufe, die Erinnerung fehlend oder summarisch. Verf. unterscheidet folgende
klinische Varietäten:
a) Heftige Angstzustände mit getrübtem Bewusstsein (analog dem potit mal
der Epileptiker).
b) Hysteroepileptische Delirien mit aufgehobenem Bewusstsein und totaler
Amnesie (grand mal der Epileptiker).
c) Ekstatisch-visionäre Zustände mit tiefem Traumzustand, häufig Visionen und
Katalpsie. Summarische Erinnerung.
d) Moriaartige Zustände — praeparoxysmel — Amnesie.
e) Dämmerzustände mit zwangsmässiger erleichterter Keproduction von Er-
lebtem und Gelesenem. Logorrhoisches Delirium mit traumhaftem Bewusstsein und
,nmin*ri«oher Erinnerung.
Verf. fugt zur Dlustration dieser Typen 3 eigene Beobachtungen an:
Fall 1. Hysterismus. Ekstaseartige Exaltationszustände neben angstvollen
deliranten.
Fall 2. Hysterische Exaltationszustände mit zwangsmässiger erleichterter Ke-
production.
Fall 3. Hysterismus nach Nothzucht. Aniälle von hysterocpileptischem,
schreckhaftem, hallucinatorischem Delirium.
2. Protrahirte Zustände von hysterischem Delirium. Dieselben
sind auch als hysterischer hallucinatorischer Wahnsinn beschrieben, bestehen in
einem äusserst wechselvollen Bilde, das zwischen Verwirrtheit, Dämmerzuntand,
Ekstase und Stupor hin- und herschwankt, einen typisch remittirenden und oxacer-
birenden Verlauf zeigt und immer mit Genesung endet. Verf. schiebt einen classischen
FaU ein.
3. Die eigentlichen hysterischen Psychosen lassen wieder eine ziemlich
scharfe Scheidung in 2 Typen zu, Je nachdem sie auf dem Boden einer einfachen
nicht constitntionell veranlagten, etwa erworbenen hysterischen Neurose stehen oder
Durchgangs- bezw. Znstandsbilder einer hysterischen Degeneration darstellen.''
Unter die erste Gruppe sind die Psychoneurosen Oielancholie und Manie) zu
rechnen, welche durch die Zumischung und allegorische Verwerthung von Sym-
ptomen der hysterischen Neurose ein bestimmtes klinisches Gepräge erhalten.
Zur zweiten (degencrativcnj Gruppe gehören die degenerativen Krankheitsbilder:
a) der Folie raisonnante,
b) der Moral nisanity und
c) der Paranoia. •
Aach die hysterische Paranoia weist bestimmte Cliaracterzüge in ihrer Sym-
ptomatologie und in ihrem Verlaufe auf, der sie von der gewöhnlichen Form der
primären Paranoia unterscheidet. Auffallend i^t der t}7>isch remittirende Verlauf^
wobei Exacerbationen häufig mit menstrualen Vorgängen zui»ammenfallen. femer
die massenhafte Verwerthang hysterischer Sentationen zu entsprechender allegorischer
Wahnbildang, die Häufigkeit von Gesichtshallucinationen, die vorwiegende Be-
126 ZusammenstelluDg der Literatur über Hyiterie.
theiligungf der sexuellen Sphäre, schliesslich die Häufigkeit, mit welcher die Wahn-
ideen an delirante episodische hysterische Zustände anknüpfen.
Brodmann- Jena.
dl.'Kraepelhi, Das hysterische Irresein. — Psychiatrie. 5. Auflage,
1896, pag. 728.
Unter dem Kapitel der allgemeinen Neurosen fasst Kraepelin jene Gruppe
von Krankheitszuständen zusammen, welche „mit mehr oder weniger ausgeprägten
nervösen Functionsstörungen einhergehen" und rechnet dazu das epileptische,
das hysterische Irresein und die Schreckneurose. „Gemeinsam ist diesen Gestaltungen
dos Irreseins" — so schreibt Kraepelin — , ^A^^^ ^^^ ^ überall mit dauernd krank-
hafter Verarbeitung der Lebensreize zu thun haben; gemeinsam ist ihnen femer
das Auftreten mehr vorübergehender, eigenartiger Krankheitsäussemngen bald auf
körperlichem, bald auf psychischem Gebiete."
Die krankhaften Seelenzustände der Hysterischen, mit denen wir uns hier
ausschliesslich beschäftigen können, haben, so führt Verf. ans, ihre eigentÜcht
Grundlage h(>ch8t wahrscheinlich in dem Gebiete der Gefühle. Daher schreibt er
auch den Schwankungen der Stimmung einen maassgebenden Einfluss beim Zustande-
kommen aller dieser Störungen zu. „Sie sind es, welche in hohem Grade das
Denken und Handeln der Kranken bestimmen. Ihr Einfluss ist weit stärker, als
derjenige der Tcmünftigen (Teberlegung oder der sittlichen Grundsätze.''
Auf dieser zu lebhaften Gefühlsbetonung und gesteigerten gemüthlichen Erreg-
barkeit entspringt jene Veränderung der gesammten psychischen Persönlichkeit,
w^clche der Hysterie eigenthümlich ist. Die Neigung zu hypochondrischen Klagen,
das erhöhte Selbstgefühl, die ausserordentliche Beeinilussbarkeit des Willens und
die dazu im Widerspruch stehende Eigenwilligkeit, der Mangel an Einheitlichkeit
und innerer Festigkeit, welcher in jener Unruhe und Unstetigkeit hysterischer
Personen ihren Ausdruck findet, die oft in bcmerkenswerthem Gegensatz zu der
stark betouten Kränklichkeit und Hülfsbedürftigkeit der Kranken steht.
Auf der allgemeinen hysterischen Grundlage entwickeln sich ausserdem sehr
häufig vorübergehende psychische Störungen, die sog. Dämmerzustände, d. h.
„kurze oder länger dauernde Anfälle von Bewusstseinstrübung, welche sich entweder
allein einstellen oder an Krnmpfanfälle anschliessen. auch häufig durch solche ab-
geschnitten oder unterbrochen werden."
Die Dämmerzustände können in protahirtere Schlafanfälle übergehen, wo-
bei die Kranken längere oder kürzere Zeit in einem Scheinschlaf liegen, oder es
stellt sich eine stärkere Bewusstseinstrübung verbunden mit massenhaften
Sinnestäuschungen (Verzückungen, himmlische Visionen) ein oder schliesslich
es kommt zu einer ^.eigen thümlichcn läppischen Erregung" (Moria) mit
vorwiegend heiterer, ausgelassener Stimmung, schnippischen Redensarten, Verkennnng
der Umgebung and Neigung zu thörichten muthwilligen Streichen. Eine Ueber-
gangsform zu den Dämmerzuständen stellen die Erscheinungen des Nachtwandslns
oder Somnambulismus dar. Dem Somnambulismus yerwandt sind die auch hei
Tage, gewöhnlich im Anschluss an einen Krampfanfall sich einstellenden Lach*
und Weinkrämpfen. Die Kranken machen hier ganz den Eindmek von Nacht-
wandlern.
Schliesslich kommen im Verlaufe der Hysterie auch mehr abg^egrenste
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. 127
psychische Störungen zur Beobachtung, die nur Erscheiuungsform des Grund-
leidens zu sein scheinen. Verfasser unterscheidet 2 Bilder: eine traurige oder
ängstliche Verstimmung mit unbestimmten Verfolgungs- %der Versündigungs-
ideon und zweitens rasch vorübergehende Aufregungszustände mit vorwiegend
zorniger Gereiztheit, Schimpfanfällen, Neigung zu zerstören etc. Von den eigent-
liehen periodischen Geistesstörungen sind die hysterischen Psychosen streng zu
scheiden, obwohl sie sich nicht selten in Zwischenräumen, namentlich im Anschluss
an die Menses einstellen; sie haben einen unregelmässigen Verlauf; den Aufregungen
fehlen die manischen Zeichen der Ideenflucht und des Bowegungsdranges, den Ver-
stimmungen die allgemeine psychische Hemmung.
Von der Hysterie im vorgezeichneten Sinne trennt Kraepelin die sog.
Schreckneurose als ein eigenartiges Krankheitsbild ab, dessen scharfe Umgrenzung
unmöglich sei, das aber in seinen Aeusserungen vielfach Berührungspunkte mit den
Formen des Entartungsirreseins darbiete.
Obwohl Verf. die psychische Entstehungsweise der Schreckneurose rückhaltlos
anerkennt, tritt er doch im Gegensatz zu jener Schule (Gharcot, Möbius), welche
dieses Symptombild einfach der Hysterie zurechnen will. Die Westphal'sche
Lehre, welche die Schreckneurose unter Betonung gelegentlicher objectiver Befunde
auf schleichende organische ^ränderungen im Centralnervensystem zurückfuhrt,
ist heutzutage fast ganz aufgegeben.
Gegenüber Möbius, der die Krankheitserscheinungen der Schreckneurose,
gestützt auf die Thatsache, dass sie sich lediglich durch Vorstellungen erklären
lassen, als rein hysterische bezeichnet, betont Verf., dass die ,,Psychogenie" nicht
allein der Hysterie, sondern auch anderen Formen des Entartugsirreseins eigen-
thümlich sei. Die Erscheinungsform der durch Schreckwirkung entstehenden psy-
chischen Störungen sei sehr wesentlich durch die Eigenart der persönlichen Ver-
anlagung bestimmt.
Klinisch unterscheidet sich die Schreckneurose von der Hysterie durch die
Einförmigkeit der Kranklicitszeichen. Es fehlen, sagt Kraepelin, „durchaus der
sprunghafte Wechsel der Erscheinungen, die Launenhaftigkeit, der ausgeprägte
Stimmungswechsel, die Unternehmungslust der Hysterischen."
Die Schreckneurose ist ausgezeichnet auf psychischem Gebiete hauptsächlich
durch traurige Stimmung mit ängstlichen Befürchtungen der verschiedensten Art,
durch Unfähigkeit zu jeder geistigen Anstrengung imd durch gesteigerte gemüth-
iche Erregbarkeit ; körperlich weist sie ein Heer nervöser Beschwerden auf, welche
durch ihr regelloses Auftreten und durch den verschlimmernden Einfluss gemüth-
licher Erregung ihre psychische Entstehungsweise verrathen. Brodmann- Jena.
92. Delbrück^ Die Hysterie. Gerichtliche Psychopathologie. ^) Leipzig 1897.
pag. 169.
In dem vorUegenden Lehrbuch finden die forensisch-psychiatrischen Beziehungen
der Hysterie eine ausgezeichnete Besprechung; es sei deshalb auf die Haupt-
gesichtspunkte kurz hingewiesen.
Verf. bezeichnet als wesentliche Merkmale der Hysterie gewisse elementare
Veränderungen des Seelenlebens, welche das Handeln des Betreffenden dauernd
beeinflussen; als solche nennt er „eine abnorme Neigung zu Autosuggestionen, ver-
^) Vgl. die Besprechung des Buches: diese Ztschr., Bd. 8, pag. 54 £
X28 Zasammenstellung der Literatur über Hysterie.
banden mit abnormer Suggestibilität für krankhafte, bizarre Erscheinangen^, ferner
„ein Doppelbevnisstsein von Vorstellung und Gegenvorstellung: Pseudologia phan-
tastica im weiteren ^inne des Wortes*'.
Auf dieser krankhaften Grundlage erwachsen die verschiedenartigsten psychi*
sehen Störungen, welche Gegenstand forensischer Beurtheilung werden können.
Man beobachtet eine acute deliriöse Geistesstörung, wie bei der
Epilepsie. Dieselbe kann sehr variable Formen und Intensitätsgrade annehmen;
entweder kommt es zu jenen hochgradigen Bewusstseinstrübungen , die den epi-
leptischen ähnlich sind — religiöse Delirien mit himmlischen Visionen und mit
Krampfanfällen sind am häufigsten — ,
oder es besteht eine Art Dämmerzustand mit relativer Klarheit des Bewnsst-
seins, zwecklosem Umherreisen und Neigung zu allerlei theils mehr, theils weniger
bewussten und raffinirt ausgeführten Schwindeleien.
Schliesslich wird bei Hysterie eine Verdoppelung oder auch Verdreifachung
der Persönlichkeit beobachtet, in dem Sinne, dass „die Kranken sich in gewissen,
mitunter periodisch wiederkehrenden Zeitabschnitten für eine andere ganz be-
stimmte Persönlichkeit halten, als solche verhältnissmässig geordnet handeln, sieh
an Alles erinnern, was sie in solchen Zuständen ffethan haben — um in den
Zwischenzeiten von alledem gar nichts zu wissen**. '
Gewisse Kennzeichen lassen alle diese der Hysterie eigenthümlichen Zustände
von der Epilepsie meist abgrenzen. Verf. meint: „Das Bewusstsein ist nur getrübt;
für Wahnideen und Sinnestäuschungen besteht vielfach halbe Einsicht. Das
ganze Bild hat im Gegensatz zu dem sehr ernsten, schaurigen epUeptischen Delirium
einen mehr theatralischen Character.**
Auch die Verbrechen unterscheiden sich von den epileptischen, indem es sieh
nicht um brutale Gewaltthätigkeiten, Mord etc., sondern meist um Schwindeleien.
Diebstahl, falsche Anschuldigungen etc. handelt.
Wichtiger als solche vorübergehende Störungen sind für den forensischen
Psychiater die dauernden psychischen Anomalien der Hysterischen, welche
sich je nach ihrer Intensität bald noch völlig innerhalb der physiologischen Breite
halten, bald schwere Geistesstörungen darstellen. Am meisten ausgeprägt ist jene
krankhafte Characterveränderung, welche sich hauptsächlich in einer Neigung zur
oft phantastischen Lüge kundgiebt. Eine scharfe Grenze zwischen bewusster Löge
und pathologischer Erinnerungsverfälschung ist dabei ebensowenig zu ziehen wie
zwischen jenen willkürlichen Zuthaten, d. h. den simulirten und nicht simulirten
Krankheitserscheinungen der Hysterischen.
Für die gerichtsärztliche Beurtheilung hat, nach Ansicht des Verf., eine solche
Abgrenzung auch keinen practischcn Werth. Er meint, es komme nicht darauf an,
festzustellen, wie viel Bcwusstsein der Lüge beim einzelnen Verbrechen nachweisbar
ist, sondern darauf, „inwieweit die Bestimmbarkeit des Willens durch Vorstellungen
überhaupt der Norm entspricht". Nicht der Antheil der Lüge an der Pseudologia
phantastica ist bei einer eingeklagten Handlung durch den Gutachter festzustellen,
sondern die gesammte Persönlichkeit des Verbrechers muss beurtheilt werden, „wie
viel und in welcher Art er im Allgemeinen schwindelt auf Grund seiner patho-
logischen Constitution". An Stelle der Bestrafung wird sich daim bei vielen
Kranken eine dauernde Internirung in einer Anstalt empfehlen.
Brodmann -Jena.
Zur Kritik der liypnotisclien Teclinilc.
Von
Theodor yan Straaten.
(Aas 0. Vogtes Neurologischem Institut.)
Die folgenden AusführuBgen stellen eine kritische Besprechung
einer Reihe von Ideen dar, die seit einigen Jahren von O. Vogt ver-
treten werden, und theils von ihm und K. Brodmann veröffentlicht,
theilweise aber von ersterem in seinen noch ungedruckten Vorträgen
behandelt worden sind. Die Kritik stützt sich auf Experimente , die
O. Vogt theils am Verfasser, theils an Frau L. Bosse ausgeführt
hat Verfasser glaubt zur Zeit, wo O. V o g t die Experimente mit ihm
vornahm, durch sein bisheriges Studium der einschlägigen Literatur
nicht irgendwie derartig voreingenommen gewesen zu sein, dass er nicht
' eine unbefangene Versuchsperson hätte abgeben können. Frau L. B o s s e
war zwar in der willkürlichen Erzielung einer beliebigen Ausdehnung
und Tiefe der Schlaf hemmung eingeübt, nicht aber darüber orientirt,
was der Experimentator durch seine Versuche beweisen wollte, noch
welches Resultat er von seinen Suggestionen erwartete.
Dabei stützt sich die Kritik nur auf eigne Selbstbeobachtung.
Verfstsser schliesst sich in der Werthschätzung der Selbstbeobachtung
für die Vertiefung der Lehre von den hypnotischen Bevnisstseinszu-
ständen, und den daraus abzideitenden technischen Folgerungen, durch-
aus den in den letzten Jahren von O. Vogt .vertretenen Anschauungen
an. Wenn er sich auch mit diesem Autor der möglichen subjektiven
Fehlerquellen dieser Methode bewusst ist, so sieht auch er doch einzig
in ihr die Möglichkeit einer wirklichen Vertiefung der Lehre der
Hypnose.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 9
X30 ^^^ Straaten.
Es sind speciell drei Punkte, zu denen wir im folgenden auf Grund
der mitgetheilten Experimente Stellung nehmen wollen.
Die erste Frage ist die nach der Gestaltung der therapeu-
tischen Hypnose, (der sogenannten Tiefe), die zweite ist die nach
der Methodik, die gewünschte Gestalt der Hypnose zu erreichen, die
dritteist die nach Erzielung autosuggestiver Bewusstseins-
zustände.
I. Von der Gestaltung der therapeutischen Hypnose.
Wie K. Brodmann ausgeführt hat, wendet O. Vogt die hypno-
tischen Zustände zu drei verschiedenen direct oder indirect therapeu-
tischen Zwecken an. 1. Um die psychische Beeinflussbarkeit des
Patienten zu steigern, 2. um einen kräftigenden, resp. den Ausbruch
gewisser nervöser Anfalle verhindernden Schlafzustand zu schaffen,
3. um eine im Wachsein nicht erreichbare Psychoanalyse psychogener
pathologischer Erscheinungen zu ermöglichen.
Die verschiedenen Zwecke erfordern nun auch eine verschiedene
Gestaltung der hypnotischen Zustände.
Von den meisten Autoren ist jedoch die Präge nach der Gestaltung
der therapeutisch zu verwendenden hypnotischen Zustände nur in Bezug
auf eine Art ihrer Anwendung, nämlich nur in Bezug auf die Steigerung
der psychischen Beeinflussbarkeit, und selbst diese Frage nur in dem
engeren Sinne der Steigerung der Suggestibilität, und nicht in dem
weiteren Eahmen der Steigerung jeglicher Form psychischer Beeinfluss-
barkeit behandelt worden.
In Bezug auf diese Frage war die Antwort der Autoren insofern
auch eine wenig präzise, als sie sich in die Schlagwörter der tiefen
imd der oberflächlichen Hypnose concentrirte ^), ohne aber den Begriff
der Hypnose scharf zu präcisiren.
In den folgenden Ausfülirungen werden wir uns in ähnlicher Weise
beschränken. Wir wollen nur untersuchen, welche Form hypnotischer
Zustände für die Steigerung der psychischen Beeinflussbarkeit am ge-
eignetsten ist.
Mit Forel, Wotterstrand und Anderen ist Vogt^) stets für
die üeberlegenheit der tiefen Hypnose eingetreten. Aber er hat dabei
^) Vgl. Brodmann, Zur Methodik der hypnotischen Behandlung. 2. Fort«.
Diese Ztschr., Bd. VII, pag. 24 ff.
^) Vgl. Bericht vom intemat. Congress f. Psychologie. 1896, pag. 363. Dis-
cussion.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 131
nicht unterlassen, den Begriff der Hypnose so zu definiren, dass auch
andere Autoren seine Anschauungen von vornherein anerkannt haben
würden, wenn sie in derselben scharfen Weise den Begriff der Hypnose
angewandt hätten. Vogt bezeichnet nicht jeden suggestiv ausgelösten
Schlafzustand, nicht jeden durch eine affectlose Zielvorstellung hervor-
gerufenen h3rpnotischen Bewusstseinszustand als Hypnose, sondern nur
iene durch affectlose Zielvorstellungen ausgelösten Schlaf zustände, die
eben speciell jenes Moment in ausgeprägtem Maasse zeigen, das von
jeher als die eigenthümlichste Erscheinung der Hypnose aufgefasst
worden ist : das Rapportverhältniss. Das will sagen, dass Vogt unter
der Hypnose nur jene hypnotischen Schlafzustände versteht, die jeder
Zeit ein ganz beliebiges circumscriptes Erwecken von Seiten des Hypno-
tiseurs ermöglichen.
Die tiefsten derartigen Zustände sind also bezüglich Ausdehnung
und Tiefe der Schlafhemmung durchaus nicht identisch mit einem tiefen
allgemeinen Schlaf, sondern stellen eine sehr ausgedehnte tiefe Schlaf-
hemmuDg bei einem in seiner Ausdehnung durchaus vom Experimen-
tator abhängigen sehr circumscripten Wachsein dar. Nur in diesem
Sinne hat Vogt den Satz aufgestellt, dass die Suggestibilität propor-
tional der Tiefe der Hypnose zunimmt. Unsere Stellungnahme zu dieser
Frage stützt sich auf die folgenden Experimente. —
Diesen nunmehr zu schildernden Experimenten liegt folgender
Gedankengang zu Grunde: Zunächst sollte fe'stgestellt werden, bei
welcher Tiefe des suggestiven Schlafes eine Suggestion den* stärksten
momentanen Einfluss auf das Bewusstsein der hypnotisirten Ver-
suchsperson hatte. Zu diesem Zwecke wurde unter ganz gleichen zeit-
lichen Bedingungen dieselbe Traumsuggestion bei immer tiefer werdendem
Schlafzustande wiederholt, und hierbei die Lebhaftigkeit der durch die
Suggestion ausgelösten Traumbilder festgestellt. An diese Frage schloss sich
dann eine zweite an, nämlich die, ob ein proportionales Verhältniss zwischen
der Intensität der momentanen Einwirkung einer Suggestion und der-
jenigen ihrer weiterenNachwirkung auf das Bewusstsein besteht oder
nicht. Zu diesem Zwecke wurde in ähnlicher Versuchsanwendung wie
bei der ersten Reihe von Experimenten in verschieden tiefen Hypnosen
derselbe affectbetonte Traum suggerirt und dann neben der Art, wie sich
die Suggestion realisirt hatte, gleichzeitig die Intensität der Nachwirkung
dieses Traumes für das Wachsein festgestellt. Wir urtheilen im Folgenden
nur auf Grund zweier Versuchsreihen. In diesen ist, wie eben angedeutet,
die ganze Zeit des Experimentes derselbe Traum suggerirt worden. Man
9*
132 ^^^ Straaten.
könnte nun die Frage aufwerfen, ob das Suggeriren desselben Tr&nnih
inhaltes nicht allmählich, sei es bahnend, sei es abstumpfend, wirkte,
und so das Resultat der Versuchsreihe beeinflusste.
Zur Entscheidung dieser Frage haben wir eine grosse Reihe der
mannigfaltigsten und wechelnsten Träume in den Terschieden tiefen
Graden der Hypnose suggerirt Wir haben niemals im wesentlichen
Grade das Moment der Bahnung oder Hemmung nachweisen können,
sondern stets ein ähnliches proportionales Verhältniss zwischen Intensität
des Traumes und Tiefe des hypnotischen Zustandes feststellen können,
wie aus den unten mitgetheilten Versuchsreihen herrorgeht. Ebenso
soll hervorgehoben werden, dass verschiedene Versuchspersonen die
gleiche gesetzmässige Beaction zeigten, wie sie die folgenden Elzperi-
mente aufweisen. Nur ein secundärer individueller Unterschied zeigte
sich in dem Grade der grössten Intensität, indem eine solche Stärke
von Ausdrucks- und Mitbewegungen, wie sie bei unten geschilderten
somnambulen Träumen sich zeigte, nicht zu constatiren war. Das hängt
aber zusammen mit dem Grade der Tendenz der betreffenden Versuchs-
person zu somnambulen Träumen in ihrem normalen Nachtschlaf. Um
auch dem Einwände zu begegnen, dass eine Ermüdung der Versuchs-
person durch die einander folgenden Experimente die B^ultate störend
hätte beeinflussen können, wurden die Experimente in zweckmässigen
Intervallen durch Pausen unterbrochen, die von der Versuchsperson
durch einen tiefen erquickenden Schlaf ausgefüllt wurden.
*
Wir wenden uns nunmehr den Experimenten zu.
I. Yersuchsreihe.
^ . Versuch:
flcaa ^- ^i<^frt auf einer Chaise longue bequem hingestreckt und wird von
■Dr. V. ftuf^ev^rdert, sich in einen Zustand oberflächlicher Hypnose zu versetzen.
Verf. führt da« Protokoll.
Dr. V.: „Wie "nterscheidet sich dieser Zustand vom Wachen?^ ^ Fr. B.:
.„Muss mich orst beobdoJ^^^"- Dadufoh, dass ich eine grosse Tendenz zum Äugen-
schluss habe, mich ausgerau^ fühle." Dr. V.: ^Mehr ausruhend oder ausgeruht?**
Fr. B.: „Anfangs ausruhend, u^^ nachdem Ich eine Zeit lang gelegen habe, n^br
ausgeruht.*^ Dr. <V. : „Hören Sic» die Gera'afche noch ebenso lebhaft?" Fr. B.:
„Ebenso, wie im .Wachen.^ Dr. V.: ^Wie ist dus Denken?** Fr. ß.: „Ganz uil-*
gehemmt."
Dr. V.: ^Sie., werden Jetzt träumen: Sie fahren flffit Ihrem Mann Velociped
ins Rosanthal. — .J-etzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt' biegen Sie rechts herum.
— Jetzt ;macK^n Siq einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. •*- Halt, 1, 2, 3."
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 133
Bern.: Die Suggestionen beziehen sich auf einen in ähnlicher Form früher
spontan aufgetretenen Traum. Die erste Suggestion „Sie fahren RosenthaP
dauert 5, die anderen 3 Secunden. Die einzelnen Suggestionen wurden in Zwischen»
räumen von je 10 Secunden gegeben.
Nach dem Erwachen erklärt Fr. B. : „Ich habe mich direct zur Vorstellung
des Traumes zwingen müssen. Als Sie sagten „Jetzt träumen Sie", habe ich mich
dazu in Positur gelegt. — Als Sie sagten „Jetzt fahren Sie", da kam mir die Vor-
stellung, dass ich nicht träume. Darauf sah ich mich im Geiste etwas lebhafter
als im Wachen ins Rosenthal fahren, es war aber nicht sinnlich lebhaft, die Sug-
gestion rief nicht die Vorstellung eines gegenwärtigen Geschehens hervor, sondern
war von der Idee begleitet, dass es ein Erinnerungsbild aus früherer Zeit war.
Bei der zweiten Suggestion sah ich einen Weg, den ich früher öfters gefahren
bin, etwas lebhafter als die Situation der 1. Suggestion. Es handelt sich dabei
nach meiner Ansicht nicht um ein leichter erregbares Erinnerungsbild, da mir die
Vorstellung, die durch die erste Suggestion hervorgerufen wurde, ebenso geläufig
ist, sondern ich habe den Eindruck, dass es sich um eine stärkere Concentration
meiner Aufmerksamkeit auf die Suggestion handelt. Dieser Grad von Lebhaftigkeit
der suggestiv hervorgerufenen Situationsbilder blieb bei den folgenden Suggestionen
bestehen."
Dr. V.: „Haben Sie noch volle Kritik gehabt? Wussten Sie noch, dass Sie
hier lagen ?" Fr. B. : „Ich erinnere mich dessen nicht bei dieser zweiten Suggestion,
während ich mich erinnere, bei der ersten noch die Vorstellung meiner wirklichen
gegenwärtigen Situation gehabt zu haben.
Dagegen war ich mir bewusst, dass es sich nur um suggerirte Traumbilder
handelte. Ich kritisirte sie imd constatirte, dass sie noch durchaus nicht mein Be-
wuBstsein derart gefangen nahmen, wie dies bei wirklichen Träumen der Fall ist.
Als die Suggestion: „Jetzt biegen Sie nach rechtsherum," kam, bin ich nach
rechts herübergefahren, bei der nächsten Suggestion bin ich von rechts nach links
im Kreis herumgefahren, bin dann der folgenden Suggestion entsprechend abge-
stiegen und stehen geblieben. Ich musste mich zu den Suggestionen zwingen. Im
Moment, wo ich midi nicht gezwungen hätte, wäre mir das Bild entschwunden."
Bem. : Es wird nun versucht, die Suggestion : „Jetzt steigen Sie ab" im Wachsein
bei Augenschluss zu geben. Fr. B. soll sich bemühen, das Bild wie im leichten
Schlummerzustand 10 Secunden lang festzuhalten. Fr. B. unterbricht nach 8 See.
den Versuch, und erklärt, nicht dazu im Stande zu sein. Sie kann sich die Situation
kaum vorstellen. Die Situation war ihr vollständig schattenhaft.
Fr. B. wird jetzt zur schärferen Analysirung des vorangegangenen Experimentes
in dem von Vogt als systematisches partielles Wachsein beschriebenen und von
ons weiterhin kurz als „Versuchsstadium" bezeichneten Bewusstseinszustand versetzt.
Versuchsstadium:
Fr. B. geht nun Alles noch einmal kritisch durch. Sie constatirt zunächst,
dass die erste Suggestion sich nur in der Weise realisirt hat, dass sie sich allein
und nicht zusammen mit ihrem Manne gesehen hat. Sie erklärt dies daraus, dass
sie nicht im Stande war, sich eine so complexe Suggestion vorzustellen, sondern die
ganze Aufmerksamkeit nöthig hatte, sich ihr eigenes Bild vorzustellen. Sie fährt
dann fort: „Bei den Worten „Ins Kosenthai" stellte ich mir speciell eine Brücke
vor, die ich zu überschreiten habe, um ins Kosenthai zu gelangen. Es war diese
134 '^^^ Straaten.
Vorstellung aber ebenso schwach wie die des Fahrens ins Rosenthal." Nunmehr
bemerkt sie: „Ich muss sehr vorsichtig sein in der Beurtheilong der Traumbilder,
weil ich im gegenwärtigen Versuchsstadium mir die Situationen lebhafter Torstellen
kann als im vorhergehenden Schlummerzustande. Ich möchte auf weitere Bemer-
kungen verzichten, da ich einer absoluten Treue der gegenwärtigen Erinnerung für
die vorhergegangenen Suggestionen nicht sicher bin."
2. Versuch:
Fr. B. wird aufgefordert, sich in einen etwas tieferen Zustand zu versetzen.
Der Gedanke, dass experimentirt wird, stört sie vorläufig. Nach einer kurzen Zeit
giebt sie mit der Hand das Zeichen, dass sie sich in dem gewünschten Zustand
befindet.
Dr. V.: „Sie werden jetzt träumen: Sie fahren mit Direm Manne Velociped
ins Kosenthai. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum.
„Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt. 1, 2, 3."
Fr. B. (Im Wachzustande): „Bei der ersten Suggestion sah ich Weg und
Brücke mit derselben Lebhaftigkeit, wie die deutlicheren Situationen des ersten
Traumes. Auch war die Situation insofern complexer, als ich meinen 3Iann an
meiner Seite fahren sah. Bei der zweiten Suggestion sah ich den betreffenden Weg
mit derselben Lebhaftigkeit vor mir, wie beim ersten Mal. Bei der dritten Sug-
gestion tritt das Bild des Weges noch lebhafter hervor. Das Bild des Mannes
verschw^indet. Es taucht das Erinnerungsbild der Armbewegung auf."
Als die vierte Suggestion erfolgt, sieht sich Fr. B. auf der rechten Wegseite
an dem Graben entlang fahren, befindet sich dann plötzlich auf der linken Seite,
um den Kreis zu machen. Es bestehe eine Lücke in der Erinnerung für die Be-
wegung von rechts nach links. Die Kritik war vollständig verschwunden. Bei der
Ausführung der Kreisbewegung Eihpfindung im rechten Arm. Beim Beginn der
Suggestion des Abstcigens kehrte die Kritik zurück, aber sie sieht am Schluss
ziemlich lebhaft das Bild ihres Mannes, und hat die Empfindung des Absteigens.
V e r s u c h s s t a d i u m :
Fr. B.: „Bei der Suggestion „Jetzt biegen Sie" etc. wurden die Situationen
lebhafter. Die Kritik war nur im Momente, w^o die Suggestionen gesprochen w^urden,
vorhanden, aber war dann sofort wieder ganz aufgehoben. — Um mich noch besser
erinnern zu können, niuss ich noch tiefer hineinkommen" (Bem. : d. h. das circum-
Scripte Bewusstsein muss noch mehr eingeengt werden). Dr. V. giebt entsprechende
Suggestion. Fr. B. fährt dann fort: „Indem ich auf Ihre Suggestionen achtete.
fuhr ich nicht, im Augenblick darauf wurden die Situationen wieder lebhaft, und
die Idee, dass es ein Traum sei, verschwand.
Bei der Suggestion des Absteigens hatte ich das Empfinden des Absteigens
und auf den Bodenkommens. Ich habe den Traum noch weiter gesponnen: Nach-
dem ich abgestiegen war, wandte ich mich nach meinem Mann um. Ich sah ihn
mit einem anderen Herrn H. an mir vorüber huschen. — Ich muss noch tiefer
einschlafen, um die Situation mir wieder klar vorstellen zu können." — Nach ent-
sprechender Suggestion :
..Ich sah meinen Mann und H. sinnlich lebhaft zusammenradeln. Der Um-
stand, dass ich diese beiden Herren zusammen sah, kommt daher, dass ich heute
morgen eine von diesen beiden unterzeichnete Karte erhielt."
Zur Kritik der hypnotischeD Technik. 136
Dr. V.: „Hatten Sie auch Gefühle während des Traumes?" — Fr. B.: „Ich
muss mich erst wieder in einen tiefen Schlafzustand versetzen. — Ich hatte im
Anfang Ihren Suggestionen gegenüber noch ein geringes Activitätsgefühl. Dann
entsinne ich mich eines angenehmen Gefühls, während ich auf der rechten Weg-
seite einherfuhr. ^ Dr. V.: „Angenehm oder heiter?" Er. B.: „Beides zugleich, aber
das angenehme war vorherrschend. Für die anderen kann ich nicht mehr bürgen.
Bei dem Fahreii im' 'Kreise hatte ich ein ängstliches Gefühl, bin aber zweifelhaft*'
3. Versuch, i;
Dr. V.: ,.Nun kommen Sie gleich tiefer hinein, ganz schön tief." (Dr. V. hebt
Fr. B.'s Arm, leichte Katalepsie.) „Sie werden jetzt träumen: Sie fahren mit Ihrem
Mann Yelociped ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie
rechts herum. — Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt,
1, 2, 3." (Keine Ausdrucksbewegungen.]
Fr. B. : „Traum war sehr lebhaft und Kritik ganz verschwunden."
Dr. V.: „War der Schlaf tiefer, als das letzte Mal?" Fr. B.: „Ja". Dr. V.:
„Woraus schliessen Sie das?" Fr. B. : „Als der Arm gehoben wurde, liess ich mich
dadurch nicht stören und hatte die Umgebung fast vergessen. Ich brauchte mich
zum Traum nicht zu zwingen. Bei der ersten Suggestion sah ich sinnlich lebhaft
meinen Mann, die Strasse, die Brücke, auch Sonnenschein. Das Bild war viel
complexer. loh hatte dann die Absicht, einen anderen Weg einzuschlagen, wobei
ich eine Beflexion hatte, deren ich mich nicht entsinne. Aber ich fuhr doch gerade
aus mit ihm, entsprechend der Suggestion, er zu meiner rechten. Ich hatte ein
ausgesprochen heiteres Gefühl. Bei der dritten Suggestion fuhr ich wieder auf die
rechte Wegseite, sah Wiese, Sonnenschein, Strasse sehr lebhaft, überhaupt mehr
Details, hattö vollständig die Vorstellung eines gegenwärtigen Geschehens. Habe
aber bei jeder Suggestion auf Sie gehört, nicht selbstständig weiter geträumt. Bei
der vierten Suggestion war ich 'mir klar bewusst, dass ich nach der linken Seite
der Strasse herüberfuhr, hatte aber dabei die Beflexion, dass ich das letzte Mal
nicht so herübergefahren bin. Bei der Ausführung des Kreises fuhr ich langsam,
um damit nicht früher fertig zu sein, als die nächste Suggestion eintrat. Als dann
die Suggestion erfolgte, vollendete ich dann meinen Kreis, und stieg ab, während
ich meinen Mann weiterfahren sah."
Versuchsstadium:
„Bei der ersten Suggestion habe ich die beiden Räder auf die Strasse führen
sehen. Ich hatte dann beim Fahren schwache Empfindungen in Armen und Beinen.
Als ich bei der zweiten Suggestion die Absicht hatte, einen anderen Weg einzu-
schlagen, trat zugleich die Reflexion auf, dass dieser doch nicht der gegebenen
Suggestion entspräche. Während dieser Reflexion war mir das Bild des Mannes
verschwunden, die Lebhaftigkeit der Traumbilder nahm ab. Als ich dann der
folgenden Suggestion entsprechend auf der rechten Wegseite fuhr, hatte ich das
Gefühl der Activität, indem ich sehr aufmerksam mich hütete, in den Graben zu
fahren. Als ich am Schluss meinen Mann weiter fahren sah, kam mir der Gedanke,
das hast Du hinzugeträumt, wurde dann wach und verlor die Situation."
4. Versuch.
Dr. V.: „Tief einschlafen, immer tiefer hineinkommen, ordentlich tief hinein-
kommen." — (Ausgesprochene Katalepsie.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
136 ^>^ StfMiten.
ins Kosenthal. — Jetzt fiüiren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechte liemm. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jet^t steigen Sie ab. — Halt 1, 2, 3.**
Während der ganzen Zeit Katalepsie, keine Ansdracksbewegnngezi.
Fr. B.: „Ich habe noch tiefer geschlafen, als das letzte MaL Habe zeitweise
nicht auf Ihre Suggestion geachtet. Bei der ersten Suggestion befand ich nüdi
wieder in derselben Situation wie voriges Mal. Der Sonnensdiein fehlte. Die
Situation war insofern complexer, als ich mit meinem Mann lebhaft plauderte. Die
Brücke erinnere ich mich nicht gesehen zu haben, auf den Weg habe ich wenig
geachtet. Bei der Suggestion „Jetzt fahren Sie rechts herum'', befimden wir uns
einer Karre gegenüber, an der mein Mann links Torbeifuhr, wahrend ich nach
rechts ausbog. Bei der Suggestion , Jetzt machen Sie einen Kreis", hatte ich die
Kritik wieder erworben, indem ich mich für einen Augenblick meiner gegenwärtigen
Situation bewusst wurde. Aber in demselben Moment hielt mich das Traumbild
wieder gefangen, ich yollendete aber nicht den Kreis, sondern machte den Bogen
nur zur Hälfte. Ich stieg dann ab, um nach meinem Mann mich umzusehen." (Ab-
steigen anders motivirt.)
Versuchsstadium.
Fr. B.: „Als Sie meinen Arm hochhoben, stellte sich bei mir eine gewisse
Aengstlichkeit ein, die veranlasst war durch die Vorstellung, daslfixperiment wurde
nicht gelingen. Dieses Aengstlichkeitsgeföhl verschwand, als Sie die erste Suggestion
gegeben hatten. Das Bild beim Moment des Aufsteigens war noch etwas ver-
schwommen. Nachher beim Plaudern war es vollkommen lebhaft Ich erinnere
mich jetzt, die Brücke gesehen zu haben, habe aber wenig darauf geachtet. Die
zweite Suggestion habe ich gar nicht beachtet, sondern bin spontan gradeans ge&hren,
auch der Suggestion „Jetzt biegen Sie rechts herum'' habe ich insofern keine Be-
achtung geschenkt, als ich diesen Act schon ausgeführt hatte, bevor die darauf
hinzielende Suggestion erfolgt war. Das Hindemiss, das uns in den Weg kam, rief
bei mir die Reflexion hervor, dass dies nicht in den Traum hineingehöre. Diese
Keßexion trat nur ganz momentan auf. Im nächsten Augenblick befiimd ich mich
wieder mitten in der Situation des Traumes. Beim Fahren des Kreises hatte ich
die gegenwärtige Situation vollkommen verloren.** — Dr. V.: „Wie waren die ein-
zelnen Details?'^ Fr. B. : „Die einzelnen Details wuren lebhafter als das vorige Mal
und die Zahl der Details war eine grössere."
5. Versuch.
Dr. V.: „Nun noch etwas tiefer hineinkommen, wie das letzte MaL Noch
immer tiefer." — (Ausgesprochene Katalepsie.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Manne Velociped
ins Kosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt 1, 2^ 3.
(Während der ganzen Zeit ausgesprochene Katalepsie. Bei der zweiten und
dritten Suggestion starkes Stirnrunzeln, wie bei Anstreng^g, das sich bei der
vierten Suggestion noch steigert, und von etwas keuchendem Athmen begleitet ist.)
Dr. V.: „Nun, wie war es?**
Fr. ß. : „Bei der ersten Suggestion nahm das Radfahren meine ganze Auf-
merksamkeit in Anspruch, weil es wehte, und meine Röcke von dem W^inde auf-
geweht wurden. Dabei hatte ich ein Gefühl des Aergers. Auf den Weg war ich
nicht aufmerksam, auf die Suggestion habe ich nicht geachtet.**
Zar Kritik der hypnotischen Technik. 137
,,Ich fuhr meinem Mann davon, weil ich ärgerlich auf ihn war, ohne auf den
Weg zu achten. Dann fuhr ich auf der rechten Wegseite entlang, unter An-
strengung versuchend, meinen vom Winde aufgewehten Rock herunter zu halten.
Bei der Suggestion „Jetzt machen Sie einen Kreis", wurde ich etwas mehr wach,
Ich war mir bewusst, die Suggestion gehört zu haben. Ich wurde aber vom Traum-
bild gefangen gehalten, machte den Kreis und stieg ab. Damit verschwand das
Traumbild."
Versuchsstadium.
„Ich weiss jetzt, warum ich auf meinen Mann ärgerlich war. Nämlich, weil es
so langsam mit den Vorbereitungen ging. Die zweite Suggestion „grade aus'' etc.
habe ich ganz überhört. Auch die dritte Suggestion machte keinen tiefen Eindruck.
Nur die letzte wurde mir, wie ich schon sagte, mehr bewusst."
Dr. V.: „Wenn Sie nun diesen Traum nach Lebhaftigkeit, Kritik und Com-
plexität mit dem vorigen vergleichen, finden Sie da einen Unterschied?''
Fr. £.: „Die Kritik hatte ich vollständig verloren. Ich hatte vollständig die
Vorstellung eines gegenwärtigen Geschehens. Nur bei der Suggestion des Kreis*
fahrens wurde ich mir momentan bewusst, dass ich* eine Suggestion erhielt. Die
Complexität des Bildes war eine etwas geringere, weil ich ganz von dem Gefühl des
Aergers in Anspruch genommen war. Ich hatte in noch höherem Maasse die
Empfindung der Bein- und Armbewegung, fühlte mich vom Wind und Sonne
sehr genirt."
6. Versuch.
Dr. V. : i,Nun noch tiefer einschlafen. Ganz schön tief. Noch immer tiefer." —
(Katalepsie.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Manne Velociped
ins B>osenthal. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt. 1, 2. S.*^
Lebhafte Affectausdrücke wechselnder Art, lebhaftes Lachen, namentlich
bei den letzten Suggestionen, schwache Mitbewegung in den Beinen, ganz schwache
Mitbewegung in den Armen, während der vierten Suggestion zweimaliges Berühren
der Stirn mit der rechten Hand. (Dieses von Dr. V. dictirt.)
Dr. V.: „Nun, wie war es?"
Fr. B.: „Weiss mich nicht so gut des Traumes zu entsinnen. Bei der ersten
Suggestion hatte ich ein lebhaftes Gefühl der Freude beim Fahren, habe viel ge-
plaudert. Die Suggestion „Gradeaus fahren" habe ich überhört, kann mich auch
nicht entsinnen, dass ich nach rechts gefahren bin. Als ich den Kreis machte, muss
ich zweimal von einer Fliege auf der Stirn gestochen worden sein. Deshalb wischte
ich mit der Hand an der Stirn. — Dr. V.: ,, Wissen Sie das genau ?^* Fr. B. : ,,Es
wurde mir das durch das Diktat ins Gedächtniss zurück gerufen. Dann habe ich
vehr lachen müssen, weil ich meinen Mann mit dem Kade stürzen sah. Ich wurde
aber für einen Moment durch ein Gefühl von Unruhe unterbrochen. Dann musste
ich wieder lachen."
Versuchsstadium.
Fr. B. : „Ich hatte ein ausgesprochen heiteres Gefühl". Dr. V.: „Wussten Sie,
dass Sie Bewegungen gemacht haben ?" Fr. B. : „Darüber bin ich im Zweifel, weil
ich beim Diktat hörte, dass ich welche gemacht hatte." Dr. V.: „Wie waren die
Empfindungen?" Fr. B. : „Sehr lebhaft. Ich ging ganz in der Situation auf"
138 van Straaten.
Dr. V.: „War dieser Traum im Vergleich mit dem yorhergehenden lebhafter?"
Fr. B. : „Ja, das äusserte sich vor Allem in den sehr lebhaften Empfindungen. Den
Kreis habe ich im Bogen von rechts nach links gemacht, um nach Hause zurück-
zukehren. Der ganze Traum bestand diesmal mehr aus einem Gefiige. Die Suggestionen
wurden nur in den Traum verwoben. Das Gefühl, unter dem Einfluss der Sug^^eationen
zu träumen, fehlte vollständig. Das Hinstürzen meines Mannes war für mein Auge
sehr lebhaft. Während ich Anfangs darüber lachte, wurde ich für einen Augen-
blick ängstlich und unruhig, weil er eine Bewegung machte, aus der ich schloss,
es sei ihm ein Unglück passirt. Ich befand mich bis zum Schluss vollständig in
der Situation des Traumes.^
7. Versuch.
Dr. V. : „Tief hineinkommen, noch immer tiefer" (V. hebt Fr. B.'s Arm.
Die anfänglich schwache Katalepsie wird nach einigen Bewegungen etwas ge-
steigert.) Dr. V. : „Jetzt werden Sie träumen : Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Roseuthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts hemm. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. Halt, 1, 2, 3."
Lebhafter Aö'ectausdruclc (Lachen) während der ersten zwei Suggestionen.
Bei der zweiten Suggestion Auftreten von Mitbewegungen in den Armen. Linker
Arm wird vorgehalten. Bei der dritten Suggestion Stirnrunzeln wie bei An-
strengung, das bei der vierten Suggestion durch eine Ruckbewegung des Körpers
abgebrochen wird. Bei der letzten Suggestion Bewegung des Absteigens an-
gedeutet.
Fr. B. : „Ich habe tiefer geschlafen als das vorige Mal. Es besteht theilweise
Amnesie, muss sehr scharf nachdenken. Der Anfang des Traumes fallt mir nicht
ein. Als ich den Kreis machen wollte, musste ich erst Jemanden vprbeipassiren
lassen. Dann machte ich ihn erst fertig. Die Situation bei dem Kreismachen ist
mir noch sehr lebhaft. Vom Absteigen ist mir nur noch eine dunkle Erinnerimg
gebireben. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich beim Absteigen im Traum eine Be-
wegung mit dem Körper gemacht habe. Ich glaube, dass ich während des Fahrens
den rechten Arm herunter hängen liess, und mit dem linken gefahren bin.**
Versuchsstadium:
„Bei der ersten Suggestion war mir die Situation sehr lebhaft, ebenso lebhaft
als am Schluss des letzten Males beim Hinstürzen meines Mannes. Ich habe vor
Vergnügen gelacht, dann fuhr ich, um meinen Mann zu necken, meinem Mann
voraus, musste stark treten, wurde dann beim Fahren auf der rechten Wegseite
etwas wacher, fuhr langsamer; bin dann einen Moment wie stehen geblieben. Die
Lebhaftigkeit während des Langsamerfahrens war die gleiche wie vorher." Dr. V.:
„Haben Sie viel gesehen?" Fr. B.: „Ich sah nur auf den Weg. — Auf die Sug-
gestionen habe ich garnicht geachtet. Während ich stehen blieb, fühlte ich mich
noch wacher, wurde aber durch die nächste Suggestion wieder mitten in die Situa-
tion hineinversetzt. Als ich den Bogen machte, wobei ich Jemanden passiren lassen
musste. machte ich dal)ei eine starke Bewegung, die ich auch mit dem Körper an-
gedeutet habe.'"
8. Ve rsuch.
Dr. V.: „Suchen Sie ganz tief hineinzukommen, ganz schön ruhig werden,
schön tief schlafen " (Katalepsie noch schwach angedeutet.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 139
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3."
Anfänglich mittelstarke Mitbewegung mit den Armen, dann auch mit den
Beinen.
Dr. V. : „Nun, wie ist es gewesen?** Fr. B.: „Ich habe tief geschlafen, ich muss
erst wieder scharf nachdenken. Es ist mir noch erinnerlich, die Wiese zu meiner
rechten, und die rechte Wegseite gesehen zu haben." Dr. V. : „Lebhaft in Er-
innerung?" Fr. B. : „Sehr schwach". Dr. V.: „Was wissen Sie sonst noch?"
Fr. B.: „Nichts mehr".
Versuchsstadium:
Dr. V. : „Versetzen Sie sich jetzt in ein tiefes Versuchsstadium und denken Sie
scharf nach!" Fr. B. : „Ich war mit meinem Mann zusammen, habe auch genau
Weg und Brücke gesehen." Dr. V. : ,;Wie lebhaft im Vergleich zum letzten Mal?"
Fr. B. : „Entsinne mich dessen noch nicht." Dr. V.: „Denken Sie scharf nach."
Fr. B. : „Es scheint mir ebenso lebhaft als das letzte Mal, vielleicht noch etwas
lebhafter. Ich fuhr dann geradeaus auf die rechte Wegseite, erinnere mich nur
sehr schwach, die Suggestionen gehört zu haben." Dr. V.: „Wie war die Kritik?"
Fr. B. : „Es war vollständiger Kritikmangel vorhanden. Den Kreis machte ich nicht
wie vorher, links herum, sondern rechts herum. Dabei kam mir die Reflexion, dass ich
auf diese Weise in die Wiese gelangen würde, aber ich sah gleich darauf, dass es
mir doch gelungen war. Als ich abstieg, habe ich, wie ich mich jetzt entsinne, die
Bewegung mit dem Körper angedeutet. Auch glaube ich im Traum genickt zu
haben, wobei mir die Idee kam, dies würde notirt. Sonstiger Bewegungen bin ich
mir nicht bewusst." Dr. V. : „Noch tiefer in das Versuchsstadium hineinkommen."
Fr. B. : „Ich habe noch mit der rechten Hand eine Bewegung gemacht, wobei ich
die Idee hatte, dass ich nicht ganz herumkommen könne. Dabei kam mir noch
die Idee, dass es nur ein Traum sei. Im Anfang machte ich Beinbewegungen, bei
denen ich das Gefühl der Anstrengung hatte. Ich hatte überhaupt mehr Tendenz
zur Bewegung.**
9. Versuch:
Dr. V.: „Ganz tief schlafen, immer tiefer." — Katalepsie fehlt.
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3."
Während der ersten drei Suggestionen sehr lebhafte Mitbewegungen von Arm
und Beinen. Die Bewegungen finden in der dritten Suggestion durch eine heftigere
Körperbewegung Ihren Abschluss. Dr. V.: „Wie ist es gewesen?" Fr. B. sinnt
längere Zeit nach und sagt dann: „Ich habe mit dem rechten Fuss eine Kreis-
bewegung gemacht. Ich hatte, als ich erwachte, eine entsprechende Empfindung im
Foss, wodurch ich daran erinnert wurde. Das ist Alles, was ich noch weiss."
Versuchsstadium:
Fr. B. : .„Es machte mir anfangs Spass, meinem Manne voran zu fahren. Dabei
muss ich gelacht haben, weiss mich dessen aber nicht zu entsinnen." Dr. V. : „Sich
noch tiefer ins Versuchsstadium versetzen!" Fr. B. : „Ich weiss es nicht sicher."
Dr. V.: „Wie ging es nun weiter?" „Ich fuhr sehr rasch auf die rechte Wegseite,
und weil ich sehr rasch vorwärts kam, machte ich den Kreis sehr früh, und weil
ich dabei Angst hatte, vom Wege abzukommen, so machte ich eine anstrengende
]40 ^^^ Straateo.
Bewegung, die ich auch in Wirklichkeit mit dem Körper zum Ausdruck gebracht
habe. — Sprang dann ab. zu sehen, wo mein Mann geblieben war.
Im tiefen Schlaf habe ich Sie wohl noch sprechen hören, aber ich weiss nicht,
was Sie gesprochen haben." Dr. V.: „Wissen Sie, wodurch der Traum entstanden
ist?" Fr. B.: „Ich habe wohl noch die erste Suggestion gehört und verstanden,
von da ab habe ich ohne Bevnisstwerden ihrer Suggestionen weiter getriiamt. Der
Traum spielte sich rascher ab, als Ihre Suggestionen. Ich war schon abgestiegen,
da hörte ich noch Ihre beiden letzten Suggestionen, aber Sie machten auf mich
gar keinen Eindruck. Sie riefen bei mir nichts hervor.
10. Versuch.
Dr. y.: „Noch tiefer einschlafen, als das letzte Mal. Noch immer tiefer.^ —
(Atonie.)
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3.*'
Während der ersten 3 Suggestionen geringe Mitbewegung mit dem Fuste.
Dr. V.: „Wie war es diesmal?"
Fr. B.: „Ich weiss nichts. Es besteht vollkommene Amnesie.^'
Versuchsstadium:
Fr. B. : ,,Die Traumbilder waren nur im Anfang noch lebhaft. Gegen Ende
nahmen Sie an Lebhaftigkeit ab. Es bestand nur noch Kritik im Anfang. Die Bilder
waren nicht zusammenhängend. 3Iit den gegebenen Suggestionen tauchten sie auf
und verschwanden wieder. Am Ende träumte ich, ich sei abgefallen, und als ich
Ihre Suggestionen des Absteigens hörte, da wurde mir das falsche derselben im
Verhältniss zu meiner Situation bewusst.*'
11. Versuch.
Dr. V.: „Nun ganz tief hineinkommen. Immer tiefer." — Atonie.
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie gerade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
.Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3." Erst
nach wiederholtem 1, 2, 3 Erwachen. Keine Bewegungen.
Dr. V.: „Wie war es."
Fr. B. nach einigem angestrengten Nachdenken : „Es besteht absolute Amnesie."
Versuchsstadium.
Dr. V.: „Wie war der Schlaf?« Fr. B.: „Noch tiefer, als das letzte Mal."
Dr. V.: „Habe ich Ihnen Suggestionen gegeben?" Fr. B.: „Ich vermuthe es. Ich
mu88 noch tiefer ins Versuchsstadium hineinkommen. Als Sie meine Hand er^
griffen (zum Feststellen des Muskeltonus) träumte ich, mein Hund hätte mich ge-
bissen. Dadurch wurde ich etwas aufgeweckt. Ich schlief aber gleich wieder ein.
Von Ihrer ersten Suggestion hat sich nichts realisirt. Ihre Suggestion störte mich
nur, ich erfasstc sie nicht. Die zweite Suggestion realisirte sich insofern nicht, al«
ich mit meinem 3Iann Arm in Arm ging. Bei der folgenden Sugg;estion wichen
wir einem Wagen aus, indem wir rechts gingen. Bei der nächsten Suggestion
machte mein Hund auf dem Wege einen Kreis. Die Traumbilder hatten an Leb-
haftigkeit eingebüsst. Kritik fehlte vollständig."
12. Versuch.
Dr. V. : „Jetzt ganz tief hineinkommen, tief schlafen." — Atonie.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 141
Dr. V.: „Jetzt werden Sie träumen: Sie fahren mit Ihrem Mann Velociped
ins Rosenthal. — Jetzt fahren Sie grade aus. — Jetzt biegen Sie rechts herum. —
Jetzt machen Sie einen Kreis. — Jetzt steigen Sie ab. — Halt, 1, 2, 3. — 1, 2, 3."
Es ist eine etwa zehnfache Wiederholung von 1, 2, 3 nöthig, bevor ein Erwachen
auftritt. Keine Ausdrucksbewegungen, — Rapportverhältniss aufjg^ehoben. Erst
nach wiederholtem Anrufen öffnet Fr. B. die Augen und ist wach.
Dr. V.: „Nun, haben Sie was geträumt?"
Fr. B. : „Ich kann mich dessen nicht entsinnen. Ich habe fest geschlafen, be-
sonders gegen Schluss.'*
Versuchsstadium:
Fr. B. : „Ich habe sprechen hören, habe aber nicht auf die Worte gehört, sie
^aren mir lästig." Dr. V.: „Wussten Sie, dass ich die Worte sprach?" Fr. B.:
„Ich war mir nicht klar darüber." Dr. V. : „Hatten Sie noch Kritik meinen Worten
gegenüber?" Fr. B.: „Während ich das vorletzte Mal noch wenige Worte capirt
und gut aufgefasst habe, war es hier nur das Wort Velociped, wobei ich mir ein
Dreirad vorstellte. Träume habe ich nicht gehabt."
Wir haben eine Reihe von 12 Versuchen vor uns, bei denen von
3Ial zu Mal der Schlaf an Tiefe zugenommen hat. Bei den letzten
W^ersuchen 11 und 12 war das Erwecken direct erschwert. Bei dem
5. Versuche begannen Ausdrucksbewegungen, zu denen sich im 6. Ver-
suche Mitbewegungen hinzugesellten. Im 9. Versuche zeigten diese
Bewegungen ihren Gipfelpunkt, um im 10. Versuche bereits wieder
schwächer aufzutreten, und im 11. zu verschwinden. Im 6. Versuche
zeigt sich im ausgeprägten Maasse bereits eine Amnesie. In der 9.
Hypnose existirt für das Traumbild eine vollständige Amnesie. Es ist
nur der zufällige Umstand einer Nachempfindung im rechten Fuss, der
die Portexistenz eines ganz isolirten Erinnerungsbildes bedingt. Für
die späteren Hypnosen herrscht eine vollständige Amnesie. Aus den
Wibjectiven Angaben der Versuchsperson ergiebt sich, wenn wir die des
Wachbewusstseins und die des eingeengten Bewusstseins vereinigen, dass
die Suggestionen bis gegen die 9. Hypnose hin immer intensivere
Wirkungen ausgelöst haben, um in der 9. Hypnose ihre höchste Intensität
zu erreichen. Von da an lässt die Intensität der suggestiven Folge-
wirkung nach, um in dem 12. Versuche vollständig zu erlöschen. Da-
bei ist zu constatiren, dass parallel der Zunahme der Intensität des
Traumes bis zur 9. Hypnose die Kritik abnimmt, dass also jenes Wechsel-
verhältniss zwischen Intensität einer Bewusstseinserscheinung und Mangel
der Kritik ihr gegenüber besteht, worauf O.Vogt bereits in ForeTs
Hypnotismus ^) aufmerksam gemacht hat. Wir wollen auf die theo-
*) Forel, Hypnotismus. 3. Aufl.. pag. 122.
142 ^^^ Straaten.
retische Deutung in unserem Zusammenhange nicht eingehen , da wir
hier empirische Fragen im Auge haben. Von der 10. Hypnose an
nimmt nun etwa nicht die Krftik wieder zu, sondern trotz weiterhin
brachliegender Ejritik zeigt die Intensität der suggestiven Folgewirkung
eine sich vermehrende Abnahme. Es handelt sich um die Ausbildung
eines allgemeinen Schlafes, indem ein beliebig partielles Wecken durch
die Worte des Experimentators nicht mehr möglich ist, wie auch das
allgemeine Wecken erschwert ist, mit anderen Worten, die Schlaf hemmung
hat so zugenommen, dass auch das Rapportverhältniss dadurch gestört
worden ist.
Wir kommen so zu dem Resultat, dass die momentane Einwirkung
von Suggestionen dann am intensivsten ist, wenn die Schlafhemmnng
bei erhaltenem Rapportverhältniss die grösste Tiefe erreicht hat, das
heisst, wenn wir den Zustand erzielt haben, den O. Vogt stets als den
tiefsten Grad der Hypnose bezeichnet hat. Bei dem 9. Versuch sehen
wir diesen Zustand erreicht. Die jenseits dieses Versuches auftretenden
Schlafhemmungen entfernen sich in ihrem Charakter insofern von diesem
Zustande der tiefsten Hypnose, als unter dem Einflüsse noch allge-
meinerer Schlafheinmung das Rapportverhältniss Noth leidet, das heisst
ein dem tiefen Nachtschlaf entsprechender Zustand geschaffen ist. Wer
diesen Zustand für die tiefste Hypnose hält, der mag freilich für die
Ueberlegenheit der oberflächlicheren Stadien eintreten. Aber wie ist
es möglich, dort noch von Hypnose zu reden, wo wir einen dem tiefen
Nachtschlaf entsprechenden Zustand geschaffen haben.?
Wir mochten noch auf einen Punkt aufmerksam machen. Wir
haben gleichzeitig bei jedem Versuch der Hypnose den Grad der Kata-
lepsie festgestellt. Wie O. V o g t in einer anderen Arbeit nachgewiesen
hat, zeigt die Zunahme des Muskeltonus und der Uebergang in die
Atonie eine ähnliche» Curve wie die Zunahme und weiterhin die Ab-
nahme der Suggestibilität bei Vertiefung der Schlafhemmung. ^) Diese
Curve lässt sich auch hier nachweisen. Bereits im Versuche 3 ist eine
leichte Katalepsie» vorhanden. Diese nimmt bei Versuch 4 an Intensität
zu. steigert sich noch in Versuch 5; sie steigert sich noch weiter, um
in Versuch 7 bereits wieder abzunehmen. In Versuch 9 ist sie bereits
nicht mehr nachweisbar. In diesem Falle blieb also die Erregbarkeit
für Worte länger erhalten als die durch den Muskelsinn. In anderen
Fällen beobaclitet man das Ciegentheil. Bei allen derartigen zeitlichen
'j Teber die Xatiir der suggerirten Anästhesie, Bd. VII. p. 338.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 143
Differenzen muas ein der Snggestibilität analoges Verhältniss der Kata-
lepsie gegenüber der zunehmenden Schlaftiefe festgehalten werden.
Es ist dies eine praktisch wichtige Thatsache, weil wir aus dem
Muskeltonus ungefähr auf die Tiefe der Schlafhemmung schliessen
können.
Es handelt sich selbstverständlich in diesen Fällen um die soge-
nannte passive Katalepsie, dass heisst, um eine Katalepsie, die nicht
etwa durch eine entsprechende Zielvorstellung hervorgerufen wird.
Schliesslich wollen wir noch bemerken, dass der gewisse Grad der
Emancipation von den Suggestionen, wie er im 9. Versuch vorliegt,
durchaus atypisch ist und nichts Characteristisches enthält. Wir haben
Parallelversuche vorgenommen, wo bei einem entsprechenden Grade
von Schlaf hemmung der Traum sich vollständig entsprechend den
Suggestionen in stärkster Intensität realisirte, und hinterher eine voll-
ständige Amnesie existirte. Wir hatten aber bereits im Voraus die
vorstehende Versuchsreihe zur Veröffentlichung bestimmt und haben
auch daran festgehalten, um zu zeigen, wie sehr wir entfernt sind, unsere
Resultate zu schematisiren.
II. Versuchsreihe.
Fr. B. liegt auf einer Chaiselongue ausgestreckt. Dr» V. reicht ihr einen Teller
mit einem Stück einer Ananasfrucht. Das Riechen der Ananas ruft bei Fr. B.
einen grossen Appetit hervor, und ein sehr starkes angenehmes und ausgesprochen
heiteres Gefühl.
1. Versuch.
Fr. ß^ wird aufgefordert, die Augen zu schliessen, aber ganz wach zu bleiben.
Dr. V. : „Stellen Sie sich vor, dass eine Spinne (ein der Fr. B. sehr unangenehmes
Thier) über die Ananas läuft." — Ananas wird zum Riechen vorgehalten. — Fr. B. :
„Der Appetit und das heitere Gefühl haben nicht gelitten. Das angenehme Gefühl
ist weniger stark ausgeprägt.** Dr. V.: „Wie lebhaft war die Vorstellung?'* Fr. B.;
„Nicht etwa sinnlich lebhaft, ohne Farben, aber doch so lebhaft, dass sie von un-
angenehmen Organempfindungen begleitet war.**
2. Versuch.
Fr. B. versetzt sich in einen oberflächlichen Schlaf.
Dr. V.: „Jetzt träumen Sie, dass über die Ananas eine Spinne läuft." Halt,
1, 2, 3. — Ananas wird zum Riechen vorgehalten. Fr. B.: „Bin so gut wie gar
nicht beeiuflusst. Das Verlangen nach der Ananas ist das gleiche. Das angenehme
Gefühl war etwas geringer, wie beim allerersten Mal." Dr. V.: .,Wic war Ihr Zu-
stand?" Fr. B.: „Es war ein leichter Schlummer." Dr. V.: „War die Lebhaftig-
keit der Vorstellung grösser als das letzte Mal ?** Fr. B. : ..Die Vorstellung war
nt«nsiver." Fr. B. hat die Idee, dass die Wiederholung desselben Traumes er-
müdend wirken und der Traum weniger lebhaft auftreten würde.
144 ^1^ Straaten.
Wiederholung des Versuchs. Dr. V. bittet Fr. B. sich in denaalbeii leichteo
Schlummerzustaud zu versetzen, und suggerirt das Schwinden dieser störenden Ideei
Dr. V.: ffJetzt werden Sie träumen, dass über die Ananas eine Spinne l&nft.*
Halt, 1, 2, 3.** Ananas zum Riechen yorgehalten.
Fr. B.: „Der Appetit hat sich etwas Terringert, das angenehme Gefühl ist
etwas geringer, etwa wie beim Augenschluss im wachen Zustand. Das heitece
Gefühl hat einem deprimirenden Gefühl Platz gemacht.'* Dr. V.: n^i^ ^^i* ^
Traum?** Fr. B.: „Die Ananas war schwach sinnlich lebhaft. Die Spinne nicht
sie war rein vorgestellt. Die Emptindung des Ekels, besonders in der Ma^ngegend,
stärker ausgesprochen. Der Traum war noch nicht passiv. Die Kritik rerior ich
nur in dem Momente, wo ich mir die Spinne über die Ananas laufend Tarstellt&
Die auftretenden Organempfindungren gat>en mir die Idee, daas es in Wirklidikeit
nicht der Fall war.**
3. Versuch.
Fr. B. wird aufgefordert sich in ein etwas tieferes Schlafrtadhun za versetiea.
Dr. V. : ..Jetzt werden Sie träumen, dass über die Ananas eine Spinne laufte''
Fr. B. unterbricht den Versuch: .Jch wurde durch die Furcht gestört, daü
der Versuch nicht gelingen würde. Ich war ängstlich, dass der Traum cn afieci-
betont »ein. durch diese AfTectbetonung die Schlafhemmnng sich stei^m und so
das oberflächliche Schlafstadium in eine tiefe Schlafhemmong üb^igefahrt werden
würde.**
Dr. V. fordert nun Fr. B. auf. sich noch einmal in das gewünschte ScblaMadium
zu versetzen.
Dr. V.: ..Jetzt wenlen Sie träumen, dass ül>er die Ananas eine Spinne läuft.
Halt. 1. 2, 3.* Ananas zum Riechen vorgehalten.
Fr. B. : ..IVr Appetit ist noch mehr beeinträchtigt. Die Verstimmung bt noch
stärker, das angenehme Gefühl hat noch mehr gelitten. Die Schlsifhemmung war
gn*»iisor als die erste. Die TraumTor«tellung war mehr piassiv. Die Vorstellung der
Spinne war siunlioh lebhafter als die der Ananas. IMe Spinne sah ich an der
Ananas saugen. Farben unterschied ich nicht, ich sah Alles grau in grau. Ich hatte
meine Situation vergessen, und war auch nicht von der Vorstellang beherrsch^
dass es ein su^rirerirter Traum war.**
4. Versuch.
Fr. B. versetz: sich in einen noch tieferen Schla&nstand.
Dr. V.: ..Jetzt träumen Sie. dass über die Ananas eine Spinne läuft. Halt
1. 3. 3 ••
Ausarucksbeweeung- des Ekels während der Sugg>«tion. Ananas znm Kiechea
vor^haltec.
Fr. B.: .IVr Appeti: nivh stärker herabgesetzt, nur noch Veriangen, die
An."!!!!.« z'.i rusrhen. dal-e: a-.vh ein angenehmes GefuLL aber mit Orgmnempfinduugeo
des Ekels verbiinderi.
D:e Traum\-"'r«ie'.;unir war lebhafter. Ich unterschied noch keine Farben, aber
die 7sv:ch:i'^zic derlTeirenstände :ra: deutlicher hrnr.>r. Jedoch ist die Vorstellaog
der Sr:::r.e n .h nioh: <:• lebhaft, dass ich sie klastsincir^Ki könnte. Die Traom-
V rste'lur.i: \\ar :ü*<:ver wie ..ia« >tj:e Mal" Dr. V.; _Hat«en Sie ßewegUDgea
joiv.a.^l.: — Fr i>. . ..Ich i:".aul»e keine Äremaoht lu h*i«e=- Fr. BL bittet, sich im
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 145
Versuchastadium versetzen zu dürfen). Fr. B. : „Ich habe den Mund verzogen und
die Stirn gerunzelt.**
6. Versuch.
Tieferes Schlafstadium.
Dr. V.: pjetzt träumen Sie, dass über die Ananas eine Spinne läuft. Halt,
1, 2, 3.**
Ausdrucksbewegung des Ekels im Gesicht. Abwehrbewegung mit dem rechten
Arm und Ausweichbewegung mit dem ganzen Körper.
Ananas zum Riechen vorgehalten.
Fr. ß. verspürt eine directe Neigung zum Erbrechen. Würgbewegungen treten
auf. Verstimmung stärker. Der süssliche Greruch der Ananas verursacht noch ein
angenehmes Gefühl, wenn Fr. B. denselben von der Vorstellung der Ananas trennt.
Fr. B. : „Sobald ich aber den Geruch mit der Vorstellung der Ananas vereinige,
ist mir der Geruch der Ananas unangenehm.** Dr. V. : „Hatten Sie dabei eine Zwischen-
vorstellung?** Fr. B. : „Ich vermuthe, dass eine vorhanden war, weiss sie aber nicht.'*
Fr. B. versetzt sich in das Versuchsstadium. Sie findet gleich, dass es die Vorstellung
der Spinne war, die sie mit der Vorstellung der Ananas verband, und zwar speciell in
der Situation des vorhergegangenen Traumes. Ein Corrigiren dieses Erinnerungs-
bildes ruft in ihr die ursprüngliche Gefühlsbetonung gegenüber der Ananas hervor.
Der Schlaf war tiefer als das letzte Mal. Der Traum war von einer grösseren
•Lebhaftigkeit. Fr. B. hatte die Situation fast ganz vergessen, hat den- Traum zeit-
weilig für wahr gehalten. Das Bild war noch deutlicher, entbehrte aber, soweit sie
sich im wachen Zustande erinnern kann, der Farben. Sie ist sich bewusst, mit dem
Arm eine Bewegung ausgeführt zn haben, wurde dabei etwas wacher, hatte dabei
für einen Moment eine Vorstellimg von ihrer gegenwärtigen Situation. Die In-
tensität der Organempfindungen war grösser. Fr. B. hat seit dem letzten Traum
einen leichten Kopfschmerz.
Versuchsstadium:
Fr. B. hat im Anschluss an die Suggestion eine detaillirte Situation gesehen.
Sie sah die Spinne auf der Ananas, diese auf einem Teller, der auf einem Thee-
brett stand. Das Theebrett stand auf einem Tisch des Arbeitszimmers, unter dem
Kronleuchter. Sie fährt fort: „Ich sollte nun hmgehen, den Teller fortzunehmen,
und machte eine Abwehrbewegung mit dem Arm. Die Farben besassen noch nicht
die Intensität der Wirklichkeit, aber die Farbe der Spinne war mir lebhafter als
die Form. Mit der Abwehrbewegung war auch eine starke Ausdrucksbewegung
im Gesicht verbunden.**
6. Versuch.
Dr. V. : „Versetzen Sie Sich in ein noch tieferes Schlafstadium. Immer tiefer
hineinkommen etc. — Sie träumen jetzt, dass über die Ananas eine Spinne läuft.
Halt, 1, 2, 3 **
Sehr starke Ausdrucksbewegung des Abscheus, Andeutung einer fliehenden
Bewegung.
Ananas wird zum Kiechen vorgehalten. Es besteht gänzlicher Appetitmangel.
Fr. B. empfindet einen ausgesprochenen Ekel vor der Ananas, ist sehr stark ver-
stimmt. Der Geruch von der Ananas getrennt ist schwach unangenehm. Zwischen-
Vorstellung zwischen dem Geruch und der Ananas kommen ihr nicht zum Bewusstsein.
Im Versuchsstadium kommen ihr als Zwischenvorstellungen zwischen Geruch
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 10
146 ▼^n Straaten.
und Ekel die Ananas und die Spinne zum Bewusstsein. Die VonteUang der
Ananas trennt sie nicht mehr von der Spinne.
£& besteht starker Kopfschmerz. Von dem Traum hat Fe B. im wachen Zu-
stand keine Erinnerung. Die Schlaftiefe war grösser als daa Torige MmL
Versuchsstadium:
Fr. £. : ,,Der Traum war sinnlich lebhaft. Die Situation war mnalog* der in
vorhergehenden Traum. Die Farben waren noch lebhafter. Ich habe den Tramn
noch weiter gesponnen. Ich wollte mich zwingen, den Teller wegzunehmen. Die
Spinne kam auf mich zu, wobei ich dann eine Abwehrbewegimg machte. Zogldch
hatte ich ein ausgesprochenes Angstgefühl Die Gestalt der Spinne war ganz
deutlich. Der Kopfschmerz hat jetzt etwas nachgelassen.*'
7. Versuch.
Dr. V.: ,,Schön tief hineinkommen, immer noch tiefer schlafen. — Jetzt
träumen Sie: dass über die Ananas eine Spinne läuft — Halt, 1. 2, 3.**
Geringe Ausdrucksbewegungen. Ananas zum Kiechen vorgetetzt.
Fr. B. : ,,Das Kiechen giebt mir ein schwach angenehmes GefuhL Essen mochte
ich die Frucht nicht. 3Ieine Stimmung ist eine gleichgültige. Bin weder heiter
noch verstimmt.** Dr. V.: ,,Haben Sie nicht geträumt?** Fr. B.: ,.Ich entsinne
mich nicht.**
Versuchsstadium:
Fr. B. : „Ich habe noch tiefer geschlafen als das letzte MaL Die Tranm-
vorstellung war weniger intensiv. Schwach sinnlich lebhaft. Keine Farbe. Wenig
Bewegung. Situation weniger complex. Die Traumbilder tauchten nur für einen
Moment auf, imd waren unzusammenhängend, hielten mich nicht gefangen. Die
Ekeleropfindung war sehr schwach. Ich spürte eine geringe Contraction der Ge-
sichtsmusculatur.
8. Versuch.
Dr. V.: .,Nun sehr tief einschlafen. Noch immer tiefer hineinkommen, noch
immer mehr. — Sic träumen jetzt, dass über die Ananas eine Spinne läuft. Halt,
1, 2, 3."
Keine Ausdrucksbewegungen. Ananas zum Riechen vorgehalten.
Fr. B. : „Geruch ist mir direct angenehm. Ich habe Appetit, die Ananas zo
essen. Geringe Heiterkeit vorhanden. Dr. V.: ..Haben Sie geträumt?** Fr. B.:
„Nein, ich entsinne mich nicht.**
Versuchsstadium:
Fr. B. : j.Der Schlaf war tief. Ich habe nur die Wörter Ananas und Spinne
gehört, aber diese \V("»rtor haben kein Traumbild ausgelöst. Von der Spinne habe
ich nur einen Schatten gesehen, aber nicht mit der Ananas combinirt. Bei dem
Wort Ananas sah ich eine ^^anzc Ananas. £ine Organompfindung des £kels wurde
nicht ausgelöst.
Dit! zwtnte Versuchsreihe zeigt im VVesentlicheo dieselben Verhält-
nisse, wie die erste. Wir sehen bis zum Schluss zunehmende Vertiefung
des Zustandes. Bei dem 4. Versuch beginnen Ausdrucksbewegungen,
die im 6. \>rsuch ihren Gipfelpunkt erreichen, im 7. Versuch noch
angedeutet sind ; und im 8. Versuch fehlen. Die Amnesie ist im 6.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 147
' Versuche partiell yorhanden , und ist seit dem 6. Versuch eine voll-
ständige. Die Lebhaftigkeit der ausgelösten Traumbilder nimmt bis
zum 6. Versuch zu, erreicht hier ihren Gipfelpunkt , um im 8. Ver-
such einen ToUständigen Nullpunkt zu erreichen. Der bis zum 6. V^-
snch zunehmende Mangel an Kritik gegenüber den Traumbildern liess
nicht etwa bei den weiteren Versuchen nach. Es handelt sich also bis
zum 6. Versuch um Vertiefung des Schlafzustandes bei erhaltenem
üapportverhältniss, von da an unter gleichzeitigem Verlust des Bapport-
verhältnisses.
Was nun die Nachwirkung dieses affectbetonten Traumes anbe-
langt; so constatiren wir hier eine vollständige Proportionalität zwischen
der Intensität des Auftretens und seiner Nachwirkung. Bei dem 6.
Versuch, wo der Traum einerseits am lebhaftesten gewesen war, andrer-
seits im Wachsein eine vollständige Amnesie fär denselben besteht, ist
der durch den Geruch der Ananas ausgelöste Ekel am intensivsten.
Das also, was schon aus theoretischen Gründen als wahrscheinlich
angesehen werden konnte, ist auch empirisch durch ein derartiges Ex-
periment bewiesen: Die Proportionalität zwischen momentaner In-
tensität der Suggestiv Wirkung und der Dauer ihrer Nachwirkung.
Die Intensität einer Suggestivwirkung und damit also
auch die Nachhaltigkeit ihrer Folgewirkung ist aber am
intensivsten, wenn sie in dem Zustand gegeben wird,
den wir eben mit O. Vogt als tiefste Hypnose bezeichnen,
nämlich als tiefsten Schlaf bei erhaltenem Rapportver-
hältniss.
II. Die Methodik zur Erreichung der gewünschten
Gestalt der Hypnose.
Im zweiten Theil wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie
man am besten eine möglichst tiefe Hypnose erzielen kann, d. h. einen
möglichst tiefen Schlaf mit Erhaltung des Rapportverhältnisses. Zu
diesem Zweck hat mich 0. V o g t in verschiedener Weise hypnotisirt. Ich
lasse die einzelnen Protokolle wörtlich folgen, und werde den einzelnen
die epikritischen Bemerkungen folgen lassen. Die wörtliche Aufführung
der Protokolle soll daneben den Zweck haben, einen Einblick in O. Vogt 's
Methode zu gewähren, die vor Allem auch deshalb eine absolute Ab-
hängigkeit der Ausdehnung und der Tiefe der Schlafhemmung von den
Verbalsuggestionen erstrebt, weil man auf diese Weise in den Stand
10*
148 ^^^ Straaten.
gesetzt wird, die für jeden eiDzelnen Fall gewünschte Gestaltung der
Schlafhemmung zu erzielen.
Gerade in diesen Worten fasst O. V o g t neuerdings die Forderung zu«
sammen, die er an die hypnotische Technik stellt Er sucht die Mög-
lichkeit einer nicht nur dem Individuum, sondern auch den jedesmaligen
durch die momentane Bedingungen geschaffenen Anfordemngen des
Individuums entsprechenden Tiefe und Ausdehnung der Schlafhemmuog
zu erstreben. Diesem Zweck kann natürlich ausschliesslich die Verbal-
suggestion dienen. O. Vogt ist deshalb immer mehr noch von der
Anwendung der sogenannten physikalischen Methode zurückgegangen.
Dazu muss noch hervorgehoben werden, dass es darauf ankommt,
dass nicht nur Verbalsuggestionen gegeben werden, die su^estive
Folgewirkungen haben, sondern dass diese Verbalsuggestionen von dem
zu hypnotisirenden so assimilirt und realisirt werden, wie es dem
Wunsche des Experimentators entspricht.
Wir kommen nun zu den Experimenten, die im Ganzen 7 Sitzungen
umfassen :
1. Hypnose.
Verf. ist auf einer Chaiselongue bequem hingestreckt und von einer dünnen
Decke bedeckt. Neben Dr. V. und einem Protokollanten befindet sich Niemand
im Zimmer. Die einzelnen Hypnosen dauerten 1 — 2 Minuten. Dr. V. legt seine
rechte Hand auf Verf.'s Stirn und spricht in langsamer Weise Folgendes: y,^un
sehen Sie gerade aus. — (ianz allmählich werden Sie unter meiner Hand eine
Wärme fühlen. — Die Wärme geht allmählich auf die Augenlider über. — Fahlen
Sie schon etwas?" Verf. fühlt einen Heiz an den Augen. — Dr. V.: „Dieser Reix
wird nun zunehmen und führt zum Augenschluss. Sie fühlen als ob Uinen die
Augen zugedrückt würden. — Sie werden ganz schön ruhig werden. — Ganz schön
ruhig. — Die Augenlider werden immer schwerer, der Augenspalt wird immer
enger. Sie merken schon, wie der Augcnspalt enger wird, nicht wahr?" — Verf:
„Ja." — Dr. V. : „Immer enger wird der Augenspalt, die Augenlider werden von unten
nach oben, und von oben nach unten gezogen. Es kommt eine behagliche Ruhe über
Sie, immer mehr. Die Augenlider werden sich immer mehr zusammenkrampfen,
und der Widerstand gegen den Augenschluss schwindet immer mehr." — Ks tritt
Augenschluss ein. — Dr. V. fährt fort : „Das nächste 3Ial werden Hinen die Augen
nun noch schwerer und Sie werden noch ruhiger werden. Jetzt zähle ich bis 3
Dann machen Sie die Augen wieder auf. 1 — 2 — 3."
Verf. giebt Folgendes zu Protokoll: „Zunächst empfand ich ein geringes Wärme-
gefühl und Schwere in der Stirne, dann ein Kitzelgefühl in den Augen. Ich be-
obachtete im Anschluss an Ihre diesem Reize angeknüpfte Suggestion eine Asso*
ciation luit einer in Ihrem Vortrage gemachten Bemerkung über Ausnutzung ge-
wisser subjectiver Erscheinungen zur Erzielung der Hypnose.** — Dr. V.: „Haben
Sie vor dem Augens(;hluss etwas fixirt, oder haben Sie gleichgültig vor sich hin
Zur £j*itik der hypnotischen Technik. 149'
gesehen?** — Verf.: „Ich habe ziemlich gleichgültig zur Decke geschaut, ohner
einen bestimmten Punkt zu fixiren. Ich bemerkte, wie mir die Decke allmählich
undeutlicher wurde, und wie zu gleicher Zeit die Empfindung der Schwere in den
Augenlidern auftrat und zunahm. Obwohl ich die Ueberzeugung hatte, dass ich
die Augen noch offen halten konnte, so gab ich der Empfindung der Schwere in
den Augenlidern willig nach und schloss die Augen.
Eine geringe Unruhe, die ich anfänglich hatte, wurde durch die dagegen ge-
richteten Suggestionen aufgehoben. Es stellte sich das Gefühl der Behaglichkeit
ein, was nach dem Lidschluss stärker wurde, und zugleich hatte ich die Neigung
tiefer zu athmen." — Dr. V.: „Wie stand es mit Ihrer Indifferenz, hatten Sie ein
spontanes Sichgehenlassen oder hatten Sie noch ein ausgeprägtes Interesse am Vor-
gang?" Verf.: „Ich verfolgte den Vorgang mit Interesse, verspürte aber gegen
Ende eine Abnahme desselben." Dr. V.: „Wie würden Sie die Hypnose nennen?"
„Ich würde sie einen oberflächlichen Schlummerzustand nennen."
2. Hypnose.
Dr. V. legt seine Hand wieder auf Verf.s Stirn und giebt dann folgende
Suggestionen: „Jetzt werden Sie wieder Wärme unter meiner Hand fühlen. —
„Sehen Sie, Ihr Blick wird schon wieder trüber, die Decke wird Ihnen immer
verschwommener, und nun wird die Wärme wieder auf die Augenlider übergehen,
und ganz allmählich werden sich die Augenlider mehr und mehr zusammenziehen.
— Sie empfinden ein Eitzelgefühl in den Augen, das sich inmier mehr verstärkt,
und Ihnen die Augen zusammenzieht. — Immer mehr. — So (im Moment des
Augensehlusses), immer fester ziehen sie sich zusammen, immer mehr, und allmäh*
lieh kommt auch wieder eine behagliche Kühe über Sie; es wird Ihnen so wohl,
80 behaglich. Sie kommen mehr und mehr in eine behagliche Buhe hinein. — Sie
werden immer gleichgültiger, lassen Sich immer mehr gehen, die Selbstbeobachtung
hört immer mehr auf, und macht einer Neigung zur Ruhe Platz. — Immer mehr
kommen Sie in eine behagliche Buhe. . — Sie vergessen allmählich Alles, was um
Sie her vorgeht, es kommt ein völliges Entspannen des ganzen Körpers über Sie. —
Sie werden immer träger und müder. Immer weniger denken Sie an sich, immer
mehr vergessen Sie Sich selbst und Sie werden immer ruhiger. — Nun werden Sie
Ton Mal zu Mal tiefer in die Hypnose kommen. Immer tiefer. — Nun zähle ich
bis 3. Dann wachen Sie auf. 1 — 2 — 3."
Dr. V.: „Wie war es?"
Verf.: „Da sich die erste Suggestion der Wärme nicht sofort realisirte, trat
in mir die Vorstellung auf, dass ich diesmal nicht zu beeinflussen sei. Dass mir
die Decke nicht verschwommen erschien, verstärkte mich in dieser Meinung. Als
ich aber einen Augenblick nach erfolgter Suggestion nochmals hinschaute, sah ich,
dass sich diese Suggestion doch realisirt hatte, und zugleich trat eine Tendenz zum
Augenschluss ein. Während der Suggestionen der Ruhe und der Gleichgültigkeit
störte mich der Gedanke, dass es nicht gut möglich sei, sich selbst zu vergessen,
während man sich beobachten soll. Hierauf folgte Ihre Suggestion von dem Ver-
schwinden der Selbstbeobachtung. Diese Suggestion machte durch den Umstand,
dass sie gerade in diesem Moment gegeben wurde, einen tiefen Eindruck auf mich
und realisirte sich sofort." Dr. V.: „Wie war Ihr Schlummer? War er tiefer oder
ebenso tief, wie das letzte Mal?" Verf.: „Er war tiefer." Dr. V.: „Wie war es
mit dem Strassenlärm?" Verf.: „Ich erinnere mich nicht, ihn gehört zu haben*
150 ^^^ 8traaten.
Auch meiner Süuation war ioh mir nicht mehr bewnsst. Yon der So^g^stion an,
dasa die Selbitbeobachtong schwinden würde, war fiir Ihre Worte leichte Amnesie
da. Der Gesammtzustand war angenehm." Dr. V.: „Wenn Sie das Einschlafen in
der Hypnose mit dem gewöhnlichen Einschlafen vergleichen, beobachteD Sie dann
irgend einen Unterschied zwischen beiden?" Verf.: „Nein, das Geföhl der behag-
lichen Ruhe und die Abschwächung des Bewusstseins entspricht vollständig dem
Zustande beim gewöhnlichen Einschlafen."
3. Hypnose.
Dr. V. legt wieder die Hand auf Verfs Stirn und giebt folgende Suggestionen:
„Jetzt geht es noch viel schneller. Sie haben noch grössere Tendenz zum Augen-
Bchluss. Sie kommen sehr schön zur Ruhe, immer mehr. Die Selbstbeobachtung
lässt nach. Jede störende Ursache schwindet. Sie kommen immer mehr zur Rohe
und es kommt eine wohlige Behaglichkeit über Sie. Sie haben ganz das Gefühl
des normalen Einschlafens. Sie kommen immer mehr in ein seliges Sichselbst-
vergessen und werden immer ruhiger. Sie werden durch Nichts gestört und dieser
Zustand ist Ihnen so angenehm, so behaglich. Sie konmien immer tiefer hinein,
immer tiefer in einen angenehmen Schlummerzustand. Nichts stört Sie, Sie werden
immer ruhiger. Nun vertieft sich ihr Zustand das nächste Mal noch mehr. Nun
zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen auf. 1 — 2 — 3."
Dr. V.: „Wie war es?" Verf.: „Gleich nach Augenschluss trat die Vorstellmig
meiner Situation und der Umgebung auf. Besonders lebhaft war mir das Bild von
Fr. B., wie sie am Tische sitzend Aufzeichnungen machte. Ich glaube, dass meine
Aufmerksamkeit deshalb auf Er. B. gelenkt wurde, weil ich das Eratzen ihrer Feder
hörte." Dr. V.: „Wie war es mit dem Strassenlärm?" „Meine Anfinerksamkeit
wurde von Fr. B. durch den Strassenlärm abgelenkt, den ich als unangenehm em-
pfand, und der mich an einem tiefern Einschlafen hinderte. Gegen Schluss wurde
ich gegen den Lärm gleichgültiger, ich kam in ein Stadium der behaglichen Ruhe.''
Dr. V. : „Hatte sich Ihr Zustand im Ganzen vertieft im Vergleich mit dem letzten
Male?" Verf.: „Ich glaube nicht." „Ich muss noch hinzufügen, dass ich merkte,
wie Sie gegen Schluss leiser sprachen." Dr. V.: „Sehr viel leiser?" Verf.: „All-
mählich leiser, die Stimme nahm immer mehr ab." (Abnahme der Sensibilität^ da
Dr. V. in Wahrheit nicht so leise gesprochen hatte.) Dr. V. : „Wie waren die Ge-
danken, springend oder stetig?" Verf.: „Die Gedanken waren stetig." Dr. V.:
„Wie war ihre Intensität?" Verf.: „Gegen Schluss constatirte ich eine Abnahme.^
Dr. \\: „Hatten Sie schon lebhaftere Traumbilder?" Verfl: ,>Nein."
4. Hypnose.
Dr. V.: „So — entsprechend dem Sachverhalt — diesmal sind Ihnen die
Augen schon von selber zugefallen. Sehen Sie, Sie kommen immer mehr* hinein.
Nun kommt eine angenehme Gleichgültigkeit gegen Alles, was Sie omgiebt, über
Sie. Sie haben das Gefühl der Ruhe und der Müdigkeit. Immer schwerer wird
diese Müdigkeit, immer tiefer wird die Ruhe. Immer tiefere Müdigkeit kommt
über Sie. Meine Angaben haften immer weniger bei Ihnen, immer weniger. Sie
werden einfach müde, Sie werden ganz gleichgültig, ebenso gleichgültig wie Abends
vor dem Einschlafen. Es kommt ein angenehmer seliger Schlummer über Sie, ganz
von selbst, ganz ohne dass Sie etwas dazu thun. Ihr Schlummer wird immer
tiefer, mehr und mehr; immer tiefer. Die Sinne schwinden mehr und mehr. Immer
mehr kommt ein seliges Vergessen über Sie. Sie werden gleichgültig gegen den
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 151
Lärm auf der Strasse. Meine Worte wirken nicht störend auf Sie. Sie hören Alles
wie aus weiter Ferne, immer leiser, und Sie kommen immer tiefer zur Ruhe, immer
tiefer, mehr und mehr. Sie empfinden mehr und mehr ein spontanes Sichgehen-
lassen, eine tiefe, behagliche, selige Ruhe. Jetzt zähle ich bis 3. Dann machen Sie
die Augen wieder auf. 1 — 2 — 3."
Verf. : „Ich stand von Anfang an unter dem Einflüsse der Suggestionen. Ich
hatte ganz das Gefühl, als ob ich schlief, aber ohne vollständige Bewusstseinsauf-^
lösung. Der Zustand entsprach vollständig den gegebenen Snggestionen. Am
Schluss war ich entschieden tiefer. Ich hatte während der Hypnose etwas Herz-
klopfen." Dr. V.: „Erinnern Sie Sich noch meiner Suggestionen?" „Ich erinnere
mich nicht mehr des Wortlauts.** „Wodorch sind Sie erwacht?" Verf.: „Sie sagten
„Zähle bis 3, dann sind Sie wach." Dr. V.: „Haben Sie das wirklich gehört oder
haben Sie es sich nur gedacht?" Verf.: „Das hab' ich mir wohl nur gedacht. Ich
erinnere mich aber 3 gehört zu haben."
6. Hypnose.
Dr. V.: „Jetzt kommen Sie immer tiefer hinein, immer mehr zur Kühe.
Immer mehr Schlaf senkt sich auf Sie. Sie merken, dass der Schlaf tiefer wird.
Sie haben das Gefühl, auf dem Wege zu sein, tiefer hineinzukommen. Immer
mehr vergessen Sie Sich selber. Immer mehr verfallen Sie in einen tiefen Schlal
Mehr und mehr vergessen Sie Sich. Immer tiefer kommen Sie hinein. Sie haben
immer weniger Bewusstsein von Ihrer Umgebung, von Ihrem Ich, bis sie ganz ein-
schlafen. Immer tieferes Sichselbstvergessen kommt über Sie. Immer seligerer
Schlaf senkt sich auf Sie. Immer weniger wissen Sie von Sich, ohne Ihr Zuthun
kommt immer mehr Schlaf über Sie. Jetzt zähle ich bis 3. Dann werden Sie
wach. 1 — 2 — 3."
Zeitdauer der Hypnose: 2 Min. 32 See.
Verf. : „Während der Hypnose hatte ich Herzklopfen, was meine Aufmerksam-
keit von den Suggestionen ablenkte. Indem ich darüber nachdachte, was die Ur-
sache sein könnte, fiel mir ein, dass ich schon beim Herkommen des Hypnotisirens
wegen unruhig war und Herzklopfen bekam. Für das gegenwärtige Herzklopfen
fand ich keinen Grund. Der Zustand war oberflächlicher und ich hatte das Gefühl
von Unruhe. Ich würde den Gesammtzustand einen unruhigen oberflächlichen
Schlaf nennen. Das Bewusstsein war gegen Ende verdunkelt. Nur war meine Auf-
merksamkeit noch schwach auf das Aufwecken gerichtet, und ich kann mich der
Art des Aufweckens entsinnen." (112 Pulsschläge.)
6. Hypnose.
„So, jetzt werden Sie ganz tief hineinkommen. Das Herzklopfen schwindet
immer mehr und an seine Stelle tritt ein wohliges, angenehmes Gefühl der Behag-
lichkeit. Es kommt eine völlige selige Ruhe über Sie. Sie fühlen keine Aengstlich-
keit, kein Herzklopfen, keine Unruhe. Es ist Ihnen so wohl, so ruhig. Immer
ruhiger werden Sie, immer ruhiger. Der Zustand wird immer behaglicher. Sie
fühlen Sich so wohl, so behaglich. Immer mehr senkt sich wohlthuender Schlaf auf
Sie. Nichts stört Sie mehr, und es kommt ein richtig behagliches Wohlbehagen
über Sie, ein angenehmer Schlaf. Sie geben Sich diesem Schlaf immer mehr hin.
Immer weniger denken Sie an Sich. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen auf. 1— 2— 3."
Zeitdauer der Hypnose: 3 31in. 26 See. Puls 92.
152 ^An Straaten.
Verf. : ;, Von Ihrer Suggestion betreffend das Schwinden des Herzkloplens ist mir
die Erinnerung bewahrt. Ich habe darauf deutlich das rasche Verschwinden des
Herzklopfens verspürt. Unter diesem Eindruck kam ich rasch in einen tiefen
Schlaf^ustand, den ich von allen für den tiefsten halte. E» war ein ▼ölligea Selbst-
vergessen vorhanden."
Einige BemerkuDgen allgemeinerer Art, die sich nicht ausschliess-
lich auf die Erfahrungen der ersten Sitzung stützen, sondern sich zum
Theil auch auf Beobachtungen beziehen, die ich in späteren Sitzungen
gemacht habe, möchte ich gleich im Anfang erwähnen.
Ich hatte häufiger Gelegenheit gehabt, O. Vogt h3rpnotisiren zu
sehen. Die prompte Erzielung hypnotischer Zustände der rerschie-
densten Grade bei eine;- Anzahl Personen hatten mich von O. Vogt 's
Autorität auf dem Gebiete des Hypnotismus überzeugt, imd so trat
ich denn mit der Erwartung an die Versuche, dass, wenn ich überhaupt
zu hypnotisiren sei, es 0. Vogt gelingen müsse. Die Idee, dass der
Hypnotiseur nicht die nöthige Gewandtheit besitzt, ist mächtig genug,
die gegebenen Suggestionen unwirksam zu machen. Das habe ich
in 0. Vogt's Poliklinik beobachtet. Eine Frau, die längere Zeit von
O. Vogt hypnotisch behandelt worden war, wurde von einem Collegen,
der die Methodik beherrschte, hypnotisirt. Es gelang ihm erst nach
mehreren Versuchen eine Hypotaxie zu erzielen. Ein tieferes Schlaf-
stadium konnte; nicht erreicht werden, weil die Frau die Idee hatte,
dass dieser Arzt es nicht verstand. Sie war leicht hypnotisirbar, und
wurde von mir, nachdem sie erfahren hatte, dass ich in O. Vogt's
Poliklinik schon häutig die Hypnose angewandt katte, mit Leichtigkeit
in tiefe Hypnose versetzt. Daraus geht für uns hervor, dass der Arzt,
der sich des Hypnotismus zu Heilzwecken bedient, seinen Patienten
die nöthige Achtung vor seinem Können beibringen muss.
Auf di(; Wichtigkeit günstiger physikalischer Bedingungen ist schon
häutig aufmerksam gemacht worden.
Ich wurde in einem behaglich warmen Zimmer hypnotisirt.. Jedoch
durch eine zu grosse Wärme wurde in Folge des damit verbundenen
Unbehagens die Hypnose einige Male störend beeinflusst, woraus folgt,
dass man auch solche nebensächlich erscheinenden Dinge, wie Tempe-
ratur, zu berücksichtigen hat. Ferner lag ich auf einer sehr bequemen
Chaiselongue. Ich habe mich davon überzeugt, dass eine zufaUig ein-
genommene unbequeme Lage auch störend wirken kann, indem dadurch
häutig di(5 Aufmerksamkeit von den Suggestionen abgelenkt wird.
Eine Patientin erklärte mir nach einer Hypnose, die Suggestionen
hätten nicht auf sie einwirken können, weil sie in ihrer Aufmerksamkeit
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 153
häufiger durch einen unbequem sitzenden Kragen gestört worden sei.
Es ist vielleicht nicht unwichtig, den Patienten in dieser Hinsicht
möglichst entgegenzukommen.
Ein Zimmer, wohin der Lärm der Strasse nicht dringen kann, ist
ohne Zweifel das passendste für hypnotische Experimente oder Be-
handlung. Das Zimmer, in dem ich hypnotisirt wurde, war dem Ge-
räusch der Strasse in massigem Grade ausgesetzt. Aber trotzdem ich
sehr empfindlich gegen Lärm von jeher gewesen bin, so gelangen die
Experimente doch, weil O. Vogt durch seine Suggestionen die störenden
Eindrücke in ihrer Wirkung herabzusetzen resp. aufzuheben verstand.
Ausser 0. Vogt und Frau B, nahm Niemand an der Hypnose
Theil. Durch ihre Gegenwart wurde meine Ungezwungenheit in keiner
Weise beeinträchtigt. Ich würde es aber als sehr unangenehm empfunden
haben, wenn sich im Zimmer noch eine Person aufgehalten hätte, die
etwa durch ihr Gebahren ein Misstrauen den hypnotischen Experimenten
gegenüber gezeigt hätte, oder bei dem ich ein Misstrauen vermuthet
hätte. Es hätte mich zu sehr geärgert, für einen Betrüger angesehen
zu werden, als dass ich die nöthige Ruhe für die Experimente be-
wahrt hätte.
Dass schon ein auffälliges Zuschauen eines Dritten genügt, um
die Hypnose zu stören, habe ich in der Poliklinik beobachtet. Ich hatte
schon mehrere Male bei einem 12jährigen Mädchen tiefe Hypnose er-
zielt. Als dasselbe nun einmal beim Hypnotisiren von einem Dritten
aufmerksam beobachtet wurde, konnte ich nur Hypotaxie erzielen. Ein
tieferes Stadium war trotz aller Sorgfalt nicht zu erzielen. Das Kind
verrieth eine gewisse Beunruhigung. Als ich es nun noch einmal
hypnotisirte, nachdem der BetreflFende sich entfernt hatte, war es mir
leicht, wiederum tiefe Hypnose zu erzielen.
Es erscheint mir aus diesem Grunde zweifelhaft, dass sich der
Hypnotismus für klinische Demonstrationen eignet, wenigstens soweit
es sich nicht um dafür eingeübte Personen handelt.
Wie aus den Experimenten hervorgeht, wurden bei mir die Sug-
gestionen stets in der Form freundlicher Versicherung ihres baldigen
Eintritts gegeben. Befehlsform wurde nicht angewandt. Diese würde
mich persönlich unangenehm berührt haben, und hätte meine Opposition
herausgefordert. Wenn ich mich hypnotisiren lasse, so geschieht es
doch mit meinem Willen. Ich bedarf dazu nur der Anleitung des
Hjrpnotiseurs, indem er durch seine Suggestionen bei mir die Schlaf-
vorstellung wecken soll. Ein Befehlen hat da doch eigentlich keinen Sinn.
]54 ^'^^ Straaten.
Demonstrationen hatten auf mich wohl nur suggestiven Eünfloss,
während sie für voreingenommene Menschen den grossen Werth haben,
dass mit einem Schlage die Vorurtheile, die durch den Missbrauch des
Hypnotismus und den Kraftspruch von Autoritäten entstandeu sind,
beseitigt werden.
Was nun die 1. Sitzung speciell betrifft, so verfolgen die Suggestionen
der ersten Hypnose den Zweck, den Augenschluss herbeizuführen, und
ein Gefühl der Behaglichkeit und Ruhe zu schaffen. Dieses geschiebt
zum Theil mit geschickter Ausnutzung von bei mir auftretenden sub-
jectiven Empfindungen. Nachdem ich O. Vogt mitgetheilt hatte, dass
ich an meinen Augen ein Kitzelgefuhl hatte, knüpft er daran die
Suggestion, dass sich der Beiz vermehren würde. Meine dabei auf«
tauchende Erinnerung an eine früher gemachte Bemerkung O. Yogt's
über die Ausnutzung subjectiver Erscheinungen vereitelte zwar diese
Suggestion, während sich aber die Suggestion, dass meine Lidspalte
allmählich enger würde, realisirt, nachdem O. Vogt mich darauf
aufmerksam gemacht hatte, dass eine Verengung schon eingetreten war.
Die Suggestionen der zweiten Hypnose sind schon zum Theil auf
die Herbeiführung eines Schlafzustandes berechnet. Es wird auch schon
ein tieferer Zustand erzielt.
Die Eigenart der Methode O. Vogt's kommt in dieser Hypnose
schon mehr zur Geltung, weil er durch das Examen nach der 1. Hypnose
erfahren hatte, welche Erscheinungen sich in dieser Hypnose eingestellt
hatten. Diese Erscheinungen, Verschleierung des Blickes, Kitzelgefuhl
in den Augen, Schwinden der Selbstbeobachtung, werden, da ihr Ein-
treten sehr wahrscheinlich ist, geschickt verwendete Die Suggestion
des Schwindens der Selbstbeobachtung realisirte sich deshalb so intensiv,
weil sie im Momente gegeben wurde, wo mich der Gedanke störte,
dass die Selbstbeobachtung beim schwindenden Bewusstsein an Schärfe
abnehmen müsse. Die Idee, dass O. Vogt diese Reflexion ahnte, rief
einen grossen Eindruck auf mich hervor, und erhöhte meine Suggesti-
bilität in nicht geringem Maasse.
Aus diesen Thatsachen geht für unsere Methode hervor, dass der
Hypnotiseur durch eine feine Beobachtung objectiver Erscheinungen,
durch ein genaues Eingehen auf subjective Erscheinungen des zu
Hypnotisirenden bestrebt sein muss, geeignetes Material für seine
Suggestionen zu sammeln ; mit einem Worte, der Hypnotiseur muss sich
ganz genau den individuellen Tendenzen des zu Hypnotisirenden an-
passen. Wir können daraus gleich den Schluss ziehen, dass die Verbal-
Zur Kritik der hypnotifchen Technik. 155
BuggestioDy so gehandhabt, nie zur Schablone werden kanu^ dass sie
femer eine gute psychologische Schulung voraussetzt, und dass sie, was
sehr wichtig ist, die Garantie bietet, dass unangenehme Zufalle, die ja
nur durch autosuggestive Associationen oder gemüthliche Erregungen
entstehen können, vermieden werden.
Auch die Suggestionen der 3. Hypnose suchen eine Vertiefung des
Schlafes zu erstreben. Ihr Inhalt entspricht im Wesentlichen dem der
Torhergehenden Hypnose, und knüpft wieder an meine individuellen Ten-
denzen und Befürchtungen an. Als störendes Moment ist der Strassen-
lärm zu erwähnen. Wenn derselbe auch nicht intensiver war, wie
vorher, so wirkte er deshalb störend, weil die Aufmerksamkeit sich
speciell auf ihn lenkte, was durch die Frage nach dem Lärm beim
Examiniren der zweiten Hypnose bedingt war. Dasselbe Verhalten
habe ich bei einigen Patienten in O. Vogt's Poliklinik beobachtet.
Nach einigen Hypnosen erkundigte ich mich danach, ob sie den Lärm
auf der Strasse gehört hätten. Sie antworteten, der wäre ihnen nicht
aufgefallen, oder sie hätten ihn nicht gehört etc. Wenn ich dann nach
der folgenden Hypnose sie wieder examinirte, so erklärten sie, sie hätten
nicht so gut «einschlafen können, weil der Lärm gestört hätte, oder weil
der Lärm ihre Aufmerksamkeit abgelenkt hätte etc.
Hier entdecken wir also einen Nachtheil des Examinirens. In
diesem Falle ist er sehr gering. Aber er ist doch geeignet, uns in Betreff
des Fragens wichtige Fingerzeige zu geben. Wir müssen unsere Fragen
derartig stellen, dass die Aufmerksamkeit des zu Hypnotisirenden nicht
auf störend wirkende Dinge gelenkt wird, dass in ihm durch dieselben
nicht nachtheilig wirkende Autosuggestionen wachgerufen werden.
Daraus erkennen wir, mit wie viel Tact und Vorsicht das Examiniren
zu geschehen hat.
Während in der 4. Hypnose unter weiterer Anwendung auf Ver-
tiefung des Schlaf zustandes hinzielender Suggestionen ein sehr tiefes
Schlafstadiüm hervorgebracht wird, ist die Schlafhemmung in der
6. Hypnose eine weniger ausgedehnte, und der Schlaf gewinnt durch
eine Eigenthümlichkeit , nämlich durch das während der Hypnose
auftretende Herzklopfen und die damit verbundene Unruhe einen
nuruhigen Character. Hier zeigt sich nun so recht, wie nothwendig
das Examiniren ist. Wäre O. Vogt diese Erscheinung verborgen ge-
blieben, so hätten sich auf Grund von Autosuggestionen das Herz-
klopfen und die Unruhe in folgenden Hypnosen sehr wahrscheinlich
wiederholt, sie hätten stärkere Grade annehmen, und eine Menge
156 ▼t^Q Straateo.
anderer unangenehmer Erscheinungen im Gefolge haben können. —
O. Vogt ist aber auf Grund der Mittheilung Ton dem Herzklopfen
in der Lage, durch geeignete Suggestionen in der folgenden Hypnose
das Herz zu beruhigen und die Unruhe zu beseitigen. Der hypnotische
Zustand erlangt nach wenigen Suggestionen eine derartige Tiefe, dass
Amnesie auftritt. Dieser Erfolg ist wohl dadurch bewirkt, dass die
Realisation der gegen das Herzklopfen und die Unruhe geiichteteD
Suggestionen meine Suggestibilität stark steigerte. Demnach kann dem
Hypnotiseur das Auftreten von harmlosen Organempfindungen etc.^ wenn
er in der Lage ist, dies zeitig genug zu merken, willkommen sein.
II. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V. : „So, nun fühlen Sie wieder eine Wärme unter meiner Hand. Diese .
Wäruie geht allmählich auf die Augenlider über. Nun empfinden Sie eine Schwere
in den Augenlidern. Ihr Blick wird trübe, Sie sehen immer ondeatlicher. Immer
schwerer werden Ihre Augenlider, immer schwerer. Immer mehr ziehen sich die
Augenlider zusammen, immer mehr, und es kommt eine behagliche Hohe über Sie.
Ihr Herz wird immer ruhiger (Auflegen der Hand auf das Herz). Die Aihmung
wird immer ruhiger. (Suggestion sofort realisirt, merkliche Verlangsamang des
Atheniholens.) Ihr Herz wird immer ruhiger, das Herzklopfen lässt mehr und
mehr nach. Sie kommen immer mehr zur Ruhe. Das Herzklopfen lässt ganz
schön nach. Sie werden immer ruhiger." (Längere Pause.) Hierauf leiser: „So.
jetzt kommen Sie immer mehr zur Ruhe, es kommt eine selige, behagliche Schläfing-
keit über Sie, eine völlige Gleichgültigkeit gegen Alles, Ihre Selbstbeobachtung hört
auf, Sie fühlen von Ihrem Herzen nichts. Sie kommen ganz schön zur Ruhe.**
(Pause.) „Nun zähle ich bis 3. Dann sind Sie wach. 1 — 2 — 3."
Dr. V.: ,.Nun, wie war es?"
Verf.: „Nachdem Sie durch Ihre Suggestionen den Augenschluss hervor-
gerufen hatten, suchte ich die Augen wieder zu öffnen, wie ich mir vor der Hypnose
vorgenommen hatte. Je mehr ich versuchte, um so krampfhafter contrahirte sich
der Musculus orbicularis. Ich stand dann sofort von ferneren Versuchen ab. Am
Anfang der Hypnose hatte ich auch Herzklopfen; nach Ihrer Suggestion, dass das
Herzklopfen aufliören würde, hörte dasselbe auf; ich fühlte mich dann sehr be-
haglich. Meine Aufmerksamkeit wurde dann gleich auf das Ciavierspielen (in der
Etage über dem Versuchszimmer) gelenkt. Ich empfand das Ciavierspielen als
sehr störend und unangenehm. Gegen Ende der Hypnose wurde ich gegen das
Spielen gleichgiltiger. Ich kam tiefer in den Schlaf hinein." Dr. V.: „Haben Sie
noch meine Worte gehört?" Verf.: „Ich weiss, wie Sie mich aufgeweckt haben.**
Dr. V. : „Was habe ich vorher gesagt?" „Daran erinnere ich mich nicht mehr ganz
deutlich. Ich glaube, Sie haben gesagt, ich würde tiefer hineinkommen, ich würde
gegen alle (Tcräusche gleichgiltiger." (Dr. V. bemerkt, dass er die Geräusche gar nicht
erwähnt habe. Fr. B. liest Verf. den Passus über die Gleichgiltigkeit vor.) Verf.:
„Jetzt erinnere ich mich deutlich, dass ich Ihre Suggestionen bezüglich der Gleich-
giltigkeit auf die Geräusche bezogen habe. Daraufhin realisirte sich die Suggestion
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 157
• in Beziehung auf die Geräusche und das Klavierspielen." Dr. V.: „Waren Sie be-
wusstlos?" Verf.: „lUein Bewusstsein war gegen das Ende stark verdunkelt, ich
war gegen Alles indifferent."
2. Hypnose:
Dr. V.: „So, nun lassen Sie nur die Augen möglichst lange auf. Sehen Sie,
es geht noch schneller. Nun werden Sie gegen Geräusche noch indifferenter werden,
und es kommt eine selige Ruhe über Sie, ein so behaglicher Schlummer, der immer
mehr zunimmt, Sie Alles vergessen macht, und Sie in richtigen Schlaf überfuhrt.
Immer tiefer kommen Sie hinein. Der Zustand nähert sich immer mehr dem ge-
wöhnlichen tiefen Nachtschlaf. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen
wieder auf. 1. 2, 3. — 1, 2, 3. — 1, 2, 3. — 1, 2, 3. — 1, 2, 3." Beim 2. Mal
Augen offen, ohne vollständiges Erwachen. Beim ö. Mal ganz wach.)
Dr. V.: „Nun, wie war es?"
Verf.: „Ich gerieth rasch in einen tiefen Schlaf zustand. Es trat zwar eine
Vorstellung meiner Situation in mir auf Die Vorstellung nahm aber an Lebhaftig-
keit immer mehr ab, und verschwand, ohne von einer anderen abgelöst zu werden."
3. Hypnose: „So, nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. So, nun
fallen Sie Ihnen schon fest zu. Immer mehr zieht es die Augenlider zusammen.
Immer mehr. Sie kommen ganz tief hinein. Ihre Sinne schwinden Ihnen voll-
ständig. Ihre Ueberempfindlichkeit gegen die Geräusche schwindet ganz; die
existiren einfach nicht mehr für Sie. Sie schliessen Sich ganz von der Aussenwelt
ab. Es ist, als wären für Sie keine Geräusche mehr da. Immer tiefer kommen
Sie hinein. Sie geben Sich voll und ganz einer angenehmen Gleichgiltigkeit hin.
Sie kommen immer tiefer hinein. So, immer mehr werden Sie hineinkommei^."
- (Pause.) Immer mehr, immer tiefer. (Störung des Versuches durch zweimaliges
Klopfen an der Thüre.) Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen auf.
1, 2, 3. — 1. 2, 3." Zeitdauer der Hypnose: 3 Min. 15 See.
Verf.: „Der Zustand war auch diesmal ein sehr tiefer. Ich habe wohl noch
Klavierspielen gehört, war aber vollkommen gleichgiltig dagegen. Ebenso gegen
Klopfen an der Thür und Rauschen von Kleidern. Das fesselte mein Interesse in
keiner Weise."
4. Hypnose:
Dr. V. : „So, nun fallen Ihnen die Augen noch viel schneller zu. Nun kommt
immer mehr Gleichgiltigkeit gegen alle Geräusche über Sie. Lassen Sie Sich ein-
fach gehen. Gerade dieser Indifferentismus ist der erste Schritt zum Schlaf. Der
Schlaf kommt einfach. Sie beobachten Sich nicht mehr. Sie vergessen Sich mehr
und mehr. Der Schlaf senkt sich einfach über Sie. Ohne dass Sie daran denken.
Immer mehr kommen Sie zur Kühe. Immer mehr. Und Sie kommen allmählich
in einen tiefen Nachtschlaf. Nichts stÖrt Sie mehr. Sie schlafen einfach, vergessen
Sich vollständig. Nun zahle ich bis 3. Dann machen Sie die Augen wieder auf.
1, 2, 3." (Zeitdauer: 4 3Iin. 15 See.)
Verf.: „Ich befand mich in einem ziemlich tiefen Schlafzustand. Durch das
Glavierspielen wurde ich nur im Anfang gestört. Später war ich vollkommen in-
different dagegen. Ich bin durch eine Eigenthümlichkeit gestört worden, nämlich
dadurch, dass meine Aufmerksamkeit auf das Ticken Ihrer Uhr gelenkt wurde,
das ich ganz deutlich hörte." Dr. V.: ^Hören Sie das Ticken jetzt noch?" Verf.
(nach scharfem Hinhorchen) : „Nein, jetzt nicht." (Die Uhr ging in derselben Ent-
1^ van Straaten.
femung^ unter denselben Umständen weiter.) Dr. Y.: „Hörten Sie das Ticken wie
im Traum oder mehr wie in Ueberempfindlichkeit?*' Verfl: |,XJeber den Untenchied
bin ich mir nicht klar. — Meine Aufmerksamkeit concentrirte sich derart auf das
Ticken, dass ich den Wortlaut und den Inhalt der gegen Ende der Hypnose ge-
gebenen Suggestionen nicht kenne. ^
6. Hypnose.
Dr. V.: ^So, nun wird es noch schneller gehen. Es wird Ihnen unter meiner
Hand wieder warm werden. Die Augen fallen Ihnen wieder zu. So> ganz fest«
Sie kommen immer tiefer hinein. Sie werden so angenehm ruhig werden, durch
nichts gestört werden. (Dr. V. hebt Verf.s linken Arm hoch.) Sie kommen immer
mehr zur Ruhe. Ganz schön kommen Sie zur Ruhe. (Dr. V. legt seine Hand auf
Verf.s Herz.) Immer tiefer kommen Sie hinein. So, immer tiefer, ganz schon.
(Arm kataleptisch). Immer mehr kommen Sie hinein. Ganz schön. Immer mehr.
(Tiefe Respirationen des Verf.s). Ganz schön kommen Sie zur Ruhe. Sie athmea
immer gleichmässiger. Immer mehr wird nun die Athmnng ruhig und Sie werden
so schön ruhig. Ihre Athmung wird noch immer ruhiger werden. Sie komm^i
noch immer tiefer hinein. So jetzt schlafen Sie immer mehr. Sie empfinden immer
weniger jede Störung. (Arm sinkt allmählich). Immer mehr kommen Sie zur
Ruhe. (Arm wird beim Emporheben wieder steif). Immer mehr noch zur Ruhe.
(Arm steifer.) Sie versinken in seligen Schlummer. Sie kommen noch immer
tiefer hinein. Ganz schön tief. (Dr. V. öffnet Verf.8 Hand, die Finger bleiben in
gegebener Stellung.) Immer mehr noch kommen Sie hinein, ganz schon tief
kommen Sie zur Ruhe. Immer mehr kommt eine selige Ruhe über Sie. (Ann
schlaffer, liegt auf Dr. V.'s Knie auf.) Immer tiefer noch kommen Sie hinein.
Ganz schön, immer tiefer noch kommen Sie hinein. (Arm schlaff, sinkt beim Auf-
heben schlaff herab.) Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen wieder
auf. 1. 2. 3."
(Zeitdauer der Hypnose : 7 Min. Katalepsie 1 Min. nach Beginn der Hypnose,
Ende der 6. Min vorbei).
Dr. V.: „Nun, wie war es?" Verf: „Ich befand mich bald in Hypnose. Dann
ergriffen Sie meine Hand und hoben meinen Arm empor." Dr. V.: „Wie lange
hielt ich den Arm?" Verf.: „Etwa •/, der Zeit." Dr. V.: „Haben Sie, als ich den
Arm emporgehoben habe, eine Idee, eine Vorstellung angeschlossen?*' „Ich war
neugierig zu beobachten, was mit meinem Arm jetzt passiren würde, und ich fühlte,
dass mein Arm und meine Hand in jeder gegebenen Stellung verharrte." Dr. V.:
„Hatten Sie einen Moment die Vorstellung, dass Katalepsie eintreten würde?" Verf.:
„Ich bin mir keiner Autosuggestion bewusst, dass mein Arm steif werden musste.*'
Dr. V.: „Sind Sie eingeschlafen, als der Arm sank oder wurden Sie wacher?*
Verf.: „Gegen Schluss kam ich tiefer in die Hypnose." Dr. V.: „Haben Sie den
Arm auf der Decke gefühlt, als er Ihnen zum Schluss niedersank ?** Verf.: „Nein."
Dr. V.: ,,\Vie war es mit der gesteigerten Respiration?" Verf.: „Dieselbe wurde
wohl durch das Gefühl der Behaglichkeit und ein starkes Lustgefühl erregt." Dr. V.:
„Wie war Ihr Zustand am Schluss?" Verf.: „Es ist mir nichts vom Schluss be-
wusst." Dr. V.: „Wie sind Sie geweckt worden?" Verf.: „Ich vermute mit 1, 2,3.
— Ich habe fast das Gefühl, als ob ich einen Traum gehabt hätte. Ich finde aber
kein Thema dafür."
Bern.: Etwa 1 Stunde nach der Sitzung erinnerte ich mich, dass ich bei der
Zur Ejitik der hypnotischen Technik. 159
Beobachtung der auftretenden Katalepsie ein starkes Lustgefühl über das Gelingen
derselben hatte, und es wurde mir klar, dass ich einen Irrthum begangen hatte,
indem ich glaubte, geträumt zu haben. Zu dieser Vermuthung kam ich auf
Grund der wiederholten Erfahrung, dass, wenn ich beim Erwachen aus dem ge-
wöhnlichen Schlaf ein Lustgefühl hatte, dasselbe meist auf angenehme Traume
zurückzufuhren war, deren ich mich nach einigem Nachdenken entsinnen konnte.
In der ersten Hypnose versuchte ich, nach Augenschluss die Aug^i
wieder zu öffnen. Es gelingt mir nicht; der Musculus orbicularis con-
trahirte sich krampfhaft. Das psychologische Zustandekommen dieses
Phänomens berührt unser Thema nicht weiter. Es verdient aber des-
halb hier erwähnt zu werden, weil es als ein untrügliches Zeichen
hypnotischer Beeinflussung auf den Hypnotisirten eine die Suggestibilität
erhöhende Wirkung ausübt, und die Realisation der folgenden Sug-
gestionen erleichtert. Aus dieser Beobachtung könnte man nun leicht
den Schluss ziehen, dass solche Phänomene im Interesse der Steigerung
der Suggestibilität erzielt werden müssten, etwa in der Art: ;,Ihre
Augen sind jetzt fest geschlossen, Sie können sie jetzt nicht mehr auf-
machen. Je mehr Sie es versuchen, um so mehr ziehen sich die
Augenlider fest zusammen.^ Oder man könnte nach Augenschluss
einen Arm emporheben und erklären: „Der Arm ist jetzt ganz steif,
Sie können ihn nicht mehr bewegen.^ Diese Methode birgt einige
Gefahren in sich. Realisirt sich eine so auffällige Suggestion nicht,
so wird die Suggestibilität eher beeinträchtigt als gefordert. Würde
der Hypnotiseur die Augen zuhalten, oder das Bewegen des Armes
erschweren, so liegt die Gefahr nahe, dass dies vom Patienten gemerkt
und für plumpen Betrug gehalten wird. Manche werden fernerhin beim
Hervorrufen solcher Phänomene das Empfinden haben, dass diese nur
durch eine gewaltige Schwächung ihrer Willenskraft zu Stande kommen
können. Da nun aber die Ansicht, dass durch das Hypnotisiren die
Willenskraft geschwächt wird, allgemein noch sehr verbreitet ist, und
zu einer gewissen Scheu vor dem Hypnotisiren Veranlassung gegeben
hat, so sollte man sie nicht noch mehr durch derartige Experimente
provociren. Nur da, wo von Seiten des Patienten ein Zweifel an
seiner Beeinflussbarkeit besteht, würde dieses Mittel anzuwenden sein.
Als ein die Hypnose störendes Moment tritt wieder Herzklopfen
auf. Da es aber zeitig bemerkt wird, so wurde es durch mehrfache
Suggestionen beseitigt, und so durch Realisation dieser Suggestion die
Suggestibilität noch mehr gesteigert.
Beachtenswerth ist noch, dass ich die Suggestion der Gleichgiltig-
Iceit, meinem Bedürfniss, dem störenden Einfluss des Klavierspielens
160 ^&i3 Straaten.
entrückt zu werden, entsprechend so auslege, als wenn sie speciell
gef^en das Klavierspielen gerichtet wäre. Man glaubt fast, hieraus
schliessen zu müssen^ dass es empfehlenswerth sei, die Suggestionen
möglichst allgemein zu formuliren, wenigstens im Anfang, wo man mit
den individuellen Eigenheiten des zu H}3)notisirenden nocht nicht ver-
traut ist, um denselben so Gelegenheit zu geben, die Suggestionen,
seinem Bedürfniss entsprechend anzupassen. In vielen Fällen, besonders
bei Hysterischen ist es aber wüuschenswerth, den Autosuggestionen
möglichst wenig Kaum zu geben, damit die Hypnose die beabsichtigte
Richtung nicht einbüsst.
In den beiden folgenden Hypnosen sehen wir unter der Einwirkung
auf Vertiefung des Schlafzustandes hinzielender Suggestionen, eine
grössere Vertiefung des Schlafes eintreten. Es besteht ein voUiger
IndifTerentismus gegen die Geräusche.
In der 5. Hypnose trat trotz ihrer langen Dauer erst gegen Ende
derselben eine tiefere Schlafhemmung auf. Wenn ich diese Beob-
achtung mit denen der 3. Sitzung vergleiche, so neige ich dazu, dafür
die Hervorrufung der Katalepsie verantwortlich zu machen.
Wenn auch nicht direct zu unserem Thema gehörig, wollen wir
doch noch 2 Punkte kurz berühren.
Es ist interessant, zu constatiren, wie in der 4. Hypnose neben
der ausgedehnten Schlafhemmung speciell für das Ticken der Uhr ein
Wachsein besteht, und nun in Folge dieses partiellen Wachseins eine
derartige Ueberempfindlichkeit für das Ticken der Uhr vorhanden ist,
dass ich es deutlich wahrnehme, während ich im Wachen gar nicht
dazu im Stande war.
Was die Katalepsie der 5. Hypnose anbelangt, so bin ich mir
absolut nicht bewusst, das Zustandekommen derselben irgend wie durch
die Idee, oder die Erwartung ihres Eintritts oder Befürchtung ihres
Nichteintritts beeinflusst zu haben. Es handelt sich also um Bern-
h (»i m ' s passive Katalepsie. Sie trat mit zunehmender Schlafhemmung
auf, und verschwand, als diese noch wesentlich mehr zunahm. Es ist
das ja ein Verhalten, wie es den mir damals noch nicht bekannten
zahlreichen Beobachtungen 0. Vogt 's entspricht, ohne in seiner
Isolirtheit besondere Beweiskraft zu haben.
III. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun werden Sic schön zur Ruhe kommen. Die Augenlider fidlen
Ihnen immer mehr zu. Ganz schön, immer mehr. Immer fester schlieseen sich die
Die Kritik der hypnotischen Technik. 161
Augen. Nun kommen Sie ganz schön zur Ruhe. Vergessen Sich immer mehr.
Immer tiefer kommen Sie hinein in einen angenehmen Schlaf Nichts stört Sie
mehr. Sie werden durch keine Geräusche gestört. Sie kommen einfach in einen
seligen behaglichen Schlaf. Immer mehr yergessen Sie Sich. Immer mehr nimmt
der Schlaf zu, immer mehr verstärkt sich der Schlaf. Sie schlafen ganz schön ein.
Sie kommen mehr und mehr zur Ruhe (Suggestionen zunehmend leiser gegeben),
werden durch nichts gestört. Oanz und gar vergessen Sie Sich. Immer mehr
kommen Sie hinein. (Pause.) Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf Sie. (Arm
wiederiioH emporgehoben.) Immer mehr Schlaf kommt über Sie. (Arm wurde
kataleptisch.) Immer mehr kommen Sie hinein. (Arm beginnt zu erschlaffen.)
Immer fester, immer tiefer wird der Schlummer, immer tiefer die Ruhe. Sie
kommen Tollständig in einen behaglichen. Schlaf; immer mehr kommen Sie zur
Ruhe. (Bisherige Zeitdauer 4^/4 Min. Immer mehr kommen Sie^ hinein, immer
tiefer. Ganz tief kommen Sie hinein. Ihr Zustand vertieft sich immer mehr. Sie
kommen in einen ganz tiefen Schlaf. (Pause.) Immer tiefer werden Sie hinein-
kommen. Immer mehr. (Es wird 2 Mal an die Thür geklopft. Der darauf wieder
emporgehobene Arm zeigt von Neuem Katalepsie. £r beginnt aber bald wieder
zu erschlaffen. Darauf Sprechen im Nebenzimmer. Jetzt wieder Katalepsie des
Armes. Die Schlafsuggestionen gehen während der Zeit weiter. £s wird im All-
gemeinen die Katalepsie am linken Arm geprüft; wiederholt werden aber kurze
Prüfungen am rechten Arm vorgenommen. Hierbei zeigte sich die Katalepsie
rechts weniger ausgeprägt.) Immer mehr kommen Sie hinein. Es kommt immer
mehr Schlaf über Sie. Nichts stört Sie mehr. (Pause.) Arm senkt sich. Arm
liegt auf Dr. Vogts Arm auf, leicht steif. Hand senkt sich, tiefes Aufathmen. Arm
schlaff. (15 Min. 16 See.) Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die Augen auf.
1 _ 2 — 3. 1 — -2 — 3.« Zeitdauer 17 Min.
Dr. V.: „Nun wie war es?"
Verf.: „Ich erinnere mich der Art des Weckens; was Sie kurz vorher gesagt
haben, weiss ich nicht. Ich merkte wieder, dass Sie meinen linken Arm ergriffen,
ihn emporhoben, und dass sich eine Katalepsie einstellte. Ich wunderte mich, dass
der Arm in dieser für ihn nicht ganz bequemen Stellung nicht müde wurde.''
Dr. V.: „Haben Sie in beiden Armen was gemerkt?" Verf.: „Ich hatte das Ge-
fühl, als ob der rechte Arm nicht so steif war." Dr. V.: „Und als Ihr Arm
herunter fiel, wurde da Ihr Zustand tiefer oder oberflächlicher?" Verf.: „Ich kam
tiefer hinein." Dr. V.: „Wie lag der Arm, als er heruntergesunken war?" Verf.
giebt eine Lage an, die der Arm einige 2ieit vor dem fraglichen Zeitpunkt ein-
genommen hat. Die Endlage ist ihm nicht bewusst. Dr. V.: „Habe ich Ihren
Arm wieder in die Höhe gehoben?" Verf.: „Ist mir nicht bewusst." Dr. V.:
„Wie oft habe ich Ihren rechten Arm angefasst?" Verf.: „Zwei Mal." (In Wirklich-
keit dreimal.) Dr. V.: „Haben Sie auch das Klopfen gehört?" Verf.: „Ja. das
habe ich gehört, ich wurde etwas wacher dadurch."
2. Hypnose.
Dr. V. : „So, nun kommen Sie wieder zur Ruhe, ganz schön. Die Augenlider werden
Ihnen immer schwerer. Sie kommen immer mehr zur Ruhe. Immer tiefer kommen
Sie hinein. Sie empfinden ein Aufhören aller Selbstbeobachtung. Auf nichts achten
Sie mehr. Immer mehr kommen Sie in einen tiefen Schlaf, in eine angenehme
Behaglichkeit und Ruhe. Immer tiefer kommen Sie hinein in ein seliges Selbst-
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 11
Ig2 ^'>^Q Straaten.
vergessen. Immer mehr kommen Sie zur Rahe. Immer mehr Kühe und Müdig-
keit senkt sich auf Sie. Ganz schön. Immer mehr kommen Sie zur Rahe. Ganz
tief kommen Sie hinein. (Arm schlaff.) Immer mehr Ruhe kommt aber Sie.
(3^/t Min.) Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf Sie. So, immer mehr noch. Sie
kommen immer mehr noch in einen tiefen behaglichen Schlummer. (Beide Arme
kataleptisch. 4 Min. 20 See.) Immer mehr kommen Sie hinein, immer mehr noch
zur Ruhe. Sie lassen den Schlaf einfach an Sich herankommen, über Sich ergehen,
noch immer mehr. (Arme kataleptisch. Pause.) — Immer mehr kommen Sie zur
Ruhe. Ganz schön. (Arme schlaffer.) Immer mehr seliges Selbstvergessen kommt
über Sie. Immer tiefer, immer mehr noch kommen Sie hinein, immer mehr ver-
lieren Sie Ihr Bewusstsein. Inuner tiefer kommen Sie hinein, immer mehr werden
Sie allgemein einschlafen. Kein Affect, keine Aengstlichkeit stört Sie. Sie schlafen
immer mehr und mehr ein, immer tiefer. (15 Min. 10 See.) Nun zähle ich bis 3.
Dann machen Sie die Augen auf. 1 — 2 — 3."
Zeitdauer der Hypnose: 17 Min.
Dr. V.: »Nun, wie war es diesmal?*^
Verf. : „Zunächst haben Sie meinen linken Arm, dann meinen rechten empor-
gehoben. Sie blieben in der ihnen gegebenen Lage stehen. Dann haben Sie die
Lage etwas gewechselt.'^ Dr. V.: „Haben Sie einen Unterschied zwischen beiden
Armen gespürt, waren Sie gleich steif?" Verf. : „Der linke Arm war steifer.** Dr. V.:
„Haben Sie hierfür eine Idee, eine Vorstellung gehabt?^ Verf.: „Ich hatte für
einen Moment die Idee, der Grund könnte darin liegen, dass ich als Linkser
grössere Muskelkraft im linken Arm habe. loh erkannte aber sofort, dass dieser
Grund hinfällig sei. — Dr. V.: „Was geschah nun weiter?" Verf.: „Die Arme
senkten sich, ich bin aber meiner Sache nicht sicher.'' Dr. V.: „Hat sich die
Hypnose vertieft?" Verf.: „Gegen £nde war sie tief." Dr. V.: „Nachdem die
Arme heruntergesunken waren, wie haben Sie da gelegen?" „Verf.: „Ich weiss
nicht, wie sie gelegen haben." Dr. V. : „Wie sind Sie aufgewacht?** Verf. : „Wieder
mit 1, 2, 3. Sie weckten mich mit den Worten: Jetzt zähle ich bis 3 etc. Von
den vorhergehenden Suggestionen weiss ich nichts."
Die Suggestionen als solche sollten den Zweck haben, den Schlaf
möglichst zu vertiefen. Das, was erreicht worden ist, unterscheidet
sich nicht wesentlich von dem tiefen Grad, der in der vorhergehenden
Sitzung erreicht wurde, und dabei haben diese Hypnosen die 4- bis
5 fache Zeit von denen der zweiten Sitzung, mit Ausnahme der letzten
Hypnose, gedauert. Nach der gewöhnlichen Art und "Weise, wo bei
geschicktem Vorgehen sich die Hypnosen von Sitzung zu Sitzung ver-
tiefen, hätte ein tieferer Schlafzustand erreicht werden müssen. Der
Grund, warum dieses Zie nicht erreicht worden ist, ergiebt sich, glaube
ich, aus meinem Bewussts(Mnsinhalt. Ich bin gegen die äusseren Ge-
räusche im Wesentlichen indifferent geworden, auch gegen die ein-
förmigen, fast immer dieselben Worte wiederholenden Suggestionen
bin ich so gleichgiltig, dass für sie eine ausgeprägtere Amnesie besteht,
dagegen erhalten die Erscheinungen der Katalepsie während der
Zur Kritik der hypnotischen Technik. XgS
Hypnose mein Bewusstsein beschäftigt. Ich hatte den Eindruck, dass
diese Beschäftigung mich am tieferen Einschlafen hinderte. Erst im
Momente, wo die Katalepsie schwand, wurde auch mein Bewusstsein
leerer, und kam ich tiefer hinein. Wenn nun auch das Schwinden
der Katalepsie als solcher als ein Ausdruck zunehmender Schlaftiefe
aufzufassen ist, so glaube ich doch, dass die wesentliche Zunahme der
Schlaftiefe nach dem Schwinden der Katalepsie nicht nur auf die fort-
schreitende Vertiefung der Schlafhemmung, sondern zum Theil auch
auf das Schwinden einer meine Aufmerksamkeit anziehenden Erscheinung
zurückzuführen ist. Für unsere Methode wäre daraus zu folgern, dass
wir alle die Experimente wie Katalepsie und ähnliche, soweit sie nicht
ganz speciell indicirte sind, als die Erzielung tiefer Schlafzustände be-
hindernd zu vermeiden haben.
Als eine nebensächliche Einzelheit sei übrigens aus dieser Ver-
suchsreihe noch hervorgehoben, dass parallel einem allgemeinen Wach-
werden, wie es in der zweiten Hypnose durch Klopfen und Sprechen
im Nebenzimmer erfolgt, auch die Atonie wieder in Katalepsie über-
ging, eine Erscheinung, die ja den von O. Vogt behaupteten Paralle-
lismus bestätigt.
IV. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. Nun fühlen Sie
eine leichte Wärme unter meiner Hand, nicht sehr warm, da Ihre Stirne sehr heiss
ist. So, nun fallen Ihnen die Augen zu. Sie werden gegen die Musik gleichgiltig.
Ihr^erz schlägt langsam, Sie werden vollständig gleichgiltig. Eine vollständige
Indifferenz, eine wohlige selige Ruhe kommt über Sie. Jetzt immer mehr. Immer
mehr kommen Sie zur Ruhe. Ganz tief kommen Sie hinein. Sie vergessen Sich
immer mehr, immer gleichgiltiger werden Sie. Jetzt werde ich Sie wecken und
das nächste Mal kommen Sie tiefer hinein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen
Sie die Augen auf. 1, 2, 3. Zeitdauer : 1 Min. 27 See. Verf. : „Der Schlummerzustand
war massig tief. Als das Auffallendste gilt mir eine vollständige Crleichgiltigkeit
gegenüber dem Klavierspielen. Ich war stets selir empfindlich gegen derartige
Störungen beim Studiren oder Einschlafen. Dr. V.: „Haben Sie vielleicht noch
die Psychologie der Suggestionen betreffend Interessantes auszusagen, z. £. ob ich
Fehler gemacht habe." Verf.: „Es ist mir nichts derartiges zum Bewusstsein
gekommen."
2. Hypnose.
Dr. V. : „So, nun kommen Sie ganz schön hinein. Ihre Augen werden immer
schwerer. Die Augenlider fallen Ihnen ganz fest zu, ganz fest. Diesmal kommen Sie
tiefer hinein. Sie werden ganz gleichgiltig. Ihre Gedanken beschäftigen Sie nicht
mehr so intensiv. Sie bleiben bei einem Gedanken hängen, der blasst auch immer
mehr ab. So nähern Sie Sich immer mehr einer Bewusstlosigkeit. — Immer mehi*
11*
104 ^c^° Straaten.
kommen Sie in den Zustand des normalen Einschlafens. Immer mehr kommen Sie
zur Ruhe. Immer tiefer. Sie schliessen Sich immer mehr ab, vergessen Sich immer
mehr. So kommen Sie in einen tiefen, wohligen Schlaf. Nun zahle ich bis 3:
dann machen Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3.''
Verf.: „Ich kam ziemlich rasch in einen Schlummerzustand. Ich gab mir die
Vorstellung, dass ich zu Hause im Bett läge und kam so tiefer hinein. Augen-
blicklich ist mir nicht klar bewusst, wie Sie mich geweckt haben. Ich wurde
etwas von dem Gedanken beunruhigt, die Experimente würden nicht geUngen."
3. Hypnose.
Dr. V : „So^ nun kommen Sie wieder ganz schön hinein. Sie sind ganz frei tod
jeglicher Aengstlichkeit. So, mehr und mehr werden Sie jetzt hineinkommen in ein
Tollständiges Vergessen, in eine grosse Gleichgiltigkeit. Sie haben nicht die Idee,
es würde nicht gehen. Solche Gedanken schwinden vollständig. Indessen kommt
eine selige Ruhe über Sie und dieser behagliche Zustand nimmt Sie vollständig
gefangen. Sie vergessen die Situation um Sich herum. (Pause.) Immer mehr
kommen Sie hinein, immer mehr zur Ruhe. Nichts mehr von störenden Ideen be-
herrscht Sic, dass Sie nicht tiefer hineinkommen können u. s. w. , Sie werden ganz
frei von dieser Aengstlichkeit sein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3. 1. 2, 3. (Erfolgloses Zählen.) Nun zähle ich noch-
mals bis 3. Dann werden Sie vollständig aufwachen, ganz wach und frisch sein. —
1, 2, 3. It 2, 3. (Erfolglos.) Also jetzt zähle ich bis 3, dann gehen Ihnen die
Augen wieder auf und Sie werden ganz frisch und wach sein, 1, 2, 3. (Erfolg-
loses Zählen. — Atonie des linken Armes. Linker Arm wird 5 Mal gehoben in
2 Min. 6 See. Dann werden in 50 See. 14 Bewegungen mit dem linken Arm vor-
genommen.) Nun zähle ich bis 3, dann werden Sie g^anz schön aufwachen. 1. 2, 3.
(Erfolgloses Zählen, Arm kataleptisch. Athmung tief. Dr. V. legt seine Hand auf
Verf.s Stirn.) Dr. V.: „So, nun fühlen Sie die Wärme unter meiner Hand. Nun
zähle ich bis 3, dann sind Sie wach. 1, 2. 3. (Pause.) So. nun werden Sie ganz
schön mit mir sprechen können. Oeflnen Sie den Mund. (Realisirt sich.) Strecken
Sie die Zunge vor, so, nun ziehen Sie sie wieder zurück. Warum wachen Sie nicht
auf?" Verf.: „Ich möchte weiter schlafen." Dr. V.: „Ist das der einzige Grund ?^
Verf.: „Ich glaube, es ist unmöglich für mich, wach zu werden, da ich keinen Impob
dazu habe. Ich will nicht aufwachen." Dr. V.: „Warum entspricht es nicht Ihrem
Willen?" (Keine Antwort.) „Warum entspricht es nicht Ihrem Willen? WicP
Verf.: „Ich liege hier so behaglich." Dr. V.: „Wo liegen Sie denn? (^Keine Ant-
wort.) „Wo liegen Sie denn? Wie?" Verf.: „Im Sprechzimmer^" Dr. V,: ,Jst
es Ihnen leicht, auf meine Fragen zu antworten?" Verf.: „Ja, sehr leicht." Dr. V.:
„Hören Sie die Geräusche von drausscn?" Verf.: „Ja." Dr. V.: „Können Sie Sich
nicht ganz dagegen abschliessen?*^ Verf.: ,.Nein, nicht gänzlich. Ich höre noch
ein dumpfes Hollen." Dr. V.: „Stellen Sie Sich mal etwas vor, z. B. das Gesicht
Ihrer Frau. Sehen Sie sie lebhafter als im Wachen oder constatiren Sie keinen
Unterschied?" Verf.: „Ich sehe Sie jetzt entschieden lebhafter." Dr. V.: „So, nun
wachen Sie bitte auf. 1, 2, 3." — Erwachen erfolgt. 10 Min. 19 See. Dr. V.: „Wie
stellen Sie Sicrh jetzt im Wachen das Gesicht Ihrer Frau vor, lebhafter als in der
Hypnose ?" Verf. : „Ich stelle es mir jetzt auch noch klar vor, viel klarer, als wie ich es
heute Morgen that.' Dr. V. : ,. Wissen Sie über den ganzen Zustand der Hypnose noch
etwas ?^* Verf.: „Sie versuchten mich zu wecken. Dabei legten Sie Ihre Htnd
Zur Kritik der hypnotischen Technik. }65
auf meine Stirn und zählten bis 3. (Verf. weiss von den früheren Weckversuchen
nichts, der Versuch, bei dem Dr. V. die Hand ihm auf die Stirn legt, ist der erste
ihm bewusste.) Dr. V.: „Warum sind Sie dann nicht aufgewacht?" Verf.: „Ich
fühlte mich so sehr behaglich und Ihre Suggestion machte auf mich keinen Ein-
druck." Dr. V.: „Wissen Sie, was ich mit Ihnen machte?" Verf.: „Sie haben
meinen Arm hin- und herbewegt." Dr. V.: „Und als er kataleptisch wurde, trat
da ein Unterschied in der Schlaftiefe auf?" Verf.: „Ich hatte das Gefühl, als
wurde ich wacher." Dr. V. : „Haben Sie Ihren Körper gefühlt oder hatten Sie nur
Bewusstsein von Ihrem Geiste?" Verf.: „Ich habe an meinen Körper gar nicht
gedacht."
4. Hypnose.
„So, nun werden Ihnen die Augen ganz schön schwer. Die Augenlider werden
ganz schön zusammengezogen. Sie haben selber den Willen, tiefer und fester ein-
zuschlafen. Gleichzeitig werden Sie von keinem Gefühl der Unsicherheit oder
Furcht, dass es nicht gehen könnte, bedrückt. Immer mehr entsteht ein tiefer
Schlaf. Sie haben flen Willen, tief und fest einzuschlafen, wie Sie es jetzt immer
Abends gemacht haben. (Pause.) Immer mehr stellen Sie Ihre Aufmericsamkeit
in den Dienst der einen Idee, in tiefen Schlaf zu kommen. Sie haben keine
Aengstlichkeit, keine Unruhe mehr. Nun zähle ich bis 3. Dann gehen Ihnen die
Augen wieder auf, indem Sie selber den Willen haben, wieder aufzuwachen."
1, 2, 3. 1, 2, 3."
Zeitdauer: 4 Min. 6 See.
Verf. : „Ich hatte den Willen, fest einzuschlafen." Dr. V.: „Wie hat sich dieser
Wille geäussert, wie trat er auf?" „In der Form, dass ich mich abzuschliessen
versuchte gegen alles Störende, gegen Vorstellungen, Gedanken, Empfindungen.
Ich unterdrückte Sie, wurde immer indifferenter dagegen und kam so mit Leichtig-
keit in ein tieferes Stadium. — Von dem Aufwecken ist mir noch bewusst, dass
ich mit meinem Willen aufwachen sollte. Von den Suggestionen ist mir nur noch
bewusst, dass ich mit meinem Willen einschlafen würde und kein Gefühl von Un-
sicherheit und Furcht dabei hätte. Die anderen habe ich nicht mehr aufgefasst."
Im Gegensatz zur dritten Sitzung sind diesmal Experimente wie
die Feststellung der Katalepsie vollständig fortgelassen. Die 3 ersten
Hypnosen verfolgen dasselbe Princip. Es werden Suggestionen einfach
in der Form der ruhigen Versicherung ihres baldigen Eintritts gegeben,
und in ähnlicher Weise gewisse störende Momente wie Herzklopfen
tmd die störende Idee des Nichtgelingens unterdrückt. Auf diese Weise
wird in der dritten Hypnose ein so tiefer Schlafzustand geschafifen,
dass sogar das Bapportverhältniss verloren geht. Diese Form ruhiger
Versicherung unter Anpassung an individuelle Eigenthümlichkeiten, so-
wie die dabei erfolgende zunehmende Vertiefung der Hypnose kann
als der eigentliche Typus des Vogt' sehen Verfahrens aufgefasst
werden. Es ist in wenigen Minuten ein tiefer Schlafzustand erreicht;
während bei der 3. Sitzung in einer unverhältnissmässig längeren Zeit
eine solche Tiefe nicht erreicht wurde.
166 ^'^^ Straafen.
Als Complication der 3. Hypnose tritt dann Verlust des sogenannten
Rapportverhältnisses auf; das heisst, ein Erwecken durch die eingeübte
Form „1, 2, 3^ gelingt nicht. Der weitere Verlauf der Hypnose zeigt
O. V o g t ' 8 Verfahren, das Rapportverhältniss wieder herzustellen. Er
ruft zunächst durch Erregung des Muskelsinns ein ganz partielles Er-
wecken hervor (Eintritt der Katalepsie), dehnt dieses Wachsein dann
allmählich soweit aus, dass er sich mit mir unterhalten kann, und so
die wenigstens zur Zeit bestehende Ursache des Nichterwachens fest-
stellt. Nachdem O. Vogt dann noch diesen Zustand zu einem" psycho-
logischen Experiment ausgenutzt hat, erweckt er mich, indem er sich
meiner Anschauung von der Ursache des Nichterwachens anpasst, und
mich deshalb bittet, zu erwachen.
Es sei als psychologisch wichtig nebenbei bemerkt, dass ich mir
ein visuelles Erinnerungsbild während der Hypnose wesentlich lebhafter
vorstellen konnte, wie im Wachen, und auch einen Teil dieser Leb-
haftigkeit noch im Wachen reproduciren konnte.
Au die Erfahrung nun der dritten Hypnose, dass es dem Verf.
angenehm erscheint, die Realisation von Suggestionen abhängig von
seinem Willen zu wissen, knüpft O. Vogt in der 4. Hypnose an, indem
er die Suggestion eines autosuggestiv entstehenden Schlafes giebt, wie
Verf. ihn bereits weiter unten folgenden Erörterungen zu Folge an
sich beobachtet hatte. Es wurde ein ziemlich tiefer Schlafzustaud
erzielt. Der Versuch möge vor Allem zeigen, in welcher Form man
sich individuellen Wünschen anpassen kann und unter Umständen an-
passen muss.
V. Sitzung.
1. Hypnose:
Dr. V. (spricht auf Bitte des Protokollanten die Supfgestionen langsamer aus
als bisher): „So, jetzt werden Sie panz schön hineinkommen. Nun wird es Ihnen
ß:anz 8chön warm unter meiner Hand. Und diese Wärme nimmt immer mehr za.
Nun fallen Ihnen die Aufäßen immer mehr zu. So. immer mehr. So, ganz fest
fallen Ihnen die Augen zu, dass sie sich ordentlich zusammenkrampfen. Immer
mehr kommen Sic hinein. Sie schliessen Sich von Allem ah, indem immer
mehr in Ihrem ßewusstsein die Idee verschwindet, Sie könnten nicht in tiefen
Nachtschlaf verfallen. Sie sind jetzt auf dem besten Wege zum tiefen Nacht-
schlaf und dieser Zustand nimmt jetzt immer mehr zu. Sie kommen mehr
und mehr hinein. Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr. Immer
tieferem festeren Schlaf nähern Sie Sich jetzt mehr und mehr, diesem behaglichen
molligon Zustande, der Sie mehr und mehr zum tiefen Nachtschlafe fuhrt. Nun
werden Sie das nächste Mal noch tiefer hineinkommen. Sie werden mehr und mehr
Sich dem tiefen bewusstlosen Schlafe nähern, der angenehm auf Sie einwirkt. Ich
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 167
werde jetzt einen Moment die Hypnose unterbrechen. Ich zähle bis 3, dann machen
Sie die Augen auf. 1, 2, 3." (Zeitdauer 2 Min. 54 See.)
Verf.: „Ich fühlte mich wenig bocinfluaat. Ich habe alle Suggestionen gehört
und verstanden. Gegen Ende kam ich etwas tiefer hinein, und hatte das Bestreben,
2. Hypnose:
Dr. y.: „So, diesmal werden Sie allmählich mehr hineinkommen. Mehr und
mehr senkt sich der Schlaf über Sie. Immer tiefer kommen Sie hinein. Immer
mehr ist Ihnen, als wenn Sie im Bett lägen. Sie schlafen einfach mehr und mehr
ein, geradeso wie Abends, wenn Sie Sich zu Bett legen.' Sie vergessen Sich mehr
und mehr. Ihr ganzes Ichbewnsstsein schwindet. Immer mehr nimmt der Schlaf
zu. £ine richtige vollständige Schläfrigkeit übermannt Sie. Und dieser Schlaf ist
so behaglich, dass Sie nur den einen Wunsch haben, Sich ihm ganz und gar
hingeben zu können. (Pause.) Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr
nähern Sie Sich diesem tiefen Schlafe. Sie vergessen Sich ganz, hören auch nicht
mehr auf meine Worte. Sie werden durch Nichts mehr gestört. Immer mehr
kommen Sie hinein. Sie haben gar nicht mehr die Idee, dass es nicht gehen
könnte. Sie werden vollkommen gleichgiltig und kommen immer tiefer hinein.
Das nächste 3Ial kommen Sie noch tiefer hinein, nun zähle ich bis 3, dann machen
Sie die Augen auf. 1, 2, 3." (Zeitdauer 8 Min. 5 See.)
Verf.: „Ich war wohl um ein Geringes tiefer, als das letzte Mal. Die Ge-
räusche hörte ich gerade so laut, wie im Wachen, nur als ich zum Schluss eine
dagegen gerichtete Suggestion hörte, nahmen sie meine Aufmerksamkeit weniger
in Anspruch, als bis dahin. (Es ist keine Suggestion gegen den Lärm gegeben.
Die Suggestion, „Sie werden durch Nichts mehr gestört, wurde auf den Lärm be-
zogen.) Dann wurde ich wohl noch dadurch am tieferen Einschlafen gestört, dass
ich Vergleiche anstellte zwischen den Suggestionen, die Sie mir gaben, und meinen
abendlichen Autosuggestionen. Femer störte mich etwas der Druck Ihrer Hand.
Dann hatte ich auch noch das Gefühl, dass es nicht gelingen v;ürde.^ Dr. V.:
„Weshalb?" Verf.: „Ich weiss es nicht, ich habe keinen bewussten Grund dafür."
3. Hypnose:
Dr. V.: „So, jetzt kommen Sie immer mehr hinein. Immer mehr. Immer
tiefer. Es wird Ihnen so richtig behaglich zu Muthe. Sic können Sich zunächst
ganz schön auf das concentriren, was ich Sie jetzt fragen werde: Weshalb sind
Sie heute nicht tiefer hineingekommen? Sie können Sich jetzt ganz schön darauf
hin beobachten. Nun, was finden Sie? (Schweigen.) Nun kommen Sie tiefer hinein,
dass Sie nichts mehr stört. Ihre Augen schliessen sich immer mehr zu. Immer
mehr können Sie Sich beobachten, immer mehr concentriren. Nun, finden Sie etwas?
Wie?" Verf.: „Ich habe das Gefühl der Verlegenheit, weil ich noch keinen Grund
weiss, und habe in Folge dessen Herzklopfen bekommen." Dr. V. : „So, nun werden
Sie schön ruhig. Das Herzklopfen lässt ganz schön nach. Das wird vollständig
wieder verschwinden." (Das Herzklopfen hört auf.) „So, nun können Sie Sich noch
immer besser concentriren. Sie werden Sich jetzt der Sache so richtig hingeben
können." Verf.: „Jetzt fällt es mir ein. Ich hatte das Gefühl, dass Sie nicht mit
der ganzen Aufmerksamkeit suggerirten. Das hat mich schon in der ersten Hypnose
beschäftigt." Dr. V.: „Weshalb hatten Sie das Gefühl?" Verf.: „Weil Sie einige
Male unsicher im Ausdruck waren." Dr. V.: „Wie das?" Verf.: „Sie zögerten
168 ▼AQ Straaten.
einige Male mit dem Aussprechen.'^ Dr. V.: ,^Da8 war kein Zögern. Ich habe
blos langsamer gesprochen, weil Frau Bosse beim Nachschreiben nicht so rasch
mitkommen konnte. Das will ich jetzt vermeiden. So, jetzt werden Sie mal sehen,
dass es besser geht. (Suggestionen in rascherem Tempo gegeben und so entachie*
dener klingend.) Immer gleichgiltiger werden Sie gegen meine Worte. Sie achlieasen
Sich immer mehr ab, und es kommt jetzt ein so seliger Schlaf über Sie. Dieser
Schlaf nimmt nun immer mehr zu. Und es senkt sich ein so seliges Gefahl von
Müdigkeit auf Sie. Sie geben Sich dem so ganz hin. Sie lassen Sich einfach gehen.
Keine Empfindung, kein Gefühl stört Sie mehr. Sie kommen immer mehr in einen
Zustand wie beim tiefen Nachtschlaf. Und dieser Zustand nimmt immer mehr an
Tiefe zu. So, jetzt mehr und mehr. Sie schliessen Sich mehr und mehr ab. So,
jetzt zähle ich bift 3, dann machen Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3.'^
Zeitdauer: 9 Min. 35 See.
Dr. V.: „Als Sie Sich in der Hypnose beobachteten, konnten Sie da besser
nachdenken, als im Wachen?** Verf.: „Ja, viel schärfer." Dr. V.: ,J[n wiefern
schärfer?^* Verl: „Ich konnte in der Hypnose die Suggestionen und die Eindrücke
der vorigen Hypnose besser ins Gedä6htniss zurückrufen. '^ Dr. V.: „Hatten Sie,
als Sie den Grund fanden, die Vorstellung, das ist der Grund ?^ Verl: n^<^h habe
die sichere Gewissheit, dass es der Grund war." Dr. V.: „Wie war die Schlafliefe
gegen Ende hin?" Verf.: „Ich war auf dem besten Wege einzuschlafen, hatte
keine störenden Vorstellungen und Gedanken. Ich hatte auch den Eindruck, dass
Ihre Suggestionen temperamentvoller gegeben wurden, und dass sie so besser auf
mich einwirkten."
4. Hypnose.
Dr. V. (lebhaft gegebene Suggestionen): „So. jetzt werden Sie Sich immer
mehr der Ruhe hingeben. So, immer mehr. Ihre Augenlider schliessen sich immer
fester zu. Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf Sie. Immer tiefer kommen Sie
hinein, Sie vergessen Sich mehr und mehr. So, immer mehr. Es kommt jetzt eine
80 mollige, behagliche Ruhe über Sie. Sie schlafen gerade so ein, wie Abends beim
Zubettegehen. Ihr ganzes Ichbewusstsein schwindet. Sie vergessen die ganze
Situation, und es ist Ihnen gerade so zu Mute, wie Abends beim Einschlafen. Immer
mehr und mehr kommen Sie zur Ruhe. Immer tiefer kommen Sie hinein. (Pause.)
Immer mehr werden Sie jetzt einschlafen. Der Schlaf nimmt immer mehr zu, ver-
tieft sich mehr und mehr. Sie haben keine Idee mehr, nicht schlafen zu können.
Sie fühlen, wie meine Worte auf Sie einwirken. (Pause.) Sie haben das Gefühl,
tiefer hineinzukommen. Immer mehr nimmt die Müdigkeit zu. Jetzt zähle ich bis
3. dann werden Sie Ihre Augen öffnen. 1, 2, 3. 1, 2, 3." Zeitdauer 6 Min. 1 See.
Verf.: „Ich habe mich in einem massig tiefen Schlafzustand befunden, in dem die
Bilder von mehreren Personen auftauchten. Die Lebhaftigkeit derselben war ver-
schieden. Einige waren sehr klar und deutlich, fast als wenn ich sie leibhaftig
gesehen hätte, andere waren aber sehr verschwommen.** Dr. V. : „Hörten Sie noch
Geräusche?" Verf.: „Ich erinnere mich nicht, welche gehört zu haben." Dr. V.
„Haben Sie meine Suggestionen gehört?" Verf.: „Ich habe sie wohl gehört, aber
nicht aufgefasst, weil mich meine Bilder zu lebhaft beschäftigten."
Die Suggestionen, die in den verschiedenen Hypnosen der fünften
Sitzung gegeben wurden, unterscheiden sich inhaltlich nicht weiter.
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 169
Die ganze Zeit hindurch sind Suggestionen gegeben, die. sicher geeignet
waren, einen tiefen Zustand zu erzielen. Sie passten sich durchaus
meinen ii^dividuellen Tendenzen und Befürchtungen an.
Das, was die Suggestionen der ersten 2 Hypnosen im Gegensatz
zu der 3. und 4. Hypnose characterisirty ist der Umstand, dass sie zur
Erleichterung des Protokollirens etwas zögernd gegeben wurden. Ein
solches Zögern macht den Eindruck dlBr Unsicherheit, und es ist inter-
essant, in welcher Weise ich in der zweiten Hypnose darauf reagire,
ohne mir der in der Unsicherheit gelegenen Ursache klar bewusst zu
werdeiL
Ich bin während dieser Hypnose in einen Zustand gerathen, in
dem ich durch Dinge mich stark belästigt fühle, die mich nie gestört
hatten, resp, nicht in so intensivem Grade. Das Geräusch auf der
Strasse ärgert mich in einer auffallend empfindlichen Weise.
Ich hatte schon häufiger stärkere Geräusche während der Hypnosen
gehört, ohne in dem Maasse durch dieselbe belästigt zu werden. Wie
sehr ich nach einer Suggestion ve'rlange, die mich gegen das Geräusch
indifferent macht, zeigt der Umstand, dass ich die Suggestion „Sie
werden durch nichts gestärkt," direct auf den Lärm beziehe. Daraus
erkennt man zugleich, dass ich den guten Willen hatte, einzuschlafen.
Mich genirt femer der Druck von 0. Vogt's Hand. Dies ist sehr
bezeichnend für meine momentane Empfindlichkeit. Ferner komme
ich noch auf den Gedanken, Vergleiche anzustellen zwischen 0. Vogt's
Suggestionen und meinen Autosuggestionen, die ich mir zu jener Zeit
Abends gab zur Herbeiführung hypnotischer Zustände. Ich befinde
mich in einem Zustande, wo ich keinen Ruhepunkt finde.
Die dritte Hypnose zeigt uns, wie man derartig nicht klar
bewusste störende Momente, in diesem Falle die Unsicherheit in der
Aussprache der Suggestionen, im eingeengten Bewusstsein durch die
Selbstbeobachtung aufdecken kann, um sie so weiterhin zu beseitigen
oder zu vermeiden.
Dass mich die Unsicherheit in dem Aussprechen der Suggestionen
genirte, wird jeder erklärlich finden, der jemals die Rede eines un-
sicheren Redners gehört hat. Der Zuhörer ist in solchen Fällen häufig
noch beunruhigter als der Redner selbst.
Wir sehen also, dass ein Hypnotiseur, der sich der Verbal-
suggestionen bedient, nur dann auf einen durchschlagenden Erfolg
rechnen kann, wenn er im Stande ist, bei einer Fülle gutgewählter
Ausdrücke und Redewendungen mit voller Sicherheit seine Suggestionen
170 "^^^ Straaten.
geben zu können. £in grosser Theil der Misserfolge bei Anfängern
ist ganz sicher darauf zurückzuführen, dass ihnen sozusagen der nötbige
Schneid im Suggeriren abgeht. Das habe ich in der Polikliiuk einmal
beobachten können. Eine Patientin, die schon längere Zeit ron O. Vogt
hypnotisirt worden war, wurde, da sie leicht zu hypnotisiren war, von
einem Anfänger hjpnotisirt. Die Frau gerieth nur in einen ober-
flächlichen hypnotischen Zustand. Die Heilsuggestkuien machten gar
keinen Eindruck. Sie hatte sich während der Hypnose unruhig gefohlt
und war sehr unbefriedigt. Als ich mich nach den Gründen bei ihr
erkundigte, erzählte sie mir, das unsichere Sprechen des Hypnotiseurs
wäre daran Schuld gewesen. Wer gute Erfolge erzielen will, bedarf
längerer Uebung im Suggeriren. Ablesen der Suggestionen oder Aus-
wendiglernen derselben, was beides schon vorgeschlagen ist, kann die
Uebung nicht ersetzen.
VI. Sitzung.
1. Hypnose.
Dr. V. (die Suggestionen werden in lobhafter Sprechweise gegeben) : ^So, nan
fallen Ihnen die Augen ganz schön zu. Sie kommen ganz schön hinein. £s be-
herrscht Sie nur noch die Idee, tief hineinzukommen. Sie haben ganz das Oeftih],
wie Abends, wo Sie gar nichts stört. Sie lassen Sich mehr und mehr von der
Müdigkeit gefangen nehmen. Immer mehr kommen Sie hinein, Sie vergessen Sich
immer mehr. Nichts mehr stört Sie. Ihre Gedanken machen keinen Eindruck
mehr auf Sie und Sie schlafen e})enso leicht ein wie Abends. Nichts stört Sie
mehr. Sie fiihlen Sich so wohlig,.9o behaglich, so mollig. Das nimmt immer mehr
zu. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die Augen wieder auf, und das
nächste 3Ial werden Sie noch tiefer hineinkommen. 1, 2, 3. 1, 2, 3." Zeitdauer:
5 Min. 55 See.
Verf.: „Ich befand mich in einem angenelimen Schlummerzustand, in welchem
sich mir ein Bild aufgedrängt hat. das mich für den grössten Theil der Hypnose
beherrschte. Es war ein bestimmtes Zimmer mit einer neuen Zimmereinrichtung.
Ich habe mir das Zimmer mit der neuen Einrichtung ausgestattet vorgestellt.
Dr. V.: „War es lebhafter als im Wachen?** Verf.: „Ja." Dr. V.: „Haben Sie
gewusst. da'sa Sie hier lagen?" Verf.: ,.Ich glaube nicht, dass ich daran gedacht
habe, aber andrerseits war die Vorstellung des Zimmers auch nicht so lebhaft, dass
ich geglaubt hätte, wirklich darin zu sein. Manchmal fiel mir das Bild auseinander,
so dass ich 3Iühe hatte, es wieder zusammenzustellen." Dr. V.: „Wie waren die
Farben?" Verl.: „Die Farben waren etwas verschwommen, aber fast so, als ob ich
das Zimmer gesehen hätte." Dr. V. : „Haben Sie meine Worte gehört?" Verf.: „Ja,
aber ihr Kindruck war nicht derartig, dass dadurch das Bild verwischt worden sei."
2. Hypnose.
Dr. V.: ,.So. nun wird Ihnen wieder ganz schwer in den Augenlidern. Nun
fallen Ihnen die Augen schön zu. Immer fester. So, jetzt kommen wieder Traum-
bilder in Ihr Bewusstsein. die Sie mit Intensität fesseln. Sie vergessen dabei voll«
Zur Kritik der hypnotischen Technik. \J\
ständig das, was Sie umgiebt. Nun lassen die Traumbilder nach, es bleibt nur
ein Bild haften, das auch allmählich an Intensität nachlässt. So, und nun kommen
Sie mehr und mehr in richtigen Schlaf. Das ist der Weg, der Sie in den richtigen
Schlaf einführt. Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr vergessen Sie Sich.
Ihre Aufmerksamkeit wird mehr und mehr getrübt. Die Vorstellungen blassen
immer mehr und mehr ab, und schliesslich liegen Sie im tiefen traumlosen Schlafe
da. Ganz allmählich tritt der Schlaf auf. (Pause.) Immer mehr kommen Sie
hinein. Immer tiefer kommen Sie zur Buhe. Immer tiefer. Nun zähle ich bis 3,
dann gehen Ihnen die Augen wieder auf und das nächste Mal kommen Sie dann
noch tiefer hinein. 1, 2, 3.^ Zeitdauer: 3 Min. 55 See.
Verf.: „Durch Ihre Suggestionen wurde ich auf ein Traumbild gelenkt. Das
hat mich dann auch allmählich verlassen. Ich bin durch Zucken im linken Bein
und durch Herzklopfen gestört worden; für das Herzklopfen kann ich keinen
Grund anfuhren." Dr..V.: „Wie war die Schlaftiefe?** Verf.: „Nicht grösser wie
das vorige 3Ial." Dr. V.: „Wodurch sind Sie geweckt worden?" Verf.: „Durch
1. 2, 3."
3. Hypnose.
Dr. V.: „Nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. Die Augenlider
fallen Ihnen mit aller Gewalt zu. Versuchen Sie nur, sie aufzumachen, es geht
trotzdem nicht. (Ein Oeffnen erfolgt nicht.) Und es übermannt Sie eine so >grohlige
Blüdigkeit. alle Aengstlichkeit schwindet, alles Herzklopfen lässt nach. Sie fiihlen
einfach immer mehr eine zunehmende Schläfrigkeit. Immer mehr lässt das Herz-
klopfen nach. Immer mehr kommen Sie zur Ruhe. Immer tiefer. Immer mehr
vergessen Sie Sich. So. immer mehr. Immer mehr Schlaf senkt sich über Sie, so
richtiger Schlaf, richtiger molliger Schlaf. Der ist Ihnen so angenehm und Sie
fühlen, wie er tiefer wird, und immer mehr zunimmt. Nun zähle ich bis 3. Dann
machen Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2. 3." Zeitdauer: 2 3Iin. 24 See.
Verf.: „Ich fühle mich noch furchtbar schläfrig.**
4. Hypnose:
Dr. V.: .,Mit aller Macht fallen Ihnen jetzt wieder die Augen zu. Mit aller
Macht bricht jetzt der Schlaf über Sie herein, ganz gehörig. So, jetzt. Immer
mehr, immer tiefer. So, jetzt. Immer mehr Schlaf. Sie haben das Verlangen, in
tiefen Schlaf zu kommen. Sie werden ganz und gar vom Schlaf übermannt. So,
immer tiefer, immer mehr. Jetzt gehen Ihnen die Augen wieder auf. 1, 2, 3."
Zeitdauer 1 Min. Kurz dauerndes Oeffnen der Augen.
5. Hypnose:
Augen spontan geschlossen. Dr. V. : • „So, immer mehr, immer tiefer. Sie
sind so schläfrig. Immer mehr, immer mehr. Sie worden ganz ruhig. Immer mehr.
Es ist Ihnen so behaglich. Gar nichts stört Sie. So, immer mehr. Schöner,
wohliger Schlaf senkt sich auf Sie. Immer mehr kommen Sie hinein. Immer mehr.
Immer tiefer. So, jetzt kommen Sie gehörig hinein. Immer tiefer. Sie vergessen
Sich vollständig. Immer tiefer. Immer mehr noch. Vollständiger Schlaf über-
mannt Sie. Immer tiefer, ganz gehörig. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie
die Augen auf. 1,2,3. 1,2,3. 1,2,3." Zeitdauer: 2 Min. 5 See.
Verf.: ,.Ich bin jetzt wieder etwas mehr wach wie zwischen der 4. und 5.
Hypnose.** Dr. V.: „AVie war der Schlaf?** Verf.: ,,Es war ein mit grossem
Müdigkeitsgelühl gepaarter Schlaf.**
]72 van Straaten.
6. Hypnose:
Dr. V.: ,,So, immer mehr kommen Sie hinein. Jetzt kommt wieder dieselbe
Müdigkeit über Sie. Ihre Augenlider ziehen sich krampfhaft zusammen. Ganz
furchtbar müde werden Sie. Ganz furchtbar müde. Ganz gehörig müde. Sie
fühlen Sich dabei so richtig schläfrig. So, immer mehr. Ganz schön. Ganz tief!
So, nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2. 3." Zeit-
dauer: 0 Min. 52 See.
Verf. : „Diesmal war das Schlafstadium ein sehr tiefes. In dieser Sitzung sind
die Schlafstadien im Ganzen tiefer, der Schlaf ist schwerer.'* Dr. V. : „Haben Sie
dafür einen Grund ?^^ Verf.: .,Ich kann es mir nicht anders denken, als dass Ihre
Suggestionen dies bedingen." Dr. V.: ., Waren denn meine Suggestionen anders?*'
Verf.: .,Sie wurden mit mehr Leidenschaft, mit mehr Feuer gegeben."
7. Hypnose:
Die Saggestionen werden diesmal mit fast überstürzender Schnelligkeit ge-
geben. Dr. V.: „So, nun werden Sie todtmüde. Die Augenlider schliessen sich
krampfhaft zusammen. Sie kommen immer tiefer hinein, Sie kommen immer tiefer
hinein, und es wird Ihnen so selig, so mollig zu Muthe, so ganz gehörig. Immer
tiefer, immer mehr. So, jetzt mehr und mehr. So, jetzt senkt sich die Müdigkeit
nur so auf Sie. Immer mehr krampft es die Augenlider zu. Immer tiefer. Mit
aller Macht kommen Sie hinein. So, jetzt, jetzt. Immer mehr. So, jetzt. Sie
fühlen kein Herzklopfen. Sie kommen in richtigen, tiefen Schlaf. Immer mehr.
Immer tiefer. Immer mehr seliger Schlaf senkt sich auf Sie. So, immer mehr.
Immer tiefer kommen Sie hinein, ^un zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen auf. 1, 2, 3.** Zeitdauer: 1 Min. 27 See.
Verf.: „Ich war weniger müde als vorher, auch war die Schlaftiefe nicht so
gross. Ich hatte das Empfinden, dass Sie zu rasch sprachen und das störte mich.^
8. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun behalten Sie nur so lange, als wie Sie können, die Augen
auf. Immer fester fallen Sie Ihnen zu. Nun kommt ordentlich Müdigkeit über
Sie. So, nun kommen Sie ganz anders hinein. Immer schwerere Müdigkeit senkt
sich über Sie. Immer mehr, immer mehr. So, nun wieder so schwere Müdigkeit,
wie vorhin. So, jetzt kommt sie immer mehr. Immer mehr Ruhe überkommt Sie.
Immer mehr ordentlich schwere Müdigkeit. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie
die Augen auf. 1, 2, 3." Zeitdauer 1 Min. 30 See.
Verf.: „Ich bin sehr müde.**
9. Hypnose.
Dr. V.: „So, nun überkommt Sie wieder die Müdigkeit. So, nun kommen
Sie mehr hinein. So. jetzt immer mehr. Immer mehr. So, jetzt wirke ich
wieder so richtig auf Sie ein. So, jetzt. Immer mehr. Immer mehr. Es über-
mannt Sie einfach die 31üdigkeit. Die Müdigkeit senkt sich nur so auf Sie. Mit
aller Macht kommen Sie in den Schlaf hinein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen
Sie die Augen auf und kommen das nächste Mal noch tiefer hinein. 1, 2, 3.**
Zeitdauer: 54 See.
Verf.: „Bin noch sehr müde.**
10. Hypnose.
Dr. V.: „So nun kommen Sie immer mehr hinein. Immer mehr. Sie werden
todmüde. Sie kommen ordentlich hinein. Immer mehr, immer mehr senkt sich
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 173
der Schlaf, die Schlafhemmung auf Sie, Immer schläfriger werden Sie. Sie ver-
gessen Sich immer mehr. Immer tiefer kommen Sie hinein. So jetzt. Immer mehr.
Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3. 1, 2, S."
Zeitdauer: 1 Min. 6 See.
Verf.: ,,Bin so todmüde, möchte die Augen am Uebsten nicht aufmachen. Ich
befand mich in einem tieferen Schla&tadium, wie das letzte Mal.''
11. Hypnose.
Dr, V. : „So, nun kommen Sie immer tiefer hinein. Immer mehr. Die Müdig-
keit nimmt immer mehr zy, dass Sie so richtig schön einschlafen. Ganz todmüde
werden Sie. Sie vergessen Sich immer mehr. Die Müdigkeit bringt Sie immer
mehr in wirklichen angenehmen Schlaf. Nun zähle ich bis 3, dann machen Sie die
Augen auf. 1, 2, 3." Zeitdauer: 1 Min. 49 See.
Verf.: „Ich ^ühle mich etwas leichter."
Dr. V.: „Haben Sie geschlafen?" Verf.: „Nein, aber ich war auf dem bestem
Wege."
12. Hypnose.
Dr. V. : „So, nun lassen Sie die Augen möglichst lange auf. So, nun schliessen
sich die Augen wieder fest zu. Immer mehr kommt Müdigkeit und Ruhe über
Sie und damit dann auch richtiger Schlaf. Die Müdigkeit senkt sich immer mehr
und mehr auf Sie. Sie vergessen Sich ganz, bis Sie schliesslich einschlafen. Immer
mehr, immer tiefer. So, jetzt mehr und mehr. Immer mehr schlafen Sie ein.
Immer mehr übermannt Sie behaglicher Schlaf, so richtig wohliger Schlaf, dabei
ist kein Gefühl von Schwere vorhanden, es ist einfach ein behaglicher molliger
Schlaf mit angenehmen Erwachen. Nun zähle ich bis 3. Dann sind Sie wieder
wach. 1, 2, 3. 1, 2, 3. 1, 2, 3," Zeitdauer: 1 Min. 35 See.
Verf. : „Ich habe ziemlich fest geschlafen. Der Schlaf war ganz anderer Art.
Mir ist so ruhig und behaglich zu Muthe. Vorher fühlte ich in der Hypnose und
nach derselben eine fast unüberwindliche Müdigkeit. Dieser Zustand war geradezu
unangenehm. Ich war so furchtbar müde, dass ich mich kaum regen mochte.
Dr. V. : „Waren die Zustände gleich tief?" Verf. : „Dieser letzte war wohl tiefer."
13. Hypnose.
Dr. y.: „So, nun schliessen Sie die Augen wieder. Nun senkt sich behag-
licher Schlaf auf Sie, ganz wie der letzte. £s wird Ihnen so richtig wohl zu Muthe.
Nichts unangenehmes ist dabei, es ist ein richtig wohliger Schlafzustand, wie er
Ihnen erwünscht und willkommen ist. Mehr und mehr. Immer mehr kommen
Sie hinein. Immer mehr senkt sich mollige Schläfrigkeit auf Sie. Immer mehr
richtiges tiefes Vergessen. Alle Selbstbeobachtung, alles Interesse hört auf.
Sie werden ganz gleichgültig. Immer tiefer und tiefer kommen Sie hinein. Sie
schlafen immer tiefer ein. Das ist ein so schönes, seliges Gefühl. Immer mehr und
mehr. Immer tiefer. £s ist Ihnen so behaglich zu Muthe, es ist ein so seliges
Sichselbstvergessen, dem Sie Sich ganz und gar hingeben. Nun zähle ich bis 3.
Dann machen Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3.'* Zeitdauer: 2 Min. 27 See.
Dr. V.: „Wie war es jetzt?" Verf.: „Ich befand mich in einem tiefen ange-
nehmen Schlaf. Ich war wohl zum Schluss bewusstlos. Ich weiss nicht, wie ich
geweckt worden bin.**
174 VAi^ Straaten.
Bezüglich des Inhaltes unterscheiden sich in dieser Sitziuig die
Suggestionen von 1 — 10 von den 3 letzten. In den ersten 10 Hypnosen
wird darauf Werth gelegt, dass mich eine übermannende Schläfrigkeit
und Müdigkeit befallen, die mich zum Schlaf zwingen. Die Suggestionen
realisiren sich sehr intensiv, aber der daraus resultirende Schlaf war
mir ein durchaus unangenehmer. In den letzten Versuchen wurde auf
eine angenehme Gestaltung des Schlafes mehr Nachdruck gelegt. Bei
anscheinend sonst gleichen Bedingungen erzielte die zweite Form nicht
nur einen subjectiv angenehmeren, sondern gleichzeitig auch einen
tieferen Schlaf. Ich habe in der 13. Hypnose, obwohl diese Hypnose
nur 2 Min. 24 See. dauerte, direct geschlafen.
Was nun die Betonung der Suggestionen anbelangt, so wurde sie
die ganze Zeit hindurch mit grosser Lebhaftigkeit und grossem Eüfer
gegeben. Sie contrastiren darin ebenso, wie in ihren Besultaten voll-
ständig zu den ersten Hypnosen der 5. Sitzung. Absichtlich hat
O. Vogt in der 7. Hypnose die Lebhaftigkeit so gesteigert, dass sich
die Suggestionen sozusagen überstürzten. Diese übertriebene Lebhaftig-
keit zeitigte entschieden ein wenig gutes Resultat. Die grosse Wichtig-
keit der Betonung zeigt uns diese Sitzung also in frappanter Weise.
YIL Sitzung.
1. Hypnose:
Dr. V.: ,,So, nun sehen Sie mich an. Nun wird Ihnen wieder warm unter
meiner Hand. Nun fallen Ihnen die Augenlider zu, und es kommt ordentliche
Müdigkeit über Sie, nicht unangenehme, sondern wohlige Müdigkeit. Immer mehr.
3Iit aller Macht kommt sie. Immer mehr. Immer stärker. Immer mehr nimmt
sie zu. Immer tiefer kommen Sie hinein. Dieses Mal ist es Ihnen gar nicht un-
angenehm zu Muthe, es ist eine so wohlige Müdigkeit, die Sie übermannt, in die
Sie immer tiefer liineinsinken. Das ist eine so angenehme Müdigkeit, die Sie
überkommt. Nun zähle ich bis 8, dann gehen Ihre Augen wieder auf. 1, 2, 3."
Zeitdauer: 1 Min. 22 See.
Verf. : „Ich wurde rascli von einer angenehmen Müdigkeit ergriffen. Ich
incK'hte diese Art mit der Müdigkeit vergleichen, wie sie sich mitunter nach der
Mahlzeit ernstellt. Die Schlaftiefe war gering.**
2. Hypnose:
Dr. V. : „Nun kommt noch mehr Kühe über Sie, und Sie kommen noch mehr
liinein. Immer mehr kommen Sie zur Kühe. Immer mehr senkt sich Ruhe über Sie.
Immer tiefer kommen Sie hinein. So, mehr und mehr. So. ganz schön kommen Sie
hinein, ganz schön kommen Sie zur Ruhe. Immer tiefer. So, mehr und mehr senkt sich
3lüdigkeit, wohlige behagliche Bindigkeit, ein angenehmes Gefühl des Vergessens auf
Sie. So, immer tiefer. So, immer mehr. 0, so schöne wohlige Müdigkeit kommt mit
aller Macht über Sie. Nun zUlile ich bis 8, dann machen Sie die Augen auf, und
das nächste Mal kommen Sie noch mehr hinein. 1, 2, 3." Zeitdauer: 1 Min. 22 Sec^
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 175
Verf.: .,Ich glaube nicht, dass ich tiefer wie vorhin war. Ich habe die Ge-
räusche auf der Strasse und das Ticken der Uhr gehört. . Der Zustand war sehr
angenehm.
3. Hypnose.
Dr. y. : ,fNun kommen Sie ganz schön hinein. Die Müdigkeit kommt einfach
über Sie, eine so selige Müdigkeit. Ehe Sie Sich versehen, werden Sie so müde,
dass Sie nicht mehr auf meine Worte achten können. Sie kümmern Sich immer
weniger um sie, \md lassen Sich in einen behaglichen Schlaf hineinlullen. Immer
mehr. Mit aller Macht kommen Sie jetzt hinein. So jetzt, Ihr Athem verlangsamt
sich, eine so selige behagliche Müdigkeit tritt jetzt mit aller Macht auf, ohne dass
Sie etwas dazu thun, und diese Müdigkeit senkt Sie immer mehr hinein. Immer
mehr kommen Sie hinein, immer tiefer, und es kommt ein so seliger Schlummer
über Sie, der immer mehr zunimmt. Immer tiefer, immer mehr. So, und das
nächste Mal kommen Sie noch tiefer hinein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen
Sie die Augen wieder auf. 1, 2, 3/* Zeitdauer: 3 Min. 37 See.
Verf.: „Das Gefühl einer behaglichen Müdigkeit war stark ausgesprochen.
Am Schlaf hat nicht viel gefehlt; ich war in einem tieferen Schlafstadium als das
letzte Mal.'*
4. Hypnose.
Verf. schliesst die Augen, die er kaum offen halten konnte. Dr. V.: „Immer
mehr kommen Sie hinein in einen richtigen seligen Schlaf. Mit aller Macht senkt
er sich auf Sie, und Sie fühlen Sich so selig, nichts hindert Sie mehr, tiefer ein-
zuschlafen; es ist ein seliges Selbstvergessen. Immer mehr kommen Sie hinein.
Immer tiefer hinein. So, immer mehr hinein. Immer mehr hinein in ein richtiges
seliges Sichselbstvergessen, in einen so richtig schönen Schlaf. Nichts mehr hindert
Sie, und Sie haben das Gefühl hinterher, ganz fest geschlafen zu haben. Dieser
Schlaf erquickt Sie genau so. wie ein tiefer Nachtschlaf. Immer tiefer hinein.
Immer tiefer. (Pause.) Immer mehr. Nun zähle ich bis 3. Dann machen Sie die
Augen wieder auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3.*' Zeitdauer: 3 Min. 42 See.
Verf.: „Das Gefühl der Müdigkeit, das ich noch beim Einschlafen verspürte
war nicht so stark ausgesprochen. Der Schlaf war tiefer und sehr erquickend.
Ich war noch bewusstlos." Dr. V.: „Was war noch im Bewusstsein?** Verf.:
,Jm Moment habe ich nur eine summarische Erinnerung, dass ich nicht bewusstlos
war, bin aber für den Inhalt amnestisch. Es fiel mir auf, dass bei zunehmender
Schlaftiefe die Respiration oberflächlicher wurde.**
5. Hypnose.
„Nun kommen Sie noch mehr hinein. Immer mehr Müdigkeit senkt sich auf
Sie. Sie schliessen die Augenlider fest zu. und es kommt eine richtige mollige
Müdigkeit über Sie, eine richtig behagliche Müdigkeit. Immer tiefer und tiefer
kommen Sie hinein. Sie vergessen Sich mehr und mehr. Immer schönere 3Iüdig-
keit kommt über Si*», mehr und mehr, tiefer und tiefer. Immer mehr. Immer
tiefere Müdigkeit senkt sich auf Sie. So, immer tiefer kommen Sie hinein. Immer
mehr vergessen Sie Sich. Ihr Bewusstsein wird immer leerer, mehr und mehr
kommen Sie in einen Schlafzustand. Immer mehr kommt ein Schlafzustand zum
Ausdruck. (Pause.) Immer mehr vergessen Sie Sich. Immer tiefer, immer tiefer.
(Pause.) Immer mehr vergessen Sie Sich. Immer mehr. Durch nichts lassen Sie
176 ^^^ Straaten.
Sich stören. Sie kommen ganz tief hinein. Nun zähle ich bis 3. Dann machen
Sie die Augen auf. 1, 2, 3. 1, 2, 3. 1, 2, 3. (Laut: 1, 2. 3.) Zeitdauer: 6 Min. Id See.
„Verf.: „Ich bin noch sehr schläfrig." Dr. V.: „1, 2, 3. 1, 2, 3.'^ Vert:
„Ich glaube^ dass ich gut geschlafen habe." Dr. V.: „Wissen Sie noch etwas ?^
Verf.: ,Jch kam sehr rasch in einen tiefen Schlaf und weiss nichts mehr."
An die Erfahrung der letzten Hypnose der 6. Sitzung anknüpfend,
sind hier in lebhaftem, aber nicht zu schnellem Tempo Suggestionen
für ein behagliches Einschlafen gegeben. Dieselben erzielen in der
6. Hypnose eine vollständige Amnesie.
Man könnte hier nun die Frage aufwerfen, ob in diesen Fällen
nicht schliesslich ein allgemeiner tiefer Schlaf hervorgerufen wäre, und
nicht etwa ein Schlaf mit Rapportverhältm'ss, das heisst, eine tiefe
Hypnose. Sehen wir doch in der 3. Hypnose der 4. Sitzung, dass sich
wenigstens die Suggestion des Erweckens nicht mehr ohne Weiteres
realisirte. Hier ist nun vom Standpunkt der Vogt 'sehen Methodik
Folgendes zu erwidern: Es ist jedenfalls unvergleichlich leichter, aus
dem suggestiv hervorgerufenen tiefen allgemeinen Schlaf eine Hypnose
zu schaffen, wie aus dem normalen Wachsein. Die Methodik zur Er-
reichung dieses Ziels haben wir in jener obigen 3. Sitzung bei der
Wiederherstellung des Rapportverhältnisses kennen gelernt. Es kam
uns aber bei unseren Versuchen auf die methodisch wichtige Frage
zunächst an, in welcher Weise man am leichtesten durch Verbal-
suggestion einen tiefen Schlaf hervorruft, ohne speciell darauf zu achten,
ob er die Unterart der tiefen Hypnose oder die eines tiefen allgemeinen
Schlafes darstellte.
Die specielle Frage nach der möglichst besten Art und Weise,
eine tiefe Hypnose zu erzielen, ist eben im Wesentlichen gelöst, wenn
suggestiv überhaupt nur eine tiefe Schlafhemmung erzielt wurde.
(Schluss folgt.)
Selbstbeobachtungen in der Hypnose.
Eine Studie von
Dr. Harcinowski, Ding. Arzt am Inselbade bei Paderborn.
II.
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen.
A. Allgemeine Bemerkungen.
Wohl Jeder, der sich mit vorliegendem Thema beschäftigt, hat es
gelegentlich empfunden, ein wie misslich Ding es ist, sich auf seinen
Instinct, sein feines Taktgefühl verlassen zu müssen, wenn man den
krausen Gedankengängen eines Patienten nachspürt. Und doch ist uns die
Erkenntniss derselben nöthig, wenn anders wir einen wirksamen Einfluss
auf die Vorstellungswelt unserer Kranken gewinnen wollen. Der jeweilige
Vorstellungsinhalt beherrscht den Menschen; den ersteren günstig be-
einflussen heisst in den meisten Fällen, den letzteren seiner Heilung
entgegen führen. Wie könnten wir da einen besseren Wegweiser finden,
um das verworrene Knäuel von hindernden Autosuggestionen zu ent-
wirren, als das Studium der psychischen Vorgänge an der Hand von
Selbstbeobachtungen I Von diesem Gedanken war ich ausgegangen und
bin nun am Schluss meiner Arbeit darüber erstaunt, dass eine
Menge anscheinend unbedeutender Kleinigkeiten eine so wichtige Rolle
spielen und die Fragen der Technik zu so complicirten Gebilden ge-
stalten. Es Hessen sich da vielleicht eine Menge Regeln aufstellen, was
zu thun, was zu vermeiden wäre, — aber das könnte zu starrem Sche-
matismus ausarten, der gerade hier am wenigsten am Platze ist, wo es
sich um ein ständiges Anschmiegen an das intime Seelenleben des Kranken
handelt. Jeder wird sich da seine eigene Wege bahnen, aber nicht
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 12
178 ^^- Marcinowski.
ohne Nutzen wird man die Pfade studiren, die andere — ihrer per-
sönlichen Natur entsprechend — gegangen sind. Das Ziel bleibt immer
die Beeinflussung des Vorstellungsinhaltes, des massgebendstea Factors
in unserem psychischen Dasein. Die Psychotherapie im weiteren, und
die Hypnotherapie im engeren Sinne kennt eigentlich keine anderen
Ziele, und ihre Technik will nichts Anderes lehren, als wie man dies am
geschicktesten anfangt.
1. Vorbedingungen.
Eine Hauptschwierigkeit stösst dem Hypnotiseur gleich zu Anfang
auf, der Umstand, dass zwei Menschen sich selten von vorne herein so
gut verstehen, dass sich die BegriflFe, welche beide mit den Worten des
Hypnotiseurs verbinden, wenigstens ungefähr decken. Wie will man aber
den Vorstellungsinhalt eines Menschen ummodeln, der einen falsch
versteht? Was nützen die schönsten Suggestionen, wenn sie falsch
assimilirt werden ! Deshalb soll jeder hypnotischen Cur eine belehrende
VorbereituDg vorangehen, deqn sonst sind die Begriffe, welche der
Patient mit dem Wort Hypnose verbindet, schon allein im Stande, einen
Wall von Hindernissen gegen unser Bemühen aufzubauen, den zu zer-
stören oft unmöglich ist, — Begriffe übrigens, in welchen der Grund zur
Production pathologischer Zustände liegt, die die Hypnotherapie in
Verruf bringen können, und nur dadurch zu vermeiden sind, dass man
eben vorher Klarheit in die Anschauungen seiner Kranken bringt.
Viele sagen einem nun nicht Alles, — um so emsiger muss man fragen
und forschen ; denn selbst wo man des vollen Vertrauens sicher zu sein
glaubt, ruht oft gleichsam auf dem Grunde ein kleines unbeachtetes
Hinderniss, das uns nicht vorwärts kommen lässt. Ich erinnere mich
an eine Dame, welcher die Hypnosen zunächst vorzüglich bekamen, die
aber durch den Gedanken an die dadurch verursachten Kosten gestört
wurde und trotz freundschaftlicher Stellung zu ihrem Arzte, denselben
nicht aufklärte.
Meine Aufzeichnungen bestehen darüber eigentlich überhaupt nur aus
solchen sogenannten Kleinigkeiten, und ihre Besprechung will keines-
wegs eine erschöpfende Abhandlung der technischen Frage darstellen;
sie ist lediglieh eine Studie, ein Skizzenbuch mit vielen kleinen Details
aus meinen eignen Hypnosen.
Die eben angedeuteten Vorbereitungen fielen bei mir fort, da
mir z. Z. die Suggestionslehre theoretisch wie praktisch geläufig
war. Die psycliophysisehe Constellation war allso im Allgemeinen als
Zar Technik der hypnotischen Suggestionen. 179
günstige gegeben. Nur im Speciellen Hess sie manchmal zu wünschen
übrig, und dies lag an Dingen , die man zu vermeiden trachten soll.
Geistige Ermüdung stellt meines Erachtens eine eutschiedene
Coutraindication für die Vornahme hypnotischer Versuche dar, welche
eine gewisse Concentrationsfahigkeit beanspruchen. Femer soll die all-
gemeine Stimmung eine ruhige sein , man soll Zeit haben , und sich
nicht mit dem Gedanken hinlegen, „wirst du auch um 11 Uhr da oder
dort sein können, wie du verabredet hast." Das war öfters bei mir
der Fall gewesen und hat die Versuche gestört, auch gelegentlich zu
emotioneller Unruhe geführt. Etwas Aehnliches las ich in den Fällen
von Selbstbeobachtung, welche Wetterstand publicirte. Dort war es eine
EftUÜaduug zu Mittag gewesen, welche die störende Unruhe hervorrief.
Im Allgemeinen war ich erstaunt, zu constatiren, dass meine ge-
naue Kenntniss von der ganzen Suggestionslehre kein Hindemiss dafür
war, dass sioh Suggestionen bei mir prompt erfüllten. Ich erwähne
dies, weil man sehr häufig meint, die ganze Psychotherapie werde sich
in. Nichts verflüchtigen, sobald erst alle Welt über ihr Wesen aufgeklärt
sein würde. Nun, dem scheint doch nicht so zu sein, und unsere viel-
geschmähte Arbeit wird nicht so vergänglich sein, als unsere Gegner
meinen, welche Charlatanerie von ernstem, wissenschaftlichen Streben
nicht zu unterscheiden wissen und Hypnose mit Humbug identificiren.
Hat man nun in dem Patienten durch Aussprachen Furcht und
Misstrauen beseitigt, oder wenigstens bis zu einem gewissen Grade unter-
drückt, was am leichtesten wohl durch entsprechende Demonstration
anderer Hypnotisister gelingt, so versucht man den so Vorbereiteten
einzuschläfern.
2. Die Sinnesreize.
Welche Rolle dabei die allgemeinen Schlafgewohnheiten und das
Femhalten von Sinnesreizen spielen, habe ich bereits erwähnt (vgl. p. 26).
Ich betone hier nochmals, dass ich alle diese Nebenumstände als sehr
wesentliche empfunden habe, und ihre bahnende Wirkung nie mehr unter-
schätzen werde. Das in der Hypnose zu Staude kommende Abstumpfen
der Sinnesorgane gegen Reize rauss um so mehr unterstützt werden,
als es sich im Beginn derselben häufig — wie früher ausgeführt — um
eine Herabsetzung der Schwellenwerte handelt, die dauernde Störungen
hervorrufen kann, wie die Hyperacusis bei meinen Versuchen. Diese
äusseren Ruhebedingungen habe ich in I. und II. eingehender geschildert,
wie das Verdunkeln des Zimmers, das Vermeiden von Lärm, das Hin-
12*
IßO ^''- Marcinowski.
legen und Zudecken etc. Diese Ruhe hat nicht nur den Zweck^ die
Vorstellung vom Fernbleiben jeder Störung zu wecken, sondern verhindert
auch die Ablenkung der Aufmerksamkeit von dem Vorhaben des Arztes.
Unaufmerksame Menschen sind schwer zu hypnotisiren und Neurasthe-
niker sind wohl deshalb so wenig zu beeinflussen, weil ihnen die Fähig-
keit mangelt y an einer Zielvorstellung festzuhalten , jede gebotene
Gelegenheit benützend, auf Nebenwege abzuweichen und ,,irrlichterirend
hin und her^ zu springen. Um so kleiner braucht hier der Reiz zu sein,
der genügt, um zu stören, und um so mehr muss man bedacht sein,
diesen Aeusserlichkeiten Genüge zu thun.
Die meisten Suggestionen sind rein verbale, aber man thut sicher
gut daran, die Wirkung der Worte durch körperliche Momente zu
unterstützen. Vogt legte die Hand auf mein aufgeregtes Herz, und
ich empfand die wohlthuende Wirkung davon; desgleichen auch, wenn
die Hand über momentan aufgeregte oder gespannte Muskelgruppen
hinstreichelte. Auch die Vogt' sehe Manier, eine Hand auf der Stirn
des Hypnotisirten liegen zu lassen, hat etwas ungemein Beruhigendes.
Zugleich giebt diese Manier eine Handhabe, sofort beim Beginn des
Einschlafens eine Suggestion zu ertheilen, die sich sehr leicht realisirt.
nämlich die der Wärme. Vogt 's Frage ,. jetzt wird Ihnen schon ganz
schön warm unter meiner Hand ; — fühlen Sie das ?" lenkt die Aufmerk-
samkeit auf ein sich mit eioer gewissen Sicherheit einstellendes Phänomen
hin und zugleich von allerlei störenden Gedankengängen ab. Gleich-
wohl erfordert bereits diese Suggestion eine gewisse Vorsicht, denn
wenn der Hypnotiseur eine feuchte kalte Hand hat, oder der Hypno-
tisirte eine auffallend warme Stirn, so kommt selbst eine eintretende
Congestion nicht zur entsprechenden Empfindung (I. 1.) und dies zu
einem Zeitpunkt, wo von einer intensiven Suggestionswirkung noch
nicht die Rede ist und Erwartung sowohl, wie Kritik sehr lebhaft sind.
Diese Erwartung ist oft in störender Weise gespannt, und deshalb
thut man gut, sie abzulenken oder ihr eine bestimmte Form zu gehen,
d. h. sie mit Vorstellungen zu erfüllen, welche bahnend wirken, wie die
Erinnerung an frühere Hypnosen oder an gewohnte Situationen, wie den
Mittagschlaf (TII. 6.), oder an bestimmte Schlafgewohnheiten. Man erfahrt
solche Dinge durch fortgesetztes Aushorchen, das um so nöthiger ist,
als die Patienten spontan nicht genug Rechenschaft ablegen. Ich selbst
habe eine lange Weile gekämpft, ehe ich Vogt darauf aufmerksam
machte, dass mich die fest aufgelegte Stirnhand am bequemen Aus-
strecken hinderte und meine Hypnose deshalb störte, und erst beim
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. 1^1
14. Male (III. 1.) habe ich um Abhülfe gebeten. Ein andermal \i^ar
mir das feste Auflegen der Hand wieder Bedürfnis, ein Beweiss, mit
welcher Geduld sich der Hypnotiseur den Launen seiner Kranken an*-
passen muss, denen man hierbei am besten jeden Wunsch erfüllt.
Ist allgemeine Beruhigung eingetreten, Muskelspannung wie
Lächeln etc. ausgeglichen, so richtet sich die ganze Kraft der Sugges^
tionen auf den Augenschluss. Ist derselbe in normaler Weise er-
folgt, so hat man meist gewonnenes Spiel. Aber er muss als echte
Suggestionswirkung auftreten, also spontan erfolgen, sonst hat der
Hypnotisirte nicht den erwünschten Eindruck davon, wähnt sich nicht
beeinflusst, wird durch actives Nachhelfen wieder munterer (I. 3.), und
der Hypnotiseur selbst täuscht sich vollkommen über den Grad seines
Einflusses. Im Gegentheil ist es viel richtiger, den Kranken zu energischer
Gegenwehr gegen die Zusammenziehung des Orbicularis aufzufordern;
denn der Widerstand verstärkt die Empfindung von der beginnenden
Contraction und weckt die Vorstellung von der eingetretenen Sugges*-
tionswirkung, welche Vorstellung nun ihrerseits den Gedanken der
Wehrlosigkeit bedingt uod den Widerstand lähmt, so dass die Augen*
lider sich nur um so schneller senken. Thun wir dies nicht spontan,
80 fehlt dem Augenschluss auch jenes den ganzen Körper durchrieselnde
Lustgefühl, welches Vielen die Hypnose so lieb macht und einen aus-
gezeichneten Anknüpfungspunkt für allgemeinere Heilsuggestionen bietet
(allgemeines Wohlbehagen etc.)
Der erfolgte Augenschluss bewirkt sofort ein mehr oder weniger
weitgehendes Abschliessen gegen die Ausseuwelt, eine grössere allgemeine
Ruhe, ein Umstand, der ängstlichen Gemüthern zur plausiblen Begründung
unseres Vorgehens dienen kann, wenn Jemand, wie es zuweilen vorkommt,
sich scheut, die Augen zu schliessen. Der Augenschluss hat auch deshalb
eine so grosse Bedeutung in der Hypnose, weil er — namentlich dem
Laien — als Zeichen eingetretener Schlafhemmung, sowie das Oeffnen der
Augen als Zeichen des Wachseins gilt. Dass dies Letztere namentlich
durchaus nicht immer zutrefl*end ist, haben wir am Ende der III. 6. Hypnose
gesehen, wo ich eine recht merkwürdige Figur abgegeben haben muss.
Zugleich lehrt uns der Vorgang, dass man es vermeiden soll, seine
Hypnotisirten ohne Befehl spontan die Augen öffnen zu lassen. Der
Kopfschmerz, welchen ich davongetragen hatte, ist noch das Wenigste,
was einem dadurch zustossen kann.
Die meissten Hypnotiseure pflegen nach Vorgang unserer Nancy er
Meister die einzelnen Phasen des Augenschlusses durch Schilderung der-
132 ^' MarciDowski.
selben zu accompagniren. Das habe ich als entschieden richtig em-
pfunden, aber zugleich auch die Nothwendigkeit, dabei scharf zu be-
obachten und keine Dinge zu behaupten, die nicht da sind. Das Ver-
schleiern des Blickes durch Ansammeln der Thränenflüssigkeit bei
mangelndem Lidschlag, ein gewisser starrer Ausdruck im Auge, das
sind Dinge, die man deutlich selber empfindet, und denen der Hypno-
tiseur gleichsam auflauem muss, um sie sofort zur Suggestionirung zu
benutzen. So lange man dabei vorsichtig zu Werke gehen muss, wird
man den Erscheinungen manchmal etwas nachhinken, aber trotz meiner
technischen Kenntnisse haben Sie gelesen, dass ich nicht im Stande
war bei mir selbst zu unterscheiden, ob Vogt bereits suggerirte oder
sich noch referirend verhielt. Zunächst empfand ich mein Percipiren
der ertheilten Suggestion als ein actives, wenn auch die Folgewirkung
bereits spontan auftrat ; später wurde auch das Percipiren passiver und
ich lag da, um verwundert und interessirt das ohne mein Zuthun sich wie
an einem fremden Körper abwickelnde Geschehen zu beobachten.
Ueber die Körperhaltung des Hypnotiseurs möchte ich noch ein-
schalten, dass ich es für günstig halte, sich so zu setzen, dass es dem
Kranken einige Mühe macht, seinem Arzt ins Auge zu sehen. Die Hand des
Hypnotiseurs soll der Stirn so aufliegen, dass die Augäpfel des Patienten
mit Anstrengung etwas nach oben gerichtet werden müssen; um so
schneller wird eine Ermüdung eintreten, und mit ihr der Augenschluss.
3. Die Stimme und Sprechweise des Hypnotiseurs.
Dasjenige Sinnesorgan, welches am längsten wach bleibt und das
Rapportverhältniss aufrecht erhält, ist das Gehör, Deshalb sind
störende Geräusche von so grosser Wichtigkeit. Des Weiteren will
ich nun schildern, welche Regeln ich für die Stimme des Hypnotiseurs,
Porm und Inhalt seiner verbalen Suggestionen aus meinen Beobachtungen
abgeleitet habe.
Zunächst ist die laute Stimme als weckender Reiz zu betrachten,
und wenn es auch meist nicht nothwendig ist, so ist es doch natürlich,
sich ihrer zur Desuggestionirung, zum Wachbefehl zu bedienen. Be-
sonders, wenn es sich um ein ungewöhnlich eindringliches Aufwecken
handelt, wie es bei unvollständigem Erwachen und zur Beseitigung
partieller Erscheinungen wie Kopfschmerz, Kältegefühl etc. vorkommt,
unterstützt die laute Stimme wesentlich die Wirkung der verbalen
Suggestion. Auch das plötzhche Entfernen der Stirnhand beim Wach-
kommando trägt zur Ermunterung bei, und diese Thatsache hat Vogt
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. 183
noch ausgiebiger zur Unterstützung der Suggestionen benutzt, wie ich
es in III. b. 3. auf Seite 41 genauer beschrieben habe.
Während des Einschlununems ist im Gegensatz zum Aufwachen
eine leise und ruhige Sprechweise am Platze. Lautes und lebhaftes
Sprechen des Hypnotiseurs wird da direct als störend empfunden (V. 1),
während eine gewisse Monotonie im Stimmfall, langsames und ruhiges,
oft bis zum Flüstern gedämpftes Zureden etwas ungemein Beruhigendes
und Einlullendes hat. Auf ein geflüstertes Wort muss man nebenbei
genauer hinhören, als auf ein laut gesprochenes, und dadurch wird die
Aufmerksamkeit wiederum mehr daraufhin concentrirt, von Nebensäch-
lichem und etwaigen Störungen mehr und mehr abgelenkt. (III. 4. u. V. 2.)
4. Form und Inhalt der verbalen Suggestionen.
Analoge Verhältnisse finden wir für den Inhalt der verbalen
Suggestionen zu berücksichtigen. Es ist meinem Empfinden nach
störend und deshalb unangebracht, seine Suggestionen selbst bei Leuten,
die wie ich der Hypnose nicht als Laien gegenüber stehen, in com-
plicirte Formen und wissenschaftliche Ausdrücke zu kleiden, und diese
Form noch dazu öfter zu wechseln, wie ich es in III. 3 beschrieb und
mehrmals monirte, wenn sich Vogt gewissermaassen im Eifer dazu
hinreissen Hess. Der Inhalt der allgemeinen Suggestionen sei im Gegen-
theil in schlichte einfache Worte gekleidet, die sich immer und immer
wieder wiederholen (11 b. 2. und 3 und lU 1 — 4, VI.) Das mag ermüdend
für den Hypnotiseur sein, aber es ist imgemein wirksam, auch hier
einlullend durch seine Monotonie. Die einzelnen Redewendungen ge-
winnen Kraft dadurch, dass sie zur Gewohnheit werden; wenn sie ein-
mal von Erfolg begleitet waren, so bleiben sie mit der Idee der Wirk-
samkeit associirt, und ihre Anwendung in der nächsten Sitzung ist ver-
möge der Erinnerung hieran von um so eclatanterem Erfolg begleitet. So
wächst der Grad der Beeinflussung durch Summation und Kumuliren
dieser einfachen, sich immer fester einnistenden Vorstellungscomplexe, —
viel mehr, als es durch wechselvolle und geistreiche Fassung der verbalen
Suggestionen möglich ist. In übertragenem Sinne gilt auch hier das
alte : gutta cavat lapidem . Es sind trotz der oben aufgestellten
Regel eine Menge Variationen des einfachsten Themas möglich, in Be-
tonung, Ausdruck und Eindringlichkeit der Redeweise, das eine Mal
schleppend und gleichsam selbst müde sprechend, das andere Mal immer
dringlicher flüsternd, bis man den Kranken überwunden hat, „über-
wältigt" wie ich mich 11. b pag. 11 ausdrückte.
1Q4 ^' Mftrcinowski.
An vielen Stellen findet sich bei mir auch die Notiz, dass die
Dauer der Suggestionswirkung von der ständig wiederholten Suggestions-
ertheilung abhängig ist ; blieb letztere aus, so liess die erstere in ober-
flächlicher Hypnose oft nach, und ich wurde munterer.
Ich habe obige Ausführungen für um so wesentlicher gehalten, weil
ich femer die Beobachtung machte, dass man sehr bald in eine aus-
gesprochene Abhängigkeit vom Wortlaut der Suggestion geräth. So
wie die ständige Wiederholung der einzelnen Suggestionen zur Oe-
wohnheit wird, die man nicht ohne Störung entbehren kann, me in YL 3^
wo der Lidchluss ausblieb, so kann auch jedes einzelne Wort Bedeutung
gewinnen. Das macht unser Handeln oft recht mühsam, denn es ver-
langt vom Hypnotiseur eine volle angespannte, concentrirte Hingabe
an seine momentane Aufgabe, die sich durch Routine schwer ersetzen
lässt; es erfordert jenes Anschmiegen an die Ideengäoge des Hypno-
tisirteu, von dem ich schon mehrfach sprach. Die IX. Sitzung ist ein
gutes Beispiel für das, was ich damit sagen will. Die ganz geringen
Abweichungen vom wirklichen Geschehen, wie sie dort in den Worten
„allmählich*" und „Zunahme der Wärme" in ihrem Gegensatz zu
„fluthweise" und „räumlicher Ausdehnung^ zum Ausdruck kamen, ge-
nügten, um die der Suggestion gegenüber bestehende Neigung zur
Kritik wachzurufen.
Handelt es sich einerseits darum, fehlerhafte Worte beim Hypno-
tiseur zu vermeiden, so muss man andererseits auch damit rechnen,
dass noch so geschickt ertheilte Suggestionen falsch assimilirt werden
können, und so oft anders wirken, als sie gemeint waren. Als üeber-
gang zu dieser Erscheinung möchte ich auf die Verwirklichung der
Traumsuggestionen in VI. 4 pag. 17 hinweisen. Mehr oder weniger wird
schliesslich jede Suggestion erst noch spontan verarbeitet und dem
jeweiligen Vorstellungsinhalt anjiepasst.
Wenn ich von Anschmiegen im Wortlaut rede, so möchte
ich dabei hervorheben, welche Worte mir als besonders gut gewählte in
Eriunenmg geblieben sind. Sie betreflfen meist die Gefuhlstöne, wie
Ruhe, — Frieden, — behaglich faules Daliegen, — wonnig, sich dem
Zustand hinzugeben — immer tiefer sinken — Alles vergessen, — gleicb-
gültiij wenleu etc. etc., und geben die einzelnen Empfindungen vorzüg-
lich wieder. Aber man hüte sich, sie anzuwenden, wenn man nicht
zugleich annehmen kann, dass sie 2\uf guten Boden fallen. Nichts ruft
die Kritik nu^ir wach, als das fehlerhafte Zusammentreffen von lautem
Geräusch mit Gleichgültigkeitssuggestion, von muskulärer Unruhe und
Zur Technik der hypnotischen Saggestionen. 185
Sptmnangen mit SuggestioDen der Ruhe und des Friedens. Auf der
anderen Seite habe ich bereits so unscheinbare Kleinigkeiten, wie das
Zusammentreffen des Exspiriums mit den Worten: „tiefer sinken^ als
bahnend für das Zustandekommen der Wirkung empfunden (Y. 2). Dies
Alles mag Manchem in der That kleinlich erscheinen, aber ich habe an
der Hand persönlicher Empfindungen die Ansicht gewonnen, dass wir
gerade diese kleinen Details beachten müssen, da in ihnen so häufig
der Grund für das Nichtgelingen hypnotischer Versuche liegt.
4. Das fractionirte Verfahren.
Nun wird man allerdiBgs bei den meist üblichen Hypnotisirungs-
methoden sehr bald in die Verlegenheit gerathen, dass dem Hypnotiseur
die Handhabe dazu zu fehlen scheint, um so subtile Vorgänge in der
Gedankenwelt der Versuchspersonen erkennen und benutzen zu können,
und damit komme ich auf den Funkt zu sprechen, dem zu liebe ich
obige Kegeln so betont habe. Ich erwähnte Eingangs, dass meine
Hypnosen sämmtlich nach Vogt's sogen, fractionirten Verfahren
vorgenommen wurden, welches bekanntlich darin besteht, dass man in
einer Sitzung mehrere kurzdauernde Hypnosen vornimmt, dieselben
jedesmal verlängernd und vertiefend. Dies Verfahren bietet uns in der That
so bedeutende Vortheile, dass es wohl in Bälde einen grossen Freundes-
kreis erobert haben wird. Wenn auf das Anschmiegen an die Ideen-
gänge der Kranken wirklich so grosser Wert zu legen ist, wie ich
meine, so giebt uns lediglich dieses Verfahren den Schlüssel zu den-
selben in die Hand.
In den Zwischenpausen zwischen den einzelnen Hypnosen fragt
man den Kranken ganz genau über all seine Empfindungen aus
und kann sich dadurch ein ziemlich genaues und zutreffendes Bild
von seinen Vorstellungen schaffen, die man dann immer weiter zum
Aufbau seiner Suggestionen benutzt, und an welche anknüpfend man
die nächstfolgende Hypnose durch immer schärfer detaillirte Sug-
gestionen verstärken kann, ohne befürchten zu brauchen, damit uner-
wünschte Kritik wach zu rufen und an Autorität einzubüssen, kurz,
das Anschmiegen wird dadurch erst möglich gemacht. Man erhält
80 auch ein Urtheil über den Grad der erzielten Beeinflussung und
eine Handhabe, denselben beliebig tief zu gestalten. So kommt man
einerseits rascher zum gewünschten Ziel und andererseits ist man leichter
in der Lage, etwa auftauchende pathologische Erscheinungen im Keim
zu ersticken. Der Hauptvortheil des fractionirten Verfahrens liegt also
186 ^' Marcinowski.
darin^ dass man die Hypnotisirten gewissermaassen in der Hand behält,
Grad und Art der BeeinflussuDg immer beherrscht, die Hypnose also
beliebig gestalten kann, während der Patient bei anderen Methoden
leicht entschlüpft, seinen Vorstellungsinhalt unserer Kenntniss entzieht,
und auf dem' Wege der Autosuggestioa Zustände producirt, welche
man nicht gewollt und beabsichtigt hat, die therapeutisch werthlos
sind, und die gegebenen Falles einen pathologischen Character annehmen
können, wenn man die Technik nicht genügend beherrscht. In diesem
Sinne stellen meine Versuche gewissermaassen Normalhypnosen dar, wie
sie von Vogt geübt und gelehrt werden. Man übersehe auch nicht,
wie wesentlich man sich die ganze mühsame Arbeit erleichtert, indem
man durch das in jeder Sitzung mehrmals vorgenommene Einschläfern
und Aufwecken den Kranken ganz anders einübt, in ganz anderem
Maasse zu schnellem Gehorchen, zu einem stets anspruchsfahigen Rapport^
verhältniss erzieht, als dies bei den sonst üblichen Hypnotisirungs-
methoden der Fall ist.
Aehnliche Vortheile, wie die Technik aus dem Ausfragen des
Hypnotisirten in den Zwischenpausen zwischen den einzelnen Versuchen
zieht, gewinnt man dadurch, dass man seine Hypnotisirten an die Vor-
stellung gewöhnt, dass man im Schlafe sprechen könne. Ist diese
zunächst etwas fremdartige Idee assimilirt, so ergiebt sich daraus
ein A'eriiältniss, welches beiden Theilen nützlich wird. Glückt es schon
sehr häufig, durch Analysiren dieser oder jener Störung, die sich be-
merkbar machte, dieselbe in ihrer Genese zu ergründen und dann logisch
zu beseitigen, während die Versuchsperson völlig wach ist, so ist es um
so leichter, solche Störungen zu unterdrücken und sich dem Ideengange
des Kranken anzuschmiegen, wenn man sich in jedem Momente während
der Hypnose selbst Auskunft holen kann. Alle meine Versuche waren
fast durchweg durch dieses Verhältniss characterisirt, ich gab über alles
spontan Auskunft, was mir aufstiess und was ich für mittheilenswerth
ansah. Ohne diesen Umstand wäre es wohl kaum möglich gewesen, in
diesen Versuchen so — für meinen Zweck — ergiebige Resultate zu
erreichen.
Die Schwierigkeiten, die sich dabei herausstellten, machten die
Sache für mich um so interessanter, und die Technik hat aus den ent-
sprechenden Vorgängen den Schluss zu ziehen, dass man durch ein-
gehendes Ausfragen in den Zwischenpausen wie während der Hypnose,
event. durch analytisches Vorgehen den Grund der Störung und ihre
Associationen aufdecken muss, um sie dann logisch zersetzen, auflösen und
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. 187
dadurch beseitigen zu können, falls dies nicht schon spontan geschehen
ist, sobald die Analyse fertig vorliegt.
B. Einzelne specielle Bemerkungen.
1. Der Kopfschmerz.
Nun geben mir noch einige specielle Suggestionen Gelegenheit
zur Erörterung technischer Fragen. Am 5. Tage war ich mit Kopf-
schmerzen zu Vogt gekommen und hatte von ihm erwartet^ dass er
dieselben beseitigen werde. Dieses gelang nicht, und ich schob sehr
natürlich die Schuld daran Vogt's Verhalten in die Schuhe, der von
vornherein betont hatte, dass diese Art Kopfschmerzen, welche aus
dem Morgenschlaf heraus entstehen, schwer zu beeinflussen seien. Ich
empfang diese Worte sofort als eine höchst unangebrachte Zerstörung
meines Glaubens und machte hinterjirein aus meiner Ansicht kein Hehl.
Vogt hielt aber au der Richtigkeit seines Verhaltens fest, und war
der Meinung, dass es viel besser sei, den Misserfolg, wo er wie hier
wahrscheinlich war, vorherzusagen und dadurch eventuell zu verschulden,
als den Glauben au die Macht und Autorität des H}7)notismus dadurch
zu erschüttern, dass man einen Erfolg vermissen lässt, den man an-
scheinend selber erhofft und erwartet hat. Ich habe mich dieser An-
schauung schliesslich fügen müssen und glaube in der That, dass man
in zweifelhaften Fällen lieber einmal zu vorsichtig sein soll, als dass man
die schon ohnehin oft nöthige Dreistigkeit seiner Suggestionen zuweit treibt.
2. Divide et impera.
Bei der Ertheilung specieller Suggestionen stösst man wiederholt
auf Schwierigkeiten, welche sich dadurch beseitigen lassen, dass man
sie gewissermaassen in kleinere Abschnitte zerlegt und Schritt vor Schritt
vorgehend stückweise zur Realisation bringt. Dies Vorgehen ist
ja genügsam bekannt, ich bringe es an dieser Stelle zur Sprache,
da ich seine Wirksamkeit selber deutlich empfunden habe. In der
VII. Sitzung war der linke Arm wach und kalt geworden, und die
Wärme und Scblafsuggestion versagte vollkommen, bis Vogt sich ent-
schloss, dieselbe nach obigem Grundsatze zu ertheilen ; was auf einmal
zu viel war, gelang so in kleinen Abschnitten.
Die ganze Art und Weise, wie man Jemanden einschläfert, indem
man das Einschlummern in viele kleine Phasen zerlegt, ist ja schon an
sich ein solches Vorgehen, von dem man zur Verwirklichung mancher
nicht erfüllter Suggestion noch viel mehr Gebrauch machen sollte, als
in der Literatur angegeben wird.
188 Dr. Marcin owski.
3. Vorgefasste MeinuDgen.
Diese Ueberschrift umfasst ein grosses Kapitel von HindernisseD,
welche unsere Bemühungen oft gänzlich vereiteln, und Wirkungen ber-
Torrufen, welche unseren Absichten direct zuwider laufen. Wenn specielle
Suggestionen auf solche Vorurtheile stossen, so hat man es meist mit
sogen, inadäquaten Vorstellungen zu thun, welche sich die Versuchs-
personen nicht ohne Weiteres aufnöthigen lassen, und an solchem wohl-
gepanzerten Wall von Autosuggestionen prallt dann meist auch die beste
Technik ab.
Auch hier gilt der Anfangs so betonte Satz: kleine Ursachen, grosse
Wirkungen. Wie geringfügig ist das Raisonnement in I. 2, welches —
halb unbewusst — dazu führte, dass die so allgemein geübten Stre\phongen
mich in dem geschilderten Maasse störten und weckten. Auch in AHLII. 8
führen die Streichungen nicht zum beabsichtigten Ziel, und als in VII. 2.
Vogt die specielle Suggestion der Amnesie ertheilte, so entstand aus
dem Gegensatz der beiderseitigen Zielvorstellungen ein aufgeregtes Er-
wachen. Aus der Unüberwindlichkeit solcher vorgefasster Meinungen
zieht die Technik wohl am besten den Schluss, dass man solche Klippen
am richtigsten umsegelt, und keine Kraft vergeudet, um schliessUch
nur mit seiner Autorität daran so zerschellen. Denn immerhin wird
trotz aller Geschicklichkeit das Resultat das sein, dass der Hypnotisirte
sich noch weniger beeinflusst glaubt, als dies so wie so schon der Fall ist.
Es lag ein merkwürdiger Widerspruch in dem eben erwähnten
Empfinden, dem ich in meinen Protokollen ja wiederholt Ausdruck
gegeben habe. Die Neigung zur Kritik, die wohl jeder in sich verspürt,
kann schon lange einer gewissen Kritikhemmung Platz gemacht haben,
einer Neigung zum für wahr halten des Gehörten, welche durch die zu-
nehm(»nde Trägheit der Gegenvorstellungen zu Stande kommt, — und noch
immer fehlt das volle Empfinden des Beherrschtseins, welches manchmal
erst hinterdrein (III. 5) auf Umwegen zur Erkenntniss gelangt. Diesen
Widerstreit zwischen der Idee wollenzukönnen und der trotzdem be-
stehenden WillenssclilaftTieit (IV. 4) allein der Methode Vogt zuschreiben
zu wollen, welcher seinen Patienten gegenüber stets betont, dass der
Bestand ihres persönlichen Willens in jedem Momente gewahrt bleibe,
halte ich für verfehlt, nachdem ich in der Litteratur auch von anderer
Seite die Schilderung ähnlicher Empfindungen gefunden habe. So
schreibt Bleuler in seiner Selbstbeobachtung: „Durch die folgenden
Suggestionen wurde mein bewusster Gedankeninhalt nicht anders als im
Zur Technik der hypnotischen Suggestionen. 189.
Wachen beeinflusat, deunoch realisirten sich dieselben zum grössten
Tbeil/' ^) Das drückt dasselbe aus, als ich im Sinne habe, die Verwunde-
rung darüber, dass Symptome eingetretener Hypnose da sind, während
kein entsprechendes Empfinden daran im Intellect vorhanden ist, der
sich genau wie im Wachen zu verhalten scheint.
4. Die suggestive Katalepsie.
Diese und ähnliche Gedankengänge, auch event. missglückte Sug-
gestionen rufen sehr leicht den Wunsch nach gewaltsamer Beein-
flussung wach, und so fehlerhaft es sonst ist, ohne Noth Theatercoups
wie die suggestive Katalepsie etc. anzuwenden, hier können solche Dinge
einmal am Platze sein (IV. 3). Ein gefährliches Experiment scheint
mir das allerdings trotzdem zu bleiben, denn nur allzu oft habe ich die
Suggestion der kataleptischen Starre unverwirklicht gefunden oder als
Liebeoswürdigkeit der Versuchsperson entlarvt. Die Vorbedingungen
für die Realisation dieser Suggestion waren bei meiner VIL 3 Hypnose
sehr günstige : der Wunsch, sie verwirklicht zu sehen, war wach, die
Empfindungen in VII. 2 legten die Idee des Gelingens sehr nahe, und
doch misslang die Sache so gründlich, wie sonst nichts in meiner ganzen
Versuchsreihe. Woran lag das? Ich weiss es nicht; aber es mahnt
aufs Neue zur Vorsicht mit diesem Experiment, an welchem so manche
Autorität zu Grunde gegangen ist.
Die suggestive Katalepsie als Maassstab für die Tiefe der Hypnose
2U benutzen, wie es fast allgemein geübt wird, muss ich deshalb ent-
schieden bekämpfen. Einmal leistet dies Symptom durchaus nicht das,
was man von ihm erwartet, zweitens braucht man solche Dinge nicht,
wenn man sich des geschilderten fractionirten Verfahrens bedient, welches
uns viel sicherere Wegweiser an die Hand giebt, und drittens, soll man
alle Mätzchen und jedem gebildeten Menschen entschieden zum mindesten
unbehagliche Kunststücke vermeiden, welche wir als Schaustellungen
^u sehen gewohnt sind, und welche dem Laien als totale Willens-
beraubung vorschweben. Auch darum sollen wir sie vermeiden, weil
unserem Vorgehen sonst in diesem Sinne Schwierigkeiten und Vorwürfe
erwachen könnten. Keinem Menschen, auch nicht dem Hülfe heischenden
Schwerkranken ist es gleichgültig, ob er sich als Spielball der bizarren
I^aunen seines Hypnotiseurs zu wähnen hat.
Vom Standpunkt der Technik aus ist die Vornahme der sug-
gestiven Katalepsie also zu verwerfen als unnöthig und event. schädlich.
*) Forel. Hypnotisraus, p. 216 f.
190 ^^' Marcinowiki.
Sie wird als unangenehmer Zwang empfanden, ist von unangenehmen
Sensationen begleitet, führt oft zum Aufwachen und nicht zum Vertiefen
des Schlafes, ist also unzweckmässig und schadet durch nicht fiealisiren
der Autorität des Hypnotiseurs viel mehr und viel öfter, als ihr die
verwirklichte Suggestion nützt. Hierzu kommt die nicht wegzuleugnende
Empfindung des zur Schau gestellt Seins und des Zwanges zu lächer-
lichen Handlungen, welche nur als psychologische Elxperimente zu-
lässig sind. Wenn wir dies unseren Patienten gegenüber erklären, so
werden wir uns viele Freunde damit werben, welche sich durch die ge-
kennzeichneten Kunststücke von einer Behandlungsart abgestossen fühlen,
die ihnen und vielen anderen von Vorurtheilen Befangenen hätte segens-
reich sein können.
In diesem Sträuben gegen inadäquate Vorstellungen liegt zugleich
der Schutz, den unsere Kranken vor uns finden, und in ihnen die Idee
dieses Geschütztseius gross zu ziehen, halte ich für eine sehr wichtige
technische Maassnahme, denn vielen giebt dies nicht nur die erwünschte
Ruhe, sondern ermöglicht überhaupt erst ihre Hypnotisirung durch Be-
seitigung der schwersten Vorw^ürfe, welche man der ganzen Hypno-
therapie je machen konote. Ich glaube — nach meinen allerdings ge-
ringen Erfahrungen — mit Vogt, dass der Versuch, Jemandem eine
allgemein als inadäquat geltende Vorstellung aufzunöthigen, nur dann
glücken wird, wenn sie dem Vorstellungsleben des Hypnotisirten doch
nicht so ganz fremd ist, wie man annahm. Anderenfalls kommt die
Suggestion überhaupt nicht zur Realisation, sie wird gewissermaassen
unterdrückt, oder es kommt zur Unruhe, zum Widerstreben, zum Auf-
wachen, je nach dem Grad der Affectbetonung, in ähnlicher Weise,
wie es bei der mir ertheilten Suggestion der Amnesie der Fall war
(VII. 3j. Darum betont Vogt mit so grosser Berechtigung, dass
Niemand gegen seinen Willen hypnotisirt werden könne, und dass jeder
s(»iner Patienten auch ihm geg(»nüber in jedem Augenblick zur Aus-
nutzung seines Willens im Stande sei.
Mag dies auch de facto nicht immer ganz zutreffend sein, denn
ein gewisses Ohnmachtsgefühl ist stets vorhanden, und aus tiefster
Schlafheramung wird kein Willensakt uns wecken, wenn dieselbe nicht
erst durch andere Reize oberflächlicher gestaltet worden ist, — jeden-
falls ein ungemein beruhigendes Moment für unsere Patienten in dieser
AVillenssuggestion und zur vollen Würdigung der Hypnotherapie als
einer Willensschulung — nicht Willensberaubung — führt diese
Anschauung «gewiss.
Referate und Besprechungen.
Knopfj Dr. H. E.^ Sprachgymnastische Behandlung eines Falles
von chronischer Bulbärparalyse. Therapeutische Monatshefte. 1899, 2.
In einem Falle von chronischer Bulbärparalyse erzielte der Verfasser durch
eine drei Monate währende sprachgymnastische Behandlung bemerkenswerthe Er-
folge. Vor der Behandlung war die Sprache des Patienten fast unverständlich,
80 dass er, um sich vollkommen verständlich machen zu können, eine Schiefertafel
zu Hilfe nehmen musste; insbesondere waren die Vocale stark näselnd und im
Klange fast gleichlautend die Zischlaute und Nasallaute waren ebenfalls nicht
differencirt, das „B" von den Gaumenlauten nicht zu unterscheiden. Nach der
Behandlung vermochte der Patient langsam aber durchaus verständlich zu sprechen,
einige Vocale wurden ohne nasalen Beiklang gesprochen. Nur trat leicht Ermüd-
barkeit ein, und blieb schnelles Sprechen nach wie vor unmöglich. Die sprach-
gymnastische Behandlung hatte noch die günstige Nebenwirkung, dass die Beweg-
lichkeit des Unterkiefers leine grössere wurde, und dieser fast in normaler Weise
nach vorn und unten bewegt werden konnte, was vorher nicht möglich war.
Kurz nach der Entlassung aus der ärztlichen Behandlung entzog leider ein
tödtlich endender apoplectischer Insult den Patienten der weiteren ärztlichen Be-
obachtung. Jedenfalls ermuntert das Resultat, das Knopf erzielte, zu weiteren
Versuchen mit der sprachgymnastischen Therapie bei der einer ärztlichen Behandlung
im Allgemeinen so unzugänglichen echten chronischen Bulbärparalyse. Wir haben
eben hier wieder einen Beweis dafür, dass zielbewusstes therapeutisches Vorgehen
auch bei schweren organischen Erkrankungen des Centralnervensystems zwar nicht
Heilung, so doch wesentliche functionolle Besserung zur Folge haben kann.
Ct r o t j a h n - Berlin.
Rosiriy Dr. H., Ueber die compensatorische Uebungstherapie der
Tabes dorsalis. Die Therapie der Gegenwart. 1899, 1.
Die von v. Leyden zuerst empfohlene, von Frenkel und Goldscheider
systematisch ausgebildete Behandlung der Tabes durch zweckmässige gymnastische
üebungen wird vom Verfasser einer Besprechung unterzogen, in der weniger die
theoretischen Erwägungen, auf denen sich diese neue Theorie aufbaut, als Hinweise
für die practische Ausführung der üebungen gegeben werden. Als Richtschnur
192 Referate und Besprechaogen.
giebt der Verfasser ungefähr folgende Reihenfolge der Uebnngen mn: Hebungen.
Seitwärtsbewegangen, Beugungen und Streckungen der unteren Extrenütaten in
Rückenlage, Uebereinanderschlagen der Beine. Kreisbewegungen. Berührungen der
Zehen. Hin- und Herrutschen der Füsse auf einem in das Bett gelegten Brett.
Hebungen am M c r k ' sehen Kletterstuhl u. A. m. Die genannten Bewegungen stellen
die leichteren, also etwa für die Torgernckteren Fälle des paraplectischen Stadiums
passenden Uebungen dar. Sie sind zunächst dreimal täglich nur eine Viertelstunde
lang zu machen. Ermüdung des Patienten ist thunlichst zu vermeiden, wie über-
haupt stets der Arzt sich zu vergegenwärtigen hat. dass er nicht wie bei der ge-
wöhnlichen Gymnastik die Muskelkraft üben, sondern die Coordinatsfahigkeit der
noch intact innervirten Muskeln so steigern will, dass sie die Functionen der
übrigen übernehmen können. Im weiteren Verlaufe der Behandlung werden Geh-
übungen an Barren ähnlichen Apparaten und später auf freier Bahn gemacht, da-
neben in der Kückenlage Treffnbungen am Pendel- und Fusskegelapparat. Die
nöthigen Apparate sind von Thamm (Berlin, Karlstrasse) und Maquet (Berlin,
Beuthstrasse) zu beziehen. Auch für die weniger wichtige Gymnastik der obereo
Extremitäten sind recht sinnreiche Apparate angegeben.
Wir vermissen in der Arbeit Rosin's einen Hinweis auf die eigenartige
Unterstützung, die der compensatorischen Uebungstheorie in geeigneten Fällen aus
der Zuhülfenahme der hypnotischen Suggestivbehandlung erfahren kann.
Gr o tj a h n - Berlin.
Orassl, Dr. G.j Die Hansen'sche Lehre vom Bevölkerungsstrom
und die Erneuerung des Gelehrtenstandes, insbesonders in Alt-
bayern. Friedreich 's Blätter für gerichtliche Medicin und SanitÄtspoliieL
1899. 1.
Die Wissensgebiete der Medicin und der Nationalökonomie, wie überhaupt
die der Biologie und der Sociologie sind nicht so streng von einander zu scheiden.
dass sie nicht manclierlei wichtige Berührungspunkte und ineinander ßiessende
(Grenzlinien aufwiesen. Es ist daher nur zu billigen, wenn Aerzte w^ie hier Grassl
auch einmal gesellschaftswissenschaftlichen Fragen ihre Aufmerksamkeit zuwenden,
wie wir ja auch umgekehrt nicht selten Nationalökonomen auf den Pfaden der
Medicin antrettcn. z. li. in den Fragen der Bevölkerungslehre, der Massenemährung
u. a. m. Die Ausführungen Grassl's sind im Sinne des von seinen engeren Fach-
genossen durchaus nicht allgemein anerkannten Bevölkerungsstatistikers Hansen
gehalten und suchen in der Veränderung des Verhältnisses der Stadtbevölkerung
zur LandbeviUkerung eine Gesetzmässigkeit nachzuweisen, die wir nicht anerkennen
kJinnen. Uebor die Ergänzung des Gelehrtenstandes durch vom Lande zugewanderte
Elemente finden wir manche troffende Bemerkung. Bedauerlich ist die Neigung
des Verfassers, aus spärlichem Material grossartige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Auch die bovcilkerungspolitischeu Vorschläge, in denen der Verfasser durch künst-
liche Büttel den Zuzug der ländlichen Bevölkerung in die Stadt hemmen will,
wären am besten fortgeblieben. G rot Jahn -Berlin.
Zur Kritik der liypnotisclien Techniic.
Von
Theodor yan Straaten.
(Aus O. Vogt 's Neurologischem Institut.)
I^Schluss.)
Wir gehen nunmehr zu der Frage nach Erzielung autosuggestlTer
Bewusstseinszustände über.
Ich habe eine Keihe von Versuchen gemacht, die geeignet sind,
zur Lösung dieser interessanten Frage beizutragen. Diese Versuche
haben nach meiner Ansicht um so grösseren Werth, als sie ursprüng-
lich nicht den Zweck wissenschaftlicher Verwerthung verfolgten, sondern
aus einem rein practischen Bedürfnisse hervorgegangen waren, wes-
wegen sie umsomehr frei von vorgefassten Meinungen sind. Die
ersten Versuche bestanden in der autosuggestiven Herbeiführung eines
allgemeinen tiefen Schlafes. Sie wurden von mir zur Bekämpfung von
Schlaflosigkeit, an der ich seit ca. 1 V« Jahr litt, veranstaltet. Die Störung
bestand in der Schwierigkeit, einzuschlafen. Es dauerte meistens eine
Stunde, bis ich einschlief. Manchmal noch längere, selten kürzere
Zeit. Ich träumte viel und schlief häufig unruhig, so dass ich mich
Morgens beim Aufwachen noch schläfrig und abgespannt fühlte.
Wachte ich in der Nacht auf, was nicht selten geschah, so hatte ich
ebenfalls oft mit der Schwierigkeit des Einschlafens zu kämpfen.
Diese Versuche sind nun zu drei verschiedenen Zeitperioden ge-
macht worden. Die ersten Versuche fallen in eine Periode, wo ich
mich mit der Lehre vom Hypnotismus nur erst in sehr geringem
Maasse beschäftigt hatte. Von der einschlägigen Literatur war mir
nur ForeTs Lehrbuch bekannt. Die zweite Reihe von Versuchen
wurde zu einer Zeit gemacht, wo ich die grundlegenden Werke studirt
hatte, die Methode 0. Vogt 's genauer kennen gelernt und ver-
schiedenen hypnotischen Demonstrationen beigewohnt hatte. Die dritte
Reihe von Versuchen habe ich im Anschlufs an die hypnotischen Ex-
perimente gemacht, die O. Vogt mit mir vorgenommen hat, und die
ich im zweiten Theil meiner Arbeit mitgetheilt habe.
Zeitschrift für Hypnotismus •i^. IX. 13
194 ^^^ Straaten.
Die Besultate meiner Veraucbe stehen in entschiedenem Gegen-
satz zu der Anschauung, dass durch den Hypnotismus der Wille ge-
schwächt und die Selbstständigkeit beschränkt wird. Sie bestätigen
im Gegen theil die Ansicht 0. Vogtes, dass durch den Hypnotismiil
eine Erhöhung der Selbstständigkeit und eine Steigerung des Willeni
erzielt werden kann.
Ueber die ersten Versuche können wir rasch hinweggehen. An-
geregt durch die Leetüre von Forel's Lehrbuch, versuchte ich auf
Grund ForeTs Anschauung, dass der Schlaf als die directe Folge
eines psychischen Vorgangs, einer Autosuggestion zu betrachten sei,
durch bewusste Autosuggestionen Abends im Bett den Schlaf zu er-
zeugen. Diese Versuche habe ich zu wiederholten Malen gemacht
Sie blieben aber ohne Erfolg. Das Misslingen der Versuche fährte ich
auf das mangelhafte Vertrauen zurück, was ich den Autosuggestionen
entgegenbrachte.
Als ich nun während eines Cursus über Psychotherapie bei
O. Vogt einen Einbhck in Ö. Vogt 's Methode gewonnen hatte, und
nachdem uns O. Vogt Patienten vorgeführt hatte, die durch eine
hypnotische Cur von ihrer Schlaflosigkeit befreit und darauf eingeübt
waren, nach einem Schluck gewöhnlichen Wassers einzuschlafen, drängte
sich mir der Gedanke auf, die einige Monate vorher gemachten Ver-
suche wieder aufzunehmen. Ich bediente mich bei diesen Versuchen
der Suggestionsform, wie ich sie bei den Demonstrationen kennen ge-
lernt hatte. Ich kam jedoch wiederum nicht zum Ziele.
Es fol^t nun die dritte Reihe von Versuchen, die, wie ich schon
hervorhob, im Anschluss an die hypnotischen Experimente, die O.Vogt
mit mir vornahm, gemacht wurden.
Den ersten Versuch machte icl» nach der dritten Sitzung. Die-
selbe hatte Nachmittags zwischen 4 und 6 stattgefunden. Den Abend
verbrachte ich in gewohnter Weise, und begab mich um die gewohnte
Zeit zur Rulie. Im Bette legte ich mich möglichst bequem auf die rechte
Seite, legte meine rechte Hand auf die Stirn und gab mir mit leise
murmelnder Stimme Suggestionen desselben Inhalts, wie die Sug-
gestion(Mi (). V'ogt's: Wärnieempfindung auf der Stirn, Schwere in den
Augenlidern, Indifferenz gegen Geräusche, Gefühl von Behaglichkeit
und Ruhe, Müdigkeit und Schläfrigkeit. Ich beobachtete, dass die
Suggestionen der Wärnieempfindung unter meiner Hand, der Schwere
in den Augenlidern nach mehrfacher Wiederholung der Suggestionen
Zur Krilik der hypnotischen Technik. 195
sich realisirten. Durch das Gefühl der Schwere und durch ein ge-
ringes Kitzelgefühl an den Augen wurde die Tendenz zum Augen-
schluss mehr und mehr gesteigert Derselbe erfolgte. Indem icli nun
mit den Suggestionen: Indifferenz gegen Geräusche, Gefühl von Be-
haglichkeit und Ruhe, Müdigkeit, Schläfrigkeit fortführ, dieselben in
verschiedenen Variationen wiederholend, gerieth ich in kurzer Zeit in
einen Zustand von Somnolenz. Während dieses Zustandes wiederholte
ich nunmehr die Suggestionen eines tiefen und traumlosen Schlafes.
Bald wurde ich zu träge, mit den Suggestionen fortzufahren. Ich
fühlte, wie mein Bewusstsein sich immer mehr verdunkelte. Ich ver-
sank dann plötzlich in den Schlaf. Ich schlief die ganze Nacht hin-
durch ununterbrochen. Am Morgen erwachte ich mit dem Gefühl des
Ausgeruhtseins und der Frische. Von Schläfrigkeit und Müdigkeit war
keine Spur vorhanden. Ich war mir nicht bewasst, geträumt zu haben.
Ich hatte Lust, gleich aufzustehen.
Diese Thatsachen hatten meine Erwartungen überstiegen und er-
muthigten mich zu weiteren Versuchen. Den Anreiz dazu empfing ich
aber nicht mehr allein aus dem Bedürfuiss, mich von der Schlaflosig-
keit dauernd zu befreien, sondern mich interessirte nun auch, festzu-
stellen, ob wirklich die Suggestionen den Schlaf herbeigeführt hatten,
oder ob diesen Thatsachen andere Momente zu Grunde lagen. Ich
neigte a priori zu der Ansicht, dass die Suggestionen ausschliesslich
den Schlaf herbeigeführt hatten und bei einer genaueren Beurtheilung
meiner Lage kam ich zu dem Schluss, dass in meinen Verhältnissen
und Lebensgewohnheiten sich nichts geändert hatte, was einen Einfluss
auf meinen Nachtschlaf hätte ausüben können. Glückten nun ausser-
dem zahlreiche Versuche ohne Ausnahme, so glaubte ich den aus-
schliesslichen Einfluss der Suggestionen für gesichert halten zu dürfen.
Demnach suchte ich an den folgenden 5 Abenden in der oben be-
schriebenen Weise Schlaf zu erzielen. Ich kam jedes Mal in kurzer
Zeit zum Ziel. Bei den 3 letzten Versuchen erfolgte das Einschlafen
in einer Zeit, die ich auf etwa 3—5 Minuten schätze. Ohne Aus-
nahme war der Schlaf ein tiefer und erquickender. Ich erwachte
Morgens ohne eine Spur von Müdigkeit. Ich wurde nur einige Male
durch Lärm auf der Strasse geweckt, verfiel dann aber mit Zuhülfe-
nahme von Suggestionen in kurzer Zeit wieder in Schlaf.
Um nun in den Einfluss der Suggestionen noch mehr Einblick
zu haben, versuchte ich an den nächsten drei Abenden einzuschlafen,
ohne mir in der angegebenen Weise Suggestionen zu geben. Ich legte
13*
196 ^1^ Straaten.
mich wiederum möglichst bequem hin und verhielt mich ganz passir.
Bald tauchten Gedanken auf, die meine Aufmerksamkeit auf sich
lenkten. Unterdrückte ich sie, so traten andere dafür in mein Be-
wusstsein. Ich spürte keine Tendenz zu schlafen und ich fühlte das
Bedürfniss, die Suggestionen in Anspruch zu nehmen, mit Hülfe deren
ich in kurzer Zeit in Schlaf gerieth.
Die Erfolge, die ich jetzt mit meinen Suggestionen hatte, brachte
ich in Zusammenhang mit den HypnotisirungSTersuchen. Diese Idee
führte mich zu folgendem Experiment.
Ich ging wieder zur gewohnten Zeit zur Ruhe, suchte eine mög-
lichst bequeme Lage einzunehmen, legte meine Hand wiederum auf
die Stirn, und gab mir wieder mit leise murmelnder Stimme Sug-
gestionen. Dabei versuchte ich mich im Geiste in die beim Hypnoti-
siren bestehende Situation zu versetzen. Ich suchte die Lebhaftigkeit
dieser Vorstellung dadurch zu unterstützen, dass ich bei den Sug-
gestionen die Stimme 0. Vogt's nachahmte. Durch das Hören der
Suggestionen in diesem Tone wurde die Lebhaftigkeit der Vorstellung
auch in hohem Grade angeregt. Das Einschlafen erfolgte dabei in sehr
kurzer Zeit. Ich habe dieses Experiment mehrere Male mit demselben
Erfolg gemacht.
Ich versuchte nunmehr^ mich allmählich von den Suggestionen un-
abhängig zu machen. Um dies zu erreichen, sprach ich die Sug-
gestionen nicht mehr, wie ich bisher gethan hatte, mit leise murmelnder
Stimme, sondern nur noch mit kaum vernehmlichem Flüstern, und ging
dann auch bald dazu über, dieselben überhaupt nicht mehr ausza-
sprecheii, sondern sie mir nur noch vorzustellen. Mit beiden Arten
hatte ich gleichen Erfolg.
Bei all diesen Versuchen trat nun natürlich der Schlaf nicht jedes
Mal in gleich kurzer Zeit ein, sondern das eine Mal rascher, das andere
Mal langsamer. Einen grossen Einfluss besass in dieser Hinsicht der
Gemüthszustand. Gemüthserregungen heiterer und angenehmer Art
liesseu sich durch Suggestionen leichter beschwichtigen, als solche de-
prirairender Art. Letztere stellten insofern dem Einschlafen grössere
Schwierigkeiten entgegen, als es viel schwerer war, sie durch Suggestionen
zu imterdrücken. Ich war jedoch im Staude, selbst bei heftigeren
Erregungen deprimirender Art in kurzer Zeit den Schlaf zu erzeugen.
Ich erwachte eines Nachts mit einem Gefühl von Unruhe, das durch
einen Traum veranlasst war, der gewisse mir unangenehme Dinge zum
Gegenstand gehabt hatte. Indem ich mich im Wachen noch weiter
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 197
hiermit beschäftigte, wurde das Gefühl Doch mehr gesteigert. Als ich
nun einschlafen wollte, liess mich das peinigende Gefühl nicht zur
Ruhe kommen. Ich lenkte nuo meine Suggestionen gegen die Unruhe,
indem ich mir wiederholt die ruhige Versicherung gab, dass die Unruhe
schwinden würde, und einem behaglichen ruhigen Gefühl Platz machen
würde. Ich gerieth bald in einen erquickenden Schlaf.
Ich ging nun dazu über, ohne Benutzung detaillirtej^ Suggestionen
durch einfache Concentration auf die Idee: „Ich werde jetzt ein-
schlafen^ mich in einen Schlafzustand zu versetzen. Ich wählte, wie
ich es bisher stets gethan hatte, die zum Einschlafen geeignetste Zeit,
die Zeit des Schlafengehens. Nach einigen Versuchen gelang es mir
ohne Weiteres, diese Idee festzuhalten, ohne dass die einzelnen Partial-
zielyorstellungen, mit denen ich früher das Einschlafen hervorgerufen
hatte, mir bewusst wurden. Ich erzielte so einen Schlaf.
Aus dieser Form hat sich dann im weiteren Verlauf der Modus
entwickelt, nach dem ich jetzt einschlafe. Wenn ich mich jetzt Abends
ins Bett lege, schliesse ich die Augen und schlafe in ganz kurzer Zeit
ein, ohne dass mir die Schlafzielvorstellung irgendwie klarer ins Be-
wusstsein kommt. Nur dann, wenn innere Erregungen drohen, mich
für längere Zeit wachzuhalten, bediene ich mich umständlicherer Sug«
gestionen. Solche suggestiv wirkende Zielvorstellungen kommen mir
also für gewöhnlich jetzt nicht mehr oder kaum mehr zum Bewusstsein.
Dass aber ihr physiologisches Correlat doch wirksam ist, scheint mir
aus dem geschilderten stufenweisen Schwinden der Zielvorstellungen aus
dem Bewusstsein zur Genüge hervorzugehen.
Ich habe, wie ersichtlich, bisher von den Versuchen zur Zeit des
Schlafengehens, berichtet. Ich habe ähnliche Versuche aber auch zu
anderen Zeiten gemacht. Da es mir erwünscht war„ die Fähigkeit zu
besitzen, die Zeit der Arbeit durch kleine Pausen eines erquickenden
Schlafes zu unterbrechen, so versuchte ich zu verschiedenen Tageszeiten
durch Suggestionen einen Schlafzustand zu erzielen. Zu den ersten
Versuchen wählte ich die Zeit nach dem Mittagessen, später auch Zeit-
punkte, wo ich gerade ein Bedürfniss, mich auszuruhen, verspürte.
Zwar ist es mir nicht gelungen, jedes Mal tiefen Schlaf zu erzeugen,
aber ich war von Anfang an im Stande, Schlafzustände zu erzielen,
die mir ein volles Ausruhen ermöglichten.
Dadurch, dass ich mir die Vorstellungen von dem Eintreten der
einzelnen Phasen des Einschlafens und zwar bei zunehmender Einübung
in immer weniger complexer und bewusster Form, wachrief, gelang es
198 ▼«> Siraateo.
mir, den Schlaf zu erzielen. Dies war mir nicht möglich gewesen,
weder zu der Zeit, wo ich nur Forel's Lehrbuch kamite, noch zu
einer Zeit, wo ich bereits eine ganze Reihe Ton Hypnosen gesehen
hatte, und schon in mir genau dieselben Zielvorstellungen henrorrief,
die später wirksam waren. Nachdem ich nun aber hypnotisirt worden
war, nachdem also dieselben Zielvorstellungen von aussen in mir ge-
weckt, eine suggestive Folgewirkung gehabt hatten, gelang es mir nun-
mehr durch willkürliche Hervorrufung derselben Vorstellungen einen
gleichen Effect zu erzielen. Es fragt sich, worauf diese Aendemng in
der suggestiven Kraft der willkürlich von mir hervorgerufenen Ziel-
vorstellung des Einschlafens zurückzuführen ist. Meiner Ansicht nach
können zwei Factoren in 'Betracht kommen. Der eine ist der der Ein-
übung, der andere ist der, dass nach glücklich erfolgter Erzielung
meiner Hypnotisirung durch Fremdsuggestiouen mein Glaube an die
Möglichkeit der Autohypnotisirung zugenommen und in Folge dessen
die Zielvorstellung in ihrer suggestiven Folgewirkung durch hemmende
Zweifel weniger gestört wurde. Ich muss, soweit ich durch die Selbst-
beobachtung meines jedesmaligen Bewusstseinsinhaltes diese Frage ent-
scheiden kann, hervorheben, dass ich entschieden mehr Zweifel dem
Gelingen meiner Versuche bei der ersten Versuchsreihe nach der Leetüre
von ForeTs Lehrbuch, als nach den Vogt 'sehen Demonstrationen
entgegenbrachte. Dagegen habe ich einen unterschied in meinem Ver-
trauen zum Gelingen zwischen den erfolglosen Bemühungen vor, und
meinen erfolgreichen Versuchen nach meiner Fremdhypnose nicht con-
statiren können. Ich möchte daher diese Frage nicht weiter entscheiden.
Allgemein kann mau wohl annehmen, dass beide Factoren in Betracht
kommen. Wie die Bedeutung jedes einzelnen dabei auch sein mag,
das für uns Wichtige ist der Umstand, dass man nach Erzielung ge-
wisser Bewusstseinszustände durch Fremdsuggestion diese durch Auto-
suggestion wieder liervorrufen kann, während ihre autosuggestive EJr-
zielung vor ihrem Erreichen durch Fremdsuggestion eine tinmöglichkeit ist.
Nachdem ich mit der Anwendung von Autosuggestionen zur Er-
reichung des Schlafes Erfolg gehabt hatte, so versuchte ich auch mit
Autosuggestionen gegen andere Störungen anzukämpfen. Ein acuter
Magencatarrh, den ich mir einmal zugezogen hatte, bot mir dazu Ge-
legenheit. Ich erwachte eines Morgens mit den Symptomen: Mattig-
keit, Uehelkeit, Kopfschmerzen. Ich gab mir zunächst die Suggestionen,
dass die Mattigkeit verschwinden würde, dass sie einem Gefühl von
Frische den Platz räumen würde. Unter der Einwirkung in diesem
Zur Kritik der hypnotisohen Technik. 199
Sinne häufig wiederholter ZieWorstellungen hatte ich thatsächlich das
Gefühl einer Abnahme der Mattigkeit Ich verliess dann plötzlich das
Bett, machte kalte Uebergiessungen des Kopfes, rieb meinen Körper
kalt ab, und unter der fortwährenden Versicherung, dass die mir da-
durch zu Theil gewordene Erfrischung anhalten würde, dass die Kopf-
schmerzen verschwinden würden, kleidete ich mich rasch an, fühlte
mich ganz wohl, arbeitete nach dem Frühstück den ganzen Morgen.
Später hatte ich nur ein geringes Gefühl von Mattigkeit.
Auch habe ich verschiedene Male Kopfschmerzen suggestiv be-
seitigt. Ich gehe dabei in folgender Weise vor. Ich trinke ein Glas
Citronenwasser, mit der Verdicherung, dass der Kopfschmerz ver-
schwinden wird. In einigen Minuten fühle ich den Schmerz nicht
mehr. Auch andere Störungen, Gefühl von Unruhe, Traurigkeit u. s. w,
kann ich suggestiv beeinflussen.
Sodann habe ich versucht, durch Autosuggestion jenen Zustand zu
schafien, den O. Vogt den Zustand des eingeengten Bewusstseins
nennt, und der bei mir schon in der dritten Hypnose der fünften Sitzung
hervorgerufen wurde zur Erforschung der Ursache, die mich in der
ersten und zweiten Hypnose dieser Sitzung an dem Einschlafen ge-
hindert hatte. In diesem Zustande konnte ich mich der einzelnen Ein-
drücke der voraufgegangenen Hypnose genauer entsinnen und fand auf
diese Weise den Grund, der mir im Wachsein verborgen geblieben
war. Auch schon in der dritten Hypnose der vierten Sitzung wurde
ich im eingeengten Bewusstsein aufgefordert, mir eine bestimmte
Person vorzustellen. Es war in diesem Zustande die Lebhaftigkeit
des Erinnerungsbildes klarer als im Wachsein.
Eben jenen Zustand habe icti versucht, durch Autosuggestionen
zu schafl'en, und in diesem Zustande die Lebhaftigkeit von Vorstel-
lungen geprüft.
Ich will versuchen, jenen Zustand zu beschreiben. In diesem Zu-
stande bin ich mir meiner Situation und meiner Umgebung weniger
klar bewusst. Je tiefer der Zustand ist, um so stärker ist der Grad des
Dunkelbewusstseins. Gegen anhaltende Geräusche bin ich in diesem
Zustande indifferent. Bei plötzlichen Geräuschen werde ich bisweilen
wach, und habe dabei auch genau das Gefühl des Wachwerdens, wie
aus dem Schlafe. Dabei wurde mir auch manchmal inne, dass ich
mich meiner augenblicklichen Situation nicht bewusst gewesen war.
Meine Aufmerksamkeit ist fest auf den Gegenstand gerichtet, von dem
ich mir eine Vorstellung verschaffen will. Jedesmal, wenn ich mir
200 ^^^ Straaten.
etwas vorstelle, habe ich dabei ein Gefühl yod SpamiiiDg, das
lieh abDimmt, je deutlicher die Vorstellung wird, und mit sonehmender
Deutlichkeit der Vorstellung macht dasselbe allmählich einem Grefühl
des Entspanntseins und einer gewissen Befriedigung Platz. Mit jedem
neuen Gegenstand wiederholt sich derselbe Process. Der Grad der
Tiefe des Zustandes ist ein wechselnder. Meist besteht eine Tendenz
zum Wachwerden, so dass ich mich wieder der Suggestionen bedienen
muss, um die gehörige Tiefe zu schaffen ; bisweilen besteht eine Tendenz
zum Einschlafen. Erwache ich aus diesem Schlaf, so finde ich beim
Erwachen die Aufmerksamkeit wieder auf den Gegenstand eingestellt,
den ich vorgenommen hatte.
In diesem Zustande habe ich lu wiederholten Malen Personen,
Thiere, auch complexere Situationen, z. B. Landschafben mir vorzu-
stellen versucht, und stets gefunden, dass die Lebhaftigkeit der Er-
innerungsbilder eine grössere war, als im wachen Zustande. Auch
konnte ich mich in diesem Zustande viel besser der Träume entsinnen,
die ich in der Nacht gehabt hatte, und fand eine Menge Details, die
mir im wachen Zustande nicht eingefallen waren, auch selbst, wenn
ich mich mit aller Schärfe auf den Traum concentrirt hatte.
Wie wir femer nach O. Vogt wissen, erfahrt die Zunahme oder
Abnahme der Bewusstseiusbeleuchtung einer mit einem Gefühl ver-
bundenen V^orstellung eine proportionale Veränderung der Intensität
des Gefühls. Während ich eine stärkere Gefühlsbetonung im Zustande
des eingeengten Bewusstseins im Allgemeinen bestätigen kann, so
habe ich bisher doch zu wenig darauf mein Augenmerk gerichtet, um
zu einem endgiltigeu IJrtheil gelangt zu sein.
Mich hat hauptsächlich interessirt, den Zustand des eingeengten
Bewusstseins durch Autosuggestion zu schaffen und in diesem Zustande
die Lebhaftigkeit der Vorstellungen zu prüfen, um durch die ver-
mehrte Lebhaftigkeit derselben die Existenz des eingeengten Bewusst-
seins zu beweisen.
Dabei hatte ich nicht speciell im Auge, gerade jenen Zustand des
systematisch eingeengten Bewusstseins zu schaffen, der in seiner
Graduirung von Schlafhemmung und Wachsein den für psychologische
Selbstbeobachtung geeignetsten Zustand darstellt. Dagegen möchte
ich einen Punkt hervorheben, über den zu urtheilen meine Versuche
mir ermöglichen. Zwischen dem von mir hervorgerufenen eingeengten
Bewusstsein und dem Bewusstseinszustand der gewöhnlichen Concen-
tration der Aufmerksamkeit habe ich einen ganz principiellen genetischen
Zur Kritik der hypnotischen Technik. 201
Gegensatz gefunden. Wenn ich mich entschliesse, meine Aufmerksam-
keit auf irgend etwas zu richten, so beobachte ich in meinem Bewusst-
sein als auslösende Zielvorstellung die Idee, mich auf etwas concen-
triren zu wollen. Es lässt sich dann durch Versuche feststellen, dass
diese Idee neben der Concentration der Aufmerksamkeit als zweite
unmittelbare Folge die der Abstumpfung gegen Störungen nach sich
zieht. Ich habe dabei nicht die Idee gehabt, mich gegen diese Störungen
abzuschliessen , sondern meine auf ein bestimmtes Object gerichtete
Aufinerksamkeit hatte unmittelbar diese Abschliessung zur Folge. Wo
nun stärkere Störungen meine Aufmerksamkeit von dem als Ziel der
Aufmerksamkeit erwählten Object abziehen, tritt nun allerdings die
Idee auf, speciell diese Störungen aus meinem Bewusstsein zu ver-
drängen. Diese Erscheinung ändert aber nichts an dem Thatbestand,
dass die primäre Zielvorstellung die der Concentration auf das dazu
erwählte Object darstellt. Ganz anders bei der Erzielung des ein-
geengten Bewusstseins. Hier ist die primäre Vorstellung die einer
Schlafhemmung, und damit eine Unempfindlichkeit gegen Störung zu
schaffen.
Also, das was bei dem gewöhnlichen concentrirten Arbeiten
höchstens secundär hinzukommt, tritt hier primär auf und hat die
grosse Concentrationsfähigkeit zur secundären Folge.
Damit ist der Gegensatz noch nicht erledigt. Wenn ich mich zu
concentrirter Arbeit entschliesse, enthält die zu dieser Arbeit fährende
Zielvorstellung das Moment des WoUens, während bei Erzielung des
eingeengten Bewusstseins ich in mir die Idee wecke, dass diese Schlaf-
vorstellung passiv und spontan auftreten wird.
Bei einer solchen autosuggestiven Erzielung gewisser Bewusstseins-
zustände, wie ich sie beschrieben, handelt es sich um die willkürliche
Hervorrufung suggestiv wirksamer Zielvorstellungen. Ich habe durch
meine active Aufmerksamkeit die Idee hervorgerufen, dass diese oder
jene Erscheinung nunmehr ohne mein weiteres Zuthun auftreten würde.
Es handelt sich um Suggestionen in der strengen Definition, wie sie
O. Vogt giebt. Wenn nun solche Folgewirkungen im Anschluss an
voraufgegangene Fremdsuggestionen nunmehr willkürlich hervorgerufen
werden können, so ist damit der Machtbereich des Willens ausgedehnt.
Hiermit ist dann aber bewiesen, dass Fremdsuggestionen
in der richtigen Form angewandt, durchaus zurWillens-
stärkung führen können und nicht eine Willensschwä-
chung zur Folge zu haben brauchen.
Kritische Bemericungen über den gegenwärtigen Stand der Lehre
vom Hypnotismus.
Von
Dr. philos. Leo Hlrschlaff, Arzt in Berlin.
(Schluss.)
Wenn wir versucheD, in eine Kritik der von Vogt aufgestellten,
geistvollen Hypothesen über das Wesen des Schlafes und der hypnoti-
schen Phänomene einzutreten, so können wir uns im Allgemeinen mit
den psychologischen Grundanschauungen einverstanden erklären, von
denen Vofrt ausgeht und deren knappe und präcise Darstellung als
ein unbestreitbares Verdienst dieses Autors bezeichnet werden muss, um
so mehr, als gerade bei der Durchsicht der hypnotischen Literatur,
von der wir einen kleinen Abriss gegeben haben, der Eindruck nicht
ausbleiben kann, dass eine schärf(»re Präcisiou der psychologischen
Grundbegriffe und eine sorgfältigere psychologische Durchdringung und
Prüfung der Anschauungen recht häufig am Platze wäre. Gegen den
Aufbau der Vogt 'sehen Theorien im Einzelnen haben wir dagegen
einige Bedenken, deren Darlegung freilich keineswegs das hervor-
ragende Verdienst des Autors um den Fortschritt der hyp notist ischen
Wissenschaft schmälern soll. Diese Bedenken richten sich, indem wir
von allen Kleinigkeiten absehen, vornehmlich gegen folgende 3 Punkte:
1. gegen die Auffassung der Localisation der Bewusstseins Vorgänge im
Gehirn; 2. gegen die Ausdehnung des BegriflFes der Suggestion und
die darauf beruhende Beobachtuugsmethode Vogts; endlich 3. gegen
seine Meinung über das Wesen des hypnotischen Schlafes und speciell
der partiellen Wachzustände als hypnotischer Zustände. Da die ad 2
und 3 aufgeführten Bedenken sich mehr gegen einige später zu re-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Uypnotismus. 203
ferirende Arbeiten desselbeo Verfassers beziehen, so beschränken wir
uns an dieser Stelle auf den ersten Einwand, den wir gegen die Auf-
fassung von der Localisation der Bewusstseinsvorgänge im Gehirn er-
heben wollen. lieber diese Frage, die von einschneidender Bedeutung
nicht nur für die Theorie des Schlafes, sondern noch mehr für viele
andere Probleme ist, siod sich die modernen Psychologen noch immer
nicht einig. 'Während eine grosse Zahl derselben geneigt ist, jede
Einzelvorstellung und -Wahrnehmung, überhaupt jeden psychischen In-
halt in einer besonderen Ganglienzelle der Hirnrinde aufgespeichert zu
denken, gerade so, wie es Vogt' thut. wenn er auf den Sitz der
Schlafvorstellung im Gehirn die Neurokyme zuströmen lässt, sind
andere, darunter Wundt und wir selbst der Meinung, dass diese
Hypothese unbewiesen und unzutreffend sei. Indem wir in dieser Be-
ziehung auf Wundt 's ^^•) vortreffliche Ausführungen gegen Ziehen
im X. Bande der „Philosophischen Studien'^ hinweisen, bemerken wir,
dass die Frage der Localisation keineswegs so einfach gelöst
werden kann, wie es der oben erwähnten Anschauung entspricht. Was
wir bisher über die Leistungen des Gehirns wissen, berechtigt uns
wohl zu der Behauptung, dass die Intactheit des Gehirns, speciell der
Hirnrinde, eine wesentliche Bedingung für das Zustandekommen der
geistigen Vorgänge ist, ebenso wie z. B. die Durchlässigkeit der
Ureteren eine nothwendige Bedingung für den normalen Ablauf der
XJrinsecretion darstellt. Was aber darüber hinausgeht, ist mehr als
zweifelhaft und experimentell durch nichts bewiesen. Ja, es ist sogar
im höchsten Maasse unwahrscheinlich, dass eine Localisation der ein-
zelnen Vorstellungen in der Weise stattbat, wie es Ziehen, Vogt
und viele andere meinen, wonach die Rindenzelle einfach den psychi-
schen Inhalt in sich birgt. Dagegen spricht schon der ungeheure
Reichthum der Vorstellungen und der Möglichkeiten einer Combination
unter ihnen. Wollte man diese Art der Erkläiiing zulassen, so wäre
damit jedes Problem der Psychologie gelöst: man hätte nur die Auf-
gabe, die psychische Analyse des betreffenden Vorganges auszuführen,
um dann auf das Spiel der Neurokyme zu verweisen, die zwischen den
Ganglienzellen hin- und hereilen und die Geschäfte der Psyche be-
sorgen. In Wahrheit bietet diese Auffassung nur ein Bild, von dem
wir mit Sicherheit sagen können, dass es in dieser Gestalt nicht zu-
treffend sein kann : unsere Kenntnisse werden dadurch nicht bereichert.
Daher hat Lipps^^') Recht, wenn er vor der physiologischen Ver-
bildlichung der psychologischen Erkenntnisse warnt.
204 Leo Hinchlaff.
Bevor wir das zweite Bedenken erläutern, das wir gegen die An-
schauungen Vogt 's aufstellen zu müssen glaubten, referiren wir zu-
nächst die Arbeiten, die zur Theorie der Hysterie Beitrage geliefert
haben. In erster Reihe ist hier eine psychologische Studie Land-
mann's^*') zu nennen, der die von Pierre Janet***) aufgestellte
Theorie der Hysterie bekämpft. Jan et und Las^gue hatten den
Geisteszustand der Hysterischen durch Zerstreutheit und Gleichgiltig-
keit gekennzeichnet und die Wurzel der Hysterie in der y^Ich-
Wahrnehmung'^ gesucht. Nach ihnen wird das Ich-Bewusstsein ge-
bildet aus den Bewusstseinselementen, die gleichzeitig in der Seele
vorhanden sind. Je beschränkter das Bewusstseinsfeld, desto mehr
gewöhnen sich die Kranken, gewisse Empfindungen unter der Sehwelle
des Bewusstseins liegen zu lassen, weil sie sie nicht in das Ichbewusst-
sein aufnehmen können. Die hysterischen Anästhesien entstehen also
nach Jan et dadurch, dass die psychologisch vorhandenen Elementar-
empfindungen zwar erfasst, aber nicht mehr in das Ichbewusstsein aufge-
nommen werden; femer durch Schwäche und Gleichgiltigkeit, wodurch
die Patienten das Interesse und die Aufmerksamkeit für ihre Empfin-
dungen einbüssen. Gegen diese Auffassung wendet sich Land mann,
indem er darauf aufmerksam macht, dass die Analyse der seelischen
Vorgänge 3 Bestandtheile aufzeige, nämlich den Inhalt einer Vorstel-
hmg, das Bewusstsein dieses Inhaltes und das Bewusstsein der dabei
stattfindenden Thätigkeit. Die Localisation des Inhaltes der Vorstel-
lungen verlegt Laudmann in die subcorticalen Gehimganglien, das
Bewusstsein der Vorstellungsinhalte dagegen ebenso wie das Bewusst-
sein der Vorstellungsthätigkeit in die Grosshirnrindenzellen. Der Vor-
stellungsact entsteht also nach ihm normaler Weise dadurch, dass
diejenigen Hirnrindenzellen, von denen der Inhalt der Vorstellungen
bewusst gemacht wird, mit denen verbunden sind, von denen die Vor-
stellungsthätigkeit bewusst gemacht wird. Eine hysterische Anästhesie
kann demnach durch dreierlei Störungen zu Stande kommen: 1. der
Empfindungsinhalt wird nicht bewusst gemacht; dann weiss man, dass
man fühlt, aber nicht was man fühlt; 2. die Empfindungsthätigkeit
wird nicht bewusst; dann weiss man nicht, dass man fühlt: 3. beide
werden nicht bewusst; dann fehlt jedes Zeichen einer Empfindung.
Mit Hülfe dieser Theorie gelingt es leicht, jede noch so merkwürdige
Erscheinung des byfterischen S}'mptoroencomplexes zu erklären. Das
Verhalten der Reflexe bei hysterischen Anästhesien, das Verhalten der
Pupillen bei hysterischen Amaurosen, die paradoxen Erschein angen,
JLritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. HypnotiBmus. 205
die bei farbenblindeD Hysterischeu beobachtet worden sind: dies Alles
bietet der Erklärung nicht die geringsten Schwierigkeiten mehr. Die
Amnesien entstehen durch Unthätigkeit der Nervenfäden, die die Hirn-
rindenzellen untereinander verbinden ; die Abulien der Hysterischen
kommen dadurch zu Stande, dass- die Bewegungsvorstellungen in den
subcorticalen Gefühlsganglien nicht mehr jene Erregung erwecken,
durch welche die motorischen Centren zur Auslösung der Muskel-
contractionen gereizt werden; der normale Wille endlich ist eine psy-
chische Thätigkeit, die darin besteht, dass durch eine Bewegungs-
vorstellung das Gefühl der Lust zur Auflösung bestimmter Muskel-
thätigkeiten erregt wird. Wir sehen also, dass alle Erscheinungen des
normalen und krankhaften Seelenlebens auf dem Boden der Land-
m an n'schen Theorie leicht ihre Erklärung finden; schade freilich, dass
dies nur solange der Fall ist, als man die aufgestellten Hypothesen nicht
mit kritischen Augen mustert. In Wahrheit nämlich ist die vermeint-
liche psychologische Analyse der Seelenacte in die 3 oben erwähnten
Bestandthcile durchaus keine psychologische, sondern vielmehr eine
logische Analyse, deren Bestandthcile sich im Bewusstsein auch bei
schärfster Selbstbeobachtung discret nicht nachweisen lassen. Daher
ist es von vornherein verkehrt, für diese logischen Abstractionen eine
anatomische Localisation im Gehirn zu suchen. Man müsste denn, um
ein analoges Beispiel anzuführen, zur Erklärung des Zustandekommens
der Vorstellung eines Tisches annehmen, dass die Vorstellung eines
drei- oder vierbeinigen Gegenstandes, die Vorstellung einer bestimmten
Farbe und Form, die Vorstellung der Grösse, des Gewichtes etc. im
Gehirn besonders localisirt wären und sich vereinigen müssten, um die
Vorstellung des Tisches entstehen zu lassen. Alle diese Eigenschaften
sind in abstracto, rein logisch betrachtet, zweifellos Componenten der
Tischvorstellung; in psychologischem Sinne jedoch sind sie es ebenso-
wenig, wie sich in unserer Selbstbeachtung das Bewusstsein einer
Vorstellung von dem Inhalte oder der Thätigkeit derselben isoliren lässt.
Während Land mann die von Jan et inaugurirte Auffassung der
Hysterie bekämpft, haben Ranschburg und Hajös^*^) Veranlassung
genommen, die Jane tische Theorie zu bestätigen. Nach ihren Aus-
führungen sind die hysterischen Anästhesien und Amnesien Folge-
zustände der Einengung des Ichbewusstseins, welche sich auf Grund
einer absoluten oder relativen Verminderung der associativen Energie
einstellt. Im Gegensatze dazu bemerkt Döllken^^^), dass für das
Zustandekommen der Anmesie der Hypnotisirten nicht die Associations-
206 I'eo Hirschlaff.
störuDg, soudern vielmehr die Perceptionsvermindenmg als wesentlich
angesehen werden müsse, da ja sonst auch die Paranoiker amnestisch
sein müssten. Zugleich bezeichnet er als einen Fortschritt in der
Theorie der Hysterie die Erkanntniss, dass dieser Erkrankung nicht
eine allgemeine reizbare Schwäche des Nervensystems, wie früher an-
genommen, zu Grunde liege, sondern vielmehr nur eine Schwäche ge-
wisser Theile, verbunden mit einer compensatoriscfaen Uebererregbarkeit
anderer Theile des Nervensystems, eine Thatsache, auf die auch die
Erscheinung der electiven Suggestibiiität zurückzufuhren ist. Auch
nach der von Vogt gegebenen, oben ausführlicher dargestellten Theorie
entstehen die hysterischen Anästhesien durch Herabsetzung der Erreg-
barkeit der betreffenden Centren in Folge von Anämie, sind also als
partielle Schlafzustände des Gehirns aufzufassen; während bei der
Katalepsie eine Stauung der Neurokyme durch Verminderung der corti-
caleii Ableitung postulirt wird.
Wir treten nunmehr in die Besprechung des wichtigsten Punktes
der Lehre vom Hypnotismus ein, von dem die zukünftige Bedeutung
dieser wissenschaftlichen Disciplin fast ganz und gar abhängig ist: wir
meinen die Definition des Begriffes der Suggestion und die Auffassung
ihres eigentlichen Wesens. Der Bedeutung des Gegenstandes ent-
sprechend wollen wir auf diesen Punkt ein wenig ausfuhrlicher ein-
gehen. Eine der wesentlichsten Sünden der Vertreter der hypnotisti-
schon Wissenschaft besteht darin, dass sie den Begriff der Suggestion
zu weit fassen. So definirt, um einige Beispiele herauszugreifen,
Berillon **-): „La Suggestion est Fart d'utiliser Taptitude que pre-
sente un sujet k transformer Tidee regue en acte"; und er gründet
darauf die Principien einer neuen Suggestiv-Pädagogik , die wir
an anderer Stelle ^^•^) bereits ausführlicher abgelehnt haben. Stell***)
geht von der Auffjissung aus, dass die Suggestion nichts weiter sei
^als eine Idee, eine Vorstellung, die in uns durch verschiedene Mittel
seitens der organischen und imorganischen Aussenwelt wachgerufen
wird und die nun den Ausgangspunkt für weitere Denkprocesse für
uns bildet, ohne dass uns dieser ursächliche Zusammenhang stets klar
zum Bewusstsein kommt". Von diesem Standpimkte aus fallt es
natürlich dem Autor leicht, die ganze Entwickelung und Geschichte der
Menschheit, die Wunderthaten Christi ebenso wie die Gewohnheit des
Tabaksgenusses, auf Suggestion zurückzuführen. Auch Tyko Brunn-
berg ^*^), der den Hypnotismus als pädagogisches Hilfsmittel empfiehlt,
rrklärt „das ganze psychische Geschehen als eine zusammenhängende
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 207
Reihe Dalürlicher Suggestionen". Jedoch sind die Autoren, die den
Begriff der Suggestion in der Definition bereits so weit fassen, dass
sie die Erzeugung jeder Wahrnehmung oder Vorstellung durch äusseren
Anlass darunter verstehen, immerhin in der Minderzahl. Für sie ist,
wie Lipps mit Recht bemerkt, das Wort Suggestion zu einem schäd-
lichen Modewort geworden. Wir werden freilich unten nachweisen
können, dass auch die grosse Mehrzahl derer, die den Begriff der
Suggestion enger definiren, in Wahrheit doch ihren theoretischen Aus-
führungen sowohl wie ihrem practischen Vorgehen einen entschieden zu
weit gefasaten Begriff der Suggestion zu Grunde legen.
Das specifische Merkmal, das nach Bergmann ^^®) die Suggestion
von den gewöhnlichen Vorstellungen unterscheidet, ist der graduelle
Intensitätsunterschied, der zwischen beiden statthat: die suggerirte
Vorstellung- wird mit halluciuatorischer Deutlichkeit erblickt. Zum
Beweise dafür, dass die Realisation der Suggestionen lediglich eine
Folge ihrer ausserge wohnlichen Inteusität sei, erinnert Bergmann an
die vorzeitigen Reactioneu im Wachzustande, die auch nichts Anderes
seien als Hallucinationen oder intensive Vorstellungen, die sich in Folge
ihrer Intensität von selbst realisiren. Dabei besteht zwischen der
physiologischen Hallucination, wie sie in der Hypnose hervorgerufen
werden kann, und der pathologischen Hallucination ein bemerkens-
werter Unterschied. Die physiologische Hallucination kommt zu Stande
durch Hervorrufung einer anderen Vorstellung von grosser Intensität
und Deutlichkeit, so dass der richtige Eindruck dadurch zurück-
gedrängt wird; die pathologische Hallucination dagegen resultirt
aus der mangelhaften Function der peripheren Apparate oder aus
Störungen der Apperception. Ein ähnlicher Gedanke scheint auch
Liebeault^*^) vorzuschweben, wenn er von einer Verstärkung der
Vorstellungen durch Gefühle spricht, gerade wie die Aureole den Kopf,
den sie umgiebt, stärker hervortreten Hesse.
Ein anderes Merkmal, das die Suggestion gegenüber anderen
seelischen Vorgängen zu characterisiren geeignet ist, wird von Lichten-
stern^**») folgendermaassen ausgedrückt: „Suggestion ist die that-
sächliche Hervorrufung eines seelischen oder körperlichen Zustandes
nur durch Hervorbringung der Ueberzeuguüg, dass er bestehe." Wollte
man der von Friedmann ^*'*) entwickelten Theorie folgen, so wäre
allerdings diese Ueberzeugung die unausbleibliche Folgeerscheinung
der abnormen Intensität der erweckten Vorstellung. Der Definition
V. Lichtenstern's entspricht ziemlich genau die Definition, die
208 I^eo Hirschlaff.
ForeP*^) von dem Begriffe der Suggestion gegeben hat, wenn er
sagt: „Als Suggestion bezeichnet man die Einengung einer dynamischen
Veränderung im Nervensystem eines Menschen oder in solchen Funo»
tionen, die vom Nervensystem abhängen, durch einen anderen Menschen
mittelst Hervorrufung der bewussten oder unbewussten Vorstellung, dass
jene Veränderung stattfindet od^r bereits stattgefunden hat oder statt-
finden wird."
Eine ausführliche Untersuchung über den Begriff der Suggestion
verdanken wir Vogt und Lipps. Vogt^**) definirt die Suggestion
als „eine affectlose Zielvorstellung mit abnorm intensiver Folgewirkung^.
Als Zielvorstellung bezeichnet er „die Vorstellung von dem Auftreten
eines ihrem Inhalte nach in der Zielvorstellung enthaltenen psycho-
logischen Vorganges". Die abnorm intensive Folgewirkung beruht
nicht auf einer starken Gefuhlsbetonung, sondern auf dem Object-
inhalt der Zielvorstellung als solcher. Das physiologische Correlat der
Zielvorstellung kann in Folge von Einübung wirken, ohne selbst den
Intensitätsgrad des Bewusstwerdens zu erreichen. Die Zielvorstellnng
enthält stets das physiologische Correlat, den Objectinhalt, auf den
sich die Folgewirkung bezieht. Da wo die Zielvorstellungen eine
Hemmung enthalten, ist der Objectinhalt jenes positive Moment, das
entweder durch Absorption oder nach dem Modus der Schlafhemmung
die Negation erzielt. An einer anderen^Stelle giebt Vogt zu, dass
es auch affectstarke Zielvorstellungen imd Suggestionen gäbe ; doch
seien die affectiven Suggestionen von den einfachen Gefühlswirkungen
zu unterscheiden. Bevor wir diese Auffassung kritisiren, referiren wir
zunächst zwei vortreffliche Arbeiten von Lipps, die dem gleichen
Gegenstande gewidmet sind. In einem Vortrage in der Münchens
Psychologischen Gesellschaft^ ^) wendet sich Lipps gegen Wundt***),
der die Suggestion zurückführt auf eine Einengung des Bewusstseins
auf die durch Association erregten Vorstellungen. Diese Auffassung
verwirft Lipps auf Grund folgender Argumente: 1. es ist nicht
immer eine Einengung vorhanden, sondern manchmal sogar sehr viele
Vorstellungen auf einmal gegeben; 2. alle Vorstellungen werden durch
Associationen erregt; 3. zwischen passiver und activer Aufmerksamkeit
(die letztere soll bei der Suggestion lahmgelegt sein) besteht kein
Unterschied, da beide Ausfluss unserer Activität sind. Eine Ein-
engung ist bei dem Vorgange der Suggestion nur in dem Sinne vor-
handen, als eine Hemmung, Lähmung, Ausschaltung der Gegenvorstel-
lungen erforderlich ist; aber dies ist nicht eine Einengung des Be-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Uypnotismus. 209
wnsstseios, sondern vielmehr der Erreguugsfabigkeit der potentiell in
uns gegebenen Vorstellungen oder der Ausstrahlung der erregenden
Wirkung der associativ verlaufenden Bewegung. Daher definirt Lipps
selbst: „Suggestion ist die Erzeugung eines über das blosse Dasein
einer Vorstellung hinausgehenden psychischen Vorganges in einem In-
dividuum seitens einer Person oder eines von jenem Individuum ver-
schiedenen Objectes, wofern das Zustandekommen der fraglichen psy-
chischen Wirkung unter Bedingungen stattfindet, die nicht als adäquate
bezeichnet werden können". Adäquate Mittel zur Erzeugung eines
Urtheils sind: Gründe; zur Erzeugung von Empfindungen: sinnliche
Reize ; zur Erzeugung von Willensacten : das Bewusstsein vom Werthe
eines Objectes oder Gewohnheit. Dagegen kommt bei der Suggestion
die psychische Wirkung zu Stande „durch eine in ausserordentlichem
Maasse stattfindende Hemmung oder Lähmung der über die nächste
r^producirende Wirkung der Suggestion hinausgehenden Vorstellungs-
beweguug". In der diesem Vortrage folgenden Discussion stellt
V. Schrenck-Notzing eine etwas abweichende Definition der Sug-
gestion in folgenden Worten auf: „Suggestion ist Einschränkung der
Associationstliätigkeit auf bestimmte Bewusstsein sinhalte, lediglich
durch Inanspruchnahme der Erinnerung und Phantasie, in der Weise,
dass der Einfluss entgegenwirkender Vorstellungsverbindungen ab-
geschwächt oder aufgehoben wird, woraus sich eine Intensitätssteigerung
des suggerirten Bewusstseinsinhaltes über die Norm ergiebt. Bei In-
dividuen, die im Augenblicke der Erzeugung eines psychischen In-
haltes noch nicht über Gegenvorstellungen verfügen (Thieren, Kindern,
Wilden, Ungebildeten) kennzeichnet sich der betreflfende psychische
Inhalt erst dann als suggerirt, sobald er ^eine Intensität gegenüber der
erst nachträglich gebildeten (im Sinne der Correctur und Hemmung)
entgegenwirkenden Vorstellungen in der oben genannten Weise be-
hauptet." In noch ausführlicherer und klassisch grundlegender Weise
hat Lipps seinen oben gekennzeichneten psychologischen Standpunkt
in dieser Frage vertreten in einem Vortrage in der philos.-philol.
Classe der k. b. Academie der Wissenschaften zu München vom
6. März 1897.
Zur Kritik der von Vogt und Lipps aufgestellten Definitionen
des Suggestionsbegrifi*es haben wir Folgendes zu bemerken: Wenn
Vogt neben der abnormen Intensität der psychophysischen Vorgänge,
die wir bereits oben als ein Characteristicum der Suggestionen erkannt
haben, das Auftreten einer Zielvorstellung zum Zustandekommen der
Zeitschrift für Hypnotiamus etc. IX. 14
210 ^o Hincbkff.
ErscheinuDgen für erforderlich hält, so müssen wir dies aus psycho-
logischen Gründen bestreiten. Es mag wohl vorkommen, dass eine
solche Ziel Vorstellung ausnahmsweise im ßewusstsein der Hypnotisirten
auftritt und zur Realisation der Suggestionen beiträgt; z. B. wenn sich
die Suggestion der Katalepsie verwirklicht, weil der Hypnotisirte in
Folge der Worte des Hypnotiseurs in Aufregung geräth und iiirchtet^
der Hypnotiseur könne eine so grosse Gewalt über ihn haben, dass er
in der That diese für ihn unangenehme und befremdliche Erscheinung
hervorrufen könne. Aber solche affectstarken Suggestionen sind, wie
Vogt selbst bemerkt, selten. Von diesen Ausnahmen abgesehen, giebt
es aber in dem Bewusstsein der Hypnotisirten keine Ziel Vorstellungen,
ebenso wie wir keine Zielvorstellung in unserem Bewusstsein entdecken
können, wenn wir willkürlich den Arm erheben. Die Annahme, dass
die Zielvorstellungen unbewusst vorhanden sein könnten, müssen wir
ebenfitlls ablehnen, da unbewusste Vorstellungen für uns eine contra-
dictio in adjecto sind. Auf dem gleichen Standpunkte scheint übrigens
auch Vogt zu stehen, da er erklärt, „dass die Supposition von unbe-
wussten oder unterhewussten psychischen Erscheinungen zum Zwecke
der Ausfüllung der psychischen Causalreihe unzulässig sei, wenigstens
vom psychologischen Standpunkte aus.'* Die Zielvorstellungen, mit
denen vielfach auch die moderne Psychologie arbeitet, indem man sie
bei den Willkürbewegungen als einen nothwendigen Bestandtheil hin-
stellt, mögen vielleicht logische Postulate sein: psychologischen Beob-
achtungen entspringen sie nicht.
Das Wesentliche der von Lipps aufgestellten Begriffsbestimmung
der Suggestion scheint uns in den „inadäquaten Bedingungen" gelegen
zu sein, die nach ihm das ch.iracteristische Merkmal der Suggestionen
sind. Auch v. Seh renck-N otzing scheint auf das Gleiche hinaus-
zukommen, wenn er von der Abschwächuug oder Aufhebung des Ein-
flusses entgegenwirkender Vorstellungsverbiudungen spricht. Hiermit
ist in der That ein neuer Factor gegeben, der geeignet sein dürfte, die
Suggestionen von allen anderen Seeionvorgängen scharf und präcise
abzugrenzen. Wenn ich einem Wachen sage, er sei ein Hund und
werde auf allen Vieren im Zimmer umherspringen und bellen, so lacht
er mich aus, weil seine Urtheiiskraft ihm die betreffenden Gegenvur-
stellun^^'en zur Verfügung stellt und ihm beweist, dass er kein Huud
ist. Sage ich dagegen das Gleiche einer Somnambulhypnotischen, so
wird sieh meine Behauptung realisireu. Was ist bei diesem Vorgange
wesentlich? Auf Seiten des Hypnotiseurs die Thatsache, dass die auf-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 211
gestellte BehauptuDg uDmotivirt und unsinoig, der Wirklichkeit wider-
sprechend ist; auf Seiten der Hypnotisirten, dass sie trotzdem in die
Wirklichkeit übersetzt wird. Diese beiden Bestandtheile sind für das
Zustandekommen einer Suggestion im engeren Sinne erforderlich: eine
unmotivirte und der gegenwärtigen Wirklichkeit widersprechende Be-
hauptung auf der einen und die Annahme und Ausführung derselben
auf der anderen Seite, deren psychische Ursache wir iinten erläutern
werden. Nur wenn wir an diesem strengen BegriflFe der Suggestion
festhalten, ist dieselbe ein von den sonstigen seelischen Vorgängen ab-
grenzbares Phänomen. Demnach sind fast alle „Suggestionen", die wir
in therapeutischer Beziehung anwenden, überhaupt keine Suggestionen
im strengeren Wortsinne. Wenn wir einem Patienten sagen, er solle
oder werde sich von jetzt an bemühen, eine vernünftige Lebensweise
zu führen, er werde guten Appetit, Schlaf, Stuhlgang haben und sich
nach dem Erwachen wohl fühlen, so sind das keine eigentlichen Sug-
gestionen, sondern vielmehr Rathschläge, Ermahnungen, Hoffnungen
und Wünsche, die sich auch im wachen Zustande mehr oder weniger
realisiren würden, da sie ja durchaus richtig und motivirt sind. Nur
die experimentellen Suggestionen, vor deren Anwendung wir am An-
fange unserer Arbeit gewarnt haben, sind wirkliche Suggestionen sensu
strictiori. Da wir gesehen haben, dass die Kunst des Hypnotiseurs
darin bestehen muss, seine Heil- „Suggestionen" möglichst wahrheits-
gemäss zu motiviren, so können wir die Behauptung rechtfertigen, dass
ein geschickter Hypnotiseur weniger Gebrauch macht von den Sug-
gestionen als vielmehr von psychotherapeutischen Vorstellungen, Rath-
schlägen und Ermahnungen. Fügen wir hinzu, dass die Realisation
der eigentlichen Suggestionen fast ausschliesslich auf die tiefen Som-
nambulhypuosen beschränkt ist, und dass diese tiefen Hypnosen, wie
oben nachgewiesen, aus ethischen Gründen verwerflich sind, so haben
wir unseren Standpunkt in dieser Frage dahin zu präcisiren. dass der
therapeutische Hypnotismus weder von einer eicrentlichen Hypnose noch
von wirklichen Suggestionen Gebrauch machen dürfe. Eine eingehendere
Begründung dieses Standpunktes kann erst weiter unten erfolgen.
In guter Uebereinstimmung über die soeben von uns entwickelte
Ansicht über das AVesen der Suggestion stehen die Definitionen, die
William Hirsch^**) und Agathon de Potter ^*'^) diesem BegriflFe
gegeben haben. William Hirsch definirt: „Suggestion ist die Er-
zeugung von Empfindungen, Stimmungen und Vorstellungen, welche sich
zu ihren physiologischen Erregern in einem inadäquaten Verhältniss
14*
212 Leo HirschUff.
befindeD. Unter physiologischen Erregem ist nicht nur der eigentliche^
auslösende Reiz, sondern die gesammten Componenten verstanden, die
das physiologische Correlat einer psychischen Erscheinung in eindeutiger
Weise bestimmen. Eine suggerirte Vorstellung ist daher eine inducirte
Wahnvorstellung, unterschieden nur durch eine geringere Stabilität"
In ähnlichem Sinne definirt Agathon de Potter: „Die Suggestion
ist nicht ein Act, durch den eine Idee dem Gehirn eingeführt und von
ihm acceptirt wird, wie Bernheim behauptet hat, sondern das ist
Belehrung und Beweis. Mau suggerirt vielmehr falsche oder zweifel-
hafte Ideen, deren Wahrheit möglich, dem Subject aber noch nicht
bewiesen ist." Wir fügen noch einmal hinzu, dass dies wesentlich für
die experimentellen und nur für einen kleineren Theil der therapeu-
tischen Suggestionen Geltung hat, wie oben nachgewiesen.
Bevor wir das Kapitel der Definition der Suggestion verlassen,
müssen wir noch an einen Factor erinnern, der nach unserer Auffassung
für das Wesen derselben characteristisch ist und dessen wir schon früher
Erwähnung gethan haben. Man hat behauptet — und nicht ganz mit
Unrecht — dass für das Wesen der Suggestiv- Phänomene der psychische
Zwang kennzeichnend sei, unter dem sich die Suggestionen dem Gehirn
des Hypnotisirten passiv aufdrängen und sich realisiren. Besonders die
Nancy'er Schule hat diesen passiven Zwang urgirt und darin einen
characteristischen Unterschied vom Wachleben gefunden. Indessen
müssen wir daran festhalten, dass hierin nicht eine durchgängige Eigen-
thümliclikeit der Suggestionen gegeben sein könne. Wir haben oben
den Nachweis erbringen können, dass eine ganze Zahl von Suggestionen
therapeutischer und experimenteller Natur sich im Gegenthoile dadurch
characterisirt, dass die Activität der Hypnotisirten, freilich ohne dass
diese sich über diesen Umstand klar zu sein brauchen, zur Realisirung
der Suggestionen mit herangezogen wird. Wir hatten gesehen, dass
die Suggestion der Vesication sich nicht in der Weise realisiren kann,
dass das psychopbysische Correlat der erweckten Vorstellung eine directe
Wirkung auf die Haut der Hypnotisirten entfaltet, sondern vielmehr
nur unter der Bedingung, dass die active Mithülfe der betreffenden
Versuchsperson nicht unterbunden wird. Wir hatten es wahrscheinlich
gemacht, dass auch bei der Realisirung anderer Suggestionen das
Gleiche stattfände, so bei der Suggestion des Stuhlganges, der Heilung
von Warzen, der Verwandlung der Persönlichkeit etc. Ja, wir können
sogar behaupten, dass diese active Mithülfe der Patienten in den meisten
Fällen unerlässlich und für den Erfolg der Suggestivbehandlung aoi*
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 213
schlaggebend ist. Zwar giebt es eine Reihe von Fällen, hauptsächlich
bei Somnambulhypnotischen, bei denen es zur Entfernung eines be-
stehenden Kopfschmerzes, einer Anästhesie oder irgend eines anderen
krankhaften Symptomes genügt, die völlig unmotivirte Suggestion zu
geben, das betreffende Symptom sei bereits verschwunden oder werde
sofort verschwinden. In den meisten Fällen ist jedoch der Hergang
der, dass wir in der Hypnose die Versicherung geben, es werde all-
mählich eine Besserung der bestimmten Krankheitserscheinungen ein-
treten. Tritt diese Besserung dann nach mehr minder langer Zeit ein,
so glauben wir, dass nicht die Suggestion allein daran schuld sei,
sondern dass dieselbe in das gesammte associative Milieu des Seelen-
lebens Eingang gefunden und alle dort verfügbaren Kräfte in den
Dienst der gegebenen Suggestivvorstellung gebracht habe. Die Ueber-
zeugung, die Hoffnung, der Glaube, dass die Besserung eintreten werde,
wirken dabei zweifellos mit; aber sie wirken nicht so unmittelbar und
ausschliesslich, wie in dem erst erwähnten Falle, den wir als den Typus
einer echten, hypnotischen Suggestion im engeren Sinne bezeichneten.
Im Gegensatze dazu möchten wir in der zweiten Art der Realisation
der gegebenen Heilvorstellung mehr einen psychotherapeutischen Vor-
gang erblicken, da es sich um Factoren handelt, deren Wirksamkeit
nicht an den hypnotischen Zustand als solchen gebunden ist. Wir er-
achten es jedenfalls für geboten, diese beiden Möglichkeiten sowohl in
psychologischer, wie in therapeutischer Hinsicht zu unterscheiden.
Es schliesst sich an diese Erörterung die Auffassung des Begriffes
der Suggestibilität, über die eine Einigung unter den Autoreu noch
nicht erzielt ist. Bergmann ^*^) behauptet, die Suggestibilität sei
ein Zustand von gesteigerter Intensität der Vorstellungen, ein Ueber-
schreiten der psychischen Reizschwelle, jenseits deren die Vorstellung
ihren rein psychischen Character verliert und sich rein automatisch
realisirt. Dabei sei es nicht nöthig, wie er behauptet, eine Lähmung
von ürtheil und Willkür anzunehmen, denn es sei eine Fundamental-
eigenschaft des menschlichen Geistes, Vorstellungen von genügender
Intensität unwillkürlich zu objectiviren. Die Suggestibilität sei also
kein specifischer Bewusstseinszustand. Vogt unterscheidet, was psy-
chologisch von Interesse ist, die Suggestibilität, das heisst die Fähig-
keit, Suggestionen zu realisiren, von dem Festhalten der suggestiv er-
zeugten Constellationsverhältnisse. DöUken^*') erklärt die Sug-
gestibilität mit Jendrassik als eine Zustandsänderung in den
associativen Bahnen und Centren. Denn mit der Reizempfänglichkeit
214 J^eo Hirschlaff.
nehme auch die Möglichkeit ab einer quantitativ normalen Verbindung
der einzeluen Wahrnehmungen und Vorstellungen, ähnlich wie bei der
Ermüdung und dem Genüsse von Narcoticis, z. B. Alcohol: die Sinne
functioniren normal, während die Associationen spärlicher geworden
sind. Der Zustand verminderter Empfänglichkeit der Centreu in der
Hypnose hat nach Döllken nicht den Character einer Lähmung in
Folge von Vergiftung oder Ermüdung, sondern es handelt sich, wie
Jendrassik nachgewiesen, nur um eine Aufhebung der Erregbarkeit
der verbindenden Elemente, so dass eine Restitution der Nerven-
elemente nicht stattzufinden brauche. Döllken fugt hinzu, dass nicht
nur die Bahnen in ihrer Erregbarkeit verändert sind, sondern dass
auch der Zelltonus herabgesetzt oder erhöht sei. Liebeault '*•)
setzt die Suggestibilität in Parallele zur Willensschwäche; B^rillon
behauptet, die Suggestibilität stehe im directen Verhältniss zur in-
tellectuellen Entwickelmig des Subjectes, während William Hirsch
den entgegengesetzten Standpunkt vertritt. Diese Gegensätzlichkeit
ist leicht verständlich, wenn man, analog der oben gegebeneu Aus-
einandersetzung über das Wesen der Suggestion, auch zwei Arten der
Suggestibilität unterscheidet. In dem einen Falle, der zumeist in den
oberflächlichen und mitteltiefen Hypnosen verwirklicht ist, ist weder
die Perceptionsfahigkeit der Sinnesorgane, noch die höheren seelischen
Functionen des ürtheilens und WoUens erheblich verändert: häufig
sogar tritt gerad(»zu eine Verschärfung dieser Functionen ein, wie sie
ja auch zur Verwirklichung der Heilvorstellimgen meist wünschens-
werth und erforderlich ist. In der tiefen Hypnose dagegen, in der
sich unmotivirte Suggestionen verwirklichen, können sämmtliche an-
gegebenen Functionen vermindert bis aufgehoben sein. Am meisten
characteristisch und als specifisches Merkmal der hppnotischen Suggesti-
bilität im engcHMi Sinne anzustehen, ist dabei nach unserer Auffassung
die Verminderung der Urtheilsfähigkeit, die Kritiklosigkeit, die in dem
Nichtauftroten der Gegenvorstellungen sich zeigt. Während w^ir mit
Berillon in der erst erwähnten Art der Suggestibilität im weiteren
Sinne einen normalen und psychologisch leicht verständlichen Vorgang
erblicken, dessen therapeutische Verwerthung wir uns nicht entgehen
lassen sollten, obwohl wir ihn freilich nicht als Suggestibilität an-
erkennen, halten wir die zweite Form der Suggestibilität im engeren
Sinne aus hygienischen und ethischen Gründen für schädlich, in Ueber-
einstimmung mit William Hirsch und Grossmann.
Wir kommen zur Begrifi'sbestimmung und Eintheilung der hypno-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwart. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 215
tischen Zustände. In dieser Beziehung hat Max Hirsch^ •^) ver-
sucht, die früher üblichen Eintheilungen der Hypnose, die schon Moll
mit zwingenden Gründen abgelehnt hat, durch eine Modification zu
ersetzen. Er unterscheidet 4 Arten und Grade hypnotischer Zustände :
1. die Captivation, d. i. ein Wachzustand, in dem Suggestionen an-
genommen werden; 2. die Somnolenz, ein passiver Ruhezustand des
Gehirns; 3. die Schlafillusion; 4. die Somnambulhypnose. Dagegen
unterscheidet Crocq-fils '®^), dessen Auffassung wir uns unten an-
schliessen werden, nur 2 Typen des hypnotischen Schlafes: a) den
somnambulo'iden Zustand, in dem Bewusstsein und Sensibilität erhalten
sind; b) den somnambulen Zustand mit Verlust des Bewusstseins und
der Sensibilität, mit Automatismus und Amnesie. Ferrand^*^) er-
innert an den Unterschied zwischen hypnogenen imd narcotischen
Schlafmitteln und gruppirt die hierher gehörigen Erscheinungen
folgendermaassen : 1. das hypnotische Stadium, in dem eine Auf-
hebung des Bewusstseins und der Willensthätigkeit in Folge Alteration
der Grosshirnrinde statthaben soll; 2. das narcotische Stadium, indem
ein Verschwinden aller peripheren Reflexe eintritt, weil das Rücken-
mark und die Basalganglien afficirt sind; 3. das lethargische Stadium,
bei dem auch die vitalen Reflexe, Circulation und Respiration, er-
löschen und in Folge dessen Coma und Tod eintritt. Nach D ö 1 1 k e n ^«^)
ist ein Suggestivzustand (v. Schrenck-Notzing) in folgenden Fällen
vorhanden: 1. im Wachbewusstsein ; 2. im Schlaf; 3. in der Hypnose;
4. im natürlichen Somnambulismus; 5. bei hysterischen Zuständen;
6. bei Intoxicationszuständen ; 7. bei Psychosen. Freilich ist hier die
Suggestibilität quantitativ und qualitativ verschieden. Die Hypnose
kann nach Döllken in Schlaf übergehen oder sich mit ihm verbinden,
ebenso wie sie in einen hysterischen Zustand übergehen und sich mit
ihm verbinden kann. Nach Vogt endlich sind hypnotische Zustände
solche, die realisirte afl'ectlose Suggestionen aufweisen; diese wiederum
bestehen, wie wir gesehen haben, in dem Auftreten einer afi'ectlosen
Zielvorstellung mit abnorm intensiver Folgewirkung. Wir selbst unter-
scheiden, wenn es auf das Wesen der Sache ankommt, mit Gross-
mann eine oberflächliche und eine tiefe Hypnose. Die oberflächliche
Hypnose unterscheidet sich nach unserer Auffassung in keinem wesent-
lichen Punkte vom Wachzustande. Sie stellt einen Zustand behaglicher
Ruhe dar, der mit mehr oder weniger Müdigkeit und Schläfrigkeit
verbunden sein kann, bei dem aber die höheren Functionen des Seelen-
lebens, speciell das Gedächtniss und das Urtheils vermögen, unangetastet
216 Leo Hirschlaff.
bleibeD. Zwar können auch in diesem Zustande einzelne, scheinbar
echte Suggestionen gelingen, wie z. B. Anästhesien, HypotAxien und
andere Hemmungszustände. Indessen ist der Weg, auf dem sich diese
Suggestionen eventuell realisiren, ein anderer als der bei tiefen Hy-
pnosen; es liegt nicht eine directe, zwangsmässige, unwiderstehliche
Wirkung vor, sondern vielmehr eine indirecte Wirkung, zu deren Ent-
stehung die active Mithülfe des Hypnotisirten erforderlich ist, indem
er willkürlich seine Aufmerksamkeit concentriert oder ablenkt oder
Aehnliches mehr. Daher gelingen liier nur solche Suggestionen, die
mau auch willkürlich im Wachzustande realisiren kann. Denn es ist
leicht möglich, wie bereits oben nachgewiesen, im Wachzustande den
Vorgang der Hypotaxie oder der Unmöglichkeit des Augenschlusses,
sowie anderer Hemmungen an sich selbst jederzeit zu produciren.
Mit Hnd(»ren Worten: es handelt sich hier nicht um einen eigentlichen
hypnotischen Zustand im engeren Sinne des Wortes, sondern vielmehr
um einen pseudohypnotischen, hypnoiden, somnambuloiden Zustand.
Dass auch dieser Zustand therapeutisch wirksam und werthvoll sein
kann, beweist zunächst in eminentem Maasse die Erfahrung. Aber
auch abgesehen von dieser können wir uns vorstellen, dass in diesem
Zustande eine ganze Zahl therapeutisch wirksamer Momente und Fao-
toren gegeben sei. Als solche mögen Erwähnung finden: 1. die Ruhe
des gesammten Organismus, die bei dieser oberflächlichen Hypnose
eintritt und deren wohlthätig(> Wirkung nicht weiter betont zu werden
braucht; 2. die geistige Concentration, wenn wir so sagen dürfen, die
es ermöglicht, dass die Heil Vorstellungen und Ermahnungen, die wir
geben, schärfer aufgefasst und fester gehalten werden, als es im schnellen
Flusse des Wachlebens möglich wäre; 3. der Glaube, die Ueber-
zeuguug, dass die Therapie helfen werde, eine Hoffnung, die durch das
Neuartige der Sache wesentlich unterstützt wird u. s. f. Kurzum,
jeder Factor, der bei der hypnotisch-suggestiven Behandlung überhaupt
therapeutische Wirksamkeit besitzt, hat auch in diesem pseudohypno-
tischen Zustande seine Geltung.
Der oberflächlichen Hypnose gegenüber steht die tiefe oder nach
unserer Auffassung die eigentliche Hypnose sensu strictiori. Sie kenn-
zeichnet sich durch eine tiefe Alteration des Seelenlebens. Während
Bewusstsein und Wille, die beiden Functionen, deren Veränderung
durch die Hypnose gewöhnlich behauptet werden, in Wahrheit intact
bleiben oder sogar eine Steigerung erfahren können, wird vielmehr das
Gedächt niss und die Freiheit des Willens, die als eine Wirkung des
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismus. 217
Urtheilsvermögens aufzufassen ist, mehr oder weniger abgeschwächt
oder aufgehoben. Denn nur die Unterdrückung der im Wachzustande
vorhandenen Kritik ermöglicht die Realisirung der unmotivirten, hy-
pnotischen Suggestionen. Eben aus diesem Grunde aber folgern wir,
dass die tiefe Hypnose zu therapeutischen Zwecken nicht oder nur
ausnahmsweise angewendet werde, zumal die wahrhaft therapeutischen
Factoren derselben auch in der oberflächlichen Hypnose vorhanden
sind. Wir kommen somit zu der paradox erscheinenden, aber im Vor-
hergehenden gerechtfertigten Behauptung : der therapeutische Hypnotis-
mus hat weder von einer eigentlichen Hypnose noch von wirklichen
Suggestionen Gebrauch zu machen ; nur der Experimentator hat es mit
den im strengeren Sinne hypnotischen Phänomenen zu thun. Es wäre
daher nicht unangebracht, wenn mau den Namen, den man heute
diesem therapeutischen Verfahren giebt, in einer dem Sinne ent-
sprechenden Weise abänderte. Da m der oberflächlichen Hypnose
von einem Schlafe gar keine Rede sein kann, da die eventuell vor-
handene Müdigkeit und Schläfrigkeit nur ein völlig accidentelles Be-
gleitsymptom ist, während der therapeutische Werth des Zustandes
vielmehr in der Concentration der Aufmerksamkeit zu suchen ist, so
wäre es, schon um der irrthümlichen Auffassung vorzubeugen, denen
die Patienten fast stets unterliegen, entschieden zweckmässiger, von
einem Zustande der „Epistasie" (fj BTtLaxaotg = Aufmerksamkeit) und
von einem „epistatischen" Heilverfahren zu sprechen. Da jedoch diese
Namen sich schwerlich einbürgern werden, so ziehen wir es vor, statt
der Hypnose von einem suggestivtherapeutischen und psychotherapeuti-
schen Verfahren zu sprechen. Es wäre zu wünschen, dass die Herren
CoUegen, die der Sache des Hypnotismus zwar nicht feindlich, aber
doch immerhin fremd gegenüberstehen, von dieser Kenntniss Notiz
nehmen wollten; es würden dann viele unzweckmässige Contrasug-
gestionen, die sie den Patienten mit auf den Weg geben, vermieden
werden.
Bevor wir auf Grund der gegebenen Auffassung die Indicationen
der Suggestivtherapie ableiten, möchten wir nicht unterlassen, einiger
hypnoseähnlicher Zustände Erwähnung zu thun, die in der Literatur
berichtet werden. So spricht Liebeault ^^ij yo^ einem „physiologi-
schen Passivzustand", der unter Umständen im Wachleben eintritt.
Er erinnert zu diesem Zwecke an ein Experiment von Dupotet, dem
es gelang, bei wachen Bauern Wasser suggestiv in Rothwein zu ver-
wandeln, und der constatirte, dass diese angebliche Verwandlung trotz
218 Leo Hirschlaff.
völligen Wachseins der Betreffenden 2 Tage lang anhielt Auch die
FascinatioDsmethode Braid's soll nach Liebeault auf einem ähn-
lichen Zustande beruhen. Dass wir dieser Auffassung nicht beipflichten
können, geht aus dem vorher Gesagten zur Grenüge hervor. Auf eine
abnorme Abart der Hypnose, wie es deren, nebenbei bemerkt, mehrere
giebt, macht D öl Iken^®*) aufmerksam. Er hat hysterische Hypnosen
durch blosses Auflegen der Hände bei Verschluss der Sinnesorgane
eintreten sehen ; dabei bestand geringere Suggestibilität und allerhand
hysterische Symptome. Auch von anderer Seite, wir nennen nur
Freud und Breuer, sowie Löwenfeld, Brügelmann u. A., ist
gezeigt worden, dass durch die üblichen hypnosigenen Mittel statt
einer normalen Hypnose in einzelnen Fällen ein hysterischer Zustand
erzeugt werden kann. Es wäre hier am Platze, auch der partiellen
Wach- und Schlafzustände zu gedenken, die Vogt aufgestellt und zum
Zwecke experimentalpsychologi^cher Studien benutzt und empfohlen hat;
doch sparen wir uns deren Darlegung für den Schluss unserer Arbeit auf.
Die Indicationen des Hypnotismus, der Suggestivbehandlung und
der Psychotherapie sind von drei Gesichtspunkten abhängig: 1. von der
Persönlichkeit des Kranken; 2. von der Natur der Krankheiten; 3. von
der Art der anzuwendenden Heilfactoren. Was den ersten Punkt an-
betrifft, so giebt es zweifellos eine ganze Anzahl von Menschen, die
für die Suggestivtherapie (im weiteren Sinne) geradezu prädisponirt
erscheinen. Wir meinen nicht nur diejenigen, die sehr leicht in tiefe
Hypnose zu bringen sind, ohne dass wir mit absoluter Sicherheit schon
jetzt den Grund für diese Thatsache anzugeben vermögen ; sondern
vielmehr die bei Weitem grössere Gruppe derjenigen, die für seelische
Eindrücke leicht zugänglich und besonders empfänglich sind und deren
Empfänglichkeit fast stets auch in der Art ihrer Erkrankung oder
vielmehr in der Art ihrer seelischen Reaction auf ihre Erkrankung
zum Ausdrucke gelangt. Diese Indication ist keineswegs auf functio-
nelle Krankheitszustäude beschränkt. Wir würden kein Bedenken
tragen, einen Kranken, von dem wir wissen, dass er leicht in tiefe
Hypnose kommt und in derselben Heilsuggestionen annimmt, bei jeder
auch organischen Erkrankung hypnotisch-suggestiv zu behandeln ; denn
als symptomatische Therapie ist die Hypnose auch in solchen Fällen
berufen, Günstiges und WerthvoUes zu leisten, selbst wenn sie nur
dazu dient, die allgemein-hygienischen Suggestionen des Appetits, Stuhl-
gangs, Schlafes, der Stimmung und Schmerzlosigkeit etc. zu realisiren.
Natürlich kann in diesen Fällen die Hypnose nur ein accidentelles
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre y. Hypnotismns. 219
Unterstützungsmittel sein, das neben den sonstigen Heilfactoren heran-
gezogen wird. Ebenso bei der zweiten Gruppe derer, bei denen eine
functionelle Complication organischer Leiden vorliegt, wie das, eine
geeignete SeelenbeschafifeDheit der Kranken vorausgesetzt, bei jedem
Leiden der Fall seiu kann. Auch hier würden wir keinen Anstand
nehmen, die functionelle Complication auf psychischem Wege zu be-
kämpfen.
Die zweite der angegebenen Indicationen basirt auf der Natur der
Krankheiten. Hier sind es, von den soeben erwähnten Ausnahmefällen
abgesehen, vorzugsweise die functionellen Neurosen und Psychosen, die
der Suggestivtherapie mit V ortheil unterworfen werden. Dazu gehören,
um Einiges aufzuführen, in erster Reihe die Neurasthenie, Hysterie und
Hypochondrie in allen ihren Variationen und Modificationen, sodann
die Melancholie und die Zwangsvorstellungen, die psychosexuellen Er-
krankungen, der Alcoholismus, der Morphinismus, die functionellen
Sprachstörungen, die Enuresis nocturna, die Neuralgien, einzelne
Formen der Chorea und Epilepsie, der Myoclonien u. s. f. Schon aus
dieser Zusammenstellung, die leicht erweitert werden könnte, folgt,
dass die Suggestivtherapie keineswegs, wie behauptet wird, auf die
Hysterie und die hysterischen Erkrankungen beschränkt ist; vielmehr
bieten gerade diese Erkrankungen den Bemühungen der Suggestiv-
Therapeuten nicht selten den grössten Widerstand.
Die letzte der aufgeführten Indicationen leitet sich aus der Natur
der Heilfaetoren ab, die wir bei der Suggestivtherapie zur Anwendung
bringen. Es ist genügend betont worden, dass diese Natur eine rein
functionelle ist und da^s das suggestive Zustandekommen der in der
Literatur berichteten organischen Phänomene im Gegensatze zu den bis-
herigen Anschauungen als eine indirecte Wirkung aufzufassen ist. Ob-
wohl wir an dieser Thatsache festhalten, ist es doch, wie oben aus-
einandergesetzt wurde, möglich, auf suggestiv-therapeutischem Wege
auch organischen Erkrankungen näher zu treten. Je mehr wir in die
Strucfur der menscliHchen Seele Einblick gewinnen werden, um so mehr
wird uns diese Thatsache verständlich erscheinen ; sie ist von einem
weit ausschauenden Denker, Friedrich Eduard Beneke ^®^), bereits
vor 60 Jahren vorausgeahnt worden, als er den Versuch machte, alle
Greistes- und Seelenkrankheiten nicht somatisch, sondern psychisch zu
gruppiren und abzuleiten.
Zum Schlüsse unserer Ausführungen möge uns die von Vogt in-
augurirte „hypnotische Experimentalpsychologie" beschäftigen. Vogt^**)
220 Leo flirschlaff.
schlägt vor, den Zustand des eingeengten Bewusstseins zu expenmental-
psychologischen Selbstbeobachtungen zu benutzen. Nach seiner Auf-
fassung ist die Suggestion im Stande, das psychologische Bxperimen-
tiren durch Hervorrufuug von Beobachtungsobjecten , durch gleich-
massige Gestaltung der psychophysischen Constellation und durch
Hebung der Selbstbeobachtung zu fördern. Er zeigt, dass Beobachtungs-
objecte, die sonst experimentell nicht oder nur schwer erzielbare Be-
wusstseinserscheinungen darstellen , sowie Ausfallserscheinungen auf
suggestivem Wege leicht hervorgerufen werden können, und zwar mit
einer derartigen Feinheit der Graduiruug, dass z. B. 22 verschieden
intensive Schmerzabstufungen erzielt werden köunen. Die psychophysio-
logische Constellation ferner könne gleichmässiger gestaltet werden durch
suggestive Beeinflussung ihrer Bedingungen: einmal durch specielle
Suggestionen und dann durch Schaffung einer auf alle sich nicht am
Experimente betheiligenden Bewusstseiuselemente beziehende Schlaf-
hemmung. Die Selbstbeobachtung eudlich könne gehoben werden:
1. durch specialisirte Intensitätsverstärkung oder Hemmung; 2. durch
Einengung des Wachseins auf die am Experiment betheiligten Bewusst-
seiuselemente. Als geeignete Form der Hypnose zum Experimentiren
empfiehlt Vogt das systematische partielle Wachsein, das für alle zum
Systeme des Experimentes gehörenden Bewusstseinselemente ein volles
Wachsein, für die übrigen aber eine tiefe Schlafhemmuug aufweist
In diesem Zustande hat Vogt an sich selbst und an geeigneten Ver-
suchspersonen experimentirt und eine ganze Reihe interessanter Resultate
zu Tage gefördert. Es gelang ihm u. A. bei der Analyse der Gefühle
ein hedonistisches und ein sthenisches Moment in der Gefühlsbetonung
z. B. bei Tönen voneinander zu trennen, wobei die Versuchspersonen
die einzelnen Töne, die ihnen zur Beobachtung vorgeführt wurden, in
gesetzmässiger Weise analog den Tonhöhen bald erhebend und an-
genehm, bald erschlaffend und unangenehm, oder erschlaffend und an-
genehm, oder hebend und unangenehm fanden u. s. f. Ebenso führte
Vogt eine grosse Zahl von Druck- und Schmerzversuchen aus. bei
denen er suggestiv die Druck- und Schmerzvorstellung stufenweise all-
mählich steigerte und die Gefühlsreihe, die flieser Steigerung entsprach,
analysiren liess. Auch con)plexe Gefühle der Angst, Freude, Furcht
wurden auf dem gleichen AVege bearbeitet. Ja, es gelang ihm sogar,
eine Aufgabe zu lösen, um die die Psychologen bisher vergeblich sich
bemüht haben: die Aufgabe, das Angenehme eines Tones und eines
Geruches miteinander zu vergleichen. Dabei wird zunächst die Er-
Kritische Bemerkungen über d. gegenwärt. Stand d. Lehre v. Hypnotismug. 221
inneniDg an beide EmpfinduDgen bis zur sinnlichen Lebhaftigkeit herror-
genifen; dann werden die anderen psychischen Elemente unterdrückt
und die Gefühle isolirt reproducirt und verglichen.
Wir glauben nicht, dass der verdiente Forscher mit diesen Vor-
schlägen auf dem richtigen Wege ist. Die Einwendungen, die wir
gegen die „hypnotische Experimentalpsychologie" im Sinne Vogt 's
zu machen haben, können kurz dahin präcisirt werden: 1. Das syste-
matische partielle Wachsein ist kein hypnotischer Zustand. Wenn
schon die oberflächliche Hypnose, die wir zu therapeutischen Zwecken
verwenden und die auf einer diffusen Hemmung der Hirnrinde beruhen
soll, nach unserer Auffassung keine eigentliche Hypnose, sondern nur
ein somuambuloider Zustand mit Concentration der Aufmerksamkeit
ist, so gilt das mit noch grösserer Berechtigung von dem systematisirten
partiellen Wachsein Vogt 's. Auch hier handelt es sich nur um eine
einfache Concentration der Aufmerksamkeit auf die zu beobachtenden
Bewusstseinsobjecte, ein Zustand, der für die psychologische Selbst-
beobachtung sehr werthvoll ist, der sich aber von dem bisher Be-
kannten in keiner specifischen Weise unterscheidet. Echte Suggestionen,
von denen wir oben gesprochen haben, sind in diesem Zustand nicht
realisirbar. 2. Der Begriff der Suggestion wird von Vogt zu weit
gefasst und die mögliche Wirkung derselben überschätzt. Wenn wir
einem oberflächlich Hypnotisirten sagen, er solle sich jetzt eine Ton-
empfindung von bestimmter Höhe vorstellen, so ist das noch lange
keine Suggestion : das Gleiche kann jederzeit auch im Wachzustande
geschehen. Und wenn Vogt glaubt, dass er durch Suggestion Kopf-
schmerz und andere störende Empfindungen, sowie die nicht zum Ex-
perimente gehörigen Bewusstseinselemente unterdrücken könne, so über-
schätzt er die Wirkung seiner Suggestionen. Denn selbst wenn die
von ihm gewünschte Wirkung eintreten sollte, so tritt sie nicht als
eine directe Folge der gegebenen Suggestion ein, sondern das Ver-
suchsobject bemüht sich, wozu eine Hypnose wiederum nicht erforder-
lich ist, seine Aufmerksamkeit von den zu beseitigenden Empfindungen
abzulenken und auf die zu beobachtenden Bewusstseinselemente zu
concentriren, wobei ein affectives Moment, das Interesse an den Be-
obachtungsobjecten, gleichfalls eine Rolle spielt. Von selbst, auf pas-
sivem, zwaugsmässigem. psychophysiologischem Wege, ohne actives Zu-
thun der Versuchsperson realisirt sich diese Suggestion in der ober-
flächlichen Hypnose zweifellos nicht. Zudem ist eine gleichmässige
Gestaltung der psychophysischen Constellation auch durch Realisiruug
222 ^^ Hirschlaff.
derartiger Vorstellungen noch nicht gegeben. Selbst wenn man an-
niminf, dass die gegebene Suggestion sich — direct oder indirect —
verwirklicht, so kann dies doch nur auf psychischer Seite geschehen^
während die physiologische Grundlage und in Folge dessen auch die
physiologische Wirkung dieser Erscheinungen auf die psychophysische
Constellation unbeoinflusst bleiben muss. Wenn wir einem oberflächlich
Hypnotisirten, der stark übermüdet ist, sagen, die Müdigkeit ver-
schwinde und mache einem Gefühle des Wohlbehagens und der Frische
Platz, so kann im günstigsten Falle dieser Wunsch auf psychischem
Gebiete in Erfüllung gehen, insofern das Gefühl der Müdigkeit
schwindet und einem anderen Gefühle weicht; die Müdigkeit selbst
aber, und damit ihre physiologischen Folgen auf die Constellation,
bleiben bestehen. 3. Vo g t verkennt das Wesen der Selbstbeobachtun«?.
Während es wohl möglich ist, die Thatsachen des Bewusstseins durch
Selbstbeobachtung direct zu ergründen, lässt diese Methode, ebenso
wie jede andere Methode, im Stich, sobald es sich darum handelt, die
Causalzusammeuhänge zwischen diesen Thatsachen zu ermitteln. Wie
wir an anderer Stelle^*') nachgewiesen haben, ist die psychologische
Selbstbeobachtung der Natur der Sache nach niemals im Stande,
Causalzusammeuhänge festzustellen; dazu gehören Urtheils- und Schluss-
processe, denen die eigenthümliche Evidenz der Selbst beobaclitung ab-
geht. Wenn deshalb Vogt behauptet, die Analyse der Bewusstseins-
erscheinungen im Zustande des eingeengten Wachbewusstseius auf dem
Wege der unmittelbaren Selbstbeobachtung vornehmen zu können, so
verkennt er das Wesen der Selbstbeobachtung, die zu einer derartigen
Analyse als solche überhaupt nicht befähigt ist. Ja sogar, die logische
Reflexion, die zu dieser Aufgabe unerlässlich ist, könnte im Zustande
des eingeengten Bewusstseins nicht einmal ausgeführt werden, wenn es
sich wirklich um einen hypnotischen Zustand im engerenWortsinne handelte,
da ja, wie wir gesehen haben, gerade das Urtheilsvermögen in diesem Zu-
stande gestört ist. Wenn daher Vogt eine ganze Zahl von Beobachtungen
über Causalzusammenhänge veröflentlicht, die er im Zustande des ein-
geengten Wachseins durch directe psychologische Analyse gewonnen haben
will, so ist er in Wahrheit einer Fehlerquelle unterlegen, vor der man
sich bei psychologischen Beobachtungen, zumal auf diesem Gebiete, nicht
genug in Acht nehmen kann; statt der wirklichen Causalzusamnien-
häuge hat er eine Reihe von Autosuggestionen erhalten, die er durch die
Art seines Vorgehens bei den Versuclispersonen künstlich gezüchtet hat
Wir erkennen somit an, dass die Concentration der Aufmerksamkeit
Literatur-Verzeichniss. 223
auch in dem von Vogt angegebenen Zustande des systematischen
partiellen Wachseins, unter Umständen für die psychologische Be-
obachtung sehr geeignet und noth wendig ist, behaupten aber, dass
weder der Zustand, um den es sich handelt, noch die Kräfte und Er-
scheinungen, die darin zur Geltung kommen, in irgend einer specifischen
Weise von den bisher bekannten Methoden abweichen oder denselben
überlegen sind. Die Bedeutung des Hypnotismiis für die Psychologie
liegt nach unserer Auffassung nicht in der Methode der Beobachtung,
die in allen Fällen die gleiche ist, sondern vielmehr in den mit psycho-
logischer Kritik gewonneneu Thatsachen des Seelenlebens, die auf diesem
Gebiete zur Erscheinung kommen und die geeignet sein dürften, auch
auf die normale Structur des Seelenlebens interessante Streiflichter zu
werfen.
Wir sind am Ende unserer kritischen Wanderung. Wir haben
vieles Wer th volle hervorgehoben, vieles Nichtige abgelehnt. Wir er-
heben keinen Anspruch darauf, irgend eine der hierher gehörigen
EVagen gelöst zu haben. Wir haben uns darauf beschränken wollen,
den Weg zu weisen, auf dem diese Fragen einer wissenschaftlichen
Vertiefung in therapeutischer und psychologischer Beziehung fähig und
bedürftig sind.
Literatur- Yerzeiclmiss.
(Vergl. die dem Texte beigefügten Zahlen.)
1) Albert Moll: Der Hypnotismus, III. Aufl. Berlin 1895.
2) Augu8t Forel: Der Hypnotismus, III. Aufl. Stuttgart 1895.
3) Bernheim: Hypnotisme, Suggestion, Psychotherapie. Paris 1891 u. v. a. m.
4) van Renterghem und van Ecden: Psychotherapie. Paris 1894.
ö) Charles Lloyd-Tuckey: Psychotherapie, übersetzt von Tatzel nach der
III. Aufl. d. Orig. Neuwied 1895.
6) L. L o e w e n f e 1 d : Lehrbuch der gesammteo Psychotherapie mit einer einleiten-
den Darstellung der Hauptthatsachen der medicinischen Psychologie.
7) St oll: Hypnotismus und Suggestion in der Völkerpsychologie. Lpz. 1894.
8) ßaldwin: Psychologie der Kinder. Berlin 1898.
9) Pierre Janet: L'automatisme psychologique. Paris 1889.
10) Hans Schmidkuuz: Psychologie der Suggestion. Lpz. 1894.
11) Wilhelm Wundt: Studie über Hypnotismus. Lpz. 1886.
12) Max Hirsch: Zur Begriffsbestimmung der Hypnose. D. Med. Ztg. 1895, Nr. 91.
13) Wegner: Nervosität u. psychische Heilbehandlung. De. Ztsch., Bd. V, 1895.
14) Liebeault: Du sommeil etc. Paris 1866. Neue Aufl. 1889.
224 ^^0 Hirschlaff.
15) H. AV. Tatzel: Warum wird der Werth des therapeutischen Hypnotismus
Doch immer so wonig erkannt? Ds. Ztsch., Bd. IV. 1895.
16) Forel: cf. 2.
17) (rrossmaun: Die Erfolge der Suggestionstherapie bei organischen Lälimungen
und Paralysen. Vortrag auf der 66. Naturforscher Versammlung in Wien 1894.
18) Korbiniau Krodmann: Zur 3Iethodik der hypnotischen Behandlung. Diese
Ztsch., Bd. VI, 1897.
19) A. Dnllken: Beiträge zur Physiologie der Hypnose. Ds. Ztsch.. Bd. IV. 1895.
20) Bonjour: cf. Revue de l'hypnot., Bd. X. 1896.
21) Wo tt erst ran (i: a) Die Heilung des chron. Morphinismus etc. mit Suggestion
und Hypnose, b) Ueber d. künstlich verlängerten Schlaf, bes. bei d. Be-
handig. d. Hyst.
22) John F. Word: The treatment by Suggestion with and without Hypnosis.
Journal of mental diseases, Bd. XLIII, April 1897.
23) Paul Farez: l)o Tapplication de la Suggestion chez les alienes. Rev. de Thypn.,
Bd. XII, 1898.
24) L i 0 b e a u 1 1 : Classification des dcgres du sommeil provocjue. Rev. d. Thypn.. 1886.
25) Bernheim: De la Suggestion dans l'etat hypnot. etc. Paris 1886.
26) (» rossmann: Zur Suggestiv-Behandlung der Gelenkkrankheiten, mit besonderer
Berücksichtigung des chron. Gelenkrheumatismus u. d. Gicht. Ds. Ztsch..
Bd. III, 1894.
27) v. Schrenck-Notzing: cf. Congress für Psychol. 3Iünchen 1896.
28) Hilger: ibid.
29) H. Delius: Krfolge der hypnot.-suggest. Bohandlg. in d. Praxis. D. Ztsch.,
Bd. V, 1897.
30) W. Brü gel mann: Suggestive Erfahrungen «. Beobachtungen. Ds. Ztsch.,
Bd. IV. 18Ü5.
31) St ad e Im an n: Einige Bemerkungen zu den suggestiven Erfahrungen u. Be-
obaclitangcu Brügelmanu's. Ds. Ztsch., Bd. IV, 1895.
32) L. Loewenfcld: Hypnot. od. hyst. Somnambulismus. Ds. Ztsch., Bd. V, 1896.
33) Oscar Vogt: Spontane Somnambulie in der Hypnose. Ds. Ztsch., Bd. VIL
1898.
34) Croc«! fils: l/hyi)notismo Hcientiti(iue. Paris 1892.
35) F. Kühler: Experimentelle Studien auf d. Gebiete d. hypnot. Somnambulismus.
36) v. Krafft- Kbing: Expcrim. Studie auf d. Gebiete d. Hypnot.. 2. Aufl. Stutt-
gart 1889.
37) Jolly: Hypnotismus und Hysterie. Münch. med. Wochenschr. 1894, Xr. 13.
38) V. S c h r e n c k - N o t z i n g : cf. Jahresberichte über Hypnot. etc. Rev. de Phypn.,
Bd. IX, X etc.
0
39) E. (iley: Etudc sur quelques conditions favorisants l'hypnose chez les animaux.
J/annee j)sychol. Tl. Jahrgang 1896.
40) Warthin: cf. Literatur- re))ersiclit v. Sclirenck-Notzing. Rev. de Thj-pn..
Bd. IX, 1894.
41) C. Ringier: Zur Redactiou der Suggestion bei Enuresis nocturna. Ds. Ztschr..
Bd. VI, 1847.
42) ('ullere: 1/iucontinenoe d'urino et son traitement par Suggestion. Arch. de
Neuro). 1886, Nr. 7.
Literatur- Yerzeichniss. 225
43) C. Ringier: Einige Betrachtungen zur Suggestiybehandlung. Diese Ztschr.,
Bd. III, 1894.
44) Tat z ei: Diese Ztschr., Bd. IV, 1896.
45) A. Vpisin: Hystöro-catalepsie. Revue de Thypnot., Bd. X, 1895. *
46) Stembo: Bemerkungen zur Suggestivtherapie. 1896.
47) Tis sie: a) Traitement des phobies par la Suggestion et par la gymnastique
medicale. Rev. de l*hypn., Bd. X, 1895. b) Reves provoquees dans un but
therapeutique. Ibid.
48) Ewald Hecker: Ueber das Verhältniss der psychischen Behandlung im Wach-
zustand zur hypnot. Therapie. Vortrag auf dem Congress 1897.
49) Paul Ranschburg: Beiträge zur Frage der hypnotisch-suggestiven Therapie.
50) Loewenfeld: cf. 6.
51) Tb. Ziehen: Psychotherapie. Lehrbuch d. allgem. Therapie u. d. theräpeut.
Methodik v. Eulenburg und Samuel. Berlin u. Wien 1898.
52) William Hirsch: Was ist Suggestion und Hypnotismns. Berlin 1896.
53) F. Reguault: Philies et phobies alimentaires. Rev. de l'hypn., Bd. X, 1895.
54) Arie deJong: Üeber Zwangsvorstellungen. Vortrag auf d. Moskauer Congress.
55) Kornfeld und Bikeles: cf. Literaturübersicht v. Schrenck - Notzing.
Rev. de l'hypn., Bd. IX, 1894.
56) F o r e 1 : Durch Spiritismus erkrankt und durch Hypnotismus geheilt. Ds. Ztsch.,
Bd. III, 1894.
57) Bernheim: De Tattitude cataleptiforme dans la fievre typhoide et dans cer-
tains etats psychiques. Rev. de l'hypn., Bd. X, 1895/96.
58) J. Milne Bramwell: Personally observed Hypnotic Phaenomena; and what
is Hypnotisme? Proceedings of the Society of Psychical Research Part 31, 1896.
59) £. B^rillon: Des Indications de la Suggestion hypnotique en pediatrie. Rev.
de rhypn., Bd. X, 1895.
60) H. Stadelmann: Der acute Gelenkrheumatismus und dessen psychische Be-
handlung.
61) Bernheim: La therapeutique suggestive dans les affections pulmonaires. Rev.
de Phypn., Bd. X, 1895.
62) E. Berillon: cf. Revue de l'hypnot., Bd. X, 1895.
63) Schmeltz: Operations chirurgicales faites pendant le sommeil h^-pnotique.
Rev. de l'hypn., Juli 1894.
64) C. Bauer: Aus d. hypnot. Poliklinik d. Herrn Prof. Forel in Zürich. Diese
Ztschr., Bd. V, 1897.
65) C. Ger st er: Ein Fall v. hyster. Contractur. Ds. ZUch., Bd. III, 1894.
66) R. V. Krafft-Ebing: Zur Suggestiv-Behandlung d. Hyst. gravis.
67) id.: Arbeiten aus d. Gesammtgebiet d. Psychiatrie u. Neuropath., Heft III,
Leipzig 1898.
68) A. Voisin: Emploi de la Suggestion hypnotique dans certaines formes d'alie-
nation mentale. Paris 1897.
69) Goldscheider: lieber die Behandlung des Schmerzes. Berl. klin. Wochenschr.
1896, Nr. 3-5.
70) O. Rosenbach: Nervöse Zustände u. ihre psychische Behandlung. Berlin 1897.
71) Durand de Gros: L'hypnotisme et la morale. Rev. de l'hypn., Bd. X, 1895.
72) Gross mann: Der Process Crynski. Ds. Ztsch., Bd. III, 1894.
Zeitschrift für Hypnotismus etc. IX. 15
23 A L^ Hinchlftff.
78) V. Sohrenck-Notzing: Ueber Suggestion und Erinnerongsfalsehmig im
Berchtold-Process.
74) W. Preyer: Ein merkwürdiger Fall von Fascination. Berlin 1894.
75) van Velsen: Histoire d'un cas de lethargie. Rev. de I'hypn., Bd. X, 1896.
76) Stadelmann: Tod durch Vorstellung. Ds. Ztsch., Bd. III, 1894.
77) Gley: cf. 39.
78) Schütz: Der Hypnotismus, Philos. Jahrbuch 1896 u. 1897.
79) Haas: cf. Literaturbericht v. Schrenck-Motzing. R. de lliypn., IX, 1894.
80) M. Benedikt: Hypnotismus u. Suggestion. Wien 1894.
81) Liebeault: Criminelle hypnot. Suggestionen. Grunde u. Thatsachen, welche
für dieselbe sprechen.
82) B e r i 1 1 o n : Les suggestions criminelles envisagees au point de vue des faux
tömoig^ages saggeres. Rev. de Thypn., Bd. XI, 1896.
83) 0. Thilo: Zur Behandlung der Gelenkneuralgieen.
84) H. Stadelmann: Der Psychotherapeut. Würzburg 1896.
85) Delboeuf: cf. ReT. de Thypn., Bd. XI, 1896.
86) id.: ib.
87) Bonjour: Neue Experimente über den Einfluss der Psyche auf den Körper.
88) E. Berillon: Ein Fall von Sycosis, 9 Monate ohne Erfolg von Dermatologen
behandelt, durch das zweimalige Gebet einer alten Frau geheilt. Rev. de
rhypn., Bd. X, 1895.
89) C. Liebermeister: Saggestion und Hypnotismus als Heilmittel. Handbuch
von Pentzold u. Stintzing. 1896.
90) Th. Ziehen: cf. 51.
91) W. Brügelmann: cf. 30.
92) F. C. Hansen und Alf. Lehmann: Ueber unwillkürliches Flüstern. Eine
kritische und experimentelle Untersuchung der sog. Gedanken- üebertragung.
Wundt's Philos. Stud., Bd. XI, 1895.
93) V. Schrenck-Notzing: Ein experimenteller u. kritischer Beitrag zur Frage
der suggestiven Hervorrufung circumscripter vasomotorischer Veränderungen
auf der äusseren Haut. Ds. Ztsch., Bd. IV, 18%.
94) E. Berillon: L'hypnotisme et l'orthopedie mentale. Paris 1898.
95) S. Freud: Zur Aetiologie der Hysterie. Vortrag im Wiener Verein f. Neurol.
u. Psychiatrie 1896.
96) H. Stadelmann: Zur Therapie der durch Vorstellungen entstandenen Krank-
heiten. Wiener Congress.
97) E. Sokolowaki: Hysterie und hysterisches Irresein. Centralblatt f. Nerven-
heilkunde u. Psychiatrie 1896.
98) Boettiger: Ueber Neura8th. u. Hysterie u. d. Beziehungen beider Erkran-
kungen zu einander. Vortrag im ärztl. Verein zu Hamburg am 27. IV. 1897.
99) L. Loewenfeld: Ueber einen Fall v. hyst. Somnambulismus. Ds. Ztschr.
Bd. VI, 1897.
100) Leuch: cf. ds. Ztschr., Bd. VI, 1896.
101) A. Forel: ib.
102) Didier: Kleptomanie u. Hypnotherapie. Halle 1896.
103) O. Vogt: Ds. Ztschr., Bd. VIII, 1899.
105) Sommer: Diagnostik der Geisteskrankheiten. Lpz. 1897.
LttiBFatuT^Verzeichmsf. 22T
106) Tyko Brunnberg: Die Bedeutung d. Hypnotismus: als pädagogisches Hilfe«
mittel. Uebers. von Tatze). Berlin 1896.
107) Bourdon: Onychophagie et habitudes automatiques, onanisme etc. Rev. de
l'hypn., Bd. X, 1895.
108) Berillon: cf. 94 und viele andere Schriften. ^*
109) Crocq fils: L'hypnotisme scientifique. Paris 1896.
110) A. ForeU Der flypnotismus in d. Hochschule. Ds. Ztschr., Bd. IV, 1896.
111) Tatz^el: cf. 15.
112) J. Bergmann: Ist die Hypnose ein physiol. Zustand?
113) A. Voisin: cf. Rev. de Phypn., Bd. IX, 1894.
114) C. Schaffer: Suggestion u. Reflex. Jena 1895.
115) A. Döllken: cf. 19.
116) Grocq fils: Etat de la sensibilite et des fonctions intellectuelles chez \e9^
hypnotises. Vortrag auf dem Congress 1894.
117) J. M. Br am well: On the appreciation of time by somnambules. Congress«
118) V. Bechterew: cf. Literaturbericht v. Schrenck - Notzing. Rev. de
l'hypn., Bd. IX, 1894.
119) M. L. Patfizi: II tempo di reazione semplice studiato in rapporto della curva
pletismografica cerebrale. Riv. sperim. di Frenetria vol. 23, 11, 1897.
120) O. Vogt: Spontane Somnambulie in der Hypnose. Ds. Ztsch., Bd. VI, 1897.
121) Wetterstrand: Selbstbeobachtungen während des h3rpnot. Zustandes. An-
gaben zweier Patienten. Ds. Ztschr., Bd. IV, 1896.
122) Max Hirsch: Ueber Schlaf, Hypnose u. Somnamb. D. medic. Wochenschr.,
1895, Nr. 26.
123) Liebeault: Das Wachen ein activer Seelcnzustand, der Schlaf ein passiver
Seelenzustand. Ds. Ztschr., Bd. III, 1894.
124) Berillon: Notice sur l'institut psycho-physiologique de Paris. Appendice:.
Applications de la methode graphique ä l'etude de Thypnotisme. Paris 1897.
125) V. Schrenck-Notz ing: cf Döllken 19.
126) Liebeault: cf. 123.
127) Landmann: Ueber functionelle Gehirnstörungen. £ine psycholog. Studie
128) van de Lanoitte: La Suggestion et le fonctionnement du Systeme nerveux.
Rev. de l'hypn. 1896.
129) Pupin: La theorie histologique du sommeil. Rev. de l'hypn. 1896.
130) Held: Lieber d. histol. Bau d. Nervenzellen. I. Versammig. mitteldeutscher
Neurol. u. Psychiater in Leipzig 1897. Id.: cf. Arch. f. Anat. u. Physiol.
131) Schleich: Schmerzlose Operationen. Psychophysik des natürl. u. ktinstl.
Schlafes. II. Aufl. Berlin 1897.
132) Krarup: cf. Literaturbericht v. Schrenck-Notzing. Revue de l'hypnot.,
Bd. IX, 1894.
133) J. Milnc Bramwell: cf 58.
134) O. Vogt: Zur Kenntniss des Wesens und der psychol. Bedeutung des Hypno-
tismus. Ds. Ztschr., Bd. V, 1896.
135) Münsterberg: Aufgaben, Methoden u. Ziele der Psychologie. Berlin 1892.
136) W. Wundt: Philos. Stud., Bd. X.
137) Th. Lipps: Zur Psychologie der Suggestion. Vortrag in d. Psychol. Gesell-
schaft. Abth. München am 14. I. 1897.
15*
288 ^o HinchlAff. Literatur- VeneichniM.
138) Landmann: cf. 127.
139) Pierre Janet: Der Geisteszustand Hysterischer. Wien u. Lpz. 1885 o. a. m.
140) Ranschburg und Hajos: Neue Beiträge zur Psychologie des hysterischea
Geisteszustandes. 1897.
141) A. Döllken: cf. 19.
142) E. Berillon: cf. 94.
143) L. Hirse hl äff: Die angebliche Bedeutung des Hypnotismus für die Päda-
gogik. Ztschr. f. pädag. PsychoL I. 3. Berlin 1899.
144) Stoll: cf. 7.
145) Tyko Brunnberg: cf. 106.
146) Bergmann: cf. 112.
147) Liebeault: cf. 123.
148) V. Lichtenstern: lieber seelische Einwirkungen (Suggestion) im militärischen
Leben. Militärwochenblatt 1896.
149) M. Friedmann: Ueber den Wahn. Mannhein 1897.
160) A. forel: cf. 2.
151) O. Vogt: Die Zielvorstellung der Suggestion. Ds. Ztschr., Bd. V, 1896.
162) Th. Lipps: cf. 137.
153) W. Wundt: cf. 11.
154) William Hirsch: Die menschliche Verantwortlichkeit und die moderne
Suggestionslehre. Berlin 1896.
155) Agathon de Potter: Etüde sur l'hypnotisme. Journal de Neurologie et
d'hypnol. 1896.
156) Bergmann: cf. 112.
157) Döllken: cf. 19.
158) Liebeault: cf. 123.
159) E. Berillon: Des indications de la Suggestion hypnotique en pediatrie. Rev.
de Ihypn., Bd. X, 1895.
160) Max Hirsch: cf. 12.
161) Croeq fils: cf. 34.
162) Ferrand: La mcdication hypnogogicjue. Rev. de Phypn. 1896.
163) Döllken: cf. 19.
164) Liebeault: p. 123.
165) Friedrich Eduard Bcneke: Beiträge zu einer reinseelen wissenschaftlichen
Bearbeitung der Seclenkrankheitskundc. Lpz. 1824 u. Das Verhältniss von
Seele u. Leib. ib. 1826.
166) O. Vogt: Die directe psychologische Experimentalmethode in hypnotischen
Bewusstseinszustäuden. Ds. Ztschr., Bd. V, 1897.
167} L. Hirschlaff: Ueber das Wesen der Beobachtung und Selbstbeobachtung.
Berlin 1896.
Kurze Bemerkung zu den vorstehenden kritischen Bemerkungen
Hirschlaff's.
Von
Oskar Yogt.
Den kritischen Bemerkungen Hirschlaff's hahe ich, wie auch
anderen Arbeiten, die nicht meinen Standpunkt theilten, die Aufnahme
in die yon mir redigirte Zeitschrift gestattet. Ich glaube Aber speciell
in diesem Falle, wo gerade ein grosser Theil der von mir vertretenen
Lehren angegriffen wird, eine kurze Antwort schuldig zu sein. Ich
muss zuDächst gestehen, dass eine ganze Reihe kritischer Bemerkungen,
die der Herr Verfasser angeblich von mir vertretenen Lehren widmet,
durchaus meine Zustimmung haben. Denn der Verfasser hat in einer
ganzen Reihe von Fällen mir Lehren zugeschrieben, die ich niemals
vertreten habe. Wo habe ich z. B. — wie es Ziehen thut —
die einzelnen Vorstellungen in einzelne Ganglienzellen verlegt? Wo
habe ich behauptet, dass man Erschöpfungszustände — denn das ver-
steht Verf. doch wohl unter „starker Uebermüdung" — durch die
Suggestion ihres Verschwindens beseitigen könne? Wo habe ich ferner
erklärt, dass die unmittelbare Selbstbeobachtung Causalanalysen auf-
decken kann? Dass dazu Urtheil- und Schlussprocesse gehören, habe
ich eingehend erörtert. Dass allerdings diese Schlussfolgerungen bei
meinen Versuchspersonen ausschliesslich Autosuggestionen sein sollten^
ist eine Behauptung, die, von einem Autor aufgestellt, der nicht meine
Experimente wiederholt hat, zu einer fruchtbaren Discussion nicht
fuhren kann. Wenn Verfasser weiter behauptet, dass sich mit den Sug-
gestionen, die ich meinen Versuchspersonen im Zustand des eingeengten
Bewusstseins gebe, Willensäusserungen der Versuchspersonen verbänden,
230 Oskar Yogi. Kurze ßemerkung zu den kritischen Bemerkungen Srechlaff^i.
SO ist das wiederum eine unleugbare Thatsache, auf die ich von Aufang
an aufmerksam gemacht habe. Ob ferner das von mir beschriebene
systematische partielle Wachsein ein hypnotischer Zustand ist oder
nicht, häDgt von der Begriffsbestimmung der hypnotischen Zustände ab.
Ich meine aber, dass man da doch der historischen Entwickelung des
Begriffs etwas Bechnung tragen muss. Dass sich übrigens das syste-
matisch eingeengte Bewusstsein genetisch absolut unterscheidet von
einer willkürlichen Concentration der Aufmerksamkeit, kann nur der-
jenige bestreiten, der keine eigenen Erfahrungen auf diesem speciellen
Gebiete hat. Ich verweise speciell auf die Ausführungen in der Arbeit
van Straaten's. ^) Ich stimme mit dem Verfasser vollständig darin
überein, dass man gegenüber psychologischen Forschungen nicht kritisch
genug sein kann.
Aber wie ich immer wieder betont habe, ist eine Kritik meiner
Angaben nur möglich, wenn man meine Experimente wiederholt, f^ie-
manden wird eine vorurtheilsfreie Nachprüfung meiner Angaben mehr
freuen als mich. Aber eine Kritik, welche diese Bedingungen nicht
erfüllt, scheint mir von keinem wesentlichen Nutzen zu sein.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einem Missverständnisd
ein für alle Male vorbeugen. Auch derjenige Autor, welcher unter
meinen Anregungen eine Arbeit verfasst, trägt für dieselbe einzig und
allein Verantwortung. Ich vermeide vollständig, bei mir arbeitende
Herren in ihren Schlussfolgerungen oder auch nur in ihrer sprach-
lichen Darstellung zu beeinflussen. So muss ich natürlich auch jede
Verantwortung zurückweisen. Dann muss ich noch einen eigentlich
selbstverständlichen Punkt hervorheben. Die Zeitschrift will auch dem
practischen Arzt practische Belehrungen bringen. Solche Arbeiten
würden heutzutage vollständig ihren Zweck verfehlen, wenn sie in der
Form einer psychologischen Schulsprache abgefasst wären. Sie be-
dürften dann stets eines besonderen Lexikons. Solche Arbeiten be-
tonen ihren speciellen Zweck von vornherein. Daraus mögen dann
aber andere Autoren sofort ersehen, dass solche Arbeiten nicht einen
Rückschluss auf Ausführungen gestatten, die einen mehr theoretischen
Zweck verfolgen.
M Siehe oben Seite 201.
Casuistische Mittheilungen.
Eine hypnotische Entfettungacur.
Von
Dr. Tatzel - München.
Der Patient, ein Mann von 30 Jahren und einem Körpergewicht von 316 Pfund
liatte bereits verschiedene Kuren durchgemacht, deren Erfolge aber nur gering und
von kurzer Dauer waren. Er unterzog sich der hypnotischen Kur in der HoflF-
nung, durch Suggestion die nöthige Energie zu erhalten, eine ihm angemessene
Lebensweise und Diät consequent und dauernd durchführen zu können. Es wurde
ihm ein Zettel gegeben mit den genauesten Vorschriften über seine künftige Lebens-
weise ; über Diät, körperliche Bewegung, Schlaf u. s. w. ; während der vierwöchent-
lichen Kur wurde ihm täglich mit Erfolg suggerirt, dass er jene Vorschriften con-
sequent und unabweichlich befolgen müsse. In den ersten zwei Wochen zeigte sich
keine Gewichtsabnahme, in den nächsten vierzehn Tagen verlor er fünf Pfund ; seither
ist ein Vierteljahr verflossen, auch jetzt noch macht sich eine stete, langsame
Abnahme des Körpergewichtes geltend ; nach der letzten erst kürzlich cingetoffenen
Meldung beträgt dieselbe jetzt 40 Pfund. Sicherlich ist bei der consequenten
Durchführung der vorgeschriebenen Lebensweise noch ein weiterer Fortschritt in
der Abnahme des Körpergewichtes zu erwarten bis dann allmählich ein Stillstand
eintreten wird. Dabei fühlt sich der Patient ausserordentlich wohl, viel gesünder
und leistungsfähiger wie früher.
So zeigte sich gerade in der Behandlung solcher Krankheiten, deren Grund-
lage 'Willensschwäche und Energielosigkeit ist, die ganze Ueberlegenheit der hyp-
notischen Suggestion jeder anderen Therapie gegenüber.
Als characteristisches Gegenstück sei die, in einem der ersten Kurorte von
einem bekannten Arzt ausgeübte Entfettungskur beigefügt. Es soll nur die Massage
geschildert werden:
„Der Kranke liegt flach auf dem Sopha, mit etwas an den Leib angezogenen
Beinen, um die Bauchmuskulatur zu erschlaffen. Zuerst pufft der Arzt mit ge-
ballter Faust die Magengegend, schwach beginnend und immer stärkere Puffe ver-
setzend, schliesslich die Faust so tief wie möglich in die Magengrube eindrückend.
232 ^* Taizel. Casuistische MittheUimgeii.
Dann kommt das Kneifen — der Arzt fasst die fetten Banchdecken möglichst breit
horizontal zwischen seine beiden Hände imd zerqaetscht die Fettträubchen derselben
so kräftig, dass braune and blaue Flecke entstehen; dabei wimmern und wehklagren
die Kranken; das ist der schmerzhafteste Theil der Procedur.
Fndlich springt der Arzt in ganzer Person auf den Leib des Kranken, so
dass seine beiden Knie tief in die Magengrube hineindrücken and hockt so lange
auf dem Kranken, bis dieser anfangs 5-, später 7-, IQ- und zuletzt 2(Kmal tief Athem
geholt hat.
Die Kur macht auf den Zuschauer einen unheimlichen Eindruck, er glaubt,
die Därme müssten bei dem Knieen zerquetscht und das Herz geschädigt werden;
aber die Kranken gewöhnen sich dran.« —
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie seit dem Jahre 1896«
(5. FortsetzuDg.)
93. G, Digttj Essai sur la eure präventive de l'hysterie feminine
par l'education. Paris. Felix Alcan. 1898. 96 S.
Die Arbeit stellt eine Doctorarbeit dar. Dass eine Anfängerin auf dem Gebiet
der Medicin nicht einem solchen Thema vollständig gewachsen ist, war vorauszu-
sehen. So findet man denn auch Sätze wie: ^Die Hysterische hat das heisseste
Verlangen, ihr Leiden zu behalten*^ (p&g* 10). Andererseits enthält die Arbeit
einige gute Bemerkungen, wenn dieselben auch sehr allgemein und wenig präcis
gehalten sind.
Verf. will jugendlichen Kranken, „Novizen der Hysterie", durch erzieherische
Einflüsse helfen. Sie bekämpft zunächst eine einseitige Zurückführung der Hysterie
auf eine unabänderliche Heredität. Diese stellt vielfach nur eine Disposition dar,
die dann unter ihr günstigen Bedingungen manifest wird. Zu diesen Bedingungen
gehört eine falsche Erziehung (pag. 19). Die Erziehung hat ein gemüthliches
Gleichgewicht, eine Einheit der Persönlichkeit zu erstreben, sie hat jede Neigung
zur Unwahrheit und zum Theaterspielen zu unterdrücken, nach Kräften immerfort
durch Beschäftigung die Aufmerksamkeit zu fesseln. „Uebergrosses Leiden und
Ueberarbeitung erzeugt vielleicht eine Neurasthenie, aber keine oder fast keine
Hysterie." Zunächst ist eine möglichst einheitliche, von ungleichen Eindrücken
freie Erziehung zu erstreben. Als eine die Concentration der Aufmerksamkeit
fesselnde und daher dazu erziehende Beschäftigung wird die mit Mathematik em-
pfohlen. Bei schwerer Nervosität der Mutter ist eine Entfernung aus dem Hause
zu fordern. Schliesslich wird zur Vorsicht gemahnt bezüglich des Anhörens und
des AuBübens von Musik. 0. Vogt.
94. Sante de Sa^tictis, I sogni et il sonno nell' isterismo e nella
epilessia. Rom. D. Alighieri. 1896. 217 S.
Nach einer historischen Einleitung über die Beziehungen der Träume zum
Mysticismus, über die Methoden der Erforschung der Träume und über die klinische
Bedeutung der Träume, kommt Verf. zu seinen eigenen Studien (pag. 41). Verf.
hat zu seinen Feststellungen ausschliesslich hysterische und epileptische Kranke mit
234 Zosammenstellung der Literatur tiber Hysterie.
sicherer Diagnose gewählt. Alle zweifelhaften Fälle oder Kranke, die noch andere
krankhs/te Erscheinungen hatten, hat er ausgeschlossen. Verf. hat die Kranken
speciell nach ihrem Schlaf und ihren Träumen gefragt und hat ihre Angaben durch
die Angehörigen und das Wachpersonal prüfen lassen. Dabei versuchte Verf. ein
^Stigmate onirica'', d. h. ein durch bestimmte £igenthämlichkeiten des Schlafes
characteristisches Moment bei den Hysterischen und ein „Sindrome nottuma** bei
den Epileptikern zu etabliren. Verf. untersuchte 1. die allgemeine Gestaltung des
Schlafes, 2. Häufigkeit der Träume. 3. ihren Inhalt und speciell den üblichen emotio-
nellen Inhalt, 4. die Beziehung zwischen dem Traum- und dem Wachleben in den ver-
schiedenen Stadien der Erkrankung, 5. das Erinnerungsvermögen für die Träume.
Verf. hat 98 Fälle von Hysterie untersucht: 43 Frauen und 10 Männer der
grossen und 45 Frauen der kleinen Hysterie, femer 45 vom grand mal, 21 vom
petit mal und 25 ehemalig von Epilepsie befallen gewesene Kranke.
Die Resultate des Verf. sind folgende:
Ebensogut wie bei den Hysterischen ist bei den Epileptischen habituelle
complete Insomnie selten, dabei bei den Letzteren noch seltener als bei den
Ersteren.
Eine periodische completelnsomnie findet sich in beiden Krankheiten,
und zwar speciell bei Personen, die sonst tief schlafen.
Eine partielle Insomnie ist häufig bei der kleinen Hysterie und dem
|)etit mal. sowie bei den leichteren Schläfern der grande hysterie und des grand mal
Von den 53 Fällen von grande hysterie waren 21 tiefe, 32 leichte, von
den 45 Fällen Von petite hysterie 4 tiefe, 41 leichte, von 45 Fällen des grand
mal 27 tiefe. 18 leichte, von 21 Fällen von petit mal 8 tiefe, 13 leichte
und von 25 Fällen ehemaliger Epilepsie 18 tiefe und 7 leichte Schläfer.
Schlafwandeln fand sich bei 1 hysterischen Person; ehemalig war es bei
6 Hysterischen und 4 Epileptischen aufgetreten.
Schlafsprechen war habituell bei 9 Hysterischen und 2 Epileptikern und
episodisch bei 12 Hysterischen und 5 Epileptikern.
PI (')tz liebes Aufschrecken aus dem Schlaf ist beinahe gleich häufig
bei petite hysterie und petit mal ; abnehmend häufig bei grande hysterie, grand maL
ehemaligen Epileptikern.
Hypnagogische.Hallucinationen sind zu constatiren bei der Hälfte
der an grande hysterie Leidenden, bei 38 von 45 an petite hysterie Leidenden, bei
6 von 45 an grand mal Leidenden, bei 12 von 21 an petit mal Leidenden und bei
0 von 25 früheren Epileptikern.
Sehr häufiges Alpdrücken bei 6 grande hysterie, bei 0 petite hysterie, bei
10 grand mal und 7 — 8 petit mal, 0 bei den ehemaligen Epileptikern.
Bezüglich der Häufigkeit und des Inhaltes der Träume ist Folgendes
hervorzuheben :
Von den 53 Fällen von grande hysterie waren 35 mittelmässige Träumer.
10 starke Träumer und 8 Nichtträuraer. Von den 45 Fällen von petite hysterie
waren 41 starke Träumer und 4 Nichtträumer. Von den 45 Fällen von grand mal
waren 10 starke Träumer, 20 mittelmässige Träumer und 15 Fälle, die fast nicht
träumten. Von den 21 Fällen von petit mal waren 16 starke Träumer, 4 nüttelmässige
Träumer, 1 (ein Nachtwandler) träumte gar nicht. Von den 25 ehemaligen Epi-
leptikern träumten 13 sehr selten und 10 nie, blos 2 waren starke Träumer.
Zusammenstellung^ der Literatur über Hysterie. 235
Ungünstig für das Auftreten von Träumen sind ausser dem vorgefifchrittenen
Alter und der minderwerthigen Intelligenz Längerbestehen der Krankheit und das
•Vorhandensein des grossen Anfalles, speciell des epileptischen.
Die Häufigkeit und der Inhalt der Träume sind bei Epileptischen mehr als
bei Hysterischen von meteorologischen Bedingungen abhängig.
Die Träume der Epileptiker sind weniger complicirt als die der Hysterischen.
Bei den letzteren handelt es sich um ganze Romane , bei den ersteren sind es
^Panorama'' und schnell voiMibergehende Visionen.
Bei den Hysterischen herrschen die makrozooskopischen Träume und die des
Contrastes (zum Wachsein) vor, bei den Epileptikern die erotischen und Träume
^osser Veränderungen am eigenen Körper.
In keinem Fall von Hysterie waren Träume die Ursache der Hysterie, wohl
•aber gelegentlich diejenige einzelner Anfalle.
Eine Zunahme der Zahl und der Lebhaftigkeit der Träume in Verbindung
mit anderen Störungen des Schlafes zeigt sich fast immer als eines der ersten
Symptome einer beginnenden Hysterie, speciell der durch innere Momente aus-
gelösten. Verf. bezeichnet diese Erscheinung als „onirisches Stigma" der
Hysterie.
Meist existirt ein proportionales Verhältniss zwischen Schwanken in der
Stärke dieses Stigmas und derjenigen der Gesammterkrankung. Nur in einzelnen
sehr schweren Fällen zeigte si9h ein umgekehrt proportionales Verhältniss.
Ein Einfluss der Träume auf die Stimmung des nachfolgenden Tages ist evident.
Auch bei der Epilepsie giebt es ein „nächtliches Syndrom", welches
dem onirischen Stigma der Hysterischen ähnelt, aber sich in einer Reihe aus der
vorstehenden Gegenüberstellung hervorgehender Punkte von diesem unterscheidet.
0. Vogt.
95. Dr. Ernst Barth, Das hysterische Zwerchfellasthma. Berlin.
Klin. Wochenschr. 1898, Nr. 42, 43.
Verf. giebt im ersten Theil seiner Abhandlung einen Ueberblick über die je
nach der verschiedenen Localisation der Störung verschiedenen Symptome der Ath-
mungsstörungen und bespricht dieselben eingehend nach ihrer diflferenzial-diagnos-
tischen Bedeutung. Er theilt sodann folgenden Fall von hysterischem Zwerchfell-
asthma — wie er das Symptomenbild zu benennen vorschlägt — mit.
Ein 23 Jahre alter nicht belasteter UnterofQcier erkrankte im Mai 1897 an
Athemnoth, nachdem er schon früher einmal nach anstrengendem Commandiren an
14 Tage anhaltender Stiramlosigkeit gelitten hatte. Trotzdem that er seinen Dienst
weiter, bis er sich am 19. April 1898 krank meldete. Bei der Untersuchung wurde
constatirt kein Fieber, keine Cyanose, keine Oedeme, starke Dyspnoe. Auf eine
starke 3 Secunden dauernde mit Hilfe aller auxiliären Inspirationsmuskeln vorge-
nommene Inspiration folgte eine ungefähr ebenso lange mit starker Anstrengung
der Exspiratoren und krampfhaften Zuckungen der Bauchmuskeln verbundene Ex-
spiration, dann eine 4 — 5 Secunden anhaltende Athempause, so dass nur 4 — 5 Athem-
zü^e in der Minute zu Stande kamen. Es bestand eine ausserordentlich starke
Blähung beider Lungen, so dass eine Herzdämpfung nicht zu erhalten war, ohne
katarrhalische Erscheinungen, ohne Husten, ohne Auswurf, vesiculäres Athmen,
Tiefstand des Zwerchfells auch während der Ausathmung; der Puls war auffallend
236 Zpsammenstellaiig der Ldteratar über Hysterie.
dünn nnd Bchwach gespannt, 84 regelmämig, die Herztöne dampf and leise. Fat.
klagte Schmerzen in Brost und Leib. Auffallend war das Missrerhältniss zwischen
den beängstigenden Athmungserscheinungen und dem Verhalten des Kranken, der
ruhig zu seiner Unterhaltung lesend im Bette sass, sich lebhaft aufrichten und be-
wegen konnte, nachts ganz gut ohne Beschwerden mit ruhiger Athmung schlief
Dieses subjective Verhalten, der Mangel jeder Veränderung in den Luftwegen,
jeder Oedeme und Cyanose, das Fehlen der Erscheinungen während der Nacht und
der Umstand, dass die Dyspnoe stärker wurde, wenn sich der Kranke beobachtet
sah, veranlassten den Verf.. der anfangs wegen der Erscheinungen von Seiten des
Herzens und des Pulses wohl an ein cardiales Asthma gedacht hatte, sehr bald seine
Diagnose auf einen hysterischen tonischen Zwerehfellkrampf zu stellen, obwohl sich
hysterische Stigmata nicht feststellen Hessen.
Der Zwerchfellkrampf ging nach zwei Wochen ganz unvermittelt in eine
Zwerchfelllähmung über, zu der sich nach wenigen Tagen clonische Krämpfe der
Bauchmuskeln gesellten. Die Symptome der Lungenblähung und der Herabsetzung
des arteriellen Druckes verschwanden damit, die Athembeschwerden bestanden je-
doch weiter und eine sehr hartnäckige Obstipation trat hinzu. „Die Behandlung
bestand neben Faradisirung der Nn. phrenici in dem Unterricht bezw. in dem Ein-
üben der richtigen Athmung.*^
Verf. weist in Anschluss an seinen Fall auf den von Wernicke^) beschriebenen
nervösen Athmungstypus hin, den jener auf eine lusufficienz der Nn. phrenici bei
Hysterischen zurückführt und als Asthma phrenicum bezeichnet Das unter Asthma
phren. zusammengefasste Symptomenbild sei zu erweitem, da Verf. auch seinen Fall
dazu gerechnet wissen w^ill.
Die Entstehung der Erkrankung ist Verf. geneigt auf Ueberanstrengung zu-
rückzuführen, da auch die früher aufgetretene Heiserkeit, die nicht allein auf einer
katarrhalischen Entzündung, sondern auch auf ungenügender Adduction der Stimm-
bänder beruhte, nach einer Anstrengung beim Commandiren sich entwickelte. Er
meint, dass bei körperlichen Anstrengungen durch die erhöhten Anforderungen an
die Kespirationsthätigkeit eine Parese oder Paralyse des Zwerchfells entstehen kann
„Indem nun immer stärkere Innervationsirapulse nöthig werden, die beabsichtigte
Bewegung auszulösen, kann der Fall eintreten, dass die beabsichtigte Contraction
nicht wieder nachlässt, oder dass der verstärkte Impuls auf die Antagonisten über-
greift und nunmehr gewisse Bewegungen auslöst.'* Auf diese Anschauung stützt
sich auch die Therapie, welche „auf der Einübung zeitlich und quantitativ richtig
abgestufter Willensimpulse auf die einzelnen Muskelgruppen" beruht.
Tecklenburg- Leipzig.
96. Ziehen-y Hysterie. — Artikel in der Heal-Encyclopädie der gesammten
Heilkunde. III. Auflage. 1896. S. 302-390.
Aus der vorliegenden umfangreichen Bearbeitung der Hysterie, welche das
gesammtc Erfahrungsmaterial über dieses Gebiet in prägnanter und zugleich er-
schöpfender Weise zur Darstellung bringt, sollen hier nur einzelne, grössere Be-
deutung beanspruchende Punkte herausgegriffen werden.
*) W ernicke, Die Insufficienz der Nervi phrenici und ihre Behandlung.
Monatsschr. f. Psych, und Nervol. 1898. S. 200.
Zusammenstellungr der Literatur über Hysterie. 237
Verf. bezeichnet die Hysterie als eine chronische, allgemeine func-
tionelle Neurose, d. h. er zählt sie zu jenen Krankheiten des Nervensystems,
welche nach unseren augenblicklichen pathologisch-anatomischen Kenntnissen nicht
auf einer wahrnehmbaren Veränderung des Gewebes, sondern auf einer Störung
der Function beruhen."
Aus der ungemein reichhaltigen Symptomatologie, welche Verf. bis ins kleinste
Detail verfolgt, sollen nur die Hauptsymptome genannt werden. Zu denselben
rechnet Verf.:
1. Anomalien der Stimmung und des Characters.
2. Krampfanfälle von typischem Verlauf, innerhalb dessen ein Stadium coordi-
nirter Bewegrungen auftritt.
3. Lähmungen theils mit^ theils ohne Contractur.
4. Sensible und sensorische Störungen.
5. Druckpunkte.
Gemeinsam ist allen diesen Hauptsymptomen der Hysterie ein Merkmal, die
Veränderbarkeit durch Vorstellungen, doch kommt demselben keine absolute Be-
deutung zu, da es ja gelegentlich auch bei anderen Krankheiten zu beobachten ist.
Im Allgemeinen klassificirt Verf. die Symptome in 4 Gruppen:
L Intervalläre somatische Symptome.
II. Den hysterischen Anfall.
III. Intervalläre psychische Symptome.
IV. Hysterische Psychosen.
Unter den intervallären psychischen Symptomen bespricht Verf. den psychischen
Zustand der Hysterischen ausserhalb der Krampfanfälle und vollentwickelten Psy-
chosen in allen seinen elementaren pathologischen Aeusserungen. Ein Hauptgewicht
legt er dabei, wie die Mehrzahl anderer Autoren, auf die Affectstörungen (die
Maasslosigkeit und Labilität der Affecte und die krankhafte Stimmungslage), welche
neben der enormen Suggestibilität den Urquell für den Polymorphismus des hyste-
rischen Krankheitsbildes abgeben.
Die hysterischen Psychosen decken sich im Grunde mit den gleichnamigen
Psychosen nicht hysterischer Individuen, nur dass sie aus der Grunderkrankung
gewisse Characterzüge übernehmen. Verf. unterscheidet die maniakalische Exaltation,
die melancholische Verstimmung und die Paranoiaformen. Den Dämmerzustand
der Hysterischen bezeichnet Verf. als acute hallucinatorische Paranoia.
In den theoretischen Erörterungen über die Natur der functionellen Störungen
bei Hysterie uod über die sog. hysterische Veränderung des Nervensystems wendet
sich Verf. gegen jede der einzelnen bislang aufgestellten Hypothesen; er pflichtet
keiner in vollem Umfange bei, gesteht aber zu, dass jede einen richtigen Kern
in sich habe. Zweifellos ist nach seiner Ansicht an der von Moebius haupt-
sächlich vertretenen Lehre das eine richtig, dass die hysterischen Symptome
durch Vorstellungen in ungewöhnlicher Weise beeinflussbar sind. Verf. geht sogar
soweit zu sagen, das einzige Merkmal, welches ganz allgemein den hysterischen
Symptomen zukomme und sonach das Wesen derselben am präcisesten zusammen-
fasse, bleibe die Beeinflussbarkeit durch Vorstellungen. Andererseits entlehnt
Ziehen der Janet 'sehen Lehre, welche die Einschränkung des Bewusstseins-
feldes und der psychischen Verknüpfungsfähigkeit als das wesentliche Kennzeichen
der Hysterie betrachtet, einen Gnmdgedanken, indem er Associationsstörungen bei
238 ZotammenftelluDg der Literatur über Hysterie.
dem Zustand ekommen yieler hysterischer Symptome eine grosse Rolle spielen
lÄsst: „Normale associative Verknüpfungen functioniren nicht (Afonction). oder
ungenügend (Hypofunction) , während andere in abnormem Grade fdnctioniren
(Hyperfunction)." Schliesslich erkennt Verf. neben der Jan et* sehen AnfTassung
auch der Annahme von Charcot eine gewisse Berechtigung zu, welcher mit
Oppenheim geneigt ist, einen primären Ausfall resp. eine primäre abnorme
Intensitätssteigerung einzelner Empfindungen und Vorstellungen für die hysterischea
Symptome verantwortlich zu machen.
Gemäss diesem Vermittlungsstandpunkte schreibt Verf.: „Die einzelnen Sym-
ptome stellen die veischiedensten Abweichungen von den normalen Erregungen
dar, Uebererregungen und Uebererregbarkeit, Herabsetzung der Erregung und der
Erregbarkeit. Ein grosser Theil ist direct auf psychische Veränderungen — hypo-
chondrische Vorstellungen, Associationsbeschränkungen, primären functionellen Ver-^
lust von Vorstellungen und Empfindungen — mit zu beziehen; für einen kleineren
Theil ist ein solcher Zusammenhang nicht nachweisbar."
Localisatorisch sind die hysterischen Symptome, nach der Ansicht Zi ebenes,
theils auf functionelle Veränderungen der Hirnrinde, theils auf ähnliche Verände-
rungen nicht corticaler Theile des Centralnervensystems zu beziehen.
Brodmann -Jena.
97. Oppenheim^ Die Hysterie. Lehrbuch der Nervenkrankheiten, ü. Auf-
lage. 1898.
Im Gegensatz zu anderen Autoren verlogt O. den Ort der hysterischen Ver-
änderung in die Hirnrinde. Er meint, es handle sich bei der Hysterie dem Wesen
nach wahrscheinlich um moleculare Veränderungen im Centralnervensystem, ins-
besondere in der Hirnrinde und zwar um „eine Steigerung der feinen Differenzen
in der Organisation des Centralnervensystems, welche schon bei Gesunden ange-
nommen werden müssen, um die Unterschiede in der Erregbarkeit der verschiedenen
Personen, Geschlechter, Racen zu erklären."
Klinisch bezeichnet er die 'Hysterie als ein „Seelenleiden, welches seinen Aus-
druck nicht in intellectuellen Störungen, sondern in Anomalien des Characters und
der Stimmung findet und sein innerstes Wesen hinter einer fast unbegrenzten Zahl
körperlicher Erscheinungen verbirgt."
Als unabänderlichen Grundzug in dem Geisteszustände der Hysterischen er-
klärt Verf. einerseits die abnorme Reizbarkeit und den jähen Stimmungswechsel»
andererseits die gesteigerte Einbildungskraft oder ßeeinflussbarkeit durch Vor-
stellungen.
Anfallswcise auftretende Störungen des Seelenlebens bei Hysterie sind:
1. Angstzuatände.
2. Hallucinatorische Delirien.
3. Somnambule und liypnoide Zustände, zu welchen die Katalepsie, die Lethargie,,
hysterische Schlafattaqucn und der Somnambulismus zählen.
4. Eigentliche Psychosen, welche nur gewisse hysterische Züge in ihrem. Ver-
laufe darbieten, eigentlich aber eine Combination von Geistesstörung mit Hysterie
darstellen. — Zwangsvorstellungen sind nicht zum Bilde der Hysterie zu rechnen,
sondern fallen auf Kosten der gleichzeitig bestehenden psychopathischen Degene-
ration. Brodmann- Jena.
ZusammenstelluDg der Literatur über Hysterie. 239
98. Magnanj Delires dans Tepilepsie et Thysterie. Progr^s m^dical
1896 m Nr. 16 p. 241.
Yerf. stellt den constitutionellen Geist esstöruDgeD, welche auf dem Boden
einer speciellen Prädisposition entstehen, die accidentellen gegenüber, d. h.
solche Geistesstörungen, welche pathognomonisch sind für eine ganz bestimmte,
unmittelbar auslösende Ursache (facteur productif), Schritt für Schritt den Schwan-
kungen dieser Ursache folgen, mit ihr entstehen, mit ihr verschwinden und wieder-
kehren, vorübergehend oder dauernd sind, je nachdem die Entstehungsursache
nur einen illoment wirksam bleibt oder die nervösen Centren für immer schädigt.
Zu den accidentellen Geistesstörungen gehören in erster Reihe jene secundären
psychopathischen Zustände, welche aus den Neurosen hervorgehen, insbesondere der
äysterie und £pilepsie, und welche sich an convulsivische Krisen anschliessen oder
an deren Stelle treten. Sie besitzen stets einen wohlausgeprägten Character, der
ihren specifischen Ursprung verräth.
Davon zu trennen sind jene anderen Delirien, welche unabhängig von den
Anfällen der Epilepsie und Hysterie auftreten können. Diese Formen sind ge-
wissermaassen autonom und existiren selbständig neben der Neurose.
1. Die epileptischenGeistesstörungen zerfallen in folgende Unterformen :
a) Postepileptische Delirien. „Jeder paroxystische Zustand der epileptischen
Neurose, Krampf oder Vertigoanfall , kann von intellectuellen Störungen gefolgt
sein." Die speciüschen Merkmale derselben sind: Automatismus während des An-
falls und consecutive Amnesie für den ganzen Vorgang.
Der Automatismus kennzeichnet sich durch unbewusste, unmotivirte Trieb-
handlungen (Impulsionen), welche entweder nur einige Augenblicke dauern und
z. B. in dem Versuch der Strangulation bestehen oder sich über längere Zeit er-
strecken und zu complicirten Acten, grossen Reisen etc. führen. Solche Acte
gleichen vollkommen den somnambulen Zuständen mit dem einzigen Unterschiede,
dass die Erinnerung niemals wiederkehrt, obwohl spätere Attaquen sehr häutig die
früheren mit grosser Treue reproduciren.
Alle derartigen Störungen sind nur Theilerscheinungen des epileptischen Irreseins
im Allgemeinen, das entweder ein diffuses oder ein systematisirtes ist.
Die diffuse epileptische Psychose kann unter verschiedenen Formen verlaufen :
einer maniakalischen. melancholischen, stupiden oder extatischen, einer periodischen
oder alternirenden. Hallucinationen sind dabei constant; sie bestimmen vielfach das
Krankheitsbild durch ihren Inhalt und tragen zur Systematisation des Delirs bei.
Eine Art Systematisation besteht auch beim epileptischen Somnambulismus,
welcher sich häufig an einen initialen postparoxysmalen deliranten Zustand an-
schliesst. Der Kranke wird von einer bestimmten fixen Idee, bald mystischen, bald
erotischen, bald persecutorischen . bald expansiven Characters beherrscht und
handelt dementsprechend. Die Dauer beträgt nie über 3 Wochen und es besteht
immer eine totale Amnesie für alles Vorgefallene. Das Delirium ist für den
Kranken ein unbekannter Roman, den er zum ersten Male hört.
b) Die unabhängig von epileptischen Attaquen auftretenden intellectuellen
Störungen sind als Epilepsia larvata (Morel) oder psychische Aequivalente
(Maudsley) beschrieben worden. Sie hinterlassen eine scharf umschriebene, totale
Bewusstseinslücke im Leben des Patienten und sind eigentlich den postepileptischen
Delirien gleichzustellen.
840 Zusammeostellung der Literatur über Hysterie.
c) Präepileptische Delirien, welche unmittelbar dem convuUivischen An&ll
vorangehen sollen, bestreitet Verf. Dieselben sind nichts änderet als eine Steigemog
der habituellen Affectivität der Epileptiker und hinterlassen keine £rinnerongB-
lücken. „Damit ein Delir eine Spur im ßewusstsein zurücklasse, muss das Gehirn
zuerst Yon einer Entladung betroffen sein. Der Anfall ist die erste Bedingang der
Bewusstlosigkeit und der Amnesie.^
d) Dauernde Veränderungen des Geisteszustandes der Epileptiker sind:
er. Die epileptische Characterveränderung, die krankhafte Gemüthsreizbarkeit.
ß. Die epileptische psychische Degeneration, eine völlige Desequilibration der
Geisteskräfte mit Störungen auf allen Gebieten (Intelligenz, Willensthätigkeit und
Sinnesfunctionen) mit intercurrenten Delirien, sowie mit episodischen Syndromen,
bestehend in Zwangsvorstellungen, Triebhandlungen und bewussten Hemmungen.
2. Die psychischen Störungen bei Hysterischen lassen sich eben-
falls in 2 Gruppen unterbringen:
a) in solche, welche nur eine Episode des convulsi vischen Anfalles, gewisser-
maassen das Endstadium desselben darstellen, sehr kurz dauern und inhaltlich
durchaus durch die Hallucinationen bestimmt sind. Dies sind die eigentlichen
hysterischen Delirien;
b) in solche, welche ganz unabhängig von den hysterischen Anfällen auftreten.
Aus denselben ist eine Form herauszugreifen, welche die postparoxysmellen Delirien
reproducirt und demnach als ein Aequivalent des hysterischen Anfalls bezeichnet
werden kann. Verf. meint, es könne sich dabei um eine Art rudimentären Anfalls
handeln.
Alle übrigen P'ormen der hysterischen Psychosen unterscheiden sich in nichts
von den gewöhnlichen Psychosen, „man kann daher bei der Hysterie alle Formen
der Geistesgestörtheit beobachten", sie tragen jedoch, wie Verf. meint, meist das
Kennzeichen einer psychischen Degeneration, sind degenerative Psychosen, wie ja
auch die Hysterie an sich der Ausdruck einer Entartung des Individuums ist
„Die Hysterie erscheint uns mehr als ein episodischer Zufall, aufgepfropftauf einen
degeuerativen Boden. ** Brodmann- Jena.
99. Raymond, „Les Delires ambulatoires ou les Fugues". Le^ons
sur les maladies du systi^me nerveux 1896, Legon XXXI und XXXII, 591 — 637.
Verf. definirt den Begriff des „Delire ambulatoire" oder der „Fugue" als
eine impulsive, scheinbar zweckvolle Handlung von zusammengesetztem und wohl-
geordnetem Charactcr mit totaler Amnesie. Er versteht darunter jenes den
Franzosen längst bekannte psychopathologische Phänomen, daa verschiedentlich
theils als somnambuler Automatismus, als automatisches Herumwandem (automatisme
ambulatoire). als Dromomanie. Dämmerzustand etc. beschrieben worden ist und
von einer Reihe französischer Autoren als hysterischer Somnambulismus resp. Auto-
matismus dem Krankheitsbilde der Hysterie untergeordnet wurde. Zu deutsch Hesse
sich das Symptom am besten als „Wandertrieb" wiedergeben.
Dasselbe besteht darin, dass ein Kranker anscheinend motivlos sich aus seinen
AUtagsverlüiltnissen entfernt, in einer Art „zweiten Bewusstseins" (etat second)
längere oder kürzere Zeit (selbst mehrere Monate) umherreist, sich dabei durchaus
zweckmässig benimmt, seiner Umgebung kaum auffällt und dann zum eigenen Er-
staunen plötzlich an einem ganz fremden Orte zu sich konmit ohne auch nur die
Zusammenstellung der Literatur über Hysterie. g4t
geringste Erinnerung an die Vorgänge der Zwischenzeit, an die Dauer seiner
Reise, an die Veranlassung zu derselben, an sein eigenes Verhalten etc. zu be-
sitzen. '
Verf. beschreibt zunächst folgenden Fall:
F., 30jähriger, intelligenter, tüchtiger Bahnbeamter, aus einer schwer neuro*
pathisch belasteten Familie stammend, bei deren Mitgliedern mehrfach hysterisch
somnambule Zustände, Krämpfe und selbst Schwachsinn vorgekommen sind, hat
schwere erschöpfende fieberhafte Tropenkrankheiten durchgemacht, sich in letzter
Zeit geistig sehr überanstrengt, ist durch den Tod seiner ersten Frau gemüthlieh
stark erschüttert worden und verfallt nun plötzlich in unmittelbarem Anschluss an
einen geringfügigen, jedoch ungewohnten Alkohol^xcess in einen dämmerhaften
Zustand, in dem er für 8 Tage das Bewusstsein seiner selbst verliert, eine Reise
von Nancy nach Brüssel unternimmt und hier völlig amnestisch für das Vorge-
fallene aufwacht. Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf freiem Felde im
Schnee liegend, völlig erschöpft, mit heftigen Kopf- und Magenschmerzen; es war
Nacht und mit Mühe konnte er sich einem Strassenbahngleise entlang zu einer
Stadt hinschleppen, wo er erfuhr, dass er sich in Brüssel befände und dass 8 Tage
verfiossen seien seit jenen letzten Ereignissen , die noch in seinem Gedächtnisse
haften geblieben waren. Er erinnert sich, dass er nach längerer, aufreibender geistiger
Thätigkeit eine Arbeit eben fertiggestellt hatte und nun an dem Morgen des be-
wussten Tages zu seiner Zerstreuung in ein Cafe eintrat, wo er mit einigen Bekannten
Billard spielte, mehrere Glas Bier trank und dann wegging, um mit einem Freunde
zusammen Mittag zu speisen. Er erinnert sich, dass er auf dem Wege zur
Wohnung mitten auf einer Brücke plötzlich von einem intensiven Kopfischmerz be-
fallen wurde. Ort, Zeit und äussere Umstände dieses Vorkommnisses sind ihm
noch genau erinnerlich. Von jenem Augenblick ab jedoch ist die Erinnerung völlig
geschwunden.
Da nachher eine spontane Wiederkehr der Erinnerung eintrat, ergab die
psychologische Analyse genauen Aufschluss über den ganzen Vorgang und damit
einen gewissen Einblick in die Psychogenese und das Wesen des krankhaften
Zustandes.
Körperlich bot der Patient zunächst eine Reihe nervöser Beschwerden (Kopf-
schmerz, allgemeines Gliederzittem, Gefühl von Schwäche und Abgeschlagensein
Abstumpfung des Geschmackes); wirkliche hysterische Stigmata (Sensibilitäts-
störungen, Gesichtsfeldeinengung etc.) bestanden nicht. Ob hysterische Krämpfe
den Zustand eingeleitet resp. beendet haben, konnte nicht in Erfahrung gebracht
werden. Ein Hypnoseversuch misslang wegen der Befangenheit und Aengstlichkeit
des Kranken.
Während der Beobachtung im Krankenhause wurde nun zuerst festgestellt,
dass P. im Traume von den Erlebnissen während seiner Flucht redete ; sodann fand
er ein mit einer Adresse in Brüssel versehenes Billet in der Rocktasche ; dieses gab
ihm den Anlass, zunächst nach einem Stützpunkte in seinem Gedächtnisse zu
suchen und die folgenden Nächte kamen ihm, anknüpfend an die auf das Billet
bezüglichen Vorgänge, in einem Zustande natürlichen Halbschlafes immer mehr
Erinnerungen zurück, aus denen er allmählich den Zusammenhang der Gescheh-
nisse reconstruirtc. Es stellte sich heraus, dass P. seit Wochen auf Grund einer ver-
leumderischen Anschuldigung seitens seines Bruders beständig von dem Gedanken
Zeitschrift für Hypnotisraus etc. IX. 16
9^(1 Zoutmmenetellnxig der Literatur über Hyiterie.
gequält gewMen war, vor der Polizei fliehen zu rnuzseiu Aji jenem Tzge war unter
dein; £influ88 des Alkohols diese Idee mit einer impulsiven Macht über ihn ge-
kommen, verstärkt vielleicht durch ganz natürliche Vorwurfe, welche er sich darüber
machte, dass er sich im Zustande der Trunkenheit mit einem Weibe vergangen
bfiite. Von dieser Idee getrieben, irrte P. 8 Tage lang umher, fuhr von Ort zu
Ort^ wollte sich, aller Mittel bar, in die Fremdenlegion anwerben lassen und wachte
schliesslich, von Hunger und Frost fast erstarrt, unter dem Einfluss der sich ihm
aufdrängenden körperlichen Schmerzen und durch eine enorme Willensanstrengung
aus seinem traumhaften Zustande au£
Die Analyse des Falles ergab also als treibende Kraft för die Flucht des P.
eine affectstarke Vorstellung, eine Suggestion; diese Vorstellung setzte sich in
einem Moment verminderter geistiger Widerstandskraft (Alkohol) in eine impulsive
Handlung um und führte zu einer Art somnambulem Zustande mit nachfolgender
totaler Amnesie.
Verf. wirft nun die Frage auf, unter welches klinisch-ätiologische Krankheits-
bild der Fall zu rechnen sei. Das Vorkommen ähnlicher Zustände ist bekannt:
1. bei Epilepsie und zwar besonders im Anschlnss an Anfälle von absences
und vertiges. Gemeinsam ist der epileptischen Fugue mit dem geschilderten
Krankheitsbilde der unwiderstehliche, impulsive Character der Handlung und die
totale Amnesie. Als Unterscheidungsmerkmale sind hervorzuheben: die kürzere
Daner der epileptischen Fugue, die Beziehung derselben zu anderen epileptischen
Symptomen, welche deren Anfall einleiten oder unterbrechen (vereinzelte Zuckungen,
Zungenbiss, Urinabgang, sterboröser Schlaf) und schliesslich der ungeordnete, oft
gewaltthätige Character der Triebhandlungen, kurz die ausgeprägtere Dissociation
der geistigen Vorgänge. „Der Epileptiker handelt wie ein Automat."
2. Der Wandertrieb der Degenerirten (Fugue des psychastheniques.
J an e t). Die Handlung entspricht hier einem nicht immer ganz unbewussten Impuls;
der Kranke folgt einem unbestimmten inneren Triebe, ohne zu wissen warum und
ohne demselben zu widerstehen. Es besteht keine Amnesie.
3. Bei Hysterischen sind zweifellos somnambule und automatische Zustände
von traumhaftem Bewusstsein, welche den Kranken zu einer fluchtähnlichen Hand-
lung verleiten, am häutigsten. Characterisch für die hysterische Fugue ist a) der
unwiderstehliche Trieb zur Handlung, die Impulsion. b) die Coordination und
Ueberlegung bei allem Handelp, welche auf einen dauernden Rapport mit der Um-
gebung hinweisen, c) das Schwinden der Amnesie im künstlichen Somnambulismus
oder im somnambulen Traum.
Letztere Merkmale treffen bei dem kranken P. alle zu; es handelt sich also
um einen hysterischen Dämmerzustand. Verf. meint« die hysterische Fugue sei
eine su^gerirte Handlung, welche sich während eines hysterischen Somnambulismus
abspiele. Der triebartige Character der Handlung erkläre sich durch die Macht
der Suggestion, die Amnesie durch den Somnambulismus. Mit anderen Worten,
die hysterische Fugue (Dämmerzustand) sei nur die Manifestation einer fixen Idee
auf hysterischer Basis, welche zur Abspaltung einer von dem übrigen Bewusstseina-
inhalte isolirten Vorstellungsrcihe, zur Bildung eines sog. „zweiten Bewusstseins^
(etat second) führt, dessen Inhalt mit den Vorgängen des wachen Zustandes ausser
aller associativer Verknüpfung steht und daher von Amnesie gefolgt ist. Der
Zusaxnmenstelliiiig der Litevator über Hysterie. ^243
SomnambnlismQs schwinde mit der saggestiven Idee und gleichzeitig kehre aiie&
die Erinnerung an das Vorgefallene wieder.
Differentialdiagnostisch hebt Verf. hervor, dass die Entscheidung, ob es sich
um einen hysterischen oder epile{>tischen oder einen psychasthenischen Zustand
handle, auf die pathologische Vergangenheit des. Kranken, auf den Oharacter deir
Fague selbst, sowie auf eventuelle Nebenerscheinungen derselben zu stützen sei;
Als Hauptmerkmale sind zu beachten:
a) der Grad der Amnesie, welche die hysterische und epileptische Fugue von
den psychasthenischen Impulsionen. Tnebhandlungeu unterscheidet;
b) der Grad der Coordination und der Vemnnftigkeit in den Handlungen,
welche die Fugues im eigentlichen Sinne, als hysterische Erscheinungen, von den
Abscencezuständen und dem delire procursif der Epileptiker trennt.
Die Ueberlegung und Ordnung im Handeln, die Entwicklung einer „zweiten
Persönlichkeit" im Sinne eines sich über längere Zeit erstreckenden Doppel-
bewusstseins, sowie endlich die Möglichkeit der Erzeugung des künstlichen Somnam-
bulismus mit Wiedererweckung der verlorenen Erinnerungen bezeichnet Verf. als
beweisend für Hysterie. Dieser Complex von Erscheinungen ist nur bei der
typischen Fugue anzutreffen und daher ist dieselbe auch der Hysterie unterzuordnen.
Ob es überhaupt einen epileptischen Somnambulismus giebt, vermag Verf. nicht zu
entscheiden, er möchte es jedoch auf Grund seiner Erfahrung bezweifeln.
Therapeutisch empfiehlt Verf. in allen derartigen Fällen, abgesehen von der
gegen die constitutionelle Schwäche gerichteten AUgemeinbehandlung eine specielle
Psychotherapie, und zwar die Bekämpfung der triebartigen Motive (idee fixe), im
besonderen bei den Psychasthenikern die Wachsuggestion, bei Hysterischen die
psychoanalytische Erforschung der krankhaften Vorstellungen in der Hypnose.
Im gerichtlich-medicinischen Sinne sind alle während einer Fugue (Dämmer-
zustand) begangenen Handlungen straffrei; die Kranken sind nicht verantwortlich
zu machen für ihr Thun und Lassen und bedürfen der Unterbringung in einem Asyl
Br od mann -Jena.
100. V. Krafft-Ehing, Ueber Dämmer- und Traumzustände. Arbeiten
aus dem Gesammtgebiet der Psychiatrie und Neuropathologie. III. Heft. 1898,
pag. 22—95.
Die Dämmer- und Traumzustände werden vom Verf. definirt als Reactions-
erscheinungen des Bewusstseinsorgans auf unbekannte Veränderungen desselben,
die bei verschiedenen functionellen und organischen Erkrankungen des Central-
nervensystems episodisch vorkommen können. Phänomenologisch sind sie den noch
physiologischen Zuständen des Halbschlafes und des Traumes zur Seite zu stellen,
68 sind Zustände von traumhafter Bewusstseinstrübung.
Früher waren derartige Zustände nur sicher bekannt in klinischem Zusammen-
hang mit der Epilepsie und sie wurden als „epileptoide^ bezeichnet. Verf selbst
hat in zwei getrennten hier zum Wiederabdruck gelangten Aufsätzen aus den
Jahren 1875 und 1877 eine Keihe interessanter Beobachtungen über epileptisches
Irresein mit Dämmerzuständen veröffentlicht. In einem dritten Aufsatze aus dem Jahre
1S98 geht er auf Grund seiner reicheren Erfahrung weiter und beweist, dass solche
Zustände nicht nur bei Epilepsie, sondern auch im Rahmen der Neurasthenie, dei*
Hysterie,, des Alkoholismus, der progressiven Paralyse und der Lues cerebraiis vor-
16*
j^ ZaBammenateliiing der Literatur über Hysterie.
kommexL Ohne die Schwierigkeiten der Aufgabe zu verkennen, unternimmt er den
Versuch, klinisch differenzirende Merkmale der auf der Grundlage der Terschiedenen
Orundkrankheiten sich entwickelnden, als Dämmerzustande zu bezeichnenden, Be-
wusstseinsstörungen aufzudecken und dadurch eine differentielle Diagnose der ätio»
logischen Formen zu ermöglichen. £r weist von Tornherein darauf hin, dass positive
Stigmata einer bestimmten Neurose nur mit Vorsicht zu verwerthen sind, „da sie
das gleichzeitige Bestehen einer anderen Neurose und deren ausschlaggebende Be-
deutung für das concrete Zustandsbild nicht ausschliessen.** Bei der Hysterie
komme die weitere Schwierigkeit dazu, dass sich Dämmere und Traumsostände
jnonosymptomatisch und dauernd als psychische Aequivalente von Hysteria gravis-
Anfällen ausbilden können, während bei Dämmerzuständen aus Alkoholintoxicationen
an die Complication mit Alkoholepilepsie gedacht werden miiss&
Entscheidender für die Diagnostik ist der Nachweis einer bestimmten aus-
lösenden Ursache und zwar sprechen palpable occasionelie Momente von cerebral
•erschöpfender Wirkung (InanitioUi Surmenage, Agrypnie) fiir einen neurasthenischen,
psychische Noxen (Affect) für einen hysterischen, und organisch wirkende Noxen,
(Alkohol, innere Stoffwechsel- Vorgänge) mehr für einen epileptischen Dämmerznstand.
Das Schwergewicht der Diagnose muss vorläufig auf das Gesammtkrankheitsbüd, auf
Entstehung, Verlauf des Anfalls und die Begleiterscheinungen der betr. Neurose
gelegt werden.
Die epileptische Natur eines Dämmer- oder Traumzustandes lässt sich,
nach Verf., erschliessen aus dem Zusammenhalt mit der Ananmese und eventuellen
intervallären Erscheinungen. Die Dämmerzustände selbst sind ausgezeichnet „durch
ganz planlose unmotivirte, bewusstlose Handlungen und in einigen Fällen durch
regelmässig wiederkehrende, expansive, zu Zeiten überwältigende krankhafte Vor-
stellungen. In den Zuständen von Delirium nähern sich die Kranken ekstatischen
und somnambulen Krankheitsbildern. Ihr Bewusstsein ist tief gestört, gestattet
jedoch ein scheinbar bewusstes Bandeln und Sprechen."
Verf. publicirt 10 Beobachtungen, bei denen sich als Aequivalente der psy-
chischen Symptomcomplexe des petit mal und grand mal zwei Formen tiefer
Störungen des Bewusstscins von stunden- bis wochenlanger Dauer finden: theils
protrabirto Analoga der epileptischen Bewusstseinspauscn (absences) und der inter-
paroxysmellen Dämmerzustände . theils Zustände vom Character des Deliriums.
Ausser diesen psychischen Störungen zeigen uns einzelne Fälle gemeine epileptisch
convulsive Anfälle, andere lassen Zeichen einer dauernden Störung im Central-
nervensystem erkennen, wie Kopfweh. Reizbarkeit, ängstliche Träume oder auch
intervalläre motorische Symptome und zwar Neigung zu partiellen tonischen
Krämpfen. Zittern, Nystagmus etc. Eine neuropathische Constitution verräth sich
manchmal schon durch Kindcrconvulsionen. Der Ausbruch der Neurose erfolgt ge-
wöhnlich in der Pubertät.
Auf die Schilderung der Fälle im Einzelnen kann hier nicht eingegangen werden.
Die neurasthenischen Dämmerzustände kommen hinsichtlich ihr^
Häufigkeit an zweiter Stelle. Verf. theilt zwei einschlägige Beobachtungen mit
Im 3Littülpunkte des Krankheitsbildes stehen hier jeweils allgemeine nervöse Be-
schwerden, krankhafte Reizbarkeit, Schwindel, Schlaflosigkeit, schwere Träume etc.
Die Krinnerung an die Vorgänge während der Bewusstseinsstörung ist eine lücken-
hafte und summarische. Die Dauer erstreckt sich nur über wenige Tage.
Zusammenstellungf der Literatur über Hysterie» 24^
Verf. rechnet im ter diese Rubrik auch den von Raymond als ^transitorische
Hysterie und d^donblement de la personnalit^^ beschriebenen Fall. ^) £r bezeichnet
denselben als einen Dämmerzustand von typisch neorasthenischem Gepräge.
Dämmer- und Traumzustände bei Hysteri&chen hat Verf. in fünf
Fällen beobachtet. Die Fälle sind, kurz skizzirt, folgende:
1. 14 jähr. Dienstmädchen, früher gesund, zeigt jeweils im Anschluss an Ge-
müthsbewegungen 3 mal einen psychischen Ausnahmezustand von 4 — 5 Tagen. Sie
ist traumhaft verändert, läuft planlos umher, äussert einseitigen Ideenkreis mit
Vergiftungsideen und Selbstmordtendenz. Die Apperception der Aussenwelt fehlte
Plötzliches Erwachen wie aus einem Traum. Amnesie. Keine Stigmata hysteriae
während der Anfälle, später links Ovarie. Schwere hysterische Attaquen von epilep«
toidem Character.
2. ISjähr. Spiti^l Wärterin, früher schwere Hysterie, pathologische Lügnerin,
beschuldigt sich plötzlich, ihren Vater mit Chloroform getödtet zu haben, sie ist
traumhaft verloren, desorientirt, ganz auf delirante Vorstellungen concentnrt;
somatisch besteht Analgesia totalis und Clavus. Rasch lucid, 4tägiger Erinnerungs-
defect. Anlass: Liebesaffaire.
3. 22 jähriger, erblich belasteter, nervöser Techniker, erkrankt infolge eine^
Q^müthsbewegung an einem tobsuchtsartigen Delirium, zeig^ tief getrübtes Be-
wusstsein, Hemmung, Desorientirtheit. Erwachen plötzlich mit Amnesie. Während
des Delirs keine Stigmata, nachher Hypästhesie, Hypalgesie und concentrische
Gesichtsfeldeinengnng, sowie .Hysteria gravis-Anfälle.
4. 16jährige Tabakverkäuferin, gesund, nicht belastet. Nach psychischem
Schok traumhafter Bewusstseinszustand mit wahnhaften Ideen 12 Tage lang. Thnm
Correctur des Wahns, aber dämmerhafter Zustand bleibt 2 Wochen. Nachher nur
ganz summarische Erinnerung. Nie Stigmata hysteriae. Später Entwicklung einer
selbstständigen Melancholie.
( ö. 26jährige Krankenwärterin, schwer belastet, emotive Natur, Weinkrämpfe,
pathologischer Affect mit Suicidtendenz. Ohne nachweisbare Ursache. Anfall
von transitorischer Geistesstörung mit traumhafter Verfassung, Selbstanklagewahn,
delirantem Ideenkreis, theatralisch affectvollem Gebahren. Scharf umgrenzte
Erinnerungslücke. Dauer 9 Tage.
Bei den vorerwähnten Fällen findet sich als ätiologisches Moment durchwegs
ein psychisches Trauma. Als begünstigenden umstand für die Entstehung von
Dämmer- und Traumzuständen bei Hysterischen bezeichnet Verf. auch die Leichtig-
keit, mit welcher solche Kranke in Autohypnose gelangen. Die Autohypnose kann
sich spontan einstellen unter dem Einfluss bestimmter Sinnesreize oder Vor»
Stellungen namentlich im Affect, oder sie ist das Product einer posthypnotischen
Suggestion.
Diagnostisch ist darauf zu achten:
1. dass ein Dämmer- oder Traumzustand Aequivalent eines Hysteria gravis»
Anfalles sein kann und sich dann durch Reizung einer hysterogenen resp. spas-
mogenen Zone plötzlich coupiren lässt;
2. „dass man auf hypnotischem Wege bei den betreffenden Individuen den-
selben Ausnahmezustand und damit das Gedächtniss für das in Autohypnose
^) Raymond, Clinique des mal. du syst. nerv. Ref. pag. 240 ff.
34$: ZüMttnmeiwtollaiig der Literatur ftber Mjtfceria.
Erlebte herrorrufen kann. Ein solches Experiment beweist sicher die aatohypno-
tische und damit hysterische Natur eines Dämmer- und Tranministandes.''
Alkoholische Traumzostände lassen sich, nach Ansicht des Verfassen,
noch nicht mit Sicherheit von hysterischen und epileptischen AeqoiTalenten (rer-
mittelt durch Alkoholepilepsie) abtrennen.
Es handelt sich dabei ebenfalls um eine Art Traumwachen, eine Art Somnam-
bulismus, „in welchem die Betreffenden anscheinend ganz bei sich sind, oompücirte
Handlungen vollziehen, aber, aus diesem Zustand zu sich gekommen, von allem
Yorgefallenen nicht das Mindeste wissen**. Verbrecherische Handlungen sind häufig.
Verf. berichtet über 2 Fälle aus seiner eigenen Er&hrung. Die Diagnose
lässt sich nur per exdnsionem stellen. Brodmann- Jena.
101. GaiMfr, lieber einen eigenartigen hystejrischen Dämmer-
zustand. Vortrag, gehalten in der VersamtnTung der mitteldeutschen Psychiater
und Neurologen zu Halle 1897. — Arch. f. Psychiatr. XXX, S. 633, 1898.
. Verf. berichtet über 4 Fälle eines ihm bisher unbekannt gebliebenen psychi«
sehen Symptomcomplexes, welche eine Anzahl gemeinsamer Zuge, aufweisen und
daher, nach seiner Ansicht, als eine einheitliche Gruppe aufzufassen sein dürften.
Seine Beobachtungen betreffen 4 criminelle Individuen, welche aus der
Untersuchungshaft in die Anstalt überfuhrt worden waren und sdion durch diesen
Umstand, abgesehen von der Absonderlichkeit ihres psychischen Verhaltens, txh
nächst den Verdacht der Simulation erwecken mussten. Bezüglich der persönlichen
Anteeedentien sei vorausgeschickt, dass bei sämmtlichen Fällen die psydhische
Wirkung einer längeren üntersuciiungshaft vorausging; ein Fall hatte viele wirtk-
schaftliche Sorgen durchgemacht und war dadurch zum Verbrecher geworden, zwei
andere hatten schwere Kopfverletzungen mit ßewusstlosigkeit erlitten.
Klinisch boten die Kranken in ihrem äusseren Verhalten sämmtlich ein
Krankheitsbild dar, das dem der acut hallucinatorisch Verwirrten am meisten
ähnlich ist. Abweichend davon war ihre eigenartige Reactionsweise auf Anreden
und ihre sprachliche Ausdrucks weise, welche die gröbsten Widersprüche bei schein»
bar geordneter Perception und vorhandenem Spraohverständniss zu Tage förderte.
Verf. schreibt: „Die auffälligste Erscheinung, welche sie darboten, bestand darin,
dass sie Fragen allereinfachster Art, die ihnen vorgelegt wurden, nicht richtig zu
beantworten vermochten, obwohl sie durch die Art ihrer Antworten kundgaben,
dass sie den Sinn der Fragen ziemlich erfasst hatten." Die Kranken wusstea
weder ihre Namen noch ihr Alter anzugeben, über Ort und Zeit waren sie voll-
kommen unorientirt, verkannten die Umgebung, konnten nicht zählen und nicht
rechnen, Fragen wurden vielfach überhört oder nur langsam und wie mit grosser
Zerstreutheit beantwortet , aufgenommene Eindrücke sofort wieder vergessen.
Ueber das Vorleben, die Familie, früher erworbene Kenntnisse wurden durchaus
falsche, widersinnige Angaben gemacht.
Somatisch bestanden in allen Fällen hysterische Stigmata und zwar hyperal-
getisohe und analgetische Erscheinungen.
Dieses Zustandsbild dauerte wenige Tage, dann trat plötzliche Klärung des
Bewusstscins ein unter gleichzeitigem Verschwinden der Sensibilitätsstörungen.
Das Verhalten war ein völlig geordnetes und ud auffälliges, nur dass eine totale
Erinnerungslücke für die ganze Krankheitsepisode zurückblieb, während die
Zasammenstellimgf der Läteratur aber Hysterie. S|4?
Erinnerung für die irähere normale Zeit unverändert zurfickkeiirte. — Bei mehreren
Kranken traten Recidive auf mit analogem psychischem Verhalten. '■ ^
Verf. bezeichnet den wechsehiden Bewusstseinszustand mit Erinnerungsdefecten
als characteristisch für die acute hysterische Geistesstörung. Dis Znsammentreffen mit
somatischen Erscheinungen der Hysterie kennzeichne den Gesammtzustand geradd^
zu als hysterischen Dämmerzustand. Brodmann -Jena. •
102. BinswangeTf lieber einen eigenartigen hysterischen Dämmer»
zustand (Ganser). Casuistische Mittheilung. — Monatsschr. f. Psychatr. u. Neu-
rol. 1898, in. Bd., pag. 175.
Anknüpfend an vorstehende Veröffentlichung Gans er 's berichtet Verf. über
eine ganz analoge Beobachtung aus der psychiatrischen Klinik zu Jena. Auch er
bezeichnet die eigenartige paroxystisch auftretende psychische Störung als eine
hysterische und rechnet sie den Dämmerzuständen zu. '
Fall: 24 jähriger Bautechniker, erblich nicht belastet, ohne jegliche krank-
hafte Antecedentien, als fleissiger, nüchterner, ernster Mann bekannt, macht nach
einem mehrtägigen leichten Unwohlsein mit Kopfschmerzen, Nahrungsverweigerung
und allgemeinem Krankheitsgefühl einen ganz unmotivirten Suioidversuch durch
Strangulation.
Er wird im Bette liegend mit einer Schnur um den Hals aufgefunden und
befindet sich in einer Art stuporösen Zustandes mit allgemeiner motorischer
Hemmung; er reagirt kaum auf Anroden, ist nur für Augenblicke zu fixiren, ver-
mag seinen Namen, Geburtsjahr etc. nicht anzugeben, ist örtlich und zeitlich völlig
unorientirt, kennt die einfachsten Begriffe nicht, antwortet auf elementare Fragen
langsam und abgerissen das unsinnigste und widerspruchsvollste Zeug.
Somatisch ist bei der Aufnahme ausser einer Aufhebung des Gaumenreflexes
nichts Besonderes nachweisbar, erst nach 3 Tagen zeigt sich Hypalgesie am ganzen
Körper und Analgesie an den Extremitäten.
Der Verlauf zeigt leichte Schwankungen in dem Bewusstseinszustande ; bald
etwas freier, sprachlich weniger gehemmt, giebt seinen Namen und Aufenthaltsort
richtig an, dann wieder völlig unorientirt, ganz im Unklaren über sich und die
einfachsten Dinge, ohne jede Erinnerung an seine Vergangenheit.
Am sechsten Tage plötzliche völlige Klärung des Bewusstseins mit absoluter
Amnesie für die Zeit seiner Erkrankung. Die Erinnerung schneidet scharf mit
dem Abend jenes Tages ab, an dem er seinen Strangulationsversuch gemacht haben
muss. Patient weiss aber gar nichts davon, er kann auch keinen Grund dafür an-
geben. Alle Versuche, durch Suggestivfragen Erinnerungsbilder für das Vorge-
fallene zu wecken, sind erfolglos. Fat. weiss nur, dass er die Tage vorher in Folge
seines Unwohlseins auf dem Zimmer zubrachte und meist zu Bett lag. Von der
Strangulation weiss er nichts. Für die frühere Zeit dagegen besteht ganz intactes
Erinnerungsvermögen.
Verf. erörtert noch die Frage, ob der Dämmerzustand vielleicht durch den
Snicidversuch ausgelöst sein könnte; er verneint dieselbe jedoch und somit bleibt
der Fall ätiologisch insofern unaufgeklärt, als sich überhaupt nicht die geringsten
Anhaltspunkte für den Ausbruch der hysterischen Psychose nachweisen Hessen.
Brodmann -Jena.
248 ZusammenBtellung der Literatur über Hyaterie.
103. Bohn, Ein Fall von doppelten Bewusstsein. Inaog. -Diaa.
Breslau 1898. 54 Seiten.
Aus den umfangreichen theoretischen Auseinandersetzungen, welche Verf. dem
easuistischen Beitrag vorausschickt, ist Positives nicht zu entnehmen. £r glaubt
die pathologische Zweiheit des Seelenlebens in einem Individuum in 3 Grund-
Symptome :
1. die doppelte psychische Leistung (Doppelvorstellung, Doppel Wahrnehmung
und Doppelthätigkeit),
2. die Spaltung der Persönlichkeit in 2 verschiedene neben einander in
Action tretende psychische Einheiten,
3. den Wechsel der Persönlichkeit, die sowohl als einmalige Unterbrechung
der Persönlichkeit, wie als sog. altemirendes Bewnsstsein zu Tage tritt. Ob VerL
mit dieser schematisirenden Sonderung der Wissenschaft einen besonderen Dienst
geleistet hat, bleibt doch füglich zweifelhaft. Neues ist, wie gesagt, in seinen
Ausfuhrungen ebenso wenig enthalten.
Der Fall ist, kurz skizzirt, der folgende:
22 jähriges Fräulein, von jeher chlorotisch, nervös, an Migräne leidend, hat
seit dem Tode ihres an Paralyse verstorbenen Vaters, den sie bis in die letzten
Krankheitsstadien pflegte, hypnagoge Visionen und Akoasmen, die sich im Laufe
der Zeit zu Wachhallocinationen und zu deliriösen Zuständen steigern.
Es besteht dauernd depressive, melancholische Stimmung und Neigung zum
Alleinsein; dieses führt zu pathologischer Träumerei, zum selbstständigen Auf-
treten gewisser Vorstellungsrcihen und Erinnerungen und schliesslich zur Unter-
brechung der Persönlichkeit mit Sejunction umschriebener Vorstellung^reihen.
Einmal simulirt Pat. eine sehr complicirte Liebesgeschichte mit einem in der
Feme weilenden Bräutigam und führt eine umfangreiche fingirte Correspondenz ;
sie corrigirt schlicsslicb diese Gedankengänge, in denen sie ganz aufgegangen war;
ein anderes Mal veranstaltet sie Collecten unter erdichtetem Auftrag und wird
wegen Schwindelei verhaftet, später ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hat hier
schwere hysterische Anfälle und hysterische Delirien, lebhafte Hallucinationen im
Gebiete der Gesichts-, Gehörs- und Berührungsempfindung, keine Krankheitseinsicht
Heilung nach Wochen. Hocligradige Gedächtnissdefecte.
Den Schluss der Arbeit bilden einige aus der Luft gegriffene, schwächliche
Ausfälle gegen die Hypnose und deren ärztliche Anwendung.
Brod mann -Jena.
104. P. Janet, Hysterische, systematisirte Contractur bei einer
Ekstatischen. — Münchener med. Wochenschr. 1897. pag. 856.
42 Jahre alte Patientin, neuropathische Mutter, litt in der Kindheit an
nervösem Husten, seit ihrem 7. Jahre an hysterischem Erbrechen. Vor 8 Jahren
(am Weilinachtsfeste) erkrankt sie mit heftigen nächtlichen Schmerzen in den
unteren Extremitäten; allmählich entwickelt sich, nach oben bis zum Becken fort-
schreitend, eine starre Extensionscontractur beider Beine, dabei kann Patientin mit
Sicherheit stehen, gehen und sogar Treppen steigen, sie hebt sich dabei aber nur
auf den Fussspitzen, Sohlen und Absatz sind vollständig vom Boden abgehoben.
Objectiver Befund negativ.
Leber die Entstehung dieser systematisirten Contractur wird bekannt, dass
ZaaammenstellQiig der Literatur über Hysterie. 249
Patientin von Jugend auf exaltirte religiöse Gefühle hat, zuweilen in eine Art
ekstatischen Dämmerzustandes verfällt, in Anbetung vor Gott versinkt und sich und
die Umgebung dabei vergisst. In solchen Ekstasen fühlt sie sich zum Himmel empor-
getragen, ihr Körper wird aufgehoben, sie berührt nur noch mit den Füssen den
Boden und sie glaubt in die Luft zu entschweben. Nach einer mit ähnlichen reli-
giösen Verzückimgen verbundenen Andachtsübung am AVeihnachtsabend waren die
ersten Erscheinungen der Contractur aufgetreten.
Es handelt sich demnach um einen durch religiöse Ekstase hervorgerufenen
monoideistischen Somnambulismus, als eine Art des hysterischen Anfalls, während
dessen eine vorherrschende Vorstellung ohne Wechsel im Vordergrunde des Be-
wusstseins verharrt. Diese Vorstellung fuhrt zu der entsprechenden motorischen
Reaction, welche sich zu einer Dauer contractur, einer psychogenen (hysterischen)
systematisirten Contractur, fixirt hat. Brodmann- Jena.
106. V. Krafft-Ebingj Ueber Ecmnesie. Arbeiten aus dem Gesammtgebiete
der Psychiatrie und Neuropathologie. lU. Heft pag. 193.
Unter Ecmnesie versteht ' man seit der ersten Publication von Blanc-
Fontenille (1887) einen transitorischen psychischen Ausnahmezustand bei Hyste-
rischen in Form einer periodischen Amnesie, welcher darin besteht, dass der Kranke
in einen früheren Lebensabschnitt zurückversetzt erscheint, denselben nochmals
mit augenscheinlicher Treue durchlebt und dann für die Zeit von der durch-
träumten Episode bis zur Gegenwart temporär amnestisch ist.
Die Dauer eines solchen Zustandes dürfte nicht über Stunden oder Tage be-
tragen; wenn ganz protrahirte Anfälle auftreten, entstehen, nach Ansicht des Ver-
fassers, „Uebergänge zur ,double vie', insofern die Bewusstseinskreise zweier Be-
wusstseinszustände niemals sich schneiden und jeder derselben sein eigenes Gedächt-
niss und seinen eigenen Inhalt hat.** Damit begreife sich die Amnesie für die Aus-
nahmezustände.
Spontan erscheine die Ecmnesie im Zusammenhang mit Hysteria gravis-
Insulten, sowie äquivalenten hypnoiden, autohypnotischen oder auch provocirten
hypnotischen u. dgl. Zuständen. Experimentell lasse sie sich durch hypnotische
Suggestionen oder auch durch Reizung bestimmter Stellen der Körperoberfläche
hervorrufen.
Die mitgetheilten Beobachtungen sind folgende:
1. Fall (Blanc -Fönte nille).*) 32 Jahre altes Dienstmädchen, viel kränklich,
nervös, hat nach heftiger Gemüthsbewegung mit 25 Jahren den ersten hysterischen
Krampfanfall. Fortdauer der Anfälle, später seltener, statt dessen Schlafattaquen.
Im Anschluss an die Anfälle Delirien, welche die Ereignisse der Gemüthsbewegung
zum Inhalt haben und mit absoluter Erinnerungslosigkeit für alle Erlebnisse seit
diesem Zeitpunkt verbunden sind. „Sobald man den deliranten Zustand durch
Compression des linken Ovariums beseitigte, war die Kranke wieder richtig orien-
tirt und die Continuität ihrer Erinnerung hergestellt." Auch nach Schlafattaquen
wurden ganz analoge Zustände von delire ecmnesique, aber mit wandelbarem Inhalt
und verschiedene Lebensepochen repräsentirend, beobachtet.
*) Etüde sur une forme particuli^re de delire hysterique (Delire avec Ecmnesie).
Bordeaux 1887, pag. 60.
260 ZosammaöftellaDg der Literatur über Hysterie.
Als besonders merkwürdig hebt Verf. hervor „die Treue der Reprodaction
der Terschiedenen Lebensabschnitte, die die grosste schaospielerische Leistung über-
treffende Natürlichkeit der Darstellung . . . die innere Uebereinstimmung ond den
Mangel jeglichen Widerspruchs in den Situationen gegenüber den Terfanf^HchBten
Kreuz- und Querfragen seitens der Aerzte^. „Dies erstreckte sich soweit, dass Pat
hemianästhetisch nur in Episoden ihres Lebens war, wo dieses Symptom schon be-
standen hatte, sonst nicht, und dass auch spasmo- und hypnogene Zonen nur dann
zu finden waren, wenn solche in dem Leben^ibschnitt der eben durchtraumt
wurde, bereits ausgebildet waren.
Verf. hält diese Reproductionstreue in der Reactivirung vergangener Leben»-
abschnitte für ganz aussergewöhnliche Gedächtnissleistungen und glaubt sie nur er-
klären zu können durch die Thatsache, „dass das in frühere Lebenszeiten
spontan oder künstlich zurückversetzte Individuum in einem Aus-
nahmezustand III sich befindet, in welchem eine Modification
seines Bewusstseins eingetreten ist, ein Unterbewusstsein, in
welchem Gedächtnissbilder, die dem Oberbewusstsein nie mehr
erreichbar sind, eventuell leicht zugänglich und reprodacirbar
werden.*' Wunderbar bleibe dabei nur, dass eventuell eine Auto- oder Fremd-
suggestion, oder auch nur eine Associationsspur, die bei spontan oder künstlich ge-
schaffenem UI. Zustand ins Unterbewusstsein hinabreicht , ganze Reihen von Er-
innerungen zu wecken vermöge.
2. Fall. 17 jähriges Dienstmädchen, aus schwer neuropathischer Familie, mit
12 Jahren schwere Verbrennung durch Petroleumexplosion, 2 Tage nachher erster
hysterischer Anfall; seit Erkrankung ihrer Grossmntter (Gemüthserschüttemng)
gehäufte Hysteria gravis-Anfälle , meist Lethargus mit einzelnen Convulsionen,
seltener epileptoide Phase und grand mouvements. Postparoxysmales Delirium von
mehreren Stunden, das sich um ein Erlebniss in ihrem 10. Jahre dreht und Amnesie
hinterlässt.
Hypnose gelingt; nachher psychischer Ausnahmezustand mit scheinbarer
Lucidität und freiem Associivtionsspiel innerhalb desselben. Pat. ist in das 10.
Lebensjahr zurückversetzt, benimmt sich ganz entsprechend ihrer angenommenen
Rolle, reproducirt mit allen Einzelheiten den betr. Lebensabschnitt; die Sprache.
Schrift, Geberden, Kenotnisse, Personen etc. werden demselben durchaus angepasst.
„Die Erinnerung und Association war in der ihr erschlossenen Lebensphase
und weiter rückwärts prompt und, wie es scheint, gesteigert. Für alles Reale be-
stand in diesem Zustand aufgehobene Apperception , oder es wurde illusorisch in
die wahnhafte Situation einbezogen . . .^ „Vollständig aus dem Bewusstsein aus-
geschaltet waren alle Vorgänge des Lebens seit dem 10. Jahre."
Nach etwa 1 Stunde schläft Pat. ein und erwacht dann mit completer Amnesie
zum normalen Bewusstsein. Verf. theilt mit, dass einerseits durch hypnotische
Suggestion dieser psychische Ausnahmezustand künstlich erregt werden konnte und
dass es andererseits möglich war, denselben durch Streichungen der Stirn in
Hypnose und von da in den Wachzustand überzuführen.
Beseitigung der Anfälle gelang für längere Zeit durch Hypnose.
8. Fall. 19 jähriger Commis, wird auf den Strassen herumdämmernd auf-
gegriffen, ist verstört, traurig, macht Selbstanklagen, kurz befindet eich in einem
deliranten Dämmerzustand, der sich nach 6 Tagen plötzlich löst unter Amnesie.
Zvsamnienstellang der Literatur über Hysteriei. 851
£b stellt sich heraus , dass er in letzter Zeit viel Aerger und .Ueberanstrengung
gehabt und seines Dienstes entlassen worden war.
Zweimalige Wiederkehr eines ähnlichen Zustandes mit traumhaft deliriöser
unrichtiger R^roduction eines thatsachHchen Erlebnisses. Die Vita ante acta wird
rückwärts gut erinnert, während für die folgenden Ereignisse jegliche Erinnerung
fehlt. Fat. benimmt sich dabei ganz anders wie in luciden'Z^ten, ist gereizt, barsch,
klagt über Kopfweh, wacht mit dunkeln Erinnerungssparen an die Anf&lle auf. —
Ausserdem werden convulsive Hysterieanfälle beobachtet.
Auf die interessanten Ausführungen des Verf. über die Beziehungen dieser
Zustände zu den hypnotischen Bewusstseinsveränderangen einzugehen, würde hier
zu weit fähren. Verf. sucht die Ecmnesie dadurch zu erklären, «dass in dem
psychischen Ausnahmezustand, in welchem sie beobachtet wird, die associative
Thätigkeit aus der in* die Helligkeit des Traumbewusstseins eingestellten LebenS''
episode schrankenlos retrograd möglich ist, während Associationen in die jenseits
liegende Lebenszeit nicht zu Stande kommen können, diese deshalb yerdunkelt,
ecmnestisch bleibt". Warum dies der Fall ist, resp. nicht der Fall ist, sagt Verf.
auch nicht. Brod mann- Jena.
108. ^ursfner. Die Zurechnungsfähigkeit der Hysterischen. (Referat
auf der Jahresversammlung deutscher Irrenärzte am 16. Sept. 1898.) < — Arch. f.
Psychiatrie XXXI. 3. 1890.
Unter den schwierigen Problemeo, die dem praktischen Psychiater in foro
entgegentreten können, gehört mit zu den schwierigsten die Beurtheilung der Zurech-
nungsfähigkeit Hysterischer. Es ist ein anerkennenswerthes Verdienst Hes Verfassers,
die dürftige Literatur auf diesem Gebiete um einen werthvollen Beitrag bereichert
zu haben.
Verf. lässt in seiner Arbeit allenthalben einen scharf präcisirten Standpunkt,
der vielleicht nicht allseitig Anklang finden dürfte, erkennen. Es mag daher
aweckraässig erscheinen, die leitenden Gesichtspunkte ans dem übrigen Inhalte
herauszuschälen und sie an die Spitze des Referates zu stellen, da sie auf jeden
Einzelfall Anwendung finden müssen.
Verf. vertritt in erster Reihe den Standpunkt, dass der Psychiater bei der
Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit einer hysterischen Person in einem gegebenen
Augenblicke sich nur von dem jeweiligen Bewusstseinszustande, d. h. dem Vor-
handensein und dem Grade der Bewusstseinstrübung leiten lassen darf.
Zweitens hebt er hervor, dass wir unser Augenmerk in zweifelhaften Fällen
immer auf gewisse somatische Störungen, denen für die Diagnose der Hysterie ein
pathognomonischer Werth beizumessen ist, zu richten haben. '
Drittens warnt er davor, allgemein giltige Kennzeichen aufzustellen, die bei
der Beurtheilung aller Hysterischen massgebend sein sollen; individualisirende
Behandlung des Einzelfalles thue hier mehr noth wie anderswo.
Viertens stellt Verf. — und darin dürfte er den schärfsten Widerspruch bei
seinen Fachcoltegen erfahren — unter Hinweis auf die eigenartigen Beziehungen
der hysterischön Geistesanomalien zum heutigen Strafgesetz, das Postulat der ge«
minderten Zurechnungsfähigkeit auf.
Im Einzelnen giebt Verf. zunächst einen Ueberblick über die Qualität der
Delicte, die besonders häufig Anlass geben, die Zurechnungsfähigkeit der Hyste-
252 Zasammenstellong der Literatur aber Hysterie«
rischen zu prüfeD. Er weist hin auf die interessante Differenz, welche die Epilep-
tiker und Hysterischen vor dem Forum darbieten. Die Ersteren stellen bekanntlich
ein Hauptcontingent von Vergehen gewaltthätiger Art, wie Körperverletzung,
Brandstiftung etc., während bei den letzteren Eigenthomsvergehen characteristiscfa
sind. Verü. selbst hat unter 26 Fällen von Hysterie, die eine forensische Bedeutung
erlangten, 14 Mal Anklage wegen Diebstahls gefunden.
Die Psychosen, durch welche bei Hysterischen die Zurechnnngsfahigkeit
beeinträchtigt resp. aufgehoben werden kann, unterscheidet Verf. in 2 Gmppen:
1. in transi torische Geistesstörungen, d. h. in solche, welche in Beziehung zu
den Anfällen stehen;
2. in dauernde psychische Anomalien.
Was die ersteren (die transito rischen psychischen Störungen bei
Hysterie) betrif!l, so ist zunächst auf die grosse Variabilität der Anfälle selbst, sowohl
hinsichtlich ihrer Intensität als Extensitöt als auch ihrer Häufigkeit hi neu weisen,
sowie auf die enormen mit dem Anfall häufig parallel gehenden Schwankungen in
dem Verhalten des Bewusstseins. Von dem schweren, durch hochgradige Bewusst-
seinstrübung oder völlige Bewusstlosigkeit ausgezeichneten, von der Epilepsie kaum
zu trennenden Hysteria gravis- Anfalle bis zu den leichtesten, oft kaum wahrnehm-
baren rudimentären Insulten (wenig hervortretende Aenderungen des äusseren
Habitus, Farbenwechsel, vereinzelte mimische Bewegungen, auffallende sprachhche
Reaction oder im Gegensatz dazu plötzliches Verstummen) sind zahllose Uebergangs-
formen mit ebenso verschiedenem Bewusstseinszustande möglich.
Diese mit dem Anfall direct zusammenhängenden Bewusstseinsanomalien,
welche Gegenstand forensischer Beurthcilung werden können, lassen sich in 5 Gruppen
eintheilen :
a) Psychische Prodromalerscheinungen des hysterischen Anfalls.
Dieselben sind sehr selten und bestehen häufig in automatischen Handlungen«
welche, wenn sie crimineller Art sind, zur Begutachtung der Zurechnungsfahigkeit
Anlass werden können. Maassgebend für den Gerichtsarzt ist dabei immer die
Entscheidung der Frage, ob das Bewusstsein überhaupt schon getrübt war und in
welchem Grade eine Entscheidung, die sich häufig nur nach dem vorhandenen
Erinnerungsdefect richten kann. Verf. selbst ist der Ueberzeugung, dass eine
totale Amnesie für die hysterische Prodrome nicht vorkomme, dass dagegen ein
retrograder partieller Gedächtnissausfall nach einem hysterischen Anfalle möglich
sei. Immerhin müsse man bei diesbezüglichen Angaben der Patienten, angesichts
der unbestreitbaren Neigung zur Lüge, zur Confabulation, sehr vorsichtig sein.
b) Die postparoxysmellen psychischen Störungen bei Hysterie
besitzen die grösste Bedeutung für den forensischen Psychiater. Sie bieten eben-
falls zahlreiche klinisclie Formen dar; in ihren schwersten Graden lassen sie sich
kaum von dem grand mal intellcctuel der Epileptiker unterscheiden. Es treten
nicht nur Stimmungsanomalien, Sinnestäuschen und Störungen auf motorischen
Gebieten auf, sondern pathologische Umgestaltungen des Bewusstseinsinhaltes mit
Wahnideen und krankhaften Handlungen. In derartigen Fällen dürften wohl kaum
Zweifel an der Unzurechnungsfähigkeit aufkommen. Schwieriger ist die Bo-
urtheilung, wenn es sich um intercurrente Irreseinsformen handelt, wo lucidere
Perioden mit Stadien tieferer Bewusstseinstrübung abwechseln. Im Allgemeinen
wird auch hier der Satz Giltigkeit haben, „dass die nachfolgende Amnesie den
Zusammenstella ng der Literatur über Hysterie. 353
Gradmesser für die Stärke der Bewusstseinstrübung' abgiebt**, doch treten auch
hier, besonders bei periodischem Verlauf der Geistesstörung, dem Begutachter oft
unüberwindbare Schwierigkeiten entgegen. Verf. lässt für die lucideren Phasen
einen totalen Erinnerungsdefect. wie er von den Kranken oft behauptet wird, nur
dann als glaubhaft gelten, wenn jene int^rcurrent auftreten und von neuen Exa-
cerbationen gefolgt sind.
c) Ah weitere Form der trausitoriechen hysterischen Psychose ist der post-
paroxysmelle somnambule Zustand zu nennen. Die Frage, ob während
desselben bestimmte Erinnerungsbilder mit analogen krankhaften Impulsen^ welchen
die gleichen strafbaren Handlungen entspringen, vorkommen, lässt Verfl noch offen.
d) .Die Existenz einer sog. hysterischen Moria, als Analogon zu der
epileptischen Moria, ist zweifelhaft. Verf. hat bei juvenilen Individuen nach
leichten Anfällen Krankheitsbilder gesehen, die in einer unbegründeten kindisch
heiteren Stimmung mit Kededrang (Verbigeration) und motorischer Unruhe be-
standen und vielleicht hierher zu rechnen wären.
e) Noch strittiger ist die Frage nach dem Vorkommen hysterischer Aequi-
valente, sog. Dämmerzustände. Jedenfalls wären dieselben nach Ansicht des
Verf. symptomatologisch von epileptischen Aequivalenten nicht zu unterscheiden, und
man hätte nach eventuellen somatischen Begleiterscheinungen der Hysterie zu fahnden.
Als zweite Hauptgruppe der hysterischen Psychosen werden vom Verf jene
unabhängig von Anfällen und dauernd bestehenden Anomalien des Geisteslebens
znsammengefasst, die man auch kurzweg als hysterisches Temperament be-
zeichnet und die in einem mehr oder weniger starken ethischen Defect, der
Neigung zur Unwahrheit, einer gereizten, boshaften, oft raschem Wechsel unter-
worfenen Stimmung bestehen, vermöge welcher die Kranken vielfach mit dem
Strafgesetz in Confliet gerathen. Die besondere Schwierigkeit in der Beurtheilung
der Zurechnungsfähigkeit solcher Kranken liegt darin, dass der psychische Status
hei denselben oft in der schroffsten Weise wechselt und dass demnach aus ihren
eigenen Angaben überhaupt gar keine Anhaltepunkte zu gewinnen sind. Die Lust
zu fabuliren wird sie auch in foro zu falschen Aussagen verleiten.
Die Ansicht, dass es sich dabei immer um unbewusste Lügen handelt
(Vibert), theilt Verf. nicht, er giebt aber zu, dass die Sucht zum Lügen ein auf
krankhafter Basis entstandenes Symptom sei, das häufig durch einen — nicht
immer pathologischen — ethischen Defect noch gesteigert werde.
Die praktischen Consequenzen, die Verf. aus diesen Deductionen gezogen hat,
lassen sich dahin zusammenfassen:
Erstlich : es reicht die Feststellung von hysterischen Anfällen allein nicht aus^
einen Angeklagten zu exculpiren. Verf möchte das Bestehen von Insulten nicht
einmal im Sinne mildernder Umstände verwerthen.
Zweitens: bei den zu den Anfällen in Beziehung stehenden Geistesstörungen
ist der Grad der Bewusstseinstrübung ausschlaggebend für die Begutachtung der
Zurechnungsfähigkeit.
Drittens: bei der hysterischen Character Veränderung wird der stricte Nach-
weis, dass zur Zeit der That eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit im
Sinne des Gesetzes vorlag, meist nicht gelingen, obwohl man die Ueberzeugung
haben kann, dass bei der Ausführung der strafbaren Handlung krankhafte Momente
mitgewirkt haben. Brodmann -Jena.
254 ZaMtmmeDstellinig der literator über Hyiterie.
109. WoUenbergy Die forensische Beurtheilangder Krampfkranken,
insbesondere der Hysterisehen (Vortrag im ärxtL Verein Hamburg 29. Not.
1898). Ref. der Manch, med. Wochenschr. 1898 pag. 1608.
Die geistigen Störungen, welche bei Krampfkranken rorkommen, sind zweck-
mässig in transitorische und habituelle zu scheiden.
Als hysterische transitorische Irreseinsformen kommen haupt-
sachlich in Betracht a) die so oft mit dem Krampfanfall verbundenen Delirien,
b) ^die nicht selten, eine schwere Hysterie einleitenden hallucinatorischen Erregungs-
zustände", c) die kurzdauernden traumartigen Bewusstseinsstörungen ; letztere bieten
bei der Hysterie wie bei der Epilepsie der forensischen Beurtheilung oft ganz be-
sondere Schwierigkeiten. Bei Hysterischen können, nach den eigenen Erfahrungen
des Redners, die in solchen Zuständen auftauchenden Vorstellungen nach Art der
posthypnotischen Suggestion auf die Handlungen der betreffenden Individuen auch
nach Rückkehr des normalen Bewusstseins einen bestimmenden Einfloss gewinnen
und Anlass zu strafbaren Handlungen (falsche Anschuldigung, sogar Selbstanklagen
etc.) werden.
Als habituelle psychische Störungen der Krampfkranken sind bei den
Epileptikern zu nennen jene „unsocialen und gefährlichen Eigenschaften, die den
sog. epileptischen Character ausmachen''.
Einen „hysterischen Character*' als Analogon zu dem epileptischen giebt es
nicht. Characterveränderungen bei Hysterischen beruhen, wo solche vorhanden
sind, auf der gleichzeitig bestehenden allgemeinen Degeneration als Ausfluss einer
psychopathischen Belastung. Dagegen entspringen aus der hysterischen Disposition
selbst heraus krankhafte Abweichungen des Geisteslebens, wie das „Zurücktreten
des kalt abwägenden Verstandes (Löwenfeld), die Lebhaftigkeit des Gefühls-
lebens und der Phantasie, die erleichterte Entäusserung der Affecte und die sich
daraus ergebende Neigung zu impulsiven, triebartigen Handlungen", welche bei der
Beurtheilung der habituellen Zurechnungsfähigkeit dieser Personen sehr in Rech-
nung gebracht werden müssen. Die mangelnde Keproductionstreue der Hysterischen
in Folge von Erinnerungsfäbchungen, Phantasieproducten, Träumereien und Trug-
wahrnehmungen ist bekannt.
Hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit Hysterischer vertritt Redner (im Gegen-
satz zu Fürstner) den Standpunkt, dass das Bestehen schwerer hysterischer
Störungen fast ausnahmslos die Befürwortung einer milderen Beurtheilung recht-
fertige. Auch dann, wenn zur Zeit der Begehung der Straflhat sich noch keine
manifesten Krankheitszeichen darboten, vielmehr erst, gewissermaassen als patho-
logische Heaction auf die Gemüthsbewegungen des Strafverfahrens, nachträglich die
Hysterie oflfenbar werde, müsse man eine schon vorher bestehende krankhafte An-
lage supponiren. welche eine dauernde Quelle strafbarer Handlungen werden könne.
Man dürfe dann in der Mehrzahl der Fälle die Zurechnungsfähigkeit auch schon
für eine weiter zurückliegende Epoche ausschliessen oder wenigstens das Bestehen
begründeter Zweifel hervorheben.
Hysterische, welche von jeher Anzeichen einer hereditären psychopathischen
Belastung erkennen Hessen, sind nach Ansicht Wollenberg's in allen Fällen
auch retrospectiv zu exculpiren. Brod mann -Jena.
ZosammenstelluDg der Literatur über Hysterie. 255
9
110. Vigouroux, Obsession et impulsion pyromaniaques chez une
d^ffenSree hystSriqoe. Anoal. med. psych. 1897, V. B. 238 — 247.
Die Frage, ob es uDwiderstehliche Triebe (impulsions irr^sistibels) bei
Hysterischen giebt, ist noch unentschieden; die einen nehmen die Existenz rein
hysterischer Triebhandlungen an (Ritti und Pitres), die andern setzen dieselben,
wenn sie neben Hysterie bestehen, auf Kosten der gleichzeitig bestehenden
psychischen Degeneration (Colin).
Verf. theilt folgenden Fall mit:
A. G. , 19 jähriges Dienstmädchen, erblich belastet, Ton Kindheit auf bi-
zarrer Character, zu Lügenhaftigkeit und Goqnetterie geneigt, zeigte vom 17. Jahre
ab die ersten auf Hysterie bezüglichen Erscheinungen (Globus, Muskelschwäche und
linksseitigen Mammarschmerz). Sie begeht mit dem 19. Jahre ohne äussere Veran-
lassung an 3 aufeinander folgenden Tagen in der Behausung ihrer Herrschaft
Brandstiftung. Sie weiss zunächst allen Verdacht von sich abzulenken, macht
sogar selbst Fenerlärm und hilft jedesmal als Erste bei den Löscharbeiten. Zum
Geständniss gebracht, verwickelt sie sich bezüglich der Motivirung ihrer That in
offenkundige und unlösbare Widersprüche, welche das Gericht veranlassten, eine
Untersuchung des Geisteszustandes der Angeklagten anzuordnen.
Das ärztliche Gutachten erkannte auf Hysterie und beschränkte Verantwort-
lichkeit, mit der Begründung, dass die G. „im Hinblick auf die Neurose, von der
sie befallen sei, sich von der Bedenklichkeit ihrer Acte keine Rechenschaft geben
konnte und dass bei einer Hysterischen Einflüsse, welche den normalen Geist gar
nicht berührten, zu Gesetzesübertretungen und Verbrechen hintreiben können".
Aus der Untersuchung der Kranken sind folgende Momente hervorzuheben.
G. ist körperlich gut entwickelt und von gesunder Beschaffenheit; sie bietet eine
vollständige linksseitige Hemianästhesie der Haut und Schleimhäute für alle
Qualitäten (Berührung, Druck, Schmerz, Temperatur, faradische Ströme, Geschmack,
Geruch und Gehör) dar; das linke Gesichtsfeld ist concentrisch eingeengt, ohne
Dyschromatopsie zu zeigen, der Muskelsinn an der linken Rörperhälfte aufgehoben.
\Jeber der linken Mamma besteht eine hy per ästhetische Zone. Der Pharynxreflex
ist erhalten. Somnambulismus wurde nicht beobachtet.
Ueber die Motive ihrer Strafthat befragt, schützt die Kranke bald Rache wegen
roher Behandlung vor, bald will sie von Feinden ihrer Dienstherrschaft aufgestachelt
worden sein, bald behauptet sie, sie habe ihren Geliebten durch den Brandschaden
Arbeitsgelegenheit verschaffen wollen, dann wieder beziehtet sie ihren Geliebten als Com-
plicen ; sie beschuldigt ferner eine Reihe von Personen der Mitthäterschaft. erkennt
heute Aussagen, die sie gestern unter Eid abgegeben, als falsch an. kurz sie giebt in
ihrem ganzen Verhalten einen Mangel an zugkräftigen Motiven kund, sie verräth,
dass sie diesen Mangel selbst fühlt und durch neue, offenbar erdichtete und un-
wahre Erklärungsversuche zu verdecken sucht. Erst 6 Monate nach geschehener
That gesteht sie den Anstaltsärzten, dass sie schon seit 2 Jahren dauernd an dem
krankhaften Triebe leide, Feuer anlegen zu müssen und dass sie von diesem Triebe
manchmal, besonders in der Einsamkeit mit solcher Heftigkeit crfasst werde, dass
sie demselben nur durch Flucht in Gesellschaft entrinnen könne. Sie behauptet,
die Brandstiftung unter dem Zwange eines solchen Triebes begangen zu haben, sie
hält den Trieb jedoch selbst nicht für eine ausreichende Erklärung für die Begehung
256 Zasammenstellung der Literatur über Hjvterie.
der That. Als körperliche Begleiterscheinuogen der zwangsartigeo Idee nennt, sie
Herzklopfen, Ohrensausen und Eingenommensein des Kopfes.
Verf. erörtert die Frage, in welchem Verhältniss diese criminelle That resp.
die derselben zu Grunde liegenden impulsiven Handlungen zur Hysterie stehen und
er meint, dass die der Hysterie eigenthümlichen Störungen der Willensthätigkeit
sehr wohl eine Verminderung der Widerstandskraft gegen die krankhaften Triebe
(gesteigerte Suggestibilität) bedingen konnten. Andererseits hebt er henror, dass
die Hysterie nur auf dem Boden einer erblichen Entartung erwachsen sei und dass
die hier vorliegenden Zwangsgedanken und Triebhandlungen (obsessions et im-
pulsions) nur der Ausdruck einer hereditären Degeneration seien. Das gehe schon
aus der Art der krankhaften Triebe hervor, welche bei Degenerirteu dauernd vor-
handen seien, immer dieselbe Form beibehalten und bei einer bestimmten Gelegen-
heit zur That führen, während die hysterischen Impulsionen sehr yariabel seien
und rein zufällig als Ausdruck einer fixen Idee auftreten.
Brodmann- Jena.
Mittheilung.
In seinem neurologischen Institut (Berlin W. Magdeburgerstr. 16)
wird Dr. O. Vogt am 26. IX. 99 zwei vierwöchentliche Aerztecurse
beginnen :
1. Allgemeine Psychotherapie mit normalpsycho-
logischer Einleitung.
2. Hirnanatomischer D emonstrationscurs.
Ueber den Einfluss des Lichtes auf die Icörperlichen und
psychischen Functionen.
Vortrag
gehalten in der psychologischen Gesellschaft zu München am 18. Mai 1899
von
Dr. Franz Carl Müller, Nervenarzt in München.
Das Thema, welches ich heute vor Ihnen zu behandeln die Absicht
habe^ liegt etwas abseits von den Fragen, die wir sonst in unserer Ge-
sellschaft erörtern. Sie werden wenig Psychologisches finden, ich hoffe
aber, dass die spärlichen Andeutuügen, die ich ihnen geben kann, Aus-
blicke gestatten, von denen aus später auch für unsere Specialwissen-
schaft reife Früchte erhofft werden können. —
Die Lehre von den Einwirkungen des Lichtes auf den thierischen
Organismus ist zwar eine alte, aber sie hat in jüngster Zeit grosse
Fortschritte gemacht und bedeutsame Forschungsresultate aufzuweisen,
besonders der Amerikaner Kellogg wirkte in dieser Hinsicht bahn-
brechend.
Wie es aber oft zu gehen pflegt, haben sich Laien verfrüht der
Sache angenommen, und so wurde einerseits da^ Lichtheilverfahren bei
den Fachleuten discreditirt, andererseits von Sachverständigen auf eine
Bahn gedrängt, die für die Folge nichts Gutes versprechen lässt. Wir
wollen sehen, was bisher an fixirten Ergebnissen zu finden ist, und ich
hoffe, Sie über den derzeitigen Stand der Angelegenheit genügend in-
formiren zu können. Vorher aber muss ich einige physikalische Er-
örterungen anstellen, die Manchem wohl etwas weitschweifig erscheinen
werden, aber dennoch nothwendig sind.
Alles Lebendige, aber auch das scheinbar Todte in der Natur be-
wegt sich, denn wo Stoff ist, ist Kraft und Kraft ist ohne Bewegung
Zeitschrift fttr Hypnotismiu etc. IX. 17
268 ^T^T^ ^^^^ MfiUer.
sieht denkbar. Nach Virchow ist das Leben gegenüber den all-
gemeinen BewegungsTorgängen in der Natur zwar etwas Besonderes,
aber es bildet doch keinen diametralen Gegensatz zn denselben,
sondern nur eine besondere Art der Bewegung, welche, von der grossen
Constante der allgemeinen Bewegung abgelöst, neben derselben und in
steter Beziehung zu ihr abläuft. — Es ist bei der strahlenden Wärme,
beim Licht und bei der Electricität nachgewiesen, dass sich diese
Kräfte in Wellenbewegungen äussern. In ihren Eigenschaften sind die
Wellen sehr yerschieden^ während das Licht sehr kleine Wellen hat
(die Röntgen-Strahlen vermuthlich die kleinsten), sind die Wellen der
ausstrahlenden Electricität nach Untersuchungen von Heinrich Hertz
theilweise meterlang.
Die Schnelligkeit der Lichtwellen ist kaum fassbar. Vernon
Brys photographirte fliegende Geschosse im 8-millionsten Theil einer
Secunde ; in dieser Zeit legte die Kugel einen Weg von V«oo Millimeter
zurück. Noch empfindlicher wie die photographische Platte ist die
Netzhaut unseres Auges.
Welche Kräfte durch solche Lichteinwirkungen ausgelöst werden
können, zeigt ein von Gautier und Heli er unternommener Versuch:
Wasserstoff und Chlor zu gleichen Theilen gemischt bleibt im Dunkeln
monatelang reactionslos — ein einziger Lichtstrahl genügt, um unter
Explosion Chlor-Knallgas zu erzeugen. — Jede Hausfrau weiss, dass
das Licht die organischen Farben bleicht, aber auch die anorganischen
Farben, selbst Edelsteine, wie Smaragd, Chrysopras, bleichen unter
dem kalten, von allen Wärmestrahlen befreiten Licht — Haben wir nun
die chemischen Wirkungen des Lichtes kurz berührt, so kommen
wir auf den physikalischen Einfluss desselben: Ich möchte daran
erinnern, dass Crystallisationsvorgänge im Lichte leichter vor sich gehen
als im Dunkeln, und wenn man eine Flasche in ein Gefass mit heissem
Wasser hineinstellt, so beschlägt sich hauptsächlich die dem Lichte zu-
gekehrte Seite.
Die Frage, was Licht eigentlich ist, wird durch zwei Hypothesea
beantwortet: Nach Huyghens ist das Weltall von einem ausser-
ordentlich feinen, elastischen. Alles durchdringenden, gewichtsloseo
Stoffe, dem Licht- Aether , erfüllt, dessen wellenartige Bewegung wir
als Licht empfinden. Nach Newton entströmt dem leuchtenden Körper
ein feiner Stoff, der mit ungeheuerer Geschwindigkeit in die UmgebuDg
hinausgeschleudert wird.
Uober den Einfloss dei Lichtet auf die körperlichen n. psychischen Fanctionen. 259
Die Lichtwellen legen, ohne dass die Wellenlänge irgend welche
Unterschiede machte, in der Secunde einen Weg Ton 420D0 geo-
graphischen Meilen zurück. Wenn das Licht durch einen schmalen
Spalt auf ein Prisma fällt, so wird es in ein breites Farbenband —
das sogenannte Spectrum — aufgelöst, das einen kleineren sichtbaren
und einen grösseren, an beiden Endpunkten vorhandenen unsichtbaren
Thdil enthält. Am meisten in der ursprünglichen Bahn des weissen
Lichtes verbleiben die blauen und violetten Strahlen; mehr gebrochen
sind die ultravioletten Strahlen, die wahrscheinlich von einzelnen Thieren,
(Ameisen), aber von den Menschen nicht gesehen werden. Bei den
violetten und ultravioletten Strahlen ist die Wärmeentwickelung sehr
gering, aber die chemische Wirkung sehr gross, weshalb man dieselben
auch chemische Lichtstrahlen nennt. Die rothen und infrarothen
Strahlen zeigen starke Wärmeentwickelung und geringe chemische
Potenz. — Uebrigens neigt man in der Physik neuerdings der An-
schauung zu, dass es nur Eine Energie des Lichtäthers giebt, indem
jeder Strahl als Wärme-, als Licht- oder als chemischer Strahl wirken
könne, je nach den Eigenschaften des lichtabsorbirenden Körpers.
Die Wellenlänge der violetten Lichtstrahlen ist geringer als die
der rothen ; während das Roth in der Secunde 420 Billionen Schwingungen
macht, hat das äusserste Violett 790 Billionen. Wie Wärme und
Electricität, so kann auch Licht aufgestapelt werden, auf welcher That-
sache die Erscheinung der Phosphorescenz beruht. VonPluor-
escenz sprechen wir, wenn mit dem Aufhören des Lichtreizes die
Wirkung sofort verschwindet ; auch die dunkeln Spectrumstrahlen können
gewisse Körper leuchtend machen — wir heissen diese Erscheinung
Calescenz. —
Nach diesen wohlbekannten Auseinandersetzungen kommen wir auf
den psychischen Einfluss des Lichtes. Vergegenwärtigen Sie sich
unbefangen die Stimmung und Arbeitsfrendigkeit des Menschen an
trüben und an sonnend urchäutheten Tagen! Welch' gewaltiger Unter-
schied ! Dort starre, todtenähnliche Ruhe, hier frisch pulsirendes Leben !
Jeder Gresunde hat ein grosses ausgesprochenes Lichtbedürfniss. Wer
aus dem Lichte der Grossstädte heraus in die finsteren Gassen kleiner
Orte verbannt wird, der fühlt sich beklommen. Jedes unserer Feste
wird instinctiv durch Lichtwirkungen verschönert oder überhaupt
möglich gemacht; jedes lebende Wesen drängt sich zum Lichte.
Auch in der Religion sehen wir diesen Drang des Menschen zur
Sonne. Bei den Griechen wurde Helios verehrt, bei den Römern
17*
260 Ftkbz Carl Müller.
pflegten die vestalischen Jungfrauen das heilige Feuer, bei den Ger-
manen .war Baldur, der Liclitgott, einer der beliebtesten Gt>tter.
Millionen von Menschen beten die Sonne als die Spenderin von Licht,
Wärme und Leben an. Menschen, die nach lange dauernder Dunkel-
heit plötzlich dem vollen Sonnenlichte ausgesetzt werden, erfahren eine
starke seelische und körperliche Beeinflussung, wie es andererseits
lichtarme Individuen giebt, die nur wenige Minuten lang helles Licht
vertragen können. Alle geistesfrischen und körperlich gesunden Menschen
lieben das Licht; interessant ist eine Erzählung über Lombroso, der
bei seinen Arbeiten der Sonne von Zimmer zu Zimmer folgt und auf
diese Weise ein wandelndes Arbeitszimmer hat. Am Besten soll er
im vollen Sonnenschein bei weitgeöffneten Fenstern arbeiten können.
Auch in der Thierwelt ist das Lichtbedürfniss deutlich aus-
gesprochen. Die Insecten fliegen ins Licht, die Vögel rennen sich ao
den Fenstern der Leuchtthürme die Köpfe ein, Fische werden Yom
Lichte geradezu hypnotisirt.
üeber den Einfluss des Lichtes auf die Psyche des Menschen giebt
eine amerikanische Statistik interessante Aufschlüsse, indem man nach-
weisen konnte, dass an trüben Tagen um 10 % weniger Arbeit geleistet
wird als an sonnigen. In den lichtarmen Monaten sind Selbstmorde
und Verbrechen häufiger wie im Sommer ; dabei ist aber nicht zu ver-
gessen, dass in den sonnigen Monaten die Lebensbedingungen leichter
erfüllt werden als im Winter.
Auch in der Völkerpsychologie spielt das Licht eine RoUe: Im
sonnigen Süden entwickelt sich eine andere Musik, eine andere Malerei
als im trüben Norden. Dort lachender Himmel und lachende Lebens-
lust in sorglosen Gemüthern, hier trübe Wochen und Monate, ernste,
schwermüthige Lebensauffassung imd Neigung zum Grübeln und Phüo-
sophiren; dort rascher Entschluss und geringe Arbeitslust, hier ernste,
auf Wochen hinaus vorbereitete Arbeit. —
Nicht uninteressant ist die Abneigung einzelner Thierrassen gegen
gewisse Farben: wir erinnern an die Wuth der Stiere und Truthähne
beim Vorhalten rother Tücher.
Dass der Mond auf den Menschen wirkt, ist bekannt : während er
einzelne Individuen beruhigt, erregt er das Nervensystem anderer und
erzeugt einen somnambulen Zustand, dem man den Namen Luna-
tismus gegeben hat. Es wäre noch an die Thatsache zu erinnern,
dass mitunter zwischen den einzelnen Sinnen directe Beziehungen be-
stehen. So berichtet P a r v i 1 1 e von einem Studenten, der bei hohen Tönen
Ueber den Einfluss des Lichtes auf die körperlichen n. psychischen Funktionen. 261
helle und bei tiefen Tönen dunkle Farben sah. Liszt und Bülow
hatten ein Farbengehör und endlich giebt es nach den Untersuchungen
Ton Everson sogar einen Farbengeschmack. Ueber alle diese Ver-
hältnisse wurde in unserer Gesellschaft gelegentlich des Vortrages über
audition color^e schon eingehend discutirt.
Was den Einfluss des Lichtes auf die Pflanzen betrifft, so
brauchen wir ^ nur den Namen v. Sachs zu nennen, um die epoche-
macheude Entdeckung dieses Forschers auf dem Gebiete des Helio-
tropismus ins Gedächtniss zurückzurufen. — Bei einer der lichtbedürf-
tigsten Pflanzen, Phycomyces niteus, genügt die Verdunkelung von
einer Stunde, um eine deutliclfe Wachsthumshemmung zu erzeugen.
Die gelben Strahlen sind von hoher Bedeutung für die Thätigkeit des
Chlorophylls, welches im Dunkeln nicht entwickelt wird, wodurch die
Pflanze eine ihrer Hauptaufgaben im Haushalte der Natur nicht er-
füllen kann; man spricht in diesem Falle von etiolirten Pflanzen; die
Pflanze atbmet Sauerstoff aus und Kohlensäure ein. Das Thier ver-
braucht Sauerstoff und producirt Kohlensäure. Eines ist ohne das
andere nicht lebensfähig. Die Kohlensäure der atmosphärischen Luft
wird aber für die Pflanze erst durch das Licht zur Nahrung; ohne
Licht müsste trotz vorhandener Kohlensäure die Pflanze verhungern,
ohne Licht würden die Kräfte nicht frei, welche in den chlorophyll-
haltigen Zellen die Abtrennung des Sauerstoffes von der Kohlensäure
besorgen und damit die Umwandlung des Kohlenstoffes in organische
Substanz.
Interessant ist auch ein Versuch von C 1 a y t o n , nach dem Bohnen, die
bei matter Beleuchtung wuchsen, in der 4. Generation unfruchtbar waren.
Die Wirksamkeit der verschiedenen Farben ist durch zahlreiche
Versuche bestätigt: gleich grosse Exemplare derMimosa pudica wuchsen
in derselben Zeit unter rothem Licht 42 cm, unter grünem 15 cm,
unter blauem gar nicht. Aehnlich wie das Tageslicht wirkt das elec-
trische Licht, mit dessen Hülfe man es erreichen kann, dass eine Pflanze
während der 24 Stunden des Tages keine Ruhezeit hat. Es würde zu
weit führen, auf diese interessanten Forschungen näher einzugehen.
In der Thierwelt reagiren schon die niedersten Organismen auf
das Licht. Fliegeneier, Larven entwickeln sich am besten unter blauem,
am schlechtesten unter grünem Lichte. Verstümmelte Glieder wachsen
bei den Amphibien im Lichte rascher nach wie im Dunkeln. Nach
den Untersuchungen von J. Loeb sind auch die Thiere heliotropisch
wie die Pflanzen und zwar positiv und negativ. Hierher gehören auch
262 Frani Carl Maller.
die AssimilatioQsversuche. Im Dunkeln gehaltene Hunde schieden um
20% weniger Kohlensäure ans als solche, die dem Lichte ausgesetit
waren. Wenn weisses Licht ein Thier in einer Zeiteinheit veranlasst,
100 Theile Kohlensäure zu produciren, bringt blaues 122 Theile, grünes
128, gelbes 175, rothes 94, violettes 87. Dass bei dieser Stoffwechsel-
äoderung nicht nur die Augen, sondern auch die Haut betheiligt ist,
zeigt der Umstand, dass die Herausnahme der Augen, ja selbst des
Gehirns an den Resultaten wenig änderte.
Diese festgestellte Thatsache veranlasste Koran yi zu der Hypo-
these, dass durch das Licht Muskelrefleze ausgelöst werden, dnrdi
welche die Zersetzungsvorgänge erhöht werden. Anzufügen wäre noch
eine Entdeckung Graffenberger's, wonach das Hämoglobin im
Dunkeln abninmit.
Wohl am meisten studirt ist der £influss des Lichtes auf die
Bacterien. Duclaux, welcher zuerst mit Reinculturen arbeitete, wies
nach, dass das Licht zuerst die Bacterien in ihrem Wachsthum hemmt
und später tödtet. Er bezeichnete in Folge dessen das Licht als das
beßte bactericide Mittel, das wir kennen. Ohne auf die grosse Literatur
auf diesem Gebiete näher einzugehen, möchten wir nur die Versuche
Dieudonue's streifen. Directes Sonnenlicht tödtet den Micrococcus
prodigiosus nach spätestens 2^0 Stunden, zerstreutes Licht erst nach
6 Stunden, electrisches Licht in einer Stärke von 900 Kormalkerzen
tödtete nach 9 Stunden, Glühlicht nach 11 Stunden. Was die Farben
anbetrifft, so stellte sich heraus, dass die rothen und gelben Strahlen
des Spectrums den Bacterien unschädlich sind, die grünen leicht ent-
wickelungshemmend, die blauen, violetten und ultravioletten rasch tödtend.
Buchner ging einen Scliritt weiter und führte die sogenannte
Selbstreinigung der Flüsse auf die Mithülfe des Lichtes zurück, wobei
er zu dem Resultate kam, die Betheiligung des Sauerstoffes bei diesen
Vorgängen ganz zu leugnen und den Werth der Wärmestrahlen, die
von den Wasserschichten absorbirt werden, als gering zu bezeichnen.
Eb ist nur ein Schritt, von diesen Beobachtungen ausgehend den Ein-
fluss des Lichtes auf inficirte Thiere zu studiren. Mäuse, die mit
Milzbrandculturen geimpft waren, wurden zum Theil im Dunkeln ge-
halten, zum Theil in der Beleuchtung durch eine Glühlampe von
16 Normalkerzen. Die ersteren gingen nach drei Tagen zu Grunde
und hatten zahlreiche Milzbraudbacillen im Blute ; als man die anderen
nach 10 Tagen tödtete, fanden sich im Blute nur Involutionsformen der
Bacillen und an der Impfstelle nur örtüche Veränderungen. Wenn
lieber den Einfluss des Lichtes auf die körperlichen u. psychischen Fonotionen. 26S
wir mit diesem Resultate die Wirkung unserer Antiseptica auf die
virulenten Microorganismen vergleichen, so fallt die Entscheidung ohne
Weiteres zu Gunsten des Lichtes aus. Die Sporen der Tetanusbacillen
sind nach 48 stündiger Einwirkung von 5procentiger Carbolsäure noch
nicht vernichtet. lOprocentige Schwefelsäure war nach 24 Stunden
wirkungslos. Es ergaben Tetanussporen noch Culturen, nachdem sie
in 4procentiger Borsäurelösung 190 Stunden gelegen hatten, in 5pro-
centiger Salicylsäurelösung 48 Stunden, in Jodoformpulver 69 Stunden,
in absolutem Alcohol 150 Stunden, in Aether 139 Stunden, in 5pro-
centiger Eisenvitriollösung 120 Stunden. Sublimat tödtet in einer
Lösung von 1 : 1000 erst nach zwei Stunden.
Es ist nicht unangebracht, an dieser Stelle einige Worte Raum's
zu citiren. Er sagt: „um so mehr bedarf die Frage nach dem Ein-
fluss des Lichtes auf die pathogenen Bacterien noch einer weiteren Be-
ai-beitung, als sie befähigt ist, sowohl unsere hygienischen Maassnahmen
als auch unser therapeutisches Thun zu modirtciren." Schon 1829 sagte
Sertürmer: „unsere Wohnungen und Hospitäler werden einst be-
stimmt wie Treibhäuser eingerichtet werden, damit das Licht, selbst
des Mondes und der Sterne, ungehindert zutreten kann.'' — v. Voit
äussert sich in folgender klarer Weibe: „Unzweifelhaft ibt im hellen
Sonnenlicht und an heiteren Tagen mit der ganzen Stimmung auch die
Zersetzung im Körper eine andere als bei trübem Himmel. Die Er-
regungen der Sinnesuerven sind es, welche auf den StoflVechsel ein-
wirken, sei es, dass sie direct das Nervensystem erregen oder dass sie
durch Reflexübertra.u;ung auf die Muskeln einwirken, wodurch in letz-
teren die Zersetzung zunimmt. Dabei braucht es nicht immer zu wirk-
lichen Muskelheweguugen zu kommen, welche allerdings bei stärkeren
Erregungen der Sinnesnerven zweifellos hervortreten und meist die Ur-
sachen des erhöhten Gas wechseis sind."
Die Empfindlichkeit des menschlichen Auges ist am grössten für
Strahlen mittlerer Brechbarkeit, sie nimmt gegen das rothe Ende des
Spectrums eher ab als gegen das blaue. Electrisches Licht steigert die
Sehschärfe. Gaslicht ^ vermindert dieselbe. Auch bei geschlossenen
Augenlidern haben wir noch Farbenerapfindungen; die meisten Menschen
können roth und blau noch unterscheiden. Die Lichtempfindung Hy-
pnotisirter ist nach der Angabe Eulenburg's reducirt; interessant ist
eine Mittheilung von H a r 1 e s s . dass an menschlichen Leichen die
Pupille noch 30 Stunden nach dem Tode reagiren kann — eine Beob-
achtung, die von den Augenäzten als falsch bezeichnet wird. Platen
864 ^njiz Carl MäUer.
konnte nachweisen, dass die Sauerstoffaufnahme im Lickte steigt; die
Athmung wird im Dunkeln oberflächlicher und schneller — ein Indi-
viduum, das im gelben Licht in der Minute 19 Mal geathmet hatte,
athmete im grünen 17 Mal, im rothen nur 15 Mal.
Es wird behauptet, dass die Haarerzeugung im Lichte grösser
sei als im Dunkeln. Wie das Licht auf die unbedeckte Haut wirkt,
wissen wir aus der alltäglichen Erfahrung. Dass dabei nicht die
Sonnenwärme allein maassgebend ist, zeigt der Umstand, dass auch
bei kalter Witterung Leute, die zu vorübergehenden Waffenübungen
einberufen sind, in kurzer Zeit eine gebräunte Gesichtsfarbe bekommen.
Wie das Sonnenlicht, so wirkt auch das electrische Licht, das bei kurzer
Dauer eine einfache Bräunung, bei längerer den sogenannten elec-
trischen Sonnenstich erzeugt. Arbeiter in Schmiedewerken, in
welchen der electrische Strom zum Zusammenschweissen der Metalle
benutzt wird, werden stundenlang nach der Einwirkung des electrischen
Lichtes von heftigen Schmerzen in der Haut heimgesucht Dass dabei
die Wärme eiue geringe Rolle spielt, beweist die Thatsache, dass die
Giesser, die sich höheren Temperaturen aussetzen müssen, an dieser
Affection nicht erkranken imd dass die Wärmeentwickelung beim
Schweissverfahren gering ist.
Auch den sogenannten Sonnenstich (Lisolation) halten viele
Autoren für eine reine Lichtwirkung und unterstützen diese Annahme
durch die Thatsache, dass der Gletscherbrand auch bei Tempera-
turen unter dem Gefrierpunkte auftritt. Nach den Untersuchungen
von Unna hat die Haut in dem Pigment ein Schutzmittel gegen die
Sonnenstrahlen. Folgerichtig nimmt die Intensität der Hautfarbe vom
Aequator gegen die Pole ab. Ob diese Anschauung nicht das post
hoc mit dem propter hoc verwechselt? Dass aber das Pigment schützt,
das beweist uns ein Versuch von Bewies. Er bestrich sich vor einer
grösseren Bergpartie einzelne Theile des Gesichts mit brauner Farbe
und zwar mit dem Erfolge, dass das Sonneneczem überall dort fehlte,
wo er gefärbt und ausgesprochen vorhanden war, wo er dies unterlassen
hatte. Dass die Wirkungen des Lichtes sich nicht auf die obersten
Schichten der Haut beschränken, sondern tiefer gehen, beweist nach-
stehendes Experiment: wenn man Chlorsilber, das in kleine Glas-
röhrchen eingeschmolzen ist, mit Hülfe eines Troicarts Thieren unter
die Haut bringt, so schwärzt sich dasselbe bei denjenigen Thieren, die
dem Lichte ausgesetzt werden, und bleibt bei den im Dunkeln gehal-
lieber den Einflass des Lichtes auf die körperlichen a. psychischen Functionen. 265
tenen unverändert. Diese Thatsache wurde durch eine Nachprüfung
Uibeleisen's bestätigt.
Noch wäre eine Keihe von Versuchen anzuführen, welche die Be-
deutung des Lichtes beweisen. Winslow fand, dass das Wachsthum
der Kinder in den lichtarmen Monaten keine Fortschritte macht.
Kinder, die längere Zeit im Dunkeln gehalten werden, haben gegen-
über solchen, die dem Lichte ausgesetzt sind, eine um ^/^ Grad tiefere
Körpertemperatur. Wer dächte dabei nicht an die Voit'sche Theorie
von den durch das Liebt ausgelösten Muskelreizen? Wenn neben
vielen Anderen Esmarch das häufige Vorkommen von Tuberculose
und Malaria in bestimmten Districten auf die finsteren Wohnungen be-
zieht, so darf man nicht ausser Acht lassen, dass diese Wohnungen
auch andere hygienische Nachtheile haben (Feuchtigkeit, schlechte Ven-
tilation) und wenn Willibald Gebhardt manche Nervenkrankheit
auf das Tragen dunkler Kleider zurückführt, so möchte ich als Nerven-
arzt dazu bemerken, dass derjenige Stand, welcher beruflich sein Leben
lang schwarz gekleidet ist, statistisch die wenigsten Nervenkrankheiten
aufweist.
Endlich führen einzelne Forscher das endemische Vorkommen des
Cretinismus in einzelnen wenig besonnten Gebirgsthälern auf den Licht-
mangel zurück; dem ist entgegenzuhalten, dass dortselbst chronische
Lizucht herrscht und dass dieser Cretinismus auch im Flachland auf-
tritt, wo einzelne Gemeinden in der Diaspora aus religiösen Gründen
sich von der Verbesserung ihres degenerirten Blutes durch Heirathen
mit sogenannten Fremden fernhalten.
Trotz der vielen Citate habe ich Vieles, was die Literatur enthält,
übergehen müssen, weil die wichtige Frage, wie das Licht auf den
kranken Organismus wirkt, drängt.
Es macht sich in der jüngsten Zeit eine gewisse Lichtbewegung
geltend, die freilich zuerst in Laienkreisen bemerkbar war. Vornehmes
IgQoriren neuer Forschungsresultate, auch wenn sie überraschend
klingen, ist weniger vornehm als thöricht und wem es unter den
Gollegen unsympathisch erscheint, sich mit so modernen Dingen, die
noch nicht einmal abgeklärt, viel weniger ausgereift sind, zu beschäf-
tigen, der denke an die autoritativen Worte Hufeland^s: „Vier
Himmelsgaben, die man mit Becht als die Schutzgeister alles Lebenden
bezeichnen kann, giebt es: Luft, Wärme, Licht und Wasser; obenan
aber steht das Licht !^'
Schon die alten Römer, mit denen jede gründliche deutsche
266 ^^*ranz (^arl Müller.
Forschung beginnt, falls sie sich nicht gar auf die Bibel berufen kann^
hatten auf ihren Hausdächern Solarien, in denen sie Sonnenbäder
nahmen, und die römischen Aerzte verordneten dieselben gegen Gicht
und Rheumatismus. Am Ende des vorigen Jahrhunderts beschloss der
italienische Kliniker Loretti sein Lebensstudium über die Tuberkulose
mit dem Ausspruch, dass diese Krankheit nur mit Eisen und Licht sieg-
reich bekämpft werden könnte, üeberhaupt machte sich schon vor hundert
Jahren eine gewisse Bewegung für die Lichttberapie geltend: Villet
heilte Wassersüchtige in 14 Tagen durch täglich mehrstündige Be-
sonuimg; der sächsische Leibarzt Carus schwärmte für Lichtcuren
bei der Hypochondrie, worunter man damals auch die moderne Neur-
asthenie begriff. Später beschäftigten sich Emmet und Snegireff
mit dem Sonnenlicht und empfahlen dasselbe gegen Utei usblutungeu ;
üuiseppe heilte Gelenkentzünduuj^en damit. — Li neuester Zeit war
es vorzugsweise der Schweizer Kickli, ein Laie, der in seinem Buche
(Die atmosphärische Cur) die Vorzüge der Sonnenbäder begeistert
anpries und in Vclden (Kraiu) eine SonnenbadeanstJilt errichtete. Sein
tSchüler war der Arzt Ott erbein (Die Heilkraft des Sonnenlichtes)
und diesem folgte eine Reihe anderer „Naturlieilkuudiger": Lab mann,
Dock. Disque, Böhm, Kühner. Die von L a h m a n n eingeführten
Luftlichtbäder resp. deren Werth wird am besten von dem Erfinder
selbst durch eine von iiim edirte Plu togr.iphie ilhistrirt. auf der sich
acht nackte Männer im Freien im Schnoegcstöbej' anscheinend sehr
Wühl befinden. Es ist bezeichnend, dass der grössere Theil der Ver-
treter der Lichttherapie dem Stande der so][^enannten Naturärzte an-
gehört, welche sich dem Laien gegenüber gerne als von der Wissen-
schaft emancipirt hinstellen. Ihre offenkundigen Fehler in den Heil-
bestrebuugen, ihre der Logik nicht immer entsprechenden Schlüsse imd
vor Allem ihre Stellungsnahme ge^^en die Wissenschaft schadeten dem
neuen Heilverfahren in der ärztlichen Welt. Erst der Amerikaner
Kellogg, der einwandsfrei in einer dem bekannten Hydropathen
Winternitz gewidmt'ten Jubiläumsschrift für das Lichtheilverfahren
eintrat, gab uns Aerzten den Muth nachzuprüfen — und dies wurde
mit grossem Eifer gethan.
In erster Linie müssen wir den Fehler vermeiden, der vielfach
gemacht wird und sich durch Heilerfolge der sogenannten Freiluftcur
bei der Tnberculose erklärt. Es wäre unlogisch, daraus, dass vermehrte
Sauerstofizufuhr der kranken Lunge nützt, das Licht als heilkräftig be-
zeichnen zu wollen. Auch der Glaube vieler Autoren, dass die Sonnen-
lieber den Einfluss des Lichtes auf die körperlichen u. psychischen Functionen. 267
bäder deshalb nutzbringend sind, weil sie die Schweissabsonderung er-
höhen nnd damit infectiöse Stoflfe entfernen, ist zum Theil richtig,
aber wir müssen uns hier nur auf die reine Lichtwirkung beschränken
und aus den vorhandenen VeröflFentlichungen alles das ausschliessen,
was unbrauchbar und unverstanden ist.
Ich muss an dieser Stelle bedauern, dass die Versuche mit den
einfachen Lichtbädern nur das Eine Resultat ergehen haben, dass sie
auf die Stimmung und auf den Stoffwechsel günstig einwirken. — Viel
interessanter, wenn auch noch nicht einwandsfrei, wäre die Thatsache,
dass an unheilbaren Krankheiten Leidende (Krebs, Gehirnerweichung,
Endstadium der Schwindsucht) auch im lange fortgesetzten Sonnenbade
keine Pigmentvermehrung erfahren, während Heilbare rasch gebräunt
werden. Rickli schreibt das dem Unistande zu, dass bei consumirenden
Krankheiten zu viel rothe Blutkörperchen verbraucht werden, womit die
Hautpigmentirung, unmöglich gemacht wird. Ausgedehnter sind die
mit electrischem Licht gemachten Versuche, auf deren Installirung
man dadurch kam, dass das Sonnenlicht nicht immer im gewünschten
Moment zur Verfügung steht.
Ich UIU8S kurz ein solches electrisches Bad beschreiben : denken
Sie sich einen circa 1^2 Meter hohen, an der Innenfläche mit Spiegel-
glas ausgekleideten Kasten von 1 Quadratmeter Grundfläche. Der-
selbe ist innen mit regelmässig angeordneten Glühlampen, ungefähr 50
"von je 20 — 25 Kerzenstärke, besetzt nnd hat oben eine Oeffnung, durch
welche der Kopf des Badenden schaut und vorne eine Eingangsthüre.
Sobald der Kranke in unbekleidetem Zustande auf einem im Kasten
befindlichen Stuhle Platz genommen hat, wird der Stromkreis ge-
schlossen und der Badende allseitig von Licht umflossen. Die Temperatur
im Innern des Kastens steigt laugsam ; trotzdem athmet der Badende
ständig frische und kühle Luft, deren Zufluss man durch Oeffnung
eines Fensters erleichtern kann. Statt der Glühlampen nimmt man
auch Bogenlampen und braucht dann deren 4 von je 1000 Normal-
kerzen. Das Spectrum des Bogenlichtes ist continuirlicher und hat ein
ununterbrochenes Farbenbaud, wogegen das Sonnenlicht von den bekannten
Frauenhofe r'schen Linien durchzogen ist. Ein wirklicher Unterschied
zwischen beiden Lichtarten ist aber in der Therapie nicht zu verzeichnen.
Die auffälligste Wirkung dieser Bäder ist die Erhöhung der
Körpertemperatur, mit welcher lebhafte Transpiration verbunden
ist, die raschci' und leichter erfolgt als im Dampikastenbad. Da der
Dampf einen Druck auf die Haut ausübt und damit die Oeffnung der
268 Frmsiz Carl Müller.
Foren enchwerty so findet sich nach solchen Bädern bei schwächlichen
Personen leicht eine gewisse Mattigkeit, die bei Lichtbädern ausbleiben
soll. — Wie das electrische Lichtbad auf das Herz wirkt, wissen wir
aus neuen Untersuchungen Uibeleisens; der Puls war bei 24® B.
unverändert und betrug
zwischen 25 und 30® R 78 in der Minute,
„ 30 „ 35 0 R Ö8 » n 11
r, 36 „ 40® R 110 „ „
« 41 „ 46®R 118 „ „
« 46 „ 48® R 130 „ „
bei 50® R U2 „ „
Es giebt Versuche, in denen man bis auf 60® R. stieg. Magere und
mittelstarke Personen vertragen ohne Beschwerden eine Temperatur
bis zu 43 ® sehr gut. Fette Personen fühlen schon bei 38 ® eine gewisse
ünbehaglichkeit. Selbstverständlich hat die Schweissabgabe eine Ver-
minderung des Gewichts im Gefolge. Dieselbe beträgt bei 42 ® und
35 Minuten Dauer im Mittel ein Kilo; bei späteren Bädern ist die
Gewichtsabnahme geringer. Nach dem Bad folgt eine Abkühlung,
dann Ruhe und endlich Massage. Dies zur Technik! —
Kalinczeck (Zur curativen Anwendung des electrischen Licht-
bades, Prager med. Wochenschrift 1898, 23) hat mit Baruch im
Marienbader Neubade Versuche augestellt und herausgefunden, dass
eine starke Schweissproduction erst bei 34® R. eintritt. Dies stimmt
mit den Angaben von Winternitz nicht überein, der dies schon bei
27 ® R. fand. Das subjective Befinden war bis 45 ® C. nicht unangenehm;
die Gewichtsabnahme schwankte von 200 — 750 Gramm, Puls und Ath-
mung gingen erst jenseits von 45 ® C. stark in die Höhe.
Von grossem, wissenschaftlichem Interesse ist die scheinbare That-
sache, dass durch Lichtbäder die Zahl der rothen Blutkörper-
chen vermehrt wird. Es ist dies in fast allen Fällen, die in
neuester Zeit beobachtet wurden, constatirt worden, weshalb ich nicht
anstehe, einige sehr^instructive Beobachtungen Uibeleisen's hier an-
zuführen. Während der normale Mensch in einem Gubikmillimeter
Blut circa 5 Millionen rothe Blutkörperchen hat, finden sich bei der
Bleichsucht oft nur 4, auch 3 Millionen. Da die rothen Blutkörperchen
die Träger des lebenswichtigen Oxyhämoglobins sind, so ist es begreif-
lich, das eine solche Verminderung auch das Gesammtbefinden wesent-
hch beeinträchtigt, üibeleisen fand bei einer 19jährigen bleich-
•üchtigen Dame zu Beginn der Cur 3 200000 rothe Blutkörperchen;
Ueber den Einfiuss des Lichtes auf die körperlichen u. psychischen Functionen. 269
nach dem 6. Lichtbade 4000000; in einem anderen Falle stieg nach
7 Bädern die Zahl von 2 800 000 auf 3 900 000, dabei verminderte sich
die Pulsfrequenz von 125 pro Minute auf die Norm, so dass die
Patientin nach 13 Lichtbädern gesund entlassen werden konnte.
Es ist in den letzten Jahren eine interessante Beobachtung ge-
macht worden, dass nämlich die Zahl der rothen Blutkörperchen im
Hochgebirge gradatim mit der Erhöhung über dem Meeresspiegel zu-
nimmt und zwar bis zu 7 Millionen, ebenso wie die Erythrocyten nach
Kaltwasser-Proceduren eine starke Vermehrung erfahren. Ein leb-
hafter Streit entbrannte und noch ist die Frage nicht gelöst, ob wir
es mit einer localen oder universellen Vermehrung des Blutfarbstoffes
bei diesen Beobachtungen zu thun haben. Hier ist auch gar nicht der
Platz, auf diese Frage näher einzugehen, da wir nur referiren wollen.
Ich habe vor ca. 10 Jahren ausgedehnte Versuche über den Hämo-
globingehalt des Blutes bei der Neurasthenie gemacht und das Resultat
in meinem „Handbuch der Neurasthenie" veröffentiicht. Dabei ergab
sich, dass viele Nervenschwache hämoglobinarm sind, so dass ich keinen
Anstand nahm, die Modekrankheit unseres Jahrhunderts als eine Blut-
krankheit aufzufassen. Wenn wir die Verhältnisse bei der Bleichsucht
mit meinen Ergebnissen vergleichen, so liegt es nahe, dass ich lebhaft
dafür stimme, auch die Neurastheniker, vorerst freilich nur experimentell,
mit Lichtbädern zu behandeln. Die diesbezüglichen Versuche, welche
ich gemeinschaftlich mit Uibeleisen anstelle, sind noch im Gange,
jedoch noch nicht so weit gediehen, dass irgend ein abschliessendes
ürtheil möglich wäre. —
Kellogg hat ungefähr 40000 Lichtbäder gegeben und kommt
zu folgendem Schlüsse: „Es erwiesen sich dieselben namentlich werth-
▼oll bei Fettsucht, Rheumatismus, Zuckerharnruhr,
chronischer Nierenentzündung und bei allen Krankheiten, die
mit Verlangsamung des Stoffwechsels verbunden sind. Es
ist das wirksamste aller schmerzstillenden Mittel und leistet
als Tonicum und Nervinum gute Dienste bei Neurasthenie
und Schwächezuständen des centralen Nervensystems.'^
In einer neueren Arbeit (Das elektrische Lichtbad, med. mod. 1899,
1 u. 2) bezeichnet L H. Kellogg als das einzig wirksame Agens des
electrischen Lichtbades die Hitze. Es wird zwar das Dampfbad, das
russische und römische Bad, das heisse Wasser nicht ganz verdrängen,
aber wegen der Leichtigkeit der Anlage und Unterhaltung, sowie wegen
der Reinlichkeit weiteste Verbreitung finden.
2 70 Franz Carl Müller.
Below hat im Laufe des heurigen Somiuers in seiner Anstalt
in Berlin einem ärztlichen Publikum eine Keihe von lichtbehandelt^n
Fällen vorgestellt: Neurasthenie, Bronchialasthma, Neural-
gien, Syphilis; Lupusfälle waren nicht darunter. Er gab seine
Beobachtungen in Gemeinschaft mit Kattenbracker heraus, doch
macht die Broschüre den Eindruck, als sei sie mehr für den Laien
berechnet. Gärtner kritisirte die Below' sehen Besultate in einem
Vortrag, den er in der Berliner medicinischen Gesellschaft hielt und
kam zu dem Schlüsse:
1. Es sind die Glühlichtbäder Heissluftbäder, in denen der Orga-
nismus durch gesteigerte Perspiration und Verdunstung des Seh weisses
sich abzukühlen und seine Temperatur zu regulireu vermag, während
bei Dampfbädern eine Abkühlung durch Verdunstung des Schweisses
unmöglich ist.
2. Der Kranke hat den Kopf ausserhalb des Kastens und athmet
frische Luft.
Beide Vorzüge haben aber auch die Kastendampfbäder. Gärtner
stimmt mit B e h r e n d darin überein, dass die Behandlung der Syphilis
mit Licht ohne Quecksilber energisch beaufsichtigt werden müsste, weil
dadurch leicht der richtige Augenblick der Behandlung übersehen wird.
Freystadtl hat Entfettungscureu bis zu 45 Pfund ohne Diätr
änderungen und ohne Schädlichkeiten durchgeführt. Gebhardt machte
auf der Naturforschcrversammlun^ in Braunschweig den Vorschlag,
man möge ihn mit Bacterieucultureu impfen und er würde im Licht-
kasten alle Schädigungen leiclit üb(».rwintlen. Ersteres wäre ein heroischer
Entschluss, letzteres ist dagegen eine Behauptung, die über den Rahmen
des bis jetzt wissenschaftlich Festgestellten hinausgeht.
Die Naturheilkunde schreckt auch vor dem Ausspruch nicht
zurück, dass Syphilis, die durch Quecksilbercureu verschleppt oder
unterdrückt wurde, durch Lichtbäder geheilt werden könne. Es geht
mit diesem alten Vorwurf wie mit den immer wieder geäusserten Be-
denken über die Impfung. Die Sachverständigen wissen durch Erfah-
rung und Statistik, dass die Syphilis nur durch Quecksilber relativ ge-
heilt werden kann und dass seit der Zwangsimpfung die Pockenfälle auf
ein Mininmm reducirt wurden. Trotzdem remonstrireu die dii minorum
gegen diese Mittel und haben damit den Beifall der urtheilslosen Menge.
Es ist wahrscheinlich, dass das Sonnenlicht die wunderbaren Wir-
kungen, die es auf das Wachsthum von Pflanzen und Thieren ausübt^
durch die kurzwelligen blauen, violetten und ultravioletten Strahlen
Ueber den fiinflass des Lichtes auf die körperlichen n. psychischen Functionen. 271
vermittelt, welche ja auch im Bogenlicht enthalten sind. Diese An«
nähme veranlasste schon vor sechs Jahren Benedikt Friedländer
zu dem Vorschlage, man solle versuchen, das Bogenlicht in die Therapie
einzuführen. Dies that vor Allem Niels R. Finsen in Kopenhagen,
der bei der Behandlung des Lupus wirklich aufsehenerregende Erfolge
erzielte. Ueber dieselben berichtet neuerdings Sophus Bang in der
Monatsschrift für practische Dermatologie (1899, I).
Die Vorrichtung zur Concentrirung des electrischen Bogenlichtes
ist so getroffen, dass die Strahlen zuerst durch zwei Linsen parallel
und dann durch zwei weitere Linsen, zwischen denen sich eine 20 — 30 cm
dicke Wasserschicht bewegt, convergent auf die behandelte Stelle ge-
leitet werden. Die Linsen sind aus Bergcrystall ; damit gelingt es, die
meisten Bacterien im Reagensglas in 2 bis 60 Secunden zu tödten ; da
aber das Blut die Fähigkeit besitzt, die bi;echbaron Strahlen zu ab-
sorbiren, so muss man die Haut möglichst blutleer macheu und dies
gelingt durch Aufdrücken eines Glases, das aus zwei Bergcrystallplatten
besteht, zwischen denen gleichfalls kaltes Wasser strömt. — Bang
glaubt, dass bei täglich zweistündiger Application die Behandlung
mindestens 4—6 Monate, unter Umständen aber auch 2 Jahre dauern
kann. Finsen wendet Bogeniampen mit einer Stärke bis zu 80 Am-
peres au und erzeugt kaltes Licht dadurch, dass er das Licht durch
eine blaugefärbte Wasserschicht hindurchtreten lässt; bis zum Ende
1898 hat er 246 Fälle von Lupus behandelt und in 60% anscheinende
Heilung erzielt. Seine Versuche wurden von Sarason nachgeprüft,
desgleichen von Kernig, Kosloffski, Ewald und G-ebhardt.
Der Amerikaner Thay er hat concentrirtes, also durch eine Linse
gesammeltes Sonnenlicht bei Hautkrebsen verwendet, Andere haben die
Hauttuberculose auch mit einem electrischen Scheinwerfer behandelt,
dessen Lampe eine Stärke von 12 Amperes hatte. Später stellte sich
heraus, dass man gleichzeitig die sogenannte Aquapunctur angewandt
hatte, also die Haut mit einem nadelscharfen, unter grosser Gewalt
wirkenden Wasserstrahl reizte und an den Geschwürsenden Granu-
lationen erzielte. Derartige Erfolge auf das Conto der Lichttherapie
setzen zu wollen, ist unwissenschaftlich, denn Heilwirkungen der reinen
Aquapunctur sind den Hydropathen seit Langem bekannt.
Rationell sind überhaupt nur die Versuche Finsen 's: er erreichte
Entzündungen der verschiedensten Grade, vom einfachen Erythem bis
zur Blasenbildung und zur starken Anschwellung der Haut. Interessant
kt die Heilung der Kahlköpfigkeit durch Licht; es ist tbatsäcblich ge-
379 Franz Carl Müller.
langen, durch directe Bestrahlung nach einigen Wochen, in schwereren
Fällen nach Monaten, kahle Inseln auf dem Kopfe zu behaaren, natür-
lich nur solche, auf denen die Haarwurzeln unversehrt geblieben waren
und nur der Haarschaft einem Pilze zum Opfer gefallen war.
Es giebt Optimisten, auch unter den Aerzten, welche der Licht-
therapie dies,elbe Bedeutung zumessen, wie der Electrotherapie.
Wir haben bisher bei unseren Betrachtungen immer nur auf das
weisse Licht Bezug genommen. Es ist aber naheliegend, dass das
farbige Licht Wirkungen haben kann, die im weissen Licht nur un-
klar zur Beobachtung kommen. Die Wellen des rothen Lichtes machen
in der Secunde 450 Billionen Schwingungen, die des violetten 790
Billionen, also auch für die rein mechanische Auffassung schon ein
gewaltiger Unterschied. Wir wissen, dass roth und gelb den Eindruck
des Freundlichen, Behaglichen, blau den des Kalten, Ernsten macht.
Schon im Mittelalter spielte die rothe Farbe eine Rolle iu der Pocken-
therapie : man verhängte die Fenster mit rothen Tüchern und in Japan
giebt man den pockenkranken Kindern rothes Spielzeug. Mehr Me-
thode haben die Versuche, das farbige Licht bei Greisteskranken anzu-
wenden. Der Erste, der sich damit beschäftigte, war Ponza; er
schrieb der rothen Farbe erregende, der blauen und violetten be-
ruhigende Wirkung zu und brachte seine Melancholiker in roth be-
leuchtete, seine Tobsüchtigen in blaue oder violette Zimmer. Seine
1876 herausgegebenen Resultate veranlassten eine Nachprüfung in Eng-
land. Dort brachte man einen schwer Melancholischen in ein mit
gelben Tapeten, gelber Decke und gelbem Fussboden ausgestattetes,
nach Süden gelegenes Zimmer. Sobald die Sonne ins Zimmer schien,
war dasselbe von goldigen Lichtfluthen durchwogt. Einen zweiten
Kranken, der die Nahrung verweigerte, brachte man in ein himmel-
blaues Zimmer; einen Tobsüchtigen schloss man in einen violett be-
leuchteten Raum ein und in allen drei Fällen soll der Erfolg über-
raschend gewesen sein; ob er dauernd war, ist leider nicht anzugeben.
Zu ähnlichen günstigen Resultaten gelangte Da vi es, nur fand er, dass
grelle Beleuchtung leicht Kopfschmerzen hervorruft.
So interessant auch diese Versuche sein mögen, so sind sie doch
nicht einwandsfrei, denn wir wissen aus der Erfahrung, wie sehr die
verschiedenen Farben durch das Auge auf das Gemüth wirken. Für
die wissenschaftliche Verwerthung wäre es nöthig, farbige Lichtbäder
auf den Körper wirken zu lassen, ohne dass das Auge betheiligt ist
Zu diesem Zwecke setzte üibeleisen zwei Neurastheniker in den
lieber den Einfluss des Lichtes auf die körperlichen u. psychischen Functionen. 273
rothbeleuchteten Lichtkasten. In diesen beiden Fällen wurde von den
betreffenden Kranken eine günstige, erfrischende Wirkung angegeben.
Wie weit sich dieselbe durch Suggestion erklären lässt und wie weit
sie durch die Beleuchtung allein erzielt worden wäre, muss weiteren
Versuchen überlassen werden.
Farbiges Licht studirte übrigens schon im Anfange der sechziger
Jahre der amerikanische G-eneral Pleasanton und fand, dass violettes
Licht auf die Entwickelung junger Thiere besser wirkt als gewöhnliches
Licht. Eondratiew studirte an septisch inficirten Thieren und con-
statirte, dass die Sepsis je nach der Farbe des benutzten Lichtes ver-
schieden abläuft: bei Lichtabschluss ist das Fieber geringer, aber die
Entkräftung geht rascher vor sich. Grün entspricht völligem
Lichtmangel, Violett erhöht das Fieber, erhält aber die Kräfte, Roth
kommt dem Violett nahe. Weiss drückt die Temperatur herunter. Der
günstige Verlauf der ganzen Krankheit ist am raschesten in Weiss,
dann folgt Violett, dann Roth und dann Grün, dann Lichtabschluss.
Eine eigenartige Methode stammt von Babitt, die erOhromo-
pathie nennt Er benützt 1 — 2 Liter fassende Gefasse aus blauem,
rothem, grünem Glase, durch die er das Licht concentrirt auf die
kranke Stelle bringt; damit will er Gicht, Rheumatismus, Bronchitis
geheilt haben. Sein Schüler Schmitz erfand einen Apparat, Ther-
mostat, der im Stande ist, Tabes, Sehnervenatrophie, Tuberculose
im letzten Stadium zu bessern. Unter Anderem behauptet er, vom
Sonnenlicht strahlen die feinsten Kräfte aus imd diese Feinheit wird
nur durch die ebenfalls der Neuzeit angehörende Entdeckung der
psychomagnetischen Od- Ausstrahlung bei sensitiven und hochorganischen
Menschen übertroffen. Wer das Aetheratomgesetz genau kennt, weiss
auch, dass alle Dinge ihre besonderen Essenzen und Aetheratome aus-
strahlen müssen, gleich Ebbe imd Fluth, Pulsion und Repulsion, Ein-
und Ausathmen, negativer und positiver Polarisation.
Wir sind nun einerseits in Gebiete gelangt, in die zu folgen der
nüchternen Forschung nicht gut möglich ist, andererseits streiften wir
die Lehre vom 0 d und ich bin überzeugt, dass nach den langen
medicinischen Auseinandersetzungen jetzt jedes psychologische Herz
lauter schlägt. Freiherr von Reichenbach hat mit seiner „Od"
genannten Naturkraft, die zwischen Electricität, Magnetismus, Licht
und Wärme steht, begeisterte Anhänger, aber noch mehr absprechende
Richter gefunden. Er experimentirte mit farbigem Lichte und fand,
dass grüne Lichtstrahlen im Stande sind, bei sensitiven Menschen Ohn-
Zeitschrift für Hsnpnotismns «to. IX. 18
274 Franz Carl Müller.
machten und Krämpfe zu erzeugen. Er machte seine Versuche an einem
matten Spectrum des Mondlichtes und liess seine Versuchsobjecte mit einem
Stabe die yerschiedenen Farben des Spectrums durchlaufen. Sobald
dieselben auf Grün kamen, fielen sie, entweder, wenn sie hochsensitir
waren, wie vom Blitze getroffen nieder oder sie empfanden als stärkere
Naturen widrige Gefühle, die aufhörten, sobald der Stab in eine
andere Farbe kam. Er fand femer, dass positives und negatives Od
auf Metalle, Holz und Wasser verladen werden kann, mit denen man
die stärksten Einwirkungen auf den Menschen auslöst.
In dem ersten Taumel des Entzückens über die Entdeckung der
Böntgen-Strahlen glaubte man, sie mit dem Od identificiren zu
können. Man ist aber bald davon zurückgekommen. Wir wissen, dass
die Röntgen-Strahlen die kleinste Wellenlänge haben, etwa den fünf-
zehnten Theil der ultravioletten Lichtstrahlen. Diese Böntgen-Strahlen
wirken auf Pflanzen nicht heliotropisch und sind dem Insektenauge
sichtbar; sie haben keinen merklieben Einfluss auf die Athmung der
Thiere, verursachen aber eine mehrstündige Erregung. Bieder con-
statirte, dass an ausserhalb des Thierkörpers auf gutem Nährboden be-
findlichen Bacterien durch Bestrahlung mit Böntgen-Licht die Fort-
entwickelung rasch gestört werden kann, was Bergmann nach seinem
Vortrag auf der letzten Naturforscherversanmilung bezweifelt. Heil-
erfolge sahen Sinapius bei der Tuberculose, Despeignes wandte
die Strahlen bei einem Magenkrebs an, der sich verkleinerte; nach
Franzi US verzögert sich die Tollwuth, endet schliesslich aber doch
mit dem Tode. Bekannt sind die Veränderungen, die das Böntgen-
Licht auf der Haut hervorruft, aber weniger bekannt ist die That-
Sache, dass es sonst normal sehende Menschen giebt, welche die
Knochen einer durchleuchteten Hand nicht sehen können. Ob diese
Böntgen-Strahlen-Blindheit ein Analogen zur Farbenblindheit ist, wage
ich nicht zu unterscheiden.
Aus all dem Gesagten geht hervor, dass die Lichttherapie zweifel-
los eine Zukunft hat, aber um dieselbe auszubilden, bedarf es strenger
und rein wissenschaftlicher Forschungen. Es geht damit wie mit allen
neuen Heilmitteln, die zuerst überschätzt und dann unterschätzt werden.
Es wäre schade, wenn der gute Kern, der in der Sache liegt, durch
die falschen und voreiligen Schlüsse optimistischer Therapeuten zer-
stört würde.
Am Schlüsse meines Vortrages ist es mir eine angenehme Pflicht,
Seiner Excellenz Herrn Generallieutenant Freiherm von Branca für
gütige Unterstützung bei Beschaffung der Literatur meinen wärmsten
Dank auszusprechen.
Casuistische Beiträge zur Psychotherapie.
Von
Dr. L, Seif, Nervenarzt in München.
Fall 1.
Fräalein F., 28 Jahr, hereditär belastet, war schon als Kmd reizbar, empfind-
lich und launenhaft. Später nahm dies noch zn. Sehr nervös ist sie erst seit 5
Jahren, nachdem sie durch den plötzlichen Tod ihres Verlobten schwere Gemüths-
erregung^en durchgemacht hatte. Durch mehrere Jahre dauernde ZwangsTorstel-
lungen waren innerhalb eines mehrmonatlichen Anstaltsaufenthaltes im Ja^e 1896
Tollständig abgeheilt
Als sie im Februar 1896 in meine Behandlung trat, klagte sie über schlechten
Schlaf, Appetitlosigkeit, schmerzhaften Druck auf dem Scheitel, Angstgefühle, Herz-
klopfen, plötzlich auftretende tiefe Verstimmungen und heftige Hustenbeschwerden
in Folge chronischer Bronchitis. Sie bekleidete damals zum ersten Male in ihrem
Leben eine Stelle und zwar als Erzieherin in einer hiesigen Familie, fühlte sich
aber in dieser Stelle recht unglücklich.
Die Behandlung bestand in einfachen Wasseranwendungen und suggestiv-
therapeutischen Maassnahmen. £s gelang schon in der ersten Sitzung, Somnam-
bulismus zu erzielen. Schlaf, Appetit und Allgemeinbefinden besserten sich nun
zusehends, sie wurde viel heiterer und kam auch ihren beruflichen Verpflichtungen
mit einer gewissen Freudigkeit nach; indes kehrten schon bei ganz geringfügigen
Anlässen, häufig auch äusserlich unmotivirt, jene oben geklagten plötzlichen Ver-
stimmungen, Angstgefühle und der Druck auf dem Scheitel trotz dagegen ge-
richteter Suggestionen immer wieder.
Dieses auffallende Verhalten, dass ein Theü der krankhaften Erscheinungen
der Suggestion wich, der andere aber, scheinbar unmotivirt, immer wiederkehrte,
sowie Anregungen, die ich damals aus Breuer und F r e u d 's Arbeiten über Hysterie
empfangen, veranlassten mich, im Juni 1896 in tiefer Hypnose mit Hülfe der Hyper-
mnesie eine Psychoanalyse jener Gemüthsveränderungen, über deren intellectuelles
Substrat etwas auszusagen die Kranke im Wachzustande nicht vermochte, zu ver-
suchen. Das Ergebniss war folgendes:
Vor 10 Jahren, eines Morgens, als sie ausging, stiess sie plötzlich auf der
Strasse auf eine ihr sonst ganz unbekannte Dame, von der sie die Nacht vorher
geträumt hatte. Sie behauptete, nie vorher jene Dame gesehen zu haben. Dieses
eigenthümliche Ereigniss machte sie im ersten Augenblicke ganz verwirrt und be-
18*
276 ^' Seif.
stürzt, doch dachte sie weiter nicht mehr daran, machte ihre Einkäufe, blieb aber,
ohne zu wissen warum, den ganzen Morgen verstimmt. Nachmittags ging sie mit
ihrer Schwester spazieren und wurde dabei plötzlich von einer heftigen Verstim-
mung, Unruhe und einem sehr schmerzhaften Druck auf dem Scheitel befallen und
weinte, ohne dass sie, von ihrer Schwester darnach gefragt, den Grund angeben
konnte. Auf meine Frage, was für Gedanken sie sich denn bei jenem zufälligen
Zusammentreffen gemacht habe, erwiderte sie, sie habe in jenem Augenblicke ver-
rückt zu sein geglaubt. — Während sie mir dies Alles erzählte, kam sie sichtlich
in eine wachsende Unruhe tmd Erregung und wiederholte mehrmals, „so * etwas
könne nur Abnormen passiren, sie müsse abnorm sein". Da das „Abreagiren" kein
Ende nehmen wollte und die Erregung noch zunahm, beruhigte ich sie nun, auf
'alle Einzelheiten ihrer Darstellung eingehend, und stellte ihr den ganzen Vorfall
als durchaus harmlos und erklärlich dar, und belehrte sie ungeföhr, dass, wie eine
Wunde, solange ein Fremdkörper in ihr stecke, nicht heilen können, so auch ihre
Angst, ihre Verstimmung und ihr Kopfdruck immer wieder habe auftreten müssen,
da jener Schrecken und jene beunruhigenden Gedanken seitdem immer in ihr ge-
steckt hätten; nun aber sei sie darüber ganz klar und beruhigt und damit jenes
Vorkommniss mit allen seinen unangenehmen Folgen ein für allemal überwunden
und sie von jetzt ab also gesund.
Nach dem Erwachen Amnesie imd Euphorie. Sie erklärt, sich so behaglich
zu füUen, wie schon seit Langem nicht mehr. In mehreren folgenden Sitzungen
wurden jene Suggestionen von ihrer nunmehr dauernden Heilung wiederholt und
variirt.
Ich habe das Fräulein seit jener Zeit noch oftmab gesehen und bekomme seit
1 Jahre von ihrer Familie und ihr selbst, da sie von hier fortgezogen ist, von
Zeit zu Zeit Nachrichten.
Sie ist seitdem in ihrem ganzen Wesen viel freier und frischer. Jene tiefen,
langdauernden Gemütbsdepressionen sind verschwunden ; nur sehr selten mehr traten bei
ihr Verstimmungen auf und dann nur von geringer Intensität und Dauer. Auch
der Kopfschmerz kam viel seltener. Die Verstimmungen bei der Erinnerung an
den Tod ihres Verlobten waren in den letzten Jahren leichter geworden; sie
hatten schliesslich unter der Wirkung der Suggestion einer ruhigen Kesignation
Platz gemacht.
Soll ich das Gesammtresultat mit wenigen Worten bezeichnen, so kann ich es
nur eine weitgehende Besserung nennen, eine vollständige Heilung ist es nicht, da
nur die Quantität und Frequenz der krankhaften Erscheinimgen, nicht aber das
Qualitative, das Hysterische derselben, von der Behandlung beeinflusst wurde.
Nach Breuer und Freud aber hätte man hier eine vollständige
Heilung erwarten sollen, nicht eine bloss symptomatische. Jene
Forscher gingen von der Thatsache aus, dass Gefühle sich isolirt im
Bewusstsein halten können, deren intellectuelles Substrat unter die Be-
wusstseinsschwelle gesunken ist, also imbewusst bleibt. An diese Er-
fahrung knüpften sie ihre neue Therapie der Hysterie : das intellectuelle
Substrat ins Bewusstsein zu heben, und damit den „eingeklemmten
Affect" abzureagiren.
Gasuistisohe Beiträge zur Psychotherapie. 277
Wenn es nur auch damit immer gethan wäre! Es wäre dies
wirklich ein Wunsch, aufs innigste zu wünschen.
Aber was lehrt die Erfahrung darüber?
Unter den vielen Fällen von Hysterie, die ich seit einer Reihe von
Jahren zu untersuchen und zu behandeln Gelegenheit hatte, habe ich
vielmals solche von ähnlicher Zusammensetzung, wie es der oben an-
geführte ist, gesehen.
Die Schwierigkeiten beginnen aber gleich beim Aufdecken des in-
tellectuellen Substrates. Bei dem Rühren an alten, unangenehmen Er^
innerungen sind häufig emotionelle Verschlimmerungen das nächste
Resultat. Es kann da gar nicht genug Vorsicht und Individualisirungs-
kunst angewendet werden.
Dabei will ich hier« ganz absehen von der von O. Vogt^) schon
hervorgehobenen schädigenden Wirkung der hierbei angewendeten
Wachsuggestion, wie sie Freud angegeben. Eine weitere Schwierig-
keit hat es mit dem Abreagiren. Unser Fall oben zeigte es in
typischer Weise. Ich war nur gezwungen, da des Reagirens kein Ende
wurde, mit der Fremdsuggestion einzugreifen und die Gefiihlsstärke
des unlogischen intellectuellen Substrates durch logische Correctur des
letzteren aufzuheben, was auch gelang.
Beiläufig will ich hier nur erwähnen, dass in manchen schweren
Fällen trotz logischer Correctur des intellectuellen Substrates die
Emotion bestehen bleibt, was m. E. darauf zurückzuführen ist, dass
solchen Falles der Gefühlston der corrigirenden, logischen Gegen-
vorstellungen zu schwach ist, um die an Intensität überlegene Emotion
zu paraJysiren.
Dazu kommt noch eine wichtige Thatsache, die die endgiltige Be-
seitigung hysterischer Gefühlsstörungen oft genug zu einer „crux"
macht. Einmal setzt sich durch jahrelange Dauer die Verstimmung in
Folge Einübung immer fester und verbindet sich dann häufig mit
schwer zu beseitigenden Autosuggestionen, ein ander Mal erleidet sie
im Laufe der Zeit durch immer neue Einwirkungen Veränderungen,
dass sie schliesslich, d. h. zur Zeit der Psychoanalyse, ein Totalgefuhl
.darstellt, in das die jene neuen Einwirkungen begleitenden Gefühle als
Oomponenten eingegangen sind, deren sämmtliche intellectuelle Elemente
aber zu „heben" unmöglich werden kann.
Eine andere Form der Beseitigung intellectueller Substrate als
») Diese Zeitschrift, Bd. VIII, pag. 352 ff.
278 I". Seit
die oben besprochene wnrde von O. Vogt in der suggestiven Amnesie,
wie er sie bei seinen Experimenten oft mit Glück anwendete, ange-
geben und von Stadelmann als Vergessenheitssuggestion besonders
empfohlen.
Leider aber haben die Erfahrungen in der Praxis nicht gehalten,
was Stadelmann 's Erwartungen versprochen. Der Grund dafiir
wird wohl darin zu suchen sein, dass es einmal bei vielen Fällen nicht
gelingt, die Hypnose so weit zu vertiefen, um eine tiefer gehende
Amnesie für das intellectuelle Element mit Erfolg zu suggeriren,
während ein ander Mal wohl die Suggestion gelingt, der Erfolg aber
durch eine die Amnesie auf associativem Wege wieder aufhebende
Einwirkung nur von kürzerer oder längerer Dauer ist.
Das Haupthindemiss aber, eine vollstän^'ge Heilung der Hysterie
zu erzielen, liegt m. E. in der der Hysterie eigenthümlichen Disposition,
gelegentlich auf ähnlichem Wege wie bei früheren Störungen immer
wieder ähnliche Störungen zu contrahiren, und in der Unzulänglichkeit
unserer heutigen Mittel, jene Disposition aufzuheben.
Immerhin ist es ein grosses Verdienst von Breuer und Freud,
der Psychotherapie der Hysterie neue Wege gezeigt zu haben, wenn
auch ihre Verallgemeinerungen (auch die über die sexuelle Ursache
der Hysterie) sich als vielfach irrthümlich herausgestellt haben. Ausser
der hypnotischen Suggestion bleibt aber auch dem ganzen übrigen
Rüstzeug der Psychotherapie noch viel dabei zu thun übrig. Ausser-
ordentlich viel danken wir aber O. Vogt, der mit seiner ausge-
zeichneten Methode des partiellen systematischen Wachseins das Studium
der hysterischen Erscheinungen erst in wissenschaftliche Bahnen ge-
leitet hat und damit es möglich machte, in exacter Weise eine sym-
ptomatische Besserung und Heilung jener Erscheinungen zu erzielen.
Fall 2.
Frau F., 25 Jahr, kam am 30. Nov. 18% zu mir und erzählte mir, sie stamme
Yon nervösen Eltern und sei schon als Kind au%eregt, reizbar und- unstet gewesen.
Eigentlich krank sei sie erst seit 2 Jahren und zwar seit folgendem Vorfall: Sie
hatte von ihrer Tante das Versprechen erhalten, in die in einigen Tagen statt-
findende Vorstellung der Walküre gehen zu dürfen, mit der hinzugefügten Voraus-
setzung, dass sie nicht vorher unwohl würde. Schon lange von der Sehnsucht er-
füllt, „die Walküre** einmal zu sehen, war sie nun ganz ausser sich vor Freude,
aber auch zugleich von einer ge^sdssen Angst erfüllt, der Theaterbesuch könne
durch das Eintreten der Periode vereitelt werden. Am Tage des Theaterbesuches
trat wirklich die Regel ein, was sie indes der Tante verheimlichte. Sie ging Abends
ins Theater, nachdem sie schon den ganzen Tag über durch das Eintreten der
Gasuistische Beiträge snir Psychotherapie. 279
Regel in einer zunehmenden Erregung sich befunden hatte. Diese Erregung
sdiwoll im Theater, 'wo sie sich auf der Gallerie unter vielen Menschen befand,
plötzlich zu einem heftigen Angstzustande an, der von einem furchtbaren den
Athem beklemmenden Druck in der Magengegend, heftigen Kopfschmerzen,
Schwindel und einem Lähmungsgefühl im ganzen Körper begleitet war. Dieser
Zustand dauerte nun mehrere Tage, verschwand dann für kurze Zeit und zeigte
die Tendenz, immer wieder, länger und heftiger aufinitreten. Als neu kam zu
diesen Erscheinungen von jenem Tage an eine Angst vor jeder Berührung mit
Menschen und die Unföhigkeit, ohne Begleitung auf der Strasse zu gehen, was sie
selbst mit dem Auftreten des Angstzustandes unter den vielen Menschen und mit
der sie auf dem ganzen Heimwege vom Theater begleitenden Angst, bei ihrem
Schwächegefühle nicht nach Hause zu kommen, erklärte. Ausserdem klagte sie
über sehr labile Stimmung. In Folge der vielen misslungenen Garen, die 'sie
durchgemacht, hatte sie noch dazu die Autosuggestion, unheilbar zu sein.
Nach einiger Schwierigkeit gelang es, sie in Hypotaxie zu bringen. Das Re-
sultat der 17 mit ihr vorgenommenen Hypnosen, die immer die obige Tiefe bei-
behielten, war, dass sie jedesmal ruhiger, heiterer und hoffhungsfreudiger von
dannen ging, um dann nach mehr minder kurzer Zeit wieder rückfällig zu werden.
Ich rieth schliesslich ihrem Manne, der durch seine ungeduldige und ängstliche Art
ungünstig auf sie wirkte, sie in eine Anstalt zu bringen, um dort in einem gün-
stigeren Milieu die Behandlung fortsetzen zu lassen. Damit trat sie aus meiner
Behandlung aus. Einige Monate später erzählte mir ihr Mann, sie sei ihm nicht in
die Anstalt gegangen, weil sie sich vor diesem Schritte fürchtete, sie sei aber seit-
dem bedeutend ruhiger, gehe gelegentlich wieder allein aus und in Gesellschaft,
ihre übrigen krankhaften Erscheinungen seien viel milder.
In diesem Falle stand also das intellectuelle Substrat vollständig
klar im Bewusstsein; doch genügte zur Beseitigung der Emotion die
eigene logische Correctur des Substrates ebensowenig wie die durch
die Suggestion versuchte, da die gefühlsstarke und nicht zu über-
windende Autosuggestion der Unheilbarkeit, wie ich oben unter Fall 1
zu begründen suchte, durch ihre grössere Gefühlsintensität überwog.
Erst die mit einem stark negativen Gefühlston verknüpfte Vorstellung
von der Anstaltsintemirung und die von dieser ausgelöste lustbetonte
Vorstellung der Freiheit übernahmen die helfende Bolle und vermochten
einigermaassen den hysterischen Erscheinungen das Gleichgewicht zu
halten.
Fall 3.
Frau M., 32 Jahr, schwer belastet (Vater, Mutter und ein Bruder waren geistes-
krank), kam am 14. Mai 1898 wegen heftiger Angstzu8tände,^tiefer Verstimmungen und
Schlaflosigkeit in meine Behandlung. Als Ursache dafür gab sie an, sie sei vor
einem Vierteljahre während der Abwesenheit ihres 31annes auf einer Reise des
Nachts plötzlich aus dem Schlafe aufgeschreckt und glaubte in jenem Momente die
Thüre ihres Schlafzimmers sich etwas bewegen zu hören und gleichzeitig sei es ihr
wie eine Vorahnung gewesen, ihr Mann müsse sterben; denn das allein habe „der
280 L. Seif.
Geist^ mit der Thürbewegung anzeigen wollen. Die Aa£Fegang und Angst, die
eioh daran anschloss, nahm noch sehr viel mehr zu, als ihr Mann am nächsten Tage
mit einem Unwohlsein nach Hause kam, und blieb auch dann noch unvermindert
bestehen, als ihr Mann schon wieder vollständig hergestellt war. Ihre Xrankheits-
einsieht war nur unvollkommen. Mit tiefer Unruhe kam sie immer wieder auf
,,ihre unglückselige Eigenschaft der Vorahnung", deren Besitz sie immer unglück-
lich machen werde. Ich versetzte sie in tiefen Schlaf (Somnamb.), in dem sie
durch die das Unlogische il^er Vorstellungen corrigirenden und andere beruhigende
Suggestionen ihre psychische Ruhe wiederfand. Weitere 10 Sitzungen befestigten
das Erreichte und stellten einen regelmässigen, guten Schlaf wieder her. Sie weiss
sich nun, wie sie mir erst jüngst mittheilte, frei von Vorahnungen und Aberglauben
und ist dauernd wohl geblieben.
Fall 4.
Fräulein H., 21 Jahr, belastet (Vater excentnsch, Mutter hysterisch, Bruder
imbecill), wurde im Alter von 5 Jahren von einem Dienstmädchen zur Onanie an-
gehalten, der sie von da ab sehr oft sich hingab. Mit 13. Jahren verführte sie ihre
Erzieherin zum sexuellen Verkehr mit dem männlichen Geschlechte. Sie fühlte
sehr häufig mit Abscheu das Entehrende und Schimpfliche ihres Thuns bis zum
taedium vitae und machte, wie mir ihre Mutter mittheilte, drei Selbstmordversuche
mit Aufhängen. Trotzdem gab sie sich immer wieder von Neuem unter dem, wie
sie sagte, zwingenden Drucke ihrer sexuellen Reizbarkeit allen möglichen, oft tief
unter ihr stehenden Männern hin. Vor 3 Jahren bei Gelegenheit einer sie sehr
aufregenden Kneippkur zeigte sie zum ersten Male grosse hysterische Anfälle. Un-
empfindlichkeit der linken Körperhälfte, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit und sehr
launenhaftes und impulsives Wesen. Ende vorigen Jahres wurde sie von einem
Studenten guter Hoffnung. Während der ganzen Schwangerschaft war sie von
allen sexuellen Perversitäten ganz frei und auch guten Allgemeinbefindens.
Als ich sie am 1. October 1896. 7 Wochen nach der glücklichen Entbindung
von einem kräftigen Mädchen, besuchte, fand ich sie hochgradig erregt, vor Allem
über die seit 14 Tagen mit furchtbarer Heftigkeit wieder auftretenden sexuellen
Empfindungen und Triebe. Sie onanirte wieder bei Tag und Nacht und war sehr
launenhaft. Auch die grossen Anfälle waren schon mehrere Male wiedergekehrt.
Oftmals äusserte sie die Absicht, sich und ihr Kind zu tödten.
Während der Untersuchung zeigte sie für kurze Zeit Mutismus, ausserdem
grosse motorische und psychische Unruhe. Sie ist gross, schlank, von massigem
Ernährungszustände, Brüste gut entwickelt.
Hysterogene Zonen: Brüste, Jugulum, Epigastrium und linkes Ovarium.
Die Untersuchung der Sensibilitüt ergab linksseitige Hemianästhesie und die
mir auch sehen bei anderen Fällen aufgefallene Thatsache, dass bei wiederholter
Prüfung derselben anästhetischen Stelle Berührungs- und Schmerzempfindung all-
mählich ganz zurückkehrte.
Als ich sie einschläferte, zeigte sie sofort die Anfangserscheinungen des hy-
sterischen Anfalles, der aber schon nach wenigen Secunden unter entsprechenden
Suggestionen nachliess und einem tiefen Schlafe (Somnamb.) Platz machte.
Im Ganzen fanden 6 hypnotische Sitzungen statt, unter deren Wirkung, die
durch Wasseranwendungen noch unterstützt wurde, das Befinden der Kranken von
Casuistische Beiträge zur Psychotherapie. 281
Tag za Tag sich hob. Sie wurde immer ruhiger, die Verstimmungen, Mord- und
Selbstmordgedanken traten ganz zurück, ebenso auch ihre sexuellen Parästhesien ;
die Anfälle blieben aus. Dagegen beschäftigte sie sich sehr fleissig im Haushalte.
Ein Jahr später noch erzählte mir der Hausarzt, sie befinde sich, abgesehen
von gelegentlichen geringeren nervösen Störungen, ganz wohl. Seitdem habe ich
nichts mehr von ihr gehört.
Als besonders interessant an diesem Falle möchte ich die That-
sache hervorhebeD, dass während der Gravidität der Verlauf des hysteri-
schen Erscheinungscomplexes, speciell der sexuellen Erscheinungen und
der Anfälle, eine Unterbrechung erfuhr, deren Ursache wohl in der
ganzen Umwälzung des Organismus und der damit verbuDdenen psy-
chischen Veränderung zu suchen sein wird.
Die tägliche Beobachtung ist recht reich an bitteren und trüben
Erfahrungen, wenn oft Aerzte, ausgehend von falschen Verallgemeine-
rungen der eben hervorgehobenen Thatsache, und irregeleitet durch
veraltete Vorurtheile den Eltern solcher hysterischer Töchter voreilig
den Sath geben, diese zu verheirathen, „dann sei die Hysterie gleich
^eheilt^'. Ja, wenn nur nicht die schwere Enttäuschung erst nachkäme!
Fall 5.
Herr F., 38 Jahr, aus gesunder Familie, früher immer gesund, von sehr gutem
Ernährungszustände, hatte mit 22 Jahren eine Gonorrhoe und linksseitige Orchitis
durchgemacht. Dadurch sehr beunruhigt, wagte er aus Furcht vor Wieder-
ansteckung nicht mehr den Ooitus auszuüben. Vor einem halben Jahre nun verlobte
-er sich und entdeckte dabei alsbald zu seinem grossen Schrecken, dass er sich jedes-
mal in Gegenwart seiner Braut impotent fühlte. Ein guter Freund, Arzt, rieth zu
dem täglich zweimaligen Gebrauche kalter Sitzbäder, „dann würde es schon gehen^.
Als er mich im September 1895 in meiner Sprechstunde besuchte, war er hoch-
gradig erregt und erzählte mir, er sei seit 6 Tagen verheirathet, auf der Hochzeits-
reise und „complet impotent''. Die sehr schwachen Erectionen erloschen schon ante
portas. Die Untersuchung ergab: linker Hoden verhärtet, rechter ohne abnormen
Befund. Ich stellte nach dem Ergebnisse der psychischen Untersuchung die Diagnose
auf psychische Impotenz und versprach Heilung. Ganz leicht wurde bei ihm Hypo-
taxie mit Amnesie erzielt. Nach 2 Hypnosen, die ich durch Faradisation der Sym-
physen-, Lendenmarks- und Dammgegend unterstützte, bekam er kräftige Erectionen,
worüber er sehr glücklich war. Ich sagte ihm, er wäre nun so weit, dass es ganz
gut ginge, aber er solle noch mit dem Versuche warten. Am nächsten Tage kam
er freudestrahlend, es wäre sehr gut gegangen, aber — trotz lange fortgesetzten
Coitirens sei es zu keiner Ejaculation gekommen. Ich beruhigte ihn darüber noch
in einer letzten Hypnose. Am nächsten Tage musste er heimreisen, da sein Ur-
laub zu Ende war. — Juni 1896 besuchte er mich und erzählte mir, er sei seit
der Behandlung ganz potent, seine Frau im sechsten Monate schwanger. Doch
wollte in den ersten Monaten nach der Behandlung trotz kräftigster Erectionen
and vollständiger potentia coeundi keine Ejaculation eintreten (eine neue Bestätigung
282 I*. Seif.
für die schwere, langsame Erregbarkeit des Ejaculationscentrums !) Erst am Weihr
nachtsabend, wo er sehr yergnügt mit seiner Frau zosammengesessen und durch
Pansch sehr aufgeräumt geworden war, beschloss zum ersten Male die Ejaculation
den Beischlaf und seitdem immer.
Fall 6.
Herr G., 56 Jahre alt, trat Ende October 1897 wegen Schlaflosigkeit, die sich
auch mit Morphium nicht ganz beheben Hess, ängstlicher Verstimmung und grosser
Reizbarkeit, unter der er seine Umgebung oft schwer leiden liess, sowie wegen all-
gemeiner Schwäche und fast vollständiger Appetitlosigkeit in meine Behandlung.
Als Ursache seines Leidens ergab sich bei der Untersuchung weit fortge-
schrittene Tuberculose der Lungen und des Darmes. Was ihn am meisten quälte,
war die anhaltende Schlaflosigkeit, die allen Mitteln, auch, wie oben gesagt, dem
Morphium, das ihm nur Unbehagen und Unruhe machte, trotzte.
Anfangs fand täglich eine hypnotische Sitzung statt, später nur mehr jeden
anderen, dritten oder vierten Tag. Schon nach der vierten Hypnose, in der der
Kranke in Somnambulismus gekommen war, wurde ein zehnstündiger, ununter-
brochener, erquickender Schlaf erzielt; das Morphium aber blieb, ohne von dem
Kranken vermisst zu werden, dauernd aus der Behandlung fort.
Schon von Anfang der Behandlung an erzog ich ihn zur Autohypnose, was
ihm von der vierten Hypnose an auch ganz leicht gelang, und so schlief er von
da ab täglich bis zu 18 und mehr Stunden, durch 4 Monate bis fast zu seinem
Tode am 20. Febr. 1898. Ausserordentlich hob sich sein psychisches Befindeu.
Seine Angst, Verzweiflung und oft brutale Reizbarkeit gingen zurück; er wurde
dankbar, liebenswürdig und hatte für seine Umgebung wieder freundliche Worte.
Mit dieser Hebung des subjectiven Befindens, die auch von einer solchen des
körperlichen, Besserung des Appetit«, erfolgreicher suggestiver Beseitigung der
Leibschmerzen, begleitet war, kam er nun in einen Zustand behaglicher Euphorie,
der bis zum Tode dauerte.
Einen Tag vor seinem Tode und den Todestag selbst, gelang es nicht mehr,
ihn einznschlälem.
Unter der natürlich immer fortschreitenden Inanitioa war es nämlich diese
beiden Tage zum Auftreten von Ideenfiucht, Illusionen und Hallncinationen meist
heiteren Characters gekommen, die ihn zu sehr ablenkten.
In diesem Falle, wo alle Aussicht auf Heilung oder Besserung
von vornherein ausgeschlossen war, hatte die Behandlung nur die eine
Aufgabe, die Schmerzen zu beseitigen und Kühe und Schlaf zu schaffen
und, mit einem Worte es zu sagen, für Euthanasie zu sorgen, deren
Schaffung in dieser Form wohl nur die Suggestivtherapie leistet, die
darum in solchen und ähnlichen Fällen nicht genug empfohlen werden
kann, besonders in ihrer Anwendung wie hier, als Dauerschlaf.
Ich glaube, auch Hirschlaff würde solchen Falles von der „Ver-
werflichkeit tiefer Hypnosen aus ethischen Gründen^' einmal absehen
und sein „ausnahmsweise^^ gelten lassen.
Einiges über Suggestion durch Briefe.
Von
A. Grohmanii- Zürich.
Ich möchte durch vorliegende Zeilen die Aufmerksamkeit der Fach-
männer im Grebiete der Suggestion auf die grosse suggestive Wirkung
aufmerksam machen, die durch Briefe ausgeübt wird und speciell durch
Briefe auf einem Gebiete, das ich hier hervorheben werde.
unter den verschiedenen Graphologen, die sich in der vierten
Seite unserer Zeitungen für Gharacterauslegung nach Handschriften an-
bieten, macht sich besonders ein P. P. Liebe in Augsburg durch
pomphafte Annoncen bemerkbar.
Aus Bekanntenkreisen, durch zweite Hand, erhielt ich kürzlich eine grapho-
logische Schrifbauslegung, die ein mir Unbekannter sich für eine gute Geldsumme
von diesem Graphologen hatte ausstellen lassen. Beigelegt war die Broschüre
^Seelen- und Char acter- Analyse von P.P.Liebe, Augsburg, Selbstverlag."
Die Schriftauslegung lautet wörtlich:
(Umsetzung des Stenogramms.)
Psychographologisches Portrait.
Wissenschaftlich-unparteiisch. Comb. Orig. Methode.
Auf Grund gesandter Schriftprobe.
Wenn die Festigkeit Ihres Characters auch keineswegs phänomenal genannt
werden kann, so ist sie doch um ein gutes Theil bedeutender als bei den Durch-
schnittsmenschen. Sie sind erfinderisch beanlagt und verfügen über eine Dosis
Mutterwitz, sind in Bezug auf die Lebensauffassung mehr ernst als heiter, im All-
gemeinen offen und ferner accurat. Im aufgezwungenen Verkehr mit Menschen,
denen Sie gesellschaftlich und geistig überlegen, zeigen Sie Besonnenheit und wenig
Mittheilsamkeit, sofeme Sie nicht durch scheinbar absichtloses Sondiren entdecken,
dass ein guter Kern vorhanden.
Bei sonst ahlichem Bildungsgrade offenbart sich in wichtiger Conversation ein
Widerspruchsgeist, der sich jedoch nicht bis zur Streitlust steigert und auf eine
vielleicht tyrannische Art Ihres Wesens unmöglich schliessen lässt.
Der sich breit machenden Gemeinheit gegenüber sind Sie ein stolzer Gharacter,
der aber das „noblesse oblige^ hochhält und deshalb eine gewisse Berechtigung zu
diesem Stolze hat. In sittlicher Beziehung haben Sie durch mühsam selbsterworbene
284 ■^' (rrohmann.
Grundsätze und gefestig^te Anschauungen manche Errungenschaft zu verzeichnen.
Bezüglich ihrer Geistesart kann Ihnen aber der Vorwurf der Manierirtheit nicht
ganz erspart bleiben. Hier wirken Sacht nach Ausserordentlichem, Phantastik und
eine wenn auch nicht verschrobene, so doch nicht immer einfache gediegene Origi-
nalität zusammen, nicht in dem Maasse, dass sich öfter ein Hang zur Confiision
einstellen könnte. Unleugbar ist es ja ein den Blick in die Tiefen nicht scheuender
und nach Keinem und Hohem strebender (reist, der mir aus diesen Zügen entgegen
schaut. Sie neigen in manchem Zuge Ihrer Anschauungsweise ein wenig zum Ueber-
menschen, nicht zum Nitzscheaner, eher sieht es nach einem Uebermenschen in der
Aesthetik aus. Nun finden sich auch schwache Anzeichen von Süffisance, Un-
gebundenheit und frohes, jedoch nicht schaumweinartiges Geniessen und stärkere,
von Leidenschaftlichkeit, riesiger Selbstliebe, geistiger Herrschsucht und excen-
trischen Launen.
Ihr Geist äussert manchmal eine wirklich grandiose Lebhaftigkeit; zum TheU
rührt diese von einem sehr incitablen Nervenzustand und von der, wenn durch ein
homogenes Wesen hingerissen, in Ihrem Herzen mächtig fluthenden Leidenschaft.
Das Ungestüm derselben übersteigt dann bei Weitem Ihre Selbstbeherrschungs-
fahigkeit, die übrigens auch Ihrer Widerpruchslust nicht recht gewachsen ist.
(Siehe eine analoge Gonstatirung am Eingange.)
Es kann Sie nicht wundem, wenn ich zu sagen habe, dass Sie im schroffen
Gegensatze zu dem vorherigen Ausspruche Perioden absoluter geistiger Unfrucht-
barkeit und innerer Oede zu überwinden haben und ich brauche dieses nicht zu
commentiren.
Sie sind in einer von Ihnen gewünschten GeseUigkeit schlagfertig, intelligent,
selbstbewusst, kein Spielverderber, und müssen mir dennoch zugeben, dass Sie Ihre
schönsten Stunden zumeist der Einsamkeit verdanken, deren gerade Ihr NatnreU
zu Zeiten zwecks innerer Ausreife und Sicherung des Gewonnenen bedarf. Aber
auch Ihr eigenartig veranlagtes Gemüth, das Augenblicke kennt, in welchen Sie für
Freude unempfänglich sind, sehnt sich oft nach Stunden der Zwiesprache mit Ihrem
eigenen Innern und noch mehr nach dem Zusammenklang mit einem Wesen, das
Ihre frohlebigcn Gefülile und Ihre herben Empfindungen, Ihre Staub- und Ihre
Stürmergedanken erkennt, Sie selbst als Ganzes nimmt und die rechte Kunst des
Unterscheidens und mitlebenden Zuhörens versteht.
In Punkten von Belang ist Ihnen eine seltene Einfachheit, Herzenswärme und
ruhige suchende Abwägung, dann reges Handeln eigen.
Die scharfen Ecken wird Zeit und Ausreife abschleifen.
Der Meister d. w. Psychographologie P. P. Liebe, pädag. Schriftsteller.
Hätte Herr Liebe geschrieben, dass sein Client zwischen 150 und 2(X) Oenti-
meter gross sei, so hätte er, meiner Meinung nach, eine determinirtere Erklärung
abgegeben und noch eher einen leicht nachweisbaren Irrthum riskirt, als mit seiner
Characterschilderung.
Aber uninteressant wäre eine solche Maassangabe gewesen. Auf das
Interessante kommt es aber hier gerade au.
Die Expertise ist jedenfalls ein Muster darin, dass sie lauter Aussprüche
liefert, die alle auf Menschen mit recht verschiedener Anlage passen.
Also, die Characterfestigkeit des mir unbekannten Herrn X. soll sich zwischen
den beiden Grenzen des „Phänomenalen** einerseits, und des „um ein gutes Theil
Einiges über Suggestion durch Briefe. 286
Bedeutendem als bei den Durchschnittsmenschen" andererseits, befinden. Und wie
gerne drückt der moderne, pessimistisch angelegte Mensch diesen Durchschnitts-
menschen tief herab!
Der mir unbekannte Herr X. soll auch erfinderisch beanlagt sein. Ich bitte
Herrn Liebe, mir erstens die Menschen zu zeigen, die es nicht sind, und dann
zweitens die, die es nicht zu sein glauben.
Wie wohl thut die Entdeckung, dass man zu den gelegentlich „absichtlich
Sondirenden" gehört. Und dass man dazu gehört, das hat Herr Liebe ganz
allein durch die Schrift herausbekommen. Der Mann kennt mich, dich, sich und
uns alle also ganz genau.
Der „nicht bis zur Streitsucht sich steigernde Widerspruchsgeist''! Ganz der
Herr Ich in allen Gassen!
Herr X. hat auch viel Freiheit in der Wahl, wo er sich placiren will: hier
das „nicht schaumweinartige Gewissen **, dort „Leidenschaftlichkeit'', und gleich
daneben die „manchmal grandiose Lebhaftigkeit''. Irgend einer dieser Sperrsitze
wird Herrn X. sicherlich ^ehagen. Wahrscheinlich belegt er alle drei.
Die Perioden „absoluter geistiger Unfruchtbarkeit ** ! Wie zutreffend für Herrn
X., Y. oder Z. ! Bei mir stellt sich dieser Zustand gleich nach Tisch ein, und wenn's
Schweinecotteletts gab, noch mehr.
Ich erinnere mich dunkel eines Herrn, dessen Namen, Alter, Herkunft, Natio-
nalität und Beruf ich leider ganz vergessen habe, der auch an dieser Krankheit
leiden soll. Er soll als Palliativmittel mit Erfolg ein Sopha angewandt haben.
Aber auch die periodisch eintretende „innere Oede" ist g^ut und echt und
hausbacken. Auch Herr X. wird sie nicht ableugnen können. Folglich ist er „ge-
troffen". Aber dieser innerlich öde Herr X. wird zum Trost gleich darauf auf-
merksam gemacht, dass er ja „in von ihm gewünschter Geselligkeit intelligent" sei !
Wie nett!
Das „eigenartige Gemüth" — (wer hat denn ein anderes?) — ist dann auch
„für Augenblicke" der Freude zugänglich!
Und damit das Ganze seinen Werth behält, und der Empfänger beim Nachlesen
in späteren Jahren durch noch eine Extra-Bestätigimg erfreut wird, sind unterdess
„die scharfen Ecken durch Zeit und Ausreife abgeschliffen".
Und wenn dann die Hälfte aller dieser Allgemeinheiten stimmt, wie schönt
Wie hat er mich doch erkannt!
Nehmen wir hinzu, wie dehnbar die meisten psychologischen Begriffe, be-
sonders für die nicht wissenschaftlich Geschulten unter den Kunden des Herrn
Liebe sein mögen, wie überhaupt für so viele Halbgebildete „Psychologisches"
und alles Unklare auf dem Gebiete des Spirituellen zusammenfällt, wie sehr die bei
vielen Menschen vorhandene Gier nach Briefen, das Verlangen, von sich sprechen
zu hören, vorliegt, so lässt sich die Anerkennung verstehen, die Herr Liebe bei
seinen Kunden erwirbt, und von der ich weiter unten sprechen will. Die Gefühls-
duselei mancher Menschen ist gar gross, der Wunsch, das theuer Bezahlte auch als
werthvoll zu erkennen, beeinfiusst sicherlich das Urtheil von Manchem. Das Ganze,
diese Bespiegelung der eigenen Person durch einen Andern ist auch für die Meisten
kein alltäglicher Vorgang. Schon in seiner Eigenschaft als Rarität thut da der
Brief seine Wirkung.
Absichtlich gehe ich hier nicht auf das Sachliche in der Kunst der Grapbo-
286 A. Grohmann.
logie ein. Die mag bestehen. Ich weiss von ihr zu wenig, wenn ich auch weiss,
wie die Beoriheilung nach Form, Inhalt, Calligraphie etc. einer Schrift zur Be-
nrtheilong eines Menschen mit benutzt werden kann. Wie weit obige Schrift-
Auslegung auf den Mann passt, auf den sie sich bezieht, weiss ich nicht, ist auch
hier gleichgültig und uninteressant. Ich möchte hauptsächlich auf das suggestire
Element des Briefes hingewiesen haben.
Dieses suggestive Element können wir uns aber dann erst gut vorstellen und
«s völlig bemessen, wenn wir erfahren, welcher Art die Menschen sind, auf die es
zu wirken bestimmt ist. Sehen wir uns nun die Geistesbeschaffenheit der Kunden
des Herrn Liebe etwas näher an. Das können wir, indem wir seine Broschüre
„Seelen- und Character- Analyse^ durchnehmen.
Nummer eins: Es ist auf gutem Papier, sehr schön gedruckt und ausg^attet:
^nz artig und nett. Auch das wollen wir. Auch das wirkt.
Zur passenden Einleitung wird Göthe und Schopenhauer citirt Dann
geht's gleich an den Preiscourant für die Expertisen des Meisters.
Wir sehen da, dass er Expertisen zum Preise voA 6 bis 100 Mark liefert
Auch kommen Gutachten vor über die zu erwartende Harmonie für Verlobte und
solche, die es werden wollen.
Sehr geschickt macht sich ein Wink an die Herren Professoren, — der aber
wohl auf ganz Andere wirken soll: Die Herren an der Universität, die mir als
sehr zweckmässige Schriftproben gerne ihre Collegienhefte einsenden, mochte idi
dringend bitten, ihre Hefte, um Verwechslungen bei der Retoumirung zu ver-
meiden, sehr genau zu bezeichnen etc. Telegrammadresse : Magister Liebe Augsburg.
Arbeit eines Mannes, der sein Leben einer grossen Idee opfert (Zwar schon
sehr abgenutzt; zieht aber noch immer.)
Bei dem Stadium meiner Arbeiten kann ich mit vollem Rechte vorherige
Sammlung des Geistes verlangen; deshalb auch mein Ansinnen, sich in meine
Elaborate nur in Nachtstunden zu vertiefen. (!)
Ich schätze, — jeder Verständige wird mir das nachfühlen, — meine Arbeit
so hoch ein, dass nur von einer Vergütung für den Zeitaufwand, nicht von einer
„Bezahlung'' gesprochen werden kann.
Man hat sich daran gewöhnt (!), sich in Lebensfragen, welche Delicatesse,
einen tief eindringenden Forscherblick in alle Winkelzüge der menschlichen Ge-
danken, Gefühlsrichtung und Leidenschaften verlangen, sich an mich zu wenden. —
Als ehrlicher Mensch wehrt sich auch Herr Liebe dagegen, dass er als
etwas Anderes angesehen werde , als er ist. So viele seiner Clientinnen wollen
in ihm den Ahasver, den Uebermenschen, den Seelenzauberer, den Magnetiseur in
der Feme, den finstem Mann mit dem düstem Blicke, den Einsiedler in der Stadt,
^en Ascet im Gehrocke erblicken.
Dann kommen viele Citate grosser Männer, alle so gewählt, dass ein kritik-
loser Leser etwas wie eine Empfehlung der Graphologie herauslesen kann. (Sehr
bewährtes Mittel: Man fährt auf hohen Rädern.)
Mit der Erklärung, dass es seinen Stolz tief verletze, wie ein Wunderdoctor
Zeugnisse vorlegen zu müssen, werden beglaubigte Danksagungsschreiben angeführt
von einer Fürstin, mehreren Grafen, Baronen, Professoren und vielen andern Grossen
<ler Gesellschaft.
Eine grosse Zahl von L i e b e 's Kunden finden, dass seine Schriftauslegungen
Einiges über Suggestion durch Briefe. 287
eine unheimliche Genauigkeit hätten, für Viele übersteigt sie alle Be-
griffe. Einer erklärt, Herr Liebe könne das Zeug nicht hallucinirt haben, und
dass er der geistigen Textur beikomme. Auch ihm ist er ein AhasTer. Das Geld,
das an Herrn Liebe bezahlt wird, sei hohe Zinsen tragendes Kapital. —
Auch für einen Kabbalisten wird der Mann in Augsburg angesehen. (Und wie die
Fortsetzung zeigt, ist er es auch in der That : für die, die sich ankabbalisten lassen.) —
Einer ist seiner bangen Zweifel, ob er seiner Braut würdjg
sei, erst dadurch Herr geworden, dass er von Herrn Liebe ein (vermuthüch
gutes) Characterzeugniss erhielt. Dafür will er aber auch der Jünger des grossen
Meisters werden. —
Ein Ligenieur schreibt: Sie haben es fertig gebracht, mich alten Jungen weich
zu kriegen. —
Liebe's seltene Talent wird auch als eines geschildert, das ihn (Liebe)
yielleicht noch zerstören wird! — ,
Höchstes menschliches Wissen. —
Einer verdankt der empfangenen Gharacterauslegung eine neue, stolze und
freudige Lebensanschauung. —
Hellseher, Seelenzauberer, unheimlich-richtige Gharacteristik, ganz pa£P beim
Bmpfang ! Nagel auf den Kopf. —
Ein Wiener hat den Vorsatz sich zu bessern, und bittet Herrn Liebe zu
diesem Unternehmen um eine Schriftauslegung. (!) —
Eine Gräfin in einem Bade dankt Herrn Liebe. (Vielleicht hat da das Bad
gewirkt.) —
Grösster Seelenforscher. — Genialer Meister! —
Einen hat es „geradezu erschreckt", dass Herr Liebe in der Characteristik
auf einen „dunklen Punkt" hinweist; — denn er ist Besitzer eines solchen. Wie
Herr Liebe das nur wissen konnte? —
Eine Dame bereut Herrn Liebe nicht vor ihrer unglücklich abgelaufenen
Wie psychographologisch consultirt zu haben. —
Einer war entsetzt, zu sehen, dass Liebe das Pathologische in ihm er-
kannt habe. —
Unheimliches Gefühl, sein ganzes Innere wie einen auFgespiessten Schmetter-
ling vor Augen zu sehen. —
Kanzler unter den Menschenkennern! —
Ein Kunde rühmt : Ich bin glücklich, einmal verstanden worden zu sein. Man
mache sich die Vorstellung: dreissig Jahre bald gelebt haben, in fast allen Erd-
theilen gereist zu sein, mit Menschen so verschiedenen Schlages etwas verkehrt haben
und^doch nie vorher verstanden worden sein! Ein Fremder, ein Ausländer andern
Berufes, anderer Bildung, andern Geistes, nie gesehen, nie gesprochen — P. P. Liebe
— ist der einzige Erdenpilger, der mich jetzt, bis heute, versteht! —
Ein Schriftsteller und Theologe schreibt Herrn Liebe: Ich weiss wirklich
nicht, ob ich den psychologisch-charaoterologischen Tiefblick eines Shakespeare
mehr an Ihnen bewundem soll, oder den Scharfsinn etc. . . . und: Ihre Kunst
wird mit Ihnen aussterben! (Leider wird sie das nicht. Die Druckerschwärze und
die Gewissen, die nicht aussterben, werden dafür sorgen.) —
Dann dichtet ihn Einer an. (Später thun es noch mehrere Andere.) — Hauch
ans einer andern, höhern Sphäre, der mich da anweht! —
288 A. Grrohmann.
£ine Dame bestätigt den £mpfang von Liebe^s Schriftauilegnng und er-
klärt: Heute yerstehe ich noch nicht Alles, aber Sie sagen die Wahrheit. (Die
wird sich in den nächsten Tagen ins volle Verständniss hineinsoggeriren; das
wette ich). Sie schliesst mit einem Grusse an den Priester der müden Seelen! —
£iner hat schwere Träume bekommen, als Nachwirkung von Liebe's Aus-
legung.—
Von einem Clienten berichtet Liebe, dass er ihm 36 Seiten geschrieben habe.
Phänomenale Kunst, Offenbarung Gottes. —
Wäre ich Spiritist, — (was nicht ist, kann werden!) — würde ich glauben,
Sie hätten mit meinem Astralgeist Zwiesprache gehalten. —
Ihr Werk loben, ist hier zu banal. —
Würdigster Vertreter dieser Wissenschaft. —
Staunende Bewunderung.
Zielyerheissende Wegleitung, Fascinirend. —
Ich werde Ihr Urtheil über meine Handschrift meiner Freundin mittheilen,
fürchte aber, dass sie geradezu erschrecken wird! Jedenfalls wird ihre warme
Freundschaft für mich eine Probe bestehen. (Die Freundin soll nämlich erst durch
Liebe's Auslegung ihre Hacken kennen lernen.) —
Einige Bemerkungen will ich zur Frleichterung (der bestellten Ausleg^ung !)
noch beifügen ; doch nein, ich bringe die Zeilen gleich zur Post. (Ist auch besser !)
Sie haben mit einer tödtlichen Sicherheit meine geheimsten Empfindungen
klar gelegt. —
Seltene Genialität, graphologische Leistungsföhigkeit phänomenal! (Zeug-
nisse dieser Art sind viel vertreten.) —
Monumentales Werk. —
Plötzliches Licht. —
Im März laufenden Jahres traf mich ein Schlag, vor welchem ich mich furcht-
bar fürchtete; ich dachte mit Zähneklappem daran, er könnte mich treffen, stellte
mir vor. ihn nicht überleben zu können, und als derselbe eintraf, vergoss ich keine
Thräne, ja war fröhlich sogar, übermüthig. Niemand sah mir auch nur die geringste
Spur eines Kummers an. (Hierauf kommt nach einer romantisch>sentimental-hyste-
rischen Schilderung einer 18 Jährigen die Bemerkung:) Nur meine grosse Vorliebe
für Thiere ist mir von jener Zeit geblieben. —
Eine schreibt, sie könne heute gar nicht weiter schreiben; sie müsse erst
ruhiger werden. —
Eine Dame erklärt, dass ihr einige Eigenschaften, die Herr Liebe an ihr
entdeckt, schon durch Jesus aufgedeckt worden seien. —
Wie traurig, dass Ihre höchste Kunst nicht übertragbar ist und mit dem
Entdecker zu Grabe getragen wird. —
Einer hat sich durch Liebe erst kennen gelernt, und sendet ihm die Schrift
seiner Frau zur ßeurtheilung zu. Er will die jetzt auch kennen lernen. —
Eine glückliche Mutter schreibt: „Meine Tochter ist, ich darf sagen, das Ideal
der Reinheit, lieb und lebensfroh, und mit süssem Gesang begabt! Sollten Sie je
Sehnsucht haben, uns kennen zu lernen — meine Tochter schwärmt ja für Ihre
Dichtungen mehr als mir, oflfen gesagt, lieb ist, — so sind Sie herzlich willkommen.
(Wie zur Entschuldigung setzt sie gleich drauf hinzu:) Vielseitige Bildung gemessen
Frauen auch selten. —
Einiges über Suggesüon durch Briefe. 289
Einer an Bord eines österreichischen Kriegsschiffes in Ganada beschreibt das
Zusammentreffen einiger Zufälligkeiten und fragt den Augsburger, ob das auf
geistiger Telegraphie beruhe? —
Eine Dame dankt dem Meister für seine Photographie und findet, dass er Tiel
Aehnlichkeit mit dem angeödeten Zola habe. —
Ein Rechtsanwalt schreibt: Da ich zur Zeit nahe daran bin, mich zu yer-
ehelichen, so wäre es mir nicht uninteressant, zu wissen, was ich für einen Gharacter
habe, obwohl ich dies eigentlich schon wissen sollte, da ich mich ziemlich viel mit
Selbststudium und Selbstbildung beschäftige. —
Einer aus Niedermendig schreibt, sein Staunen wolle kein Ende nehmen und
bestellt gleich des ferneren ein Gutachten über die Harmonie zweier Bekannter. -—
Ein braver Mann in Miesbach erklärt : Ich möchte gut werden. Bestellt dazu
Schriftauslegung. —
Ein Mann aus Linz schreibt : Mit welchem Gefühl ich Ihre Auslegung meiner
Schrift las, kann ich Ihnen etwa so erklären: Ein Wüstenreisender, der seinen
Durst nur aus eklen Pfützen stillen konnte, erblickt vom Rande einer Erhöhung aus
unter sich einen spiegelklaren See, voll des köstlichsten Wassers. Er steigt hinunter
und weidet sich an seinem klaren Spiegelbilde, etc. etc. ... So geht's eine Seite
lang weiter und dann bestellt dieser lechzende Wüstenreisende noch eine zweite
Auslegung für sich. (!) Geld folgt separat. (Er trinkt sich, für den Bedarf
der Zukunft, wie das „Schiff der Wüste" den Ranzen voll.) —
Die Ausführung des Portraits ist geradezu grossartig und werde ich mich
immer und immer wieder in dasselbe vertiefen. —
Einer will in seinem Naturheil verein Vorträge über Liebe und dessen Wissen-
schaft halten und bittet um Material. Vom grössten lebenden Meister weiss die
Welt so gut wie nichts! S'ist doch ne wahre Affenschande! —
Einer schreibt: Sie sind mir unheimlich! Er beruhigt sich aber und be-
kommt derartigen Respect vor dem Augsburger, dass er in einem zweiten Schreiben
berichtet, er wäre hocherfreut, wenn er die Kunst des Herrn Liebe als Welt-
ereigniss überall bekannt machen könnte. In unserer materiellen Zeit eine Oase
mitten in der Wüste. In einem dritten Schreiben erfahren wir aber, dass er den
„Spiegel" (des Herrn Liebe, d. h. dessen Schriftauslegung) jetzt täglich zur
fland nehme. In einem vierten Schreiben wird der Mann unausstehlich: er hat
flieh mittlerweile ins Poetische hinauf begeistert. —
Aus der Bierstadt Gulmbach schreibt Einer, dass er sich auf 10 bis 12 Jahre
in sein Leben hat zurückerinnern müssen, um alles das zu finden, was zur Aus-
legung Liebe's passt. (Aber wer recht fleissig sucht, der findet; auch manchmal
luviel.) —
Eine Gräfin verhimmelt den Augsburger: Er hat sie ganz erkannt! Sie sehnt
flieh nach einer mündlichen Besprechung mit ihm. Bis jetzt sei sie 34 Jahre un-
verstanden durch's Leben gegangen. —
Genius; Meister; um die Menschheit verdient. Magister magistrorum.
mit fast unheimlicher Genauigkeit meine streng behüteten Gedanken
u&d Anschauungen bioslegte, welche mich zu Ihrer enthusiastischen Anhängerin
BiMhten. —
Eine hat weihevolle Stunden erlebt, jedesmal wenn sie Abends des Augs-
bnrgers Zeilen durchlas. —
Zeittfchrift für Hypnotismus etc. IX. 19
390 •^* Grohmann.
Einer hatte bei L i e b e schon die dritte Beortheilang bestellt, und die letite
sei einzig! (Wie waren denn die vorigen?)
Ein Bildhauer in Rom sendet dem Meister eine kleine von ihm hergestellte
Ghmppe ^Das Geheimniss*'. Einer erzählt da einem Andern von der Kunst und
Wissenschaft des Meisters yon Augsburg, das der Menschheit bisher ein G^heim-
niss war. —
Eine Eopenhagerin bestellt beim Meister die Auslegung der Schrift einer
Dame, die neu in ihren Bekanntenkreis getreten sei und die sie gerne toU und
ganz kennen lenvBn möchte. —
Ein junges Mädchen berichtet, dass sie das Bild des Augsburgers ins Herz
geschlossen habe und dafür auch dem Augsburger ihr Bild zusende. —
Eine Andere hat die Schriftausleg^ung mit wachsender Aufregung ge-
lesen. Wirkung übernatürlich; sie ist vollständig aufjg^edeckt. —
Ein Kunde hat die Schriftausleg^g mit Schaudern gelesen. —
Eine Budapesterin schreibt: Dass ein vollendeter Denker weibliche Herzans-
zartheit besitzen kann, war mir, der Vielleserin, bisher unbekannt. Ich kann es
nur durch das geheimnissvolle Gesetz, das Sie an das andere Geschlecht bindet^
erklären. Beim Lesen der meisterlichen Zuschrift wurde sie bis in die Läppen
bleich! (Also vor dem Spiegel gestanden? — Oder nur eingebildet?) Dann starrte
sie ins Weite und konnte nicht weiter lesen! (Der schönste hysterische Zauber.)
Ein Stadtvicar sieht sich vom Augsburger Meister mit wahrhaft röntgen-
strahl enmässigem Scharfblick durchschaut. (Es geht zu wie bei den Para-
noikem im Irrenhause, die durch die zuletzt entdeckten Naturkräfte durchfiüiren
werden.) —
Jetzt kommt ein Brief von Jemand, den ich für ein Weibchen gehalten hatte,
bis ich den Schluss gelesen hatte. Es ist aber ein Männchen, das da schreibt: Id
aufrichtiger Liebe, verehrter Meister! Mein hochgeschätzter Herr Liebe! Soeben
ertönt vom Thunne der geheimnisvolle Schlag — zwölf. Mitternacht! (Der Leser
befieissige sich jetzt des Gruseins.) Ich bin allein! .... Ihr mir heiliger Brief!
Eine unaussprechliche Freude hat mir Ihr Bild gemacht. Weil auf mir, du freies
Auge, — Uebe deine ganze Macht, — Ernste milde thränenreiche, — Unergründlich
süsse Nacht! etc. Dann kommt ein süsses Deingedenken. Meine Pulse
klopften stärker, als ich lesen konnte, Sie beschäftigen sich mit mir! Was Sie
mir sind, vermögen Worte nicht auszudrücken; doch wenn es eine Sprache der
Seele giebt, die in freier herzinniger Verehrung sich äussert, dann fühle ich's, dass
ich davon durchglüht und berauscht bin. (Vielleicht sex. perv.?) —
Einen Mann aus St. Blasien haben die 50 Mark Honorar Anfangs stutzig ge-
macht ; je mehr er aber des Meisters Arbeit genau durchstudirt. desto mehr kommt
er zur Ueberzeugung, dass das Gelieferte gar nicht im Verhältniss steht zur Leistung;
so sehr werthvoll ist es. Trotzdem er schon früher wusste, dass er Fähigkeiten und
Leidenschaften habe, so ist er sich doch erst jetzt, durch Meister Liebe, übw
das Alles recht klar geworden, wo er die „Auslegung*' so recht im tieftten Innern
erfasst hat. —
Einen, ich weiss nicht wie angehauchten Dragonerleutnant freut es, in Liebe's
Schreiben die vielen kleinen Züge wieder zu erkennen, die er selbst schon an sich
gefunden hat. —
Ein Client dankt dem Meister für die Begutachtung der Schrift seiner Frao.
Einiges über Suggestion durch Briefe. 291
Erst durch sie hätte er manche Eigenschaft seiner Frau entdeckt, die ihm bisher
entgangen war. (!) —
Eine Dame in Rom bestellt von Neuem beim Augsburger, wie sie dies schon
vor vier Jahren gethan hat, eine Schriftauslegung. Will sehen, ob sie sich mittler-
weile geändert hat. (Gute Idee.) Nach Empfang der Auslegung liefert sie in einem
neuen Schreiben eine Yerhimmelung des Herrn Liebe. Aber der Gedanke an
diesen Herrn Liebe lässt sie nicht ruhen: Sie schreibt eine Reihe Briefe an ihn.
Ln fünften Briefe heisst es: Alles, Alles, was in mir ist, was jemals in mir war
and sein wird, wird Ihnen ewig, ewig danken ! Sie sind mein treuester Freund und
ich wünsche, dass Sie es ewig, ewig bleiben möchten ! Dann will sie wissen, ob der
Augsburger jung ist, in der Mitte der Jahre, oder ein alter Mann, ob er glücklich
und im Besitz eines Weibes und lieber Kinder oder einsam. Das mächtige Ge-
fühl, das mich zu Ihnen zieht, wie ich es nie, nie etc Das Vollgefühl des
Lebens hätte ihr der Augsburger beigebracht. Lechzende Seele etc. Beichte etc.
Läuterung etc. Sie der Mensch, der Alles, Alles versteht. Im sechsten Brief wird
die Person schon langweilig. Yermuthlich auch für den Augsburger, denn dieser
Brief ist ihr letzter. —
Ein Mann aus Pirna im Sachsenlande fühlt sich ausserordentlich gekräftigt,
wenn er ab und zu des Meisters Zuschriit liest. —
Eine Clientin in Baden-Baden schreibt: Welch ein Reichthum an Begabung
und an Kunst ! Ja, Ihnen gehört die Welt, Sie haben die Zügel des uns Unbewussten
in den Händen! Dann nietschelt sie etwas Passendes hinzu. Dann erzählt sie von
ihrem Schwanken zwischen Begeisterung und Lebensekel und andern interessanten
Wundem und berichtet, dass das Alles in ihrer Familie traditionell sei. Heute
sei wieder so ein Umschwung über sie gekommen und den verdanke sie dem Augs-
burger. (Sonderbar! Ich hatte erwartet, dass sie das sich selber verdanke, aber
nein, der Augsburger ist Schuld daran. Er hat den Umschwung mit seinem Kunst-
werk hervorgerufen.) —
Eine Sie berichtet über das Herzklopfen, das sie beim Oeffhen von Liebe's
Schreiben gefühlt, und ein Er berichtet von seinen Seufzern. (Ich finde, dass
der Mann etliche dieser Seufzer nach Augsburg telephoniren könnte zur Ansicht
als Muster ohne Werth. Thut er es nicht, so werden Andere noch darauf kommen.
Die Zukunft wird das jedenfalls bringen. Das wird dann die Zeit sein,
wo es neben den Graphologen auch Seu&erologen geben wird.) —
Eine Baronin anerkennt, dass sie es ganz Herrn Liebe verdankt, dass sie
jetzt intensiv, ja sogar selbstquälerisch über ihr Selbst nachzudenken Veranlassung
hat. Und das Alles nur mit des Augsburgers Schriftauslegung! Die Occultisten
nennen sie eine Zauberin oder Hexe. —
Ein Mann (es ist diesmal glücklicherweise wieder einmal ein Mann, aber was
für einer) schreibt : Wenn Alles still und ruhig ist, flüchte ich gern zu Ihren Zeüen
Qnd, einsam bei der Lampe Schein, lasse ich Ihre Worte auf mich wirken; dann
ergreife ich wohl die Feder und, angeregt durch die Kraft und Schönheit Ihrer
Thesen, werfe ich meine Gedanken aufs Papier. So werde ich nach und nach zu
jedem Ihrer Aussprüche Coramentare zusammentragen zum Werke der Selbst-
erkenntniss und zur Läuterung. Sollten Sie noch für mich arbeiten wollen, so
finden Sie anliegend Schriftproben von zwei Männern. In einem neuen Schreiben
bewundert er die Auslegung der zwei neueingesandten Schriftproben. Ich kann es
19'
292 -^^ Grohmann.
nicht glauben, dass es Ihnen möglich ist, ans den Schriftzügen allein das Wesen
der Menschen aufis Tiefste zu ergründen; Sie sind offenbar mit dem Seherblick be-
gabt. Sie kennen jedenfalls das grosse Geheimniss, direct mit der uns allen ge-
meinsamen Seele zu schauen. Zum Schluss verspricht er, den Augsburger anzudichten. —
Ein Herr aus Wien kommt fast gar nicht aus dem Staunen heraus. —
Der Folgende überliefert sich eigentlich der Polizei. Nachdem er die Arbeit
Liebe's gehörig verherrlicht, erklärt er, es hätte ihn frappirt, dass Liebe ihm
ein „doppeltes Ich^ in seinem Schreiben aufoctroirt hatte ; denn das beweise, wie klar
Liebe ihn durchblickt habe. Mit dem „doppelten Ich" könne ja nichts Anders
gemeint sein, als sein Doppelsehen. Das entspreche natürlich den beiden Gehim-
fiemisphären. Er habe ein Augenleiden. Er könne nicht stereoscopisch mit seinen
zwei Augen sehen, da das linke kurzsichtig, das rechte weitsichtig sei. (Lieber
Simplicius ! Wenn du so gerne mehrere Ichs herum trägst, so kannst du noch mehr
bekommen, als blos deine zwei! Neben deinem kurzsichtigen linken und dem
weitsichtigen rechten Auge würde sich dein, vermuthlich, blindgeborenes Hühner-
auge ganz gut als drittes im Bunde ausnehmen. Du hast dann drei Ichse. Die
dem dritten Auge von rechtswegen zukommende dritte Gehirn-Hemisphäre kann
ein Mann wie du gut entbehren, und der Augsburger wird dir sicherlich den dazu
nöthigen Dispens ertheilen. Aber du darfst dann nicht weiter grübeln und vielleicht
auf die heilige Dreieinigkeit verfallen. Die Analogien sind für dich Glatteis.) —
Ein Unbefriedigter erklärt, gar nicht einmal zu wissen, was ihn befriedigen
könnte. Er stöhnt vor Ungeduld und dankt dem Meister. —
Dann nietschelt ihn eine Hamburgerin an, und ihr Mann lässt den Augs-
burger noch dazu grüssen, anstatt ihm zu fluchen. —
Dann wieder einmal drei ganz gewöhnliche Verherrlichungen des Meisters
durch drei Damen. —
Eine Clientin rühmt die Energie, mit der Liebe für die Verbreitung und den
Glauben an seine Wissenschaft strebt. (!) Dann citirt sie eine lange Reihe grosser
Geister und bestätigt in einem neuen Schreiben den Empfang der bestellten Schrift-
beurteilung. Ihre geheimsten Gedanken hat der Augsburger errathen. Sie bittet
um die Erlaubniss, dem Manne in Augsburg die fernere Entwickelung ihres Da-
seins später berichten zu dürfen. Sie bedauert, nur 10 Mark senden zu können,
citirt Schöngeister und schliesst: Die Wurzel aller Sorge ist das „Ich". —
Eine Wormserin schreibt: Sie können sich leicht denken, verehrter Meister,
dass ich stets in einer Unruhe lebe, sobald ich über Ihren Gesundheitszustand in
Ungewissheit bin. Nicht uninteressant dürfte für Sie ein Buch sein, welches in
ausgezeichneter Weise über die Krankheit der geistig Ueberreizten handelt und
kann ich wohl versichert sein, dass Ihnen das Werkchen, was Ihnen separat über-
sandte, eine kleine Freude macht. Arbeiten Sie, bitte, nicht mehr soviel! Sie
müssen mir, Sie müssen der hastenden (!) und suchenden Menschheit noch lange
erhalten bleiben, Sie müssen mehr Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand nehmen.
Sie haben gewiss die Herausgabe eines grossen, für die Menschheit von g^rosser
Bedeutung seienden Werkes vor. Ich glühe förmlich darnach, mich hineinzustürzen
in jene Sphären, welche nur Ihre Sprache in unserer Brust zu erwecken vermag.
Wäre die Welt nicht so real, ich würde annehmen können, in Ihrem Werke liege
der Hauch Ihres Geistes, das tiefe Gefühl Ihrer Seele darin, und zwar so, dass
beim Lesen sich nicht blos der Gedanke ins Innere schleicht, sondern dass man
Einiges über Suggestion durch Briefe. 29S
sich förmlich so fühlt, als wäre von Ihnen eine Hypnose über Einen gekommen.
Mir dünkt es immer so. Wenn ich Sie lese, stehe ich vollkommen
im Bann Ihrer Seele, aber nicht mein Geist allein ist es, der sich angeregt
fühlt, sondern es ist eigenthümlich, wie auch selbst die Nerven, das Blut
unter Ihrem Worte, dem die Sprache Sklavin ist, erregt war. Ich weiss nicht, ob
es Andere beim Lesen Ihrer Schriften auch so geht, aber so viel kann ich aus
den gedruckten Briefen, die Sie besitzen, ersehen, dass es noch Manche giebt, die
von derselben Meinung eingenommen werden, wie ich. (Schönste Suggestion zur
Bildung einer langen Kette von Kundinnen : Jede will sehen, ob's auf sie auch so
wirkt, spricht oder schreibt davon und schleift Andere nach.) Dann beschreibt sie
weiter: Ich komme mir vor, als hätte ich meinen Kopf an Ihre Brust gelegt und
das ganze innere Wesen strömte nun in mich über, so voll, so stark. Sie, der
Weltüberblickende, Sie sind mein Freund und Vater zugleich! Eine Stärke, eine
Kraft, ein Muth fliesst daraus, dass man sich leicht über das Geschlecht des Andern
hinweg hebt. Dann theilt diese unbefriedigte Weltbummlerin mit, dass sie nächstens
. nach Paris reisen wird, und nicht weiss, ob sie dann nach London oder Rom gehen
3oll. In einem fernem Schreiben beschreibt sie dem Augsburger, wie der Augs-
burger aussieht, damit er das auch weiss : Das blasse, von Schmerzen und seelischem
Leiden gemarterte Angesicht ist von dem Hauch Ihres Geistes umgeben, blickt
«ntsagend auf die Lebensbahn! Ihr Inneres verblutet! Ihr Herz hat ausgerungen!
Nicht mit Alles vernichtendem Blick, nein! mit weiser Erkenntniss sieht man her-
sb, giebt dem durstigen Menschenherzen labende Erquickung, dem ringenden
forschenden Geiste weist man die Bahnen, die er wandeln soll. — So geht es eine
lange Strecke weiter, bis sie den Augsburger zum Vorbild eines Geisterfürsten er-
hebt. — (Aber ich muss jetzt um Verzeihung bitten. Diese Wormserin ist
«in Wormser. Ich sehe es eben au^ der Schlussformel. Ich hatte so viel echt
Weibliches aus den vielen im Buche fettgedruckten Stellen des Briefes heraus-
gelesen, dass ich nicht denken konnte, dass der Autor ein Mann sein könnte.) —
Ein Lehrer (also diesmal ist es ganz sicherlich ein Mann) schreibt: Ihre
Arbeit, überhaupt die Möglichkeit, dass ein Mensch eine solche phänomenale Arbeit
des Geistes schaffen kann, ist mir wie eine Predigt gegen den Materialismus vor-
gekommen, nur viel überzeugender und beweiskräftiger als eine wirkliche Predigt,
dass wir zu etwas bessern geboren sind. 0, dass die Menge eine solche Predigt
verstünde. —
und noch ein Mann, diesmal ein liebender: Mit Staunen und Bewunderung
habe ich gefunden, dass Sie nach der kurzen Schriftprobe ein so ausserordentlich
treffendes Portrait meiner lieben Braut entworfen, wie ich es nach zehnjähriger
Bekanntschaft mit ihr so präcise und so fein detaillirt zu malen mir nicht zuge-
traut hätte. —
Ein Mann aus Ecuador schreibt: Ich kann Ihre Beweggründe (zum grapho-
logischen Dienste) nur ahnen, aber nicht voll erkennen. (Schwachmatikus!) —
Eine Dame in Kopenhagen verdankt dem Augsburger ihre Erweckung und
liefert eine ellenlange Epistel. Schliesst mit der Behauptung, der Augsburger
hätte ihren Lebensweg vor Reue bewahrt. —
Ich bin nun in diesem Büchlein des Herrn Liebe in einen ganzen Harem
flchöner Damen gerathen und möchte mir eine davon aussuchen. Ich nehme mir
natürlich die, die mir am besten gefällt. Das ist eine Dame, die schreibt: Nur
S94 -^ Grohmann.
die Langweiligkeit des Badelebens von Swinemtinde und Baden-Baden hat
mich veranlasst, mich an Sie zu wenden. Die gehört mir! Sie passt entschieden
nicht zu den Andern nnd Herr Liebe wird sie mir wohl abtreten. Er passt aoch
gar nicht zo ihr.
Qnd nun muss ich noch etwas sagen von wegen der vielen Damen. Wie,
zom Teufel, kommt denn dieser Herr Liebe zu seinem so suggestiv wirkenden
Namen? Für sein Metier könnte er gar keinen Bessern haben. Alle Damen
laufen ihm nach. Wenn er Krautmeier heissen würde, oder nur Meier, oder
Stengelhuber oder auch nur Huber, oder wenn er heissen würde wie ich, dann
ging^ es ihm sicherlich ebenso miserabel wie mir, und er müsste sich mit der
Liebe einer Einzigen begnügen. Das Schicksal hat ihn ganz entschieden un-
gerechterweise protegirt. Oder sollte ihn vielleicht der liebe Gott umgetauft haben,
zur Belohnung, und in Anerkennung alles dessen, was er für die Damen, nnd die
Damen für ihn geleistet haben? Jedenfalls bin ich dem Herrn Liebe neidig.
Nun kommt aber ein Kapitel, das mich mit Herrn Liebe doch wieder aus-
söhnt : Er liefert Beurtheilungen von Graphologen über sich, an die er seine Hand-
schrift eingesandt hat. Herr Liebe giebt dadurch den besten Beweis, dasa er
etwas auf sein Fach hält, dass er andere Graphologen auch leben lassen will und
dass er sich bemüht, den Leser zu befähigen, ein eigenes und correctes Urtheil über
ihn zu gewinnen. Also Herr Liebe wird unter Anderem so beurtheilt:
Entweder sind Sie etwas blasirt, oder Sie verachten manchen Lebenagenuss
aus Princip. Femer: Die seelischen Kräfte sind in eminenter Spannung und es
kennzeichnen sich deutlich die Spuren geistiger Ueberanstrengung. —
Bedeutend nervös. —
Herr Liebe ist auch undurchdringlich. Hoffentlich ist das etwas An-
genehmes. —
Sie unterschätzen nicht Ihre Kenntnisse. Bedeutendes Talent. —
unbeschränkte Noblesse. —
Grossartige Kenntnisse und Fähigkeiten. Absolut anormal. — Sie einen den
Philosophen mit dem Cavalier. — So geht es weiter.
Endlich ein glänzendes Kapitel: Der Meister fühlt, dass er dem Leser etwas
schuldig ist, nachdem schon soviel über ihn geschrieben worden ist, von vielleicht
nicht ganz Competenten, und er glaubt, dass jetzt ein ernstes Wort der Aufklärung
am Platze ist. Kurz, er schildert sich selbst, damit ja Niemand über ihn
im Zweifel sei. Durch dieses Kapitel hat mich Herr Liebe vollständig gewonnen.
Eine Art väterliches Protector-Gefühl für ihn entsteht in mir. Ich glaube, dass
der Mann noch einmal mein Patient werden wird. Dann lass ich ihn meine
Kaninchen füttern und im Garten kann er Kohl rüsten und Rüben schaben. Das
wird ihm gut thun. Herr Liebe gehört entschieden in eine Aiistalt wie die
meine, die „nicht einmal nervös sein Wollende" aufnimmt und verflegrt. Also,
Herr Liebe schildert sich selbst:
Mit 12 Jahren hat er Hamlet gelesen; mit 13 den ersten Selbstmordversuch
gemacht.
Heute verachte ich das Gros der Menschheit ebenso gründlich, wie ich mich in
der Liebe zum Einzelnen vollständig vergehen kann.
Er hat eine unheimliche, tödtliche Buhe. — Ausnahmenatur. —
Einiges über Snggesüon . durch Briefe. 296
Wahrend ich manchmal den Anschein eines pedantischen Gelehrten erwecke,
bin ich in Wirklichkeit ein heissblätiger Mensch, der heute zu den Füssen eines
seelenstolzen Weibes sitzt, beim Scheiden ceremoniell die Fingernagel berührt« und
dann in seiner Stube mit Thränen kämpft, am andern Tage ein lyrisches Gedicht
macht, eine Stunde später sich in ein Problem vertieft und Abends in der ver-
stecktesten Theaterloge einem Faustdarsteller enthusiastisch applaudirt. —
Ich bin sicherlich das Werkzeug einer hohem, als menschlichen Macht, da
ich sonst längst imtergegangen wäre. —
Tauscht den ßeruf nicht mit einem Potentaten. Was ihn bei seiner Arbeit
schändlich und schmutzig erscheint, ist die ordinäre Pfennigrechnerei, der er sich
unterziehen muss und die täglich seine Nerven peitscht. —
Er nennt sich auch das Versuchskaninchen für sich selber. —
Ich finde das gar nicht erstaunlich, denn der Augsburger hat in einem vorher-
gehenden Kapitel, — mit der Aufschrift „Mein Arbeitsgebiet", — angegeben, was
er Alles betreibt.
Aufgeführt wird hierbei unter Anderem auch die Psychometrie. Das ist
ja schrecklich ! Das Kapitel unterzeichnet er ausdrücklich diesmal nicht als Meister,
sondern als der blosse Mensch P. P. J. Liebe. In einem Kapitel „Idiosynkrasien**
giebt Herr Liebe zu erkennen, wie er unter Larven die einzig fühlende Brust:
Er schildert, welch schreckliche Menschen diese andern sogenannten Menschen,
— mit Ausnahme des Herrn Liebe — sind. Wenn er auf der Strasse dahin
schlendert, wo er so viele Leute und so wenig Physiognomien sieht, dann blinzelt
ihn oft einer aus der Klasse der behaglichen Sumpfbrüder an. Dann trifft er
Bankzettel-Parvenüs und güterschlachtende Zerstörer der lieben Landwirtschaft mit
impertinentem Blicke.
Das berührt ihn natürlich wie der rohe Peitschenknall des Fuhrknechts. —
Trottoirbummler-Milieu. — Alltägliches Gesindel. — Schildkrötenaugen und Circus-
Glown-Physiognomien mit einem starken Stich in das Vorstadtpossenhafte. — Vom
Neugierpöbel wird er angestarrt, wenn seine Stime Gedanken kund giebt. — Noli
me tangere! — Strass^nkehrer der Gelehrtenrepublik. — Gewandte Hausknechte
für geistigen Diebstahl. Jünger der Ramsch-Literatur. — Dickhäuter. — Es ist
gemein, sagt Hamlet — Dann nietschelt auch er. — Dann giebt's Handlangerseelen
und elende Stümper. —
Der Kothurn seiner Wissenschaft ist angebellt worden. — Er reisst den Rene-
gaten und Weltredoutenbrüdem die Larve herunter. Die nach wahrer Bildung
Strebenden haben ihn auf den Schild gehoben. — Bedientennaturen mit blöden
Augen. — Der Löwe ist des nicht endenden Schreites mit meuterischen Käfig-
ihieren satt und sehnt sich nach der Wüste des Schweigens.
Es folgt ein Kapitel über die Werke des Herrn Liebe. Die Titel lauten:
Seelengeheimnisse, Seelenaristokraten, Seelenlappalien, Der Menschenfeind, Jahr-
hundert-Moderne etc.
Diese Werke werden von Liebe und Andern dadurch kritisirt und recensirt
dass die Person des Herrn Liebe wieder auf dem Präsentirteller herumgereicht
wird: Herr Liebe als Uebermensch, Herr Liebe, der für Andere lebt. Er ist
der Mann mit dem abgekühlten Idealismus. — Ihr Buch hat mich vollständig um-
gekrämpeltl — Wirft Leuchtkugeln ins Innere der Menschen. — Du giebst elec-
trisch Licht ! — Des Weltverächters kalte Ironie. — Hauch feinerer Erkenn tniss. —
g96 -^ Grohmann.
Dknn lässt sich der Meister von einer seiner vielen Verehrerinnen ansingen,
wie fc^gt: Adlerartig wolltest da in die Höhe schweifen und einsam im Lichte
Deine Kreise ziehn! —
Sodann folgt ein Appell Liebe^s an die deatschen Frauen, und dann eine
sehr schöne Erklärung: Liebe's Werke sind Selecta und nur für ganz feine Seelen
geschrieben. Die Auflage ist wegen der Rarität solcher Seelen auf nur 900 Exem-
plare festgesetzt worden, daher das Einzelexemplar entsprechend theuer.
Dann giebt's noch viel anderes Schöne, dann werden grosse Männer, darunto'
auch ein gewisser Liebe, citirt, und dann heisst's am hintern Deckel des 270 Seiten
dicken Buches : Die Raben flattern schon ; es ist noch zu früh. Dann wieder etwas
Schönes und endlich etwas Lateinisches, das sich ja immer gut macht: Alüs in-
serviens consumor. (Das heisst: Er frisst die Andern alle auf!)
Als Schlussvignette ein Schwan (wohl von wegen der Leda).
Und: Nachdruck verboten.
Ich denke, dass die Leser dieses Blattes zu sachverständig sind,
als dass ich sie anf alle Beeinflnssungs-Möglichkeiten und -Formen auf-
merksam machen müsste, die durch einen solchen Briefverkehr, wie den
Liebe's mit seinen Kunden, bei neuropathisch oder psychopathisch,
schwachsinnig oder autosuggestiv veranlagten Menschen bewirkt werden
kann.
Jedenfalls ist es interessant, zu sehen, wie dieser grosse Mann,
der wohl ungeiähr ein überspannter hysterischer Paranoiker sein wird,
sich ein Publikum zu schaffen weiss, das treu zu ihm hält und bei
dem er Schule machen kann.
Ich möchte jetzt von einer zweiten Sache berichten, die mir mit
der ersten sehr verwandt zu sein scheint.
In Zeitungsannoncen finden wir gelegentlich Einladungen „zu geist-
reichem Briefwechsel mit gebildeter Dame". Was mag da wohl Alles
angebändelt werden!
Wie sich nun Alles organisirt und systematisirt, so, scheint's, hat
sich auch diese Briefwechslerei organisirt. Ich habe wenigstens seit
Jahren schon mehrere Annoncen gelesen, in denen sich Vereine, Ge-
schäftsfirmen etc. in verschiedenen Grossstädten als Vermittler zu
diesem und auch zu andersartigem Briefverkehr anbieten. So z. B.
ein „Weltverein", der seineu Sitz in München hat, und eine „Inter-
nationale Correspondenzassociation" in Wien, u. A. m.
Die Angelegenheit, die ich weiter unten schildere, hat mich mit
dem Prospect eines solchen Vereins bekannt gemacht Gegen Bezahlung
Einiges über Saggestion durch Briefe. 897
eines Jahresbeitrags wird der Name des Neueintxetenden in ein Buch
eingetragen, dass der Verein jedes Jahr oder sonstwie periodisch heraus-
giebt und an die Mitglieder versendet. Es enthält die Namen und
Adressen derer, die für dieses Jahr als Mitglieder anerkannt werden,
nnd bei Jedem wird angegeben, für was er sich besonders interessirt
und welche Sprachen er spricht, etc. Der Zweck des Vereins ist, jedem
Mitglied zu ermöglichen, an vielen Orten, die über den ganzen Erdball
verbreitet sind, mit Anderen correspondiren zu können. Austausch von
Briefmarken wird als eine der Sachen genannt, die da von Vortheil
sein können. Ich vermuthe, dass die neuesten Ausgaben auch schon
bis zur Idee vom Austausch von Ansichtspostkarten gediehen sind,
denn es soll ja Alles emporkommen, was „gesunde Keime" hat. und
es giebt doch kaum eine gesündere Dummheit, als die Ansichtspost-
kartensammlerei.
Gelegenheit zum Lernen von modernen Sprachen durch Brief-
wechsel wird auch genannt.
Das Verlangen nach Auskünften der verschiedensten Art soll für
Andere das Motiv zum Beitritt werden. Briefwechsel mit gebildeter
Dame leuchtet aber, noch mehr als es ausdrücklich gesagt ist, als einer
der wichtigen und interessanten Kerne des Pudels hervor.
An einen dieser Prospecte erinnere ich mich d(»shalb ganz be-
sonders, da er auf dem Titelblatt mit zwei artigen kleinen Bildchen
verziert war, die die reinsten Suggerir- und Animir-Vignetten sind.
Eines stellt das briefschreibende Männchen vor, das andere — na natür-
lich! — das briefschreibende Weibchen. Er hoch oben im schneeigen
Norden; sie im fernen Süd — Sehnsucht k la Heine. Man blickt zu
einem verschneiten Dachkammerfenster ins Innere: Ein schöner Mann
mit Vollbart schreibt da bei der Lampe Schein an einem Briefe. Dies-
mal hat der Mann wohl die lange stinkende Tabackspfeife auf die Seite
gelegt ; der Beschauer sieht wenigstens nichts von einer solchen. Und
das ist gut, denn manche Damen lieben die Pfeifen nicht. Im anderen
Bilde sitzt eine schlanke Schöne auf einer Veranda, mit einer Brief-
mappe vor sich auf dem Tische, von Blumen und Palmen umgeben.
Sie denkt einen Augenblick darüber nach, was sie dem nördlichen
Kerl stecken soll. Zu diesem Zwecke erhebt sie das liebe Köpfchen
und sinnt sinnend in die sinnende Feme.
Zwei meiner Patientinnen, die in meinem Institute zu arbeiten hatten, wollten
•ich Arbeitsschürzen machen lassen. Die nächstbeste Nähterin wird herbeigerufen,
bedient die Damen und kommt so einige Male in mein Haus. Sie sieht, dass es
298 ^' Grohmann.
bei ihren beiden Kundinnen nicht ganz richtig ist im Oberstübchen, und erfahrt,
in welchem Verhältniss sie zu mir stehen.
Einmal traf ich die Nähterin allein. Etwas schüchtern, aber in guter Art
sagte sie zu mir, dass sie sich für mein Unternehmen interessire. Sie glaube, daas
ich wohl viele Erfahrungen sammeln könne, wie einem gedrückten Gemüthe n
helfen sei, etc. Die Unterredung hatte vielleicht fünf Minuten gedauert und das
war das letzte Mal, dass ich sie jemals gesehen habe. Desto mehr aber erfuhr ich
von ihr durch ßriefe.
Es mochten etwa zwei Jahre vergangen sein, als ich von ihr aus einem an-
deren Ort einen Brief erhielt. Ob ich mich ihrer aus der kurzen Unterhaltung vor
zwei Jahren erinnere? Sie fühle sich tief unglücklich. Es sei ihr Schreckliches zu-
gestossen und nicht der eigenen Mutter könne sie mittheilen, was es sei. Und
wenn auch fremde Schuld vorliege, so habe sie sich doch selber noch mehr anzu-
klagen. Sie fände keine Ruhe. Ich sei der Einzige ihrer Bekannten, der etwas
vom kranken Gemüth verstände. Sie bitte mich, ihr zu rathen, was sie in ihrer
verzweifelten Lage beginnen solle. Ihr Gewissen sei belastet. Sie glaube nicht,
dass irgend Jemand ihrem unglücklichen Gemüthszustand gerecht werden könne,
als nur ich.
Ich hatte sie aus dem flüchtigen Zusammentrefifcn vor zwei Jahren als ein
gesundes junges Mädchen von lebhafter Auffassung, etwa 25 Jahre alt, in der Er-
innerung. Aus ihrem Briefe gewann ich die YorsteUung, dass es sich um eine
melancholische Depression nach heftigen Gemüthsbewegungen handeln müsse. Ich
schrieb ihr« dass ich ihr gerne beistehen wolle. Sie solle mir das Erlebte aus-
führlich schildern; sie könne hierbei positive Angaben, wie Namen und Adressen
von Personen etc., die in der Sache verwickelt seien, zur Wahrung der Discretion
weglassen. Ich lege mehr Gewicht auf Erkenntniss der Anschauungen und Gefühle,
die sie in der Sache erworben habe.
Wie weit sie meinen Auftrag, ausführlich zu sein, ausdehnen würde, konnte
ich nicht ahnen: Nach wenigen Tagen erhielt ich das ausführlichste Material, das
ich jemals in meinem Verkehr mit Patienten erhalten habe. Ein Handkoffer
mittlerer Grösse war angefüllt mit vielen Hunderten von Briefen. Der Prospect
und ein Mitgliederverzeichniss eines der Vermittlungsvereine für briefliche Bekannt-
schaften war dabei und mehrere Photographien eines Herrn. Eine Reihe von
graphologischen Expertisen mit ihren Belegen etc. kam auch zum Vorschein. Das
Centrura all dieser Herrlichkeiten war der Anfang zur „ausfuhrlichen" Beschreibung
der Angelejrenheit. Die Fortsetzungen zu diesem Anfang liefen in rascher Folge in
den nächsten Wochen ein. Sie erreichten den Umfang von über 200 Seiten Gross-
actenformat, eng beschrieben, in guter fester Handschrift. Keine Wiederholung,
nichts zur Sache nicht Gehörendes war am Inhalte auszusetzen. Aber ausführhch
war es allerdings und die Gefühle waren genau beschrieben.
Das Mädchen hatte einige Monate, bevor ich sie in meinem Hause sprach,
sich von ihren Eltern frei gemacht. Sie hatte ihre Selbstständigkeit erstrebt, hatte
die ärmlichen und sie drückenden Verhältnisse in einem kleinen Orte verlassen
und war Nähterin in der Grossstadt geworden, wo sie sehr schwere Kämpfe um
ihre Existenz erdulden musste. Durch eine Zeitungsannonce hatte sie von dem
Brief- Verein gehört, war ihm beigetreten und hatte einen Briefwechsel mit mehreren
Herren an fernen Orten begonnen. Siehe Beilagen-Bündel 1, 2, 3, 4 etc. Tags
Einiges über Suggestion dnrch Briefe. 299
arbeitete sie nnd Abends ging's fieberhaft an die Correspondenz, diesem Labsal für
die Arme, die „sonst nichts Geistiges'^ zu gemessen hatte. Aus diesem, dem ersten
Theil ihrer Mittheilungen mit all seinen Beilagen gewann ich Einblick in ein weit
verzweigtes Netz von Correspondenzen, denn mehrere Correspondenten des jungen
Mädchens schilderten auch die Correspondenzen, die sie vorher mit andern Mit-
gliederinnen geführt hatten. Mehrere verheirathete Männer waren darunter, und
manche ihrer Correspondenzen führten zu persönlichen Bekanntschaften und allerlei
Allotria, Gefühlsduseleien, Schwärmereien — oder auch zu geschlechtlichen Excessen,
je nach der Anlage dieser Herren und Damen. Ein Mönch in einem Kloster schlosa
seine Correspondenz mit meiner Clientin mit der Erklärung, er dürfe nicht mehr
weiter schreiben, sein Prior hätte die Sache entdeckt. Einige Koutiniers im Fache
dieser .,brieflichen Liebschaften" waren jedenfalls sehr expert in der Kunst des
„Herumkriegens". Alle diese Correspondenzen meiner Clientin nahmen bald ein
Ende. Nur eine verfolgte sie weiter und diese eine führte zu ihrem Unglücke.
Das Hervortreten des lasciven Elements hatte sie bewogen, die Anderen fahren zu
lassen. Einige hatten wyklich die Sauglocke geläutet. Dieser Eine schrieb ihr
Monate lang höchst anständige Briefe. Was sie aber, mehr als der Inhalt seiner
Briefe fascinirt haben soll, war — seine Handschrift! Diese Handschrift ist aller-
dings eine sehr seltsame, sehr schöne und charactervolle, interessante. Einige Ge-
dichte des Mannes, nicht von der einfältigsten Art, imponirten ihr. Die Briefe
wurden auf beiden Seiten immer leidenschaftlicher, und aus dem Tempo von einem
pro Woche wurde bald einer jeden zweiten Tag. Auch ihre Photographien hatten
sie schon ausgetauscht. Nach den verschiedenen Bildern, die mir ihren Liebhaber
vorführten, muss er ein schöner, grosser Mann von gewinnender Erscheinung ge-
wesen sein: Martialisch.
Sie hatte sich schon bis über die Ohren in den Mann verliebt, als sie von
ihm den ersten Brief erhielt, in dem, jetzt auch er, aber in der ästhetischesten
Form, anfing, auf ihre Sinnlichkeit zu wirken. Er träume jede Nacht von ihr und
halte ihren weissen, zarten Leib umschlungen. Nach und nach wurde er immer
glühender in diesem Artikel, aber niemals roh. und kein gemeines Wort fiel vor.
Die Wirkung auf das Mädchen war die des intensivsten Glücksgefühls. Aber sie
bat ihn dabei immer wieder, gewisse Worte nicht zu schreiben. Das sei Sünde.
Sie liebe ihn rein. Sie wollte ihm jetzt ganz angehören. Sie sprach in ihren
Briefen von ihrer bevorstehenden Vereinigung, als etwas ganz Selbstverständlichem.
Er schrieb ihr nun, dass er leider verheirathet sei. Für sie war das ein schwerer
Schlag. Sie überschüttete ihn mit Vorwürfen, noch mehr in ihren Gedanken als
durch Worte in ihren Briefen. Sie hatte die Vorstellung, dass sie sich ihm auf-
lade, wenn sie ihm zu sehr zeige, dass sie auf eine Heirath gerechnet hatte. Sie
wollte nun ihm gegenüber, — .,dem sie ja doch so viel Glückseligkeit zu verdanken
gehabt habe", — mehr die wahre Freundin, neben der ..treuen Gattin", die er
zu Hause hätte, herauskehren. Aber seine Briefe besiegten sie.
Sie lebte damals in kümmerlichsten Verhältnissen dahin. Selten konnte sie
sich Fleischkost gestatten. Mit Thee feuerte sie ihre Nerven an für die nächtlichen
Briefkämpfe mit dem Manne, der ihre Phantasie ganz erfüllt hatte. „Ein grosser
Plan" entstand in ihrem Gehirn. Lange Wochen wälzte sie die Sache hin und
her. Der Mann hatte ihr geschrieben, dass er seine Frau gar nicht liebe. (Das
schien sie vorher nicht gewusst zu haben !) Da hatte sie ja ein Hecht auf ihn !
300 ^ Grohmann.
Sie verwarf das Ganze und griff dann den Plan immer wieder auf. Sie legte ilmi
nun die Sache vor. Er solle entscheiden. Er habe sie zu dem gemacht, was sie
jetzt sei, unglücklich und zerrissen mit sich selbst. Er könne sie jetzt haben. Die
Sache könne so gemacht werden. Die Eltern, die sie oft besuchen und ohne deren
Erlaubniss sie Zürich nicht verlassen könne, müssten zuerst für die Erlaubnias zu
ihrer Auswanderung in das Land ihres Geliebten — (es handelte sich um eine
weite Eisenbahnreise] — gewonnen werden. Auf Briefpapier mit gefUlschtem
Firmakopfe, das sie bei einem Buchdrucker bestellen würde, hätte er ihr einen
Brief zu schreiben. Er — (ein Beamter) — hätte darin als Chef einer Moden-
handlung unter Erwähnung einer fingirten Zeitungsannonce sie als Angestellte „für
seine Damenmäntelfabrikation'* zu engagiren. Die Eltern sehen ihre knappen Ver-
hältnisse und würden beim Vorzeigen des Briefes der Wegreise der Tochter nichts
in den Weg legen, froh, dass sie eine Anstellung und sicheres Brot gewonnen habe.
Sie reist dann nach der Stadt X, die in der Nähe des Wohnortes des Geliebten
liegt, würde dort eine bescheidene Kammer miethen, eine Nähmaschine auf Ab-
zahlung nehmen, sich als Nähterin in der Zeitung empfAlen, und den Kampf um's
Brot dort aufnehmen, so gut und so schlecht, wie sie ihn hier gehabt.
Dort wolle sie ganz ihm gehören, so oft er abkommen könne von seinem
Dienst. Sie werde sich ihm dort ganz schenken, wenn sie nur seine Liebe habe.
Alles Andere sei ihr dann gleich. Mit ihm könne sie auch die Schande tragen.
Und seine Frau könne sie ja auch nicht mehr betrügen.
Seine Antwort war eine abwinkende: Närrisches Mädel! Und so verliebt!
Denke an die vielen Gefahren der Entdeckung. Abwarten! Auch er sehne sich
nach ihr, etc. —
Sie war empört. Sie wollte ihn nun vergessen. Aber sie war drin, sie konnte
nicht mehr heraus. Nach mehreren Wochen war wieder der alte Briefwechsel mit
seinen himmelstürmenden Wehklagen. Jetzt wollte sie dieselbe Sache auf anderem
Wege erreichen, gab manches Stück Geld aus für Annoncen, um eine Stellung in
der Nähe des Geliebten zu erwerben. (Das weniger abenteuerliche Project war
also erst das zweite.) Nichts wollte sich zeigen. Um jene Zeit war sie auch in
Zürich bedrängt, sie hatte sich verschuldet, war zurückgekommen in ihren Arbeits-
leistungen, die Miethe war nicht bezahlt, sie wurde gedrängt. Sie gab den un-
nützen Kampf endlich auf und zog sich ins elterliche Haus zurück, wo sie nun
Mühe hatte, ihre inneren Kämpfe vor der Mutter zu verbergen.
Hier sah sie sich als unnütze 3Iitesserin am Tische ihrer Eltern, die auch mit
vielem 3Iissgeschick zu kämpfen hatten. Da schrieb sie dem Geliebten, dass nichts
mehr sie hindern werde, das erste Project auszuführen. Alles kam zur Ausfuhrung.
Ein trauriger Abschied — und doch in innerer Freude, unverstanden von den
Eltern — und sie verlässt das Haus.
An einer kleinen Bahnstation war das bestellte Zusammentreffen. Sie, die sich
Unbekannten, umarmen sich stürmisch, lassen sich ins nächste Hotel fahren und
hier erfolgt die üebergabe und der Empfang alles Ersehnten und Erträumten.
Mitten in der Nacht quält sie der interessante Mann noch mit Schilderungen
seiner bisherigen Don-Juanstreiche, die er ihr bisher verschwiegen hatte. Neben
ihr liegend und Cigaretten rauchend, erzält er, wie er seine Schwägerin verfuhrt
habe u. dgl.
Nächsten Tag reist sie mit dem Manne in ein Städtchen, wo sie sich in be-
Einiges über Suggestion durch Briefe. 301
seheidensten Verhältnissen niederlässt, eine Nähmaschine miethet, Empfehlungs-
karten drucken und austragen lässt, und nun mit billigster Nahrung bei viel The&
und im Winter in einer ungenügend geheizten Dachkammer der Dinge hant, die
da kommen sollen. Sie erklärt bei Schilderung aller dieser Einzelheiten, dass sie
damals nichts bereut hätte. Sie hätte sich ihr Glück erkämpft, ihr Gewissen sei
ruhig gewesen, sie hätte das erobert, wozu sie ein Recht hatte und hätte es er-
obert, ohne die Gefühle Anderer zu beleidigen. Wer gelitten und gekämpft, wie
de, und dabei Andere geschont, wie sie, dürfe das eroberte Glück auch voll ge-
messen. Das sei aber eben damals gewesen, dass sie die Sache so angesehen habe.
Die nächst ferneren Schicksale des Mädchens sind für unser Thema von wenig
Interesse. Ich überspringe sie daher und nehme den Faden ihres Abenteuers erst
dort wieder auf, wo Briefe und, jetzt auch Graphologen, das Schicksal meiner
Clientin mitbestimmen halfen.
Nach schweren Erlebnissen und Kämpfen war sie später wieder ins elterliche
Haus zurückgekehrt. Hier ging es ihr allmählich schlechter, sie gerieth immer
mehr in richtige Gehirn-Grübeleien. Sie hatte Niemand, dem sie sich anvertrauen
konnte in den schmerzlichen Erinnerungen über das Erlebte. Im Centrum all ihrer
Gespinste stand als grosse Frage vor ihr: Ist dein Geliebter ein schlechter
Mensch? Aus dem Briefwechsel mit ihm, den sie noch immer fortsetzte, glaubte
aie diese ihr allerwichtigste Frage nicht lösen zu können. Sie, die Ungebildete,
kam nun auf die Vorstellung, dass nur die Schriftausiegung eines Graphologen ihr
diese Frage beantworten könne.
Ihre italienische Berufsschwester hätte vielleicht die Kartenschlägerin aufge-
sucht; die cultivirtere Deutschschweizerin ging zum Graphologen. Ich muss aber
meine Clientin wegen des grossen Vertrauens, das sie zu g^phologischen Aus-
legungen hatte, noch dadurch in Schutz nehmen, dass ich erwähne, wie sie zum
ersten Male auf die Vorstellung gekommen war, dass das grosse Orakel bei den
Graphologen zu finden sei. Der starkverbreitete „Tagesanzeiger der Stadt Zürich**
bringt in seinem „Briefkasten*' — einem wahren Tummelplatz von Naivetäten —
in immer neuer Wiederholung die redactionelle Empfehlung eines Graphologen in
Ztirich für viele angefragten Fälle, in denen Personen erklären, dass sie nicht
wissen, ob sie dem Character eines Anderen trauen dürfen, z. B. bei Anstellungen,
unglücklicher Liebe etc. Also, die Leetüre dieser Empfehlungen hatte meine
Clientin zuerst auf diesen Ausweg geführt.
Sie wollte also wissen, ob ihr Verführer ein schlechter Mensch sei, und ihn
„auf ewig'* aufgeben, wenn er das sei. Jener Graphologe wurde also mit der Be-
nrtheilung der Schrift des Geliebten beauftragt. Da seine Expertise ihr nicht
genügte, — über das „Gut oder Schlecht** enthielt sie nichts, — so wurden noch
andere Graphologen herangezogen. (Leider hat sie sich nicht an den grossen
Augsburger gewandt, sonst hätte sie Welleicht erfahren können, dass auch ihrem
Geliebten ein Mittagsschläfchen gut thut.) Alle diese Expertisen fand ich in dem
Handkoffer meiner Clientin. Ich bin durch ihre Leetüre weder graphologisch,
noch psychologisch, noch auch „psychographologisch*' einen Schritt weiter gekommen.
Das nur nebenbei und ohne irgend welche Animosität gegen diese Herren Schwarz-
künstler.
Nachdem sie gehörig Geld geschwitzt hatte, gab sie endlich den unnützen
Appell an diese Wissenschaft auf.
302 ^ Grohmann.
Unterdes gerieth sie in immer tiefere Verstimmung. Mehrere Monate nadi
ihrer Heimkehr ins Elternhaus erlitt sie einen acuten Anfall von Melancholie; wohl
keinen sehr schweren, denn in den besseren Intervallen war sie im Stande, jenen
Hunderte Seiten langen Bericht an mich zu liefern. Auch war mir die relatire
Gleichmässigkeit und Festigkeit ihrer Schrift aufgefallen. Den ersten Tag mit
einiger Besserung ihrer Stimmung und besserer Ueberlegung, benutzte sie, um an
mich jenen ersten Brief zu schreiben, der mir die ganze Angelegenheit zofuhrte.
Von Aerzten wollte sie nichts wissen. Sie fühlte sich krank in den Erinnerungen
und für das sucht ein junges Mädchen ihres Standes die Hülfe w^o anders. Und
ihr einen Irrenarzt vorzuschlagen, wäre noch aussichtsloser gewesen. Wer kennt
nicht diese Abneigung des Volkes. Den Arzt, den ihr die Mutter kommen lien
und aufdrängte, wies sie kurzerhand weg.
Wie weit hier Hysterie oder vielleicht nur hysterischer Character und viel-
leicht ein ethischer Defect vorliegt, werden die sachverständigen Leser besser be-
urtheilen können als ich. Die Bekenntnisse des Mädchens haben auf mich in aüen
ihren Details den Eindruck der Wahrheitsliebe gemacht — von beabsichtigter
Schönfärberei und Sichinteressantmachen ging für meine Erkenn tniss nichts hervor
— aber ich möchte auf Grund ihrer blossen Selbstschilderung nicht abschätzen,
wie weit sie vielleicht ihre Erinnerungen unabsichtlich fälschte.
Ich kann sagen, dieses Mädchen wurde gesund geniu so, wie sie krank ge-
worden war. Sie war brieflich unglücklich verliebt geworden, und mit Briefen
arbeitete sie sich zur Genesung empor. Vielleicht that ihr das Ablegen ihrer aus-
führlichen schriftlichen Beichte wohl. Wer mag da entscheiden, was da Alles
mitwirkte? Ihr Verstand hatte sie die Situation wohl ziemlich klar erkennen lassen.
Ausserhalb der ganz schweren Stunden mit einem leichten, d. h. noch ziemlidi
gerechtfertigten Versündigungswahn und einem apathischen Zubettliegen hatte sie
die bestimmte Erwartung, durch mich, und nur durch mich, der Heilung zugeführt
zu werden, und da war meine Aufgabe keine schwere. Was in ihrer Lage auch
vielleicht stark mitgewirkt haben mochte, war die Erinnerung an einige Worte
einer meiner beiden Patientinnen, einer hysterischen jungen Dame, für die sie
seinerzeit die Arbeitsschürzen genäht hatte. Die Hysterische musste damals einen
ihrer gewissen Tage gehabt haben; sie hatte mich der Nähterin gegenüber etwas
verhimmelt, und, wohl um sich interessant zu machen, hatte sie ihr die „schreck-
lichen Leiden'' geschildert, aus denen ich sie zu erretten daran sei. Das Mitleid
mit dieser „so unglücklichen Patientin" hatte die arme Nähterin gerührt; kurz,
diese Worte, von denen ich jetzt erst, so verspätet, erfuhr, hatten auf die Nähterin
gewirkt und so war ich für sie Derjenige, welcher.
Ich rieth der Patientin zu absoluter Ruhe. Sie solle jetzt nur aufstehen und
arbeiten, wenn sie entschieden Lust dazu habe. Dann erklärte ich ihr meine feste
üeberzeugung, dass sie gesund würde. Auf ihre Affaire wolle ich erst eingehen,
wenn ich mich von ihrer vollen Genesung überzeugt hätte; ihr dann allerdings
auch nicht meine ganz offene Meinung vorenthalten. Sie wurde bald besser und
dann, wie sie sagt, ganz geheilt, hat mir die rührendsten Dankesbriefe geschrieben
— für mich die allerüberzeugendsten Beweise von wahrer Genesung (dies natürlich
nur im Sinne der Melancholie), und war nach mehreren Monaten wahrscheinlich
ungefähr so weit normal als vor Beginn des Briefwechsels mit dem Geliebten.
Und so habe ich nur angenehme Erinnerungen an diese Patientin. Nor Eines
Einiges über Saggestion durch Briefe. 303
konnte ich ihr, und mit ihr ihren Graphologen, nie verzeihen : Sie hatte sich zuerst
an diese Schwarzkünstler gewandt und dann erst an mich! Und doch hatte ich
ihr so treu gedient in meinen Eigenschafben als Gratis-Berather und väterlicher
Freund in der Feme, als Quasi-Kartenschläger, Graphologe ad hoc und Correspondenz-
Fsychiater: Erst durch mich wurde sie bewogen, den Mann in der Feme, mit dem
sie so viel durchgemacht hatte, als einen schlechten Menschen anzuerkennen und ihm
„auf ewig'* den Laufpass zu geben.
Die Entdeckung seiner Schlechtigkeit verdankt sie mir allein. Und nur mit
ein paar armseligen Cubikfuss Kofferinhalt habe ich das herausbekommen. Herr
Liebe hat mir darin nicht geholfen. Er wird mir das bezeugen können.
Wenige Monate nach dieser durch mich ausgesprochenen Verdammung war
es, dass ein junger Landsmann meiner Clientin nähertrat. Er war aus einem fernen
Lande gekommen, um sich eine Frau zu holen und er hatte es eilig. Er heirathete
meine Clientin und nahm sie viele Tausende Meilen mit sich fort in seine Colonie.
In ihrem Abschiedsbriefe an mich hiess es : sie werde sich aufrichtig bemühen,
eine gute Frau und Mutter zu werden.
Nicht immer findet Verschwendung von Material statt.
Sie kam in ein Land, wo es keine Briefträger giebt. Das wird wohl das
richtige Klima für sie sein.
Dass für diese Patientin unter den gegebenen Verhältnissen eine
„briefliche Behandlung" zulässig war, wird mir wohl jeder Arzt zu-
geben, der sich auf die Suggestionstherapie versteht. Und ich glaube,
dass die Fälle, wo eine briefliche Behandlung — die doch sonst so
recht nach dem Curpfuschen schmeckt und eines ehrlichen Arztes un-
würdig ist — gerade das Richtige, oder noch zulässig ist, gar nicht so
selten sein mögen. Es hat eben Alles seine Ausnahmen. Einiges hierher
Gehöriges, das ich aus meinen Erfahrungen schöpfe, möchte ich hier
anfuhren : Ich habe bei Hysterischen (beider Geschlechter) und andere
bei Fällen von constitutionellem Schwachsinn, Dementia paranoides und
Dementia praecox (die in nicht ganz jugendlichem Alter eingesetzt
hatten, z, B. mit dem 25. — 30. Jahre), Patienten kennen gelernt, die,
mit einem reichen Erinnerungsleben, aber geschwächt im Wollen und
im Intellect, in der Entschlussfähigkeit beeinträchtigt, oder geplagt
Ton Zweifelsucht und anderen Zwangsvorstellungen, im hohen Grade
bereit sind, sich der Autorität Anderer zu fügen. Viele dieser waren
durch Briefe ganz besonders leicht zu suggeriren. Entweder durch-
gehends oder auf speciellem Gebiete sind sie folgsam, gewärtigen
fremde Beeinflussung und wollen ohne sie nicht sein. Es trifft sich
manchmal so, dass man auf Grund von eingesandtem Material (Selbst-
schilderungen im Verein mit Schilderungen durch Andere, auch durch
304 A. Grohmann.
Aerzte) einen guten Ueberblick über einen solchen Fall gewinnt, auch
ohne dass man den Patienten persönlich kennen lernt. In gewissen Fällen
darf manches das nur auf Grund der genauen Körperinspection und
mündlichen Unterhaltung festgestellt werden kann, ignorirt werden, wenn
das, was zu verordnen ist, dieses Andere, Unbekannte, nicht treffen kann«
Welches, mir nicht bekannte, mitconcurrirende Leiden jener Patientin
z. B. hätte durch meine Verordnung etwa getroffen und verschlechtert
werden können? Hätte sie vielleicht gleichzeitig einen Magencatarrb
oder Mensesbeschwerden gehabt, so hätte das genügend vernünftige
Mädchen sicherUch den Arz tan ihrem Orte dafür zu Eathe gezogen,
und, wenn nicht, mein Rath, wie sie ihre Melancholie zu behandeln
habe, hätte ihr in diesem Nebenleiden nicht geschadet. Ich will ja
mit alle dem nicht briefliche Verordnungen empfehlen, aber ich glaube,
dass sie manchmal zuzulassen sind.
Ich glaube sogar, dass, wo sie am Platze sind, sie sehr am Platze
sein können : Die specifische suggestive Wirkung, die Geschriebenes auf
manche Menschen hat, kann da Wirkungen zu Tage bringen, die weit
über das im mündlichen Verkehr Mögliche geht.
In unserer verkehrsreichen Zeit — und sie wird natürlich immer
verkehrsreicher — haben wir allen Grund, die vielen, durch die Cultur
neu eingeführten oder wesentlich bereicherten und umfangreicher ge-
wordenen Erscheinungen des menschlichen Contacts kennen zu lernen.
Dass durch Briefe sehr viel Schicksal bestimmt wird, und dass durch
Briefe die merkwürdicjsten und verhängnissvollsten Beeinflussungen, be-
sonders geistes- und willeusschwacher Menschen entstehen, ist sicher.
Und für mich steht fest, dass Viele durch das geschriebene Wort
stärker zu beeinflussen sind, wie durch den mündlichen Verkehr.
Unter meinen vielen einschlägigen Erinnerungen an Gesunde und
Kranke taucht das Bild eines guten und liebenswürdigen deutschen
Gelehrten hervor. Er war Privatdocent. Er und seine verwittwete
Mutter lebten jahrelang, fast wie ein Ehepärchen, im innigsten Anschluss
aneinander, einsam dahin. Die Mutter stirbt. Eine Haushälterin zieht
ein und der Gelehrte verlebt zwei und ein halbes Jahr als Einsiedler, aber
wie mir schien, ganz behaglich und unbesorgt dahin, bis ihm an einem
grossen Reinmachetage, wo allerlei Möbel verstellt und verrückt wurde,
die Haushälterin einen versteckt gefundenen Brief übergiebt. Es war
ein zurückgelassenes Schreiben der Mutter, viele Jahre vor ihrem Tode
verfasst. Sie spricht da von einer Sache, die sie mündlich nie erwähnt
hatte: Wenn ich sterbe, musst du dir ein gutes liebes Mädchen zur
Einiges über Suggestion, durch Briefe. 305
Frau nehmen. Du sollst und kannst nicht allein leben. Du bist gar
nicht dazu geschaffen. Du hast nicht nöthig, aufs Geld zu sehen.
Nehme ein gutes Mädchen, die dich lieb hat — Für ihn stand das
fest : Die Mutter hat dich genau gekannt. Und er heirathete. Und er
nahm die Haushälterin.
Wir haben besonders im Briefverkehr mit defecten Menschen
äusserst vorsichtig zu sein. Für specielle Gruppen von Defecten kann
die Erfahrung und Einsicht eines Einzelnen sich derart entwickeln,
dass er mit ihr zum Wohle dieser Defecten operiren kann.
Sehr oft ist mir aufgefallen, welch merkwürdige Einflüsse meine
Briefe bei manchen der vielen Psychopathen hatten, die brieflich bei
mir angefragt hatten wegen Eintritt in meine Anstalt. Vorkommnisse
wie das folgende gehören dabei zu den alltäglichsten.
Einem Patienten war von seinem Arzte meine Anstalt verordnet
worden. Er lieferte mir bei der ersten Anfrage kein Material zur Er-
kennung seines Falles, klagte nur über gelegentlichen Kopfdruck und
frug an, wann er mich sprechen könne. Ich schrieb: Nächste Woche ;
später würde ich vielleicht verreisen. Nun folgte eine Reihe von Briefen
(wie ich sie oft von unentschlossenen Psychopathen zu lesen bekomme),
worin er verschiedene Zweifel äusserte, z. B. ob es nicht besser wäre,
jetzt noch abzuwarten u. dgl. Vielleicht entschlösse er sich später, zu
kommen. Zu diesem Zwecke solle ich ihm genau angeben, wann und
auf wie lange ich verreise. Ich kenne diese Pappenheimer, und würde
mich, engagirt nach verschiedenen Richtungen, durch die jeweilig vor-
liegenden Anfragen, in ein Netz von Compromissen begeben. Ich ant-
wortete daher : Ich kann mich in Bezug auf Datum und Dauer meiner
Reise nicht binden. Er sei auf nächsten Mittwoch 9 Uhr Vormittags
vorgemerkt. Punctum! Der Mann kam pünktlich zu dieser Zeit und
fünf Minuten nach Eintritt ins Zimmer hatte er mich schon mitten ins
Centrum seiner Qualen gesetzt. Er dankte mir mit überströmenden
Ausdrücken dafür, dass ich, ohne auf seine Zweifel zu reagiren, ihm
einfach einen ganz bestimmten Tag zur Berathimg vorgeschrieben
habe. Der Mann war ausgeprägt zweifelsüchtig und jahrelang in den
grössten Selbstmartern hin und her geschwankt, unfähig zu jeglichen
Entschlüssen. Ich hatte ihm mit meinem ganz bestimmten Wort die
Pistole vor die Brust gehalten und kein Zaudern, Ueberlegen und
Zweifeln gestattet. Diesem festen Worte und nur ihm, verdanke er,
dass er überhaupt hätte kommen können u. dgl. m.
Zeitschrift für Hypnotismns etc. IX. 20
306 '^- C^rohmann.
Ein anderer meiner Patienten, schon lange im Hause — begabt
mit einem gewissen kritischen Blicke : um sich her Alles sondirend, wie
weit es wohl ansznnützen wäre für seine Genesung — bestellte bei mir
folgende Worte auf einen Zettel zu schreiben :
Lieber Herr So und so, Zürich!
Es wird schon gehen. Machen Sie, was ich gesagt habe
und halten Sie nur aus!
Ihr ergebener A. Grohmann.
Ich beeilte mich, diesen Zauber auf Bestellung zu liefern, und
besser hab' ich's nie gehabt. Genau erklärte mir der Mann — sehr
unnöthiger Weise — wie es doch immer gut sei, Alles Schwarz auf
Weiss bei sich zu haben. Jetzt brauche er nur in die Tasche zu langen
und meinen Brief hervorzuziehen, um sich an meine Wegleitung und an
seine Vorsätze zu erinnern. Dann sei Alles wieder richtig und im Gleis !
Seien wir aufrichtig! Es ist doch manchmal so sehr leicht, ge-
wisse Patienten zu behandeln^ dass man's als eine schwierige Kunst
bezeichnen müsste, den unrichtigen Weg zu finden.
Zahlreich waren die Fälle, in denen das Eintreffen eines Briefes
meine Patienten in der merkwürdigsten Weise beeinflusst hat. Auf
den ersten Blick könnte ich sagen: Da ist Alles möglich! Bei ge-
nauem Zusehen entdeckt man freilich, dass auch hier Alles gesetzmässig
zugeht: Mjig der eingelaufene Brief sein, wie er mag, immer ist für
seinen Empfänger und alle diese interessanten und interessirten Herrn
Mitpatienten, die sich vielleicht in die Angelegenheit mischen, das Eine
feststehend : Zwischen dem gegebenen Individuum, der empfangenen
Nachricht und dem durch sie hervorgerufenen Affecte liegt als ganz
bestimmtes und einzig mögliches Verbindungsglied ein ganz bestimmtes
krankes Gehirn mit seinem Jetztzustaude und seinen aufgespeicherten
Erinnerungen.
Wie viel Ueberstürzung und Erzeugung von Affecten liegt nicht
in jener Nebengattung von brieflichem Verkehr, dem Telegraphiren und
dem Telephoniren!
Die Gesellschaft hat sich diesen neuen Formen des Verkehrs an-
zupassen. Der technische Erfinder hat nur das Instrument geschenkt;
wie die Gesellschaft mit ihm fertig wird, ist ihre Sache, — und unter
Opferung des Lebensglückes und der Gemüthsruhe Tausender ihrer
Mitglieder erreicht sie — und auch nur einen Theil — jener Anpassung.
Einiges über Suggestion darch Briefe. 307
die dem Erfinder mit seinem meistens nur technischen^ aber nicht
gesellschafts-psychologischen Blick in die Zukunft vorgeschwebt hat.
Viele Opfer dieser modernen Verkehrseinrichtungen fallen dem
Arzte in die Hände. Beim Einen hat sie eine schwere Berufsneurose
entwickelt, er ist ihr reines Opfer geworden. Beim Anderen hat
der Missbrauch der Verkehrseinrichtung, oft bei Benutzung zu ganz
eitlen und unnützen Zwecken, den Ausbruch einer Krankheit bewirkt,
die nur in seiner krankhaften oder schwachen Veranlagung lag.
Die moderne Caffeehaus- und Theaterbummelei z. B. ist für viele
psychopathische Städter nur die letzte Schule in ihrer Selbstschwächung.
Das viele Eisenbahnfahren erzeugt bei manchem Commis voyageur
sexuelle Ueberreizung. Und das Romanelesen der beschäftigungslosen
reichen Dame führt auf andere Abwege.
Mir kommt es vor, als ob sich bei den von mir zuerst geschilderten
Brief Wechselgelegenheiten „in aller Stille" eine Sache entwickelt hat,
die noch recht stark um sich greifen kann. Denn Viele, die Romane
lesen, wollen auch Romane erleben. Die arme Nähterin in ihrer Ver-
einsamung und die Reiche in ihrer Langenweile können da hineinfallen.
Die Erziehung wirkt zwar als Hemmschuh. Mancher, der jede
Frau zu umschlingen sofort bereit wäre, thut es nicht, weil seine Er-
ziehung ihn daran hindert und das sittsame Mädchen kann im gewöhn-
lichen Verkehr die uneinnehmbare Festung sein.
Im Briefwechsel tritt aber für Beide die Wirkung der Erziehung
sehr zurück, denn wir werden nur wenig in der Richtung des Brief-
schreibens erzogen, sondern fast nur in der Richtung des Benehmens
im persönlichen Verkehr.
Es kommen dann, beim geschilderten Briefverkehr, diese zwei Fac-
toren, glaube ich, vor Allem zur Geltung: Beim Manne die polyga-
mische Anlage, wie man das Ding benennt, bei der Frau das Ober-
stübchen, die Gefühlsduselei, die Phantasie, die Gehirngrübelei: Wie
der Mann meistens gleich mit seinen Genitalien liebt, so die Frau recht
oft „nur" im leicht suggerirten Oberstübchen. Der beim persönlichen
Verkehr vorliegende Hemmschuh des allereingefleischtesten Schicklich-
keitsgefuhls tritt für sie zurück, wo sie es nicht mit einem real vor ihr
stehenden Manne zu thun hat. Das wird wohl die Norm sein. Es kann
aber natürlich auch bei einem oder bei beiden Partnern der Fall umge-
kehrt liegen, oder es treten für einen Theil Motive ganz neuer, anderer
Art ein, z. B. Gelderwerb durch Erpressung etc., die das Heizmaterial
20*
308 ^' Grohmann. Einiges über Suggestion durch Briefe.
für sein Triebwerk liefern, oder es giebt, wie ja meist im Leben, ein
mixtum compositum von Tielen Motiven.
Unter dem Schutzmantel jenes Nichtpersönlich einander Gegenüber-
Stehens wachsen dann die Vorstellungen und ihre Wirkungen auf das
gesammte Triebleben heran, bis die Stunde naht, wo auch der schwä-
chere — d. h. hier sittlichere — Theil diesen Schutzmantel wegwirft
und man reif geworden ist für Dummheiten.
Für mich ist es ganz bezeichnend, dass aus einigen Mittheilungen
in jenem Koffer meiner Clientin, die die Erlebnisse ihrer verschiedenen
Partner schildern, folgendes hervorgeht : Mehrere von ihnen, ebenso ihr
Verführer in jener Nacht ihres ersten Zusanmienseius, berichten, dass
sie nach einer langen Correspondenz mit hohen Erwartungen an das
erste Rendezvous mit ihren Gorrespondentinnen herangetreten seien.
Aber sie seien enttäuscht gewesen. Dia. Dämchens seien ganz anders
und minderwerthiger gewesen, als sie sich während des Briefschreibens
ausgemalt hätten. Für die hätten sie lieber gar nicht mit der Corre-
spondenz angefangen! Das trifft den Kern der Sache.
Dass es so viele Leute giebt, die sich durch Geschriebenes so
leicht beeinflussen lassen, mag vielleicht zum Theil daher kommen, dass
eben früher Gedrucktes und Geschriebenes viel weniger vorkam und
OS mehr nur wichtigere Sachen betraf, wie z. B. Gesetze, Verträge etc.
Daher wurde dem Gedruckten und Geschriebenen als solchem schon
ein grösserer Werth beigelegt, den es auch wirklich besass. Jetzt ist
es zwar zur allgemeinen Verfügung und dadurch entwerthet worden,
aber wir haben die Wirkung durch unsere Voreltern doch in uns auf-
genommen.
Es giebt viel Geld, viel Zeit, viel Schlechtigkeit und viel Dummheit
und Krankheit. Das Alles associrt sich mit den Verkehrsmitteln und
den gesammten modernen technischen Hülfsmitteln unserer Cultur,
und so .erzeugt die Gesellschaft immer wieder neue, moderne, culturelle
Mittel zur Erregung und Beeinflussung und zum moralischen Fallisse-
ment; für den Einen das, für den Anderen jenes.
Briefe spielen hierbei eine wichtige Rolle. Ich kann
mit den wenigen mir zu Gebote stehenden Beispielen nichts bew^eisen.
Aber ich möchte auf diese wichtige Erscheinung hinweisen. Ich
empfehle sie der Aufmerksamkeit der Sachkenner und Beobachter auf
dem Gebiete der Psyche,
Referate und Besprechungen.
Sante de Sanctis, Una Yeggente. Ballettino della Societä Lancisiana degli
Ospedali di Roma. Anno XIX, fasc. 1. 1899. 26 Seiten.
Die vorliegende Abhandlung enthält die Ergebnisse einer Studie über das
12jährige Banemmädchen Sestilia Calderina zu Migliano in der Provinz
Perugia in Italien, das im vorigen Jahre viel von sich reden machte und be-
sonders vom Januar bis zum Mai 1898 die ganze Umgegend seines Heimatortes
durch seine Predigten, Weissagungen, Mittheilungen aus der anderen Welt u. s. w.
in Staunen versetzte und dies um so mehr, als die angebliche Heilige weder lesen
noch schreiben kann, nie zur Schule ging und vor dem Ausbruch ihrer Wunder-
gabe auch die Kirche und den religiösen Unterricht nicht gerade häufig besuchte,
nur einmal des Jahres beichtete und niemals communicirte.
Die Anfangs October 1898 vom Verfasser vorgenommene Prüfung ergab unter
anderem folgenden anamnestischen Befund: Die Kranke ist blass, braun, von sym*
pathischem Ausdruck, Körpergrösse 1,40 m. Schlank und gut gebaut, obwohl von
etwas gebückter Haltung. Leichte Asymmetrie des Gesichts. Zygomaticus, Orbita
und Stirn rechts mehr hervortretend als links. Leichte Functionsstörung der
mimischen Antlitzmuskeln rechts. Defect in der Aussprache der Laute s und r
(das r wird ein wenig französisch ausgesprochen). Helix der Ohrmuscheln imregel-
massig, die Darwinschen Knötchen deutlich erkennbar. Das Mädchen ist scrophulös.
Die Kranke scheint erblich belastet, obwohl beide Eltern gesund sind. Der
Grossvater väterlicherseits starb als 72 jähriger an Kummer, ein Bruder desselben
litt im Irrenhausd zu Pompeji an Melancholie. Ein Verwandter mütterlicherseits
ist Idiot, ein Bruder der Kranken tuberkulös.
Als kleines ELind zeigte die Kranke nichts Besonderes, sie war jedoch von
lebhaftem Temperament und inteUigent. Gegenwärtig überschreitet ihre Intelligenz
nicht die mittlere Norm. Bis zum 18. November 1897 hatte sie niemals Anfälle,
sie war unwissend, wie fast alle Mädchen jener Gegend. Sie hatte weder von der
Madonna zu Lourdes noch von der zu Pompeji, noch von anderen ähnlichen
wunderbaren Dingen gehört. Sie hatte ebensowenig auf Jahrmärkten oder sonstwo
Somnambule oder Gaukler u. s. w. gesehen.
Am Morgen des 18. November fühlte sie sich zum ersten Male unwohl. Sic
legte sich darauf nieder und schlief den ganzen Tag lang so tief, dass die Mutter
310 fteferate und Besprechong^.
sie am Abend nur mit Gewalt und darch heftiges Schütteln erwecken konnte. Der
nächste Tage verlief ohne Anfall. Am folgenden verfiel sie fast zor selben Zeit
für viele Stunden in gleich tiefen Schlaf, nachdem sie znvor eigenthümliche Reib-
bewegungen der Hände und Kälteschauer gezeigt hatte. Von nun an wiederholten
sich die Anfälle regelmässig einen Tag um den andern, immer von jenen Beib-
bewegungen und oft auch von Zuckungen, wenn auch nicht sehr intensiven, des
ganzen Körpers eingeleitet. Anfangs trat der Anfall immer zur gleichen Tageszeit
ein, allmählich verzögerte sich derselbe täglich um weniges, bis er schliesslich immer
am Abend oder in der Nacht eintrat. Bei den ersten Anfällen schlief die Kranke
ruhig ohne zu sprechen und hatte nach dem plötzlichen Erwachen keine Erinnerung
von dem, was vorgefallen war. Später fing sie während des Schlafes an zu reden.
Sie rief anfangs nur die Namen der Eltern und sprach unzusammenhängende Sätze.
Diese wurden später zu längeren Reden und detaillirten Erzählungen über das, was
sie an den Tagen zuvor und in den Stunden vor dem Anfall erlebt hatte. Noch
später sprach sie über Verstorbene, die sie gekannt und über Dinge, die sie vor
langer Zeit erfahren hatte. Nach ungefähr zwei Monaten (Januar 1898) sprach die
Kranke während der ganzen Zeit des Schlafes. Den Inhalt ihrer Beden bildeten
nun Blumen, Engel, das Paradies, das Fegefeuer, die Hölle, die Heiligen, die Ver-
storbenen u. s. w. Sie verkehrte mit den Abgeschiedenen und beschrieb ebenso-
wohl schreckliche Visionen wie auch Segnungen.
Im Februar und März 1898 trat eine Veränderung ein. Die Anfälle dauerten
fort (Eintritt gegen 8 oder 9 Uhr Abends), aber die Kranke spricht nicht mehr
immer wie sonst während der ganzen Zeit des Schlafes, sondern schläft zuweilen
in der Nacht ruhig, um gegen Morgen ihre Reden zu beginnen. Meistens sind
während des Schlafs die Augen geöfihet. Nach dem Erwachen erinnert sie jetzt
zuweilen etwas aus den Traumerlebnissen.
Am Gharfreitag. der ein Tag des Anfalles war, blieb dieser aus. Die Kranke
gab an, dass sie heute mit Niemand reden könne. (nOggi non ho con chi dis-
correre. il Signore e morto".)
Der Inhalt der Heden ist fortdauernd mystisch. Sie berichtet aus dem Leben
Christi, über die Mirakel verschiedener Heiligen und der 3Iadonna, ermahnt zur
Busse u. 8. w.
Seit Ende August tritt in ihren Reden eine gewisse Gigia auf (Verf. vormuthet
die Ettorre di Napoli) und spricht mit ihr über Ereignisse der Zukunft.
In der Folge hat die Kranke auch während des Tages und in anfallsfreien
Nächten Erscheinungen und Visionen. Gott und die Madonna ertheilen ihr Befehle
(„la Madonna ha gli occhi piü splendidi degli spccchi, d bella come un raggio di
sole"), sie macht mysteriöse Reisen in weite Fernen.
Sie ist äusserst zurückhaltend gegen Erwachsene, die sie befragen, zeigt auch
eine ausgesprochene Schlauheit und Verstellungskunst („il dottorc pesca (tenta),
che io gli dica tutte le mie cose, ma mica gliele dico" . . ., ... „siete troppo
grandi (adulti) . . . i grandi hanno la vista grossa . . . Gerte cose belle le possono
veder solo i piccoli (bambini e fanciuUi) che sono innocenti"). Einer siebenjährigen
Schwester lasst sie ihre Visionen sehen, tadelt sie aber dann sehr, als sie erfährt,
dass die Schwester darüber Mittheilungen gemacht. Seitdem es einem Arzt ge-
lang, sie zu hypnotisiren, in welchem Zustand sie sprach, wie in ihren Anfällen,
Referate und Besprechungen. 31 X
gelingt -dies Niemand wieder. Sie wiedersetzt sich jeder genaueren Prüfung, es
war unmöglich, die Sensibilität an ihr festzustellen.
In letzter Zeit ist die Kranke reizbar und leicht verletzt, sie weint leicht und
zeig^ sich oft feindlich gesinnt gegen ihre Umgebung.
Seit dem Ausbruch der Krankheit ist das Mädchen sehr religiös geworden.
Beim Weiden der Schafe sieht man sie oft knieen und beten. Dio Eltern brachten
sie zweimal zum Sanctuarium derMadonna delle Grondicie, um vom Himmel
die Heilung zu erflehen.
Der Verfasser berichtet dann noch über einige angebliche Weissagungen der
Kranken, über die aber keine völlig übereinstimmenden Angaben zu erhalten waren
und die sichtlich auf Associationsverbindungen zurückzuführen sind.
Die Bedeutung und das Hauptinteresse des beschriebenen Falles liegt wohl
darin, dass die einzelnen Entwicklungsphasen der Krankheit deutlich zu verfolgen
sind und ein Verdienst des Verfassers ist es, dieselben unter Anwendung der
modernen psychologischen Erkenntnisse, soweit es die Umstände gestatteten, zu
einem klaren Verständniss gebracht zu haben.
Von hysterischen Anfällen allgemeinen Characters, verflochten mit Schlaf-
zuständen und gefolgt von vollständiger Amnesie, geht die Krankheit über in einen
Zustand des Schlafredens (sonniloquio), es folgt ein Stadium des reve delirant
(Gnislain), das dann in den Traum- und Dämmerzustand übergeht. Die
Amnesie nach dem Erwachen ist weniger vollständig, die Kranke ist im Stande,
etwas über den gehabten Anfall zu berichten. Endlich dauert der Inhalt des
pathologischen Traumes auch während des Wachbewusstseins fort, die Kranke be-
findet sich in einem Zustande vollständigen mystisch-prophetischem Deliriums, das
man als „hysterische Psychose mit delirircnden Traumanfällen'' bezeichnen kann.
(Delirio onirico nach De Sanctis).
Der Verfasser wirft die Frage auf, ob die Entwickelung der Krankheit mit
dem gegenwärtigen Stadium abgeschlossen sei und kommt zu dem Ergebniss, dass,
wenn nicht das Auftreten der Pubertät dem Ganzen eine sexuelle Färbung geben
wird (erinnert wird an das tragische Ende Urbano Grandier's und die Ursu-
linerinnen zu Loudun 1635) oder wenn nicht einmal die Carabinieri eintreten
werden oder das Interesse des Publikums schwindet, die Krankheit sich zu einer
wirklichen Theomanie entwickeln könne und das einfache Mädchen von Migliano
als Prophetin und Heilige Anerkennung finde. Der Verfasser denkt wohl an
Lazzaretti, Consulheiro, Louise Lateau u. a.
Fein sind die psychologischen Fingerzeige des Verfassers in Bezug auf die
allmähliche und stetige Zunahme der Traumvorstellungen, bedingt durch das der
Kranken entgegengebrachte Interesse der Bevölkerung und die Fragen, die man
an sie richtet, durch den engen Connex, in dem sie sich zur Kirche stellt, die
Wunder der Madonna delle Grondicie und der Heiligen, die man ihr erzählt u. s. f.
„Unbewusst" empfangene Eindrücke der weiteren rcproduciren sich im Traume
hallucinatorisch mit der Lebhaftigkeit wirklicher Sinneseindrücke. Ein Hauptfactor
für die Erklärung des vorliegenden Falles ist femer die Autosuggestion. Verf«
fügt hinzu: „In Sestilia ist weder irgend etwas von Telepathie noch von Te-
le s t e s i e nachweisbar, und überhaupt können Thatsachen dieser Art vielleicht eben-
falls durch wissenschaftliche Hypothesen erklärt werden (Tamburini)".
Zur Diagnose der Krankheit sei noch erwähnt, dass mit dem Verfasser gegen*
312 Referate nnd Besprechangen.
wärtig die yierte Periode (attaque de delire) der grande attaqae hj-
sterique der Schule Charcot's hauptsächlich in Betracht komme.
Den Schlnss der Abhandlung bilden noch einige geschichtlich-psychologische
Hinweise.
Je mehr sich die Psychopathologie auf die durch die normale Psychologie
gewonnenen Erkenntnisse stutzt, um so grösser wird andererseits der Nutzen sein,
den die letztere aus den Resultaten der ersteren zu ziehen vermag. £e steht zu
wünschen, dass ähnliche Fälle dieser Art durch eine gleich sorgfältige Anal3r8e unter-
sucht worden. Kiesow-Turin.
WiUiam James, Talks to Toachers on Psy chology: and to Students
on some ofLife's Ideals. New- York, Henry Holt and Company. 1899. 301 S.
Das Buch zerfällt in die beiden Theile ""Talks to Teachers'' und „Talks
to Students'\ Das Ganze ist eine Bearbeitung von Vorträgen, die der Verfasser
in Cambridge und an anderen Orten der Vereinigten Staaten vor einigen Jahren
gehalten hat.
Der erste Theil des Buches „Talks to Teachers" enthält 15 Kapitel Im
ersten ""Psychology and the Teaching ArV spricht James sich sehr lobend
aus über das amerikanische Schulwesen, sowie über den Enthusiasmus der Lehrer
und deren Verlangen, in die Psychologie eingeführt zu werden, um ihren Beruf
mit immer grösserem Erfolge ausüben zu können. Die Psychologie, so führt
James aus, kann dem Lehrer eine bedeutende Hülfe sein, aber dennoch darf der
Einfluss, den sie auf den Unterricht auszuüben vermag, nicht überschätzt werden;
denn wenn auch die hier in Betracht kommenden Methoden im letzten Grunde
den psychologischen Gesetzen entsprechen müssen, so können sie doch nicht ohne
Weiteres von diesen abgeleitet werden. Der grosse Nutzen der Beschäftigung mit
der Psychologie besteht für den Lehrenden nach James besonders darin, dass
diese Wissenschaft vor der Anwendung fehlerhafter Methoden schützt, dass sie
femer das instinctiv erworbene Lebrverfahren in richtiger Weise zu beleuchten
und endlich das Interesse des Lehrers für die Individualität der Schüler zu
wecken vermag.
Ueber das in Amerika mit besonderem Fleiss betriebene Studium der Psy-
chologie des Kindes spricht sich der Verfasser dahin aus. dass, so nützlich dasselbe
auch sein möge, es doch nicht als eine unerlässliche Pflicht dem Lehrer aufgebürdet
werden dürfe. Er verficht mit Entschiedenheit die Anschauung, dass Tüchtigkeit
im Lehramt und Tüchtigkeit im Betreiben der Psychologie des Kindes durchaus
nicht immer zusammenfallen: "The best teacher may be the poorest contributor of
child-study material, and the best contributor may be the poorest teacher." "The
most general Clements and workings of the mind are all that the teacher absolutelj
needs to be acquainted with für his purposes".
Im 2. Kapitel "The Stream of Consciousness" giebt der Verf. eine
kurze Darstellung seiner bekannten Auffassung vom Bewusstsein, er streift dabei
frühere Anschauungen vom Bewusstsein und schliesst das Kapitel mit einem Citat
aus W u n d t ' 8 Abhandlung „Ueber psychische Causalität und dasPrincip
des psychophysischen Parallelismus** (Philos. Studien XI, 121fF.).
Das S.Kapitel ist betitelt: "The Child as a Behaving Organism". Die
-heutige Psychologie betont im Gegensatz zu früheren Anschauungen auch die
Referate und Besprechimgen. 313
practische Seite dieses Studiums. Diese Seite liat für die Lehrenden besonderen
Werth und wird daher vom Verfasser in dieser Darstellung auch besonders hervor-
gehoben. "You should regard your professional task as if it consisted
chiefly and essentially in training the pupil to behavior" (das Wort
in seinem weitesten Sinne gefasst).
Im 4. Kapitel, Education and Behavior wird die Erziehung definirt als
„the Organisation of acquired habits of oondnct and tendencies to
b e h a V i o r". "You should get into the habit of regarding them (die Eindrücke,
die der Lehrer auf den Schüler hervorbringt) all as leading to the acquisition by
him (d. Schüler) of capacities for behavior — emotional, sociali bodily, vocal, tech-
nical or what not.**
In den folgenden Kapiteln — "The Necessity ofReaction'' — "Native
Beactions and Acquired Reactions" — **What the Native Reactions
are" — giebt der Verfasser practische Rathschläge und Regeln für eine erfolg-
reiche Erziehung. "No reception without reaction, no impression
without correlative expression." Ein Eindruck, der in dem Schüler keine
Reaction hervorruft, ist ein verlorener und psychologisch unvollständiger. Der
Lehrer soll sich mit den angeborenen Reactionen seiner Schüler (Furcht, Liebe,
Wissbegierde. Nachahmung, Ehrgeiz u. s. w.) vertraut machen und diese je nach
dem gegebenen Fall auszunutzen, zu unterdrücken oder umzumodeln versuchen.
Kapitel 8 — **The Laws of Habits" — behandelt die Macht der Gewohn-
heit, Kapitel 9 die Ideenassociation — "Association of Ideas". "The teacher
can formulate bis function to himself therefore in terms of association as well as
in terms of native and acquired reaction. It is mainly that of building up
nseful Systems of association in the pupil's mind."
Im 10. und 11. Kapitel behandelt Verf. das Interesse und die Aufmerk-
«amkeit ("Interest — Attention"). Der Lehrer soll in seiner Thätigkeit
immer von den bereits vorhandenen Interessen des Schülers ausgehen und hieran
anknüpfend neue Interessen in ihm zu wecken suchen. Die Aufmerksamkeit soll
nicht zu oft direct erzwungen werden, es wird erzieherisch mehr erreicht, wenn
dieselbe durch geschickte Behandlung des Gegenstandes immer wieder von Neuem
angefacht wird.
Im 12. Kapitel, in dem der Verfasser die Gedächtnissthätigkeit ("Memory")
einer Betrachtung unterzieht, kommt er zu dem Schluss: "There can be no
improvement of the general or elementary faculty of memory;
there can only be improvement of our memory for special Systems
of associated things." James bemerkt nebenbei, dass die jetzt veraltete
Methode des Auswendiglernens gegenwärtig vielleicht doch zu sehr verachtet werde ;
sie bessere freilich nicht an sich die elementare Thätigkeit des Gedächtnisses, wohl
aber liefere sie ein höchst nützliches Material für die Denkthätigkeit.
Die letzten drei Kapitel dieses ersten Theiles behandeln die Erwerbung von
Vorstellungen, so\^ie die Apperception und den Willen ("the Acquisition of
Ideas, Apperception, the Will"). Ganz allgemein gesprochen kann die Er-
eiehungsthätigkcit aufgefasst werden als "the process ofacquiring ideas or
conceptions". Die Apperception ist nach James "nothing moro than
the act of taking a thing into the mind." Die Willenshandlung ist nach
James stets eine Resultante des Aufeinanderwirkens von Impulsen und Hemmungen.
314 Referate and Besprechongen.
Der Verfasser Teriheidigt sich in dieser Darstelliing gegen solche, die ihn tls
Katerialisten auffassen« £r hebt aosdrücklich hervor, dass er sich nicht xa der
materialistischen Weltanschannng bekenne.
Der zweite Theil des Baches — ''Talks to Stadents" — enthalt drei
Kapitel. Im ersten — ''the Gospel of Relaxation" — empfiehlt der Yerfasser,
sich aaf das James -Lang ersehe Gesetz stützend, seinen Landsleaten, stets nach
äasserer Rohe za streben, aas der dann die innere folgern würde. Die Unrohe der
Amerikaner wird als eine schlechte Gewohnheit bezeichnet.
In den beiden letzten Xapiteln — ''On a Certain Blindness in fiaman
Beings" und^What Makes a Life Significant?" — findet die individaaüstisehe
Philosophie einen enthusiastischen Aasdrack. „Die practische Consequenz einer
solchen Philosophie,'' sagt der Verf. im Vorwort, „ist die wohlbekannte demo-
kratische Achtung vor der Heiligkeit der Individualität, — sie ist in jedem Falle
die äusserliche Toleranz gegen alle, die nicht selbst intolerant sind."
F. Kiesow-Turin.
V, Bechterew, Heber die Bedeutung der gleichzeitigen Anwen-
dung hypnotischer Suggestionen und anderer Mittel bei der Be-
handlung des chronischen Alkoholismus. — Centralblatt für Nervenhefl-
kunde und Psychiatrie. April 99. X. Bd.
Verf. theilt die Resultate seiner seit etwa 94 gemachten Beobachtungen über
die Wirkung der hypnotischen Behandlung von Alkoholikern mit In der Mehr-
zahl der Fälle kamen Heilungen zu Stande. Nur bedurfte es zur Sicherung des
Erreichten von Zeit zu Zeit einer Wiederholung der Suggestionen. Auch bei pe-
riodischer Trunksucht hat Verf. mehrere gute Erfolge erzielt. — In Bezug auf die
Ansicht einiger Autoren, dass die Häufigkeit der Recidive in Abhängigkeit von
dem Grade der Degeneration steht, ist Verf. zu keinem Schluss gelangt. Es er-
scheint ihm aber das umgebende Milieu ein wichtiger Factor zur Herbeiführung
eines Recidivs.
Auch während der Anfälle von Säuicrwahn, abgesehen von starken Erregungs-
zuständen der Kranken, aber trotz fortbestehender Sinnestäuschungen kann die
Hypnose nach Verf.'s. Ansicht augenblicklich Besserung des subjectiven Befindens
zur Folge haben. Besonders wichtig erscheint ihm in solchen Fällen die Suggestion
zur Herbeiführung eines tiefen kräftigenden Schlafes.
Die all ergünstigste Wirkung ist nach Verf s. Ansicht in Rücksicht auf die
mit dem Alkoholismus verbundenen somatischen Störungen zu erzielen durch eine
Combination der Hypnose mit anderen Mitteln, eine Behandlungsart, der VerL sich
seit längerer Zeit zugewandt hat. So verordnet Verf. neben der suggestiven Be-
handlung hydrotherapeutische, beruhigende, erforderlichenfalls regulatorische und
tonisirende Mittel.
Auf Grund seiner Erfahrungen erscheint dem Verf. also die psycho-somatische
Behandlung als die rationellste. van Straaten- Berlin.
V. Schrefik-Notzing. Zur suggestiven Behandlung des conträren
Geschlechtstriebes und der Masturbation. Eine Berichtigung. Central-
blatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie. Mai-Heft 1899.
Den Inhalt dieser kleinen Abhandlung bildet eine Entgegnung auf einen von
Referate und Besprechungen. 315
V. Bechterew verfassten und in Nr. 109 obigen Centralblattes erschienenen Auf-
satzes.^) Verf. spricht v. B. die Originalität des Gedankens der Suggestivbehand-
lung Gonträrsexueller ab, indem er darauf hinweist, dass schon vor 10 Jahren
T. Erafft-Ebbing, Ladame und Verf. die ersten Beobachtungen suggestiver Be-
handlung Gonträrsexueller veröfifentlicht haben und seither eine ganze Reihe von
Arbeiten über dieses Thema erschienen sind. Als Beleg führt Verf. verschiedene
Arbeiten an. van Straaten-Berlin.
Wühelm Strohmayer, lieber Enteritis membranacea und Golica
mucosa. Jena 1898. Dissertation.
Das Krankheitsbild der Enteritis membranacea, das Verf. zunächst entwirft,
möchte ich in etwas ausführlicherer Weise, als es der Rahmen eines Referats erlaubt,
darstellen, da es wohl nicht allgemein bekannt sein mochte. Der an chronischen
Magen-, Darmbeschwerden und Obstipation leidende Patient wird in unregelmässigen
Intervallen von intensiven kolikähnlichen Schmerzen befallen, mit denen noch eine^
Menge anderer Beschwerden einhergehen. Die Schmerzen sind entweder über den
ganzen Leib verbreitet, oder werden in die Seiten oder den Rücken verlegt oder
genau dem Verlaufe des Colon transversum und Descendens lokalisirt. Die meisten
Kranken empfinden dabei ein lebhaftes Entleerungsbedürfniss, das sich bis zum
qualvollen Stuhldrang steigern kann. Derselbe hält stundenlang, oft tagelang an.
Im Anschluss an diese Anfälle werden eigenthümliche schleimige, bisweilen membra-
nöse Massen entleert, die verschiedenste Form und Grösse haben. Es sind entweder
unregelmässig geformte Membranen von verschiedenster Dicke, die auf den ersten
Bück eine gewisse Aehnlichkeit mit Groupraembranen haben, oder mehr lange
Fäden mit klumpigen Anschwellungen, oder baumförmig verzweigte Gonvolute,
wieder andere zeigen netz- oder lappenförmigo Configurationen, oder endlich sind
sie mehr röhrenförmig, entweder massiv mit Längsfalten cannelirt oder bisweilen
hohl. Die Massen sind grauweiss oder gelblich ; auch braune Färbungen kommen vor.
Nachdem Verf. im Anschluss hieran eine Zusammenstellung der seit den 70 er
Jahren über Aetiologie, Wesen und Therapie der Enteritis membranacea aufge-
stellten Ansichten der Autoren gemacht hat, bringt er 6 Fälle von Enteritis mem-
branacea zur Veröffentlichung, von denen zwei umsomehr unser Interesse bean-
spruchen, als hierbei nach verschiedenen erfolglosen Behandlungsmethoden durch
Faradisation mit suggestiver Beeinflussung resp. Hypnotismus ein dauernder Heil-
erfolg erzielt worden ist.
In dem einen Fall handelt es sich um eine 41jährige Patientin. Dieselbe
hatte 1893 heftige Magenschmerzen mit Bluterbrechen, seit jener Zeit dyspep-
tische Beschwerden. 1895 kam sie in poliklinische Behandlung. Sie klagte haupt-
sächlich über schmerzhafte Stuhlentleerung mit Abgang von grösseren Fetzen.
Man constatirte bei ihr Zeichen von Hysterie. Wegen Retroflexio uteri wurde bei
ihr im Herbst 1895 die Ventrifixura uteri vorgenommen, wobei eine Narbe am
Pylorus mit Adhäsionen der Umgebung entdeckt und eine Lösung der Adhäsionen
gemacht wurde. Bis zum Herbst 1896 war das Befinden der Patientin gut. Im
Dezember kam sie wieder in poliklinische Behandlung. Sie klagte über Ver-
') Vgl. V. Bechterew, Die suggestive Behandlung des conträren Geschlechts-
triebes und der Masturbation. Diese Ztschr. Bd. 8 pag. 370.
316 Referate und Besprechangen.
dauungsbeschwerden, Seitenstechen, Schmerzen im Rücken und unter dem Rippen-
bogen etc. Vom Status ist bemerkenswerth : Cornea anästhetisch; Ovarie; Wirbel-
säule druckempfindlich. Patientin wurde mit Acid. hydrochloric, Ol Sesam, und
kalten Abwaschungen behandelt. Im Anfang des Jahres 1897 hatte Patientin za
wiederholten Malen schmerzhafte Stuhlentleerungen mit Abgang von grossem
Fetzen.
Patientin wurde nun faradisch behandelt und suggestiv beeinflusst (be-
züglich Ernährung, Stuhlgang und der übrigen körperlichen Beschwerden), worauf
eine bedeutende Besserung eintrat. Im Mai des Jahres klagte sie wieder über
Mattigkeit und yiel Durst, im Juni stellten sich wieder Schmerzen im Rücken em,
Schmerzen beim Stuhlgang und Fetzen im Stuhl. Nach wiederaufgenommener
Faradisation mit suggestiver Beeinflussung und Einnehmen von Liq. ferr. manga-
nat. peptonat. verschwanden die Hauptbeschwerden. Das lästige Durstgefnhl, Sod-
brennen nach dem Essen und Kreuzschmerzen blieben bestehen. Membranen
wurden im Stuhl nicht mehr beobachtet.
Im zweiten Fall handelt es sich um eine 26jährige Patientin, die im Jahre
1895 in die Behandlung von Dr. Petersen Düsseldorf trat. Im 19. Lebensjahr
hatte sich bei ihr hochgradigste Obstipation, Appetitlosigkeit, Uebelkeit, furcht-
bares Gefühl von Aufgetriebensein des Leibes eingestellt. Nach der Nahrungs-
aufnahme lästiges Würgen und Aufstossen ; Ausbleiben der Menses, Schmerzen beim
Uriniren und Urinverhaltung. Dabei unlöschbarer Durst, jedoch Unvermögen zu
trinken, weil sofort Uebelkeit eintrat. In den folgenden Jahren versuchte Patientin:
1890 ein Nordseebad, 1891 klimatischen Kurort, dann Vj^ Jahre lang Massage.
Am meisten wurde sie belästigt durch das Gefühl des Aufgetriebenseins, verbunden
mit krampfartigen Schmerzen im Leib. Die Obstipation wurde vergeblich be-
kämpft. Patientin war psychisch auf's Tiefste dcprimirt. Hereditäre Belastung
war auszuschliessen ; ebenso waren keine Zeichen von Hysterie vorhanden. Stets
fanden sich im Stuhl *;2 — '/* ni lange Schleimfaden von verschiedener Dicke, so-
wie kirsch grosse Schleim klumpen, wenn nach langen Schmerzen auf ein Laxans
Stuhl erfolgte.
Patientin wurde zunächst täglich 2 mal 2 Stunden, oft auch Abends vor dem
Zubettegehen h^'pnotisirt. Die krampfartigen Leibschmerzen und das Gefühl von
Aufgetriebensein verschwanden. Der Appetit hob sich; der Stuhlgang wurde ge-
regelt. Schleimfetzen befanden sich nach einigen Wochen nicht mehr im Stuhl
Die Menses kehrten wieder, das Körpergewicht nahm zu, und das psychische Ver-
halten der Patientin besserte sich zusehends. Ende November 1896 war die Pa-
tientin wieder so weit hergestellt, dass sie ihren Beruf als Lehrerin wieder aus-
füllen konnte, und seitdem ein ganz erträgliches Leben führt.
Was die Therapie allgemein betrifft, schlägt Verf. für die Dauer des paroxys-
malen Zustandes zur Entleerung der Schleimmassen Darmirrigationen vor. Als
die Hauptsache erscheint ihm die Behandlung der nervösen Erkrankung und der
habituellen Verstopfung. Das erstere will er erzielen durch Elektricität, Massage,
active und passive Gymnastik, neben einem geeigneten diätetischen und psychischen
Regime. Zur Beseitigung der chronischen Obstipation erscheint ihm die Sug-
gestionstherapie resp. Hypnose als ganz besonders geeignet, auch schreibt er dieser
Therapie einige Bedeutung hinsichtlich des nervösen Leidens zu.
van Straaten-Berlin.
Referate und Besprechungen. 317
Dr. Aug. Hoffmann: Ueber die Anwendung der physikalischen
Heilmethoden bei Nervenkrankheiten in der Praxis. (Sammlung zwang-
loser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. Heraus-
gegeben von Dr. K. Alt. II. Bd. Heft 3 u. 4.)
Zu den physikalischen Heilmethoden im Gegensatze zur Pharmakotherapie
und Ernährungstherapie sind zu rechnen die mechanischen Heilmethoden, die Hydro-
therapie, Electro-/ Balneo-, Klimatotherapie und die Anwendung der comprimirten
oder verdünnten Luft. Gerade für Behandlung der Nervenkrankheiten werden sie
in der Praxis noch viel zu wenip: angewandt. Daran ist einerseits die so vollständig
verschiedene Beurtheilung des Werthes dieser Heilmethoden schuld — besonders
discreditirt wurden sie, als eine Anzahl von Autoren ihre günstigen Wirkungen
ganz auf Suggestion zurückführen zu müssen glaubten — andererseits aber auch die
mangelhafte Kcnntniss und Uebung seitens der practischen Aerzte in diesen Methoden,
die auf den Hochschulen so ziemlich ganz vernachlässigt wurden. Zwar werden sie
auch jetzt schon von Specialisten angewandt, doch ist vor zu grosser Zersplitterung
zu warnen und jedem practischen Arzt die Ausbildung in den physikalischen Heil-
methoden und ihre Anwendung dringend zu rathen. da nicht jeder Kranke in der
Lage ist, eine Specialanstalt aufzusuchen. Verf. will nur diejenigen der Methoden
besprechen, deren Anwendung in der allgemeinen Praxis ausführbar ist und rechnet
zu diesen Hydrotherapie. Electrotherapie , die mechanischen Heilmethoden, die
Suggestion und Hypnose.
Verf. bespricht die physiologische Wirkung der verschiedenen Wasseranwen-
dungen auf den menschlichen Körper und greift aus den zahlreichen Anwendungs-
formen diejenigen heraus, die für die Praxis verwendbar sind. Als solche zieht er
in den Bereich seiner Betrachtungen Vollbad, Halbbad, Abwaschungen und Ab-
klatschungen, Abreibungen, Packungen, Sitz- und Fussbäder, Soole- und Kohlen-
saurebäder. Wann ihre Anwendung indicirt ist, muss im einzelnen Falle entschieden
werden.
Die geringen Erfolge der Electrotherapie in der Praxis schreibt Verf. zum
grossen Theil der ünkenntniss der Aerzte zu, die in Folge dessen mit mangelhaften
Apparaten nach ganz verkehrten Methoden die Electricität anwenden. In aus-
führlicher Weise werden daher vom Verf. die physikalischen und physiologischen
Erscheinungen der Electricität besprochen, die Anwendungsformen und Indicationen
wieder nur mit einigen allgemeinen Bemerkungen gestreift. Sehr richtig wird be-
merkt, dass wir uns erst dann ein Urtheil über den Werth einer electrischen Cur
werden bilden können, wenn stets genau angegeben werden die Dichte des Stromes,
die Stellung des wirksamen Pols und die Dauer der Anwendung. Auch H. warnt
vor zu starker und zu langer Anwendung.
Von den mechanischen Heilmethoden werden Massage und Gymnastik ganz
kurz, die Frenkel'sche Methode der Ataxiebehandlung ausführlicher besprochen;
durch letztere sah auch Verf. einige Fälle günstig becinflusst. Kurz erwähnt werden
noch die Nage Haschen „Handgriffe", die Suspensionsmethode von Sayre, die
Aückenmarksdehnung von de la Tourette und Chipault, deren Erfolge zweifel-
haft sind.
Sonderbarer Weise wird nun hier unter den physikalischen Heilmethoden auch
die Suggestion und Hypnose behandelt, „trotzdem sie als psychische Heilmethode
eigentlich eine ganz besondere Stellung einnimmt." Warum? Weil Boss b ach
318 Keferate und Besprechun^n.
sie dazu zählt. Zwar am verkehrten Ort, so findet die arg geschmähte Hypnose
jetzt doch wenigstens hin und wieder Erwähnung in den Lehrbüchern, wenn auch
meist noch eine nicht gerade sehr wohlwollende. Auch Oppenheim widmet in
der n. Auflage seines Lehrbuchs der Nervenkrankheiten dem Hypnotismus und der
Hypnose ganze zwei Seiten. Ich kann es mir nicht versagen, den äusserst charac-
teristischen Inhalt dieser zwei Seiten hier kurz anzugeben. Die Angabe, dass 80 %
aller Menschen hypnotisirbar sind, sei stark in Zweifel zu ziehen. Den breitesten
Raum in der Darstellung beansprucht natürlich die von Charcot gegebene Schil-
denmg jener drei Stadien der Hypnose, obgleich Verf. gleich hinzufügt, dass es
Kunstproducte sind und keine Bedeutung für die £rkenntniss vom Wesen der Hyp-
nose haben! (Warum also werden sie angeführt? Nur aus Pietät oder ans Un-
kenntniss der neueren und besseren Ansichten ? Ref.) Natürlich wird auch die alte
schlechte Eixirmethode zur Herbeiführung der Hypnose empfohlen und angegeben,
das Erwachen einfach durch den Zuruf: Erwachen Sie ! oder durch Anblasen herbei-
zuführen ! 0. lässt der Hypnose wenigstens so viel Gerechtigkeit widerfahren, das
er ihre günstige Wirkung und Anwendbarkeit bei einer Reihe von nervösen Zu-
ständen zugiebt, andererseits aber zur Vorsicht mahnt, da „sie die Erscheinungen
einer schweren Hysterie hervorrufen kann.*'
Das nicht ganz drei Seiten umfassende Capitel, das Ho ff mann der Hypnose
widmet, enthält hauptsächlich die bekannte B ernhe im ^ sehe Beschreibung von der
Einleitung der Hypnose. Auch er erwähnt besonders wieder die Fixationsmethode
zur Herbeiführung der Hypnose und hält leichten Schlaf zur Heilwirkung meistens
für genügend, überhaupt die Hypnose zur günstigen Beeinflussung einzelner Symp-
tome für wohl geeignet, auch ihre Anwendung bei Kindern für angebracht. Wenn
auch alle übrigen dieser vom Verf. aufgestellten Thesen nur sehr bedingte Zu-
stimmung finden können, so ist wenigstens die letzte um so mehr anzuerkennen,
als es immer noch Autoren giebt, welche, wie esSaenger auf der III. Versammlung
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Jena leider wieder that, die Hypnose
für künstliche Hysterie erklären und ihre Anwendung bei Kindern gänzlich ver-
werfen. So lange sich unsere Gegner noch so wenig mit der einschlägigen Literatur
beschäftigen, dass sie wie Oppenheim bei der Beschreibung der Erscheinungen
der Hypnose immer noch auf die veralteten Charcot' sehen Anschauungen zurück-
greifen müssen, und die von neueren Autoren längst verworfenen und als schädlich
erkannten Methoden anwenden, ist es nicht zu verwundern, dass sie nur von Miss-
erfolgen zu berichten wissen.
In dem Schlusscapitel wird die Anwendung der physikalischen Heilmethoden
bei einzelnen Krankheiten des Nervensystems besprochen und zwar bei peripheren
Nervenkrankheiten, Rückenmarkskrankheiten, Gehimkrankheiten , Neurosen ohne
bekannte anatomische Grundlage. Die hier besprochenen therapeutischen Maass-
nahmen sind so allgemein gehalten und enthalten so wenig Neues, auch sind die
Gruppenbezeichnungen so unbestimmt und so wenig ersichtlich, was Verf. dazu ge-
rechnet wissen will, dass es sich nicht lohnt, darauf näher einzugehen, nur einige
Einzelheiten sind hervorzuheben. Bei den „auf einzelne Nervengebiete beschränkten
Krämpfen" ist nach der Ansicht des Verfs. „von der Suggestionsbehandlung kein
dauernder Erfolg zu erwarten." Bei seinen Anschauungen über die Hj-pnose nimmt
es mich nun allerdings nicht Wunder, dass Verf. zu diesen Resultaten gekommen
ist, dann hätte er sich aber wenigstens durch die Literatur darüber belehren lassen
Referate und Besprechungen. 319
sollen, dass es gerade diese Fälle, die Zwerchfell-, Gähn-, Husten-Eitlmpfe u. s. w.,
die Tics, Chorea u. s. w. sind, bei denen die hypnotische Behandlung ihre glänzendsten
Resultate zeitigt. Unter den Neurosen ohne bekannte anatomische Grundlage werden
sonderbarer Weise Neurasthenie und Hysterie als völlig analoge Zustände besprochen,
die auf gleichem pathologischen Processe beruhen, wenigstens werden sie immer
neben einander aufgeführt. Bei ihnen hat der Verf. ebenfalls durch Hypnose trotz
^Jahrelangem redlichem Bemühen nie mehr als vorübergehende Erfolge erzielt. *<
Auch hier können wir dem Verf. nur rathen, sich durch die Erfolge Anderer eines
besseren belehren zu lassen. Ueberhaupt scheint der Verf. eine befremdende Tren-
nung zwischen Hypnose, Suggestion und Psychotherapie vorzunehmen, die zu den
sonderbarsten Widersprüchen führt, was nicht der Fall sein könnte, wenn er sie
zusammen als Gttnzes behandelte in ihrer Anwendung und in ihrer Wirkung, wie es
unbedingt geschehen muss. So sagt Verf.: i,Mag man gerade bei diesen Krank-
heiten (Neurasthenie und Hysterie) den suggestiven Einflüssen bei den Heilwirkungen
den meisten Kaum gewähren, so ist es doch mindestens auffällig, dass dieselben
hypnotischer und rein suggestiver Behandlung nur in den seltensten Fällen mit
dauerndem Erfolg zugängig sind''; also mit anderen Worten: Mag auch die Sug-
gestion bei diesen Fällen den grössten Theil der Heilwirkung ausmachen, so hat
sie doch bei ihnen keinen Erfolg. Er räth daher gerade zur Anwendung der an
deren Heilmethoden z. B. des faradischen Pinsels, erklärt aber dann seine Wirkung
durch die Vorstellung, dass eine Heilwirkung eintritt, und schliesst: „Letzteres ist
das suggestiv wirksame." Derartige den Widerspruch in sich tragende Sätze können
nur entstehen, wenn man zusammengehörige Begriffe in der Weise auseinanderreisst,
wie es Verf. thut.
Wenn auch die Nützlichkeit und Zweckmässigkeit der in einzelnen Abschnitten
für den Practiker gegebenen Belehrungen zugegeben werden kann, so muss anderer*
seits hervorgehoben werden, dass die ganze Arbeit doch viel zu skizzenhaft ausge-
fallen ist und viel zu wenig auf die allein lehrreichen concreten Fälle eingeht, um
in der Praxis ein zuverlässiger Kathgeber zu sein. Sollte sie nur eine Skizze sein
und den Arzt eben nur auf neue Hülfsmittel hinweisen, so liegt dafür kein Be-
dürfniss vor, will sie aber wirklich practisch wirken, so scheint sie mir diesen
zweck verfehlt zu haben. Wie man wirklich practische Therapie lehrt, das hat
uns in geradezu mustergiltiger Weise Binswanger^) gezeigt in den der Therapie
gewidmeten Kapiteln seines Lehrbuchs der Neurasthenie, aus denen sich jeder
practische Arzt über die Anwendungsweise der physikalischen Heilmethoden —
natürlich mit Ausnalime der Hypnose — in der erschöpfendsten Weise informiren
kann. Tecklenburg-Leipzig.
Hans Haenelj Die psychischen Wirkungen des Trionals. Psycho-
logische Arbeiten von Emil Kraepelin. Zweiter Band, 2. Heft. Leipzig, Verlag
von Wilhelm Engelmann. 1897. S. 326—398.
Die Versuche, welche ungetähr über die Dauer eines Jahres sich erstrecken,
hat Verf. an sich selbst angestellt. Grössere körperliche Anstrengungen, sowie der
Genuss von Narcoticis wurden vermieden. Es wurden „Addirv ersuche" und
^) Binswanger. Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Jena, Gustav
Fischer 1896. Ref. in d. Zeitschr., Bd. V, pag. 367.
320 Eeferate und Besprechungen.
„Zahlenlerncn*' nach dem Verfahren ron Oehrn, „Wahlreactionen",
„Ergographenversuche", „Schreibversuche", „Leseversoche^, r,^^^'
fassungsversuche", „Associationsversueho*' und ^Wahlreactionen
nach körperlicher Arbeit*' zur Prüfung der Einwirkung des Trionals gewifatt.
Selbstverständlich wurden dieselben Experimente auch ohne dieses Mittel ausgeführt,
um die normale psycliische Leistung zu ermitteln.^)
Die Ergebnisse der einzelnen Versuchsreihen werden zahlenmässig angegebea
und gesondert besprochen. Auf die Einzelheiten einzugehen, ist hier nicht möglich.
Es mag genügen, das Schlussresultat aus den sämmtlichen Versuchen hier wörtlidi
wiederzugeben. Es lautet:
I. Trional beeinträchtigt die Auffassung und verändert sie
zugleich im Sinne einer Vermehrung von IllusioneiL
n. Trional erschwert die centrale Auslösung coordinirter Be-
wegungen.
Daraus erklärt sich hinlänglich seine erfolgreiche Verwendbarkeit als Schlaf-
mittel. Die Zuführung einer kleineren oder grösseren Dosis hat auf die Versuche
keinen wesentlichen Unterschied ergeben. Lautenb ach -Berlin. "*"
Georg von Voss, Ueber die Schwankungen der geistigen Arbeits-
leistung. Psychologische Arbeiten von EmilKraepelin. Zweiter Band. 3.- Heft.
Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann. 1898. S. 399—449.
Die Versuche wurden mit dem Kraepel in 'sehen Apparat aasgefuhrt. ab
Methode wurde diejenige der fortlaufenden Additionen gewählt. (Die Kicfatigkut
der Summen wurde nicht beachtet.) Versuchspersonen waren der VerL selbst, ein
Dr. O. und cand. med. D. Die Experimentirzeit betrug bei den beiden letzteren
4 Tage je eine Stunde, bei ersteren 8 Tage je eine Stunde. Die Lebensweise der
Versuchspersonen während dieser Zeit war gleichmässig , in Bezug auf AJcohol
waren sie abstinent.
Die Resultate dieser Versuche werden betrachtet in Hinsicht auf „die Länge
der Additions Zeiten" und auf deren „Abweichungen vom Mit tel wert h*,
femer wird ,,die Dauer der Schwankungen" berücksichtigt. Auch bei diesen
Versuchen kommen „persönliche Verschiedenheiten" in Betracht, insofern
als CJewöhnung, Uebung, Antrieb etc. sich bei den einzelnen Versuchspersonen ver-
schieden äussern. Auf eine Wiedergabe der Einzelheiten, welche in einer Anzahl
Tabellen dargestellt und im Anschluss daran jedes Mal besprochen werden, kann
hier nicht näher eingegangen werden.
Die am Schluss dieser Abhandlung gegebene „Zusammenfassung der
Ergebnisse'* vergleicht die gefundenen Resultate mit denjenigen früherer Autoren
und findet, dass die Arbeitsschwankungen den Aufmerksamkeitsschwankungen ent-
sprechen, welche in centralen Processen begründet sind.
Lautenbacli- Berlin.
') Da das Trional bekanntlich, wie Verf. auch selbst angiebt, noch am folgenden
Tage nachwirkt, so kann ich das Verhalten an demselben aber nicht als normal
betrachten. Anm. d. Ref.
Der Fall Sauter.
(Mordversuch und suggerirte AustiftuDg zu neunfachem Morde.)
Verhandlung vor dem oberbayrischen Schwurgericht in München am 2. Oct. 1899.
Von
Dr. Freiherm Ton Schrenck-Notzing- München.
I.
München, den 21. Juni 1899.
Anklageschrift
des kgl. Staatsanwaltes am kgl. Landgerichte München I
gegen
Sauter, Katharina, geboren den 28. Juli 1855 zu München, daselbst beheimathet,
«ussereheliche Tochter der Anna Utz, später verehelichte Hermann, katholisch,
Metzgermeistersehefrau hier, seit 18. April 1899 in Untersuchungshaft im kgl. Land-
gerichtsgefängnisse München I, noch nicht bestraft,
wegen
Mordversuch u. A.
Gegen die oben bezeichnete Person erhebe ich hiermit folgende Anklage:
Katharina Sauter erscheint hinreichend verdächtig:
L Den Entschluss, einen Menschen zu tödten, durch vorsätz-
liche und mit Ueberlegung ausgeführte Handlungen bethätigt zu
haben, welche einen Anfang der Ausführung des beabsichtigten,
aber durch einen von ihrem Willen unabhängigen Umstand nicht
2ur Vollendung gekommenen Verbrechens des Mordes enthalten,
indem sie
in der Zeit zwischen Mitte Februar und April 1899 in ihrer Wohnung im Erd-
geschoss des Hauses Nr. 4 an der Buttermelcherstrasse in München in der Absicht,
ihren Ehemann Anton Sauter zu tödten, diesem ein nach ihrer Meinung hierzu
geeignetes Pulver in die von ihm benutzten Socken streute, wobei jedoch daa
Verbrechen durch den von ihrem WiUen unabhängigen Umstand, dass das ange-
wandte Mittel — geschabte Enzianwurzel — vollkommen unschädlich war, nicht
zur Vollendung gelangte;
Zeitschrift für Hypnotismns eto. IX. 21
322 ▼• Sehrenck-Notzing.
H. fortgesetzt in Ausführung eines einheitlichen rechts-
widrigen Entschlusses einen Anderen zur Begehung eines Ver-
brechens schriftlich und mündlich aufgefordert und an letztere
Aufforderung die Gewährung von Vermögensvortheilen geknüpft
zu haben,
indem sie
in Ausführung eines einheitlich gefassten Entschlusses, mehrere ihr missliebige
Personen aus dem Leben zu schaffen, an verschiedenen Tagen in der Zeit von
Mitte Februar bis 15. April 1899 mündlich und am 14. April 1899 Abends gegen
7 Uhr unter gleichzeitiger schriftlicher Aufzeichnung ihres Verlangens die Musikers-
ehefrau Katharina Gänzbauer in deren Wohnung im ersten Stocke des Hausea
Nr. 9 an der Falmstrasse in München aufforderte, folgende Personen in der nach-
bezeichneten Beihenfolge zu tödten, nämlich
1. ihren Ehemann, den Metzgermeister Anton Sauter hier,
2. Mathilde 2iauner, Directrice hier,
3. Therese Zauner, Ladnerin hier,
4. Franziska Becher, Kindsmädchen bei Sauter hier,
6. Adam Bachmaier, Schenkkellner hier, früher bei Sauter.
6. Elisabeth Koch, Polizeicommissärswittwe hier,
7. ihre 3 Kinder Josef, Otto und Katharina Sauter hier,
wobei sie der Gänzbauer für den Fall des Gelingens der Tödtung der Torbenannten
Personen die sämmtlichen Kleider ihres Ehemannes Anton Sauter, dann ein Paar
Brillantohrringe und zuerst 100, später IdO, 350 und endlich 1000 Mk. versprach
und ihr schon während obigen Zeitraumes öfter unentgeltlich Fleisch, zweimal
kleinere Geldbeträge und am 15. April 1899 nochmals 6 Mk. gab. Das Ergebnisa
der Voruntersuchung ist Folgendes:
Katharina Sauter unterhielt seit dem Sommer 1898 ein Liebesverhältniss mit
dem Schauspieler Georg Seufert hier und hegte die Absieht, sich mit diesem za
verehelichen, sobald ihre bestehende Ehe gelöst wäre. Zu letzterem Zwecke fasste
sie den Entschluss, ihren Ehemann Anton Sauter, mit dem sie in unglücklicher
Ehe lebte, zu beseitigen und wandte sich deshalb ungefähr Mitte Februar 188^
an die Musikersehefrau Therese Gänzbauer hier, welche ihr als Wahrsagerin und
Kartenschlägerin bekannt war.
Bald nach dem ersten Besuch machte sie Letzterer den eigentlichen Zweck
ihres Kommens klar und verlangte von ihr, sie solle ihr behilflich sein, ihren
Ehemann auf unauffällige Weise zu beseitigen. Dieses Verlangen stellte Sauter
immer dringender und Hess ihren festen Entschluss, um jeden Preis den Tod ihres
Mannes herbeizuführen, mit solcher Bestimmtheit durchblicken, dass die Gänzbauer
sich entschloss, scheinbar auf ihr Verlangen einzugehen, um dadurch zu verhüten,
dass die Sauter selbst Hand anlege, und weil sie hoffte, dass die Sauter doch bald
wieder zu einer besseren Einsicht kommen werde.
Frau Gänzbauer gab daher vielleicht Ende Februar oder etwas später, genau
kann sie diese Zeit nicht mehr bezeichnen, der Sauter ein Pulver, das sie in die
Socken ihres Mannes streuen sollte und welches die Eigenschaft habe, ihren Mann ganz
unauffällig zu beseitigen.
In Wirklichkeit war es geschabte Enzianwurzel und hatte natürlich keine
tödtende Kraft.
Der FaU Saater. 323
Frau Sauter hat dieses Pulver thatsächlich angewandt und es in die Socken ihres
Ehemannes gestreut, um ihn dadurch zu tödten. Sie leugnet zwar den Gebrauch
des Pulvers, aber sie wird dadurch überführt, dass die Gänzbauer auf Eid hin angiebt,
dass die bei der Sauter in deren Wohnung vorgefundene und zu Gerichtshanden
gebrachte Menge des besagten Pulvers mindestens um einen Theelöffel weniger sei,
als sie ihr ausgehändigt habe, und dass die Sauter kurze Zeit, nachdem sie das Pulver
erhalten habe, wieder zu ihr gekommen sei und sogleich zu ihr gesagt habe:
„Was hast du mir denn jetzt da gegeben, mein hundshäuterner Kerl — ihren
Mann meinend — verreckt ja nicht, er frisst für Sechse und läuft wie ein WieseJ,"
wodurch sie die nutzlose Anwendung des Pulvers der Gänzbauer vorwarf, obwohl
sie alle Socken ihres Mannes vollgestreut habe.
Frau Sauter hat aber bei ihren häufigen Besuchen bei der Gänzbauer auch noch
die Beseitigung weiterer Personen als nur ihres Ehemannes verlangt, indem sie
alle Jene getödtet wissen wollte, welche ihrer Verbindung mit dem Schauspieler
Seufert hindernd im Wege stehen würden.
Sie forderte die Gänzbauer auf, vor Allem ihren Ehemann zu beseitigen,
dann aber auch eine Mathilde Zauner, die Geliebte des Schauspielers Seufert,
deren Schwester Therese, dann ihr Eindsmädchen Franziska Becher, einen früheren
Metzgerburschen Adam Bachmaier, dann eine Elise Koch, welche einmal bei
Sauter's wohnte, endlich ihre Kinder Josef, Otto und Katharina. Sie versprach
der Gänzbauer zuerst 100 Mk., dann immer mehr, 150, 360 und sogar 1000 Mk.,
wenn sie es zu Wege brächte, dass diese Personen unauffällig aus der Welt gingen.
Sie versprach ihr ferner die Kleider ihres Mannes und ein Paar Brillantohrringe.
Gleichzeitig suchte sie durch kleinere Gaben, wie Fleisch und Geldbeträge, die
Gänzbauer für ihr Vorhaben zu gewinnen.
Frau Gänzbauer ging auf diese Zumuthung scheinbar ein und verlangte die
Photographieen der Personen, welche sie aus der Welt schaffen sollte.
Die Sauter überbrachte ihr hierauf die Bilder der oben bezeichneten Personen.
Insbesondere aber am 14. April 1899 hat sie die Gänzbauer, welche in-
zwischen Anzeige bei der kgL Polizeidirection München erstattet hatte, zu bereden
versucht, die Tödtung der ihr misslicbigen Personen endlich auszuführen.
Das zwischen der Gänzbauer und Sauter an diesem Tage geführte Gespräch
wurde von dem Sicherheitscommissär Bossert und dem Criminalwachtmeister
Malkmus ohne Wissen der Sauter belauscht und giebt Letzterer, als Zeuge ver-
nommen, an, dass die Sauter von der Gänzbauer nochmals befragt wurde, wie sie
denn eigentlich die Beseitigung der verschiedenen Personen bewerkstelligt haben
wolle. Frau Sauter habe der Gänzbauer hierauf nochmals ihre Absicht klar aus-
gesprochen und sie aufgefordert, der Sache «endlich ein Ende zu machen.
Als Frau Gänzbauer hierauf erwiderte, in 5 bis 6 Tagen seien schon einige
todt, sagte die Sauter: „Länger darf es wenigstens mit dem Alten nicht dauern."
Als die Gänzbauer fragte, auf welche Art die Leute beseitigt werden sollten,
entgegnete Frau Sauter, dass es ihr am liebsten wäre, wenn sie der Schlag treffe,
aber nicht in ihrem Hause, damit sie kein Verdacht treffe.
Die Gänzbauer legte der Sauter sodann ein Blatt Papier vor, damit sie darauf
schriftlich die Reihenfolge und die Namen der Personen schreibe, welche beseitigt
werden sollten.
Frau Sauter schrieb hierauf folgenden, bei den Acten befindlichen Zettel:
21*
324 '^- Schrenck-Notzing.
Anton, bis Dienstag geh du ins Himmelreich f f +
Mathilde, geh du ins Himmelreich f f f
Theres f f f
Franziska, geh du ins ewige Reich i* i* i*
Adam i* i* i"
Elisabeth, gehst in das ewige Beich + i* "f
Josef, Otto, Katharina, 3 Kinder geht ins
Hierdurch hat Frau Sauter auch schriftlich die Aufforderung an die Gänzbauer
gestellt, die bezeichneten Personen zu tödten.
Nach den Aussagen des Zeugen Malkmus hat die Sauter bei der vorerwähnten
Unterredung mit der Gänzbauer derselben öfter wiederholt, dass sie dieselbe belohnen
werde und zwar versprach sie ihr 100 Mk. sofort, wenn der Alte — ihr Ehemann
Anton Sauter — weg sei, ebenso dessen sämmtliche Kleider ; ebenso versprach sie
der Gänzbauer ein Paar Ohrringe und noch weiteres Geld, wenn alle Personen
beseitigt seien.
Frau Sauter gebrauchte hierbei unt^r Anderen auch folgende Worte:
„Du bekommst Alles bei Heller und Pfennig, Geld, Ring, Kleider, mehr wird*«
nicht brauchen. Sei aber vorsichtig, damit es nicht heisst, ich habe ihnen was
angethan, wie du es machst, das ist mir gleich, nur bis Dienstag muss er — ihr
Ehemann — weg sein, mit Resel pressirt er nicht so. Adam und Koch müssen
gleich nach dem Alten kommen ; Adam ist wohl krank, es geht so nicht mehr lange
bei ihm und ein Schlag trifft ihn ja so leicht. Resel kann in 6 Wochen, die
Einder erst bis Mitte Juli daran kommen."
Gegenüber diesen Zeugenaussagen kann dem Leugnen der Angeschuldigten
ein Gewicht nicht beigelegt werden. Diese Handlungen sind gemäss R.St.G^.
§§ 211, 43, 49», 74 als ein Verbrechen des Versuches zu einem Verbrechen des
Mordes in sachlichem Zusammentrefifen mit einem fortgesetzten Vergehen der
Aufforderung zur Begehung eines Verbrechens zu verfolgen.
II.
Die Terhandlimg ^)
vor dem oberbayrischen Schwurgericht am Montag, den 2. October 1899.
Schon vor Beginn der festgesetzten Zeit machte sich vor dem Schwurgerichts-
saale ein grosses Gedränge bemerkbar. Ein starkes Polizeiaufgebot regelte den
Verkehr. Die Controlle beim Betreten des Saales wurde mit Rücksicht auf die
colossale Zahl der Neugierigen mit grösster Strenge und Genauigkeit durchgeführt,
in wenigen Minuten war der Zuschauerraum, in den noch einige Reihen Bänke
provisorisch eingestellt waren, bis zum letzten Platze gefüllt. Das weibliche Ele-
ment war besonders stark vertreten.
Die Anklage vertritt Staatsanwalt Dr. Schneider, die Vertheidigung führt
Rechtsanwalt Dr. Beraetein. Der Gerichtshof wird gebildet aus dem Vorsitzenden
2 Nach den Stenograph. Berichten in den „Münchner Neuesten Nachrichten**,
ugsburger Aben&eitung" und dem „Bayrischen Kurier*'«
Der Fall Sauter. 326
Oberland esgerichtsrath Klein und aas den Beisitzern, den Landgerichtsräthen
Dr. Kothgangl und Külilmann.
Die Spannung der Zuschauer erreichte ihren Höhepunkt, als die Angeklagte,
von einem Schutzmann begleitet, in den Saal geführt wurde. Alles erhob sich
von den Sitzen, um „sie" zu sehen. Die Augen zu Boden schlagend, nahm sie auf
der Anklagebank Platz. Sie zeigt ein völlig gebrochenes Aussehen. Ihr Antlitz
ist von einer geisterhaften Blässe; die Wangen sind tief eingefallen, die Augen
glanzlos in den von dunklen Bingen umgebenen Augenhöhlen steckend. Sie trägt
ein schwarzes Seidenkleid mit Spitzen, ein rothgelb garnirtes Capothütchen auf
dem schwarzen Haare. Einen kurzen hastigen Blick sendet sie auf die sie mit athem-
loser Spannung betrachtende Menge. Dann stiert sie, während gesetzliche Forma-
litäten erledigt werden, vor sich auf den Boden. Nach einem langen Blicke auf
die ernste schweigsame Schaar der Geschworenen bricht sie in convulsivischeß
Weinen aus und verhüllt lange Zeit mit dem Taschentuche ihr Gesicht.
Zur Verhandlung sind 15 Zeugen und 3 Sachverständige, Professor Dr.
Messerer, Oberarzt Dr. Vocke und Dr. Frh. v. Schrenck-Notzing, geladen.
Vor Eintritt in die Verhandlung stellt der Staatsanwalt den Antrag, die
OefTentlichkeit aus Gründen der Sittlichkeit ganz oder theilweise auszuschliessen.
Das Gericht bcschliesst, die Oeffentlichkeit nur während der Vernehmung der
Zeugin Gänzbauer auszuschliessen. Nach Verlesung des Eröffnungsbeschlusses wird
in das Verhör der Angeklagten eingetreten. Zunächst wird constatirt, dass die
Angeklagte seit 25 Jahren verheirathet ist und 9 Kinder gebar, wovon 5 noch
am Leben sind und zwar im Alter von 5 — 18 Jahren.
Die Angeklagte stellt sowohl den Mordversuch an ihrem Ehemann, als auch
die Anstiftung zur Beseitigung anderer Personen entschieden in Abrede und er-
zählt den Sachverhalt wie folgt: Sie habe die Kartcnschlägerin Gänzbauer im
Januar laufenden Jahres kennen gelernt und zwar sei sie von einer ihr bekannte];!
Frau an erstere empfohlen worden. Die Gänzbauer habe ein Ei in ein Wasserglas
geschlagen und habe ihr daraus wahrgesagt. Die Gänzbauer habe gesagt, sie sehe
in dem Glas lauter Grabsteine ; das bedeute, dass in nächster Zeit in der Sauter'schen
Familie verschiedene Todesfälle eintreten würden ; auch der Mann und drei Kinder
der Sauter seien darunter; es seien mindestens 7 — 8 Gräber zu sehen.
Ferner sagte die Gänzbauer, die Sauter werde noch zwei grosse Geldgewinnste
machen und im Herbst werde sie ihr Geschäft verkaufen und sich auswärts etwas
Anderes kaufen ; in einem Jahre werde sie glücklich, in zwei Jahren überglücklich.
Ferner habe die Gänzbauer gesagt, die Sauter hätte schon früher zu ihr kommea
sollen, nachdem ihre Ehe schon seit Jahren eine unglückliche gewesen sei. Da-
durch, dass die Gänzbauer sich gut über die Verhältnisse der Sauter unterrichtet
zeigte, sei letztere veranlasst worden, der ersteren alle ihre Familienangelegenheiten
anzuvertrauen. Der Plan, die verschiedenen Personen zu beseitigen, sei nicht vou
ihr, sondern von der Gänzbauer ausgegangen. Letztere habe gesagt, sie habe mehr
Gewalt als irgend sonst Jemand, ihr könnte nicht einmal ein Gerichtsherr etwas
anhaben. Das Pulver, das nach Annahme der Anklage zu dem Mordversuch be-
nutzt wurde, habe ihr die Gänzbauer allerdings auf ihren Wunsch gegeben; aber
sie habe das Pulver nicht zur Beseitigung ihres Mannes gewollt, sondern sie habe
geglaubt, durch die Anwendung des Pulvers werde ihr Mann, der oft sehr heftig
und gewaltthätig gewesen sei, beruhigt. Sie habe das Pulver lediglich für eip
■326 ^* SchreDck-Notzing.
Sympatfaiemittel gehalten. Ihr Mann habe sie öfters mit dem Revolver and dem
Messer bedroht; auch habe er ihr vor ihren Kindern so schmähliche Namen ge-
geben, dass sie dadurch die Achtung ihrer Kinder eingebüsst habe. Die ehelichen
Zwistigkeiten seien hauptsächlich dadurch entstanden, dass sich immer fremde
Leute in ihre Familienangelegenheiten einmischten; ihr Mann sei sehr kleinlich
gewesen und habe Alles geglaubt. Sie habe in den 25 Jahren ihrer Ehe nichts
Anderes gewollt, als das Beste ihres Mannes und ihrer Kinder und habe das
Geschäft grösstentheils allein geführt. Die Ausdrücke „Hundshäuterner Kerl*' etc.
gebraucht zu haben, will sich die Angeklagte nicht mehr erinnern, sie giebt aber
die Möglichkeit zu, dass sie diese in ihrer Aufregung gebraucht haben könne. Dass
sie mit Seufert ein intimes Yerhältniss gehabt habe, giebt die Angeklagte nach
anfänglichem Leugnen ebenfalls zu, dagegen stellt sie den intimen Umgang mit
anderen Männern in Abrede. Davon, dass ihr Mann bis zum Namenstag des
Seufert ^weg" müsse, sei nie die Rede gewesen, ebenso wenig habe sie die Be-
seitigung der anderen Personen gewünscht. Alle diese Mordpläne seien von der
Gänzbauer ausgegangen, die bei jeder Gelegenheit gesagt habe, der und der müsse
auch noch weg; wenn es nach dem Willen der Gänzbauer gegangen wäre, wäre
halb München vergiftet worden. Die Angeklagte leugnet auch, der Gänzbaoer
eine Belohnung versprochen zu haben. Den Zettel, auf welchem clie Reihenfolge
der Beiseiteschaffung der verschiedenen Personen angegeben ist, habe sie lediglich
auf die Aufforderung der Gänzbauer hin geschrieben; sie habe gar nicht gewusst,
wie die Gänzbauer dazu komme, und sie sei einfach von dieser überrumpelt worden.
Es wird noch constatirt, dass die Angeklagte dem Seufert zu dessen Namenstag
einen Brillantring um 660 Mk. gekauft hatte, der aber nicht in die Hände des
•Seufert gelangte, weil inzwischen die Verhaftung der Sauter erfolgte. Es wird
sodann zur Zeugenvernehmung geschritten. Herr Seufert ist nicht erschienen,
sondern hat von Oesterreich aus, woselbst er sich aufhält, ein ärztliches Zeug^nias
eingesandt, dass er durch Krankheit am Erscheinen verhindert sei.
Zunächst spricht sich der als Sachverständiger vernommene Apotheker
Dr. Bedall dahin aus, dass es mit dem von der Frau Sauter angewendeten Enzian-
Pulver vollständig unmöglich sei, einen Menschen aus dem Leben zu schaffen;
es sei lediglich ein Mittel zur Anregung der Verdauung.
Der Zeuge Dr. Custor wird sodann auch noch als Sachverständiger beeidigt
und erklärt auf die Fragen des Sachverständigen Freiherrn Dr. v. Schrenck-
Notzing, dass die Angeklagte an Blutungen, Schwindelanfällen und damit ver-
bundener Gleichgiltigkeit und Zerstreutheit litt. Sie habe oft zu Zeiten arbeiten
'müssen, zu denen sie eigentlich arbeitsunfähig gewesen wäre. Auf die Frage des
Landgerichtsarztes Professor Dr. Messer er, ob die Angeklagte je unzurechnungs-
fähig oder geistig gestört gewesen sei, so dass sie nicht für ihre Handlungen ver-
antwortlich gemacht werden könne, muss jedoch Dr. Custor mit Nein antworten.
Die Zeugin Fanny Becher, bei deren Erscheinen die Angeklagte in "Wein-
krämpfe verfällt, giebt an, dass die Angeklagte gegen ihre Kinder wohl streng,
immer aber für sie besorgt war und es ihnen an Nichts fehlen Hess. Ihrem Mann
gegenüber war die Angeklagte kurz. Streitigkeiten gab es zwischen den Eheleuten
nur, wenn der Mann etwas von seiner Frau erfuhr, was nicht recht war. Miss-
handelt hat der Mann die Frau nie. Von einer Drohung gegen die Zeugin weiss
diese nichts; nur sagte die Angeklagte einmal, wenn die Zeugin bei einer Dienst-
Der Fall Sauter. 927
«ntlassung auch das Hetzen anfange, lasse sie sie einsperren. Zur Gänzbauer ging
^e Zeugin mit der Angeklagten nach vorhergegangener Besprechung der Beiden
^nter sich. Die Zeugin erzählt ferner von den schwindelhaften Manipulationen
■der Gänzbauer. Diese habe schlimme Einflüsse auf die Leute geübt, die zu ihr
kamen. Von Drohungen ihres Mannes hat die Angeklagte der Zeugin auch er-
zählt. Das Verhör der Zeugin über den Gesundheitszustand der Angeklagten wird
bis zum Ausschluss der Oeffentlichkeit ausgesetzt.
Zeuge Anton Heiler, Metzgermeister und Magistratsrath, weiss nicht, dass
<Lie Frau Sauter ihre Kinder schlecht behandelt hat. Der Zeuge kennt die Ange-
klagte nur als tüchtige Geschäftsfrau.
Auch die Zeugin Stöckl, eine langjährige Bekannte der Angeklagten, giebt
lan, dass die Angeklagte ihre Kinder gut behandelt habe. Im Frül\jahr sei die
Angeklagte zu ihr gekommen, habe geweint und habe gesagt, sie sei unglücklich.
Die Zeugin Stiefel deponirt gleichfalls, dass sie die Angeklagte seit langen
J'ahren als g^te Mutter und tüchtige Hausfrau kenne.
Die Zeugin Elise Maier war bei der Sauter bedienstet. Sie deponirt, wie
die vorhergehenden Zeugen, dass die Angeklagte alle ihre Kinder lieb hatte und
.eine sehr tüchtige Hausfrau und Geschäftsfrau war.
Der Metzgerbursche Adam Bachmaier war früher 18 Jahre bei Sauter. Er
hält die Angeklagte für etwas barsch gegen ihre Kinder, aber für eine fürsorgliche
Mutter. Zeuge Bachmaier steht auch auf der Todescandidatenliste. Er weiss
keinen Grund dafür.
Die Angeklagte giebt an, die Gänzbauer habe gesagt, er müsse weg, weil er
so lange bei Sauter gewesen und zuviel von ihr, der Angeklagten, wisse. „Ich
«ag^e ihr noch: ,Was der weiss, fürchte ich nicht.^ Die Gänzbauer aber sagte:
^er ist ja schon krank und an dem liegt nicht viel, wenn ich ihm etwas anthue^''
Die Zeugin Anna Wambrechtshammer, Dienstmädchen bei Sauter, giebt an,
dass die Angeklagte wohl streng, aber doch pflichttreu gegen ihre Kinder war.
Von Streitigkeiten zwischen den Eheleuten weiss die Zeugin nichts. Von einem
•eingestreuten Pulver in den Socken hat die Zeugin nichts gemerkt. Dass die
^Sauter die eheliche Treue nicht hielt, hat die Zeugin durch Hörensagen vernommen.
Die Zeugin Mathilde Zauner, Directrice bei Bäcker Seidl, bezeichnet den
Verkehr mit Seufert als einen lediglich freundschaftlichen. Die Angeklagte zeigte
ihr gegenüber nie, dass sie eifersüchtig sei. Sie hätte auch gar keinen Grund
dazu gehabt. Die Annahme der Gänzbauer, dass Seufert in seinem Verkehre mit den
Schwestern Zauner Grund zur Eifersucht gegeben habe, ist der Zeugin unbegreiflich.
Die Zeugin Therese Zauner, die Frau Sauter schon elf Jahre kennt, behauptet,
-dass Frau Sauter ihre Kinder gut erzogen habe. Auch sie kann sich nicht vor-
stellen, wie sie auf die Liste der zum Tode Bestimmten kam.
Frau Elisabeth Koch, Polizeicommissärswittwe, weiss ebenfalls keinen Grund
dafür zu finden, dass sie auf die Liste kam. Frau Sauter habe ihr aus der Noth
geholfen, indem sie ihr 2000 Mk. lieh. Sie habe einen Schuldschein ausgestellt.
'Dabei sei ausgemacht worden, dass das Geld im Falle des Todes der Mutter der
2eugin zurückbezahlt werden solle, lieber die Erziehung der Sauter'schen Kinder
weiss sie nichts Nachtheiliges zu berichten. Am 8. April sei sie zum letzten Male
-mit Frau Sauter zusammengekommen. Dabei habe Letztere kein auffallendes Be-
nehmen an den Tag gelegt.
328 V- Schpcnck-Notzing.
Mit der Vernelimung des Criminalwachtmeisters Malkmus, der am 14. April
mit Commissär Bossert Frau Gänzbauer aufsuchte und dabei Zeuge des zwischen
der Gänzbauer und der Angeklagten geführten Gespräches wurde, nimmt die Ver-
handlung für die Angeklagte eine ungünstige Wendung. Der Zeuge giebt an, er
und sein College hätten durch ein an der Thüre des Nebenzimmers angebrachtes
Loch Alles gehört. Auf die Anregung der Gänzbauer, nun müsse die Sache ein*
mal vorwärts gehen, habe die Sauter deutlich erklärt, bis zum Namenstag des
Schorschl (Seufert) müsse er (ihr Mann) weg sein. Im Uebrigen bestätigt der
Zeuge die schon in der Voruntersuchung Ton ihm angegebenen Aeusscrungen der
Sauter über die Reihenfolge, in der die Personen beseitigt werden sollten und
wiederholt bestimmt auch die Aeusserung der Sauter hinsichtlich ihrer Ver-
sprechungen an die Gänzbauer. Die Sduter habe deutlich gesagt, es wäre ihr am
liebsten, wenn ihren 3Iann der Schlag treffe, aber nicht in der Wohnung, damit
kein Verdacht auf sie falle. Anfangs sei die Angeklagte sehr erregt gewesen^
später sei sie ruhiger geworden. Von einer Heirath mit Seufert hat der Zeuge
nichts gehört.
Auch dieser bestimmten gravirenden Aussage gegenüber bleibt die Sauter
auf ihrem Leugnen stehen, schiebt alle Schuld auf Gänzbauer und behauptet, dassy
wenn es auf Letztere angekommen wäre, die halbe Stadt weggeräumt worden wäre.
Sicherheitscommissär Bossert hatte nach Anbringung der Anzeige die weiteren
Recherchen zu pflegen und ebenfalls die arrangirte Zusammenkunft zwischen der
Sauter und Gänzbauer zu überwachen. Die Gänzbauer war dem Zeugen bis zum
14. April unbekannt. Er traf die Vorbereitungen so, dass er vom Nebenzimmer
aus nicht nur hören, sondern die Angeklagte auch sehen konnte. Die Angeklagte
verlangte, dass vor Allem ihr Mann weg müsse. Jedoch solle die Sache nicht
auffällig gemacht werden, damit kein Verdacht auf sie falle. Als die Angeklagte
eintrat, schien sie erregt zu sein. Das kam daher, dass sie vorher bei Seufert war
und ihre Zeit knapp geworden war. Später war ihre Ruhe so starr, dass der
Zeuge empört darüber war und gerne hervorgekommen wäre. Sie nannte mit
grösster Ruhe die Reihe Derer, die weggeschafft werden sollten. Auch als später
auf der Strasse Herr Malkmus sie ansprach, war es erstaunlich, welche Ruhe die
Frau zeigen konnte. Der Zeuge hatte mit Bedacht die Gänzbauer veranlasst, der
Angeklagten schriftliche Geständnisse zu entlocken. Für ihi'en Mann hatte sie nur
die Bezeichnung „der Hundshäuter"*. Bei der Erwähnung des Seufert war sie
geradezu verzückt. Der Plan, den die Angeklagte entwickelte, war der, dass sie
nach dem Tode ihres 3Iannes ins Gebirge gehen wolle, ihrer „Nerven** wegen,
und dass inzwischen die Gänzbauer die Kinder wegräumen solle. Ihre Ruhe war
dabei so empörend, dass der Zeuge nahe daran war, die Verhaftung sofort vor-
zunehmen. Nicht die Gänzbauer, sondern die Angeklagte war die Macherin der
Pläne. Die Angeklagte stand unter keinerlei Druck von Seite der Gänzbauer.
Als Belohnung waren 100 Mk. und dann 500 Mk. genannt worden, wobei noch
mehr versprochen wurde. Auch die Ohrringe, die sie trug, versprach die Ange-
klagte der Gänzbauer. 100 Mk. und die KJeider des Mannes sollte die Gänzbaner
sofort bekommen, wenn der „Alte" weggeschafft sei und die Angeklagte ^ihren
Schorsch" haben könne.
um 3'/4 Uhr wird die Verhandlung wieder aufgenommen, nachdem die Oeffent^
lichkeit der Verhandlung ausgeschlossen worden war.
Der Fall Sauter. 329
Es kommt sodann zum Aufruf die Zeugin Katharina Gänzbauer, eine Frau
in mittleren Jahren^ die sehr aufgeregt den Gerichtssaal betritt. Auf Antrag der
Vertheidigung wird die Strafliste der Zeugin verlesen. Darnach ist die Zeugin
schon 21 3Ial von verschiedenen Gerichten vorbestraft, und zwar wegen Land-
streicherei, Diebstahls, gewerbsmässiger Unzucht, Vergehen gegen die Sittlichkeit,
Unterschlagung, Betrug und Gaukelei. Die Strafen sind zum Theil ziemlich er-
heblich.
Die Zeugin deponirt: Die Sauter kam mit ihrem Dienstmädchen freiwillig
zu mir. Ich prophezeite ihr aus einem Ei, dass sie in ihrer Familie Sterbefälle
haben werde. Sie erzählte mir sodann ihre Verhältnisse, erzählte von der Eifer-
sucht ihres Mannes und von ihrer Liebe zu einem gewissen Seufert. Sie sagte,
sie möchte ihren Mann, den „hundshäutigen Kerl*^, los werden. Später kam sie
mit dem Ersuchen, ich möchte ihr helfen, den Mann wegzuschaffen. Ich hatte
die Frau nicht für vernünftig gehalten, und habe ihr zugeredet, solche Pläne auf-
zugeben, wir kämen sonst alle Beide ins Zuchthaus. Ich gab ihr Enzianpulver
und sagte ihr, sie solle es in ihres Mannes Socken streuen oder in einen Rock
einnähen, dann werde sie vor der Eifersucht ihres Mannes Ruhe bekommen. Ich
gab ihr auch den Rath, zu beten, dass sie auf andere Gedanken komme. Sie
brachte mir dann später noch eine Anzahl von Photographien und sagte mir, ich
soll alle diese Leute aus dem Wege schaffen. Dabei redete sie von ihrem Manne
in den abscheulichsten Ausdrücken. Sie sagte auch, das, was ich ihr gegeben,
tauge nichts, und sie machte dabei die bereits in der Voruntersuchung bestätigte
Aeusserung, ihr Mann „esse immer noch für sechs und laufe wie ein "Wiesel".
Nicht aber um ihren Mann zu tödten, gab ich ihr das Mittel, son-
dern um ihr und mir Ruhe zu schaffen. Ich habe ihr auch gesagt, das
Mittel tödte nicht, sondern es schaffe ihr nur Ruhe vor ihrem Manne. — Auf den
Vorhalt des Vorsitzenden, dass die Zeugin früher gesagt habe, sie habe der Ange-
klagten das Mittel als Mittel zum Tödten gegeben und ihr auch gesagt, dass das
Mittel tödte, behauptet die Zeugin auf Eid hin, sie habe der Angeklagten aus-
drücklich gesagt, das Mittel tödte nicht, es schaffe ihr nur Ruhe vor ihrem Mann
und nehme diesem die Gewalt über sie. Des Ferneren deponirt die Zeugin,
dass die Angeklagte sie immerfort gedrängt habe unter dem Versprechen, ihr Geld
und die eigenen Ohrringe zu geben, wenn sie (Zeugin) der Angeklagten ein Mittel
zur Beseitigung des Mannes gäbe. Daraufhin erst habe die Zeugin der Ange-
klagten das Enzianpulver gegeben.
Auf Antrag des Staatsanwaltes und des Verthcidigers wird die Aussage der
Zeugin zu Protokoll genommen, wobei besonders Nachdruck darauf gelegt wird,
dass die Zeugin der Angeklagten nicht erklärte, dass das Pulver tödtlich wirke,
sondern dass sie nur gesagt, dass ihr das Pulver Ruhe vor ihrem Mann schaffen würde.
Weiter deponirt die Zeugin, es seien ihr in stetiger Steigerung von der An-
geklagten bis zu 1000 Mk. geboten worden, wenn sie (Zeugin) bis zum Namenstag
ihres „Schorschols^ den Mann aus dem Wege räume. Die Zeugin kommt hierauf
zu dem Verhältnisse der Angeklagten mit dem Schauspieler Seufert und weiteren
Liebhabern der Sauter, welche Niederlegungen delicater Natur sind, jedoch zur
Thatsache selbst wenig Bezug haben. Einen Theil der Photographien habe die
Sauter per Dienstmann zur Zeugin geschickt; auch habe sie die kostbaren G^
schenke, welche für den Seufert bestimmt waren. Zeugin habe sich an ein Bureau
880 ^* Schrenck-Notiing.
gewendet, als ihr die Sache nicht mehr geheuer vorkam, und hierdurch sei die
Sache zur Anzeige gekommen. Die Begegnung in der Wohnung der G^nzbauer,
woselbst die Tödtung der betreffenden Personen auf eine Liste geschrieben wurde,
schildert die Zeugin ebenso, wie in der Anklageschrift angegeben. G«nzbauer
giebt an, dass sie die Liste der zu tödtenden Personen wohl der Saut«r angesagt
habe, jedoch nur auf deren Wunsch, damit die Reihenfolge feststehe, wie die
Sauter die Personen zu tödten wünschte. Auch habe sie der Sauter angeratheo,
weisse Mäuse zu kaufen, welche ihrem Manne das „Genick abbeissen"^. Die Sauter
habe ihr aber Geld gegeben, um weisse Mäuse anzuschaffen, was sie auch gethao
hätte; denn sie gebe zu, dass sie Alles, was sie der Sauter vorgemacht habe, den
ganzen Hokuspokus selbst nicht glaube; auch bezüglich der Prophezeiung, da«
Mitglieder der Sauter'schen Familie bald sterben müssen, giebt die Gänzbauer zu,
dass sie dies Vorherzusagen nur deshalb vermöge, da — alle Menschen sterben
müsstenl Die Zeugin wird von Staatsanwalt, Vertheidiger und einzelnen Ge-
schworenen ordentlich ins Gebet genommen. Auch muss am Schlüsse ihres Ver-
hörs die Zeugin zugeben, dass sie der Sauter vorgemacht habe, sie habe Mittel,
welche geeignet sind, Zuneigung oder Abneigung bei Jemand hervorzurufen. —
Sofort wird nun von Seiten des Vorsitzenden der Zeugin klargemacht, dass sie
unter Umständen sich eines Betruges bezichtige, und deshalb auf diesbezügliehe
Fragen die Antwort verweigern könne. — Die Gänzbauer erklärt jedoch mit
seltener Offenheit, dass sie selbst nichts von ihren Prophezeiungen geglaubt habe,
sie wahrsage eben den Leuten nur das, was ihnen angenehm sei (!). — Bezogliefa
jder Tödtungsabsicht der Sauter an ihren Kindern und den anderen Leuten eiidärt
•die Gänzbauer damit, dass die Sauter alle Leute „weg^ haben wollte, welche ihr
im Wege standen, oder um das Verhältniss der Angeklagten mit dem Seufert
wusston. Als Motiv der Anzeigeerstattung giebt sie an, damit die Sauter, welche
■sie für nicht zurechnungsfähig erklärte, verwahrt werde (!).
Als letzter Zeuge erscheint der Ehemann der Frau Sauter, Herr Metzger-
meister Anton Sauter. Derselbe erklärt, sich als Zeuge vernehmen zu lassen.
Seine Frau fängt laut zu weinen an. Herr Sauter giebt an, er sei seit 25 Jahren
mit der Angeklagten verheirathet, er sei mit ihr im Ehescheidungsprocesse, weil
sie ihm untreu gewesen, wie schon im ersten Jahre ihrer Ehe, so auch heute noch.
Seine Frau habe verschiedene Verhältnisse gehabt, mit einem Metzgermeister
Sumpcr u. A.; von dem Verhältnisse mit Seufert habe er zu spät effahren. Sr
giebt zu, dass er seine Frau einmal mit Erschiessen bedroht habe; Pulver habe
er keines in seinen Socken entdeckt ; wenn ihn einmal die Füsse gebrannt hätten,
so könne dies von den Stiefeln auch herkommen. Auch mit den Kindern sei sie
bis zur letzten Zeit, woselbst sie dieselben manchmal mit Schimpfworten belegt
.hatte, sehr gut gewesen. Vor 3 Jahren, als sie gerade ein Verhältniss mit einem
jungen Burschen gehabt habe, haben sie in ihn gedrungen, ein Testament zu
machen, bis er sich eine solche Anspielung verbeten habe.
Der Fall Sauter. 331
in.
Outachten der SachyerstäiidigeiL ^)
Der Sachverständige Oberarzt Dr. Vocke leitete sein Parere mit
dem Hinweis auf das Aufsehen ein, das die „Afifaire^ seinerzeit erregt
hatte. Als damals die Kunde zu ihm gedrungen sei, dass eine bisher un-
bescholtene und angesehene Bürgersfrau verhaftet worden sei, weil sie eine
Beihe Ton Personen, darunter sogar den eigenen Ehemann, aus der Welt
habe schaffen wollen, da haben wohl Viele, darunter auch ich, gedacht,
dass man es mit einer geisteskranken Person zu thun habe. Auch die
Staatsanwaltschaft erachtete es für angezeigt, nach dieser Richtung hin
Erhebungen zu pflegen und Frau Sauter beobachten zu lassen. Herr
Prof. Dr. Messerer und ich unterzogen uns dieser Aufgabe im Qre-
fSngniss am Anger. Die Frage ist nun die: Hat sich die Sauter zur
Zeit der That in einem Zustand von Bewusstlosigkeit oder krankhafter
Störung ihrer geistigen Kräfte befunden, durch den ihre freie Willens-
bestimmung ausgeschlossen war? Bei Beantwortung dieser Frage muss
man berücksichtigen, dass sie sich heute nicht ohne Gewandtheit ver-
theidigte und ein gutes Gedächtniss aufzuweisen hatte. Bei mündlichen
Unterredungen im Gefangniss sind mir nun allerdings Zweifel in die
Zurechnungsfahigkeit der Sauter aufgestiegen. Durch die lange Haft,
durch ihre, wenn auch selbstverschuldete, unglückliche Ehe, durch ihr
körperliches Leiden, namentlich aber dadurch, dass sie, nachdem die
Sache aufgekommen war, von ihrer Familie gänzlich Verstössen worden
ist und ihr bis dahin genossenes Ansehen verloren hat, ist ihr Gemüths-
zustand wie überhaupt ihr ganzer psychischer Zustand derart geworden,
dass man ihn nicht mehr als normal bezeichnen kann. Ich würde Be-
Borgniss tragen, sie sich selbst zu überlassen. Allein ich habe nichts
wahrnehmen können, was dafür sprechen würde, dass sie zur Zeit der
That geisteskrank gewesen wäre. Die Zeugin Gänzbauer sagte, sie
habe an Verfolgungs-, Liebes- oder Mordwahn gedacht Für Annahme
eines Verfolgungswahns sind absolut keine Anhaltspunkte gegeben, und
es kann als Motiv zur Handlung von diesem kaum die Bede sein.
Auch in Bezug auf die Annahme von Mordwahn haben sich irgend-
welche positive Anhaltspunkte nicht ergeben. Dass die Sauter endlich
^) Die Gutachten von Dr. Vocke und Med.-Rath Dr. Messerer sind dem
läeferat in der „Münchner Zeitung'' entlehnt.
332 ▼• Schrenck-NotEing.
namenlos verliebt war, hat der Gang der Verhandlnng ergeben, nnd
wenn anch nach dem Sprichworte Liebe blind macht, so kann keine
ßede davon sein, dass sie der Zurechuungsfähigkeit beraubt. Was
nun die Beseitigung des Ehemannes anbelangt, so ist es wahrscheinlich
und logisch begreiflich, dass sie es gerne gesehen hätte, wenn ihr Mami
gestorben wäre, aber psychologisch ganz unlogisch ist es, wenn sie in
dem Zettel die Beseitigung einer Keihe anderer Personen verlangt. Es
ist feroer aus dem Vorleben der Angeklagten psychologisch nicht er-
klärbar, wie sie, die ihre Kinder gut erzogen hat und eine musterhafte
Hausfrau war, auf einmal dazu kommen sollte, ihren Kindern etwas
zu thun und warum sie gerade bei zwei eine Ausnahme gemacht wissen
wollte. Noch schwerer begreiflich ist es wegen der übrigen AjDzahl
Personen, die ihr nie etwas in den Weg gelegt hatten, mit denen sie
theilweise freundlich verkehrte. Am auffallendsten ist es, warum sie die
Koch beseitigen wollte, mit der sie so freundschaftlich war, dass sie
ihr mit Geld aushalf. Die unglückliche Ehe, die heftigen Blutungen
seit mehreren Jahren und das seit zwanzig Jahren währende Unter-
leibsleiden lassen es als zweifellos erscheinen, dass sich die Sauter in
einem abnormen Zustand befand, der durch die Gänzbauer genährt
wurde. Nun geschah das Unglaubliche: dass die Frau vollkommen
von den Prophezeiungen der Gänzbauer eingenommen war. Es muas
also fremder Einfluss geherrscht haben. Es muss dann die Gänzbauer
sehr bald gemerkt haben, dass sie der Sauter etwas Angenehmes sage,
wenn sie von den Todesfällen spreche. Dadurch gewann die Gänzbaner
das unbedingte Zutrauen der Sauter. Bedenkt man nun ihre Gemüth»-
depression, so kommt man dazu, zu sagen, dass der bewusste
Zettel grösstentheils das Product einer von der Gänzbauer ausgeübten
Suggestion war. Das, was die Sauter unterschrieb, war Formel einer
Kartenschlägcrin. Dann geht es Schlag auf Schlag. Das Auffallende
ist nur, dass von dem anzuwendenden Mittel nichts gefunden wurde.
Die ganze Sitzung vom 14. April stand unter dem Einfluss der Gänz-
bauer. Es ist kein vernünftiger Grund einzusehen, warum die Sauter
die Personen beseitigt wissen wollte. Es ist daher wahrscheinlich, dass
die Frau Sauter in Folge der Erlebnisse der letzten Monate und ihrer
Gesundheitsverhältnisse sich zur Zeit in einem Zustande der Ver-
zweiflung befand. Sie war zur Zeit der That nicht geistig gestört,
noch hat sie sich in einem Zustande befunden, durch den ihre freie
Willensbestimmung ausgeschlossen gewesen wäre. Sie ist aber eine
Person, die ganz sicher ihrer Ueberlegung damals nicht so Herr war,
Der FaU Sauter. 333
dass Jemand nicht in weitgehendstem Maasse seinen unheilvollen Einfluss
hätte ausüben können, und ich habe die feste Ueberzeugung, dass die
ganze Scene vom 14. April das Product des Einflusses der Frau Gänz-
bauer ist. Die Frau Sauter stand geradezu unter dem psychischen
Bann der Gänzbauer. Unter diesem ist die Proscriptions- Liste ent-
standen, weil es sonst psychologisch unerklärlich ist, wie die Sauter
Personen, denen sie gewogen, ist beseitigen wollte. Die aufgestellte
Liste ist nicht das Product der Frau Sauter, sondern der Gänzbauer.
Der zweite Sachverständige, Medizinalrath Prof. Dr. Messerer,
sagt aus: Ich hatte den Auftrag bekommen, den Geisteszustand
der Frau Sauter zu untersuchen und mich zu ihr ins Gefangniss
begeben, mit ihr gesprochen und meine Beobachtungen ange-
stellt. Ich will mich kurz fassen und mein Resultat mittheilen: Ich
habe keinerlei Störung in der Geistesthätigkeit der Angeklagten wahr-
genommen, wodurch ihre freie Willensbestimmung aufgehoben gewesen
wäre. Wenn ich sagen soll, was für einen Eindruck die Angeklagte
auf mich gemacht hat, so geht mein Gutachten dahin, dass sie in
sexueller Hinsicht sehr erregbar, dass sie femer dumm und heftig
ist. Dass sie in sexueller Hinsicht sehr erregbar ist, das brauche ich
wohl nicht des Weiteren auszuführen, dass sie dumm ist, beweist ihr
ganzer Verkehr mit der Gänzbauer, dass sie heftig ist, hat die heutige
fiauptverhandlung ebenso klar bewiesen. Man erstaunt, wenn man hört,
dass eine Frau den Auftrag gegeben, zehn Menschen umzubringen,
wenn man dies ohne Erklärung hört; wenn man aber weiss, dass sie
mit den Proscribirten im besten Einvernehmen gelebt hat, so muss
man sagen, das kann nur ein Narr thun. Das Verhalten wird erst ver-
ständlich, wenn man sich in die Situation der Frau Sauter hineindenkt, und
namentlich, wenn man den Einfluss der Frau Gänzbauer berücksichtigt.
Offenbar hatte Frau Sauter den Wunsch gehabt, dass ihr Mann, mit dem
sie sich nicht vertrug, aus dem. Leben scheide, sie hat den Wunsch
l^ehabt, mit dem Geliebten ungestört zusammenleben zu können, da
kommt sie nun mit der Kartenschlägerin zusammen, die setzt ihr die
Erfüllung ihrer Wünsche in sichere Aussicht. So ist es sehr leicht
begreiflich, dass sie sich der Gänzbauer ganz überantwortete, und
zweifelsohne hat die Gänzbauer einen grossen Einfluss auf die An-
geklagte ausgeübt. Ich habe wiederholt mit der Sauter gesprochen
und sie hat immer überzeugend und klar geredet. Bezüglich des Mord-
versuchs an ihrem Mann hat sie gesagt, sie wollte ihn nicht umbringen,
cflondem ihn nur in ihre Gewalt bekommen. Vor vier, fünf Monaten
334 ▼• Schrenck-Notsng.
ist die Frau noch ganz anders gewesen. Jetzt ist sie bleich, einge&llen,
weinerlich, lebensüberdrQssig. Sie hat mir gesagt, sie werde in die lar
gehen, wie es anch ausfallen werde, sie habe Alles yerloren, die Famifie^
das Qeldj die Kinder. Vor Monaten noch war sie heftig und drohte,
sie werde die Oänzbauer meineidig machen. Soll ich mein Qutachtea
zusammenfassen, so muss ich sagen, dass ich die Angeklagte für toU-
ständig zurechnungsfähig halte, dass aber wohl ihre Unterleibsleiden
Yon schädigendem Eiinfluss auf ihre Denkfähigkeit gewesen sind. Idi
betone, eine geistige Unzurechnungsfähigkeit im Sinne des Paragraph
61 ist nicht gegeben.
Dr. Frhr. tou Schrenck-Notzing giebt das nachfolgende
hier ausführlich wiedergegebene Gutachten ab:
Meine Ausführungen stützen sich einmal auf das Studium der
Acten, ferner auf eine mehrmalige persönliche Untersuchung der An«
geklagten in der Angerfrohnfeste, und endlich auf das Ergebniss der
heutigen Hauptrerhandlung.
Frau Katharina Sauter, Metzgermeistersgattin ist 44 Jahre alt.
Vater (Qastwirth) starb im Alter Ton 64 Jahren angeblich an Nieren-
leiden, ebenso die Mutter an Nierenerkrankung, 62 Jahre alt. Vaters-
bruder köpf- und nierenleidend, Vatersschwester im E^makterium,
geistig nicht normal. Eine Schwester der Patientin starb in Folge einer
Frühgeburt. Die häufigen Nierenleiden in der Familie sind möglicher-
weise auf Alcoholmissbrauch zurückzuführen.
Frau S. will in der Schule nur mittelmässig gelernt haben. Ihre Men-
struation trat ungewöhnlich früh, schon mit 11 Jahren ein und zwar unter
Schmerzen. Mit 12 Jahren Oophoritis und Peritonitis. Den anormalen
Erscheinungen in den Entwickelungsjahren entsprechen, wie das öfter zu
beobachten ist, die krankhaften Symptome im Klimakterium. Mit 14
Jahren Gelenkrheumatismus. Mit .6 Jahren trat die Angeklagte in
den Dienst, mit 17 Jahren Defloration; 18 Jahre alt verehelichte sie
sich. Schon damals waren die Menstruationen regelmässig begleitet
▼on erheblichen Störungen des Allgemeinbefindens.
Im Ganzen gebar Frau S. 7 Kinder, erlebte 1877 den ersten
Abortus und musste sich wegen schwerer Unterleibsstörungen einer
2 Jahre dauernden ärztlichen Behandlung unterziehen. Trotzdem bei
der dritten Schwangerschaft 1883 von Neuem Abortus. Endometritis,
Uterinblutimgen mit Lebensgefahr. In den Jahren IxQAy 87, 91, 94
wiederum Schwangerschaften, Uterinblutungen, Ejrampfadem und andere
Unterleibsstörungen.
Der FaU Sauter. 335
1893 auf 94. Sturz Ton einer Treppe mit darauffolgender Früh-
geburt Patientin will bewusstlos gewesen sein. Offenbar Gehirner-
schütterung. Ein Kind der Frau S. starb 1887 an Tuberculosen ein
zweites 1892 an Masern und Pneumonie.
Dass die fortgesetzten Störungen der Unterleibsfunctionen bei einer
schon durch erbliche Belastung reizbaren Frau einen nachhaltig schäd-
lichen Einfluss auf die nervösen und psychischen Vorgänge ausüben
mussten, bedarf wohl keiner weiteren Begründung. So finden sich auch
eine ganze Reihe von Anhaltspunkten, die bereits vor dem Klimak-
terium bestanden und sich mit dem Eintritt desselben erheblich
steigerten.
Seit etwa 1^2 Jahren ist Frau S. in das Klimakterium eingetreten,
wie aus der Unregelmässigkeit der menstrualen Functionen hervorgehtr
Bald Amenorrhoe während dreier Monate, bald minimaler Blutabgang
in Abständen von 14 Tagen. Das Klimakterium ist bekanntlich für
reizbare Frauen eine gefahrliche Zeit, weil vielfach bei dieser Ge-
legenheit schlummernde Dispositionen zu geistigen und sonstigen Er-
krankungen zum Ausdruck gelangen.
Schon seit Jahren leidet Frau S., wie auch der Hausarzt be-
stätigt, an schweren Migräneanfällen mit Schwindel, Erbrechen, Gefühle
Ton Betäubung etc. Zeitweise dadurch völlige Arbeitsunfähigkeit. In
letzter Zeit Zunahme des Schwindels, so dass Frau S. genöthigt war^
sich festzuhalten und an einem Stocke zu gehen. Während der Menses
Steigerung der nervösen Erregbarkeit, Empfindlichkeit gegen Geräusche.
Hierzu traten besonders während der letzten Jahre eine auffallende
geistige Verstimmung, eine gemüthliche Depression, die oft länger an-
hielt, ohne dass äussere Veranlassung dazu vorhanden gewesen wäre.
Dazu ein Gefühl der Unsicherheit, schwimmender Bewegungsempfindung,
cutane Hyperästhesieen, Empfindung von Jucken und Brennen auf der
Haut, krankhafte lästige Empfindungen von Hitze, Congestivzustände
(besonders im Kopf). Erhebliche Schlafstörungen, schwere Träume,,
hypnogogische Hallucinationen mit dem Character der Verfolgung. So
glaubt die Angeklagte z. B., dass sich Jemand in ihr Schlafzimmer
eingeschlichen habe. Sie will sogar wachend Gesichtshallucinationen
gehabt haben.
Herzklopfen, Angst, Beklemmung. In letzter Zeit Zunahme der
melancholischen Verstimmung. Sie ist zerstreut, vergesslich, wie der
Hausarzt auch bestätigt, ihre Aufinerksamkeit leidet Man darf also
mit Becht annehmen, dass in Folge nervöser Anlage und schwerer
336 ^- Schrenck-Notzing.
Erkrankungen die psychische Widerstandsfähigkeit seit
Eintritt der Wechseljahre erheblich herabgesetzt ist.
Dafür sprechen sowohl die anamnestischeu Angaben, wie auch der
gegenwärtige Befund der Untersuchung.
Frau S. macht auf mich den Eindruck einer Hysteropathie,
d. h. einer Person, die im Sinne der Hysterie mit ihrem Nerrensystem
auf Schädlichkeiten reagirt. Diese Art der Reactin ist ja auch bei
weiblichen Unterleibsstörungen eine ungemein häufige nervöse Er-
krankungsform.
In Bezug auf ihren Character war Frau S. eine aufgeweckte, geistig
regsame Frau, tüchtig in ihrem Geschäft, im Haushalt, eine fürsorgliche
Mutter und Gattin. Sie zeigte zeitweise grosse Energie und Selbst-
überwindung. Andererseits war sie ebenso heftig, aufbrausend und zu
Affecten geneigt, wie sie gutmüthig und mitleidig sein konnte. So
liess sie sich hinreissen zu Thätlichkeiten gegen ihre Kinder; — aber
während der Krankheit war sie ihnen die hingehendste aufopferndste
Pflegerin. So half sie der Frau Koch in der Noth mit 2000 Mark,
ohne sie je an ihre Schuld zu mahnen.
Wie die meisten Hysterischen, war auch sie dem Stimmungswechsel
sehr unterworfen ; unmotivirte Lustigkeit wechselte mit Auffallen trau-
riger Stimmung. Wenn in letzter Zeit die depressive Verstimmung
die Oberhand behielt, so war wohl daran das häusliche Unglück mit
Schuld. Femer sind weitere characteristische Züge ihres Characters:
Impulsives Verhalten, überschwängliche Phantasiethätigkeit, Putzsucht,
Coquetterie. „Kleider,** sagte sie mir, „sind meine einzige Freude."
* Wie sie selbst zugiebt, ist sie auch durchaus nicht frei von hyste-
rischer Lügenhaftigkeit. Neben der gesteigerten Einbildungskraft, einer
grossen Lebendigkeit psyschischer Vorgänge bestehen völlige Urtheils-
losigkeit, Mangel an Kritik, Geschwätzigkeit und Rührseligkeit.
Hysterische Personen dieser Art sind in der Regel krankhaft
suggestibel und werden leicht das Opfer irgend welcher äusseren Ein-
drücke, von Verführungen vollsinniger Verbrecher etc. Ihr Hemmungs-
vermögen ist eben geschwächt. So können ihre Einbildungen auch
das ganze Denken und Handeln beherrschen und sind stärker als alle
Gegen vorstellimgen und sittlichen Grundsätze. Ohne erkennbare Beweg-
gründe gelangen solche Kranke zu monströsen, läppischeu, ja auch zu
criminellen Handlungen. Es fehlt ihnen die verstandesmässige Ver-
arbeitung der Lebenserfahrungen. Plötzliche Gefühlswirkungen können
maassgebend sein. Mitunter zeigt sich auch bei ihnen ein träumerisches
338 ^* Schrenck-Notzing.
nerTÖsen und psychischen Widerstandsunfähigkeit im
Sinne der Hysterie inFolge einer offenbar auf erblicher
Anlage beruhenden neuropathischen Disposition, sowie
in Folge zahlreicher schwerer ünterleibsleiden und des
seit IV9 Jahren eingetretenen Klimakteriums.
Mit dieser Feststellung ist aber die Frage der Zurechnungsfahigkeit
Ton Frau Sauter noch nicht genügend beantwortet; vielmehr erscheint
dazu die Prüfung des vorliegenden Sachverhaltes sowie eine Würdigung
der Einwirkungen nothwendig, welche abergläubische Ceremonien und
Handlungen auf ungebildete und geistig widerstandsunfähige Menschen
auszuüben vermögen.
Das gemeingefährliche Treiben der Somnambulen wurde eingehend
studirt von Gilles de laTourette. Nach seinen Mittheilungen be-
stehen in Paris 500 Somnambulencabinets mit 40000 Anhängern
(d. h. im Jahre 1888). Dieselben verfügen über 20 Specialzeitschriftra
und haben die Ausbeutung der Gläubigen vollkommen organisirt. So
giebt es in Paris Ober-, Unter-Somnambulen ; somnambules de naissance
de Premier ordre, Specialisten für Schatzausgrabungen (bei Yorher-
bezahlung von 1000 frcs.), für verlorene Gegenstände, Karten-
schlägerinnen für Liebes- und Reiseangelegenheiten, Sybillen für £S-
weiss und Kafifeetropfen, für Bleigiessen, von denen eine in 7 Monaten
22000 frcs. verdient hatte. Auf das Treiben in den Kliniken für an-
gewandten Magnetismus brauche ich an dieser Stelle nicht einzugehen,
da in Frankreich die strenge Durchführung des Kurpfuschereiverbots
bereits diesen "gemeingefährlichen Bestrebungen ein Ende gemacht hat
Die in der heutigen Hauptverhandlung aufgedeckte Thätigkeit der
Frau Gänzbauer in München deckt sich ganz mit ihren Pariser Vor-
bildern. Auch sie zeigt dieselbe staunenerregende Sicherheit in der Be-
handlung ihrer dienten, auch sie verstand es Eindruck, auf die An-
geklagte zu machen und deren Privatverhältnisse auszuspüren. Diese
Münchner Pythia wusste ihr harmloses, bethörtes Opfer ganz in den
Netzen des Aberglaubens zu verstricken und den seelischen Zustand
desselben für ihre Interessen auszubeuten.
Nun ist jedoch Aberglauben an sich keine Greisteskrankheit, kann
also auch nicht ohne Weiteres zur Anwendung von § 51 des Reichs-
strafgesetzbuches führen. Denn den abergläubischen Handlungen fehlt
nicht das Merkmal, dass sie bewusst sind und bewusst ausgeführt werden.
Dagegen sind abergläubische Vorstellungen Suggestionen im eminenten
Sinn des Wortes« Sie können wie ein Zwang wirken, alle Gregenvw-
Der Fall Sanier. 389
Stellungen, jede psychische Hemmung aufheben und ein Individuum so
vollkommen beherrschen, dass Ehre, Familie, Vermögen, kurz Alles den-
selben geopfert wird. Das Characteristische crimineller Handlungen
durch Aberglauben ist das scheinbare Fehlen sonst meist aufzufindender
Motive fiir die Thäter. So kann auch der völlig geistig Gesunde aus
abergläubischen Vorstellungen heraus zu Gesetzesverletzungen gelangen«
Natürlich wird der geistig Beschränkte, Ungebildete urtheils- und
characterschwache Mensch mit verkümmerter Moral und ohne religiös^
Glauben dem verhängnissvollen Zauber solcher abergläubischen Vor-
stellungen eher verfallen, als eine intelligente gebildete und religiöse
Persönlichkeit mit festen Moralbegriffen. Die Unwissenheit allein ist
also noch kein hinreichender Grund für Befreiung von Strafe.
Das gemeinsame Motiv für abergläubische Handlungen, welches vnr
auch bei der Frau Sauter antreffen, ist häufig der Wunsch das Be-
streben, aus einer bestimmten Situation befreit zu werden; diese
Situation kann ein seelischer Zwang, ein Kunmier sein; sie kann aber
ebensowohl in der Nothlage äusserer Verhältnisse (Armuth u. s. w.)
bestehen.
Wenn nun schon der Aberglaube auf geistesgesunde urtheilsschwahe
Menschen einen verhängnissvollen Einfluss auszuüben vermag, so ver-
fallen ihm Psychopathen und geistig geschwächte Individuen um so
leichter. Dieser Umstand fallt mildernd ins Gewicht bei Beurtheilung
der Angeklagten, die, wie ich glaube, im Vollbesitz ihrer geistigen Ge-
sundheit wohl kaum in dieser Weise das Opfer abergläubischer Bräuche
und Ceremonien geworden wäre.
Offenbar suchte die Metzgersgattin die Somnambule zunächst aus
purer Neugier auf; dann aber, als sie einmal gefangen und geködert
war, wirkten diese abergläubischen Vorstellungen wie ein psychischer
Zwang, aus dem sie sich nicht mehr losmachen konnte, auch wenn sie
gewollt hätte. Sie fühlte sich, wie sie selbst sagt, unfrei wie unter
einem suggestiven Bann.
Das ganze Verfahren der Frau Gänzbauer war auch danach an-
gethan, die Einbildungskraft der hysterischen Patientin zu erhitzen.
Ich erinnere nur an die Turteltauben, die weissen Mäuse, die Lichter
und den sonstigen Hocus-Pocus der Hellseherin. Genug, die Ange-
klagte erblickte in der Wahrsagerin eine Prophetin mit übernatürlichen
Kräften, der Niemand, auch die weltliche Gerechtigkeit nicht, ^twas an-
haben könne. Sie glaubte fest daran, dass Frau Gänzbauer im Stande sei,
einen geheimniss vollen Einfluss auf das Schicksal der Menschen aasxu-
22*
340 '^^ Schrenck-Notzing.
üben. Aus diesem blinden Glauben erklärt sich auch ihre naive Bitte:
„Bichten Sie es doch, dass der Schorchl kommt.''
Wie andere psychisch bekümmerte Personen ihren Trost in reli-
giösem Zuspruch finden, so fand sie Erleichterung in der Aussprache
mit Frau Gänzbauer; sie folgte darin dem inneren Bedürfniss, Trost
zu erhalten und Belehrung. Schon das Unerlaubte ihrer ausserehelichen
Beziehungen und der Wunsch, die Liebe ihres Schauspielers nicht zu
verlieren, machten ihr die Aussprache mit einem Geistlichen unmöglich.
Sie erwartete also, — das geht aus Allem hervor — durch Schicksals-
fügungen Erleichterung ihrer Situation.
Die Schicksalsfügungen, welche Frau Gänzbauer hellsehend voraus-
sagen und herbeiführen zu können vorgab, waren natürlich dem Fall,
d. h. den Wünschen der Clientin angemessen ; sie konnten also nur
bestehen in einem Verschwinden der unbequemen Personen von der
Bildfläche. Diese Lösung sollte entsprechend der Voraussage in harm-
loser Weise durch eine natürliche Todesart (Schlaganfall, Krankheit etc.)
erfolgen. Nun war die einzige Person, welche das hauptsächlichste
Hindemiss für die verliebte Ehefrau darstellte, deren Gatte, der Metzger-
meister Sauter. Die schon beim ersten Besuch aus dem tropfenden
Eiweiss imbestimmt prophezeiten Sterbefalle in der Familie Sauter
nahmen später eine concreto Gestalt an. Die Hoffnung, dass sie durch
seinen Tod aus ihrer Situation erlöst werde und zwar baldigst, blieb
ihr einziger Trost Und wurde allmählich in Folge ihrer Urtheilsschwäche
zu einem festen unerschütterlichen Glauben, so dass sie seinen baldigen
Tod selbstverständlich fand. Schliesslich sprach sie, wenn man den
eidlichen Depositionen der Prophetin Glauben schenken darf, ganz un-
verblümt von dem „Verrecken des Hundshäutemen''.
Wie und ob sich nun aus diesen Ideengängen, welche eine Er-
lösung aus der traurigen Lage durch Todesfalle in Aussicht stellten, der
Wunsch entwickelte, dem Schicksal ein wenig zu Hülfe zu kommen, das-
selbe zu beschleunigen durch Anwendung magischer und sympathetischer
Mittel, das nachträglich aus den Gesprächen der zwei Frauen festzu-
stellen und somit die Schuldantheile für beide genau abzumessen,
erscheint besonders mit Hinblick auf die Unzuverlässigkeit und
Frivolität der eidlich deponirten Mittheilungen der Gänzbauer ganz un-
mögliclu
Sicher ist aber, dass die Wahrsagerin die Dummheit der Frau Sauter
systematisch ausbeutete, die Angeklagte durch ihren Hocus-Pocus
348 ^* Schrenck-Notzing.
ihrer Helferin ging sie rahig ihren Tagesgeschäften nach und auch ein
geübter Psychologe hätte nichts von dem fürchterlichen Mordplan be»
merken können, den sie soeben entworfen hatte. Die Möglichkeit Trost
za finden und die Hoffiiung auf eine baldige Erlösung waren meines
Erachtens ihre einzigen Leitmotive, die sie veranlassten, jeden auch
den widersinnigsten Wunsch ihrer Herrin zu erfüllen.
Nur so werden ihre scheinbar sinnlosen Handlungen psychologisch
begreiflich.
Sie war von Frau G^zbauer so fascinirt, dass sie in dem Zu-
stande suggestiver Abhängigkeit deren Ideen zur Ausführung brachte.
Trotzdem aber kann Frau Sauter nicht als völlig unzurechnungs-
fähig im Sinne des Gesetzes angesehen werden. Denn weder bestand
eine sichtbare Geisteserkrankung noch ein ausgesprochener Dämmer-
znstand des Bewusstseins. Denn io den Pausen zwischen den einzebien
Besuchen der Kartenschlägerin machte ihr Verhalten einen ganz ver*
nünftigen Eindruck. Auch wäre eine verstandesmässige Verarbeitung
der Erlebnisse bei ihrer Prophetin nachträglich wohl möglich gewesen.
Sie hat aber vielleicht aus innerer Bequemlichkeit, aus Dummheit oder
aus Liebesthorheit diese Correctur nicht angewendet, — die anti-
socialen Antriebe, das Resultat ihrer Verbindung mit der G&izbau^
nicht bekämpft. Darin liegt die Hauptschuld! Wenn ihr das Straf«
barkeitsbewusstsein wohl fehlte — das geht aus ihrem ganzen Ver-
halten hervor — so war ihr doch die Möglichkeit, sich für Ausführung
oder Unterlassung der ihr zur Last gelegten Haudlungen zu entscheiden
durch die allerdings bestehende krankhafte Störung der Geistesthätigkeit
nicht völlig abgeschnitten.
Wohl aber erscheint ihre Zurechnungsfahigkeit in Folge hystero-
pathischer psychischer Schwäche und ihres Klimakteriums sowie in
Folge der suggestiven Wirkung abergläubischer Vorstellungen erheblich
herabgemindert.
Ob nun der Grad ihrer aus krankhaften Ursachen entstandenen
Willenseinschränkung genügend ist, um sie im Sinne des Gesetzes
willensunfrei erscheinen zu lassen, diese Entscheidung liegt in dem
fireien Ermessen der Herren Geschworenen!
Der Fall Sauter. 343
IV.
Schlags der Yerhandlimg.
Nachträglich wird noch als Zeugin die Schneidermeisterin Schilling yernommen,
die nach den in der Verhandlung gemachten Angaben der Gänzbauer ebenfalls
für die Beseitigung vorgemerkt war. Die Zeugin kann gar keine bestimmten
Angaben nach irgend einer Bichtung hin machen und kann sich, wie die meisten
anderen Zeugen, nicht erklären, warum sie Yon der Sauter aus dem Leben ge-
schafft werden sollte. Damit wurde die Vernehmung der Zeugen und Sach»
verständigen geschlossen und es werden die Fragen zur Verlesung gebracht, die
den Geschworenen zui: Beantwortung vorgelegt werden sollen. Die erste bezieht
sich auf den Mordversuch an dem Manne der Angeklagten, dem Metzgermeister
Anton Sauter, die zweite Frage gilt der Anstiftung zum Mordversuche an den auf
der Liste stehenden Personen.
Nach Wiederaufnahme der Sitzung beginnt der Herr Staatsanwalt Dr.
Schneider das Plaidoyer: Meine Herren Geschworenen, Sie sind berufen, heute
einem Familiendrama ein Ende zu machen, das die weitesten Kreise seit einem
halben Jahre in Spannung erhält. Man fragte sich, wie ist es möglich, dass eine
Frau, die bereits 25 Jahre verheirathet ist, auf den Gedanken kommen konnte,
ihren Mann und ihre Kinder zu ermorden, nur um ihrer Leidenschaft zu einem
Schauspieler fröhnen zu können. Die Frau ist auf die Kunde von ihrem ver-
brecherischen Vorhaben hin verhaftet worden, doch sie hat noch Andere in ihr
Verderben hineingezogen. Ihr Mann hat sich von ihr scheiden lassen, die Kinder
sind jetzt mutterlos, eine andere Frau, die ihrem Liebesverhältniss Vorschub ge-
leistet, ist gestorben aus Gram über die eigene Schande und darüber, dass ihr Kind aus
Scham in den Tod gegangen war.^) Doch darum handelt es sich heute nicht. Sie
haben lediglich über die Schuld in dem heute besprochenen Verbrechen zu ent-
scheiden. Bei Betrachtung der Schuldfrage wird es sich hauptsächlich darum
handeln, ob sie annehmen, dass bei der Angeklagten vollständige Unfähigkeit zu
freiwilliger Selbstbestimmung vorlag. Sie haben das Urtheil der Sachverständigen
gehört, sie sind daran nicht gebunden, sondern vollständig frei. Nur ist zu be-
merken, dass geminderte Zurechnungsfähigkeit die Schuld nach dem Wortlaut des
Gesetzes nicht aufhebt, sondern nur das Strafmaass, das die Richter bestimmen,
beeinflusst. Die Herren Sachverständigen haben übereinstimmend ausgesagt, dass
sie eine vollständige Bewusstlosigkeit im Sinne des Paragraphen 51 für nicht ge-
geben erachten. Ich selbst habe die Angeklagte besucht und die gleiche Wahr-
nehmung gemacht, und auch das Verhalten der Angeklagten in der heutigen
Hauptverhandlung ist ein Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme. Eine andere
Frage ist es, ob nicht die Angeklagte gewissen verbrecherischen Anwandlungen
und Einflüssen besonders stark zugänglich gewesen. Das ist aber bei dem vor-
liegenden Falle nicht unbedingt anzunehmen. Was blieb der Frau Sauter, wenn
sie doch den Schauspieler heirathen wollte, anders übrig, als ihren Mann zu be-
seitigen? Auch die Beseitigung der für eine neue Ehe hinderlichen Kinder und
*) Dieser Doppelselbstmord betriff't eine mit Frau Sauter befreundete Wittwe
and deren Tochter. Die Genannte hatte der Sauter für ihre Zusammenkünfte ein
Zimmer vermiethet und war wegen „Kuppelei^ bestraft worden.
344 ^- Schrenck-Notzing.
ebenso der Dienstboten, die ihren Lebenswandel kannten, mosste ihr erwünscht
gewesen sein. Auch die Aengstlichkeit bei Au&tellang der bewnssten Liste ist
ein Beweis dafor, dass die Angeklagte sich ihrer Verbrechen bewusst war.
Anschliessend recapitulirt der Staatsanwalt den Hergang der AfTaire noch
noch einmal kurz und föhrt dann fort: Es steht sicher fest, dass die Angeklagte
ihren Mann beseitigen wollte und dass sie ihm das Pulver in der Absicht in die
Socken streute, ihn damit zu yergiften. Dass das Pulver die gewünschte Wirkang
nicht ausübte, lag nicht in der Bestimmung der Angeklagten. Es handelt sich
hier also um einen Mordversuch mit untauglichen Mitteln. Das Strafgesetzbuch
stellt die Auffassung dieses Falles dem jeweiligen Gerichte anheim. Doch steht
das Reichsgericht auf dem Standpunkte, dass man nicht den Erfolg, sondern die
Absicht strafen müsse und bestraft also auch den Mordversuch mit untauglichen
Mitteln. In dem vorliegenden Falle ut die verbrecherische Absicht ganz offenbar.
Dazu kann man nicht einmal behaupten, dass das Pulver wirklich ganz unschädlich
war. Durch Aussage eines Sachverständigen ist festgestellt, dass das Pulver, wenn
•s mit offenen Wunden in Berührung kommt, sehr wohl schlimme Wirkungen
hervorrufen kann. Was die üebrigen anlangt, die die Angeklagte hat umbringen
wollen, so ist allerdings bei der oder jener möglich, dass die Gänzbauer sie be-
stimmt hat, sie auf die Liste zu setzen. Bei den Kindern aber und den Dienst"
boten ist es nicht geboten, dies anzunehmen. Ferner ist auch durch die Angaben
der beiden PoUzeicommissäre bewiesen, dass sie mit ruhiger Ueberlegung gehandelt
hat. Diese Punkte werden Ihnen genügen, dass Sie die Schuldfrage bejahen.
Um 8V4 Uhr Abends ergriff unter allgemeiner Spannung der Vertheidiger
B.-A. Bernstein das Wort, der in wirklich klarer und logisch scharfer Weise dar-
legte, dass die Sauter unmöglich die That verübt haben konnte, oder wenn ja,
nicht ins Zuchthaus, sondern ins Irrenhaus gehöre. Redner führte u. A. aus:
Als mich Frau Sauter ersuchen Hess, ihre Vertheidigung zu übernehmen und sie
besuchte, glaubte ich einer ausserordentlich interessanten und grossen Verbrecherin
gegenüberzutreten. Ich glaubte das, weil ich nichts Anderes wusste, als was
Tausendc und Tausende von der Sauter wussten. Wenn ich damals gewusst hätte,
was ich jetzt weiss, und wenn die öffentliche Meinung das gewusst hätte, was sie
jetzt weiss, dann hätten ich und Letztere das grosse Interesse an der Sache nicht
gehabt. Man hätte die Ansicht bekommen, dass eine dumme Person zu unüber-
legten Schritten verleitet worden ist. Als ich mit ihr mehrmals conferirt und die
Acten eingesehen hatte, verwandelte sich mir das Bild vollständig und heute ist
sie für mich aus einer Verbrecherin zu einer Unglücklichen geworden. Die RoUe
der Frau Gänzbauer dagegen, die Anfangs nur als die loyale Person erschien, die
durch ihre Anzeige furchtbare Verbrechen verhindert, erschien heute in einem
ganz anderen Lichte. Redner widerlegt nun den Staatsanwalt dahin, dass, wenn
derselbe die traurigen Folgen der That der Frau Sauter zugeschoben hat, dieselbe
an dem traurigen Geschick der Frau Sauer und Tochter völlig unschuldig sei.
Sie war lediglich bei einer Wahrsagerin und ist mit einem Schauspieler gegangen.
Hätte Herr Sauter gewusst, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhält und nicht,
wie sie in der Zeitung dargestellt war, würde der Mann heute seelisch anders zu
seiner Frau stehen und die Kinder würden ebenfalls anders von ihrer Mutter
denken. Die Frau Sauter habe doch jedenfalls einen viel glaubwürdigeren Ein-
druck gemacht als die Gänzbauer. Sie hat von allem Anfang an aus ihrem Thun
Der FaU Saater. 345
kein Hehl gemacht. Sie hat gesagt, es wäre mir nicht unlieb gewesen, wenn ihr
Mann gestorben wäre, aber bei Seite schaffen wollte ich ihn nicht. Der Herr
Staatsanwalt wusste nicht ein einziges glaubhaftes und wahrscheinliches Motiv für
die That anzugeben. Der Herr Staatsanwalt sagte, wer 10 Menschen umbringen
will, ist ein grosser Verbrecher, und ich sage, wer 10 Menschen tödtet ohne Grund
dazu, ist Terrückt. Was die Gänzbauer als Motiv angegeben hat, ist Unsinn.
Eine Frau, die so freundschaftlich mit den Leuten verkehrt wie die Sauter, tödtet
dieselben nicht. Selbst wenn die Sauter die Strafliste der Gänzbauer hätte, wäre
es eine Ungeheuerlichkeit, ihr die beabsichtigte Tödtung von so viel Menschen
in die Schuhe zu schieben. Massenmorde sind selten, aber Massenmorde ohne
Grund giebt es nicht. Um ihren „Schorsch^ ganz zu besitzen, brauchte sie ja
nur die Ehescheidungsklage, nicht aber das Zuchthaus zu riskiren. Dabei wird
der Frau ein glänzendes Zeugniss ausgestellt. Eine solche Frau verwandelt sich
nicht über Nacht in eine zehnfache Mörderin. Das ist einfach nicht möglich, denn
auch der einfache Mörder hat einen viel weiteren Weg zu seinem schauerlichen
Ziel, aber die Mutterliebe opfert nicht so schnell ihre Kinder. Redner fertigt
nun an der Hand der Strafliste die Zeugin Gänzbauer tüchtig ab, legte dar, dass
sie die Unwahrheit gesagt habe, da das, was sie gesagt, nicht wahr sein könne
und führte dann aus, dass der Gänzbauer für diese Geschichte der Platz der
Sauter gehören würde. Sie war die Unheilstifterin, der böse Dämon, der das ganze
Unglück heraufbeschworen. Redner befasst sich nun eingehend mit der Frage der
Strafbarkeit des sogenannten ungeeigneten Versuches, über die sich die Wissen-
schaft noch nicht einig sei und schliesst: Was die Frau Sauter gethan, ist kein
Verbrechen, sondern eine Dummheit, die ist aber nicht strafbar. Wenn sie gegen
die moralischen Gesetze verfehlt hat, so ist sie schwer genug dafür bestraft worden«
Nach kurzer Replik wurde das Urtheil gesprochen.
Um 10 Uhr Abends zogen sich die Geschworenen zur Berathung zurück.
Deren Obmann (Brauereidirector Pollich) konnte schon nach einviertelstündiger
Berathung unter athemloser Spannung den Wahrspruch verkünden, durch den
beide Schuldfragen verneint wurden. Die Angeklagte weinte und schrie bei
Verkündigung des Wahrspruches, der sie völlig fassungslos machte, während er vom
Auditorium — ein Zeichen des Umschwungs der Stimmung — mit leisem Beifall
aufgenommen wurde. Es bedurfte eindringlichen Zuredens des Vertheidigers und
Staatsanwaltes, um sie so weit zu beruhigen, dass sie das Urtheil anhören konnte.
Der Gedanke an ihre ruinirte Existenz, an ihr zerstörtes Familienleben Hess sie
immer wieder in neue Thränen ausbrechen. Das Abends halb 11 Uhr verkündete
Urtheil lautete unter Aufhebung des Haftbefehls auf Freisprechung.
V.
Crimlnal'psychologische Bemerkmigeii zum Fall Sauter.
Der in der vorstehenden Darlegung geschilderte Fall Sauter ist in
mehrfacher Beziehung psychologisch und forensisch von hohem Interesse.
Er beweist von neuem, dass der suggerirte Verbrecher oder der unter
346 ^- Schrenck-NoUing.
fremdem Einäoss handelnde psychisch Minderwerthige resp. Gteistes-
kranke kein so seltener Typus ist, als man annehmen könnte. Wahrend
im Jahre 1896 das oberbayrische Schwurgericht im Falle Czynski zimi
ersten Mal in Deutschland über ein mit Hülfe von Suggestion ausge-
führtes Verbrechen Recht zu sprechen hatte, führte der berühmte vom
1. — 14. October 1896 dauernde Frocess Berchtold eine Anzahl suggerirter
Zeugen vor die Münchner Geschworenen, — und wenige Jahre später,
am 2. October 1899, erfolgte ebenfalls durch das oberbayrische Schwur-
gericht in München die erste Freisprechung einer Ange-
klagten, die unter dem suggestiven Einfluss einer anderen
Person das Strafgesetz verletzt hatte. (Fall Sauter.)
Diese neue Thatsache wird gewiss zu einer besseren Würdigung und
Erkenntniss der strafrechtlichen Bedeutung der Suggestion von Seiten
der gesetzgebenden Factoren und der Sicherheitsorgane beitragen.
Die bisher erschienene Literatur über Suggestion in Beziehung zum
Strafrecht beschäftigt sich meines Erachtens zu sehr mit dem soge-
nannten hypnotischen Verbrechen, d. h. sie berücksichtigt einseitig den
strafrechtlichen Missbrauch eines ad hoc hypnotisirten Menschen. Die
Oerichtspraxis zeigt nun aber, wie ausserordentlich selten dieser Fall
eintritt, und andererseits liefert die Kenntniss der hypnotischen Er-
scheinungen dem Fachmann ziemlich zuverlässige Hülfsmittel zur
Aufdeckung solcher bisher mehr im Laboratorium als im Leben ausge-
führter hypnotischer und posthypnotischer Verbrechen.
Dagegen scheint die criminelle Suggestion im wachen Zustande,
ohne Rücksicht darauf, ob sie mit dem Bewusstsein des Zweckes oder
in Form einfacher Verführung geübt wurde, eingehendere Aufmerk-
samkeit und Berücksichtignng zu erheischen bei den Psychologen und
Juristen, als ihr bisher zu Theil geworden ist. Man kann , William
Hirsch* darin vollkommen beistimmen , dass die hypnotische resp.
suggestive Zwangshandlung eines geistesgesunden Menschen, soweit sie
Gesetzesverletzungen zum Gegenstand hat, jedenfalls zu den grössten
Seltenheiten gehört. Und in der That handelte es sich, wenn man die
bekannt gewordene forensische Kasuistik auf diesem Gebiete durch-
blättert und den sexuellen Missbrauch in Narkose, Schlaf oder schlaf-
artigen Zuständen bei Seite lässt, bei den suggerirten Verbrechern fast
niemals um geistig ganz intacte Personen. Die Möglichkeit, Willens-
äusserungen eines Menschen zu beeinflussen, hängt ab von der indivi-
duellen Widerstandsfähigkeit; die schwierige Aufgabe der Sachver-
ständigen bei solchen zweifelhaften Fällen der Zurechnungsfahigkeit,
Der Fall Sauter. 347
wird darin bestehen, den Grad der Wehrlosigkeit gegen die ausgeübten
Einflüsse möglichst genau festzustellen und nachzuweisen, ob und in-
wiefern krankhafte Eaetoren die Willensthätigkeit herabgesetzt haben.
Da es aber weder für die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit noch
für den Typus der geistigen Abweichungen der von der Norm, d. h.
denjenigen des ,,geistig krankhaften^ eine absolute Grenze giebt, so kann
die Yon dem Sachverständigen verlangte Abwägung solcher Impon-
derabilien grosse Schwierigkeiten bereiten und zu den spitzfindstigen
Discussionen führen. Ja die Beantwortung solcher Fragen hängt nicht
zum mindesten von den individuellen, Anschauungen des Gerichtshofes,
der Intelligenz der Geschworenen und den subjectiven Anschauungen
der Sachverständigen ab. Was der eine Gutachter als angeborene oder
erworbene geistige Beschränktheit, als leichten Schwachsinn in das Ge-
biet des Krankhaften verweist, erscheint vielleicht dem anderen als ein
auch innerhalb normaler Grenzen vorkommender Mangel an Begabung !
Leichter zu beurtheilen sind Fälle, wo das Nervensystem nachweisbar
durch traumatische Ursachen, Vergiftung (Alcohol, Morphium etc.)
oder durch bestimmte Erkrankungen (Hysterie, Neurasthenie, Epilepsie)
gelitten hat. Für Personen mit Zuständen, die nicht zur Annahme
des vollen Ausschlusses der freien Willensbestimmung aus krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit berechtigen, also in ihrer freien Willens-
thätigkeit lediglich gehemmt erscheinen, hat man mit Kecht den Aus-
druck der „verminderten Zurechnungsfähigkeit" neuerdings
vielfach angewendet.
Psychische Abweichungen dieser Art kommen nun, wie Kirn ^) ge-
zeigt hat, auch unter dem Einfluss der Menstruation, der Pubertät,
der Gravidität und des Klimakteriums zu Stande ; ferner gehören dazu
die noch unbestimmbaren Anfangszustände vieler sich laugsam ent-
wickelnder Seelenstörungen.
Ganz besonders wichtig für die Frage der Suggerirung von Ver*
brechen sind die Characterveränderungen durch Hysterie, angefangen
von den leichtesten Symptomen, dem einfachen „hysterischen Temperament'^
bis zur ausgesprochenen Psychose; allerdings beruht nach der An-
schauung von Wellenberg^) das, was man hysterischen Character be-
zeichnet, in den Zügen, die besonders leicht zum Verbrechen führen,
^) Kirn, lieber geminderte Zurechnungsfähigkeit. Viert eljahresschr. für
gerichtl. Medicin. 3. Folge. Band XVI, Heft 2.
') Wollenberg, Die Grenzen der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit bei
psychischen Krai^kheitszuständen. Zeitschr. für Psychiatrie. 1899. £d« 66 Heft 4.
348 ^- Scbrenck-Notziiig.
nicht anf Hysterie, sondern auf einer allgemeinen psychopathischen
Degeneration. Auf die weitgehende Aehnlichkeit gewisser nicht leicht
erkennbarer und ins Normale hereinragender traumartiger Zustande
der Hysterie und der Posthypnose ist wiederholt von Freud, Wollenberg
u. a. aufmerksam gemacht. Sicherlich bietet das Vorherrschen des Phan-
tasie- und Gefühlslebens über das Verstandesmässige, die abnorm leichte
Auslösung von Geföhlsreactionen, die Neigung zur Dissociation einen
besonders günstigen Angriffspunkt für Suggestionen und Autosu^estionen
(Monoideismus).
Der Nachweis, „hysterischer Stigmata^ oder von „Krampfanfallen^
kann in gewissen Fällen unmöglich sein, hat also für die G-erichts-
praxis keine erhebliche Bedeutung. ^) Dagegen ist das Handeln Hyste-
rischer, worin ich Delbrück beistimme, oft riel krankhafter, als es aut
den ersten Blick erscheint, inwieweit jedoch die Zurechnungsfälligkeit
beeinträchtigt wird durch die Hysterie, lässt sich nur nach Maassgabe
des Gesammtbildes beurtheilen.
Je normaler, gesunder, moralisch widerstandsfähiger eine Person
ist, um so weniger wird sie Gefahr laufen, das Opfer einer criminellen
Suggestion zu werden, — je energieloser, sittlich defecter, psychisch
schwächer sich ein Mensch zeigt, um so leichter wird er der Ver-
führung erliegen, die in Form einer Suggestion auf ihn ausgeübt werden
kann. Aus diesem Grunde laufen solche Individuen am meisten Gefahr,
suggerirte Opfer eines vollsinnigen Verbrechers zu werden, bei denen
die Fähigkeit, ihren Willen durch sittliche Vorstellungen bestimmen zu
lassen, also Gegenvorstellungen zu bilden, in Folge krankhafter Vor-
gänge oder von Entwicklungsmängeln beeinträchtigt oder aufgehoben
ist. Der Grad dieser Beeinträchtigung kann verschieden stark sein
und wird das Kriterium abgeben für die Annahme voller Willensfreiheit,
resp. der verminderten oder aufgehobenen Zurechnungsfähigkeit. In
dieser Thatsache liegt auch der Grund, warum es sich in der Mehr-
zahl der in der Literatur bekannt gewordenen Fälle suggerirter Ver-
brechen um psychopathische, hysterische oder schwachsinnige Naturen
handelte.
So war Gabriele Bompard, das Instrument des Mörders
Eyraud, eine moralisch defecte hysterische Person, die Baronesse
Zedlitz, das Opfer der sexuellen Gelüste der Czynski, eine psychisch
schwach begabte, erblich stark belastete Dame, Frau von Porta,
*) Delbrück, Gerichtliche Psychopathologie. Leipzig 1897, S. 165.
360 ^« SchreDck-Notsing.
den yenteckien Detektifs ihrem Opfer den Mordplan so zn sagen in
Feder dictirte und die ganze Unterhaitang in diesem Sinne nach
mit den Polizeiorganen vereinbarten Gesichtspunkten leitete. Bei der
Unmöglichkeit des Nachweises der Terbrecherischen Absicht kann der
Gerichtshof durch Verhältnisse dieser Art in die Lage kommen, weder
den Urheber noch den Thäter bestrafen zu können.
Nur die ausserordentliche psychologische Schwierigkeit und Selten-
heit dieses Falles lässt die vollkommene Irreleitung der Polizei e^
klärlich erscheinen. Allerdings wäre es wohl die Pflicht der Behörden
gewesen, sich über das Vorleben der Denunziantin und die Gesundheit
der Angeklagten zu vergewissem, bevor man eine so furchtbare An-
klage, wie die des Mordes erhob! Dass diese wichtige Aufgabe von der
Verteidigung erst gelöst werden musste, dass man die Liste dar
81 fachen Vorbestrafung der Eartenschlägerin wegen schwerer Gesetzes-
verletzungen erst wenige Tage vor der Hauptverhandlung nach einer
mehrmonatlichen Untersuchungshaft der Angeklagten beibrachte, dass
man ohne Weiteres auf Grund einer einzigen Zeugin, die von der Aus-
beutung abergläubischer Schwindeleien lebte, zur Verhaftung der bisher
nicht vorbestraften Angeklagten schritt, das sind unverantwortliche
MissgrifTe der Münchner Behörden, die das Vertrauen der Bevölkerung
zu den Sicherheitsorganen nicht zu steigern im Stande sind. Ebenso-
wenig kann die ganze Art und Weise, wie mit Hülfe der übel be-
leumundeten Wahrsagerin die Aufdeckung des Kapitalverbrechens
inscenirt wurde, Billigung finden. Mit folgendrai treffenden Sätzen
recapitulirt die Münchner freie Presse (Nr. 226, 1899) das Ergebniss
des Processes:
„Dummheit und Aberglauben in Verbindung mit schweren mora-
lischen Defecten haben eine Frau ins Unglück gestürzt und sie zur
Verbrecherin gestempelt. Hochgradige sittliche Verkonmienheit und
verbrecherische Verschlagenheit haben die Aermste ins Verderben
hineingeführt, und eine ihre Aufgabe völlig verkennende Polizei hat
Handlangerdienste geleistet. Statt Verbrechen zu verhüten, hat sie
Verbrechen, wenigstens im Anfangsstadium des Versuchs, constmiren
helfen. Wir sind überzeugt, wenn die Polizeibehörde die Sauter nach
der Denunciation der Gänzbauer vorgeladen und ihr ernstlich ins Ge-
wissen geredet hätte, so wäre der ganze traurige Process, dieses Denk-
mal hochgradiger Uncultur, erspart geblieben und hätte weder die Ge-
rechtigkeit noch sonst jemand Schaden genonmien. Freilich: Fiat
Justitia! ist die Devise unserer Staatsmoral, mag darüber auch die
Der FaU Sauter. 351
Welt ZU Grande gehen. Woran es der Polizei in diesem Falle fehlte,
das ist das Yerständniss für die Tragik des Lebens und für die Motive
der Schnld, sowie, last, not least, der Tact.^
Kanm irgend ein Gebiet menschlicher Verirrongen zeigt einen so
günstigen Boden zur Entfaltung von Suggestivwirkungen als der Aber-
glauben. Derselbe stellt sich stets, wie von Löwenstimm^) tre£fend
ausgeführt wurde, als ein Product der Unwissenheit und ünentwickeltheit
ganzer Volksklassen dar und führt gar nicht selten zur Yerttbung
ausserordentlich grausamer Verbrechen. Nach Löwen stimm müssen
Personen, die aus abergläubischen Lnpulsen handeln, einer Strafe unter-
zogen werden, weil sie vollkommen bewusst verfahren. Trotz des be-
stehenden gesetzlichen Verbotes der Gaukelei, Wahrsagerei etc. ist auch
heute noch sowohl in den grösseren Verkehrscentren, wie auch auf dem
Lande der Aberglaube in verschiedenen Formen weit verbreitet. Das
Weissagen (alias Hellsehen), Kartenschlagen erfreut sich heute noch,
wenigstens in München, einer fast ebenso grossen Beliebtheit und einer
ebenso grossen Verbreitung, wie die gesetzlich gestattete Kurpfuscherei
mit Sympathiemitteln, animalischem Magnetismus etc. Selbst in der
Weltanschauung der Gewohnheitsverbrecher sind abergläubische Sitten
häufig anzutrefifen.
Da Verbrechen aus Aberglauben durch Furcht vor Strafe nicht
verhütet Verden, so sind eine wissenschaftliche Erforschung des Aber-
glaubens, wie sie von Lehmann, Stell, Grooss u. a. bereits durch aus-
gezeichnete Arbeiten angel)ahnt wurde, neben gesetzlich vorbeugenden
Maassregeln, vor allem aber eine vernünftige Erziehung und Volksauf-
klärung wohl als die wirksamsten Mittel zur Bekämpfung desselben
anzusehen. Kirche und Schule können in diesen Punkte eine ideale
Aufgabe erfüllen.
Das Suggestiymoment im Aberglauben ist ausführlich vonStolP)
gewürdigt und neuerdings auch von Bechterew.') Die Geschichte
der Schamanen, Propheten, Heiligen, Visionäre, der Massenpsychosen
bietet, ein überreiches Feld für das Studium der Suggestionslehre. Erst
durch die letztere sind zahlreiche räthselhafte Erscheinungen in der
Geschichte der Völker und einzelner Personen dem psychologischen
Verständniss erschlossen worden. Und ohne Kenntniss derselben würden
^) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht. Berlin 1897. Rade.
*) S t o 1 1 , Suggestion u. Hypnotismus in der Yölkerpsychologie. Leipzig 1894.
*) Bechterew, Suggestion und ihre sociale Bedeutung. Leipzig, Georgi, 1899.
362 ▼• Schrenok-NotKing.
Richter und Geschworene solchen auffallenden, scheinbar motivlosen
Gesetzesyerletzungen gegenüber, wie sie der Fall Sauter gezeigt hat,
zu yerhängnissYollen Justizirrthümem verleitet werden. Nach diesen
und manchen neueren Erfahrungen gewinnt es den Anschein, als ob
die Lehre von den suggestiven Erscheinungen auch auf dem Gebiet der
Criminal-Psychologie eine grössere Aufgabe zu erfüllen habe, als man
bisher auch in den Kreisen der Fachgenossen geahnt hat! Möge sie
im Stande sein, auch nach dieser Bichtung berechtigten Erwartungen
und Anforderungen im vollen ümiange zu entsprechen!
Die möglichen Formen seelischer Einwiricung in ihrer ärztlichen
Bedeutung.
Eine programmartige Uebersicht
von
Oskar Yogt.
Die folgenden AusfÜhrangen sollen in knappster Form die medi-
cinischeBedeutnng der verschiedenenFormen seelischer
Einwirkungen anf Geist und Körper behandeln. Es handelt sich
also nur um eine programmartige Uebersicht, wie sie ans meinen dies-
bezüglichen Studien resultirt. Dabei wird der Lehre von den ärztlich
wichtigen Folgewirkungen seelischer Erscheinungen nur soweit Rechnung
getragen^ als es sich um eine Zusammenstellung der verschiedenen
Formen psychischer Erscheinungen und ihrer Folgewirkungen handelt.
Dagegen werden wir nicht näher auf die Modificationen der verschie-
denen Folgewirkungen eingehen, soweit diese von der Art des jedes-
maligen Bewusstseinszustandes abhängen. Eine Suggestion im
Wachsein und in der Hypnose, ein affectstarkes Erinnerungsbild im
Moment, wo unser Bewusstsein von anderen Bewusstseinserscheinungen
erfüllt ist, und im Zustand eines Traumes werden in ganz verschiedener
Weise unser weiteres psychophysisches Leben beeinflussen. Es soll
aber Sache einer besonderen Arbeit sein, die vom normalen Wach-
sein abweichenden Zustände mit Rücksicht auf die jedesmaligen Ver-
änderungen der ärztlich wichtigen Folgeerscheinungen psychischer
Phänomene zu schildern. Wir wollen im Folgenden auf diese Fragen
nicht näher eingehen, sondern uns eben auf die verschiedenen Ein-
wirkungsformen seelischer Erscheinungen beschränken.
Dabei sind drei Sichtungen zu unterscheiden, in dexien diese
Einwirkungsformen eine medicinische Bedeutung gewinnen können.
Zeitoehrift für Hypnotismns etc. IX. 28
354 Oskar Vogt.
Zunächst sind sie im Stande, Elrankheitserscheinungen heirorzorufen«
Wir haben es hier mit einer Disziplin zu thun, die wir als Psycho«
pathogenie bezeichnen wollen. Sie umfasst die Lehre yob allen
jenen krankhaften PhänomenoD, welche durch seelische Ursachen yer-
anlasst werden. Eine zweite Richtung, in der seelische Einwirkungen
für uns von Bedeutung werden, ist die therapeutische. Es kommen
hier die verschiedenen psychischen Einflüsse in Betracht, durch die wir
pathologische Erscheinungen irgend welchen Ursprungs mit Erfolg be-
kämpfen. Schliesslich resultirt aus der Thatsache, dass gewisse krank«*
hafte Erscheinungen psychischen Ursprungs sind, die ärztliche For-
derung der Vermeidung solcher pathogen wirkender Bewusstseinser-
scheinungen und damit eine neue Disciplin, diePsychoprophylaxe.
Ihre Aufgabe ist es, die Wege zu erforschen, auf welchen schädliche
Bewusstseinserscheinungen nach Kräften in ihrem Auftreten verhindert ,
werden können.
Der specielle Zweck der weiteren Zeilen ist nun der Nachweis
der grossen Mannigfaltigkeit solcher medicinisch-wichtigen Formen
seelischer Einwirkung und die Auffordenmg zu einer bisher leider nicht
erfolgten gleichmässigen Bearbeitung des ganzen Gebietes. Wohl
nie hat eine neue medicinische Disciplin so langsame Fortschritte g^
macht, wohl nie ist eine mit solcher Gehässigkeit bekämpft worden^
wie die Lehre von der medicinischen Bedeutung der seelischen £2r*
scheinungen. Der Grund liegt für den Eingeweihten nicht so sehr
verborgen. Es liegt in dem für das Gros der Aerzte charakteristischen
Mangel an normalpsychologischem Wissen begründet, dass bis auf den
heutigen Tag dieser ganzen Lehre so wenig Verständniss entgegen-
gebracht und so wenig Bedeutung beigemessen wird.
Immerhin dringt die Anerkennung dieser Lehre mehr und mehr
durch und vergrössert sich die Zahl der Forscher, die sich um ihre
Vertiefung verdient gemacht haben. Seit dem Tage, wo Bernheim
die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf die Lehren Li6-
beault's lenkte und Charcot durch den Nachweis der Entstehung
hysterischer Erscheinungen durch Vorstellungen eine Psycho-Pathogenie
begründete, hat die Erkenntniss ärztlich bedeutungsvoller seelischer
Einwirkungen an Umfang immer mehr zugenommen« Zunächst ist die-
jenige Form seelischer Einwirkung, die wir als Suggestion ^) bezeichnen,
*) Vgl. über den Begriff der Suggestion 0. Vogt, Die Zielvorstellung der
Suggestion. Diese Zeitschr., Bd. V, und die weiteren Ausfüllrangen»
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 355
das Object zahlreicher Studien geworden. Weiterhin ist dann speciell
die Psychogenie der Hysterie und verwandter Neurosen gefördert
worden. Daneben ist es vor Allem das Verdienst O. Rosenbach *8^)
schon relativ früh eine Beibe psychogenetischer Mechanismen aufgedeckt
zu haben, die nicht in den Rahmen der Suggestion hineingehören und
die andererseits sich auch nicht nur bei y,NervÖ8en" bemerkbar machen:
Insbesondere hat dieser Autor auch auf die therapeutische Bedeutung
der Erkenntniss solcher psycho-pathogenetischer Mechanismen aufinerk-
sam gemacht. Den Begriff der Psychotherapie haben u. a. Loewen-
feld*), Ziehen*), v. Schrenck-Notzing*) weiter auszudehnen
sich bemüht. Eine Reihe von Arbeiten sind in jüngster Zeit der
speciellen Frage der Beschäftigungstherapie gewidmet.^) Das was
endlich v. Leyden und Goldscheider*) in neuerer Zeit über die
medicinische Bedeutung der Reize ausgeführt haben, fallt meiner An-
sicht nach in der Hauptsache in unser Thema. Alle die Reize, deren
Wirksamkeit irgendwie hervortreten, verlaufen nicht ohne psychischen
Parallelvorgang. Von diesem auszugehen . erscheint uns aber aus
erkenntnisstheoretischen Gründen rathsamer*^ als von einer physio-
logischen Theorie. Schliesslich sei noch eine Arbeit Oppenheim 's®)
erwähnt, in der er von der pathogenen Bedeutung der Leetüre spricht
und damit ein Kapitel der Psychoprophylaxe berührt.
An diese Arbeiten soll sich die folgende Uebersicht als eine kurze
Zusammenfassung meiner eigenen Studien anschliessen. Gleichzeitig
soll sie auf die einzig vernunftgemä^se Begründung dieser gesammten
Erscheinungen hinweisen, auf ihre Begründung nämlich durch die
^) ^?1* ^® Sammlung einer Reihe von Arbeiten dieses Autors in Rosen-
bach, Nervöse Zustände etc. Berlin 1897. Referat diese Zeitschr., £d. VI, pag. 62 ff.
*) Loewenfeld, Lehrbuch der gesammten Psychotherapie. Referat in
dieser Zeitschr., Bd. VI, pag. 55 ff.
') Ziehen, Psychotherapie. Referat in dieser Zeitschr., Bd. VTTT, pag. 318 f.
*) V. Schrenck-Notzing, Psychotherapie. Referat in dieser Zeitschr.,
Bd. Vm, pag. 370f.
*) Soweit sie auf Nervenkranke Bezug haben, sind sie citirt in 0. Vogt,
Zur Indication der Beschäftigungstherapie bei functionellen Nervenkranken. Wiener
klinische Rundschau 1900.
*) V. Leyden u. Goldscheider, Elektrotherapie in ihren ^Erkrankungen
des Rückenmarks*'. Wien 1897, pag. 200 ff. und Goldscheider, Die Bedeutung
der Reize für Pathologie u. Therapie. Leipzig 1898.
') Vgl. darüber weiter unten!
^) Oppenheim, Nervenkrankheit und Leetüre. Deutsche Ztschr. f. Nerven-
heilkunde, Bd. 14.
28*
366 Oskar Vogt.
Er fahr angsthat Sachen der normalen Psychologie. Frühere
Arbeiten^) aus meiner Feder haben wohl hinreichend bewiesen, dass
ich physiologischen Interpretationen psychischer Phänomene dprchaus
nicht abhold bin. Sehe ich doch in der Ergründung der physiologischen
ParallelvorgäDge psychischer Erscheinungen ein wichtiges heuristisches
Princip I Aber man darf niemals — wie ich auch nie zu betonen ver-
gessen habe — die geringe empirische Grundlage solcher Ideengänge
vergessen. Eine einzige neue Erkenntniss im Gebiete der functionellen
Mechanismen des Centralnervensystems kann alle bisherigen physio-
logischen Theorien über den Haufen werfen. Dagegen liefert uns die
empirische Psychologie ein Thatsachenmaterial, dessen Sicherheit nur
ein ÜEtlscher erkenntnisstheoretischer Standpunkt verkennen kann. Dass
nach einer vollständigen Concentration der willkürlichen Aufmerksamkeit
auf die Absicht der willkürlichen Ausführung einer Armbewegung diese
wirklich erfolgt, das ist eine Erfahrungsthatsache, die noch niemals
eine Ausnahme gezeigt hat und die deshalb ungeheuer viel sicherer
dasteht als irgend eine physiologische Theorie nervöser Erregungen von
motorischen Centren und ihren Folgewirkungen. Auch das, um noch
ein Beispiel zu erwähnen, was wir von Erregung und Hemmung psy*
chischerseits wissen, ist wesentlich fester fundirt als die Erkenntniss
ihrer physiologischen Seite, selbst wenn man diese Erkenntniss nicht
auf eine moderne histologische Theorie zustutzt. So glaube ich die
Lehre von den medicinisch wichtigen Formen seelischer Einwirkungen
auf Geist und Körper besser zu begründen, wenn ich nachweise, dass
jene Erscheinungen Specialfälle allgemeinerer psychischer Erfahrungs-
thatsachen^) darstellen, als wenn ich dieselbe durch unsichere physio-
logische Hypothesen zu stützen suche.
Wir wollen dabei speciell von der Erfahrungsthatsache ausgehen,
dass — neben allen übrigen realen Bewusstseinserscheinungen — auch
insbesondere alle diejenigen, welche eine medicinisch wichtige Folge-
wirkung haben, das gemeinsame Charakteristikum aufweisen, dass sie
') Vfi^l« 0. Vogt, Physiologischer Erklärungsversuch der Suggestion in Forel,
Hypnotismus, 3. Aufl. 1895, und meine yier Abhandlungen „Zur Kenntniss des
Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotismus''. Diese Zeitschr.,
Bd. ni u. IV.
') Eine sehr knappe Zusammenstellung der für dieses unser Bestreben wich-
tigen Erfahrungsthatsachen der normalen Psychologie findet sich in O. Vogt,
Normalpsychologische Einleitung in die Psychopathologie der Hysterie. Diese
Zeitschr., Bd. VIII. Bezüglich der in den folgenden Ausführungen angewandten
Nomenclatur verweise ich hiermit ein für alle Male auf jenen ArtikeL
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 357
stets ein intellectuelles Moment enthalten. Dieses stellt ent-
weder eine Empfindung oder das Erinnerungsbild an solche Empfin«
düngen, d. h. eine Vorstellung, dar. Es braucht aber nicht in allen
Fällen bewusst zu werden. Es ist unter Umständen nur eine unter der
Bewusstseinsschwelle verlaufende Ehrregung seines materiellcD Parallel-
Torganges nöthig, um bereits eine für uns bedeutsame Folgewirkung
zu veranlassen.
Diese Folgewirkungen selbst sind in einem Theil der Fälle un-
mittelbar auf die Eigenthümlichkeiten der intellectuellen Bestandtheile
der betreffenden Bewusstseinserscheinungen zu beziehen. Dabei können
diese intellectuellen Bestandtheile bald durch ihre Intensität, bald
durch ihre Qualität den für uns wichtigen Einfluss ausüben« Da-
neben giebt es aber auch mittelbare seelische Einwirkungen intel-
lectueller Momente. Die letzteren sind zum Theil durch die Gefühls-
töne der in Betracht kommenden intellectuellen Erscheinungen ver-
anlasst. Zum Theil werden sie direct oder indirect von secundären
intellectuellen Erscheinungen ausgelöst, die ihrerseits erst associativ
von primären BewusstseinserscheinuDgen angeregt wurden. So gelangen
¥rir zur Unterscheidung von vier Hauptgruppen seelischer Einwirkungen.
Diese können hervorgerufen werden durch;
1. die Intensität der intellectuellen Erscheinungen,
2. die Qualität intellectueller Erscheinungen,
3. Gefühle und
4. associativ geweckte nach Modus 1 — 3 wirksame Bewusst-
seinserscheinungen.
Dabei wollen wir nicht versäumt haben, darauf hinzuweisen, dass
diese Classification gleich jeder anderen solche Wirkungsformen von-
einander trennt, die vielfach in einer und derselben realen seelischen '
Einwirkung miteinander vereinigt sind.
Weiterhin können wir bei jeder der genannten Formen seelischer
Einwirkung zwei einander entgegengesetzte Untergruppen medi-
zinisch bedeutsamer Wirkungen unterscheiden. Einmal kann nämlich
•das Vorhandensein einer seelischen Einwirkung und ein anderes
Mal das Fehlen derselben eine ärztlich wichtige Wirkung nach sich
ziehen.
Unter Zugrundelegung dieser Classification wollen wir uns dann
nunmehr der Betrachtung der einzelnen Einwirkungsformen zuwenden.
368 Oskar Vogt.
A. Unmittelbar wirksame Intellectnelle Erschelnnngeii.
Als erste Form seelischer EinwirkuDg wollen wir also diejenige
betrachten, bei welcher intellectnelle Erscheinungen durch ihre In-
tensität die ärztlich wichtige Wirkung auslösen. Dabei dehnen wir
den Begriff der Intensität auch auf eine grössere Zahl schwächerer
und auf einzelne an sich schwache aber lange dauernde intel-
lectnelle BewusstseinsYorgänge aus. Denn das wirksame Agens bleibt
in den eben genannten Fällen ebenfalls die Intensität. Sesultirt doch
eine solche aus der Summirung der schwächeren Vorgänge ! Auf der
anderen Seite tritt die Qualität der wirksamen intellectuellen Erschei-
nungen gegenüber der Intensität vollständig in den Hintergrund.
1. Das Vorhandensein intensiver intellectueller Erscheinungen.
Durch ihre Intensität können intellectnelle Erscheinungen einmal
hemmend und andererseits bahnend oder erregend wirken. Diese
Thatsache fuhrt zu einer entsprechenden weiteren Eintheilung der
durch ihre Intensität wirksamen intellectuellen Erscheinungen in die-
jemgen, welche einen hemmenden und diejenigen, welche einen bahnenden
Einfluss ausüben.
a) Durch ihre Intensittt hemmtnd wirkende intellectuelle Erscheimmgen.
Die auf diese Weise zustande kommende Hemmung kann nun
wiederum eine zum mindesten zweifache Ursache haben. Zunächst
kann eine intensive intellectuelle Erscheinung zu einer Erschöpfung
und Ermüdung^) führen, und auf diese Weise die Erregbarkeit
gewisser Bewusstseinserscheinungen stark herabsetzen. Neben dieser
flemmungsform kommt eine zweite dadurch zustande, dass die psycho-
physische Energie anderweitig absorbirt wird. Die durch einen
solchen Mechanismus gehemmte Bewusstseinserscheinung zeigt einen
verminderten Grad von Erregung: nicht etwa weil ihre Erregbarkeit
an und für sich eine Einbusse erlitten hat, sondern weil ihr nicht die
anderweitig absorbirte Reizenergie in genügender Menge zugeführt wird.
a) Durch Hervorrufung von Erschöpfung und Ermü-
dung hemmend wirkende intellectuelle Erscheinungen.
^) lieber die Begriffe „Erschöpfung" und ^Ermüdung" (letztere = „Schlaf-
hemmung" vgl. 0. Vogt, „Zur Kenntniss des Wesens u. der psychoL Bed. des
Hypnot. Diese Ztschr., Bd. III; 0. Vogt, Zur Indication der Beschäftigungs-
therapie. Wien. klin. Kundschau 1900.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 359
Als normalpsychologische Beispiele der Erschöpfung und
Ermüdang können wir den Zustand nach dem Anhören einer Wagnerschen
Oper oder nach einer grossen Bergtour anführen.
Das pathologische Paradigma der Erschöpfung ist die Neu-
rasthenie. Ihre Genese kann die sein, dass zu intensive Empfindungen
und VorstelluDgen einen Erschöpfungszustand hervorrufen, der nicht
durch eine kurze Ruhe wieder ausgeglichen wird und sich gerade da-
durch als einen krankhaften Zustand documentirt. Es ist gewiss
richtig, dass man in der Vorgeschichte Neurasthenischer meist auch
starke Gremüthsbewegungen nachweisen kann. Ob aber in solchen
Fällen die Gefühlselemente dieser Gemüthsbewegungen als solche auch
die Neurasthenie mitbedingt oder nur durch ihre RückwirkuDg auf den
intellectuellen Bewusstseinsinhalt ^) eine indirecte pathogene Wirkung
ausgeübt haben, muss noch eine offene Frage bleiben. Jedenfalls
können wir aber constatiren, dass es keine Gemüthsbewegungen ohne
intensive und lang anhaltende intellectuelle Bewusstseinserscheinungen
giebt. Das Vorhandensein intensiver intellectueller Erscheinungen ist
also überall da über allem Zweifel nachgewiesen, wo Gemüthsbewegungen
festgestellt sind. Mit Recht wird man daher wenigstens einen Theil
der neurasthenischen Erscheinungen auf sie beziehen. Als besonders
instructiv für die pathogenetische Bedeutung durch ihre Dauer intensiv
werdender intellectueller Erscheinungen erweisen sich die sogen. Be-
schäftigungsneurosen, die man auch als localisirte und systematisirte
Neurasthenien bezeichnen könnte. Neben demjenigen Beschäftigungs-
neurosen, wie sie die Waschfrau, die Näherin, der Musiker, der Schreiber
XL s. w. darbieten, sei hauptsächlich auch auf solche wesentlich circum-
scripte neurasthenische Zustände hingewiesen, welche wir bei „geistigen^
Arbeitern finden, wenn sie sich längere Zeit in einseitiger Weise be-
thätigt haben, ohne dass gleichzeitig andere Schädigungen des Nerven-
systems aufgetreten sind.
Eine therapeutische Bedeutung gewinnt die Hemmung durch
Erschöpfung in den Fällen, wo man einen Schmerz oder eine andere
Sensation durch eine „Ueberreizung'^ beseitigt, wie man z. B. eine Top-
algie durch starkes Faradisiren der schmerzhaften Körperstellc zum
Schwinden bringen kann. Hier handelt es sich also darum, dass eine
pathologisch stark erregte Bewusstseinserscheinung durch eine vor-
^) Vgl. darüber 0. Vogt, Normalptychol. Einleitung etc. Die«? Zeitichr,
Bd. vnL
360 Oskar Vogt.
Übergehende, noch stärkere Erregung erschöpft und so in ihrer Er-
regbarkeit herabgesetzt wird. Aber selbstrerständlich kann eine solche
Herabsetzung der Erregbarkeit nur eine vorübergehende Dauer zeigen.
Wo Heilwirkungen auf diese Weise erzielt werden, treten noch andere
psychische Momente ^), wie z. B. Autosuggestion, secundär in Thätigkeit
Hierher gehört femer einer der Mechanismen, durch welche die
stärkere Erregung gewisser hysterogener Zonen die durch ihre schwä-
chere Erregung ausgelösten hysterischen Erscheinungen coupirt. Da,
wo man mit Erfolg diesen therapeutischen Handgriff anwendet, beob-
achtet man zunächst eine Zunahme des hysterischen Phänomens und
dann, oft sehr plötzlich, ein mehr oder weniger vollständiges Schwinden :
der Erschöpfnngs- und Ermüdungszustand ist eingetreten. In enge
Beziehung zu diesem therapeutischen Verfahren möchte ich das von
Breuer und Freud beschriebene Verfahren des Abreagirens stellen.
Nachdem eine Bewusstseinserscheinung durch gesteigerte Concentxation
der Aufmerksamkeit auf dieselbe einige Zeit in stärkster Weise erregt
war, nimmt ihre Erregbarkeit durch Erschöpfung und Ermüdung so-
weit ab, dass dieselbe zur Zeit nicht mehr jenen Grad von Erregung
ermöglicht, der die Voraussetzung der hysterischen Folgewirkung ist.
Aber wie bei allen übrigen Fällen von therapeutischen Erfolgen durch
Hervorrufung der Erschöpfung ist auch ein eventueller Dauererfolg
des „Abreagirens" nur auf secundär hinzugetretene Heilfactoren zurück-
zuführen.
ß) durch Absorption der psychophysischen Energie
hemmend wirkende intellectuelle Erscheinungen.
Eine normalpsychologische Hemmung durch Absorption
der psychophysischen Energie beobachten wir bei jedem Wechsel des
•Bewusstseinsinhaltes. Eine neue Bewusstseinserscheinung kann nicht
in den Mittelpunkt des Bewusstseins treten, ohne dass gleichzeitig die
ihr vorangegangene schwände.
Eine pathologische Bedeutung gewinnt diese Erscheinung in
der Thatsache, dass Schmerzen, Zwangsvorstellimgen und andere krank-
haft intensive intellectuelle Erscheinungen das Auftreten anderer Be-
wusstseinserscheinungen hemmen und so die Entschluss- und Arbeits-
fähigkeit des betreffenden Kranken stark herabsetzen.
*) Uebcr einige andere dafür in Be4:racht kommende psychophysische MediÄ-
nismen siehe die Bemerkungen über die eventuelle Heilwirkung durch Absorption
wirkender iutellectueller Erscheinungen unter ß.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 361
Der therapeutische Werth der Hemmung krankhafter Er-
scheinungen durch anderweitige Absorption der psychophysischen
Energie ist ein sehr grosser.
Eine erste Form, die aber gleichzeitig die geringste Bedeutung
hat, ist die: durch Hervorrufung eines Schmerzes oder
anderer stärkerer Sensationen eine krankhafte Sensation oder
gelegentlich auch pathologische Affectzustände zu beseitigen. Es ist
auch hier wieder selbstverständlich, dass die Hervorrufung eines neuen
Schmerzes unmittelbar nicht zur Dauerheilimg einer anderweitigen
krankhaften Sensation führen kann. Aber in manchen Fällen genügt
es Kranken, die längere Zeit an einem ständigen (nur hallucinirten)
Schmerz gelitten haben, nur zu zeigen, dass ihr Schmerz beseitigungs-
fähig ist, um damit die Bedingungen für die Fortdauer jener Halluci-
nation auf immer zu zerstören. Zu anderen Malen, z. B. bei zeitweise
auftretenden krankhaften Affectzuständen, z. B. Angstanfällen oder
hysterischen Attaquen, ist schon viel gewonnen, wenn uns auf diese
Weise die Coupirung der einzelnen Anfälle gelingt. In vielen Fällen
endlich darf man annehmen, dass eine immer wieder erneute Vornahme
eines in diese Rubrik fallenden therapeutischen Eingriffs allmählich an
Stelle der pathologischen psychophysischen Constellation, der die krank-
hafte Sensation entspricht, eine andere schafft und auf diese Weise
schliesslich eine Heilung herbeiführt oder wenigstens einen der
wirklich heilenden Factoren bildet. Dabei kommt eine solche Aen-
derung der psychophysischen Constellation in der Weise zustande, dass
durch die immer erneute Hemmung die krankhaft intensiv erregte Be-
wusstseinserscheinung allmählich infolge der vielfachen Verminderung
ihrer Erregung an Erregbarkeit einbüsst und andererseits die beständige
Wiederholung derselben therapeutischen Procedur emen neuen Bewusst-
seinszustand schafft, der mehr und mehr an Erregbarkeit zunimmt
und so allmählich dauernd die psychophysische Energie absorbirt, ohne
noch immerfort von aussen einer besonderen Anregung zu bedürfen.
Die krankhafte Bewusstseinserscheinung ist nunmehr dauernd gehemmt,
ohne dass noch die Therapie fortgesetzt zu werden braucht.
Eine zweite Form ist die der Zerstreuung. Dieselbe wird im
Allgemeinen entschieden mehr angewendet, als sie es verdient. Immer-
hin ist aber ihre therapeutische Bedeutung nicht zu unterschätzen.
Sie ist da indicirt, wo eine Ablenkung der Aufmerksamkeit nur vor-
übergehend nothwendig ist. Dabei muss die Zerstreuung so gestaltet
sein, dass sie im Stande ist, die Aufmerksamkeit des Kranken zu fesseln.
362 Oskar Vogt.
Wenn ein Kranker z. 6. durch einen einfachen Spaziergang nicht hin-
reichend abgelenkt wird, so ist dieser durch einen Ritt oder eine
Yelocipedfahrt etwa zu ersetzen u. s. f.
Im Allgemeinen und namentlich bei schweren Kranken ist eine
dritte hierhergehöreDde Therapie der Zerstreuung weit überlegen: die
Beschäftigung, die Verrichtung social nützlicher Arbeit. Ich halte
diese Form der Absorption der psychophysischen Energie für einen der
allerwichtigsten psychischen Heilfactoren. Speciell bei gewissen Gruppen
von Nervenkrankheiten spielt sie eine ganz besondere therapeutische
Rolle. Ich habe erst kürzlich die Indication und die Gestaltung solcher
„Arbeitscuren^ an anderen Stellen eingehend erörtert^), so dass ich
hier nicht näher auf dieses Thema eingehen möchte.
Nur das sei noch erwähnt, dass wir in der Arbeit auch das beste
Prophylactikum gegen Recidive solcher krankhafter Zustande
haben, die durch egocentrisches Denken ausgelöst werden. Ebenso ist
eine richtig gewählte und zeitlich passend angeordnete Zerstreuung
sehr gut verwendbar zur Verhinderung des Auftretens mancher nervöser
Zustände.
b) Durch ihre Intensität erregend wiricende Inteliectuelie Erscheinungen.
Die andere Wirkung intensiver intellectueller Erscheinungen ist,
wie wir schon ausgeführt haben, die erregende oder bahnende!
Diese Wirkung hat ihren Grund in der allgemeinen Thatsache, dass
wiederholte Erregung einer Bewusstseinserscheinung ihre Erregbarkeit
steigert. Den Process dieser Steigerung der Erregbarkeit hat Exner
als „Bahnung" benannt. Man bezeichnet dementsprechend diese er-
regende, d. h. die Erregbarkeit steigernde, Wirkung wiederholter Er-
regungen als eine bahnende.
Beispiele aus dem normalen Seelenleben sind das gesteigerte
Unterscheidungsvermögen für Farben, welches den Maler vor dem
Laien auszeichnet, und die grössere Lebhaftigkeit solcher Erinnerungs-
bilder, die besonders oft, sei es als Empfindungen, sei es auch nur
als Erinnerungsbilder, in uns aufgetreten sind.
Von pathog euer Bedeutung wird eine solche Bahnung bei allen
den Krauken, die eine egocentrische Einengung ihres Denkens aus-
zeichnet. Die beständige Beobachtung dessen, was in ihnen vorgeht,
^) 0. Vogt, Ueber Beschäftigungstherapie bei functionellen Nervenkranken.
Psychialr. Wochenschrift 1899. 0. Vogt, Zur Indication der Beschäftigungs-
therapie bei functionellen Nervenkranken. Wiener klin. Bundschau 1900.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlicher Bedeutung. 363
das fortwährende Daraufachten, ob nicht irgend eine Sensation da ist
und auf die Erkrankung dieses oder .jenes Organes hinweist, steigert
die Erregbarkeit solcher Sensationen. Auf diese Weise können ander-
weitig bedingte krankhafte Bewusstseinserscheinungen verstärkt werden,
aber es können solche auch überhaupt erst so über die Schwelle des
Bewusstseins gehoben werden.
Hierher gehört auch eine der Ursachen für das hallucinatorische
Fortbestehen ursprünglich organisch bedingter Schmerzen. Ein Kranker
consultirte vor Jahren vergeblich wegen einer Neuralgie alle ärztlichen
Capacitäten. Die Neuralgie blieb, von geringen, vorübergehenden
Besserungen abgesehen, die gleiche. Lange hat der Kranke nunmehr
auf jede weitere ärztliche Behandlung verzichtet. Und erst durch
langes Zureden seiner Freunde hat er sich zu einem erneuten thera*
peutischen Versuch entschlossen. Und siehe da, in sehr kurzer Zeit
verliert er seine Neuralgie. Ist in einem solchen Falle der letzte Arzt
geschickter als die früheren? Keineswegs. In jener ersten Periode
handelte es sich um eine echte Neuralgie. Weiterhin war aber an die
Stelle der organisch bedingten Schmerzempfindung ihr durch die lange
Dauer der Neuralgie so erregbar gewordenes Erinnerungsbild getreten.
Dank dieser grossen Erregbarkeit jenes Erinnerungsbildes genügte die
Furcht vor dem Schmerz zu seiner Fortdauer. Als dann aber eine
erneute ärztliche Behandlung das Vertrauen des Elranken zu gewinnen
und seine Furcht vor dem Schmerz zu beseitigen verstand, war damit
der Schmerz geheilt.
Was wir eben für die neuralgischen Schmerzen ausgeführt haben,
gilt auch für andere Bewusstseinserscheinungen, die ursprünglich eine
organische Ursache hatten, über diese hinaus aber dank ihrer ge-
steigerten Erregbarkeit fortbestehen. Es kann so vor Allem eine ganz
specielle (systematisirte) Suggestibilität für dieses oder jenes Krankheits-
phänomen bei einer verhältnissmässig geringen allgemeinen Suggesti-
bilität entstehen. Es ist das eine Thatsache, die von vielen Aerzten
bisher noch viel zu wenig beachtet wird. An eine echte Neurasthenie
kann sich ein die gleichen subjectiven, aber nunmehr rein psychogenen
Symptome aufweisendes postneurasthenisches Stadium anschliessen.
Recidive von Rheumatismus, von sogen. Erkältungen, von Darmsymp-
tomen etc. können eine derartige psychische Genese haben.
Therapeutisch kommt die bahnende Wirkung intensiver oder
häufiger intellectueller Erscheinungen überall da in Betracht, wo die
Erregbarkeit nach Kräften zu steigern ist. So gelingt es z. B. eine
364 Oskar Vog^t.
Reihe hysterischer Sensibilitätsstönmgen durch periphere Reize, z. R
durch FaradisatioD, durch grosse Stimmgabeln, durch Temperatoireize
zu beseitigen, ohne dass man einen solchen Heilerfolg ausschliesslich
auf Suggestion zurückzufuhren hat. Während nun eine solche Beein-
flussbarkeit hysterischer Sensibilitätsstqrungen durch derartige pe-
riphere Reize meiner Ansicht^) nach für sie characteristisch ist, giebt
es weiterhin gewisse Folgezustände organischer Erkrankungen des
Nervensystems, die ebenfalls einer derartigen Therapie zugänglich sind.
Ich constatire heute bei einem Tabetiker eine Herabsetzung der
Sensibilität, die vom Fuss bis zur Höhe des Nabels reicht. Nach einer
faradischen Sitzung reicht die Sensibilitätsstörung nur noch bis zu den
Knieen. Wie ist dieses zu erklären? An eine Association zwischen
organischen und hysterischen Erscheinungen kann ich in diesem Falle
nicht glauben, denn auch eine längere Beobachtung des Kranken weist
durchaus nicht auf eine hysterische Veranlagung desselben hin. Ebenso
ist an eine Autosuggestion nicht zu denken, denn der Kranke ist sich
erst der ja noch nicht sehr ausgeprägten Sensibilitätsstörung vor Kurzem
durch eine anderweitige ärztliche Untersuchung bewusst geworden. Die
Erklärung, die ich für einen derartigen Heilerfolg gebe, ist folgende:
die Tabes ist nicht eine im eigentlichen Sinne des Wortes chronisch
verlaufende Krankheit, sondern sie tritt schubweise auf. Ein jeder
derartiger Schub ist nun nicht nur von Symptomen begleitet, die auf
die durch diesen Schub zerstörten nervösen Elemente zu beziehen sind,
sondern auch von auf Druck durch die acuten Entzündungsprocesse
zurückzuführenden sogenannten Fernwirkungen. Auf eine wirkliche
Zerstörung nervöser Elemente war in dem vorliegenden Falle die
Sensibilitätsstörung bis zum Knie, auf eine Femwirkung die darüber
gelegene zurückzuführen. Als der Kranke zu mir kam, war bereits
die vor einigen Wochen aufgetretene organische Grundlage jener Fem-
wirkung beseitigt. Aber in Folge der vorübergehend organisch ver-
anlassten Functionsaufhebung und damit bedingten Joftctivität der be-
treffenden nervösen Elemente war auch für die Folgezeit eine Herab-
setzung der Erregbarkeit der Sensibilität bedingt. Und es bedurfte
besonders starker Reize, um die verminderte Erregbarkeit zu beseitigen
und wieder zu einer normalen zu gestalten. In ähnlicher Weise
möchte ich auch die Erfolge der von Frenkel empfohlenen „Uebungs-
*) Vgl. 0. Vogt, Zur Kenntniss d. Wesens und der psychol. Bed. d. Hypnot.
Diese Ztschr., Bd. lU, pag. 326, Anm. 4.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 865
therapie^ bei Tabischen und die analogen Kesoltate bei anderen orga-
nischen Lähmungen durch systematische motorische üebungen inter*
pretiren. Hier handelt es sich um eine Hebung der herabgesetzten
Fnnctionsfahigkeit durch vermehrte Zuführung von Reizen, ohne dass
man an das compensatorische Eintreten anderer nervöser Elemente zu
appelliren braucht Es handelt sich z. B. um eine kleine Blutung
in die innere Kapsel. In Folge der Druckerscheinungen sind die
Ausfallserscheinungen zunächst grösser ab sie der Zahl der direct
zerstörten Fasern entsprechen. Wenn der Kranke nun in diesem
Stadium das gelähmte Körperglied zu innerviren sucht, so wird die
psychophysische Energie nicht in die motorische Bahn abfliessen können,
weil diese zur Zeit leitungsunfähig ist. Aber irgendwo muss diese
psychophysische Energie hinfliessen irnd so werden bei den wiederholten
vergeblichen Innervationsversuchen anderweitige von der motorischen
Region abgehende Leitungsbahnen immer wieder erregt werden. Treten
nun auch allmählich die Resorptionsprocesse auf, und heben sie die
Fimctionsunfähigkeit der nicht zerstörten Nervenbahnen auf, so werden
immerhin noch zunächst jene Bahnen, in welche die psychische Energie
während der letzten Zeit abgeflossen ist, an Erregbarkeit die recon-
valescenten Nervenbahnen übertreffen. Die Folge davon ist, dass auch
jetzt Lmervationsversuche in Folge anderweitiger Ableitung der psycho-
physischen Energie zu recht geringen Bewegungen des betreffenden
Körpergliedes führen. Es bedarf da erst längerer systematischer üebung,
also der besonderen Zuführung bahnender Reize, um den reconvales-
centen Nervenbahnen wieder die nothweudige Leitungsfahigkeit zu
geben und so die erreichbare Bewegungsfahigkeit herzustellen.
Von dieser bahnenden Wirkung intellectueller Vorgänge machen
wir schliesslich überall da Gebrauch, wo wir durch ihre Summirung
erst zur Erzielung der gewünschten therapeutischen Erfolge gelangen.
Vergegenwärtigen wir uns zur Illustrirung solcher Summirung
bahnender intellectueller Erscheinungen das Vorgehen des Arztes bei der
Erzielung einer Hypnose. Der Arzt zeigt zunächst dem neuen Pa-
tienten einige Hypnosen schon länger behandelter Kranker. Die Pro-
cedur war bei den verschiedenen Fällen dieselbe. Der Arzt legte die
Hand auf die Stirn der Patienten, suggerirte durch Worte eintretende
Wärme, Schwere in den Augenlidern und allmähliches Einschlafen.
Als der Arzt nun den neuen Patienten Yomimmt und seine Hand auf
dessen Stirn legt, da weiss der Patient bereits, welche Suggestionen
jetzt kommen werden. So beobachtet man denn auch gelegentlichi
dMf ein Patjent tofort in eine Hypnose TerfSüt. In den mpitfew flDen
aber bedarf es doch noch detaillirter Verbaboggestioiien, nm xom
Ziek zu komm^i. Und doch r^en diese Wcnte in dem Pktientea
keine neuen Gedanken an, sondern sie steigern nur die soggeslife
Kraft bereits in ihm reger Vorstelhmgen. Sie haben also eine weseift-
Kdi bahnende BoDe. Gresetzt, der Arzt hat non die Hypooee er-
reicht. Die Klagen des Patienten beziehen sich anf einen nerrösen
Hagenschmers. Wenn der Arzt non dazu kommt, anf diesen snggcBtiT
einzawirkeDy so legt er zur Zeit, wo er die entspredienden Yerbal-
snggestionen giebt, gleichzeitig die Hand anf die Magengegend des
Patienten. Er weiss nämlich aus EIrfahmng, dass dorch ^eichapitjge
periphere Reize in der Gegend des Korpertheiles, in den der Kranke
seine Beschwerden projicirt, die suggestive Wirkung der Verbal-
suggestion gesteigert wird. Also auch hier handelt es sich um nichts
anderes als um eine solche Summirung bahnender Beize.
Was nun in dem eben analysirten Beispiele der Arzt mit seiner
Hand thut, lässt sich oft in noch Tollkommenerer Weise durch locale
electrische Beize erreichen ^).
Im Allgemeinen spielt aber die Qualität der Beize eine durchaus
untergeordnete Bolle. Die Summirung möglichst vieler Beize
ist in den hierher gehörigen Fällen das Ausschlag gebende.
2. Das Fehlen intensiver intellectneller Erscheinungen.
Bisher hatten wir von den Einwirkungen zu vieler oder zu starker
iDtellectueller Erscheinungen auf Geist und Körper gesprochen. Wir
miisseu uns nun den Folgen des Gegentheils zuwenden, den Folgen
zu weniger und zu schwacher intellectueller Erscheinungen. Indem
wir das nunmehr thun, wollen wir gleich hervorheben, dass uns hier
eine Beihe von Fragen entgegentreten, die zur Zeit nicht zu beant-
worten sind.
a) Das Fehlen durch ihre Intensität hemmender Intellectueller Erschelnungsn.
a) Das Fehlen durch Hervorrufung von Erschöpfung
und Ermüdung hemmend wirkender intellectueller Er-
scheinungen.
Als ein Beispiel, dass eine gewisse Erschöpfung zur normalen
^) Wir haben da dann aber gleichzeitig wiederum ein Beispiel von einer
psychischen oder, richtiger ausgedrückt, psychophysischen Wirkung des electrischen
Reizes, die ausserhalb des Bahmens der Suggestion fällt.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 367
Bethätigung des Seelenlebens nothwendig ist, kann wohl die Ab-
hängigkeit des Schlafes von einem gewissen G-rad von Erschöpfung
dienen. Eine solche Abhängigkeit ist meiner Ansicht nach über allem
Zweifel erhaben. Haben wir doch in einer anderen Abhandlung ^) die
Erschöpfung als die einzige Ursache für den Schlaf der Neugebomen
ausfindig machen können.
Diese Abhängigkeit kann vielleicht auch eine pathologische
Folgewirkung annehmen, nämlich bei gewissen Hysterischen. Es giebt
Hysterische, die sich wochen- und eventuell jahrelang in einem Dämmer-
zustand befinden, der zum mindestens sehr viele Aehnlichkeit mit einem
partiellen Schlaf hat, wenn er nicht seinem physiologischen Wesen
nach überhaupt mit ihm identisch ist. Solche Hysterische leiden
eventuell gleichzeitig an einer sehr ausgesprochenen Agrypnie. Sie
verfallen oft sehr lange nicht in einen wirklichen allgemeinen Schlaf.
Hierauf hat Sollier*) vor Allem aufmerksam gemacht. Aber die Er-
klärung, die S Olli er für dieses Phänomen giebt, ist überhaupt keine
Erklärung. Dieser Autor sagt, derartige Hysterische schlafen nicht,
weil sie nicht gleichzeitig zwei „Schlafe^ schlafen können. Damit ist
das Problem aber gamicht berührt. Wenn wirklich der Dämmerzustand
dieser Kranken einen partiellen Schlaf darstellt, so ist die Frage die:
warum geht dieser partielle Schlaf nicht zeitweise in einen allgemeinen
über? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich an gewisse hyp-
notische Experimente erinnern. Es hat schon viel Erstaunen hervor-
gerufen, dass ein kataleptischer Arm so langsam ermüdet. Woher
kommt das? Der Katalepsie geht eine starke Herabsetzung der Sen-
sibilität parallel. Die Summe von Empfindungen, die von einem kata-
leptischen Arm angeregt wird, ist bedeutend, geringer als die, welche
ein willkürlich in die Luft gehaltener Arm auslöst. Wenigstens theil-
weise in Folge dieser Verringerung der intellectuellen Erscheinungen tritt
die Erschöpfung wesentlich langsamer auf. Femer bringe ich hiermit
die Thatsache in Verbindung, dass psychologische Selbstbeobachtungen
im Zustand des systematischen partiellen Wachseins (d. h. einer par-
tiellen Hypnose) unvergleichlich viel weniger ermüdend wirken als
solche, die im normalen Wachsein ausgeführt werden. Auch hier ist
die Summe der erregten intellectuellen Erscheinungen in der partiellen
Pypnose eine weit geringere als im Wachsein. Wir. verstehen so den
*) 0. Vogt, Spontane Somnambulie in der Hypnose. Diese Ztschr., Bd. VL
•) So Hier, Genese et natüre de Physt^rie. 1897. Heferat dieser Ztschr.,
Bd. Vin, pag. 21 ff.
368 ' Oskar Vogt.
geriDgeren Orad von Müdigkeit, den das Experimentireu in der par-
tiellen Hypnose im Vergleiche zu demjenigen im normalen Wachsein
hervorruft. In einem verwandten Bewusstseinszustand befinden sich nun
die oben näher geschilderten Hysterischen. Ihr Bewusstseinsinhalt ist
ein sehr eingeengter. So verstehen wir das wesentlich verminderte
Auftreten von Erschöpfung. Wenn wir nun mit dieser geringeren Er-
schöpfung die Schlaflosigkeit jener Kranken in Verbindung bringen, so
finden wir dafär auch darin eine Stütze, dass diese Kranken gar nicht
in einem normalen Verhältnissen entsprechenden Grade über Müdigkeit
klagen und unter ihrer Agrypnie leiden.
Therapeutisch kommt eine Verminderung der erschöpfend
wirkenden intellectuellen Erscheinungen in der Form ärztlich verord-
neter Ruhe in Betracht. Eine Indication dazu ist überall da gegeben,
wo zu viele und zu starke intellectuelle Vorgänge zu neurasthenischen
Zuständen geführt haben.
Diese Ruhe kann in dreifacher Weise verordnet werden: erstens
in der Form einer ruhiger gestalteten Lebensweise, zweitensio
derjenigen von zeitweise vollständiger IJnth&tigkeit, drittens
in derjenigen von Schlaf. Die zeitweise ünthätigkeit kommt ^unsl
in der Gestalt von Ruhepausen, welche in die Arbeitszeit eingeadiBlieit
werden, und dann in derjenigen einer kürzeren oder längeren Auf-
hebung aller Bethätigung unter gleichzeitiger Verordnung von Bettruhe
in Anwendung. Die intensivste Form der Ruhe wird vom Schlafe
gebildet. Neben dem spontanen Schlaf kann Schlaf durch Erziehung,
Suggestion oder durch Narcotica erzielt werden. Es können dabei,
wie bei der ünthätigkeit gewisse Schla^ausen in die Arbeitszeit ein-
geschaltet werden oder es kann eine „Schlafcur^ in Anwendung kommen,
bei der die Patienten selbst ganze Wochen und Monate wesentlich
schlafend verbringen. In der Art und Weise, wie speciell ich solche
Schlaf euren gestalte, darüber hat Brodmann ^) eingehend berichtet.
Eine Verminderung der erschöpfend vrirkenden intellectuellen Er-
scheinungen ist schliesslich auch das beste Prophylactikum vor
einer Erschöpfung.
ß) Das Fehlen durch Absorption wirkender intellec-
tueller Erscheinungen.
Eine im Gebiet des normalen Seelenlebens liegende Folge-
^) Brodmann, Zar Methodik der hypnotischen Behandlung. Diese Ztschr.,
Bd. Vn, pag. 20flf.
Die möglichen Formen seelischer Einwirkung in ihrer ärztlichen Bedeutung. 369
Wirkung einer zu geringen Zahl die psychische Energie absotbirender
intellectueller Erscheinungen ist die in solchen Fällen zu Tage tretende
Einseitigkeit des Bewusstseinsinhaltes und der seelischen Bethätigung.
Eine pathologische Gestalt nimmt diese Erscheinung da an,
wo Einförmigkeit des Lebens oder Unthätigkeit zu pathogenem Wach-
träumen, Grübeln und Denken an die eigene Person führt.
Therapeutisch ist die Zahl die Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmender intellectueller Erscheinungen überall da zu beschränken, wo
die psychische Leistungsfähigkeit den an sie gestellten Anforderungen
nicht genügt. Sollen intellectuell schwach befähigte oder an einer
krankhaften Ermüdbarkeit leidende Menschen noch in den Stand gesetzt
werden, social nützliche Arbeit zu verrichten, so ist diese eben ver-
hältnissmässig einförmig zu gestalten. Speciell bei der Lebensregelung
leicht erschöpfbarer Lidividuen ist dieser Gesichtspunkt vielfach ausser
Acht gelassen. Ich habe dementsprechend in meinen bereits citirten
Abhandlungen über Beschäftigungstherapie bei functionellen Nerven-
kranken speciell darauf aufmerksam gemacht imd möchte mich daher
hier damit begnügen, darauf hingewiesen zu haben. Auch da, wo es
sich darum handelt, nicht Constitutionen leicht erschöpf bare Individuen,
sondern solche, die an einer acuten Erschöpfung erkrankt sind, all-
mählich wieder zu ihrer früheren Leistungsfähigkeit zu erziehen, muss
man das Tagesprogramm relativ einförmig gestalten. Nur so kommt
das Moment der Einübung derartig stark zur Geltung, dass man bereits
bei einer an sich geringen Leistungsfähigkeit relativ hohe Leistungen
erzielt, und damit ein Resultat erreicht, welches hinwiederum vor
Allem dadurch günstig wirkt, dass es das Selbstvertrauen und die
HofiEnungsfireudigkeit der Patienten hebt.
Schliesslich ist eine relative Einförmigkeit der Bethätigung auch
das beste Prophylactikum vor einer zu grossen Verausgabung
psychophysischer Energie.
b) Das Fehlen durch ihre lirtentlttt erregender iniellectiieller Erscheinungen.
Unser Wissen von der Nothwendigkeit intellectueller Vorgänge
für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden ist noch ein sehr
geringes. Wir wissen heute, dass jedes Organ zu seiner normalen
Entwicklung und seinem normalen Bestände functioniren muss oder
wie wir uns ausdrücken, funcüoneller Beize bedarf. Aber wie sich
diese Frage speciell für das Gehirn gestaltet, darüber liegen noch keine
näheren Untersuchungen vor.
Zeitschrift fttr HypnotiBmos etc. IX. 24
370 OAar Vogt.
Im normalen psychischen Leben äussert sich das Fehlen einer
hinreichenden Zahl bahnender intellectneller Momente z. B. darin, dass
daraus eine relative Leistungsunfahigkeit seelischer Bethatignngen re-
snltirt. Wir sprechen dann Ton einem Mangel an üebnng«
ESne pathologische Form nimmt diese Erscheinung weiterhin
in den bereits oben erwähnten Fallen posthemiplegischer Functions«
herabsetzung an, wo diese nur eine Torübergehende organische Grund-
lage hatte und hinterher nur auf fnnctioneller Grundlage weiterbesteht
Die hierher zu rechnende Therapie und Prophylaxe hat alle
jene intellectuellen Erscheinungen nach Kräften zu bekämpfen oder
zu yermeiden, welche durch ihre Bahnung eine pathogene Bedeutung
gewonnen haben oder zu gewinnen drohen. Spedell wollen wir in
diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass wir auch zur
Vermeidung eines psychischen Nachstadiums oder psychischer ReddiTe
acute, sich stark psychisch äussernde Krankheiten möglichst schnell
zu beseitigen bemüht sein müssen, damit diese nicht erst sehr leicht
erregbare Erinnerungsbilder zurücklassen.
Fortsetzung folgt.
Casuistische Beiträge zur Psychotherapie
Von
Dr. Seif, Nervenarzt-München.
(2. Jüittheilung.)
Fall 7.
Fräulein S., 28 Jahre, hereditär belastet (Mutter geisteskrank, Vater berühmter
Gelehrter, sehr nervös), ist eine hochbegabte und fleissige Künstlerin. Unter dem
Einflüsse heftiger Gemüthserregungen und beruflicher üeberanstrengung entwickelte
sich vor ca. 5 Jahren unter steter Zunahme eine schmerzhafte Empfindlichkeit der
Augen gegenüber Licht, Lesen, Zeichnen, Malen und Schreiben, so dass sie
schliesslich, um den ausserordentlich unangenehmen Beschwerden zu entgehen, zu
einer höchst peinlichen Unthätigkeit sich verdammt sah. Die schmerzhafte Em-
pfindlichkeit irradiirte, wenn die sie auslösende Thätigkeit nicht alsbald unter-
brochen wurde, nach der Stirne, den Schläfen, dem Scheitel und Hinterkopf.
Gemüthliche Erregungen begünstigten Eintritt, Dauer und Intensität der Erschei-
nungen. Ohne die obengenannten Umstände trat der beschriebene Zustand nie
ein; dann war und blieb der Kopf frei.
An anderen Krankheitserscheinungen bestanden noch: Neigung zu Migräne
bei den menses, labile, launenhafte Stimmung mit Tendenz zu chronischer tiefer
Verstimmung, Rückenschmerzen und grosse Ermüdbarkeit. Die objective Unter-
suchung ergab am 7. ü. 1897: Beide Bulbi sehr druckempfindlich, doppelseitige
Ovarie, Steigerung der Haut- und Sehnenreflexe, sowie der cutanen Sensibilität.
Nach 4 Hypnosen, in denen jedes Mal nur Hypotaxie erreicht werden konnte und
die Suggestionen durch leichtes Reiben und Streichen der Bulbi und der Stirne
unterstützt wurden, war die Dame soweit gebessert, dass die Lichtempfindlichkeit
verschwand und sie wieder malen, lesen, zeichnen und studiren konnte, ohne
Beschwerden davon zu haben. Unter der Fortsetzung der Behandlung ging damit
auch die Hebung des psychischen Befindens sowie der körperlichen Frische und
Leistungsfähigkeit Hand in Hand, so dass sie nach im Ganzen 16 Hypnosen als
frei von krankhaften Erscheinungen entlassen werden konnte.
Drei Monate später kam durch grosse Gemüthserregungen in Folge der Er-
krankung und ^es Todes des von ihr sehr geliebten Vaters ein Rückfall, der nach
9 Hypnosen wieder beseitigt wurde. Seitdem blieb sie, abgesehen von noch zwei
kleinen, unbedeutenden, ebenfalls durch Aufregungen bedingten Rückfällen, die
sie in ihrer Arbeitsfähigkeit nur wenig störten und nach wenigen Sitzungen ge-
heilt wurden, fast frei von jenen Erscheinungen.
Ganz ähnlich yerhält es sich mit folgendem Falle :
Fall 8.
Herr v. K., 19 Jahre, schwer belastet (Grossvater und Urgrossvater väter-
licherseits starben an Paralyse, Vater, Mutter und eine Schwester sind sehr nervös),
24*
37S I>r. Seil
'HygkerO'SeaTM9iheniker^ bekam im Anirhlnw md eine Khwere Inflnennf it i mfc iiiig
Tor 2 Jahren folgende, allmählich sonehmeode Beschwerden: SdM>n nack eiaigen
Minuten Lesens, Schreibens oder angestrengten Denkms steBten üA Stunden und
Tage daaemde Schmerzen in beiden Augäpfeln, sowie intensire Kopfaehmengn
ein, die ,ywie ein Band' um den Kopf empfanden wurden and jeder Itftisiidliing
zu trotzen schienen.
Dazu klagte er ober grosse Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, rasch wechsrinde
Stimmung und hiufige Selbstmordgedanken. Korperlich fohlte er sich sehr krlltig.
Objeetire Untersuchung 9. X. 1897: Pat. ist gross, kräftig gebaat« blsMi
Innere Organe gesund. Sehnen- und Knochen -Reflexe gesteigert. AngemciDe
Hypalgesie der Haut auf Nadelstiche. Lebhafter Tremor der Zunge und der Hände.
Herr K. war sehr begabt und hatte am Gymnasium immer gute Fortadiritte
gemacht. Mit dem Auftreten der Augenschmerzen aber wollte es mit dem Lernen
und Arbeiten nicht mehr gehen und er musste die EJasse repetiren. Da er anch
hier in Folge seiner Krankheit nicht Torwarts kam, wurde er der Schule entnommen.
Ich unternahm nun mit ihm eine 6 Monate dauernde hypnotische Behandhing,
in der er im Ganzen 68 Mal hypnotisirt wurde (Hypotaxie). Errt nach 40 Hjrpnoaen
war er so weit gebessert, ohne besondere Beschwerden täglich 1 — ^2 Standen sn
studiren. Ueber diese Zeit hinaus nahmen die Beschwerden zu, doch waren sie
nie mehr ron der früheren Heftigkeit. Am Schlosse der Behandlnng trat er in
eine „Presse^ ein, wo er nicht nur dem ca. 6stondigen Unterrichte ohne eriieblidie
Beschwerden zu folgen rermochte, sondern auch noch seinen Hansan%aben,
deren Anfertigung einige Stunden Zeit in Anspruch nahm, gerecht wurde.
Kamen wohl auch noch gelegentlich bei Ueberanstrengung Kopf- and Augen-
schmerzen, so waren sie doch nie mehr ron der froheren, jede geistige Thätigkeit
lähmenden Intensität.
Ich habe Herrn Ton K. nochmals, Vt «J&hr nach der Entlassung aas der Be-
handlung, nachdem er sein Fähnrichs-Examen bestanden, gesehen, wo er sich trotz
der vorausgegangenen Anstrengungen desselben guten Befindens erfreute.
Die beiden unter 7 u. 8 mitgetheilten FaUe, die ich noch durch
mehrere ähnliche hätte vermehren können, gehören jenem Krankheita-
bilde an, das Möbius als ,,Apraxia algera'' beschrieben hat. Immer
fiand ich auch jene j^Aufhebung der Function wegen Schmerzhaftigkeit
der Function'^ bei hereditär schwer belasteten Individuen, üeber die
Zugehörigkeit der Symptome der Apraxia algera zum Symptomen-
complex der Hysterie kann m. E. kein Zweifel bestehen.
Was Prognose und Behandlung betri£ft| so muss ich Möbius im
Ganzen Recht geben, wenn er erstere schlecht nennt. Doch beweisen
die beiden mitgetheilten Fälle, wenn es auch nur weitgehende Besse-
rungen sind, dass solche Besserungen möglich sind, und die Suggestiv-
therapie in manchen Fällen dieser für die damit Befallenen so entsetz-
lichen und qualvollen Krankheit mehr zu nützen vermag als ihr
Möbius zutraut. Dagegen habe ich von der Anwendung der Lokal-
Casuistische Beiträge zur Psychotherapie. 373
therapie gegenüber jenen Störungen nur Misserfolge und Verschlimme-
ruDgen gesehen und kann ich deswegen mit Möbius nicht genug
davor warnen.
Fall 9.
Herr M., 32 Jahre, belastet (Mutter nervös, deren Schweste^^ geisteskrank,
die eigene Schwester Hysterica), wurde nach beruflicher Ueberarbeitung 1888/90
und kurz darauf folgender schwerer Influenzaerkrankung nervös und litt oft an
Kopfweh und Schlaflosigkeit. Nach schweren gemüthlichen Erregungen gesellten
sich dazu 1894 die Erscheinungen des acuten umschriebenen Hautödems (Quincke).
Anfallsweise, fast täglich, meist nach Aufregungen traten an den verschiedensten
Stellen des Körpers, in der Lenden- und Leistengegend, in den Kniekehlen, im
Nacken, in den Augenlidern, an Armen und Beinen umschriebene ödematöse
Schwellungen der Haut- und des Unterhaut-Bindegewebes auf, die, über die Haut
der Umgebung erhaben und gegen diese sich scharf abhebend, einen Umfang bis
zu 12 qcm zeigten und durch den Finger einzudrücken waren. Die begleitenden
subjectiven Störungen bestanden in sehr unangenehmer Spannung, selten in Jucken
oder Schmerzen. Die SchweUungen setzten meist des Abends ein, um am nächsten
Vormittag wieder zu verschwinden. Dabei war der Schlaf regelmässig gestört.
Auch bestand an den Tagen, wo die Oedeme auftraten, fast regelmässig Gonsti-
pation und Polyurie, die möglicher Weise auf gleichgeartete Oedeme in der Darm-
und Harnröhrenschleimhaut zurückzuführen waren. Die Augenlider schwollen oft
derart zu, dass vollständige Ptosis bestand. Meist war es die rechte Körperhälfte,
die von den Oedemen befallen wurde.
Körperlich zeigte der Pat. allgemeine H3rpersensibilität, besonders rechts und
Steigerung der Patellarefleze. Psychisch bestand grosse Willensschwäche; oft
zeigte er ein träumerisches, apathisches Wesen, andere Male war er ausgelassen
lustig.
Verschiedene Guren, die er zur Heilung der lästigen Beschwerden durch-
gemacht, Bäder, Waschungen, Einreibungen etc., waren vollkommen erfolglos ge-
blieben.
Die hypnotische Behandlung begann am 2. VI. 1897 (Somnambulismus) und
richtete sich vorzugsweise auf die Hebung des psychischen Befindens.
Nach 7 Hypnosen war sein Wesen frisch und energisch, seine Stimmung
gleichmässig heiter, sein Schlaf gut. Die Oedeme, die ihn durch 3 Jahre fast
täglich belästigt hatten, traten vom 13. VL 1897—15. IV. 1898, also in 10 Monaten
(immer aber nach psychischen Erregungen) im Ganzen noch 15 Mal auf. Seitdem
ist er frei geblieben.
Ich habe noch mehrere solche Fälle mit ähnlich gutem Ausgange
beobachtet, so dass ich Oppenheim's schlechter Prognose dieses
Zustandes nicht beipflichten kann. Oppenheim meint ja auch bei
der Besprechung der Therapie : y^Auch die Psychotherapie dürfte hier
am Platze sein/' Ja, nach meinen Erfahrungen mehr als irgend eine
andere Therapie!
Referate und Besprechungen.
ESmer, Dr. med. A,, pract Arzt in Stattgart, Psychiatrie und Seelsorge,
BerUn (Reuther & Reichard) 1899, gr. 8<», 343 S. 5 M.
Die Arbeit will ,,einen Beitrag zur Verstandigaiig zwischen Psychiatrie nnd
Seelsorge liefern**, aber mit der Einschränkung, dass das Buch mehr dem Seelsorger,
bezw. dem (christlichen) Pablüram als dem Psychiater dient Der Nebentiiel: „Ein
Wegweiser zur Erkennung nnd Beseitigung der Nervenschäden nnserer Zeit,** der
wie der Haupttitel zeitgemäss and oft versacht ist, will auch in dieser mehr laien-
haften Hichtong verstanden werden ! Der Autor, dessen Elaborat mit reicher neuro-
klinischer Erfahrung sich erhebt über die psychiatrische Kenntniss des Durchschnitts-
arztes, über eine gediegene Belesenheit in philosophischer und religiöser (aber
leider nicht theologischer) Literatur verfugt, von ernster Lebensauffassung des
Yolkswohls durchdrungen, in seiner Schlichtheit und Umfassung des gesammten
Materials schon im Allgemeinen dem Arzte zu empfehlen ist, will besonders die
psychiatrische Grundposition, dass Geisteskrankheiten Gehimkrankheiten sind, durch
die Verständnisslosigkeiten der mannigfaltigsten Lebensbeziehungen, namentlich
der sittlich-pädagogisch-juristisch-religiösen durchführen, und verdient damit den
Dank derer, die belästigt durch Yorurtheile ihren wissenschaftlichen Standpunkt
zum Wohl der Patienten festhalten und nach einheitlicher Klärung — irgendwie
gehört auch dies zur Wissenschaft — der wechselseitigen Beziehungen zwischen
allgemeiner Weltanschauung und besonderer psychiatrischer Wissenschaft verlangen.
Der Inhalt des Buches, der wenig 8cha.rf gegliedert und oft sich wiederholend, be-
sonders auch die psychiatrische crux einer befriedigenden Eintheilung der Geistes-
abnormitäten durchfühlen lässt, behandelt nach kurzen Vorbemerkungen über Zweck
der Schrift, Werth der Psychiatrie für Seelsorge und Vereinbarkeit beider, 1. die
Geisteskrankheiten^ 2. die Minderwerthigkeiten, um dann die „Voraussetzungen
und Consequenzen der Lehre'' über den Character der Geisteskrankheiten zu ziehen.
Dabei lassen sich jene Mängel des Inhalts entschuldigen mit der Neuheit dieses
Beginnens, die Psychiatrie zu popularisiren, mit der psychischen Bewusstseinseinheit
und der daraus resultirenden Aehnlichkeit der Krankheitssymptome in verschiedenen
Fällen. Dagegen scheinen auch principielle Mängel von allgemeinerem Interesse
vorzuliegen, die aufgezeigt werden sollen, um den Verfasser vielleicht zu ver-
lassen, in der 2. Auflage, die nicht zweifelhaft ist, seine Arbeit durchzusehen. Bei
Referate und Besprechungen. 375
>
den vielen Citaten anderer Art fehlt es an Angabe von psychiatrischer und theo-
logischer Literatur für den Antipoden, sei^s Arzt, sei's Theolog, der fortarbeiten möchte.
Vielleicht hätte Körner von Kräpelins* Lehrbuch oder von der auch zu beson-
deren Zwecken zugeschnittenen: Gerichtlichen Psychopathologie von Delbrück
(Leipzig, Joh. Am br. Barth) u. A. manches entlehnen, sicherlich aber solche Ar-
beiten citiren können. Andrerseits musste A c h e 1 i s , Lehrb. der Pract. Theologie (Leip-
zig, Hinrichs 2. Afl.) nachgelesen werden; auch der rtihrige Verlag hätte auf dem
Umschlag Köstlin, Lehre von der Seelsorge und Einiges aus seiner pädagogisch-
psychologischen Literatur anzeigen sollen. Den Vorwurf des Feuilletonistischen
würde Köm er sich mit Recht verbitten, warum dann nicht den Anspruch des
Wissenschaftlichen völlig erheben? Dann wäre voraussichtlich der eigentliche Haupt-
abschnitt über die Seelsorge (S. 313 — 334, eigentlich nur 321 — 334) weniger dürftig
und oberflächlich ausgefallen. Der Mangel theologischer Literaturkenntniss wird
unangenehm empfunden auch namentlich bei der versuchten Lösung einzelner
Probleme, die sich etwa als Fragen nach dem Persönlichkeitswerth zusammenfassen
lassen; dabei bringt Verfasser die angebliche üeberschätzung des Körpers auf
Kosten des Geistes, die Leugnung der Willensfreiheit u. A. zur Sprache, immer
vom Standpunkt des modernen Naturforschers und Christenmenschen zugleich aus.
Es fragt sich nur, ob diese letztere höhere Synthese rein logisch denkbar ist,
die heterogenen Aussagen der Psychiatrie und gewöhnlidien Lebensanschauung
äusseriich zusammenzukitten. Diese Frage drängt sich noch ernstlicher auf z. 6.
-bei der Behandlung der leidigen Dämonen- und religiösen Ekstasen-Frage. Kurz,
das führt auf meinen Wunsch, die von Römer verschmähte Psychologie doch ein-
mal zu versuchen. Die Theologie laborirt noch bedenklich am Mangel psycho-
logischer Auffassung religiöser Thatsachen, die doch so nahe liegt, aber nicht minder
wird bei der Tunnelirung der Psychiatrie heute zu einseitig auf der einen Seite
des sog. psychophysischen Parallelismns gearbeitet, ja die Psychologie ausdrücklich
abgelehnt in Folge der psychotheoretischen Unzulänglichkeit der höheren Gentren.
Wird jedoch erst die Psychologie als Psychotheorie ') versucht und verstanden, dann
eröfinen sich überraschende Ausblicke auf das weite Feld der angewandten Psycho-
logie, aus dem R. ein Kapitel auswählte, aber die Seelsorge wird auch als ein
psychotherapeutisches Mittel ersten Ranges, als ein Naturheilmittel ohne die
„mechanischen Nachtheile'' etwa der Suggestion begriffen. Das Evangelium will ja
den Optimalwerth für egopetale wie egofugale Functionen, kurz für die Psychik des
,.ganzen Menschen** darstellen (vgl. Evang. Johannis 10, 11). Solche vertiefte
Verknüpfung von Psychiatrie und Seelsorge würde beiderlei Thatsachen besser aus-
söhnen, als Römer wollte und konnte nach dem Herkommen früherer Versuche.
G. Vorbrodt.
^) Die Naturwissenschaft ist erst zu dem heutigen Erfolge vorgedrungen,
seitdem sie von der „Empirie** zur Theorie aufstieg. Zur Theorie der Psychologie
gehört namentlich auch die Psycho b i o logie, und diese ist wiederum nicht nur
Bio genese, wie die physiologische Biologie mit der überwiegenden Betrachtung
des Entstehens, sondern auch nach Analogie eines Vitalismus Psychobio k i n e s e
mit der Betrachtung der Functionen innerhalb der fertigen „Sphären** (Asso-
ciationssph.), Centren, Systemen u. dergl.
376 Referate and Beeprechongen.
Dr. M, Abramcwicz, Behandlung des chronischen Alcoholismus
yermittels des Hypnotismus. (Gaaeeta lekardca. J. 1899. Nr. 79 n. 80l)
Nach mehr als 6 jähriger Erfahrung im Gebiete der Behandlung- des efaro-
nischen Alcoholismus kommt der Verfasser zu folgenden Schlüssen : 1. Die hypno-
tische Behandlung des chronischen Alcoholismus giebt nicht minder gute Brfolge,
als die Behandlung in speciellen Anstalten. Sie verzeichnet um vieles bessere
Resultate im Vergleiche mit pharmaceutischen Mitteln, die hauptsächlich blos
suggestiv wirken. 2. Die hypnotische Behandlung ist leichter ausfahrbar, als die
in Anstalten. Sie ist billiger und bequemer, weniger zeitraubend, sie stört nicht
die Patienten in ihrer Fachbeschäftigung. 3. Der Hypnotismus ist am erfolg-
reichsten bei reifen, geistig und moralisch entwickelten Patienten, die also ihre
Leidenschaft los werden wollen. Solche sind binnen kurzer Zeit heilbar. 4. Bei
längerer, Jahre dauernder Behandlung ist jeder Alcoholiker heilbar, wenn er nicht
hereditär belastet, geisteskrank oder stark degenerirt ist und wenn er langdaoemdem
Einflüsse ausgesetzt ist. 5. Man soll den Kranken in Schlaf versetzen, während
er in normalem Geisteszustand ist. Es kann jedoch der Patient (obwohl schwer)
sogar im Zustande acuter Intoxication eingeschläfert werden, wobei der be-
ruhigende Einfluss des Hypnotismus auf das alcoholische Irresein sichtbar ist. 6. Dss
radicale Unterbrechen des Alcoholgenusses ruft nicht ein Delirium hervor, kann es im
Gegentheil zum Verschwinden bringen. 7. Wenn der Patient schon während der
Behandlung nicht zum Entbehren des Alcohols zu bewegen ist, ist er als unheilbar zu
betrachten. 8. Wenn die Behandlung über ein Jahr dauert, sollen die Zwischen-
zeiten zwischen den Sitzungen immer grösser werden. 9. Das Verbinden der
hypnotischen mit der pharmaceutischen Behandlung giebt keine besseren Resultate,
als die hypnotische Behandlung allein. 10. Die Suggestion, welche zwar schon bei
leichtem Schlafe oder sogar auf den wachen Patienten eine wohlthuende Wirkung
hat, ist jedoch im tiefen Schlafe am erfolgreichsten. 11. Die Behandlung ver-
mittels des Hypnotismus ist am besten in gehörigen Anstalten zu vollziehen.
12. Die correcte hypnotische Behandlung ruft weder Complikationen hervor, noch
schädigt sie die Gesundheit des Patienten und beschränkt nicht seine Individualitat.
Dr. M. Blassberg-Krakau.
Dr. S. Hiffierf Ueber specifischen Dämmerzustand des Bewusst-
seins in der posthypnotischen Periode. (Gazeta lekarska. J.1899. Nr.41.)
Der Verfasser beobachtete binnen einigen Jahren oft einen Dämmerzustand
bei Hypnotisirten in der po8th3rpnotischen Periode, der sich in falschem Begriffe
der Zeit und des Ortes, Sinnlosigkeit und Naivität der Antworten und gedämmertem
Bewusstsein, jedoch ohne Sinnestäuschungen äusserte. Er ist dem, von Ganser
und Binswanger als „speeifisch hysterischen^ beschriebenem, aber auch bei
Psychosen vorkommenden Dämmerzustande ganz ähnlich.
Dr. M. Blassberg-Krakau.
Dr. M. Smtakkiy Ueber Suggestivbehandluug des perversen
Sexualtriebes bei Männern. (Przegl^d lekarski. J. 1899. Nr. 22.)
Der Verfasser beschreibt einen Fall, den er in der psychiatrischen Klinik
von Prof. Krafft-Ebing beobachtete. Er betraf einen jungen Mann, der wegen
acquirirten perversen Sexualtriebes (Masturbatio, Coitus inter femora, Immissio
Beferate und Besprechungen. 377
penis in os) und wegen Alcoholismus in der Klinik behandelt wurde. Nach
16 Sitzungen, in denen Suggestionen im tiefen hypnotischen Schlafe gegeben
wurden, rerliess der Patient als geheilt die Klinik.
Dr. M. Blassberg-Krakau.
M, Menddsohn, Hypurgie. Separatabdruok aus der Bealencyklopädie der
gesammten Heilkunde. Herausgeber Prof. Dr. A. Eulenburg, Berlin. Zweite
Auflage. Urban u. Schwarzenberg, Wien und Leipzig.
„Hypurgie ist die auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhende Lehre von
der Verwendung der Mittel der Krankenpflege zur Herbeiführung therapeutischer
Effecte.^ vTtov^yeXv bedeutet Hilfsmittel, Unterstützungsmittel anwenden. Nach
Ansicht des Verfassers war die Schafifung einer solchen Benennung unerlässlich,
da das Wort Krankenpflege auch noch die Begriffe Krankenversorgung und
Krankenwartung umfasst. Unter Krankenversorgung versteht der Verfasser y,die
Institutionen und Vorsorgen, welche es ermöglichen, dass ein jeder Kranke, auch
in der bedrängtesten Situation und gegenüber einem noch so gehäuften Bedürfnisse,
zu jeder Zeit und an jedem Orte ein zureichendes Unterkommen, eine möglichst
ausreichende Behandlung und Pflege finde.^ Theilweise wird denn auch das, was
unter diese beiden Begriffe fällt, ausgeschieden.
Der gewünschte therapeutische Effect soll in möglichst milder Weise herbei-
geführt werden, das ist der Standpunkt, von dem der Verfasser ausgeht. Mit der
Herrschaft der nichts-als-arzneilichen Therapie ist es zu Ende. Nicht nur allein
die grossen Dosen führen zum Ziele, sondern die bewusste und anhaltende Ver-
wendung kleiner Gaben zeitigt oft die gleichen, wenn nicht bessere Resultate, ja
die Gombination verschiedener, nach gleicher Bichtung hin wirkender Arznei-
körper in recht kleinen Dosen übt unter Umständen vortheilhaftere Wirkung aus
als ein einzelnes reichlicher bemessenes Heilmittel, allein schon durch die Aus-
schaltung der mit grossen Gaben fast immer einhergehenden Nebenwirkungen.
In Folge dieser Erwägungen hält Verfasser eine grössere Berücksichtigung der
Heilmittel der Krankenpflege für dringend geboten.
Der Stoff gliedert sich in zwei Theile: a) die Krankenpflege und ihre Heil-
mittel; b) die therapeutische Wirkung der Krankenpflegeheilmittel.
Unter den Heilmitteln der Krankenpflege sind auch die psychischen Mittel
erwähnt. Verfasser ftihrt die therapeutische Wirkung der Ablenkung und Zer-
streuung an. Ferner macht er auf den Effect einer zweckmässigen Gestaltung und
Einrichtung des Krankenzimmers aufmerksam, um endlich die Beschäftigung der
Patienten und ihren Umgang mit dem Arzt und dritten Personen als Heilmittel
zu erwähnen. Weil der Baum, der dem Verfasser zu Gebote stand, jedoch sehr
beschränkt war, konnte nicht mehr wie ein Hinweis gegeben werden.
Im zweiten Theil werden die hauptsächlichsten therapeutuchen Einwirkungen,
für deren Beeinflussung in der internen Medicin sich Indicationen ergeben, fest-
gesteUt; so die schlaf machende Wirkung der Krankenpflegeheilmittel, die anästhe-
sirende Wirkung, die tonisirende Wirkung u. s. w.
Aus dem Absatz über die schlafmachende Wirkung der Krankenpflegeheil-
mittel möchte Ref. noch die Ansichten des Verfassers über das Zustandekommen
des Schlafes erwähnen. „Der natürliche Schlaf kommt durch eine functionelle
Unthätigkeit der Gehirnzellen zu Stande, durch eine Herabsetzung von deren
378 Referate und Besprechungen.
Function ; eine Functionsherabsetzung, welche stets mit einem Zustande von Anämie
verbunden ist, und die zum Teil von dieser Anämie abhängt, zum Theil durch
direct wirkende Substanzen, welche Producte der allgemeinen Gewebsabnutzung
während des Lebensprocesses und des Stofifwechsels sind und die sich in den Zellen
des Gehirns und in deren Umgebung anhäufen, hervorgerufen wird." — Gründe,
die gegen diese Theorie, sprechen, sind den Lesern der Zeitschrift für Hypnotismus
wohl hinreichend bekannt.
Die Krankenpflegehiilmittel, die der Verfasser anführt, wie Regelung der
körperlichen Bewegungen in der Zeit, welche dem Schlaf mehr oder minder un-
mittelbar vorangeht; systematische Fernhaltung aufregender Eindrücke u. s. w.,
wirken suggestiv ; ausdrücklich erwähnt werden aber Suggestion und Hypnose auch
da nicht, wo Verfasser die medicamentösen und andersartigen Schlafmittel erwähnt.
Auch bei der Besprechung der purgirenden Wirkungen der Krankenpflege-
heilmittel vermisst man die Anführung der Suggestion.
Isenberg- Berlin.
E, W. Scripture, The new psychology. London 1897. Walter Scott,
Ltd. Paternoster Square. 600 S.
The new psychology nennt der Verfasser sein Werk, um damit gleich anzu-
deuten, dass er der lediglich speculativen Erforschung psychologischer Thatsachen
ablehnend gegenübersteht. Er hütet sich jedoch in die andere Einseitigkeit zu
verfallen und nur die durch Anwendung von physikalischen und rechnerischen
Methoden gewonnenen Resultate gelten zu lassen. Beides soll den gebührenden
Platz erhalten, die Selbstbeobachtung und die objective FeststeUung der Thatsachen.
In seinem Werke wollte der Verfasser „die springenden Punkte und funda-
mentalen Methoden" der Psychologie ohne grosse Ueberlastung mit Detail der
Kenntniss vermitteln. In der Einleitung bespricht der Verfasser die Mittel, die
uns dienen, um unsere Beobachtungen und die daraus zu ziehenden Schlüsse mög-
lichst cxact zu gestalten. In dem Haupttheil werden die einzelnen psychologischen
Methoden und die damit gewonnenen Ergebnisse unter den Rubriken Zeit, Energie
und Raum vereinigt. Im Schlusstheil wird ein kurzer Abriss der Geschichte der
Psychologie gegeben. Durch Einschaltung von vielen Abbildungen und Kurven
wird der Text anschaulicher gemacht.
Obgleich der Verfasser die Wichtigkeit der Selbstbeobachtung in der Ein-
leitung betont, kommt sie doch viel zu wenig zu ihrem Rechte. Man kann wohl
sagen, dass der Verfasser in übergrosser Vorsicht — die mit Hülfe von Apparaten
gewonnenen Thatsachen berücksichtigte, bei denen die Selbstbeobachtung entweder
gar nicht oder nur in beschränktem Maasse nöthig war. Ganze Gebiete fallen in
Folge dessen fort oder finden nur eine nur streifende Berücksichtigung. Um nur
einige herauszugreifen, auf die Frage nach dem Bewusstsein, der Hypnose u. s. w.
findet man keine Antwort, die Psychologie der Sprache u. s. w. fehlt. Das Kapitel
über „Time of volition" beginnt z. B.: „Ausser den Empfindungen beobachten wir
verschiedene Processe, die wir für gewöhnlich willkürliche Vorgänge oder Willens-
akte nennen." Eine weitere Definition des Begriffes Willen wird nicht gegeben.
Die Gefühle werden nur mit einem kurzen Kapitel bedacht, vom Schlaf wird nur
über die wechselnde Tiefe berichtet. Man wird eben durch den Titel verleitet,
mehr zu erwarten, als der Verfasser zu geben beabsichtigt hat. Ueber die ein-
Beferate und Besprechungen. 379
zelnen Apparate* zu psychologischen Experimenten über die Art und Weise des
Experimentirens und über die kritische Verarbeitung des so gewonnenen Materials
kann man sich jedoch sehr gut orientiren. Is enb er g- Berlin.
H. Oppenheim^ Nervenkrankheiten und Leetüre. Deutsche Zeitschrift
für Nervenheilkunde, S. 242—253.
Auf Grund von Erfahrungen, die Verf. in seiner Praxis gemacht hat, kommt
er zu dem Schlüsse, dass die in unserer modernen Literatur und namentlich in
der Tagespresse sich immer mehr geltend machende Sucht nach der Darstellung
von Krankheitszuständen und Krankheitserscheinungen als eine Gefährdung des
Volkswohls anzusehen ist. Derartige Darstellungen bilden besonders für Nervöse
und n«rvös Veranlagte eine reiche Quelle für krankhafte Ideengänge. Aus dem-
selben Grunde rügt Verf. die Unsitte, dass über die Vorträge, die in ärztlichen
Gesellschaften, Congressen und dergl. gehalten werden, Mittheilungen in die Tages-
presse gelangen. Gegen eine vernünftige Aufklärung des Publikums hat Verf.
natürlich nichts einzuwenden. Ebenso zieht Verf. mit beredten Worten gegen
diejenigen zu Felde, die die Wissbegier des Publikums in reklamehafter Weise für
bestimmte Zwecke, für ihr persönliches Interesse, oder für das Interesse eines Gur-
ortes, einer Heilanstalt, eines Heilmittels u. s. w. auszubeuten suchen, da gewöhnlich
auch derartige Schriften eine Menge Material enthalten, das einen ungünstigen
Einfluss auf leicht erregbare Menschen auszuüben im Stande ist.
Hier möchte Bef. noch ergänzend hinzufügen, dass derartige Schriften im
Verein mit den marktschreierischen Annoncen, die man in vielen Tagesblättern,
ja sogar Witzblättern findet, bei der oft plumpen Art, mit der sie das Publikum
für ein bestimmtes, den wissenschaftlichen Forschungen und bewährten Erfahrungen
oft hohnsprechendes therapeutisches Verfahren zu gewinnen suchen, geeignet sind,
in weiten Kreisen das Ansehen des Aerztestandes zu schmälern, und das Vertrauen
zum Arzte zu untergraben. Wer sich speciell mit den functionellen Nervenkranken
zu beschäftigen hat, der weiss die grosse Macht des Vertrauens zu würdigen, und
wird stets ein ausgesprochener Feind dieses Unwesens sein.
Verf. weist femer kurz hin auf den die Nervosität fördernden Einfluss der
Mord-, Baubmord-, Lustmord-, Selbstmord-Berichte.
Was die schöngeistige Literatur betrifft, so steht Verf. der modernen Bichtung,
das Pathologische zur Darstellung zu bringen, feindlich gegenüber. Ais besonders
schädlich hebt Verf. die Behandlung des Sexuellen in der modernen Literatur
hervor.
Zum Schluss behandelt Verf. die Frage, welche Leetüre vom sanitären Stand-
punkt empfohlen werden darf. Als ein wandsfrei gelten ihm die einfach belehrenden
wissenschaftlichen Schriften und Werke, soweit sie der geistigen Befähigung und
Auffassungskraft des Lesers angepasst sind und sich von den oben näher bezeich-
neten Wissensgebieten fernhalten. Bei der Prüfung des Poetischen glaubt Verf.
die Werke von Dickens, Cervantes und Beuter als ein vortreffliches Diätetikum
der Seele erklären zu können. Die Aufstellung allgemeiner Satzungen erscheint
ihm bei der Verschiedenheit der individuellen Bedürfnisse und Empfänglichkeit
unmöglich. Den ästhetischen Genuss hält Verf. für eine Heilpotenz von grossem
Werthe. p van Straaten -Berlin.
380 Referate and Bespreehnngeo.
MoehiuMj P. J., Dr. med. et pkü, Vermifclite Anfsätie. Hell V der
neurologischen Beiträge. 1898.
Im jöngiten Hefte seiner neurologischen Beitrage hat Moebias eine A««mlil
Ton Ao&atsen sosammengestellt, die schon an anderer Stelle pnblicirt sind. Nor
drei derselben behandeln Tliemata ans der neurologischen Kasuistik. nSmlieh IL
A. üeber Hemihjpertrophie. B. Zur Lehre Ton der Osteoarthropathie hypertro-
phiante pneniniqae. C. lieber Acromegalie.
Die fibrigen 17 Aointse behandeln Fragen allgemeinen Interesses, sind im
firischen, lebhaften Stil geschrieben und regen theils in freudigem BeifalL theils za
lebhaftem Widersprach an.
In der 1., 2. und 14. Abhandlang betont der Verfiuser mit Recht den endo-
genen ürsprong so vieler krankhafter Zustande, besonders der Nerrenkrankheiten.
Aber aus der Eintheilung der Krankheitsursachen in äussere und innere auch eine
Eintheilung der Krankheiten selbst in exogene und endogene xu constmiren, halten
wir für Terfehlt, da bei den meisten pathologischen Zuständen sowohl äussere wie
innere Momente ätiologisch betheiligt sind.
Den grossten Raum nehmen die Aufiätse ein, in denen Moebins in mehr
oder weniger geschickter und mehr oder weniger Tcrsteckter Weise seine bekannte
Anregung mr Errichtung Ton Nerrenheilstätten für Minderbemittelte auaspinnt
Sogar die begeisterte Schilderung des für das katholische Ordenswesen durchaus
nicht typischen CSiartreuser Klosters muss diesem Zwecke dienen.
Minderwerthig sind die Auftätse, in denen der Verfasser sich auf das Gebiet
der Staats- und Gesellschaftswissenschaften bsgiebt, so in dem Aufintz über die
Veredelung des menschlichen Geschlechts. Materiell sntreffend und sogleich formeU
ToUendet ist dagegen, was uns Moebius cum Schluss über Chereot und den
theologisirenden Leipziger Irrenarzt Heinroth zu sagen weiss.
Gro tj ahn - Berlin.
Lippert k Co. (O. Pitx'scbe Bn^dr.), ¥
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