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Full text of "Zeitschrift für Politik"

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Zeitschrift  für  Politik 

Sechster  Band 


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Zeitschrift  für  Politik 


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Herausgegeben 
von 

Dr.  Richard  Schmidt  und  Dr.  Adolf  Grabowsky 

Leipzig  Berlin 


Sechsten  Band 


BERLIN 

Carl   Heymanns   Verlag 

1913 


Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld,  Hofbuchdrucker.,  BerliE  "W  8 


JA 

/V 


Verlags-Archiv  5491 


Inhaltsverzeichnis  zum  sechsten  Band 


A.  Abliandhinoen 

~  Seite 

Bergsträßer,  Ludwig:  Die  parteipolitische  Lage  beim  Zusamnieu- 

tritt  des  Vorparlameuts 594 

Blum,  Johannes:  Budgetrecht  und  Fiuanzpraxis 346 

Koellreutter,  Otto:  Einzelstaat  und  Provinz.  Eine  staatsrechtliche 

und  politische  Betrachtung 621 

Landsberg,    Ernst:    Die    Instruktion   der   Preußischen    Lnmediat- 

Justiz-Kommission  für  die  Rheinlande  von  1816  ....  171 
Mayer,    Gustav:    Die   Anfänge    des   politischen   Eadikalismus    im 

vormärzlichen  Preußen.      (Mit   einem  Anhang:  Unbekanntes 

von  Stirner) 1 

Michael,  Wolfgang:    Die    Entstehung   der   Kabinettsregierung   in 

England " 549 

Niedner,  Johannes:  Die  Geschäftsform  der  Behörden      ....  159 

Eehm,  Hermann:  Der  katholische  Konservatismus 151 

Spender,     J.    Alfred:     Die     Grundlagen    der    britischen    Politik. 

(Übersetzt  und  eingeleitet  von  Arnold  X.  Eennebarth)     .      .  115 

Zweig,  Egon:  Das  parlamentarische  Enqueterecht 265 

B.  Zum  Stand  der  politischen  Probleme  (Zusammen- 
fassende und  vergleichende  Übersichten) 

V.  Bar  -j-,  Ludwig:  Die  Finnische  Frage 649 

Fahlbeck,  Pontus:  Der  Geburteni'ückgang 657 

Hintze,   Otto :  Die  schwedische  Verfassung  vmd  das  Problem    der 

konstitutionellen  Regierung 483 

Hubrich,  Eduard :  Die  Mischeheufrage  in  den  deutschen  Kolonien  498 

Reinsch,  Paul  S. :  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten  186 
Rudioff,  Hans  L. :  Bäuerliche  Bevölkerung  und  politische  Parteien 

in  Deutschland  und  Frankreich 664 

Tobolka,  Zdenek:  Der  Panslavismus 215 

Wegener,  Georg:  Chinas  Erwachen 202 


^  I  luhaltsverzeichnis  zum  sechsten  Band. 


C.  Besprechungen  g^.^^ 

V.  Böckmann,  Kurt:    Die    Geltung   der   Eeichsverfassung   in   den 

deutschen  Kolonien  (Friedricli  Griese) 507 

Böhtlingk,   Arthur:    Bismarck    und    das    päpstliche    Rom    (Fritz 

Schillmann) 528 

Dambitsch,  Ludwig:    Die  Verfassimg  des  Deutscheu  Eeichs,    mit 

Erläuterungen  (Friedrich  Giese) 247 

Dietzel,   Heinrich:    Ki-iegssteuer    oder    Kriegsanleihe?    (Wilhelm 

Gerloff) 704 

V.  Dimgern,  Frh.  Otto :  Das  Staatsrecht  Ägyptens  (Kurt  Weigelt)     249 

Faust,  Albert  B.:   Das    Deutschtum   in    den  Vereinigten   Staaten 

in    seiner    geschichtlichen    Entwicklung    (Paul   Darmstädter)     520 

V.  Grabmaj^r,  Karl :  Von  Badeni  bis  Stüi-gkh.    Gesammelte  Reden 

(Richard  Charmatz) 534 

Graßmann,  Joachim:  Deutsche  Konsularberichterstattung  (Beruh. 

V.  König) 706 

V.  Hoensbroech,  Graf  P. :  Rom  und  das  Zentrum  (Fritz  Schillmann)     528 

Jahrbuch  des  öffentlichen  Rechts  Band  IV  und  V  (G.  J.  Ebers)     545 

Janson,  Friedrich:  Fichtes  Reden  an  die  deutsche  Nation.  Eine 
Untersuchung  ihres  aktuell-politischen  Gehaltes  (Franz 
Fröhlich) 522 

Jörns,  Auguste:  Studien  über  die  Sozialpolitik  der  Quäker  (Carl 

Brinkmann) 671 

Kißling,  Johannes  B. :  Geschichte  des  Kulturkampfes  im  Deut- 
schen Reiche.  Erster  Band:  Die  Vorgeschichte  (Fritz  Schill- 
mann)     528 

Koigen,  David:  Ideen  ziu-  Philosophie  der  Kultur.    Der  Kultiu-akt 

(Horst  Kollmann) 701 

Lempp,  Otto :  Das  Problem  der  Theodizee  in  der  Philosophie 
und  Literatur  des  18.  Jahrhunderts  bis  auf  Kant  und  Schiller 
(Horst  Kollmann) 260 

Liebig,  Hugo:  Über  die  marxistisch-sozialdemokratische  Gedanken- 
welt  und   die  Grenze  des  Sozialismus  (Franz  Oppenheimer)     264 

Lloyd  George:  Bessere  Zeiten  (Carl  Brinkmann) 236 

Loesche,     Georg:    Von     der     Duldung     zur     Gleichberechtigung 

(Richard  Charmatz) 689 

Loesche,   Georg:   Von    der    Toleranz    zur   Parität   in   Österreich 

1781—1861   (Richard  Charmatz) 689 

Luzatti,  L.:  Freiheit  des  Gewissens  und  Wissens.     Studien  zur 

Trennung  von  Staat  und  Kirche   (Karl  Rothenbücher)      .      .     515 

Marbiu-g,  Jessie:  Die  sozialökonomischen  Grimdlagen  der  eng- 
lischen Armenpolitik  im  ersten  Drittel  des  XIX.  Jahr- 
hunderts (Carl  Brinkmann) 671 

Marczali,  Heinrich:  Ungarisches  Verfassungsrecht  (Nagy  v.  Eötte- 

veny) ' 691 

Mayer,  E.  W. :  Machiavellis  Geschichtsauffassung  und  sein  Begriff 

virtü  (Carl  Brinkmann) 671 


lulialtsverzeichnis  zum  sechsten  Band.  VII 

Seite 

Mayer,  Gustav :  Die  Trennung  der  proletarischen  von  der  bürger- 
lichen Demokratie  in  Deutschland  (1863 — 70)  (Gerhard  Ritter)     523 

Meyer,  Georg:  Lehrbuch  des  deutschen  Verwaltungsrechts.  Nach 
dem  Tode  des  Verfassers  in  dritter  Auflage  bearbeitet  von 
Franz  Dochow  (Karl  Kormanu) 240 

Neuhaus,  Georg:  Die  deutsche  Volkswirtschaft  und  ihre  Wand- 
lungen im  letzten  Vierteljahrhundert.  Die  berufliche  und 
soziale    Gliederung    des    deutschen  Volkes    (Friedrich  Zahn)     546 

Oertmann,   Paul:    Die    staatsbürgerliche   Freiheit    uud    das    freie 

Ermessen  der  Behörden  (Richard  Thoma) 239 

Oncken,  Hermann:  Lassalle  (Gustav  Mayer) 677 

Parow,  Walter:  Die  Englische  Verfassung   seit  100  Jahren    und 

die  gegenwärtige  &isis  (Carl  Brinkmann) 236 

V.  Peez,   A.    und   P.  Dehn:    Englands   Vorherrschaft.      Aus    der 

Zeit  der  Kontinentalsperre   (Carl  Brinkmann) 671 

Reven,  Viktor:  Die  Fremdenlegion  (Karl  Frh.  v.  Stengel)      .     .     684 

Robertson,  John  M. :  Patriotismus  —  Militarismus  —  Imperialis- 
mus. Aus  dem  Englischen  übertragen  von  Karl  Hanselmaun 
(Carl  Brinkmann) 236 

Schiff,  Emil:  Kleingewerbliche  Werkstättenhäuser.  Plan  eines 
Erwerbsunternehmens  zur  Förderung  des  Kleingewerbes 
(Alfred  Schulte) 547 

V.  Schwerin-Löwitz,  Graf  Hans:  Aufsätze  und  Reden  aus  Anlaß 

seiner    zehnjährigen   Präsidentschaft    (Eugen   Fridrichowicz)     707 

Seligmann,  Richard:  Die  staatsrechtliche  Stellung  des  deutschen 

Reichstagspräsidenten  (Kurt  Pereis) 514 

Simon,  Fritz :  Englische  Stadtverwaltung  (Carl  Brinkmann)    .     .     236 

Spangenberg,  H.,  Vom  Lehnstaat  zum  Ständestaat  (Carl  Brinkmann)     671 

Spann,    Othmar:    Zur    Soziologie    und   Philosophie    des   Krieges 

(Adolf  Grabowsky) 518 

Squillace,  Fausto:  Die  soziologischen  Theorien  (Alfred  Vierkandt)     263 

Steffen,  Gustaf  F.:  Die  Demokratie  in  England.  Einige  Be- 
obachtungen im  neuen  Jahrhimdert  imd  ein  Renaissanceepilog 
(Carl  Brinkmann) 236 

V.  Wertheimer,  Eduard:  Graf  Julius  Andrässy,  sein  Leben  und 
seine  Zeit.  Nach  ungedruckten  Quellen.  I.  Band.  Bis  zui- 
Ernennung  zum  Minister  des  Äußern  (Fritz  Härtung)     .     .     256 

V.  Wiese,  Leopold:  Posadowsky  als  Sozialpolitiker.  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  Sozialpolitik  des  Deutschen  Reiches 
(W.  Ed.  Biermann) 255 

Wilke,  Alfred:  Probleme  der  Verwaltung  im  Industriebezirk 
mit  besonderer  Berücksichtigung  des  rheinisch-westfälischen 
Kohlendistrikts.  Eine  verwaltungspolitische  Studie  (Walter 
Saran) 541 

Wygodzinski,    W. :    Das    Genossenschaftswesen    in    Deutschland 

(Alwin  Petersilie) 536 

Sach-  und  Namenregister 707 


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Autoreiiregister 


Seite 
V.  Bar  -j",  Ludwig,   Geh.  Ju- 
stizrat, Prof.  Dr.     .     .     .  649 
Bergsträßer,    Ludwig,    Pri- 

vatdoz.  Dr 594 

Biermann,  W.  Ed.,  Prof.  Dr.  255 

Blum,  Johannes,  Dr.  .     .     .  346 

Brinkmann,  Carl,  Dr.  .      236,  671 

Charmatz,  Richard       .      584,  689 

Darmstädter,  Paul,  Prof.  Dr.  520 

Ebers,  G.  J.,  Prof.  Dr.   .     .  545 

V.  Eötteveny,  Nagy,  Prof.  Dr.  691 

Fahlbeck,  Pontus,  Prof.  Dr.  657 

Fridrichowicz,  Eugen,  Dr.    .  707 

Fröhlich,  Franz,  Prof.  Dr.  .  522 

Gerloff,  Wilhehn,    Prof.  Dr.  704 

Giese,  Friedr.,  Prof.  Dr.    247,  507 

Grabowsky,  Adolf,  Dr.     .     .  518 
Härtung,    Fritz,     Privatdoz. 

Dr 256 

Hintze,  Otto,  Prof.  Dr.   .     .  483 

Hubrich,   Eduard,   Prof.  Dr.  498 
Kollmann,  Horst,  Privatdoz. 

Dr 260,  701 

Koellreutter,    Otto,    Privat- 
doz. Dr 621 

V.    König,    B.,    Wirkl.    Geh. 

Legationsrat 706 

Kormanu,   Karl,    Privatdoz. 

Dr 240 

Laudsberg,  Ernst,  Prof.  Dr.  171 


Seite 
Mayer,  Gustav,  Dr.  .  .  1,  677 
Michael,  Wolfgang,  Prof.  Dr.  549 
Niedner,  Johannes,  Prof.  Dr.  159 
Oppenheimer,  Franz,  Privat- 
doz. Dr 264 

Pereis,  Kurt,  Prof.  Dr.  .     .  514 
Petersilie,   Alwin,    Geh.  Ee- 

gierungsrat,  Prof.  Dr.       .  536 

Eehm,   Hermann,    Prof.    Dr.  151 

Eeinsch,   Paul  S.,   Prof.  Dr.  186 

Eitter,  Gerhard,  Dr.    .     .     .  528 

Eothenbücher,  Karl,  Prof.  Dr.  515 

Eudloff,  Hans  L 664 

Saran,  Walter,  Stadtrat  Dr.  541 
Schillmanu,  Fritz,  Dr,     ,     ,  528 
Schulte,  Alfred,  Ing.  .     .     .  547 
Spender,    J.    Alfred,    Chef- 
redakteur     114 

V.  Stengel,  Frhr.  Karl,  Geh, 

Eat  Prof.  Dr 684 

Thoma,  Richard,  Prof.  Dr.  .  239 
Tobolka,  Zdeuek,  Universi- 
tätsbibliothekar, Dr.  .  .  215 
Vierkandt,  Alfred,  Prof.  Dr.  268 
Wegener,  Georg,  Prof.  Dr.  202 
Weigelt,  Kurt,  Dr.  .  .  ,  249 
Zahn,  Friedrich,  Ministerial- 
rat Prof.  Dr 546 

Zweig,   Egon,    Ministerialrat 

Dr 265 


2cichc:i; 
Nummer; 


Abhandlungen 


I. 
Die  Anfänge  des  politischen  Radikalismus  im  vor- 
märzlichen Preußen 

(Mit  einem  Anhang:  Unbekanntes  Yon  Stirner) 
Von  Dr.  Gustav  Mayer 


Inhalt: 


I.  Das  "Wesen  der  politischen  Partei  und  die 
Entstehung  von  Parteien  in  Preußen. 

II.  Die  Diskussion  über  die  Notwendigkeit 
von  Parteien.  Das  Hindrängen  des  „Ge- 
dankens" zur  „Tat". 

III.  Friedrich  "Wilhelm  IV.  und  die  Jung- 
hegelianer. 

rV.  Die  Zensurpolitik  des  Königs  und  ihre 
Folgen.  Liberalismus  und  Radikalismus. 
V.  Der  Kampf  zwischen  der  Regierung  und 
der  Rheinischen  Zeitung. 

VI.  Die  Anfänge  einer  radikalen  Opposition  in 
Berlin. 


"Vn.  Bruno  und  Edgar  Bauer. 

"VIII.  Der  Kampf  der  „Freien"  gegen  den 
„christlichen  Staat". 

IX.  Der  Radikalismus  und  „der  Staat". 

X.  Der  Bruch  des  politischen  mit  dem  philo- 
sophischen Radikalismus. 

XI.  Der  Radikalismus  und  das  Problem  der 

„Masse". 

XII.  Die  Auflösang  des  philosophischen  Radi- 
kalismus und  sein  Bruch  mit  der  prak- 
tischen Politik. 


Frei  in  Wort  und  Schrift  und  wenig  behindert  durch  die 
Regierung  ringen  heute  unsere  pohtischen  Parteien  um  den 
Anteil  an  der  Gestaltung  der  heiroischen  Zustände,  den  eine 
festgefügte  Staatsge"walt  ihnen  überläßt.  Wie  heben  sich  von 
dieser  Freiheit  der  politischen  Betätigung  die  Polizeischranken 
ab,  "welche  die  Anfänge  eines  Parteilebens  in  Preußen  umgaben, 
als  noch  keine  Parlamentstribüne  bestand,  "weder  politische 
Versammlungen  und  Vereine  noch  Leitartikel  gestattet  "waren 
und  die  Zensur,  diese  Guillotine  des  Geistes,  selbst  das  Werben 
für  politische  Überzeugungen  durch  Druckschriften  so  gut  wie 
verhinderte!  Bloß  im  mündlichen  Verkehr  von  Mensch  zu 
Mensch  oder  in  Briefen,  die  häufig  noch  das  schwarze  Kabinett 
der  postalischen  Polizei  ^)  zu  passieren  hatten,  vermochte  man  über 

^)  Vgl.  „Das  schwarze  Postkabinet  in  Preußen"  in  Einundzwanzig  Bogen 
aus  der  Schweiz,  herausgeg.  von  Herwegh.     Zürich  u.  Winterthui'  1843. 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  1 


2      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

öffentliche  Fragen  seine  Gedanken  auszutauschen.  Aber  auf  die 
Gesinnungen  weiterer  Kreise  konnten  weder  Privatbriefe,  auch 
wenn  sie,  wie  es  übhch  war,  im  Freundeskreis  herumgingen, 
noch  der  Verkehr  von  Tisch  zu  Tisch  zwischen  den  Stamm- 
gästen der  Konditoreien  und  Bierlokale  annähernd  jene  Richtung 
gebende,  Forderungen  herausarbeitende  und  zusammenfassende 
Wirkung  ausüben,  wie  sie  heute  von  dem  politischen  Leitartikel 
einer  verbreiteten  Tageszeitung  ausgeht,  der  von  vielen  Tausenden 
gelesen  wird. 

Nun  beschäftigte  sich  freilich  in  den  trägen  Jahrzehnten,  die 
auf  die  Hochspannung  der  Befreiungskriege  folgten,  und  sonder- 
lich nach  dem  Abflauen  der  burschenschaftlichen  Bestrebungen 
das  preußische  Publikum  nur  wenig  mit  Staatsangelegenheiten. 
Denn  die  bureaukratisch-patriarchahsche  Regierung  Friedrich 
"Wilhelms  III.  nahm  die  auswärtige  wie  die  innere  Politik  als 
ein  Monopol  in  Anspruch,  um  das  sich  ,,der  beschränkte  Unter- 
tanenverstand" nicht  kümmern  sollte.  Hinter  dicht  verschlos- 
senen Türen  arbeitete  damals  die  Staatsmaschine,  und  die  kleine 
Elite  der  Bevölkerung,  die  sich  bereits  für  Politik  interessierte, 
mußte  schon  zufrieden  sein,  wenn  gelegentlich  durch  Klatsch 
oder  auf  dem  Umweg  über  die  Leipziger  Allgemeine  Zeitung 
Indiskretionen  liberaler  Beamter  zu  ihrer  Kenntnis  gelangten. 
Dies  konnte  hingehen,  solange  keine  außerordentlichen  Ereignisse 
eintraten  und  die  Krone  unter  Friedrich  Wilhelms  III.  langer 
Regierungszeit  sich  zurückhielt.  Auf  religiösem  und  wissen- 
schaftlichem Gebiet  hatte  das  Bedürfnis  nach  Freiheit  seit 
dem  Zeitalter  der  Aufklärung  im  preußischen  Volk  immer 
mehr  Boden  gefaßt,  aber  es  mußten  erst  starke  Impulse  einwir- 
ken, bis  auch  hier  der  Ruf  nach  Befreiung  von  der  bestehen 
den  politischen  Bevormundung,  der  in  Süddeutschland  schon 
längst  erscholl,  deutlicher  hörbar  wurde!  Zwar  blieb  die  mann- 
hafte Haltung  der  sieben  Göttinger  Professoren  bei  dem  Ver- 
fassungsbruch in  Hannover  nicht  ohne  Widerhall  in  Preußen; 
aber  weitere  Kreise  ergriff  das  Verlangen  nach  Teilnahme  an 
den  öffentlichen  Dingen  erst,  als  Friedrich  Wilhelm  IV.  den 
Thron  bestieg,  persönlich  hervortrat  und  überall  Hoffnungen 
weckte  und  wieder  auslöschte.  Wie  langsam  gewöhnte  sich 
unser  Bürgertum,  die  Politik  als  ein  auch  ihm  zugäng- 
liches Bereich  anzusehen!  Noch  1847  verglich  der  Pommer 
Robert  Prutz^)  seine   Landsleute   mit  Kindern,    die   sich   wohl 


')  Zehn  Jahre,  Bd.  I  S.  11  ff.     Leipzig  1850. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      3 

seit  kurzem  von  ßreisüppchen  entwöhnt  hätten,  denen  aber 
Brot  und  Fleisch  noch  immer  nicht  munden  wollten.  ,,Wir 
haben  keine  Parteien",  klagte  dieser  Historiker  in  seiner  Schilde- 
rung jener  gärungsreichen  Jahre  und  schrieb  ihr  Fehlen  der 
,, übergroßen  Zersplitterung"  der  Ansichten  zu.  Aber  erklärte 
er  damit  nicht  bloß  die  Armut  aus  der  Pauvrete?  Hatte  die 
Zersplitterung  der  Ansichten  eine  andere  Ursache  als  die  herr- 
schende Unfreiheit,  die  den  Meinungsaustausch  im  Großen  und 
Öffentlichen,  der  auf  die  Ideen  vereinfachend  und  zusammen- 
fassend wirkt,  unterband?  ,,Wir  haben  hier  keine  Parteien", 
schrieb  auch  Varnhagen  im  November  1846  bedauernd  in  sein 
Tagebuch.  ,,Wenn  wir  den  Ausdruck  dennoch  gebrauchen,  so 
ist  es  nur  bitt-  und  leihweise  mit  großen  Abzügen." 

Wer  das  Wesen  der  politischen  Partei  allein  aus  den  Zu- 
ständen unserer  Gegenwart  ableiten  wollte,  könnte  vielleicht  als 
spezifisches  Kennzeichen  des  Parteigängers  eine  aktive  Regung 
verlangen,  sei  es  durch  Abstimmung  bei  Wahlen,  durch  Zahlung 
eines  Beitrages  oder  durch  Teilnahme  an  der  öffentlichen  Agi- 
tation. Als  sich  im  Vormärz  politische  Parteien  langsam  auch 
bei  uns  zu  bilden  begannen,  kannte  in  Preußen  der  Untertan  Par- 
lamente, politische  Vereine  und  Versammlungen  bloß  aus  den 
Zeitungen,  die  über  die  Vorgänge  in  den  westeuropäischen 
Staaten  und  in  Süddeutschland  berichteten!  Doch  Parteien 
krystallisieren  sich  überall,  wo  das  Interesse  einer  größeren 
Menschenzahl  durch  eine  wesentliche  Kontroverse,  die  an  die 
Öffentlichkeit  dringt,  gefangen  genommen  wird.  Und  wo  das 
Bevormundungssystem  der  Regierung  die  Pohtik  der  freien  Dis- 
kussion verschließt,  entfalten  sie  sich  in  anderen  Sphären,  deren 
Inhalte  den  Massen  zugänglicher  sind.  In  Preußen  zeigten  sich 
also  die  Anfänge  einer  Parteibildung  zuerst  auf  kirchlichem  und 
philosophischem  Gebiete  und  schlugen  erst  in  die  Politik  hin- 
über, als  eine  günstige  Konjunktur  diese  in  den  Verhältnissen 
längst  vorbereitete  Ausdehnung  gestattete^). 

So  ist  bei  uns  das  Parteiwesen  allmählich  vom  Himmel 
auf  die  Erde  heruntergestiegen.  Die  Entwicklung  setzte  seit 
der  Mitte  der  dreißiger  Jahre  ein  mit  der  Revolutionierung  der 


^)  Inwieweit  überhaupt  die  Parteibildung  aus  der  religiösen  Sphäre  ihren 
Ursprung  nimmt,  kann  hier  nicht  untersucht  werden.  Mit  einer  vorsichtigen 
Tendenz  zur  Verallgemeinerung  behauptet  dies  vom  Radikalismus,  besonders 
in  England,  schon  Rutenberg  in  seinem  Artikel:  Radikal,  Radikalismus  in 
Rotteck-Welckers  Staatslexikon,  I.  Aufl.  Bd.  13  (1842)  S.  412. 

1* 


4      Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Theologie  durch  D.  F.  Strauß,  über  den  Feuerbach  und  Bruno 
Bauer  noch  hinausgingen;  sie  nahm  ihren  Fortgang  in  der 
Selbstauflösung  der  Hegeischen  Philosophie  und  vollendete  sich, 
unter  Mitwirkung  französischer  Einflüsse,  in  der  Politisierung 
und  Sozialisierung  der  gesamten  Weltanschauung.  Dem  Histo- 
riker kann  es  nicht  viel  verschlagen,  ob  man  diese  Epoche, 
die  ihre  Kämpfe  noch  vorwiegend  auf  theoretischem  Gebiet 
ausfechten  mußte,  in  die  Vorgeschichte  oder  in  die  Anfangs- 
geschichte der  politischen  Parteien  verweist.  Die  Parteien 
sind  älter  als  die  politischen  Parteien,  und  sie  sind  nicht  von 
einem  Tage  zum  andern  pohtische  geworden! 

Weniger  noch  als  auf  das  Wesen  der  politischen  Partei 
überhaupt  lassen  sich  auf  die  einzelnen  Parteibildungen  ver- 
gangener Epochen  ohne  weiteres  Terminologien  anwenden,  die 
selbst  Produkte  von  Entwicklungen  sind,  die  damals  noch  der 
Zukunft  angehörten.  Wie  im  Frankreich  des  achtzehnten 
und  im  Rußland  des  neunzehnten  Jahrhunderts  hat  sich  auch 
bei  uns  innerhalb  der  oppositionell  gestimmten  Schichten  erst 
mit  dem  Herannahen  der  Revolution  eine  deutliche  Differen- 
zierung vollzogen.  Solange  der  einzelne  nicht  vom  Denken  zum 
Handeln  übergehen  konnte,  wurde  ihm  auch  nicht  klar,  welche 
Ziele  ihm  verwandt,  welche  ihm  fremd  waren.  Die  Enge  des 
Kreises,  der  sich  vor  1848  für  politische  Fragen  interessierte, 
die  Neuheit  der  Probleme,  die  Unmöglichkeit,  die  gewonnenen 
Anschauungen  in  der  Praxis  zu  erproben,  erschwerte  dieser 
auf  die  Doktrin  versessenen  Generation  die  scharfe  Herausarbei- 
tung von  Parteiprogrammen.  Um  so  ungeklärter  wohnen  Ge- 
danken beieinander,  je  behinderter  sie  sind,  ihren  Wahrheits- 
gehalt zu  erproben.  Und  wenn  auch  die  Hegeische  Dialektik 
in  ihrem  nimmer  rastenden  Fluß  sich  ganz  besonders  eignete, 
die  Gegensätze  in  der  Theorie  herauszutreiben,  die  Praxis  konnte 
sie  nicht  ersetzen.  Beschleunigt  hat  sie  die  Verarbeitung  der 
Gedankenüberfülle,  die  der  ,,Selbstverständigungsprozess"  der  Op- 
position in  den  Jahren  von  1841  bis  1844  an  die  Oberfläche 
spülte!  Den  Einzelnen,  dem  Erfahrung  und  Charakter  nicht 
einen  festen  Standpunkt  vorzeichneten,  hob  sie  oft  von  Klippe 
zu  Klippe,  so  daß  er  morgen  an  einem  Ufer  landete,  das  er 
gestern  noch  gar  nicht  gesehen  hatte.  Der  Allgemeinheit 
aber  nützte  ihre  unvergleichliche  Fähigkeit,  unklare  Gedanken- 
blöcke in  leuchtende  Krystalle  auszuschleifen ! 


Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.       5 

II 

Da  bei  uns  noch  heute  einflußreiche  Persönlichkeiten  das 
Bestehen  pohtischer  Parteien  für  ein  Unglück  ansehen,  so  nimmt 
es  nicht  Wunder,  daß  der  monarchisch-bureaukratische  Absolu- 
tismus ihr  Vorhandensein  im  preußischen  Staat  solange  es  irgend 
anging,  leugnete.  Man  sträubte  sich,  in  den  Kämpfen  der 
Orthodoxie  gegen  die  Rationalisten  und  der  historisch-romanti- 
schen Schule  gegen  die  Hegelianer  die  Keime  eines  Parteilebens 
zu  erkennen  und  machte  sich  ein  Dogma  zurecht,  wonach 
jene  verderblichen  Parteikämpfe,  die  Englands  und  Frankreichs 
Bevölkerung  aufwühlten,  für  Preußen  nichts  Lockendes  haben 
sollten,  weil  hier  die  Regierung  die  Bahnbrecherin  jedes  Fort- 
schritts wäre^).  Aber  im  ausgesprochenen  Gegensatz  zu  diesem 
gouvernementalen  Standpunkt  feierten  die  jungen  pohtischen 
Dichter,  deren  Stunde  jetzt  herankam,  die  Partei  als  die  Mutter 
aller  Siege  ^)  und  auch  die  führenden  Oppositionsblätter,  Königs- 
berger und  Rheinische  Zeitung,  lehrten  im  Bunde  mit  den 
Deutschen  Jahrbüchern,  daß  sie  für  den  Fortschritt  unentbehr- 
lich sei.  Mochte  Edgar  Bauer  später  auf  seine  kurze  konsti- 
tutionelle Epoche  wie  auf  eine  Jugendsünde  zurückblicken, 
jetzt  feierte  selbst  dieser  ins  Schrankenlose  strebende  Geist  die 
Parteien  als  das  Salz  der  Welt^),  als  die  Pole,  die  das  vorher 
gleichgültige,  regellose  Treiben  einer  chaotischen  Masse  in  eine 
gesetzmäßige  Bewegung  zwingen.  Auch  für  seinen  Freund  und 
Genossen  in  Hegel  Ludwig  Buhl,  entwickelte  sich  alles  histori- 
sche Leben  aus  der  Dialektik  der  Gegensätze,  die  ihre  Ver- 
körperung in  den  Parteien  finden*).  Sie  waren  ihm  die  Hebel, 
deren  sich  die  Geschichte  bediente,  um  die  Staaten  weiter  zu 
bilden^).  Betonten  diese  jungen  Berliner  Hegelianer  haupt- 
sächlich die  entwicklungsgeschichtliche  Notwendigkeit  der  Par- 
teien,  so   bewiesen   ihre  Kampfgenossen  in  der  Heimat  Kants 


^)  Vgl.  u.  a.  E.  Meyen  in  Buhls  Berliner  Monatsschrift.  Einziges  Heft. 
Mannheim  1844. 

^)  In  Herweghs  Sinne  schrieb  auch  Rüge:  „Wer  ist  und  wer  ist  nicht 
Partei?"     Deutsche  Jahrbücher,   26.  Februar  1842. 

')  Rheinische  Zeitung,  14.  Juni  1842.  Berl.  Kon-esp.  vom  10.  Juni. 
Den  gleichen  Ausdruck  braucht  er  schon  in  seiner  Polemik  gegen  Carriere, 
Deutsche  Jahrb.,  15.  Februar  1842.  Bauers  Verfasserschaft  ergibt  sich  aus 
dem  Artikel  „1842"  in  der  von  seinem  Bruder  herausgegebenen  Allgem. 
Lit.  Ztg.,  Juli  1844. 

*)  Buhl,  Die  Verfassungsfrage  in  Preußen.     Zürich  1842.     S.  51. 

*)  Buhl,  Der  Beruf  der  preußischen  Presse.     Berlin  1842. 


6      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

deren  Unentbelirlichkeit  aus  ethisch-politischem  Gesichtspunkt. 
Der  jugendhche  Oberlehrer  Carl  Witt,  der  die  Königsberger 
Zeitung  redigierte,  sah  in  ihrem  Hervortreten  den  wichtig- 
sten Schritt,  den  ein  Volk  in  seiner  Bildung  machen  könne^). 
Er  blickte  mit  Neid  auf  die  Zustände  in  Frankreich  und 
England,  wo  das  ununterbrochene  Reiben  der  Gegensätze  die 
Nationalkraft  in  Spannung  erhielte  und  ihr  ein  frisches  Jugeud- 
leben  bewahrte.  Einem  Volke  ohne  Parteien  drohte  in  den 
Augen  dieses  Wortführers  des  ostpreußischen  Liberalismus  ver- 
sumpfende Stagnation  und  Gleichgültigkeit  der  Gesinnungen; 
wer  nicht  Partei  ergriff,  bewies  damit,  daß  er  am  Staatsleben 
kein  eignes  Interesse  nahm.  Aber  selbst  seinem  politisch  ge- 
mäßigteren Landsmann  Karl  Rosenkranz,  der  das  aktuelle  Thema 
am  18.  Januar  1843  in  Königsberg  in  einer  akademischen  Fest- 
rede behandelte,  galt  die  Reibung  der  Parteien  als  die  Bedingung 
für  die  Bildung  einer  wahrhaft  öffentlichen  Meinung.  Diese 
wieder  hatte  nach  ihm  die  Aufgabe,  die  Vorarbeiten  zu  über- 
nehmen, um  die  Richtung  zu  bestimmen,  der  die  Regierung 
zu  folgen  hätte  2).  Während  den  ostpreußischen  Liberahsmus 
in  allen  seinen  Ausstrahlungen  der  Geist  Kants  erfüllte,  atmeten 
die  politischen  Wortführer  der  Hallischen  (später  Deutschen) 
Jahrbücher  und  der  Rheinischen  Zeitung  in  der  Atmosphäre 
Hegels,  dessen  Dialektik  den  gleichgültigen  Unterschied  logisch 
zum  feindlichen  Gegensatz  forttrieb.  Jetzt  steigerte  sich  bei 
den  jüngeren  Hegelianern  die  bloß  theoretische  Kritik  zur 
Praxis  des  Handelns,  zur  Partei 3).  In  Vergangenheit  und 
Gegenwart  wollte  diese  neue  Generation  Entwicklung  und  Leben 
nur  dort  erblicken,  wo  Meinungen  einander  unausgeglichen 
gegenübertrateu.  So  wurde  ihr  die  Freigabe  und  Konstituierung 
der  Parteibewegung  gleichwertig  mit  der  Freigabe  der  geistigen 
Gegensätze  überhaupt.     Die  Brüder  Bauer,  die  Wortführer  der 


^)  „Preußen  seit  der  Einsetzung  Arndts  bis  zur  Al)setzung  Bauers"  in 
Herweghs  „21  Bogen  aus  der  Schweiz".  Witts  Autorschaft  ergibt  sich  aus 
der  wörtlichen  Übereinstimmung  ganzer  Absätze  in  diesem  Aufsatz  und  der 
Broschüre  „Über  Partei  und  das  Parteinehmen  der  Königsberger  Zeitung", 
Königsberg  1842.  In  dieser  Broschüre  spricht  der  Verfasser  mehrfach  von 
„unserer  Zeitung".  Witt  war  nicht  nur  der  Redakteur,  sondern  auch  der 
Verfasser  der  meisten  der  damals  so  großes  Aufsehen  erregenden  Leitartikel 
dieses  Blattes. 

')  Rosenkranz,  Über  den  Begriff  der  politischen  Partei.  Königs- 
berg 1843. 

^)  Kritik  und  Partei,  der  Vorwurf  gegen  die  neueste  Geistesent- 
wicklung.    Deutsche  Jahrbücher  10.  Dezember  1842  ff. 


Mayer,   Die  Anfänge  des  i:>olit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.       7 

„absoluten  Kritik",  verharrten  in  der  Regel  nicht  lange  auf 
dem  gleichen  Standpunkt,  jetzt  stimmten  auch  sie  ihrem  Freunde 
Buhl  zu,  als  er  darauf  hinwies,  daß  das  Bestehen  von  Parteien 
nicht  zur  Revolution  führe,  sondern  gerade  ein  Mittel  sei,  sie 
gründlich  zu  vermeiden.  Wer  die  befruchtende  Macht  der 
Negativität  nicht  verstünde,  der  kenne  weder  die  Geschichte 
noch  die  Philosophie.  Eine  gewaltsame  Explosion  der  Gegen- 
sätze wäre  nur  dort  zu  befürchten,  wo  man  die  Parteien  unter- 
drückte. Buhl  empfahl  den  parlamentarischen  Kampf  als  einen 
Prozeß  der  Abschleifung  und  der  Vermittlung^). 

Nach  einigen  Monaten  der  Diskussion  hatte  im  geistig 
beweglichen  Teil  des  Volkes  die  Überzeugung,  daß  das  Bestehen 
politischer  Parteien  auch  für  Preußen  eine  Notwendigkeit  sei, 
den  Sieg  davongetragen.  Die  Rheinische  Zeitung  stellte  es  im 
März  1843  ausdrücklich  fest  2).  Länger  behielt  die  Forderung, 
daß  man  sich  selbst  im  lieben  Preußen  zu  Parteien  zusammen- 
scharen solle,  für  das  Ohr  des  Philisters  einen  fremdartigen 
Klang.  Die  Vorkämpfer  der  modernen  Ideen  mußten  ihm 
deshalb  nicht  nur  die  Ungefährlichkeit  der  Parteien  für  das 
Staatsganze  beweisen,  sondern  auch  die  Grenzen  ziehen,  die 
der  Parteikampf  vom  Standpunkt  einer  höheren  Sittlichkeit 
nicht  überschreiten  sollte.  So  betonten  sie  denn  immer  wieder, 
daß  das  Parteileben  das  Staatsleben  keineswegs  aufheben,  sondern 
es  erst  recht  festigen  wolle,  auch  daß  die  Partei  allezeit  die  Trägerin 
eines  Prinzips  und  niemals  die  Verfechterin  individueller  Inter- 
essen sein  dürfe:  ,, Bloße  Personen  sind  allemal  ekelhaft,  wenn 
sie  als  Partei  hypostasiert  werden"  ^).  Nur  wenn  die  Parteien 
sich  selbst  über  ihre  Prinzipien  ganz  klar  werden,  könne  ihre 
Reibung  zu  einem  ergiebigen  Ende  führen^),  meinten  die  Jung- 
hegelianer, und  die  Kantianer  erhoben  gegen  jeden,  der  von 
keinem  bestimmten  Prinzip  ausging  und  zwischen  den 
Parteien  durchzuschlüpfen  gedachte,  den  Vorwurf,  daß  er  des 
Maßstabes  zur  Beurteilung  der  Wahrheit  entbehre.  ,, Parteien 
sind  auf  Grundsätze  aufgebaut",  erklärte  im  Sinne  Johann 
Jacobys  sein  Freund  Carl  Witt,  und  wollte  —  ein  Symptom, 
daß  man  sich  an  der  Scheide  des  philosophischen  und  des 
pohtischen  Zeitalters  befand  —  es  nicht  mehr  für  einen  Tadel, 

^)  Buhl,  Der  Beruf  der  preußischen  Presse.     Berlin  1842. 
^)    Rheinische   Zeitung,    Beiblatt    vom   21.  März:    „Herwegh    und    das 
deutsche  Publikum"  (Verf.  war  Moritz  Fleischer). 
^)  Kritik  und  Partei  etc.  a.  a.  0. 
*)  Edgar  Bauer  in  der  Rheinischen  Zeitung  vom  15.  Juni  1842. 


8      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

sondern  für  ein  Lob  gelten  lassen,  daß  man  ihn  einen  Partei- 
mann nannte.  Sein  Landsmann  Alexander  Jung,  ein  ehemaliger 
Theologe  aus  Schleiermachers  Schule,  der  das  Königsberger 
Literaturblatt  herausgab,  hatte  sich  zu  solcher  Unbedenklichkeit 
noch  nicht  hindurchgekämpft.  Diesen  gedankenreichen  Pubü- 
zisten  schreckte  die  Perspektive,  daß  der  Mensch  mit  seinem 
ganzen  Wesen  in  die  Partei  aufgehen  könnte.  Verlor  er 
damit  nicht  Natur  und  Geschichte  aus  dem  Auge,  die  sich  in 
größeren  Zeiträumen,  als  der,, Parteimensch"  ahne,  einem  höheren 
Glück  der  Völker  entgegenbewegten  i)  ? 

Das  freudige  Bekenntnis  einer  jungen  Generation  zur 
Politik  konnte  auch  auf  die  Dichtung  nicht  ohne  Wirkung 
bleiben.  Die  politische  Lyrik  erlebte  ihre  Blütezeit:  Herwegh, 
Sallet,  Dingelstedt,  Prutz,  Karl  Beck,  Rudolf  Gottschall  u.  a. 
erhoben  ihre  Stimmen  und  fanden  Tausende  begeisterter  Leser. 
In  einem  Triumphzug,  der  bei  uns  nie  wieder  seinesgleichen 
gefunden  hat,  durchzog  der  ,, Lebendige"  Preußen  von  Köln  bis 
Königsberg.  Wohl  hatte  auch  schon  das  Junge  Deutschland  die 
Selbstgenügsamkeit  der  ästhetischen  Welt  bekämpft,  welche  die 
Romantik  verkündigt  hatte,  und  die  Literatur  dem  Leben  der 
eigenen  Zeit  anzunähern  gesucht.  Aber  die  mutige  Generation  von 
1840  schrieb  ausdrücklich  das  Wort ,, Gesinnung"  auf  ihre  Fahne; 
sie  stellte  auch  an  den  Charakter  die  größten  Ansprüche!  In 
ihrer  Schar  war  keiner  mehr,  der  es  wie  noch  Gutzkow  seiner 
würdig  gefunden  hätte,  dem  preußischen  Pohzeiminister  zu 
klagen,  daß  er  bloß  durch  materielle  Gründe  ,, gezwungen 
an  all  dem  Wirrsal  des  Tages  teilnehme"  2).  ,,Es  ward  zur 
Propaganda  das  deutsche  Dichterheer"  (Sallet). 

Wie  noch  jede  junge  Truppe,  die  mit  einem  neuen  Ideal 
das  Blachfeld  betritt,  hielt  diese  Schar  fürchterliche  Muste- 
rung unter  den  Dichtern,  die  einstmals  ihren  Knabenjahren  die 
anerkannten  Götter  des  Tages  bedeutet  hatten.  Keines  leben- 
den Dichters  Stern  hatte  nach  Goethes  Tod  heller  geleuchtet 
als  der  Heinrich  Heines.  Aber  mochte  sein  Stil  noch  so  wunder- 
voll in  allen  Farben  des  Regenbogens  schillern,  mochte  sein 
Seherbhck  in  den  Eingeweiden  der  Gesellschaft  die  Keime  künf- 
tiger Entwicklung  scharf  erkennen,  mochte  sein  souveräner  Spott 


^)  Königsberger  Literaturblatt,  27.  Oktober  1841. 

")  Gutzkow  an  den  Minister  des  Innern  von  Eocbow,  2.  Januar  1842, 
Geh.  Staatsarchiv  Akten  über  den  „Telegraph  für  Deutschland".  Um  dieses 
von  ihm  herausgegebene  Blatt  zu  retten,  suchte  der  Schreiber  sich  als  politisch 
vminteressiert  hinzustellen. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      9 

Yor  keinem  selbstgefälligen  Machthaber  und  keiner  politischen 
Mißbildung  im  lieben  Vaterland  haltmachen  —  diese  Männer, 
die  dem  deutschen  Bürgertum  seine  Freiheit  erkämpfen  wollten, 
empörte  sein  schrankenloser  Subjektivismus,  der  sich  nicht 
scheute,  an  Jdealen,  die  ihnen  —  vielleicht  gar  ihm  selbst  — 
bitter  ernst  waren,  seine  Ironie  auszulassen  und  Männer  zu 
bekritteln,  die  sie  als  ihre  Bannerträger  verehrten.  Heines 
freier  Geist  eignete  ihn  nicht  zum  Parteimann.  Sein  Genius 
suchte,  wenn  er  sie  auch  oftmals  nicht  fand,  eine  höhere  Warte 
als  die  Zinne  der  Partei.  Aber  die  einst  ihn  angebetet  hatten, 
verstanden  ihn  hierin  nicht.  Durch  das  Vergrößerungsglas  ihrer 
enttäuschten  Liebe  sahen  sie  nur  noch  auf  die  Schlacken,  die 
jedem  erkennbar  seinem  Wesen  anhafteten.  Völhgen  Mangel  an 
Charakter  warfen  sie  ihm  vor,  nannten  ihn  eine  Bedienten- 
seele und  klagten  über  die  ,, geniale  Gesinnungslosigkeit  des  über- 
mütigen Subjekts".  Was  sie  aber  bei  ihm  vermißten,  ,,die  Ge- 
sinnung, die  allein  unserem  Wesen  Halt,  unserem  Streben  Ziel 
gibt"^),  fanden  sie  in  reichem  Maße  bei  Börne.  Der  besaß 
jene  tiefe  Ehrlichkeit  der  Überzeugung,  jene  liebevolle  und 
vorbehaltslose  Hingabe  an  eine  große  Sache,  nach  der  sie  ver- 
langten. Als  nun  gar  Heine  in  diesem  ungeeignetsten  Zeitpunkt 
sein  boshaftes  Pamphlet  gegen  den  einstigen  Schicksals-  und 
Kampfesgenossen  veröffentlichte,  da  entfremdete  er  sich  vollends 
der  Partei  der  Jungen,  während  für  Börne  jetzt,  drei  Jahre 
nach  seinem  Tode,  die  Zeit  seines  höchsten  Ruhmes  kam.  Der 
junge  Friedrich  Engels  auf  seinem  Kontorbock  im  Bremer 
Handelshaus  Leupold  stellte  den  Frankfurter  Juden  als  den 
,,Mann  der  politischen  Praxis"  unmittelbar  neben  Hegel,  den 
,,Mann  des  Gedankens",  und  die  ,, Durchdringung  Hegels  und 
Börnes",  die  ,, Vereinigung  des  Gedankens  mit  der  Tat"  er- 
schien ihm  als  die  Aufgabe  der  Zeit^). 


0  K(öppen)  in  Hall.  Jahrb.,  22.  September  1840. 

^)  Teleg-rapli  für  Deutschland  1841  Nr.  2—5.  „Ernst  Moritz  Arndt"  von 
Fried r.  Oswald.  Daß  Oswald  das  Pseudonym  von  Engels  ist,  ergab  sich  mir 
u.  a.  aus  seinen  unveröffentlichten  Briefen  an  seine  ehemaligen  Schulgefährten 
Friedrich  und  Wilhelm  Gräber.  Für  das  Urteil  der  „Jungen"  über  Heine 
und  Börne  vgl.  u.  a.  Gottschalls  Gedichte  „Börne"  und  „Heine"  in  seinen 
„Liedern  der  Gegenwart" ;  Euges  Brief  an  Stahr,  9.  Dezember  1840  in  Ruges 
Briefen,  herausgeg.  von  Nerrlich ;  Mevissens  Urteil  in  Hansen,  Mevissen 
Bd.  n  S.  32  f.;  E.  Meyen,  die  neueste  belletristische  Literatur  im  Berliner 
„Athenaeum",  herausgeg.  von  Riedel,  9.  Januar  1841;  K(öppen)  in  Hall.  Jahrb. 
22.  September  1840  bei  Besprechung  der  Schrift  Heines  über  Börne;  selbst- 
redend auch  Gutzkow  in  seiner  Lebensbeschreibung  Börnes;  Stahr  in  seiner 


10      Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

In  Preußen  vollzog  sich  dieses  Hindrängen  des  Ge- 
dankens zur  Tat,  der  Philosophie  zum  politischen  Leben  am 
sichtbarsten  in  den  Hallischen  Jahrbüchern,  deren  treibende 
Kraft  Arnold  Rüge  war.  Er  betrachtete  es  als  die  Aufgabe 
seiner  philosophischen  Tageszeitung,  aus  der  faulen  Beschau- 
lichkeit des  Hegelianismus  die  Fichtesche  Tatkraft^)  wieder 
zu  erwecken,  was  in  der  Sprache  Hegels,  dessen  System  er 
fortbilden  aber  nicht  beseitigen  wollte,  hieß:  das  ,, inhaltvolle 
Sollen  der  sich  selbst  erkennenden  geschichtlichen  Gegenwart" 
als  das  ,, göttliche  Sollen",  als  die  Dialektik  der  Geschichte  zu 
enthüllen.  Rüge  tadelte  an  Hegel,  daß  er  das  Märtyrertum 
seines  Prinzips  nur  deshalb  vermieden  hätte,  weil  er  es  niemals 
ertragen  haben  würde,  mit  der  Autorität  in  Kirche  und  Staat 
brouilliert  zu  sein.  Von  solchen  Rücksichten  wollte  die  junge 
Generation  nichts  mehr  wissen;  sie  verlangte,  daß  die  Philo- 
sophie hinfort  alle  Zurechtmacherei  beiseite  heße  und  mit  der 
Forderung  Ernst  machte,  daß  die  Geschichte  nichts  anderes  sei 
als  die  Verwirklichung  der  Freiheit.  Von  Kant  und  Hegel  be- 
hauptete Rüge,  sie  hätten  bloß  erst  die  ,, Privattugend"  geschätzt 
und  noch  nicht  die  ,, politische  Tugend",  die  darin  bestünde, 
nicht  nur  die  Wahrheit  zu  sagen,  sondern  sie  auch  geltend 
zu  machen.  Ihn  dünkte  es  unvereinbar  mit  der  ,, abstrakten 
Innerlichkeit  des  Protestantismus",  wenn  man  bloß  in  der  Theorie 
und  nicht  auch  in  der  Praxis  frei  sein  wollte.  Gerade  Hegel 
sah  in  jeder  Philosophie  den  gedanklichen  Ausdruck  einer  be 
stimmten  Zeit,  Ihm  wurde  der  Konflikt  erspart,  daß  die  Zeit 
sich  gegen  seine  Theorie  wandte.  Hätte  er  es  erlebt,  so  wäre 
er  vielleicht  aus  seiner  olympischen  Ruhe  aufgeschreckt  und 
ein  politischer  Charakter  geworden !  Dann  hätte  er  eingesehen, 
daß  die  wahre  Verbindung  des  Begriffs  mit  der  Wirklichkeit 
nicht  in  der  Apotheose  des  Existierenden  zum  Begriff,  sondern 
in  der  Inkarnation  des  göttlichen  Begriffs  zur  Existenz 
besteht.     Wie  konnte  Hegel  den  Staat  absolut  nehmen  und  aus 

Anzeige  dieses  Buches  in  Hall,  Jahrb.,  18,  Dezember  1840;  Euge,  F.  von 
Florencourt  und  die  Kategorien  der  politischen  Praxis  in  Hall.  Jahrb, 
23.  November  1840,  Diese  Beispiele  ließen  sich  mit  Leichtigkeit  vermehren. 
Auf  die  Angriffe  der  „Tendenzdichter",  deren  „gereimte  Zeitungsartikel"  er 
verspottete,  reagierte  Heine  bekanntlich  in  seinem  „Atta  Troll",  der  im  Herbst 
1841  entstand. 

')  Auf  Fichtes  „Demokratismus"  und  „Atheismus"  vpies  damals  Koppen 
hin.  Vgl.  „Fichte  und  die  Revolution"  in  Anekdota  zur  neuesten  deutschen 
Philosophie  und  Publizistik,  herausgeg.  von  Rüge,  Zürich  und  Winterthur  1843. 
Bd.  I. 


Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.       11 

der  Geschichte  herauslösen,  wo  doch  jeder  Begriff  von  ihm, 
me  überhaupt  jede  bestimmte  Philosophie,  selbst  ein  geschicht- 
liches Erzeugnis  ist!  Daß  die  historische  Bewegung  an  sich 
objektive  Kritik  sei,  hatte  zuerst  David  Friedrich  Strauß  im 
Vorwort  seiner  Dogmatik  deutlich  ausgesprochen.  Rüge  und 
die  jüngeren  Hegelianer,  die  sich  um  ihn  scharten,  wandelten 
in  den  Spuren  des  schwäbischen  Theologen.  Sie  begriffen  nicht 
mehr,  daß  Hegel  „Produkte  der  Geschichte",  wie  den  erblichen 
König,  die  Majorate,  das  Zweikammersystem,  als  logische 
Notwendigkeiten  ansehen  konnte.  Ihnen  war  es  bereits  ganz 
natürlich,  daß  diese  flüssigen  Existenzen  der  Geschichte  nie 
und  nimmer  ewige  Bestimmtheiten  waren  ^). 

HL 

Unmöglich  konnte  der  preußischen  Regierung  lange  ver- 
borgen bleiben,  daß  die  Hallischen  Jahrbücher  ihren  großen 
Erfolg  nicht  sowohl  ,,dem  unverkennbaren  Geschick"  verdankten, 
womit  „die  Redaktion  die  Lehren  der  Hegeischen  Philosophie 
auf  dem  Wege  der  Kritik  für  alle  -^dssenschaftlichen  Disziphnen 
geltend"  machte,  ,,als  der  entschieden  rationalistischen  und 
liberalen  Tendenz  ihrer  Mitarbeiter"  und  ihrer  Polemik  gegen 
die  preußische  Staatsverwaltung,  die  sie  als  unfrei  und  inner- 
hch  abgestorben  darstelle  2).  Solange  Altenstein  von  Friedrich 
Wilhelm  HI.  unbehindert  die  Kulturpolitik  des  Staates  leitete, 
waren  die  Jahrbücher  unangefochten  geblieben.  Seiner  „prak- 
tischen Weisheit"  dünkte  es  am  angemessensten,  wenn  man 
„geistige  Kämpfe  in  der  theoretischen  Erörterung  sich  verzehren 
ließ"  ^).    Da  dieser  Sohn  der  Aufklärung  den  religiösen  Fragen 


^)  Für  Ruges  Historisierung  und  Politisierung  des  Hegeltums  bedeutsam 
sind  besonders  die  folgenden  Aufsätze  seiner  Jahrbücher:  10,  Februar  1840 
„Konsequenz  der  Eeaktion",  25.  Juni  1840  ff.  „Zur  Kritik  des  gegenwärtigen 
Staats-  und  Völken-echts",  25.  Juli  1840  „Das  Manifest  der  Philosophie  und 
seine  Gegner",  7.  Oktober  1840  „Ernst  Moritz  Arndts  Erinnerungen  aus  dem 
äußeren  Leben",  23.  November  1840  „Friedrich  von  Florencourt  und  die  Kate- 
gorien der  politischen  Praxis",  13.  Februar  1841  ff.  „Die  Allgemeine  Zeitung 
und  die  öffentliche  Meinung",  3.  Januar  1842  „Die  Zeit  und  die  Zeitschrift", 
10.  August  1842  ff.  „Die  Hegeische  Kechtsphilosophie  und  die  Politik 
unserer  Zeit". 

^)  Bericht  Eochows  an  Friedrich  Wilhelm  IV.  vom  26.  Februar  1841, 
Geh.  Staatsarchiv. 

')  Rosenkranz,  „Preußen,  Deutschland  und  die  Wissenschaft  im 
Jahre  1839,  veröffentlicht  im  Königsb.  Literaturblatt,  13. — 23.  November  1844 
(geschrieben  Oktober  1839). 


12      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

innerlich  fernstand,  so  kostete  es  ihn  keine  Überwindung,  bei 
den  kirchlichen  Parteikämpfen  sich  jeder  Einmischung  zu  ent- 
halten. Selbst  Strauß'  Leben  Jesu  hatte  er  unbeanstandet  ge- 
lassen, als  beim  Erscheinen  des  ketzerischen  Buches  die  Evan- 
gelische Kirchenzeitung  und  das  Berl.  Pol.  Wochenblatt  dessen 
Unterdrückung  forderten.  Weil  er  die  Freiheit  der  Wissen- 
schaft schützte,  betrachtete  die  aufkommende  Bewegungspartei 
Altenstein  als  ihren  Gesinnungsgenossen.  Aber  eigentlich  war 
dieser  ,, liberale"  Beamte  nur  ein  Anhänger  des  aufgeklärten 
Despotismus.  Der  grausamen  Unterdrückung  der  Burschen- 
schaften hatte  er  sich  nicht  widersetzt  und  zum  Beschützer  und 
Gönner  Hegels  und  seiner  Schule  war  er  nur  geworden,  weil 
diese  eine  starke  Staatsgesinnung  erfüllte,  von  deren  Einfluß 
er  eine  Förderung  der  konservativen  Kräfte  im  Staat  erhoffen 
durfte  1). 

Selbst  an  dem  Organ  der  jungen  Hegeischen  Schule 
schätzte  Alteustein  das  hoffnungsvolle  Vertrauen,  das  es  der 
künftigen  Entwicklung  des  Friderizianischen  Staates  entgegen- 
brachte. Während  die  Hallischen  Jahrbücher  in  dem  katho- 
lischen Österreich  nur  den  ,, Staat  der  Erinnerung"  sahen,  galt 
ihnen  das  tüchtige  preußische  Beamtentum  als  die  eigentliche 
Substanz  für  die  Fortbildung  der  deutschen  Verfassung.  Das 
Jubiläumsjahr  1840  gehörte  überall  in  Preußen  dem  Gedächtnis 
Friedrichs  des  Großen.  Aber  bei  diesem  Anlaß  feierte  nie- 
mand lebhafter  als  die  Schriftsteller  der  jungen  Richtung  den 
Staat  der  Intelligenz,  der  mit  der  Aufklärung  zusammen  in  der 
Wiege  gelegen  hätte,  und  den  großen  König,  den  Heros  jener 
Geistesfreiheit,  deren  volle  Verwirklichung  sie  jetzt  von  seinem 
jüngsten  Nachfolger  erwarteten.  Wohl  nie  wieder  hat  unser 
Volk  beim  Hinscheiden  eines  Monarchen  größere  Hoffnungen 
auf  den  Thronerben  gesetzt  als  beim  Tode  Friedrich  Wilhelms  HI.! 
Über  die  ungewöhnlichen  Geistesgaben  des  neuen  Königs 
herrschte  nur  eine  Stimme.  Wohl  wußte  man  von  der  Freund- 
schaft des  bisherigen  Kronprinzen  mit  dem  katholischen  Roman- 
tiker Radowitz  und  von  seinen  nahen  Beziehungen  zu  dem 
orthodoxen  Zeloten  Hengstenberg.  Aber  die  öffentliche  Meinung 
rechnete  nicht  anders,  als  daß  ein  geistig  so  hoch  stehender 
König  in  Religion   und  Wissenschaft    sich    die   Toleranz    zum 

0  Vgl.  Lenz,  Geschichte  der  Königl.  Friedrich-Wilhelms-Universität  zu 
Berlin,  Bd.  11  i.  Halle  1910.  Den  Liberalismus  des  Beamtentums  charakteri- 
sierte neuerdings  gut  A.  Wahl,  Beiträge  zur  deutschen  Parteigeschichte  im 
19.  Jahrhundert,  S.  101. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      13 

Vorbild  nehmen  müsse,  welche  die  liberale  Tradition  mit  dem 
Namen  Friedrichs  verband.  Ein  Schriftsteller  aus  dem  Kreise 
der  Halhschen  Jahrbücher,  der  Berliner  Oberlehrer  Friedrich 
Karl  Koeppen,  gab  diesem  Vertrauen  der  jungen  Hegelianer 
klassischen  Ausdruck:  ,,Der  Himmel",  schrieb  er,  ,,ruht  nicht 
sicherer  auf  den  Schultern  des  Atlas  als  Preußen  auf  der  zeit- 
gemäßen Fortentwicklung  der  Grundsätze  Friedrichs  des  Großen, 
Es  ist  alter  Volksglaube,  daß  nach  hundert  Jahren  die  Leute 
wiedergeboren  werden.  Die  Zeit  ist  erfüllet"^).  Und  eine  Schrift, 
die  solche  Erwartungen  aussprach,  konnte  damals  auf  dem 
Titelblatt  die  Widmung  tragen:  ,, Meinem  Freunde  Karl  Hein- 
rich Marx  aus  Trier"!  Sogar  der  unbändigste  Rufer  in  jenem 
Streit,  der  ausbrach,  als  bald  darauf  die  Hoffnungen  der  radi- 
kalen Jugend  so  bitter  enttäuscht  wurden,  Edgar  Bauer,  schrieb 
nach  dem  Thronwechsel  an  seinen  Bruder  in  Bonn:  ,,Die  meisten 
hegen  die  besten  Erwartungen  von  der  neuen  Regierung,  der 
König  werde  als  solcher  sich  über  den  Parteien  halten  2)." 

Solche  Selbstbeschränkung  aber  lag  nicht  in  der  Natur 
Friedrich  Wilhelms  IV.  ^).  Innig  durchdrungen  von  dem  christ- 
lich-romantischen Ideal  der  Restaurationszeit  und  tief  erfüllt 
von  dem  Glauben  an  die  ,, geheimnisvolle  Erleuchtung,  die  den 
Königen  vor  allen  anderen  Sterblichen  durch  Gottes  Gnade 
beschieden  sei",  betrachtete  er  als  seine  historische  Mission, 
im  öffentlichen  Leben  seine  Überzeugungen  zur  Geltung  zu 
bringen.  Ein  geschworener  Feind  der  Aufklärung,  die  mit 
unerschütterlichem  Selbstgefühl  die  Souveränität  der  Vernunft 
proklamierte  und  über  die  Satzungen  des  Glaubens  wie  über 
die  anderen  Überlieferungen  der  Jahrhunderte  sieges sicher  zu 
neuen  Zielen  fortstürmte,  erblickte  er  das  Heil  einzig  in  der 
langsamen  Fortbildung  und  dem  organischen  Ausbau  der  aus 
ferner  Vergangenheit  überkommenen  Einrichtungen.  Im  Grunde 
seines  Gemüts  wurzelte  eine  tief-religiöse  Verehrung  für  das 
allmähliche  Wachstum  der  geschichtlichen  Welt,  ein  natürlicher 


*)  Koeppen,  Friedrich  der  Große  und  seine  Widersacher.  Eine  Jubel- 
schrift. Leipzig  1840.  Von  ähnlicher  Tendenz  erfüllt  ist  D.  Karl  Eiedel, 
Staat  und  Kirche.  Manuskript  aus  Norddeutschland  als  Antwort  an  Eom  und 
seine  Freunde.  Beitrag  zur  Gedächtnisfeier  der  Thronbesteigung  Friedrichs 
des  Großen.     Berlin  1840. 

*)  Briefwechsel  zwischen  Bruno  Bauer  und  Edgar  Bauer  während  der 
Jahre  1839 — 1842  aus  Bonn  und  Berlin.  Charlottenburg  1844.  Edgar  an 
Bruno  13.  Juni  1840. 

^)  Treitschke,  Deutsche  Geschichte  V,  S.  7. 


14      Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Kadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Abscheu  gegen  die  Revolutionen,  die  mit  täppischer  Selbst- 
überhebung in  diesen  göttlichen  Prozeß  hineinpfuschten.  Dabei 
übersah  er  nur,  daß  auch  die  Revolutionen,  wie  die  Katastrophen 
in  den  Naturprozeß,  in  den  Verlauf  der  Geschichte  hineingehören 
und  daß  von  ihnen  Wirkungen  ausgehen,  die  sich  mit  dem 
geistigen  Organismus  der  Völker  so  unlösbar  verbinden,  daß 
es  sich  rächen  muß,  wenn  man  sie  hochmütig  übersieht.  Nun 
hatte  zwar  der  Geist  der  Aufklärung,  den  sein  Erzieher  dem  Kron- 
prinzen vergebens  zu  vermitteln  gesucht  hatte,  in  Preußen  nicht 
zur  Revolution  geführt  sondern  sich  nach  Beseitigung  der  aus- 
wärtigen Gefahr  mit  der  konservativen  Praxis  der  Restaurations- 
zeit sogar  gut  abgefunden.  Aber  dennoch  besaßen  die  Vernunft- 
ideen und  der  Zentralismus  einer  Epoche,  die  wenig  Sinn  für 
die  bunte  Mannigfaltigkeit  des  regionalen  Lebens  zeigte,  doch  auch 
hier  einen  gewaltigen  Einfluß  auf  das  allmächtige  Beamtentum. 
Starken  Rückhalt  gewährte  ihnen  dabei  die  Hegeische  Philo- 
sophie, deren  aller  Romantik  abgewandtes  Verstandeswesen  die 
preußischen  Hochschulen  beherrschte. 

Schon  der  Kronprinz  hatte  versucht,  in  diese  ,, kahle" 
und  von  einer  ,, seelenaustrocknenden"  Vernunft  erfüllte  Welt 
mehr  Wärme  und  Farbe  hineinzutragen.  Aber  seine  Verwen- 
dungen für  die  Berufung  glaubensstarker  Geistlicher  und  histo- 
risch empfindender  Gelehrter  fanden  nur  selten  Anklang  bei 
Altenstein  und  dem  allem  Pietismus  und  aller  Romantik  ab- 
holden Sinn  seines  königlichen  Vaters.  Nun  hatte  der  Tod 
fast  gleichzeitig  den  Monarchen  und  seinen  Minister  ereilt  und 
die  Bahn  frei  gemacht  für  die  Absichten  des  neuen  Herrn,  der 
sich  zutraute,  ein  ,,entkirchlichtes"  Geschlecht  zu  jenem  lebendi- 
gen Christentum  zurückzuführen,  in  dem  seine  empfindungsreiche 
Seele  ihren  Halt  fand^).  Der  Spruch  des  Augustinus  war  ihm 
Erlebnis  geworden:  Der  menschliche  Geist  zeuge  wohl  vom 
Licht,  aber  sei  nicht  das  Licht,  das  wahre  Licht  sei  das  Wort, 
welches  Gott  ist,  der  alles  geschaffen  habe.  Von  diesem  Glauben 
an  einen  persönlichen  Gott  und  Weltschöpfer  führte  keine  Brücke 
zu  einer  Philosophie,  die  nur  einen  Gott  kannte,  der  als  absolute 
Substanz  die  Menschheit  durchdringt  und  dadurch  seiner  selbst 
bewußt  wird. 

Im  Kampf  der  Meinungen  kümmert  sich  selbst  die  den- 
kende Menge  selten  um   das  feine  geistige  Geäder,   das  die 


')  Kanke,  Aus  dem  Briehvechsel  Friedrich  Wilhelms  IV.  mit  Bunsen, 
S.  76  f. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      15 


Gesinnungen  ihres  Königs  mit  jenen  Zielen  verbindet,  die  sie 
ihn  in  der  Öffentlichkeit  verfolgen  sieht.  Wohl  ehrte  auch 
der  König  auf  seine  Weise  die  Freiheit  des  Geistes,  aber  kraft 
des  Glaubens  an  seine  göttliche  Berufung  hielt  er  doch  die 
eigene  Weltanschauung  für  die  allein  wahre,  und  diese  sagte  ihm, 
daß  alle  gesellschaftliche  Ordnung  zusammenstürzen  müsse, 
wenn  der  Glauben  an  die  Offenbarung  verloren  ginge.  Jedoch 
der  Zeitgeist  wollte  diese  Schranke  nicht  anerkennen.  Da 
wußte  der  König  sich  nicht  anders  zu  helfen,  als  durch 
eine  kleinhche  und  brutale  Unterdrückungspolitik,  die  seiner 
nicht  würdig  war  und  auch  niemals  zu  dem  gewünschten 
Ziele  führen  konnte. 

Schon  bei  der  Wahl  von  Altensteins  Nachfolger  zeigte 
Friedrich  Wilhelm  keine  glückliche  Hand.  Zwar  brachte  das 
Publikum  dem  neuen  Kultusminister  Eichhorn  anfangs  Ver- 
trauen entgegen,  da  es  seine  Verdienste  um  die  Ausgestaltung 
des  Zollvereins  kannte.  Aber  er  wurde  bald  der  bestgehaßte 
Mann  im  preußischen  Staat,  als  er  im  Einverständnis  mit 
seinem  königlichen  Herrn  einen  schroffen  Systemwechsel  in  der 
Kirchen-  und  Unterrichtspolitik  vollzog.  Nichts  verletzt  ein  Volk 
mehr,  als  wenn  es  sich  in  einer  Sphäre  beeinträchtigt  sieht,  in  der 
es  an  Freiheit  und  Selbstbestimmung  gewöhnt  ist.  Nun  waren 
in  Preußen  bis  dahin  Religion  und  Weltanschauung  ziemHch 
die  einzigen  Gebiete,  innerhalb  deren  die  sonst  überall  bevor- 
mundende Regierung  leidhche  Zurückhaltung  beobachtete.  Hier 
zuerst  hatte  das  beginnende  Parteiwesen  sich  frei  entfalten 
können.  Von  hier  aus  drängte  jetzt  eine  auf  Kant  und  Hegel 
fußende,  aber  über  sie  hinausstrebende  junge  Generation  auf  die 
Eroberungen  der  politischen  Praxis  zu.  Wie  mußte  sie  es  ent- 
täuschen, als  sie  erkannte,  daß  der  neue  König  gegen  sie  Partei 
ergriff  und  ganz  im  Sinne  der  von  ihr  gehaßten  Romantik  i) 
die  Durchdringung  von  Staat  und  Gesellschaft  mit  dem  Geist 
des  positiven  Christentums  als  seine  eigentlichste  Aufgabe  be- 
trachtete! Plötzlich  sah  sich  die  Hegeische  Schule,  die  seit 
zwanzig  Jahren  die  Universitäten  Preußens  beherrschte,  bei 
allen  Neubesetzungen  akademischer  Lehrstühle  übergangen. 
Dafür  sonnten  sich  Orthodoxe,  Pietisten,  Romantiker,  Wort- 
führer der  historischen  Rechtsschule  in  der  Gunst  des  neuen 
Ministers.    Schellings  Berufung  von  München  nach  Berlin,  von 

^)  Vgl.  u.  a.  Rüge  u.  Echtermeyer:  „Manifest  zur  Verständigung  über 
die  Zeit  und  ihre  Gegensätze.  Der  Protestantismus  und  die  Romantik"  in 
Hall.  Jahrb.  1839  und  1840. 


16      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen, 

Friedrich  Wilhelm  schon  seit  acht  Jahren  betrieben,  erfolgte  in 
der  ausgesprochenen  Absicht,  daß  die  Offenbarungsphilosophie, 
die  er  mitbrachte,  die  ,, Drachensaat  des  Hegeischen  Pantheis- 
mus"^) aus  den  Geistern  der  heranwachsenden  Jugend  aus- 
rotten sollte. 

Für  staatsgefährlich  hielt  der  König  die  Hegeische  Lehre, 
die  er  immer  verabscheut  hatte,  besonders  seitdem  jüngere 
Vertreter  die  Wendung  auf  die  Tagespolitik  genommen  hatten 
und,  wie  er  es  auffaßte,  in  den  Hallischen  Jahrbüchern  den 
Umsturz  predigten.  Dieses  wissenschaftliche  Organ  einer  un- 
gläubigen Opposition  unschädlich  zu  machen,  hielt  er  direkt 
für  seine  Pflicht.  Auf  seinen  persönlichen  Antrieb  2)  erzwang 
die  Regierung  im  Frühling  1841  die  Entfernung  der  Jahrbücher 
aus  Halle,  ohne  aber  vorläufig  etwas  anderes  damit  zu  erreichen, 
als  daß  deren  ,,Zügellosigkeit"  in  Leipzig  eine  schnelle  und  fröh- 
hche  Auferstehung  feierte.  Das  letzte  Signal  zum  Losbrechen 
der  junghegelschen  Opposition  gegen  das  Schreckbild  des  ,, christ- 
lichen Staats"  und  danach  gegen  Christentum  und  Staat  über- 
haupt gab  kurz  darauf  die  Maßregelung  des  Privatdozenten  der 
Theologie  Bruno  Bauer  in  Bonn,  der  in  einem  kirchengeschicht- 
lichen Werk  den  göttlichen  Ursprung  der  Evangelien  geleugnet 
hatte.  Stärker  als  die  zögernde  Haltung  des  Königs  in  der 
Verfassungsfrage  hat  seine  Verständnislosigkeit  für  das  geistige 
Freiheitsbedürfnis  eines  erwachenden  Volks  die  allgemeine 
Unzufriedenheit  geschürt.  Seine  offensichtliche  Begünstigung 
muckerischer  Bestrebungen,  deren  Sieg  das  heilige  Palladium 
der  Geistesfreiheit  zu  vernichten  drohte,  bewirkte  jetzt  zum 
erstenmal  einen  elementaren  Zusammenschluß  aller  unzufriedenen 
und  vorwärts  drängenden  Elemente  3).  Für  Preußen  war  das 
eine  völhg  neue  und  bedeutende  Erscheinung.  Wir  stehen  hier 
in  der  Tat  an  der  Wiege  der  Bewegung,  die  in  der  März- 
revolution von  1848  gipfelte. 

IV. 

Ein  ,, Mensch  in  seinem  Widerspruch"  war  Friedrich 
Wilhelm  IV.    auch   in   seinem   Verhalten   zur    Presse,   die   ihn 


0  Worte  des  Königs.     Vgl.  TreitschkeVS.  8. 

*)  Kabinetsorder  vom  11.  März  1841,  Geh.  St.  Arch. 

")  Näheres  über  das  System  Eichhorn  bei  Prutz,  Zehn  Jahre,  11  S.  52  ff. 
und  Ijei  Treitschke  Bd.  V  S.  229  f.  Das  Sündenregister  Eichhorns  vom 
Standpunkt  des  Liberalismus  u.  a.  bei  Joh.  Jacoby,  Preußen  im  Jahre  1845. 
Wieder  abgedruckt  in  Gesammelte  Reden  und  Schriften  I  S.  286  ff. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.       17 

seit  seinem  Regierungsantritt  beschäftigte.  Im  Interesse  des 
öffentlichen  Lebens  wünschte  er  ihr  eine  größere  Freiheit  zu 
gewähren,  aber  gleichzeitig  fürchtete  er,  einer  ,, schrankenlosen 
Verbreitung  verführerischer  Irrtümer  und  verderbter  Theorien 
über  die  heiligsten  und  ehrwürdigsten  Angelegenheiten  der  Gesell- 
schaft auf  dem  leichtesten  Wege  und  in  der  flüchtigsten  Form" 
Vorschub  zu  leisten^).  Selbst  als  er  Österreich  zuliebe  im 
Sommer  1841  einer  Verlängerung  der  reaktionären  Bundes- 
gesetze über  die  Presse  zugestimmt  hatte,  hielt  er  fest  an  dem 
Vorhaben,  den  Zeitungen  seines  Landes,  soweit  das  Bundes- 
recht es  gestattete,  zu  einer  freieren  Bewegung  zu  verhelfen. 
Aus  dieser  Absicht  entsprang  sein  Edikt  vom  24.  Dezember  1841, 
das  die  Minister  zu  einer  milderen  Handhabung  der  bestehen- 
den Zensurverfügungen  ermahnte.  Eine  ,, freimütige  Besprechung 
vaterländischer  Angelegenheiten,  insofern  sie  wohlmei- 
nend und  anständig  sei",  wollte  er  hinfort  gestatten.  Ein 
weiterer  Schritt  auf  diesem  löblichen  Wege  war  die  Freigebung 
von  Bildern  und  Karrikaturen  im  Mai  1842,  die  im  Februar 
des  folgenden  Jahres  zurückgenommen  wurde.  Im  Oktober 
wurde  dann  noch  für  alle  Bücher  von  mehr  als  zwanzig  Bogen 
die  Zensur  gänzlich  abgeschafft. 

Hernach  kam  der  Rückschlag.  Friedrich  Wilhelm  hatte 
sich  nämlich  falsch  beurteilt,  als  er  angenommen,  daß  er  eine 
freimütige  Kritik  seiner  Regierungshandlungen  vertragen  könnte. 
Als  nach  dem  Weihnachtsedikt,  wie  von  einem  Zauberstabe 
berührt,  die  preußische  Publizistik  mit  ungeahnter  Kraft  und 
Fruchtbarkeit  in  die  Halme  schoß,  erhob  er  sich  fast  täglich 
in  seinen  heiligsten  Gefühlen  gekränkt  von  der  Lektüre  der 
Zeitungen,  die  er  mit  Eifer  betrieb  2).  Schon  die  Maßregelung 
der  Redakteure  Witt  von  der  Königsberger  und  Rutenberg  von 
der  Rheinischen  Zeitung  sowie  die  Kabinetsorder  vom  14.  Okto- 
ber 1842  konnten  den  zu  Hoffnungsreichen  zu  Gemüte  führen,  daß 
aus  dem  herrschenden  politischen  Halbdunkel  nicht  notwendig 
die  Morgenröte  hervorbrechen  mußte.  Herweghs  nicht  zur 
Veröffentlichung   bestimmter,    freimütiger,    aber    prahlerischer 


^)  Kabinetsorder  betreffend  die  Zensur  der  Zeitungen  und  Flugscliriften 
und  die  Genehmigung  der  vom  Staatsministerium  entworfenen  Zensurinstruk- 
tion vom  31.  Januar  1843."  Vgl.  für  das  folgende  Treitschke,  Deutsche 
Geschichte  V  189  ff. 

^)  Vgl.  die  Erzählungen  des  Ministers  von  Bülow  an  Varnhagen  von 
Ense  in  dessen  Tagebuch  unter  dem  22.  Dezember  1842  und  ebendort 
20.  Oktober. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  Q 


18      Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Brief,  der  durch  eine  Unvorsichtigkeit  Reinhold  Jachmanns  ^) 
in  die  Leipziger  Allgemeine  Zeitung  gelangte,  brachte  nur  ein 
ohnehin  volles  Faß  zum  Überfließen.  Mit  der  Kabinetsorder 
vom  31.  Januar  1843  zerstörte  sich  Friedrich  Wilhelm  sein 
eigenes  Werk :  fast  alle  Zugeständnisse  wurden  zurückgenommen, 
und  der  Nation,  die  sich  schon  auf  dem  Wege  zur  vollen  Preß- 
freiheit vermuten  konnte,  verblieben  Enttäuschung  und  Ver- 
bitterung sowie  die  Überzeugung,  daß  auch  der  ,, letzte  Fürst, 
auf  den  man  baute",  keine  wirklich  freiheitliche  Wendung  der 
Zustände  herbeiführen  werde. 

Aber  der  kurze  Zeitraum  zwischen  jenem  liberalen  und 
diesem  reaktionären  Preßedikt,  der  im  wesentlichen  das  Jahr  1842 
umfaßt,  diese  Monate  der  ,, bedingten  Preßfreiheit"  erwiesen 
sich  als  ungeahnt  folgenreich  für  das  politische  Parteiwesen  in 
Preußen,  das  sich  zum  erstenmal  mit  einiger  Freiheit  entfalten 
konnte ! 

Aus  der  zunehmenden  Lebhaftigkeit  des  Kampfes,  der  auf 
der  ganzen  Linie  mit  explosiver  Kraft  entbrannte,  ergab  sich, 
daß  die  Regierung  den  einzelnen  Forderungen  der  Opposition, 
wenn  sie  nicht  in  aufreizender  Sprache  vorgebracht  wurden, 
allmähhch  mit  mehr  Gelassenheit  begegnete.  Kundgebungen, 
die  noch  zu  Anfang  1841  Anklagen  wegen  Hochverrats  zur 
Folge  hatten,  klangen  gemäßigt,  als  zu  Anfang  des  folgenden 
Jahres  die  Zensur  die  Zügel  lockerer  Heß  und  nun  weit  radikalere 
Stimmen  laut  wurden. 

Eine  scharfe  Grenze  zwischen  Liberalismus  und  Radikalis- 
mus kannte  der  Sprachgebrauch  im  Anfang  der  vierziger  Jahre 
noch  nicht.  Selbst  später  hat  in  Deutschland  das  Wort  „radikal" 
niemals,  wie  in  andern  Ländern,  als  offizielle  Parteibezeichnung 
einen  festen  historischen  Inhalt  besessen.  In  seinem  Artikel 
über  ,,RadikaHsmus"  für  das  Rotteck- Welckersche  Staatslexikon 
wendet  Rutenberg  den  Begriff  auf  deutsche  Zustände  über- 
haupt nicht  an.  Auch  hierin  im  Widerspruch  zu  den  meisten 
seiner  Zeitgenossen,  sogar  zu  seinem  Freunde  Bunsen,  faßte 
Friedrich  Wilhelm  IV.  den  ,,RadikaHsmus"  als  eine  eigene 
Richtung  auf,  die  ,, wissen thch  vom  Christentum,  von  Gott,  von 
jedem  Rechte,    das   besteht,    von   götthchen   und  menschlichen 


0  Herwegh  an  Jacoby,  14.  Januar  1843  (ungedruckt):  „Da  wäre  ich  denn 
wieder  auf  dem  Trockenen,  nachdem  mich  Jachmanns  Unvorsichtigkeit  recht 
in  die  Patsche  gebracht  hatte.  Ich  grüße  ihn  übrigens  herzlich  und  danke 
ihm,  daß  er  der  Audienz  einen  Schhiß  zugefügt;  es  mußte  alles  so  kommen, 
wie  es  kam,  zu  meinem  Besten  und  zu  Nutz  und  Frommen  der  Sache." 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.       19 

Gesetzen  abgefallen"  i)  und  mit  dem  Liberalismus  wesensver- 
schieden ist.  Aber  die  große  Mehrzahl  der  Stimmen,  die  sich 
hierzu  äußern,  läßt  zwischen  Liberalismus  und  Radikalismus 
nur  einen  quantitativen  Gegensatz  zu.  Ruten berg  sieht  den 
Namen  und  den  Inhalt  des  modernen  Radikalismus  zuerst  im 
amerikanischen  Unabhängigkeitskrieg  auftauchen.  Eine  Wesens- 
gleichheit von  Radikalismus  und  Republikanismus  will  er  aber 
nicht  gelten  lassen  und  auf  die  Volkssouveränität  als  Kenn- 
zeichen weist  er  kaum  hin.  Eher  scheint  ihm  unter  dem 
Eindruck  der  Chartistenbewegung,  die  er  mit  Recht  als  die 
wichtigste  Äußerung  des  zeitgenössischen  Radikalismus  ansieht, 
das  allgemeine  gleiche  Stimmrecht  dessen  Charakterzeichen  zu 
sein.  Je  mehr  nun  in  der  Folge  auch  bei  uns  die  politischen 
Bestrebungen  in  den  Vordergrund  traten,  um  so  mehr  ver- 
drängte im  deutschen  Parteileben  die  für  diese  Sphäre  präg- 
nantere Bezeichnung  ,, Demokratie"  2)  die  umfassendere  aber 
unbestimmtere  ,, Radikalismus".  Aber  die  Umschreibung  der 
Bestrebungen,  die  diese  Studie  berücksichtigen  will,  wird  er- 
leichtert, wenn  wir  für  eine  Zeit,  da  die  Begriffe  noch  in  Fluß 
waren,  die  auch  späterhin  parteihistorisch  nicht  fest  aus- 
geprägte Bezeichnung  beibehalten.  Wir  befinden  uns  mit  der 
großen  Mehrzahl  der  Schriftsteller  und  Politiker  der  Epoche 
im  Einverständnis,  wenn  wir  beim  Liberalismus  dieser  Jahre 
den  praktischen,  beim  Radikalismus  den  theoretischen  Aus- 
gangspunkt unterstreichen,  wenn  wir  den  Liberalismus  stärker 
an  die  Gedanken  und  Forderungen  der  preußischen  Reform- 
ära, den  Radikalismus  an  die  der  französischen  Revolution 
anknüpfen  lassen,  wenn  wir  die  Theorie  des  Liberalismus  mit 
Kant,  die  des  Radikalismus  mit  Rousseau  und  der  junghegelia- 
nischen Auslegung  der  Identitätsphilosophie  in  nahe  Verbindung 
setzen,  wenn  wir  den  Liberalismus  also  mehr  von  innen,  den 
Radikalismus  mehr  von  außen  her  an  den  bestehenden  Zustän- 
den Kritik  üben  sehen.    Da  der  Liberalismus  in  der  politischen 


^)  Der  König  an  Bansen  4.  und  8.  Dezember  1847.  Ähnlich  wie  der 
König  dachte  Bakunin,  nur  daß  dieser  bereits  von  der  demokratischen 
Partei  spricht. 

*)  Den  Spuren  des  Worts  „Demokratie"  bei  den  deutschen  Staatsphilo- 
sophen und  Politikern  nachzugehen,  wäre  eine  dankbare  Aufgabe.  Fichte 
benutzte  den  Ausdruck  bereits  im  modernen  Sinne.  Unter  den  Junghegelianem 
verwandte  ihn  anscheinend  mit  am  frühesten  Bakunin  (Jules  Elysard)  in 
seinem  bekannten  Aufsatz:  „Die  Reaktion  in  Deutschland"  in  Deutsche  Jahr- 
bücher 17.  bis  21.  Oktober  1842. 


20      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Sphäre  seine  Heimat  sah,  so  konnte  er  von  der  Reahtät  nicht 
so  völhg  abstrahieren  wie  der  Radikahsmus,  der  aus  der  Wurzel 
des  Prinzips  aufschießt  und  auf  nichts  ängsthcher  bedacht  ist, 
als  dieses  rein  zu  erhalten. 

Wie  unratsam  es  für  den  Historiker  wäre,  die  beiden  Rich- 
tungen schon  hier  qualitativ  zu  scheiden,  lehrt  am  anschau- 
lichsten ein  Blick  auf  die  spezifisch  liberale  Bewegung  der 
Provinz  Preußen.  In  der  Öffentlichkeit  traten  hier  bis  zu 
den  Verhandlungen  des  Vereinigten  Landtages  zwischen  den 
späteren  Vorkämpfern  des  Vereinbarungsprinzips  und  der  Volks- 
souveränität, also  zwischen  Konstitutionellen  und  Demokraten, 
sachliche  Gegensätze  nicht  hervor.  Als  Edgar  Bauer  von  seinem 
radikalen  Standpunkt  den  Kampf  gegen  die  ,, Irrtümer  der  ost- 
preußischen Opposition"  eröffnete,  wählte  er  Johann  Jacoby  als 
den  typischen  Vertreter  des  konstitutionell  gesinnten  Libera- 
hsmus  zum  Zielpunkt  seines  Angriffs.  IVIan  lasse  sich  nicht 
beirren,  wenn  Rosenkranz  i),  der  in  Königsberg  lebte,  die 
Menschen  kannte  und  auch  ihre  privatim  geäußerten  Ansich- 
ten berücksichtigt,  jene  Männer,  die  im  Dezember  1842 
im  Kneiphöf sehen  Junkerhof  Herwegh  feierten,  als  ,, unsere 
Radikalen"  bezeichnet,  von  denen  er  als  Liberaler  abrückt. 
Temperament,  Abstammung  und  Einflüsse  bedingten  natürlich 
schon  Gradunterschiede  in  den  Anschauungen;  diese  konnten 
sogar  beträchtlich  sein,  aber  eine  prinzipielle  Herausarbeitung 
der  Gegensätze  war  noch  nicht  erfolgt. 

Die  von  den  ostpreußischen  Ständen  ausgehende  Ver- 
fassungsbewegung, die  in  Jacobys  Vier  Fragen  ihren  klassischen 
Ausdruck  fand,  entsprang  der  Überzeugung,  daß  die  Zeit  der 
patriarchalischen  Regierungen,  ,,für  welche  das  Volk  aus  einer 
Masse  Unmündiger  bestehen  und  sich  beliebig  leiten  und  führen 
lassen  solle"  (Th.  von  Schön:  Woher  und  Wohin?)  auf  immer 
vorüber  sei,  daß  der  politische  Anteil  des  preußischen  Volks 
mit  seinem  Kulturgrad  in   keinem  Verhältnis   stände  (Jacoby), 

*)  Rosenkranz,  Aus  einem  Tagebuch  (1833  bis  1846).  Leipzig  1854. 
S.  245.  Der  Oberpräsident  Bötticher  erhielt  auf  seinen  ausdrücklichen  Wunsch 
vom  Polizeipräsidenten  Abegg  die  Liste  der  Beamten,  die  an  der  Herwegh- 
Feier  teilgenommen  hatten.  Nur  wenige  von  diesen  entwickelten  sich  später 
in  „radikaler"  Richtung.  Genannt  wurden  u.  a.  Oberlaudesgerichtsrat  Cre- 
linger,  Justizrat  Malinski,  Justizkommissar  Mahraun,  Landesgerichtsassessor 
Flottwell,  die  Universitätsprofessoren  A.  Hagen  und  von  Lengerke.  Das  Ko- 
mitee, das  die  Einladung  ergehen  ließ,  hatte  bestanden  aus  Stadtrat  Funke, 
Kaufmann  Heinrich,  Buchliändler  Voigt  und  Walesrode.  Vgl.  im  Geh.  Staats- 
archiv die  Akten  über  Herwegh. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      21 

und  daß  Preußen  nicht  eher  „die  seiner  Bildung  angemessene 
Stelle  im  Gesamtvaterlande  erhalten  und  behaupten"  werde,  als 
die  Bedürfnisse,  Wünsche  und  Beschwerden  des  Volks  durch 
selbständige  Vertreter  unmittelbar  zum  Throne  gelangen 
könnten  (Jacoby).  Zwar  klangen  noch  zuweilen  bei  den  Vor- 
kämpfern des  ostpreußischen  Liberalismus  die  weltbürgerlichen 
Töne  einer  absterbenden  Epoche^)  mit  an;  aber  in  den  prak- 
tischen Forderungen,  über  die  man  sich  hier  einiger  war  als 
irgendwo  sonst  im  Lande,  stellte  man  sich  mit  entschiedener 
Loyalität  auf  den  Boden  des  preußischen  Staats  und  der  Hohen- 
zollernschen  Tradition. 

„Wer  wagt's,  den  Vormund  über  uns  zu  spielen, 
Sobald  wir  mündig  sind,  uns  mündig  fühlen?!'"') 

Diese  Worte  des  Königsberger  Studenten  Rudolph  Gott- 
schall drücken  deutlich  den  Grundklang  der  mächtigen  Bewe- 
gung aus,  die  jetzt  zum  erstenmal  auf  preußischem  Boden, 
von  Königsberg  und  Elbing  ausgehend,  doch  weit  ins  platte 
Land  hinein  nachhallend,  etwas  schuf,  das  wie  eine  wirkliche 
politische  Partei  aussah.  Aber  die  Idee  der  Volksmündigkeit, 
die  ihr  zugrunde  lag,  war  nur  die  prägnante  Ausprägung  des 
Persönlichkeitsideals  Immanuel  Kants,  des  Lehrers  dieser  ganzen 
Generation  von  Ostpreußen.  Daß  Kant  in  der  geistigsten  Bedeu- 
tung des  Wortes  auferstanden  sei,  stellte  Alexander  Jung  in  seinem 
Literaturblatt  fest.  Der  nannte  ihn  den  eigentlichen  Polarstern 
dieser  Bewegung,  die  auf  pohtischem,  kirchlichem,  literarischem 
und  geselligem  Gebiet  die  Anerkennung  der  Vernunft  und  der 
Freiheit  des  Individuums  zur  Geltung  bringen  wolle  ^).  Durch- 
blättert man  die  damals  in  ganz  Deutschland  beachteten  Leit- 
artikel der  führenden  Zeitung  der  Provinz  aus  der  Zeit  der 
,, beschränkten  Preßfreiheit",  so  findet  man  sie  völlig  durch- 
tränkt mit  den  Anschauungen  der  Aufklärung,  wie  Kant  sie 
ausgeprägt  hatte.  In  Dingen,  die  auf  reiner  Vernunfterkenntnis 
beruhen,  heißt  es  einmal,  also  in  der  Religion  und  der  Moral, 
könne  man  nicht  von  Laien  sprechen,  so  wenig  wie  in  der 
Politik,  zumal  Politik  ,, bekanntlich"  nichts  anderes  sei  als  Moral 
in  ihrer  Anwendung  auf  den  Staat  und  auf  die  Staatsverhält- 
nisse.     Freilich  dürfe   man  Politik  nicht  verwechseln   mit  der 


')  Vgl.  z.  B.  Reinh.  Jachmanns  Artikel:  „Spanische  Literatur  in 
Deutschland"  im  Königsb.  Literaturblatt  vom  24.  November  184L 

^)  (R.  Gottschall),  Lieder  der  Gegenwart.     Königsberg  1842. 

*)  ,,Der  Geist  Königsbergs  und  der  Provinz"  in  Königsb.  Lit.  Zeitung, 
21.  September  1842. 


22      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

positiven  Staatswissenschaftslehre,  die  in  ihren  gesetzhchen  Be- 
stimmungen und  dem  ganzen  sogenannten  Aktenkram  aller- 
dings erlernt  werden  müsse  ^).  Als  höchster  Staatszweck  gilt 
diesem  Liberalismus,  wo  er  unmittelbar  aus  der  Weltanschauung 
heraus  seine  Grundsätze  formuliert,  die  Bildung  der  ganzen 
Nation.  Dieser  Zweck  könne  aber  nur  erreicht  werden,  wenn 
der  einzelne  in  seinen  angeborenen  und  erworbenen  Rechten 
geschützt  und  jedem  nützhchen  Talent  die  Ausbildung  erleichtert 
würde.  Für  große  Staaten  wird  die  konstitutionelle  Monarchie 
als  die  passendste  Form  angesehen,  dabei  unter  Konstitution 
diejenige  Art  von  Verfassung  verstanden,  in  der  das  Volk  durch 
besondere  Einrichtungen  gegen  jede  vom  Staatszweck  abweichende 
Anwendung  der  höchsten  Gewalt  geschützt  ist  ^). 

Unter  ihrem  Liberahsmus  begriffen  diese  Kantianer  na- 
türlich nichts  anderes  als  die  Vernunfterkenntnis,  an- 
gewandt auf  die  bestehenden  Zustände.  Freiheit  und 
Vernunft  war  ihnen  ein  und  dasselbe,  und  sie  haßten  nichts 
mehr  als  ,, Vorurteile  und  Voraussetzungen",  diese  ,, unvermeid- 
lichen Anhängsel  des  Historischen".  Da  sie  das  Gewordene 
nach  dem  alleinigen  Maßstabe  des  Vernünftigen  beurteilten,  so 
betrachteten  sie  es  als  ihre  Aufgabe,  die  Menschheit  von  ihrer 
Geschichte  zu  heilen.  Wohl  walte  die  Vernunft  auch  in  der 
Geschichte,  aber  sie  sei  darum  nicht  identisch  mit  dem  Geschicht- 
lichen, wohl  sei  die  Vernunft  so  alt  wie  die  Geschichte,  aber 
sie  sei  darum  nicht  das  Alte^).  Ihr  Vertrauen  in  die  Ver- 
nunft, deren  Inhalt  sie  blindhngs  mit  ihren  Anschauungen 
identifizierten,  in  eine  absolute  Vernunft,  die  nicht  wie  bei 
den  Hegelianern  unter  den  Verwandlungskünsten  der  Dialektik 
ihren  Inhalt  verändern  konnte,  dazu  ihr  ausgesprochener  Zweifel 
an  der  Heiligkeit  des  historisch  Gewordenen,  verliehen  diesen 
preußischen  Liberalen  eine  wundervolle  Selbstsicherheit,  eine 
Stärke  und  Zähigkeit  des  Charakters,  wie  sie  nur  Menschen 
eignet,  die  bodenständig  in  einer  Weltanschauung  wurzeln. 
Später,  als  es  darauf  ankam,  von  dem  Kampf  gegen  das  Ver- 
altete und  Abgestorbene  zum  Aufbauen  überzugehen,  wobei 
das   Anknüpfen   an   das  historisch  Gewordene  sich  nicht  ver- 


0  Königsb.  Zeitung,  1842,  Nr.  167:  „Laien  in  der  Politik." 

^)  Ebendort  Nr.  1.58:  „Konstitutionelle  Verfassungen." 

*)  ,, Preußen  seit  der  Einsetzung  Arndts  bis  zur  Absetzung  Bauers"  (verfaßt 

etwa  im  Mai  1842)   in  Herweghs    Einundzwanzig  Bogen  aus   der  Schweiz. 

Zürich  und  Winterthur  1843. 


Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      23 

meiden  ließ,  da  zeigte  es  sich  freilich,  daß  gerade  mancher  der 
am  stärksten  hervorgetretenen  Wortführer  der  Richtung  dieser 
noch  schwierigeren  Aufgabe  nicht  gewachsen  war. 

Die  geographische  Lage  der  Provinz,  die  geistige  Alleinherr- 
schaft der  Albertina,  Kants  überragende  Größe  —  alles  wirkte  zu- 
sammen, um  dem  kraftvollen  Individualismus,  der  diese  Weltan- 
schauung erfüllte,  eine  fast  ausschließhche  Herrschaft  über  die  Ge- 
müter zu  verschaffen.  Denn  die  Beamten  aller  Kategorien,  die  Geist- 
hchen,  die  Lehrer  und  die  Literaten,  auch  die  zahlreichen  Guts- 
besitzer, die  gern  einige  Semester  in  Königsberg  studierten,  bevor 
sie  sich  auf  ihren  einsamen  Gütern  der  Praxis  ausheferten,  sie 
alle,  der  fast  wie  ein  König  verehrte  Oberpräsident  von  Schön 
an  der  Spitze,  waren  durch  Kants  Schule  gegangen.  Als 
nach  der  mutigen  Rede  des  Königsberger  Gewüi'zkrämers  Hein- 
rich auf  dem  Provinziallandtag  und  der  durch  kein  Verbot 
aufzuhaltenden  Massenverbreitung  der  Vier  Fragen  die  Ver- 
fassungsbewegung lebhaft  in  Gang  gekommen  war,  zeigte 
sich  eine  solche  Übereinstimmung  zwischen  der  Majorität  des 
ostpreußischen  Adels  und  den  führenden  Geistern  in  den 
Städten,  daß  der  König  und  seine  Minister  beinahe  aus  der 
Fassung  gerieten  und  in  Berlin  das  törichte  Gerücht  Glauben 
finden  konnte,  die  Provinz  beabsichtige,  sich  von  der  Monarchie 
loszureißen  und  Schön  zum  Herzog  zu  wählen^).  Das  von 
Friedrich  Wilhelm  IV.  mit  Leidenschaft  geforderte  Hochverrats- 
und  Majestätsbeleidigungs verfahren  gegen  Jacoby,  das  durch  alle 
Instanzen  ging,  endete  bekanntlich  zum  Entsetzen  der  Majestät  mit 
der  völligen  Freisprechung  des  Angeklagten.  Diese  Vorgänge 
trugen  viel  dazu  bei,  die  Gemüter  wach  zu  halten  und  noch  mehr 
aufzurütteln.  Auf  eine  Bevölkerung,  die  an  die  öffentliche 
Behandlung  politischer  Fragen  noch  nicht  gewöhnt  war,  mußte 
Jacobys  starres  Festhalten  am  Rechtspunkt  und  seine  ständige 
Berufung  auf  die  Zusage  Friedrich  Wilhelms  IH.  eine  poh- 
tisch  erzieherische  Wirkung  ausüben.  Jacoby  war  in  diesem 
Prozeß  ,,der  Repräsentant  der  konstitutionellen  Partei, 
von  der  bis  dahin  in  Preußen  kaum  erst  vereinzelte  Anfänge 
existiert  hatten,  die  aber  jetzt  an  dem  Prozesse  selbst  sich 
heranbildete"  2).  Da  die  liberale  Bewegung  in  Ostpreußen  die 
breiten  Massen  der  städtischen  und  ländlichen  Bevölkerung, 
wenn   auch  noch  nicht  das  Proletariat,  erfaßt  hatte,    so  suchte 


^)  Alexander  Küntzel  an  Jacoby,  23.  März  1841  (ungedruckt), 
^)  Prutz,  Zehn  Jahre,  Bd.  I  S.  518. 


24      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

die  konservative  Minderheit,  unter  dem  Schutz  des  mit  Schön 
verfeindeten  Ministers  von  Rochow,  sich  ihrerseits  zu  organi- 
sieren, um  die  Verfassungsbestrebungen  zu  bekämpfen.  Die 
Männer,  die  am  15.  Februar  1841  in  Preußiscli  -  Holland  zu 
diesem  Zweck  eine  viel  beachtete  Versammlung  abhielten, 
nannten  sich  Antikonstitutionelle  und  Patrioten,  aber  auch 
die  ,, wahrhaft  Liberalen".  Unter  dem  jubelnden  Beifall  der 
halben  Provinz  entlarvte  die  Unehrlichkeit  dieser  letzteren 
Firmierung  Jacobys  Freund  Walesrode  in  einem  „Sendschreiben 
an  die  wahrhaft  Liberalen".  Aber  nach  dem  moralischen 
Schiffbruch  des  Landrats  von  Hacke,  des  betriebsamen  Füh- 
rers jener  Aktion,  der  noch  kurz  vor  seiner  Verhaftung  wegen 
ehrenrühriger  Handlungen  dem  König  sein  Programm  über- 
reichen durfte,  und  nach  dem  Rücktritt  Rochows,  den  der 
König  für  diese  Bloßstellung  der  Krone  verantworthch 
machte,  verlief  die  konservative  Gegenbewegung  im  Sande  ^). 
Doch  Friedrich  Wilhelm  IV.  beehrte  den  Königsberger  Libe- 
ralismus, neben  Jacoby  besonders  die  Königsberger  Zeitung 
und  ihren  tapferen  Redakteur  Witt,  auch  ferner  mit  seinem 
allerhöchsten  Haß.  Es  lag  nicht  an  ihm,  wenn  das  Blatt  trotz 
zweier  darauf  hinzielenden  Kabinetsorders  nicht  unterdrückt 
wurde.  Noch  am  24.  März  1843  schrieb  der  Monarch  im  Hin- 
bhck  auf  die  Königsberger  Zeitung  den  Zensurmiuistern,  daß 
er  es  für  unzulässig  erachte,  ,, Zeitungsprivilegien  aufrecht  zu 
erhalten,  wo  dieselben  zu  einer  Tendenz  der  Blätter  gemiß- 
braucht werden,  bei  deren  Duldung  alles  Regieren  auf  das 
äußerste  erschwert,  endlich  unmöglich  gemacht  werden  würde"  2). 
Um  den  Aufschwung  der  Presse  zu  würdigen,  der  nach 
dem  Bekanntwerden  des  Zensurzirkulars  von  Weihnachten  1841 
wenigstens  in  einigen  Gegenden  der  Monarchie  eintrat,  muß 
man  sich  die  Bedingungen  vorstellen  können,  unter  denen  sie 
bis  dahin  vegetiert  hatte.  Soweit  die  Zeitungen  überhaupt 
politische  Angelegenheiten  berühren  durften,  waren  sie  nur  ein 
Echo  der  Regierungsansichten  gewesen.  Höchstens  gelang  es 
einmal,  in  belletristische  Blätter  einen  liberal  angehauchten 
Artikel  einzuschmuggeln.  Legte  man  selbst  den  bescheidensten 
Maßstab   an,    so   durfte   man   die  Presse  nicht  als  den  Nieder- 

*)  Für  diese  Bestrebungen  vgl.  Polizeipräsident  Abegg  an  Rocbow, 
23.  Februar  und  Eochow  an  Oberlandesgerichtspräsident  von  Zander,  27.  Fe- 
bruar 1841,  (Geh.  Staatsarchiv),  Prutz  I  S.  357  ff.  und  Aus  den  Papieren 
Schöns  US  a.  a.  0. 

^)  Geh.  St.-Arch.  Akten  über  „Berliner  Zeitungen". 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      25 

schlag  der  öffentlichen  Meinung  ansehen.  Und  nun  auf  einmal 
war  es,  freilich  immer  unter  Aufsicht  von  Beamten,  gestattet, 
nicht  mehr  bloß  über  Straßenpflasterung  und  Viehmärkte,  sondern 
über  ernste  politische  Fragen  mit  eigenen  Ansichten  hervor- 
zutreten. Die  Königsberger  Zeitung  eröffnete  den  Reigen. 
Noch  niemals  hatte  man  die  inneren  Angelegenheiten  des 
preußischen  Staats  mit  soviel  Gründlichkeit,  Umsicht  und 
Freimut  in  einer  Tageszeitung  behandelt  gesehen!  Von  festen 
Prinzipien  geleitet,  brachten  hier  der  wackere  Witt  und  seine 
Mitarbeiter  die  Wünsche  der  freisinnigen  Kreise  Ostpreußens 
in  fest  umschriebenen  praktischen  Forderungen  zum  Ausdruck. 
Neben  der  Einführung  einer  Repräsentativverfassung  und  voller 
Preßfreiheit,  zu  der  das  Zensurzirkular  den  ersten  Stein  zu 
Hefern  schien,  verlangten  sie  besonders  die  Einführung  des 
öffentlichen  und  mündlichen  Gerichtsverfahrens  und  die  Gleich- 
stellung der  Juden.  Einige  Provinzblätter  des  Ostens  wie  die 
Elbinger  Anzeigen  und  die  Börsenblätter  der  Ostsee  schlössen 
sich  der  Richtung  der  Hartungschen  Zeitung  an. 

Man  hätte  erwarten  sollen,  daß  die  hauptstädtischen. 
Blätter  bei  der  Ausnutzung  der  neu  gewährten  Freiheit  sich 
von  der  Provinz  nicht  überflügeln  lassen  würden.  Aber  am 
Sitz  der  Zentralregierung  durfte  sich  das  liberale  Beamtentum 
seine  Gesinnungen  noch  weniger  anmerken  lassen  als  in  der 
Provinz,  und  nur  in  einem  kleineren  Kreis  von  Literaten  regten 
sich  schon  Spuren  oppositioneller  Betätigung.  Berlin  war  noch  in 
erster  Reihe  Residenzstadt  und  seine  Bevölkerung  loyal  und 
unpolitisch.  Königsberger,  die  damals  die  Hauptstadt  besuchten, 
kamen  sich  wie  nach  Korinth  verschlagene  Lakedämonier  vor. 
Mit  Entrüstung  berichtet  Walesrode  noch  im  Sommer  1843  den 
ostpreußischen  Freunden,  daß  man  sich  an  der  Spree  mit  Witzen 
gegen  die  ,, Gesinnung"  abfände:  ,,Sie  glauben  ungeheuer  frei 
zu  sein,  wenn  sie  Cerf,  die  Hagen,  den  König,  die  Tagesereig- 
nisse etc.  etc.  in  den  Kaffeehäusern  bewitzeln  auf  Eckensteher- 
Manier  in  der  bekannten  Tonart  i)."  Indifferenz  gemischt  mit 
zahmer  Furchtsamkeit  beherrschte  in  der  ,, Metropole  der 
deutschen  Bildung"  auch  die  Presse.  Die  Vossische  und  be- 
sonders die  Spenersche  Zeitung  glaubten  sich  ihrer  Abonnenten 
sicher,  auch  ohne  sonderliche  Anstrengungen  zu  machen,  und 
lehnten  die  Dienste,  welche  die  jungen  einheimischen  radikalen 
Schriftsteller  ihnen   jetzt,    bei  Beginn  der  größeren  Zensurfrei- 

0  Walesrode  an  Jacoby,  9.  Juni  1843  (ungedruckt). 


26      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

heit  anboten,  um  so  leichteren  Herzens  ab,  als  sie  gar  nicht 
daran  dachten,  sich  nach  obenhin  bloßzustellen.  Jene  aber 
sahen  sich  gezwungen,  ihre  übervollen  Köcher  in  Broschüren 
oder  in  auswärtige  Zeitungen  zu  entleeren.  Denn  die  Konzession 
zu  einem  neuen  politischen  Blatt  in  der  Residenz  wurde  von 
der  Regierung  anhaltend  verweigert^). 

Für  außerpreußische  Blätter  freiheitlicher  Richtung  wie  die 
Mannheimer  Abendzeitung,  die  Hamburger  Neue  Zeitung  und 
die  Leipziger  Allgemeine,  die  freilich  den  Mantel  gelegentlich  von 
einer  Schulter  auf  die  andere  nahm,  korrespondierten  viele  dieser 
Berliner  Literaten.  Auch  Ruges  Jahrbücher  zählten  in  deren 
Kreise  tüchtige  Mitarbeiter.  Aber  in  der  inländischen  Presse 
entstand  ein  rechtes  Sammelbecken  für  ihre  sich  überstürzenden 
Ideen  erst,  als  ihnen  jetzt  in  Köln  die  Rheinische  Zeitung  ihre 
Spalten  auftat. 

y. 

Für  die  Beurteilung  dieses  bedeutendsten  Oppositionsblatts 
des  Vormärz  war  es  wichtig,  die  lokalen  und  persönlichen 
Umstände,  aus  denen  es  hervorwuchs,  zu  berücksichtigen,  auch 
auf  Grund  der  Akten  die  Kämpfe  kennen  zu  lernen,  die  es 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  seiner  fünfzehnmonatlichen  Existenz 
mit  der  preußischen  Regierung  zu  bestehen  hatte  ^). 

Die  Männer,  die  für  dieses  neuartige  Unternehmen  das 
Geld  hergaben,  angesehene  Kaufleute  und  Industrielle  der  Rhein- 
provinz, ahnten  so  wenig  wie  der  Oberpräsident  von  Bodel- 
schwingh,  der  die  vorläufige  Konzession  erteilte,  daß  sie  damit 
der  radikalen  Richtung  zu  einem  Organ  verhalfen.  Während 
des  schweren  Konflikts  zwischen  der  preußischen  Krone  und 
der  katholischen  Kirche  hatte  die  Haltung  der  Kölnischen 
Zeitung  mit  ihren  mehr  als  8000  Abonnenten  der  Regierung 
zu  mannigfachen  Klagen  Anlaß  gegeben,  auf  die  deren  Besitzer, 
der  unternehmende  Joseph  Dumont  -  Schauberg,  immer  nur 
antwortete,  daß  er  als  Geschäftsmann  von  seinen  Lesern  ab- 
hängig  wäre^).      Nun   übte   aber   dieser  Verleger  in  Köln  tat- 


*)  Deutschlands  politische  Zeitungen.  Zürich  und  Winterthur  1842.  Der 
Verfasser  gehörte  offenbar  dem  Berliner  Literatenkreise  an.  Vgl.  auch  F.  Saß, 
Berlin   in   seiner  neuesten   Zeit   und  Entwicklung.     Leipzig  1846.     S.  139  ff. 

")  Das  einschlägige  umfangreiche  Aktenmaterial  des  Geh.  Staatsarchivs, 
das  ich  benutzen  durfte,  wurde  hier  nur  insoweit  herangezogen,  als  die 
Ökonomie  dieser  Arbeit  es  zuließ.  Dem  künftigen  Geschichtsschreiber  der 
Rheinischen  Zeitung  bleibt  noch  eine  reiche  Nachlese  übrig. 

^)  Vgl.  St.  Pauls  aufschlußreiche  Berichte  vom  10.  Feb.  und  5.  März  1843. 


Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      27 

sächlich  ein  Zeitungsmonopol  aus,  da  er  die  alle  paar  Jahre 
von  neuem  auftauchenden  Konkurrenzblätter  bis  dahin  immer 
durch  Ankauf  beseitigt  hatte.  Deshalb  fürchtete  die  Regierung, 
daß  die  ultra-katholische  Partei  bei  künftigen  Konflikten  zwischen 
Staat  und  Kirche  im  deutschen  Rom  auch  einmal  die  Allein- 
herrschaft über  die  öffentliche  Meinung  besitzen  könnte  i).  Solche 
Erwägungen  hatten  die  Minister  schon  im  Dezember  1839  be- 
stimmt, den  Literaten  Dr.  B.  Rave  und  Dr.  Schulte  die  Heraus- 
gabe einer  Rheinischen  Allgemeinen  Zeitung  zu  gestatten.  Aber 
gleich  ihren  Vorgängerinnen  war  diese  mit  ihrem  Gelde  schnell 
fertig  geworden.  Schon  nach  zwei  Jahren  erwies  es  sich,  daß 
sie  nur  über  Wasser  zu  halten  war,  wenn  man  die  Mittel  für 
ihre  vollständige  Umgestaltung  und  Erweiterung  aufbrachte. 
Wirklich  zeigte  sich  diesmal  eine  Anzahl  wohlhabender  Bürger 
geneigt,  nach  einer  bis  dahin  nur  in  England  und  Frankreich, 
aber  noch  nicht  in  Preußen  erprobten  Methode  zu  diesem  Behuf 
ein  Kapital  auf  Aktien  zu  beschaffen.  Der  Oberpräsident  be- 
günstigte ein  Vorhaben,  an  dessen  Spitze  er  ernsthafte,  an- 
gesehene und  unverdächtige  Persönlichkeiten  bemerkte,  um  so 
lieber,  als  er  nun  endlich  hoffen  konnte,  daß  der  Kölnischen 
Zeitung  in  nächster  Nähe  eine  widerstandsfähige  Rivalin  er- 
stehen werde. 

In  den  ersten  Wochen  des  Jahres  1842,  mit  dessen  Beginn 
die  Rheinische  Zeitung  ins  Leben  trat,  war  Bodelschwingh  aus 
der  Provinz  abwesend  und  blieb  deshalb  ohne  genauere  Kenntnis 
von  dem  Inhalt  des  Blattes.  Bei  seiner  Rückkehr  waren  aus 
Berlin  Klagen  über  dessen  ,, subversive  Tendenz"  eingetroffen, 
und  er  mußte  sich  jetzt  überzeugen,  daß  es  vielleicht  ein  Mißgriff 
gewesen  war,  die  Rheinische  Zeitung  anstandslos  als  eine  Fort- 
setzung der  Rheinischen  Allgemeinen  anzuerkennen  und  ihr 
eine  vorläufige  Konzession  zu  erteilen  2).  Die  Bankiers,  Kauf- 
leute und  Industriellen,  die  das  Blatt  finanzierten,  sahen  es  als 
einen  Vorteil  an,  daß  sich  am  Rhein  eine  moderne  Zeitung 
auftat,  die  dem  Ausbau  der  Verkehrswege  im  großen  Stil,  der 
Selbstverwaltung,  der  freien  Entfesselung  der  wirtschaftlichen 
Kräfte  das  Wort  redete  und  das  Monopol  eines  Klüngels  brechen 
half,  der  nicht  selten  die  Herrschaft,  die  er  über  die  öffentliche 
Meinung  ausübte,  einseitigen  geschäftlichen  Tendenzen  dienstbar 
gemacht  hatte.     Da  ein  Bedürfnis  vorhanden  war,   hofften  sie 

^)  Bodelschwingh  an  die  Zensurminister  26.  März   1842. 
^)  Bodelschwingh  an  Rochow  31.  Dezember  1841   und   derselbe  an  die 
drei  Zensurminister  26.  März  1842. 


28      Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl,  Preußen. 

überdies,  daß  ihnen  auch  das  Geld,  das  sie  hergaben,  zum  minde- 
sten nicht  verloren  gehen  würde.  Aber  um  die  journalistische 
Einrichtung  des  Unternehmens  und  selbst  um  die  Tendenz, 
die  dieses  in  den  einzelnen  politischen  Fragen  einschlagen 
würde,  kümmerten  sie  sich  nicht.  Hierzu  fühlten  sie  sich  um 
so  weniger  veranlaßt,  als  sich  dieser  Seite  der  Angelegenheit 
zwei  ihren  engsten  Kreisen  entstammende  junge  Leute  an- 
genommen hatten.  Nun  waren  aber  —  was  jene  Männer  der 
Praxis  nicht  ahnten  und  kaum  begriffen  hätten  - —  der  Land- 
gerichtsreferendar Jung  und  der  frühere  Oberlandesgerichts- 
assessor Oppenheim  begeisterte  Junghegelianer  von  der  radikalen. 
Observanz,  die  dazu  noch  unter  dem  speziellen  Einfluß  ihres 
Landsmanns,  des  Dr.  Moses  Heß  standen,  den  die  Eingeweihten 
als  die  treibende  Kraft  des  Unternehmens  kannten^).  Über  die 
Staatsgefährlichkeit  der  Ziele,  die  diese  Gruppe  verfolgte,  wurde 
der  wachsame  Rochow  sich  klar,  sobald  ihm  hinterbracht  wurde, 
daß  Dr.  Adolf  Rutenberg''*)  in  die  Redaktion  eintreten  würde. 
Dieser  galt  als  der  Urheber  eines  Festessens,  das  man  einige 
Monate  zuvor  in  Berlin  dem  badischen  Liberalen  Welcker  zu 
Ehren  gegeben  hatte.  Seit  dieser  Zeit  stand  er  auf  Befehl  des 
Königs  unter  strenger  polizeilicher  Überwachung.  Überdies  war 
er  noch  wegen  seiner  Mitarbeit  an  außerpreußischen  liberalen 
Blättern  höheren  Orts  verdächtig.  Natürlich  wollte  der  Minister 
unter  allen  Umständen  verhindern,  daß  ,,eine  Richtung,  die 
sich  durch  entschiedene  Opposition  gegen  alles  Bestehende  in 
Staat  und  Kirche  besonders  bemerklich  macht,  im  Inlande  ein 
öffentliches  Organ"  gewönne.  Gerade  in  der  katholischen  Rhein- 
provinz hatten  ,,die  destruktiven  Lehren  der  Deutschen  Jahr- 
bücher bisher  keinen  bemerkbaren  Anklang  gefunden"^)  und  Eich- 
horn neigte  deshalb  anfangs  der  Ansicht  zu,  daß  bei  dem  hier  vor- 
herrschenden praktischen  Verstand  die  ,, Extravaganzen  der  jung- 
hegelschen  Schule  kein  Glück  machen  würden"^).    Den  Ministern 


*)  Ed.  Flottwell  an  Jacoby,  9.  September  1841  (ungedruckt)  nennt  Heß  „den 
Hauptredakteur  und  die  Seele  des  Ganzen".  Am  15.  Februar  1842  berichtet 
er,  daß  Heß  noch  bei  der  Redaktion  beschäftigt  sei,  daß  er  eine  Zeitlang 
durch  Dr.  Höfken  neutralisiert  war,  seit  Eutenbergs  Eintreffen  aber  von 
neuem  gemeinsam  mit  diesem  freudig  und  tüchtig  wirke.  Vgl.  auch  Hansen, 
Mevissen  a.  a.  0.  und  die  ungedruckten  Protokolle  der  Geschäftsführerver- 
sammlungen, deren  Kenntnis  ich  Herrn  Professor  Hansen  verdanke. 

^)  Rutenberg  kam  durch  Empfehlung  von  Marx  an  Jung  an  die  Rhei- 
nische Ztg.    Vgl.  Marx  an  Rüge,  9.  Juli  1842.   Dokumente  des  Sozialismus  Bd.  I. 

*)  Rochow  an  Regierungspräsident  von  Gerlach  in  Köln,  31.  Januar  1842. 

*)  Eichhorn  an  Rochow  und  Maltzan,  5.  Januar  1842. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl,  Preußen.      29 

des  Inneren  und  des  Äußeren,  die  gemeinsam  mit  dem  des  Kultus 
für  die  Zensurverhältnisse  verantwortlich  waren,  hatte  er  geraten, 
die  von  Bodelschwingh  erteilte  provisorische  Konzession  zu 
einer  endgültigen  zu  machen.  Nachträghch  wird  er  jedoch  zu- 
frieden gewesen  sein,  daß  sich  Rochow  nicht  in  diesem  Sinne 
entschieden  hatte.  Denn  schon  am  3.  März  erteilte  er  gemein- 
sam mit  diesem  und  mit  Maltzan,  der  gleich  darauf  durch  Hum- 
boldts Schwiegersohn  Bülow  ersetzt  wurde,  dem  Oberpräsidenten 
die  Weisung,  mit  dem  Quartalsschluß  die  Rheinische  Zeitung 
eingehen  zu  lassen.  Aber  die  Rücksicht  auf  die  angesehenen  Ka- 
pitalisten, die  das  Blatt  finanzierten  und  auf  deren  Gesinnung  er 
vertrauen  konnte,  bestimmten  Bodelschwingh,  der  sich  übrigens 
dabei  im  besten  Glauben  befand,  noch  einen  Rettungsversuch 
zu  unternehmen.  Er  malte  seinen  Vorgesetzten  in  einem  langen 
Bericht  den  ungünstigen  Eindruck  aus,  den  eine  so  plötzliche 
Unterdrückung  nicht  bloß  in  der  Rheinprovinz  sondern  in  ganz 
Deutschland  hervorrufen  müßte  in  einem  Augenbhck,  ,,wo  die 
von  Preußen  gewährte  größere  Zensurfreiheit  jetzt  eben  allge- 
meine Anerkennung  finde".  Frohlocken  würden  darüber  einzig 
der  Herausgeber  der  Kölnischen  Zeitung  und  die  ultra-katho- 
lische  Partei.  In  Übereinstimmung  mit  dem  Kölner  Regierungs- 
präsidenten von  Gerlach  machte  der  Oberpräsident  sich  an- 
heischig, die  Haltung  des  Blattes  dadurch  mäßigend  zu  beein- 
flussen, daß  sie  einen  strengeren  Zensor  bestellten,  sich  mit  den 
Aktionären  ins  Benehmen  setzten  und  die  Redaktion  durch 
Drohungen  einschüchterten  ^). 

Aber  dieser  Vorschlag  fand  nicht  die  Zustimmung  aller  Zensur- 
minister. Eichhorn  legte  freilich  noch  immer  den  meisten  Nach- 
druck auf  die  Notwendigkeit,  ,,der  ultramontanen  Tendenz  der 
Kölnischen  Zeitung"  entgegenzuwirken,  die  sich  letzthin  sogar  zum 
Organ  der  katholischen  Partei  in  Bayern  habe  mißbrauchen  lassen 
und  die  konfessionelle  Aufregung  in  Württemberg  zu  vermehren 
trachte.  Wenn  er  jetzt  auch  einräumte,  daß  die  Richtung  der 
Rheinischen  Zeitung  ,,fast  noch  bedenklicher"  sei,  als  die  seit 
Jahren  von  der  Kölnischen  Zeitung  verfolgte,  so  wollte  doch 
weder  er  noch  Bülow  das  Blatt  unterdrücken,  bevor  sich  gezeigt 
hätte,  ob  die  von  Bodelschwingh  in  Aussicht  gestellten  Maßnahmen 
Erfolg  haben  würden  2).  Doch  Rochow  mit  seiner  großen  Erfah- 
rung auf  diesem  Gebiet  beharrte  bei  seiner  Überzeugung:    die 


0  Bodelschwingh.  an  die  Zensurminister,  26.  März  1842. 

^)  Eichhorns  Votum  vom  13.  April  1842,  Bülows  Äußerung  vom  18.  April. 


30      Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Rheinische  Zeitung  trüge  den  entschiedenen  Charakter  eines 
Oppositionsblattes;  sie  habe  sich  die  Aufgabe  gestellt,  die  franzö- 
sisch-liberalen Ideen  in  Deutschland  zu  propagieren  und  dem  kon- 
stitutionellen Staate,  als  dem  allein  zeitgemäßen,  das  Wort  zu 
reden  ^).  Dieser  Ansicht  suche  sie  sowohl  auf  dem  Wege  wissen- 
schaftlicher Begründung,  indem  sie  den  konstitutionellen  Staat 
als  die  notwendige  Konsequenz  der  deutschen  Philosophie  hin- 
stelle, als  auch  durch  unausgesetzte  Angriffe  gegen  die  bestehende 
Verfassung  Eingang  zu  verschaffen.  Wie  sie  in  politischer 
Beziehung  dem  Rationalismus  französicher  Staatstheorien  das  Wort 
rede,  so  bekenne  sie  sich  in  religiöser  Hinsicht  ohne  Hehl  zu 
dem  Unglauben  der  Hallischen  Jahrbücher  und  zu  der  Meinung, 
daß  die  heutige  Philosophie  das  Christentum  ersetze.  Mit  Vor- 
liebe behandle  sie  die  protestantisch-kirchlichen  Fragen  und 
suche  auf  diesem  Gebiet  die  Regierung  der  Unterdrückung 
der  Glaubens-,  Denk-  und  Lehrfreiheit  zu  verdächtigen.  Wenn 
sie  nun  auch  mit  diesen  Bemühungen,  die  Rheinländer  für 
die  wissenschaftlich -politischen  Kontroversen  der  heutigen 
philosophischen  Schulen  zu  interessieren,  in  einer  Bevölke- 
rung, deren  Glaube  und  praktischer  Sinn  solchen  ideologischen 
Anmutungen  entschieden  widerstrebe,  schwerlich  zahlreiche 
Proselyten  machen  werde,  so  könnte  doch  ihre  praktisch- 
politische Tendenz  Schaden  anrichten.  Den  Bewohnern  einer 
Provinz,  deren  Sympathien  für  Frankreich  eben  zu  sinken  be- 
gännen, dürfe  man  nicht  unermüdlich  predigen,  um  wie  vieles 
die  französischen  Staatstheorien  und  Institutionen  der  vater- 
ländischen Verfassung  und  ihrer  ständischen  Grundlage  vorzu- 
ziehen seien.  Im  ganzen  preußischen  Staatsgebiet  gefalle  sich 
nur  noch  die  Königsberger  Zeitung,  mit  der  die  Rheinische 
in  sehr  bemerklicher  innerer  und  äußerlicher  Relation  stünde, 
in  einer  gleich  methodischen  Opposition.  Beide  Blätter  seien  zum 
Glück  nur  Organe  vereinzelter  Fraktionen  und  krankhafte  Er- 
scheinungen in  einem  Staat,  der  nicht  auf  einer  Teilung  der 
Gewalten,  sondern  auf  der  Idee  der  Einheit  von  Regierung  und 
Volk  beruhe.  Bloß  von  ganz  entschiedenen  Maßregeln  verspräche 
er  sich  Erfolg  gegenüber  einer  Zeitung,  die  in  eine  gut  ge- 
stimmte Provinz  einen  Geist  verpflanzen  möchte,  der,  weder 
im  Glauben  noch  im  politischen  Leben  etwas  Objektives  an- 
erkennend, jede  Hingebung  und  Loyalität  zerstören,  nur  die 
eigenen  zügellosen  Wünsche  als  Gesetz  betrachten   und  so  die 


^)  Rochows  Votum  vom  18.  Mai  1842. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      31 

natürliche  Ordnung  der  Dinge  umkehren  wolle.  Rochow  gestand 
nicht  einmal  zu,  daß  die  neue  Konkurrenz  auf  die  Kölnische 
Zeitung  einen  für  die  Regierung  günstigen  Einfluß  ausübe,  denn 
er  glaubte  bemerkt  zu  haben,  daß  die  letztere  sich  neuerdings 
zu  einem  exzessiven,  ihr  früher  fremden  Liberalismus  hinreißen 
ließ.  Auch  erwartete  er  keine  erfolgreiche  Abwehr  klerikaler 
Übergriffe  von  einem  Organ,  das  innerhalb  des  Protestantismus 
eine  Richtung  verfolgte,  die  zu  Irrtum  und  Unzufriedenheit  im 
eigenen  Hause  führen  müßte  und  ,,zu  der  sich  ein  evangelischer 
Christ  schwerlich  bekennen  dürfte". 

Da  Rochow  bereits  wußte,  daß  der  König  seine  Ansicht 
teilte  und  entschlossen  war,  ,, dieser  ohne  unsere  Bewilligung 
erscheinenden  Zeitschrift  die  Konzession  zu  versagen",  so 
machte  er  seinen  Kollegen  den  Vorschlag,  dem  Monarchen 
die  Schlichtung  ihrer  Meinungsverschiedenheit  zu  überlassen. 
Aber  obschon  Eichhorn  an  Rochows  Charakterisierung  der 
Rheinischen  Zeitung  nichts  auszusetzen  hatte,  beharrte  er  den- 
noch bei  der  Ansicht,  daß  man  erst  den  Erfolg  von  Bodel- 
schwinghs  Maßnahmen  abwarten  sollte.  Dabei  hob  auch  er 
jetzt  den  Gesichtspunkt  hervor,  daß  es  sich  nicht  um  die 
Konzessionierung  einer  neuen,  sondern  um  die  Beseitigung  einer 
bereits  bestehenden  Zeitung  handeln  würde.  Bestimmend  be- 
einflußte ihn  nach  wie  vor  das  Interesse  seines  eigenen  Ressorts. 
Er  konnte  der  Kölnischen  Zeitung  nicht  vergessen,  daß  sie 
während  der  Kölner  Wirren  ,, allen  preußischen  Sympathien 
fremd"  geblieben  war.  Überdies  hatten  mittlerweile  in  der  Rhein- 
provinz eingezogene  Erkundigungen  ihn  in  der  Überzeugung 
bestärkt,  daß  die  Rheinische  Zeitung  dort  keinen  Schaden 
stiftete:  das  Publikum  der  Provinz  sähe  im  allgemeinen  ein, 
daß  in  dem  Blatt  mit  Ideen  gespielt  würde,  die  keiner,  der 
irgend  festen  Fuß  im  Leben  habe,  mit  bestehenden  Zuständen 
in  eine  praktische  Verbindung  bringen  könne  ^).  Bülow  fand 
an  Rochows  Vorschlag  auszusetzen,  daß  er  die  Angelegenheit 
zu  frühzeitig  der  Entscheidung  des  Königs  unterbreiten  wollte, 
noch  hätte  man  nicht  versucht,  durch  eine  Beratung  im  Staats- 
ministerium der  Meinungsverschiedenheit  Herr  zu  werden  2). 

In  diesem  Stadium  befand  sich  die  Angelegenheit,  als 
Rochows  von  den  Liberalen  längst  erwartete  und  bei  ihrem 
endlichen  Eintritt   mit    Jubel    begrüßte    Entlassung   die    Rhei- 


^)  Eichhorns  Votum  vom  1.  Juni  1842. 
^)  Bülows  Votum  vom  15.  Juni. 


32      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

nische  Zeitung  von  ihrem  gefährlichsten  Gegner  befreite. 
Bodelschwingh  T\airde  aus  Koblenz  abgerufen  und  trat  an  die 
Spitze  des  Finanzministeriums,  sein  Nachfolger  am  Rhein  wurde 
Herr  von  Schaper,  während  das  Ministerium  des  Innern  Graf 
von  Arnim-Boitzenburg  übernahm.  Die  neuen  Männer  fanden 
nicht  sogleich  einen  Anlaß,  sich  mit  dem  inzwischen  noch  radi- 
kaler gewordenen  Blatte  zu  befassen.  Erst  am  23.  Juli  be- 
schwerte sich  Arnim  zum  erstenmal  in  Koblenz  über  einen  Ar- 
tikel der  Rheinischen  Zeitung,  auf  deren  verwerfliche  Tendenz 
er  hinwies.  Da  ihm  aber  zu  Ohren  gekommen  war,  daß  diese 
die  Achtung  der  Provinz  bereits  eingebüßt  hätte  und  sich  nicht 
lange  mehr  würde  halten  können,  so  dünkte  es  ihn  ratsamer, 
ihr  natürliches  Ende  abzuwarten,  ohne  erst  durch  Aufhebung 
der  vorläufigen  Erlaubnis  die  öffentliche  Teilnahme  für  sie  zu 
erregen.  Auch  wurde  jenes  Gerücht  von  Schaper  anfänglich 
bestätigt  1).  Aber  das  ,, unzulässige  Treiben  der  Tagespresse"  2) 
beunruhigte  in  steigendem  Maße  den  leicht  erregbaren  König, 
der  einen  Anlaß,  dem  führenden  Blatt  der  Opposition  einen 
Strick  zu  drehen,  freudig  ergriff,  als  dieses  im  Spätjahr  den 
von  der  liberalen  Bevölkerung  mit  äußerstem  Unwillen  aufge- 
nommenen Gesetzentwurf  über  die  Ehescheidung  vorzeitig  ver- 
öffentlichte. Dienstwidrige  Handlungen  von  Beamten  ließ 
Friedrich  Wilhelm  bei  jeder  Gelegenheit  streng  untersuchen  und 
bestrafen.  Auch  jetzt  verlangte  er,  daß  seine  Minister  das  Fort- 
bestehen der  Rheinischen  Zeitung,  sofern  ein  solches  überhaupt 
noch  in  Frage  käme,  von  der  Bedingung  abhängig  machten, 
daß  die  Redaktion  ihre  Quelle  nenne  3).  Nun  wußte  Arnim 
aber  im  voraus,  daß  man  in  Köln  diesen  Verrat  nicht 
begehen  würde  und  trug  gerechtes  Bedenken,  die  Rheinische 
Zeitung  auf  dieser  Klippe  scheitern  zu  lassen.  Überdies  hielt  er 
es  für  unklug,  der  Redaktion  eine  Märtyrerkrone  zu  flechten. 
Er  stellte  zur  Erwägung,   daß   der  Entwurf  des  fraglichen  Ge- 


^)  Schaper  an  Arnim,  8.  August  1842.  Die  Zahl  der  Abonnenten  gibt 
der  Oberpräsident  hier  mit  885  an. 

■)  Die  Zensurminister  an  Schaper,  13.  November:  „Ein  baldiges,  ener- 
gisches Einschreiten  erscheint  um  so  notwendiger,  als  des  Königs  Majestät 
sich  über  das  unzulässige  Treiben  der  Tagespresse  mehrfach  sehr  mißfällig 
zu  äußern  geruht  hat." 

^)  Friedrich  Wilhelm  an  Eichhorn,  Bülow  und  Arnim,  13.  November  1842. 
Gegen  Eduard  Flottwell  und  seinen  in  Berlin  studierenden  jüngeren  Bruder 
Theodor  wurde  eine  Untersuchung  eingeleitet,  die  aber  erfolglos  war.  Den- 
noch blieb,  bei  Eduard  Flottwells  nahen  Beziehungen  zur  Rheinischen  Zei- 
tung, ein  Verdacht  auf  ihm  ruhen  und  wurde  ihm  in  der  Folge  verhängnisvoll. 


Mayer.  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      33 

setzes  wirklich  „sehr  rücksichtslos  gegen  das  über  den  Gegen- 
stand leider  gänzlich  verdorbene  Urteil  der  Zeit"  anliefe  und 
eine  „große  sehr  allgemeine  Opposition"  erregte.  Außerdem 
habe  der  in  der  Rheinischen  Zeitung  veröffentlichte  Entwurf 
noch  gar  nicht  die  legislativen  Stadien  durchlaufen.  Wenn  die 
Regierung  jetzt  durch  ihre  Maßnahmen  den  Anschein  erweckte, 
daß  dieser  die  endgültige  Form  des  Gesetzes  darstelle,  würde 
jede  spätere  Modifikation  als  ein  furchtsames  Zurückweichen 
vor  der  Opposition  aufgefaßt  werden.  Der  Minister  mochte 
voraussehen,  daß  auch  ,, unabhängig  von  der  in  Rede  stehenden 
Angelegenheit"  die  Unterdrückung  der  Rheinischen  Zeitung 
eintreten  werde.  Vorerst  verabredete  er  mit  seinen  Kollegen, 
ihre  Bedenken  gegen  den  Inhalt  der  Kabinetsorder  dem  König 
in  Gemeinschaft  auseinanderzusetzen  i)  und  ihn  zu  bitten,  von 
einer  Verwarnung  der  Rheinischen  Zeitung  in  dieser  Form 
Abstand  zu  nehmen  2). 

Die  Rheinische  Zeitung  war  stets  für  ein  starkes,  freilich  auch 
für  ein  freies  Preußen  eingetreten.  Deshalb  fand  selbst  bei  den 
Ministern  eine  Mitteilung  des  preußischen  Gesandten  in  Paris, 
die  das  Gerücht  verzeichnete,  sie  werde  von  der  französischen 
Regierung  mit  Geld  unterstützt,  keinen  rechten  Glauben  3).  Viel 
mehr  Gewicht  legten  sie  auf  die  Meldung  Schapers,  daß  die 
Abonnentenzahl  des  Blattes  mächtig  gestiegen  sei  und  daß  seine 
Tendenz  immer  frecher  und  feindseliger  werde'').  Auf  eine 
Anregung  des  Oberpräsideuten,  der,  wie  auch  Dr.  Hermes  in 
der  Kölnischen  Zeitung,  den  Erlaß  einer  Verfügung  vorschlug, 
nach  der  leitende  oder  räsonnierende  Artikel  künftig  vom  Ver- 
fasser unterzeichnet  werden  sollten,  gingen  die  Zensurminister 
nicht  ein.  Sie  erkannten  das  Hauptübel  darin,  daß  der  Verleger 
Renard,  der  ein  bloßer  Strohmann  war,  die  Redaktion  verant- 
wortlich vertreten  durfte.  Deshalb  verlangten  sie  jetzt,  unter 
Androhung  der  endgültigen  Konzessionsverweigerung,  die  Ein- 

^)  Arnims  Schreiben  an  Eichhorn  und  Bülow  vom  2.5.  November  1842 
stützt  sich  auf  ein  ihm  von  Mathis  erteiltes  Referat.  Schon  am  4.  November 
hatte  Savigny  an  Arnim  geschrieben,  daß  jener  erste  Entwurf  seither  schon 
durch  neuere  Beratungen  modifiziert  und  in  dieser  seiner  früheren  Gestalt 
beseitigt  sei. 

'^)  Die  drei  Zensurminister  an  den  König  22.  Dezember  1842. 

^)  Graf  Arnim  (Paris)  an  Bülow  29.  Oktober  1842;  Schaper  an  den 
Minister  von  Arnim  16.  November. 

*)  Schaper  an  Arnim-Boitzenburg,  10.  November.  Innerhalb  eines  Monats 
hatte  sich  die  Abonnentenzahl  von  885  auf  1820  gehoben;  nach  dem  Bekannt- 
werden des  Verbots  stieg  sie  auf  3400. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  3 


34      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Setzung  eines  verantwortlichen  Redakteurs,  dessen  Persönlichkeit 
den  Anforderungen  der  bestehenden  Zensurgesetze  wirklich  ent- 
spräche ^).  Weil  die  Nachsicht  des  bisherigen  Zensors  der 
Rheinischen  Zeitung,  der  mit  einigen  Hauptaktionären  nahe 
befreundet  war,  in  ganz  Preußen  sprichwörtlich  zu  werden 
begann,  w^urde  gleichzeitig  dessen  Absetzung  verfügt. 

Eigentlich  sollte  Renard  bei  dieser  Gelegenheit  protokolla- 
risch vernommen  werden.  Aber  aus  naheliegenden  Gründen 
hielt  die  Redaktion  es  für  vorteilhafter,  daß  er  sich  beim  Ober- 
präsidenten schriftlich  verantwortete.  Die  Abfassung  dieses  be- 
deutsamen Briefes,  für  den  der  Verleger  blos  die  Unterschrift 
lieferte,  übertrug  man  dem  Dr.  Karl  Marx  aus  Trier,  der  seit 
dem  15.  Oktober  in  die  Redaktion  eingetreten  war  und  trotz 
seiner  Jugend  alsbald  von  allen  Seiten,  selbst  von  der  Zensur, 
als  die  treibende  Kraft  der  Zeitung  respektiert  wurde  2). 

Der  künftige  Vorkämpfer  der  Arbeiterklasse  verteidigt  hier 
gegen  die  Regierung  mit  berechtigtem  Stolz  aber  auch  mit 
schneidender  Ironie  die  freiheithchen  Forderungen  des  preußi- 
schen Bürgertums.  Die  Tendenz  eines  Blattes,  meinte  er,  dürfe 
nicht  bloß  ein  gesinnungsloses  Amalgam  von  trockenen  Referaten 
und  niedrigen  Lobhudeleien  sein;  es  müsse  mit  einer  eines 
edlen  Zwecks  bewußten  Kritik  die  staatlichen  Verhältnisse  und 
Einrichtungen  beleuchten,  wie  es  die  jüngst  erlassene  Zensur- 
instruktion und  auch  die  anderwärts  oft  geäußerten  Ansichten 
des  Königs  forderten.  Auch  in  Zukunft  wolle  die  Rheinische 
Zeitung,  soviel  an  ihr  läge,  den  Weg  des  Fortschritts  bahnen 
helfen,  auf  dem  Preußen  gegenwärtig  dem  übrigen  Deutschland 
vorangehe.  Wie  könnte  ein  Blatt  mit  solcher  Tendenz  im 
Rheinland  französische  Sympathien  und  Ideen  verbreiten  wollen? 
Gerade  das  Gegenteil  sei  der  Fall:  die  Rheinische  Zeitung  be- 
trachte es  als  ihre  Aufgabe,  in  der  Provinz,  wo  sie  erscheine, 
die  Bhcke  auf  Deutschland  zu  lenken  und  hier  statt  eines 
französischen  einen  deutschen  Liberalismus  hervorzurufen,  was 
der  Regierung  Friedrich  Wilhelms  IV.  gewiss  nicht  unangenehm 
sein  werde.  Auch  sei  in  ihren  Spalten  stets  darauf  verwiesen 
worden,    daß   von   der  Entwicklung  Preußens   die   des  übrigen 

■)  Die  Zensurminister  an  Regierungspräsident  von  Gerlach  in  Köln 
9.  November, 

'')  Wie  Herr  Professor  Joseph  Hansen  mir  freundlich  mitteilte,  befindet 
sich  der  Entwurf  der  Eingabe  von  Marxens  Hand  im  Kölner  Stadtarchiv. 
Hansen  selbst  druckt  in  seinem  bekannten  Werk  über  Mevissen  nur  wenige 
Sätze  daraus  ab.  Man  vergleiche  für  die  ganze  Geschichte  der  Rheinischen 
Zeitung  Hansens  Darstellung  in  Bd.  I  Kap.  7. 


Mayer,   Die  Anfäug-e  des  ijolit.  Kadikalisinus  im  vormärzl.  Preußen.      35 

Deutschland  abhänge.  Neben  ihren  polemischen  Artikeln  gegen 
die  antipreußischen  Bestrebungen  der  Augsburger  Allgemeinen 
Zeitung  und  neben  ihrer  Agitation  für  die  Ausdehnung  des 
Zollvereins  auf  das  nordwestliche  Deutschland,  zeigten  sich  ihre 
preußischen  Sympathien  vor  allem  in  ihrem  steten  Hinweisen 
auf  norddeutsche  Wissenschaft  im  Gegensatz  zu  der  Oberfläch- 
lichkeit der  französischen  und  auch  der  süddeutschen  Theorien. 
Die  Rheinische  Zeitung  sei  das  erste  „rheinische  und  überhaupt 
süddeutsche  Blatt",  das  hier  den  norddeutschen  Geist  einführe  und 
damit  zu  der  geistigen  Einigung  der  getrennten  Stämme  beitrage. 

Die  Religion  als  solche  sei  von  ihr  niemals  angetastet 
worden  und  auch  in  Zukunft  werde  es  nicht  geschehen.  Hin- 
sichtlich des  Gehalts  eines  bestimmten  positiven  Glaubens  sei 
ganz  Deutschland  und  vorzugsweise  Preußen  in  zwei  Heerlager 
geteilt,  die  beide  in  Wissenschaft  und  Staat  hochgestellte 
Männer  zu  ihren  ^'erfechtern  zählten.  Sollte  etwa  eine  Zeitung 
in  diesem  noch  unentschiedenen  Zweikampf  keine  oder  blo& 
eine  ihr  auf  amtlichem  Wege  vorgeschriebene  Partei  ergreifen 
dürfen?  Dogmen,  kircliHche  Doktrinen  und  Zustände  habe  sie 
immer  nur  berührt,  wenn  andere  Blätter  die  Religion  zum 
Staatsrecht  machen  und  aus  ihrer  eigenen  Sphäre  in  die  Sphäre 
der  Politik  versetzen  wollten.  So  dürfe  sie  annehmen,  daß  sie 
ganz  vorzugsweise  den  in  der  Zensurinstruktion  niedergelegten 
Wunsch  Seiner  Majestät  nach  einer  unabhängigen,  freisinnigen 
Presse  realisiert  und  hierdurch  nicht  wenig  zu  den  Segens- 
sprüchen beigetragen  habe,  mit  denen  ganz  Deutschland  Seine 
Majestät  den  König  auf  seiner  emporstrebenden  Laufbahn  be- 
gleite. Nicht  als  eine  Buchhändlerspekulation  sei  die  Rheinische 
Zeitung  ins  Leben  getreten,  sondern  eine  große  Zahl  der  an- 
gesehensten Männer  Kölns  und  der  Rheinlande  hätten,  in  ge- 
rechtem Unwillen  über  den  jammervollen  Zustand  der  deutschen 
Presse,  den  Willen  Seiner  Majestät  nicht  besser  ehren  zu  können 
geglaubt,  als  indem  sie  ein  Blatt  gründeten,  das  charaktervoll 
und  furchtlos  die  Sprache  freier  Männer  führe  und  den  König 
die  wahre  Stimme  des  Volks  vernehmen  lasse! 

Soweit  es  ,,mit  dem  Beruf  eines  unabhängigen  Blattes  ver- 
einbar" war,  wollte  die  Rheinische  Zeitung  gern  alles  tun,  um  sich 
vor  dem  drohenden  Untergang  zu  bewahren.  Für  die  Zukunft 
versprach  deshalb  das  Schreiben  mehr  Mäßigung  in  bezug  auf 
die  Form,  soweit  der  Inhalt  es  gestattete.  Auch  wollte  man,  wie 
es  schon  seit  einiger  Zeit  geschehen  sei  ^),  von  allen  kirchlichen 

')  Vgl.  s.  70. 

3* 


36      Jlayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

und  religiösen  Gegenständen  hinfort  absehen.  „Der  Gewalt 
nachgebend"  wurde  endlich  die  einstweilige  Entfernung  Ruten- 
bergs zugestanden  und  die  Präsentation  eines  verantwortlichen 
Redakteurs  in  Aussicht  gestellt. 

In  seiner  Antwort  auf  dieses  aus  Bosheit  und  Diplomatie 
gemischte  Schreiben  rieb  Schaper  der  Redaktion  unter  die 
Nase,  daß  die  Rheinische  Zeitung  für  die  Regierung  bisher 
noch  „gar  nicht  existiere",  weshalb  diese  auch  befugt  wäre,  ihr 
Weitererscheinen  an  Bedingungen  zu  knüpfen  i).  Würde  Ruten- 
berg, (dessen  Einfluß  die  Minister  offenbar  überschätzten)  '^),  nicht 
sofort  entfernt  und  bis  zum  12.  Dezember  ein  durchaus  geeig- 
neter Redakteur  namhaft  gemacht,  so  erfolge  unweigerlich  die 
Unterdrückung  des  Blattes.  Aber  selbst  wenn  diesen  Anforde- 
rungen Genüge  geschah,  wollten  die  Minister  die  Erteilung  der 
Konzession  erst  von  der  weiteren  Haltung  des  Blattes  abhängig 
machen.  Der  neue  Finanzminister  war  von  seiner  Koblenzer 
Zeit  her  ein  guter  Kenner  Rheinischer  Zustände.  Ihn  befragten 
seine  Kollegen  über  Dr.  Bernhard  Rave,  den  die  Zeitung  wohl 
deshalb  jetzt  als  verantwortlichen  Redakteur  vorschob,  weil  er 
während  der  kirchlichen  Wirren  als  Leiter  des  Welt-  und  Staats- 
boten in  Köln  den  Regierungsstandpunkt  vertreten  hatte. 
Diesem  traute  Bodelschwingh  jedoch  nicht  die  Entscliiedenheit 
der  Gesinnung,  die  Energie  und  Festigkeit  zu,  die  dazu  gehören 
würden,  um  der  ,, völlig  verwerflichen  Tendenz  des  Blattes  eine 
durchgreifend  gute  zu  substituieren"  3). 

Aber  der  König  und  seine  Regierung  sorgten  dafür,  daß 
die  Rheinische  Zeitung  die  moderierte  Sprache,  zu  der  sie  sich 
verpflichtet  hatte,  nicht  lange  einhalten  konnte.  Um  Weih- 
nachten wurde  die  Leipziger  Allgemeine  Zeitung  in  Preußen 
verboten,  und  gleich  darauf  erfolgte  in  Leipzig  die  Unter- 
drückung der  Deutschen  Jahrbücher  auf  Veranlassung  der 
preußischen  Regierung.  Dazu  trat  das  Gerücht  von  der  bevor- 
stehenden gänzlichen  Zurücknahme  der  liberalen  Zensurinstruk- 
tion. Marx  und  seine  Kampfgenossen  konnten  nicht  mehr  zwei- 
feln, daß  auch  ihres  Blattes  Stündlein  bald  schlagen  würde.  Für 
sie  handelte  es  sich  hinfort  nur  noch  darum,  die  kurze  Spanne 
Zeit,  die  ihnen  blieb,  auszunutzen.    So  geißelten  sie  von  jetzt  ab 

^)  Schapers  Antwort  an  Renard,  vom  19,  November. 

^)  Vgl.  Marx  an  Rüge  30.  November  1842  in  Dokumente  des  Sozia- 
lismus I  9. 

")  Schaper  an  die  Zensurminister  5.  Dezember  1842;  Bodelschwingh  an 
dieselben  8.  Januar  1843. 


Mayer.  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      37 

voll  Empörung  die  offensichtliche  Umkehr  der  Regierung  in  der 
Preßpolitik  und  die  tiefe  Unsittlichkeit,  die  im  Wesen  einer 
jeglichen  Zensur  läge.  Kurz  danach  löste  sich  wirklich  aus  den 
Wolken,  die  immer  über  der  Rheinischen  Zeitung  geschwebt 
hatten,  der  tötende  Blitzstrahl.  Vom  1.  April  ab  sollte  sie  zu 
bestehen  aufhören.  In  der  Sitzung,  die  das  Todesurteil  fällte, 
sprach  der  König  sein  ernstes  Mißvergnügen  darüber  aus,  daß 
man  dieser  Zeitung  so  lange  eine  Ungebundenheit  verstattet 
habe,  die  mit  den  Gesetzen  und  mit  der  Autorität  der  Staats- 
verwaltung durchaus  in  Widerspruch  stünde^).  Ein  solcher 
Wink  genügte  den  Ministern,  um  die  Reform  der  Kölner 
Zensur,  von  der  auch  sie  jetzt  behaupteten,  daß  sie  ,,die 
preußische  Regierung  geradezu  kompromittiert"  hätte,  ener- 
gisch in  Angriff  zu  nehmen  2).  Während  der  Galgenfrist, 
die  mit  Rücksicht  auf  die  Aktionäre  der  Rheinischen  Zei- 
tung vergönnt  blieb,  sollte  sie  mit  der  größten  Strenge  be- 
handelt werden.  Dagegen  wollte  man  der  Kölnischen  Zeitung 
,,bei  der  von  ihr  in  der  letzten  Zeit  im  ganzen  entwickelten 
Loyalität"  unbedenklich  Spielraum  verstatten,  um  so  dem  Pub- 
likum zu  zeigen,  daß  das  Gouvernement  nur  die  schlechten 
Tendenzen  mit  Energie  bekämpfe,  der  wohltätigen  Seite  der 
durch  die  Tagespresse  erfolgenden  Meinungsäußerungen  dagegen 
volle  Anerkennung  widerfahren  lasse  ^).  In  der  Rheinprovinz 
fand  sich  kein  Beamter  für  die  unpopuläre  Aufgabe,  das  ge- 
richtete Blatt  bis  zu  seinem  Eingehen  zu  überwachen.  Deshalb 
entsandte  die  Regierung  in  ihrer  Verlegenheit  zu  diesem  Zweck 
den  expedierenden  Sekretär  von  Saint-Paul,  der  sich  im  Zeitungs- 
bureau der  Zensurverwaltung  eine  gründliche  Kenntnis  der 
zeitgenössischen  Presse  erworben  hatte.  Aber  selbst  dieser  ge- 
niale Cyniker  empfand  lebhaft  die  Undankbarkeit  der  ihm  über- 
tragenen Mission.  Wollte  er  nicht  sämtliche  Artikel,  die  ihm  ein- 
gereicht wurden,  streichen  und  dem  Blatt  damit  ein  vorzeitiges 
Ende  bereiten,  was  nicht  in  der  Absicht  der  Regierung  lag,  so 
war  er  gezwungen,  seinerseits  jene  gefährlichen  Beiträge  umzu- 
arbeiten, was  für  einen  Beamten  eine  heikle  und  Mißverständ- 
nis erregende  Beschäftigung  war"^).  Die  Aufgabe,  dem  Blatt  auch 

^)  Das  Staatsministerium  an  Regierungspräsident  von  Gerlach  21.  Ja- 
nuar 1843.  ^)  Ebendort. 

^)  Die  Zensurminister  an  Gerlach  8.  Februar. 

*)  Die  Berichte  St.  Pauls  sind  an  den  Geh.  Regierungsrat  Bitter  ge- 
richtet, der  mit  dem  Referat  über  die  Presse  beauftragt  war.  Ich  benutze 
hier  die  Berichte  vom  31.  Januar,  5.  Februar,  13.  Februar  1843.  Über  St.  Pauls 
PersönHchkeit  vgl.  Fontane,  Ch.  F.  Scherenberg  S.  137  f. 


38      Maj-er,  Die  Anfänge  des  polit.  Badikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

nur  soviel  Manuskript  zuzugestehen,  daß  es  in  einer  honnete 
pauvrete  bis  zum  Erlöschen  vegetieren  konnte,  wurde  dem  Zen- 
sor dadurch  noch  mehr  erschwert,  daß  selbst  die  ausländischen 
Korrespondenzen  mit  dem  inländischen  Teil  die  Farbe  der 
,, schlechten  Tendenz"  teilten.  Schon  nach  vier  Wochen  wäre 
St.  Paul  am  liebsten  nach  Berlin  zurückgekehrt. 

Obzwar  die  Rheinische  Zeitung  wegen  ihres  ausgesprochen 
antikatholischen  Geistes  dem  frommen  Kleinbürgertum  der 
Provinz  bis  dahin  als  ein  Fremdling  gegolten  hatte,  so  traf 
die  Ankündigung  ihrer  bevorstehenden  Unterdrückung  den 
lebhaften  Sinn  des  Rheinländers  für  Öffentlichkeit  und  strenges 
Recht  dennoch  mit  ungeahnter  Wucht.  Weil  die  Zensur  die 
Macht  besaß,  die  Veröffentlichung  jeder  strafbaren  oder  auch 
nur  mißfälligen  Äußerung  zu  verhindern,  wollte  man  sich  nicht 
überzeugen  lassen,  daß  die  Notwendigkeit  für  eine  radikale 
Maßregelung  vorgelegen  hätte.  ,,Man  sah  in  dem  einen  Schritte 
den  Ausdruck  eines  ganzen  Systems,  welches  auf  dem  Grund- 
satz der  Ausübung  einer  willkürlichen  Gewalt  beruhte"^).  Jetzt 
verlangte  die  ganze  Provinz  das  Weitererscheinen  des  Blattes, 
und  die  Petitionen,  die  nun  auf  Veranlassung  von  Jung,  Oppen- 
heim und  ihren  Freunden  den  Weg  nach  Berlin  nahtnen,  be- 
deckten sich  schnell  mit  Tausenden  von  Unterschriften.  Aber 
des  Königs  Entschließung  stand  fest:  hätte  er  nur  gegen  die 
Königsberger  Zeitung  die  gleiche  Waffe  in  der  Hand  gehabt 
wie  gegen  ihre  ,, Hurenschwester  am  Rhein"  2)1  Um  ihm  zu 
zeigen,  bis  zu  welchem  Grade  der  Frechheit  die  Rheinische 
Zeitung  es  noch  in  ihrer  letzten  Stunde  trieb,  übersandte  ihm 
Arnim  einen  vom  Zensor  angehaltenen  Aufsatz  ,,Der  letzte 
Karneval",  der  angeblich  Gott,  Christus,  Altes  und  Neues  Te- 
stament verhöhnte  und  dartat,  wie  nach  Beseitigung  dieser  Irr- 
tümer die  neue  Philosophie  den  wahren  Heilszustand  begründe. 
,,Es  ist  fast  zu  bedauern",  schrieb  der  Minister,  ,,daß  der 
Zensor  verpflichtet  ist,  den  Druck  solcher  Artikel  zu  verhindern, 
der  allein  hinreichte,  um  die  Schändlichkeit  dieses  Treibens  vor 
aller  Welt  aufzudecken  und  die  beste  Waffe  der  Regierung 
gegen  dasselbe  wäre."  Dieses  Argument,  mit  dem  er  sich  zum 
Advocatus  diaboli  machte,  da  es  natürlich  für  Preßfreiheit  sprach, 
entnahm  Arnim  offensichtlich  einem  Bericht  St.  Pauls,  den  er  so- 


')  Dr.  K.  H.  Hermes,  Redakteur  der  Kölnischen  Zeitung,  an  St.  Paul 
ohne  Datum  etwa  Ende  Januar  und  K.  H.  Hermes,  Blicke  aus  der  Zeit  in  die 
Zeit.     3  Bde.     Braunschweig  1843.     Vorrede  S.  XXH. 

'')  Treitschke,  Deutsche  Geschichte  V  S.  207.    Worte  des  Königs. 


Maj-er,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      39 

eben  gelesen  haben  mußte.  Ob  es  vielleicht  dem  Zensor  von  Marx 
suggeriert  worden  war?  In  der  letzten  Zeit  hatte  seine  amtliche 
Tätigkeit  St.  Paul  mit  diesem  in  häufige  Berührung  gebracht,  und 
nur  mühsam  verbarg  der  geistvolle  Bohemien  in  seinen  Berichten 
nach  Berlin  das  große  Vergnügen,  das  ihm  der  ungewohnte  Verkehr 
mit  dem  überragenden  Jüngling  bereitete.  Auf  diesem  Wege  erfuhr 
man  im  Ministerium  zum  erstenmal  von  dem  künftigen  Be- 
gründer der  Sozialdemokratie.  St.  Paul  bezeichnete  ihn  in 
seinen  Berichten  als  den  ,, doktrinären  Mittelpunkt"  und  ,,den 
lebendigen  Quell  der  Theorien  des  Blattes";  auch  rühmte  er 
seinen  Charakter,  denn  er  versicherte,  Marx  ,, sterbe  auf  seine 
Ansichten,  die  ihm  zur  Überzeugung  geworden"  seien.  Dem 
jungen  Redakteur  gereichte  es  offensichtlich  zum  Vergnügen, 
den  Zensor  in  zensurfreien  privaten  Unterhaltungen  mit  dem 
Kern  seiner  philosophischen  und  politischen  Ansichten  bekannt 
zu  machen.  Dieser  berichtete  darüber  seinem  Vorgesetzten : 
,,Wir  haben  mehrere  erschöpfende  Unterredungen  gehabt,  deren 
Ergebnisse  ich  mir  vorbehalte,  ausführlich  mitzuteilen,  da  sie 
den  Einblick  in  die  Elemente  und  Richtungen  der  geistigen 
Bewegung  der  Gegenwart  gewähren.  So  gewiß  die  Ansicht 
des  Dr.  Marx  auf  einem  tiefen  spekulativen  Irrtum  beruht,  wie 
ich  ihm  auf  seinem  eigenen  Terrain  nachzuweisen  bemüht  war, 
so  gewiß  ist  er  von  der  Wahrheit  seiner  Meinung  überzeugt, 
wie  denn  überhaupt  den  Mitarbeitern  der  Rheinischen  Zeitung, 
soweit  ich  sie  kennen  gelernt,  eher  alles  andere,  nur  nicht 
Gesinnungslosigkeit  im  eben  erwähnten  Sinn  zur  Last 
fällt  1)." 

Bereits  am  2.  März  hatte  St.  Paul  nach  Berlin  gemeldet, 
daß  Marx  sich  entschlossen  habe,  ,, unter  den  jetzigen  Umständen" 
jede  Verbindung  mit  der  Rheinischen  Zeitung  aufzugeben  und 
Preußen  zu  verlassen.  Bei  seinem  Austritt  am  17.  März  atmete 
der  von  ihm  bis  zuletzt  arg  drangsalierte  Zensor  glücklich  auf: 
,,Der  Spiritus  rector  des  ganzen  Unternehmens,  Dr.  Marx,  ist 
gestern  definitiv  ausgetreten  und  Oppenheim,  —  ein  wirklich 
im  ganzen  gemäßigter,  übrigens  unbedeutender  Mann,  hat  die 
Redaktion  übernommen.  .  .  .  Ich  befinde  mich  dabei  sehr  wohl 
und  habe   heute   kaum    ein  Viertel  der  sonstigen  Zeit  auf  die 

^)  St.  Pauls  Äußerungen  über  Marx  stehen  in  seinem  Bericht  vom  2.  März 
und  in  einem  anderen  undatierten,  den  Bitter  am  12.  März  mit  seinem  Lese- 
vermerk versah.  Sj^äter  erwähnte  er  noch,  daß  er  sich  die  angekündigten 
ausführlichen  Mitteilungen  über  ihn  für  eine  mündliche  Berichterstattung  vor- 
behielte. 


40      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Zensur  verwandt  i)."  Aber  auch  die  Regierung  begriff  nun 
schon,  daß  die  „ultrademokratischen  Gesinnungen"  von  Dr.  Marx 
„mit  dem  Prinzip  des  preußischen  Staats  in  völhgem  Wider- 
spruch" ständen  und  daß  deshalb  seine  beabsichtigte  Auswande- 
rung für  sie  „kein  Verlust  wäre"  2). 

Daß  Marx  während  des  halben  Jahrs  seiner  redaktionellen 
Tätigkeit  die  Seele  des  Blattes  war,  geht  auch  daraus  hervor, 
daß  St.  Paul  gleich  nach  seinem  plötzlichen  Ausscheiden,  wenn 
auch  ohne  Erfolg,  die  Frage  anregte,  ob  man  die  Zeitung  nun- 
mehr nicht  fortbestehen  lassen  solle,  da  ein  das  protestan- 
tische Prinzip  mit  Mäßigung  vertretendes  Organ  in  Köln  nach 
wie  vor  eine  politische  Notwendigkeit  bliebe.  Heinzen,  Jung, 
Advokat  Mayer,  Mevissen  wären  zwar  auch  scharfe  Federn,  sie 
alle  seien  aber  nur  instinktmäßig  Radikale,  ihnen  fehle  der 
wissenschaftliche  Kern  ihrer  Meinung,  sie  hätten  sich  bloß  nach 
gewissen  Seiten  hin  die  praktischen  Konsequenzen  der  Ruge- 
Bauer-Marxschen  Doktrinen  angeeignet.  Jetzt  fand  der  Zensor, 
daß  man  in  Berlin  die  Gefährlichkeit  der  Rheinischen  Zeitung 
überschätzt  hätte.  Ihr  Idealismus  wäre  abstrakt,  über  alles 
Aktuelle,  Nähere  und  Nächste  w^egseheud,  übersichtig  und 
exzentrisch,  und  könne  deshalb  nicht  praktisch  auf  die  Zustände 
einwirken.  Viel  gefährlicher  seien  scheinbar  unbedeutende 
Blätter,  die  das  nächste  ergriffen  und  in  ganz  konkreter  ge- 
meinverständlicher Weise  gegen  einzelne  bestimmte  Institutionen 
herzögen  3).  Als  aber  die  Regierung  das  Fortbestehen  der  Rheini- 
schen Zeitung  nicht  in  Erwägung  ziehen  wollte,  da  richtete 
St.  Paul,  obgleich  Dumont-Schauberg  ihm  kein  Vertrauen  ein- 
flößte, das  Augenmerk  nun  doch  auf  die  Kölnische  Zeitung. 
Mit  Dr.  Hermes,  einem  geborenen  Schlesier,  der  die  pohtischen 
Leitartikel  schrieb,  hatte  der  gewandte  Sendling  der  Regierung 
bereits  seit  längerem  intime  Beziehungen  angeknüpft,  die  man  sich 
in  Berlin  später  gegen  gutes  Geld  zunutze  machte.  Solange 
dieser  brauchbare  Mann  die  Leitartikel  schrieb,  hielt  St.  Paul  die 
Kölnische  Zeitung  für  geeignet,  das  Organ  zu  werden,  das  am 
Rhein  die  preußischen  Zustände  mit  loyaler  Kritik  bespräche, 
ohne  daß  es  gegen  sich  Vorurteile  erweckte,  wie  sie  gegen 
Zeitungen  beständen,  von  denen  das  Publikum  wisse,  daß  die 
Regierung  sie  subventioniert.    Der  Zensor  traute  sich  auch  zu. 


')  St.  Paul  an  Bitter   18.  März  1843. 

*)  Bitter  an?  22.  März. 

')  St.  Pauls  Berichte  vom  27.  Februar  und  21.  März. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.     41 

von  Dumont-Schauberg  zu  erreichen,  daß  er  Hermes  in  Zukunft 
freiere  Hand  ließe  ^). 

Außer  dem  Klerus  2),  der  nunmehr  hoffen  durfte,  daß  die 
ketzerische  Saat  des  Junghegelianismus  in  der  frommen  Provinz 
niemals  aufgehen  werde,  war,  wie  Bodelschwingh  es  voraus- 
gesagt hatte,  über  das  Eingehen  der  Rheinischen  Zeitung,  die 
am  31.  März  zum  letzten  Mal  erschien,  niemand  glücklicher  als 
der  Besitzer  der  Kölnischen  Zeitung,  den  die  Regierung  von 
einer  Konkurrenz  befreite,  die  ihm  gefährlicher  und  unbequemer 
gewesen  war  als  irgend  eine  frühere!  — 

Ein  Vergleich  zwdschen  der  Rheinischen  und  der  Königs- 
berger  Zeitung,  die  Freund  und  Feind  damals  stets  in  einem 
Atem  nannten,  zeigt  bei  aller  Ähnlichkeit  der  Grundrichtimg 
doch  auch  bedeutende  und  lehrreiche  Unterschiede.  In  der 
Stadt  der  reinen  Vernunft  und  der  Provinz,  die  sie  mit  geistiger 
Nahrung  versorgte,  konnten  die  Weltanschauung,  die  von  dem 
liberalen  Blatt  verkündet,  und  die  praktischen  Forderungen, 
die  auf  sie  begründet  wurden,  ein  einheitlicheres  und  geschlos- 
seneres Gepräge  tragen  als  in  der  klerikalen  Hochburg  am 
Rhein,  wo  modern  kapitahstische  Elemente  eine  Zeitung  errich- 
teten, die  für  die  Interessen  des  wirtschaftlichen  Liberalismus 
eintreten  sollte  und  deren  theoretischer  und  politischer  Teil  sich 
nur  dm-ch  einen  glücklichen  Zufall  den  Doktrinen  der  radikalen 
Richtung  auftat.  Hinzu  tritt,  daß  die  Königsberger  Zeitung 
immerhin  ein  Provinzblatt  blieb,  in  einem  kleinen  Format  er- 
schien und  im  wesentlichen  von  einer  vöUig  homogenen  Gruppe 
von  ganz  wenigen  Personen  geschrieben  wurde,  während  die 
Rheinische  Zeitung  reichlich  über  den  dreifachen  Raum  ver- 
fügte, auch  außerhalb  Kölns  einen  umfangreichen  Mitarbeiter- 
stab besaß  und  sich  von  vornherein  mit  dem  Anspruch  der 
Ebenbürtigkeit  neben  die  große  Kölnische  Zeitung  stellte.  Der 
wichtigste  Unterschied  war  aber,  daß  in  dem  ostpreußischen 
Blatt  die  liberalen,  in  dem  rheinischen  die  radikalen  Bestrebungen 
stärker  in  der  Vordergrund  traten.  Die  Wortführer  dieser  noch 
zu  entwickelnden  radikalen  Ideen,  die  sich,  wie  bereits  angedeutet 
wurde,  keineswegs  auf  das  politische  Gebiet  im  engeren  Sinne 
beschränkten,  waren  während  der  längsten  Zeit  des  Bestehens 
der  Rheinischen  Zeitung  die  durch  Rutenberg  und  Heß,  durch 


'■)  Bericht  St.  Pauls  vom  5.  März. 

^)  Schaper  an  die  Zensurminister   17.  März. 


42      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  ßadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

]\Iarx  und  Bruno  Bauer  mit  ihr  in  Verbindung  gesetzten  Berliner 
Literaten  der  junghegelschen  Richtung,  von  denen  bisher  erst 
vorübergehend  die  Rede  gewesen  ist. 

VI. 

Wir  wissen  schon,  daß  im  Vormärz  das  Interesse  für 
PoHtik  in  Berhn  ungleich  schwächer  war  als  in  der  westlichen 
und  östlichen  Grenzprovinz  der  Monarchie,  im  Rheinland  und 
in  Ostpreußen.  Während  dort  die  Gemeinsamkeit  kultureller, 
religiöser  oder  wirtschaftlicher  Interessen  bereits  kompakte 
Gruppen  auf  die  Erkämpfung  bestimmter  Ziele  hinlenkte,  läu- 
teten in  der  Hauptstadt  bloß  erst  ein  paar  Literaten  Sturm  über 
den  Häuptern  einer  noch  ruhig  schlafenden  Bevölkerung.  An 
Pregel  und  Weichsel  hatte  sich  die  Intelligenz  mit  der  Geburts- 
und Besitzaristokratie,  am  Rhein  wenigstens  mit  der  letzteren 
zusammengefunden,  um  auf  politischen  Fortschritt  hinzuwirken. 
Dagegen  konnten  in  Berlin  diese  Elemente  neben  dem  beherr- 
schenden Ansehen,  das  Hof  und  Bureaukratie  genossen,  noch 
zu  keinem  Einfluß  gelangen  i).  Wer  hier  etwas  gelten  wollte, 
hütete  sich  ängstlich,  durch  die  Äußerung  liberaler  Über- 
zeugungen nach  oben  Anstoß  zu  erregen.  Man  bewunderte 
wohl  im  Stillen  die  ostpreußischen  Adeligen  und  rheinischen 
Großkaufleute,  die  auf  den  Provinziallandtagen  Verfassung  und 
Preßfreiheit  forderten,  aber  man  hatte  nicht  den  Mut,  es  ihnen 
gleich  zu  tun.  Für  den  Berliner  war  in  der  ersten  Hälfte  der 
vierziger  Jahre  der  politische  Klatsch,  dem  der  volkswüchsige 
Witz  nicht  selten  zu  plastischer  Gestalt  verhalf,  die  eigentliche 
Form,  in  der  seine  innere  Unabhängigkeit  Selbstbewußtsein  er- 
hielt und  in  der  gleichzeitig  sein  Oppositionsdrang  sich  er- 
schöpfte. 

Innerhalb  dieses  servilen  Milieus  bestand  ein  kleiner,  locker 
zusammenhängender  Kreis  von  jungen  Schriftstellern,  der  es 
wagte,  ohne  jede  Rücksicht  die  Zeitideen  zu  verkündigen.  Ge- 
sellschaftlich hatten  die  Männer,  die  ihm  zugehörten,  nichts  zu 
verlieren,  sie  waren  mehr  oder  weniger  Bohemiens,  nur  einige 
von  ihnen  mußten  sich  um  des  Amtes  willen,  das  ihnen  ihr  kärg- 
hches  Brot  gewährte,  hinter  Pseudonymen  verstecken.  Die  realen 
Wünsche  bestimmter  Volksschichten  hatten  sich  hier  noch  nicht 
genügend  verdichtet,  als  daß  sie  deren  politisclie  Wortführer 
hätten  werden  können.     So  führten  sie  ohne  Rückhalt  bei  der 


')  Saß,  Berlin  in  seiner  neuesten  Zeit  und  Entwicklung-.    Leipzig  1846. 


Player.  Die  Anfänge  des  ])olit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      4'i 

Einwohnerschaft  ein  Kaffeehausdasein,  das  sie  um  so  eher  einem 
extremen  Subjektivismus  entgegentrieb,  als  ihre  besten  Köpfe 
persönhche  Veranlagung  ohnehin  dafür  prädestinierte.  Das 
Bernsteinsche  Lesekabinett  in  der  Behrenstraße  und  das  rote 
Zimmer  der  Konditorei  von  Stehely  waren  die  Nachrichtenbörse 
dieser  ,, Literaten,  die  von  der  Journalschriftstellerei  und  dem 
pohtischen  Räsonnement  ein  Gewerbe  machten"^).  Am  Abend 
war  die  Hippeische  Weinstube  oder  die  Tabagie  von  Clausing 
in  der  Zimmerstraße  die  Stätte  ihres  Gedankenaustausches.  In 
seinem  Buch  über  Stirner  hat  Mackay  das  Treiben  dieser  Leute 
liebevoll  und  anschaulich  geschildert-). 

Während  des  Jahres  1841  bildete  einen  Sammelpunkt  für 
ihre  geistigen  Bestrebungen  die  Wochenschrift  ,,Athenaeum", 
die  der  ehemalige  bayrische  Pfarrer  D.  Karl  Riedel  mit  Hilfe 
von  Dr.  Eduard  Meyen,  der  auch  sonst  für  ultraliberale  Blätter 
,, böswillige  Artikel"  schrieb,  im  Verlage  von  Kiemann  heraus- 
gab. Beide  Männer  hatten  sich  bei  der  Abwehr  der  bekannten 
Angriffe  Heinrich  Leos  auf  die  Junghegelianer  hervorgetan. 
Neben  ihnen  standen  als  hauptsächliche  Mitarbeiter  Dr.  Ludwig 
Eichler,  der  Privatdozent  Dr.  Karl  Nauwerck,  Dr.  Ludwig  Buhl 
und  Dr.  Rutenberg.  Die  meisten  Mitglieder  des  Kreises  waren 
geborene  Berliner,  auch  Buhl,  den  Treitschke  irrtümlich  für 
einen  Rheinländer  ausgibt  ^).  Karl  Marx,  der  in  diesem  Jahre 
in  Berlin  promovierte  und  viel  mit  Rutenberg  und  Konsorten 
verkehrte,  lud  im  Athenaeum  zwei  Gedichte  ab,  die  hinreichend 
bewiesen,  daß  der  Parnaß  nicht  seine  geistige  Heimat  war. 

Die  Behörden  beschäftigten  sich  zum  erstenmal  mit  diesen 
Leuten,  als  sie  Ende  September  1841  für  den  nach  Berlin  ge- 
kommenen liberalen  badischen  Landtagsabgeordneten  Welcker 
eine  Serenade  und  ein  Mittagessen  veranstalteten  und  dadurch 


*)  So  drückte  sich  die  Polizei  aus.  Ein  anonymer  Bericht,  etwa  vom 
März  1842,  den  ich  in  den  Akten  des  Geh.  Staatsarchivs  fand,  nennt  sie 
„Zeloten,  die  sich  selbst  als  die  zum  Streit  für  Deutschlands  Freiheit  berufene 
Propaganda  bezeichnen  und  als  solche  nun,  begünstigt  durch  die  freie  Presse, 
systematisch  wirken  wollen". 

^)  Vgl.  auch  Ludwig  Eichler,  Der  Zeitungskorrespondent.  —  Eine 
Konditorei.  Berlin  1842  (in  , .Berlin  und  die  Berliner'"  Neue  Folge  IV)  und 
F.  Saß  a.  a.  0.  S.  49  ff. 

")  Charakteristiken  von  Rutenberg,  Meyen,  Buhl,  Stirner  bei  Saß, 
Berlin  etc.  a.  a.  0.  Meyen  korrespondierte  1841  für  die  Hamb.  Neue  Zeitung, 
hernach  eifrig  für  die  Eheinische  Zeitung.  Buhl  (ursprünglich  Boule)  ent- 
stammte der  französischen  Kolonie. 


4-4      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vorraärzl.  Preußen. 

den  Zorn  des  Königs  auf  sich  lenkten  i).  Bei  diesem  Schmaus, 
der  in  der  Wallburgschen  Weinstube  stattfand,  feierte  Bruno 
Bauer,  damals  noch  unabgesetzter  Privatdozent  in  Bonn,  mit 
einem  ostentativen  Toast  Hegels  Auffassung  vom  Staat,  über 
die  in  Süddeutschland  noch  manche  irrige  Vorstellung  ver- 
breitet wäre.  Ihm  erschien  es  wichtig,  dem  Herausgeber  des 
Staatslexikons  zu  zeigen,  daß  er  selbst  und  die  anderen  Jung- 
hegelianer über  den  Staat  Ansichten  hegten,  welche  die  der 
süddeutschen  Liberalen  an  Kühnheit  und  Entschiedenheit  weit 
überragten  2).  Welcker  verstand  diese  Absicht  und  war  darüber 
,,sehr  chokiert"^).  Aber  erst  Edgar  Bauers  Buch  über  die 
badische  Opposition  vollendete  ein  Jahr  später  den  Bruch  dieser 
Radikalen  mit  dem  süddeutschen  Liberalismus. 

Bei  der  politischen  Schläfrigkeit,  die  in  der  Hauptstadt 
waltete,  war  es  ein  ganz  unerhörtes  Ereignis,  daß  eine  Serenade, 
für  die  offenbar  bei  der  Polizei  nicht  im  voraus  die  Genehmigung 
eingeholt  worden  war,  zu  einer  politischen  Manifestation  benutzt 
wurde.  Wie  sollte  man  es  auch  sonst  erklären,  daß  der  König 
dieser  harmlosen  Kundgebung  einen  ,, auf  regenden  Charakter" 
beimaß!  Über  alle  Teilnehmer  wollte  er  die  strengste  j)olizei- 
liche  Aufsicht  verhängt  und  sie  für  die  Zukunft  von  jeder  An- 
stellung im  preußischen  Staatsdienst  ausgeschlossen  sehen ^). 
Als  Anstifter  galt,  wir  hörten  es  schon,  Dr.  Adolf  Rutenberg, 
früher  Lehrer  der  Geographie  am  Berliner  Kadettenhaus,  der 
seine  Stelle  verloren  hatte,  als  er  eines  Morgens  betrunken  im 
Rinnstein  gefunden  wurde,  wahrscheinlicher  aber  weil  man  ihn 
als  Verfasser  ,, böswilliger  Artikel"  für  die  Leipziger  Allgemeine 
und  die  Hamburger  Neue  Zeitung  kannte.  Unter  den  übrigen  Teil- 
nehmern begegnen  wir  außer  Bruno  Bauer  noch  dem  Oberlehrer 
an  der  Dorotheenstädtschen  Realschule  Karl  Friedrich  Koppen, 
dessen  Marx  gewidmete  Broschüre  über  Friedrich  den  Großen 
schon  erwähnt  wurde,  dem  Romanschriftsteller  Dr.  Theodor 
Mügge,    der    sich    besonders    durch    seine    Beiträge    für  Willes 

^)  Die  Akten  über  die  Festlichkeit  für  Welcker  durfte  ich  nicht  ein- 
sehen, doch  verdanke  ich  der  Liebenswürdigkeit  von  Herrn  Geheimrat  Ballieu 
die  Namen  derjenigen  Teilnehmer,  die  zur  Verantwortung  gezogen  wurden. 
Die  Mehrzahl  der  Demonstranten  erwies  sich  hernach  als  unauffindbar. 

^)  Bruno  an  Edgar  Bauer  9.  Dezember  1841,  in  Briefwechsel  zwischen 
Bruno  und  Edgar  Bauer  während  der  Jahre  1839 — 1842.    Charlottenburg  1841. 

*)  B.  Bauer  an  Enge  24.  Dezember  1841  (ungedruckt,  im  Besitz  von 
Herrn  Hofgerichtsadvokat  Dr.  W.  Pappenheim  in  Wien). 

*)  Rochow  an  Eegierungspräsident  von  Gerlach  in  Köln  31.  Januar  1842. 
Geh.  Staatsarchiv.     Vgl.  S.  17. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      45 

Mannheimer  Journal  bei  der  Regierung  mißliebig  gemacht  hatte, 
Riedel,  dem  Herausgeber,  Kleefeld,  dem  Verleger,  und  Meyen 
und  Eichler,  den  eifrigsten  Mitarbeitern  des  ,,Athenaeums",  dem 
Lehrer  Dr.  Friedrich  Zabel,  späterem  Redakteur  der  National- 
zeitung, dem  Buchhändler  Cornelius,  der  einst  in  Straßburg  das 
,, Konstitutionelle  Deutschland"  herausgegeben  hatte  und  sich 
nun  schon  Jahre  hindurch  vergebens  um  die  Konzessionierung 
einer  neuen  politischen  Zeitung  in  Berlin  bemühte,  dem  Buch- 
händler, Schriftsteller  und  Vorsteher  der  Judenschaft  Moritz 
Veit,  dem  Arzt  Dr.  Julius  Waldeck,  einem  Vetter  und  Freund 
Johann  Jacobys,  dem  Assessor  Eduard  Flottwell,  dem  ältesten 
Sohn  des  Oberpräsidenten  u.  a.  Von  diesen  Männern  fand  ich 
Cornelius,  Meyen,  Zabel,  Waldeck  und  Mügge  auch  als  Unter- 
zeichner eines  Aufrufs,  der  im  folgenden  Jahre  dem  wegen 
Hochverrats  und  Majestätsbeleidigung  verfolgten  Johann  Ja- 
coby  eine  Bürgerkrone  stiften  wollte;  zu  ihnen  gesellten  sich 
dort  u.  a.  noch  Nauwerck,  Dr.  Heinrich  Runge,  der  spätere  Stadt- 
kämmerer, Dr.  Cajetan  Hoppe  und  A.  Hiller,  von  Studenten 
Theodor  Flottwell,  der  zweite  Sohn  des  Oberpräsidenten,  und  — 
Jakob  Burckhardt.  Daß  Schmidt,  der  hier  15  Sgr.  zeichnete, 
mit  Stirner  identisch  gewesen  ist,  läßt  sich  nicht  beweisen.  Man 
darf  es  aber  für  um  so  wahrscheinlicher  halten,  als  Stirner  das  Ver- 
dienst Jacobys  um  die  Weckung  des  politischen  Bewußtseins  noch 
im  Oktober  1842  in  der  Leipziger  Allgemeinen  Zeitung  warm  an- 
erkannte. Er  achtete  in  ihm  den  Menschen,  ,,der  eine  Idee  in 
sich  ,persönlich'  werden  Meß  und  nun  die  zeitlichen  Leiden  der 
Idee  an  seinem  Leibe  zu  tragen  hat"^).  Ein  Bericht  des 
Ministers  des  Innern  an  den  König  betonte  damals  mit  Genug- 
tuung den  geringen  Anklang,  den  der  Aufruf  in  Berlin  gefunden 
hätte:  Die  Subskribenten  seien  ,,der  ultraliberalen  Schule  an- 
gehörige,  bei  der  literarischen  Welt  jedoch  in  keiner  besonderen 
Achtung  stehende  Zeitungskorrespondenten  und  Broschüren- 
schreiber", zu  denen  noch  ein  paar  Studenten,  junge  Doktoren 
der  Medizin  und  Juden  kämen  2). 

VII. 
Der   literarische  Mittelpunkt  für  alle  durch  die  Hegeische 
Schule  gegangenen  Elemente,  die  nun  zur  Praxis  drängten  und 

0   Leipz.  Allg.  Ztg.   9.  Oktober   1842,    Beilage:  „Dr.   Jacobys   weitere 

Verteidigung."  Den  Beweis  für  Stirners  Autorschaft  findet  man  S.  92  An- 
merkung 2. 

')  Arnim  an  den  König  12.  Januar  1843.     Geh.  Staatsarchiv. 


46      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

denen  ,, Gesinnung"  die  Seele  füllte,  war  Arnold  Rüge.  Er 
selbst  hat  sich  einmal  nicht  übel  als  Großkaufmaun  im  Reiche 
des  Geistes  bezeichnet  und  damit  ausgedrückt,  daß  er  sich  nicht 
sowohl  für  einen  schöpferischen  Denker  hielt,  als  für  einen 
Mann,  der  mit  Takt  und  Geschick  die  Ideen  und  Forderungen 
der  Zeit  auf  die  richtige  und  zündende  Formel  zu  bringen 
verstand.  Die  Berliner  Junghegelianer  schätzten  den  Heraus- 
geber der  Halh sehen  Jahrbücher,  dem  sie  ihre  Beiträge  ein- 
schickten, ohne  daß  sie  ihn  vorläufig  persönlich  kannten,  unge- 
mein. Aber  als  ihr  geistiges  Oberhaupt  verehrten  sie  Bruno  Bauer, 
den  kühnen  Kritiker  der  Evangelien,  der  zwar  noch  bis  zum 
Frühling  1842  als  Privatdozent  in  Bonn  lebte,  aber  die  Ferien 
immer  in  seinem  Elternhaus  in  Charlottenburg  verbrachte,  von 
wo  aus  er  mit  seinem  um  elf  Jahre  jüngeren  Bruder  Edgar,  der 
damals  noch  Theologie  studierte,  in  ihrem  Kreise  verkehrte. 
Bauer  seinerseits  urteilte  über  die  ,,Athenaer"  und  ihr  ,, Dreck- 
blatt" in  seinen  Briefen  an  Rüge  mit  Geringschätzung^).  Er 
traute  ihnen  nicht  zu,  daß  sie  an  die  ,, Kraft  der  Sache"  glaubten 
und  wollte  diesen  ihren  ,, Unglauben"  von  Rüge  in  der  Leip- 
ziger Allgemeinen  Zeitung  gezüchtigt  sehen.  Aber  urteilte  der 
Erfinder  der  souveränen  Kritik  nicht,  ohne  es  zu  merken,  auch 
über  sich  selbst,  wenn  er  in  einem  Brief  an  Rüge  den  ,, Berliner 
Bier-Literaten"  vorwarf:  ,,Sie  glauben  überhaupt  an  keine  Kraft, 
als  an  die  ihrer  eigenen  Klugheit."  ? 

Bruno  Bauer  war  wie  auch  sein  Bruder  Edgar  ein  ,, Fana- 
tiker des  Verstandes"  2),  und  die  Hegeische  Dialektik,  die  er 
mit  Virtuosität  handhabte,  schien  wie  geschaffen  für  die  Ge- 
dankenarbeit dieses  Geistes,  dem  es  weniger  darauf  ankam,  feste 
Resultate  zu  erzielen,  als  dem  niemals  endenden  Kampf  der 
Ideen  sein  eigenes  Bewußtsein  als  Schlachtfeld  darzubieten.  In 
der  Rastlosigkeit,  mit  der  die  Brüder  die  Kritik  in  sich  arbeiten 
ließen,  in  ihrer  ,, dialektischen  Ehrlichkeit"  und  ,, logischen  Gründ- 
lichkeit" (wie  Edgar  es  nannte)  liegt  ein  Moment,  das  uns  Ach- 
tung abnötigt.  Man  kann  sie  auch  im  herkömmlichen  Sinne 
des  Worts  nicht  eitel  nennen,  denn  ihr  Persönlichkeitsgefühl 
war  genau  so  intellektualistisch  begrenzt  wie  ihre  Gedanken- 
welt.   ,, Solange  die  Kritik  eine  kämpfende  Macht  ist",  schrieb 


')  Bruno  Bauer  an  Rüge  6.  Dezember  1841  (ungedruckt,  im  Besitz 
von  Herrn  Dr.  W.  Pappenheim  in  Wien,  der  mir  die  Benutzung  freundlich 
gestattete). 

-)  Prutz,  Zehn  Jahre,  Bd.  II  S.  58  ff. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      47 

Edgar  einmal,  ,,siud  die  PersoneD,  welche  sieh  in  ihren  Dienst 
stellen,  gleichgültig  und  halten  sich  nur  insofern  für  etwas, 
als  sie  eben  die  Kritik  in  sich  arbeiten  lassen^)." 

Aber  die  Brüder  Bauer  besaßen  nicht  nur  den  Mut  der 
Konsequenz,  sie  übertrieben  ihn  auch.  Jedes  eigene  Urteil,  das 
sie  gefällt  hatten,  wurde  ilmen  in  kurzer  Zeit  zum  Vorurteil, 
das  sie  überwanden,  indem  sie  es  als  ein  solches  erkannten. 
Auf  ihre  intellektuelle  Hemmungslosigkeit  waren  sie  stolz,  und 
sie  hätten  es  für  unwissenschaftlich  gehalten,  das  Räderwerk 
der  einmal  aufgezogenen  Verstandesmaschine  aus  Neigung 
oder  Abneigung  an  irgendeiner  Stelle  anzuhalten.  Eine 
solche  Denkweise  konnte  sich  selbstredend  nur  bei  Männern 
ausbilden,  die  alle  irrationalen  Wertungen  verachteten  und 
für  die  aus  den  unbewußten  Tiefen  des  Empfindungslebens 
hervorbrechenden  Forderungen  kein  Organ  besaßen.  Da  ihr 
Schiboleth  ,,die  Kritik"  nicht  stille  stehen  durfte,  so  hielten  sie 
schließlich  den  Wechsel  der  Überzeugung  für  ein  Symptom 
der  Fortentwicklung.  Wohl  zollten  auch  sie  dem  Zeitgeist  der 
Jahre  1841  und  1842,  der  stürmisch  ,, Gesinnung"  forderte,  ihren 
Tribut.  Aber  bald  erkannten  sie,  daß  sie  sich  nicht  einreihen, 
nicht  auf  Programme,  die  sich  kritisch  auflösen  ließen,  fest- 
legen konnten.  Im  Lauf  ihres  langen  Lebens  haben  sie  dann  ihren 
politischen  Standpunkt  häufig  geändert.  Edgar  war  Liberaler, 
Radikaler,  Kommunist,  Anarchist,  Konservativer  und  schließlich 
sogar  Weife.  Und  Bruno  endete  als  Mitarbeiter  Herrmann 
Wageners.  Ähnlich  wie  Nietzsche-),  mit  dem  er  sich  in  einiger 
Hinsicht  berührt  —  man  vergleiche  den  ,, Antichrist"  mit  dem 
,, Entdeckten  Christentum" !  —  zog  ihn  innere  Verwandtschaft 
nur  zu  Geistern,  die  sich  wandelten.  Bloß  eine  Epoche  schneller 
Umbildung  konnte  die  produktive  Seite  in  einer  solchen  Natur 
auslösen ! 


^)  Preßprozeß  Edgar  Bauers  über  das  von  ihm  verfaßte  Werk  „Der 
Streit  der  Kritik  mit  Kirche  und  Staat".  Aktenstücke.  Bern  1844.  S.  110. 
Die  Stellung  der  „Kritik"  innerhalb  der  Geschichte  der  Philosophie  behan- 
delte bisher  am  gründlichsten  K  o  i  g  e  n ,  Zur  Vorgeschichte  des  modernen 
philosophischen  Sozialismus  in  Deutschland.  Bern  1901.  Auf  die  rein  philo- 
sophischen Zusammenhänge  konnten  wir  bei  unserer  Problemstellung  nicht 
eingehen. 

')  Auf  die  Berührungen  der  beiden  Bauer  mit  Nietzsche  verweist  auch 
Koigen  a.  a.  0.  S.  73  f.  Zwischen  Bruno  Bauer  und  Nietzsche  haben  noch 
persönliche  Beziehungen  bestanden.  Vgl.  Nietzsche  an  Taine  4.  Juli  1887 
in  Gesammelte  Briefe  III  1  S.  201. 


48      Mayer,  Die  Aufänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Ein  feinsinniger  zeitgenössischer  Kritiker^)  tadelt  an  den 
Brüdern  Bauer,  daß  sie  die  Menschen  als  Gattung  wie  als 
Individualität  zu  tief  einschätzten.  Wie  konnte  dies  aber  bei 
Denkern  anders  sein,  die  ausschließlich  die  Verstandeskategorie 
beachteten?  Weil  das  intellektuelle  Ich  für  sie  schon 
der  ganze  Mensch  war,  weil  sie  die  Psychologie  und 
alles  ,, jenseits"  sichtbare  Land  absichtlich  ignorierten  und  nur 
dem  absoluten  Selbstbewußtsein  und  seiner  Entwicklung  Wert 
beilegten,  verkörpern  sie  im  deutschen  Geistesleben  die  schärfste 
Reaktion  gegen  die  Romantik.  Nicht  in  den  Köpfen  der 
Masse,  die  ihnen  nichts  galt,  nicht  im  Volksgeist,  den  sie 
leugneten,  sondern  im  absoluten  Selbstbewußtsein,  das  schließlich 
doch  bloß  ihr  eigenes  war,  vollzog  sich  für  sie  der  endlose  Kampf 
der  Ideen,  der  die  Selbstbefreiung  des  Geistes  bedeutete  und  des- 
halb den  einzig  würdigen  Inhalt  der  Geschichte* ausmachte.  Be- 
strebungen, die  sie  einmal  kritisch  vernichtet  hatten,  betrachteten 
sie  als  endgültig  abgetan,  sogar  dann,  wenn  sich  diese  im  realen 
Leben  einer  robusten  Gesundheit  erfreuten.  Die  praktische 
Verwirklichung  der  Ergebnisse,  zu  denen  sie  in  der  Theorie 
gelangt  waren,  hatte  für  sie  höchstens  eine  nebensächhche  Be- 
deutung. Sie  sahen  keinen  Unterschied  darin,  ob  man  seinem 
Feind  auf  dem  Papier  oder  in  der  Wirklichkeit  den  Kopf  ab- 
schlug. So  erschöpften  sie  sich  in  der  Kritik,  während  sie  sich 
selbst  für  schöpferisch  hielten  und  ihre  Worte  für  Taten  nahmen. 

Ursprünglich  hatte  Bruno  Bauer  in  seiner  wandlungsreichen 
Entwicklung  zur  orthodoxen  Richtung  geschworen  und  zu  den 
entschiedensten  Gegnern  von  David  Friedrich  Strauß  gehört. 
Hernach  wandte  er  den  Künsteleien  der  Apologetik  schroff  den 
Rücken,  wurde  zum  radikalen  Kritiker  der  biblischen  Tradition 
und  nannte  sich  selbst  einen  Atheisten.  Letzteres  geschah  zu- 
erst in  einer  anonymen,  alsbald  konfiszierten  Schrift,  die  unter 
der  Maske  des  Pietismus  nachwies,  daß  bereits  Hegel  ein 
Erzjakobiner  gewesen  sei,  der  das  Historische  in  Ideen  ver- 
wandelte und  damit  den  festen  Besitz  der  konservativen  Mächte 
verschleuderte  und  in  die  willkürliche  Gewalt  der  Gegenwart 
brachte.  Die  ,, Posaune"  kündigte  an,  daß  Hegels  Jünger  im 
Begriff  stünden,  aus  seiner  Lehre  die  Konsequenz  zu  ziehen 
und  den  ,, Umsturz  alles  Bestehenden"  zu  vollenden  2), 

')  (Alex.  Jung),  „Die  Kritik  in  Charlottenburg  oder  die  Gebrüder 
Bauer"  im  Königsb.  Literaturbl.,  17.,  20.,  24.  Juli  1844, 

-)  Für  Bruno  Bauers  politische  Entwicklung  in  dieser  Epoche  kommen 
hauptsächlich  die  folgenden  Schriften  und  Aufsätze  in  Betracht:  Dr.  Hengsten- 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      49 

VILT. 

Den  Rückfall  der  preußischen  Kulturpolitik  in  Romantik 
und  Reaktion  hatte  Bruno  Bauer  schon  von  Bonn  aus  öffentlich 
bekämpft.  In  Ruj2;es  Jahrhüchern  hatte  er  dar^elei^t,  wie 
überall  in  der  Geschichte  die  Religion  die  anderen  Mächte  des 
Geistes  zu  verschlingen  oder  zu  unterjochen  strebe.  Aber 
die  Revoluticm,  die  Aufklärung  und  die  Philosoi)hie  hätten  als 
die  umiassendste  Erscheinung  des  sittlichen  Selbstbewußtseins 
den  Staat  erkannt.  Ist  er  (hes  wirklich,  ist  er  die  „objektive 
Existenz  der  Sittlichkeit",  so  dürfe  die  Kirche  nicht  bean- 
spruchen, ihn  zu  bevornuniden.  Da  der  Staat  einen  endlosen 
dialektischen  Werdeprozeß  durchlebt,  so  ist  er  niemals  identisch 
mit  der  bestinnnten  Regierung.  Deshalb  gehört  auch  die  Op- 
j)Osition  in  ihn  hinein  als  die  Vertreterin  berechtigter  Prinzipien, 
die  in  den  gesetzlichen  Einrichtungen  noch  nicht  ausgeprägt 
sind.     Die   Opposition   vollendet   sich   als   dialektische  Theorie. 


l)erg,  VAn  Beitrag  zur  Kritik  des  religi()8en  Bewußtseins,  Berlin  1839;  Der 
christliche  Staat  und  unsere  Zeit  (Hall.  Jahrb.  7.  und  12.  Juni  1841);  anonym 
Die  Posaune  des  jüngsten  Gerichts  über  Hegel  den  Atheisten  und  (Jhristen. 
Ein  Ultimatum,  Leipzig  1841  (beendet  August,  erschienen  November);  Be- 
kenntnisse einer  schwachen  Seele  (Deutsch.  Jahrb.,  23.  und  24.  Juni  1842); 
Die  gute  Sache  der  Freiheit  und  meine  eigene  Angelegenheit,  Zürich  und 
Winterthur  1842;  Die  Judenfrage  (Deutsch.  Jahrb.,  17.  November  ff.  1842, 
auch  separat  Braunschweig  1843);  Das  entdeckte  Christentum,  eine  Erinne- 
rung au  das  achtzehnte  Jahrhundert  und  ein  Beitrag  zur  Krisis  des  neun- 
zehnten, Zürich  und  Winterthur  1843  (beendet  wohl  im  Januar);  anonym, 
Staat,  Religion  und  Partei,  Leipzig  1843  (geschrieben  im  März);  endlich 
mehrere  Aufsätze  ohne  Unterschrift  in  der  von  ihm  herausgegebenen  AUgem. 
Lit.-Ztg.  —  Die  Rheinische  Zeitung  brachte  von  Bruno  Bauer  die  folgenden 
größeren  anonynum  Beiträge,  deren  Originahnanuskripte  ich  einsehen  durfte: 
Über  die  neuesten  Erscheinungen  der  engüsclien  Kirche  Beibl.  20.  Jan.  1842; 
Die  Parteien  im  jetzigen  Fi'ankreich  Beibl.  23.  Jan.;  Die  Rheingrenze  Beibl. 

30.  Jan.;  Die  deutschen  Sym))atliieu  für  Frankreich  Beibl.  6.  P'ebr.;  Die  Zer- 
s])litterung  der  Parteien  in  b'rankreich  Beilil.  10.  Febr.;  Das  Cölner  Quartett 
Feuill.  1.  März;    Lebensbilder   aus    den    Befreiungskriegen    Beibl.   1.,    6.,    13., 

31.  März;  Die  Deutschen  Nationalen  10.  März;  Joseph  II.  und  die  belgische 
Revolution  Beibl.  13.  März;  Die  Kollisionen  in  den  konstitutionellen  Staaten 
Beibl.  27.  März;  Eine  von  den  Tendenzen  der  Augsb.  Allg.  Ztg.  ebendort; 
Kirche  und  Staatsgouvernement  Beibl.  29.  März;  Preußen,  seine  Verfassung, 
seine  Verwaltung  etc.  von  Bülow-Cummerow  Beibl.  7.  April;  Wie  Lüttich  dem 
deutschen  Reich  verloren  ging  Beibl.  3.  April;  Was  ist  Lehrfreiheit'?  Beibl. 
12.  April;  Der  Terrorismus  der  Augsb.  Allg.  Ztg.  Beibl.  24.  April;  Die  deut- 
schen Artikel  der  Augsb.  Allg.  Ztg.  Beibl.  1.  Mai;  Etwas  über  die  Presse 
in  der  Schweiz  Beibl.  3.  Mai;  Deutschlands  Beruf  in  der  Gegenwart  und 
Zukunft  von  Theodor  Rohmer  Beibl.  7.  Juni;  Louis  Philip})  und  die  Juli- 
regiorung  Beibl.  19.,  21.,  23.  Juni  1842. 

Zeitschrift  für  Politik.    G.  4 


50      Mayer.  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalisnius  im  vormärzl.  Preußen. 

Doch  die  Regierung  mißtraut  dem  Selbstbewußtsein,  das  sich 
erkühnt,  seine  Sache  auf  sich  selbst  zu  stellen. 

Bauer  war  der  Ansicht,  daß  der  Kampf  zwischen  der  als 
abstraktes  Postulat  -^deder  auferstandenen  Kirche  und  der  "Wissen- 
schaft im  preußischen  Staate  seine  Entscheidung  finden  werde. 
Seit  seiner  Absetzung  im  März  1842  wurde  ,,die  gute  Sache 
der  Freiheit"  ihm  vollends  zu  seiner  eigenen  Angelegenheit. 
Die  Entziehung  der  venia  legendi  bewies  ihm  und  seinen  Partei- 
gängern in  Berlin  auf  die  schlagendste  Weise,  daß  die  Freiheit 
der  wissenschaftlichen  Forschung  der  preußischen  Regierung, 
die  sie  früher  respektiert  hatte,  nichts  mehr  galt.  Mit  der 
Aureole  des  Märt}Tertums  um  die  Stirn  kehrte  er  nach 
Berlin  zurück,  um  dort  an  der  Spitze  der  Jungen  und  unter 
dem  Schutz  der  erweiterten  Zensurfreiheit  den  Kampf  gegen 
die  christhch-romantische  Richtung  aufzunehmen. 

Hier  in  der  politischen  Sandwüste  an  der  Spree  milderte 
sich  bald  sein  Urteil  über  den  Kreis  der  Stehely-Literaten,  denen 
die  gemeinsame  Arbeit  für  das  große  rheinische  Oppositions- 
blatt jetzt  einen  stärkeren  Zusammenhang  gab  als  das  im  Ge- 
folge des  Festessens  für  Welcker  unterdrückte  Athenaeum,  um 
dessen  Wiedererweckung  Meyen  und  Nauwerck  sich  vergebens  be- 
mühten^). Bruno  Bauer  empfand  die  ,, geistige  Armut  Berlins" 
anfangs  sehr  drückend.  Die  ,, Freien",  wie  man  die  dortigen  Jung- 
hegelianer seit  kurzem  nannte,  schienen  ihm  noch  die  einzigen 
zu  sein,  ,,die  sich  von  den  neueren  Prinzipien  tingieren"  ließen. 
Bheb  nun,  wie  er  Rüge  gestand,  diese  Tinktur  auch  bei  ihnen  bloß 
äußerlich,  so  erschien  es  ihm  doch  nicht  ratsam,  sie  allein  zu 
lassen,  wo  er  einmal  mit  ihnen  innerhalb  derselben  Mauern 
wohnte  2).  Übrigens  wurde  der  Name  ,,die  Freien"  im  weiteren 
Sinne  bald  auf  alle  Kreise  angewandt,  die  gegen  die  Kultur- 
politik Eichhorns  öffentlich  Einspruch  erhoben. 

Innere  und  äußere  Umstände  trugen  dazu  bei,  daß  die 
,, Freien"  anfänglich  an  der  hohen  Wertung  des  Staats  fest- 
hielten, die  Hegels  Rechtsphilosophie  verkündigte  und  die  Bruno 
Bauer  fast  wie  eine  Kampfansage  des  Radikalismus  an  die 
Liberalen    dem     Heidelberger    Professor    entgegengeschleudert 


*)  Vgl.  Stimers  Korrespondenz  in  der  Leipz.  Allg.  Ztg.  vom  2.  Oktober  1842. 

')  Bruno  Bauer  an  Rüge,  15.  .Juni  1842  (ungedruckt).  Am  17.  August 
schreibt  er  an  Enge:  ,,Es  ist  mir  lieb,  daß  Ihnen  .Jung  von  den  Freien  bierselbst 
erzählt  hat.  Ich  bin  nicht  dazu  gekommen,  Ihnen  die  ganze  Entwicklungs- 
geschichte zu  erzählen,  obwohl  es  interessant  gewesen  wäre."  Vgl.  Euge  an 
Prutz,    18.  November  1842,   in  Ruges  Briefwechsel,    herausgeg.  von  Nerrlich. 


Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Radikalisrnus  im  voniiürzl.  Preußen.      51 

hatte!  Die  Romantiker,  die  auch  die  Gesinnung  des  Königs 
ausdrückten,  sahen  allein  in  der  Kirche  eine  Offenbarung  des 
göttlichen  Prinzips  und  ordneten  ihr  den  Staat,  dem  sie  den 
,, Geist"  absprachen,  unter.  Die  jungen  und  alten  Hegelianer 
wiederum  empörte  es,  daß  der  Staat  eine  bloß  äußerliche  Anstalt 
sein  sollte;  sie  erblickten  in  dieser  Auffassung  eine  ,,  wegwerf  ende 
Verkennung  der  tieferen  Staatsidee"').  Bruno  Bauer  warnte 2) 
jetzt  den  bestehenden  Staat,  sein  Schicksal  mit  dem  der  Kirche 
zu  verbinden,  weil  er  sonst  mit  ihr  untergehen  würde,  um  Platz 
zu  schaffen  für  einen  ,, freien  Staat".  Denn  ebenso  wie  im 
Wesen  der  Kirche  und  der  Religion  die  Knechtschaft  läge,  so 
entspräche  die  Freiheit  dem  eigentlichen  Wesen  des  Staates. 
Während  die  Kirche  den  Menschen  mit  sich  selbst  entzweie, 
sollte  er  im  Staate  mit  sich  einig  werden.  Der  Staat  sei  keine 
starr-abstrakte  Macht,  die  den  einzelnen  gängeln  dürfe,  noch 
ein  jenseitiges  Wesen,  dem  er  sich  in  Demut  beuge.  Die 
Idealität  des  Staates  müsse  in  der  Persönlichkeit  leben  und 
weben  und  in  ihr  Fleisch  und  Blut  übergegangen  sein^)! 

Aber  auch  äußerlich  ließ  sich  der  Kampf  gegen  die  Über- 
griffe der  Kirche  erfolgreicher  führen,  w^enn  es  keinem  Zweifel 
unterlag,  daß  man  die  Autarkie  des  Staates  rückhaltslos  an- 
erkannte. Deshalb  lag  Methode  in  dem  Bestreben  der  radikalen 
Junghegelianer,  die  sich  jetzt  als  die  zuverlässigsten  Verteidiger 
des  Staatsprinzips  aufspielten  und  bei  jeder  Gelegenheit 
aussprachen,  daß  man  sehr  wohl  ein  guter  Bürger  sein  könne, 
ohne  zugleich  ein  guter  Christ  zu  sein.  In  einer  von  mir 
aufgefundenen  Kundgebung  aus  dem  Sommer  1842*)  er- 
klären sie,  daß  sie  den  Staat  ehren  wollen,  ,,nur  nicht  den 
christlichen",  daß  sie  ihm  mit  Leib  und  Seele  ergeben  seien  und 
Gut  und  Blut  opfern  wollen,  wenn  seine  Zwecke  es  erheischen! 
Diese  staatsfreundliche  Haltung  kostete  die  ,, Freien"  solange 
keine  Überwindung,  als  sie  noch  mit  einer  baldigen  Liberalisierung 
Preußens    rechneten,    die    den    bestehenden    reaktionären  Staat 


^)  Vgl,  u.  a.  Xauwercks  Besprechung  von  K.  Riedels  ,, Staat  und  Kirche"  in 
den  Deutsch.  Jahrb.  1841  Nr.  76  f.  (September)  und  Edgar  Bauers  Polemik 
gegen  die  Literar.  Zeitung  und  gegen  Haller  in  seiner  anonymen  Broschüre: 
Georg  Herwegh  u.  d.  Literar.  Zeitung.  Leipzig  1843.  S.  22  ff.  Auch  Stirner 
schreibt:  „Von  der  Höhe  der  Freiheit  der  ,Kinder  Gottes'  schaut  der  Christ 
mitleidig  auf  jede  andere  Freiheit  als  auf  eine  äußere  herab."  Vgl.  seinen 
Artikel  „Die  Freien"  in  der  Beilage  der  Leipz.  Allg.  Ztg.  vom  14.  Juli  1842. 

^)  Die  gute  Sache  der  Freiheit  a.  a.  0. 

^)  Staat,  Religion  und  Partei.     März  1843. 

*)  Vgl.  Anhang  IL 


52      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

dem  ihnen  vorschwebenden  Staatsideal  annähern  würde.  Be- 
sonders Edgar  Bauer  malte  sich  und  den  anderen  dieses  Ideal 
in  verlockenden  Farben  aus.  Dem  „christlichen  Staat"  stellte 
auch  er  den  „wahrhaften  Staat"  gegenüber,  wo  wie  im  Himmel 
alles  im  harmonischen  Einklang  ineinander  greifen  und  die 
einzelnen  Töne  zu  einem  Lobliede  für  die  Allgemeinheit  der 
Gesellschaft  zusammenklingen  würden.  ,,Die  Wirksamkeit  für 
die  Freiheit  und  Würde  des  Staats"  bezeichnet  er  hier  kurzweg 
als  seine  ,, Religion"  ^). 

,,Wer  meint  es  nicht  wohl  mit  dem  Staate?"  fragte  gleich- 
falls Ludwig  Buhl.  ,,Wir  alle  wünschen  ihn  groß,  mächtig, 
stark,  vernünftig.  Wir  alle  haben  keinen  anderen  Wunsch 
als  in  ihn  aufzugehen,  ihm  unsere  Kräfte  zu  weihen; 
unser  höchstes  Ziel  ist,  Staatsbürger  zu  werden,  uns  als  solche 
zu  wissen  und  zu  betätigen  2)."  Jeder  einzelne,  so  fordert  Buhl, 
solle  daran  arbeiten,  daß  der  Staat  zu  der  Stufe  emporgehoben 
werde,   auf  der  er  den  höchsten  Begriffen  entspricht^)! 

Bei  dem  Kampf  zwischen  dem  vom  König  geförderten 
,, historischen  Christentum",  das  sich  für  die  Gegner  vor  allem 
in  Eichhorns  Amtsführung  verkörperte,  und  den  Wortführern 
persönlicher  Freiheit  und  Würde,  wie  die  Kantianer,  und  der 
Autonomie  der  Geister,  wie  die  Hegelianer  es  mit  Vorliebe 
formulierten,  ließ  sich  bald  nicht  mehr  entscheiden,  wer  sich 
im  Angriff  und  wer  in  der  Abwehr  befand.  Denn  die  ursprüng- 
lich Aufgestörten  gingen,  wie  es  immer  in  der  Schlacht  geschieht, 
unwillkürlich  selbst  zum  Sturm  über!  Besonders  die  ,, Freien" 
wünschten  keine  Vermittlung  und  keinen  Ausgleich  mehr,  sie 
freute  es,  daß  die  Böcke  sich  endlich  von  den  Lämmern  schieden. 
Die  ,, Posaune"  hatte  den  ,, Gottlosen"  zum  Sammeln  geblasen. 

Auf  der  anderen  Seite  fühlte  die  Orthodoxie  richtig  heraus, 
daß  ihr  Bollwerk  die  vom  Staat  geschützte  kirchliche  Praxis 
war*).    Schon  seit  den  ersten  Monaten  der  neuen  Regierung  ging 


^)  Edgar  Bauer,  Bruno  Bauer  und  seine  Gegner.  Berlin  1843.  Das 
Buch  ist  spätestens  im  November  1842  erschienen.  Varnhagen  schrieb  am 
21.  November  1842  in  sein  Tagebuch,  es  sei  die  keckste  Schrift,  die  seit  vielen 
Jahren  in  Berlin  gedruckt  worden.  A.  Rüge  erwähnt  die  Schrift  in  einem 
Brief  an  Prutz  vom  18.  November. 

^)   L,  B  u  h  1 ,    Der  Beruf  der  preußischen  Presse.     Berlin  1842. 

^)  Buhl,  Der  Patriot.  Inländische  Fragen.  Heft  I.  Das  alte  Preußen- 
tum.     Berlin  1842. 

*)  L.  B(uh)l,  Aus  Berlin,  in  „Telegraph  f.  Deutschland",  Februar  1842 
Nr.  26. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Kadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      53 

die  Rede  von  einem  Religionsedikt,  das  hohen  Orts  geplant 
sei  und  besonders  die  Wiedereinführung  einer  strengen  Kirchen- 
disziplin, Anordnungen  über  den  regelmäßigen  Kirchenbesuch 
der  Beamten  und  über  ihre  Teilnahme  am  Abendmahl  sowie 
eine  Verschärfung  der  Sonntagsfeier  bezweckte.  Als  im  No- 
vember 1841  von  einer  Anzahl  Berliner  Prediger,  denen  sich 
hochgestellte  Laien  besonders  aus  Beamtenkreisen  zugesellten, 
ein  Verein  zur  Förderung  einer  würdigen  Sonntagsfeier  ins 
Leben  gerufen  wurde,  erblickte  die  mißtrauisch  gewordene 
öffentliche  Meinung  hierin  einen  ersten  Schritt  zur  Verkirch- 
lichung  des  öffentlichen  Lebens,  dem  bald  andere  folgen  würden. 
Am  Neujahrstage  verbreiteten  57  Berliner  Geistliche  mit  Vor- 
wissen des  Königs  in  allen  Kirchen  der  Hauptstadt  eine  An- 
sprache an  die  Bevölkerung  „Die  christhche  Sonntagsfeier.  Ein 
Wort  der  Liebe  an  unsere  Gemeinen."  Aber  trotz  der  warmen 
Anpreisung  des  Staatsanzeigers  fand  diese  Einladung  zu  fleißi- 
gerem Kirchenbesuch  geringen  Anklang  im  Publikum.  Der  Ber- 
liner Witz  erdichtete  sogleich  ähnliche  ,, Bettelbriefe"  der  Schau- 
spieler und  der  Professoren,  die  mit  dem  Besuch  der  Theater 
und  der  Kollegien  nicht  zufrieden  wären  ^).  Varnhagen  ver- 
mißte an  dieser  Ansprache  ,,Salz  und  Kraft".  Daran  fehlte  es 
einer  Erwiderung  nicht,  die  gleich  darauf  erschien,  aber 
schon  am  3.  Februar  verboten  wurde.  Der  Verfasser  dieses 
anonymen  ,,Gegenworts"  2)  war  der  Mädchenschullehrer  Johann 
Caspar  Schmidt,  der  dem  Kreis  der  Freien  angehörte.  Von  ihm 
hat  die  Polizei  kaum  jemals  mehr  als  sein  Pseudonym  Stirner 
erfahren,  das  sie  auf  Berlinisch  ,,Styrna"  schrieb.  Welcher 
Lehrer  Schmidt  dahinter  steckte,  hat  sie  nicht  herausgebracht. 
Ein  Oberlehrer  Schmidt  vom  Werderschen  Gymnasium,  der 
in  Verdacht  geriet,  konnte  bei  der  Untersuchung,  die  ein  vom 
2.  März  datierter  Bericht  Stirners  an  die  Rheinische  Zeitung  über 
die  geheime  Polizei  hervorrief,  seine  politische  Unbescholtenheit 
nachweisen.  Der  in  Wahrheit  Schuldige  aber  wußte  sich  an- 
scheinend mit  der  Pohzei  treffhch  abzufinden.  Denn  der  Polizei- 
Inspektor  Hofrichter,  der  damals  auch  über  ihn  Erkundigungen 


0  Vgl,  Prutz  I  S.  339,  II  S.  76  f.,  99;  Varnhagen,  Tagebuch,  3.  und 
10.  Januar  1842;  Treitschke  V  S.  254  ff.;  Dronke,  Berlin  I  S.  216  ff.; 
Rheinische  Zeitung,  19.  Februar;  Bruno  Bauer,  Vollständige  Geschichte  der 
Parteikänipfe  in  Deutschland  während  der  Jahre  1842—1846.  Charlotten- 
burg 1847.     Bd.  n  S.  32  f. 

')  Vgl.  Anhang  I. 


54      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

einzog,  konnte  über  diesen  Herrn  „von  gesetztem  Alter"  „nur 
Gutes"  in' Erfahrung  bringen.  Es  scheint  nicht  einmal  zu  einem 
Verhör  gekommen  zu  sein.  Der  Bericht,  vom  14.  April  1842, 
befindet   sich  in   den  Akten   über  Buhl  im  Geh.  Staatsarchiv. 

Stirner  ersah  sich  also  den  Kampf  um  die  Sonntagsfeier, 
der  große  Dimensionen  annahm  und  auch  eine  umfangreiche 
Broschürenliteratur  hervorrief,  zu  einem  Frontangriff  auf  die 
Kirche.  Wie  Bruno  Bauer  warf  er  ihr  vor,  daß  sie  bloß  Gehorsam 
und  fatalistische  Hingebung  predige :  Ist  es  aber  nicht  überlebt, 
immer  bloß  nach  des  Christen  Bestimmung  und  Beruf  zu  fragen, 
und  nicht  lieber,  was  des  Menschen  würdig  ist?  Wir  wollen  vom 
Christlichen  nichts  wissen,  wenn  es  nicht  das  Menschliche  ist.  Das 
Menschliche  aber  ist  nicht  das,  was  andere  erkannt  haben  und 
ich  ihnen  glauben  soll,  sondern  das,  was  ich  mit  ganzer  Seele 
erfasse  und  mein  eigen  nenne.  Neben  unseren  sonstigen  Über- 
zeugungen haben  wir  keinen  Platz  mehr  für  die  Religion:  sich 
selbst  erkennen,  lieben,  suchen,  besitzen,  heißt  Gott  erkennen, 
lieben,  suchen,  besitzen.  Der  Ruf  der  Geistlichen:  ,,Ihr  seid 
keine  guten  Christen  mehr"  sollte  die  Gemeinden  zu  der  Er- 
kenntnis und  zu  dem  Bekenntnis  bringen:  ,,Wir  sind  keine 
Gläubigen  mehr."  Die  Zeiten  einer  formellen  und  toten  Frömmig- 
keit seien  vorüber,  die  Gegenwart  fordere  eine  sittKche  und  mutige 
Freiheit!  Ein  Geschlecht  freier  Menschen  werde  erblühen, 
und  wenn  man  es  so  nennen  wolle,  ein  neues  Christentum! 

In  die  gleiche  Kerbe  wie  das  ,, Gegenwort"  schlug  gleich 
darauf  Buhls  ebenfalls  anonyme^)  Broschüre:  ,,Die  Not  der 
Kirche  und  die  christliche  Sonntagsfeier."  Nach  dem  Vorbild 
der  ,, Posaune"  hüllte  sich  der  Verfasser  in  das  Gewand  eines 
Pietisten,  so  daß  er  in  der  Rheinischen  Zeitung  vom  9.  März 
scheinheilig  von  einer  ,, zelotischen  Broschüre"  sprechen  konnte  2). 

Wenn  Stirner  und  Buhl  unter  der  Einwirkung  Ludwig 
Feuerbachs  hier  noch  eine  ,, Religion  der  Menschlichkeit"  ver- 
kündigten, die  freilich  das  Ich  ,,des  Einzigen"  schon  recht 
entschieden  in  den  Mittelpunkt  stellte,  so  machte  Bruno  Bauer 
jetzt  den  Sturz  der  Religion  schlechthin,   nicht  bloß  mehr 


')  Bubis  Autorschaft  ergibt  sieb  aus  einem  ungedi-uckten  Brief  Eduard 
Flottwells  an  Jobann  Jacoby  vom  12.  März:  „Ein  Seitenstück  vom  , Gegen- 
wort' ist  die  .Not  der  Kircbe',  Berlin,  bei  Hermes  (von  Dr.  Bubi)  .  .  .  ." 
Gegen   das  „Wort  der  Liebe"    polemisiert  Bubi    auch   im  Telegraph   Nr.  26. 

^)  Die  Identifizierung  von  Bubis  Korrespondentenzeichen  C  C  verdanke 
ich  Herrn  Prof.  Dr.  Hansen  in  Köln. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      55 

einer  bestimmten  Religion,  zur  Aufgabe  der  Kritik  i).  Auf 
diesen  offen  atheistischen  Standpunkt  stellte  sich,  etwa  seit 
dem  Frühling  1842  der  ganze  Kreis  der  ,, Freien". 

Doch  in  der  Politik,  die  freilich  für  Bruno  Bauer  und  Stirner 
hinter  den  Weltanschauungskämpfen  zurücktrat,  hofften  die  mei- 
sten von  ihnen  damals  noch  auf  eine  freiheitliche  Entwicklung 
des  preußischen  Staats  und  auf  seine  fortschreitende  Umbildung 
in  jenen  freien  Volksstaat,  dessen  Ideal  Edgar  Bauer  in  lebhaf- 
ten Farben  ausmalte.  Wohl  sprachen  sie  gelegentlich  auch 
schon  davon,  daß  mau  jede  Autorität  bekämpfen  müsse.  Aber 
in  ihren  öffentlichen  Äußerungen  trat  eine  prinzipielle 
Gegnerschaft  gegen  den  Staat  erst  hervor,  als  die  Wieder- 
aufhebung der  ,, erweiterten  Preßfreiheit"  ihnen  zeigte,  daß 
es  eine  aussichtslose  Spekulation  gewesen  war,  auf  einen  Bruch 
zwischen  der  Regierung  und  der  religiösen  Reaktion  hinzu- 
arbeiten oder  den  neuen  König  für  die  ihnen  am  Herzen 
liegenden  Forderungen  zu  gewinnen'^). 

Die  ,, Freien"  lebten  und  webten  in  der  Anschauungswelt 
der  französischen  Revolution  und  verglichen  sich  selbst  gern 
mit  den  Encyklopädisten,  an  deren  Denkweise  sie  anknüpften, 
mit  denen  sie  sich  aber  weder  in  bezug  auf  geistige  Ursprüng- 
lichkeit noch  auf  menschliche  Bedeutung  messen  konnten. 
Immerhin  hatte  der  rücksichtslose  Kampf,  den  sie  von  der 
Hauptstadt  aus  gegen  die  kirchliche  Reaktion  führten,  ihnen 
in  allen  freiheitlich  gesinnten  Kreisen  der  Monarchie  zu  einer 
großen  Popularität  verholfen.  Als  im  Sommer  1842  die  falsche 
Meldung  auftauchte,  sie  beabsichtigten  die  Organisierung  der 
religiösen  Opposition  zu  einem  Verein  der  ,, Freien",  erklärte, 
wie  Stirner  berichtet,  eine  Anzahl  ostpreußischer  Gutsbesitzer 
im  voraus  ihren  Beitritt  ^).  Was  an  der  Nachricht  wahr 
gewesen  ist,  läßt  sich  nur  noch  schwer  ermitteln.    Äußerungen 


^)  Die  gute  Sache  der  Freiheit  etc.  S.  201. 

^)  In  einer  Besprechung  von  Alison,  Geschichte  Europas  seit  der  ersten 
Revolution,  die  vom  14.  bis  16.  Dezember  1842  in  den  Deutsch.  Jahrb.  erschien, 
entwickelte  Edgar  Bauer  eine  ganz  radikale  Geschichtsphilosoishie:  „Der 
moderne  Mensch  schüttelt  alle  Autorität  ab,  die  ihn  bisher  hinderte,  er  selber 
zu  sein.  Er  hat  vor  nichts  mehr  Respekt  als  vor  sich  selbst,"  Edgar  tadelt 
hier  bereits,  daß  die  Revolution  die  Sicherheit  des  Eigentums  unter  die 
„natürlichen  Rechte"  aufgenommen  habe,  die  er  überhaupt  leugnet.  Aber 
vor  dem  Staat  macht  er  noch  seine  Reverenz,  obgleich  er  ihn  schon  für 
Meuschenvrerk  erklärt. 

')  Stirners  Mitteilungen  in  seinen  Besprechungen  von  Rosenkranz, 
Königsberger  Skizzen  in  Rhein.  Ztg.,  26.  Juli  und  Leipz.  Allg.  Ztg.,  20.  Juli. 


56      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Kadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Stirners  in  der  Leipziger  Allgemeinen  Zeitung  deuten  darauf 
hin,  daß  das  Gerücht  einen  Hintergrund  hatte  i).  In  die  Presse 
gelangte  es  ^)  durch  eine  Berliner  Korrespondenz  der  Königs- 
berger Zeitung  vom  12.  Juni,  nachdem  das  Frankfurter  Journal 
schon  einige  Tage  vorher  ein  pantheistisch  verwaschenes  und 
völlig  apokryphes  Glaubensbekenntnis  der  ,, Freien"  in  die 
Welt  gesetzt  hatte  ^).  Mit  einem  Anflug  gut  berechneter 
Frömmigkeit  bekreuzigte  sich  damals  die  Kölnische  Zeitung 
bei  dem  Gedanken,  daß  der  auf  christlicher  Grundlage  ruhende 
preußische  Staat  die  Bildung  einer  junghegeliauischen  Gemeinde, 
die  sich  den  Untergang  des  Christentums  und  aller  religiösen 
Gesinnung  zur  offen  ausgesprochenen  Aufgabe  setzte,  gestatten 
könnte.  Noch  unvernünftiger  gebärdete  sich  die  Spener- 
sche  Zeitung.  Sie  sah  bereits  alle  Bande  des  Glaubens,  der 
Zucht  und  der  religiösen  Scheu  gelockert,  und  erteilte  den 
braven  Weißbierphilistern,  die  sich  an  ihr  erbauten,  den  gro- 
tesken Rat,  Panzerhemden  unter  den  Kleidern  zu  tragen  und 
Haus  und  Familie  sorgfältig  zu  verschließen.  Die  liberale  Presse 
hielt  sich  selbstredend  von  solcher  Gespensterseherei  fern.  Ganz 
richtig  deutete  die  Aachener  Zeitung,  das  Organ  Hansemanns, 
die  Bestrebungen  der  ,, Freien"  als  eine  Reaktion  gegen  das  Um- 
sichgreifen des  Pietismus  und  betonte  zugleich  eindringlich,  daß 
es  sich  hier  nur  um  eine  ,, isolierte"  Erscheinung  handle,  die  mit 
dem  preußischen  Liberalismus  in  keinem  Zusammenhang  stände. 
Mit  neugieriger  Sympathie  aber  ohne  das  Vorgefühl,  daß  die 
von  den  ,, Freien"  verfolgten  Tendenzen  im  Grunde  nicht  die 
ihrigen  waren,  nahm  die  Königsberger  Zeitung  Stellung  zu 
dem  falschen  Gerücht.  Ihr  Freisinn  verbot  ihr  einzugestehen, 
daß  eine  Gruppe,  die  das  Bedürfnis  fühlte,  eine  Gemeinschaft 
zu  bilden,  im  tieferen  und  freieren  Sinne  des  Worts  irreligiös 
sein  könne.    Am  genauesten  hätte  die  Rheinische  Zeitung  wissen 


^)  Leipziger  Allgemeine  Zeitung,  9.  .Juli:  ,,Wie  der  Königsberger 
Artikel  beweist,  scheinen  sie  wirklich  der  Versuchung  nahe  gewesen  zu  sein, 
ihre  Namen  zum  besten  zu  geben  und  dadurch  handlich  zu  werden.  Nach- 
dem sie  jedoch  mannigfach  davor  gewarnt  worden  sind  .  .  .  mögen  die  Freien 
wohl  jenen  Plan  aufgegeben  haben,  um  vor  der  Hand  ihre  Wirksamkeit  nicht 
durch  förmliche  Konstituierung  zu  hemmen  und  eine  geistige  Macht  vor  der 
Gefahr  zu  bewahren,  durch  Voreiligkeit  zu  einer  materiellen  Ohnmacht  herab- 
zusinken." 

^)  Vgl.  Bruno  Bauer,  Vollständige  Geschichte  etc.  11  S.  35. 

')  In  der  Leipz.  AUg.  Ztg.  vom  27.  Juli  nennt  Stirner  diese  ,, Mystifi- 
kation" das  „lächerlichste  Produkt  von  der  Welt"  und  spottet  darüber,  daß 
man  bei  den  „Freien"  von  einem  „Glaubensbekenntnis"  rede. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  i)olit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      57 

müssen,  welcher  Kern  jener  Meldung  zugrunde  lag.     Sie  aber 
bestritt  deren  Richtigkeit^). 

Die  ,, Freien"  benutzten  die  Berühmtheit,  die  ihnen  plötz- 
lich zuteil  geworden  war,  um  eine  kräftige  Propaganda  für 
ihre  Ideen  ins  Werk  zu  setzen.  Dabei  gaben  sie  nun  nicht  etwa 
zu,  daß  sie  wirklich  die  Gründung  einer  Gemeinde  geplant 
hatten.  Aber  sie  stellten  sich  so,  als  ob  sie  nicht  begriffen, 
weshalb  der  Staat  einer  derartigen  Vereinigung  nicht  die  gleichen 
Rechte  gewähren  sollte  wie  ,, Fanatikern  und  halb  wahnsinnigen 
Sektierern,  Wiedertäufern  und  Muckern  aller  Art",  die  un- 
gestört und  öffentlich  ihr  M'^esen  trieben  2).  Übrigens  ver- 
hielten die  Brüder  Bauer  sich  gegen  das  Projekt  ablehnend, 
weil  sie  befürchteten,  daß  das  Bestehen  einer  Gesellschaft  der 
Freien  einer  Angelegenheit,  welche  die  Sache  der  ganzen  fol- 
genden Geschichte  sei,  den  falschen  Schein  einer  Privatsache 
geben  möchte.  Eine  geschichtliche  Lösung  werde  die  Ent- 
scheidung niemals  in  das  willkürhche  Belieben  der  einzelnen 
legen.  Wer  austrete,  trete  zurück,  glaube  aber  wunder  wie 
weit  vorgerückt  zu  sein^)!  Eine  bisher  unbekannte  Erwiderung 
der  ,, Freien"  auf  die  Beschuldigungen  der  Kölnischen  und 
Spenerschen  Zeitung  sollte  damals  in  den  Ostpreußischen  Pro- 
vinzialblättern  erscheinen.  Aber  der  liberale  Polizeipräsident 
Abegg  verweigerte  das  Imprimatur.  Vielleicht  befand  er  sich 
dabei  in  Übereinstimmung  mit  Führern  des  Königsberger 
Liberalismus,  die  es  ähnlich  wie  die  Aachener  Zeitung  für 
angemessen  halten  mochten,  die  konstitutionelle  Bewegung 
nicht  durch  das  Eintreten  für  weitergehende  Bestrebungen 
bei  der  Regierung  und  beim  Publikum  unnötig  zu  kompromit- 
tieren. Doch  auch  die  ,, Freien"  verfolgten  im  Sommer  1842 
mit  ihrem  Vorgehen  noch  keineswegs  die  Absicht,  den  politi- 
schen Liberalismus  vor  den  Kopf  zu  stoßen.  Ein  diplomatischer 
Artikel  Stirners  in  der  Leipziger  Allgemeinen  Zeitung  verteidigte 
sie   ausdrücklich   gegen  die  Unterschiebung,    daß  sie  die  Gläu- 


^)  Vgl.  Köln.  Ztg.  L.  A.,  28.  Juni  (vgl.  dazu  Marx  an  Rüge,  9.  Juli,  in 
Dokum.  des  Sozialismus,  I  9  S.  391  f.),  Königsb.  Ztg.,  24,  Juni,  ,, Religion  und 
Kirche",  Rhein.  Ztg.,  30.  Juni  (Abdruck  des  Artikels  der  Aachener  Ztg.  vom 
29.  Juni),  1.,  9.  und  10.  Juli,  Spenersche  Ztg.  vom  1.  Juli. 

^)  Mannh.  Journal,  9.  Juli.  Häufig  korresj^ondierte  Theodor  Mügge  für 
dieses  Blatt. 

'*)  Bruno  Bauer,  Die  gute  Sache  etc.  S.  209  imd  B.  Radge  (Edgar  B.) 
in  Deutsche  Jahrb.,  10.  August  1842,  sowie  Edgar  Bauer,  Bruno  Bauer  und 
seine  Gegner.     Berlin  1843.     S.  26  und  104  f. 


58      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

bigen  zu  vergewaltigen  und  auf  dem  Wege  „des  Stürmens  und 
Revolutionierens"  zu  wandeln  gedächten  i). 

IX. 

Die  eigentlich  politischen  Schriftsteller  der  „Freien"  waren 
Edgar  Bauer,  der  Privatdozent  Dr.  Karl  Nauwerck,  der  für 
eine  konstitutionell-demokratische  Monarchie  eintrat,  die  sich 
auf  den  konsequenten  Stein  und  den  konsequenten  Hegel  stützen 
sollte 2),  und  Ludwig  Buhl,  ein  tüchtiger  aber  ,,mit  seinen 
Finanzen  stets  brouillierter"  Literat,  der  besonders  mit  Stirner, 
Mügge  und  Meyen  eng  befreundet  war  3).  Gegen  die  vier  von 
ihm  im  Jahre  1842  herausgebrachten  Schriften  erhob  der  Dichter 
Friedrich  von  Sallet  einen  charakteristischen  Einwand.  Obgleich 
auch  er  zugab,  daß  die  konstitutionelle  Monarchie  für  das  da- 
malige Preußen  die  höchste  geschichtliche  Berechtigung  hatte, 
so  wollte  es  ihm  doch  scheinen,  als  ob  Buhl  diese  relativ 
höchste  Berechtigung  für  eine  absolut  höchste  entweder  wirk- 
lich hielt  oder  zu  halten  sich  anstellte.  Damit  konnte 
nun  Sallet  sich  nicht  einverstanden  erklären,  da  er  in  der  kon- 
stitutionellen   Monarchie    nur    die    geschichtliche    Vermittlung 


^)  ,,Die  Freien"  in  Beilage  zur  Leijiz.  Allg.  Ztg.  vom  14.  Juli.  Vgl.  Anhang  11. 

')  „Ein  Blick  in  die  inneren  Zustände  des  preuß.  Staats  etc."  in 
Anekdota  zur  neuesten  deutschen  Philosophie  und  Publizistik,  herausgeg.  von 
Rüge.  Zürich  und  Winterthur  1843.  Bd.  I.  Nauwercks  politische  Publizistik 
war  mehr  fruchtbar  als  tief.  Er  schrieb  sowohl  für  die  Rheinische  Zeitung 
wie  für  die  Deutschen  Jahrbücher  zahlreiche  Artikel.  Ihn  hatte  mehr  der 
Zufall  in  diesen  radikalen  Ki-eis  hineingeführt,  mit  dem  seine  innere  Natur 
nicht  sympathisieren  konnte. 

^)  Der  Polizeiinspektor  Hofrichter  berichtete  über  Buhl  und  seine  litera- 
rische Tätigkeit  ausführlich  am  14.  April  1842.  Ich  durfte  die  Zensurakten  über 
ihn  im  Geh.  Staatsarchiv  benutzen.  Für  Buhls  politische  Entwicklung  vgl. :  Die 
Weltstellung  der  Revolution  im  „Athenaeura"  vom  31.  Juli  1841 ;  Der  Beruf  der 
preußischen  Presse,  Berlin  1842;  Die  Verfassungsfrage  in  Preußen  nach  ihrem 
geschichtlichen  Verlauf,  Zürich  1842  (verf.  etwa  Herbst  1841);  Die  Bedeutung 
der  Provinzialstände  in  Preußen,  Berlin  1842;  verschiedene  Aufsätze  in  den 
von  ihm  herausgegebenen  Zeitschriften  „Der  Patriot"  (1842)  und  „Der  Pilot" 
(1843);  Fragen  der  inneren  Politik  und  Verwaltung,  Zürich  und  Winterthur 
1843  (März);  Die  wahre  Bedeutung  der  reichsständischen  Verfassung,  in  „Ber- 
liner Monatsschrift"  I  (einziges)  Heft,  Mannheim  1844  (geschrieben  im  Sommer 
1843);  Offenes  Bekenntnis,  ebendort;  Die  Herrschaft  des  Geburts-  und  Boden- 
privilegs in  Preußen,  Mannheim  1844;  Buhls  Vorrede  zu  seiner  Übersetzung 
von  L.  Blanc,  Geschichte  der  zehn  Jahre,  Berlin  1844;  Andeutungen  über 
die  Not  der  arbeitenden  Klassen  und  über  die  Vereine  zum  Wohl  derselben, 
Berlin  1845;  Die  Gemeindeverfassung  der  östlichen  Provinzen  des  preußischen 
Staats  und  der  Rheinprovinz,  Leipzig  1846. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      59 

zwischen  einem  monarchischen  und  einem  demokratischen  Welt- 
alter sehen  wollte  ^).  Aber  es  läßt  sich  heute  kaum  noch  genau  ent- 
scheiden, wie  Bulil  in  diesem  Jahre  der  erweiterten  Preßfreiheit 
inner  Hell  über  die  staatlichen  Fragen  gedacht  hat.  Nach  seinen 
damaligen  Schriften  könnte  man  meinen,  daß  er  lediglich  ein 
konstitutionelles  und  parlamentarisches  Preußen  anstrebte.  Auf 
eine  revolutionäre  Wendung  der  Dinge  setzte  er  anscheinend 
keine  Hoffnungen.  Er  zeigte  sich  noch  ganz  erfüllt  von  dem 
Glauben  an  die  künftige  Führung  Deutschlands  durch  ein 
liberales  Preußen,  das  in  den  Kleinstaaten  seine  natürlichen 
Bundesgenossen  zu  suchen  hätte.  Die  gewaltige  Bedeutung 
des  gesellschaftlichen  Problems  erkannte  er  dabei  früh.  Aber 
Abwarten  und  Vermittlung  schienen  ihm  die  Signatur  der 
Epoche  zu  sein,  und  er  hielt  die  Zeit  noch  nicht  für  gekommen, 
wo  man  auf  diesem  Gebiet  von  der  Theorie  zur  Praxis  über- 
gehen könnte.  Gelegentlich  klagte  er,  daß  er  in  einer  Epoche 
lebte,  wo  man  sich  nicht  mehr  von  ganzem  Herzen  einer  Idee 
anschließen  könne.  Aber  nach  dem  wenigen,  was  über  seinen 
Charakter  bekannt  ist,  möchte  man  eher  annehmen,  daß  Buhl 
seinem  Temperament  nach  nicht  zu  den  Extremen  neigte. 
Seine  nahen  Freunde  wußten  auch,  daß  dieser  vor  der  Zeit 
ergraute  Bohemien  mit  der  ungepflegten  Mähne  und  den  grün- 
lichen Zähnen  im  Grunde  der  Seele  von  schmeidig-zarter  Natur 
war  und  daß  er  das  Blut  vielleicht  noch  mehr  scheute  als  die 
Seife  2). 

Weit  mehr  das  Zeug  zum  Jakobiner  hatte  der  damals  ein- 
undzwanzigjährige Edgar  Bauer.  Der  hängte  im  Februar  1842 
das  Studium  der  Theologie  an  den  Nagel  und  stürzte  sich  Hals 
über  Kopf  mit  dem  Ruf:  ,,Es  lebe  das  Extrem!"  in  den  Strudel 
des  Zeitkampfes,  dort  wo  er  am  heftigsten  brauste^).    Kampf 

*)  Deutsche  Jahrbücher,  5.  und  6.  Januar  1843:  „L.  Buhl  als  Publizist." 
^)  Vgl.  (Friedrich  Engels),  Die  frech  bedräute,  jedoch  wunderbar 
befreite  B i b e  1.  Oder:  Der  Triumph  des  Glaubens.  Das  ist:  Schreck- 
liche, jedoch  wahrhafte  und  erkleckliche  Historia  von  dem  weiland  Licentiaten 
Bruno  Bauer;  wie  selbiger  vom  Teufel  verführet,  vom  reinen  Glauben  ab- 
gefallen, Oberteufel  geworden  und  endlich  kräftiglich  entsetzet  ist.  Christ- 
liches Heldengedicht  in  vier  Gesängen.  Neumünster  bei  Zürich  1842  (Ein 
Exemplar  in  der  Bibliothek  von  Herrn  Hofgerichtsadvokat  Dr.  Theodor 
Mauthner  in  Wien).  Den  Beweis  für  Engels'  Autorschaft  gedenke  ich  an 
anderer  Stelle  zu  erbringen.  Wo  in  dem  Epos  der  ,, Patriot"  genannt  wird, 
ist  Buhl  gemeint,  der  ein  Blättchen  dieses  Namens  herausgab,  das  Ende  1842 
unterdrückt  wurde.     tJber  Buhl  vgl.  u.  a.  Fontane,  Scherenberg  S.  148. 

'0  Für  Edgar  Bauers  politische  Anfänge  vgl.  Deutsche  Jahrb.,  14.  und 
15.  Februar    1842    die    Besprechung    von    Carriere,    Vom    Geist;    B.    Eadge 


60      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vomiärzl.  Preußen. 

war  ihm  die  Losung  der  Zeit:  Kampf  zwischen  der  starren  An- 
maßung des  Überheferten  und  der  jungen  Wahrheit,  die  nach 
neuen  Wegen  des  Lichts  und  des  Lebens  Umschau  hielt!  Dieser 
philosophische  Revolutionär  kannte  nur  zwei  Parteien:  die  des 
Volks,  der  Freiheit,  der  Menschheit  und  die  der  Bevormundung 
von  Gottes  Gnaden,  der  Abhängigkeit,  des  Autoritätsglaubens, 
Eine  Partei  war  für  ihn  wie  für  seinen  Bruder  die  Verkörpe- 
rung eines  Prinzips  und  jedes  Prinzip  extrem.  Der  Konstitu- 
tionalismus aber  (das  Juste-Milieu)  hatte  kein  Prinzip;  seiner 
,,Zwitterhaftigkeit"  maß  Edgar  Bauer  die  Schuld  bei,  daß  die 
Freiheitsfragen  der  Zeit  nicht  schneller  der  Lösung  entgegen- 
reiften. Wie  Bruno  war  auch  ihm  die  Welt  der  Prinzipien  das- 
jenige Schlachtfeld,  auf  dem  die  eigentlichen  Entscheidungen 
fielen.  Doch  nicht  umsonst  schrieb  man  1842  das  Jahr  der 
erweiterten  Preßfreiheit,  nicht  umsonst  führte  er  am  liebsten 
Rousseau  im  Munde  !  Für  ihn  bedeutete  die  französische  Revo- 
lution die  lebensvolle  Einführung  des  Staatsbegriffs  in  die  Ge- 
schichte, sie  hatte  an  die  Stelle  des  Einen  Menschen  den  Einen 
und  unteilbaren  Staat  gesetzt.  Diese  Errungenschaft  wollte  er 
festgehalten,  der  Vollendung  zugeführt  sehen.  Wer  sich  jetzt 
noch  von  den  öffentlichen  Fragen  fernhielt,  verstieß  gegen  die 
Sittlichkeit,  denn  er  beschränkte  sich  in  seiner  Selbstsucht  auf 
die  Eigen-  und  Einzelinteressen  ^). 

Schon  im  Februar  1842  hatte  Edgar  seinem  Bruder  mit- 
geteilt, daß  er  gegen  die  ,, hausbackenen"  Konstitutionellen  vom 
Kaliber  des  Rotteck -Welckerschen  Staatslexikons  ein  kräftiges 
Bombardement   zu   eröffnen   gedenke-).     Die  Brüder  verargten 


(=  Edgar  B.)  ebendort  27,  Juni  fE.,  22.  Juli  ff.,  8.  August  ff„  mehrere  Be- 
sprechungen, die  von  der  Amtsentsetzung  seines  Bruders  ausgehen;  ebendort 
14,  Dezember  1842  ff,  die  aufschlußreiche  Anzeige  von  Alison,  Geschichte 
Europas  seit  der  ersten  französischen  Eevolution.  Edgar  Bauer  selbst  kritisierte 
später  seine  radikal-liberale  Epoche  in  dem  Aufsatz  „1842"  der  von  seinem 
Bruder  herausgeg,  Literatur-Zeitung,  Bd.  U,  Juli  1844,  Die  geistige  Entwick- 
lung dieser  seiner  Frühzeit  schildert  er  in  dem  umfangreichen  Aufsatz:  ,,Die 
Eeise  auf  öffentliche  Kosten"  in  „Epigonen",  Jahrg.  1848.  Die  Allg,  Deutsche 
Biogi-aphie  berücksichtigt  Edgar  Bauer  ebensowenig  wie  Buhl, 

')  Vgl.  seine  Artikelfolge  „Das  Juste-Milieu"  in  der  Rheinischen  Zeitung, 
Beibl.  5.  Juni,  16,,  18.,  21.,  23.  August  und  seine  Kritik  von  Werders  „Co- 
lumbus"  in  Deutsch.  Jahrb.  1842  S.  110  f. 

'')  Edgar  an  Bruno  25.  Februar  1842.  Bruno  Bauer  hatte  zum  ersten- 
mal in  seinem  Aufsatz  über  „Die  Parteien  im  jetzigen  Frankreich"  in  der 
Rhein.  Ztg.  Beibl.  23.  Januar  auf  den  im  Konstitutionalismus  liegenden  Wider- 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      61 

den  badischen  Professoren,  daß  sie  in  ihrem  großen  Sammel- 
werk die  Hegeische  Philosophie  nicht  zu  Worte  kommen  ließen. 
Überhaupt  verachteten  sie  die  Prinziplosigkeit  des  süddeutschen 
Liberalisnms  und  verwarfen  den  „Staat  des  gesunden  Menschen- 
verstands", der  den  Liberalen  vorschwebte,  und  dem  sie  den 
,. Staat  der  Prinzipien  und  der  Theorie"  entgegenstellten^).  Im 
Juni  eröffnete  Edgar  mit  seiner  Abhandlung  über  das  Juste- 
Milieu  in  der  Rheinischen  Zeitung  den  Feldzug  der  ,, Kritik" 
gegen  den  Konstitutionalismus.  Aber  hier  hütete  er  sich  noch 
vor  persönlichen,  politischen  und  praktischen  ,, Seitenblicken". 
Er  berührte  ebensowenig  wie  sein  Bruder,  der  zur  gleichen 
Zeit  die  Kollisionen  in  den  konstitutionellen  Staaten  behandelte, 
die  deutschen  Parteibestrebungen  und  beteuerte  nachdrücklich, 
er  wolle  nur  die  reine  Theorie  kritisieren,  aber  nicht  die 
Kritik  spezialisieren.  Man  empfindet,  daß  selbst  dieser  Quer- 
kopf, solange  die  Aussicht  bestand,  die  Regierung  auf  dem 
Weg  freiheitlicher  Zugeständnisse  vorwärts  zu  drängen,  auf  die 
Einigkeit  der  oppositionellen  Phalanx  Rücksicht  nahm.  Doch 
im  Herbst  traten  deutlich  Anzeichen  hervor,  die  erkennen 
ließen,  daß  die  Hoffnung  auf  Preußens  liberale  Entwicklung 
trügerisch  gewesen  war.  Jetzt  hatte  Edgar  Bauer  um  so  weniger 
Grund,  mit  seiner  Ansicht  noch  hinter  dem  Berg  zu  bleiben, 
als  er  ohnehin  an  den  wirklichen  politischen  Zuständen,  wie 
er  selbst  einräumte,  mehr  mit  der  Vernunft  als  mit  dem  Herzen 
teilnahm-). 

Die  lautesten  Herolde  der  konstitutionellen  Monarchie,  die 
in  Baden  bereits  dem  Namen  nach  bestand,  waren  in  Preußen 
die  Königsberger  Liberalen.  Gegen  die  Irrtümer  der  badischen 
und  ostpreußischen  Liberalen  mußte  sich  die  Kritik  also  richten, 
wenn  sie  die  inneren  Widersprüche  des  Konstitutionalismus 
aufdecken  wollte^). 

Spruch  hingewiesen,  den  Mirabeau  bereits  erkannt  hätte.  Er  kommt  darauf 
zurück  in  der  Ehein.  Ztg.  vom  6.  und  10.  Februar,  27.  und  31.  März  und 
7,  Juni. 

^)  (Bruno  Bauer),  Staat,  Religion  und  Partei,  Leipzig  1843  (geschrieben 
im  März). 

")  Reise  auf  öffentl.  Kosten  S.  76.  Am  Schlüsse  der  Artikelserie  über 
das  Juste-Milieu  in  der  Rhein.  Ztg.  sj^richt  Edgar  Bauer,  für  ihn  recht 
charakteristisch,  von  der  ,.Leidenschaft  der  Wahrheit",  die  ihn  bei  der  Ab- 
fassung beseelt  habe. 

^)  Edgar  Bauer,  Die  liberalen  Bestrebungen  in  Deutschland.  Erstes 
Heft:  Die  ostpreußische  Opposition.  Zweites  Heft:  Die  badische  Opposition. 
Zürich  und  Winterthur  1843. 


62      Mayei",  Die  Anfänge  des  polit.  Kadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Nun  behauptete  Edgar  Bauer  zwar,  daß  er  den  „Königs- 
bergern" nicht  den  Krieg  erkläre,  sondern  eine  Verständigung 
mit  ihnen  suche.  Aber  im  Grunde  seines  Herzens  dachte  er 
bereits:  ,,Wer  nicht  für  uns  ist,  der  ist  hinter  uns^)."  In  der 
Tat  entwickelte  die  Schrift  Gesichtspunkte,  die  denen  der  ost- 
preußischen Liberalen  gänzlich  widersprachen.  Zweierlei  ver- 
mißte er  bei  ihnen :  Haß  gegen  das  Bestehende  und 
„Theorie".  Beides  hing  in  den  Augen  des  Junghegelianers 
eng  zusammen.  Die  echte  Theorie,  nämlich  die  von  Edgar 
Bauer,  erwartete  den  Sieg  des  Neuen  erst  von  der  gänzlichen 
Vernichtung  des  Alten.  Für  sie  beruhte  jeder  Reformismus 
auf  Selbsttäuschung.  Während  jenen  Kantianern  die  Vernunft 
als  etwas  Feststehendes,  Ausgemachtes  und  Absolutes  galt,  sah 
er  sie  in  ewiger  Entwicklung  begriffen,  waren  ihm  die  politischen 
und  sozialen  Zustände  jeder  Epoche  nur  die  zeitweiligen  Stufen 
dieser  Entwicklung  2).  In  einem  unaufhaltsamen  Prozeß  unter- 
wühle die  Vernunft  alles,  was  besteht  und  absolute  Geltung 
beansprucht;  sie  unterwühle  also  auch  ihre  eigenen  Formen, 
die  sich  in  den  gesellschaftlichen  Verhältnissen  eine  Existenz 
geschaffen  hätten  und  sich  nun  gegen  die  in  der  Theorie  fort- 
geschrittenere Vernunft  sträubten :  Bis  die  Theorie  selbst  eine 
Form  für  ihre  Existenz  gefunden  hat,  äußert  sie  sich  also  als 
Opposition.  Immer  wird  diese  nach  der  Herrschaft  streben, 
denn  erst,  wenn  sie  diese  Herrschaft  erreicht  hat,  ist  eine 
Weiterentwicklung  der  Theorie  und  damit  neue  Opposition, 
neuer  Kampf  möglich.  Wie  bringt  sich  nun  die  Opposition 
zur  Herrschaft?  Tut  sie  es  auf  gesetzlichem  Wege?  Wer  das 
meint,  kennt  die  Geschichte  nicht.  Sie  besitzt  kein  anderes 
Verhältnis  zum  Bestehenden,  als  das  des  Kampfes  und  der 
Zerstörung.  Die  Vernunft  kann  die  vorhandenen  Formen  nicht 
regenerieren  —  sie  kann  bloß  neue  schaffen.  Sie  legt  ihren 
Samen  in  die  Formen  des  Bestehenden  nur  hinein,  um  diese 
auseinander  zu  sprengen.  Das  Alte  platzt  und  zerspringt  — 
doch  nicht  damit  aus  seinen  Fugen  eine  neue  Schöpfung  hervor- 
waclise;  über  Nacht  fällt  es  zu  Boden  und  dient  nur  noch  dazu, 
diesen  zu  düngen  und  zur  Hervorbringung  neuer  Formen  fähig 
zu  machen. 


•)  B.  Radge  (=  Edgar  B.)  in  Deutsche  Jahrb.,  S.August  1842  ff.  bei 
Besprechung  einer  Schrift:  „Ül»er  die  AnsteUung  der  Theologen  an  den  deutschen 
Universitäten." 

*)  Vgl.  hierzu  auch  Edgar  Bauer,  Der  Streit  der  Kritik  mit  Kirche 
und  Staat.    2.  Aufl.    Bern  1844.    S.  182  ff. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      63 

Will  die  Opposition  in  den  Kämpfen  der  Gegenwart  siegen, 
so  vermag  sie  es  nur  im  Zeichen  der  Freiheit.  Was  heißt  in 
diesem  Sinne  Freiheit?  Die  moderne  absolute  Monarchie  kennt 
bloß  einen  Einzigen,  der  das  Recht  der  Freiheit  und  Selbst- 
bestimmung für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf.  Diese  zum 
Extrem  gediehene  Unfreiheit  muß  sich  selbst  vernichten  und 
in  eine  Freiheit  umschlagen,  wo  alle  gleichberechtigt  sind  und 
niemand  mehr  den  andern  bevormundet.  Aber  auch  in  der 
konstitutionellen  Monarchie,  dem  ,, Staat  der  Bevor- 
rechtung", kann  die  Freiheit  ihre  Verwirklichung  nicht  finden. 
Denn  hier,  wo  im  Zensus  das  Äußerlichste  und  Zufälligste, 
was  es  für  den  Menschen  gibt,  der  Besitz,  eine  bevorzugte 
und  eine  zurückgesetzte  Klasse  schafft,  erkennt  das  Volk  sich 
zwar  als  Inhaber  aller  Souveränität,  aber  es  entäußert  sich 
ihrer  freiwillig  und  vertrauensvoll  zugunsten  eines  Regenten. 
Da  Edgar  Bauer  bei  seiner  Schilderung  des  Konstitutionalismus 
im  wesentlichen  Baden  im  Auge  hatte,  während  sein  Bruder 
dabei  besonders  Frankreich  berücksichtigte,  so  erblickte  er 
nicht  zwei  in  der  Ausübung  der  Macht  abwechselnde  Parteien, 
sondern  nur  eine  kompakte  Regierung  und  ein  embryonisches 
Volk  im  Kampf  gegeneinander.  Nun  sind  ihm  Regierung 
und  Volk,  wie  dem  vormärzlichen  Radikalismus  überhaupt, 
völlig  getrennte  Mächte,  deren  jeder  entweder  alles  oder  kein 
Recht  zukommt.  ,, Regierung  ist  der  gerade  Gegensatz  vom 
Volk;  je  kräftiger  die  Regierung,  desto  schwächer  das  Volk." 
Im  konstitutionellen  Staat  ist  für  Edgar  Bauer  das  Volk  noch 
eine  beherrschte  Masse.  Der  Volksvertretung  fehlt  hier  noch 
,,der  kompakte  Hintergrund,  auf  den  sie  sich  stützen  kann", 
weshalb  sie  auch  immer  auf  Frieden  und  einträchtiges  Zu- 
sammenwirken antragen,  immer  nur  reden  und  niemals  handeln 
wird.  Dieses  ewige  ,,die  Wahrheit  sagen"  und  dieses  ewige 
Abprallen  der  Wahrheit  an  der  Konsequenz  der  Reaktion  ent- 
hüllt sich  ihm  als  die  ,, Tragödie  des  Konstitutionalismus",  in 
dessen  Natur  es  läge,  alle  Fragen  in  der  Schwebe  zu  erhalten 
und  keine  zur  prinzipiellen  Entscheidung  zu  bringen.  Zu 
Resultaten  könne  der  Konstitutionalismus  nur  dann  kommen, 
wenn  er  über  sich  hinausgehe  und  revolutionär  und  republika- 
nisch werde,  wenn  er  es  aufgebe,  stets  praktisch  und  vermittelnd 
sein  zu  wollen,  wenn  er  den  Zustand  ewigen  Kampfes  zwischen 
Regierung  und  Volk,  der  sein  Wesen  ausmacht,  durch  eine 
totale  Umwälzung  beendigt.  Erst  in  einem  vernünftigen  Staat, 
im  ,, freien  Volksstaat",  in  der  ,, Republik"  ist  der  Kampf  zwischen 


64      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Regierung  und  Volk  aufgehoben.  Hier  ist  das  Volk  in  Wahr- 
heit die  einzige  Quelle  aller  Macht.  Denn  hier  gibt  es  keine 
ihr  wesensfremde  Regierung  mehr,  sondern  nur  noch  eine  aus- 
führende Gewalt  ^).  Die  Freiheit  ist  das  Ziel  der  Zeitbewegung, 
sie  will  die  Völker  zur  Selbstregierung  und  zur  Gleichheit 
anleiten,  alle  äußeren  Unterschiede  und  jede  Form  von  Bevor- 
zugung und  Aristokratie  aufheben.  Aber  dieser  Sieg  der  Ver- 
nunft läßt  sich  niemals  auf  gesetzlichem  Wege  herbei- 
führen ! 

Seine  revolutionäre  Geschichtsphilosophie  und  extrem- 
demokratische Staatsauf fassung  lieferten  Edgar  Bauer  nun 
den  Maßstab  zu  einer  Kritik  des  ostpreußischen  Liberalis- 
mus, wie  er  sich  in  Jacobys  Vier  Fragen  und  in  den  Leit- 
artikeln der  Königsberger  Zeitung  darstellte.  Dabei  erkannte 
er  als  dessen  Grundübel,  daß  er  in  der  Opposition  ,, nichts 
Selbständiges  mit  durchgebildeter  Theorie  und  festem  Ziele", 
sondern  nur  eine  ,, notwendige  Ergänzung"  der  Regierung  er- 
blickte. Aus  dieser  irrigen  Auffassung  entspränge  sein  un- 
seliger Reformismus,  der  das  Volk  in  dem  Wahn  ließe,  daß 
ein  echter  Fortschritt  an  die  bestehenden  Verhältnisse  an- 
knüpfen könne.  Dieser  Reformismus  lulle  es  in  süßes  Ver- 
trauen ein,  statt  es  zu  gewaltigem  und  kraftvollem  Handeln 
aufzurütteln.  Auch  Jacoby  dünkte  sich  ,, praktisch",  als  er  die 
Forderung  nach  einer  Verfassung  statt  auf  das  Recht  des  Volks 
auf  das  Versprechen  eines  Königs  begründete.  Aber  man  binde 
dem  Fortschritt  die  Füße,  wenn  man  ihn  legitimistisch  machen 
wolle.  Jacoby  gebe  sich  einer  Selbsttäuschung  hin,  wenn  er  an- 
nehme, daß  die  Beteiligung  des  Volks  am  Staatsleben  mit  dem 
christlichen  preußischen  Staat  vereinbar  sei.  Weil  er  durchaus 
ein  guter  Preuße  bleiben  wollte,  habe  er  sich  abgequält,  einem 
System  Vernunft  beizubringen,  das  von  vornherein  mit  Vernunft 
nichts  zu  schaffen  hätte.  Gerade  sein  Auftreten  sei  ein  Beweis 
dafür,  daß  die  Theorie  die  wahre  Praxis  ist.  In  ihrem  falschen 
Vertrauen  auf  eine  friedliche,  organische  Entwicklung  in  Preußen 
mäkle  die  Königsberger  Richtung  noch  immer  an  einzelnen 
Gesetzen  herum,  anstatt  dem  System  der  Regierung  ihr  eigenes 
selbständiges  System  entgegen  zu  setzen.  Der  ostpreußische 
Liberalismus  habe  noch  nicht  begriffen,  daß  selbst  eine  Konsti- 
tution bloß  die  Vorrechte  des  Königs  und  der  besitzenden  Klassen 
sanktionieren,  nicht  aber  auch  die  sogenannten  niederen  Klassen 

0  Auf  die  Abhängigkeit  Edgar  Bauers  von  Rousseau  braucht  nicht  erst 
ausdrücklich  verwiesen  zu  werden. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      65 

durch  Organisation  in  den  Staatsverband  aufnehmen  werde. 
Die  große  Masse  des  Volkes  würde  auch  im  konstitutionellen 
Staat  im  rohen,  teilnahmslosen,  chaotischen  Zustande  verbleiben 
und  die  schwersten  Lasten  zu  tragen  haben.  Bevor  die  Ge- 
schichte ihr  neues  Werk  beginnen  und  den  Vernunftstaat 
gründen  könne,  müsse  die  Kritik  erst,  dem  Sturmwind  gleich, 
alles  Morsche,  das  sich  den  Schein  der  Festigkeit  anmaße,  um- 
werfen und  alle  Fesseln  durchfeilen,  die  den  Menschen  an  das 
Alte  ketten.  Das  Gesellschaftstier  des  absolutistischen  Staats 
müsse  erst  die  Anlage  zur  freien  Selbstbestimmung  zurück- 
gewinnen! ,,Bei  dem  Löwen  der  Wüste!  der  Mensch  muß 
wieder  wild  werden,  damit  er  etwas  werde !" 

Mit  seiner  Kritik  der  ostpreußischen  Opposition  stellte  Edgar 
Bauer  sich  offensichtlich  auf  einen  revolutionären  Standpunkt. 
Der  preußische  Staat,  wie  er  war,  sollte  vernichtet,  ein  neuer 
an  seinen  Platz  gesetzt  werden.  Dieser  neue  Staat  sollte  aber 
nicht  nur  vom  absoluten  Polizeistaat,  sondern  auch  vom  kon- 
stitutionellen Staat  Wesens  verschieden  sein.  Die  Republik  tritt 
an  die  Stelle  der  Monarchie,  die  Selbstregieruug  des  Volkes 
an  die  Stelle  von  Bevormundung  und  Bevorrechtung  ^).  Das 
Zensuswahlrecht  wird  scharf  bekämpft,  aber  ebenso  die  ,, un- 
beschränkte aktive  und  passive  Wahlfreiheit",  wie  sie  die 
Chartisten  forderten.  Wenn  nämlich  der  Abgeordnete  wirklich 
Vertreter  des  Volkswillens  sein  solle,  so  müsse  er  bloß  ab- 
stimmen, nicht  aber  auch  diskutieren  dürfen.  Jede  Reprä- 
sentation schaffe  eine  Aristokratie  und  passe  deshalb  —  das 
lehre  schon  der  Contrat  social  —  nicht  für  ein  politisch  ge- 
bildetes Volk.  Nur  Gemeindeversammlungen  müßten  die  Gesetze 
annehmen  oder  ablehnen  2).  Auf  diese  Weise  hoffte  Edgar 
Bauer  für  den  freien  Vernunftstaat,  der  ihm  vorschwebte,  nicht 
nur  jede  Inkongruenz  von  Volk  und  Regierung  zu  beseitigen, 
sondern  beide  miteinander  zu  verschmelzen.  Auch  der  Gegen- 
satz von  gesetzgebender  und  exekutiver  Gewalt,  an  dem  sein 
Bruder  sich  stieß,  war  damit  offenbar  für  ihn  überbrückt. 
Volk  und  Regierung  wurden  eins,  eine  Regierung  im  herkömm- 
lichen Sinne  gab  es  nicht  mehr.    Daß  er  hierdurch  den  Weg 


^)  Auch  Bruno  Baiaer  erklärte  die  Republik  für  die  wakre  Folge  des 
konstitutionellen  Prinzips.  In  ihr  seien  die  Widersprüche  jenes  System  auf- 
gelöst. Vgl.  in  Rhein.  Ztg.  7.  Juni  1842  Beibl.  seine  Besprechung  der  Schrift 
von  Th.  Rehmer. 

^)  Für  Edgar  Bauers  Polemik  gegen  das  Repräsentativsystem  vgl.  am 
ausführlichsten  Rhein.  Ztg.,  21.  August:  ,,Das  Juste-Milieu". 

Zeitschrift  für  Politik.   6.  6 


66      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

zum  anarchistischen  Ideal  ebnete,  begriff  er  selbst  vorerst 
nicht.  Der  Verfasser  der  Kampfschrift  gegen  den  konstitutio- 
nellen Liberalismus  hält  noch  mit  großem  Glauben  fest  an 
dem  freien  Volksstaat  der  Demokratie,  zu  dem  er  sich  auch  in 
der  Streitschrift  für  seinen  Bruder  und  in  seinen  Beiträgen  zur 
Rheinischen  Zeitung  bekannte.  Daß  Edgar  im  Februar  1843 
ebenso  wie  sein  Bruder  ^)  —  im  Gegensatz  zu  Stirner  und  Buhl  — 
offenbar  noch  aufrichtig  am  demokratischen  Staatsideal  fest- 
hielt, beweist  seine  anonym  erschiene  Broschüre  ,, Georg  Herwegh 
und  die  literarische  Zeitung"  (Leipzig,  Wigand),  die  in  den  man- 
nigfachsten Wendungen  den  von  der  Vernunft  durchgeisteten 
Staat  als  die  Atmosphäre  preist,  in  welcher  der  Mensch  seine 
wahre  Seele  findet  und  zu  einem  edlen  Geschöpf  gedeiht.  Auf 
die  Herausarbeitung  eines  modernen  demokratischen  Staatsideals 
durch  die  Verschmelzung  des  Contrat  social  und  der  in  Frank- 
reich daraus  gezogenen  praktischen  Folgerungen  mit  der  Hegel- 
schen  Rechtsphilosophie,  wie  die  Junghegelianer  sie  fortgebildet 
hatten,  auf  diese  schöj)ferische  Tat  des  vormärzlichen  Radi- 
kalismus hat  Edgar  Bauer,  obgleich  er  selbst  alsbald  andere 
Wege  ging,  mit  seiner  scharfen,  wenn  auch  doktrinären  Kritik 
des  Konstitutionalismus  befruchtend  eingewirkt.  Hernach  hat 
freilich  niemand  den  pohtischen  Radikalismus,  der  ,, nichts  als 
fordern"  könne,  und  den  Kultus,  den  er  mit  dem  Staat  und 
besonders  mit  dem  Volke  getrieben  hätte,  sowie  ,,das  törichte 
Selbstgefühl",  mit  dem  er  für  die  Handlungen  der  Regierung 
seine  Klugheit  als  Maßstab  angesehen,  beißender  kritisiert 
als  Edgar  Bauer  selbst.  Nun  war  er  überzeugt,  daß  die  das 
Volk  bevormundende  Regierung  die  echte  Volksregierung  sei, 
nun  hatte  der  gewaltsame  Triumph  der  Reaktion  über  die 
Rheinische  Zeitung  und  die  anderen  Organe  der  Opposition 
ihn  belehrt,  daß  die  ,, Kritik"  ansichts-,  System-,  gesinnungslos 
sein  müsse  und  daß  sie  keine  andere  Aufgabe  haben  könne 
als  die  Dinge  kennen  zu  lernen,  daß  sie  aufhören  müßte, 
politisch  zu  sein  2). 

X. 

Noch  aber  bereiteten  sich  erst  die  Ereignisse  vor,  die  bei 
den  Berliner  Juughegelianern  den  Bruch  mit  der  Politik 
vollendeten. 


^)  (Bruno    Bauer)    Staat,    Religion    und   Partei  a.  a.  0.     Vgl.   hierzu 
freilich  Brunos  Äußerungen  zu  Rüge  auf  S.  68. 

*)  „1842"  in  AUgem.  Literatur-Ztg.,  Juli  1844. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      67 

Die  reaktionäre  Zensurinstruktion  vom  31.  Januar  1843  hatte 
Edgar  Bauer  bestimmt,  seine  Streitschrift  gegen  den  Liberahs- 
mus  bei  dem  Literarischen  Comptoir  in  Zürich  und  Winterthur 
drucken  zu  lassen,  wo  sie  erst  im  Juli  des  Jahres  zur  Ausgabe 
gelangte,  in  dem  gleichen  Moment,  als  sein  Hauptwerk:  ,,Der 
Streit  der  Kritik  mit  Kirche  und  Staat"  in  Charlottenburg  gleich 
beim  Erscheinen  beschlagnahmt  wurde  2).  Dieses  Literarische 
Comptoir,  an  dessen  Spitze  Julius  Fröbel  und  August  Folien 
standen,  war  seit  einiger  Zeit  der  sicherste  Zufluchtsort  für  solche 
Schriften  der  preußischen  Opposition  geworden,  die  selbst 
,,Blücher"-Wigand  innerhalb  der  Grenzen  des  Deutschen  Bundes 
nicht  zu  drucken  wagen  konnte.  Die  Rolle  dieser  Waffen- 
kammer der  Freiheit  auf  Schweizer  Boden  schilderte  der  dortige 
preußische  Gesandte  von  Werther  in  einem  Bericht,  den  er  am 
11.  April  1843  dem  Minister  von  Bülow  übersandte:  ,,Es  fließen 
in  diesem  Verlage  zwei  Richtungen  zusammen:  die  praktisch- 
radikale der  Rheinischen  Zeitung  und  die  theoretische  der 
Deutschen  Jahrbücher,  daher  sowohl  die  preußischen  Opposi- 
tionellen wie  Dr.  Jacoby  als  Rüge  und  Bruno  Bauer  usw.  sich 
mit  Schriften,  deren  Imprimatur  in  Deutschland  verweigert 
würde  oder  wurde",  hierher  begeben.  Hinzu  komme  als 
drittes  und  wirksamstes  Element  die  radikalisierende  Poesie, 
deren  Erzeugnisse  das  Literarische  Comptoir  als  Verleger  von 
Herweghs  Gedichten  selbstredend  in  die  Hand  bekäme.  Von 
den  Leitern  des  Literarischen  Comptoirs  nahm  besonders  Fröbel 
nach  der  Wiederaufhebung  der  liberalen  Zensurbestimmungen 
in  Preußen  eifrig  an  den  Bemühungen  teil,  die  der  im  Inland 
unterdrückten  radikalen  Presse  auf  ausländischem  Boden  eine 
Heimstatt  schaffen  wollten. 

Nun  war  im  November  1842  in  dem  Verhältnis  der  ,, Freien" 
zu  dem  führenden  Oppositionsblatt  am  Rhein  eine  bedeutsame 
Wandlung  vor  sich  gegangen.  Zwar  sah  Marx  genau  '\\ae 
Edgar  Bauer  in  der  konstitutionellen  Monarchie  ein  ,, durch 
und  durch  sich  widersprechendes  und  aufhebendes  Zwitter- 
ding" 3).    Und  auch  über  religiöse  Fragen  dachte  er  so  frei  wie 


^)  Vgl.  Preßprozeß  Edgar  Bauers  über  das  von  ihm  verfaßte  Werk: 
„Der  Streit  der  Kritik  mit  Kirche  und  Staat."     Aktenstücke.     Bern  1844. 

^)  Marx  an  Rüge,  5.  März  1842,  in  Dokumente  des  Sozialismus  I  9 
S.  387.  Die  Charakterisierung  des  Konstitutionalismus  als  ,,Zmtterding"  war 
bei  dem  linken  Flügel  der  Junghegelianer  damals  schon  gang  und  gäbe.  In 
der  Rhein.  Ztg.  finde  ich  sie  zuerst  am  19.  April  in  dem  wohl  von  Heß  ver- 
faßten Feuilleton:  ,,Das  Rätsel  des  19.  Jahrhunderts." 

5* 


68      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

nur  irgendeiner  der  „Freien".  Aber  er  erkannte,  daß  die  Zwing- 
burg der  Reaktion  nicht  vor  ,,weltumwälzungsschwangeren" 
Theorien  zusammenfiel,  sondern  bloß  im  zähen,  hartnäckigen 
politischen  Tageskampf  zu  erobern  war,  auf  dessen  Wichtigkeit 
der  dogmatische  Hochmut  jener  achselzuckend  herabsah.  Mit 
Rüge  und  den  jungen  Tendenzdichtern  forderte  er  vom  Politiker 
vor  allem  anderen  Stärke  der  Gesinnung.  Aus  seiner  Berliner 
Zeit  kannte  er  die  Stehely-Literaten  auf  das  genaueste  und  wußte, 
daß  sich  wohl  unter  ihnen  scharfe  Dialektiker  befanden,  daß 
sie  aber  in  der  Mehrzahl  keine  politischen  Charaktere  waren, 
die  ihre  bürgerliche  Existenz  für  die  Erkämpfung  ihrer  Ideale 
einsetzen  würden.  Das  gleiche  fand  Rüge  heraus,  als  er  im  No- 
vember 1842  diesen  Kreis  persönlich  kennen  lernte.  Die  ,,von 
allem  honetten  Pathos  entblößte"  Blasiertheit  der  ,, Freien" 
stieß  ihn  ab,  und  es  kam  zu  einem  vollständigen  und  un- 
bemäntelten  Bruch  mit  den  früheren  Mitarbeitern.  Rüge  er- 
klärte, daß  Frivolität,  wenn  sie  politische  Freiheit  Larifari 
nenne,  ebenso  gestürzt  werden  müsse  wie  Heines  Frivolität. 
,, Hingabe"  war  ihm  ,,die  wahre  Form  des  schaffenden  Geistes", 
und  selbst  Bruno  Bauer  hatte  es  bei  ihm  verspielt,  als  er  jetzt 
die  ,, Freien"  gegen  ihn  in  Schutz  nahm  und  sich  dabei  zu  dem 
Geständnis  hinreißen  ließ,  daß  nicht  nur  die  Religion,  son- 
dern auch  Staat,  Eigentum,  Familie,  ja  sogar  die  Begeisterung 
negiert  werden  müßten  ^).  Der  ehemalige  Theologe  verfaßte 
damals  gerade  seine  Schrift  über  ,,Das  entdeckte  Christentum". 
Hier  enthüllte  sich  ihm  die  Religion  als  das  ,,  Unglück  der  Welt" 
und  als  die  Entzweiung  der  Menschheit  mit  sich  selbst.  Am 
Christentum  bemerkte  er  nur  noch  den  ,, Eigensinn  des  Privi- 
legiums"; er  aber  hielt  es  jetzt  für  seine  Aufgabe,  die  Herrschaft 
jedes  Ausschließlichen  über  die  Menschen  zu  bekämpfen.  Nun 
besaß  jedoch  Bruno  Bauer  für  die  Politik  bloß  ein  reflek- 
tiertes Interesse,  und  die  Meinungen,  die  er  darüber  äußerte, 
waren  immer  bedingt  durch  seinen  religiösen  Standpunkt.  Zu 
Rüge  urteilte  er  über  Staat  und  Gesellschaft  anscheinend  radikaler 
als  im  ,, Entdeckten  Christentum".  Dies  kam  daher,  daß  ihm  mehr 
an  seinen  Kampfgenossen  gegen  das  Christentum  als  an  den  Vor- 
kämpfern der  bürgerlichen  Forderungen  lag.  In  Ruges  Gesell- 
schaft befand  sich  Herwegh,  der  in  diesen  Tagen  jene  berühmt 

^)  Rüge  über  die  „Freien"  an  Prutz  18.  November  und  7,  Dezember, 
und  an  Fleischer  12.  Dezember  1842.  Vgl.  auch  Bruno  Bauer  an  Marx 
13.  Dezember,  bei  Mchring,  Nachlaß  von  Marx,  Engels,  Lassalle  Bd.  I  S.  195 
und  Mehrings  Darstellung  des  Zusammenhangs. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismns  im  vormärzl.  Preußen.      69 

gewordene  Unterredung  mit  dem  König  hatte,  die  für  seine  Zu- 
kunft verhängnisvoll  wurde.  Den  beiden  in  Streit  geratenen 
Gruppen  mußte  daran  liegen,  das  führende  Oppositionsblatt  am 
Rhein  auf  ihrer  Seite  zu  behalten ;  beide  wandten  sich  deshalb  an 
Marx,  die  eine  durch  Herwegh,  die  andere  durch  Meyen.  Bis 
zum  Frühhng  1842  hatten  Marx  und  Bruno  Bauer  in  Bonn 
nahe  verbündet  miteinander  gehaust;  seither  war  der  eine 
mitten  ins  politische  Leben,  der  andere  nach  der  Entfernung 
von  der  Universität  erst  recht  tief  in  den  Sumpf  einer  welt- 
fremden Ideologie  hineingeraten.  Daher  ergaben  sich  die 
Voraussetzungen  für  den  endgültigen  Bruch  zwischen  ihnen, 
der  jetzt  erfolgte.  Schon  früher  hatte  Marx  mit  den  Korre- 
spondenzen, die  ihm  die  ,, Freien"  für  die  Rheinische  Zeitung 
sandten,  der  Zensur  gegenüber  einen  schweren  Stand  gehabt. 
Jene  trugen  darin  ihren  Atheismus  und  andere  extreme  Theo- 
rien, denen  der  Leser  den  dernier  cri  der  geistigen  Mode  an- 
merken sollte,  mit  selbstgefälliger  Geflissenheit  zur  Schau  und 
erschwerten,  wie  wir  schon  sahen,  dadurch  noch  mehr  die 
Stellung  des  hart  um  seine  Existenz  kämpfenden  Blattes  sowohl 
bei  der  Zensur  wie  bei  dem  Publikum  der  stockkatholischen 
Provinz.  Die  Redaktion  wünschte  von  ihren  Berliner  Mitarbeitern 
mehr  Bestimmtheit,  mehr  Eingehen  in  die  konkreten  Zustände, 
mehr  Sachkenntnis  und  weniger  vages  Raisonnement  und  groß- 
klingende Phrasen  1). 

Ausschlaggebend  für  Marxens  Haltung  in  dem  Konflikt 
wurde  aber  doch  allein  die  prinzipielle  Seite  der  Sache.  Die 
,, Freien"  wußten  genau,  daß  die  Rheinische  Zeitung  seit  ihrem 
Bestehen  mit  der  Regierung  um  ihre  Existenz  rang.  Aber  da 
sie  alle  mehr  oder  weniger  den  politischen  Tageskampf  niedrig 
einschätzten,  so  mißbilligten  sie,  daß  das  Kölner  Blatt  den 
politischen  und  sogar  den  wirtschaftlichen  Fragen  größeren  Raum 
einräumte  als  den  Weltanschauungskämpfen,  denen  sie  eine 
fast  ausschließliche  Wichtigkeit  beilegten.  Sie  forderten,  daß  die 
Rheinische  Zeitung  ohne  Sorge  um  ihr  Fortbestehen  die  De- 
klamationen gegen  Gott  und  jede  andere  Autorität,  mit  denen 
sie  die  Redaktion  überschwemmten,  vollzähhg  aufnehmen  sollte. 
In  ihrer  doktrinären  Verbohrtheit  dünkte  es  sie  richtiger,  das 
Blatt  ginge  ein,  als  daß  es  die  Reinheit  des  Prinzips,  wie  sie 
es  verstanden,  trübte,  indem  es  ihre  Elukubrationen  beschnitt 
oder  unterdrückte.    Doch  Marx  dachte  anders.    Auf  seinen  Rat 


*)  Marx  an  Rüge  30,  November  1842,  in  Dokumente  des  Sozialismus  a.  a.  0. 


70      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

hatte  gerade  in  diesen  Tagen  der  Verleger  Renard  dem  Oberpräsi- 
denten versprochen,  die  kirchhchen  und  rehgiösen  Gegenstände 
in  der  Zeitung  künftig  zurücktreten  zu  lassen  i).  Ihn  empörte 
die  „schreckliche  Dosis  Eitelkeit",  die  nicht  begreifen  wollte, 
daß  man,  ,,um  ein  politisches  Organ  zu  retten,  einige  Berliner 
Windbeuteleien"  preisgeben  durfte  2).  Nach  einem  erregten 
Briefwechsel  zwischen  ihm  und  dem  ,, kleinen"  Meyen,  der  die 
Situation  gar  nicht  begriff,  brach  die  Rheinische  Zeitung  in 
aller  Form  mit  ihren  bisherigen  Berliner  Mitarbeitern.  Ohne 
Kommentar  veröffentlichte  sie  am  29.  November  eine  Korre- 
spondenz, die  besagte,  daß  eine  Zeit,  die  ernste,  männliche  und 
gehaltene  Charaktere  für  die  Erkämpfung  ihrer  erhabenen 
Zwecke  verlange,  laut  und  entschlossen  Frivolität,  Berlinerei 
und  die  platte  Nachäffung  französischer  Klubs  desavouieren 
müsse.  Die  eiserne  Lerche,  die  dem  Artikel  vorgedruckt  war, 
machte  es  für  jedermann  kenntlich,  daß  er  auf  eine  Information 
Herweghs  zurückging.  In  der  Tat  hatte  der  Dichter  sich  bei 
der  Redaktion  über  das  Treiben  der  ,, Freien"  beklagt:  ,,Sie 
kompromittieren",  so  schrieb  er,  ,, durch  diese  revolutionäre 
Romantik,  diese  Geniesucht,  diese  Renommage  unsere  Sache 
und  Partei,  Rüge  und  ich  haben  ihnen  dies  unumwunden  er- 
klärt. Sie  haben  es  uns  übel  genommen  —  immerhin!  ich 
möchte  nicht  gegen  sie  auftreten  und  bitte  sie  daher  um  eine 
Notiz  in  der  Rheinischen  Zeitung,  die  die  Sache  in  ihrem 
wahren  Lichte  zeigt.  Wenn  ich  die  Gesellschaft  der  Freien, 
die  einzeln  meist  treffliche  Leute  sind,  nicht  besucht  habe,  so 
geschah  es  nicht,  weil  ich  etwa  eine  andere  Sache  verfechte, 
sondern  es  geschah  lediglich  darum,  weil  ich  diese  Frivolität, 
diese  ßerlinerei  in  der  Art  ihres  Auftretens,  weil  ich  diese  glatte 
Nachäfferei  der  französischen  Klubs  bei  aller  Achtung  vor  und 
Enthusiasmus  für  die  französische  Revolution,  als  ein  Mensch, 
der  auch  von  der  Autorität  dieser  Revolution  frei  sein  will, 
hasse  und  lächerlich  finde."  Der  Brief  war  im  Einverständnis 
mit  Rüge  abgefaßt  3). 


')  Vgl.  S.  35  f. 

')  Marx  an  Rüge,  30.  November. 

")  Auch  die  Benutzung  dieses  Briefes  verdanke  ich  Herrn  Professor 
Hansen.  Überschrieben  ist  er  „Meine  lieben  Freunde"  und  datiert  „Dienstag". 
Gemeint  ist  vrohl  der  21.  November.  Man  vergleiche  Ruges  Brief  an  Her- 
wegh  vom  13.  Dezember,  den  kürzlich  Fleury  in  seiner  gründlichen  und 
materialreichen  Biographie  des  Dichters  zum  erstenmal  abgedruckt.  Dort 
heißt  es:  „Marx  hat  Ihren  Brief  in  der  Zeitung  vom  29.  zu  einer  Korrespondenz 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl,  Preußen.      71 

Zur  Königsberger  Zeitung  hatten  die  „Freien"  niemals  in 
so  nahen  Beziehungen  gestanden  wie  zur  Rheinischen.  Aber 
ihr  rücksichtsloser  Kampf  gegen  die  Frömmelei  hatte  ihnen, 
wie  sich  schon  zeigte,  dort  Sympathien  erworben,  die  sich  erst 
verflüchtigten,  als  Edgar  Bauers  erbarmungslose  Kritik  gegen 
den  ostpreußischen  Liberalismus  bekannt  wurde.  Die  Freunde 
Jacobys  fanden,  daß  der  hinter  den  Ohren  noch  kaum  trocken 
gewordene  Heißsporn  den  A'^erfasser  der  Vier  Fragen,  der  den 
Forderungen  der  Zeit  zuerst  eine  feste  Form  gegeben  hatte, 
als  einen  ganz  anderen  ,, gesetzt"  hätte  als  er  wirklich  wäre. 
,,Wie  oft  sage  ich  es  diesen  Leuten",  schrieb  Julius  Waldeck 
am  1.  September  1843  seinem  Vetter,  „wir  alle  sind  doch  eigent- 
lich im  Innersten,  und  ich  glaube  Du  ebenso,  Kommu- 
nisten und  Atheisten,  nur  mit  dem  Unterschiede,  daß 
die  einen  die  Unmöglichkeit,  jenes  ersehnte  Ziel 
jetztschonherbeizuführen,  einsehend,  aufErreich- 
bares  ausgehen,  während  die  anderen,  eben  die  Bauers, 
Buhl  etc.  darin  eine  Heuchelei  sehen  und  behaupten,  man 
müsse  womöglich  nach  mehr  streben,  als  man  in  der  Tat  will, 
man  müsse  die  Unhaltbarkeit  der  jetzigen  sozialen  Verhältnisse 
des  Himmels  und  der  Erde  auf  das  krasseste  dartun  und  so 
die  Notwendigkeit  der  Umgestaltung  oder  vielmehr  Neubildung 
in  der  Theorie  beweisen,  in  der  Praxis  mache  sie  sich  dann 
von  selbst.  Ich  glaube,  daß  diese  Leute,  solange  bedeutende 
Übermacht  auf  selten  der  Reaktionäre  ist,  mehr  schaden  als 
nützen,  aber  das  ist  ihre  Absicht,  denn  sie  sind  leider  alle 
Pessimisten."  Der  Arzt  aus  der  Hasenhaide,  dessen  Briefe 
nach  dem  heimatlichen  Königsberg  von  einer  nicht  alltäglichen 
Beobachtungsgabe  zeugen,  erkannte  richtig  den  springenden 
Punkt,  auf  den  es  bei  dieser  ganzen  Auseinandersetzung  ankam : 
Die  Optimisten,  die  an  den  Fortschritt  glaubten  und  sich  die 
Fähigkeit  zutrauten,  die  Aufgabe  stellten,  seinem  langsamen 
und  oft  aufgehaltenen  Siegeszug  den  Weg  zu  ebnen,  wandten 
sich  ab  von  den  Skeptikern,  von  den  Jongleuren  mit  Ideen, 
von  den  Sophisten,  die  der  Inhalt  der  politischen  Zeitbestre- 
bungen in  der  Tiefe  ihrer  Persönlichkeit  kalt  ließ  und  die  des- 
halb auch  in  ihrem  theoretischen  Denken  aus  der  Vereinzelung, 
in   die   ihre  Dialektik   sie   einspann,    nicht  den  Pfad  ins  Freie 


benutzt,  die  viel  Effekt  nach  beiden  Seiten  hin  machte,  und  einen  förmlichen 
Bruch  der  Freien  mit  der  Zeitung  führte  Herr  Meyen  herbei."  V.  Fleury, 
le  poete  Georges  Herwegh.    Paris  1911.    S.  96  Anm. 


72      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

und  Weite  hinaus  fanden.  Diese  Frivolität  des  bloßen  Form- 
verstandes, der  ,,um  keines  Menschen  Kummer  sich  kümmert", 
warf  ihnen  besonders  der  Mann  vor,  der  mit  am  frühesten  und 
unermüdlichsten  den  abstrakten  Gedanken  der  deutschen  Philo- 
sophie auf  das  politische  Leben  verwiesen  hatte.  Rüge  war  es 
auch  jetzt,  der  die  Überzeugung  aussprach,  daß  selbst  das  geistige 
Leben  der  Völker  der  ,,politischen  Bewegtheit  in  großen 
praktischen  Problemen"  bedürfe,  ,,die  jedes  Individuum 
beim  Schöpfe  fassen  und  aus  der  Übersättigung  an  sich  selbst 
herausreißen"^). 

XL 

Aber  was  nützte  dem  entschiedenen  Liberalismus  am  Rhein 
und  am  Pregel  die  klare  Erkenntnis  dessen,  was  nottat,  wenn 
die  brutale  Gewalt  es  ihm  unmöglich  machte,  seine  Überzeugungen 
immer  von  neuem  in  die  Masse  zu  tragen?  Noch  einmal  zer- 
teilte sich  die  Brandung  der  austürmenden  Opposition  am 
rocher  de  bronce  des  preußischen  Königstums.  Noch  einmal 
gelang  es  dem  Polizeistaat,  den  Forderungen  der  Zeit  den  Maul- 
korb anzulegen.  Um  die  Jahreswende  von  1842  auf  1843  ver- 
lor die  Bewegungspartei  im  Verlauf  weniger  Wochen  alle 
ihre  führenden  Blätter:  der  Leipziger  Allgemeinen  Zeitung 
wurde  für  Preußen,  wo  ihre  meisten  Abonnenten  lebten,  das 
Debit  entzogen,  die  Deutschen  Jahrbücher  und  die  Rheinische 
Zeitung  wurden  unterdrückt,  die  Königsberger  Zeitung  mund- 
tot gemacht.  Angesichts  der  neuerlichen  Verschärfung  der 
Zensur  hielten  Rüge,  Marx  und  ihre  Gesinnungsgenossen  2)  es 
für  hoffnungslos,  den  Kampf  auf  deutschem  Boden  fortzusetzen. 
Ihre  und  ihrer  Freunde  Bemühungen  zielten  jetzt  dahin,  das 
Geld  und  die  Intelligenzen  zu  sammeln,  damit  man  von  der 
Schweiz  oder  vom  Elsaß  aus  durch  Organe,  die  der  deutschen 
Zensur  nicht  unterstanden,  das  Volk  aufrütteln  könnte.  Mit 
Hilfe  der  Aktionäre  der  Rheinischen  Zeitung  und  der  Liberalen 
Ostpreußens,  für  deren  Gewinnung  sich  Rüge  an  Jacoby  wandte, 
sollte  das  Literarische  Comptoir  eine  Filiale  in  Straßburg  oder 

0  „Eine  Selbstkritik  des  Liberalismus"  in  Deutsche  Jahrbücher  2,  bis 
4.  Januar  1843. 

*)  Auch  Jacoby  sprach  sich  zu  Euge  in  ähnlichem  Sinne  aus;  er  schlug 
vor,  daß  alle  Schriftsteller  der  entschiedeneren  Eichtung  sich  gegenseitig 
verpflichten  sollten,  unter  Zensur  kein  Wort  mehr  drucken  zu  lassen.  (Jacoby 
an  Euge,  25.  November  1843,  ungedruckt.) 


Mayer,   Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalisnius  im  vormärzl.  Preußen.      73 

Brüssel  errichten.  Diese  wollte  man  zum  Arsenal  der  Demo- 
kratie machen. 

Nachdem  sie  mit  dem  nur  philosophischen  Radikalismus 
gebrochen  hatten,  bevorzugten  die  politischen  Radikalen,  wenn 
sie  von  ihrer  eigenen  Richtung  sprachen,  das  Wort  Demokratie. 
Denn  auch  der  ,, Liberalismus"  war  bei  ihnen  in  Mißkredit  ge- 
raten, seitdem  sie  sich  den  Einflüssen  von  jenseits  des  Rheins 
mit  Bewußtsein  hingaben,  die  Volkssouveränität  als  ihr  Kenn- 
zeichen betrachteten  und  die  politische  Bedeutung  der  gesell- 
schaftlichen Probleme  zu  ahnen  begannen. 

Aber  die  Gründung  einer  Agitationszentrale  im  zensurfreien 
Ausland  kam  in  der  umfassenden  und  großzügigen  Weise,  in  der 
sie  ersonnen  und  von  einem  kleinen  Kreis  von  Enthusiasten  auf- 
genommen worden  war,  niemals  zustande.  Die  Führer  der 
Radikalen  hatten  gehofft,  daß  die  Mundtotmachung  der  Oppo- 
sition, ,, dieser  schneidende  Rückfall  vom  Reden  ins  Schweigen, 
vom  Hoffen  in  die  Hoffnungslosigkeit,  von  einem  menschen- 
ähnlichen in  einen  sklavischen  Zustand"  ^),  alle  Lebensgeister 
aufregen  und  der  Nation  den  einmütigen  Schrei  der  Entrüstung 
entlocken  würde!  Aber  nichts  von  alledem  geschah.  Die 
politische  Gleichgültigkeit  der  weiten  Volkskreise  war  noch  un- 
begrenzt. Der  einzelne  ballte  die  Faust  in  der  Tasche  und  machte 
wohl  auch  seinen  Gefühlen  vorsichtig  am  Stammtisch  Luft;  zu 
einer  Aktion  in  der  (3ffentlichkeit  kam  es  nirgends.  Die  Größe 
dieser  Indolenz  enttäuschte  niemanden  tiefer  als  Arnold  Rüge, 
der  sich  seit  Jahren  um  die  Politisierung  der  deutschen  Welt- 
anschauung bemühte,  aber  weder  jetzt  noch  später  den  Weg 
zur  Masse  des  Volkes  fand.  Ihn  frappierte,  daß  die  Deutschen 
es  selbst  in  dem  Augenblick  nicht  zum  ,, Gefühl  ihrer  Leiden" 
brachten,  wo  ,,der  Sieg  der  Verstummung",  wenn  ihn  die  nächste 
Zukunft,  wie  es  den  Anschein  hatte,  ratifizierte,  die  ,, humane" 
Form  der  Entwicklung  endgültig  zugunsten  der  ,, brutalen" 
Form  überwand.  Besonders  niederdrückend  wirkte  auf  die 
kleine  Zahl  zielbewußter  Politiker,  die  den  Zeitforderungen  auf 
ausländischem  Boden  ein  zensurfreies  Organ  schaffen  wollten, 
daß  nicht  einmal  das  besitzende  Bürgertum  zu  pekuniären  Opfern 
für  diesen  Zweck  bereit  war.  Unter  dem  Eindruck  des  Fiaskos 
der  von  ihm  in  Ostpreußen  ausgelegten  Subskriptionslisten,  wohl 


^)  Enge,  Zur  Verständigung  der  Deutschen  und  Franzosen,  Vorwort  zu 
Finks  Übersetzung  von  Louis  Blanc,  Geschichte  der  zehn  Jahre.  Zürich  und 
Winterthur  1843.     S.  XIX. 


74      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen, 

auch  berührt  von  der  Lektüre  Proudhons  und  Louis  Blancs, 
deren  Schriften  seit  dem  Sommer  1843  überall  in  Deutschland 
gelesen  wurden,  klagte  damals  Johann  Jacoby  über  die  Selbst- 
sucht und  Feigheit  der  ,, sogenannten  Gebildeten",  von  denen 
nichts  zu  erwarten  sei;  alles  käme  darauf  an,  die  tatkräftigen 
arbeitenden  Klassen  —  das  eigentliche  Volk,  durch  Be- 
lehrung zum  Bewußtsein  ihrer  unwürdigen  Stellung  zu  bringen: 
,,o-elingt  dies  —  und  es  wird  sicher  gelingen  —  dann  wollen 
wir  mit  den  Junkern  und  Pfaffen  bald  fertig  werden!"  i)  Auch 
Rüge  hatte,  kurz  vor  ihrer  Unterdrückung,  in  seinen  Jahr- 
büchern die  Aufhebung  des  Pöbels  als  eine  Frage  bezeichnet, 
mit  der  die  Welt  sich  solange  beschäftigen  müsse,  bis  sie  gelöst 
wäre,  und  danach  im  Vorwort  zu  Finks  Übersetzung  von  Blancs 
Geschichte  der  zehn  Jahre  die  Verwahrlosung  der  großen 
Masse  auf  die  Einrichtung  unserer  Gesellschaft  zurückgeführt, 
deren  Prinzip  nicht  der  Mensch  und  sein  unverjährbares 
Recht,  sondern  das  Eigentum  sei.  „Sie  haben  vollkommen 
Recht",  schrieb  ihm  Jacoby  dazu,  ,,die  unteren  Volksklassen 
müssen  zur  Menschenwürde  erhoben  werden;  nur  als  Mittel 
zu  diesem  Zweck  haben  die  freien  politischen  Institutionen 
einen  Sinn."  2)  Aber  wenn  Rüge  den  Pöbel  abgeschafft  und 
Jacoby  die  unteren  Volksklassen  zur  Menschenwürde  erhoben 
sehen  wollte,  so  bestimmte  sie  dabei  doch  bloß  der  Gedanke 
an  ein  demokratisches  Endziel,  in  dem  das  höchste  Postulat 
ihrer  liberalen  Weltanschauung  seine  Erfüllung  fand.  Ruges 
Selbstkritik  des  Liberalismus  läßt  erkennen,  wie  fremd  ihm 
die  Vorstellung  war,  daß  die  ,, Reform  der  Welt",  die  er 
anstrebte,  sich  auch  in  der  ökonomischen  Sphäre  und  nicht 
bloß  als  Reform  des  Bewußtseins  vollziehen  könnte^).  Ebenso 
fern  lag  ursprünglich  dem  Mittelpunkt  von  Jacobys  Denken 
eine  organische  Verbindung  der  idealen  Postulate,  für  die  er 
lebte,  mit  wirtschafthchen  Umgestaltungen.  Als  praktischer 
Arzt  sah  er  in  dem  ,, Pauperismus"  eine  Frage  der  „sozialen 
Heilkunde"  und  hielt  es  für  einen  Fehler  Weithngs,  den  er 
im  übrigen  schätzte,  daß  er  zu  Eisen  und  Feuer  greifen  wollte. 


')  Jacoby  an  Carl  Weil  in  Stuttgart,  11.  Dezember  1843  (ungedruckt). 
Die  gesperrten  Worte  sind  von  Jacoby  unterstrichen. 

^)  Jacoby  an  Kuge,  25.  November  1843  (ungedruckt).  Ruges  und  Jacobys 
Altersgenosse  Franz  Ziegler  faßte  bereits  um  diese  Zeit  die  Demokratie  „als 
eine  Magd  im  Dienste  der  sozialen  Frage"  auf.  Vgl.  Mehring,  Lessing- 
legende.   2.  Aufl.    Stuttgart  1906.    S.  39. 

^)  Vgl.  auch  Ruges  Gespräche  mit  Heß  in  Ruges  Werken  Bd.  5  S.  34  ff. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit,  Radikalismus  im  vormärzl.  Prenßen.      75 

solange  noch  durch  Medikamente  eine  Heilung  zu  bewirken 
wäre  ^).  — 

Weil  es  der  Regierung  hatte  gelingen  können,  durch  Ge- 
waltmaßregeln die  Bewegungspartei  mundtot  zu  machen,  hatten 
manche  Radikale,  besonders  die  Brüder  Bauer  und  ihr  engerer 
Kreis,  sich  zu  der  Ansicht  zurück  gewandt,  daß  die  entschei- 
denden Kämpfe  eben  doch  allein  in  der  Theorie  auszufechten 
seien.  Andere,  die  sich  von  Hegels  Einfluß  schon  entschiedener 
befreit  hatten,  sahen  zwar  ebenfalls  ein,  daß  der  Befreiungs- 
kampf, für  den  sie  lebten,  sich  nicht  auf  die  politische  Sphäre 
beschränken  ließ,  aber  ihr  Blick  richtete  sich  nicht  rückwärts 
zur  reinen  Philosophie,  sondern  unter  dem  Einfluß  der  franzö- 
sischen Sozialisten  und  Kommunisten  2)  vorwärts  —  den  gesell- 
schaftlichen Problemen  zu. 

Die  Bedeutung  des  Kommunismus  als  Weltanschauung 
erfaßte  in  Deutschland  zuerst  eine  Reihe  von  jüngeren  Geistern, 
die  den  Einfluß  Ludwig  Feuerbachs  erfahren  hatten.  An  ihrer 
Spitze  stand  anfangs  Moses  Heß  aus  Köln^),  ein  Mann  von  bedeu- 
tender Rezeptivität,  aber  ohne  jene  Stärke  der  Persönlichkeit,  die 
schöpferisch  amalgamiert.  Rüge  befand  sich  auf  dem  Wege 
nach  Paris,  als  er  in  dessen  Heimatstadt  Köln  dem  Kommunisten- 
rabbi, wie  man  ihn  nannte,  begegnete.  Der  ehemalige  Re- 
dakteur und  spätere  Pariser  Korrespondent  der  Rheinischen 
Zeitung  stand  gerade  im  Begriff,  dorthin  zurückzukehren,  um 
die  deutschen  Handwerksgesellen  an  der  Seine  für  seine  Lehre 
zu  gewinnen.  So  hatte  Rüge  die  beste  Gelegenheit,  im  Post- 
wagen aus  dem  Munde  des  ,, kundigsten  Piloten",  den  es  da- 
mals in  Deutschland  gab,   das  ,,Land  der  Zukunft",  wie  er  es 

0  Jacoby  an  Julius  Fröbel  23.  November  1843  (ungedruckt). 

^)  Für  die  Unterscheidung,  die  zwischen  Sozialismiis  und  Kommunismus 
der  Sprachgebrauch  der  vierziger  Jahre  machte,  vgl.  Me bring,  Geschichte 
der  deutschen  Sozialdemokratie  3.  Aufl.     Stuttg.  1906.     Bd.  I  S.  1. 

^)  Von  Heß  kommen  für  unseren  Zweck  besonders  in  Betracht:  (ano- 
nym). Die  europäische  Triarchie,  Leipzig  1841;  im  ,,Atheuaeum'' vom  9.  ()k- 
tober  1841  Gegenwärtige  Krisis  der  deutschen  Philosophie;  seine  zahlreichen 
Arbeiten  in  der  Rheinischen  Zeitung,  die  an  dem  Zeichen  -H-  zu  erkennen 
sind;  seine  beiden  wichtigen  Aufsätze  in  Herweghs  Einundzwanzig  Bogen 
aus  der  Schweiz,  nämlich  ,, Sozialismus  und  Kommunismus"  und  ,, Philosophie 
der  Tat" ;  sein  Aufsatz :  Über  die  sozialistische  Bewegung  in  Deutschland,  in 
Karl  Grüns  Anekdota,  Darmstadt  1845  (geschrieben  Mai  1844)  und  die  gegen 
B.  Bauer  und  Stirner  gerichtete  Broschüre:  Die  letzten  Philosophen,  Darm- 
stadt 1845.  Im  übrigen  sei  in  bezug  auf  Heß  verwiesen  auf  Koigen  a.  a.  0., 
Me  bring,  Nachlaß  von  Marx,  Engels,  Lassalle  a.  a.  0.  u.  Zlocisti,  Moses  Heß, 
Berlin  0.  J. 


76       Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

nannte,  kennen  zu  lernen,  das  für  ihn  immer  hinter  Wolken 
blieb  1).  Heß  war  jetzt  zu  der  Überzeugung  gekommen,  daß  das 
Gerede  von  Freiheit  und  politischem  Fortschritt  sich  abgenutzt 
habe  und  allein  eine  gründhche  gesellschaftliche  Reform  die  Welt 
noch  interessieren  könne.  Die  Verschmelzung  der  Ergebnisse 
deutscher  Philosophie  und  französischer  Gesellschaftstheorien 
wollte  er  zum  Programm  der  Bewegungspartei  machen.  Nun 
galt  ihm  aber  als  das  spezifische  Ideal  des  modernen  Frank- 
reichs die  Gleichheit,  während  er  in  der  absoluten  Freiheit,  die 
ihm  mit  dem  Atheismus  identisch  war,  das  Endergebnis  der 
deutschen  Philosophie  sah.  Vereinigen  wollte  er  die  Gedanken- 
reihen, die  von  Babeuf  zu  Proudhon  und  von  Fichte  zu  Feuer- 
bach führten.  Kommunismus  und  Anarchismus  waren  ihm 
identisch,  weil  die  absolute  Freiheit  erst  durchführbar  wäre, 
wenn  auch  Gütergemeinschaft  bestände.  In  der  Rheinischen 
Zeitung  hatte  er  solche  Ansichten  nur  vorsichtig  durchschimmern 
lassen,  wenngleich  er  später  nicht  ohne  Grund  für  sich  in  An- 
spruch nehmen  konnte,  daß  er  hier  den  Kommunismus  ,, ein- 
geschwärzt" hätte. 

Auch  Marx,  der  dem  um  sechs  Jahre  älteren  Vorgänger 
starke  Anregungen  2)  verdankte,  behandelte  an  der  gleichen 
Stelle,  den  Schikanen  der  Zensur  und  dem  Kläffen  denun- 
zierender Gegner  zum  Trotz,  den  Kommunismus,  diesen  ,, Aus- 
wuchs" des  französischen  Geistes,  mit  ernster,  zurückhaltender 
Achtung.  Dies  war  notwendig,  weil  das  gebildete  Publikum, 
bevor  es  durch  Lorenz  Stein  den  Kommunismus  näher  kennen 
lernte,  ihn  für  eine  ebenso  utopische  wie  gefährliche  Erschei- 
nung hielt.  Marx  zeigte  ^),  daß  diese  Gefährlichkeit  nicht  so- 
wohl in  den  praktischen  Anläufen  zur  Verwirklichung  jenes 
Ideals  liegen  könne,  die  durch  Kanonen  leicht  zu  überwinden 
wären,  wie  in  dessen  theoretischer  Bedeutung,  an  deren  Kritik 
man  sich  freilich  nur  nach  lang  anhaltenden  und  tief  ein- 
gehenden  Studien   wagen   dürfe.     Die   zu   solchen   Studien  er- 

^)  Vgl.  über  Ruges  Gespräche  mit  Heß  in  Ruges  Werken  Bd.  V  S.  34  ff. 

^)  Es  würde  den  Rahmen  unserer  Abhandhmg  sprengen,  wollten  wir 
hier  auf  die  Geschichte  der  sozialistischen  Ideen  in  Deutschland  eingehen. 
Auch  besteht  darüber  schon  eine  weitschichtige  und  teilweise  ausgezeichnete 
Literatur.  Mit  dem  gedanklichen  Verhältnis  zwischen  Heß  und  Marx  in 
dieser  Zeit  befaßt  sich  besonders  Koigen  a.  a.  0.  und  neuerdings  Emil 
Hammacher,  Zur  Würdigung  des  ., wahren"  Sozialismus  in  Grünbergs 
Archiv  Bd.  I  S.  89  ff. 

")  Rhein. Ztg.,  16.  Oktob.,  *%  Köln,  15.  Oktob.  Neu  abgedr.  bei  Mehring, 
Nachlaß  Marx-Engels  I  275  ff. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  ßadikalismus  im   vorniärzl.  Preußen.      77 

forderliche  Muße  verschaffte  ihm  sein  Rücktritt  von  der  Rheini- 
schen Zeitung. 

Aber  nicht  der  Ideengeschichte  gehen  wir  hier  nach,  sondern 
den  Anfängen  praktischen  Zusammenwirkens  zur  VerwirkKchung 
von  poHtischen  Überzeugungen  i).  Als  der  erste  jener  preußischen 
Radikalen,  die  an  der  Bewegung  von  1842  teilgenommen  hatten, 
knüpfte  Moses  Heß  mit  den  untersten  Volksschichten  unmittel- 
bare Beziehungen  an.  Weil  für  solche  Bemühungen  in  Preußen 
noch  kein  Boden  war,  wandte  er  sich  an  die  deutschen  Hand- 
werksgesellen in  Paris,  unter  denen  besonders  Weitling  kommu- 
nistische Gedanken  ausgesät  hatte.  Der  Gesandte  von  Arnim 
bezeichnete  Heß  bereits  im  September  1843  der  Berliner  Regie- 
rung als  einen  der  Chefs  und  den  fähigsten  Kopf  der  deutschen 
kommunistischen  Handwerker  in  Paris,  deren  Zahl  sich  in 
letzter  Zeit  stark  vermehrt  hätte  -)  und  zu  denen  hauptsächlich 
Schneider,  Sattler,  Ebenisten  und  Mechaniker  gehörten.  Auf 
ausländischem  Boden  hatten  die  den  radikalsten  Richtungen 
angehörenden  deutschen  Emigranten  sich  frühzeitig  zu  Ver- 
bänden zusammengeschlossen.  Je  nach  den  Vereinsgesetzen 
der  Staaten,  auf  die  Rücksicht  zu  nehmen  war,  trugen  ihre 
Organisationen,  die  durch  heim  wandernde  Gesellen  auch 
innerhalb  der  Bundesgrenzen  kleine  Gruppen  von  Anhängern 
gewannen,  den  Charakter  größerer  oder  geringerer  Heimlich- 
keit. Die  preußische  Regierung  wurde  über  die  Teilnahme 
ihrer  Untertanen  an  dem  Handwerkerkommunismus  durch 
ihre  Gesandten  in  Bern  und  Paris  auf  dem  Laufendenge- 
halten. Aber  die  Vorstellungen,  mit  denen  sie  nicht  kargte, 
fanden  nicht  überall  ein  so  williges  Gehör,  wie  bei  dem  von 
den  Konservativen  beherrschten  Zürich,  das  Weitling  auswies 
und  das  ganze  kommunistische  Treiben  am  Gestade  seines 
blauen  Sees  ausräucherte.  Das  Ministerium  Guizot  besonders 
war  anfangs  wenig  geneigt,  sich  zum  Büttel  der  preußischen 
Reaktion  zu  machen,  und  Graf  Arnim  mußte  in  Berlin  wieder- 


^)  Den  psychologischen  Übergang  des  Eadikalismiis  zum  Kommu- 
nismus schildert  geistreich,  aber  auf  seine  einseitig  ideologische  Weise  Bruno 
Bauer,  Vollständige  Geschichte  der  Parteikämpf e  in  Deutschland  während 
der  Jahre  1842—1846.     Charlottenbm-g  1847.     Bd.  II  S.  78  ff. 

^)  Ein  Aufsatz  von  A.  Weill  im  „Telegraph"  1842  Nr.  60  schätzt  die 
Zahl  der  deutschen  Handwerker  in  Paris  auf  über  50000,  wobei  die  Elsässer 
nicht  mitgerechnet  sind.  Die  1845  in  Paris  erscheinende  Zeitschrift  „Der 
deutsche  Steuermann"  spricht  von  der  „Wanderungswut"  nach  Paris  und  von 
der  Arbeitslosigkeit  unter  den  dortigen  Deutschen,  deren  Zahl  ohne  die 
Elsässer  mit  beinahe  87000  angegeben  wird. 


78      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

holt  Klage  darüber  führen,  daß  die  französische  Regierung  gegen 
das  ,, planmäßige  revolutionäre  Treiben"  der  Kommunisten  nicht 
größere  Energie  aufbot. 

Moses  Heß  hatte  sein  anarchistisch -kommunistisches  Pro- 
gramm zuerst  in  Herweghs  Einundzwanzig  Bogen  aus  der  Schweiz 
entwickelt,  die  im  Juli  1843  erschienen.  Diese  Publikation  enthielt 
die  wichtigsten  Beiträge,  die  für  den  Deutschen  Boten  einge- 
laufen waren,  der  ein  führendes  Organ  des  politischen  Radi- 
kalismus hatte  werden  sollen.  Um  für  dieses  Projekt  Mit- 
arbeiter zu  werben,  hatte  der  Dichter  im  Herbst  1842  seine 
bekannte  Rundreise  durch  Deutschland  unternommen.  Es  schei- 
terte, weil  die  Berliner  Regierung  zu  verhindern  wußte,  daß  Her- 
wegh  in  Zürich  das  Bürgerrecht  erwarb.  Natürlich  wurde  das 
„höchst  verwerfliche  Buch",  als  das  Arnim-Boitzenburg  die  Ein- 
undzwanzig Bogen  bezeichnete,  in  Preußen  sofort  verboten  ^).  Dar- 
aus erklärt  es  sich  wohl,  daß  Rüge,  wie  Heß  bezeugt-),  diese  Schrift 
bei  ihrem  Zusammentreffen  noch  nicht  kannte.  Diese  Feststellung 
ist  nicht  unwichtig,  weil  Heß  hier  die  Staatsauffassung  des  politi- 
schen Radikalismus  Hegelscher  Observanz,  deren  bedeutendster 
Vertreter  Rüge  war,  um  ihrer  Absolutheit  willen  angriff  und 
überhaupt  dem  Kultus  des  ,, Allgemeinen"  den  Krieg  erklärte.  Da- 
mit aber  begann  die  Auseinandersetzung  des  Kommunismus  mit 
dem  ideologisch  gebliebenen,  wenn  auch  demokratisch  gewordenen 
Junghegelianismus,  dem  es  nicht  gelang,  zu  den  gesellschaft- 
lichen Problemen  in  ein  richtiges  Verhältnis  zu  kommen. 

Denjenigen  Jünghegelianern,  die  ernsthaft  die  Brücke  zur 
sozialen  Wirklichkeit  überschritten  und  darauf  in  die  Schule  der 
Franzosen  und  Engländer  traten,  wurde  jetzt  Ludwig  Feuerbach 
zum  Führer  aus  dem  Labyrinth  der  Ideologie.  Ihn  erhoben 
Heß  und  Marx  auf  den  Schild,  weil  er  das  Denken  aus  dem 
Sein  und  nicht  mehr  das  Sein  aus  dem  Denken  ableitete,  weil 
er  dem  Prinzip  der  Hegeischen  Schule,  dem  abstrakten  Denken 
die  Anschauung  als  das  Prinzip  des  Lebens  entgegenstellte, 
weil  er  das  vom  Menschen  abgetrennte  Selbstbewußtsein  als 
eine  bloße  Abstraktion  ohne  Realität  enthüllte,  aus  dessen  Schale 
er  den  wirklichen  Menschen  herausholte  3). 

')  Arnim- Boitzenburg  an  Polizeipräsident  von  Puttkammer  in  Berlin 
21.  Juli   1843.     Geh.  Staatsarchiv. 

'')  Heß,  die  sozialistische  Bewegung  in  Deutschland  in  Grüns  Anekdota, 
Darmstadt  1845.  Vgl.  noch  Rage  über  Heß  in  Sämtliche  Werke,  Bd.  V  S.  31: 
,,Er  ist  ein  langer  hagerer  Mann  mit  wohlwollendem  Blick"  usw.  Vgl. 
dort  auch  S.  64,  69  ff. 

^)  Für  Feuerbachs  Kritik  Hegels  vgl.  besonders  seine  Vorläufigen  Thesen 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vonuärzl.  Preußen.      79 

So  zeigte  Feuerbach  einer  vorwärts  stürmenden  Jugend 
hinter  dem  Schleier  der  Philosophie  die  reale  Wirklichkeit,  wie 
sie  sich  im  Menschen  und  seinen  Taten  verkörperte.  Aber  über 
die  Welt,  in  der  dieser  wirkliche  Mensch  lebte,  wußte  der  ein- 
same Denker  von  Bruckberg  keine  Kunde  zu  geben:  in  Politik 
und  Gesellschaftswissenschaft  war  er  nicht  zu  Hause!  Hier 
setzte  der  Einfluß  des  französischen  Sozialismus  ein.  Das  reine 
Denken  hatte  sich,  als  das  tätige  Leben  ernsthaft  sein  Recht 
geltend  machte,  unzulänglich  erwiesen.  Der  Mensch  enthüllte 
sich  nunmehr  als  die  Welt  des  Menschen,  als  Staat  und 
Gesellschaft:  Die  Religion  wirke  auf  das  Volk  wie  Opium  und 
spiegele  ihm  ein  imaginäres  Glück  als  wirklich  vor;  erst  nach 
der  Befreiung  aus  ihren  Fesseln  werde  der  Mensch  lernen,  sich 
um  sich  selbst  als  um  seine  wirkliche  Sonne  zu  bewegen.  So 
lehrte  jetzt  Marx^).  Die  nur  praktischen  Politiker  in  Deutsch- 
land, meinte  er,  forderten  die  Negation  der  Philosophie  und 
glaubten  dieses  Ziel  zu  erreichen,  indem  sie  ihr  den  Rücken 
kehrten.  Dagegen  vergäßen  die  von  der  Philosophie  herkom- 
menden theoretischen  Politiker  bei  ihrer  Bekämpfung  der 
bestehenden  Zustände,  daß  dazu  auch  die  seitherige  Philosophie 
gehöre,  die  eine  ideelle  Ergänzung  dieser  Welt  bilde.  Diese 
Philosophie  lasse  sich  nur  aufheben,  indem  man  sie  verwirk- 
liche. Zwar  sei  bei  uns  das  praktische  Leben  noch  zu  geistlos 
und  das  geistige  Leben  noch  zu  unpraktisch,  als  daß  eine  Klasse 
der  bürgerlichen  Gesellschaft  die  allgemeine  Emanzipation  voll- 
ziehen könnte,  wenn  sie  nicht  durch  die  materielle  Notwendig- 
keit, durch  ihra  Ketten  selbst,  dazu  gezwungen  sei.  Aber  die 
auch  in  Deutschland  emporstrebende  industrielle  Bewegung 
erzeuge  das  Proletariat,  und  dieses  werde  der  deutschen  Phi- 
losophie die  Waffe  zu  ihrer  Verwirklichung  darbieten.  Der 
Kopf  des  künftigen  Befreiungskampfes  sei  die  Philosophie,  sein 
Herz  das  Proletariat.  Die  Philosophie  könne  sich  nicht  ver- 
wirklichen   ohne   die    Aufhebung    des   Proletariats,    das   Prole- 


zii  einer  Reform  der  Philosophie,  in  den  Anekdota  zur  neuesten  deutschen 
Philosophie  und  Publizistik,  Bd.  2.  Zürich  und  Winterthur.  1843.  Über 
Feuerbachs  Bedeutung  für  seine  Zeit  vgl.  F.  Engels,  Ludwig  Feuerbach 
und  der  Ausgang  der  klassischen  deutschen  Philosophie.  5.  Aufl.  Stuttgart 
1910,  S.  30  und  Koigen  a.  a.  0.  S.  113  ff.  Koigen  nennt  ihn  den  Ideologen 
der  aufkommenden  Demoki-atie. 

*)  Marx,  Zur  Kritik  der  Hegeischen  Rechtsphilosophie,  in  Deutsch- 
Französische  Jahrbücher,  herausgeg.  von  Rüge  und  Marx.  (Einziges  Heft.) 
Paris  1844,     S,  71  f. 


80      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

tariat  sich  nicht  aufheben  ohne  die  Verwirklichung  der  Philo- 
sophie ^). 

Diese  weltgeschichtlich  bedeutsame  Verknüpfung  zwischen 
Philosophie  und  Proletariat  vollzog  Marx  in  den  Deutsch- 
Französischen  Jahrbüchern,  mit  denen  er  und  Rüge  den  Kampf 
gegen  den  preußischen  Absolutismus,  den  sie  nach  der  Unter- 
drückung der  Deutschen  Jahrbücher  und  der  Rheinischen 
Zeitung  unterbrochen  hatten,  neu  eröffnen  wollten.  Sie  zeich- 
neten als  Herausgeber  und  hatten  sich  u.  a.  die  Mitarbeit  von 
Engels,  Heß,  Herwegh,  Heine  und  Jacoby  gesichert.  Aber  die 
Beiträge  von  Marx  und  Engels,  die  in  dem  ersten  und  ein- 
zigen Heft  das  meiste  Aufsehen  erregten,  erhoben  schon  weiter- 
gehende Forderungen,  als  die  der  bloß  pohtischen  Freiheit,  über 
die  Ruges  „humaner  Liberalismus"  nicht  hinaus  gelangte.  Eine 
konsequente  Demokratie  wollte  hier  Ernst  machen  mit  der  Anwen- 
dung des  Ideals  der  Gleichheit  auf  das  gesellschaftliche  Leben. 
Als  ein  Problem  neben  anderen  betrachtete  auch  Rüge  die 
Emanzipierung  der  unterdrückten  Volksklassen.  Wie  er  jetzt  aber 
auf  französischem  Boden  die  Erfahrung  machte,  daß  beträcht- 
liche Elemente  das  Problem  bereits  zum  Experiment  forttreiben 
wollten,  da  zuckte  er  zurück.  Er  blieb  zu  sehr  Hegelianer,  um 
sich  von  dem  Geist  der  idealistischen  Philosophie  so  weit  zu 
lösen,  daß  er  dem  ,, Traum  des  irdischen  Paradieses"  die  ,, ideellen 
und  allgemeinen  Mächte"  hätte  opfern  können.  Ihm  wurde 
der  Kommunismus  nicht  Glaubenssache,  und  er  hielt  ihn  für 
eine  Sekte,  die  in  dem  ersten  Sturm  der  Politik  zugrunde  gehen 
würde  2).  Deshalb  fehlte  ihm  auch  jedes  Verständnis  für  den 
Eifer,  mit  dem  Marx  in  den  Kreisen  der  deutschen  Handwerker 
in  Paris  Boden  zu  fassen  strebte.    Weil  er  die  materiellen  Kräfte 


*)  Der  erste,  der  in  Deutschland,  freilich  noch  mit  besonderem  Hinweis 
auf  Frankreich,  verkündete,  daß  die  nächste  Revolution  eine  soziale  sein 
werde,  war  wohl  Lorenz  Stein.  Vgl.  das  Vorwort  zu  Der  Sozialismus  und 
Kommunismus  des  heutigen  Frankreichs.  Leipzig  1842.  Auch  die  Bedeutung 
des  Klassenkampfes  gelangte  durch  dieses  Werk  zuerst  in  das  Bewußtsein 
einiger  deutscher  Denker.  Über  das  preußische  Proletariat  im  Vormärz 
vgl.  u.  a.  Mehring,  Geschichte  der  deutschen  Sozialdemokratie,  I  S.  237  ff. 
und  Kampffmeyer,  Geschichte  der  Gesellschaftsklassen  in  Deutschland. 
Berlin  1910.  Das  reichste  zeitgenössische  Material  enthielt  der  von  M.  Heß 
redigierte  Gesellschaftsspiegel.    Elberfeld  1845. 

*)  Rüge,  Der  deutsche  Kommunismus,  in  der  von  Heinzen  herausge- 
gebenen Opposition,  Mannheim  1846,  S.  114;  Rüge  an  Simon  Meyerowitz 
11.  Februar  1845  (ungedruckt);  Rüge  an  Fleischer  27.  Mai  1845,  in  Brief- 
wechsel etc.  I.  396  u.  a.  a.  0. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      81 

unterschätzte,  vergrößerten  und  isolierten  sich  ihm  die  rein 
pohtischen  Gegensätze  ins  Schrankenlose.  Während  Marx  und 
Engels  den  internationalen  Charakter  der  sozialen  Bewegung 
auf  ihr  Programm  setzten,  erhob  er  die  Internationalität  der 
politischen  Partei  und  den  ,, Sturz  des  Patriotismus"  zu  seiner 
Forderung^).  Ruges  führende  Rolle  in  der  Politik  war  damit 
ausgespielt. 

Verhängnisvoll  wurde  der  Bruch  zwischen  ihm  und  Marx, 
an  dem  hier  nur  die  sachliche  Seite  interessiert,  für  jene  Be- 
mühungen, die  auf  dem  zensurfreien  Boden  des  Auslandes  die 
radikale  Kampagne  des  Jahres  1842  wieder  aufleben  lassen 
wollten.  Da  es  eine  parteipolitische  Praxis  in  Preußen  noch 
nicht  gab,  so  hatte  diese  prinzipielle  Scheidung  zwischen  dem 
künftigen  Fülirer  der  sozialen  Demokratie  und  dem  bis  dahin  ziel- 
bewußtesten Vorkämpfer  eines  demokratischen  Liberalismus  vor- 
läufig keine  anderen  sichtbaren  Folgen,  als  daß  auf  der  traurigen 
Fläche  der  Flüchtling;szänkereien  ein  paar  trübe  Blasen  aufstiegen. 
Vor  der  massiven  Übermacht  der  Reaktion  verschwanden  noch 
alle  Meinungsverschiedenheiten  über  das  schließliche  Ziel.  In 
der  Bewegung  von  1848  kämpften  Proletariat  und  Bürgertum 
Seite  an  Seite  für  die  Sache  der  Freiheit.  Auch  die  Neue 
Rheinische  Zeitung,  deren  Seele  wiederum  Karl  Marx  war,  trat 
damals  für  dieses  Bündnis  ein,  obgleich  sie  doch  schon  offen 
das  sozialdemokratische  Banner  wehen  ließ. 

XII. 

Die  ,, geistige  Not"  der  ,, gefallenen  Radikalen",  dieser 
,, politischen  Mönche",  die  Kunst  und  Wissenschaft  dem  Moloch 
Staat  zum  Opfer  gebracht  hätten,  suche  ihre  Zuflucht  bei  der 
,, leiblichen  Not"  der  großen  Masse,  die  ebenso  hilflos  wäre  wie 
sie  selbst!  —  Mit  Deduktionen  von  dieser  Art  erklärte  sich 
Bruno  Bauer  das  Aufgehen  seiner  ehemaligen  Kampfgenossen 
in  das  Problem  der  Masse,  für  das  ihm  das  Organ  fehlte,  weil 
er  an  dem  Primat  der  theoretischen  Entwicklung  festhielt. 
Sein  Bruder  hatte  ihm  im  Feuilleton  der  Rheinischen  Zeitung 
aus  der  Seele  gesprochen: 

„Wenn  Massen  Ihr  auf  Massen, 
Wenn  Berg  auf  Berge  türmt, 
Glaubt  Ihr,  daß  Ihr  des  Geistes 
Unendlich  Reich  erstürmt?" 

^)  Rüge  an  Fleischer  9.  Juli  1844  und  an  Prutz  14.  Januar  1846;  ferner 
Rüge,  An  einen  Patinoten,  in  Telegraph  f.  Deutschland  1844  Nr.  203  f. 
Auch  dort:  „An  die  Stelle  des  Vaterlandes  gehört  die  Partei." 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  ß 


82      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalisnius  im  vormärzl.  Preußen. 

Wem  einmal  der  Staat  als  das  „Lebensbrot  des  Geistes" 
galt,  dem  verdachte  Bauer  nicht,  daß  er  von  demselben  auch 
-^drkliches  Brot  und  Arbeit  und  Beschäftigung  für  jedermann 
forderte^).  Es  war  noch  nicht  lange  her,  da  hatten  auch  er 
und  die  ,, Freien"  ihre  Vergötterung  für  die  Staatsidee  demon- 
strativ bekundet,  da  hatten  die  philosophischen  Radikalen  in 
überschwenglichen  Worten  ihre  Hoffnung  sogar  auf  den  Staat  des 
großen  Friedrich  gesetzt !  Seitdem  aber  die  Regierung  sich  gegen 
das  ,, Recht  der  Vernunft"  und  für  das  ,, Recht  des  Bestehenden" 
entschied,  hielten  sie  wie  Rüge  Preußens  geschichtliche  Rolle 
für  ausgespielt 2).  Daß  es  immer  noch  der  protestantische  Staat 
blieb,  fiel  nicht  mehr  ins  Gewicht.  Denn  die  Auflehnung  gegen 
eine  beschränkte  Autorität  hatte  keine  Bedeutung  für  eine 
Literatur,  die  jetzt  gegen  jede  Autorität  protestierte.  Der  Sub- 
jektivismus der  Berliner  Junghegelianer  mußte  mit  Notwendig- 
keit zur  Auflösung  aller  absoluten  Werte  führen  und  in  der 
politischen  Sphäre  bei  der  Skepsis  oder  beim  Anarchismus 
landen.  Die  Umkehr  der  Regierung  zur  unverhüllten  Reaktion 
mochte  diese  Entwicklung  beschleunigen.  Im  Grunde  entband 
sie  die  Geister  nur  von  einer  Zurückhaltung,  die  nunmehr  über- 
flüssig wurde.  Auch  Proudhons  Einfluß  machte  sich  vielleicht 
auf  die  Abkehr  dieser  Radikalen  vom  Staatsideal  nebenher 
bemerkbar,  aber  er  war  hier  nicht  ausschlaggebend  wie  bei 
Moses  Heß. 

Schon  nach  dem  Erscheinen  von  Edgar  Bauers  Kampf- 
schrift gegen  die  Konstitutionellen  hatte  Stirner,  aber  ohne  daß 
er  sie  vorerst  veröffentlichte,  eine  Kritik  niedergeschrieben, 
die  er  später  in  sein  Hauptwerk  hineinarbeitete.  Daß  über  dem 
Souverän,  ob  er  nun  Fürst  oder  Volk  heiße,  niemals  eine  Re- 
gierung stehe,  das  sei  selbstverständlich:  ,,Aber  über  Mir  wird 
in  jedem  ,, Staate"  eine  Regierung  stehen,  sowohl  im  absoluten 
als  im  republikanischen  oder  , freien'.  Ich  bin  in  dem  einen 
so  schlimm  daran  wie  im  andern."  Edgar  Bauers  radikales 
Staatsideal  laufe  nur  auf  einen  Herren -Wechsel  hinaus.  Statt 
das  Volk  frei  machen  zu  wollen,  hätte  er  auf  die  einzig 
realisierbare  Freiheit,  auf  die  seinige,  bedacht  sein  sollen ^j. 


')  Br.  Bauer,  Vollständige  Geschichte  etc.  Bd.  II  S.  78  ff.  Vgl.  auch 
Bchon  1844,  Allg.  Lit.  Ztg.,  Juli:  „Was  ist  jetzt  der  Gegenstand  der  Kritik?" 

^)  Vgl.  z.  B.  Buhl,  Die  Herrschaft  des  Geburts-  und  Bodenprivilegs 
in  Preußen.    Mannheim   1844.    S.  316, 

')  Der  Einzige  und  sein  Eigentum  (Reclam  S,  265  u,  267).  Stirners 
Kritik  des  radikalen  Staatsideals   deckt  sich,   sogar  in  einzelne  Wendungen, 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  EadikalisTiius  im  v(jniiärzl.  Preußen.      83 

Um  ein  eigenes  Organ  für  die  Verkündung  ihrer  Ansichten 
zu  erhalten,  betrieb  Buhl  die  Errichtung  einer  „Berliner  Monats- 
schrift" i),  zu  derem  Probeheft  ihm  Stirner,  Meyen  und  Dr.  Julius 
Waldeck  Beiträge  lieferten.  Aber  der  Prospekt,  den  er  im 
Juli  1843  der  Zensur  einreichte,  fand  bei  ihr  keine  Gnade. 
Buhl  erklärte  darin  offen,  daß  er  sich  mit  der  Politik  nur 
noch  beschäftigen  wolle,  um  sie  aufzulösen.  Er  wolle  sie 
aber  auflösen,  weil  er  sie  für  unfähig  halte,  die  allgemeine 
Freiheit  zu  realisieren.  Einen  anderen  Grund  für  seine  Abkehr 
von  der  Politik  gab  er  bald  danach  im  Vorwort  zu  seiner  vor- 
züglichen Übersetzung  von  Louis  Blancs  Zehn  Jahren  an.  Hier 
behauptete  er  in  Anlehnung  an  die  Franzosen  und  wohl  auch 
an  Heß,  daß  alle  politischen  Revolutionen  der  Masse  des 
Volks  nicht  nützen  können  und  daß  die  Politik  überhaupt  kein 
Gefühl  fürs  Volk,  kein  Herz  für  seine  Not  habe. 

Max  Stirner  war  ein  vorsichtiger  Herr,  wie  sein  Freund 
Buhl  ausdrücklich  bezeugt  2)  und  zog  die  Nutzanwendung  seiner 
revolutionären  Ideen  auf  das  politische  Leben  am  liebsten,  wo 
er  sicher  war,  nicht  belangt  zu  werden.  Der  ,, würdevolle" 
Mädchenschullehrer  wollte  nicht,  daß  die  Polizei  erfuhr,  auf 
welchem  Amboß  und  von  welchem  Schmidt  die  Gedankenpfeile 
gehämmert  wurden,  die  er  aus  wohlbehüteter  Anonymität  in  die 
Welt  hinaussandte  ^).  Aber  was  seine  Aufsätze  in  der  Rhei- 
nischen Zeitung  ahnen  lassen,  bestätigt  Friedrich  Engels,  der 
ihm  damals  befreundet  war,  in  seinem  Heldenepos  vom  Triumph 
des  Glaubens.  Dieser  ,,bedächt'ge  Schrankenhasser"  ging  schon 
im  Sommer  1842  über  den  Radikalismus  seiner  Genossen 
hinaus  und  übertrumpfte  schon  damals  ihr  ,,ä  bas  les  rois!" 
mit  seinem:  ,,Weg  Satzung,  weg  Gesetz!  .  .  .  ä  bas  aussi 
les  lois!" 

Unbekümmerter  um  das  eigene  Schicksal  schlug  Edgar 
Bauers  burschikose  Jugend  die  Person  für  die  Überzeugung  in 
die  Schanze !    Was  scherte  es  ihn,    daß  ,,Der  Streit  der  Kritik 


mit  der  von  Moses  Heß  in  der  Philosophie  der  Tat.  Herweghs  Einund- 
zwanzig Bogen,  die  den  Aufsatz  von  Heß  enthielten,  erschienen  etwa  gleich- 
zeitig mit  Edgar  Bauers  Kampfschrift  und  in  dem  gleichen  Verlag.  Stirner 
konnte  also  möglicherweise  den  Aufsatz  von  Heß  bereits  kennen.  Für 
unsere  Arbeit  haben  solche  Nachweise  von  gegenseitiger  intellektueller  Be- 
einflussung bei  den  radikalen  Denkern  nur  akzessorisches  Interesse. 

^)  Das    erste   und   einzige  Heft   der  Berliner  Monatsschrift    erschien   im 
Selbstverlag  in  Mannheim. 

')  Buhl,  Der  Preßprozeß,  in  „Epigonen",  1846  S.  182. 

^)  Das  Geh.  Staatsarchiv  besitzt  keine  Zensurakten  über  ihn. 

6* 


84      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

mit  Kirche  und  Staat",  sein  Hauptwerk,  das  er  im  Sommer  1843 
drucken  ließ,  sofort  beschlagnahmt  wurde  und  ihm  einen  Kri- 
minalprozeß und  mehrjährige  Freiheitsberaubung  einbrachte? 
Lehrte  nicht  die  souveräne  Kritik,  daß  der  menschliche  Geist 
die  Verhältnisse  und  nicht  die  Verhältnisse  die  Menschen 
beherrschten?  Unter  dem  Einfluß  von  Stirner,  Proudhon  und 
Heß  wandte  er  jetzt  von  dem  bloßen  Republikanismus  sich 
mit  der  Behauptung  ab,  daß  auch  eine  republikanische  Re- 
gierung, weil  sie  nun  doch  einmal  Regierung  sei,  zur  Unter- 
drückungssucht hinneige.  Nun  gestand  selbst  dieser  Prophet 
des  freien  Volksstaats,  der  sich  vor  kurzem  noch  ,,rein  gläubig 
und  theologisch"  zu  den  Abstraktionen  Staat,  Regierung,  Recht 
und  Gesetz  verhalten  hatte,  daß  die  volle  Freiheit  innerhalb  des 
Staats  nicht  zu  reahsieren  sei,  weil  im  Staat  immer  einander 
untergeordnete  Stände  und  Klassen  entstehen  müßten.  Zum 
Wesen  des  Staates  gehöre,  daß  er  Rechte,  die  stets  auch  Vor- 
rechte seien,  respektiere.  Deshalb  solle  die  Menschheit  über 
das  Staatsleben  hinweg  zu  den  Formen  eines  freien  Gemein- 
wesens fortschreiten! 

Aber  ,, Privatbesitzer  und  Egoisten"  könnten  keine  freie 
Gesellschaft  bilden.  Der  Privatbesitz  sei  eine  Art  von  Dieb- 
stahl. Nur  nach  seinem  Verschwinden  wäre  vollständige  Herr- 
schaf tslosigkeit  möglich,  nur  nach  dem  Untergang  der  Ehe, 
der  Standesunterschiede  und  aller  anderen  Stützen  des  Staats, 
dieser  ,, kirchlich"  organisierten  Gesellschaft.  Umsonst  quäle 
sich  der  Liberalismus  mit  dem  Problem  der  Armut,  umsonst 
fordere  der  Radikalismus  das  allgemeine  Stimmrecht,  dessen  Ver- 
wirklichung übrigens  den  Staat  sprengen  müßte !  Das  Scheitern 
der  französischen  Revolution  habe  bewiesen,  daß  es  nicht  mög- 
lich sei,  den  Menschen  innerhalb  des  Staates  freizumachen 
und  daß  erst  die  Anarchie  aller  guten  Dinge  Anfang  ist.  Den 
Zustand  der  wahren  Gleichheit,  wo  jeder  an  den  Wohltaten  des 
gesellschaftlichen  Lebens  teilnehmen  könne,  herbeizuführen,  ver- 
möge nur  die  ,, Kritik"!  Freilich  konstruieren  sei  nicht  ihre 
Aufgabe,  ihr  Pronunziamento  sei  negativ,  aber  die  Geschichte 
werde  die  Bejahung  dazu  schreiben  ^).  Viel  weniger  scharf  als 
Marx  einige  Monate  später  in  den  Deutsch-Französischen  Jahr- 


^)  Für  den  „bakunistischen"  Charakter  der  „Kritik",  die  „Negation  ohne 
Grenze"  sei,  vgl.  Koigen  a.  a.  0.  S.  50.  Koigen  führt  die  „Entartung"  der 
„Kritik"  ausschließlich  auf  immanente  Ursachen  ziu-ück.  Aber  zum  min- 
desten in  zweiter  Linie  wirkten  auch  die  Zeitverhältnisse  mit,  wenn  sie  bei 
„buddhistischer  Passivität"  landete.    Vgl.  Koigen  a.  a.  0.  S.  79. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.       85 

bücheru,  aber  doch  unter  den  gleichen  Eindrücken  wie  jener,  er- 
wartet hier  Edgar  Bauer  die  Vollendung  des  neuen  irdischen 
Evangeliums  von  einer  Revolution  des  Proletariats  ').  Aber  wenn 
ihm  im  Leben  damals  auch  sonst  nichts  menschliches  fremd 
sein  mochte,  sein  Denken  konnte  höchstens  vorübergehend  die 
Erde  streifen,  um  bald  wieder  in  den  Äther  der  Spekulation 
aufzusteigen,  wo  die  Gedanken  von  keiner  Wirklichkeit  be- 
schwert wurden. 

Unter  dem  Einfluß  des  französischen  Kommunismus,  dem 
sich  im  Jahre  1843  von  den  radikalen  Schriftstellern  nur  wenige 
ganz  entzogen,  hatte  auch  dieser  Gegner  alles  Bestehenden  das 
Proletariat  zum  Vollstrecker  des  Todesurteils  ausersehen,  das  er 
über  den  Staat  und  die  herrschende  Gesellschaftsordnung  ver- 
hängte. Aber  so  wenig  wie  die  Liebe  zur  Masse  hierbei  den 
Ausschlag  gab,  so  wenig  war  der  Glauben  an  ihre  historische 
Mission  bei  Edgar  Bauer  nachhaltig.  Auch  an  der  Aufhebung 
des  Privateigentums  bestach  ihn  allein  die  theoretische  Er- 
wägung, daß  sie  einen  Schritt  auf  dem  Wege  zur  ,,Zustands- 
losigkeit"  bedeutete,  von  der  er  nunmehr  die  Erfüllung  der 
Freiheit  erwartete-). 

Wir  wissen  schon,  daß  die  souveräne  ,, Kritik"  aus  der  Gleich- 
gültigkeit, mit  der  die  Masse  des  preußischen  Volkes  der  neuer- 
lichen Knechtung  des  Geistes  zusah,  die  Folgerung  zog,  daß  ihre 
Entwicklung  sich  von  aller  Politik  frei  machen  müsse  ^).  Das 
Schicksal  der  Zensur  in  der  Praxis  behandelte  sie  jetzt  mit 
ostentativer  Gleichgültigkeit.  Sie  behauptete,  kein  Interesse 
mehr  daran  zu  haben,  da  sie  die  Voraussetzungen  der  Zensur  un- 
vermischt  dargestellt  und  damit  theoretisch  überwunden  hätte '^). 
Überhaupt  hatte  die  ,, Kritik"  den  politischen  Radikalismus  mit 


^)  Vgl.  dazu  Edgar  Bauers  Artikel  über  Proudhon  in  der  von  Bruno 
Bauer  herausgegebenen  Literatm--Ztg.,  April  1844.  Auch  Koppen s  Aufsatz 
über  P.  J.  Proudhon,  der  radikale  Sozialist,  in  den  von  ihm  herausgegebenen 
Norddeutschen  Blättern  für  Kritik,  Literatur  und  Unterhaltung,  Oktober 
und  November  1844,  und  Marx'  Kritik  dieses  Artikels  in  Die  heilige  Familie 
oder  Kritik  der  kritischen  Ki-itik  (Nachl.  ed.  Mehring  Bd.  11  S.  129  ff.)  wäre 
für  eine  nähere  Untersuchung  des  Verhältnisses  dieses  Ki-eises  zu  Proudhon 
heranzuzuzi  eh  en. 

*)  Die  Reise  auf  öffentl.  Kosten  in  Epigonen  1848  S.  29.  „Ich  selber, 
nur  ich  war  das  Ziel  meiner  Entwicklung",  beichtet  er  hier,  auf  das  Jahr 
1843  zurückblickend. 

^)  Was  ist  jetzt  der  Gegenstand  der  Kj-itik?  (Verf.  wohl  Bruno  Bauer) 
in  Allg.  Literatur-Ztg.,  Juli  1844. 

*)  Koppen  in  Norddeutsche  Blätter,  August  1844. 


86      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

seinen  Schlagwörtern  und  Phrasen,  „diesen  bequemen  Verbin- 
dungsmittehi  der  Parteien",  aufgelöst  und  erledigt.  Das  Helden- 
tum der  ,, Überzeugung",  ,,mit  dem  man  sich  an  die  Partei 
verkauft",  war  für  sie  ein  überwundener  Standpunkt  i).  Schon 
neigte  sie  dazu,  in  dem  Kampf  zwischen  Regierung  und  Oppo- 
sition der  Regierung,  die  scheinbar  Siegerin  geblieben  war,  recht 
zu  geben  und  in  ihr  das  ,, verkörperte  Volk"  und  die  ,, echte 
Volksvertretung"  zu  sehen,  welche  die  Partei  des  Staats  und 
des  Volks  nahm,  als  sie  die  radikale  Kritik  unterdrückte  2). 

Jetzt  brüstete  sie  sich  damit,  daß  sie  über  Liebe  und  Haß, 
über  Effekt  und  Empfindung  erhaben,  ansichts-,  System-  und 
gesinnungslos  geworden  sei^).  Ihr  fester  Glauben  an  die  Supe- 
riorität  des  Geistes  brachte  sie  schon  mit  Naturnotwendigkeit 
in  Gegensatz  zu  der  ,, Masse",  die  der  verhaßte  Kommunismus 
jetzt  zum  Gegenstand  eines  Kultus  machte*).  Umgekehrt 
mußte  ihr  Dogma  von  dem  außerhalb  der  Masse  und  über  ihr 
schwebenden  Geist,  der  alle  Umgestaltungen  im  gesellschaftlichen 
Leben  schließhch  in  die  Gedankentätigkeit  der  souveränen 
,, Kritik"  auflöste,  bei  denen  Widerspruch  hervorrufen,  die  in 
der  Masse  das  Substrat  der  geschichtlichen  Entwicklung  ent- 
deckt zu  haben  glaubten.  Das  Pamphlet:  ,,Die  heilige  Familie" 
von  Marx  und  Engels  sollte  den  einstigen  Freunden  beweisen, 
daß  sie  mit  ihrem  intellektualistischen  Übermenschentum  hinter 
der  von  der  deutschen  theoretischen  Entwicklung  inzwischen 
erreichten  Höhe  zurückgeblieben  seien,  und  daß  die  ,, Kritik", 
wenn  ihr  ,, Einsamkeitsbedürfnis"   sie  über  alle  Parteien  erhob. 


^)  Norddeutsche  Blätter,  August  1844.  Briefe  aus  Berlin,  S.  23  ff. 
(Verf.  wohl  einer  der  Brüder  Bauer.)  Vgl.  auch  Th.  Opitz,  Die  Ohnmacht 
Bruno  Bauers  in  seiner  Schrift:  Bruno  Bauer  und  seine  Gegner.    Breslau  1846. 

^)  Vgl.  u.  a.  den  Artikel:  Köuigsberger  Broschüren-Literatur,  in  Allg. 
Literatur-Zeitung  September  1844,  und  ebendort  Juli  1844  Edgar  Bauer, 
„1842". 

')  Eine  gute  Kritik  der  ,, Kritik"  enthält  der  Aufsatz:  Bruno  Bauer 
oder  die  Entwicklung  des  theologischen  Humanismus  unserer  Tage.  Eine 
Kritik  und  Charakteristik,  in  Wiegands  Vierteljahrschrift,  1845  III.  Dort 
heißt  es  über  Bruno  Bauer:  „Seine  eigenen  Gedanken  verwandeln  sich  gleich- 
sam durch  eine  religiöse  Illusion  zu  rein  objektiven,  göttlichen  Urteilen  der 
,Kritik'  —  er  spricht  immer  nur  von  sich  selbst  in  dieser  Allgemeinheit 
seines  Orakels,  das  er  selber  ist." 

'')  Die  Gattung  und  die  Masse,  in  Allg.  Lit.-Ztg.,  herausgeg.  von  Bnino 
Bauer,  Bd.  ü,  Heft  10,  Sept.  1844.  Vgl.  auch  die  Darstellung  dieser  Zu- 
sammenhänge bei  Me bring,  Aus  dem  literarischen  Nachlaß  von  Marx,  Engels, 
Lassalle,  Bd.  H,  S.  67  ff. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      87 

sich  damit  als  Partei  —  als  eine  „heilige  Familie"  —  der  ganzen 
übrigen  Menschheit  gegenüberstellte^). 

Das  psychologische  Motiv  der  Brüder  Bauer,  Koeppens 
und  ihres  Anhangs  deckte  für  das  Publikum  noch  deutlicher 
ein  bald  danach  anonym  erschienener  Aufsatz  der  Wiegandschen 
Vierteljahrsschrift  auf,  der  die  kritischen  Gedanken  von  Marx 
und  Engels  in  eine  allgemein  verständliche  Sprache  übersetzte  ^j. 
Das  Geheimnis  der  ,, Kritik"  enthüllte  sich  nunmehr  als  Wut 
über  die  eigene  Ohnmacht,  etwas  gegen  das  wirklich  Gegebene 
zu  unternehmen,  ihre  Anerkennung  des  Bestehenden  als 
Produkt  ihrer  Verzweifelung  und  als  erzwungene  Resigna- 
tion! Die  ,, Kritik",  hieß  es  hier,  bliebe  in  dem  Dogma  von 
ihrer  Unfehlbarkeit  nur  deshalb  stecken,  weil  sie  eine  Wirklich- 
keit nicht  hervorbringen  könne !  —  Wie  man  in  unseren  Tagen 
in  Nietzsche  den  Philosophen  des  Kapitalismus  erkennen  zu 
dürfen  glaubte,  so  bezeichnete  damals  Friedrich  Saß,  der  selbst 
zu  den  ,, Freien"  gehört  hatte,  die  ,, Kritik"  als  den  philoso- 
phischen Ausdruck  der  rohen  Gleichgültigkeit  der  Aristokraten 
und  Geldmenschen  gegen  das  Schicksal  der  Masse !  ^)  — 

Ebenfalls  als  eine  Resignation,  wenn  auch  nicht  in  der 
gleichen  Gestalt,  erscheint  uns  heute  die  Art  von  Anarchismus, 
zu  der  sich  damals  eine  andere  Gruppe  des  philosophischen 
Radikalismus  offen  bekannte.  Schon  häufig  berauschte  sich 
am  Ideal  von  übermorgen,  das  ihn  bei  der  Gegenwart  los- 
kaufen sollte,  derjenige,  dem  Kraft  und  Zähigkeit  fehlten,  für 
die  Forderungen  des  Tages  beharrlich  zu  kämpfen. 

Allem  ,, Glauben",  aller  ,, Gesinnung"  hatte  die  ,, Kritik"  die 
Daseinsberechtigung  abgesprochen,  aller  Ausschließlichkeit  den 
Krieg  erklärt,  weil  sie  den  eigentlichen  Menschen  nicht  zum 
Vorschein  kommen  ließ.  Einen  Glauben  aber  hatten  selbst 
die  Brüder  Bauer  noch  nicht  abgestreift :  die  ,, Kritik"  war  ,,die 
Priesterin    des    Denkens"    gebheben.      Den    Glauben    an   die 

0  Die  Heilige  Familie  oder  Ej'itik  der  kritischen  Kritik.  Gegen  Bruno 
Bauer  und  Konsorten  (geschrieben  September  bis  Dezember  1844),  neu  ab- 
gedruckt bei  Mehring,  Gesammelte  Schriften  von  Karl  Marx  u.  Friedr.  Engels 
(1841—50),  Bd.  II,  Stuttg.  1902.  Vgl.  bes.  S.  103,  114,  133,  178  ff.,  184  ff., 
268,  271.  Wir  beschränken  uns  hier  wie  in  der  ganzen  Abhandlung  nach 
Möglichkeit  auf  den  parteipolitischen  Gesichtspunkt  und  berücksichtigen  die 
philosoj^hische  Entwicklung,  die  bekannt  ist,  nur  soweit  das  Verständnis  des 
Zusammenhangs  es  erfordert. 

^)  Nicht  viel  anders  urteilte  übrigens  auch  Stirner  über  die  Flucht  der 
Brüder  Bauer  ,,in  ihr  Kämmerlein".  Vgl.  Der  Einzige  und  sein  Eigentum,  S.  374. 

')  Sass,  Berlin  a.  a.  0.  S.  176  f. 


88      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl,  Preußen. 

Heiligkeit  des  Geistes  und  an  die  Hoheit  des  Ideals  der 
Menschheit  hatten  sie  sich  noch  bewahrt.  Stirner  blieb  es  vor- 
behalten, die  Selbstauflösung  der  Hegeischen  Philosophie  zu  voll- 
enden, indem  er  den  Glauben  an  den  Geist,  ebenso  wie  den 
Menschheitskultus  Feuerbachs  als  Überbleibsel  des  Christentums 
enthüllte  ^)  und  in  den  Orkus  schleuderte.  Der  Interesselosigkeit 
der  ,, Kritik"  setzte  er  den  nackten  sensualistischen  Egoismus 
entgegen,  der  abstrakten  Anschauung  das  verlangende  Ich. 
Aber  schon  hellsichtige  Zeitgenossen  fühlten  heraus,  daß  dieses 
Ich  nicht  der  empirische  Mensch  war,  der  mit  Notwendigkeit 
in  der  Gesellschaft  lebt,  sondern  bloß  eine  Verpflanzung  des 
Bauerschen  absoluten  Selbstbewußtseins  in  die  materielle  Sphäre  ^). 
In  der ,, Kritik",  von  der  er  übrigens  mit  Achtung  sprach,  erkannte 
Stirner  die  letzte  Vollendung  der  religiösen  Welt.  Er  aber  er- 
teilte ,,mit  einem  Recken  der  Glieder"  dem  Gedanken  überhaupt 
den  Abschied.  Er  wollte  die  ,, lange  Nacht  des  Denkens 
und  Glaubens"  beenden^). 

In  der  Ablehnung  des  Hegeischen  Panlogismus  berührte 
sich  sein  ,, Einziger^'  trotz  der  Verschiedenheit  des  Ausgangs- 
und Zielpunktes  mit  Marx  und  Engels:  ,,Der  theoretische 
Kampf",  schrieb  er  gegen  die  Bauers,  „kann  nicht  den  Sieg 


^)  Der  Einzige  und  sein  Eigentum.  Die  erste  Auflage  erschien  anonym 
in  Leipzig,  November  1844.  Wir  zitieren  nach  der  Eeclamschen  Ausgabe. 
S.  206:  „Die  menschliche  Religion  ist  nur  die  letzte  Metamorphose  der 
christlichen  Religion",  S.  211:  „Der  Mensch  das  Ende  und  Ergebnis  des 
Christentums." 

^)  Für  die  Art,  wie  Stirner  sich  Bauers  „Selbstbewußtsein"  philosophisch 
auslegte,  ist  charakteristisch  sein  bisher  nicht  beachteter  Aufsatz  „Marheinekes 
Separatvotum"  in  der  Beilage  der  Leipz.  AUg.  Ztg.  vom  31.  Mai  1842.  Von 
zeitgenössischen  Kritikern  Stirners  kommen  für  den  mehr  politischen  Zusammen- 
hang, der  uns  hier  interessiert,  besonders  in  Betracht:  Marx-Engels-Heß, 
Sankt  Max  a.  a.  0.  [erst  nach  Jahrzehnten  in  den  Dokumenten  des  Sozia- 
lismus gedruckt];  M.Heß,  Die  letzten  Philosophen,  Darmstadt  1845,  (Bauer 
müßte  konsequent  lehren:  werdet  Pflanzen!  Stirner:  werdet  Tiere!); 
Franz  Schmidt  in  Deutsch.  Bürgerbuch  für  1846,  vergleiche  a.  a.  0.; 
Dronke  behandelt  im  zweiten  Band  seines  Buches  „Berlin",  Frankfurt 
1846,  auf  S.  115  ff.  B.  Bauer  und  Stirner  als  philosophische  Possenreißer 
und  Übermenschen,  die  das  Leben  unbeachtet  lassen  darf,  da  sie  über 
dem  Leben  stehen  wollen.  Der  schlesische  Poet  Th.  Opitz,  ein  Verehrer 
Bruno  Bauers,  entdeckte  in  seiner  Schrift:  Bruno  Bauer  und  seine  Gegner, 
Breslau  1846,  daß  Stirner  die  geheimsten  Gedanken  Bruno  Bauers  ver- 
rate. Vgl.  auch  Stirners  Erwiderung  an  Heß  in  Wiegands  Vierteljahrs- 
schrift, 1845  m.  (Heß'  „wirklicher  Mensch"  sei  ein  Begriff,  also  kein  wirk- 
licher Mensch.) 

')  a.  a.  0.  S.  174  und  175. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  pol  it.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      89 

vollenden,  und  die  heilige  Macht  des  Gedankens  unterliegt  der 
Gewalt  des  Egoismus.  Nur  der  egoistische  Kampf,  der  Kampf 
von  Egoisten  auf  beiden  Seiten,  bringt  alles  ins  klare  ^)."  Aber 
Stirner  hatte  die  Idiosynkrasie,  allen  Idealen  und  jeder  Auto- 
rität den  Heiligenschein  abreißen  zu  wollen.  Den  Egoismus 
im  engsten  Sinne  proklamierte  er  als  die  allein  wirksame 
Kraft  in  der  Geschichte  und  begründete  Recht  und  Gesetz  völlig 
auf  das  Machtverhältnis  zwischen  den  Individuen 2).  Wie  er  nur 
den  Einzelnen  kennen  will  und  in  allen  Zusammenfassungen 
,, höhere  Mächte",  in  Allgemeinheit,  Familie,  A^olk,  Staat,  Mensch- 
heit Spuk  und  Gespenster  sieht,  so  lehnt  er  auch  die  Partei 
ab,  weil  sie  ,, gewisse  Prinzipien  bindend  macht".  Wohl  dürfe 
der  ,, Eigene"  gelegentlich  Partei  ergreifen,  aber  nie  sich  von 
der  Partei  ergreifen  und  einnehmen  lassen,  denn  die  Partei 
verlange  ein  Glaubensbekenntnis,  der  ,, Egoist"  aber  dürfe 
keinerlei  Verpflichtungen  respektieren ^) . 

Daß  Stirners  Einziger  eine  unwirkHche  Konstruktion  war, 
daß  sie  nur  in  einem  Lande  ohne  öffentliches  Leben,  nur  in 
einem  Menschen,  dessen  Beziehungen  zur  Wirklichkeit  auf  ein 
Minimum  reduziert  blieben  ^),  entstehen  konnte,  erkannte  nie- 
mand deutlicher  als  Marx  und  Engels,  deren  Begriffswelt  sich 
in  der  bewegteren  Luft  des  französischen  und  englischen  Lebens 
rasch  aus  den  letzten  Hüllen  der  Spekulation  gelöst  hatte.  Im 
frischen  Besitz  der  Erkenntnis,  daß  die  politischen  Ideen  die 
realen  Interessen  sozialer  Klassen  in  idealistischer  Form  zum 
Ausdruck  bringen,  fühlten  sie  sich  erhaben  über  den  Berliner 
Schulmeister,  ,, dessen  Welt  von  Moabit  bis  Köpenick  geht  und 
hinter  dem  Hamburger  Tor  mit  Brettern  zugenagelt  ist"^).  Der 
vereinsamende  und  ,,auf  sein  kleines  Tun"  beschränkte  Literat, 
ohne  Kenntnis  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  der  Gesell- 
schaft, ignorierte  die  großen  sozialen  Realitäten  und  empfand. 


0  a.  a.  0.  S.  177  und  302. 

')  a.  a.  0.  S.  220  f.:  „Wer  die  Gewalt  hat,  der  hat  —  Eecht"  (S.  225). 
,,Des  Staates  Betragen  ist  Gewalttätigkeit,  und  seine  Gewalt  nennt  er 
,Recht'  .  .  ."  (S.  230). 

*)  a.  a.  0.  S.  274  ff.  und  358. 

*)  Marx-Engels,  Sankt  Max  (verf.  1845/46  unter  Mitarbeit  von  Heß). 
Zuerst  gedruckt  in  Dokum.  des  Sozialismus  Bd.  III  S.  1  ff.  Vgl.  besonders  die 
Ausführungen  in  Bd.  IV  S.  214  f.,  wo  die  „abgeschmackte  kleinbürgerliche 
deutsche  Form",  in  der  Stirner  ,,den  Widerspruch  der  persönlichen  und  all- 
gemeinen Interessen  erfaßt",  kritisiert  wird. 

')  Sankt  Max  a.  a.  0.  Bd.  IV  S.  267  f. 


90      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismns  im  vormärzl.  Preußen. 

wenn  er  Abend  für  Abend  in  einem  stillen  Keller  allein  sein  Weiß- 
bier schlürfte,  schließlich  nur  noch  die  eigene  Wirklichkeit.  Auch 
der  „Verein  der  Egoisten",  dessen  Konturen  Stirners  Werk  ver- 
schwommen zeichnet,  bedeutete  für  Marx  und  Engels  bloß  die 
Spiegelung  des  Kreises  der  ,, Freien",  dem  sie  selbst  vorübergehend 
zugehört  hatten.  Stirner  begriff  richtig,  daß  die  reale  Entwick- 
lung es  nicht  mit  losgelösten  Ideen,  sondern  mit  Menschen  zu 
tun  hat,  aber  in  seiner  ,, Besessenheit"  übersah  er,  daß  die 
persönhchen  Interessen  den  Personen  zum  Trotz  immer  wieder 
zu  gemeinschaftlichen  Interessen  zusammenfließen,  die  dem  ein- 
zelnen selbständig  gegen  übertreten  und  als  allgemeine  Inter- 
essen dem  Bewußtsein  in  idealer  Gestalt  erscheinen^).  So  spot- 
tete in  Stirner  der  Geist  seiner  selbst  und  wußte  es  nicht ! 

Bei  dem  Abstieg  der  deutschen  Lebensauffassung  vom 
Himmel  auf  die  Erde,  den  die  vorstehende  Abhandlung  schildern 
wollte,  blieb  der  philosophische  Radikalismus  der  Berliner  Jung- 
hegelianer, wie  das  Beispiel  Bauers  und  Stirners  zeigt,  zwischen 
den  Wolken  hangen  und  fand  den  Weg  nicht  auf  unsere  Erde, 
von  der  doch  immer  wieder  im  endlosen  Wechsel  die  Wünsche 
der  Menschen  wie  die  Dämpfe  des  Bodens  nach  oben  steigen. 
Aber  diese  Bestrebungen  verdienen  dennoch  einen  Platz  in 
der  Vorgeschichte  des  Parteiwesens.  Hier  spiegelt  sich  für  die 
allgemeine  Erkenntnis  mit  seltener  Klarheit,  wie  Willenskraft 
und  Inhalt  und  Form  des  Denkens  in  Tiefen  der  Seele,  die 
das  Lot  des  Historikers  nicht  erreicht,  einander  bestimmen. 
Der  Historiker  Preußens  insbesondere  erkennt,  daß  hier  der 
politische  Parteimensch  entstehen  oder  wenigstens  Selbstän- 
digkeit gewinnen  konnte  erst  nach  der  Zurückdränguug  der 
spekulativen  Philosophie  durch  die  realeren  Bedürfnisse  des 
irdischen  Menschen.  Erst  mußte  das  Gefülil  der  führenden 
Schichten  die  Überschätzung  einer  hemmungslosen  und  schein- 
bar von  den  Schlacken  der  Individualität  abgelösten  Dialektik 
überwinden  und  den  ethischen  Wert  der  Hingabe  des  Subjekts 
an  zeitliche  Aufgaben  sich  von  neuem  erobern,  bevor  der  Wille 
der  Nation  für  die  Tat  reif  werden  konnte.  Als  die  Brüder 
Bauer  und  ihr  Kreis,  nach  dem  vorläufigen  Sieg  der  Reaktion 
im  Januar  1843,  das  Denken  noch  einmal  von  den  Bedürfnissen 
des  Tages  abzulenken  trachteten,  folgten  ihnen  die  Gebildeten, 


0  Sankt  Max  in  Bd.  IV  S.  214.  Älmlich  Franz  Schmidt,  Die  deutsche 
Philosopliie  in  ihrer  Entwicklung  zum  SoziaUsmus,  in  Deutsches  Bürgerbuch 
für  1846,  herausgeg.  von  Püttmann.     Mannheim  1846. 


llayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      91 

die  unaufhaltsam  zur  politischen  Selbstbestimmung  drängten, 
nicht  mehr  auf  diesem  Wege.  Jetzt  zeigte  es  sich,  daß  die 
Deutschen  Jahrbücher  und  die  Rheinische  Zeitung  trotz  ihres 
zeitlichen  Mißerfolgs  nicht  in  den  Wind  gesät  hatten.  Denn 
die  dort  verkündeten  Gedanken  eroberten  nun  von  Jahr  zu 
Jahr  mehr  die  öffentliche  Meinung.  Freilich,  den  ,, freien  Volks- 
staat", das  Ideal  des  politischen  Radikalismus,  konnte  die 
Revolution  von  1848  noch  nicht  verwirklichen.  So  leicht  und 
schnell  weicht  das  feste  Gefüge  bestehender  Einrichtungen 
nicht  dem  aufschäumenden  Begehren  erst  entstehender  Kräfte ! 
Aber  auch  der  rücksichtslosen  Gew^alt  der  Gegenrevolution 
gelang  es  nicht  wieder,  das  preußische  Parteiwesen  auf  den 
Standpunkt  des  Vormärz  zurückzuschrauben,  wo  jede  Organi- 
sationsmöglichkeit ihm  gefehlt  hatte! 


Anhang 


Eine  unbekannte  Broschüre  Stirners  und  ein  ungedrucktes 
Programm  der  „Freien" 

I. 

Das  ,,Gegenwort" 

Vorbemerkung 

Da  die  preußischen  Zeitungen,  wie  wir  sahen,  im  Vormärz  das  Inter- 
essanteste, was  sie  erfuhren,  der  Mitwelt  nicht  offenbaren  durften,  so  war 
jeder  Politiker,  der  nicht  selbst  am  Sitz  der  Eegierung  wohnte,  aber  doch 
auf  dem  Laufenden  bleiben  wollte,  darauf  angewiesen,  von  Berliner  Gesin- 
nungsgenossen regelmäßige  briefliche  Berichte  zu  erhalten.  Für  Johann 
Jacoby,  in  dem  die  Zeitgenossen  den  geistigen  Führer  der  ostpreußischen 
Opposition  sahen,  bedeutete  sein  Landsmann,  der  Oberlandesgerichtsreferendar 
Eduard  Flottwell  in  den  Jahren  1841  und  1842  eine  besonders  wertvolle  Quelle. 
Dieser  älteste  Sohn  des  bekannten  preußischen  Staatsmanns  war  ein  begeisterter 
Liberaler.  Schon  bei  derEinschmuggelung  der  „Vier  Fragen''  in  den  preußischen 
Provinziallandtag  zu  Danzig  hatte  er  die  Hände  im  Spiel  gehabt.  Jetzt 
benutzte  er  die  Zeit,  die  er  des  Assessorexamens  wegen  in  Berlin  verbringen 
durfte,  um  das  politische  Leben  der  Hauptstadt  gründlich  kennen  zu  lernen. 
Als  Sohn  seines  Vaters  besaß  er  Fühlung  mit  dem  hohen  Beamtentum,  aber 
als  Anhänger  der  modernen  Zeitbestrebungen  suchte  und  fand  er  auch  bald 
Anschluß  bei  dem  Kreis  der  „Freien",  in  dessen  Mitte  er  sich  an  der  Mani- 
festation für  Welcker  beteiligte.    Wohl  durch  Dr.  Julius  Waldeck,  den  Vetter 


92       Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Jacobys,  lernte  er  im  Sommer  1841  Meyen  und  Eichler  kennen.  Bald  ver- 
kehrte er  auch  mit  Eutenberg,  Bruno  Bauer,  Cornelius,  Koppen,  Stimer, 
Fr.  Engels  u.  a.  Für  die  Parteigeschichte  ist  Flottwell  insofern  von  Interesse, 
als  er  der  Mittelsmann  war,  durch  den  die  Rheinische  Zeitung  mit  den  ost- 
preußischen Liberalen  in  Beziehung  trat  und  um. ihre  Mitarbeit  warb.  Für 
uns  kommt  er  an  dieser  Stelle  aber  nur  als  eine  neue  und  bisher  unbenutzte 
Quelle  der  Stirner-Forschung  in  Betracht. 

Im  Vorwort  zur  zweiten  Auflage  seiner  Biographie  Johann  Caspar  Schmidts 
äußert  John  Henry  Mackay,  der  seit  Jahrzehnten  allen  Spuren  von  Stirners 
Erdenwallen  mit  rührender  Gewissenhaftigkeit  nachgeht,  die  Überzeugung, 
daß  er  bis  zu  den  verstecktesten  Quellen  dieses  verschollenen  Lebens  vor- 
gedrungen sei  und  neue  und  überraschende  Entdeckungen  auch  von  der 
Zukimft  nicht  mehr  erwarte.  Nun  hat  der  Zufall,  dieser  beste  Freund  des 
Historikers,  mich  in  die  Lage  gebracht,  seinen  Pessimismus  widerlegen  zu 
dürfen,  und  gewiß  wird  sich  niemand  aufrichtiger  darüber  freuen,  als  der 
hingebende  Forscher  selbst !  An  der  Hand  von  Flottwells  Briefen  an  Jacoby 
ist  es  mir  gelungen,  eine  bisher  gänzlich  unbekannte  Broschüre  Stirn ers  auf- 
zufinden, das  bereits  im  Text  der  vorstehenden  Abhandlung  berücksichtigte 
„Gegen  wort". 

Flottwell  beklagte  sich  am  12.  März  1842  bei  Jacoby  über  die  Ängstlich- 
keit des  zeitweise  suspendiert  gewesenen,  nun  aber  wieder  eingesetzten 
Dr.  Abegg,  des  liberal  gesinnten  Zensors  der  Königsberger  Zeitung:  ,,Wenn 
er  nur  wenigstens  nicht  die  Aufsätze  verstümmeln  möchte,  wie  er  es 
neuerlich  mit  einem  f  Artikel  der  Königsberger  Zeitung  getan  hat^),  welcher 
zum  Schluß,  als  Pointe  des  Ganzen,  des  Gegen wortes  gedachte,  und  nun 
sich  wie  der  Rhein  spurlos  im  Sande  verläuft.  Verfasser  des  Gegenwortes 
ist  übrigens  Dr.  Schmidt,  ein  Mitglied  des  ehemals  Rutenbergschen,  jetzt 
völlig  republikanischen  Kreises  .  .  ."  Dieser  „Dr."  Schmidt  ist  natürlich  kein 
anderer  als  Stirner,  der  sich  im  Feuilleton  der  Rheinischen  Zeitung  einmal 
darüber  beschwert,  daß  man  durch  die  Promotion  zu  einem  wohlklingenderen 
Titel  gelange  als  durch  das  schwierigere  Staatsexamen^).  Wohl  aus  Geldmangel 


')  Gemeint  ist  die  Berliner  Korrespondenz  vom  3.  März  in  der  Königsb. 
Ztg.  vom  9.  März. 

')  Rhein.  Ztg.,  20.  September  1842:  Der  Doktortitel.  In  bezug  auf 
Stirn  ers  journalistische  Beiträge  für  die  Rhein.  Ztg.  und  die  Leipz.  Allg.  Ztg. 
vergleiche  man  im  Feuilleton  der  Frankf.  Zeitg.  vom  4.  Oktober  1912  meinen 
Aufsatz:  Stirner  als  Publizist.  Den  Korrespondenzen  für  die  Rhein.  Zeitg. 
ist,  soweit  sie  nicht,  was  selten  geschah,  mit  seinem  Namen  unterschrieben 
sind,  ein  Zeichen  vorgedruckt,  das  aus  der  Verschlingung  der  Buchstaben 
Mund  S  besteht  (MS  =  Max  Stirner).  Eine  genaue  Untersuchung  sämtlicher 
Berliner  Korrespondenzen  des  Blattes,  bei  denen  sich  vielfach  jetzt  der  Ver- 
fasser urkundlich  feststellen  ließ,  und  besonders  der  Inhalt  der  mit  MS  ge- 
zeichneten, lassen  nicht  den  geringsten  Zweifel,  daß  dieses  Monogramm  in  der 
Regel,  denn  einige  Versehen  oder  absichtliche  Irreführungen  liegen  vor, 
Stirners  Korrespondentenzeichen  war.  So  beschäftigt  er  sich  z.  B.  in  der 
Nummer  vom  10.  Mai  mit  dem  Verein  zur  Beförderung  der  Sonntagsruhe 
und  mit  der  traurigen  Lage  der  Schullehrer,  in  der  Nummer  vom  26.  Juli 
mit  den  Privilegien  der  akademisch  Graduierten  usw.  Was  Stirners  Bei- 
träge für  die  Leipz.  Allg.  Ztg.  betrifft,  so  verdanke  ich  deren  Nachweis  Herrn 
Dr.  Hermann  Michel  in  Leii^zig,  der  das  Kontobuch  und  das  Zeitungsexem- 
plar der  Firma  Brockhaus,  in  dem  die  Verfasser  der  Artikel  mit  Bleistift 
danebengeschrieben  sind,  einsehen  konnte.    Stirners  Beiträge  tragen  teilweise 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.       93 

hatte  er  den  Doktortitel  nicht  erworben;  aber  wie  die  meisten  Lehrer  noch 
heute,  wTirde  man  auch  damals  —  gelegentlich  selbst  von  der  Polizei  —  mit 
diesem  Titel  angeredet.  Zweifelte  ich  so  von  vornherein  nicht,  daß  Stimer 
das  ,, Gegenwort"  geschrieben  hatte,  so  wußte  ich  darimi  doch  noch  nicht, 
was  es  mit  diesem  „Gegenwort''  auf  sich  hatte.  Wo  war  es  gedruckt?  Wie 
war  es  zu  finden?  Erst  nach  langem  Forschen  entdeckte  ich  den  Titel  einer 
Broschüre,  die  dieses  Wort  enthielt,  im  Katalog  der  Friedländerschen  Samm- 
lung der  Berliner  Magistratsbibliothek.  Als  ich  sie  gelesen  hatte,  bestand 
kein  Zweifel  mehr:  ich  hatte  gefimden,  was  ich  suchte. 

Auf  die  zeitgeschichtliche  Bedeutung  des  ,, Gegenworts"  brauche  ich  hier 
nicht  noch  einmal  zurückzukommen.  Erwähnt  sei  höchstens  noch  die  Gegen- 
schrift: Ein  Wort  gegen  Wort  und  Gegenwort  in  der  Berliner  Sonn- 
tagsangelegenheit. Von  einem  prakt.  Geistlichen.  Glogau  1842,  welche  die 
„rückhaltlose  Offenheit  und  kecke  Freimütigkeit"  des  ,,Gegenworts"  anerkennt, 
aber  ,, sittlichen  Ernst  und  Gemütslauterkeit"  bei  ihm  vermißt.  Ihr  Ver- 
fasser weist  auch  darauf  hin,  daß  im  „Gegenwort"  die  Begriffsbestimmung 
des  „wahrhaft  Menschlichen"  „schwankend  und  willkürlich"  sei '). 

Da  das  ,,Wort  der  Liebe"  am  Neujahrstage  1842  verteilt,  das  „Gegen- 
wort" aber  bereits  am  3.  Februar  polizeilich  verboten  wurde,  so  besteht  kein 
Zweifel,  daß  es  im  Laufe  des  Januar,  wahrscheinlich  in  der  ersten  Hälfte  des 
Monats,  entstanden  ist.  Nächst  der  in  dem  gleichen  Januar  gedruckten  Be- 
sjsrechung  von  Bruno  Bauers  schon  im  November  erschienenen  „Posaune  des 
jüngsten  Gerichts"  in  Gutzkows  Telegraph  stellt  die  Broschüre  also  die  fi-üheste 
bisher  bekannt  gewordene  Veröffentlichung  des  Verfassers  dar.  Für  die  Bem-- 
teilung  von  Stirners  geistigem  Entwicklungsgang  ist  dieses  ., Gegenwort"  von 
der  höchsten  Bedeutung.  Wir  finden  ihn  hier  deutlicher  als  irgendwo  sonst  unter 
dem  Einfluß  Feuerbachs,  aber  doch  bereits  in  einem  Prozeß,  der  von  dessen 
Humanismus  zu  dem  konsequenten  Egoismus  des  „Einzigen"  hinüberführt. 
Auch  in  seiner  Besprechung  der  „Posaune"  las  er  schon  aus  Hegel  die 
Lehi-e  heraus:  „daß  niemand  außer  und  über  sich  das  Heil  zu  suchen  habe, 
sondern  sein  eigner  Heiland  und  Erretter  sei"  und  bekämpfte  den  „be- 
wegungslosen Gott"  der  Orthodoxie  und  Schleiermachers:  ihn  will  er  „zur 
Leiche  machen".  Sonst  steht  dem  ,, Gegenwort"  zeitlich  und  inhaltlich  am 
nächsten  die  vier  Monate  später  in  der  Eheinischen  Zeitung  veröffentlichte 
Artikelfolge:  „Das  unwahre  Prinzip  unserer  Erziehimg  oder  der  Humanismus 
und  der  Realismus"^). 


das  Vermerk  „Schmidt-Friese",  teilweise  „Gymnasiallehrer  Schmidt".  Daß 
beides  die  gleiche  Person  gewesen  sein  muß,  ergibt  sich  daraus,  daß  die  Konti 
ineinander  übergehen.  Ob  Friese  ein  Strohmann  oder  ein  Mittelsmann  war, 
weiß  ich  nicht.  Stirners  Honorar  betrug  im  ganzen  55  Thaler  22V2  Neu- 
groschen. Sein  Korrespondentenzeichen  war  hier  am  häufigsten  ein  kleiner 
Kreis.  Neben  dem  urkundlichen  Beweis  liegen  auch  inhaltliche  für  seine 
Verfasserschaft  vor,  wie  mein  Aufsatz  in  der  Frankf.  Ztg.  nachweist.  Sach- 
lich am  bedeutendsten  sind  von  den  größeren  Aufsätzen:  „Die  Freien"  in 
Beilage  vom  14.  Juli  und  „Die  Lebenslustigen"  in  Beilage  vom  5.  Nov.  1842. 

^)  Die  Vereinsagitation  für  die  Sonntagsfeier  lehnt  dieser  Geistliche 
übrigens  ebenso  ab  wie  sein  Kollege  H.  W.  A.  Schnur  in  Mühlhausen  in  seiner 
Schrift:  Die  Sonntagsfeier.    Ein  Wort  an  seine  Zeitgenossen.    Königsberg  1843. 

^)  Abgedruckt  in  Stirners  kleineren  Schriften,  herausgeg.  von  Mackay. 
Berlin  1898. 


94      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Bei  dem  Zweck,  dem  das  Gegenwort  dienen  sollte,  wäre  es  nicht  an- 
gebracht gewesen,  wenn  der  Verfasser  sich  hier  offen  als  Atheisten  und  Anti- 
christen ausgegeben  hätte.  Wie  jemand,  der  die  Fäden  eines  Knäuels  aus- 
einanderwirrt, aber  sorgfältig  bemüht  ist,  sie  nicht  zu  durchschneiden,  sagte  er 
deshalb  hier :  „Gott  ist  mein  bestes  Teil,  mein  innerstes  Wesen,  mein  besseres 
oder  vielmehr  bestes  und  wahres  Selbst.  Gott  ist  der  Mensch,  das  ist  die 
Lehre  Christi."  Aber  er  gibt  dem  „Selbstgenügen  des  freien  Menschen"  noch 
deutlicheren  Ausdruck:  Wie  sollen  wir  uns  mit  einem  Gott  begnügen,  der 
nicht  unser  eigenes  selbst  ist?  Könnte  man  mit  ihm  jemals  eins  werden? 
Nur  mit  uns  selbst  können  wir  eins  und  einig  werden,  nicht  mit  einem  andern. 
Deshalb  „schleudert  die  Demut  von  Euch ,  die  einen  Herrn  braucht,  und 
seid  Ihr  selbst" ').  Noch  eine  Hülle  mehr  löst  der  Verfasser  von  seinen 
innersten  Gedanken,  deren  er  sich  selbst  kaum  erst  bewußt  ist.  Wo  er  den 
Geistlichen  offen  zugibt,  daß  mit  der  Gottesfurcht  auch  die  Ehrfurcht  vergeht, 
beklagt  er  dies  nicht,  sondern  läßt  durchblicken,  daß  er  die  Selbstsucht 
höher  werte  als  Zucht  und  Sitte.  Er  beneidet  die  auf  den  Bibelbuchstaben 
vereidigten  „Diener  am  göttlichen  Worte",  weil  sie  die  Erlaubnis  haben,  auf 
das  enge  Verhältnis  von  Ehrfurcht  und  Gottesfurcht  hinzuweisen :  „wir  aber, 
die  wir  reden  möchten,  wie's  uns  ums  Herz  ist  und  wie's  allen  ums 
Herz  sein  sollte",  haben  „nur  das  Gebot  —  zu  schweigen". 

Al)er  man  hüte  sich,  diese  eine  Andeutung  zu  sehr  auszunutzen.  Noch 
ist  Stirner  sich  über  den  Amoralismus  oder  Antimoralismus,  bei  dem  er  landen 
wird,  nicht  klar  geworden.  Noch  ist  ihm  das  rein  Menschliche,  wie  Feuer- 
bach es  gefaßt  hatte,  wirklich  und  allein  das  wahrhaft  Göttliche,  noch  sind 
für  ihn  Sittlichkeit  und  Vernünftigkeit  die  Forderungen  der  Zeit,  noch 
nennt  er  es  die  Aufgabe  der  freien  Geistes,  zu  forschen  „in  den  Tiefen  der 
Gottheit",  noch  erklärt  er  dem  Gedanken  Saint  Simons  von  einem  neuen 
Christentum  der  befreiten  Menschheit  nicht  förmlich  den  Krieg! 

Tiefer  als  früher  überschauen  wir  künftig  den  inneren  Entwicklungsgang 
Stirners.  Bevor  der  Glaube  an  die  Menschheit  und  ihre  Mission  sich  ihm 
als  ein  bloßer  „Herrenwechsel"  im  Götterkultus  enthüllte,  war  er  selbst  in 
diesem  Bann  befangen,  bevor  er  sich  gegen  die  Herrschaft  des  Geistes  als 
der  vollendetsten  Form  der  Eeligion  aufbäumte,  befand  er  sich  unter  ihren 
Gläubigen.  Diese  letzten  Symbole  hat  er  nicht  gestürzt,  bevor  er  mit  heißem 
Bemühen  sie  in  seine  Sprache  zu  übersetzen,  sie  in  seinem  Geiste  aus- 
zulegen versucht  hatte. 

Die  beachtenswerteste  zeitgenössische  Äußerung,  die  ich  über  das 
„Gegenwort"  kenne,  stammt  von  Stirners  nächstem  Freunde,  von  Ludwig 
Buhl.  Dessen  einige  Wochen  nach  dem  „Gegenwort"  ebenfalls  anonym 
veröffentlichte  und  ebenfalls  gleich  beschlagnahmte  Broschüre  „Die  Not  der 
Kirche  und  die  christliche  Sonntagsfeier.  Ein  Wort  des  Ernstes  an  die 
Frivolität  der  Zeit"  legt  mit  scheinheiligem  Unwllen  dem  „Gegen wort"  unter, 
daß  es  hinter  den  Angriffen  auf  die  Eeligion  „politische  Umwälzungssucht", 
hinter  den  Worten  ..Knechte  und  Freie"  die  politischen  Schlagwörter 
„sozial  und  liberal"  verberge:  „Wenn  sie  nur  erst  Gott  gestürzt  haben, 
denken  sie  mit  seinen  Stellvertretern  auf  Erden  auch  wohl  schon  fertig  zu 
werden."  Aber  dieser  Gedanke,  der  selljstredend  auch  Stirner  nahe  lag,  ent- 
entsprach doch  noch  mehr  dem  Denken  Buhls,   der  damals  voll  Eührigkeit 


0  Auch  in  dem  gleichzeitigen  Aufsatz  im  „Telegraph"  will  er  „alle 
und  jede  Furcht"  ausrotten,  „die  Ehrfurcht  selber  und  die  Gottesfurcht". 


Mayer,  Die  Anfänjje  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      95 

an  dem  ersten  großen  Feldzug  des  preußischen  Liberalismus  teilnahm  und 
auch  später  ein  spezifisch  politischer  Publizist  blieb.  Für  Stirner  lag  sicher- 
lich in  dem  Kampf  gegen  die  Religion  mehr  Selbstzweck,  als  Buhl  annahm, 
Wohl  schrieb  auch  er  für  die  Erkämpfung  der  Preßfreiheit;  doch  wurde  er 
selbst  in  diesem  Jahr  der  liberalen  Hoffnungen  nicht  in  dem  Maße  Politiker, 
daß  seine  Ideale  sich  auf  diese  Sphäre  beschränkten.  Dem  „Schrankenhasser", 
als  den  Engels  ihn  im  „Triumph  des  Griaubens"  porträtiert,  war  die  theo- 
retische Absetzung  jeder  Autorität  wesentlicher  als  der  praktische  Erfolg 
der  liberalen  Opposition. 

Auf  die  Gedankenwege,  die  von  Feuerbach  zu  dem  „Einzigen  und  sein 
Eigentum"  führen,  wirft  auch  Buhls  bisher  ebenfalls  kaum  beachtete  „Not 
der  Kirche"  neues  Licht.  Er  beruft  sich  hier  ausdrücklich  auf  das  Wort  des 
„Himmelsstürmers"  Feuerbach:  „So  weit  Dein  Wesen  reicht.  Dein  unbe- 
schränktes Selbstgefühl,  so  w^eit  bist  Du  Gott."  Dieser  „Ich-Gott"  sei  freilich 
ein  Gott,  der  mit  sich  reden  lassen  werde.  Sollte  aber  trotzdem  zuweilen 
das  Gewissen  noch  mahnen,  „so  setzen  wir  auch  ihn  ab  und  leben  wie  die 
Tiere  des  Waldes". 

Sind  das  vielleicht  im  Gespräch  aufgefangene  Stirnersche  Gedanken? 
Möglich  wäre  es !  Am  Schluß  einer  kürzlich  erschienenen  ernsthaften  kleinen 
Schrift')  über  Stirners  „historisches  Denken"  vermißt  der  Verfasser  in  der 
vorhandenen  Literatur  jede  Vorarbeit  für  die  Beantwortung  der  Frage  nach 
dem  Verhältnis  des  „Einzigen"  zu  den  anderen  Denkern  der  Hegeischen 
Linken.  Unter  dem  Gesichtspunkt  der  politischen  Entwicklung  glaube 
ich  in  der  vorstehenden  Abhandlung  ühev  den  Radikalismus  dieses  Problem  ge- 
fördert zu  haben.  Für  die  Zukunft  erleichtert  dem  Historiker  der  Philosophie 
die  Wiederauffindung  von  Stirners  frühester  selbständiger  Schrift,  deren  Ab- 
druck hier  folgt,  die  Lösung  der  Aufgabe,  das  geistige  Eigentum  der  führenden 
Berliner  Junghegelianer  deutlicher  als  es  bisher  möglich  war  abzugrenzen. 
Das  sich  überstürzende  Tempo,  in  dem  die  Selbstauflösvmg  der  spekulativen 
Philosophie  sich  schließlich  vollzog,  auch  der  enge  persönliche  Verkehr  der 
wichtigsten  Vertreter,  den  man  als  eine  ständige  gegenseitige  Beeinflussung 
auslegen  kann,  macht  diese  Arbeit  zu  einer  ungemein  schwierigen.  Eines 
ihrer  Ergebnisse  läßt  sich  mit  Sicherheit  voraussehen:  es  wird  sich  dann 
endgültig  herausstellen,  wie  innig  Stirners  Gedankengänge  mit  denen  Bruno 
Bauers,  Köppens,  Buhls,  Edgar  Bauers  usw.  zusammenhängen,  und  wie  längst 
nicht  alles  von  ihrem  Inhalt  Eigentum  des  „Einzigen"  ist.  Aber  den  Ruhm 
des  bedeutendsten  Schriftstellers  des  Ki-eises  wird  ihm  niemand  streitig 
machen.  Vielleicht  verdient  in  dieser  Hinsicht  unter  seinen  Schriften  die 
Palme  gerade  diese  frühe  Arbeit,  die  hier  ans  Licht  tritt.  Mir  scheint,  daß 
man  sie  getrost  unter  die  klassischen  Kampfschriften  der  deutschen  Literatur 
einreihen  darf. 


^)  Horst  Engert,  Das  historische  Denken  Max  Stirn ers,    Leipzig  191L 


96      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vonnärzl.  Preußen. 

Gegenwort 

eines 

Mitgliedes  der  Berliner  Gemeinde 

wider  die  Schrift 

der  sieben  und  fünfzig  Berliner  Geistlichen : 

Die  christliche  Sonntagsfeier, 

Ein  Wort  der  Liebe  an  unsere  Gemeinen. 

Leipzig,  1842. 

Eobert  Binder. 

Liebe  Brüder  und  Schwestern! 

Es  ist  ein  Wort  der  Liebe  an  uns  gerichtet  worden,  dem  wir  unsere 
Ohren  nicht  verschließen  dürfen.  Am  ersten  Tage  dieses  Jahres  wurde  den 
Kirchengängern  Berlins  ein  Schriftchen  im  Gotteshause  überreicht,  das  den 
Titel  führt:  ,,Die  christliche  Sonntagsfeier.  Ein  Wort  der  Liebe  an  unsere 
Gemeinen",  und  das  uns  alle  gar  nahe  angeht.  Fassen  wir  den  Inhalt  des- 
selben bevor  wir  ihn  später  im  einzelnen  beherzigen,  in  die  wenigen  bezeich- 
nenden Worte  der  zweiten  Seite  zusammen:  „Da  es  unleugbar  ist,  daß  sich 
der  Verfall  der  Kirche  äußerlich  am  stärksten  offenbart  durch  die  Entweihung 
der  kirchlichen  Feiertage,  und  daß  die  Glieder  anderer  Eeligionsgemeinschaften 
an  der  Art,  wie  diese  Tage  unter  uns  begangen  werden,  den  größten  Anstoß 
nehmen  usw.,  so  bieten  wir  unsern  Gemeinen  zunächst  die  folgende  Schrift 
„über  die  christliche  Sonntagsfeier"  dar,  nicht  meinend,  daß  diese  Angelegen- 
heit die  höchste  sei  im  Wesen  der  christlichen  Frömmigkeit,  sondern  weil 
wir  glauben,  daß  für  das  Höchste,  nämlich  die  christliche  Wahrheit  und  Liebe, 
eine  größere  Empfänglichkeit  und  eine  erweiterte  Tätigkeit  ward  gewonnen 
sein,  wenn  die  heiligen  Tage  ihrer  ursprünglichen  Bestimmung,  nämlich  der 
Euhe  von  der  Arbeit,  der  ernsten  Einkehr  in  sich  selbst,  der  Aufmerksamkeit 
auf  das  göttliche  Wort  wiedergegeben  werden."  So  werden  wir  von  sieben 
und  fünfzig  unserer  evangelischen  Geistlichen,  deren  Namen  am  Schlüsse 
unterzeichnet  sind,  unverhohlen  mit  dem  ,, Verfall  der  Kirche"  bekannt  ge- 
macht und  eines  unkirchlichen  Sinnes  vmd  Treibens  angeklagt.  Wer  es  bis  jetzt 
noch  nicht  hat  glauben  wollen,  daß  der  Andächtigen  immer  weniger  werden 
und  die  christlichen  Kirchen  immer  leerer,  der  erfährt  die  unwiderlegliche 
Tatsache  nun  von  deneü,  welche  ohne  Zweifel  die  beste  Auskunft  darüber  zu 
geben  vermögen.  Sie  rufen  uns  zurück  in  die  verlassenen  Sitze,  mit  väter- 
licher Freundlichkeit  die  ungeratenen  Kinder  wieder  zu  sich  winkend;  wir 
aber  haben  die  gebannten  Eäume  der  Kirche  und  die  Grenzen  andächtigen 
Glaubens  unbewußt  überschritten  und  werden  erst  jetzt  durch  den  mahnenden 
Zuruf  unserer  unwillkürlichen  Flucht  gewahr.  Laßt  uns  denn  unseres  jetzigen 
Zustandes  recht  inne  werden  und  das  inhaltsschwere  Wort,  daß  ,,der  Verfall 
der  Kirche  sich  offenbare",  nach  allen  Seiten  gründlich  erwägen,  ohne  vor 
seinem  Eingeständnisse  zurückzubeben.  Es  nützet  uns  nichts  so  sehr,  als 
Offenheit  gegen  uns  selbst,  und  schadet  uns  nichts  mehr,  als  wenn  wir  aus 
Angst  eine  unbestreitbare  Tatsache  vor  uns  selbst  verbergen  und  von  dem 
nichts  wissen  wollen,  was  wir  doch  nicht  ableugnen  oder  ändern  können. 
Sammelt,  Ihr  Lieben,  dazu  Euern  Geist  und  vor  allem  Euern  Mut! 

Die  uns  zur  Umkehr  ermuntern,   die  erinnern  uns  erst  daran,  daß  wir 
wirklich  schon  über  die  alte  Heimat  hinaus  und  in  der  Fremde  sind.     Dank 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      97 

ihnen,  daß  sie  uns  über  unsern  Fortschritt,  an  dessen  Wirklichkeit  zu  glauben 
wir  uns  noch  nicht  einmal  getrauten,  gründlich  belehren.  Sie  rufen  uns  zu: 
Ihr  seid  nicht  mehr  kirchlich  gesinnt!  Wenn  wir  es  denn  nicht  mehr  sind 
(und  lassen  wir  uns  nicht  durch  Heuchelei  und  verzagte  Ängstlichkeit  be- 
stimmen, so  können  wir  uns  gar  nicht  mehr  darüber  täuschen,  daß  jene 
Beschuldigung  uns  in  gewisser  Beziehung  vollkommen  trifft),  so  fragen  wir 
uns  unwillkürlich  selbst:  Was  bist  du  nun  denn?  Und  bist  du  darum 
schlechter,  weil  du  nicht  mehr  nach  alter  Art  kirchlich  bist? 

Nun  ja,  der  Vorwurf,  in  einer  empfänglichen  Stunde  auf  unser  Gewissen 
geschleudert,  hat  wohl  die  Macht,  uns  augenblicklich  in  Schrecken  zu  setzen 
und  eine  Reue  zu  erzeugen,  die  für  einige  Zeit  den  guten  Vorsatz,  künftig 
die  Kirche  gewissenhaft  zu  besuchen,  hervon-uft.  Aber  wie  lange  dauert's, 
so  sind  wir  wieder  die  alten  Sünder.  So  treibt  ims  denn  die  Reue  zur  Buße, 
und  die  Langeweile  der  Buße  wieder  zur  Sünde.  Beklagenswertes  Los  derer, 
die,  mit  ihrem  eignen  Tun,  obgleich  sie  darin  nur  dem  Zuge  der  Zeit  folgen, 
unzufrieden,  sich  doch  nicht  zu  bessern  vermögen.  Sie  haben  die  Kraft  nicht, 
gegen  den  Strom  der  Zeit  zu  schwimmen,  und  haben  den  Mut  und  Freiheitssinn 
nicht,  sich  und  ihr  ruhiges  Gewissen  von  seinen  Fluten  tragen  zu  lassen.  Sie 
möchten  gerne  fromme  Christen  sein,  wenn  es  noch  an  der  Zeit  wäre,  und 
möchten  auch  gerne  mit  der  Zeit  gehen  und  mit  ihrer  augenscheinlichen 
Gleichgültigkeit  gegen  das  Christentum  oder  vielleicht  auch  nur  wider  ge- 
wisse Äußerlichkeiten  desselben,  wenn  nur  der  alte  Glaube  und  die  alte 
Furcht  nicht  wäre.  So  aber  schweben  sie  zwischen  Himmel  und  Erde,  zu 
schwer,  um  zu  steigen,  und  zu  leicht,  um  zu  sinken:  ein  verzweifelter  Zu- 
stand. Auf  den  Gewinn  solcher  Seelen  ziehen  denn  die  Seelsorger  aus,  und 
sie  werden  deren  viele  einfangen.     Aber  auch  wir  müssen  retten. 

Siehe  dort,  ein  kältezitternd  Reh 

Flüchtet  vor  den  Wölfen  durch  den  Schnee! 

Laß  es  ein,  damit  es  kann  erwarmen! 

Was  in  aller  Welt  macht  uns  denn  so  kalt  und  gleichgültig,  was  fehlt 
uns  denn?  Eine  Begeisterung  fehlt  uns,  die  den  ganzen  Menschen  dm-ch- 
glüht,  die  alle  Zweifel  des  Gedankens  und  alle  Verfühnmgen  der  Sinne  in 
ihrer  reinen  Flamme  aufzehrt,  die  den  Tod  zur  Auferstehung  erklärt!  Nach 
einer  solchen  Begeisterung  sehnen  wir  uns ! 

Weiß  man  Euch  etwa  für  die  Kirche  so  zu  begeistern?  Regt  die 
Predigt  Eurer  Geistlichen  den  Enthusiasmus  in  Euch  auf,  der  freudig  auf 
die  Wahlstatt  des  Todes  zieht,  predigen  sie  Euch  ein  neues  Evangelium, 
womit  einst  Luther  die  offnen  Gemüter  hinriß  und  die  schlafsüchtige  Welt 
aus  ihrer  Ermattung  aufrüttelte?  Oder  bedarf  etwa  Euer  Gemüt  keiner  neuen 
Offenbarung  der  Wahrheit?  Seid  Ihr,  um  nur  an  Eines  zu  erinnern,  noch 
immer  zufi-ieden  mit  jener  fatalistischen  Hingebung,  die  lieber  schweigsam 
leidet,  als  sich  Recht  zu  verschaffen  nur  versucht,  und  wird  das  Recht  noch 
immer  nicht  höher  von  Euch  geachtet?  Wollt  Ihr  noch  immer  nur  gehorsam 
sein  auf  Erden  und  frei  erst  im  Himmel?  Redet  Euch  das  doch  nicht  ein; 
Ihr  handelt  vernünftiger  als  Ihr  glaubt.  Nur  bleibt  Ihr  Euch  in  Eurem 
Handeln  nicht  beständig  gleich,  eben  weil  Ihr  vom  alten  Glauben  und  seiner 
Angst  noch  vielfältig  berückt  werdet.  Sonst  aber  pflegt  Ihr  keine  Gewalt 
zu  leiden,  außer  da,  wo  Ihr  Euch  fürchtet  Euer  Recht  zu  behaupten ;  leider 
aber  fürchtet  Ihr  Euch  gar  oft  und  fallet  von  Eurem  Rechte  und  damit  von 
Gott  ab,  bloß  weil  Ihr  es  buchstäblich  nehmet,  daß  man  die  andere  Backe 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  7 


98      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Kadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

hinhalten  solle,  nachdem  die  eine  geschlagen  worden.  Gut  das,  wenn  Ihr 
Eure  persönliche  Kränkung  verzeiht ;  Ihr  veräußert  aber  auch  aus  demselben 
Grundsatze  Eure  unveräußerlichen  Eechte  und  lasset  Euch  behandeln  wie 
Kinder,  wo  Ihr  das  unvertilgbare  Recht  der  Männer  zu  verwahren  hättet, 
laßt  Euch  bevormunden,  wo  es  entehrendes  Unrecht  ist,  nicht  einen  eigenen 
Mund  und  eigene  Rede  zu  führen,  seid  kriechend,  wo  Ihr  Eurem  Manne 
stehen  solltet,  seid  Maschinen,  wo  Ihr  Geister  sein  solltet,  die  sich  und  andere 
befreien. 

Seid  Ihr  aber  überhaupt  noch  so  gleichgültig  gegen  das  Reich  dieser 
Welt  und  nur  sehnsüchtig  nach  dem  Himmel,  wie  Eure  Seelsorger  Euch  gerne 
sehen  möchten?  Seid  Ihr  unempfindlich  gegen  die  Dinge  der  Erde,  um  im 
Himmel  desto  mehr  zu  haben?  Wollt  Ihr  von  Em-en  Predigern  nur  hören, 
was  Ihr  hier  alles  aufgeben  sollt,  um  dort  die  Fülle  zu  empfangen;  wie  Ihr 
Euch  kasteien  sollt  und  den  Erdenfreuden  entsagen,  um  im  Himmel  zu  Gnaden 
angenommen  zu  werden?  Seid  Ihr  mit  Einem  Worte  nur  zukünftige  Bürger 
des  Himmels  und  keine  Bürger  der  Erde?  Wenn  Ihr  aber  auch  das  letztere 
seid,  wollt  Ihr  dann  nicht  Belehrung  darüber  erhalten,  was  dem  Erdenbürger 
gezieme?  Steht  ihm  etwa  nur  die  geduldige  Sanftmut  gut  an,  oder  soll  er 
auch  ein  Mensch  sein,  der  sich  selbst  fühlt  und  nicht  gegängelt  sein  will, 
wenn  er  seinen  Weg  allein  zu  verfolgen  weiß?  — 

Laßt  die  Lehrer,  die  man  Prediger  nennt.  Euch  sagen  dürfen,  was  des 
Menschen  Wert  ausmacht,  ohne  daß  sie  sich  gebunden  sehen,  nur  in  alther- 
gebrachter Weise  Euch  vorzutragen,  was  den  Christen  ziert,  und  Ihr  werdet 
ihre  Kirchen  mit  Eifer  und  Fi'eude  besuchen.  Der  Grundsatz  der  Lelir- 
freiheit  sei  ausgesprochen,  und  jeder  freie  Lehrer  wird  willige  und  un- 
ermüdliche Zuhörer  in  Menge  um  sich  versammeln !  Seid  Ihr  nicht  Menschen, 
ehe  Ihr  Christen  seid,  und  bleibt  Ihr  nicht  Menschen,  auch  nachdem  Ihr 
Christen  geworden?  Warum  wollt  Ihr  denn  bloß  wissen,  worin  des  Christen 
Bestimmung  und  Beruf  bestehe,  warum  nicht  vor  allem  erfahren,  was  des 
Menschen  würdig  ist?  Weil  Hir  meint,  wenn  Ihr  nur  Christen  seiet,  so  seiet 
Ihr  wahrhafte  Menschen !  Ich  will  Euch  das  zugeben,  daß  Ihr  den  wahr- 
haften Christen  für  so  gleichbedeutend  ansehen  möget  mit  dem  wahrhaften 
Menschen.  Auch  so  bleibt  es  Eure  einzige  Aufgabe,  nach  dem  wahrhaft 
Menschlichen  zu  fragen.  Wie  aber,  wenn  nun  einmal  das  Christliche,  wenig- 
stens so  wie  es  zurzeit  verstanden  und  als  Lehre  geboten  wird,  nicht  mit 
dem  rein  Menschlichen  in  Eins  zusammenfällt?  Inwieweit  dies  gegenwärtig 
der  Fall  ist,  darüber  muß  ich  ja  auch  schweigen,  da  ich  der  Lehrfi-eiheit 
nicht  genieße.  Aber  ich  will  Euch  auf  Luther  verweisen.  Was  zu  seiner 
Zeit  für  christlich  galt,  das  war  unmenschlich  und  schlecht.  Nahm  er  sich 
nicht  die  Lehrfreiheit,  die  verbotene,  dies  Christliche  in  seiner  Erbärmlichkeit 
aufzuzeigen?  Er  stellte  sich  und  der  Welt  die  Frage,  was  denn  das  rein 
Christliche  sei?  Ungehemmt  forschte  er  darnach,  und  weil  er  das  Biblische 
dafür  erkannte,  so  predigte  er's  ohne  Scheu.  Wie  denn  nun,  wenn  drei  Jahr- 
hunderte rastloser  Forschung  in  den  Tiefen  der  Gottheit  uns  darüber  auf- 
geklärt hätten,  es  sei  auch,  was  so  Biblisch  heißt,  noch  nicht  das  Wahrhafte? 
Sollen  wir  dabei  beharren,  auch  wenn  das  Menschliche  darunter  litte?  Sollen 
wir  uns  aufs  Christliche  verpflichten,  selbst  mit  Aufopferung  des  Menschlichen? 
Sollen  wir  um  jeden  Preis  und  namentlich  um  diesen  Preis  Christen  sein 
wollen?  „Der  wahre  Christ,  das  ist  der  wahre  Mensch!"  Wohl  denn,  so 
lehret  uns,  was  des  wahren  Menschen  ist,  so  lernen  wir  wahre  Christen  sein. 
Wir  wollen  vom  Christlichen  nichts  wissen,   wenn  es  nicht  das  Menschliche 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      99 

ist.  Lehret  uns  die  Religion  der  Menschlichkeit!  Müssen  aber,  diese  Frage 
entsteht  uns  hierbei  sogleich,  müssen  die  Prediger  dieser  erhabensten  Religion, 
gleich  den  heutigen  Predigern  der  christlichen  Konfessionen,  verpflichtet 
werden  auf  ein  Symbol?  Müssen  sie  in  eine  Vorschrift  eingezwängt  werden 
Was  hätten  wir  da  gewonnen,  wenn  uns  auch  diese  Religion  um  den  freien 
Lehrer  betröge?  Nein,  das  Menschliche  ist  nicht  Das,  was  Andere  erkannt 
haben  und  ich  ihnen  glauben  soll,  sondern  Das,  was  ich  mit  ganzer  Seele 
erfasse  und  mein  eigen  nenne.  Ich  bin  kein  ganzer,  kein  voller  Mensch, 
wenn  ich  andern  nur  glaube,  was  sie  mir  von  meinem  eigenen  innersten 
Wesen,  von  meinem  Berufe  und  von  dem  Gotte,  der  in  mir  selbst  wohnt, 
erzählen  und  versichern;  ich  bin  es  nur,  wenn  ich  es  selbst  erkenne,  wenn 
ich  davon  durchdrungen  und  überzeugt  bin.  Lasset  nun  den  Lehrer  mir 
gegenüber  stehen  und  seine  gewichtigen  Worte  an  mich  richten;  ich  werde 
ihnen  folgen  und,  soweit  sie  mich  überzeugen,  sie  zu  meinem  Eigentum 
machen.  Soweit  sie  mich  aber  nicht  überzeugen,  werden  sie  mir  auch  nicht 
ein  Glaubensartikel  sein.  Ich  werde  mich  von  nichts  abhängig  machen,  was 
ich  nicht  selbst  bin  oder  wovon  ich  nicht  bis  ins  Innerste  durchdrungen 
bin.  Ist  nun  der  Prediger  gehalten,  mir  Glaubensartikel  einzuprägen,  oder 
ist  es  sein  Beruf,  mich  zu  überzeugen,  mich  über  mich  selbst,  über  den  Geist, 
der  in  mir  wohnet  und  göttlichen  Ursprunges  ist,  dessen  ich  mir  nur  bewußt 
zu  werden  brauche,  zu  belehren?  Jener  ist  der  Pfaffe,  der  gebieterisch 
meinen  Glauben  verlangt,  dieser  der  Mitbruder  und  Mensch,  der  mich  nur 
zu  mir  selbst  führt,  dessen  gewiß,  daß  ich  nie  wieder  von  mir  selbst  lassen 
werde,  wenn  ich  mich  einmal  gewonnen  und  inne  habe.  Nur  der  ist  mensch- 
lich, der  ganz  in  sich  selbst  ist,  und  der  wahre  Mensch  wird  dem  ewigen 
Geiste,  wird  Gott  selbst  ähnlich  zu  werden  stets  trachten:  Gott  ist  ja  mein 
bestes  Teil,  mein  innerstes  Wesen,  mein  besseres  oder  vielmehr  bestes  und 
wahres  Selbst.  Gott  ist  der  Mensch,  das  ist  die  Lehi-e  Christi;  wer  sich  selbst 
ganz  besitzt,  wer  in  das  Heiligtum  seines  eigenen  Wesens  eingedrungen,  wer 
bei  sich  ist,  der  ist  beim  Vater.  So  lehrt  uns  Christus,  daß  wir  Christen 
sein  sollen,  und  das  ist  seine  wahre  Wiederkunft,  wenn  in  den  Christen 
Christus  lebendig  worden  ist;  dann  erscheint  der  Christus  wieder  auf  Erden. 
Meint  Ihr,  das  sei  gotteslästerlich?  0  nein;  der  Gott,  den  uns  Christi 
Prophetenwort  verkündet,  der  wiedergekommene  Christus,  wird  damit  ge- 
feiert. Lasset  Euch  durch  Eure  Lehrer  zu  Euch  selbst  führen  und  ent- 
wöhnet sie  der  abgebrauchten  Redensart,  als  ob  sie  Euch  zu  Gott  führen 
wollten,  und  Ihr  werdet  sie  mit  Liebe  hören.  Allerdings  führen  sie  Euch 
zu  Gott,  wenn  sie  Euch  zu  Euch  selbst  führen,  und  der  Ausdi-uck  ist  nicht 
falsch;  aber  welcher  Mißbrauch  wird  damit  getrieben,  und  wie  werden  die 
Gläubigen  irre  geführt!  Gott  ist,  so  lehren  sie,  außer  Euch,  eine  andere 
Person,  Ihr  vermöchtet  ihm  nicht  in  Euch  einen  Tempel  zu  errichten.  Es 
wäre  ein  andres,  wenn  Ikr  Euch  am  besten  dientet  und  wenn  ihm,  einem 
fremden  Herrn :  ihm  wolltet  Ihr  gefallen.  Aus  Knechten  seid  Ihr  zu  Kindern 
worden,  aber  freie  und  mündige  Menschen  seid  Ihr  nicht.  Den  fin- 
stem  Herrn  habt  Ihr  nur  mit  dem  frevmdlichen  Vater  vertauscht,  aber  Geister, 
die  sich  selbst  aus  freiem  Antriebe  zu  Dienern  Gottes  machen,  das  seid  Ihr 
nicht.  „Ihr  sollt  aber  vollkommen  sein,  gleich  wie  Euer  Vater  im  Himmel 
vollkommen  ist." 

Ihr  meint  immer  noch  eine  Religion  haben  zu  müssen  neben  Euren 
sonstigen  Überzeugungen.  Erkennet  Euch,  so  erkennt  Ihr  Gott  und  die  Welt, 
liebet  Euch,    so  liebet  Ihr  alle,   suchet  Euch,   so  sucht  Ihr  Gott,    habt  Euch, 


100      Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

so  habt  Ihr  alles,  trachtet  im  hohem  Sinne  zuerst  nach  Euch,  so  fällt  Euch 
alles  andere  zu.  Nichts  ist  Euch  so  verborgen,  als  Ihr  Euch  selbst;  nichts 
kann  Euch  aber  auch  so  offenbar  werden,  als  Euer  Selbst:  und  auch  darin 
offenbart  sich  Gott  Eurem  suchenden  Geiste. 

Und  forschet  nur  in  Euch  nach,  ob  Ihr  wirklich  damit  zufrieden  seid, 
wenn  Ihr  von  Euren  Predigern  stets  an  Gott  gewiesen  werdet,  an  den  Gott, 
der  nicht  Euer  eigenes  Selbst  ist.  Könnt  Ihr  mit  ihm  jemals  eins  werden? 
Nur  mit  Euch  könnt  Ihr  eins  und  einig  werden,  nicht  mit  einem  andern, 
der  Euch  immer,  auch  in  der  innigsten  Verbindung  noch  fremd  bleiben  muß, 
ein  Herr  und  Vater  in  unnahbarer  Majestät.  Schleudert  die  Demut  von  Euch, 
die  einen  Herrn  braucht,  und  seid  Ihr  selbst.  Gesteht  es  Euch  selbst,  daß 
Ihr  das  wollt,  habt  niu'  den  Mut,  es  Euch  nicht  länger  zu  verhehlen,  fürchtet 
Euch  nur  nicht,  zu  denken,  was  Ihr  unbewußt  doch  tut;  denn  Ihr  seid  längst 
nicht  mehr  gottesfürchtig  nach  alter  Art,  und  Eure  Geistlichen  sagen  es  Euch, 
daß  Ihr  den  kirchlichen  Sinn  verloren  habt.  Ihr  schlendert  noch  so  in  der 
alten  Gewohnheit  hin  und  meint  gute  Christen  zu  sein;  nehmt  aber  das  Wort 
Eurer  Geistlichen  Euch  zu  Herzen  und  lasset  es  nicht  ungehört  und  unbe- 
achtet verhallen:  sie,  die  Eure  berufenen  Lehrer  sind,  verkündigen  es  Euch, 
daß  Ihr  schlechte  Christen  seid.  Ja,  kommt  dadurch  zur  Erkenntnis  und 
bekennet  es  fi-ei:  Wir  sind  keine  Gläubigen  mehr!  Wir  glauben  nicht  ernst- 
lich mehr  an  den  alten  Herrgott,  und  wenn  wir  nur  wüßten,  wie  ohne  ihn 
die  Welt  hätte  entstehen  und  bestehen  können,  so  würden  wir  dieser  ganzen 
unbegründeten  Voraussetzung  nicht  mehr  bedürfen.  Und  wenn  Ihr  mit 
diesem  Selbstbekenntnisse  die  Last  Eurer  Selbsttäuschung  abgeworfen  und 
Euch  wenigstens  offen  gesagt  habt,  wie  es  um  Euch  und  Euren  Glauben  steht, 
so  fordert  für  Eure  Lehrer  das  freie  Wort,  die  unveräußerliche  Lehr- 
freiheit. Ihr  werdet  schwerlich  verlieren,  was  Ihr  noch  länger  besitzen 
möchtet,  viel  aber  gewinnen,  wovon  Ihr  in  Eurer  träumerischen  Anhäng- 
lichkeit am  Alten  nie  zu  träumen  wagtet. 

Lasset  uns  nun  das  vorliegende  ,,Wort  der  Liebe  an  unsere  Gemeinen" 
ein  wenig  näher  betrachten.  Eure  Seelsorger,  „welchen  das  Amt  des  gött- 
lichen Wortes  anvertraut  ist",  wollen  ein  Wort  des  Ernstes  und  der  Liebe 
über  die  Feier  unserer  christlichen  Sonn-  und  Festtage  an  Euch  richten.  Ver- 
weilen wir  einen  Augenblick  bei  diesem  ,,  an  vertrauten  Amte  des  göttlichen 
Wortes".  Bedeutet  es  das  Amt,  ims  zu  lehren  alles,  was  sie  als  wahr  er- 
kennen, fühlen  und  denken,  uns  sich  selbst  und  die  Wahrheiten  zu  offen- 
baren, welche  sie  im  ernsten  Bemühen  um  die  ewige  Wahrheit  gefunden 
haben,  oder  ist  es  das  Amt,  die  Bibel  buchstäblich,  treu  und  ohne  Einmischimg 
eines  Urteiles  zu  erklären,  und  das  Bibelwort  als  das  göttliche  Wort  zu  ver- 
ehren? Niemand  unter  Euch  kann  zweifeln,  daß  ein  christlicher  Prediger 
allein  auf  das  letztere  angewiesen  ist.  Aber  auch  nicht  leicht  wird  einer 
unter  Euch  anzutreffen  sein,  dessen  andächtiges  Gefühl  nicht  schon  von 
mancher  Predigt  aufs  tiefste  verletzt  worden  wäre,  in  welcher  ein  sklavischer 
,, Diener  am  göttlichen  Worte"  durch  alle  möglichen  Kvinststücke  des  Scharf- 
sinnes solange  am  Bibelworte  drehte  und  deutelte,  bis  ein  leidlicher  Sinn 
herauskam.  0,  es  ist  widerwärtig,  dieses  Deuteln  an  dem,  was  geschrieben 
steht,  an  dem  nicht  gerückt  werden  soll,  bloß  weil  es  geschrieben  steht; 
daß  der  Seelsorger  nur  darum  loben  soll,  nicht  tadeln.  Er  ,,soll",  wie  es 
im  Schriftchen  selbst  heißt,  „unseren  Kindern  das  dritte  Gebot  einschärfen"; 
er  soll!  Seid  Ihr,  das  fragt  Euch  selbst,  seid  Ihr  damit  zufiieden,  daß  man 
Euch  sagt:  So  steht  es  geschrieben!  —  seid  Ihr  beruhigt  über  Eure  Zweifel, 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  L'adikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      101 

sobald  Ihr  wisset,  so  und  so  laute  die  Bibel;  gilt  Euch  etwas  darum  schon 
für  wahr,  weil  Ihr's  im  Testamente  leset,  und  wollt  Ihr  nur  die  Schrift  aus- 
legen hören  oder  verlangt  Ihr  nach  —  der  ewigen  Wahrheit?  Und  wenn 
Ihr  darnach  verlangt,  genügt  Euch  da  ein  „Diener  des  göttlichen  Wortes", 
der  auf  die  Bibel  geschworen  hat,  geschworen.  Euch  nur  biblische  Lehren 
beizubringen,  geschworen.  Euch  seine  abweichende  Ansicht  und  seine  Ein- 
würfe zu  verschweigen,  —  oder  seht  Ihr  Euch  nicht  vielmehr  nach  einem 
freien  Lehrer  um?  Es  ist  wahrlich  erhebender  und  göttlicher,  einen 
freien  Menschen  zu  vernehmen,  als  anzuhören,  wie  ein  Diener  des  Wortes 
seine  pflichtschuldigen  und  diensteifrigen  Lobgesänge  anstimmt,  und  lieber 
lausche  ich  einem  Sünder,  der  im  Kampfe  der  Gedanken  sich  verirrt  hat,  als 
neunundneunzig  solcher  Gerechten. 

Doch  für  jetzt  müssen  wir  ihren  Worten  weiter  mit  Aufmerksamkeit 
folgen.  Wir  könnten  uns  durch  den  Beginn  der  Anrede  geschmeichelt  fühlen, 
weil  uns  gesagt  wird,  „ein  bedeutender  Teil  der  evangelischen  Einwohner 
Berlins  zeichne  sich  vor  den  Bewohnern  anderer  Ortschaften  unseres  Vater- 
landes in  der  Begehung  der  Sonntagsfeier  vorteilhaft  aus",  wenn  wir  nicht 
die  Eichtigkeit  der  Angabe  sehr  bezweifeln  müßten  und  ohnehin  der  Jammerruf 
über  die  „leeren  Kirchen"  bald  nachschallete.  Zuvörderst  jedoch  heißt  es  in 
den  Eingangsworten:  „Es  war  eine  gesegnete  Frucht  der  schweren  Drang- 
sale, welche  vor  mehr  als  30  Jahren  unser  Vaterland  trafen,  daß  so  viele 
Herzen  dem  Gott,  der  uns  geschlagen  hatte,  sich  zuwandten,  damit  er  uns 
wieder  heilen  möchte."  Der  Gott,  der  uns  geschlagen  hatte,  das  war  unser 
besseres  Selbst,  das  über  den  Rhein  herüberkam  und  unsere  mattherzige 
Selbstsucht  zerbrach;  und  wir  wendeten  ims  ihm  auch  wieder  zu,  anfangs 
freilich  in  taumelnder  Frömmigkeit,  endhch  aber  —  und  das  ist  die  gesegnete 
Frucht  der  30  Jahre,  ja  die  wahrhaft  gesegnete!  mit  bewußtem,  männlichem 
Mute.  —  Jetzt  erst,  da  wir  ihn  nicht  mehr  bloß  in  den  Kirchen  suchen, 
haben  wii-  ihn  noch  mehr  zu  unserem  Freunde  gemacht. 

Weiter  wird  uns  gesagt :  „Darüber  sind  ohne  Zweifel  alle  ernste,  ge- 
wissenhafte Bewohner  unserer  Stadt  und  unseres  Vaterlandes  mit  uns  ein- 
verstanden: ein  Volk,  das  die  Gottesfurcht  verläßt,  und  von  dem  Höchsten 
und  Heiligsten,  was  es  für  die  Menschen  gibt,  sich  entfremdet,  das  ist  auf 
dem  Wege,  auch  die  irdischen  Segnungen  wieder  zu  verlieren,  deren  es  sich 
noch  zu  erfreuen  hat."  Wir,  meine  Lieben,  sind  ohne  Zweifel  auch  ernste, 
gewissenhafte  Leute,  und  viele  auch  Bewohner  dieser  Stadt  und  dieses  Vater- 
landes ;  allein  sind  wir  damit  einverstanden,  daß  die  Gottesfurcht  das  Höchste 
und  Heiligste  sei?  Fürchten  mag  sich,  wer  vor  einem  Furchtbaren  im  Staube 
kriecht;  fürchten  vor  einem  Mächtigen,  wer  nicht  alle  Macht  über  sich  in 
sich  selbst  hat;  wir  fürchten  uns  so  wenig  als  unsere  Altvordern,  von 
denen  schon  ein  wackerer  Römer  sagte,  daß  sie  sich  gegen  Götter  und 
Menschen  sicher  wußten.  Als  Christen  sollten  wir  schon  gelernt  haben,  Gott 
nicht  zu  fürchten,  sondern  zu  lieben.  Allein  sie  wollen  ja,  daß  er  throne 
bloß  außer  und  über  uns,  mit  aller  Macht  und  Majestät  bekleidet,  vor  der 
ein  ergebenes,  nach  Gnade  dürstendes  Gemüt  immer  auf  den  Knien  anbetet 
und  nicht  durch  Handlungen,  wie  sie  Menschen  ziemen;  einen  Herrscher  und 
Herrn  nicht  zu  fürchten,  das  heißt  wohl  das  Unmögliche  begehren.  Aber 
sie  tun  recht,  daß  sie  ihn  fürchten,  die  Gottesfürchtigen !  In  ihm  lebt  doch 
ihr  eigener  Geist  schon  hier,  wenn  er  ein  reiner  ist,  obwohl  sie  ihn  noch, 
verborgen  wie  er  ihnen  ist,  im  Jenseits  suchen;  bis  sie  zu  sich  kommen, 
können  sie  ihn  nur  fürchten  und  lieben.      Darum   mögen   wir  ihnen   auch 


102     Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

zugeben,  daß  alle,  die  ihr  bestes  Teil  als  Gott  ins  Jenseits  geworfen,  in 
„kurzsüchtige  Selbstsucht"  verfallen,  sobald  sie  die  Gottesfurcht  ablegen. 
Zu  fürchten  darf  ja  nur  der  aufhören,  der  den  Allmächtigen  nicht  mehr 
außer  sich,  sondern  in  sich  hat.  Ja,  wir  bestreiten  ihnen  selbst  nicht,  daß 
mit  der  Gottesfurcht  auch  die  Ehrfurcht  vergeht  und  „an  die  Stelle  des 
Gehorsams  gegen  die  von  Gott  eingesetzte  Obrigkeit  und  ihre  heilsamen 
Ordnungen ,  an  die  Stelle  der  milden  und  ernsten  Zucht  und  Sitte  des  Hauses 
und  der  Familie  eine  zügellose  Willkür,  eine  stete  Auflehnung  gegen  die 
Schranken,  die  jeden  in  seinem  Berufe  umgeben,  Unzufriedenheit,  Mißmut 
und  Murren  über  sein  Schicksal  tritt;"  wir  bestreiten  dies  ihnen  um  so  weniger, 
als  zwar  die  auf  den  Bibelbuchstaben  vereidigten  „Diener  am  göttlichen 
Worte"  die  Erlaubnis  haben,  solches  zu  reden,  wir  aber,  die  wir  reden  möchten, 
wie's  uns  ums  Herz  ist  und  wie's  allen  ums  Herz  sein  sollte,  nur  das  Gebot  — 
zu  schweigen.  Wahr  aber  ist  es  allerdings,  daß  die  Selbstsucht  in  dem 
Maße  steigt,  als  die  Gottesfurcht  sinkt;  denn  es  berühren  sich  ja  allezeit  die 
Extreme  und  lösen  einander  ab,  weil  sie,  obzwar  feindliche  Brüder,  doch 
eben   deshalb    die   nächsten  Verwandten  sind. 

Wir  kommen  nun  an  die  Schilderung  unserer  Gottverlassenheit  und 
müssen  sie  wörtlich  mitteilen  als  deutlichen  Beweis  dafür,  wie  klärlich  unsere 
Geistlichen  den  Verfall  der  Kirche  einsehen.  „Wir  bemerken  mit  Schmerz, 
wie  so  viele  des  großen  Segens  sich  selbst  berauben,  den  die  wahre  Ruhe, 
die  Ruhe  von  irdischen  Mühen  und  Sorgen,  die  Erhebung  der  Seele  zu  Gott 
an  einem  bestimmten,  von  Gott  dazu  festgesetzten  Tage,  uns  gewährt.  Ohne 
einzelnen  Ständen  hier  besonders  nahe  treten  zu  wollen,  lasset  uns  nur  daran 
denken,  wie  die  Reicheren  und  Vornehmeren  ihre  oft  bis  an  den  Sonntag- 
morgen dauernden  Vergnügungen  jetzt  vorzugsweise  auf  den  Abend  des  Sonn- 
abends verlegen  und  sich  dadurch  für  jede  ernste,  heilige  Beschäftigung  am 
Sonntagvormittag  unfähig  machen;  wie  so  viele  Beamte  einen  Teil  ihrer  Ge- 
schäfte besonders  gern  am  Sonntagvormittag  besorgen;  wie  so  viele  Gewerb- 
treibende  und  Handwerker  öffentlich  und  in  iliren  Werkstätten  den  halben 
Sonntag  wenigstens  arbeiten  und  erst  am  Nachmittage  ruhen,  wie  man  in 
allen  Berufs-  und  Erwerbszweigen  gern  wenigstens  Nebenarbeiten  am  Sonn- 
tage abmacht;  wie  das  Kaufen  und  Verkaufen  am  Sonntage  zu  allen  Stunden 
fortgeht,  außer  wo  die  Obrigkeit  es  strenge  ahndet.  Welch'  ein  trauriges 
Beispiel  gibt  Berlin  hierin  den  nächsten  Dörfern  und  kleinen  Städten,  deren 
Einwohner,  weil  sie  wissen,  daß  man  hier  ungescheut  am  Sonntage  Handel 
und  Verkehr  aller  Art  treibt,  gerade  an  diesem  Tage  frühmorgens  so  zahl- 
reich der  Hauptstadt  zuströmen,  während  die  Gotteshäuser  in  den  umliegen- 
den Ortschaften  leer  stehen!  Welch  ein  Ärgernis  geben  unsere  Christen  den 
Juden  in  unserer  Mitte,  die,  solange  noch  eine  Spur  von  Gottesfurcht  in  ihnen 
ist,  ihren  Sabbath  nie  auf  solche  Weise  entheiligen.  Und  welch  ein  tiefer 
Schmerz  ist  es  besonders  uns,  Euren  Seelsorgern,  denen  Ihr  Eure  Kinder  zur 
Konfirmation  anvertraut,  wenn  wir  diesen  im  Unterrichte  das  dritte  Gebot 
einschärfen  sollen,  zu  dessen  Übertretung  so  häufig  das  Beispiel  der  eigenen 
Eltern  und  der  nächsten  Umgebung  im  Hause  sie  verleitet;  oder  wenn  wir 
sehen,  wie  Lehrlinge  und  Gehilfen  aller  Art  fast  allgemein  Sonntagsvormittags, 
ja  bis  in  die  späteren  Nachmittagstunden  arbeiten  müssen,  wo  sie  das  Gottes- 
haus nicht  mehr  besuchen  können  imd  den  schlimmsten  Versuchungen  aus- 
gesetzt sind !  Wie  viele  Geschäftszimmer  und  Werkstätten  gibt  es  wohl  noch 
in  unserer  Hauptstadt,  welche  alle  Sonntagmorgen  geschlossen  sind?  wie  viele 
Läden,   welche  den  ganzen  Tag  über  nicht   geöffnet  werden?   wie  viele  Ma- 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen.     103 


schinen,  wie  viele  Stühle,  welche  den  ganzen  Sonntag  stillstehen?  Väter  und 
Mütter,  Vormünder  nnd  Pfleger  der  Jugend,  wie  viele  Eurer  Kinder  besuchen 
wohl  noch  regelmäßig  an  Eurer  Seite  das  Gotteshaus?  wie  viele  hören  wohl 
noch,  gerade  in  den  gefahrvollsten  Jahren,  wo  die  Kichtung  für  ihr  ganzes 
Leben  sich  entscheidet,  das  Wort  des  ewigen  Lebens,  welches  sie  vom  Wege 
der  Sünde  abzieht  und  hier  und  dort  sie  zu  seligen  und  Gott  wohlgefälligen 
Menschen  macht?''  —  Und  angesichts  dieses  erschreckenden  Bildes  geht  Ihr 
noch  nicht  in  Euch,  Ihr  Geistlichen,  und  fragt  Euch,  ob  die  Schuld  nicht  an 
Euch  liege?  Greift  doch  in  Euren  Busen  und  erkennt,  daß  an  dem  Tisch 
der  Knechte  kein  Freier  sich  setzen  mag!  —  Mancherlei  hätten  wir  über  das 
Voranstehende  zu  sagen,  wie  wir  freilich  fast  in  jedem  Worte  des  Schriftchens 
reichlichen  Stoff  zu  Bemerkungen  fänden;  für  die  gewählte  Kürze  mag  es 
genügen,  auf  eine  Stelle  aufmerksam  zu  machen.  Welch  wunderliches  Zeugnis 
legen  unsere  Geistlichen  von  ihrer  Bildung  ab,  indem  sie  uns  zurufen:  Schämet 
Euch  doch  vor  den  Juden  und  seid  —  wie  die  Juden!  Jeder  gleißende 
Grund  muß  herhalten,  wenn  es  gilt,  die  christlichen  Gemeinen  zu  —  über- 
reden. Wenn  die  Juden  „ihren  Sabbath  nie  auf  solche  Weise  entheiligen", 
so  sollten  wir  das  doch  für  einen  Beweis  ansehen,  daß  ihren  Bedürfnissen  in 
den  Synagogen  eine  bessere  Befi-iedigung  zuteil  wird,  als  unsere  Geistlichen 
unseren  Bedürfnissen  zu  gewähren  verstehen  oder  —  wagen.  Lasset  sie  den 
Gemeinen  nur  statt  der  eingelernten  Litanei  ein  freies  Wort  bieten,  wie  es 
aus  einer  frischen  Seele  und  einem  lebendigen  Geiste  kommt,  und  sie  sollen 
Wunder  sehen,  wie  sich  ihre  Kirchen  trotz  der  Synagogen  füllen  werden.  Sie 
irren  sehr,  wenn  sie  wähnen,  wir  hätten  unser  Heiligstes  abgeworfen  und 
strebten  nur  nach  vergänglichem  Tand ;  wir  mögen  nur  ihre  gefesselten  Reden 
nicht  und  fliehen  die  Kutte,  unter  der  nur  ein  demütiges,  kein  mutiges  Herz 
schlägt,  und  das  salbungsreiche  Gelispel,  das  sich  nie  zum  seelenvollen  Laute 
erhebt,  zum  offenen  Worte  eines  furchtlosen  Geistes. 

Es  werden  weiterhin  die  Gründe  für  die  Sabbathfeier  angegeben,  und 
da  die  allbekannten  durch  keine  neuen  vermehrt  werden,  so  verdienen  sie 
keine  besondere  Erwähnung  und  zeigen  sich  nur  insofern  bemerkenswert,  als 
ihre  ganze  Färbung  der  sonst  so  verhaßten  Aufklärung  abgeborgt  ist. 

Auch  die  Ausflüchte  der  zähen  Kirchengänger  mußten  zurückgewiesen 
werden,  was  zwar  in  ziemlicher  Breite,  aber  leider  auch  mit  allem  Aufwand 
überzeugungsloser  Klügelei  geschieht.  Gleichwohl  sind  die  Ermahnungen 
richtig,  und  die  gottvergessenen  Christen  werden  völlig  davon  getroffen.  Sie 
sollen  sich  nicht  entschuldigen  damit,  daß  „sie  Gott  im  Stillen  dienen  auf 
ihre  Weise",  denn  der  rechte  „Segen  könne  ihnen  nur  aus  der  Gemeinschaft 
mit  andern  beim  Gottesdienste  durch  Gesang,  Gebet  und  andächtige  Be- 
trachtung des  göttlichen  Wortes  zufließen;"  auch  sollen  sie  nicht  sagen,  daß 
„sie  ihren  Gottesdienst  am  liebsten  in  der  freien  Natur  halten,"  weil  die 
„Natur  nur  das  Kleid  Gottes  sei  und  allein  im  Wort  Gottes  die  Geheimnisse 
der  göttlichen  Liebe  aufgeschlossen  werden";  sie  sollen  auch  nicht  Mangel 
an  Zeit  zum  Kirchenbesuche  vorschieben,  denn  „mit  dieser  Entschuldigung 
mögen  sie  allenfalls  vor  einigen  Menschen  ausreichen,  nicht  aber  vor  dem 
Allwissenden,  vor  dem  ihr  ganzes  Herz  und  Leben  offen  da  liegt";  endlich 
aber  „fehlen  die  am  meisten,  welche  sagen,  man  könne  ja  auch  ohne  Kirchen- 
besuch ein  guter  Mensch,  ein  guter  Bürger,  ja,  wie  einige  hinzusetzen,  ein 
guter  Christ  sein:"  den  Feiertag  zu  heiligen,  ist  ja  eines  der  Gebote  Gottes, 
imd  „wer  das  ganze  Gesetz  hält  und  sündiget  an  Einem,  der  ist  es  ganz 
schuldig".    Das  ist  alles  recht  schön  und  gut,  und  die  Gottesfürchtigen  müssen 


104     Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

gegen  solche  Gründe  verstummen;  wer  Gott  fürchtet  und  meidet  doch  den 
Gottesdienst,  wie  will  der  mit  jenen  Ausreden  bestehen?  Wir  aber,  die  wir 
Gott  nicht  fürchten,  suchen  auch  keine  Ausflüchte  und  brauchen  der  Ent- 
schuldigung nicht,  weil  wir  nicht  in  der  Schuld,  sondern  im  Rechte  stehen. 
Wir  meiden  das  Gotteshaus,  solange  das  Gotteswort  geknechtet  ist  im  Buch- 
staben, und  solange  seine  Ausleger  nicht  sprechen  dürfen  als  freie  Geister. 

An  die  Ermahnung  zur  Sabbathsfeier  und  die  Aufdeckimg  der  gewöhn- 
lichen Entschuldigungen  als  bloßer  Winkelzüge  schließt  sich  nun  füglich  an 
„die  Erinnerung  an  Das,  was  zu  einer  gesegneten  Feier  unseres  christlichen 
Ruhetages  notwendig  ist".  Mit  eindringlicher  Wärme  wird  besonders  allen 
denen  ihr  Unrecht  zu  Herzen  geführt,  welche  ihren  Dienstboten  und  Unter- 
gebenen den  Ruhetag  verkümmern.  Wir,  die  wir  für  die  Erhebung  und 
Heiligung  des  menschlichen  Geistes  gewiß  ebensoviel  Eifer  hegen,  als  die 
unterzeichneten  evangelischen  Geistlichen,  wir  sind  weit  davon  entfernt,  eine 
so  berechtigte  Ermahnung  anzufeinden.  Warum  aber  wollen  unsere  Seelsorger 
es  denn  nicht  einsehen,  daß  ihre  wahren  Gegner  nicht  „der  Weltsinn  und 
die  herzlose  Gleichgültigkeit"  sind?  Mit  denen  ist  den  wahrhaft  Frommen 
der  Kamjjf  noch  nie  sonderlich  schwer  geworden.  Ein  ganz  anderer  Feind 
stellt  sich  ihnen  jetzt  gegenüber,  zu  dem  sie  übergehen  müssen,  wenn  sie 
ihm  nicht  das  Feld  räumen  wollen.  Denn  auf  den  Kampfplatz  tritt  der 
wiedergekommene  Christus! 

Was  soll  es  helfen,  mit  Sehnsucht  rückwärts  zu  blicken  und  die  Wieder- 
erweckung der  guten  alten  Zeit  zu  empfehlen,  wo  „Sonnabends  die  Arbeit  etwas 
früher,  als  sonst,  beendigt,  und  nun  das  Haus  gekehrt  und  die  Zimmer  auf- 
geräumt wurden,  damit  am  Sonntage  schon  die  früheste  Morgenstunde  vor 
Störung  gesichert  sei.  Dann  wurde  des  Morgens  die  Heiligung  des  Tages  damit 
begonnen,  daß,  nach  Beseitigung  aller  nicht  durchaus  notwendigen  Geschäfte, 
Ruhe  und  Stille  im  Hause  herrschte.  Und  wie  sie  im  Hause  herrschte,  so  auch 
auf  den  Plätzen,  in  den  Straßen  der  Stadt.  Selten  hörte  man  da  einen  Wagen 
rollen;  die  Läden  blieben  geschlossen;  der  öffentliche  Verkehr  hörte  auf;  nichts 
unterbrach  die  ernste,  heilige  Sabbathstille.  Dann  pflegten  der  Hausvater,  die 
Mutter,  die  Herrschaft  wohl  die  Ihrigen  zur  Andacht  zu  versammeln.  Man 
las  einen  Abschnitt  der  Bibel,  am  liebsten  das  Evangelium  und  die  Epistel 
des  Sonntags,  man  stimmte  ein  Lied  zum  Preise  Gottes  an.  Hierauf  besuchten 
alle,  welche  im  Hause  nicht  schlechterdings  unentbehrlich  waren,  den  öffent- 
lichen Gottesdienst,  und  für  die  Zurückbleibenden  pflegte  sogleich  von  vorn- 
herein eine  andere  Zeit  festgesetzt  zu  werden,  wo  sie  am  Gottesdienst  und 
an  der  Ruhe  des  Tages  auch  ihrerseits  teilnehmen  sollten.  0  daß  die  frühere 
fi'omme  Sitte  wieder  unter  uns  allgemein  würde!"  Ja,  wohin  verirrt  man 
sich,  wenn  man,  nachdem  man  uns  schon  die  Juden  als  Muster  vorgehalten, 
nun  auch  die  „Engländer,  Schotten  und  Nordamerikaner"  uns  zur  Nach- 
ahmung anpreist,  „bei  denen  der  Sonntag  am  strengsten  geheiligt  wird,  und 
die  reiche,  blühende  Völker  sind".  Und  warum  sind  sie  reich  und  blühend? 
Darum,  antwortet  man,  „weil  die  Gottseligkeit  zu  allen  Dingen  nütze  ist, 
weil  sie  die  Verheißungen  dieses  und  des  zukünftigen  Lebens  hat,  und  weil 
denen,  die  vor  allem  nach  dem  Reiche  Gottes  trachten,  alles  andere  zufällt". 
0  über  die  Unredlichkeit  des  Vergleiches  zwischen  Deutschen  und  Briten! 
Wie,  wenn  man  nun  erwiderte,  die  Briten  sind  reich  und  blühend,  weil  sie 
frei  sind,  und  frei  sind  sie  —  trotz  der  Tyrannei  ihrer  Kirche?  Wenn  Ihr 
Deutschen  britische  und  amerikanische  Gottesfurcht  holen  wollt,  da  ver- 
geßt   doch   vor  allen  Dingen   nicht,   britische   und  amerikanische  Fr eiheit 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      105 

über  das  Meer  und  über  den  Kanal  auch  mit  herüberzubringen!  Der  freie 
Mensch  kann  selbst  die  —  qualvolle  Last  einer  Hochkirche  ertragen,  bis  er 
sie  endlich  abschüttelt;  Ihr  aber  möchtet  Euch  gerne  noch  die  Tyrannei 
englicher  Gewissensbeschränktheit  aufladen  zu  Euren  andern  Bürden,  alles 
in  blinder  Dienstergebenheit. 

Nein,  vorwärts  winkt  uns  das  Heil,  nicht  rückwärts;  oder  können  wir 
in  unserer  Mutter  Leib  zurückkehren?  Versteht  man  die  Wiedergeburt  noch 
immer  so,  wie  einst  Nikodemus,  und  findet  sie  nicht  einmal  so  widersinnig, 
wie  er?  Weil  unsere  Vorfahren  glücklich  waren  durch  ihre  Frömmigkeit, 
darum  ist  uns  noch  nicht  das  gleiche  Los  durch  ein  gleiches  Mittel  bestimmt. 
Es  wäre  das  kaum  anders,  als  wenn  der  vierzigjährige  Mensch  noch  immer 
in  Spiel  und  Tanz  seine  Freude  finden  müßte,  weil  sie  vor  zwanzig  Jahren 
ihn  vergnügten.  Nein,  die  Zeiten  der  Frö  mmigkeit  sind  vorüber,  und  was 
man  heutiges  Tages  fi'omm  nennt,  das  darf  sich  wahrlich  nicht  mit  der  echten 
Frömmigkeit  unserer  Voreltern  vergleichen.  Damals  ein  gesunder,  natur- 
gemäßer Zustand  —  ist  sie  heute  eine  krankhafte  Überreizung  oder  eine 
Täuschung  anderer  und  unserer  selbst,  eine  Lüge,  die  wir  Furcht  haben 
uns  einzugestehen.  Die  Gegenwart  fordert  das  rein  Menschliche,  das  allein 
das  wahrhaft  Göttliche  ist,  sie  fordert  nicht  Frömmigkeit,  sondern  Sittlich- 
keit und  Vernünftigkeit;  mündige  Männlichkeit  des  Geistes,  nicht  bevor- 
mundete Kindlichkeit;  Begeisterung  für  die  ewig  gegenwärtige  Welt  des 
Wollens  und  Handelns,  nicht  blind  ergebene  Sehnsucht  nach  dem  Jenseits. 
Das  könntet  Ihr  alle  wissen,  wenn  Ihr  nur  recht  bedenken  wolltet,  wie  Ihr 
schon  wirklich  gesonnen  seid.  Fragt  Ihr  etwa  bei  Euren  Dichtem,  die  Ihr 
so  innig  verehrt,  ob  sie  fromme  Christen  gewesen?  Liebt  Ihr  Schiller  we- 
niger, als  Klopstock,  weil  dieser  einen  Messias  ganz  im  Tone  unserer  hinauf- 
geschraubten Frömmigkeit  gedichtet,  jener  aber  kein  chi-istlich  frommes  Lied 
zustande  gebracht?  Achtet  Ihr  den  Staatsmann  höher,  der  Eure  Gedanken- 
äußerungen streichen  und  überwachen  läßt,  auf  daß  sie  in  Staat  und  Kirche 
rechtgläubig  seien,  als  den,  welcher  dem  Gedanken  und  Streben  der  Menschen 
keine  orthodoxen  Fesseln  anlegt?  Ja,  verurteilt  Ihr  auch  nur  einen  Eurer 
Mitmenschen,  den  Ihr  sittlich  und  edel  handeln,  frei  und  fiu-chtlos  denken 
seht,  darum,  weil  er  keine  herkömmliche  Frömmigkeit  übt?  Und  tut  es 
einer  oder  der  andere  unter  Euch,  zeigt  er  sich  Euch  da  nicht  als  ein  blinder 
Ketzerrichter,  den  Ihr  bemitleidet?  Ihr  stellt  selbst  nicht  mehr  die  Forde- 
rung an  den  Menschen,  daß  er  fromm  sei;  wenn  er  ein  sittlich-freier  Mensch 
ist,  wie  Schiller,  da  schämt  Ihr  Euch,  Wehe  über  ihn  zu  rufen  und  ihn  dem 
Satan  zu  überliefern.  Und  doch  ist  er  kein  Christ  im  geltenden  Sinne  und 
ist  nicht  fromm!  Erwägt  diese  Gerechtigkeit,  die  Ihr  unwillkürlich  übt, 
recht  reiflich  in  Eurem  Herzen  und  Ihr  werdet  finden,  wie  verstockt  Eure 
Gedanken  hinter  der  unbewußten  Freiheit  Eures  Handelns  zurückbleiben. 
Aber  freilich,  wo  hättet  Ihr  auch  die  Gelegenheit  finden  sollen,  Euer  Denken 
auszubilden,  da  Eure  Geistlichen  selbst,  berufen  Euren  Geist  zu  erheben  und 
zu  erleuchten.  Euch  in  die  gute  alte  Zeit  und  in  den  Mutterleib  wieder 
zurückbringen  möchten,  und  Euer  Gewissen,  statt  es  zu  stärken,  mit  Furcht 
und  Zittern  erfüllen,  daß  es  Euch  anklagt  und  ängstiget  ob  der  verlassenen 
Frömmigkeit!  Das  Leben  bewährte  sich  als  einen  besseren  Lehrmeister;  es 
lehrte  Euch  längst,  daß  die  Sittlichkeit  und  die  Freiheit  besser  sei,  als  die 
formelle,  tote  Frömmigkeit.  Eilet,  daß  Ihr  erkennet,  was  Ihr  ausübet,  und 
daß  die  Einsicht  und  das  Bewußtsein  Euren  voraneilenden  Taten  und  Eurer 
unwillkürlich  erworbenen  Bildung  nachkomme,  damit  Ihr  nicht  länger  Euch 


106     Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

selbst  verdammet  und  aus  Gewissensangst  in  die  knappen  Kinderschuhe 
zurücktretet.  Könnt  Ihr  dazu  beitragen  wollen,  daß  der  Nachbar  den  Kirch- 
gang und  die  Andacht  des  Nachbars  bewache,  der  Freund  den  Freund  an- 
schuldige, die  Schwester  den  Bruder,  der  Bruder  die  Schwester  um  der  Un- 
christlichkeit  willen  schelte,  und  jeder  den  andern  anschwärze  und  anfeinde 
—  aus  Rehgion?  Und  muß  es  nicht,  wenn  Ihr  erst  schwach  genug  seid, 
den  Verlust  der  alten  Frömmigkeit  für  ein  Unglück  zu  halten,  muß  es  nicht 
dahin  kommen,  daß  die  Heuchler  scharenweise  zur  Kirche  ziehen,  um,  wenn 
sie  Beamte  sind,  in  Amt  und  Würden  zu  bleiben,  wenn  aber  unabhängige  Bürger, 
ihren  guten  Leumund  nicht  einzubüßen?  Seid  stark,  seid  mutig  genug,  den 
Versucher  von  Euch  zu  weisen  und  offen  zu  sagen:  Wir,  die  wir  nur  freie 
Lehrer   hören   wollen,    wir   stehen  mit  unserer  Unkirchlichkeit  im  Rechte! 

Gehen  wir  nim  dem  Ende  des  Schriftchens  zu,  so  erfahren  wir  noch, 
wie  die  einzelnen  Gemeindeglieder,  an  denen  „dies  Wort  der  Liebe  nicht 
spurlos  vorübergeht",  aufgefordert  werden,  „um  ihre  Prediger  Vereine  solcher 
Christen  zu  bilden,  welche  sich  freudig  und  ernstlich  entschließen,  die  Heili- 
gung des  Feiertags  nicht  nur  sich  selbst  angelegen  sein  zu  lassen,  sondern 
auch  für  Förderung  derselben  überall  nach  Kräften  zu  wirken".  Sehr  wahr- 
scheinlich wird  es  da  schlimm  um  jeden  stehen,  der  keine  Scheu  trägt,  sich 
anzuschließen,  und  sein  Name,  in  den  Vereinslisten,  welche  zur  Subskription 
einladend  gleich  mit  ausgegeben  vrarden,  fehlend,  wird  geächtet  sein. 

Nun  endlich  der  Schluß :  „Bei  euch  steht  es,  ob  die  Heiligtümer  unserer 
Religion,  ob  der  größte  Segen,  den  Gott  uns  geschenkt  hat,  unseren  Nach- 
kommen unversehrt  überliefert  werden,  oder  ob  wir  und  sie  immer  tiefer 
hinabsteigen  und  verlieren  sollen,  was  von  wahrer,  echter  Frömmigkeit, 
kindlichem  Sinn,  Liebe,  Zucht  und  guter  Sitte  noch  unter  uns  ist.  Möge 
Gott  Euch  Augen  und  Herzen  öffnen,  das  Gute  zu  erkennen  und  —  zu 
wählen!"  Ja,  möge  er  sie  Euch  öffnen!  Denn  bei  Euch  steht's  wirklich,  ob 
die  fromme  Abhängigkeit  oder  die  sittliche  und  mutige  Freiheit  hinfort 
herrschen  soll.  Kindlicher  Sinn  aber,  Liebe,  Zucht  und  gute  Sitte  werden 
darum  wahrlich  nicht  zugrunde  gehen,  wohl  aber  edler  und  schöner  wieder 
auferstehen.  —  Es  gab  eine  Zeit,  da  die  römischen  Heidenpriester  Wehe 
riefen  über  das  Volk,  dessen  Tempel  leer  standen;  es  war  das  aber  die  Zeit, 
da  die  Kirchen  der  Christen  die  herbeiströmenden  Andächtigen  kaum  fassen 
konnten.  Die  leeren  Tempel,  sie  waren  ein  echtes  Zeichen  der  erfüllten 
Zeit! 

Jetzt,  da  die  Kirche,  wie  ja  laut  behauptet  wird,  „in  Verfall  gerät", 
wollen  uns  unsere  Geistlichen  mit  blinkenden  Worten  dahin  zurückführen, 
sie,  die  als  christliche  Seelsorger  wissen  sollten,  daß  man  „nicht  Most  in 
alte  Schläuche  fasset;  wo  anders  so  zerreißet  der  Most  die  Schläuche  und 
wird  verschüttet,  und  die  Schläuche  kommen  um.  Sondern  den  Most  soll 
man  in  neue  Schläuche  fassen,  so  werden  sie  beide  behalten".  Sie  könnten 
ihre  Kirchen  wohl  wieder  füllen,  obgleich  der  Verfall  der  alten  Kirche,  wie 
sie  es  schauernd  ahnen,  unaufhaltsam  vor  sich  gehen  wird,  wenn  sie  statt 
des  Splitters  im  Auge  der  Gemeinen  den  Balken  im  eigenen  sehen  wollten. 
So  aber  schelten  sie  ihre  Gemeinen  darum,  daß  sie  keinen  bevormundeten 
und  durch  Verpflichtung  gebundenen  Redner  hören  mögen,  der  ihnen  doch 
nicht  sagen  darf,  was  der  Geist,  der  ewig  freie,  erforscht  in  den  Tiefen  der 
Gottheit,  sondern  sagen  muß,  was,  so  erhaben  und  heilig  es  auch  sei.  doch 
im  unfreien  Munde  nicht  menschlich,  nicht  das  eigene  aus  der  Tiefe  der 
Brust  heraufgeholte  Wort  eines  aufrichtigen  Menschen  ist,  sondern  eine  leb- 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.     107 

lose  und  versteinerte  Wahrheit.  —  Erkämpft  Euch,  Ihr  Prediger  des  gött- 
lichen Wortes,  die  Freiheit  der  Rede,  und  wir  finden  ims  mit  Freuden  bei 
Euch  ein;  tut  zu  allererst  ab  den  eigenen  Knechtessinn,  dann  könnt  Ihr 
freie  Menschen  zu  Euch  einladen;  opfert  die  elende  Furcht  auf  dem  Altare 
des  Heldenmuts,  und  Ihr  sollt  unsere  geliebten  Führer  sein;  feiert  den 
festlichen  Tag  der  errungenen  Lehrfreiheit,  so  feiern  wir  alle  gerne  mit  Euch 
den  Sonntag.  Dann  werden  Eure  Kirchen  voll  sein,  und  um  jeden  Helden 
des  freien  Wortes  werden  sich  lernbegierige  Scharen  sammeln.  Aber  die 
Kirche,  —  Ihr  selbst  habt  das  unwiderrufliche  Wort  gesprochen  —  die 
Kirche  wird  dennoch  verhallen,  wenn  Ihr  sie  nur  in  der  Form  und  nicht  im 
Geiste  sucht  und  in  der  Wahrheit!  Ein  Geschlecht  freier  Menschen  wird 
erblühen,  und  wenn  man  so  will,  ein  neues  Christentum,  obgleich  im  Geist 
und  in  der  Wahrheit  das  alte,  jenes  zur  Weltreligion  reifende,  das  in  Bibel- 
worten heißt:  Unter  allerlei  Volk,  wer  Gott  fürchtet  und  Recht 
tut,   ist  ihm   angenehm! 

Viele  unserer  edelsten  und  wichtigsten  Angelegenheiten,  manche  Frage 
von  umfassendster  Bedeutung  habe  ich  hier  mehr  mit  schneidender  Kühnheit 
als  bedächtiger  Begründung  aufstellen  können  —  wie  wäre  das  auch  in  dem 
engen  Räume  dieser  wenigen  Blätter  anders  möglich  — ,  verschafft  Euch 
aber  nur  freie  Lehrer,  unverstrickte  und  ungegängelte  Prediger  der  Wahrheit, 
und  Ihr  werdet  bald  die  offenste  und  ausführlichste  Belehrung,  ganz  wie  Ihr 
sie  wünschet,  von  den  Kanzeln  herab  erhalten.  So  nehme  ich  denn  Abschied 
von  Euch  und  hoffe  auf  Eure  Erweckung.  Ich  habe  nicht  bloß  an  die 
Laien,  auch  an  Euch  Geistliche  habe  ich  meine  Worte  gerichtet.  Lasset 
uns,  wo  und  wie  wir  uns  auch  wieder  begegnen,  als  freie  Menschen  einander 
ins  Auge  sehen!  — 

n. 

Ein  Programm  der  ,, Freien" 

Vorbemerkung 

Eine  wie  diplomatische  Natur  der  Mann  im  Leben  war,  der  als  Philo- 
soph seine  Sache  auf  nichts  gestellt  hatte,  zeigt  sich  vollends,  wenn  man,  vde 
es  hier  zum  erstenmal  geschieht,  auch  seine  journalistische  Kleinarbeit  berück- 
sichtigt. Nun  zwang  freilich  die  Zensur  mehr  oder  weniger  alle  damaligen 
Schriftsteller,  ihre  geheimsten  Gedanken  unter  großen  Ballen  von  Phrasen 
zu  verstecken  oder  ihnen  freiwillig  die  Zähne  stumpf  zu  machen.  Die  Worte 
mußten  Zoll  bezahlen  oder  als  Schmuggelware  passieren,  so  drückte  Stimer 
selbst  diese  Notwendigkeit  aus')-  Wo  man  sicher  gehen  wollte,  daß  ein 
Artikel  gedruckt  würde,  mußte  man  sich  deshalb  im  voraus  genau  über  die 
Zensurverhältnisse  unterrichten,  die  bei  der  betreffenden  Zeitung  obwalteten, 
und  seineu  Stil  und  seine  Gedankengänge  dem  anpassen.  Der  Journalist  Stirner 
hat  es  in  der  Kunst,  seine  wahren  Ansichten  so  zu  formulieren,  daß  man 
am  Ende  auch  das  Gegenteil  herauslesen  konnte,  zu  großer  Virtuosität  gebracht. 

Kein  anderes  ausländisches  Blatt  war  der  preußischen  Regierung  da- 
mals so  unbequem  wie  die  Leipziger  Allgemeine  Zeitung,  die  häufig  ihre 
Informationen  aus  den  Kreisen  des  liberalen  Beamtentums  bezog.  Man 
wartete  deshalb  in  Berlin  geradezu  auf  die  Gelegenheit,  diesem  in  Preußen 
stark   verbreiteten  Blatt  das  Debit  zu  entziehen,  und  war  sicherlich  sehr  zu- 

^)  „Woher  und  Wohin?"  in  Beilage  der  Leipziger  Allgemeinen  Zeitung, 
16.  Oktober  1842. 


108     Mayer.  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

frieden,  als  der  hier  veröffentlichte  Brief  Herweghs  an  Friedrich  Wilhelm  IV. 
den  Brockhausschen  Verlag  auf  Unterhandlungen  mit  der  preußischen  Ee- 
gierung  anwies.  Wollte  Stimer  für  die  Sache  der  ^Freien"  diese  in  Berhn 
gelesenste  auswärtige  Zeitung  benutzen,  so  mußte  der  Wolf  sich  in  den 
Schafspelz  hüllen  und  die  eigenen  Gedanken  im  Schmuggelsack  tief  ver- 
stecken. Deshalb  ist  es  nicht  leicht,  aus  dem  großen  Aufsatz  über  ,.Die  Freien", 
der  am  14.  Juli  in  dem  Leipziger  Blatt  erschien,  den  esoterischen  Stimer 
herauszufinden.  Als  die  Absicht  des  Kreises  gibt  er  hier  an,  daß  er  die 
Grundüberzeugung  der  modernen  Philosophie  aus  der  besonderen  Sphäre  der 
Wissenschaft  auch  in  die  weiteren  Kreise  des  Lebens  einzuführen  und  daselbst 
geltend  zu  machen  gedächte.  Zu  der  geplanten,  doch  seither  schon  wieder 
aufgegebenen  Vereinsgründung  nimmt  er  nicht  klar  Stellung,  läßt  aber  durch- 
blicken, daß  er  und  die  anderen  aus  praktischen  Erwägungen  von  dem 
Projekt  Abstand  genommen  hätten.  Auch  den  Austritt  aus  der  Kirche 
lehnt  er  ab  betnahe  wie  einer,  der  nur  das  „Gehässige"  des  ,. Scheines"'  ver- 
meiden möchte.  Überhaupt  dreht  Stimer  es  hier  so,  als  ob  das  ganze 
Vorgehen  der  „Freien"  sich  nicht  gegen  die  Kirche  gerichtet  hätte,  die  an 
sich  harmlos,  weil  ohne  Zwangsmittel  wäre,  wenn  der  Staat  nicht  hinter  ihr 
stände,  sondern  gegen  die  Gewalt  des  Staats:  ,,Ich  höre  häufig  sagen,  es  sei 
nicht  zu  verlangen,  daß  der  Staat  um  einiger  weniger  \\Tllen  ein  Gesetz 
oder  eine  Listitution  ändere.  Im  Gegenteil,  auch  um  eines  Menschen  wülen 
müßte  er  sogar  ein  tausendjähriges  Gesetz  umstoßen,  wenn  eben  dies  Gesetz 
ein  Unrecht  wäre."'  Er  nennt  es  geradezu  die  wichtigste  Frage  des  gegen- 
wärtigen Staatslebens,  ob  der  moderne  europäische  Staat  ein  ..christlicher" 
öder  ein  „humaner"  sein  soUe.  Da  nim  aber  die  Kirche,  wie  gesagt,  ihre 
Macht  nur  vom  Staate  bezieht,  richte  sich  die  Opposition  der  „Freien''  im 
letzten  Grunde  gegen  diesen  oder  richtiger  gegen  eine  seiner  Institutionen. 
Jedoch  diese  Opposition  wolle  loyal  sein  und  nicht  im  mindesten  büder- 
stürmerisch  oder  revolutionär^). 

Schon  an  einer  anderen  Stelle  wies  ich  darauf  hiu,  daß  diese  höchst 
vorsichtig  gehaltenen  Äußerungen  Stimers  offensichtlich  den  Zweck  hatten, 
die  im  Sommer  1842  noch  ungestörte  Einigkeit  in  den  Eeihen  der  Oppo- 
sition vor  Störungen  zu  bewahren.  Vielleicht  wollte  er  gleichzeitig  auch  die 
preußische  Eegierung  über  die  umstürzhcheren  Bestrebungen  beruhigen,  die 
von  der  Juste-müieu-Presse  den  „Freien"'  nachgesagt  worden  waren. 

Mochte  aber  Stimer  nicht  auch  das  Bedürfnis  empfinden,  in  dieser 
Sache,  die  ihm  so  nahe  am  Herzen  lag.  seine  Ansicht  in  die  Welt  hinaus 
zu  rufen,  ohne  daß  er  eine  Larve  vorlegen  mußte?  Königsberg  war  bekannt 
durch  die  überaus  liberale  Zensur,  die  hier  gehandhabt  wurde  und  die  dem 
freisinnigen  PoUzeipräsidenten  Abegg  schon  manchen  Eüffel  Eochows  zuge- 
zogen hatte.  Stimer  verkehrte  im  Ejeise  der  ..Freien"',  wie  wir  schon  wissen, 
mit  Eduard  Flottwell.  Diesem  genügte  es  nicht,  in  seiner  ostpreußischen 
Heimat  Mitarbeiter  für  die  Eheinische  Zeitimg  zu  werben,  er  suchte  auch 
Aufsätze  seiner  Berliner  Freunde  in  freigesinnten  ostpreußischen  Blättern 
unterzubringen.  Nun  bittet  er  auf  einem  Briefbogen,  der  wohl  zu  einem 
anderen,  der  das  Datum  des  28.  Juni  trägt,  gehört,  seinen  Freund  Jacoby, 
einer  Antikritik  Bruno  Bauers  gegen  Plank  in  den  Preußischen  Provinz- 
blättem,  die  vom  1.  Juli  ab  mit  erweiterter  Tendenz  erscheinen  würden,  Auf- 
nahme zu  verschaffen.    Gleichzeitig  aber  beauftragt  er  Jacoby,  E einhold  Jach- 

')  Vgl.  S.  58  oben. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Eadikalismus  im  vormärzl.  Preulien.      109 

mann  zu  fragen,  ob  ein  Aufsatz  Stirners,  den  er  jenem  schon  früher  einge- 
sandt hätte,  hier  Aufnahme  finden  würde.  Der  Aufsatz  handle  ,,Über  die 
Verpflichtung  der  Staatsbürger  zu  ir gendei n em  Rel i gions- 
b  ekenn  tnisse". 

Wirklich  habe  ich  im  Nachlaß  Jacobys  einen  Aufsatz  gefunden,  der 
diese  Frage  behandelt  und  der  dem  Stil  und  Inhalt  nach  sehr  wohl  an  Stirner 
als  Autor  denken  läßt.  Aber  —  dieses  Manuskript,  dem  Abegg  am  6.  Juli 
die  Druckerlaubnis  versagte,  ist  vom  4.  Juli  datiert  und  kann  auch  nicht  gut 
früher  abgefaßt  sein,  da  es  auf  die  Leitartikel  der  Kölnischen  Zeitung  vom 
28.  Juni  und  der  Spenerschen  Zeitung  vom  1.  Juli  Bezug  nimmt.  Seine  Iden- 
tität mit  der  Abhandlung  Stimers,  die  Flottwell  ,, schon  früher"  an  Jachmann 
eingesandt  haben  will,  ist  somit  ausgeschlossen.  Besteht  aber  nicht  vielleicht 
trotzdem  ein  Zusammenhang?  Von  Flottwells  Briefen  an  Jachmann,  die  über 
Stimer  wichtige  Auskünfte  geben  müßten,  besitzen  wir  so  wenig  eine  Spur 
wie  von  dem  Manuskript  des  erwähnten  Stirnerschen  Aufsatzes.  Auch  suchte 
ich  in  den  Preußischen  Pro\'inzblättern  vergebens  nach  einem  Beitrag  Stirners. 
Wäre  es  nun  aber  nicht  denkbar,  daß  Stirner  seine  bis  zum  Juli  nicht  ge- 
druckte Abhandlung  veraltet  gefunden  und  durch  eine  andere  ersetzt  hätte, 
als  das  von  ihm  früher  behandelte  Thema  nach  dem  Artikel  der  Königsberger 
Zeitung  vom  12.  Juni  brennend  aktuell  wurde?  In  der  Zeitungspraxis  kommt 
derartiges  öfter  vor!  Selbstredend  handelt  es  sich  dabei  nur  um  eine  Hypo- 
these. Wer  käme  übrigens  sonst  als  Verfasser  ernstlich  in  Betracht?  Die 
Brüder  Bauer  fallen  weg,  weil  sie  den  Austritt  aus  der  Kirche  nicht,  wie  es 
hier  geschieht,  befürworteten^).  Eher  ließe  sich  an  Buhl,  noch  eher  an  die 
flüssige  und  kräftige  Sckreibweise  des  jungen  Friedrich  Engels  denken!  Aber 
von  allem  anderen  abgesehen,  was  gegen  ihre  Autorschaft  spricht,  so  wissen  wir 
doch  nur  von  Stirner,  daß  von  ihm  ein  Aufsatz  über  dieses  Thema  nach  Ost- 
preußen gesandt  wiu-de. 

Alle  Ai-tikel,  in  denen  die  „Freien"  auf  die  Angriffe  der  reaktionären 
und  der  Juste-milieu-Presse  damals  reagierten,  nahmen  die  Äußertmgen  dieser 
Blätter  zum  Ausgangspunkt  ihrer  Polemik.  Deshalb  wäre  es  voreilig, 
wollten  wir  für  eine  vom  gleichen  Tage  wie  unser  Aufsatz  datierte  Korre- 
sjjondenz  der  Rheinischen  Zeitung  aus  Berlin,  weil  sie  sich  in  Einzelheiten 
mit  ihm  berührt,  den  gleichen  Verfasser  annehmen').  Auch  der  eigent- 
liche Gedankenkern  der  in  dem  Aufsatz  entwickelten  Ansichten  war  dem 
engeren  Kj-eis  der  „Freien"  gemeinsam.  Daß  man  ein  guter  Mensch 
und  sogar  ein  gi;ter  Bürger  sein  kann,  ohne  auch  ein  guter  Christ  zu  sein, 
betonten  sie  noch  alle  anno  1842^).  Die  Gründe,  aus  denen  sie  es  vorerst 
unterließen,  den  Staat  als  solchen  zu  bekämpfen,  sind  dem  Leser  bekannt*). 
Selbst  Stirner  könnte  aus  taktischen  Gründen  sehr  wohl  den  Staat  gegen 
Kirche    und  Eeligion    ausgespielt    haben.     Wie    wir   wissen,    lag    ihm  noch 

^)  Vgl.  Bruno  Bauer,  Die  gute  Sache  der  Freiheit  und  meine  eigene 
Angelegenheit,  Zürich  und  Winterthiu-  1842,  S.  209  ff.,  und  B.  Radge  (Edgar 
Bauer)  in  Deutsche  Jahrb.,  10.  August  1842.  (Der  willkürliche  Rücktritt  der 
Einzelnen  wäre  keine  „wissenschaftliche"  Lösung  usw.) 

")  Rhein.  Ztg.,  8.  Juli.  Dort  auch  Hinweis  auf  die  Verbrechen  des 
christlichen  Mittelalters  und  Spott  über  das  Panzerhemde. 

')  Vgl.  z.  B.  Buhls  Berliner  Brief  im  Telegi-aph  Nr.  26  (Februar), 
Koppen  unter  Berufung  auf  Fichte  in  Anekdota  I  S.  193,  die  Brüder 
Bauer  a.  a.  0. 

*)  Vgl.  oben  S.  51  f. 


110     Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

mehr  daran,  Gott  als  den  König  zu  stürzen.  Der  Artikel  war  für  Ost- 
preußen bestimmt,  wo  auch  das  Beamtentum  über  religiöse  Dinge  frei  dachte. 
Daß  die  dortigen  liberalen  Gutsbesitzer  mit  den  „Freien"  harmonierten, 
erfahren  wir  gerade  von  ihm.  Da  er  die  Gesinnungen  der  Provinz,  in  der 
er  Jahre  hindurch  gelebt  hatte,  kannte,  so  mußte  er  wissen,  daß  Äußerungen 
gegen  den  Staat  als  solchen  hier  gar  kein  Verständnis  finden  und  den 
„Freien"  alle  Sympathien  verscherzen  würden.  Wie  ängstlich  auch  er  da- 
mals darauf  bedacht  war,  keine  Eisse  in  der  noch  geschlossenen  Mauer  der 
Opposition  eintreten  zu  lassen,  zeigte  sein  Aiifsatz  für  die  Leipziger  All- 
gemeine Zeitung,  mit  dessen  wahrer  Tendenz  sich  das  unten  abgedruckte 
Manuskript  in  keinem  Punkte  widerspricht.  Zum  Überfluß  sei  erinnert, 
daß  er  dort  nicht  etwa  schon  den  Staat  überhaupt,  sondern  den  „christlichen 
Staat"  bekämpft,  dem  er  noch  den  „Staat  der  Bildung",  den  „humanen" 
Staat  entgegenstellt! 

In  bezug  auf  die  Weltanschauungsfragen  steht  der  Verfasser  des 
Artikels  auf  einem  sehr  verwandten  Boden  wie  der  des  ,, Gegen worts".  Höch- 
stens läßt  sich  sagen,  daß  hier  —  ein  bedeutungsvolles  halbes  Jahr  später  — 
bereits  mit  größerer  Offenheit  jede  Eeligion  abgelehnt  wird:  Dem  Menschen 
solle  nicht  als  Fremdes  vorgeführt  werden,  was  in  seiner  eigenen  Brust  lebt. 
Doch  auch  hier  wird  nur  erst  der  offenbarte  Gott  geleugnet,  nicht  schon 
„der  Gott  im  Menschen  und  in  der  Geschichte,  wenn  man  diesen  noch  so 
nennen  will".  Das  humane  Ideal  in  der  Ausprägung  Feuerbachs  findet  volle 
und  begeisterte  Zustimmung.  Schon  wird  alle  Autorität  als  „unmenschlich" 
verworfen.  Wo  von  den  Geistlichen  als  der  Leibgarde  Gottes  gesprochen  wird, 
denkt  wohl  jeder  Leser  an  die  verwandten  Stellen  des  „Gegenworts". 

Nach  allem,  was  wir  wissen,  ist  es  zweifellos,  daß  Stirner  für  das 
wohl  von  den  jüngeren  Mitgliedern  des  Kreises  ausgeheckte  Vereinsprojekt 
und  somit  auch  für  die  staatsbürgerlichen  Konsequenzen,  zu  denen  die 
Mitglieder  sich  verpflichten  sollten,  anfänglich  Sympathien  hegte.  Vielleicht 
war  es  dann  Bruno  Bauer,  der  ihn  von  der  Unausführbarkeit  oder  von  der 
Gefährlichkeit  eines  solchen  Unternehmens  überzeugte.  In  dieser  Hinsicht 
ist  es  nicht  sehr  wesentlich,  ob  ein  Artikel  der  Deutschen  Jahrbücher 
vom  11.  Januar  1842  über  , .Christentum  und  Antichristeutum",  in  dem  die 
Gedanken  von  Austritt  aus  der  Kii-che  usw.  wohl  ziemlich  zuerst  spukten, 
von  ihm  oder  einem  anderen  Mitglied  des  Kreises  verfaßt  ist^).  Wie  der 
Wunsch  nach  völliger  Befreiung  von  den  kirchlichen  Zeremonien,  die  der 
Staat  damals  noch  bei  der  Eheschließung  und  anderen  Gelegenheiten  forderte, 
gehörte  auch  das  allgemeinere  Verlangen,  daß  der  Staat  von  seinen  Bürgern 
nicht  die  Zugehörigkeit  zu  einem  bestimmten  Religionsbekenntnis  bean- 
spruchen dürfe,  in  den  Rahmen  des  Kampfes  der  jungen  deutschen  Auf- 
klärung gegen  den  ,, christlichen  Staat". 

Vielleicht  gelingt  es  der  Zukunft,  mit  Sicherheit  festzustellen,  ob  Stimer 
oder  ein  anderer  das  hier  zum  erstenmal  gedruckte  authentische  Pro- 
gramm des  engsten  Kreises  der  ,, Freien'"  verfaßt  hat.  Als  Dokument 
für  die  Geschichte  der  Empörung  der  radikalen  Aufklärung  in  Preußen  gegen 
das  historische  Christentum  kommt  ihm  unter  allen  Umständen  Bedeutung  zu. 

')  Flottwell  berichtet  an  Jacoby  am  12.  März  1842,  daß  Stimer  auch 
für  die  Deutschen  Jahrl)ücher  „vortreffliche  Aufsätze"  geliefert  hätte.  Bei  einer 
Durchsicht  dieser  Zeitschrift  schien  mir  möglicherweise  der  Aufsatz: 
„Christentum  und  Antichristeutum",  der  „Ein  Philosoph"  unterzeichnet  ist, 
in  Betracht  zu  kommen. 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      111 

Berlin,  4.  Juli. 
Am   Rande    steht    eine    Bemerkung   des    Zensors:    „darf   nicht   ab- 
gedruckt  werden  K.   6.  Juli,     Abegg." 

Über  die  Verpflichtung  der  Staatsbüi-g-er  zu  irgend  einem  Religlons- 

belieuutnis. 

Es  ist  schlimm,  wenn  wohlmeinender  Unverstand  sich  in  Sachen  mischt, 
die  über  seinen  Gesichtskreis  hinausliegen,  wie  dies  der  Kölnischen  und  der 
Spenerschen  Zeitung  in  bezug  auf  den  projektierten  Verein  der  ,, Freien"  be- 
gegnet ist;  beide  überbieten  sich  in  faselnder  Altweiberweisheit,  krassen 
Mißdeutungen  und  sinnlosen  Voraussetzungen.  Und  doch  war  es  so  leicht, 
hier  das  Wahre  zu  finden,  da  der  Boden,  aus  welchem  dieser  Entschluß 
hervorgewachsen  ist,  für  keinen  Gebildeten  mehr  eine  terra  incognita  sein 
kann.  Es  wäre  nur  nötig  gewesen,  auf  Strauß,  Feuerbach,  Bauer  und  auf 
die  „Deutschen  Jahrbücher"  zurückzugehen,  um  sich  solche  phantastische  und 
abenteuerliche  Vorstellungen  vom  Halse  zu  halten.  Aber  es  sollte  ja  die 
Religion  verteidigt,  es  sollte  die  freie  durch  die  christliche  Gesinnung  be- 
kämpft werden;  das  gibt  der  Sache  freilich  ein  anderes  Ansehen,  und  was 
zunächst  als  Unverstand  erscheint,  ist  vielleicht  wohlberechnete,  durch  alle 
bisherigen  Präzedentien  und  durch  die  Heiligkeit  der  Sache  berechtigte  Taktik. 
Dann  erscheint  freilich  die  Redensart  von  den  Panzerhemden  nur  als  eine 
prächtige  rhetorische  Figur,  die  Erinnerung  an  die  Vernunftgöttin  als  ein 
Popanz,  der  für  schwache  Geister  hergestellt  wird.  Diesen  nun  mag  daher 
auch  die  Versicherung  gelten,  daß  sie  nach  wie  vor  ruhig  schlafen  können, 
wenn  sie  ein  gutes  Gewissen  zum  Kopfkissen  haben  und  der  Polizei  das 
wohlverdiente  Zutrauen  schenken,  daß  sie  meuchlerische  Angriffe  auf  das 
Leben  friedlicher  Bürger  und  ehrbarer  Familienväter  zu  verhüten  wissen 
werde.  Überdies  wissen  wir  wohl,  daß  im  Namen  Gottes  imd  der  Religion 
Scheiterhaufen  errichtet,  Dolche  gezückt,  Verfolgungen  verhängt  worden  sind; 
der  größte  Bogen,  der  je  aus  Englands  Papierfabriken  hervorgegangen  ist, 
würde  nicht  genügen,  um  eine  vollständige  Martyrologie  der  Schlachtopfer 
der  Religion  aufzunehmen.  Von  der  Philosophie  ist  nichts  dergleichen  bekannt; 
sie  ist  nur  immer  die  Unterdrückte  und  Verfolgte  gewesen  und  wird  diese 
edlere  Stelle  auch  schwerlich  gegen  die  der  Verfolgung  vertauschen  wollen. 
Allerdings  haben  die  Zeiten  sich  etwas  gebessert:  man  steinigt  nicht  mehr, 
man  kreuzigt  nicht  mehr,  man  verbrennt  nicht  mehr;  - —  aber  man  hat 
noch  andere  nicht  weniger  probate  Mittel:  man  vertreibt  die  Lehrenden 
von  Amt  und  Brot,  man  verjagt  diejenigen,  welche  ihrem  alten  Glauben 
treu  bleiben,  aus  der  Heimat,  man  verdächtigt  diejenigen,  welche  die  Ver- 
nunft als  einzige  und  ausschließliche  Norm  ihres  Lebens  und  Handelns  an- 
erkennen, man  ruft  gegen  sie  die  Leidenschaften  des  Pöbels  auf.  Man  sagt 
nicht:  steinigt  die  Verruchten!  aber  man  meint  mit  einer  versteckten  argu- 
mentatio  ad  hominem,  der  gesunde  Sinn  der  Mitbürger  werde  solches  Treiben 
nicht  dulden.  Vielleicht  wirkt's;  wo  nicht,  so  versucht  man's  anders.  Oder 
man  deutet  auf  eine  sehr  verständliche  Weise  an,  daß  Leute,  die  eine  freie 
Gesinnung  haben,  Hallunken,  Mörder,  Banditen  sein  müssen. 

Was  woUen  denn  nun  die  ,, Freien",  was  so  lächerliche  Anklagen  hervor- 
rufen konnte?  Die  Antwort  ist  einfach:  sie  wollen  eben  frei  sein,  frei  von 
allem  Glauben,  aller  Überlieferung  und  Autorität,  weil  diese  unmenschlich 
sind.  Sie  wollen  keine  Religion,  weil  alle  Religion  nur  äußerlich  fixiert 
und  als  Fremdes  dem  Menschen  vorführt,   was  in  seiner  eigenen  Brust  lebt. 


112     Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen. 

Es  ist  daher  lächerlich,  ihnen  die  Vernunftreligion  oder  die  Vernunftgöttin 
imterzuschieben.  Von  Vernunftreligion  konnte  nur  da  die  Rede  sein,  wo 
man  die  Kette  zwar  zersprengt,  aber  noch  nicht  abgeworfen  hatte.  Die 
„Freien"  kennen  keinen  jenseitigen,  in  nebelhafter  Ungewißheit  schwebenden 
Gott,  keinen  geoffenb arten,  kein  etre  supreme,  oder  wie  es  sonst  heißen 
möge,  sondern  nur  den  Gott  im  Menschen  und  in  der  Geschichte,  wenn  man 
diesen  noch  so  nennen  will.  Sie  allein  sind  bei  ihm,  weil  er  in  ihnen  ist. 
Alle  anderen  Stufen  des  Bewußtseins  haben  nur  ein  trügerisches  Spiegelbild, 
eine  leere  Fantasmagorie.  Für  sie  gibt  es  natürlich  keine  Offenbarung,  denn 
dem  Menschen  kann  sein  eigenes  Wesen  nicht  geoffenbart,  sondern  nur  zum 
Bewußtsein  gebracht  werden;  für  sie  gibt  es  nicht  die  gemeine  Vorstellung 
der  persönlichen  Unsterblichkeit,  weil  sie  wissen,  daß  der  Geist  allein  un- 
sterblich ist,  für  sie  nicht  so  viele  andere  entwürdigende  Vorstellungen, 
welche  nur  darauf  hinausgehen,  das  Endliche  zu  verunendlichen  und  den 
Geist  durch  rohe  Versinnlichung  zu  schänden. 

Also  jammert,  Ihr  Sklavenseelen,  denen  das  Bewußtsein  ihrer  Knecht- 
schaft angeboren  ist  und  deren  Knie  zu  biegsam  geformt  sind,  um  sich  in 
der  Stellung  zu  gefallen,  welche  dem  freien  und  edlen  Menschentum  allein  ge- 
ziemt. Also  zittert,  Ihr  ehrbaren  Leute,  haltet  Eure  Börsen  fest  und  nehmt 
Eure  Hälse  in  acht!  Wer  wird  Euch  Em-e  4  Prozente  garantieren,  wenn  es 
keine  Religion  mehr  gibt?  Wer  Euch  vor  Mord  und  Totschlag  schützen? 
Indes  vertraut  nur  der  Polizei,  vor  allen  Dingen  mißtraut  aber  denen,  welche 
nicht  müde  werden.  Euch  zu  sagen,  daß  die  Religion  die  Bedingung  der 
Moral  und  der  Sittlichkeit  sei.  Seid  überzeugt,  daß  wo  Ihr  diese  Redensart 
hört,  immer  im  Trüben  gefischt  wird.  Freilich  haben  uns  unsere  Seelsorger 
versichert,  daß  man  nicht  guter  Mensch  sein  könne,  ohne  guter  Christ  zu 
sein.  Ja,  wohl,  so  haben  sie  gesagt,  aber  wer  hat's  ihnen  geglaubt?  In 
dem  Interesse  ihrer  Kaste  mag  es  liegen,  daß  das  Christentum  als  der 
einzige  Quell  aller  Tugenden  erscheine,  denn  sie  sind  dessen  Verweser;  in 
ihrem  Interesse  mag  es  liegen,  von  einem  jenseitigen  Gott  zu  sprechen, 
denn  sie  sind  seine  Leibgarde,  seine  Söldlinge,  seine  Hofschranzen,  welche 
aus  guten  Gründen  die  Entfremdung  zwischen  ihm  und  'uns  so  viel  wie 
möglich  zu  erweitern  suchen.  Aber  wir?  wir  sollten  glauben,  daß  es 
ohne  Religion,  besonders  ohne  Christentum,  keine  Tugend,  keine  Moral, 
keine  Sittlichkeit  gebe.  Mit  solchen  Märchen  äfft  man  Kinder.  Wir  wissen, 
wo  wir  das  Rechte  und  Gute  zu  suchen  haben,  und  werden  uns  wohl 
hüten,  es  aus  zweiter  Hand  zu  nehmen,  da  wir  leider  nur  zu  gewiß  sind, 
daß  wir  es  nicht  rein  und  unverfälscht  aus  derselben  erhalten.  Wer  wahr- 
hafter Mensch  sein  will,  der  greife  in  seinen  Busen,  der  suche  das  Edle  und 
Große  in  der  Menschennatur  und  in  der  Geschichte  der  Menschheit,  und  wem 
das  nicht  genügt,  der  betrachte  das  als  ein  Kennzeichen,  daß  er  der  Freiheit 
nicht  wert  ist,  und  daß  ihm  wahre  Menschenwürde  fehlt.  Nein,  Ihr  Phari- 
säer, das  werdet  Ihr  uns  nicht  vorreden,  daß  es  außerhalb  des  Christentums 
keine  Moral  und  keine  Sittlichkeit  gibt.  Dieses  hat  vielmehr  beiden  Begriffen 
den  Stempel  des  Eigennutzes  aufgedrückt,  indem  es  die  Lehre  der  Vergeltung 
und  der  Belohnung  einführte.  Seien  wir  edler  und  tuen  vsdr  das  Gute  nicht 
im  Hinblick  auf  das  Jenseits  und  den  jenseitigen  Lohn,  sondern  weil  es 
unserer  und  der  menschlichen  Natur  würdig  ist. 

Hat  man  uns  doch  auch  vorgeredet,  daß  man  guter  Christ  sein  müsse, 
um  guter  Bürger  zu  sein;  spricht  man  uns  doch  unaufhörlich  vom  christ- 
lichen Staate,    als  ob  Kirche  und  Staat  nicht  zwei  ganz  getrennte,   nur  zu- 


Mayer,  Die  Anfänge  des  polit.  Radikalismus  im  vormärzl.  Preußen.      113 

fällig  und  unrechtmäßig  vermischte  Gebiete  wären.  Als  ob  ich  nicht  meine 
Pflichten  gegen  den  Staat  erfüllen  könnte,  ohne  irgendeiner  Kirche  anzuge- 
hören. Ob  nicht  vielleicht  sogar  besser,  da  die  konsequente  Durchführung 
der  religiösen  Forderungen  zu  gänzliclier  Negation  des  Staates  führt').  Frei- 
lich liegt  es  wiederum  im  Interesse  der  schwarzen  Männer,  unter  dem  Schutze 
des  Staates  die  Gewissen  zu  binden,  die  Überzeugungen  zu  fesseln.  Schlimm 
für  den  Staat,  wenn  er  auf  sie  hört,  wenn  er  christlicher  Staat  sein 
will.  War's  doch  der  christliche  Staat,  der  die  Juden  der  Religion  wegen 
aus  der  Gemeinschaft  ihrer  Mitbürger  ausrangieren  und  in  besonderen  Kor- 
porationen belassen  wollte,  war's  doch  der  christliche  Staat,  der  die  Alt- 
lutheraner nicht  dulden  und  die  Lehrfreiheit  nur  innerhalb  der  Grenzen 
des  Christentums  gestatten  wollte.  Die  ,, Freien"  ehren  den  Staat,  nur 
nicht  den  christlichen;  sie  sind  ihm  mit  Leib  und  Seele  ergeben^),  sie  werden 
Gut  und  Blut  opfern,  wenn  seine  Zwecke  erheischen,  und  wollen  fürs  erste 
wenigstens  seine  Donner-Legion  sein.  Aber  sie  wollen  nichts  mit  der  Kirche 
zu  schaffen  haben  und  werden  suchen,  den  unvermeidlichen  Scheidungs- 
prozeß zwischen  Kirche  und  Staat  nach  Kräften  zu  beschleunigen.  Sie  er- 
kennen das  Christentum  nicht  an,  aber  da  der  Staat  gewisse  religiöse  Formen 
zur  Bestätigung  bürgerlicher  Akte  adoptiert  hat,  so  müssen  sie  sich  diesen 
unterwerfen,  sie  müssen  sich  taufen,  einsegnen,  trauen  lassen  usw.  Sie 
können  nicht  ins  Leben  treten,  dasselbe  nicht  verlassen,  keine  wichtige 
Handlung  begehen,  ohne  mit  der  Kirche  in  Kollision  zu  kommen;  ja  sie 
müssen  selbst  den  Namen  eines  Gottes,  den  sie  nicht  kennen,  als  Zeugnis 
der  Wahrheit  anrufen.  Das  ist  ein  unleidlicher  Zustand  für  sie,  dem  sie  sich 
um  jeden  Preis  entziehen  wollen. 

Das  ist  alles,  was  sie  fordern;  sie  wollen  Bürger  sein  dürfen,  ohne  eine 
Religion  zu  haben.  Und  das  scheint  nicht  zuviel  verlangt.  Wo  die  Unver- 
nunft in  so  vielen  Formen  herrscht,  da  wird  doch  auch  der  Vernunft  eine 
Existenz  vergönnt  werden  können.  Also  keine  Religion !  Austritt  aus  der 
Kirche!  Aber  Moral,  Sittlichkeit,  Pflichten  gegen  Familie,  bürgerliche  Ge- 
sellschaft und  Staat.  Kein  Götzendienst,  aber  Verehrung  der  sittlichen  Mächte 
und  alles  wahrhaft  Menschlichen.  Aber  warum  jetzt  schon  damit  hervor- 
treten? fragst  Du,  wackerer  Th.  H.,  dessen  Christentum  selbst  nicht  ganz 
unverdächtig  scheint,  da  Du  die  Sache  nur  um  ein  paar  Jahrtausende  vertagt 
wissen  willst.  Warum  jetzt?  Weil  endlich  eine  Zeit  kommt,  wo  die  Hülse 
gesprengt  werden  muß.  Früher  war  die  Freiheit  nur  in  der  Wissenschaft, 
und  da  auch  nur  in  dunkle  Formeln  gehüllt.  Leibniz,  Spinoza,  Hegel  hatten 
die  Wahrheit,  a))er  das  war  eine  esoterische.  Jetzt  endlich  macht  sie  Miene, 
aus  der  Wissenschaft  ins  Leben  überzuspringen  und  exoterisch  und  praktisch 
zu  werden.     Hoffen  wir,  daß  es  ihr  schon  gelingen  werde. 

Und  nun,  Du  furchtsamer  Mann,  der  Du  von  Mord  und  Dolchen  träumst, 
wird  auch  wohl  Deine  Angst  gestillt  sein.  Oder  nicht?  So  wollen  wir  Dir 
beim  engeren  Ausschuß  der  j.BVeien"  eine  Sicherheitskarte  für  Dich  und  Deine 
Familie  und  eine  sauve  garde  für  Dein  Haus  erwirken,  damit  Du  siehst,  daß 
sich  ,, Freie"  edel  rächen.   Und  dann,  si  fractus  illabatur  orbis,  Du  bist  geborgen! 

^)  Vgl.  hierzu  u.  a.  Edgar  Bauer,  Bruno  Bauer  und  seine  Gegner, 
Berlin  184y  S.  25. 

^)  Vgl.  Bruno  Bauer,  Die  gute  Sache  etc.,  S.  219,  und  Edgar  Bauer, 
Bruno  Bauer  und  seine  Gegner  S.  27  und  28. 


Zeitschrift  für  Politik.   6. 


II. 

Die  Grundlagen  der  britischen  Politik 

Von  J.  Alfred  Spender 

übersetzt  von  Arnold  N.  Eennebarth 


Inhalt: 


Einführung  des  Übersetzers. 
Einleitung  des  Verfassers. 
I.  Die  Kontroverse  mit  Deutschland. 

1.  Vom  britischen  Standpunkt. 

2.  Vom  deutschen  Standpunkt. 

3.  Freimut  vonnöten. 

n.  Die  Beherrschung  der  See. 

1.  Die    britische    Doktrin   von   der    See- 
macht. 

2.  Einspruch  des  Auslandes. 

3.  Entgegnung  vom  britischen  Standpunkt. 

4.  Allgemeine  Wehrpflicht,  Schutzzoll  und 
Seemacht. 

5.  Eine  gefährliche  Ketzerei. 

in.  Die  allgemeine  Wehrpflicht  und  das  euro- 
päische Gleichgewicht. 


1.  Die    allgemeine    Wehrpflicht    und    die 
Politik   der  „Wehrpflichtler". 

2.  Das  europäische  Gleichgewicht. 

IV.  Die  Stellung  des  Reichs  (Empire)  zu  der 
Frage. 

1.  Die  große  zentripetale  Tendenz. 

2.  Einfluß  auf  das  britische  Weltreich. 

3.  Logische  Dilemmas  u.  praktische  Folge- 
rungen. 

4.  Ein  Akt  des  Glaubens. 

V.  Eine  deutsch-englische  Detente. 

1.  Deutsche  Anklagen  und  britische  Ent- 
gegnungen. 

2.  Taten,  nicht  Worte. 

3.  Kleinere  Reibungen. 
VI.  Schlußwort. 


Einführung  des  Übersetzers 

Da  der  Verfasser  der  „Grundlagen  der  britischen  Politik" 
schon  eine  besondere  Einleitung  für  seine  deutschen  Leser 
seinen  Ausführungen  vorausschickt,  kann  der  Übersetzer  sich 
kurz  fassen. 

Der  Verfasser,  Mr.  J.  A.  Spender,  ist  seit  Jahren  der 
Chefredakteur  der  ,,Westminster  Gazette",  der  bekannten,  und 
man  kann  fast  sagen,  einzigen  englischen  liberalen  Abend- 
zeitung. Man  liest  und  beachtet,  was  Mr.  Spender  zu  sagen 
hat,  nicht  nur  in  liberalen,  sondern  auch  in  konservativen 
Kreisen.  Er  gehört  zu  der  kleinen  Zahl  englischer  Journalisten, 
die  Einfluß  haben,  und  zwar  einen  Einfluß,  der  nicht  etwa 
herrührt  aus  den  Quellen,  aus  denen  er  schöpft,  sondern  aus 
seiner  Persönlichkeit  und  seinem  anerkannten  common  sense. 


Spender,   Die  Grundlaijen  der  britischen  Politik.  115 

Die  „Grundlagen"  erschienen  zuerst  als  eine  Reihe  von 
Aufsätzen  in  der  „Westminster  Gazette",  und  zwar  am  Ende 
des  ereignisreichen  Jahres  1911.  Sie  sind  also  unter  dem 
Eindruck  der  Ereignisse  geschrieben,  die  man  gewöhnlich  unter 
dem  Sammelnamen  ,, Marokkokrise"  zusammenfaßt.  Der  Unter- 
zeichnete, der  seit  einem  Jahrzehnt  an  Ort  und  Stelle  die  eng- 
lische Politik  beobachtet  und  verfolgt  —  oder  zu  verfolgen 
sucht  —  und  im  Laufe  seiner  journalistischen  Tätigkeit  ge- 
zwungen ist,  sich  täglich  über  seine  Beobachtungen  Rechen- 
schaft abzulegen,  hat  aus  dieser  Krise  einen  festen  Eindruck 
empfangen :  das  grenzenlose  Erstaunen  —  fast  Bestürzung  zu 
nennen  — ,  mit  dem  sehr  weite  Kreise  in  England  aus  den 
Debatten  im  Parlament  und  Reichstag  vernahmen,  daß  England 
und  Deutschland  mehr  als  einmal  im  Verlauf  der  Krise  dicht 
vor  dem  Ausbruch  des  ,, unvermeidlichen"  Krieges  gestanden 
hatten.     Das  nötigte  zur  Einkehr,  hüben  und  drüben.  — 

Kein  Deutscher  wird  mit  allem  übereinstimmen,  was 
Mr.  Spender  über  Deutschland,  die  deutsche  Politik  und  das 
deutsch-englische  Verhältnis  sagt.  Aber  wir  alle,  die  Heraus- 
geber dieser  Zeitschrift,  Mr.  Spender  und  der  Unterzeichnete, 
hoffen,  daß  diese  Ausführungen  dazu  beitragen  werden,  die 
deutsch-englischen  Beziehungen  zu  klären  und  vielleicht  zu 
weiteren  Erörterungen  Veranlassung  zu  geben,  nicht  zu  Er- 
örterungen, was  einmal  war,  sondern  was  ist  und  werden  soll. 

Dabei  drängt  sich  die  Frage  auf:  Sind  diese  ,, Grund- 
lagen der  britischen  Politik"  sichere  Grundlagen,  auf 
denen  eine  deutsch-englische  Politik  sich  aufbauen 
läßt?  Mit  anderen  Worten:  selbst  angenommen,  daß  uns,  als 
Deutschen  und  mit  unseren  Wünschen  für  die  deutsche  Zukunft, 
diese  ,, Grundlagen"  weder  bequem  noch  genehm  sind,  ist  die 
Politik,  die  auf  diesen  Grundlagen  ruhen  würde,  wirkhch  die 
derzeitige  englische  Politik?  Ist  es  die  Politik  des  englischen 
Kabinetts,  des  Staatssekretärs  Sir  Edward  Grey,  des  britischen 
Auswärtigen  Amts?  Vor  allen  Dingen,  ist  es  die  Politik,  die 
auch  die  Unterstützung  der  konservativen  Opposition  findet  und 
also  die  ganze  Nation  geeint  hinter  sich  hat?  Die  Frage  ist 
in  dem  kleinen  Räume,  der  mir  zur  Verfügung  steht,  schwer 
zu  beantworten.  Dazu  müßte  man  erst  die  Vorfrage  erörtern: 
Wer  ,, macht"  eigentlich  die  englische  auswärtige  Politik,  eine 
Frage,  die  noch  an  keiner  Stelle  in  genügender  Weise  erörtert 
wurde  und  über  die  Engländer  in  der  Regel  sich  sehr  zurück- 
haltend äußern. 


116  Spender,   Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

Mr.  Spender  lehnt  jede  „Inspirierung"  seiner  Ausführungen 
ab:  sie  sind  weder  offiziell,  noch  halboffiziell,  noch  offiziös. 
Aber  er  gilt  im  allgemeinen  als  der  beste  Kenner  und  Erklärer 
der  Politik  Sir  Edward  Greys;  seine  Kenntnis  beruht  auf 
ständigem  persönlichen  Verkehr  nicht  nur  mit  diesem  Leiter 
der  auswärtigen  Politik,  sondern  auch  mit  den  anderen,  aus- 
schlaggebenden Stellen  und  Kreisen.  Ich  möchte  seine  Politik 
die  Politik  der  mittleren  Linie  nennen,  oder  besser,  die 
Resultante  aus  den  zwei  Komponenten,  den  Radikalen  und  den 
Imperialisten.  Die  Radikalen  möchten  zur  Politik  der  ,, splendid 
Isolation"  zurückkehren,  einer  Politik,  die  Sir  Edward  Grey 
ausdrücklich  als  ,, unmöglich"  bezeichnet  hat.  Die  Imperialisten 
möchten  die  ,, Entente"  mit  Frankreich  und  Rußland  in  ein 
Bündnis  umwandeln.  Diese  Politik  der  Resultante  hat  den 
Nachteil,  daß  sie  keine  ganz  gerade  Linie  darstellt,  sondern 
von  Zeit  zu  Zeit  und  Fall  zu  Fall  von  der  Mitte  abweicht,  je 
nachdem  die  eine  der  Komponenten  stärker  oder  schwächer  ist.  — 

Ich  möchte  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  besonders  auf 
den  Abschnitt  IV:  ,,Die  Stellung  dcs  Reichs  zu  der  Frage" 
lenken,  d.  h.  den  Einfluß,  den  die  großen  selbständigen  Kolonien 
oder  ,, Schwesterstaaten"  auf  die  auswärtige  Politik  ausüben 
oder  jedenfalls  ausüben  werden.  Man  nimmt  hier  ziemlich 
allgemein  an,  —  und  Mr.  Spender  bringt  das  auch  in  diesem 
Abschnitt  zum  Ausdruck  - — ■,  daß  dieser  Einfluß  in  der  Richtung 
einer  größeren  Vorsicht  und  Zurückhaltung  in  der  englischen 
Politik  sich  fühlbar  machen  wird.  Diese  Vorsicht  und  Zurück- 
haltung will  man  bereits  in  der  Haltung  der  englischen  Politik 
während  des  Balkankrieges  bemerkt  haben.  Das  kann  wohl 
sein;  aber  es  ist  auch  sehr  wohl  möglich,  daß  die  ,, Schwester- 
staaten", die  nicht  gerade  an  einer  Unterschätzung  ihrer  Kräfte 
leiden  und  von  den  europäischen  Verhältnissen  herzlich  wenig 
wissen,  das  Mutterland  in  Schwierigkeiten  verwickeln.  Wie 
dem  auch  sei :  auf  jeden  Fall  wird  der  Apparat,  der  die  Kräfte 
des  Reichs  nach  irgendeiner  Richtung  in  Bewegung  setzen  soll, 
durch  Hinzuziehung  der  ,, Schwesterstaaten",  zum  ,,Rat  der 
Alten",  sehr  viel  komplizierter  und  schwerfälliger,  und  fast 
unfähig,  schnelle  Entschlüsse  zu  fassen. 

Ich  möchte  zum  Schluß  noch  eine  eigene  Ansicht  aus- 
sprechen, anknüpfend  an  die  letzten  Worte  Mr.  Spenders,  mit 
denen  er  vor  unbegründeten  Befürchtungen  und  Besorgnissen 
warnt.  Sir  John  Seeley,  der  Historiker,  sagt  in  seinem  berühmten, 
1883  erschienenen  Buch  ,,The  Expansion  of  England",  die  Eng- 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  117 

länder  scheinen  ihr  Imperium  begründet  zu  haben  „in  a  fit  of 
absence  of  mind"  —  in  einem  Anfall  von  Geistesabwesenheit. 
Er  will  damit  wohl  sagen,  daß  das  englische  Weltreich  sich 
sozusagen  spontan  entwickelt  hat,  und  nicht  nach  einem  wohl- 
durchdachten Plan.  In  gewisser  Hinsicht  scheint  mir  das  auch 
auf  die  englische  auswärtige  Politik  anzuwenden  zu  sein.  Es 
besteht  hier  eine  große  Tradition,  die  sich  in  den  herrschenden 
Klassen  verkörpert,  und  die  englische  Politik  fast  instinktiv  das 
Richtige  im  Augenblick  finden  läßt.  Aber  die  Größe  der  eng- 
lischen Politik  besteht  nicht  in  der  Durchführung  eines  von 
langer  Hand  vorbedachten  und  vorbereiteten  Planes,  wie  man 
es  oft  in  Deutschland  dargestellt  findet.  Die  Größe  der  engli- 
schen Politik  scheint  mir  vielmehr  darin  zu  bestehen,  daß  sie 
sich  neuen  Verhältnissen  rasch  anpaßt,  schnell  ihre  Maßnahmen 
trifft,  überraschend  eingreift.  Das  ist  nicht  unwichtig  für  die 
Staatsmänner  des  Auslands,  besonders  die  Deutschlands.  Die 
deutsche  Politik  der  Neuzeit  scheint  immer  damit  zu  rechnen, 
daß  die  englische  Politik  sich  mit  tiefen  und  weitreichenden 
Plänen  herum  trägt,  und  damit  beschäftigt  zu  sein,  einen  ebenso 
tiefen  Gegenplan  zu  elaborieren,  —  Mine  und  Kontremine. 
Wenn  aber  die  Kontremine  springen  soll,  wird  man  gewahr, 
daß  die  Mine  gar  nicht  existierte,  oder  bereits  einen  anderen 
Weg  eingeschlagen  hat.  Der  englischen  Politik  muß  man  mit 
ihren  eigenen  Waffen  entgegentreten:  mit  raschem  Entschluß, 
energischem  Zupacken,  schneller  Anpassung.  Wir  hatten  diese 
Politik  schon  einmal.  Es  braucht  dazu  kein  Genie:  die  aus- 
wärtige Politik  Englands  ist  selten  oder  nie  von  genialen 
Männern  geleitet  worden. 

London,  Ende  Januar  1913. 

Arnold  N.  Rennebarth 

Einleitung  des  Verfassers 

Die  folgenden  Ausführungen  über  die  europäische  Lage 
waren  ursprünglich  einzig  und  allein  für  ein  britisches  Publi- 
kum bestimmt.  Aber  gerade  das  muß  die  Veröffentlichung  einer 
Übersetzung  ohne  Textänderungen  —  einige  Kapitel  am  Anfang 
und  Ende  sind  fortgelassen,  da  sie  nur  lokales  Interesse  haben  — 
in  einer  deutschen  Zeitschrift  rechtfertigen.  Wenn  ein  Engländer 
sich  mit  einer  besonders  für  diesen  Zweck  verfaßten  Schrift 
an  das  deutsche  Publikum  wendet,  oder  ein  Deutscher  in  der- 
selben Weise  an  ein  enghsches  Publikum,  so  setzt  er  sich  dem 


118  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

Argwohn  aus,  daß  er  seine  Darstellung  eigens  zurecht  gemacht 
hat,  daß  sie  vielleicht  sogar  entstellt  ist  durch  die  Weglassung 
wichtiger  Tatsachen,  die  zu  erwähnen  ihm  peinlich  war  oder 
inopportun  schien.  Aber  wenn  er  für  seine  eigenen  Landsleute 
schreibt,  kann  man  wohl  annehmen,  daß  ihm  die  Absicht, 
einem  Dritten  zu  schmeicheln  oder  ihn  zu  täuschen,  fern  lag, 
in  der  sichern  Erkenntnis,  daß  Ausflüchte  und  Verheimlichung 
von  Tatsachen,  die  dem  Leser  geläufig  sind,  sofort  offenbar 
geworden  wären.  Ich  bitte  deshalb  meine  deutschen  Leser,  es 
mir  nicht  zu  verargen,  daß  ich  stellenweise  die  deutsche  Politik 
und  die  in  Deutschland  herrschenden  Ansichten  mit  großem 
Freimut  behandele.  Freimut  ist  in  diesem  Falle  die  beste  Methode. 
Seit  der  Niederschrift  der  folgenden  Kapitel  sind  gewisse 
neue  Tatsachen  hinzugetreten,  die  man  mit  in  Betracht  ziehen 
muß,  die  aber  m.  E.  die  Grundzüge  der  Lage,  wie  sie  sich  im 
vergangenen  Jahre  darstellte,  nicht  geändert,  sondern  nur  noch 
schärfer  ausgeprägt  haben.  Diese  Tatsachen  sind  in  der  Haupt- 
sache: Lord  Haldane's  Besuch  in  Berlin,  die  neue  deutsche 
Flottenvorlage,  die  Erörterungen  über  dieselbe  in  England, 
und  die  Erörterungen  von  militärischen  und  maritimen  Sach- 
verständigen über  die  britische  Stellung  im  Mittelmeer.  Das 
neue  Kapitel,  das  Lord  Haldane's  Besuch  in  Berlin  einleitet, 
hat  noch  viele  leere  Seiten,  wird  aber,  so  hoffe  ich  ernsthaft, 
fortgesetzt  werden  bis  zu  einem  guten  Ende.  Die  Größe  des 
Erfolges  hängt  davon  ab,  ob  die  beiden  Völker  ihren  beider- 
seitigen gleichberechtigten  Standpunkt  verstehen  lernen.  Die 
Gefahr  ist,  daß  aus  Mangel  an  gegenseitigem  Verständnis  sie 
sich  gegenseitig  zu  Handlungen  treiben,  die  ihnen  beiden  zu- 
wider sind  und  ihren  wirklichen  Interessen  im  besten  Sinne 
des  Wortes  zuwiderlaufen.  Wenn  Großbritannien  keine  Insel, 
sondern  ein  Teil  des  europäischen  Kontinents  wäre,  würde  es 
seine  Wehrmacht  gerade  so  organisieren,  wie  Deutschland  und 
Frankreich  die  ihren.  Es  würde  ein  starkes  stehendes  Heer 
haben  und  sich  einer  der  verbündeten  Gruppen  anschließen, 
um  den  Frieden  zu  erhalten  und  seine  Grenzen  gegen  Einfall 
zu  schützen.  Diese  Notwendigkeit  läßt  sich  einzig  und  allein 
dadurch  vermeiden,  daß  Großbritannien  auch  in  politischer 
Hinsicht  eine  Insel  bleibt,  d.  h.  die  britische  Flotte  muß  so 
stark  sein,  daß  sie  den  britischen  Handel  gegen  jede  Unter- 
brechung und  die  britischen  Küsten  vor  jeder  Invasion  schützen 
kann.  Zweifel  daran,  eine  wirklich  gefährliche  Herausforderung 
der  britischen  Seemacht  haben  notwendigerweise  die  Tendenz, 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  119 

die  britische  Politik  vom  alten  Wege  in  die  Richtung  auf  Kon- 
tinentalismus und  Militarismus  abzulenken.  Wenn  Deutschland 
wirklich  die  Absicht  hätte,  eine  Flotte  zu  bauen,  stärker  als  die 
Großbritanniens,  und  diese  Absicht  wirklich  ausführte,  so  wäre 
damit  der  Ärmelkanal  abgeschafft:  Großbritannien  wäre  eine 
Festlandsmacht  geworden  und  dadurch  gezwungen,  für  die 
Sicherung  seiner  Interessen  mit  denselben  Mitteln  zu  sorgen, 
als  seine  kontinentalen  Nachbarn. 

Auf  die  Erkenntnis  dieser  Tatsachen  müssen  die  deutsch- 
englischen Beziehungen  sich  gründen.  Es  gibt  für  Großbritan- 
nien keine  Kompensation  für  den  Verlust  der  Vormachtstellung 
zur  See.  Kann  England  diese  Stellung  zur  See  nicht  aus  eigenen 
Kräften  aufrecht  erhalten,  so  muß  es  Bündnisse  suchen,  und 
für  diese  Bündnisse  müßte  es  damit  zahlen,  daß  es  seine  latente 
Wehrkraft  zu  Lande  ausbaut.  Bedenkt  man  das  in  Deutsch- 
land, so  wird  man  verstehen,  warum  die  englischen  Liberalen, 
trotzdem  sie  das  beste  Einvernehmen  mit  Deutschland  wünschen, 
für  die  starke  Marine  eintreten,  das  einzige  Abwehrmittel  gegen 
die  Alternative  —  allgemeine  Wehrpflicht. 

Sie  wünschen  es  nicht,  daß  England  Verpflichtungen  ein- 
geht, die  es  in  rein  europäische  Angelegenheiten  verwickeln 
und  zwingen  würde,  eine  Landmacht  aufzustellen,  wie  es  eine 
solche  Rolle  erfordert.  Sie  wollen,  daß  ihr  Land  eine  Insel 
bleibt  und  die  Vorteile  sich  erhält,  die  die  insulare  Lage  gewähr- 
leistet, vor  allen  Dingen  den  Vorteil,  alle  Energie  auf  die  Lösung 
innerer  Fragen  und  die  Organisation  des  Imperiums  anwenden 
zu  können. 

Von  deutscher  Seite  wird  man  den  Einwand  erheben  — 
und  ich  kann  das  verstehen :  England  habe  dieser  Politik  den 
Rücken  gekehrt,  als  es  sein  Abkommen  mit  Frankreich  schloß ; 
die  Ereignisse  der  letzten  Jahre  seien  nur  die  notwendigen 
Folgen  dieses  ersten  Schrittes.  Im  folgenden  habe  ich  mehrfach 
darauf  hingewiesen,  daß  das  weder  die  Absicht  der  britischen 
Staatsmänner  war,  die  das  Abkommen  mit  Frankreich  schlössen, 
noch  ihrer  Nachfolger,  die  mit  den  Folgen  zu  tun  hatten.  Ich 
glaube,  von  uns  Engländern  im  allgemeinen  behaupten  zu  können, 
daß  wir  gewiß  darauf  bedacht  sind,  nicht  isoliert  in  einer  Welt 
von  Gegnern  dazustehen,  daß  wir  aber  dennoch  heute  wie  nur 
jemals  vorher  in  der  Geschichte  erstreben,  unabhängig  zu  bleiben 
und  uns  selbst  genügend. 

Die  letzten  Erörterungen  über  das  Mittelmeer  werfen  ein 
scharfes  Licht  auf  diesen  Punkt.     Einige  konservative  Blätter 


120  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

benützten  diese  Gelegenheit,  um  einem  Bündnis  mit  Frankreich 
das  Wort  zu  reden  als  dem  besten  Mittel,  eine  britische  Flotte 
im  Mittelmeer  entbehrlich  zu  machen.  Nie  hatte  ein  Ballon  d'essai 
weniger  Erfolg.  Die  Antwort  kam  von  allen  Seiten:  aus  eigenen 
Kräften  müsse  Großbritannien  sein  Werk  tun;  die  Verteidigung 
seiner  Lebensinteressen  einem  Nachbarn,  selbst  dem  engstbefreun- 
deten,  zu  übertragen,  stehe  im  schärfsten  Widerspruch  zur  tradi- 
tionellen englischen  Politik.  Diese  Ablehnung  warf  nicht  den 
leisesten  Schatten  der  Geringschätzung  auf  Frankreich  —  welches, 
es  ist  wohl  kaum  nötig  hinzuzufügen,  über  das  geplante  Bündnis 
nicht  befragt  worden  war  - — ;  aber  der  ganze  Vorgang  bezeugte 
in  hervorragender  Weise  die  Stärke  des  alten  Instinkts,  der  den 
Engländer  lehrt,  daß  seine  Lebensinteresssen  sich  nicht  sichern 
lassen  mit  geschickten  politischen  Schachzügen  oder  der  Mani- 
pulierung kontinentaler  Streitkräfte,  sondern  daß  es  diese  Inter- 
essen zu  verteidigen  hat  mit  eigener  Kraft.  Dieses  instinktive 
Gefühl  des  englischen  Volkes  in  bezug  auf  die  äußeren  Ange- 
legenheiten ist,  glaube  ich,  immer  noch  das  weitaus  stärkste 
Moment  in  unserer  auswärtigen  Politik,  und  das  englische  Volk 
hatte  ganz  gewiß  nicht  die  Absicht,  sich  davon  abzukehren, 
als  man  die  Entente  mit  Frankreich  einging. 

Hier  haben  wir  also  eine  der  Grundlagen  der  britischen 
Politik,  und  die  Mehrzahl  unseres  Volkes  wünscht  sie  uner- 
schüttert zu  erhalten.  Woher  kommt  es  nun,  daß  die  letzten 
acht  Jahre  sie  zu  erschüttern  drohten?  Der  Glaube  von  deut- 
scher Seite,  daß  England  teil  hatte  an  dem  Plan,  Deutschland 
zu  isolieren;  der  Glaube  von  englischer  Seite,  daß  Deutschland 
in  der  Freundschaft  Englands  mit  seinem  nächsten  Nachbar 
eine  Gefahr  für  sich  sah,  und  nach  einer  Gelegenheit  suchte, 
es  Frankreich  entgelten  zu  lassen,  daß  es  Englands  Freund 
war:  diese  beiden  Vorstellungen  sind,  glaube  ich,  gleich  un- 
berechtigt, aber  wenn  wir  fortfahren,  zu  handeln,  als  ob  sie  zu 
Recht  bestehen,  so  müssen  sie  Folgen  haben,  die  wir  beide 
fürchten.  Wir  halten  uns  gebunden,  fest  zu  einem  Freunde 
zu  stehen,  dem  man  einen  Vorwurf  daraus  macht,  daß  er  eben 
unser  Freund  ist;  Deutschland  sieht  darin  einen  Akt  der  Feind- 
schaft. Die  Folge  ist:  zwei  Nationen,  die  eigentlich  keinen 
Grund  haben,  miteinander  zu  hadern,  sondern,  im  Gegenteil, 
wie  kaum  zwei  andere  aufeinander  angewiesen  sind  in  ihrem 
Fortschritt  und  Wohlstand,  bleiben  in  einem  Zustand  chroni- 
schen Antagonismus  gegeneinander,  unter  gewaltigen  und  un- 
nützen Kosten   für   beide   und   zum    Schaden   der  allgemeinen 


Spender,  Die  (xrimdlagen  der  Vjritischen  Politik.  121 

Zivilisation.  Ich  kann  es  nicht  glauben,  daß  England  und 
Deutschland,  zwei  Nationen,  die  sich  gemeinhin  ihres  prakti- 
schen gesunden  Menschenverstandes  rühmen,  sich  dabei  beruhigen 
werden;  daß  sie  nicht  ihr  Äußerstes  tun,  den  Tatsachen  ins 
Gesicht  zu  sehen,  und  zu  verstehen  suchen,  wie  und  warum 
es  dahin  kam.  Wenn  wir  das  beide  tun,  so  werden  wir  kaum 
finden,  daß  wir  beide  oder  einer  von  uns  ohne  Schuld  ist; 
aber  wir  werden  entdecken,  daß  es  durchaus  tunlich  ist,  unsere 
Motive  zu  würdigen,  unseren  beiderseitigen  Standpunkt  ein- 
ander anzupassen,  wenn  wir  uns  nur  erst  gegenseitig  verstehen. 
Ein  deutscher  Staatsmann  sagte  kürzlich  sehr  treffend,  die  Not 
der  Stunde  sei  eine  Detente  zwischen  der  Entente  und  der 
Allianz.  Und  diese  Worte  möchte  ich  meinen  folgenden  Aus- 
führungen zum  Motto  setzen. 

I.  Die  Kontroverse  mit  Deutschland 

1.  Vom  britischen  Standpunkt 

Gewöhnlich  stellt  man  es  so  dar,  als  ob  die  Reihe  von  Er- 
eignissen, die  zu  der  gegenwärtigen  deutsch-englischen  Kontro- 
verse führte,  sozusagen  das  Erbe  eines  jahrhundertelangen 
Wettkampfes  zwischen  den  beiden  Völkern  sei. 

Tatsache  ist  doch  aber  wohl,  daß  noch  vor  etwa  zwölf 
Jahren  kein  Engländer  und  nur  wenige  Deutsche  eine  Spur 
von  Ahnung  hatten,  wohin  man  trieb.  Die  Beziehungen  zwischen 
den  beiden  Völkern  waren  zwar  getrübt  worden  durch  gelegent- 
liche Ausbrüche  von  Gereiztheit,  aber  kaum  jemand  konnte 
von  einer  ,, Deutschen  Gefahr"  sprechen,  und  an  keinem  wesent- 
lichen Punkt  schienen  die  Interessen  der  beiden  Völker  zu 
kollidieren.  Die  Engländer  waren  somit  ehrlich  überrascht,  als 
sie,  etwa  vom  Beginn  des  Jahres  1905  an,  eine  stetige  anti- 
britische Tendenz  in  der  deutschen  Politik  entdeckten.  Damit, 
daß  Deutschland  die  marokkanische  Frage  wählte,  um 
einen  Druck  auf  Frankreich  auszuüben,  zwang  es  England, 
seinen  Stand  an  der  Seite  Frankreichs  zu  nehmen. 

Die  Entente  wurde  damit  ein  Faktor  der  europäischen 
Politik.  Es  war  der  ganzen  Welt  offen  verkündet  worden,  daß 
die  marokkanische  Frage  eine  der  Fragen  sei,  in  der  Groß- 
britannien und  Frankreich  zusammenstehen  würden;  und  als 
der  deutsche  Kaiser  Tanger  im  März  1905  seinen  plötzlichen 
Besuch  abstattete,  konnte  er  unmöglich  über  die  unausbleib- 
lichen Folgen   in  Zweifel   gewesen   sein.     Deutschland   war   zu 


122  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

diesem  Vorgehen  ohne  Frage  berechtigt  und  hatte  Grund  zu  einer 
formalen  Beschwerde  gegen  M.  Delcasse,  wenn,  wie  es  behauptete, 
die  anglo-französische  Entente  ihm  nicht  in  korrekter  Weise 
notifiziert  worden  war.  Bis  dahin  war  es  niemand  in  England 
eingefallen,  daß  Deutschland  in  Marokko  Interessen  oder  Ab- 
sichten hatte,  die  einen  Protest  gegen  das  anglo-französische 
Abkommen  hervorrufen  würden,  oder  eine  Politik,  die  es  an 
diesem  Punkt  der  Erde  in  Kollision  mit  Frankreich  bringen 
könnte.  Dem  Kaiserbesuch  in  Tanger  folgte  ein  höchst  gefähr- 
licher diplomatischer  Waffengang:  die  deutsche  Regierung  lief 
unseres  Erachtens  ein  Risiko,  das  in  gar  keinem  Verhältnis 
zu  irgendwelchen  Interessen  stand,  die  Deutschland  in  Marokko 
haben  konnte.  Um  den  Frieden  zu  erhalten,  opferten  die 
Franzosen  ihren  Minister  des  Auswärtigen;  aber  Deutschland 
gab  sich  damit  nicht  zufrieden,  und  der  Druck  auf  Frankreich 
wurde  fortgesetzt.  Allgemein  glaubte  man  damals,  daß  es  einzig 
und  allein  die  Unterstützung,  welche  die  britische  Regierung 
der  französischen  gab,  war,  die  eine  Katastrophe  Anfang  1906 
abwandte  und  Deutschland  dahin  brachte,  die  Konferenz  zu 
Algeciras  als  einen  Ausweg  aus  einer  gefährlichen  Lage  anzu- 
nehmen. 

Es  ist  unnötig,  die  verwickelten  Gänge  der  Marokkoaffäre 
weiter  zu  verfolgen  bis  zur  letzten  und  hoffentlich  endgültigen 
Phase.  Der  Eindruck,  den  man  in  Europa  gewann,  war,  daß 
es  Deutschland  weniger  um  Marokko  selbst  zu  tun  war,  als 
vielmehr  darum,  sein  Mißfallen  an  der  anglo-französischen  und 
in  der  Folge  der  anglo- russischen  Entente  zu  manifestieren. 
Deutschland,  das  muß  als  ein  wichtiger  Faktor  betont  werden, 
erschien  auf  der  Bühne  in  dem  Augenblick,  als  Rußland  im 
Fernen  Osten  die  schwerste  Niederlage  erlitten  hatte  und  un- 
fähig war,  Frankreich  mit  Erfolg  beizustehen.  Die  Engländer, 
welche  die  russische  Macht  im  Osten  gefürchtet  hatten,  mußten 
jetzt  erkennen,  daß  ein  starkes  Rußland  wesentlich  ist  für  die 
Aufrechterhaltung  des  Gleichgewichts  im  Westen.  Durch  den 
russisch-japanischen  Krieg  und  die  darauf  folgende  russische 
Revolution  wurde  in  den  folgenden  sechs  Jahren  die  gesamte 
Politik  Europas  zu  Englands  Nachteil  in  eine  andere  Richtung 
gedrängt;  ob  wirklich  zu  Deutschlands  Vorteil,  ist  eine  andere 
Frage.  Das  Vorgehen  Deutschlands  trieb  Großbritannien  Frank- 
reich und  Rußland  in  die  Arme,  machte  aus  der  Entente,  die 
ursprünglich  nichts  weiter  beabsichtigte,  als  die  Erledigung 
von  Kolonial-  und  Übersee-Fragen,  ein  Instrument  der  europäi- 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  123 

sehen  Politik.  Das  war  ursprünglich  nicht  die  Absicht  Groß- 
britanniens, aber  es  wurde  nun  zur  Ehrensache,  und  die  ge- 
samte englische  Politik  orientierte  sich  danach;  ein  Abweichen 
wäre  ein  grober  Vertrauensbruch  gewesen.  Großbritannien 
konnte  unmöglich  untätig  zusehen,  wie  Frankreich  bedroht 
wurde,  augenscheinhch  aus  keinem  anderen  Grunde,  als  dem, 
daß  es  sich  erlaubt  hatte,  zu  England  in  freundschaftliche  Be- 
ziehungen zu  treten.  Notwendigerweise  mußte  England  darauf 
bestehen,  daß  sein  Recht,  mit  Frankreich  und  Rußland  solche 
Beziehungen  zu  pflegen,  nicht  minder  gut  war  als  das  Deutsch- 
lands in   seinem  Verhältnis   zu  Österreich-Ungarn  und  Italien. 

2.  Vom  deutschen  Standpunkt 

Ein  Deutscher  wird  diesen  kurzen  Überblick  jedenfalls  als 
unbillig  und  unvollständig  verwerfen.  Ich  will  deshalb  ver- 
suchen, die  Sache  auch  vom  deutschen  Standpunkt  zu  betrachten. 
Es  ist  für  einen  Engländer  außerordentlich  schwierig,  sich  hinein 
zu  versetzen  in  die  Stimmung,  die  zwischen  Deutschland  und 
Frankreich  herrscht.  Beide  Länder  leben  beständig  in  dem 
Gefühl  kommender  Gefahren.  Der  ganze  große  von  Bismarcks 
Diplomatie  mit  unendlicher  Mühe  errichtete  Bau  hatte  von 
Anfang  bis  zu  Ende  den  Hauptzweck,  gegen  einen  neuen  Krieg 
mit  Frankreich  vorzusorgen,  und  die  deutschen  Staaten,  eben 
durch  die  Drohung  vonseiten  Frankreichs,  immer  fester  ans 
Reich  zu  schmieden. 

Dieses  Ziel  wurde  zuerst  gefährdet  durch  den  Abschluß 
des  franko-russischen  Bündnisses,  und  schließlich  erschüttert 
durch  die  an  sich  berechtigten  Abmachungen,  die  England  an 
Frankreich  und  Rußland  näher  heranbrachten.  Dem  Engländer 
erscheint  die  Stellung  Deutschlands  unangreifbar.  Deutschland, 
so  meint  er,  ist  nicht  nur  sicher  vor  jedem  Angriff  in  Europa; 
Deutschland  hat  sogar  einen  Überschuß  an  Energie  zur  Ver- 
folgung gefährlicher  Ambitionen  und  Übergriffe  gegen  seinen 
Nachbar.  Das  was  man  gewöhnlich  mit  dem  Namen  der  ,, all- 
deutschen Bestrebungen"  bezeichnet,  findet  ohne  Zweifel  den 
Beifall  eines  Teils  des  deutschen  Volkes,  wenn  auch  der 
Einfluß  der  Alldeutschen  im  Ausland  meist  stark  überschätzt 
wird.  Trotz  alledem,  so  schwer  es  auch  dem  Durchschnitts- 
engländer ankommen  mag,  es  zu  glauben:  die  Hauptsorge  der 
deutschen  Staatsmänner  ist  und  bleibt  der  Schutz  Deutschlands 
gegen  einen  Angriff.    Die  Engländer  lächelten  und  nannten  es 


124  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

eine  phantastische  und  heuchlerische  Erfindung,  als  man  während 
der  Jahre  1906/07  in  Deutschland  gegen  die  Verschwörung 
protestierte,  die  das  Deutsche  Reich  in  einen  ,, eisernen  Ring" 
einschnüren  wollte.  Sie  waren  im  Irrtum:  man  fürchtet  tat- 
sächlich diesen  eisernen  Ring  in  Deutschland.  Österreich-Ungarn 
war  kühl,  Italien  unter  Verdacht,  Frankreich,  Rußland  und 
England  auf  dem  Wege,  sich  zu  einem  festen  Bund  zusammen- 
zuschließen. Grund  genug  also  auch  für  durchaus  nüchtern 
denkende  Deutsche,  die  Lage  äußerst  ernst  zu  nehmen ! 

Es  ist  deutsche  Eigenart,  Kräfte  gegeneinander  abzuwägen 
und  nicht  nach  Gründen  und  Erklärungen  zu  forschen.  Was 
auch  immer  der  Grund  der  anglo-französischen  Entente  war, 
selbst  angenommen,  daß  sie  so  ,, unschuldig"  war,  wie  die  Eng- 
länder behaupteten,  entscheidend  für  die  Deutschen  war,  daß 
Frankreich  und  England  sich  verstanden  hatten  und  infolge- 
dessen das  Kräfteverhältnis,  mit  dem  Deutschland  bisher  ge- 
rechnet hatte,  sich  verschoben  hatte.  Wichtig  für  Deutschland 
war  allein,  daß  die  britische  Flotte  möglicherweise  auf  Frank- 
reichs Seite  sein  würde  und  die  britische  Armee  dazu  dienen 
könnte,  die  Überzahl  der  deutschen  Truppen  über  die  franzö- 
sischen auszugleichen.  Die  deutsche  Politik  hielt  es  für  ihre 
Aufgabe,  diese  neue  Kombination  sozusagen  mit  der  Sonde  zu 
untersuchen,  um  festzustellen,  was  schlimmstenfalls  zu  erwarten 
war,  und  dagegen  Vorsorge  zu  treffen.  Es  war  unausbleiblich, 
daß  diese  ,, Sondierungen"  schlechte  Erfolge  lieferten:  ein  Druck 
auf  Frankreich  brachte  England  auf  den  Plan.  Die  britische 
Flotte,  so  meinte  die  deutsche  Diplomatie,  sei  Schuld  an  diesen 
Mißerfolgen:  die  Moral  sei,  daß  Deutschland  eine  Flotte  min- 
destens von  einer  solchen  Stärke  haben  müsse,  daß  ein  Kampf 
gegen  sie,  selbst  für  die  stärkste  Flotte  der  Welt,  ein  höchst 
gefährliches  Unternehmen  bedeuten  würde.  Man  imputierte 
Großbritannien  die  Absicht,  die  deutsche  Flotte  vernichten  zu 
wollen,  solange  sie  noch  schwach  war.  Deshalb,  hieß  es  weiter, 
muß  der  Bau  der  Flotte  vorwärts  getrieben  werden,  um  mög- 
lichst rasch  über  die  Gefahrenperiode  hinweg  zu  kommen.  Und 
zwischendurch  muß  man  zu  verstehen  geben,  daß,  wenn  Eng- 
land Deutschland  zur  See  angriffe,  Deutschland  den  Gegen- 
schlag gegen  Frankreich  zu  Lande  führen  würde.  So  wuchs 
der  Hader.  Eine  aufgeregte  Presse  schürte  ihn  in  jeder  Phase 
damit,  daß  sie  Befürchtungen  und  Beunruhigungen,  die  beide 
Teile  allen  Ernstes  hegten,  in  gehässiger  Weise  auslegte  und 
zu  weitreichenden  feindseligen  Intriguen  stempelte. 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  125 

3.  Freimut  vonnöten 
Je  besser  wir  diese  Lage  der  Dinge  erkennen,  desto  eher 
sind  wir  imstande,  die  Gefahren  unserer  Verbindlichkeiten  auf 
ihr  richtiges  Maß  zu  beschränken.  Es  ist  nutzlos,  weiter  Worte 
zu  wechseln;  gegenüber  der  Tatsache,  daß  wir  unsere  Macht 
während  der  letzten  sechs  Jahre  gewaltig  zugunsten  Frankreichs 
gebraucht  haben,  hilft  es  uns  nichts,  daß  wir  Deutschland 
gegenüber  unsere  Schuldlosigkeit  beteuern.  Rückhaltlose  Offen- 
heit ist  in  diesem  Falle  das  beste  Heilmittel.  Wir  halten  uns, 
was  auch  immer  geschehen  mag,  an  die  Verpflichtungen  ge- 
bunden, die  aus  unserer  Entente  mit  Frankreich  fließen.  Wir 
sind  der  Ansicht,  daß  Deutschland  keine  Veranlassung  hat, 
daran  Anstoß  zu  nehmen;  tut  es  das  dennoch,  so  können  wir 
das  eben  nicht  ändern.  Wir  werden  unser  an  Frankreich  ver- 
pfändetes Wort  einlösen,  wenn  eine  Lage  eintritt,  die  uns  dazu 
verpflichtet;  wenn  Frankreich  mit  Repressalien  bedroht  wird 
wegen  seiner  Freundschaft  und  Beziehungen  zu  uns,  so  werden 
wir  unser  Bestes  tun,  Frankreich  zu  unterstützen.  Sollten  wir 
aus  diesem  Grunde  in  einen  Krieg  verwickelt  werden,  so  werden 
wir  diesen  Krieg  natürlich  mit  allen  uns  verfügbaren  Kräften 
führen,  zu  Wasser  und  zu  Lande,  um  ihn  zu  einem  erfolg- 
reichen Ende  zu  bringen.  Aber  wir  können  nicht  glauben, 
daß  diese  Folgen  eintreten  werden  oder  können  als  die  Konse- 
quenz unserer  Stellungnahme.  Wir  haben  nicht  die  geringste 
Neigung,  uns  in  das  politische  System  Europas  hineinzustürzen 
oder  Deutschland  auch  nur  eines  der  Vorteile  zu  berauben,  die 
es  kraft  seiner  Stärke  und  großen  Bevölkerungszahl  mit  Recht 
genießt.  Natürlich  wünschen  wir  auch  nicht,  daß  sich  eine 
Koalition  in  Europa  gegen  uns  bildet;  und  eine  solche  Koahtion 
gegen  uns  würde  zustande  kommen,  wenn  alle  Völker  zu  der 
Überzeugung  gelangen,  daß  wir  falsche  Freunde  und  gefährliche 
Gegner  sind.  Aber  wir  wünschen  auch  nicht,  den  gegenwärtigen 
Status  quo  zu  stören  oder  einen  unserer  Freunde  dazu  anzu- 
stacheln, die  Rolle  des  Angreifers  zu  spielen.  Unsere  Armee 
reicht  nicht  aus  für  irgendwelche  kontinentalen  Abenteuer. 
Wir  wissen  sehr  wohl:  dehnten  wir  das  Rüstungswettrennen 
auch  auf  die  Armee  aus,  so  würde  es  denselben  Lauf  nehmen 
wie  das  Wettrennen  um  die  Marine.  Die  anderen  Mächte 
würden  ihre  Rüstungen  ebenfalls  verstärken,  und  das  Stärke- 
verhältnis bliebe  am  Ende  das  gleiche.  Wir  werden  alle  unsere 
Kräfte  anzuspannen  haben,  um  unsere  Marine  auf  der  Höhe 
ihrer  Stärke  zu  erhalten,  und  dazu  ein  Expeditionskorps,  dessen 


126  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

wir  für  überseeische  UnternehmuDgen  bedürfen.  Es  würde 
wahrscheinlich  über  unsere  Kräfte  gehen,  dazu  noch  eine  Armee 
aufzustellen,  die  eine  entscheidende  Rolle  auf  dem  europäischen 
Kontinente  spielen  könnte,  d.  h.  eine  Armee  von  der  Stärke 
der  europäischen  Volksheere.  Und  vor  allen  Dingen:  wir  haben 
nichts  zu  gewinnen  mit  Abenteuern  an  irgend  einem  Punkte 
der  Welt.  Unsere  einzige  Sorge  ist,  das,  was  wir  haben,  zu 
erhalten  und  zu  entwickeln.  Die  einzige  Rolle  in  Europa,  nach 
der  wir  vielleicht  noch  streben  würden,  wäre  die  des  Vermittlers. 
Sonst  aber  liegt  es  im  Wesen  unserer  Politik,  unsere  Ver- 
pflichtungen in  Europa  auf  ein  Mindestmaß  zu  beschränken 
und  alle  unsere  Kräfte  zu  konzentrieren  auf  unsere  inneren 
Angelegenheiten  und  die  Organisation  unseres  Imperiums. 

Vor  allen  Dingen  also  müßten  die  beiden  Völker  ehrlich 
versuchen,  ihren  gegensätzlichen,  aber  beiderseits  notwendigen 
Standpunkt  zu  würdigen.  Diplomatische  Künste  können  dabei 
wenig  helfen.  Vonnöten  ist:  Volle  Freimütigkeit,  volle  An- 
erkennung der  beiderseitigen  Verpflichtungen  und  der  Be- 
fürchtungen, die  jeder  für  sich  oder  beide  gegeneinander 
ehrlich  hegen.  Das  bringt  uns  notwendigerweise  zu  einer  Er- 
örterung der  britischen  Seegewalt  (Sea  Power)  und  der  deutschen 
Auffassung  derselben. 

IL  Die  Beherrschung  der  See 

1.  Die  britische  Doktrin  von  der  Seemacht 
Die  Beherrschung  der  See  durch  England  ist  für  alle 
Engländer  unerschütterlicher  Grundsatz.  Wenn  England  je 
versäumte,  die  Überseeverbindungen  mit  seinen  selbständigen 
und  anderen  Kolonien  offenzuhalten,  würde  es  aufhören,  ein 
Imperium  zu  sein;  wenn  England  nicht  mehr  imstande  wäre, 
seinen  Handel  gegen  feindliche  Flotten  zu  schützen,  hörte  es 
auf,  eine  Großmacht  zu  sein ;  wenn  England  je  seine  Zufuhr 
von  Lebensmitteln  nicht  mehr  sicherstellen  könnte,  hörte  es 
überhaupt  auf,  als  Nation  zu  existieren :  es  wäre,  sozusagen, 
eine  belagerte  Festung,  und  kein  Landheer,  selbst  das  tapferste 
und  stärkste  nicht,  könnte  ihm  Hilfe  bringen.  Das  ist  keine 
leere  Phrase,  sondern  einfach  die  nackte  Tatsache. 

Diese  Doktrin  von  der  Seemacht  ^)  ist  von  den  Engländern 
instinktiv  immer  erfaßt  worden ;  aber  erst  in  den  letzten  Jahren 


*)    Das    englische   Sea  Power  wird    im   deutschen    gewilhnlich    mit  See- 
macht  übersetzt.     Besser   wäre   vielleicht   dafür   Seemachtstellung   zu   wählen. 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  127 

ist  sie  ausdrücklich  von  ihnen  proklamiert  worden.  Admiral 
Mahan,  sagt  man,  hat  die  Engländer  erst  über  das  Geheimnis 
ihrer  eigenen  Macht  aufklären  müssen ;  das  mag  sein,  aber  er 
hat  alle  anderen  Nationen  gleichzeitig  darüber  aufgeklärt. 
Admiral  Mahans  Bücher  mit  ihrem  allgemein  verständlichen 
Tatsachenmaterial  und  glänzenden  Belegen  aus  der  Geschichte 
sind  das  Evangelium  nicht  nur  des  britischen,  sondern  auch 
des  deutschen  Flottenvereins.  Der  entscheidende  Einfluß  der 
Seemacht  auf  die  Geschicke  der  Völker,  die  gewaltigen  Vor- 
teile, die  der  Nation  erwachsen,  welche  die  Meere  beherrscht, 
das  ist  heutzutage  dem  Deutschen  nicht  weniger  geläufig  als  dem 
Engländer.  Die  Lehren  Mahans  wurden  außerdem  den  Land- 
mächten durch  eine  Reihe  von  Ereignissen  der  letzten  Zeit 
sozusagen  ad  oculos  demonstriert.  Warum  waren  die  Völker 
machtlos,  während  des  Burenkrieges  irgend  etwas  gegen  Eng- 
land zu  unternehmen?  Es  war  die  britische  Flotte,  die  sie 
daran  hinderte.  Was  verschaffte  den  Japanern  ihre  Siege  im 
Kampf  gegen  Rußland?  Einzig  und  allein  die  Tatsache,  daß 
Japan  das  Meer  beherrschte  und  infolgedessen  in  Korea  und 
der  Mandschurei  Truppen  landen  konnte.  Ein  einziger  russischer 
Panzerkreuzer,  der  aus  Wladiwostock  ausgebrochen  war,  hielt 
die  japanischen  Transporte  drei  Tage  lang  in  den  Häfen  zurück, 
d.  h.  so  lange,  bis  man  ihn  aufgespürt  hatte.  Diese  einfachen 
und  greifbaren  Beispiele  kamen  gerade  im  richtigen  Augenblicke, 
um  die  Grundsätze  des  gelehrten  Historikers  und  Strategen  zu 
bekräftigen;  niemand  konnte  jetzt  daran  zweifeln,  daß  Seemacht 
der  Lebensnerv  aber  auch  die  Achillesferse  eines  Inselreichs 
sei,  sowohl  im  Westen  als  auch  im  Fernen  Osten. 

2.  Einspruch  des  Auslandes 

Aber,  wird  man  fragen,  wie  ist  diese  britische  Auffassung 
mit  den  berechtigten  Forderungen  anderer  Nationen  in  Einklang 
zu  bringen?  Das  ist  ohne  Zweifel  eines  der  Grundprobleme  der 
britischen  Politik,  ein  Problem,  das  durch  die  unbedachtsame 
Anwendung  des  Ausdrucks  ,, Beherrschung  der  See"  nur  noch 
komphzierter  geworden  ist.  Dieser  Ausdruck,  wenn  ohne  Ein 
schränkungen  und  mißverständlich  angewendet,  stempelt  das 
britische  Reich  zu  einer  herrischen  und  aggressiven  Macht;  es 
wäre  die  Anmaßung  einer  Oberherrschaft  zur  See,  wie  sie 
keine  Nation  sich  je  unterfangen  würde,  zu  Lande  zu  bean- 
spruchen. Tatsächlich  können  wir  weder  uns  noch  andere 
darüber  täuschen,  daß  unsere  Seemacht,  wenn  es  uns  so  paßt. 


128  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

nicht  nur  zur  Verteidigung  und  zum  Besten  der  Freiheit,  sondern 
ebensogut  für  den  Angriff  und  zur  Unterdrückung  anderer  ver- 
wendet werden  kann.  Es  ist  unsere  feste  Überzeugung,  daß 
sie  rein  defensiv  ist;  aber  unglückhch erweise  läßt  sich  das  nicht 
mit  Argumenten  beweisen,  denn  dieselbe  Flotte  kann  ganz  gut 
beiden  Zwecken  dienen.  Wir  können  dagegen  nur  zu  bedenken 
geben,  daß  selbst  in  einem  erfolgreichen  Kriege  gegen  einen 
schwächeren  Gegner  voraussichtlich  unsere  Verluste  so  stark 
sein  würden,  daß  unsere  eigene  Oberherrschaft  gefährdet  wäre, 
und  daß  wir  deshalb  alle  Ursache  haben,  Frieden  zu  halten, 
es  sei  denn,  daß  wir  in  unseren  Lebensinteressen  bedroht 
werden.  Aber,  was  wir  auch  an  Argumenten  vorbringen,  ein 
Ausländer  wird  bei  seiner  Meinung  bleiben,  daß  unsere  Flotte 
uns  schon  in  Friedenszeiten  übermäßige  Vorteile  verschafft. 

Eine  große  Flotte  hat  einen  sehr  viel  weiteren  Wirkungs- 
bereich als  selbst  das  stärkste  Heer.  Die  Flotte  ist  frei  und 
beweglich,  ist  ihr  eigenes  Beförderungsmittel,  ist  an  keine 
Grenzen  und  keine  Straße  gebunden,  wirkt,  selbst  wenn  sie  in 
den  Heimatgewässern  konzentriert  ist,  durch  ihre  bloße  Existenz 
bis  in  die  fernsten  Punkte  der  Erde.  So  erklärt  es  sich,  daß 
man  sich  auf  dem  Kontinent  darüber  beschwert,  daß  England 
sich  überall  einmische  und  überall  seine  Hände  im  Spiel  habe. 
Darauf  müssen  wir  entgegnen,  daß  tatsächlich  England  sich 
selten  oder  nie  in  die  Angelegenheiten  seiner  Nachbarn  mischt, 
es  sei  denn,  daß  die  englischen  weit  verbreiteten  Interessen 
betroffen  werden;  aber  die  Tatsache,  daß  England  sich  ein- 
mischen kann,  und  zwar  mit  stärkerer  Wirkung  und  auf  weitere 
Entfernung  als  irgendeine  andere  Macht,  ist  ein  mächtiger  Hebel 
für  die  englische  Diplomatie,  und  diese  Möglichkeit  an  sich  ist 
die  Quelle  von  Reibungen  mit  anderen  Nationen. 

Die  Deutschen  haben  ihre  ,, Flottenpaniken",  gerade  wie  wir 
unsere  ,,Iuvasionspaniken".  Es  gibt  Leute  in  Deutschland,  die 
im  Laufe  der  letzten  Jahre  allen  Ernstes  geglaubt  haben,  daß 
wir  einen  plötzlichen  Angriff  auf  Kiel  planten,  etwas  wie  eine 
Wiederholung  der  Schlacht  von  Kopenhagen.  Deshalb  auch 
die  Formel  in  der  Begründung  zur  deutschen  Flottenvorlage : 
Deutschland  muß  eine  Flotte  haben,  die  so  gewaltig  ist,  daß 
selbst  die  stärkste  Seemacht  sie  nicht  angreifen  kann  ohne  ihre 
eigene  Suprematie  zu  gefährden.  Noch  ein  letzter  Funkt:  die 
anderen  Mächte  fühlen,  daß  alle  Überseeunternehmungen  so- 
zusagen von  der  Gnade  der  stärksten  Seemacht  abhängen,  einer 
Macht,   die  nicht  nur  die  größte  Flotte  hat,   sondern  auch  im 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik,  129 

Besitz  aller  Kohlen  Stationen  und  der  wichtigsten  strategischen 
Punkte  der  Welt  ist.  (Gibraltar,  Malta,  Aden,  Suez-Kanal, 
Singapore,  Ärmelkanal.) 

Dieses  Problem  wird  dringender,  je  mehr  auch  unsere 
Nachbarn  auf  die  Einfuhr  von  Lebensmitteln  zur  Ernährung 
ihrer  wachsenden  Einwohnerschaft  angewiesen  sind.  Gerade 
wie  wir,  allerdings  noch  nicht  so  intensiv,  fühlen  sie,  daß  die 
Sicherheit  der  Seewege  für  sie  alle  von  hoher,  vielleicht  höchster 
Wichtigkeit  ist. 

3.  Entgegnung  vom  britischen  Standpunkt 

Jeder  Engländer  muß  gewillt  sein,  eher  sein  letztes  Hemd 
vom  Leib  wegzugeben,  als  die  Oberherrschaft  zur  See  zu  ver- 
lieren: und  eine  jede  Nation,  die  davon  träumt,  ihm  diese  Ober- 
herrschaft streitig  zu  machen,  sollte  erwägen,  was  dabei  auf  dem 
Spiele  steht.  W^ir  ächzen  jetzt  unter  der  Last  eines  45  Mill.  Pf.  Sterl. 
(900  Mill.  Mark)  betragenden  Marineetats;  aber  selbst  diese  un- 
geheure Summe  ist  nichts  im  Vergleich  zu  der  Last,  die  wir 
in  einem  Kampf  um  Leben  und  Tod  auf  uns  nehmen  würden. 
Am  Ende  der  napoleonischen  Kriege  hatten  wir  eine  Staats- 
schuld angehäuft,  die  im  Vergleich  zu  unserer  jetzigen  Be- 
völkerung, unserem  Nationalvermögen  und  dem  Wert  des  Geldes 
am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  etwa  einer  Summe  von  800  Mil- 
liarden Mark  entspricht.  Im  äußersten  Falle  würde  uns  kein 
Opfer  zu  groß  sein.  Aber  Ausgaben  von  so  gewaltiger  Höhe 
wären  ein  großes  Unglück  für  uns  und  unsere  Nachbarn,  und 
wir  wünschen  ehrlich,  sie,  wenn  irgend  möglich,  in  Grenzen 
zu  halten.  Zu  diesem  Zweck  müssen  wir  der  Welt  im  ganzen 
die  Überzeugung  beibringen,  daß  unsere  Politik  eine  friedliche 
und  nicht  aggressive  ist.  Das  ist  das  einzige  Mittel.  Denn  in 
der  Theorie  läßt  es  sich  eben  nicht  verteidigen,  daß  eine  Macht 
die  Herrschaft  zur  See  ausübt,  aber  praktisch  können  wir  be- 
weisen, daß  unsere  Herrschaft  niemand  zum  Schaden  gereicht. 
Oder,  um  ein  praktisches  Beispiel  zu  geben:  Was  würde 
wohl  ein  kluger  englischer  Staatssekretär  des  Auswärtigen  einem 
Botschafter  antworten,  der  ihm  die  Einwände  des  Auslands 
gegen  eine  britische  Herrschaft  zur  See  darlegte?  Etwa  folgendes : 
1.  hat  England  keine  Armee,  mit  der  es  irgendeine  andere 
Macht  ernstlich  bedrohen  könnte.  Keine  Macht  braucht 
eine  englische  Invasion  zu  fürchten,  während  wir  (Eng- 
land) einer  Invasion  ausgesetzt  wären,  sobald  wir  die 
Herrschaft  zur  See  verlieren; 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  9 


130  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

2.  daß  wir  die  wirtschaftlichen  Vorteile,  die  wir  kraft  unserer 
Seemacht  erwerben,  freiwillig  mit  aller  Welt  teilen  infolge 
unserer  Politik  des  Freihandels  und  der  offenen  Tür. 
Wenn  wir  irgendwo  in  der  Welt  neue  Länder  der  Kultur 
öffnen,  so  können  alle  unsere  Nachbarn  dort  Handel 
treiben  unter  denselben  Bedingungen  wie  wir  selbst,  wenn 
man  von  den  unbedeutenden  Ausnahmen  der  Preferenzial- 
zölle  in  einigen  Kolonien  absieht.  Wir  tun  das  allerdings 
nicht  aus  irgendwelchen  Don.  Quixote- Idealen,  sondern 
weil  wir  der  Überzeugung  sind,  damit  am  besten  unseren 
eigenen  Interessen  zu  dienen.  Aber  dennoch  können  wir 
wohl  verlangen,  daß  man  uns  diesen  ,, aufgeklärten"  Eigen- 
nutz zugute  hält,  da  er  auch  unsern  Nachbarn  zugute  kommt. 

4.   Allgemeine  Wehrpflicht,   Schutzzoll  und    Seemacht 

Entrüstet  werden  mich  nun  unsere  Tarif reformer  und  ,,Wehr- 
pflichtler"  fragen,  ob  wir,  England,  uns  etwa  vom  Ausland  vor- 
schreiben lassen  sollen,  was  für  ein  Heer  und  was  für  eine 
Handelspolitik  für  uns  gut  wäre.  Über  diese  Entrüstung  hat 
man  manche  schwungvolle  Rede  gehalten.  Ich  denke  natürlich 
nicht  daran,  uns  irgendetwas  vom  Auslande  vorschreiben  zu 
lassen ;  und  wenn  ich  glauben  würde,  daß  allgemeine  Wehrpflicht 
und  Zolltarif  für  England  gut  wäre,  würde  ich  dafür  stimmen 
und  mich  nicht  im  geringsten  um  das  Ausland  kümmern.  Aber 
gleichzeitig  würde  ich  als  verständiger  Mann  die  Konsequenzen 
erwägen  und  damit  rechnen,  daß  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
dieser  Wechsel  in  unserer  Politik  die  Rivalität  in  den  Seerüstungen 
noch  verschärfen  und  der  Gegnerschaft  gegen  unsere  Seeherr- 
schaft eine  stärkere  Berechtigung  verleihen  würde.  Und  — 
wir  dürfen  uns  darüber  nicht  täuschen  —  das  ist  bereits  ge- 
schehen durch  die  Tarifreform-  und  Wehrpfiichtpropaganda  der 
letzten  Jahre.  Viele  Deutsche  sind  der  festen  Überzeugung, 
daß  wir  im  Begriff  sind,  unsere  Handels-  und  Wehrpolitik 
von  Grund  aus  zu  ändern;  daß  wir  uns  in  einem  allbritischen 
Zollverein  gegen  die  übrige  Welt  abschließen  und  mit  der  all- 
gemeinen Wehrpflicht  ein  Millionenheer  schaffen  wollen,  zur 
Verwendung  in  Europa.  Darüber  entrüstet  sich  nun  wieder 
der  Tarif  reformer:  Welches  Recht  hat  gerade  Deutschland,  sich 
darüber  zu  beschweren?  Deutschland  mit  seinem  hohen  Zoll- 
tarif und  seiner  Monsterarmee?  Ich  antworte:  Es  hat  kein 
Recht,  gar  kein  Recht,  aber  das  kommt  leider  gar  nicht  in 
Frage.    Die  Frage  ist  einzig  und  allein,  wie  englische  Interessen 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  131 

und  Verpflichtungen  dabei  fahren  würden;  welche  Folge  es  für 
uns  haben  würde,  wenn  wir,  die  größte  Seemacht,  bei  der 
ganzen  Welt  den  Argwohn  erregten,  daß  wir  uns  mit  gewaltigen 
militärischen  Plänen  tragen  und  die  Absicht  haben,  unsere 
Machtstellung  dazu  auszunützen,  um  aus  unserm  weiten  Länder- 
besitz ein  wirtschaftliches  Monopol  zu  machen. 

5.  Eine  gefährliche  Ketzerei 

Den  letzten  Punkt  will  ich  hier  nicht  weiter  erörtern,  er 
ist  eine  Frage  der  Zukunft.  Nur  so  viel  möchte  ich  sagen: 
Ich  bin  der  Meinung,  daß  grundlegende  Änderungen  in  unserer 
Wirtschaftspolitik  einen  tiefgehenden  Einfluß  auf  unsere  Stellung 
als  Seemacht  haben  müssen.  Ob  wir  nun  dabei  gewinnen  oder 
verlieren,  eins  ist  gewiß:  die  Welt  wird  sich  ganz  gewiß  nicht 
bereitwilliger  in  unsere  Seeherrschaft  fügen,  wenn  wir  zum 
Schutzzoll  übergehen,  als  wenn  wir  beim  Freihandel  bleiben. 

In  der  anderen  Frage  aber,  was  unsere  Armee  anbetrifft, 
haben  wir  schon  praktische  Erfahrung,  und  es  ist  fast  ein 
Dogma  der  britischen  Politik,  daß  eine  Verstärkung  unserer 
Machtmittel  in  der  Richtung,  daß  wir  fähig  sind,  mit  einem 
Heer  effektiv  auf  dem  Kontinent  einzugreifen,  eine  gleichzeitige 
Verstärkung  unserer  Seerüstung  bedingt.  Rüstungen  rufen 
Gegenrüstungen  hervor,  ob  es  sich  nun  um  Land-  oder  See- 
rüstungen handelt.  Erhöhen  wir  unsere  gesamte  Stärke,  zu 
Lande  oder  zu  Wasser,  so  wird  das  Ausland  dagegen  rüsten; 
aber  es  ist  durchaus  nicht  gesagt,  daß  die  Gegenrüstung  von 
derselben  Art  ist.  Es  ist  für  mich  so  gut  wie  sicher,  daß  sie 
in  erster  Linie  gegen  unsere  Flotte  sich  richten  wird.  Unsere 
europäischen  Rivalen  werden  suchen,  uns  an  unserer  verwund- 
baren Stelle  zu  treffen  und  es  uns  gleichzeitig  schwerer  zu 
machen,  unser  Heer  für  kontinentale  Unternehmungen  zu  ver- 
wenden. Als  das  Gerücht  ging,  daß  wir  ,, militärische  Unter- 
haltungen" mit  Frankreich  hielten,  verstärkte  Deutschland  nicht 
sein  Heer,  sondern  brachte  eine  Novelle  zum  Flottengesetz  ein. 
Die  Idee  also,  die  eine  Zeitlang  populär  war,  daß  wir  an  unseren 
Ausgaben  für  die  Flotte  sparen  könnten,  wenn  wir  unser  Heer 
verstärkten,  ist  eine  in  jeder  Hinsicht  gefährliche  Chimäre. 
Gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Indiskretes  Gerede  von  mili- 
tärischen Operationen  in  Europa  bringt  uns  geradenwegs  zu 
höheren  Flottenforderungen,  und  eine  außergewöhnliche  Ver- 
stärkung unserer  Armee  würde  ganz  gewiß  eine  gleichzeitige 
Verstärkung  unserer  Flotte  bedingen. 

9* 


132  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

III.  Die  allgemeine  Wehrpflicht  und  das  europäische 
Gleichgewicht 

Der  Leser  wird  aus  dem  Vorhergehenden  entnehmen,  daß 
die  Ablehnung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  nicht  etwa  aus 
Antimihtarismus  erfolgt,  sondern  aus  Gründen  der  allgemeinen 
und  Finanzpohtik.  Der  Schreiber  dieser  Zeilen  sympathisiert 
durchaus  mit  der  Forderung  nach  militärischer  Ausbildung  als 
einem  ^Mittel,  Charakter  und  Körper  zu  stärken,  und  er  hofft, 
daß  baldigst  „Wehrpflichtler"  und  Erzieher  sich  einigen  in  der 
Forderung,  die  jungen  Leute  bis  zum  siebzehnten  Jahre  auf 
Fortbildungsschulen  zu  schicken,  und  einen  genügenden  Teil 
der  so  gewonnenen  Schulzeit  auf  eine  militärische  Ausbildung 
zu  verwenden^). 

Das  ist  nach  seiner  Meinung  der  einzig  richtige  Weg,  um 
für  die  Territorialarmee  den  nötigen  Ersatz  zu  schaffen,  und 
gleichzeitig  ein  Reservoir,  aus  dem  die  Berufsarmee  in  Zeiten 
der  Gefahr  schöpfen  kann.  Die  Propaganda  der  Wehrpflichtler 
hat  sich  aber  leider  nicht  in  dieser  Richtung  bewegt,  sondern 
hat  sich  beherrschen  lassen  von  politischen  Ideen,  die,  wenn  sie 
durchdrängen,  zu  einer  Verzettelung  der  Kräfte  des  Imperiums 
führen  würden  und  zu  einer  Verschwendung  von  Geld  und 
Energie  auf  Nebenzwecke,  zum  Schaden  der  eigentlichen  Quelle 
unserer  Macht. 

1.  Allgemeine  Wehrpflicht  und  die  Politik  der  ,, Wehr- 
pflichtler" 

Die  Veröffentlichung  des  Buches  des  Generals  Sir  Jan 
Hamilton    ,,Ueber    allgemeine  Wehrpflicht"  2)    und    die    Erörte- 


')  Dieser  Plan  ist  kürzlich  von  General  Sir  Jan  Hamilton  (s.  u.)  in 
Birmingham  des  Näheren  erörtert  worden.  Er  schlug  vor,  allen  Knaben  im 
Alter  von  12  bis  18  Jahren  eine  militärische  Ausbildung  zu  geben.  Die 
jährlichen  Kosten  für  etwa  785000  Knaben  berechnete  er  auf  380000  Pfund 
Sterling  (etwa  7600000  Mark),  die  auf  den  Schul  etat  zu  übernehmen  seien. 

^)  Dieses  Buch  war  ursprünglich  ein  Memorandum,  das  General  Sir 
Jan  Hamilton  im  Auftrage  des  damaligen  Kriegsministers,  Mr.  Haidane  — 
jetzt  Lordkanzler  Haidane  —  ausgearbeitet  hatte,  um  dem  Kabinett  ein 
fachmännisches  Urteil  über  diesen  Punkt  zu  unterbreiten.  Das  Buch  wurde 
von  Lord  Eoberts  und  der  National  Service  League,  eben  den  „Wehrpflicht- 
lern", scharf  angegi-iffen,  und  in  einer  Gegenschrift  zu  widerlegen  versucht. 
Beide  Teile  beharrten  und  beharren  übrigens  noch  bei  ihrer  Meinung,  der 
erst  kürzlich  wieder  Lord  Eoberts  in  seiner  Eede  in  Manchester  scharfen 
Ausdruck  gab. 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  133 

rungen  über  das  Buch  haben  in  dieser  Hinsicht  die  erwünschte 
Klarheit  gebracht.  Es  stellte  sich  sehr  bald  heraus,  daß  die 
Leute,  denen  es  mit  der  Einführung  der  allgemeinen  Wehr- 
pflicht ernst  war,  die  Aufgabe  der  so  geschaffenen  Armee  durch- 
aus nicht  nur  in  einer  Defensive  (gegen  eine  Invasion)  in  Eng- 
land selbst  sahen.  Sir  Jan  Hamilton  hatte  in  seinen  Büchern 
die  Absurdität  der  nur  in  England  operierenden  rein  defensiven 
Armee  schlagend  bewiesen.  Es  wurde  deshalb  auch  sofort  von 
allen  Seiten  zugegeben,  daß  keine  noch  so  gewaltige  Armee  im- 
stande wäre,  die  Situation  zu  retten,  wenn  England  die  Herr- 
schaft zur  See  einmal  verloren  hat :  zur  See  geschlagen,  befindet 
es  sich  im  Belagerungszustand,  auch  ohne  jede  Invasion.  Die 
ganze  Propaganda  der  Wehrpflichtler  beruhte  vielmehr  darauf, 
daß  diese  Armee,  rekrutiert  auf  Grund  allgemeiner  Wehrpflicht, 
auf  dem  europäischen  Kontinent  zur  Verwendung  kommen 
sollte,  und  deshalb  auch  eine  Ausbildung  ähnlich  der  der  kon- 
tinentalen Armeen  erhalten  müßte.  Das  wird  ganz  klar  aus- 
gesprochen in  dem  Buch,  das  unter  der  Ägide  Lord  Roberts' 
von  der  National  Service  Leagiie  als  Entgegnung  veröffentlicht 
wurde.  Die  Schätzung  der  Kosten  einer  solchen  Armee  auf 
6000000  Pfund  Sterling  ist  deshalb  nicht  der  Erörterung 
wert;  eine  solche  Armee  würde  uns  jedenfalls  das  Doppelte 
oder  Dreifache  kosten.  Denn  die  Höhe  der  Kosten,  gerade 
wie  bei  unserem  Marineetat,  würde  nicht  davon  abhängen,  was 
wir  gern  möchten,  sondern  davon,  was  die  anderen  Mächte 
tun,  und  von  der  Stärke,  Ausbildung  und  Ausrüstung  der 
Armeen  unserer  mutmaßlichen  Gegner.  Mit  einem  Wort:  eine 
Armee,  auf  Grund  der  allgemeinen  Wehrpflicht  ausgehoben, 
würde  uns  ganz  ebensoviel  kosten  als  die  anderer  Mächte. 

Aber,  abgesehen  von  diesen  und  anderen  technischen 
Schwierigkeiten,  und  angenommen,  daß  England  die  allgemeine 
Wehrpflicht  einführen  könnte  und  würde,  wenn  die  Nation  es 
will  und  seine  Politik  es  verlangt,  muß  dann  nicht  zuerst  die 
Frage  beantwortet  werden:  Ist  die  Politik  eine  gesunde,  die 
einer  solchen  Armee  bedarf,  und  kann  man  es  einer  Nation, 
die  wie  Großbritannien  schon  so  gewaltige  Summen  für  ihre 
Rüstungen  ausgibt,  zumuten,  noch  außerdem  die  ungeheuren 
Kosten  der  allgemeinen  Wehrpflicht  auf  sich  zu  nehmen?  Einer 
der  Mitarbeiter  in  dem  oben  genannten  Buche  des  Lord  Roberts 
stellt  fest,  daß  wir  in  einer  ,, durchaus  nicht  fernen  Zukunft" 
mit  einem  Marineetat  von  60  bis  80  Millionen  Pfund  Sterling 
(1200  bis  1600  Millionen  Mark)  zu  rechnen  haben,    ,,um  auch 


134  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

nur  das  gegenwärtige  Stärkeverhältnis  zu  den  Flotten  unserer 
Rivalen  aufrecht  zu  erhalten";  aber  diese  Aussicht  macht  ihn 
nicht  etwa  bedenklich,  ob  es  weise  sei,  auch  noch  unsere  Aus- 
gaben für  das  Heer  zu  erhöhen.  —  ,,Die  80  Millionen -Flotte 
und  allgemeine  Wehrpflicht",  anders  sei  das  Empire  nicht  vor 
sicherem  Untergang  zu  retten!  Die  Finanzierung  ist  für  ihn 
augenscheinlich  ein  Detail,  das  der  Finanzminister  auf  Grund 
der  Forderung  der  Sachverständigen  zu  arrangieren  hat.  Ich 
wiederhole  hier,  was  ich  schon  oben  sagte:  der  Engländer  ist 
bereit,  jedes  Opfer  zu  bringen,  um  die  Seeherrschaft  Großbri- 
tanniens aufrecht  zu  erhalten;  was  aber  die  Ausgaben  für  die 
Armee  anbetrifft,  so  hat  er  darin  durchaus  nicht  dieselbe  Opfer- 
willigkeit. Er  kennt  instinktiv  und  aus  praktischer  Erfahrung 
die  Notwendigkeit  der  Seemacht  und  die  Politik,  deren  Diener 
sie  ist.  Aber  er  weiß  nicht,  und  niemand  hat  es  ihm  bisher 
in  allgemein  verständlicher  Weise  erklärt,  wozu  die  allgemeine 
Wehrpflicht  und  ein  Massenheer  dienen  sollen.  Und  diese  Er- 
klärung muß  ihm  gegeben  werden,  nicht  von  militärischen 
Sachverständigen,  von  Berufs-  oder  Amateurstrategen,  sondern 
von  seineu  Staatsmännern.  Ein  Massenheer  für  den  Krieg 
auf  dem  europäischen  Kontinent  ist  nur  als  das  Instrument 
einer  bestimmten  Politik  denkbar,  und  wir  müssen  vorerst  wissen : 
Worin  besteht  diese  Politik? 

2.   Das  europäische  Gleichgewicht 

Wenn  man  Militärs  diese  Frage  vorlegt,  erhält  man  gewöhn- 
lich   zur  Antwort,    daß  wir  verpflichtet  seien,    das  europäische 
Gleichgewicht  aufrecht  zu  erhalten.    Die  Legende  ist  im  Umlauf, 
daß   Sir  Edward  Grey  in   einer  seiner  öffentlichen  Reden  uns 
in  aller  Form  dazu  verpflichtet  habe;    aber  den  Beweis  dafür, 
das  wörtliche  Zitat,   ist  man  uns  stets  schuldig  geblieben.     Sir 
Edward  Grey  ist  natürlich  viel  zu  klug  und  vorsichtig,  als  daß 
er  unser  Land  je  auf  eine  Formel  verpflichtet  hätte,  die,  wenn 
sie  überhaupt  einen  Sinn  hat,  uns  sozusagen  in  jeden  europäi- 
schen Krieg  verwickeln  würde.  In  Wahrheit  ist  dieses  europäische 
Gleichgewicht  eine  Fiktion  der  Rechtsgelehrten  einer  vergangenen 
Zeit,  und  hat  in  der  modernen  Welt  wenig  oder  keinen  Sinn. 
Wenn  wir  uns  in  der  Geschichte  umsehen,  finden  wir  in  Wahrheit 
immer  eine  Macht  in  der  Vormachtstellung,  der  aber,  trotz  alle- 
dem, enge  Grenzen  der  Betätigung  gesetzt  sind,  und  die,  sollte 
sie   diese   Grenzen   überschreiten,    ein   gewaltiges   Risiko   läuft. 
Tatsächüch   und    erfahrungsgemäß    ist    der    Friede   in    Europa 


Spender,  Die  (Tnindlagen  der  britischen  Politik.  135 

immer  am  besten  gesichert  gewesen  nicht  durch  ein  empfind- 
Hches  und  schwankendes  Gleichgewicht  zwischen  gleichen  oder 
annähernd  gleichen  Mächten,  sondern  durch  ein  mäßiges  Über- 
gewicht einer  Macht,  die  man  nicht  leichthin  herausfordert, 
die  aber  mehr  zu  verlieren  als  zu  gewinnen  hat,  wenn  sie  die 
anderen  herausfordernd  behandelt.  Diese  Bedingungen  der 
europäischen  Lage  sind  heutzutage  nicht  weniger,  sondern  mehr 
zutreffend;  die  wirtschaftliche  Anarchie,  die  selbst  ein  glück- 
hcher  Krieg  zur  Folge  hat,  die  Verluste,  die  selbst  dem  Sieger 
drohen,  sind  unter  modernen  Verhältnissen,  mehr  als  je  vorher, 
ein  höchst  wirksames  Abschreckungsmittel. 

Es  ist  somit  nicht  unsere  Sache,  das  europäische  Gleich- 
gewicht aufrecht  zu  erhalten,  wenn  man  darunter  versteht,  daß 
wir  unser  Gewicht  in  die  Wagschale  zu  werfen  haben  gegen 
die  stärkste  Macht,  um  diese  Macht  zu  verhindern,  der  Vor- 
teile teilhaftig  zu  werden,  die  ihr  kraft  ihrer  Bevölkerung  und 
Stärke  zustehen.  Wir  würden  es  Deutschland  sehr  verübeln, 
wenn  die  Deutschen  erklärten,  es  sei  ihre  Mission  in  der  Welt, 
das  Gleichgewicht  auf  den  Meeren  gegen  Großbritannien  auf- 
recht zu  erhalten;  wir  können  kaum  annehmen,  daß  es  den 
Deutschen  angenehmer  klingt,  wenn  die  Engländer  erklären, 
es  sei  ihre  Pflicht,  das  Gleichgewicht  zu  Lande  gegen  Deutsch- 
land wiederherzustellen.  In  beiden  Fällen  verbirgt  die  ,, schöne 
Phrase"  schlecht  die  feindliche  Absicht.  Damit  die  Gereiztheit 
nicht  chronisch  werde,  vermeiden  wir  besser  die  veraltete  Ter- 
minologie und  die  Gedanken,  die  sie  erweckt.  Wenn  wir  diese 
Phrase  erst  los  sind,  erscheint  das  Problem  sofort  vereinfacht. 
An  Stelle  einer  vagen  Formel,  die  uns  zu  Allem  oder  zu  Nichts 
verflichtet,  setzen  wir  ein  klares  Prinzip  und  festbegrenzte  Ver- 
pflichtungen. Das  Prinzip  ist,  unsere  Politik  so  einzurichten, 
daß  wir  keine  feindliche  Kombination  zu  fürchten  haben,  die 
stärker  ist  als  unsere  Machtmittel,  wie  wir  sie  uns  mit  einem  in  ver- 
nünftigen Grenzen  gehaltenen  Aufwand  für  die  Rüstungen  ver- 
schaffen können.  Unsere  Verpflichtungen  sind  in  der  Haupt- 
sache diejenigen,  die  wir  Frankreich  und  Rußland  gegenüber 
eingegangen  sind.  Sie  sind  in  den  Abkommen  mit  diesen  beiden 
Staaten  genau  definiert.  Dagegen  gehört  es  nicht  zu 
unserer  Politik,  diesen  Abkommen  eine  weite  und 
vage  Auslegung  zu  geben,  die  sie  zu  Bündnissen 
für  europäische  Zwecke  machen  würde,  oder  sie  so 
auszulegen,  als  ob  sie  freundschaftliche  Beziehung 
zu  Deutschland  ausschlössen. 


136  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

IV.  Die  Stellung  des  Eeichs  (Empire)  zu  der  Frage 

Meine  Zeitgenossen,  die  wie  ich  in  mittleren  Jahren  stehen, 
werden  sich  noch  daran  erinnern,  daß  die  ältere  Generation 
mit  einer  gewissen  ,, düsteren  Zuversicht",  den  unausbleiblichen 
Zusammenbruch  der  damals  bestehenden  großen  europäischen 
Reiche  voraussagte.  Sie  hatten  den  Untergang  des  französischen 
Kaiserreichs  erlebt;  sie  zweifelten  stark  an  der  Stabilität  des 
Deutschen  Reiches;  sie  waren  sicher,  daß  Österreich-Ungarn  in 
Stücke  gehen  würde;  sie  betrachteten  die  Lostrennung  der  bri- 
tischen Kolonien  vom  Mutterlande  entweder  als  ,, bedingt  in 
den  unvermeidhchen  Gesetzen  der  Evolution",  oder  sogar  als 
ein  erstrebenswertes  Ziel.  Und  doch:  heute,  nach  40  Jahren, 
ist  keine  dieser  Prophezeihungen  eingetroffen,  und  selbst  das 
Türkische  Reich  besteht  noch.  Es  lohnt  sich,  dieser  scheinbar 
so  plötzhchen  Umwandlung  von  zentrifugalen  in  zentripetale 
Kräfte  auf  den  Grund  zu  gehen.  Vielleicht  finden  wir  dabei 
das  Geheimnis  der  modernen  Weltreiche. 

1.  Die  große  zentripetale  Tendenz 
Die  verschiedenen  Staatssysteme,  eben  die  Weltreiche,  stehen 
in  einem  ganz  bestimmten  Verhältnis  zueinander.  So  lange 
eins  der  Systeme  zusammenhält,  stellen  sich  die  Aussichten 
des  andern,  ebenfalls  zusammen  zu  halten,  günstiger.  Wäre 
zum  Beispiel  das  Deutsche  Reich  wieder  auseinander  gefallen, 
anstatt  sich  zu  einer  festen  Masse  zu  konsolidieren,  so  wären 
damit  überall  in  Europa  zentripetale  Kräfte  ausgelöst  worden. 
Bismarck,  so  möchte  man  meinen,  hielt  die  Einverleibung 
Elsaß-Lothringens  nicht  nur  für  eine  strategische,  sondern  be- 
sonders auch  für  eine  politische  Notwendigkeit.  Frankreich, 
sah  er  voraus,  würde  alles  daran  setzen  die  verlorenen  Provinzen 
zurück  zu  erobern;  die  Furcht  vor  dem  Revanchekriege  sollte 
die  deutschen  Staaten  zusammenhalten,  um  den  Angriffen,  so- 
lange das  Nationalgefühl  noch  nicht  genügend  erstarkt  war, 
gerüstet  und  geeint  unter  einem  obersten  Kriegsherrn 
entgegenzutreten. 

Andererseits  wurde  der  Haß  gegen  Deutschland  zum  Band, 
das  das  französische  Volk  zusammenschmiedete,  und  den  Be- 
stand der  Republik,  als  der  Regierungsform,  auf  der  alle  Par- 
teien sich  noch  am  ehesten  einigen  konnten,  gegen  innere  und 
äußere  Feinde  sicherstellte.  In  ähnlicher  Weise  wirkte,  wenn 
auch  vielleicht  nicht  mit  gleicher  Stärke,  die  Furcht  vor  Ruß- 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  lo7 

land  in  Deutschland  und  die  vor  Deutschland  in  Rußland.  In 
Österreich-Ungarn  war  es  die  Überzeugung,  daß  nur  eine  große 
geeinigte  Macht  gegen  die  anderen  größeren  Einheiten  jenseits 
der  Grenzen  sich  behaupten  und  den  inneren  Zerfall  verhüten 
könnte.  Und  in  Italien  endlich  ist  es  die  Existenz  von  großen 
gefestigten  Staatssystemen  im  Norden  und  Osten,  die  ein 
Zurückfallen  in  die  alte  Zeit  der  kleinen  Fürstentümern  und 
Herrschaften  zum  Unding  macht.  So,  um  zusammenzufassen, 
drücken  also  die  Nationen  gegenseitig  von  außen  aufeinander, 
und  dieser  Druck  von  außen  hält  die  verschiedenen  Systeme 
zusammen.  Diese  zentripetale  Tendenz  ist  durchaus  vereinbar, 
wie  es  Deutschland  und  Osterreich  zeigen,  mit  einem  erheb- 
lichen Maß  von  Selbständigkeit  der  Teile  und  Verschiedenheit 
in  der  Ordnung  ihrer  inneren  Angelegenheiten.  Die  Reichs- 
regierungen  zentralisieren  die  Reichswehr,  lassen  aber  sonst  der 
Selbständigkeit  der  Teile  einen  weiten  Spielraum,  im  Vertrauen 
auf  die  einigende  Kraft  der  gemeinsamen  Interessen.  Gerade 
wie  der  Großbetrieb,  so  ist  die  Großmacht  der  Typus  der  mo- 
dernen Welt;  die  Kleinstaaten,  die  ihre  Unabhängigkeit  be- 
haupten, können  es  nur  unter  der  Protektion  der  Großmächte. 

2.   Einfluß   auf  das   britische  Weltreich 

Genau  dieselbe  Tendenz  ist  im  Britischen  Weltreich  am 
Werke.  In  einer  Welt,  die  aus  Kleinstaaten  betände,  wäre  es 
Großbritannien  außerordentlich  schwierig,  vielleicht  unmöglich, 
allein  als  einziges  Weltreich  zu  bestehen.  Die  englischen  Staats- 
männer der  50  er  Jahre  träumten  vom  Weltfrieden  und  dachten 
sich  Europa  als  ein  System  von  einer  großen  Zahl  verhältnis- 
mäßig kleiner  Nationalitäten,  die  unbehelligt  von  stärkeren 
Nachbarn,  weder  starke  Rüstungen  hatten,  noch  ehrgeizige 
Pläne  hegten.  War  dies  ihr  Ideal,  so  konnten  sie  mit  heiterer 
Resignation  der  Zeit  entgegensehen,  in  der  die  britischen 
Kolonien  ihr  Mannesalter  erreichen,  und  Anspruch  auf  Unab- 
hängigkeit erheben  würden.  Auf  keinen  Fall,  so  dachten  sie, 
würde  das  zu  ihrem  Schaden  sein,  und  jedenfalls  könnten  die 
Beziehungen  zum  Mutterlande  immerhin  freundschaftliche  und 
sympathische  bleiben.  Der  moderne  Staatsmann  dagegen  muß 
sich  fragen,  wenn  er  die  riesigen  Rüstungen  und  hochstrebenden 
Pläne  der  anderen  Großmächte  betrachtet:  ,,Wo  werden  wir 
bleiben,  Mutterland  und  Tochterstaaten,  wenn  wir  nicht  zu- 
sammenhalten?" 


138  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

All  dies  ist  eigentlich  selbstverständlich,  und  doch  wird  es 
von  unseren  Parteipolitikern  nur  zu  oft  außer  acht  gelassen, 
in  ihrer  Suche  nach  einem  neuen  Bindemittel,  einem  politischen 
oder  wirtschaftlichen  Allheilmittel,  durch  dessen  Anwendung 
allein  das  Reich  vor  dem  sonst  unvermeidlichen  Zusammen- 
bruch zu  retten  sei.  Die  Leute  reden,  als  ob  wir  noch  in  der 
Welt  der  fünfziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  lebten,  — 
und  diese  Welt  war  selbst  damals  zum  Teil  wenigstens  ein 
Phantasiegebilde  —  in  einer  Zeit,  als  jede  kleine  Gemeinschaft 
ein  Reich  unter  eigener  Flagge  aufrichten  konnte,  unter  dem 
bewundernden  und  uneigennützigen  Applaus  der  anderen 
Nationen.  Diese  Zeit,  wenn  sie  jemals  war,  ist  gründlich  vor- 
über, und  es  ist  kaum  noch  ein  Paradox,  zu  behaupten,  daß 
als  ,, Zement"  des  Britischen  Weltreiches,  die  deutsche  Flotte 
hundertmal  mehr  wert  ist,  als  Präfenzerialzölle  und  sogar  als 
ein  gemeinsamer  ,, Reichsrat"  i). 

Das  ist  nicht  bilhger  politischer  Zynismus;  wir  können 
eher  dankbar  dafür  sein,  daß  die  ungeheuren  Kosten,  die  uns  der 
Rüstungswettkampf  aufzwingt,  wenigstens  diesen  positiven  Posten 
auf  der  Kreditseite  ergeben.  Blutsverwandtschaft,  Traditionen, 
Geschichte,  die  Gefühlsmotive,  spielen  zwar  noch  immer  eine 
große  Rolle;  aber  dieser  Zwang  zu  Einigkeit,  dieser  Druck  von 
außen  ist  die  starke  und  reale  Triebkraft.  Angenommen,  die 
großen  britischen  Kolonien  wären  nicht  spezifisch  britisch  in 
ihrem  Empfinden,  und  hätten  für  keine  der  anderen  großen 
Nationen  eine  besondere  Vorliebe,  so  würden  ihnen  verschiedene 
Möglichkeiten  des  Anschlusses  offenstehen.  Die  eine  könnte  sich 
Deutschland  anschließen,  eine  andere  den  Vereinigten  Staaten, 
eine  dritte  Frankreich.  In  jedem  System  müssen  wir  einen 
allen  Teilen  gemeinsam  ,, Anziehungspunkt"  der  Empfindung 
und  Tradition  voraussetzen,  der  stärker  ist,  als  die  Anziehungs- 
kräfte der  anderen  Systeme.  Auf  die  Frage,  warum  die  briti- 
schen Kolonien  den  Anschluß  an  das  Mutterland  allen  an- 
deren   möglichen    Verbindungen    vorziehen,    müssen    sie    eine 


*)  „Imperial  Council"  (Eeicbsrat):  Eine  Art  Bundesrat  füi*  das  Muttei^ 
land  und  die  Tochterstaaten  (selbständige  Kolonien),  der  als  nächster  Schritt 
in  der  Konsolidierung  des  britischen  Imperiums  von  den  Imperialisten  erstrebt 
wird.  Die  Zuziehung  eines  kanadischen  Ministers  zu  den  Sitzungen  des 
Imperial  Committee  of  Defence  (Reichsverteidigungskomitee),  die  der  kana- 
dische Premier,  Mr.  Borden,  in  seiner  Rede  am  5.  Dezember  im  kanadischen 
Parlament  zur  Bedingung  der  Schenkung  der  drei  „Dreadnoughts"  gemacht 
hat,  ist  ein  weiterer  Schritt  auf  dem  Wege  zu  diesem  Reichrat. 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  139 

entschiedene  und  positive  Antwort  geben,  die  im  besten  Sinne 
des  Wortes  auf  ,, sentimentaler"  Grundlage  ruht.  Ist  diese 
Antwort  unklar,  so  steht  die  Sache  der  Einigung  von  vorn- 
herein schlecht,  und  keine  noch  so  starke  Organisation  kann 
das  ändern.  Im  anderen  Falle  dagegen,  wenn  die  Bevorzugung 
des  britischen  Systems  vor  allen  anderen  klar  und  positiv  ist, 
so  können  wir  mit  Zuversicht  behaupten,  daß  der  Trieb,  das 
Imperium  in  einem  gemeinsamen  Wehrsystem  zu  einigen, 
heute  stärker  ist  als  je  vorher  in  unserer  Geschichte. 

3.  Logische  Dilemmas  und  praktische  Folgerungen 

Tatsächlich  ist  dieser  Trieb,  diese  treibende  Kraft,  seit 
30  Jahren  mächtig  am  Werk,  und  besonders  seit  dem  Buren- 
kriege. Das  sehen  wir  an  den  verschiedenen  Reichs-(Kolonial-) 
Konferenzen,  Wehr-  und  Pressekonferenzen.  Der  Gedanke, 
lokale  Wehrkräfte  zu  organisieren  und  das  Mutterland  in  irgend- 
einer Weise  in  der  Reichsverteidigung  zu  unterstützen,  ist 
lebendiger  als  je  zuvor.  Die  Bevölkerung  in  unseren  ,, Gebieten 
jenseits  der  Meere",  braucht  nur  über  die  Bedingungen  und 
Möglichkeiten  eines  modernen  Krieges  unterrichtet  zu  werden, 
und  sofort  wird  der  Wunsch  lebendig,  dem  Mutterland  zu  helfen. 
Das  gibt  unseren  Pessimisten  sofort  neue  Veranlassungen  zu 
Zweifeln  und  Befürchtungen.  Rein  strategische  Erwägungen 
kommen  in  Konflikt  mit  politischen  Grundsätzen.  Unsere 
Admiralität  und  das  Kriegsministerium  finden  es  natürlich 
wünschenswert,  daß  die  überse^eischen  Streitkräfte  ihnen  un- 
bedingt zur  Verfügung  stehen.  Die  Regierungen  unserer  Über- 
seegebiete^)  fordern  ^  und  das  ist  von  ihrem  Standpunkt  aus 
eben  so  selbstverständlich  —  daß  der  Grundsatz  der  selbständigen 
Regierung  auch  auf  die  navalen  und  militärischen  Angelegen- 
heiten angewendet  wird.  Südafrika  und  Neuseeland  sind  es 
zufrieden,  direkt  mit  Geldsummen  zu  den  Kosten  der  britischen 
Marine  beizutragen;  Australien  und  Kanada  dagegen  ziehen  es 
vor,  eigene  Kriegsmarinen  unter  eigener  Kontrolle  zu  errichten  -). 


^)  D.  li.  Kolonien.  Gemeint  sind  die  großen  selbständigen  Kolonien. 
Der  Ausdruck  „Dominions  heyond  the  Sea"  wurde  beim  Regierungsantritt 
König  Edward  VII.  gewählt,  um  den  großen  selbständigen  Kolonien  entgegen 
zu  kommen,  für  die  der  Ausdruck  ,, Kolonie"  immer  etwas  wie  , .Hörigkeit" 
in  sich  schloß.  Heute  werden  sie  mit  Vorliebe  „Tochterstaaten"  oder  noch 
lieber  ,, Schwesterstaaten"  genannt. 

^)  Das  wenigstens  war  der  Plan  der  liberalen  kanadischen  Eegierung. 
Die  jetzt  herrschende  konservative  Eegierung  hat  andere  Absichten,  die  der 


140  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

Aus  Kanada,  Südafrika  und  Australien  hat  man  die  Mei- 
nung vernommen,  daß  immerhin  Umstände  eintreten  könnten, 
unter  denen  die  Regierungen  dieser  Gebiete  bei  einem  Kriege, 
in  den  das  Mutterland  verwickelt  wird,  neutral  bleiben  könnten. 
In  allen  diesen  Gebieten  aber  stellt  man  die  Bedingung,  daß 
die  lokalen  Streitkräfte  dem  Reich,  d.  h.  dem  Mutterlande,  nur 
zur  Verfügung  stehen,  nachdem  die  betreffenden  Parlamente 
ausdrücklich  ihre  Zustimmung  gegeben  haben.  Man  hat  über 
diese  Vorbehalte  bedenklich  den  Kopf  geschüttelt  und  zahl- 
reiche und  gelehrte  Abhandlungen  geschrieben  über  die  an- 
geblichen Gefahren,  die  nach  den  Gesetzen  strenger  Logik  sich 
aus  ihnen  entwickeln  könnten.  In  Wahrheit  ist  indessen  diese 
Kontroverse  eine  rein  akademische.  Keine  dieser  von  Juristen 
ausgeklügelten  Fälle  wird  vorkommen,  solange  Großbritannien 
seine  Seeherrschaft  aufrecht  erhält;  und  wenn  es  das  erst  nicht 
mehr  kann,  ist  es  überhaupt  überflüssig,  noch  weiter  zu  argu- 
mentieren. Es  ist  einzig  und  allein  die  Macht  Großbritanniens, 
des  Mutterlandes,  die  die  selbständigen  Gebiete  überhaupt  erst 
in  die  Lage  versetzt,  Krieg  oder  Frieden  zu  wählen.  Fällt 
diese  Macht,  so  würde  nicht  mehr  das  betreffende  Parlament 
entscheiden,  ob  Krieg  oder  Frieden,  sondern  der  Feind  würde 
seinen  Willen  diktieren.  Aus  diesem  Dilemma  gäbe  es  nur 
einen  Ausweg,  —  Lostrennung,  und  diese  ist  ausgeschlossen, 
da,  wie  wir  oben  ausführten,  der  Anschluß  an  ein  anderes 
Staatssystem  nicht  die  Vorteile  bietet  wie  Verbleiben  im  briti- 
schen Reiche. 

Für  die  Dominien  sowohl  als  auch  für  das  Mutterland,  ist 
deshalb  die  Aufrechterhaltung  der  britischen  Seeherrschaft  die 
höchste  Aufgabe,  und  es  handelt  sich  für  beide  darum,  eine 
Wehrorganisation  auf  Gegenseitigkeit  zu  gründen,  die  das  Prinzip 
der  Selbständigkeit  nicht  verletzt,  dieser  Selbständigkeit,  die 
so  recht  der  Eckstein  des  britischen  politischen  Systems  ist. 


kanadische  Premierminister  am  5.  Dezember  v.  .J.  dem  kanadischen  Parlament 
in  Ottawa  vorlegte.  Danach  stellt  Kanada  dem  Mutterland  sofort  die  Summe 
von  35  Millionen  Dollars  (7  Millionen  Pfund  Sterling)  zur  Verfügung  zum 
Bau  von  drei  Großkampfschiffen  („Dreadnoughts").  Die  Errichtung  einer 
eigenen  kanadischen  Flotte  bleibt  „späterer  Erwägung  vorbehalten".  Die 
Vorlage  ist  vom  kanadischen  Parlament  noch  nicht  angenommen,  wird  aber 
wohl,  trotz  des  Widerspruchs  der  liberalen  Partei,  durchgehen.  Das  Memo- 
randum der  britischen  Admiralität,  das  im  kanadischen  Parlament  verlesen 
wurde  und  auf  das  sich  die  kanadische  „Subvention"  stützt,  soll  hiermit  ganz 
besonderer  Beachtung  empfohlen  werden. 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  141 

Der  Grundzug  unserer  Zeit  ist,  daß  die  Dominien  sich  der 
Wichtigkeit  dieser  Frage  bewußt  werden.  An  uns  ist  es,  ihnen 
die  Wege  zu  ebnen.  Das  tun  wir  aber  nicht,  wenn  wir  sie 
beständig  vor  ausgeklügelte  logische  Dilemmas  stellen,  wie  es 
einige  unserer  Imperialisten  und  Strategen  belieben.  Entweder, 
so  hört  man  diese  Leute  sagen,  stellt  ihr  —  die  Dominien  — 
euch  unter  die  unbedingte  Kontrolle  der  britischen  Admiralität, 
oder  eure  Marinen  sind  ohne  Wert  für  den  Kriegsfall;  ent- 
weder müßt  ihr  euch  ohne  jeden  Vorbehalt  zur  Unterstützung 
des  Mutterlandes  verpflichten,  oder  das  Mutterland  kann  über- 
haupt nicht  auf  euch  rechnen;  entweder  müßt  ihr  mehr  tun 
und  euch  enger  an  uns  anschließen,  oder  ihr  könntet,  wenn 
es  wirklich  zum  Kriege  kommt,  ebensogut  nichts  tun.  Wenn 
man  diesen  logischen  Pedanten  folgte,  würden  wir  vielleicht 
eine  Reichsflotte  unter  der  Kontrolle  der  Admiralität  in  London 
haben;  aber  das  britische  Imperium  würde  bald  aufhören  zu 
existieren.  Denn  es  würden  uns  bald  wieder  alle  jene  Streit- 
fragen trennen  —  Steuerfragen,  Vertretung  im  Parlament, 
politische  Kontrolle  usw.  — ,  die  uns  seinerzeit  die  amerika- 
nischen Kolonien  kosteten.  Wir  haben  nun  einmal  damit  zu 
rechnen,  daß  die  selbständigen  Dominien  nicht  willens  sind, 
die  Kontrolle  über  die  Wehrkräfte,  die  sie  mit  ihren  Steuern 
bezahlen,  aus  der  Hand  zu  geben.  Der  deutsche  Generalstab 
ist  ohne  Zweifel  der  Meinung,  daß  unter  solchen  Umständen 
der  Wert  dieser  Kräfte  für  den  Kriegsfall  gleich  null  ist.  Der 
Engländer  aber,  der  an  die  britische  Art  gewöhnt  ist,  versteht, 
daß  es  die  unerläßliche  Bedingung  ist,  die  gegenseitige  Unter- 
stützung zu  gewährleisten. 

4.  Ein  Akt  des  Glaubens 

Die  loyale  Anerkennung  dieser  Bedingung,  nämlich,  daß 
die  Parlamente  der  Dominien  aus  freien  Stücken  ihre  Zustim- 
mung geben,  ist  sozusagen  der  Akt  des  Glaubens,  auf  dem 
das  ganze  britische  System  ruht.  Wenn  wir  nicht  glauben,  daß 
die  Parlamente  im  Augenblick  der  Not  und  Gefahr  aus  freien 
Stücken  ihre  Zustimmung  geben  werden,  für  die  gemeinsame 
Sache  einzutreten,  oder  wenn  wir  denken,  daß  die  Parlamente 
reif  für  die  Lostrennung  sind,  so  gibt  es  dagegen  keine  Abhilfe, 
und  rein  mechanische  Mittel,  sie  gegen  ihren  Willen  an  uns 
zu  binden,  würden  die  Sache  nur  noch  schlimmer  machen. 
Aber  wenn  —  und  das  ist  unsere  Ansicht  —  die  Zeichen  der 
Zeit  dahin  zu  deuten  sind,  daß  die  Ergebenheit  an  die  gemein- 


142  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

same  Sache  sozusagen  aus  sich  selbst  heraus  wächst,  und  die 
Erkenntnis  zeitigt,  daß  nur  eine  wirkhche  Einheit  die  nötigen 
Garantien  für  die  Freiheit  und  Sicherheit  der  einzelnen  Teile 
bietet,  so  können  wir  um  unsere  Zukunft  beruhigt  sein.  Die 
Lösung  der  Probleme  allerdings  besteht  in  einem  allmählichen 
Wachsen,  nicht  in  einer  plötzlichen  ,, Erfindung".  Es  kann  nicht 
die  Aufgabe  unserer  Staatsmänner  sein,  einen  Plan  fix  und 
fertig  auszuarbeiten  und  dem  Reich  ,, auf  zuoktroyieren";  viel- 
mehr werden  viele  Staatsmänner  der  Reihe  nach,  im  Mutter- 
land und  den  Dominien,  langsam  ein  System  entwickeln,  das 
die  strategischen  Forderungen  mit  den  politischen  Grundsätzen 
soweit  aussöhnt,  daß  sich  damit  praktisch  arbeiten  läßt.  Das 
mag  mit  der  Schöpfung  eines  ,, zentralen  Reichsrats"  erreicht 
werden,  oder  auf  irgendeinem  anderen  Wege:  nötig  ist  auf 
jeden  Fall  eine  gemeinsame  Auffassung  davon,  was  das  Reich 
uns  ist,  und  Übereinstimmung  in  den  Hauptgrundlinien  seiner 
Politik.  Deshalb  ist  so  wichtig,  was  auf  der  letzten  Reichs- 
(Kolonial)Konferenz  zum  erstenmal  geschah:  vertrauliche  Mit- 
teilungen vonseiten  des  Staatssekretärs  des  Auswärtigen  über 
die  auswärtige  Politik,  und  sein  Versprechen,  die  Dominien  bei 
wichtigen  Angelegenheiten  ins  Vertrauen  zu  ziehen.  Wenn  das 
fortgesetzt  und  zur  Regel  wird,  so  werden  die  oben  erwähnten 
Vorbehalte  der  Regierungen  der  Dominien  jede  praktische  Be- 
deutung verlieren.  Denn  die  Regierung  in  London  wird  stets 
darüber  unterrichtet  sein,  für  welche  Dinge  sie  auf  die  Unter- 
stützung der  Dominien  rechnen  kann,  und  für  welche  sie  das 
nicht  kann,  und  wird  ihre  Politik  so  einrichten,  daß  diese  Unter- 
stützung stets  außer  Frage  ist.  Diese  Politik  muß  notwendiger- 
weise, glaube  ich,  eine  friedliche  sein.  Ihr  Ausblick  würde 
auf  die  weite  Welt  gerichtet  sein  und  weniger  ausschließlich 
auf  Europa;  sie  wird  es  sich  zur  Aufgabe  machen,  eine  Ver- 
wickelung in  rein  diplomatische  Streitigkeiten  zu  vermeiden. 
Ihr  Grundstein  würde  die  Seemacht  sein,  und  die  Aufrecht- 
erhaltung der  vorherrschenden  Flotte  der  erste  Artikel  ihres 
Glaubensbekenntnisses. 

V.  Eine  deutsch-englische  Detente 

Wollen  wir  zu  Deutschland  dauernd  in  bessere  Beziehungen 
treten,  so  müssen  wir  gewisse  Dinge  vollständig  vergessen; 
andere  dagegen,  die  während  der  letzten  sechs  Jahre  Gegen- 
stand der  Kontroverse  gewesen  sind,    sorgfältig  im  Gedächtnis 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  143 

behalteD.  Wir  müssen  uns  nicht  länger  einbilden,  daß  es 
unsere  Mission  sei,  das  europäische  Gleichgewicht  wieder  her- 
zustellen. Wir  dürfen  auch  nicht  mehr  leichthin  so  reden,  als 
ob  wir  einen  kontinentalen  Krieg  mit  großen  Truppenmassen 
planten,  und  unsere  Streitkräfte  daraufhin  organisierten.  Na- 
türlich würden  wir  in  jedem  Krieg,  in  den  wir  verwickelt 
werden,  alle  unsere  Kräfte  einsetzen,  zu  Lande  und  zu  Wasser, 
um  ihn  erfolgreich  zu  Ende  zu  führen;  und  wenn  wir  un- 
glücklicherweise im  Kriege  gegen  Deutschland  ständen,  w'ürden 
wir  natürlich  je  nach  Notwendigkeit  Armee  und  Marine  ein- 
setzen. Aber  es  ist  recht  wünschenswert,  keinen  unserer  Nach- 
barn darüber  im  Zweifel  zu  lassen,  daß  wir  in  erster  Linie 
eine  Seemacht  sind;  daß,  was  wir  für  unsere  Freunde  und 
gegen  unsere  Feinde  leisten  können,  in  erster  Linie  und  haupt- 
sächlich von  unserer  Marine  und  nicht  von  unserer  Armee 
abhängt;  daß  endlich  die  Aufrechterhaltung  unserer  Marine 
unsere  Hauptaufgabe  ist,  und  daß  kein  Traum  von  militärischem 
Ruhm  uns  dieser  unserer  Hauptaufgabe  untreu  machen  wird. 
Halten  wir  daran  fest,  so  mag  eine  gewisse  Rivalität  fort- 
bestehen, aber  keine  Bitterkeit  und  Feindschaft  zwischen  uns 
und  einer  der  großen  europäischen  Militärmächte.  Wir  würden 
in  diesem  Falle  nur  tun,  was  ganz  Europa  als  unsere  Pflicht 
anerkennt;  unsere  Vertrags  Verpflichtungen  würden  nicht  mit 
der  deutschen  Politik  kollidieren,  es  sei  denn,  daß  Deutschland 
aggressiv  vorgehe,  eine  Handlungsweise,  die  es  selbst  durchaus 
in  Abrede  stellt.  Dann  bleibt  immer  noch  die  Möglichkeit  einer 
gegenseitigen  vertraglichen  Einschränkung  der  Seerüstungen 
offen.  Wir  aber  können  nicht  mehr  darauf  dringen:  die  Er- 
fahrung lehrt  uns,  daß  dahingehende  Vorschläge,  wenn  die- 
selben von  der  vorherrschenden  Seemacht  ausgehen,  der  an- 
deren schwächeren  immer  Anlaß  zu  schweren  Mißverständnissen 
geben.  Aber  was  verschiedene  britische  Regierungen  in  dieser 
Hinsicht  geäußert  haben,  behält  seine  Gültigkeit.  Die  Gründe 
für  eine  solche  Einschränkung  der  Seerüstungen,  w^obei  sich 
das  Stärkeverhältnis  der  rivalisierenden  Mächte  nicht  verschieben 
würde,  haben  noch  das  gleiche  Gewicht,  werden  vielleicht  im 
Laufe  der  Zeit  noch  schwerer  wiegen. 

1.  Deutsche  Anklagen  und  britische  Entgegnungen 
Eine  Detente   in   den  Seerüstungen  indessen,  wenn  wir  je 
dahin  kommen,   wird   einer  politischen  Detente  folgen,  ihr  nie 
vorangehen.    Die  Schiffsbauprogramme  sind  ein  Ausdruck  der 


144  Spender.  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

Politik  und  werden  automatisch  steigen  und  fallen,  jenachdem 
unsere  Beziehungen  schlechte  oder  gute  sind.  Ein  Engländer, 
der  eine  politische  Detente  wünscht,  muß  ein  wenig  aus  sich 
herausgehen  und  sich  in  Deutschlands  Lage  versetzen,  um  zu 
verstehen,  was  man  in  Deutschland  Großbritannien  und  der 
britischen  Politik  vorwirft.  Wir  können  eine  Stimmung  nicht 
als  reine  Unvernunft  bezeichnen,  die  durch  das  ganze  Volk 
geht,  und  die,  wie  Engländer  wissen,  die  Deutschland  besuchen 
oder  deutsche  Freunde  haben,  von  durchaus  verständigen  und 
ruhigen  Leuten  geteilt  wird,  selbst  solchen,  die  England  sonst 
wohlwollen.  Wenn  wir  die  Anglophoben  und  alldeutschen 
Jingoes  beiseite  lassen,  was  wirft  man  uns  in  Deutschland  vor? 
In  der  Hauptsache,  daß  Großbritannien  seine  Seemachtstellung 
mißbraucht  zur  Durchführung  einer  ,, Sperrpolitik"  gegen  jede 
Nation,  die  es  für  seinen  Konkurrenten  oder  Rivalen  hält.  So 
erging  es  Rußland,  dessen  Zugang  zu  den  warmen  Wassern 
des  Mittleren  und  Fernen  Ostens  England  blockierte,  und  das 
es  mit  allen  Mitteln  auf  seine  Steppen  und  den  kalten  Norden 
zurückzutreiben  trachtete.  So  erging  es  Frankreich,  wenigstens 
bis  zum  Jahre  1904,  als  die  englische  Politik  eine  plötzliche 
und  unerklärliche  Schwenkung  machte.  So  ergeht  es  Deutsch- 
land jetzt:  die  englische  Politik  durchkreuzt  die  deutsche  in 
China,  legt  ihr  Veto  ein  gegen  eine  Endstation  der  Bagdad- 
bahn am  Persischen  Golf,  mischt  sich  ohne  jede  Berechtigung 
in  den  Marokkohandel  ein,  und  verhindert  Deutschland,  sich 
mit  Frankreich  über  die  Besetzung  eines  marokkanischen  Hafens 
zu  einigen,  zwingt  es,  sich  mit  Kompensationen  zufrieden  zu 
geben,  die,  fern  ab  vom  Meere  gelegen,  der  britischen  See- 
macht genehm  oder  doch  nicht  zu  unangenehm  sind.  Der 
Stein  des  Anstoßes  ist  immer  wieder  die  britische  Seemacht, 
ihr  ungreifbarer,  mysteriöser,  weitreichender  Einfluß,  der  Eng- 
land befähigt,  die  Hände  überall  im  Spiel  zu  haben,  Englands 
Nachbarn  von  ihrem  ,, Platz  in  der  Sonne"  wegzudrängen,  und 
sich  ohne  jede  Berechtigung  in  Dinge  einzumischen,  die  es 
nichts  angehen. 

So  geht  die  Rede:  oft  ausgeschmückt  mit  plausiblen  und 
nicht  selten  freierfundenen  Details,  und  erhält  neue  Nahrung 
mit  jedem  diplomatischen  Waffengang,  aus  dem  Deutschland 
tatsächlich  oder  vermeintlich  als  der  ,, Zweitbeste"  hervorgeht. 
Der  Engländer  entgegnet  natürlich :  Die  Tatsache,  daß  Deutsch- 
land sich  beschwert,  ist  gerade  der  Beweis  dafür,  daß  seine 
ehrgeizigen  Pläne  es  nicht  zur  Ruhe  kommen  lassen,    daß  es 


Spender,  Die  Grundlaj^en  der  britischen  Politik.  145 

aggressive  Absichten  hat,  denen  England  sich  pflichtgemäß 
widersetzen  muß.  Darauf  entgegnen  die  Deutschen,  daß  sie 
nichts  mehr  erbittere,  als  diese  selbstgerechte  Pose  der  beleidig- 
ten Unschuld,  in  der  sich  der  Engländer  gefalle.  So  geht  es 
hin  und  her,  und  wir  kommen  nicht  weiter.  Ob  diese  gegen- 
seitigen Empfindungen  nun  berechtigt  sind  oder  nicht,  wir 
haben  mit  ihnen  als  Tatsachen  zu  rechnen.  Gibt  es  ein 
Mittel  dagegen? 

2.   Taten,   nicht  Worte 

Der  Versicherungen  und  Beteuerungen  sind  wirklich  genug 
gewechselt;  man  verlangt  in  beiden  Ländern  Taten,  nicht  Worte. 
Beide  Länder  versichern,  daß  sie  mit  gewissen  Machtmitteln 
zu  rechnen  haben,  deren  mutmaßlicher  Gebrauch  sich  nicht 
mit  Sicherheit  voraussagen  läßt.  Die  Regierungen  wechseln; 
die  Rüstungen  aber,  die  von  einer  Regierung  rein  zur  Defensive 
bestimmt  waren,  können  in  der  Hand  einer  anderen,  ihrer  Nach- 
folgerin, aggressiv  verwendet  werden.  So  versichern  die  Staats- 
männer ,,von  ihrer  hohen  Warte";  tatsächlich  aber  macht  es 
einen  gewaltigen  Unterschied,  ob  die  Beziehungen  der  einzelnen 
Mächte  zueinander  freundschaftlich  oder  das  Gegenteil  sind. 
Die  große  österreichisch  -  ungarische  Armee  könnte  vielleicht 
gegen  Deutschland  verwendet  werden;  tatsächlich  aber  sind 
es  die  deutschen  Staatsmänner  zufrieden,  anzunehmen,  daß  sie 
für  Deutschland  verwendet  werden  wird.  Frankreichs  Land- 
und  See -Streitkräfte  könnten  vielleicht  gegen  Großbritannien 
verwendet  werden;  tatsächlich  rechnet  die  britische  Politik  da- 
mit, daß  sie  für  Großbritannien  stehen  werden.  Ebenso  würde 
es  für  die  Höhe  der  Flottenetats  der  beiden  Länder,  Deutsch- 
lands und  Englands,  einen  gewaltigen  Unterschied  machen,  wenn 
Deutschland  die  Überzeugung  gewänne,  daß  die  britische  See- 
macht nicht  unbedingt  gegen  Deutschland  verwendet  werden 
wird.  Diese  Überzeugung  aber  läßt  sich  nur  schaffen,  wenn 
das  diplomatische  Sichaneinanderreiben  aufhört,  und  das  große 
Publikum  allmählich  die  Überzeugung  gewinnt,  daß  man  nicht 
darauf  aus  ist,  sich  gegenseitig  ein  Bein  zu  stellen. 

Diese  Ausführungen  beschäftigen  sich  mit  britischer  Politik ; 
es  liegt  somit  nicht  in  ihrem  Rahmen,  näher  auf  die  deutsche 
Politik  einzugehen.  Aber,  um  es  kurz  zu  sagen,  die  Aufgabe 
der  deutschen  Politik  würde  es  sein,  um  der  anglo- deutschen 
Kontroverse  ein  Ende  zu  machen,  England  zu  überzeugen,  daß 
Deutschland  nicht  nach   einer  Hegemonie   in  Europa  trachtet, 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  IQ 


146  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

in  deren  Verfolg  nach  Frankreichs  Niederwerfung  England  das 
nächste  Opfer  sein  würde.  Das  ist  etwas  kraß  ausgedrückt; 
es  soll  auch  nicht  damit  gesagt  werden,  daß  Deutschland  wirk- 
lich solche  Absichten  hege.  Aber  tatsächlich  ist  es  dieser 
Argwohn,  der  die  diplomatischen  Zusammenstöße  der  letzten 
sieben  Jahre  veranlaßte.  Im  Folgenden  —  und  ich  hoffe,  daß 
ich  dabei  auch  dem  deutschen  Standpunkt  gerecht  werde  — 
beschränke  ich  mich  darauf,  zu  erörtern,  was  wir  in  England 
tun  müssen,  um  Deutschland  weder  Grund  noch  Vor  wand 
zu  geben,  unsere  Politik  zu  beargwöhnen. 

Oben  zitierte  ich  die  deutsche  Auffassung  unserer  Politik 
Rußland  gegenüber;  wir  können  daraus  lernen,  was  wir  grund- 
sätzlich vermeiden  müssen.  Wir  müssen  es  vermeiden,  daß 
Deutschland  an  die  Stelle  tritt,  die  Rußland  früher  in  unserer 
Politik  einnahm.  Wir  erkennen  jetzt  im  Lichte  der  Erfahrung, 
daß  nichts  so  kostspielig  und  nutzlos  war,  als  der  Zustand 
chronischer  Gereiztheit,  der  vierzig  Jahre  lang  zwischen  Rußland 
und  England  bestand.  Rußland  war  ein  für  allemal  für  uns, 
und  wir  für  Rußland,  der  Bösewicht,  und  am  Ende  charak- 
terisierte ein  englischer  Premierminister  diese  ganze  Politik  als 
eine  solche,  ,,die  auf  das  falsche  Pferd  gesetzt  hat"  ^). 

Von  Rußland  wurde  uns  genau  derselbe  Vorwurf  gemacht, 
den  uns  jetzt  Deutschland  macht:  daß  wir  seinen  Zugang  zur 
See  blockierten  und  dem  natürlichen'  Wachstum  und  der  Ex- 
pansion Rußlands  überall  in  der  Welt  einen  Riegel  vorschöben 
durch  unsere  Flotte.     Das   sollte   uns   eine  Warnung   sein. 

Selbst  vom  rein  egoistischen  Standpunkt  können  wir  es 
als  ein  allgemein  gültiges  Prinzip  formulieren:  es  ist  weit  ge- 
fährlicher, auf  die  Dauer  berechtigte  deutsche  Expansions- 
bestrebungen zu  durchkreuzen,  als  gelegentlich  das  Risiko  zu 
übernehmen,  Deutschland  ein  Stück  Küstenland  oder  einen 
Hafen  erwerben  zu  lassen,  der  vielleicht,  aber  durchaus  nicht 
unbedingt,  im  Kriegsfalle  einen  Kreuzer  beherbergen  oder  als 
Kohleustation  dienen  könne.  Eine  Seebeherrschung,  die  in  der 
Praxis  einem  britischen  Veto  gegen  jede  Expansion  anderer 
Mächte  gleichkäme,  wegen  der  Befürchtung,  daß  die  britische 
Flotte  im  Kriegsfalle  Nachteile  davon  haben  könnte,  wäre  un- 
erträglich. Eine  der  Hauptursachen  der  kriegerischen  Aktionen 
oder   doch   der   Rivalität   in   den  Rüstungen  ist  die  ängsthche 

*)  Lord  Salisbury  sprach  von  „backing  the  wrong  horse".  Das  falsche 
Pferd  war  die  Türkei. 


Spender,  Uie  Grundlagen  der  britischen  Politik.  147 

Sorge  der  militärischen  Führer,  ihrer  Nation  beim  Ausbruch 
des  Krieges  eine  „günstige  strategische  Stellung"  zu  sichern. 
Die  moderne  Diplomatie,  hat  man  gesagt,  besteht  in  einem 
„Manövrieren  für  eine  günstige  Position  in  Kriegslagen,  die 
von  den  Generalstäben  auf  dem  Papier  ausgetiftelt  wurden". 
Bei  diesem  Manövrieren  vergißt  man  es  beständig,  die  pohti- 
schen  Bedingungen  in  Rechnung  zu  stellen,  die  für  die  Erhal- 
tung des  Friedens  wirken. 

In  unserem  Falle  sind  es  zwei  Punkte,  die  man  beständig 
im  Auge  behalten  muß: 

1.  Vom  politischen  Standpunkt  ist  die  Erhaltung  des  Friedens 
davon  bedingt,  daß  Deutschland  Raum  zur  Expansion 
erhält,  ohne  darum  kämpfen  zu  müssen,  d.  h.  gute  Ko- 
lonien oder  wirtschaftliche  Einflußsphären,  mit  Zugang 
zum  Meere. 

2.  Vom  rein  strategischen  Standpunkt  ist  es  die  Aufgabe 
der  britischen  Admiralität,  dahin  zu  wirken,  daß  Deutsch- 
land oder  ein  anderer  möglicher  Rivale  möglichst  wenige 
Häfen  mit  tiefem  Wasser  besitze,  die  zu  Kriegshäfen 
ausgebaut  werden  und  Kreuzern  als  Stützpunkt  für  den 
Kaperkrieg  dienen  können.  Denn,  unter  modernen  Be- 
dingungen, so  belehren  uns  die  Sachverständigen  der 
Admirahtät,  gehören  immer  drei  Kreuzer  dazu,  um  einen 
feindlichen  zu  blockieren,  und  deshalb  erfordert  jeder 
neue  feindliche  Flottenstützpunkt  ganz  unverhältnismäßig 
größere  Aufwendungen  von  britischer  Seite. 

Es  ist  die  Aufgabe  des  Staatsmanns,  zwischen  diesen  beiden 
Standpunkten  den  Ausgleich  zu  finden.  Der  rein  strategische 
Standpunkt  wird  unhaltbar,  wenn  er  zu  Reibungen,  Argwohn 
und  allgemeiner  Beunruhigung  Veranlassung  gibt,  welche  wie- 
derum zu  allgemeinen  Rüstungen  führen,  die  auf  die  Dauer 
weit  kostspieliger  sind,  als  die  notwendigen  Abwehrrüstungen 
gegen  eine  bestimmte  Gefahr.  Der  politische  Standpunkt 
muß  Rücksicht  nehmen  auf  die  seestrategische  Ansicht,  daß 
diese  oder  jene  Expansion  einer  fremden  Macht  das  strategische 
Problem  kompliziere,  und  muß  nach  Ausgleichen  suchen,  die 
solche  Konsequenzen  vermeiden. 

Es  ist  keine  leichte  Aufgabe,  diese  allgemeinen  Grundsätze 
in  die  Praxis  umzusetzen,  z.  B.  in  einem  Falle  wie  dem  der 
Bagdadbahn,  und  ihrem  Endpunkt  am  Persischen  Golf.  Man 
wird  dabei  vielleicht  zu  Abmachungen  kommen,  die  den  Chau- 
vinisten in  beiden  Ländern  recht  wenig  gefallen.    Wir  müssen 

10* 


148  Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

indessen  daran  denken,  daß  die  deutsche  Diplomatie  in  diesen 
Dingen  durchaus  „geschäftsmäßig"  handelt.  Es  wäre  töricht, 
zu  erwarten,  daß  Deutschland  eine  Konzession  aufgibt,  die  es 
als  eine  deutsche  Konzession  ansieht,  ohne  dafür  von  uns  ein 
Äquivalent  zu  erhalten.  Aber  anderseits,  gerade  weil  Deutsch- 
land höchst  unsentimental  diese  Do  ut  des  Politik  treibt,  ist 
die  Lage  geklärt.  Wenn  Deutschland  selbst  Gott  nicht  für 
nichts  dient,  so  hat  es  sich  damit  doch  noch  lange  nicht  dem 
Teufel  verschrieben.  Am  Ende  entscheidet  Deutschland  die 
Frage,  ob  Krieg  oder  Frieden,  strikt  vom  Interessenstandpunkt. 
Bei  der  letzten  Marokkokrise  hatte  es  sogar  schon  halb  das 
Schwert  aus  der  Scheide  gezogen  und  entschied  sich  dann 
dennoch  für  einen  geschäftlichen  Handel.  Die  Expansion 
Deutschlands  wird  also  in  diesem  Sinne  Veranlassung  geben 
zu  manchem  schwierigen  Handelsgeschäft,  sollte  aber  nicht 
zum  Kriege  führen. 

3.   Kleinere   Reibungen 

Da  es  sich  im  vorliegenden  nur  um  Grundlagen  der  Politik 
handelt,  kann  es  nicht  meine  Aufgabe  sein,  einen  Plan  in 
allen  Einzelheiten  zu  entwickeln.  Dazu  ist  es  noch  zu  früh; 
es  könnte  sogar  gefährlich  sein.  Die  Hauptsache  ist,  daß  wir 
beide  grundsätzlich  zu  einer  Politik  gegenseitiger  Zugeständnisse 
bereit  sind,  und  daß  wir  Engländer  vor  allen  Dingen,  selbst 
unter  Opferung  rein  strategischer  Vorteile,  den  An- 
schein vermeiden,  als  ob  wir  uns  vorsätzlich  einer  deutschen 
Expansion  in  den  Weg  stellen.  Im  einzelnen  sollten  wir  es 
vermeiden,  Deutschland  zu  hofmeistern,  wenn  die  deutsche 
Politik  sich  Vorteile  sichert,  wie  zum  Beispiel  in  der  Türkei, 
die  unsere  Interessen  in  keiner  Weise  bedrohen.  Ein  anderer 
wichtiger  Punkt  wäre:  in  den  weniger  wichtigen  diplomatischen 
Fragen  ein  erträgliches  Verhältnis  herzustellen.  Wie  die  Dinge 
liegen,  glauben  die  beiderseitigen  auswärtigen  Ämter  die  Hand 
des  Rivalen  selbst  in  den  harmlosesten  Angelegenheiten  zu 
sehen.  Der  Argwohn  Deutschlands  erstreckt  sich  auf  jede 
britische  Vertretung  im  Ausland,  sei  es  Botschaft  oder  Konsulat, 
und  ganz  dasselbe  gilt  von  England.  Jeder  junge  Diplomat 
bildet  sich  augenscheinlich  ein,  daß  er  seinem  Chef  einen  be- 
sonderen Gefallen  tue,  wenn  er  sein  Quentchen  dazu  beiträgt, 
um  die  Summe  der  Erregung  über  triviale  Dinge  zu  steigern. 
Deshalb  die  beständigen  gegenseitigen  Nadelstiche.  Die  Männer 
in    den    verantwortlichen    Stellen    sprechen    ihr  Bedauern   aus, 


Spender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik.  149 

aber  sie  tun  nichts  dazu,  der  Sache  ein  Ende  zu  machen.  Je 
schwieriger  die  ernsten  Streitfragen  zwischen  zwei  Mächten  sind, 
desto  ausgesucht  höflicher  sollten  sie  in  kleinen  Dingen  zuein- 
ander sein;  dies  sollte  im  diplomatischen  Verkehr  die  Regel 
bilden.  Schwierige  ernste  Fragen  erledigen  sich  viel  leichter, 
wenn  man  für  verständig  und  freundschaftlich  in  kleinen  Dingen 
gilt.  Gerade  die  Häufung  von  absurden  kleinen  Zwistigkeiten 
über  Dinge,  die  am  Ende  von  gar  keiner  Wichtigkeit  sind,  war 
von  höchst  verderbhcher  Wirkung  auf  die  deutsch-enghschen 
Beziehungen. 

VI.  Schlußwort 
In  der  zusammenfassenden  Darstellung  der  Politik  Groß- 
britanniens, welche  die  vorhergehenden  Ausführungen  versuchen, 
findet  der  deutsche  Leser  vielleicht  manche  Kritik  deutscher 
Angelegenheiten  oder  der  deutschen  Politik,  die  man  anmaßend 
nennen  könnte,  wenn  sie  direkt  an  deutsche  Leser  gerichtet 
wäre.  Deshalb  möchte  ich  wiederholen,  was  ich  schon  in  der 
Einleitung  sagte,  nämlich,  daß  diese  Kapitel  Teile  einer  Bro- 
schüre sind,  die  ausschließlich  für  Engländer  bestimmt  war. 
Aber  ich  möchte  hier  noch  hinzufügen:  sie  sind  von  einem 
Engländer  geschrieben,  der  der  Überzeugung  ist,  daß  zur  gegen- 
wärtigen Zeit  für  ganz  Europa  nichts  erstrebenswerter  ist,  als 
ein  gutes  Einvernehmen  zwischen  Deutschland  und  Großbritan- 
nien. Wenn  ich  nun  meinen  deutschen  Leser  auffordern  darf, 
eine  Schlußfolgerung  zu  ziehen,  so  ist  es  diese:  daß  keine 
britische  Regierung  es  wünschen  kann,  sich  ohne  Grund  und 
angriffsweise  in  europäische  Angelegenheiten  einzumischen. 
Keine  Macht  ist  schlechter  organisiert  für  eine  aggressive 
Politik,  als  das  britische  Reich,  aber,  füge  ich  hinzu,  keine  ist 
besser  befähigt,  große  Energie  und  Ausdauer  zu  entfalten  in  der 
Verteidigung  seiner  Interessen.  Vieles,  was  man  in  Deutsch- 
land und  Frankreich  über  die  auswärtige  Politik  Großbritan- 
niens schreibt,  leidet,  wenn  ich  so  sagen  darf,  unter  einem 
Grundfehler:  man  übersieht,  daß  die  Übersee-Interessen  in  der 
britischen  Politik  ausschlaggebend  sind.  Die  englischen  Staats- 
männer haben  nicht  den  Ehrgeiz,  wie  man  es  oft  darstellt,  eine 
aktive  Rolle  auf  dem  europäischen  Schachbrett  zn  spielen;  sie 
denken  weit  mehr  an  ihre  weitreichenden  Verpflichtungen  in 
anderen  Teilen  der  Welt  und  an  die  Rückwirkung  der  euro- 
päischen Politik  auf  diese.  Für  die  Engländer  war  die  Entente 
mit  Frankreich    eine   Abmachung  über   außereuropäische   und 


150  S 23 ender,  Die  Grundlagen  der  britischen  Politik. 

koloniale  Fragen,  und  sie  waren  wirklich  ehrlich  erstaunt,  als 
man  sie  in  Deutschland  auffaßte  als  einen  macchiavellistischen 
Schachzug  gegen  Deutschland.  Für  die  Engländer  war  die 
Verständigung  mit  Rußland  von  größter  Wichtigkeit  in  bezug 
auf  Indien,  aber  nicht  in  bezug  auf  Europa.  Ich  glaube,  manche 
Mißverständnisse  würden  vermieden,  wenn  man  es  sich  öfter 
vergegenwärtigte,  wie  komplex  und  verschiedenartig  die  Fragen 
sind,  die  innerhalb  des  britischen  Weltreichs  von  Zeit  zu  Zeit 
zu  lösen  sind,  und  wie  unendlich  wertvoll  es  deshalb  für  jede 
britische  Regierung  ist,  mit  anderen  Ländern,  deren  Interessen 
mit  den  britischen  in  fernen  Teilen  der  Erde  in  Konflikt  geraten 
könnten,  freundschaftliche  Abmachungen  zu  treffen.  Man  würde 
dann  diese  Abmachungen  nach  dem  beurteilen,  was  sie  tat- 
sächhch  enthalten,  und  nicht  mehr  andere  Absichten  und  Motive 
hineinlesen. 

Ich  möchte  sogar  noch  weiter  gehen:  Ist  man  nicht  in 
jedem  Lande  nur  zu  geneigt,  jedem  anderen  Land  tiefgehende  und 
weitreichende  politische  Pläne  zu  imputieren,  die  in  Wirklich- 
keit gar  nicht  existieren?  Einige  Engländer  haben  die  tiefe 
Überzeugung,  daß  an  der  Spitze  Deutschlands  Staatsmänner 
von  unübertroffener  Klugheit  und  Kühnheit  stehen,  die  mit 
sorgfältigst  geplanter  unterirdischer  Minierarbeit  an  dem  Unter- 
gang Großbritanniens  tätig  sind.  Und  einige  Deutsche,  so  höre 
ich,  sind  nicht  weniger  tief  überzeugt,  daß  englische  Staats- 
minister in  tückischer  List  von  langer  Hand  an  einem  weit- 
reichenden Plan  arbeiten,  Deutschland  zu  vernichten.  Wie 
liegen  die  Dinge  in  Wirklichkeit?  Ist  nicht  vielleicht  keiner 
von  uns  beiden  so  klug  oder  so  böse,  als  er  dem  anderen 
scheint?  Geben  wir  nicht  vielleicht  beide  oft  Befürchtungen 
über  die  vermeintlichen  Absichten  des  anderen  Raum,  die 
grundlos  sind?  Sind  wir  nicht  vielleicht  beide  durch  Mißver- 
ständnis und  Mißgriffe  in  ein  Verhältnis  zueinander  geraten, 
welches  sich  nur  dadurch  bessern  läßt,  daß  wir  mit  ehrlichem 
Bemühen  jeder  des  anderen  Schwierigkeiten  uns  zu  vergegen- 
wärtigen und   des  anderen  Standpunkt   zu  verstehen    suchen? 


III. 

Der  katholische  Konservatismus 

Von  Dr.  Hermann  Rehm 

I.  Katholisch-konservativ  ist  eine  politische  Nuance,  deren 
Besonderheit  noch  der  Aufhellung  bedarf.  Gewiß  läßt  sich  die 
Eigenart  des  katholischen  Konservatismus  gefühlsmäßig  fest- 
stellen. Er  will  eine  konservative  Richtung  unter  Katholiken 
sein,  die  nicht  klerikal  ist.  Allein  damit  ist  über  sein  Wesen 
noch  nicht  völlige  Klarheit  geschaffen.  Der  Begriff  muß  auch 
wissenschaftlich  untersucht  werden.  Gestreift  habe  ich  die 
Frage  in  meinem  ,, Deutschlands  politische  Parteien"  betitelten 
Grundriß  der  Parteienlehre  i). 

Der  Unterschied  zwischen  den  Parteien  liegt  in  den  Gegen- 
ständen, die  sie  verfolgen,  und  in  der  Art,  wie  sie  ihnen  nach- 
gehen. Die  Parteien  haben  politische,  wirtschaftliche,  religiöse, 
soziale  Interessen  im  Auge  und  streben  sie  zu  verwirklichen  in 
konservativer  oder  fortschrittlicher  Weise.  Konservativ  bedeutet 
dabei  ein  mehrfaches.  Im  engsten  Sinne  heißt  konservativ, 
wer  so  ist,  wie  die  Deutschkonservative  Partei,  ihrem  Wesen 
sehr  nahe  kommt;  im  engeren  Sinne  sind  konservativ  die 
Parteien,  die  erhalten,  aber  nicht  zurückschreiten  wollen  — 
dahin  gehören  Deutschkonservative  und  Reichspartei  — ;  die 
weiteste  Bedeutung  von  konservativ  umfaßt  sowohl  Parteien, 
die  bestehende  Zustände  zu  erhalten,  wie  Parteien,  die  frühere 
Zustände  wiederherzustellen  wünschen;  konservativ  in  diesem 
Sinne  ist  auch  die  reaktionäre,  die  rückschrittliche  Partei.  Aus 
der  letzten  Begriffsbestimmung  geht  hervor,  wie  möglich  ist, 
daß  eine  Partei  in  gewissen  Dingen  für  Erhalten,  in  anderen 
für  Rückkehr  zu  einem  früheren  Stande  sich  einsetzen  kann. 
Sie  hat  dann  gemischt-konservativen,  teils  konservativen  teils 
reaktionären  Charakter.     Für   die  Einordnung   in   die  drei  Be- 

^)  1912,  S.  59. 


152  Rehm,  Der  katholische  Konservatismus. 

griffe  kommt  es  darauf  an,  was  sie  in  erster  Linie  verfolgt, 
Erhaltung  oder  Rückkehr.  In  dem  einen  Falle  ist  sie  konservativ 
in  der  zweiten,  in  dem  anderen  nur  konservativ  in  der  weite- 
sten Bedeutung.  Soviel  zur  Verständigung  über  den  Begriff 
konservativ  ^). 

Um  den  katholischen  Konservatismus  in  dieses  begriffliche 
Schema  einzuordnen,  vergleicht  man  ihn  am  besten  mit  kon- 
kreten Parteien,  mit  den  konkreten  Hauptformen  der  konser- 
vativen Parteirichtungen,  d.  h.  Deutschkonservativen,  Zentrum, 
Reichspartei  '^). 

Die  Art  dieser  wie  aller  Parteien  ist  verschieden,  je  nach- 
dem es  sich  um  Reichs-  oder  Landesparteien  handelt.  Die 
katholischkonservative  Staatsanschauung  ist  mehr  eine  Erschei- 
nung des  politischen  Lebens  der  Einzelstaaten.  Daher  ist  das 
richtige,  sie  an  dem  Wesen  der  konservativen  Landesparteien 
zu  messen. 

Die  Deutschkonservative  Partei  stellt  sich  jedenfalls  drei 
Ziele :  das  ländliche,  das  christliche  und  das  monarchische  Inter- 
esse. Zum  mindesten  bei  den  preußischen  Konservativen  kommt 
noch  das  partikularistische  Interesse  dazu.  Die  gleichen  Ele- 
mente finden  wir  bei  den  klerikalen  Landesparteien.  Aber  es 
bestehen  Unterschiede.  Zunächst  was  das  religiöse  Interesse 
angeht.  Die  konservative  Partei  tritt  ein  für  Schutz  und  Pflege 
der  christlichen  Religion  in  der  Ausgestaltung,  die  sie  in  der 
evangelischen  Kirche  gefunden  hat.  Sie  steht  der  katholischen 
Religion  nicht  feindlich  gegenüber,  aber  sie  will  ihr  nur  helfen, 
soweit  die  evangelische  Kirche  dadurch  nicht  geschädigt  wird 
oder  der  Grundsatz  der  Parität  es  verlangt.  Das  Zentrum,  in 
katholischen  Landen  zu  Hause,  ist  eine  politische  Richtung 
von  Katholiken  und  daher  ist  sein  Interesse  an  der  Pflege  der 
Religiosität  eine  Fürsorge  für  römisch-katholischen  Glauben  und 
römisch-katholische  Kirche,  wenn  natürlich  auch,  wenigstens 
was  offizielles  Zentrum  und  Kölner  Richtung  angeht,  unter 
Wahrung  der  Rücksichten,  die  der  staatliche  Grundsatz  der 
Gleichberechtigung  der  Konfessionen  von  einer  Partei  des  staat- 
lichen Lebens  fordert. 

Zu  diesem  selbstverständlichen  Unterschiede  treten  andere, 
die  schwerer  erkennbar  sind.  Der  Landes-Konservatismus  will 
auf  allen  Gebieten  seiner  Betätigung  nur  Erhaltung,  auf  keinem 


')  Weiteres  a.  a.  0.  S.  6  ff. 
')  A.a.O.  §§8,  10,  11. 


Rehm,  Der  katholische  Konservatismus.  153 

Rückschritt.  Er  will  Erhaltung  der  Vormachtstellung  der  Land- 
bevölkerung, aber  nicht  Wiederherstellung  der  aufgehobenen 
Privilegien  des  Landadels.  Er  will  Erhaltung  der  Monarchie, 
aber  nicht  gerade  Rückkehr  zum  Absolutismus.  Er  will  Be- 
wahrung des  überlieferten  Glaubens,  aber  nicht  Rückkehr  zu 
der  früheren  Macht  der  Kirche  gegenüber  dem  Staate.  Er  will 
Erhaltung  des  den  Einzelstaaten  verbliebenen  Selbständigkeits- 
maßes, aber  keineswegs  Wiederherstellung  der  alten  staaten- 
bündischen Verfassung  des  Deutschtums. 

Beim  Landeszentrum  liegt  in  denselben  Dingen  zum  Teil 
ein  anderes  Streben  vor.  Was  Landwirtschaft,  Monarchismus 
und  Partikularismus  anlangt,  begnügt  sich  auch  das  Zentrum 
mit  Erhaltung,  in  der  religiösen  Frage  aber  ist  es  reaktionär. 
Hier  ist  sein  Streben  nicht  nur  auf  Erhaltung  des  alten  Glaubens, 
auf  Kampf  gegen  kirchlichen  Liberalismus  und  gegen  Unglauben 
gerichtet,  sondern  hier  will  es  Rückkehr  zu  früheren  Verhält- 
nissen, Rückkehr  zu  einer  Stellung,  wie  sie  die  katholische 
Kirche  einstens  besaß,  Gleichordnung  der  Kirche  mit  dem  Staate. 

Dazu  kommt  noch  ein  weiteres.  Das  Zentrum  verfolgt 
seine  Ziele  in  einer  anderen  Reihenfolge.  Auch  bei  den  Konser- 
vativen bestehen  verschiedene  Abstufungen.  Die  einen,  die 
Agrarkonservativen ,  stellen  voran  die  Interessen  des  platten 
Landes,  die  Beamten  und  Stadtkonservativen  das  Interesse  der 
Monarchie  usw.  Jedenfalls  aber  tritt  bei  den  meisten  Anhängern 
der  konservativen  Partei  die  Pflege  der  religiösen  Interessen 
hinter  den  monarchischen,  also  staatlichen  zurück.  Die  Konser- 
vativen sind  nicht  in  erster  Reihe  konfessionelle  Partei.  Keine 
Freiheit  der  Kirche  auf  Kosten  des  Staatsinteresses. 

Anders  das  Zentrum.  Ihm  steht  die  Wahrung  kirchlicher 
Interessen  obenan.  Erst  dann  kommt  das  monarchische  und 
das  wirtschaftliche  Ziel.  Das  Zentrum  will  zwar  für  die  ka- 
tholische Kirche  vom  Staate  nicht  mehr  Pflege  haben,  als  sie 
andere  Religionen  von  ihm  empfangen,  aber  es  will  vom  Staate 
für  die  katholische  Konfession  mehr  Freiheit,  als  sie  andere 
Kirchen  vom  Staatswesen  fordern.  Das  Zentrum  will  weniger 
Polizei,  weniger  Gewalt  des  Staates  über  die  Kirche,  Erweiterung 
der  Rechte  der  Kirche.  Der  Staat  soll  der  katholischen  Religions- 
gesellschaft nichts  befehlen  dürfen,  sondern  sich  mit  ihr  ver- 
ständigen müssen.  Das  offizielle  Zentrum  und  die  Kölner 
Richtung  vertreten  die  Anschauung,  in  dieser  Stellungnahme 
liege  keine  Reaktion  zugunsten  der  Kirche  auf  Kosten  des 
Staates,  das  nationale  Interesse  leide  nicht,  wenn  der  Staat  bei 


154  Rehm,  Der  katholische  Konservatismus. 

Widerstreit  seiner  und  der  kirchlichen  Interessen  auf  den  Weg 
der  Verständigung  angewiesen  sei.  Allein  das  ist  Irrtum.  Klar 
ist  doch,  daß  sich  nicht  mehr  von  einem  Vor-,  sondern  nur 
von  einem  Gleichrange  des  nationalen  Zieles  sprechen  läßt, 
sobald  der  Staat  das  Verhältnis,  in  das  er  staatliches  und 
kirchliches  Bedürfnis  zueinander  zu  stellen  wünscht,  nur  noch 
durch  Vereinbarung  mit  der  Kirche  bestimmen  kann.  Die  kleri- 
kale, die  ultramontane  Richtung  im  Zentrum  geht  weiter:  ihr 
Ziel  ist  Abhängigkeit  des  Staates  von  der  Kirche.  Der  Papst 
hat  nicht  nur  Ehrenrechte  vor  dem  Könige,  sondern  der  König, 
der  Staat  steht  in  einem  Kiudesverhältnis  zum  Papste,  zur  Kirche. 
Der  Kardinal  erhält  vom  Papste  die  Anrede  frater,  der  katho- 
lische Landesherr  nur  die  Anrede  filius.  Ja,  jeder  Landesherr, 
auch  der  nichtkatholische,  ist  ihm  Untertan:  ,, denn  jeder,  welcher 
die  Taufe  empfangen,  heißt  es  in  dem  Schreiben,  das  Pius  IX. 
an  Kaiser  Wilhelm  am  7.  August  18 ?3  gerichtet  hat,  gehört 
in  irgendeiner  Art  und  in  irgendeiner  Weise,  gehört,  sage  ich, 
dem  Papste  an."  Das  bedeutet:  eine  Verständigung  ist  er- 
wünscht, aber  kommt  keine  zustande,  so  entscheidet  das  Er- 
messen des  Papstes.  Dies  auch  der  Standpunkt  der  constitutio 
de  christiana  civitate  vom  1.  November  1885.  Das  Kirchen- 
w^ohl  geht  dem  Stäatswohl  vor,  d.  h.  Romanismus  über  Natio- 
nalismus. 

Zu  skizzieren  ist  noch  das  Wesen  der  Reichspartei.  Mit 
wenigen  Worten  ist  es  geschehen.  Die  Freikonserativen  wollen, 
wie  die  Deutschkouservativen,  Erhaltung  der  Monarchie  und 
der  Religiosität  auf  evangelischer  Grundlage,  zum  Unterschiede 
von  ihnen  aber  Dämpfung  der  Macht  der  Kirche,  Teilung  des 
politischen  Einflusses  zwischen  Landadel  und  gebildetem  Städter- 
tum,  Vorrang  des  Reichs-  vor  dem  Staatsgedanken. 

Nun  sind  wir  in  der  Lage,  die  Katholisch -Konservativen 
einzureihen.  Wie  bei  den  übrigen  Parteien,  gibt  es  auch  bei 
ihnen  Abstufungen.  Die  einen  sind  mehr  reichsparteilich,  d.  h. 
treten  für  einen  gleichen  Einfluß  der  gebildeten  Klassen  von 
Land  und  Stadt  ein;  die  anderen  mehr  stadt-,  die  dritten  mehr 
landkonservativ.  Jedenfalls  stehen  sie  den  konservativen  Gruppen 
näher  als  dem  Zentrum.  In  ihrer  Mehrheit  lassen  sie  sich  so 
bestimmen:  Sie  sind  in  erster  Linie  monarchisch,  in  zweiter 
agrarisch,  in  dritter  katholisch,  in  vierter  partikularistisch ;  in 
erster  Reihe  für  Erhaltung  der  konstitutionellen  Monarchie, 
in  zweiter  für  Pflege  der  Landwirtschaft  vor  Handel  und  In- 
dustrie,  in  dritter  Linie  für  Schutz  und  Wahrung  der  katholi- 


Rehm,  Der  katholische  Konservatismus.  155 

sehen  Religion,  in  vierter  Reihe  für  Erhaltung  der  Selbständig- 
keit der  Einzelstaaten. 

Vom  Zentrum  trennen  den  katholischen  Konservatismus 
zwei  Dinge.  Erstens  will  er  den  Einfluß  der  katholischen  Kirche 
nur  erhalten,  nicht  erweitern;  er  ist  konfessionell  nicht  reak- 
tionär, sondern  nur  konservativ.  Zweitens  steht  ihm  nicht  das 
konfessionelle,  sondern  das  staatliche  Interesse  voran;  die  Staats- 
macht geht  vor;  das  Verhältnis  von  Staat  und  Kirche,  Gesetz, 
Recht  und  Billigkeit  ihr  gegenüher,  wird  vom  nationalen  Inter- 
esse aus  beurteilt,  ausgelegt  und  bemessen;  die  Kirche  im  Staate 
ist  nicht  koordiniert;  die  rechtliche  Stellung  der  Bischöfe  als 
Untertanen  tritt  hervor;  was  der  Kirche  nützt,  aber  dem  Staate 
schadet,  unterbleibt;  Nationalismus  über  Romanismus.  Klar 
erkannt  hat  das  Spezifische  im  Begriffe  des  katholischen  Kon- 
servativmus der  preußische  Landwirtschaftsminister  Freiherr 
von  Schorlemer-Lieser,  wenn  er  am  23.  Mai  1912  bei  einer 
Polendebatte  die  Worte  sprach  i):  Bei  staatlichen  Notwendig- 
keiten lasse  ich  mich  von  allen  anderen  als  einseitig  konfessio- 
nellen Gesichtspunkten  leiten. 

II.  Des  katholischen  Konservatismus  harren  große  Auf- 
gaben. Die  katholische  Kirche  seit  dem  Jahre  1870  zeigt  eine 
eigentümliche  Erscheinung.  Mehr  als  je  halten  die  Hirten  der 
Kirche  das  Volk  zum  strengen  Bibelglauben  an,  sie  selbst  aber 
dispensieren  von  wichtigen  Geboten  der  Schrift.  Jesus  hat 
gesprochen:  Mein  Reich  ist  nicht  von  dieser  "Welt.  In  der 
Gegenwart  mehren  sich  die  Formen  des  Gottesdienstes,  die 
zugleich  Darstellungen  der  Macht  und  des  Einflusses  des  römi- 
schen Stuhles  sind.  Das  Wort  des  Apostels  mahnt  und  die 
päpstliche  Dekretalengesetzgebung  gebietet,  daß  Geistliche  sich 
in  weltliche  Geschäfte  nicht  mischen.  Wenn  irgend  etwas,  ist 
die  Politik  ein  weltliches  Geschäft.  Statt  dessen  sehen  wir, 
wie  Geistliche  die  Politik  geradezu  zum  Lebensberufe  machen, 
Wochen,  Monate,  Jahre  ihres  Lebens  ihr  widmen.  Es  gibt 
Gegenden  Deutschlands,  wo  die  Führer  der  Zentrumspartei 
vermuten  dürfen,  daß  jeder  Pfarrer  für  sie  nicht  nur  Gesin- 
nungsgenosse, sondern  eifriger  Agitator  sei.  Nur  in  einer  Zeit 
der  Überschätzung  der  äußeren,  der  Machtformen  des  Glaubens, 
können  Priester  Lust  und  Neigung  verspüren  2),  solch  weltlichen 
Geschäften  ihre  ganze  Kraft  und  Fähigkeit  zuzuwenden;  denn 


^)  Rehm  a.  a.  0.  S.  54. 

■^)  Über  andere  Gründe  a.  a.  0.  S.  18,  49,  50. 


156  Eehm,  Der  katholisclie  Konservatismus. 

dann  ist  auch  bei  der  Religionsübung  im  Priester  leicht  das 
Gefühl  für  das  Innerliche  und  Weitabgewandte  des  Glaubens- 
dienstes zurückgedrängt.  Was  noch  vor  fünfzig  Jahren  die 
Träger  des  bischöflichen  Lehramtes  durchgehends  verpönten, 
dulden  heute  viele  von  ihnen  als  eine  Selbstverständlichkeit. 
Auf  diese  Weise  erfährt  die  Macht  der  Kirche  eine  ungeahnte 
Erweiterung.  Wem  davon  Schaden  droht,  das  ist  der  Staat. 
Um  nur  ein  Beispiel  zu  geben.  Die  Fälle  mehren  sich,  daß 
im  Religionsunterrichte  gelehrt  wird,  ein  gläubiger  Katholik 
darf  die  Verfassung  nur  in  den  Stücken  anerkennen,  wo  sie 
mit  der  katholischen  Weltanschauung  übereinstimmt.  Muß  da 
nicht  die  Sorge  aufkommen,  daß  die  staatsbürgerliche  Heran- 
bildung, die  Erweckung  der  Vaterlandsliebe  zu  kurz  kommt, 
zumal  wir  sehen,  in  welchem  Maße  diese  Erziehung  im  Aus- 
lande, z.  B.  in  Schweden,  bei  der  Jugendbildung  gepflegt  wird? 

Hier  hat  die  katholische  konservative  Parteirichtung  einzu- 
greifen. Ihr  Ziel  ist  Erhaltung  der  Religiosität.  Das  umfaßt 
nicht  bloß  Kampf  gegen  den  Unglauben,  sondern  auch  Kampf 
gegen  Übertreibung  der  äußeren  Formen  der  Religion.  Zum 
priesterlichen  Dienste  gehört  nach  dem  Herrenworte  Fürsorge 
für  die  Seelen  der  Gläubigen,  aber  nicht  für  den  äußeren  Glanz 
und  Prunk  der  Gottesverehrung.  Und  zum  anderen  hat  der 
katholische  Konservatismus  zur  Aufgabe  die  Erhaltung  des 
Einflusses  der  Kirche.  Er  hat  ihn  also  nur  zu  erhalten,  seine 
Beseitigung  zu  verhindern ;  eine  Erweiterung,  wo  es  dem  staat- 
lichen Ansehen  schadet,  darf  er  nicht  zulassen.  Er  unterstützt 
die  Kirche  im  Kampfe  gegen  den  Unglauben,  aber  nicht  im 
Kampfe  gegen  den  Staat,  im  Ringen  mit  ihm  um  die  Herr- 
schaft über  das  Volk. 

Die  katholisch-konservative  Richtung  besitzt  ihre  Anhänger- 
schaft zurzeit  hauptsächlich  in  den  Schichten,  aus  denen  die 
ersten  Kammern  sich  zusammensetzen.  Eine  Regierung,  welche 
die  katholisch-konservativen  Ziele  vor  Augen  hat,  kann  sie  ihrer 
Verwirklichung  daher  näher  bringen,  wenn  diese  Kreise  in  dem 
Oberhause  das  Übergewicht  besitzen  und  Regierung  und  Ober- 
haus sich  stets  der  Grenze  bewußt  sind,  durch  die  sie  von  der 
Zentrumsrichtung  getrennt  werden.  Werden  prunkvolle  Kirchen- 
feste mit  päpstlichen  Vertretern  von  päpstlichem  Range  durch 
diese  Scliichten  gefördert  und  andererseits  bei  der  Auslegung 
staatlicher  Kirchengesetze  nicht  die  staatlichen  Interessen  voran- 
gestellt, so  beweist  dies  aflerdings,  daß  die  Klarheit  über  jene 
Grenze   noch   zu   wünschen   übrig   läßt.      Erheblich   erleichtert 


Rehm,  Der  katholische  Konservatismus.  157 

wird  die  Erreichung  der  Ziele  natürlich,  sobald  die  Staatsleitung 
in  der  unteren  Kammer  zwei  Mehrheiten,  eine  klerikale  und 
eine  antiklerikale,  zur  Verfügung  hat,  was  allerdings  voraus- 
setzt, daß  auch  die  Antiklerikalen  katholischen  Konservatismus 
und  katholische  Reaktion  scharf  auseinander  halten.  In  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  ist  dieser  konservative 
Katholizismus  verwirklicht.  Die  Wissenschaft  nennt  den  ka- 
tholischen Konservatismus  daher  auch  Amerikanismus. 

Ein  erstes  Mittel,  die  Schäden  zu  beseitigen,  welche  das 
religiöse  und  das  nationale  Interesse  von  der  katholisch-reaktio- 
nären Richtung  erleidet,  ist  eine  Einschränkung  der  freiwilligen, 
d.  h.  nicht  mit  dem  Amte  verbundenen  politischen  Tätigkeit 
des  Klerus.  In  der  nordamerikanischen  Union  hält  sich  der 
Priester  von  Politik  fern.  Die  Religionsbetätigung  ist  inner- 
licher, auch  dem  Priester  geht  Staatswohl  über  Kirchenwohl. 
Die  Zeit  scheint  nicht  ferne,  wo  selbst  die  Masse  der  Laien  bei 
uns  Dämpfung  der  politisierenden  Richtung  im  Klerus  fordern 
wird.  Die  Gebildeten  unter  ihnen  und  die  Stillen  unter  den 
Priestern  hegen  den  Wunsch  schon  lange. 

Eine  solche  Einschränkung  bildet  freilich  ein  Ausnahmerecht. 
Aber  auch  der  Soldat  steht  in  dieser  Hinsicht  aus  höheren 
Gründen  unter  Ausnahmegesetz.  Die  Teilnahme  an  politischen 
Vereinen  und  Versammlungen  ist  ihm  untersagt.  Zudem  bedarf 
es  nicht  einer  Neueinführung  des  Verbotes,  etwa  eines  Verbotes 
von  Staats  wegen,  obwohl  es  im  Auslande  auch  derartige  Staats- 
gesetze gibt.  Das  vorhandene  Kirchengesetz  muß  nur  ange- 
wendet werden.  Ne  clerici  vel  monachi  saecularibus  negotiis 
se  immisceant,  lautet  die  kanonische  Rechtsregel ').  Eine  von 
den  Trägern  des  katholischen  Konservatismus  zielbewußt  unter- 
stützte deutsche  Regierung  kann  die  Wiederanweudung  des 
Grundsatzes  bei  der  Kurie  durchsetzen.  Die  Religionsdiener 
der  übrigen  Glaubensgesellschaften  legen  sich  mit  geringen 
Ausnahmen  aus  Interesse  ihrer  seelsorgerischen  Tätigkeit  und 
der  Würde,  die  der  geisthche  Beruf  von  ihnen  fordert,  in  der 
Teilnahme  am  politischen  Leben  Zurückhaltung  auf.  Tut  es 
ein  großer  Teil  der  katholischen  Geistlichkeit  nicht  und  ent- 
stehen daraus  Nachteile  für  Religion  und  Staatsgedanke,  so 
liegt  im  wohlverstandenen  Interesse  des  Volkes,  auf  eine  stär- 
kere Beachtung  des  kanonischen  Verbotes  hinzuarbeiten. 


')  cap.  1 — 10  X  3,50.     S.  dazu  Meurer,    Das  katholische  Ordenswesen 
nach  dem  Recht  der  deutschen  Bundesstaaten,  1912,  S.  78. 


158 


Rehm,  Der  katholische  Konservatismus. 


Eine  zweite  wichtige  Angelegenheit  des  poHtischen  Katho 
hzismus  konservativer  Art  muß  die  Verteidigung  der  interkon- 
fessionellen Güter  gegen  Beeinträchtigung  durch  konfessionelle 
Trennung  sein.  Es  ist  mehr,  was  Katholiken  und  Anders- 
gläubige einigt,  als  was  sie  scheidet.  Wir  haben  eine  gemein- 
same Wirtschaft,  eine  gemeinsame  Kultur,  ein  gemeinsames 
Vaterland.  Sie  gedeihen  nur  unter  Zusammenarbeit  der  Kon- 
fessionen. Sie  muß  erhalten  werden.  Eine  das  Nationale  über 
das  Konfessionelle  stellende  Partei  hat  gegen  Rom  wirksam  die 
Anschauung  zu  vertreten,  daß  die  päpstliche  Politik  sich  schärfer 
die  Pflicht  der  Rüchsichtnahme  gegenwärtig  hält,  die  dem  Papst- 
tum seine  völkerrechtliche  Stellung  im  Verhältnis  zu  konfessionell- 
gemischten Staaten  auferlegt.  Ein  selbstsicherer  deutsch-natio- 
naler Katholizismus  vermag  eine  dem  Romanismus  ebenbürtige 
Macht  zu  sein. 

Eine  dritte  große  Aufgabe  des  katholischen  Konservatismus 
bildet  dann  die  Stützung  und  Stärkung  der  in  erster  Linie  das 
staatliche  Element  betonenden  Anhänger  des  Zentrums,  um  auf 
diese  Weise  womöglich  zu  erreichen,  daß  das  Zentrum  aus 
einer  konfessionell -reaktionären  eine  konfessionell -gemäßigte 
Parteiorganisation  wird.  Ihre  Vertretung  findet  die  ultramon- 
tane Richtung  besonders  in  der  Presse.  Das  Mittel  hierzu  bildet 
also  die  Vermehrung  der  vom  Klerikalismus  unabhängigen  Preß- 
organe. 

Wir  sehen,  dem  katholischen  Konservatismus  Deutschlands 
eröffnet  sieb  ein  reiches  Arbeitsfeld. 


IV. 
Die  Geschäftsforiii  der  Behörden 

Von  Dr.  Johannes  Niedner 

In  den  Lehrbüchern  findet  man  von  alters  her  bis  heute 
als  unbestritten  die  Lehre  vorgetragen,  daß  die  aus  mehreren 
Beamten  bestehenden  Behörden  entweder  kollegialisch  oder 
bureaukratisch  organisiert  seien,  in  ersterem  Falle  beruhten  alle 
Beschlüsse  der  Behörde  auf  einer  Abstimmung,  bei  welcher  die 
Majorität  den  Ausschlag  gebe,  im  letzteren  Falle  liege  die 
alleinige  Entscheidung  in  den  Händen  des  Chefs  der  Behörde, 
dem  gegenüber  die  anderen  Mitglieder  nur  den  Charakter  von 
Gehilfen  hätten  ^).  Jeder,  der  die  Praxis  kennt,  weiß,  daß 
dieses  ,, entweder  —  oder"  nicht  zutrifft.  Es  hat  sich  eine 
weitere  zwischen  beiden  gewissermaßen  in  der  Mitte  liegende 
Geschäftsform  herausgebildet,  in  der  wohl  die  größere  Masse 
der  behördlichen  Arbeit  erledigt  wird.  Darauf  einmal  besonders 
hinzuweisen  ist  vielleicht  gerade  gegenwärtig  am  Platze,  wo  die 
Frage  nach  einer  zweckmäßigen  Behördenorganisation  so  viel 
erörtert  wird. 

Um  zu  sehen,  ob  man  alle  Geschäftsformen  unter  den  Begriff 
der  bureaukratischen  oder  den  der  kollegialen  Verfassung  unter- 
bringen kann,  muß  mau  sich  zunächst  über  diese  beiden  Be- 
griffe selbst  klar  sein.  Worin  das  Wesen  der  bureaumäßigen 
Erledigung  der  Geschäfte  einer  Behörde  besteht,  ist  nicht 
zweifelhaft:  Der  Chef  der  Behörde  hat  —  im  Verhältnis  zu 
den  anderen  Beamten  der  Behörde  —  die  alleinige  Entscheidung 
über  das,  was  nach  außen  im  Namen  der  Behörde  zu  verfügen 


')  So,  übereinstimmend  mit  den  älteren  (vgl.  z.  B.  Kl  üb  er,  Öffentl. 
Recht  des  Teutschen  Bundes  §  345,  H.  A.  Zachariae,  Deutsches  Staats-  und 
Bundesrecht  Bd.  11  S.  14),  G.  Meyer  in  seinem  Lehrbuch  des  deutschen  Staats- 
rechts §  106  und  neuerlich  wieder  in  Stengels  Wörterbuch  des  deutschen 
Verwaltungsrechts  1912  Art.  Behörden  §  3,  wie  bei  Bornhak,  Preuß.  Staats- 
echt 1912  Bd.  2  §  97  u.  a. 


160  Niedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden. 

ist;  er  kann  jede  Verfügung  allein  treffen.  Er  ist  deshalb 
auch  nach  außen  hin  allein  verantwortlich  für  das,  was  namens 
der  Behörde  geschieht.  Die  kollegiale  Verfassung  gebietet  bei 
der  Feststellung  dessen,  was  namens  der  Behörde  zu  geschehen 
hat,  ein  Zusammenwirken  aller  Mitglieder  der  Behörde.  Nicht 
fordert  sie,  daß  alle  Mitglieder  in  dem,  was  verfügt  wird,  über- 
einkommen; vielmehr  entscheidet  in  der  Regel  die  Majorität. 
Das  Wesentliche  des  Zusammenwirkens  liegt  darin,  daß  sie  alle 
mit  ihrer  Ansicht  gehört  werden;  bei  den  Verfügungen,  die 
namens  der  Behörde  ergehen,  sollen  die  Kenntnisse  und  Er- 
fahrungen aller  Mitglieder  verwertet  werden,  jeder  soll  sich 
erst  entscheiden,  nachdem  er  die  Ansichten  der  übrigen  Mit- 
glieder gehört  hat :  Die  gegenseitige  Beratung  gehört  zum  Wesen 
der  kollegialen  Geschäftsform.  Daraus  ergibt  sich,  daß  kollegial 
zu  behandelnde  Geschäfte  regelmäßig  nur  in  gemeinschaftlichen 
Sitzungen  der  Mitglieder  der  Behörde  erledigt  werden  können. 
Kollegien  sind,  wie  man  gesagt  hat,  ,,eine  Spezies  organisierter 
Versammlungen"  1).  Ein  schriftlicher  gegenseitiger  Gedanken- 
austausch ist  zwar  theoretisch  denkbar,  aber  —  jedenfalls  in 
einem  größeren  Kollegium  —  praktisch  undurchführbar.  Dami^ 
ist  nicht  gesagt,  daß,  wie  manche  annehmen,  schriftliche  Ab- 
stimmung unbedingt  dem  Kollegialprinzip  widerspräche.  Es 
ist  nur  geboten,  daß  die  Möglichkeit  für  jedes  Mitglied  besteht, 
das  Wort  zur  Beratung  zu  ergreifen.  Liegt  eine  Sache  so,  daß 
sich  niemand  zum  Wort  meldet,  weil  jeder  jeden  für  ausreichend 
informiert  hält,  dann  entfällt  eine  Beratung  von  selbst;  der 
Abstimmungsakt  aber  braucht  nicht  mündlich  zu  sein.  Es  ist 
daher  nicht  zu  beanstanden,  wenn  Sachen,  bei  denen  anzunehmen 
ist,  daß  doch  niemand  das  Wort  ergreifen  würde,  zur  schrift- 
lichen Abstimmung  herumgeschickt  werden.  Das  geschieht 
z.  B.  herkömmlich  selbst  bei  den  ordentlichen  Gerichten,  wo 
die  kollegiale  Verfassung  in  besonderer  Weise  garantiert  ist. 
Ganz  klar  liegende  Sachen,  wie  z.  B.  manche  Armenrechts- 
gesuche, werden  wohl  hier  und  da  durch  Umlauf  erledigt;  eben- 
so werden  Beweisbeschlüsse  auf  Grund  nachträglich  mitgeteilter 
Tatsachen  kurzer  Hand  geändert;  schriftliche  Abstimmung  über 
die  Urteilsgründe  liegt  auch  in  der  Unterschrift  der  beteiligten 
Richter,  und  sie  ist  herkömmlich  auch  zur  Entscheidung  gering- 
fügiger Meinungsverschiedenheiten,  die  dabei  hervortreten.  Durch 


^)  Vgl.  Jacke,  Über  Beschlußfassungen  in  Versammlungen  und  Kollegien, 
Leipzig  1867,  S.  24. 


Niedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden.  161 

den  Umlauf  wird  für  jedes  Mitglied  die  Möglichkeit  eröffnet,  zur 
Sache  das  Wort  zu  ergreifen,  und  durch  die  vorbehaltlose  Abgabe 
der  Stimme  erklären  die  Mitglieder,  daß  sie  zur  Sache  nichts  zu 
bemerken  haben.  Das  Kollegialprinzip  ist  dabei  durchaus  gewahrt. 
Bedenken  gegen  dies  formell  nicht  zu  beanstandende  Verfahren 
entstehen  nur,  wenn  es  bei  nicht  ganz  klar  liegenden  Sachen 
angewandt  wird,  denn  es  wird  darin  doch  leicht  ein  gewisser 
Druck  auf  die  Mitglieder  der  Behörde  ausgeübt,  auf  Beratung 
zu  verzichten.  Deshalb  ist  es  erklärlich,  daß  eine  höchste 
Behörde,  wie  das  Reichsgericht,  grundsätzlich  von  dieser 
Geschäftsform  absieht').  Und  immer  ist  zu  beachten,  daß 
jedes  Mitglied  mündliche  Beratung  verlangen  kann,  wenn  es 
einen  Meinungsaustausch,  der  anders  nicht  erfolgen  kann,  für 
erforderlich  hält.  Man  hat  dies  neuerlich  einmal  bestritten. 
Auf  der  Waldecker  Landessynode-)  beschwerte  sich  ein  Mitglied 
des  durch  den  Synodalausschuß  erweiterten  Konsistoriums,  daß 
gegen  seinen  Widerspruch  schriftliche  Abstimmung  erfolgt  sei. 
Das  Konsistorium  vertrat  dabei  den  Standpunkt,  dem  Kolle- 
gialitätsprinzip sei  der  Grundsatz  eigen,  daß  die  Majoritäts- 
beschlüsse maßgebend  seien,  wenn  also  die  Mehrheit  beschlösse 
auf  Beratung  zu  verzichten,  so  könne  der  einzelne  dagegen 
nichts  machen.  Es  bedarf  keiner  Ausführung,  daß  in  dieser 
Deduction  eine  Begriffsverwirrung  liegt;  selbstverständlich  kann 
ein  Kollegium  nicht  durch  Majoritätsbeschlüsse  seine  Kollegial- 
verfassung selbst  ändern,  die  jedem  Mitglied  das  Recht  gibt, 
das  Wort  zu  ergreifen.  Wir  sehen  denn  auch  selbst  dort,  w^o 
die  Gesetze  für  Kollegien  aus  überwiegenden  praktischen 
Gründen  schriftliche  Abstimmung  generell  zulassen,  den  Vor- 
behalt gemacht,  daß  jedes  Mitglied  mündliche  Abstimmung 
verlangen  kann^).  Es  liegt  dasselbe  Prinzip  zugrunde,  welches 
für  das  Vereinswesen  in  §  32  Abs.  2  des  BGB.  ausgesprochen 
ist.  ,,Auch  ohne  Versammlung  der  Mitglieder  ist  ein  Beschluß 
gültig,  wenn  alle  Mitglieder  ihre  Zustimmung  zu  den  Beschlüssen 
schriftlich  erklären."  Daß  die  Mitglieder  der  Behörde  sich 
gegenseitig  beraten,  gehört  eben  zum  Wesen  der  Kollegial- 
verfassung, und  daraus  ergibt  sich,  daß  die  Geschäfte  regel- 
mäßig nur  in  Sitzungen  der  Mitglieder  erledigt  werden  können. 


')  Vgl.  dessen  Geschäftsordnung  (Zentralblatt  f.  d.  Deutsche  Reich  1880 
S.  190)  §  15  Abs.  3.  „Eine  schriftliche  Abstimmung,  insbesondere  durch 
Umlauf,  findet  nicht  statt." 

*)  Vgl.  deren  Verhandlungen  von  1909  S.  10  ff.,  25  f. 

^)  Vgl.  z.B.  §.55  der  Rechtsanwaltsordnung  vom  I.Juli  1878  (RGBl.  S.177). 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  H 


162  Niedner,  Die  Gescbäftsform  der  Behörden. 

So  ist  das  Wesen  der  Kollegialverfassung  nicht  nur  bei 
Gerichtsbehörden,  sondern  auch  bei  der  Einrichtung  von  kol- 
legialen Verwaltungsbehörden  angesehen:  Bei  der  epochemachen- 
den Reorganisation  der  kollegialen  Verwaltungsbehörden  in 
Preußen  unter  Friedrich  Wilhelm  I.  wurde  folgender  Geschäfts- 
gang festgelegt:  Der  Minister  erbricht  die  Eingänge  „und  sendet 
sie  nachgeheuds  an  die  bei  seinem  Departement  stehenden  Ge- 
heimen Finanz-,  Kriegs-  und  Domänenräte,  um  davon  an  dem 
Tage  ihres  Departements  in  pleno  zu  referieren.  .  .  Das  Direk- 
torium soll  alle  Montag,  Mittwoch,  Donnerstag  und  Freitag  zu- 
sammenkommen und  miteinander  alle  Sachen  collegialiter,  nicht 
aber  in  den  Häusern  w^ie  bisher  traktieren  .  .  .  Sie  sollen  nicht 
eher  auseinander  gehen,  bis  alle  und  jede  Sache  .  .  .  abgetan  wor- 
den, damit  nicht  ein  Zettel  davon  übrig  bleibe  .  .  .  können  sie  in 
einer  Stunde  mit  den  Affären  fertig  w^erden,  so  steht  ihnen  frei, 
auseinander  zu  gehen.  Können  sie  aber  des  Vormittags  nicht 
fertig  werden,  so  müssen  sie  sans  Interruption  bis  auf  den  Abend 
um  6  Uhr  oder  bis  sie  alle  Affären  abgetan,  beisammen  bleiben." 
Ebenso  ist  für  die  kollegialen  Provinzialbehörden  Erledigung 
aller  Geschäfte  in  gemeinschaftlicher  Sitzung  vorgesehen,  denn 
ihnen  ist  ,, anbefohlen,  sich  täglich  in  ihren  Collegiis  zu  ver- 
sammeln und  zwar  des  Morgens  im  Sommer  um  7  und  des 
Winters  um  8  Uhr.  Um  11 72  Uhr  endiget  sich  die  Session  und 
des  Nachmittags  um  2  Uhr  nimmt  sie  wieder  ihren  Anfang 
und  kontinuieret  bis  des  Abends  um  6  Uhr"i).  Ebenso  geht 
in  Übereinstimmung  mit  der  damals  durchaus  herrschenden 
Auffassung  2)  das  Preußische  Allgemeine  Landrecht  davon  aus, 
daß  alle  Sachen  durch  mündliche  Beratung  des  ganzen  Kolle- 
giums hindurchgehen  müssen^).  Derhalb  ,, müssen  Geschäfte, 
welche    dem    ganzen  Collegio    obliegen,    von    allen  Mitgliedern 


')  Vgl.  die  Instruktion  für  das  General-,  Ober-,  Finanz-,  Kriegs-  und 
Domänendirektorium  vom  20.  Dezember  1722. 

'')  J.  J.  Moser  (Einleitung  zu  den  Kantzleygeschäften  1750,  Lib.  2,  c.  2, 
§§  33,  34)  hält  schriftliche  Abstimmung  nur  bei  periculum  in  mora  für  zu- 
lässig; Pütter  sagt  auch  nur  (Anleitung  zur  juristischen  Praxis,  6.  Aufl.  1802, 
§  405):  ,,üft  fällt  außer  den  Sessionen  etwas  vor,  und  es  ist  doch  nicht  der 
Mühe  wert,  oder  die  Umstände  leiden  es  nicht,  außerordentliche  Sessionen 
deswegen  zu  halten.  Alsdann  wird  von  Seiten  des  Direktorii  ein  Kästchen 
herumgeschickt,  worin  die  Stimmen  schriftlich  gesammelt  werden." 

")  ^'gl-  §  114  ALR.  II  10:  Wenn  mehrere  Beamte  in  ein  Kollegium  zu- 
sammengezogen sind,  so  gilt  wegen  ihrer  Versammlungen,  Beratschlagimgen 
und  Schlüsse  in  der  Regel  eben  das,  was  im  6.  Titel  von  öffentlichen  Gesell- 
schaften und  Korporationen  verordnet  worden   ist  (vgl.   die   §§  51  ff.  11  6)< 


Niedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden.  163 

desselben  vertreten  werden."  ,,Hat  das  Kollegium  die  Besorgung 
der  verschiedenen  Arten  seiner  Geschäfte  unter  seine  Mitglieder 
eigenmächtig  verteilt,  so  ändert  dieses  nichts  in  der  Vertretungs- 
verbindlichkeit." Nur  durch  schriftliches  Separatvotum  kann 
sich  das  stimmberechtigte  Mitglied  entlasten  i). 

Will  man  sich  nun  ein  Bild  davon  machen,  in  welcher 
Geschäftsform,  insbesondere  in  welchem  Umfange  bureau- 
kratisch  und  in  welchem  Umfange  kollegialisch  in  dem  eben 
entwickelten  Sinne,  in  einem  Staate  verwaltet  wird,  so  darf  man 
zunächst  nicht  ohne  weiteres  die  von  Kollegien  wahrgenom- 
menen Geschäfte  zu  den  kollegial  behandelten  zählen.  Nicht 
bei  allen  kollegial  verfaßten  Behörden  ist  die  kollegiale  Be- 
handlung aller  Geschäfte  schlechthin  vorgeschrieben,  wie  das 
z.  B.  bei  den  ordentlichen  Gerichten  und  den  evangelischen 
Konsistorien  die  Regel  bildet"^).  In  manchen  Gesetzen  über 
Einrichtung  von  Kollegialbehörden  wird  in  dieser  Hinsicht 
unterschieden  und  schon  von  vornherein  die  Möglichkeit  nicht 
kollegialischer  Behandlung  gewisser  Geschäfte  vorgesehen.  So 
z,  B.  bei  den  preußischen  Regierungen ;  die  Verordnung  vom 
30.  April  1815 •^)  bestimmte:  ,,Der  Geschäftsbetrieb  bei  den 
beiden  Abteilungen  der  Regierung  ist  in  allen  Angelegenheiten, 
worin  ein  anderes  nicht  ausdrücklich  festgesetzt  wird, 
kollegialisch",  und  die  Regierungsinstruktion  vom  23.  Ok- 
tober 1817*)  unterschied  danach  zwischen  ,, Sachen,  die  ohne 
Vortrag  —  durch  die  Dezernenten  allein  —  abzumachen  sind", 
und  Sachen,  die  vorgetragen  werden  müssen.  Bei  den  kollegial 
verfaßten  Provinzialräten,  Bezirks-  und  Kreisausschüssen  ist 
ganz  allgemein  vorgesehen,  daß  vorbereitende  und  das  Verfahren 
leitende  Geschäfte  von  einem  Mitglied  unter  Mitzeichnung  des 
Vorsitzenden  allein  erledigt  werden,  vorbehaltlich  der  Beschluß- 
fassung des  Kollegiums  bei  Meinungsverschiedenheit  zwischen 
beiden^).    Ebenso  besagte  z.  B.  das  Gesetz  betr.  die  Einrichtung 


1)  Vgl.  §§   127.   136,   144  11  10. 

^)  Vgl.  die  Dienstinstruktion  f.  d.  altpreuß.  Provinzialkonsistorien  vom 
23.  Oktober  1817  (GS.  S.  237)  §  13:  Die  innere  Verfassung  der  Konsistorien 
ist  kollegialisch,  und  alle  Gegenstände  desselben  werden,  sofern  darin  nicht 
nach  §  3  und  4  dem  Oberpräsidenten  die  alleinige  Entscheidung  beigelegt 
ist  (eine  Ausnahme,  die  jetzt  nicht  mehr  in  Betracht  kommt),  nach  Mehrheit 
der  Stimmen  entschieden;  vgl.  dazu  §  7*  der  Geueral-Synodalordnung  vom 
20.  Januar  1876  (GS.  S.  7). 

')  GS.  S.  8.Ö. 

*)  GS.  S.  248  §§  26/27. 

^)  Vgl.  die  Regulative   für   den   Geschäftsgang   und    das   Verfahren   bei 

11* 


164  Niedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden. 

und  die    Befugnisse    der   preußischen   Oberrechnungskammer  ^) 
zunächst  nur:  „Die  Oberrechnungskammer  faßt  ihre  Beschlüsse 

nach  Stimmenmehrheit  der  Mitglieder die   kollegiali- 

sche  Beratung  und  Beschlußfassung  ist  jedenfalls  erforderlich, 
wenn  ...  u.  s.  f."  Das  zur  Ausführung  des  Gesetzes  ergangene 
Regulativ  über  den  Geschäftsgang-)  führte  dann  noch  weitere 
Fälle  auf  und  bemerkte  abschließend:  „Die  auf  Grund  des 
Vortrages  und  der  Beschlußfassung  im  Kollegium  ergehenden 
Angaben  sind  auf  den  betr.  Konzepten  als  solche  zu  bezeichnen. 
Alle  übrigen  Gegenstände  des  gewöhnlichen  Geschäftslaufes, 
welche  unbedenklich  sind  und  nach  feststehenden  Bestim- 
mungen und  Grundsätzen  ihre  Erledigung  finden,  bedürfen  des 
Vortrages  und  der  Beschlußfassung  in  den  Sitzungen  nicht,  er- 
gehen jedoch  unter  derselben  Form  und  Firma  wie  die  ersteren." 
Bei  manchen  Behörden,  z.  B.  bei  den  Reichsversiche- 
rungsbehörden, ist  außerdem  zu  beachten,  daß  sie  im  ganzen 
überhaupt  keine  Kollegien  darstellen,  sondern  nur  zur  Er- 
ledigung bestimmter  Angelegenheiten  kollegiale  Ausschüsse 
bilden.  Deshalb  war  z.  B.  in  der  Geschäftsordnung  für  das 
Reichsversicherungsamt  ^)  unterschieden  zwischen  den  Ge- 
schäften, ,,die  durch  den  Präsidenten  oder  unter  Mitzeichnung 
des  Präsidenten,  eines  Direktors  oder  des  Leiters  einer  Unter- 
abteilung, von  dem  mit  der  Bearbeitung  betrauten  Mitgliede 
bearbeitet  werden"  und  den  in  Sitzungen  zu  erledigenden  Ge- 
schäften. In  der  neuen  Geschäftsordnung  ist  die  besondere 
Hervorhebung  der  ersten  Gruppe  von  Geschäften  als  offenbar 
überflüssig  unterblieben,  da  die  jetzige  Reichsversicherungs- 
ordnung  kollegiale  Behandlung  von  vornherein  nur  für  be- 
stimmte Geschäfte  vorschreibt^).  In  der  Geschäftsordnung  für 
die  Oberversicherungsämter  ^)  ist  für  ,, Beschlußsachen,  die  nicht 
durch  die  Beschlußkammer  zu  entscheiden  sind",  die  Erledigung 
durch  ein  Mitglied  und  den  Vorsitzenden  besonders  vorge- 
schrieben;   beide   müssen   auch   hier  einstimmig  sein^).     Auch 


den  Provinzialräten  (§  7),  den  Bezirksausschüssen  (§  8)  und  den  Kreisaus- 
schüBsen  (§  8)  (MinBl.  f.  d.  innere  Verw.  1884  S.  35  ff.). 

')  Vom  27.  März  1872,  GS.  S.  278,  v^l.  §  8. 

")  Vom  22.  September  1873,  GS.  S.  459,  vgl.  §§  7  und  8. 

')  Vom  19.  Oktober  1900  (RGB.  S.  983  §  10). 

*)  §§  :35,  1545  ff.  (RGBl.  1911  S.  509). 

°)  vom  24.  Dezember  1911  (RGBl.  S.  1095)  vgl.  §§  2  und  7. 

*)  Reichsversicherungsordnung  §  1781  Abs.  2.  Diese  Bestimmung  zeigt 
zugleich,  daß  jene  Geschäftsform  auch  bei  den  anderen  Versicherungsbehörden 
vorausgesetzt  wird. 


Nie  (In  er,  Die  Geschäftsform  der  Behörden.  165 

kommt  es  vor,  daß  in  den  Organisationsgesetzen  einzelne  be- 
stimmte Entscheidungen  hervorgehoben  werden,  die  von  dem 
Vorsitzenden  der  Behörde  allein  oder  mit  nur  einzelnen  Mit- 
ghedern  zusammen  getroffen  werden  können.  So  die  Ent- 
scheidungen über  Verwaltungsklagen  und  Berufungen,  die 
nach  §§  64,  86  des  Landesverwaltungsgesetzes  der  Vorsitzende 
des  Kreisausschusses  bzw.  der  Vorsitzende  des  Bezirksaus- 
schusses im  Einverständnis  mit  dessen  ernannten  Mitgliedern 
treffen  kann.  Auch  in  letzterem  Fall  liegt  keine  kollegialische 
Entscheidung  vor,  da  unter  Umständen  nur  ein  ernanntes  Mit- 
glied außer  dem  Vorsitzenden  in  Betracht  kommt,  die  Ent- 
scheidung also  in  der  Hand  von  nur  zwei  Mitgliedern  der  Be- 
hörde liegt.  Ebenso  konnten  z.  B.  nach  §  22  der  früheren  Ge- 
schäftsordnung des  Reichsversicherungsamts  der  Abteilungs- 
direktor oder  Vorsitzende  des  Senats  mit  dem  Berichterstatter 
allein  Enscheidung  darüber  treffen,  ob  eine  Sache  vor  das  er- 
weiterte Kollegium  zu  verweisen  ist. 

Nun  hat  aber  über  diese  gesetzlichen  Bestimmungen  hinaus 
gewohnheitsrechtlich  eine  viel  weitergehende  Entwickelung  statt- 
gefunden; tatsächlich  wird  in  der  Praxis  in  viel  größerem 
Umfange,  als  es  gesetzlich  vorgesehen  ist,  von  der  kollegialischen 
Geschäftsform  abgesehen.  Selbst  die  ordentlichen  Gerichte 
tun  dies.  Es  ist  wohl  überall  üblich,  daß  ganz  einfach  liegende 
Entscheidungen  nicht  nur  ohne  Beratung,  sondern  sogar  ohne 
Anhörung  aller  Mitglieder  nur  von  dem  Vorsitzenden  und 
Referenten  getroffen  werden,  z.  B.  Ablehnung  von  Vertagungen 
nach  feststehenden  Grundsätzen,  geringfügige  Änderungen  eines 
Beweisbeschlusses,  Bewilligung  des  Armenrechts  für  den  Be- 
rufungsbeklagten, offenbar  unzulässige  Beschwerden,  belehrende 
Bescheide  auf  verfehlte  Eingaben  u.  dgl.  Aber  das  spielt  keine 
Rolle.  Bedeutsamer  ist,  daß  bei  den  kollegialen  Verwaltungs- 
behörden in  der  Praxis  die  Masse  der  laufenden  Geschäfte 
regelmäßig  überhaupt  nicht  kollegialisch  behandelt  wird.  Nach 
der  Instruktion  für  die  preußischen  Regierungen  (§  26)  durften 
ohne  Vortrag  nur  erledigt  werden  ,, einleitende  und  vorbereitende 
Verfügungen,  sowie  alle  Sachen,  die  ihren  gewiesenen  Gang, 
ihre  Norm  und  Form  haben".  Sobald  es  ,, darin  auf  eine 
materielle  Entscheidung  ankommt",  mußten  sie  zum  Vortrag 
gebracht  werden,  es  sei  denn,  daß  ,, diese  auf  unzweifelhaften 
ausdrücklichen  Vorschriften  beruht".  „In  allen  Fällen,  welche 
der  Dezernent  ohne  Vortrag  abmacht,  muß  solches  aber  aus- 
drücklich von   ihm  auf  dem    Stück   vermerkt   werden."     Dies 


166  Xiedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden. 

Verhältnis  hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  umgekehrt.  In  Wirk- 
Hchkeit  werden,  jedenfalls  an  größeren  Regierungen,  soweit  sie 
überhaupt  noch  Kollegialverfassung  haben,  wohl  nur  noch 
prinzipielle  oder  besonders  zweifelhafte  Sachen  der  ganzen 
Kollegialabteilung  zur  Kenntnis  gebracht;  die  Regel  bildet  die 
Erledigung  ohne  Vortrag.  Und  nicht  anders  ist  die  Übung 
z.  B.  bei  den  Konsistorien,  obwohl  hier  nicht  einmal,  wie  bei 
den  Regierungen,  eine  Ermächtigung  vorliegt,  deren  Interpre- 
tation, unmerklich  ausdehnend,  zu  der  jetzigen  Praxis  führen 
konnte.  Die  wirklich  kollegiale  Behandlung  aller  Geschäfte 
eines  größeren  Verwaltungskollegiums  erweist  sich  einfach  als 
undurchführbar. 

Die  Geschäftsform,  in  der  in  den  Kollegialbehörden  die 
nicht  kollegial  behandelten  Sachen  erledigt  werden,  ist  ander- 
seits aber  auch  nicht  die  sogen,  bureaukratische.  Sie  besteht 
darin,  daß  unbedingt  zwei  Mitglieder  der  Behörde  zusammen- 
wirken und  übereinstimmen  müssen;  es  genügt  formell,  wenn 
Dezernent  und  Präsident  oder  Abteilungsvorsteher  die  Sache  be- 
arbeiten, es  können  aber  auch  noch  weitere  Mitglieder  hinzu- 
gezogen werden,  in  deren  besonderen  Geschäftskreis  die  Sache 
einschlägt.  In  den  Geschäftsordnungen  einiger  Behörden  be- 
stehen darüber  bestimmte  Vorschriften,  sonst  steht  es  dem 
Präsidenten  frei,  darüber  zu  bestimmen,  welche  Mitglieder  der 
Behörde  im  einzelnen  Fall  zu  beteiligen  sind  i). 

Damit  nähert  sich  diese  Geschäftsform  in  der  Praxis  aller- 
dings sehr  der  bureaukratischen,  denn  auch  bei  jener  kommt 
es  kaum  vor,  daß  der  Chef  der  Behörde  zu  dem  einzelnen 
Geschäft  nicht  ein  Mitglied  seiner  Behörde,  welches  ihm  vor- 
zuverfügen  hat,  hinzuzieht.  Der  Geschäftsgang  ist  auch  hier 
regelmäßig  der,  daß  die  einzelne  Sache  von  einem  Referenten, 
eventuell  noch  weiteren  Korreferenten  bearbeitet  und  dann 
abschließend  vom  Abteilungsdirigenten  bzw.  Präsidenten  oder 
beiden  gezeichnet  wird.  Der  wesentliche  Unterschied  liegt  darin, 
daß  bei  der  bureaukratischen  Geschäftsform  der  vorgesetzte 
Abteilungsdirigent  und  Präsident  nicht  an  die  Zustimmung  der 
mitwirkenden  Mitglieder  der  Behörde  gebunden  sind,  während 
bei  der  vereinfachten  Geschäftsform,  die  sich  in  den  Kollegial- 
behördeu  herausgebildet  hat,  die  Übereinstimmung  der  einmal 


')  Vgl.  z.  B.  wieder  die  preußische  Regierungsinstruktion  §  24  und  das 
Regulativ  ül)er  den  Geschäftsgang  bei  der  Oberrechnungskammer  §  27  in 
Verbindung  mit  §  24^*  —  13  ^ 


Niedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden.  167 

zugezogenen  INIitglieder  erforderlich  ist.  Stimmen  sie  in  der 
Bearbeitung  der  Sache  nicht  überein,  so  muß  sie  zum  Vortrag 
im  vollen  Kollegium  kommen^). 

Auch  diesen  Unterschied  darf  man  in  seiner  praktischen 
Bedeutung  freilich  nicht  überschätzen.  Denn  auch  bei  bureau- 
kratischer  Verfassung  pflegt  ein  Präsident  nicht  ohne  weiteres 
gegen  die  Ansicht  seiner  sachkundigen  Referenten  zu  handeln, 
es  besteht  auch  in  den  meisten  bureaukratischen  Behörden  die 
Einrichtung  von  regelmäßigen  Sitzungen,  in  denen  über  Meinungs- 
verschiedenheiten, die  bei  der  Bearbeitung  der  einzelnen  Sachen 
hervorgetreten  sind,  wie  überhaupt  von  vornherein  über  prin- 
zipiell wichtige  Entscheidungen  gemeinsam  beraten  wird  2),  und 
selten  wohl  handelt  der  Chef  einer  Behörde  gegen  die  aus- 
gesprochene Ansicht  der  Majorität  seiner  Mitarbeiter.  Wie  der 
Unterschied  in  der  Praxis  wirkt,  ist  mehr  Personenfrage.  Manch 
bureaukratischer  Chef  wird  von  den  Mitgliedern  seiner  Behörde 
beherrscht  und  mancher  Vorsitzende  eines  Kollegiums  beherrscht 
dieses.  Immerhin  ist  festzustellen,  daß  nicht,  wie  man  überall 
zu  lesen  pflegt,  jede  Verwaltung  in  mehrgliedrigen  Behörden 
entweder  bureaukratisch  oder  kollegialisch  ist,  sondern  daß 
daneben  noch  eine  weitere  —  in  der  Theorie  bisher  wenig 
beachtete  —  Geschäftsform  besonderer  rechtlicher  Ausprägung 
besteht,  nämlich  die  Führung  der  Geschäfte  durch  zwei  oder 
mehrere  Mitglieder  einer  Behörde,  die  einstimmig  sein  müssen. 
Der  Gedanke,  welcher  der  Ausbildung  dieser  Geschäftsform 
offenbar  zugrunde  hegt,  ist  wohl  der:  Bei  der  Führung  der  Ge- 
schäfte durch  eine  Einzelperson  kann  doch  zu  leicht  etwas 
übersehen  werden  und  eine  nur  einseitige  Beurteilung  Platz 
greifen;  wenn  zwei  eine  Sache  besprechen,  so  kann  sie  nur 
gewinnen.  Andererseits  genügt  es  bei  den  laufenden  Geschäften 
in  der  Regel,  wenn  zwei  verständige  Menschen  zusammen- 
wirken; stimmen  sie  in  der  Behandlung  der  Sache  überein,  so 
ist  damit  eine  gewisse  Garantie  gegeben,  daß  nichts  Wesent- 
liches übersehen  und  die  Sache  nicht  ganz  einseitig  beurteilt 
ist.  Alle  Mitglieder  der  Behörde  brauchen  deshalb  nicht  immer 
gehört  zu  werden,  es  genügt,  wenn  im  einzelnen  Fall  die  hin- 


')  Vgl.  z.  B.  §27'  der  zit.  Regierungsinstruktion  und  §  7^  des  zit. 
Regulativs  für  die  Oberrechnungskammer. 

*)  Den  preußischen  Regienmgspräsidenten  ist  bei  dem  tJbergang  von 
der  Kollegial-  zur  bureaukratischen  Verfassung  die  Beibehaltung  solcher 
Sitzungen  besonders  empfohlen  (vgl.  den  Circular-Erlaß  vom  9.  Februar  1884, 
MinBl.  f.  d.  innere  Verw.  S.  15). 


168  Niedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden. 

zugezogen    werden,    in    deren    besonderen    Geschäftskreis    die 
Sache  fällt. 

Wie  man  kein  richtiges  Bild  von  der  Art  unserer  Verwaltung 
bekommt,  wenn  man  diese  Mittelform,  die  in  der  Praxis  eine  große 
Bedeutung  hat,  nicht  beachtet,  so  muß  man  diese  Geschäftsform 
auch  bei  der  rechtspolitischen  Frage  nach  einer  besseren  Be- 
hördenorganisation berücksichtigen.  Die  Frage  darf  auch  hier 
nicht,  wie  es  gewöhnlich  geschieht,  nur  dahin  gestellt  werden: 
kollegialische  oder  bureaukratische  Verfassung?  sondern  es  ist 
auch  zu  erwägen,  ob  nicht  jene  Mittelform,  soweit  sie  tatsächlich 
besteht,  gesetzlich  anzuerkennen  und  eventuell  weiter  auszubilden 
sein  möchte.  Einen  wertvollen  Gesichtspunkt  zur  Würdigung 
der  kollegialischen  Behördenverfassung  gibt  dabei  die  Beob- 
achtung, wie  sich  aus  ihr  die  Mittelform  entwickelt  hat.  Soweit 
sich  diese  Entwickelung  im  Wege  des  Gewohnheitsrechts  voll- 
zogen hat,  tritt  damit  offenbar  zutage,  daß  ein  überwiegendes 
praktisches  Bedürfnis  zu  einer  Änderung  vorlag  und  daß  dieses 
praktische  Bedürfnis  durch  den  Gebrauch  jener  Mittelform  be- 
friedigt wurde.  So  bemerkte  man  z.  B.  bei  dem  erwähnten 
Vorgang  in  der  Waldecker  Landessynode,  es  sei  immer  so  ge- 
wesen und  zweckmäßig,  von  gemeinsamer  Beratung  im  Kol- 
legium abzusehen,  und  bezeichnete  die  dagegen  geltend  gemachte 
Ansicht,  daß  Beratung  bei  kollegialischer  Verfassung  grund- 
sätzlich geboten  sei,  als  unpraktische  Professorenweisheit  i). 
Und  mehr  noch  als  diese  Abschwächung  der  Kollegialverfassung 
ist  die  Entwicklung  zu  beachten,  in  der  es  in  einem  Kollegium 
üblich  wird,  daß  sich  überhaupt  nicht  mehr  alle  Mitglieder  an 
allen  Geschäften  beteiligen.  Symptomatisch  ist  es  in  dieser 
Hinsicht  z.  B.,  daß  bei  der  Prüfung  der  Formalien  der  Be- 
rufung im  Senat  eines  Gerichts  auch  die  gewissenhaftesten 
Beisitzer  sich  nicht  mehr  für  verpflichtet  halten  zuzuhören, 
sondern  die  Sorge  dafür  lediglich  als  Sache  des  Referenten 
und  Präsidenten  oder  auch  wohl  nur  des  letzteren  ansehen,  und 
höchst  beachtenswert  ist  es,  wenn  aus  der  Praxis  mancher  Ge- 
richte bezeugt  wird,  ,,daß  bei  Übereinstimmung  des  Referenten 
und  Vorsitzenden  eine  wirklich  ernsthafte  Diskussion  mit  und 
unter  den  übrigen  Mitgliedern  des  Kollegiums  überhaupt  nicht 


*)  Dabei  kam  übrigens  auch  wieder  in  anderer  Weise  der  Gedanke  zum 
Ausdruck,  daß  Entscheidungen  einer  Zweiheit  von  Personen  überlassen  werden 
könnten,  indem  man  nämlich  resolvierte,  das  Konsistorium  zu  ersuchen,  münd- 
liche Beratung  stattfinden  zu  lassen,  wenn  dieselbe  von  zwei  Mitgliedern  ge- 
wünscht würde. 


Niedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden.  169 

mehr  stattfindet"^).  Glaubt  man  wirklich  mit  dieser  Praxis  aus- 
kommen zu  können,  so  wäre  damit  die  Berechtigung  jener 
mittleren  Geschäftsform  anerkannt.  Man  hat  sie  ja  kürzlich 
auch  zur  Einführung  für  die  ordentlichen  Gerichte  nach  dem 
Vorbild  des  englischen  Rechts 2)  vielfach  empfohlen.  Weiterhin 
ist  zu  beachten,  wo  und  wie  diese  Geschäftsform  wiederum 
nicht  aus  der  kollegialischen  entwickelt,  sondern  geschaffen  ist, 
um  die  bureaukratische  zu  vermeiden,  wir  sehen  dies  dort,  wo 
es  in  bureaukratisch  organisierten  Behörden  immer  mehr  als 
geboten  angesehen  wird,  daß  der  Chef  der  Behörde  mindestens 
noch  ein  Mitglied,  z.  B.  in  technischen  Fragen  den  technischen 
Referenten,  hinzuzieht  und  bei  Nichtübereinstimmung  mit  diesem 
weitere  Beratung  veranlaßt.  Eine  reine  Ausprägung  der  auf 
die  Zweiheit  gestellten  Geschäftsform  finden  wir  in  der  Mini- 
sterialverfassung  derjenigen  Staaten,  in  denen  ein  sogenannter 
dirigierender  Staatsminister  mit  einem  verantwortlichen  Depar- 
tementschef zusammenwirken  muß.  So  scheint  sich  ja  auch 
die  Ministerialverfassung  im  Deutschen  Reich  praktisch  ent- 
wickeln zu  wollen.  Nach  dem  Gesetz  ist  die  oberste  Reichsleitung 
bureaukratisch  organisiert.  Von  vielen  wird  ein  kollegiales  Reichs- 
ministerium gefordert.  Tatsächlich  scheint  sich  die  Überzeugung 
immer  mehr  zu  befestigen,  daß  weder  das  eine  noch  das  andere 
praktisch  ist,  daß  es  vielmehr  erforderlich  ist,  aber  auch  ge- 
nügt, wenn  in  der  höchsten  Leitung  zwei  Personen,  Reichs- 
kanzler und  Staatssekretär,  zusammenwirken  und  übereinstimmen. 
Als  politische  Forderung  ist  es  heute  schon  unbestritten,  daß 
der  Staatssekretär  sich  nicht  nur  als  Gehilfe  des  Reichskanzlers  be- 
trachten darf,  und  manche  sehen  es  gar  wohl  schon  als  Gewohn- 
heitsrecht an,  daß  er  dem  Reichskanzler  nicht  zum  Instruktions- 
gehorsam verpflichtet  ist^).  Liegt  nicht  auch  der  staatsrecht- 
lichen Einrichtung  der  Mitwirkung  eines  Ministers  bei  den  Re- 
gierungshandlungen des  Staatsoberhauptes  derselbe  Gedanke 
zugrunde?  Die  Ausübung  so  gewaltiger  Befugnisse  wie  der  des 
Staatsoberhauptes  soll  nicht  in  der  Hand  eines  Menschen  liegen ; 
mindestens  zwei  sollen  jedesmal  zusammenwirken  und  überein- 
stimmen. Das  erscheint  als  notwendige,  aber  auch  als  aus- 
reichende Garantie.    Darin  liegt  die  eigentlich  praktische  Recht- 


^)  Vgl.  A.  Niedner,  Zur  Frage  einer  durchgreifenden  Justizreform. 
Hannover  (Helwing). 

^)  Vgl.  über  dieses  u.  a.  Gerland,  Die  englische  Gerichtsverfassung. 
Leipzig  1910.     S.  341,  570. 

*)  Vgl.  dazu  Kosenthai,  Die  Reichsregierung.     Jena  1911.     S.  62. 


170  Xiedner,  Die  Geschäftsform  der  Behörden. 

fertigung    der    Einrichtung;    die    Einführung    der    juristischen  ' 
VerantwortHchkeit  ist  mehr  von  theoretischem  Interesse. 

Belehrend  würde  es  weiter  auch  sein,  festzustellen,  inwieweit 
in  großen  Privat  Verwaltungen,  deren  Gestaltung  sich  lediglich 
nach  praktischen  Bedürfnissen,  nicht  nach  staatsrechtlichen 
Theorien  richtet,  eben  jene  auf  Zweiheit  gestellte  Geschäfts- 
form üblich  ist  oder  vielleicht  gar  überwiegt. 

Bei  einer  Behörde,  die  laufende  Geschäfte  in  der  gedachten, 
Einstimmigkeit  Mehrerer  fordernden,  Geschäftsform  zu  be- 
handeln hat,  muß  selbstverständlich  für  den  Fall  der  Meinungs- 
verschiedenheit eine  Bestimmung  vorgesehen  sein.  Sie  kann 
dahin  gehen,  daß  nun  kollegialische  Entschließung  in  der  Be- 
hörde zu  erfolgen  hat,  oder  dahin,  daß  die  Entscheidung  an 
die  vorgesetzte  Behörde  devolviert  wird,  wie  wir  es  vielfach 
finden,  wo  zwei  auf  Zusammenwirken  angewiesene  selbständige 
Instanzen  sich  nicht  einigen  können.  Daraus  ergibt  sich  die 
praktische  Grenze  für  die  Anwendbarkeit  dieser  Geschäftsform: 
sie  eignet  sich  weniger  für  kontradiktorische  Entscheidungen, 
bei  denen  erfahrungsgemäß  Meinungsverschiedenheiten  häufig 
sind.  Denn  in  solchen  Fällen  wird  der  Geschäftsgang,  da  an 
der  zunächst  berufenen  Stelle  die  Entschließung  überhaupt 
ausfällt,  aufgehalten ').  In  der  streitigen  Gerichtsbarkeit  wird 
sie  daher  wohl  immer  nur  die  Ausnahme  bilden  können.  An- 
ders bei  der  laufenden  Verwaltung,  wo  diejenigen  Entscheidungen 
für  welche  die  eigentlich  kollegialische  Beratung  angezeigt  ist, 
jetzt  immer  mehr  besonderen  Beschlußbehörden  zugewiesen 
sind.  Hier  wird  für  die  laufende  Tätigkeit  der  ordentlichen 
Landesverwaltungsbehörde  jene  mittlere  Geschäftsform  wohl  die 
rein  kollegialische,  wo  sie  noch  besteht,  zu  ersetzen  berufen  sein. 


')  Die  Verzögerung  ist  übrigens  in  diesem  Fall,  was  wiederum  inter- 
essant und  zu  beachten  ist,  geringer  bei  gleichzeitig  kollegialorganisierten, 
als  bei  bureaukratisch  verfaßten  Behörden. 


V. 

Die  Instruktion   der  Preußischen  Immediat-Jnstiz- 
Kommission  für  die  Rbeinlande  von  1816 

Von  Dr.  Ernst  Landsberg 

I. 

Während  der  Befreiungskriege  nahm  die  Preußische  Re- 
gierung es  als  selbstverständhch  an,  daß  mit  der  französischen 
Herrschaft  das  französische  Recht  ganz  aus  Deutschland  ent- 
fernt und,  soweit  die  Preußische  Herrschaft  an  Stelle  jener  trat, 
durch  das  altpreußische  Recht  ersetzt  werden  müsse  i).  Dem- 
gemäß erging,  noch  bevor  der  endgültige  völkerrechtliche  Ge- 
bietserwerb erfolgt  war,  das  „Patent  wegen  Wiedereinführung 
des  Allgemeinen  Landrechts  und  der  Allgemeinen  Gerichts- 
ordnung in  die  von  den  Preußischen  Staaten  getrennt  gewesenen, 
mit  denselben  wieder  vereinigten  Provinzen"  vom  9.  Sep- 
tember 1814  ■-).  Aber  auch  für  die  neu  gewonnenen  Rhein- 
provinzen war,  soweit  sie  dem  französischen  Rechte  unter- 
standen, der  Entwurf  zu  einem  Patente  durchaus  ähnlichen  In- 
halts, mit  nur  ganz  wenigen,  wennschon  nicht  so  ganz  gering- 
fügigen Abänderungen,  bereits  im  September  1815  ausgearbeitet^), 
während  gleichzeitig  die  Vorarbeiten  zur  Einführung  ,,der 
Preußischen  Kriminalverfassung,  in  Form  und  Materie,  an  Stelle 


')  Diese  bisher  schon  sehr  allgemein  herrschende  Ansicht  wird  nament- 
lich bestätigt  durch  einen  diesbezüglich  klar  durchgearbeiteten  Aufsatz  des 
damaligen  Justizministers  Friedr.  Leop.v.  Kircheisen  (1749 — 1825,  s.  A.  D.  B.  15, 
789  f.)  V.  18.  Juli  1814,  mitgeteilt  an  Hardenberg  am  28.  ejusdem,  enthalten 
in  den  Akten  R.  74  R  1  Nr.  16  des  Preußischen  Geheimen  Staatsarchivs  zu 
Berlin  (bisher  unveröffentlicht). 

^)  GS.  S.  89;  Grotefend,  Gesetze  u.  Verordnungen  f.  d.  preußischen 
Staat  u.  d.  Deutsche  Reich  1,  83  f. 

^)  Dies  ergibt  sich  aus  den  Akten  der  Immediat-Justiz-Kommission,  be- 
ruhend im  Kgl.  Staatsarchiv  zu  Düsseldorf,  Aktenbündel  Nr.  66,  betr.  Ein- 
führung der  Preußischen  Gesetzgebung  in  die  Rheinprovinz,  bes.  fol.  11  f. 


172  Landsberg.  Instruktion  d.  Immediat-.Tustiz-Komm.  für  die  Eheini.  1816. 

der  jetzigen"  (französischen)  lebhaft  betrieben  wurden^).  Da 
traten  zunächst  recht  bedeutungslos  erscheinende  Reibungen 
und  Schwierigkeiten  ein,  über  die  hier  nicht  berichtet  werden 
soll-);  und  tatsächlich  ist  es  dann  zu  einer  Einführung  des 
alten  Preußischen  Privatrechts,  Strafrechts  und  Prozesses  in  die 
französischrechtlichen  Gebiete  der  Rheinprovinz  mit  wenigen 
Ausnahmen  nie  gekommen.  Erst  durch  die  jüngere  konstitu- 
tionelle Preußische  oder  gar  erst  Deutsche  Gesetzgebung,  zuerst 
in  breiterem  Umfange  durch  das  Preußische  Strafgesetzbuch 
vom  14.  April  1851,  ist  das  französische  Recht  aus  der  Preu- 
ßischen Rheinprovinz  verdrängt  worden. 

Der  35  jährige  Kampf,  der  zu  diesem  Ergebnisse  geführt 
hat,  ist  weniger  ein  juristischer,  als  ein  politischer  gewesen, 
und  zwar  wiederum  weniger  ein  national-politischer  —  Neigung 
zu  französischem  Wesen  bewegte  die  Rheinländer  kaum,  so 
gerne  solche  Neigung  ihnen  von  den  Gegnern  vorgeworfen 
wird  —  als  vielmehr  ein  partei-politischer.  Es  ist  der  Kampf 
des  liberalen  und  modernen,  sozial  selbstbewußten  und  wirt- 
schaftlich vorwärts  drängenden  rheinischen  Bürgertums  gegen 
das  altpreußische  feudal-bureaukratische  Regiment.  Eben  darum 
ist  dieser  Kampf  von  weittragendem,  über  das  bloß  rechts- 
geschichtliche hinausgehendem,  allgemeinstem  politischen  Inter- 
esse. Trotzdem,  und  obschon  es  wahrlich  der  Untersuchung 
lohnt,  wieso  damals  die  Partei  so  vollständig  besiegt  werden 
konnte,  die  ausschließhch  im  Besitze  der  pohtischeu  Herrschaft 
und  aUer  greifbaren  staatlichen  Machtmittel  sich  befand,  mangelt 
uns  bisher  jede,  auf  genaueres  Aktenstudium  begründete  und  auf 
eingehendere  Darstellung  gerichtete  Sonderbearbeitung  3)  dieses 


»)  Ebenda  fol.  40  f. 

*)  Vgl.  etwa  einstweilen  Adolf  Stölzel,  Brandenburg-Preußens  Eechts- 
verwaltung  und  Eechtsverfassung  2,  443  f.  Diese  bisher  wohl  einzige  akten- 
mäßige Darstellung  dieser  Dinge  ist  aber  natürlich  nur  vom  Gesichtspunkte 
allgemein  preußischer  Verwaltungsgeschiehte  aus  gearbeitet  und  daher  plan- 
gemäß weit  davon  entfernt,  die  Eheinische  Entwicklung  vollständig  imd  zu- 
sammenhängend wiederzugeben. 

*)  Im  Eahmen  weiterer,  allgemein-geschichtlicher  Darstellung  äußern 
sich  natürlich  die  meisten  politischen  Historiker  der  Zeit  darüber,  in  mehr 
oder  weniger  fragmentarischer,  mehr  oder  weniger  treffender  ^^  eise ;  s.  etwa, 
wohl  am  besten  Treitschke.  D.  Gesch.  im  19.  Jhhdt.  2.  221  f.;  im  Eahmen 
der  Preußischen  Eechtsverfassungsgeschichte  eingehend,  aktenmäßig  und  wie 
stets  objektiv,  Stölzel  a.  a.  0.;  dagegen  beschränken  sich  durchweg  die  Ju- 
risten, die  besonders  rechtsgeschichtlich  oder  als  Einleitung  in  eine  dogma- 
tische Darstellung  die  rheinischen  Eechtsverhältnisse  erörtern,  auf  die  Fest- 
stellung der  äußeren  Tatsache,  daß  es  beim  französischen  Eecht  geblieben  ist. 


» 


Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816.   173 

Gegenstandes.  Diese  soll  auch  hier  selbstverständlich  noch 
nicht  gegeben  werden,  da  der  Verfasser  verpflichtet  ist,  sie  einer 
dafür  besonders  bestimmten  Veröffentlichung  vorzubehalten. 
Diese  wenigen  Zeilen  sollen  vielmehr  nur  als  vorläufige  Er- 
klärung dafür  dienen,  warum  ein  bisher  unveröffentlichtes 
Aktenstück  hier  abgedruckt  und  der  Aufmerksamkeit  der  Leser 
dieser  Zeitschrift  für  Politik  empfohlen  werden  möchte. 

Die  erste  Wendung  gegen  die  Einführung  des  Preußischen 
Rechts  vollzog  sich  nämlich,  indem  man  gegen  den  Justiz- 
minister von  Kircheisen,  ja  unter  Umgehung  desselben  in  Berlin 
es  bei  dem  lenkenden  Staatskanzler  Hardenberg  durchsetzte, 
daß  zunächst  die  Möglichkeit  und  Wirkung  jener  Maßregel 
einer  gründlichen  Voruntersuchung  unterzogen  werden  solle, 
wobei  namentlich  die  Eigentümlichkeiten  der  Rheinprovinz  und 
des  bisher  dort  geltenden  Rechts  zu  prüfen  seien.  Zu  dem 
Behufe  ordnete  die  Königliche  Kabinettsorder  vom  20.  Juni  1816, 
die  auf  Hardenbergs  Betreiben  erging,  die  Einsetzung  einer 
Immediat-Justiz-Kommission  in  Köln  an;  die  Order  ist  oft  ge- 
druckt i)  und  oft  angeführt  mit  ihrem  etwas  kosmopolitisch- 
phrasenhaft klingenden,  von  den  Rheinländern  aber  sehr  konkret 
ausgelegten  und  sehr  ernsthaft  festgehaltenen  Schlußabsatze : 
,,Ich  will,  daß  das  Gute  überall,  wo  es  sich  findet,  benutzt  und 
das  Rechte  anerkannt  werde"  —  worauf  dann  noch  der  aus- 
drückliche Hinweis  folgt,  daß  auch  Einrichtungen  ,, deshalb, 
weil  sie  sich  nicht  in  dieser  Art  in  Meinen  übrigen  Staaten 
finden,  nicht  verworfen,  sondern  nur  in  eine  solche  Richtung 
gebracht  werden"  sollen,  ,,als  sie  der  Zusammenhang  mit  dem 
Ganzen  verträgt".  —  Immerhin  ist  es  auffallend,  wie  wenig 
schließlich  die  Immediat-Justiz-Kommission  die  in  den  letzt- 
angeführten Worten  enthaltene  Weisung  befolgt  hat,  wie  aus- 
schließlich sie  mit  ihrer  Majorität  oder  selbst  einstimmig  in 
ihren  Erwägungen  und  Schlußvoten  den  Prinzipien  des  franzö- 
sischen Rechts  sich  untergeordnet  hat:  sowohl  in  den  ganz 
oder  auszugsweise  durch  den  Druck  damals  schon  vervielfäl- 
tigten 2),  wie  in  den  sämtlichen,  noch  gar  viel  weiter  ausgeführten 

^)  S.  z.  B.  Math.  Simon.  Übersicht  der  in  den  Rhein provinzen  bei 
ihrer  Vereinigung  mit  der  Krone  Preußen  geltenden  Gesetze,  Cöln  1824,  An- 
lagen, I  S.  1  f.,  oder  Lottners  Sammhmg  d.  f.  d.  Eheinprovinz  u.  s.  f.  er- 
gangenen Gesetze  1,  414  f. 

^)  Besonders  bekannt  geworden  sind  die  Gutachten  über  das  öffentliche 
Verfahren  in  Zivilsachen,  über  das  öffentliche  und  mündliche  Verfahren  in 
Untersuchungssachen  und  über  das  Geschworenengericht  durch  die  zum  Teile 
allerdings  äußerst  zusammengestrichenen  Auszüge  in  Bd.  4  des  (alten)   söge- 


174  Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816. 

sonstigen  Berichten  und  Vorschlägen,  die  sie  an  die  Zentral- 
instanz nach  Berlin  gerichtet  hat^)  und  durch  die  dann  auch 
der  weitere  Gang  der  Dinge  wesentlich  beeinflußt  worden  ist. 
Davon  aber,  wie  es  zu  solchen  Ergebnissen  im  Schöße  der 
Kommission  gekommen  ist,  wird  man  sich  natürlich  nur  durch 
Betrachtung  des  Ganges  ihrer  Arbeiten  Rechenschaft  ablegen 
können,  und  eben  hierfür  mußte  wieder  die  ihr  erteilte  In- 
struktion maßgebend  werden,  die  bisher  unveröffentlicht  und 
uuverwertet  in  den  Akten  geschlummert  hat. 

n. 

Die  Order  selbst  enthält  den  Satz: 

,,Für  den  ganzen  Geschäftskreis,  welcher  der  Kommission 
hierdurch  von  Mir  übertragen  wird,  überlasse  Ich  Ihnen"  (die 
Order  ist  an  Hardenberg  persönlich  gerichtet),  —  ,, dieselbe  mit 
einer  näheren  Instruktion  zu  versehen." 

Demgemäß  ist  denn  auch  die  Instruktion  gezeichnet  von 
Hardenberg  unter  dem  ausdrücklichen,  dem  ersten  Entwurf 
erst  nachträglich,  also  als  besonders  bedeutsam  zugefügten  Zu- 
sätze: ,,Auf  Allerhöchsten  Befehl  und  Namens  Sr.  Majestät  des 
Königs."  Und  schon  der  erste  Blick  in  den  Wortlaut  erklärt 
allerdings,  wie  dringend  es  der  Berufung  auf  diese  Autorität 
bedurfte,  wenn  z.  B.  gleich  in  §  2  die  Ausführung  des  Patentes 
vom  9.  September  1814  zum  Teile  sistiert  wird  —  eine  bisher 
unbekannte  Anordnung,  durch  deren  Fund  ein  staatsrechtliches 
Rätsel  gelöst  wird,  die  bisher  immer  nur  als  Tatsache  konstatierte 
NichtWiedereinführung  des  altpreußischen  Rechtes  in  die  alt- 
preußischen Teile  der  linksrheinischen  Rheinprovinz '-^j. 


nannten  Rheinischen  Archivs  (genauer:  „Niederrheinisches  Archiv  für  Gesetz- 
gebung, Rechtswissenschaft  und  Rechtspflege'"),  herausgegeben  von  G.  von  Sandt 
und  C.  Zum  Bach,  dieser  Band  Cöln  1819,  S.  286  f.  Dies  Archiv  stand  über- 
haupt der  Kommission  sehr  nahe  und  darf  als  ihr  offiziöses  Organ  angesehen 
werden.     Die  vollständigen  Drucke  der  Voten  sind  kaum  veröffentlicht. 

*)  Hierher  gehören  Voten  und  sonstige  Äußerungen  über  das  öffentliche 
Ministerium,  über  Trennung  von  Justiz  und  Verwaltung,  über  die  Einrich- 
tungen des  Notariats,  der  Anwaltschaft  u.  s.  f.;  vgl.  Akten  der  Immediat- 
Justiz-Kommission  auf  dem  Kgl.  Staatsarchiv  zu  Düsseldorf,  Nr.  84,  72  und 
31,  5,  50;  auch  Nr.  85,  56 — 60,  89;  dort  auch  die  Originale  der  gedruckten 
Stücke,  Nr.  86  f.  Über  die  Drucke  selbst  und  ihre  Schicksale  ist  an  anderem 
Orte  zu  berichten. 

*)  Näheres  hierüber  aus  Akten  des  Kgl.  Geheimen  Staatsarchivs  zu 
Berlin  mitzuteilen,  muß  ich  mir  hier  vorbehalten;  die  Sache  hat  eine  weiter- 
führende Vorgeschichte. 


Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816.    175 

Verfaßt  aber  ist  die  Instruktion  von  dem  Manne,  der  nach 
Lage  der  Berliner  Akten  nun  als  der  geistige  Urheber  der 
ganzen  Maßregel  erscheint^),  Johann  Albrecht  Friedrich  Eich- 
horn, dem  wohlbekannten,  später  um  die  Einführung  des  Zoll- 
vereins so  hochverdienten  Preußischen  Staatsmann  und  Minister, 
damals  Geh.  Legationsrat  und  besonders  (neben  Stägemann 
und  Rother)  im  staatskanzlerischen  Kabinett  tätig.  Von  seiner 
Hand  ist  der  ganze  Entwurf  der  Instruktion  geschrieben  2),  und 
genau  nach  seinem  Entwurf  ist  die  Ausfertigung-)  hergestellt, 
die  Hardenberg  am  8.  Juli  1816  zu  Karlsbad  vollzogen  hat. 
Man  wird  diese  Tatsache  bei  der  Würdigung  des  ganzen  Vor- 
ganges wohl  zu  berücksichtigen  haben :  namentlich  schließt  sie 
die  bequeme  Erklärung  aus  gallomanisch  vaterlandsloser  Ge- 
sinnung, die  so  oft  vorgebracht  wird,  bei  der  ganzen  Persön- 
lichkeit Eichhorns  doch  wohl  ohne  weiteres  aus;  vielmehr  be- 
stärkt sie  mich  in  der  Auffassung,  daß  es  sich  um  ernsthafte 
sachliche  Erwägungen  teils  politischer,  teils  kultureller  Natur 
handelte,  die  man  dann  allerdings  in  den  Rheinlanden  selbst 
eifrig  auszubeuten  wohl  verstanden  haben  mag. 

Indessen  auch  dies  weiter  auszuführen  wird  Sache  weiteren 
Zusammenhangs  sein;  ich  lasse  nun  hier  den  Text  der  In- 
struktion selbst  folgen,  genau  nach  dem  Wortlaute  des  in  der 
letzten  Note  näher  angeführten  Originals.  Einer  weiteren  Aus- 
legung zum  Verständnisse  im  einzelnen  wird  dieser  Text  kaum 
bedürftig  erscheinen. 

Instruction    der    Immediat   Justiz   Commission    für 

die  Rheinprovinzen. 

§  1.  Der  Zweck  dieser  Instruction  ist,  die  Bildung  einer  Immediat 
Justiz  Commission,  ihr  Verhältniß  zu  andern  Behörden,  den  Gegenstand  und 
Umfang  ihres  Geschäfts,  die  Ordnung  des  Geschäftsgangs  und  die  Grundsätze, 
welche  sie  zu  beobachten  hat,  nach  der  Absicht  der  Allerhöchsten  Cabinets 
Ordre  vom  20.  Juny  d.  J.  näher  zu  bestimmen.  Was  die  Instruction  besonders 
über  den  Gegenstand  des  Geschäfts  und  die  Grundsätze  dessen  Behandlung 
enthält,    soll   die  Commission   nicht   sowohl   als  Schranken  ansehen,    wodurch 


0  Acta  der  geheimen  Eegistratur  des  Staatskanzlers  betr.  die  Organi- 
sation der  Justiz  in  den  Eheinprovinzen,  Geh.  Staatsarchiv  Berlin,  R.  74, 
E  IX,  Nr.  la.     Generalia,  Vol.  I,   1816  bis  Mai  1817. 

')  Angeführte  Akten,  fol.  29  f. 

^)  A.  a.  0.  fol.  38 — 47.  Mehrfache  Abschriften  in  anderen  Akten  derselben 
Registratur,  auch  bei  den  Oberpräsidialakten  zu  Koblenz;  dagegen  merk- 
würdiger Weise  nicht  bei  den  Düsseldorfer  Akten  der  Immediat- Justiz- 
Kommission  selbst,  die  überhaupt  nur  fragmentarisch  sind. 


176   Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816. 

ihre  Thätigkeit  begrenzt  und  von  einer  im  Verfolge  des  Geschäfts  ihr  etwa 
nötig  scheinenden  Richtung  abgehalten  werden  möchte,  sondern  vielmehr  als 
Andeutungen,  die  Fülle  und  Vielseitigkeit  ihres  Auftrags  recht  lebendig 
zu  fassen. 

I,  Bildung  der  Immediat  Justiz  Commission. 
a.  Geographischer  Wirkungskreis. 
§  2.  Die  Immediat  Justiz  Commission  ist  für  die  Rheinprovinzen  an- 
geordnet. Darunter  werden  alle  diejenigen  Landstriche  sowohl  am  linken, 
als  rechten  Rheinufer  gerechnet,  die  mediatisirten  Gebiete  mit  einbegriffen, 
welche  zu  den  Verwaltungs  Bezirken  der  Oberpräsidien  zu  Coblenz  und  Cöln 
gehören.  Zwar  sind  durch  die  Patente  vom  9.  Septbr.  1814  und  22.  May  1815 
das  Allgemeine  Landrecht,  die  Allgemeine  Gerichtsordnung  und  die  Hypo- 
thekeuordnung  in  den  Herzogthümern  Cleve  und  Geldern  und  in  dem  Fürsten- 
thum  Moers  bereits  publicirt.  So  weit  aber  auf  den  Grund  dieser  Publication 
die  Rückkehr  der  alten  Justizverfassung  und  Gesetze  noch  nicht  würklich  ge- 
schehen ist,  soll  die  weitere  Ausführung  auch  in  'den  genannten  Landstrichen 
sistirt  werden.  Bei  den  Vorschlägen,  welche  hiernächst  die  Commission 
für  den  Umfang  ihres  ganzen  Auftrags  in  Beziehung  auf  alle  Rhein-Provinzen 
zu  machen  hat,  sind  die  genannten  Landestheile  besonders  zu  berücksichtigen. 

b.  Sitz  der  Commission. 

§  3.  Zum  Sitz  der  Commission  ist  Cöln  gewählt,  weil  die  französischen 
Gesetze  vorzugsweise  am  linken  Rheinufer  ihre  Macht  ausgeübt  haben,  und 
jene  Stadt  als  der  Aufenthalt  eines  Oberpräsidii  imd  mehrerer  administra- 
tiven und  gerichtlichen  Behörden,  oder  ganz  in  deren  Nähe,  und  als  der  Mittel- 
punkt eines  großen  bürgerlichen  und  geistigen  Verkehrs,  der  Immediat  Justiz 
Commission  Ansichten,  Bedürfnisse  und  Wünsche  unmittelbarer  und  vernehm- 
licher zuträgt  und  zu  einer  vielseitigen  Berathung  und  Rücksprache  Gelegen- 
heit giebt. 

c.  Personal  und  dessen  Remuneration. 

§  4.  Die  Commission  besteht  vorläufig  aus  einem  Präsidenten  und 
vier  Mitgliedern,  wovon  bereits  der  Präsident  in  der  Person  des  Ober  Landes 
Gerichts  Präsidenten  Sethe  und  zwei  Mitglieder,  nemlich.  der  Ober  Appellations 
Rath  Boelling  und  der  Justiz  Commissar  Simon  durch  die  Allerhöchste  Cabinets 
Ordre  ernannt  sind.  Zu  den  beiden  noch  unbesezten  Stellen  haben  die 
ernannten  Commissarien  mehrere  Vorschläge  wenigstens  nicht  unter  zwei  für 
jede  Stelle,  bei  dem  Staats  Canzler  einzureichen,  und  in  ihrer  Auswahl  besonders 
auf  solche  Männer  zu  sehen,  welche,  im  Besitze  eines  wohlbegründeten  Rufs 
der  Rechtschaffenheit,  mit  gründlichen  allgemeinen  Rechtskenntnis&en  und 
einer  vollständigen,  auf  Uebung  und  Erfahrung  beruhenden  Einsicht  in  die 
französischen  Gesetze  und  Rechtsverfassung  auch  eine  nähere  Kenntniß  der 
Rechtsverhältnisse,  der  eine  des  ehemaligen  Erzstifts  Trier,  der  andere  des 
Erzstifts  Cöln  verbinden.  Die  Bestimmung  der  Zahl,  die  Auswahl  und  An- 
stellung der  Subalternen,  wird  dem  Präsidenten  überlassen,  mit  Vorbehalt 
der  von  dem  Staats  Canzler  einzuholenden  Genehmigung. 

Der  Präsident,  die  Mitglieder  und  Subalternen  erhalten  ihre  Diäten 
nach  §  1  Nr,  7  Lit.  A.  des  Regulatifs  vom  28.  Febr.  1816,  wobei  der 
Präsident  dem  Director  der  Abtheilung  eines  Ministerii  gleich  zu  stellen  ist. 
Der  Fond  hiezu  sowie  für  Canzley  Bedürfnisse  und  extraordinaire  Ausgaben 
wird  der  Commission  von  dem  Finanz  Ministerio  angewiesen  werden. 


Landsberg^,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Eheini.  1816.   177 

Ausgaben,  die  nicht  aus  der  Natur  des  Geschäfts  als  notwendig  sich 
ergeben,  müssen  vorher  die  Genehmigung  des  Staats  Canzlers  erhalten.  Bei 
diesem  ist  auch  zu  seiner  Zeit  Eechnung  abzulegen. 

n.  Verhältniß  der  Commission  zu  andern  Behörden. 
§  5.    Das  Verhältniß  der  Commission  zu  andern  Behörden  ist  folgendes 

a)  Mit  den  Oberpräsidien  und  Regierungen  steht  sie  in  gleicher  Ordnung, 
und   das  Verkehr   mit   denselben   geschieht  im  Wege  der  Requisition. 

Dies  findet  auch  in  den  Berührungen  mit  den  Militair  Behörden  statt. 

b)  Die  gerichtlichen  Behörden  jeden  Ranges  in  den  Rhein  Provinzen  sind 
ihr  untergeordnet,  haben  an  sie  zu  berichten  und  empfangen  von  ihr 
Verfügungen. 

c)  In  denjenigen  Fällen,  welche  sonst  die  Einwirkung  des  französischen 
Justiz  Minist erii  nötig  gemacht  haben,  und  zur  Direction  der  Commission 
übergehen,  wird  dieselbe  unter  den  §  8  nahmhaft  gemachten  Be- 
stimmungen dem  Justiz  Minister  untergeordnet. 

d)  Wo  die  übrigen  Ministerien  an  die  Immediat  Commission  etwas  zu  er- 
lassen haben,  oder  letztere  bey  denselben  in  Antrag  zu  bringen  nötig 
hält,  sind  sowohl  von  dieser  als  jener  Seite  die  Anträge  an  den  Staats 
Kanzler  zu  richten,  von  welchem  das  Weitere  veranlaßt  wird. 

Auf  diese  Weise  steht  die  Immediat  Commission 

e)  mit  Ausnahme  der  bei  c)  gedachten  Gegenstände  unter  der  ausschließ- 
lichen Leitung  des  Staats  Canzlers,  der  ihre  Berichte  empfängt,  mit 
Bescheid  sie  versieht  und  nach  Bewandnis  der  Umstände  mit  den  be- 
treffenden Ministerien  in  den  angemessenen  Fällen  Rücksprache  nehmen 
wird. 

III.  Gegenstand  und  Umfang  des  Geschäfts. 
§  6.     Die  der  Commission  aufgetragenen  Geschäfte  beziehen  sich: 

A)  auf  die  currente  Leitung  des  Justiz  Wesens  als  Justiz  Minist erial-Behörde; 

B)  auf  die  Bearbeitung  eines  interimistischen  Regulativs  für  alle  Berüh- 
rungen zwischen  Gerichts  und  Verwaltungsbehörden; 

C)  auf  die  Berathung  und  Ausarbeitung  von  Entwürfen  zu  Verordnungen, 
welche  die  Gesetze  und  Gerichtsverfassung  in  den  Rheinprovinzen  be- 
stimmen sollen. 

A.  Die  Commission  als  Justiz  Ministerial  Behörde. 
§  7.  Die  cuiTente  Leitung  des  Justizwesens  als  Justiz  Ministerial  Behörde, 
wodurch  aber  der  bisherigen  Unabhängigkeit  der  Gerichte  nirgends  Eintrag 
geschehen  darf,  ist  das  erste  Geschäft,  womit  die  Commission  den  Anfang 
machen  muß.  Zu  dem  Ende  wird  sie  alle  Akten  und  Papiere,  welche  hier- 
über bey  dem  aufgelößten  General  Gouvernement  und  nachher  bey  dem  Re- 
gierungs  Präsidium  in  Achen  vorhanden  sind,  an  sich  ziehen,  auch  gleich 
nach  ihrem  Eintritt  ihre  Bestimmung  nebst  der  Allerhöchsten  Königlichen 
Cabinets  Ordre  in  den  Amtsblättern  der  dortigen  Provinzen  bekannt  machen. 
§  8.  Die  Gegenstände  welche  zu  Berichten  an  das  Justiz  Ministerium 
nach  fi-anzösischer  Verfassung  Veranlassung  geben,  finden  sich  größtentheils 
in  der  Beilage  verzeichnet.  Dieselben,  wozu  insbesondere  auch  die  Aufsicht 
über  die  Gerichte  zu  rechnen,  bearbeitet  die  Commission  ausschließlich  und 
ohne  höhere  Einwirkung  mit  nachstehenden  Einschränkungen: 

a)  Sie  berichtet  an  den  Justiz  Minister  zur  weitern  Verfügung  in  folgenden 
Angelegenheiten:   in  allen  Bestallungssachen  eigentlicher  Richter,  wo- 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  12 


178  Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816. 

bey  übrigens  in  neuen  Anstellungen,  welche  bis  zur  definitiven  Organi- 
sation  nötig   werden   sollten   als  Bedingung  festzusetzen,    daß   sie   nur 
.als  provisorisch  gelten;    wegen  Dispensation  in  Ehesachen,    vom  Alter 
und  dem  Verwandschaftsgrade; 

wenn  mit  Justizbeamten  wegen  körperlicher  Gebrechen  und  Un- 
fähigkeit, eine  Veränderung  vorzunehmen  ist;  in  Untersuchungen  wegen 
Dienstvergehungen  richterlicher  Personen. 

b)  Sie  überreicht  dem  Justiz  Minister  auf  Erfordern  eine  Liste  der 
schwebenden  Civilsachen  und  berichtet  an  denselben,  wo  von  ihm 
aus  dem  Gesichtspunkte  der  obersten  Aufsicht  über  die  Justizverwaltung 
Aufklärungen  verlangt  werden. 

c)  Sie  überreicht  an  den  Justiz  Minister  mit  einem  Gutachten  alle  Er- 
kenn tniße,  welche  zur  Bestätigung  des  Königs  Majestät  gehen. 

d)  In  allen  Fällen  der  currenten  Justiz  Verwaltung,  welche  der  Commission 
überhaupt  bedenklich  scheinen,  bleibt  es  ihr  überlassen,  die  Sache  dem 
Justiz  Minister  zur  Entscheidung  vorzutragen, 

e)  Wenn  vor  der  definitiven  Einführung  der  neuen  Justiz  Verfassung  die 
Erläuterung  eines  Gesetzes  für  nötig  befunden  wird,  so  geschieht  die 
Anfi'age,  welche  s-onst  an  den  französischen  Justiz  Minister  ergangen, 
unter  Begleitung  eines  Gutachtens  bey  dem  Staats  Kanzler.  An  eben 
denselben  ist  zu  berichten,  wenn  Functionen  des  Justiz  Ministerii  nach 
französischer  Verfassung  in  unserm  Staate  andern  Ministerien  über- 
wiesen sind  und  an  die  Ober  Präsidien  und  Regierungen  nicht  jetzo 
schon  übergegangen  oder  in  Gemäßheit  des  nach  §  6  B  auszuarbeiten- 
den Regulativs  noch  übergehen. 

§  9.  Soweit  es  ohne  erhebliche  Störung  in  den  Geschäften  geschehen 
kann,  muß  abwechselnd  ein  Mitglied  der  Commission  nach  einer  vom 
Präsidenten  zu  machenden  Eintheilung  die  Gerichte  bereisen,  den  Geist  und 
die  Art  ihrer  Geschäftsführung  näher  beobachten  und  über  den  Ruf  und 
die  Qualification  der  richterlichen  Personen  sich  so  vollständig  als  möglich 
unterrichten,  um  hiernach  die  definitive  Anstellung  mit  den  angemessenen 
Motiven  reguliren  zu  können. 

§  10.     Es  bestehen  gegenwärtig  in  den  Rhein  Provinzen 

a)  drey  Appellationshöfe  zu  Düsseldorff,  Cöln  und  Trier, 

b)  zwey  Revisionshöfe  zu  Düsseldorff  und  Coblenz  in  sehr  unvollkommener 
Einrichtung.  Ohne  Noth  würde  trotz  dieser  Unvollkommenheit,  da  mit 
Ernst  an  der  definitiven  Organisation  gearbeitet  wird  und  diese  auf 
alle  Weise  zu  beschleunigen  ist,  eine,  obgleich  das  Bessere  beab- 
sichtigende Veränderung  nicht  vorzunehmen  sein,  weil  diese  doch  nur 
von  provisorischem  Bestände  seyn  könnte.  Doch  bleibt  es  der  Be- 
urtheilung  und  den  gutachtlichen  Anträgen  der  Commission  unbenommen, 
ob  und  welche  Aenderungen  vorläufig  bey  jenen  Gerichtshöfen  zweck- 
mäßig und  leicht  ausführbar  seyn  mögen. 

B.  Bearbeitung  des  interimistischen  Regulativs  für  den  Conflict 
zwischen  Justiz  und  Verwaltungs-Behörden. 
§  11.  Unmittelbar  nachdem  sie  constituirt  ist,  hat  auch  die  Commis- 
sion für  das  oben  §  6  B.  erwähnte  Regulativ  unter  Berathung  mit  den  Ober 
Präsidien,  welche  ihrerseits  die  gutachtlichen  Vorschläge  der  Regierungen 
einzuholen  haben,  wie  die  Commission  die  der  Gerichte,  einen  vollständigen 
Entwurf   auszuarbeiten   und   hiernächst   mit   dem   motivirenden  Bericht    bey 


Landsberg-,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816.   179 

dem  Staats  Canzler  einzureichen.  Hiebey  ist  niclit  nur  darauf  zu  sehen,  daß 
naan  für  alle  vorkommenden  Geschäfte  genaue  Normen  aufstelle,  ob  sie  Gegen- 
stände der  Justiz  oder  Verwaltung  seyen,  sondern  daß  überall  auch  die  Be- 
hörde bestimmt  werde,  vor  welche  sie  gehören  und  die  Form  des  Verfahrens, 
wonach  sie  behandelt  werden  müssen.  Hieher  ist  besonders  zu  rechnen, 
welche  Grundsätze  wegen  der  nach  französischer  Verfassung  den  Präfectur- 
Eäthen  zustehenden  Gerichtspflege  eintreten  sollen.  Das  Regulativ  darf  jedoch 
nur  das  zeitige  Verhältniß  zwischen  preußischen  Verwaltungs-  und  franzö- 
sischen Justiz  Behörden  im  Auge  haben  und  beabsichtiget  nur  provisorische 
Bestimmungen.  Was  für  die  Verhältnisse  zwischen  Verwaltungs-  und  Justiz 
Behörden  in  bleibender  Einrichtung  anzuordnen  sey,  greift  in  den  dritten  Theil 
des  Auftrags  §  6  C.  ein. 

C.    Definitive    Bestimmung    der    künftig    gültigen    Gesetze    und 
Gerichts   Verfassung. 
§  12.     Dieser  Theil  des  Auftrags  ist  der  wichtigste. 
Ehe  die  definitive  Bestimmung  über  die  Gesetze  und  Gerichtsverfassung, 
welche  künftig  in  Anwendung  treten,    im  Ganzen   geschehen   kann,    wird   es 
nötig  seyn,  daß  die  Commission  genau  untersuche  und  gutachtliche  Vorschläge 
mache,  ob  und  wo  wegen  eigenthümlicher  und  dringender  Verhältniße,  eine 
materielle  provisorische  Verordnung   eintreten   muß.     Zu   einer   solchen   mag 
unter  andern  der  vorübergehende  Aufenthalt  oder  das  Standquartier  der  aus 
den  alten  Provinzen   herbeigezogenen  Truppen    und  das  Verhältniß   der   aus 
den   alten   Provinzen   dorthin   versezten  Verwaltungs-Bearnten    Anlaß    geben. 
§   IB.     Den  Vorschlägen  über  die  materielle  Gesetzgebung  und  Gerichts- 
verfassung muß : 

a)  eine  genaue  Vergleichung  der  preußischen  und  französischen  Gesetze 
in  allen  Zweigen  des  bürgerlichen  Eechts  und  des  Strafrechts  und 
beiderlei  Gerichtsverfassungen, 

b)  eine  Prüfung  der  Abweichungen  beiderlei  Rechts-  und  Gerichtssysteme, 
sowohl  nach  allgemeinen  Rechtsprinzipien  als  nach  der  Eigenthümlich- 
keit  der  Rhein  Provinzen,  wie  dieselbe  theils  ursprünglich  aus  der  frühern 
Zeit  noch  fortdauert,  theils  eine  Folge  deren  Schicksale  unter  der  fran- 
zösischen HeiTschaft  ist, 

vorausgehen.  Bei  Beurtheilung  der  abweichenden  französischen  Verfassung 
gegen  die  unsrige  ist  vorzüglich 

c)  die  bisherige  Erfahrung  über  beide  unter  gleichen  Bedingungen,    und 

d)  für  deren  sichere  Erkenntniß  das  Gutachten,  sowohl  der  Tribunale,  als 
ausgezeichneter  Rechtsgelehrten,  wenn  diese  auch  nicht  in  einem  Staats- 
amte sich  befinden, 

zu  Hülfe  zu  rufen. 

§  14.    Zu  diesen  Gegenständen  einer  genauen  Prüfung  gehören  besonders 

a)  das  öffentliche  Verfahren  im  Civil  und  Criminal  Prozeß, 

b)  die  Jury  im  Criminal  Prozeß, 

c)  die  Eintheilung,  Form  und  das  Verhältniß  der  Gerichtsbehörden,  als 
Friedensrichter,  Districtsgerichte,  Appellationshöfe,  Cassations  Tri- 
bunal XX., 

d)  die  Trennung  der  fi-eiwilligen  Gerichtsbarkeit  von  der  streitigen, 

e)  das  öffentliche  Ministerium,  welchem  das  Geschäft  unserer  Fiskale, 
jedoch  nur  entfernt,  zu  vergleichen  ist, 

f)  die  vormundschaftliche  Einrichtung, 

g)  die  Trennung  aller  Administration  von  der  Justiz. 

12* 


180  Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  dieEheinl.  1816. 

Hier  hat  die  Commission  alle  Gründe,  welche  dafür  oder  dagegen 
sprechen,  mit  Sorgfalt  aufzusuchen  und  zu  erwägen,  ob  und  mit  welchen 
etwaio-en  Modificationen  dieselben  beizubehalten,  oder  was  dagegen  aus  unserer 
Verfassung  zu  substituiren  sey. 

§  15.  Ferner  muß  die  Commission  darüber  berathen  und  Vorschläge 
machen,  ob  und  in  welcher  Art  unsere  Hypotheken  Verfassung  und  unser 
Depositalwesen  einzuführen  sey;  auch  ist  von  ihr  der  Entwurf  eines  Sportul- 
edikts  mit  Rücksicht  auf  die  bei  uns  und  in  der  französischen  Verfassung  ge- 
raachten Erfahrungen  auszuarbeiten. 

§  16.  Bei  der  Arbeit,  welche  den  dritten  Theil  des  Auftrags  der 
Commission  ausmacht,  und  §  12  bis  15  näher  beschrieben  ist,  beabsichtiget 
man  nicht  sowohl  die  Eedaction  eines  eigenen  Codex  über  die  Gesetze  und 
Gerichtsverfaßung  in  den  Eheinländern  als  vielmehr  eine  genaue  Bestimmung 
mittelst  besonderer  Verordnungen,  was  von  den  vorhandenen  französischen 
Gesetzen,  Eechtsinstituten  und  Einrichtungen  oder  denen  aus  der  frühern 
deutschen  Verfassung  der  Eheinländer  etwa  noch  übrig  gebliebenen  Eechts- 
gewohnheiten,  in  Kraft  bleiben,  was  davon  abgeändert  werden,  endlich  ob 
und  in  welcher  Art  bey  dieser  Abänderung  unsere  Gesetze  und  Eechts- 
verfassung  zur  Anwendung  kommen  sollen.  Um  alle  Ungewißheit  des  Eechts 
zu  vermeiden,  müssen  jene  Verordnungen  alle  Theile  und  Materien  des  bürger- 
lichen Eechts,  als  des  Personen  Eechts,  des  Sachen  Eechts  und  des  Eechts  der 
Forderungen,  des  Kirchen-Eechts  und  Eegierungs  Eechts  und  aller  übrigen 
Eechte,  worüber  sich  unser  Allgemeines  Li. ndrecht  verbreitet,  desgleichen 
unsere  Gerichtsordnung,  Hypotheken  und  Depositalordnung,  das  Sportuledikt 
mit  allen  späteren  Declarationen  xx.  von  der  einen  Seite,  so  wie  von  der 
andern  alle  Gesetzbücher  und  Ordnungen,  welche  gegenwärtig  das  Eecht  in 
den  Eheinländern  bestimmen,  genau  und  besonders  durchgehen  und  bei 
jeder  abgesonderten  Materie  festsetzen,  was  dabey  von  den  bisherigen  Gesetzen 
gültig  bleibe,  oder  von  den  unsrigen  zur  Anwendung  komme,  oder  an  sich, 
wie  für  die  Verschmelzung  von  beiden,  neu  anzuordnen  sey.  Ob  dieser  Zweck 
durch  eine  oder  mehrere  Verordnungen  und  in  welcher  Form  derselben  am 
besten  zu  erreichen  sey,  wird  die  Commission  nach  Maaßgabe  des  Inhalta 
beurtheilen. 

IV.  Geschäftsgang  bei  der  Commission. 

§  17.  Ueber  den  Gang  des  Geschäftsbetriebs  bei  der  Commission  bleibt 
deren  Präsidenten  überlassen,  unter  Beirath  der  übrigen  Mitglieder,  ein  an- 
gemessenes Geschäfts  Eeglement  auszuarbeiten.  Die  Berathung  und  der  Besc^hluß 
kann  nur  in  coUegialischer  Form  geschehen,  und  bei  etwaniger  Gleichheit 
der  Stimmen,  wenn  die  Commission  nicht  vollzählig  beisammen  ist,  giebt  die 
Meinung  des  Präsidenten  den  Ausschlag.  Auch  wird  festgesetzt,  daß  allen 
mündlichen  Discussionen  über  die  zu  HC.  gehörigen  Gegenstände  nicht  nur 
die  schriftliche  Eelation  eines  Mitgliedes,  sondern  auch  die  besondere  schrift- 
liche Begutachtung  der  Relation  von  Seiten  der  übrigen  Mitglieder  voraus- 
gegangen sein  muß,  und  daß  über  jeden  Beschluß  ein  Pi-otokoll  zu  führen 
ist,  worin  die  Stimmenden  und  deren  Anträge  besonders  zu  verzeichnen. 
Zu  seiner  Zeit  sind  die  Eelationen,  die  schriftlichen  Vota  und  diese  Protokolle 
mit  den  ausgearbeiteten  Entwürfen  bey  dem  Staats  Kanzler  einzureichen. 

§  18.  Die  Commission  muß  mit  vorzüglichem  Fleiße  die  Ausrichtung 
ihres  Auftrages  sich  angelegen  sein  lassen,  damit  dem  so  dringenden  Be- 
dürfniß  einer   definitiven   Justiz   Organisation   sobald   als  möglich  abgeholfen 


Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816.   181 

•werde.     Über  den  Fortgang  ihres  Gescliäfts  hat  sie  alle  vier  Wochen  an  den 
Staats  Kanzler  zu  berichten. 

V.  Grundsätze,  welche  die  Commission  vor  Augen  haben  muß. 

§  19.  Dieselbe  muß  stets  den  Inhalt  der  Allerhöchsten  Cabinets  Ordre 
vor  Augen  haben,  um  von  dem  wahren  Sinn  ihrer  Aufgalje,  von  den  Grund- 
sätzen, welche  dabey  zu  beachten  sind  und  von  den  Erwartungen,  die  man 
zu  ihr  hegt,  stets  durchdrungen  zu  bleiben. 

Die  Königl.  Cabinets  Ordre  warnt  vor  Einseitigkeit.  Die  Neuerungs- 
sucht, welche  das  Heimathliche  ohne  Noth  aufgiebt,  ist  eben  so  verwerflich 
als  die  starre  Anhänglichkeit  an  dem  Hergebrachten,  welche  alles  Fremde, 
das  dem  neuerworbenen  Lande  und  dessen  Bewohnern  anhängend,  eine  Auf- 
nahme sucht,  trotz  aller  Vorzüge  zurückweiset.  Die  preußische  Regierung 
hat  sich  bisher  durch  ihre  Justiz-Verfassung  besonders  ausgezeichnet.  Dies 
beruhte  aber  eben  sowohl  auf  der  Gesinnung  und  dem  Geiste,  welcher  die 
Justiz  Reform  in  dem  Staate  hervorgebracht  hat  und  das  Rechte  suchend, 
immer  fortbildet,  als  in  dem  Material  der  Gesetze  und  Ordnungen. 

Carlsbad  den  8.  .Tuly  1816. 

Auf  allerhöchsten  Befehl  und  Namens  Sr.  Majestät  des  Königs 
(gez.)  C.  F.  von  Hardenberg. 

Gegenstände  welche  zu  Berichten  an  das  Justiz  Ministerium  nach 
der  französischen  Justiz- Verfassung  Veranlassung  geben. 

A.  Generalia  und  Civil  Sachen. 

1.  Alle  Bestallungs  Sachen. 

2.  Disciplinar-Sachen. 

3.  Nötig  befundene  Erläuterung  eines  Gesetzes. 

4.  Confiicte  zwischen  der  Vei'waltungs  und  der  Justiz  Behörde. 

5.  Dispensationen  in  Ehe-Sachen  vom  Alter  und  dem  Verwandschafts  Grad. 

6.  Dispensationen  votd  2ten  Anf gebot,    welche  der    Staatsprocurator    er- 
theilt  hat. 

7.  Erlaubniß   zum  Eintritt   in  ausländische  Dienste  mit  Beibehaltung  des 
Staatsbüi-gerrechts. 

8.  Einsendung    der  präparatorischen    und    definitiven   Erkenntnisse,    eine 
Abwesenheits  Erklärung  betreffend  und  deren  Bekantmachung. 

Cod.  Nap.  Art.  119. 

9.  Beschlüsse    eines    Appellations    Hofes,    daß    eine    Civil    Sache    nicht 
öffentlich,  sondern  bey  verschlossenen  Thüren  plaidirt  werden  soll. 

Code  de  proced.  civ.  Art.  87. 

10.  Einsendung   der  Listen    der  schwebenden   Civil  Sachen  im  April  und 
Septemb. 

Decret  v.  30.  März  1808  Art.  80  et  81. 

11.  Verhandlungen  in  der  ersten  Sitzung  des  Appellationshofes  nach  den 
Ferien. 

Decret  v.  20.  April  1810  Art.  8  &  9. 

12.  Einsendung    der    dem    Staats    Anwalt   geschehenen    Insinuationen   für 
Ausländer. 

Art.  69  du  Code  de  proced. 

13.  Urlaubs-Angelegenheiten. 


182  Landsberg,  Instruktion  d.  Inimediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816. 

a)  Bem-laubungen  der  höhern  Justiz  Beamten. 

Gesetz  vom  27.  ventose  J.  8. 
Art.  24  sqq.  des  Decrets  vom  30.  July  1810. 
Art.  30  des  Decrets  vom  18.  August  1810. 
Art.  24  sqq.  des  Decrets  vom  6.  July  1810. 

b)  Vierteljährige    Anzeige    der    ertheilten    Beurlaubungen    der   Justiz- 
Beamten  bei  den  Untergerichten. 

Art.  32  des  Decrets  vom  18.  Aug.  1810. 

14.  Anzeige  einer  eingetretenen  Schvfägerschaft  zwischen  den  Gliedern 
desselben  Justiz  Collegiums. 

Art.  63  der  Ges.  v.  20.  April  1810. 

15.  Anzeige  in  Betreff  der  Justiz  Beamten,  die  wegen  körperlicher  Ge- 
brechen  außer   Stande   gekommen   ihrem  Amte  fernerhin  vorzustehen. 

Decret  vom  2.  8  her  1807  art.  2. 

B.  In  Correctionellen  und  Criminalsachen. 

16.  Cassasitions  Gesuche  in  Correctionellen  und  Criminalsachen. 

Code  d'instr.  crim.  art.  423.  439  &  443. 

17.  Untersuchungen  wegen  Dienstvergehungen  richterlicher  Personen. 

ibid.  art.  481.  482  &  486. 

18.  Revisionsgesuche. 

ibid.  art.  443  sqq. 

19.  Jurisdictions-Conflicte  zwischen  Gerichten,  welche  nicht  vom  nämlichen 
Appellations  Hofe  ressortiren. 

ibid.  art.  532. 

20.  Surrogations  Gesuche  aus  Gründen  des  öffentlichen  Interesse. 

Code  d'instr.  crim.  art.  544  &  548. 

21.  Accusations  Urteile,  wodurch  eine  Sache  an  einen  Special  Gerichts 
Hof  verwiesen  wird. 

ibid.  art.  568. 

22.  Rehabitations  Gesuche'). 

ibid.  art.  629. 

23.  Antrag  auf  Autorisation  einen  Regierungs  Agenten  wegen  Amtsver- 
brechen zu  verfolgen. 

Constitution  vom  Jahr  8.  art.  175. 

24.  Einsendung  der  alphabetischen  Register  der  zur  Gefangenschaft  oder 
einer  schwereren  Strafe  Verurtheilten. 

Art.  601   du  Code  d'instr.  crim. 

25.  Einsendung  der  Listen  der  unter  die  Aufsicht  der  Hohen  Polizey  ge- 
stellten Individuen. 

26.  Unterbringung  der  zur  Bauarbeit  Verurtheilten  in  die  gehörigen  Straf- 
anstalten. 

27.  Bericht  des  Assißen  Präsidenten  über  die  gehaltenen  Assißen  und  das 
Betragen  der  Geschworenen. 

28.  Anzeige  der  Fälle,  wo  ein  Ausländer  innerhalb  des  Staatsgebietes  ein 
Verbrechen  begangen,  zur  Bewirkung  dessen  Auslieferung  und  umge- 
kehrt Anzeige  der  Fälle,  wo  die  Auslieferung  eines  Einländers,  welcher 
sich  außerhalb  Landes  eines  Verbrechens  schuldig  gemacht  von  der 
fremden  Regierung  verlangt  wird. 

Decret  vom  23.  Octobr.  1811  Bulletin  des  lois.  No.  400. 


^)  Lies:  Rehabilitationsgesuche. 


Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Rheinl.  1816.   183 

29.  Amtliche  Anzeige  von  verfügten  Zahlungsbefehlen  für  dringende  Kosten 
in  Criminal  Sachen. 

Art.  136  des  Decrets  vom  18.  Juny  1811. 

III. 

Vorstehendes  ist  die  Instruktion,  die  als  solche  an  alle 
beteiligten  Behörden  geschickt  und  der  Kommission  bis  zu  Ende 
ihrer  Tätigkeit  offiziell  vorgeschrieben  wurde.  Unter  der  Hand 
aber  hat  Eichhorn  —  natürlich  unter  Hardenbergs  Unterschrift 
und  Autorität  —  fortwährend  den  ganzen  Gang  der  Kommissions- 
geschäfte, in  Anknüpfung  an  die  von  ihr  (§18  der  Instruktion) 
zu  liefernden  Monatsberichte,  bis  ins  einzelne  hinein  geleitet  i). 
Dabei  ist  es  auch  gelegentlich  zu  Rügen  gekommen,  die  er  der 
Kommission  macheu  zu  müssen  glaubte,  und  anläßlich  solcher 
ist  er  einmal  sogar  so  weit  gegangen,  ihr  eine  bestimmtere 
Erläuterung  ihrer  Instruktion  zu  geben,  die  als  deren  authen- 
tische Interpretation  angesehen  werden  muß,  auch  da,  wo  sie 
nach  der  Art  solcher  ,, authentischer"  Interpretationen  über  den 
interpretierten  Text  hinausgeht  oder  gar  ihm  widerspricht,  wie  das 
hier  in  nicht  ganz  geringem  Maße  der  Fall  ist.  Die  Kommission 
hat  sich  denn  auch  von  da  ab  durchaus  an  diese  neue  An- 
weisung gehalten,  die  sonst  gar  nicht  bekannt  gegeben  worden 
ist,  nicht  einmal  den  Ministerien  und  Oberpräsidien.  Zur  ge- 
rechten Beurteilung  der  Kommissionsleistungen  bedarf  es  um 
so  mehr  auch  ihrer  Kenntnis.  Es  werden  damit  manche  Vor- 
würfe hinfällig,  die  später  der  Kommission  gemacht  worden 
sind,  z.  B.  selbst  unbilhgerweise  von  Eingeweihten,  daß  sie 
sich  nicht  genau  nach  §  16  Satz  2  ihrer  Instruktion  an  die 
einzelnen  Gesetzesbestimmungen  Paragraph  für  Paragraph  ge- 
halten habe-),  vgl.  dagegen  unten  Nr.  4,  eine  offenbar  viel 
richtigere,  ja  wohl  die  einzig  praktisch  durchführbare  Bestim- 
mung, aus  der  dann  die  abschließenden  Gutachten  der  Kom- 
mission hervorgegangen  sind. 

Darum  erscheint  es  mir  angemessen,  sogleich  hier  auch 
schon  diese  späteren  Anweisungen  mitzuteilen.  Dieselben  sind 
jedoch  nicht  so  scharf  ausgearbeitet  und  in  fester  Vorschriften 

')  Die  betreffenden  Vorgänge  ergeben  sich,  übereinstimmend  von  der 
Berliner  und  von  der  Cölner  Seite,  aus  den  Akten  des  Geheimen  Staatsarchivs 
zu  Berlin,  R.  74  E  IX  Nr.  1  a  Vol.  I  u.  fg.  einerseits,  den  Akten  der  Immediat- 
Justiz-Kommission  auf  dem  Staatsarchiv  zu  Düsseldorf  Nr.  71  andererseits. 

^)  Protokoll  über  eine  Konferenz,  abgehalten  zu  Cöln  am  9.  Sep- 
tember 1818,  zvnschen  Hardenberg,  Bejme.  Eichhorn  und  Daniels,  in  den 
Akten  des  Geheimen  Staatsarchivs  zu  Berlin.  E.  841  Nr.  121,  Band  2  fol,  118^p. 


184  Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Komm.  für  die  Eheini.  1816. 

Form  redigiert  wie  die  Instruktion,  sondern  schlagen  mehr  den 
Ton  einer  erläuternden  Belehrung  an.  Sie  erstrecken  sich  durch 
mehrere  Erlasse  Hardenbergs  an  die  Kommission,  sind  aber 
wesentlich  enthalten  und  zusammengefaßt  in  dem  Erlasse  vom 
30.  März  1817^).  Ich  beschränke  mich  deshalb  darauf,  einen 
Auszug  zu  geben,  der  mit  Eichhorns  eigenen  Worten  das 
Wesentliche  aufzählt;  ich  benutze  dabei  einen  solchen  Auszug, 
der  für  Beyme  auf  dessen  Ministerium  aus  Hardenbergs  zu 
diesem  Zwecke  vorübergehend  dorthin  entliehenen  Akten  her- 
gestellt worden  ist  2). 

1.  Das  Allg.  L.R.  und  die  Allg.  G.O.  sollen  eingeführt  werden,  jedoch  mit 
den  nöthigen  Modificationen. 

2.  Nene  Gesetze  sollen  ihrem  Wesen  nach  nicht  aufgestellt  werden,  sondern 
es  ist  bei  jeder  Materie  nur  zu  fragen,  ob  unsere  Gesetze  nur  ver- 
ändert eingeführt  werden  können,  oder  ob  das  bisherige  fi-anzösische 
Recht  beizubehalten,  oder  eine  frühere  Rechtsgewohnheit  wiederherzu- 
stellen sei. 

3.  Neue  Bestimmungen  sind  nur  zu  dem  Ende  nothwendig,  wo  etwas  aus 
dem  bisherigen  französischen  Rechtssystenie.  oder  wo  eine  alte  Rechts- 
gewohnheit in  das  System  unserer  materiellen  Gesetze  oder  unseres 
äußeren  gerichtlichen  Verfahrens  aufgenommen  werden  soll. 

4.  Die  Vergleichung  zwischen  dem  französischen  und  unserm  Rechte  ist 
nicht  in  einzelnen  Vorschriften,  sondern  hauptsächlich  nur  auf  ganze 
Rechtsmaterien,  Institute  und  allgemeine  Rechtsverhältnisse  zu  richten; 
es  ist  bloß  zu  prüfen,  ob  das  ganze  Rechtsinstitut  nach  französischen, 
oder  nach  unsern  Gesetzen  festzusetzen;  wo  letztere  im  allgemeinen 
passen,  soll  man  an  Einzelheiten  nicht  mäckeln. 

5.  Da  das  Publicationspatent  des  Allg.  L.R.  mannigfaltiges  Provinzialrecht 
Bupponirt  und  rücksichts  dessen  nur  subsidiarisch  sein  soll,  der  Code 
Napoleon  das  Provinzialrecht  aber  gänzlich  (?)  verdrängt  hat,  so  ist  bei 
jeder  Rechtsmaterie  die  Frage  aufzuwerfen: 

a)  Ist  das  Institut  selbst  oder  das  allgemeine  Rechtsverhältniß  an  sich 
auch  nach  der  französischen  Rechtsverfassung  vorhanden  und  ent- 
hält letztere  darüber  specielle  Vorschriften? 

Dann  bleibt  es  überall  bei  unsern  Gesetzen  und  es  kömmt  auf 
die  etwaigen  bessern  Bestimmungen  und  schärfern  Begi'iffsfest- 
setzungen  nicht  an.  Nur  wenn  die  besondern  abweichenden  Vor- 
schriften des  fi-anzösischen  Rechts  ein  auch  äußerer  Verfassung  an- 
gehöriges Institut  oder  Rechtsverhältniß  im  Lelien  eigenthümlich 
gebildet  haben,  so  daß  auch  selbst  für  die  Zukunft  eine  Abänderung 
nach  dem  Bilde  unsrer  Verfassung  ohne  gewaltsame  Willkühr  für 
Sitten  u.  Geist  des  Volks  nicht  geschehen  kann,  —  wird  dies  einen 
Punkt  vorzüglicher  Erwägung  und  Begutachtung,  was  künftig  ge- 
schehen soll,  für  die  Commission  abgeben. 


*)  Berlin  R.  74  R  IX,  la,  Bd.  2  fol.  207  fg.,  Düsseldorf  Nr.  71  fol.  32  fg. 
')  Berliner  Geh.  Staatsarchiv,  R.  84  I  Nr.  50. 


Landsberg,  Instruktion  d.  Immediat-Justiz-Konim.  für  die  Rheinl.  1816.   185 

b)  Wenn  das  Institut  dem  französischen  Rechtssysteme  fi'emd  ist,  so 
entsteht  die  Frage,  ob  von  der  Seite  unsere  Gesetze  gar  nicht  ein- 
zuführen sind,  oder  in  welcher  Art  dies  zulässig  sein  kann. 

c)  Wo  die  französischen  Gesetze  im  materiellen  Rechte  ein  unserer 
Rechtsverfassung  ganz  unbekanntes  positives  Rechtsinstitut  oder 
Verhältniß  aufgestellt  hätten,  würde  dasselbe,  in  so  fern  es  bereits 
Wurzeln  geschlagen  hätte,  und  der  von  ihm  handelnde  Inhalt  des 
Code  Napoleon  im  Verhältniß  eines  Provinzial-Particularrechts  bei- 
zubehalten sein. 

6.  Was  nach  der  Publication  des  AUg.  L.R.  bis  zum  Jahre  1806  in  dem 
materiellen  Rechte  wirklich  geändert  oder  neu  geschaffen  worden  ist, 
geschah  nur  hin  und  wieder,  in  Beziehung  auf  einzelne  Provinzial- 
verfassungen,  in  der  Regel  nicht  für  den  gesamten  Preußischen  Staat 
und  dessen  gemeinschaftliches  Recht.  Erst  seit  dem  Jahre  1806  nahm 
auch  bei  uns  die  Gesetzgebung  eine  auf  das  Ganze  materiell  einwirkende 
und  abändernde  centrale  Tendenz,  deshalb  würden  alle  seitdem  bei 
uns  erschienenen  Gesetze  in  gleicher  Art,  wie  das  Allg.  L.R.  überhaupt, 
mit  der  französischen  Gerichtsverfassung  zu  vergleichen  sein. 

7.  Wo  hierbei  einzelne  Rechtsmaterien  mehr  in  das  öffentliche  Recht, 
als  in  das  bürgerliche  im  engern  Sinne  einschlagen,  ist  mit  den  Re- 
gierungen eine  nähere  Communication  zu  eröffnen  und  deren  Gutachten 
zu  erfordern. 

8.  Jedes  Mitglied  der  Commission,  welchem  bei  der  allgemeinen  Ver- 
theilung  besondere  Rechtsmaterien  zugefallen  sind,  wird  vor  allen 
Dingen  damit  anfangen  müssen,  beiderlei  Rechtssysteme  hierüber  genau 
zu  vergleichen  und  für  sich,  abgesehen  von  weitern  Materialien,  ein 
Urtheil,  was  für  die  Zukunft  bestimmt  in  Vorschlag  zu  bringen  sei, 
sich  so  deutlich  als  möglich  zu  bilden  haben.  Erst  hiedurch  wird  das 
Mitglied  der  ganzen  Umarbeitung  mächtig  und  kann  nun  erst  mit 
Nutzen  über  Zweifel  und  Bedenken  Erkundigung  einziehen,  fremde 
Meinungen  um  Rath  fragen  und  hiernächst  seine  unter  solchen  Vor- 
bereitungen vollendete  Arbeit  zur  Mitberathung  der  übrigen  Mitglieder 
der  Commission  gelangen  lassen  und  einen  Schluß  behufs  des  definitv 
zu  erstattenden  Gutachtens  veranlassen. 


Zum  Stand  der  politischen  Probleme 

Zusammenfassende  und  vergleichende  Übersichten 


Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten 

Von  Dr.  Paul  S.  Reinsch 

Nach  dem  für  die  amerikanische  auswärtige  Politik  folgenschweren 
Kriege  von  1898  sollte  es  nicht  lange  währen,  bis  sich  die  Folgen  der  neuen 
Weltstellung  der  Vereinigten  Staaten  auch  in  der  chinesischen  Politik  offen- 
barten. Gerade  während  des  Krieges,  durch  welchen  die  Amerikaner  in  den 
Besitz  der  Philippinen  gelangten,  brach  in  China  jene  energische  und  schnelle 
Bewegung  durch,  welche  zum  Ziel  hatte,  das  durch  seine  schwache  Regierung 
entkräftete  China  unter  europäische  Kuratel  zu  bringen,  und  zwar  in  der 
Form,  daß  jede  der  großen  Nationen  in  einem  besonderen  Teile  Chinas  ihre 
Interessen  zu  entwickeln  trachtete.  Schon  in  den  frühen  Jahren,  als  der 
diplomatische  Verkehr  zwischen  China  und  der  Außenwelt  anfing,  hatten  sich 
die  Vereinigten  Staaten  zugunsten  der  Unverletzlichkeit  des  Reichsgebiets 
und  der  allgemeinen  Handelsfreiheit  darin  ausgesijrochen.  An  diese  Tradi- 
tionen knüpfte  Staatssekretär  Hay  im  Jahre  1899  wieder  an.  Es  war  klar, 
daß  den  Vereinigten  Staaten  aus  dem  Vorgehen  der  europäischen  Mächte  in 
China  in  der  Zukunft  bedeutender  Schaden  erwachsen  könnte.  Obwohl 
Amerika  durch  den  Ozean  in  enge  Nachbarschaft  mit  China  gebracht  ist  und 
ein  blühender  Handel  zwischen  den  beiden  Ländern  sich  ganz  natürlich  ent- 
wickeln würde,  so  könnten  doch  diesen  engen  Beziehungen  bedeutende  Hinder- 
nisse in  den  Weg  gelegt  werden,  sollte  es  den  europäischen  Mächten  ge- 
lungen sein,  das  Chinesische  Reich  wirklich  aufzuteilen  und  in  ihren  Kolonial- 
kreis hineinzuziehen.  Man  glaubte  zwar  in  Amerika  nicht  ernstlich  an  die 
Möglichkeit  einer  dauernden  Unterjochung  Chinas,  doch  fürchtete  man,  daß 
ein  Versuch  der  Aufteilung  zu  ernsten  Kämpfen  und  großer  Verbitterung 
führen  würde.  Unter  allen  Umständen  aber  schien  es  weise,  den  ökono- 
mischen Resultaten  einer  solchen  Aufteilung  von  Anfang  an  entgegenzutreten. 

So  leitete  Staatssekretär  Hay  einen  Notenaustausch  mit  den  anderen  Regie- 
rungen ein,  welcher  sich  mit  der  Erhaltung  der  Handelsfreiheit  befaßte.  Da 
in  dieser  Korrespondenz  ganz  klar  dargelegt  wird,  was  unter  der  „Politik 
der  offenen  Tür"  zu  verstehen  sei,  so  lohnt  es  sich  wohl,  die  Fassung,  welche 
der  Staatssekretär  seinen  Vorschlägen  gab,  etwas  näher  zu  betrachten.  Er 
instruierte  die  Gesandten  der  Vereinigten  Staaten  an  den  Höfen  der  Groß- 
mächte, womöglich  Zusicherung  zu  den  folgenden  Punkten  zu  erwirken: 


f 


Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten.  187 

1.  Daß  die  betreffende  Macht  in  keiner  Weise  auf  einen  Vertragshafen 
oder  auf  rechtUch  l)egriindete  Interessen  in  ihrer  Interessensphäre  oder 
in  einem  Landstrich,  welcher  ihr  in  China  mietweise  übertragen  worden 
ist,  störend  einwirken  wird. 

2.  Daß  der  chinesische  Vertragszoll  auf  alle  Waren  angewendet  werden 
soll,  welche  eingetührt  werden  in  Häfen,  die  innerhalb  dieser  Inter- 
essensphäre liegen  (sie  seien  denn  Freihäfen),  gleichgültig,  welcher 
Nation  sie  gehören  mögen;  daß  femer  solche  Zölle  durch  die  chine- 
sische Regierung  selbst  eingezogen  werden. 

3.  Daß  die  betreffende  Macht  verspricht,  von  Schiffen  einer  anderen  Na- 
tion, welche  in  einen  Hafen  ihrer  Interessensphäre  einlaufen,  keine 
höheren  Hafengebühren  zu  erheben  als  von  Schiffen  ihrer  eigenen 
Staatsuntertanen,  noch  auf  Eisenbahnen,  welche  in  ihrer  Interessen- 
sphäre gebaut  und  verwaltet  werden,  höhere  Frachtsätze  zu  verlangen 
von  Waren  der  Untertanen  anderer  Staaten,  als  von  Waren  gleicher 
Art,  welche  ihren  eigenen  Staatsuntertanen  gehören. 

So  wollte  man,  war  die  politische  Einheit  Chinas  nicht  absolut  zu 
retten,  wenigstens  verhindern,  daß  die  ökonomische  Einheit  sofort  zerstört 
und  die  verschiedenen  Teile  Chinas  in  handelspolitischer  Hinsicht  zu  An- 
hängseln dieser  oder  jener  Großmacht  ausgebildet  würden.  Der  Vorschlag 
des  Staatssekretärs  fand  im  ganzen  eine  günstige  Aufnahme.  Die  verschie- 
denen Regierungen  erklärten  sich  bereit,  bei  der  Aufrechterhaltung  der  an- 
gedeuteten Prinzipien  mitzuwirken.  Nur  Rußland,  auf  dessen  Handlungs- 
weise in  der  ganzen  Angelegenheit  ja  so  viel  ankam,  gab  seiner  Antwort 
eine  ausweichende  und  zweideutige  Form.  Obgleich  man  es  nicht  erreicht 
noch  versucht  hatte,  die  Erklärung  in  einen  formellen  Vertrag  zusammen  zu 
fassen,  so  war  es  doch  gelungen,  die  großen  Mächte  zu  einer  öffentlichen 
Stellungnahme  zu  bewegen,  die  der  ökonomischen  Einheit  des  Chinesischen 
Reichs  günstig  war,  die  somit  in  einem  gewissen  Sinne  ein  Gegengewicht 
darstellte  zu  den  Bestrebungen,  welche  auf  die  politische  Aufteilung  Chinas 
hinzielten. 

Als  im  Jahre  1900  die  erregten  Massen  Chinas  sich  in  aufrührerischer 
Form  zuerst  gegen  die  eigene  Regierung,  dann  aber  gegen  die  Fremden  im 
Lande  wandten,  wurde  es  für  die  Vereinigten  Staaten  nötig,  zum  Schutz 
ihrer  eigenen  Gesandtschaft  mit  den  anderen  Mächten  zusammen  zu  wirken. 
Der  amerikanische  Gesandte  schloß  sich  in  den  Vorstellungen,  welche  bei 
der  chinesischen  Regierung  gemacht  wurden,  seinen  europäischen  Kollegen 
an  und  erhielt  auch  von  seiner  Regierung  die  Erlaubnis,  an  diesem  gemein- 
samen Vorgehen  teilzunehmen.  Es  war  aber  immerhin  für  die  Regierung  in 
"Washington  schwer,  sich  zu  einer  Handlungsweise  zu  entschließen,  welche 
den  amerikanischen  Traditionen  über  Nichteinmischung  in  überseeische  An- 
gelegenheiten entgegenzulaufen  schien.  So  erhielt  auch  der  Kommandant  des 
amerikanischen  Geschwaders  vor  Taku  den  Befehl,  sich  aller  positiven  Demon- 
strationen zu  enthalten;  er  nahm  daher  nicht  teil  an  der  Beschießung  der 
Forts.  Nur  als  es  sich  um  den  Entsatz  der  Gesandtschaften  und  ihres  mili- 
tärischen Schutzes  handelte,  entzogen  sich  die  Amerikaner  nicht  ihrem  Anteil 
an  diesem  Unternehmen  und  der  damit  verbundenen  Verantwortlichkeit. 

Am  3.  Juli  1900  richtete  die  Regienmg  der  Vereinigten  Staaten  ein 
Rundschreiben  an  die  Mächte,  in  welchem  sie  ihre  Stellungnahme  zur  chine- 
sischen Krisis  erklärte.  Die  Regierung  unterschied  scharf  zwischen  den 
Nordprovinzen,    welche    ganz    und   gar   von   der  Anarchie  überflutet  waren, 


188  Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten. 

und  dem  Süden  und  Südosten  des  Eeichs;  sie  sah  in  den  Gouverneuren  der 
letztgenannten  Provinzen  rechtmäßige  Vertreter  des  chinesischen  Volkes,  mit 
welchem  Friede  und  Freundschaft  aufrecht  zu  erhalten  sei.  Die  Absichten 
der  Regierung  bezweckten  nicht  einen  Krieg  gegen  China,  sondern  die 
Rettung  der  belagerten  Gesandtschaften,  das  Verhindern  des  Umsichgreifens 
der  Anarchie  und  den  Schutz  des  Lebens  und  Eigentums  von  Amerikanern 
in  China.     Die  Note  schloß  mit  den  Worten: 

,.Es   ist  der  Vorsatz   der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten,  eine 
Lösung   der   Schwierigkeiten   zu    suchen,    welche    dauernde    Sicherheit 
und  Frieden   für  China   erwirken  kann,   die   Land-    und  Verwaltungs- 
einheit Chinas  zu  erhalten,  alle  vertragsmäßig  und  völkerrechtlich  zu- 
gestandenen Rechte  der  verschiedenen  Nationen  zu   schützen  und  das 
Prinzip  der  Handelsfreiheit  und  Gleichheit   in  allen  Teilen  des  chine- 
sischen Reichs  für  die  ganze  Welt  aufrecht  zu  erhalten." 
So  wurde   auch  hier   das   Prinzip   der   Einheit   des  Chinesischen  Reichs 
und   der  Aufrechterhaltung   der   allgemeinen   Rechte    der   Nationen   in   China 
von  neuem  betont  und  den  anderen  Regiervmgen  anempfohlen. 

Während  der  Verhandhmgen,  welche  nach  der  Unterdrückung  der  Auf- 
stände zum  Zwecke  der  Regulierung  der  Beziehungen  Chinas  zu  den  Mächten 
vorgenommen  wurden,  versuchten  es  die  Vereinigten  Staaten  auch  weiter, 
gegen  die  Schwächung  und  eventuelle  Aufteilung  des  Chinesischen  Reichs  zu 
wirken.  Dem  Ansinnen  Rußlands,  von  China  auf  Grund  einer  angeblich 
bevorzugten  Stellung  in  der  Mandschurei  besonders  günstige  Vertragsrechte 
zu  erlangen,  stellten  sich  die  Vereinigten  Staaten  entgegen  und  unterstützten 
die  Bewegung  für  ein  einheitliches  Vorgehen  in  den  Verhandlungen.  Als 
die  Frage  der  Entschädigungssummen  zur  Sprache  kam,  wirkte  der  ameri- 
kanische Vertreter  darauf  hin,  die  Ansprüche  möglichst  zu  mildern  und  im 
ganzen  das  Maß  der  damaligen  Zahlungsfähigkeit  Chinas  nicht  zu  überschreiten, 
damit  das  Chinesische  Reich  nicht  mit  einer  Schuld  belastet  würde,  die 
einen  Staatsbankerott  mit  der  darauffolgenden  Kuratel  seitens  der  Mächte  un- 
vermeidlich mache.  Die  amerikanische  Regierung  machte  geltend,  daß  es 
besser  sei,  für  die  Zukunft  sichere  Garantien  der  fremden  Rechte  und  Immuni- 
täten zu  gewinnen  und  ganz  besonders  die  weitere  Eröffnung  Chinas  für 
den  Handel  der  ganzen  Welt  auf  gleichem  Fuße  zu  bewirken.  Die  Stellung- 
nahme der  Vereinigten  Staaten  vor  und  während  dieser  großen  Krise  machte 
auf  das  chinesische  Volk  und  seine  Regierung  den  Eindruck  der  Gerechtigkeit 
und  Hilfsbereitschaft,  und  es  ist  darauf  namentlich  das  gi-oße  Vertrauen 
zurückzuführen,  welches  seither  fast  immer  den  Vereinigten  Staaten  von 
selten  des  chinesischen  Volkes  entgegengebracht  worden  ist.  Dies  Gefühl 
wurde  noch  dadurch  verstärkt,  daß  im  Jahre  1907  die  Vereinigten  Staaten 
über  die  Hälfte  ihres  vertragsmäßigen  Anspruchs  auf  Schadensersatz  dem 
Chinesischen  Reich  erließ.  Es  ist  diese  Handlungsweise  oft  so  hingestellt 
worden,  als  ob  sie  sozusagen  einer  Bestechung  Chinas  durch  die  Amerikaner 
gleichkäme;  man  hätte  sich  durch  diese  12  Millionen  Dollars  auf  leichte  Weise 
die  Freundschaft  Chinas  sichern  wollen,  und  es  sei  im  Grunde  genommen 
eine  Handelsanlage  gewesen.  Es  verhält  sich  jedoch  anders.  Das  Geld  wurde 
zurückbezahlt,  weil  alle  Unkosten  und  alle  gerechtfertigten  Ansprüche  einzelner 
gedeckt  worden  waren  und  man  es  einfach  für  recht  und  billig  hielt,  China 
den  Überschuß  zurück  zu  erstatten,  so  wie  es  von  einem  Bankier  erwartet  wird. 
Als  in  den  nun  folgenden  drei  Jahren  Rußland  auf  jede  Weise  ver- 
suchte,   seine  Stellung  in   der  Mandschurei  zu  befestigen,  und  sich  dabei  in 


I 


Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten.  189 

seiner  gewohnten  Weise  gegen  die  Rechte  anderer  ziemlich  rücksichtslos 
verhielt,  unterstützten  die  Vereinigten  Staaten  gemeinsam  mit  Japan  die 
chinesische  Regierung  in  ihren  Versuchen,  gegen  den  russischen  Einfluß  an- 
zukämpfen. Es  mußte  wohl  zugegeben  werden,  daß,  obgleich  der  amerikanische 
Handel  in  Mandschurien  durch  die  definitive  Besetzung  der  Provinzen  seitens 
Rußlands  schwer  leiden  würde,  doch  das  Interesse  des  amerikanischen  Volkes 
an  dieser  Angelegenheit  nicht  genügend  stark  war,  um  es  zu  bewegen,  seine 
Regierung  bis  zu  einem  bewaffneten  Vorgehen  zu  unterstützen.  Bis  zu 
diesem  Grade  hatte  sich  das  Interesse  Amerikas  doch  noch  nicht  heraus- 
gebildet. Die  Regierung  mußte  es  daher  versuchen,  soviel  als  möglich  durch 
diplomatische  Mittel  die  Wirkung  der  russischen  Politik  zu  dämpfen.  Die 
große  Aufgabe,  den  Vormarsch  Rußlands  effektiv  aufzuhalten,  fiel  seiner 
natürlichen  Lage  wegen  auf  Japan,  solange  China  selbst  noch  nicht  imstande 
war,  seine  Rechte  und  seinen  Besitz  wirksam  zu  verteidigen.  Gerade  vor 
dem  Ausbruch  des  großen  ostasiatischen  Krieges  hatten  es  die  Vereinigten 
Staaten  und  Japan  noch  erreicht,  daß  von  China  drei  mandschurische  Städte, 
Antung,  Tatuug-Kau  und  Mukden,  dem  Handel  aller  Nationen  geöffnet  wurden. 
Auf  diese  Weise  wurde  es  versucht,  der  gänzlichen  Verschlingimg  des 
mandschurischen  Handels  durch  Rußland  ein  Hindernis  in  den  Weg  zu 
stellen.  Da  aber  der  Krieg  nun  anfing,  weigerte  sich  Rußland,  Konsuln  der 
Vereinigten  Staaten  in  diesen  Städten  zuzulassen. 

Während  des  Krieges  war,  wie  bekannt,  die  Sympathie  des  amerikanischen 
Volkes  größtenteils  auf  der  Seite  Japans.  Es  hatte  dies  verschiedene  Gründe. 
Für  Japan  schien  der  Krieg  ein  ihm  aufgedrungener  Kampf  um  das  Leben 
selbst  zu  sein,  während  er  für  Rußland  nur  ein  Abenteuer  der  Spekulation 
bedeutete;  man  war  daher  dem  kleinen  angegriffenen  Volke  günstiger  ge- 
sinnt als  der  Regierung  des  ungeheuren  Landes,  welche  durch  rücksichts- 
loses Vorgehen  den  Kampf  heraufbeschworen  hatte.  In  Japan  sah  man  über- 
dies den  fähigen  Schüler  Europas  und  Amerikas,  der  sich  die  Einrichtungen 
der  westlichen  Zivilisation  zum  Muster  genommen  hatte.  Für  die  Wertung 
des  japanischen  Lebens  hatten  die  Schriften  des  Lafcadio  Hearne  unter 
dem  amerikanischen  Volke  einen  bedeutenden  Einfluß  ausgeübt;  die  feine, 
gemütstiefe  Seite  der  alten  japanischen  Zivilisation  war  von  ihm  in  einer 
so  poesievollen  Weise  beschrieben  worden,  daß  in  das  ganze  Leben  Japans 
ein  idealer  Geist  hineingelegt  wnirde.  Alle  Beziehungen  zwischen  Amerika 
und  Japan  hatten  damals  eine  für  das  letztere  Land  günstige  Richtung  an- 
genommen. Die  glänzenden  Erfolge  Japans  zur  See  und  zu  Land  erweckten 
in  Amerika  große  Freude;  man  sah  in  ihnen  den  Beweis  der  Tüchtigkeit 
der  von  Japan  übernommenen  westlichen  Zivilisation  gegenüber  der  barba- 
rischen Rückständigkeit  Rußlands. 

Als  Präsident  Roosevelt  eine  Friedenskonferenz  in  Vorschlag  brachte, 
glaubte  man  in  Amerika  allgemein,  daß  dies  ein  voreiliger  Schritt  sei,  da 
man  Japan  Zeit  lassen  wolle,  die  Mandschurei  gänzlich  von  Rußland  zu  be- 
freien und  so  den  Zweck  des  Krieges  zu  erreichen.  Man  hatte  aber  bei 
dieser  Kritik  die  Sachlage  doch  wohl  nicht  richtig  erfaßt,  denn  Rußland  war 
trotz  aller  seiner  Niederlagen  nicht  in  dem  Maße  geschwächt  worden,  daß  es 
Japan  nicht  eine  bedeutende  Anstrengung  gekostet  hätte,  seinen  Gegner  auch 
nur  noch  um  ein  Geringes  weiter  zurück  zu  drängen.  Die  Friedenskonferenz 
von  Portsmouth  trat  also  zusammen,  und  es  gebührt  Roosevelt  nicht  nur  das 
Verdienst,  diese  vorgeschlagen  zu  haben,  sondern  er  trug  auch  in  hohem 
Maße  zu  ihrem  Gelingen  bei  durch  die  beständigen  Verhandlungen,  die  er 
sowohl  mit  Rußland  als  mit  Japan  führte. 


190  Rein  seh,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten. 

Schon  während  der  Konferenz  zeigte  sich  ein  gewisser  Umschwung  der 
öffentlichen  ]^[einung  in  Amerika.  Es  war  ganz  natürlich,  daß  Japan,  der 
Sieger,  der  Oberherr  von  Korea,  der  Besitzer  der  südmandschurischen  Eisen- 
bahn, der  Nachfolger  Rußlands,  nicht  nriehr  auf  so  ungeteilte  Sympathie 
rechnen  konnte,  als  das  bedrängte,  für  das  eigene  Leben  kämpfende  Land. 
Auch  waren  die  Russen  in  der  Wahl  ihres  Vertreters  in  Portsmouth  glück- 
lich gewesen.  Die  starke,  interessante  Persönlichkeit  des  Grafen  Witte  impo- 
nierte und  gefiel  dem  amerikanischen  Volk.  Auch  wußte  er  sich  auf  einen 
sehr  guten  Fuß  mit  den  Zeitungen  zu  stellen,  während  die  Zurückgezogenheit 
und  Schweigsamkeit  des  Grafen  Komura  fast  abstoßend  wirkte.  Es  war  eine 
jener  Lagen,  wo  eine  einzelne  Persönlichkeit  einen  starken  Eindruck  machen 
konnte.  Es  kann  nun  keineswegs  mit  Recht  gesagt  werden,  daß  das  ameri- 
kanische Volk  plötzlich  Japan  seine  Sympathie  gänzlich  entzog  —  am  Ende 
war  der  Unterschied  kein  so  bedeutender  — ;  jedoch  war  es  nicht  zu  ver- 
neinen, daß  der  Enthusiasmus,  den  man  während  des  Krieges  gefühlt  hatte, 
jetzt  etwas  abgeschwächt  war,  und  man  der  Tätigkeit  und  den  Plänen  Japans 
etwas  kühler  gegenüberstand.  Japan  war  ja  auch  gar  nicht  der  Sympathie 
besonders  bedürftig,  sondern  stani  vor  der  Welt  siegreich,  ein  mächtiger 
Rivale  im  Handel  und  im  politischen  Einfluß. 

In  den  Jahren,  die  nun  folgen,  schien  es  manchmal,  als  könne  eine  ernst- 
liche Verschlechterung  der  Beziehungen  zwischen  Japan  und  den  Vereinigten 
Staaten  eintreten.  Dies  war  namentlich  der  Fall,  als  das  Volk  in  den  west- 
lichen Staaten  anfing,  gegen  die  Einwanderung  von  Japanern  stark  Opposi- 
tion zu  machen  und  den  schon  Eingewanderten  auf  nicht  immer  freundliche 
Weise  entgegenzutreten.  So  wurde  in  Kalifornien  der  Versuch  gemacht,  Sonder- 
schulen für  Japaner  einzurichten,  sowie  Maßregeln  einzuführen,  durch  welche 
der  Grunderwerb  imd  die  Geschäftstätigkeit  der  Japaner  behindert  worden 
wären.  Die  japanische  Regierung  beklagte  sich  bei  der  amerikanischen,  und 
es  entspann  sich  nun  ein  Streit  der  Kompetenzen  zwischen  letzterer  und  dem 
Staat  Kalifornien.  Die  Staatsregierung  stellte  sich  smi  den  Standpunkt,  daß  die 
Verwaltung  des  Schulsystems  ganz  ihre  Sache  sei  und  daß  sie  es  für  ange- 
messen halte,  die  \ielfach  erwachsenen  japanischen  Schüler  aus  Erziehungs- 
rücksichten von  den  übrigen  zu  trennen.  Präsident  Roosevelt,  welcher  sich 
der  Sache  in  eigener  Person  angenommen  hatte,  nahm  den  Rechtsstandpunkt 
der  Japaner  ein,  dieselbe  Behandlung  zu  beanspruchen,  welche  den  Ange- 
hörigen anderer  Vertragsnationen  gewährt  wird;  man  könne  nur  alle  Aus- 
länder aus  den  öffentlichen  Schulen  ausschließen,  gegen  eine  einzelne  Nation 
sei  ein  solcher  Schritt  nicht  zulässig.  Die  Kalifornier  warfen  nun  die  ganze 
Frage  der  japanischen  Einwanderung  auf  imd  machten  deutlich,  daß 
die  Einführung  großer  Massen  von  Japanern  zu  ernstlichen  Störungen  führen 
müsse,  da  sich  unter  diesen  Umständen  unbedingt  eine  Fehde  zwischen 
den  weißen  und  den  japanischen  Arbeitern  entspinnen  würde.  Präsident 
Eoosevelt  wirkte  jetzt  seinerseits  auf  die  japanische  Regierung  ein  und 
stellte  ihr  die  Gefahren  einer  uneingeschränkten  Einwanderung  japanischer 
Arbeiter  vor.  Die  Gegensätze,  über  welche  man  hier  verhandelte,  sind  so 
unleugl)ar,  daß  wenn  man  auch  ihr  Dasein  bedauert,  man  doch  in  der  Politik 
und  im  Leben  mit  ihnen  rechnen  muß.  So  erklärte  sich  denn  die  japanische 
Regierung  bereit,  aus  freien  Stücken  und  mit  ihren  eigenen  Mitteln  der  un- 
angenehmen Situation  abzuhelfen,  indem  sie  dem  Abgeben  von  Pässen  an 
Arbeiter,  welche  nach  Amerika  auswandern  wollten,  ein  Ende  machte.  Dies 
war  für  sie  umso  leichter,  als  die  Unternehmungen  Japans  auf  dem  asiatischen 


[ 


Rein  seh,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten.  191 

Festlande  Menschenkräfte  beanspruchen  und  daher  auf  diese  Weise  für  alle 
Arbeiter  Beschäftigung  gefunden  werden  kann.  Von  seiten  Amerikas  wurden 
nun  alle  Maßregeln,  welche  den  Japanern  unrechtmäßig  erschienen,  rück- 
gängig gemacht  oder  auf  die  Seite  geräumt.  Obgleich  dieser  Konflikt  manch- 
mal bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  gegenseitiger  Bitterkeit  Anlaß  gab,  so 
wurde  seine  Bedeutung  seitens  der  europäischen  Presse  stark  übertrieben. 
Man  sprach  von  einem  unvermeidlichen  Kriege  zwischen  den  beiden  Ländern 
und  ließ  sich  dabei  durch  ganz  allgemeine  Konstruktirmen  und  oberflächliche 
Andeutungen  irreleiten.  Weder  für  die  Vereinigten  Staaten  noch  für  .Japan 
lag  eine  Frage  vor,  deren  Wichtigkeit  einen  Krieg  möglich  gemacht  haben 
könnte.  Daß  Vorfälle,  die  an  sich  unbedeutend  waren,  und  mit  denen  tat- 
sächlich die  Diplomatie  auch  sehr  gut  fertig  wurde,  eine  Zeitlang  so  stark 
die  Aufmerksamkeit  der  Welt  auf  sich  zogen,  mag  bis  zu  einem  gewissen 
Maße  der  Gewandtheit  der  japanischen  Diplomatie  zugeschrieben  werden. 
Von  ihrem  Standpunkte  aus  war  es  zu  wünschen,  daß,  während  sie  ihre 
Stellung  in  der  Mandschurei  befestigte,  die  Aufmerksamkeit  der  Welt  und 
namentlich  der  Vereinigten  Staaten  nach  einer  anderen  Stelle  hingezogen 
würde. 

Die  unangenehmen  Zwischenfälle,  die  wir  soeben  besprochen  haben, 
hinterließen  jedoch  weder  in  den  Vereinigten  Staaten  noch  in  Japan  eine 
dauernde  Mißstimmung.  Als  der  Handelsvertrag  von  1911  abgeschlossen 
wurde,  wiederholte  die  japanische  Regierung  in  einer  durch  ihren  Gesandten 
abgegebenen  gleichzeitigen  Note  die  Versicherung,  daß  sie  bereit  sei,  die 
Beschränkung  und  Kontrolle  der  Einwanderung  von  Arbeitern  nach  den 
Vereinigten  Staaten  mit  derselben  Wirksamkeit  aufrecht  zu  erhalten  und  aus- 
zuüben, mit  welcher  sie  es  in  den  letzten  3  Jahren  getan  habe. 

Während  die  Schulangelegenheit  zwischen  Japan  und  den  Vereinigten 
Staaten  verhandelt  wurde,  fuhren  die  Japaner  emsig  fort,  die  ihnen  durch 
den  Krieg  gegebene  Stellung  in  Südmanschurien  auszunutzen  und  zu  festigen. 
Zwar  waren  sowohl  von  Rußland  als  auch  von  Japan  Erklärungen  abgegeben 
worden  zugunsten  der  Erhaltung  der  chinesischen  Oberherrlichkeit  und  der 
Handelsfreiheit  in  Mandschurien.  Sn  hatten  beide  Mächte  schon  in  dem 
Vertrag  von  Portsmouth  versprochen,  Mandschurien  mit  Ausnahme  derLiaotung- 
Halbinsel  gänzlich  zu  räumen  und  die  ausschließliche  Verwaltung  durch 
China  in  allen  Teilen  Mandschuriens  wieder  herzustellen.  Beide  verpflichteten 
sich  auch,  gegen  allgemeine  Maßregeln,  welche  China  im  Interesse  aller  Länder 
zum  Zweck  der  Entwicklung  des  Handels  und  der  Industrie  in  Mandschurien 
einleiten  würde,  nicht  hindernd  einzuschreiten.  Wörtlich  ausgelegt  und  in 
ihrem  Zusammenhange  mit  den  übrigen  Vertragsabmachungen  angesehen, 
würden  diese  Versprechen  die  Stellung  Japans  und  Rußlands  beschränken 
auf  ein  Recht  an  den  gemieteten  Eisenbahnen  bis  zu  dem  Jahre  1923  und 
1939,  zu  welcher  Zeit  auf  Grund  der  Verträge  die  Bahnen  von  China  wieder 
zurückgekauft  werden  können.  In  dem  V^ertrag  zwischen  China  und  Japan, 
welcher  im  Jahre  1905  abgeschlossen  wurde,  war  die  Eröffnung  von  12  weiteren 
Städten  für  den  internationalen  Handel  vorgesehen;  auch  diese  Maßregel 
schien  dazu  geeignet  zu  sein,  China  vor  der  Abbröckelung  seiner  Provinzen 
zu  schützen. 

Jedoch  auf  der  anderen  Seite  war  für  Japan  durch  seinen  Besitz  von 
Liaotung  und  der  südmandschurischen  Bahn  eine  bedeutende  Vorrechtsstellung 
geschaffen.  Man  braucht  nun  Japan  nicht  des  Vertragsbruchs  oder  auch  nur 
einer  betrügerischen   Diplomatie   zu   bezichtigen,   wenn  man   sagt,   daß   die 


192  Eeinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten. 

japanische  Eegierung  und  die  japanischen  Handeltreibenden  von  ihrer  Stellung 
in  Mandschurien  den  ausgiebigsten  Gebrauch  machten.  Die  Ansiedlungs- 
fi'eiheit  in  den  neueröffneten  Handelsstädten  kam  an  und  für  sich  schon  am 
meisten  den  Japanern  zugute,  und  der  Besitz  der  Eisenbahn  gab  ihnen  einen 
kontrollierenden  Einfluß  auf  den  mandschurischen  Handel.  Daß  es  unter 
solchen  Umständen  leicht  dahin  kommen  konnte,  daß  bei  aller  äußerlichen 
Wahrung  der  chinesischen  Oberhoheit  und  der  gemeinsamen  Handelsfreiheit 
aller  Völker  sich  doch  tatsächlich  die  Herrschaft  Japans  sowohl  auf  dem 
ökonomischen  wie  dem  politischen  Gebiete  erweitern  und  befestigen  konnte, 
ist  leicht  zu  verstehen.  Wenn  sich  nun  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten 
auf  den  Standpunkt  strikter  Auslegung  der  Verträge  stellte  und  deren  Inne- 
haltung sowohl  Japan  als  Rußland  gegenüber  vertrat,  so  verfolgte  sie  hier 
nur  ihre  ursprüngliche  Politik,  in  welcher  die  Sicherheit  des  amerikanischen 
und  des  ganzen  auswärtigen  Handels  schon  immer  mit  der  Integrität  Chinas 
aufs  engste  verbunden  gewesen  war.  Vor  seinem  Austritt  aus  dem  Amt  als 
Staatssekretär  hatte  Root  mit  dem  japanischen  Gesandten  Takahira  einen  Noten- 
austausch (30.  November  1908),  in  welchem  beiderseits  die  Verteidigung  des 
Prinzips  der  gleichen  Handelsfreiheit  und  der  Unabhängigkeit  und  Einigkeit 
des  chinesischen  Reichs  als  grundlegend  bezeichnet  wurde  und  man  sich  im 
nötigen  Fall  Untei'stützung  in  der  Erhaltung  dieses  Status  quo,  im  Sinne  der 
gegenseitigen  Verständigung  über  anzuwendende  Mittel,  versprach.  Während 
dieser  Jahre  handelten  die  Konsuln  der  Vereinigten  Staaten  unter  der  In- 
struktion, die  Rechte  amerikanischer  Handeltreibender  gegen  irgend  eine 
Auslegung  der  V^ ertrage  zu  schützen,  durch  welche  es  seitens  Rußlands  oder 
Japans  versucht  werden  könnte,  eine  nur  der  wirklichen  Regierung  des 
Landes  zukommende  Kontrolle  auszuüben.  So  protestierte  man  gegen  die 
versuchte  Besteuerung  von  ausländischen  Einwohnern  in  Harbin  durch  die 
russische  Verwaltung. 

Als  Knox  sein  Amt  als  Staatssekretär  angetreten  hatte,  verfolgte  er  die- 
selbe Politik  in  noch  entschiedenerer  Weise,  indem  er  im  Dezember  1909  die 
Welt  dadurch  in  Erstaunen  setzte,  daß  er  den  Rückkauf  und  die  Neutra- 
lisierung der  mandschurischen  Eisenbahn  vorschlug.  China  sollte  mit  dem 
ihm  von  den  sechs  Großmächten  geborgten  Gelde  die  Bahn  zurückkaufen, 
welche  dann  unter  internationaler  Kontrolle  verwaltet  worden  wäre  mit  der 
Bedingung,  daß  sie  nicht  zu  militärischen  Zwecken  benutzt  werden  sollte. 
Wäre  dieser  Plan  durchführbar  gewesen,  so  hätte  er  ja  gewiß  eine  Lösung 
der  mandschurischen  Schwierigkeiten  dargestellt,  denn  man  hätte  dann  weder 
an  der  Aufrechterhaltung  der  chinesischen  Oberhoheit,  noch  an  dem  Schutze 
der  allgemeinen  Handelsfreiheit  zweifeln  können,  und  somit  wären  auch  die 
Gefahren  kriegerischer  Zuspitzungen,  welche  die  Situation  in  sich  trägt,  aus 
der  Welt  geschafft  worden.  Hätten  sich  Rußland  und  Japan  wirklieb  nur 
als  zeitweilige  Verwalter  der  mandschurischen  Eisenbahnen  angesehen,  so 
hätte  es  ihnen  ja  auch  nicht  unangenehm  sein  können,  dieses  verantwortungs- 
volle Unternehmen  für  einen  guten  Preis  sofort  an  China  zu  übertragen.  Da 
sie  aber  keineswegs  bereit  waren,  auf  den  Plan  des  amerikanischen  Staats- 
sekretärs einzugehen,  so  machten  sie  schon  dadurch  ihre  eigene  Anschauung 
der  Stellung,  die  sie  in  Mandschurien  einnehmen,  klar.  Die  V'orzüge,  welche 
sie  sich  durch  die  Verausgabung  großer  Summen  und  den  Verlust  vieler 
Menschen  erworben  hatten,  wollten  sie  nicht  aufgeben.  Das  konnte  also  nur 
heißen,  daß  diesen  zwei  Regierungen  daran  gelegen  war,  ihre  Interessen 
in  Mandschurien  in  jeder  Hinsicht  von  dem  Standpunkt   einer  tatsächlichen 


Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten.  193 

Vorrechtstellung  aus  zu  entwickeln.  Sie  schlössen  nun  auch  am  4.  Juli  1910 
einen  Vertrag,  in  dem  sie  sich  gegenseitige  Unterstützung  in  der  Verteidigung 
ihrer  Interessen  versprachen.  Durch  all  diese  Vorgänge  wurde  es  der  Welt 
klargemacht,  daß  die  Situation  gänzlich  davon  abhänge,  in  welchem  Maße  die 
chinesische  Regierung  erstarken  und  sich  die  Macht  verschaffen  würde,  die 
eigenen  Rechte  in  Maudschurien  wirksam  zu  wahren  und  zu  verteidigen. 

Da  Rußland  und  Japan  versprochen  hatten,  keiner  Unternehmung  Chinas 
für  die  Entwicklung  des  Handels  und  der  Industrie  in  Mandschurien  Hinder- 
nisse in  den  Weg  zu  legen,  mit  der  einzigen  Ausnahme,  daß  es  China  nicht 
gestattet  sein  solle,  in  Südmandschurien  eine  der  japanischen  parallel  laufende 
Eisenbahn  zu  bauen,  so  versuchte  die  amerikanische  Regierung  nun,  China 
in  dem  Bau  einer  Bahn  vom  Golf  von  Petchile  durch  die  östliche  Mongolei, 
durch  die  Nordprovinz  Mandschuriens  bis  nach  Aigum  am  Amurflusse  zu 
unterstützen.  Diese  Bahn  würde  die  russische  Linie  in  Tsitsihar  kreuzen,  käme 
aber  nicht  direkt  als  Parallele  der  japanischen  Bahn  in  Südmandschurien  in 
Betracht.  Gegen  dieses  Unternehmen,  in  welchem  China  dm-ch  amerikanisches 
und  britisches  Kapital  oder,  wenn  es  angebracht  erscheinen  würde,  auch  das 
noch  anderer  Länder  unterstützt  werden  sollte,  legten  die  in  Mandschurien 
ansässigen  Jlächte  ihre  Verwahrung  ein.  Rußland  opponierte  besonders  stark 
und  erklärte  kurzweg,  daß  die  Erbauung  einer  solchen  Bahn  mit  seinen  eigenen 
Interessen  in  Nordmandschurien  nicht  vereinbar  sei.  Über  die  Natur  dieser 
Interessen  gab  es  keine  eingehende  Erklärung  ab.  So  war  auch  hier  der 
Plan  der  amerikanischen  Regierung  vereitelt  worden,  obgleich  er  keineswegs 
über  die  Vertragsrechte  Chinas  in  seinem  eigenen  Lande  hinausging. 

Es  war  ganz  natürlich,  daß  die  Stellungnahme  der  Vereinigten  Staaten 
in  der  mandschurischen  Angelegenheit  in  China  selbst  großen  Beifall  erregte. 
Denn  obgleich  es  nicht  gelungen  war,  die  spezifischen  Vorschläge  durchzu- 
führen, so  hatte  man  doch  einen  Protest  registriert  gegen  die  allmähliche 
Besitznahme  Mandschuriens  durch  Rußland  und  Japan,  und  hatte  so  dazu 
beigetragen,  die  Rechte  Chinas  am  Leben  zu  erhalten.  Der  Stellung  der  Ver- 
einigten Staaten  wurde  trotz  des  zeitweiligen  Mißerfolgs  dadurch  eine  gewisse 
moralische  Autorität  verliehen,  daß  sie  von  Anfang  ihrer  Beziehungen  mit 
China  an  eine  einfache  Politik  konsequent  und  ohne  plötzlichen  Wechsel  durch- 
geführt hatten.  So  kam  es,  daß  China  in  den  Vereinigten  Staaten  seinen 
besten  Freund  erblickte,  und  obgleich  es  sich  nicht  der  Hoffnung  hingeben 
durfte,  daß  die  Vereinigten  Staaten  in  der  Verfolgung  ihrer  Politik  auch 
nachdi'ücklichere  Mittel  anwenden  würden,  es  sei  denn,  daß  sie  in  ihren 
Rechten  direkt  angegriffen  werden  sollten,  so  war  diese  Politik  doch  für 
China  eine  Ermutigung,  wenigstens  in  der  diplomatischen  Führung  der  Ge- 
schäfte und  in  der  Vindikation  seiner  Rechte,  die  Hilfe  und  Zustimmung  der 
Vereinigten  Staaten  zu  haben. 

Mittlerweile  war  auch  das  chinesische  Nationalgefühl  sehr  erstarkt. 
Nach  dem  ersten  tumultartigen  Ausbruch  in  den  Jahren  vor  1900  hatte  sich 
nun  schon  eine  Klärung  der  Ideen  vollzogen,  und  man  wurde  sich  der  nationalen 
Zwecke  und  Ziele  immer  mehr  bewußt.  Es  war  merkwürdig,  daß  es  gerade 
die  Vereinigten  Staaten  waren,  gegen  die  sich  das  Erwachen  der  nationalen 
Empfindungen  Chinas  zuerst  richtete.  Im  Jahre  1906  wurde  ein  Boykott  über 
amerikanische  Waren  verhängt.  Es  hatte  dies  seinen  Grund  darin,  daß  die 
intelligenten  Kreise  Chinas  und  namentlich  die  aus  dem  Westen  zurückge- 
kehrten Studierenden  empört  waren  über  die  Behandlungsweise,  welche  die 
Einwanderungsbehörden  der  Vereinigten  Staaten  den  Chinesen  angedeihen 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  13 


194  Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten. 

ließen.  Durch  ein  Gesetz  der  Vereinigten  Staaten  wurde  die  Einwanderung 
von  chinesischen  Arbeitern  verboten,  und  nur  Studierende,  Reisende  undHandel- 
treibende  durften  zugelassen  werden.  In  der  Ausführung  dieses  Gesetzes 
zeigten  sich  die  Beamten  häufig  sehr  rücksichtslos  gegen  Chinesen  der  besseren 
Klassen,  welchen  sie  bei  der  Landung  in  Amerika  große  Schwierigkeiten  und 
Unannehmlichkeiten  verursachten.  Wenn  schon  die  Ausschließung  von  chine- 
sischen Arbeitern  an  sich  den  Chinesen  nicht  annehmbar  schien,  so  waren  sie 
erst  recht  gereizt  durch  die  Schärfe  des  amerikanischen  Verfahrens  gegen 
jene,  welche  selbst  unter  diesem  Gesetz  das  Recht  hatten,  Amerika  zu  be- 
suchen. Um  gegen  diese  Illiberalität  wirksam  Einsprache  zu  erheben,  hatte 
man  den  Boykott  organisiert,  und  er  fügte  auch  in  der  Tat  dem  amerika- 
nischen Handel  erheblichen  Schaden  zu.  Die  Dauer  dieser  Bewegung  war 
allerdings  nicht  lang;  der  amerikanische  Gesandte  in  Peking  wurde  bei  der 
Regierung  vorstellig,  und  diese  tat  alles  mögliche,  um  den  Boykott  zu  vinter- 
drücken.  Aber  noch  wirksamer  als  die  Bemühungen  der  Regierung  war  der 
Haß,  der  nun  aufs  neue  in  China  gegen  Japan  aufflammte.  Die  Politik 
der  Erweiterung  der  japanischen  Interessen  in  Mandschurien  hatte  sich  zu 
dieser  Zeit  ziemlich  klar  offenbart,  und  China  sah  in  dem  Vordringen  der 
japanischen  Macht  eine  Gefahr,  die  die  Einheit  des  Reichs  bedrohte.  So  ver- 
gaß man  die  Sünden  der  Amerikaner  und  warf  sich  mit  Wucht  in  die  anti- 
japanische Bewegung,  welche  nachhaltiger  war  als  die  erste,  denn  die  drohende 
Gefahr  stand  immer  klar  vor  Augen. 

Im  Jahre  1907  machte  Taft,  der  damals  Kriegssekretär  war,  auf  seiner 
Orientreise  einen  Besuch  in  China.  In  den  öffentlichen  Reden,  welche  er  bei 
dieser  Gelegenheit  hielt,  sprach  er  mit  warmen  Worten  über  das  Erwachen 
des  Nationalgefühls  in  China  und  gab  großen  Hoffnungen  auf  das  Erstarken 
der  chinesischen  Nation  Ausdruck.  Dadurch,  daß  er  es  als  ein  ganz  natürliches 
Ziel  darstellte,  daß  China  im  eigenen  Hause  Herr  sein  wolle,  erregte  er  zwar 
das  starke  Mißfallen  der  in  den  fremden  Ansiedelungen  wohnenden  Handels- 
leute, aber  dafür  erntete  er  das  Freundschaftsgefühl  Chinas.  Als  die  ameri- 
kanische E'lotte  den  Orient  besuchte,  machte  sie  auch  in  den  chinesischen 
Gewässern  einen  Besuch;  es  wurde  nur  bedauert,  daß  sich  der  Empfang  so- 
wie der  Besuch  selbst  wegen  gewisser  Versehen  nicht  so  glänzend  gestaltete 
wie  es  in  Japan  der  Fall  gewesen  war.  Es  wurde  nur  ein  Teil  der  Flotte 
gesandt,  und  dieser  besuchte  nur  die  Hafenstadt  Amoy. 

Bald  darauf  war  den  Vereinigten  Staaten  nochmals  Gelegenheit  ge- 
geben, China  einen  guten  Dienst  zu  erweisen.  Der  erwachende  Nationalgeist 
nahm  an  nichts  stärkeren  Anstoß  als  an  dem  Übel  des  Opiumgenusses,  das 
die  Kraft,  ja  sogar  das  Leben  des  Volkes  zu  bedrohen  schien.  Die  Vereinigten 
Staaten  hatten  schon  vormals  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  China  in  den 
Versuchen  unterstützt,  sich  des  Übels  zu  erwehren.  Jetzt  galt  es  darum,  dem 
Opiumimport  entgegen  zu  wirken,  was  nur  durch  die  Gewinnung  der  in- 
dischen Regierung  für  die  Sache  gründlich  bewerkstelligt  werden  konnte. 
Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  schlug  die  Abhaltung  einer  Konferenz 
vor,  welche  dann  auch  im  Dezember  1909  in  Shanghai  zusammentrat  und 
auf  welcher  die  Mächte  des  Fernen  Ostens  vertreten  waren.  Es  wurde  das 
Opiumübel  vom  internationalen  Standpunkt  aus  besprochen  und  verschiedene 
Beschlüsse  im  Hinblick  auf  gemeinsames  Vorgehen  und  gegenseitige  Unter- 
stützung in  der  Unterdrückung  des  Handels  wurden  gefaßt.  Diese  Kon- 
ferenz hatte  das  Resultat,  daß  wieder  auf  Anregung  des  amerikanischen  Staats- 
sekretärs eine  diplomatische  Konferenz  über  dieselbe  Angelegenheit  zusammen- 


Eeinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten.  195 

gerufen  wurde,  welche  im  Jahre  1912  im  Haag  tagte.  Mittlerweile  war  es  auch 
China  gelungen,  mit  der  britischen  Regierung  einen  Vertrag  abzuschließen, 
um  eine  rasche  Verminderung  des  Opinmimports  aus  Indien   herbeizuführen. 

Im  Jahre  1909  begannen  die  Vereinigten  Staaten  sich  auf  die  regste 
Weise  für  die  großen  Eisenbahnunternehmen  in  China  zu  interessieren.  Es 
handelte  sich  um  die  zur  Erbauung  der  Linien  von  Hangkau-Kanton  und  Hangkau- 
Szechuan  nötigen  Anleihen.  Schon  im  Jahre  1905  hatten  Verhandlungen 
wegen  der  letzteren  Bahn  mit  einem  amerikanischen  Syndikat  stattgefunden. 
Das  Interesse  der  Amerikaner  war  aber  damals  noch  nicht  stark  genug,  und 
sie  hatten  das  Unternehmen  nicht  aufgenommen;  der  amerikanische  Gesandte 
hatte  aber  das  Versprechen  erhalten,  daß  den  Vereinigten  Staaten  immer 
Gelegenheit  gegeben  werden  solle,  sich  an  den  auswärtigen  Eisenbahnanleihen 
Chinas  zu  beteiligen.  Es  gelang  nun  zuerst  dem  deutschen  Syndikat,  einen 
Anleihevertrag  mit  China  zuwege  zu  bringen;  aber  als  dies  bekannt  wurde, 
drang  auch  England  auf  Berücksichtigung,  und  nach  langen,  schwierigen  Ver- 
handlungen hatte  man  sich  im  Mai  1909  geeinigt,  daß  eine  Anleihe  von 
ö'/o  Millionen  £  durch  die  Syndikate  Großbritanniens,  Deutschlands  und  Frank- 
reichs geliefert  werden  sollten.  Als  das  Geschäft  soeben  tatsächlich  abge- 
schlossen werden  sollte,  erschienen  plötzlich  zum  Mißvergnügen  der  anderen 
drei  Mächte  die  Vereinigten  Staaten  auf  der  Bildfläche  und  verlangten  nun 
auch  ihren  Anteil  an  dem  Unternehmen.  Obgleich  die  Amerikaner  sich  versj^ätet 
hatten,  holten  sie  das  Versäumte  durch  besondere  Energie  ein;  denn  Präsi- 
dent Taft  hielt  die  Angelegenheit  für  so  wichtig,  daß  er  direkt  ein  persönliches 
Kabeltelegramm  an  den  Regenten  des  Chinesischen  Reichs  schickte,  indem  er 
ihn  ersuchte,  den  Vereinigten  Staaten  auf  Grund  des  gegebenen  Versprechens 
ihren  Anteil  einzuräumen.  Die  chinesische  Regierung  hielt  so  viel  auf  ein 
gutes  Einvernehmen  mit  den  Vereinigten  Staaten,  daß,  obgleich  sie  ja  hätte 
vorgeben  können,  die  Sache  sei  leider  schon  abgeschlossen,  sie  doch  die 
ganzen  Verhandlungen  wieder  eröffnete.  Diese  zogen  sich  nun  noch  eine 
geraume  Weile  hin,  und  erst  am  20.  Mai  1911  kam  der  endgültige  Vertrag 
zustande  zwischen  China  und  den  vier  Mächten.  Es  sollten  6  Millionen  £ 
geliehen  werden  auf  Sicherheit  der  Eisenbahn-  und  Zolleinnahmen  in  den 
betreffenden  Provinzen.  An  der  Lieferung  von  Materialien  und  technischen 
Kräften  sollten  die  vier  Länder  gleichen  Anteil  haben. 

Die  Handlungsweise  der  Vereinigten  Staaten  in  dieser  Angelegenheit 
ist  dadurch  zu  erklären,  daß  die  Regierung  es  eingesehen  hatte,  daß  An- 
leihen, für  welche  Steuern  als  Sicherheit  dienen  sollten  und  welche  eine 
gewisse  Überwachung  der  Verwaltung  mit  sich  brachten,  leicht  einen  poli- 
tischen Charakter  gewinnen  können,  wenn  nicht  von  Anfang  an  darauf  ge- 
sehen würde,  daß  sie  im  Sinne  der  strengsten  Parität  der  gemeinsamen 
Interessen  aller  Nationen  und  der  vollständigen  Wahrung  der  chinesischen 
Oberhoheit  geleitet  würden.  Nur  wenn  alle  großen  Mächte,  die  ein  Interesse 
am  Handel  Chinas  haben,  sich  an  solchen  Anleihen  beteiligen  oder  beteiligen 
würden,  kann  dem  allgemeinen  Interesse  in  China  eine  konkrete  und  dauernde 
Form  gegeben  werden.  Es  ist  daher  das  einheitliche  Zusammenwirken  der 
großen  Mächte  auf  dem  finanziellen  Gebiet  in  China  die  Lösung  der  Frage, 
wie  man  die  zur  Entwicklung  des  Landes  nötigen  Anleihen  mit  Sicherheit 
des  Chinesischen  Reichs  gegen  Aufteilungsversuche  verbinden  kann.  Daher 
war  auch  den  Vereinigten  Staaten  sehr  daran  gelegen,  daß  Rußland  und 
Japan  an  den  Anleiheverhandlungen,  durch  die  im  Jahre  1912  der  neuen 
Regierung  Mittel  geschaffen  werden  sollten,  teilnahmen. 

13* 


196  Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  vmd  der  Ferne  Osten. 

Schon  seit  langer  Zeit  hatten  sich  die  Vereinigten  Staaten  besonders 
für  die  Währungsreform  in  (^hina  interessiert.  Man  hatte  in  den  Philippinen 
mit  der  Einführung  einer  stabilen  auf  Goldwerten  beruhenden  Silberwährung 
so  gute  Erfahrungen  gemacht,  daß  man  glaubte,  die  Schwierigkeiten  Chinas 
würden  sich  auf  diese  Weise  leicht  lösen  lassen.  Im  Jahre  1907  hatte  eine 
amerikanische  Kommission  als  Berater  der  chinesischen  Eegierung  das  Geld- 
wesen untersucht  und  Vorschläge  zur  Einführung  einer  einheitlichen  Währung 
gemacht.  Aber  obgleich  in  manchen  Provinzen  Verbesserungen  eingeführt 
worden  waren,  so  fehlte  es  doch  immer  noch  an  Mitteln,  um  einem  nationalen 
Geldsystem  eine  sichere  Basis  zu  geben.  So  fanden  Verhandlungen  statt 
zwischen  der  chinesischen  Regierung  und  einem  amerikanischen  Syndikat 
betreffs  einer  Anleihe  von  50  ]\Iillionen  Dollars,  welche  größtenteils  zum 
Zwecke  der  Währungsreform  verwendet  werden  sollte.  Der  endgültige  Ab- 
schluß eines  Vertrages  wurde  durch  den  Ausbruch  der  Unruhen  von  1911 
verhindert.  Aber  schon  vorher  hatte  die  amerikanische  Eegierung  vor- 
geschlagen, daß  auch  dieser  Anleihe  ein  internationaler  Charakter  gegeben 
werden  solle.  Die  Angelegenheit  mündete  unter  der  neuen  Regierung  aus  in 
die  Anleiheverhandlungen  mit  den  sechs  großen  Mächten. 

Die  Unruhen,  welche  in  China  im  Jahre  1911  ausbrachen  und  welche 
bald  zur  Abdankung  des  mandschurischen  Kaiserhauses  und  der  Errichtung 
einer  chinesischen  Republik  führten,  unterbrachen  die  diplomatischen  Ver- 
handlungen betreffs  Weiterentwicklung  der  chinesischen  Eisenbahnen,  der 
Industrie  und  der  Mitwirkung  auswärtigen  Ki  nitals.  Während  dieses  Krieges 
wurde  oft  die  Furcht  ausgesprochen,  daß  eines  oder  das  andere  der  in  China 
interessierten  Länder  die  Gelegenheit  dazu  benutzen  möchte,  seine  Interessen 
auf  Kosten  der  chinesischen  Souveränität  weiter  zu  entfalten.  Die  Regierung 
der  Vereinigten  Staaten  befürwortete  eine  Politik  der  strengen  Neutralität 
und  der  Nichteinmischung,  solange  auswärtige  Rechte  nicht  direkt  verletzt 
würden,  damit  es  dem  chinesischen  Volke  gestattet  sei,  die  Lebensfragen  des 
Reichs,  an  sich  schwierig  genug,  ungestört  zu  lösen.  Im  Verein  mit  der 
deutschen  Regierung  regte  sie  eine  dieser  Politik  günstige  Erklärung  seitens 
der  großen  Mächte  an.  Auf  diese  Weise  durch  die  öffentliche  Meinung  der 
Welt  geschützt,  gelang  es  China  nach  verhältnismäßig  leichten  Kämpfen  eine 
neue  rechtliche  Regierung  ins  Leben  zu  rufen. 

Die  republikanische  Regierung  Chinas  hatte  jedoch  gleich  von  Anfang 
an  mit  großen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen.  Um  die  Reform  des  Staats- 
und Verwaltungswesens  in  allen  Teilen  der  Eegierung  gründlich  durchführen 
zu  können,  benötigte  sie  größerer  Mittel,  als  die  Steuern  einbrachten.  Es 
war  nun  schon  vorher  von  der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  vor- 
geschlagen worden,  daß  es  China  gestattet  werden  sollte,  seine  Einfuhrzölle 
zu  erhöhen;  aber  in  dieser  Sache  war  es  bei  dem  Vorschlage  geblieben.  Da 
es  für  die  chinesische  Regierung  zu  einer  Lebensfrage  wurde,  sich  Mittel  zu 
verschaffen,  wurden  Anfang  1912  Verhandlungen  wegen  einer  großen  aus- 
wärtigen Anleihe  begonnen.  Die  Eegierung  der  Vereinigten  Staaten  hatte 
in  ähnlichen  Angelegenheiten  ja  immer  das  Prinzip  der  allgemeinen  Teil- 
nahme der  großen  Mächte  an  solchen  Anleihen  vertreten.  Jetzt,  als  die 
Verhandlungen  begannen,  waren  Rußland  und  Japan  zuerst  nicht  geneigt, 
mit  den  anderen  Mächten  gemeinsame  Sache  zu  machen.  Vielmehr  wollten  sie 
auf  Grund  ihrer  Spezialinteressen  in  China  mit  der  chinesischen  Regierung 
Sonderabkommen  treffen.  Die  harmonische  und  einheitliche  Handlungsweise 
der  übrigen  vier  Mächte  hatte  jedoch  auf  sie  ihren  Einfluß,  und  sie  entschieden 


Kein  seh,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten.  197 

sich  nun  auch,  an  den  gemeinsamen  Verhandhingen  teil  zu  nehmen.  Da  sich 
die  chinesische  Regierung  sehr  gegen  die  Einrichtung  einer  wenn  auch  be- 
schränkten internationalen  Finanzkontrolle  sträubte,  ist  es  im  Sommer  1912 
noch  nicht  zu  einem  endgültigen  Vertrag  gekommen. 

In  vielen  Hinsichten  trug  die  nationale  Bewegung  der  Jahre  1911  und 
1912  dazu  bei,  die  freundlichen  Beziehungen  zwischen  China  und  den  Ver- 
einigten Staaten  noch  zu  verstärken.  Da  das  chinesische  Volk  das  fremde 
Herrscherhaus  nicht  mehr  dulden  wollte,  entschied  es  sich  für  die  Form  der 
Republik  und  nahm  sich  dabei  die  föderative  Republik  der  Vereinigten  Staaten 
zum  Muster.  Dr.  Sun  Yatsen,  der  große  Organisator  der  Bewegung,  hat 
lange  Zeit  in  den  Vereinigten  Staaten  gelebt,  ist  mit  den  Verhältnissen  dort 
vertraut  und  kann  im  ganzen  als  ein  Bewunderer  des  amerikanischen  Staats- 
wesens angesehen  werden.  Diese  Zugi-undelegung  der  Verfassungsform  der 
Vereinigten  Staaten  für  die  Neuerungen  in  China  wirkte  im  Sinne  einer 
weiteren  Annährung  zwischen  den  beiden  Völkern. 

Hierzu  trug  noch  die  Tatsache  bei,  daß  in  den  letzten  Jahren  eine 
große  Zahl  junger  Chinesen  in  den  Vereinigten  Staaten  ihre  Bildung  ge- 
nossen hatten.  Schon  seit  einiger  Zeit  hatte  die  chinesische  Regierung  Stu- 
denten nach  Amerika  geschickt,  und  viele  waren  auch  aus  eigenem  Antriebe 
gekommen,  weil  sie  das  Erziehungswesen  in  den  Vereinigten  Staaten  als  für 
ihre  Zwecke  sehr  praktisch  erkannten.  Als  im  Jahre  1909  die  Vereinigten 
Staaten  an  China  die  Hälfte  der  Schadenersatzsumme  von  1900  zurücker- 
stattete, wurde  dieses  Geld  größtenteils  als  ein  Kapital  verwendet,  von  dessen 
Einkommen  noch  mehr  chinesische  Studenten  nach  Amerika  geschickt  wurden. 
In  den  amerikanischen  Universitäten  werden  die  jungen  Chinesen  mit  großer 
Freundlichkeit  aufgenommen,  sie  nehmen  dort  ihre  Stellung  inmitten  des 
Studentenlebens  ein,  und  es  stehen  ihnen  alle  erzieherischen  sowie  auch  gesell- 
schaftlichen Gelegenheiten  offen. 


Wenn  nach  dieser  kurzen  Übersicht  über  die  Beziehungen  der  Ver- 
einigten Staaten  zum  Fernen  Osten  wir  uns  nun  die  Grundlinien  der  ameri- 
kanischen Stellung  auf  diesem  Gebiet  vergegenwärtigen,  so  treten  gewisse 
Elemente  der  Schwäche  sowie  auch  der  Stärke  klar  hervor.  Die  Vereinigten 
Staaten  haben  keinen  Landbesitz  in  China  oder  an  dessen  Grenzen.  Rußland 
dagegen  ist  in  direkter  Greuznachbarschaft  mit  China  und  hat  schon  hier- 
durch seine  natürlichen  Interessen  im  Fernen  Osten.  Japan  hat  sich  nun 
auch  durch  seine  Oberherrschaft  in  Korea  und  den  Besitz  von  Liaotung  das 
kontinentale  Interesse  in  Asien  erworben,  und  im  Süden  grenzen  Frankreich 
und  Großbritannien  mit  ihren  indischen  Besitzungen  an  das  Reich  der  Mitte 
an.  Ob  für  Deutschland  der  Besitz  von  Kiautschou  eine  Stärkung  bedeuten 
wird,  darüber  kann  man  sich  jetzt  noch  nicht  ganz  klar  sein,  jedoch  gibt  er 
jedenfalls  der  deutschen  Regierung  auch  den  Vorteil  des  direkten  Kontinental- 
interesses. Von  all  diesen  Vorzügen  zur  Geltendmachung  ihrer  Macht  haben 
die  Vereinigten  Staaten  keine;  nur  indirekt  durch  den  Besitz  der  Philippinen 
wirken  sie  als  besitzende  Macht  auf  das  Geschick  des  Fernen  Ostens  ein. 
Allerdings  bildet  die  Inselkette,  welche  von  Amerika  nach  Asien  hinüberführt, 
einen  großen  Vorzug,  aber  doch  kommt  dies,  wenn  entscheidende  Fragen  auf 
dem  asiatischen  Kontinent  vorliegen,  nicht  dem  Landbesitz  gleich,  wie  sofort 
klar  wird,  wenn  man  sich  Großbritannien  mit  Malta,  Aden,  Sokotra  und 
Ceylon,    aber   ohne   Indien   denken   würde.     Die  Vereinigten   Staaten   haben 


198  Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten. 


diesen  Landbesitz  nie  gewollt  und  erwünschten  ihn  jetzt  so  wenig  als  je;  es 
ist,  im  ganzen  genommen,  von  ihrer  Stellung  aus  betrachtet  ja  ein  Vorzug, 
daß  sie  nicht  auf  diese  direkte  Weise  in  die  Fragen  des  Fernen  Ostens  ver- 
wickelt sind.  Jedoch  muß  man  auch  anerkennen,  daß  sie  dann  auch  in  der 
Geltendmachung  ihrer  Politik  zuweilen  einen  Vorteil  einbüßen,  weil  sie  nicht 
immer  von  einem  gegebenen  konkreten  Interesse  aus  sprechen  und  handeln 
können. 

Von  größerer  Wichtigkeit  aber  ist  die  Tatsache,  daß  das  Hauptinteresse 
der  Vereinigten  Staaten  in  auswärtigen  Angelegenheiten  sich  auf  den  eigenen 
Kontinent  bezieht  und  beziehen  muß.  Die  Erbauimg  des  Panamakanals,  das 
Zusammenwirken  mit  den  lateinischen  Republiken,  die  Hilfeleistung  bei  der 
Entwicklung  derjenigen  Staaten,  die  besonders  auf  den  Schutz  und  die  Unter- 
stützung der  Vereinigten  Staaten  angewiesen  sind,  die  Weiterbildung  der 
freundschaftlichen  Beziehungen  zu  dem  großen  Nordreich  Kanada,  all  diese 
Dinge  bergen  die  Hauptprobleme  der  amerikanischen  Diplomatie.  Dies  wird 
aiach  vom  ganzen  Volke  instinktiv  gefühlt.  Trotz  aller  Handelsaussichten 
wäre  es  schwer,  die  Politik  der  offenen  Tür  in  China  zu  einem  Schlachtruf 
der  Massen  zu  erheben;  aber  eine  Bedrohung  der  Monroedoktrin  braucht  nur 
angedeutet  zu  werden,  um  die  gi-ößte  Erregung  unter  dem  Volke  hervor- 
zurufen. 

In  den  allerletzten  Jahren  haben  die  Vereinigten  Staaten  einen  posi- 
tiven Rückgang  ihres  Handels  mit  dem  Fernen  Osten  und  namentlich  mit 
China  erleben  müssen.    Dies  tritt  aus  der  beigefügten  Tabelle  sehr  klar  hervor. 

Handel  der  Vereinigten  Staaten  mit  dem  Fernen  Osten. 

(In  lOüO  Dollars  ausgedrückt.) 

Export  nach: 


Honkong : 

Japan : 

China: 

1890 

4,434 

5,227 

2,943 

1895 

4,244 

4,559 

3,602 

1900 

8,475 

29,042 

15,213 

1903 

8,700 

20,820 

18,780 

1905 

10,755 

51,215 

53,301 

1906 

8,888 

41,315 

22,330 

1910 

6,422 

21,761 

16,252 

Import 

von: 

1890 

969 

21,103 

16,260 

1895 

776 

23,695 

20,545 

1900 

1,256 

32,748 

26,896 

1903 

1,359 

— 

26,648 

1905 

:          1,552 

51,821 

27,884 

1908 

2,129 

68,107 

26,020 

1910 

:          2,831 

66,398 

29,990 

Viele  Versuche  sind  gemacht  worden,  diese  Tatsachen  zu  erklären. 
Man  hat  davon  gesprochen,  daß  Japan  trotz  angeblicher  Unterstützung  der 
Handelsfreiheit  und  Einhaltung  der  Verträge  doch  seine  Stellung  in  Mand- 
schurien  ganz  einseitig  zur  Begünstigung  der  eigenen  Untertanen  benutzt 
hat,  und  leitet  hiervon  den  Rückgang  des  amerikanischen  Handels  in  Mand- 
schurien  und  in  weiterer  Folge  auch  im  übrigen  China  ab.  Auch  wird  der  Boykott 
von  1906  als  ein  Angriff  beschrieben,  von  dem  sich  der  amerikanische  Handel 


Reinscb,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten.  199 

noch  nicht  erholt  hat.  Jedoch  ist  es  klar,  daß  der  Handelsrückgang  andere 
Ursachen  als  diese  angeblichen  haben  muß.  Denn  wäre  nicht  eine  innere 
Schwäche  zu  finden,  so  könnte  sich  der  amerikanische  Handel  unter  dem 
Schutz  der  Verträge  jedenfalls  sogar  in  Mandschurien  halten,  und  die  Störung 
des  Boykotts  hätte  er  längst  überwunden.  Die  Ursache  ist  vielmehr  darin 
zu  suchen,  daß  es  dem  amerikanischen  Handel  fast  noch  gänzlich  an  einer 
wirksamen  Exportorganisation  fehlt.  Diejenigen  amerikanischen  Industrien, 
welche  in  Betracht  kommen,  sind  in  der  Anbringung  ihrer  Waren  noch  stark 
von  Handeltreibenden  anderer  Nationen  abhängig.  Sowohl  Großbritannien 
wie  Deutschland  haben  ihre  großen  Kommissionshäuser,  welche  gänzlich  mit 
dem  Vorgehen  vertraut  sind,  durch  das  man  neue  Gebiete  für  den  nationalen 
Handel  erwerben  könnte.  Dazu  kommt  noch  ein  Zusammenwirken  der  ver- 
schiedenen Exportindustrien  und  der  Nationalregierung,  welches  besonders 
stark  in  der  deutschen  und  japanischen  Handelsorganisation  hervortritt.  In 
Japan  besitzt  die  Regierung  die  Eisenbahn,  sie  subventioniert  die  Schiffahrts- 
gesellschaften und  Reedereien;  das  Bankwesen  ist  unter  ihrer  direkten  Kon- 
trolle, und  in  verschiedenen  Industrien,  wie  z.  B.  in  der  Eisenindustrie,  übt  sie 
sogar  einen  ausschlaggebenden  Einfluß.  In  der  Ausbildung  des  auswärtigen 
Handels  von  Japan  bewirkt  nun  die  Regierung  ein  Zusammenarbeiten  und 
gegenseitiges  Unterstützen  aller  dieser  Faktoren.  Nicht  genug  mit  der  Orga- 
nisation des  Verkaufs,  befördert  Japan  noch  namentlich  dadurch  den  aus- 
wärtigen Handel,  daß  es  einen  Markt  für  die  Produkte  seiner  Käufer  schafft. 
Durch  all  diese  Tatsachen  ist  das  bedeutende  Anwachsen  des  japanischen 
Handels  in  Mandschurien  zu  erklären.  Eine  so  geschlossene  Organisation 
der  Handels-  und  Industrieinteressen  zu  Exportzwecken  gibt  es  in  den  Ver- 
einigten Staaten  noch  nicht,  und  es  wird  sie  wohl  auch  für  lange  Zeit  nicht 
geben.  Einige  Ansätze  dazu  haben  sich  allerdings  gebildet.  So  sind  es 
namentlich  die  großen  Trusts,  die  Standard  Oil  Company,  der  Tabak  Trust 
und  die  Stahlgesellschaft,  welche  eine  eigene  Organisation  zur  Entwicklung 
ihres  auswärtigen  Handels  zu  bilden  angefangen  haben.  Gerade  die  Produkte 
des  Öl-  und  Tabaktrusts  haben  sich  auf  dem  Markt  des  Fernen  Ostens  ihre 
Stellung  erhalten  können,  obgleich  den  letzteren  natürlich  durch  üie  Schaffung 
des  japanischen  Tabakmonopols  der  Markt  in  Japan  versperrt  und  in  anderen 
Teilen  Asiens  scharfe  Konkurrenz  gemacht  wurde. 

Auch  die  amerikanischen  Bankinteressen  haben  erst  in  allerjüngster  Zeit 
angefangen,  auf  auswärtige  Anlagen  und  überseeischen  Handel  einzugehen. 
Die  Gesetze,  welche  die  National-  und  die  Staatsbanken  kontrollieren,  ent- 
halten betreffs  der  Anlage  der  Bankgelder  so  strenge  Vorschriften,  daß  sich 
diese  Banken  nicht  fi'ei  genug  fühlten,  um  an  auswärtigen  Geschäften  teilzu- 
nehmen; übrigens  fehlte  ihnen  dazu  auch  die  Organisation.  So  sind  es 
wieder  die  Banken,  welche  die  großen  Trustinteressen  vertreten,  wie  die 
National  City  Bank  und  die  National  Bank  of  Commerce,  sowie  einige  gi'oße 
Privatbankgesellschaften,  wie  Kuhn,  Lob  &  Co.  und  James  Speyer  &  Co., 
welche  sich  jetzt  für  die  Entwicklung  der  auswärtigen  finanziellen  Beziehungen 
interessieren.  Sie  betätigten  sich  in  der  Gründung  der  International  Banking 
Corporation,  der  ersten  auswärtigen  Bankgesellschaft  der  Vereinigten  Staaten. 
An  sie  wandten  sich  Präsident  Taft  und  Staatssekretär  Knox,  als  sie  Inter- 
essenten zur  Übernahme  der  zentralamerikanischen  Anleiben  und  zur  Teil- 
nahme an  der  chinesischen  Eisenbahnentwicklung  suchten.  Sie  senden  zur- 
zeit ihre  Vertreter  durch  Südamerika,  um  dort  die  Gründung  nordamerika- 
nischer Bankinstitute  vorzubereiten. 


200  Rein  seh,  Die  Vereinigten  Staaten  und  der  Ferne  Osten. 

Obgleich  nun  die  Teilnahme  dieser  großen  Interessen  an  der  Ent- 
wicklung des  auswärtigen  Handels  der  Vereinigten  Staaten  bei  der  jetzigen 
Lage  der  internationalen  Konkurrenz  absolut  nötig  ist,  so  bildet  doch  dies 
Zusammenwirken  der  Regierung  mit  groIJen  Finanzinteressen,  welches  ja 
auch  in  anderen  Ländern  stattfindet,  ein  Schauspiel,  das  in  Amerika  durchaus 
nicht  günstig  wirkt.  So  war  es  unmöglich,  für  die  Anleiheverträge  mit 
Honduras  und  Nigaragua  die  Zustimmung  des  Senats  zu  erhalten,  und  die 
auswärtige  Politik  der  Vereinigten  Staaten  ist,  seit  sie  sich  auf  diese  Weise 
des  Handels  angenommen  hat,  im  eigenen  Lande  der  schärfsten  Kritik  unter- 
worfen gewesen.  Man  vermutet  überall  eine  Ausbeutung  durch  die  großen 
Interessen  und  erst,  w^enn  im  Lande  selbst  das  Problem  der  Beziehungen  der 
großen  Organisationen  zum  Volke  und  zu  der  Regierung  auf  eine  zufrieden- 
stellende Art  gelöst  sind,  wird  man  ein  derartiges  Zusammenwirken  der 
Regierung  mit  kapitalistischen  Interessen  gutheißen.  Auch  gegen  die  Sub- 
ventionierung der  Schiffahrtsgesellschaften  herrscht  ein  weit  verbreitetes  Vor- 
urteil, weil  man  fürchtet,  den  schon  jetzt  bestehenden  gefräßigen  Interessen 
durch  eine  solche  Politik  noch  eine  weitere  hinzuzufügen.  Große  Eisenbahn- 
männer, wie  Harriman  und  Hill,  haben  sich  sehr  für  die  Entwicklung  des 
Handels  mit  dem  Fernen  Osten  interessiert  und  dessen  große  Wichtigkeit  dem 
Volke  dargelegt.  Aber  es  gelang  ihnen  nicht,  amerikanische  Schiffahrts- 
interessen auf  dem  Stillen  Ozean  aufi'echt  zu  erhalten  gegen  den  Wettbewerb 
Englands,  Deutschlands  und  Japans. 

Die  Tradition  der  Nichteinmischung  in  die  Angelegenheiten  fremder 
Völker  ist  auch  noch  im  amerikanischen  Staatswesen  und  unter  dem  Volke 
so  stark,  daß  sie  bei  einem  Versuch  der  Regierung,  die  Politik  zur  Unter- 
stützung von  Handelsinteressen  zu  gebrauchen,  noch  lange  Zeit  hindernd  ein- 
wirken wird. 

Wenn  wir  nach  der  Besprechung  dieser  Tatsachen,  welche  der  Politik 
der  Ausdehnung  des  amerikanischen  Handels  im  Femen  Osten  Hindernisse 
entgegensetzen,  nun  die  Vorzüge  in  der  Situation  der  Vereinigten  Staaten 
betrachten,  so  kann  man  wohl  sagen,  daß  sich  aus  gewissen  dieser  Schwächen 
eine  ausgleichende  Stärke  ergibt.  Ohne  durch  Landbesitz  in  Asien  Verwick- 
lungen ausgesetzt  zu  sein,  ist  doch  die  geographische  Lage  der  Vereinigten 
Staaten  und  ihrer  Besitzungen  eine  solche,  daß  sie  ihnen  eine  Nachbarschaft 
mit  China  und  Japan  gewährt,  der  nur  die  Landnachbarschaft  Rußlands 
gleichkommt.  Ist  der  Panamakanal  erst  vollendet,  so  können  von  beiden 
Küsten  der  Vereinigten  Staaten  Japan  und  China  leichter  erreicht  werden  als 
von  Europa.  Diese  von  der  Natur  bevorzugte  Stellung  gibt  den  Vereinigten 
Staaten  ein  direktes  und  fundamentales  Interesse  daran,  daß  China  dem 
Handel  der  Welt  offen  bleibt. 

Dies  macht  diese  Politik  der  Vereinigten  Staaten  geradeaus  und  einfach. 
Sie  ist  nicht  gezwungen,  sich  durch  Lokalinteressen  einmal  auf  diese,  dann 
wieder  auf  jene  Seite  einer  Bewegung  zu  stellen.  Ein  geeinigtes  China,  sich 
stark  entwickelnd,  Herr  in  seinem  eigenen  Lande,  welches  es  dem  Handel 
aller  Nationen  der  Welt  in  gleichem  Maße  offen  hält,  das  sind  die  Grund- 
gedanken der  amerikanischen  Politik.  Daher  kommt  es,  daß  diese  Politik 
nie  den  Charakter  oder  auch  nur  den  Anschein  eines  engen,  selbstsüchtigen 
Strebens  haben  kann.  Die  Vereinigten  Staaten  verteidigen  nicht  in  erster 
Linie  ein  Spezialinteresse,  sondern  sie  verlassen  sich  darauf,  daß  in  der  Ver- 
tretung eines  Interesses,  welches  den  meisten,  wenn  nicht  allen  Nationen  ge- 
meinsam ist,  eine  weise  und  haltbare  Politik  liegt.     Soweit  eine  Nation  ihre 


Reinsch,  Die  Vereinigten  Staaten  nnd  der  Ferne  Osten.  201 

Bestrebungen  in  China  mit  der  Entwicklung  des  allgemeinen  Welthandels 
und  der  Erstarkung  des  chinesischen  Staats-  und  Volkslebens  in  Einklang 
bringt,  kann  sie  auf  den  guten  Willen  und  die  Unterstützung  der  Vereinigten 
Staaten  vertrauen,  und  ihrerseits  erwarten  dieselben  wieder,  daß  in  der  Be- 
handlung der  Fragen  der  chinesischen  Politik  in  erster  Linie  die  Interessen 
des  gemeinsamen  Welthandels  und  des  großen  Reiches  selbst  beobachtet 
werden  mögen. 

Hieraus  erklärt  sich  auch  die  Stellungnahme  der  Vereinigten  Staaten 
gegenüber  der  Erstarkimg  des  chinesischen  Nationalgefühls.  Es  ist  eine  Tra- 
dition des  amerikanischen  Staatsgefühls,  den  Einheitsbestrebungen  großer 
Nationen  Sympathie  entgegen  zu  bringen.  So  begrüßte  man  die  Gründung 
des  Deutschen  Reichs  und  des  italienischen  Nationalstaates  mit  Beifall.  Mit 
Freude  würde  man  die  Errichtung  einer  starken,  verantwortungsvollen  Föde- 
ration der  zentral-amerikanischen  Republiken  sehen.  So  bringt  man  auch 
dem  Erwachen  des  chinesischen  Nationalgefühls  nicht  Befürchtungen,  sondern 
die  Hoffnungen  auf  eine  große  Zukunft  entgegen.  Man  hat  das  Vertrauen, 
daß  in  der  Entwicklung  der  Welt  die  Gründung  großer  Nationalstaaten  einen 
Fortschritt  bedeutet.  Sie  steuern  der  Anarchie,  lenken  das  politische  und 
industrielle  Leben  in  regelmäßige  Bahnen  und  führen  zu  der  Bildung  von 
großen,  mächtigen,  politischen  Organisationen,  deren  Verantwortungsgefühl 
die  Sicherheit  der  Zivilisation  garantiert.  So  sieht  man  auch  mit  weit 
größerer  Zuversicht  auf  ein  erstarkendes  China,  das  entschlossen  ist,  die 
Kriterien  der  höchsten  Zivilisation  auf  sich  selbst  anzuwenden,  als  auf  ein 
schwaches  zerrissenes  China,  dessen  Notzustand  zu  beständigen  Angriffen 
herausfordern  und  so  den  Frieden  der  Welt  dauernd  gefährden  würde. 


IL 
Chinas  Erwachen 

Von  Dr.  Georg  Wegener 

In  den  Bergen  der  Provinz  Sz'tschwan  im  westlichen  China  ist  aus 
einer  senkrechten  Felsenwand  ein  menschliches  Antlitz  herausgemeißelt,  uralt 
und  von  ungeheurer  Größe.  Gestrüpp  überwuchert  das  verwitterte  Gestein, 
und  allmählich  erst  erkennt  man  die  seltsam  bedeutenden  Züge:  die  wohl- 
geformte Stirn,  die  vornehme  Nase,  die  sinnlich  starken  Lippen,  das  schwere 
Kinn.  Die  tiefliegenden  Augen  sind  geschlossen,  und  das  Gras,  das  aus 
Felsenspalten  darüber  hervorwächst,  überwölbt  sie  in  Form  von  Brauen,  die 
in  langen  Büscheln  über  ihnen  herniederfallen;  wie  ein  Bart  hängt  es  über 
Lippen  und  Kinn,  den  Eindruck  urweltlichen  Alters  verstärkend.  Zuerst 
erscheint  das  starre  Antlitz  wie  das  eines  Toten.  Schaut  man  das  mystisch 
feierliche  Bildnis  jedoch  länger  an,  so  wird  es  mit  einem  Male,  als  löse  sich 
diese  Todesstarre,  als  habe  man  nicht  die  Züge  eines  Leblosen,  sondern  eines 
Schlummei-nden  vor  sich,  dessen  Atemzug  das  Gehäng  über  seinem  Munde 
leise  bewegt  und  dessen  Augen  im  Begriff  sind,  sich  langsam  zu  öffnen,  um 
uns  mit  einem  Eätselblick  voll  Schicksalstiefe  anzuschauen,  wie  der  Sphinx 
von  Gizeh.  — 

Das  Felsenhaupt  von  Sz'tschwan  ist  mir  immer  wie  eine  Art  Symbol 
vorgekommen  für  die  chinesische  Kultur,  wie  sie  wenigstens  uns  Europäern 
in  der  jüngsten  Zeit  erschien:  Unbekannte  Jahrtausende  alt,  mit  ehrfurcht- 
gebietenden Zügen  von  ehemaliger  Ki-aft  und  Größe,  aber  verwittert  und 
überwuchert  mit  bizarrem  Gestrüpp,  seit  langem  versteinert,  scheinbar  end- 
gültig zum  Tode  erstarrt  —  bis  wir  plötzlich  zu  fühlen  begannen,  daß  diese 
Erstarrung  doch  wohl  kein  wirklicher  Tod,  kein  Aufhören  aller  Fortbildungs- 
fähigkeiten und  Keimkräfte  war,  sondern  nur  ein  Schlummer;  bis  wir  spürten, 
wie  der  Atemzug  eines  neuen  Lebens  und  Regens  langsam  den  ungefügen 
Koloß  bewegte,  wie  er  seine  Augen  aufzuschlagen  begann,  um  der  neuen  Zeit 
und  den  neuen  Welten,  die  sich  an  ihn  herandrängen,  ernsthaft  ins  Auge 
zu  schauen. 

Das  „Erwachen  Chinas"  ist  neuerdings  bei  uns  der  Titel  für  eine  Fülle 
an  Büchern  und  Schriften  über  die  Vorgänge  im  fernen  Osten  geworden 
und  das  Schlagwort  für  einen  heute  ausnahmslos  als  höchst  bedeutsam  emp- 
fundenen neuen  Abschnitt  in  der  zeitgenössischen  Geschichte  und  Politik 
der  Welt  geworden.  Und  wir  sehen  in  Europa  diesem  Vorgange  zu,  ent- 
weder mit  der  stolzen  und  begehrlichen  Zuversicht  auf  neuen  Gewinn  und 
Machtzuwachs  für  die  europäischen  Völker,  oder  auch  mit  einem  geheimen 
Bangen  und  dem  Gefühl  „Was  will  das  werden?"     Diejenigen  von  uns,   die 


Wegen  er,  Chinas  Erwachen.  203 

am  meisten  von  (Jhina  wissen,  sind  vielleicht  am  unsichersten  darüber,  was 
sie  von  der  Zukunft  dieses  merkwürdigen  Landes  und  Volkes  erwarten  sollen. 

Es  ist  sehr  interessant  zu  verfolgen,  wie  stark  in  der  kurzen  Zeitspanne, 
seit  der  sich  Europa  wirklich  näher  mit  China  beschäftigt  —  es  dürften 
nicht  viel  mehr  als  zweihundert  Jahre  sein  — ,  die  populäre  Auffassung  vom 
Wesen  und  Wert  dieser  Kultur  geschwankt  hat.  Die  ersten  eingehenderen 
und  zugleich  allgemein  beachteten  Nachrichten  über  China  —  von  Marco 
Polos  Schilderungen  im  Mittelalter  kann  man  wenigstens  das  letztere  nicht 
sagen  —  stammen  uns  von  den  glänzenden  Jesuiten-Missionaren  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts.  Ihr  Ergebnis  im  Abendlande  war  ein  recht  bedeutender 
Eespekt  vor  dem  Riesenreich  im  Osten  und  seiner  Zivilisation.  Gegen  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  steigerte  sich  dieser  sogar  zu  einer  phantastischen  Be- 
wunderung; denn  die  der  französischen  Revolution  voraufgehenden  und  sie 
vorbereitenden  Sozial-  und  Moralschriftsteller  liebten  es,  gewisse  politische 
und  gesellschaftliche  Idealzustände,  die  ihnen  vorschwebten,  auf  Grund  jener 
Jesuitennachrichten  im  fernen  China  verwirklicht  zu  sehen  und  sie  dem 
Abendlande  als  leuchtenden  Spiegel  vorzuhalten.  Zeigten  doch  die  Prinzipien 
dieser  Zivilisation  eine  Monarchie,  in  der  alle  Glieder  zu  ihrem  Herrscher 
in  patriarchalischem  Verhältnis  wie  zu  dem  Vater  einer  einzigen  großen 
Familie  aufschauten,  der  infolge  uralten  Herkommens  das  tiefste  Verantwort- 
lichkeitsgefühl für  ihr  Wohlergehen  besaß.  Ein  Staatswesen,  wo  es  keine 
Kasten  und  Standesvorrechte  gab,  sondern  wo  der  Niedrigstgeborene  es  zu 
den  höchsten  Staatsämtern  bringen  konnte,  nicht  durch  Reichtum,  nicht 
durch  Verbindungen,  sondern  lediglich  durch  Bildung,  bewiesen  durch 
Examina.  Ein  Sozialgefüge,  wo  nicht  der  Kriegsmann,  sondern  der  Gelehrte, 
der  Literat  Lenker  des  Volks,  wo  Kindesliebe,  Ehrfurcht  vor  dem  Alter, 
Höflichkeit  in  den   Umgangsformen  die  Grundlagen  aller  Sitten  waren. 

Darauf  folgte  dann  aber  eine  Zeit,  wo  man  China  überhaujjt  nicht 
mehr  ernst  nahm.  Jene  literarischen  Idealgemälde  von  China  wurden  all- 
gemach gänzlich  Märchenbilder  im  Stil  von  Turandot,  mit  humoristischer 
Färbung.  Die  „Chinoiserien",  die  das  Rokoko  so  liebte,  wurden  —  mit  dem 
Rokoko  selbst  —  als  spielerisch,  zopfig,  grotesk  empfunden,  und  man  stellte 
sich  zuletzt  die  Chinesen  etwa  so  vor  wie  die  Porzellanpagoden,  mit 
nickenden  Köpfen,  mit  dicken  Bäuchen  und  idiotisch  emporgehobenen  Zeige- 
fingern; ihre  Kultur  als  eine  Sammlung  verschnörkelter  Bizarrerien.  Das 
Symbol  Chinas  wurde  der  damals  so  viel  abgebildete  Porzellanturm  von  Nan- 
king mit  seinen  Glöckchen. 

Hierzu  trat  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  eine  neue  Note.  Man 
erfuhr,  wie  die  chinesische  Welt  sich  so  hartnäckig  dem  weiteren  Eindringen 
der  Europäer  widersetzte  und  auch  geistig  sich  gegen  Europas  Ideen  ver- 
schloß. Jetzt  entstand  bei  uns  die  Empfindung  von  der  Erstarrung  und  Ver- 
steinerung der  uralten  Kultur  Chinas;  ihr  Symbol  wurde  nun  die  Große  chine- 
sische Mauer,  jenes  ungeheuerliche,  im  Grunde  als  verrückt  empfundene  Archi- 
tekturwerk, mit  dem,  wie  man  meinte,  Wirklichkeit  und  Fortschrittsnotwendig- 
keit verkennende  Autokraten  den  töricht  unmöglichen  Versuch  einer  herme- 
tischen Abschließung  eines  ganzen  Reiches  gemacht  hätten.  —  Nun  war  es  nur 
noch  ein  Schritt  zu  einer  ganz  der  früheren  entgegengesetzten  Auffassung  der 
chinesischen  Kultur.  Man  hörte  von  den  fürchterlichen  Begleiterscheinungen  der 
Taiping-Rebellion  und  anderer  jener  entsetzlichen  Krämpfe  der  jüngsten  inneren 
Geschichte  Chinas.  Die  immer  häufiger  werdenden  flüchtigen  „Globetrotter",  die 
vorwiegend  den  Abschaum  der  Hafenstädte  kennen  lernten  und  daraus  Stoff 


204  Wegen  er,  Chinas  Erwachen. 

zu  pikanten  Eeiseschilderungen  schöpften,  schwelgten  in  der  Ausmalung 
chinesischer  Folterkünste,  die  den  Sensationsgierigen  ihre  gemieteten  Führer 
mit  Vorliebe  zeigten;  oder  sie  brillierten  in  der  Schilderung  des  chinesischen 
Schmutzes  —  die  um  jene  Zeit  bei  uns  erwachende  oder  wenigstens  von 
England  her  allgemeiner  werdende  Eeinlichkeit  des  täglichen  Lebens  und  der 
neu  sich  entwickelnde  Begriff  des  „Komforts"  ließ  sie  auch  in  dieser  Richtung 
einen,  früher  gar  nicht  in  der  Weise  vorhandenen  Gegensatz  zur  chinesischen  Welt 
empfinden.  Und  so  schlug  die  Stimmung  völlig  um.  Man  sah  jetzt  mit  einem 
Male  in  den  Chinesen  eine  in  jeder  Hinsicht  abstoßende  Masse  unsauberer, 
armseliger  Individuen,  behaftet  mit  Krankheiten  und  allen  Lastern  der  De- 
kadenz, feige  im  einzelnen,  von  unerhörter,  perverser  Grausamkeit  in  der 
Überzahl,  widerwärtig  dichtgedrängt,  wie  gelbe  Maden,  auf  ihrem  überfüllten 
Boden  durcheinander  kriechend  —  das  Ganze  ein  in  künstlicher  Abgeschlossen- 
heit überalt  gewordener  Organismus  mit  allen  eklen  Zeichen  des  Verfalls  am 
lebendigen  Leib,  und  dennoch  für  uns  trotz  dieser  moralischen  und  kulturellen 
Minderwertigkeit  eine  Gefahr  —  die  „gelbe  Gefahr"  —  durch  ihre  Zahl! 

Den  Höhepunkt  des  Widerwillens,  ja  Hasses  gegen  die  Chinesen  er- 
reichte die  öffentliche  Meinung  im  Abendlande  zur  Zeit  des  Boxerkrieges. 
Die  unniutflammenden  Worte  unseres  Kaisers  in  Wilhelmshaven:  „Pardon 
wird  nicht  gegeben.  Gefangene  werden  nicht  gemacht",  die  unsere  gutmütigen 
Khaki-Krieger  mit  der  Stimmung  eines  heiligen  Rachezuges  gegen  die  Nach- 
kommen der  Hunnen  nach  China  entsandten,  sind  auf  dem  Hintergrunde 
solcher  Empfindungen  entstanden. 

Auch  diese  Vorstellung  ist  aber  heute  unzweifelhaft  schon  wieder  über- 
wunden. Der  Krieg  von  1900  selbst,  in  seiner  überraschenden,  fast  operetten- 
haften  Friedfertigkeit,  gab  jener  Hunnenstimmung  an  Ort  und  Stelle  so  gar 
keine  Nahrung,  sondern  pflanzte  im  Gegenteil  manche  Keime  der  Sympathie: 
die  Gutmütigkeit  des  niederen  chinesischen  Volkes  schuf  vielfach  ganz  behag- 
liche Verhältnisse  zwischen  den  europäischen  Truppen  und  den  Chinesen, 
und  der  Offizier  mußte  anerkennen,  daß  der  chinesische  Soldat  sehr  wohl 
Mut  und  Strammheit  zeigen  könne.  Auch  die  sichtliche  Gesundheit  und 
große  körperliche  Leistungsfähigkeit  des  Durchschnittchinesen  widerlegte  die 
Vorstellungen  von  Entartung  des  ganzen  Volkes.  Anderes  trat  hinzu.  Die 
merkwürdige  Frau,  die  seit  einem  Menschenalter  die  Geschicke  Chinas  gelenkt 
hatte  und  sie  nach  dem  Kriege  mit  unerschütterter  Machtfülle  wieder  in  die 
Hand  nahm,  begann  in  Europa  populär  zu  werden;  aus  dem  brandrot  be- 
leuchteten Schauerroman-Porträt  einer  gelbhäutigen  Herodias  oder  Messalina, 
wie  die  Kaiserinwitwe  Jehonala  1900  in  der  Vorstellung  des  Abendlandes 
gelebt  hatte,  wurde  das  Bild  einer  in  ihrer  Art  bewundernswerten  Persön- 
lichkeit von  ungewöhnlicher  Charakterkraft  und  diplomatischer  Kunst,  zu 
deren  zielsicherer  Leitung  des  einer  Erneuerung  zustrebenden  Reiches  man 
Zutrauen  gewann.  In  kommerziellen  Kreisen  verbreitete  sich  die  Meinung, 
daß  der  chinesische  Kaufmann  sich  gerade  durch  eine  besondere  Ehrlichkeit 
auszeichne.  In  künstlerischen  entdeckte  man  mit  Erstaunen  und  Begeiste- 
rung die  klassische  Schönheit  der  chinesischen  Maler  und  Poeten  und  er- 
kannte in  ihnen  die  bedeutenderen  Lehrmeister  der  vor  kurzem  so  hoch- 
gepriesenen Künstler  Japans.  Kurz,  in  der  öffentlichen  Meinung  entstand 
unzweifelhaft  ein  wohlwollenderes  Verhältnis  zu  China.  Man  betrachtet  mit 
einer  freundlichen  Symjjathie  die  von  der  Kaiserinwitwe  in  maßvollem  Tempo 
geleiteten  Versuche  einer  Reform  in  europäischem  Sinne,  im  Stillen  geschmeichelt 
durch  die  darin  liegende  endliche  Anerkennung  der  Überlegenheit  unserer 
Gesittung  durch  die  Chinesen. 


Wesfener,  Chinas  Erwachen.  205 


Denn  das  ist  keine  Frage,  uns  allen  steckt  doch  mehr  oder  minder  die 
Vorstellung  als  etwas  selbstverständliches  im  Blute,  daß  unsere  Kultur  nicht 
nur  materiell,  auch  geistig  und  sittlich,  der  chinesischen  unbedingt  an  Wert 
überlegen  ist,  daß  es  ein  absoluter  Segen  für  das  Land  sein  wird,  wenn  wir 
ihm  unsere  Kultur  bringen,  daß  China  erst  durch  uns  und  auf  den  von  uns 
gewiesenen  Pfaden  zu  materieller  und  sittlicher  Gesundung  und  zu  höheren 
Menschheitszielen  kommen  kann.  Wurde  somit  die  vielberedete  „Fremden- 
feindlichkeit" der  großen  Menge  in  China  ohne  weiteres  als  das  beste  Zeichen 
der  kulturellen  Minderwertigkeit  und  Beschränktheit  des  bisherigen  chinesi- 
schen Volkes  angesehen,  so  nahm  man  an,  daß  bei  den  „besseren  Elementen", 
die  jetzt  eine  Modernisierung  Chinas  anstrebten,  jene  Fremdenfeindlichkeit 
geschwunden  sei  und  sich  in  tiefen  Eespekt  vor  unserer  Zivilisation  und  Sehn- 
sucht nach  allen  ihren  Segnungen  verwandelt  habe.  Wir  sahen  solchen  Be- 
strebungen gnädig  zu  und  waren  höchstens  etwas  verblüfft  und  geärgert,  daß 
diese  Leute  in  der  allerjüngsten  Zeit  gar  so  hastig  vorgingen  und  die  edelsten 
und  höchsten  Ziele  unserer  Gesittung  so  im  Handumdrehen  übernehmen 
wollten,    die  unsere  Völker  in  mühsamer  Jahrtausendarbeit  errungen   haben. 

Das  trat  ganz  besonders  hervor,  als  sich  vor  unsem  Augen  allerjüngst 
das  alte  Eeich  der  Mitte  urplötzlich  in  eine  Eepublik  der  Mitte  verwandelte. 
Man  war  im  Grunde  geradezu  indigniert,  daß  sich  dieses  vor  kurzem  noch  halb 
mittelalterliche  Staatsgebilde  mit  einem  Male,  unter  Überspringung  aller 
Zwischenstufen,  die  allerfortgeschrittenste  der  modernen  Staatsformen  geben 
wollte.  Man  empfand  und  erklärte  das  für  einen  hirnverbrannten  Unsinn, 
etwas,  das  unmöglich  Bestand  haben  könne.  — 

Diese  hier  skizzierten  mannigfachen  Schwankungen  der  öffentlichen 
Meinung  von  China  im  Abendlande  sind  nur  zu  geringem  Teil  in  wirklichen 
Wandlungen  Chinas  während  der  gleichen  Zeit  begründet;  sie  sind  vielmehr 
ein  guter  Ausdruck  für  die  Dürftigkeit  des  tatsächlichen  Wissens  und  die 
Geringfügigkeit  des  Verständnisses  von  China  bei  uns. 

Leider  wird  die  Sache  nicht  sehr  viel  besser,  wenn  man  die  abend- 
ländischen China- Autoritäten  zu  Hilfe  ruft.  Man  findet  unter  ihnen  fast  soviel 
Meinungen  und  Auffassungen  wie  Köpfe,  und  gerade  diejenigen  unter  ihnen, 
die  sich  am  längsten  mit  chinesischen  Dingen  beschäftigt  haben,  verlieren 
sich  häufig  in  allerlei  Einzelwissen  und  sind  über  das  Ganze  recht  uner- 
giebig oder  ungewiß.  Das  ist  eben  die  Eigentümlichkeit  des  großen  chine- 
sischen Problems,  daß  es  von  feni  verhältnismäßig  einfach  erscheint,  aber 
immer  schwieriger  und  verworrener  wird,  je  näher  man  ihm  tritt.  Ich  habe 
kürzlich  schon  einmal  an  einer  anderen  Stelle')  das  amüsante  Wort  eines 
alten  Chinamissionars  angezogen,  der  zu  sagen  pflegte:  „Wenn  jemand  vier 
Monate  in  China  gewesen  ist,  schreibt  er  ein  Buch  über  das  Land.  War  er 
vier  Jahre  dort  und  ein  Verleger  wünscht  von  ihm  ein  solches,  so  kraut  er 
sich  hinter  den  Ohren  und  meint:  Ich  glaube,  ich  kenne  dazu  doch  China 
noch  nicht  genug.  Hat  er  aber  vierzig  Jahre  im  Reich  der  Mitte  geweilt, 
so  weist  er  ein  derartiges  Ansinnen  ganz  erschrocken  von  sich  und  sagt : 
Um  Gotteswillen,  ich  weiß  ja  gar  nichts  von   China." 

Der  Grund  für  diese  merkwürdige  Erscheinung  liegt  nicht  allein  in  dem 
Mangel  an  positivem  Wissen  über  Ostasien  und  die  Entwicklung  seiner  Kultur  — 


')  China  und  seine  jüngste  Entwicklung.  Vortrag  vor  der  Gesellschaft 
für  Erdkunde  zu  Berlin  am  4.  November  1911  (Geographische  Zeitschrift, 
Jahrg.  XVni). 


206  Wegen  er,  Chinas  Erwachen. 

von  der  ja  auf  unseren  Schulen,  in  unseren  sogenannten  „Weltgeschichten" 
fast  immer  noch  keine  Eede  ist  —  sondern  in  der  außerordentlichen  Ver- 
schiedenheit der  Psyche,  die  sich  auf  beiden  Seiten  in  so  lange  getrennter 
Kulturentwicklung  herausgebildet  hat.  Eine  Verschiedenheit,  die  beiden  Teilen 
oft  genug  die  Empfindung  gibt,  als  müsse  auf  der  Gegenseite  das  logische 
Denken  nach  anderen  Gesetzen  als  im  eigenen  Hirn  vorsichgehen ;  die  den 
einen  aus  Prämissen  von  scheinbar  zwingender  Gewalt  ganz  andere  Schlüsse 
ziehen  läßt,  als  der  andere  erwartete;  die  oft  genug  dem  nach  seiner  Meinung 
völlig  Vorurteilslosen  unter  uns  plötzlich  zum  Bewußtsein  bringt,  wie  stark 
auch  er  doch  noch  von  Voraussetzungen  beeinflußt  wird,  die  dem  Ostasiaten 
fehlen  oder  durch  ganz  abweichende  ersetzt  werden,  und  umgekehrt. 

So  erweist  sich  bei  näherem  Zusehen  vor  allem  die  Meinung,  die 
Chinesen  hätten  die  absolute  Überlegenheit  der  abendländischen,  womöglich 
die  der  „christlichen"  Kultur  jetzt  anerkannt,  durchaus  als  ein  Irrtum. 
Das  fällt  ihnen  auch  heute  noch  nicht  im  Geringsten  ein.  Und  gerade  denen 
am  wenigsten,  die  sich  am  ernstesten  um  die  Behauptung  und  Erstarkung 
ihres  Volkes  sorgen.  Und  ferner:  ,, fremdenfeindlich"  sind  sie  noch  heute 
alle,  in  dem  Sinne  dem  Fremden  und  seinem  Einfluß  widerstrebend,  daß  sie 
vor  allem  durchaus  Chinesen  bleiben  und  das  tiefste  innerste  Wesen  ihrer 
Kultur  vor  dem  europäischen  Einfluß  soviel  als  irgend  möglich  bewahren 
wollen.  Sie  geben  lediglich  zu,  daß  ihnen  die  abendländische  Zivilisation 
zurzeit  überlegen  ist  an  materiellen  Mitteln:  an  Mitteln  des  Krieges,  an  Rütteln 
des  Verkehrs,  an  Mitteln  der  Gütererzeugung.  Allein  eine  moralische  Über- 
legenheit unserer  Zivilisation  über  die  ihrige  erkennen  sie  nicht.  Im  Gegen- 
teil! Das  Gefühl  der  höheren  Humanität  ihrer  eigenen  Gesittung  ist  durch 
die  Berührung  mit  den  Abendländern  nur  noch  gestiegen. 

Und  das  ist  nur  zu  begreiflich.  Haben  doch  für  China  die  wichtigsten 
Berührungen  mit  unserer  Kultur  seit  den  letzten  Menschenaltern  fast  immer 
die  Form  von  Beleidigung,  Demütigung,  Brandschatzung  gehabt.  Das  innerste 
Wesen  unserer  modernen  Kultur  ist  aggressiv,  das  der  chinesischen  passiv, 
quietistisch.  Wir  haben  uns  den  Chinesen  gewalttätig  aufgedrängt  und  tun  es 
immer  wieder.  Begonnen  hat  die  Sache  mit  einem  Akt  der  Gewalt,  bei  dem 
für  das  Gefühl  des  Chinesen  die  Gerechtigkeit  so  sonnenklar  wie  möglich 
auf  seiner  Seite  war,  mit  dem  Oi^iumkrieg  von  1840,  durch  den  die  Engländer 
die  Zulassung  des  volkverwüstenden  Giftes  erzwangen.  Nach  dieser  Ouvertüre, 
der  die  Vertreter  der  christlichen  Kultur  so  unchristlich  wie  möglich  zeigte, 
kam  die  Überschwemmung  mit  Missionaren,  die  mit  ihrer  Lehre  die  dem 
Chinesen  ehrwürdigsten  Grundlagen  seiner  gesamten  Kultur,  den  Familien- 
und  Ahnenkult,  antasteten,  die  in  ihrem  eigenen  Lande  mit  dem  ganzen  Hoch- 
mut ihres  Christentums  gegenüber  den  „Heiden"  auftraten,  Sonderstellungen 
für  sich  mitten  im  fremden  Volksgebiete  beanspruchten  und  mit  Hilfe  ihrer 
Regierungen  auch  durchsetzten.  Es  kamen  immer  neue  Konflikte  und  mili- 
tärische Niederlagen  durch  die  Europäer  hinzu,  die  Plünderung  der  kaiser- 
lichen Paläste,  die  Schändung  der  kaiserlichen  Gräber  und  im  Gefolge  damit 
eine  immer  wachsende  finanzielle  Abhängigkeit  vom  Auslande,  die  Kontrolle 
über  die  Seezölle,  die  Ausbeutung  der  einheimischen  Kohlenfelder,  die  Weg- 
nahme von  Tsingtau,  Port  Arthur,  Weihaiwei,  Kwangtschouwan.  Das  gewalt- 
same Hineinzwingen  eines  Volkes,  das  es  für  eine  hohe  Kulturerrungenschaft 
erachtete,  die  Künste  des  Friedens  höher  zu  stellen  als  die  des  Krieges,  in 
kostspielige  Rüstungen;  es  kam  das  für  den  Chinesen  nur  allzu  deutliche 
Schauspiel  der  gegenseitigen  Eifersucht  der  Großmächte,  die  einer  dem  Lande 


Wegen  er,  Chinas  Erwachen.  207 

immer  schönere  Worte  machte  als  der  andere  und  die  doch  allesamt  in  Wahr- 
heit einem  Rudel  gieriger  Wölfe  glichen,    die    das  gehetzte  Opfer  umstellen. 

Man  kann  daher  heute  die  Grundstimmung  derjenigen  Kreise,  die  in 
China  für  europäische  Eeformen  sind,  ungefähr  so  zusammenfassen:  Da  wir 
leider  zugeben  müssen,  daß  die  Europäer  uns  zurzeit  an  materiellen  Macht- 
mitteln überlegen  sind,  und  da  diese  Barbaren,  den  bösen  Tieren  gleich,  den 
Gründen  der  Vernunft  und  Sittlichkeit  unzugänglich  sind,  so  müssen  wir 
wohl  oder  übel  diese  ihre  äußeren  Machtmittel  uns  aneignen,  um  unsere 
edlere  Kultur  vor  dem  Untergange  durch  sie  zu  retten.  Das  Schlagwort  ist 
also  nicht:  Annahme  der  christlichen  Kultur,  sondern  Rettung  vor  ihr  durch 
Nachahmung  ihrer  eigenen  Kampfmittel.  Wie  uns  eine  „gelbe  Gefahr"  vor- 
schwebt, so  ihnen  eine  „weiße  Gefahr". 

Ein  fesselndes  Zeugnis  dafür  legt  das  Buch  des  Chinesen  Kuhungming 
ab,  das  jüngst  auch  in  deutscher  Übersetzung  erschien:  Chinas  Verteidigung 
gegen  europäische  Ideen."  (Kritische  Aufsätze  von  Kuhungming.  Heraus- 
gegeben von  A.  Paquet.  Jena  1911.  E.  Diederichs.)  Der  Verfasser  hatte 
als  Privatsekretär  des  großen  chinesischen  Patrioten  Tschangtschitung,  des 
berühmten  Vizekönigs  der  Hukwang-Provinzen  und  späteren  Großsekretärs 
in  Peking,  Gelegenheit,  die  Auffassung  der  modernen  politischen  Entwicklung 
Chinas  bei  den  führenden  Köpfen  der  letzten  Jahre  zu  beobachten,  und  er 
hat  sich  zugleich  durch  europäische  Universitätsstudien  und  eine  ungewöhn- 
liche Kenntnis  europäischer  Sprachen  —  ich  lernte  ihn  selbst  1906  in  China 
kennen  und  hörte  ihn  zu  meinem  Erstaunen  fließend  deutsch  über  Goethe 
und  Schopenhauer  plaudern  —  eine  besondere  Vertrautheit  der  abendlän- 
dischen Gesittung  erworben. 

Wie  stellt  er  sich  nun  zu  der  Frage? 

Bezeichnend  dafür  ist  gleich  der  Titel  des  Buches.  Abwehr  also,  nicht 
nur  gegen  europäische  Übergriffe  in  China,  gegen  finanzielle  Ausbeutung  u.  dgl., 
sondern  gegen  die  europäischen  „Ideen",  also  gegen  das  eigentliche  Wesen 
der  ganzen  europäischen  Kultur!  Ich  möchte  als  Beispiel  einen  der  Ge- 
dankengänge des  Verfassers  näher  analysieren.  Der  erste  der  in  diesem  Buche 
gesammelten  Aufsätze  ist  überschrieben:  Kultur  und  Anarchie.  Kuhungming 
beginnt  ihn  mit  dem  Satze,  weit  über  die  politische  und  ökonomische  Seite 
der  „ostasiatischen  Frage"  erhebe  sich  deren  moralische  Seite!  Wir  sehen 
sogleich,  worauf  er  hinaus  will :  auf  die  höhere  Moralität  der  chinesischen 
Sache.  Gewiß  ist  diese  Flucht  ins  Moralische  zunächst  die  instinktive  Geste 
des  Schwächeren.  Aber  sie  spricht  wirklich  die  Grundmeinung  der  Literaten- 
kreise aus.  Wie  alle  Einsichtigen  fühlt  auch  Ku,  daß  die  weißen  Rassen 
gegenwärtig  an  brutaler  Kraft  überlegen  sind.  Doch  von  der  höheren  ethischen 
Qualität  der  chinesischen  Kultur  ist  er  nach  wie  vor  vollkommen  überzeugt, 
und  in  diesem  Glauben  an  die  moralische  Überlegenheit  der  konfuzianischen 
Gesittung  Chinas  findet  er  den  Trost  gegenüber  den  schreckenerregenden 
äußeren  Niederlagen  der  Gegenwart  und  die  Hoffnung  auf  den  endlichen 
künftigen  Sieg  der  chinesischen  Kultur  und  der  chinesischen  Eigenart. 

Nach  dieser  Problemstellung  schreitet  er  fort  zu  einem  Vergleich  des 
gegenwärtigen  Andrängens  der  europäischen  Völker  gegen  Ostasien  mit  dem 
Kreuzzugssturm  des  Mittelalters.  Die  Worte,  mit  denen  Kaiser  Wilhelm,  der 
Urheber  des  Bildes  „Völker  Europas,  wahrt  eure  heiligsten  Güter!",  im 
Jahre  1900  in  mittelalterlich  feierlicher  Weise  seine  Truppen  in  den  Boxer- 
krieg entsandte,  legen  ihm  diese  Parallele  noch  besonders  nahe.  Das  Er- 
gebnis der  mittelalterlichen  Kreuzzüge  sei  nun,  nach  Gmzots  Zeugnis,  gerade 


208  We gener,  Chinas  Erwachen. 

der  Zusammenbruch  der  damaligen  mönchischen  Kultur  Europas  gewesen, 
also  das  Gegenteil  dessen,  was  gewollt  worden  war,  und  gerade  dadurch  ein 
Schritt  zur  Befi'eiung  des  menschlichen  Geistes.  Es  sei  denkbar,  daß  ganz 
ebenso  auch  bei  der  jetzigen  Angriffsbewegung  des  Westens  gegen  den  Osten 
ein  Eückschlag  eintrete,  der  die  ganze  Kultur  des  gegenwärtigen  Europas  — 
statt  derjenigen  Chinas  —  verändern  werde,  und  zwar  zum  Glück  für  die 
ganze  Menschheit. 

In  einem  überraschenden  Gedankengange  sucht  er  durchzuführen,  daß  das, 
was  heute  die  europäische  Kultur  zu  einem  so  hartnäckigen  Ansturm  gegen 
die  ostasiatische  bringe,  und  das,  was  sie  in  China  durchsetzen  wolle,  gar  nicht 
eigentlich  ihr  moderner  Bestandteil,  sondern  der  Eest  des  Mittelalters  sei,  der 
noch  in  ihr  stecke.  Ku  kehrt  die  Lage  für  unser  Gefühl  gänzlich  um.  Wäh- 
rend wir  glauben,  China  durch  unsere  modernen  Ideen  auf  die  Bahn  mensch- 
lichen Fortschritts  zu  drängen,  sieht  er  uns  in  diesem  Kampfe  für  reaktionäre 
und  überlebte  Kulturformen  eintreten.  Er  folgert  dabei  so:  Die  Siegesstunde 
der  modernen  liberalen  Ideen  in  Europa  war  die  französische  Eevolution. 
Hier  wurde  die  auf  der  Autorität  der  Bibel  ruhende  bisherige,  mittelalterliche 
Kultur  Europas  abgelöst  durch  die  unmittelbar  auf  ethischen  Grundforderungen 
der  Menschennatur  beruhende  moderne  Kultur.  Zunächst  freilich  nur  theo- 
retisch; praktisch  nur  zum  Teil,  und  es  sei  nun  eine  unabwendbare  Notwendig- 
keit für  die  europäische  Menschheit,  sich  wirklich  in  diese  neue  Kultur  hinein- 
zuleben. Den  Unterschied  zwischen  der  alten  und  der  neuen  Kultur  formt 
er  etwa  folgendermaßen:  Die  alte  biblische  Kultur  appellierte  hauptsächlich 
an  die  selbstischen  Gefühle  des  Menschen,  Furcht  und  Hoffnung;  die  neue 
moralische  Kultur  an  seine  Vernunft  ebensosehr  wie  an  seine  Gefühle.  Nach 
der  alten  Kultur  war  der  Mensch  in  Sünde  geboren  und  radikal  böse,  und 
nur  die  göttliche  ,, Gnade"  konnte  ihm  helfen;  die  neue  moralische  Kultur 
halte  ihn  für  radikal  gut,  so  daß  er,  wenn  er  sich  nur  frei  gemäß  der  Ver- 
nunft und  seiner  Natur  entwickeln  kann,  selbst  die  sittliche  Wohlfahrt  und 
die  gesellschaftliche  Ordnung  in  der  Welt  herbeiführen  muß  und  wird.  Diese 
letztere  Überzeugung  aber  entspricht  ganz  und  gar  dem  Geiste  der  konfu- 
zianischen Philosophie.  Sie  herrscht  seit  Jahrtausenden  in  China  und  —  die 
Entwicklung  der  modernen  liberalen  Ideen  in  Europa  bis  zur  französischen 
Eevolution  ist,  so  meint  Ku,  zurückzuführen  auf  die  Übertragung  dieser  Ge- 
danken der  chinesischen  Zivilisation  ins  Abendland  durch  die  französischen 
.Tesuitenmissionen!  —  Dem  Chinesen  werde  es  daher  nicht  nur  sehr  leicht 
sein,  die  moderne  liberale  Kultur  bei  sich  durchzuführen;  er  habe  sie  ja  eigent- 
lich dem  Wesen  nach  bereits;  er  besitze  eine  Kultur,  die  in  ihren  Wurzeln 
auf  wahrer,  natürlicher  Moral,  auf  „Humanität"  beruht.  Der  Europäer,  dem 
sie  neu  sei,  finde  große  Schwierigkeiten,  den  Übergang  zu  ihr  zu  vollziehen. 

Die  alte  mittelalterliche  Kultur  Europas  habe  als  staatliches  Ideal 
blinden,  passiven  Gehorsam  gegen  die  Autorität  gehabt;  die  neue  moderne 
Kultur  des  Liberalismus  dagegen  Selbstvertrauen  der  Bevölkerung  gegenüber 
dem  Staat,  und  ihr  Endziel  sei  eine  Eegierung  durch  fi-eie  Einrichtungen, 
d.  h.  durch  weitgehende  Selbstverwaltung.  Alles  letztere  sei  aber  gerade  das,  was 
nicht  nur  in  China  selbst,  sondern  auch  von  einsichtigen  Ausländern  (Maggowan) 
als  Eigentümlichkeit  der  Chinesen  erkannt  würde.  (Und  das  ist  richtiger 
als  bei  uns,  wo  man  China  für  ein-bisher  desjjotisch  zentralisiertes  Staatswesen 
zu  halten  pflegt,  weiteren  Kreisen  bekannt  ist.  Diese  tatsächlich  seit  alters 
in  großem  Maßstabe  ausgebildete  Selbstverwaltung  hilft  die  uns  so  erstaun- 
liche übergangslose  Verwandlung  einer  absoluten  Monarchie  in  die  Eepublik 


We gener,  Chinas  Erwachen.  209 

erklären.)  In  Europa  sähe  man  das  Schauspiel,  daß  die  alte,  durch  das  Au- 
toritätsprinzip gewahrte  Ordnung  ins  Wanken  gekommen  sei,  während  die 
neue  liberale  Kultur  die  dortige  Menschheit  doch  noch  nicht  hinreichend  für 
eine  neue  selbständige  Ordnung  ergriffen  habe,  und  so  werde  dort  gegen- 
wärtig die  Ordnung  nicht  durch  irgendeine  moralische  Kraft  aufrecht  erhalten, 
sondern  von  den  Eegierendeu  durch  Mittel  der  Gewalt,  durch  die  Polizei  oder 
den  Militarismus.  In  China  dagegen  sei  Militarismus  dazu  nicht  mehr  not- 
wendig, denn  China  werde  bereits  seit  alters  vorwiegend  mit  moralischen 
Mitteln  regiert.  (Auch  das  letztere  ist  nicht  unrichtig,  setzt  freilich  auch 
eine  moralische  Regierung  voraus.  Deshalb  bindet  auch  den  Chinesen  tatsäch- 
lich kein  mystisches  Pietätsgefühl  an  die  Person  oder  die  Familie  eines 
Herrschers;  er  fühlt  die  sittliche  Berechtigung  ihr  entgegenzutreten  oder  sie 
über  den  Haufen  zu  werfen.  Kein  Hauch  von  Nibelungentreue  scheint  sich 
in  den  Seelen  des  chinesischen  Volkes  jetzt  beim  Sturze  des  Kaiserhauses,  im 
Fall  der  Unwürdigkeit  geregt  zu  haben,  das  in  seinen  Augen  das  moralische 
Anrecht  auf  den  Thron  verwirkt  hatte.)  Der  Ansturm  der  Europäer  gegen 
China  während  des  letzten  Menschenalters  bezwecke  nun,  gerade  die  rück- 
ständigen Formen  ihrer  Zivilation  in  Ostasien  einzuführen,  teils  in  Gestalt 
der  in  Europa  selbst  schon  ins  Wanken  geratenen  Bibelkultur  durch  die 
Missionare  (hier  sieht  man  den  Zorn  des  gebildeten  Chinesen  insbesondere 
gegen  die  Mission),  teils  in  Form  des  IVIilitarismus.  Das  aber  sei  eine  rück- 
läufige Bewegung  in  der  Menschheitsentwicklung  und  darum  ohne  Aussicht 
auf  Erfolg.  Würden  die  Europäer  wirklich  China  aufteilen  und  in  euro- 
päischer Art  militärisch  in  Ordnung  halten,  so  würde  das  den  betreffenden 
Mächten  schon  pekuniär  so  teuer  kommen,  daß  es  sie  auf  die  Dauer  ruinieren 
müßte.  (Das  ist  nicht  unwahrscheinlich.)  Deshalb  müsse  es  dazu  kommen 
und  darin  allein  liege  für  die  Zukunft  das  Heil  für  beide  Rassen,  daß  die 
liberalen  Ideen  überall  so  vollkommen  wie  möglich  zum  Siege  gelangten. 
In  Eviropa  sei  leider  der  Liberalismus  selbst  auf  einen  bedenklichen  Weg 
geraten.  An  ein  Wort  von  Beaconsfield  anknüpfend,  sagt  Kuhungming,  der 
Liberalismus  des  heutigen  Europas  scheine  ihm  eine  Oligarchie  gesättigter 
Einzelner  geworden  zu  sein.  „Der  europäische  Liberalismus  des  18.  Jahr- 
hunderts hatte  Kultur,  der  Liberalismus  von  heute  hat  seine  Kultur  verloren. 
Der  Liberalismus  der  Vergangenheit  las  Bücher  und  verstand  Ideen,  der 
moderne  Liberalismus  liest  höchstens  Zeitungen  und  benutzt  die  großen 
liberalen  Phrasen  der  Vergangenheit  als  Stichworte  für  seine  selbstischen 
Interessen."  (Es  ist  natürlich,  daß  ein  unserer  Welt  so  fernstehender  Be- 
urteiler nur  einzelne  Seiten  unserer  modernen  Kultur  sieht,  allein  es  ist  doch 
erstaunlich,   wie  gut  er  hier  eine  dieser  Seiten  trifft.) 

Noch  energischer  und  zorniger  verurteilt  Ku  diese  moderne  materiali- 
stische Entwicklung  des  europäischen  Liberalismus  in  einem  zweiten  Aufsatz, 
den  er  „Die  Geschichte  einer  chinesischen  Oxford-Bewegung"  nennt,  in  An- 
knüpfung an  die  im  vorigen  Jahrhundert  von  Oxford  ausgehende  aristokratisch- 
ästhetische Opposition,  die  sich  —  erfolglos  —  gegen  den  modernen  Mittel- 
standsliberalismus und  seine  geistige  Verödung  und  ästhetische  Verhäßlichung 
des  Lebens  richtete.  Er  macht  in  klaren  Worten  und  in  voller  Überzeugung 
die  Gegenüberstellung,  daß  die  moderne  europäische  Kultur,  die  in  China 
eindringt,  durch  und  durch  materialistisch,  die  alte  chinesische  Literaten- 
kultur, die  sich  dagegen  wehrt,  idealistisch  sei,  daß  die  erstere  mit  ihrer 
öden  Gleichmacherei,  mit  ihrer  Maschinenproduktion,  mit  ihrer  Betonung  des 
sinnlichen  Wohllebens,  ihrer  Wertüberschätzung  des  „Komforts",  mit  ihrer 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  14 


210  Wegener,  Chinas  Erwachen. 

eklen  Gier  nach  dem  Gelde,  ihrer  ruhelosen,  verflachenden  Hast  usw.  das 
ganze  Leben  verrohe,  veräußerliche,  verhäßliche,  während  die  letztere  die 
Pflege  der  Feinheit  des  Geistes,  der  Anmut  der  Formen,  der  Vornehmheit 
und  Äbgeklärtheit  des  Charakters  bedeute.  In  immer  neuen  leidenschaft- 
lichen Wendungen  und  historischen  Vergleichen  erklärt  er  die  „Euroi^äisierung" 
Chinas  für  gleichbedeutend  mit  dem  Einströmen  von  Gemeinheit  und  Häß- 
lichkeit' in  das  chinesische  Leben,  die  Kräfte  der  Kultur  Europas  für  durch- 
aus zerstörend  für  das  wahrhaft  Wertvolle  im  Menschenleben,  und  mit  wirk- 
lich packender  Pathetik  schildert  er  den  Kampf  der  vaterländischen  Ge- 
lehrtenpartei im  letzten  Menschenalter  für  die  Ideale  ihrer  vieltausendjährigen 
Kultur  gegen  die  europäische  und  die  tiefe  Verzweiflung,  mit  der  ihre  führenden 
Geister  —  der  verehrungswürdige  Tschangtschitung  an  der  Spitze  —  erkennen, 
daß  alles  vergebens  ist,  und  daß  auch  China  sich  in  einen  „Raubtierstaat" 
mit  Kanonen  und  Soldaten  verwandeln  müsse,  wie  die  Westmächte,  um  seine 
Existenz  zu  retten. 

Der  Verfasser  selbst  will  sich  dieser  Verzweiflung,  so  gerechtfertigt  sie 
auch  für  den  Augenblick  scheine,  noch  nicht  anschließen.  Er  hofft  immer 
noch  auf  einen  endlichen  Sieg  der  chinesischen  Kultur.  Und  zwar  eben 
deshalb,  und  hier  kommen  wir  wieder  zum  Ausgangspunkt  zurück,  weil  sie 
die  moralisch  höher  stehende  sei,  und  weil  er  —  echt  konfuzianisch  —  tief 
davon  überzeugt  ist,  daß  zuletzt  doch  nicht  die  äußeren  Machtmittel,  sondern 
die   moralischen  Qualitäten    einer  Zivil'sation   den-  Sieg    entscheiden   werden. 

Hier  werden  viele  modernen  Leser  skeptisch  lächeln  über  den  Chinesen. 
Er  findet  aber  doch  einen  höchst  merkwürdigen  Bundesgenossen  in  unserem 
eigenen  Lager.  Vor  einem  Jahrzehnt  schon  erschien  ein  deutsches  Buch,  das 
die  Frage  des  Kampfes  zwischen  der  weißen  und  der  gelben  Rasse  genau 
mit  der  gleichen  Problemstellung  wie  Kuhungming  behandelt  und  zu  über- 
raschend gleichen  Schlüssen  kommt  wie  der  Chinese.  Der  Titel  lautet:  „Die 
gelbe  Gefahr  als  Moralproblem"  von  H.  von  Samson-Himmelstjerna  (Berlin  1902). 
Es  ist  seinerzeit  ziemlich  unbeachtet  geblieben,  erscheint  mir  aber  hier  in 
diesem  Zusammenhang  recht  erwähnenswert.  In  kühnster  Entschiedenheit  tritt 
der  Verfasser  der  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  herrschenden  Auffassung 
von  den  Chinesen  als  einer  in  jeder  Hinsicht  degenerierten,  einer  „geradezu 
verruchten  Nation"  entgegen  und  sucht  nachzuweisen,  daß  dieses  Vorurteil 
teils  Unwissenheit,  teils  bewußte  Verleumdung  ist,  und  daß  die  chinesische 
Gesittung  im  Gegenteil  in  vielen  Punkten  wirklich  gegenüber  der  unsrigen 
die  moralisch  höher  stehende  sei.  So,  um  nur  ein  Beispiel  zu  nennen,  auf 
dem  Gebiet  des  Familienlebens,  dessen  Innigkeit  die  unsrige  weit  überträfe 
und  das  dabei  viel  mehr  als  bei  uns,  wo  man  soviel  davon  rede,  die  Grund- 
lage des  ganzen  (xesellschafts-  und  Staatsgefüges  sei.  So  noch  auf  einer  Fülle 
anderer  Gebiete.  Samson-Himmelstjerna  spricht  in  den  flammenden,  vielfach 
übertreibenden  Worten  eines  Fanatikers  der  Ehrlichkeit,  den  die  ungeheure 
Borniertheit  des  landläufigen  Urteils  bei  uns  und  die  daraus  entspringende 
ungerechte  und  törichte  Behandlung  der  Chinesen  empört,  aber  es  ist  dringend 
zu  empfehlen,  diese  eigentümliche  Schrift  einmal  zu  lesen.  Der  Verfasser 
leugnet  die  großen  gegenwärtigen  Schäden  im  öffentlichen  Leben  Chinas 
nicht,  aber  indem  er  sie  als  eine  erst  seit  kaum  mehr  als  zwei  Menschen- 
altern eingerissene  Mißwirtschaft  nachweist,  glaubt  er  auch,  daß  sie  eine 
vorübergehende  Erscheinung  sein  wird.  Natürlich  gibt  auch  er  die  augen- 
blickliche materielle  Überlegenheit  unserer  Kultur  vollkommen  zu;  aber  er 
sagt  ganz  wie  Ku,   daß   es   darauf  im   letzten  Grunde   gar   nicht  ankommt, 


Wegen  er,  Chinas  Erwachen.  211 

sondern  auf  die  moralische  Höhe  einer  Gesittung.  Dabei  bleibt  er  jedoch 
nicht,  wie  Ku,  nur  mit  einer  idealistisch  vagen  Hoffnung  stehen,  sondern  er 
führt  das  doch  ganz  realistisch  aus,  indem  er  der  Meinung  ist,  daß  die 
moralische  Gefestigtheit  einer  Gesittung  auch  ihre  physische  Kraft,  ihre  Wider- 
standsfähigkeit auf  die  Dauer  bedinge.  Nicht  mit  Unrecht  findet  er,  daß  in 
unserer  Kultur  eine  außerordentliche  innere  Unsicherheit  herrscht.  Wir  geben 
vor,  unsere  Kultur  beruhe  auf  den  Grundsätzen  des  Christentums,  und  doch 
decke  sich  unser  Handeln  in  der  Welt,  jene  Aktivität,  die  uns  den  Erdkreis 
erobern  läßt,  nicht  im  geringsten  mit  christlichen  Grundsätzen,  die  darin 
gipfelten:  „Liebet  eure  Feinde,  segnet,  die  euch  fluchen;  haltet  dem,  der  euch 
einen  Streich  auf  die  rechte  Backe  gibt,  auch  noch  die  linke  hin;  nimmt  dir 
einer  den  Mantel,  so  gib  ihm  auch  noch  den  Rock."  Ganz  im  Gegenteil, 
das,  was  unsere  Kultur  augenblicklich  so  siegreich  macht,  ist  gerade  das 
nicht-christliche  daran!  Da  aber  unser  tiefstes  Moralgefühl  doch  noch 
atavistisch  im  Banne  des  Christentums  steht,  so  geht  durch  unsere  Welt- 
anschauung ein  verhängnisvoller  Riß,  der  uns  tief  unsicher  macht  und  uns 
die  innere  Widerstandskraft  zerbricht.  Ganz  anders  sei  es  bei  den  Chinesen: 
Das  großartige  Moralsystem,  das  allen  Einrichtungen  Chinas  und  der 
Lebensauffassung  des  ganzen  chinesischen  Volkes  zugrunde  liegt,  ist  rein 
irdisch  abgeleitet,  im  wesentlichen  aus  dem  natürlichen  Verhältnis  zwischen 
Eltern  und  Kindern,  nicht  von  transzendentalen  „Offenbarungen".  Und 
nicht  mit  dem  Begriff  eines  .Jenseits  arbeitet  die  chinesische  Moral,  für 
das  dieses  Leben  hier  lediglich  eine  Vorbereitung  ist,  sondern  nur  mit 
dem  des  vernunftgemäßen  Zusammenlebens  von  Menschen.  Darum  gebe 
sie  ihren  Anhängern  keinen  Anlaß  zu  einer  solchen  tiefen  inneren  Uu- 
befriedigtheit,  wie  sie  für  uns  charakteristisch  ist,  sondern  Ruhe.  Klarheit, 
innere  Sicherheit.  Die  zurzeit  höheren  materiellen  (intellektuellen)  Errungen- 
schaften des  Abendlandes  erzeugten  ausnahmslos  nicht  Befriedigung,  sondern 
steigerten  nur  die  Begierde,  während  es  bekannt  sei,  daß  der  Chinese  sich 
im  allgemeinen  höchst  glücklich  und  zufrieden  fühlt,  daß  ihm  jene  inneren 
Disharmonien  völlig  fehlen.  Die  materiellen  Besitztümer  der  europäischen 
Kultur  ließen  sich  erwerben,  und  zwar,  wie  Japans  Beispiel  lehre,  über- 
raschend leicht  und  schnell,  die  moralischen  Vorzüge  der  Chinesen  aber:  ihre 
Anspruchslosigkeit,  Zufriedenheit,  Arbeitsfreudigkeit,  ihr  patriarchalisches 
Gefühl  zwischen  Volk  und  Obrigkeit,  ihr  inneres  Gleichgewicht,  ihre  Toleranz 
in  Glaubenssachen  usw.  würden  von  uns  viel  schwerer  nachgeahmt  werden 
können.  Und  —  dennoch,  so  schließt  der  Verfasser,  müssen  wir  das  ver- 
suchen, wenn  wir  am  letzten  Ende  bestehen  wollen.  Denn  an  dieser  Ruhe 
und  inneren  Sicherheit  und  Geschlossenheit  des  Chinesentums  wird  unsere 
moderne  Hast  und  unsere  Gebrochenheit  schließlich  zerschellen.  Hier,  nicht 
auf  kriegerischem,  nicht  auf  industriellem  Konkurrenzgebiet,  liege  die  eigent- 
liche, größte  Gefahr,  die  uns  von  der  „gelben  Rasse"  drohe.  —  Nachdenk- 
liche Worte,  die  nur  demjenigen  völlig  absurd  khngen  können,  der  noch 
nie  das  Wurzellose  in  der  wilden  Jagd  unserer  modernen  Entwicklung  emp- 
funden hat. 

Auch  das  ausgezeichnete  Werk  von  Paul  S.  Reinsch  „Intellectual  and 
political  currents  in  the  far  East"  (Boston  &  New  York  1911),  von  dem 
sogleich  noch  die  Rede  sein  wird,  findet  den  wesentlichen  Unterschied 
zwischen  dem  Orientalen  und  dem  Abendländer  darin,  daß  jener  Idealist, 
dieser  Utilitarier  sei;  also  wie  Ku.  Und  ebenso  gibt  es  zu,  daß  jedenfalls 
der    Unterschied    zwischen    Glauben    und    Handeln    bei    den    Konfuzianern, 

14* 


212  Wegen  er,  Chinas  Erwachen. 

Schintoisten  und  Buddhisten  geringer  sei  als  bei  den  führenden  christlichen 
Völkern;  also  wie  Samson-Himmelstjerna. 

Diese  Schriften  sind  alle  noch  vor  der  jüngsten  chinesischen  Revolution 
erschienen.  Sie  schildern  alle  das  allmähliche  Vordringen  der  europäischen 
Ideen  in  China  und  den  Prozeß  des  langsamen,  widerwilligen  Auseinander- 
setzens der  Chinesen  mit  ihnen. 

Die  Geschichte  des  inneren  Werdens  der  gegenwärtigen  chinesischen 
Revolution,  die  geistigen  Vorbedingungen,  aus  denen  sie  entstand  und  erklär- 
lich wird,  behandelt  das  eben  genannte  Buch  des  Professors  Reinsch  in  einer 
ganz  hervorragenden  Weise,  klar,  durchsichtig,  gestützt  ebensosehr  auf  eine 
eingehende  Vertrautheit  mit  der  älteren  staatsphilosophischen  Literatur  der 
Chinesen  wie  mit  den  modernen  geistigen  Strömungen  und  mit  dem  tatsäch- 
lichen Geschehen  dort.  In  dem  Abschnitt:  „Intellectual  tendencies  in  the 
Chinese  reform  movement"  stellt  er  die  verschiedenen  Staatslehren  der  großen 
literarischen  Autoritäten  der  Vergangenheit  Chinas  dar,  die  bis  zum  heutigen 
Tage  das  politische  Denken  der  Nation  beeinflussen,  und  die  Ideen  der  haupt- 
sächlichsten modernen  Leiter  und  schildert  die  Reformversuche  der  letzten 
Jahrzehnte.  Im  Abschnitt:  „The  new  education  in  China"  entwickelt  er  das 
moderne  Erziehungswesen.  In  „a  parliament  for  China"  das  Ringen  um  eine 
parlamentarische  Beteiligung  des  Volkes  an  der  Regierung  und  die  Versuche 
der  Regierung,  diese  Bewegung  in  ein  ruhigeres  Fahrwasser  zu  leiten. 

Reinsch  zieht  mit  Ernst  die  außerordentlichen  Schwierigkeiten  einer 
Modernisierung  Chinas  ans  Licht,  erkennt  abc.  auch  ebenso  die  mannigfachen 
und  bedeutenden  Impulse,  die  China  für  eine  solche  Erneuerung  zu  Gebote 
stehen:  das  erwachende  Nationalempfinden,  das  geschärfte  Ehrgefühl  und 
vor  allem  den  hohen,  zu  jedem  Opfer,  auch  dem  des  Lebens,  freudig  bereiten 
Idealismus,  der  im  chinesischen  Volke  für  die  Sache  der  Nation  überall  sicht- 
bar wird.  Auch  Reinschs  Ausführungen  bestätigen  durchaus,  was  ich  weiter 
oben  andeutete :  Die  Leiter  der  chinesischen  Bewegung,  auch  die  radikalsten 
Fortschrittler  und  am  meisten  euroj^äisierenden  Reformer,  denken  nicht  im 
mindesten  daran,  die  westliche  Zivilisation  für  die  moralisch  höherwertige 
zu  halten;  einzig  und  allein  die  technischen,  die  materiellen  Mittel  dieser 
Zivilisation  sind  es,  die  sie  sich  aneignen  wollen  und  von  denen  sie  über- 
zeugt sind,  daß  man  sie  sich  aneignen  kann,  ohne  die  moralische  Struktur 
der  eigenen  Gesittung  irgendwie  ändern  zu  müssen.  — 

Seitdem  ist  nun  zur  Überraschung  der  Welt  jener  plötzliche  Ausbruch 
einer  Revolution  erfolgt,  die  für  uns  so  ziemlich  Avie  die  radikalste  Umwäl- 
zung in  der  Weltgeschichte  aussieht,  da  eine  etwas  mehr  als  zweitausend- 
jährige absolute  Monarchie  —  in  feudalistischer  Form  ist  sie  noch  ein  paar 
Tausend  Jahr  älter  —  sich  in  eine  Republik  und  zwar  in  eine  föderative 
Republik  verwandelt. 

Wie  steht  es  jetzt  in  China? 

Ich  glaube,  die  ehrlichste  Antwort  darauf  ist  die,  daß  heute  kein  Mensch 
existiert,  der  das  klar  weiß.  Augenblicklich  erscheint  China  vollkommen 
wie  ein  Chaos,  von  dem  niemand  auf  der  Welt  mit  Sicherheit  sagen  kann, 
ob  es  eine  neue  Ordnung  gebären  wird,  oder  ob  es  den  endgültigen  Unter- 
gang auch  dieses  ältesten  aller  bestehenden  Reiche  bedeutet,  wäe  ihn  die 
Zeitgenossen  seiner  Jugend,  die  Reiche  der  Pharaonen  und  der  persischen 
Großkönige,  des  gi-oßen  Alexander  und  der  römischen  Imperatoren,  wie  ihn 
soviele  spätere  Reiche  neben  ihm  gefunden  haben  und  wie  ihn  das  Reich 
der    Türken    demnächst    zu    finden    scheint.       Eins    ist    gewiß:    ein    tiefes 


Wegen  er.  Chinas  Erwachen.  213 

Entsetzen  geht  durch  die  ganze  chinesische  Welt;  ein  Entsetzen  ganz  der 
gleichen  Art,  wie  es  der  gi'eise  Tschangtschitung  so  tragisch  empfand;  das 
Entsetzen  darüber,  daß  die  Ablehnung  der  Europäer  tatsächlich  unmöglich 
ist,  daß  China  notgedrungen  die  tief  verhaßten  fi-emden  Barbaren  nach- 
ahmen muß  in  Dingen,  gegen  die  das  innerste  Wesen  des  Chinsen  sich 
sträubt,  wenn  es  seine  Existenz  retten  will;  ja  daß  es  vielleicht  schon  zu 
spät  dazu  ist.  Schon  lange  waren  das  Gedanken  einzelner,  jetzt  aber  erst 
hat  diese  Gewißheit  durch  die  neugeschaffene  Schule  und  Presse  sich  un- 
gezählten Mllionen  mitgeteilt  und  das  ganze  Volk  zu  einem  ..Erwachen" 
gebracht,  das  nicht  mehr  langsam  vor  sich  geht  und  mystisch-feierlich  aus- 
sieht, wie  der  Ausdruck  jenes  alten  Felsenhauptes  von  Sz'tschwan,  sondern 
jäh  und  angstvoll.     Und  das  Ergebnis  ist  Schrecken  und  Verwirrung  überall. 

Die  Lage  Chinas  ist  zurzeit  zweifellos  fvu-chtbar.  Das  Schlimmste  ist, 
daß  offenbar  im  ganzen  Volk  in  dieser  Stunde  der  höchsten  Not  der  Führer 
fehlt,  daß  keine  überragende  Intelligenz,  kein  beherrschender  Wille,  kein 
fortreißender  Charakter  vorhanden  ist,  der  die  ungeheuren,  willig  zum  Guten 
drängenden  Massenkräfte  zusammenfassen  und  in  flammender  Begeisterung 
um  seine  Person  scharen  könnte.  Yuanschikai  ist  dieser  Mann  nicht;  er  ist 
zu  tief  verstrickt  gewesen  in  die  Intriguen  des  alten  Regimes,  das  Volk  er- 
kennt in  ihm  keinen  nationalen  Helden.  Es  scheint,  als  ob  seine  Autorität 
selbst  in  seiner  nahen  Umgebung  zweifelhaft  ist.  Sunjatsen,  dieser  durch 
ausländische  Erziehung  dem  innersten  Fühlen  der  chinesischen  Massen,  wie 
es  scheint,  stark  entfremdete  Idealist  (dafür  möchte  ich  ihn  halten),  wandelt 
Wege,  auf  denen  ihm  die  Volksmenge  nicht  folgen  kann.  Will  er  doch  in 
China  jetzt  sogar,  nachdem  er  die  „Eepublik".  der  Form  nach  wenigstens, 
en-eicht  hat,  auch  noch  das  Zukunftsideal  der  Sozialisten  verwirklichen !  Fn- 
versöhnbar  durcheinander  zu  wirken  scheinen  heut  die  entfesselten  partikula- 
ristischen  und  demokratischen  Tendenzen  der  einzelnen  Provinzen,  Clans,  ge- 
heimen Gesellschaften,  kaufmännischen  und  Nobilitätsverhände,  und  den  bitter 
notwendigen  Zusammenschluß  der  Kräfte  und  die  Herausbildung  einer  wirk- 
samen Zentralregierung  zu  hindern.  Es  ist  kein  Geld  da  und  keine  Aussicht, 
solches  auf  eine  Ai"t  zu  bekommen,  die  nicht  noch  Schlimmeres  nach  sich  zieht. 
Dazu  Nachbarn,  wie  Japan  und  Rußland,  deren  Haltung  immer  besorgnis- 
erregender wird.  Und  im  Untergrund  von  alledem,  als  Unheimlichstes,  die 
schweigenden  Millionenmassen  des  niedern  Chinesenvolks,  die  mit  unendlicher 
Geduld  Trübsal  und  Bedrückung,  Mißregiening  und  Elend  tragen,  bis  sie 
plötzlich  einmal  in  einem  jener  Feuerbrände  von  rasender,  vernichtender  Wut 
emporflammen,  die  an  elementarer  Zerstörungskraft  alles  hinter  sich  lassen, 
was  wir  in  unserer  Erdhälfte  kennen. 

Es  scheint  mir  gewiß,  daß  China  erst  am  Anfang  einer  Periode  schwerster 
Prüfungen  steht,  ehe  es  zu  einer  Nenschöpfimg  seines  Staatswesens  und  Volks- 
tums gelangen  kann.  Ich  halte  es  sehr  wohl  für  möglich,  daß  es  zeit- 
weilig in  Nord  und  Süd  zerfällt  —  es  ist  schon  wiederholt  so  zerfallen  im 
Laufe  seiner  Geschichte  — ;  ich  halte  es  sogar  für  möglich,  daß  es  zeitweilig, 
mindestens  teilweise,  unter  fi-emde  Herrschaft  gerät,  obwohl  ich  den  Staat 
nicht  beneidenswert  erachte,  der  den  Versuch  zu  einer  Beherrschung  größerer 
Bereiche  des  eigentlichen  Chinas  macht.  Aber  ebenso  glaube  ich,  daß  die 
Chinesen  sich  zuletzt  doch  als  Volk,  als  Kulturgemeinschaft,  als  einheit- 
liches Staatswesen  wieder  finden  und  sich  bewehren  werden.  Zu  groß  ist 
ihre  im  Lauf  von  Jahrtausenden  gewordene  Eigenart  gegenüber  andern 
Völkern,    zu   gewaltig    die    bindende  Kraft   ihrer    Sprache,    Sitte,    Literatur, 


214  Wegener,  Chinas  Erwachen. 

Philosophie,  ihrer  ganzen  gemeinsamen  Geistesrichtung,  die  ihnen  ja  bisher 
eine  wie  alle  Völker,  mit  denen  sie  in  näherer  Berührung  kamen,  beispiellos 
assimilierende  Kraft  gegeben,  zu  gesund,  physisch  und  moralisch,  die  Natur 
dieser  überwiegend  aus  Bauern  bestehenden  Millionen.  Die  Chinesen  sind 
ein  altes,  aber  gar  kein  „gealtertes"  Volk.  Vielleicht  hat  gerade  ihr  langer 
kultureller  Stillstand  ihre  Nervenruhe  gestärkt  wie  ein  Schlaf. 

Und  in  dieser  Hinsicht  ist  nun  jene  unerschütterte  Überzeugung  von 
der  höheren  Trefflichkeit  der  eigenen  Gesittung  eine  gute  Anwartschaft  auf 
einstige  Rettung.  Gewiß  läßt  die  Söhne  der  Mitte  der  Hochmut,  mit  dem 
sie  zurzeit  glauben,  die  materiellen  Vorsprünge  unserer  Zivilisation  seien  nur 
äußerliche  Begleiterscheinungen,  ohne  die  inneren  Tüchtigkeiten  zu  erkennen, 
aus  denen  bei  uns  diese  Errungenschaften  langsam  hervorgereift  sind,  heute 
große  Torheiten  begehn.  Andererseits  ist  es  aber  das  einzige  Heil  eines 
Volks,  den  Kern  seines  Wesens  nicht  aufzugeben,  sondern  sich  zu  bemühen, 
aus  ihm  heraus  sich  zu  erneuern;  nicht  sich  wegzuwerfen  an  das  Fremde, 
sondern  sich  selbst  darin  zu  bewahren.  Dieses  starke  Streben  der  Chinesen 
wird  im  Verein  mit  den  in  ihm  ruhenden  gewaltigen  Kräften  der  Verjüngung 
meiner  festen  Überzeugung  nach  ihnen  ihre  Zukunft  sichern. 

Und  damit  soll  unsere  Politik  rechnen! 


III. 

Der  Panslavismiis 

Von  Dr.  Zdenök  Tobolka 
I.    Die    Entwicklung   des   panslavistischen    Gedankens 
1.  Der  Panslavismus  vor  der  großen   französischen  Revolution 

Obwohl  der  Ausdruck:  „slavische  Wechselseitigkeit"  oder  „Panslavismus" 
erst  aus  dem  19.  Jahrhundert  stammt,  reichen  die  Anfänge  der  panslavistischen 
Idee  trotzdem  weit  in  die  ältesten  Zeiten  des  Mittelalters  zurück.  Bei  den 
alten  böhmischen,  polnischen,  wendischen  und  südslavischen  Schriftstellern^) 
findet  man  sehr  häufig  Spuren  eines  Bewußtseins  dessen,  daß  die  slavischen 
Völker  eines  gemeinsamen  Ursprunges,  daß  sie  sehr  verbreitet  und  die 
slavischen  Sprachen  untereinander  verwandt  sind.  Dieses  Bewußtsein,  das 
man  schon  im  10.  Jahrhundert')  nachweisen  kann,  vertiefte  sich  bei  den 
späteren  slavischen  Schriftsteilem  infolge  der  humanistischen  Bewegung. 
Bei  den  Schriftstellern  des  klassischen  Altertums,  besonders  bei  den  latei- 
nischen, findet  man  sehr  häufig  Nachrichten  von  den  Slaven.  Und  diese 
Nachrichten  bestärkten  nun  im  Zeitalter  des  Humanismus  jene  innere  Über- 
zeugung der  slavischen  Schriftsteller  von  dem  gemeinschaftlichen  Ursprünge, 
von  der  Verwandtschaft  und  gi-oßen  Verbreitung  der  slavischen  Völker.  Nur 
auf  die  Bulgaren,  die  im  Mittelalter  noch  nicht  in  die  Sphäre  der  kultui'ellen 
Völker  gehörten,  bezog  sich  dieses  slavische  Bewußtsein  nicht. 

Ein  volles  Jahrhundert  vor  der  großen  französischen  Revolution  gab 
es  bereits  einen  slavischen  Schriftsteller,  der  sehr  viel  über  das  Problem  der 
slavischen  Wechselseitigkeit  nachdachte  und  der  das  erste  Programm  des 
Panslavismus  aufgestellt  hat.  Es  war  der  Kroate  Georg  Krizaniö^),  der 
im  17.  Jahrhundert  lebte  und  katholischer  Priester  war.  Er  hatte  große 
Reisen  durch  die  slavischen  Länder  gemacht  und  kannte  die  slavische  Welt 
nicht  nur  aus  den  Büchern,  sondern  auch  aus  eigener  Anschauung.  Er  war 
recht  unbefriedigt  von  dem  Zustande,  in  dem  er  die  slavischen  Völker  an- 
getroffen hatte.  Rußland  allein  war  im  17.  Jahrhundert  selbständig,  alle 
übrigen  slavischen  Völker  befanden  sich  unter  der  Herrschaft  von  Fremden. 
Kriäaniö  bezeichnete  Rußland  „als  einziges,  unabhängiges  Organisationselement 


^)  J.  Perwolf:  Slavjane,  ich  vzajemnyja  otno§enija  i  svjazi  (Die  Slaven, 
ihre  wechselseitigen  Beziehungen  und  Bündnisse).  Varsava  (Warschau)  1886  u.  w. 

^)  In  der  Legende  Christians,  die  aus  dem  10.  Jahrhundert  stammt. 
Siehe  J.  Pekaf:  Die  Wenzels-  und  Ludmilalegenden  und  die  Echtheit  Chri- 
stians.    Prag  1906. 

*)  Siehe  Perwolfs  Werk  11,  309.  —  J.  Vui6:  Kri^aniöeva  politika 
(Die  Politik  Krizaniö's). 


216  Tobolka,  Der  Panslavismus. 

der  slavischen  Welt".  —  Er  wünschte,  daß  der  russische  Kaiser  für  die 
Wohlfahrt  der  slavischen  Völker  Sorge  trage,  er  verlangte,  daß  die  slavischen 
Töchter  keine  Fremden  heirateten  und  erstrebte  die  kirchliehe  Einigung  der 
orthodoxen  und  katholischen  Slaven.  Er  beschäftigte  sich  viel  mit  slavischer 
Philologie,  erdachte  sogar  eine  allslavische  Sprache,  deren  sich  alle  slavischen 
Schriftsteller  bedienen  sollten,  und  schlug  die  Ausarbeitung  einer  allslavischen 
Grammatik,  eines  allslavischen  Wörterbuches  und  einer  allslavischen  Geschichte 
vor.  Allein  seine  Vorschläge  blieben  die  Stimme  eines  Eufenden  in  der 
Wüste.     Seine  Zeit  hatte  für  Krizaniö's  Ideen  noch  kein  Verständnis. 

2^).    Einfluß  der  Ideen   der  französischen   Revolution  auf  den 

Panslavismus 

Die  Gedanken  der  gi'oßen  französischen  Eevolution  hatten  zur  Folge, 
daß  die  Organisation  der  Völker  nach  der  kirchlichen  und  Landeszugehörigkeit 
aufhörte  und  sie  ebneten  den  Weg  zur  Organisation  nach  der  Volkszuge- 
hörigkeit. Die  slavischen  Völker,  unter  denen  die  Ideen  der  französischen 
Eevolution  direkt  oder  indirekt  durch  die  deutschen  Schriftsteller  bekannt 
wurden,  begannen  zu  fühlen,  daß  sie  Mitglieder  einer  Nationalität  seien. 
Damit  hebt  unter  den  Slaven  die  nationale  Bewegung  an  und  gewinnt  an 
Boden.  Von  allen  Ideen  der  französischen  Eevolution  übten  diejenigen 
Eousseaus  den  größten  Einfluß  auf  die  nationale  Wiedergeburt  der  Slaven 
aus.  Unter  dem  Einflüsse  Eousseaus  begannen  deutsche  Dichter  und  Gelehrte 
(Herder,  Schlözer,  Michaelis  u.  a.)  von  den  Slaven  sympathisch  zu  schreiben; 
sie  glaubten,  daß  die  slavische  Welt  ein  bedeutsames  Beispiel  für  die 
Eousseauschen  Theorien  darstelle.  Auch  beschäftigten  sich  diese  deutschen 
Forscher  mit  der  slavischen  Vergangenheit. 

A.  L.  Schlözer  stärkte,  indem  er  die  alte  slavische  Geschichte  studierte, 
das  nationale  Bewußtsein  der  Slaven.  Die  Deutschen  brauchten  für  ihre 
Studien  die  Kenntnis  der  slavischen  Sprachen  imd  sie  forderten  ihre  Schüler 
zur  Erlernung  dieser  Sprachen  auf.  Dies  tat  z.  B.  der  Göttinger  Professor 
der  orientalischen  Sprachen  J.  D.  Michaelis,  der  damals  der  Führer  einer 
neuen,  kritischen  Eichtung  des  Bibelstudiums  in  Deutschland  war*). 

Der  erste  große  böhmische  Gelehrte  der  Neuzeit,  der  Begründer  der 
Slavistik,  zugleich  der  eigentliche  Erwecker  des  tschechisch-böhmischen  Volks- 
bewußtseins, der  Ordenspriester  Jos.  Dobrovsky  (1753 — 1829),  gehörte  zu 
den  Panslavisten  jener  Zeit.  Er  studierte  nach  den  neuen  wissenschaftlichen 
Methoden  die  slavische  Grammatik,  die  alte  slavische  Geschichte  und  kam 
auf  wissenschaftlichem  Wege  zu  derselben  Überzeugung,  zu  welcher  die  alten 
slavischen  Schriftsteller  gelangt  waren,  nämlich,  daß  die  slavischen  Völker 
eines  gemeinschaftlichen  Ursprungs  und  die  slavischen  Sprachen  verwandt 
seien.  Wie  die  alten  slavischen  Schriftsteller,  so  geriet  auch  Dobrovsky  durch 
die  Erkenntnis  der  großen  Verbreitung  der  Slaven  in  Begeisterung.  Indem 
Dobrovsky  die  sprachliche  Vereinigung  der  Deutschen  als  Muster  ansah, 
wünschte  er,  daß  auch  die  Slaven  in  sprachlicher  Hinsicht  vereinigt  würden. 


')  Siehe  mein  Buch:  Slovansky  sjezd  v  Praze  roku  1848  (Der  slavische 
Kongreß  in  Prag  im  Jahre  1848).     Prag  1901.    S.  3  u.  w. 

")  J.  Jakubec:  K  poöätküm  studii  slavistickych  v  stoleti  18  (Zu  den 
Anfängen  der  slavistischen  Studien  im  18.  Jahrhundert).  —  Listy  filologicke 
(Philologische  Blätter)  XXVIII,  459  u.  w. 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  217 

Er  meinte,  daß  die  slavisulien  Völkerschaften  die  literarische  Herrschaft  einer 
slavischen  Sprache  anerkennen  und  sich  bloß  einer  einzigen  Orthographie 
bedienen  sollten  und  ging  in  seinen  Schlußfolgerungen  so  weit,  daß  er  die 
Vereinigung  aller  Slaven  in  einem  Staate  wünschte.  Er  glaubte  auch  fest 
daran,  daß  seine  Wünsche  einmal  in  Erfüllung  gehen  würden. 

Der  Vorläufer  Dobrovskys  in  Böhmen,  aber  trotzdem  in  Hinblick  auf 
seine  wissenschaftliche  Forschertätigkeit,  dessen  Schüler,  Mitglied  des  Paulaner 
Ordens,  F.  V.  Durych  (1735 — 1802)  beschäftigte  sich  mit  dem  kulturellen 
Leben  der  alten  Slaven  und  im  Gegensatz  zu  Dobrovsky,  suchte  er  zu  be- 
weisen, daß  die  alten  Slaven  auch  eine  selbständige  Kultur  besessen  hätten, 
obwohl  fi-erade  Einflüsse  daran  bemerkbar  wären. 

Der  Kenner  der  slavistischen  Arbeiten  Dobrovskys  im  slavischen  Süden '), 
der  Slovene  und  katholischer  Priester  Georg  Japelj  (1744 — 1807)  wollte 
die  Mutter  der  slavischen  Sprachen  finden.  Er  gewann  die  Überzeugung, 
daß  diese  slavische  Sluttersprache  nicht  mehr  existiere  und  daß  alle  slavischen 
Sprachen  untereinander  in  geschwisterlichem  Verhältnisse  ständen.  Er  sprach 
auch  den  Gedanken  aus,  daß  sie  sich  als  Schwestern  untereinander  lieben 
sollten.  Japelj  erstrebte  die  Annäherung  der  Slaven  auf  kulturellem  Gebiete 
und  seine  Gedanken  hierüber  formulierte  er  in  durchaus  konkreter  Weise. 
Er  schlug  die  Gründung  eines  slavischen  Gelehrtenvereins  vor,  der  nicht  nur 
schriftliche,  sondern  auch  persönliche  Beziehungen  unter  den  Slaven  pflegen 
soUte.  Dieser  slavische  Gelehrtenverein  sollte  seine  Tätigkeit  vor  allem 
fulgeiden  Aufgaben  widmen:  1.  Die  Ausdrücke,  die  allen  slavischen  Sprachen 
gemeinschaftlich  sind,  herauszusuchen  und  zu  sammeln.  2.  Eine  vergleichende 
Grammatik  der  slavischen  Sprachen  auszuarbeiten.  3.  Eine  allen  Slaven 
gemeinschaftliche  Schrift  einzuführen.  4.  Kleine  und  praktische  vergleichende 
Grammatiken  für  jede  slavische  Mundart  zusammenzustellen.  Japelj  war 
überzeugt,  daß  nach  der  Durchführung  aller  seiner  Vorschläge  nicht  nur 
slavische  Wissenschaft  und  Kunst,  sondern  auch  der  slavische  Handel  sehr 
viel  gewinnen  könnten.  Japelj,  der  unter  dem  Einflüsse  der  Miehaelischen 
Richtung  an  der  slovenischen  Übersetzung  der  Bibel  arbeitete,  hatte  einen 
Mitarbeiter.  Es  war  dies  der  katholische  Priester  B.  Kumerde  j  (1738 — 1805). 
Dieser  war  gleichfalls  ein  Anhänger  der  slavischen  Wechselseitigkeit.  Er  er- 
dachte, wie  einige  bereits  erwähnte  vor  ihm,  eine  allslavische  Sprache  und 
verfaßte  auch  eine  Grammatik  zu  deren  Erlernung. 

Der  zweite  unter  den  Erweckern  des  tschechisch-böhmischen  National- 
bewußtseins, Jos.  Jungmann  (1773 — 1847),  der  eigentliche  Begründer  der 
neueren  tschechischen  Schriftsprache,  war  ein  Panslavist.  Er  glaubte  an  eine 
große  Zukunft  der  Slaven.  Er  sah,  wie  zu  seiner  Zeit  Napoleon  von  Eußland 
besiegt  wurde,  er  war  darüber  glücklich  und  erwartete  noch  größere  Dinge 
von  Rußland.  Nach  dem  Vorbilde  der  Deutschen  wünschte  er  die  sprach- 
liche Einigung  der  Slaven  und  zwar  durch  allgemeine  Annahme  des 
Russischen.  Jungmann  war  nicht  dagegen,  daß  die  Slaven  auch  unter  der 
Führung  Rußlands  einen  einzigen  Staat  bildeten.  Es  machte  ihm  keine  Be- 
denken, daß  Rußland  absolutistischer  Staat  war,  denn  er  war  Anhänger  der 
Idee  des  aufgeklärten  Absolutismus.  Jungmann  stand  in  Böhmen  mit  seinen 
Gedanken  nicht  allein;  unter  seiner  geistigen  Führung  verbreiteten  sich  viel- 
mehr seine  Ideen  unter  der  ganzen  Intelligenz. 


*)  F.  Ilesiß:  Vzäjemnost  öeskoslovinskä  v  minulosti  (Die  böhmisch- 
slovenische  Wechselseitigkeit  in  der  Vergangenheit).  Slovansky  Pfehled 
(Slavische  Revue)  11,  170  u.  w.     IV,  453  u.  w. 


218  Tobolka,  Der  Panslavismus. 

Der  Slovene  Bartolomaeus  Kopitar  (1780—1844),  einer  von  den 
Wiener  Slavisten  jener  Zeit,  riet  als  überzeugter  Panslavist,  daß  sich  die 
slavischen  Nationen,  wenn  sie  etwas  Größeres  leisten  wollten,  vereinigen 
sollten.  Kopitar  war  ein  Forscher  und  darum  beschränkten  sich  seine  Vor- 
schläge auf  das  kulturelle  Gebiet.  Er  redigierte  ein  paar  Monate  die  „Wiener 
Jahrbücher  für  Literatur"  und  wollte  diese  Zeitschrift  zu  einem  Zentralorgan 
aller  westslavischen  Gelehrten  ausgestalten.  Er  verlangte  die  Gründung  einer 
slavischen  Zentral- Akademie  in  Wien;  es  war  dies  zur  Zeit,  als  in  Österreich 
noch  keine  deutsche  Akademie  der  Wissenschaft  bestand.  Er  legte  Dobrovsky 
einen  Plan  für  die  Herausgabe  einer  slavischen  Enzyklopädie  vor  und  meinte, 
daß  die  Slaven  nach  dem  Muster  der  alten  Griechen  in  verschiedenen  Mund- 
arten schreiben  könnten,  aber  stets  mit  den  gleichen  Schriftzeichen  und  mit 
Anwendung  derselben  Rechtschreibung. 

3^).    Der  Gedanke  der  slavischen  Wechselseitigkeit  unter  dem 
Einfluß  der  deutschen  Einheitsbestrebungen 

Die  bisher  geschilderte  Entwicklung  des  allslavischen  Gedankens  erfuhr 
dadurch  weitere  Förderung,  daß  die  Slaven  bei  den  Deutschen  ein  Beispiel 
des  Kampfes  einer  Nation  um  ihre  Emanzipation  mit  ansahen  und  dabei  auch 
die  Wichtigkeit  dieses  bis  dahin  im  allgemeinen  unbekannten  Kampfzieles 
erkannten. 

Diese  Erkenntnis  wurde  den  Slaven  durch  die  Tschechen  und  be- 
sonders durch  zwei  ihrer  Schriftsteller,  den  wissenschaftlichen  Forscher 
Paul  J.  äafafik  (1795 — 1861)  und  durch  den  Dichter  und  Publizisten  Joh. 
Kollär  (1793 — 1852)  vermittelt.  Die  ersten  Jahre  des  19.  Jahrhunderts  sind 
in  Deutschland  durch  den  heftigen  Kampf  gegen  Frankreich  charakterisiert. 
Die  Deutschen  als  bewußte  Nationalisten  standen  gegen  alles,  was  französisch 
hieß  und  zwar  in  der  Literatur,  in  der  Schule,  in  Vereinen  und  auf  der 
Rednertribüne.  Sie  haßten  die  Franzosen,  und  dieser  Haß  drang  durch  die 
Zeitungen  in  das  Volk.  Die  Deutschen  erhofften  ihr  Heil  in  der  Einigung 
aller  Deutschen.  Als  Mittelpunkt  dieser  Bewegung  galt  damals  die  Universität 
Jena.  An  dieser  studierten  Safafik  und  Kollär,  der  erste  im  Jahre  1815, 
der  zweite  von  1817 — 1819.  Schon  bevor  die  beiden  Männer  nach  Jena 
kamen,  gehörten  sie  der  nationalistischen  Strömung  an,  die  Jungmann  in 
Böhmen  repräsentierte.  In  Jena  fanden  sie  Gelegenheit,  ihre  Anschauungen 
zu  vertiefen  und  zu  ergänzen.  Beide  Männer  kamen  zu  denselben  Gedanken 
über  die  slavische  Frage  und  beide  wurden  Herolde  dieser  Gedanken  unter 
den  Slaven.  Aber  beide  hatten  nicht  ein  und  denselben  Einfluß.  Kollär 
gewann  größeren  Einfluß,  weil  er  eine  dichterische,  heißblütige  Natur  war, 
während   Safafik   mehr  als  ruhiger  Gelehrter  zu  bezeichnen  ist. 

Safafik  und  Kollär  verkündeten  ihre  Ideen  in  der  slavischen  Frage  zu 
derselben  Zeit,  obwohl  sie  nicht  gleichzeitig  in  Jena  gewesen  waren.  Beide 
staunten  über  die  Verbreitung  der  Slaven,  glaubten  an  das  russische  Slaven- 
tum,  anerkannten  die  Bestrebungen  des  russischen  Kaisers  Alexander  und 
hofften,  daß  durch  die  russischen  Waffen  ein  großes  slavisches  Reich  mit 
Rußland  an  der  Spitze  gegründet  werde.  Aber  als  sie  die  Undurchführbar- 
keit  ihrer  politischen  Ideale  erkannt  hatten,  beschränkten  sie  sich  in  der 
slavischen  Frage  auf  das  kulturelle  Gebiet.    Kollär  legte  im  Jahre  1837  seine 


')  Siehe  mein  zit.  Buch  S.  13  u.  w. 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  219 

Gedanken  in  einer  deutsch  ofeschriebenen  Studie  nieder,  die  den  Titel  trug: 
„Über  die  literarische  Wechselseitigkeit  zwischen  den  verschiedenen  Stämmen 
und  Mundarten  der  slavischen  Nation."  Öafafik  drückte  sofort  nach  dem  Er- 
scheinen dieser  Schrift  seine  Zustimmung  aus,  wobei  er  auch  deren  Übersetzung 
in  das  Russische  anriet. 

Was  für  Gedanken  enthält  das  Kollärsche  Buch?  Nichts,  was  vorher 
völlig  unbekannt  war.  Kollär  stellte  nur  das  alles  in  ein  System  zusammen, 
was  wir  sporadisch  in  den  Schriften  und  Korrespondenzen  der  damaligen 
slavischen  Erwecker  finden  könnten.  Kollär  erdachte  bloß  das  Wort:  „slo- 
vanskä  vzäjemnost",  „slavische  Wechselseitigkeit",  und  stellte  diesen  Begriff 
auf  eine  ästhetische  und  humanistische  Grundlage.  Er  wünschte,  daß  die 
Slaven  groß  würden,  und  meinte,  daß  diese  Größe  durch  die  Vereinigung 
aller  ihrer  Völkerschaften  in  eine  Nation  erlangt  werden  könnte.  Er  be- 
trachtete alle  slavischen  Sprachen  als  Mundarten  einer  einzigen.  In  dieser 
sprachlichen  Vereinigung  sah  er  keinen  Landesverrat.  Er  riet  auch,  daß  die 
Slaven  ihre  Streitigkeiten  aufgeben  sollten.  So  allgemein  motivierte  Kollär 
die  slavische  Wechselseitigkeit. 

Nach  Kollär  sollten  die  Slaven  in  wechselseitigen  kulturellen  Beziehungen 
leben.  Die  Schriften  einer  Nation  sollten  auch  von  den  übrigen  angeschafft 
und  gelesen  werden,  und  die  Ausdrücke,  die  dieser  oder  jener  Sprache  fehlten, 
sollten  aus  der  anderen  slavischen  Sprache  genommen  werden.  Die  literarische 
Wechselseitigkeit  der  Slaven,  wie  sie  sich  Kollär  vorstellte,  sollte  die  Grenzen 
der  Staaten  oder  Kirchen  nicht  tangieren,  es  lag  ihr  auch  kein  Streben  nach 
einem  Zusammenfließen  aller  slavischen  Sprachen  in  eine  Haupt-  oder  Schrift- 
sprache zugrunde.  Der,  welcher  als  überzeugter  Slave  gelten  wolle,  müsse 
mindestens  vier  slavische  Sprachen  kennen,  russisch,  illyrisch,  polnisch  und 
tschechoslovakisch,  iind  zwar  wenigstens  in  grammatisch-lexikalischer  Hinsicht. 

Kollär  schlug  aber  auch  die  Mittel  vor,  die  zur  Durchführung  seiner 
Gedanken  dienen  sollten:  In  allen  slavischen  Hauptstädten  sollten  slavische 
Buchhandlungen  gegründet  werden;  die  slavischen  Schriftsteller  sollten  unter- 
einander ihre  Bücher  austauschen;  an  den  slavischen  Hochschulen  sollten 
Lehrstühle  der  slavischen  Sprachen  errichtet  werden.  Es  sollte  eine  Zeitung 
für  alle  Slaven  und  in  allen  slavischen  Sprachen  erscheinen ;  es  sollten  öffent- 
liche und  Privatbibliotheken  der  slavistischen  Literatur  gegründet  werden.  Kollär 
befürwortete  die  Herausgabe  slavischer  vergleichender  Grammatiken,  von 
Wörterbüchern  der  slavischen  Sprachen,  die  Sammlung  der  slavischen  Volks- 
lieder, Sprichwörter  u.  dgl.  Er  wollte  alle  Fremdwörter  aus  den  slavischen 
Sprachen  beseitigen  und  wie  andere  slavische  Schriftsteller  vor  ihm,  wollte 
auch  er  eine  einheitliche  Rechtschreibung  für  alle  slavischen  Sprachen  ein- 
führen. Dies  sollten  die  ersten  Schritte  zum  Ideal  einer  allslavischen  Schrift- 
sprache sein. 

Kollärs  Schrift  war  mit  großer  Sympathie  bei  allen  Slaven  aufgenommen 
■worden.  Der  kroatische  Journalist  L.  Gaj  (1809 — 1872)  wurde  der  Apostel 
der  slavischen  Wechselseitigkeit  im  slavischen  Süden,  der  serbische  Jour- 
nalist T.  Pavloviß  (1804 — 1854)  wirkte  im  Sinne  der  Gedanken  Kollärs  unter 
den  Serben.  Das  Buch  Kollärs  erschien  deutsch  im  Jahre  1844  zum  zweiten 
Mal  und  ist  zweimal  in  das  Russische,  einmal  in  das  Serbische  und  Tschechische 
übersetzt  worden.  Die  südslavischen  Schriftsteller  nannten  Kollärs  Schrift 
das  slavische  Evangelium.  Kollär  beeinflußte  die  slavische  Welt  nicht  nur 
durch  diese  Schrift,  sondern  auch  als  Dichter,  und  zwar  als  Verfasser  der 
Dichtung  „Slävy  dcera"  (Slävas  Tochter),  in  der  er  die  gi-oße  Vergangenheit 
ebenso  wie  die  herrliche  Zukunft  der  vereinigten  Slaven  schilderte.  — 


220  Tobolka,  Der  Panslavismus. 

In  der  Slovakei  war  der  katholische  Pfarrer  in  Madunic  und  einer  von 
den  berühmtesten  slovakischen  Dichtern  J.  Holy  (1785 — 1849)  der  Führer 
der  KoUärianer,  deren  wii*  eine  lange  Reihe  nennen  können.  Die  Vorläufer 
der  sogenannten  slovakischen  literarischen  Stürschen  Schule,  die  nach  dem 
Begründer,  Publizisten  L.  Stur  (1815 — 1856)  ihren  Namen  trägt,  standen 
unter  dem  Einflüsse  der  slavischen  Wechselseitigkeit.  Die  Schriftsteller  S. 
Chalüpka  (1812—1883),  K.  Stur  (1811—1851),  S.  Godra  (1808—1873), 
gehörten  zu  den  Panslavisten  und  nach  ihnen  L.  Stür  mit  allen  seinen 
Schülern.  Unter  den  Wenden  verbreiteten  Kollärs  Gedanken  die  Studenten 
dieses  Stammes,  welche  das  Prager  wendische  Seminar  besucht  hatten.  Vom 
Jahre  1839  an  agitierte  KoUär  selbst  unter  den  Wenden  für  seine  Anschau- 
ungen. Er  pflegte  seine  Schriften  nach  der  Lausitz  zu  senden  und  gewann 
für  seine  Meinung  in  der  slavischen  Frage  zwei  Führer  der  wendischen 
Schriftsteller,  die  Journalisten  J.  E.  Smolef  (1816—1884)  und  J.  P.  Jordan 
(1818 — 1891).  Der  slavische  Süden  wurde  sehr  bald  in  seiner  Ganzheit  zum 
Apostel  der  Kollärschen  Gedanken.  Vom  Jahre  1819  an  unterhielt  Kollär  in 
Budajjest  lebhafte  Beziehungen  mit  den  Südslaven.  Er  selbst  kam  mit  den 
südslavischen  Studenten  zusammen,  lud  sie  zu  sich  ein,  und  wenn  sie  Buda- 
pest verließen,  pflegte  er  mit  ihnen  in  regem  Briefwechsel  zu  bleiben,  besuchte 
sie  in  ihrer  Heimat  und  vergaß  nicht,  ihnen  seine  Schriften  zu  senden. 

Der  obengenannte  Eroate  Gaj  sprach  sich  in  seiner  im  Jahre  1830 
erschienenen  Schrift  „Kratka  osnova  horvatskoslovenskoga  pravopisanja" 
(Kurze  Einführung  in  die  kroatisch-slovenische  Rechtschreibung)  für  die 
Kollärschen  Gedanken  aus,  und  unter  dem  Einflüsse  dieser  fand  er  den  Be- 
griff: Illyrismus.  Der  Illyrismus  entsprang  denselben  Gründen  wie  die 
Kollärsche  Wechselseitigkeit,  nämlich  der  Erkenntnis,  daß  die  slavischen 
Nationen  getrennt  sehr  schwach  seien,  aber  daß  sie  etwas  Großes  leisten 
könnten,  wenn  sie  vereinigt  würden.  Gaj  wünschte  zuerst  auf  die  Vereinigung 
aller  Siidslaven  hinzuarbeiten,  und  zwar  jener  Südslaven,  die  das  damalige 
Llyrien  bewohnten.  Sie  sollten  als  ihre  Sprache  das  Kroatische  annehmen, 
das  mit  der  serbischen  Schriftsprache,  wie  sie  in  der  neuesten  Literatur  zur 
Anwendung  kam,  verschmolzen  werden  sollte. 

Kollär  erweckte  die  Südslaven  nicht  nur  durch  seine  Wechselseitigkeit, 
sondern  auch,  wie  schon  angedeutet  wurde,  durch  sein  dichterisches  Wirken. 
Wie  die  südslavischen  Forscher  unter  dem  Einflüsse  der  panslavistischen 
Gedanken  arbeiteten,  so  schufen  damals  die  südslavischen  Dichter,  beeinflußt 
und  geleitet  durch  Kollärs  Werk. 

In  Galizien  war  es  Lemberg,  wo  die  Kollärsche  slavische  Wechsel- 
seitigkeit Annahme  gefunden  hatte.  Zwei  Tschechen,  der  tschechische  Archäologe 
K.V.Zap(1812— 1871)  und  der  tschechische  Dichter  J.P.Koubek  (1805— 1854), 
die  eine  längere  Zeit  in  Lemberg  als  Staatsbeamte  weilten,  warben  für  die 
Kollärschen  Gedanken.  Die  kulturelle  Anstalt  der  Ossoliüski  wurde  der 
Mittelpunkt  aller  derer,  die  den  Kollärschen  Ideen  anhingen.  Es  waren  dies 
nicht  nur  Polen,  sondern  auch  Ruthenen,  die  damals  in  der  Anstalt  der 
Ossoliüski  mit  den  Polen  in  brüderlicher  Liebe  lebten.  Auch  in  der  ükrajine 
fanden  die  Kollärschen  Gedanken  große  Verbreitung.  Die  Intelligenz  von 
Charkow  las  mit  Vergnügen  die  Schriften  Kollärs  und  in  einer  slavistischen 
Gesellschaft,  zu  der  der  Archäologe  J.  J.  Sreznevskij  (1812—80)  und  der 
Historiker  N.  J.  Kostonarov  (1817 — 85)  gehörten,  wurden  Diskussionen  über 
die  slavische  Wechselseitigkeit  geführt.  Kostonarov  hatte,  als  er  im  .Jahre  1845 
nach  Kijew  übersiedelte,  ein  ganzes  Programm  ausgearbeitet,  nach  welchem 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  221 

die  slavische  Frage  zu  lösen  sei.  Er  stimmte  allen  Gedanken  KoUärs  zu, 
aber  er  kam  noch  weiter  als  Kollär  und  schloß  auch  ein  ])raktisches  Pro- 
gramm in  die  slavische  Frage  ein.  Er  wollte  aus  allen  slavischen  Nationen 
eine  Föderation  unter  dem  Protektorate  des  russischen  Kaisers  schaffen,  doch 
verkündigte  er  ausdrücklich,  daß  dabei  die  Eigenart  der  slavischen  Nationen 
nicht  angetastet  werden  solle. 

Unter  dem  Einflüsse  dieser  Gedanken  entstand  in  Kijew  ein  Verein,  „Die 
Bruderschaft  St.  Cyrills  und  Methods",  und  unter  dem  Einflüsse  dieser  Ge- 
danken schuf  auch  der  ruthenische  Dichter  T.  Sevöenko  (1814 — 61). 

Der  Einfluß  der  Schriften  Safafiks  auf  die  slavische  Intelligenz  war 
kleiner  als  der  Einfluß  jener  KoUärs.  Der  Grund  dafür  lag  nicht  nm-  in  der 
Verschiedenheit  der  Natur  der  beiden  Schriftsteller,  sondern  auch  in  dem 
Gebiete,  auf  dem  sie  tätig  waren.  Safafik  war  Verfasser  streng  wissenschaft- 
lich gehaltener  Werke,  er  war  kein  Dichter  und  kein  Journalist.  In  den 
Jahren  1836 — 37  veröffentlichte  er  das  Buch  „Slovanske  Staro2itnosti"  (Slavische 
Altertümer).  Dieses  große  Werk  wurde  den  Slaven  eine  Fundgrube  von 
Gegengründen  im  Kampfe  mit  den  Deutschen.  Safafik  bewies  in  seinem 
Werke,  daß  die  Slaven  schon  vor  Christi  Gebnrt  in  Europa  ansässig  gewesen 
sind,  und  zwar  in  allen  Gegenden,  die  von  der  Ostsee  bis  zur  Adria  und 
dem  Schwarzen  Meere,  von  Weichsel  bis  zum  Don  reichen.  Durch  sein  Werk 
gelang  es  ihm,  festzustellen,  daß  die  Slaven  in  Europa  ebenso  wie  die 
Germanen,  Gallier,  Italier  und  Griechen  seit  Menschengedenken  heimisch 
sind.  Die  „Slavischen  Altertümer"  riefen  in  der  slavischen  Gelehrtenwelt  eine 
freudige  Erregung  hervor.  Sie  wurden  in  das  Polnische  und  Deutsche  und 
teilweise  auch  in  das  Serbische  und  Russische  übersetzt.  Das  slavische  Be- 
wußtsein ist  durch  dieses  Werk  sehr  gefördert  worden.  Aber  verbreiteter 
als  die  „Sla\'ischen  Altertümer"  Safafiks  war  sein  anderes  Werk  „Slovansky 
närodopis  (Slavische  Ethnographie).  Es  war  dies  ein  Buch,  das  die  Gegen- 
wart schilderte,  das  die  Wohnsitze  aller  Slaven  und  dadurch  ihre  große  Zahl 
feststellen  sollte.  Safafik  führte  diese  schwere  Aufgabe  avif  philologischer 
Grundlage  durch.  Im  Tschechischen  erschien  dies  Buch  mehr  als  einmal 
und  wurde  in  das  Russische  und  Polnische  übertragen.  Die  Südslaven 
schätzten  die  „Slavische  Ethnographie"  Safafiks  ebenso  hoch,  wie  Kollärs 
Buch    „Über  die  slavische  Wechselseitigkeit". 

Safafiik  und  Kollär  hatten  in  ihren  Arbeiten  für  die  slavische  Frage 
ein  Programm  aufgestellt.  Safafik  bewies  die  geschichtliche  Gleichberech- 
tigung der  Slaven  mit  den  Germanen,  Italiem,  Griechen  und  Galliern  und 
zeigte,  wie  sehr  die  Slaven  in  der  Vergangenheit,  wie  auch  zu  seiner  Zeit 
verbreitet  waren;  Kollär  träumte  von  einer  besseren  Zukunft  der  Slaven  und 
machte  Vorschläge,  wie  man  im  Sinne  der  slavischen  Wechselseitigkeit  auf 
dem  kulturellen  Gebiete  arbeiten  sollte. 

41).    Die  tschechische  Opposition  gegen  Kollärs  slavische 
Wechselseitigkeit 

Im  Jahre  1846  entstand  gegen  die  Kollärschen  Gedanken  eine  Opposition, 
deren  Führer  der  tschechische  Journalist  Karl  Havliöek  (1821 — 1856)  war. 
HavHöek  gehörte  schon  als  akademischer  Hörer  in  Prag  zu  den  Anhängern 
Kollärs.     Als   solcher  empfand  er  die  Pflicht,  die  slavischen  Sprachen  zu  er- 


^)  Siehe  mein  Buch:  Karel  Havlidek.    Prag  1905.    S.  132  u.  w. 


222  Tobolka,  Der  Panslavismus. 

lernen,  die  slavische  Welt  zu  besichtigen  und  ihre  Vergangenheit  und  Gegen- 
wart kennen  zu  lernen.  Er  eignete  sich  nicht  nur  die  Kenntnis  der  wichtigsten 
slavischen  Sprachen  an,  sondern  unternahm  auch  Eeisen  nach  Mähren,  in 
die  Slovakei,  Galizien,  machte  sich  in  Wien  mit  Südslaven  bekannt  und  lebte 
über  ein  ganzes  Jahr  in  Moskau,  wo  er  auch  mit  einem  Bulgaren  Beziehungen 
unterhielt. 

Havliöek  erkannte,  daß  einige  Slaven  die  Kollärschen  Gedanken  sehr 
obei-flächlich  aufgefaßt  hatten  und  entschloß  sich  deshalb  dagegen  zu  schreiben, 
aber  er  ging  noch  weiter  und  wollte  auf  publizistischem  Wege  dartun,  was 
er  an  den  Kollärschen  Ideen  selbst  für  unrichtig  hielt.  Havliöek  war  in 
Moskau  unter  dem  Einfluß  der  deutschen  Literatur,  besonders  unter  dem 
Lessings,  Anhänger  der  liberalistischen  Ideen  geworden  und  haßte  als  solcher 
den  russischen  Absolutismus.  Aber  er  sah  noch  mehr,  er  sah,  daß  die  Russen, 
soweit  sie  sich  zur  slavischen  Wechselseitigkeit  bekannten,  das  Eintreten  für 
diese  Idee  als  Weg  zur  Erreichung  eines  russischen  Universalreiches  be- 
trachteten. Havliöek  hatte  Gelegenheit  in  Eußland  zu  erkennen,  daß  die 
Behauptung,  die  Slaven  lebten  in  brüderlicher  Liebe,  nicht  zutreffe  und  daß 
die  volle  slavische  Wechselseitigkeit  wegen  des  alten  Streites  zwischen  Polen 
und  Russen  auf  längere  Zeit  unmöglich  sei.  Havliöek  wollte  die  kulturellen 
Beziehungen  aller  slavischen  Völker  fördern,  aber  in  bezug  auf  das  politische 
Leben  wollte  er  als  Tscheche  nur  mit  den  österreichischen  Südslaven  ge- 
meinsame Aktionen  unternehmen.  Er  kam  schon  in  Rußland  zur  Über- 
zeugung, daß  einige  Voraussetzungen  der  Kollärschen  Gedanken  falsch  und 
daß  die  Slaven  keine  Nation,  sondern  eine  Familie  von  eng  verwandten 
Völkern  seien.  Als  er  nach  Prag  heimkehrte,  führte  er  eine  in  Rußland 
gefaßte  Absicht  aus  und  stellte  alles,  was  er  von  der  slavischen  Frage  dachte, 
in  einem  Aufsatze  zusammen,  der  im  Jahre  1846  unter  dem  Titel  „Slovan 
a  Öech"  (Der  Slave  und  der  Tscheche)  0  in  den  „Prazske  Noviny"  (Prager 
Zeitung)  erschien.  In  diesem  Aufsatze  brachte  Havliöek  ein  neues  Programm 
in  der  slavischen  Frage,  welches  bis  auf  unsere  Tage  von  allen  tschechischen 
Parteien  als  einzig  mögliches  Programm  anerkannt  wird.  Havliöek  wollte 
nicht  gegen  die  slavische  Wechselseitigkeit,  sondern  gegen  ihre  oberflächliche 
Auffassung  und  gegen  ihre  Abstraktion  kämpfen.  Er  befürwortete  die 
Wechselseitigkeit  unter  den  Slaven  auf  dem  kulturellen  Gebiete,  aber  er  be- 
hauptete, daß  bisher  die  slavische  Wechselseitigkeit  noch  keine  Tatsache, 
sondern  nur  ein  frommer  Wunsch  sei.  Er  erhob  seine  Stimme  gegen  das 
russische  Bestreben  nach  der  Universalmonarchie  und  verlangte,  daß  jede 
slavische  Nation  ihre  volle  Selbständigkeit  fest  bewahren  und  beb  alten  sollte. 

Als  Konsequenz  dieser  Erkenntnisse  sprach  er  folgenden  Gedanken  aus: 
„Die  österreichische  Monarchie  ist  die  beste  Garantie  für  die  Erhaltung 
unserer  (d.  h.  der  tschechischen)  und  der  illyrischen  Nationalität,  je  höher 
die  Macht  des  österreichischen  Kaiserreiches  emporwächst,  desto  kräftiger 
werden  auch  unsere  Nationen  dastehen."  Die  bessere  Zukunft  der  Slaven 
sah  er  eben  im  Aufblühen  der  einzelnen  slavischen  Nationen. 

Das,  was  Havliöek  im  Jahre  1846  ausgesprochen  hatte,  verkündigte  der 
tschechische  Historiker  Franz  Palacky  (1798—1876)  im  Jahre  1848.  Er*) 
tat  es  nicht  nur  aus  den  Gründen,  die  Havliöek  dazu  bewogen  hatten,  sondern 


^)  Siehe  in  meiner  Ausgabe:  Karla  Havliöka  Borovskeho  Politicke  Spisy 
(Karl  Havliöek  Borovskys  Politische  Schriften).     Prag  1900,     I,  28  u.  w. 
*)  Siehe  Fr.  Palacky:  Gedenkblätter.     Prag  1874.     S.  148  u.  w. 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  223 

auch  aus  Furcht  vor  der  Vereinigung  der  Deutschen,  die  sich  im  Jahre  1848 
zu  Frankfurt  a.  M.  zu  verwirklichen  begann.  Palacky  als  überzeugtem  Natio- 
nalisten gab  eine  solche  Vereinigung  der  Deutschen  Anlaß  zu  Befürchtungen 
und  er  sah  alles  Heil  für  die  nichtdeutschen  Nationalitäten  in  Österreich,  in 
einem  starken  Österreich. 

Im  Jahre  1871  kam  es  zum  Deutschen  Reich.  Fi-ankfurt  a.  M.  hörte 
auf,  für  die  Slaven  in  Österreich  eine  „Gefahr  ohne  Grenzen"  nach  Palacky 
zu  sein,  seine  Stelle  übernahm  Berlin.  Die  Slaven  in  Österreich  standen  seit 
diesem  Jahre  auf  der  Seite  des  sogenannten  Austroslavismus,  mehr  aus  den 
nationalistischen  gegendeutschen  Gründen,  als  aus  Rücksicht  auf  Rußland. 
Heutzutage  wollen  die  Tschechen  die  slavische  Wechselseitigkeit  auch  auf  das 
ökonomische  Gebiet  ausdehnen.  Sie  wollen  ihre  Beziehungen  nicht  mehr 
auf  die  kulturellen  Fragen  beechränken,  sondern  sie  wollen  auch  auf  dem 
ökonomischen  Felde  in  brüderlichen  Beziehungen  leben.  Dieser  Gedanke, 
den  der  sogenannte  Neoslavismus  mit  dem  böhmischen  Reichsratsabgeordneten 
Dr.  K.  Kramäf  (1860)  an  der  Spitze  durchzuführen  bestrebt  ist,  findet 
freudige  Aufnahme,  besonders  in  den  Balkanländern. 

5.   Die  slavische  Wechselseitigkeit  und  die  Bulgaren  ^) 

Bei  den  Bulgaren  kann  man  am  Ende  des  18.  und  am  Anfange  des 
19.  Jahrhundertes  nicht  von  einem  nationalen  Bewußtsein  und  infolgedessen 
auch  nicht  von  einer  slavischen  Wechselseitigkeit  sprechen.  Die  Bulgaren 
waren  selbst  den  berühmten  westslavischen  Forschern,  z.  B.  Dobrovsky,  Ko- 
pitar,  Vuk  Karadzic,  Kollär,  Havlißek  u.  a.  als  selbständige  Nation  unbekannt. 
Sie  lebten  mit  den  übrigen  Slaven  in  keinerlei  Beziehungen.  Erst  unter  dem 
Einflüsse  der  Russen  in  den  zwanziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  begann 
auch  die  slavische  Wechselseitigkeit  bei  ihnen  eine  gewisse  Rolle  zu  spielen. 
Von  den  Tschechen  arbeitete  der  Wiener  Universitätsprofessor  Kon  st.  Jireöek 
(1854),  der  auch  in  den  Jahren  1881 — 82  das  Amt  des  bulgarischen  Unterrichts- 
ministers bekleidete,  in  den  achtziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  unter  den 
Bulgaren  sehr  viel  für  den  Gedanken  der  slavischen  Wechselseitigkeit.  Heut- 
zutage fördert  vor  allen  der  bulgarische  Publizist  und  Professor  der  slavi- 
schen Rechtsgeschichte  an  der  Universität  in  Sofia  Stefan  S.  Boböev  (1853) 
den  Gedanken  der  slavischen  Wechselseitigkeit  im  Sinne  des  Neoslavismus. 

6.  Die  slavische  Wechselseitigkeit  und  die  Polen  -) 
Die  Polen  waren  nie  große  Apostel  des  slavischen  Gedankens.  Als  am 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  ihr  selbständiger  Staat  zugrunde  ging,  erst  damals 
wollten  sie  in  brüderlicher  Liebe  mit  Rußland  leben,  weil  sie  von  Rußland 
erwarteten,  daß  es  ihnen  die  politische  Selbständigkeit  wiedergeben  werile. 
Aber  sobald  der  russische  Kaiser  Nikolaus  I.  den  Thron  bestieg,  verleugneten 
sie  ihre  slavischen  Ideale,  weil  sie  zu  Rußland  in  nationaler,  religiöser  und 
politischer  Hinsicht  kein  Vertrauen  mehr  hatten. 

In  den  Jahren  1830 — 31  wollten  sie  sich  ihre  Selbständigkeit  durch 
eine  Revolution  erzwingen,   aber  ihr  Unternehmen  schlug  fehl.     Die  Führer 


0  Siehe  mein  Buch:  Slovansky  sjezd  v  Praze  roku  1848  (Der  slavische 
Kongreß  in  Prag  im  Jahre  1848).     Prag  1901.     29  u.  w. 

*)  J.  Perwolf:  Slovanske  hnuti  mezi  Poläky  r.  1800—1830.  (Die 
slavische  Bewegung  unter  den  Polen  1800 — 1830).  Osvöta  (Aufklärung).  1879. 
89  u.  w. 


224  Tobolka.  Der  Panslavismus. 

der  Polen  mußten  ihre  Heimat  verlassen,  und  als  sie  als  Emigranten  in 
fremden  Ländern,  vor  allem  in  Paris  lebten,  haßten  sie  Rußland.  Sie  unter- 
stützten alle  Schritte,  die  gegen  Rußland  zielten;  ihre  Hoffnungen,  daß  sie 
sich  dadurch  ihrer  politischen  Selbständigkeit  nähern  könnten,  erfüllten  sich 
nicht.  Seit  der  Revolution  im  Jahre  1863  hörte  die  ^ilehrzahl  der  Polen  auf, 
an  die  Möglichkeit  des  Wiedererstehens  Polens  zu  glauben. 

Nach  der  Durchführung  der  Vereinigung  der  Deutschen  im  Jahre  1871 
begannen  auch  die  Polen  die  Expansion  der  Deutschen  zu  fühlen.  Unter 
dem  Einflüsse  dieser  Tatsache  verkündigten  die  fortschrittlichen  Polen  den 
Kampf  gegen  den  deutschen  Drang  nach  Osten.  In  diesem  Kampfe  sahen 
sie  die  übrigen  Slaven,  die  auch  die  deutsche  Gefahr  fürchteten,  als  ihre  Ver- 
bündeten an.  Sie  wollten  seit  dieser  Zeit  ebenfalls  Apostel  des  slavischen 
Gedankens  werden.  Diese  Überzeugung  verbreitete  sich  unter  den  Polen 
besonders  durch  die  Tätigkeit  der  Publizisten:  des  Krakauer  Universitäts- 
professors M.  Zdiechowski,  des  Warschauer  Redakteurs  und  gewesenen 
Vorsitzenden  des  polnischen  Klubs  in  der  russischen  Duma,  Rom.  Dmowsk  i '), 
des  Krakauer  Universitätsbibliothekars  und  Redakteurs  der  Monatschrift 
„Swiat  slowianski"  (Slavische  Welt),  Felix  Koneczny,  u.  a.  Die  Polen 
stellen  sich  selbstverständlich  die  slavische  Wechselseitigkeit  so  vor,  daß  dabei 
die  Freiheit  und  Nationalität  der  einzelnen  slavischen  Nationen  erhalten  bleibe. 

72).  Der  Gedanke  des  Panslavismus  und  die  Russen 

Unter  den  Russen  begann  sich  der  Gedanke  der  slavischen  Wechsel- 
seitigkeit zu  verbreiten,  sobald  sie  in  engere  Beziehungen  mit  dem  europäi- 
schen Slaventum  traten.  Die  Vorstellungen,  die  die  Russen  vor  dem  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  von  den  Slaven  hatten,  verschwanden,  als  die  Russen 
große  Reisen  durch  slavische  Länder  unternahmen.  So  zum  Beispiel  war  der 
russische  Offizier  VI.  Bogdanoviö  Bronevskij  (1784 — 1835)  in  Dalmatien, 
Montenegro,  und  sah  Triest,  Kärnten,  Krain,  Kroatien,  Ungarn,  Galizien,  Polen 
und  Rußland.  Bronevskij  geriet  in  Begeisterung  darüber,  daß  alle  Gegenden 
zwischen  Triest  und  Petersburg  von  Slaven  bewohnt  waren  und  daß  in  jenen 
Gegenden  die  slavische  Sprache  herrschte.  Bronevskij  war  ein  überzeugter 
Panslavist.  Er  interessierte  sich  besonders  für  die  Beziehungen  Dalmatiens 
und  Montenegros  zu  Rußland  und  schlug  dem  russischen  Kaiser  Alexander  I. 
vor,  die  Südslaven  nicht  zu  vernachlässigen,  sondern  ihre  Liebe  zu  Rußland 
auszunützen.  Er  meinte,  daß  Rußland  verpflichtet  sei,  den  Serben  zur  Freiheit 
und  zu  einer  besseren  Zukunft  zu  verhelfen.  Bronevskij  wünschte  und  glaubte 
an  eine  Föderation  der  Slaven,  mit  Rußland  an  der  Spitze.  Im  Jahre  1804 
lenkte  der  russische  Schriftsteller,  der  Begründer  der  Universität  in  Charkow, 
V.  N.  Karazin  (1773—1842)  am  russischen  Kaiserhofe  selbst  das  Augenmerk 
der  Regierung  auf  die  unterdrückten  Südslaven,  und  als  die  Serben  von  dem 
russischen  Kaiser  Hilfe  verlangten,  trat  er  sehr  dafür  ein. 


0  Siehe  vor  allem  Dmowskis  Buch:  „Niemcy,  Rosya  i  kwestja  polska" 
(Die  Deutschen,  Rußland  und  die  polnische  Frage).     Lemberg  1908. 

*)  Pypin,  A.:  Panslavzm  o  proSlom  i  nastoja^öem.  Der  Panslavismus 
in  Vergangenheit  und  Gegenwart  Veätnik  Jevropy  (Europäische  Rundschau). 
1878.  V,  743  u.  w.  —  Derselbe:  Literaturnyj  panslavizm  (Der  literarische 
Panslavismus),  1879  III,  591  u.  w.  —  J.  Perwolf:  Slovanskä  myäleuka  ua  Rusi 
(Der  slavische  Gedanke  in  Rußland).  Osvßta  (Aufklärung).  1879.   S.  527  u.  w. 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  225 

Karazin,  der  Feindschaft  zwischen  Rußland  und  Österreich  herbei- 
sehnte, träumte  von  einem  neuen  Kaiserreiche,  das  aus  den  Ländern  zwischen 
der  Adria,  Albanien  und  Makedonien  und  aus  den  serbo-kroatischen  Gegenden 
in  Österreich  aufgerichtet  werden  sollte.  An  der  Spitze  dieses  Kaiserreiches 
sollte  einer  von  den  Brüdern  Alexanders  I.  stehen.  BroDevskij  und  Karazin 
standen  mit  ihren  Anschauungen  nicht  allein.  Ihre  Gedanken  wurden  zum 
Gemeingut  fast  aller  ihrer  russischen  Zeitgenossen.  Das  slavische  Bewußt- 
sein vertiefte  sich  in  Rußland  im  19,  Jahrhundert  unter  dem  Einflüsse  der 
geschichtlichen  uud  philologischen  Forschungen,  Ein  Schüler  Schlözers, 
Andrej  Sergejeviö  Kajsarov  (1782 — 1813),  der  im  Jahre  1811  zum  Pro- 
fessor der  russischen  Sprache  an  der  Dorpater  Universität  ernannt  wurde, 
gab  unter  den  Russen  den  Anstoß  zur  wissenschaftlichen  Beschäftigung  mit 
den  slavischen  Altertümern.  Der  russische  Kanzler  Nikolaus  Petroviö 
Rumjancev  (1754 — 1826)  organisierte  die  archivalische  Durchforschung 
Rußlands,  Die  russischen  Gelehrten  begannen  nicht  nur  in  Korrespondenz 
mit  der  westslavischen  Welt  zu  treten,  sondern  unternahmen  auch  längere 
Reisen  nach  Westeuropa,  schlössen  Freundschaft  mit  westslavischen  Forschern 
und  luden  sie  nach  Rußland  ein.  Der  russische  Historiograph  Nikolaus 
Michajloviö  Karamzin  (1766 — 1826),  der  die  neue  historische  Schule  in 
Rußland  begründete  und  der  bei  seinem  Schaffen  unter  dem  Einflüsse  Rousseaus 
und  Herders  stand,  trug  zur  Bekanntschaft  der  Russen  mit  der  slavischen 
Welt  sehr  viel  bei. 

In  den  zwanziger  und  dreißiger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  verbreitete 
sich  in  Rußland,  unter  dem  Einflüsse  der  westeuropäischen  literarischen 
Strömungen,  der  Gedanke,  daß  die  unter  fremder  Herrschaft  stehenden  Slaven 
zu  befreien  seien.  Es  wurden  geheime  Vereine  gegründet,  die  sich  mit  der 
slavischen  Wechselseitigkeit  befaßten.  Einer  von  diesen  Vereinen,  es  war 
das  „Obsöestvo  sojedinennych  Slavjan"  (Gesellschaft  der  vereinigten  Slaven), 
hatte  einen  ausführlichen  Plan  ausgearbeitet,  wie  die  Slaven  ihre  Vereinigung 
durchführen  sollten.  Die  Mitglieder  wünschten  die  Vereinigung  aller  Slaven 
in  einer  Föderation,  unter  Wahrung  ihrer  nationalen  Selbständigkeit.  Den 
Mittelpunkt  der  föderalisierten  slavischen  Länder  sollte  eine  Hauptstadt  bilden, 
wo  alle  slavischen  Abgeordneten  wohnen  und  untereinander  Beziehungen 
pflegen  sollten.  Diese  Hauptstadt  sollte  auch  der  Sitz  der  Zentralregieruug 
werden.  Man  dachte  sich  dies  slavische  Reich  als  starke  Handelsmacht  mit 
vielen  Häfen.  Die  slavische  Föderation  sollte  Rußland,  Polen,  Böhmen, 
Mähren,  Dalmatien,  Kroatien,  Ungarn  mit  Siebenbürgen,  die  Serben  mit  der 
Walachei  und  der  Moldau  umfassen  und  sollte  eine  Einwohnerschaft  von 
30  Millionen  zählen.  Es  gab  in  Rußland  noch  mehrere  geheime  Vereine, 
die  sich  ähnliche  Aufgaben  gestellt  hatten,  aber  alle  gingen  zugrunde,  als 
sie  unter  der  Regierung  des  Kaisers  Nikolaus  im  Jahre  1825  eine  Revolution 
vorbereiteten,  die  vor  ihrem  Ausbruche  entdeckt  wurde.  Kaiser  Nikolaus  als 
streng  absolutistischer  Herrscher  war  gegen  jeden  geheimen  Verein,  auch 
gegen  jene  Vereine,  die  die  Pflege  der  slavischen  Wechselseitigkeit  als  ihre 
Aufgabe  betrachteten. 

Der  wissenschaftlichen  Durchforschung  des  Slaven tums  dagegen  war  die 
russische  Regierung  niemals  abgeneigt.  Sie  unterstützte  sogar  diese  Studien. 
In  den  zwanziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  brachte  es  der  russische  Ge- 
lehrte Petr  Ivanoviö  Koppen  (1793 — 1864),  der  seiner  Zeit  im  Jahre  1822 
in  Wien  und  Prag  gewesen  imd  daselbst  mit  Kopitar  und  Dobrovsky  in 
freundschaftliche    Beziehungen    getreten    war,    so    weit,    daß    die    russischen 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  15 


226  Tobolka,  Der  Panslavismuö. 

Eegierungskreise  die  westslavischen  Slavisten  nach  Rußland  berufen  wollten, 
um  ihre  Kenntnisse  und  Kräfte  bei  den  Arbeiten  der  russischen  Akademie, 
der  einzigen  Eepräsentantin  der  slavistischen  Studien  in  Rußland,  auszunützen. 
Dieser  ursprüngliche  Plan  wurde  dann  dahin  abgeändert,  daß  sich  die  be- 
gabten  jungen  Russen    in  Westeuropa   für   die  Slavistik   vorbereiten   sollten. 

Am  Ende  der  dreißiger  Jahre  war  infolgedessen  auch  in  Rußland  für 
das  Aufblühen  der  Slavistik  gesorgt.  Unter  der  Regierung  Nikolaus  I.  wurde 
der  ünterrichtsminister  im  Sinne  der  slavischen  Wechselseitigkeit  durch 
den  Gelehrten,  russischen  Archäologen  und  wissenschaftlichen  Organisator 
M.  P.  Pogodin  (1800 — 75)  beeinflußt,  der  zweimal,  und  zwar  in  den 
Jahren  1839  und  1842,  die  westslavische  Welt  besucht  und  besichtigt  hatte. 
Pogodin  wollte  die  Sympathien  der  Slaven  für  Rußland  auch  politisch  für 
sein  Vaterland  ausnützen.  Er  glaubte  an  eine  große  und  bessere  Zukunft 
der  Slaven  und  besonders  Rußlands.  Seiner  Meinung  nach  sollte  Rußland 
die  bedrückten  und  schwachen  slavischen  Nationen,  zu  denen  er  die  in 
Österreich  zählte,  unterstützen.  Er  behauptete,  daß  die  österreichischen 
Slaven,  weil  sie  unglücklich  seien,  keine  Liebe  für  ihren  Staat  hätten  und 
ihre  Augen  nach  Rußland  wendeten.  Unter  den  Südslaven,  besonders  in  der 
Türkei,  sollte  Rußland  Kultur  verbreiten  und  für  sie  auch  in  der  diplo- 
matischen Welt  arbeiten.  In  ähnlicher  Weise  sollte  die  russische  Regierung 
unter  den  Serben  und  Ruthenen  tätig  sein.  Pogodin  befürwortete  den  Frieden 
zwischen  den  Russen  und  Polen  und  meinte,  daß  sich  die  Polen  gegen  die 
Annahme  der  russischen  Sprache  nicht  sträuben  sollten,  weil  diese  in  der 
Zukunft  als  die  Schriftsprache  aller  Slaven  gelten  werde.  Im  Sinne  Kollärs 
machte  Pogodin,  der  ein  intimer  Freund  Safafiks  war,  Vorschläge,  wie  die 
slavische  Wechselseitigkeit  zu  verwirklichen  sei.  Er  empfahl  die  Herausgabe 
einer  historischen  Grammatik,  eines  Wörterbuches,  einer  Sammlung  der 
slavischen  Volkslieder,  Sprichwörter  etc.  und  wünschte  dabei  die  Unter- 
stützung der  hervorragendsten  Slavisten  und  die  Förderung  ihrer  Arbeiten 
seitens  der  Regierung,  sowie  den  Unterricht  in  der  Slavistik  an  den  russischen 
Schulen.  Pogodin  wollte  dadurch  besonders  die  Polen  für  Rußland  gewinnen 
und  ihrer  eventuellen  Hinneigung  zu  Preußen  vorl)eugen.  Was  KoUär  seiner- 
zeit als  frommen  Wunsch  ausgesprochen  hatte,  das  durchzuführen  verlangte 
Pogodin  von  der  russischen  Regierung.  In  Warschau  sollte  eine  Revue  er- 
scheinen, die  über  alle  Slaven  in  allen  ihren  Sprachen  zu  berichten  hätte, 
in  Leipzig  eine  allslavische  Buchhandlung  gegründet  und  die  slavischen 
Pädagogen  und  Gelehrten  nach  Rußland  berufen  werden.  Pogodin  wollte 
aber  noch  weiter  gehen  als  Kollär.  Er  wünschte,  die  slavische  Wechsel- 
seitigkeit nicht  auf  das  kulturelle  Gebiet  zu  beschränken,  sondern  wollte, 
daß  alles,  was  in  kultureller  Hinsicht  verbunden  würde,  auch  in  politischer 
einmal  zusammengehöre. 

Unter  den  Russen  verbreiteten  den  Gedanken  der  slavischen  Wechsel- 
seitigkeit auch  die  sogenannten  Slavjanophilen  (Slavenfreunde),  Literaten  und 
Gelehrte,  mit  denen  Pogodin  vertrauliche  Beziehungen  imterhielt.  Sie  kannten 
die  slavische  Welt  nicht  so  gut  we  Pogodin,  aber  sympathisierten  aus  den 
Ideen  der  Gleichheit  und  Freiheit  heraus  mit  den  Kämpfen  der  Slaven  für 
Freiheit  und  ihre  nationalen  Rechte.  Sie  glaubten  freilich,  daß  alles  Heil 
in  der  orthodoxen  Kirche  liege  und  arbeiteten  deshalb  darauf  hin,  alle  Slaven 
für  die  orthodoxe  Kirche  zu  gewinnen. 

In  den  sechziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  ergänzte  der  russische 
Gelehrte  V.  J.  Lamanskij    (geb.   im   Jahre    1833),    seit    dem   Jahre    1865 


Tobolka,  Der  Panslavisinus.  227 

Professor  der  slavischen  Sprache  an  der  Petersburger  Universität,  das,  was 
man  in  Eußland  über  die  slavische  Wechsolseitigkeit  dachte.  Lamanskij 
hatte  eine  längere  Reise  durch  die  westslavische  Welt  gemacht  und  war 
durchaus  unzufrieden  mit  den  Verhältnissen,  in  denen  er  die  Slaven  an- 
getroffen hatte.  Er  sah,  wie  klein  die  westslavischen  Nationen  waren,  und 
wie  ihnen  die  Germanisation  drohte.  Er  wollte  aber  die  slavischen  Völker 
gegen  die  deutsche  Expansion  in  anderer  Weise  schützen  als  Kollär.  Gegen 
KoUär  verfocht  er  den  Gedanken,  daß  die  Slaven  von  der  Rassenidee  durch- 
drungen seien  und  sich  für  ein  gemeinschaftliches  Organ  der  Vereinigung 
und  Tätigkeit  entscheiden  müßten.  Dies  gemeinschaftliche  Organ  sollte  die 
russische  Sprache  sein.  Alle  Slaven  sollten  das  Russische  als  Schriftsjjrache 
annehmen. 

Der  russischen  Auffassung  von  der  slavischen  Wechselseitigkeit  mit  der 
Annahme  der  russischen  Sprache  und  der  orthodoxen  Religion  als  Grundlage, 
trat  in  Rußland  jene  publizistische  Strömimg  entgegen,  die  die  sogenannten  fort- 
schrittlichen Russen,  mit  den  Abgeordneten  der  russischen  Duma  J.  Lopatin, 
VI.  M.  Volodimirov  usw.  an  der  Spitze  repräsentierten,  die  aber  erst 
nach  dem  formellen  Aufhören  des  Absolutismus  am  Anfange  des  20,  Jahr- 
hunderts entstehen  konnte.  Die  fortschrittlichen  Russen  besitzen  bisher  in 
der  öffentlichen  Meinung  Rußlands  nicht  die  Majorität;  sie  wünschen  auf- 
richtige Versöhnung  der  Russen  und  Polen  auf  demokratischer  Grundlage 
und  mit  völliger  Wahrung  der  Nationalitätenrechte.  Die  fortschrittlichen 
Russen  sind  der  Ansicht,  daß  schon  im  Interesse  des  russischen  Staates  selbst 
die  heikle  polnische  Frage  zu  einem  glücklichen  Ende  gebracht  werden  sollte. 
Sie  erkennen  die  Rechte  der  polnischen  Nation  auf  dem  Gebiete  der  Nationalität 
und  Kultur  an,  sie  wollen  nicht,  daß  die  Polen  in  der  Schule,  in  den  Ämtern 
oder  sonstwo  hinsichtlich  ihrer  Muttersprache  bedrückt  werden  und  raten 
für  sie  die  Selbstverwaltung  an.  Sie  wollen  aus  Rußland  einen  slavischen 
Staat  nicht  nur  in  der  auswärtigen,  sondern  auch  in  der  inneren  Politik 
machen.  Diese  Strömung  heißt  Neoslavismus.  Neoslavismus  bedeutet  aber 
nur  in  Rußland  etwas  Neues,  er  ist  eine  Reaktion  gegen  das  Streben  der 
älteren  russischen  Richtung,  die  sich  die  slavische  Wechselseitigkeit  nur  als 
Russifizierung  und  Beitritt  zur  orthodoxen  Kirche  vorzustellen  imstande  war. 

Die  übrigen  Slaven  haben  diese  Anschauung  der  fortschrittlichen  Russen 
schon  längst.  Die  Überzeugung,  daß  die  slavische  Wechselseitigkeit  nur  auf 
der  Grundlage  völliger  Gleichheit  und  Freiheit  aller  slavischen  Nationen  zu 
verwirklichen  sei,  ist  vor  allem  in  Böhmen,  wie  wir  oben  gezeigt  haben, 
schon  seit  dem  Jahre  1848  verbreitet. 

8.  Schlußwort 

Der  Gedanke  der  slavischen  Wechselseitigkeit  hat  in  seiner  Entwicklung 
große  Fortschritte  gemacht.  Er  ist  zwar  bisher  noch  Idee,  die  sich  aber 
Schritt  für  Schritt  auf  dem  kulturellen  und  volkswirtschaftlichen  Felde 
realisiert.  Wenn  die  Slaven  von  der  slavischen  Wechselseitigkeit  sprechen, 
so  wollen  sie  in  kultureller  und  volkswirtschaftlicher  Hinsicht  als  Slaven 
leben,  aber  sie  wollen  auch  in  den  Staaten,  zu  denen  sie  gehören,  als  Staats- 
bürger leben.  Der  Panslavismus  ist  also  kein  Landesverrat;  so  romantisch 
sind  die  Slaven  nicht  mehr,  daß  sie  glauben  wüi-den,  alle  Slaven  könnten 
einmal  zu  einem  einzigen  Staate  vereinigt  werden.  Sie  schielen  nicht  über 
die  Grenze  des  Staates,  in  dem  sie  wohnen,   aber  sie  verlangen,   daß  sie  im 

15* 


228  Tobolka,  Der  Panslavismus. 

Staate,  in  dem  sie  leben  müssen,  als  Slaven  leben  und  fortschreiten  können. 
Sie  verlangen  für  sich  keine  Vorrechte,  sondern  bloß  die  politische  Freiheit 
im  Rahmen  des  bestehenden  Staates,  und  auf  Grundlage  der  geltenden  Ge- 
setze volle  Freiheit  in  kultureller  und  volkswirtschaftlicher  Beziehung. 

II.   Die  slavischen  Kongresse 

Dreimal  haben  die  Slaven  versucht,  ihre  panslavistischen  Ideale  in  die 
Tat  umzusetzen.  Es  war  dies  in  den  Jahren  1848,  1867  und  am  Anfange 
des  laufenden  Jahrhunderts  durch  die  sogenannten  slavischen  Kongresse. 
Zu  jedem  von  diesen  Kongressen  war  den  Slaven  vor  allem  die  Rücksicht 
auf  die  Deutschen  und,  klar  heraus  gesagt,  auf  die  Expansion  der  Deutschen 
der  Anlaß. 

1.  Der  slavische  Kongreß  im  Jahre  1848  in  Prag^) 

Durch  die  Versuche  der  Deutschen  auf  dem  Frankfurter  Parlament, 
sich  in  einem  großen  Bundesstaate  zu  vereinigen,  kamen  im  Jahre  1848  die 
Slaven  auf  den  Gedanken,  nach  Prag  einen  slavischen  Kongreß  einzu))erufen. 
Die  Slaven  fürchteten  sich  in  nationaler  Hinsicht  vor  einem  geeinigten 
Deutschland  und  wollten  beraten,  wie  sie  dieser  Gefahr  begegnen  könnten. 
In  zweiter  Reihe  war  Anlaß  zum  Kongreß  die  Furcht  der  Südslaven  vor 
der  Expansion  der  Magyaren.  Die  vorbereitenden  Arbeiten  lagen  in  den 
Händen  der  Tschechen,  weil  sie  die  ersten  .ipostel  der  slavischen  Wechsel- 
seitigkeit unter  allen  Slaven  waren,  und  Prag  mußte  als  Tagungsort  gewählt 
werden,  weil  Prag  schon  im  Jahre  1848  als  Mittelpunkt  der  slavischen  Ge- 
danken und  der  hervorragenden  slavischen  Gelehrten  imd  Schriftsteller  galt. 
Jeder  Slave  konnte  nach  Prag  zur  Tagung  kommen.  Wie  in  Frankfurt  die 
Auslese  der  Deutschen  versammelt  war,  so  kamen  nach  Prag  die  besten 
Männer  der  Slaven.  Alle  slavischen  Nationen  waren  vertreten,  die  Russen 
nicht  ausgenommen.  Die  Russen  freilich  bloß  durch  den  revolutionären 
Agitator  M.  Bakunin,  der  damals  nicht  in  Rußland  lebte;  die  Russen  aus 
Rußland  konnten  sich  nicht  beteiligen,  weil  es  die  absolutistische  Regierung 
Rußlands  nicht  dulden  wollte.  Das  Programm  des  Kongresses  war  zunächst 
unklar.  Zwei  Richtungen  kämpften  untereinander:  Die  erste  Richtung,  ver- 
treten vor  allem  durch  die  besten  Häupter  der  Tschechen,  wie  den  Geschicht- 
schreiber Fr.  Palacky  und  den  Archäologen  P.  Safafik,  standen  aus- 
nahmslos auf  dem  Boden  des  Austroslavismus;  die  zweite  Richtung  wollte 
sich  nicht  bloß  auf  die  Interessen  der  österreichischen  Slaven  beschränken, 
sondern  wollte  sich  mit  den  Interessen  aller  europäischen  Slaven  beschäftigen. 
Diese  Richtung  repräsentierte  damals  in  Prag  der  polnische  Philosoph  Karl 
Libelt,  der  die  deutsche  Philosophie  von  Kant  bis  Hegel  gründlich  kannte. 
Libelt  siegte  mit  seiner  Ansicht.  Hiernach  beschloß  die  Vollversammlung 
des  Kongresses  folgende  drei  Aufgaben  nach  den  Beratungen  der  Ausschüsse 
auszuarbeiten.  1.  Ein  Manifest  an  die  europäischen  Völker.  2.  Eine  Petition 
an  den  österreichischen  Herrscher,  welche  die  Desiderata  der  einzelnen  öster- 
reichischen Nationen  enthalten  sollte.  3.  Zusammenstellung  der  Mittel,  durch 
welche  alle  Slaven  in  einem  Bunde  zusammengehalten  werden  könnten.  Die 
erste  Aufgabe  ist  vollkommen  ausgearbeitet,  die  übrigen  zwei  sind  nicht  zu 


^)    Siehe   mein   Buch:   Slovansky    sjezd    v  Praze   r.  1848  (Der  slavische 
Kongreß  in  Prag  im  Jahre  1848).     Prag  1901. 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  229 

Ende  gebracht  worden,  weil  am  Pfingstenmontag  im  Jahre  1848  in  Prag 
große  Straßendemonstrationen  ausbrachen,  die  sich  vor  allem  gegen  den 
Prager  Militärkommandanten  Windischgrätz  richteten.  Sie  waren  nicht  vor- 
bereitet worden  und  ihr  Ausbruch  läßt  sich  ganz  leicht  aus  der  Seele  der 
Masse  erklären.  Diese  Demonstrationen  hatten  zur  Folge,  daß  alle  kon- 
stitutionellen Freiheiten  in  Prag  sistiert  wurden  und  daß  die  weitere  Tagung 
des  slavischen  Kongresses  unmöglich  wurde. 

Trotz  der  Unfertigkeit  der  Beschlüsse  des  slavischen  Kongresses,  lassen 
sich  bestimmte  Richtlinien  zusammenfassen. 

Der  Aufruf  des  ersten  SlaA'enkongresses  an  die  Völker  Europas  war 
von  verschiedenen  Männern  verfaßt  und  von  verschiedenen  Weltanschauungen 
durchdrungen.  Der  Aufruf  ist  vor  allem  eine  Variation  der  damaligen, 
liberalen  Schlagworte  Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderlichkeit  aller  Völker. 
Die  Slaven  verlangten  die  Freiheit  und  Gleichheit  nicht  nur  für  den  Einzelnen, 
sondern  auch  für  die  Nationen.  Man  sprach  sich  im  Sinne  des  Liberalismus 
gegen  den  Absolutismus  und  für  das  konstitutionelle  System  aus.  Im  Geiste 
der  austroslavistischen  Anschauungen  wünschte  der  Aufruf  die  Umwandlung 
des  österreichischen  Kaiserstaates  in  eine  Föderation  von  gleichgestellten 
Nationen.  Für  dieses  Programm  verlangten  die  Slaven  die  Sympathien  aller 
uichtslavischen  Völker  Europas. 

Die  Polen  stellten  dazu  ihre  selbständigen  Wünsche  auf,  die  hauptsächlich 
natürlich  auf  Wiedererrichtung  ihres  alten  Staates  zielten. 

Die  Slaven  aus  Ungarn  riefen  in  dem  ersten  Manifeste  nach  Gleich- 
berechtigung der  nichtmagyarischen  Nationen.  Als  im  Interesse  aller  Völker 
Europas  gelegen  verlangte  die  Proklamation  die  Befreiung  der  Slaven  in  der 
Türkei.  „Wir.  die  wir  die  Jüngsten,  doch  nicht  die  Schwächsten,  auf  Europas 
politischer  Bühne  wieder  erscheinen,  wir  erklären  uns  bereit,  einen  all- 
gemeinen europäischen  Völkerkongress  zur  Ausgleichung  aller  internationalen 
Fragen  zu  beschicken,  denn  wir  sind  überzeugt,  daß  sich  fi'eie  Völker  leichter 
untereinander  verstehen  als  bezahlte  Dii^lomaten.'"  Wäre  es  wirklich  zu  einem 
solchen  Völkerkongi-esse  gekommen,  so  hätte  er  schwerlich  einen  Erfolg  haben 
können.  Ein  solcher  Vorschlag  konnte  auch  nur  in  der  Zeit  der  politischen 
Romantik  ausgesprochen  werden.  Dieses  Manifest  war  der  einzig  fertige  Akt 
des  ersten  slavischen  Kongresses. 

Was  allen  österreichischen  Mitgliedern  des  Kongresses  im  Prinzip 
gemeinsam  war,  war  der  liberalistische,  antiabsolutistische  Standpunkt  und 
die  feste  Überzeugung,  daß  ÖsteiTeich  im  nationalen  Interesse  der  öster- 
reichischen Slaven  auch  in  Hinkunft  erhalten  bleiben  müsse  und  zwar  als 
ein  von  Deutschland  unabhängiger  Föderativstaät  mit  gleichen  Rechten  der 
verschiedenen  Nationalitäten.  „Die  Freiheit  und  die  brüderliche  Gleich- 
berechtigung" waren  die  Platform,  auf  welcher  die  Adresse  an  den  öster- 
reichischen Kaiser  stand,  die  in  den  Ausschüssen  vorbereitet,  im  Plenum  aber 
unter  Meinungsverschiedenheiten  begraben  wurde.  Was  verlangten  nun  die 
einzelnen  slavischen  Nationen  vom  österreichischen  Kaiser? 

Die  Tschechen  von  Böhmen  wollten  sich  mit  dem  Kaiserlichen  Hand- 
schreiben vom  8.  April  1848,  durch  welches  die  gesetzgeberische  und  admini- 
strative Selbständigkeit  und  die  sprachliche  Gleichberechtigung  im  ganzen 
Königreiche  Böhmen  und  die  Zweisprachigkeit  aller  Staatsbeamten  zugesichert 
werden  sollte,  begnügen.  Die  Tschechen  aus  Mähren  oder  wie  sie  selbst 
sich  damals  genannt  haben,  „die  Mährer",  wandten  sich  an  den  Kaiser  mit 
folgenden  Bitten:    1.  Daß  sie  derselben  Rechte  teilhaftig  werden,  welche  die 


230  Tobolka,  Der  Panslavismus. 

Böhmen  dvirch  das  oben  erwähnte  Patent  erlangt  haben,  sowohl  in  betreff 
der  Landesverwaltung,  als  auch  der  Gemeindeverfassung;  2.  daß  Mähren  bei 
dieser  Grleichstellung  der  Rechte  doch  seine  Selbständigkeit  behalte.  3.  Daß 
die  oberste  verantwortliche  Zentralbehörde  für  Böhmen  auch  die  inneren 
Angelegenheiten  Mährens  in  den  Bereich  ihrer  Verjjflichtungen  aufnehme. 
4,  Daß  die  Ausschüsse  des  böhmischen  und  mährischen  Landtags  sich  zu 
gemeinschaftlichen  Beratungen  versammeln.  5.  Daß  die  Böhmen  und  Mährer 
sich  wechselseitig  ihre  bürgerliche  Freiheit,  wie  auch  die  Gleichberechtigung 
ihrer  Nationalität  verbürgen."  Die  Slaven  aus  Galizien,  und  zwar  nicht  nur 
die  Polen,  sondern  auch  Euthenen  verlangten:  „Daß  sie  derselben  Rechte 
teilhaftig  werden,  welche  den  Böhmen  verliehen  wurden."  Sie  baten  um  „die 
Einsetzung  solcher  verantwortlichen  Zentralbehörden,  wie  jene  sind,  die  den 
Böhmen  zugesichert  wurden",  ferner  verlangten  sie  „die  baldige  Einberufung 
des  konstituierenden  Landtags  (für  Galizien),  der  seine  Beschlüsse  über  alle 
Landesangelegenheiten  noch  vor  der  Eröffnung  des  Wiener  Reichstags  zu 
fassen  hat".  Für  den  galizischen  Postulatenlandtag  baten  sie  um  ein  Wahl- 
gesetz, durch  das  der  galizische  Landtag  befähigt  wäre,  die  wahre  Vertretung 
der  beiden  galizischen  Nationalitäten  zu  repräsentieren.  Was  die  Durch- 
führung der  nationalen  Gleichberechtigung  in  Galizien  in  Amt  und  Schule 
anbelangt,  haben  die  galizischen  Polen  und  Ruthenen  folgende  Vereinbarung 
geschlossen : 

„1.  Nach  der  Mehrzahl  der  polnischen  oder  ruthenischen  Bevöl- 
kerung soll  in  jedem  Bezirke  die  i^olnische  oder  die  ruthenische 
Sprache  die  Sprache  der  Behörden  sein.  Dabei  wird  aber  den  einzelnen 
Gemeinden  und  Stadtbehörden  der  ungeschmälerte  Gebrauch  der 
Sprache  der  an  Zahl  überwiegenden  Bevölkerimg  zugestanden;  jedem 
Eingebornen  wird  die  Freiheit  zugesichert,  sich  der  polnischen  oder 
ruthenischen  Sprache  bei  den  Verhandlungen  mit  der  Regierung  zu 
bedienen,  und  diese  hat  in  derselben  Sprache  ihre  Erledigungen  zu 
erteilen.  .Jeder  Eingeborene,  ohne  Unterschied  der  Nationahtät,  ist  zu 
allen  Ämtern  gleichberechtigt;  bei  Besetzungen  der  Beamtenstellen 
aber,  deren  Erwählung  vom  Volke  nicht  abhängt,  soll  die  Nationalität 
der  Kandidaten  gehörig  berücksichtigt  werden.  In  Gegenden  von 
gemischter  Bevölkerung  soll  der  Beamte  beider  Sprachen  kundig  sein. 
2.  Die  Unterrichtssprache  an  den  Pfarr-,  Trivial-  und  Normalschulen 
soll  die  Sprache  der  überwiegenden  Bevölkervmg  sein;  demungeachtet 
bleibt  der  Minderzahl  das  Recht  vorbehalten,  Schulen  für  ihre  eigene 
Nationalität  zu  besitzen.  In  der  dritten  Klasse  aller  ruthenischen 
Normalschulen  soll  die  polnische  Sprache,  in  der  dritten  Klasse  aller 
polnischen  Normalschulen  aber  die  ruthenische  Sprache  vorgetragen 
werden.  Für  die  polnische  sowohl  als  für  die  ruthenische  Nationalität 
sollen  besondere  Gymnasien  errichtet  werden;  die  Anzahl  dieser 
Gymnasien  soll  von  dem  Bedürfnisse  der  sich  den  Wissenschaften 
widmenden  Jugend  abhängen.  An  jedem  Gymnasium  soll  die  Literatur 
beider  Sprachen  vorgetragen  werden.  An  den  Universitäten  und  Lyzeen 
soll  der  Gebrauch  jeder  Sprache  beim  Vortrage  gestattet  sein.  3.  Die 
galizische  Nationalgarde  soll  an  jenen  0-iten,  wo  sie  errichtet  wird, 
durch  Stimmenmehrheit  ihre  Offiziere  wählen,  und  den  Gebrauch  des 
polnischen  oder  ruthenischen  Kommandos  festsetzen:  als  Abzeichen  soll 
die  Garde  die  Wappen  beider  Nationen  nebeneinander  tragen.  4.  Das 
ganze  Land  hat  eine  gemeinschaftliche  Zentralregierung,  die  mit  den 
ruthenischen  Behörden  in  ruthenischer,  mit  den  polnischen  in  polnischer 
Sprache  zu  korrespondieren  hat.  Beide  Nationalitäten  haben  einen 
gemeinschaftlichen  Landtag,  zu  dem  die  Volksrepräsentanten  nach  den 


Tobolka,  Der  Panslavisnius.  231 

festzustellenden  Grundsätzen  gewählt  werden  sollen.  Auf  dem  Land- 
tage wird  die  polnische  wie  die  ruthenische  Sprache  zugelassen.  Die 
Beschlüsse  und  Verordnungen  der  Landcsstellen  sollen  in  beiden 
Landessprachen  veröffentlicht  werden.  5.  Alle  im  Lande  befindlichen 
Konfessionen  sollen  gleiche  Rechte  genießen;  dieses  gilt  auch  von  der 
Geistlichkeit,  welche  im  Range  sowohl,  wie  in  den  Einkünften  gleich- 
zustellen ist.  6.  Durch  die  Verfassung  soll  sowohl  den  Polen  als  den 
Ruthenen  jene  Gleichheit  der  menschlichen,  politischen  und  religiösen 
Rechte  zugesichert  werden,  die  aus  der  Heiligkeit  und  Unverletzbarkeit 
einer  jeden  der  in  Galizien  vorhandenen  Nationalitäten  sich  ergibt. 
7.  Die  Teilung  Galiziens  in  zwei  besondere  Verwaltungsdistrikte,  die 
eine  Forderung  der  Zeit  bedeutet,  ist  ein  Verhandlungsgegenstand  des 
konstituirenden  Landtages." 

Um  dieses  Kompromiß  durchführen  zu  können,  verlangten  sie,  daß  die 
einsprachigen  Beamten  pensioniert  und  nur  die  Beamten,  die  der  beiden 
Landessprachen  in  Wort  und  Schrift  vollkommen  mächtig  seien,  angestellt 
würden. 

Die  Slovaken  und  Ruthenen  in  Ungarn  richteten  ihre  Wünsche  gegen 
die  chauvinistischen  Bestrebungen  der  Magyaren.  Sie  sprachen  folgende 
Bitten  aus: 

„L  Daß  die  Slovaken  und  Ruthenen  in  Ungarn  als  eine  Nation 
von  den  Magyaren  anerkannt  und  im  Landtage  gleicher  Rechte  mit 
diesen  teilhaftig  würden.  2.  Daß  ihnen  gestattet  werde,  ihre  be- 
sonderen Nationalkongi'esse  zu  halten,  mit  einem  beständigen  slova- 
kischen  und  ruthenischen  Ausschusse,  welchem  das  Recht  und  die  Ver- 
pflichtung zukommen  solle,  über  die  Nationalrechte  der  Slovaken  und 
Ruthenen  zu  wachen  und  die  Beschlüsse  des  Nationalkongresses  aus- 
zuführen. 3.  Daß  ihnen  gestattet  werde.  Nationalschulen,  sowohl  für 
den  Elementar-  als  auch  Realunterricht,  wie  auch  Bürger-  und  Diözesan- 
schulen,  Schullehrerseminarien,  höhere  Unterrichtsanstalten,  als  Gym- 
nasien, Lyzeen,  Akademien,  polytechnische  Anstalten  und  eine  Universität 
für  sich  zu  errichten.  Die  Unterrichtssprache  soll  nach  dem  Bedürf- 
nisse die  slovakische  oder  die  ruthenische  sein;  die  Freiheit  der  National- 
erziehung wird  festgestellt.  4.  Für  die  Magyaren  soll  ein  Lehrstuhl 
der  slovakischen  und  ruthenischen  Sprache,  für  die  Slovaken  und 
Ruthenen  aber  eine  Lehrkanzel  der  magyarischen  Sprache  auf  Landes- 
kosten errichtet  werden.  5.  Keine  Nation  in  Ungarn  soll  für  die 
herrschende  gelten,  sondern  alle  sollen  gleichberechtigt  sein.  6.  Jene 
Slovaken,  welche  für  die  Verteidigung  der  Nationalrechte  der  Slovaken 
gefangen  gehalten  werden,  sind  unverzüglich  in  Fi'eiheit  zu  setzen. 
7.  Sie  bitten,  daß  man  den  Slovaken  und  Ruthenen  das  Recht  nicht 
vorenthalte,  Vereine  zu  gründen,  die  zum  Zwecke  haben,  das  nationale 
Leben  der  Slovaken  und  Ruthenen  zu  fördern,  und  daß  sie  in  dieser 
Beziehung  sich  einer  gleichen  Berechtigung  wie  die  Magyaren  er- 
freuen dürfen." 

Die  ungarischen  Serben  wollten  sich  befi-iedigt  fühlen  durch  die  Be- 
stätigung eines  Patriarchen  und  eines  „Wojewoden",  entsprechend  den  Be- 
schlüssen des  Karlovitzer  Landtages  und  durch  Vereinigung  aller  Gegenden, 
die  in  Ungarn  von  Serben  bewohnt  sind,  mit  der  serbischen  Wojewodschaft, 
unter  der  Oberherrschaft  der  ungarischen  Krone. 

Wie  die  ungarischen  Serben,  so  formulierten  auch  die  Kroaten  ihre 
Wünsche  nur  unzm-eichend.  Man  kann  sagen,  daß  die  Kroaten  sie  noch  un- 
genügender ausgesprochen  haben  als  die  Serben.  Sie  wünschten  bloß,  daß 
das  bestätigt  würde,  was  ihr  Banus  zum  Heil  und  Frommen  der  regierenden 


232  Tobolka,  Der  Panslavismus. 


Dynastie,  der  Nationalität  und  der  Selbständigkeit  der  Königreiche  Kroatien, 
Slavonien  und  Dalmatien  vollbracht  hatte  und  was  der  Landtag  der  König- 
reiche Dalmatien,  Kroatien  und  Slavonien  in  diesem  Sinne  verlangen  würde. 
Die  Slovenen  gingen  bei  der  Formulierung  ihres  Programms  von  den 
Anschauungen  des  Joh.  Bleiweis  aus.     Sie  wollten : 

„1.  Daß  alle  Slovenen,  welche  Steiermark.  Krain,  Kärnthen  und  das 
Litorale   bewohnen,    zu    einem   politischen  Ganzen  unter   dem   Namen 
des  Königreichs  Slovenien  vereinigt  würden  und  daß  Laibach  der  Sitz 
ihrer    gemeinschaftlichen    Eegierung   werde.      2.    Daß    die    slovenische 
Sprache    zur    diplomatischen    Geltung    gelange,    und    in    die    Schulen, 
Ämter   und  Gerichte   eingeführt   werde,    daß  man  ferner  die  Kenntnis 
der   slovenischen   Sprache   für   jeden  Beamten   zu   einer  unerläßlichen 
Pflicht  mache.    Außerdem  solle  eine  slovenische  Universität  in  Laibach 
errichtet  werden." 
Das    dritte   Aktenstück    des    slavischen    Kongresses    blieb    in    sachlicher 
und  in  formeller  Hinsicht  ganz  unfertig  und  das,  was  man  von  diesem  Akten- 
stücke   sagen    könnte,    wäre   nur  eine  Hypothese.     Man   weiß   aber,    daß  bei 
den  Beratungen  hierüber  wieder  zwei  Richtungen  miteinander  kämpften,  und 
zwar  die  Richtung,  die  den  Inhalt  des  Aktes  bloß  auf  Österreich  beschränken 
wollte,  und  die  Richtung,  die  über  den  austroslavistischen  Standpunkt  hinaus- 
zugehen wünschte. 

Nach  den  Prager  Pfingstereignissen  war  es  unmöglich,  den  slavischen 
Kongreß  beisammenzuhalten  oder  zu  späteren  Beratungen  zusammenzurufen. 
Die  politische  Reaktion,  welche  nach  den  Prager  Pfingstereignissen  in  ganz 
Österreich  einsetzte,  verhinderte  alle  weiteren   Verhandlungen. 

2.    Der  zweite   slavische   Kongreß  in  Moskau  im  Jahre  1867  ^) 

Im  Jahre  1867,  also  19  Jahre  nach  dem  ersten  Slavenkongresse,  sind 
die  Slaven  zum  zweitenmal  in  Moskau  zusammengekommen.  Es  war  dies 
bei  der  Gelegenheit  einer  von  Rußland  veranstalteten  ethnographischen  Aus- 
stellung. Nach  Moskau  kamen  die  Vertreter  der  Slovenen,-  Bulgaren,  Serben, 
Kroaten,  Ruthenen  und  Tschechen.  Die  Polen,  die  den  Russen  nicht  ver- 
gessen konnten,  wie  feindlich  sie  die  Polen  nach  der  mißlungenen  Revolution 
im  Jahre  1863  behandelt  hatten,  waren  nicht  anwesend,  und  agitierten  sogar 
unter  den  Slaven  gegen  die  Teilnahme  an  der  Ausstellung.  Die  Tschechen 
waren  in  Moskau  unter  der  Führung  ihrer  politischen  Häupter:  Fr.  Palacky, 
Dr.  F.  L.  Rieger  u.  a.  Ihre  Reise  geschah  in  politischer  Tendenz  und  ganz 
demonstrativ.  Sie  waren  darüber  aufgebracht,  daß  die  österreichische  Regie- 
rung mit  den  Magyaren  einen  Ausgleich  gemacht  und  daß  sie  auf  die 
Wünsche  der  politisch  schwachen  Tschechen  keine  Rücksicht  genommen 
hatte.  Sie  suchten  deshalb  einen  Rückhalt  ihrer  Forderungen  in  der  An- 
bahnung slavischer  Wechselseitigkeit. 

Der  zweite  Slavenkongreß  beschränkte  sich  bei  den  Ausschußverhand- 
lungen auf  das  kulturelle  Gebiet.  Zur  Durchfühiung  der  slavischen  Wechsel- 
seitigkeit wurde  angenommen,  daß  die  Slaven  immer  nach  zwei  Jahren  eine 
allslavische  Vollversammlung  veranstalten  sollten,  die  sich  nur  mit  kulturellen 
Fragen  befassen  dürfe.  Diese  Fragen  sollten  vorher  auf  den  Kongressen  der 
einzelnen  slavischen  Völker  vorbereitet  werden.    Es  sollte  sofort  ein  „Matice", 


')  Siehe   mein  Buch:    Dejiny  öeske  politiky  nove  doby   (Die  Geschichte 
der  tschechischen  Politik  der  Neuzeit).     Prag  1908.     S.  315 — 321. 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  233 

ein  allslavischer  Selbstverlag,  gegründet  werden.  In  Moskau  sollte  ein  stän- 
diger Ausschuß  errichtet  werden,  der  für  die  Verwirklichung  der  slavischen 
Einigkeit  auf  dem  kulturellen  Gebiete  Sorge  tragen  sollte.  Auf  der  Grundlage 
der  ganzen  slavischen  Literatur  sollte  eine  gemeinschaftliche  Terminologie 
für  die  exakten  Wissenschaften  zusammengestellt  werden.  Bis  auf  den 
ständigen  allslavischen  Ausschuß  blieben  alle  erwähnten  Beschlüsse  auf  dem 
Papier  und  wurden  nie  in  die  Tat  umgesetzt. 

In  politischer  Hinsicht  zeigte  der  zweite  Slavenkongi-eß  große  Zwie- 
spältigkeiten, die  einerseits  zwischen  dem  tschechischen  und  russischen  und 
anderseits  zwischen  dem  russischen  und  polnischen  Standpunkte  vorhanden 
waren.  Die  Tschechen  verteidigten  die  Selbständigkeit  und  Gleichberechtigung 
aller  slavischen  Nationen  im  Sinne  der  Beschlüsse  des  ersten  Slavenkongresses, 
die  Russen  dagegen  verlangten,  daß  die  Slaven  eine  einzige  Schriftsprache, 
d.  h.  die  russische,  die  einzige  Schrift,  d.  h.  die  Azbuka,  und  eine  einzige 
Eeligion  und  Kirche,  d.  h.  die  orthodoxe,  annehmen  sollten.  Entgegen  der 
tschechischen  Forderung  wollten  die  Russen  von  einer  brüderlichen  Gemein- 
schaft mit  den  Polen  nichts  wissen.  Der  zweite  Kongreß  zeigte,  daß  die 
Slaven  von  dem  Ideal  der  slavischen  Wechselseitigkeit  noch  sehr  weit  ent- 
fernt waren. 

3.  Die  slavischen  Konferenzen  am  Anfang  des  20.  Jahrhunderts 

60  Jahre  waren  seit  dem  ersten  Slavenkongresse  verflossen  und  nun 
versuchten  die  österreichischen  Slaven,  vor  allem  die  Tschechen,  die  Idee  der 
slavischen  Wechselseitigkeit  wieder  in  die  Tat  umzusetzen.  Es  schien  ihnen 
die  beste  Gelegenheit  hierzu  nach  den  schweren  Kämpfen  der  Russen  in  der 
Mandschurei  und  nach  der  russischen  Revolution  gekommen  zu  sein.  Die 
österreichischen  Slaven  glaubten,  daß  Rußland  in  Zukunft  sich  auf  den  kon- 
stitutionellen Boden  stellen  und  daß  es  in  seinem  eigenen  Interesse  die  innere 
Politik  auf  slavischer  Grundlage  treiben  müsse,  wenn  es  nach  außen  den 
slavischen  Standpunkt  vertreten  wolle.  Die  österreichischen  Slaven  glaubten, 
daß  die  Zeit  gekommen  sei,  die  großen  freiheitlichen  Gedanken  des  ersten 
Slavenkongresses  zu  verwirklichen.  Sie  kannten  die  Schwere  der  Aufgabe 
Sie  wußten,  daß  sie  die  alte  Frage  des  polnisch-russischen  Streites  lösen 
müßten  und  wünschten  im  Interesse  ihrer  Stellung  in  Österreich  dies  zu  er- 
reichen. Die  österreichischen  Slaven,  vor  allem  die  Tschechen  und  Südslaven, 
trugen  sehr  schwer  daran,  daß  die  auswärtige  Politik  Österreichs  mit  der 
Deutschlands  verbunden  ist  und  wünschten,  Österreichs  auswärtige  Politik 
selbständig  zu  machen.  Sie  erhofften  eine  Annäherung  zwischen  Österreich 
und  Rußland  und  meinten  in  der  Bearbeitung  der  öffentlichen  Meinung  in 
Österreich  und  in  Rußland  in  der  Richtung  der  slavischen  Wechselseitigkeit 
den  besten  Weg  gefunden  zu  haben. 

In  Rußland  gewannen  sie  für  ihre  Pläne  die  sogenannte  Kadettenpartei, 
die  im  Interesse  des  inneren  Friedens  des  russischen  Staates  die  polnische 
Frage  lösen  wollte  und  zwar  auf  der  Grundlage  der  nationalen  Gleichberechtig- 
keit  und  Selbständigkeit. 

Im  Juli  1908  fanden  die  ersten  vorbereitenden  Slavenkonferenzen  in 
Prag  statt.  Nicht  nur  alle  Slavenvölker  Zisleithaniens,  sondern  auch  die  Russen 
und  Polen  aus  Rußland  nahmen  an  den  Konferenzen  teil.  Nur  die  ukraini- 
schen Russen,  Slovaken  und  die  preußischen  Polen  waren  nicht  anwesend. 
Die  kleinrussische  Frage  wurde  auf  den  Konferenzen  nicht  berührt,  eingehend 


234  Tobolka,  Der  Panslavismus. 

aber  wurde  die  polnische  Frage  in  Rußland  bebandelt.  Man  kam  zu  dem 
Schlüsse,  daß  diese  Frage  in  Eußland  nach  den  Grundsätzen  der  Gleichheit 
und  Freiheit  der  Völker  gelöst  werden  müsse.  Auch  wurde  den  slavischen 
kulturellen  und  wirtschaftlichen  Aufgaben  sehr  viel  Zeit  gewidmet.  In 
kultureller  Hinsicht  wurde  die  Veranstaltung  einer  allslavischen  Ausstellung 
in  Moskau  beschlossen,  ferner  Förderimg  der  Tom-istik  in  den  slavischen 
Ländern,  Ausdehnung  der  Organisation  der  sogenannten  Sokolisten  (Turner) 
auf  alle  slavischen  Völker,  Gründung  von  Vereinen  für  Volkserziehung 
und  Volksbildung  in  allen  slavischen  Ländern  nach  gemeinsamem  Plane  und 
endlich  Durchführung  einer  gemeinschaftlichen  slavischen  Buchhändlermesse. 
Diese  Beschlüsse  bewegten  sich  ganz  auf  dem  Boden  der  kulturellen  slavischen 
Wechselseitigkeit  vor  dem  Jahre  1848.  Das  Neue  der  Prager  Konferenzen 
vom  Jahre  1908  bestand  in  der  Ausdehnung  der  slavischen  Wechselseitigkeit 
auf  das  wirtschaftliche  Gebiet.  Zwei  Anträge  wurden  in  dieser  Beziehung 
angenommen:  1.  Gründung  einer  allslavischen  Bank;  2.  daß  die  landwirt- 
schaftlichen Studienreisen,  die  die  Tschechen  vor  dem  Jahre  1908  größten- 
teils nach  Dänemark  gemacht  hatten,  in  die  slavischen  Länder  veranstaltet 
werden  sollten. 

Der  Verwirklichung  aller  dieser  Beschlüsse  stellten  sich  große  Hinder- 
nisse entgegen.  Österreich  hatte  Bosnien  und  Herzegowina  annektiert  und 
durch  dieses  Ereignis  war  die  öffentliche  Meinung  in  Eußland  antiösterreichisch 
geworden.  In  Rußland  betraten  auch  die  entscheidenden  politischen  Kreise 
den  Weg  des  nationalen  russischen  Imperialismus,  des  Chauvinismus  und  der 
Unduldsamkeit  gegenüber  den  Polen,  und  die  russischen  Politiker,  die  mit 
den  russischen  Polen  einen  aufrichtigen  Frieden  auf  der  Grundlage  der 
Gleichberechtigung  und  Selbstverwaltung  wünschten,  wurden  in  eine  wenig 
bedeutende  Minderheit  gedrängt.  Trotz  alledem  ließen  die  Urheber  der 
slavischen  Konferenzen  ihren  Gedanken  nicht  im  Stich  und  beriefen  neue  Vor- 
bereitungskonferenzen im  Juli  1910  nach  Sofia  ein,  welche  die  Arbeit  der 
Prager  Konferenzen  weiterführen  sollte.  Was  die  Politik  anbelangt,  so 
konnten  sich  die  Verhandlungen  in  Sofia  bloß  auf  die  allgemeine  Resolution 
beschränken,  daß  der  nicht  als  Slave  gelten  könne,  der  ein  anderes  slavisches 
Volk  unterdrücken  wolle;  in  konkreter  Weise  dieses  Programm  zu  lösen,  war 
damals  unmöglich,  weil  der  wichtigste  Faktor,  die  Polen,  die  Konferenzen  in 
Sofia  nicht  beschickt  hatten,  nach  dem,  was  die  Russen  gegen  sie  —  vor 
allem  in  der  Angelegenheit  des  Cholmischen  Gouvernements  —  planten.  Die 
Polen  trauten  den  Russen  nicht  mehr. 

Die  Bedeutung  der  Konferenzen  in  Sofia  lag  nicht  in  den  politischen 
Beschlüssen,  sondern  in  den  Arbeiten  für  die  Verwirklichung  der  kultm-ellen 
und  wirtschaftlichen  slavischen  Wechselseitigkeit.  Nicht  weniger  als  18  Reso- 
lutionen') wurden  angenommen.  Nur  die  wichtigsten  seien  erwähnt.  Wie 
im  Jahre  1867  in  Moskau,  wurde  auch  im  Jahre  1910  in  Sofia  die  Einberufimg 
eines  slavistischen  Kongresses  beschlossen,  dem  vorbereitende  Kongresse  der 
einzelnen  slavischen  Völker  vorangehen  sollten.  Es  wurden  Modalitäten  fest- 
gesetzt, unter  denen  die  slavischen  Akademien  und  gelehrten  Gesellschaften 
in  Beziehungen  treten  sollen.  Es  wurden  —  und  nicht  ohne  den  Einfiuß  der 
westeuropäischen  Völker  —  die  Bedingungen  des  wechselseitigen  literarischen 
Verkehres  und  Büchertausches  festgelegt.    Es  wurde  die  Reziprozität  für  die 


0  Siehe  alle   diese  Resolutionen    in   meiner  Öeskä  Revue  (Tschechieche 
Eevue).    Jahrg.  1910.    S.  709—713. 


Tobolka,  Der  Panslavismus.  235 

Hürer  au  deu  slaviscLeu  Uuiveröitäten  beschlossen.  Es  wurde  der  Antrag 
auf  Zusammenstellung  einer  slavischen  musterhaften  Anthologie,  eines  all- 
slavischen  Wörterbuches,  einer  allslavischen  Terminologie,  einer  slavischen 
Encyklopädie,  eines  Bücherkataloges  für  slavische  Volksbibliotheken  und 
Lesehallen  angenommen.  Das  Russische  soll  in  Zukunft  nach  Möglichkeit 
bei  allen  allslavischen  Kongressen  die  Verhandlungssprache  sein.  An  den 
westslavischen  Mittelschulen  soll  der  Unterricht  der  Kyrillika  eingeführt 
werden.  Es  wurde  weiter  gründlich  verhandelt:  über  die  Organisation  des 
slavischen  Büchermarktes,  über  die  Organisation  der  slavischen  Theater  und 
slavischen  Touristik,  über  die  Veranstaltung  einer  allslavischen  Kunstaus- 
stellung in  Prag  und  über  die  Gründung  eines  allslavischen  Telegi'aphen-  und 
Korrespondenzbureaus.  Was  das  wirtschaftliche  Leben  der  Slaven  betrifft, 
so  blieb  der  Beschluß  der  Prager  Slavenkonferenzen  bezüglich  einer  all- 
slavischen Bank  bis  auf  weiteres  nur  ein  frommer  Wunsch  und  es  wurde  nur 
für  den  slavischen  Geschäftsverkehr  der  Grundsatz  „Jeder  halte  zu  den 
Seinen"  verkündigt. 

Die  Vorbereitungskonferenzen  in  Sofia  brachten  noch  weitere  Anre- 
gungen, die  Verhandlungsgegenstand  der  künftigen  Konferenzen  sein  werden. 
Einzelne  Fachleute  wurden  in  Sofia  auch  mit  Referaten  betraut. 

*  * 

* 

Die  neue  slavische  Bewegung  hat  schon  ihre  ersten  Früchte  ge- 
bracht. Gerade  im  Jahre  1912  ist  ein  großes  Werk:  Slovanstvo.  Obraz  jeho 
minulosti  a  pfitomnosti.  (Das  Slaventum.  Sein  Bild  in  Vergangenheit  und 
Gegenwart)  in  Prag  erschienen.  Es  entstand  aus  Anlaß  der  Prager  Vor- 
bereitungskonferenzen im  Jahre  1908,  ist  größtenteils  von  den  Professoren  der 
tschechischen  Universität  und  von  hervorragenden  tschechischen  Publizisten 
geschrieben.  Dies  Werk  soll  durch  wissenschaftlich  fundierte  und  trotzdem 
populär  geschriebene  Aufsätze  die  ganze  slavische  Welt  über  die  geschicht- 
liche Entwicklung,  den  gegenwärtigen  Stand  des  Slaventums  in  nationaler, 
politischer  und  kirchlicher  Beziehung,  über  das  slavische  Schulwesen,  über 
die  slavischen  Literaturen,  Künste,  Musik,  Journalistik,  Sokolistenvereine 
und  Touristik  unterrichten.  Das  Buch,  das  auch  in  anderen  slavischen 
Sprachen  erscheinen  soll,  ist  ein  ausgezeichneter  Beitrag  zu  einer  Vertiefung 
der  Kenntnisse  von  den  Slaven  unter  den  Slaven.  Es  ist  schade,  daß  sich 
die  Herausgeber  nur  auf  die  kulturellen  Fragen  des  Slaventums  beschränkt 
und  daß  sie  die  wirtschaftlichen  Fragen  im  Sinne  der  Prager  Vorbereitungs- 
konferenzen nicht  in  ihr  Programm  aufgenommen  haben.  Die  Herausgabe 
des  Werkes  „Slovanstvo"  beweist,  daß  sich  die  slavische  Wechselseitigkeit 
in  die  Tat  umzusetzen  beginnt,  beweist  aber  auch,  daß  die  Slaven  in  der 
Frage  der  slavischen  Wechselseitigkeit  auf  dem  kulturellen  Gebiete  stehen 
geblieben  sind  und  daß  die  slavische  Wechselseitigkeit  bisher  vor  allem 
eine  Angelegenheit  der  slavischen  Gelehrtenwelt  ist. 


Besprechungen 


Schriften  zur  englischen  Politik 

Von  Dr.  Carl  Brinkmann 

Walter  Parow,  Die  Englische  Verfassung  seit  100  Jaliren  und  die  gegen- 
wärtige Krisis.  Berlin  1911.  Puttkammer  und  Mühlbrecht.  234  S.  — 
Gustaf  F.  Steffen,  Die  Demokratie  in  England.  Einige  Beobach- 
tungen im  neuen  Jahrhundert  und  ein  Renaissanceepilog.  3.  und 
4.  Tausend.  Jena  1911.  Eug.  Diederichs.  VIH  und  228  S.  —  Lloyd 
George,  Bessere  Zeiten.  1. — 4.  Tausend.  Jena  1911.  Eugen  Diederichs. 
XI  und  256  S.  —  John  M.  Robertson,  Patriotismus  —  Militarismus 
—  Imperialismus.  Aus  dem  Englischen  übertragen  von  Karl  Hansel- 
mann. Dresden  und  Leipzig  1910.  E.  Pierson.  XIV  und  184  S.  — 
Fritz  Simon,  Englische  Stadtverwaltung.  Berlin  und  Leipzig  1911. 
Dr.  Walther  Rothschild.     115  S. 

Die  fi'eundlich- feindlichen  Berührungen  der  politischen  Oberfläche  und 
ihr  tieferer  Grund,  die  Ähnlichkeit  der  Gesellschaftslage  in  der  industriellen 
Entwicklung,  haben  zwischen  Deutschland  und  England  auch  in  der  politischen 
Literatur  einen  Verkehr  der  Nachrichten  und  Beurteilungen  herbeigeführt, 
der  in  der  heutigen  Periode  nationaler  Abschließung  ebenso  ausnahmsweise 
als  erstrebenswert  ist.  Von  den  fünf  vorliegenden  Büchern  über  englisches 
Staats-  und  Gesellschaftsleben  sind  drei  von  Nichtengl ändern  für  Deutsche 
geschrieben,  zwei  von  Engländern  durch  Übertragungen  ihnen  zugänglich 
gemacht. 

Die  Darstellung  von  Parow  ist  nicht  etwa  der  Versuch  einer  Populari- 
sation  des  gegenwärtigen  englischen  Verfassungsrechts,  die  trotz  des  kom- 
pendiösen  VVerkes  von  Hatschek  immer  noch  einem  lebhaften  Bedürfnis  ent- 
gegenkäme. Sie  beginnt  mit  einer  ganz  äußerlich  chronologischen  Erzählung 
der  konstitutionellen  (xesetzgebung  in  England  seit  der  ersten  Parlanients- 
reform  und  erliebt  sich  auch  im  zweiten  Teil,  wo  die  Verhandlungen  beim 
„Kampf  gegen  das  Oberhaus"  in  derselben  äußerlichen,  um  das  Thema 
durchaus  nicht  zentrierten  Weise  berichtet  werden,  kaum  über  das  bessere 
Pressereferat.  Für  die  eigentlichen  formellen  und  sachlichen,  d.  h.  juristischen 
und  politischen  Probleme  seines  Gegenstandes  ist  der  Verfasser  nur  unge- 
nügend ausgerüstet.  Die  Grundlage  des  ganzen  englischen  Staatsrechts,  die 
Lehre  von  den  sogen.  Konventionen,  kann  er  nicht  verstanden  haben,  sonst 
würde  er  nicht  im  Ernst  die  Gneistschen  Phantasien  von  einer  Wiederbelebung 
des  Kron-Vetos  auf  die  jetzige  Krise  anwenden  (S.  191 — 195).  Und  ein 
offenbar  von  konservativen  Agitationsreden  in  ihn  transfundierter  Haß  gegen 
die  „Demokratie''  (deren  wirtschaftliche  Notwendigkeiten  doch  noch  im  letzten 
Abschnitt   des   ersten   Teiles   gewissenhaft   gewürdigt   worden  sind)    verwirrt 


Bespi-echungeu.  237 


seine  Begriffe  derart,  daß  er  (S.  163  Anm.)  die  i)arlamentarischen  Kämpfe 
um  Trades  Disputes  Act  und  Osborne  Decision,  also  die  einfache  Behauptung 
des  Vorranges  der  gesetzgebenden  vor  der  richterlichen  Gewalt,  als  eine 
, .Vergewaltigung  der  Rechtspflege  durch  Mehrheitsbeschlüsse"  denunziert. 
Über  Home  Rule  wird  man  danach  nicht  erwarten,  auch  nur  ein  einsichtiges 
und  (objektiv)  ehrliches  Wort  zu  finden.  Es  versteht  sich  allerdings,  dali 
auch  die  rein  auf  den  Wert  der  Einzeltatsachen  beschränkte  Brauchbarkeit 
solcher  Geschichtschreibimg  bei  der  Entlegenheit  ihrer  Quellen  im  Auslande 
nicht  zu  unterschätzen  ist.  Die  Darbietung  von  Daten  wie  der  über  das 
englische  Wahlrecht  und  die  Übersicht  auch  nur  über  den  bloß  zeitlichen 
Zusammenhang  der  neueren  Parlamentsgeschichte  bleibt  ein  Verdienst  des 
Autors  und  ein  Hilfsmittel  der  Wissenschaft'). 

Die  beiden  Bände  der  Diederichschen  ,, Politischen  Bibliothek",  der  des 
schwedischen  Gelehrten  und  der  des  englischen  „Demagogen",  haben  bei 
allen  natürlichen  Unterschieden  des  Temperaments  und  der  Form  doch  eine 
weitgehende  Gemeinsamkeit  der  politischen  Leistung.  Wenn  die  N'^olks-  und 
Parlamentsreden  des  großen  Schatzkanzlers  gegen  die  grundherrliche  Aristo- 
kratie gerade  seine  spezifisch  bürgerlichen,  freihändlerischen  Überzeugungen 
neben  den  sozialistischen  besonders  hervortreten  lassen,  so  ist  doch  auch  der 
Standpunkt  des  großen  Soziologen  und  Gesinnungsgenossen  der  Fabians 
entfernt  genug  von  den  scharfen  Forderungen  der  sozialistischen  National- 
ökonomie. Er  erklärt  zwar  die  prachtvolle  psychologische  Intuition  seiner 
englischen  Gesellschaftsbilder  ausdrücklich  für  Erlebnis,  nicht  Wissenschaft, 
aber  man  wird  ihm  diese  Bescheidenheit  nach  zwei  Seiten,  widersprechend 
und  anerkennend,  bestreiten  dürfen.  Ich  weiß  nicht,  ob  er  eine  national- 
ökonomische  Naivetät  unterschreiben  würde  wie  die  Lloyd  Georges  (S.  97), 
daß  der  Inhaber  von  Wertpapieren,  der  den  größten  Teil  seiner  Dividenden 
neu  anlege,  durch  seine  Enthaltsamkeit  den  Reichtum  der  Gesellschaft  ver- 
mehre. Aber  ich  zweifle,  ob  der  ,, Wissenschaftler"  Steffen  wohl  daran  tut 
vor  den  optimistischen  Träumen  der  englischen  Bourgeoisie,  seien  sie  Scherz 
wie  Shaws  ündershaft  oder  Ernst  wie  des  ehrwürdigen  Marshall  Unternehmer- 
aristokratie, den  politischen  Leser  innerhalb  der  ästhetischen  Sphäre  im 
Stiche  zu  lassen.  Und  damit  berühre  ich  einen  Punkt,  wo  die  demokratischen 
Ideale  des  europäischen  Beamten-  und  Pi'ofessorentums  fast  regelmäßig  sich 
selbst  der  eigentlich  logischen  (und  damit  propagandistischen)  Wirkung  be- 
rauben. Dem  begrifflich  letzten  Endes  unauflösbaren  Kulturideal  dieses 
Libei-alismus  wird  die  festgeschlossene  wirtschaftliche  Macht  der  nationalen 
Staaten  mit  dem  wachsenden  Wettbewerl)  ihrer  kapitalistischen  Ausdehnungs- 
tendenzen allmählich  immer  erfolgreicher  andre  eben  so  unauflösbare 
., höchste  Güter"  wie  Volkstum,  Rasse,  Religion  entgegensetzen  können,  ja 
ihn  auf  diesem  Wege  vielleicht  schließlich  ganz  sich  angleichen  und  verzehren. 
Erst  die  Politik,  der  es  gelingen  wird,  den  Begriff  des  Rechtes  als  moralischen 
Minimums  innerer  und  auswärtiger  Verbindlichkeiten  wieder  zum  wissen- 
schaftlichen Maßstab  des  Streites  zu  machen,  wird  imstande  sein,  die  Ge- 
fahren theoretischer  Unklarheit  und  praktischer  Katastrophen  durch  die 
wechselseitige  Bestimmung  von  Einsicht  und  Tat  zu  überwinden.  Es  ist 
gleichwohl  des  wissenschaftlich  Belangvollen  genug,  was  die  Stelle  der  beiden 
Bücher  in  einer  politischen  Stoffsammlung  rechtfertigt.  Allein  Steffen's  Ka- 
pitel „die  Psychologie  des  Demokratismus"  mit  den  glänzenden  Ausführungen 


')  Ich  ergreife  die  Gelegenheit,  hier  ein  kleines  tatsächliches  Versehen 
in  meiner  Skizze  über  den  Englischen  Parlamentarismus  (Schmollers  Jahrb. 
f.  Gesetzgebg.  u.  Verwaltg.  1911  S.  1145  f.)  zu  berichtigen:  Die  Bewährung  des 
Oberhausvetos  am  „appeal  to  the  people"  1884  und  1893  erfolgte  nicht  im  Wege 
der  Auflösung  des  Unterhauses,  sondern  beim  ersten  Fall  durch  die  öffent- 
liche Diskussion  zwischen  Frühjahrs-  und  Herbstsession,  beim  zweiten  durch 
die  ordentlichen  Neuwahlen  von  1895. 


238  Besprechungen. 


über  den  Konservatismus  der  Massen  muß  seiner  Schrift  die  ernste  Beachtung 
aller  Soziologen  zuwenden,  und  als  Lloyd  George  in  den  Druck  seiner  An- 
spraclien  willigte,  sagte  er  sich  wohl  selbst,  daß  er  damit  nicht  so  sehr  die 
Agitation  verstäi'ke,  als  ein  einzigartiges  Denkmal  der  sozial-psj^chologischen 
Entstehung  und  Einwurzelung  gesetzgeberischer  Arbeit  errichte.  Der  Text 
der  beiden  Budgetreden  mit  all  ihrem  statistischen  Material  kommt  dem 
Finanzhistoriker  gelegen,  und  der  Genießer  von  Kunstformen  sieht  das  Jahr- 
hunderte alte  Erz  der  englischen  Staatsberedsamkeit  in  einem  glühenden 
Fluß  von  volkstümlichem  Witz  und  Pathos,  der  ihr  und  den  in  ihr  ausge- 
drückten Sachlichkeiten  der  Gesellschaftsverfassung  ebenso  heilsam  als  un- 
bequem sein  muß. 

Im  geraden  Gegensatze  zu  dem  mehr  üben-edenden  Stil  der  Demokraten 
versucht  die  treffliche  Broschüre  Robertsons,  des  Arbeiterführers  im  Unter- 
hause, eine  Kritik  der  politischen  Vernvmft  in  dem  angedeuteten  Sinne  eines 
Zurückgehens  auf  notwendige  Imperative  des  Rechtes  und  der  Sittlichkeit. 
Es  ist  heute  eine  fast  unlösbar  schwere  Aufgabe  bei  einem  solchen  Unter- 
nehmen, zugleich  mit  genügender  Sorgfalt  zu  den  tiefsten,  d.  h.  allgemeinsten 
Überzeugungen  vorzudringen  und  die  praktischen  Entscheidungen  daraus 
wiederum  mit  der  erforderlichen  Kürze  und  Durchsichtigkeit  abzuleiten.  Im 
Grunde  sind  es  die  alten  Lehren  des  Sozialismus  von  dem  Selbstbetruge  der 
der  Völker  in  der  rein  negativen  Feindschaftseinigkeit  gegeneinander,  die 
hier  mit  mancher  neuen  und  i3ersönlichen  Wendung  und  einem  tapferen 
Aufwände  an  Geschichtskenntnis  und  Formallogik  vorgetragen  werden.  Aber 
mir  scheint,  sie  entbehren,  wie  so  oft.  leider  auch  unter  dieser  Fassung  im 
ganzen  für  exoterische  Wirkungen  das  rechte  Maß  von  diplomatischer  Zurück- 
haltung im  Ton  und,  was  schlimmer  ist,  von  menschlicher  Ehrfurcht  vor 
den  Unerforschlichkeiten  des  Lebens  und  seiner  unendlichen  Mischungen  der 
Werte.  Ist  man  schon  verwundert,  daß  der  Ästhetiker  Steffen  einen  Künstler 
wie  Kipling  zu  den  Barbaren  wirft,  was  soll  man  zu  Robertsons  Ausfällen 
auf  Dickens,  den  ersten  weltbekannten  Ankläger  der  kapitalistischen  englischen 
Gesellschaft,  sagen?  In  Deutschland,  fürchte  ich,  werden  seine  unvorsichtigen 
Bemerkungen  über  die  Helden  des  neuen  Reichs  die  unberechtigten  Angriffe, 
die  schon  gegen  seine  angebliche  nationale  Befangenheit  gemacht  worden 
sind,  kaum  zum  Schweigen  zu  bringen  geeignet  sein.  Sollte  nicht  eine  wahr- 
haft sozialistische  Auffassung  der  großen  unbewußten  Strömungen  und  Ver- 
hältnisse in  der  Geschichte  eben  ihre  persönlichen  Träger  vor  der  Tugend- 
und  Lasterbeurteilung  der  älteren  Historie  schützen? 

Wenn  ich  zum  Schluß  Simons  schöne  Abhandlung  über  englisches 
Kommimalwesen  hier  anzeige,  muß  ich  fürchten  mit  einem  kurzen  allgemein- 
politischen Urteil  ihrem  Inhaltsreichtum  kaum  gerecht  zu  werden.  Aber 
eben  was  ihre  Mitteilungen  praktisch  so  äußerst  nützlich  und  lebendig  macht, 
daß  sie  der  Hauptsache  nach  aus  Augenschein  und  mündlich-persönlichen 
Auskünften  am  Orte  geschöpft  oder  daran  orientiert  sind,  behaftet  sie  nach 
der  Seite  der  Theorie  (ich  meine:  der  wissenschaftlichen  Ursacherklärung) 
mit  einer  gewissen  Schwäche.  Der  Schlüssel  zum  Verständnis  der  englischen 
Stadtverwaltung  ist  ihr  Verharren  auf  der  Stufe  der  mittelalterlichen,  vor- 
staatlichen Klassenregierung:  Daher  die  weitgehende  Unabhängigkeit  von 
der  Staatsgewalt,  der  Mangel  einer  wirklichen  Verantwortlichkeit  in  dem  (in 
Beamte  und  Bürgervertreter)  noch  ungeschiedenen  Stadtrat  mit  seinen  rein 
formellen  Plenarsitzungen,  aber  auch  die  völlig  aristokratische  Verfassung 
der  besoldeten  technischen  Hilfsämter,  als  Hauptergebnis  von  dem  allen  die 
schreiende  Finanzwirtschaft  auf  der  Grundlage  der  Mietssteuer,  deren  Miß- 
erfolge auf  dem  Gebiete  des  Kommunalsozialismus  mit  Unrecht  gegen  diesen 
selbst  geltend  gemacht  werden.  Von  alledem  wird  man  durch  die  Häupter 
der  Verwaltungen  natürlich  schwer  etwas  erfahren,  aber  es  liegt  deshalb 
nicht  weniger  am  Tage  und  hätte  auch  Simons  Darstellung  ein  kräftigeres 
Rückgrat    gegeben.      Wenn  die  (echt  mittelalterlich)    noch   immer    von    den 


Bespiechuugen.  239 


Kommunen  gesonderte  Armen verwaltimg  ganz  richtig  mit  einbezogen  wurde, 
wäre  statt  der  Bedenken  gegen  die  neue  Sozialfürsorge  des  Staates  (S.  86  f.) 
besser  die  geplante  Übernahme  der  alten  Armen  von  der  parochialen  Unter- 
stützung auf  die  Staatsrente  erwähnt  worden.  Untersuchungen  wie  Rown- 
trees  „Poverty  in  Cities"  fehlen  leider  im  Literaturverzeichnis;  sonst  wäre 
wohl  von  dem  entsetzlichen  Elend  der  Fabrikstädte  mehr  die  Rede  gewesen 
als  von  der  selbstverschuldeten  Armut. 

Ein  Wort  zu  dpr  wichtigen  Fi-age  der  Übertragungen  aus  dem  Eng- 
lischen, die  sich  ja  weit  übei-  das  bloß  Sprachliche  der  Übersetzung  hinaus 
erstreckt,  kann  ich  nicht  unterdrücken.  Wie  soll  die  Kunde  eines  fremden 
Landes  fortschreiten,  ohne  daß  den  allergeringsten  Anforderungen  an  Ver- 
trautheit mit  den  Besonderheiten  seines  Lebens  entsprochen  wird?  Die 
Verdeutschung  von  Robertsons  Schrift  schwankt  fortwährend  zwischen  Un- 
verständlichkeit  und  unfreiwilliger  Komik,  auch  für  die  erheblich  geschicktere 
Übersetzerin  von  Lloyd  Georges  Reden  (S.  178)  ist  Downing  Street  „die 
Straße,  die  zum  Parlament  führt",  und  sogar  bei  Simon  liest  man  (S.  41), 
daß  „red  tape",  der  englische  Aktenheftfaden,  das  „grüne  Tuch"  des  dortigen 
Bureaukratentisches  bedeute. 


Paul  Oertmann,  Die  staatsbürgerliche  Freiheit  und  das  freie  Ermessen  der 
Behörden.  (Vorträge  der  Gehe-Stiftung.  4.  Bd.  2.  Heft.)  Leipzig  1912. 
Teubner.     29  S. 

Verf.  geht  davon  aus,  daß  die  staatsbürgei'liche  Freiheit  ihre  Verbürgung 
in  den  Institutionen  findet,  die  den  sog.  „Rechtsstaat"  ausmachen,  wenn 
man  das  vieldeutige  Wort  in  dem  wesentlich  formalen  Sinne  verwendet,  den 
ihm  Fr.  J.  Stahl  aufgeprägt  hat  imd  der  ihm  in  der  juristischen  Literatur 
der  Gegenwart  beigelegt  wird.  Der  Rechtsstaat  habe  nun  aber  die  Tendenz, 
das  diskretionäre  Ermessen  der  Behörden  möglichst  auszuschließen,  und  so 
erhebe  sich  die  Frage,  ob  denn  diese  rechtsstaatliche  Maxime  einigermaßen 
durchgeführt  sei.  Demnach  untersucht  Verf.  zuerst  für  die  Gerichte,  dann 
für  die  Verwaltungsbehörden  den  Umfang  des  ihnen  zukommenden  freien 
Ermessens  und  findet  —  natürlich  — ,  daß  jene  angebliche  Maxime  nicht 
durchgeführt,  vielmehr  ein  „ungeheurer  Umfang  des  Ermessungsgebietes  auch 
im  modernen  Staate"  (S.  23)  wahrzunehmen  sei.  Da  nun  nach  Ansicht  des 
Verf.  Rechtsstaatsidee  und  behördliche  Freiheit  zu  individualisierender  Be- 
handlung des  Einzelfalls  sich  vertragen  wie  Feuer  und  Wasser  (S.  28),  so 
kommt  er  zu  dem  Schluß:  Soweit  das  freie  Ermessen  reiche,  sei  der  Rechts- 
staat nicht  durchgeführt.  Die  Rechtsstaatsidee,  wiewohl  von  unverlierbarem 
Wert,  sei  überhaupt  nicht  radikal  durchführbar,  neben  ihr  müsse  auch  die 
entgegengesetzte  Leitidee  der  behördlichen  Freiheit  zu  ihrem  Rechte  kommen; 
„jede  da,  wo  überwiegende  Gründe  der  salus  publica  zu  ihrer  Verwertung 
hinführen". 

Das  ist  in  sich  gewiß  richtig,  aber  es  ist  eine  etwas  triviale  Wahrheit. 
Außerdem  ist  ihre  Formulierung  irreführend,  denn  sie  arbeitet  mit  einer  Art 
Popanz  des  Rechtsstaatsbegriffs.  So  ist  die  Sache  doch  nicht  gemeint,  wenn 
die  Autoritäten  des  Verwaltungsrechts  die  Bindung  an  das  Gesetz,  die  ge- 
naue Abgrenzung  zwischen  Freiheit  und  Staatsgewalt,  den  Vorrang  der  Ver- 
ordnung vor  der  Verfügung,  die  durchgeführte  verwaltungsgerichtliche  Kon- 
trolle als  rechtsstaatliche  Einrichtungen  teils  lehren,  teils  postulieren.  Ich 
kann  das  nicht  im  einzelnen  hier  ausführen;  aber  freies  Ermessen  der  Behörde 
ist  so  wenig  die  Verneinung  des  Rechtsstaats  in  diesem  Sinne,  daß  um- 
gekehrt die  juristische  Bewältigung  dieses  Lebenselementes  der  Verwaltung  — 
die  Scheidung  des  Ermessens  von  der  Willkür;  der  Nachweis,  daß  das  Er- 
messen der  Behörde  auch  bei  weitestem  Spielraum  seine  juristisch  präzis 
(„genau"  sagt  Stahl,  nicht  „eng")  zu  bezeichnenden  und  unter  Rechtsschutz 


240  Besprechungen. 


zu  stellenden  Voraussetzungen  Formen  und  Grenzen  habe;  die  Untersuchung 
wie  dem  Mißbrauch  des  Ermessens  zu  begegnen  sei,  ohne  die  der  Behörde 
gebührende,  verwaltungspolitisch  in  zahlreichen  Verhältnissen  unentbehrliche 
Freiheit  und  Initiative  zu  hemmen  —  Hauptgegenstände  „rechtsstaatlicher" 
Erörterungen  und  Urteilsbegründungen  sind.  Gewiß  ist  Bindung  der  Bureau- 
kratie  an  gesetzliche  Grundlagen  und  Grenzen  das  Grundprinzip  des  Rechts- 
staats oder  überhaupt  des  Verwaltungsrechts,  aber  doch  so,  daß  der  richtige 
und  klare  Ausgleich  zwischen  den  Leitideen  der  behördlichen  Freiheit  und 
Gebundenheit  das  Thema  und  nicht  die  Aufhebung  der  rechtsstaatlichen 
Ordnung  ist.  —  Was  die  Einzelheiten  betrifft,  so  muß  ich  es  mir  in  dieser 
Zeitschrift  versagen,  zu  den  interessanten  verwaltungsrechtlichen  Ausführungen 
Stellung  zu  nehmen,  zu  denen  Verf.  durch  R.  v.  Launs  Buch  über  das  Freie 
Ermessen  angeregt  wurde  (S.  23—28),  um  so  mehr  als  ich  dieses  Werk  ander- 
wärts (Verwaltungsarchiv  20  S.  444  ff.)  ausführlich  besprochen  habe.  Von 
allgemeinem  Interesse  ist  dagegen  die  Beobachtung  des  Verf.,  daß  die  meisten 
„Freirechtler"  politisch  dem  Liberalismus  naheständen  (S.  29  n.  1)  und  die 
Bemerkungen,  die  er  daran  knüpft.  Verf.,  dessen  unterschiedslose  Gegner- 
schaft gegen  alles  Freirechtliche  ich  übrigens  keineswegs  teile,  betont  ganz 
richtig,  daß  die  Sorglosigkeit,  mit  der  die  Enkel  wichtigste  Entscheidungen 
ins  Ermessen  der  richterlichen  Beamten  stellen  wollen,  seltsam  kontrastiere 
mit  dem  Bemühen  der  liberalen  Großväter,  das  diskretionäre  Ermessen  der 
Verwaltungsbeamten  möglichst  auszuschalten.  Indes  ganz  so  seltsam  ist  die 
Sache  doch  nicht!  Der  Durchschnittsliberale  der  50er  und  60er  Jahre  hat 
zwar  —  und  nicht  ganz  mit  Unrecht  —  ein  gesteigertes  Mißtrauen  gegen  die 
Sachlichkeit  der  abhängigen  Verwaltungsbeamten,  dagegen  ein  fast  unbe- 
grenztes Vertrauen  in  die  Leistungsfähigkeit  und  Unparteilichkeit  der  Justiz- 
richter. Nicht  Gueist,  sondern  Bahr  ist  typisch  für  die  liberalen  Ansichten 
in  diesen  Dingen,  und  die  Anhänger  des  sog.  Justizstaats  sind  immer  auf  der 
Linken  zu  suchen.  An  liberaler  Tradition  fehlt  es  also  auch  den  extremen 
Freirechtlern  nicht,  so  gewiß  natürlich  auch  die  Anhänger  strenger  Gesetzes- 
dienerschaft des  Richters  sich  auf  eine  solche  berufen  können. 

Einen  breiten  Raum  (S.  11 — 23)  nehmen  übrigens  die  erwähnten  Nach- 
weise des  häufigen  Vorkommens  fi-eien  Ermessens  ein,  mit  den  treffend  ge- 
zeichneten Unterscheidungen  zwischen  gebundenem  und  freiem,  freiem  richter- 
lichen (S.  20  und  22)  und  freiem  Verwaltungsermessen. 

Es  finden  sich  da  zahlreiche  feine  und  einleuchtende  Bemerkungen,  wie 
denn  überhaupt  der  Vortrag  im  Ganzen  durch  klaren  Aufbau  und  Reichtum 
des  Inhalts  ausgezeichnet  ist.  Richard  Thoma. 


Georg  Meyer,  Lehrbuch  des  Deutschen  Verwaltungsrechts.  Nach  dem 
Tode  des  Verfassers  in  dritter  Auflage  bearbeitet  von  Franz 
Dochow.     Leipzig  1910.     Duncker  &  Humblot.     762  S. 

I. 

Will  man  dies  Buch,  die  Neubearbeitung  des  bekannten,  1893  in  zweiter 
Auflage  erschienenen  Meyerschen  Lehrbuchs,  richtig  würdigen,  so  wird  man 
m.  E.  zunächst  einmal  absehen  müssen  davon,  wie  es  wirklich  ist,  vielmehr 
sich  über  die  Frage  klar  sein  müssen,  wie  es  hätte  sein  können  oder  sein 
sollen  und  welche  objektiven  Leistungsmöglichkeiten  für  den  Be- 
arbeiter vorhanden  waren.  — 

Als  ich  es  zuerst  zur  Hand  nahm,  da  mußte  ich  unwillkürlich  denken 
an  ein  Wort,  das  ich  während  meiner  Universitätszeit  von  einem  hervorragend 
tüchtigen  Zivilrechtslehrer  gehört  hatte:  „Der  Fortschritt  der  Wissen- 
schaft vollzieht  sich  in  Monographien,   den   Ruhm  aber  ernten   die 


Besprechungen.  241 


Lehrbücher,  obwohl  sie  doch  nur  Konipilatorenarbeit  darstellen."  Und  nach- 
dem ich  den  umfangi-eichen  Band  von  fast  50  Bogen  durchgeblättert  hatte, 
da  glaubte  ich  durch  ihn  die  Richtigkeit  jenes  Satzes  vollgültig  bewiesen  zu 
sehen,  und  dieser  Glaube  an  die  notwendige  wissenschaftliche  Unfruchtbarkeit 
aller  systematischen  Gesamtdarstelhiugen,  soweit  sie  nicht  selbst  mono- 
graphische Ausführlichkeit  annehmen  wie  das  Kirchenrecht  von  Hinschius 
in  seiner  splendid  Isolation,  bildete  mit  einen  der  Gründe,  die  mich  fast 
veranlaßt  hätten,  die  Aufforderung,  im  Rahmen  des  „Öffentlichen  Rechts  der 
Gegenwart"  ein  sächsisches  Verwaltungsrecht  zu  schreiben,  trotz  aller 
Lockungen  eines  solchen  Anerbietens  abzulehnen. 

Heute,  wo  ich  mitten  drin  stehe  in  der  Arbeit  an  diesem  schließlich 
doch  noch  übernommenen  Werk,  denke  ich  über  die  wirklichen 
Leistungsmöglichkeiten  einer  lehrbuchmäßigen  Darstellung 
wenigstens  für  das  Gebiet  des  Verwaltungsrechts  anders  und  es  will 
mir  scheinen,  daß  jener  Zivilrechtslehrer  allzusehr  die  andersartigen  Ver- 
hältnisse des  bürgerlichen  Rechts  im  Auge  gehabt  hat.  Es  bedarf  dabei 
keines  Hinweises  auf  Otto  Mayers  Deutsches  Verwaltungsrecht,  das  eben 
als  die  geniale  Intuition  eines  geistvollen  und  durchaus  originalen  Juristen 
eine  Sonderstellung  einnimmt  und  in  der  Schablone  des  verwaltungsrecht- 
lichen Lehrbuchs  keinen  Platz  finden  würde.  Vielmehr  glaube  ich,  daß 
gerade  auch  unter  Beibehaltung  des  von  Georg  Meyer  übernommenen 
Lehrbuchcharakters  und  insbesondere  des  ja  auch  von  Max  v.  Seydel 
gegen  Otto  Mayer  verteidigten  „staatswissenschaftlichen  Systems"  in  der 
Stoffgliederung  drei  bedeutsame  Leistungsmöglichkeiten  für  den  Bearbeiter 
gegeben  waren. 

Die  erste  lag  in  der  reizvollen,  dem  privatrechtlichen  Lehrbuch  vom 
BGB.  §§  1 — 432  entrissenen,  Aufgabe,  aus  dem  unendlichen  Chaos  der  in 
Paragraphentausende  zerstreuten  Einzelbestimmungen  die  Grundsätze  eines 
„allgemeinen  Teils"  des  Verwaltungsrechts  heraus  zu  destillieren.  Die  Fülle 
der  Probleme,  die  in  ihm  enthalten  sind,  habe  ich  inzwischen  in  meinen 
„Grundzügen  eines  allgemeinen  Teils  des  öffentlichen  Rechts"  (in  Annalen 
des  Deutschen  Reichs  1911,  1912)  versucht  wenigstens  anzudeuten.  Die 
Notwendigkeit  seiner  Schaffung  hatten  schon  längst  vorher  Bernatzik, 
Stoei'k  und  andere  hervorgehoben.  Wissenschaftliche  Vorarbeiten  für  ihn 
standen  dem  Bearbeiter  in  ganz  anderm  Mal^e  als  Georg  Meyer  zur  Ver- 
fügung; neben  Otto  Mayers  Verwaltungsrecht  mußte  er  sich  vor  allem 
Georg  Jellineks  glänzendes  System  der  subjektiven  öffentlichen  Rechte 
und  mehr  noch  Walter  Jellineks  bedeutsame  Schrift  über  den  fehlerhaften 
Staatsakt  nutzbar  machen,  und  auch  aus  der  von  Georg  Meyer  nicht  näher 
berücksichtigten  ausgezeichneten  Schrift  von  Rosin  üqer  das  Recht  der 
öffentlichen  Genossenschaft  hätte  er  noch  viel  Anregung  holen  können,  und 
soweit  diese  Vorarbeiten  Lücken  oder  Zweifel  ließen,  bot  sich  gerade 
jemanden,  der  kein  partikulares,  sondern  ein  gemeindeutsches  Verwaltungs- 
recht zu  schreiben  unternahm,  der  also  gezwungen  war,  sich  mit  allen 
Partikularrechten  wesentlich  gleichmäßig  zu  beschäftigen  und  vertraut  zu 
machen,  weit  mehr  als  dem  partikularrechtlich  arbeitenden  Forscher  die 
Möglichkeit  einer  Nutzbarmachung  des  partikulär  zerstreuten  Gesetzesmaterials 
für  die  Schaffung  jenes  allgemeinen  Teils. 

Und  war  diese  erste  Aufgabe  gelöst,  so  konnte  von  der  gewonnenen 
Grundlage  aus  selbst  eine  aus  Raumrücksichten  knapp  gehaltene  Darstellung 
des  speziellen  Teils  auch  in  dieser  etwas  schaffen,  was  ihr  einen  eigenen 
W^ert  neben  dem  eingehendsten  und  genauesten  Kommentar  eines  Spezial- 
gesetzes zu  verleihen  geeignet  war,  nämlich  die  Vereinheitlichung  des  spe- 
ziellen Verwaltungsrechts.  Wie  liegen  doch  die  Verhältnisse  in  unserer 
Verwaltungsgesetzgebung?  Haben  wir  ein  einheitliches  Verwaltungsrecht?  — 
In   der  Idee   wohl   ja;    zum   Ausdruck   kommt   sie   darin,    daß  wir  von   dem 

Zeitschrift  für  Poütik.    6.  16 


242  Besprechungen. 


„Eechtssystem  eines  Landes"  und  insbesondere  vom  System  seines  öffentliclien 
Rechts  sprechen;  begründet  ist  sie  in  der  durch  die  historische  Schule  zum 
Siege  gekommenen  Anschauung  vom  „Wachsen  des  Eechts",  einer  Anschauung, 
die  fi-eilich  gar  oft  gerade  von  den  beredesten  Wortführern  einer  „historischen 
Rechtsauffassung"  gröblich  dahin  mißverstanden  wird,  daß  das  Schv^^er- 
gewicht  zu  legen  sei  auf  die  Konservierung  „historisch  gewordener"  Ab- 
normitäten, die  zwar  in  das  heutige  Rechtssytem  nicht  mehr  paßten,  aber 
nun  doch  einmal  von  der  Vergangenheit  überkommen  seien  und  darum 
ehrfurchtsvoll  respektiert  werden  müßten,  während  mir  doch  im  Gegenteil 
scheinen  will,  daß  die  tiefere  historische  Auffassung  gerade  bei  denen  liegt, 
die  eine  Assimilierung  jener  Abnormitäten  an  und  durch  ihre  moderne 
Umgebung  annehmen  und  zwar  eine  Assimilierung  ohne  Zutun  des  Gesetz- 
gebers und  ohne  jede  äußerlich  erkennbar  werdende  Änderung  der  positiven 
Normen,  von  denen  jene  Abnormitäten  ausgingen  (vgl.  Kormann,  System 
der  rechtsgeschäftlichen  Staatsakte,  S.  332,  333).  —  Aber  auch  wenn  man  in 
der  Idee  die  innere  organische  Einheit  des  Verwaltungsrechts  eines  Landes 
anerkennt,  so  stellt  sich  doch  in  der  äußeren  Wirklichkeit  dieses  Recht  nicht 
als  Einheit,  sondern  als  ein  Konglomerat  von  Hunderten  von  Einzelgesetzen 
dar,  deren  Text  Hunderte  von  Geheimräten  jeder  auf  eigene  Faust  und  ohne 
viel  Zusammenhang  mit  dem  andern  mehr  oder  minder  gut  entworfen  und 
Hunderte  von  Abgeordneten  mehr  oder  weniger  verschlechtert  haben.  Und 
hier  setzt  die  zweite  große  Aufgabe  der  wissenschaftlich  systematischen 
Gesamtdarstellung  des  Verwaltungsrechts  ein,  die  dahin  geht,  dieses  Kon- 
glomerat umzuschaffen  und  zu  verschmelzen  zur  organischen  Einheit,  die  es 
sein  muß,  wenn  anders  jene  Grundidee  der  historischen  Rechtsauf fassung 
richtig  ist.  Dazu  aber  ist  nötig,  daß  der  Bearbeiter  sich  unabhängig  macht 
gegenüber  den  Hunderten  von  Geheimräten  und  den  Hunderten  von  Ab- 
geordneten, daß  er  deren  Arbeit  nicht  behandelt  nach  ihren  mannigfachen 
SpezialSystemen,  die  doch  nur  ein  großes  System  der  Systemlosigkeit  dar- 
stellen, sondern  daß  er  mit  bestimmten  überall  einander  gleichen  Gesichts- 
punkten, eben  denen,  die  er  sich  in  dem  ».allgemeinen  Teil"  gebildet  hat, 
an  die  Betrachtung  der  Einzelgebiete  herantritt  vmd,  ohne  auf  Einzelheiten 
einzugehen,  deren  Erörterung  ihm  der  Raummangel  ja  doch  verbietet  und 
in  denen  er  doch  nicht  mit  dem  Kommentar  konkurrieren  kann,  von  jenen 
Gesichtspunkten  aus  die  konstruktiven  Grundlagen  der  Einzelgesetze  aufdeckt. 
Auch  das  ist  eine  Aufgabe  des  Verwaltungsrechtlers,  der  der  Verfasser  eines 
zivilrechtlichen  Lehrbuchs  keine  gleichartige  gegenüberstellen  kann;  denn 
unser  Zivilrecht  ist  ja  in  seiner  großen  Masse  in  einheitlichen  Gesetzen,  ins- 
besondere in  unserm  BGB.,  über  das  wir  uns  trotz  aller  seiner  viel  zu  scharf 
kritisierten  Mängel  von  Herzen  freuen  sollen,  kodifiziert,  und  auch  insoweit 
es  sich  in  kleineren  Spezialgesetzen  verstreut  findet,  ist  der  Schade  nicht  so 
groß,  da  die  Geheimräte,  die  diese  Gesetze  entwarfen,  durch  jene  großen 
Kodifikationen  und  die  gemeinsame  zivilistisch-wissenschaftliche  Vorbildung 
genügend  beeinflußt  waren,  um  unter  sich  in  den  leitenden  Gesichtspunkten 
übereinzustimmen. 

Wenn  ich  im  vorigen  von  der  Notwendigkeit  der  Aufdeckung  der 
„konstruktiven  Grundlagen"  unserer  verwaltungsrechtlichen  Gesetze  gesprochen 
und  dabei  zugleich  einen  halb  neidischen  IBlick  auf  den  Zustand  unserer 
privatrechtlichen  Gesetzgebung  geworfen  habe,  die  ihrerseits  eheu  wesentlich 
stärker  „konstruktiv"  beeinflußt  ist,  so  muß  ich  dabei  natürlich  auf  den 
Einwand  gefaßt  sein,  es  sei  verfehlt  oder  gar  absurd,  für  die  Einführung 
der  „konstruktiven  Jurisprudenz"  in  die  Verwaltungsrechtswissenschaft  gerade 
zu  einer  Zeit  einzutreten,  wo  man  in  der  bisher  durch  sie  völlig  beherrschten 
Privatrechtswissenschaft  ihr  wegen  ihrer  „Gemeinschädlichkeit"  vielfach  die 
Treue  aufsagt.  —  Da  mir  über  das  Verhältnis  dieser  konstruktiven  zu  der, 
wie  wir  sie  kurz  nennen  wollen,  „Zweckjurisprudenz"  mancherlei  Unklarheit 
zu   bestehen   scheint,   so  mag  hier  mit  einigen  grundsätzlichen  Bemerkungen 


Besprechungen.  243 


hierauf  eingegangen  w-erden.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  die 
konstruktive  Methode  allgemeine  Eechtsbegriffe  (und  Eechtsinstitute !)  als 
Ausgangspunkte  benützt  und  die  zahlreichen  oder  zahllosen  Einzelerscheinungen 
der  Paragi-aphentausende  diesen  allgemeinen  Begriffen  unterzuordnen  und 
einzugliedern  bemüht  ist,  und  es  liegt  dabei  dann  ferner  wenigstens  nahe, 
daß  Leute,  denen  das  nicht  paßt,  sie  dadurch  zu  diskreditieren  versuchen,  daß 
sie  das  bekannte  Wort  vom  „ Begriff shimniel"  herbeirufen,  wobei  diese  neunmal- 
klugen und  vielbelesenen  Weisen  —  es  sind  meist  Praktiker  —  nur  leider 
vergessen,  daß  derselbe  Jhering,  der  gegenüber  einer  scholastischen  Begriffs- 
bildnerei  (vgl.  Kormann,  System  der  rechtsgeschäftlichen  Staatsakte  S.  11,  12) 
mit  Recht  das  Spottwort  vom  Begriffshimmel  erfunden  hat,  den  Wert 
praktisch  brauchbarer  Begriffe  (vgl.  a.  a.  0.)  voll  zu  würdigen  wußte:  in 
seinem  „Geist  des  römischen  Eechts"  (dritter  Teil,  erste  Abteilung,  4.  Aufl. 
S.  12,  13)  nämlich  meint  er  gelegentlich  der  Entwicklung  einer  Analytik  des 
Eechts  gegenüber  Ciceros  bekanntem,  ganz  im  Sinne  der  modernen  Anti- 
konstruktiven  gehaltenen  Ausspruch:  „Juris  consulti  quod  positum  in  una 
cognitione  est  id  in  infinita  dispertiuntur"  folgendes:  es  sei  „dieser  Ausspruch, 
insoweit  er  einen  Tadel  gegen  die  Jurisprudenz  begründen  sollte,  nur  ein 
Beweis  für  die  juristische  Urteilslosigkeit  seines  Urhebers.  Was  .  .  Cicero 
hier  als  Gebrechen  der  juristischen  Wissenschaft  seiner  Zeit  kennzeichnet, 
war  nichts  als  der  analytisch-juristische  Geist  des  römischen  Eechts,  und 
nur  indem  er  die  totale  Verschiedenheit  des  Gesichtspunktes,  durch  den 
der  Philosoph  und  durch  den  der  Jurist  sich  bei  seiner  Begriffszersetzung 
leiten  zu  lassen  hat,  übersah,  konnte  er  dahin  gelangen,  der  alten  Juris- 
prudenz zum  Vorwurf  anzurechnen,  was  das  Lebensgesetz  des  Rechts  ausmacht 
und  ihr  zur  ewigen  unvergänglichen  Ehre  gereicht.  Berechtigt  wäre  der 
Tadel  nur  dann  gewesen,  wenn  die  Jurisprudenz  bei  ihren  Einteilungen  den 
praktischen  Zweck  außer  Augen  gelassen  und  sich  von  einer  derartigen 
formalen  dialektischen  Scheidewut  hätte  hinreißen  lassen,  wie  sie  in  Zeiten 
wissenschaftlicher  Impotenz  als  Zerrbild  wahren  Denkens  aufzutreten  pflegt. 
Das  alte  Eecht,  welches  uns  sonst  ein  so  reiches  Material  für  die  Schilderung 
der  analytischen  Methode  an  die  Hand  gibt,  bietet  für  diesen  letzten  Vorwurf 
auch  nicht  die  geringste  Handhabe  dar.  im  Gegenteil,  alle  seine  Begriffe, 
so  fein  gespalten  sie  auch  sein  mögen,  finden  in  einem  praktischen  Motiv 
ihre  Eechtfertigung."  Aber  so  hoch  auch  die  konstruktive  Methode  die 
Bedeutung  der  allgemeinen  Eechtsbegriffe  bewertet,  so  wird  doch  keiner 
ihrer  Verti'eter  sich  der  Einsicht  verschließen,  daß  daneben  auch  die  besondere 
Eigenart  und  die  besonderen  Zweckgedanken  der  einzelnen  Eechtsgebiete 
berücksichtigt  werden  müssen;  der  uralte  Gegensatz  zwischen  ius  strictum 
und  ius  aequum,  zwischen  strengem  und  Billigkeitsrecht  ist  ja  gar  nicht  zu 
verkennen,  und  daß  man  Wechselrecht  und  Familienrecht,  Finanzrecht  und 
Sozialversicherungsrecht  nicht  im  gleichen  Sinne  auslegen  und  handhaben 
kann,  ist  offensichtlich.  —  Für  die  Frage  aber,  von  der  wir  hier  ausgingen, 
nämlich  die  Frage  nach  den  Aufgaben  einer  verwaltungsrechtlichen  Gesamt- 
darstellung folgt  aus  diesen  Erörterungen  über  das  Verhältnis  der  kon- 
struktiven zu  der  Zweckjurisjjrudenz,  daß  auch  eine  konstruktiv  angelegte 
Darstellung  in  ihrem  speziellen  Teil  sich  nicht  beschränken  kann  auf  die 
Aufdeckung  der  konstruktiven  Elemente,  sondern  daß  sie  zugleich  der  Be- 
trachtung der  einzelnen  Verwaltungsgebiete  jeweils  eine  Kennzeichnung  der 
besonderen  Eigenart  und  der  besonderen  Zweckgedanken  gerade  dieses 
besonderen  Gebiets  vorausschicken  muß. 

Hätte  der  Verfasser  oder  der  Bearbeiter  sein  Werk  geschaffen  im  Sinne 
der  hier  gekennzeichneten  Gesichtspunkte,  so  hätte  man  ihm  Beifall  zollen 
müssen,  von  welchem  Standpunkt  aus  man  es  auch  betrachtet  und  so  ver- 
schieden auch  im  übrigen  der  Standpunkt  ist.  den  die  Verw^altungs- 
rechtswissenschaft,  die  Verwaltungspraxis,  die  Wissenschaft 
und    die  Praxis  der  Politik  dazu  einnehmen. 


16* 


244  Besprechungen. 


Vom  Standpunkt  der  Verwaltungsrechtswissenschaft  aus  wäre  sowohl 
die  Schaffung  des  allgemeinen  Teils  wie  die  Nachweisung  der  konstruktiven 
Grundlagen  und  der  besonderen  Eigentümlichkeiten  im  speziellen  Teil  von 
Wert  gewesen,  das  erste  an  sich,  das  zweite  insofern,  als  es  das  Gerippe 
für  eine  in  die  Einzelheiten  eindringende  Untersuchung  geboten  hätte. 

Vom  Standpunkt  der  Verwaltungspraxis  aus  hätte  man  jedenfalls  dem 
allgemeinen  Teil  Dank  gewußt.  Denn  wenn  auch  die  Praxis  im  übrigen  von 
dem  Kommentar  beherrscht  wird,  mit  dem  die  systematische  Darstellung 
niir  in  der  Form  des  groß  angelegten  Handbuchs  in  Konkurrenz  treten 
kann,  so  gibt  es  doch  einen  Punkt,  in  dem  selbt  die  knapp  gehaltene 
systematische  Darstellung  aus  natürlichen  Gründen  einen  weiten  Vorsprung 
vor  dem  Kommentar  hat:  das  ist  eben  der  „allgemeine  Teil",  bei  dessen 
Problemen  der  Kommentar  entweder  schweigt  oder,  sofern  er  selbständig 
von  der  Theorie  ihre  Lösung  unter  Beschränkung  auf  die  Fragen  des  von 
ihm  bearbeiteten  Gesetzes  versuchen  sollte,  alsbald  an  sich  das  treffende 
Wort  Manigks  schmerzlich  erfahren  wird,  daß  „die  kasuistische  Behandlung 
der  einzelnen  Spezies   mühevoll,  wenig  ertragreich  und  dazu  gefährlich  ist." 

Vom  Standpunkt  der  Politik  endlich,  der  uns  an  dieser  Stelle  am 
meisten  interessiert,  wäre  ein  Werk,  das  in  genügender  positivrechtlicher 
Fundierung  einen  „allgemeinen  Teil"  und  zugleich  mit  dessen  Hilfe  in  seinem 
speziellen  Teil  die  Vereinheitlichung  des  großen  Konglomerats  verwaltungs- 
rechtlicher Gesetze  geschaffen  oder  vorbereitet  hätte,  eine  schöpferische 
rechtspolitische')  Tat  gewesen,  nämlich  die  Lösung  oder  ein  Schritt  zur 
Lösung  dessen,  was  ich  unter  Verweisung  auf  meine  obigen  Ausführungen 
über  das  „Wachsen  des  Eechts"  und  seine  Unabhängigkeit  von  äußerlich 
erkennbaren  Änderungen  der  positiven  Korm^u  als  die  in  diesem  Zusammen- 
hang keineswegs  als  innerer  Widerspruch  erscheinende  „Kodifikationsaufgabe 
der  Verwaltungsrechtswissenschaft"  bezeichnen  möchte. 

Hat  uns  die  Neubearbeitung  des  Meyerschen  Lehrbuchs  ein 
solches  Werk  geliefert?  Ich  wage  es  kaum,  die  Frage  noch  anf zuwerfen, 
da  ich  fast  fürchte,  mich  lächerlich  mit  ihr  zu  machen.  Es  fehlt  in  ihr  ja 
jeder  Ansatz  dazu,  sie  hat  es  ja  gar  nicht  versucht,  nicht  einmal  daran  gedacht. 

Für  die  Lösung  der  ersten  Aufgabe,  die  Schaffung  des  allgemeinen 
Teils,  hat  sie  nichts  getan;  sie  hat  zwar  aus  der  früheren  Auflage  ein  erstes 
Buch  beibehalten  mit  der  Überschrift  „Allgemeine  Lehren",  in  dem  von  den 
„Organen  der  Verwaltung"  (in  dankenswerter  Küi'ze,  unter  Verweisung  auf 
die  genauere  Darstellung  im  Lehrbuch  des  Staatsrechts),  von  der  „Rechtlichen 
Natur  der  Verwaltungsakte",  von  der  Verwaltungsgerichtsbarkeit,  der  Ver- 
waltungsexekution und  (was  neu  und  billigenswert  ist,  obwohl  der  Bearbeiter 
selbst  S.  70  Anm.  1  meint,  „vermutlich"  habe  er  doch  auch  hier  nicht  den 
richtigen  Platz  für  dies  Eechtsinstitut  gefunden)  von  der  Enteignung  ge- 
sprochen wird,  —  durchweg  Dingen,  die  in  der  Tat  in  einen  allgemeinen 
Teil  hineingehören,  aber  doch  nur  vielleicht  ein  fünftel  von  ihm  enthalten, 
wie  man  leicht  feststellen  kann,  wenn  man  sich  die  Mühe  macht,  sie  einmal 
mit  den  Paragraphenüberschriften  meiner  erwähnten  Grundzüge  zu  vergleichen. 
Von  den  Anregungen,  die  die  vorhin  erwähnte,  nach  der  zweiten  Auflage 
erschienene  Literatur  bot,  hat  die  Neubearbeitung  keinerlei  Nutzen  zu  ziehen 
gewußt;  Otto  Mayers  Werk  fi-eilich  ist  berücksichtigt,  aber  nur  in  der 
Weise,  daß  seine  Meinungen  anmerkungsweise  im  Wortlaut  wiedergegeben 
werden,  so  daß  man  fast  versucht  sein  möchte,  zu  sagen,  diese  Zitate  seien 
das  beste  an  dem  ganzen  Buch;  dagegen  iet  Walter  Jellineks  Schrift,  obwohl 


^)  Über  die  Stellung  der  dogmatischen,  insbesondere  der  verwaltungs- 
rechtlichen Wissenschaft  zur  Politik,  bei  der  die  Verwaltungspolitik  und 
Eechtspolitik  zu  scheiden  sind,  vgl.  Piloty  im  Archiv  des  öffentlichen 
Eechts  28,  S.  335  und  dazu  Kor  mann,  Politik  und  Wissenschaft,  in  der 
Konservativen  Monatsschrift  Band  70  S.  130. 


Bespreclanngen.  245 


eie  doch  schon  2  Jahre  vor  dem  Erscheinen  dieser  Neuauflage  veröffentlicht 
war,  lediglich  mit  einem  Zitat  ihres  Titels,  der  seinerseits  übrigens  den 
Reichtum  ihres  Inhalts  gar  nicht  erkennen  läßt,  abgetan. 

Für  die  Lösung  der  zweiten  Aufgabe  fehlte  es  mangels  der  Lösung  der 
ersten  an  jeder  Grundlage  und  es  ist  daher  nicht  verwunderlich,  wenn  man 
vergeblich  nach  leitenden  Gedanken  in  der  Behandlung  des  speziellen  Teils 
sucht,  der  sich  vielmehr  darstellt  lediglich  als  eine  Aneinanderreihung  des 
Hauptinhalts  von  hunderten  von  Gesetzen  unter  gelegentlicher  Einfügung 
einiger  Bemerkungen  über  bekanntere  Streitfragen,  —  gerade  als  ob  Gesetzes- 
paraphrase mit  kompilatorischem  Anhängsel  das  Ziel  der  Wissenschaft  wäre. 

II. 

Aber  der  Bearbeiter  hat  nun  einmal  die  vorhandenen  Leistungs- 
möglichkeiten nicht  benutzt  und  wir  müssen  sein  Werk  so  nehmen  wie  es 
wirklich  ist.  Es  fi-agt  sich,  welcher  Wert  ihm  in  diesem  tatsächlichen 
Zustand  beizumessen  ist.  — 

Dabei  entsteht  m.  E.  zunächst  die  Vorfi-age:  ist  denn  überhaupt 
ein  Bedürfnis  vorhanden  für  ein  „deutsches"  Verwaltungsrecht 
im  Sinne  des  vorliegenden  Werkes? 

Natürlich  dürfen  wir  diese  Frage  nicht  beantworten  nach  dem  buch- 
händlerischen Erfolg.  Dieser  Erfolg  ist  anscheinend  recht  gut  gewesen  und 
wenn  ich  richtig  unterrichtet  bin,  wird  sogar  schon  eine  neue  Auflage  vor- 
bereitet; wenn  man  berücksichtigt,  daß  zwischen  der  ersten  und  zweiten 
Auflage  ein  Zeitraum  von  10,  zwischen  der  zweiten  und  dritten  ein  solcher 
von  17  Jahren  lag,  so  würde  das  gewiß  viel  sagen,  nur  freilich  nicht  über 
die  hier  zu  erörternde  Frage,  da  dieser  Erfolg  eben  lediglich  auf  der  der- 
zeitigen Monopolstellung  des  Meyerschen  Werkes  beruht,  insbesondere  auf 
dem  bisherigen  Maugel  eines  wissenschaftlichen  Lehrbuchs  des  Verwaltungs- 
rechts unseres  größten  Bundesstaats,  —  ob  die  inzwischen  erschienene  Neu- 
auflage von  Bornhaks  Preußischem  Staatsrecht  diese  Lücke  schließen  kann, 
will  ich  hier  nicht  untersuchen.  Zu  einer  richtigen  Beantwortung  der  auf- 
geworfenen Frage  kann  man  vielmehr  nur  kommen,  wenn  man  sie  einerseits 
vom  Standpunkt  der  Verwaltungspraxis,  andi-erseits  vom  Standpunkt  der 
Verwaltungsrechtswissenschaft  aus  erörtert. 

Vom  Standpunkt  der  Verwaltungsj^raxis,  also  des  Verwaltungsbeamten 
wie  des  Verwaltungsrichters,  aus  vermag  ich  nicht  zu  erkennen,  wie  man  zu 
einer  Bejahung  des  Bedürfnisses  gelangen  sollte.  Die  Praxis  wird,  wie  ich 
schon  in  anderm  Zusammenhang  hervorhob,  grundsätzlich  beheiTScht  durch 
den  Kommentar,  der  allein  in  der  Lage  ist,  ihr  auf  die  sie  vorwiegend 
interessierenden  Spezialfragen  verlässige  Auskunft  zu  geben.  Soweit  sie  aber 
ausnahmsweise  das  Bedürfnis  empfindet,  sich  mehr  allgemein  über  eine  Frage 
zu  orientieren,  namentlich  über  das  Vorhandensein  von  Rechtsnormen  (Gesetz- 
und  Ausführungsnormeu !  —  meist  interessieren  dann  aber  auch  die  bloßen 
Verwaltungsverordnungen),  ist  es  nicht  ein  „deutsches"  Verwaltungsrecht, 
sondern  das  preußische,  das  bajTische,  das  württembergische,  das  sächsische, 
das  hessische  Verwaltungsrecht,  dessen  sie  bedarf. 

Vom  Standpunkt  der  Verwaltungsrechtswassenschaft  aus,  der  in  dieser 
Beziehung  sich  übrigens  deckt  mit  dem  Standpunkt  der  wissenschaftlichen 
Politik,  liegen  die  Dinge  allerdings  nicht  völlig  gleich.  Es  kann  zugegeben 
werden,  daB  ein  wissenschaftliches  Bedüi-fnis  dafüi-  besteht,  die  Verwaltungs- 
rechtsnormen aller  oder  doch  wenigstens  der  wichtigsten  deutschen  Glied- 
staaten an  einem  Platz  einheitlich  zusammen  behandelt  oder  mindestens 
genannt  zu  finden,  —  man  kann  dies  zugeben  namentlich  mit  Rücksicht  auf 
verwaltungsrechtliche  Monographien,  die  eine  bestimmte  Rechtsfrage  ohne 
partikuläre  Beschränkung  behandeln  wollen  und  dafür  eines  Wegweisers 
bedürfen,  sowie  auch  mit  Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse  der  vergleichenden 
Verwaltungsrechtswissenschaft   und   der  mit  ihr  zusammenhängenden  wissen- 


246  Besprechungen. 


schaftlichen  Politik.  Aber  zur  Befriedigung  dieses  Bedürfnisses  scheint  mir 
nicht  das  Lehrbuch  berufen,  sondern  das  Wörterbuch ;  für  das  letztere,  das 
mit  einem  Stab  von  Spezialisten  arbeitet,  ist  es  ein  leichtes,  jenem  Bedürfnis 
in  unbedingt  zuverlässiger  Weise  zu  genügen,  wie  wir  das  auch  bei  dem 
Stengel-Fleischmannschen  Wörterbuch  sehen  können;  für  das  Lehrbuch  da- 
gegen bedeutet  es  einen  hohen  Kraftverbrauch,  wenn  sein  Verfasser,  der 
nun  doch  einmal  auch  unter  der  allgemeinen  menschlichen  Beschränktheit 
seiner  Arbeitskraft  leidet,  sein  Augenmerk  ständig  auch  auf  die  rastlos 
arbeitende  Gesetzgebungsmaschine  von  Staaten  richten  muß,  deren  Recht 
ihn  nicht  unmittelbar  berührt,  und  es  scheint  mir  darum  wissenschaftlich 
rationeller  zu  sein,  wenn  der  Verfasser  des  Lehrbuchs  seine  Arbeitskraft 
weniger  extensiv  für  ein  „deutsch'es"  Verwaltungsrecht,  sondern  vielmehr  um 
so  intensiver  fijr  ein  bestimmtes  partikuläres  Verwaltungsrecht  nutzbar  macht, 
wobei  er  es  der  Zukunft  überlassen  mag,  ob  vielleicht  später  einmal  nach 
gründlicherer  Durchforschung  der  partikulären  Verwaltungsrechte  die  Zeit 
dafür  reif  sein  wird,  über  diesen  partikulären  Verwaltungsrechten  ein  gemeines 
deutsches  Verwaltungsrecht  nach  Art  des  einstigen  gemeinen  deutschen 
Privatrechts  aufzubauen. 

Wenn  ich  hiernach  glaube,  daß  schon  allein  aus  dem  Gesichtspunkt  des 
mangelnden  praktischen  und  wissenschaftlichen  Bedürfnisses  einem  ,,deutschen" 
Verwaltungsrecht  im  Sinne  von  Meyer-Dochow  nur  ein  sehr  beschränkter 
Wert  beizumessen  ist,  so  muß  dieser  Wert  m.  E.,  wenn  wir  die  Art  der 
Ausführung  bei  dem  vorliegenden  Werk  prüfen,  noch  um  ein  erheblichea 
weiter  vermindert  werden.  Denn  diese  Ausführung  ist  höchst  mangelhaft. 
Von  näherer  Substanzierung  und  Beweis  dieser  Vorwürfe  muß  ich  an  dieser 
Stelle  absehen,  wenn  ich  nicht  auf  juristische,  die  Leser  dieser  Zeitschrift 
nicht  weiter  berührende  Einzelheiten  eingeben  wollte;  ich  darf  es  aber  um 
80  eher,  da  ich  in  dieser  Beziehung  verweisen  kann  auf  eine  ausführliche 
juristische  Kritik,  die  ich  gleichzeitig  mit  der  vorliegenden  für  die  Kritische 
Vierteljahrsschrift  (über  „Die  neuesten  Lehr-  und  Handbücher  der  Verwaltungs- 
rechtswissenschaft" IV)  schreibe.  An  dieser  Stelle  mag  es  genügen,  zur  Illustra- 
tion der  von  mir  behaupteten  Unzulänglichkeit  des  besprochenen  Werkes  anzu- 
führen, daß  aus  der  vor  fast  20  Jahren  erschienenen  zweiten  Auflage  folgende 
Sätze  sich  auch  in  die  neue  Auflage  hinübergerettet  haben:  S.  354  „die 
Emission  von  Schuldurkunden,  die  auf  den  Inhaber  lauten,  wird  nach  vielen 
Landesgesetzgebungen  von  einer  Genehmigung  der  Verwaltung  abhängig 
gemacht"  sowie  ferner  356:  die  Hypothekenbanken,  deren  wirtschaftliche 
Funktionen  zunächst  richtig  geschildert  werden,  „haben  den  Charakter  von 
Aktiengesellschaften  und  stehen  unter  den  gewöhnlichen  Grundsätzen  des 
Privatrechtes";  daß  es  heute  ein  BGB.  und  in  diesem  BGB.  einen  §  795  über 
Inhaberpapiere  gibt  und  daß  es  heute  ferner  ein  Hypothekenbankgesetz  gibt, 
hätte  ein  Buch,  das  für  Studenten  des  fünften  Semesters  ab  aufwärts  ein 
Lehrbuch  sein  will,  schließlieh  doch  wohl  wissen  können! 

Ich  glaube  wohl,  daß  diese  völlige  Ablehnung  des  Meyer-Dochowschen 
Werkes,  zu  der  ich  mich  für  berechtigt  und  verpflichtet  hielt,  das  schärfste 
Urteil  ist,  das  bisher  darüber  gefällt  worden  ist.  Aber  immerhin  haben 
auch  wohlwollendere  Kritiken,  soweit  ich  mich  ihrer  erinnere,  dm-chweg  im 
Grunde  sachlich  recht  unbefriedigt  geklungen,  wobei  sie  nur  jeweils  ein- 
leitend oder  abschließend  eine  versöhnende  Note  einbrachten  durch  die 
persönliche  Anerkennung  des  Fleißes  des  Bearbeiters.  Ich  muß  selbst 
das  ablehnen.  Denn  seit  wann  ist  Fleiß  ein  wissenschaftliches  Verdienst? 
Ethische  Anerkennung  gebührt  dem  Fleiß,  aber  dem  wissenschaftlichen 
Kritiker  steht  es  nicht  an,  mit  dem  Maßstab  des  Sittenrichters  zu  messen, 
für  ihn  muß  es  bleiben  bei  dem  Satz:  Nur  der  Erfolg  ist  ein  Verdienst. 

Karl  Kormann. 


Besprechungen.  247 


Ludwig  Dambitsch,   Die  Verfassung  des  Deutschen  Eeichs,  mit  Erläute- 
rungen.    Berlin  1910.     Franz  Vahlen.     VI  und  696  S. 

Einen  neuen  Kommentar  zum  Staatsgrundgesetz  des  Deutschen  Eeichs 
wird  man  immer  mit  besonderem  Interesse  zur  Hand  nehmen,  allein  schon, 
um  festzustellen,  wodurch  er  sich  von  seinen  älteren  Brüdern  unterscheidet, 
ob  er  in  der  ganzen  Anlage  und  in  der  Art  der  Darstellung  etwas  neues 
bietet.  Das  vorliegende  Buch  läßt  gleich  beim  ersten  Zusehen  erkennen, 
daß  es  im  äußeren  Aufbau  ziemlich  erheblich  von  den  landläufigen  Gesetzes- 
kommentaren abweicht.  Anstatt  die  einzelnen  Stichworte  der  Verfassungs- 
artikel in  der  zufälligen  Reihenfolge  des  Textes  nacheinander  zu  erläutern, 
hat  der  Verfasser  es  vorgezogen,  den  Rechtsinhalt  jedes  Artikels  in  geschlossener 
systematischer  Bearbeitung,  gewissermaßen  in  Gestalt  einer  kleinen  Mono- 
graphie, wiederzugeben.  An  den  Wortlaut  des  Gesetzes  schließt  sich  eine 
logisch  wohlgeordnete  Disposition,  die  sodann  in  eingehender  Darstellung 
und  in  übersichtlicher  Form  abgehandelt  wird. 

Dringt  man  tiefer  in  diese  einzelnen  „Monographien"  ein,  so  entdeckt 
man  eine  weitere  Eigenart  der  Schrift,  ihre  grundsätzlich  praktische  Zweck- 
bestimmung. Von  einem  Rechtspraktiker  —  Dambitsch  ist  Amtsrichter  — 
verfaßt,  will  das  Buch  auch  nach  der  Art,  wie  es  dem  Leser  den  reichen 
Stoff  vorführt,  offenbar  in  erster  Linie  praktischen  Zielen  dienen.  Nicht  als 
ob  der  Verfasser  theoretischen  Streitfragen  aus  dem  Wege  ginge.  Aber  er 
hält  sich  nicht  länger  bei  ihnen  auf,  als  es  unbedingt  nottut.  Er  vermeidet 
eine  allzu  breite  Erörterung  der  lediglich  den  Theoretiker  interessierenden 
Fragen  des  Reichsstaatsrechts.  Kurz  und  bündig  nimmt  er  z.  B.  zu  den 
Problemen  über  die  Entstehung  und  die  juristische  Konstruktion  des  Deutschen 
Reiches,  über  die  Unterscheidung  von  formellen  und  materiellen  Gesetzen, 
über  die  Rechtsnatur  des  Staatshaushaltsgesetzes  u.  dgl.  Stellung.  Dagegen 
berücksichtigt  er  viel  eingehender  und  liebevoller,  als  es  sonst  üblich  ist, 
den  Werdegang,  die  parlamentarische  Auslegung  und  Handhabung  sowie  die 
judiziellft  Wertung  der  einzelnen  Verfassungsvorschriften.  Dem  Bestreben,  ein 
praktisches  Handbuch  zu  schaffen,  dient  auch  die  deutlich  erkennbare  Tendenz, 
abstrakte  Ausführungen  durch  konkrete  Fälle  zu  beleben  und  bei  der  Be- 
handlung praktisch  erheblicher  Streitfragen  tunlichst,  jedoch  nicht  kritiklos, 
der  bewährten  Praxis  der  Behörden,  namentlich  der  Gerichte,  zu  folgen. 

Auch  die  Auswahl  des  verarbeiteten  Materials  trägt  dem  Gesichtspunkt 
der  praktischen  Verwendbarkeit  Rechnung.  Dambitsch  beschränkt  sich 
nicht  darauf,  seinen  Erörterungen  lediglich  den  Inhalt  der  Verfassungsartikel 
zugrunde  zu  legen,  sondern  er  hat  es  —  nicht  bloß  bei  dem  hierzu  besonders 
geeigneten  Artikel  4,  sondern  auch  anderwärts  —  verstanden,  den  ganzen 
unendlichen  Stoff  des  Reichsverfassungs-  und  Verwaltungsrechts  in  sein 
System  einzugliedern.  Natürlich  kann  es  sich  dabei  nicht  um  eine  erschöpfende 
Würdigung  der  neben  der  Verfassung  füi*  das  Reichsstaatsrecht  noch  maß- 
gebenden Reichsgesetze  handeln.  Doch  werden  die  einschlägigen  Gesetze 
immerhin  ihrem  wesentlichen  Inhalt  nach  km'z  vermerkt,  so  daß  das  Buch 
eine  vollständige  Materialsammlung  des  gesamten  öffentlichen  Reichsrechtes 
bis  zum  Ende  des  Jahres   1909  enthält. 

Darf  hiernach  die  Frage  der  praktischen  Verwertbarkeit  des  neuen 
Kommentars  unbedenklich  bejaht  werden,  so  ist  auf  der  anderen  Seite  die 
Förderung,  welche  es  der  Wissenschaft  des  Eeichsstaatsrechts  bietet,  nicht 
sonderlich  bedeutend.  Gewiß  kann  man  nicht  zwei  Herren  dienen,  nicht 
Theorie  und  Praxis  zugleich  voll  befriedigen.  Gleichwohl  hätte  der  \'erf asser 
nach  einer  doppelten  Richtung  aber  doch  auch  der  Theorie  etwas  mehr 
entgegenkommen  sollen. 

Zunächst  in  der  Wahl  der  herangezogenen  Rechtsliteratur.  Neben  den 
größeren  Lehrbüchern  des  Reichsstaatsrechts  und  des  preußischen  Staatsrechts 
sind  nur  die  staatsrechtlichen  Aufsätze  der  einschlägigen  Zeitschriften  berück- 


248  Bespi'echungen. 


sichtigt  worden.  Die  ganze  wertvolle  monographische  Literatur  des  Eeichs- 
staatsrechts  wird  fast  gar  nicht  gewürdigt.  So  führt  der  Verfasser  z.  B.  bei 
der  Erörterung  der  Kolonisation  (S.  141  f.)  keine  einzige  Schrift  aus  der 
neuerdigs  bereits  recht  reichhaltigen  Kolonialrechtsliteratur,  bei  der  Skizze 
über  das  Vereinswesen  (S.  lt)9)  keinen  einzigen  Kommentar  zum  neuen 
Eeichsvereinsgesetz,  bei  der  Lehre  von  der  Eeichskanzlerverantwortlichkeit 
(S.  335  ff.)  keine  einzige  Sonderbearbeitung  dieser  wichtigen  Frage  an.  Es 
stand  ihm  allerdings  frei,  den  Bereich  der  beizuziehenden  Ar])eiten  enger 
oder  weiter  abzugrenzen.  Aber  wenn  er  dabei  die  Zeitschriftenliteratur, 
und  sogar  anscheinend  erschöpfend,  verwertet,  so  durfte  er  die  bei  weitem 
wichtigere  monographische  Literatur  nicht  ganz  übergehen. 

Daß  man  bei  der  unendlichen  Menge  der  Streitfragen,  zu  denen  die 
Eeichsverfassung  trotz  aller  ihr  gewidmeten  wissenschaftlichen  Arbeiten  immer 
noch  Anlaß  gibt,  nicht  durchweg  der  vom  Verfasser  vertretenen  Auffassung 
zu  folgen  vermag,  ist  klar.  Es  soll  hieraus  auch  kein  Vorwurf  hergeleitet 
werden.  Vielmehr  erscheint  es  durchaus  dankenswert,  daß  Dambitsch  sich 
nicht  gescheut  hat.  an  zahlreichen  Stellen  der  bislang  anerkannten  Meinung 
najnhafter  Staatsrechtsautoren  eine  eigene,  wohlbegründete  Ansicht  entgegen- 
zusetzen. Weniger  aber  wird  man  sich  damit  befi-eunden  können,  daß  er 
es,  wenn  auch  offenbar  in  dem  Bestreben,  der  praktischen  Anschauung  der 
Dinge  etwas  entgegenzukommen,  an  einer  Eeihe  von  Stellen  mit  den  als  fest- 
stehend zu  erachtenden  theoretischen  Grundsätzen  des  Staatsrechts  nicht  eben 
sehr  genau  genommen  hat.  Einige  Beispiele  zum  Beleg.  Über  das  Ergebnis 
mühevoller  wissenschaftlicher  Forschung,  daß  ein  Staat  seine  Verfassung  nur 
durch  sich  selbst,  nicht  anderswoher  erhalten  kann,  setzt  sich  Dambitsch 
mit  der  kurzen  Bemerkung  hinweg,  der  Bundesstaat  beruhe  auf  der  Verfassung 
und  könne  sich  daher  die  Verfassung  nicht  selbst  gegeben  haben  (S.  8). 
Während  es  heute  als  ziemlich  allgemein  anerkannt  gelten  kann,  daß  die 
Eingangsworte  der  Eeichsverfassung  nur  historische,  keine  völkerrechtliche 
Bedeutung  haben  und  jedenfalls  nicht  zum  Text  der  Verfassung  gehören, 
meint  Dambitsch:  Die  dauernde  Voraussetzung  für  die  Existenz  dieses 
Bundes,  der  dm-ch  den  Beitritt  der  süddeutschen  Staaten  nur  eine  Erweiterung 
und  keine  Veränderung  seiner  rechtlichen  Natur  erfahren  habe,  bilde  jedoch 
das  in  dem  Eingang  der  Verfassung  zum  Ausdruck  gebrachte  vertragsmäßige 
Verhältnis.  Die  Bestimmung  des  Eingangs  sei  für  die  Einzelstaaten  ein 
Staatsvertrag  mit  der  völkerrechtlichen  Wirkung  eines  solchen,  daß,  soweit 
der  Eechtsinhalt  des  Eingangs  reiche  (nur  der  erste  Satz  kommt  in  Betracht), 
die  Einzelstaaten  wechselseitig  gebunden  imd  berechtigt  seien.  .  .  .  Anderer- 
seits hätten  dadurch,  daß  diese  Bestimmung  formell  einen  Bestandteil  der 
Verfassungsurkunde  bilde,  die  Einzelstaaten  sich  dem  Eeich  gegenüber  ver- 
pflichtet, einseitig  an  dem  Bündnis  nichts  mehr  zu  ändern.  .  .  .  Die  Be- 
stimmung sei  also  für  die  Einzelstaaten  Vertragsrecht  (S.  10).  —  Während  man 
mit  dem  Wort  „Verfassung"  heute  die  verschiedensten  Begriffe  verbindet, 
scheint  Dambitsch  (S.  26)  einen  einheitlichen,  umfassenden  Verfassungs- 
begriff anzunehmen.  —  Der  schlimmste  Fehlgriff  ist  dem  Verfasser  da  unter- 
laufen, wo  er  mit  dem  Begriff  der  „Souveränität"  operiert.  Seine  Ausfüh- 
rungen lassen  sich  hier  nur  dadurch  erklären,  daß  er  diesem  Worte  einen 
ganz  falschen  Sinn  unterschiebt.  Während  gegenwärtig  kein  Zweifel  mehr 
darüber  obwaltet,  daß  nur  der  Bundesrat,  nicht  der  Kaiser  Eej^räsentaut  des 
Eeichssouveräns  ist,  behauptet  Dambitsch  (S.  267  f.).  der  Kaiser  sei,  weil 
in  den  wesentlichsten  seiner  Funktionen  unabhängig,  im  Kreise  seiner  Macht- 
vollkommenheiten souverän.  Der  überlieferte  Begriff  der  Unteilbarkeit  der 
Souveränität  scheitere  an  dem  eigenartigen  staatsrechtlichen  Aufbau  des 
Eeichs.  Es  gebe  im  Eeich  zwei  souveräne  Gewalten,  den  Kaiser  und  die 
durch  den  Bundesrat  vertretene  Gesamtheit  der  Verbündeten  Eegierungen. 
Es  klingt  mehr  als  seltsam,  wenn  Dambitsch  sodann  die  einzig  richtige 
Ansicht  mit  den  Worten  abfertigt:  „dagegen  namentlich  Lab  and  I  S.  195  ff.. 


Besprechungen.  249 


der  von  der  Unteilbarkeit  der  Souveränität  ausgehend  dem  Kaiser  die  Sou- 
veränität abspricht"  (S.  268).  Aber  nicht  nur  der  Kaiser  als  solcher,  sondern 
auch  die  Einzelstaaten  sind  nach  Dambitsch  (S.  274,  598)  souverän!  Aller- 
dings gibt  er  zu,  daß  z.  B.  iva  internationalen  Verkehr  das  Keich  als  ein 
geschlossenes  Ganze  auftritt  und  daß  „insoweit  die  Souveränität  der  Einzel- 
staaten in  der  Hauptsache  (?)  in  ihrer  Teilnahme  an  der  Leitung  des  Reichs 
aufgegangen  ist"  (S.  274).  Man  sieht  also,  daß  bei  der  wissenschaftlichen 
Benutzung   des  Buches   ein  recht   erhebliches  Maß  von  Vorsicht  geboten  ist. 

Ein  kurzes  Wort  noch  über  die  Stellung  des  Buches  zu  politischen 
Fragen.  Seiner  praktischen  Tendenz  entspricht  es,  daß  eine  Reihe  rechts- 
politischer Bemerkungen  und  Erwägungen  eingestreut  ist.  Der  Grundton 
der  Arbeit  aber  ist  und  bleibt  ein  objektiv-juristischer.  Von  allgemein- 
politischen oder  gar  parteipolitischen  Exkursen  ist  keine  Rede.  Wohl  aber 
werden  wirtschaftliche,  insbesondere  volkswirtschaftliche  und  rechtspolitische 
Ideen  zum  Zwecke  der  besseren  Veranschaulichung  der  Tragweite  einzelner 
Vorschriften  eingeflochten.  Hervorhebung  verdienen  beispielsweise  die  Aus- 
führungen (S.  127  ff.)  des  Verfassers  über  die  Sozialpolitik  des  Deutschen 
Reiches  und  über  deren  herrschende  Motive  im  Verlaufe  der  Sozialgesetz- 
gebung. Er  versteht  dabei  unter  Sozialpolitik  im  umfassendsten  Sinne  die 
Politik,  welche  darauf  abzielt,  dem  schwächeren,  unterstützungsbedürftigen 
Teile  der  Staatsangehörigen  zu  helfen  auf  Kosten  des  Staatsganzen  und  auf 
Kosten  der  wirtschaftlich  stärkeren  Mitglieder  des  Staats,  und  zwar  erstreckt 
sich  die  Hilfe  gi-undsätzlich  auf  jede  Art  der  bestehenden  Not,  in  erster 
Reihe  natürlich  auf  eine  Besserung  der  wirtschaftlichen  Lage,  außerdem 
aber  auch,  namentlich  soweit  jugendliche  und  weibliche  Personen  in  Betracht 
kommen,  auf  eine  Linderung  sittlicher  Notstände,  auf  hygienische  Verbesse- 
rungen und  auf  Beförderung  des  geistigen  Wohls,  der  Erziehung  Und  des 
Unterrichts  (S.  127).  Von  besonderem  Interesse  sind  ferner  die  eingehenden 
Bemerkungen  (S.  400  ff.)  über  die  politischen  Beweggründe  für  die  Ein- 
führung der  allgemeinen,  direkten  und  geheimen  Wahl.  Der  Verfasser  prüft 
hier  die  Bedenken  gegen  das  preußische  Dreiklassen-System,  erörtert  die 
politische  Situation  bei  Einführung  des  Reichstagswahlrechts,  die  Gründe  für 
die  Allgemeinheit  des  Wahlrechts,  für  die  direkte  Wahl,  endlich  die  Be- 
denken gegen  die  geheime  Stimmenabgabe.  Er  stellt  (S.  408)  fest,  daß  das 
allgemeine  Wahlrecht  in  vielen  Beziehungen  die  Erwartungen,  die  darauf 
gesetzt  worden  sind,  nicht  erfüllt  hat,  daß  es  aber  eine  Grundlage  des  ganzen 
politischen  Lebens  geworden  ist,  die  ohne  schwere  Erschütterung  des  Ver- 
fassungsbaues, auf  dem  das  Reich  beruht,  nicht  mehr  beseitigt  werden  könnte. 
Dem  Programm  der  Reichsregierung  und  dem  der  preußischen  Regierung 
entspreche  die  grundsätzliche  Aufrechterhaltung  des  status  quo  ante,  ein 
Prinzip,   dem   zeitgemäße  Reformen   natürlich   nicht   widersprächen  (S.  410). 

Bedenkt  man,  daß  gerade  derartige  rechtspolitische  Ausführungen  den 
Praktikern  des  Staatslebens,  den  Staatsbehörden,  den  Staatsbeamten  und  den 
Parlamentariern  die  zum  Teil  recht  komplizierten  Bestimnumgen  unseres 
Reichsverfassungsrechts  rascher  verständlich  zu  machen  geeignet  sind,  so 
wird  man  dem  neuen  Kommentar  trotz  der  schwerwiegenden  Bedenken,  zu 
denen  er  in  theoretisch-wissenschaftlicher  Hinsicht  Anlaß  gibt,  eine  weite 
Verbreitung  wünschen  und  ihn  auch  dem  Studium  derer  empfehlen  dürfen, 
die  sich  einen  Einblick  in  das  weitverzweigie  Gebiet  des  deutschen  öffent- 
lichen Rechts  verschaffen  wollen.  Friedrich  Giese. 


Otto  Frhr.  v.  Dungern,   Das  Staatsrecht   Ägy^^tens.     Graz  1911.    Lej-kam. 
126  S. 
Der   Verf.,    der   in   Czernovritz    als    Staatsrechtler  wirkt,   hat   in  diesem 
Werke  den  Versuch  gemacht,  das  komplizierte  Bild,  das  uns  heute  der  Staat 


250  Besprechungen. 


Ägypten  bietet,  auf  Grund  einer  Methode  zu  entwirren,  die  er  für  die  Be- 
urteihmg  orientalischer  Verfassungsfragen  aus  dem  Geiste  mohammedanischen 
Denkens  und  Empfindens  glaubte  abstrahieren  zu  können.  Das  Gesamtbild, 
das  er  nach  seiner  Methode  uns  zeichnet,  mag  wohl  dem  tatsächlichen  Macht- 
verhältnis von  heute  eher  entsprechen,  als  das,  was  wir  nach  der  her- 
gebrachten staatsrechtlichen  Theorie  uns  heute  noch  von  Ägypten  zu  machen 
haben,  ob  es  aber  auch  nur  klarer  ist,  ob  dadurch  das  verwirrende  Durch- 
einander von  türkischen  Firmanen  und  ägyptischen  Erlassen,  von  Souzeränität 
und  Okkupation  auch  nur  um  einen  Deut  behoben  ist,  muß  billig  bezweifelt 
werden.  Für  den  praktischen  Politiker  wird  das  Buch  keine  Bedeutung 
haben,  das  hat  der  Verf.  auch  nicht  bezweckt.  Es  ist  gedacht  als  rechts- 
philosophische Studie,  deren  Wirkung  hinsichtlich  der  Methodik  wohl  auch 
weit  über  den  engeren  Rahmen  gerade  des  ägyptischen  Staatsrechts  hinaus 
berechnet  war.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  ist  vieles,  was  der  Verf.  vor- 
trägt, bedeutungsvoll  und  regt  lebhaft  zum  Nachdenken  über  den  großen 
Wandel  auch  der  staatsrechtlichen  Formen  an,  dem  wir  scheinbar  mit  anderen 
Erscheinungen  des  öffentlichen  Rechts  im  Zeichen  der  neuen  wirtschafts- 
politischen Zeit  entgegen  gehen.  Dennoch  kann  das  gefundene  Resultat  nicht 
recht  befriedigen,  selbst  wenn  wir  mit  dem  Verf.  lediglich  den  Wert  der 
Verträge  wägen  und  das  untersuchen,  was  ist,  nicht,  was  sein  sollte.  Dann 
hätte  dem  Verf.,  der  in  Ägypten  selbst  seine  Studien  gemacht  hat,  das  gi'oße 
Imponderabile  nicht  entgehen  dürfen,  das  der  Begi'iff  des  Kalifats  be- 
deutet, besonders  da  dieses  Kalifat  in  Union  mit  dem  Souverain  sich  befindet, 
dessen  Oberhoheit  der  Verf.  nicht  mehr  glaubt  annehmen  zu  dürfen.  Auch 
die  jüngste  Geschichte  spricht  gegen  das  in  diesem  interessanten  Werke  ge- 
fundene Resultat. 

In  der  üblichen  Darstellung  des  ägyptischen  Verfassungsrechtes,  die 
in  der  Tat  meist  zugleich  die  kommentierende  Methode  mit  der  historischen 
verbindet,  sieht  v.  Dungern  deshalb  einen  großen  Fehler,  weil  durch  die 
Hervorhebung  alter  Firmane  die  Bedeutung  dieser  älteren  Grundgesetze 
überschätzt  werde,  während  zugleich  die  durch  zuwiderlaufende  Praxis  be- 
wiesene Entwertung  mancher  älteren  Bestimmungen  übersehen  würde.  Ein 
staatsrechtlicher  Grundsatz,  der,  wenn  auch  nur  einmal,  mit  dem  klaren 
Bewußtsein  durchbrochen  werde,  daß  man  ihm  entgegenhandelt,  bestehe  nicht 
mehr.  In  den  Firmanen  finde  sich  auch  keine  einzige  Beschränkung  einer 
vollkommenen  landesherrlichen  Gewalt  der  ägyptischen  Herrscher,  die  nicht 
durch  entgegenstehende  Praxis  als  heute  aufgehoben  erwiesen  wäre  (S.  5). 
Deshalb  gilt  dem  Verf.  die  formelle  Existenz  der  Firmane  garnichts,  und  er 
will  den  gegenwärtigen  Rechtszustand  aus  den  tatsächlichen  Rechtserscheinungen 
herleiten.  Die  bloße  Beobachtung  des  praktischen  Lebens  an  die  Stelle 
grundgesetzlich  festgelegter  Verfassangsregeln  zu  setzen,  muß  bedenklich 
sein,  —  darüber  ist  sich  der  Verf.  klar  und  er  zieht  zur  Unterstützung  seiner 
neuen  „Methode"  nun  die  Abnormität  heran,  die  den  Geist  des  Orients  vom 
westeuropäischen  unterscheidet.  „Bei  uns  sind  Ausdrucksform  und  Inhalt 
eines  Gedankens  so  sehr  aneinander  gebunden,  daß  keines  ohne  das  andere 
besteht.  Wenn  wir  etwa  eine  ganz  neue  Strafgewalt  einführen  wollten,  so 
würden  wir  zu  erkennen  geben,  daß  wir  etwas  Neues  einführen;  statt  dessen 
zu  sagen,  daß  wir  eine  alte  Regel  durchzuführen  beschließen,  schiene  uns 
absurd.  Im  Orient  wählt  der  Wille  nicht  den  nächsten  Weg,  den  ihm  die 
Sprache  zur  Verfügung  stellt,  um  sich  zum  Ausdruck  zu  bringen,  sondern  er 
redet  in  einer  umständlichen  Bildersprache  oder  er  kleidet  seinen  Gedanken 
in  eine  bekannte  hergebrachte  Formel"  (S.  ö). 

Die  Form  führe  im  Orient  ihr  eigenes  Leben  neben  dem  Inhalte.  Der 
Orientale  ließe  daher  eine  „Form  in  Gesetzesfragen  fortbestehen  und  versehe 
sie  durch  stillschweigendes  Einverständnis  mit  einem  neuen  Inhalt".  Ganz 
besonders  al)cr  sei  die  Gesetzgebung  der  Türken  völlig  Kasuistik:  Gehorsams- 
befehle aus  dem  Erobererrecht  in  die  wildfremden  Formen  des  vorgefundenen 


Besprechungen.  251 


byzantinischen  Regierungssystemes  gegossen.  Das  alles  sei  bisher  bei  der 
Beurteilung  des  ägyptischen  Staatsrechtes  übersehen  worden,  und  deshalb 
sei  man  immer  lediglich  zu  einer  Darstellung  des  Zustandes  gekommen,  der 
auf  dem  Papier  steht,  nicht  dem,  der  wirklich  ist.  „Die  einzige  fruchtbare 
Methode  einer  Untersuchung,  die  feststellen  will,  was  in  staatsrechtlicher  Be- 
ziehung heute  in  Ägypten  und  für  Ägypten  Rechtens  ist,  zwingt  zu  dem 
Versuch,  dies  Punkt  für  Punkt  aus  der  Staats-  und  verfassungsrechtlichen 
Praxis  zu  eruieren."  Was  in  seiner.  V^  des  Büchleins  ausmachenden  Ein- 
leitung der  Verf.  ferner  von  den  Tendenzen  und  Strömungen,  denen  die 
französischen  und  englischen  Bearbeiter  dieses  Stoffes  unterliegen,  sagt,  bedarf 
hier  keiner  besonderen  Wiedergabe,  obgleich  es  interessant  zu  lesen  ist  und 
ihm  hierin  beigestimmt  werden  kann. 

Die  Kritik  dieser  Einleitung,  mit  der  das  ganze  Buch  steht  und  fällt, 
muß  zunächst  hervorheben,  daß  die  Zweckmäßigkeitsgründe,  die  der  Verf. 
zur  Perhorreszierung  der  bisher  üblichen  wissenschaftlichen  Methoden  anführt, 
nicht  stichhaltig  genug  sind,  um  von  diesen  bewährten  Arbeitsformen  ab- 
zugehen. Daß  die  historische  Methode  eine  Überschätzung  antiquierter  Grund- 
gesetze notwendig  mit  sich  bringe,  kann  wirklich  nicht  behauptet  werden. 
Ihrer  werden  wir  sicherlich  gerade  in  dem  ägyptischen  Staatsrecht  nicht 
entraten  können.  Im  übrigen  ist  die  Art,  wie  der  Verf.  selbst  an  seinen 
Stoff  herantritt,  im  besten  Sinne  kommentierend,  leider  scheint  es  mir  jedoch 
keine  rein  rechtliche  Kommentierarbeit  zu  sein.  Wenn  der  Verf.  die  bloße 
Beobachtung  des  rein  praktischen  Lebens  an  die  Stelle  grundgesetzlich  fest- 
gelegter Verfassungsregeln  setzen  will,  so  ist  der  Interpretation  des  Politikers 
Tür  und  Tor  geöffnet,  ein  Spiegel  der  tatsächlichen  Machtverhältnisse  entsteht 
dann,  aber  nicht  dessen,  was  Rechtens  ist.  Vielleicht  auch  ein  Idealstaat,  zu 
dem  einmal  Ägypten  werden  könnte,  wenn  die  ihn  formten,  die  jetzt  die 
Macht,  aber  nicht  das  —  Recht  auf  ihrer  Seite  haben.  Der  Umstand,  daß 
die  Rechte  der  Türkei  auf  Ägypten  heute  so  gut  wie  auf  dem  Papiere 
stehen,  nimmt  ihnen  doch  noch  nicht  den  Charakter  als  Rechte.  Wenn 
jemand  zu  schwach  ist,  sein  Recht  auszuüben,  so  geht  er  deshalb  desselben 
noch  nicht  verlustig.  Wir  kommen  eben  mit  dieser  neuen  Methode  des  Herrn 
von  Dungern  aus  den  rechtlichen  Erörterungen  völlig  heraus  und  müssen 
uns  dann  wieder,  um  zu  erfahren,  was  denn  nun  eigentlich  Rechtens  ist, 
Rat  holen  gerade  bei  den  von  ihm  so  verpönten  praktischen  Werken,  ins- 
besondere der  gediegenen  Arbeit  des  Freiherrn  von  Grünau.  Zugegeben  sei 
ihm  gern,  daß  etwas  Richtiges  in  dem  liegt,  was  er  als  Kasuistik  der 
türkischen  Gesetzgebung  bezeichnet.  Die  Türken  fühlen  sich  auch  heute  noch 
in  ihren  eroberten  Ländern  nicht  völlig  als  friedliche  Besitzer,  sondern,  wie 
sich  aus  ihrer  Verwaltung  ergibt,  immer  im  Kriegszustande,  ihre  Gesetze 
mögen  daher  tatsächlich  vielfach  nicht  mit  dem  Gedanken  für  vorläufig  un- 
begrenzte Dauer  geschaffen  sein.  Daß  nun  aber  die  Firmane  unter  Discrepans 
ihres  Inhalts  und  ihrer  Form  rechenschaftslos  in  die  Welt  gesetzt  sein  sollen, 
geht  daraus  noch  lange  nicht  hervor  und  ist  auch  höchst  unwahrscheinlich  in 
sich.  Gerade  bei  dem  Orientalen  kann  man  ein  großes  Verständnis  für  die 
juristisch  genaue  Abfassung  von  Vertragsbedingungen  beobachten,  bei  dem 
modernen  Orientalen!  Sogar  eine  gewisse  übertriebene  Genauigkeit  bei  der 
Beurteilung  öffentlichrechtlicher  Akte,  vielleicht  hervorgerufen  durch  schlechte 
Erfahrungen  im  Umgange  mit  der  abendländischen  Diplomatie.  Sicherlich 
trifft  in  diesem  Zusammenhange  nicht  zu.  was  der  Verf.  —  S.  7  —  sagt,  daß 
der  Orientale  mit  der  größten  Seelenruhe  Gesetze  über  sich  ergehen  lasse, 
die  seine  ganze  Existenz  vernichten  müssen,  die  Vorschrift  schrecke  ihn  nicht, 
er  frage  nur,  wieviel  von  dem  gesetzlichen  Inhalte  durchgeführt  werde.  Das 
klingt  wie  aus  Zeiten  von  tausend  und  einer  Nacht.  Man  denke  für  die 
heutigen  ägyptischen  Verhältnisse  doch  nur  an  die  starke  durch  das  ganze 
Volk  gehende  Aufregung,  die  die  Wiedereinführung  verstaubter  Straf- 
bestimmung-en  für  die  Preßdelikte  vor  zwei  .lahren  am  Nil  verm-sachte,  oder 


252  Besprechungen. 


an  die  vom  äg-yptischen  Volke  getragene  Bewegung  gegen  die  Pläne  der 
Regierung  hinsichtlich  des  Suezkanals  und  in  vielen  anderen  Fällen.  Mag 
auch  au  diesem  modernen  Geiste  im  ägyptischen  Volke  die  starke  Auf- 
klärungsarbeit der  politischen  Parteien  ihr  wesentliches  Anteil  haben,  so  muß 
andrerseits  doch  angenommen  werden,  daß  die  gleich  genaue  Beurteilung 
von  Staatsgesetzen  innerhalb  der  letzten  80  Jahre  bei  gebildeten  Leuten  vor- 
handen gewesen  ist,  die  die  Regierungsverträge  schlössen.  Der  Verf.  kommt 
zu  der  Behauptung,  daß,  so  eindeutig  die  Sprache  der  Firmane  klinge,  in 
ihnen  doch  keine  einzige  Beschränkung  einer  vollkommenen  landesherrlichen 
Gewalt  der  ägyptischen  Herrscher  enthalten  sei,  die  nicht  durch  entgegen- 
stehende Praxis  als  aufgehoben  erwiesen  wäre.  Diese  These,  die  er  sich 
anschickt  in  den  folgenden  Teilen  des  Buches  zu  beweisen,  ist  für  das  ganze 
Buch  kennzeichnend  und  gibt  ihm  eine  gewisse  Tendenz,  sie  führt  aber  auch 
in  ihrer  Allgemeinheit  den  Verf.  dazu,  in  den  folgenden  Einzelfragen  An- 
sichten zu  vertreten,  die  man  trotz  weitgehendster  Würdigung  der  neuartigen 
Gesichtspunkte  nicht  als  gerechtfertigt  ei-achten  kann. 

In  dem  umfangreichsten,  den  Elementen  der  ägyptischen  Staatsgewalt 
gewidmeten  Teile  des  Buches  werden  nacheinander  das  Volk,  die  Sprache, 
das  Staatsgebiet  und  die  Verfassung  behandelt.  Beim  Kapitel  Volk  erwähnt 
der  Verf.  zwar  die  wichtige,  insbesondere  für  die  Beurteilung  des  Rechts- 
verhältnisses zwischen  der  Türkei  und  Ägypten  erhebliche  Tatsache,  daß  die 
Ägypter,  ebenso  wie  die  Einwohner  von  ilassaua  und  bis  1910  die  Tunesier 
im  Auslande  von  den  Türken  diplomatisch  vertreten  werden,  die  seine  An- 
schauung sehr  erschütternden  Schlüsse  werden  aber  nicht  gezogen.  Auch  der 
Umstand,  daß  die  Türkei  keine  Konsuln  in  Ägypten  unterhält,  macht  ihn 
nicht  stutzig.  Die  Anschauung  einer  von  der  Oberhoheit  der  Türkei  völlig 
losgelösten  ägyptischen  Staatsverfassung  würde  doch  gerade  durch  das  Vor- 
handensein von  türkischen  Konsuln  sehr  unterstützt  werden.  Hinsichtlich 
der  Landessprachen  erwähnt  von  Düngern  die  Anwendung  des  Türkischen 
als  Kommandosprache  in  der  Armee  garnicht,  während  er  den  Einfluß  der 
hauptsächlich  in  Ägypten  gesprochenen  europäischen  Sprachen  stark  hervor- 
hebt und  m.  E.  überschätzt.  Seine  Behauptung,  das  Arabische  eigne  sich 
nicht  für  rechtliche  Angelegenheiten,  ist  mir  von  Arabern  heftigst  bestritten 
worden.  Selbst  aber  wenn  dies  der  Fall  wäre,  so  dürfte  dies  noch  lange 
nicht  den  Schluß  rechtfertigen,  den  der  Verf.  zieht,  daß  es  deshalb  überhaupt 
nicht  zum  offizielen  Text  der  Gesetze  werden  könne.  Das  Wort  offiziell  habe 
keine  Bedeutung,  solange  diese  Gesetze  auf  französisch  oder  englisch  ent- 
worfen und  der  englische  oder  fi-anzösische  Text  der  Gesetzgebung  zugrunde 
gelegt  werde,  vielfach  sogar  allein  dieser  Text  verstanden  werde  und  die 
offizielle  Fassung  eine  Übersetzung  in  eine  nur  wenigen  zugängliche  Sprache 
ist.  Diese  Ansicht  ist  so  abwegig  und  steht  in  so  starkem  Widersjjruch  zu 
den  tatsächlichen  Verhältnissen,  daß  man  nur  glauben  kann,  der  Verf.  habe 
seine  Ansichten  lediglich  in  den  europäischen  Kreisen  Kairos  geschöpft,  wie 
sollte  man  sonst  in  Ägypten  vom  Arabischen  als  einer  nur  wenigen  zugänglichen 
Sprache  reden  können? 

Größere  Berechtigung  muß  dagegen  wieder  den  Ausführungen  über  das 
Staatsgebiet  zugesprochen  werden.  In  ihnen  kommt  der  Verf.  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  heute  Ägypten  selbständig  über  sein  Staatsgebiet  bestimmt.  Das 
mag  richtig  sein,  spricht  aber  nicht  gegen  die  Vasallität  oder  ein  ähnliches 
Verhältnis.  Bedenklich  muß  es  ferner  erscheinen,  bei  der  Begründung  dieses 
Satzes  auch  die  Grenzregulierungen  heranzuziehen,  die  zwischen  dem  Ober- 
staat und  dem  Unterstaat,  zwischen  der  Türkei  und  Ägypten  vorgenommen 
wurden,  wie  die  Akaba  und  Sinai-Affären,  denn  in  diesen  kann  niemals  ein 
Handeln  gegen  die  Bestimmungen  der  Firmane  gesehen  werden,  nach  denen 
es  dem  Khediven  verboten  sein  soll,  über  das  altägyjitische  Provinzgelnet 
zugunsten  Fremder  zu  verfügen.  Die  Abtretung  des  Sudan,  über  den  aller- 
dings   heute    eine    Oberhoheit   der   Pforte   nicht   billig   angenommen   werden 


Besprechungen.  253 


kann,  ist  andrerseits  ebenfalls  als  Argument  nicht  sehr  stichhaltig.  Die  weiten 
Entfernungen  im  Inneren  Afrikas  machten  zur  Zeit  der  ersten  EroVjerung  der 
Sudanländer  die  Abhängigkeit  dieser  zu  einer  nur  relativen,  ähnlich  der  der 
Tsadseeländer  bis  herunter  nach  dem  jetzt  deutschen  Adamaua,  die  alle  der 
Pforte  tril)utär  waren.  Dann  hätte  sich  auch  Deutschland  bei  der  Inbesitz- 
nahme Adamauas  mit  der  Türkei  ins  Einvernehmen  setzen  müssen!  Hinzu 
kommt  die  gänzliche  Neueroberung  und  die  jetzt  geschaffene  eigenartige 
Zweckmäßigkeitsform,  da  —  wie  Cromer  sagt  —  „den  widerstreitenden 
Interessen  nicht  ohne  Schaffung  irgendeiner  bisher  der  internationalen  Rechts- 
wissenschaft unbekannten  Bastardform  .  .  .  genügt  werden  konnte".  Daß 
sich  ein  nicht  voll  souverainer  Staat  neben  dem  Staatengebiet,  mit  dem  er 
abhängig  ist,  noch  Gebiete  schafft,  in  denen  er  völlig  selbstherrlich  schaltet, 
ist  überdies  sehr  wohl  möglich;  man  denke  an  Preußen!  Ein  solcher  Tat- 
bestand spricht  also  nicht  gegen  die  Vasall ität.  Hinsichtlich  der  von  dem 
ünterstaat  Ägypten  ohne  Genehmigung  der  Pforte  vorgenommenen  Abtretung 
Massauas  an  die  Italiener  ist  hervorzuheben,  daß  die  Türkei  energisch  gegen 
diese  Grenzenänderung  protestiert  hat.  „Eine  Zeitlang  hallten  die  aus- 
wärtigen Ämter  Europas  wider  von  den  zornigen,  aber  wirkungslosen  Pro- 
testen der  Pforte"  (Cromer  II  55).  v.  Dungern  erwähnt  selbst  diese  Proteste, 
benutzt  aber  dennoch  die  Abtretung  Massauas  als  Beweismittel  seiner  An- 
schauung, was  recht  widerspruchsvoll  ist. 

Zur  Darstellung  der  Verfassung  (S.  37  ff.)  gibt  der  Verf.  zunächst  einen 
historischen  (!)  Teil:  die  Entwicklung  der  Beziehungen  Ägyptens  zur  Türkei, 
dann  eine  Interpretation  der  Firmane,  kommt  darauf  zum  Verhältnis  Ägyptens 
zu  den  Mächten  und  erst  ganz  zuletzt  zu  den  staatsbürgerlichen  Rechten  und 
Pflichten.  Man  mußte  nun  von  dem  Verf.,  der  sich  ja  gerade  vorgenommen 
hatte,  die  rein  tatsächlichen  Bestände  rechtlich  abzuwägen,  besonders  eine 
Lösung  der  doch  rein  theoretischen  Fiktion  der  Okkupantenstellung  der 
Engländer  am  Nil  erwarten,  einer  leereu  Form,  die  in  ihrer  Wirkung  einem 
Protektorate  gleichkommt  und  rechtlich  schon  lange  nicht  mehr  gerechtfertigt 
ist.  Aber  grade  bei  diesem  Punkte  verläßt  der  Verf.  die  angekündigte 
Methode  und  flüchtet  zu  der  Fiktion  zurück.  Er  erklärt  von  den  britischen 
Okkupationstruppen:  „Da  sie  als  ein  vom  Lande  zur  Aufrechterhaltung  der 
inneren  Ordnung  benötigter  Faktor  gelten,  ist  dieser  Zustand  verfassungs- 
mäßig anerkannt"  (S.  44/45). 

Die  InteriJretation  der  Firmane  gibt  zum  Teil  recht  viel  Richtiges.  Man 
muß  mit  dem  Verf.  annehmen,  daß  viele  Bestimmungen  der  Firmane  anti- 
quiert sind.  Seine  Ausführungen  über  das  Thronfolgerecht  dürften  tatsächliche 
Richtigkeit  beanspruchen.  Andrerseits  unterschätzt  der  Verf.  den  Wert,  den 
noch  heute  manche  Firmanbestimmungen  im  jiraktischen  Leben  Ägyptens 
besitzen,  und  sucht  manchmal  etwas  künstlich  und  gezwungen  ihre  Beweis- 
kraft für  die  rechtliche  Abhängigkeit  von  der  Pforte  zu  verkleinern.  Dies 
gilt  von  dem  Münzenschlagen  im  Namen  und  auf  den  Namenszug  des  Sultans, 
dem  ägyptischen  Tribut,  den  militärischen  Beschränkungen  und  den  Be- 
schränktmgen  in  der  Ordensverleihung.  Die  Teilnahme  ägyptischer  Truppen 
im  Krimkrieg  fällt  ganz  unter  den  Tisch,  daß  der  Khedive  Titel,  Orden  und 
Auszeichnungen  aller  Grade  in  voller  Freiheit  austeilt  (S.  70),  ist  nicht  zu- 
treffend. Auch  die  Vertretung  der  Mächte  durch  Agenten  und  Generalkonsuln 
hindert  v.  Dungern  nicht  daran,  anzunehmen,  daß  das  Ausscheiden  Ägyptens 
aus  dem  türkischen  Reichsverband  tatsächlich  heute  vollzogen  ist  (S.  77),  und 
ebensowenig  der  Umstand,  daß  ein  Ausländer  nur,  nachdem  er  zuvor  tür- 
kischer Untertan  geworden  ist,  das  ägyptische  ludigenat  erwerben  kann,  daß 
ferner  1884  Ägypten  auf  der  Londoner  Konferenz  durch  die  Türkei  vertreten 
wurde,  daß  es  auf  den  Konferenzen  in  Venedig  1892  und  Paris  1904  kein 
Stimmrecht  erhalten  konnte,  bzw.  nicht  ins  Plenum  kam.  —  Beide  Tagungen 
waren  wissenschaftlicher  Natur.  Es  ist  schlechterdings  unverständlich,  wenn 
auf  Grund  dieser  Kongresse  der  Verf.  die  Unfähigkeit  Ägyptens,  im  Völker- 


254  Besprechungen. 


rechtlichen  Verkehr  selbständig  aufzutreten,  heute  nicht  mehr  glaubt  an- 
nehmen zu  brauchen. 

Bei  Besprechung  des  Verhältnisses  Ägyptens  zu  den  Mächten  kommt 
der  Verf.  zu  der  Behauptung,  daß  die  Staatsschuldenverwaltuug,  die  Ver- 
waltung der  französischen  Post,  die  Quarantänebehörden,  die  gemischten 
Gerichtshöfe,  der  Gerichtshof  für  die  Aburteilung  militäriseher  Vergehen 
und  einige  andere  Justizbehörden  zwar  internationale  Behörden  seien,  aber 
sich  als  Einrichtungen  der  ägyptischen  Verfassung  charakterisierten  (S.  85). 
Diese  Auffassung  wird  manchem  recht  bedenklich  sein.  Besonders  aber 
können  keinesfalls  die  Kriegsgerichte  für  die  englische  Okkupationsarmee  zu 
den  verfassungsmäßigen  Einrichtungen  gerechnet  werden.  An  anderer  Stelle 
will  dem  Verf.  die  Einreihung  der  englisclien  Okkupation  noch  weniger  ge- 
lingen: Die  durch  die  Okkupation  bedingten  Einrichtungen  und  Beschränkungen 
„stellen  sieh  im  Eahmen  der  ägyptischen  Staatsorganisation  als  Einrichtungen 
dar,  die  gleichmäßig  neben  und  mit  den  übrigen  Einrichtungen  des  Ver- 
fassungslebens funktionieren".  Das  ist  keine  klare  juristische  Lösung,  die  im 
geringsten  geeignet  sein  könnte,  die  bisherigen  praktisch  angewandten 
Theorien  zu  ersetzen.  Wenn  der  Verf.  so  leicht  geneigt  ist,  hier  fremden 
verfassungsmäßigen  Einfluß  anzunehmen,  so  muß  es  um  so  erstaunlicher  er- 
scheinen und  ist  um  so  weniger  gerechtfertigt,  wenn  er  die  Ingerenz  der 
Pforte  verneinen  und  die  Beziehungen  Ägyptens  zu  ihr  lediglich  auf  das 
Völkerrecht  beschränken  will. 

Bei  den  staatsbürgerlichen  Eechten  und  Pflichten  der  Ägypter  glaubt 
v.  Dungern  aus  der  Art  der  Organisation  und  aus  den  Funktionen  der 
Staatsgewalt  dieselbe  Praxis  der  Eegierung  herauslesen  zu  können,  die  wir 
in  den  Staaten  mit  durchgebildeter  Parlamentsverfassung  finden,  und  diese 
Praxis  auf  dieselbe  Basis  zu  stellen,  nämlich  Verantwortlichkeit  der  Eegierung 
den  Eegierten  gegenüber.  Da  keine  Gesetze  die  Eegierung  binden,  so  zu 
verfahren,  wie  es  der  Verf.  aus  vielen  Argumenten  glaubt  entnehmen  zu 
müssen,  so  können  diese  Konstruktionen,  sebst  wenn  sie  richtig  sind,  doch 
eines  Tages  durch  die  Tatsachen  über  den  Haufen  gerannt  werden.  Ins- 
besondere scheint  zu  Ausnahmegesetzen,  die  der  Verf.  ausschließt,  gewisse 
Neigung  vorhanden  zu  sein,  wenn  wir  nicht  gar  ein  solches  in  dem  Preß- 
gesetz zu  erblicken  haben.  Im  einzelnen  darf  die  Darstellung  nicht  unwider- 
legt  bleiben,  die  der  Verf.  für  die  Entstehung  des  Sondereigentums  an  den 
Dattelpalmen  gibt.  Diese,  wie  er  es  nennt  ,.Anomalie"  ist  schwerlich  dadurch 
entstanden,  daß  der  Khedive  Ismail  bei  seinen  Bodenkonfiskationen  die 
Palmbäume  vergessen  haben  soll  • —  das  klingt  recht  naiv  — ,  vielmehr  findet 
man  das  Sondereigentum  an  den  Palmen  in  ganz  Nordafrika  bei  den  ur- 
sprünglichen Eingeborenenrechten,  so  heute  noch  in  Tripolis  und  in  Abessinien, 
ebenso  wie  im  Sudan.  Das  ist  eine  ganz  bekannte  Tatsache  der  vergleichenden 
Eechtswissenschaft.  Ebenso  vermißt  man  bei  der  Erklärung  des  Verf.  „die 
Möglichkeit  des  Eigentumserwerbes  an  Grund  und  Boden  ist  in  keiner  Weise 
eingeschränkt"  jedweden  Hinweis  auf  das  Terrain  der  wakfs  (Stiftungen),  eine 
Frage,  die  grade  in  Ägypten  die  Juristen  sehr  beschäftigt. 

V.  Dungern  wendet  sich  auch  gegen  die  Auffassung,  der  Khedive  sei 
unumschränkter  Landesherr  und  seine  Eegierung  eine  absolute,  die  Eegierung 
unterliege  vielmehr  einer  eingreifenden  Kontrolle  durch  die  Mitregierung  der 
ausländischen  Diplomaten,  dieses  w^äre  eine  verfassungsmäßige  Beschränkung 
des  Khedive  (S.  109).  Schließlich  führt  ihn  seine  Theorie  zu  dem  Satze,  daß 
speziell  die  großbritannische  Mitregierung  und  Kontrolle  heute  in  Ägypten 
einen  ordentlichen  Verfassungszustand  darstellt.  Wenn  das  die  Eechts- 
auffassung  unter  den  beiden  Hauptbeteiligten  wäre,  dann  würde  sich  heute 
nicht  England  um  die  Erklärung  des  türkischen  Desinteressements  bei  der 
Pforte  bemühen  und  nicht  zvdassen,  daß  sein  König  auf  ägyptischem  Boden 
von  den  Vertretern  des  Sultans  begrüßt  würde,  wodurch  gerade  in  den  letzten 
Wochen  die  Oberhoheit  der  Türkei  deutlicli  von  neuem  dokumentiert  wurde. 


Besprechungen.  255 


Unter  „Organisationen  und  Funktionen  der  Staatsgewalt"  bringt  der 
Verf.  das  tatsächliche  vorhandene  Material  in  gedrängter  Form,  indem  er 
sich  der  üblichen  Darstellung  anschließt. 

Dem  Buche  ist  in  einer  Anlage  das  Dekret  v.  29.  Juni  1900  über  das 
ägyptische  Indigenat  beigefügt.  Km-t  Weigelt. 


Leopold  von  Wiese,  Posadowsky  als  Sozialpolitiker.  Ein  Beitrag  zur 
Geschichte  der  Sozialpolitik  des  Deutschen  Reiches.  Köln  1909. 
Christlicher  Gewerkschaftsverlag.    189  S. 

Diese  Schrift  wurde  im  Auftrage  des  zweiten  deutschen  Arbeiterkongreeses 
verfaßt  und  ist,  wie  der  Verfasser  ausdrücklich  im  Vorwort  bemerkt,  in  erster 
Linie  für  Arbeiter  bestimmt,  „natürlich  nur  für  die  Arbeiter,  die  den  sozialen 
Problemen  und  politischen  Aufgaben  der  Gegenwart  Verständnis  entgegen- 
bringen". Die  Hauptquellen  des  schönen  Buches  bilden  die  „Soziale  Praxis" 
und  die  Drucksachen  des  Eeichstages.  Es  zerfällt  in  vier  Kapitel,  die  sich 
mit  der  Vorgeschichte  der  Ära  Posadowsky,  mit  seinem  Lebensgang  bis  zur 
Ernennung  als  Staatssekretär  des  Inneren,  seinem  Wirken  als  Staatssekretär 
bis  zum  Jahre  1900  und  in  den  Jahren  1901^ — 1907  beschäftigen.  —  Im  ersten 
Kapitel  wird  die  Vorgeschichte  der  Ära  Posadowsky,  also  die  Sozialpolitik 
des  Deutschen  Eeiches  in  den  Jahren  1891 — 1897,  geschildert.  Die  Vorzüge 
und  Mängel  der  Ära  Bismarck,  seine  Arbeiterversicherungs-  und  seine  Sozialisten- 
politik, sowie  seine  Ablehnung  des  Arbeiter  Schutzes  werden  objektiv  gewürdigt. 
Es  folgt  die  Ära  Bötticher-Berlepsch,  die  Zeit  des  Februarerlasses  und  der 
internationalen  Arbeiterschutzkonferenz,  endlich  die  Ära  Stumm.  Der  Ver- 
fasser versteht  es,  stets  das  Wesentliche  der  Entwicklung  hervorzuheben  und 
ein  möglichst  objektives  leidenschaftsloses  Urteil  zu  fällen.  Das  zeigt  deutlich 
die  Beurteilung  der  Bismarckschen  Ablehnung  des  Arbeiterschutzes  und  die 
Deutung  einer  Persönlichkeit,  wie  es  Frhr.  v.  Stumm  war.  Obwohl  selbst 
eifriger  und  überzeugter  Soziali^olitiker,  sucht  doch  Wiese  beiden  Männern 
gerecht  zu  werden.  Wenn  ihm  auch  Bismarcks  Ablehnung  des  Arbeiter- 
ßchutzes  sachlich  unhaltbar  erscheint,  so  hält  er  doch  den  Gesichtspunkt  für 
berechtigt,  daß  der  Staat  nicht  mehr  als  dringend  notwendig  in  die  Wirt- 
schaftssphäre des  einzelnen  Bürgers  eingreifen  soll.  Den  Frhrn.  v.  Stumm 
erklärt  er  für  einen  ganzen  Mann,  der  immer  im  Vordertreffen  gestanden 
habe,  „furchtlos  und  voll  kraftvoller  Instinkte,  auch  nicht  ohne  Geist  und 
innere  Selbständigkeit".  Er  nennt  ihn  einen  Kerl,  d.  h.  „jemanden,  mit 
dem  wir  unbedingt  kämpfen  müssen,  so  lange  er  oder  wir  das  Leben  haben, 
mit  dem  man  auf  Tod  und  Leben  ringt,  auf  dessen  Grab  man  aber  den 
Lorbeerkranz  mit  der  Widmung  legt:  so  wünsche  ich  mir  alle  meine  Feinde". 
Das  zweite  Kapitel  bringt  die  eigentliche  Biographie  des  Grafen  und  sein 
Wirken  bis  zu  seiner  Ernennung  zum  Staatssekretär  des  Inneren.  Hier  er- 
scheint uns  der  Graf  als  Vertreter  des  besten  Typus  altpreußischen  Beamten- 
tums, den  strenge  Eechtlichkeit  und  Pflichttreue,  Fleiß  imd  Sachlichkeit 
kennzeichnen,  in  dem  man  aber  noch  nicht  den  späteren  Minister  für  Sozial- 
politik vermuten  würde.  Sein  segensreiches  Wirken  in  Posen  und  seine 
Tätigkeit  als  Staatssekretär  des  Eeichsschatzamtes  werden  geschildert.  Es 
folgen  die  beiden  Kapitel  über  Posadowsky  als  Staatssekretär  des  Inneren. 
Sie  verfolgen  in  erster  Linie  den  Zweck,  die  Wandlung  des  Ministers  in  der 
Sozialpolitik  sowohl  nach  der  theoretischen  Erfassung  wie  nach  der  prak- 
tischen Betätigung  dem  Leser  verständlich  zu  machen.  Bis  1900/01  bedeutet 
Posadowskys  staatsmännisches  Verhalten  keinen  Fortschritt  in  sozialpolitischer 
Einsicht  gegen  die  Ära  Berlepsch  und  Bötticher,  seitdem  aber  —  in  den 
letzten  sechs  Jahren  seiner  Tätigkeit  als  Staatssekretär  —  ist  Posadowsky 
zum  überzeugten  Sozialreformer   geworden,    der   mit  der  Gleichberechtigung 


256  Besprechungen. 


der  Arbeiterklasse  ernst  macht.  Er  wird  in  dieser  Epoche  zum  „bronzenen 
Fels,  an  dem  sich  immer  wieder  auftauchende  Neigungen  der  parlamentarischen 
Eechten  zum  sozialen  Eückschritt  brachen".  Diese  beiden  letzten  Kapitel 
sind  zugleich  eine  vortreffliche  Geschichte  der  deutschen  Sozialpolitik  im 
letzten  Jahrzehnt.  Auch  hier  bewährt  sich  der  psychologische  Scharfblick 
und  der  objektive  Sinn  des  Verfassers.  Meisterhaft  ist  dargestellt,  wie  sich 
im  Laufe  der  Jahre  Posadowskys  engeres  Verhältnis  zur  konservativen  Partei 
lockert.  Die  Krisis  brachte  die  1 2 000-Mark- Affäre,  die  so  gewaltigen  Staub 
aufgewirbelt  hat  —  sie  findet  eine  ebenso  vorsichtig  abwägende  wie  treffende 
Beurteilung.  JVIit  Recht  sieht  Wiese  in  jener  Affäre  in  erster  Linie  die  Un- 
vorsichtigkeit einer  vornehmen,  jeder  Hinterlist  baren  Persönlichkeit,  und  es 
gehört  zu  den  wenigen  erfreulichen  Kapiteln  unserer  Parlamentsgeschichte, 
daß  selbst  die  sozialdemokratische  Partei  ihre  anfangs  heftigen  Angriffe  gegen 
den  Grafen  einstellte  und  sich  davon  überzeugen  ließ,  daß  er  das  Opfer  einer 
Unvorsichtigkeit  geworden  war.  Die  gleiche  objektive  Kritik  finden  die 
späteren  Gesetzentw^ürfe,  deren  eigentlicher  Schöpfer  Posadowsky  ist.  Vor 
allen  Dingen  läßt  es  sich  Wiese  angelegen  sein,  die  Meisterreden  des  Staats- 
sekretärs in  ihren  besonders  charakteristischen  Abschnitten  in  seine  historische 
Darstellung  einzufl echten.  IVIit  Eecht  sieht  er  in  dem,  auf  dem  Höhepunkt 
seines  Schaffens  so  tragisch  gestürzten  „Eeichsminister  für  Sozialpolitik" 
den  getreuen  Eckart  der  Nation  und  einen  jener  Männer,  die  pflichttreu, 
gütig  und  selbstlos  sind.  —  Wir  können  das  Buch  einem  jeden,  der  sich 
für  die  Geschichte  der  Sozialpolitik  des  Deutschen  Eeiches  in  den  drei  letzten 
Jahrzehnten  interessiert  und  nicht  in  der  Lage  ist,  die  Eeichstagsdrucksachen 
oder  das  gi-oße  Penzlersche  Werk  zu  studieren,    auf  das  wärmste  empfehlen 

W.  Ed.  Biermann. 


Eduard  von  Wertheimer,  Graf  Julius  Andrässy,  sein  Leben  und  seine 
Zeit.  Nach  ungedruckten  Quellen.  I.  Band:  Bis  zur  Ernennung  zum 
Minister  des  Äußern.  Stuttgart  1910.  Deutsche  Verlagsans  talt. 
XXII  und  650  S. 

Die  Quellen,  die  Wertheimer  für  das  vorliegende  Werk  hat  benutzen 
können,  sind  ganz  ausgezeichnet.  Außer  dem  reichhaltigen  Nachlaß  Andrässys, 
den  ungedruckten  Briefen  und  Tagebüchern  des  Barons  Bela  Orczy  u.  a. 
haben  ihm  die  Akten  des  österreichisch-ungarischen  Ministeriums  des  Äußern, 
des  österreichischen  und  des  ungarischen  Ministerpräsidiums  und  des  kaiser- 
lichen Kabinetsarchivs  zur  Verfügung  gestanden,  und  entgegen  dem  Brauche, 
an  dem  die  preußische  Staatsregierung  deutschen  Gelehi-ten  gegenüber  fest- 
hält, sind  ihm  auch  die  Akten  des  preußischen  Staatsarchivs,  darunter  die 
Berichte  der  preußischen  Gesandten  aus  Wien  und  die  Weisungen  Bismarcks 
an  sie.  zugänglich  gemacht  worden.  Daß  Wertheimer  dieses  reiche  Material 
gründlich  ausgeschöpft  uud  ausführlich  mitgeteilt  hat,  verleiht  seinem  Buche 
bleibenden  Wert  und  verdient  unsern  Dank.  Leider  hat  er  sich  damit 
begnügt,  sein  Material  mitzuteilen,  und  hat  darauf  verzichtet,  es  in  kritischer 
Verarbeitung  darzubieten.  Man  könnte  sich  damit  al)finden,  daß  Wertheimer 
auf  einseitig  magyarischem  Standpunkt  steht  und  ganz  im  Stile  magyarischer 
Tendenzschriftsteller  die  Eechthchkeit  und  die  dynastische  Treue  der  Magyaren 
in  den  Himmel  erhebt,  ohne  die  Berechtigung  anderer  Anschauungen  auch 
nur  zu  prüfen.  Aber  der  bedauerlichste  Mangel  seines  Buches  bleibt,  daß 
er  überhaupt  keinen  Versuch  macht,  seinen  reichhaltigen  Stoff  zu  einem  ein- 
heitlichen Charakterbilde  Andrässys  zusammenzufas-sen.  Zwar  verspricht  er 
im  Vorwort,  eine  Charakteristik  der  Persönlichkeit  Andrässys  im  Schlußkapitel 
des  zweiten  Bandes  zu  geben;  aber  diese  kann,  auch  wenn  sie  noch  so 
glänzend  ausfallen  sollte,  doch  keinen  Ersatz  für  die  im  ersten  Bande  nicht 


Besprechungen.  257 


geleistete  Arbeit  der  wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Gestaltung  des 
Stoffes  bilden.  Wertheinier  legt  sein  llatcrial  als  formlose  Masse  vor;  es 
bleibt  dem  Leser  überlassen,  sich  aus  der  Fülle  der  Nachrichten  die  heraus- 
zusuchen, die  sich  auf  die  Entwicklung  der  Persönlichkeit  und  der  jjolitischen 
Anschauungen  Andn'issys  l)eziehen,  und  sich  daraus  ein  Bild  von  dem  Wesen 
Andrässys  zu  formen.  Diese  Aufgabe  kann  in  einer  Anzeige,  auch  wenn  der 
Eaum  noch  so  freigebig  bemessen  wird,  nicht  gelöst  werden,  aber  ich  will 
wenigstens  versuchen,  die  Hauptmomente  in  Andrässys  Lebensgang  hervor- 
zuheben. 

Andrässy  ist  Magyar  mit  allen  Vorzügen  und  allen  Schwächen  seiner 
Easse,  mit  leidenschaftlicher  Hingabe  an  sein  Vaterland  und  mit  schroffer 
Einseitigkeit  in  der  Beurteilung  politischer  Verhältnisse  und  vor  allem  der 
Bestrebungen  anderer  Nationalitäten.  Aber  er  ist  zugleich  —  und  das  tritt 
immer  mehr  zutage,  je  älter  er  wird  und  je  mehr  er  sich  praktisch  mit  der 
Politik  befaßt  —  ein  Staatsmann  mit  einem  weit  über  den  vielberufenen 
„magyarischen  Globus"  hinausreichenden  Gesichtskreis,  mit  tiefem  Verständnis 
für  die  Lebensbedingungen  einer  Großmacht,  mit  stolzem  Bewußtsein  der 
eigenen  Kraft  und  einem  daraus  entspringenden  Drang  zur  Betätigung.  Als 
junger  Mann  von  26  Jahren  hat  er  sich  von  dem  Radikalismus  der  Unab- 
hängigkeitspartei berauschen  lassen  und  sich  am  Aufstand  des  .Jahres  1849 
beteiligt,  zuletzt  als  Gesandter  der  revolutionären  Regierung  in  der  Türkei. 
Diese  Mission  war  erfolglos ;  die  Türkei  erkannte  ihn  nicht  als  Gesandten  an, 
und  während  er  noch  in  der  Türkei  weilte,  w'urde  die  ungarische  Revolution 
niedergeworfen.  Ihn  persönlich  erreichte  das  Strafgericht  der  Sieger  nicht, 
da  er  sich  rechtzeitig  nach  England,  sjsäter  nach  Frankreich  flüchtete;  nur 
in  effigie  wurde  das  Todesurteil  an  ihm  vollstreckt.  Aber  die  Rolle  des 
Emigranten  genügte  seinem  Tatendrang  nicht;  so  unterwarf  er  sich  dem 
Kaiser,  reichte  ein  Gnadengesuch  ein  —  das  hat  Wertheimer  gegenüber  der 
populären  magyarischen  Auffassung,  die  jedes  Paktieren  mit  dem  ungekrönten, 
also  zur  Regierung  noch  nicht  berechtigten  König  als  Versündigung  gegen 
den  Geist  der  Verfassung  ansieht  und  Andrässy  eines  solchen  Vergehens  nicht 
zeihen  wollte,  endgültig  festgestellt  (S.  76)  —  und  gelobte  für  die  Zukunft 
Gehorsam  (1857). 

In  den  ersten  Jahren  nach  seiner  Rückkehr  hielt  sich  Andrässy  vor- 
sichtig zurück.  Er  erkannte  die  Gefahr,  daß  er  sich  durch  Mitwirkung  an 
einem  der  vielen  Versuche,  durch  halbes  Entgegenkommen  gegen  die  un- 
garischen Forderungen  den  Frieden  zwischen  der  Regierung  und  Ungarn 
herzustellen,  bei  der  Masse  der  Magyaren  nur  kompromittieren  und  sich  vor- 
zeitig verbrauchen  werde.  Deshalb  lehnte  er  es  z.  B.  ab.  unter  der  Geltung 
des  Oktoberdiploms  das  Amt  eines  Obergespans  anzunehmen,  aber  er  vermied 
dabei,  wie  Kossuth  es  gewünscht  hätte,  den  prinzipiellen  Gegensatz  zu  der 
„ungesetzlichen"  Regierung  öffentlich  hervorzuheben.  Er  hielt  sich  eben  im 
Hintergrunde;  nicht  er,  sondern  Deäk  führte  die  weiteren  Verhandlungen 
mit  der  AViener  Regierung  und  hat  das  Verdienst  um  die  nach  mancherlei 
Wechselfällen  endlich  herbeigeführte  Annäherung  zwischen  der  Regierung 
und  Ungarn.  In  den  politischen  Anschauungen  stimmte  Andrässy  mit  Deäk 
fast  vollkommen  überein,  vor  allem  hinsichtlich  der  zvrischen  Österreich  und 
Ungarn  gemeinsamen  Angelegenheiten,  deren  Bestehen  Deäk  im  Gegensatz 
zu  den  Gesetzen  von  1848  seit  1865  öffentlich  zugab.  In  einer  Frage  freilich 
bestand  zwischen  Andrässy  und  Deäk  eine  sehr  bezeichnende  Differenz:  nach 
Deäk  sollte  Ungarn  bloß  zur  „gemeinsamen  Sicherheit"  beitragen;  Andrässy 
dagegen  sah  die  Aufgabe  L;ngarns  darin,  daß  es  mitwirke,  der  Monarchie 
jene  Stellung  wieder  zu  gewinnen,  „die  dem  gemeinsamen  Herrscher  und 
dem  Gesamtreich  im  Rate  der  europäischen  Mächte  gebührt"  (S.  194).  Da- 
mit bewies  Andrässy,  daß  er  der  berufene  Mann  war,  um  den  Ausgleich 
zwischen  den  konstitutionellen  Anforderungen  der  Ungarn  und  den  Bedürf- 
nissen  der    europäischen   Großmacht   Österreich   zu   vollziehen.     So    trat    er 

Zeitschrift  für  Politik.  6  17 


258  Besprechungen. 


denn,  als  nach  Königgrätz  die  längst  notwendige,  aber  immer  wieder  ge- 
scheiterte Befriedigung  Ungarns  namentlich  im  Interesse  des  geplanten 
Revanchekrieges  dringlich  wurde,  in  den  Vordergrund  der  politischen  Bühne. 
Am  18.  Februar  1867  wurde  er  Präsident  des  konstitutionellen  ungarischen 
Ministeriums ;  dann  setzte  er  zunächst  die  Bewilligung  des  Rekrutenkontingents 
und  der  Steuern  durch  —  denn  diese  unentbehrlichen  Machtmittel  des  Ge- 
samtstaates sollten  nicht  vom  Gang  der  Ausgleichsverhandlungen  abhängig 
gemacht  werden  —  und  führte  schließlich  auch  die  Ausgleichsgesetzgebung 
zum  Ende. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  in  eine  Beurteilung  des  Ausgleichs  einzutreten. 
Nur  darauf  möchte  ich  hinweisen,  daß  der  Ausgleich  als  ein  KomiDromiß 
zwischen  dem  Großmachtinteresse,  das  unbedingte  Einheitlichkeit  der  aus- 
wärtigen Politik  und  eine  Zentralisierung  mindestens  der  Wehrkraft  erfordert, 
und  dem  ungarischen  Verlangen  nach  besonderer  „Staatlichkeit"  so  recht 
dem  innersten  Wesen  Andi'ässys  entspricht.  Die  beiden  Richtungen,  die  sich 
so  lange  bekämpft  hatten,  waren  in  Andrässy  vereinigt.  Er  wollte  die  Er- 
haltung Österreichs  als  Großmacht,  deshalb  war  er  für  die  Ordnung  der 
gemeinsamen  Angelegenheiten  und  die  Einrichtung  der  Delegationen,  die 
zwar  aus  den  Parlamenten  der  beiden  Reichshälften  hervorgehen,  aber  ent- 
gegen Deäks  ursprünglichem  Plan  nicht  an  deren  Instruktionen  gebunden 
sind,  sondern  frei  beschließen  können,  was  ihnen  im  Interesse  der  Gesamt- 
monarchie notwendig  erscheint.  Und  so  sehr  war  Andrässy  von  der  zwin- 
genden Kraft  dieses  Großmachtinteresses  überzeugt,  daß  er  an  die  Möglich- 
keit einer  Spaltung  zwischen  der  österreichischen  und  ungarischen  Delegation 
überhaupt  nicht  glauben  wollte  und  besondere  Einrichtungen  zur  Beilegung 
von  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  den  Delegationen,  etwa  die  von  Deäk 
gewünschte  gemeinsame  Sitzung  mit  Durchzählung  der  Stimmen  für  über- 
flüssig hielt.  Er  drang  damit  nicht  durch,  nach  dem  Ausgleichsgesetz  können 
gemeinsame  Delegationssitzungen  stattfinden;  aber  die  Erfahrung  hat  gezeigt, 
daß  Andrässy  Recht  gehabt  hat:  nicht  durch  Überstimmen  in  gemeinsamen 
Sitzungen,  sondern  durch  gegenseitige  Vereinbarung  werden  Streitfragen 
zwischen  den  Delegationen  erledigt,  und  trotz  aller  Umständlichkeit  der 
Organisation  vermag  die  Großmacht  Österreich  doch  immer  noch  sich  zu 
behaupten,  und  erhält  die  unentbehrlichen  Mittel  von  den  Delegationen 
bewilligt. 

Aber  auch  das  einseitig  Magyarische,  das  ich  als  einen  Bestandteil  von 
Andrässys  Wesen  bezeichnet  habe,  verleugnet  sich  im  Ausgleich  nicht.  Der 
Dualismus,  der  durch  ihn  geschaffen  wurde,  bedeutet  nicht  nur  einen  Gegen- 
satz zu  dem  Zentralismus,  sondern  auch  zu  dem  Föderalismus,  der  die  Slawen 
mit  gleichen  Rechten  neben  die  Ungarn  stellen  wollte  und  dadurch  die  Allein- 
herrschaft der  Magyaren  in  Ungarn  gefährdete.  Der  Dualismus  sollte  sich 
nach  Andrässys  Ansicht  gründen  auf  das  Übergewicht  der  Deutschen  in  der 
westlichen,  der  Magyaren  in  der  östlichen  Reichshälfte  und  —  das  ist  die 
notwendige  Folge  —  auf  die  Unterdrückung  der  Slawen  in  beiden. 

Es  ist  bekannt,  daß  in  Zisleithanien  die  Deutschen  nicht  imstande 
gewesen  sind,  die  ihnen  von  Andrässy  zugedachte  Hegemonie  zu  behaupten; 
sie  haben  es  sogar  unterlassen,  die  notwendigsten  Voraussetzungen  einer 
geordneten  Regierung  wie  die  gesetzliche  Festlegung  der  deutschen  Staats- 
sprache zu  schaffen.  Dagegen  ist  Andrässy  in  Ungarn  mit  rücksichtsloser 
Energie  daran  gegangen,  die  Stellung  der  Magyaren  zu  sichern  und  alle 
separatistischen  Neigungen  zu  unterdrücken.  Die  gefährlichsten  Gegner 
waren  —  das  hatte  Jellachichs  Vorgehen  1848  bewiesen  —  die  Kroaten. 
Es  war  deshalb  eine  der  Bedingungen  des  Ausgleichs,  daß  Kj'oatien  in  Ungarn 
einverleibt  werde.  Den  Widerstand,  den  der  kroatische  Landtag  dagegen 
erhob,  beseitigte  Andrässy  auf  eine  Art  und  Weise,  die  dem  Zweck  zwar 
durchaus  entsprach,  aber,   den  Ungarn  gegenüber  angewendet,  ohne  Zweifel 


Besprechung^en.  259 


ein  lautes  Geschrei  über  Gewalttat  und  Rechtsbruch  hervorgerufen  hätte. 
Wertheimer  ist  sich  des  Widerspruchs  nicht  bewußt  geworden,  der  in  seiner 
verschiedenen  Beurteilung  der  ungarischen  und  kroatischen  Selbständigkeits- 
bestrebungen liegt.  Wenn  Magyaren  sich  ihrer  Treue  gegen  den  König 
rühmen,  so  ist  das  selbstverständlich  für  bare  Münze  zu  nehmen;  aber  wenn 
Kroaten  ihre  „unbegrenzte  Treue"  versichern,  so  hat  Andrässy  ebenso  selbst- 
verständlich das  Recht,  darüber  hinwegzugehen  (S.  374),  den  Landtag  auf- 
zulösen und  ein  neues  Wahlrecht  zu  oktroyieren.  Die  kroatischen  Beamten 
wurden  dui-ch  Androhung  der  Entlassung  ohne  Pension  zum  Gehorsam 
gebracht.  Damit  war  der  Widerstand  gebrochen,  und  Kroatien  fügte  sich. 
Um  die  ungarische  Herrschaft  in  diesen  Gegenden  vollständig  zu  begründen, 
setzte  Andrässy  noch  die  Einverleibung  der  bisher  unter  Militärverwaltung 
stehenden  südslawischen  Grenzbezirke,  der  sogenannten  Militärgrenze, 
durch. 

Im  übrigen  hören  wir  nicht  viel  ül)er  die  innere  Entwicklung  Ungarns 
in  der  Zeit  des  Ministeriums  Andrässy.  Das  Hauptinteresse  beansprucht  die 
auswärtige  Politik,  über  die  Wertheimer  viel  Neues  und  Wertvolles  mitzu- 
teilen hat.  Andrässys  Einfluß  war  auf  diesem  Gebiete  weit  größer,  als  er 
nach  der  Verfassung  sein  sollte;  Beusts  Eifersucht  auf  den  sehr  bald  als 
Nebenbuhler  erkannten  und  gefürchteten  Ministerpräsidenten  ist  durchaus 
begreiflich,  um  so  mehr  als  seit  1868  ein  Vertrauensmann  Andrässys,  Baron 
Bela  Orczy,  ihm  als  Sektionschef  formell  unterstellt,  tatsächlich  zu  dauernder 
Kontrolle  beigeordnet  war.  Der  Gegensatz  zwischen  Beust  und  Andrässy 
war  aber  nicht  nur,  ja  nicht  einmal  in  erster  Linie  ein  persönlicher,  sondern 
ein  sachlicher.  Es  ist  längst  bekannt,  daß  Beust  im  Einvernehmen  mit  ein- 
flußreichen Hofkreisen,  vor  allem  mit  Erzherzog  Albrecht,  den  Revanchekrieg 
gegen  Preußen  diplomatisch  vorbereitete.  Andrässy  dagegen  betrachtete  auch 
die  auswärtige  Politik  Österreich-Ungarns  vom  magyarischen  Standpunkt  aus 
und  war  deshalb  gegen  einen  Revanchekrieg,  der  bei  günstigem  Verlauf 
leicht  auch  der  Selbständigkeit  Ungarns  gefährlich  werden  konnte.  Er  wollte 
also  eine  vorwiegend  ungarische  PoHtik,  aber  ungarische  Großmachtpolitik, 
bei  der  auch  die  andere  Reichshälfte  auf  ihre  Rechnung  kam.  Der  Orient  — 
darin  berührte  er  sich  mit  Bismarcks  bekannter  Anschauung,  Österreich  solle 
seinen  Schwerpunkt  nach  Ofen  verlegen  —  war  das  Gebiet,  wo  seiner  Ansicht 
nach  die  Hauptinteressen  der  Monarchie  lagen;  wegen  der  Orientpolitik  schien 
ihm  Rußland,  nicht  Preußen  der  Hauptgegner  zu  sein ;  er  wollte  alles  ver- 
meiden, was  Preußen  Zweifel  an  Österreichs  Friedensliebe  erwecken  und  es 
zum  Anschluß  an  Rußland  nötigen  könnte.  So  zogen  also  Beust  und  Andrässy 
nach  verschiedenen  Seiten;  fi-eilich  war  in  den  ersten  Jahren  Beust  entschieden 
der  stärkere,  denn  der  Revanche  war  auch  der  Kaiser  geneigt. 

Eine  besondere  Bedeutung  gewann  diese  Differenz  der  Anschauungen  über 
die  Interessen  der  Monarchie  natürlich  bei  der  Ej-iegsgefahr  des  Jahres  1870. 
Wertheimers  Quellen,  so  wertvoll  sie  auch  sind,  genügen  nicht,  um  den  Gang 
der  österreichischen  Politik  in  allen  Einzelheiten  festzustellen;  die  fast  gleich- 
zeitig erschienene  Veröffentlichung  Wilhelm  Alters  „Deutschlands  Einigung 
und  die  österreichische  Politik"  (Deutsche  Rundschau,  Oktober  1910)  zeigt 
in  manchen  Punkten  Abweichungen,  die  zu  erklären  Aufgabe  der  historischen 
Einzelkritik  sein  wird.  Im  ganzen  aber  stimmen  beide  Darstellungen  überein. 
Es  ergibt  sich,  daß  Beust  den  Franzosen  mit  halben  Versprechungen  doch 
erheblich  weiter  entgegengekommen  ist,  als  er  später  zugeben  wollte;  auch 
ein  mit  den  Dingen  so  wohlvertrauter  Mann  wie  Bela  Orczy  war  schon 
damals  der  Ansicht,  daß  Beust  zu  weit  gegangen  sei.  Der  Ausbruch  des 
deutsch-französischen  Krieges  kam  freilich  auch  den  eifrigsten  Anhängern 
des  Rachegedankens  zu  früh;  trotzdem  war  viel  Stimmung  für  den  Anschluß 
an  Franki-eich.  Dagegen  blieb  Andrässy  auch  jetzt  seiner  Ansicht  getreu, 
daß  Österreich-Ungarn  zwar  einen  Sieg  Preußens  nicht  wünschen  könne, 
aber  doch  in   dem  Kriege   neutral  bleiben  müsse;   er  traute  Napoleon  nicht 

17* 


260  Besprechimo;en. 


und  fürchtete,  dieser  könne  mit  Preußen  plötzlich  Frieden  schließen;  dann 
stehe  Österreich  isoliert  Preußen  und  Eußland  gegenüber.  Wenn  nun  der 
Kxonrat  vom  18.  Juli  1870  sich  gleichfalls  für  die  Neutralität  entschied,  so 
darf  man  darin  kaum  einen  Sieg  Andrässys  über  Beust  sehen.  Denn  zum 
sofortigen  Losschlagen,  das  z.  B.  der  Kriegsminister  Kuhn  für  nötig  hielt, 
wagte  auch  Beust  nicht  zu  raten.  Er  vertrat  vielmehr  eine  zweideutige 
„Politik  der  freien  Hand",  die  im  geeigneten  Augenblick,  d.  h.  nach  den 
erwarteten  ersten  Siegen  der  Franzosen  sich  doch  noch  diesen  angeschlossen 
hätte,  und  dieser  Politik  neigte  auch  der  Kaiser  zu,  der  die  Gelegenheit,  die 
alte  Stellung  in  Deutschland  wieder  zu  gewinnen,  nicht  ungenutzt  vorüber- 
gehen lassen  wollte.  Daß  Österreich  neutral  blieb,  ist  nicht  Andrässys  Verdienst, 
so  sehr  er  sich  auch  darum  bemüht  hat,  sondern  allein  die  Folge  der  raschen 
Siege  der  deutschen  Heere.  Nur  die  Genugtuung  hatte  Andrässy,  daß  die 
von  ihm  empfohlene  Politik  sich  als  die  bessere  erwies. 

Der  Eevanchegedanke  ließ  sich  nicht  mehr  verwirklichen,  und  damit 
hatte  Beust  abgewirtschaftet.  Daß  Andrässy  sein  Nachfolger  werde,  darüber 
war  sich  auch  Beust  klar.  Sein  Sturz  ist  aber  nicht  durch  Fragen  der  aus- 
wärtigen Politik  herbeigeführt  worden,  obgleich  Bismarck  (vgl.  S.  530)  die 
Entfernung  Beusts  als  Vorbedingung  dauernd  guter  Beziehungen  zwischen  dem 
Deutschen  Reiche  und  Österreich  bezeichnete,  sondern  durch  die  schwierigen 
inneren  Verhältnisse  in  Österreich.  Während  Andrässy  in  Ungarn  jeden 
Widerstand  gegen  den  Ausgleich  rasch  und  energisch  unterdrückt  hatte, 
standen  in  Zisleithanien  noch  1871  die  Tschechen  der  neuen  Ordnung  feind- 
lich gegenüber.  Die  Versuche,  sie  zu  gewinnen,  sind  hier  nicht  zu  erzählen; 
es  genügt  zu  erwähnen,  daß  unter  Beusts  Mitwirkung  an  einer  föderali- 
stischen Gestaltung  der  österreichischen  Eeichshälfte  gearbeitet  wurde.  Dieser 
Plan  veranlaßte  Andrässy  zum  Eingreifen,  denn  jede  Anerkennung  der  Na- 
tionalitätsbestrebungen in  Österreich  mußte  naturgemäß  auf  die  mühsam 
beruhigten  nichtmagyarischen  Völkerschaften  in  Ungarn  zurückwirken.  Den 
Verlauf  im  einzelnen  brauche  ich  nicht  zu  schildern;  zielbewußt  und  geschickt, 
wenn  auch  nicht  immer  auf  ganz  geraden  Wegen  ist  Andrässy  vorgegangen, 
bis  das  föderalistische  Ministerium  Hohenwart  und  bald  darauf  auch  Beust 
zur  Strecke  gebracht  war.  Am  8.  November  1871  wurde  er  zum  Nachfolger 
Beusts  in  der  Leitung  des  Ministeriums  des  Äußern  ernannt. 

Damit  schließt  der  erste  Band  der  Biographie  Wertheimers.  Der  zweite, 
der  die  Wirksamkeit  Andrässys  als  Leiters  der  auswärtigen  Politik  Österreich- 
Ungarns  umfassen  soll,  wird  natürlich  noch  mehr  als  der  erste  von  allge- 
meinem Interesse  sein;  wird  doch  darin  die  Orientkrisis  der  Jahre  1876/78 
und  der  Abschluß  des  deutsch-österreichischen  Bündnisses  zu  erzählen  sein. 
Doch  auch  der  erste  Band  wird  trotz  der  bemerkten  Mängel  der  Komposition 
seinen  Wert  behalten,  nicht  nur  für  die  Geschichte  Andrässys,  Ungarns  und 
Österreichs,  sondern  auch  für  die  Geschichte  Europas  in  den  Jahren  1867 
bis  1871.  Fritz  Härtung. 


Otto  Lempp,  Das  Problem  der  Theodizee  in  der  Philosophie  und  Literatur 
des  18.  Jahrhunderts  bis  auf  Kant  und  Schiller.  Leipzig  1910.  Dürr. 
432  S. 

I.  Gegenstand  der  Untersuchung  der  wertvollen  Arbeit  von  Lempp 
bilden  Darstellung  und  Kritik  der  Lösungen  des  Theodizeeprobleins  auf  Grund- 
lage des  die  Philosophie  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  bestimmen- 
den Intellektualisinus,  sodann  der  Nachweis,  daß  eine  befinedigende  Begrün- 
dung der  Theodizee  nur  auf  religiös-idealistischem  Wege  zu  finden  und  von 
Kant  und  dann  von  Schiller  geboten  ist. 


Besprechungen.  261 


Den  wirkunofs vollen  Ausgano:spimkt  für  die  historisch-kritische  Ab- 
lehnung der  intellektualistischen  Theodizee  bildet  eine  systematisierende  Dar- 
stellung der  Ki-itik  des  Gottesbegriffes  durch  ßayle.  Nach  dieser  muß  Gott  als 
allmächtig  alles  physische  und  moralische  Übel  verschuldet  haben,  mag  man 
die  Freiheit  des  Menscheu  anerkennen  oder  leugnen.  Gab  Gott  dem  Menschen 
die  Freiheit,  so  mußte  er  als  allwissend  die  Folgen  dieses  Danaergeschenkes 
voraussehen.  Dieses  also  von  Gott  direkt  oder  indirekt  gesetzte  physische 
und  moralische  Übel  steht  in  schneidendem  Widerspruch  mit  der  behaupteten 
Allgüte  Gottes.  Wollte  Bayle  auch  nur  die  Ohnmacht  der  menschlichen 
Vernunft  dartun,  für  die  erstarkende  rationalistische  Philosophie  lag  hier 
ein  Problem,  dem  Leibniz  den  Namen  gab,  die  Rechtfertigung  Gottes  wegen 
des  Übels  in  der  Welt. 

Leibnizens  Intellektualismus  suchte  das  Wesen  des  moralischen  Übels 
als  unklare  Vorstellung  zu  erfassen  und  erklärte  es  so,  wie  auch  das  physische 
Übel,  metaphysisch  als  unvermeidlichen  Mangel  der  Weltorganisation  (S.  50). 
Es  müssen  nämlich,  soll  überhaupt  eine  Welt  möglich  sein,  nach  dem  princi- 
pium  indiscernibilium  sich  die  Monaden  unterscheiden,  können  somit  nicht 
alle  gleichmäßig  vollkommen  sein ;  also  wäre  eine  vollkommene  Welt  eine 
contradictio  in  adjecto  (S.  57).  Nach  seiner  Güte  wählte  nun  Gott  unter  den 
möglichen  Welten  die  höchstmöglich  vollkommene. 

Sehr  feinsinnig  zeigt  Lempp,  daß  damit  das  Problem  der  Theodizee  nicht 
gelöst,  vielmehr  völlig  beiseite  geschoben  sei.  Da  Gott  nur  möglichen  Welten 
von  mehr  oder  minder  großer  Unvollkommenheit  gegenüberstand,  gab  es  in 
Wahrheit  für  seine  Güte  gar  keine  Wahl,  er  mußte  die  höchstmöglich  voll- 
kommene Welt  realisieren  (S.  62).  Damit  wird  Gott  zu  dem  die  Welt  reali- 
sierenden Faktor:  der  Begriff  eines  persönlichen  Gottes  wird  überflüssig. 
Im  Grunde  lehrt  Leibniz.  die  Welt  ist  so,  wie  sie  eben  ist  —  eine  Theodizee 
ist  illusorisch.  Daß  übrigens  ein  solcher  „Optimismus"  wie  ihn  Leibniz  ver- 
tritt, nur  allzusehr  dem  Pessimismus  verwandt  ist,  hat  Lempp  treffend  (S.  78) 
hervorgehoben.  (Vgl.  über  diesen  Punkt  die  feinsinnigen  Ausführungen  von 
Jean  Baruzi,  Leibniz  et  l'organisation  religieuse  de  la  terre  S.  478  ff.). 

Weder  für  den  Universalismus  des  Wolffschen  Eationalismus,  dieser 
Vergröberung  Leibnizischer  Gedanken,  noch  für  den  der  englischen  Empirie, 
insbesondere  den  Shaftesburys  gab  es  in  Wahrheit  ein  Theodizeeproblem. 
Nach  Wolff  ist  das  physische  Übel  für  das  Weltganze  keineswegs  ein  solches 
(S.  73),  das  moralische  Böse  ist  zwar  ein  Übel,  das  Gott  setzen  mußte,  weil 
er  die  beste  Welt  erschuf,  sub  specie  aeternitatio  betrachtet,  kommt  ihm  je- 
doch der  Charakter  der  Bösen  nicht  zu  (S.  74).  Für  die  konsequent  univer- 
salistische Betrachtung  Shaftesbrn-ys  löst  sich  alles  scheinbare  physische  und 
moralische  Übel  analog  in  vollkommener  Harmonie  auf.  „Die  Theodizee 
Shaftesburys  ist  im  Grunde  nichts  anderes  als  der  glänzende  Nachweis,  daß 
auf  dem  Boden  seiner  universalistischen  Weltbetrachtung  das  Theodizee- 
problem gar  keinen  Platz  hat"  (S.  95). 

Diese  Lösung  oder  besser  Umgehung  des  Theodizeeproblems  beherrschte 
den  späteren  unsystematischen  Aufklärungsoptimismus.  Diese  Scheintheodizee 
wurde  als  unhaltbar  erkannt,  als  der  Optimismus  pessimistischer  Weltbetrach- 
tung gewichen,  als  die  Erkenntniskritik  Humes  die  begrifflichen  Grundlagen 
der  rationahstischen  Philosophie  zersetzt  hatte  (Abschnitt  3  und  4). 

Diese  geistvolle  Kritik  der  intellektualistischen  Theodizee.  die  eingehende, 
klare  Darstellung  der  einzelnen  Schattierungen  der  Lehre,  des  Erwachens 
einer  Opposition,  die  endlich  zum  Zusammenbruch  jener  Theorie  führte,  bildet 
den  anziehendsten  Teil  des  Werkes ;  weniger  glücklich  ist  der  weitere  Versuch 
in  den  Schriften  Kants  und  Schillers  eine  befriedigende  Lösung  des  Theodizee- 
problems nachzuweisen. 

n.  Die  Grundlage  für  eine  wirkliche  Theodizee  erblickt  Lempp  in  der 
von  Lessing,  Eousseau   und  Herder  geforderten  individuellen  Religiosität,  in 


262  Besprechungen. 


der   von   ihnen    erkannten  Autonomie    der   sittlichen  Persönlichkeit   (IT.  Teil 
1.  Abschnitt). 

In  sehr  eingehender,  scharfsinniger  Ausführung  bringt  Lenipp  des 
weiteren  den  Nachweis,  daß  eine  Lösung  des  Theodizeeproblems  mit  der 
Kantschen  Erkenntnistheorie  nicht  vereinbar  sei  (insb.  S.  281  ff.,  S.  302).  Erst 
nachdem  Kant  durch  seine  Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft  eine  Basis 
gefunden  hat.  „die  ganz  von  der  Ej-itik  der  reinen  Vernunft  sich  abgelöst 
hat"  (S.  337),  welche  den  Menschen  ,.in  seinem  sinnlich-übersinnlichen  Wesen 
wieder  als  Einheit  betrachten  lehrt"  (S.  341),  wird  eine  Theodizee  möglich. 
Im  Lichte  solcher  Betrachtung  hat  der  Mensch  als  Noumenon  die  sittliche 
Freiheit  „alles  Naturgeschehen  in  den  Dienst  des  Sittlichen  zu  zwingen", 
„die  ganze  natürliche  Welt  muß  als  Mittel  für  die  sittlichen  Wesen  beurteilt 
werden;  jedes  einzelne  Geschehen  hat  nur  einen  Sinn  und  Wert  dadurch,  daß 
es  j\Iittel  zur  Betätigung  sittlicher  Kraft  und  sittlichen  Geistes  ist"  (S.  335). 
Die  sittliche  Welt  aber  findet  ihre  Einheit  in  Gott.  Die  Macht  des  Bösen 
bedeutet  nur  eine  Aufgabe  für  die  in  Gott  geeinten  sittlichen  Menschen, 
welche  das  Böse  schließlich  überwinden  werden  (S.  350). 

Schillers  Theodizee  ist  eine  künstlerisch  lebendige  Ausgestaltung  jener 
Kantischen  Gedanken  (S.  428).  Schiller,  dessen  Kantstudium  ein  Durch- 
arbeiten der  Kritik  der  Urteilskraft  einleitete  (S.  379),  steht  der  Kantischen 
Erkenntnistheorie  fern  (vgl.  S.  403),  von  vornherein  lehrt  er  die  Einheit  des 
Menschen  in  seinem  „sinnlich-übersinnlichen  Wesen".  Auf  dieser  Grundlage 
reproduziert  er  selbständig  „die  Kantische  Lehre  von  der  Beurteilung  der 
Natur  als  Mittel  für  den  sittlichen  Menschen  als  Selbstzweck"  (S.  412).  Der 
Mensch  kann  „frei  von  jeder  Zeitgewalt"  (S.  419)  das  sittliche  Ideal  in  seinen 
Willen  aufnehmen,  die  erwachsende  „Neigung  zur  Pflicht"  überbindet  die 
Kluft  zwischen  dem  Ideal  und  der  sittlichen  Minderwertigkeit,  der  Schuld 
des  Menschen  (S.  421).  Das  physische  Unheil  weckt  die  sittliche  Persön- 
lichkeit, zeigt  deren  Überlegenheit  dem  Schicksal  gegenüber  (S.  382  und  422). 

In  derartigen  Betrachtungen  erblickt  Lempp  eine  Lösung  des  Theodizee- 
problems. Indessen  enthalten  derartige  Ausführungen  keinesfalls  eine  „Lösung" 
eines  Problems  und  erst  recht  nicht  eine  „Theodizee". 

Kant  wie  Schiller  behaupten  nur  die  Einheit  des  sinnlich-übersinnlichen 
Wesens  im  Menschen,  sie  behaupten  eine  im  täglichen  Leben  wirksame  sitt- 
liche Freiheit.  Daß  man  bei  solcher  Unterstellung  schließlich  zu  dem  Re- 
sultat kommen  kann,  daß  das  sinnliche  Wesen  vom  übersinnlichen  überwunden 
werden  muß  und  kann,  daß  also  keine  Dissonanz  besteht  zwischen  Ideal  und 
Wirklichkeit  —  das  ist  ja  ganz  richtig.  Es  fragt  sich  aber  gerade,  ob  denn  diese 
Annahme  auch  erkeuntniskritisch  gerechtfertigt  ist.  Nach  Kants  Vernunft- 
kritik ist  jene  Freiheitslehre  geradezu  falsch.  Schiller  hat  sie  ganz  unkritisch 
verfochten.  Von  einer  Lösung  des  Problems  kann  doch  erst  gesprochen 
werden,  wenn  die  Lehre  vom  im  Tagesleben  wirksamen  Noumenon  erkenntnis- 
kritisch als  notwendig  dargetan  ist.  Bis  dahin  ist  bestenfalls  das  Beweis- 
thema schärfer  formuliert  worden.  Kant  und  Schiller  haben  also  höchstens 
die  Frage:  „Ist  eine  Theodizee  möglich?"  auf  die  andere  zurückgeführt:  „Ist 
die  Annahme  eines  im  täglichen  Leben  wirksamen  Noumenon  erkenntnis- 
kritisch zu  rechtfertigen?"  Die  Schwerkraft  der  Kantschen  Vernunftskritik 
aber  fordert  eine  unbedingte  Verneinung. 

Doch  selbst  wenn  diese  Kant-Schillersche  Freiheitslehre  berechtigt  wäre, 
selbst  wenn  Schillers  Behauptung,  alles  physische  Unheil  diene  der  Verklärung 
der  sittlichen  Persönlichkeit,  mehr  sein  sollte  als  eine  unkritische  Einseitig- 
keit eines  genialen  Tragödiendichters  —  so  wäre  doch  für  das  Theodizee- 
problem  gar  nichts  gewonnen.  Selbst  wenn  es  richtig  sein  sollte,  daß  jeder 
Mensch  Sünde  und  Unheil  frei  überwinden  kann,  so  bleibt  doch  die  Tat- 
sache der  Sünde  und  des  Unheils  mit  Annahme  eines  allwissenden  gütigen 
Schöpfers    im   Widerspruch.     In  Wahrheit    haben    Schiller  wie   Kant   durch 


Besprechungen.  263 


den  Schluß  vom  „sollen"  aufs  „können"  dem  Menschen  wieder  Sünde  und 
Schuld  „ins  Gewissen  geschoben"  (v^l.  Schiller:  Die  Philosophen).  Daß 
damit  aber  Gott  nicht  „gerechtfertigt'  sei,  hatte  Lempjj  im  Beginn  seiner 
Ausführung  ganz  deutlich  dargetan. 

Daß  Lempp  trotzdem  annimmt,  bei  Kant  und  Schiller  sei  eine  Lösung 
des  Theodizeeproblems  zu  finden,  erklärt  sich  aus  einer  Verschiebung  in 
seiner  Bestimmung  des  Begriifes  „Theodizee".  Einleitend  definiert  er  die 
Theodizee  als  „Rechtfertigung  Gottes  wegen  der  (Tbel  in  der  Welt."  Die 
Annahme  eines  allgütigen  Schöpfers  und  die  Tatsache  von  Unglück  und 
Sünde  weisen  auf  einen  Konflikt  zwischen  der  natürlichen  Welt  und  der 
vom  sittlich-religiösen  Bewußtsein  als  der  Güte  Gottes  entsprechend  ge- 
forderten. In  diesem  Konflikt  findet  Lempp  den  Kern  des  Theodizeeproblems 
(S.  206).  In  seinen  weiteren  Ausführungen  läßt  er  aber  die  Frage  nach  der 
Güte  Gottes  gänzlich  außer  Betracht;  allein  die  Divergenz  zwischen  realer 
und  von  dem  sittlichen  Bewußtsein  geforderten  Welt  steht  zur  Erörterung. 
Der  Umstand,  daß  ein  solcher  Konflikt  und  damit  Unglück  wie  Sünde  von 
Gott  verschuldet  sein  muß,  wird  gar  nicht  mehr  erwähnt.  Mag  auch 
schließlich  die  sittliche  Weltordnung  siegen,  daß  dieser  Sieg  über  Leichen 
führte,  dm-ch  Unglück,  Sünde  und  Schuld,  ist  von  Gott  gewollt.  Das  Problem 
der  Theodizee  erhebt  sich  in  alter  Größe.  Dadurch,  daß  Lempp  ihm  ein  anderes 
substituierte,  konnte  es  nicht  gelöst  werden  (vgl.  hierzu  S.  7,  2L5  f.,  231, 
264,  271,  306,  312  ff.,  321,  335  ff.,  341,  343,  360,  370,  380  ff.,  391,  403  f., 
419,  424). 

Der  Umstand  aber,  daß  Lempp  im  zweiten  Teile  seines  Werkes  das 
Theodizeeproblem  in  Wahrheit  aus  den  Augen  verlor,  kann  der  Tatsache 
nicht  Abbruch  tun,  daß  er  einen  überaus  anziehenden  Einblick  in  das  religions- 
philosophische Geistesleben  des  18.  Jahrhunderts  bietet. 

Horst  Kollmann. 

Fausto  Squillace,  Die  soziologischen  Theorien.    Deutsch  v.  Rudolph  Eisler. 
Leipzig  1911.     Dr.  Werner  Klinkhardt.     352  S. 

Das  Buch  gibt  eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  Richtungen  in 
der  Soziologie,  indem  es  über  eine  große  Reihe  einzelner  Systeme  kurz  be- 
richtet. Es  erinnert  in  der  Hauptsache  an  das  bekannte  Buch  Paul  Barths: 
Die  Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie  (Band  I).  Es  unterscheidet 
sich  von  ihm,  abgesehen  von  einer  größeren  Kürze  der  Darstellung,  haupt- 
sächlich dadurch,  daß  es  fast  nur  referierender  Natur  ist  und  sich  beinahe  jeder 
Beurteilung  bei  der  Darstellung  der  Systeme  enthält.  Stellung  nimmt  der 
Verfasser  nur  im  ganzen:  die  verschiedenen  Richtungen  der  Soziologie  ordnen 
sich  ihm  im  Sinne  einer  inneren  Entwicklung.  Die  Besinnung  über  das 
Wesen  der  Gesellschaft  beginnt  mit  der  Orientierung  an  fremden  Tatsachen 
und  Disziplinen:  die  Gesellschaft  wird  mit  einem  Aggregat,  mit  einer  chemi- 
schen Verbindung  oder  einem  Organismus  verglichen,  und  es  werden  Begriffe 
aus  dem  Bereiche  der  Nationalökonomie,  der  Statistik  und  der  Rechtswissen- 
schaft zu  ihrer  Erklärung  herangezogen.  Zu  einer  Wissenschaft  kann  die 
Soziologie  aber  nur  werden,  wenn  sie  sich  aus  ihrem  eigenen  Objekt  ihre 
Begriffe  und  ihre  Probleme  ableitet.  Die  psychologischen  Theorien,  welche 
von  der  Natur  des  Indi\'iduums  oder  von  der  Kollektivverfassung  der  Gruppe 
ausgehen,  kommen  diesem  Stadium  schon  erheblich  näher;  verwirklicht  ist 
es  aber  erst  bei  Denkern  wie  Simmel,  Durkheim  und  Stuckenberg. 

Diese  Grundauffassung  ist  gewiß  richtig.  Im  übrigen  aber  erheben 
sich  gegen  die  ganze  Art,  ja  fast  gegen  die  Daseinsberechtigung  des  Werkes 
schwere  Bedenken.  Vielfach  ist  die  Darstellung  infolge  der  Kürze  unklar 
geblieben.  So  heißt  es  von  de  Roberty  S.  295,  daß  seine  Theorie  des  Kollektiv- 
psychismus  den   gi-ößten  Fortschritt  darstellt;    worin    dieser    und   auch  die 


264  Besprechungen. 


Theorie  selbst  aber  eigentlich  besteht,  ist  nicht  zu  erkennen.  Ähnlich  ist 
es  mit  der  Behandlung  Durkheims  bestellt.  Eine  Häufung  von  Referaten 
wie  hier  ist  bei  einer  so  unfertigen  Disziplin  wie  der  Soziologie  schwerlich 
von  großem  Werte.  Daß  eine  so  junge  Wissenschaft  schon  eine  solche 
Fülle  von  Verirrungen  und  Verwirrungen  hinter  sich  hat,  interessiert  nur 
den  Spezialisten.  Für  jeden  anderen  kommt  es  vor  allem  auf  die  richtige 
Problemstellung,  auf  Direktiven  und  begriffliche  Klärung  an.  Ein  systema- 
tisches Werk  wie  der  kleine  Katechismus  der  Soziologie  von  Eisler  ist  für 
ihn  unvergleichlich  nützlicher  als  eine  derartige  historische  Darstellung. 
Fällt  das  Buch  einem  unkritischen  Laien  in  die  Hand,  so  kann  dieser  durch 
die  Fülle  der  sich  widersj)rechenden  großenteils  vagen  und  nebulosen  Systeme 
nur  verwirrt  werden.  Ein  kritischer  Laie  aber,  insbesondere  ein  Vertreter 
anderer  Diszii^linen,  wird  aus  dem  Buche  leicht  die  Überzeugung  schöpfen 
oder  in  ihr  bestärkt  werden,  daß  man  gut  tut,  einer  so  phantastischen 
Disziplin  den  Rücken  zu  kehren. 

Alfred  Vierkandt, 


Hugo  Liebig,   Über  die  marxistisch-sozialdemoki-atische  Gedankenwelt  und 
die  Grenze  des  Sozialismus.     Mühlhausen  i.  Th.     Hey.     VIII  u.  186  S. 

Die  kleine  antimarxistische  Streitschrift  ist  die  Studie  eines  gescheiten 
Menschen,  der  tüchtige  Kenntnisse  in  Technologie  und  Mathematik,  aber  nur 
eine  sehr  schwache  Ahnung  von  Nationalökonomie  hat.  Er  konstatiert  zum 
so  und  so  vielten  Male  Marx'  Fehler,  nur  die  manuelle  Arbeit  als  wertschaffend 
gelten  zu  lassen,  und  fällt  nun  seinerseits  in  den  mindestens  so  krassen  Fehler 
der  Neu-Manchestermänner  (Wolf,  Ehrenberg),  alles  Unternehmereinkommen 
als  „Genielohn"  anzusehen,  also  den  Profit  als  arbeitsloses  Einkommen  zu 
leugnen:   was  nicht  zu  halten  ist. 

Das  amüsant,  zum  Teil  burschikos  geschriebene,  leider  des  öfteren  allzu 
unehrerbietige  Büchlein  kann  als  Einführung  in  die  Marxsche  Wertlehre 
solchen  Lesern  wohl  empfohlen  werden,  die  sich  vor  mathematischen  Formeln 
nicht  fürchten.  Den  übrigen  Bestandteilen  des  Marxschen  Systems  bleibt  es 
fast  alles  schuldig. 

Im  übrigen  ist  der  Verfasser  ein  ehrlicher  Verfechter  der  Koalitions- 
freiheit und  ebenso  Freund  der  Gewerkschaftsbewegung  und  der  sozialen 
Reform. 

Franz  Oppenheimer. 


Abhandlungen 


VI. 

Die  parlamentarische  Enquete  nach  deutschem 
und  österreichischem  Recht 

Von  Dr.  Egon  Zweig 

Das  parlamentarische  Enqueterecht  ist  die  der  Volksver- 
tretung, sei  es  grundgesetzlich,  sei  es  durch  ihre  Geschäfts- 
ordnung eingeräumte  oder  auch  bloß  kraft  Gewohnheit  zu- 
kommende Befugnis,  Tatsachen  und  Vorgänge  festzustellen  und 
zu  untersuchen,  deren  Kenntnis  zur  Ausübung  der  parlamen- 
tarischen Funktionen  erforderlich  ist.  Als  häufigstes,  nach 
manchen  Verfassungen  als  einziges  Mittel  hiefür  dient  die 
Einsetzung  von  Ausschüssen,  welche  die  Kammer  zu  dieser 
Beschaffung  des  Tatsachenstoffes  für  die  parlamentarische  Arbeit 
berechtigt  und  verpflichtet.  Daß  die  Kammern  auch  dort,  wo 
das  Gesetz  ihnen  anheim  gibt,  selbst  als  Plenum  eine  Unter- 
suchung zu  führen,  mit  dieser  Aufgabe  Teilkollegien  aus  ihrer 
Mitte  betrauen,  erklärt  sich  durch  Charakter  und  Organisation 
der  parlamentarischen  Ausschüsse,  da  es  zu  den  Entstehungs- 
gründen und  Daseinszwecken  dieser  Einrichtung  gehört,  Aus- 
künfte einzuziehen  und  zu  erhalten,  und  die  freiere,  durch  den 
Formalismus  des  parlamentarischen  Prozesses  nicht  beengte 
Kommissionsverhandlung  eine  rasche  und  gründliche  Übung 
der  Untersuchungsfunktion    erwarten   läßt^).      Zugleich    macht 


1)  Vgl.  Neumann-Hofer,  Zeitschr.  f.  Politik  Bd  IV  S.  71  f.  —  Den 
Kammern  als  solchen  ist  das  Eecht  der  Enquete  verfassungsmäßig  eingeräimxt 
in  Belgien  (Verf.  Art.  40),  Holland  (seit  der  Verfassungsrevision  v.  1-887  beiden 
Kammern,  sowohl  jeder  abgesondert  als  auch  in  gemeinsamer  Versammlung: 
Grondwet  v.  15.  Nov.  1887  Art.  95),  Luxemburg  (Verf.  v.  17.  Okt.  1868  Art.  64), 
Norwegen  (Grundges.  v.  1814  §  75  lit.  f  u.  h),  Rumänien  (Verf.  v.  30.  Juni 
[12.  Juli]  1866  Art.  47),  Serbien  (Verf.  v.  5./18.  Juni  1903  Art.  121),  Monte- 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  zu   17 


266      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

sich  hier  eine  allgemeine  Entwicklungstendenz  geltend,  die  in 
eine  Teilung  des  parlamentarischen  Geschäfts  zu  münden  scheint, 
indem  die  Austragung  der  großen  politischen  Probleme  dem 
Plenum  vorbehalten  bleibt,  der  Schwerpunkt  der  sachhchen 
und  fachlichen  Detailarbeit  jedoch  auch  vermöge  ihres  stetig 
wachsenden  Umfangs  in  die  kollegialen  Unterorgane  verlegt 
wird  1). 

negro  (Verf.  v.  6./19.  Dezember  1905  Art.  95).  In  andern  Verfassungen  ist 
die  Einsetzung  von  Untersuchungsausschüssen  vorgeschrieben.  So  —  abge- 
sehen von  Preußen  und  Österreich  —  in  Dänemark  (revidiertes  Grundges. 
V.  28.  Juli  1866  §  46),  Island  (Grundges.  v.  5.  Januar  1874  §  22),  Griechen- 
land (Verf.  v.  1.  Juni  1911  Art.  58),  Bulgarien  (Verf.  v.  16./28.  April  1879 
Art.  106). 

^)  Der  älteren  Staatsrechtslehre  lag  dieser  Gedanke  parlamentarischer 
Arbeitsteilung  fern;  sie  sah  in  den  Kommissionen  immer  nur  unselbständige 
Organe  zur  Vorbereitung  der  Plenargeschäfte:  s.  z.B.  Bentham,  Tactique 
des  assemblees  politiques  deliberantes  eh.  XXVI  (Oeuvres,  Brüssel  1829  Bd  I 
S.  431  f.);  v.  Mohl,  Staatsrecht,  Völkerrecht  imd  Politik  Bd  I  (Tübingen 
1860)  S.  296  ff.  Die  moderne  Volksvertretung  hat  durch  die  Erweiterung 
ihres  Aufgabenkreises  vmd  die  Verbreiterung  ihrer  sozialen  Bildungsbasis  an 
technischer  Leistungsfähigkeit  eingebüßt,  und  diese  Erfahrimg  hat  Vorschläge 
ausgewirkt,  die  auf  einer  stärkeren  Inanspruchnahme  des  parlamentarischen 
Kommissionssystems  beruhen  und  sogar  die  Einrichtung  außerparlamentari- 
scher Fachorganisationen  bezwecken,  neben  welchen  das  Votum  der  Kammer 
lediglich  als  Referendum  in  Betracht  käme:  vgl.  v.  Herrnritt,  Die  öster- 
reichische Parlamentsreform,  Archiv  f.  öff.  Recht  Bd  XXTT  S.  98  u.  N.  43 
und  die  dort  angeführte  Literatur.  Bedeutsam  ist  namentlich  die  Entwicklung 
in  Frankreich,  wo  schon  die  Komitees  der  Revolutionsparlamente  die  Funk- 
tionen der  letzteren  zum  großen  Teil  absorbierten  und  grade  diese  Er- 
fahrungen bis  in  die  neuere  Zeit  der  Schaffiing  großer  permanenter  Aus- 
schüsse im  Wege  standen:  vgl.  de  Ferron,  Les  commissions  parlementaires 
et  le  travail  legislatif  des  Chambres,  These,  Paris  1900  S.  5  ff.,  27  ff.,  138  ff. ; 
Graux,  La  revision  du  reglement  de  la  Chambre,  Re^a^e  politique  et  parle- 
mentaire  Bd  XVI  S.  545  ff.;  Delpech  i.  d.  Revue  du  droit  public  et  de  la 
science  politique  Bd  XXI  S.  343  ff.  —  In  Schweden  und  Norwegen  wird 
schon  seit  den  Anfängen  des  konstitutionellen  Systems  die  gesamte  Tätigkeit 
der  Volksvertretung  in  ständige  Fachausschüsse  verlegt,  deren  Beschluß  unter 
Umständen  sogar  jenen  des  Plenum  ersetzt:  vgl.  Aschehoug,  Das  Staats- 
recht der  Vereinigten  Königreiche  Schweden  und  Norwegen  (Handb.  d.  öff. 
Rechts  IV,  n,  2),  Freiburg  i.  B.  1886  S.  56  f.,  Fahlbeck,  La  Constitution 
Suedoise  et  le  parlementarisme  moderne,  Paris  1905  S.  211,  261  f.;  ders., 
Die  Regierungsform  Schwedens,  Berlin  1911  S.  156  ff.;  Morgenstierna, 
Das  Staatsrecht  d.  Königreichs  Norwegen  (D.  öff.  R.  d.  Gegenwart  Bd  XIH), 
Tübingen  1911  S.  71.  Ebenso  in  Finnland:  Erich,  Das  Staatsrecht  d.  Groß- 
fürstentums Finnland  (D.  öff.  R.  d.  Gegenwart  Bd  XVHI),  Tübingen  1912 
S.  81  ff.  Für  die  amerikanische  Union,  wo  die  Komiteeverfassung  einen 
wesentlichen  Bestandteil  der  Parteimaschinerie  bildet,  s.  Mc  Conachie, 
Congressional  Committees,  New- York  1898;  Bryce,  The  American  Common- 
wealth, new  ed.,  New- York  1911  Bd  I  S.  159  ff. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      267 

Schon  aus  der  Definition  des  parlamentarischen  Enquete- 
rechts ergibt  sich  die  dynamische  Natur  der  Einrichtung.  Sie 
erscheint  als  logisch  oder  juristisch  notwendiges  Korollar  der 
der  Volksvertretung  zugewiesenen  Tätigkeit,  als  sachliche  Vor- 
bereitung und  Ergänzung  jener  Formalakte,  in  welchen  ein 
Parlament  seine  verfassungsmäßige  Zuständigkeit  verwirklicht. 
Hierin  liegt  die  Zweck-  und  Grenzbestimmung  für  die  durch 
die  parlamentarische  Enquete  zu  leistende  Ermittlungsfunktion, 
deren  Inhalt  und  Umfang  sich  in  jedem  einzelnen  Fall  nach 
der  allgemeinen  Kompetenz  des  Vertretungskörpers  bemißt, 
während  andrerseits  die  rechtliche  Organisation  der  Enquete, 
ihre  Verfahrensweise  und  Häufigkeit,  ihre  Anlässe  und  Ergeb- 
nisse einen  Rückschluß  auf  die  Natur  des  Verfassungssystems 
gestatten,  in  dessen  Rahmen  sie  eingeordnet  ist.  Obgleich  es 
hienach  bei  der  bunten  Mannigfaltigkeit  der  zu  überschauen- 
den Induktionsreihe  als  ausgeschlossen  gelten  darf,  einen  festen 
Durchschnittstypus  des  parlamentarischen  Untersuchungsrechts 
aufzufinden,  kann  man  doch,  den  Hauptrichtungen  folgend, 
nach  welchen  sich  die  Funktionen  der  Volksvertretung  im  mo- 
dernen Staat  orientieren,  drei  Arten  der  Enquete  unterscheiden  ^). 
Sie  steht  entweder  im  Zusammenhang  mit  dem  Recht  einer 
Wahlkammer,  in  Form  der  sogenannten  Verifikation  die  organ- 
schaftliche Stellung  ihrer  Mitglieder  anzuerkennen  und  zu  diesem 
Behuf  den  Vorgang  der  Mandaterteilung  zu  prüfen:  —  die 
Wahlenquete.  Oder  sie  knüpft  sich  an  die  Kontrollbefugnisse 
der  Volksvertretung  und  bezweckt  dann  Erhebung  und  Klar- 
stellung solcher  Verhältnisse,  die  durch  Akte  der  Vollzugsgewalt 
geschaffen  sind  und  deren  Kenntnis  die  Voraussetzung  bildet 
für  alle  Formen  parlamentarischer  Überwachung  des  admini- 
strativen Apparats  von  der  Resolution  bis  hinauf  zur  Minister- 
anklage 2)  —  der  Fall  der  Verwaltungsenquete.     Die   praktisch 

^)  S.  die  bei  Michon,  Des  enquetes  parlementaires,  Paris  1890  S.  5  f. 
zitierte  Stelle  aus  Duvergier  de  Hauranne,  De  l'ordre  legal  en  France 
et  des  abus  d'autorite,  die  wohl  als  zeitlich  erster  Versuch  einer  solchen 
Einteilung  gelten  darf.  Vgl.  Degommier,  Les  enquetes  parlementaires, 
Paris  1899  S.  15  ff.;  Miceli,  Inchieste  parlamentari,  Mailand  1901  S.  8  ff.; 
Racioppi-Brunelli,  Commento  allo  Statute  del  Regno,  Tiu-in  1909  Bd  III 
S.  170  f. 

-)  Zu  weit  geht  die  Behauptung  B  o  d  e  s ,  Die  Mitwirkung  der  Landtage 
an  der  Erledigimg  staatlicher  Aufgaben,  Heidelb.  Diss.,  Borna-Leipzig  1910 
S.  62,  daß  das  Informationsrecht  der  Volksvertretung  auf  dem  Grundsatz  der 
Ministerverantwortlichkeit  „basiert".  (Damit  stimmt  nicht  die  —  systematisch 
übrigens  verfehlte  —  Bemerkung  S.  63,  das  parlamentarische  Enqueterecht 
sei  eine  „Erweiterung  des  Adreßrechts").    Allerdings  tritt  der  enge  geschieht- 


268      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

•weitaus  wichtigste  und  fruchtbarste  Anwendung  des  parlamen- 
tarischen Informationsrechts  ist  aber  die  durch  die  Enquete 
bewirkte  Sammlung  und  Sichtung  von  Tatsachenmaterial,  das 
den  Unterbau  für  eine  legislative  Maßnahme  bilden  soll,  die 
Gesetzgebungsenquete.  Daß  innerhalb  dieser  Kategorie  die 
Wirtschaftsenquete,  die  Ermittlung  ökonomischer  und  sozialer 
Sachverhalte,  insbesondere  die  Untersuchung  von  Arbeits-  und 
Daseinsbedingungen  der  wirtschaftlich  schwächsten  Schichten 
einen  immer  breiteren  Raum  einnimmt,  zeigt  deutlich,  wie  die 
parlamentarische  Enquete  der  Kurve  folgt,  in  der  sich  die 
Sorgen  und  Wünsche  der  Gesamtheit  und  mit  ihnen  als  ihr 
Ausdruck  und  ihre  Erfüllung  die  Arbeiten  der  Parlamente  be 
wegen  oder  bewegen  sollen  ^). 

liehe  Zusammenhang  des  Enqueterechts  mit  der  IVIinisterverantwortlichkeit 
darin  zutage,  daß  die  Geltendmachung  der  letzteren  in  den  Anfängen  des 
festländischen  Konstitutionalismus  sich  der  Formen  der  parlamentarischen 
Untersuchung  bedient.  So  beantragte  in  der  Sitzung  der  „Chambre  introu- 
vable"  V.  23.  Dezember  1815  der  Deputierte  Bouville  die  Einsetzung  einer 
Kommission,  welche  die  Haltung  des  Ministeriums  in  der  Affäre  des  Generals 
Lavalette  untersuchen  und  der  Kammer  hierüber  berichten  sollte  (Arch. 
pari.  2me  serie  Bd  XV  S.  603).  Der  Ausschuß  beschloß,  der  Kammer  vor- 
zuschlagen, es  sei  der  Krone  mittels  Adresse  bekannt  zu  geben,  daß  der 
Justiz-  und  der  Polizeiminister  das  Vertrauen  der  Nation  verloren  haben 
(Arch.  pari.  a.  a.  0.  S.  606).  Dieser  Beschluß,  der  auf  die  Überlieferungen 
der  Constituante  zurückgriff,  blieb  unausgeführt:  s.  Michon,  Le  gouverne- 
ment  parlementaire  sous  la  Restauration,  Paris  1905  S.  100  ff.  Ungenau  die 
Darstellung  bei  Rudioff,  Die  Entstehung  der  Theorie  der  parlamentarischen 
Regierung  in  Frankreich,  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Staatswissenschaft  Bd  LXII 
S.  611  f.  —  Michon,  Enquetes  parlementaires,  unterscheidet  S.  9  ff,  richtig 
die  politische  Enquete,  deren  Ergebnisse  unter  Umständen  die  Erhebung  der 
Ministeranklage  zur  Folge  haben  können  und  zu  deren  Einleitimg  nach  gelten- 
dem französischem  Staatsrecht  beide  Kammern  befugt  wären,  von  der  „en- 
quete  judiciaire",  die  der  Senat  als  Staatsgerichtshof  durchzuführen  hat. 
Dagegen  beruhen  die  Ausführungen  bei  Degommier  S.  22  f.  u.  passim  auf 
der  Verwechslung  dieser  Sachverhalte.  Vgl.  Delpech  i.  d.  Revue  du  dr. 
publ.  et  de  la  science  politique  Bd  XXI  S.  338  N.  1.  Über  das  parlamen- 
tarische Enqueterecht  als  praktische  Konsequenz  der  Ministerverantwortlioh- 
s.  die  bei  Mancini-Galeotti,  Norme  ed  usi  del  Parlamento  Italiano,  Rom 
1887  S.  381  wiedergegebenen  Ausführungen  des  Senators  Vacca. 

0  Die  technischen  und  organisatorischen  Fragen  —  wie  namentlich 
Mündlichkeit  oder  Schriftlichkeit  der  Untersuchung,  Öffentlichkeit  oder  Nicht- 
öffentlichkeit  der  Verhandlungen  —  bleiben  hier  außer  Betracht:  s.  hiezu 
Cohn,  Über  parlamentarische  Untersuchungen  in  England,  Jena  1875  S.  lOff. ; 
Embden,  Cohn,  Stieda,  Das  Verfahren  l)ei  Enqueten  über  soziale  Ver- 
hältnisse. Drei  Gutachten,  Leipzig  1877;  Kämpfe,  Art.  Enquete,  Staatslexikon 
d.  Görres-Gesellschaft"  (Freiburg  i.  B.  1911)  Bd  H  S.  9  ff.;  Stieda  im  Hand- 
wörterbuch d.  Staatswissenschaften  ^  Bd  HI  S.  949  ff.  und  die  dort  angegebene 
Literatur;    Frommer,  Die  Gewinnbeteiligung  (Schmollers  Staats-  u.  sozial- 


Zweig",  Die  parlament.  Enciuete  mich  deutschem  und  österr.  Recht.      269 

Aber  noch  in  anderem  Sinn  liefert  dieses  Recht  einen 
Gradmesser  für  Stärke  und  Lagerung  der  in  einem  Staat  wirk- 
samen pohtischen  Spanuungsverhältnisse.  In  seinen  Schicksalen 
spiegelt  sich  gleichsam  mikrokosmisch  der  Entwicklungsgang 
der  parlamentarischen  Macht,  die  —  trotz  oder  wegen  der  Aus- 
breitung des  allgemeinen  Wahlrechts  —  keineswegs  im  Steigen 
begriffen  ist.  Es  eröffnet  ein  allerdings  bescheidenes  Demon- 
strationsfeld für  die  Erscheinung,  daß  dem  Fortschreiten  des 
Konstitutionalismus  in  immer  wachsendem  Maß  die  Tendenz 
entspricht,  den  Schwerpunkt  des  ganzen  staatlichen  Kräfte- 
systems in  die  Regierung  zu  verlegen  ^).  Der  Gang  der  folgen- 
den Untersuchung  wird  zeigen,  daß  das  Informationsbedürfnis 
der  Parlamente  immer  mehr  schwindet  und  die  Vorbereitung 
gesetzgeberischer  Aktionen  durch  Tatsachenermittlung  allmäh- 
lich in  die  Sphäre  der  Vollzugsgewalt  hinüberrückt,  wofür  die 
Übung  der  legislativen  Initiative  eine  naheliegende  und  in  der 
Wesens  Verwandtschaft  begründete  Analogie  bietet  2). 


wissenschaftliche  Forschungen  Bd  VI  H.  2),  Leipzig  1886  S.  4  ff.;  Lotz, 
Über  die  deutsche  Währungsenquete  v.  1894,  Schmollers  Jahrb.  Bd  XIX 
S.  182  f.;  Herkner,  Die  belgische  Arbeiterenquete  u.  ihre  sozialpolitischen 
Resultate,  Arch.  f.  soziale  Gresetzgebung  u.  Statistik,  Bd  I  S.  270  ff. 

^)  S.  Jellinek,  Die  Entwicklung  des  Ministeriums  in  der  konstitutio- 
nellen Monarchie,  Ausgewählte  Schriften  u.  Reden,  Berlin  1911  Bd  11  S.  107. 

*)  Das  Enqueterecht  wird  bei  Thonissen,  La  Constitution  beige  an- 
notee,  3me  ed.  Brüssel  1879  S.  155  als  natürliche  Folge  der  Initiative  be- 
zeichnet: die  Kammern  müssen,  wenn  sie  die  Befugnis  des  Gesetz  Vorschlags 
haben,  auch  in  der  Lage  sein,  sich  das  notwendige  Material  zur  Ausübung 
dieser  wichtigen  Prärogative  zu  verschaffen.  (Derselbe  Gesichtspunkt  wurde 
schon  bei  Beratung  des  Budgets  für  1865  in  der  belgischen  Kammer  geltend 
gemacht:  Salefranque  im  Bulletin  de  la  societe  de  legislation  comparee 
Bd  XXII  S.  598).  Vgl.  Degommier  S.  16;  Brunialti,  II  diritto  costitu- 
zionale  e  la  politica  nella  scienza  e  nelle  istituzioni,  Turin  ]  896  Bd  I  S.  846. 
Für  den  angedeuteten  Zusammenhang  ist  bezeichnend,  daß  die  parlamen- 
tarische Enquete  in  Frankreich  1852  zugleich  mit  der  parlamentarischen 
Initiative,  dem  Interpellationsrecht  und  der  Ministerverantwortlichkeit  ver- 
schwindet und  mit  diesen  Institutionen  am  Ende  des  zweiten  Kaiserreichs  wieder 
erscheint:  Esmein,  Elements  de  droit  constitutionnel  frangais  et  compare, ^ 
Paris  1909  S.  947  f.  Das  niederländische  Grondwet  v.  11.  Okt.  1848  gab  in 
Art.  90  bloß  der  Zweiten  Kammer  der  Generalstaaten  die  Befugnis  der  En- 
quete, Nur  diese  Kammer  besaß  die  Initiative  für  die  von  den  Generalstaaten 
an  den  König  gelangenden  Gesetzentwürfe  (Artt.  110,  111)  und  nach  dem  Ges. 
v.  22.  April  1855  das  Recht  der  Ministeranklage.  Die  Verfassungsrevision 
von  1887  hat  diesen  Zustand  teilweise  zugunsten  der  Ersten  Kammer  geändert 
und  dieser  auch  das  Enqueterecht  eingeräumt  (Grondwet  v.  15.  Nov.  1887 
Art.  95).  Vgl.  Karsten,  De  parlamentaire  enquete  in  de  constitutionele 
staten,  Utrecht  1860  S.  202  ff.;  de  Hartog,  Das  Staatsrecht  d.  Königreichs 


270      Zweig,  Die  parlaraent.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Von  einem  der  Kammer  oder  ihren  Ausschüssen  zustehenden 
Recht  kann  aber  auch  hier,  wie  immer  wenn  von  Rechten  des 
Parlaments  gesprochen  wird,  nur  im  uneigenthchen,  sozusagen 
populären  Sinn  die  Rede  sein.  In  Wahrheit  handelt  es  sich 
um  eine  Abbreviatur,  die  freilich  weitverbreiteten  und  tief- 
wurzelnden Irrtümern  Vorschub  geleistet  hat,  um  die  zusammen- 
fassende Bezeichnung  einer  bestimmten,  einem  Staatsorgan  zu- 
gewiesenen Funktion,  einer  organschaftlichen  Kompetenz,  die  der 
nichtwissenschaftlichen  Vorstellung  unter  dem  Bilde  des  sub- 
jektiven Rechts  erscheint,  weil  das  Moment  freier  Dispositions- 
macht über  den  Inhalt  der  in  Frage  kommenden  Befugnisse 
stärker  ins  Bewußtsein  gehoben  wird.  Der  Schein  trügt  auch 
in  der  juristischen  Erscheinungswelt.  Das  sogenannte  Recht 
der  Enquete  ist  nichts  andres  als  eine  durch  staatsrechthche 
Organisationsnormen  dem  Parlament  erteilte  Zuständigkeit,  auf 
welche  der  Begriff  des  subjektiven  Rechts  schon  deshalb  nicht 
angewendet  werden  kann,  weil  die  diesem  wesenthche  Zweck- 
beziehung auf  ein  rechtschutzbedürftiges  individuelles  Interesse 
fehlt.  Subjekt  des  der  Kompetenzübung  zugrundeliegenden 
Rechtes  ist  stets  die  mit  der  Kompetenzkompetenz  ausgestattete 
Persönlichkeit,  bei  Abgrenzung  staatlicher  Zuständigkeiten  also 
der  Staat,  Substrat  des  Rechtes  aber  ein  Stück  der  objektiven 
Rechtsordnung,  die  hier  als  Quelle  organisatorischer  Arbeits- 
teilung erscheint,  indem  sie  bestimmte  Organe  zur  Vornahme 
bestimmter  Akte  des  einheitlichen  Staatswillens  beruft,  ohne 
jedoch  diese  Berufung  in  der  Wirkungssphäre  der  Organe 
rechtlich  zu  lokalisieren.  Die  Auseinandersetzung  zwischen 
solchen  Organen  über  Art  und  Maß  ihrer  Kompetenz  ist  daher 
nicht  ein  Streit  über  den  Bestand  subjektiver  Rechte,  sondern 
ein  solcher  über  die  Bedeutung  objektiven  Rechts,  woraus  sich 
ergibt,  daß  eine  Regierung,  welche  die  der  Volksvertretung 
gesetzlich  gewährleistete  Untersuchungsfunktiou  etwa  durch 
passiven  Widerstand  zu  hemmen  sucht,  das  Gesetz  verletzt, 
nicht  aber  ein  Eigenrecht  des  Parlaments,  das  als  Staatsorgan 
überhaupt  niemals  Träger  solchen  Rechtes  sein  kann^). 


d.  Niederlande    (Handb.  d.  öff.  R.  d.  Gegenwart  Bd  IV,  1,  4),  Freiburg  i.  B. 
1886  S.  38  f. 

^)  Vgl.  Jellinek,  System  der  subjektiven  öffentlichen  Rechte",  Tü- 
bingen 1905  S.  227  ff.;  ders.,  Allgemeine  Staatslehre^  Berlin  1905  S.  547  f., 
551;  ders.,  Ausgewählte  Schriften  u.  Reden  Bd  11  S.  254  f.  (Für  unsere 
Frage  besonders  interessant  die  Ausführung  bei  Jellinek,  System  S.  228: 
durch  die  Möglichkeit,    daß    der  Staat  in    seinen  Organen   seine   einheitliche 


Zweic^,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      271 

Andrerseits  eröffnet  sich  grade  von  hier  aus  auch  die 
Möghchkeit  parlamentarischen  Unrechts  im  Sinn  der  Über- 
schreitung verfassungsmäßiger  Kompetenzen.  Da  die  Volks- 
vertretung in  ihrer  Informationsbefugnis  an  ihre  allgemeine 
Zuständigkeit  gebunden  ist,  jene  nur  als  Reflex  dieser  erscheint, 
handelt  sie  rechtswidrig  und,  sofern  diese  Beziehung  grund- 
gesetzlich fixiert  ist,  auch  verfassungswidrig,  wenn  sie  die 
Untersuchungsfunktion  über  den  Kreis  ihrer  ordentlichen  Zu- 
ständigkeit erstrecken  will^).  Ohne  Zweifel  bekundet  ein 
Parlament  durch  die  Handhabung  des  Enqueterechts  sein 
Verantwortungsgefühl  gegenüber  der  Öffentlichkeit  im  all- 
gemeinen und  seinem  Kreationsorgan  im  besondern.  Aber 
vom  Standpunkt  dieses  Organs,  also  namentlich  der  Wähler- 
schaft gesehen,  bildet  den  Inhalt  des  dem  Repräseutativorgan 
erteilten  Mandats  die  Erfüllung  seiner  von  Verfassungswegen 
vorgezeichneten,  nach  Gegenstand  und  Umfang  durch  Rechts- 
satz determinierten  Aufgabe.  So  wie  ein  Parlament  hinter 
dieser  zurückbleiben  und  durch  Vernachlässigung  seiner  Kompe- 
tenz, durch  NichtÜbung  seines  ,, Rechtes"  seine  ,, Pflicht"  ver- 
letzen kann,  so  macht  es  sich  eines  Mandatsexcesses  schuldig, 
wenn  es  mit  Ausnützung  gewisser  politischer  Augenblicks- 
konstellationen seine  Kompetenz  ohne  rechtliche  Deckung  zu 
erweitern  sucht.  Im  Bereich  des  parlamentarischen  Enquete- 
rechts ist  diese  Erscheinung  dort  zu  beobachten,  wo  sich  ein 
Parlament   aus    eigener    Macht  als   Standesgericht   konstituiert 

Persönlichkeit  gleichsam  spaltet  und  so  sich  selbst  als  ein  von  sich  ver- 
schiedenes Wesen  gegenübertritt,  ist  es  zu  verstehen,  vrieso  eine  Behörde 
bei  der  anderen  sich  informieren  kann.)  —  Eine  kritische  Auseinander- 
setzung mit  der  Theorie  von  der  Organpersönlichkeit  und  dem  Recht  auf 
Organstellung  würde  den  Rahmen  der  vorliegenden  Aufgabe  überschreiten. 
Das  Bemühen  Kelsens,  diese  Theorie  zu  galvanisieren  (Hauptprobleme  der 
Staatsrechtslehre,  Tübingen  1911  S.  521  ff.),  —  wofür  in  der  Hauptsache 
Tezners  Ausführungen  in  Grünhuts  Zeitschr.  Bd  XXI  S.  150  ff.,  183  ff.  den 
dialektischen  Apparat  geliefert  haben,  —  ist  m.  E.  ein  Versuch  mit  untaug- 
lichen Mitteln,  dessen  Erkenntniswert  sich  schon  danach  abmißt,  daß  der 
Autor  die  Faktoren  der  Gesetzgebung  nicht  als  Staatsorgane  gelten  läßt,  im 
übrigen  den  Staatsorganen  zwar  Persönlichkeit  im  Rechtssinn  zuschreibt, 
in  einem  Atem  jedoch  subjektive  Rechte  auf  Organstellung  abspricht 
(S.  467  f.,  665  f.).  Das  ist  in  der  Tat  die  Konstruktion  mit  der  einfachen, 
aber  schiefen  Ebene. 

')  Hello,  Du  regime  constitutionnel  dans  ses  rapports  avec  l'etat 
actuel  de  la  science  sociale  et  politique,  3me  ed.  Paris  1848  Bd  II  S.  118:  .  ,  . 
„Cette  enquete  (ordonnee  par  une  des  Chambres  pour  s'eclairer  sur  la 
matiere  de  ses  deliberations)  est  legitime  ä  une  condition,  c'est  que  l'acte 
auquel  eile  se  rattache  soit  de  la  competence  de  la  Chambre." 


272      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

und  über  seine  Disziplinargewalt  hinaus  das  Verhalten  seiner 
Mitglieder  zum  Gegenstand  einer  Untersuchung  macht.  Diese 
sogenannten  Personalenqueten  lassen  sich  nur  rechtfertigen, 
wenn  und  soweit  dem  betreffenden  Vertretungskörper  überhaupt 
eine  Jurisdiktion  über  seine  Angehörigen  zusteht,  wie  dies 
z.  B.  in  England  kraft  Gewohnheitsrechts  gilt  und  in  Italien 
durch  eine  freilich  nicht  unbestrittene  Praxis  anerkannt  ist^). 
Man  geht  übrigens  nicht  fehl,  wenn  man,  ganz  abgesehen  von 
der  Rechtsfrage,  solche  Maßnahmen  als  Entartungen  des  politi- 
schen Trieblebeus  beurteilt.  Unter  dem  Schein,  die  Würde  des 
Hauses  zu  wahren,  dienen  sie  in  der  Regel  der  Befriedigung 
taktischer  Interessen  oder  persönhcher  Ranküne ;  sie  sind  nicht 
auf  Tatsachen,  sondern  gegen  Individuen  gerichtet  und  zählen 
zu  den  in  jedem  Sinn  gehässigsten  Ausdrucksformen  des 
Parteiwesens  2). 

Der  deutsche  Typus  des  konstitutionellen  Staates  bot, 
zumindest  in  den  Anfängen  der  Entwicklung,  dem  parlamen- 
tarischen Untersuchungsrecht  nur  dürftigen  Raum.  Die  mehr 
oder  weniger  bewußte  Anknüpfung  an  die  Ständezeit,  deren 
Erfahrungen  und  Eindrücke  bestimmend  wurden  für  Bildung 
und  Wirkungskreis  der  ersten  deutschen  Volksvertretungen,  war 
dem  Gedanken  einer  Kontrollbefugnis  dieser  Körperschaften 
in  welcher  Form  und  Art  immer  überhaupt  nicht  günstig 3). 
Der  Grundsatz,  daß  im  Zweifel  die  Vermutung  für  das  Recht 
der  „Landeshoheit"  gegen  die  ,, Landesfreiheiten"  gilt,  wurde 
aus  der  älteren  landständischen  Verfassung  auf  die  Beziehungen 
des     konstitutionellen    Monarchen     zur    Volksvertretung    über- 


*)  Das  englische  Unterhaus  legt  seinem  Erkenntnis  auf  Ausstoßung 
eines  Mitgliedes  mitunter  den  Bericht  einer  Enquetekommission  zugrunde: 
s,  May,  A  treatise  on  the  law,  privileges,  proceedings  and  usage  of  Parliament 
llth  ed.,  London  1906  S.  57  u.  N.  12;  Eedlich,  Eecht  u.  Technik  d.  eng- 
lischen Parlamentarismus,  Leipzig  1905  S.  623  f.  Über  die  Personalenqueten 
des  italienischen  Parlaments  s.  Mancini-Galeotti .  Norme  ed  usi  S.  396  ff.; 
Eacioppi-Brunelli,  Commento  Bd  III  S.  171  ff,;  Brunialti  a.  a.  0. 
S,  849  ff.  Vgl.  ferner  Michon,  Enquetes  parlementaires  S.  14  ff.  und  gegen 
die  sporadischen  Versuche  solcher  Personalenqueten  in  der  fi-anzösischen 
Deputiertenkammer  Degommier  S.  26  ff. 

^)  Eichtig  sagt  Degommier  S.  31  von  einer  Enquete  solcher  Art: 
„Elle  constitue  une  sorte  de  detournement  de  pouvoirs,  en  faisant  servir  un 
droit  donne  ä  la  Chambre  ä  un  but  autre  que  celui  dans  lequel  ü  lui  etait 
confie." 

*)  Vgl.  Jellinek,  Die  Entwicklung  des  Ministeriums  in  der  kon- 
Btitutionellen  Monarchie,  Ausgewählte  Schriften  u.  Eeden  a,  a.  0,  S.  133. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  ÖBterr.  Recht.      273 

tragen^).  Neben  dieser  oft  ausdrücklich  betonten  Rechts- 
kontiuuität  fällt  entscheidend  ins  Gewicht,  daß  das  monarchische 
Prinzip,  das  in  der  Wiener  Schlußakte  zu  einem  in  seiner 
Vieldeutigkeit  verhängnisvollen  Satz  des  Bundesrechts  erhoben 
wurde,  den  Hauptakzent  des  gesamten  öffentlichen  Wesens  dem 
Souverain  zuschiebt  und  diesen  oder  seine  Regierung  nur  in 
Ausübung  bestimmter  Rechte  an  die  Mitwirkung  repräsentativer 
Organe  bindet  2).  Es  ist  unter  diesem  Gesichtspunkt  be- 
zeichnend, daß  grade  die  älteste  Verfassung  auf  deutschem 
Boden,  Carl  Augusts  Grundgesetz  für  Sachsen- Weimar,  also  eine 
der  Wiener  Schlußakte  vorangehende  Kodifikation,  der  Ver- 
sammlung der  Landstände  das  Recht  gewährt,  wo  sie  es  für 
dienhch  findet,  Ausschüsse  zur  Anstellung  von  Untersuchungen 
niederzusetzen  3).  Der  Fall  bleibt  indes  vereinzelt*)  und  so 
lange  die  Verfassungsbewegung  in  den  Bahnen  der  französischen 
Charte  ging,  —  die  ja  der  Wiener  Schlußakte  das  mon- 
archische Prinzip  als  obersten  konstitutionellen  Grundsatz  ver- 
mittelt hatte  ^),  —  waren  die  Kammern,  gleichsam  die  lebendigen, 


^)  Kl  üb  er,  öffentliches  Recht  d.  Teutschen  Bundes  und  der  Bundes- 
staaten*, Frankfurt  1840  S.  449;  Zachariä,  Deutsches  Staats-  und  Bundes- 
recht^  Göttingen  1865/67  T.  I  S.  647  f.;  Zöpfl,  Grundsätze  d.  gemeinen 
deutschen  Staatsrechts*,  Leipzig  und  Heidelberg  1863  T.  11  S.  200,  245  ff. 

^)  Vgl.  Jellinek,  Regierung  u.  Parlament  in  Deutschland,  Leipzig  u. 
Dresden  1909  S.  7  f. 

^)  Grundges.  über  die  landständische  Verfassung  des  Großherzogtums 
Sachsen-Weimar-Eisenach  v.  5.  Mai  1816  §  91.  Nach  der  geltenden  Ver- 
fassung hingegen  hat  der  Landtag  bloß  das  Recht,  dem  Großherzog  Vortrag 
zu  tun  über  Mängel  und  Mißbräuche  in  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung 
des  Landes  mit  gutachtlichen  Vorschlägen  zur  Abstellung  derselben:  Revi- 
diertes Grundges.  v.  15.  Oktober  1850  §  4  P.  4,  §§  45,  46.  Nur  der  zur 
Vorerörterung  einer  Ministeranklage  eingesetzte  Ausschuß  hat  das  Recht, 
nicht  bloß  von  jeder  Staatsbehörde  die  die  Anklagepunkte  betreffenden 
Akten  und  Urkunden  einzufordern,  sondern  auch  Zeugen  zu  vernehmen  und 
Sachverständige  zuzuziehen:  Ges.  über  Erhebung  von  Anklagen  gegen  Minister 
V.  22.  Okt.  1850  §  3  Abs.  2. 

*)  Wenn  die  Thronrede,  mit  welcher  die  allgemeine  Ständeversammlung 
des  Königreichs  Hannover  nach  Herstellung  der  alten  Landschaftsverfassung 
im  Jahre  1814  begrüßt  wurde,  davon  sprach,  daß  die  Versammlung  dem 
König  das  sein  soll,  „was  in  dem  mit  uns  verschwisterten  Großbritannien 
das  Parlament  ist,  der  hohe  Rat  der  Nation",  so  wollte  diese  rhetorische 
Wendung,  wie  sich  alsbald  zeigte,  keineswegs  besagen,  daß  den  Ständen  die 
Attribute  des  englischen  Parlaments,  darunter  also  auch  das  Untersuchungs- 
recht, eingeräumt  werden:  s.  v.  Meier,  Hannoversche  Verfassimgs-  und 
Verwaltungsgeschichte  1680—1866,  Leipzig  1898  Bd  I  S.  397. 

*)  Jellinek  a.  a.  0.  S.  6;  Allgemeine  Staatslehre^  S.  456;  Kaufmann, 
Studien  zur  Staatslehre  d.  monarchischen  Prinzips,  Diss.  Leipzig  1906  S.  46. 
Zeitschrift  für  PoUtik.    6.  18 


274      Zwei^,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

stets  mahnenden  Zeugen  halb  erzwungener  Selbstverleugnung 
der  monarchischen  Gewalt,  auf  Mitwirkung  beschränkt  und 
eben  deshalb  von  jeder  eigentlichen  Wirkung  ausgeschlossen. 
Auch  nach  der  Meinung  hberaler  Staatslehrer  sollten  sie  bloß 
„mitgesetzgebend,  gesetzwahrend,  aber  eben  darum  nicht  mit- 
regierend, nicht  mitverwaltend  sein"^),  und  die  Sicherung  und 
Anerkennung  dieser  kümmerlichen  Zuständigkeit,  zu  deren 
Ungunsten  eine  bundesrechtliche  Vermutung  galt,  nahm  ihre 
Kraft  und  ihr  Interesse  zuvörderst  so  sehr  in  Anspruch,  daß 
von  einer  Aus-  und  Durchbildung  ihrer  verfassungsmäßigen 
Stellung,  etwa  im  Sinn  eines  Informationsrechts  mit  korre- 
spondierender Auskunftspflicht  der  Regierung  keine  Rede 
sein  konnte. 

Die  zentrale  Bedeutung  aber,  welche  schon  damals  der 
parlamentarischen  Enquete  im  Triebwerk  des  englischen  Ver- 
fassungslebens zukam,  war  der  deutschen  Staatstheorie  jener 
Tage  ebenso  unbekannt  wie  das  eigentliche  Wesen  der  parla- 
mentarischen Regierung  überhaupt,  als  deren  Ausstrahlung  und 
Symptom  das  Untersuchungsrecht  zu  gelten  hat  2).  Nur  so  ist 
zu  begreifen,  daß  Dahlmann,  ohne  Frage  einer  der  besten 
Kenner  englischen  Verfassungswesens,  in  seiner  ,, Politik",  die 
er  doch  auf  den  Grund  und  das  Maß  der  gegebenen  Zustände 
zurückführen  will,  die  parlamentarische  Enquete  auch  nicht 
mit  einem  Wort  erwähnt.  Rotteck  spricht  zwar  von  dem 
den  Landständen  gebührenden  Recht,  von  allem  Kenntnis  zu 
nehmen,  ,,was  im  Staate  vorgeht  oder  ist,  insofern  solches  auf 
den  Zweck  des  Staates  Bezug  hat  oder  auf  die  Ausübung  oder 
Richtung  einer  der  den  Landständen  zustehenden  Befugnisse 
von  Einfluß  sein  kann".  Aber  er  beeilt  sich  hinzuzufügen, 
daß  dieses  Recht  nicht  mit  dem  unmittelbaren  Aufsichts-  und 
Inspektionsrecht  der  Regierung  gleichbedeutend,  d.  h.  in  der 
Regel  nicht  mit  selbsteigener  Untersuchungsgewalt  verbunden 
ist,  vielmehr  meist  nur  darin  besteht,  daß  die  Regierung  den 
Ständen  ,, nichts  verheimlichen  darf,  sondern  alle  zur  Darstellung 
der  Lage  des  Staates  und  der  von  den  Ständen  zu  vertretenden 
Interessen  nötigen  Weisungen,  Aufklärungen,  Aktenstücke,  Ur 


0  Dahlmann,  Die  Politik  auf  den  Grund  und  das  Maß  der  gegebenen 
Zustände  zurückgeführt,  Bdl^  Leipzig  1847  S.  165. 

^)  Vgl.  Jellinek,  Ausgew.  Schriften  und  Eeden  a.  a.  0.  S.  286.  tJber 
die  mißverständliche  Auffassung  englischer  Verfassungsverhältnisse  in  der 
kontinentalen  Staatslehre  vor  und  zur  Zeit  der  Julirevolution  vgl.  Jellinek, 
Parlament  vmd  Regierung  S.  12  ff.,  16  f. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht.      275 

künden  usw.  auf  Verlangen  vorlegen  muß,  und  daß  auf  ihre 
Aufforderungen  die  nötigen  Untersuchungen  von  seite  der 
Regierung  zu  veranstalten  sind"  i).  Damit  beschreibt  Rotteck 
im  wesentlichen  den  verfassungsmäßigen  status  causae  —  von 
einem  status  controversiae  kann  nicht  gesprochen  werden  — 
für  seine  Zeit.  Die  Volksvertretung  wird,  soweit  es  sich  um 
Abstellung  von  Mißbräuchen  und  Mängeln  in  Rechtspflege  und 
Verwaltung  handelt,  ledighch  auf  die  Übung  eines  Beschwerde- 
oder Anzeigerechts  verwiesen,  dem  die  gTundgesetzliche  Pflicht 
des  Ministeriums  entspricht,  Auskunft  zn  erteilen,  die  vorge- 
brachte Beschwerde  zu  untersuchen  und  gegebenenfalls  ihr  ab- 
zuhelfen 2).     Die   hannoverschen   Verfassungsgesetze   von  1833 


^)  Lehrbuch  des  Vernunftrechts  und  der  Staatswissenschaften',  Stuttgart 
1840  Bd  n  S.  256.  Die  gleiche  Auffassung  noch  bei  v.  Kaltenborn,  Ein- 
leitung in  das  konstitutionelle  Verfassungsrecht,  Leipzig  1863  S.  89:  daa 
Kontrollrecht  der  Volksvertretung  habe  nicht  die  Bedeutung,  daß  zu  Kontroll- 
zwecken jeder  Beamte,  jede  Behörde  des  Staates  unmittelbar  von  der  Volks- 
vertretung zur  Rechenschaft  gezogen  werden  dürfe,  wodurch  die  ganze  Ord- 
nung der  Staatsverwaltung  durchbrochen  würde;  regelmäßig  habe  diese 
Kontrolle  durch  Vermittlung  der  staatlichen  Zentralbehörden  zu  erfolgen 
und  die  Volksvertretung  höchstens  durch  eine  Kommission  aus  ihrer  Mitte 
dabei  mitzuwirken.  —  Ganz  vereinzelt  ist  die  Meinung  Zöpfls  a.  a.  0. 
S.  442  f.,  der  das  Enqueterecht  in  unmittelbare  Verbindung  mit  dem  ständischen 
Recht  zur  Annahme  von  Beschwerden  bringt,  zu  deren  Untersuchung  die 
Kommissionen  dienen  sollen. 

*)  S.  z,  B,  Sachsen-Meiningensches  Grundges.  v.  23.  Aug.  1829  Art.  87; 
Badische  Verf.Urk.  v.  22.  Aug.  1818  §  67  (hierüber  Walz,  Das  Staats- 
recht d.  Großherzogtums  Baden,  Tübingen  1909  S.  78  f.) ;  Württembergische 
Verf.Urk.  v.  25.  Sept.  1819  §  124;  Verf.  d.  Königreichs  Sachsen  v.  4.  Sept.  1831 
§  109  Abs.  2;  Grundges.  f.  d.  Herzogtum  Sachsen-Altenburg  v.  29.  April  1831 
§  215;  Entwurf  der  Verf.Urk.  f.  d.  Fürstentum  HohenzoUern-Sigmaringen 
V.  J.  1832  §  70;  Kurhessische  Verf.  v.  13.  April  1852  §  77.  So  auch  noch 
Liechtensteinsches  Verf.Ges.  v.  26.  Sept.  1862  §  42.  —  In  Bayern  (Verf.Urk. 
T.  X  §  5)  ist  das  Beschwerderecht  der  Kammern  (wohl  auch  das  Recht  der 
Beschwerde  an  die  Kammern  nach  T.  VIT  §  21)  auf  den  Fall  der  Ver- 
fassungsverletzung beschränkt:  v.  Seydel,  Bayerisches  Staatsrecht^,  Frei- 
burg i.  B.  u.  Leipzig  1896  Bd  I  S.  373  ff.,  386  ff.;  ders..  Das  Staatsrecht  d. 
Königreichs  Bayern^  (Handb.  d.  öff.  Rechts  ü,  4)  Tübingen  u.  Leipzig  1903 
S.  54  ff.  Das  „Mitaufsichtsrecht"  der  braunschweigschen  Landesversammlung 
umfaßt  die  Befugnis,  „wegen  bemerkter  Mängel  oder  Mißbräuche  bei  der 
Gesetzgebung,  Rechtspflege  und  Verwaltung  der  öffentlichen  Angelegenheiten 
Vorträge  an  die  Landesregierung  zu  richten  und  sich  über  deren  Abstellung 
gutachtlich  zu  äußern":  Neue  Landschafts-Ordnung  v.  12.  Okt.  1832  §  106 
(übereinstimmend  mit  §  30  der  Erneuerten  Landschafts-Ordnung  v.  25.  April 
1820;  ähnlich  nach  geltendem  sachsen-weimarschem  Recht:  s.  oben  S.  273  N.  3). 
Vgl.  Rhamm,  Die  Verfassungsgesetze  des  Herzogtums  Braunschweig  ^,  Braun- 
schweig 1907  S.  189. 

18* 


276      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

und  1840  fügen  ausdrücklich  hinzu,  daß  den  Ständen  über 
dieses  Recht  der  Beschwerde  hinaus  eine  Einmischung  in  die 
Verwaltung  nicht  zusteht  ^).  Die  Landtage  wie  ihre  Ausschüsse 
haben  sich  behufs  Erlangung  von  Informationen  an  die  Re- 
gierung und  bloß  an  sie  zu  wenden  2).     Überall  das  ängstliche 


^)  Grundges.  v.  26.  Sept.  1833  §  90;  ebenso  Landesverfassungsges.  v. 
6.  Aug.  1840  §  125.  Doch  hat  die  zweite  Kammer  1835  die  Bildung  einer 
Kommission  beschlossen,  welche  prüfen  sollte,  ob  die  seit  dem  Staatsgrund- 
gesetz erlassenen  Gesetze  und  Verordnungen  mit  den  von  der  Ständever- 
sammlung angenommenen  Prinzipien  übereinstimmten:  v.  Meier  a.  a.  0.  S.  401. 
Ebenso  hat  die  zweite  Kammer  im  J.  1841  eine  Kommission  behufs  Zusammen- 
stellung, Prüfung  und  Bearbeitung  der  verschiedenen  Landesbeschwerden 
eingesetzt.  In  der  Debatte  wurde  diese  Kommission  als  „eine  Art  von  Wohl- 
fahrtsausschuß" bezeichnet  und  die  Besorgnis  ausgesprochen,  daß  „die  An- 
ordnung einer  derartigen  Generalrevision  und  Generalkontrolle  aller  Hand- 
lungen der  Regierung  und  des  Königs  Selbst  einen  höchst  offensiven  Charakter 
annehmen  werde".  Ein  Antrag  auf  Berufung  einer  gemeinschaftlichen 
Kommission  beider  Kammern  wurde  abgelehnt:  s.  Hannoversches  Portfolio, 
Bd  IV  (Stuttgart  1840)  S.  269,  278  ff.,  288  ff.,  300.  Das  Ges.  verschiedene 
Änderungen  des  Landesverfassungsgesetzes  betreffend  v.  5,  Sept.  1848  verbot 
(§  75  Abs,  2)  gleichfalls  der  allgemeinen  Ständeversammlung,  sich  über  den 
Vortrag  von  Beschwerden  und  Wünschen  hinaus  in  die  Landesverwaltung 
einzumischen.  Den  Ausschüssen  der  Ständeversammlung  war  nach  §  72 
Abs.  2  der  Geschäftsordnung  v,  7.  Februar  1850  das  Recht  eingeräumt,  Sach- 
verständige unter  Vermittlung  der  Regierung  beizuziehen. 

^)  Zöpfl  a.  a.  0.  S.  331,  352.  Vgl.  bayrisches  Edikt  über  die  Stände- 
versammlung v.  26.  Mai  1818  §  35;  Edikt  über  die  Geschäftsordnung  für 
die  Kammer  der  Abgeordneten  v.  28.  Febr.  1825  §  78  (so  auch  nach  geltendem 
Recht:  Ges.  den  Geschäftsgang  des  Landtags  betreffend  v.  19.  Jan.  1872 
§  32).  S.  ferner  Verf.-Urk.  f.  d.  Kurfürstentum  Hessen  v.  5.  Jan.  1831  §  93 
(die  jedoch  den  landständischen  Kommissionen  behufs  Erlangung  der  not- 
wendigen Aufklärungen  zur  Ermittlung  des  Steuerbedarfs  gestattet,  sich  un- 
mittelbar an  die  einschlägigen  Behörden  zu  wenden) ;  hannoversches  Grundges. 
V.  1833  §  112  (übernommen  in  die  Verf.-Urk.  v.  13,  April  1852  §§  72,  73); 
Verf.-Urk.  f.  Anhalt-Dessau  v.  29.  Okt.  1848  §  52;  Landesverf.-Ges.  f.  Anhalt- 
Bernburg  V.  28.  Februar  1850  §  71.  Nach  §  83  der  Geschäftsordnung  für 
die  braunschweigsche  Landesversammlung  v.  12.  Okt.  1832  (herübergenommen 
in  §  75  der  Gesch.-O.  v.  20.  Jan.  1893)  darf  die  Landesversammlung  nur  an 
den  Landesfürsten  oder  das  Staatsministerium  Anträge  richten,  dagegen  mit 
keiner  andern  Landesbehörde  in  irgendeine  Geschäftsverbindung  treten. 
Hiedurch  ist  nach  Rhamm,  Das  Staatsrecht  d.  Herzogtums  Braunschweig 
(D.  öff.  R.  d.  Gegenwart  Bd  IV),  Tübingen  1908  S.  21  N.  1  das  Recht  der 
Enquete  ausgeschlossen.  Vgl.  Otto,  D.  Staatsrecht  d.  Herzogtums  Braun- 
schweig (bei  Marquardsen  Bd  HI,  H,  1),  Freiburg  i.  B.  und  Tübingen  1884 
S.  123  u.  N.  2,  der  in  den  angezogenen  Geschäftsordnungsbestimmungen 
einen  indirekten  Ausdruck  des  Grundsatzes  erblickt,  daß  die  Landesvertretung 
nicht  zur  Ausübung  der  Staatsgewalt  berufen  ist  und  nicht  unmittelbar  in 
die  Staatsverwaltung  eingreifen  darf. 


Zweig,  Die  parlament.  Enciuete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      277 

Bemühen,  die  Volksvertretung  zu  isolieren  und  ihrer  Wirksam- 
keit grade  nur  das  Minimum  dessen  anheim  zu  geben,  was 
der  landläufige  Begriff  des  Konstitutionalismus  fordert^). 

Das  ändert  sich  ganz  unvermittelt,  ohne  erkennbaren  Über- 
gang in  und  mit  dem  großen  Völkersturm  der  deutschen  Re- 
volution. Kraft  jener  antithetischen  Dialektik,  die  anscheinend 
auch  im  Bereich  staatlichen  Lebens  die  Entwicklung  der  Tat- 
sachen und  Vorstellungen  beherrscht,  wird  jetzt  unter  dem 
Einfluß  wiederauftauchender  naturrechtlicher  Doktrinen,  der 
Lehre  von  der  vertragsmäßigen  Staats-  und  Verfassungsbildung 
durch  ursprünglich  freie  Individuen,  von  der  Volkssouveränetät 
und  dem  nationalen  pouvoir  constituant,  der  Schwerpunkt  in 
die  Selbstbestimmung  der  Gesamtheit  verlegt.  Ihr  repräsenta- 
tives Organ  wird  in  gewollter  Abkehr  von  der  historischen  Über- 
heferung  mit  einer  Fülle  von  Kompetenzen  ausgestattet,  in 
deren  Rahmen  nunmehr  auch  Einrichtungen  ihre  Stätte  finden, 
welche  bestimmt  und  geeignet  sind,  die  Vollzugsgewalt  formell 
in  Abhängigkeit  von  der  Volksvertretung  zu  bringen,  dieser 
aber  zugleich  materiell  eine  Ingerenz  auf  Inhalt  und  Richtung 
der  Verwaltungstätigkeit  zu  sichern.  Alles  Mißtrauen,  von  dem 
bis  dahin  die  Regierungen  in  ihrem  Verhältnis  zum  kollegialen 
Mitgesetzgeber  geleitet  waren,  scheint  sich  jetzt  mit  einer  durch 
die  radikale  Grundstimmung  jener  Tage  verschärften  Hast  und 
Heftigkeit  gegen  die  Regierungen  zu  wenden,  und  alle  Aus- 
drucksmittel dieses  Mißtrauens,  welche  die  politische  Theorie 
seit  den  großen  Revolutionen  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
bereithielt,  finden  Aufnahme  in  die  ephemeren  staatsrechtlichen 
Schöpfungen,  die  dem  Völkerfrühling  ihr  Dasein  verdanken 
und  mit  ihm  verweht  sind.  In  der  Verfassungskrise  des 
Jahres  1848  läßt  sich  deutlich  erkennen,  wie  der  Kerngedanke 
des  parlamentarischen  Regierungssystems,  das  schon  dem  Worte 
nach  ein  Ineinanderarbeiten,  ein  Ineinanderaufgehen  von  Legis- 


^)  Der  von  Hanns  Georg  v.  Carlowitz  herrührende  Verfassungsentwurf 
für  das  Königreich  Sachsen  gewährte  in  §  120  jedem  von  den  Ständen  zu 
einer  vorbereitenden  Arbeit  oder  Geschäftseinleitung  gewählten  Ausschuß  das 
Recht,  zur  Erlangung  der  ihm  nötig  erscheinenden  Aufschlüsse  über  die  ihm 
vorliegenden  Gegenstände  mit  den  betreffenden  Staatsbehörden  sich  mündlich 
oder  schriftlich  zu  benehmen  und  die  persönliche  Zuziehung  der  dazu  sich 
hauptsächlich  eignenden  Staatsbeamten  bei  dem  Vorstande  der  Behörde  zu 
veranlassen  (bei  v.  Witzleben,  Die  Entstehung  der  konstitutionellen  Ver- 
fassung des  Königreichs  Sachsen,  Leipzig  1881  S.  349).  Die  Schlußredaktion 
der  Verfassungsurkunde  hat  auch  dieses  Rudiment  eines  Informationsrechts 
beseitigt. 


278      Zweig,  Die  parlameut.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

lative  und  Executive  bedeutet  und  bezweckt,  durch  die  über- 
kommenen, sozusagen  gefühlsmäßigen  Voraussetzungen  und 
Folgerungen  der  modernen  Demokratie  in  sein  Gegenteil  ver- 
kehrt wird.  Denn  es  ist  klar,  daß  dieser  grundsätzliche  Ver- 
dacht gegen  alles,  was  von  der  Vollzugsgewalt  ausgeht,  — 
mochte  er  auch  grade  in  Deutschland  vielfältig  durch  die 
Erfahrung  gerechtfertigt  sein,  —  ein  beständiges  Gegeneinander- 
wirken  von  Regierung  und  Volksvertretung  zur  Folge  hat  und 
daß  der  demokratische  Kanon,  indem  er  dergestalt  die  Summe 
der  politischen  Arbeitsleistung  in  ihre  Komponenten  zerlegt, 
sicherlich  ohne  es  zu  ahnen,  die  mittelalterliche  Dualisierung 
des  Staates,  die  Scheidung  von  rex  und  regnum  fortsetzt  statt 
sie  zu  überwinden.  Das  soll  eine  Feststellung  sein,  keine 
Kritik  ^).  Wobei  nur  noch  anzumerken  wäre,  daß  jenes  Kontroll- 
bedürfnis, ein  gemeinsamer  Familienzug  aller  demokratischen 
Bekenntnisse,  sich  nach  seinem  Gegenstande  differenziert:  in 
Europa  macht  sich  die  überwachende  und  einschränkende 
Tendenz  im  Verhältnis  von  Repräsentativorgan  und  Staats- 
leitung geltend,  in  Amerika  hat  man  Eifersucht  und  Argwohn 
in  staatlichen  Dingen  sozusagen  auf  breiter  Grundlage  orga- 
nisiert und  das  Gesamtvolk  schon  seit  den  Anfängen  der  Union 
von  Verfassungswegen  dazu  erzogen,  vor  seinen  Vertretungs- 
körpern auf  der  Hut  zu  sein  2). 

Es  lag  in  der  Linie  der  angedeuteten  Entwicklung,  daß 
die  deutsche  konstituierende  Nationalversammlung  das  parla- 
mentarische Untersuchungsrecht  zum  Rang  einer  grundgesetz- 
Hchen  Einrichtung  erhob.  Schon  die  Geschäftsordnung,  die 
im  wesentlichen  von  Robert  Mohl  ausgearbeitet  und  auch  von 
ihm  als  Berichterstatter  vertreten  wurde,  enthielt  die  Bestim- 
mung,   daß    die    Versammlung    einem    Ausschusse    das  Recht 


^)  Eine  solche  Kritik  liegt  in  der  Bemerkung  Hegels,  „daß  es  zu  der 
Ansicht  des  Pöbels,  dem  Standpunkt  des  Negativen  überhaupt  gehört,  bei 
der  Regierung  einen  bösen  oder  weniger  guten  Willen  vorauszusetzen  .... 
der  Glaube  an  die  Notwendigkeit  dieses  feindseligen  Verhältnisses  (von  Re- 
gierung und  Ständen)  ist  ein  trauriger  Irrtum"  :  Grundlinien  der  Philosophie 
des  Rechts  §  302  und  Zusatz;  vgl.  §§  244,  272.  Mit  gradezu  paradig- 
matischer  Deutlichkeit  erscheint  das  Mißtrauen  gegen  die  Regierung  als 
Maxime  des  politischen  Verhaltens  bereits  im  württembergischen  Verfassungs- 
konflikt; es  wird  von  den  „Altrechtlern"  in  ein  förmliches  System  gebracht: 
List,  Der  Kampf  ums  gute  alte  Recht  (1815—1819),  Tübingen  1913  S.  49  f.,  67. 

*)  Vgl.  meine  Studien  und  Kritiken,  Wien  u.  Leipzig  1907  S.  159  f.; 
meine  Lehre  vom  Pouvoir  Constituant,  Tübingen  1909  S.  408  und  die  dort 
angegebene  Literatur. 


Zweig,  Die  parlainent.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      279 

einräumen  kann,  Zeugen  und  Sachverständige  vorzufordern,  zu 
vernehmen,  vernehmen  zu  lassen  oder  mit  Behörden  in  Ver- 
bindung zu  treten  1).  Diese  zunächst  als  Ausnahme  gedachte 
Befugnis  wurde  bald  sämtlichen  Kommissionen  der  National- 
versammlung ein  für  allemal  auch  ohne  vorherige  Einholung 
eines  Plenarbeschlusses  beigelegt,  da  ein  Mißbrauch  dieses 
Rechtes  nicht  zu  besorgen  war,  es  vielmehr  im  Interesse  jedes 
Ausschusses  und  seiner  Arbeiten  gelegen  schien,  eine  unnötige 
Zeugen-  und  Sachverständigenladung,  sowie  den  überflüssigen 
Verkehr  mit  Behörden  zu  vermeiden  2.)  Schon  früher  war  die 
Frage,  ob  und  wieweit  einer  Kommission  die  in  der  Geschäfts- 
ordnung vorgesehene  Ermächtigung  zu  erteilen  sei,  aktuell  ge- 
worden. In  der  Verhandlung  über  den  Antrag  des  Vizepräsi- 
denten Simson,  das  Begehren  des  Frankfurter  Kriminal- 
gerichts wegen  Auslieferung  mehrerer  Abgeordneter  einem  Aus- 
schuß zur  Begutachtung  zuzuweisen,  nahm  Ludwig  Simon 
für  diesen  Ausschuß  das  Recht  in  Anspruch,  die  Beteiligten 
vorzufordern  und  Zeugen  selbst  oder  im  Requisitionsweg  zu 
vernehmen  3).  Dagegen  erklärte  sich  der  Abgeordnete  Pia thner 
mit  der  Begründung:  ,,Wir  haben  nur  zu  prüfen,  ob  die  Ge- 
richte mit  Recht  die  Verhaftung  beantragen.  Aber  daß  wir 
uns  als  ein  Gericht  etablieren,  daß  wir  Zeugen  vernehmen, 
das  ist  nicht  die  Stellung,  die  wir  den  Gerichten  gegenüber 
einzunehmen  haben."  In  der  Sache  übereinstimmend  warnte 
V.  Vincke  die  Nationalversammlung,  den  Gerichten  vorzugreifen 
und  deren  Befugnisse  zu  beeinträchtigen;  es  könne  nur  die 
Aufgabe  der  Versammlung  sein,  sich  darüber  zu  informieren, 
ob  der  Richter  rechtlich  verfahren  ist,  ob  die  Vernehmungen 
der  Zeugen  in   der   rechten  Form   geschehen  sind*).     Endlich 


^)  §  24.  (Wigard),  Stenographischer  Bericht  über  die  Verhandlungen 
der  deutschen  konstituierenden  Nationalversammlung  zu  Frankfurt  a.  M.  S.  164. 

^)  Antrag  Eisenmann  und  Genossen.  S.  hierüber  den  Bericht  der 
Geschäftsordnungskommission  i.  d.  Sitzg.  v.  7.  Nov.  1848,  Sten.  Ber.  S.  3138. 
Vgl.  die  Erklärungen  des  Vizepräsidenten  Simson  in  der  Sitzg.  v.  6.  Okt., 
Sten.  Ber.  S.  2432  u.  2435. 

»)  Sitzg.  V.  6.  Okt.  1848,  Sten.  Ber.  S.  2431. 

*)  Sten.  Ber.  S.  2432.  —  Als  geschichtliche  Eeminiszenz  sei  hier  er- 
vrähnt,  daß  auch  die  mit  Beschluß  der  deutschen  Bundesversammlung  v. 
20.  Sept.  1819  in  Mainz  eingesetzte  Zentraluntersuchungskommission  nicht 
„eine  richterliche  oder  rechtsprechende  Behörde"  sein,  vielmehr  nur  Material 
für  die  weiteren  Beschlüsse  der  Bundesversammlung  „zu  Einleitung  des  ge- 
richtlichen Verfahrens"  liefern  sollte:  Klub  er,  Öffentliches  Recht  d.Teutschen 
Bundes*  S.  199. 


280      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

aber  versuchte  Reichensperger  zur  Auslegung  des  strittigen 
Paragraphen  die  Lehre  von  der  Gewaltenteilung  heranzuziehen, 
indem  er  es  als  eine  ganz  unzulässige  Vermischung  der  Ge- 
walten bezeichnete,  wenn  die  zu  ernennende  Kommission  irgend- 
wie richterliche  Attributionen  erhalten  sollte.  Die  Zeugen- 
vernehmung im  Sinn  der  Geschäftsordnung  beziehe  sich  mehr 
auf  das,  was  in  den  Bereich  von  Sachverständigen  fällt  und 
zur  Aufklärung  des  Komitees  tnbetreff  isolierter  Tatsachen 
dienen  könnte ;  keineswegs  sollte  dadurch  gleichsam  eine  Kon- 
kurrenz mit  gerichtlichen  Behörden  geschaffen  werden  i).  Die 
Debatte,  in  welche  übrigens  parteitaktische  Momente  hinein- 
spielten, schloß  damit,  daß  dem  zur  Begutachtung  und  Prüfung 
der  Angelegenheit  niedergesetzten  Ausschuß  die  geschäftsord- 
nungsmäßigen Befugnisse  aller  andern  Ausschüsse  zuerkannt 
wurden  2). 

Wie  stark  in  der  Paulskirche  die  Vorstellung  von  einem 
Durchschnittstypus  der  volkstümlichen  Verfassungsorganisation, 
einem  gemeinen  Recht  der  Demokratie  gewirkt  hat,  zeigt  das 
weitere  parlamentarische  Schicksal  der  Frage.  In  einer  der 
ersten  Sitzungen  beantragte  Roesler,  daß  die  Nationalver- 
sammlung sich  dieselben  Befugnisse  und  Vorrechte  beilege, 
welche  die  gesetzgebenden  Versammlungen  anderer  freier 
Staaten  besitzen,  somit  vor  allem  das  Recht,  Untersuchungen 
anzustellen.  Daher  sollen  der  Bundestag,  beziehungsweise  die 
zu  errichtende  Zentralgewalt  wie  die  Regierungen  und  Unter- 
behörden der  einzelnen  Staaten  verpflichtet  sein,  der  National- 
versammlung selbst  oder  dem  betreffenden  Ausschuß  amtliche 
Auskunft  zu  erteilen,  insbesondere  die  nötigen  Urkunden,  amt- 
lichen Schriften,  Berichte  usw.  vorzulegen.  Bei  Untersuchungen, 
welche  die  Nationalversammlung  anordnet,  sind  die  dazu  ein- 
gesetzten Ausschüsse  befugt,  Sachverständige  zu  berufen  und, 
wenn  sie  es  für  zweckmäßig  erachten,  jeden  Beamten  eines 
deutschen  Staats   auf   seinen  Amtseid,   jede  Privatperson   aber 


')  Sten.  Ber.  S.  2433  f.  Im  wesentlichen  übereinstimmend  Beseler 
das.  S.  2434.  Aus  Eeichenspergers  Ausführungen  geht  hervor,  daß  eine 
eidliche  Vernehmung  von  Zeugen  durch  die  Kommissionen  der  National- 
versammlung nicht  statthaft  war. 

*)  Sten.  Ber.  S.  2435.  Der  Ausschuß  war  von  dem  Grundsatz  geleitet, 
„daß  die  Nationalversammlung  in  Betreff  der  beantragten  gerichtlichen  Unter- 
suchung ....  sich  nicht  auf  den  richterlichen  Standpunkt  zu  stellen,  daß 
sie  kein  Urteil  über  die  Schuld  oder  Unschuld  der  Angeklagten  zu  fällen 
habe":    Sten.  Ber.  S.  3998. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      281 

unter  Zeugeneid  zu  vernehmen.  Wegen  der  in  solchen  Unter- 
suchungen abgelegten  Aussagen  darf,  den  Fall  des  Meineides 
ausgenommen,  niemand  gerichtlich  noch  sonst  verfolgt  oder 
zur  Rechenschaft  gezogen  werden.  ^)  Die  Nachwirkung  der 
englischen  Praxis  ist  nicht  zu  verkennen,  was  sich  auch  daraus 
ergibt,  daß  —  offenbar  im  Zusammenhang  mit  diesen  Sätzen  — 
eine  Bestimmung  vorgeschlagen  wird,  laut  welcher  über  Beleidi- 
gungen der  Nationalversammlung  als  solcher,  namentlich  über 
Verweigerung  der  Anerkennung  ihrer  Autorität,  also  über  con- 
tempt  sie  selbst  richtet. 

Die  deutsche  Reichsverfassung  vom  28.  März  1849  bestimmt 
in  §  99,  daß  das  Recht  des  Gesetzvorschlags,  der  Beschwerde, 
der  Adresse  und  der  Erhebung  von  Tatsachen,  sowie  der 
Anklage  der  Minister  jedem  Hause  des  Reichstags,  dem  Staaten- 
und  dem  Volkshause,  zusteht.  Wie  diese  Aufzählung  erkennen 
läßt,  war  das  Informationsrecht  vor  allem  als  eine  Kontroll- 
maßregel  gegenüber  der  Exekutive  gedacht.  Noch  deutlicher 
hatte  der  Ausschußentwurf  von  einem  Recht  der  Untersuchung 
gesprochen,  und  in  dieser  Fassung  war  auch  der  Paragraph 
in  der  ersten  Beratung  angenommen  worden  2).  Die  Frage 
taucht  flüchtig  bei  der  Verhandlung  über  die  Grundrechte 
wieder  auf,  die  ein  Zuständigkeitsminimum  der  künftigen 
Volksvertretungen  in  den  einzelnen  deutschen  Staaten  fest- 
setzten, ohne  jedoch  des  Enqueterechts  Erwähnung  zu  tun. 
Für  die  zweite  Lesung  lag  ein  Antrag  der  Ausschußminorität 
vor,  welcher  jeder  Volksvertretung  und  bei  Zweikammersystem 
jeder  Kammer  für  sich  das  Recht  der  Erhebung  von  Tatsachen 
garantiert  wissen  wollte^).  Daß  dieses  Minoritätsvotum  ab- 
gelehnt wurde*),  ist  nicht  weiter  von  Belang;  wichtigerscheint, 
daß   die  Kollektivnote,  welche  Preußen    im  Verein  mit  andern 


')  Sitzg.  V.  31.  Mai  1848,  Sten.  Ber.  S.  194.  Der  Antrag  wird  als 
„offenbar  gemischter  Natur,  indem  er  Verfassungsfragen  und  Fragen  von 
rein  reglementärer  Natur  enthält'',  dem  Prioritätsauschuß  zugewiesen,  der 
zur  Entscheidung  betreffend  die  Reihenfolge  der  Diskussion  über  die  einzelnen 
Anträge   in   der  Sitzg.  v.  24.  Mai  (Sten.  Ber.  S.  75)   eingesetzt  worden  war. 

')  Art.  V  §  17  der  Ausschußvorlage:  Sitzg.  v.  12.  Dez.  1848,  Sten,  Ber. 
S.  4066.  Ein  nicht  weiter  motivierter  Antrag  des  Abg.  v.  Linde  auf 
Streichung  der  Worte:  „des  Gesetzvorschlags  und  der  Untersuchung"  wurde 
abgelehnt. 

^)  §  46  des  Ausschußentwurfs.     Sten.  Ber.  S.  5599. 

*)  Sitzg.  V.  9.  März  1849,  Sten.  Ber.  S.  5647.  Ebenso  ein  Antrag 
Hildebrand  u.  Genossen  auf  Einfügung  der  Worte:  „selbständige  Erhebung 
von  Tatsachen".     Sten.  Ber.  S.  5642,  5644.     S.  RV.  v.  1849  §  187. 


282      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Regierungen  in  Angelegenheit  des  Verfassungswerkes  an  die 
Nationalversammlung  richtete,  Beseitigung  des  Enqueterechts 
empfahl,  weil  dieses  in  einem  Bundesstaat  leicht  zur  Ein- 
mischung in  die  inneren  Angelegenheiten  eines  Staates  führen 
könnte.  Der  Verfassungsausschuß  hielt  an  der  Idee  eines 
solchen  Rechtes  fest,  weil  man  einer  großen  parlamentarischen 
Versammlung,  —  wie  auch  die  bedeutenden  Leistungen  des 
englischen  Unterhauses  zeigen,  —  die  Befugnis  nicht  absprechen 
könne,  tatsächliche  Erhebungen  vorzunehmen,  Sachverständige 
zu  hören  und  auf  andere  Weise  sich  über  allgemein  wichtige 
Verhältnisse  Auskunft  zu  verschaffen.  Er  ersetzte  aber  das 
Wort  ,, Untersuchung",  welches  in  der  Nachbarschaft  der 
Ministeranklage  zu  Mißverständnissen  Anlaß  geben  mochte, 
durch  die  Wendung  ,, Erhebung  von  Tatsachen"  ^).  In  dieser 
Redaktion  wurde  der  Paragraph  beschlossen  2).  Er  ist  dann 
gleichlautend  in  den  Entwurf  der  Erfurter  Unionsverfassung 
übergegangen  ^). 

Es  wurde  bereits  erwähnt,  daß  in  dem  Katalog  von  Zu- 
ständigkeiten, den  die  Grundrechte  de  lege  ferenda  für  die 
deutschen  Landesparlamente  aufstellten,  das  Untersuchungsrecht 
fehlt.  Trotzdem  hat  es  zu  jener  Zeit  unter  dem  Eindruck  — 
oder  darf  man  sagen:  unter  dem  Druck  —  der  allgemeinen  poli- 
tischen Grundtendenz,  die  auf  Festigung  und  Erweiterung  der 
parlamentarischen  Prärogative  gerichtet  war,  in  mehreren  deut- 
schen Einzelstaaten  verfassungsmäßige  Regelung  erfahren.  So 
in  dem  von  einer  Constituante  beschlossenen  und  von  der 
provisorischen    Regierung    verkündeten    Staatsgrundgesetz    für 


')  ,, Dieser  Ausdruck  schien  geeignet,  um  statt  des  fremden  droit  d'en- 
quete  in  der  bestimmten  technischen  Bedeutung  angenommen  und  einge- 
bürgert zu  werden."  S.  den  Bericht  d.  Verfassimgsausschusses  über  die 
Vorlage  für  die  zweite  Lesung  der  deutschen  Reichsverfassung  zu  §  106 
(=  Abschnitt  V  Art.  V  §  17  d.  Verfassungsentwurfs  nach  der  ersten  Lesimg) 
Sten.  Ber.  S.  5771. 

^)  Sitzg.  V.  26.  März  1849,  Sten.  Ber.  S.  6028.  Ein  Minoritätsvotum, 
wonach  es  statt  „Erhebung  von  Tatsachen"  heißen  sollte:  „das  Recht, 
Zeugen  und  Sachverständige  vorzufordem,  zu  vernehmen  oder  vernehmen 
zu  lassen,"  wurde  abgelehnt,  nachdem  der  Präsident  erklärt  hatte,  daß  es 
sich  um  einen  rein  stilistischen  Unterschied  handle  und  der  Intention  nach 
beide  Fassungen  dasselbe  sagen. 

")  §  97.  Ebenso  Hannoverscher  Entwurf  zur  Verfassung  des  Deutschen 
Reiches  I.Abschnitt  Ai-t.  3  §6  (Rauchs  Parlamentarisches  Taschenbuch' 
5.  Lieferg.  S.  113). 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      283 

Schleswig-Holstein  1),  in  Gotha  2)  und  in  Waldeck -Pyrmont  3). 
Hier  war  die  einschlägige  Bestimmung  fast  wörtlich  der  Frank- 
furter Reichsverfassung  entnommen,  daher  die  Kontrollfunktion 
des  Enqueterechts  in  den  Vordergrund  gestellt,  während  in 
Schleswig  und  Gotha  die  von  der  Landesvertretung  eingeleitete 
Untersuchung  vor  allem  zur  Information  und  zur  Vorbereitung 
gesetzgeberischer  Aufgaben  dienen  sollte.  Bei  der  Verfassungs- 
revision des  Jahres  1852  wurde  dann  auch  in  Waldeck  die 
Aufklärung  von  Tatsachen  und  die  Vorbereitung  landtäglicher 
Beratungsgegenstände  als  der  wesentliche  Inhalt  des  Rechtes 
bezeichnet,  Ausschüsse  mit  Beiziehung  von  Sachverständigen 
niederzusetzen;  wobei  ganz  im  Sinn  des  konstitutionellen 
Systems  älterer  Observanz  der  Landtag  nur  zur  Staatsregierung 
und  im  Fall  der  Ministeranklage  zu  dem  mit  deren  Entscheidung 
betrauten  Gerichtshof  in  unmittelbare  geschäfthche  Beziehung 
treten  darf*). 


^)  StGG.  V.  15.  Sept.  1848  Art.  73:  „Die  Landesversammlung  kann  in 
Ausführung  der  ihr  in  Betreff  des  Staatshaushalts  und  sonst  zustehenden  Be- 
fugnisse Ausschüsse  zur  Untersuchung  von  Tatsachen  ernennen  und  denselben 
das  Eecht  verleihen,  allein  oder  unter  Zuziehung  von  richterlichen  Beamten 
Vernehmungen  vorzunehmen  und  die  Behörde  zur  Hilfe  zu  requirieren." 

^)  StGrG.  V.  26.  März  1849  §  67:  „Der  Abgeordnetenversammlung  steht 
das  Eecht  zu,  in  allen  Fällen,  wo  ihr  zur  Ausübung  ihrer  verfassungsmäßigen 
Wirksamkeit  die  Ermittlung  und  Aufklärung  tatsächlicher  Verhältnisse 
wünschenswert  oder  notwendig  erscheint,  entweder  die  nötigen  Untersuchungen 
durch  einen  der  bereits  bestehenden  Ausschüsse  vornehmen  zu  lassen  oder 
aber  zu  demselben  Zwecke  einen  besonderen  Ausschuß  aus  ihrer  Mitte  zu 
ernennen.  Insoweit  diese  Ausschüsse  zur  Feststellung  von  Tatsachen  der 
Auskunftserteilung  oder  sonstiger  Mitwirkung  der  Behörden  bedürfen,  sind 
die  Behörden  auf  Veranlassung  der  Abgeordnetenversammlung  von  der  Staats- 
regierung hiezu  anzuweisen."  In  dem  geltenden  StGG.  der  Herzogtümer 
Koburg  u.  Gotha  v.  3.  Mai  1852  fehlt  eine  solche  Bestimmimg. 

^)  StGG.  V.  23.  Mai  1849  §  66:  „Das  Eecht  der  Beschwerde,  der  Adresse 
und  der  Erhebung  von  Tatsachen  und  Gutachten,  sowie  der  Anklage  der 
verantwortlichen  Mitglieder  der  Staatsregierung  steht  dem  Landtage  zu." 

*)  Verf.-Urk.  v.  17.  August  1852  §  64  Abs.  2  u.  3.  —  Ein  rudimentäres 
Informationsrecht  hatte  die  hamburgische  Bürgerschaft  nach  der  in  der  kon- 
stituierenden Versammlung  des  Freistaates  v.  11.  Juli  1849  beschlossenen 
Verfassung,  deren  Art.  85  sie  berechtigt,  von  jedem  Staatsangehörigen  die 
im  öffentlichen  Interesse  erforderliche  Auskunft  zu  verlangen,  wogegen  der 
Aufgeforderte  verpflichtet  ist,  letztere  nach  besten  Kräften  zu  erteilen.  Seit 
der  Verf.  v.  28.  Sept.  1860  ist  diese  Befugnis  von  der  Bürgerschaft  auf  deren 
Ausschüsse  übergegangen,  die  sich  gemäß  Art.  51  wegen  der  zur  Vorbereitung 
legislativer  Arbeiten  erforderlichen  Auskünfte  direkt  an  den  Senat  wenden 
können,  aber  auch  das  Eecht  haben,  solche  Auskunft  von  jedem  Staats- 
angehörigen in  eben  dem  Umfang,  in  welchem  er  sie  öffentlichen  Verwaltungs- 


284      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Für  diese  Ausgestaltung  und  Einschränkung  des  parlamen- 
tarischen Untersuchungsrechts  ist  ohne  Zweifel  Preußen  maß- 
gebend und  vorbildlich  gewesen.  Daß  ein  Staat,  dessen  führende 
historische  Elemente  —  Krone  und  Beamtentum  —  sich  so  lange 
mit  zähem  Instinkt  gegen  die  Rezeption  des  konstitutionellen 
Prinzips  gewehrt  hatten,  nunmehr  bei  der  Aufrichtung  ver- 
fassungsmäßiger Ordnungen  dem  Repräsentativorgan  eine  Be- 
fugnis einräumte,  die  schon  vermöge  ihrer  Herkunft  auf  das 
System  der  Parlamentsherrschaft  wies,  darf  als  ein  beachtens- 
wertes Symptom  gelten  für  die  politische  Atmosphäre,  aus  der 
das  preußische  Grundgesetz  hervorgegangen  ist  und  in  der  es 
zu  wirken  bestimmt  war,  für  eine  Zeit,  die  vor  allem  in  staat- 
lichen Dingen,  aber  auch  sonst  im  Bereich  des  Gemeinschafts- 
lebens geneigt  schien,  unbesehen  und  unvermittelt  ein  Extrem 
mit  einem  andern  zu  vertauschen.  Weder  der  von  einer  Mini- 
sterialkommission  ausgearbeitete  Entwurf,  der  dem  König  vom 
Staatsministerium  unterm  15.  Mai  1848  eingereicht  wurde  i), 
noch  das  der  preußischen  Nationalversammlung  im  selben  Monat 
vorgelegte  ,, Verfassungsgesetz"  2)  enthielt  Bestimmungen  über 
das  parlamentarische  Enqueterecht,  aber  schon  die  von  der 
Nationalversammlung  im  Juni  gewählte  Verfassungskommission 
hatte  in  den  nach  ihrem  Vorsitzenden  Benedict  Waldeck  von 
Friedrich  Wilhelm  IV.  als  „Charte  Waldeck"  bezeichneten 
„Entwurf  der  Verfassungsurkunde  für  den  preußischen  Staat" 
den  Satz  aufgenommen,  daß  eine  jede  Kammer  die  Befugnis 
hat,    Kommissionen    zur   Untersuchung   von  Tatsachen   zu  er- 

behörden  zu  erteilen  schuldig  ist,  und  insofern  nicht  besondere  Amts- 
pflichten entgegenstehen,  zu  verlangen.  Ähnlich  nach  Art.  51  der  Redaktion 
V.  13.  Okt.  1879.  Hienach  ist  auf  dieses  Auskunftsverlangen  das  Ges.  v. 
23.  April  1879  betreffend  das  Verhältnis  der  Verwaltung  zur  Rechtspflege 
anwendbar,  das  in  §  20  Verwaltungsbehörden  das  Recht  einräumt,  zur  Fest- 
stellung der  in  ihren  Geschäftskreis  fallenden  Tatsachen  Vorladungen  unter 
Strafandrohung  bis  zu  30  M  zu  erlassen:  s.  Wolffson  im  Handb.  d.  öff. 
Rechts  Bd  HI,  2,  3,  Freiburg  i.  B.  u.  Tübingen  1884  S.  19  u.  N.  3. 

*)  Über  diesen  Entwurf:  Seitz,  Entstehung  und  Entwicklung  der 
preußischen  Verfassungsurkunde  im  Jahre  1848,  Diss.  Greifswald  1909  S.  26  ff., 
42  f.,  181  ff.;  Anschütz,  Die  Verfassungs-Urkunde  f.  d.  Preußischen  Staat, 
Bd  I  (Berlin  1912)  S.  36  ff.  Nach  §  55  dieses  sog.  Urentwurfs  und  der  Re- 
gierungsvorlage V.  20.  Mai  1848  sind  die  Minister  verpflichtet,  der  Kammer 
auf  ihr  Verlangen  Auskunft  zu  erteilen,  wenn  eine  an  sie  gerichtete  Bitt- 
schrift Beschwerden  über  die  Verwaltung  enthält. 

^)  S.  dieses  in  den  Stenogr.  Berichten  über  die  Verhandlungen  der  zur 
Vereinbarung  der  preußischen  Staats-Verfassung  berufenen  Versammlung, 
Berlin  1848  S.  1  ff. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      285 

nennen,  mit  dem  Rechte,  unter  Mitwirkung  richterlicher  Beamten 
Zeugen  eidhch  zu  vernehmen  und  die  Behörden  zur  Assistenz 
zu  requirieren  ^).  Die  nach  Auflösung  der  Nationalversammlung 
im  Dezember  1848  vorbehaltlich  der  Revision  im  ordentlichen 
Gesetzgebungsweg2)  oktroyierte  Verfassung  enthielt  zwar  in 
Art.  81  den  Grundsatz  des  parlamentarischen  Untersuchungs- 
rechts, nicht  aber  den  Zusatz  betreffend  die  Attribute  der  Unter- 
suchungskommissionen, und  in  dieser  Gestalt  ist  die  Vorschrift 
als  Art.  82  in  die  geltende  Verfassungsurkunde  von  1850  über- 
gegangen. Jenen  Zusatz  heß  man,  wie  die  Materialien  be- 
weisen, nur  deshalb  fallen,  weil  es  für  unzweifelhaft  erachtet 
wurde,  daß  den  Untersuchungsausschüssen  der  Kammern  auch 
ohne  besondere  grundgesetzliche  Ermächtigung  das  Recht  zu- 
stehe, Zeugen  und  Sachverständige  zu  vernehmen  3).  Von  dieser 
Befugnis  haben  denn  auch  die  auf  Grund  des  Art.  82  bestellten 
Kommissionen,  so  ein  Ausschuß  des  Herrenhauses  zur  Vor- 
beratung des  Preßgesetzes,  Gebrauch  gemacht. 

Im  übrigen  war  in  Preußen  die  praktische  Bedeutung  und 
die  faktische  Leistung  des  parlamentarischen  Enqueterechts 
sehr  dürftig.  Man  muß  wohl  sagen:  war.  Denn  seit  dem  Jahre 
1864  ist  es   zur  Niedersetzung  von  Untersuchungsausschüssen 

*)  Art.  73  nach  dem  Antrag  Mätzke.  Hiezu  bemerken  die  Motive 
(Stenogr.  Ber.  S.  733):  „Das  Recht,  Untersuchungskommissionen  zu  ernennen, 
mußte  den  Kammern  vindiziert  werden,  wenn  sie  mit  voller  Sachkenntnis 
alle  zu  ihrer  Wirksamkeit  gehörigen  Aufgaben  lösen  sollen.  Es  wurde 
hiebei  für  unnötig  erachtet,  die  Requisition  der  Behörde  nur  durch  Ver- 
mittlung des  Staatsministeriums  eintreten  zu  lassen."  Letzteres  hatte 
Reichensperger  als  Referent  der  Verfassungskommission  vorgeschlagen, 
dem  nach  der  Darstelltmg  bei  Seitz  S.  75  ff.  der  weitaus  überwiegende  Anteil 
an  Inhalt  und  Form  des  Kommissionsentwurfs  gebührt.  —  S.  v.  Roenne- 
Zorn,  Das  Staatsrecht  d.  preußischen  Monarchie  Bd  I  (Leipzig  1899)  S.  360 
N.  4.  Die  Versammlung  hielt  sich  für  befugt,  Untersuchungskommissionen 
ohne  verfassungsmäßige  Grundlage  einzusetzen.  So  wurde  in  der  Sitzung 
V.  28.  Juni  1848  eine  solche  gewählt  „zur  Untersuchung  der  eigentümlichen 
Verhältnisse  der  Weber  und  Spinner,  sowie  der  gesamten  preußischen  Linnen- 
manufaktur" (Sten.  Ber.  S.  307).  Der  Antrag  auf  Ernennung  einer  Kommission 
zur  Berichterstattung  über  die  aus  der  Feudalität  entstandenen  Notstände 
der  schlesischen  Landbewohner  (das.  S.  825)  scheint  nicht  mehr  zur  Ver- 
handlung gelangt  zu  sein. 

^)  Art.  112  d.  Verf.-Urk.  v.  5.  Dez.  1848.  Vgl.  Eingang  der  revidierten 
Verf.-Urk.  v.  31.  Januar  1850  (bei  v.  Roenne-Zorn  a.  a.  0.  S.  69  N.  3). 

*)  Bericht  der  am  18.  August  1849  zur  Revision  der  Verfassung  ein- 
gesetzten Kommission  der  Zweiten  Kammer:  v.  Roenne-Zorn  S.  360  N.  4; 
Schwartz,  Die  Verfassungsurkunde  f.  d.  preußischen  Staat,  2.  Ausg.,  Breslau 
1898  S.  239  f. 


286      Zweig,  Die  parlaraent.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

nicht  mehr  gekommen,  und  bis  dahin  hat  der  Art.  82  nur  in 
vier  Fällen  Anwendung  gefunden  i).  Die  Ära  Bismarck  kündigt 
sich  auch  hier  vernehmlich  an,  und  für  die  ihr  eigentümliche 
Einengung  der  parlamentarischen  Wirkungssphäre  ist  grade 
ein  Vorgang  kennzeichnend,  der  im  Jahre  1873  auf  dem  Gebiet 
des  Enqueterechts  gespielt  hat.  Damals  beantragte  der  Ab- 
geordnete Lasker  Einsetzung  eines  Untersuchungsausschusses 
behufs  Information  über  die  Grundsätze,  die  bei  der  Erteilung 
von  Eisenbahnkonzessionen  befolgt  worden  waren.  Die  Regie- 
rung, die  nach  der  Absicht  des  Antragstellers  zur  Mitwirkung 
bei  dieser  Untersuchung  einzuladen  war,  kam  der  Wißbegierde 
der  Volksvertretung  zuvor.  Noch  vor  der  Beratung  des  Antrags 
verfügte  eine  königliche  Botschaft  die  Bildung  einer  Spezial- 
untersuchungskommission  zu  dem  in  Rede  stehenden  Zweck, 
welcher  teils  von  der  Staatsregierung  ernannte  Beamte,  teils 
von  beiden  Häusern  des  Landtags  zu  erwählende  Mitglieder 
angehören  und  deren  Berichte  seinerzeit  der  Landesvertretung 
zugehen  sollten.  Lasker  zog  hierauf  seinen  Antrag  zurück 2). 
Die  letzte  Ausübung  des  parlamentarischen  Enquete- 
rechts —  Bestellung  einer  Kommission  zur  Untersuchung  von 
Wahlmiß  brauchen  —  hat  im  Jahre  1864  dem  preußischen  Ab- 
geordnetenhaus zu  einer  gründlichen  Erörterung  der  Streit- 
fragen Anlaß  geboten,  die  sich  an  Art.  82  knüpfen,   zum  Teil 


^)  S.  die  Zusammenstellung  bei  Plate,  Die  Geschäftsordnung  d.  Preußi- 
schen Abgeordnetenhauses ^  Berlin  1904  S.  93.  Unrichtig  van  Eaalte  im 
Bulletin  de  la  societe  de  legislation  comparee  Bd  XXII  (Paris  1893)  S.  285. 

^)  Antrag  Lasker:  Sitzg.  v.  8.  Febr.  1873,  Sten.  Ber.  über  die  Ver- 
handlungen d.  Hauses  d.  Abgeordneten  XI.  Legislaturperiode  3.  Session 
S.  953,  Anlage  Nr.  160.  Ah.  Botschaft  v.  14.  Febr.  1873:  Sitzg.  v.  14.  Febr. 
1873,  Sten.  Ber.  das.  S.  1031  f.,  Anlage  Nr.  179.  Debatte  in  der  Sitzg.  v. 
15.  Febr.  1873,  Sten.  Ber.  S.  1043  ff.  Die  Abgg.  v.  Mallinckrodt  u.  Ge- 
nossen hatten  beantragt,  zunächst  eine  14gliedrige  Kommission  zu  wählen 
und  ihr  den  Antrag  Lasker  zur  Prüfung,  insbesondere  zur  eventuellen  Bezeichnung 
jener  Tatsachen  zu  überweisen,  betreffs  welcher  die  Niedersetzung  einer  par- 
lamentarischen Kommission  auf  Grund  Art.  82  Verf.-Urk.  zu  beschließen  sein 
wird:  Anlage  Nr.  177.  Das  Abgeordnetenhaus  wählte  in  den  durch  die  Ah. 
Botschaft  eingesetzten  gemischten  Ausschuß  zwei  Mitglieder  nach  den  Be- 
stimmungen des  §  7  Abs.  3  Gesch.-O.,  der  auch  sonst  bei  Einsetzung  von 
Untersuchungskommissionen  angewendet  wurde:  Plate  S,  38,  93.  —  Merk- 
würdigerweise haben  Mißstände  des  Eisenbahnwesens  vor  kurzem  in  Rußland 
zu  einem  ähnlichen  Vorgang  geführt.  Die  Duma  wollte  zur  Untersuchung 
der  Eisenbahnverwaltung  eine  Kommission  einsetzen.  Die  Regierung  ernannte 
ihrerseits  eine  solche,  in  die  auch  Deputierte  berufen  wurden:  Gribowski 
im  Jahrb.  d.  öff.  Rechts  Bd.  IH  S.  605. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      287 

noch  in  die  Entstehungszeit  der  Verfassung  zurückreichen, 
aber  heut  und  wohl  für  absehbare  Zeit  der  Aktuahtät  ent- 
behren 1).  Sie  werden  hier  nur  deshalb  gestreift,  weil  sich  an 
dieser  Kontroverse  über  ein  weder  theoretisch  noch  praktisch 
übermäßig  belangreiches  Institut  nachweisen  läßt,  wie  in  den 
Dingen  des  öffentlichen  Rechtes  die  persönliche  politische  Grund- 
anschauung des  einzelnen  Autors  zur  Geltung  kommt.  Von 
der  Erfüllung  der  Rank  eschen  Maxime:  auszusprechen,  was 
ist,  scheint  die  Staatsrechtslehre  heutigen  Tags  noch  weit  ent- 
fernt. Bis  zu  einem  gewissen  Grade  trägt  freilich  ihr  Forschungs- 
objekt die  Schuld,  wenn  sie  jener  leidenschaftslosen  Gegen- 
ständüchkeit  ermangelt,  die  —  wenigstens  vorläufig  —  die  Inter- 
pretation von  Sätzen  und  Verhältnissen  des  Privatrechts  kenn- 
zeichnet und  auszeichnet.  Aber  man  soll  nicht  allein  die  Dinge, 
man  muß  auch  die  Personen  dafür  verantwortlich  machen,  daß 
sich  in  die  wissenschaftHche  Betrachtung  publizistischer  Rechts- 
bildungen immer  wieder  Gesichtspunkte  eindrängen,  die  nach 
bestimmten,  nicht  selten  rein  parteimäßigen  Interessen  und 
Ansprüchen  orientiert  sind,  daß,  um  eine  Wendung  Labands 
zu  brauchen,  die  staatsrechtliche  Literatur  unjuristisch  wird 
und  auf  das  Niveau  der  politischen  Tagesliteratur  hinabsinkt. 
In   der  Auslegung   der   preußischen  Verfassung  und  ihres  Ar- 


')  S.  Nr.  169  der  Anlagen  zu  d.  Sten.  Ber.  über  die  Verhandlungen  d. 
Preuß.  Abgeordnetenhauses  Sess.  1863/64  Bd  VIII  S.  1853  ff.  Vgl.  v.  ßoenne- 
Zorn  a.  a.  0.  S.  36-1  N.  2.  Es  handelte  sich  im  wesentlichen  darum,  daß 
das  Ministerium  des  Innern  allen  Staatsbeamten  untersagt  hatte,  den  Requi- 
sitionen der  Untersuchungskommission  des  Abgeordnetenhauses  Folge  zu  leisten, 
worauf  die  Kommission  fiii-  das  Gemeindewesen  beantragte,  das  Haus  möge 
erklären,  daß  hiedurch  Art.  82  der  Verfassung  verletzt  worden  sei.  Hiezu 
bemerkte  der  Ministerialkommissar,  daß  Untersuchungsausschüsse  nicht  die 
Rechte  einer  Behörde  und  überhaupt  keine  weitergehende  Befugnis  haben 
als  jede  andere  Kommission  oder  das  Haus  selbst,  welches  nach  Art.  81 
Verf.-Urk.  bloß  direkt  mit  den  Ministern  verhandeln  dürfe.  Nur  durch  aus- 
drücklichen Verfassungssatz  hätten  die  Untersuchungskommissionen  das  Recht 
erhalten  können,  mit  den  den  Ministern  imtergeordneten  Behörden  UBmittel- 
bar  in  Verbindung  zu  treten.  Daß  Art.  82  solche  Rechte  der  Exekutive  an  diese 
Kommissionen  stillschweigend  übertragen  wollte,  sei  um  so  weniger  anzunehmen, 
„als  es  sich  hiebei  um  so  eminente  Attribute  der  vollziehenden  Gewalt 
handelt,  daß  deren  konsequente  Anwendung  ....  geeignet  erscheint,  den 
gesamten  Staatsorganismus  zu  gefährden".  Die  Untersuchungskommission, 
welche  direkte  Requisitionen  an  untergeordnete  Behörden  und  Beamte  er- 
gehen ließ,  habe  verfassungswidrig  gehandelt.  Dagegen  vertrat  ein  Kommissions- 
mitglied die  Meinung,  daß  ein  auf  Grund  Art.  82  von|  einer  Kammer  er- 
nannter Ausschuß  in  die  Reihe  der  staatlichen  Untersuchungskommissionen 
eintritt,  Staatsbehörde  wird  und  alle  einer  solchen  zustehenden  Rechte  ausübt. 


288      Zweig,  Die  Parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

tikels  82  klingt  die  politische  Note  besonders  deutlich  an,  und 
hier,  wie  übrigens  auch  anderwärts,  hat  solche  Zweckjurisprudenz 
—  das  Wort  in  seinem  schlimmsten  Sinn  genommen  —  eine 
so  seltsame  Umkehrung  des  natürlichen  Verhältnisses  ergeben, 
daß  für  eine  die  Rechtssphäre  der  Volksvertretung  einschränkende 
Deutung  zugunsten  des  gouvernementalen  Standpunktes  grade 
die  jüngere  Schriftstellergeneration  eintritt,  —  wobei  unent- 
schieden bleiben  mag,  ob  diese  Erscheinung  jeweils  auf  an- 
geborene oder  durch  Anpassung  erworbene  Eigenschaften  und 
Überzeugungen  des  Auslegers  zurückzuführen  ist. 

In  der  Frage  der  parlamentarischen  Enquete  nach  preußi- 
schem Recht  stehen  eigentlich  nur  drei  Punkte  außer  Streit. 
Einmal  der  Satz,  daß  nicht  das  Plenum  als  Untersuchungs- 
instanz fungieren,  vielmehr  jede  Kammer  ihr  Informations- 
bedürfnis bloß  im  Wege  von  Kommissionen  befriedigen  darf, 
sodann  das  —  angesichts  manches  verfassungsgeschichtlichen 
Präzedens  keineswegs  selbstverständliche  —  Prinzip,  daß  die 
Tätigkeit  solcher  Ausschüsse  sich  nur  auf  Materien  erstreckt, 
die  überhaupt  in  die  Kompetenz  der  Volksvertretung  fallen  i), 
endlich  die  Tatsache,  daß  eine  Kommission  weder  Jemand  zum 
Erscheinen  zwingen,  noch  ihn  eidlich  vernehmen  kann,  daß 
ihr  also  Behördenqualität  und  obrigkeithche  Zwangsmittel  ver- 
sagt sind  -).  Im  übrigen  ist  fast  alles  kontrovers,  was  sich 
auf  Umfang  und  Inhalt  des  Untersuchungsrechtes  der  Kammern 
wie  des  Erhebungsrechtes  ihrer  Ausschüsse  bezieht.  So  nament- 
lich die  Frage,  ob  jedes  der  beiden  Häuser  des  Landtags  die 
Befugnis  habe,  Beweismittel  zur  Feststellung  von  Tatsachen 
lediglich   mit   dem  animus  informandi  zu  sammeln,  oder  auch 


*)  Bei  der  Revision  der  Verfassungsurkunde  wurde  in  der  Ersten  Kammer 
beantragt,  daß  der  Untersuchungskommission  „Feststellung  tatsächlicher  Ver- 
hältnisse, welche  auf  die  Gesetzgebung  von  Einfluß  sind",  obliegen  sollte. 
Diese  Formulierung,  welche  Mißbräuche  der  Kommissionen  durch  Ein- 
schränkung ihrer  sachlichen  Zuständigkeit  ausschließen  wollte,  wurde  ab- 
gelehnt: Schwartz  S.  240. 

'')  Arndt.  Das  Staatsrecht  d.  Deutschen  Reiches,  Berlin  1901,  S.  148; 
ders.,  Die  Verfassungsurkunde  f.  d.  Preuß.  Staat  (Guttentagsche  Sammlung 
preußischer  Gesetze  Nr.  1'),  Berlin  1911  S.  290  f.;  Hubrich,  Preußisches 
Staatsrecht  (Bibliothek  d.öff. Rechts  Bd  15),  Hannover  1909  S.218;  v.  Roenne- 
Zorn  a.  a.  0.  S.  366.  Auch  Anschütz,  der  (in  v.  Holtzendorff-Kohlers 
Enzyklopädie  der  Rechtswissenschaft,  Leipzig  u.  Berlin  1903  Bd  11  S.  585) 
annimmt,  daß  die  Untersuchungskommissionen  nicht  bloß  die  Minister,  sondern 
alle  Staatsbehörden  um  Ausführung  von  Aufträgen  oder  Auskunft  ersuchen 
dürfen,  meint,  daß  Niemand,  weder  Behörde  noch  Privatperson,  verpflichtet 
ist,  der  Requisition  bzw.  Vorladung  Folge  zu  leisten. 


Zweigf,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      289 

das  Recht,  das  im  Untersuchungsweg  gewonoene  Material  zur 
Stellung  von  Anträgen,  Erhebung  von  Beschwerden,  zum  Er- 
laß einer  Adresse  zu  benutzen,  und  dergestalt  Maßregeln  der 
Regierung  oder  das  ganze  Verwaltungssystem  einer  Enquete 
zu  unterwerfen^).  Das  leitet  zu  der  zweiten  Frage,  ob  das 
Haus  mit  dem  Gegenstand,  der  die  Einsetzung  einer  Kommission 
veranlaßt,  bereits  durch  eine  Regierungsvorlage  oder  einen 
andern  Antrag  befaßt  sein  muß,  oder  ob  auch  ohne  solchen 
Zusammenbang  mit  einer  konkreten  Angelegenheit  die  Nieder- 
setzung eines  Ausschusses  zulässig  sei,  um  im  Hinblick  auf 
einen  erst  zu  stellenden  Antrag,  zur  Vorbereitung  einer  erst 
zu  fassenden  Resolution  den  Tatsachenstoff  und  die  dazu  not- 
wendige Information  zu  liefern  -).  Auch  darüber  herrscht  Streit, 
ob  die  Untersuchungskommission  sich  lediglich  auf  Herbei- 
schaffen und  Sichten  von  Tatsachen  behufs  deren  Kenntnis- 
nahme durch  das  Plenum  zu  beschränken,  sich  also  jedes  dem 
Hause  vorgreifenden  Urteils  über  die  rechtliche  Bedeutung  des 
zu  Tage   geförderten  Materials   zu   enthalten  hat,   oder  ob   sie 


^)  Für  die  letztere  Alternative  Schulze,  Das  Preußische  Staatsrecht 
Bd  I*  (Leipzig  1888)  S.  615;  Born  hak,  Preußisches  Staatsrecht  Bd  I* 
(Breslau  1911)  S.  460;  v.  Roenne-Zorn  S.  361  ff.  (dagegen  Zorn  in  diesem 
Werk  S.  362  N.  2  a.  E.).  tJber  eine  ähnliche  Streitfrage  in  der  französischen 
Parlamentspraxis  vgl.  Pierre,  Traite  de  droit  politique,  electoral  et  par- 
Iementaire^  Paris  1902  S.  712  ff. 

^)  Für  die  auch  durch  die  Praxis  gestützte  weitere  Auslegung  v, Roenne- 
Zorn  S.  362f.;  Schwartz  S.  240  f. ;  Hubrich  S.  218;  Bode  in  der  oben 
erv?ähnten  Dissertation  S.  63  f.  Dagegen  Arndt  in  der  Guttentagschen 
Sammig.  S.  290  (auf  Grund  des  Wortlauts  und  der  Entstehungsgeschichte 
des  Art.  82);  v.  Stengel,  Das  Staatsrecht  d.  Königreichs  Preußen  (Handb. 
d.  öff.  R.  II,  3),  Freiburg  i.  B.  u.  Leipzig  1894  S.  84.  —  Die  Frage,  ob  die 
Durchführung  einer  Enquete  über  eine  Regierungsvorlage  mit  den  Grund- 
sätzen des  parlamentarischen  Systems  vereinbar  sei.  hat  im  J.  1905  lebhafte 
Erörterungen  in  der  belgischen  Dejautiertenkammer  veranlaßt.  Der  Abg. 
Woeste  führte  damals  aus,  jede  solche  Maßnahme  bedeute  ein  Mißtrauens- 
votum und  schließe  den  Vorwurf  in  sich,  daß  die  Regierung  ihren  Gesetz- 
entwurf in  unzulänglicher  Weise  vorbereitet  habe.  Dagegen  machte  Abg. 
Lantsheere  geltend,  daß  die  Verfassung  den  Kammern  ohne  einschränkende 
Klausel  das  Informationsrecht  gewähre  und  das  Parlament  kraft  seiner  ge- 
setzgeberischen Funktion  berechtigt  und  verpflichtet  sei,  sich  über  alle  Ge- 
genstände dieser  Funktion  die  erforderlichen  Aufklärungen  zu  verschaffen: 
s.  Dupriez  i.  d.  Revue  du  droit  public  Bd  XXIII  S.  296  ff.,  dessen  Aus- 
führungen übrigens  zu  entnehmen  ist,  daß  der  erwähnte  Fall  ins  politische 
Raritätenk abinet  gehört.  Der  Beschluß  der  Zweiten  holländischen  Kammer, 
über  einen  Gesetzentwurf  der  Regierung  eine  Enquete  zu  veranstalten,  wurde 
(1853)  im  Einvernehmen  mit  dem  Ministerium  gefaßt:  Dupriez  S.  300; 
Karsten  S.  226  f. 

Zeitschrift  für  Politik.   6.  19 


290      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nacli  deutschem  und  österr.  Recht, 

über   diese  Belehrung   hinaus   das  Untersuchungsresultat   zum 
Gegenstand  der  Begutachtung  machen  kann^). 

Endlich  knüpft  sich  eine  Meinungsverschiedenheit  an  die  von 
der  Staatsregierung  konsequent  bekämpfte  Lehre,  daß  einem  Aus- 
schuß auch  das  Recht  zustehe,  mit  Umgehung  der  Ressortminister 
die  diesen  untergeordneten  Behörden  zur  Vernehmung  von 
Zeugen,  Erteilung  amtlicher  Auskünfte  oder  Ermittlungen  an 
Ort  und  Stelle  heranzuziehen  '^).  Die  Frage  ist  nicht  ohne  Belang, 
weil  in  der  Theorie  diese  Ausschaltung  der  Zentralinstanz  auch 
für  das  Geschäft  der  Wahlprüfung  behauptet  und  sowohl  der 
Kammer  als  auch  einem  von  ihr  hiezu  beauftragten  Ausschuß 
das  Recht  vindiziert  wurde,  alle  zur  Beurteilung  einer  bestrittenen 
oder  zweifelhaften  Wahl  notwendigen  tatsächlichen  Ermittlungen 
selbständig   vorzunehmen^).     Diese  Meinung    ist    aber  wissen- 

*)  Eine  der  ältesten  Art.  82  betreffenden  Kontroversen:  s.  v.  Eoenne- 
Zorn  S.  362  f.  (insbesondere  zu  deren  Geschichte  S.  362  N.  1);  für  die  engere 
Auslegung  Hub  rieh  S.  218  f. 

^)  So  V.  Roenne  in  den  ersten  Auflagen  seines  Werkes  (jetzt  bei 
V.  Roenne-Zorn  Bd  I  S.  365  ff.);  Hub  rieh  a.  a.  0.;  Schulze  a.  a.  0. 
S.  614;  Schwartz  S.  241  f.  Auch  Anschütz  will  a.a.O.  hier  eine  Aus- 
nahme von  der  Regel  konstruieren,  daß  der  Landtag  nur  mit  den  Ministern, 
nicht  mit  den  unteren  Behörden  und  noch  weniger  mit  einzelnen  Staats- 
bürgern in  direktem  Verkehr  steht.  Dagegen  wendet  Bornhak  a.  a,  0.  ein, 
eine  solche  Ausnahme  hätte  zum  mindesten  ausgesprochen  werden  müssen, 
(S,  oben  S,  287  N.  1.)  Übereinstimmend  Zorn  bei  v.  Roenne-Zorn  S.  364  f. ; 
V.  Stengel  S.  83;  Arndt  a.  a.  0.  S.  291;  Bode  S,  64;  Art.  „Kommissionen 
in  den  parlamentarischen  Vertretungskörpern"  in  v.  Bitters  Handwörter- 
buch d.  preuß.  Verwaltung  ^  Leipzig  1911  T.  1  S,  1046, 

*)  So  Schulze  S,  616  u.  N.  1;  v.  Roenne  in  den  früheren  Auf- 
lagen (i.  d.  5.  Aufl,  Bd  I  S.  331  f.)  mit  Berufung  auf  die  Ausführungen 
bei  Robert  v.  Mo  hl  (Staatsrecht,  Völkerrecht  u.  Politik  Bd  I  S,  208  ff., 
216  ff.),  der  jedoch  selbst  den  Verkehr  mit  untergeordneten  Beamten 
als  verboten  voraussetzt  und  meint,  wenn  eine  Untersuchung  die  Ver- 
nehmung eines  solchen  nötig  macht,  hätte  die  Requisition  des  ständischen 
Ausschusses  durch  das  Ministerium  zu  gehen  (a,  a.  0.  S.  218).  Auch 
V.  Roenne  muß  zugeben,  daß  Art,  82  VU.,  den  er  für  die  den  beiden 
Häusern  in  Art,  78  beigelegte  Entscheidung  über  die  Legitimation  ihrer  Mit- 
glieder zu  verwerten  sucht,  den  Kammern  mangels  einer  selbständigen  Exe- 
kutive ein  sehr  beschränktes  Recht  einräumt,  da  sie  nur  mit  Hilfe  der  Re- 
gierungsorgane Vernehmung  von  Zeugen,  Anweisungen  an  Behörden  zur 
Einreichung  von  Aktenstücken  u,  dgl,  erlangen  könnten.  Gegen  v,  Roenne: 
Zorn  in  der  von  ihm  besorgten  5,  Aufl.  a.  a.  0.  S.  332;  Arndt  i.  d.  Gutten- 
tagschen  Slg.  S.  283;  Walz,  Über  die  Prüfung  der  parlamentarischen  Wahlen 
zunächst  nach  badischem  Recht  (S,-A,  aus  Jahrg,  1902  d.  Zeitschr.  f.  Bad. 
Verwaltung  u,  Verwaltungsrechtspflege)  S.  76;  Leser,  Untersuchungen  über 
das  Wahlprüfungsrecht  d.  Deutschen  Reichstags  (Staats-  u.  völkerrechtliche 
Abhandlungen,  herausgg.  v.  Jellinek  u.  Anschütz  Bd  VII  H,  2),  Leipzig 
1908  S.  41  N.  46. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht.      291 


schaftlich  isohert  gebheben,  und  in  Preußen  haben  sie  auch 
die  Kammern  selbst  nur  in  vereinzelten  Fällen  geltend  gemacht. 
Wohl  aber  geschah  solches  in  Württemberg,  wo  die  Abge- 
ordnetenkammer in  den  Sechziger-  und  Siebzigerjahren  die  Ein- 
führung eines  Euqueterechts  der  Volksvertretung  zu  Zwecken 
der  Wahlprüfung  angestrebt  hat,  ohne  daß  die  einschlägigen 
Projekte  auch  nur  zur  Beratung  gelangten.  Die  Volksvertretung 
hat  dort  weder  in  Legitimationssachen  noch  sonst  überhaupt 
ein  Recht  zur  selbständigen  Ermittlung  von  Tatsachen,  ist  viel- 
mehr ganz  auf  das  Entgegenkommen  des  Staatsministeriums 
angewiesen.  Die  Geschäftsordnungen  beider  Häuser  geben  zwar 
den  Kommissionen  das  Recht,  wo  sie  es  zur  Ausführung  ihres 
Auftrags  für  erf orderhch  halten,  Sachverständige  —  in  der  zweiten 
Kammer  auch  Zeugen  —  zur  Äußerung  zu  veranlassen,  doch 
hat  gegen  diese  Bestimmung  ein  könighches  Reskript  schon  im 
Jahre  1851  Verwahrung  eingelegt^). 

Auch  in  Bayern  gilt  für  das  Wahlprüfungsverfahren  der 
Satz,  daß  in  Bezug  auf  die  Vornahme  von  Erhebungen  die 
Kammern  nur  Wünsche  und  zwar  nur  gegenüber  der  Staats- 
regierung äußern  können.  Aber  weder  sie  noch  ihre  Ab- 
teilungen und  Ausschüsse  haben  eine  juristische  Möglichkeit, 
der  Regierung  Art  und  Umfang  solcher  Erhebungen  zum  Zweck 
der  erbetenen  Auskunfterteilung  vorzuzeichnen  '^).  Das  ist  nur 
eine  spezielle  Anwendung  des  Satzes,  daß  die  Kammern  — 
ebenso   wie  die  Abteilungen  und  Ausschüsse  3)  —  im  Rahmen 

')  Innere  GeschO,  d.  Kammer  d.  Standesherren  v.  21.  Juni  1876  §  62 
Abs.  2;  GeschO,  d.  Zweiten  Kammer  v.  14./19.  Jimi  187.5  §  56  Abs.  3  (über- 
einstimmend mit  Art.  21  d.  GeschO,  vom  23.  Juni  1821)  und  dazu  kgl. 
Reskript  v.  26.  Mai  1851.  Vgl.  Leser  a.  a.  0.;  v.  Sarwey,  Das  Staats- 
recht d.  Königreichs  Württemberg,  Tübingen  1883  Bd  IT  S.  231  f.;  Göz, 
Das  Staatsrecht  d.  Königreichs  Württemberg  (D.  öff.  R.  d.  Gegenwart  Bd  11), 
Tübingen  1908  S.  132.  143  u.  X.  2;  ders.,  Die  Verfassungsurkunde  f.  d. 
Königreich  Württemberg,  Tübingen  1906  S.  318;  Bazille,  Das  Staats-  und 
Verwaltungsrecht  d.  Königreichs  Württemberg  (Bibl.  d.  öff.  Rechts  Bd  2), 
Hannover  1908  S.  68. 

*)  V.  Seydel,  Bayerisches  Staatsrecht'  Bd  I  S.  443  f. 

^)  Die  durchgängige  Gleichstellung  von  Kammer-Ausschüssen  und  -Ab- 
teilungen, die  V.  Seydel  a.  a.  0.  S.  354,  443  u.  N.  42  hinsichtlich  des  In- 
formationsrechts behauptet,  erscheint  einigermaßen  zweifelhaft,  da  nach 
Kammerbeschluß  v.  12.  Febr.  1878  den  Abteilungen  das  bis  dahin  von 
ihnen  geübte  Recht  nicht  zukommt,  „von  sich  aus  und  ohne  Genehmigung 
der  Kammer  Erhebungen  zu  verlangen,  welche  weitere  Amtshandlungen  zu 
Untersuchimgen  und  Vernehmungen  notwendig  machen",  (v.  Seydel  das. 
S.  444  u.  N.  44). 

19* 


292      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

ihres  Wirkungskreises  berechtigt  sind,  Erläuterungen  und  Auf- 
schlüsse von  den  Staatsministerien  zu  fordern,  nicht  aber  sich 
selbst  aus  den  amtlichen  Quellen  etwa  durch  Akteneinsicht 
zu  informieren.  Jener  Befugnis  der  Volksvertretung  entspricht 
eine  Antwort-  und  Auskunftspflicht  der  Regierung,  die  jedoch 
in  Bezug  auf  den  Weg  der  hienach  notwendigen  Erhebungen 
durcli  keine  Vorschrift  der  Kammer  gebunden  werden  kann. 
Ein  eigentliches  Enqueterecht  hat  —  abgesehen  von  dem  Fall 
der  Ministeranklage  —  der  bayrische  Landtag  nur  in  sehr 
bedingter  Weise.  Den  Kammerausschüssen  steht  das  Recht 
zu,  das  mündliche  und  schriftliche  Gutachten  von  Sachver- 
ständigen einzuholen.  Doch  kann  Niemand  zur  Abgabe  solcher 
Gutachten  verhalten  werden  ^),  und  dem  Staatsschatz  dürfen 
daraus  keine  eigenen  Kosten  erwachsen  '^).  Auch  in  Baden  sind 
nach  der  Landtagswahlreform  von  1904  die  Kammern  nicht 
befugt,  von  sich  aus  Tatsachen  zu  erheben,  die  für  ihre  Ent- 
scheidung über  die  streitige  Wahl  eines  Kammermitgliedes 
von  Bedeutung  sind;  sie  haben  vielmehr  das  Ministerium  des 
Innern  um  weitere  Veranlassung  zu  ersuchen,  welches  ver- 
pflichtet ist,  die  von  den  Kammern  als  erforderlich  bezeichneten 
Ermittlungen  anzustellen,  im  übrigen  aber  nach  freiem  Er- 
messen bestimmt,  was  zur  Aufklärung  des  in  Betracht  kom- 
menden Sachverhalts  notwendig  erscheint^).  Da  über  das  bei 
Vornahme  von  Beweiserhebungen  anzuwendende  Verfahren  bis 
dahin  Zweifel  bestanden,  wurde  ausdrücklich  festgesetzt,  daß 
hiefür    die  Vorschriften   über   das  Verfahren   in  Verwaltungs- 


*)  Hierauf  berief  sich  Freiherr  v.  Lichtenfels  in  der  Debatte  des  Osten-. 
Herrenhauses  über  §  8  des  Geschäftsordnungsgesetzes  v.  1861,  um  nachzuweisen, 
daß  das  bayrische  Recht  durch  die  Verneinung  eines  Äußerungszwanges, 
der  seiner  Natur  nach  dem  Bereich  der  Exekutive  zugehöre,  die  Grenzen 
zwischen  dieser  und  der  gesetzgebenden  Gewalt  aufrechthalte :  Sitzg.  d 
Herrenhauses  v.  I.Juli  1861,  Sten.  Prot.  d.  I.  Session  S.  111  (S.  unten  S.  302) 

^)  Ges.  den  Geschäftsgang  des  Landtags  betr.  v.  19.  Januar  1872  Art.  33 
GeschO,  d.  Kammer  d.  Reichsräte  v.  29.  Mai  1896   §  32;     GeschO,  d.  Kam- 
mer d.  Abgeordneten  v.  8.  Aug.  1904  §  28.     S.  v.  Sey  del  a.  a.  0.  S.  354  ff. 
ders,,  Das   Staatsrecht  d.  Königreichs  Bayern  (Handb.  d.  öff.  R.  II.  4),  Tü- 
bingen u.  Leipzig  1903  S.  52, 

^)  Bad.  Ges.  v.  24.  August  1904  das  Verfahren  bei  den  Wahlen  z. 
Ständeversammlung  betr.  §  73.  Vgl.  Walz  im  Jahrb.  d.  öff.  R.  Bd  I  S.  338; 
ders.,  Staatsrecht  d.  Großherzogtums  Baden  S.  81  f.;  Glockner,  Badisches 
Verfassungsrecht,  Karlsruhe  1905  S.  229  f.  Nach  §  8a  der  GeschO,  für  die 
zweite  Kammer  sind  Erhebungen  über  beanstandete  Wahlen  dringlich  zu 
behandeln. 


Zweig.  Die  parlament.  Enquete  uach  deutschem  und  österr.  Recht.      293 

Sachen  zu  gelten  haben   und  Zeugen  sowie  Sachverständige  in 
der  Regel  eidlich  zu  vernehmen  sind  ^). 

Es  zeigt  sich,  daß  das  Recht  der  parlamentarischen  Unter- 
suchung im  deutschen  Boden  nicht  Wurzel  fassen  konnte.  In 
den  Dreißigerjahren  hat  Karl  Salomo  Zachariä  prophezeit, 
daß  diese  Einrichtung,  soviel  sie  auch  für  sich  hat,  doch  in 
den  deutschen  konstitutionellen  Monarchien  schwerlich  das 
Bürgerrecht  erhalten  möchte  2).  Die  Entwicklung  hat  ihn  nicht 
Lügen  gestraft,  und  die  Richtigkeit  seiner  Vorhersage  erhält 
eine  neue  Bestätigung  durch  den  Umstand,  daß  diese  aus  dem 
Vorstellungskreise  des  parlamentarischen  Systems  stammende 
Institution  auch  im  Recht  des  Deutschen  Reiches  keinen  Platz 
gefunden  hat  ^).  Nicht  etwa  infolge  eines  Versehens  oder  Über- 
sehen s.  Denn  bei  der  staatsrechtlichen  Fundamentierung  des 
Norddeutschen  Bundes  wurde  allerdings  der  Versuch  unter- 
nommen, für  den  Reichstag  eine  Befugnis  nach  dem  Muster 
des  Art.  82  der  preußischen  Verfassungsurkunde  zu  erlangen. 
In  der  Debatte  über  Art.  23  der  Bundesverfassung,  welcher 
die  gesetzgeberische  Zuständigkeit  des  Reichstags  umschreibt, 
beantragte  der  Abgeordnete  v.  Ausfeld,  dem  Reichstag  auch 
das  Recht  zur  Erhebung  von  Tatsachen  zu  gewähren.  Weiter 
ging  der  Vorschlag  Laskers  auf  Einschaltung  eines  neuen 
Artikels,  laut  dessen  der  Reichstag  nebst  dem  Interpellations- 
recht, dem  Recht,  Adressen  an  das  Bundespräsidium  zu  richten, 
Beschwerden  entgegenzunehmen  und  sie  dem  Bundeskanzler 
zu  überweisen,  auch  die  Befugnis  erhalten  sollte,  Tatsachen 
durch  Vernehmung  von  Zeugen,  Sachverständigen  und  andern 
Auskunftspersonen  zu  erheben,  sich  somit  in  pleno  als  Unter- 
suchungsausschuß zu  konstituieren  und  in  gleicher  Weise 
Kommissionen    mit    der  Erhebung    von  Tatsachen    zu    beauf- 


*)  Die  Zeugen  und  Auskunftspersonen  sind  zum  Erscheinen  verpflichtet 
und  können  hiezu  durch  Geldstrafe  oder  persönlichen  Zwang  verhalten 
werden:  Landesherrliche  Verordnung  v.  31.  Aug.  1884,  das  Verfahren  in 
Verwaltungssachen  betr.  §  1  Abs.  2.     Vgl.  Glockner  S.  230  f. 

')  Vierzig  Bücher  vom  Staate  ^  Heidelberg  1839/43  Bd  m  S.  263. 

^)  Auch  nicht  in  der  Verfassung  Elsaß-Lothringens  von  1911.  Da  das 
Verfassungsgesetz  über  ein  dem  Landtag  zustehendes  Enqueterecht  schweigt, 
dieser  aber  grundsätzlich  nur  die  ihm  diu-ch  Gesetz  zugeteilten  Kompetenzen 
hat,  fehlt  ihm  das  Eecht,  behufs  seiner  Information  Untersuchungsausschüsse 
einzusetzen.  In  diesem  Zusammenhang  ist  wichtig,  daß  dem  Landtag  auch 
die  Wahlprüfung  nicht  zukommt:  s.  Heim,  Das  Elsaß-Lothringische  Ver- 
fassungsgesetz V.  31.  Mai  1911,  Straßburg  1911  S.  66. 


294      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

tragen  ^).  In  dieser  Fassung  war  die  Vorschrift  offenbar  darauf 
berechnet,  den  Reichstag  mit  dem  überheferten  konstitutionellen 
Rüstzeug  zur  wirksamen  Geltendmachung  einer  poHtischen 
Verantwortlichkeit  der  Reichsexekutive  auszustatten.  Aber 
nicht  unter  solchem  Gesichtspunkt  hat  sie  Gegner  gefunden, 
sondern  vor  allem  im  Hinblick  auf  den  geringen  Effekt,  den 
das  parlamentarische  Untersuchungsrecht  in  Preußen  zu  ver- 
zeichnen hatte  2).  Es  wurde  hervorgehoben,  daß  dieses  Recht 
vielleicht  in  Einzelstaaten  und  bei  unbegrenzter  legislativer 
Machtsphäre  der  Volksvertretung  am  Platz  wäre,  nicht  aber 
für  eine  Versammlung  statuiert  werden  kann,  deren  gesetz- 
geberische Zwecke  fest  bestimmt  sind,  die  sich  zudem  vorzugs- 
weise mit  auswärtigen  und  militärischen  Angelegenheiten  be- 
schäftigen dürfte,  worüber  eine  Enquete  nicht  leicht  durch- 
zuführen ist  3).  Die  Tätigkeit  der  Untersuchungskommissionen 
würde  den  Reichstag  der  Gefahr  aussetzen,  immer  wieder  seine 
Zuständigkeit  zu  überschreiten  und  dadurch  unnötigerweise 
Konflikte  herbeizuführen*).  Auch  hier  wurde  betont,  daß  es 
der  Repräsentativkörperschaft  an  Organen  fehle,  um  gegen 
etwaigen  Widerstand  der  Regierung  eine  Erforschung  des  in 
Untersuchung  gezogenen  Sachverhalts  zu  bewirken  s). 

Artikel  23  wurde  schließlich  nach  der  Regierungsvorlage 
angenommen,  der  Versuch,  ein  parlamentarisches  Enqueterecht 
durch  ausdrücklichen  Verfassungssatz  zu  kodifizieren,  jedoch 
nach  kurzer  Zeit  durch  den  Abgeordneten  Reincke  erneuert, 
der  die  Einfügung  folgender  Bestimmung  als  Art.  23  a  in  die 
Bundesverfassung  beantragte:    ,,Der  Reichstag  hat  das  Recht, 

*)  Konstituierender  norddeutscher  Reichstag,  Sitzg.  v.  29.  März  1867: 
V.  Holtzendorff-Bezold,  Materialien  d.  deutschen  Reichsverfassung, 
Berlin  1873  Bd  11  S.  85  f. 

*)  S.  die  Ausführungen  des  Abg.  Baumstark  bei  v.  Holtzendorff- 
Bezold  S.  88. 

^)  Abg.  V,  Vincke:  v.  Holtzendorff-Bezold  S.  100. 

*)  Ein  ähnliches  Argument  gegen  das  Enqueterecht  eines  bundesstaat- 
lichen Parlaments  bereits  in  der  oben  S.  281  f.  erwähnten  Kollektivnote  be- 
treffend das  Verfassungswerk  der  Frankfurter  Nationalversammlung. 

^)  Abg.  Scherer:  v.  Holtzendorff-Bezold  S.  93  f.  —  Grade  dieser 
Gesichtspunkt  veranlaßte  1891  die  sozialdemokratische  Fraktion,  in  ihrem 
Antrag  auf  Festlegung  eines  Enqueterechts  des  Reichstags  (s.  unten  S.  297  f.) 
über  den  Art.  82  der  preußischen  Verfassung  hinauszugehen  und  für  die 
Untersuchungsausschüsse  das  Recht  eidlicher  Abhörung  von  Zeugen  und  Sach- 
verständigen in  Anspruch  zu  nehmen:  Abg.  Bebel  im  Deutschen  Reichstag, 
136.  Sitzg.  V.  9.  Dez.  1891,  Sten.  Ber.  8.  Legislaturperiode  I.  Sess.  1890/91 
S.  3297. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      295 

behufs  seiner  Information  Kommissionen  zur  Untersuchung 
von  Tatsachen  zu  ernennen.  Die  Behörden  sind  gehalten,  diesen 
Kommissionen  bei  Ausübung  ihrer  Amtspflicht  innerhalb  der 
Grenzen  ihres  Kommissoriums  die  geforderte  Unterstützung 
zu  gewähren"^).  Der  Vorschlag  war  nach  den  "Worten  des 
Antragstellers  hauptsächlich  durch  sozialpolitische  Erwägungen 
bestimmt:  die  Einsetzung  von  Kommissionen  sollte  die  Lage 
der  arbeitenden  Klassen  zum  Gesamtbewußtsein  erheben,  um 
die  so  ermittelten  und  vermittelten  Kenntnisse'  zum  Gemein- 
gut der  Gesamtheit  zu  machen-).  Der  Antrag  stieß  zunächst 
auf  das  Bedenken,  es  sei  nicht  rätlich,  jetzt  schon  Änderungen 
in  eine  Verfassung  einzuführen,  die  sich  erst  einzuleben  habe, 
und  unter  diesem  Gesichtspunkt  des  ,, Einbruchs"  in  die  Bundes- 
verfassung empfahl  auch  der  Berichterstatter,  Untersuchungs- 
kommissionen lediglich  fallweise  zu  ernennen  2).  Im  übrigen 
wiederholte  er  zur  Begründung  seiner  ablehnenden  Haltung 
die  aus  der  Verfassungsdebatte  bekannten  Argumente  und  hob 
hervor,  daß  Untersuchungsausschüsse  eine  ,,  Administrativ- 
gewalt und  eine  Exekutivgewalt"  d.  h.  das  Recht  haben  müßten, 
nach  ihrer  Wahl  jeden  Beamten  irgendeiner  Behörde  zu  ver- 
nehmen. Diese  Beamten  müßten  verpflichtet  sein,  vor  der 
Kommission  zu  erscheinen  und  ihr  Rede  zu  stehen.  Nach  den 
Erfahrungen,  die  bei  der  Anwendung  des  Untersuchungsrechtes 
in  Preußen  den  schroffsten  Widerspruch  zwischen  dem  Buch- 
staben der  Verfassung  und  der  bureaukratischen  Tradition  auf- 
gewiesen hatten,  lag  hier  die  eigentliche  Schwierigkeit,  und 
deshalb  meinte  der  Berichterstatter,  man  müßte  erst  die  den 
Staatsdienst  betreffenden  Vorschriften  ändern,  ehe  Beamte  als 
Zeugen  vor  parlamentarischen  Ausschüssen  auftreten  könnten; 
so  wie  die  Dinge  jetzt  lägen,  werde  es  ein  Beamter  mit  seinem 


^)  Anlage  Nr.  33  zu  den  Sten.  Ber.  über  die  Verhandlungen  d.  Reichs- 
tages d.  norddeutschen  Bundes,  I.  Legislaturperiode  Sess.  1868.  Der  Antrag 
gelangte  in  der  16.  Sitzg.  v.  5.  Juni  1868  zur  Verhandlung:  Sten.  Ber.  S.  258  ff. 

^)  Abg.  Dr.  Reincke,  Sten.  Ber.  S.  265.  Nach  der  Darstellung  des 
Abg.  Schraps  war  ursprünglich  die  Einsetzung  einer  ständigen  Kommission 
beabsichtigt,  die  dem  Reichstag  über  die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  regel- 
mäßig Bericht  erstatten  sollte.  Um  die  geschäftsordnungsmäßig  erforderliche 
Zahl  von  Unterschriften  zu  gewinnen,  entschloß  man  sich  zu  einer  Formu- 
lierung, die  sich  dem  Art.  82  der  preuß.  Verfassungsurkunde  näherte:  Sten. 
Ber.  S.  259. 

^)  Präsident  des  Bundeskanzleramtes  Delbrück,  Sten.  Ber.  S.  260;  Be- 
richterstatter Dr.  Engel  das.  S.  259. 


296      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

Eide  nicht  verträglich  finden,  außerdiensthch  über  Dinge  zu 
reden,    welche   dienstlich  zu  seiner  Kenntnis  gekommen  sind. 

In  den  zwei  Jahrzehnten  seit  der  Paulskirche  hatte,  wie  man 
sieht,  die  grundsätzliche  Stellung  der  parlamentarischen  Körper- 
schaften zu  der  Frage  der  im  Beamtentum  verkörperten  Staats- 
autorität einen  Prozeß  konservativer  Läuterung  durchgemacht, 
und  vergeblich  mühte  sich  Waldeck,  ein  Zeuge  aus  den 
Jugendtagen  des  preußischen  Konstitutionalismus,  die  Ver- 
sammlung für  den  Antrag  Reincke  zu  gewinnen,  weil  dieser 
dem  Wunsche  förderlich  sei,  daß  der  norddeutsche  Bund  wirk- 
lich eine  parlamentarische  Verfassung  gegenüber  einem  verant- 
worthchen  Ministerium  erhalte  i).  Auch  der  Abgeordnete 
T Westen  erklärte,  keine  Vermischung  der  parlamentarischen 
Befugnisse  und  der  Exekutive  zu  besorgen,  wenn  Beamte  an- 
gewiesen würden,  den  Requisitionen  eines  Parlamentsausschusses 
zu  entsprechen;  er  wollte  vielmehr  hierin  einen  großen  Fort- 
schritt in  der  Homogeneität  zwischen  den  parlamentarischen 
Institutionen  des  Vaterlandes  und  der  herrschenden  Verwaltungs- 
gewohnheit erblicken.  Aber  auch  er  versprach  sich  praktischen 
Erfolg  nur  davon,  daß  für  die  Behörden  eine  formelle  Ver- 
pflichtung geschaffen  werde,  den  parlamentarischen  Unter- 
suchungsausschüssen Akten  zur  Verfügung  zu  stellen  und  auf 
Requisitionen  Auskunft  zu  erteilen  2).  Den  Ausschlag  gab 
wieder  die  aus  der  Natur  des  Bundesstaates  abgeleitete  Er- 
wägung, daß  in  einem  solchen  Staatswesen  die  Funktion  der 
parlamentarischen  Enquete  eine  ganz  andere  wäre  als  im  Ein- 
heitsstaat, der  Hinweis  auf  das  preußische  Vorbild  daher  nicht 
am  Platze  sei  ^).  Und  da  es  sich  nach  dem  Ausdruck  des 
Berichterstatters  um  ein  Recht  handelte,  das  ,, nicht  soviel  wert 
ist  wie  man  gewöhnlich  glaubt",  wurde  der  Antrag  schheßlich 
abgelehnt*). 

Der  deutsche  Reichstag  hat  also  verfassungsmäßig  kein 
Enqueterecht  5)   und    scheint   auch   nicht   geneigt,    diese   Lücke 


^)  Sten.  Ber.  S.  261. 

*)  Sten.  Ber.  S.  260  f. 

")  Präsident  Delbrück,  Sten.  Ber.  S.  260;  Abg.  Twesten  das.  S.  261. 

*)  Sten.  Ber.  S.  267. 

*)  Als  in  der  Reichstagssitzung  v.  12.  Mai  1906  der  Antrag  auf  Gewährung 
freier  Eisenbalinfahrt  für  die  Mitglieder  des  Reichstags  damit  begründet  wurde, 
daß  diese  selbst  Erhebungen  an  Ort  und  Stelle  vornehmen  wollten,  erklärte 
Staatssekretär  Dr.  v.  Posadowsky,  es  sei  nach  Ansicht  der  verbündeten 
Regierungen  Sache  der  Exekutive,  Erhebungen  anzustellen  und  Tatsachen  zu 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  östeiT,  Recht.      297 

seiner  Zuständigkeit  durch  eine  generelle  Regelung  auszufüllen  ^). 
Ein  im  Jahre  1891  seitens  der  sozialdemokratischen  Fraktion 
eingebrachter  Antrag,  in  die  Reichsverfassung  als  Artikel  23  a 
eine  Bestimmung  wegen  Einsetzung  von  Reichstagskommissionen 
zur  Untersuchung  von  Tatsachen  aufzunehmen,  ist  nicht  zur 
Verabschiedung  gelangt').  Abgesehen  von  dem  taktischen  Zweck, 
durch  Aktionen  solcher  Art  ein  parlamentarisches  Regime  vor- 
zubereiten, wollte  der  Antrag  in  erster  Linie  den  Reichstag  in 
die  Lage  versetzen,  durch  Personen  aus  seiner  Mitte  an  den 
Erhebungen  über  die  soziale  Lage  bestimmter  Bevölkerungs- 
gruppen teilzunehmen  und  mit  größerer  Sachkenntnis  und  Ge- 
wissenhaftigkeit,  als  es  sonst  der  Fall  sein  kann,   sein  Votum 


erforschen.  (S.  Dambitsch,  Die  Verfassung  d.  Deutschen  Reichs,  Berlin 
1911  S.  4-10,)  —  Mit  dem  Text  übereinstimmend  v.  Seydel,  Commentar  z. 
Verf.-Urk.  f.  d.  Deutsche  Reich  ^  Freiburg  i.  B.  u.  Leipzig  1897  S.  203,  der 
jedoch  meint,  es  sei  dem  Reichstag  nicht  untersagt,  Auskunftspersonen  oder 
Sachverständige  mündlich  oder  schriftlich  einzuvernehmen;  nur  könne  er 
Niemand  zwingen,  sich  einvernehmen  zu  lassen.  Gegen  eine  solche  über 
Art.  82  der  preuß.  Verf.-Urk.  hinausgehende  Kompetenz  des  Reichstags  Arndt, 
Staatsrecht  d.  Deutschen  Reiches  S.  148;  ders. ,  Verfassung  d.  Deutschen 
Reichs*,  Berlin  1911  S.  184  f.;  Dambitsch  a.  a.  0.  Über  die  Auffassung 
V.  Jagemanns,  Die  deutsche  Reichs  Verfassung,  Heidelberg  1904  S.  129, 
daß  die  Parlamentsenquete  ein  Eingriff  in  die  Verwaltung  wäre,  ließe  sich 
noch  streiten.  Wenn  aber  dieser  Autor  unter  den  „freien  Mitteln",  die  dem 
Reichstag  auf  anderem  Wege  gewünschte  Kenntnisse  und  Gelegenheit  zur 
Anschauung  bieten  sollen,  die  korporative  Besichtigung  einer  Zündstoff- 
fabrik oder  die  Teilnahme  an  der  Eröffnung  des  Nordostseekanals  anfühi-t, 
so  gestattet  diese  Aufstellung  einen  Rückschluß  auf  die  völlige  Verkennung 
des  eigentlichen  Wesens  der  Materie.  In  diesem  Betracht  steht  freilich  das 
Enqueterecht  in  dem  erwähnten  Buch  nicht  vereinzelt  da. 

^)  Auch  Neumann- Hof  er,  der  de  lege  ferenda  für  die  parlamentari- 
schen Ausschüsse  Erweiterung  der  Informationsmöglichkeit  fordert,  gibt  zu, 
daß  das  Verlangen  darnach  sich  nicht  oft  und  niemals  stürmisch  geregt  hat 
(Zeitschr.  f.  Politik  Bd  IV  S.  72). 

")  „Der  Reichstag  hat  das  Recht,  behufs  seiner  Information  Kommis- 
sionen zur  Untersuchung  von  Tatsachen  zu  ernennen.  Diese  Kommissionen 
sind  berechtigt,  Zeugen  und  Sachverständige  —  auch  eidlich  —  zu  vernehmen 
und  überhaupt  alle  diejenigen  Erhebungen  zu  veranstalten,  die  sie  zur  Klar- 
stellung der  Tatsachen  für  nötig  erachten.  Die  Behörden  sind  gehalten, 
diesen  Kommissionen  bei  Ausübung  ihrer  Amtspflicht  innerhalb  der  Grenzen 
ihrer  Aufgaben  die  geforderte  Unterstützung  zu  gewähren.  Die  Mitglieder 
dieser  Kommissionen  erhalten  für  ihre  Zeitversäumnisse  und  Auslagen  Ent- 
schädigung, deren  Höhe  reichsgesetzlich  festgestellt  wird":  Antrag  Au  er  u. 
Genossen,  Anlage  Nr.  39  der  Sten.  Ber.  über  die  Verhandlungen  d.  Reichstags, 
8,  Legislaturperiode  I.  Sess.  1890/91  S.  237.  (S.  auch  Arch.  f.  soziale  Gesetz- 
gebung u.  Statistik  Bd  III  S.  630  f.)  Der  Antrag  kam  nur  zur  ersten  Lesung: 
136.  Sitzg.  V.  9.  Dez.  1891,  Sten.  Ber.  das.  S.  3287  ff. 


298      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

abzugeben.  Die  Debatte  wurde  im  wesentlichen  mit  den  von 
früheren  Anlässen  her  bekannten  Argumenten  bestritten.  Es 
fehlte  weder  die  Abwehr  des  Versuchs,  einen  Teil  der  Exekutive 
auf  den  Reichstag  zu  übertragen,  noch  die  Warnung,  immer 
wieder  an  der  Verfassung  herumzure vidieren  i).  Unverkennbar 
schlägt  aber  die  Note  einer  gewissen  Enquetemüdigkeit  durch. 
Redner  verschiedener  Parteien  sind  darin  einig,  daß  die  Trag- 
weite des  parlamentarischen  Untersuchungsrechtes  geringer  sei 
als  fünfzig  oder  sechzig  Jahre  früher,  daß  das  Parlament  zu 
seiner  Information  jetzt  nicht  auf  das  angewiesen  ist,  was  man 
ihm  vom  Regierungstisch  unterbreitet,  weil  die  Auskunfterteilung 
in  umfassender  Weise  durch  Presse  und  Vereinswesen  geleistet 
wird  2).  Der  deutsche  Reichstag  hat  somit  auf  ausdrückhche 
Festlegung  eines  Enqueterechts  verzichtet  3),  in  der  Praxis  jedoch 
sein  Auskunftsbedürfnis  nach  dem  früher  in  Belgien  geübten 
Vorgang  realisiert,  indem  er  mittels  Gesetzes  die  Bildung  einer 
Untersuchungskommission  verfügte.  So  wurde  im  Jahre  1878 
zur  Klarstellung  der  Verhältnisse  des  Tabakbaus  eine  Enquete 
berufen,  welche  die  sachliche  Grundlage  des  Tabaksteuergesetzes 
von  1879  geliefert  hat*).  Soweit  es  sich  um  wirtschaftspolitische 
Orientierung  und  Vorbereitung  der  einschlägigen  legislativen 
Maßnahmen  handelt,  geht  der  Zug  der  Entwicklung  dahin,  das 
Hauptgewicht  der  Information  vom  Reichstag  in  den  Bundesrat 
und  die  Reichsregierung  zu  verschieben  s). 


')  Abgg.  V.  Manteuffel  u.  Bachern:  Sten.Ber.  S.  3292,  3293. 

")  Abgg.  Bachern  u.  v,  Marquardsen,  Sten.Ber.  das. 

^)  Im  norddeutschen  Reichstag  hatte  bei  Beratung  des  Antrags  Reincke 
(s.  oben  S,  294  f.)  Lasker  gegen  diesen  eingewendet,  der  Reichstag  bedürfe 
gar  nicht  des  vorliegenden  Antrags,  um  Kommissionen  zur  Untersuchimg 
von  Tatsachen  einzusetzen,  weil  die  Bestellung  solcher  Kommissionen  jedem 
Parlament  schon  als  natürliches  Recht  zustehe  (Sten.  Ber.  über  d.  Verhand- 
lungen des  Reichstags  des  norddeutschen  Bundes  1.  Legislatm-periode  Sess. 
1868  S.  262).  Ähnlich  meinte  Abg.  Schrader  in  der  Debatte  über  den  Antrag 
Auer,  der  Reichstag  brauche  für  sein  Enqueterecht  keine  Verfassungsände- 
rung, sondern  könne  solches  auch  durch  seine  Geschäftsordnung  erreichen, 
wenn  er  nicht  beansprucht,  Zeugen  und  Sachverständige  zu  vereidigen  oder 
zum  Erscheinen  zu  zwingen,  sie  vielmehr  ohne  jeden  Zwang  zu  seiner  Infor- 
mation vorladen  will.  (Sten.  Ber.  über  d.  Verhandlungen  d.  Reichstags  8.  Le- 
gislaturperiode I.  Sess.  1890/91  S.  3294.) 

*)  Reichsges.  v.  26.  Juni  1878  RGBl.  S.  129.  S.  v.  Mayr,  Art.  Tabak- 
steuer in  v.  Stengels  Wörterbuch  d.  Deutschen  Verwaltungsrechts  Bd  11 
S.  599;  V.  Heckel,  Tabak  imd  Tabaksteuer,  im  Handwörterbuch  d.  Staats- 
wissenschaften' Bd  VII  S.  1080;  V.  Roenne-Zorn  a.  a.  0.  S.  363  N.  1. 

*)  Die  gleiche  Erscheinung  —  allmähliche  Verdrängung  der  Parlaments- 
enquete  durch   Regierungskommissionen   —    ist   in  England   zu  beobachten. 


Zweig,  Die  Parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      299 

Für  die  Erhebungen,  die  etwa  im  Laufe  der  dem  Reichstag 
zustehenden  und  obhegenden  Legitimatiousprüfung  notwendig 
werden,  gelten  sinngemäß  die  Sätze  des  preußischen  Rechts. 
Der  Reichstag  kann  zur  Vornahme  solcher  Erhebungen  die 
beteiligte  Eiuzelstaatsregierung  durch  den  Reichskanzler  ersuchen 
lassen,  nicht  aber  zu  diesem  Behuf  unmittelbar  mit  andern 
Instanzen  —  Gerichts-  oder  Polizeibehörden  —  in  Verbindung 
treten,  geschweige  denn  selbständig  Ermittlungen  vornehmen^). 
Und  auch  dieses  eingeschränkte  Informationsrecht  darf  er  nur 
ausüben,  um  über  die  Gültigkeit  einer  Wahl  zu  entscheiden, 
also  nicht  mehr,  wenn  er  die  Wahl  bereits  agnosziert  oder 
verworfen  hat,  etwa  zu  dem  Zweck,  um  durch  nachträgliche 
Beweiserhebungen  Unregelmäßigkeiten  festzustellen  und  so 
wenigstens  indirekt  eine  Kontrolle  oder  Ahndung  der  in  Frage 
stehenden  Vorgänge  herbeizuführen  2).  Der  Reichstag  kann  zur 
Ausübung  des  ihm  in  Art.  23  RV.  eingeräumten  Rechtes  einer 
Kommission  Petitionen,  die  in  den  Geschäftskreis  der  Kom- 
mission fallen,  zur  Erledigung  übermitteln,  die  Kommission 
hat  aber  nicht  etwa  die  Befugnis,  die  Petenten  selbst  zu  ver- 
nehmen, ist  vielmehr  auch  hier  für  Beweisaufnahme  und  Ur- 
kundenrequisition au  die  Hilfe  der  Reichsregierung  gewiesen^). 

Als  letzter  von  den  Staaten  des  ehemaligen  deutschen  Bundes 
hat  Österreich  das  Enqueterecht  der  Volksvertretung  verfassungs- 


Über   deren  Gründe:    Cohn,  Parlamentarische   Untersuchungen   in   England 
S.  4  ff.    Vgl.  Eedlich,  Englische  Lokalverwaltung,  Leipzig  1901  S.  679  ff. 

')    Walz,     tJber    die    Prüfung    d.    parlamentarischen    Wahlen    S.  80 
Leser  S.  41;  Arndt,  Staatsrecht  S.  126,  148.    (Dagegen  Wagner  in  Hirth- 
Seydels    Annalen   d.  Deutschen  Eeichs,   Jhgg.  1906    S.  141.)     Ähnliches  gilt 
für  Baden:  Walz  S.  78  f. 

^)  Walz  S.  80;  Leser  S.  42  ff.;  v.  Seydel,  Kommentar  S.  208,  mit 
dessen  Meinung,  daß  für  Erhebungen  solcher  Art  kein  reichsgesetzlicher 
Zeugniszwang  besteht,  Arndt  a.  a.  0.  insofern  übereinstimmt,  als  Jeder,  da 
die  Wahl  geheim  ist,  seine  Aussage  darüber,  wen  er  gewählt  hat,  verweigern 
kann,  wenn  es  sich  dabei  um  Gültigkeit  der  Wahl,  nicht  aber  wenn  es  sich 
um  eine  angeblich  begangene  Fälschung  handelt.  Die  Frage,  ob  und  inwie- 
weit der  Reichstag  ein  Recht  auf  Einsicht  von  Gerichtsakten  habe,  wurde 
laut  Berichtes  der  Petitionskommission  v.  23.  Mai  1906  (Anlagen,  11.  Legis- 
laturperiode n.  Sess.  Bd  VI  S.  4807)  dahin  entschieden,  daß  der  Reichstag 
nicht  unmittelbar  Akten  einfordern,  sondern  den  Reichskanzler  um  deren 
Übersendung  ersuchen  kann,  aber  keinen  Anspruch  darauf  hat,  daß  dem 
Wunsch  Folge  gegeben  werde:  Dambitsch  a.  a.  0. 

^)  Neumann-Hof  er  a.  a.  0.  S.  72,  der  das.  S.  85  de  lege  ferenda  für 
die  Kommissionen  das  Recht  fordert,  bei  Petitionen  und  Wahlprotesten  die 
Literessenten  zu  vernehmen. 


300      Zweig,  Die  parlament,  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

mäßig  kodifiziert.  Hier  zeigt  sicli  eine  offenbar  in  gleicliartigen 
politisclien  Voraussetzungen  begründete  Parallelität  mit  der  Ent- 
wicklung der  Frage  in  Preußen.  Das  Untersuchungsrecht  der 
österreichischen  Reichsvertretung  hat  Herkunft  und  Schicksal  der 
in  Art.  82  der  preußischen  Verfassungsurkunde  gegebenen  Kom- 
petenzbestimmung geteilt.  Es  kommt  wie  diese  aus  der  Revolu- 
tionsepoche und  ist  wie  sie  oder  noch  mehr  als  sie  auf  dem  Papier 
geblieben.  Schon  der  von  Kajetan  Mayer  ausgearbeitete  Entwurf 
der  Fünferkommission,  den  der  Konstitutionsausschuß  des  Krem- 
sierer  Reichstags  zur  Grundlage  seiner  Verhandlungen  nahm  ^), 
enthielt  als  §  64  den  der  belgischen  Verfassung  entnommenen 
lapidaren  Satz,  daß  eine  jede  Kammer  das  Recht  habe,  Unter- 
suchungen anzustellen;  wobei  man  sich  erinnern  mag,  daß  die 
Verfassungsbewegung  und  Verfassungsberatung  vom  Gedanken 
der  Volkssouveränität  ihren  Ausgang  genommen  hat-).  In  der 
Debatte  hierüber  sind  —  und  das  bekundet  die  hohe  politische 
Bildungsreife  dieser  ersten  österreichischen  Constituante  —  alle 
historischen  und  dogmatischen  Gesichtspunkte  zum  Wort  ge- 
langt, die  bis  dahin  für  die  Lösung  der  Frage  in  Betracht 
kamen  ^).  Es  wurde  darauf  hingewiesen,  daß  der  Paragraph 
zu  dem  Mißbrauch  verleiten  könnte,  Eingriffe  in  den  Bereich 
der  Exekutive  zu  unternehmen,  und  es  wurde  sogar  die  Ver- 
mutung laut,  daß  die  Bestimmung  bei  der  Krone  mehr  Wider- 
stand finden  werde  als  das  Suspensivveto.  Brestel  wollte  den 
Ausdruck  ,, Untersuchung",  der  einige  Ausschußmitglieder  an 
die  Inquisition  erinnerte,  durch  das  Wort  ,, Enquete"  ersetzen, 
welches  die  Sache  deutlicher  bezeichne.  Er  unterscheidet  eine 
Enquete  in  Wahlsachen  und  eine  solche,  die  dem  Ausspruch 
der  Kammer  als  Anklagejury  im  Fall  einer  Ministerklage  vorher- 
gehen müsse.  Andere  Redner  betonten,  daß  nur  solche  Unter- 
suchungen gemeint  sein  können,  die  zum  Zweck  der  Vorbereitung 
legislativer  Arbeiten  stattfinden.  Daß  eine  Berufung  auf  das 
preußische  Vorbild  sich  in  den  Protokollen  nicht  nachweisen 
läßt,    ist    um   so  merkwürdiger,   als   der  Ausschuß   schließlich 


')  Die  Vorgeschichte  bei  Springer,  Protokolle  d.  Verfassungsaus- 
schusses im  österreichischen  Reichstage  1848 — 1849,  Leipzig  1885  S.  4  ff. 
Vgl.  (Fischel),  Die  Protokolle  des  VerfassuDgsausschusses  über  die  Grund- 
rechte, Wien  u.  Leipzig  1912  S.  X  ff. 

')  Vgl.  meine  Studien  u.  Kritiken  S.  199;  (Fischel)  a.  a.  0.  S.  XVI, 
XX,  20,  77. 

")  Zum  folgenden  (Sitzung  d.  Verfassungsausschusses  v.  10.  Febr.  1849) 
vgl.  Springer  S.  167  ff. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  östeir.  Recht.      301 

ein  Amendement  des  Abgeordneten  Scholl  annahm,  das  den 
Artikel  82  der  preußischen  Verfassungsurkunde  wörtlich  kopiert. 
Hienach  hat  jede  Kammer  das  Recht,  behufs  ihrer  Information 
zur  Untersuchung  von  Tatsachen  Kommissionen  zu  ernennen, 
und  so  erscheint  der  Satz  als  §  89  in  der  Kremsierer  Verfassung. 
§  91,  der  jeder  Kammer  die  Befugnis  gibt,  von  den  Ministern 
Auskünfte  zu  verlangen  und  durch  sie  Erhebungen  zu  veran- 
lassen, ist  auf  einen  Antrag  Riegers  zurückzuführen  und  hat, 
wie  schon  aus  den  Materialien  hervorgeht,  enge  Beziehung  zum 
Untersuchungsrecht  der  Kammern,  welchen  anheimgestellt 
werden  sollte,  gegebenenfalls  dieses  Recht  durch  die  Minister 
üben  zu  lassen  ^).  Die  Bestimmung,  daß  die  Landtage  berechtigt 
sind,  von  der  Regierung  Aufschlüsse  über  alle  Zweige  der 
Landesverwaltung  zu  verlangen  und  Untersuchungskommissionen 
anzuordnen,  hat  im  Ausschuß  zu  keiner  Erörterung  Anlaß 
gegeben-).  Sie  erklärt  sich  im  Zusammenhang  damit,  daß 
der  Konstitutionsentwurf,  den  man  nicht  mit  Unrecht  als 
„zentralistisch- föderalistische"  Verfassung  persiffliert  hat,  aus 
einem  Kompromiß  gegensätzlicher  Partei  Strömungen  hervor- 
gegangen ist  3)  und  in  den  Kapiteln  über  die  Landesregierungs- 
gewalt ein  Überwiegen  der  autonomistischen  Idee  zeigt,  die 
ganz  mechanisch  den  Landtag  zu  einem  Reichstag  im  kleinen 
gestalten  wollte  und  für  ihn  dem  Gliche  zuliebe  sogar  das 
Recht  in  Anspruch  nahm,  gegen  den  Landeschef  oder  die  ihm 
zur  Seite  stehenden  verantwortlichen  Räte  die  Anklage  vor  dem 
obersten  Reichsgericht  zu  erheben*).  Man  sieht,  wie  auch  hier 
der  Verstärkung  der  politischen  und  sachlichen  Machtsphäre 
eines  Repräsentativorgans  als  eine  beinah  automatische  Begleit- 
erscheinung die  Anerkennung  seines  Enqueterechts  entspricht. 
Grade  deshalb  ist  von  einem  solchen  in  den  folgenden 
Verfassungswerken  bis  zu  den  Dezembergesetzen  von  1867 
nicht  die  Rede.  Bei  der  Beratung  der  ersten  autonomen  Ge- 
schäftsordnung von  1861  unternahm  das  Abgeordnetenhaus  den 
schüchternen  Versuch,  wenigstens  Rudimente  eines  Informa- 
tionsrechts zu  erlangen.  Der  Ausschußentwurf  des  Geschäfts- 
ordnungsgesetzes gewährte  den  Kommissionen  beider  Häuser 
die  Möglichkeit,  durch  die  Präsidenten  auf  gesetzlichem  Wege 


')  S.  die  Debatte  bei  Springer  S.  170  f. 

^)  Entwurf  des  Fünferausschusses  §  96.     Kremsierer  Verfassung  §  118. 

=>)  Vgl.  Springer  S.  7. 

*)  Kremsierer  Verfassung  §§  102  E. 


302      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

allfällig  erforderliche  Erhebungen  einleiten  oder  Zeugen  und 
Sachverständige  zur  unmittelbaren  Vernehmung  vorladen  zu 
lassen  1).  Die  Regierung  erblickte  in  der  Abhörung  von  Zeugen 
einen  Eingriff  in  die  Zuständigkeit  der  Exekutive  und  ließ 
durch  Schmerling  Streichung  des  ganzen  Paragraphen  oder 
doch  wenigstens  des  die  Zeugenvernehmung  betreffenden  Passus 
beantragen.  Sie  blieb,  nachdem  Mühlfeld  die  Fassung  der 
Ausschußvorlage  befürwortet  hatte,  in  der  Minorität  2),  ver- 
mochte aber  für  ihre  Anschauung  das  Herrenhaus  zu  gewinnen, 
dessen  politische  Kommission  den  ,, gesetzlichen  Weg"  für  die 
Einleitung  von  Erhebungen  näher  dahin  bestimmte,  daß  um 
diese  die  Minister,  Hofkanzler  und  Chefs  der  Zentralstellen  an- 
zugehen sind;  sie  empfahl  jedoch  zugleich  die  Eliminierung 
des  Rechts  zur  Zeugenvernehmung,  um  so  den  Gesichtspunkt 
zu  wahren,  daß  die  bloß  mit  legislativen  Aufgaben  betrauten 
Ausschüsse  beider  Häuser  nicht  in  den  Beruf  der  Exekutiv- 
gewalt und  die  ihr  obliegenden  Amtshandlungen  übergreifen  3). 
Gegenüber  dieser  zweifellos  durch  die  Lehre  von  der  Gewalten- 
teilung beeinflußten  Redaktion  verlangte  ein  Amendement  des 
Grafen  Thun  für  die  Kommissionen  und  Ausschüsse  die  formell 
und  materiell  weitergehende  Befugnis,  auf  Grund  spezieller  Er- 
mächtigung der  betreffenden  Kammer  ,,zur  Beleuchtung  legis- 
lativer, den  Gegenstand  ihrer  Beratung  bildender  Fragen  und 
der  ihnen  zugrunde  liegenden  tatsächlichen  Verhältnisse  Er- 
hebungen und  Einvernehmungen  auf  gesetzlichem  Wege  durch 
die  Verwaltungsbehörden  zu  veranlassen  oder  auch  selbst  vor- 
zunehmen"*).    Der  Antrag  umging  also,  und  zwar  absichthch, 

')  §  8.  Sten.  Prot.  d.  Abgeordnetenhauses  I.  Sess.  S.  212.  In  der  Sitzg. 
V.  15.  Mai  1861  beantragte  Dr.  Fischer,  daß  das  Haus  den  von  seinen  Ab- 
teilungen zur  Vorberatung  des  Gesetzentwurfs  betreffend  die  Lehnallodiali- 
sierung  gebildeten  Ausschuß  anweise,  aus  jedem  Kronland  Sachkundige  nach 
§  13  GeschO,  beizuziehen.  Hierunter  waren  aber  bloß  sachkundige  Mit- 
glieder des  Hauses  verstanden:  Sten.  Prot.  a.  a.  0.  S.  121,  125. 

')  Sitzg.  V.  5.  Juni  1861,  Sten.  Prot.  S.  216  f. 

")  „ein  Gesichtspunkt,  mit  Rücksicht  auf  welchen  die  prinzipielle  Be- 
stimmung des  §  15  des  Gesetzentwurfes,  nach  welchem  der  Außenverkehr 
nur  durch  die  Präsidenten  des  Hauses  und  durch  die  betreffenden  Minister 
vermittelt  werden  darf,  auch  in  Betreff  der  Ausschüsse  und  Kommissionen 
keine  Ausnahmen  erleiden  kann."  Sten.  Prot.  d.  Herrenh.  I.  Sess.  S.  99.  Vgl. 
die  Ausführungen  des  Berichterstatters  Grafen  Hartig  i.  d.  Sitzg.  v.  1.  Juli  1861, 
Sten.  Prot.  S.  103  u.  des  Freiherrn  v.  Lichtenfels  S.  111. 

*)  Sten.  Prot.  S.  104.  S.  die  Begründung  durch  den  Autragsteller 
S.  109  f.  Dafür  Fürst  Salm  S.  111  f.,  der  ebenso  wie  Graf  Thun  ausdrück- 
lich von  „Enquete"  spricht. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht.      303 

die  Frage  der  Abhörung  von  Zeugen,  führte  aber  ein  neues 
folgenreiches  Moment  in  die  Diskussion  ein,  indem  er  das 
Enqueterecht  der  Ausschüsse  an  einen  vorgäugigen  ausdrück- 
lichen Beschluß  des  Hauses  knüpft  und  den  Umfang  dieses 
Rechtes  mit  den  gesetzgeberischen  Aufgaben  des  Parlaments  in 
funktionellen  Zusammenhang  bringt.  Das  Herrenhaus  entschied 
sich  jedoch  für  den  Text  der  Kommissionsvorlage  ^).  Dieser 
ist  auch  Gesetz  geworden,  nachdem  das  Abgeordnetenhaus  ihm 
am  Schluß  einer  kurzen,  aber  lebhaften  Debatte  mit  einer  un- 
wesentlichen Änderung  beigetreten  war  2). 

Hienach  hatten  die  Kommissionen  und  Ausschüsse  beider 
Häuser  das  Recht,  durch  den  Präsidenten  ihres  Hauses  die 
Minister,  Hofkanzler  und  Chefs  der  Zentralstellen  um  die  Ein- 
leitung allfälhg  erforderlicher  Erhebungen  anzugehen  und  Sach- 
verständige zur  mündlichen  Vernehmung  vorladen  oder  zur 
Abgabe  eines  schriftlichen  Gutachtens  auffordern  zu   lassen  3). 


')  Sten.  Prot.  S.  113. 

")  Sitzg,  d.  Abgeordnetenhauses  v,  12.  Juli  1861,  Sten.  Prot.  S.  460  ff. 

*)  Ges.  V.  31.  Juli  1861  in  Betreff  der  Geschäftsorduung  des  Reichsrates 
RGBl.  Nr.  78  §  8.  —  Diese  Fassung  wurde  in  den  einschlägigen  Vorschriften 
der  Geschäftsordnung  mehrerer  Landtage  nachgebildet.  So  haben  die  Aus- 
schüsse des  niederösterreichischen  Landtags  das  Eecht,  durch  den  Land- 
marschall „die  Absendung  von  Mitgliedern  der  Regierungsbehörden  wegen 
Erteilung  von  Auskünften  und  Aufklärungen"  zu  veranlassen,  Sachverständige 
zur  mündlichen  Vernehmung  vorzuladen  oder  zur  Abgabe  eines  schriftlichen 
Gutachtens  aufzufordern.  (GeschO.  §  17  Abs.  2;  §  19  Abs,  2.  Landesordnung 
§  37.)  Auf  Grund  dieser  Bestimmung  hat  der  Gemeinde-  und  Verfassungs- 
ausschuß dieses  Landtags  im  September  1907  eine  Enquete  in  Sachen  einer 
Automobil-Landessteuer  einberufen.  Ähnlich  GeschO,  d.  oberösterreichischen 
Landtags  §  21  Abs,  3;  §  23  Abs,  2  und  GeschO,  d.  mährischen  Landtags 
§  16  Abs.  1,  2.  Nach  der  GeschO,  des  steiermärkischen  Landtags  (§  18) 
steht  es  jedem  der  gemäß  §14  bei  Beginn  der  Landtagssession  zu  wählenden 
sechs  Sonderausschüsse  zu,  durch  den  Landeshauptmann  den  Statthalter  und 
die  Chefs  anderer  Landesbehörden  um  allfällig  notwendige  Erhebungen  und 
Aufklärungen  zu  ersuchen  und  Sachverständige  zur  mündlichen  Vernehmung 
oder  zur  Abgabe  eines  schriftlichen  Gutachtens  einzuladen.  Den  Ausschüssen 
des  Tiroler  Landtages  steht  es  fi-ei,  „erforderlichenfalls  Sachverständige  ihren 
Beratungen  beizuziehen  oder  zur  Abgabe  eines  schriftlichen  Gutachtens  ein- 
zuladen und  sich  die  nötigen  Auskünfte  auf  geeignetem  Wege,  erforderlichen- 
falls durch  den  Landeshauptmann  zu  verschaffen."  (GeschO,  v,  1898  §  34 
Abs,  1.)  Jene  des  Vorarlberger  Landtags  sind  befugt,  „durch  den  Landes- 
hauptmann Sachverständige  zur  mündlichen  Vernehmung  vorzuladen  oder 
zur  Abgabe  eines  schriftlichen  Gutachtens  auffordern  zu  lassen,  im  Falle 
jedoch  größere  Auslagen  damit  verbunden  wären,  nur  über  erhaltene  Zu- 
stimmung des  Landtags".  (GeschO,  §  15,)  Ebenso  hat  der  Vorarlberger 
Landesausschuß   nach   §   32    seiner  GeschO,  das  Recht,    Sachverständige   zur 


304      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

Ein  Untersuchungsrecht  im  technischen  Sinn,  insbesondere 
als  Maßnahme  der  parlamentarischen  Kontrolle  war  damit 
nur    in    den     äußersten    Umrissen     gegeben    und     selbst    im 


mündlichen  Verhandlung  vorzuladen  oder  zur  Abgabe  eines  schriftlichen  Gut- 
achtens aufzufordern.  Ähnliches  gilt  für  die  Ausschüsse  des  dalmatinischen 
Landtags.  (GeschO.  §  16.)  Nach  der  GeschO,  des  Krainer  Landtags  von 
1909  §§  38,  39  können  die  Ausschüsse  zu  ihren  Sitzungen  durch  den  Landes- 
hauptmann Eegierungsvertreter  und  Landesbeamte  beiziehen,  von  letzteren 
Aufklärungen  verlangen,  sowie  Sachverständige  zur  mündlichen  Vernehmung 
oder  zur  Abgabe  eines  schriftlichen  Gutachtens  vorladen.  Den  Kommissionen 
des  istrianischen  Landtags  ist  gestattet,  Sachverständige  und  Zeugen  zur 
mündlichen  oder  schriftlichen  Abgabe  ihrer  Äußerungen  aufzufordern.  (GeschO. 
§  25  Abs.  4.)  Der  GeschO,  für  den  galizischen  Landtag  v.  1907  (§§  31 — 33)  ist 
die  Einladung  von  Zeugen  und  Sachverständigen  unbekannt,  und  die  Auskunfts- 
pflicht ist  hier  nur  für  die  Beamten  der  Staats-  und  der  autonomen  Verwaltung 
ausdrücklich  normiert.  Doch  hat  der  galizische  Landesausschuß  im  Januar  1911 
auf  Grund  eines  vier  Jahre  zuvor  gefaßten  Landtagsbeschlusses  eine  münd- 
liche Enquete  abgehalten,  um  die  Ursachen  der  in  der  jüdischen  Bevölkerung 
Galiziens  überhandnehmenden  Notlage  zu  prüfen.  Die  Ausschüsse  des  Buko- 
winaer Landtags  können  ihren  Sitzungen  Landesbeamte  beiziehen,  von  ihnen 
Aufklärungen  verlangen,  sowie  Sachverständige  zur  mündlichen  Vernehmung 
oder  zur  Abgabe  eines  schriftlichen  Gutachtens  vorladen.  (GeschO,  vom 
4.  Febr.  1910  §  39,)  Wo  zum  Zweck  der  durch  den  Landtag  vorzunehmen- 
den Wahlen  nationale  Kurien  bestehen,  werden  auch  Untersuchungs-  und 
Überwachungskommissionen  des  Landtags  kurienweise  zusammengesetzt:  §  10  c 
d.  mähr.  Ges.  v.  27,  November  1905  LGBl.  Nr,  1  ex  06  und  des  Bukowinaer 
Landesges.  v.  26,  Mai  1910  LGBl,  Nr.  26.  Nach  §  98  des  kais.  Patents 
V,  12,  April  1850  RGBl.  Nr.  139  betr,  die  Verfassung  für  die  reichsunmittel- 
bare Stadt  Triest  hat  der  Stadtrat  das  Eecht,  „die  städtischen  Anstalten  und 
Unternehmungen  durch  Abordnung  eigener  Kommissionen  untersuchen  zu 
lassen,  wozu  er  auch  Kommissäre  außer  seinem  Mittel  bestimmen  kann". 
In  Art,  42  d,  GeschO,  für  den  Stadtrat  sind  Spezialkommissonen  „per 
inchieste  particolari"  vorgesehen.  Nach  den  Geschäftsordnungen  der  öster- 
reichischen Städte  mit  eigenem  Statut  haben  die  Sektionen  und  Ausschüsse 
zumeist  die  Befugnis,  von  den  Gemeindebehörden  Auskünfte  zu  verlangen, 
Sachverständige  zu  vernehmen,  Urkunden,  Schriften  und  Eechnungen  einzu- 
sehen (S.  Hof  mann,  Die  Geschäftsordnungen  der  deutschen  Statutar- 
gemeinden  Österreichs,  Wien  1907  S,  75).  So  ist  z.  B,  den  Sektionen  des 
Brünner  Geraeinderats  in  §  41  GeschO,  eine  Befugnis  eingeräumt,  die  sich 
schon  vermöge  ihrer  Zweckbestimmung  —  gründliche  Prüfimg  und  Beur- 
teilung der  den  Sektionen  zur  Vorberatung  zugewiesenen  Angelegenheiten, 
Vorbereitung  sachgemäßer  und  erschöpfender  Anträge  —  dem  parlamenta- 
rischen Enqueterecht  nähert  (bei  Hof  mann  S.  99),  Vgl.  GeschO,  f.  d.  Ge- 
meinderat von  Czernowitz  §  50.  Graz  §  50,  Innsbruck  §  31  Abs,  2,  Klagen- 
furt §  15  Abs.  2,  Linz  §  7  Abs.  7  (Hof mann  S.  116,  122,  131,  136,  141), 
In  Troppau  sind  die  Abteilungen  des  Gemeinderats  berechtigt,  „sich  mit 
den  einzelnen  Gemeinderatsmitgliedern,  mit  bestehenden  Überwachungs- 
ausschüssen und  Abgeordneten,  Zeugen  und  Sachverständigen  oder  Fach- 
männern ins  Einvernehmen  zu  setzen".     (Anhang  z.  GeschO.  §  16  bei  Hof- 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      305 

günstigsten  Fall  auf  die  schwanke  Grundlage  des  interpre- 
tativen  Ermessens  gestellt.  Erst  die  Verfassungsreform  von 
1867  hat  ein  solches  als  staatsgrundgesetzlich  vorgesehenes 
Institut  geschaffen.  Der  Entwurf  betreffend  die  Abänderung 
des  Grundgesetzes  über  die  Reichsvertretung,  den  die  Regierung 
im  Juni  1867  dem  Abgeordnetenhaus  vorlegte,  wußte  freilich 
noch  nichts  von  einem  Informations-  und  Auskunftsrecht  der 
Volksvertretung,  aber  der  Verfassungsausschuß  beantragte  Ein- 
fügung des  Paragraph  21,  der  jedes  der  beiden  Häuser  des 
Reichsrats  für  berechtigt  erklärte,  die  Verwaltungsakte  der  Re- 
gierung der  Prüfung  zu  unterziehen,  zu  diesem  Behuf e  die 
Minister  zu  interpellieren,  von  ihnen  über  eingehende  Be- 
schwerden Auskünfte  zu  verlangen  und  zum  Zweck  der  Infor- 
mation Kommissionen  zu  ernennen,  sowie  seiner  Ansicht  in 
Form  der  Adresse,  Beschwerde  oder  einer  Resolution  Ausdruck 
zu  geben!). 

Wie  man  sieht,  war  hier  die  Summe  mehr  als  halb- 
hundertjähriger konstitutioneller  Erfahrungen  und  Enttäu- 
schungen gleichsam  kondensiert.  Alle  in  diesem  Paragraph 
vorgesehenen  rechtlichen  Möglichkeiten  —  Interpellation  und 
Beschwerde,  Resolution,  Adresse  und  Enquete  —  sind  auf  und 
gegen  die  Verwaltungstätigkeit  der  Regierung  gerichtet,  und 
schon  aus  der  Legalordnung,  die  im  nächsten  Paragraph  ein 
besonderes  Gesetz  über  die  Ausübung  der  parlamentarischen 
Staatsschuldenkontrolle  verhieß,  geht  zur  Genüge  hervor,  daß 
der  ganze  Normenkomplex  des  §  21  von  Mißtrauen  gegen  das 

mann  S.  168.)  Nach  §  100  Abs.  2  der  Prager  Gemeindeordnung  (Landesges. 
V.  27.  April  1850,  LGBl.  Nr.  85)  kann  das  Stadtverordnetenkollegium  die 
Geschäftsführung  aller  städtischen  Organe  durch  eigene  Kommissionen  unter- 
suchen lassen  und  Vorlegung  aller  einschlägigen  Akten,  Urkunden  etc.  ver- 
langen. Vgl.  ferner  Görzer  Gemeindeordnung  v.  18.  Nov.  1850  §§  82  ff.,  Ge- 
meindestatut f.  Rovigno  (Land.Ges.  v.  30.  Dez.  1869,  LGBl.  Nr.  6  ex  70)  §  71, 
f.  Iglau  (L.G.  V.  24.  Nov.  1874  LGBl.  Nr.  64)  §  84,  Kremsier  (L.G.  v.  18.  Fe- 
bruar 1870  LGBl.  Nr.  25)  §  77,  Olmütz  (L.G.  v.  24.  Januar  1866  LGBl.  Nr.  6) 
§  82  Abs.  2,  Rovereto  (L.G.  v.  12.  Dez.  1869  LGBl.  Nr.  1  ex  70)  §  35,  Inns- 
bruck (L.G.  V.  14.  April  1874  LGBl.  Nr.  28)  §  61,  Bozen  (L.G.  v.  19.  Juli  1882, 
LGBl.  Nr.  23)  §  53  Abs.  2,  Cilli  (L.G.  v.  21.  Januar  1867,  LGBl.  Nr.  7) 
§  30  usw.  usw.  Nach  §  51  des  Gesetzentwurfs  über  das  Gemeindestatut  samt 
Wahlordnung  für  die  Landeshauptstadt  Sarajewo  steht  es  dem  Gemeinderat 
frei,  den  Vorberatungen  seiner  Ausschüsse  oder  Sektionen  Sachverständige 
oder  Vertrauensmänner,  die  nicht  Gemeinderäte  sind,  beizuziehen  und  sie  um 
ihr  Gutachten  zu  befragen. 

^)  S.  Die  neue  Gesetzgebung  Österreichs.     Erläutert  aus  den  Reichsrats- 
verhandlungen, Wien  1868  Bd.  I  S.  124.     Angenommen  in  der  Sitzg.  d.  Ab- 
geordnetenhauses V.  16.  Okt.  1867,  Sten.  Prot.  d.  IV.  Sess.  S.  982. 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  20 


306      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Wirken  der  Exekutive  erfüllt  und  bestimmt  war^).  Es  ist 
daher  einigermaßen  erstaunlich,  daß  der  Bericht,  der  dem 
Herrenhause  von  seiner  vereinigten  juridisch-politischen  Kom- 
mission erstattet  wurde,  behaupten  konnte,  der  §  21  fasse  nur 
ein  seit  dem  Bestehen  des  Reichsrats  faktisch  geübtes  Recht 
in  die  entsprechende  Gesetzesformel  2).  Das  Plenum  des  Herren- 
hauses war  denn  auch  keineswegs  dieser  Meinung.  Es  lehnte 
die  von  der  Kommission  übereinstimmend  mit  dem  Beschluß 
des  Abgeordnetenhauses  vorgeschlagene  Stilisierung  ab  und  er- 
setzte sie  nach  längerer  Debatte  durch  eine  von  Lichtenfels 
herrührende  Fassung,  die  dann  vom  Abgeordnetenhaus  an- 
genommen wurde  und  so  in  das  Gesetz  über  die  Reichsver- 
tretung übergegangen  ist 3).  Lichtenfels  wollte  anfangs  den 
Paragraph  gänzlich  eliminieren,  weil  die  den  Häusern  geschäfts- 
ordnungsmäßig zustehenden  Informationsrechte  sich  bisher  als 
ausreichend  erwiesen  hätten.  Er  befürchtete,  daß  der  vom  Ab- 
geordnetenhause beschlossene  Text  eine  Vermengung  von  exe- 
kutiver und  legislativer  Gewalt  herbeiführen  könnte,  weil  hie- 
nach  die  Häuser  in  der  Lage  wären,  alle  Verwaltungsakte  der 
Regierung  ohne  Rücksicht,  ob  dies  für  die  gesetzgeberischen 
Akte  notwendig  ist  oder  nicht,  zu  prüfen  und  weil  die  zur  In- 
formation ernannten  Kommissionen  berechtigt  wären,  sich  selbst 
in  die  Amter  zu  verfügen,  Beamte,  Minister  zu  vernehmen, 
Zeugen  zu  verhören,  Kassenbestände  und  Vorräte  zu  revidieren, 
Festungen,   Arsenale  und  Zeughäuser  zu  untersuchen^).     Diese 


^)  Auch  Art.  82  der  preuß.  Verfassungsurkunde  „war  wesentlich  gedacht 
als  ein  Kampfparagraph  gegen  die  Regierung" :  Abg.  Schraderim Deutschen 
Reichstag,  136.  Sitzung  vom  9.  Dezember  1891,  Sten.  Ber.  8.  Legislaturperiode 
I.  Sess.  1890/91  S.  3290. 

^)  Die  neue  Gesetzgebung  Österreichs  S.  219.  Ebenso  der  Bericht- 
erstatter Graf  Anton  Auersperg  i.  d.  Sitzg.  d.  Herrenhauses  v.  30.  Nov.  1867, 
Sten.  Prot.  d.  IV.  Sess.  S.  349. 

')  Sitzungen  d.  Herrenhauses  v.  30.  Nov,  u.  2,  Dez.  1867,  Sten.  Prot.  a.  a.  0. 
S.  349  fE.,  355  ff.     Neue  Gesetzgebung  S.  272  ff.,  288. 

*)  Ebenso  hatte  bei  der  Revision  der  oktroyierten  Verfassungsurkunde 
in  der  Ersten  Kammer  des  preußischen  Landtags  der  Zentralausschuß 
Streichung  des  Art.  81  beantragt,  um  der  Gefahr  von  Übergriffen  der  Legis- 
lative in  das  Gebiet  der  ausübenden  Gewalt  zu  begegnen.  Dagegen  war  das 
Plenum  der  Meinung  der  Ausschußminorität  beigetreten,  daß  die  Kammern 
zur  vollständigen  Erhaltung  ihrer  Rechte  und  zur  Ausübung  ihrer  Pflichten 
die  Untersuchungsbefugnis  nicht  entbehren  könnten  und  nicht  lediglich  auf 
die  Mitteilungen  der  Staatsregierung  angewiesen  bleiben  dürften,  die  mög- 
licherweise in  einer  Sache  auch  Partei  sein  könne:  Schwartz,  Preuß. 
Verfassungsurkunde  S.  240.     Es  ist  kaum  zu  bezweifeln,  daß  diese  Verband- 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      307 

Besorgnis  einer  „Vormundschaft  in  Verwaltungssachen"  war 
bestimmend  für  sein  Amendement,  das  einerseits  eine  Ein- 
schränkung, andererseits  —  zwar  nicht  der  Intention  des  An- 
tragstellers, aber  dem  Effekt  nach  —  eine  Ausdehnung  des 
parlamentarischen  Kontroll-  und  Erkundigungsrechtes  in  sich 
schloß.  Die  Befugnis,  die  Verwaltungsakte  der  Regierung  einer 
Prüfung  zu  unterziehen,  wurde  durch  den  verfassungsmäßigen 
Wirkungskreis  der  Volksvertretung  umgrenzt,  weil  den  beiden 
Häusern  des  Reichsrats,  wie  Lichten f eis  sich  ausdrückte,  ein 
,, Verwaltungsrecht"  oder,  wie  der  Berichterstatter  Graf  Anton 
Auersperg  sagte,  ein  administrativer  oder  exekutiver  Wirkungs- 
kreis nicht  zusteht,  jenes  Prüfungsrecht  sich  also  nur  soweit 
erstrecken  kann,  als  es  die  verfassungsmäßigen  Arbeiten,  Gesetz- 
entwürfe, das  Budget  und  andere  Geschäfte  erfordern.  Damit 
war  die  Corollartheorie  anerkannt  i).  Wie  die  mit  der  Unter- 
suchung betrauten  Ausschüsse  zu  ihren  Informationen  gelangen 
können  und  dürfen,  war  in  der  Kommissionsvorlage  nicht  ge- 
sagt, und  es  schien  daher  immerhin  möglich,  daß  sie  ihr 
Mandat  mit  Umgehung  der  Ministerien  durch  selbständige  Er- 
kundigung vollziehen.  Nun  hatte  aber  schon  das  Geschäfts- 
ordnungsgesetz von  1861  das  Prinzip  ausgesprochen,  daß  alle 
Erhebungen  und  Auskünfte,  welche  die  beiden  Häuser  wie 
deren  Abteilungen,  Kommissionen  und  Ausschüsse  verlangen, 
ihren  Weg  durch  und  über  die  Zentralbehörden  zu  nehmen 
haben  2).     Um  die  Übereinstimmung  mit  diesem  Grundsatz  her- 


lungen  den  Gang  der  Debatte  im  österreichischen  Herrenhause  mitbestimmt 
haben. 

^)  Auch  seitens  des  Berichterstatters,  welcher  die  gegen  die  Fassung 
der  Kommissionsvorlage  erhobenen  Bedenken  durch  den  Zusatz:  „(Kommis- 
sionen) zum  Zweck  der  Einholung  von  Informationen"  beseitigen  wollte,  weil 
dies  das  direkte  Einvernehmen  mit  der  Regierung  und  das  Vorgehen  mittels 
der  von  ihr  aufgestellten  Organe  voraussetze.  Dagegen  wandte  Lichten- 
fels  ein,  daß  man  zum  Zweck  der  Einholung  von  Informationen  keine  andern 
Kommissionen  braucht  als  jene,  die  für  Gesetzgebungsarbeiten  ohnehin  ein- 
gesetzt werden.  Er  wisse  nicht,  warum  man  erst  zur  Einholung  von  Infor- 
mationen andere  Kommissionen  ernennen  soll,  wenn  man  ihnen  nicht  ein 
Erhebungsrecht  vorbehalten  will:  Sitzg.  v.  30.  Nov.  1867,  Sten.  Prot.  S.  350. 

^)  Ges.  V.  31.  Juli  1861  R.G.Bl.  Nr.  78  §  8:  „Die  Kommissionen  und  Aus- 
schüsse beider  Häuser  haben  das  Recht,  durch  den  Präsidenten  ihres  Hauses 
die  Minister,  Hofkanzler  und  Chefs  der  Zentralstellen  um  die  Einleitung  all- 
fällig erforderlicher  Erhebungen  anzugehen  und  Sachverständige  zur  münd- 
lichen Vernehmung  vorladen  oder  zur  Abgabe  eines  schriftlichen  Gutachtens 
auffordern  zu  lassen."  —  §  15  Abs.  2:  „Die  Häuser  und  deren  Abteilungen, 
Kommissionen  und  Ausschüsse  dürfen  nach  außen  nur  durch  die  Präsidenten 

20* 


308      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

zustellen,  den  man  aus  der  Lehre  von  der  Gewaltenteilung 
heraus-  oder  in  sie  hineininterpretiert  hatte  und  der  zum 
festen  Bestand  des  gemeinen  deutschen  Verfassungsrechts  ge- 
hörte, erwirkte  Lichtenfels  Aufnahme  einer  Vorschrift,  wo- 
nach den  zur  Prüfung  von  Verwaltungsakten  der  Regierung 
ernannten  Parlamentsausschüssen  seitens  der  Ministerien  die 
erforderliche  Information  zu  geben  ist.  Damit  war  freihch  für 
diese  Ausschüsse  eine  Beschränkung  der  Erkundigungsfreiheit, 
aber  zugleich  für  die  Minister  eine  Pflicht  zur  positiven  Aus- 
kunfterteilung statuiert,  wie  sie  nach  dem  ursprünglichen  Text 
nicht  bestand  und  Interpellationen  gegenüber  auch  heute  nicht 
besteht  1).  Im  Drang  und  Zwang  des  legislativen  Großbetriebs 
scheint  man  damals  neben  wichtigerem  auch  die  Bedeutung 
dieser  Differenz  übersehen  zu  haben,  und  so  erklärt  es  sich, 
daß  in  der  zweiten  Verfassungsdebatte  des  Abgeordnetenhauses 
der  Berichterstatter  Annahme  des  §  21  in  der  vom  Herren- 
haus beschlossenen  Redaktion  mit  der  Begründung  empfahl, 
im  wesentlichen  sei  damit  der  Gedanke  ausgedrückt,  den  die 
Fassung  des  Abgeordnetenhauses  ausdrücken  wollte  2). 


der  ersteren  und  bloß  mit  den  Ministern,  Hofkanzlern  und  Chefs  der  Zentral- 
stellen verkehren  .  .''    GeschO,  d.  Abgeordnetenhauses  v.  1861  §§  21,  68  Abs.  2. 

^)  Damit  berichtigt  sich  die  Meinung  Tezners,  Die  Volksvertretung, 
Wien  1912  S.  358  f.,  daß  das  Recht  des  östen-eichischen  Parlaments,  Recherchen 
zu  pflegen  in  seiner  allerdings  schwächlichen  Ausgestaltung  so  weit  wie  das 
Interpellationsrecht  reicht  und  in  gleicher  Weise  wie  dieses  beschränkt  ist. 
Nach  Hauke,  Verfassungsrecht  (Finger-Frankl,  Grundriß  d.  Österreich. 
Rechtes  lH,  1)  Leipz.  1905  S.  55  liegt  schon  dem  Interpellationsrecht  ein 
Informationsanspruch  des  Parlaments  zugrunde.  Er  nimmt  übrigens  eine 
Pflicht  der  Regierung  an,  den  parlamentarischen  Kommissionen  die  erforder- 
liche Information  zu  geben. 

-)  Sitzg.  d.  Abgeordnetenhauses  v.  7.  Dez.  1867,  Sten.  Prot,  d,  IV.  Sess. 
S.  1626.  In  dieser  Sitzung  trat  das  Abgeordnetenhaus  auch  der  einzigen 
Änderung  bei,  welche  das  Herrenhaus  an  dem  Gesetz  über  die  allen  Ländern 
der  österreichischen  Monarchie  gemeinsamen  Angelegenheiten  vorgenommen 
hatte  und  die  das  Enqueterecht  der  Delegationen  betraf.  §  28  dieses  Ge- 
setzes gab  in  der  vom  Abgeordnetenhaus  beschlossenen  Fassung  den  De- 
legationen die  Befugnis,  Kommissionen  zum  Zwecke  der  Information  zu  er- 
nennen, während  §  22  des  von  der  Regierung  vorgelegten  Gesetzentwurfs 
„über  die  Delegationen  im  allgemeinen  und  insbesondere  über  die  Delegation 
des  Reichsrates"  diesen  Satz  nicht  enthalten  hatte,  (Neue  Gesetzgebung 
S.  510,  527.)  Nach  dem  Beschluß  des  Herrenhauses  heißt  es  jetzt:  ,, Kom- 
missionen, welchen  von  Seite  der  Ministerien  die  erforderliche  Information 
zu  geben  ist."  Der  Antragsteller  Freih.  v.  Lichtenfels  berief  sich  darauf, 
daß  er  schon  bei  der  Verhandlung  über  §  21  des  Reichsvertretungsgesetzes 
hervorgehoben  habe,  die  hinsichtlich  der  Kommissionen  zu  beschließende 
Fassung  müsse  für  das  Delegationsgesetz  maßgebend  sein,  weil  beide  Gesetz- 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      309 

Die  parlamentarische  Schöpfungsgeschichte  dieser  grund- 
gesetzUchen  Vorschrift  mußte  vergleichsweise  ausführHch  dar- 
gelegt werden,  weil  sie  einen  bei  der  Knappheit  des  Textes 
unentbehrlichen  Interpretationsbehelf  gewährt^).  Ohne  in  die 
Diskussion  über  die  Deutung  und  Bedeutung  gesetzgeberischer 
Materialien  einzutreten,  sei  darauf  hingewiesen,  daß  hier  ein 
gradezu     typischer    Fall     für     die    entwicklungsgeschichtliche 

entwürfe  in  dieser  Beziehung  analog  sind.  (Sitzg.  d.  Herrenh.  v.  2.  Dez.  1867, 
Sten.  Prot.  S.  356,  368  f.)  Hienach  besteht  eine  Auskunftspflicht  der  gemein- 
samen Eegierung  gegenüber  den  von  der  österreichischen  Delegation  ein- 
gesetzten Kommissionen,  die  geschäftsordnungsmäßig  das  Recht  haben,  durch 
den  Präsidenten  der  Delegation  die  gemeinsamen  Minister  zur  Auskunft- 
erteilung aufzufordern,  sowie  Fachleute  zur  mündlichen  Vernehmung  oder 
zur  Erstattung  eines  schriftlichen  Berichts  einzuladen:  GeschO,  f.  d.  Delega- 
tion d.  Reichsrats  v.  21.  Januar  1868  §  20.  Vgl.  Artt.  18,  26  d.  GeschO,  f.  d. 
ungarische  Delegation  (bei  Moreau-Delpech,  Les  reglements  des  assemblees 
legislatives,  Paris  1906  Bd.  I  S.  401,  403).  Für  das  Plenum  der  ungarischen 
Delegation  statuiert  der  G.A.  XII:  1867  das  Interpellationsrecht  und  für  die 
gemeinsamen  l^Iinister  die  Pflicht,  Anfragen  zu  beantworten,  mündliche  oder 
schriftliche  Aufklärungen  zu  geben  oder,  wenn  es  ohne  Nachteil  geschehen 
kann,  auch  die  nötigen  Dokumente  vorzulegen  (§  39).  —  Hier  sei  noch  eine 
verfassungsgeschichtliche  Reminiszenz  erwähnt.  Nach  Art.  V  P.  4  der  so- 
genannten Fundamentalartikel  von  1871  sollte  die  Delegation,  welche  das 
Gesetzgebungsrecht  hinsichtlich  der  dem  Königreich  Böhmen  mit  den  übrigen 
Ländern  der  Monarchie  gemeinsamen  Angelegenheiten  ausübt,  zur  Ernennung 
von  Kommissionen  befugt  sein,  denen  von  Seite  der  Minister  die  erforder- 
liche Information  zu  geben  ist  (bei  Bernatzik,  Die  österreichischen  Ver- 
fassungsgesetze mit  Erläuterungen*,  Wien  1911  S.  1100). 

^)  A.  M.  Tezner,  Volksvertretung  S.  357  N.  11,  dem  die  sich  an  den 
Antrag  Lichten  f eis  knüpfende  Debatte  für  die  Auslegung  ganz  wertlos 
erscheint,  weil  sich  nicht  bestimmen  lasse,  ob  der  Antragsteller  auch  die 
Prüfung  des  ]\Iißbrauchs  der  Prärogative  z.  B.  bei  Beamtenernennungen  aus- 
geschlossen wissen  wollte.  Es  ist  nicht  ganz  zu  begreifen,  wie  ein  Zweifel 
in  dieser  Richtung  überhaupt  entstehen  mag  und  wie  Tezner  a.  a.  0.  S,  370 
u.  N.  46  zu  der  Annahme  gelangt,  daß  das  Enqueterecht  des  Reichsrates  sich 
auch  auf  den  Bereich  der  monarchischen  Prärogative  erstreckt.  Grade  solchem 
Übergriff  soll  der  von  Licht enfels  beantragte  Zusatz  vorbeugen.  Da  nach 
Artt.  3,  4  d.  StGG.  über  die  Ausübung  der  Regierungs-  und  der  Vollzugs- 
gewalt der  Kaiser  die  Minister  ernennt  und  entläßt,  alle  Ämter  in  allen 
Zweigen  des  Staatsdienstes  besetzt,  Titel,  Orden  und  sonstige  staatliche  Aus- 
zeichnungen verleiht,  kann  man  schwerlich  behaupten,  daß  diese  Angelegen- 
heiten in  den  Wirkungskreis  des  Reichsrats  gehören,  und  nur  im  Rahmen 
dessen,  was  dieser  Wirkungskreis  erfordert,  kann  der  Reichsrat  sein  Enquete- 
recht üben.  Für  den  „Anspruch  des  Volkes  auf  Gehör  und  sachliche  Wür- 
digung seiner  Beschwerden  über  die  Übung  der  Prärogativen"  ist  —  in 
Österi'eich  wenigstens  —  die  parlamentarische  Untersuchung  kein  geeignetes 
und  zulässiges  Instrument.  Die  pai-lamentarische  Verhandlung  der  ein- 
schlägigen Fragen  kann  unmöglich  deshalb  wertlos  sein,  weil  ihr  Ergebnis 
einer  vorgefaßten  Lehrmeinung  widerstreitet. 


310      Zweig,  Die  Parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

Erklärung  von  Erscheinungen  und  Problemen  des  öffent- 
lichen Rechts  gegeben  ist;  wobei  es  sicherlich  als  methodo- 
logischer Gemeinplatz  gelten  darf,  daß  seit  der  Einführung  des 
Konstitutionalismus  zur  Entwicklungsgeschichte  eines  Rechts- 
satzes auch  und  vor  allem  sein  parlamentarischer  Werdegang 
gehört.  Die  Debatten,  aus  welchen  der  in  Rede  stehende 
§21  hervorgegangen  ist,  lassen  im  Zusammenhalt  mit  seiner 
Stellung  in  der  Legalordnung  erkennen,  daß  hier  die  pohtische 
Enquete  im  technischen  Sinn  d.  i.  als  parlamentarisches  In- 
formationsmittel zum  Zweck  der  Kontrolle  von  Akten  der 
Vollzugsgewalt  ihren  Platz  im  Verfassungssystem  gefunden  hat. 
Damit  sollten  andere  Arten  und  Fälle  der  Tatsachenerhebung 
nicht  etwa  ausgeschlossen,  wohl  aber  jene  Enqueten,  die  Ver- 
waltungsakte der  Regierung  zum  Anlaß  und  Gegenstand  haben, 
besonders  privilegiert  werden.  Für  sie  und  nur  für  sie  wurde 
eine  Auskunftspflicht  der  der  parlamentarischen  Kontrolle 
unterworfenen  Organe  gruudgesetzlich  sichergestellt,  weil  grade 
hier  die  Gefahr  nahelag,  daß  die  Auskunft  verweigert  und 
damit  die  Wirksamkeit  des  parlamentarischen  jus  inspectionis 
vereitelt  werde.  Diese  politische  Maxime  bestimmt  und  begrenzt 
den  Umfang  der  Auskunftspflicht,  welche  hienach  nicht  allein 
die  unmittelbare  Aufklärung  über  die  in  Frage  kommenden 
Tatsachen,  sondern  auch  die  Herbeischaffung  mittelbarer  Be- 
helfe zur  Übung  der  parlamentarischen  Verwaltungskontrolle, 
insbesondere  die  Vorlage  von  Akten  und  Urkunden  in  sich 
schließt^).  Für  die  Requisition  solchen  Materials  ist  der  Grund- 
satz maßgebend,  daß  alle  Staatsbehörden  kraft  und  innerhalb 
ihrer  gesetzlichen  Zuständigkeit  einander  wechselseitige  Unter- 
stützung zu  leisten  haben  ^).  Eine  Regierung,  die  bei  Erfüllung 
ihrer  verfassungsmäßigen  Informationspflicht  diesen  Grundsatz 
außer  acht  läßt,  handelt  auf  die  Gefahr,  hiefür  zur  Ver- 
antwortung gezogen  zu  werden^). 

^)  Nach  Tezner,  Handbuch  des  österreichischen  Administrativverfahrens, 
Wien  1896  S.  147  darf  Jemand,  dem  bloß  die  Pflicht  zu  Auskünften  auf- 
erlegt ist,  unter  diesem  Titel  nicht  zur  Edition  von  Urkunden  verhalten 
werden,  die  sich  in  seinem  Besitz  befinden.  Dies  gilt  für  die  Parteien  und 
Zeugen  im  Verwaltungsprozeß,  trifft  aber  natürlich  nicht  den  hier  inter- 
essierenden Fall. 

')  S.  den  Art.  „Amtshilfe"  in  v.  Stengel-Fleischmanns  Wörterbuch 
d.  Deutschen  Staats-  und  Verwaltungsrechts  Bd.  I  S.  118  ff.;  Stein,  Grenzen 
und  Beziehungen  zwischen  Justiz   und  Verwaltung,  Tübingen  1912  S.  121  ff. 

^)  Vgl.  Schwartz,  Preuß.  Verfassungsurkunde  S.  242,  der  aus  dem 
der  Volksvertretung  obliegenden  und  von  der  Untersuchungskommission  als 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      311 

Als  Ergebnis  darf  somit  gelten,  daß  das  Informations- 
recht des  österreichischen  Parlaments  alle,  aber  auch  nur  die 
Gegenstände  seiner  gesetzlichen  Kompetenz  in  sich  begreift, 
daß  jedes  der  beiden  Häuser  in  Ergänzung  der  ihm  von 
Verfassungswegen  eingeräumten  Funktionen  und  als  Vorbe- 
reitung der  ihm  hienach  obliegenden  Geschäfte  die  Be- 
schaffung der  erforderlichen  Auskünfte  ins  Werk  setzen  kann, 
daß  diese  Informationsarbeit  nicht  durch  das  Plenum,  sondern 
durch  Ausschüsse  zu  leisten  ist  und  daß  letztere  die  notwendigen 
Ermittlungen  nicht  selbständig,  sondern  nur  unter  Mitwirkung 
der  Zentralbehörden  durchzuführen  haben,  die  im  Fall  des 
§  21  zu  solcher  Mitwirkung  rechtlich  verpflichtet  sind.  Diese 
Ausschüsse  qualifizieren  sich  im  Verhältnis  zu  dem  sie  ent- 
sendenden Hause  als  sekundäre  Organe,  deren  Tätigkeit  eines 
Spezialauftrags  des  primären  Organs  bedarf,  durch  ihn  bestimmt 
und  an  ihn  gebunden  ist^).  Damit  scheiden  aus  der  Kategorie 
der  Enquetekommission  alle  kollegialen  Organe  des  Parlaments 
aus,  die  ihre  Zuständigkeit  generell  durch  ein  Gesetz  oder  die 
Geschäftsordnung  empfangen,  wie  etwa  die  Staatsschulden- 
kontrollkommission oder  der  Legitimationsausschuß  des  Ab- 
geordnetenhauses. Die  erstere  schon  deshalb,  weil  sie  von 
beiden  Häusern  des  Reichsrats  konstituiert  wird  und  die  Bildung 
solcher  ,, Joint  committees"  nach  österreichischem  Recht  als 
Ausnahme  zu  behandeln,  das  heißt  auf  die  FäUe  zu  beschränken 
ist,  in  denen  sie  ausdrückhch  vorgesehen  wurde  2).    Auch  spricht 

einem  Teil  der  Volksvertretung  zu  wahrenden  Beruf  einer  custodia  legum 
et  jurium  patriae  die  offenbar  zuweit  gehende  Folgerung  ableitet,  daß  das 
Ministerium  das  Verlangen  einer  Kommission  auf  Vorlegung  oder  AusUeferung 
von  Urkunden,  die  sich  in  amtlicher  Verwahrung  befinden,  nicht  deshalb 
ablehnen  kann,  weil  das  Bekanntwerden  des  Inhalts  der  Urkunde  dem  Wohl 
des  Eeiches  oder  eines  Bvmdesstaats  Nachteil  bereiten  würde.  Aus  diesem 
Grund  kann  nach  §  96  EStPO  die  Vorlegung  oder  Auslieferung  von  Akten 
oder  andern  in  amtlicher  Verwahrung  befindlichen  Schriftstücken  durch  Be- 
hörden oder  öffentliche  Beamte  seitens  deren  oberster  Dienstbehörde  unter- 
sagt werden.  (Vgl.  Gerichtsverfassungsges.  f.  d.  Deutsche  Reich  §  169). 
Wenn  letztere  das  Ministerium  ist,  wird  es  durch  eine  solche  Vorschrift 
seiner  Auskunftspflicht  entbunden,  für  welche  das  Gesetz  unter  allen  Um- 
ständen die  Schranke  bezeichnet. 

^)  Bei  der  Beratung  des  §  21  im  Herrenhaus  erklärte  der  Bericht- 
erstatter, daß  „nicht  die  Kommissionen  direkte  aus  eigenem  Ermessen  .  .  . 
Informationen  einholen,  .  .  .  sondern  es  muß  jedenfalls  ein  Beschluß  jedes 
der  beiden  Häuser  in  seinem  Wirkungskreise  vorausgehen".  Sitzg.  v.  30,  No- 
vember 1867,  Sten.  Prot.  S.  350. 

^)  Wie  etwa  die  gemeinschaftliche  Konferenz  nach  §  11  des  Geschäfts- 
ordnungsgesetzes   oder    jene    zur    Beratung    und    Beschlußfassung    über    die 


312      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

zumindest  der  Wortlaut  des  §  21  gegen  die  Annahme,  daß 
beide  Häuser  eine  gemeinsame  Untersuchungskommission  ein- 
setzen können.  Aber  selbst  abgesehen  hievon  wollte  die  Ver- 
fassung die  parlamentarische  Überwachungsfunktion,  soweit 
sie  sich  auf  die  Staatsschuld  bezieht,  im  HinbHck  auf  ihre 
besondere  rechthche  und  wirtschaftHche  Bedeutung  durch  eine 
lex  specialis  regeln,  diese  Seite  der  staatlichen  Verwaltungs- 
tätigkeit also  dem  allgemeinen  Informationsrecht  nach  §  21 
entziehen  1).  Das  Beispiel  des  Legitimationsausschusses  wird 
hier  als  negative  Instanz  gewählt,  weil  seine  Tätigkeit  nach 
Wesen  und  Zweck  sich  jener  einer  Informationskommission 
am  meisten  nähert,  wie  das  Enqueterecht  ja  auch  geschichthch 
in  engem  Zusammenhang  mit  der  Wahlprüfung  steht.  Trotz- 
dem wäre  es  irrig,  den  zur  Vorberatung  über  die  Wahlakten 
eingesetzten  Ausschuß  ohne  weiters  als  eine  permanente  Unter- 
suchungskommission ansehen  zu  wollen,  —  eine  contradictio 
in  adjecto,  welche  Inhalt  und  Richtung  der  parlamentarischen 
Enquete  verkennt.  Der  Legitimationsausschuß  des  öster- 
reichischen Abgeordnetenhauses  hat,  wie  die  Reichsratswahl- 
ordnung sagt,  Wahlakten,  das  heißt,  wie  das  Geschäftsordnungs- 
gesetz sich  richtiger  ausdrückt,  Wahlakte  zu  prüfen  2),  und  das 
müssen  nicht  notwendig  Verwaltungsakte  der  Regierung  sein, 
sind  es  auch  hoffentlich  nur  in  seltenen  Fällen.  Nach  strenger 
Auffassung  und  nach  dem  parlamentarischen  Brauch  anderer 
Länder^)  müßte  der  Legitimationsausschuß,  wenn  er  im  Laufe 


neue  Zivilprozeßordnung  auf  Grund  des  Ges.  v.  o.  Dez.  1894  EGBl.  Nr.  227. 
Nach  §  14  d.  Ges.  v.  30.  Juli  1867  RGBL  Nr.  104  über  die  Behandlung 
umfangreicher  Gesetze  im  Eeichsrate  hat  auch  ein  gemäß  diesem  Gesetz 
bestellter,  nach  der  Session  oder  während  der  Vertagung  des  Eeichsrates 
tätiger  Ausschuß  die  in  §  8  GeschOGes.  angeführten  Befugnisse  (s.  Bernatzik, 
Verfassungsgesetze  S.  381  N.  3). 

*)  Der  Staatsschuldenkontrollkommission  ist  ein  spezielles,  durch  ihre 
Funktion  bedingtes  und  begrenztes  Informationsrecht  eingeräumt:  Ges.  v. 
13.  Dez.  1862  EGBl.  Nr.  96  §§  10,  11;  Ges.  v.  10.  Juni  1868  EGBl.  Nr.  53 
§§  20,  21 ;  Ges.  v.  10.  Juni  1868  EGBl.  Nr.  54  §§  2,  11,  12. 

*)  Eeichsratswahlordnung  von  1907  §  41 :  „Das  Haus  der  Abgeordneten 
veranlaßt  die  Vorberatung  über  die  Wahlakten  .  .  ."  Ges.  v.  12.  Mai  1873 
EGBl.  Nr.  94  §  3  Abs.  1:  „Nach  erfolgter  feierlicher  Eröffnung  nimmt  das 
Abgeordnetenhaus  vor  allem  die  Prüfung  der  Wahlakte  vor."  Ebenso 
GeschO,  f.  d.  Abgeordnetenhaus  §  3. 

^)  Vor  allem  Englands,  wo  ein  parlamentarischer  Ausschuß  an  die  ihm 
vom  Hause  zugewiesene  Aufgabe  stfeng  gebunden  ist  und  zu  deren  Änderung 
oder  Erweiterung  einer  speziellen  Instruktion  bedarf,  die  für  Komitees  des 
Oberhauses  und  Select-Committees  der  Gemeinen  auch  imperativ  sein  kann: 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      313 

des  Prüfungs  Verfahrens  zur  Ein  sieht  gelangt,  daß  die  Ent- 
scheidung über  die  Gültigkeit  einer  Wahl  von  der  vorgängigen 
Untersuchung  des  Verhaltens  staatlicher  Behörden  abhängig 
ist,  ein  hierauf  gerichtetes  Spezialmandat  des  Plenums  einholen. 

Praktisch  wäre  diese  konstitutionelle  Feinfühligkeit  freilich 
ohne  Belang,  da  der  Untersuchungskommission  nach  öster- 
reichischem Recht  keine  anderen  und  stärkeren  Mittel  der 
Tatsachenerhebung  zu  Gebote  stehen  als  jedem  Ausschuß  und 
für  die  Form  ihrer  Einsetzung,  ihr  Verfahren  und  ihren 
Wirkungskreis  im  wesentlichen  alle  Bestimmungen  der  Geschäfts- 
ordnung maßgebend  sind,  die  in  den  einschlägigen  Punkten 
für  Ausschüsse  überhaupt  gelten.  Von  diesen  Bestimmungen 
interessiert  hier  zunächst  jene,  laut  welcher  Ausschüsse  das 
Recht  haben.  Erlassung  von  Gesetzen  oder  Fassung  von  Be- 
schlüssen zu  beantragen,  die  mit  dem  dem  Ausschuß  zur  Vor- 
beratung zugewiesenen  Gegenstand  in  Verbindung  stehen^).  Ein 
solcher  Antrag  kann  also  auch  das  Ergebnis  der  Tätigkeit  einer 
Enquetekommission  sein,  und  damit  ist  die  früher  berührte 
Streitfrage  des  preußischen  Rechtes,  ob  Untersuchungsausschüsse 
nur  im  Hinblick  auf  eine  bereits  eingeleitete  legislative  Aktion 
niedergesetzt  werden  können  2),  für  das  österreichische  Recht 
im  Sinn  weitergehender  Zuständigkeit  entschieden. 

Wichtiger  für  die  Gleichstellung  der  Enquetekommissionen 
mit  andern  Ausschüssen^)  sind  jene  Vorschriften,   die  sich  auf 

vgl.  Hatschek,  Englisches  Staatsrecht  Bd.  I  (Tübingen  1905)  S.  445;  Red- 
lich, Recht  und  Technik  des  englischen  Parlamentarismus  S.  462;  May 
S.  400  f.,  482  f. 

^)  GeschO,  d.  Abgeordnetenh.  §  19  Abs.  1. 

^)  S.  oben  S.  289. 

^)  Sie  käme  gegebenenfalls  auch  für  die  Frage  in  Betracht,  ob  und  in 
welchem  Maß  die  Verhandlungen  einer  Enquetekommission  öffentlich  durch- 
zuführen sind.  Im  österreichischen  Herrenhaus  ist  die  Öffentlichkeit  der 
Kommissionssitzungen  geschäftsordnungsmäßig  ausgeschlossen,  da  diesen  im 
allgemeinen  selbst  die  der  Kommission  nicht  angehörigen  Mitglieder  des 
Hauses  nicht  beiwohnen  dürfen  (GeschO.  §  12  Abs.  2  u.  3;  vgl.  §  19), 
Auch  die  GeschO,  des  Abgeordnetenhauses  kennt  bloß  eine  relative  Öffent- 
lichkeit der  Ausschüsse,  indem  nur  die  Verhandlungen  der  dem  Budget-  und 
dem  Wehrausschuß  zugewiesenen  Vorlagen  und  Anträge  allen  Mitgliedern 
des  Hauses  zugänglich  sind  (vgl.  Neisser,  Die  Geschäftsordnung  des  Ab- 
geordnetenhauses des  Reichsrates,  Wien  1909  Bd,  II  S.  85  f.),  die  Beratungen 
andrer  Ausschüsse  nur  dann,  wenn  es  das  Haus  von  Fall  zu  Fall  beschließt. 
Es  steht  aber  jedem  Ausschuß  fi-ei,  NichtÖffentlichkeit  seiner  Sitzungen, 
d.  h.  Ausschluß  der  Abgeordneten,  die  nicht  Ausschußmitglieder  sind,  mittelst 
Zweidrittelmehrheit  zu  verfügen  (GeschO.  §  25  Abs.  4,  5;  vgl.  §  27).  Dies 
würde    sinngemäß    auch   für   die  Tätigkeit    einer  Enquetekommission  gelten. 


314      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

die  informatorische  Tätigkeit  der  parlamentarischen  Unter- 
organe beziehen.  Die  Ausschüsse  beider  Häuser,  somit  auch 
die    Kommissionen    des    §    21    haben    das    Recht,    durch    den 


In  den  letzten  Jahren  wurde  wiederholt  Abänderung  der  erwähnten  Be- 
stimmungen in  dem  Sinn  angeregt,  daß  die  Ausschußverhandlungen  prinzipiell 
allen  Abgeordneten  zugänglich  sein  und  die  Ausschließung  der  Öffentlichkeit 
vom  Hause  selbst,  nicht  vom  Ausschuß,  verfügt  werden  sollte:  s.  Beilagen 
zu  den  Sten.  Prot.  d.  Abgeordnetenh.  XU.  Sess.  Nr.  184,  Xm.  Sess.  Nr,  211, 
XIV.  Sess.  Nr.  281,  XVI.  Sess.  Nr.  444,  XTB..  Sess.  Nr.  999.  —  In  England 
haben  zu  den  Verhandlungen  eines  vom  Oberhaus  eingesetzten  Sonderaus- 
schusses nm-  Lords,  deren  präsumtive  Nachfolger  und  ältesten  Söhne  Zutritt; 
Mitglieder  des  Hauses  können  auch  das  Wort  ergreifen,  ob  sie  nun  dem 
Ausschuß  angehören  oder  nicht  (Standing  Orders  of  the  House  of  Lords  LV, 
LVI).  Bei  Einvernahme  von  Zeugen  wird  dem  Herkommen  gemäß  die 
Öffentlichkeit  ausgeschlossen,  ebenso  dann,  wenn  es  sich  von  vornherein  um 
eine  geheime  Kommission  handelt.  Die  Select-Committees  des  Unterhauses 
gehen  in  betreff  der  Zulassung  von  Nichtmitgliedern  des  Hauses  nach 
freiem  Ermessen  vor,  doch  dürfen  solche  der  Beratung  des  Komitees  (im 
Gegensatz  zur  Abhörung  von  Zeugen)  niemals  beiwohnen.  Abgeordnete 
können  für  sich  das  Recht  beanspruchen,  den  Kommissionsberatungen  und 
der  Zeugeneinvernahme  anzuwohnen;  wenn  sie  aber  ersucht  werden,  sich 
zu  entfernen,  sollen  sie  dies  aus  Courtoisie  tun,  sobald  die  Kojnmission  ihre 
Beratung  beginnt.  Übrigens  kann  auch  das  Unterhaus  die  Verhandlungen 
eines  Ausschusses  als  geheim  erklären,  wie  dies  z.  B.  1626  und  1782  für  die 
Enqueten  über  das  Verhalten  des  Herzogs  von  Buckingham  und  über  die 
indischen  Angelegenheiten  beschlossen  wurde  (Hymans,  Des  Enquetes 
parlementaires,  La  Belgique  judiciaire  Bd.  XVH  S.  1330).  Die  Verhandlungen 
finden  dann  bei  geschlossenen  Türen  statt:  s.  May  S.  408  ff. ;  Hatschek 
a.  a.  0.  S.  415;  Redlich  a.a.O.  8.460;  Michon,  Enquetes  parlementaires 
S.  35f.;  Fromageot,  Bulletin  de  la  societe  de  legislation  comparee  Bd.  XXTT 
S.  180,  183  f.  —  In  Belgien  wird  das  Publikum,  wenn  die  Kommission  nichts 
andres  verfügt,  zur  Einvernahme  von  Sachverständigen  und  Zeugen  zuge- 
lassen, dagegen  von  allen  Untersuchungsakten  (Lokalaugenschein,  Haussuchung 
und  sonstigen  Maßnahmen  der  Erhebung  und  Nachforschung)  ausgeschlossen. 
Die  Mitglieder  der  betreffenden  Kammer  dürfen  allen  Verhandlungen  ihrer 
Untersuchungsausschüsse  beiwohnen,  doch  ist  es  ihnen,  wenn  sie  diesen  nicht 
angehören,  untersagt,  das  Wort  zu  nehmen  und  in  den  Gang  der  Unter- 
suchung durch  Fragestellung  u.  dgl.  einzugreifen:  Ges.  v.  3.  Mai  1880  Art.  3 
(die  Begi'ündung  dieser  Vorschrift  durch  Thonissen  s.  bei  Pierre  S.  707). 
Vgl.  Michon  S.  37  f.,  46;  Salefranque  im  Bulletin  de  la  societe  de  legis- 
lation comparee  a.  a.  0.  S.  599.  Die  Enquete  im  Verfahren  über  die  Richtig- 
stellung der  Wählerlisten,  die  auf  Anordnung  des  Ai^pellhofs  vor  einem 
Friedensrichter  stattfindet  und  sich,  obgleich  materiell  verwaltungsgericht- 
licher Natur,  zur  Gänze  in  den  Formen  des  ordentlichen  Prozesses  abwickelt, 
ist  öffentlich;  die  beteiligten  Parteien  können  ihr  persönlich  anwohnen 
oder  Bevollmächtigte  entsenden:  Code  electoral  v.  12.  April  1894  Art.  110 
Abs.  4.  —  Am  weitesten  geht  der  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  in  Frankreich, 
wo  nur  für  wirtschaftspolitische  Enqueten  das  Bedürfnis  nach  größerer 
Publizität  anerkannt  wurde  (vgl.  Michon  S.  45  f.).     Das  geheime  Verfahren 


Zweig,  Die  parlament.  Enguete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      315 

Präsidenten  des  betreffenden  Hauses  die  Minister  und  Chefs 
der  Zentralstellen  um  Aufklärungen  und  Auskünfte  anzu- 
gehen und   zu   diesem  Zweck   in   ihre  Sitzungen  einzuladen  ^), 

von  Untersuchungsausschüssen  hat  besondere  Wichtigkeit  bei  Veranstaltung 
einer  Enquete  über  bestrittene  Wahlen,  da  z.  B.  in  Frankreich  und  Belgien 
selbst  der  Abgeordnete,  dessen  Recht  in  Frage  steht,  nicht  als  aktiv  Be- 
teiligter vor  der  Kommission  erscheinen  darf.  In  Frankreich  wirkt  an  diesem 
Punkt  die  Lehre  von  der  Gewaltenteilung  nach,  da  der  Gesichtspunkt  geltend 
gemacht  wurde,  daß  eine  Wahlenquete  nicht  auf  die  gleiche  Linie  mit  einer 
„enquete  civile"  zu  stellen  ist:  s.  Michon  S.  38  ff.,  42  ff.;  Pierre  S.  697, 
707;  Payen,  Les  enquetes  parlementaires  et  la  loi  beige  du  3  mai  1880, 
Annales  de  l'ecole  libre  des  sciences  politiques  Bd.  VIII  S.  330  ff.  In  Belgien 
soll  für  die  Aufnahme  der  einschlägigen  Vorschrift,  welche  den  Träger  des 
bestrittenen  Mandats  im  Fall  einer  Wahlenquete  den  der  Kommission  nicht 
angehörigen  Abgeordneten  gleichstellt,  das  Argument  entscheidend  gewesen  sein, 
daß  nach  der  Geschäftsordnung  der  Repräsentantenkammer  ein  Abgeordneter, 
dessen  Wahl  Gegenstand  einer  Untersuchung  bildet,  an  den  Kammerverhand- 
lungen nicht  mehr  teilnehmen  darf  (Michon  S.  40;  Payen  S.  333;  da- 
gegen s,  Salefranque  S.  599).  Im  Jahre  1859  stellte  bei  der  Verhandlung 
des  Gesetzes  über  die  Untersuchung  der  Wahlen  in  Löwen  der  Deputierte 
Wasseige  den  Antrag,  es  seien  die  Träger  der  bestrittenen  Mandate  von 
der  Enquetekommission  zu  hören.  Der  Antrag  wurde  mit  Berufung  auf  jene 
Vorschrift  der  GeschO,  abgelehnt,  doch  schien  es  zweifelhaft,  ob  eine  solche 
Vorschrift  mit  der  Verfassung  im  Einklang  stehe  (Hymans  a.  a.  0.  S.  1315). 
Ich  habe  mich  vergebens  bemüht,  die  in  Rede  stehende  Bestimmung  aiif- 
zufinden,  die  allerdings  in  Frankreich  hinsichtlich  der  Teilnahme  an  den 
Abstimmungen  sowohl  für  Abgeordnete,  wie  für  Senatoren  gilt:  Reglement 
de  la  Chambre  des  Deputes  Art.  6  §  2;  Reglement  du  Senat  Art.  10  §  1 
(Pierre  S.  1162;  Duguit,  Traite  de  droit  constitutionnel,  Paris  1911  Bd.  11 
S.  306).  Für  das  englische  Recht  ist  die  Frage  gegenstandslos,  da  im  Ver- 
fahren vor  dem  Wahlgerichtshof  der  gewählte  Kandidat  als  Partei  erscheint 
und  auch  vor  der  königlichen  Kommission,  die  im  Fall  von  Wahlmiß- 
bräuchen auf  Antrag  des  Unterhauses  eingesetzt  wird,  der  Abgeordnete, 
dessen  Mandat  in  Frage  kommt,  sich  am  Zeugenverhör  beteiligen  und  selbst 
Ladung  von  Zeugen  beantragen  darf:  Hatschek  S.  302.  —  In  Italien  ist 
die  Öffentlichkeit  der  Parlamentsenquete  grundsätzlich  anerkannt,  doch  kann 
die  betreffende  Kammer  jeweils  bestimmen,  ob  Protokolle  und  andere  Ur- 
kunden der  Enquete  zu  veröffentlichen  sind.  Das  Prinzip,  daß  jeder  Depu- 
tierte berechtigt  ist,  diese  Urkunden  einzusehen,  hat  in  neuerer  Zeit  nament- 
lich für  die  Verwaltungsenquete  i.  e.  S.  mannigfache  Einschränkung  erfahren : 
Mancini-Galeotti,  Norme  ed  usi  S.  395  f.;  Racioppi-Brunelli 
Bd.inS.182;  Miceli,  Inchieste  parlamentari  S. 64.  Im  Wahlprüfungsverfahren 
vor  der  Giunta  delle  elezioni  ist  hier  ähnlich  wie  in  England  der  Deputierte, 
dessen  Mandat  bestritten  wird,  Partei  und  kann  als  solche  Zeugen  führen: 
Regolamento  della  Camera  dei  Deputati  Art.  24;  Mancini-Galeotti 
S,  23  f.  —  Über  die  prinzipielle  Frage  der  Öffentlichkeit  von  Ausschuß- 
verhandlungen vgl.  Neumann-Hof er  a.  a.  0.  S.  58  f.,  73  ff. 

')  Ges.  V.  12.  Mai  1873  RGBl.  Nr.  94  §  7  Abs.  2;  GeschO,  f.  d. 
Herrenhaus  §  14  Abs.  2;  GeschO,  f.  d.  Abgeordnetenhaus  §  29  Abs.  2. 
(Ebenso  §  7  Abs.  2  der  Geschäftsordnungsgesetze  v.  31.  Juli  1861  RGBl.  Nr,  78 


316      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

sie  um  die  Einleitung  allfällig  erforderlicher  Erhebungen 
zu  ersuchen  und  Sachverständige  oder  Zeugen  zur  münd- 
lichen Vernehmung  vorladen  oder  zur  Abgabe  eines  schrift- 
lichen   Gutachtens    oder    Zeugnisses    auffordern     zu    lassen  i). 


u.  V.  15.  Mai  1868  RGBl,  Nr.  42,)  Dieses  Recht  und  die  ihm  entsprechende 
Pflicht  bezieht  sich  jedoch  nur  auf  die  österreichischen  Minister,  nicht  auch 
auf  die  Mitglieder  des  gemeinsamen  Ministeriums,  dem  es  nach  §  5  Abs.  1 
des  Ges.  v.  21.  Dez.  1867  RGBl.  Nr.  146  untersagt  ist,  neben  den  gemein- 
samen Angelegenheiten  auch  die  besonderen  Regierungsgeschäfte  eines  der 
beiden  Reichsteile  zu  führen.  Auf  diese  Vorschrift  berief  sich  im  Jahre  1909 
der  Präsident  des  Abgeordnetenhauses  und  m\  Jahre  1912  der  Minister- 
präsident-Stellvertreter gegenüber  dem  Ersuchen  des  zur  Beratung  der  An- 
nexionsvorlage eingesetzten  sog.  bosnischen  Ausschusses,  zu  seinen  Verhand- 
lungen gemäß  §  7  GeschOGes.  gemeinsame  Minister  einzuladen  (s.  Neisser 
Bd.  n  S.  90;  Tezner,  Volksvertretung  S.  468  N.  8).  In  dem  letzterwähnten 
Fall  scheint  übrigens  der  Obmann  des  Ausschusses  mit  Umgehung  der  nach 
§  8  des  zit.  Gesetzes  erforderlichen  Intervention  des  Präsidenten  unmittelbar 
die  Regierung  um  Einladung  des  gemeinsamen  Ministers  ersucht  zu  haben: 
s,  d.  Schreiben  des  Ministerpräsident-Stellvertreters  in  der  „Wiener  Zeitung" 
Nr.  144  V.  26.  Juni  1912,  welches  auch  die  Zuziehung  eines  Beamten  des 
Reichsfinanzministeriums  als  Sachverständigen  ablehnt,  obgleich  in  früheren 
Jahren  Vertreter  des  gemeinsamen  Ministeriums  an  den  Verhandlungen  des 
Abgeordnetenhauses  und  seiner  Ausschüsse  teilgenommen  haben  (Neisser 
a.  a.  0.  N.  1).  Diese  Verschärfung  der  Praxis  stützt  sich  wahrscheinlich 
auf  die  an  den  österreichischen  Ministerpräsidenten  unterm  1.  Mai  1909 
gerichtete  Zuschrift  des  Ministers  des  Äußern,  laut  welcher  „die  ge- 
meinsamen Minister  weder  verpflichtet  noch  berechtigt  sind,  an  Verhand- 
lungen von  Ausschüssen  eines  der  Parlamente  der  beiden  Staaten  der 
Monarchie  teilzunehmen,  und  das  Gleiche  auch  von  den  den  gemeinsamen 
Ministern  unterstehenden  amtlichen  Organen  zu  gelten  hat,  welche  einer 
Einladung  zum  Erscheinen  in  einem  parlamentarischen  Ausschuß,  der  ikre 
Chefs  vorzuladen  nicht  berechtigt  ist,  ebenfalls  nicht  Folge  leisten  könnten". 
Vor  kurzem  —  im  Februar  1913  —  bot  die  Vergebung  einer  für  die  Kriegs- 
flotte bestimmten  Lieferung  an  eine  reichs deutsche  Firma  dem  Budgetausschuß 
des  Abgeordnetenhauses  den  Anlaß,  mit  der  Untersuchung  dieses  Vorgangs- 
ein Subkomite  zu  beauftragen,  welches  Durchführung  einer  mündlichen  Enquete 
und  Aktenrequisition  bei  der  Marineverwaltung  beschloß.  Die  Regierung 
erklärte  sich  außerstande,  dem  Ersuchen  zu  entsprechen,  und  berief  sich  für 
ihre  ablehnende  Haltimg  auf  §§  16  u.  28  d.  Ges.  v.  21.  Dez.  1867  RGBl. 
Nr.  146,  sowie  §  11  Abs.  1  d.  Ges.  v,  21,  Dez,  1867  RGBl.  Nr.  141,  d.  h.  auf 
jene  Verfassungsbestimmungen,  die  den  Wirkungskreis  des  Reichsrats,  die 
Verantwortlichkeit  und  Auskunftspflicht  der  gemeinsamen  Minister  gegenüber 
den  Delegationen  festsetzen.  Das  Subcomite  sprach  sein  Bedauern  darüber 
aus,  daß  die  Regierung  durch  Verweigerung  der  Aktenvorlage  die  pflicht- 
gemäße Prüfung  und  Untersuchung  der  Frage  erschwert,  zumindest  ver- 
schleppt habe, 

0  Ges.  v.  12.  Mai  1873  RGBl.  Nr.  94  §  8;  GeschO,  f.  d.  Herrenhaus 
§  15;  GeschO,  f,  d.  Abgeordnetenhaus  §  30.  Zeuge  kann  auch  ein  ehe- 
maliger Minister    sein,    wenn    man    einen    solchen    schon   nicht  als  Sachver- 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht.      317 

Das  Recht,  Sachverständige  beizuziehen,  hatten  die  Ausschüsse 
und  Kommissionen,  wie  erwähnt,  schon  seit  1861.  Die  Ab- 
hörung von  Zeugen  wurde  ihnen  erst  durch  die  Geschäftsord- 
nungsreform des  Jahres  1868  zugestanden.  Der  Verfassungs- 
ausschuß des  Abgeordnetenhauses,  der  diese  keineswegs  be- 
deutungslose Kompetenzerweiterung  anregte  und  damit  auf 
die  Beratung  der  ersten  autonomen  Geschäftsordnung  zurück- 
griff,  machte  hiefür  den  Gesichtspunkt  geltend,  daß  die  Kom- 
missionen beider  Häuser  im  Punkt  der  Zeugenvernehmung 
dem    zur   Verhandlung    über    eine    Ministeranklage   berufenen 

ständigen  gelten  lassen  will.  Der  Budgetausschuß  des  Abgeordnetenhauses 
hat  im  Jahre  1906  kraft  seiner  geschäftsordnungsmäßigen  Befugnis  ehemalige 
Minister  vorgeladen  (s.  Bernatzik  S.  813  N.  6).  Als  Zeuge  oder  Sach- 
verständiger könnte  vor  einem  Ausschuß  des  österreichischen  Reichsrats 
auch  ein  gemeinsamer  Minister  oder  ein  ihm  untergeordneter  Beamter  er- 
scheinen. Das  in  der  vorigen  Note  erwähnte  Verlangen  des  bosnischen 
Ausschusses  war  in  beiden  Fällen  insofern  unrichtig  formuliert,  als  es  sich 
auf  §  7  statt  auf  §  8  des  GeschOGr.  stützte,  obgleich  ein  Eventualantrag 
dahin  ging,  das  gemeinsame  Finanzministerium  anzugehen,  einen  seiner 
Beamten  als  Sachverständigen  in  die  Sitzungen  des  Ausschusses  zu  entsenden. 
Juristisch  völlig  haltlos  war  der  Einwand  des  Eegierungsvertreters,  daß 
ein  Beamter  über  Gegenstände  seiner  Amtsführung  überhaupt  nicht  als 
Sachverständiger  vernommen  werden  könne,  weil  ein  solcher  an  der  Sache 
vollständig  unbeteiligt  sein  muß  und  in  seiner  Meinungsäußerung  in  keiner 
Weise  gebunden  sein  dürfe,  was  bei  dem  durch  die  Dienstpflicht  gebundenen 
Beamten  nicht  der  Fall  sei.  Auch  würde  die  Einvernahme  eines  Beamten 
als  Sachverständigen  mit  der  Ministerverantwortlichkeit  in  Kollision  geraten, 
da  er  dann  eventuell  Erklärungen  abgeben  müßte,  „durch  die  er  sich  mit 
seinem  Minister  in  Widerspruch  setzen  würde"  („Wiener  Zeitimg"  Nr.  149 
V.  3.  Juli  1912).  Das  letzte  Argument  stammt  offenbar  aus  den  Herrenhaus- 
protokollen von  1867  und  verkennt  dm-chaus  das  Wesen  der  Sache,  ebenso 
wie  das  erste  auf  einer  irrigen  Anschauung  von  der  Rolle  des  Beamten- 
Sachverständigen  beruht.  Beide  Argumente  müßten  eher  den  —  natürlich 
falschen  —  Schluß  nahelegen,  daß  ein  Beamter  nicht  als  Zeuge  vor  einer 
parlamentarischen  Untersuchungskommission  erscheinen  darf.  (Hierüber  s. 
unten  S.  322  f.).  Daß  es  auch  sachverständige  Zeugen  gibt  (s.  unten  S.  319 
N.  1)  —  und  ein  Beamter  ist  ein  solcher  xaTe^oxrjv  in  den  Angelegen- 
heiten seiner  Dienstsphäre  —  scheint  dem  Regierungsvertreter  unbekannt 
geblieben  zu  sein.  Zu  größerer  Vorsicht  hätte  ihn  aber  der  Umstand  ver- 
anlassen sollen,  daß  vor  der  durch  kaiserliches  Handschreiben  bestellten,  also 
nicht  einmal  durch  Gesetz  autorisierten  Kommission  zur  Förderung  der  Ver- 
waltungsreform (s.  unten  S.  344  N.  1)  Staatsbedienstete  oder  Bedienstete  staat- 
licher Betriebe  als  Sachverständige  oder  Auskunftspersonen  erscheinen  dürfen 
(Ah.  genehmigte  Grundsätze  für  die  Tätigkeit  dieser  Kommission  §7  Abs.  2; 
GeschO.  §  14  Abs.  1).  Es  ist  doch  nicht  anzunehmen,  daß  ein  kaiserlicher 
Willensakt  sich  mit  „der  gegebenen  monokratischen  Einrichtung  der  Be- 
hördenorganisation" und  mit  ,,der  bestehenden  Einrichtung  der  Minister- 
verantwortlichkeit" in  so  flagranten  Widerspruch  setzen  sollte. 


318      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Ausschuß  gleichgestellt  werden  müssen,  damit  die  Häuser  von 
den  ihnen  staatsgrundgesetzlich  zustehenden  Berechtigungen, 
namentlich  von  der  Befugnis  der  Verwaltungskontrolle  vollen 
Gebrauch  machen  können^).  Lichtenfels,  der  im  Herren- 
haus den  Bericht  über  die  Geschäftsordnungsreform  erstattete, 
trat  auch  jetzt  einem  Recht  der  Zeugeneinvernahme  entgegen, 
weil  schon  der  bisherige  Rechtszustand  den  Kommissionen  die 
Möglichkeit  gewähre,  die  Zentralstellen  um  Einleitung  allfälhg 
erforderlicher  Erhebungen  anzugehen,  mithin  die  Gelegenheit 
biete,  Personen,  deren  Aussage  ihnen  wichtig  ist,  durch  die 
Behörden  vernehmen  zu  lassen  und  sich  so  jene  Aufklärungen 
zu  verschaffen,  die  ihnen,  in  welcher  Beziehung  immer,  not- 
wendig erscheinen.  Er  war  der  Meinung,  daß  auch  das  neue 
Staatsgrundgesetz  eine  Ausdehnung  der  Befugnisse  in  dieser 
Richtung  nicht  zur  Folge  haben  müsse,  da  beiden  Häusern 
das  Recht,  innerhalb  ihres  Wirkungskreises  die  Verwaltungs- 
akte der  Regierung  zu  prüfen,  schon  nach  der  früheren  Ver- 
fassung unzweifelhaft  zustand,  während  eine  ,, selbsteigene  Ver- 
nehmung der  Zeugen  von  Seite  der  Reichsvertretung"  nur 
gelegentlich  der  Ministeranklage,  also  in  einem  bereits  gesetz- 
Hch  vorgesehenen  Fall  stattfinden  kann 2).  Lichtenfels  er- 
innerte daran,  daß  schon  1861  die  vom  Abgeordneten- 
hause beabsichtigte  Statuierung  eines  solchen  Rechtes  unter- 
bheb,  weil  die  Vernehmung  von  Zeugen  ein  nur  der  Vollzugs- 
gewalt zustehender  Jurisdiktionsakt  ist^).  Auch  habe  sie  das 
Mißliche,  daß  auf  diese  Weise  Beamte  in  die  Lage  kommen 
können,  gegen  ihre  eigenen  Ministerien  auszusagen,  und  daß 
so  Amtshandlungen  der  Regierung  außer  dem  gehörigen  Wege 
zur  Verhandlung  und  zur  Verantwortung  gezogen  werden*). 
Demgegenüber  vertrat  Giskra  als  Minister  des  Innern  den 
Standpunkt,  daß  sich  die  Aufnahme  der  angefochtenen  Be- 
stimmung —  abgesehen  von  der  terminologischen  Frage,  ob 
nicht  zu  den  Sachverständigen  im  weiteren  Sinn  auch  Zeugen 


*)  Berichterstatter  Dr.  Dinstl  i.  d.  Sitzg.  d.  Abgeordnetenhauses  v. 
30.  März  1868,  Sten.  Prot.  d.  IV.  Sess.  S.  2392  f.  Nach  §  10  des  Ges.  v. 
25.  Juli  1867  RGBl.  Nr.  101  hat  der  zur  Vorberatung  des  Antrags  auf 
Ministeranklage  gewählte  Ausschuß  die  zur  Begründung  der  Anklage  zweck- 
dienlichen Vorerhebungen  zu  pflegen  und  kann  Zeugen  sowie  Sachver- 
ständige vernehmen. 

')  Sitzg.  V.  30.  April  1868,   Sten.  Prot.  d.  Herrenh.  IV.  Sess.  S.  785. 

")  S.  oben  S.  302. 

*)  Sten.  Prot.  das.  S.  787. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      319 

gehören  1),  —  schon  im  Hinbhck  auf  das  Verifikationsrecht 
des  Abgeordnetenhauses  empfehle.  Die  Verweigerung  des 
Rechtes,  Personen,  die  bei  einer  Wahl  anwesend  waren,  über 
die  Umstände,  welche  deren  Ungiltigkeit  herbeiführen  könnten, 
unmittelbar  zu  hören,  würde  das  Abgeordnetenhaus  auf  ein 
mittelbares  Verfahren,  d.  i.  auf  die  bloß  aktenmäßige  Er- 
hebung von  Vorgängen  beschränken,  die  so  häufig  hinter  der 
richtigen  Auffassung  der  Verhältnisse  zurückbleibt  2).  Schließ- 
lich wurde  der  Paragraph  gegen  den  Antrag  der  Kommission 
in  der  vom  Abgeordnetenhause  vorgeschlagenen  Textierung 
mit  einer  Stimme  Majorität  angenommen  3). 

Auch  hier  ist  die  parlamentarische  Entstehungsgeschichte 
für  die  Auslegung  nicht  ohne  Wert.  Sie  zeigt  deutlich,  daß 
für  keines  der  beiden  Häuser  ein  selbständiges  Erhebungsrecht 
ihrer  Kommissionen  mit  Ausschaltung  der  Minister  in  Frage 
kam,  aber  ebenso  evident,  daß  niemals  an  die  Möglichkeit  ge- 
dacht wurde,  ein  Minister  könnte  sich  weigern,  dem  Informa- 
tionsbegehren der  Kommission  zu  entsprechen.  Die  Frage  ist 
vor  nicht  langer  Zeit  praktisch  geworden  und  hat,  wde  es  nun 
einmal  die  seltsame  Fügung  will,  die  über  Verfassungsfragen 
in  Österreich  waltet,  durch  Schließung  der  Session  wenn  nicht 
ihre  Lösung,  so  doch  ihre  Erledigung  gefunden.  Der  Immunitäts- 
ausschuß des  Abgeordnetenhauses  hatte  beschlossen,  wegen  Ver- 
haftung zweier  Abgeordneter  einige  an  dieser  Maßnahme  beteiligte 
Polizeiorgane  zur  Einvernehmung  als  Zeugen  vorzuladen,  weil  er 
den  ihm  übermittelten  amtlichen  Polizeibericht  zur  Klarstellung 
des  Falles  für  nicht  genügend  erachtete  und  die  Aussage  der  betei- 
ligten Abgeordneten  der  Darstellung  dieses  Berichtes  widersprach. 
Das  Ministerium  des  Innern,  dem  dieses  Verlangen  durch  den 

^)  Die  Frage  war  schon  in  der  Debatte  über  §  8  des  Geschäftsordnungs- 
ges.  V.  1861  gestreift  worden:  Abg.  Dr.  v.  Mühlfeld  i,  d.  Sitzg.  d.  Ab- 
geordnetenh.  v.  5.  Juni  1861,  Sten.  Prot.  d.  I.  Sess.  S.  217.  —  Beiläufig  sei 
hier  erwähnt,  daß  die  österreichische  Zivilprozeßordnung  v.  1895  neben 
Zeugen  und  Sachverständigen  auch  sachverständige  Zeugen  kennt,  d.  i.  Per- 
sonen, welche  über  Vorgänge,  Tatsachen  oder  Tatumstände  verhört  werden, 
zu  deren  Wahrnehmung  besondere  Sachkunde  erforderlich  war  (§  350), 

^)  Sten.  Prot.  d.  Herrenh.  a.  a.  0.  S.  786.  Vgl.  das.  die  Ausführungen 
des  Grafen  Hartig.  Die  Notwendigkeit  der  Zeugeneinvernahme  im  Veri- 
fikationsverfahren war  schon  gelegentlich  der  Debatte  über  §  8  des  Geschäfts- 
ordnungsges.  v.  1861  im  Abgeordnetenhause  von  jenen  Rednern  hervorgehoben 
worden,  die  den  Ausschüssen  ein  solches  Recht  eingeräumt  wissen  wollten: 
Dr.  V.  Mühlfeld  u.  Dr.  Brauner  in  den  Sitzungen  v.  5.  Juni  u.  12.  Juli  1861, 
Sten.  Prot.  d.  I.  Sess.  S.  217,  461. 

')  Sten.  Prot.  d.  Herrenh.  IV.  Sess.  S.  788. 


320      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Präsidenten  des  Abgeordnetenhauses  übermittelt  wurde,  weigerte 
sieh  aus  zwei  Gründen,  die  Vorladung  zu  veranlassen.  Einmal 
seien  die  staatlichen  Organe  in  der  betreffenden  Angelegenheit 
bereits  von  ihrer  vorgesetzten  Behörde  unter  Diensteid  verhört 
und  die  Vernehmungsprotokolle  dem  Abgeordnetenhause  zur 
Kenntnis  gebracht  worden.  Sodann  könnte  das  Erscheinen  der 
PoHzeiorgane  vor  dem  Ausschuß  nur  die  Bedeutung  haben, 
daß  ihr  Vorgehen  zum  Gegenstand  einer  Untersuchung  gemacht 
werden  soll,  daß  sie  somit  als  Beschuldigte  auftreten.  Eine 
unmittelbare  Untersuchung  gegen  Organe  der  staatlichen  Be- 
hörden könne  aber  nur  von  der  zuständigen  Disziplinarinstanz 
oder  dem  Strafgericht  durchgeführt  werden.  Das  Ministerium 
wies  endlich  darauf  hin,  daß  §  8  des  Geschäftsordnungsgesetzes 
keine  Zeugenpflicht  begründet  i).  Das  trifft,  wie  noch  gezeigt 
werden  soll,  vollkommen  zu.  Auch  ist  nach  dem  klaren  Wort- 
laut des  Gesetzes  nicht  zu  bezweifeln,  daß  weder  dem  Hause 
noch  den  Ausschüssen  ein  unmittelbares  Einschreiten  gestattet 
ist,  der  Verkehr  der  parlamentarischen  Kollegien  und  Organe 
nach  außen  den  Weg  über  die  Regierung  nehmen  muß  2). 
Allein  die  Folgerung,  daß  dieser  Verkehr  des  Hauses  mit  den 
behördlichen  Organen  stets  nur  im  Wege  der  Zentralstellen 
und  nicht  durch  Zeugeneinvernehmung  erfolgen  könne,  findet 
weder  im  Gesetz  noch  in  dessen  Entstehungsgeschichte  einen 
Halt.  Denn  dann  würde  sich  §  8  des  Geschäftsordnungsgesetzes 
nur  auf  Privatpersonen  beziehen.  Da  jedoch  das  Gesetz  nicht 
unterscheidet,  ist  es  nach  der  alten  Paroemie  Niemandes  Amt, 
zu  unterscheiden.  Grade  weil  der  Regierung  im  Verhältnis 
der  Volksvertretung  zu  der  außerparlamentarischen  Sphäre  eine 
Art  Verkehrsmonopol  eingeräumt  ist,  das  sich  durch  geschicht- 
liche Erfahrungen  immerhin  rechtfertigen  mag,  entbehrt  die 
Argumentation  des  Ministeriums  im  vorliegenden  Fall  der  Be- 
gründung. Indem  das  Gesetz  den  Vertretungskörpern  und 
ihren  Teilorganen  einen  bestimmten  Modus  jenes  Verkehrs 
vorschrieb  und  alle  direkte  Beziehung  zu  Behörden  und  Einzelnen 
ausschloß,  hat  es  ihnen  eine  unter  Umständen  sehr  empfind- 
liche Selbstverleugnung  und  einen  Verzicht  auf  mannigfache 
Möglichkeiten  der  Kenntnisnahme  von  Tatsachen  zugemutet. 
Es  will  und  muß  ihnen  ein  Äquivalent  für  solche  Beschränkung 


0  Anfrage  des  Abg.  Dr.  Släma  als  Obmannes  des  Immunitätsausschusses 
an  den  Präsidenten  des  Abgeordnetenhauses:  Sitzg.  v.  7.  JuH  1909,  Sten.  Prot, 
d.  XIX.  Sess.  S.  2637  f. 

')  S.  die  Erklärung  des  Präsidenten  Dr.  Pattai  a,  a.  0.  S.  2638. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      321 

bieten,  indem  es  sie  mit  ihrem  Informationsbedürfnis  an  die 
Regierung  weist,  die  schon  vermöge  ihrer  Stellung  und  ihres 
technischen  Apparats  Raschheit,  Sicherheit  und  vor  allem  Voll- 
ständigkeit der  eingeholten  Auskunft  garantiert.  Weigert  sich 
die  Regierung,  dieser  Aufklärungspflicht  zu  entsprechen,  so  tut 
sie  es  auf  ihre  Verantwortung,  und  sicherlich  ist  der  Fall 
denkbar,  daß  ein  Minister  angesichts  der  politischen  Tragweite 
der  geforderten  Erhebungen  und  im  Hinblick  auf  verhängnis- 
volle Wirkungen  der  Auskunfterteilung  die  Volksvertretung  vor 
die  Wahl  stellt,  ob  sie  gegen  ihn  die  Anklage  erheben  oder 
auf  ihr  Ermittlungsrecht  verzichten  will.  Davon  war  natürlich 
hier  nicht  die  Rede^). 

Nach  der  Meinung  des  Ministeriums  mußte  sich  der  Im- 
munitätsausschuß mit  dem  ihm  vorgelegten  amtlichen  Protokoll 
—  es  war  übrigens  bloß  eine  Polizeirelation  —  begnügen,  ob- 
zwar  es  doch  offenbar  allein  Sache  des  Ausschusses  sein  konnte, 
zu  entscheiden,  welches  Beweismaterial  zu  seiner  Schlußfassung 
nötig  und  ausreichend  ist.  Damit  erledigt  sich  auch  der  Hin- 
weis auf  den  Umstand,  daß  der  Vorfall  bereits  gerichthch  an- 
hängig sei,  was  besagen  soUte,  daß  die  Sache,  wenn  der  Aus- 
schuß dem  Auslieferungsbegehren  Folge  gibt,  auch  gerichthch 
erledigt  wird.  Aber  der  Ausschuß  hat  weder  Untersuchungsrecht 
noch  Untersuchungszweck,  er  hat  kein  Strafverfahren  vorzu- 
bereiten, sondern  hatte  im  gegebenen  Fall  ledighch  auszu- 
sprechen, ob  ein  der  Volksvertretung  verfassungsmäßig  gewähr- 
leistetes Recht  verletzt  wurde  oder  nicht.  Seine  Tätigkeit  ist 
daher  weder  formell  noch  materiell  an  das  Ergebnis  gebunden, 
zu  dem  die  gerichtliche  Kognition  der  gleichen  Angelegenheit 
führt.  Man  sieht,  daß  hier  noch  immer  die  alte  durch  den 
Gleichklang  des  Wortes  verursachte  Vorstellung  von  der  ,,en- 


0  Richtig  Tezner,  Der  Kaiser,  Wien  1909  S.  318  und  Die  Volksver- 
tretung S.  358,  daß  für  die  Minister  vernünftigerweise  eine  unbedingte 
Pflicht,  der  Requisition  der  Ausschüsse  zu  entsprechen,  nicht  besteht,  da 
sie  hiedurch  unter  Umständen  zur  Verletzung  ihrer  eigenen  Amtspflicht 
genötigt  wären  und  es  Fälle  absoluter  Notwendigkeit  der  Geheimhaltung 
von  Tatsachen  geben  kann.  Die  Meinung  Tezner s,  daß  den  Kommissionen 
und  Ausschüssen  beider  Häuser  keine  staatliche  Befehlsgewalt  zukommt,  ist, 
wie  gezeigt,  auch  in  der  parlamentarischen  Geschichte  der  einschlägigen  Vor- 
schriften begründet,  sagt  jedoch  nur  selbstverständliches  aus,  da  der  Rechts- 
kreis sekundärer  Organe  nicht  weiter  reichen  kann  als  jener  des  primären 
Organs  und  dieses  —  im  vorliegenden  Fall  das  Parlament  —  zweifellos  kein 
Imperium  besitzt.  Vgl.  hiezu  Dupriez  i.  d.  Revue  du  droit  public  Bd  XXTTT 
S.  299  f. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  21 


322      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

quete  judiciaire"  wirkt  und  eine  Vermengung  der  Funktionen 
bewirkt,  an  deren  sorgfältiger  Scheidung  grade  die  Exekutive 
von  jeher  am  stärksten  interessiert  war.  So  ist  auch  die  Be- 
sorgnis zu  erklären  und  zu  entkräften,  daß  der  Ausschuß  die 
vorgeladenen  Polizisten  als  Beschuldigte  verhören  könnte,  eine 
Annahme,  die  nur  dann  einen  Schein  von  Berechtigung  hat, 
wenn  man  einem  Organ  von  vornherein  Überschreitung  seiner 
gesetzlichen  Kompetenz  zumutet.  Zur  Einvernahme  eines  Be- 
schuldigten oder  zur  Beschuldigung  eines  Einvernommenen  hat 
aber  der  Ausschuß  kein  Recht,  noch  hat  er  sich  ein  solches 
zugeschrieben,  da  er  expressis  verbis  um  Vorladung  der  Polizei- 
organe als  Zeugen  ersuchte.  Man  ist  übrigens  gegen  das  Er- 
scheinen von  Polizeiorganen  im  österreichischen  Abgeordneten- 
hause nicht  immer  so  empfindlich  gewesen. 

Die  hier  vertretene  Auffassung  von  der  grundsätzlichen 
Pflicht  der  Regierung,  dem  Begehren  eines  Ausschusses  nach 
§  8  des  Geschäftsordnungsgesetzes  zu  entsprechen,  muß  freilich 
den  Vorwurf  auf  sich  nehmen,  daß  sie  lege  non  distinguente 
einen  Unterschied  zwischen  behördlichen  Organen  und  Privat- 
personen konstruiert  und  für  die  erste  Kategorie  einen  mittel- 
baren Zeugnis-  oder  vielmehr  Erscheinungszwang  schafft,  der 
für  die  zweite  nicht  anerkannt  wird^).  Das  ist  scheinbar  richtig. 
Aber  auch  nur  scheinbar.  Denn  jener  Zwang  ist  derivativer 
Art,  ein  Ausfluß  der  Dienstpflicht  und  als  solcher  in  nichts 
verschieden  von  andern  onerosen  Privilegien,  die  das  quali- 
fizierte   Abhängigkeitsverhältnis    des    Beamten    auch    sonst   im 

^)  Vgl.  Tezner,  Volksvertretung  S.  358  N.  13,  S.  501  N.  99.  —  Eine 
andere  Tragweite  hat  in  Frankreich  die  Unterscheidung  von  Beamten  und 
Privatpersonen  hinsichtlich  ihrer  Eigenschaft  als  Zeugen  vor  einer  joarlamen- 
tarischen  Untersuchungskommission.  Die  Minister  haben  hier  im  Interesse 
der  hierarchischen  Ordnung  und  zur  Wahrung  des  Prinzips  der  Gewaltenteilung 
das  Recht  in  Anspruch  genommen,  die  Ladung  von  Beamten  im  Dienstweg 
zu  veranlassen  oder  bei  deren  Einvernahme  anwesend  zu  sein,  sowie  über 
die  ilitteilung  amtlicher  Geschäftsstücke  von  Fall  zu  Fall  zu  entscheiden. 
(Vgl.  Pierre  S.  694  ff.;  Michon  S.  122  ff.)  So  hat  schon  im  Jahre  1842  der 
Minister  des  Innern  Beamten  untersagt,  vor  einem  zur  Untersuchung  be- 
strittener Wahlen  eingesetzten  Kammerausschuß  zu  erscheinen,  und  das  Verbot 
damit  begründet,  daß  nach  der  Charte  der  König  allein  die  Vollzugsgewalt 
besitzt  und  es  diesem  Prinzip  widerspräche,  wenn  die  Kammern  den  Beamten 
unmittelbar  Weisungen  erteilen  könnten.  Die  Kommission  beschloß,  die  in 
Betracht  kommenden  Funktionäre  in  Gegenwart  des  Ministers  zu  vernehmen. 
(Pierre  a.  a.  0.;  Hymans  a.  a.  0.  S.  1334.)  —  In  Belgien  hat  die  Frage, 
ob  eine  parlamentarische  Kommission  Angehörige  des  Zivil-  und  Militärdienstes 
vorladen  und  vernehmen  darf,  im  Jahre  1905  zu  einer  lebhaften  Erörterung 
Anlaß  gegeben:  vgl.  Dupriez  a.  a.  0.  S.  296  ff. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      323 

Gefolge  hat.  Der  Beamte  muß  nicht  vor  dem  Ausschuß  er- 
scheinen, weil  es  der  Ausschuß  will,  sondern  weil  es  die  Re- 
gierung befiehlt,  und  die  Regierung  muß  befehlen,  weil  es  das 
Gesetz  will.  Es  ist  wohl  überflüssig  hervorzuheben,  daß  das 
staatliche  Organ,  welches,  dem  Dienstbefehl  gehorsam,  seiner 
Zeugenpflicht  nachkommt,  alle  jene  Vorrechte  genießt,  die  bei 
der  gerichtlichen  Einvernahme  von  dieser  Pflicht  befreien  oder 
deren  Erfüllung  sogar  verbieten  i).  Wenn  es  das  Bedürfnis  der 
Wahrheitserforschuug  regelmäßig  nicht  einmal  im  gerichtlichen 
Verfahren  erheischt,  daß  der  Beamte  seine  Schweigepflicht  ver- 
letzt und  daß  der  Zeuge  sich  durch  seine  Aussage  schädigt, 
so  kann  das  noch  viel  weniger  für  eine  Ermittlungsaktion 
gelten,  an  deren  Ergebnissen  das  Wohl  und  das  Interesse  der 
Gesamtheit  sicherlich  nicht  entfernt  so  stark  beteiHgt  sind. 
Für  Privatpersonen  kommen  alle  diese  Erwägungen  nicht  in 
Betracht,  weil  sie  gegenüber  einem  parlamentarischen  Ausschuß 
keiner  Erscheinungs-  und  keiner  Aussagepflicht  unterhegen  2). 
Eine  solche  könnte,  da  sie  eine  Einengung  der  staatsfreien 
Sphäre  des  Individuums  bedeutet,  nur  durch  Gesetz  ausge- 
sprochen werden,  wie  dies  für  den  Untersuchungsausschuß  im 
Fall  einer  Ministeranklage  geschehen  ist,  dem  alle  im  ordent- 
lichen Strafverfahren  einem  Untersuchungsrichter  eingeräumten 
Befugnisse  zustehen^).  Argumento  a  contrario  hat  kein  andrer 
Ausschuß,  auch  nicht  eine  Informationskommission  das  Recht, 
Zeugen  und  Sachverständige  eidlich  zu  vernehmen  oder  deren 
Vernehmung  durch  das  Gericht  zu  veranlassen^). 

')  StPO.  §§  151,  153;  CPO.  §  320;  vgl.  RStPO.  §  53;  RCPO.  §  376.  Das 
badische  Landtagswahlgesetz  v.  1904  bestimmt  ausdrücklich,  daß  für  die  im 
Wahlprüfungsverfahren  vernommenen  Zeugen-  und  Sachverständigen  die 
Vorschriften  der  StPO.  über  den  Ausschluß  der  Beeidigung  und  über  das 
Recht  zur  Auskunftverweigerung  entsprechende  Anwendung  finden.  Ähnliches 
gilt  für  die  Auskunftspflicht  der  vor  eine  Enquetekommission  geladenen  Be- 
amten nach  fi-anzösischem  Recht:  Pierre,  Supplement',  Paris  1910  S.  499  f. 

^)  Die  Vorstellung,  daß  dem  Laderecht  des  Ausschusses  notwendig  eine 
Erscheinungspflicht  des  Zeugen  entspreche,  hat  mit  dazu  beigetragen,  daß 
beim  Zustandekommen  der  GeschO,  v.  1861  den  Ausschüssen  die  Befugnis 
der  Zeugeneinvernahme  versagt  wurde,  da  man  Zeugniszwang  jeder  Art  in 
den  Rechtsbereich  der  Exekutive  verwies  und  Übergriffe  der  Legislative 
besorgte.  S.  die  Ausführungen  des  Berichterstatters  Grafen  H artig  und 
des  Freiherrn  v.  Lichtenfels  i.  d.  Debatte  des  Herrenhauses  über  §  8  d. 
GeschOGes.  V.  1861:  Sitzg.  v.  1.  Jtdi  1861,  Sten.  Prot,  d,  L  Sess.  S.  113,  111. 
Vgl.  oben  S.  302  N.  3. 

")  Ges.  V.  25.  Juli  1867  RGBl.  Nr.  101  §  17. 

*)  Übereinstimmend  Bernatzik,  Verfassungsgesetze  S.  814  N.  7.  Da- 
gegen wirft  Tezner,  Volksvertretung  S.  501  die  Frage  auf,  ob  nicht  mangels 

21* 


324      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Aus  analogen  Gründen,  d.  h.  weil  eben  parlamentarische 
Ausschüsse  keine  Gerichtsbehörden  sind,  steht  die  falsche  Aus- 
sage eines  Zeugen,  welcher  der  Ladung  Folge  geleistet  hat, 
nicht  unter  der  Sanktion  des  §  199  a)  StG.,  der  die  Gefährdung 
der  staatlichen  Rechtspflege  mit  Strafe  bedroht  und  dessen 
Tatbestände  immer  ein  gerichtliches  Verfahren  voraussetzen^). 
Hieran  würde  sich  auch  nichts  ändern,  wenn  der  vor  kurzem 
im  Reichsrat  eingebrachte  Entwurf  eines  Strafgesetzbuchs  Gesetz 
werden  sollte;  nur  ergäbe  sich  dann  freilich  der  seltsame  Zu- 
stand, daß  wohl  die  falsche  Aussage  vor  einer  internationalen 
Untersuchungskommission,  nicht  aber  jene  vor  einer  parlamen- 


einer  Beschränkung  in  betreff  der  zur  Erhebung  heranzuziehenden  Behörden 
„die  Vernehmung  von  Zeugen  und  Sachverständigen  durch  die  Gerichte  mit 
allen  Wirkungen  einer  gerichtlichen  Vernehmung  zulässig  erscheint,  zumal 
zu  den  Zentralstellen  auch  der  Oberste  Gerichtshof  gehört,  der  den  Auftrag 
zur  Erhebung  an  die  unterstehenden  Gerichte  erster  Instanz  ergehen  lassen 
könnte".  Abgesehen  davon,  daß  ein  solcher  Auftrag  nicht  in  die  Zuständigkeit 
des  Obersten  Gerichtshofs  fiele  und  das  „unterstehende"  Gericht  sich  mit 
Grund  weigern  müßte,  eine  Abhörung  von  Zeugen  zu  andern  als  gesetzlich 
vorgezeichneten  Zwecken  vorzunehmen,  ist  die  ganze  Argumentation  ver- 
unglückt, weil  weder  der  Oberste  Gerichtshof  noch  irgend  eine  andre  der 
von  Tezner  S.  461  genannten  Behörden  zu  den  Zentralstellen  zählt,  deren 
Chefs  nach  §§  8  u.  15  GeschOGes.  die  Vorladung  von  Zeugen  und  Sach- 
verständigen zu  vermitteln  haben.  NachTezners  Auslegung  hätte  z.B.  der 
Präsident  des  Patentgerichtshofs  die  Befugnis,  an  allen  Beratungen  des  Reichs- 
rats teilzunehmen,  könnte  der  Präsident  des  Reichsgerichts  interpelliert 
werden,  der  Präsident  des  Obersten  Rechnungshofs  in  allen  Kommissionen 
und  Ausschüssen  erscheinen  usf.  Unter  „Chefs  der  Zentralstellen"  in  dem 
hier  maßgebenden  Sinn  sind  heute  „die  mit  der  selbständigen  Leitung  eines 
Ministeriums  betrauten  Beamten"  zu  verstehen,  die  nach  §  4  des  Ges.  v. 
25.  Juli  1867  RGBl.  Nr.  101  den  Ministern  in  Bezug  auf  deren  Verantwort- 
lichkeit gleichzuhalten  sind. 

0  E.  d.  Ob.Ger.-  u.  KassH.  v.  27.  Januar  1879  Z.  12782.  Stooß,  Lehr- 
buch d.  österr.  Strafrechts,  Wien  u.  Leipzig  1910  S.  482;  Lammasch,  Straf- 
recht* (Finger-Frankl,  Grundriß  d.  österr.  Rechts  II,  4),  Leipzig  1911 
S.  138;  Bernatzik  a.  a.  0.  Da  das  allgemeine  Interesse  des  Staates  an  der 
Erforschung  der  Wahrheit  das  Angriffsobjekt  der  falschen  Aussage  darstellt, 
billigt  Janka,  Das  österr.  Strafrecht^  Prag,  Wien,  Leipzig  1902  S.  264, 
daß  das  deutsche  Recht  die  Beschränkung  auf  die  falsche  gerichtliche  Aus- 
sage fallen  gelassen  hat  (RStGB.  §§  154  ff.).  Das  deutsche  Strafgesetzbuch 
stellt  hier  den  Sachverständigen  dem  Zeugen  gleich,  während  nach  öster- 
reichischem Recht  das  falsche  Gutachten  des  Sachverständigen,  auch  wenn 
es  im  gerichtUchen  Verfahren  abgegeben  wird,  kein  Zeugnis,  daher  nicht 
nach  §  199  a),  sondern  eventuell  als  Übertretung  des  Betruges  nach  §  461 
strafbar  ist:  E.  d.  Ob.Ger.-  und  KassH.  v.  10.  Februar  1902  Z.  9545,  Slg. 
Nr.  2740.  Stooß  a.  a.  0.  A.  M.  Janka  a.  a.  0.;  Lammasch  a.  a.  0.  Vgl. 
Tezner  a.  a.  0.  S.  318. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      325 

tarischen  Untersuchungskommission  in  Österreich  strafbar  wäre^). 
Die  namenthch  in  der  französischen  Literatur  stark  umstrittene 
Frage,  ob  die  in  einer  parlamentarischen  Enquete  abgegebene 
Aussage  dem  Zeugen   quahfizierten  Rechtsschutz   sichert  2),   ist 

*)  Entwurf  eines  Strafgesetzhuchs  (Nr.  90  d.  Beill.  zu  d.  Sten.  Prot.  d. 
Herrenhauses  XXI.  Sess.  1912)  §  180.  Ebenso  schon  der  Vorentwurf  zu 
einem  österreichischen  Strafgesetzbuch  und  zu  dem  Einführungsgesetze, 
Wien  1909  §  180.  (S.  Kahl  in  Löfflers  Ost.  Zeitschr.  f.  Strafi-echt  Bd.  IE 
S,  .314ff).  —  In  Frankreich  bleibt  die  falsche  Aussage  vor  einer  parlamen- 
tarischen Kommission  straflos,  selbst  wenn  sie  unter  Eid  erfolgt,  weil  der 
Code  penal  (Artt.  361  ff.)  nur  das  falsche  Zeugnis  im  Straf-,  Zuchtpolizei-  und 
Zivilprozeß  bedroht:  Michon  S.  80  ff.;  Degommier  S.  98.  Nach  Art.  25 
d.  niederländischen  Ges.  v.  5.  Aug.  1850  gelten  die  allgemeinen  strafgesetz- 
lichen Bestimmungen  auch  für  die  vor  einer  Untersuchungskommission  ab- 
gelegte wissentlich  falsche  Aussage.  Das  belgische  Ges.  v.  3.  Mai  1880  be- 
droht die  falsche  Aussage  eines  Zeugen,  Dolmetschers  oder  Sachverständigen 
ebenso  wie  die  Verleitung  einer  dieser  Personen  zur  falschen  Aussage  mit 
Fi'eiheitsstrafe  (unter  Umständen  mit  konkurrierender  Geldstrafe)  und  Ent- 
ziehung der  Wahlfähigkeit  und  der  Wählbarkeit.  (Art.  9.  Vgl,  Payen 
a.  a.  0.  S.  339.)  —  Art.  6  §  2  des  Entwurfs  eines  italienischen  Enquete- 
gesetzes v.  1863  stellte  falsche  Aussage  eines  von  der  Untersuchungskommission 
vernommenen  Zeugen  oder  Sachverständigen  unter  die  Sanktion  des  all- 
gemeinen Strafgesetzes,  wenn  die  betreffenden  Äußerungen  vor  der  Kommission 
in  den  Formen  des  ordentlichen  Gerichtsverfahrens  abgegeben  wurden  (bei 
Michon  S.  84).  Nach  Art.  97  d.  italienischen  Wahlges.  v.  28.  März  1895, 
der  die  bisherige  parlamentarische  Gewohnheit  kodifiziert,  stehen  die  bei 
einer  Wahlenquete  abgegebenen  Zeugenaussagen  unter  der  Strafsanktion  der 
falschen  Bekundung,  Verweigerung  der  Aussage,  Verschleierung  der  Wahrheit. 
Die  Praxis  verwendet  diese  Bestimmung  analog  für  andere  Enqueten: 
Mancini-Galeotti  S.  393;  Brusa,  Das  Staatsrecht  d.  Königreichs  Italien 
(Handb.  d.  öff.  R.  IV,  I,  7),  Freiburg  i.  B.  1892  S.  137,  168.  —  In  England 
gilt  die  einfache  falsche  Aussage  vor  einem  Komitee  des  Parlaments  als 
Privilegienbruch,  während  sie,  wenn  unter  Eid  abgelegt,  als  „perjury"  vom 
Generalanwalt  verfolgt  wird.  (Für  das  Unterhaus  ist  dies  rechtens  seit  dem 
Parliamentary  Witnesses  Oaths  Act  v.  1871:  34  &  35  Vict.  c.  83).  Nach 
einem  „sessional  order"  des  Unterhauses  wird  mit  äußerster  Strenge  gegen 
solche  verfahren,  die  vor  dem  Haus  oder  einem  seiner  Ausschüsse  falsches 
Zeugnis  abgelegt,  wie  auch  gegen  jene,  die  das  „high  crime  and  misdemeanor" 
begangen  haben,  die  Aussagen  eines  Zeugen  zu  beeinflussen  oder  ihn  mittel- 
bar oder  unmittelbar  vom  Erscheinen  und  der  Bekundung  abzuhalten: 
8.  May  S.  75,  86  f.,  430  f.;  Redli  ch  S.  457  f.;  Mi  chon  S.  84  f. 

*)  Vgl.  Michon  S.  78  f.  Degommier  S.  90  ff.;  Delpech  i.  d.  Revue 
du  droit  public  Bd  XXI  S.  579  f.  Dieser  Rechtsschutz  bei  Ausübung  der 
Zeugnispflicht  ist  in  England  durch  den  Witnesses  (Public  Inquiries)  Pro- 
tection Act  V.  1892  (55  &  56  Vict.  c.  64)  verbürgt.  Hienach  wird  Freiheits- 
und Geldstrafe  ausgesprochen  gegen  jeden,  der  einen  Zeugen  im  Hinblick 
auf  seine  vor  einem  Untersuchungsausschuß  oder  einer  königlichen  Kommission 
abzulegende  Aussage  bedroht,  verletzt  oder  schädigt:  May  S,  125  ff.,  431; 
Redlich  S.  457;  Fromageot  a.  a.  0.  S.  189  f.  Das  belgische  Gesetz  v.  1880 
schützt  in  Ai"t.  7  nur  die  an  einer  Enquete  beteiligten  Parlamentsmitglieder, 


326      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

nach  geltendem  österreichischem  Recht  zu  verneinen,  da  sowohl 
die  Strafdrohung  wegen  Verbrechens  der  schweren  körperlichen 
Beschädigung  nach  §  153  als  auch  jene  wegen  Aufreizung 
nach  §  300  StG.  Gerichtszeugen  und  -sachverständige  im  Auge 
hat^).  Die  gleichfalls  in  Frankreich  wiederholt  erörterte  Kon- 
troverse, ob  die  Angaben  des  Zeugen  gegen  eine  etwaige 
Ehrenbeleidigungsklage  immunisiert  sind  2),  ist  nicht  nur  für 
unseren  Fall,  sondern  für  das  österreichische  Recht  überhaupt 
gegenstandslos,  weil  hier  der  Zeuge,  auch  wenn  er  in  Erfüllung 
einer  erzwingbaren  Pflicht  aussagt,  für  die  Richtigkeit  seines 
Vorbringens  einstehen  und  die  Folgen  einer  irrigen  Behauptung 
tragen  muß. 

Da  Euquetekommissionen  nach  österreichischem  Recht 
geschäftsordnungsmäßig  sich  in  nichts  von  andern  parlamen- 
tarischen Ausschüssen  unterscheiden,  gilt  auch  für  sie  das  Prinzip 
der  Diskontinuität  der  Sitzungsperioden,  d.  h.  ihr  Dasein  und 
ihre  Tätigkeit  findet  mit  dem  Sessionsschluß  ein  Ende^).    Hier 

deren  Beleidigung  und  tätliche  Verletzung  nach  den  einschlägigen  Normen 
des  Strafgesetzes  geahndet  werden  soll  (vgl.  Pierre  S.  1321  f.).  Hier  er- 
scheint der  qualifizierte  Schutz  als  Ausfluß  der  Kontrolle,  zu  deren  Übung 
die  Kammermitglieder  berechtigt  und  verpflichtet  sind:  Payen  S.  333.  Das 
Bedürfnis,  Zeugen  vor  ungünstigen  Folgen  ihrer  Bekundung  zu  schützen, 
hat  sich  deutlich  bei  der  auf  Grund  des  niederländ.  Ges.  v.  19.  Januar  1890 
durchgeführten  sozialpolitischen  Enquete  gezeigt,  indem  Arbeiter  aus  Furcht 
vor  Entlassung  wiederholt  die  Aussage  verweigerten;  Pringsheim  im  Arch. 
f.  soziale  Gesetzgebung  u.  Statistik  Bd.  IV  S.  695. 

^)  Für  §  153  StG.  a.  M.  Finger,  Das  Strafrecht  (Kompendien  d.  Öster- 
reich. Rechts  VH)  Bd.  H  (Berlin  1895)  S.  36. 

-)  S.  hierüber  Michon  8.  69  ff.;  Pierre  S.  691  ff.  Vgl.  May  S.  129  f. 
Für  das  italienische  Recht  dürfte  die  Frage  wohl  zu  bejahen  sein:  vgl. 
Racioppi-Brunelli  Bd.  III  S.  182;  dagegen  Bragaglia,  H  sindacato 
Parlamentäre,  Turin  1903  S.  170. 

^)  Das  Prinzip  der  Diskontinuität,  wonach  das  Ende  einer  Session 
auch  jenes  der  gesamten  parlamentarischen  Arbeit  bedeutet,  die  mit  der 
nächsten  Sitzungsj^eriode  nicht  fortzusetzen,  sondern  von  neuem  aufzunehmen 
ist  (zur  geschichtlichen  Entwicklung  vgl.  meine  Lehre  vom  Pouvoir  con- 
stituant  S.  430  N.  1),  gilt  in  Österreich  kraft  Gewohnheitsrechtes,  da  gesetzlich 
nur  die  Wahl  des  Präsidenten  und  der  Vizepräsidenten  des  Abgeordneten- 
hauses zu  Beginn  jeder  Session  vorgeschrieben  ist,  für  den  Gesamtbereich 
der  parlamentarischen  Geschäfte  aber  keine  Norm  dieser  Art  besteht: 
v.  Herrnritt,  Handb.  d.  Österreich.  Verfassungsrechtes,  Tübingen  1909 
S.  139  N.  15;  Bernatzik  S.  405  f.;  vgl.  die  Erklärung  des  Präsidenten 
V.  Chlumecky  i.  d.  Sitzg.  d.  Abgeordnetenhauses  v.  18.  Dez.  1895  (bei 
Neisser  Bd  11  S.  11).  Die  Ausschüsse  des  Abgeordnetenhauses  sind, 
abgesehen  von  den  Permanenzausschüssen  für  die  Behandlung  umfangreicher 
Gesetze,   in  allen  Sessionen  neu  gewählt  worden:    Neisser  S.  15  N.  1.    Der 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      327 

zeigt  sich  an  einem  Punkt  von  untergeordneter  praktischer  Be- 
deutung die  Wichtigkeit  des  Rechtes,  die  Schheßung  der  Session 
herbeizuführen;  es  gewährt  der  Regierung  die  unanfechtbare 
MögHchkeit,  einer  ihr  nicht  genehmen  parlamentarischen  Unter- 
suchung den  Lebensfaden  abzuschneiden.  Die  Vertagung  des 
Reichsrats  hat  hingegen  ledigUch  die  Wirkung,  daß  die  Arbeiten 
der  Enquetekommission  unterbrochen  werden  und  bis  zur 
Wiederaufnahme  der  parlamentarischen  Geschäfte  in  suspenso 
bleiben.  Unzulässig  wäre  die  Permanenz  eines  Untersuchungs- 
ausschusses während  der  Vertagung  des  Reichsrates  und  über 
die  Session  hinaus,  weil  eine  solche  Ausnahmsverfügung  auf  den 
Fall  der  Behandlung  umfangreicher  Gesetze  eingeschränkt  ist^). 

Sessionsschluß  gemäß  Art.  12  d.  Deutschen  RV.  bewirkt,  daß  Reichstags- 
kommissionen nach  Schhiß  der  Sitzungsperiode  ihre  Tätigkeit  nicht  fort- 
setzen können.  Die  Diskontinuität  beruht  nicht  auf  Reichsgesetz  (Laband, 
Das  Staatsrecht  d.  Deutschen  Reiches^  Bd  I  S.  342  f.),  ist  jedoch  ebenso  wie 
in  Preußen  geschäftsordnungsmäßig  festgelegt.  So  bereits  GeschO,  f.  d. 
Reichstag  d.  norddeutschen  Bundes  §  67.  GeschO,  d.  deutschen  Reichstags 
§  70  (GeschO,  d.  preuß.  Herrenh.  §  80;  GeschO,  d.  preuß.  Abgeordnetenh. 
§  74).  S.  Kieschke,  Die  Vertagung,  Schließung  und  Auflösung  des  Deutschen 
Reichstags,  Berlin  1907  S.  38  ff. ;  Zorn,  Das  Staatsrecht  d.  Deutschen  Reiches* 
Bd  I  (Berlin  1895)  S.  420  N.  40;  Plate,  Die  Geschäftsordnung  d.  preuß. 
Abgeordnetenhauses',  Berlin  1904  S.  211  ff.;  v.  Roenne-Zorn  Bd  I  S.  349 
N.  3,  (wo  jedoch  Zorn  im  Text  gegenüber  der  einmütigen  Auffassung  in 
Theorie  und  Praxis  m.  E.  ohne  Grund  behauptet,  ein  so  wichtiges  staats- 
rechtliches Prinzip  müßte  positiv  in  der  VerfUrk.  zum  Ausdi-uck  gelangt 
sein;  die  Diskontinuität  trete  daher  nur  und  erst  mit  Ablauf  der  Legislatur- 
periode, bzw.  mit  der  Auflösung  ein).  — ■  Über  die  Tendenz  neuerer  Gesetz- 
gebungen, den  Grundsatz  der  Diskontinuität  zu  durchbrechen,  vgl.  Hatschek, 
Allgemeines  Staatsrecht,  Leipzig  1909  T.  I  S.  89. 

')  Ges.  V.  30.  Juli  1867  RGBl.  Nr.  104.  Ebenso  nach  preußischem  und 
Reichsrecht.  Der  in  §  74  der  GeschO,  f.  d.  preuß.  Abgeordnetenh.  aus- 
gesprochene Grundsatz  der  Diskontinuität  (s.  vor.  N.)  wird  analog  auf  die 
Kommissionen  angewendet,  die  mit  jeder  Session  erneuert  werden  und  deren 
Dasein  mit  Sessionsschluß  erlischt  (Plate  S.  91,  118,  211).  Dagegen  werden 
die  Kommissionsarbeiten  durch  Selbstvertagung  grundsätzlich  nicht  gehindert 
(Plate  S.  214).  Weil  Kommissionen  des  deutschen  Reichstags  in  der  Regel 
nach  Schluß  der  Sitzungsperiode  ihre  Tätigkeit  nicht  wieder  aufnehmen  können, 
mußten  solche  gegebenenfalls  durch  Spezialgesetze  ermächtigt  werden,  ihre 
Verhandlungen  zwischen  zwei  Sessionen  fortzuführen:  Plate  S.  213; 
Laband  a.  a.  0.  S.  343  u.  N.  1;  ders.  Deutsches  Reichsstaatsrecht®  (D.  öff. 
R.  d.  Gegenw.  Bd  I),  Tübingen  1912  S.  81  N.  8.  Vgl.  Zorn,  D.  Staatsr.  d. 
Deutschen  Reiches^  Bd  I  S.  243  f.  Vertagung  bewirkt  auch  hier  bloß 
Ruhen  der  parlamentarischen  Tätigkeit,  ohne  daher  die  Arbeiten  der 
Kommissionen  zum  Stillstand  zu  bringen.  So  Pereis,  Das  autonome 
Reichstagsrecht,  Berlin  1903  S.  105  u.  N.  585  u.  zw.  unterschiedslos  für 
den  Fall  der  Vertagung  durch  den  Kaiser  nach  Artt.  12,  26  RV.  wie 
für  jenen    der  Selbstvertagung,   deren  geschäftsordnungsmäßige  Zulässigkeit 


328      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

Anderwärts  hat  man  die  Enquete  häufig  von  dem  Fort- 
gang der  parlamentarischen  Tätigkeit  emanzipiert.  So  bietet 
z.  B.  die  Praxis  des  itahenischen  Parlaments  die  Möglichkeit, 
die  Existenz  einer  Untersuchungskommission  über  die  Ver- 
tagung oder  den  Sessionsschluß  hinaus  zu  verlängern,  doch 
bleiben  die  Arbeiten  einer  solchen  wie  jeder  Kommission  im 
Fall  des  Sessionsschlusses  oder  der  durch  königliches  Dekret 
angeordneten  Vertagung  suspendiert^).  In  Frankreich  können 
Untersuchungskommissionen  wie  andere  Ausschüsse  in  der 
Sessionspause  verhandeln,  selbst  wenn  diese  infolge  Vertagung 
durch  Dekret  des  Staatsoberhauptes  eintritt  2).     Nach  dem  nieder- 

ßich  aus  §§  53,  57  der  GeschO,  f.  d.  Eeichstag  ergibt.  A.M.Arndt,  Verf. 
d.  Deutschen  Reichs,  Berlin  1911  S.  189,  der  behauptet,  daß  während  der 
Vertagung  nach  Artt.  12,  26  RV.  (im  Gegensatz  zum  „adjournment")  keine 
Abteilungs-  und  Kommissionssitzungen  stattfinden  düi-fen.  (Ebenso  für  das 
preuß.  Recht  ders.,  Verfürk.  f.  d.  preuß.  Staat  S.  212).  Über  die  Erörterung 
dieser  Frage  i.  d.  Reichstagssitzung  v.  16.  Juni  1882  vgl.  Meyer-Anschütz, 
Lehrbuch  d.  Deutschen  Staatsrechts,  Leipzig  1905  S.  449  u.  N.  6,  welcher  der 
von  Arndt  vertretenen  Meinung  zuneigt  und  S.  325  f.  auch  für  das  Landes- 
staatsrecht  der  Vertagung  durch  den  Monarchen  die  Wirkung  zuschreibt,  daß 
sie  die  gesamte  Tätigkeit  des  Landtags,  somit  auch  der  Kommissionen  unter- 
bricht. Mit  Pereis  stimmt  Lab  and,  Staatsr.  d.  Deutschen  Reiches  a.a.O. 
N.  2  u.  Deutsches  Reichsstaatsrecht  a.  a.  0.  N.  7,  insofern  überein,  als  er  kein 
verfassungsmäßiges  Bedenken  gegen  die  Arbeit  der  Kommissionen  während 
der  Vertagung  gelten  läßt  und  aus  dem  Begriff  der  Vertagung  die  Zulässig- 
keit  solcher  Kommissionstätigkeit  folgert.  Dafür  spricht  auch  das  von  Per  eis 
a.  a.  0.  angezogene,  von  Meyer-Anschütz  S.  449  N.  6  m.  E.  mit  Unrecht 
bekämpfte  Präzedens  aus  d.  J.  1890:  vgl.  Dambitsch  S.  311,  der  ebenso 
wie  V.  Seydel,  Commentar  S.  206  die  Frage  in  Schwebe  lassen  und  sich 
bei  jenem  Präzedens  beruhigen  will.  Auch  nach  Kieschke  S.  52  und 
V.  Jage  mann,  Deutsche  Reichsverfassung  S.  131  können  die  Kommissionen 
bei  Vertagung  weiterarbeiten. 

')  Die  Deputiertenkammer  pflegt  —  wohl  nach  englischem  Vorbild  — 
das  Mandat  einer  Untersuchungskommission  mit  Beginn  der  neuen  Sitzungs- 
periode zu  verlängern  (vgl.  Bragaglia  S.  182  ff.;  Mancini-Galeotti 
S.  86,  394;  Br us a  S.  168  N.  2).  Ist  die  Bestellung  einer  solchen  Kommission 
mittels  Gesetzes  erfolgt,  so  wird  ihr  Dasein  weder  durch  Sessionsschluß  noch 
durch  Auflösung  der  Wahlkammer  berührt,  und  es  tritt  nur  eine  Änderung 
in  ihrer  Zusammensetzung  mit  der  neuen  Legislaturperiode  ein.  In  einem 
Einzelfall  —  Enquete  über  das  Eisenbahnwesen  —  hat  die  Kammer  bei  Beginn 
einer  neuen  Legislaturperiode  das  Mandat  jener  Mitglieder  bestätigt,  die  in  der 
vorhergehenden  der  Untersuchungskommission  angehört  hatten :  Mancini- 
Galeotti  S.  394 ;  M i c e  1  i ,  Inchieste  parlamentari  S.  63;  Racioppi- 
Brunelli  a.  a.  0.  S.  181  f. 

^)  Pierre  S.  555  f.,  708;  Michon  S.  23  ff.  (mit  dem  aus  der  Gewalten- 
teilungslehre hergeholten  Argument,  daß  ein  Schließungs-  oder  Auflösungs- 
dekret die  Organe  des  Pouvoir  legislatif  nur  soweit  berührt,  als  sie  eben 
legislative  Organe  sind,    sie  also  bloß  hindert,   Gesetze  zu  geben,  nicht  aber 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      329 

ländischen  Enquetegesetz  von  1850  werden  die  Arbeiten  eines 
Untersuchungsausschusses  durch  Sessionsschluß  nicht  beeinflußt, 
finden  aber  mit  der  Auflösung  von  selbst  ihr  Ende,  was  u.  a. 
die  wichtige  Folge  hat,  daß  die  wegen  Verweigerung  der  Aus- 
sage verhafteten  Zeugen  und  Sachverständigen  sofort  in  Frei- 
heit zu  setzen  sind^).  In  Belgien  bewirkt  der  Sessiousschluß, 
daß  die  Befugnisse  einer  Enquetekommission  suspendiert  werden, 
wenn  die  Kammer  nicht  das  Gegenteil  verfügt.  Die  Auflösung 
bringt  auch  hier  diese  Befugnisse  zum  Erlöschen  -).  Strengere 
Wirkungen  hat  der  Sessionsschluß  in  England,  indem  die  Pro- 
rogation des  Parlaments  dem  Mandat  seiner  Ausschüsse  ein 
Ende  macht.  Es  ist  daher  üblich,  eine  Kommission,  die  ihr 
Pensum  innerhalb  einer  Sitzungsperiode  nicht  erledigt,  d.  h. 
den  Bericht  über  die  Untersuchung  noch  nicht  erstattet  hat, 
bei  Beginn  der  nächsten  Periode  in  der  gleichen  Zusammen- 
setzung zu  erneuern^). 


solche  im  Wege  einer  Enquete  vorzubereiten:  S.  26).  Der  Ausschuß,  der  i. 
J.  1835  eine  Untersuchung  über  die  Lage  der  Tabakindustrie  führte,  ver- 
tagte sich  bei  Schließung  der  Session.  Die  1842  zur  Prüfung  bestrittener 
Wahlen  eingesetzte  Kommission  beschloß,  ihre  Arbeiten  im  Fall  einer  Pro- 
rogation der  Kammern  zu  unterbrechen:  Hymans  S.  1332. 

^)  Art.  28.  Die  Arbeiten  der  von  der  Zweiten  Kammer  der  nieder- 
ländischen Generalstaaten  1886  zur  Untersuchung  der  Arbeiterverhältnisse 
eingesetzten  Kommission  haben  merkwürdigerweise  grade  während  der 
Parlamentstagung  geruht:  Pringsheim,  Die  Lage  der  arbeitenden  Klassen 
in  Holland,  Archiv  f.  soz.  Gesetzgebg.  u.  Statistik  Bd  I  S.  69.  Nach  dem 
laxemburgschen  Enquetegesetz  v.  18.  April  1911  Art.  13  enden  die  Befug- 
nisse der  Untersuchungskommission  mit  der  Auflösung  der  Kammer  und 
ruhen  bei  Sessionsschluß,  wenn  nicht  die  Kammer  anderes  bestimmt. 

^)  Ges.  V.  3.  Mai  1880  Art.  13.  (Zur  Entstehungsgeschichte  s.  Payen 
S.  334  f.).  Grundlos  scheint  die  Behauptung  Pierres  S.  708,  daß  hienach 
die  Enqueteausschüsse  der  belgischen  Kammern  sich  gegenüber  einer  durch 
die  Vollzugsgewalt  ausgesprochenen  Vertagung  (im  Gegensatz  zur  Selbst- 
vertagung) in  schlechterer  Lage  befinden  als  jene  des  französichen  Parlaments, 
weil  man  in  Belgien  dieses  ajournement  nach  Analogie  der  Kammerauflösung 
behandeln  würde.  Bei  der  Beratung  des  Art.  13  wurde  allerdings  eine  Ee- 
daktion  abgelehnt,  nach  welcher  Sessionsschluß  und  königliche  Vertagung 
die  gleiche  Wirkung  haben,  nämlich  die  Operation  der  Untersuchungsaus- 
schüsse hemmen  sollten.  Doch  ist  die  Frage  nicht  praktisch,  da  die  Krnne 
in  Belgien  seit  1857  von  ihrem  Vertagungsrecht  (Verf.  Art.  72)  keinen  Ge- 
brauch gemacht  hat:  Orban,  Le  droit  constitutionnel  de  la  Belgique  Bd  11 
(Lüttich  1908)  S.  487;  Errera,  Traite  de  droit  public  beige,  Paris  1909 
S.  167. 

*)  Hatschek,  Engl.  Staatsrecht  Bd  I  S.  415;  Michon  S.  28.  Dagegen 
übt  das  Adjoumment,  die  Selbstvertagung  des  Hauses,  auf  die  Arbeit  in  den 
Ausschüssen  keine  Wirkung. 


330      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

Wenn  die  Ausübung  des  Informationsrechts  einen  Rück- 
schluß auf  Machtstellung  und  Machtbewußtsein  eines  Parlaments 
gestattet,  so  ergibt  sich  für  das  österreichische  Abgeordneten- 
haus eine  wenig  günstige  Folgerung.  Hier  wurde  von  der 
Möglichkeit,  Untersuchungen  anzustellen,  und  von  dem  Recht, 
zu  diesem  Zweck  Kommissionen  einzusetzen,  nur  spärlich  Ge- 
brauch gemacht,  ohne  daß  sich  das  Haus  jemals  ausdrücklich 
auf  die  verfassungsmäßige  Ermächtigung  des  §  21  berufen  hätte. 
Unter  dem  Eindruck  des  Wiener  Börsenkrachs  vom  Mai  1873 
beantragten  die  Abgeordneten  Lienbacher  und  Genossen  im 
November  beim  Zusammentritt  des  ersten  aus  direkten  Wahlen 
hervorgehenden  Reichsrats  Einsetzung  eines  besonderen  fünf- 
zehngliedrigen  Ausschusses,  welcher  die  Ursachen  der  Entstehung 
und  Ausbreitung  der  finanziellen  und  wirtschaftlichen  Krisis 
mit  aller  Eindringlichkeit  erforschen  und  dem  Abgeordneten- 
haus darlegen,  diesem  zugleich  Vorschläge  erstatten  und  An- 
träge stellen  sollte,  die  geeignet  erscheinen,  die  fernere  Wirk- 
samkeit jener  verderbhchen  Ursachen  aufzuheben  und  die 
Wiederkehr  der  letzteren  für  die  Zukunft  zu  verhindern  ^).  Der 
Antragsteller  beabsichtigte  nicht  unmittelbar  Handhabung  der 
parlamentarischen  Kontrolle  über  Maßnahmen  der  Vollzugs- 
gewalt, wenngleich  er  für  den  wirtschaftlichen  Zusammenbruch 
das  Konzessionswesen  und  die  mit  der  Überwachung  der  Geld- 
institute betrauten  Regierungskommissare  verantwortlich  machen 
wollte.  Es  handelte  sich  ihm  in  erster  Reihe  um  eine  legis- 
lative Enquete,  um  die  Sammlung  und  Sichtung  des  Materials 
zur  Reform  lückenhafter  Gesetze;  während  sonst  ein  Ausschuß 
im  Punkt  der  Materialbeschaffung  an  die  Mithilfe  der  Regierung 
gewiesen  ist,  sollten  grade  dieser  nach  der  Meinung  Lien- 
bachers  die  Ergebnisse  der  Untersuchung  zugute  kommen. 
Er  sprach  die  Erwartung  aus,  daß  die  Regierung  diese  Ergeb- 
nisse benutzen  und  zu  deren  Benutzung  die  untergeordneten 
Organe  verhalten  werde  ^).  Der  weitere  Gang  der  Dinge  ließ 
erkennen,  daß  es  dem  Hause  mit  der  Übung  seines  Unter- 
suchungsrechtes nicht  Ernst  war.  Der  Antrag  wurde  in  seinem 
meritorischen  Teil  zwar  einstimmig  angenommen,  aber  nicht 
einer  Spezialkommission,  sondern  dem  bereits  zur  Vorberatung 


')  Sitzg.  V.  13.  Nov.  1873,   Sten.  Prot.  d.  Vm.  Sess.  S.  64;  Beill.  Nr.  7. 

^)  Sitzg.  V.  21.  Nov.  1873,  Sten.  Prot.  S.  140  ff.  Äüt  kaum  verhüllter 
Ironie  bemerkte  später  Abg.  Dr.  Herbst,  daß  der  Antrag  Lienbacher 
„eigentlich  wesentlich  eine  wissenschaftliche  Frage"  zum  Gegenstand  habe: 
Sitzg.  V.  4.  Mai  1874,  Sten.  Prot.  d.  Vm.  Sess.  S.  2197. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      331 

der  Finanzvorlagen  eingesetzten  Ausschuß  zugewiesen,  der 
seinerseits  vorschlug,  für  die  Verhandlung  des  Antrags  die 
Öffentlichkeit  der  Kommissionsberatung  auszuschließen,  weil  es 
nur  dann  Mitgliedern  des  Hauses  und  Sachverständigen  mögüch 
wäre,  sich  ohne  Rückhalt  zu  äußern  ^).  Eine  Anregung  des 
Abgeordneten  Kronawetter,  daß  nach  englischem  Vorbild 
nicht  bloß  Experten,  sondern  auch  Zeugen  mit  obligatorischer 
Aussagepflicht  vernommen  werden  sollten,  blieb  unbeachtet. 
Die  Öffenthchkeit  wurde  ausgeschlossen  2).  Sie  nahm  ihre  Re- 
vanche und  kümmerte  sich  nicht  weiter  um  die  ganze  Unter- 
suchung, die  Aktualität  und  Interesse  längst  verloren  hatte, 
als  sie  zwei  Jahre  später  ihren  formellen  Abschluß  in  einem 
dem  Abgeordnetenhaus  erstatteten  Berichte  fand,  der  auf  Grund 
offizieller  Auskünfte  allbekannte  Tatsachen  wiederholte^). 

Daß  solche  Unfruchtbarkeit  einer  parlamentarischen  Enquete 
nicht  etwa  bloß  der  zufälligen  Verknüpfung  hemmender  Umstände 
aufs  Konto  zu  setzen  war,  lehrt  das  Schicksal  der  Untersuchung, 
die  das  Abgeordnetenhaus  in  seiner  neunten  Session  beschäftigte 
und  Vorgänge  bei  der  Vergebung  des  Baues  der  galizischen 
Transversalbahn  zum  Gegenstand  hatte.  Mitteilungen  der  Tages- 
blätter über  die  Pression,  welche  in  dieser  Angelegenheit  ein 
Abgeordneter   auf   die  Regierung  geübt  habe,   veranlaßten  den 

^)  Sten.  Prot.  S.  144  f.,  147.  Der  Antrag  Steudel,  es  möge  jedem 
Abgeordneten  das  Recht  zustehen,  den  Verhandlungen  des  Finanzausschusses 
über  den  Antrag  Lienbacher  beizuwohnen  (Sitzg.  v.  21.  Nov.  1873,  Sten. 
Prot.  S.  148;  Beili.  Nr.  14),  wm-de  i.  d.  Sitzg.  v.  21.  Januar  1874  diesem 
Ausschuß  zugewiesen  (Sten.  Prot.  S,  368  f.),  der  dann  mit  Berufung  auf  §  25 
GeschO,  (s.  oben  S,  313  N.  3)  den  im  Text  erwähnten  Antrag  auf  Ausschluß  der 
Öffentlichkeit  stellte  (Beill.  Nr.  49).  Dies  mußte  um  so  seltsamer  berühren, 
als  km-z  vorher  das  Haus  gleichfalls  auf  Antrag  Steudels  Öffentlichkeit  der 
Ausschußverhandlungen  über  die  Finanzvorlagen  beschlossen  hatte  (Sitzg. 
V,  13.  Nov.  1873,  Sten.  Prot.  S.  64  ff.).  Grade  für  die  Ausschußdebatten  über 
die  Börsenpanik  wurde  also  die  geschäftsordnungsmäßige  Regel  wieder- 
hergestellt. 

')  Sitzg.  V.  26.  Januar  1874,  Sten.  Prot.  S.  457,  463. 

^)  Der  Bericht  ist  vom  3.  Dez.  1876  datiert  (Sten.  Prot.  d.  Vni.  Sess., 
Beill.  Nr.  445).  Die  Untersuchung  wurde  in  der  Form  durchgeführt,  daß 
der  Ausschuß  an  die  Regierung  zwölf  die  Krisis  betreffende  Fragen  richtete, 
welche  der  Regierung  durch  das  Präsidium  des  Hauses  zur  Beantwortung 
übermittelt  wurden.  Die  Beendigung  der  Ausschußberatungen  wurde  wieder- 
holt urgiert:  Sitzungen  v.  4.  Mai  1874  u.  26.  Nov.  1875,  Sten.  Prot.  S.  2198  ff., 
5210.  Über  die  Ergebnislosigkeit  der  Untersuchungsaktion  s.  die  Äußerung 
d.  Abg.  V.  Schönerer  i.  d.  Sitzg.  v.  10.  Febr.  1883  (Sten.  Prot.  d.  IX.  Sess. 
S.  9107).  Vgl.  Kolmer,  Parlament  und  Verfassung  in  Österreich  Bd  H 
(Wien  u.  Leipzig  1903)  S.  475  f. 


332      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Abgeordneten  Dr.  Kopp,  die  Einsetzung  eines  fünfzehnglied- 
rigen  Ausschusses  zu  beantragen,  welcher  die  in  jenen  Zeitungs- 
meldungen erwähnten  Tatsachen,  soweit  sie  das  öffentliche  In- 
teresse berühren,  einer  eingehenden  Prüfung  unterziehen  sollte  ^). 
Da  hiebei  die  Erwägung  entscheidend  war,  daß  diese  Meldungen 
das  Publikum  in  bedenklichem  Maß  beunruhigten  und  es  im 
öffentlichen  Interesse  geboten  sei,  die  Grundlosigkeit  des  gegen 
Regierungsorgane  lautwerdenden  Verdachts  nachzuweisen  und 
der  Regierung  Gelegenheit  zur  Rechtfertigung  ihres  Verhaltens 
zu  bieten,  erklärte  Ministerpräsident  Graf  Taaffe  sich  bereit, 
dem  Ausschuß  alle  ,, parlamentarischen  Behelfe"  zur  Verfügung 
zu  stellen  2).  Wie  viel  oder  wie  wenig  dies  zu  bedeuten  hatte, 
zeigt  der  Umstand,  daß  ein  Abgeordneter  mehr  als  ein  Jahr 
später  den  Antrag  stellte,  das  Haus  möge  die  Regierung  auf- 
fordern, die  in  der  Provisionsaffäre  der  galizischen  Transversal- 
bahn beim  Wiener  Strafgericht  aufgenommenen  Protokolle  und 
sonstige  einschlägige  Akten  dem  Abgeordnetenhaus  oder  dem 
betreffenden  Ausschuß  unverzüglich  vorzulegen  und  zur  ent- 
sprechenden Gebrauchnahme  zu  überlassen  =^).  Dem  Ausschuß 
lagen  nämlich  nur  die  Akten  über  eine  im  Handelsministerium 
geführte  Disziplinaruntersuchung  vor,  während  ihm  von  den 
übrigen  die  Bauvergebung  betreffenden  Akten  dieser  Zentral- 
stelle bloß  ein  Teil  zur  Einsicht  übermittelt  worden  war.  Da- 
gegen weigerte  sich  der  Justizminister,  gestützt  auf  Gutachten 
der  beteiligten  Gerichtsbehörden,  die  Akten  jener  Untersuchung 
vorzulegen,  die  beim  Wiener  Strafgericht  anläßlich  der  er- 
wähnten Zeitungsartikel  geführt  und  während  der  Ausschuß- 
verhandlungen durch  Einstellungsbeschluß  erledigt  worden  war. 
Er  erklärte  sich  außerstande,  dem  Gericht  die  Aktenmitteilung 
aufzutragen,  da  sich  aus  §  8  des  Geschäftsordnungsgesetzes  ein 
Recht,  die  Ausfolgung  von  gerichtlichen  Strafuntersuchungs- 
akten  zu  verlangen,  nicht  ableiten  lasse,  indem  die  von  den 
Strafgerichten  gepflogenen  Erhebungen  und  die  vor  ihnen  ab- 
gelegten Aussagen  nur  prozessualen  Zwecken  dienen  und  nur 
für  solche  Zwecke  die  Pflicht  des  Vernommenen  bestehe,  ohne 


•)  Sitzg.  V.  8.  Februar  1883,  Sten.  Prot.  d.  IX.  Sess.  S.  9077,  Beill.  Nr.  648. 
Der  Antrag  wurde  i.  d.  Sitzg.  v.  10.  Februar  angenommen,  jener  des  Abg. 
V.  Schönerer,  die  Beratungen  dieses  Ausschusses  für  öffentlich  zu  erklären, 
abgelehnt:  Sten.  Prot.  S.  9110.  Der  Ausschuß  wurde  i.  d.  Sitzg.  v.  13.  Febr. 
1883  gewählt:  Sten.  Prot.  S.  9128. 

')  Sitzg.  V.  10.  Febr.  1883,  Sten.  Prot.  S.  9101. 

")  Antrag  v.  Schönerer:  Sitzg.  v.  29.  April  1884,  Sten.  Prot.  S.  12598. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      333 

Rückhalt  und  gegebenenfalls  unter  Eid  auszusagen.  Es  sei 
unstatthaft,  Erhebungen,  die  mit  diesem  Zwang  der  strafgericht- 
lichen Gewalt  vorgenommen  wurden,  zu  andern  Zwecken  zu 
verwenden,  für  welche  der  Zwang  nicht  gesetzlich  begründet  ist. 

Der  Ausschuß  bedauerte  in  seinem  Bericht,  daß  In- 
formationsmittel und  Behelfe,  die  er  für  wesentlich  und  anzu- 
sprechen sich  für  berechtigt  hielt,  ihm  nicht  zugänglich  ge- 
macht wurden.  Seine  Mehrheit  stellte  es  dem  Abgeordneten- 
haus anheim,  ob  nicht  durch  eine  erweiternde  Änderung  des 
§  8  des  Geschäftsordnungsgesetzes  ähnlichen  Vorkommnissen 
für  die  Zukunft  vorgebeugt  werden  sollte  ^).  Dagegen  erklärte 
eine  Minorität  diesem  Antrag  nicht  beitreten  zu  können,  weil 
dem  Ausschuß  trotz  einstimmigen  Beschlusses  die  strafgericht- 
lichen Vorerhebungsakten  nicht  zur  Kenntnis  gebracht  wurden 
und  er  die  Einvernahme  mehrerer  höherer  Beamten  nicht  er- 
reichen konnte.  Nach  der  Anschauung  dieser  Minorität  gehören 
zu  den  Verwaltungsakten,  auf  welche  das  Untersuchungsrecht 
nach  §  21  des  Staatsgrundgesetzes  zielt,  nicht  bloß  die  Gestion 
der  Verw^altung  im  engeren,  d.  i.  im  Sinn  der  politischen 
Verwaltung,  sondern  auch  straf  gerichtliche  Vorerhebungen,  da 
in  der  zitierten  Vorschrift  jeder  Minister,  auch  der  Justizminister 
zur  Erteilung  von  Informationen  verpflichtet  wird.  Ebenso 
seien  die  Erhebungen,  um  deren  Einleitung  ein  Ausschuß  einen 
Minister  nach  dem  Geschäftsordnungsgesetz  angehen  kann, 
lege  non  distinguente  auch  straf  gerichtliche  und  justizpolizei- 
liche Erhebungen.  Zutreffend  folgerte  die  Ausschußminderheit, 
daß  dem  Recht  des  Ausschusses  und  des  Hauses  die  Pflicht 
der  Regierung  entspreche  und  daß  letztere  durch  Ablehnung 
des  Begehrens  nach  Mitteilung  der  Akten  diese  ihre  Pflicht 
verletzt  habe.  Die  Minorität  beantragte  daher,  das  Haus  möge 
die  der  Tätigkeit  des  Ausschusses  bereiteten  Hindernisse  und 
Verzögerungen  mißbilligen  und  die  Regierung  auffordern,  diesem 
die  strafgerichtlichen  Vorerhebungsakten  mitzuteilen  und  die 
zu  vernehmenden  Beamten  unter  Enthebung  von  der  Ver- 
schwiegenheitspflicht anzuweisen,  behufs  Einvernahme  vor  dem 
Ausschuß  zu  erscheinen.  Hierauf  hätte  letzterer  neuerlich  zu 
berichten  und  die  geeigneten  Anträge  zu  stellen. 

Das  Recht  war  hier,  wie  auch  sonst  nicht  selten,  auf  Seite 
der  kleineren  Zahl.     Die  Sachlage  erfuhr  eine  unvorhergesehene 


^)  Der   Ausschlißbericht    (Beill.  Nr.  956)   wurde   i.  d.  Sitzg.  v.  23.  Mai 
1884  verteilt:  Sten.  Prot.  S.  13078. 


334      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Komplikation,  als  in  einer  öffentlichen  Wählerversammlung  ein 
Teil  jener  Gerichtsakten,  deren  Beschaffung  der  Justizminister 
abgelehnt  hatte,  in  wörtlichem  Auszug  vorgelesen  wurde.  Damit 
war  freilich  die  Argumentation  des  Ministers,  die  auf  der 
Annahme  eines  Diskretionsverhältnisses  zwischen  Richter 
und  Partei  beruhte,  als  haltlos  erwiesen.  Deshalb  beantragte 
Dr.  Mag g,  der  Führer  der  Ausschußminorität,  der  auf  Kopps 
Antrag  eingesetzte  Ausschuß  möge  die  Tatsachen,  welche  auf 
diese  Art  bekannt  geworden  waren,  in  den  Kreis  seiner  Auf- 
gaben ziehen,  da  gegenüber  einem  solchen  Inhalt  von  Unter- 
suchungsakten, welcher  das  öffentliche  Interesse  und  nur  dieses 
berührt,  die  Weigerung  des  Ministeriums,  dem  Ausschuß  die 
von  ihm  verlangten  Akten  mitzuteilen,  auch  jeden  Schein  der 
Begründung  verloren  habe^).  Aus  den  Vernehmungsprotokollen 
des  Strafgerichts  ging  u.  a.  hervor,  daß  eine  am  Bau  der 
galizischen  Transversalbahn  interessierte  Bank  einem  Mitglied 
des  Abgeordnetenhauses  eine  hohe  Provision  zugesichert  hatte, 
und  dieser  Abgeordnete  war  kein  anderer  als  der  Bericht- 
erstatter über  alle  Vorlagen,  welche  die  in  Rede  stehende  Bahn 
betrafen.  Nunmehr  wurde  dem  Wunsch  des  Ausschusses  auf 
Vorlage  jener  Vernehmungsprotokolle  Folge  gegeben.  Die 
Mehrheit  des  Ausschusses  beantragte,  das  Haus  möge  zur 
Kenntnis  nehmen,  daß  der  durch  die  Gerichtsakten  sicher- 
gestellte Tatbestand  der  Vermutung  keinen  Raum  gebe,  als 
ob  der  betreffende  Abgeordnete  sich  von  der  Bank  habe 
Geld  versprechen  lassen  2).  Dagegen  stellte  die  Ausschuß- 
minorität den  Antrag,  das  Haus  wolle  über  das  Verhalten 
dieses  Abgeordneten  sein  Bedauern  aussprechen;  sie  konstatierte, 
daß  die  beklagenswerten  Vorgänge,  welche  das  Substrat  der 
parlamentarischen  Untersuchung  gebildet  hatten,  längst  und 
weit  vollständiger  aufgeklärt  worden  wären,  wenn  die  Regierung 
ihrer  Zusage  —  Gewährung  aller  parlamentarischen  Behelfe  — 
und  der  vom  Ausschuß  einstimmig  beschlossenen  Aufforderung 
zur  Vorlage  des  gesamten  Aktenmaterials  pflichtmäßig  ent- 
sprochen hätte.  Die  Regierung  begnügte  sich  aber  nicht  damit, 
„durch  ihre  Haltung  der  erschöpfenden  Feststellung  der  Tat- 
sachen  Hindernisse  in  den  Weg   gelegt   zu   haben":    sie  löste 


')  Sitzg.  V.  4,  Dez.  1884.  Begründung  durch  den  Antragsteller  i.  d. 
Sitzg.  V.  12.  Dez.  1884.  Der  Antrag  (Beill.  Nr.  985)  wird  in  dieser  Sitzung 
angenommen:  Sten.  Prot.  S.  13185,  13287  ff.,  13291. 

*)  Der  Ausschußbericht  (Beill.  Nr.  1134)  gelangte  i.  d.  Sitzg.  v.  26.  März 
1885  zur  Verteilung:  Sten.  Prot.  S.  14936. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht.      335 

den  Reichsrat  auf  und  gab  so  für  alle  Zukunft  ein  Rezept,  nach 
welchem  ähnliche  Anfälle  parlamentarischer  Verwaltungskontrolle 
gründlich  zu  behandeln  waren  ^). 

Daß  es  sich  hier  um  typische,  einem  bestimmten  System 
der  politischen  Machtverteilung  eigentümliche  Erscheinungen 
handelt,  wurde  offenbar,  als  ein  zweites  Mal  Vorgänge  an  der 
Wiener  Börse  dem  Abgeordnetenhaus  den  Anlaß  boten,  sich 
seines  Untersuchungsrechtes  wenigstens  flüchtig,  oder  besser 
gesagt  zum  Schein,  zu  erinnern.  Eine  Zeitungsnachricht,  laut 
welcher  der  Kaiser  dem  Obmann  des  Polenklubs  v.  Jaworski 
in  einer  Audienz  die  auswärtige  Lage  als  sehr  ernst  dargestellt 
hatte,  gab  im  November  1891  das  Signal  zu  einer  Börsenderoute, 
mit  der  man  galizische  Abgeordnete  als  Urheber  und  Interes- 
senten in  Verbindung  brachte-).  Jaworski  erklärte  öffentlich, 
er  halte  es,  um  die  Ehre  des  Klubs  zu  wahren,  für  seine  Pflicht, 
die  Angelegenheit  ,,usque  ad  finem"  zu  verfolgen.  Im  Ab- 
geordnetenhause wurden  mehrere  Interpellationen  eingebracht, 
die  Eruierung  und  Bestrafung  der  Schuldigen  forderten^)  und 
vom  Ministerpräsidenten  Grafen  Taaffe  dahin  beantwortet 
wurden,  daß  die  Wiener  Börsekammer  zur  Untersuchung 
dieser  Vorgänge  ein  besonderes  Komitee  eingesetzt  habe 
und  die  Staatsanwaltschaft  strafprozessuale  Erhebungen  dar- 
über pflege.  Die  Regierung  wolle  in  ihrem  Wirkungskreise 
die  Bestrebungen  zur  völligen  Aufklärung  und  Ahndung  dieser 
Vorgänge  aufs  kräftigste  unterstützen^).  Freilich  erwiderte  kurz 
nachher  der  Justizminister  Graf  Schönborn  auf  eine  Inter- 
pellation Jaworskis,  die  Sache  sei  in  einem  Stadium,  in 
welchem  ausschließlich  gerichtliche  Organe  sich  mit  ihr  zu 
befassen  haben.  Weiteren  Anfragen  über  das  Ergebnis  der 
Straf  Untersuchung  setzte  die  Regierung  beharrliches  Schweigen 
entgegen. 

Das  kaum  mehr  verhüllte  Bemühen,  die  parlamenta- 
rische Ingerenz  von  der  Behandlung  des  delikaten  Gegen- 
standes auszuschalten,  veranlaßte  den  Dringlichkeitsantrag  der 
Abgeordneten  Dr.  Lueger  und  Genossen,  die  Regierung  zur 
Vorlage  der  Akten  über  die  bei  der  Wiener  Börsekammer  und 
beim   Wiener  Landesgericht  in    Strafsachen   anhängige  Unter- 

^)  Vgl.  Kolmer  a.  a.  0.  Bd  m  (Wien  u.  Leipzig  1905)  S.  407  ff. 
-)  Zum  Folgenden  s.  Kolmer  Bd  V  (Wien  u.  Leipzig  1909)   S.  224  ff. 
^)  Interpellationen  Heilsberg,   Steinwender  u,   Lueger:   Sitzg. 
V.  17.  Nov.  1891,  Sten.  Prot.  d.  XI.  Sess.  S.  3152,  3154  f. 
*)  Sten.  Prot.  das.  S.  3193. 


336      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

suchung  aufzufordern  und  diese  Akten  einem  Ausschuß  von 
24  Mitghedern  zur  Prüfung  und  Berichterstattung  zuzuweisen^). 
Der  Antrag  dieses  Ausschusses,  die  Regierung  habe  dem  Hause 
sobald  als  möglich  die  Akten  der  strafgerichtlichen  Unter- 
suchung vorzulegen  und  zu  veranlassen,  daß  auch  die  Akten 
der  Wiener  Börsekammer  dem  Ausschuß  übermittelt  werden, 
wurde  einstimmig  angenommen  2),  blieb  aber  auf  dem  Papier. 
Der  Justizminister,  der  sich  nicht  für  berechtigt  hielt,  die  Aus- 
folgung gerichtlicher  Untersuchungsakten  anzuordnen,  veranlaßte 
das  Gericht  zur  Beschlußfassung,  die  auf  Abweisung  des  Be- 
gehrens lautete.  Ebenso  erklärte  sich  Finanzminister  Steinbach 
außerstande,  die  Akten  der  Wiener  Börsekammer  dem  Aus- 
schuß zur  Verfügung  zu  stellen,  weil  es  als  ein  Eingriff  in  die 
auf  dem  Gesetz  beruhende  Autonomie  der  Börsekorporation 
gelten  müßte,  ,,wenn  seitens  der  Regierung  von  den  ihr  nur 
zur  Ausübung  des  staatlichen  Überwachungsrechtes  zugänglichen 
Akten  ein  über  die  Grenzen  dieses  von  den  staatlichen  Organen 
auszuübenden  Aufsichtsrechtes  hinausgehender  Gebrauch  ge- 
macht  werden    würde" 3).      Angesichts    dieser    durch    politisch- 

0  Sitzg.  V.  3.  Febr.  1892,  Sten.  Prot.  d.  XI.  Sess.  S.  4945  f.  Die  Dring- 
lichkeit wurde  einstimmig  beschlossen  (S,  4947)  und  der  Ausschuß  i.  d.  Sitzg. 
V.  8.  Febr.  1892  gewählt.  Seine  Sitzungen  sollten  allen  Abgeordneten  nach 
§  25  Abs.  4  GeschO,  zugänglich  sein  (Sten.  Prot.  S.  5080,  5085).  Noch  im 
Dezember  1895  wurden  Nachwahlen  in  den  Ausschuß  vorgenommen:  Sten. 
Prot.  S.  21871,  22135. 

')  Sitzg.  V.  15.  Febr.  1892,  Sten.  Prot.  S.  5259  f. 

^)  Sitzg.  V.  26.  April  1892,  Sten.  Prot.  S.  5465  f.  Die  Berufung  des 
Justizministers  auf  §  82  StPO.  war  nicht  originell,  da  schon  sein  Amtsvor- 
gänger Freih.  v.  Prazak  damit  die  Weigerung  begründet  liatte,  dem  Aus- 
schuß in  Angelegenheit  der  galizischen  Transversalbabn  (s.  oben)  strafgericht- 
liche UnterBuchungsakten  auszufolgen.  Auch  damals  hatten  die  Gerichts- 
behörden erklärt,  §  82  StPO.  finde  auf  den  vorliegenden  Fall  keine 
Anwendung,  weil  unter  „Partei"  nur  eine  Prozeßpartei  oder  doch  nur  eine 
solche  zu  verstehen  sei,  welche  der  Akteneinsicht  oder  -mitteilung  zur  Durch- 
setzung ihrer  eigenen  Rechte  bedarf.  Dem  hatte  schon  der  Bericht  der  Aus- 
schußminorität entgegengehalten,  daß  das  Abgeordnetenhaus  und  seine 
Ausschüsse  nicht  rechtsuchende  Parteien  sind,  die  Berufung  auf  §  82  StPO. 
daher  belanglos  erscheint.  In  der  Tat  spricht  dieser  Paragraph  von  der  Be- 
willigung der  Akteneinsicht  durch  eine  Partei  oder  ihren  ausgewiesenen  Ver- 
treter. Ebenso  verfehlte  .Justizminister  Graf  Schönborn  den  Kern  der 
Frage,  indem  er  §  170  d.  Strafgerichtsinstruktion  v.  16,  Juni  1854  RGBl. 
Nr.  165  heranzog,  dessen  AI.  2  für  die  Mitteilung  von  Auskünften  oder  Akten 
an  andere  Behörden  den  „ämtlichen  Weg"  vorsieht.  Dagegen  war  der  Ar- 
gumentation des  Finanzministers  die  Berechtigung  nicht  abzusprechen,  da 
das  Ges.  v.  1.  April  1875  RGBl.  Nr.  67  die  Autonomie  der  Börseleitung 
ausspricht    (§    1)    und    die   Börsen  nur   in   Verwaltungsangelegenheiten   der 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      337 

taktische  Gründe  vorgezeiclmeten  Haltung,  mit  welcher  die  Re- 
gierung ohne  Zweifel  ihre  verfassungsmäßige  Auskunftspflicht 
verletzte,  begnügte  man  sich  gegenüber  wiederholten  Anfragen 
über  Stand  und  Gang  der  Untersuchung  mit  der  Feststellung, 
daß  der  Ausschuß  keine  Wirksamkeit  entfalte  und  keine  ent- 
falten könne,  weil  das  Ministerium  die  Aktenvorlage  verweigert 
habe.  Der  Obmann  des  Ausschusses  selbst  erklärte  nach  mehr 
als  dreijähriger  ,, Tätigkeit",  er  sei  nicht  in  der  Lage,  den  Aus- 
schuß einzuberufen  und  weitere  Verhandlungen  zu  pflegen,  da 
es  dem  Ausschuß  an  jedem  Substrat  für  solche  fehle  und  sein 
Zweck  obsolet  geworden  sei^).  Indes  gedieh  die  Angelegenheit 
wirklich,  wie  verheißen,  ,,usque  ad  finem";  allerdings  nicht 
bis  zu  ihrem,  sondern  zum  Ende  der  Wahlperiode.  Mit  der 
Auflösung  des  Abgeordnetenhauses  fand  im  Januar  1897  die 
fünf  Jalire  vorher  eingeleitete  Untersuchung  nicht  ihre  Er- 
ledigung, aber  ihren  Abschluß. 

Gleich  der  Beginn  der  folgenden  Legislaturperiode,  für 
welche  das  Abgeordnetenhaus  zum  ersten  Mal  nach  den  Badeni- 
schen Reformgesetzen  gewählt  worden  war,  brachte  einen  Antrag 
auf  Durchführung  einer  parlamentarischen  Enquete,  und  es  schien 
der  historischen  Kontinuität  zu  entsprechen,  daß  auch  diesmal 
res  polonicae  den  Verhandlungsgegenstand  bildeten.  Behufs 
unparteiischer  und  gründlicher  Untersuchung  der  in  Galizien 
angebüch  verübten  Wahlmißbräuche  wurde  Bestellung  einer 
Kommission  verlangt,  der  das  Recht  zustehen  sollte,  gemäß 
§  8  der  Geschäftsordnung  Zeugen  zur  mündlichen  Vernehmung 
vorladen  oder  zur  Abgabe  einer  schriftlichen  Aussage  auffordern 
zu  lassen-).    Abermals  erklärte  sich  die  Regierung  bereit,  einem 


politischen  Landesbehörde  unterstellt  (§  4),  die  allerdings  auch  in  Disziplinai*- 
angelegenheiten  als  Berufungsinstanz  fungiert  (§  17).  Der  Eegierung  fehlt 
die  gesetzliche  Handhabe,  eine  autonome  Körperschaft  innerhalb  deren  staats- 
freier Sphäre  zu  einem  Tun  oder  Lassen  zu  zwingen,  und  auch  an  diesem 
Eecht  der  Selbstverwaltungskörper  findet  die  Informationspflicht  der  Regierung 
ihre  natürliche  Grenze. 

^)  Sitzungen  v.  27.  u.  29.  Nov.  1895,  Sten.  Prot.  S.  21651,  21871.  Noch 
in  d.  Sitzg.  v.  19.  Januar  1897,  also  fast  fünf  Jahre  nach  Einsetzung  des 
Ausschusses,  wurde  eine  Anfrage  gestellt,  zu  welchem  Resultat  die  Unter- 
suchung geführt  habe:    Sten.  Prot.  S.  29219. 

^)  Sitzg.  V.  7.  April  1897:  Dringlichkeitsanträge  der  Abgg.  Daszyiiski 
u.  Genossen  (Sten.  Prot.  S.  137)  u.  der  Abgg.  Okuniewski  u.  Genossen 
(Sten.  Prot.  S.  138).  Die  Dringlichkeit  wurde  einstimmig  beschlossen:  S.  146. 
Die  Heranziehung  des  §  8  GeschO,  war  überflüssig,  weil  geschäftsordnungs- 
mäßig die  BefugTjis  der  Zeugeneinvernahme  ipso  facto  jedem  Ausschuß  zu- 
steht. Wie  sehr  aber  diese  Bestimmung  dem  parlamentarischen  Bewußtsein 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  22 


338      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

solchen  Ausschuß  das  gesamte  ihr  zu  Gebote  stehende  Material 
zur  Verfügung  zu  stellen  und  alle  gewünschten  Erhebungen 
aufs  genaueste  durchzuführen  ^).  Der  Antrag  wurde  jedoch 
dem  Legitimationsausschuß  zur  allfälligen  Berücksichtigung  der 
in  der  Debatte  vorgebrachten  Tatsachen  bei  der  Verifizierung 
der  betreffenden  Wahlen  zugewiesen,  obgleich  der  Abgeordnete 
Daszynski  als  Antragsteller  hervorhob,  daß  sein  Vorschlag 
nicht  den  Sinn  habe,  einzelne  angefochtene  Wahlen  der  Prüfung 
zu  unterziehen  und  daß  nur  hiefür  der  Legitimationsausschuß 
zuständig  sei  2).  Mit  der  Annahme  jenes  Verweisungsantrags 
war  —  und  das  ist  wohl  sein  eigentlicher  Zweck  gewesen  — 
die  Untersuchung  begraben. 

Ein  besseres  Schicksal  war  in  Österreich  den  legislativen 
Enqueten  beschieden,  vielleicht  weil  sie  zumeist  nicht  vom 
Parlament  selbst,  sondern  auf  dessen  Anregung  oder  Anordnung 
von  der  Regierung  durchgeführt  worden  sind  ^).  Die  Ergebnisse 
solcher  Umfragen  haben  in  bedeutsamer  Weise  das  Zustande- 
kommen gesetzgeberischer  Aktionen  vor  allem  auf  finanz-  und 
wirtschaftspolitischem   Gebiet   bestimmt   und  gefördert      Unter 


fremd  geworden  war,  zeigt  der  Umstand,  daß  in  der  Debatte  über  die 
Dringlichkeit  Abg.  Graf  Stürgkh  —  freilich  unter  Widerspruch  —  behaupten 
konnte,  der  Antrag  sei  ein  Novum,  insofern  die  parlamentarische  Unter- 
suchimgskommission  zm-  Zeugenvernehmung  legitimiert  und  befugt  werden  soll. 
In  dieser  Form  sei   sie  der  Geschäftsordnung  unbekannt:   Sten.  Prot.  S.  141. 

0  Sitzg.  V.  7.  April  1897,  Sten.  Prot.  S.  166. 

'')  Sitzg.  V.  8.  April  1897,  Sten.  Prot.  S.  227.  Ebenso  Abg.  Dr.  Groß: 
S.  230.  Dagegen  hatte  Abg.  Dr.  Stransky  geltend  gemacht,  daß  das  Haus 
nicht  geeignet  sei,  unparteiisch  eine  Untersuchung  zu  führen,  weil  es  zum 
Teil  Untersuchungsrichter  und  Eichter  in  eigener  Sache  wäre :  S.  198.  Über- 
einstimmend Abg.  V.  Milewski:  S.  225.  Ebenso  hatte  schon  in  der  Debatte 
über  die  Dringlichkeit  Abg.  Graf  Stürgkh  die  Meinung  vertreten,  eine  solche 
parlamentarische  Untersuchungskommission  wäre  eigentlich  nichts  andres 
als  ein  erweiterter  Legitimationsausschuß,  indem  hier  wie  dort  Parteien  über 
Parteisachen  zu  Gericht  sitzen:  S.  141.  Allen  diesen  Ausführimgen  ist  ge- 
meinsam die  Verwechslung  der  parlamentarischen  Enquete  mit  der  enquete 
judiciaire, 

*)  Als  Beispiele  für  wirtschaftspolitische  Umfragen,  die  aus  der  Initiative 
des  Abgeordnetenhauses  hervorgingen  und  von  ihm  durchgeführt  wurden, 
seien  erwähnt:  die  Enquete,  welche  ein  zur  Beratung  der  Gesetzentwürfe 
über  die  Arbeiterkammern  eingesetzter  Ausschuß  im  Februar  1887,  und  jene, 
welche  der  Gewerbeausschuß  1892  über  die  Vorlage  betreffend  Arbeiteraus- 
schüsse und  Einigungsämter  veranstaltet  hat  (s.  Mi  schier  im  Österr.  Staats- 
wörterbuch^  Bd  I  S.  313  f.).  In  neuerer  Zeit  hat  das  Subkomitee  des  Sozial- 
versicherungsausschusses  die  Krankenversicherungspflicht  der  Privatbeamten 
und  andere  einschlägige  Fragen  zum  Gegenstand  einer  mündlichen  Enquete 
gemacht. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht.      339 


diesem  wie  auch  unter  verfassungsrechtlichem  Gesichtspunkt 
ist  hier  die  Währungsenquete  von  1892  hervorzuheben,  zu  deren 
Veranstaltung  die  Regierungen  der  beiden  Reichshälften  sich 
im  dritten  Zoll-  und  Handelsbündnis  verpflichtet  hatten  i). 
Ebenso  wurden  dem  Gesetz  über  das  Höt'erecht  zum  Teil  Er- 
gebnisse einer  schriftlichen  Enquete  zugrunde  gelegt,  welche 
die  österreichische  Regierung  durch  Versendung  eines  Frage- 
bogens im  Jahre  1882  veranstaltet  hatte  2).  Auch  der  parlamen- 
tarischen Verhandlung  des  Gesetzes  über  den  börsemäßigen 
Terminhandel  mit  landwirtschaftlichen  Produkten  ist  eine  um- 
fassende Befragung  sachverständiger  und  beteiligter  Kreise 
vorausgegangen^).  Die  Lage  gewisser  Industrien  und  deren 
Betriebs-  und  Arbeiterverhältnisse  haben  in  fast  periodischer 
Wiederkehr  das  österreichische  Parlament  veranlaßt,  die  Ab- 
haltung von  Enqueten  zu  fordern,  obgleich  doch  grade  hie- 
durch  jede  Enquete  die  Nutzlosigkeit  oder  das  Mißlingen  der 
vorhergehenden  bewies^).     In  jüngster  Zeit  sind  Enqueten  zur 

■  ')  In  §  2  des  Ges.  v.  21.  Mai  1887  EGBl.  Nr.  48  verpflichteten  sich  die 
beiderseitigen  Regierungen  „unmittelbar  nach  Abschluß  des  Zoll-  und  Handels- 
bündnisses eine  Kommission  einzusetzen  zum  Zweck  der  Beratung  jener  vor- 
bereitenden Maßregeln,  welche  notwendig  sind,  um  .  .  .  die  Herstellung  der 
Barzahlungen  in  der  Monarchie  zu  ermöglichen".  Trotz  dieser  ganz  ein- 
deutigen Fassung  ergaben  sich  Meinungsverschiedenheiten  darüber,  ob  die 
Enquete  gemeinschaftlich  oder  von  jeder  Regierung  gesondert  durchzuführen 
sei.  Die  Anschauung  der  ungarischen  Regierung,  die  sich  in  letzterem 
Sinn  entschied,  gewann  natürlich  die  Oberhand.  Vgl.  Spitzmüller  i.  d. 
Zeitschr.  f.  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  u.  Verwaltung  Bd  XI  S.  350. 

^)  Ges.  V.  1.  April  1889  RGBl.  Nr.  52  betr.  die  Einführung  besonderer 
Erbteilungsvorschriften  für  landwirtschaftliche  Besitzungen  mittlerer  Größe. 
S.  Sten.  Prot.  d.  Abgeordnetenhauses,  IX.  Sess.,  Beill.  Nr.  872.  Vgl.  Klein- 
wächter in  Schmollers  Jahrb.  Bd  IX  S.  1225  ff.;  Marchet  das.  Bd  XQI 
S.  1311  f. 

^)  Sten.  Protokoll  über  die  Enquete  betr.  die  Reform  des  börsemäßigen 
Terminhandels  mit  landwirtschaftlichen  Produkten,  3  Bde,  Wien  1901.  Die 
Enquete  war  nach  P.  10  ihrer  Geschäftsordnung  nicht  öffentlich,  doch  hatte 
jeder  Experte  das  Recht,  mit  Ausnahme  der  als  vertraulich  erklärten  Teile 
der  Debatte  seine  Aussage  zu  veröffentlichen.  S.  v.  Schullern -Schratten- 
hof en,  Jahrbücher  f.  Nationalökonomie  u.  Statistik,  HI.  F.  Bd  XXI  S.  289  ff. 

*)  So  hat  namentlich  die  Zuckerindustrie  zu  wiederholten  Malen  das 
Untersuchungsobjekt  gebildet,  wobei  vor  allem  die  Wirkungen  der  Besteuerung 
durch  die  Enquete  klargestellt  werden  sollten.  Zuletzt  geschah  dies  in  der 
Rübenzuckerenquete,  um  deren  Durchführung  die  Regierung  vom  landwirt- 
schaftlichen Ausschuß  des  Abgeordnetenhauses  im  März  1895  ersucht  wurde. 
Die  Regierung  lud  den  Ausschuß  ein,  die  der  Enquete  vorzulegenden  Fragen 
zu  formulieren,  worauf  das  Präsidium  des  Abgeordnetenhauses  den  Frage- 
bogen dem  Ackerbauministerium  übermittelte,  welches  ihn  im  Einvernehmen 

22* 


340      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht. 

Vorbereitung   von  Gesetzen   über  Baurecht,    Kartelle  und  Aus- 
wanderungswesen durchgeführt  worden. 

Gleich  andern  Degenerationserscheinungen  des  öffentlichen 
Wesens  ist  auch  die  sogenannte  Personalenquete,  wie  sie  früher 
als  Mittel  der  parlamentarischen  Disziplin  in  England  und 
Itahen  angewendet  wurde  ^),  dem  politischen  Leben  Österreichs 
nicht  fremd  geblieben.  Die  stenographischen  Protokolle  des 
Abgeordnetenhauses  berichten  auf  ihren  dunkelsten  Blättern 
über  sporadische  Versuche,  das  Haus  als  Standesgericht  zu 
konstituieren  und  behufs  Übung  solcher  Zensur  das  Verhalten 
einzelner  Mitglieder  zum  Gegenstand  einer  Untersuchung  zu 
machen.  Das  war  der  von  den  Urhebern  dieser  Aktionen  er- 
strebte und  erklärte  Enderfolg,  wenngleich  scheinbar  und 
mittelbar  durch  Untersuchungen  der  bezeichneten  Art  Hand- 
lungen der  Vollzugsgewalt  kontrolliert  und  gerügt  werden 
sollten.  Hieher  zählt  schon  in  gewissem  Sinn  der  zu  Beginn 
der  vierzehnten  Session  von  sozialdemokratischer  Seite  gestellte 
Dringlichkeitsantrag  auf  Wahl  eines  Untersuchungsauschusses, 


mit  dem  Finanz-  und  dem  Handelsministerium  einer  Eedaktion  unterzog: 
s.  Sten.  Prot,  über  die  vom  2.  bis  6.  April  1895  abgehaltenen  Sitzungen  der 
Eübenzuckerenquete,  Wien  1895  S.  V.  Bei  früheren  Anlässen  hatte  ein  solches 
Zusammenwirken  von  Regierung  und  Vertretungskörper  nicht  stattgefunden, 
das  Abgeordnetenhaus  sich  vielmehr  begnügt,  die  Einleitung  einer  Enquete 
anzuregen,  deren  Durchführung  im  Detail  völlig  der  Regierung  anheimgestellt 
war.  So  hatte  z.  B.  der  volkswirtschaftliche  Ausschuß  in  der  IX.  Session 
über  die  ihm  zugewiesenen  den  Schutz  der  Zuckerindustrie  betreffenden 
Petitionen  einen  Bericht  erstattet,  in  welchem  die  Regierung  aufgefordert 
wurde,  eine  Enquete  aus  Vertretern  der  Zuckerproduzenten  und  der  rüben- 
bauenden Landwirte  „zur  Beratung  der  notwendigen  Maßnahmen  bezüglich 
der  Abwendung  der  der  Zuckerindustrie  und  der  beteiligten  Landwirtschaft 
drohenden  Gefahr"  zu  veranstalten.  (Sten.  Prot.  d.  IX.  Sess.,  Beill.  N.  914. 
Der  Antrag  wurde  i.  d.  Sitzg.  v.  8.  Mai  1884  angenommen:  Sten.  Prot. 
S.  12691  f.,  12703.  Vgl.  Sitzg.  v.  18.  Dez.  1884,  Sten.  Prot.  S.  13396.)  In  der 
X.  Session  forderte  das  Abgeordnetenhaus  die  Regierung  auf,  vor  Erlassung 
der  Durchführungsvorschrift  zum  neuen  Zuckersteuergesetz  eine  Enquete  aus 
Interessentenkreisen  zur  Begutachtung  dieser  Vorschrift  einzuberufen.  (Sitzg. 
v.  7.  Febr.  1888,  Sten.  Prot.  S.  6812  f.)  Auch  vor  Erlassung  der  Vollzugs- 
bestimmungen zum  Branntweinsteuergesetz  sollte  eine  Umfrage  den  Interes- 
senten Gelegenheit  bieten,  ihre  Wünsche  zu  äußern.  (Sitzg.  v.  4.  Juni  1888, 
Sten.  Prot.  d.  X.  Sess.  S.  9273  f.)  Andere  auf  Abhaltung  einer  Enquete  ge- 
richtete Anregungen  des  Abgeordnetenhauses  betrafen  die  Regelung  des 
öffentlichen  Archivwesens  in  Böhmen  (Sitzg.  v.  15.  März  1884,  Sten.  Prot.  d. 
IX.  Sess.  S.  11980),  die  Überprüfung  der  medizinischen  Rigorosenoi-dnung 
(Sitzg.  v.  19.  März  1884,  das.  S.  12111),  Vorkehrungen  gegen  Explosionen 
in  den  Kohlengruben  (Sitzg.  v.  27.  Mai  1885,  Sten.  Prot.  das.  S.  15021,  15024). 
')  S.  oben  S.  272. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      341 

der  erheben  sollte,  wer  von  den  Mitgliedern  und  Angestellten 
des  Abgeordnetenhauses,  von  den  Ministern  des  Kabinetts 
Badeni  sowie  von  den  Exekutivorganen  der  Regierung  sich 
der  Verletzung  der  verfassungsmäßig  gewährleisteten  Ab- 
geordnetenimmunität und  damit  des  Mißbrauehs  der  Amts- 
gewalt, der  öffentlichen  Gewalttätigkeit  durch  unbefugte  Ein- 
schränkung der  persönlichen  Freiheit  schuldig  gemacht  habe 
und  deshalb  den  zur  Strafverfolgung  berufenen  Organen  an- 
zuzeigen wäre^).  Ein  zweiter  Fall,  der  noch  deutlicher  lehrt, 
wie  das  parlamentarische  Enqueterecht  unter  dem  Deckmantel 
des  politischen  Rigorismus  in  den  Dienst  taktischer  Augen- 
blicksbedürfnisse gestellt  werden  kann,  ist  in  den  Berichten 
über  die  siebzehnte  Session  verzeichnet.  In  der  279.  Sitzung 
dieser  Session  ersuchte  der  Abgeordnete  Das zynski  das  Präsi- 
dium, im  Verein  mit  der  Regierung  eine  Liste  jener  Ab- 
geordneten aufzustellen,  die  in  geschäftlicher  Verbindung  mit 
der  Regierung  oder  in  materieller  Abhängigkeit  von  ihr  sich 
befinden,  worauf  ihm  der  Bescheid  wurde,  daß  dem  Präsidium 
kein  Mittel  in  dieser  Richtung  zu  Gebote  stehe;  vielmehr 
müßte  das  Haus  aus  sich  heraus,  durch  einen  Antrag  ver- 
anlaßt, eine  Untersuchung  darüber  einleiten,  welche  seiner 
Mitglieder  ihre  Stellung  mißbraucht  haben-).  Der  Fragesteller 
verstand  den  Wink  und  überreichte  in  der  nächsten  Sitzung 
einen  dringlichen  Antrag  auf  Einsetzung  eines  Ausschusses, 
der  feststellen  sollte,  welche  Abgeordnete  Lieferungen  für  das 
Ärar  übernehmen,  Waldabstockungs vertrage  mit  dem  Staat 
kontrahieren,  der  Verwaltung  der  von  der  Regierung  abhängigen 
Finanzinstitute  und  Unternehmungen  angehören.  Der  Bericht 
dieses  Ausschusses  wäre  dem  Hause  binnen  Monatsfrist 
vorzulegen  3).  Als  in  derselben  Sitzung  eine  an  das  Ge- 
samtministerium gerichtete  Interpellation  den  Abgeordneten 
Dr.  V.  Walewski  bezichtigte,  er  habe  sein  Mandat  unter  Mt- 
hilfe  der  Regierung  zu  persönhchen  Zwecken  ausgebeutet,  ver- 
langte der  Angegriffene  Konstituierung  eines  Untersuchungs- 
ausschusses, der  die  Behauptungen  der  Interpellation  auf  ihre 
Wahrheit  zu  prüfen  hätte,  weil  schon  die  Anregung  Das- 
zynskis  und  die  Antwort  des  Präsidiums  geeignet  seien, 
Mitglieder  des  Hauses  der  öffentlichen  Verachtung  preiszugeben 

^)    Antrag    Dr.    Verkauf,    Dr.    Jarosiewicz    u.    Genossen:    Sitzg.   v. 
21.  März  1898,  Sten.  Prot.  S.  25  f. 

')  Sitzg.  V.  6.  Mai  1904,  Sten.  Prot.  d.  XVH.  Sess.  S.  25056. 
')  Sitzg.  V.  10.  Mai  1904,  Sten.  Prot.  S.  25183. 


342      Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

und  das  Ansehen  des  Parlaments,  das  ein  solches  Mitglied  in 
seiner  Mitte  dulde,  tief  herabzusetzen^).  Während  die  nach 
Anlaß  und  Verlauf  analogen  Fälle,  die  sich  in  der  italienischen 
Deputiertenkammer  zugetragen  hatten,  mit  dem  Austritt  des 
Beschuldigten  endeten'-^),  war  hier  die  Untersuchungsaktion 
durch  den  Mandatsverzicht  Walewskis  keineswegs  erledigt. 
Der  Abgeordnete  Breiter,  dessen  Interpellation  die  Angelegen- 
heit ins  Rollen  gebracht  hatte,  stellte  an  den  Präsidenten  die  Frage, 
ob  er  die  Sache  infolge  dieses  Mandatsverzichtes  als  gegen- 
standslos ansehe  oder  den  Ausschuß  zu  weiterer  Tätigkeit  auf- 
fordern wolle;  letzteres  müsse  geschehen,  weil  die  Affaire  nicht 
als  eine  private,  sondern  als  eine  öffentliche  zu  betrachten  sei 
und  der  Ausschuß  auch  das  Verhalten  der  Regierung  zu  prüfen 
hätte.  Unter  lebhaftem  Widerspruch  erklärte  Vizepräsident 
Kaiser,  er  halte  den  Gegenstand  für  erledigt,  denn  das  Haus 
habe  ,,nur  die  Möglichkeit  und  die  Aufgabe,  Angelegenheiten 
der  Abgeordneten  in  Untersuchung  zu  ziehen"^).  Diese  irrige 
Ansicht  wurde  indes  weder  vom  Obmann  des  Untersuchungs- 
ausschusses noch  vom  Bureau  des  Hauses  selbst  geteilt.  Der 
Ausschuß  wurde  mit  ausdrücklicher  Billigung  des  Präsidenten 
auch  später  noch  einberufen^). 

Der  Versuch,  die  Haltung  eines  einzelnen  Abgeordneten  im 
Wege  einer  Enquete  zu  beurteilen  d.  h.  zu  verurteilen,  wurde  auch 
einmal  in  der  Delegation  des  österreichischen  Reichsrats  unter- 
nommen ^).  Im  übrigen  hat  sich  diese  Körperschaft  wohl  angesichts 


^)  Anfrage  d.  Abg.  Breiter  i.  d.  Sitzg.  v.  10.  Mai  1904,  Sten.  Prot. 
S.  25232  ff.  —  Antrag  des  Abg.  Dr.  R.  v.  Walewski  i.  d.  Sitzg.  v.  23.  Nov. 
1904,  Sten.  Prot.  S.  25679.  Wahl  des  Walewski -Ausschusses  i.  d.  Sitzg.  v. 
21.  März  1905  (Sten.  Prot.  S.  28271).  Über  seine  Konstituierung  s.  Sten.  Prot, 
d.  Sitzg.  V.  24.  März  1905,  S.  28291.  Der  Ausschuß  unterbrach  seine  Tätig- 
keit mit  Rücksicht  auf  einen  in  derselben  Sache  schwebenden  Ehrenbeleidi- 
gungsprozeß: Sitzg.  V.  16.  Juni  1905,  Sten.  Prot.  S.  30024  f. 

')  Brusa  S.  168. 

")  Sitzg.  V.  19.  Juni  1905,  Sten.  Prot.  S.  30116  f. 

*)  S.  die  Erklärung  des  Präsidenten  Grafen  Vetter  i.  d.  Sitzg.  v. 
27.  Juni  1905,  Sten.  Prot.  S.  30617. 

*)  Antrag  des  Delegierten  Seitz  i.  d.  Sitzg.  v.  16.  Nov.  1910  auf  Ein- 
setzung einer  siebengliedrigen  Kommission  zur  Prüfung  der  Eigentumsver- 
hältnisse, des  Abforstungsbetriebes  und  der  Holzverwertung  der  bosnischen 
Landeswälder,  sowie  der  administrativen  Zuweisungen  von  Landeswäldern 
ins  Privateigentum.  Der  Antrag  bezweckte  Aufklärung  über  die  Rolle,  die 
ein  christlichsozialer  Delegierter  in  diesen  Angelegenheiten  gespielt  haben 
sollte,  und  wurde  in  derselben  Sitzung  abgelehnt:  Sten.  Prot.  d.  Delegation 
d.  Reichsrats,  44.  Sess.,  Wien  1910  S.  441,  452. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      343 

der  zeitlichen  Begrenzung  ihrer  Funktionen  zumeist  damit  begnügt, 
bei  der  Regierung  die  Dm'chführuug  von  Umfragen  anzuregen. 
So  wurde  gleich  in  der  ersten  Session  der  Reichskriegsminister 
aufgefordert,  „eine  Enquete -Kriegskommission  von  Fach- 
männern aus  Zivil-  und  Militärpersonen  zu  berufen,  um  die 
möglichsten  Ersparungen  bei  Erhaltung  der  Truppen  zu  er- 
zielen" ^).  Im  eigenen  Wirkungskreis  hat  in  der  vierundvier- 
zigsten Session  das  für  die  Armeelieferungen  eingesetzte  Sub- 
komitee  des  Heeresausschusses  eine  Enquete  veranstaltet,  um 
die  bei  der  Versorgung  des  Schiffsbaus  mit  Produkten  der 
Eisen-  und  Stahlindustrie  bestehenden  Verhältnisse  zu  erörtern^). 
Parallel  der  sinkenden  realen  Bedeutung  des  parlamen- 
tarischen Apparats  geht  die  Entwicklung  dahin,  die  Möglichkeit 
und  Notwendigkeit  der  durch  die  Enquete  vermittelten  Er- 
kenntnis immer  stärker  im  Bereich  der  Regierungsgewalt  zu 
lokalisieren.  Der  Zug  dieser  Entwicklung  wird  deutlich  durch 
die  Tatsache   gekennzeichnet,   daß   in  den  letzten  Jahrzehnten 

')  Sitzg.  V.  2.  Dez.  1868,  Sten.  Prot.  d.  Delegation  d,  Eeichsrats,  1,  Sess., 
Wien  1869  S.  330,  339.  S.  ferner  Sten.  Sitzungsprotokolle  5.  Sess.,  Wien  1872 
S.  170  f.,  40.  Sess.,  Wien  1904  S.  123.  Eine  Besonderheit  zeigt  die  am 
13.  Juli  1871  angenommene  Resolution:  „es  sei  eine  Enquete  durch  beide 
legislative  Körper  zu  entsenden,  um  eine  allseitig  richtige  Grundlage 
zur  Berechnung  des  Geldaufwandes  .  .  .  für  die  Truppen  festzustellen". 
Sten.  Sitzgs.-Prot.  4.  Sess.,  Wien  1871  S.  138.  In  derselben  Session 
sprach  die  Delegation  den  Wunsch  aus,  daß  das  Reichskriegsministerium  eine 
Kommission  einsetze  und  zu  derselben  je  sechs  durch  die  Delegationen  zu 
bezeichnende  Mitglieder  beider  Körperschaften  einlade,  „um  die  zur  Auf- 
stellung eines  Normal -Friedens -Budgets  für  die  Landarmee  nötigen  Er- 
hebungen zu  pflegen  und  die  einzelnen  Ansätze  des  Budgets  zu  prüfen." 
Sten.  Sitzgs.-Prot.  S.  238.  In  der  nächsten  Session  wiederholte  die  Dele- 
gation diesen  Wunsch  und  forderte  außerdem  die  Kriegsverwaltung  auf, 
die  Frage  der  Heeresverpflegung  durch  eine  vom  Ministerium  unabhängige 
Kommission  prüfen  zu  lassen  und  überdies  zur  Untersuchung  von  Angelegen- 
heiten des  Lieferungs-  und  Ausrüstungswesen  eine  Enquetekommission  einzu- 
berufen, in  die  von  beiden  Delegationen  und  beiden  Regierungen  je  drei 
unabhängige  Männer  und  je  ein  Abgeordneter  der  Handelsministerien  ent- 
sendet werden  sollten:  Sten.  Sitzgs.-Prot.  5.  Sess.,  Wien  1872  S.  195  ff.,  280  f. 

^)  Sten.  Prot.  d.  Delegation  d.  Reichsrats,  44.  Sess.,  Wien  1910,  Anhang  X 
S.  985  ff.  Die  am  9.  Nov.  1910  an  der  Hand  eines  Fragebogens  mündlich 
durchgeführte  Enquete  beschäftigte  sich  in  erster  Linie  mit  dem  Unterschied 
der  in-  und  ausländischen  Eisenpreise  bei  den  Lieferungen  für  die  Marine- 
verwaltung und  blieb  fast  völlig  ergebnislos,  weil  die  einvernommenen  Ex- 
perten aus  dienstlichen  oder  geschäftlichen  Rücksichten  die  Erteilung  von 
Auskünften  verweigerten.  Die  Frage  der  Heereslieferungen  hatte  früher  auch 
schon  im  österreichischen  Abgeordnetenhaus  Anlaß  zu  einer  parlamentarischen 
Untersuchungsaktion  geboten:  s.  Sten.  Prot.  d.  X.  Sess.  S.  11302,  11319, 
11348,  Beill.  Nr.  723. 


344      Zweig,  Die  iDarlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Eecht. 

die  Exekutive  im  Deutschen  Reich  und  in  Österreich  zur  Vor- 
bereitung gesetzgeberischer  und  administrativer  Maßnahmen 
unter  dem  Namen  „Beiräte"  ein  dichtes  Netz  permanenter, 
außerparlamentarischer  Informationsorgane  geschaffen  hat,  stän- 
dige und  sachverständige  Kollegien,  die  aus  Berufsbeamten 
und  Laien  zusammengesetzt  und  einer  Behörde  als  beratende 
Organe  für  konkrete  Fachgegenstände  angegliedert  sind  ^).  Von 
der  Enquete  unterscheidet  sich  die  Tätigkeit  solcher  Beiräte 
nicht  bloß  dadurch,  daß  sie  auf  Dauer  berechnet  ist,  sondern 
vor  allem  durch  den  für  die  Information  in  Betracht  kommenden 
Personenkreis,  der  im  FaU  der  Enquete  zur  Auskunfterteilung 
nicht  rechthch  oder  berufsmäßig  verpflichtet,  also  von  vorn- 
herein unbestimmt  ist  und  sich  nicht  auf  die  durch  Spezial- 
vorschrift   mit    der    Behandlung    des    Gegenstandes    betrauten 


0  Vgl.  Hacker,  Die  Beiräte  für  besondere  Gebiete  der  Staatstätigkeit 
im  Deutschen  Eeiche  und  in  seinen  bedeutenderen  Gliedstaaten,  Tübingen 
1903  S.  3  ff.;  Sachsse,  Beiräte  und  Umfragen  auf  dem  Unterrichtsgebiet, 
Preuß.  Jahrb.  Bd  CXLVIII  S.  241  ff.;  Layer,  Art.  Beiräte,  Österreich.  Staats- 
wörterb.^  Bd  I  S.  437  ff.  In  Österreich  werden  den  Beiräten  häufig  noch 
Spezialfachleute  als  Experten  mit  Konsultativvotum  beigezogen:  s.  z.  B.  Kund- 
machung d.  Handelsministeriums  v.  13.  Mai  1900  EGBl.  Nr.  86  betr.  die  Er- 
richtung einer  Unfallverhütungskommission  §  8;  MinVdg.  v.  30.  März  1888 
EGBl.  Nr.  34  betr.  den  Versicherungsbeirat  §  3.  Hauke,  Über  einige  Fragen 
des  Parlamentsrechts,  Eektorsrede,  Czernowitz  1901  S.  22  f.,  regt  an,  das 
System  der  Fachbeiräte  mit  den  vom  Parlament  bestellten  Ausschüssen  zu 
„fachparlamentarischer"  Organisation  zu  verbinden  und  den  auf  solche  Weise 
entstehenden  Kollegien  ein  förmliches  Beschlußrecht  zuzuerkennen,  sie  als 
Verwaltungsparlamente  gegenüber  und  neben  dem  Verfassungsparlament  zu 
organisieren.  —  Ein  dem  kontinentalen  Staatsrecht  fi-emder  Informationstypus 
wurde  in  Österreich  mit  der  durch  kais.  Handschreiben  v.  22.  Mai  1911  ein- 
gesetzten Kommission  zur  Förderung  der  Verwaltungsreforin  geschaffen.  Sie 
ist  den  „royal  commissions"  des  englischen  Eechts  nachgebildet  und  hält 
etwa  die  Mitte  zwischen  den  Funktionen  eines  Beirates  und  einer  außer- 
parlamentarischen Enquete.  Die  Kommission  hat  nach  §  7  der  Ah.  geneh- 
migten Grundsätze  für  ihre  Tätigkeit  das  Eecht,  Sachverständige  oder  Aus- 
kunftspersonen, sowie  sonstige  Persönlichkeiten,  deren  Kenntnisse  und  Er- 
fahrungen für  die  Lösung  ihrer  Aufgaben  von  Wert  sein  könnten,  zum  Er- 
scheinen behufs  mündlicher  Einvernahme  oder  zur  Erstattung  schriftlicher 
Äußerungen  einzuladen.  §  13  der  GeschO,  bezeichnet  unter  den  Mitteln 
zur  Erreichung  des  der  Kommission  gesetzten  Zieles  die  Veranstaltung 
schriftlicher  Umfragen  bei  staatlichen  und  autonomen  Behörden  und  Ämtern, 
die  Einholung  schriftlicher  Gutachten  von  hiezu  berufenen  Fachmännern 
und  Sachkennern,  sowie  die  Veranstaltung  von  mündlichen  Enqueten  durch 
Einvernahme  von  Sachverständigen  und  Auskunftspersoueu.  Die  Veranstaltung 
und  Durchführung  von  Enqueten,  namentlich  die  Abhaltung  und  Beurkundung 
mündlicher  Enqueten  ist  in  den  §§  14 — 19  der  GeschO,  im  wesentlichen 
nach  dem  englischen  Muster  geregelt. 


Zweig,  Die  parlament.  Enquete  nach  deutschem  und  österr.  Recht.      345 

Faktoren  beschränkt^).  In  diesen  Einrichtungen  lassen  sich 
zukunftvoUe  Symptome  für  die  steigende,  immer  größere  Stoff- 
und  Personenkreise  erfassende  Heranziehung  gesellschafthcher 
Elemente  zu  den  Aufgaben  der  Staatsverwaltung  erkennen. 
Sie  bilden  so  das  logische  Gegenstück  zu  der  verfassungsmäßig 
sich  stetig  erweiternden  Teilnahme  des  Volkes  an  den  Funk- 
tionen der  Rechtsbildung.  Eben  deshalb  scheinen  sie  im 
Rahmen  des  konstitutionellen  Systems  berufen,  der  parlamen- 
tarischen Enquete  allmählig  die  sachliche  Grundlage  zu  ent- 
ziehen-) und  dergestalt  durch  ihre  von  bestimmten  Anlässen 
unabhängige  und  darüber  hinauswirkende  Tätigkeit  den  Gang 
der  Dinge  zu  vollenden,  dessen  Richtung  in  den  vorstehenden 
Betrachtungen  aufgezeigt  worden  ist. 


^)  über  ständige  Informationskollegien  als  „Hilfsorgan  für  alle  Faktoren 
der  Gesetzgebung"  im  Gegensatz  zu  den  Enqueten  ad  hoc  s.  die  Ausführungen 
des  Füi'sten  Bismarck  i.  d.  Sitzg.  d.  Deutschen  Eeichstags  v.  1.  Dez.  1881, 
namentlich  die  Polemik  gegen  den  Abg.  Dr.  Bamberger,  der  eine  solche 
Einrichtung  als  Nebenparlament  verurteilte,  das  leicht  ein  Instrument  der 
Regierung  gegen  die  Volksvertretung  werden  könnte:  (Philipp  Stein),  Fürst 
Bismarcks  Reden  Bd  Vm  S.  288  ff.,  293  ff. 

^)  Bezeichnend  hiefür  der  Ausspruch  des  Deputierten  Charles  Benoist 
anläßlich  des  Kammerbeschlusses  auf  Einleitung  einer  außerparlamentarischen 
Enquete  über  den  Zustand  der  französischen  Marine;  „  .  .  .  avec  les  regle- 
ments  d'administration  publique  et  les  commissions  d'enquete  extraparle- 
mentaire,  il  ne  reste  plus  rien  de  la  Chambre."  (Sitzg.  v.  30.  März  1904, 
Joum.  Off.  S.  1052.) 


VII. 
Budgetrecht  und  Finanzpraxis 

Ihre  Gegenwartsaufgaben 

Von  Dr.  Johannes  Blum 

Einleitung 

Die  Anfänge  des  Etatswesens  reichen  weit  zurück  in  die 
Zeiten  des  staatlichen  Absolutismus.  Ursprünglich  ein  rein 
äußerliches  Hilfsmittel  der  Haushaltsführung,  deren  ständig 
wachsender  Umfang  die  Adoption  des  kaufmännischen  Soll 
und  Haben  nahelegte,  hat  das  Budget  lange  Jahrhunderte  hin- 
durch den  Charakter  der  Rechnungs-Aufstellung  und  -Über- 
sicht behalten  und  ist  über  das  Niveau  einer  Verwaltungs- 
maßnahme, einer  unter  vielen  anderen,  nicht  hinausgekommen. 
Erst  der  Verfassungsstaat  mit  seiner  höheren  politischen  und 
sozialen  Ethik  hat  den  Daseinszweck  des  Budgets  entdeckt  und 
ihn  zu  seiner  heutigen,  überaus  verschieden  gearteten  und 
verschieden  gewerteten,  aber  doch  in  jedem  Falle  positiven, 
in  keinem  Falle  indifferenten  Auswirkung  entwickelt.  In  allen 
Fällen  auch  ist  die  Verschwisterung  des  Budgets  mit  den  Staats- 
finanzen enger  und  fester  geworden :  Keine  Akte  der  staatlichen 
Finanzhoheit,  keine  Maßnahmen  der  staatlichen  Steuer-  und 
Abgabenpolitik  sind  denkbar,  die  nicht  mit  der  Budgetlage 
irgendwie  im  Zusammenhang  stände  oder  im  Rahmen  des 
Budgets  in  der  einen  oder  anderen  Weise  zum  Ausdruck  käme. 
Die  vornehmste  Aufgabe  des  modernen  Kulturstaates, 
in  seinem  Hoheitsgebiete  den  Ausgleich  zwischen  den  Bedürf- 
nissen und  den  vorhandenen  Mitteln  im  ganzen  wie  im 
einzelnen  so  zu  vollziehen,  daß  möglichst  alle  Teile  der  Volks- 
gemeinschaft in  ihren  Kräften  sich  solidarisch,  in  ihren 
Interessen  sich  aufeinander  angewiesen  und  einander  eng  ver- 
bunden fühlen,  daß  sie  der  gemeinsamen  nationalen  Grundlage 
der    Staats-    und   Volkswirtschaft    inne    werden    —    zu    einem 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  347 

wesentlichen  Teil  kann  diese  Aufgabe  in  dem  in  bestimmten 
regelmäßigen  Zeiträumen  zu  votierenden  Budget  gelöst  werden 
und  wird  sie,  wenn  auch  in  verschiedenartigem  Umfang  und 
Verfahren,  in  zahlreichen  Ländern  bereits  gelöst. 

Einer  kritischen  Betrachtung  der  Budgetgebarung  wird 
zweckmäßig  eine  Untersuchung  der  rechtlichen  Natur  des 
Budgets  vorausgehen  müssen.  In  zahlreichen  Fällen  wird  ein 
abschließendes  Urteil  über  die  in  der  Budgetpolitik  beobachteten 
prinzipiellen  und  technischen  Gepflogenheiten  erst  gewonnen 
werden  können,  wenn  Klarheit  darüber  besteht,  wie  die  Be- 
ziehungen des  Budgets  zu  Gesetzgebung  und  Ver- 
waltung einerseits,  zu  den  parlamentarischen  A^olks- 
vertretungen  andererseits  im  Rahmen  der  verfassungs- 
mäßigen Staatsgrundgesetze  gedacht  sind  und  wie  sie 
sich  in  der  Praxis  entwickelt  haben.  Der  Ausspruch 
Friedrich  Wilhelms  IV.  in  der  Konseilsitzung  vom  15.  Februar 
1852,  daß  eine  geordnete  Finanzverwaltung  eine  der  Bedingungen 
der  politischen  Existenz  Preußens  sei,  weist  dem  Budget,  das 
in  seiner  regelmäßigen  Wiederkehr  den  Niederschlag  der  je- 
weiligen Ordnung  des  Finanzwesens  bilden  und  das  beste 
Mittel  zur  Beurteilung  der  Finanzlage  des  Staates  und  seines 
Kredits  an  die  Hand  geben  soll,  im  öffentlichen  Haushalt  eine 
überaus  wichtige  Stellung  zu.  In  dem  Maße  aber,  wie  die 
Aufgaben  des  Staates  quantitativ  und  qualitativ  gewachsen  und 
demgemäß  die  Ansprüche  an  die  Leistungsfähigkeit  der  Be- 
völkerung größer  geworden  sind,  in  dem  Maße,  wie  Staats- 
bewußtsein und  Interesse  an  staatlichen  Einrichtungen  und 
Zielen  in  immer  weiteren  Volkskreisen  Eingang  gefunden 
haben,  ist  auch  das  Bestreben  hervorgetreten,  in  dem  Budget 
eine  Handhabe  zu  gewinnen,  mit  der,  weit  hinaus  über  das 
Gebiet  der  Finanzverwaltung  und  Finanzwirtschaft,  der  ge- 
samte Staat  sorganismus  in  allen  Erscheinungsformen 
und  Bestätigungsarten  wirksam  beeinflußt  und  bestimmten 
pohtischen  Grundanschauungen  dienstbar  gemacht  werden  kann. 

I.  Das  englische  Budgetrecht. 

Am  weitesten  ist  diese  Entwicklung  in  dem  Lande  vor- 
geschritten, das  die  parlamentarischen  Funktionen  am  frühesten 
ausgebildet  und  unausgesetzt  mit  politischen  Machtfragen  aufs 
engste  verknüpft  hat.  In  England  ist  das  Budget  mehr  als  in 
irgend   einem   anderen   Lande   das  Spiegelbild   der  pohtischen 


348  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Tageskämpfe,  ein  Gradmesser  des  Emporkommens  der  parla- 
mentarischen Macht,  obgleich  weder  der  finance  account,  der 
mit  der  Nebeneinanderstellung  von  Einnahmen  und  Ausgaben 
noch  am  ehesten  dem  deutschen  Budget  verglichen  werden 
kann,  und  noch  viel  weniger  die  seit  der  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  üblichen  estimates,  in  denen  der  Ausgabebedarf 
zusammengestellt  ist,  Gesetze  im  eigentlichen  Sinne  sind. 
Lange  bevor  die  Commons  mit  der  Neuerung  der  sogenannten 
„bepackten  Finanzgesetze"  Erfolg  gehabt  hatten,  lange  bevor 
es,  seit  Peel  und  Gladstone,  üblich  geworden  war,  ein- 
schneidende gesetzgeberische  Maßregeln  dem  finance  act  ein- 
zufügen ^),  hatten  einfache  Beschlüsse  zur  Behandlung  der 
Budgetangelegenheiten  dem  Unterhause  immer  mehr  Terrain 
gewonnen  und  das  Budgetrecht  der  aus  den  allgemeinen  Wahlen 
hervorgegangenen  Kammer  auf  Kosten  der  Privilegien  und 
Machtbefugnisse  des  Oberhauses  immer  mehr  erweitert  2).  Alle 
folgenden  Errungenschaften  setzen  nur  die  Entwicklung  in 
derselben  Richtung  fort.  Sie  drängte  dem  letzten  und  ent- 
scheidenden Stadium  zu,  seitdem  von  dem  Mittel  des  tacking 
of  money  bills  rücksichtslos  Gebrauch  gemacht  wird^).  Wenn 
auch  die  Annahme  Redlichs*),  daß  die  durch  den  schutz- 
zöUnerischen  Imperialismus  hervorgerufene  Krise  in  dem  Partei- 


0  Vgl.  Sußmann,  Das  Budget-Privileg  des  Hauses  der  Gemeinen. 
Mannheim-Leipzig  1909,  p.  196:  „Seitdem  (seit  der  Aufhebung  der  Papier- 
abgaben durch  die  Customs  and  Inland  Revenue  Bill  von  1861)  wird  all- 
jährlich die  Praxis  befolgt,  die  nicht  für  die  Dauer,  sondern  nur  für  ein 
Jahr  geltenden  Steuerbewilligungen  und  damit  zusammenhängenden  Be- 
stimmungen zu  einem  solchen  Schema  zu  vereinigen,  das  seit  dem  Jahre  1894 
den  Namen  Finance  Bill  führt." 

-)  Bereits  am  3.  Juli  1678,  im  Wege  einer  einfachen  Resolution,  hatte 
das  Unterhaus  den  Lords  das  Recht  abgesprochen,  irgendwelche  Abänderung 
an  Steuergesetzen  vorzunehmen.  So  war  ein  Gewohnheitsrecht  geschaffen, 
das  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  hinein  dem  entschiedenen 
Widerspruch  des  Oberhauses  begegnete,  das  aber  im  Jahre  1886  durch  eme 
autoritative  Entscheidung  der  Rechtsabteilung  des  Geheimen  Rats  (Judicial 
Committee  of  the  Privy  Council)  —  vgl.  Sußmann,  Das  Budget-Privileg, 
p.  147  — ,  die  das  Recht  des  Oberhauses  auf  Amendierung  von  Geldbills 
erneuerte,  in  aller  Form  bestätigt  wurde.  Die  3  Resolutionen  vom  3.  Juli 
1860  cf.  Hansard  3.  ser.   159  1384;  bei  Sußmann  a.  a.  0.  p.  195. 

=*)  Besonders  in  den  Jahren  1860,  1894  und  1899.  Vgl.  Jellinek,  Fest- 
gabe für  Laband,  der  Anteil  der  ersten  Kammern  an  der  Finanzgesetzgebung. 
Tübingen  1908.  Bd.  I  p.  103  und  L.  Courtney,  the  Working  Constitution  of 
the  United  Kingdom.    London  1907.   p.  24. 

•*)  In  Recht  und  Technik  des  englischen  Parlamentarismus.    Leipzig  1905. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  849 

zustand  Englands  ihre  Lösung  in  dem  Budget  eines  der  nächsten 
Jahre  finden  werde,  durch  die  tatsächlichen  Geschehnisse  bis- 
her nicht  bestätigt  ist,  so  wird  doch  zweifellos,  nachdem  in- 
folge der  Annahme  der  sog.  Vetobill  im  Oberhause  das 
Selbstbestimmungsrecht  des  Unterhauses  auch  gegenüber  dem 
Willen  der  erblichen  Kammer  vor  der  Hand  sichergestellt  ist, 
das  englische  Budget  in  der  nächsten  Zukunft  berufen 
sein,  die  politischen  und  wirtschaftlichen  Grundanschauungen 
zu  verwirklichen,  um  deren  Vorherrschaft  gegenwärtig  gerungen 
wird.  Sei  es  als  Träger  der  liberalen  und  radikalen  Steuer- 
maximen, sei  es  als  Niederschlag  eines  auf  protektionistischer 
Grundlage  ruhenden  Schutz-  und  Finanzzollsystems,  in  jedem 
Fall  wird  das  Budget  auch  fernerhin  sein,  was  es  seit  Pitt 
gewesen  ist:  die  weitaus  stärkste  Stütze  und  Waffe  der  je- 
weiligen Regierungspolitik. 

Es  fragt  sich  aber,  in  welcher  Ausdehnung,  und  weiter, 
mit  welchem  Erfolge  diese  Waffe  unter  den  heutigen  Ver- 
hältnissen benutzt  werden  kann.  Zunächst  ist  ein  erheb- 
licher Teil  der  Ausgaben  und  Einnahmen  der  unmittel- 
baren Bewilligung  durch  das  Parlament  entzogen. 

Innerhalb  des  konstanten  Budgets  werden  aus  dem  Consolidated  fund 
bzw.  aus  den  in  diesen  rechnungsmäßig  bestehenden  Fonds  fließenden  Einnahmen 
eine  Reihe  permanenter  Ausgaben  bestritten,  vor  allem  der  Zinsendienst  der 
Staatsschuld,  die  Zivilliste  des  Königs,  die  Apanagen  sämtlicher  Mitglieder 
des  königlichen  Hauses,  die  Richtergehälter,  das  Einkommen  des  Speaker, 
zahlreiche  Pensionen  für  Richter,  ehemalige  Minister,  Beamte  usw.,  Lebens- 
renten für  Nachkommen  nationaler  Heroen  und  noch  verschiedene  andere 
Ausgabengruppen.  Die  Ausgaben,  die  gesetzlich  zm*  Deckung  auf  den  kon- 
solidierten Fonds  angewiesen  sind,  schwanken  gegenwärtig  zwischen  ^|^  und  V5 
des  gesamten  Staatsaufwandes.  Aber  die  dem  Fonds  zufließenden  Einnahmen 
übersteigen  diesen  fixierten  Bedarf  sehr  erheblich,  sodaß  z.  B.  nach  dem 
Stande  des  Budgets  von  1903  —  nach  den  Angaben  bei  Redlich  p.  680  — 
die  sog.  Consolidated  fimd  Services,  d.  h.  der  auf  diesen  Fonds  angewiesene 
öffentliche  Bedarf,  nur  30,1  Mill.  Pfund  ausmachten.  In  Wirklichkeit  haben 
in  demselben  Budget  nahezu  80  Mill.  Pfund  aus  den  permanenten  Mitteln,  die 
in  den  vorhandenen,  der  jährlichen  Bewilligung  nicht  unterliegenden  Fonds, 
ganz  überwiegend  in  dem  c.  f.  dargeboten  werden,  zur  Befriedigimg  von 
Ausgabebedürfnissen  Verwendung  gefunden.  Da  in  dem  genannten  Jahre 
die  Einnahmen,  ausschließlich  der  Anleihe  zur  Kriegskostendeckung,  ein 
Gesamt  von  152  Mill.  Pfund  aufwiesen,  wurde  also  über  die  Hälfte  der 
Einnahmen  im  Staatshaushalt  verwendet,  ohne  daß  eine  Bewilligung,  wie  sie 
für  die  supply  Services  erforderlich  ist  und  ausgesprochen  wird,  seitens  des 
Parlaments  erfolgt  war. 

Für  die  Jahre  1906  bis  1910  ergeben  sich  folgende  Verhältnisse.  Im 
Rechnungsjahre  1906/07  betrug  die  Einnahme  aus  den  permanent  bewilligten 
Steuern  88,7  Mill.  Pfund,  die  Einnahme  aus  den  für  die  Dauer  des  Rechnungs- 


350  Bliim,  Budjsretrecht  und  Finanzpraxis. 

Jahres  bewilligten  Steuern  41,3  IVIill.  Pfund  0.  Im  Rechnungsjahre  1907/08 
beliefen  sich,  nach  Hazells  Annual,  in  den  Estimates  die  c.  f.  Services  ein- 
schließlich der  Payments  to  Local  taxation  Accounts  auf  42,6  Mill.  Pfund, 
die  supply  Services  auf  109,2  Mill.  Pfund.  Im  Jahre  1908/09  die  ersteren 
auf  rund  41  ülilL,  die  letzteren  auf  113,1  Mill.;  im  Jahre  1909/10  die  c.  f. 
Services  auf  36,7  Mill.,  die  supply  Services  auf  162,1  Mill.;  im  Jahre  1910/11 
die  ersteren  auf  36,9  Mill.,  die  letzteren  auf  134,9  Mill.  -).  In  diesen  4  Eechnungs- 
jahren  haben  also  der  Eeihe  nach  die  c.  f.  Services  etwa  V41  V4)  ^U  "^^^  ^U 
der  gesamten  Staatsausgaben,  wie  sie  in  den  Estimates  veranschlagt  waren, 
betragen  ^). 

Die  festgelegten,  der  parlamentarischen  Be- 
willigungnichtmehrbedürfenden  Ausgaben  nehmen 
also  im  Staatshaushalt  eine  sehr  viel  bedeutendere 
Stellung  ein,  als  Hatschek  ihnen  zuweisen  will. 

Um  die  eigentliche  Natur  des  englischen  Budgetrechts  zu 
erkennen,  bedarf  es  der  Untersuchung,  bis  zu  welchem  Grade 
das  Unterhaus  zur  Mitwirkung  an  der  einheitlichen  zentralen 
Staatskassenverwaltung,  die  durch  das  Gesetz  über  die  Bildung 
des  c.  f.  geschaffen  wurde,  tatsächlich  befugt  ist.  Eine  un- 
beschränkte Verfügung  des  Unterhauses  über  die  gesamte  Staats- 


')  Hansard,  Parliamentary  Debates,  4.  ser.  174  465  f. 

^)  Die  Ende  Januar  1912  abgeschlossene  Darstellung  berücksichtigt  die 
Etatsjahre  1911  nach  dem  Stande   der  Voranschläge. 

^)  Eene  Stourm,  der  zum  Überfluß  betont,  daß  das  Wort  Consolidated 
eine  bestimmten  Ausgaben  und  bestimmten  Einnahmen  beigelegte  Eigen- 
schaft bezeichnet,  daß  aber  darunter  keinesfalls  ein  Budget  neben  oder  außer 
dem  regelmäßigen  Budget  verstanden  werden  darf,  stellt  an  der  Hand  der 
das  Jahr  1900  betreffenden  Ausweise  des  finance  account  fest,  daß  die  Aus- 
gaben des  Consolidated  fund  V4  des  Gesamtbudgets,  die  konsolidierten  Ein- 
nahmen dagegen  Vs  desselben  Budgets  darstellen.  Entsprechende  Teile 
der  Ausgaben  und  der  Einnahmen  sind  also  von  der  jährlichen  Abstimmung 
und  Bewilligung  ausgenommen.  J.  Hatschek,  Englisches  Staatsrecht  (im 
Handbuch  des  öffentUchen  Rechts)  Bd.  I  p.  478,  führt  zur  Stütze  seiner 
Theorie  von  der  geringen  Bedeutung  des  Consolidated  fund  für  die  Staats- 
ausgaben (c,  f.  Services)  aus  dem  financial  statement  1902/3  an,  daß  die 
Gesamtheit  der  auf  den  c.  f.  durch  Gesetze  ein  für  allemal  angewiesenen 
Geldsummen  in  dem  genannten  Jahre  25 Vg  Mill.  Pfimd,  die  der  allgemein 
zu  bewilligenden  anderen  Ausgaben  jedoch  ungefähr  163  Mill.  Pfund  betrug. 
Nach  dem  Etatsanschlag  für  1904/5,  den  er  selbst  mitteilt  (p.  488),  war  das 
Verhältnis  folgendes:  c.  f.  Services  29,8  ]\Iill.  Pfund,  supply  Services  112,6  Mill. 
Pfund.  Die  Mittel  des  c.  f.  wurden  also  in  diesem  Jahre  mit  nahezu  Vb,  im 
Jahre  1902/3  nur  mit  etwa  V?  zur  Deckung  des  Staatsbedarfs  in  Anspruch 
genommen.  Somit  ist  Hatschek  nicht  berechtigt,  zu  sagen  —  was  er  p.  477 
tut  —  daß  „die  Staatsausgaben  die  der  parlamentarischen  Bewilligung  nicht 
unterliegen,  gegenwärtig  V7  der  gesamten  Staatsausgaben  betragen". 


Blum,  Budgetrecht  und  Finauzpraxis.  351 

Wirtschaft,  wie  Redlich  behauptet  i),  besteht  nicht  2).  Das  Unter- 
haus als  solches  ist  in  seinem  Verfügungs-  und  An  Weisungsrecht 
in  bemerkenswerter  Weise  eingeengt  durch  die  standing  order  67, 
die  für  die  Bewilligung  öffentlicher  Gelder  oder  Belastung  des 
Staatsschatzes  eine  Empfehlung  seitens  der  Krone  vorschreibt  ^), 
also  Geld-  und  Ausgabebewilligungsanträge  aus  der 
Mitte  des  Hauses  untersagt.  In  dieser  Hinsicht  ist  das 
member  of  Parliament  weniger  frei  und  selbständig  als  in 
Deutschland  das  Mitglied  des  Reichstages,  dem  ein  solches 
Initiativrecht,  wenn  auch  in  beschränktem  Maße  und  mit  zweifel- 
haftem Erfolg,  zusteht*).  Durch  die  Geschäftsordnungsreform 
von  1882  haben  die  budgetrechtlichen  Befugnisse  der  Unter- 
hausmitglieder eine  weitere  Einschränkung  erfahren  5). 

Eine    vieljährige   Praxis    und   Erfahrung  unter  der  Herr- 
schaft   der  Königin  Viktoria  mochte  es  berechtigt  erscheinen 


^)  Recht  und  Technik  des  engl.  Parlamentarismus  p.  683. 

*)  Eedlich  sagt  selbst  (a.  a.  0.  p  720) :  „  AUe  diese  Ausgaben  (die  auf  den  c.  f 
angewiesenen)  werden  auf  bloße  Anweisung  des  Schatzamtes  ausgezahlt.  Da 
sie  auf  dauernder  gesetzlicher  Grundlage  beruhen,  bedürfen  sie  nicht  der 
jährlichen  besonderen  Bewilligung  und  Anweisung  durch  das  Parlament." 
Und  an  anderer  Stelle  (p.  722)  von  den  auf  dem  c.  f.  liegenden  permanenten 
Ausgaben:  „Diese  bedeuten  ebensoviel  Ausnahmen  von  dem  jährlichen 
Badgetbewilligungsrecht  der  Commons."  Ebenso  erkennt  Hatschek  (p.  500) 
an:  „Während  die  französischen  ]\Iinister  auf  das  Budgetgesetz  sehnsüchtig 
warten  ....  ist  die  englische  Ajapropriationsakte  für  die  englischen  IMinister 
nur  eine  formale  Deckung  nach  außen."  Es  wird  darauf  noch  zurück- 
zukommen sein. 

')  Diese  Eegel  —  sagt  Sußmann  a.  a.  0.  p.  183  —  bildet  einen  der 
wichtigsten  Grundsätze  des  neueren  englischen  Parlamentarismus. 

*)  "Wilson,   The  National   Budget,  p.  147.     The  House forms 

itself  into  a  „Committee  of  supply",  and  sanctions  every  item  in  the  three 
bulky  volumes,  but  its  members  have  not,  as  a  rule,  knowledge  enough  of 
the  details  to  offer  effective  criticism,  and  the  utmost  the  committee  can  be 
said  to  do,  on  the  average  is  to  render  flagrant  abuses  impossible.  On 
the  average  perhaps  that  is  enough.  —  Dazu  bemerkt  Carl  C.  Plehn, 
Introduction  to  Public  Finance,  p.  329:  „Parliament  cannot  directly  or 
indirectly  increasc  the  appropriations  asked  by  the  ministry  in  the  name 
oi  the  krown,  nor  add  new  appropriations."  Ebenso  E.  F.  Bastable, 
Public  Finance,  Third  ed.  p.  661.  „No  addition  can  be  made  to  the  estimates 
submitted,  and  anything  that  even  indirectly  violates  this  rule  is  opposed  to 
the  stricter  constitutional  doctrine.  All  expeuditure  therefore  originates  with 
those  who  have  an  evident  interest  in  keeping  it  within  bounds,  as  they 
will  have  to  suggest  the  taxation  required  to  meet  it  ....  The  evil 
effect  of  the  absence  of  such  a  rule  is  seen  in  the  increased  expenditure 
often  proposed  by  the  French  budgetary  commission." 

^)  Vgl.  Sußmann,  a.  a.  0.  p.  183. 


352  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

lassen,  Krone  und  Regierung  zu  identifizieren  in  dem  Sinne, 
daß  das  jeweilige  unionistische  oder  radikale  Kabinett  das 
Bestimmungs-  und  Verfügungsrecht  der  Krone  nur  zum  Scheine 
aufrecht  erhielt,  tatsächhch  aber  selbst  diese  Rechte  besaß 
und  ausübte  ^).  Daß  es  sich  dabei  nur  um  eine  Form,  um 
eine  gleichviel  aus  welchen  Gründen  gewährte  Konzession 
handelte,  die  jederzeit  zurückgenommen  werden  konnte,  hat 
die  Regierung  Eduard  VII.  bewiesen.  Sein  persönlicher  Ein- 
fluß auf  die  Führung  der  auswärtigen  Politik,  sein  selbständiges 
Eingreifen  bei  der  Wahrnehmung  der  englischen  Auslands- 
interessen involvierte  Verpfhchtungen  auf  den  Gebieten  der 
Landesverteidigung  und  Rüstungspolitik,  denen  sich  die  Re- 
gierung zu  Lebzeiten  des  Herrschers  nicht  entziehen  konnte 
und  denen  sie  voraussichtlich  auf  lange  hinaus  wird  Rechnung 
tragen  müssen.  So  wird  England,  um  nur  eins  zu  erwähnen, 
infolge  der  entente  cordiale  mit  Frankreich  sich  schwerlich 
der  Pflicht  entziehen  können,  für  das  Landheer  erheblich 
größere  Aufwendungen  zu  machen  als  bisher.  Das  ist  teilweise 
bereits  geschehen.  Jedenfalls  kann,  wie  die  Erfahrungen  der 
letzten  Jahre  zeigen,  von  einer  schrankenlosen  Freiheit  des 
Parlaments  bezw.  der  parlamentarischen  Regierung  in  der 
Gestaltung  des  Budgets  unter  diesem  Gesichtspunkte  nur  die 
Rede  sein,  solange  sich  der  Träger  der  Krone  der  Einfluß- 
nahme auf  die  auswärtige  Politik  ganz  oder  doch  so  gut  wie 
ganz  enthält.  Bei  wichtigen  Entscheidungen  über  verfassungs- 
rechtliche und  innerpolitische  Fragen  ist  ein  solcher  Verzicht, 
auch  wenn  der  Herrscher  selbst  danach  verlangen  oder  dazu 
erbötig  sein  sollte,  nicht  immer  zulässig  oder  möglich.  Verlauf 
und  Ausgang  des  letzten  entscheidenden  Streites  zwischen  den 
beiden  Häusern  des  Parlaments  haben  das  deutlich  gezeigt.  Die 
Stellung  der  englischen  Krone  in  der  viktorianischen  Ära 
und  in  der  Regierungszeit  Eduards  VII.  war,  was  auch 
G.  Jellinek  in  der  zweiten  Auflage  seiner  ,, Allgemeinen  Staats- 
lehre" in  einem  Nachtrag  (p.  664)  betont,  keineswegs  völlig 
gleichartig.  In  der  Verfassungskrisis  vollends  lag  die  oberste 
Entscheidung  bei  der  Krone;  ohne  die  Zusage  Georgs  V.,  die 
Annahme  der  Vetobill  im  Oberhause  nötigenfalls  im  Wege  des 


0  Die  Beziehungen  zwischen  „the  Sovereign  and  his  confidential  ad- 
visers"  sind  „the  subtle  spot  in  the  machinery  of  the  English  Constitution". 
L.  Courtney  in  The  Fortnightly  Review  1.  Sept.  1911  p.  458, 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  353 

Pairsschub  bezw.  mittels  withholding  writs  of  summons^)  sicher- 
stellen zu  wollen,  hätte  es  eines  neuen,  in  seinem  Ausgang 
zweifelhaften  und  gleichfalls  nicht  ohne  einen  königlichen  Willens- 
akt herbeizuführenden  Wahlkampfes  bedurft,  um  den  Wider- 
stand des  Oberhauses  zu  brechen. 2) 


■)  cfr.  Nineteenth  Century  Aug.  1911.     J.  H.  Morgan,  The  King  and  bis 
prerogative  p.  215. 

^)  Die  Beantragung  eines  „vote  of  censure"  am  7.  August  1911  gab 
dem  Chef  des  Kabinetts  erwünschte  Gelegenheit,  das  Vorgehen  der 
Regierung  bei  der  Lösung  der  Verfassungsfrage  zu  rechtfertigen. 
Aus  seinen  Erklärungen,  die  er  mit  ausdrücklicher  Genehmigung  des  Königs 
—  bis  dahin  war  über  die  Vorgänge  strengstes  Geheimnis  beobachtet  worden  — 
vor  dem  Unterhause  abgab,  war  zu  entnehmen,  daß  Mr.  Asquith  nach  An- 
nahme der  Veto-Resolutionen  im  April  1910  dem  Könige  Mitteilung  gemacht 
hatte  von  seiner  damals,  am  14.  April  1910,  im  Unterhause  abgegebenen 
Erklärung:  falls  die  Lords  die  in  den  Resolutionen  ausgedrückte  Politik 
der  Regierung  verwerfen  würden,  würde  die  Regierung  entweder  zurück- 
treten oder  dem  Herrscher  die  Auflösung  des  Parlaments  anraten;  die  Auf- 
lösung des  Parlaments  werde  die  Regierung  nur  unter  der  Bedingung 
empfehlen,  daß  in  dem  aus  den  Wahlen  hervorgegangenen  neuen  Parlament 
der  Entscheidung  des  Volkes  unter  allen  Umständen  zu  gesetzlicher  Durch- 
setzung und  Geltung  verholfen  werden  würde.  Als  dann  am  10.  November 
1911  die  Konferenz  über  die  konstitutionelle  Frage  ergebnislos  zu  Ende  ge- 
gangen war,  rieten  die  Minister  König  Georg  zur  Auflösung  des  Parlaments, 
wobei  sie  zugleich  betonten:  „Die  Itfinister  Sr.  Majestät  können  die  Ver- 
antwortung, die  Auflösung  des  Parlaments  anzuraten,  nur  übernehmen,  wenn, 
für  den  Fall  daß  die  Politik  der  Regierung  im  neuen  Unterhause  eine  angemessene 
Mehrheit  findet,  Se.  Maj  estät  sich  bereit  erklären  will ,  seine  konstitutionellen 
Rechte  auszuüben,  darunter  die  Prärogative  der  Ernennung  von  Peers, 
und,  falls  erforderlich,  volle  Sicherheit  zu  gewähren,  daß  der  Wille  der 
Nation  wie  er  in  den  Wahlen  zum  Ausdruck  kommt,  tatsächlich  befolgt 
und  in  die  Tat  umgesetzt  wird.  Namens  des  Kabinetts  brachte  Mr.  Asquith 
in  seiner  Erklärung  ferner  zum  Ausdruck,  daß  die  Minister  pflichtgemäß  die 
ganze  und  ausschließliche  Verantwortung  für  die  Politik  übernehmen,  über 
die  die  Wählerschaft  das  Urteil  sprechen  solle.  Se.  Majestät  würde  zweifellos 
als  nicht  im  Staatsinteresse  gelegen  erachten,  daß  über  das  Vorhaben  der 
Krone  irgendeine  IMitteilung  an  die  Öffentlichkeit  gebracht  würde,  es  sei 
denn  daß  und  sobald  der  äußere  Anlaß  dazu  gekommen.  ,. Seine  Majestät", 
damit  schloß  die  bedeutsame  Mitteilung  des  leitenden  Staatsmannes,  „fühlte 
sich  verpflichtet,  dem  Vorschlag  des  Kabinetts  beizutreten."  Daraufhin 
wurde  das  ,,vote  of  censure"  mit  365  gegen  246  Stimmen  abgelehnt.  Am 
8.  August  stand  im  Oberhause  ein  vote  of  censure  zur  Verhandlung,  das 
mit  282  gegen  60  Stimmen  angenommen  wurde.  In  der  Debatte  hatte  Lord 
Crewe  berichtet,  daß  Se.  Majestät  natürliche  und  legitime  Abneigung 
empfunden  habe,  zu  der  Ausübimg  der  Prärogative  der  Krone  in  der  von 
seinen  Ministem  angeratenen  Form  seine  Zustimmung  zu  geben.  Ob  mit 
dieser  Bemerkung,  die  auf  besonderen  Wunsch  des  Königs  erfolgt  sein  soU, 
die  Entschließung  des  Herrschers  vor  dem  Oberhause  gewissermaßen  ent- 
schuldigt, ob  etwas  anderes  damit  bezweckt  werden  sollte,  ist  von  geringem 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  23 


354  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Die   Appropriationsakte   bildet   mit  ihrer   Ermächtigung   zur  Ver- 
ausgabung der  Eestsumme  der  benötigten  Ausgaben  und  mit  der  Zusammen- 


Belang.  Dagegen  steht  die  Tatsache  unweigerlich  fest,  daß  der 
Verfassungskonflikt  ohne  die  Mitwirkung  der  Krone  nichthätte 
zum  Abschluß  gebracht  werden  können.  Aus  dem  staatsrechtlichen 
System  des  King  in  Parliament  konnte  bei  der  Entscheidung  über  eine 
Verfassungsreform,  durch  die  nunmehr  für  die  beiden  historischen  Parteien 
des  Landes  gleichmäßig  in  staatsmännischer  und  gesetzgeberischer  Hinsicht 
gleiche  Bedingungen  geschaffen  sind,  der  eine  der  drei  Faktoren  nicht  aus- 
geschaltet werden;  er  hat  vielmehr  den  Ausschlag  gegeben.  —  Der  Ver- 
fassungskampf nahm  dann  den  bekannten  Verlauf.  Die  Parlamentsbill  wurde 
vom  Unterhause  in  der  ursprünglichen  Form,  nach  Ablehnung  aller  Amen- 
dements, an  das  Oberhaus  zurückgesandt,  wo  sie  schließlich,  nachdem  Lord 
Morley  nochmals  den  Entschluß  des  Königs  feierlichst  betont  hatte,  durch 
Ernennung  einer  hinreichenden  Zahl  neuer  Peers  die  Annahme  der  Bill 
unter  allen  Umständen  sicherzustellen,  mit  knapper  Mehrheit  bei  äußerst 
schwach  besetztem  Hause  angenommen  wurde.  Der  Widerwille  gegen  das  Ein- 
dringen von  ,,500  mushroom  members"  hatte  gesiegt.  Am  18.  August  erhielt 
der  Parliament  Act  den  Royal  Assent. 

Auch  während  der  Verhandlungen  über  die  Veto-Resolutionen  hatte 
der  Premierminister  keinen  Zweifel  darüber  gelassen,  wie  hoch  er  als  der 
verantwortliche  Staatsmann  den  verfassungsmäßigen  Wert  und  den  positiven 
Einfluß  der  königlichen  Prärogative  einschätzt.  Gegenwärtig,  so  führte 
Mr.  Asquith  am  29.  März  1910  im  Unterhause  aus,  sei  der  einzige  ver- 
fassungsmäßige Weg,  der  Verwirrung  ein  Ende  zu  bereiten,  der,  daß  das 
Parlament  aufgelöst  oder  daß  neue  Peers  von  der  Krone  ernannt  werden. 
(Jede  dieser  beiden  Maßnahmen  wäre  ohne  die  auf  freier  Entschließung  be- 
ruhende Mitwirkung  des  Königs  unausführbar.)  Das  Vorrecht  der  Krone 
sei,  obwohl  es  selten  ausgeübt  werde,  ein  wesentlicher  Bestandteil  der 
Verfassung.  In  derselben  Rede  erklärte  der  Pemierminister,  der  Meinung 
zu  sein,  daß  dem  absoluten  Veto  der  Lords  das  absolute  Veto  der  Krone 
folgen  müsse,  bevor  der  Weg  freigemacht  werden  könnte  für  eine  ungefesselte 
Demokratie.  Deutlich  und  absichtlich  ist  in  diesen  Worten  der  Beruf  der 
Krone,  über  den  Parteien  zu  stehen,  und  die  Anmaßung  der  Lords, 
nach  Willkür  zu  Gunsten  einer  Partei  und  gegen  die  andere  den  Ausschlag 
geben  zu  wollen,  in  Gegensatz  gestellt. 

In  diesem  Zusammenhang  ist  noch  eine  andere  Äußerung  des  Premier- 
ministers Asquith  über  die  Prärogative  der  Krone  und  den  Einfluß  der 
Unterhaus-Regierung  auf  die  königliche  Entschließung  und 
Willensmeinung  zu  erwähnen.  In  der  Adreßdebatte  des  Unterhausos 
über  die  Thronrede  von  1910  erwartete  man  allgemein,  da  zahlreiche  Kon- 
ferenzen des  Königs  mit  ]\Ir.  Asquith  stattgefunden  hatten,  Mitteilungen 
über  etwaige  dem  Chef  des  Kabinetts  zugestandene  „safeguards".  Aber  Mr. 
Asquith  erklärte,  keine  Garantien  empfangen,  aber  auch  keine  verlangt  zu 
haben,  und  er  fügte  hinzu:  „.  .  .  .  to  ask  in  advance  for  an  indefinite 
exercise  of  the  Royal  prerogative  with  regard  to  a  measure  which  has  never 
been  submitted  to,  or  approved  by,  the  House  of  Commons  is  a  request 
which,  in  my  judgment,  no  Constitutional  statesman  should  properly  make 
and  which  no  Constitutional  Sovereign  could  be  expected  to  grant". 
In    diesen   Sätzen   ist  klar   und   bestimmt   die   Grenze   gezogen,   wo 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  355 

Stellung  der  Ausgaben-Etats  gewissermaßen  das  Schlußstück  der  Ergebnisse 
der  Beratungsarbeit,  die  die  committees  of  the  whole  house  in  ihren  llesolu- 
tionen  niedergelegt  haben').  Nicht  minder  ist  zu  beachten,  daß  die  Appro- 
priationsakte nur  Ausgabeermächtigungen  enthält,  also  die  zur  Deckung 
erforderlichen  Einnahmen  als  vorhanden,  eben  im  c.  f.  vor- 
handen, voraussetzt.  Immer  handelt  es  sich  um  Geldbewilligungen  für 
Ausgabezwecke.  Die  für  den  Bedarf  bezw.  zur  Ergänzung  des  Bedarfs 
benötigten  Einnahmen  haben  ihre  rechtliche  Basis  in  den  bestehenden  Ein- 
nahmegesetzen oder  erhalten  sie  in  Anordnungen  des  Unterhauses,  welch 
letztere  aber  nur  unter  der  Voraussetzung  des  nachträglichen  Zustande- 
kommens des  finance  act  erlassen  und  befolgt  werden.  Dagegen  wird  der 
Consolidated  fund  mit  der  gesetzlichen  Regelung,  die  er  um  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts  erfahren  hat,  als  ein  Gesetz  empfunden,  das  alljährliche 
Leistungen  vorschreibt,  ohne  daß  es  einer  speziellen  Ermächtigung  der 
gesetzgebenden  Köperschaften  bedarf.  Um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts 
vollzog  sich  eine  Entlastung  des  Consolidated  fund  im  Rahmen  und  in  natür- 
licher Nachwirkung  der  Reform,  die  mit  dem  Übergang  vom  Netto-  zum 
Brutto-Budget  ein  neues  System  des  Etatswesens  schuf.  Indessen  wird  die 
Einnahmewirtschaft  des  konsolidierten  Fonds  davon  in  keiner  Weise  berührt ; 
auch  der  finance  act,  der  unter  normalen  Verhältnissen  gegen  den  Schluß 
der  Session  zustande  kommt  und  dem  Appropriationsakt  kurz  voranzugehen 
pflegt,  zählt  nur")  die  alljährlich  neu  zu  bewilligenden  Steuern  auf,  vor  allem 
die  income  tax,  customs  und  excise,  gewisse  stamps  und  duties,  nicht  aber 
die  perpetuierten  Steuern  und  Abgaben,  die  auch  heute  noch  das  Gros  der 
Staatseinnahmen  bilden^). 


Machtbefugnis  und  Machtbereich  der  parlamentarischen  Regierung  aufhören 
und  der  selbständige  Wille  des  konstitutionellen  Herrschers  einsetzt! 

*)  In  einem  Memorandum  des  Schatzkanzlers  Sir  George  Cornwall 
Lewis  vom  Jahre  1857  ist  wörtlich  gesagt :  „The  Appropriations  Act  at  the 
end  of  the  session  gathers  together  the  whole  of  the  votes  in  supply 
and  the  grants  already  authorized  out  of  the  Consolidated  fund 
to  meet  in  part  the  supplies  voted."  Und  weiter  heißt  es  in  demselben 
Memorandum  von  dem  Appropriationsakt,  daß  er  „thus  completes  the 
financial  proceedings  of  the  session.  By  this  act,  therefore,  the  votes 
in  supply,  originally  passed  by  the  house  of  Commons  only,  receive 
füll  legislative  sanction".  Ausdrücklich  wird  in  dieser  authentischen  Inter- 
pretation des  Begriffs  und  Wesens  der  Appropriationsakte  zwischen  den 
„votes  in  supply"  und  den  Bewilligungen  unterschieden,  zu  denen  der  Con- 
solidated fund  bereits  ermächtigt  hat.  Der  Consolidated  fund  act  kurz  vor 
dem  Beginn  des  neuen  Rechnungsjahres  —  1907  am  22.  März,  1908  am 
27.  März,  1909  am  15.  und  30.  März  —  ermächtigt  zur  Verausgabung  von 
Hunderten  von  Millionen  Mark,  ohne  daß  für  das  neue  Etatsjahr  auch  nur 
1  Pfennig  an  Einnahme  bewilligt  worden  wäre!  Wieviel  wird  dadurch  allein 
der  Etatsberatung  an  Bedeutung  und  Gewicht  genommen! 

^)  Über  vereinzelte  Ausnahmen  cfr.  Sußmann,  a.  a.  0.  p.  196. 

^)  Wilson,  The  National  Budget,  p.  147:  ...  the  strictness  with  which 
the  accounts  of  each  financial  year  are  made  to  end  with  that  year.  The 
moment  the  31th  of  March  ends  the  balance  is  Struck  on  both  sides,  and 
credit  is  taken  only  for  the  actual  money  received  within  the  twelve  months, 
while  all  authority  to  spend  money  for  any  pm-pose,  except  theconsoli- 

23* 


356  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Auf  der  anderen  Seite  hat  der  Umstand,  daß  nahezu  50  Jahre  hindurch 
das  Vetorecht  des  Oberhauses  gegenüber  Geldbills  nicht  zur  Anwendung  ge- 
kommen war,  zu  einer  Überschätzung  der  budgetrechtlichen 
Position  des  Unterhauses  Anlaß  gegeben.  Bis  1909  wurde  vielfach  be- 
stritten, daß  ein  Budget  auch  infolge  ablehnenden  Votums  der  Lordskammer 
nicht  zustande  kommen  kann.  Mit  Entschiedenheit  hat  besonders  Redlich 
diese  Auffassung  vertreten^). 

Zu  einem  anderen  Urteile  über  die  budgetäre  Machtstellung 
des  Unterhauses  hat  sich,  gleichfalls  im  Jahre  1905,  J.  Hatschek 
bekannt,  der  im  übrigen  hinsichtlich  der  staatsrechtlichen 
Bedeutung  der  permanenten  Einnahmequellen  derselben  Ansicht 
ist  wie  Redlich  2).  Ihm,  nicht  Redlich  —  beide  sind  begeisterte 
Lobredner  des   parlamentarischen  Regierungssystems   und   der 


dated  fund,  immediately  lapses.  —  Carl  C.  Plehn,  Introduction  to  Public 
Finance  p.  330:  All  credits  of  disbursing  officers  expire,  and  their  accounts 
close  March  31.  All  appropriations  lapse  at  that  time,  except  those 
appropriated  for  the  Consolidated  fund.  —  Gaston  Jeze,  Le  budget, 
p.  62:  En  resume,  le  droit  anglais  consacre  la  double  regle  de  l'annalite 
de  l'impot  et  de  l'annalite  des  depenses;  seulement,  cette  double  regle 
est  limitee  a  certains  impots  et  ä  certains  depenses.  Elle  n'a  pas  une 
portee  generale.  En  fait,  le  quart  environ  des  depenses  et  les  quatre 
cinquiemes  environ  des  recettes  ont  un  caractere  permanent  et  echap- 

pent   h   la   rögle   de  ^.l'annalite Les    agents    administratif s 

n'ont  besoin  d'aucune  autorisation  annuelle  du  Parlement  pour 
engager  ou  payer  les  depenses,  pour  etablir  les  titres  de  recettes  et 
les  mettre  en  recouvrement. 

*)  A.  a.  0.  (p.  671):  „Das  Recht  des  Oberhauses,  seine  Zustimmung  zu 
dem  vom  Unterhause  beschlossenen  Budget  als  einem  Ganzen  zu  erteilen  oder 
zu  verweigern,  ohne  daß  es  die  geringste  Befugnis  zur  Abänderung  besäße, 
erscheint  im  Lichte  der  Entwicklung,  welche  das  englische  Budgetrecht  im 
19.  Jahrhundert  genommen  hat,  nur  noch  als  eine  Formalität."  So  auch 
Sußmann,  Das  Budget-Privileg  des  Hauses  der  Gemeinen.  Mannheim-Leipzig 
1909.  p.  197  u.  204.  Und  Redlich  an  anderer  Stelle:  „Die  Ausschließung 
des  Oberhauses  von  jedem  rechtlichen  und  tatsächlichen  Einflüsse  auf  die 
Staatsfinanzen  ist  eine  vollzogene  und  nicht  mehr  rückgängig  zu  machende 
Tatsache."  Solche  Aussprüche  stehen  auf  derselben  Höhe  wie  z.  B.  die 
Behauptung,  die  englische  Krone  habe  ihr  Vetorecht  in  der  Gesetzgebung 
„by  disuse"  verloren;  auch  davon  kann  nicht  die  Rede  sein,  denn  das 
Königliche  Einspruchsrecht  ist  faktisch  niemals  aufgehoben.  Vgl.  unten 
p.  459  Anm.  1). 

^)  Hatschek  sagt  in  seinem  Englischen  Staatsrecht,  im  Handbuch  des 
öffentlichen  Rechts  IV,  1,  491 :  „Eine  parlamentarische  Steuern-  und  Ausgabe- 
Verweigerung  wird  nicht  oft  vorkommen,  schon  wegen  der  parlamentarischen 
Regierung,  aber  sie  bleibt  dennoch,  wie  dies  auch  die  herrschende  Ansicht 
der  Gelehrten  in  England  ist,  —  er  führt  Dicey  an  —  die  letzte  juristische 
Waffe  des  Parlaments  gegen  die  Regierung."  In  der  Zeit  von  1708  bis  1860 
hat  das  Oberhaus  34  Geldbills  abgelehnt  und  mit  Hilfe  seines  Vetorechts 
kassiert. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  357 

parlamentarischen   Souveränetät  —  hat  die  nachfolgende  Ent- 
wicklung Recht  gegeben^). 

Am    19.   April   1909  hatte  der  Schatzkanzler  Lloyd  George  ein  Budget 
vorgelegt ''),  das  von  der  im  Oberhause  von  jeher  verpönten  und  in  ständiger 


*)  Dicey,  Introduction  to  the  study  of  the  law  of  the  Constitution, 
London  1902  p.  308,  vertritt  in  dem  entscheidenden  Punkte  die  Auffassung, 
daß  der  größte  Teil  der  Staatseinnahmen  eingehoben  werden  kann,  selbst 
dann,  wenn  das  Parlament  überhaupt  nicht  tagt:  „the  notion  that  at  the 
present  day  no  mcmey  could  legally  be  levied  if  Parliament  ceased  to  meet 
is  unfounded.  Millions  of  money  would  come  into  the  Exchequer 
even  though  Parliament  did  not  sit  at  all.  For  though  all  taxation 
depends  upon  Act  of  Parliament  it  is  far  from  being  the  case  that  all  taxation 

now    depends   upon    annual   or   temporary  Acts Taxes,   the  proceeds 

of  which  amouuted  in  the  year  1895 — 1896  to  at  least  four  fifths  of  the 
whole  year  revenue,  are  imposed  by  permanent  Acts;  such  taxes  are 
the  land  tax,  the  excise,  the  stamp  duties  and  the  like.  These  taxes  would 
continue  to  be  payable  even  though  Parliament  should  not  be  convened  for 
years."  Dagegen:  „other  taxes  —  and  notably  the  income  tax  —  the  proceeds 
of  which  make  up  the  remainder  of  the  national  income  are  imposed  by 
yearly  Acts.  If  by  any  chance  Parliament  should  not  be  convened  for  a 
year,  no  one  could  be  under  any  legal  Obligation  to  pay  income  tax."  Also 
ein  scharfer  Unterschied  zwischen  den  Einnahmen  auf  Grund  ständiger  und 
denen  auf  Grund  zeitlich  begrenzter  Gesetzgebung!  Aber  Dicey  constatiert 
noch  einen  zweiten,  nicht  minder  wichtigen  Unterschied.  In  dem  Abschnitt 
„Authority  for  expending  revenue"  a.  a.  0.  p.  310  f.  führt  er  aus:  „Not  a 
penny  of  revenue  can  be  legally  expended  except  under  the  authority  of 
some  Act  of  Parliament.  This  authority  may  be  given  by  a  permanent  Act, 
as  for  example  by  the  Civil  List  Act,  1.  &  2.  Vict.  c.  2,  or  by  the  National 
Debt  and  Local  Loans  Act,  1887;  or  it  may  be  given  by  the  Appropriation 
Act,  that  is  the  annual  Act  by  which  Parliament  „appropriates"  or  fixes 
the  sums  payaVjle  to  objects  (the  chief  of  which  is  the  support  of  the  army 
and  navy)  which  are  not  provided  for,  as  is  the  payment  of  the  National 
Debt  by  permanent  Acts  of  Parliament."  In  jedem  normalen  Jahre  wird 
in  die  Bank  von  England  ein  aus  verschiedenen,  im  Laufe  der  Zeit  nicht 
immer  gleichmäßig  herangezogenen  Abgabequellen  aufkommendes  nationales 
Einkommen  von  ca.  102  Mill.  Pfd.  eingezahlt.  Dazu  bemerkt  Dicey:  This 
£  102000000  constitute  the  revenue  or  „Consolidated  fund".  Every 
penny  of  it  is,  unless  the  law  is  broken,  paid  away  in  accordance 
with  Act  of  Parliament.  The  authority  to  make  payments  from  it  is 
given  in  many  cases  by  permanent  Acts;  thus  the  whole  of  the  interest 
of  the  National  Debt  is  payable  out  of  the  Consolidated  fund  under  the 
National  Debt  and  Local  Loans  Act  1887.  The  order  or  authority  to  make 
payments  out  of  it  is  in  other  cases  given  by  a  yearly  Act,  namely  the 
Appropriation  Act,  which  determines  the  mode  in  which  the  supplies 
granted  by  Parliament  (and  not  otherwise  appropriated  by  permanent  Acts) 
are  to  be  spent." 

'^)  Hierzu  Mendelssohn-Bartholdy,  Die  Eeform  des  Oberhauses  im 
Jahrbuch  des  öffentlichen  Rechts  der  Gegenwart  Bd.  III,  1909.  —  A.  Ponsonby, 
After  the  crisis,  Cotemporary  Review,  September  1911  p.  308  ff. 


358  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Praxis  bis  1861  energisch  bekämpften  Methode  des  tacking  of  money  bill 
im  weitesten  Maße  und  mit  voller  Rücksichtslosigkeit  Gebrauch  machte. 
Die  Vorlage,  hauptsächlich  bestimmt,  den  Beweis  zu  liefern,  daß  die  Geld- 
mittel für  den  Flottenbedarf  und  die  Sozialreform  auch  ohne  Tarifreform 
und  ohne  Einfuhrzölle  auf  Lebensmittel  und  gewerbliche  Rohstoffe  beschafft 
werden  könnten,  enthielt  außer  den  üblichen  Voranschlägen  neue  gesetz- 
lich durchzuführende  Normen,  die  eine  Wiederholung  der  wichtigsten 
Bestimmungen  des  verunglückten  Schankstättengesetzes,  eine  Reform  der 
Landbesteuerung  (zwanzigprozentige  Abgabe  vom  unverdienten  Wertzuwachs, 
Terrain-,  Erbpachtsteuer  usw.),  eine  stark  progressive  Erhöhung  der  Erbschafts- 
und Nachlaßsteuer,  eine  Erhöhung  der  Einkommensteuer  auf  einen  Schilling 
und  zwei  Pence  auf  das  Pfund,  Einführung  einer  Ergänzungssteuer  für  Ein- 
kommen über  5000  Pfund  und  eine  Verdoppelung  der  Stempelsteuer  auf 
börsengängige  Papiere  enthielten  und  zugleich  mit  dem  Budget  durch  den 
finance  act  dauernd  sanktioniert  werden  sollten.  Nach  heftigen,  langwierigen 
Kämpfen  wurde  die  Bill  am  4.  November  vom  Unterhause  in  dritter  Lesung 
angenommen.  Am  30.  November  1909  machte  das  Oberhaus  von  seinem 
Veto-Recht  Gebrauch.  Es  geschah  dies  aber  lediglich  aus  politischen  und 
wahltaktischen  Motiven,  nicht  in  der  brüsken  Form  der  Verwerfung  des 
Budgets,  sondern  dm-ch  Annahme  des  oppositionellen  Antrages  Lord  Lansdowne: 
„Das  Oberhaus  ist  nicht  berechtigt,  seine  Zustimmung  zu  diesem  Gesetze  zu 
geben,  bis  es  dem  Urteile  des  Landes  unterbreitet  worden  ist."  Ausdrück- 
lich protestierte  Lord  Lansdowne  wieder  gegen  das  System  des  tacking, 
besonders  im  Hinblick  auf  die  Neuerungen  in  der  Schankkonzession  und  die 
Besteuerung  des  Grundeigentums.  Jedenfalls  hatte  das  Oberhaus  tatsächlich 
das  Budget  mit  erdrückender  Mehrheit  verworfen  und  damit  auch,  wie  der 
Lordkanzler  sagte,  den  Jahresbedarf  abgelehnt.  Beide  Parteien  be- 
schuldigten sich  gegenseitig  des  Verfassungsbruches.  Die  Liberalen  konnten 
sich  auf  die  seit  1861  bestehende  Praxis  des  tacking  berufen,  die  Unionisten 
dagegen  geltend  machen,  daß  das  Recht,  Finanzgesetze  im  ganzen  anzu- 
nehmen oder  abzulehnen,  tatsächlich  bis  dahin  von  den  Lords  niemals  auf- 
gegeben war.  Nunmehr  trat  für  den  Rest  des  Finanzjahres,  das  schon  nahe- 
zu 4  Monate  länger,  als  es  sonst  der  Fall  zu  sein  pflegt,  ohne  budgetrechtliche 
Unterlage  geblieben  war,  ein  budgetloser  Zustand  ein.  Das  Parlament, 
das  am  10.  Januar  1910  der  Auflösung  verfiel  und  Ende  Januar  durch  ein 
neues  ersetzt  wurde  ^),  hatte  die  Ausgaben  für  1909/10  genehmigt,  aber  die 
Einnahmen  durch  Steuern  nicht  beschafft  "0-  In  den  Public  General  Acta 
des  Jahres  1909  fehlt  der  finance  act.  Auf  Grund  der  Appropriationsakte 
vom  16.  August  1909  (Public  General  Acts  9  Edward  p.  15)  wurde,  in  Er- 
gänzung des  C.  F.  Act  vom  30.  März  1909  mit  rund  4874  Mill.  Pfund  Aus- 
gab ebe  willigung,  die  Treasury  zur  Verausgabung  von  rund  77  Mill.  Pfund 
aus  dem  Consolidated  Fund  und  zur  Bestreitung  unvorhergesehener  Ausgaben 
für  die  Heeres-  und  Flottenverwaltung  aus  Überschüssen  und  Ersparnissen 
ermächtigt,   letzteres    mit   der  Begründung,    daß  es  im  öffentlichen  Interesse 


')  Hierzu  Zeitschrift  für  Politik  1910  Bd.  3.  C.  Grant  Robert- 
son, Die  allgemeinen  Wahlen  in  Großbritannien   im    Jahre  1910.     p.  567  ff. 

^)  Vgl.  Thronrede  bei  der  Vertagung  des  Parlaments  am  3.  Dezember 
1909  bis  10.  Januar  1910 :  der  König  dankt  für  die  Sorge  und  Freigebigkeit, 
die  das  Unterhaus  für  nationale  Ausgaben  an  den  Tag  gelegt  habe,  bedauert 
aber,  daß  die  dahin  gerichteten  Maßnahmen  fruchtlos  geblieben  seien. 


Blum,  Budgetreclit  und  Finanzpraxis.  359 

nicht  angängig  sei,  die  Eegelung  hinauszuschieben,  „until  provision  can  be 
made  for  it  by  ParHament  in  the  ueual  course".  Nur  von  den  Ein- 
nahmen durch  Steuern  spricht  die  Thronrede  Eduards  VII.  vom  21,  Fe- 
bruar 1910,  und  tatsächlich  wurden  auch  vom  Zollamt  die  früheren  Zölle 
auf  Tabak,  Rum  usw.  weiter  erhoben.  (Die  Kaufleute  verpflichteten  sich  zu 
späterer  Nachzahlung  der  auf  Grund  der  Sätze  des  neuen  Budgets  sich  er- 
gebenden höheren  Abgaben.  Für  die  „nichtbeschafften  Einnahmen  durch 
Steuern"  wurde,  wie  die  Thronrede  besagte,  in  einer  zeitweiligen  Anleihe 
Ersatz  gefunden  ')• 

Trotz  äußerster  Dringlichkeit  der  Verabschiedung  der  Finanzbill  für 
1909/10  erfolgte  die  Einbringung  des  Budgets  keineswegs  sogleich  oder  auch 
nur  alsbald  nach  der  Eröffnung  des  neuen  Parlaments  (am  21.  Februar  1910). 
Es  vergingen  vielmehr  nahezu  zwei  Monate  —  rund  3  Wochen  dieses  Zeit- 
raumes lagen  bereits  in  dem  neuen  Finanzjahr  1910/11)  —  bis  das  Budget 
für  1909/10  (am  19.  April  1910)  aufs  neue  dem  Unterhause  vorgelegt  wurde. 
Am  3.  März  hatte  der  Premierminister  erklärt,  daß  die  Resolutionen  gegen 
das  Oberhaus,  mit  denen  die  Regierung  stehe  und  falle,  im  Sinne  der 
Regierung  erledigt  sein  müßten,  bevor  an  die  Budgetberatung  herangegangen 
werden  könne,  und  danach  wurde,  der  Proteste  der  Opposition  ungeachtet, 
verfahren.  Die  letzte  der  drei  Veto-Resolutionen  gelangte  am  14.  April  zur 
Annahme.  Wie  der  Schatzkanzler  in  seinem  Finanzexpose  am  19.  April  erklärte, 
war  ein  tatsächliches  Defizit  von  rund  26V4  Millionen  Pfund  vorhanden. 
Während  der  Dauer  von  vier  Monaten,  so  führte  der  Schatzkanzler  bei  der- 
selben Gelegenheit  aus,  hätten  sich  die  Finanzen  des  Landes  in  einem  Zu- 
stande der  Verwirrung  befunden.  Doch  habe  die  Regierung  3  Millionen  aus 
den  Staatseinkünften  des  Jahres  zur  Verminderung  der  öffentlichen  Schuld 
verwendet  und  einen  Überschuß  von  2,9  Millionen  Pfund  erzielt,  der  beliebig 
verwendet  werden  könne;  er  glaube  nicht,  daß  irgend  ein  anderes 
Land  das  fertig  bekommen  hätte.  Der  gesamte  Staatsbedarf,  soweit 
er  über  den  Betrag  von  rund  500  Millionen  Mark  hinausging,  wurde  also 
durch  das  Nichtzustandekommen  des  Budgets  nicht  in  Frage  gestellt.  Bereits 
am  27.  April  wurde  das  Budget  im  Unterhause,  am  28.  April  im  Oberhause 
endgültig  verabschiedet.  Darauf  vertagte  sich  das  Parlament  bis  zum 
26.  Mai,  nahm  aber  —  der  Tod  König  Eduards  und  die  Krönung  Georgs  V. 
waren  dazwischen  getreten  —  die  ordentlichen  Verhandlungen  erst  am 
7.  Juni  wieder  auf.  Am  29.  Juli  vertagte  sich  das  Parlament  bis  zum 
15.  November.  Inzwischen  waren  die  sogenannten  Vetokonferenzen  nach 
mehrmonatiger  Dauer  als  ergebnislos  abgebrochen  worden.  Am  30.  Juni 
hatte  der  Schatzsekretär  Lloyd  George  bei  Einbringung  des  neuen  Budgets 
für  1910/11,  einer  fast  genauen  Wiederholung  des  vorjährigen,  im  Unterhause 
erklärt:  Die  Ablehnung  des  Budgets  durch  das  Oberhaus  im  Jahre  1909  habe 
die  Finanzlage  des  Vorjahres  sowie  das  gegenwärtige  Budget  ungünstig  be- 
einflußt, die  größten  Schwierigkeiten  seien  entstanden  durch  den  Aufschub, 
den  die  Erhebung  gewisser  Steuern  erlitten  haben ^).  Also  auch  hier 
die  indirekte  Bestätigung,    daß   nur    „gewisse  Steuern"    infolge   des 


0  „Da  für  die  vom  letzten  Parlament  genehmigten  Ausgaben  die  Ein- 
nahmen nicht  dm-ch  Steuern  beschafft  worden  sind,  hat  man  unter  Zu- 
stimmung des  Parlaments  zu  einer  zeitweiligen  Anleihe  seine  Zuflucht  nehmen 
müssen."     Schultheß,  Europ.  Geschichtskalender  26.  Jahrgang  1910  p.  500. 

^)  Wippermann,  Geschichtskalender  1910  Bd.  I,  p.  263. 


360  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Budgetkonflikts  ausgefallen  sind.  Die  Budgetverhandlungen  wurden 
wieder  mit  der  Entscheidung  über  die  Verfassungsfrage  ver- 
knüpft, die  Erledigung  beider  Angelegenheiten  auf  die  Herbstsession  1910 
verschoben.  Am  18.  November  machte  der  Premierminister  mit  Rücksicht 
auf  die  nahe  Auflösung  des  Parlaments  und  die  bevorstehenden  allgemeinen 
Wahlen  den  Vorschlag,  nur  die  wesentlichen  Teile  des  Budgets,  den 
Teezoll,  die  Einkommensteuer  und  den  Amorisationsfonds,  zu  erledigen.  Am 
23.  November,  fünf  Tage  vor  der  Auflösung  des  Parlaments,  erfolgte  die 
Annahme  der  Finanzbill  in  dritter  Lesung.  Der  Rest  des  Budgets  für  das 
Finanzjahr  1910/11  wurde  erst  Ende  März  1911,  in  dem  Revenue  Act  1911, 
erledigt.  Das  Budget  für  1911/12  wurde  am  16,  Mai  1911  von  dem 
Schatzkanzler  eingebracht.  Am  10.  August  vertagte  sich  das  Parlament  bis 
zum  24.  Oktober.  Im  November  waren  die  Budgetberatungen  noch  nicht 
bis  zur  zweiten  Lesung  gediehen  ^).  Dies  der  äußere  Verlauf  der  Budget- 
verhandlungen und  Budgetkämpfe  in  den  letzten  Jahren^).  ^ 

Danach  dürfte  unweigerlich  feststehen,  daß  das  enghsche 
Parlament  ein  völlig  schrankenloses  Budgetrecht  mit  allen  sich 
daraus  ergebenden  Konsequenzen  auch  heute  noch  nicht 
besitzt  und  daß  die  von  Redhch  und  anderen  vertretene  Auf- 
fassung, erst  durch  die  Appropriationsakte  gebe  das  Unterhaus 
endgültig  der  ganzen  Staatswirtschaft  die  rechtliche  und  finanzielle 
Basis  für  die  Dauer  des  folgenden  Jahres,  in  den  tatsächlichen 
Verhältnissen  keinerlei  Stütze  findet.  Die  dem  consoUdated 
fund  auf  Grund  früherer  Gesetze  zugewiesenen  Einnahmen  und 
ebenso  die  auf  diesen  Fonds  gleichfalls  durch  frühere  Akte 
der  Gesetzgebung  angewiesenen  Ausgaben  bilden  das  konstante 
Budget,  das  der  parlamentarischen  Bewilligung  nur  noch  formell 
untersteht  und  der  willkürlichen  Disposition  seitens  des  Par- 
laments entzogen  ist,  um  in  kritischen  Zeiten  die  Staatswirt- 
schaft sicher  zu  stellen  und  für  den  notwendigsten  Staatsbedarf 
hinreichende  Deckung  zur  Hand  zu  haben.  In  der  weitgehenden 
Selbstbeschränkung,  die  das  englische  Unterhaus  damit  voll- 
zogen hat,  liegt  ebensoviel  politische  Einsicht  wie 
Zweckmäßigkeit.  Es  offenbart  sich  darin  die  Erkenntnis 
der  Gefahren,  die  das  Staatswesen  bei  einer  Überspannung 
des  parlamentarischen  Regierungssystems  bedrohen. 
Wenn  durch  einen  vielleicht  absichthch  herbeigeführten  Budget- 
konflikt nicht  nur  die  jeweilige  Regierung  unter  den  Willen 
der  Parlamentsmehrheit  gezwungen,  sondern  auch,  um  mit 
Bismark  zu  reden,  das  ganze  Staatsleben  zum  Stillstand  gebracht 
werden  kann  —  ein  Ausspruch,  dem  Stourm  trotz  allem  Wider- 


0  Hazells  Annual   1912  p.  119,  364  ff. 
')  Vgl.  unten  p.  458  ff. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  361 

Spruch  gegen  die  „conclusions  violentes"  des  Kanzlers  nichts 
von  seiner  zwingenden  Logik  zu  nehmen  vermag  —  dann  wird 
eine  ihre  Verantworthchkeit  sich  hinreichend  bewußte  Volks- 
vertretung dafür  Sorge  tragen,  daß  die  Grundlagen  des  Staates 
auch  in  Zeiten  tiefster  Erschütterung  und  erbittertster  Partei- 
kämpfe den  nötigen  Schutz  und  Bestand  behalten.  Die  Finanzen, 
gegenwärtig  mehr  als  je  das  Rückgrat  des  Staates  und  ein 
ebenso  empfindlicher  wie  zuverlässiger  Gradmesser  seiner  Sicher- 
heit und  Angreifbarkeit  bedürfen  am  allerdringendsten  der 
Verankerung,  die  sie  davor  bewahrt,  in  das  Chaos  einer  politisch 
leidenschaftlich  bewegten  Zeit  hineingerissen  zu  werden.  Eine 
solche  Bürgschaft,  die  zugleich  ein  zuverlässiges 
Gegengewicht  gegen  die  Einflüsse  demokratischer 
Entwicklung  darstellt  und,  einem  demokratischen 
Wahlrecht  zum  Trotz,  die  staatliche  Existenz  und 
Bewegungsfreiheit  mit  hinreichenden  Kautelen  um- 
gibt, hat  sich  England,  abgesehen  von  anderen  mit  der  gleichen 
Absicht  und  der  gleichen  Wirkung  geschaffenen  Einrichtungen, 
in  seinem  konstanten,  von  dem  Wechsel  der  parlamentarischen 
Mehrheiten  und  Regierungen  unberührt  bleibenden  Budget  ge- 
schaffen. Der  Wert  einer  solchen  Einrichtung  ist  gerade  in 
neuester  Zeit  in  den  verschiedenen  Stadien,  die  die  englische 
Verfassungskrise  durchlaufen  hat,  in  die  Erscheinung  getreten ! 
Die  schweren  inneren  Kämpfe  der  letzten  Jahre,  die  Verwirrung 
und  Ungewißheit  im  Finanzwesen  infolge  des  Nichtzustande- 
kommens  des  Budgets  im  Jahre  1909,  die  schnelle  Aufeinander- 
folge der  Wahlbewegungen,  das  Scheitern  der  Veto-Konferenz, 
der  plötzliche  Thronwechsel  haben,  obwohl  die  äußere  Lage, 
1908  und  1909,  zeitweilig  recht  gespannt,  zum  mindesten  von 
Befürchtungen  nicht  frei  war,  die  Aktionskraft  und  Tatbereit- 
schaft der  Nation  —  ganz  zu  schweigen  von  dem  ruhigen 
Fortgang  des  geschäftlichen  und  öffentlichen  Lebens  im  Innern  — 
nicht  im  geringsten  beeinträchtigen  können,  weil  eben  die  all- 
gemein bekannte  Tatsache  der  absolut  sicheren 
Fundamentierung  der  Staatswirtschaft,  die  die  Er- 
füllung der  unerläßlichen  Staatsnotwendigkeiten  unter  allen  Um- 
ständen sicherstellt,  einen  Zweifel  an  der  unveränderten  Fort- 
dauer des  staatlichen  Gefüges  in  allen  seinen  Teilen  und  der 
in  ihm  geeinten  Kraft  und  Leistungsfähigkeit  nicht  im  mindesten 
aufkommen  ließ  und  ungeachtet  der  Unterbrechung  des  regel- 
mäßigen Flusses  der  Staatseinnahmequellen  den  Staatskredit 
Englands  auch  nicht  einen  Augenbhck  in  Mitleidenschaft  zog. 


362  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

In  Zukunft  1)  dürfte,  nachdem  das  Haus  der  Lords  als  Hemm- 
schuh demokratisch-radikaler  Tendenzen  und  Übergriffe  aus- 
geschaltet und  der  König  allein  als  diejenige  Instanz  übrig  ge- 
blieben ist,  auf  die  das  Unterhaus  bzw.  die  jeweilige  Regierung 
Rücksicht  nehmen  muß,  ohne  deren  Zustimmung  und  Mit- 
wirkung es  nichts  vermag,  neben  den  in  der  Prärogative 
der  Krone  enthaltenen  Kautelen  das  konstante  Bud- 
get als  sicherer  Grund  des  von  Finanzstürmen  bedrängten 
englischen   Staatsschiffes   noch   größere  Bedeutung  gewinnen  2). 

IL  Das  Budgetrecht  der  französischen  Republik. 

In  den  entscheidenden,  staatsrechtlich  grundlegenden 
Befugnissen  wesentlich  anders  geartet  ist  das  französische 
Budgetrecht.  Die  Entwicklung  der  verfassungsrechtlichen  Seite 
des  Budgets  fällt  in  die  Geburtsstunde  des  Verfassungsstaates; 


^)  Seit  dem  18,  August  1911,  dem  Tage  der  Erteilung  des  Royal 
Assent  (vgl.  p.  13d)  ist  das  budgetrechtliche  Verhältnis  zwischen 
Lords  und  Commons  durch  den  Parliament  Act  (Ch.  13,  1  u.  2.  Geo.  V) 
geregelt,  der  in  seinem  ersten  von  den  Finanzvorlagen  (Money  Bills)  handelnden 
Abschnitte  (nach  der  endgültigen,  von  der  in  Bd.  IV  p.  31  f.  abweichenden 
Fassung)  bestimmt:  1.  If  a  Money  Bill,  having  been  passed  by  the  House 
of  Commons,  and  sent  up  to  the  House  of  Lords  at  least  one  month  before 
the  end  of  the  session,  is  not  passed  by  the  House  of  Lords  without 
amendment  within  one  month  after  it  is  so  sent  up  to  that  House,  the  Bill 
shall,  unless  the  House  of  Commons  direct  to  the  contrary,  be  presented  to 
His  Maj  esty  and  become  an  Act  on  the  Royal  Assent  being  signified  notwith- 
standing  that  the  House  of  Lords  have  not  consented  to  the  Bill;  2.  A  Money 
Bill  means  a  Public  Bill  which  in  the  opinion  of  the  Speaker  of  the  House 
of  Commons  contains  only  provisions  dealing  with  all  or  any  of  the 
foUowing  subjects,  namely,  the  imposition,  repeal,  remission,  alteration,  or 
regulation  of  taxation ;  the  imposition  for  the  payment  of  debt  or  other 
financial  purposes  of  charges  on  the  Consolidated  Fund,  or  on  money 
provided  by  Parliament,  or  the  Variation  or  repeal  of  any  such  charges; 
supply ;  the  appropriation,  receipt,  custody,  issue  or  audit  of  accounts  of 
public  money;  the  raising  or  guarantee  of  any  loan  or  the  repayment 
thereof;  or  subordinate  matters  incidental  to  those  subjects  or  any  of  them. 
In  this  subsection  the  expressions  „taxation,"  „public  money,"  and  „loan" 
respectively  do  not  iuclude  any  taxation,  money,  or  loan  raised  by  local 
authorities  or  bodies  for  local  purposes;  3.  there  shall  be  endorsed  on  every 
Money  Bill  when  it  is  sent  up  to  the  House  of  Lords  and  when  it  is 
presented  to  His  Majesty  for  assent  the  certificate  of  the  Speaker  of 
the  House  of  Commons  signed  by  him  that  it  is  a  Money  Bill.  Before 
giving  his  certificate,  the  Speaker  shall  consult,  if  practicable,  two  members 
to  be  appointed  from  the  Chairman's  Panel  at  the  beginning  of  each  Session 
by  the  Committee  of  Selection. 

^)  s.  unten  p.  459  f. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  363 

sehr  viel  schneller  als  in  England  sind  in  Frankreich  die 
finanz-  und  steuerpolitischen  Normen  zur  Geltung  gelangt,  die 
das  budgetäre  System  befruchtet  und  durch  dessen  Rezeption 
in  verschiedenen  Ländern  Einfluß  gewonnen  haben,  und  zu- 
gleich ist  sehr  viel  entschiedener  als  in  dem  monarchischen 
England  die  volle  parlamentarische  Macht  auch  hin- 
sichtlich der  Budgetfeststellung  und  Budgetwirkung 
zur  Durchsetzung  gelangt.  In  der  französischen  Republik 
existiert  tatsächhch  das,  was  Hatschek  und  Redlich  als  un- 
eingeschränkte Macht  der  Volksvertretung  über  sämtliche 
Staatsgeschäfte  bezeichnen  und  dem  englischen  Unterhaus,  ohne 
jede  Berücksichtigung  der  in  der  Krone  und  im  Oberhause 
verkörperten  hemmenden  und  sichernden  Staatsgewalten,  zu- 
erkennen wollten. 

Die  nahezu  schrankenlose  Machtvollkommenheit  der  Kammern  in  Frank- 
reich ist  kurz  dahin  zu  präzisieren:  Für  jedwede  Ausgabe,  die  die  Führung 
der  Staatsgeschäfte,  der  Staatshaushalt  in  allen  seinen  Erscheinungen  und 
Bedürfnissen,  den  Dienst  der  Staatsschulden  nicht  ausgenommen,  mit  sich 
bringt,  kann  Zahlung  nur  kraft  des  jährlichen  Finanzgesetzes  geleistet  werden. 
Nach  dem  Grundgesetz  für  das  staatliche  Rechnungswesen  vom  31.  Mai  1862 
darf,  wenn  das  Budget  vor  dem  I.Januar,  dem  Beginn  des  Finanz- 
jahres, nicht  beschlossen  ist,  keine  Steuer  erhoben  und  keine 
Ausgabe  geleistet  werden.  Nicht  bloß  die  direkten  Steuern,  auch  die 
ihrer  Natur  nach  ständigen  indirekten  Steuern  müssen  alljährlich  neu  be- 
willigt werden.     Aber  noch  weit  mehr. 

Wenn  irgendwo,  so  hat  auf  dem  Gebiete  der  parlamen- 
tarischen Rivalitäten  das  Wort  l'appetit  vient  en  mangeant 
sich  bewahrheitet.  Allerdings  hat  der  politische  Egoismus  und 
Despotismus  nur  da  zu  voller  Kraßheit  sich  entfalten  können, 
wo  kein  Regulativ,  wie  es  in  dem  immer  komphzierter  werdenden 
sozialen  und  wirtschaftlichen  Aufbau  des  modernen  Staates 
allein  die  monarchische  Tradition  und  Institution  zu  geben 
vermag,  ihm  bestimmte  nur  schwer  übersteigliche  Schranken 
zieht.  So  ist  es  in  allen  Staaten,  die,  sei  es  durch  ihre  Ver- 
fassung, sei  es  durch  den  Selbstvollzug  der  staatlichen  Gewalten, 
die  parlamentarischen  Körperschaften,  vorwiegend  sogar  nur 
die  eine  der  beiden  Kammern  und  zwar  die  aus  den  allgemeinen 
Wahlen  hervorgegangene,  mit  einem  uneingeschränkten  Budget- 
recht  ausgestattet  haben,  nur  eine  Frage  der  Zeit  oder  Gelegen- 
heit, daß  sich  zwischen  Budgetrecht  und  Gesetzgebung  ein 
Verhältnis  herausbildet,  bei  dem  jenes  auf  Kosten  dieser  seine 
Herrschaft  zu  betätigen  und  zu  steigern  weiß.  In  Frankreich 
Hegen    nun    die  Dinge   so,    daß   die  Deputiertenkammer  durch 


364  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

einen  einfachen  Abstrich  bei  der  Budgetberatung,  vorausgesetzt, 
daß  er  durch  das  Finanzgesetz  bestätigt  wird,  jede  gesetzhche 
Vorschrift,  deren  Wirkung  oder  Geltung  aus  öffenthchen  Mitteln 
bestritten  wird,  faktisch  außer  Kraft  setzen  kann.  Das  ist 
jedenfalls  ein  charakteristisches  Merkmal  für  die  besondere 
Art  und  die  im  Vergleich  zu  den  englischen  Verhältnissen  — 
in  England  kann  die  Einhebung  der  ständigen  Abgaben  nur 
durch  besonderes  Gesetz  modifiziert  oder  sistiert  werden  — 
wesentlich  größere  Trag-  und  Reichweite,  aber  auch 
sehr  viel  größere  Verantwortlichkeit  des  französischen 
Budgetrechts. 

Kein  Wunder,  daß  es  in  Frankreich  selbst  an  Bedenken 
und  Protesten  gegen  diese  außerordentliche  Macht- 
fülle der  Kammern  nicht  fehlt!  Bemerkenswerter  Weise 
sind  es  gerade  die  angesehensten  finanzpolitischen  Schriftsteller 
Frankreichs,  die  in  diesem  stark  erweiterten  Votierungs-  und 
Budgetrecht  der  Deputiertenkammer  schwere  Gefahren  erblicken 
und  dem  englischen  System,  gerade  wegen  der  von  der  ge- 
wählten Kammer  selbst  vollzogenen  Beschränkung,  den  Vor- 
zug geben  und  das  Wort  reden  i). 

Die  Verwerfung  des  Budgets,  in  Frankreich  ein  legitimes 
Mittel,     müßte    die    Tätigkeit    der    anderen    Kammer 


^)  Leroy-Beaulieu  sagt  in  seinem  Traite  de  la  science  des  finances 
p.  88/89:  Un  pays  continental,  comme  la  France,  entoure  de  dangers,  ne 
peut  pas  abandonner  au  hasard  d'une  election  le  sort  des  Services 
essentiels.  Und  dann  eine  ungemein  treffende  allgemeine  Bemerknng:  „Dans 
un  pays  democratique  oii  regne  le  suffrage  universel,  oü  l'opinion  publique 
est  singulierement  mobile,  il  pourrait  arriver  que  des  majorites  passageres 
compromissent  gravement  la  destinee  du  pays  par  la  suppression  imprevoyante 
des  credits  pour  des  rouages  indispensables  de  la  vie  nationale.  On  nous  dira 
que  les  precautions  constitutionnelles  sont  des  freins  impuissants  quand  les 
pouvoirs  publics  sont  egares;  cela  n'est  vrai  que  dans  une  certaine  mesure: 
l'egarement,  en  effet,  peut  n'etre  pas  de  longue  duree;  l'empecher  de 
produire  des  effets  immediats  en  desorganisant  des  Services  essentiels,  c'est 
venir  en  aide  ä  la  stabilite  nationale  et  aux  institutions  liberales. 
n  est,  d'ailleurs,  manifester  que  si  la  Cliambre  des  deputes  est  absolument 
maitresse  de  reduire  ou  de  supprimer  a  eile  seule  tous  les  credits,  la  Chambre 
haute  devient  presque  inutile:  au  moins  faut-il  que  celle-ci  soit  constituee 
gardienne  des  Services  essentiels  a  l'independance  et  ä  la  vitalite  nationales: 
or,  le  seul  moyen  d'atteindre  ce  resultat,  c'est  de  limiter,  par  les  lois 
constitutionnelles  le  pouvoir  absolu  de  la  Chambre  basse  en  ce  qui 
concerne  les  Services  vitaux.  L'exemple  de  l'Angleterre  pour  la  dette 
publique,  la  liste  civile,  les  pensions  et  les  traitements  diplomatiques,  les 
grandes  cours  de  justice,  justifierait  cette  disposition." 


B 1  u  m ,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  365 

illusorisch  und  schließlich  jede  staatliche  Aktion 
von  der  Entscheidung  einer  einzigen  Kammer  ab- 
hängig machen.  Aber  nicht  nur  das.  Im  Fall  des  Nicht- 
zustandekommens  oder  der  Ablehnung  des  Budgets  würde  das 
französische  Staats-  und  Wirtschaftsleben  in  seiner  Gesamtheit 
lahm  gelegt  sein  ^).  Es  träte  der  Zustand  ein,  dem  Bismarck 
in  der  Konfliktszeit  jede  Daseinsberechtigung  nicht  nur,  sondern 
auch  die  Daseinsmöglichkeit  abgesprochen  hat'-*).  Nicht  minder 
verhängnisvoll  und  unerträglich  wären  die  Folgen  eines  Zu- 
standes,  der  mangels  der  Genehmigung  des  Budgets  die  Ein- 
hebung der  Steuern,  Zölle  usw.  nicht  gestattete.  Ohne  das 
Finanzgesetz  keine  Zölle,  ohne  diese  kein  Schutz  der  heimischen 
Märkte  und  Industrien,  ohne  diesen  Schutz  keine  staatlichen 
Einkünfte,  keine  Verteidigungs-  und  Subsistenzmittel! 

Wenn  aber  die  Budgetverweigerung  nichts  anderes  be- 
deutet als  die  Revolutionierung  des  gesamten  Staatslebens  in 
allen  seinen  Grundlagen  und  Betätigungsgebieten,  so  muß  die 
Frage  gestellt  werden,  ob  einer  Körperschaft,  auf  deren 
Zusammensetzung  häufig  genug  bestimmte  äußere  Umstände, 
politische  Leidenschaften,  unkontrollierbareEinflüsse,  persönliche 
Interessen  und  zahllose  andere  Momente  wechselnder  Natur 
einwirken,  so  weitgehende  Machtbefugnisse  überantwortet 
werden  dürfen.  Die  praktische  Bedeutung  der  Angelegenheit 
ist  überaus  gering,  denn  tatsächlich  ist  ein  budgetloser  Zustand, 
der  ein  Unding  wäre,  sei  es  durch  den  Zwang  der  Verhältnisse, 
sei  es  durch  Nachgiebigkeit  auf  einer  der  beiden  Seiten,  noch 
immer  verhindert  worden;  in  anderen  Fällen  —  wenn  in 
monarchischen  Ländern  das  Ansehen  der  Krone  unter  allen 
Umständen  gewahrt  bleiben  mußte  —  hat  die  Regierung  auf 
Grund  eines  einseitig  festgestellten  Budgets  ^j  bzw.  Budget- 
provisoriums die  Geschäfte  geführt  oder,  wie  in  Preußen 
während  der  Konfliktszeit,  bestimmte,  im  Staatsinteresse  für 
unerläßlich  erkannte  Maßnahmen  durchgeführt  und  dann  später 

')  Stourm  (a.  a.  0.  p.  383  ff.)  schildert  das  höchst  anschaulich  und 
eindrucksvoll:  „Si  l'annee  s'ouvre  sans  que  le  bud<?et  ait  ete  vote.  les  rentiers 
ne  touchent  plus  leurs  rentes,  ni  les  pensionnaires  leurs  pensions;  les  four- 
nisseurs  frappent  en  vain  aux  guichets  du  Tresor,  les  fonctionnaires  ne 
regoivent  pas  leurs  salairs;  les  ecoles  sont  fermees;  Tarmee  est  privee  de  sa 
solde,  de  son  entretien  meme,  en  un  mot  tous  les  tributaires  de  I'Etat,  c'est 
ä  dire  ä  peu  pres  tout  le  monde  aujourd'hui,  se  trouve  atteint;  la  vie  du 
pays  s'arrete." 

')  Vgl.  p.  138. 

')  Nur  unter  Zustimmung  des  Herrenhauses. 


366  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Genehmigung  nachgesucht.  Wenn  aber  auf  der  einen  Seite 
die  budgetäre  Ermächtigung  zur  Bestreitung  der  Staatshaus- 
haltsausgaben auch  gegen  den  Willen  der  Kammer  stipuliert 
werden  kann,  unter  Umständen  mit  Rücksicht  auf  die  Staats- 
notwendigkeiten nach  Pflicht  und  Gewissen  stipuliert  werden 
muß  und  die  Kammern  das  Geschehene  schließlich  wohl  oder 
übel  sanktionieren  müssen,  wenn  auf  der  anderen  Seite  die 
Gewißheit  besteht,  mit  der  Ablehnung  des  Budgets  das  staats- 
wirtschaftliche Chaos  heraufzubeschwören,  dann  muß  das,  was 
angeblich  der  höchste  Triumph  eines  freiheitlichen,  schranken- 
losen Budgetrechts  sein  soll,  für  die  Praxis  als  belanglos 
erscheinen.  In  der  Theorie  mag  man,  wie  Stourm  es  tut, 
mit  dem  Argument  operieren,  daß  das  droit  d'autoriser  ohne 
sein  logisches  Gegenstück,  das  droit  de  ne  pas  autoriser,  un- 
verständhch  wäre.  Für  die  Praxis  steht  dieses  Recht  auf  dem 
Papier,  und  die  Drohung,  daß  das  Budget  bei  Nichterfüllung 
bestimmter  Forderungen  abgelehnt  werden  würde  —  noch 
unlängst  hat  sich  ein  Abgeordneter  der  Zentrumsfraktion  des 
Deutschen  Reichstages  in  öffentlicher  Versammlung,  wohl- 
weislich nicht  im  Reichstag,  zu  dieser  fürchterlichen  Drohung 
verstiegen  —  wird  von  niemand  mehr  ernst  genommen. 
Größte  Freiheit  berührt  sich  auch  in  diesem  Falle  mit 
größtem  Zwang;  jedenfalls  dürfte  erwiesen  sein,  daß  das 
Budgetrecht  auch  in  parlamentarisch  regierten  Ländern  tat- 
sächlich nicht  lücken-  und  schrankenlos  ist,  und  schon  aus 
diesem  Grunde  muß  der  Versuch,  das  Recht  der  Einnahme- 
und  Ausgabebewilligung  als  ein  Attribut  der  Souveränetät  in 
Anspruch  zu  nehmen,  —  ein  Versuch,  den  Leon  Say  (Journal 
des  döbats  27.  fevrier  1898)  mit  der  sarkastischen  Bemerkung 
zurückgewiesen  hat,  daß  dann  das  Streben  nach  der  Macht 
darin  bestehe,  den  einen  zugunsten  der  andern  Abgaben  auf- 
zuerlegen —  vollkommen  hinfälHg  erscheinen. 

Ein  solcher  Anspruch  ist  nur  da  denkbar,  wo  die  Staats- 
verfassung grundsätzlich  die  uneingeschränkte  Regierungshoheit 
der  parlamentarischen  Körperschaften  anerkennt  und  begründet. 
So  ist  es  denn  durchaus  folgerichtig,  wenn  Stourm  ^)  den  Satz 
aufstellt,  daß  die  Exekutive  rechtzeitig  dem  W^illen  der  Volks- 
vertretung Rechnung  tragen  müsse,  um  das  Recht  der  Budget- 


*)  „Le  pouvoir  executif  doit  s'incliner  h  temps  devant  la  volonte 
des  representants  du  pays,  afin  d'eviter  meme  qu  ce  droit  ait  besoin  de 
s'exercer." 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  367 

Verweigerung  nicht  faktisch  werden  zu  lassen.  Wiederum  muß 
man  fragen:  Was  ist  das  für  ein  Recht  und  wie  kann  man 
von  einer  Rechtshoheit  sprechen ,  wenn  mit  allen  Mitteln, 
selbst  unter  schonungsloser  Hinopferung  der  Re- 
gierungsautorität, unter  rücksichtsloser  Nichtach- 
tung der  regierungsseitigen  Verantwortlichkeit  und 
Sachkenntnis  verhindert  werden  soll  und  tatsäch- 
lich verhindert  wird,  daß  die  letzten  Konsequen- 
zen des  verfassungsmäßigen  und  gesetzlichen  Bud- 
getrechts gezogen  werden  können?  Re  vera  ist 
also  in  Frankreich  die  Budgetverweigerung  ein  actus  inanis. 
Denn  wenn  es  sich  darum  handelt,  ein  mißliebiges  oder  für 
einen  bestimmten  Zweck  nicht  brauchbares  Ministerium  zu  be- 
seitigen, gibt  es  dafür  so  viele  andere  wirksame  Mittel,  daß 
man  nicht  zu  der  Waffe  der  Budgetverweigerung  zu  greifen 
und  die  Gefahren  einer  völhgen  Staatsumwälzung  i)  heraufzu- 
beschwören braucht.  Das  jährliche  Gesamtbudget  und  die  darin 
liegende  Rechtsbefugnis  der  Kammern  ist  —  das  wird  auch 
von  überzeugten  Anhängern  des  parlamentarischen  Systems  aner- 
kannt —  ursprünglich  und  tatsächlich  ein  Zufallsgebilde,  ein 
Auskunftsmittel,  zu  dem  man  in  der  Not  der  Zeit,  sogar 
wider  bessere  Erkenntnis,  gegriffen  hat !  Erst  in  der 
Folge,  unter  der  Herrschaft  des  ,, ideal  parlementaire  de  nos 
jours",  von  dem  Leroy-Beaulieu  spricht  2),  ist  planmäßig  und 
zielbewußt  der  Gedanke  der  Volkssouveränetät  auch  mit  der 
Vorstellung  schrankenloser  Willkür  über  die  Staatseinnahmen 
und  Staatsausgaben  erfüllt  worden,  und  so  sehr  auch  die  Ein- 
sicht des  Gefährlichen  und  Widerspruchsvollen  eines  solchen 
Zustandes  gestiegen  ist  und  nach  Reformen  verlangt  hat,  das 
politische  Calcul  und  Machtbegehr  hat  sich  bisher  als  der  stärkere 
Faktor  erwiesen  und  alle  Besserungsvorschläge  a  limine  ver- 
worfen. Noch  glaubt  die  französische  Budgettechnik  und 
Finanzpolitik  auf  das  Recht  der  jährlichen  Festsetzung 
aller  Einnahmen  und  Ausgaben  nicht  verzichten  zu  können, 
in  der  Hauptsache,  weil  ohne  dieses  Recht  die  parlamentarische 
Regierung  von  der  Höhe  ihrer  gegenwärtigen  Machtfülle  herab- 
gedrängt werden  könnte.  Tatsächlich  erfolgt  ja,  wie  weiter 
unten  gezeigt  werden  wird,  eine  jährliche  Bewilligung  aller 
Einnahmen  und  Ausgaben  kaum  noch;  die  Supplementskredite 

')  „Refuser  le  budget,   savez-vous    ce  que  c'est,   Messieurs?   c'est  la  re- 
volution"  (Maurice  Rouvier  10,  Dezember 
')  a.  a.  0.  p.  34. 


368  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

und  die  provisorischen  Zwölftel  sind  in  Frankreich  zur  Regel 
geworden  und  schmälern  somit,  durch  die  eigene 
Schuld  seiner  Mitglieder,  das  Budgetrecht  des 
Parlaments^).  Gerade  diese  Erfahrungstatsache  müßte  stärker 
als  irgend  ein  anderes  Moment  zugunsten  einer  Differenzierung 
des  ßudgetinhalts  sprechen,  wenn  nicht  die  Interessen  und 
Bedürfnisse  der  republikanischen  Regierung  und  Volksvertretung 
aus  allgemeinen  politischen  Gründen  über  dieses  Gebot  der 
Vernunft  und  Zweckmäßigkeit  sich  hinwegsetzten. 

III.  Die  Rechts-  und   Finanzgrundlageu  im 
preußischen  Staatshaushalt. 

Im  Deutschen  Reiche  und  in  den  deutschen  Bundesstaaten, 
die  bis  auf  Mecklenburg  und  die  Hansestädte  konstitutionelle 
Monarchieen  sind,  muß  sich  schon  aus  diesem  Grunde  von 
den  Beziehungen  zwischen  Budget  einerseits  und  Volksvertretung 
und  Gesetzgebung  andererseits  ein  völlig  anderes  Bild  dar- 
bieten. Die  Preußische  Staatsverfassung  hat  aus  der 
belgischen  Verfassung  mehrere  wichtige  Bestimmungen  über 
das  Budget  sinngetreu  übernommen,  andere  nicht  minder 
wichtige  dem  eigenen  Bedürfnis  und  Verfassungszustand  ent- 
sprechend umgebildet. 

Nach  der  belgischen  Verfassung  von  1831  ist  jedes  Einnahmegesetz 
lex  annua.  Art.  111  bestimmt:  „les  impots  au  profit  de  1' Etat  sont  votes 
annuellement.  Les  lois  qui  les  etablissent  n'ont  de  force  que  pour  un  an, 
si  elles  ne  sont  renouvelees."  In  voller  Übereinstimmung  damit  und  logischer 
Fortführung  des  Grundgedankens  besagt  Art.  115:  „Chaque  annee,  les 
Chambres  arretent  la  loi  des  comptes  et  votent  le  budget.  Toutes  les 
recettes  et  depenses  de  l'Etat  doivent  etre  portees  au  budget  et  dans  les 
comptes."  Die  Preußische  Verfassung  hat  aus  Art.  111  den  ersten  Satz  und 
den  ganzen  Artikel  115  sinngemäß  übernommen.  Jenem  entspricht  Art.  99 : 
„Alle  Einnahmen  und  Ausgaben  des  Staates  müssen  für  jedes  Jahr  im  voraus 
veranschlagt  und  auf  den  Staatshaushaltsetat  gebracht  werden.  Letzterer 
wird  jährlich  durch  ein  Gesetz  festgesetzt."  Mit  Artikel  115  der  belgischen 
Verfassung  steht  im  Einklang  Artikel  100:  „Steuern  und  Abgaben  für  die 
Staatskasse  dürfen  nur,  soweit  sie  in  den  Staatshaushaltsetat  aufgenommen 
oder  durch  besondere  Gesetze  angeordnet  sind,  erhoben  werden."  Dagegen 
ist  der  Preußischen  Verfassung  die  Bestimmung,  daß  die  Gesetze,  auf  denen 


')  Im  Etatsjahre  1911  ist  das  Budget  erst  Anfang  September,  also 
reichlich  acht  Monate  nach  Beginn  des  Etatsjahres,  zur  Verabschiedung  ge- 
langt! In  diesen  acht  Monaten  haben  sich  also  Staatsbedarf  und  Staatshaus- 
halt wohl  oder  übel  und  unbeschadet  etwaiger  Mehr-  oder  Minderbedürfnisse 
mit  aufs  Geratewohl  bewilligten  öffentlichen  Mitteln  behelfen  müssen. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  369 

die  Staatseinnahmen  beruhen,  nur  für  1  Jahr  in  Kraft  bleiben  sollen,  falls 
sie  nicht  ausdrücklich  erneuert  werden,  nicht  nur  fremd,  sondern  sie  enthält 
im  Gegenteil  in  Artikel  109  die  von  dem  französisch-belgischen 
Rechte  grundsätzlich  abweichende  Bestimmung:  „Die  be- 
stehenden Steuern  und  Abgaben  werden  forterhoben  ....  bis  sie  durch  ein 
Gesetz  abgeändert  werden." 

Wie  alle  anderen  Interessengebiete  und  Aufgabenkreise 
von  größerer  Tragweite  und  Dauer  sind  die  Staatsfinanzen 
Gegenstand  der  Gesetzgebung.  Ein  Gesetzentwurf  ist  der  Staats- 
haushaltungsplan, den  der  Finanzmiuister  alljährlich,  gewöhnlich 
im  zehnten  Monat  des  vorausgehenden  Etatsjahres,  dem  Ab- 
geordnetenhause vorlegt,  ein  Gesetzentwurf  ist  der  Etat  in 
der  Fassung,  die  er  in  den  Verhandlungen  im  Plenum  und  in 
Kommissionen  des  Landtags  erhält;  wie  jeder  andere  Gesetz- 
entwurf kann  er  angenommen  oder  abgelehnt  werden.  Wie  die 
Entstehungsgeschichte  und  die  Behandlungsart  teilt  er  auch 
das  Schicksal  anderer  Gesetze.  Wer  die  seit  langem  fest- 
begründete Machtstellung  des  mit  dem  Veto-Recht  ausgestatteten 
Finanzministers  in  Preußen  sich  vergegenwärtigt,  wer  nach 
Gebühr  würdigt,  daß  bestimmte  etatsrechtliche  Grundsätze  ge- 
setzhch  fixiert  sind  (Komptabihtätsgesetz),  wer  die  Bemühungen 
um  Hebung  des  Einflusses  des  Schatzsekretärs  im  Reiche  ver- 
folgt^), wer  daran  denkt,  wie  an  den  Etatsentwm-f  bei  der 
ersten  Lesung  die  allgemeine  Aussprache  über  politische  Tages- 
fragen und  Tagesinteressen  anknüpft  und  wie  noch  kurz  vor 
dem  Ende  des  Rechnungjahres,  wiederum  in  Verbindung 
mit  bestimmten  Ressortetats,  über  die  wichtigsten  Angelegen- 
heiten der  inneren  und  äußeren  Politik  amtliche  Erklärungen 
verlangt  und  gegeben  zu  werden  pflegen  —  um  nur  diese 
wenigen  Momente  anzuführen  und  von  dem  Budget  als  Träger 
parlamentarischer  Macht  und  als  Werkzeug  republikanischer 
Regierungsform,  von  dem  Budget  als  integrierendem  Bestandteil 
des  gesamten  Staats-  und  Wirtschaftslebens  ganz  zu  schweigen  — 
kann  die  Folgen  und  Gefahren  eines  ernsten  Budgetkonflikts 
unmöglich  auf  die  leichte  Achsel  nehmen  oder  das  Budget, 
wie  es  auch  geschehen  ist,  mit  einem  herzlich  unbedeutenden 
Verwaltungsgeschäft  identifizieren . 


^)  Im  Eechnungsjahr  1911  hat,  was  vordem  nicht  dagewesen,  der  Reichs- 
schatzsekretär, allerdings  gestützt  durch  den  Reichskanzler,  beträchtliche 
Abstriche  im  Heeres-  und  Flottenetat  gegen  den  Widerspruch  der  zustän- 
digen Ressortminister  durchgesetzt;  cf.  Königsberg  -  Hartungsche  Zeitung, 
1.  Febr.  1912. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  24 


370  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Aber  weil  das  nicht  angeht,  in  jedem  neuen  Jahre  weniger 
als  jemals  zuvor,  weil  das  Budget  sozusagen  der  Rechtsboden 
ist,  auf  dem  die  Volksvertretungen,  auch  in  den  monarchisch 
regierten  Ländern,  ihre  Existenzberechtigung  erweisen  und 
wachsende  Machtansprüche  durchsetzen  wollen,  muß  die  Staats- 
und Finanzwirtschaft  mit  ausreichenden  Kautelen  gegen  zu 
weitgehende  Einflüsse  dieser  Art  sichergestellt  werden.  Das  ist 
in  Preußen  geschehen.  Wenn  nach  Artikel  109  der  Verfassung 
die  bestehenden  Steuern  und  Abgaben  forterhoben  werden, 
bis  sie  durch  ein  Gesetz  abgeändert  werden,  so  bedarf  es 
selbstverständlich  nicht  des  Budgetgesetzes,  um  die  Steuer-  und 
Abgabepflicht  zu  begründen  und  den  Vollzug  der  per- 
manenten Steuer-  und  Abgabegesetze  zu  rechtfertigen. 
Durch  diese  Bestimmung  wird  zunächst  der  materielle  Inhalt 
des  Budgetgesetzes  sehr  erheblich  eingeschränkt;  denn  der 
weitaus  größte  Teil  der  Staatseinnahmen  rührt  aus  ständigen 
Steuern,  Zöllen  usw.  her,  die  ihre  gesetzliche  Grundlage  in  be- 
sonderen Gesetzen  haben.  Dazu  kommt,  daß  in  Preußen 
—  ähnlich  auch  in  Bayern  —  sogenannte  ,, mittelbare  Staats- 
fonds" oder  ,, Staatsnebenfonds,"  besonders  zahlreich  bei  der 
Unterrichtsverwaltung  und  der  Verwaltung  des  Innern  bestehen, 
die  nur  zum  Teil  im  Etat  berücksichtigt  sind,  daß  ferner  der 
durch  Gesetz  vom  17.  Jan.  1820  auf  die  „Kronfideikommißrente" 
angewiesene  Teil  der  Zivifliste  im  Hauptetat  vorweggenommen, 
unter  den  Ausgaben  nicht  eingestellt,  also  der  Bewilhgung  ent- 
zogen ist.  Endhch  darf  nicht  außer  acht  gelassen  werden,  — 
worauf  in  einem  späteren  Abschnitt  zurückzukommen  sein  wird  — 
daß  die  Reichsgesetzgebung,  die  der  Landesgesetzgebung 
vorangeht  1),  wichtige  staatliche  Aufgaben  und  Wirkungskreise 
der  bundesstaatlichen  Legislative  entzogen,  gleichzeitig  aber, 
so  in  der  Bemessung  der  Matrikularbeiträge,  in  der  reichs- 
gesetzlichen Regelung  des  Etats  des  Reichsheeres  —  mittelbar 
auch  für  Bayern  trotz  dessen  Sonderstellung  in  dieser  Hinsicht  — 
tiefe  Eingriffe  in  die  finanziefle  Selbständigkeit  der  GHedstaaten 
des  Reiches  sich  vorbehalten  hat.  Auf  der  anderen  Seite  besteht 
auch  hinsichthch  der  bundesstaatlichen  Einnahmen  nach  wie 
vor  in  gewissem  allerdings  eingeschränktem  Umfange  eine  Ab- 
hängigkeit vom  Reiche;   man   denke   nur  an  das  Aufkommen 


^)  über  den  Weg  zur  Durchsetzung  reichsgesetzlicher  Vorschriften 
gegenüber  widerstrebenden  Bundesstaaten  vergl.  Rede  des  Staatssekretärs 
Delbrück  Sten.  Ber.  des  Reichstages  XII.  Leg.-P.  H.  Session  1909/11  (Sitzung 
vom  18.  Oktober  1911),  p.  7404. 


Blum,  Bndofetrecht  und  Finanzpraxis.  371 

aus  der  Überweisungssteuer  oder  an  die  Beteiligung  der  Einzel- 
staaten an  den  Erträgen  der  Reichserbschaftssteuer.  Dement- 
sprechend ist  in  den  deutschen  Bundesstaaten  das  Budgetrecht 
der  Volksvertretungen  tatsächlich  stark  eingeschränkt  und  ge- 
mindert. 

Bei  alledem  bandelt  es  sich,  wie  schon  kurz  angedeutet,  bei  den  Staats- 
Einnabmen  und  -Ausgaben  in  Preußen,  die  ohne  die  Genehmigung  durch  die 
Kammern  der  rechtlichen  Grundlage  entbehrten,  nur  noch  um  verhältnis- 
mäßig geringfügige  Summen,  Nach  dem  Netto-Voranschlag  der  Staats- 
Einnahmen  und  -Ausgaben  für  1911/12  sind  bei  einem  Gesamtbedarf  von 
833,6  Mill.  nicht  weniger  als  737,8  Mill.,  also  nahezu  90%  durch  ständige, 
auf  Gesetzen  beruhende,  also  der  Bewilligung  nicht  mehr  unterliegende 
Einnahmen  gedeckt;  davon  entfallen  rund  380  Mill.  auf  die  direkten 
Steuern,  337  Mill.  auf  die  Betriebsverwaltungen  (darunter  Domänen  und 
Forsten  mit  83  Mill.,  abzüglich  7,7  Mill.  Ki-onfideikommißrente)  und  Eisen- 
bahnen mit  220  Mill.  (abzüglich  32,5  Mill.  zur  Verstärkung  des  Ausgleichs- 
fonds) und  21,3  Mill.  auf  die  sonstigen  Einnahmen.  Bei  den  Reinerträgen 
der  Zölle  und  indirekten  Steuern,  die  mit  66,8  Mill.  erscheinen,  handelt  es 
sich  gleichfalls  zu  einem  erheblichen  Teil  um  eigene,  fortlaufende,  gesetzlich 
festgelegte  Einnahmen,  denn  im  Etat  der  Verwaltung  der  Zölle  und  in- 
direkten Steuern  sind  „Einnahmen  für  alleinige  Eechnung  Preußens"  zum 
Gesamtbetrage  von  69,1  Mll.  ausgeworfen,  davon  allein  65,5  I^lill.  aus  der 
Stempelsteuer.  Die  Höhe  der  Erhebungskosten,  mithin  auch  die  reine  Höhe 
des  Überschusses  ist  aus  dem  Etat  nicht  ersichtlich.  Immerhin  wird  mit 
einem  sehr  beträchtlichen  Reinertrag  gerechnet  werden  dürfen;  um  diesen 
erhöht  sich  die  ständige,  der  Bewilligung  entzogene  Gesamteinnahme,  die 
damit  auf  weit  über  90  Vq  steigt.  Auch  die  Staatsausgaben  unterliegen  nicht 
entfernt  in  ganzer  Höhe  der  Bewilligung,  Ausgenommen  sind,  ungerechnet 
den  Anteil  der  Eisenbahnverwaltung  an  der  Staatsschuld,  Verzinsung  und 
Tügung  der  Staatsschuld  mit  92,5  Mill.,  Kosten  des  Landtags  mit  2,1  Mill., 
Matrikularbeiträge  mit  31,3  Mill.  Auch  die  übrigen  Ausgaben  sind,  was 
weiter  unter  des  näheren  dargelegt  werden  soll,  zum  weitaus  größten  Teil 
von  solcher  Art,  daß  sie  bewilligt  werden  müssen.  Bliebe  aber  die  Ge- 
nehmigung einmal  aus,  so  träte  keineswegs  ein  budgetloser  Zustand  ein ;  das 
verhindert  Artikel  109.  Demgemäß  hätte  auch  der  Landtag  sich  damit 
abzufinden,  wenn  die  Regierung  notgedrungen  die  Staats  Wirtschaft  einmal 
auf  Grund  eines  Budgets  führte,  dem  die  gewählte  Kammer  nicht  zugestimmt 
hat^.  Nach  Artikel  108  beschwören  die  Mitglieder  der  beiden  Kammern 
die  gewissenhafte  Beobachtung  der  Verfassung,  sie  verpflichten  sich  also 
eidlich  auch  zur  Anerkennung  der  in  den  Artikeln  99—104  der  Verfassung 
enthaltenen  Vorschriften.  Endlich  sind  in  der  Freiheit  der  Königlichen 
Entschließung  und  in  der  Mitwirkung  des  Königs  an  der  Gesetzgebung 
wertvolle  Garantien  zur  Sicherung  der  Staatswirtschaft  gegeben.  Nach 
Artikel  62  der  Verfassung  ist  zu  jedem  Gesetze  erforderlich  die  Überein- 
stimmung des  Königs  und  beider  Kammern.    Dem  Könige  steht  ferner  (nach 

^)  In  den  Jahren  1862  und  1864  bildete  der  Regierungsentwurf  des 
Etatsgesetzes,  dem  nur  das  Herrenhaus  zugestimmt  hatte,  die  Unterlage  des 
Staatshaushalts.  Die  vom  Abgeordnetenhaus  vorgenommenen  Abänderungen 
blieben  unberücksichtigt. 

24* 


372  Blum,  Bud^etrecht  und  Finanzpraxis. 

Artikel  51)  das  Auflösungsrecht  gegenüber  der  Zweiten  Kammer  zu,  so  daß 
dieser  in  ihi'er  politischen  Betätigung  eine  gewisse  Grenze  gezogen  ist,  die 
auch  bei  der  Gestaltung  des  Staatshaushalts  innegehalten  werden  muß.  Und 
dazu  kommt  schließlich  noch  das  verfassungsmäßige  Eecht  des 
Königs  zur  persönlichen  Leitung  der  Politik,  das  in  dem  Allerhöch- 
sten Erlaß  vom  4.  Januar  1882  ausdrücklich  für  Preußen  und  die  gesetzgebenden 
Körper  des  Reichs  proklamiert  wird.  Es  ist  schlechterdings  undenkljar,  daß  eine 
selbständige,  nach  Pflicht  und  Gewissen  im  Hinblick  auf  das  ideelle  oder 
materielle  Staatswohl  getroffene  Entschließung  des  Königs  von  Preußen 
zurückgenommen,  ignoriert  oder  negiert  wird,  weil  die  Kammern  widerstreben. 
Im  Abgeordnetenhause,  solange  über  dessen  Zusammensetzung  das  heutige 
Dreiklassenwahlrecht  entscheidet,  wird  in  solchen  Fällen  durch  die  Auflösung 
und  Neuwahlen,  im  Herrenhause  durch  das  Königliche  Berufungsrecht  eine 
dem  WiUen  des  Heri'schers  beitretende  Mehrheit  sichergestellt  werden  können. 

So  vereinigen  sich  in  Preußen  Verfassungsinhalt,  Ver- 
fassungseid, monarchische  Tradition  und  Autorität  der  Krone, 
um  auch  im  Falle  eines  akuten  Budgetkonfliktes  die  regelmäßige 
Erledigung  der  Staatspflichten  und  Staatsgeschäfte  zu  verbürgen. 
Genau  in  demselben  Maße  und  durch  dieselben  Faktoren  ist 
aber  auch  das  Budgetrecht  des  preußischen  Landtages  gebunden, 
und  in  bestimmter  festbegrenzter  Richtung  festgelegt.  Unter 
der  frischen,  z.  T.  unmittelbaren  Nachwirkung  der  Ereignisse 
von  1848  entstanden,  verleugnet  die  preußische  Staatsverfassung 
auch  in  dem  von  den  Finanzen  handelnden  Abschnitt  das 
Milieu  nicht,  aus  dem  sie  hervorgegangen:  es  sollte  einem 
etwaigen  Versuche,  das  Budget  als  politische  Waffe  zu  miß- 
brauchen, ein  Riegel  vorgeschoben  werden.  Hat  sich  diese 
Absicht  auch  nicht  lückenlos  verwirklichen  lassen,  so  ist  doch 
soviel  erreicht,  daß  die  Fortdauer  der  Staatswirtschaft,  die 
Kontinuität  der  Wechselwirkung  zwischen  Staats- 
zweck und  Staatsleistung  durch  einen  Budgetkonflikt 
nicht  im  mindesten  unterbrochen,  die  Existenz  des 
Staates  nicht  im  entferntesten  in  Frage  gestellt 
werden  kann,  weil  ihm  im  Falle  der  Not  auch  ohne  aus- 
drückliche Genehmigung  seitens  der  Kammern  ausreichende 
Existenzmittel  zur  Verfügung  stehen.  / 

In  Preußen  sind  sich  Regierung  und  Volksvertretung 
stets  in  der  Überzeugung  einig  gewesen,  daß  die  Sache  über 
die  Form  gestellt  und  die  von  den  Vorfahren  überkommene, 
sozusagen  sprichwörtlich  gewordene  Solidität  und  pein- 
liche Ordnung  der  preußischen  Finanzen  unter  allen 
Umständen  erhalten  werden  müsse.  Das  ist  auch  erreicht 
worden.  Ein  solches  dauerndes  Einvernehmen  aber,  ein 
solcher   in    der   ganzen   Welt   anerkannter  Erfolg   wäre    sicher 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  373 

nicht  möglich  gewesen,  wenn  den  preußischen  Kammern  ein 
schrankenloses  Budgetrecht  zur  Verfügung  und  eine  schwache 
Finanzverwaltung  gegenübergestanden  hätte.  In  der  preußi- 
schen Verfassung  mag  manches  enthalten  sein,  das  angesichts 
der  modernen  Zeit  und  ihrer  Anforderungen  die  Daseins- 
berechtigung verloren  hat.  Aber  nur  Unverstand  oder  Un- 
ehrlichkeit werden  bestreiten  können,  daß  die  Verfassung 
vom  31.  Januar  1850,  gleichsam  die  Folgen  voraus- 
ahnend, die  die  Erweiterung  der  Eigenwirtschaft  des 
Staates  (Eisenbahn- Verstaatlichung)  und  der  Eintritt  in 
den  bundesstaatlichen  Organismus  für  die  preußischen 
Finanzen  nach  sich  ziehen  würde,  dem  preußischen 
Staate  das  auf  den  Weg  mitgegeben  hat,  was  er  unter 
solchen  Umständen  an  Kautelen  und  Bürgschaften 
nötig  hatte. 

IV.  Die  Budgetverhältnisse  in  Bayern. 

In  Bayern  ist  das  Prinzip  der  völligen  Unabhängigkeit 
der  staatlichen  Existenz  von  budgetären  Machtfragen  und  par- 
lamentarischen Machtfaktoren  noch  schärfer  zum  Ausdruck 
gebracht.  Das  Budget  erscheint  als  Anlage  des  nur  die  Steuer- 
bewilligung enthaltenden  Finanzgesetzes;  das  bayerische  Budget 
ist  überhaupt  nicht  Gesetz,  sondern,  wie  es  in  der  Verfassung 
heißt,  die  genaue  Übersicht  der  Staatsbedürfnisse  sowie  der 
gesamten  Staatseinnahmen.  Das  Budget  ist  danach  nichts  an- 
deres als  ein  gewöhnhcher  Wirtschaftsplan  und  inhaltlich  jeden- 
falls kein  Akt  der  Gesetzgebung.  Aber  weiter.  In  Bayern  — 
ähnüch  übrigens  auch  in  Sachsen^),  Württemberg,  Baden  und 
anderen  deutschen  Mittelstaaten,  deren  vor  1848  erlassene  Ver- 
fassungen einerseits  auf  den  älteren  ständischen  Verhältnissen 
fußen,  andererseits  von  der  französischen  Charte  von  1814  be- 
einflußt sind  —  ist  die  Feststellung  des  Etats  nicht  nur  materiell, 
sondern  auch  formell  ein  Akt  der  Verwaltung.  Das  dem 
bayerischen  Landtag  verfassungsmäßig  zustehende  Steuerbewilli- 
gungsrecht erstreckt  sich  nur  auf  die  direkten  Steuern,  die 
allerdings  die  Haupteinnahmequelle  des  bayerischen  Staates 
bilden,    und   auf  neue   oder   zu   erhöhende  indirekte    Steuern; 


')  über  das  Steuerbewilligungsrecht  in  Sachsen,  wo  der  König  die 
Budgetanträge  der  Stände  ablehnen  und  selbst  mittels  Verordnung  die  er- 
forderlichen Steuern  auf  ein  Jahr  ausschreiben  und  erheben  lassen  kann,  vgl. 
F.  V.  Schroeder,  Das  Budgetrecht  des  Königreichs  Sachsen,  Leipzig  1906, 
p.  27  ff.,  35  f.,  42  f.,  p.  93,  96. 


374  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

es  erstreckt  sich  nicht  auf  die  Einkünfte  aus  den  Staatsgütern 
und  andere  staathche  Einnahmequellen  wie  Gebühren,  Zölle  usw., 
ist  also  kein  unbedingtes  Einnahmebewilligungsrecht.  Das 
bringt  die  Sanktionsformel  des  Finanzgesetzes  klar  zum  Aus- 
druck, wenn  sie  nur  die  Zustimmung  der  Kammer  der  Reichs- 
räte und  der  Kammer  der  Abgeordneten  fordert  und  erwähnt, 
,, soviel  die  Erhebung  der  direkten  und  die  Veränderung  der 
indirekten  Steuern  betrifft".  Dazu  kommt  noch,  daß  die  Kam- 
mern zwar  über  die  Spezialetats  befinden,  die  zur  Bestreitung 
der  Ausgaben  des  bayerischen  Militäretats  dienen,  aber  dabei 
doch,  und  zwar  auf  Grund  des  Bündnisvertrages  vom  23.  No- 
vember 1870,  an  die  Etatsansätze  sich  halten  müssen,  die  bei 
den  übrigen  Kontingenten  im  Reichsetat  Aufnahme  gefunden 
haben.  Aber  auch  das  Steuerbewilligungsrecht  ist  insofern 
bestimmt  abgegrenzt,  als  die  Feststellung  des  Etats  nicht  benutzt 
werden  darf,  um  gesetzliche  Neuerungen  einzuführen,  die  an 
sich  mit  dem  Etat  nichts  zu  tun  haben  (Verbot  der  sog.  tackings). 
Auch  das  Recht  der  Zustimmung  zu  Veräußerungen  von  Staats- 
gütern und  das  Recht  der  Ermächtigung  zur  Aufnahme  von 
Staatsanleihen  kann  das  Einnahmebewilligungsrecht  nicht  zu 
einem  allgemeinen  machen;  immer  bleiben  erhebliche  Teile 
der  Staatseinnahmen  der  Einwirkung  seitens  der  Volksvertretung 
entzogen,  sind  also  als  permanente  Einnahmen  charakterisiert. 
Ein  korrespondierendes  fixes  Ausgabebudget  für  alle  gesetzUch 
notwendigen  Ausgaben,  wie  Ph.  Zorn,  Annalen  des  Deutschen 
Reiches  1889  p.  370  meint,  existiert  in  Bayern  ebensowenig 
wie  in  fast  allen  anderen  deutschen  Staaten;  in  den  meisten 
Verfassungsurkunden  fehlen  derartige  Bestimmungen.  Aber  es 
bedarf  derer  für  Bayern  sicherlich  nicht.  Die  ausdrückliche 
Charakterisierung  des  Budgets  als  Übersicht  der  Staatsbedürf- 
nisse und  Staatseinnahmen  begründet  einen  bewußten  und  ge- 
wollten Unterschied  gegenüber  den  Staatsgesetzen.  Das  Verbot 
der  ,, tackings"  spricht  deutlich  aus,  daß  der  jeweilige  Stand  der 
Gesetzgebung  von  den  Kammern  respektiert  werden  soll.  Die 
Gesetze,  auf  Grund  deren  staatliche  Ausgaben  zu  leisten  sind, 
bestehen  also  fort  und  müssen  ausgeführt  werden;  demnach 
wäre  eine  Nichtbewilligung  der  gesetzlich  festgelegten  Ausgaben 
ein  Unding  oder,  als  offene  Auflehnung  gegen  das  Staatsgrund- 
gesetz, Verfassungsbruch  ^).  Überdies  wären  Versuche  der  Art  von 


0  So  Finanzminister   von  Riedel  i.  J.  1882,  bei  E.  v.  Ziegler,   Die 
Praxis  des  bayerischen  Budgetrechts  p.  24;  auch  p.  26  und  passim. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  375 

vornherein  aussichtslos,  da  ohne  die  Zustimmung  und  Mitwirkung 
der  Krone  Gesetze  nicht  aufgehoben  oder  abgeändert  werden 
können  ^).  Vermuthch  ist  die  Summe  der  gesetzhch  festgelegten 
Ausgaben  beträchtlich  größer  als  die  Summe  des  aus  Staats- 
gütererträgen, Gebühren,  Zöllen,  ständigen  Steuern,  Erträgnissen 
des  Staatsvermögens  sich  zusammensetzenden  fixen  Einnahme- 
budgets. Für  den  überschießenden  Betrag  muß  Deckung  be- 
schafft werden,  —  auch  hier  ein  deutlicher  Anklang  an  den 
alten  Grundsatz  der  ständischen  Steuerpolitik,  daß  Steuern  in- 
soweit zu  erheben  sind,  als  der  Ertrag  des  Staatsvermögens 
und  der  indirekten  Staatseinkünfte  nicht  ausreicht  2).  So  sind 
in  der  bayerischen  Verfassung  imperative  und  prohibitive 
Vorschriften  in  hinreichender  Zahl  und  Wirkung  vor- 
handen, um  das  Staatsinteresse  und  die  Staatsexi- 
stenz gegen  budgetrechtliche  Angriffe  und  Eingriffe 
von  Seiten  der  Volksvertretung  sicherzustellen. 

V.  Das  Eeichsbudgetrecht. 

Die  deutsche  Reichsverfassung  ist  das  Kind  einer  anderen 
Zeit,  und  ganz  anders  waren  in  ihrer  Geburtsstuude  die  politi- 
schen Umstände  und  die  staatsmännischen  Auffassungen  als 
im  Geburtsjahr  der  unter  den  Nachwirkungen  von  1848  ent- 
standenen preußischen  Staatsverfassung.  Das  tritt  auch  in  dem 
Verfassungsabschnitt  über  die  Reichsfinanzen  klar  zu 
Tage:  er  verrät  deutliche  Anlehnung  an  das  französisch-bel- 
gische Vorbild,  andererseits  läßt  er  Sicherheitsvorschriften  ver- 
missen, wie  sie  als  Gegengewicht  gegen  zu  weitgehende  budget- 
rechtliche Freiheit,  Selbständigkeit  und  Machtvollkommenheit 
unbedingt  zu  fordern  sind. 

In  sinngetreuer  Übereinstimmung  mit  der  lex  annua  der  französischen 
und  der  belgischen  Staatsverfassung  bestimmt  Artikel  69  der  Eeichsverfassung: 
„Alle  Einnahmen  und  Ausgaben  des  Reichs  müssen  für  jedes  Jahr  ver- 
anschlagt und  auf  den  Reichshaushaltsetat  gebracht  werden.  Letzterer  wird 
vor  Beginn  des  Etatsjahres  nach  folgenden  Grundsätzen  durch  ein  Gesetz 
festgestellt,"  Auch  in  Preußen  müssen  alle  Einnahmen  und  Ausgaben  des 
Staats  auf  den  Staatshaushaltsetat  gebracht  werden,  wie  denn  Art.  69  der 
Reichsverfassung  dem  Ai-t.  99  der  preußischen  Staatsverfassung  nachgebildet 
ist.  Ebenso  stipulieren  beide  Verfassungen  den  Gesetzescharakter  des  Budgets 
und  stellen  letzteres  wie  jedes  andere  Gesetz  in  rechtliche  Abhängigkeit  von 

^)  Ähnlich  in  Sachsen,  dessen  Verfassung  (§  97)  ausdrücklich  von  einer 
Pflicht  zur  Deckung  des  Staatsbedarfs  spricht.  Vgl.  auch  §§  96  und  104 
der  sächsischen  Verfassung. 

')  Dazu  E.  V.  Ziegler  a.  a.  0.  p.  145  ff. 


376  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

den  gesetzgebenden  Faktoren,  —  dort  König  und  die  beiden  Kammern,  hier 
Bundesrat  und  Reichstag.  Aber  im  Reiche  begründet  die  Bestimmung,  daß 
der  Reichshaushaltsetat:  „vor  Beginn  des  Etatsjahres"  durch  ein  Gesetz  fest- 
gestellt werden  muß,  ein  neues  Moment  der  Abhängigkeit  der  Regierung 
und  eine  Erhöhung  des  Budgetrechts  des  Reichstages.  Erst  dadurch,  daß 
dieser  Zusatz  „vor  Beginn  des  Etatsjahres"  in  dem  grundlegenden  Artikel 
über  die  Reichsfinanzen  Aufnahme  gefimden  hat,  ist  die  Charakterisierung 
des  Reichshaushaltsetats  als  einer  lex  annua  vollendet  und  über 
jeden  Zweifel  festgestellt.  Indem  dieser  Zusatz  für  nötig  gehalten  wurde, 
obwohl  in  demselben  Art.  69  bereits  die  Aufstellung  des  Reichshaushaltsetats 
„für  jedes  Jahr"  angeordnet  wird,  sollte  klar  und  bestimmt  zum  Ausdruck 
gebracht  werden,  daß  ohne  rechtzeitiges  und  normales  Zustandekommen  des 
Reichshaushaltsetats  grundsätzlich  weder  Einnahinen  noch  Ausgaben  des 
Reichs  eine  rechtliche  Unterlage  haben.  Da  der  Reichshaushaltsetat  nach 
IDOsitiver  Verfassungsvorschrift  unweigerlich  Gesetz  ist  —  zweifelsohne  auch 
Gesetz  im  materiellen  Sinne,  weil  er  Verausgabungen  enthält  auf  Grund  von 
Gesetzen,  die  durch  Übereinstimmung  der  gesetzgebenden  Faktoren  zustande 
gekommen  .sind  und  deren  Wirkung  sich  nicht  selten  auf  weitere  Etats- 
perioden erstreckt  — ,  bliebe  das  Reich  ohne  Budget,  wenn  der  Etatsgesetz- 
entwurf durch  Mehrheitsbeschluß  des  Reichstages  oder  des  Bundesrats  ab- 
gelehnt würde  0-  Wie  zu  jedem  Reichsgesetz,  ist  auch  zum  Reichshaushalts- 
etat, wenn  er  Gesetz  werden  und  die  Reichswirtschaft  auf  legitime  Basis 
stellen  soll,  die  Übereinstimmung  der  Mehrheitsbeschlüsse  des  Bundesrats 
und  des  Reichstags  erforderlich  und  ausreichend.  (Art.  5.) 

Die  Charakterisierung  des  Reichshaushaltsetats  als  einer  lex  annua  ist 
auch  in  Art,  71  der  Reichsverfassung  festgehalten:  „Die  gemeinschaftlichen 
Ausgaben  werden  in  der  Regel  für  ein  Jahr  bewilligt,  können  jedoch  in 
besonderen  Fällen  auch  für  eine  längere  Dauer  bewilligt  werden."  Die  Regel 
ist  danach  die  Votierung  der  Ausgaben  auf  die  Dauer  eines  Jahres.  Eine 
Bestimmung,  die,  dem  Art.  71  entsprechend,  auch  den  Einnahmeertrag  bzw. 
die  Wirkung  der  Einnahmegesetze  auf  die  Dauer  eines  Jahres  beschränkte, 
ist  in  der  Reichsverfassung  —  abweichend  von  der  belgischen  Verfassung  — 
nicht  enthalten. 

Ein  allgemeines,  völlig  schrankenlos  auf  sämtliche  Steuern, 
Zölle,  Abgaben  und  sonstige  Reichseinnahmen  sich  erstrecken- 
des Einnahmebewilligungsrecht  ist  also  dem  Reichstage  nicht 
zugestanden.  Die  Einnahmegesetze  behalten  ihre  Wirkung, 
die  Einnahmen  aus  Gebühren,  Stempelsteuern,  Zöllen  und 
Verbrauchsteuern,  aus  den  Überschüssen  der  Reichseisenbahnen, 
dem  Reingewinn  der  Reichsbank  usw.  fließen  nach  Art.  38  RV. 
in  die  Reichskasse.  Die  entsprechenden  Ansätze  im  Etat  haben 
sekundäre  Bedeutung;    ihre  rechnungsmäßige  Unterlage  ist  die 

^)  Vgl.  den  Satz  Labands,  daß  das  Parlament  die  staatsrechtlich 
notwendigen  Ausgaben,  d.  h.  die  Mittel,  die  zur  Ableistung  rechtlich  finan- 
zieller Verpflichtungen  des  Staates  benötigt  werden,  bewilligen  müsse.  Bei 
E.V.  Ziegler,  Die  Praxis  des  bayerischen  Budgetrechts.  München  1905.  p.  19. 
Mit  Bezug  auf  die  Einschi-änkung  des  Budgetrechts  durch  Gesetz,  s.  Laband, 
Budgetrecht  p.  20  ff. 


Blum,  BudgetrecM  und  Finanzpraxis.         .  377 

Erfahrung  der  Vorjahre  und  die  jeweihge  Wirtschaftslage; 
sie  enthält  aber  keinerlei  Aktivlegitimation  zur  Instradierung 
des  Abgabevorganges;  dieser  beruht  auf  gesetzlicher  Ermächti- 
gung, die  vorher  oder  nebenher  ergangen  ist.  Ferner  bleibt 
zu  beachten :  im  Reiche  bestimmt  keine  dem  Artikel  109  der 
preußischen  Verfassung  analoge  Vorschrift,  daß  die  bestehen- 
den Steuern  und  Abgaben,  bis  ein  Gesetz  sie  abändert,  fort- 
erhoben werden,  und  der  Reichstag  kann  mit  der  Ab- 
lehnung des  Etatgesetzes  die  Zweckbestimmung  der 
Einnahmegesetze  für  die  praktische  Wirtschafts- 
führung aufheben.  Allerdings  sind  in  der  Verfassung  an 
anderer  Stelle  hinreichende  Kautelen  vorhanden,  die  als  Be- 
schränkung des  Budgetrechts  wirken  und  gegen  dessen 
Mißbrauch  schützen.  Solche  Beschränkungen  sind  in  der  Ver- 
fassung, in  den  finanzrechtlichen  Beziehungen  zwischen  Reich 
und  Einzelstaaten    und    in    der  Reichsgesetzgebung    enthalten. 

In  der  Verfassung  ist  ziinächst  (Art.  5  Abs.  2)  eine  Schutzwehr  auf- 
gerichtet —  über  die  der  Reichstag  nicht  hinweg  kann  und  die  ihn  auch  in 
finanzieller  Hinsicht  verpflichtet  —  zur  Aufrechterhaltung  der  bestehenden 
Einrichtungen  im  Militärwesen,  in  der  Kriegsmarine,  im  Zollwesen  und  in 
der  in  Artikel  35  RV.  genannten  Verbrauchsbesteuerung.  Jedes  Etatsgesetz 
bietet  die  Möglichkeit  einer  Abänderung  bestehender  Einrichtungen  zu 
mindesten  bei  den  Zöllen  und  Verbrauchsteuern.  In  solchen  Fällen  wüi-de 
der  Widerspruch  Preußens  genügen,  um  ein  solches  Etatsgesetz  zum  Scheitern 
zu  bringen.  Eine  gewisse  Einschränkung  enthält  auch  Art.  7  Abs.  4.  Nach 
Art.  58  sind  die  Kosten  und  Lasten  des  gesamten  Kriegswesens  des  Reichs 
von  allen  Bundesstaaten  und  ihren  Angehörigen  gleichmäßig  zu  tragen. 
Wie  alle  übrigen  Staaten  ist  danach  auch  Bayern,  das  hinsichtlich  seines 
Militäretats  auf  Grund  des  Bündnisvertrages  vom  23.  November  1870  eine 
Sonderstellung  einnimmt,  zur  Leistung  bestimmter  Ausgaben  für  Heereszwecke 
verpflichtet,  und  zwar  zu  Ausgaben  in  gleicher  Höhe  des  Geldbetrages,  der 
nach  Verhältnis  der  Kopfstärke  durch  den  Militäretat  des  Reichs  für  die 
übrigen  Teile  des  Reichsheeres  ausgesetzt  ist.  Hinsichtlich  der  Gesamtaus- 
gabe, der  sog.  bayerischen  Quote,  ist  Bayern  also  abhängig,  dagegen  hat 
es  volle  Freiheit  bei  der  Aufstellung  der  Spezialetats  seiner  Heeresverwaltung, 
wenn  auch  die  für  das  übrige  Reichsheer  in  den  einzelnen  Titeln  ausge- 
worfenen Etatsansätze  nach  Verhältnis  zur  Richtschnur  dienen  sollen.  (Im 
entschiedenen  Gegensatz  dazu  steht  für  die  übrigen  Kontingente  die  Auf- 
stellung der  Spezialetats  dem  Reiche  zu;  der  Reichshaushalt  enthält  also  die 
Spezialetats  für  Preußen,  Sachsen  und  Württemberg,  nicht  aber  die  für 
Bayern).  Eine  ähnliche  Ausnahmestellung  ist  Bayern  hinsichtlich  der  Rech- 
nungslegung durch  die  Schlußbestimmung  zum  XII.  Abschnitt  RV,  vor- 
behalten. Danach  ist  durch  die  jährliche  Rechnungslegung  nur  nachzuweisen, 
daß  die  Überweisung  der  erforderlichen  Summen  an  Bayern  erfolgt  ist. 
Weder  müssen  die  Einnahmen  und  Ausgaben  im  einzelnen  auf  den  Reichs- 
haushaltsetat gebracht,  noch  muß  über  die  Verwendung  der  einzelnen  Posten 
zur  Entlastung  jährlich  Rechnung   gelegt  werden,   wie  dies  in  Art.  69  und 


378  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

72  allgemein  bestimmt  ist.  Diese  Bestandteile  des  Reichshaushalts  sind  mit- 
hin dem  Ermessen  und  dem  unmittelbaren  Einfluß  des  Eeichstages  entzogen. 
Ebenso  sind,  nach  Art.  78  der  Reichsverfassung,  die  Sonderrechte  einzelner 
Bundesstaaten  in  deren  Verhältnis  zur  Gesamtheit  —  ohne  Zustimmung  des 
berechtigten  Bundesstaats  —  jedem  gesetzlichen  Eingriff,  also  auch  dem  des 
Etatsgesetzes  entzogen  ^). 

Dazu  kommen  positive  Verfassungsvorschriften  imd  zahlreiche 
Gesetzgebungsakte.  Art.  62  bestimmt  in  Abs.  3  und  4:  „Die  Veraus- 
gabung dieser  Summe  für  das  gesamte  Reichsheer  und  dessen  Einrichtungen 
wird  durch  das  Etatsgesetz  festgestellt.  Bei  der  Feststellung  des  Militär- 
Ausgabe-Etats  vrird  die  auf  Grundlage  dieser  Verfassung  gesetzlich  fest- 
stehende Organisation  des  Reichsheeres  zu  Grunde  gelegt."  Die  Summe  ist 
also  nicht  nur  vorhanden  (sie  muß  nach  Art.  62  Abs.  2  „zur  Reichskasse 
fortgezahlt  werden"),  sie  ist  nicht  nur  auf  einer  gesetzlichen  Grundlage  vor- 
handen, es  ist  auch  ein  bestimmter  Maßstab  für  die  Feststellung  dieses  Etats 
durch  die  Verfassung  vorgeschrieben. 

Auf  diesem  Gebiete  ist  also  das  Ausgaberecht  des 
Reichstages  gebunden  und  eine  Ausgabepflicht  sti- 
puliert.  Diese  in  dem  Hinweis  auf  die  gesetzlich  feststehende 
Organisation  von  Reichsinstitutionen  ausdrücklich  ausgespro- 
chene Beschränkung  des  AusgabebeMdlligungsrechts  findet  sich 
—  sehr  bezeichnend  und  sehr  wichtig !  —  nur  in  dem  Abschnitt 
der  Verfassung  über  das  Reichskriegswesen. 

Denn  auch  für  die  Marine  bestimmt  die  Verfassung  (in  Art.  53  Abs.  3): 
„Der  zui-  Gründung  und  Erhaltung  der  Kriegsflotte  und  der  damit  zusammen- 
hängenden Anstalten  erforderliche  Aufwand  wird  aus  der  Eeichskasse  be- 
stritten." Die  für  die  „Erhaltung  der  Kriegsflotte"  erforderlichen  Ausgaben 
müssen  gemacht,  die  dazi;  nötigen  Deckungsmittel  müssen  beschafft  werden. 
Der  Begriff  „Erhaltung  der  Ki-iegsflotte"  hat  sich  naturgemäß  seit  1871  er- 
heblich gewandelt.  Offenbar  sind  die  Neuforderungen  des  Flottengesetzes 
vom  14.  Juni  1900  nicht  mehr  als  im  Rahmen  der  „Erhaltung  der  Flotte" 
liegend  verstanden  worden,  denn  §  5  dieses  Gesetzes  bestimmt:  „Die  Bereit- 
stellung der  zur  Ausführung  dieses  Gesetzes  erforderlichen  Mittel  unterliegt 
der  jährlichen  Festsetzung  durch  den  Reichshaushaltsetat".  In  diesem  Falle 
hat  der  Gesetzgeber  einer  Konfliktsmöglichkeit  von  vornherein  den  Boden 
entzogen,  indem  er  in  das  Gesetz  selbst  die  Bestimmung  aufnahm,  daß  die 
nach  Maßgabe  des  Gesetzes  entstehenden  Ausgaben  jäkrlich  durch  das  Etats- 
gesetz bereitgestellt  werden  müssen. 

Wenn  somit  die  Ausgaben  für  die  Bedürfnisse  des  Reichs- 
kriegswesens zu  Wasser  und  zu  Lande  nach  Maßgabe  grund- 
und  reichsgesetzlicher  Vorschriften  geleistet  werden  müssen,  so 
ist  damit  das  Ausgabebewilligungsrecht  des  Bundes- 
rats  und   des  Reichstages  für  den  größten  Teil  des 


*)  „Kraft  letzterer  Anordnung  ist  eine  Tangierung  der  Reservatrechte 
auf  dem  Wege  der  Budgetbeschlüsse  als  verfassungswidrig  zu  betrachten," 
(Jellinek,  Art.  Budgetrecht  Hdw.  d.  St.  p.  318.) 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  379 

Jahresaufwandes  im  Reiche  gebunden.  Im  Etat  für 
1911  betragen  die  Ausgaben  für  Heer  und  Flotte  1274  Mill., 
die  Netto-Einnahmen  (abzüglich  der  Betriebsausgaben,  der 
Überweisungen,  der  Anleihe,  der  durchlaufenden  Post  für 
die  Schuldentilgung)  17öi)  Mill.  Über  zwei  Drittel  der 
Reichsausgaben  sind  also  allein  durch  die  Insti- 
tutionen des  Reichsheeres  und  der  Flotte  bzw. 
durch  die  entsprechenden  Verfassungsvorschriften 
budgetmäßig  festgelegt;  daher  besitzt  für  den  weitaus 
größten  Teil  des  Bedarfs  dieser  beiden  Verwaltungen  der 
Reichstag  nur  ein  scheinbares,  weil  in  völliger  Abhängigkeit 
von  klaren  Verfassungsbestimmungen  stehendes  Ausgabe- 
bewilUgungsrecht. 

In  ganz  ähnlicher  Weise  wie  für  die  Bedürfnisse  des  Eeichskriegswesens, 
niu"  mit  weit  geringerer  finanzieller  Tragweite,  sind  Bundesrat  und  Reichstag 
hinsichtlich  ihres  Ausgabebewilligungsrechts  im  Besoldungs-  und  Pensionsetat 
des  vom  Kaiser  auf  Vorschlag  des  Bundesrats  auf  Lebenszeit  ernannten 
Reichsbankdirektoriums  gebunden.  Auch  dieser  Etat,  also  der  Etat 
eines  zwischen  staatlichem  und  privatem  Unternehmen  in  der  Mitte  stehenden 
Instituts,  wird,  in  strikter  Befolgung  der  Vorschrift  in  Art.  69  der  Reichs- 
verfassung, jährlich  im  Wege  der  Reichsgesetzgebung  durch  den  Reichshaus- 
haltsetat festgestellt.  So  bestimmt  §  28  des  Bankgesetzes  vom  14.  März  1875, 
der  im  übrigen  das  Besoldungs-  und  Pensionswesen  der  Beamten  der  Eeichs- 
bank  dem  Ermessen  des  Reichstages  entzieht  (die  Festsetzung  erfolgt  dm-ch 
den  Kaiser  im  Einvernehmen  mit  dem  Bundesrat  auf  Antrag  des  Reichs- 
kanzlers). Die  Geldmittel  für  alle  diese  Zwecke  hat  aber  der  Reichstag 
nicht  zu  bewilligen.  Sie  sind,  ohne  daß  eine  Bewilligi;ng  zu  erfolgen  brauchte, 
dauernd  vorhanden,  denn  §  28  a.  a.  0.  bestimmt:  „Die  Besoldungen,  Pen- 
sionen und  sonstigen  Dienstbezüge  der  Beamten  der  Reichsbank,  sowie  die 
Pensionen  und  Unterstützungen  für  ihre  Hinterbliebenen  trägt  die  Reichs- 
bank." Gegenüber  diesem  Institut  ist  somit  das  Einnahmebewilligungsrecht 
der  gesetzgebenden  Körperschaften  im  Reiche  ganz,  das  Ausgabebewilligungs- 
recht nahezu  ganz  aufgehoben. 

In  demselben  Zusammenhang  ist  die  Reichseinnahme  aus  der  Münz- 
prägung zu  nennen.  Es  handelt  sich  dabei  um  eine  laufende  Einnahme, 
der  der  Reichstag  mit  gebundenen  Händen  gegenübersteht,  da  über  den 
Umfang  der  Prägungen  die  Reichsbank  bzw.  der  Reichskanzler  und  die 
bundesstaatlichen  Finanzverwaltungen,  denen  die  noch  vorhandenen  6  Münz- 
stätten unterstehen,  gemäß  den  Bedürfnissen  des  Verkehrs-  und  Wirtschafts- 
lebens, sowie  mit  Rücksicht  auf  die  Bevölkerungszunahme  befinden')-  Um- 
fang der  Prägungen  und  Höhe  des  Schlagschatzes  werden  also  nm-  bei  gleich- 
mäßig steigender  Konjunktur  und  Bevölkerungszunahme  ungefähr  stationär 
bleiben.  Vollends  sind  die  Privatprägungen  und  deren  Münzgewinne  der 
Einwirkung  von  selten  des  Reiches  entzogen.  Die  Zweckbestimmung  des 
Münzgewinnes  war  bis  1910/11  die  Verstärkung  der  sog.  eisernen  Bestände 
des  Reichs,   die  ihrerseits  durch  Etatsgesetz   von  1872  geschaffen  sind,   aber 


^)  Vgl.  S.  90  Anm. 


380  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

aus  den  normalen  Quellen  häufig  genug  nicht  ausreichend  gespeist  werden 
konnten.  Seit  1911  werden  die  aus  den  Prägungen  verfügbaren  Mittel  zu 
Schuldentilgungszwecken  verwendet.  Mit  der  seitens  des  Reichsschatzamtes 
vorgenommenen  Regelung  hat  sich  der  Reichstag  bisher  einverstanden  erklärt. 

Eine  vorübergehende  Verstärkung  der  Betriebsfonds  der  Reichshaupt- 
kasse ist  sehr  häufig  durch  Ausgabe  von  Schatzanweisungen  bewirkt 
worden,  die  an  die  Stelle  der  in  älteren  Finanzverwaltungen  üblichen,  aber 
wegen  des  Zinsendienstes  unvorteilhaften  baren  Reservefonds  getreten  sind. 
Es  handelte  sich  dabei  in  den  letzten  Rechnungsjahren  um  Beträge  von 
373  Mill.,  450  MilL,  ja  600  Mill.,  deren  Verausgabung  auf  Grund  von  Schatz- 
anweisungen durch  das  Etatsgesetz  für  zulässig  erklärt  wurde.  Für  derartige 
Transaktionen,  die  allerdings  durch  die  kurzfristige  Rückzahlungsverpflichtung 
an  das  Wort  erinnern  „Beim  Ersten  sind  wir  fi'ei,  beim  Zweiten  sind  wir 
Knechte"  und  ein  auf  folgende  Etatsperioden  ausgreifendes  Abhängigkeits- 
verhältnis begründen,  übernimmt  der  Reichstag  —  genau  wie  der  Bundesrat 
—  die  volle  Verantwortung;  in  diesem  Falle  steht  also  dem  Reichstag  ein 
nicht  minder  unumschränktes  Einnahme-  und  Ausgabebewilligungsrecht  wie 
bei  den  meisten  Anleiheoperationen  zu'). 

Die  ständigen,  auf  besonderen  Gesetzen  beruhenden  Einnahmen  des 
Reichs  haben  mit  dem  allmählichen  Aufbrauch  der  aus  der  französischen 
Kriegsentschädigung  gebildeten  Fonds,  zuletzt  des  Reichsinvalidenfonds,  eine 
Herabminderung  erfahren.  Aber  auch  jetzt  noch  fließt  gemäß  Art.  38 
RV.  der  weitaus  größte  Teil  der  Reichseinnahmen  in  die  Reichs- 
kasse, ohne  daß  Bundesrat  und  Reichstag  im  Etat  den  Weg  der 
Gesetzgebung  zu  beschreiten  brauchen.  Nach  dem  Etatsgesetzent- 
wurf für  1911/12  sollten  erbringen  die  Reichsstempelabgaben  1H8,1  Mill.,  die 
Zölle  638,3  Mill.,  die  Verbrauchssteuern  646,2  Mill.,  die  Überschüsse  der 
Reichspost,  der  Reichseisenbahnen  und  der  Reichsdruckerei  104,1  Mill.,  die 
sog.  Verwaltungseinnahmen  75,5  Mill.,  aus  dem  Bankwesen  15,6  Mill.,  zusammen 
rund  1678  Mill.  Dieser  Summe  gegenüber,  die  zur  Befriedigung  sämtlicher 
Reichsausgaben  (nach  Abzug  des  Bedarfs  bei  der  Reichsjaost.  Reichsdruckerei 
und  Reichseisenbahnverwaltung)  bis  auf  einen  Rest  von  475  Mill.  ausreicht, 
also  fast  vier  Fünftel  des  gesamten  Reichsbedarfs  deckt*),  treten  die  sonstigen 
Reichseinnahmen,  die  sich  in  der  Hauptsache  aus  den  Matrikularb  ei  trägen, 
den  Schatzscheinen  und  der  Anleihe  zusammensetzen,  erheblich  zurück;  sie 
repräsentieren  in  demselben  Etat  einen  Betrag  von  nur  212  Mill.  (Matrikular- 
beiträgen),  98  Mill.  Anleihe,  bis  375  Mill.  Schatzanw^eisungen.  (Den  Matri- 
kularb eiträgen  stehen  163,5  Mill.  Überweisungen  gegenüber.)  Die  erste  Gruppe 
der  Einnahmen  hat  unanfechtbare  gesetzliche  Grundlagen,  Grundlagen,  die 
gegen  den  Willen  der  Reichsregierung  vom  Reichstag  nicht  angefochten 
bzw.  in  ihren  finanziellen  Erträgnissen  nicht  willkürlich  heraufgesetzt  werden 
können.  Sollte  dies  dennoch  versucht  werden,  so  würde  der  Bundesrat  von 
seinem  Recht  der  Verwerfung  des  Etats  Gebrauch  machen  können. 

Dazu  kommt,  daß  der  Reichstag  mit  dem  konsequenten 
Festhalten  an  dem  System  der  Matrikularbeiträge  die 
Verfügung  über  einen  beweglichen  Einnahmefaktor  von 
erheblicher  budgetrechtlicher  Tragweite  sich  gesichert  hat.    Die 

0  über  die  Bedeutung  der  Etat-Dispositive  s.  S.  155. 
*)  Vgl.  die  Äußerung  des  Abgeordneten  Speck,  p.  154. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  381 

Einzelstaaten  sind  zur  Zahlung  von  Matrikularbeiträgen  staats- 
rechtlich verpflichtet,  ebenso  sind  die  Bundesregierungen  ver- 
pflichtet, die  Zahlungen  für  den  gedachten  Zweck  aus  Landes- 
mitteln zu  leisten,  auch  ohne  daß  die  ausdrückliche  Genehmi- 
gung seitens  der  einzelstaatlichen  Landtage  usw.  erforderlich 
wäre;  demgemäß  könnten  die  Bundesregierungen  unter  Berufung 
auf  Art.  70  RV.,  Matrikularbeiträge  an  die  Reichskasse  ab- 
führen, auch  wenn  ein  Etatsgesetz  nicht  zustande  kommt  und 
demnach  eine  Ausschreibung  in  Höhe  des  budgetmäßigen  Be- 
trages durch  den  Reichskanzler  nicht  erfolgt  —  alles  das  ändert 
nicht  das  Geringste  an  dem  beweglichen  Charakter  dieses  Ein- 
nahmefaktors im  Reich  und  nichts  an  der  finanzrechtlichen 
Tatsache,  daß  sein  Sein  oder  Nichtsein  gänzlich  in  das 
Ermessen  des  Reichstages  gestellt  ist^).  In  bezug  auf 
die  Matrikularbeiträge  besteht  sowohl  hinsichtlich  der  Höhe 
der  Beiträge  wie  hinsichtlich  der  Möglichkeit  ihrer  Heran- 
ziehung für  finanzielle  Reichsbedürfnisse  ein  volles  unein- 
geschränktes Budgetrecht  des  Bundrats  und  des 
Reichstages.  Daran  ist  schlechterdings  nicht  zu  zweifeln 2). 
In  vollem  Bewußtsein  dessen,  was  sie  an  diesem  Bestand- 
teil des  Budgetrechtes  besitzen,  haben  nahezu  alle  Fraktionen 
des  Reichstages  dem  Vorschlag  einer  gesetzlichen  Fixierung 
der  Matrikularbeiträge,  wie  bei  allen  früheren  Anlässen, 
so  auch  neuerdings  ^)  entschiedenen  Widerstand  entgegengesetzt. 
In  den  Finanzgesetzentwürfen,  die  im  Spätherbst  1908  dem 
Reichstage  vorgelegt  wurden,  war  der  A'^orschlag  enthalten,  daß 
eine  Obergrenze  für  die  Matrikularbeiträge  alle  fünf  Jahre  ge- 
setzlich festgesetzt  werden  sollte.  Namens  der  verbündeten 
Regierungen  erklärte  der  Reichsschatzsekretär  Sydow,  daß  die 
Übernahme  eines  festen  höheren  Betrages  (80  Pf.  pro  Kopf  der 
Bevölkerung)  für  sie  im  untrennbaren  Zusammenhang  mit  der 
Frage   der  Festsetzung   eines  Höchstbetrages   für   eine  gewisse 


')  Hier  wäre  auch  des  Kontrollrechts  des  Eeichstags,  des  „zweiten  Teiles" 
seines  Budgetrechts,  zu  gedenken;  indessen  wird  infolge  der  meist  stark 
verspäteten  Eechnungslegiing  der  Kontrollbefugnis  des  Reichstags  nahezu 
jeder  Inhalt  genommen.  Darüber  dauernd  Klagen  im  Reichstag;  vgl.  12.  Legis- 
laturperiode n.  Session  103.  Sitzung  3786  A,  3787  D,  3788  A. 

^)  Vgl.  Eeichsschatzsekretär  Sydow,  12.  Legislaturperiode  L  Session 
163.  Sitzung  (19.  November  1908):  „Schließlich  können  alle  Matrikularbeiträge 
nur  im  Wege  des  Etats  festgestellt  werden  und  bei  der  Feststellung  des  Etats 
haben  die  verbündeten  Regierungen  im  Bundesrat  ebenso  mitzureden  wie 
der  Reichstag." 

^)  Reichstag  der  Legislaturperiode  1907 — 1911. 


382  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Zeit  stehe  ^).  Der  Reichsschatzsekretär  erinnerte  selbst  daran, 
daß  im  Jahre  1906  dieselbe  Maßnahme  mit  der  Begründung, 
daß  sie  eine  Schmälerung  des  Einnahmebewilligungsrechts  des 
Reichstages  enthalte,  abgelehnt  worden  war,  gab  aber  gleich- 
zeitig zur  Erwägung,  daß  der  Schwerpunkt  des  Bewilligungs- 
rechts nicht  in  der  Einnahmebewilligung,  sondern  in  der  Aus- 
gabebewilligung liege,  daß  also  durch  den  vorgeschlagenen  Weg 
das  Budgetrecht  des  Reichstages  formell  und  materiell  in  keiner 
Weise  beeinträchtigt  werde. 

Der  Reichstag  war  anderer  Meinung  2).  Während  das  Reichs- 
schatzamt und  die  meisten  einzelstaatlichen  Finanzverwaltungen, 
besonders  auch  der  preußische  Finanzminister  Dr.  Lentze"),  auf 
feste  Begrenzung  der  ungedeckten  Matrikularbeiträge  unablässig 
hindrängen^),  haben  sich  die  Parteien  des  Reichstags  ausnahms- 
los gegen  eine  auch  nur  für  einen  bestimmten  kurzen  Zeitraum 
gedachte  Einschränkung  des  Einnahmebewilligungsrechts  er- 
klärt —  was  freilich  wenige  Monate  später  nicht  gehindert  hat, 
daß  dieselben  Parteien  (Konservative  und  Zentrum),  die  den 
Gedanken  der  Festlegung  so  nachdrücklich  bekämpft  hatten, 
in  eine  Vereinbarung  auf  die  Dauer  von  fünf  Jahren  —  also 
doch  hinübergreifend  in  die  neue  Legislaturperiode  und  einen 
neuen  Reichstag,  was  der  Abgeordnete  Dr.  Spahn  nachdrück- 
lichst zurückgewiesen  hatte!  —  schließlich  einwilligten, 

')  1908  —  163.  Sitzung  p.  5563  C. 

^)  Der  Zentrumsabgeordnete  Dr.  Spahn  erklärte:  „Ich  beziehe  mich 
auf  Richter,  ich  beziehe  mich  auf  Windthorst,  die  an  den  Matrikularbeiträgen 
als  dem  beweglichen  Faktor  der  Einnahmebewilligung  und  der  finanziellen 
Bedeutung  des  Einnahmebewilligungsrechtes  unbedingt  festgehalten  haben". 
Der  Abgeordnete  Freiherr  von  Richthofen -Damsdorf  (kons.):  „Wir  wollen 
nicht,  daß  das  Einnahmebewilligungsrecht  des  Reichstages  irgendwie  ge- 
schmälert wii-d."  Der  Abgeordnete  Dr.  Paasche  (natl.)  äußerte  sich  dahin: 
„Darin  liegt  die  Kraft  unseres  Einnahmebewilligungsrechts,  daß  wir,  wenn 
Matrikularbeiträge  zu  Recht  bestehen,  eventuell  über  die  Taschen  der  Einzel- 
staaten verfügen  können.  .  ,  ."  Ähnlich  äußerten  sich  die  liuksliberalen  Ab- 
geordneten Dr.  Wiemer  und  Schrader.  Der  sozialdemokratische  Abgeordnete 
Dr.  Südekum  erklärte:  „Wer  das  Budgetrecht  des  Reichstages  so  außer- 
ordentlich beschneiden  will,  der  ändert  die  Verfassung."  Und  bei  der  Be- 
ratung über  die  Anträge  betreffend  die  Verantwortlichkeit  des  Reichskanzlers 
und  die  Abänderung  der  Reichsverfassung  (2.  Dezember  1908)  wm-de  der 
Ausspruch  des  Abgeordneten  Erzberger:  „Gesunden  können  unsere  Finanzen 
nur,  wenn  der  Reichstag  seine  Machtmittel,  vsde  sie  ihm  das  Budgetrecht 
gewährt,  gebraucht"  von  dem  Abgeordneten  v.  Dirksen  (Rp.)  zitiert  und 
vollinhaltlich  gebilligt. 

^)  In  seiner  Etatsrede  vom  15.  Januar  1912. 

*)  Vgl.  auch  Rede  des  Finanzministers  Rheinboldt  in  der  zweiten  badi- 
schen Kammer  am  31.  Januar  1912. 


Blum,  Budgetrecht  und  Knanzj^raxis.  383 


VI,  Das  Greldbewilligungsrecht  des  Eeichstages. 

In  fortlaufender,  nach  einem  einheitlichen  Plan  sich  voll- 
ziehender Entwicklung  hat  der  Reichstag  das  Matrikularsystem 
in  seinem  Budgetrecht  immer  fester  verankert,  besonders  in  den 
Reichfinanzreformen  von  1904 — 1909.  Die  Reichsverfassung, 
in  der  ursprünglichen  Fassung  des  Art.  70,  hatte  ,, Beiträge  der 
einzelnen  Bundesstaaten  nach  Maßgabe  ihrer  Bevölkerung"  nur 
als  ein  Provisorium  gedacht  und  zugelassen.  Sie  sollten  fähig  und 
erhoben  werden  nur,  ,, solange  Reichssteuern  nicht  eingeführt 
sind".  Seit  Jahren  sind  Reichssteuern  (reichseigene  Steuern) 
in  großer  Zahl  vorhanden;  trotzdem  besteht  das  System  der 
Matrikularbeiträge  ruhig  weiter.  Die  Mahnung,  die  verfassungs- 
mäßige Verpflichtung,  die  nur  als  Provisorium  und  Notbehelf 
gedachte,  politisch  und  wirtschaftlich  gleich  bedenkliche  In- 
stitution der  Matrikularbeiträge  zu  beseitigen  und  Sorge  zu 
tragen,  daß  für  einen  Fehlbetrag  im  ordentlichen  Reichsbedarf 
Deckung  aus  eigenen  steuerlichen  Einnahmen  beschafft  wird, 
ist  vom  Röichstag  bisher  nicht  befolgt  worden,  und  die  Regierung 
hat  die  Schwäche  gehabt,  ihrerseits  auf  der  Erfüllung  dieser 
Pflicht  nicht  zu  bestehen.  In  dem  Bestreben,  neben  die  Ein- 
nahmebewilligungspflicht, die  in  den  im  Hinblick  auf  die 
Reichsbedürfnisse  geschaffenen  Finanz-  und  Steuergesetzen  aus- 
drücklich ausgesprochen  oder  stillschweigend  enthalten  ist,  ein 
Einnahmebewilligungsrecht  mit  praktischer  Bedeutung,  neben 
die  durch  die  Verfassung  an  bestimmte  Zwecke  gebundene 
Ausgabeverpflichtung  ein  Ausgabebewilligungsrecht  zu  stellen,  ist 
das  Doppelspiel  von  Überweisungen  und  Martrikular- 
beiträgen  eingerichtet  und  in  einer  gesetzgeberischen  Szenen- 
folge von  1879  bis  1904  durchgeführt  worden,  bis  in  letzterem 
Jahre  durch  die  sog.  lex  Stengel  (Gesetz  vom  14.  Mai  1904) 
in  dem  Regierungsentwurf  zur  Abänderung  des  Art.  70  der 
Verfassung  der  Passus,  der,  in  Übereinstimmung  mit  dem 
Geist  und  Wortlaut  der  Verfassung  von  1871,  von  den  ver- 
pflichtenden Beziehungen  zwischen  Matrikularbeiträgen  und 
Reichssteuern  und  zwar  im  Sinne  der  Abschaffung  der  ersteren 
handelte,  vom  Reichstag  gestrichen  und  gleichzeitig  die 
Überweisungen,  entsprechend  der  Regierungsvorlage  zu 
Art.  70,  im  neuen  Text  des  Art.  70  ausdrücklich  genannt 
wurden.  Der  Reichstag  hat  damit  erreicht,  daß  diese  beiden 
Institutionen,  die  dem  ursprünghchen  Grundgedanken  der  Reichs- 
finanzwirtschaft widerstreiten,  als  bleibende  v er fassuugs- 


384  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 


mäßige  Einrichtungen  das  Budgetrecht  der  Volks- 
vertretung in  seinem  Werte  sehr  nachdrücklich 
betonen  und  mit  einer  Wirkungsbefugnis  ausstatten,  deren 
Tendenz  und  Charakter  auch  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
konstitutionellen  Garantien  nicht  verkannt  werden  kann. 

Auch  noch  in  einem  anderen  Punkte  verrät  die  Neu- 
fassung des  Art.  70  RV.  Einflußnahme  auf  das  Budget- 
recht. In  der  ursprünglichen  Fassung  des  Art.  70  war  bestimmt, 
daß  die  Matrikularbeiträge,  welche  die  einzelnen  Bundestaaten 
nach  Maßgabe  ihrer  Bevölkerung  aufzubringen  haben,  ,,bis  zur 
Höhe  des  budgetmäßigen  Betrages  durch  den  Reichskanzler 
ausgeschrieben  werden".  Die  auszuschreibende  Summe  war 
also  in  das  Ermessen  des  Reichskanzlers  gestellt  i).  Diese 
Befugnis  des  Reichskanzlers,  die  Erhebung  der  Matrikular- 
beiträge den  tatsächlichen  Bedürfnissen  anzupassen,  also  unter 
Umständen  die  Matrikularbeiträge  nicht  bis  zur  vollen  Höhe 
auszuschreiben,  ist  bereits  nach  dem  Gesetz  vom  14.  Mai  1904 
nicht  mehr  vorhanden.  Denn  an  der  fraglichen  Stelle  hat 
Art.  70  R.V.  die  Fassung  erhalten,  daß  die  Matrikular- 
beiträge „in  Höhe"  des  budgetmäßigen  Betrages  durch  den 
Reichskanzler  ausgeschrieben  werden.  Ist  erst  der  budget- 
mäßige Betrag  ermittelt,  so  gibt  es  für  die  Folgezeit  kein 
Weniger,  dieser  Betrag  muß  in  voller  Höhe  mittels  Aus- 
schreibung erhoben  werden,  auch  dann,  wenn  ein  entsprechendes 
Bedürfnis  nicht  vorhanden  ist.  Auf  der  einen  Seite  ist  damit 
das  Gewicht  des  beweglichen  Faktors  in  den  Reichs- 
einnahmen, demgegenüber  das  Budgetrecht  des  Reichs- 
tags unbeschränkt  ist,  weiter  gesteigert,  denn  die 
Differenz  zwischen  Einnahmen  und  Ausgaben,  die  der  Reichs- 
tag in   der  Etatsfestsetzung  herausarbeitet,   ist  nunmehr  ganz 


*)  Dieses  wichtige  Moment  hat  Lab  and  (Staatsrecht  IV,  479  Anm.) 
treffend  hervorgehoben:  „Der  Reichskanzler  ist  nicht  verpflichtet,  die  Matrikular- 
beiträge in  ihrem  vollen  budgetmäßigen  Betrage  zu  erheben.  Liefern  die  sog. 
eigenen  Eeichseinnahmequellen  unerwartete  Überschüsse,  so  können  die 
Matrikularbeiträge  teilweise  unerhoben  bleiben,  nur  müssen  alle  Staaten  in 
dieser  Beziehung  gleichmäßig  behandelt  werden."  Und  im  Text  a.  a.  0. : 
„Die  von  den  Einzelstaaten  im  Laufe  des  Jahres  zu  machenden  Zahlungen, 
welche  der  Reichskanzler  gemäß  Art.  70  der  Reichsverfassung  bis  zur  Höhe 
des  budgetmäßigen  Betrages  einzufordern  liefugt  ist,  werden  gleichsam  nur 
ä  conto  geleistet.  So  wie  im  Falle  eines  Defizits  eine  Nachforderung  an  die 
Einzelstaaten  erfolgen  kann,  so  ist  in  dem  Falle,  daß  die  Einnahmen  die 
Ausgaben  übersteigen,  der  zuviel  erhobene  Betrag  an  Matrikularbeiträgen 
zurückzuzahlen." 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  385 

bestimmt  begrenzt  und  muß  unweigerlich  in  ganzer  Höhe  von 
den  Einzelstaaten  aufgebracht  und  der  Reichskasse  zugeführt 
werden.  Auf  der  anderen  Seite  hat  der  Reichskanzler  nur 
noch  den  Beschluß  des  Reichstages  zu  vollziehen, 
bezüglich  der  Höhe  des  auszuschreibenden  Betrages  hat  er  den 
letzten  Einfluß  verloren,  und  die  Einzelstaaten  müssen  unter 
allen  Umständen  tatsächlich  den  Betrag  zahlen,  den  der  Reichs- 
tag in  den  Etat  eingestellt  und  der  Bundesrat  genehmigt  hat. 
Zweifellos  ist  auch  in  dieser  Regelung  ein  neuer  Erfolg  der 
auf  die  Erhöhung  seines  Budgetrechts  gerichteten 
Bemühungen  des  Reichstags  zu  erblicken.  Denn  dieselbe 
Institution  in  der  Reichsfinanzwirtschaft,  die  nach  dem  klaren 
Sinn  und  Wortlaut  der  Verfassung  als  Provisorium  gedacht 
war  und  wegen  der  durch  sie  bewirkten  Verknüpfung  zwischen 
Reichsbudget  und  einzelstaatlichen  Budgets  durch  Schaffung 
reichseigener  Einnahmen  beseitigt  werden  sollte,  ist  gerade  nach 
dieser  Richtung,  analog  dem  Vorgange  im  §  8  des  Zolltarif- 
gesetzes vom  15.  Juh  1879  (Einführung  der  Überweisungen), 
nunmehr  noch  entschiedener  entwickelt  und  festgelegt. 
Das  Verlangen,  das  Einnahmebewilligungsrecht 
des  Reichstages  an  diesem  seinen  wichtigsten  Teile 
zu  wahren,  war  stärker  als  selbst  die  Erkenntnis — der 
auch  die  Finanzpohtiker  im  Parlament  sich  nicht  entziehen 
konnten  —  daß  eine  gesetzliche  Bindung  der  Matri- 
kularbeiträge  im  allgemeinen  Interesse  der  deut- 
schen Finanzverwaltungen  gelegen  war.  Die  in  der- 
selben Richtung  in  den  Jahren  1904  und  1906  bheben 
ebenso  wie  die  in  Verbindung  mit  der  Finanzreform  von  1909 
unternommenen  Versuche  und  aus  dem  gleichen  Grunde  er- 
folglos. Aber  nicht  nur  das.  Der  Reichstag  benutzte  beide 
Gelegenheiten,  um  das  System  der  Matrikularbeiträge  aus- 
zubauen und  sich  selbst  entprechend  größeren  Einfluß  auf 
diesem  Gebiete  der  Etatsfeststellung  zu  sichern.  Die  budget- 
rechtliche Bedeutung  des  Reichsgesetzes  vom  14.  Mai  1904,  die 
in  der  Beseitigung  der  Worte  ,, solange  Reichssteuern  nicht  ein- 
geführt sind"  und  bezüghch  der  Ausschreibung  in  der  neuen 
Fassung  „in  der  Höhe  ihres  budgetmäßigen  Betrages"  zum 
Ausdruck  kommt,  ist  bereits  oben  eingehend  behandelt.  Auch 
bei  der  Reform  von  1906  war  in  der  Matrikularfrage  das  Er- 
gebnis ein  ganz  anderes,  als  seitens  der  verbündeten  Regierungen 
in  Aussicht  genommen  war.  Diese  wünschten  gesetzliche  Bin- 
dung  der  Matrikularbeiträge   auf  40  Pf.,    Aussetzung   der  Er- 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  25 


386  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

hebung  eines  etwaigen  Mehrbetrages  für  das  laufende  Rechnungs- 
jahr und  Einweisung  der  ungedeckten  Matrikularbeiträge  unter 
die  ordentHchen  Ausgaben  des  zweitfolgenden  Rechnungsjahres. 
Der  Reichstag  lehnte  ab,  sich  dadurch  auf  eine  jährliche  Höhe 
von  24  Mill.  Matrikularbeiträge  binden  zu  lassen,  obwohl  gleich- 
zeitig eine  Erweiterung  des  Einnahmebewilligungs- 
rechts bei  der  Reichserbschaftssteuer  angeboten  \\airde. 
Der  Reichstag  akzeptierte  die  Bestimmung,  daß  der  Anteil  des 
Reichs  an  der  Erbschaftssteuer  durch  Etatsgesetz  festgestellt 
wird,  gestand  aber  nur  eine  scheinbare  Bindung  der 
Matrikularbeiträge  zu,  indem  er  gestundete  Matrikular- 
beiträge einführte,  d.  h.  die  Bundesstaaten  zur  Nachzahlung 
des  Fehlbetrages  im  Juli  des  drittfolgenden  Rechnungs- 
jahres verpflichtete.  Wenn  auch  diese  dritte  Kategorie  der 
Matrikularbeiträge  sich  als  unhaltbar  erwiesen  hat  und  durch 
die  Finanzgesetzgebung  des  Jahres  1909  wieder  beseitigt  ist, 
so  zeigt  doch  die  Tatsache,  daß  ein  solcher  Beschluß  überhaupt 
angeregt  und  gefaßt  werden  konnte,  wie  sehr  der  Reichstag 
von  dem  Gewicht  des  Matrikularbewilligungsrechts  durchdrungen 
ist  und  wie  er  auf  eine  schrankenlose  Ausgestaltung  dieses 
Rechts  hinarbeitet! 

Auch  die  in  neuester  Zeit  erfolgte  Regelung  der  Matri- 
kularbeiträge im  Wege  der  Verständigung  hat  daran 
nichts  geändert.  Eine  sehr  bezeichnende  Illustration  dazu 
lieferte  ein  Vorgang  in  der  Sitzung  des  preußischen  Ab- 
geordnetenhauses vom  10.  Januar  1911.  Die  Bundesstaaten 
und  das  Reich  haben  im  Jahre  1909  mit  Wirkung  bis  zum 
Jahre  1913  eine  Vereinbarung  dahin  getroffen,  daß  auf  der 
einen  Seite  das  Reich  die  Branntweinsteuer  stets  in  Höhe  des 
Etatsbetrages  zu  überweisen  hat,  einerlei,  welche  Beträge  in 
dem  betreffenden  Jahre  eingenommen  werden,  und  auf  der 
andern  Seite,  daß  die  Bundesstaaten  auch  rechnungsmäßig  stets 
einen  Betrag  von  80  Pf.  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  des 
Reichs  an  ungedeckten  Matrikularbeiträgen  an  das  Reich  ab- 
zuführen haben.  Als  der  preußische  Finanzminister  Dr.  Lentze 
in  der  erwähnten  Sitzung  von  dieser  Vereinbarung  sprach  und 
dabei  sagte,  der  Betrag  an  ungedeckten  Matrikularbeiträgen  sei 
auf  80  Pf.  für  den  Kopf  festgesetzt,  erfolgte  Widerspruch  von 
der  linken  Seite  des  Hauses  —  ein  deutlicher  Hinweis  darauf, 
daß  unter  keinen  Umständen  der  Vermutung  Nahrung  gegeben 
werden  soll,  als  habe  der  Reichstag  mit  jener  Abgrenzung  der 
Matrikularbeiträge,    die    im  Wege    der  Vereinbarung    zustande 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  387 

gekommen  ist,  irgendwie  in  eine,  wenn  auch  noch  so  gering- 
fügige, Einschränkung  seines  Einnahmebewilhgungsrechts  ge- 
wilHgt^).  Diese  zähe  und  zielbewußte  Konsequenz  ist  um  so 
bemerkenswerter,  als  der  Reichstag  noch  andere  Mittel 
in  Händen  hat,  um  sein  Budgetrecht  praktisch  zu 
betätigen.  Der  Staatssekretär  des  Reichsschatzamts  Wermuth 
hat  jenes  Abkommen  über  den  Matrikularbeitrag  als  den 
Schlußstein  für  eine  selbstverantwortliche  Eigenwirtschaft  des 
Reiches  bezeichnet.  Er  hat  damit  wohl  aussprechen  wollen, 
daß  auch  er  den  Gedanken  einer  gesetzlichen  Bindung  der 
Matrikularbeiträge  in  absehbarer  Zeit  für  aussichtslos  hält. 
Aber  selbst  wenn  der  Gedanke  Wirklichkeit  würde,  das  Ein- 
nahmebewilligungsrecht wäre  dann  kaum  geschmälert,  denn  die 
Ermächtigung  des  Reichskanzlers  durch  das  Etats- 
gesetz zur  Beschaffung  großer  Teile  des  Reichsbedarfs  bliebe 
nach  wie  vor  bestehen  ebenso  wie  der  andere  wichtige  Bestand- 
teil des  Einnahmebewilligungsrechts,  die  Zustimmung  zur 
Aufnahme  einer  Anleihe,  bzw.  Übernahme  einer  Garantie. 
Sehr  viel  weniger  hat  sich  der  Reichstag  um  die  Wahrung 
oder  Erweiterung  seines  Ausgabebewilligungsrechts  bemüht. 

Sehr  einschneidende  Verletzungen  dieses  Eechts  hat  er  lange  Zeit  hin- 
durch fast  ohne  Widerspruch  hingenommen.  Mit  größerem  Nachdruck  ist 
ein  Protest  erst  im  Jahre  1908  erfolgt,  nachdem  im  Etat  von  190.5  Über- 
schreitungen im  Betrage  von  fast  16  Mill.,  in  der  Eechnung  des  Jahres  1907 
Etatsüberschreitungen  und  außeretatsmäßige  Ausgaben  von 
51  Va  Mll.  festgestellt  waren.  Allerdings  ist  der  Eeichstag  bei  solchen  Eigen- 
mächtigkeiten der  Etatspraxis  (Verstoß  gegen  Art.  69  EV.)  von  Schuld 
nicht  freizusprechen.  Er  selbst  ist  es  zumeist,  der  die  Erträge  der  Einnahmen 
ansatzmäßig  erhöht  und  darauf  Ausgaben  begründet  bzw.  damit  den  Fehl- 
betrag zu  mindern  sucht.  So  werden  dann,  da  notwendige  Ausgaben  Be- 
friedigung verlangen,  Etatsüberschreitungen  usw.  unvermeidlich '*).  Und  wenn 
nachträglich  Entlastung  nachgesucht  und  erteilt  wird,  so  ist  das  nur  eine 
Formalität,  kein  eigentliches  Ausgabebewilligungsrecht'). 


^)  Die  gleiche  Auffassung  wurde  in  den  Verhandlungen  über  die  Vor- 
lage zur  Erhöhung  der  Friedenspräsenzstärke  des  deutschen  Heeres  wieder- 
holt zum  Ausdruck  gebracht. 

^)  Über  Sicherungsmaßnahmen  des  Eeichstags  und  die  tatsächlichen 
Zustände  cf.  Sten.  Ber.  des  Eeichstags  Bd.  266  p.  6337  C;  Bd.  263  p.  3787  D, 
3788  A. 

^)  Vgl.  Abg.  Speck.  „Ich  will  den  Fall  setzen,  der  Eeichstag  versagt 
einmal  diesen  Etatsüberschreitungen  seine  Genehmigung!  Was  dann?  dann 
werden  diese  Überschreitungen  eben  einfach  so  lange  in  der  Übersicht  fort- 
geführt, bis  sich  schließlich  ein  Eeichstag  findet,  der  sie  genehmigt." 
(Eeichstagssitzung  vom  5.  Dezember  1908  p.  6009  C) 

25* 


388  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Die  Einnahmewirtschaft  ist  eben  immer,  und  mit 
Recht,  als  der  wichtigere  Teil  der  Haushaltführung  angesehen 
worden.  Einmal  sind  im  Reichshaushalt  die  Ausgaben,  ins- 
besondere für  Heer  und  Flotte,  für  Verwaltungs-  und  Betriebs- 
zwecke, in  solchem  Maße  gebunden,  daß  für  die  freie 
Ausgabebewilligung  nur  noch  verhältnismäßig  gering- 
fügige Summen  zur  Verfügung  stehen  i). 

Und  dann  erscheint  es  selbstverständlich,  daß  die  vor- 
handenen Einnahmen  einem  angemessenen,  dem  Bedürfnis  und 
dem  Interesse  des  Reichs  entsprechenden  Verwendungszweck 
zugeführt,  bzw.  im  Sinne  des  bereits  gesetzlich  festgelegten 
Verwendungszweckes  verausgabt  werden.  Mithin  kann  man 
ruhig  sagen,  daß  der  Reichstag  nur  etwas  Selbstver- 
ständliches und  Naturnotwendiges  tut,  wenn  er 
die  Quoten  des  Ausgabeetats  einstellt  und  durch 
das  Etatsgesetz  feststellt. 

Die  Ausgaben  sind  zum  weitaus  größten  Teil  durch  Gesetz 
festgelegt,  also  unabhängig  von  den  Entschließungen  und  Willens- 
akten der  gesetzgebenden  Faktoren.  Hinsichtlich  der  fortdauern- 
den Ausgaben  ist  das  Ausgabebewilligungsrecht  zumeist  auf- 
gehoben, bzw;  überhaupt  nicht  vorhanden.  Wohl  aber  hat  der 
Reichstag  bei  der  allerdings  geringeren  Zahl  und  Bedeutung 
der  einmaligen  Ausgaben  ein  tatsächliches  Ausgabebewil- 
hgungsrecht  in  Händen,  über  dessen  Bedeutung  noch  aus  an- 
derem Anlaß  zu  sprechen  sein  wird  ^). 

Endlich  sind  noch  die  Dispositive  im  Etat  zu  nennen, 
die   zwar  keine   Geldbewilhgung   im   eigentlichen   Sinne,   wohl 


')  Vgl.  die  Äußerung  des  Abg.  Speck.  Wo  neun  Zehntel  unserer 
Ausgaben  von  vornherein  durch  Gesetz  festgelegt  seien,  könne  man  nicht 
ernstlich  davon  sprechen,  daß  der  Eeichstag  ein  unbegrenztes  Ausgabe- 
bewilligungsrecht habe.     (Reichstagssitzung  vom  26.  Nov.  1908  p.  5745D.) 

^)  In  der  Sitzung  des  Reichstags  vom  18,  Februar  1908  fand  eine  in- 
teressante Debatte  statt  über  die  etatsrechtliche  Behandlung  einer 
Resolution.  Die  sozialdemokratische  Fraktion  vertrat  die  Auffassung,  daß 
im  Etatsrecht  des  Reichstags  vollkommen  begründet  sei,  ohne  die  vorherige 
Zustimmung  der  verbündeten  Regierungen,  also  aus  eigener,  fi-eier  Initiative, 
Positionen  im  Etat  einzustellen;  die  Regierung  habe  nur  die  Entscheidung 
darüber  zu  treffen,  ob  sie  im  Streitfalle  den  Etat  nicht  zustande  kommen 
lassen  wolle.  Entgegen  dieser  Auffassung  wurde  aber  überzeugend  dargetan, 
daß  die  Zustimmung  des  Bundesrats  unbedingt  erforderlich  sei  und  daß  eine 
Mehrausgabe  (in  dem  betr.  Fall  690000  Mark  für  Ostmarkenzulagen  im  Etat 
der  Reichspostverwaltung)  nicht  mehr  zwischen  zweiter  und  dritter  Lesung 
in  den  Etat  eingeschoben,  sondern  nur  in  einem  Nachtragsetat  und  nach 
dreimaliger  Lesung  bewilligt  werden  könnte. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  389 

aber  eine  solche  insofern  aussprechen,  als  sie  die  Verwendung 
der  Gelder  an  bestimmte  Vorschriften  und  Normen  binden,  die 
ohne  Zustimmung  des  Reichstags  nicht  abgeändert  werden 
können.  Jede  A'^erwaltung  muß  Rechenschaft  geben,  wenn  sie 
den  betreffenden  Etatstitel  überschreitet. 

Darüber  hinaus  liegt  die  budgetrechtliche  Natur 
der  Ausgabebewilligung  in  den  Beziehungen  zu  dem  be- 
weglichen Teil  der  Reichseinnahmen  und  zur  Reichssteuergesetz- 
gebung. In  einer  Finanzepoche,  in  der  die  Losung  lauten  muß 
,, Keine  neue  Ausgabe  ohne  gleichzeitige  volle  Deckung",  ist 
dieser  Zusammenhang  von  größerer  Bedeutung  als  jemals  zuvor. 
Gewiß  sind  die  Einnahmen  des  Reichs  zum  größten  Teil  ent- 
weder durch  die  Verfassung,  in  Art.  38  und  70,  oder  durch 
bestehende  Einnahmegesetze  festgelegt.  Diese  Einnahmegesetz- 
gebung ruht  nicht,  sie  hat  vielmehr  in  steigendem  Grade  Akti- 
vität gezeigt  und  sie  ist  immer  häufiger,  wenn  nicht  in  un- 
mittelbaren, so  doch  in  allerengsten  Zusammenhang  mit  der 
Reichswirtschaft  gebracht  worden.  Wiederholt  sind  Einnahme- 
gesetze gleichzeitig  mit  dem  Etat  vorgelegt  und  nahezu  gleich- 
zeitig verabschiedet  worden;  kaum  in  Kraft  getreten,  haben 
sie  ihre  Erträgnisse  zur  Bestreitung  von  Nachtragsetats  her- 
geben oder  sonst  die  Mittel  des  Reichs  verstärken  müssen.  Im 
Jahre  1911,  mit  Wirkung  für  das  Rechnungsjahr  1911/12  ist 
sogar  der  Fall  vorgekommen,  daß  die  mutmaßlichen  Erträge 
eines  Steuergesetzes,  das  noch  nicht  ergangen  und  dessen 
Schicksal  bei  seiner  etatsmäßigen  Inanspruchnahme  für  den 
Reichsbedarf  sehr  zweifelhaft  war  (Reichszuwachssteuer  mit 
50  Prozent  Anteil  für  das  Reich)  auf  den  Reichshaushaltsetat 
gebracht  wurde,  gleichzeitig  mit  angeforderten  neuen  Ausgaben 
in  entsprechender  Höhe  (Heeresverstärkung  und  Erweiterung 
der  Veteranenbeihilfen)  ^).  Zugleich  mit  demselben  Etatsentwurf 
wurde  ein  neues  Quinquennat  vorgelegt  und  im  Laufe  der 
Etatsberatung  verabschiedet,  obwohl  über  die  finanzielle  Trag- 
weite der  darin  angestrebten  Heeresverstärkung  keinerlei  zu- 
verlässige Angaben  gemacht  wurden  und  auch  der  tatsächliche 


^)  In  Preußen  hat  bezeichnenderweise  eine  ähnliche  Praxis  bisher  nisht 
Eingang  gefunden.  Die  letzte  Novelle  zur  Neuordnung  der  direkten  Staats- 
steuern ist  zwar  nur  wenige  Tage  nach  dem  Staatshaushaltsetat  für  1912  (im 
Januar  1912)  dem  Landtage  vorgelegt  worden,  aber  die  Voranschläge  des 
Etats  sind  völlig  unabhängig  von  den  Wirkungen  der  Einkommen-  und  Er- 
gänzungssteuernovelle aufgestellt. 


390  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Ertrag  der  zur  Deckung  bestimmten  Reichszuwaehssteuer  eine 
unbekannte  Größe  war.  So  korrekt  und  finanzpolitisch  richtig 
damit  verfahren  ist,  so  hegt  darin  zugleich  ein  Anerkenntnis 
des  Budgetrechts  des  Reichstages  von  Seiten  der  Re- 
gierung, das  die  Natur  und  Tragweite  der  Beziehungen 
zwischen  Ausgabebewilligung  und  Einnahmebewilligung  deutlich 
hervortreten  läßt.  Wenn  in  diesem  Falle  die  verbündeten  Re- 
gierungen die  Übernahme  von  Mehrleistungen  ausdrückhch  in 
das  budgetrechtliche  Ermessen  des  Reichstags  gestellt  haben, 
so  ist  ein  ähnhcher  Weg,  und  zwar  entgegen  den  Ansichten 
und  Wünschen  der  verbündeten  Regierungen,  vom  Reichstag 
zuerst  beschritten  worden.  Der  Reichstag  hat  von  seinem 
Einnahmebewilligungsrecht  Gebrauch  gemacht  und  hat  sich  und 
die  Regierung  auf  einen  bestimmten  Verausgabungszweck  fest- 
gelegt, indem  auf  seine  Veranlassung  in  das  Zolltarifgesetz 
vom  25.  Dezember  1902  (§15)  die  Bestimmung  aufgenommen 
wurde,  daß  gewisse  Mehreinnahmen  an  Zöllen  für  die  Zwecke 
einer  Witwen-  und  Waisen  Versorgung  festgelegt  werden  sollten. 
In  jedem  neuen  Rechnungsjahre  hat  dieser  Bestimmung  bei  der 
Etatsaufstellung  Rechnung  getragen  werden  müssen,  praktische 
Bedeutung  hat  sie  allerdings  nur  in  einem  Jahre  (1907)  erlangt. 
Die  Heranziehung  und  Betrachtung  ähnhcher  Maßnahmen 
würde  zu  weit  führen ;  das  Ergebnis  wäre  auch  nur  Bestätigung, 
bzw.  Wiederholung  des  Verfügungsrechts  über  die  Ein- 
nahmegestaltung, von  dem  der  Reichstag  mit  größerer  Ent- 
schiedenheit erstmalig  im  Jahre  1879  Gebrauch  gemacht  hat. 
Der  durch  die  Verfassung  bedingte  Grundsatz,  daß  im  Reichs- 
etat, von  den  Fällen  eines  außerordentlichen  Bedürfnisses  (Art.  73) 
abgesehen,  ein  Defizit  nicht  möglich  ist,  weil  die  Bundesstaaten 
in  voller  Höhe  des  Restbedarfs  zur  Zahlung  herangezogen  werden 
können,  und  ferner  das  Abrechnungsverhältnis  zwischen  Reich 
und  Bundesstaaten  infolge  der  verschiedenen  Einnahme-  und 
Ausgabegemeinschaften  innerhalb  des  Reichs  haben  s.  Zt.  zu 
der  allerdings  provisorisch  gedachten  Beibehaltung  des  Matri- 
kularsystems,  dieses  zur  Zeit  des  Zollvereins  und  des  Nord- 
deutschen Bundes  berechtigten  sozietätsmäßigen  Bestandteils 
der  Finanzwirtschaft,  Anlaß  gegeben.  Nach  dem  klaren  Wort- 
laut der  Reichsverfassung  (Art.  70)  sollte  es  bei  diesem  Zustande 
aber  nur  so  lange  bleiben,  bis  Reichssteuern  eingeführt  würden. 
Für  die  Deckung  der  gemeinschaftlichen  Ausgaben  des  Reichs 
sollten  also  ausschließlich  Reichsquellen  in  Anspruch  genommen 
werden. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  391 

Über  diese  eindeutige  Verfassungsbestimmung  bat  sich  der  Reichstag, 
und  zwar  unter  Führung  des  Zentrums,  mit  immer  größerer  Bedenken-  und 
Rücksichtslosigkeit  hinweggesetzt.  Den  Anfang  des  hier  durchlaufenen,  für 
die  Entwicklung  des  Budgetrechts  des  Reichstags  und  die  Beurteilung  dieser 
Phase  unseres  politischen  Lebens  aliein  ausschlaggebenden  Weges  Vjezeichnet 
der  einem  Antrag  des  Zentrumsabgeordneten  Franckenstein  entsprechende 
§  8  des  Zolltarifgesetzes  vom  15,  Juli  1879,  der  bestimmt,  daß  von 
den  Einnahmen  aus  den  Zöllen  und  der  Tabaksteuer  nur  der  Betrag  von 
130  Millionen  dem  Reiche  verbleiben,  die  über  diesen  Betrag  hinausgehende 
Summe  aber  den  Bundesstaaten  herausgezahlt  werden  sollte.  Auf  diese  Weise 
wollte  der  Reichstag,  nach  der  Darlegung  des  Antragstellers,  sein  Einnahme- 
bewilligungsrecht, das  im  ordentlichen  Etat  mit  den  Matrikularbeiträgen 
steht  und  fällt,  nicht  gefährden  lassen,  sondern  vielmehr  fest  verankern  und, 
wenn  nicht  für  alle  Zeiten,  so  doch  so  lange  festlegen,  bis  ein  anderer  beweg- 
licher Einnahmefaktor,  ähnlich  wie  die  Matrikularbeiträge,  im  Rahmen  der 
Finanzwirtschaft  des  Reichs  geschaffen  sei.  Die  bisher  letzten  Etappen 
auf  dem  im  Jahre  1879  betretenen  Wege  sind  die  Finanzreform  von 
1904  (teilweise  Aufhebung  der  Franckensteinschen  Klausel,  Beschränkung 
der  Überweisungspolitik  auf  ungefähr  ein  Drittel  ihres  bisherigen  Umfanges, 
Beseitigung  des  provisorischen  Charakters  der  Matrikularbeiträge,  Festlegung 
in  Höhe  des  budgetmäßigen  Betrages),  ferner  die  Finanzreform  von  1906 
(Gesetz  vom  3.  Juni  1906:  Einführung  des  Systems  der  gestundeten  Matri- 
kularbeiträge, d.  h.  mindestens  in  der  Theorie  wesentliche  Erweiterung  des 
Einnahmebewilligungsrechts),  endlich  die  Finanzreform  von  1909  (Gesetz 
vom  15.  Juli  1909:  Erhöhung  des  Kopfbetrages  der  ungedeckten  Matrikular- 
beiträge von  40  auf  80  Pfennig,  Beibehaltung  des  Systems  der  Überweisungen 
und  Matrikularbeiträge  trotz  Vereinbarung  über  zeitweise  Festlegung  des  Be- 
trages; nur  noch  eine  Überweisungssteuer,  die  Branntweinverbrauchsabgabe, 
d.  h.  gegebenenfalls  größere  Unabhängigkeit  hinsichtlich  der  Festsetzung  der 
Matrikul  arbeiträge) . 

Wie  ein  roter  Faden  zieht  sich  durch  diese  genau  dreißig- 
jährige Entwicklungsperiode  als  Richtschnur  die  Losung: 
unter  keinen  Umständen  Preisgabe  des  Einnahmebewilligungs- 
rechts i)  durch  Verzicht  auf  die  Beweglichkeit  der  Matrikular- 
beiträge, vielmehr  Festlegung  dieser  Institutionen  und  Er- 
weiterung des  Einnahmebewilligungsrechts,  selbst 
aufKosten  einer  gesunden  und  vernünftigen  Finanz- 
wirtschaft 2). 


^)  Das  Einnahmebewilligungsrecht  des  Reichstags  wird  auch  durch  so- 
zusagen automatisch  hinzutretende  Mehreinnahmen  tangiert,  z.  B.  im  Etat 
für  1911  durch  Steigerung  des  Aufkommens  aus  den  Matrikularbeiträgen 
infolge  der  Volkszählung  von  1910,  sowie  infolge  des  jährlichen  Bevölkerungs- 
zuwachses durch  Erhöhung  des  Silberprägungsgewinnes,  da  an  dem  Betrage 
von  20  Mark  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  (laut  Münzgesetz  von  1909)  noch 
3,90  Mark  fehlen. 

^)  Die  durch  die  Schutz-  und  Finanzzollgesetzgebung  des  Jahres  1879 
bewirkten  Mehreinnahmen  hätten  für  eine  Reihe  von  Jahren  Matrikular- 
beiträge völlig  entbehrlich  gemacht.     Lediglich  zu  dem  Zwecke,  das  in  dem 


392  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 


In  einem  Reichstag,  in  dem  das  Zentrum,  seitdem  die  un- 
heilvollen Wirkungen  des  Überweisungs-  und  Matrikularsystems 
hervorgetreten,  bis  zum  Jahre  1912  stets  die  stärkste  Ver- 
tretung besessen,  konnte  füghch  eine  andere  Entwicklung  nicht 
erwartet  werden!  Das  Zentrum  hat  dabei  stets  an  dem  Grund- 
gedanken festgehalten,  daß  die  Gesamtsumme  der  einmaligen 
Ausgaben  einem  erheblichen  Teil  des  den  Einzelstaaten 
durch  die  Überweisungen  zuzuführenden  Betrages  zu  ent- 
sprechen habe. 

Im  Rechnungsjahre  1908  beliefen  sich  nach  dem  Etatsgesetz  die  Über- 
weisungen auf  195,7  Mill.  Mark,  die  einmaligen  Ausgaben  auf  329,4  Mill.  Mark; 
im  Jahre  1909  standen  195,2  Mill.  Überweisungen  393,7  Mill.  einmaligen 
Ausgaben  gegenüber;  im  .Jahre  1910  waren  180  Mill.  Überweisungen  und 
351,7  Mill.  einmalige  Ausgaben  im  Etatsgesetz  enthalten,  im  Etatsentwurf  für 
1911  163,5  Älill.  Überweisungen  und  318,1  Mill.  einmalige  Ausgaben.  Auch 
in  dieser  Gegenüberstellung  von  Eeichsausgaben  und  bundesstaatlichen  Ein- 
nahmen —  denn  nach  der  Höhe  der  Überweisungen  richtet  sich  die  Höhe 
der  bedeckten  Matrikularbeiträge  —  soll,  jährlich  sich  wiederholend,  deutlich 
auf  das  Budgetrecht  des  Reichstags  hingewiesen  werden. 

Ohne  Bewilhgung  der  einmaligen  Ausgaben  keine  Über- 
weisungen, ohne  Überweisungen  entsprechend  stärkere  Heran- 
ziehung der  Einzelstaaten  zur  Deckung  des  Fehlbetrages  im 
ordentlichen  Etat;  ohne  Genehmigung  des  Etatgesetzes  durch 
den  Reichstag  keine  Aufrechnung  der  Überweisungs-Steuer- 
einnahmen gegen  die  Matrikularbeiträge,  dagegen  Vereinuahmung 
der  Überweisungssteuern  durch  die  Einzelstaaten  und  Abführung 
an  das  Reich  —  in  diesem  Widerspiel  haben  Budget- 
recht  und  Etatspraxis  ein  sehr  wirksames  Gegen- 
gewicht dagegen  geschaffen,  daß  ein  erheblicher 
Teil  der  Einnahmen  und  Ausgaben  durch  Ver- 
fassung oder  selbständige  Gesetze  festgelegt  ist, 
ein  Gegengewicht,  das  die  weitgehende  Abhängig- 
keit der  Etatsfeststellung  von  dem  Ermessen  und 
Willen  des  Reichstags  eindrucksvoll  hervortreten 
läßt. 

Was  im  ordentlichen  Etat  die  Matrikularbeiträge  sind,  ist 
im  außerordentlichen  Etat  die  Anleihe.  Nach  Art.  73  RV. 
ist  die  Zustimmung  des  Reichstags  zur  Aufnahme  einer  Anleihe 
erforderlich;   die   Aufnahme   kann  nur  in  Fällen  eines   außer- 


Matrikularsystem  liegende  Bewilligungsrecht  nicht  verkürzen  zu  lassen,  wurden 
die  Überweisungen  an  die  Einzelstaaten  so  bemessen,  daß  diese  das  Erhaltene 
in  der  Hauptsache  als  Matrikularbeiträge  an  das  Reich  wiederum  zurück- 
zahlen mußten! 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  393 

ordentlichen  Bedürfnisses  erfolgen.  Ohne  den  Reichstag  also 
kein  Einvernehmen  über  Regelung  und  Deckung  des  außer- 
ordentlichen Bedarfs,  ohne  den  Reichstag  keine  Verständigung 
über  den  Begriff  und  Maßstab  des  außerordentlichen  Bedürf- 
nisses. Dieser  Teil  des  Einnahm ebewilligungsrechts 
wird  gewöhnlich  stark  unterschätzt.  Wenn  man  sich 
aber  vergegenwärtigt,  daß  von  der  Gesamtsumme  der  Einnahmen 
durch  Anleihe  gedeckt  wurden  im  Etatsjahr  1905  der  siebente, 
in  1906  der  neunte,  in  1907  der  zehnte,  in  1908  der  elfte,  in 
1909  der  vierzehnte,  in  1910  der  achtzehnte  Teil  der  Einnahmen, 
Beträge  zwischen  152  und  342  Mill.  Mark,  so  wird  man  zu 
richtiger  Würdigung  dieses  Einnahmefaktors  und  seiner  budget- 
rechtlichen  Grundlage  gelangen.  Im  Laufe  der  Jahrzehnte  haben 
Bundesrat  und  Reichstag  von  der  von  der  Verfassung  offenbar 
gemeinten  Voraussetzung  für  die  Heranziehung  von  Anleihen 
sich  soweit  entfernt,  daß  sogar  Fehlbeträge  im  ordentlichen 
Etat  durch  das  Mittel  der  Anleihe,  der  sog.  Zuschuß  an  leihe, 
vor  der  Hand  beseitigt  wurden. 

Angesichts  dieser  Entwicklung  wäre  es  vollkommen  irrig, 
etwa  aus  der  zuletzt  in  den  Jahren  1904,  1906  und  1909  vor- 
genommenen teilweisen  Einschränkung  der  Überweisungspolitik, 
aus  der  Vereinbarung  über  die  Höhe  der  Matrikularbeiträge 
für  eine  fünfjährige  Periode  oder  aus  dem  im  §  5  des  Flotten- 
gesetzes vom  14.  Juni  1900  ausgesprochenen  Verzicht  auf  das 
Recht  der  jährlichen  Ausgabebewilligung  auf  ein  schwindendes 
Interesse  des  Reichstags  in  budgetrechtlicher  Beziehung  schließen 
zu  wollen.  Das  wäre  vielleicht  eine  noch  größere  Täuschung 
als  die  Auffassung,  die  in  den  Matrikularbeiträgen  bloß  eine 
rechnungsmäßige  Operation  erblickt.  Die  entwickelten  Tat- 
sachen zeigen,  daß  der  Reichstag  den  entgegen- 
gesetzten Weg  gegangen  ist,  zielbewußt  wollend 
und  erfolgreich  vollbringend  gegangen  ist,  und  nun 
und  nimmer  würde  er  sich,  ohne  den  entschiedensten  Wider- 
stand zu  leisten,  von  dieser  konsequent  innegehaltenen  Bahn 
abbringen  lassen. 

VII.  Die  parlamentarische  Behandlung  des  Budgets. 

Sie  äußern  sich  bereits  in  dem  in  bestimmten  regelmäßigen 
Zeiträumen,  meist  alljährlich  wiederkehrenden,  finanzpolitischen 
Vorstadium,  der  Vorbereitung  des  Etats.  In  England  ist 
die  Aufstellung   der  Etats   nicht  ausschließlich   Sache   der   zu- 


394  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

ständigen  Finanzbehörden.  Nachdem  die  von  den  Ressort- 
ministern übersandten  Ausgabeetats  im  Schatzamt  eingegangen 
sind,  werden  sie  dort  von  sechs  MitgHedern  des  Unterhauses, 
die  als  Kommissare  und  Sekretäre  fungieren,  unter  Leitung  des 
Ersten  Lords  des  Schatzes  und  des  Schatzkanzlers,  die  Mitgheder 
der  Regierung  sind,  durchgeprüft  und  in  der  Form,  in  der  sie 
die  committees  of  the  whole  house  beschäftigen  sollen,  aufgestellt. 
Der  Einnahmeetat  mit  den  Bestimmungen  über  die  beweglichen 
Einnahmen  (Einkommensteuer,  Verbrauchszölle,  Steuererhö- 
hungen usw.)  wird  in  der  Treasury  aufgestellt.  Dieser  ist 
andererseits  die  Einwirkung  auf  die  einzelnen  Positionen  des 
Armee-  und  Marineetats  entzogen,  eine  Beschränkung  ihrer  Be- 
fugnisse, die  auch  darin  zum  Ausdruck  kommt,  daß  die  Etats 
der  Armee-  und  der  Marineverwaltung  im  Unterhause  von  den 
beiden  zuständigen  Ressortministern,  nicht  vom  Chancellor  of 
the  Exchequer  vertreten  werden.  Somit  hat  tatsächUch  das 
Parlament  als  solches  oder  wenigstens  die  Mehrheit  des  Parla- 
ments, aus  der  die  genannten  Minister  hervorgegangen  sind, 
über  die  Aufstellung  sämtlicher  Etats  zu  befinden. 

Diese  sogleich  im  Vorstadium  einsetzende  Beteiligung  von 
Abgeordneten  an  der  Butgetgebarung  weicht  erheblich  ab  von 
dem  im  Reiche  und  in  den  meisten  deutschen  Einzelstaaten 
üblichen  System,  wonach  Vorbereitung  und  Aufstellung  des 
Etats,  die  natürlich  in  Gemäßheit  der  bestehenden  Gesetze,  der 
Grundsätze  der  Verwaltung,  der  Bedürfnisse  der  Staatswirtschaft, 
nicht  zuletzt  in  Gemäßheit  der  in  den  Parlamenten  hervor- 
getretenen Wünsche  und  Auffassungen  erfolgen  muß,  ganz  in 
den  Händen  der  vollziehenden  Gewalten  liegen;  aber  das  in 
England  übliche  Verfahren  gewährt  doppelten  Vo r - 
teil.  Ein  großer  Teil  des  Mißtrauens,  das,  oft  genug  in 
der  Unkenntnis  der  Verhältnisse  begründet,  gegen  die  Voran- 
schläge und  Forderungen  der  Regierung,  bzw.  der  Einzelressorts 
zu  bestehen  pflegt  oder  aus  parteipolitischen  Motiven,  besonders 
seitens  der  Opposition  zur  Schau  getragen  wird,  ist  von  vorn- 
herein ausgeschaltet.  Die  an  der  Vorbereitung  des  Budgets  be- 
teiligten Partei  Vertreter  werden  jede  Position  gewissenhaft  darauf- 
hin prüfen,  ob  sie  mit  den  gesetzlichen  Bestimmungen  im  Ein- 
klang steht  und"^  nicht  auf  prinzipiellen  Widerspruch  seitens  der 
Parteien,  in  deren  Auftrag  sie  als  Kommissare  fungieren,  zu 
rechnen  hat.  Das  Parlamentsstadium  der  Budgetgebarung  kann 
infolgedessen  ruhiger,  leidenschaftsloser,  sachlicher  verlaufen 
und  auch  hinsichtlich  der  Dauer  in  bemerkenswertem  Umfang 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  395 

eingeschränkt  werden,  indem  Auskünfte,  Berichtigungen,  über- 
haupt Auseinandersetzungen  nicht  in  dem  Umfange  erforder- 
lich werden  wie  da,  wo  Staatsbehörden  und  Ministeriahnstanzen 
allein  die  verantwortlichen  Redakteure  sind.  In  England  be- 
steht nun,  nach  verschiedenen  Phasen  im  Jahre  1902  abge- 
schlossen, die  Einrichtung  der  20  bzw.  23  allotted  days  für 
die  eigentliche  Budgetberatung.  In  der  Praxis  stellte  sich  näm- 
lich heraus,  daß  die  Vorbereitung  des  Budgets  unter  Mitwirkung 
von  Unterhausmitgliedern  und  die  anderen  Umstände,  die  die 
Budgetberatung  zeitlich  hätten  einschränken  können  (Entlastung 
der  Budgetberatung  durch  das  permanente  Budget,  Fehlen  der 
Initiative  zu  Mehrbewilligungen  u.  a.  m.)  keineswegs  diese  Wir- 
kung gehabt  haben.  Aber  weshalb  konnte  sich  diese  Wirkung 
nicht  einstellen?  Weshalb  wurden  die  zweite  und  dritte  Lesung 
der  die  votes  der  beiden  committees  zusammenfassenden  Bill 
bis  an  das  Ende  der  Session,  gewöhnlich  Anfang  August,  hinaus- 
geschoben, ja,  die  Session  damit  geschlossen?  Es  ist  das  Be- 
dürfnis der  stets  und  ständig  um  ihre  Machtstellung  besorgten 
und  bemühten  Parlamentsregierung,  das  hier  seine  Wirkungen 
äußert.  Tatsächlich  nämlich  ist  die  Budgetberatung,  wenigstens 
das,  was  man  gewöhnlich  darunter  versteht,  keineswegs  auf 
jene  20  oder  23  Tage  beschränkt.  Als  allotted  days  kommen 
nur  diejenigen  Sitzungstage  in  Betracht,  die  ausschließlich  der 
Beratung  der  jährlichen  Voranschläge  für  Heer,  Flotte  und 
Zivildienst  gewidmet  sind.  Verhandlungen  über  das  Budget 
oder  im  Anschluß  an  das  Budget  —  Debatten  allgemein  poli- 
tischer Natur  —  können  auch  an  zahlreichen  anderen  Sitzungs- 
tagen stattfinden;  z.  B.  an  den  Sitzungen,  deren  Tagesordnung 
Budgetangelegenheiten  erst  an  zweiter,  dritter  usw.  Stelle  nennt. 
Auch  sonst  schützt  die  Frist  der  20  Tage  nicht  im  mindesten 
vor  ausgiebiger  Benutzung  der  Handhaben  und  Anknüpfungs- 
punkte, die  das  Budget  zu  politischen  Exkursen  und  Kritiken 
bietet,  und  tatsächlich  zieht  sich,  ähnlich  wie  im  Deutschen 
Reich,  die  parlamentarische  Behandlung  des  Budgets  über  einen 
Zeitraum  von  reichlich  fünf  Monaten  hin,  wobei  noch  zu  be- 
achten ist,  daß  vielfach  an  einem  und  demselben  Tage  Doppel- 
sitzungen (nachmittags  und  abends)  behufs  Förderung  der  Budget- 
beratung abgehalten  werden. 

Welche  Unsummen  von  Schwierigkeiten,  Hemmnissen, 
Verzögerungen,  Gefahren  und  Erschwerungen  könnten  dabei 
entstehen  und  der  ruhigen,  normalen  Abwicklung  der  Etats- 
arbeit hinderhch   werden,    wenn   nicht    durch    das  Zusammen- 


396  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 


wirken  von  Regierung  und  Unterhaus  bei  der  Aufstellung  der 
Voranschläge  durch  die  Einrichtung  des  Consolidated  fund  und 
des  Systems  der  stehenden  Einnahmen,  durch  das  alljährlich 
wiederkehrende  Budgetprovisorium,  durch  die  Vorschußver- 
pflichtung der  Bank  von  England,  durch  die  Beteiligung  des 
ganzen,  zum  Ausschuß  gewandelten  Hauses,  in  dem  der  Aus- 
schußvorsitzende den  Platz  des  Speaker  einnimmt,  an  der  Ein- 
nahme- und  Ausgabefeststellung,  in  dem  committee  of  ways 
and  means,  ganz  besonders  auch  durch  das  Bewußtsein,  daß 
das  System  der  allotted  days  unter  allen  Umständen  einen  un- 
erläßlichen Zwang  für  die  rechtzeitige  (nach  englischer 
Anschauung)  Verabschiedung  der  beiden  Finanzgesetze  darstellt, 
vor  allem  aber  durch  die  Prärogative  der  Krone,  wovon 
später  die  Rede  sein  soll,  eine  weitgehende  Gebundenheit  ge- 
schaffen wäre,  eine  Gebundenheit,  die  der  parlamentarischen 
Regierung  und  Verwaltung  in  England  als  notwendiges,  segens- 
reiches und  unentbehrliches  Korrelat  gegenübergestellt  ist^). 

In  der  gleichen  Richtung  wirkt  ein  anderes  Moment. 

Das  Unterhaus  als  solches,  d.  h.  als  Plenarversammlung, 
besitzt  keinerlei  Initiativrecht  in  Geldangelegenheiten. 
Ein  solches  steht  nur  dem  als  committee  formierten  Hause  zu, 
aber  mit  der  wichtigen  Einschränkung,  daß  die  commitees  nur 
Anträge  auf  Herabsetzung  der  in  den  Voranschlägen  ausge- 
brachten Positionen  stellen  dürfen.  Dagegen  ist  der  Träger 
der  Krone  auch  auf  dem  finanziellen  Gebiet  in  seinem  Ver- 
hältnis zum  Unterhause  mit  sehr  weitgehenden  Befugnissen  und 
Rechten  ausgestattet.  Die  Regierung  stellt  einen  entsprechenden 
Antrag,  etwa  in  der  Form:  ....  that  a  sum  not  exceeding 
^  .  .  .  .  be  granted  to  His  Majesty  to  complete  the  sum 
necessary  etc.  Die  Mitglieder  des  Kabinetts  sind  aber  nicht  in 
der  Lage,  wichtige  Gesetzentwürfe  ohne  die  ausdrückliche  Ge- 
nehmigung des  Herrschers  dem  Parlament  vorzulegen  2).  Auch 
dadurch  werden  in  großer  Zahl  Streitfragen  ferngehalten,  wie 
sie  im  Deutschen  Reiche  durch  den  Reichskanzler,  in  Preußen 
durch  den  mit  einem  Vetorecht  ausgestatteten  Finanzminister, 
letzten  Endes   durch   den  König   entschieden  werden    müssen. 


')  Wie  anders  in  Frankreich,  wo  die  Erledigung  des  Finanzgesetzes, 
diese  wichtigste  Aufgabe  der  Volksvertretung,  häufig  hinter  dem  heillosen 
Unfug  endloser  Interpellationen  zurücktreten  muß.  (Heckel  bei  Elster,  Wb. 
der  Volksw.  I,  577.) 

*)  Auf  dieser  Basis  haben  im  Jahre  1909  die  Lords  ihren  Operationsplan 
zur  Bekämpfung  des  „revolutionären"  Budgets  aufgebaut. 


Blum,  Biulgetrecht  und  Finanzpraxis.  397 

Das  bei  Money  Bills  zur  Anwendung  kommende  Verfahren  ist 
in  den  standing  Orders  50 — 61  geregelt.  Danach  können  Money 
Bills  nur  eingebracht  werden  auf  besondere  Veranlassung  der 
Krone  (royal  recommandation)  und  nur  durch  jene  Mitglieder 
des  Unterhauses,  welche  Minister  oder  wenigstens  Privy  Coun- 
cillors  sind  ^).  Das  gleiche  gilt  nach  stand,  ord.  62  für  die 
Appropriationsakte.  Mag  über  den  positiven  Wert  des  könig- 
lichen Vetorechts  gestritten  werden,  die  Existenz  und  praktische 
Bedeutung  des  Royal  Assent  ist  nicht  zu  bezweifeln. 
Hatschek,  der  förmlich  nach  Gelegenheiten  sucht,  um  die  Über- 
legenheit und  die  unbeschränkte  Macht  der  parlamentarischen 
Regierungsform  zu  betonen,  muß  (Bd.  I  p.  645)  mit  Rücksicht  auf 
die  Etatspraxis  folgende  Sätze  niederschreiben:  »Seit  der  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  vollzieht  sich  ein  Wandel  der  Anschauungen, 
der  bewirkt,  daß  man  die  Vetobefugnis  der  Krone  heute  als 
antiquiert  betrachten  muß.  Sie  hängt  mit  der  in  den  Geschäfts- 
ordnungsregeln seit  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  begründeten 
ministeriellen  Präponderanz  zusammen,  die  bewirkt,  daß  eine 
Bill  von  Bedeutung  heut  unmöglich  von  jemand  anderem  als 
von  Ministern  der  Krone  eingebracht  werden  kann.  Da  die 
Krone  nun  von  vornherein  ihren  Ministern  eine  ihr  unpassend 
scheinende  Bill  einzubringen  verbieten  darf,  so  haben  wir  es 
heut  faktisch  mit  einer  Art  Vor  Sanktion  von  Gesetzen  zu 
tun,  die  der  Krone  an  Stelle  des  früheren  Veto  zusteht.« 
Hatschek  führt  gleichzeitig  aus  einer  am  29.  Juni  1854  im 
Unterhause  gehaltenen  Rede  des  Premierministers  Lord  Derby, 
einem  ausgesprochen  Hochtory,  die  folgenden  Sätze  an:  »Die 
Autorität  der  Krone  ruht  nicht  auf  dem  Veto,  das  sie  gegenüber 
Gesetzbeschlüssen  des  Parlaments  theoretisch  besitzt,  sondern 
auf  dem  Recht  der  besonderen  Einflußnahme,  das  sie  ihren 
Ministern  gegenüber  ausüben  kann  und  durch  sie  gegenüber 
beiden  Häusern,  was  ihr  Gelegenheit  bietet,  ihr  Urteil  über 
gesetzgeberische  Maßregeln  abzugeben,  bevor  diese 
dem  Parlament  unterbreitet  werden,  nicht  nachher.«  So  auch 
Lord  Palmerston  im  Jahre  1860:  »Daß  das  königliche  Veto 
der  Krone  aufgehört  habe,  ist  ein  großer  Irrtum.  Diese  Be- 
fugnis lebt  nach  wde  vor,  aber  sie  ward  jetzt  in  anderer  Art 
ausgeübt.  Statt  daß  sie  ausgeübt  wird,  wenn  die  Gesetz- 
entwürfe dem  Royal  assent  unterbreitet  werden,  erfolgt  sie 
durch   Anticipation   vor  den  Debatten   und  Verhandlungen 


^)  Mitgeteilt  bei  Hatschek,  Englisches  Staatsrecht,  Bd.  I  p.  463. 


398  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

des  Parlaments.«  In  genauester  Übereinstimmung  damit  be- 
stätigt William  R.  Anson  in  vollem  Umfang  diesen  Tatbestand 
für  die  Gegenwart.  Er  führt  aus  (the  law  and  custom  of  the 
Constitution,  4.  Aufl.  Oxford  1909,  p.  315  f.):  »If  the  King  in 
modern  times  disapproved  of  proposed  legislation,  he  would 
begin  his  Opposition  earlier.  He  can  inform  bis  ministers 
that  a  bin  which  they  intend  to  propose  is  distasteful  to  him, 
and  that  he  cannot  entertain  it.  If  the  ministers  insist  upon 
their  measure  he  can  dismiss  them  and  employ  others,  in  the 
hope  that  those  others  may  be  supported  by  Parliament.  He 
thus  appeals  from  his  ministers  to  Parhament.  If  Parliament, 
in  its  desire  for  this  particular  measure,  refuses  its  confidence 
to  the  new  ministers  and  puts  them  in  a  minority  on  divisions 
upon  important  questions,  the  King  has  once  more  resource. 
He  can  dissolve  Parliament  and  appeal  to  the  country.  If  the 
constituencies  return  a  new  Parliament  pledged  to  the  measure, 
of  which  the  Crown  disapproves,  this  last  resource  has  failed. 
It  remains  for  the  Crown,  in  the  words  of  Lord  Macaulay,  to 
yield,  to  abdicate,  or  to  fight.« 

In  bezug  auf  Finanzgesetze  betont  Anson  ausdrücklich, 
daß  sie,  wenn  sie  von  den  Commons  und  den  Lords  ange- 
nommen sind,  der  Zustimmung  der  Krone  bedürfen,  um 
Gültigkeit  zu  erlangen:  »A  money  bill  is  a  grant  of  supply 
or  an  appropriation  of  supply  granted  by  the  Commons  to  the 
Crown,  and  it  needs  for  its  efficacy  the  assent  of  the  Lords 
and  the  Crown.  The  form  of  assent  to  such  a  biU  is«  —  im 
Gegensatz  zu  der  im  anderen  Falle  üblichen,  allerdings  seit 
1707  bei  der  Scotch  Militia  Bill  nicht  mehr  gebrauchten  Formel 
»le  roy  s'avisera«  —  »le  roy  remercie  ses  bons  sujets,  accepte 
leur  benevolence  et  ainsi  le  veult«. 

Über  den  Begriff  der  parlamentarischen  Souveränetät 
in  England  haben  sich  zwei  herrschende  Doktrinen  herausge- 
bildet. Die  eine,  die  communis  opinio  geworden  ist,  erblickt 
den  Rechtsgrund  und  Sitz  der  Souveränetät  in  der  »Parliament« 
genannten  Körperschaft,  die  »constituted  by  the  King,  the 
House  of  Lords  and  the  house  of  Commons « ;  die  andere,  (bei 
Austin,  Jurisprudence,  4.  Aufl.,  p.  251  ff.  vertretene)  nennt  als 
letzten  Träger  der  Souveränetät  die  Commons  oder  die  Wähler.  In 
jedem  Falle  ist  jedoch  das  Königtum  der  eine  der  drei  Fak- 
toren, aus  denen  sich  die  parlamentarische  Macht  und  Gesetz- 
gebungstätigkeit zusammensetzt.  Daher  Dicey,  Law  of  the  Con- 
stitution 1902,  p.  350:   »The  commands  of  Parliament  can 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  399 

be  uttered  only  through  the  combined  action  of  its  three 
constituant  parts«.  Die  königliche  Prärogative  in  ihrer 
allgemeinen  Bedeutung  wird  von  Dicey  (a.  a.  0.  p.  405  ff.)  in 
folgenden  Sätzen  ihrem  Inhalt  nach  erschöpft :  every  Act  of  state 
is  done  in  the  name  of  the  Crown  ....  The  personal  influence 
of  the  Crown  exists,  not  because  acts  of  state  are  done  formally 
in  the  Crowns  name,  but  because  neither  the  legal  sovereign 
power,  namely  Parliament,  nor  the  political  sovereign,  namely 
the  nation,  wishes  that  the  reigning  monarch  should  be 
without  personal  weight  in  the  government  of  the 
country  .  .  .  .  The  fact  that  all  important  acts  of  state  are 
done  in  the  name  of  the  King  ....  and  that  many  of  these 
acts  ....  are  exempt  from  the  direct  coutrol  or  supervision 
of  Parliament,  gives  the  reigning  monarch  an  opportunity  for 
exercising  great  influence  on  the  conduct  of  affairs.«  Nach 
alledem  ist  völlig  unbestreitbar,  daß  der  konstitutionelle  Herrscher 
in  England  mit  zahlreichen,  in  legitimer  Hinsicht  gänzlich  ein- 
wandfreien und  vollkommen  garantierten  Mitteln  doch  in  be- 
trächtlichem Umfange  in  die  öffentlichen  Angelegenheiten  ein- 
greifen und  auf  sie  einwirken  kann.  Auch  hier  begegnen  wir, 
ähnlich  wie  in  Preußen  und  an  derselben  maß- 
gebenden Stelle,  einem  restringierenden  und  de- 
terminierenden Faktor,  der  die  Freiheiten  und 
Befugnisse  des  parlamentarischen  Regimes,  be- 
sonders in  budgetärer  Hinsicht,  auf  ein  erträg- 
liches Maß  herabmindert! 

Diese  Verteilung  der  Rollen  bei  den  gesetzgeberischen 
Arbeiten,  dieses  Neben-  und  Gegeneinanderstellen  des  Staats- 
oberhaupts und  des  Staatskörpers,  das  Widerspiel  von  Haupt 
und  Gliedern,  das  in  historischer  Entwicklung  und  reifer  poli- 
tischer Bildung  und  Erfahrung  herausgearbeitete  System  des 
Ineinandergreifens  der  drei  Organe,  die  die  verantwortlichen 
Träger  der  Souveränetät  sind,  der  Vorbehalt,  daß  jeder  Autrag 
zm-  Beschaffung  von  Geldmitteln  von  der  Krone  ausgehen  muß, 
ferner  die  geschilderte  Art  der  Vorbereitung  der  Estimates,  die 
Heranziehung  des  ganzen  Unterhauses  zur  Kommissionsberatung 
und  demgemäß  die  frühzeitige  Entfernung  fast  aller  Konflikts- 
stoffe, der  Zwang  der  allotted  days,  die  Ausnahmestellung  der 
Consolidated  fund  Services  —  das  alles  wirkt  zusammen,  um 
trotz  vielleicht  langer  Ausdehnung  der  Budgetdebatten  eipe  nur 
teilweise  Durchberatung  der  Etatspositionen  möglich  und  erträg- 
lich  erscheinen    zu   lassen  und   trotzdem   einen   sehr   hohen 


400  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Grad  der  Solidität  und  Exaktheit  im  englischen 
Staatshaushalt  und  Budgetwesen  sicher  zustellen.  So- 
lange behebig  viele  Sitzungen  für  die  Budgetberatung  zur  Ver- 
fügung standen,  konnte  das  Unterhaus  oder  konnten  einzelne 
Parteien  immer  noch  erreichen,  daß  bestimmte  Kapitel,  auf  die 
sie  gerade  Wert  legten  oder  bei  denen  sie  bestimmte  Dinge  zur 
Sprache  bringen  wollten,  zur  Debatte  gestellt  wurden.  Diese 
Möglichkeit  ist  erheblich  eingeschränkt,  seitdem  im  Jahre  1902 
das  System  der  parlamentarischen  Guillotine  eine 
ständige  Einrichtung  geworden  ist^).  Dieses  unter  dem  kon- 
servativen Ministerium  Balfour  eingeführte  Verfahren,  wodurch 
die  Budgetberatung  im  committee  of  Supply  auf  20  bzw.  23  Tage 
vor  dem  5.  August  beschränkt  wird,  hat  also  der  vorher  häufig 
vorkommenden  außerordentlichen  Ausdehnung  der  Debatten 
über  Angelegenheiten  des  Staatshaushalts  einen  Riegel  vor- 
geschoben, andererseits  aber  einen  nicht  unbeträchtlichen  Teil 
des  Budgets  der  parlamentarischen  Behandlung  überhaupt  ent- 
zogen, wenn  auch  vielleicht  in  der  Hauptsache  gerade  den  Teil, 
der  mehr  oder  weniger  selbstverständlicher,  unbestrittener  oder 
nebensächlicher  Natur  ist,  während  die  Budgetkritik  an  die 
finanziell  wichtigsten  Votes  anknüpfen  kann.  Darin  hegt  ja 
gerade  einerderwesentlichen  Unterschiede  zwischen 
der  deutschen  und  der  englischen  Etatstechnik,  daß 
in  England  nicht  alle  Einnahmen  und  Ausgaben  auf  den  Etat 
gebracht  werden,  d.  h.  in  den  Estimates  Aufnahme  finden,  daß 
vielmehr  die  letzteren  nur  solche  Positionen  enthalten,  bei  denen 
die  Zustimmung  des  Parlaments  von  materieller  Bedeutung  ist'-*). 
Immerhin  bleibt  die  für  manchen  deutschen  Parlamentarier 
gewiß  erschreckende  Tatsache  bestehen,  daß  selbst  dieses  bereits 
so  sehr  beschränkte  englische  Budget  in  den  entscheidenden 
Stadien  auch  nicht  annähernd  seinem  ganzen  Inhalt 
nach  durch  beraten  wird.  Wiederholt  sind  im  Wege  der 
Guillotine  ungeheure  Summen  bewilligt  worden,  ohne  daß  bei 
den  betreffenden  Kapiteln   auch   nur  ein  Wort  für  oder  wider 


')  Supply  Rule  von  1896  bei  Redlich,  Recht  und  Technik,  p.  833. 

*)  Im  Reiche  und  in  Preußen  schreiben  die  Verfassungen  vor,  daß  »alle 
Einnahmen  und  Ausgaben«  auf  den  Etat  gebracht  werden  müssen.  Diese 
Vorschrift  ist  nicht  ganz  erfüllt,  indem  z.  B.  im  preußischen  Etat  7,7  Millionen 
Kronfideikommißrente  nicht  in  Ausgabe  eingestellt  sind;  sie  ist  überschritten, 
indem  als  Einnahmen  und  Ausgaben  hinterlegte  Gelder,  im  Etat  für  1910 
ca.  44  Millionen  Mark,  eingestellt  sind,  die  keine  Staatseinnahmen  sind.  Sten. 
Ber.  d.  Preuß.  Herrenhauses  30.  Mai  1910  p.  242. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanz])raxis.  401 

den  Bedarf,  Aufwand  und  Verwendungszweck  hätte  gesprochen 
werden  können^).  In  den  Kreisen  der  eigenen  Parteifreunde 
begegnete  das  Kabinett  Balfour  mit  dieser  Neuerung  scharfer 
Kritik:  »Seit  der  neuen  Budgetordnung,  welche  die  Zahl  der 
Budgetsitzungen  fest  begrenzt  —  so  erklärte  der  konservative 
Abgeordnete  Thomas  Gibson  Bowles  im  Jahre  1902  vor  dem 
Select  Committee  of  National  Expenditure  (b.  Redlich  p.  691)  — 
kümmert  sich  die  Regierung  nicht  darum,  ob  die  Debatte  über 
einzelne  Kapitel  länger  dauert  oder  nicht,  denn  am  Ende  der 
20  oder  23  Tage  fällt  die  Guillotine  automatisch  und  die  Minister 
bekommen  alle  ihre  noch  ausstehenden  Budgetforderungen  be- 
willigt, gleichviel,  ob  sie  diskutiert  sind  oder  nicht;  und  dabei 
sind  denn  auch  regelmäßig  viele  Budgetposten,  die  dringend 
einer  Diskussion  bedurft  hätten,  aber  keine  erlangt  haben.«  — 
Der  Leader  des  Hauses,  Mr.  Balfour,  suchte  solchen  Einwänden 
mit  dem  Hinweise  zu  begegnen,  daß  sich  das  Budget  alljähr- 
hch  in  allen  wesentlichen  Zügen  gleiche  und  daß  seit  vielen 
Jahren  keine  faktische  Veränderung  der  Prähminarien  durch 
die  Beratung  im  Hause  herbeigeführt  worden  sei  (Redlich  p.  226). 
Aber  zweifellos  hat  das  englische  Unterhaus,  indem  es  die 
supply  rule  von  1896  zur  standing  order  und  damit  zu  einem 
ständigen  Verfahren  erhob,  einen  nicht  unwesentlichen 
Teil  seines  konstitutionellen  Budgetrechts  preis- 
gegeben. Gewiß  kommt  es  auch  in  anderen  Parlamenten 
und  zwar  nicht  selten  vor,  so  im  deutschen  Reichstag  und  im 
preußischen  Abgeordnetenhaus  im  Frühjahr  1911,  daß  wich- 
tige Teile  des  Budgets  von  einem  mangelhaft  besetzten  und 
teilnahmslosen,  nur  mechanisch  den  Abstimmungsmodus  mit- 
machenden Hause  innerhalb  weniger  Stunden  erledigt  werden. 
Aber  das  pflegt  doch  nur  zu  geschehen,  nachdem  im  Kommissions- 
stadium und  in  vorangegangenen  Plenarverhandlungen  die  be- 
treffenden Posten  diskutiert  worden  sind.  Das  Entscheidende 
aber  ist,  daß  in  anderen,  auch  in  den  deutschen  Parlamenten 
Budgetbewilligung  und  Budgetkritik  auch  in  der  letzten  Instanz 
und  bei  jeder  einzelnen  Position  nebeneinander  hergehen  oder 
daß  wenigstens  die  Möghchkeit  dazu  gegeben  ist.  Dieser 
Möglichkeit  hat  sich  das  englische  Unterhaus  be- 
geben, und  zwar  unter  Zustimmung  der  damaligen  liberalen 

^)  Im  Jahre  1904  wurden  gegen  Sessionsschluß  28  Millionen  Pfund  ohne 
Debatte  en  bloc  bewilligt.  Sidney  Low,  The  Governance  of  England. 
London  1906.  p.  89.  Bei  Jellinek,  Festgabe  für  Laband.  Tübingen  1908. 
Bd.  L    p.  123. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  26 


402  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Opposition,  insbesondere  ihres  damaligen  Führers  Campbell 
Bannerman  und  ihrer  hervorragendsten  Budgetkenner  Courtney 
und  Harcourt.  Eine  solche  Entschließung,  zu  der  äußere  Gründe 
und  Rücksichten  auf  die  geschäftlichen  Dispositionen  des  Par- 
laments den  Anstoß  gegeben  haben,  war  nur  denkbar  unter  den 
drei  Vo raussetzungen,  daß  der  Gang  und  die  Methode  der 
Vorbereitung  des  Budgets  hinreichende  Gewähr  für  eine  zuver- 
lässige Etatsfestsetzung  gibt,  daß  erfahrungsgemäß  Verände- 
rungen an  den  Votes  auch  im  Committeestadium  nur  in  sehr 
beschränktem  Umfange  vorgenommen  werden  —  nach  Balfours 
Ausspruch  ist  die  wichtigste  Funktion  der  Budgetdebatte  kriti- 
sche Beleuchtung  der  Regierungstätigkeit  hinsichtlich  der  Politik 
und  Verwaltung  —  und  endlich,  daß  alle  Mitgheder  des  Unter- 
hauses von  dem  Gedanken  durchdrungen  sind,  es  bestehe  ein 
Zwang,  das  Budget  alljährlich  durchzubringen.  Aber  auch  unter 
diesen  Voraussetzungen  hätte  eine  Volksvertretung,  die  in  Finanz- 
angelegenheiten so  peinhch  und  gewissenhaft  denkt  und  handelt 
wie  das  englische  Unterhaus,  schwerlich  zu  einem  solchen  System 
im  Endstadium  der  Staatshaushaltsbehandlung  gegriffen,  wenn 
nicht  in  der  ganzen  Organisation  der  englischen  Finanz-  und 
Etatswirtschaft  für  einen  normalen,  allen  billigen  Anforderungen, 
allen  sachhchen  Bedürfnissen  genügenden  Verlauf  der  Budget- 
gebahrung  volle  Gewähr  gegeben  wäre  ^). 

Dabei  fehlt  es  nicht  an  Umständen  und  Gepflogenheiten, 
die  eine  reguläre  Ausübung  der  Budgetpraxis  erschweren  können 
und  in  anderen  Ländern  auch  tatsächlich  erschweren.  In  England 
wie  in  Frankreich  kommt  das  Budget  regelmäßig  nicht  vor  Beginn, 
sondern   erst   im   Laufe   des    Etatsjahres   zustande.     In   beiden 


^)  Jeze,  Le  budget.  Theoriegenerale.  Paris  1910.  p.  279.  LeParlament 
britannique  ne  vote  pas  le  budget  des  recettes.  Le  Chancelier  de  l'Echiquier.  dans 
le  budget  statement  qu'il  prononce  ä  la  Chambre  des  Communes  devant  le 
Committee  of  Ways  and  Means,  indique,  en  chiffres  ronds,  les  produits  probables, 
pour  l'annee  fiscale,  des  grandes  branches  de  revenue.  Les  Assemblees  ne 
discutent  pas,  ne  revisent  pas,  n'approuvent  pas  las  chiffres  du 
Chancelier.  Elles  ni  le  fönt  ni  pour  les  revenues  permanents,  ni 
pour  les  recettes  annuelles.  Sans  doute,  le  Parlament  donne,  chaque 
annee,  dans  le  Finance  Act,  l'autorisation  de  percevoir  certains  impots,  tels 
que   l'income   tax,    mais    il   n'en   fait   pas  l'evaluation  officielle  des  produits. 

Ebenso    Bas  table,    Public  Finance,   pag.  660 the   »estimates«  and 

the  proposed  annual  taxes  are  placed  at  once  before  the  whole  House  sitting 
as  a  committee,  and  examined  without  any  previous  inquiry.  Mini- 
sterial  responsibility  is  thereby  increased,  as  the  measures  that 
make  up  the  ensemble  of  the  budget  are  altogether  the  work  of 
the  Cabinet,  whose  liability  is  undivided. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  403 

Ländern  reicht  die  Budgetberatung  weit  hinein  in  den 
Bereich  des  Etats  Jahres,  für  das  sie  die  rechthchen  und 
die  finanziellen  Grundlagen  schaffen  soll.  Im  Deutschen  Reiche 
und  in  den  deutschen  Einzelstaaten  wird  im  allgemeinen  streng 
darauf  gehalten,  daß  Etat  und  Etatsgesetz  vor  Beginn  des 
Rechnungsjahres  verabschiedet  werden.  In  Preußen  ist  die 
nicht  rechtzeitige  Erledigung  des  Budgets  eine  seltene  Aus- 
nahme; die  darin  zum  Ausdruck  kommende  Selbstzucht  der 
beiden  Kammern  verdient  um  so  größere  Anerkennung,  als  in 
Preußen  die  meisten  Staatseinnahmen  auch  ohne  Verabschiedung 
des  Etats  forterhoben  werden  können,  und  alle  Gebühren,  Lei- 
stungen usw.,  auf  die  der  Staat  Anspruch  hat,  der  Staatskasse  auch 
ohne  daß  sie  in  den  Etat  aufgenommen  sind,  zufließen  müssen. 
Obwohl  also  eine  empfindliche  Störung  der  Staatsverwaltung 
und  Staatswirtschaft  in  keiner  Weise  zu  besorgen  ist,  hat  die 
preußische  Volksvertretung  gewissenhaft  darauf  gehalten,  daß 
nicht  bloß  die  Veranschlagung  der  Einnahmen  und  Ausgaben, 
sondern  auch  die  Etatsfestsetzung  »im  voraus«  erfolgt  und 
somit  der  Vorschrift  in  Art.  99  der  Verfassung  die  denkbar 
strengste  Auslegung  gegeben  wird.  Anders  im  Reiche.  Dort 
sind  wiederholt  sog.  Notetats  i)  erforderlich  geworden,  ganz  be- 
sonders in  den  Jahren,  in  denen  schwere  poUtische  Wirren  oder, 
vor  Beginn  sowie  unmittelbar  nach  einer  neuen  Wahlperiode, 
außerordentliche  Bedürfnisse  des  Parteiwesens  die  für  die  Er- 
ledigung des  Budgets  verfügbare  Zeit  anderweitig  in  Anspruch 
genommen  haben.  Und  doch  hätte  gerade  der  Deutsche 
Reichstag,  weil  er  stets  mit  größtem  Nachdruck  sein  Budget- 
recht, besonders  sein  Einnahmebewilligungsrecht  betont  hat,  alle 
Ursache,  mit  Rücksicht  auf  die  oft  monatelang  in  Ungewißheit 
gelassenen  einzelstaatlichen  Budgets  2)  geradezu  die  moralische 
Verpflichtung  gehabt,  den  verfassungsmäßigen  Termin  für  die 
Verabschiedung  des  Etatsgesetzes  (Art.  69  RV.)  strikte  innezu- 
halten! Anders  liegen  die  Verhältnisse  in  Bayern,  wo  der 
Etat  gewöhnhch   erst  im  zweiten  Vierteljahr  nach  Beginn  der 


^)  Im  Jahre  1911  ist  allerdings  der  bisher  einzig  dastehende  Fall  vor- 
gekommen, daß  ein  Notgesetz  nicht  erging,  obwohl  die  dritte  Lesung  des 
Eeichsetats  für  1911/12  erst  am  4.  April  1911  beendet  wurde.  Vier  Tage  lang 
hat  also  der  gesamte  Haushalt  des  Reichs  in  der  Luft  geschwebt;  für  die 
Zahlimg  der  Beamtengehälter,  die  im  voraus  gezahlt  werden,  hat  die  staats- 
rechtliche Unterlage  gefehlt  usw. 

^)  Für  den  laufenden  Reichsbedarf  wird  durch  ein  sog.  Notgesetz  für 
den  Zeitraum  von  gewöhnlich  zwei,  neuerdings  drei  Monaten  gesorgt. 

26* 


404  Blum,  Budgetrecht  und  Fiuanzpraxis. 

laufeuden  Rechnungsperiode  zustande  kommt.  Aber  wie  in 
Preußen  ist  in  Bayern  die  Regierung  befugt,  unabhängig  von 
der  BewilHgung  des  Landtages  alle  Erträgnisse  des  Staatsver- 
mögens, die  Gebühren  und  die  ständigen  Steuern,  sofern  die- 
selben nicht  vermindert  oder  erhöht  werden,  fortzuerheben. 
Überdies  spricht  die  Verfassung  (Tit.  VII  §  7)  dem  Könige 
das  Recht  zu,  die  letztbewilligten  Steuern  noch  ein  halbes  Jahr 
forterheben  zu  lassen,  falls  er  durch  außerordentliche  Umstände 
oder  äußere  Verhältnisse  verhindert  ist,  die  Stände  im  letzten 
Jahre  der  Finanzperiode  zu  versammeln  i).  Trotzdem  ist  es, 
wie  gesagt,  ein  Mangel  an  Selbstzucht  und  Verantwortlichkeits- 
gefühl, wenn  der  Etat,  obwohl  er  den  Ständen  rechtzeitig  zu- 
gegangen ist,  ein  viertel  bis  ein  halbes  Jahr  zu  spät  zustande 
kommt,  und  dieser  Mangel  steht  derjenigen  Partei  schlecht  an, 
die  im  Reichstag  am  entschiedensten  auf  Erweiterung  des 
Budgetrechts  hingearbeitet  hat,  die  also,  weil  sie  im  bayrischen 
Landtag  die  Führung  hat,  auf  die  Respektierung  der  budget- 
rechtlichen Befugnisse  und  Interessen  der  »anderen  Seite«  ganz 
besonders  Wert  legen  müßte! 

In  England  ist  weit  über  ein  Drittel,  nahezu  die  Hälfte 
der  einjährigen  Finanzperiode  bereits  verflossen,  wenn  in  dem 
Appropriation  Act  die  letzten  und  größten  Summen  für  den 
Haushalt  bereitgestellt  werden.  Für  die  Zeit  bis  zum  5.  August, 
dem  Schlußtage  der  für  die  eigentliche  Budgetberatung  kon- 
tingentierten Frist,  —  fast  gleichzeitig  mit  ihr  läuft  auch  die 
Session  ab  —  werden  in  den  votes  of  account  unmittelbar 
vor  dem  Beginn  des  Rechnungsjahres  hinreichende  Abschlags- 
summen mit  weitgehender  Bewegungsfreiheit  durch  virement 
bewilligt,  dagegen  bedarf  es  der  excess  grants,  die  in  Frank- 
reich an  der  Tagesordnung  sind,  nur  verhältnismäßig  selten 
und  in  nicht  erheblichem  Umfange.  Somit  nimmt  in  bei- 
den Ländern  unter  diesem  Gesichtspunkte  die  Budgetpraxis 
einen  analogen  Verlauf:  dort  Budget-Zwölftel,  hier  Pro- 
visorien für  ungefähr  die  gleiche  Zeitdauer.  In  beiden  Ländern 
sind  diese  Vorausbewilligungen  organische  und  nach  Lage  der 
Dinge  notwendige  Bestandteile  des  Budgetverfahrens.  Aber  in 
England  werden  nicht,  wie  es  in  Frankreich  bei  dem  Zwölftel- 
system in  budgettechnisch  roher  und  finanzpolitisch  bedenk- 
hcher  Weise  geschieht,  die  Einnahmen  wie  im  vorangegangenen 
Etatsjahr  eingehoben  und  entsprechend  die  Ausgaben  bemessen 
bis  zur  Höhe  der  für  das  Budgetprovisorium  zu  bewilligenden 

0  Heckel,  Budget,  p.  115. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  405 

Mittel,  sondern  —  und  das  ist  ein  sehr  wesentlicher  Unter- 
schied! —  die  votes  on  account  sind  bereits  auf  die  vom 
Schatzamt  im  Verein  mit  den  Kommissaren  aus  dem  Hause 
vorgelegten  Estimates  für  das  kommende  Finanzjahr  aufgebaut. 
Dadurch  wird  erreicht,  daß  in  England  die  für  das  Budget- 
provisorium im  voraus  bewilligten  Mittel  sich  mit  dem  wirk- 
hchen  Bedarf  ziemlich  genau  decken,  weil  eben  schon  die  oft 
erheblich  anders  gearteten  Budgetverhältnisse  des  neuen  Etats- 
jahres von  den  sachkundigsten  Kennern  dieser  Verhältnisse  be- 
rücksichtigt sind,  während  in  Frankreich  das  rohe,  kurzer  Hand 
disponierende  Verfahren  der  Zwölftelung  häufig  genug  ganz 
bedeutende  Differenzen  und  entsprechende  Schwierigkeiten  in 
späteren  Stadien  der  Etatspraxis  unvermeidlich  werden  läßt. 
Die  letzte  und  entscheidende  Ursache  dieser  nahezu  regelmäßig 
wiederkehrenden  Erscheinung  ist  natürlich  die  Verquickung 
der  Ressortetats  mit  Finanz-  und  Steuerreform- 
fragen, der  infolgedessen  sich  ergebende  Streit  der  Parteien, 
überhaupt  der  rücksichtslose  Mißbrauch  der  Budgetberatung 
zu  poHtisch-taktischen  Zwecken,  bei  deren  Verfolgung  in  Ländern 
mit  schrankenloser  parlamentarischer  Regierung  das  Budget 
als  die  stärkste  Waffe  im  politischen  Tageskampf  geschätzt  ist 
und  Geltung  gewonnen  hat. 

Ähnhche  Resultate  —  z.  T.  fallen  sie  noch  viel  eklatanter 
zu  Ungunsten  der  französischen  Verhältnisse  aus  —  begegnen 
immer  wieder,  wo  und  wie  man  auch  die  Art  und  Hand- 
habung der  Etatspraxis  in  Großbritannien  und  Frank- 
reich vergleichen  mag.  Um  nur  noch  einige  Beispiele  an- 
zuführen. In  England  wird  bei  Beginn  jeder  Session  neben 
anderen  ständigen  Ausschüssen  das  Committee  of  Public  Ac- 
counts  gewählt,  dessen  Mandat  für  die  ganze  Dauer  der  Session 
läuft.  Aufgabe  dieses  Ausschusses  ist  die  Prüfung  und 
Kontrolle  der  Staatsrechnungen,  insbesondere  Überwachung 
des  Budgetvollzuges  in  der  Richtung,  daß  die  bewilligten 
Ausgaben  tatsächlich  so  verwandt  werden,  wie  sie  appropriiert 
sind.  Die  während  der  ganzen  Session  ununterbrochen  aus- 
geübte, neben  der  Budgetberatung  hergehende  Tätigkeit  dieses 
Ausschusses  in  Verbindung  mit  der  des  Audit  Department  er- 
gänzt und  vervollständigt  die  mannigfachen  Kautelen,  die  die 
engUsche  Budgetpraxis  wie  mit  einer  Schutz  wehr  gegen  jeden 
Mißbrauch  der  etatsmäßigen  Befugnisse  umgibt.  In  Frankreich 
ist  der  Apparat,  der  zur  Kontrolle  des  Staatshaushalts 
in   Tätigkeit   gesetzt  wird,    sehr   viel   umfangreicher   und   um- 


406  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

ständlicher :  die  gesetzgebenden  Körperschaften,  die  Verwaltungs- 
behörden, die  Gerichte  werden  nach-  und  nebeneinander  be- 
müht, um  Unregelmäßigkeiten  in  der  Einnahme-  und  Ausgabe- 
wirtschaft zu  verhüten  und  die  Ausführung  der  Budget- 
besclilüsse  zu  überwachen.  Aber  die  legislative  Kontrolle  kann 
ihre  Tragweite  nicht  bis  auf  die  Einzelheiten  der  Rechnungs- 
legung ausdehnen,  sie  erstreckt  sich  nur  auf  die,  welche  die 
Ausgaben  anordnen  und  die  Mittel  anweisen,  aber  nicht  auf 
die  Rechnungsbeamten,  sie  ist  nur  eine  halbe  Kontrolle,  nur 
der  erste  Teil  einer  Revision.  Die  administrative  Kontrolle,  die 
mit  periodischen  Revisionen  und  Inspektionen  eine  unausgesetzte 
Überwachung  ausübt  und  ebensowohl  die  Anweiser  wie  die 
Verwalter  der  Staatsgelder  in  ihren  Bereich  zieht,  ist  voll 
ständiger  und  genauer  als  die  legislative  Kontrolle,  aber  ihr 
Wirken  entzieht  sich  mehr  der  Öffentlichkeit  und  entbehrt  der 
völligen  Unabhängigkeit.  Endlich  die  gerichtliche  Kontrolle 
oder  der  Rechnungshof  (cour  des  comptes).  Er  ist  heute  nur 
noch  ein  Gerichtshof,  der  Beschlüsse  faßt,  eine  Art  Zensur- 
behörde, die  über  die  allgemeine  Führung  der  Finanzgeschäfte 
Erklärungen  und  Berichte  veröffentlicht,  die  nur  den  Wert 
haben,  den  die  öffentUchen  Gewalten  und  die  öffentliche 
Meinung  ihnen  beilegen,  und  die  in  keiner  Weise  einen  Zwang 
zu  energischem  Einschreiten  gegen  Mißbräuche  begründen. 
Dem  Bestehen  und  Zusammenwirken  dieser  drei  Institutionen 
zum  Trotz  bleiben  in  der  Kontrolle  des  Budgetvollzugs  und 
Staatshaushalts  empfindliche  Lücken  und  Mängel.  Leroy- 
Beaulieu  (p.  141)  schildert  sie  folgendermaßen:  1.  Dem  Rech- 
nungshof steht  keine  Jurisdiktion  gegen  die  ordonnateurs  zu. 
2.  Die  Beziehungen  zwischen  dem  Rechnungshof  und  den 
Kammern  sind  nicht  eng  genug.  3.  Ein  nicht  geringer  Teil 
der  öffentlichen  Gelder  bleibt  von  der  legislativen  und  gericht- 
lichen Kontrolle  und  sogar  von  der  administrativen  Kontrolle 
völlig  unberührt.  Eine  ganz  andere,  sehr  viel  größere  Be- 
deutung hat  der  Rechnungshof  in  verschiedenen  anderen 
Ländern:  in  Belgien,  in  den  Niederlanden,  in  Italien^)  können 

^)  Von  dem  Werte  und  der  Zweckmäßigkeit  des  in  England,  Belgien, 
Holland  und  Italien  üblichen  Systems  der  sog.  Präventivkontrolle  ist 
Leroy-Beaulieu  so  durchdrungen,  daß  er  die  Untersuchungen  über  die 
Rechnungs-  und  Wirtschaftskontrolle  in  seinem  Vaterlande  mit  dem  Urteil 
und  Vorschlag  abschließt  (p.  158):  »Les  democraties  modernes,  particulierement 
dans  le  domaine  financier  oü  elles  montrent  tres  peu  de  prevoyance,  ont 
besoin  de  frein.  Le  controle  preventif  de  la  cour  des  Cornj^tes  en  est  un; 
s'il   n'est  pas   d'une  efficacite  absolue,  il  serait  utile  dans  nombre  de  cas,  et 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  407 

Staatsgelder,  ohne  daß  die  dem  franzößischen  Rechnungshof  ent- 
sprechende Behörde  dazu  autorisiert  hat,  nicht  verausgabt  werden. 

In  England  ist  das  System  der  Präventivkontrolle  so 
gestaltet,  daß  der  Comptroller  and  Auditor  General  of  the 
Public  Account  und  sein  Stellvertreter  (Deputy  Comptroller),  — 
die  vom  Schatzamt  ernannt  werden,  ihre  Gehälter  unter  den 
Consolidated  fund  Services  beziehen,  also  ohne  daß  sie  in  den 
Estimates  ausgebracht  und  vom  Parlament  bewilligt  werden, 
und  nur  auf  Antrag  beider  Häuser  des  Parlaments  von  der 
Krone  entlassen  werden  können,  also  weit  emporgehoben  sind 
über  die  subalterne  und  unfreie  Stellung  der  Mitgleder  des 
französischen  cour  des  comptes,  —  die  Anweisungen  zu  kon- 
trolUeren  und  festzustellen  haben,  ob  die  Verwendung  der 
Staatsgelder  nach  Maßgabe  der  Zweckbestimmung  und  des  Be- 
trages mit  den  Votes  in  den  committees  und  dem  Inhalt  des 
Appropriation  Act  übereinstimmt.  Aus  der  Bank  von  England 
kann  auf  bloße  Anweisung  des  Exchequer  kein  Penny  für 
Staatszwecke  gezalilt  werden,  es  bedarf  dazu  noch  der  Autorisation 
durch  den  obersten  Beamten  des  Exchequer  and  Audit  Depart- 
ment. (Ein  charakteristisches  Beispiel  für  die  peinliche  Ge- 
nauigkeit, mit  der  diese  Behörde  ihr  Amt  versieht,  zugleich 
aber  auch  ein  gewichtiges  Zeugnis  für  die  Selbständigkeit  und 
Machtvollkommenheit,  die  das  Exchequer  and  Audit  Department 
besitzt,  gibt  Hatschek  a.  a.  0.  Bd.  I  p.  463  Anm.  1.) 

Die  größeren  Vorteile  der  Rechnungslegung  und  Staats- 
haushaltskontrolle in  England  im  Vergleich  zu  dem  französischen 
System  sind  nicht  zu  verkennen.  Hierüber,  insbesondere  über  die 
Wirkungen  des  Prinzips  der  comptes  d'exercice,  ist  bei  Stourm, 
le  budget,  Kap.  5,  116  f.  und  128  f.  und  bei  Leroy-Beaulieu 
ausführlich  gehandelt.  Der  letztere  erläutert  das  Gesetz  vom 
25.  Januar  1889,  das  in  seiner  ursprünglichen  Fassung  derart 
abgeändert  ist,  daß  die  Budgetperiode,  soweit  es  sich  handelt 
um  Fertigstellung  begonnener  Arbeiten,  um  Zahlungsanweisungen, 
Zahlungen,  Ergänzungskredite,  Virements  usw.,  mit  dem  vierten 
Monat  nach  Ablauf  des  Etats  Jahres  und,  soweit  es  sich  um 
Operationen  der  Rechnungslegung  handelt,  mit  dem  siebenten 
Monat  des  neuen  Etatsjahres  endet.  Das  ist  zweifellos  ein 
Fortschritt  gegenüber  dem  früheren  Zustande,  als  Ausgaben 
eines  Etatsjahres,  wenn  sie  nicht  bis  zum  Ende  des  siebenten 
Monats   nach  Ablauf   des   Etats  Jahres    gemacht   waren,    immer 

tout    au    moins    il    instruit    le   pays   des   infractions  legales  dont  celui-ci  est 
victime  et  le  met  en  etat  de  se  defendre«. 


408  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

wieder  in  das  folgende  Etatsjahr  übernommen  werden  mußten. 
Trotz  der  vorgenommenen  Abschwächung  und  Verkürzung  ist 
aber  auch  jetzt  noch  die  Dauer  der  comptes  d'exercice  reichhch 
lang  (in  anderen  Staaten  überschreitet  die  Zuschlagsfrist  nicht 
2  bis  2Y2  Monate)  und  kann  sich  in  der  Praxis  mit  den 
comptes  de  gestion,  der  Rechnung  nach  dem  Etatsjahr,  die 
jedoch  ohne  eine  streng  disziplinierte  Budgetpraxis  auch  ihre 
Mängel  hat,  nicht  messen.  Anderes  kommt  hinzu.  Wenn  am 
Ende  des  Etats  Jahres  überschüssige  Kredite  zur  Verfügung 
stehen  —  vorausgesetzt,  daß  ihre  Verwendung  nicht  gesetzlich 
festgelegt  ist  —  wird  an  die  Staatsbehörde  die  Versuchung  her- 
antreten können,  unnötige  oder  doch  nicht  dringende  Arbeiten 
in  Angriff  zu  nehmen,  also  öffentliche  Gelder  zu  verausgaben, 
ohne  daß  ein  absolut  unerläßlicher  Zwang  vorliegt.  Der  Anreiz 
zu  einem  solchen  Verfahren  ist  um  so  größer,  wenn  Widerruf 
(annulation)  und  Entziehung  der  bewilligten  Kredite  drohen. 
Ein  langjähriger  Budgetberichterstatter  der  französischen  Kammer, 
der  spätere  Finanzminister  Georges  Cochery,  also  zweifellos  ein 
zuverlässiger  Kenner  der  Verwaltungspraxis,  sagt  (bei  Leroy- 
Beaulieu  p.  151)  darüber  in  einem  Referat  von  1887:  »II  n'est 
personne  parmi  ceux  qui  sont  un  peu  inities  aux  pratiques  ad- 
ministratives qui  ne  sache  que  les  administrations  n'eprouvent 
aucun  scrupule  ä  engager  apres  le  31.  decembre  et  jusqu'ä  la 
cloture  de  l'exercice  des  depenses  nouvelles  contrairement  ä  tout 
droit.  —  On  epuise  ainsi  les  fonds  de  cette  premiöre  annee  afin 
de  ne  rien  laisser  tomber  en  annulation  ....  les  pratiques  se 
renouvellent  en  vertu  d'une  tradition  plus  forte  que  les  ministres 
eux-memes.«  Nur  um  sich  nicht  der  Gefahr  auszu- 
setzen, daß  ein  nicht  in  Anspruch  genommener  Kredit 
zurückgezogen  wird,  entschließt  sich  die  Verwaltungs- 
behörde zu  Ausgaben,  ein  System,  das  unter  Umständen 
einer  Vergeudung  von  Staatsvermögen  gleichkommen  kann. 
Eine  weitere  Wirkung  solcher  Praktiken  ist,  daß  nur  noch  in 
seltenen  Fällen  eine  Zurückziehung  unbenutzter  Kredite  erfolgen 
wird.  Auch  Stourm  fällt  über  die  comptes  par  exercices,  wie 
sie  in  Frankreich  gehandhabt  werden,  ein  sehr  abfälliges  Urteil, 
a.  a.  O.  p.  116/7,  118/9,  chapitre  V  passim. 

Nach  alledem  kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  die 
Rechnung  nach  Gebarungsperioden,  wenn  diese  letz- 
teren um  mehrere  Monate  über  das  eigentliche  Etatsjahr  hinaus 
ausgedehnt  werden,  ihre  großen  Bedenken  hat,  weil  sie  Unregel- 
mäßigkeiten und  Unzuträglichkeiten  Tür  und  Tor  öffnet.    Auch 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  409 

in  den  deutschen  Staatshaushalten  ist  die  Rechnung  nach  Ge- 
barungsperioden übhch;  aber  überall  handelt  es  sich  nur  um 
eine  ganz  kurze  Spanne  Zeit,  um  die  das  Etats  jähr  betreffs  der 
Fälligkeit  von  Einnahmen  und  Ausgaben  verlängert  wird,  oder 
die  Eigenart  der  staatlichen  Betriebsverwaltungen  nötigt  zu 
Konzessionen  in  dieser  Richtung;  im  letzteren  Falle  sind  dann 
Rechnungslegung,  Kreditgewährung,  Einnahmebuchung  usw. 
genau  geregelt.  Auf  dem  Etat  der  preußischen  Berg-  und 
Hüttenverwaltung  werden  die  Erlöse,  die  für  verkaufte  Erzeug- 
nisse vor  Schluß  des  Rechnungsjahres  fällig  geworden  sind, 
aber  erst  im  folgenden  Jahre  eingehen,  in  der  Rechnung  des 
Etatsjahres,  in  dem  der  Verkauf  getätigt  ist,  als  Einnahmerest 
ausgebracht  —  ein  Verfahren,  das  zweifellos  eine  größere 
Klarheit  und  Wahrheit  des  Etats  gewährleistet  als  die 
Methode  der  Verrechnung  auf  das  neue  Etatsjahr.  Denn  für 
die  Staatswirtschaft  kommt  auf  das  Prinzip,  —  ob  Verrechnung 
nach  Maßgabe  der  rechthchen  Ermächtigung,  des  Fälhgkeits- 
termins  usw.  —  herzlich  wenig,  alles  aber  auf  die  Erkenntnis 
an,  ob  ein  Staatsbetrieb  mit  Gewinn,  mit  welchem  Gewinn  und 
unter  welchen  Bedingungen  er  arbeitet.  Zu  solcher  Betrach- 
tungsweise und  Urteilsbildung,  zugleich  auch  zu  einem  Urteil 
über  die  Frage,  ob  im  Staatshaushalt  das  Brutto-  oder  das 
Nettobudget  den  Vorzug  verdient,  läßt  sich  nur  gelangen, 
wenn  in  jedem  einzelnen  Etatsjahr  den  Betriebsmitteln  und 
Betriebskosten  die  Betriebserträge  gegenübergestellt  werden.  Im 
Bereich  der  preußischen  Staatsbahnverwaltung  werden  zahlreiche 
Einnahmen,  aber  noch  weit  mehr  Ausgaben  erst  nach  Ablauf 
des  Etatsjahres  fällig.  Trotzdem  werden  sämtliche  Einnahmen 
und  Ausgaben  auf  den  Jahresetat  gebracht,  dem  sie  tatsächlich 
angehören.  Dieses  Streben  und  Bemühen,  den  natürlichen 
Zusammenhang  der  Dinge  festzuhalten  und  dem  außen- 
stehenden Dechargeberechtigten,  der  Volksvertretung,  ein  mög- 
lichst richtiges,  möglichst  anschauliches  und  vollständiges  Bild 
der  Wirtschaftsgebarung  einer  staatlichen  Verwaltung  zu  geben, 
geht  sogar  so  weit,  daß  in  Preußen,  für  die  Forstverwaltung  und 
die  Lotterieverwaltung,  zwölfmonatige  Zeiträume  zugrunde  gelegt 
werden,  die  mit  Rücksicht  auf  die  Eigenart  des  staatswirtschaft- 
lichen Betriebs  (Saison,  Absatzverhältnisse,  Organisation  usw.) 
zweckmäßiger  sind  als  das  von  April  bis  März  laufende  Etats- 
jahr. Mit  Recht  haben  derartige  Erwägungen  und 
Grundsätze  Prinzip,  Theorien  und  Schablone  zu- 
gunsten der  Etatspraxis  und  der  Etatswahrheit  in  den 
Hintergrund  gedrängt. 


410  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Was  die  zeitliche  Dauer  der  Gebarungsperioden  betrifft,  so 
kommen  auch  in  deutschen  Staaten  mehrmonatige  Supplements- 
fristen vor.  Aber  nahezu  in  allen  Fällen  ist  durch  Gesetz  Vor- 
sorge getroffen,  daß  der  über  das  Etatsjahr  hinausgreifenden 
Budgetpraxis  nur  geringer  Spielraum  und  nebensächliche  Be- 
deutung bleibt.  So  bestimmt  in  Preußen  das  Staatshaus- 
haltsgesetz vom  11.  Mai  1898  in  §  14  genau  diejenigen  Ein- 
nahmen- und  Ausgabenkategorien,  in  denen  Verrechnungen 
noch  nach  Ablauf  des  Etatsjahres,  spätestens  im  dritten  Monat 
des  neuen  Etats  Jahres  stattfinden  dürfen.  Wie  überall,  wo  ein 
Komptabilitätsgesetz  existiert  (z.  B.  in  Hessen,  Baden,  auch  in 
Italien),  ist  auch  in  Preußen  dadurch  ein  hoher  Grad  von  So- 
lidität, Realität  und  Loyalität  der  gesamten  Budgetpraxis  und 
Finanzgebarung  sichergestellt^).  Dazu  kommt  die  KontroU- 
tätigkeit  der  Oberrechnungskammer:  sie  hat,  von  ver- 
einzelten Ausnahmen  abgesehen  (z.  B.  Kap.  44  Tit.  15  und 
Kap.  95  Tit.  1),  alle  Staatsrechnungen  daraufhin  zu  prüfen,  ob 
sie  belegen,  daß  der  Staatshaushalt  in  allen  seinen  Teilen  und 
gemäß  allen  Gesetzen  und  sonstigen  Unterlagen,  auf  denen  er 
beruht,  zur  Ausführung  gebracht  ist  2).  Aber  mit  dieser  retro- 
spektiven und  kritischen  Tätigkeit  ist  das  Wesen  der  Ober- 
rechnungskammer nicht  erschöpft.  Sie  steht  in  allen  Ange- 
legenheiten ihres  Ressorts  gegenüber  den  Provinzial-  und  Spe- 
zialbehörden  im  Verhältnis  einer  vorgesetzten  Behörde  mit  dem 
Recht,  zur  Durchsetzung  ihrer  Anordnungen  Ordnungsstrafen 
zu  verhängen  und  Unangemessenheiten  zu  rügen.  Ebenso  ordnet 
sie  gegen  schuldige  Beamte  die  weitere  Verfolgung  an  (Gesetz 
vom  27.  März  1872,  preuß.  Verf.  Art.  104  Abs.  2  und  3).  End- 
lich ist  die  Oberrechnungskammer,  deren  oberste  Beamte  vom 
Könige  ernannt  werden,  dem  Landesherrscher  verantwortlich 
(durch  Vorlegung  eines  Geschäftsberichts).  Für  das  Deutsche 
Reich  fehlt  noch  immer  ein  Komptabilitätsgesetz 3).    Die  Kon- 


*)  Im  Reiche,  wo  ein  Gesetz  über  die  Einnahmen  und  Ausgaben  des 
Reiches  und  den  Rechnungshof  seit  langem,  neuerdings  in  einer  Resolution 
gefordert  ist,  würde  ein  solches  Gesetz,  ebenso  wie  das  preußische  Staatshaus- 
haltsgesetz von  1898,  ein  „Beitrag  zur  Erziehung  zur  Sparsamkeit"  sein 
(Reichstagssitzung  T.März  1911). 

^)  Gegenwärtig  werden  75  °/o  der  Staatseinnahmen  stichprobenweise  ge- 
prüft. Vgl.  Verhandlungen  der  verstärkten  Rechnungskommission  des  Ab- 
geordnetenhauses betr.  den  Gesetzentwurf  zur  Abänderung  der  Vorschriften 
über  Abnahme  und  Prüfung  der  Rechnung.    1911. 

^)  Seine  Vorlegung  ist  wohl  nur  eine  Frage  der  Zeit.  Jedoch  hat  der 
Reichsschatzsekretär  bereits  erklärt,  daß  die  Bestinmiungen  des  Reichseigen- 


Blum.  Bud^etrecht  und  Finanzpraxis.  411 

trolle  des  Reich shauslialts  erfolgt  auf  Grund  alljährlich 
ausgesprochener  gesetzhcher  Ermächtigung  durch  den  Rech- 
nungshof des  Deutschen  Reiches,  der  mit  der  Oberrechnungs- 
kammer im  wesentlichen  identisch  ist.  Auch  die  Rechnungs- 
legung erfolgt  in  der  Hauptsache  nach  den  für  Preußen  gelten- 
den Grundsätzen  (cf.  RV.  Art.  69,  72,  Ges.  5.  Februar  1906, 
4.  Juh  1868,  5.  März  1875.  Dazu  das  Reichskontrollgesetz  vom 
21.  März  1910^).  Im  übrigen  ist  auch  der  Reichstag  auf  Grund 
der  Verfassung  in  gewissem  Umfange  im  Besitze  eines  Kontroll- 
rechts. Nach  Art.  72  RV.  hat  der  Reichskanzler  dem  Bundes- 
rat und  dem  Reichstag  über  die  Verwendung  aller  Einnahmen 
des  Reiches  zur  Entlastung  jährlich  Rechnung  zu  legen,  der 
Reichstag  übt  also  hinsichtlich  der  Einnahmen  und  Ausgaben 
eine  Kontrolle  aus.  Eine  mittelbare  Kontrollbefugnis  ist  ferner 
enthalten  in  Art.  17  RV.,  wonach  der  Reichskanzler  für  die  von 
ihm  gegenzuzeichnenden  Anordnungen  und  Verfügungen  des 
Kaisers  die  Verantwortung  zu  übernehmen  hat.  Endlich  ist  in 
Art.  4  RV.  ausdrücklich  gesagt,  daß  dem  Reiche  die  Gesetz- 
gebung und  die  Beaufsichtigung  in  gewissen  Materien  zusteht  2). 
Auf  ihm  beruht  in  der  Hauptsache  die  gesamte  kontrol- 
lierende Tätigkeit  des  Reichstages. 

Überblickt  man  in  ihrer  Gesamtheit  die  in  den  Dienst  der 
Staats-  und  Verfassungskontrolle  gestellten  Bestimmungen  und 
Einrichtungen  in  den  verscliiedenen  Ländern,  so  wird  man  auf 
Grund  der  angeführten  Urteile  und  Zeugnisse  französischer, 
den  Dingen  sehr  nahe  stehender  Sachkenner  sich  dem  Eindruck 
nicht  entziehen  können,  daß  gerade  da,  wo  die  absolute 
Herrschaft  und  Machtvollkommenheit  der  Volksver- 
tretung über  die  Staatswirtschaft  die  allergewissen- 
hafteste   und   peinlichste  Überwachung   und  Nachprü- 

tumsgesetzes  vom  25.  Mai  1873,  die  der  Verwaltung  die  nötige  Beweglichkeit 
gewähren,  um  Schädigungen  der  Reichsfinanzen  zu  verhüten,  materiell  er- 
halten bleiben  müssen  (Reichstagssitzung  7.  März  1911). 

')  Das  Reichskontrollgesetz  vom  21.  März  1910  ist  lediglich  ein  tempo- 
räres Gesetz,  dessen  praktische  Folgen  erprobt  werden  sollen,  um  eine  end- 
gültige gesetzliche  Regelung  herbeiführen  zu  können.  Berl.  Pol.  Nachr.  vom 
29.  Juni  1911. 

*)  „Die  beiden  Organe  des  Reichs  sind  der  Bundesrat  und  der  Reichs- 
tag. Nun  haben  die  Gründer  unseres  Reiches  sehr  weise  die  Beaufsichtigung 
der  Legislative  hinzugefügt;  denn  was  nützt  uns  die  Legislative  —  also  auch 
die  Etatsgesetzgebung  (d.  Verf.)  —  wenn  wir  die  Regierungen  nicht  inter- 
pellieren können,  wenn  ein  Gesetz  entgegen  dem  Gedanken  der  Gesetzgeber 
angewendet  wird?  Es  muß  also  die  Beaufsichtigung  hinzukommen."  (Abg. 
Dr.  Junck  [nl.]  Sitzung  des  Reichstages  vom  4,  Februar  1910,  p.  1064  B). 


412  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

fung     unbedingt     geboten     erscheinen     lassen     sollte, 
manches,  wenn  nicht  vieles  zu  wünschen  übrig  bleibt. 

VIII.  Die  finanzpolitische  Praxis, 

Wir  haben  den  Abschnitt  über  die  Staatsrechnung,  Be- 
handlung der  Reste,  die  Budgetkontrolle  usw.  vorweggenommen, 
um  zu  zeigen,  wieviel  unnötige  Arbeit  erspart  werden  kann, 
wieviel  Kompetenzschwierigkeiten  persönlicher  und  sachlicher 
Art  sich  vermeiden  lassen,  und  vor  allem,  wieviel  au  Exaktheit 
und  Klarheit  für  die  gesamte  Finanzwirtschaft  zu  gewinnen 
ist,  wenn  Staatshaushaltsplan  und  Wirklichkeit  in 
möghchst  weitem  Umfange  sich  decken.  Eine  vollständige 
Übereinstimmung  wird  natürlich  niemals  zu  erzielen  sein. 
Denn  wenn  schon  in  jeder,  auch  der  kleinen  Einzelwdrtschaft 
die  Rechnung  über  das  Verhältnis  der  Einnahmen  zu  den 
Ausgaben  selten  so  aufgeht,  wie  bei  vorsichtigster  Aufstellung 
und  sorgfältigster  Berücksichtigung  aller  Tatumstände  und 
Wahrscheinlichkeitsmomente  erwartet  werden  darf,  so  läßt  sich 
im  Staatshaushalt  das  praktisch -positive  Schalten  und  Walten 
der  vorausliegenden  Etats-  oder  Gebarungsperiode  noch  sehr 
viel  weniger  übersehen.  Der  Berechnung  und  vorsichtigen 
Abwägung  aller  Möglichkeiten  zum  Trotz  behält  sich,  um 
ein  joviales  Wort  des  früheren  Reichsschatzsekretärs  Wermuth 
zu  wiederholen,  die  Zukunft  doch  noch  immer  eine  stattliche 
Anzahl  von  Improvisationen  vor.  Aber  gerade  weil  diese 
Perspektive  droht,  weil  es  gewiß  ist,  daß  unweigerlich  Ab- 
weichungen in  der  Einnahme-  und  Ausgabewirtschaft  sich 
einstellen,  müssen  die  verschiedenen  Faktoren,  die  an  dem  Zu- 
standekommen des  Budgets  teilhaben,  den  wirklichen  Verhält- 
nissen möglichst  nahezukommen  suchen  oder  für  die  Fälle 
einer  nachträglichen  Ordnung  unvorhergesehener  Vorgänge  im 
Staatshaushalt  rechtzeitig  und  ausreichend  Vorsorge  treffen. 
Die  bei  der  letzteren  Aufgabe  sich  ergebenden  Schwierigkeiten 
sind  allerdings  noch  viel  mannigfaltiger  als  die  Ursachen  und 
Umstände,  die  den  sorglich  gezeichneten  Kreis  der  Voranschläge 
und  etatisierten  Vorausberechnungen  zu  stören  pflegen.  Die 
beiden  gefährhchsten  Khppen,  durch  die  das  Schiff,  das  die 
Staatsfinanzverwaltung  trägt,  hindurchgesteuert  w^erden  muß, 
sind    Überschuß     und     Fehlbetrag  i).       Ist    jener    auch 

*)  Das  bekannteste  Beispiel  des  künstlichen  Fehlbetrages,  die  Francken- 
steinsche  Klausel,   mit   der  bewirkt  wurde,   daß   die  eigenen  Einnahmen  des 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  413 

zweifellos  das  weitaus  kleinere  Übel,  so  ist  er  doch  nicht  etwa 
bloß  deshalb  gefährlich,  weil  er  das  Gleichgewicht  im  Etat 
stört  und  wegen  seiner  budgetmäßigen  Behandlung  Schwierig- 
keiten macht.  Das  Bedenkliche  und  Bedrohliche  einer  regel- 
mäßigen oder  auch  nur  durch  mehrere  Jahre  andauernden 
Überschuß  Wirtschaft  liegt  vielmehr  in  seinen  Ursachen  und 
andererseits  in  seinen  Wirkungen.  Rein  rechnungsmäßige 
Überschüsse  werden,  da  die  Wirtschaftskonjunkturen  wechseln 
und  Produktions-  und  Konsumptionskräfte  bald  in  aufsteigender, 
bald  in  absteigender  Linie  sich  bewegen,  immer  nur  für  kürzere 
Zeit  in  die  Erscheinung  treten,  werden  in  gewissen  Perioden 
und  auf  gewissen  Gebieten  verschwinden  und  wiederkehren. 
Sie  werden  auch  im  allgemeinen,  bei  normalem  Gang  des 
AVirtschaftslebens,  sich  in  mäßiger  Höhe  bewegen,  und  nur, 
wenn  ungewöhnlich  günstige  Momente  die  Einnahmeentwicklung 
beeinflussen  —  was  z.  B.  in  der  Eisenbahnverwaltung  infolge 
einer  durch  Steuererhöhungen  veranlaßten  Voreinfuhr  abgabe- 
pflichtiger Waren,  infolge  einer  ausgedehnten  Streikbewegung 
ausländischer  Bergarbeiter  und  dadurch  bedingter  erhöhter 
Kohleuausfuhr  usw.  eintreten  kann  —  werden  Ausnahmen  von 
der  Regel  möglich  und  Überraschungen  zu  erwarten  sein. 
Solche  natürlichen,  in  einer  gesunden  Finanzgebarung  be- 
gründeten Überschüsse,  zumal  es  sich  fast  immer  um  ver- 
hältnismäßig geringe  Beträge  handelt,  werden  zumeist  auch 
ohne  nachteilige  Wirkungen  bleiben.  Wenn  sie  im  Etatsjahr 
hervortreten  oder  sich  aus  der  Rechnung  ergeben,  wird  die 
Finanzverwaltung,  die  nicht  ein  einzelnes  Wirtschaftsjahr  im 
Auge  hat,  sondern  ihren  Motiven  und  Maßnahmen  einen 
längeren  Zeitraum  zugrunde  zu  legen  gewöhnt  ist,  um  ihre 
angemessene,  dem  Haushalt  zuträgliche  Verwendung  nicht  in 
Verlegenheit  kommen.  Anders  bei  den  künstlichen  Über- 
schüssen. Wie  sie  ihrer  Entstehung  nach,  wenn  sie  nicht 
etwa  in  finanzpolitischer  Hinsicht  erzieherisch  wirken  sollen 
oder  durch  unabweisliche  Staatsnotwendigkeiten  veranlaßt  sind, 
einer  ungesunden  Auffassung  entspringen  und  häufig  eine 
Verdunkelung  der  Etatslage  bezwecken,  so  pflegen  auch  ihre 
Wirkungen  und  Folgen  recht  oft  bedenklicher  Art  zu  sein. 
Künsthche  Überschüsse  müssen  den  Anschein  einer  über  den 
unerläßlichen    Bedarf    hinaus    leistungsfähigen    Finanzlage    er- 


Reichs zur  Deckung  des  Bedarfs  nicht  ausreichten.    Vgl.  Handwb.  d.  Staatswiss. 
(Artikel  Reichsfinanzen)  Bd,  7  p.  96  d. 


414  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

wecken  und  werden  daher  nur  zu  leicht  zur  Bewilhgung  un- 
nötiger oder  unzeitgemäßer  Ausgaben  verführen.  Unter  solchen 
Umständen  von  »Überschüssen«  zu  sprechen,  ist  ein  ganz  un- 
berechtigter und  dazu  törichter  Euphemismus.  Denn  wenn 
man  berücksichtigt,  wie  derartige  »Überschüsse«  zustande  ge- 
kommen sind,  wird  man  hinter  dieser  vertrauenerweckenden 
Bezeichnung  zum  mindesten  ein  großes  Fragezeichen  zu 
machen  haben  i). 

Außerordentliche  Unterschiede  in  der  Finanzgebarung 
der  einzelnen  Rechnungsjahre  werden  verschleiert  durch  ein 
Einnahmeverkettungssystem,  von  dem  Leroy-Beaulieu 
treffend  sagt:  »II  resulte  qu'un  meme  excedent  de  recettes 
apparait  dans  trois  ou  quatre  budgets  successifs,  passant  de 
Tun  ä  l'autre  comptant  pour  quatre  fois  sa  valeur,  comme  les 
soldats  du  cirque  qui,  sortant  d'un  cote  et  rentrant  de  l'autre, 
semblent  etre  trois  ou  quatre  fois  plus  nombreux  qu'ils  ne  le 
sont.«  Derselbe  Autor  bemerkt  an  anderer  Stelle:  »Les  deficits 
qui  sont  la  rögle  chez  nous  sont  en  general  beaucoup  plus 
eleves  qu'en  apparence.«  (Er  begründet  diese  Bemerkung  ein- 
gehend p.  108  f.  Anm.)  Auch  das  ist  bezeichnend  genug. 
Schärfer  und  treffender,  als  es  in  dem  famosen  Bilde  von  den 
Zirkusstatisten  geschehen  ist,  kann  der  Zusammenhang 
zwischen  Budgetrecht  und  Budgetpraxis  in  Frankreich 
nicht  beleuchtet,  aber  auch  die  Verlegenheit  nicht  drastischer 
vor  Augen  gestellt  werden,  die  den  Freunden  der  parlamen- 
tarischen Regierung  und  eines  möglichst  schrankenlosen  Budget- 
rechts, einer  möglichst  vollständigen  Herrschaft  des  Parlaments 
über  die  Staatswirtschaft  das  Beispiel  der  französischen  Etats- 
politik bereiten  muß.  Wenn  Hatschek  nicht  umhin  kann, 
solche  grundsätzlichen  und  für  die  Staatsfinanzen  ungemein 
bedeutsamen  Unterschiede  zwischen  Budgetrecht  undEtats- 

0  Charakteristische  Beispiele  bei  Leroy-Beaulieu  p.  107  f.  Die  jüngste 
Vergangenheit  hat  hierin  keine  Änderung  gebracht.  Nahezu  ein  Jahrhundert 
hindurch  ist  Frankreich  der  geschilderten  Budgetpraxis  treu  geblieben.  Zu 
einer  dem  Budget  für  1910  beigegebenen  Nachweisung  über  die  Defizits  der 
ordentlichen  Budgets  von  1814—1908  (1087,5  Millionen  Frs.)  wird  in  »The 
Statemans  Year  book  (1910)  bemerkt:  »This,  however,  does  not  represent 
the  actual  deficit  arising  fi-om  the  difference  between  the  ordinary  revenue 
and  the  total  expenditure,  nor  even  those  arising  from  the  difference  between 
the  total  revenue  and  total  expenditure.  Moreover,  almost  uninteiTuptedly, 
80  as  to  make  it  the  rule  and  not  the  exception,  the  budgets  voted 
by  the  representatives  of  the  nation  have  shown  a  small  surplus,  while  the 
jCompte  definitif  published  a  number  of  years  afterwards,  has  exhibited  a 
large  deficit.« 


Blum,  Budgjetrecht  und  Finanzpraxis.  415 

praxis  in  England  und  Frankreich,  unbedingt  zugunsten 
des  monarchischen  und,  wie  wir  gesehen  haben,  mit  einem 
vielfach  beschnittenen  und  beschränkten  Budgetrecht  aus- 
gestatteten England  zuzugeben,  dann  sind  nach  ihm  solche 
Vorzüge  und  Vorteile  »nur  auf  die  besser  betriebene  und  ver- 
standene parlamentarische  Regierung  in  England  zurück- 
zuführen«. Nein,  die  Gründe  dafür  sind  ganz  anderer,  sind 
weit  gewichtigerer  Art,  sie  liegen  sehr  viel  mehr  in  den  Dingen 
als  in  den  Personen;  wir  glauben  das  hinreichend  bewiesen  zu 
haben. 

Oder  soll  etwa  in  so  willkürlicher  Weise  auch  die  Tatsache 
erklärt  werden,  daß  in  England  der  tatsächliche  Staatsbedarf 
den  Voranschlägen  ziemUch  genau  entspricht,  daß  dagegen  in 
Frankreich  —  allerdings  auch  infolge  eines  Systems,  das  mit 
der  Vorbereitung  des  Budgets  bereits  15  Monate  vor  dem  Etats- 
jahre beginnt  —  ganz  außerordentliche  Differenzen  zwischen 
Voranschlag  und  Wirklichkeit  regelmäßig  wiederzukehren 
pflegen?  In  den  Jahren  1878  bis  1886  —  die  Jahre  1871  bis 
1877  haben  mit  Rücksicht  auf  den  Krieg  und  seine  finanziellen 
Konsequenzen  auszuscheiden  —  haben  regelmäßig  hohe  Supp- 
lementkredite, im  Minimum  48  Millionen  Frs.,  im  Maximum 
375  MilHonen  und  240  MiUionen  (1878  und  1879)  und  180  Mil- 
lionen (1885)  bewilhgt  werden  müssen.  Etwas  besser  wurde  es 
in  der  Periode  1887 — 1890,  als  Rouvier  mehrere  Male  das 
Ressort  des  Finanzministeriums  inne  hatte.  Aber  dann  folgen 
wieder  Zusatzkredite  von  über  100  Millionen  Frs.  alljährhch 
bis  1894.  In  den  Etatsjahren  1887—1895  waren  NachbewilK- 
gungen  in  Höhe  von  fast  860  Millionen  Frs.  erforderhch, 
d.  h.  im  Jahresdurchschnitt  wurde  der  Voranschlag  um  etwa 
95  Milhonen  überschritten.  Ein  gänzhch  anderes  Bild  in  Eng- 
land. In  Frankreich  in  der  Periode  1887  bis  1895  ein  durch- 
schnittUches  Plus  von  76  Milhonen  Mark,  in  England  in  den 
Jahren  1890—1892  ein  durchschnittliches  Plus  von  0,8  Mil- 
Honen Mark  bei  einem  Gesamtbedarf  von  5296  Milhonen  Mark  i) ! 
Auch  in  dem  Jahrzehnt  1898/1907  waren  in  Frankreich  starke 


*)  Carl  C.  Plehn,  Introduction  to  Public  Finance,  Third  Edit.,  p.  330. 
The  estimates  both  of  revenues  and  expenditure  are  made  with  such  great 
care,  that  there  is  seldom  either  a  surplus  or  a  deficit  of  any  large 
amount  at  the  end  of  the  year.  According  to  Bastable  the  estimates 
of  expenditure  in  England  for  the  three  years  1889—1892,  as  compared 
with  the  result,  show  an  error  of  only  £  137000  in  a  total  of  £  264000000 
or  a  little  over  1  s  per  £  100. 


416  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Differenzen  zwischen  den  vorhandenen  Einnahmen  einschUeß- 
lich  der  Anleihen  und  dem  tatsächhchen  Ausgabebedarf  regel- 
mäßige Erscheinungen.  In  sieben  Jahren  ein  Surplus,  darunter 
das  geringste  in  Höhe  von  60  Millionen  Frs.  (1905),  das  größte 
im  Betrage  von  110,6  Millionen  Frs.,  in  den  übrigen  drei  Jahren 
Fehlbeträge,  darunter  solche  von  125,6  und  116,8  Millionen  Frs. 
In  das  Budget  für  1910  mußte  von  vornherein  ein  Fehlbetrag 
von  rund  205  Millionen  Frs.  eingestellt  werden,  der  zur  Hälfte 
das  Ergebnis  der  Fehlbeträge  aus  früheren  Budgetperioden  war^). 

In  England  können  zu  der  Effektuierung  von  supple- 
mentary  grants  nach  standing  order  15  drei  Möglichkeiten 
Anlaß  geben:  sie  können  als  Ergänzung  zu  den  estimates  of 
a  previous  Session  hinzutreten,  oder  sie  können  im  Bereich  der 
Kriegsverwaltung  erforderlich  werden  und  sind  dann  »votes  for 
supplementary  or  additional  estimates  presented  by  the  govern 
ment  for  war  expenditure « ,  oder  endhch  sie  dienen  zur  Deckung 
neu  aufgetretener,  im  committee-Stadium  nicht  vorherzusehender 
Ausgaben:  »votes  for  any  new  Service  not  included  in  the 
ordinary  estimates  for  the  year,  and  any  additional  estimates 
for  any  new  matter  in  the  original  estimates  for  the  year.« 
Wenn  zu  diesem  Auskunftsmittel  der  supplementary  grants 
verhältnismäßig  selten  und  zumeist  mit  mäßigen  Beträgen  ge- 
griffen wird,  so  dürfte  man  auch  darin  eine  Wirkung  der 
straffen  finanzpolitischen  Disziplin,  die  dem  Engländer 
wohl  bis  zu  einem  gewissen  Grade  im  Blute  liegt,  aber  auch 
durch  die  Festlegung  bestimmter  Einnahmen  und  Ausgaben 
und  durch  die  Minderung  der  budgetrechtlichen  Befugnisse  an- 
erzogen ist,  und  zwar  wiederum  eine  günstige  Wirkung  zu  er- 
blicken haben.  In  derselben  Richtung  wirkt  zweifellos  der 
Umstand,  daß  der  Appropriation  Act  erst  in  einem  verhältnis- 
mäßig späten  Zeitpunkt  des  Etatsjahres,  gewöhnhch  erst,  wenn 
sich  seine  erste  Hälfte  ihrem  Ende  zuneigt,  zustande  kommt. 
Das  Unterhaus  ist  also  in  der  Lage,  den  Lauf  der  Staats- 
wirtschaft während  der  Dauer  mehrerer  Monate  zu  beobachten 
und  dementsprechend  die  noch  erforderlichen  Mittel  zu  bemessen. 
Die  original  estimates  werden  in  normalen  Etatsperioden  davon 
nicht  berührt.  Eine  Ausnahme  brachte  das  Etatsjahr  1909/10. 
Am  19.  April  1910  hatte  der  Schatzkanzler  Lloyd  George  das 
am  30.  November  1909  von  den  Lords  abgelehnte  Budget  für 
1909/1910   wieder  vorgelegt,    es   enthielt   ein    voraussichtliches 

')  Hazell,  Annual  1910,  p.  261. 


Blum,  Budgetrecht  und  Fin^nzpraxis.  417 

Defizit  von  15,8  Millionen  Pfd.,  hauptsächlich  infolge  Zurück- 
haltung steuerbarer  Artikel  im  Plinblick  auf  bestehende  Steuer- 
pläue,  ferner  infolge  Steigerung  der  Ausgaben  für  die  Flotte 
und  die  Altersversicherung.  Dazu  kamen  noch  einige  klei- 
nere Ausfälle,  so  daß  nach  Maßgabe  der  geltenden  Steuer- 
gesetze im  Voranschlag  ein  Defizit  von  16,5  Millionen  Pfd. 
angenommen  war.  Am  22.  Oktober  desselben  Jahres  1910 
zog  der  Schatzkanzler  im  Unterhause  einen  Vergleich  zwischen 
den  tatsächlichen  Ergebnissen  der  Einnahme-  und  der  Aus- 
gabeseite des  Staatshaushalts  und  den  im  Budget  veran- 
schlagten Summen;  gleichzeitig  machte  er  Mitteilung  von 
den  Modifikationen,  die  der  Finanzgesetzentwurf  im  committe- 
Stadium  erfahren  hatte,  und  von  den  inzwischen  eingeführten 
neuen  Steuern  und  Steuererhöhungen,  die,  wie  üblich,  so- 
fort in  Kraft  getreten  waren.  Er  betonte  dabei,  daß  es  ein 
seltenes  Vorkommnis  sei ,  daß  man  die  ursprünglichen 
Estimates  auf  Grund  der  Erfahrungen  des  halben  laufenden 
Etatsjahres  berichtigen  könne. 

Die  schwierige  Lage  der  englischen  Finanzverwaltung  war 
vor  allen  Dingen  durch  die  Ausfälle  an  Steuern  und  Abgaben 
herbeigeführt  worden.  Nicht  bloß  nicht  die  Beschlüsse  des 
committee  of  ways  and  means,  nicht  bloß  nicht  die  Resolutionen 
des  whole  house,  sondern  nicht  einmal  die  Bestimmungen  der 
vom  Unterhause  in  drei  Lesungen  ordnungsgemäß  verabschiedeten 
finance  bill  haben  die  Abführung  der  geforderten  Mehr-  und 
Neuabgaben  der  land  tax,  der  house  duty  und  der  income  tax 
an  die  Staatskasse  sicherzustellen  vermocht.  Selbstverständlich 
mögen  von  den  Zahlungspflichtigen  nicht  wenige  aus  purer 
Oppositionslust  oder,  um  gegen  die  neuen  Lasten  zu  pro- 
testieren, so  gehandelt  haben.  Aber  ausschlaggebend  war  für 
sie  der  Rechtsstandpunkt:  solange  die  Zustimmung  der 
Lords  und  die  Erteilung  des  royal  assent  zweifelhaft  war, 
lehnten  sie  ab,  einfache,  w^enn  auch  wiederholte  Beschlüsse 
des  Unterhauses  als  gesetzlich  verbindhche  Vorschriften  an- 
zuerkennen. Ein  weiteres  Kriterium  für  den  Wert 
der  Behauptung,  das  Unterhaus  besitze  ein  unein- 
geschränktes Verfügungsrecht  über  die  Finanzwirt- 
schaft des  Staates! 

Aber  dieser  in  der  neueren  enghschen  Finanzgeschichte 
einzig  dastehende  Vorgang  liefert  auch  einen  beachtenswerten 
Beitrag  zur  Beurteilung  der  englischen  Budgetpraxis  und  Finanz- 
wirtschaft.   So  folgerichtig  und  unanfechtbar  der  gekenn zeich- 

Zeitschrift  für  Politik.   6.  27 


418  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

nete  Rechtsstandpunkt  war,  die  Möglichkeit  bUeb  doch,  daß 
dem  an  gewissenhafte  Erfüllung  der  Staatspfiichten  gewöhnten, 
nach  seiner  ganzen  Anlage  gewöhnten  Engländer  Bedenken 
kommen  konnten,  ob  er  die  von  ihm  verlangten  Beträge  zurück- 
behalten sollte  oder  nicht,  daß  er  das  Gefühl  haben  mochte, 
in  einen  Konflikt  zwischen  Recht  und  Pflicht  hineingedrängt 
zu  werden.  In  diesem  Widerstreit  hat  das  Rechtsgefühl  den 
Sieg  davongetragen.  Gewiß  nicht  nur  vermöge  seiner  inneren 
Kraft.  Zwei  Erwägungen  haben  entscheidend  mitgesprochen. 
Einmal  erschien  die  Befriedigung  der  neuen  Geldbedürfnisse 
nicht  besonders  dringlich.  Durch  das  System  der  alljährlich 
wiederkehrenden  Budgetprovisorien  —  die  erforderlich 
werden,  weil  die  Finanzbehörden  bei  Beginn  des  Rechnungs- 
jahres ohne  Geldmittel  sein  würden,  die  Ersparnisse  bzw.  Über- 
schüsse aus  dem  abgelaufenen  Finanzjahr  aber  unter  keinen  Um- 
ständen zur  Bedeckung  von  Ausgaben  des  neuen  Etatsjahres 
übernommen  und  verwendet  werden  dürfen  —  sind  für  die 
Monate  April  bis  Anfang  August  jedes  Rechnungs- 
jahres die  Ausgaben  im  voraus  bedeckt.  Im  Rechnungs- 
jahr 1909/10  geschah  dies  durch  den  am  30.  März  1909  er- 
gangenen Consolidated  Fund  (Nr.  2)  Act  1909  (Public  General 
Acts  9  Edward  VII),  der  das  Schatzamt  zur  Ausgabe  von  nahezu 
48,5  Mill.  Pfd.  aus  dem  Consolidated  fund  ermächtigte.  Für 
mehr  als  den  dritten  Teil  des  Rechnungsjahres  1909/10  waren 
also  die  erfahrungsgemäß  benötigten  Mittel  bereits  vor  seinem 
Beginn  vorhanden.  Dank  den  gesetzlich  festgelegten  und  daher 
ständig  fließenden  Einnahmen  war  für  eine  Reihe  weiterer  Mo- 
nate volle  Deckung  des  Staatsbedarfs  gesichert.  Für  den  Rest 
der  Budgetperiode  und  den  nicht  zur  Vereinnahmung  gelangten 
Betrag  konnte  —  und  darin  liegt  ein  zweites  finanzwirtschaft- 
liches Charakteristikum  —  unbedenklich  der  Weg  der  Anleihe 
beschritten  werden. 

Denn  die  zur  Deckung  vorübergehenden  Bedarfs 
aufgenommenen  Gelder  werden  in  kürzester  Frist  zu- 
rückgezahlt. Jeder  Consolidated  Fund  Act  und  jeder  Appro- 
priation Act  enthält  bezüglich  der  Treasury  Bills  die  Bestimmung, 
daß  die  Einlösung  der  Schatzscheine  spätestens  am  letzten  Tage 
des  Rechnungsjahres,  auf  das  eins  der  erlassenen  Finanzgesetze 
sich  bezieht,  erfolgen  muß.  Und  betreffs  sonstiger  Leihgelder 
ist  bestimmt:  »Any  money  borrowed  otherwise  than  on  Treasury 
Bills  shall  be  repaid  ....  out  of  the  growing  produce  of  the 
ConsoHdated  Fund,   at  any  period  not  later  than  the  next 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  419 

succeeding    quarter    to    that    in    which    the    money    was 
borrowed.« 

In  England  sind  für  eine  effektive  Schulden- 
tilgung wohl  die  stärksten  Garantien  gegeben,  die 
ein  Großstaat  besitzt.  Der  old  sinking  fund,  die  Tilgung 
aus  dem  Fonds,  der  aus  den  rechnungsmäßigen  Überschüssen 
zu  bilden  ist,  ist  beibehalten;  dazu  wurde  am  Ende  der  sieb- 
ziger Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  der  new  sinking  fund 
errichtet,  der  zwar  nur  wenig  bedeutende  Summen  zur  Tilgung 
hergibt,  aber  doch  dadurch,  daß  er  eine  feststehende  Summe 
anweist  und  so  die  Etatsfeststellung  erleichtert,  einen  gewdssen 
Einfluß  ausübt;  endlich  seit  1867/68  das  durch  Gladstone  ein- 
geführte System  der  Schuldentilgung  mittels  Zeitrenten  (Annui- 
täten), das  im  Jahre  1883  unter  Herabsetzung  der  Rente  bis 
1904,  und  im  Jahre  1899,  mit  Wirkung  auf  die  Sparkassen- 
annuität, bis  1911  bzw.  1923  verlängert  wurde.  Dreifach  ist 
also  die  Schuldentilgung  gesichert.  Seit  mehr  als  40  Jahren 
ist  in  England  nicht  nur  der  feste  Wille  zur  Schuldentilgung 
vorhanden,  er  ist  durch  Gesetz  zu  einem  obligatorischen 
System  erhoben  und  auch  mit  Erfolg  betätigt  worden.  Gerade 
in  den  letzten  Jahren  hat  die  Schuldentilgung  in  England  sehr 
entschiedene  Fortschritte  gemacht.  In  der  Periode  1903/4  bis 
1908/9  sind  im  Jahresdurchschnitt  über  11  Mill.  Pfd.  getilgt 
worden.  Selbst  im  Rechnungsjahr  1909/10,  also  in  dem  Jahre,  in 
dem  die  Finanzverwirrung  einen  für  englische  Verhältnisse 
ganz  ungewohnt  hohen  Grad  erreicht  hatte,  ist  sowohl  die 
Funded  Debt  wie  auch  die  Last  der  Terminable  Annuities  (Zeitrenten 
für  die  Dauer  des  Lebens  einer  bestimmten  Person  oder  für 
eine  bestimmte  Zeit,  nach  deren  Ablauf  sie  erlöschen),  jene 
von  621,8  auf  614,9  Mill.,  diese  von  38,0  auf  35,8  Mill.  Pfd. 
ermäßigt  worden.  Ebenso  haben  die  Other  Capital  Liabilities, 
zumeist  im  Anleihewege  bestrittene  außerordentliche  Ausgaben 
für  Flotten-  und  Heereszwecke,  die  vierte  Gruppe  im  National 
Debt-System,  eine  Ermäßigung  von  51,4  auf  49,2  Mill.  Pfd.  er- 
fahren. Das  sind  durchweg  so  günstige  Entwicklungs Verhältnisse, 
daß  gegen  das  Auskunftsmittel  einer  vorübergehenden  Anleihe 
zur  Beschaffung  des  Einnahmeausfalls  auch  nicht  das  aller- 
geringste Bedenken  aufkommen  konnte.  So  bestätigt  der 
Verlauf  der  letzten  schweren  Verfassungskrisis,  die 
England  durchgemacht  hat,  auch  ihrerseits  das  auf 
Grund  der  budgetrechtlichen  Untersuchung  gewon- 
nene Urteil,  daß  nicht  infolge  schrankenloser  Freiheit 

27*    • 


420  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

der  gewählten  Kammer  —  denn  in  dem  durch  mehr  als 
5  Jahre  andauernden  Streit  zwischen  den  beiden  Häusern  des 
Parlaments  sind  die  Commons  bisher  nichts  weniger  als  »frei« 
und  unumschränkte  Beherrscher  der  Staatspolitik  und  Staats- 
wirtschaft gewesen  —  sondern  vielmehr  infolge  eines 
konsequent  aufgebauten  Systems  strenger  Grundsätze 
des  Budgetrechts  und  der  Etatstechnik  das  Gefüge 
der  englischen  Finanzen  so  fest  geworden  ist,  daß  es 
auch  schweren  Erschütterungen  stand  zu  halten  und 
nach  Maßgabe  der  Solidität,  der  Klarheit  und  der  all- 
gemeinen Staatsinteressen  sehr  hohen  Anforderungen 
zu  genügen  vermag. 

Betrachten  wir  auch  hier  wieder  die  Kehrseite  der  Münze, 
die  das  Land  mit  gleichfalls  parlamentarischer  Regierung,  aber 
nahezu  schrankenlosem  Budgetrecht  und  jährlicher  Bewilligung 
aller  Einnahmen  und  Ausgaben  darbietet,  so  wäre  es  doch  höchst 
merkwürdig,  wenn  es  lediglich  dem  Zufall  zuzuschreiben  sein 
sollte,  daß  das  repubhkanische  Frankreich  mit  denselben  finanz- 
pohtischen  Maßnahmen,  z.  B.  mit  der  Staatsschulden- 
tilgung durch  Annuitäten,  ganz  andere  Erfahrungen  ge- 
macht hat  als  das  monarchische  England.  England  hat  die 
Tilgung  der  Annuitäten  nur  in  Kriegszeiten  (Ägypten  1885, 
Transvaal  1900  und  1901)  ausgesetzt,  nach  dem  Friedensschluß 
aber  den  Schuldendienst  in  vollem  Umfange  wieder  aufge- 
nommen. In  England  werden  die  Annuitäten-Tilgungsmittel 
dem  ordentlichen  Etat  entnommen  und  mit  ihrer  Hilfe,  ob- 
wohl auch  das  Zeitrentensystem,  wie  oben  bemerkt,  die  Mög- 
lichkeit der  Unterbrechung,  der  zeitweiligen  Einstellung  der 
Tilgung  gewährt,  sehr  erhebliche  Beträge  getilgt.  In  England 
hält  sich  die  Annuitätenschuld  in  mäßigen  Grenzen,  in  den 
letzten  Jahren  nicht  über  60  Mill.  Pfd.  In  England  hat  das 
Annuitätensystem  so  sehr  Anklang  und  so  umfangreiche  An- 
wendung und  Wirkung  gefunden,  daß  es  die  mittelbare  Ur- 
sache zur  fortschreitenden  Reduktion  der  englischen  Staats- 
schuld geworden  ist  ^).  Auch  in  allerneuester  Zeit  ist  nicht  die 
fundierte  Schuld  vermehrt,  sondern  der  Bedarf  durch  Ausgabe 
schwebender  Schuldtitel  befriedigt  worden.  Endlich  sind  es 
in  England  die  Sparkassen,  in  denen  die  Annuitäten  unter- 
gebracht, aus  deren  Beständen  die  erforderlichen  Mittel  besorgt 


0  Vgl.  den  im  Finanz-Archiv  1900,  p.  912,  angeführten  Ausspruch  des 
Schatzkanzlers  Hicks-Beach,  wiedergegeben  unten  p.  38. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  421 

werden.  (Rund  30  7o  der  gesamten  englischen  Staatsschuld 
sind  in  England  von  den  öffentlichen  Sparkassen  übernommen.) 
In  Frankreich  blieben  die  anfangs  günstigen  Erfahrungen 
aus,  als  die  Mittel  zur  Deckung  von  Annuitäten  nicht  dem 
ordentlichen  Etat  entnommen,  sondern  aus  Anleihen  beschafft 
wurden.  Damit  war  also  auf  eine  effektive  Schuldentilgung 
im  strengen  Sinne  verzichtet  worden.  Ferner.  In  Frankreich 
hat  infolge  des  Tilgungsplanes  über  Annuitätenschulden  vom 
Jahre  1878  und  seiner  späteren  Erweiterung  die  Zeitrenten- 
Schuldenlast  ungefähr  die  dreifache  Höhe  des  in  England  vor- 
gekommenen Höchstbetrages  erreicht.  In  England  wurde  die 
Annuitätentilgung,  und  zwar  aus  ordentlichen  Ein- 
nah m  e  n  ,  tatsächlich  durchgeführt.  In  Frankreich  wurde  mit 
Anleihemitteln  gearbeitet  und  die  neukontrahierte  Schuldsumme, 
die  zur  Deckung  von  Defizits  im  Staatshaushalt  bestimmt, 
also  ursprünglich  als  schwebende  Schuld  gedacht  war,  wenn 
sie  eine  Höhe  erreicht  hatte,  daß  an  ihre  Abbürdung  nicht 
mehr  gedacht  werden  konnte,  in  konsolidierte  Schuld  umge- 
wandelt. In  England  wurden  die  Verpflichtungen  aus  Annu- 
itäten stets  so  bemessen,  daß  sie  die  Leistungsfähigkeit  nicht 
überschritten.  Dagegen  hat  Frankreich  wiederholt,  auch  noch 
bei  dem  Annuitätenexperiment  von  1900  und  1901,  sich  mit 
Rentenverbindhchkeiten  stark  übernommen.  »In  jener  Periode 
traurigster  Finanzwirtschaft  in  Frankreich  ist  kein  Versuch 
gemacht  worden,  das  jährliche  Defizit  zu  beseitigen,  vielmehr 
nur  es  möglichst  zu  verschleiern.«  So  K.  Zorn,  Tilgung  der 
Staatsschulden,  p.  77. 

Zur  Charakteristik  der  in  Frankreich  möglichen  und 
üblichen  Behandlung  der  Budgetgeschäfte  hat  die  Kabinetts- 
krisis des  zweiten  Ministeriums  Briand  einen  bemerkenswerten 
Beitrag  geliefert.  Aus  rein  politischen  Motiven,  nämlich  um 
solange  wie  möglich  der  Beschäftigung  mit  den  neuen  Streik- 
gesetzen zu  entgehen,  wurde  die  Durchberatung  des  Budgets 
in  den  Kommissionen  hingeschleppt,  jede  Etatsposition  wurde 
zur  Obstruktion  benutzt,  d.  h.  sie  wurden  zuerst  und  zumeist 
daraufhin  angesehen,  wie  man  sie  als  Handhabe  einer  Politik 
verwenden  könnte,  die  die  Macht  und  Autorität  des  einstigen 
Parteimannes  Briand  nicht  zu  groß  werden,  vielmehr  die  Ver- 
dienste der  einzelnen  Parteien  in  das  rechte  Licht  setzen  lassen 
könnte.  Dazu  gehörte  auch,  das  für  Geldbewilligungen,  auf 
die  man  sich  nachher  berufen  konnte,  wenn  wirklich  eine 
strengere   Streikgesetzgebung  unvermeidhch  werden   sollte,   die 


422  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Parteien  sich  um  die  Wette  begeisterten;  woher  die  Mittel  ge- 
nommen werden  sollten,  darum  sorgte  sich  niemand^).  Damit 
vergleiche  man,  wie  in  England  die  in  monar- 
chischen und  budgetrechtlichen  Abhängigkeiten 
sich  darstellende  Finanz-  und  Wirtschaftspolitik 
des  Unterhauses  die  eigentliche  Budgetberatung  dem  poli- 
tischen Agitations-  und  Obstruktionsbedürfnis  entzogen  hat 
und  sogar  Neubeschaffungen  im  Heeresbedarf  und  Kriegs- 
ausgaben nahezu  ganz  aus  ordentlichen  Mitteln  bestreitet  oder 
doch  so  schnell  wie  möglich  abbürdet,  und  man  wird  keinen 
Augenblick  im  Zweifel  sein,  weshalb  das  parlamen- 
tarische Regime  sich  in  England  ganz  anders  be- 
währt als  in  Frankreich. 

IX.  Anleihe-  und  Schnldenpolitik. 

Wie  England  und  Frankreich  bieten  auch  das  Deutsche 
Reich  und  Preußen  unter  den  Gesichtspunkten  des  Charakters 
der  Schulden  und  der  Schuldenpolitik  eine  lehrreiche  und 
für  den  Gegenstand  unserer  Betrachtung  wertvolle  Parallele. 
Mehr  oder  weniger  sind  heutzutage  alle  Staatsschulden  das, 
was  E.  V.  Philippovich  von  den  österreichischen  Staatsschulden 
gesagt  hat:  der  Preis  für  die  staatliche  Existenz^). 
Aber  einmal  ist  das,  was  man  unter  staatlicher  Existenz 
versteht,  was  man  zu  ihren  schlechthin  notwendigen  Vor- 
aussetzungen und  Bedingungen  rechnet,  nicht  überall  gleich, 
und  dann  ist  der  Grad  der  Abhängigkeit  der  Existenz  des 
Staates  von  der  Kapitalmacht  und  der  Inanspruchnahme 
des  Staatskredites  doch  sehr  verschieden.  Unter  den  Groß- 
staaten, die  wir  im  Auge  haben,  liegen  in  dieser  Beziehung  für 
die  französische  Republik  die  Verhältnisse  am  ungünstigsten. 
Frankreich  hat  eine  gewaltige  Schuldenlast  auf  sich  nehmen 
müssen,  um  sich  nach  den  schweren  Schlägen  und  Verlusten 
von  1870/71  in  der  Reihe  der  Großmächte  behaupten  zu  können. 
Die  Zunahme  der  Verschuldung  wurde  dadurch  noch  befördert, 
daß  —  mittelbar  zu  den  gleichen  Endzwecken  —  gegen  10  Milli- 
arden Mark  zur  Befriedigung  des  russischen  Kreditbedürfnisses 
außer  Landes  gingen.  Wenn  auch  Rußland  den  daraus  resul- 
tierenden Verpflichtungen  stets  nachgekommen  ist  und  sicher- 

^)  Auf  die  Gefahren,  die  sich  für  die  Finanzlage  infolge  der  Popularitäts- 
hascherei  der  Volksvertreter  ergeben  müssen,  ist  auch  bei  Jellinek,  Fest- 
gabe für  Laband,  p.  124,  hingewiesen. 

')  Bankarchiv  XII,  7,  p.  109. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  423 

lieh  auch  weiter  nachkommen  wird,  so  erscheint  es  doch  fraghch, 
ob  die  Zinserträge  die  materiellen  Schäden  ausgleichen,  mit  der 
eine  so  bedeutende  Kapitalentziehung  die  französische  Volks- 
und Staatswirtschaft  bedroht.  In  ähnlicher  Lage  befindet  sich, 
äußerlich  betrachtet,  das  Deutsche  Reich.  Auch  hier  ist  die 
Schuldenlast  —  eine  in  kurzer  Zeit  aufgehäufte  und  immer 
schneller  gestiegene  Schuldenlast  ^)  —  im  wesentlichen  der  Preis, 
der  für  die  Aufrechterhaltung  der  Machtstellung,  der  Bündnis- 
fähigkeit und  der  Sicherheit  des  Deutschen  Reiches  bezahlt 
werden  mußte.  Die  gewaltigen  Ausgaben  für  Heer,  Flotte, 
Kolonialwirtschaft,  Sozialpolitik,  also  in  der  Hauptsache  Aufwen- 
dungen nicht  werbender  Natur  2),  gehören  hierher.  Aber  hinter 
dem  Reich  stehen  die  einzelnen  Bundesstaaten.  Sie  sind,  da 
ihrer  Bevölkerung  die  Aufwände  für  Reichszwecke  vielfach  zu- 
gute kommen,  als  Teilhaber  der  Reichsschuld  zu  betrachten, 
und  als  Glieder  des  Reiches  bieten  sie  mit  ihrem  Aktivermögen 
ein  auch  nach  Berücksichtigung  der  eigenen  Staatsschulden 
noch  durchaus  hinreichendes  Gegengewicht  gegen  die  in  den 
Reichsschulden  kontrahierten  Passiva.  Immerhin  hat  das  Reich 
den  Boden  einer  gesunden  und  vorschauenden  Anleihepolitik 
recht  oft  verlassen,  in  der  Auswahl  und  Bemessung  des  Finanz- 
bedarfs, der  im  Anleihewege  zu  decken  war,  wurden  feste  Normen 
entweder  nicht  beliebt  oder  nicht  innegehalten,  und  wiederholt 
war  eine  Defizitanleihe  ein  willkommenes  Auskunftsmittel,  um 
für  den  Augenblick  der  pflichtmäßigen  Sorge  für  Deckung  des 
ordentlichen  Bedarfs  überhoben  zu  sein. 

Ganz  andere  Anschauungen  und  Zustände  dagegen  in  Preußen 
und  Großbritannien.  In  Preußen  bilden  die  Anleihen  zur 
Deckung  von  Defizits  eine  ganz  seltene  Ausnahme,  die  fast  nur 
in  anormalen  Zeitläuften  und  bei  besonderen  Anlässen  (in  neuester 
Zeit  z.  B.  infolge  einer  fast  in  allen  Verwaltungen  und  Kate- 
gorien bewirkten  Erhöhung  der  Beamtengehälter)  begegnet.  In 
der  Regel  sind  die  Anleihen  zu  produktiven  Staatszwecken,  in 

^)  An  neuen  Schulden  sind  hinzugekommen  277  Mill.  in  1906,  254  Mill. 
in  1907,  261  Mill.  in  1908,  724  Älill.  in  1909. 

^)  Die  Auffassung,  daß  in  Deutschland  die  Ausgaben  für  das  Heer  als 
produktive  Ausgaben  anzusehen  sind,  im  Reichstag  von  konservativer  Seite 
vertreten.  12.  Leg.-P.,  U.  Session,  1909—11,  133.  Sitzung,  p.  4868  D.  Vgl. 
dazu  Ad.  Wagner,  Finanzwissenschaft.  Bd.  I.  3.  Aufl.  §36.  Ad.  Wagner, 
Sozialökonomik,  p.  107  ff.  Nach  Wagner  kann  die  Verwendung  wirtschaft- 
licher Güter  in  der  Staatswirtschaft  nur  dann  als  produktiv  gelten,  wenn  dem 
»Gesetz  der  Reproduktion  der  verwendeten  Finanzmittel  und  Arbeitsleistungen 
in  der  Volkswirtschaft»  genügt  wird. 


424  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

erster  Linie  zu  Eisenbahnbauten  und  Materialbeschaffung,  auf- 
genommen^). Derartige  Anleihen  haben  —  die  als  Folge  der 
letzten  großen  Investierungen  (in  den  Jahren  1908/10)  erzielte 
starke  Steigerung  der  Wirtschaftlichkeit  des  Staatsbahnbetriebes 
beweist  es  zur  Genüge !  —  unterstützt  durch  eine  im  allgemeinen 
günstige  Wirtschaftslage,  die  Zwecke  durchaus  erfüllt,  die  mit 
ihnen  angestrebt  wurden  oder  doch  deren  Erfüllung  in  sichere 
Aussicht  gestellt.  Vielleicht  noch  günstiger  hegen  die  Verhält- 
nisse für  Großbritannien  2).  In  den  Rechnungsjahren  1885/86 
bis  1908/9  sind  neue  Schulden,  wenn  man  von  den  z.  T.  auf 
Anleihe  übernommenen  Kosten  der  Kriege  in  Südafrika  und 
China  absieht,  in  dem  äußerst  geringfügigen  Betrage  von 
4,2^  Mill.  Pfd.  hinzugekommen.  (In  derselben  Zeitperiode  sind 
die  Schulden  des  Deutschen  Reichs  von  440  auf  4500  Mill.  Mark 
gestiegen!)  Die  erwähnten  Kriegsanleihen  brachten  einen  Zu- 
wachs von  162  Mill.  Pfd.,  aber  unmittelbar  nach  Friedensschluß 
setzte  eine  starke  effektive  Schuldentilgung  ein;  es  wurde  in 
sechs  Jahren  eine  Schuldenlast  von  fast  P/g  Milliarden  Mark 
abgebürdet.  Trotz  jener  neu  aufgenommenen  Schulden  in  Höhe 
von  fast  3  Vi  Milliarden  Mark  ist  gegenwärtig,  1910/11,  die 
öffentliche  Schuld  Englands  um  fast  300  Mill.  Mark  niedriger 
als  im  Jahre  1885,  die  Verzinsung  erfordert  ca.  85  Mill.  Mark 
weniger  als  damals  ^).  Aber  nicht  das  allein.  In  der  713,2  Mill.  Pfd. 
betragenden  Gesamtschuld  stecken  35,9  Mill.  Pfd.  Terminable 
Annuities,  die  also  während  einer  bestimmten  Frist  getilgt 
werden  müssen,  und  ferner  62,5  MiU.  Unfunded  Debt  (Treasury 
Bills,  War  Stock-Bonds,  Exchequer  Bonds),  die  gleichfalls  nach 
einer  vorgeschriebenen  kürzeren  Frist  zurückgezahlt  sein  müssen. 
Dazu  kommen  dann  noch  die  Other  Capital  Liabilities,  nach 
dem  Stande  von  1910,  31.  März,  in  Höhe  von  49,2  Mill.  Pfd., 
die  fast  ausschließlich  auf  neueren  Gesetzen  beruhen  —  das 
älteste  stammt  aus  1890  —  und  gleichfalls  an  bestimmte  Amorti- 
sationsfristen gebunden  sind.     Aber  noch  weiter.     Fast  sämt- 


*)  Seit  1892  werden  Erneuerungen  und  Verbesserungen  der  bestehenden 
Staatsbahnstrecken  aus  ordentlichen  Etatsmitteln  bestritten.  Begründung  des 
Gesetzentwurfs  von  1903  betr.  die  Bildung  eines  Ausgleichfonds  für  die  Eisen- 
bahnverwaltung (Fin.Arch.  XX,  p.  862). 

*)  »The  national  Debt  is  mainly  the  remnant  of  the  growth  of  many 
years,  and  nearly  all  was  raised  for  foreign  wars«  (Whitacker,  Almanack  1911 
p.  467). 

^)  Dazu  hat  allerdings  auch  die  Zinsreduktion  bei  den  Konsols  bei- 
getragen.g 


Blum,  Budgetreclit  und  Finanzpraxis.  425 

liehe   Ausgaben   für  Flotte   und  Laudheer   werden   aus 
^      den  laufenden  Jahreseinnahmen  bestritten^). 

Sollte  es  wieder  nur  ein  Zufall  sein,  daß  der  preußische 
Staat  im  wesentlichen  die  gleiche  Praxis  angewendet  hat? 
Natürlich  ist  für  die  preußischen  Verhältnisse  ein  anderer 
Maßstab  anzulegen,  ein  Maßstab,  der  die  anders  gearteten  Voraus- 
setzungen für  den  Staatsbedarf  und  die  Tilgungsaufgaben  be- 
rücksichtigt. In  Preußen  handelt  es  sich  nicht  um  Ausgaben 
für  Heeres-  und  Flottenzwecke  und  ähnliches;  das  ist  Sache 
des  Reiches.  Die  öffentlichen  Schulden  Preußens  sind  zum 
weitaus  größten  Teile  Eisenbahnschulden:  Für  das  Etatsjahr  1911 
ist  die  Staatsschuld  auf  9531,7  Mill.  Mark  festgestellt.  Der 
Anteil  der  Eisenbahnverwaltung  beträgt  7234,2  Mill.  Mark.  Von 
393,5  Mill.  Mark,  die  im  Etat  für  1911/12  für  Verzinsung 
(336,0  Mill.  Mark)  und  Tilgung  (57,5  Mill.  Mark)  der  Staats- 
schuld ausgeworfen  sind,  stehen  301,0  Mill.  Mark  (257,6  Mill. 
Mark  Verzinsung  und  43,4  Mill.  Mark  Tilgung)  auf  dem  Etat 
der  Eisenbahnverwaltung  und  sind  im  Netto-Etat  von  dem 
Überschuß  in  Abzug  gebracht.  Mit  dem  Abtragen  der  Eisenbahn- 
schulden ist  es  schnell  vorangegangen.  Durch  direkte  und 
indirekte  Schuldentilgung  ist  das  statistische  Anlagekapital 
der  Eisenbahn  Verwaltung  von  dem  seit  1910,  zunächst  für  fünf 
Jahre,  die  2,10prozentige  Rente  als  Zuschuß  zu  den  allge- 
meinen Staatsbedürfnissen  berechnet  wird,  innerhalb  der  letzten 
30  Jahre  (bis  1.  April  1910)  von  10464  auf  7023  Mill.  Mark 
vermindert  worden,  infolgedessen  beträgt  die  heutige  Eisenbahn- 
*4?ente   nur   scheinbar  6  7o)    ^^  Wirkhchkeit    (einschließlich   der 


')  Sir  Michael  Hicks-Beach,  Schatzkanzler  im  dritten  Ministerium  Salis- 
bury,  erklärte  bei  Begründung  des  Voranschlages  (Budget)  für  1899/1900: 
»Während  andere  Staaten,  welche  durch  Aufstellimg  ordentlicher  und  außer- 
ordentlicher Voranschläge  den  wirklichen  Betrag  ihrer  Ausgaben  verdecken, 
ohne  Zaudern  ihre  Schuldenlast  enorm  erhöhen,  um  ihre  Marinen  oder  Armeen 
zu  verstärken,  haben  wir  unsere  Nationalschuld  nicht  erhöht.  .  .  .  Selbst  wo 
es  sich  nicht  bloß  um  verbrauchbare  Gegenstände,  wie  Schiffe  und  Geschütze, 
sondern  um  dauernde  Bauten,  wie  Häfen,  Dockanlagen  und  Kasernen 
handelt,  aus  welchen  Generationen  Nutzen  ziehen,  ja  sogar  beim  Ankauf 
von  Grund  und  Boden  zum  Manövrieren  und  zur  Errichtung  von  Schieß- 
ständen, erhöhen  wir  nicht  unsere  permanente  Schuld.  Wir  nehmen  kurze 
Anleihen  auf  und  amortisieren  diese  Anleihen  aus  unseren  Jahreseinnahmen. 
Schließlich  kommt  hinzu,  daß  während  derselben  Zeit,  in  welcher  misere 
Marine-  und  Armeeausgaben  um  10  Millionen  gewachsen  sind,  unsere  vererbte 
Nationalschuld  um  29,3  MiL.  Pfd.  reduziert  werden  konnte.  Es  ist  zu  wünschen, 
daß  diese  Praxis  noch  lange  bestehen  bleibt;  sie  allein  schützt  uns  heutigen 
Tages  vor  finanziellem  Euin«  (Fin.Arch.  17,  II,  385). 


426  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Verzinsung  und  der  Eisenbahnschuld  und  der  Speisung  des 
Ausgleichfonds)  über  9  7o^)-  Die  Schuldentilgung  auf  indirektem 
Wege  erfolgt  hauptsächhch  durch  starke  Dotierung  des 
Extra-Ordinariums  der  Eisenbahnverwaltung;  indem 
es  seit  1910  —  aber  nicht  etwa  erst  seitdem;  in  den  letzten 
Jahren  der  Miquelschen  Finanzverwaltung  haben  bereits  außer- 
ordentlich starke  Dotierungen  des  Extra-Ordinariums  stattge- 
funden 2)  —  mit  1,15^0  des  statistischen  Anlagekapitals  oder 
mindestens  120  Mill.  Mark  ausgestattet  sein  muß,  wird  der  im 
Wege  der  Anleihe  zu  deckende  Bedarf  in  engeren  Grenzen 
gehalten.  Ebenso  wird  die  Lage  des  allgemeinen  Etats  dadurch 
begünstigt,  daß  die  2,1  %,  bis  zu  welchem  Betrage  die  Rein- 
überschüsse der  Eisenbahnverwaltung  zur  Deckung  allgemeiner 
Staatsausgaben  herangezogen  werden  dürfen,  von  dem  zuletzt 
abgerechneten  statistischen  Anlagekapital  und  nicht  von  dem 
nach  den  Abschreibungen  noch  verbliebenen  Kapital  berechnet 
werden. 

Seit  dem  8.  März  1897  ist  in  Preußen  die  gesetzliche  Schulden- 
tilgung wieder  eingeführt.  Vom  Etats  jähr  1898/99  ab  müssen 
jährlich  mindestens  ^5  Prozent  der  sich  jeweils  nach  dem  Staats- 
haushaltsetat ergebenden  Staatskapitalschuld  getilgt  werden. 
Eine  Verrechnung  auf  bewilligte  Anleihen  ist  einer  Tilgung 
gleich  zu  erachten.  Überschüsse  auf  Grund  der  Jahresrechnung 
sind  in  vollem  Betrage  zur  weiteren  Tilgung  von  Staatsschulden 
bzw.  zur  Verrechnung  auf  bewilligte  Anleihen  zu  verwenden. 
In  den  Jahren  1882/83  bis  1895/96  hat,  obwohl  das  Eisenbahn- 
garantiegesetz vom  27.  März  1882  —  Verwendung  der  Eisen- 
bahnüberschüsse zur  Tilgung  der  Eisenbahnschulden  —  versagt 
hatte,  infolge  freiwilliger  Entschließung  von  Regierung 
und  Parlament  die  Staatsschuld  (durch  Tilgung  oder  Ver- 
rechnung auf  bewilligte  Anleihen)  um  584  Mill.  Mark  verringert 
werden  können.  Auf  Grund  gesetzlicher  oder  sonst  begründeter 
rechtlicher  Verpflichtungen  hätten  nur  61,3  Mill.  Mark  getilgt 
zu  werden  brauchend)  In  den  jährlichen  Etat  wurden  als 
außerordentliche,  außergesetzliche  Tilgung  diejenigen  Amorti- 
sationsersparnisse eingestellt,  welche  alljährlich  infolge  der 
mit  der  Verstaatlichung  der  Eisenbahn  zusammenhängenden 
Umwandlung  von  tilgbaren  Eisenbahnobligationen  in  untilgbare 
Konsols  gemacht  wurden. 

0  Drucks.  Nr.  10.5  des  Hauses  der  Abg.  21.  Leg.-P.  IV.  Session  1911  p.  6. 
*)  cf.  Schwarz-Strutz  p.  196  u.  Anlage  XTT. 
^)  cf.  Schwarz-Strutz  LH,  p.  65. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  427 

Neue  Bestimmungen  über  die  Verwendung  von  Über- 
schüssen brachte  das  Gesetz  vom  3.  Mai  1903  betr.  die  Bildung 
eines  Ausgleichfonds  für  die  Eisenbahnverwaltung. 
Die  Überschüsse  sollten  zunächst  verwendet  werden  zur 
Bildung  oder  Ergänzung  eines  Ausgleichfonds  in  Höhe  von 
200  Mill.  Mark,  nur  der  darüber  hinausgehende  Betrag  sollte 
zu  einer  weiteren  Tilgung  von  Staatsschulden  bzw.  Verrechnung 
auf  bewilligte  Anleihen  verwendet  werden.  Gewiß  hat  dieses 
Gesetz  die  Möglichkeit  der  Schuldentilgung  enger  begrenzt,  aber 
es  hat  doch  den  gesetzlichen  Schuldentilgungszwang  formell 
und  materiell  unberührt  gelassen.  Übrigens  ist  das  Gesetz  nie 
recht  zur  Anwendung  gekommen,  da  gleich  nach  seiner  Schaf- 
fung schlechte  Wirtschaftsjahre  eintraten,  also  rechnungsmäßige 
Zuschüsse  dem  Fonds  nicht  zugeführt  werden  konnten.  In  den 
ersten  fünf  Jahren  seines  Bestehens  ist  der  Fonds  erstmalig 
mit  30  Millionen  Anleihe  und  dann  mit  156  Millionen  aus  Rech- 
nungsüberschüssen der  Jahre  1903 — 06  gefüllt,  aber  gleichzeitig 
zur  Bildung  und  Ergänzung  des  Dispositionsfonds  des  Ministers 
der  öffentlichen  Arbeiten  für  unvorhergesehene  Ausgaben  und 
zu  teilweiser  Deckung  des  Fehlbetrages  in  der  Rechnung  von 
1907  so  in  Anspruch  genommen  worden,  daß  sein  Bestand 
Ende  1907  +  0  war.  Der  Fonds,  dem  auch  in  den  Jahren  1908 
und  1909  keine  Mittel  zugeführt  werden  konnten,  hat  seinen 
Zweck  nicht  erfüllen  können,  weil  er  nur  durch  zufällige  Rech- 
nungsüberschüsse gespeist  und  durch  die  alljährliche  Auffüllung 
des  30  Millionen-Dispositionsfonds  allzu  rasch  aufgezehrt  wurde  ^). 
Immerhin  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  die  50 — 60  Millionen, 
die  tatsächlich,  abgesehen  von  den  im  Anleihewege  erfolgten 
Dotierungen,  in  den  Eisenbahnausgleichsfonds  flössen,  dem 
Schuldentilgungsbedarf  entzogen  worden  sind. 

Von  einer  ähnlichen  Wirkung  wird  man  bei  der  Ab- 
machung sprechen  müssen,  nach  der  die  Eisenbahnverwaltung 
nur  noch  einen  Beitrag  in  Höhe  von  2,1  7o  ihres  statistischen 
Anlagekapitals  zu  den  allgemeinen  Staatsfinanzen  her- 
gibt. Die  Mittel,  die  jetzt  dem  Ausgleichsfonds  bereits  durch 
den  Etat  zugeführt  werden,  sind  dem  Zugriff  von  selten  des 
allgemeinen  Staatsaufwandes,  also  auch  zu  Schuldentilgungs- 
zwecken, entzogen.  Aber  gerade  dadurch  wird,  allerdings  auf 
indirektem  Wege,  zwar  nicht  eine  Tilgung  vorhandener  Schulden 


')    Bericht  des  Finanzministers  Freiherrn  von  Rheinbaben  an  Seine 
Majestät.    Preußisches  Herrenhaus,  Sitzung  vom  27.  Mai  1910,  p.  176,  243,  250. 


428  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

erreicht,  aber  der  Tendenz  zu  weiterer  Verschuldung 
entgegengearbeitet.  Auf  der  einen  Seite  hegt  in  der 
Sicherstehung  des  Ausgleichfonds  der  Grundsatz  ausgesprochen, 
daß  mehr,  als  auf  Grund  der  letzten  Vereinbarung  zwischen 
Regierung  und  Landtag  zugestanden  ist,  nicht  auf  Anleihe  ge- 
nommen werden  solP).  Auf  der  anderen  Seite  liegt  darin  ein 
Zwang  zur  Sparsamkeit,  indem  erst  120  Millionen  für  das  Extra- 
ordinarium  der  Eisenbahn  Verwaltung  bereitgestellt  werden  müssen, 
ehe  die  Überschüsse  dieser  Verwaltung  für  die  übrigen  Ressorts 
zur  Verfügung  stehen.  Unter  dem  letzteren  Gesichtspunkte  hat 
das  preußische  Abgeordnetenhaus  die  Stellung  des  Finanz- 
ministers gegenüber  den  Ansprüchen  der  einzelnen 
Ressorts  gestärkt,  also  die  Ausübung  budgetrecht- 
licher Befugnisse  vertrauensvoll  einem  Mitgliede  der 
Regierung  übertragen;  unter  dem  ersteren  Gesichtspunkte 
hat  sich  der  preußische  Landtag  gegen  die  Versuchungen 
einer  laxen  Anleihewirtschaft  mehr  als  bisher  ge- 
sichert. Der  frühere  Ministerialdirektor  im  Eisenbahn- 
ministerium, A.  Kirchhoff,  hat 2)  den  Vorschlag  gemacht, 
1,15  7o  dßs  statistischen  Anlagekapitals  dauernd  auf  Anleihe 
zu  nehmen.  Verführe  man  so,  so  würde  man  nach  Ablauf 
eines  bestimmten  Zeitraumes  für  den  Schuldendienst  dieser 
Anleihen  erheblich  mehr  aufbringen  müssen,  als  jetzt  aus 
laufenden  Eisenbahnmitteln  für  die  Dotierung  des  Extraordi- 
nariums  aufzubringen  ist.  Es  ist  darüber  eine  ganz  genaue 
Berechnung  aufgestellt.  Danach  würden,  wenn  man  jährlich 
1,15  V.  H.  des  statistischen  Anlagekapitals  aus  Anleihemitteln 
bestreiten  würde,  bereits  nach  17  Jahren  allein  für  Zinsen  und 
Tilgung  120  Mill.  Mark,  also  der  jetzige  Betrag  des  Extra- 
ordinariums,  verwendet  werden  müssen  und  nach  28  Jahren 
würde  schon  ebensoviel  für  den  Schuldendienst  aufzubringen 
sein,  die  alsdann  1,15  v.  H.  des  bis  dahin  regelmäßig  gestiegenen 
statistischen  Anlagekapitals  ausmachen  würde,  nämlich  210  Mill. 
Mark.  Der  Anleihemarkt  würde  noch  mehr  belastet,  die  Steige- 
rung der  öffentlichen  Schuld  nicht  vermindert  werden,  statt  der 
Staatsschuld  würde  die  Eisenbahnschuld  wachsen,  statt  der 
transitorischen  Defizitanleihe  erhielte  man  Eisenbahnanleihen, 
mit  denen   auf  Jahre,   vielleicht  Jahrzehnte  hinaus  zu  rechnen 


^)  Die  betreffenden  Auf wandsz wecke  sind  genannt  Sten.  Ber.  des  Herren- 
hauses 1910  p.  251. 

*)  u.  a.  im  Bankarchiv,  X.  Jahrg.  Nr.  7  (1.  Januar  1911). 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  429 

wäre,  der  Schuldendienst  der  Eisenbahnverwaltung  würde  sehr 
stark  wachsen,  so  stark,  daß  schließlich  die  verfügbaren  Mittel 
durch  die  Verzinsung  absorbiert  würden.  Die  weitere  Folge 
wäre  die  Möglichkeit  einer  ernsten  Gefährdung  der  Staats- 
finanzen ^).  Der  preußische  Landtag  hat  wiederum 
einen  positiven  und  praktisch  wertvollen  Beweis 
seiner  budgetrechtlichen  Selbstzucht  gegeben,  indem 
er  eine  festere  Begrenzung  des  Extraordinariums  der  Eisenbahn- 
verwaltuug  zugestand,  das  für  die  preußischen  Finanzen,  weil 
es  den  Charakter  einer  Abschreibung  hat'*),  von  außerordent- 
lichem Werte  ist. 


X,  Finanzbedarf  und  Etatswirtschaft. 

Von  dem  Staatsschuldenwesen,  seinen  Ursachen  und  Folgen, 
von  der  Erscheinung  der  Nachtrags-  und  Ergänzungsetats,  deren 
Zuhilfenahme  in  vielen  Fällen  unumgänglich  und  unbedenklich 
sein  mag,  in  jedem  Falle  aber  dem  Zustandekommen  eines  über- 
sichtlichen und  umfassenden  Gesamtbildes  der  Staatswirtschaft 
während  der  Dauer  eines  Rechnungsjahres  zum  mindesten  stark 
hinderlich  ist,  sind  die  Bedingungen  und  Maßnahmen  der  Über- 
schuß- und  Defizitpolitik  nicht  zu  trennen.  Wie  es  für  die  Finanz- 
verwaltung und  Volksvertretung,  wenn  sie  im  Einvernehmen 
handeln,  ein  Leichtes  ist,  künstliche  Überschüsse  in  die  Welt 
zu  setzen  und  so  einen  den  Tatsachen  nicht  entsprechenden 
Stand  der  Etats-  und  Finanzlage  vorzutäuschen,  so  haben  es 
beide  ebensogut  in  der  Hand,  die  Verhältnisse  ungünstiger 
erscheinen  zu  lassen,  als  sie  tatsächlich  sind.  Dazu  dienen 
die  künstlichen,  mit  zweckbewußter  Absicht  herausgearbeiteten 
Etatsdefizits^).  Die  Anfänge  eines  solchen,  das  vielleicht  erst 
gegen  Schluß  des  Rechnungsjahres  oder  nach  der  Rechnung 
sich  herausstellt,  liegen  oft  weit  zurück,  sie  können  zeitlich  und 


*)  Ähnlichen  Bedenken  begegfnen  die  neuerlichen  Vorschläge  des  Mini- 
sterialdirektors Kirchhoff  und  die  in  derselben  Richtung  sich  bewegenden 
Anregungen  des  leitenden  Direktors  der  Deutschen  Bank  Herrn  v.  Gwinn er, 
wie  in  der  Sitzung  des  preuß.  Herrenhauses  vom  8.  April  1911  Direktor 
Offenberg  vom  Eisenbahnministerium  und  Prof.  Dr.  Adolph  Wagner 
mit  schlagenden  Gründen  nachgewiesen  haben. 

^)  Vgl.  Ministerialdirektor  Offenberg  in  der  Zeitung  des  Verbandes 
Deutscher  Eisenbahnverwaltungen,  Jahrgang  1909,  Heft  9  und  10. 

^)  ^gl-  P-  25  Anm. 


430  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

sachlich  schon  mit  der  Vorbereitung  des  Budgets  zusammen- 
fallen oder  in  den  parlamentarischen  Behandlungstadien  hervor- 
treten. Die  Frage,  was  etatsmäßiger  Finanzbedarf  ist^),  die 
gemäß  der  Beantwortung  dieser  Frage  gestaltete  Ausstattung 
des  Budgets,  die  Bemessung  der  Einnahmen  und  Ausgaben, 
Umfang  und  Charakter  der  Beziehungen  zwischen  Staatswirt- 
schaft und  Staatsverwaltung,  endlich  etats-  und  finanzpolitische 
Grundsätze  der  verschiedensten  Art  und  Berechtigung  (z.  B.  be- 
treffend Scheidung  zwischen  Ordinarium  und  Extraordinarium, 
Behandlung  der  Überschüsse,  Schuldentilgungssystem  usw.  2)  — 
alles  das  kann  in  den  Dienst  einer  Etatspraxis  gestellt  werden, 
die  den  Hauptfinanzabschluß  eines  Rechnungsjahres  in  bestimmter, 
in  diesem  Falle  den  Haushalt  belastender  Tendenz  zu  beeinflussen 
sucht.  Das  braucht  keineswegs  immer  in  der  aus- 
gesprochenen Absicht  der  Täuschung  oder  auch 
nur  der  Verschleierung  zu  geschehen.  Ein  markantes 
Beispiel  dafür  bietet  der  preußische  Staatshaushalt  für 
das  Rechnungsjahr  1911/12. 

Schon  das  Rechnungsjahr  1909  hatte  in  der  Rechnung 
ein  wesentlich  anderes  Ergebnis  gehabt  als  nach  der  Etats- 
feststellung. Statt  eines  etatsmäßigen  Defizits  in  Höhe  von 
155,9  Mill.  Mark  ergab  sich  nach  der  Rechnung  ein  Fehlbetrag 
von  nur  23,4  Mill.  Mark,  teils  weil  Eisenbahn-  und  Forstverwaltung 
steigende  Erträge  gebracht  hatten,  teils  weil  ein  Betrag  von 
42,8  Mill.  Mark,  der  zur  Erfüllung  rückständiger  Leistungen 
an  das  Reich  aufgesammelt  war,  infolge  Übernahme  der  ge- 
stundeten Matrikularbeiträge  auf  Reichsfonds  entbehrlich  wurde 
und  zu  laufenden  Ausgaben  verwendet  werden  konnte.  Im 
Rechnungsjahr  1910  griff  eine  ähnliche  Veränderung  Platz: 
statt  des  etatsmäßigen  Defizits  von  92,8  Mill.  Mark  ist  ein 
solches  von  ca.  40  Mill.  Mark  zu  erwarten.  Ohne  die  Abführung 
von  30  Mill.  in  den  Eisenbahnausgleichsfonds  würde  sich  ein 
noch  um  diese  Summe  geminderter  Fehlbetrag  ergeben.  Der 
Etat  für  das  Rechnungsjahr  1911  würde  statt  eines  Fehlbetrages 
von  29  Mill.  Mark  einen  Überschuß  von  3,5  Mill.  Mark  auf- 
weisen, wenn  nicht  32,5  Mill.  Mark  in  den  Eisenbahnausgleichs- 
fonds,  entsprechend    der    im    Etat   für    1910    getroffenen   Ver- 


0  Vgl.  Ad.  Wagner,  Finanzwissenschaft.  Bd  I.  3.  Aufl.  §  36.  Siehe 
auch  p.  36  Anm. 

^)  Vgl.  Vereinbarungen  über  Grundsätze  bei  Aufstellung  des  Etats  und 
bei  der  Finanzwirtschaft  des  Keichs.  12.  Leg.-Periode  II.  Session  1909 — 11. 
98.  Sitzung.    3551  A. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  431 

einbarung,  abzuführen  wären.  Nach  dieser  Vereinbarung 
über  den  neuen  Eisenbahnausgleichsfonds^),  die  bis 
1914  gelten  soll,  dürfen,  um  für  diesen  Fonds  Füllungsmittel  zu 
gewinnen,  die  Reinüberschüsse  der  Eisenbahn  Verwaltung 
nur  bis  zur  Höhe  von  2,1  Prozent  des  statistischen  Anlage- 
kapitals der  Eisenbahnen  zur  Deckung  allgemeiner  Staats- 
ausgaben in  Anspruch  genommen  werden;  sind  dann  noch 
Reinüberschüsse  vorhanden,  so  wird  dieser  Rest  dem  im  Jahre 
1 903  geschaffenen  Eisenbahnausgleichsfonds  zugeführt,  der  bis 
dahin  nie  recht  zur  Anwendung  gekommen  war,  da  gleich  nach 
seiner  Schaffung  schlechte  Finanzjahre  eintraten.  Selbstver- 
ständlich stehen  für  den  allgemeinen  Staatsbedarf  2,1  Prozent 
des  statistischen  Anlagekapitals  nur  dann  zur  Verfügung,  wenn 
die  Reinüberschüsse  der  Staatseisenbahnverwaltung  den  nach 
Maßgabe  dieses  Prozentsatzes  sich  ergebenden  Betrag  (219,8  Mill. 
Mark  im  Etat  für  1911  bei  einem  Gesamt-Reinüberschuß  von 
252,3  Mill.  Mark)  übersteigen.  Wenn  die  Staatseisenbahn- 
verwaltung weniger  Reineinnahmen  hat,  können  eben  nicht 
2,1  Prozent,  welcher  Satz  die  Höchstgrenze  darstellt,  sondern 
nur  der  in  solchem  Falle  vorhandene  geringere  Reinüberschuß 
zur  Verwendung  im  Rahmen  der  allgemeinen  Staatsverwaltung 
abgeliefert  werden.  Die  Folge  wird  dann  fast  immer  ein  er- 
höhtes Defizit  sein.  Eine  zweite  außerhalb  der  eigentlichen 
Etats  Wirtschaft  (gleichfalls  auf  5  Jahre)  getroffene  Vereinbarung, 
derselben  Sphäre  angehörig,  geht  dahin,  daß  das  Extraordinarium 
der  Eisenbahn  Verwaltung  mit  1,15  Prozent  des  statistischen 
Anlagekapitals  (mindestens  mit  120  Mill.  Mark)  dotiert  wird, 
d.  h.  erst  müssen  mindestens  120  Mill.  Mark  für  das 
Extraordinarium  der  Eisenbahnverwaltung  bereit- 
gestellt werden,  ehe  deren  Überschüsse  für  die  übrigen 
Ressorts  zur  Verfügung  stehen.  Aus  allgemeinen  finanz- 
politischen Gründen,  deren  Für  und  Wider  in  den  Sitzungen 
des  Herrenhauses  vom  27.  Mai  1910  und  7.  und  8.  April  1911 
eingehend  erörtert  wurde,  für  unsere  Darstellung  jedoch  außer 
Betracht  bleiben  darf,  hat  man  sich  über  bestimmte  Normen 
für  das  finanzielle  Verhältnis  zwischen  Eisenbahn- 
verwaltung und  Staatsverwaltung  verständigt.  In  der 
Fixierung  des  Extraordinariums  der  Eisenbahnverwaltung  und 
weiterhin  in  der  Festlegung  der  Grundsätze  für  das,  was  auf 
Anleihe  zu  nehmen  ist  und  was  nicht,  ist  in  jedem  Falle  ein 
Fortschritt     der    Finanzgebarung    zu    konstatieren.      Auf    der 

')  cf.  p.  40. 


432  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

andern  Seite  ist  der  Gewinn  nicht  geringer.  Bei  Aufstellung 
des  Etats  kann  nunmehr  mit  einem  wenigstens  durch  eine 
Höchstgrenze  fixierten  Zuschuß  aus  dem  Ressort  der  Eisenbahn- 
verwaltung gerechnet  werden;  über  diese  Grenze  hinaus  hat 
der  allgemeine  Staatsbedarf  von  der  Eisenbahnverwaltung,  die 
früher  sozusagen  ihr  Letztes  für  die  dadurch  immer  begehrlicher 
gemachten  übrigen  Ressorts  hergeben  mußte,  in  keinem  Falle 
etwas  zu  erwarten. 

In  diese  Streitfrage,  die  infolge  der  Publikationen  des  früheren 
Ministerialdirektors  Dr.  A.  Kirchhoff  und  infolge  der  Herrenhaus- 
debatten im  Frühsommer  1910  die  ihrer  Bedeutung  entsprechende 
Beachtung  gefunden  hat,  spielen,  wie  man  sieht,  Interessen  und 
Erwägungen  hinein,  die  für  das  gesamte  Finanzwesen  des 
Staates  von  außerordentlicher  Tragweite  sind.  Aber  wenn  auch 
von  einer  Erörterung  der  daraus  sich  ergebenden  Probleme 
und  Grundsätze,  die  in  das  Gebiet  der  eigentlichen  Staats- 
finanzpolitik  gehören,  im  Rahmen  dieser  Darstellung  Abstand 
zu  nehmen  ist,  so  dürfte  doch  soviel  erwiesen  sein,  daß  jenes 
im  Etat  für  1911  künstlich,  wenn  auch  auf  Grund  bestehender 
Vereinbarungen  geschaffene  Defizit  keineswegs  als  eine  be- 
wußte Verdunkelung  der  etatsmäßigen  Verhältnisse 
gegenüber  der  Öffentlichkeit  hingestellt  werden  darf. 

Zugleich  muß  auf  einen  weiteren  Gesichtspunkt,  der  für 
die  Etatspraxis  in  Preußen  nicht  bedeutungslos  ist,  hingewiesen 
werden.  Von  vornherein  ist  an  die  Beurteilung  der  im 
Deutschen  Reiche  und  in  den  deutschen  Einzelstaaten 
geübten  Budgetpraxis  ein  anderer  Maßstab  zu  legen,  als 
häufig  geschieht.  Wenn  mit  Recht  gefordert  werden  muß,  daß 
bei  Vergleichen,  die  zwischen  den  Zuständen  und  Einrichtungen 
im  Deutschen  Reiche  und  denen  in  anderen  Ländern  gezogen 
werden,  die  in  dem  bundesstaatlichen  Charakter  des  Reichs 
begründete  Sonderart  des  Reichs  nicht  unberücksichtigt  bleiben 
darf,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  nicht  für  die  Fragen  des 
Budgetrechts  und  der  Etatspraxis  der  Einzelstaaten  derselbe 
Vorbehalt  gemacht,  die  gleiche  Bedingtheit  des  Urteils  in  An- 
spruch genommen  werden  soll.  So  dürfte  z.  B.  gegen  die 
deutschen  Budgets,  sei  es  des  Reichs,  sei  es  der  Einzelstaaten, 
keinesfalls  der  Vorwurf  der  Unvollständigkeit  erhoben  oder 
Einheit,  Aufbau  und  Anordnung  des  Budgets  bemängelt 
werden.  Die  finanziellen  Beziehungen  der  Einzelstaaten  zum 
Reiche  und  umgekehrt  äußern  ihre  Rückwirkungen  selbstver- 
ständlich   auch    im  Etatswesen,    das   dadurch    auf  Kosten    der 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  433 

Klarheit  und  Übersiclitlichkeit  komplizierter  werden  muß.  Wenn 
z.  B.  auch  dem  preußischen  Etat  der  Vorwurf  der  schweren 
A^erständlichkeit  gemacht  wird  und,  solange  die  Zusagen  des 
Finanzministers  Dr.  Lentze^)  betreffs  Erleichterung  des  Ver- 
ständnisses des  Etats  nicht  verwirklicht  sind,  auch  gemacht 
werden  darf,  so  ist  doch  nicht  zu  bestreiten,  daß  die  Bestimmung 
in  Art.  70  der  Reichsverfassung  über  die  Finanzwirtschaft  der 
Einzelstaaten  andauernd  Störung  und  Unruhe  bringt. 

Vollkommen  zutreffend  sagen  Speck  und  H.  Preuß,  Reichs- 
und Landesfinanzen,  Heft  Nr.  121  und  122  der  volkswirtschaft- 
lichen Zeitfragen,  Berlin  1894,  unter  Anführung  eklatanter  Vor- 
gänge in  der  Finanzgeschichte  des  Großherzogtums  Baden: 
»Das  System  der  Matrikularbeiträge  und  Überweisun- 
gen wälzt  die  Schwankungen  dieser  Beträge  vom  Reiche  auf 
die  einzelnen  Bundesstaaten  ab  und  führt  zu  ruckweisem 
Wechsel  von  mehr  oder  minder  kachierter  Defizit- 
oder Überschußwirtschaft.«  Ebenso  Edg.  Loening  in 
seiner  »Reichsverfassung«,  p.  113:  »Die  Verkettung  der  Reichs- 
und Landesfinanzen  raubt  der  Finanzwirtschaft  der  Einzelstaaten 
Rulie  und  Beständigkeit,  erschwert  die  Aufstellung  eines  genauen 
und  übersichtlichen  Budgets,  wenn  sie  die  Aufstellung  nicht 
überhaupt  ganz  unmöglich  macht. «  Die  einzelstaatlichen  Finanz- 
minister,  sofern  sie  sich  nicht  dem  Vorwurfe  der  Unfähigkeit 
oder  UnVerantwortlichkeit  aussetzen  wollen,  können  also  gar 
nicht  anders:  sie  müssen  oder  mußten  doch  bis  1909  alljährhch 
in  Rücksicht  auf  einen  vielleicht  eintretenden  Fall  der  Inan- 
spruchnahme durch  das  Reich  für  Deckungsmittel  sorgen,  bzw. 
ihre  Budgets  so  gestalten,  daß  auch  bei  sehr  erheblicher  Span- 
nung   zwischen    Matrikularbeiträgen    und    Überweisungen    ein 

^)  In  den  Verhandlungen  des  Hauses  der  Abgeordneten,  21,  Legisl.  vierte 
Session,  vierte  Sitzung  p.  116,  führte  Finanzminister  Dr.  Lentze  aus: 
»Es  kann  der  Finanzverwaltung  nur  angenehm  sein,  wenn  in  den  Etat  nach 
Möglichkeit  Klarheit  hineinkommt.  Ein  Etat,  der  über  4  Milliarden  umfaßt, 
der  die  gesamte  Staatsverwaltung,  das  gesamte  Kulturleben  mit  zum  Ausdruck 
bringt,  muß  von  dem  einzelnen  verstanden  werden  können.  Es 
liegt  der  Königlichen  Staatsregierung  sehr  daran,  daß  joder  Interesse  an  dem 
Etat  gewinnt  und  sich  von  dem  großen  Labyrinth  der  Zahlen  nicht  abge- 
schreckt fühlt,  wenn  er  ihn  ohne  einen  Führer  oder  ohne  die  nötige  Auf- 
klärung in  die  Hand  nimmt.«  Der  gleichen  Erkenntnis  und  Erwägung  Folge 
gebend,  hatte  Keichsschatzsekretär  Wermuth  die  Vorlegung  eines  be- 
sonderen Etats  für  die  allgemeine  Finanzverwaltung,,  auf  dem  die  durch- 
laufenden Posten  usw.  in  besondere  Rechnung  kommen  sollen,  für  das  Rech- 
nungsjahr 1912  in  Aussicht  gestellt.  Reichstag  12.  Leg.P.  11.  Session  1909—11. 
Bd.  263  (103.  Sitzung)  p.  3796  B. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  28 


434  Blum,  Biidgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Defizit  vermieden  werden  konnte.  Die  Geschichte  des 
Matrikularsystems,  von  der  Verfassung  des  Norddeutschen 
Bundes  angefangen,  über  die  verhängnisvolle  Franckensteinsche 
Klausel  und  die  leges  Lieber  hinweg  bis  zu  den  letzten  Reichs- 
finanzreformen, die  wiederum  die  feste  Abgrenzung  von  Reichs- 
und Landesfinanzen  schuldig  geblieben  sind,  könnte  als  eine 
einzige  Entschuldigung  für  etwaige  schwerwiegende 
Mängel  der  Budgetpraxis,  wenn  sie  hervorgetreten  wären, 
von  den  Einzelstaaten  reklamiert  werden. 

Daß  die  Gefahr  einer  solchen  größeren  Inanspruchnahme 
durch  das  Reich  und  die  Notwendigkeit  einer  recht- 
zeitigen Fürsorge  für  erhöhte  Matrikularleistungen 
auch  nach  der  zwischen  Reichsregierung  und  Reichstag  für  die 
Periode  1910  bis  1914  getroffenen  Vereinbarung  nicht  gänzlich 
aus  dem  Bereiche  der  Möglichkeit  gerückt  ist,  bewies  die  bei 
Erörterung  des  Finanzbedarfs  infolge  der  neuen  Heeres 
Verstärkung  von  sämtlichen  größeren  Parteien  in  der  Budget- 
kommission und  im  Plenum  des  Reichstags  (Februar  1911) 
übereinstimmend  bekundete  Ansicht,  daß,  wenn  es  nicht  mög- 
lich sei,  diese  Kosten  in  der  Folgezeit  ganz  aus  den  eigenen 
Reichseinnahmen  aufzubringen^),  die  Matrikularbeiträge  zur 
Deckung  einer  Differenz  herangezogen  werden  müßten.  Zwar 
ist  das  Reichsschatzamt  dieser  Auffassung  und  Willensmeinung 
sogleich  in  einer  offiziösen  Auslassung  entgegengetreten,  mit  der 
Mahnung,  daß  man  zum  mindesten  für  die  Dauer  der  Sanie- 
rungsperiode, d.  h.  bis  1913,  an  dem  bisherigen  Satze  von  80  Pf. 
für  den  Kopf  festhalten  solle,  damit  die  Einzelstaaten  weiter 
wie  bisher  ihre  Budgets  auf  die  feste  Ausgabe  einrichten  könnten 
und  nicht  mehr  die  früher  so  unangenehm  empfundenen 
Schwankungen  zu  gewärtigen  hätten;  aber  es  ist  doch  keines- 
wegs sicher,  ob  nicht  der  neue  Reichstag,  von  seinem  Budget- 
recht und  der  durch  die  Verfassung  gegebenen  Befugnis  Ge- 
brauch machend,  die  Einzelstaaten  doch  zu  einem  noch  höheren 
Satze  heranzieht  2). 

^)  Eine  solche  Möglichkeit  war  um  so  mehr  ins  Auge  zu  fassen,  als  die 
Deckung  der  erforderlichen  Neuausgaben  zu  einem  erheblichen  Teil  auf  das 
noch  gar  nicht  verabschiedete  Gesetz,  das  Reichszuwachssteuergesetz  vom  14.  Fe- 
bruar 1911,  basiert  war.  cf.  Reichstag,  12.  Leg.-Periode,  U.  Session  (1909  bis 
1911),  133.  Sitzung.     4858  B. 

'')  Auch  oben,  Kap.  VI,  ist  bereits  darauf  hingewiesen,  daß  der  Reichstag, 
indem  er  jene  Vereinbarung  einging,  des  Rechts  der  stärkeren  Anspannung 
der  bundesstaatlichen  Beiträge  sich  keineswegs  begeben  hat.  —  Der  vor 
reichlich  zwei  Jahren  geschriebene  Satz  hat  auch  jetzt  noch,  Frühling  1913, 
volle  Berechtigung. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  435 

Nach  dem  Gesagten  wird  man  beispielsweise  den  preußi- 
schen Etat,  was  Inhalt,  Technik  und  Tendenz  an- 
langt, unter  wesentlich  anderen  Gesichtspunkten 
beurteilen  müssen  als  den  Etat  eines  Einheits- 
staates, der,  wie  in  England,  in  seiner  Gesetzgebung  und 
Wirtschaftsführung  volle  Unabhängigkeit  besitzt.  Folglich  muß 
auch  ein  Urteil  über  Überschüsse  und  Fehlbeträge, 
die  künstlich  geschaffen  werden,  oder  die,  wie  in  dem  vor- 
stehend geschilderten  Falle,  das  unvermeidliche  Ergebnis  gesetz- 
geberischer auf  Vereinbarung  zwischen  Regierung  und  Volks- 
vertretung beruhender  Maßnahmen  sind,  von  ganz  anderen 
Voraussetzungen  seinen  Ausgang  nehmen.  Mit  budgetrecht- 
hchen  Erfordernissen  und  Befugnissen  an  sich  haben  Ge- 
pflogenheiten der  Finanzpraxis,  die  unter  anderen  finanzpoli- 
tischen Verhältnissen  vielleicht  anfechtbar  und  vom  strengen 
Standpunkte  einer  soliden  Etatswirtschaft  vielleicht  nicht  ver- 
tretbar wären,  häufig  genug  nichts  zu  tun.  Sie  sind  lediglich 
Konsequenzen  vorhergegangener  Beschlüsse  und  sind  als  solche 
geeignet,  vor  einer  Überschätzung  des  Wertes  und 
der  Tragweite  des  Budgetrechts  zu  warnen.  Auch 
aus  diesem  Grunde  kann  von  einem  völlig  schrankenlosen 
Budgetrecht,  wie  es  zu  höherem  Ruhme  des  parlamentarischen 
Regierungssystems  von  dessen  Anhängern  urbi  et  orbi  so  oft 
verkündet  und  angepriesen  wird,  in  der  Praxis  überhaupt  nicht 
die  Rede  sein^).  Durch  die  Gesetzgebung  und  durch  Ab- 
machungen im  Wege  der  Verständigung  können  dem  Budget- 
recht und  der  Etatspraxis  bestimmte  Wege  gewiesen,  können 
beide  in  den  Dienst  bestimmter  politischer  Motive 
und  Ziele  gestellt  werden. 


*)  Auf  der  einen  Seite  ziehen  die  unvermeidlichen  Schwankungen  des 
Wirtschaftslebens,  denen  im  Reichshaushalt  gerade  die  Haupteinnahmequellen 
ausgesetzt  sind,  auf  der  andern  Seite  Gesetze  und  Vereinbarungen  dem  Budget- 
recht bestimmte,  oft  sehr  enge  Grenzen.  So  hat  im  Marineetat,  nach  Ver- 
abschiedung des  Flottengesetzes,  der  Reichstag  „überhaupt  nichts  mehr  zu 
sagen"  (Abg.  Dr.  Leonhart,  12.  Leg.-P.  d.  Reichst.,  ü.  Session,  127.  Sitzung, 
p.  4646A).  Auch  dadurch,  daß  in  diesem  Etat  eine  Deckungsfähigkeit  über 
mehrere  Jahre  statfinden  kann,  sind  die  Rechte  des  Reichstags  eingeschränkt 
(ibid.  4645  D).  Ganz  ähnlich  Hegen  die  Dinge  bei  den  Etat  der  Heeresver- 
verwaltung.  Es  ist  deshalb  von  besonderer  Bedeutung,  daß  im  §  3  des  Ge- 
setzes über  die  Friedenspräsenzstärke  des  deutschen  Heeres  vom  27.  März 
1911  die  jährliche  Zustimmung  des  Reichstages  zu  allen  Neuausgaben  er- 
fordert wird.  Andererseits  hat  der  am  25.  Januar  1907  gewählte  Reichstag 
seinem  Nachfolger  in  der  Festlegung  der  Matrikularbeiträge  bis  1914  eine 
das  Budgetrecht  sehr  belastende  Erbschaft  hinterlassen. 

28* 


436  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Aber  nicht  durch  die  Gesetzgebung  allein.  Ein  Staat,  in  dessen 
Haushalt  die  Betriebsverwaltungen  eine  Rolle  spielen  wie  in 
keinem  anderen  Staate  der  Welt,  der  in  seinen  Eisenbahnen 
das  größte  Wirtschafts-  und  Verkehrsunternehmen  betreibt,  das 
überhaupt  existiert,  kann  und  darf  sich  nicht  von  der  Kon- 
junkturgestaltung emanzipieren,  kann  und  darf  sich  nicht  der 
Verantwortung  entschlagen,  die  ihm  -durch  die  Beziehungen 
zu  einem  nach  Hunderttausenden  zählenden  Beamten-  und  Ar- 
beiterheer, zu  zahlreichen  Industrien  und  Produktionsstätten, 
zu  der  Volkswirtschaft  überhaupt  auferlegt  ist.  Solchen  Ein- 
flüssen, Interessen  und  Rücksichten  muß  im  Haushaltsetat  eines 
Staates  mit  großen  Wirtschaftsbetrieben  selbstverständlich  ebenso 
gewissenhaft  Rechnung  getragen  werden  wie  der  Autorität  der 
Gesetzgebungsakte,  die,  mittelbar  oder  unmittelbar,  als  Voraus- 
setzung oder  Folgeerscheinung,  den  Bereich  der  Staatsfinanzen 
berühren.  Daß  die  Finanzverwaltung  in  einem  so  gearteten, 
in  so  großem  Umfange  mit  öffentlichen  Betrieben  arbeitenden 
Staatswesen  besondere  Pflichten  und  Aufgaben  hat,  daß  ihre 
Maßnahmen  nicht  ohne  billige  Würdigung  der  aufgezeigten 
Momente  beurteilt  werden  dürfen,  liegt  auf  der  Hand.  Auch 
A.  Kirchhoff,  der  in  der  Frage  der  Beseitigung  des  Defizits 
für  den  Staat  Vorschläge  gemacht  hat,  die  weder  den  Beifall 
des  Finanzministers  v.  Rheinbaben  noch  den  seines  Nachfolgers 
gefunden  haben,  und  der  in  seinen  weiteren  Publikationen  ^) 
strikteste  Befolgung  des  im  Reiche  seit  1910  verbindlichen 
Grundsatzes  »Keine  Ausgabe  ohne  Deckung«  als  nötig  bezeichnet, 
damit  also  doch  für  bestimmte  Eventualitäten  die  Erschließung 
neuer  Einnahmen  für  unvermeidlich  erklärt  hat,  begegnet  sich 
mit  den  amtlichen  Leitern  der  preußischen  Staatsfinanzen  in 
der  Forderung,  daß  der  preußische  Staat  jederzeit  größere 
Geldmittel  zur  Verfügung  haben  müsse,  um  für  plötzlich 
auftretende  Bedürfnisse  gerüstet  zu  sein  2).  Auch  nach  dieser 
Richtung  hin  sind  also  Grenzen  gezogen  und  Wegweiser 
aufgerichtet,  die  von  den  mit  Amts-  oder  Volksmandat  aus- 

0  In  der  Februar-Nummer  des  Bankarchivs,  Jahrgang  X. 

')  Er  sagt  a.  a.  0.:  »Wenn  etwas  die  Finanzkraft  des  Staates  in  den 
letzten  Jahren  geschwächt  hat,  so  war  es  die  allmähliche  Heranziehung  aller 
Ressourcen  des  Staates  zur  Herstellung  der  Balance  des  Staatshaushalts,  so 
daß  der  Herr  Eisenbahnminister  vor  zwei  Jahren  im  Landtag  erklären  mußte, 
die  Eisenbahnverwaltung  sei  aller  Reserven  bar.  Ein  Staat,  der  so  große 
Industrien  betreibt,  eine  solche  politische  Stellung  hat  wie 
Preußen,  darf  nicht  seine  letzten  Ressourcen  heranziehen  und 
seine   Gelder   allzusehr   festlegen;    er  muß   umgekehrt   über  flüssiges 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  437 

gestatteten  Personen,  die  für  die  Wohlfahrt  des  Ganzen  verant- 
wortlich sind,  nicht  mißachtet  werden  dürfen  ^). 

So  sind  in  der  Finanzverwaltung  und  Etatswirt- 
schaft in  Preußen  teils  durch  Gesetz,  teils  im  Wege  der  Verein- 
barung mannigfache  Schranken  aufgerichtet,  die  einen  sehr 
beträchtlichen  Teil  derjenigen  öffenthchen  Gelder,  die  nach  Be- 
friedigung der  reinen  Verwaltungsausgaben,  nach  Abzug  der 
Betriebskosten,  der  Gehälter,  Pensionen  usw.  noch  übrig  bleiben, 
dem  Zugriff  entziehen  und  die  Ungewißheit  und  Abhängigkeit, 
die  dem  Staatshaushalt  aus  den  dargelegten  Gründen  anhaften 
müssen,  auf  ein  erträgliches  Maß  reduzieren.  Im  Verhältnis 
zum  Reiche  ist  das  geschehen  durch  die  für  einen  fünfjährigen 
Zeitraum  vereinbarte  Fixierung  der  Matrikularbeiträge  auf  einen 
Kopfbetrag  von  80  Pf.;  im  Verhältnis  zur  Wirtschafts- 
konjunktur ist  die  Staatswirtschaft  und  die  Finanzpraxis 
zuerst  im  Jahre  1903  durch  die  Bildung  des  Ausgleichfonds 
und  sodann  durch  die  Begrenzung  des  auf  Eisenbahn  Überschüsse 
angewiesenen  Staatsbedarfs,  durch  ein  Dotierungsminimum  des 
Extraordinariums  der  Eisenbahnverwaltung  und  materielle  Be- 
grenzung der  Anleiheoperationen  auf  festen  Boden  gestellt  und, 
soweit  möglich,  in  den  Rahmen  bekannter  Größen  eingespannt. 
Es  ist  also  in  Preußen,  ganz  ähnlich  wie  in  England, 
in  erheblichem  Umfange  eine  Beschränkung  der 
Einnahmebewilligung    vorgenommen    worden  2)    und, 

Geld  in  reichem  Maße  verfügen  imd,  während  er  auf  der  einen  Seite  seinen 
Haushalt  straff  führt,  doch  anderseits  stets  volle  Kassen  haben.  Was  dies 
in  ernsten  Zeiten  —  an  die  doch  auch  gedacht  werden  muß  —  bedeutet,  ist 
sofort  klar,  wenn  man  erwägt,  daß  dann  Anleihen  —  wenigstens  zunächst  — 
nicht  untergebracht  werden  können.  Stehen  für  den  ersten  großen 
Geldbedarf  große  Reserven  zur  Verfügung,  so  sind  diese  gerade 
dann  von  unsagbarem  Wert.  Man  muß  bedenken,  daß  es  sich  bei  Hinzu- 
rechnung des  zurzeit  noch  bestehenden  eisernen  Betriebsfonds  der  General- 
staatskasse  und  des  Ausgleichsfonds  in  seinem  höchsten  Bestände  im  ganzen 
um  viele  hundert  Millionen  Mark  handelt,  deren  Bereitschaft  für  alle  Fälle 
der  frühere  Finanzminister  v.  Miquel  sehr  zu  würdigen  wußte.« 

^)  Die  Frage  der  kaufmännischen  Buchführung  in  Staatsbetrieben, 
speziell  bei  der  Eisenbahnverwaltung,  behandelt  Ministerialdirektor  Offenberg 
im  Bankarchiv  XI.  Jahrgang  Nr.  1  und  2  (Oktober  1911).  Bei  aller  Würdigung 
der  großen  Vorzüge  der  »äußerst  geistreich  erdachten  kaufmännischen  Buch- 
führung« betont  Offenberg  a.  a.  0.  p.  3:  es  liegt  in  dem  Zwange  zur  Ver- 
anschlagung und  der  Notwendigkeit,  die  Veranschlagung  hinterher  auch  zu 
vertreten,  ein  kräftiges  Erziehungsmittel  zur  Wirtschaftlichkeit, 
mehr  jedenfalls  als  in   der  kaufmännischen  Buchführung. 

-)  Im  Etat  für  1911  beläuft  sich  der  von  der  Eisenbahnverwaltung  für 
den  allgemeinen  Staatsbedarf  gelieferte  Zuschuß  auf  mehr  als  ein  Viertel  der 


438  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

wiederum  ähnlich  wie  in  England,  das  Aufkommen  aus 
direkten  und  indirekten  Steuern  i)  als  beweghcher  Einnahme- 
faktor festgehalten.  Da  die  sonstigen  Einnahmen  (nur  noch 
138,1  Mill.  Mark)  teils  geringen,  teils  kaum  nennenswerten 
Schwankungen  unterworfen  sind  (Domänen,  Forsten,  Lotterie, 
Seehandlung,  Münze,  Bergverwaltung,  Staatsschatz,  Reichbank- 
rente usw.),  ist  nahezu  die  Hälfte  der  Einnahmen 
eine  fast  genau  feststehende  Größe.  Auch  in  den 
Steuereinnahmen  sind  die  Schwankungen  verhältnis- 
mässig gering  2).  Wenn  so  die  Einnahmewirtschaft,  weithin 
analog  den  englischen  Verhältnissen,  als  ein  festes  Gefüge  ge- 
staltet ist,  so  wirkt  das  naturgemäß  auf  die  Ausgaben- 
gestaltung zurück.  Aber  auch  dieser  sind  bestimmte,  weit- 
hin begrenzte  Bahnen  gewiesen. 

Die  Nettoausgaben  in  dem  »4-Milliarden-Etat«  für  1911, 
der  nach  Ausschaltung  der  sich  gegenseitig  aufhebenden  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  bei  den  Verwaltungen  sich  auf  nahezu 
ein  Fünftel  dieser  Summe  reduziert  —  vom  Standpunkt  der 
Übersichtlichkeit  und  Richtigkeit  des  Gesamteindrucks  ein  Nach- 
teil des  sonst  durch  große  Vorzüge  ausgezeichneten  Brutto- 
Etats  —  belaufen  sich  einschließlich  der  Anleihe  in  Höhe  von 
29,1  Mill.  auf  833,6  Mill.  Mark.  Davon  sind  feststehende 
Ausgaben  zunächst  der  Schuldendienst  und  die  an  das  Reich 
nach  Abzug  der  Überweisungen  zu  zahlenden  Matrikularbeiträge. 
Jener  erfordert  im  Etat  für  1911  für  Verzinsung  und  Tilgung 
der  Staatsschuld  —  nach  Abzug  von  über  300  Mill.  Mark  Zinsen 
und  Tilgungsbeträgen,  die  auf  dem  Etat  der  Eisenbahnverwaltung 
stehen  —  eine  Ausgabe  von  92,5  Mill.  Mark.  Die  Matrikular- 
ausgaben  erfordern  31,3  Mill.  Mark.  Dazu  kommen  an  größeren 
Beträgen  noch  die  auf  den  Dotationsgesetzen  von  1873,  187^ 
und  1902  beruhenden  Provinzialfonds  in  Höhe  von  47,6  Mill. 
Mark,  der  Zuschuß  zur  Kronfideikommißrente  (gleichfalls  auf 
Gesetz  beruhend)  mit  10  Mill.  Mark,  Apanagen,  Renten  usw. 
mit  5,8  Mill.  Mark,  die  Kosten  des  Landtages  mit  2,1  Mill. 
Mark;  insgesamt  sind  somit  nahezu  190  Mill.  Mark  für  be- 
stimmte Ausgabezwecke  unweigerlich  festgelegt.     Dasselbe  gilt 


Nettoeinnahmen  von  804,6  Jlill.  Mark,  die,  wie  gezeigt,  zum  allergrößten  Teil 
auf  bestehenden  Gesetzen  beruhen. 

*)  Im  Etat  für  1911  rund  446,7  Mill.  Mark  von  der  Gesamteinnahme  in 
Höhe  von  804,6  Mill.  Mai-k. 

■)  Hier  im  Gegensatz  zu  England,  wo  die  Einkommensteuer,  aber  auch 
die  Erbschafts-  und  Nachlaßsteuer,  verhältnismäßig  große  Beweglichkeit  zeigt. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  439 

für  den  weitaus  größten  Teil  der  Staatsverwaltungsausgaben, 
die  nach  Abzug  der  in  den  einzelnen  Verwaltungen  erfließenden 
Einnahmen  noch  575  Mill.  Mark  (im  Etat  für  1911)  betragen. 
Demnach  ist  es  kaum  zuviel  gesagt,  daß  für  rund  90  Prozent 
des  Netto-Staatsbedarfs  das  Ausgabebewilligungsrecht 
in  praxi  aufgehoben  ist.  Es  erscheint  ja  begreiflich,  daß 
die  Mitglieder  der  zweiten  Kammer  um  so  eifersüchtiger  über 
ihrem  Budgetrecht  wachen.  Es  kommen  denn  auch  immer  wieder 
Fälle  vor,  in  denen  in  Ausgabe  gestellte  Budgetpositionen  ver- 
weigert werden  oder  doch  damit  gedroht  wird.  So  hatte,  nach 
einer  unwidersprochen  gebliebenen  Meldung  der  »Münchner 
Post«,  die  bayerische  Zentrumsfraktion  vor  etwa  Jahresfrist  in 
Erwägung  gezogen,  ihrer  Unzufriedenheit  mit  mehreren  Mit- 
gliedern des  Kabinetts  Podewils  dadurch  Ausdruck  zu  geben, 
daß  man  dem  Gesamtministerium  gegenüber  »alle  parla- 
mentarischen Machtmittel,  vor  allem  das  Geldbewilligungsrecht 
in  Anwendung«  brächte,  —  eine  Aktion,  die,  wäre  sie  verwirklicht 
worden,  sich  um  so  sonderbarer  ausgenommen  hätte,  als  in 
Bayern,  da  das  Ausgabenbudget  fix  ist  für  alle  gesetzHch 
notwendigen  Ausgaben  und  auch  ein  sehr  erheblicher  Teil  der 
Staatseinnahmen  der  Machtsphäre  der  Volksvertretung  entzogen 
ist,  ein  Konflikt  wie  der  preußische  von  1862—66  nach  bayerischem 
Staatsrecht  unmöglich  ist^).  Nicht  minder  war  es  ein  actus 
inanis,  als  im  Februar  1911  die  sozialdemokratische  Fraktion 
des  preußischen  Abgeordnetenhauses  ausdrücklich  erklärte,  daß 
sie  dem  Minister  des  Innern  das  Gehalt  nicht  bewillige.  Das 
Recht,  den  Minister  zu  ernennen  und  zu  entlassen,  steht  nach 
Artikel  45  Prß.  Vf.  dem  Könige  zu  2).  Die  Verweigerung  eines 
Ministergehalts  könnte  also  immer  nur  die  in  ihrer  tatsächlichen 
Wirkimg  häufig  genug  von  anderen  Faktoren  abhängige  Be- 
deutung einer  politischen  Demonstration  haben;  die  Ver- 
pflichtungen und  Verbindlichkeiten  des  Staates  blieben  davon 
unberührt.  Wenn  also  wirklich  in  deutschen  Einzelstaaten 
Versuche  zur  Erweiterung  des  Ausgabebewilligungrechts  mittels 
Verweigerung  des  Budgets  oder  einzelner  Budget- 
teile unternommen  würden  und  unternommen  werden,  so  ist 
ihnen  früher  und  jetzt  ein  Erfolg  versagt  geblieben  und  mußte 
ihnen  versagt  bleiben   nach   der  Natur  des   durch  Verfassung 


0  Zorn  in  Hirths  Annalen  1889  p.  368. 

^)  Über  die  Verhältnisse  in  Bayern  betr.  Schranken,  die  das  Organieations- 
recht  der  Krone  dem  Geld-  und  Ausgabebewilligungsrecht  des  Landtages  zieht, 
V.  Ziegler,  Die  Praxis  des  bayer.  Budgetrechts,  p.  82  ff.,  131  ff.,  134  ff. 


440  Blum.  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

und  Gesetz  beschränkten  Budgetrechts  und  angesichts  einer 
Etatspraxis,  die  planmäßig  sich  dahin  entwickelt  hat,  daß  die 
jährliche  Haushaltsführung  in  möglichst  festen  Gleisen,  gesichert 
gegen  Schwankungen  von  außen  her,  sich  vollzieht  und  ihrer- 
seits dazu  mithilft,  die  Staatsfinanzen  als  den  rocher  de  bronce 
der  gesamten  Staatswirtschaft  herauszuarbeiten  und  zu  erhalten. 

XL   Das  Budgetrecht   des  Eeichstags   in  der  Praxis. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  der  Etats-  und  Finanzpraxis  im 
Reiche  zu  und  betrachten  die  Wechselbeziehungen  zwischen 
Budgetrecht  einerseits  und  Budgetpraxis  und  Finanzlage  anderer- 
seits, so  ist  schon  in  der  Darstellung  der  budgetrechtlichen  Verhält- 
nisse im  Reiche  mehrfach  betont  worden,  daß  die  Entwicklung  des 
Budgetrechts  des  Reichstags  in  verschiedenen  Stadien  in  bewußtem 
Gegensatz  zu  den  Forderungen  und  Grundsätzen  einer  gesunden 
Finanzwirtschaft  und  Finanzpolitik  sich  vollzogen  hat,  daß  dabei 
viel  mehr  als  diese  die  Gewinnung  wirklicher  oder  vermeintlicher 
Garantien  eine  erhebliche  Rolle  gespielt  hat.  Die  nachteihgen 
Folgen  sind  denn  auch  nicht  ausgeblieben.  Unklarheit  und  Un- 
gewißheit, ja  in  gewissem  Sinne  eine  Un Wahrhaftigkeit  ist  in 
den  Reichsetat  schon  dadurch  hineingebracht,  daß  das  Reich 
eigentlich  kein  Defizit  haben  kann,  weil  nach  Art.  70 
der  Verfassung  die  Pflicht  der  Einzelstaaten  feststeht,  das  De- 
fizit zu  decken  1).  Nun  halte  man  sich  diese  Bestimmung  vor 
Augen  und  denke  zugleich  an  den  tatsächlichen  Gang 
und  Ablauf  der  Finanzwirtschaft  im  Reiche!  Man 
denke  vor  allem  an  das  ungeheure  Wachstum  der  Reichsschuld, 
man  denke  an  Zuschußanleihen  und  gestundete  Matrikular- 
beiträge!  Ein  schärferer  Gegensatz  zwischen  dem 
Geist  und  Wi Uen,  aus  dem  heraus  die  Finanzartikel 
der  Reichsverfassung  geschaffen  sind,  und  den 
wirklichen  Verhältnissen,  in  die  diesen  Geist  und  Willen 
die  von  dem  Budgetrecht  beeinflußte  Etatspraxis  umgesetzt 
hat,  —  ein  schärferer  Gegensatz  ist  schwerlich  denkbar.  Ganz 
besonders  ist  durch  das  Matrikular-  und  Überweisungssystem, 
ist  durch  die  clausula  Franckenstein  das  allerdings  durch 
die  Verfassung  geschaffene,  aber  von  ihr  nur  als  vorübergehen- 


*)  Vgl.  Bismarck,  Sitzung  des  Eeichstages  1.  Dez.  1884,  Sten.  Ber. 
p.  143.  „Ein  Defizit  ist,  was  durch  Anleihen  gedeckt  werden  muß  ....  der 
Eeichshaushalt  kennt  kein  Defizit,   er  kennt  nui*  höhere  Matrikularbeiträge." 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  441 

der  Notbehelf  gedachte  Netzwerk  der  Verquickung  von  Reichs- 
finanzen und  einzelstaatUchen  Finanzen  immer  engmaschiger 
und  unauflöshcher  gestaltet  worden.  Die  Ausdehnung  der 
Franckensteinschen  Klausel  durch  die  Gesetze  vom  1.  Juli  1881, 
3.  Juni  1885,  24.  Juni  1887,  16.  April  1896  (Abänderung  des 
Zolltarifgesetzes  vom  15.  Juli  1879),  24.  März  1897,  31.  März  1898, 
25.  März  1899,  hat  an  dem  »Hazardieren  und  Spekulieren«  i) 
hüben  und  drüben  nichts  geändert.  Zu  welchen  Folgen  dieser 
Zustand  geführt,  wie  sehr  er  einmal  zu  einer  Verschleierung 
der  wirklichen  Etatslage  und  sodann  zur  Schädigung 
der  Reichsfinanzen  beigetragen  hat,  dafür  nur  zwei  Hin- 
weise. Unter  der  Herrschaft  der  Franckensteinschen  Klausel 
konnte  das  Reich  über  seine  eigenen  Einnahmen  nicht  verfügen, 
um  damit  den  eigenen  Bedarf  zu  bestreiten,  es  mußte  vielmehr 
die  eigenen  Einnahmen  zum  beträchtlichen  Teil  an  die  Bundes- 
staaten abtreten.  Die  weitere  Folge  war,  daß  das  Reich,  wenn 
die  nach  Abführung  der  Überweisungen  verbleibenden  Ein- 
nahmen zur  Deckung  der  Reichsausgaben  nicht  zulangten,  seiner- 
seits zu  Anleihen  greifen  mußte.  So  ergab  sich  denn,  für  das 
Jahrzehnt  1883/93,,  das  erbauKche  Schauspiel,  daß  das  Reich 
auf  der  einen  Seite  486  Millionen  als  Überweisungen  an  die 
Bundesstaaten  herauszahlte,  auf  der  anderen  Seite  aber  selbst 
die  Summe  von  1322  Millionen  an  Schulden  aufnahm.  In  den 
sechs  folgenden  Rechnungsjahren  erhielten  die  Einzelstaaten 
vom  Reiche  25,6  MilHonen  herausbezahlt,  in  derselben  Zeit 
wuchs  die  Reichsschuld  um  rund  440  Mill.  Mark!  Seitdem 
haben  regelmäßig  ungedeckte  Matrikularbeiträge  von  den  Einzel- 
staaten übernommen  werden  müssen. 

Wie  hat  nun  dieses  System  in  seiner  Totalität  gewirkt? 
Auf  Grund  der  Angaben  in  den  verschiedenen  Jahrgängen  des 
statistischen  Jahrbuches  des  Deutschen  Reiches  hat  Georg  Schanz 
die  Beträge  herausgerechnet,  die  an  Mehrüberweisungen  an 
die  Einzelstaaten  in  den  30  Jahren  von  1877  bis  1906 
effektiv  geleistet  wurden.  Es  kommt  dabei 2)  zu  folgendem 
Ergebnis:  »Das  Reich  hat  sich  nicht  nur  in  kurzer  Zeit  ver- 
schuldet, sondern  es  hat  gleichzeitig  infolge  der  Franckenstein- 
schen E^ausel,  während  es  Schulden  auf  Schulden  häufte  (von 
18,3  Millionen  auf  3543,5  Millionen)  über  Y2  Milliarde  seiner 


^)  Abg.  Dr,  Paasche,  Sten.  Ber.  d.  Reichstags,  Sitzung  21.  Nov.  1908 
p.  5618  B  C. 

')  Finanz-Archiv  Jahrg.  1908,  Bd.  I,  p.  255. 


442  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis, 

Einnahmen  weggeschenkt.«  Und  die  Folgen  dieser  Schulden- 
häufung, die  ja  zum  Teil  auch  auf  das  Konto  der  budgetrecht- 
lichen Motive  und  Momente,  die  zu  dem  System  Franckenstein 
geführt  haben,  zu  setzen  ist?  Schanz  stellt  fest'),  daß,  selbst 
wenn  es  fortan  gelingen  sollte,  der  künftigen  weiteren  Ver- 
schuldung Einhalt  zu  tun  —  eine  Hoffnung,  die  sich  auch  in 
den  folgenden  fünf  Etatsjahren  nicht  erfüllt  hat!  —  in  den 
nächsten  30  Jahren,  also  bis  1936,  rund  4100  Mill.  Mark 
für  Verzinsung  und  Verwaltung  der  Reichsschuld  werden  auf- 
gebracht werden  müssen,  d.  h.  an  Zinsen  und  Verwaltungs- 
kosten würde  in  der  Zeit  von  1906 — 36  nahezu  mehr 
zu  bezahlen  sein,  als  im  Jahre  1906  die  gesamte  Reichs- 
schuld betrug.  Das  war  bis  zum  Jahre  1909  der  im  Reiche 
geübten  Finanzweisheit  letzter  Schluß! 

Die  Klarheit  und  Verständlichkeit  des  Etats  leidet 
auch  dadurch,  daß  der  Ertrag  der  Überweisungssteuern  (seit  1909 
nur  der  Branntweinverbrauchsgabe)  ein  in  Einnahme  und  Aus- 
gabe durchlaufender  Posten  ist.  Der  tatsächliche  Ausgabebedarf 
des  Reiches  ist  also  um  den  Betrag  niedriger,  den  die  durch 
Überweisungen  gedeckten  Matrikularbeiträge  darstellen. 

Auch  die  lange  Zeit  hindurch  nicht  nach  bestimmten  Grund- 
sätzen, sondern  je  nach  Bedarf  künstlich  gezogene  Schei- 
dung zwischen  dem  Extraordinarium  des  ordentlichen 
und  dem  des  außerordentlichen  Etats^)  nötigt,  mit  Frei- 
herrn V.  Zedlitz-Neukirch ^)  festzustellen,  daß  »die  verkünstelte 
Gestalt  des  Reichshaushalts  in  der  Hauptsache  von  dem  Be- 
streben herrührt,  die  Einrichtung  der  Matrikularumlagen  und 
die  Klausel  Franckenstein  formell  aufrecht  zu  erhalten, 
zugleich  aber  tatsächlich  möglichst  außer  Wirksamkeit  zu 
setzen«. 

So  ist  im  Deutschen  Reich  der  Mangel  an  einer  feststehen- 
den, durch  bewußte  Unterordnung  des  Budgetrechts  unter  Staats- 
interessen und  Staatsaufgaben  anerzogenen  Ausgabendeckungs- 
und  Schuldentilgungspraxis  nicht  ohne  nachteilige  Folgen 
geblieben.  In  den  letzten  Jahren  vor  der  Reform  von  1904  und 
noch  mehr  in  den  folgenden  Jahren  bis  1910  bietet  die  Reichs- 
finanzwirtschaft ein  Bild  der  Uuentschlossenheit,  Kurzsichtigkeit, 
ja  der  Pflichtvergessenheit  und  Unsolidität,  bei  dessen 
Betrachtung  der  Eindruck  sich  nicht  von  der  Hand  weisen  läßt, 

^)  a.  a.  0.  p.  258. 

'')  Näheres  darüber  p.  189. 

')  Zeitschrift  für  Sozialwissenschaft,  Jahrg.  1901  p.  792. 


Blum,  Budfretreclit  und  Finanzpraxis.  443 

daß  der  Reichstag,  der  in  erster  Linie  für  die  höchst  bedenk- 
liche Finanzwirtsctiaft  und  ihre  bösen,  bedrohHchen  Folgen  ver- 
antwortlich zu  machen  ist,  auf  diesem  Gebiete  seiner  Tätigkeit 
den  ihm  obliegenden  Aufgaben  sich  nicht  gewachsen  gezeigt 
und  von  der  budgetrechtlichen  Macht,  in  deren  Besitz  er,  ent- 
gegen den  Grundsätzen  der  Reichsverfassung,  im  Laufe  von 
drei  Jahrzehnten  gelangt  ist,  keinesfalls  den  rechten  Gebrauch 
gemacht  hat.  Es  kann  hier  nicht  die  Geschichte  der  Finanz- 
reformen von  1904,  1906  und  1909  erzählt  werden,  es  ist  auch 
hier  nicht  der  Ort,  über  das  Für  und  Wider  der  in  diesen 
Reformen  sich  darstellenden  Finanzgesetzgebungspraxis  abzu- 
urteilen, aber  auf  ein  Moment,  weil  es  in  allen  drei  Phasen 
dieser  Reform ära  wiederkehrt  und  zu  der  Etatspraxis  in  nähere 
Beziehungen  getreten  ist,  muß  auch  in  diesem  Zusammenhang 
hingewiesen  werden:  Diesen  drei  Finanzreformen  ist  ge- 
meinsam der  Tatbestand  einer  unzureichenden  Befrie- 
digung des  vorhandenen  finanziellen  Mehr-  oderNeube- 
darf  s  und  daneben  die  Zuhilfenahme  eines  bequemen,  aber  höchst 
bedenklichen  Verlegenheitsmittels,  der  Entlastung  der  Gegen- 
wart durch  Beschreiten  des  Anleiheweges.  Die  unter  dem 
Namen  der  lex  Stengel  (14.  Mai  1904)  bekannte  sog.  kleine 
Finanzreform  brachte  trotz  dringender  Finanznot  neue  Steuer- 
einnahmen überhaupt  nicht.  Der  Ertrag  der  durch  die  Finanz- 
reform von  1906  (Gesetz  vom  3.  Juni  1906)  geschaffenen  neuen 
Steuern  blieb  auf  dem  Papier  um  40 — 50  Mill.  Mark,  in  der 
Wirklichkeit  um  80 — 90  Mill.  Mark  i)  hinter  der  von  der  Regie- 
rung als  unbedingt  nötig  bezeichneten  Summe  zurück.  Endlich 
hat  die  Finanzreform  von  1909  (Gesetz  vom  15.  Juli  1909)  statt 
der  benötigten  500  Mill.  Mark  —  unter  Berücksichtigung  der 
geplanten  Herabsetzung  der  Zuckersteuer,  der  Aufhebung  der 
Fahrkartensteuer,  Herabsetzung  des  Ortsportos,  bezüglich  derer 
alles  beim  alten  blieb  —  neue  Steuererträge  nur  in  Höhe  v^on 
417  Mill.  M.  (anschlagmäßig  und  im  Beharrungszustande)  zur 
Verfügung  gestellt  2)  und  in  einem  Nachtragsetat  (vom  27.  De- 
zember 1909)  rund  522  Mill.  M.  an  aufgesammelten  Fehlbeträgen 
und    gestundeten    Matrikularbeiträgen    durch    Übernahme    auf 


^)  Vgl.  die  Etatsrede  des  Reichsscliatzsekretärs  v.  Stengel,  Sten.  Ber. 
des  Reichstages  1907—08  p.  1861  ff. 

")  An  neuen  Einnahmen  auf  Grund  des  Finanzgesetzes  vom  15.  Juli  1909 
sind  in  den  Etats  der  Rechnungsjahre  1910  und  1911  erst  290  bzw.  320  Mill. 
eingestellt.  Auch  im  Etat  für  1912  wird  die  im  Jahr  1909  „bewilligte"  Summe 
noch  nicht  erreicht  werden. 


444  Blum.  Budgetrecht  und  Finanzpraxis, 

Reichsanleihe  »beseitigt«,  bzw.  mit  ihrer  Abbürdung  »aus  den 
bereitesten  Mitteln«  drei  spätere  Etatsjahre,  1911 — 13,  belastet. 
Es  ist  keineswegs  allein  das  Verdienst  dieser  Reform,  daß 
diese  Abbürdung  zum  größten  Teil  bereits  im  Rechnungsjahre 
1911  beendet  werden  mußte. 

Insbesondere  ist  auch  die  Aufgabe  der  Sanierung  des 
Extraordinariums  bisher  noch  unerledigt  geblieben i).  Die 
Demarkationslinie  zwischen  beiden,  wie  Reichsschatzsekretär 
Wermuth  bei  Begründung  des  Etats  für  1911/12  sagte,  sind  ge- 
zogen, aber  die  Truppen  sind  noch  nicht  dahinter  zurückgeführt. 
Noch  immer  stehen  Ausgaben,  die  augenscheinlich  nicht  werbender 
Art  sind,  in  großer  Zahl  im  außerordentlichen  Etat,  so  im  Ressort 
des  Reichsamts  des  Innern  für  die  Erweiterungsbauten  am  Kaiser- 
Willielm-Kanal,  ferner  Ausgaben  für  Flotte  und  Heer.  Die  außer- 
ordentlichen Ausgaben  für  die  Marine  sollen  mit  dem  Ende  des 
Rechnungsjahres  1916  fast  ganz  aufhören.  Im  Bereich  der 
Heeresverwaltung  soU  der  außerordentliche  Etat  allmählich  von 
den  Ausgaben  für  den  Festungsbau  entlastet  werden  2).  Der 
Chef  der  Reichsfinanzverwaltung  erklärte,  es  müsse  angestrebt 
werden,  daß  endlich  die  Grenzen  zwischen  dem  ordent- 
lichen und  dem  außerordentlichen  Etat  fester  ge- 
zogen werden^).  Ist  das  erreicht,  dann  wird  der  außerordent- 
liche Etat  im  wesentlichen  nur  Ausgaben  werbender  Natur  für 
Zwecke  der  Reichspost  und  der  Reichseisenbahnen  enthalten. 
Auch  im  Ordinarium  befinden  sich  bisher  verschiedene  Posten, 
die  den  Betriebsmitteln  des  Reichs  als  schwebende  Schuld  zur 
Last  fallen  und  durch  Schatzanweisungen  bestritten  werden 
(u.  a.  im  Etat  für  1911  bei  Kapitel  44  der  Ausgaben  85  Mill. 
Mark  für  Beschaffung  von  Vorräten  an  Verpflegungsmitteln  für 
Mann  und  Pferd  und  an  Kohlen;  bei  Kapitel  27  und  29 
1072  Mill.  Mark  Mieten  für  Kasernen,  Garnisongebäude  und 
Lazarette).  Diesen  Mitteln  entspricht,  zu  5  %  kapitalisiert, 
ein  Anlage  wert  von  210  Mill.  Mark.  In  dieser  Höhe  ist 
also  neben   der  im  Etat  stehenden  Anleihe  noch  eine  Anleihe 


*)  Darüber  Reichsschatzsekretär  Wermuth,  Sten.  Ber.  d,  Reichstages, 
12.  Leg.-P.,  n.  Session  1909—11,  7.  Sitzung,  p.  170BC. 

^)  Vgl.  die  Äußerungen  des  Reichsschatzsekretärs  in  der  Budgetkoni- 
mission des  Reichstags,  Februar  1911. 

*)  Eine  wesentliche  Besserung  im  Extraordinariura  soll  bereits,  wie 
aus  zuverlässiger  Quelle  verlautet,  der  Etat  für  das  Rechnungsjahr  1912 
bringen. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzj)raxis.  445 

bei  Gemeinden  und  bei  Privatvermietem  aufgenommen  worden  ^). 
Auch  hier  muß  im  Interesse  der  Ordnung  des  Anleihe-  und 
Schuldenwesens  des  Reiches  Wandel  geschaffen  werden.  Mit 
solcher  Regelung  würde  auch  für  die  Klarheit  der  Etats- 
wirtschaft, die  jetzt  noch  durch  das  mannigfache  Ineinander- 
greifen des  ordentlichen  und  des  außerordentlichen  Etats  er- 
heblich beeinträchtigt  ist,  viel  gewonnen  sein.  Gleichzeitig 
läge  darin  ein  neues  Bekenntnis  zu  dem  Programm,  daß  in 
naher  Zukunft  alle  Ausgaben  nicht  werbender  Natur  aus  ordent- 
lichen Mitteln  bestritten  werden  sollen  —  also  ein  gesunder 
Finanzgrundsatz  allererster  Ordnung. 

XII.  Die  Schuldentilgung  im  Reiche. 

Ebenso  hat  sich,  leider  erst  in  den  allerletzten  Jahren, 
ein  entschiedener  Wandel  zum  Besseren  in  der  Beurteilung 
und  Behandlung  der  Aufgaben  der  Schuldentilgungs- 
politik vollzogen.  Eine  Zwangstilgung  gibt  es  im  Reiche 
erst  seit  dem  Jahre  1907.  Bis  zum  Jahre  1896  war  es, 
obwohl  bis  dahin  die  Reichsschuld  bereits  auf  über  zwei 
Milharden  Mark  gestiegen,  war,  zu  einer  regelmäßigen  oder 
auch  nur  gelegentlichen  effektiven  Schuldentilgung  nicht  ge- 
kommen. In  der  ersten  Periode  der  Schuldentilgungsgesetze 
(leges  Lieber),  in  den  Jahren  1896  bis  1899  wurden  die  Über- 
weisungen, die  den  Stand  der  Reichsfinanzen  so  schw^er  ge- 
schädigt hatten,  gekürzt  und  dadurch  rund  143  Mill.  Mark  der 
Abführung  an  die  Einzelstaaten  entzogen.  Aber  diese  Beträge 
wurden  nicht  zu  wirklicher  Schuldentilgung  verwendet,  sondern 
vom  Anleihesoll  abgeschrieben.  Ebenso  wurde  auf  Grund  des 
Gesetzes  vom  28.  März  1903  betreffend  »Verwendung  von  Mehr- 
erträgen der  Reichseinnahmen  und  Überweisungssteuern  zur 
Schuldentilgung«  mit  den  in  den  Jahren  1902/03  verfügbaren 
Summen  (insgesamt  31,2  Mill.  Mark)  verfahren,  die  als  Über- 
schuß der  Erträge  aus  Zöllen,  Tabaksteuer,  Branntwein verbrauchs- 
abgabe  und  Zuschlag  und  den  Reichsstempelabgaben  über  das 
Etatssoll  sich  ergaben.  Mit  der  sog.  lex  Stengel  (Gesetz  vom 
14.  Mai  1904),  die  eine  teilweise  Beseitigung  der  clausula 
Franckenstein  brachte,  wurde  wieder  der  Boden  der  freien 
Tilgung  betreten:  »Etwaige  Überschüsse  aus  den  Vorjahren 
dienen,  insoweit  durch  das  Gesetz  über  den  Reichshaushaltsetat 


0  Berl.  Pol.  Nachr.,  XXXI.  Jahrg.,  Nr.  218. 


446  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

nicht  ein  anderes  bestimmt  wird,  zur  Deckung  gemein- 
schaftlicher außerordenthcher  Ausgaben.«  Also  auch  hier  ist 
noch  freigestellt,  ob  Verminderung  des  Anleihebedarfs  oder 
wirkliche  Tilgung  vorzunehmen  sei. 

So  sind  im  Reiche  zehn  Jahre  und  mehr  vergangen,  ehe 
es  zu  einer  obligatorischen  und  effektiven  Schuldentilgung 
kam,  obwohl  in  dieser  Zeit  die  Schulden  des  Reichs  sich  mehr 
als  verdoppelt  haben,  auf  weit  über  4  Milliarden  Mark  gestiegen 
sind!  Das  System  der  Abschreibung  vom  Anleihesoll, 
das  bereits  bei  der  Ausführung  der  leges  Lieber  durchgeführt 
worden  war,  konnte  in  vollkommen  legaler  Weise  fortgesetzt 
werden,  da  §  5  der  Reichsschuldenordnung  vom  19.  März  1900 
bestimmt,  daß  »die  durch  besondere  Gesetze  angeordnete  Ver- 
minderung der  Schuld  durch  Absetzung  vom  Anleihesoll  einer 
Tilgung  gleich  zu  achten«  sei.  Tatsächlich  aber  liegt  doch  — 
Regierungen  und  Volksvertretungen  mögen  dagegen  sagen,  was 
sie  wollen,  und  auf  die  allgemein,  auch  in  Preußen  bestehende 
Übung  der  Gleichsetzung  von  Tilgung  und  Aufrechnung  ver- 
weisen —  eine  wirkliche  Tilgung,  d.  h.  Verminderung  der 
öffentlichen  Schuld,  worauf  hingearbeitet  werden  muß  und 
woran  jedermanu  denkt,  wenn  im  Etat  Beträge  zur  Schulden- 
tilgung ausgebracht  werden,  keineswegs  vor.  Die  öffentliche 
Schuld  wächst  langsamer  oder  wächst  gar  nicht,  aber  sie  sinkt 
auch  nicht.  Und  auch  dann  ist  die  Verrechnung  keinesfalls 
ein  vollkommener  Ersatz  der  Tilgung,  wenn  der  in  den 
Etat  eingestellte  Schuldentilgungsbetrag  auf  eine  Anleihe  an- 
gerechnet wird,  die  zur  Schaffung  produktiver  Einrichtungen, 
mittelbar  also  zur  Erhöhung  der  öffenthchen  Einnahmen,  die 
Mittel  bereitstellt.  Auch  dann  geht  das  Niveau  der  öffenthchen 
Schuld  nicht  herunter.  Mit  streng  soliden  Etatsgrundsätzen, 
mit  der  Forderung  peinhcher  Etatswahrheit  läßt  sich  ein  solcher 
künstUcher  Parallelismus  jedenfalls  nicht  vereinbaren.  Gewiß 
ist  in  Preußen  die  gleiche  Finanzpraxis  in  dieser  Hinsicht 
beobachtet  worden.  Aber  wir  haben  bereits  angemerkt,  daß 
Preußen  in  Wirkhchkeit  bereits  seit  dem  Jahre  1884  Zwangs- 
tilgung hatte  und  daß  in  Preußen  die  Anleihen  im  allgemeinen 
nicht  als  letztes  Auskunftsmittel  zur  Bestreitung  ordentlicher 
Ausgaben  aufgenommen  sind,  sondern  den  Charakter  staats- 
wirtschaftlicher Kapitalsanlagen  tragen,  vor  allem  aber  in  den 
Erträgen  des  vorhandenen  Staatsvermögens  eine  doppelte  bis 
dreifache  Deckung  besitzen.  Im  Reiche  wäre  allerdings,  auch 
wenn   in   den  Jahren   1896   bis   1906   rund  200  Mill.  Mark  zu 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  447 

wirklicher  Schuldentilgung  Verwendung  gefunden  hätten,  ein 
solcher  Erfolg  bei  einer  in  derselben  Zeit  eingetretenen  Stei- 
gerung der  Reichsschuld  um  2000  Mill.  Mark  von  wenig  er- 
heblicher Bedeutung  gewesen.  Was  hätte  eine  jährhche  effektive 
Tilgung  von  einigen  20  Mill.  Mark  besagen  können,  wenn 
gleichzeitig  alljährhch  neue  Schulden  in  Höhe  von  100  Mill. 
Mark  im  Durchschnitt  kontrahiert  wurden! 

Im  Jahre  1906  ist  dann  das  Reich  dem  zehn  Jahre  früher 
von  Preußen  gegebenen  Beispiele  gefolgt  und  von  der  Praxis 
einer  nicht  planmäßigen,  gelegentlichen  Schuldentilgung  zum 
Zwangstilgungsverfahren  übergegangen.  Nach  §  4  des 
Gesetzes  vom  3.  Juni  1906,  betreffend  die  Ordnung  des  Reichs- 
haushalts und  die  Tilgung  der  Reichsschuld,  sollte  die  Reichs- 
anleiheschuld vom  Jahre  1908  ab  alljährlich  in  Höhe  von 
mindestens  drei  Fünfteln  v.  H.  des  sich  jeweils  nach  der  Denk- 
schrift über  die  Ausführung  der  Anleihegesetze  ergebenen 
Schuldbetrages  —  Bereitstellung  der  erforderlichen  Beträge 
durch  den  Reichshaushaltsetat  —  getilgt  werden.  Auch  in 
diesem  Gesetze  ist  wieder  die  Absetzung  vom  Anleihesoll  der 
Tilgung  gleichgestellt.  Aber  nicht  einmal  dazu  ist  es  gekommen. 
Gleich  im  ersten  Jahre  (cf.  §  4  des  Etatsgesetzes  für  das 
Rechnungsjahr  1908)  mußte  die  Tilgung  unterbleiben,  weil 
keine  Mittel  zur  Verfügung  standen  und  die  »Tilgung«  nur 
zu  Lasten  gesteigerter  ungedeckter  Matrikularbeiträge  hätte  er- 
folgen können.  Hätte  man  der  gesetzlichen  Bestimmung  ent- 
sprechen wollen,  so  wäre,  wie  Reichsschatzsekretär  Freiherr 
von  Stengel  in  seiner  Etatsrede  ausführte  i),  die  Konsequenz 
gewesen,  daß  das  Reich,  um  einen  übrigens  geringfügigen  Betrag 
(24  Mill.  Mark)  der  konsolidierten  Schuld  zu  tilgen,  mittels  In- 
anspruchnahme des  Schatzanweisungskredits  eine  schwebende 
Schuld  hätte  aufnehmen  müssen,  die  mit  ihrem  Betrag  zu  den 
für  1908  gestundeten  Matrikularbeiträgen  hinzugetreten  wäre 
und,  wenn  der  Eingriff  durch  die  Finanzgesetzgebung  des 
Jahres  1909  nicht  erfolgt  wäre,  bis  im  Juli  1911  die  einzel- 
staatlichen Budgets  bedroht  hätte  und  dann  von  den  Einzel- 
staaten hätte  abgetragen  werden  müssen.  Also  eine  ganz  ähn- 
liche Wirkung  der  Finanzpraxis  im  Reiche  wie  von  der  Mitte 
der  achtziger  bis  zur  Mitte  der  neunziger  Jahre  des  vorigen 
Jahrhunderts,  in  welcher  Periode  die  Schulden  des  Reichs 
nahezu  um  den  dreifachen  Betrag  der  Summe  stiegen,  die  als 
Überweisungen  an  die  Einzelstaaten  gezahlt  wurden! 

')   Sten.  Ber.  d.  Reichstags  1907/8,  p.  1866, 


448  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Überhaupt  hat  dieses  System  der  Überweisungen,  worauf 
bereits  wiederholt  verwiesen,  äußerst  verhängnisvoll  gewirkt. 
Aber  noch  mehr  trifft  den  Reichstag  der  Vorwurf,  daß  er 
dem  enormen  Anwachsen  der  Reichsschuld  ruhig 
zugesehen  hat,  als  längst  keine  Aussicht  mehr  war,  daß  ohne 
das  gesetzliche  Mittel  der  Zwangstilgung  Besserung  eintreten 
konnte  ^).  Ohne  Umschweife  und  mit  jener  Bestimmtheit,  die 
dem  Freunde  der  Wahrheit  eigen  zu  sein  pflegt,  hat  der  baye- 
rische Finanzminister  Freiherr  V.  Pfaff  die  Schuld  des  Reichs- 
tags an  der  Verschuldung  des  Reichs  in  ihrer  ganzen 
Größe  aufgezeigt.  In  der  Plenarsitzung  der  bayerischen  Kam- 
mer vom  16.  Oktober  1907  (Verhandl.  p.  205)  führte  er  aus: 
»Die  ungünstige  Lage  der  Reichsfinanzen  ist  nicht  erst  seit 
Dezember  1906  vorhanden,  sie  ist  weit  älteren  Datums  .... 
sie  hat  ihren  Grund  darin,  daß  dem  Reiche  nicht 
in  Form  neuer  Steuern  diejenigen  eigenen  Mittel 
zur  Ve rfügung  gestellt  wurden,  die  es  zur  Befriedi- 
gung seiner  Bedürfnisse  braucht.  Ich  erinnere  nur  an 
die  Vorgänge  vor  zwei  Jahren.  In  eingehender  Begründung 
wurde  seitens  des  Reichsschatzamts  die  Notwendigkeit  der  Be- 
willigung neuer  Steuern  mit  220  bis  230  Millionen  hervor- 
gehoben. Dem  Reiche  wurden  nur  Steuern  in  der  angenommenen, 
aber  bei  weitem  nicht  erreichten  Höhe  von  180  Millionen  be- 
willigt und  der  Mehrbetrag  den  Bimdesstaaten  als  ungedeckte 
Matrikularbeiträge  zugewiesen.  Diese  Art  der  Deckung  des 
Reichsbedarfs,  die  keine  vorübergehende  Maßnahme  mehr  ist, 
sondern  eine  ständige  Einrichtung  zu  werden  droht,  hat  seit 
langer  Zeit  bei  der  bayerischen  Regierung  die  lebhaftesten  Be- 
denken hervorgerufen.« 

')  Mit  vollem  Recht  sagt  0.  Schwarz,  Hdw.  d.  Stw.,  Bd.  4  p.  241  (Art, 
»Finanzen«):  »  .  .  .  .  Im  Deutschen  Reiche  hätte  eine  so  rapide  Vermehrung 
der  auf  das  Budget  drückenden  toten  Last  der  Schuldzinsen  wohl  vermieden 
werden  können.  Wenn  zur  rechten  Zeit,  d.  h.  Anfang  der  neunziger  Jahre, 
wo  die  großen  Steigeningen  der  Heeres-  und  Flottenausgaben  einzusetzen 
begannen,  etwa  70  bis  80  Mill.  Mark  neuer  Steuern  mehr  bewilligt  worden 
wären,  wie  das  damals  die  Reichsregierung  beabsichtigte,  so 
hätten  wir  vielleicht  heute  (1909)  IV2  bis  2  Milliarden  Schulden  weniger  zu 
verzinsen.  Auf  der  anderen  Seite  zeigt  die  glänzende  Schuldenpolitik 
Englands  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  und  im  Beginn  des  20.  Jahrhunderts 
und  die  ebenfalls  nachnahmenswerten  Grundsätze,  welche  in  dieser  Hinsicht 
in  Frankreich  namentlich  seit  den  neunziger  Jahren  sowie  in  Italien  in  den 
letzten  Jahrzehnten  zur  Durchführung  gelangt  sind,  wie  die  hieraus  erfolgende 
Entlastung  des  Budgets  eine  sehr  erhebliche  Steigerung  der  übrigen 
Verwaltungszweige  ohne  entsprechenden  Steuerdruck  ermöglicht«. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  449 

Hat  nun  der  Reichstag  aus  den  ehernen  Erfahrungstat- 
sachen der  letzten  beiden  Dezennien  die  richtigen  Lehren 
und  Nutzanwendungen  gezogen?  Hat  er  wenigstens  für  die 
Zukunft  so  gesorgt,  wie  er  in  der  Vergangenheit  hätte 
sorgen  müssen?  Das  Finanzgesetz  vom  15.  Juni  1909  ent- 
hält —  das  ist  anzuerkennen  —  Bestimmungen  über  die 
Schuldentilgung,  die,  wenn  sie  innegehalten  werden,  eine 
effektive  Schuldentilgung  in  einer  wenigstens  den  allerdrin- 
gendsten  Anforderungen  entsprechenden  Weise  ermöglichen. 
Für  die  allgemeine  Schuldentilgung  kommt  nunmehr  —  seit 
dem  1.  April  1911  —  der  Mindestsatz  von  1  7o  zur  Anwen- 
dung; in  den  Etat  für  1911/12  sind  demgemäß,  da  die 
bis  zum  30.  September  1910  begebenen  Anleihen  sich  auf 
4442,4  Mill.  Mark  beziffern,  44,4  Mill.  Mark  zur  Tilgung  ein- 
gestellt. Zur  Tilgung  des  nach  dem  30.  September  1910  be- 
gebenen Schuldkapitals  sind  jährhch  1,9  %,  bzw.  3  7o  unter 
Hinzurechnung  der  er'^-parten  Zinsen  zu  verwenden;  1,9  7o  wenn 
es  sich  um  Anleihen  für  werbende  Zw^ecke  handelt ;  3  %  bei 
allen  übrigen  Anleihen.  Demgemäß  sollen  die  Anleihebeträge 
in  Höhe  von  278,3  Mill.  Mark,  die  aus  der  Übernahme  der  ge- 
stundeten Matrikularbeiträge  der  Rechnungsjahre  1906 — 1908 
auf  Anleihe  und  aus  der  Übernahme  der  Fehlbeträge  in  den 
Jahren  1907  und  1908  auf  Anleihe  herrühren,  mit  jährüch 
1,9  7o  unter  Hinzurechnung  der  ersparten  Zinsen  (31/2  Vo  der 
zur  Tilgung  aufgewendeten  Summe)  innerhalb  30  Jahren  getilgt 
werden.  Ebenso  würde  in  Zukunft  mit  allen  Anleihen,  die  zu 
werbenden  Zwecken  aufgenommen  sind,  zu  verfahren  sein.  Der 
Fehlbetrag  des  Jahres  1909,  ursprünghch  126,5  Mill.  Mark,  muß 
in  den  Jahren  1911 — 1913  »aus  den  bereitesten  Rütteln  des 
Reichs«,  in  erster  Linie  also  aus  Überschüssen,  abgebürdet 
werden.  Gleichzeitig  ist  durch  dasselbe  Gesetz  §  3  des  Gesetzes 
vom  3.  Juni  1906  (Einführung  der  gestundeten  Matrikular- 
beiträge) außer  Wirksamkeit  gesetzt,  §  4  des  Gesetzes  vom 
3.  Juni  1906  (Mindestsatz  der  Tilgung  der  Reichsanleiheschuld 
3/5  Vo  des  sich  jeweils  nach  der  Denkschrift  über  die  Ausführung 
der  Anleihegesetze  ergebenden  Schuldbetrages)  und  §  2  des  Ge- 
setzes vom  27.  März  1903  (Bestimmung  über  die  Tilgung  der 
Zuschußanleihe  für  1903  in  Höhe  von  72,1  Mill.  Mark)  auf- 
gehoben. 

Die  Wirkung  dieser  neuen  Schuldentilgungssätze  für  das 
Etats] ahr  1911  ist,  daß  im  Etatsentwurf  für  1911/12  rund 
93  Mill.  Mark,  nach  Abzug  von  3V2  Mill.  Mark,  die  für  Anleihe 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  29 


450  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

ZU  werbenden  Zwecken  in  den  Etats  der  Reichspost-  und  der 
Reichseisenbahnverwaltung  verrechnet  werden,  89,6  Mill.  Mark 
oder  54,2  Mill.  Mark  mehr  als  im  Etatsjahr  1910  zur  Schulden- 
tilgung ausgebracht  sind.  Dazu  kommt  noch  die  außerordent- 
liche Tilgung  durch  den  Münzprägungsgewinn  in  Höhe  von 
22  Mill.  Mark.  Eine  Tilgung  von  insgesamt  115  Mill.  Mark 
fiele  auch  bei  einer  Gesamtanleiheschuld  von  rund  5000  Mill. 
Mark  immerhin  noch  ins  Gewicht.  In  Zukunft  würde  die 
Tilgung  versältnismäßig  noch  stärker  ausfallen  müssen,  da  der 
Tilgungssatz  für  alle  nach  dem  30.  September  1910  ausgegebenen 
Anleihen  gemäß  §  3  Abs.  3  des  Gesetzes  vom  15.  Juli  1909 
von  1  auf  1,9  Prozent,  bei  den  für  werbende  Zwecke  bewilligten 
Anleihen  im  übrigen  von  1  auf  3  Prozent  —  und  1,9  Prozent 
und  3  Prozent  sind  Mindestsätze  —  sich  erhöht.  Dazu  kommt 
weiter,  daß  die  Ausgaben  für  die  Verzinsung,  —  die  bereits 
im  Rechnungsjahr  1911  infolge  der  eingetretenen  erheblichen 
Verminderung  bei  den  Zinsen  für  die  vorübergehenden  Anleihen, 
für  Schatzanweisungen  u.  dergl.  im  Gesamtbetrage  eine  Er- 
mäßigung um  6Y4  Mill.  Mark  erfahren  haben,  so  daß  der  tat- 
sächliche Mehraufwand  für  die  A^'erzinsung  der  Reichsschuld 
nur  6,8  Mill.  Mark  beträgt  — ,  im  nächsten  Jahre  voraussichtlich 
noch  eine  weitere  Verminderung  erfahren  werden,  in  dem  Maße, 
daß  dann  Mehranforderungen  für  die  Verzinsung  der  allge- 
meinen Reichsschuld  nicht  nötig  werden^).  Jene  im  Gesetz  vom 
15.  Juli  1909  vorgesehenen  Schuldentilgungsmindestsätze  werden 
voraussichtlich  überschritten  werden,  denn  die  für  die  Jahre  1911 
bis  1913  gesetzlich  vorgeschriebene  Abbürdung  wird  ganz  sicher 
nicht  alljährlich  den  rechnungsmäßigen  Betrag  von  rund  36  Mill. 
Mark  (nach  Abzug  von  18  Mill.  Mark  aus  dem  Verkauf  von 
zwei  Kriegsschiffen  an  die  Türkei),  sondern  erheblich  weniger 
erfordern,  voraussichtlich  infolge  der  günstigen  Ergebnisse  des 
Rechnungsjahres  1910  2)  sogar  schon  im  Etats  jähr  1911  in  der 
Hauptsache  durchgeführt  sein.  Die  frei  werdenden  Beträge 
hätten  dann  im  ordentlichen  Haushalt  verbleiben,  also  gemäß 
den  bestehenden  gesetzlichen  Bestimmungen  den  Einzelstaaten 
zugute  kommen  müssen,  wenn  nicht  inzwischen  unter  Bezug- 
nahme darauf,  daß  die  verschiedenen  Prozentsätze  für  die  Reichs- 
schuldentilgung im  Finanzgesetz  von  1909  ausdrücklich  als 
Mindestsätze   bezeichnet  sind   —    wovon    noch    die  Rede    sein 


•)  Vgl.  Sten.-Ber.  d.  Reichstags,  Sitzung  vom  4.  April  1911,  p.  6252/63. 
')  Vgl.  p.  57. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  451 

wird  —  auf   eine  verstärkte  Schuldentilgung  hinge- 
wirkt worden  wäre^). 

Daß  diese  Erwartungen  in  Erfüllung  gehen,  ist  dringend 
zu  wünschen.  Denn  eine  effektive  Schuldentilgung 
würde  trotz  der  höheren  Tilgungssätze  auch  im  Rechnungs- 
jahre 1911/12  im  Reiche  nicht  stattfinden,  wenn  nicht  die 
außerordentliche  Tilgung  auf  Grund  des  Münzgewinnes  und 
unter  der  Wirkung  des  abgeänderten  §  4  des  Etatsgesetzes 
hinzuträte.  Auch  das  Finanzgesetz  von  1909  bestimmt  wieder 
(in  §  3  Abs.  5),  daß  Abschreibungen  vom  Anleihesoll  und  An- 
rechnungen auf  offene  Kredite  bis  zur  Höhe  der  zur  Schulden- 
tilgung zur  Verfügung  stehenden  Beträge  einer  Tilgung  gleich 
zu  achten  sind.  Es  ist  schon  dargetan,  daß  es  nicht  völhg 
gleich  ist,  ob  alte  Schulden  getilgt  oder  notwendig  gewordene 
neue  verhütet,  bzw.  gar  nicht  erst  gemacht  werden.  Gewiß  ist 
der  Abstrich,  der  von  der  Gesamtschuldsumme  gemacht  wird, 
in  beiden  Fällen  der  gleiche.  Aber  darauf  kommt  es  nicht  an. 
Das  Entscheidende  ist  doch,  ob  die  vorhandene,  d.  h.  die  bei 
Beginn  des  neuen  Rechnungsjahres  vorhandene  Schuldsumme 
im  Laufe  dieses  selben  Rechnungsjahres  tatsächlich  vermindert 
wird  und  am  Ende  dieses  selben  Rechnungsjahres  einen  niedri- 
geren Stand  erreicht  hat.  Und  das  wird  trotz  allen  schönen 
und  großen  Worten  von  Schuldentilgung  auf  Grund  der  im  Etat 
für  1911  für  diese  Zwecke  bereitgestellten  ordentlichen  Mittel 
nicht  der  Fall  sein.  Diese  ordentlichen  Mittel  beziffern  sich 
auf  89,6  Mill.  Mark.  Selbst  wenn  man  Abschreibung  vom  An- 
leihesoll im  Sinne  des  Gesetzes  als  Schuldentilgung  bewertete, 
würde  das  nicht  der  Fall  sein,  denn  für  das  Rechnungs- 
jahr 1911/12  ist  eine  Anleihe  in  Höhe  von  fast  98  Mill.  Mark 
vorgesehen.  Von  einer  wirklichen  Tilgung  kann  aber 
dann  imErnste  nicht  mehr  die  Rede  sein,  wenneine 
Anleihe  aufgenommen  werden  muß,  die  den  Betrag 
der  Tilgungsumme  in  einem  und  demselben  Rech- 
nungsjahre übersteigt 2).    Im  Etat  1911/12  ist  der  Anleihe- 

')  Eine  Ermäßigung  der  schwebenden  Schuld  ist  erstmalig  wieder  erfolgt, 
als  das  Reich  am  1.  Oktober  1911  den  Schatzanweisungsumlauf  um  40  MiU. 
Mark  bar  zurückgezahlte  Schatzanweisungen  verminderte. 

-)  So  auch  K.  Zorn,  Über  die  Tilgung  von  Staatsschulden  in  Abhand- 
lungen aus  dem  Staats-,  Verwaltungs-  und  Völkerrecht.  Tübingen  1905.  I,  3, 
p.  96:  »Sobald  in  einem  Jahre  eine  neue  Schuldaufnahme  nötig  ist,  die  den 
Betrag  der  Tilgungssumme  übersteigt,  ist  tatsächlich  keine  Tilgung  mehr 
vorhanden.«  Ebenso  E.  v.  Kaufmann  im  Finanz-Archiv  1900,  Jahrg.  17, 
Bd.  I  p.  166/167. 

29* 


452  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

betrag  um  7,4  Mill.  Mark  größer  als  die  ausgebrachte  Tilgungs- 
surame!  Die  Gesamtschuldsumme  würde  also  zum  wenigsten 
um  diesen  Betrag  wachsen  müssen,  aber  keinesfalls  sinken 
können.  Tilgung  bedeutet,  wenn  man  dem  Worte  nicht  Gewalt 
antun  will,  Verminderung  der  Schuldenlast,  d.  h.  der  vorhan- 
denen Schuldenlast,  die  auf  die  Finanzlage  drückt,  nach  deren 
Erleichterung  die  öffentliche  Meinung  verlangt.  Im  Wege  der 
Verrechnung  kann  diese  Aufgabe  niemals  gelöst  werden. 

Wie  steht  es  nun  um  die  Praxis  der  Schuldentilgung 
im  Rechnungsjahr  1911?  Die  Schuldentilgungsmittel  er- 
scheinen im  ordentlichen  Etat  beim  Etat  der  Reichsschuld  als 
Ausgabe,  im  außerordentlichen  Etat  als  Einnahme.  Demgemäß 
ist  im  ordentlichen  Etat  des  Rechnungsjahres  1911  unter  den 
fortdauernden  Ausgaben  XII  (Etat  der  Reichsschuld)  Kap.  72 
Titel  1 — 3  der  Betrag  von  89,6  Mill.  Mark,  im  außerordentlichen 
Etat  im  Kap.  6  der  gleiche  Betrag  unter  den  Einnahmen 
ausgebracht.  Mit  Hilfe  jenes  Betrages  von  89,6  Mill.  Mark 
balanciert  der  ordentliche  Etat;  der  in  Ausgabe  gestellte  Betrag 
muß  also  verausgabt  werden.  Er  wird  es  auch  tatsächlich,  aber 
nicht  in  der  Weise,  daß  er  effektiv  und  unmittelbar  für  den 
außerordentlichen  Etat,  wie  es  nach  dessen  Aufstellung  scheinen 
könnte,  vereinnahmt  wird.  Wie  dieser  Betrag,  der  sich  ein- 
schließlich einiger  kleiner  Beträge  auf  93  Mill.  Mark  stellt,  tat- 
sächlich Verwendung  finden  soll  und  wird,  hat  der  damalige 
Chef  der  Reichsfinanzverwaltung  Staatssekretär  Wermuth  in 
seiner  Etatsrede  vom  9.  Dezember  1910  klar  ausgesprochen: 

»Inzwischen  dürfen  wir  damit  zufrieden  sein,  daß  uns 
aus  dem  ordentlichen  Etat  93  Mill.  Mark  an  Schuldentilgungs- 
beiträgen zufließen  und  (daß  wir)  im  Verein  mit  dem  Münz- 
gewinn von  22  Mill.  Mark  das  Anleihesoll  auf  tiefer  als  die 
Hälfte  herabdrücken.  Aber  wir  dürfen  uns  nicht  damit 
zufrieden  geben,  etwa  nur  eine  schematische  Sub- 
traktion vorzunehmen;  wir  dürfen  nicht  die  Schulden- 
tilgungsbeträge der  Aufgabe  entziehen,  zu  der  sie  uns  nach 
dem  Sinne  und  dem  Wortlaute  der  Reichsschuldenordnung  in 
erster  Linie  befähigen  soll,  nämlich  als  Käufer  unserer  alten 
Schuldenbestände  auf  dem  Markte  aufzutreten  und  dadurch 
das  Ansehen  unserer  Anleihen  zu  heben.  Meine  Herren,  die 
verbündeten  Regierungen  schlagen  Ihnen  vor,  dies  im  Etats- 
gesetz besonders  zum  Ausdruck  zu  bringen.« 

§2  des  Etatgesetzes  für  das  Rechnungsjahr  1911  bestimmt 
in  Abs.  1,  daß  der  Reichskanzler  ermächtigt  wird,  zur  Bestreitung 


Blum,  Biid^etreclit  und  Finanzpraxis.  453 

einmaliger  außerordentlicher  Ausgaben  die  Summe  von  97,7  Mill. 
Mark  im  Wege  des  Kredits  flüssig  zu  machen.  Dann  folgt 
Abs.  2  der  besagt: 

»Werden  die  zur  Tilgung  der  Reichsschuld  bestimmten 
Mittel  (Kapitel  3 — 7  der  Einnahme  des  außerordentlichen  Etats) 
ganz  oder  teilweise  zum  Ankauf  von  Schuldverschreibungen 
verwendet,  so  erhöht  sich  die  im  Abs.  1  bezeichnete  Kredit- 
summe um  den  entsprechenden  Betrag.« 

Abs.  3  endlich  lautet:  »Das  Gleiche  gilt  für  die  nach  dem 
Etat  und  dem  Ergebnis  des  Rechnungsjahres  1910  zur  Tilgung 
der  Reichsschuld  dienenden  Beträge.« 

Nach  der  erwähnten  Erklärung  des  Reichsschatzsekretärs 
ist  diese  »Schuldentilgung«  so  gedacht,  daß  nicht  bloß  jene 
93  Milhonen,  sondern  auch  die  22  Mill.  Münzgewinn,  also  ins- 
gesamt 115  Millionen  zum  Ankauf  von  Schuldverschreibungen 
verwendet  werden  können,  daß  sich  also  die  Anleihe  um  den 
zu  diesem  Zwecke  verausgabten  Betrag  erhöht.  Es  ist  also  un- 
richtig zu  sagen,  daß  die  Anleihe  um  den  Betrag  von  93  Mil- 
lionen bzw.  115  Millionen  »herabgedrückt«  sei.  Die  im  Wege 
des  Kredits  flüssig  zu  machende  Summe  ist  im  Etat  für  1911 
in  ihrer  Höhe  tatsächlich  nicht  fest  bestimmt,  sie  kann  statt 
97,7  MiUionen  äußerstenfalls  212,7  Milhonen  betragen.  Das 
ist  in  §  2  des  Etatsgesetzes  deutlich  und  unzweifelhaft  ausge- 
sprochen. Es  findet  also  auch  im  Rechnungsjahr  1911 
eine  effektive  Schuldentilgung  nicht  statt  und  die  Schul- 
dentilgungsbestimmungen im  Finanzgesetz  von  1909  bleiben 
zunächst  noch  toter  Buchstabe.  Die  einzige  und  tatsächliche 
Wirkung  der  im  Etat  für  1911  vorgenommenen  Schuldentilgung 
besteht  darin,  daß  die  Reichsschuld  sich  im  Minimum  um 
97,7  Mill.  Mark  erhöht,  damit  allerdings  hinter  dem  in  den 
vorangegangenen  Rechnungsjahren  notwendig  gewordenem 
Schuldenplus  erheblich  zurückbleibt.  Im  Minimum;  denn  was 
auf  der  einen  Seite  durch  Rückkauf  alter  Schuldverschreibungen 
an  Verbindlichkeiten  beseitigt  wird,  muß  auf  der  anderen  Seite 
in  gleicher  Höhe  durch  Steigerung  der  Anleihe  wieder  einge- 
bracht werden.  Die  Mittel  zu  dieser  Art  Schuldentilgung  müssen 
im  Anleihewege  beschafft  werden,  an  dem  Schuldenbestand  im 
Reiche  wird  durch  diese  in  ihrem  Inhalt  sich  ausgleichenden 
Operationen  im  Endeffekt  eine  Kürzung  nicht  erreicht,  er 
würde,  völhg  unberührt  von  der  Etatspraxis,  auf  gleicher  Höhe 
bleiben,  wenn  er  nicht  um  den  Betrag  der  durch  das  Etat- 
gesetz bewilligten  Anleihe  gesteigert  würde.    Mag  man  zugeben, 


454  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

daß  die  Rücksicht  und  die  Notwendigkeit  der  Einflußnahme 
auf  den  Anleihemarkt,  durch  den  Rückkauf  schon  ausgegebener 
Schuldverschreibungen,  eine  Finanzpraxis,  wie  sie  in  §  2  des 
Etatgesetzes  für  1911  zum  Ausdruck  kommt,  geboten  erscheinen 
lassen  kann,  so  bleibt  doch  unbestreitbar,  daß  eine  effektive 
Schuldentilgung  in  der  Höhe,  wie  sie  im  ordenthchen  Etat  der 
Reichsschuld  in  Ausgabe  gestellt  ist,  nicht  erfolgt^).  Auf  diesen 
Tatbestand  hat  in  der  dritten  Lesung  des  Etats  der  Abgeordnete 
Dr.  Arendt  ausdrücklich  aufmerksam  gemacht,  indem  er  am 
Schlüsse  einer  kurzen  Bemerkung  zum  Etat  der  Reichsschuld 
die  Hoffnung  aussprach,  daß  die  in  den  letzten  Jahren  so  sehr 
angewachsenen  Anforderungen  aus  dem  Etat  der  Reichsschuld 
künftig  eine  Verminderung  nicht  bloß  durch  die  Zinsermäßi- 
gungen für  Schatzanweisungen,  sondern  »auch  durch  eine  ef- 
fektive Schuldentilgung  erfahren«  werde 2). 


Xni.  Die  Besserung  der  Finanzpraxis  im  Reiche. 

Für  die  Erfüllung  dieses  Wunsches  sind  wenigstens  die  ge- 
setzlichen Unterlagen  vorhanden.  Es  ist  bereits  darauf  hingewiesen, 
daß  auf  Grund  des  Finanzgesetzes  von  1909  alle  in  Zukunft  be- 
gebenen Anleihen,  wenn  sie  für  werbende  Zwecke  begeben  sind, 
mit  mindestens  1,9%,  alle  übrigen  mit  mindestens  3  Vo  getilgt 
werden  müssen  und  daß  die  so  bemessenen  Mindestsätze  voraus- 
sichtüch  überschritten  werden  würden.  Die  gesetzliche  Ermächti- 
gung dazu  ist  dadurch  gegeben,  daß  im  §  4  des  Etatsgesetzes 
für  1911  die  Bestimmung  Aufnahme  gefunden  hat,  daß  die 
ordentlichen  Einnahmen  aus  der  eigenen  Wirtschaft  des  Reichs 
im  Rechnungsjahr  1911,  soweit  sie  nach  der  Rechnung  dieses 
den  Bedarf  des  Reichs  übersteigen,  außer  zur  Deckung  des  aus 
§  2  Abs.  2  Satz  1  sich  ergebenden  Kredits  zur  Deckung  solcher 
gemeinschaftlicher  Ausgaben  des  außerordentlichen  Etats  zu 
verwenden  sind,  die  nach  den  Anleihegrundsätzen  künftig  auf 
den  ordentlichen  Etat  zu  übernehmen  sein  würden.  Zu  den 
gleichen  Zwecken  kann  ein  den  Sollbetrag  der  Überweisungen 
übersteigender  Betrag  zurückbehalten  werden,  während  ein  gegen 


^)  Bestätigt  in  einer  offiziösen  Auslassung:  „Gelingt  es,  den  außer- 
ordentlichen Etat  zur  Gesundung  zu  bringen,  so  ist  endlich  Aussicht 
vorhanden,  daß  ....  eine  Tilgung  alter  Reichsschulden  vorgenommen 
wird."     Berl.  Pol.  Nachr.  13.  August  1911. 

0  Sten.  Ber.  d.  Reichstag-Sitzg.  vom  4.  April  1911.  p.  6252  D. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  455 

das  Etatssoll  der  Überweisungen  sich  ergebender  Minderertrag 
dem  Reiche  zur  Last  fällt  ^).  Erst  infolge  dieser  Bestim- 
mung ist  die  Möglichkeit  einer  effektiven  Schulden- 
tilgung gegeben,  denn,  vorausgesetzt,  daß  der  Abschluß  des 
Rechnungsjahres  1911  Überschüsse  ergibt,  wird  um  ihren  Betrag 
die  Anleihesumme  ermäßigt  werden  können  und  Ausgabeposi- 
tionen des  außerordentlichen  Etats,  die  auf  Anleihe  genommen 
werden  mußten,  würden,  ohne  daß  Schulden  erforderlich  wer- 
den, bestritten  werden  können.  In  ihrer  Endwirkung  charak- 
terisiert sich  also  diese  der  Reichsfinanzverwaltung  durch  das 
letzte  Etatsgesetz  zugestandene  Maßnahme  als  eine  außer- 
ordentliche Schuldentilgung.  Vorausgesetzt  ist  dabei,  daß 
das  Rechnungsjahr  eine  erhebliche  Überschreitung  des  Einnahme- 
solls liefert.  Darauf  kann  mit  Sicherheit  gerechnet  werden. 
Diese  Überschreitung  wird  so  erheblich  sein,  daß  es  zweifelhaft 
erscheint,  ob  der  Bedarf  zur  Abbürdung  der  erwähnten  Anleihe 
aus  dem  Jahre  1909  nicht  durch  die  Überschüsse  des  Jahres 
1911  überschritten  wird.  In  diesem  Falle  ist  durch  die  in  der 
zweiten  Etatslesung  abgeänderte  Fassung  des  §  4  des  Etats- 
gesetzes für  die  Verwendung  der  zu  erwartenden  Überschüsse 
mit  der  Absicht  und  Wirkung  einer  außerordentlichen  Schulden- 
tilgung Bestimmung  getroffen  ^). 

Nach  alledem  sind  die  Aussichten  für  eine  Besse- 
rung der  Finanzpraxis  im  Reiche  als  günstig  zu  be- 
zeichnen^). Gewiß  hat  an  dieser  erfreulichen  und  dringend 
wünschenswerten  Wandlung  auch  der  Reichstag  sein  Verdienst 
und  es  soll  ihm  nicht  geschmälert  w^erden.  Aber  es  soll  auch 
nicht  verschwiegen  werden,  daß  die  Besserung  angebahnt 
und  vorbereitet  ist  dadurch,  daß  derReichstag  auf 
budgetrechtliche  Empfindlichkeiten  und  Eigen- 
mächtigkeiten, auf  die  er  bis  dahin,  zum  Schaden 
der  Reichsfinanzen,    nur  zu  großes  Gewicht  gelegt 


0  Sten.  Berichte  des  Reichstags  Bd.  266  (161.  Sitzung)  p.  6128  B.  und 
133.  Sitzung  p.  4853  D. 

^)  Ohne  außerordentliche  Äbbürdungsmaßnahmen  würde  die  Tilgung 
der  Reichsschuld  in  den  nächsten  Jahren  das  ausgleichen,  was  als  Anleihe- 
bedürfnis erforderlich  ist.    Reichstag  12.  Leg.-P.  99.  Sitzung  p.  3610  A. 

^)  Dafür  spricht  auch,  daß  im  Rechnungsjahr  1910  der  Etatsanschlag  für 
die  Einnahmen  aus  den  neuen  im  Jahre  1909  beschlossenen  Steuern  in  Höhe 
von  rund  290  Mill.  Mark  um  18  Mill.  Mark  überschritten  worden  ist  und  daß 
im  Rechnungsjahr  1911  der  auf  über  320  Mill.  Mark  angenommene  Ertrag 
derselben  Steuerquellen  durch  die  Wirklichkeit  mit  einem  noch  höheren 
Überschuß  überholt  werden  dürfte. 


456  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

hatte,  in  mehr  als  einem  Punkte  Verzicht  geleistet 
hat.  Er  hat  sich  mit  den  verbündeten  Regierungen  über  die 
Grundlagen,  über  prinzipielle  und  einheitliche  Erfordernisse 
der  gegenwärtigen,  auf  die  Dauer  von  fünf  Jahren  berechneten 
Finanzperiode  geeinigt,  er  hat  sich  gleichfalls  für  die  Dauer 
von  fünf  Jahren  zu  der  Vereinbarung  über  die  Kopfquote  der 
Matrikularbeiträge  in  Höhe  von  80  Pf.  bereit  finden  lassen,  er 
hat  dem  Verlangen  der  verbündeten  Regierungen  betreffend 
die  Aufrechterhaltung  des  erhöhten  Grundstückumsatzstempels 
neben  der  Wertzuwachssteuer  nachgegeben,  er  hat  sich  die 
Wahrung  des  Grundsatzes  »Keine  Ausgabe  ohne  gleichzeitige 
volle  Deckung«  mit  Erfolg  angelegen  sein  lassen,  er  hat  sich 
auf  gewisse  Grundsätze  für  das  Extraordinarium  festgelegt,  er 
hat,  indem  er  an  dem  Etatsvoranschlag  für  1911  nur  ganz 
geringfügige  Abstriche  machte  (rund  160000  Mark  bei  einem 
Gesamtbedarf  von  fast  3  Milliarden),  dem  besseren  Verständnis 
und  der  größeren  Sachkenntnis  der  berufenen  Leiter  der  Reichs- 
finanzwirtschaft seine  eigene  Urteilsfähigkeit  untergeordnet,  er 
hat  endlich  —  im  schärfsten  Widerspruch  zu  der  sonst  von 
ihm  geübten  Praxis  ^)  —  durch  die  Aufnahme  jener  Bestimmung 
in  das  Etatsgesetz  für  1911,  die  eine  außerordentliche  Schulden- 
tilgung ermöglicht  — ,  auch  hier  der  Führung  durch  die  Reichs- 
finanz Verwaltung  sich  willig  überlassend  dafür  gesorgt,  daß  auf 
die  Überschüsse  der  Reichswirtschaft  nicht  die  Einzelstaaten 
Anspruch  haben,  sondern  daß  solche  Überschüsse  in  den  Dienst 
der  Schuldentilgung  und  der  allgemeinen  Reichsfinanzpolitik 
gestellt  werden.  Genug,  man  kann  geradezu  von  einer 
völligen  Umkehr  der  budgetrechtlichen  Anschau- 
ungen und  der  entsprechenden  praktischen  Maß- 
nahmen sprechen. 

Wenn  es  für  das  Bestehen  bestimmter  wichtiger  Wechsel- 
wirkungen zwischen  Budgetrecht  und  Finanzpraxis  noch  eines 
Beweises  bedürfte,  er  wäre  hier  erbracht:  von  dem  Zeitpunkt 
an,  wo  der  Reichstag  weniger  mißtrauisch  und  zielbewußt  als 
zuvor  seine  budgetrechtlichen  Interessen  betonte,  wo  er  unter 
Verzicht  auf  budgetrechtliche  Ansprüche,  die  er  zuvor  mit 
Nachdruck  vertreten  und  ständig  zu  steigern  versucht  hatte, 
sich  zu  Zugeständnissen  bereit  finden  ließ  und  an  die  Stelle 
einer  regellosen,  oberflächlichen  Scheinpraxis  ein 
festes    finanzpolitisches   System  der  Schuldenpolitik,   der 


')  Vgl.  p.  25  Anm. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  457 

Behandlung  der  Überschüsse,  der  festen  Abgrenzung  zwischen 
den  Finanzen  des  Reichs  und  der  Einzelstsaten  setzte,  wo  er, 
um  es  mit  einem  Worte  zu  sagen,  die  Sache  über  die  Form, 
die  Sorge  für  die  Reichsfinanzen  über  die  Sorge  für  die  parla- 
mentarischen Interessen  stellte,  von  demselben  Zeitpunkt 
an  beginnt  auch  die  Reichsfinanzlage  sich  zu  bessern, 
ist  für  die  Fortführung  des  im  Jahre  1909  erfolgreich  begonnenen 
Werkes  die  wichtigste  Vorbedingung  erfüllt,  sind  für  eine  be- 
friedigende Lösung  der  Aufgabe  wenigstens  die  Ansätze  gegeben. 
Der  erfreuliche  Wandel,  der  sich  in  diesem  bisher  letzten 
Entwickelungsstadium  des  Budgetrechts  des  Reichstags  i)  voll- 
zogen hat,  ist  so  offensichtlich,  der  angebahnte  finanzpolitische 
Fortschritt  so  bedeutsam,  daß  man  wünschen  möchte,  in  ihm 
wäre  die  Erkenntnis  ausgesprochen  und  betätigt,  daß  ein 
schrankenloses  Budgetrecht  zahllose  Fehlerquellen  in 
sich  birgt  und  den  wahren  Interessen  sowohl  der 
Staatswirtschaft  wie  der  Staatspolitik  widerstreitet. 
Die  Tatsache  selbst  steht  jedenfalls  für  jeden,  der  die  be- 
handelten Erfahrungen  und  Vergleichsmomente  unbefangen 
auf  sich  wirken  läßt,  unantastbar  fest. 

XIV,  Staatsverfassung  und  Budgetrecht. 
Das  Budgetrecht  als  politische  Waffe. 

Wie  das  Budget  ist  auch  das  Budgetrecht  ein  Faktor  im 
Staatsleben,  dessen  besondere  Art  und  dessen  Schwergewicht 
nach  dem  positiven  Recht  sich  bestimmt  und  seinen  engen,  in 
gemeinsamem  Wachsen  und  Wirken  sich  immer  wieder  er- 
neuernden Zusammenhang  mit  dem  Status  der  öffent- 
lichen Einrichtungen  und  Zustände  bei  keiner  ern- 
steren Betätigung  verleugnen  kann.  Die  politischen  Kräfte 
und  die  staatsrechtlichen  Ideen  und  Motive,  die  diesen  Faktor 
herausgebildet  und  gestaltet  haben,  sind  im  Grunde  und  ur- 
sprünglich dieselben,  die  in  den  Staatsgrundgesetzen  bzw.  in 
den  Staatsverfassungen  der  verschiedenen  Länder  sich  mani- 
festieren. Eine  Ausnahme  macht  nur  England  mit  seiner 
,,unwritten  Constitution".  Im  Gegensatz  dazu  hat  Frankreich 
in  verhältnismäßig  schneller  Folge  den  Wandel  zahlreicher 
und  sehr  verschiedenartiger  Staatsverfassungen  erlebt.  Das 
Deutsche  Reich  und   der  Preußische  Staat,   als  konstitutionelle 


^)  Reichstag  der  Legislaturperiode  1907—1911. 


458  Blum,  BudgetrecM  und  Finanzpraxis. 

Monarchien,  stehen  gewissermaßen  in  der  Mitte.  Nimmt  man 
diese  Verhältnisse  zum  Ausgangspunkt  einer  vergleichenden, 
auch  die  Methoden  und  die  Ergebnisse  der  Finanzpraxis  be- 
rücksichtigenden Betrachtung,  so  wird  man  den  Satz  aussprechen 
dürfen,  daß  das  Vorhandensein  einer  Verfassung  nicht  schon 
mit  Notwendigkeit  ein  zweckmäßiges,  die  finanzwirtschaftlichen 
Aufgaben  und  Interessen  förderndes  Budgetrecht  zu  begründen 
braucht  und  daß  noch  viel  weniger  der  Wechsel  und  zeitliche 
Ablauf  verschiedener  Verfassungssysteme  zuverlässige  Garantien 
für  ein  solchen  Anforderungen  entsprechendes  Budgetrecht  zu 
bieten  vermag. 

Aber  das  nur  nebenbei.  Entscheidend  für  den  Inhalt  und 
den  Wert  des  Budgetrechts  ist  in  der  Tat  in  erster  Linie  die 
Staatsverfassung,  insoweit  sie  über  die  Regierungsform  Be- 
stimmungen trifft  oder,  wie  in  England,  als  der  Ausdruck  der 
Machtverteilung  der  öffentlichen  Gewalten  sich  darstellt.  Die 
Stellung  der  Krone  bedingt  in  Preußen  ebenso  wie  in 
England  an  sich  schon  eine  Finanzhoheit  im  budgetrechtlichen 
Sinne,  die  dort  in  der  Mitwirkung  des  Trägers  der  Krone  an 
der  Gesetzgebung  und  der  Exekutive,  hier  in  der  Bestimmung, 
daß  Ausgabesteigerungen  allein  vom  Könige  beantragt  werden 
dürfen,  unter  allen  Umständen  respektiert  wird.  Im  Deutschen 
Reiche  fehlt  verfassungsrechtlich  eine  ähnlich  geartete  Zentral- 
instanz, die  auf  eine  Gestaltung  des  Finanzwesens  nach  ein- 
heitlichen Grundsätzen  ohne  Rücksichtnahme  auf  Bundesrat 
und  Reichstag  hinzuwirken,  bzw.  das  Aufkommen  bestimmter 
Tendenzen  und  Einflüsse  wie  überhaupt  die  Verabschiedung 
eines  so  oder  so  gearteten  Etatsgesetzes  zu  verhindern  ver- 
möchte; im  Deutschen  Reiche  fehlt  auch  der  Treueid,  den 
in  Preußen  die  Mitglieder  der  beiden  Kammern,  in  England 
Lords  und  Commons  leisten  müssen.  In  Frankreich  ist  die 
Staatsgewalt  einer  Vielheit,  noch  dazu  einer  unter  Umständen 
rasch  wechselnden  Vielheit  von  Personen  überantwortet,  die  in 
ihren  Entschließungen  und  Maßnahmen  nur  an  die  Verfassung 
gebunden  sind,  aber  an  eine  Verfassung,  der  gegenüber  ihnen 
jederzeit  ein  völhg  freies  Verfügungsrecht  zusteht.  Naturgemäß 
hat  sich  bei  solcher  Verschiedenartigkeit  der  Staatsverfassungen 
auch  das  Budgetrecht  in  den  einzelnen  Staaten  verschiedenartig 
gestalten  müssen:  es  ist  da,  wo  ein  monarchischer  Herrscher 
ein  Bestimmungs-,  Einspruchs-  und  Kontrollrecht  im  gesamten 
Bereich  der  staatlichen  Gesetzgebung  und  Verwaltung  geltend 
zu    machen    vermag,    bei    aller   Aufrechterhaltung   seiner    ver- 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  459 

fassungsrechtlichen  Tragweite  und  Befugnis  dem  politischen 
Anwendungsgebiet  mehr  und  mehr  entrückt  und  in 
demselben  Maße  im  Interesse  der  Staatsfinanzen  und  zum 
Wohle  des  Staatsganzen  zu  einem  Werkzeug  ausgebildet,  dessen 
sich  die  Volksvertretung  bedient,  um  die  notwendigen  Lasten 
des  Staates  nach  Möglichkeit  zu  erleichtern  oder  zum  mindesten 
gerecht  zu  verteilen,  um  den  Staatskredit  zu  kräftigen  und  damit 
der  Nation  politische  und  wirtschaftliche  Vorteile  zuzuwenden, 
um  mit  möglichst  geringer  Belastung  der  Steuerzahler  möglichst 
Großes  und  Gutes  zu  leisten,  kurz,  das  Interesse  am  Staate 
und  die  Freude  am  Vaterlande  in  immer  breitere  und  tiefere 
Schichten  der  Bevölkerung  zu  tragen,  also  die  Staatsidee 
auf  monarchischer  Grundlage  zu  immer  höherer  Voll- 
endung zu  entwickeln,  sie  dem  entscheidenden  Siege  zuzuführen. 
Gegen  diese  Zurückdrängung  politischer  Tendenzen  spricht 
nicht  etwa  die  letzte  Verfassungskrise  in  England, 
bei  der  Fragen  des  Budgetrechts  und  der  Finanzpraxis  eine 
erhebliche  Rolle  gespielt,  zum  Teil  sogar  zu  der  Aufrollung 
des  Konflikts  den  Anstoß  gegeben  haben.  Der  Streit  ging  um 
die  Stellung  der  beiden  Häuser  des  Parlaments  im  englischen 
Verfassungsleben,  niemand  dachte  im  Ernste  daran,  den  Anteil 
zu  schmälern,  der  dem  Träger  der  Krone  an  der  Gesetzgebung 
und  den  Regierungsgeschäften  zusteht.  Das  geht  u.  a.  auch 
daraus  hervor,  daß  das  von  der  radikal-demokratischen 
Koalitionsmehrheit  im  Unterhause  vertretene  Programm  der 
Verfassungsreform  die  Erhaltung  nicht  nur  einer  zweiten 
Kammer,  sondern  auch  des  Königlichen  Berufungsrechts  an- 
gekündigt hat^).     Gewiß  ist  von  den  beiden  um  den  Vorrang 


^)  Das  wird  bestätigt  durch  folgende  Bemerkung  von  J.  H.  Morgan, 
Professor  of  Constitutional  Law  at  University  College  London  in  „The  King 
and  his  Prerogative"  (Nineteenth  Century  August  1911  p.  224):  „I  have  good 
reason  for  saying  that  when  the  time  does  come  to  write  of  these  things, 
the  public  will  learn  that  never  have  the  relations  of  a  King  and  his 
Prime  Minister  ben  more  harmonious  than  in  the  present  crisis.  To 
talk  of  „the  prostitution  of  the  Crown"  is  mischievous  nonsense".  Wohl 
aber  ist  nach  und  infolge  der  Lösung  des  Verfassungskonflikts  eine  Minderung 
—  nicht  eine  Beschränkung  —  der  Prärogative  der  englischen  Krone  ein- 
getreten. Vgl.  J.  H.  Morgan,  a.  a.  0.  p.  220,  der  als  „verdict  of  posterity  on 
the  events  of  the  month  of  August  1911"  erwartet:  „Other  and  lesser  prero- 
gatives  may  be  and  may  remain  'the  discretionary  power  of  the  executive'; 
this  supreme  prerogative  of  forcing  the  House  of  Lords  to  yield  (nämlich 
das  königliche  Recht  des  Pairsschubs)  has  passed  definitely  into  the  hands 
of  the  people.  Juristic  speculation  in  future  ....  will  »peak  of  the 
sovereign  electorate".     In  der  Tat  ist  das  Recht  der  Peersernennung  so  gut 


460  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

und  um  völlige  Unabhängigkeit  kämpfenden  parlamentarischen 
Körperschaften  das  Budgetrecht  als  politische  Waffe 
benutzt  worden^).  Aber  beide  sind  damit  im  Rahmen  ihrer 
Befugnisse  und  auf  dem  Boden  des  gegenwärtigen  Rechts- 
standes geblieben:  das  Unterhaus,  indem  es  von  dem  seit 
Jahrzehnten  ihm  nicht  mehr  ernstlich  bestrittenen  Recht  des 
tacking  Gebrauch  gemacht  hat,  das  Oberhaus,  indem  es  sein 
aus  früheren  Kampfperioden  herübergerettetes  Budgetrecht,  das 
Veto-Verdikt  gegenüber  einer  ihm  nicht  genehmen  Finanzbill, 
in  vollem  Maße  zur  Anwendung  brachte.  Und  man  darf  ein 
weiteres  nicht  vergessen.  Der  bis  August  1911  bestehende 
Zustand  war,  je  länger  er  bestand,  desto  unhaltbarer  geworden. 
Es  ging  nicht  länger  an,  daß  die  gesetzgeberische  Freiheit  und 
Machtfülle,  die  das  Unterhaus  besitzt,  immer  nur  dann  in 
Erscheinung  treten  sollte,  wenn  die  Mehrheit  des  Unterhauses 
und  somit  auch  der  Leader  des  Hauses  und  die  Regierung  der- 
selben Partei  angehört,  die  im  Oberhause  eine  erdrückende 
Übermacht  besitzt,  d.  h.  daß  das  tatsächliche  Bestehen  eines 
Einkammersystems  2)   alle  Errungenschaften   der   jahrhunderte- 

wie  ganz  ausgehöhlt,  nachdem  die  Parliament  Bill  die  unbedingte  Vor- 
herrschaft der  gewählten  Kammer  auch  bei  hberaler  Mehrheit  und 
Regierung  sichergestellt  hat.  Trotzdem  ist  das  Recht  als  solches  nach 
wie  vor  existent  und  könnte  jederzeit  ausgeübt  werden.  Es  trifft  auch  noch 
heute  zu,  was  Morgan  von  der  Zeit  vor  August  1911  sagt,  a.  a.  0.  p.221: 
„the  prerogative  of  creation  of  peers  has  neither  been  impaired  by  disuse 
nor  limited  by  surrender."  Nur  zu  seinem  wichtigsten  Zwecke,  um  nötigen- 
falls den  Widerstand  der  Lords  zu  brechen,  kann  es  und  wird  es  nicht  mehr 
angewandt  werden;  da  ist  es  seit  August  1911  überflüssig  geworden  und  hat 
unter  diesem  staatsrechtlich  bedeutsamsten  Gesichtspunkte  seinen  prak- 
tischen Wert  eingebüßt. 

')  Nicht  minder  von  der  irischen  Fraktion  und  der  Arbeiterpartei.  Bei 
der  ersteren  hat  die  Aussicht  auf  ein  ernst  zu  nehmendes  Homerule-Programm 
des  Kabinetts  Asquith  zum  mindesten  stark  mitgewirkt.  Vgl.  Mendelssohn 
Bartholdy,  Zeitschr.  f.  Politik  Bd.  IV  1911  p.  30  Anm.  Jedenfalls  haben 
die  Redmonditen  für  ein  Budget  gestimmt,  für  das  sie  sonst  schwerlich  zu 
haben  gewesen  wären.  Den  steuerpolitischen  Grundsätzen  imd  Wünschen 
der  Arbeiterpartei  aber  kam  das  Budget  Lloyd  George's  geradezu  entgegen. 
Außerdem  waren  sie  mit  der  Schwächung  des  Oberhauses  durchaus  ein- 
verstanden; am  liebsten  hätten  sie  es  ganz  beseitigt.  —  Ein  ähnlicher  Ver- 
such, das  Budget  als  politische  Waffe  zu  benutzen,  hat  am  4.  November  1911 
in  Bayern  zur  Auflösung  der  zweiten  Kammer  geführt.  Vgl.  dazu  Sten. 
Ber.,  Verhandl.  d.  Bayr.  Kammer  d.  Abgeordneten  Bd.  XIII  Nr.  385  p.  654  ff., 
663  f.,  Nr.  387  p.  730,  Nr.  389  p.  763. 

'')  Das  Zweiparteiensystem  wäre  (nach  Sußmann,  Das  Budgetprivileg  der 
Gemeinen)  „schon  längst  zusammengebrochen"  gewesen.  Es  hatte  aber  bisher 
überhaupt  nicht   existiert.     Vgl.  die   Erklärung   des  Premierministers  in  der 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  461 

langen  parlamentarischen  Kämpfe,  die  die  englische  Nation 
durchgefochten  hat,  illusorisch  machen  sollte^).  In  einem 
Falle,  wo  es  galt,  ein  solches  Unrecht  aus  der  Welt  zu 
schaffen,  wo  es  ferner  galt,  einem  äußerst  wertvollen,  weil 
im  Interesse  des  Ausgleichs  der  Gegensätze,  des  unbehinderten 
Wechsel-  und  Widerspiels  der  politischen  Kräfte  gelegenen, 
unter  dem  Gesichtspunkte  der  Verwirklichung  moderner  Staats- 
ideen, der  Vermeidung  schwerer  innerer  Katastrophen  hoch 
einzuschätzenden  Vorzug,  in  diesem  Falle  dem  Wechsel 
zwischen  konservativer  und  liberaler  Regierungs- 
mehrheit, positiven  Inhalt  und  die  Möglichkeit  zu  voller  Aus- 
wirkung zu  geben,  mußte  auch  das  Budgetrecht  als  politisches 
Kampfmittel,  als  Angriffs-  und  Verteidigungswaffe  benutzt  werden 
dürfen,  und  das  um  so  eher,  wenn,  wie  es  in  England  tatsächlich 
der  Fall,  in  der  Finanzpraxis  und  in  der  gesamten 
Führung  der  Staatswirtschaft  hinreichende  Gewähr 
gegeben  ist,  daß  die  öffentlichen  Geschäfte  und  Interessen, 
daß  Finanzlage  und  Staatskredit  von  verfassungs-  und  budget- 
rechtlichen Auseinandersetzungen  in  keiner  Weise  zu  leiden 
haben. 

XV.  Verfassungsrechtliche  und  staatswirtschaft- 
liche Analogien  in  Preußen  und  England  und  ihre 
allgemein-politische  Bedeutung. 

Auf  die  Bedeutung  dieser  Tatsache  als  eines  charakteristischen 
Merkmals  für  den  politischen,  den  staatserhaltenden  Inhalt 
und  Wert  der  in  England  zwischen  Budgetrecht  und  Finanz- 
praxis obwaltenden  Beziehungen  ist  im,  Vorstehenden  bereits 
wiederholt  hingewiesen.  Auch  in  Preußen  würden  nach 
den  bestehenden  gesetzlichen  Bestimmungen  und 
den  geltenden  staatsrechtlichen  Grundsätzen  die 
Finanzen   des  Landes  von  Verfassungsstreitigkeiten, 


Adreßdebatte  im  Januar  1910,  bei  Mendelssohn  Bartholdy,  Zeitschr.  f.  Politik 
1911  p.  12,  ebenso  im  Jahrbuch  des  öffentl.  Rechts  1909  (die  Reform  des 
Überhauses)  p.  208/9,  und  bei  C,  ö.  Robertson,  Zeitschr.  f.  Politik  1910 
p.  575.     Vgl.  auch  oben  p.  354. 

*)  Die  Stellung  des  Oberhauses  zum  Budget  von  1909  war  hauptsächlich 
bestimmt  worden  durch  die  Erwägung,  daß  eines  der  stäi'ksten  Argumente 
für  das  Progamm  der  Tarifreformer  für  immer  entkräftet  werden  würde, 
falls  das  Budget  Erfolg  hätte.  C.  G.  Robertson,  Allgemeine  Wahlen  in  Groß- 
britannien.    Zeitschi-,  f.  Politik  1910  p.  369. 


462  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Wahlrechtskämpfen  oder  sonstigen  inneren  Kon- 
flikten nicht  berührt  werden.  Im  wohltuendsten  und 
wertvollsten  Gegensatz  zu  Frankreich,  wo  in  solchen  Fällen  die 
öffentlichen  Angelegenheiten  schwer  in  Mitleidenschaft  gezogen 
werden  könnten,  im  Gegensatz  auch  zum  Deutschen  Reich, 
wo  ein  budgetloser  Zustand,  wenn  er  einmal  einträte,  gleich- 
falls wichtige  Aufgaben,  Leistungen  und  Arbeiten  —  man 
denke  nur  an  die  Durchführung  des  Flottenprogramms,  an 
Arbeiten  wie  Kanalbauten,  Festungsanlagen  usw.,  an  die  Zu- 
schüsse zur  Arbeiterversicherung  —  ins  Stocken  geraten  lassen 
könnte,  würde  in  Preußen  kaum  ein  öffentliches  Interesse  von 
Bedeutung  zu  leiden  haben.  Die  Staatsverwaltung  würde  ihren 
gewohnten  Gang  gehen,  die  Wirtschaft  der  öffentlichen  Betriebe 
erlitte  keine  Unterbrechung,  die  Staatseinnahmen  und  die 
Staatsausgaben  blieben  im  wesentlichen  dieselben,  der  Schulden- 
dienst, Verzinsung  und  Tilgung,  blieben  in  vollem  Umfang 
aufrecht  erhalten,  der  Staatskredit  erführe  keinerlei  Ver- 
minderung, und  auch  darin  träte  keine  Änderung  ein,  daß  die 
Staatsfinanzen  genau  so  wie  in  normalen,  ruhigen  Zeitläuften 
von  den  Reichsfinanzen,  bzw.  von  dem  Matrikularrecht  des 
Reichstags  abhängig  wären.  Aber  diese  Sicherstellung  der 
öffenthchen  und  allgemeinen  Interessen  vor  der  Gefährdung 
durch  finanzpolitische  Wirren  und  Budgetkämpfe,  die  dadurch 
bedingte  soziale  und  wirtschaftliche  Gemeinbürgschaft 
gegen  Störungen  des  Erwerbslebens  und  der  Lebenshaltung, 
die  der  Bevölkerung,  insbesondere  der  Arbeiterbevölkerung 
geboten  wird,  ist  keineswegs  die  einzige  Ähnlichkeit  zwischen 
den  Verhältnissen  in  Preußen  und  in  England,  die  unter  dem 
Gesichtspunkte  des  Budgetrechts  und  der  Finanzpraxis  sich  ergibt. 
In  beiden  Staaten  werden  nur  bestimmte  Teile  des 
Budgets  einer  eingehenderen  Beratung,  sei  es  im  Kommissions- 
stadium oder  im  Plenum,  unterworfen;  beide  Staaten  haben 
das  System  der  Dotationen  eingeführt  —  in  Preußen  Dota- 
tionen: Staatsschuld,  Zivilliste,  Landtag;  allgemeine  Finanz- 
verwaltung: Matrikularbeiträge,  Überweisungen,  Provinziai- 
dotationen, Hinterlegungsgelder  (40  Mill.  durchlaufende  Posten), 
in  England  die  Consolidated  fund  Services  für  bestimmte  fest- 
stehende, regelmäßig  oder  doch  für  längere  Zeit  (Zivilliste  für 
die  Dauer  der  Regierung  des  Königs)  wiederkehrende  Ausgaben 
—  beide  Staaten  haben,  der  eine  durch  die  Verfassung,  der 
andere  aus  sich  selbst  heraus  im  Wege  freier  EntschUeßung 
dafür  Sorge  getragen,  daß  der  größte  Teil  der  Einnahmen  auch 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  463 

dann  zur  Verfügung  steht  und  seiner  Bestimmung  zugeführt 
wird,  wenn  das  Etatgesetz,  bzw.  die  Parlamentsakte  als 
Grundlagen  des  Staatshaushalts  ausbleiben^).  In  beiden  Staaten 
ist  das  Antragsrecht  für  Ausgaben  den  Mitgliedern  der  ver- 
antwortlichen Regierung  vorbehalten,  in  beiden  Staaten  leisten 
die  Mitglieder  der  Kammern  dem  Könige  den  Eid  der  Treue 2). 
Dazu  kommt  nun  als  das  Entscheidende,  daß  sich  beide  Staaten 
einer  bedingungslos  gesunden  und  gesicherten  Finanzlage 
erfreuen  und  in  ihrer  Finanzpraxis  einen  sonst  nirgends  er- 
reichten Grad  von  SoHdität  und  Wirtschaftlichkeit  aufweisen. 
Das  ist  für  Preußen  noch  mehr  anzuerkennen  als  für  England, 
weil  die  englischen  Finanzen  ausschließlich  den  eigenen  Ver- 
hältnissen und  Bedürfnissen  entsprechend  gestaltet  werden 
können  und  nicht,  wie  es  in  Preußen  geschehen  muß,  auf  ein 
übergeordnetes  Staatswesen,  das  noch  dazu  einen  anderen 
Verfassungszustand  und  ein  ganz  anders  geartetes  Wahlrecht 
besitzt,  und  auf  die  wechselnden  Erscheinungen  der  Wirt- 
schaftskonjunkturen Rücksicht  zu  nehmen  brauchen.  Man  er- 
kennt auf  den  ersten  Blick,  daß  es  sich  bei  einer  so  weit- 
gehenden Übereinstimmung,  bei  einer  Übereinstimmung  auf  so 
wichtigen  und  wesentlichen  Gebieten  des  Staatshaushalts 
nicht  um  ein  zufälliges  Zusammentreffen  handeln  kann,  daß 
vielmehr  einerseits  der  Stand  der  preußischen  und  der  eng- 
Hschen  Finanzen,  andererseits  die  während  eines  budgetlosen 
Zustandes  gesammelten  Erfahrungen  (Preußenl862 — 66,  England 
1909 — 10)  den  engen  wechselseitig  ineinandergreifen- 
den Zusammenhang  zwischen  Budgetrecht  und  Finanz- 
praxis deutlich  vor  Augen  stellen.  Wo  die  Volksvertretung 
über  ein  schrankenloses  Budgetrecht  verfügt,  —  wie  in  Frank- 
reich —  da  sind  solche  Mängel  der  Etatswirtschaft,  solche 
Mißgriffe  der  Finanzpraxis,  wie  sie  nach  dem  Zeugnis  fran- 
zösischer   Finanzschriftsteller   tatsächlich    vorhanden    sind,    die 


')  In  beiden  Staaten  bis  August  1911  der  übereinstimmende  verfassungs- 
rechtliche Zustand,  daß  das  preußische  Herrenhaus  (vgl.  Art.  62  Abs.  .3  Prß.  Vf.) 
und  das  englische  Oberhaus  das  Etatsgesetz  nur  als  Ganzes  annehmen  oder 
ablehnen  können.  —  Jedoch  bestand  insofern  ein  Unterschied,  als  den  Lords 
das  Amendierungsrecht  für  Geldbills  überhaupt  entzogen  war. 

■)  In  Preußen  nach  Art.  108  Prß.  Verf. -Urkunde:  Die  Weigerung,  den 
Eid  auf  die  Verfassung  zu  leisten,  schließt  die  Befugnis  aus,  einen  Sitz  im 
Landtag  einzunehmen.  Sten.  Ber.  d.  Abgh.  1873/74  Bd.  I  p.  324.  —  In 
England  lautet  die  Eidesformel:  „I,  —  do  swear  that  I  will  be  faithful 
and  bear  true  allegiance  to  His  Majesty  King  George,  his  heirs  and  successors, 
according  to  law.     So  help  me  God." 


464  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

notwendige  Folge,  und  nicht  minder  ist  die  notwendige  Folge 
eine  Finanzlage,  die  dem  Lande  ungeheure  Lasten  für  die 
Verzinsung  und  Tilgung  der  Staatsschulden  auferlegt,  ohne 
daß  es  doch  zu  einer  Abbürdung  in  nennenswertem  Umfang 
kommt.  Im  Deutschen  Reich ^)  hat  ein  Budgetrecht,  das  schon 
durch  die  Verfassung  weit  weniger  eng  begrenzt  ist  wie  in 
Preußen,  das  aber  unter  der  Herrschaft  eines  Wahlrechts  und 
einer  Wahlkreiseinteilung,  die  die  Existenz  und  die  Entwicklung 
der  Zentrumspartei  außerordentlich  begünstigt,  planmäßig  und, 
wie  gezeigt,  oft  genug  ohne  Rücksicht  auf  das  Finanzinteresse 
und  Finanzbedürfnis  erweitert  ist,  gleichfalls  eine  schädliche, 
auch  den  Einzelstaaten  schädliche  Finanzpraxis  ermöglicht  und, 
weil  die  verbündeten  Regierungen  aus  mancherlei  Gründen, 
auch  wegen  des  Fehlens  hinreichender  Kautelen  in  der  Ver- 
fassung Bedenken  tragen  mußten,  es  auf  einen  Konflikt  an- 
kommen zu  lassen,  zu  einer  enormen  Schuldenanhäufung  und 
schheßlich  zu  einer  so  ernsten  Finanznot  geführt,  daß  die 
Zukunft  des  Reiches,  seine  Stellung  als  Großmacht 
und  der  Friede,  den  es  unter  dem  Schutze  einer  starken 
Rüstung  geuießt,  auf  dem  Spiele  stand  2). 

^)  Auch  im  Deutschen  Reiche  hat  der  Mangel  an  finanzpoIitischemWeitblick 
und  Pflichtgefühl  schwere  Nachteile  nach  sich  gezogen.  Die  Verzinsung 
der  auf  den  Betrag  von  4996,6  Mill.  Mark  gestiegenen  Reichsschuld  er- 
forderte im  Rechnungsjahr  1911/12  eine  Summe  von  189,6  Mill.  Mark.  Der 
Zinsendienst  erforderte  gegenüber  dem  Jahre  1910  ein  Mehr  von  fast  7  Mill. 
Mark.  In  England  dagegen  seit  1902  oder,  wenn  man  von  den  Kriegsjahren 
absieht,  seit  Anfang  der  neunziger  Jahre  ein  nahezu  ununterbrochenes  Sinken 
der  Zinsrate;  in  den  beiden  letzten  Jahren  (1909/10  und  1910/11)  von  18,2 
auf  17,9  Mill.  Pfimd  (Whitacker  1911  p.  467),  Wenn  auch  angesichts 
des  gewaltig  gesteigerten  Reichsbedarfs  eine  Zunahme  der  Verschuldung 
und  der  jährlichen  Verbindlichkeiten  gewiß  nicht  vermieden  werden  konnte, 
so  hätten  doch,  wäre  der  Reichstag  den  Mahnungen  und  Vorschlägen  der 
verbündeten  Regierungen  rechtzeitig  gefolgt,  alljährlich  Dutzende  von  Milli- 
onen an  Schuldzinsen  erspart  werden  können.  Manche  Milliarde  —  es  ist 
nicht  zuviel  gesagt  —  ist  auf  diese  Weise  im  Laufe  der  Jahrzehnte  dem 
nationalen  Wirtschaftskörper  entzogen  worden  und  wird  ihm  in  Zukunft 
noch  entzogen  werden.  Manche  Milliarde,  die,  im  Dienst  der 
lebendig  schaffenden  Kräfte  des  Vaterlandes  verwendet,  nicht 
nur  manches  dringende  Bedürfnis  hätte  befriedigen,  manchen 
8ch.weren  Steuerdruck  hätte  vermeiden  lassen,  sondern  auch  zahl- 
reiche ernste  und  verhängnisvolle  Konflikte  hätte  fernhalten  können,  die  in 
der  andauernden  und  wachsenden  Finanzkalamität  ihren  Ursprung  hatten  und  zu 
gefährlichen  Zerwürfnissen  geführt,  der  Sache  des  inneren  Friedens,  der 
Einigung  auf  das  nationale  Programm  wahrhaftig  nicht  gedient  haben. 

*)  Wer  wollte  bestreiten,  daß  unter  dem  Gesichtspunkte  der  finanziellen 
Kriegsbereitschaft  des  Reichs  der  Reichstag  durch  die  Vernachlässigung 
wichtiger   Pflichten,    die   zu    einem    freien  Budgetrecht    das  un- 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  465 

In  ruhigem  Gleichschritt,  in  einem  ebenmäßigen  Gleich- 
gewichtszustand, wie  er  nur  bei  möglichst  weitgehender  Aus- 
schaltung aller  Konfliktsstoffe,  bei  möglichst  weitgehender 
Fixierung  der  Einnahmeerträge  und  der  Ausgabeverpflichtungen 
erreichbar  ist,  sind  dagegen  Preußen  und  Großbritannien 
durch  schwere  Zeiten,  durch  ernste  Prüfungen  ver- 
fassungsrechtlicher Natur,  durch  bedeutsame 
Perioden  staatlicher  Leistung,  dort  rüstungspoli- 
tischer, hier  kultureller  un  d  staatswirtschaftlicher 
Natur,  hindurchgegangen:  ihre  Finanzen  haben  dabei  nichts 
von  ihrer  Güte  und  Solidität  verloren,  ihr  Staatskredit  hat 
nicht  gelitten  —  die  Notwendigkeit,  daß  der  Typus  der 
preußischen  Staatsanleihen  allmählich  von  3  Prozent  auf 
4  Prozent  gesteigert  werden  mußte,  findet  ihre  Erklärung  vor- 
wiegend in  der  Konkurrenz,  die  den  Staatswerten  auf  dem 
Geldmarkte  aus  den  Pfandbriefen,  aus  hoch  verzinslichen  und 
dabei  gleichfalls  sicheren  Industriepapieren  erwächst  —  in  beiden 
Staaten,  in  dem  einen  durch  eine  außerordentlich  starke 
Schuldentilgung,  in  dem  andern  durch  Amortisation  der  Eisen- 
bahnkapitalschuld, durch  Verbesserung  der  Staatsrenten  i),  durch 

erläßliche  Gegenstück  bilden  sollten,  schwere  Verantwortung  auf 
sich  geladen  hat?  Es  darf  nur  daran  erinnert  werden,  daß  im  Falle  eines 
Krieges  die  finanziellen  Opfer  mit  der  Höhe  der  Verschuldung  wachsen,  zu- 
mal wenn,  wie  in  Deutschland,  bis  vor  kurzem  andauernd  eine  hohe 
schwebende  Schuld  die  Situation  für  die  Inanspruchnahme  des  Geldmarktes 
noch  verschlimmert.  Es  darf  nur  daran  erinnert  werden,  daß  die  Be- 
dingungen der  Staatsgläubiger  in  Deutschland  immer  schärfer  geworden  sind, 
während  z.  B.  England  auch  heute  noch  zu  2^/^  7o  oder  3  7o  Anleihen  auf- 
nehmen könnte ;  es  braucht  nur  auf  den  eklatanten  Unterschied  der  Schulden- 
politik Deutschlands  und  Englands  —  bei  jenem  noch  unausgesetzt  neue 
Geldaufnahmen,  wenn  auch  die  Anleihbeträge  geringer  und  die  Schulden- 
tilgungsbeträge größer  geworden  sind;  bei  diesem  stetige,  starke  Abzahlungen, 
gefördert  durch  das  System  der  Annuitäten  —  verwiesen  zu  werden,  und 
man  wird  dann,  wenngleich  außerstande,  die  ideellen  und  materiellen  Werte 
abzuschätzen,  um  die  das  politische  und  wirtschaftliche  Guthaben  des 
deutschen  Volkes  durch  solche  unzureichende  Finanzpraxis  geschädigt  worden 
ist,  doch  soviel  zu  sagen  haben,  daß  der  Reichstag  dem  Vertrauen,  das  ihm 
seitens  der  verbündeten  Regierungen  entgegengebracht  wurde,  indem  sie 
auf  budgetrechtlichem  Gebiete  immer  neue  Zugeständnisse  machten,  nicht 
entsprochen,  daß  er  von  der  erhöhten  Macht,  die  damit  in  seine  Hände 
gelegt  wurde,  nicht  den  Gebrauch  gemacht  hat,  den  man  kraft  der  Ver- 
antwortung, die  die  deutsche  Volksvertretung  als  gleichberechtigter  Teilhaber 
an  der  Gesetzgebung  zu  tragen  hat,  erwarten  mußte. 

^)  Vgl.  dazu  die  Aufsätze  von  Offen berg  und  Kirchhoff  im  Bank- 
archiv XI.  Jahrgang,   Nr.  8  ff.   (Januar   und  Februar  1912);    ferner  zwei  Er- 
klärungen in  Nr.  18  und  23  der  Nordd.  Allg.  Ztg.  (Januar  1912), 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  30 


466  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Zuwachs  an  werbendem  Staats  vermögen,  ist  das  finanzielle 
Gesamtbild  günstiger  geworden.  Alles  in  allem  ein  vollgiltiger 
Beweis,  daß  ein  Budgetrecht,  je  mehr  es  die  Staats- 
wirtschaft in  einen  bestimmten,  fest  begrenzten 
Rahmen  einspannt,  und  im  Staatshaushalt,  sei  es  durch 
ein  stabiles  Budget,  sei  es  durch  gesetzliche  Bindung  der  Ein- 
gänge und  Ausgänge,  konstante  Größen  stipuliert,  desto  ein- 
dringlicher und  wirksamer  die  Volksvertretung 
auf  die  Bedeutung  geordneter,  gesunder  Finanzen 
für  die  staatliche  Existenz  und  Kraftfülle  hinweist 
und  ihr  dasjenige  Maß  an  Pflichtbewußtsein  und  Verant- 
wortlichkeitsgefühl anerzieht,  das  allein  eine  volle  Aus- 
nutzung der  finanziellen  Machtmittel  im  Interesse  des  Staats- 
ganzen auf  die  Dauer  zu  gewährleisten  vermag. 

XVI.  Budgetrecht,  Regierungsform   und  Wahlrecht. 

Es  wäre  seltsam,  wenn  der  budgetrechtliche  Zustand,  der 
so  innig  mit  dem  Staatsorganismus  verwachsen  ist,  der  unter 
so  zahheichen  und  verschiedenartigen  Gesichtspunkten  ein  ge- 
treues Abbild  der  das  Staats-  und  das  Parteileben  beherrschen- 
den oder  doch  bestimmenden  Grundsätze  und  Kräfte,  einen 
zuverlässigen  Maßstab  der  politischen  Reife  und  des  staathchen 
Verantwortlichkeitsgefühls  darbietet,  nicht  auch  in  ein  gewisses 
Abhängigkeitsverhältnis  zu  der  Regierungsform  ge- 
bracht würde.  Dieses  Abhängigkeitsverhältnis  ist  offenbar  am 
größten  in  Frankreich,  wo,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Exe- 
kutive beileibe  nicht  gegen  die  Ausführung  eines  Kammer- 
beschlusses über  eine  Maßnahme  der  Finanzpraxis  sich  sperren 
darf,  sondern  sich  im  Gegenteil  mit  der  Ausführung  beeilen 
muß,  damit  nur  ja  nicht  die  ,,horreurs  de  l'anarchie"  in  be- 
drohlicher Nähe  erscheinen!  So  ist  es  um  die  Freiheit  der 
EntschHeßung  und  Verfügung  der  parlamentarischen  Regierung 
bestellt,  bei  der  das  Gegengewicht  einer  weitgehenden  Präro- 
gative bzw.  Machtvollkommenheit  der  Krone  und  ebenso  das 
Gegengewicht  einer  an  bestimmte  staatliche  Ansprüche  und 
Leistungen  gebundenen  Marschroute  der  Finanzpraxis  fehlt. 
Parlamentarische  Regierungsform  ist  nicht  schon  an  und  für 
sich  eine  Panacee  gegen  ein  gefährUches  Budgetrecht  und 
schlechte  Finanzpraxis.  Im  Gegenteil,  wo  das  parlamen- 
tarische Regime  in  voller  Ungebundenheit  besteht 
und    sich    betätigen    kann,    ist    die    Gefahr    schwerer 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  467 

Störungen  des  Staatshaushalts  am  größten,  ist  dem 
Mißbrauch  des  Budgetreehts  zu  poHtischen  Zwecken  Tür  und 
Tor  geöffnet,  und  wenn  Hätschele  und  Redlich  Englands  Bud- 
getrecht und  Finanzpraxis  nicht  genug  loben  können,  so  wahr- 
haftig nicht  deshalb,  weil  in  England  eine  ,, wahrhaft  parlamen- 
tarische Regierung"  besteht.  Nicht  infolge,  sondern  vielmehr 
trotz  parlamentarischer  Regierung  haben  sich  in  England 
Budgetrecht  und  Finanzpraxis  zu  vorbildlicher  Methode  und 
Höhe  entwickelt.  Trotz  und  geradezu  im  Widerspiel,  in  be- 
wußtem Gegensatz  zu  parlamentarischer  Regierung,  denn  ohne 
die  Autorität  der  Krone,  von  deren  Anteil  an  der  Regierung 
und  Gesetzgebung  wir,  um  diesen  Tatbestand  zu  beleuchten, 
ausführlich  gehandelt  haben,  ohne  die  Existenz  der  Zweiten 
Kammer,  die  nach  Herkommen  und  Beruf  die  Politik  des 
Königs  vertritt  und  jederzeit  durch  ihn  die  dazu  erforderliche 
Zusammensetzung  erhalten  kann^),  wäre  nach  menschlichem 
Ermessen  —  wofern  es  nicht  der  Volkscharakter  verhindert 
hätte  —  die  finanzrechtliche  und  finanzwirtschaftliche  Ent- 
wicklung eine  ähnhche  gewesen  wie  in  Frankreich.  Nachdem 
die  Verfassungskämpfe  in  England  zu  gänzlicher  Beseitigung 
des  Vetorechts  des  Oberhauses  gegenüber  Finanzgesetzen  ge- 
führt haben,  bleibt  immer  noch  der  in  dem  Träger  der  Krone 
verkörperte  politische  Machtfaktor  ungeschwächt  bestehen.  Die 
letzte  Entscheidung  bei  Streitigkeiten  zwischen  den  beiden 
Häusern  des  Parlaments  wird  immer  beim  Könige  liegen  2). 
Selbstverständlich  ist  in  das  Ermessen  des  Königs  gestellt,  ob 
er  von  dem  Ernennungsrecht  Gebrauch  machen  will  oder  nicht. 
Die  nunmehr  vollzogene  neueste  capitis  deminutio  der  Lords 
fiel  in  eine  Zeit,  in  der  die  Entwicklung  der  Finanzpraxis  seit 
langem  zu  einer  wesentlichen  Einschränkung  der  parlamentari- 
schen Behandlung  der  Staatshaushaltsangelegenheiten  geführt 
hat  und  der  gegenwärtige  Zustand  in  seiner  segens- 
reichen Bedeutung  und  seinem  praktischen  Wert  in 
ernsten  Konfliktszeiten  bereits  erprobt  ist.  Ohne  Ge- 
fahr könnte  deshalb  auch  die  weitere  von  dem  Ministerium 
Asquith   angekündigte   Aktion,   die   die  Schaffung   eines   allge- 


^)  Vgl.  p.  160  Anm.  1. 

^)  The  Constitution  possesses  in  the  unlimited  power  of  nominating 
peers  a  well-understood  last  resource,  should  the  House  of  Lords  persist  in 
refusing  important  measures  demanded  by  the  representatives  of  the  people." 
Encyclopaedia  Britannica  9.  ed.  vol.  XL  p.  13,  11.  ed.  vol.  XLT.  p.  295. 

30* 


468  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

meinen   privilegienlosen  Wahlrechts   zum  Gegenstande  hat,   in 
die  Tat  umgesetzt  werden  i). 

Hier  drängt  sich  eine  bemerkenswerte  Perspektive  für  die 
Verhältnisse  im  Deutschen  Reiche  auf.  Das  Wahlrecht, 
nach  dem  der  Deutsche  Reichstag  gewählt  wird,  ist 
sehr  viel  demokratischer  und  radikaler  als  das  englische  Wahl- 
recht, das  in  jedem  Falle  an  ein  bestimmtes  Maß  von  Besitz 
gebunden  ist  und  deshalb  doch  in  recht  erheblichem  Umfange 
einen  Ausschluß  von  der  Beteiligung  an  den  Wahlen  zum 
Unterhause  bedingt,  auch  in  nicht  zu  unterschätzendem  Maße 
das  Pluralwahlrecht  zugunsten  der  wohlhabenden  Klassen  wirkt. 
Könnte  Deutschland  mit  derselben  Ruhe,  mit  dem  gleichen 
Sicherheitsgefühl  wie  England  den  Wirkungen  seines  demo- 
kratischen Wahlrechts  entgegensehen,  wenn  sie  sich,  sei  es  in 
der  Gestaltung  der  Einnahmequellen  und  Einnahmeverhältnisse, 
sei  es  in  der  Anordnung  der  Verwendungszwecke,  äußern  sollten? 
Man  braucht  die  Frage  nur  zu  stellen,  um  sie  sofort  dahin  zu 
beantworten:  die  deutsche  Reichsverfassung  gewährt  in  ihrer 
Form  nicht  entfernt  so  starke  Bürgschaften  für  den  ununter- 
brochenen Ablauf  der  Haushaltsgeschäfte,  wie  sie  in  der  preußi- 
schen Staatsverfassung  enthalten  sind.  Das  deutsche  Budget- 
recht  und  die  Etatspraxis  im  Reiche  sind  in  wesentlichen 
Punkten  nach  dem  französisch-belgischen  Vorbild  gestaltet,  aber 
die  Übernahme  geschah  zu  einer  Zeit,  wo  kaum  jemand  an 
die  ernsten  Möglichkeiten  gedacht  hat,  die  sich  einstellen 
können,  wenn  die  Stoßkraft,  mit  der  durch  das  Reichstags- 
wahlrecht die  breiten  Massen  der  Bevölkerung  ausgerüstet  sind, 
zu  einem  dem  nationalen  Interesse  fernliegenden  oder  ausge- 
sprochen feindlichen  Zwecke  ausgebeutet  wird.  Eine  Reform 
des  Reichstagswahlrechts  im  Sinne  einer  Minderung  der  Gefahr, 
die  es  unter  diesem  Gesichtspunkte  birgt,  hat  wohl  für  solche 
Zeiträume,  mit  denen  man  füglich  rechnen  kann,  als  ausge- 
schlossen zu  gelten.  Um  so  dringlicher  erscheint  die  Aufgabe, 
das  demokratische  Wahlrecht  in  seinen  Wirkungen  zu  be- 
schränken. Das  ist  bereits  geschehen,  zum  Teil  auch  auf  bud- 
getrechtlichem Gebiete,  und  gilt  da  als  eine  vollkommen  selbst- 
verständliche Forderung  in  bezug  auf  das  eine  der  unentbehr- 
Uchen  Fundamente  unserer  nationalen  Existenz  und  Sicherheit: 
Armee  und  Marine  sind   den  aktiven  und  passiven  Einwir- 


*)  Schwerlich  wird  indessen  die  gesetzgeberische  Behandlung  der  Wahl- 
rechtsreform vor  Erledigung  der  Homerulefrage  erfolgen. 


Blum.  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  469 

klingen  des  allgemeinen  gleichen  und  geheimen  Wahlrechts 
entzogen,  sind  auch  mit  dem  größten  Teil  ihres  finanziellen 
Bedarfs  gegen  mißbräuchliche  Anwendung  und  schädliche  Wir- 
kung des  demokratischen  Wahlrechts  durch  klare  Verfassungs- 
bestimmungen sichergestellt.  Warum  sollte  die  gleiche  Not- 
wendigkeit nicht  gegenüber  dem  anderen,  kaum  minder  wich- 
tigen Grundpfeiler  der  weltpolitischen  und  weltwirtschaftlichen 
Stellung  unseres  Vaterlandes  gegenüber  den  Finanzen  des 
Reichs,  Anerkennung  finden  und  zur  Tat  werden!  Was  würde 
damit  gewonnen? 

XVII.  Finanzprobleme   der   Zukunft    und   Aufgaben 

der  Gegenwart. 

In  den  Kämpfen  um  die  letzte  Reichsfinanzreform  hat 
der  Vorhang,  der  die  Zukunft  der  finanzpolitischen  Entwick- 
lung im  Reiche  verhüllt,  sich  etwas  gelüftet,  und  man  hat  ge- 
wisse Vorboten  dessen,  was  kommen  kann  und  wahrscheinlich 
kommen  w4rd,  kennen  lernen  können.  Die  indirekten  Ein- 
nahmequellen des  Reiches  sind,  vielleicht  abgesehen  von  der 
Biersteuer  und  der  Tabaksteuer  —  nachdem  die  Aussichten 
auf  Reichssteuermonopole  mehr  und  mehr  geschwunden  sind  ^)  — 
so  gut  wie  erschöpft.  Soll  das  Reich  in  einer  Zukunft,  die 
vielleicht  nicht  minder  große  und  kostspielige  Aufgaben  bringt 
wie  die  beiden  letzten  Jahrzehnte,  finanziell  auf  eigene  Füße 
gestellt  werden,  soll  namentlich  —  und  vom  Standpunkte 
unserer  finanziellen  Kriegsbereitschaft  und  im  Interesse  der 
Entlastung  der  Zukunft  ist  es  geradezu  ein  Gebot  vaterlän- 
discher Pflicht  —  eine  effektive  Schuldentilgung  großen  Stiles, 
wie  sie  England  mit  bewundernswerter  Energie,  trotz  enorm 
gesteigerter  Rüstungsausgaben  vorgenommen  hat,  ermöglicht 
werden  können,  so  werden  die  Mittel  dazu  mit  endlicher 
Verwirklichung  des  Finanzprogramms  der  Reichs- 
verfassung vom  16.  April  1871  nur  durch  direkte 
Reichssteuern,  die  große  Erträge  liefern,  vor  allem 
durch  eine  allgemeine  Reichserbschaftssteuer  zu  beschaffen  sein. 
Ohne  neue  tief  einschneidende  Eingriffe  in  die  einzelstaat- 
lichen Finanzen,  ohne  neue  ernste  Gefährdung  der  Finanzen 
der  Einzelstaaten  und  Erschwerung  ilirer  kulturellen  Aufgaben 

^)  Die  vorliegende  Arbeit  ist  im  Frühjalii'  1912  abgeschlossen,  als  an 
die  Heeresvorlage  von  1913  mit  ihren  neuen  Deckungsaufgaben  noch  nicht 
zu  denken  war. 


470  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Wäre  diese  letzte  und  entscheidende  Maßnahme  zur  Sanierung 
der  Reichsfinanzen  nicht  durchzuführen.  Wenn  schon  in  der 
Vergangenheit  das  Budgetrecht  des  Reichstags  gerade  da,  wo 
es  seine  größte  Stärke  besitzt,  nämhch  in  der  Heranziehung 
der  Einzelstaaten,  seine  gefährlichsten  von  den  einzelstaat- 
lichen Finanzministern  immer  wieder  mit  vollem  Recht  be- 
klagten und  beanstandeten  Wirkungen  ausgeübt  hat,  sollte  da 
nicht  zu  besorgen  sein,  daß  dann  das  Abhängigkeits- 
verhältnis, in  dem  sich  die  Gliedstaaten  dem  Reiche 
gegenüber  befinden  werden,  noch  einen  sehr  viel  ge- 
fährhcheren  Charakter  annehmen  kann?  Wenn  diese  Pro- 
bleme spruchreif  werden,  sollten  sie  einen  nach 
dem  in  England  ausgebildeten  System  der  Stabili- 
sierung des  Budgets  geordneten  Zustand  derReichs- 
finanzen  vorfinden,  einen  Zustand,  der  auf  der  einen  Seite 
den  finanziellen  Ansprüchen  des  Reiches  an  die  Eiuzelstaaten, 
auch  hinsichtlich  der  Einkommensteuer-  und  Vermögenssteuer- 
belastung, ein  für  allemal  eine  feste  Grenze  zieht  und  anderer- 
seits Ausgaben  in  angemessener  Höhe  für  Schuldentilgung,  für 
die  Zuschüsse  zur  Arbeiterversicherung,  für  die  Bedürfnisse  der 
Reichsverwaltung  usw.  unter  allen  Umständen  festlegt  bzw.  die 
Möglichkeit  beseitigt,  daß,  wie  es  schon  einmal  im  Reiche  vor- 
gekommen ist  —  im  Jahre  1908  —  durch  das  Etatgesetz  die 
gesetzhchen  Bestimmungen  über  Schuldentilgung  für  die  Dauer 
eines  Rechnungsjahres  außer  Kraft  gesetzt  oder  etatstechnische 
Maßnahmen  getroffen  werden  können,  die  einer  Außerkraft- 
setzung der  gesetzlichen  Schuldentilgungsbestimmungen  gleich- 
kommen. Jedenfalls  erscheint  es  überflüssig,  wenn  nicht  sinn- 
widrig, etwas  zu  ,,bewilhgen",  was  nicht  verweigert  werden 
kann.  Jedenfalls  bezeichnet  der  Gedanke  einer  Ausscheidung 
und  Stabilisierung  von  Budgetteilen  eine  fortgeschrit- 
tene Form  der  budgetrechtlichen  Praxis,  die  auch  vom 
Standpunkte  der  allgemeinen  Staatspolitik  sehr  beachtenswerte 
Vorteile  bietet. 

Unter  der  Herrschaft  eines  demokratischen  Wahlrechts 
kann  auch  die  Initiative  in  Geldangelegenheiten  schwere 
Gefahren  für  die  Finanzen  und  die  Volkswirtschaft  zur  Folge 
haben.  In  allen  Großstaaten  gestaltet  sich  infolge  des  wach- 
senden Finanzbedarfs,  insbesondere  für  Rüstungszwecke,  die 
Deckungsfrage  immer  schwieriger.  Nicht  minder  die  Frage, 
wie  eine  möglichst  angemessene  und  gerechte  Verteilung  der 
Lasten  auf  die  Steuer-  und  Abgabenträger  erreicht  werden  kann. 


Blum,  Budp^etrecht  und  Finanzpraxis.  471 

In  die  Verhandlungeu  darüber  werden  von  den  Parlamenten 
Motive  und  Momente  hineingetragen,  die  parteipolitischer  Natur 
sind  und  in  dieser  Richtung,  im  Sinne  eines  Parteigrogramms 
oder  in  Wahrnehmung  bestimmter  Interessen,  zur  Geltung  ge- 
bracht werden.  Anders  zu  verfahren  ist  in  konstitutionell- 
monarchischen und  in  parlamentarisch  regierten  Staaten  nicht 
möglich,  und  es  ist  auch  nur  billig  und  zweckentsprechend, 
daß  das  Mandat  der  Volksvertreter  gerade  in  dieser  Beziehung 
keiner  Schranke  unterliegt.  Es  gibt  aber  tollkühne  Streiche 
und  waghalsige  Experimente  auch  in  der  Finanz-  und  Steuer- 
politik. Wenn  die  deutsche  Sozialdemokratie  auch  heute  noch 
sämtliche  Verbrauchssteuern  im  Reiche  durch  direkte  Auflagen 
auf  den  Besitz  ersetzen  will  und  auch  in  dieser  Form  die 
finanziellen  Bedürfnisse  glaubt  dauernd  und  vollständig  be- 
streiten zu  können,  so  ist  das  reichlich  naiv  und  ist  kurzsichtig 
gedacht:  die  Vermögensbildung  in  Deutschland  würde  dann 
sehr  bald  ins  Stocken  gebracht  werden,  und  wenn  schon  jetzt, 
wo  infolge  der  deutschen  Arbeiterversicherung  2500  Mill.  Mark 
(sehr  bald  treten  die  Bestände  der  Reichsversicherungsanstalt 
hinzu !)  durch  Festlegungen  im  Bereiche  der  Arbeiterversicherung 
dem  allgemeinen  Verkehr  entzogen  sind  und  Jahr  für  Jahr 
beinahe  1000  Mill.  Mark  für  laufende  Versicherungsleistungen 
verausgabt  werden  müssen,  wenn  also  jetzt  schon  ernste  Be- 
sorgnisse wegen  der  wirtschaftlichen  Folgen  dieser  sozialpoH- 
tischen  Belastung  nicht  von  der  Hand  zu  weisen  sind,  wie 
dann  erst,  wenn  unter  dem  Schutze  und  Beistande  eines  radi- 
kalen Wahlrechts  die  sozialdemokratischen  Steuerreformer  auf 
den  bestens  gehaßten  Kapitalismus  losgelassen  würden!  Am 
meisten  wäre  dabei  das  mobile  Kapital  gefährdet,  denn  die 
agrarischen  Parteien  würden  sich,  nach  den  Ereignissen  des 
Jahres  1909  und  nach  Erklärungen  konservativer  Führer 
während  der  Wahlbewegung  von  1912  zu  urteilen,  sicherlich 
keinen  Augenblick  besinnen,  sozialdemokratische  Angriffe  auf 
das  börsengängige  Großkapital  nach  Kräften  zu  unterstützen. 
Es  soll  und  kann  nicht  bestritten  werden,  daß  dahinzielenden 
Plänen  und  Absichten  eine  gewisse  Berechtigung  innewohnt, 
solange  man  hinsichtlich  der  tatsächlichen  Höhe  des  Vermögens- 
standes und  der  Vermögensbildung  im  Dunklen  tappt  ^).  Das 
wird  anders  werden,  wenn  erst  einmal  dem  Beispiele  Preußens, 


*)   Dazu  Abg.  Frbr.  v.  Zedlitz,   Sitzung  des  Prß.  Abgb.  vom  31.  Ja- 
nuar 1912. 


472  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

das  bei  seiner  neuesten  gegenwärtig  noch  schwebenden  Reform 
der  direkten  Steuern  verschiedene  Maßnahmen  zur  ge- 
rechten Erfassung  der  Steuerobjekte,  u.  a.  Vermögens- 
und Erbschaftsanzeige,  in  Aussicht  genommen  hat,  die  anderen 
deutschen  Staaten  gefolgt  sind.  So  mancher  Konflikt,  der  jetzt 
die  Parteien  in  wildester,  leidenschaftlichster  Erbitterung  gegen- 
einander kämpfen  läßt  und  das  positive  Schaffen  aufs  äußerste 
erschwert,  würde  dann  überhaupt  nicht  aufkommen  können. 
Aber  alle  solche  Fortschritte  in  der  Richtung  steuerlicher 
Gerechtigkeit  und  Selbständigkeit  würden  mit  Hilfe  eines 
Wahlrechts,  das  schon  heute,  falls  die  im  §  5  des  Wahl- 
gesetzes vom  31.  Mai  1869  vorbehaltene  Regelung  in  den  in- 
zwischen vergangenen  43  Jahren  erfolgt  wäre,  in  dem  einen 
Faktor  der  Gesetzgebung  die  Sozialdemokratie  ausschlag- 
gebend werden  lassen  könnte,  rückgängig  zu  machen  und  durch 
eine  einseitige,  nach  bestimmten  politischen  Theorien  gestaltete 
Steuergesetzgebung  zu  ersetzen  sein,  sofern  nicht  die  in  der 
Verfassung  gegebenen  Bürgschaften  (Artikel  7  RV.)  dem  ent- 
gegenstehen. In  jedem  Falle  würde  beim  Eintritt  eines  solchen 
Verfassungskonfliktes,  der  selbstverständlich  für  die  Beurteilung 
der  Finanzlage  des  Reichs  und  seines  Kredits  nicht  ohne  nach- 
teilige Folgen  bleiben  könnte,  der  Umstand  nicht  ohne  Einfluß 
bleiben,  daß  die  Möglichkeit  einer  Ablehnung  des  Etatgesetzes  i) 
gegeben  ist,  womit  der  Reichshaushalt  in  wichtigen  Teilen  und 
in  großem  Umfange  in  Frage  gestellt  werden  müßte.  Es  würde 
zu  weit  führen,  die  Folgen  eines  budgetlosen  Zu- 
standes  zu  schildern.  Diese  Folgen  lägen  keineswegs  bloß 
auf  finanziellem  Gebiete.  Mindestens  ebenso  bedenklich  und 
gefährlich  wie  ein  Herabsinken  des  öffentlichen  Kredits 
wären  die  Schädigungen,  die  der  auch  so  schon  recht  wenig 
befi'iedigende  Kursstand  der  Reichsanleihen  erleiden 
müßte;  aber  selbst  das  wäre  ein  noch  geringes  Übel  im  Ver- 
gleich zu  der  Erhöhung  der  Kriegsgefahr,  die  im  modernen 
Gegenwartsstaat  bei  ungesunder,  dauernd  schwieriger  Finanzlage, 
man  möchte  sagen,  automatisch  sich  einstellt.  Die  Ereignisse 
der  letzten  Jahre  haben  in  dieser  Beziehung  volle  Klarheit 
gebracht.  Es  kann  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die 
Gefahr  eines  Angriffskrieges  für  Deutschland  dann  in  bedroh- 
lichste Nähe  rücken  würde,  wenn  das  Reich  nicht  mehr  imstande 
wäre,  in  der  finanzieUen  Gesamtleistung  für  Rüstungs-  und  Ver- 

')  Vgl.  p.  387. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  473 

teidigungszwecke  mit  dem  stärksten  seiner  Gegner  im  großen 
und  ganzen  gleichen  Schritt  zu  halten.  Zu  so  furchtbaren  Kon- 
sequenzen vermag  schließlich  eine  Budgetver Weigerung 
zu  führen,  die  vielleicht  aus  mehr  oder  weniger  be- 
langlosen Gründen,  aus  Parteifehde,  Oppositionslust 
oder  Vergeltungstaktik  ausgeübt  wird.  Wenn  die  liberale 
englische  Regierung  darauf  hinweisen  konnte,  die  nach  der 
Ablehnung  des  Budgets  von  1909^)  eingetretene  Beeinträchtigung 
der  Finanzen  des  Landes  sei  in  Theorie  und  Praxis  eins 
der  stärksten  Argumente  gegen  das  Vetorecht  der  Lords  gegen- 
über Geldbills '-^j,  wie  viel  mehr  spricht  dann  gegen  die  Bei- 
behaltung des  in  dem  entscheidenden  Punkte  unbeschränkten 
Budgetrechts  im  Deutschen  Reiche,  wo  es  an  einer  Sicherheit, 
wie  sie  England  in  seinem  konstanten  Budget,  Preußen  in  den 
mehrfach  erwähnten  Verfassungsbestimmungen  besitzt  3),  gänz- 
lich fehlt. 

Da  das  Budgetrecht  des  Reichstages  —  darüber  ist  außer- 
halb des  übelberatenen  Konzerns  der  Katastrophenpolitiker  kein 
Streit  —  ebensowenig  beschränkt  und  eingeschnürt  werden 
kann  wie  das  Wahlrecht  des  Reichstages,  das  seine  Voraus- 
setzung und  Grundlage  ist,  so  bleibt  nur  übrig,  die  im  Ab- 
schnitt XII  der  Reichsverfassung  vorhandenen  Lücken 
und  Mängel  zu  beseitigen  und  durch  Vorschriften  zu  ersetzen, 
welche  die  Finanz-  und  Kreditwirtschaft  des  Reichs  davor  be- 
wahren, in  den  Strudel  politischer  Kämpfe  hineingerissen 
zu  werden.  Vielleicht  ist  für  die  Lösung  der  Aufgabe  gerade 
jetzt  die  geeignete  Zeit.  Nach  den  diesjährigen  Wahlen  ist 
das  Zentrum  nicht  mehr  die  stärkste  Fraktion  im  Reichstage, 
deshalb  aber  möglicherweise  mehr  als  früher  geneigt,  einer 
Regelung  zuzustimmen,  die  mehr  als  früher  dringlich  und  not- 
wendig erscheint  mit  Rücksicht  auf  das  bedrohhche  Wachstum 
der  Sozialdemokratie,  die  andererseits,  da  lediglich  die  faktisch 
unerläßlichen,  die  im  Ernste  überhaupt  nicht  strittigen 
Einnahmen  und  Ausgaben  (selbstverständlich  einschließlich 
der  Friedenspräsenz-  und  Rüstungsausgaben)  festzulegen 
wären,  zu  keinerlei  Bedenken  Anlaß  geben  könnte.  Gleichzeitig 
würde  der  sozialdemokratischen  Reichstagsfraktion,  die 
nach  wie  vor  gegen  den  Etat  stimmt,  zum  Bewußtsein  ge- 


0  Vgl.  p.  358. 

^)  Vgl.  Eobertson,  a.  a.  0.  p.  578. 

')  Vgl.  p.  372  u.  a,  m. 


474  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

bracht  werden,  daß  sie  damit  nicht  das  Geringste  ausrichtet, 
denn  das  Etatgesetz,  das  der  Beschlußfassung  der  gesetzgebenden 
Faktoren  unterhegt,  würde  nur  noch  solche  Positionen  enthalten, 
durch  deren  Ablehnung  der  regelmäßige  Ablauf  der  Reichs- 
wirtschaft nicht  in  Frage  gestellt  werden  könnte.  Mancher 
möchte  es  gewiß  der  deutschen  Sozialdemokratie  gönnen,  daß 
sie  sich  jedes  Jahr  von  neuem  durch  Ablehnung  des  Budgets 
lächerlich  macht;  ist  sie  doch  deswegen  im  Jahre  1910  auf 
dem  internationalen  Sozialistenkongreß  in  Kopenhagen  von 
Vertretern  der  englischen  Arbeiterpartei  weidlich  gehänselt 
worden.  Aber  zu  hoch  steht  doch  allen  einsichtigen  und  be- 
sonnenen Politikern  die  Sorge  für  die  finanzielle  Wohlfahrt 
und  Sicherheit  des  Reiches,  als  daß  nicht  eine  Nebenwirkung 
der  vorgeschlagenen  Regelung,  der  erzwungene  Verzicht 
der  Sozialdemokratie  auf  einen  Haupt-  und  Glanz- 
punkt ihrer  staatsgegnerischenPosition  und  Agitation, 
sehr  gern  in  Kauf  genommen  werden  sollte. 

XVIII.    Budgetrecht    und    Fiiianzpraxis    im    Dienste 
des  sozialen  Ausgleichs. 

Solche  Regelung  würde  ähnliche  Vorteile  wirtschaftlicher 
und  sozialer  Natur  gewähren,  wie  sie  in  Preußen  die  Gewiß- 
heit an  die  Hand  gibt,  daß  selbst  ein  budgetloser  Zustand  den 
ruhigen,  regelmäßigen  Verlauf  des  staatlichen  und  gewerb- 
lichen Lebens  nicht  beeinträchtigen  kann.  Ein  dauerndes  Gleich- 
gewicht im  Staatshaushalt  ist  von  vornherein  in  Frage  gestellt, 
wenn  Budgetrecht  und  Finanzpraxis  nach  dem  System  der  lex 
annua  gestaltet  sind  und  die  Einnahmen  aus  Steuern,  Zöllen 
usw.  immer  nur  für  die  Dauer  eines  Jahres  bewilhgt  werden. 
Das  heißt  geradezu  mit  dem  Feuer  spielen,  das  bei 
der  Beratung  des  Budgets  und  bei  Gelegenheit  finanzpolitischer 
Reformen  entfacht  werden  kann.  Die  gegenwärtigen  Zeitläufe 
und  Zeitumstände  aber  sind  wahrhaftig  danach  angetan,  immer 
wieder  daran  zu  gemahnen,  daß  alles,  was  nur  irgend  die  all- 
gemeine Wohlfahrt  zu  fördern  und  staatserhaltend  zu  wirken 
vermag,  in  den  Dienst  des  Staatsgedankens  und  der  Staats- 
interessen gestellt  werden  muß.  Wenn  Rodbertus  die  Forderung 
ausgesprochen  hat,  die  V  o  1  k  s  w  i  r  t  s  c  h  a  f  t  müsse  mehr  Staats- 
wirtschaft  werden,  so  kann  man  mit  demselben  oder  viel- 
leicht noch  größerem  Rechte  heute  sagen:  die  Staatswirtschaft 
kommt   einer    solchen  Entwicklung  immer  mehr  entgegen  und 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  475 

muß  ihr  entgegenkommen,  weil  gegenwärtig  nur  eine  hoch 
entwickelte,  zu  immer  höheren  Stufen  der  Arbeitsteilung  und 
damit  der  Arbeitsleistung  aufsteigende  Volkswirtschaft  die 
ungeheuren  Mittel  zu  gewähren  vermag,  die  eine  moderne 
Großmacht  zur  Behauptung  ihrer  politischen  Existenz  und  zur 
Erfüllung  ihrer  Kulturaufgaben  nicht  entbehren  kann.  In 
unserm  Vaterlande  hat  die  Volkswirtschaft,  gestärkt  durch  den 
gesetzlichen  Schutz  der  nationalen  Arbeit  und  begünstigt 
durch  Bevölkerungs-  und  Konjunkturverhältuisse,  steigende  Er- 
träge abgeworfen,  wie  die  Entwicklung  der  Wehrmacht,  der 
Sozialpolitik  und  des  Nationalvermögens  deutlich  erkennen  läßt. 
Aber  diese  günstige  Entwicklung  hat  auch  ihre  Kehrseite:  sie 
ist  auf  Kosten  der  inneren  Ausgeglichenheit  der 
Nation  und  des  sozialen  Friedens  erfolgt,  sie  hat  die 
Abstände  zwischen  den  Einkommensklassen  erweitert,  hat  die 
breiten  Mittelschichten  von  beiden  Seiten  her  geschwächt  und 
geschmälert,  sie  ist  mitschuldig  an  der  Verschärfung  der 
Gegensätze  in  der  Lebensauffassung  und  der  Lebensführung 
und  hat  damit  weder  staatserhaltend  noch  sozial  ausgleichend 
gewirkt. 

Damit  soll  nicht  etwa  ein  Vorwurf  erhoben  werden ;  nach 
Lage  der  Verhältnisse  konnten  sich  andere  Konsequenzen  nicht 
ergeben.  Wohl  aber  ist  die  Arbeit  an  der  Wieder- 
gesundung unserer  inneren  Verhältnisse  gegen- 
wärtig die  vornehmste  staatsmännische  Aufgabe, 
und  diejenige  pohtische  Partei,  die  hier  die  bessernde  Hand 
anzulegen,  hier  gesunde  Verhältnisse  zu  schaffen  vermag,  wird 
sich  den  Ehrennamen  der  wahren  Kulturpartei  erwerben,  wird 
wahrhaft  staatserhaltend  sein.  Bei  der  Lösung  dieser  größten 
und  schwersten  sozialen  Aufgabe  wird  der  Hilfe  der  Finanz- 
politik und  Finanzwirtschaft  um  so  weniger  entraten  werden 
können,  als  die  der  Regierung  für  staatliche  Zwecke  zur  Ver- 
fügung zu  stellenden  Mittel,  je  schärfer  der  politische  und 
wirtschaftliche  Wettbewerb  der  Staaten  entbrennt,  desto  größere 
Bedeutung  für  das  Gesamtleben  der  Nation  beanspruchen  dürfen. 
Soziale  Rücksichtnahme  un  d  Fürsorge,  sozialeSteuerpolitik 
und  finanzwirtschaftliche  Sozialpolitik  werden  in 
Zukunft  noch  weit  mehr  als  bisher  ineinander  greifen  und  zu 
gemeinsamer  systematischer  Pflege  des  staatser- 
haltenden Prinzips  sich  verbinden  müssen,  um  von  dieser 
Seite  her  den  destruktiven  Tendenzen  entgegenzuarbeiten,  die 
nicht  so  sehr  den  Bestand  als  die  innere  Gesundheit  des 


476  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Staates    und    das    Solidaritätsgefühl    seiner    Ange- 
hörigen bedrohen^). 

Die  Gerechtigkeit  ist  und  bleibt  für  alle  Zeiten  das 
fundamentum  regnorum.  Diesen  Grundpfeiler  zu  erhalten  und 
zu  sichern  in  einer  Zeit,  in  der  der  immer  schärfer  entbrennende 
Kampf  um  Macht  und  Besitz  gewiß  manches  schwere  Unrecht 
im  Gefolge  hat  und  unvermeidlich  werden  läßt,  das  ist  eine 
der  bedeutsamsten  Aufgaben  der  Gegenwart.  Und  wieder  sehen 
wir,  daß  steuerliche  Gerechtigkeit  und  soziale  Finanz- 
politik da  zur  Anwendung  gelangt  sind  und  Großes 
geleistet  haben,  wo  das  Budgetrecht  der  Volksvertre- 
tung auf  ein  bestimmt  begrenztes  verhältnismäßig 
enges  Gebiet  beschränkt  ist:  in  Preußen  sind  die  unter- 
sten Einkommensklassen  steuerfrei,  sind  Einkommensteuer  und 
Vermögenssteuer  degressiv  gestaltet  2),  sind  besondere,  die  Lei- 
stungsfähigkeit des  Steuerpflichtigen  wesentlich  beeinträchtigende 
Verhältnisse  (größere  Kinderzahl,  Versicherungsprämie,  Beiträge 
zu  Pensionskassen)  in  weitem  Umfange  berücksichtigt.  In 
England  ist  der  Gedanke  des  sozialen  Ausgleichs  im  Wege 
der  Steuerpolitik  durch  die  Beweglichkeit  der  Einkommensteuer 
und  durch  eine  sehr  starke  steuerliche  Heranziehung  der  Erb- 
schafts- und  Nachlaß  werte  verwirklicht  3).  Die  Ermöghchung 
einer  Sozialreform  großen  Stiles  war  das  Motiv!  Im  Deutschen 
Reiche  dagegen  hat  man  im  letzten  Jahrzehnt  drei  Finanz- 
reformen verabschiedet,  ohne  —  was  besonders  bei  der  Be- 
willigung von  rund  300  Mill.  Verbrauchssteuern  dringend  zu 
wünschen  gewesen  wäre  —  bei  der  Verteilung  der  neuen  Lasten 
das  Gebot  des  sozialen  Ausgleichs  zu  berücksichtigen  und  die 
wohlhabenden  Klassen  entsprechend  zu  belasten^).  Die  ver- 
bündeten Regierungen  hatten  diese  Notwendigkeit  allerdings 
erkannt  und  ihr  in  ihren  Vorlagen  Rechnung  getragen,  aber 
sie  mußten  schließlich  nach  dem  Worte  handeln :  video  meliora 
proboque,  deteriora  sequor  und  auf  die  allgemeine  Erbschafts- 
steuer  Verzicht  leisten.      Die   Zwangslage,    in    die   die  Reichs- 

')  Vgl.  p.  167  Anm. 

■)  In  der  Steuernovelle  von  1912  ist  für  die  Einkommensstufen  über 
100000  Mark  die  Erhöhung  des  Steuerfußes  von  4  auf  5  Prozent  vorgeschlagen. 

")  Vgl.  Wilson,  The  national  budget,  London  1882  p.  130:  „We  can 
teil  broadly  that  no  great  nation  is  so  lightly  taxed  as  we  are". 

^)  Vgl.  aus  neuester  Zeit  die  Äußerungen  des  badischen  Ministerpräsi- 
denten Frhr.  v.  Dusch  über  die  politische  Bedeutung  einer  allgemeinen  Erb- 
schaftssteuer, Verhandl.  d.  bad.  Kammer,  Sitzung  vom  30.  Januar  1912. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  477 

regierung  sich  gedrängt  sah,  ist  vielleicht  die  schwerste  Anklage 
gegen  den  eifersüchtig  über  seinem  Budgetrecht  wachenden 
und  größere  budgetrechtliche  Macht  anstrebenden  Reichstag 
und  die  Zusammensetzung  des  gegenwärtigen  Reichstags  ein 
ernster  Hinweis,  wohin  es  führen  kann,  wenn  Budget- 
recht und  Finanzpraxis  dem  Staatsganzen  und  der 
Staatsidee  sich  nicht  unterzuordnen  wissen,  sondern 
benutzt  werden,  um  dem  Begehr  nach  parlamentarischer  Macht 
Befriedigung  zu  verschaffen  oder  politische  Gegensätze  auszu- 
tragen. 

Schlußbetrachtung. 

In  allen  konstitutionellen  Staaten  stehen  Budgetrecht  und 
Finanzpraxis  in  enger  und  beständiger  Wechselwirkung,  derart, 
daß  eine  solide,  zweckmäßige  und  erfolgreiche  Finanzpraxis 
auf  ein  gutes,  seinen  Aufgaben  und  seinem  Wirkungskreise 
angepaßtes  Budgetrecht  schließen  läßt.  Aber  welches  ist  das 
beste  Budgetrecht?  Nicht  etwa  dasjenige,  das  denen,  die  es 
zu  benutzen  haben,  in  völliger  schrankenloser  Freiheit  zur  Ver- 
fügung steht  und  von  ihnen,  außerhalb  seiner  eigentlichen  und 
natürlichen  Zweckbestimmung,  zu  willkürlicher  Beeinflussung 
der  Staatsfinanzen  und  der  Staatswirtschaft  in  seinen  bestimmten 
Parteiinteressen,  zur  Eroberung  politischer  Rechte  oder  sonst 
zu  störenden  Eingriffen  in  das  kunstvolle,  aber  auch  sehr 
empfindliche  Räderwerk  des  Staatsganzen  angewendet  werden 
kann. 

Der  Sphäre  und  der  Materie,  in  der  es  zu  wirken  bestimmt 
ist,  entspricht  vielmehr  ein  Budgetrecht,  das  eine  Gefährdung 
der  finanziellen  Grundlagen  des  Staatslebens,  eine  Störung  der 
Staatswirtschaft  und  damit  auch  eine  Minderung  des  Staats- 
kredits unter  allen  Umständen  ausschließt. 

In  welchem  Maße  ein  unter  diesen  Gesichtspunkten  ein- 
geschränktes Budgetrecht  im  parlamentarischen  und  politischen 
Macht-  und  Meinungskampfe  anwendbar  ist  oder  anwendbar 
sein  darf,  darüber  entscheidet  die  verfassungsmäßige 
Struktur  des  Staates.  In  der  demokratischen  Republik  ist 
jede  Schranke  des  Budgetrechts  gefallen  und  den  dem  Wechsel 
unterworfenen  parlamentarischen  Mehrheiten  völlig  freie  Ver- 
fügung über  die  gesamte  öffenthche  Wirtschaftsführung  und 
Finanzverwaltung  eingeräumt.  Die  am  Ende  der  entgegen- 
gesetzten   Entwicklung    stehende    Staatsform,    die    konsequent 


478  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

durchgebildete  konstitutionelle  Monarchie,  hat  ein  Budgetrecht, 
das  den  Bestand  des  Staates  in  Frage  stellen  könnte,  nicht 
aufkommen  lassen,  vielmehr  für  volle  Unabhängigkeit  und 
unantastbare  Sicherheit  der  Finanzwirtschaft  im  Bereiche  der 
vitalen  Aufgaben  und  Bedürfnisse  der  Staatsverwaltung  Sorge 
getragen. 

Auf  verschiedenen  Wegen  gelangen  die  monarchischen 
Großmächte  zu  einer  mehr  oder  minder  wirksamen  Sicherung 
gegen  Überschreitungen  und  Überschraubungen  des 
Budgetrechts.  Im  Deutschen  Reiche  ist  für  große  Teile  des 
Heeres-  und  Flottenbedarfs  auch  im  Falle  eines  ernsten  Kon- 
fliktes zwischen  Bundesregierung  und  Volksvertretung  die  Fort- 
dauer der  finanziellen  Unterlagen  gesichert;  im  übrigen  würde, 
wenn  das  Etatsgesetz  die  Zustimmung  des  Reichstags  nicht 
erhält,  der  Reichshaushalt  zum  Stillstand  kommen  müssen.  In 
Preußen  ist  in  der  Verfassung  der  Fall  einer  Budgetverweigerung 
vorgesehen  und  die  Forterhebung  der  hauptsächlichsten  Staats- 
einnahmen sichergestellt.  In  England  ist  zu  diesem  Zwecke, 
in  freier  Entschließung  der  gewählten  und  unter  Zustimmung 
der  erblichen  Kammer,  das  konstante  Budget  geschaffen,  durch 
das  diejenigen  öffentlichen  Bedürfnisse  und  Leistungen,  die  der 
Staat  zu  seiner  Existenz  nicht  entbehren  kann  und  die  nicht 
strittig  sind,  dem  parlamentarischen  Machtbereich  entzogen 
werden.  In  allen  drei  Staaten  kommt,  aber  durchaus  nicht 
gleichmäßig,  in  der  Staathaushaltsführung  und  Finanzgebarung 
das  monarchische  Element  zur  Geltung.  Im  Deutschen 
Reiche  auf  dem  Umwege  über  den  Bundesrat,  im  europäischen 
England  durch  die  Prärogative  der  Krone  (insbesondere  Vor- 
sanktion und  Initiativrecht  in  Geldangelegenheiten),  in  Preußen 
durch  unmittelbare  Mitwirkung  der  Krone  bei  der  Gesetz- 
gebung. Allen  drei  Staaten  ist  gemeinsam,  daß  der  Herrscher  auf 
den  Gebieten  der  äußeren  und  der  inneren  Politik  Einflüsse 
auszuüben  vermag,  die  das  Budgetrecht  in  bestimmter  Richtung 
in  Tätigkeit  setzen,  die  Finanzpraxis  nach  bestimmten  Grund- 
sätzen und  Zielen  gestalten  und  ausnutzen  können. 

Für  die  Solidität,  Disziplin  und  Zweckmäßigkeit 
der  Finanzpraxis  kommen  verschiedene  Momente  in  Betracht. 

Die  Finanzpraxis  wird  sich  von  vornherein  in  ruhigen  und 
geregelten  Bahnen  bewegen,  wenn  entweder,  wie  in  Preußen, 
der  Chef  der  Finanzverwaltung  genügende  Autorität  und  Macht 
besitzt,  um  die  Staatsfinanzen  und  die  Steuerkraft  vor  allzu 
großen  Ansprüchen,   sei  es  der  Regierung,   sei  es  der  Parteien 


Blum,  Bvuljretrecht  und  Finanzpraxis.  479 

ZU  bewahren,  oder  wenn,  wie  in  England,  große  Teile  des 
Budgets  der  jährlichen  Bewilligung  entzogen  sind  und  im 
übrigen  die  Abgeordneten  bei  der  Vorbereitung  des  Budgets 
beteiligt  werden.  Das  englische  System,  nicht  alle  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  auf  den  Etat  zu  bringen  und  solche 
Forderungen,  die  schlechterdings  nicht  verweigert  werden 
können,  gar  nicht  erst  zur  Abstimmung  zu  stellen,  hat  nicht 
bloß  den  Vorzug  der  Zeit-  und  Kostenersparnis;  es  gibt  mit 
seinem  Grundgedanken,  daß  im  Wechsel  der  pohtischen  Auf- 
fassungen und  Vorgänge  die  Staatsfinanzen  und  die  Staats- 
wirtschaft der  ruhende  unverrückbare  Pol  sein  sollen,  dem  ge- 
samten Staatsleben  einen  außerordentlich  schätzenswerten,  ja 
in  Zeiten  innerer  Krisen  nicht  genug  zu  schätzenden  Rückhalt. 

Das  Beispiel,  das  das  englische  Parlament  gegeben  hat, 
indem  es  sich  freiwillig  eines  Teils  seines  konstitutionellen 
Budgetrechts  entäußerte,  ist  ein  unwiderleglicher  Beweis  da- 
für, daß  es  der  Finanzpraxis,  ihrer  Handhabung  und  Wirkung 
nur  dienUch  sein  kann,  wenn  mit  der  Möglichkeit  einer  Er- 
schütterung des  Staatskredits,  mit  der  Möglichkeit  eines  Ver- 
sagens der  öffentlichen  Einnahmequellen  oder  eines  Stillstehens 
der  öffentlichen  Bedarfswirtschaft  überhaupt  nicht  zu  rechnen  ist. 

Es  ist  zu  bedenken,  daß  das  europäische  England  der 
Hauptpfeiler  eines  die  Welt  umspannenden  Staatengebäudes 
ist;  sein  Fall  würde  eine  Reihe  aufblühender  Staatswesen  ihres 
stärksten  Halts  berauben.  Gesunde,  absolut  gesicherte, 
in  jedem  Augenblick  aktionsfähige,  jeder  Eventualität 
gewachsene  Finanzen  sind  für  England  die  unerläß- 
liche Vorbedingung  seiner  Weltmachtstellung.  Sollten 
nicht  ähnliche  Gesichtspunkte  für  das  Deutsche  Reich 
bestimmend  sein,  seine  Finanzen  auf  ein  unbedingt  sicheres, 
unbedingt  tragfähiges  Fundament  zu  stellen?  Hat  einmal  das 
Deutsche  Reich  einen  Kampf  um  seine  Existenz  auszufechten, 
dann  wird  es  in  der  Lage  sein  müssen,  den  letzten  Mann  und 
den  letzten  Groschen  einzusetzen.  Darf  angesichts  einer  solchen 
Perspektive  die  Möglichkeit  vorhanden  sein,  daß  der  Haushalts- 
bedarf des  Reichs  vom  Reichstag  bestritten  und  verweigert 
wird,  daß  die  Volksvertretung,  wenn  in  ihr  die  demokra- 
tischen Parteien  die  Mehrheit  haben,  auf  eine  Steuer-  und 
Finanzpolitik  hinarbeiten,  die  ganz  andere  Gesichtspunkte  und 
Grundsätze  als  die  für  jede  Großmacht  der  Gegenwart 
gegebenen   Staatsnotwendigkeiten    —    Schutz    der   Ehre, 


480  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

des  Staatsgebiets  und  der  Nationalwirtschaft  —  über  die  Auf- 
bringung und  Verwendung  der  öffentlichen  Einkünfte  ent- 
scheiden lassen  würde?  Solchen  Gefahren  muß  begegnet 
werden,  ehe  es  zu  spät  ist.  Das  kann  unschwer  geschehen, 
indem  die  Lücken  und  Mängel  in  den  Finanzartikeln 
der  Reichsverfassung  beseitigt  und,  im  Sinne  der  Be- 
stimmung im  Artikel  109  der  preußischen  Verfassung,  die  er- 
forderlichen Ergänzungen  hineingebracht,  die  Wirkungen  einer 
Ablehnung  des  Etatgesetzes  durch  Ausscheidung  eines  fest- 
stehenden, der  Bewilligung  nicht  mehr  unterliegenden  Budgets 
im  wesentlichen  aufgehoben  werden. 

Ein  solcher  Schritt,  den  das  Staatsinteresse  und  das  Gebot 
der  nationalen  Selbsterhaltung  fordern,  bringt  eine  Reihe 
weiterer  Vorteile  mit  sich,  die  ihn  unter  allen  Umständen 
rechtfertigen.  Die  Staaten,  in  denen  Budgetkonflikte,  wenn  sie 
noch  vorkommen,  gefahrlos  vorübergehen,  weil  sie  ihre  wirk- 
lichen oder  vermeintlichen  Schrecken  verloren  haben  oder  ihrer 
revolutionierenden,  die  Fundamente  des  Staatslebens  bedrohen- 
den Stoßkraft  entkleidet  sind,  haben  übereinstimmend  gesunde 
Finanzgrundsätze,  eine  äußerst  solide  Haushalts- 
führung und  einen  über  jeden  Zweifel  erhabenen  öffent- 
lichen Kredit  aufzuweisen.  So  seit  zwei  Menschenaltern  die 
preußische  und  die  englische  Monarchie,  wobei  die  erstere,  weil 
sie  mit  den  Ansprüchen  und  Wechselfällen  eines  übergeordneten 
Staatswesens  zu  rechnen  hat,  'die  Aufgabe  unter  schwierigeren 
Verhältnissen  löst.  In  Preußen  werden  sehr  bedeutende  An- 
forderungen der  Eisenbahnverwaltung  und  deren  gesamtes  Extra- 
ordinarium,  in  England  große  Teile  des  Heeres-  und  Flotten- 
bedarfs aus  laufenden  Mitteln  bestritten.  In  beiden  Ländern 
allezeit  der  Grundsatz  ausgesprochen  und  betätigt,  daß  die 
Gegenwart  nicht  auf  Kosten  der  Zukunft  geschont  oder  ent- 
lastet werden  darf,  in  beiden  Ländern  eine  konsequent  durch- 
geführte effektive  Schuldentilgung,  beide  Länder  hinsichtlich 
der  Sicherheit  ihrer  Anlagewerte  von  keinem  anderen  Lande 
erreicht,  in  beiden  Ländern  Steuergesetzgebungen,  die  —  in 
Preußen  u.  a.  durch  das  sog.  Kinderprivileg,  durch  die  Degres- 
sion  der  Einkommensteuer,  durch  die  Verpflichtung  zur  Steuer- 
erklärung (geplant  ferner:  Vermögens-  und  Inventaranzeige!), 
in  England  durch  hohe  Bemessung  des  steuerfreien  Existenz- 
minimums, vor  allem  durch  eine  stark  progressiv  gestaltete 
Erbschafts-  und  Nachlaßsteuer  —  in  hohem  Maße  soziale 
Gesichtspunkte  zur  Geltung  bringen. 


Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis.  481 

Und  schließlich  der  schlagendste  Beweis.  Im  Deutschen 
Reiche  setzt,  nach  einer  sehr  ausgedehnten  Periode  höchst 
unzweckmäßiger  und  unheilvoller,  ja  geradezu  unstatthafter 
Wirtschaftsführung,  die  Besserung  der  Finanzpraxis  in 
dem  Moment  ein,  als  feststehende  Faktoren  in  die 
Reichsfinanzwirtschaft  hineingebracht,  klare  Ver- 
hältnisse geschaffen,  feste  Grenzen  zwischen  ordentlichem  und 
außerordentlichem  Bedarf  gezogen,  wichtige  Entscheidungen 
vertrauensvoll  in  die  Hand  des  Chefs  der  Reichsfinanzverwaltung 
gelegt,  kurz,  die  Parteien  des  Reichstags  durch  die  Macht  der 
Verhältnisse  zu  der  Erkenntnis  gebracht  werden,  daß  die 
Finanzen  eines  Landes,  wenn  sie  gesunden  und  gesund 
bleiben  sollen,  vor  allen  Dingen  der  politischen 
Sphäre  entrückt  und  vor  Schädigung  durch  budgetrecht- 
liche Übergriffe  geschützt  werden  müssen.  Dazu  gehört  an 
erster  Stelle  die  feste  Abgrenzung  der  finanziellen  Be- 
ziehungen zwischen  Reich  und  Einzelstaaten.  In  der 
Thronrede  zur  Eröffnung  des  neugewählten  Reichstages  vom 
7.  Februar  1912  heißt  es:  „Die  Finanzen  haben  festen  Halt 
gewonnen.  Auf  den  Grundlagen  bestimmt  bemessener 
Matrikularbeiträge  ist  es  gelungen,  das  Gleichgewicht  des 
Reichshaushalts  herzustellen  und  mit  Hilfe  der  Überschüsse, 
die  sich  ergeben  haben,  den  außerordentlichen  Etat  zu  ent- 
lasten." Der  hohe  praktische  Wert  und  die  günstige  Wirkung 
der  im  Reiche  für  fünf  Jahre  getroffenen  Vereinbarung  über 
den  Matrikularbeitrag  sind  hier  ausdrücklich  anerkannt.  An 
zweiter  Stelle:  Aufrechterhaltung  der  seit  1910  geltenden  ge- 
sunden und  strengen  Finanzgrundsätze:  keine  Ausgabe 
ohne  gleichzeitige  Deckung!  Bestreitung  aller  Ausgaben  nicht 
werbender  Natur  aus  ordentHchen  Mitteln!  Innehaltung  der 
Schuldentilgungsbestimmungen!  An  dritter  Stelle  endhch: 
Verzicht  auf  budgetrechtliche  Rechthaberei  und  Emp- 
findlichkeit, Verzicht  auf  das  Verlangen  und  die  leider  nur 
zu  oft  begangene  Verfehlung,  parlamentarische  Machtkämpfe 
auf  dem  Boden  der  Finanzhoheit  und  Finanzwirtschaft  aus- 
zuf  echten. 

Keinem  einsichtigen  Parlamentarier  fällt  es  auch  nur  im 
Traume  ein,  die  Grundlagen  des  Militär-  und  Marine- 
wesens umgestalten  zu  wollen.  Darüber  zu  befinden,  über- 
läßt er  den  zuständigen  Fachleuten,  die  die  Arbeit  eines  Lebens 
an  die  Beherrschung  der  schwierigen  Aufgaben  gesetzt  haben, 
die  obendrein  vermöge  ihrer  Persönlichkeit  und  Stellung  volle 

Zeitschrift  für  Politik.   6.  31 


482  Blum,  Budgetrecht  und  Finanzpraxis. 

Gewähr  geben,  daß  sie  die  ihnen  übertragene  Verantwortung 
recht  verstehen  und  gewissenhaft  beachten.  Warum  sollte  es 
bei  den  Finanzen  anders  sein,  die  für  den  Bestand  und  die 
Sicherheit  eines  Staates  ebenso  wichtig  sind  wie  Heer  und 
Flotte!  In  der  Finanzpolitik  und  Finanzwirtschaft  habe  die- 
jenige Instanz  das  letzte  und  entscheidende  Wort,  die  die  öffent- 
lichen Einkünfte  ausschließhch  nach  sachlichen  Gesichtspunkten 
zum  Wohle  des  Ganzen  behandelt  und  verwendet;  wer  sie  als 
Einsatz  benutzen  will,  um  damit  parlamentarische  Macht  zu 
gewinnen,  der  läßt,  zum  Wohle  des  Ganzen,  besser  die  Finger 
davon. 

Budgetrecht  und  Finanzpraxis  gehören  nicht 
auf  den  lauten  Markt  der  Parteiinteressen  und 
nicht  auf  die  Wahlstatt  der  politischen  Macht- 
kämpfe, gehören  dahin  ebensowenig  wie  Heer 
und  Flotte,  was  jedermann  als  berechtigt  anerkennt.  Die 
Gegenwartsaufgaben  der  Finanzpolitik,  von  ähnlicher  Bedeutung 
wie  die  der  Rüstungspolitik,  müssen  wie  diese  von  dem  ein- 
mütigen Willen  und  Opferwillen  der  Nation  erfaßt  und  er- 
füllt werden. 


Zum  Stand  der  politischen  Probleme 

Zusammenfassende  und  vergleichende  Übersichten 


IV. 

Die  schwedische  Verfassung  und  das  Problem  der 
konstitutionellen  Regierung 

Von  Dr.  Otto  Hintze 

Bei  Erörterungen  über  die  Methode  konstitutioneller  Eegierung  hat 
man  bisher  in  der  Hauptsache  immer  nur  auf  der  einen  Seite  England  und 
die  Staaten,  die  sein  parlamentarisches  System  nachgeahmt  haben,  und  auf 
der  andern  Seite  unsere  monarchistische  Regierungsweise  in  Preußen  und 
Deutschland  ins  Auge  gefaßt.  Es  gibt  aber  noch  einen  dritten  sehr  interes- 
santen Typus  konstitutioneller  Eegierungsart,  das  ist  der  schwedische,  mit 
dem  uns  eine  bequem  und  gemeinverständlich  abgefaßte  Schrift  des  Staats- 
rechtslehrers von  Lund,  Pontus  E.  Fahlbeck,  näher  bekannt  macht  ^). 

Pontus  Fahlbeck  ist  in  den  Kreisen  der  deutschen  Staats-  und  Rechts- 
gelehrten kein  Unbekannter.  Sein  Bestreben,  Interesse  und  Verständnis  für 
die  schwedische  Verfassung  bei  uns  und  in  andern  Ländern  zu  erwecken, 
ist  nicht  ohne  Erfolg  geblieben.  Was  seine  Arbeiten  besonders  charakterisiert, 
ist  einmal  die  Neigung  zu  einer  historisch-genetischen  Erklärung  der  be- 
stehenden Zustände  und  daneben  eine  damit  in  engem  Zusammenhang  stehende 
vergleichende  Methode.  Beides  halte  ich  für  einen  großen  Vorzug  vor  der 
bloßen  juristisch-staatsrechtlichen  Behau dlungsweise,  die  bei  uns  mehr  als  in 
irgendeinem  andern  Lande  üblich  ist.  Und  so  sind  denn  seine  Arbeiten 
immer  anregend  und  fruchtbar,  auch  wenn  man  ihren  Resultaten  nicht  ohne 
weiteres  beistimmen  kann. 

Das  vorliegende  Buch  verdankt  seinen  Ursprung  der  Jahrhundertfeier, 
deren  Gegenstend  die  schwedische  Verfassung  im  Jahre  1909  gewesen  ist. 
Es  bietet  neben  einem  Text,  der  die  „Eegierungsform"  von  1809  mit  den 
inzwischen  vorgenommenen  Veränderungen  enthält,  einen  fortlaufenden, 
gemeinverständlich  gefaßten  Kommentar,  der  hauptsächlich  die  historische 
Entstehung  der  einzelnen  Verfassungseinrichtungen,  daneben  auch  ihre 
praktische    Bedeutung    und    tatsächliche    Handhabung    berücksichtigt.     Eine 


^)  Pontus  E.  Fahlbeck,  Die  Eegierungsform  Schwedens.    Berlin  1911. 
Puttkammer  &  Mühlbrecht.     XXXI,  319  S. 

31* 


484  Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung- 
kurze verfassungsgeschichtliche  Einleitung  orientiert  über  die  Entwicklung 
im  allgemeinen.  Vorausgeschickt  ist  ein  29  Seiten  langes  Vorwort  an  den 
deutschen  Leser. 

Das  Buch  war  ursprünglich  für  die  Landsleute  des  Verfassers  bestimmt. 
Wenn  es  hier  nun,  zwei  Jahre  nach  dem  Jubiläum,  in  deutschem  Gewände 
erscheint  (wobei  übrigens,  wie  im  Vorbeigehen  bemerkt  werden  mag,  manches 
in  der  Sprache  den  deutsch  schreibenden  Ausländer  verrät),  so  ist  dafür  ein 
doppelter  Beweggrund  maßgebend  gewesen,  ein  wissenschaftlich-theoretischer 
und  ein  praktisch-politischer.  Der  Verfasser  wünscht  der  deutschen  Literatur 
ein  Buch  zu  geben,  aus  dem  man  sich  zutreffender  über  die  schwedische 
Verfassung  und  ihre  Geschichte  unterrichten  kann,  als  es  bisher  auf  Grund 
des  deutschen  Buches  von  Nordenflycht  möglich  war  (die  schwedische  Ver- 
fassungsgeschichte  von  E.  Hildebrand  ist  ja  bisher  nicht  ins  Deutsche  über- 
setzt) ;  er  wünscht  die  schiefen  Auffassungen  und  Beurteilungen  zu  korrigieren, 
die  er  bei  deutschen  Autoren  bezüglich  des  allgemeinen  Charakters  der 
schwedischen  Verfassung  gefunden  hat;  und  er  glaubt  andererseits  in  eben 
dieser  Verfassung  denjenigen  Staaten  des  Kontinents,  die  bisher  das  monar- 
chische Prinzip  mit  einer  konstitutionellen  Verfassung  vereinigt  haben  und 
auch  in  Zukunft  den  Übergang  zu  einer  parlamentarischen  Eegierungsweise 
nach  englischem  Vorbild  vermeiden  möchten,  ein  Muster  aufstellen  zu 
können,  wie  bei  den  wachsenden  Machtansprüchen  der  Volksvertretung  der 
monarchische  und  der  repräsentative  Faktor  des  Staatslebens  in  ein  gesundes 
und  haltbares  Gleichgewicht  gesetzt  werden  können.  Beide  Gesichtspunkte 
sind  interessant  genug,  um  eine  kurze  Erörterung  zu  rechtfertigen. 

Die  schwedische  Regierungsform  von  1809  ist  bei  uns  öfter  als  eine 
altständisch-aristokratische  Verfassung  bezeichnet  worden;  das  ist  der  Haupt- 
punkt, in  dem  der  Verfasser  die  bei  uns  herrschende  Meinung  korrigieren 
möchte;  er  spricht  der  schwedischen  Verfassung  des  19.  Jahrhunderts  viel- 
mehr einen  modern-konstitutionellen  und  demokratischen  Charakter  zu.  Faßt 
man  den  heutigen  Zustand  ins  Auge,  so  kann  kein  Zweifel  daran  bestehen, 
daß  er  Recht  hat.  Heute  hat  Schweden  das  allgemeine,  gleiche,  direkte 
Wahlrecht,  sogar  nach  dem  System  der  Proportionalwahl,  und  nichts  erinnert 
in  dem  heutigen  Zweikammer -Reichstag  an  altständische  Einrichtungen. 
Aber  dieser  Zustand  ist  das  Ergebnis  einer  säkularen  Wandlung.  Bis  1866 
bestand  der  Reichstag  noch  aus  den  alten  vier  Ständen  (Adel,  Geistlichkeit, 
Bürger,  Bauern),  unter  denen  der  Bauernstand  nicht  ganz  gleichberechtigt 
imd  ebenbürtig  dastand;  und  als  mit  dem  Jahre  1866  das  moderne  Zwei- 
kammersystem an  die  Stelle  dieser  veralteten  Form  der  Zusammensetzung 
trat,  da  wurde  das  aktive  wie  das  passive  Wahlrecht  an  einen  ziemlich 
hohen  Zensus  geknüpft,  der  eigentlich  nicht  demokratisch  anmutet  und  — 
abgesehen  von  einigen  Milderungen  —  erst  in  allerjüngster  Zeit  verschwunden 
ist.  Die  Demokratisierung  des  Staatslebens  und  der  Verfassung  hat  sich  also 
in  Schweden,  wie  in  den  meisten  europäischen  Staaten  überhaupt,  erst  im 
Laufe  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  langsam  vollzogen;  immerhin  aber  stellt 
die  verhältnismäßig  starke  Vertretung  nicht  nur  des  Bürger-,  sondern  auch 
des  Bauernstandes  schon  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  ein  bemerkenswertes 
volkstümliches  Element  in  dem  sonst  überwiegend  aristokratischen  Gefüge 
der  Volksvertretung  dar.  Eine  Volksvertretung  im  modernen  Sinne  ist  aber 
der  Reichstag  von  1809  zweifellos;  und  darum  handelt  es  sich  auch,  trotz 
der  ständischen  Gliederung,  nicht  mehr  um  ein  altständisches,  sondern  um 
ein  modern-konstitutionelles  Verfassungssystem:   darin   hat  Fahlbeck,   in    der 


Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung.      485 

Hauptsache  wenigstens,  Recht.  Die  wundervolle  historische  Kontinuität  in 
der  Verfassungsentwicklung,  die  in  Schweden  noch  greifVjarer  als  in  England 
hervortritt,  bewährt  sich  auch  darin,  daß  ein  ganz  allmählicher  Übergang 
von  der  altständischen  zu  der  modern-konstitutionellen  Verfassungsform  statt- 
findet. Man  könnte  vielleicht  sagen,  daß  der  schwedische  Reichstag  von 
1809  bis  1866  eine  modern-konstitutionelle  Volksvertretung  in  altständischen 
Formen  gewesen  sei.  Ähnlich  hat  man  sich  ja  auch  in  Deutschland  in  der 
ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  vielfach  den  Übergang  zum  Repräsentativ- 
system gedacht,  nicht  bloß  üentz  und  Metternich  und  später  Friedrich  Wil- 
helm IV.,  sondern  auch  Stein  und  Hardenberg,  ja  zeitweis  auch  Dahlmann. 
Die  ständische  Zusammensetzung  ist  nicht  das  Entscheidende  für  den  Charakter 
der  repräsentativen  Versammlung,  sondern  die  Tatsache,  daß  diese  Versamm- 
lung wirklich  verfassungsmäßig  das  schwedische  Volk  und  nicht  bloß  die 
einzelnen  Stände  vertritt,  daß  ihre  Mitglieder  an  kein  imperatives  Mandat 
gebunden  sind,  daß  sie  in  ihrer  Gesamtheit  ein  einheitliches,  verfassungs- 
mäßig berechtigtes  Staatsorgan  darstellen  ebenso  wie  auch  der  König. 

Die  Stände  haben,  als  Vertreter  des  für  einen  Moment  souverän  ge- 
wordenen schwedischen  Volkes,  die  Verfassung  von  1809  entworfen,  der 
König  hat  sie  einfach  angenommen  und  als  Grundgesetz  des  Reiches  ver- 
kündigt. Aber  weitere  Folgerungen  sind  aus  der  Volkssouveränetät  von  1809 
nicht  gezogen  worden;  im  Gegenteil:  die  Regierungsform  beruht  auf  dem 
durchgeführten  Grundsatz  eines  vollkommenen  Gleichgewichts  zwischen  der 
königlichen  Gewalt  und  der  des  Reichstags  als  des  Vertreters  des  schwedischen 
Volkes.  Dieser  „Dualismus"  ist  ein  bezeichnendes  Merkmal  der  schwedischen 
Verfassung  bis  in  die  Gegenwart;  und  es  ist  von  großem  Interesse,  die  Spuren 
dieses  staatsrechtlichen  Verhältnisses  in  die  Vergangenheit  zurück  zu  verfolgen. 
Der  Verfasser  hat  in  einem  lichtvollen  Vortrage,  den  er  vor  Jahren  einmal 
in  einem  Ki-eise  deutscher  Gelehrten  gehalten  hat,  den  Gedanken  ausge- 
sprochen und  durchgeführt,  daß  dieser  Dualismus  zwischen  König  und  Volk 
eigentlich  die  fundamentale  Tatsache  der  schwedischen  Verfassung  durch 
mehr  als  6  Jahrhunderte  hindurch  gewesen  sei,  daß  die  Regierungsform  von 
1809  diesen  uralten  nationalen  Rechtsgedanken  nur  in  eine  zeitgemäße  Form 
gebracht  habe.  Es  scheint,  daß  er  jetzt  diese  Vorstellung,  die  mir  gut 
begründet  zu  sein  scheint,  vdeder  beiseite  zu  schieben  sucht,  weil  sie  zu 
einem  Mißverständnis  bei  deutschen  Gelehrten  Veranlassung  gegeben  hat, 
dessen  Aufklärung  eine  etwas  nähere  Erörterung  verdient.  Jeder,  der  sich 
mit  deutscher  Verfassungsgeschichte  beschäftigt  hat,  weiß,  welches  Gewicht 
gerade  neuerdings  auf  die  Erscheinung  gelegt  worden  ist,  die  man  als 
„Dualismus"  zwischen  Fürst  und  Land  in  der  Verfassung  der  deutschen 
Territorialstaaten  zu  bezeichnen  pflegt.  Es  lag  nahe,  den  „Dualismus"  der 
schwedischen  Verfassung,  der  durch  die  Jahrhunderte  geht,  mit  diesem 
„Dualismus"  des  deutschen  Territorialstaats  gleichzusetzen,  und  so  kam  man 
■wohl  zu  der  Auffassung,  daß  die  schwedische  Verfassung  auf  einem  halb 
mittelalterlichen,  auf  dem  Kontinent  längst  überwundenen  Standpunkt  stehen 
geblieben  sei.  Man  sah  wohl  in  dem  offenbaren  Dualismus  der  Regierungs- 
form von  1809  ein  Überbleibsel  des  altständischen  Systems,  wie  man  es  aus 
der  Geschichte  der  deutschen  Territorialstaaten  kannte.  Indessen  hier  zeigt 
sich,  wie  irreführend  die  Anwendung  solcher  vieldeutiger  Schlagwörter  wie 
„Dualismus"  sein  kann.  Jede  ständische  Verfassung  ist  ja  in  gewissem  Sinne 
dualistisch,  insofern  als  es  sich  überall  um  die  beiden  Faktoren  „Fürst"  und 
„Stände"  handelt.     Aber  das  Verhältnis  dieser  Faktoren  und  die  Bedeutung 


486      Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Eegierung. 

des  einen  wie  des  andern  kann  eine  sehr  verschiedenartige  sein,  und  über- 
haupt faßt  der  Begriff  der  „ständischen  Verfassung"  sehr  verschiedenartige 
Erscheinungen  des  Verfassungslebens  unter  sich.  Wir  haben  uns  vielleicht 
zu  sehr  daran  gewöhnt,  die  aus  der  deutschen  Territorialgeschichte  abstra- 
hierte Vorstellung  einer  ständischen  Verfassung  als  die  Norm  anzusehen,  der 
auch  die  ständischen  Verfassungen  anderer  Länder  und  Reiche  im  großen 
und  ganzen  entsprechen  müßten.  Aber,  staatsrechtlich  betrachtet,  besteht 
ein  fundamentaler  Unterschied  zwischen  der  ständischen  Verfassung  der 
deutschen  Territorialstaaten,  etwa  des  15. — 17.  Jahrhunderts,  und  der  anderer 
Eeiche,  wie  Schweden  oder  Frankreich  oder  England.  Dieser  Unterschied 
besteht  darin,  daß  die  deutschen  Territorien  eigentlich  gar  keine  selbständigen 
Staaten  sind,  sondern  nur  abhängige  Bestandteile  des  Deutschen  Reiches, 
daß  gerade  in  der  Zeit  ihrer  ausgeprägten  Eigenart  der  Staatsgedanke  in 
ihnen  noch  gar  nicht  lebendig  ist,  daß  er  vielmehr  durch  den  Gedanken 
einer  patrimonialen  Herrschaft  über  Land  und  Leute  ersetzt  wird. 

Eine  patrimoniale  Entartung  ist  nun  ja  auch  bei  andern  Staaten  zeitweis 
wahrzunehmen;  aber  nirgendwo  hat  sie  einen  solchen  Grad  erreicht  wie  in  den 
deutschen  Territorialstaaten,  eben  deshalb,  weil  hier  der  Gedanke  einer  höchsten 
öffentlichen  Gewalt,  einer  eigentlichen  Staatsgewalt,  fehlte.  Darin  wurzelt  ja  auch 
gerade  das,  was  man  den  Dualismus  in  der  ständischen  Verfassung  der  Territorien 
genannt  hat.  Hier  stehen  sich  eben  Fürst  und  Landstände  als  zwei  Gewalten 
gegenüber,  die  sich  noch  nicht  als  Organe  einer  einheitlichen  über  ihnen 
stehenden  Staatsgewalt  fühlen.  Der  Staat  selbst  ist  hier  noch  etwas  Un- 
fertiges; er  besteht  gleichsam  aus  zwei  Hälften,  die  sich  noch  nicht  zu  einem 
Ganzen  harmonisch  zusammengefügt  haben.  In  den  größeren,  zusammen- 
gesetzten Territorialstaaten  wurde  dieser  Gegensatz  zwischen  Fürst  und 
Land  noch  schi-offer  dadurch,  daß  der  kollektiven  Landeshoheit  des  Fürsten 
eine  partikularistische  Absonderung  der  einzelnen  territorialen  Bestandteile 
des  fürstlichen  Herrschaftsgebiets  gegenübertrat.  Unter  solchen  Umständen 
hat  sich  dann  besonders  leicht  der  Absolutismus  ausgebildet,  bei  dem  die 
neue  Staatsidee  lediglich  in  der  Person  des  Fürsten  lebendig  war  und  die 
Überwindung  des  ständischen  Dualismus  eine  Notwendigkeit  wurde.  Damit 
kam  dann  in  der  Regel  die  patrimoniale  Staatsauffassung  zunächst  auf  ihren 
Höhepunkt,  um  erst  später,  im  Zeitalter  des  sogenannten  aufgeklärten  Ab- 
solutismus, sich  im  Sinne  einer  höchsten  öffentlichen  Gewalt  innerlich  um- 
zuwandeln. 

Dieser  ständische  Dualismus  der  deutschen  Territorien,  bei  denen  es  sich 
um  eine  Zerspaltung  des  Staatsganzen  selbst  handelt,  oder  vielmehr  um  eine 
unvollkommene  Vereinigung  von  zwei  Hälften  eines  werdenden  Staatsganzen, 
ist  nun  etwas  wesentlich  anderes  als  was  wir  in  anderen,  größeren  und  selb- 
ständigeren Staatsbildungen  mit  demselben  Namen  bezeichnen.  Schon  im 
Deutschen  Reiche,  das  ja  auch  eine  ständische  Verfassung  hatte,  trägt  der 
offenbar  ebenfalls  vorhandene  Dualismus  einen  andern  Charakter.  Das  wird 
besonders  klar,  wenn  man  das  Verhältnis  zwischen  Kaiser  und  Reich  ins 
Auge  faßt,  wie  es  namentlich  seit  dem  Westfälischen  Frieden  deutlich  hervor- 
tritt. Die  Idee  einer  höchsten  öffentlichen  Gewalt,  die  Staatsidee  also,  fehlt 
hier  keineswegs;  nur  sind  ihre  Träger,  der  Kaiser  wie  die  Reichsstände,  durch 
die  Verflechtung  ihrer  Stellung  mit  territorialen  Interessen  dem  Wesen  der 
Reichsstaatsidee  mehi-  oder  weniger  entfremdet.  Deutlicher  noch  tritt  der 
Unterschied  der  deutschen  Territorien  gegenüber  einem  Reiche  wie  Schweden 
hervor.    Hier  ist  nicht  der  Staat  selbst  gespalten,  sondern  es  handelt  sich  nur 


Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung.      487 

um  einen  Dualismus  seiner  Organe.  Über  dem  König  und  den  Reichsständen 
schwebt  durch  die  Jahrhunderte  hindurch  der  Begriff  der  öffentlichen  Gewalt, 
des  Staates,  der  in  der  „Krone"  symbolisiert  wird.  Ganz  ähnlich  steht  es  mit 
Polen  und  Ungarn,  wo  auch  die  „Krone"  als  Symbol  des  Staatsbegriffs  er- 
scheint und  die  Person  des  Königs  von  dem  Begriff  der  „Krone"  prinzipiell 
getrennt  wird.  Der  ständische  Dualismus  ist  vielleicht  nirgends  schärfer  in 
die  Erscheinung  getreten,  als  in  Polen,  in  der  Unterscheidung  zwischen  dem 
König  und  der  „Republik"  Polen;  aber  beide  sind  dem  Begriff  der  „Krone  Polen" 
untergeordnet;  von  einer  patrimonialen  Entartung  des  Staatsbegriffs  ist  hier 
nichts  zu  spüren,  mag  es  sonst  Entartung  aller  Art,  politische  und  soziale, 
im  Übermaße  gegeben  haben.  Ein  prinzipieller  Unterschied  gegenüber  dem 
Dualismus  der  deutschen  Territorialstaaten  ist  nicht  zu  verkennen. 

Daß  diese  östlichen  Grenzstaaten  der  abendländischen  Christenheit  ein 
80  übereinstimmendes  Gepräge  in  den  Grundzügen  ihrer  Verfassung  auf- 
weisen, daß  sie  der  patrimonialen  Entartung  der  Staatsgewalt  weniger  ver- 
fallen sind,  als  die  höher  kultivierten,  in  den  großen  Weltbewegungen  stärker 
angespannten  Staaten  von  Mittel-  und  Westeuropa,  das  hängt,  wie  mir  scheint, 
zu  einem  nicht  geringen  Teil  damit  zusammen,  daß  hier  im  Osten  fast  ganz 
zwei  große  Faktoren  der  Staats-  und  Verfassungsbildung  fehlen,  die  im 
Westen  wirksam  gewesen  sind:  das  Lehnwesen  und  die  monarchistische 
Doktrin  der  Legisten.  Das  sieht  man  besonders  deutlich,  wenn  man  einen 
Staat  wie  Frankreich  ins  Auge  faßt,  das  vielleicht  am  stärksten  von  diesen 
Mächten  durchdrungen  und  umgestaltet  worden  ist.  Auch  Frankreich  hat 
eine  ständische  Verfassung  gehabt,  die  nicht  bloß  im  Mittelalter,  sondern 
noch  im  16.  Jahrhundert  zeitweise  von  großer  Lebendigkeit  war.  Aber  von 
einem  Dualismus  in  der  Verfassung  wird  man  hier  nicht  gut  sprechen  können, 
weder  in  dem  Sinne,  den  das  Wort  für  die  deutschen  Territorien  besitzt, 
noch  in  dem,  der  ihm  für  Staaten  wie  Schweden,  Polen,  Ungarn,  oder  auch 
das  Deutsche  Reich  zukommt.  Die  fi-üh  zur  Erblichkeit  gelangte  königliche 
Gewalt  war  hier  im  allgemeinen  doch  immer  zu  stark,  als  daß  ihr  der 
ständische  Faktor  gleichberechtigt  gegenübergestanden  hätte.  Die  General- 
stände waren  ja  in  Frankreich  vielmehr  im  Grunde  ein  Instrument  der 
monarchischen  Gewalt.  Diese  monarchische  Gewalt  aber  beruhte  auf  der 
Verbindung  einer  oberlehnsherrlichen  Stellung  mit  den  Traditionen  der  alten 
öffentlichen  Gewalt  des  karolingischen  Königtums.  Und  während  das  Lehn- 
wesen in  Deutschland  unter  der  Einwirkung  des  Kampfes  mit  der  Kurie  zur 
Auflösung  des  Reiches  in  halb  selbständige  Territorialfürstentümer  führte, 
wurde  in  Frankreich,  wo  das  Königtum  meist  einen  Rückhalt  an  der  geist- 
lichen Gewalt  fand,  durch  die  rücksichtslose  Anwendung  des  Heimfallsrechts, 
im  rechten  Gegensatz  zu  dem  im  Deutschen  Reiche  herrschenden  Leihezwang, 
im  Laufe  des  Mittelalters  die  Hausmacht  der  Kapetinger  allmählich  über 
das  ganze  Königreich  ausgedehnt  und  die  Oberlehnsherrlichkeit  so  in  eine 
direkte  Herrschaft  verwandelt,  die  zwar  einen  starken  patrimonialen  Zug 
trug,  aber  durch  die  Verbindung  mit  der  alten  öffentlichen  Gewalt  doch 
davor  behütet  wurde,  den  staatlichen  Charakter  jemals  ganz  zu  verlieren. 
In  der  Lehnsverfassung  aber  lag  im  Grunde  ein  Moment,  das  dem  Dualismus 
entgegenwirkte.  Ob  das  Königtum  von  Anfang  an  in  einem  gegensätzlichen 
Verhältnis  zu  der  Volksgesamtheit  gestanden  habe,  insonderheit  bei  den 
Germanen,  ist  eine  bestrittene  Frage.  P.  Fahlbeck  hat  sie  in  einer  seiner 
früheren  Schriften  bejahen  zu  sollen  geglaubt;  Brunner  verneint  sie,  wie 
mir   scheint,   mit   guten   Gründen.      Aber   das   steht  fest,    daß,    sobald   eine 


488      Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d,  Problem  der  konstitut.  Eegierung. 

kompakte  Aristokratie  sich  gebildet  hat,  wie  im  fränkischen  Eeiche  schon 
im  7.  Jahrhundert,  ein  Gegensatz  zwischen  dem  König  und  den  Großen  des 
Reiches,  die  sich  mit  mehr  oder  minder  Berechtigung  als  die  Vertreter  des 
Volks  betrachten  oder  ausgeben,  vorhanden  ist.  Das  ist  eine  ganz  natür- 
liche Entwicklung,  die  sich  überall  wiederholt.  Es  liegt  in  der  Natur  mensch- 
licher Gemeinschaften,  daß  herrschaftliches  und  genossenschaftliches  Organi- 
sationsprinzip als  zwei  Gegenpole  sich  gegenüberstehen.  Aller  fürstlich- 
ständischer  Dualismus  wurzelt  in  dieser  elementaren  Tatsache.  Indem  nun 
im  fränkischen  Reiche  die  großen  Grundbesitzer  und  Senioren,  die  über 
waffenfähige  Leute  geboten,  durch  das  Lehnsverhältnis  an  den  König  mit 
den  Banden  persönlicher  Treue  gefesselt  wurden,  wurde  der  natürliche 
Gegensatz  zwischen  dem  König  und  dem  von  der  Aristokratie  beherrschten 
und  geführten  Volk,  wie  er  sich  in  den  östlichen  Reichen  erhielt,  hier  sehr 
bedeutend  abgeschwächt.  Die  Gefahr  für  die  Monarchie  in  den  Lehnreichen 
bestand  nicht  in  der  Zusammenballung  einer  kompakten  aristokratischen 
Opposition,  in  dem  Dualismus  von  König  und  Volk  (d.  h.  einem  von  der 
Aristokratie  geleiteten  Volk),  sondern  vielmehr  in  der  Absonderung  einzelner 
großer  Vasallen  zu  selbständigen  Herrschergewalten.  Wo  diese  Gefahr  wirk- 
sam bekämpft  wurde  wie  in  Frankreich,  da  diente  das  Lehnwesen  der 
Monarchie  zur  Stärkung,  indem  es  die  mächtigen  Elemente  des  Landes  mit 
dem  Herrscher  verband  statt  sie  sich  zu  einer  geschlossenen  Opposition  zu- 
sammenballen zu  lassen.  Nur  wo,  wie  in  Deutschland,  die  territoriale  Ent- 
artung durchdrang,  bedeutet  das  Lehnwesen  die  unheilbare  Ohnmacht  der 
Staatsgewalt.  Eigentümlich  ist  die  Entwicklung  in  England  gewesen.  Hier 
hat  das  Lehnwesen  zunächst  zu  einer  Art  von  feudalem  Absolutismus  der 
Könige  geführt,  dem  dann  1215  eine  Opposition  im  Sinne  der  vorfeudalen 
angelsächsischen  Institutionen  entgegentrat.  Damit  ist  auch  hier  der  Keim 
zu  einem  ständischen  Dualismus  eigener  Art  gelegt  worden,  der  England 
eine  Mittelstellung  zwischen  Frankreich  und  den  Reichen  des  Ostens  anweist. 

Neben  dem  Lehnwesen  spielt  die  Einwirkung  der  römisch-rechthchen, 
kaiserlich -byzantinischen  Staatsanschauungen,  wie  sie  durch  die  Legisten 
vermittelt  wurde,  eine  bedeutende  Rolle  in  der  Entwicklung  der  west-  und 
mitteleuropäischen  Verfassungen.  Sie  haben  das  herrschaftliche  Prinzip  ge- 
stärkt auf  Kosten  des  genossenschaftlichen.  Auch  hier  ist  das  Maximum 
dieser  Einwirkungen  bei  Frankreich  festzustellen.  In  Deutschland  sind  sie 
nicht  dem  Reich,  sondern  den  territorialen  Fürstengewalten  zugute  gekommen. 
In  England  sind  sie  minder  bedeutend  gewesen,  in  den  östlichen  Reichen 
fehlen  sie  ganz.  In  diesen  östlichen  Reichen,  auch  in  Schweden,  hat  sich 
also  der  Dualismus  in  der  ursprünglichen  Form  erhalten,  die  sich  heraus- 
bildet, sobald  eine  mächtige  Aristokratie  dem  Königtum  entgegentritt.  Es 
ist  ein  Dualismus  innerhalb  des  Rahmens  des  Staatsverbands,  der  sich  mit 
der  Zeit  zu  einem  Dualismus  der  Organe  des  Staats  entwickelt.  Dieser  Art 
ist  der  Dualismus  der  schwedischen  Verfassung  von  1809,  im  Unterschied 
von  dem  Dualismus  der  deutschen  Territorialstaaten  des  15. — 17.  Jahrhunderts. 

Es  ist  also  derselbe  Dualismus,  den  man  auch  in  den  konstitutionellen 
Verfassungen  des  19.  Jahrhunderts  hat  finden  wollen:  die  Zweiheit  der  un- 
mittelbaren Staatsorgane.  Prof.  Fahlbeck  legt  besonderes  Gewicht  auf  diesen 
Satz,  daß  der  Dualismus  ein  charakteristisches  Kennzeichen  der  modernen 
konstitutionellen  Verfassung  sei,  offenbar  geleitet  von  dem  Wunsche,  die 
schwedische  Verfassung,  die  in  einem  so  eminenten  Sinne  dualistisch  ist,  vor 
dem  Mißverständnis    zu   bewahren,    als   ob   sie   eben  deswegen  einen  mittel- 


Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung.      489 

alterlich  -  ständischen  Charakter  tragen  müsse.  Man  wird  die  Richtigkeit 
dieses  Satzes  auch  zugeben  können,  vorausgesetzt,  daß  damit  eben  nur  die 
formale  staatsrechtliche  Tatsache  ausgedrückt  werden  soll,  daß  in  der  kon- 
stitutionellen Verfassung  zwei  selbständige,  unmittelbare  Staatsorgane  neben- 
einander vorhanden  sind,  ohne  daß  das  eine  von  dem  andern  abgeleitet 
oder  beherrscht  würde.  Was  nun  aber  gerade  der  schwedischen  Verfassung 
in  80  eminentem  Sinne  das  Gepräge  des  Dualismus  gibt,  ist  doch  noch  etwas 
anderes;  es  ist  das  politische  Gleichgewicht  der  Macht  zwischen  den 
beiden  Faktoren  König  und  Volksvertretung,  das  man  hier  verfassungsmäßig 
festzulegen  versucht  hat.  Eben  dadm-ch  unterscheidet  sich  ja  die  schwedische 
Verfassung  von  allen  andern  konstitutionellen  Verfassungen  der  Welt.  Sie 
stellt  geradezu  sßnen  dritten  Typus  konstitutioneller  Regierungssysteme  dar 
neben  dem  parlamentarischen  nach  englischem  Muster  und  dem  monarchisch- 
konstitutionellen, dessen  reinster  Vertreter  Preußen  ist.  Bei  dem  englischen 
System  besitzt  von  den  beiden  Staatsorganen  das  parlamentarische  das  Über- 
gewicht und  zwar  in  der  Gestalt  der  Majorität  des  Unterhauses;  bei  dem 
preußischen  System  hat  der  monarchische  Faktor  praktisch  durchaus  die 
Führung. 

Der  staatsrechtlich-formale  Dualismus  des  konstitutionellen  Staates  ver- 
wandelt sich  also  hier  und  in  allen  ähnlichen  Fällen  praktisch-politisch  in 
ein  monistisches  System:  Vorherrschaft  des  Parlaments  auf  der  einen,  der 
monarchischen  Regierung  auf  der  andern  Seite.  In  Schweden  aber  will  die 
Regierungsform  von  1809  den  formal-staatsrechtlichen  Dualismus  der  kon- 
stitutionellen Staatsform  auch  zugleich  zu  einem  praktisch -politischen  Re- 
gierungssystem mit  genau  ausbalanciertem  Gleichgewicht  der  beiden  Staats- 
organe gestalten;  und  eben  dieses  dualistische  Regierungssystem  ist  es,  das 
Prof.  Fahlbeck  uns  zur  Nachahmung  empfiehlt.  Er  meint,  daß  das  Verfas- 
sungsleben in  Preußen,  namentlich  nach  Durchführung  der  unumgänglichen 
Wahlrechtsreform,  infolge  der  dann  zu  erwartenden  wachsenden  Machtan- 
sprüche der  Volksvertretung  vor  der  Gefahr  eines  Konflikts  stehe.  Eine 
parlamentarische  Regierungsweise  hält  auch  er  nicht  für  geeignet,  einmal 
wegen  der  historischen  Machtstellung  des  preußischen  Königtums,  anderer- 
seits wegen  der  ungesunden  Parteiverhältnisse.  Eben  darum  empfiehlt  er 
das  schwedische  System,  das  eine  parlamentarische  Parteiregierung  ausschließe 
und  der  Krone  eine  würdige  und  machtvolle  Stellung  gebe,  ohne  die  Rechte 
der  Volksvertretung  so  stark,  wie  es  beim  monarchischen  Regieruugssystem 
geschieht,  zurückzudrängen.  Sehen  wir  das  schwedische  System  etwas  näher 
darauf  an. 

Es  unterscheidet  sich  von  dem  uns  geläufigen  vor  allem  durch  die  un- 
abhängige, selbständige  Stellung  des  Reichstags.  Die  ordentlichen  Reichstage, 
die  jetzt  Jahr  für  Jahr  gehalten  werden,  treten  nicht  auf  königliche  Berufung, 
sondern  von  selbst,  auf  Grund  der  Verfassung,  an  einem  bestimmten 
Termin  zusammen  und  können  ohne  ihre  eigene  Einwilligung  zum  zweiten 
Mal  nicht  vor  dem  Ablauf  von  vier  Monaten  aufgelöst  werden.  Nur 
außerordentliche  Reichstage  werden  vom  König  berufen.  Es  ist  also  auf  das 
deutlichste  zum  Ausdruck  gebracht,  daß  die  Volksvertretung  als  völlig  gleich- 
berechtigtes Organ  des  Staates  neben  dem  König  steht,  eine  Stellung,  die 
anderswo  durch  das  königliche  Recht  der  Berufung  und  der  Auflösung,  in 
Preußen  auch  durch  den  Eid  der  Treue  und  des  Gehorsams,  den  die  Ab- 
geordneten zu  leisten  haben,  etwas  verdunkelt  wird.  In  einem  seltsamen 
Kontrast   damit   steht   freilich   in  Schweden  die  Tatsache,    daß  die  Sprecher 


490      Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung. 

der  beiden  Kammern  Cwie  früher  die  der  einzelnen  Stände)  vom  König 
ernannt  werden;  indessen  diese  aus  der  Vergangenheit  herübergenommene 
Einrichtung  beeinträchtigt  praktisch  die  Selbständigkeit  und  Unabhängigkeit 
des  Reichstags  nicht  im  mindesten. 

Für  den  wesentlichen  Punkt  hält  Professor  Fahlbeck  aber  die  eigen- 
tümliche Teilung  der  Gewalt  zwischen  Krone  und  Reichstag,  die  in  der 
Regierungsform  von  1809  vorgenommen  worden  ist.  Man  kann  sie  kurz  so 
charakterisieren,  daß  die  Regierungsgewalt  dem  König  zugewiesen  ist,  die 
Gesetzgebung  aber  im  allgemeinen  durch  die  Übereinstimmung  der  beiden 
Faktoren  erfolgt,  wobei  freilich  der  Kreis  dei;  königlichen  Verordnungs- 
gewalt sehr  weit  gezogen  ist  (sie  umfaßt  so  ziemlich  die  ganze  innere  Ver- 
waltung, die  sog.  „ökonomische  Gesetzgebung",  ein  Begriff,  der  theoretisch 
nicht  scharf  zu  definieren  ist,  aber  praktisch  ziemlich  genau  feststeht)  und  daß 
andererseits  gewisse  Gegenstände,  wie  namentlich  gewisse  Besteuerungs-  und 
Finanzangelegenheiten,  der  ausschließlichen  Regelung  der  Volksvertretung 
überlassen  sind.  Von  dem  Verhältnis  der  beiden  Staatsorgane  zur  Recht- 
sprechung, das  manches  Eigentümliche  bietet,  kann  hier  abgesehen  werden; 
charakteristisch  ist  vor  allem  die  doppelte  Justizaufsicht  durch  den  Justiz- 
minister des  Königs  und  den  Justizanwalt  des  Reichstags;  im  übrigen  ist 
auch  hier  die  Rechtspflege  in  unabhängiger  und  selbständiger  Form  organisiert. 
Man  sieht  nun:  die  Art  der  Verteilung  der  staatlichen  Funktionen  zwischen 
Krone  und  Volksvertretung  ist  im  Grunde  nicht  sehr  stark  verschieden  von 
der,  die  in  anderen  konstitutionellen  Staaten  und  auch  bei  uns  in  Preußen 
und  Deutschland  überhaupt  üblich  ist.  Der  Vergleich  mit  der  amerikanischen 
Union,  den  Professor  Fahlbeck  wagt,  scheint  mir  doch  nicht  ganz  berechtigt; 
nicht  etwa,  weil  es  sich  in  dem  eiiien  Falle  um  einen  republikanischen  Bundes- 
staat, in  dem  andern  um  einen  monarchischen  Einheitsstaat  handelt,  sondern 
weil  das  Prinzip  der  Teilung  der  Gewalten  ein  verschiedenes  ist.  Eine  eigent- 
liche „Teilung  der  Gewalten",  d.  h.  eine  prinzipielle  Trennung  von  Regierung 
und  Gesetzgebung  in  den  Organen,  wie  sie  der  amerikanischen  Verfassung 
zugrunde  liegt,  findet  in  Schweden  ebensowenig  statt  wie  in  England  oder 
in  Preußen.  Das  Wesentliche  ist,  daß  an  der  Gesetzgebung  Krone  und 
Reichstag  in  der  Regel  beide  ihren  Anteil  haben,  wenn  auch  daneben  für 
jeden  von  beiden  Faktoren  auf  diesem  Gebiet  ein  gesonderter  Kreis  von 
Angelegenheiten  vorhanden  ist,  in  denen  er  allein  zu  entscheiden  hat.  Durch 
das  amerikanische  Prinzip  der  Teilung  der  Gewalten  ist  allerdings  eine 
parlamentarische  Regierungsweise  ausgeschlossen;  ob  dies  aber  bei  dem 
schwedischen  System  in  gleicher  Weise  der  Fall  ist,  scheint  mir  doch  sehr 
zweifelhaft. 

Allerdings  wird  in  der  Verfassung  mit  Nachdruck  ausgesprochen,  daß 
nur  der  König  regieren  soll.  Diese  königliche  Regierung  soll  aber  nicht  von 
persönlicher  Willkür  abhängen,  sondern  sie  muß  sich  in  verfassungsmäßigen 
Formen  bewegen,  die  genau  vorgeschrieben  sind.  Keine  königliche  Regie- 
rungshandlung darf  vorgenommen  werden,  ohne  daß  zuvor  der  Staatsrat 
gehört  worden  ist.  Der  Staatsrat  ist  seit  1840  in  der  Hauptsache  in  ein 
Staatsministerium  umgewandelt  worden,  vde  es  auch  in  andern  konstitu- 
tionellen Staaten  besteht;  die  frühere  Eigentümlichkeit  des  schwedischen 
Systems,  wonach  die  Vorträge  im  Staatsrat  von  sachverständigen  Staats- 
sekretären gehalten  wurden,  die  eigentlich  nicht  ihm,  sondern  der  Kanzlei 
angehörten,  während  die  Staatsratsmitglieder  allein  die  zur  Beratung  des 
Königs  dienenden  Voten  abzugeben  hatten,  ist  seitdem  beseitigt;  die  Minister, 


Hintze,  Die  schwed.  Verfassun«?  u.  d.  Problum  der  konstitut.  Regierung.      491 

die  Mitglieder  des  Staatsrats  und  z.  T.  auch  Ressortcbefs  sind,  halten  selbst 
den  Vortrag.  Sie  sind  aber  doch  von  Ministern,  wie  wir  sie  kennen,  sehr 
verschieden.  Während  in  Preußen  der  Schwerpunkt  der  ministeriellen  Tätigkeit 
in  den  Fachressorts  liegt,  in  denen  die  Minister  geradezu  an  der  Spitze  der 
eigentlichen  Verwaltung  stehen,  sind  die  schwedischen  Minister  in  erster 
Linie  „Staatsminister"'  und  fassen  alle  Beschlüsse  koUegialisch;  sie  haben  als 
Ressortminister  nicht  die  Selbständigkeit  und  den  engen  Zusammenhang  mit 
den  nachgeordneten  Verwaltungsstellen,  also  auch  nicht  den  ausschlaggeben- 
den administrativen  Einfluß  wie  die  preußischen  Minister.  Andrerseits  ist 
die  kollegialische  Einheit  und  Geschlossenheit  des  Staatsrats  viel  größer,  als 
die  des  preußischen  Staatsministeriums.  Er  gleicht  in  dieser  Hinsicht  mehr 
dem  englischen  Kabinet.  Was  ihn  von  diesem  unterscheidet,  ist  namentlich 
die  Tatsache,  daß  er,  außer  bei  gewissen  vorbereitenden  Sitzungen,  niemals 
für  sich  gesondert,  ohne  den  König,  in  Tätigkeit  tritt.  Das  schwedische 
System  kennt  also  weder  den  „Ressortminister"  noch  das  „Staatsministerium" 
nach  preußischer  Bezeichnung,  sondern  in  der  Regel  nur  das,  was  man  bei 
uns  „Kronrat"  nennt,  eine  Sitzung  des  Gesamtministeriums  in  Gegenwart 
des  Königs.  Und  da  sehr  vieles,  was  bei  uns  die  Ressortminister  in  selb- 
ständiger Tätigkeit  erledigen,  bei  diesen  Sitzungen  erörtert  wird,  so  ergäbe 
sich  für  unsere  Verhältnisse  die  völlige  geschäftliche  Unmöglichkeit  eines 
derartigen  Verfahrens,  das  die  Zeit  des  Monarchen  in  übermäßiger  Weise  in 
Anspruch  nehmen  muß.  Wie  ist  nun  die  verfassungsmäßige  Stellung  dieser 
Minister?  Auch  in  diesem  Punkt  hat  das  schwedische  Regierungssystem 
Eigentümlichkeiten,  die  von  den  Einrichtungen  anderer  Länder  weit  abweichen. 
Der  König  ist  verfassungsmäßig  verpflichtet,  den  Rat  des  Staatsrats 
einzuholen,  aber  er  ist  keineswegs  etwa  an  Majoritätsbeschlüsse  des  Staats- 
rats gebunden.  Er  entscheidet  schließlich  nach  eigenem  Ermessen  und  unter- 
liegt dabei  keiner  persönlichen  Verantwortlichkeit.  Die  Minister  oder  Mit- 
glieder des  Staatsrats  werden  von  ihm  berufen  und  können  ebenso  von  ihm 
entlassen  werden;  sie  sind  die  Männer  seines  Vertrauens,  aber  sie  sind  nicht 
schlechthin  die  Diener  und  Werkzeuge  des  königlichen  Willens;  sie  haben 
eine  verfassungsmäßig  gesicherte  Stellung  schon  dadurch,  daß  sie  als  ein 
Kollegium  konstituiert  sind,  welches  bei  allen  Entscheidungen  der  königlichen 
Regierung  gehört  werden  muß;  sie  müssen,  praktisch  wenigstens,  auch  das 
Vertrauen  der  Volksvertretung  besitzen.  Man  könnte  sagen,  daß  sie  noch 
immer,  wie  der  alte  schwedische  Staatsrat,  in  der  Mitte  stehen  zwischen  König 
und  Volksvertretung,  daß  sie  eine  relativ  selbständige  dritte  Macht  im  Staate 
darstellen,  wenn  dies  auch  nicht  mehr  so  deutlich  vne  früher  zutage  tritt. 
Sie  sind  dem  Reichstag  für  die  Regierungshandlungen  des  Königs  verant- 
wortlich, und  zwar  jeder  einzelne  für  sich.  Diese  Verantwortlichkeit  ist  in 
sehr  eigenartiger  Weise  unterbaut  durch  das  System  der  Protokollführung 
im  Staatrate,  aus  dem  die  Stellungnahme  jedes  der  Mitglieder  zu  den  ein- 
zelnen Regierungshandlungen  erhellt.  Die  Protokollbücher  werden  regelmäßig 
alle  Jahre  von  einem  Reiohstagsausschuß  durchgesehen,  um  ein  Urteil  darüber 
zu  ermöglichen,  wie  sich  die  Minister  verhalten  haben.  Diese  Prüfung  soll 
nach  Art.  107  nicht  bloß  die  Gesetzmäßigkeit  ihres  Verhaltens,  sondern  auch 
ihre  Gewandtheit  und  Regsamkeit  im  Amte  berücksichtigen ;  neben  der  recht- 
lichen steht  also  eine  sehr  weit  gespannte  politische  Verantwortlichkeit. 
Findet  der  Ausschuß  aus  den  Protokollen,  daß  sich  Mitglieder  des  Staatsrats 
in  der  einen  oder  andern  Richtung  verantwortlich  gemacht  haben,  so  wird 
im  ersten  Falle  durch  den  Justizanwalt  des  Reichstags  (eine  der  schwedischen 


492      Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung. 

Verfassung  eigentümliche  Figur,  in  der  ihr  Dualismus  besonders  deutlich 
hervortritt,  ein  Seitenstück  zu  dem  Justizminister  der  königlichen  Regierung) 
Anklage  gegen  die  Minister  erhoben  vor  dem  eigens  zu  diesem  Zweck  vor- 
gesehenen Reichsgericht;  im  zweiten  Fall  aber,  wo  es  sich  um  die  politische 
Verantwortlichkeit  handelt,  wird  dem  Reichstag  Anzeige  gemacht,  „und 
dieser  kann,  wenn  er  findet,  daß  das  Interesse  des  Reiches  es  erheischt,  an 
den  König  die  schriftliche  Bitte  richten,  daß  er  geruhen  möge,  den  oder 
diejenigen,  gegen  welche  jene  Anmerkungen  gerichtet  sind,  ihrer  Stellen  im 
Staatsrat  zu  entheben."  Man  möchte  meinen,  daß  damit  für  den  Reichstag 
die  verfassungsmäßige  Möglichkeit  gegeben  sei,  alle  ihm  nicht  genehmen 
Minister  aus  dem  Amte  zu  drängen.  Der  König  ist  zwar  nicht  verpflichtet, 
einem  solchen  Verlangen  nachzugeben;  aber  wenn  aus  seiner  Weigerung  ein 
Konflikt  entsteht,  so  ist  es  ihm,  wie  noch  gleich  näher  erhellen  wird,  un- 
möglich, die  Regierung  ordnungsmäßig  weiter  zu  führen.  Das  würde  also 
eine  bedenkliche  Annäherung  an  das  System  der  parlamentarischen  Regierung 
bedeuten.  Nun  belehrt  uns  freilich  der  Kommentar  von  Prof.  Fahlbeck,  daß 
in  der  Praxis  diese  Bestimmung  herkömmlicher  Weise  umgangen  wird,  daß 
die  Prüfung  der  Protokolle  in  der  Regel  nur  zu  einer  „Dechargedebatte" 
führt,  bei  der  an  den  Ministern  und  der  Regierung  und  ihren  Maßregeln 
eine  mehr  oder  minder  schneidende  Kritik  geübt  wird  —  etwa  wie  bei 
unseren  Etatsdebatten.  Aber  einen  letzten  Ausweg  in  außerordentlichen  Fällen 
bilden  die  Art.  106  und  107  doch  auch  heute  noch,  und  so  ist  ihre  Bedeutung 
doch  nicht  ganz  aufgehoben.  Merkwürdig  ist  auch  die  Bestimmung  in  Art.  38 
der  Regieningsform  über  das  Verhalten  der  vortragenden  Mitglieder  des 
Staatsrats  bei  königlichen  Entschlüssen,  die  mit  der  Verfassung  in  Widerspruch 
stehen.  In  diesem  Falle  haben  die  Minister  natürlich  zunächst  nachdrück- 
liche Vorstellungen  zu  machen  und,  wenn  diese  unbeachtet  bleiben,  die 
verfassungsmäßig  notwendige  Gegenzeichnung,  ohne  die  der  königliche 
Befehl  rechtlich  nicht  gültig  ist,  zu  verweigern.  Unterlassen  sie  das,  so 
machen  sie  sich  verantwortlich  nach  Art.  106.  Tun  sie  es  aber,  so  müssen 
sie  zugleich  ihr  Amt  niederlegen,  bis  der  Reichstag  entschieden  hat,  ob  sie 
Recht  getan  haben  oder  nicht.  Billigt  der  Reichstag,  der  hier  also  als 
Schiedsrichter  in  einem  Konflikt  zwischen  König  und  Minister  erscheint,  ihr 
Verhalten,  so  sollen  sie  offenbar  ihr  Amt  weiterführen;  inzwischen  behalten 
sie  ihre  Besoldung  imd  alle  damit  verbundenen  Rechte.  Diese  Möglichkeit, 
die  zweifellos  aus  den  Worten  der  Verfassung  herausgelesen  werden  muß, 
bezeichnet  nun  freilich  Prof.  Fahlbeck  in  seinem  Kommentar  als  eine  „wirk- 
liche Ungereimtheit",  und  er  weiß  sie  nicht  anders  zu  erklären,  als  durch 
einen  lapsus  calami  der  Gesetzgeber,  die  eine  Bestimmimg,  welche  offenbar 
hauptsächlich  auf  die  alten  vortragenden  Staatssekretäre  der  Zeit  vor  1840 
gemünzt  war,  nach  der  Reform  der  Ministerialverfassung  nicht  entsprechend 
verändert  haben.  Beachtenswert  für  den  ganzen  Geist  der  Verfassung  bleibt 
die  Bestimmung  aber  doch.  Im  Falle  eines  Konflikts  neigt  sich  die  Wage 
eben  leichter  zugunsten  der  Volksvertretung,  als  zugunsten  des  Königtums. 
Aber  die  Befugnis,  die  Ratgeber  des  Königs  zur  Verantwortung  zu  ziehen 
oder  zwischen  ihnen  und  dem  König  in  gewissen  Fällen  zu  entscheiden,  ist 
praktisch  betrachtet  nicht  die  stärkste  von  den  Gewalten  der  Volksvertretung. 
Der  eigentliche  Schwerpunkt  ihrer  Macht  liegt  auf  dem  Gebiete  des  Staats- 
haushalts, der  in  ähnlicher  Weise  die  Domäne  des  Reichstags  darstellt,  wie 
es  die  innere  Verwaltung  für  die  königliche  Regierungsgewalt  ist.  Und  hier 
kommt   es   natürlich   vor  allem  auf  das  Besteuerungsrecht  an.     Zwar  belehrt 


Hin  t  z  e ,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Prol)leni  der  konstitut.  Regierung.      493 

uns  der  Kommentar  von  Professor  Fahlbeck,  daß  die  leicht  mißverständliche 
Bestimmung  des  Art.  57:  „das  uralte  Recht  des  schwedischen  Volkes,  sich 
selbst  zu  besteuern,  wird  vom  Reichstage  allein  ausgeübt"  nicht  so  aufzu- 
fassen ist,  als  ob  sie  sich  gegen  den  König  richte,  daß  vielmehr  dadurch 
nur  die  Mitwirkung  von  Landschaftsversammlungen  und  Reichstagsausschüssen 
ausgeschlossen  werden  soll.  Der  König  hat  ein  Recht  auf  die  alten  ordent- 
lichen Steuern,  die  später  sogenannten  Grundsteuern,  die  unabhängig  von 
Reichstagsbewilligungen  erhoben  werden.  Aber  da  diese  Steuern  neuerdings 
bis  auf  das  unbedeutende  „Kopfgeld"  aufgehoben  worden  sind,  so  handelt 
es  sich  praktisch  doch  in  der  Hauptsache  nur  um  neue  Steuern,  die  allein 
von  der  Bewilligung  des  Reichstags  abhängen,  und  diesen  werden  auch 
Zölle,  Akzise,  Post-,  Stempel-  und  andere  Einkünfte  zugerechnet;  nur  hin- 
sichtlich der  Getreidezölle  steht  dem  König  das  alleinige  Recht  der  Erhöhung 
und  Erniedrigung  zu  —  ein  merkwürdiger  Überrest  der  ehemals  sehr  weit 
ausgedehnten  „ökonomischen  Gesetzgebung"  aus  der  Zeit  des  Merkantilsystems. 
Der  Etat  wird  zwar  von  der  Regierung  aufgestellt,  aber  für  Deckung  der 
vorgeschlagenen  Ausgaben  zu  sorgen  bleibt  der  Erwägung  des  Reichstags 
überlassen  —  was  dessen  Macht,  Arbeitslast  und  Verantwortlichkeit  natürlich 
gegenüber  unseren  Parlamenten  stark  erhöhen  muß.  Man  sieht  auch  aus 
dem  Kommentar  von  Professor  Fahlbeck,  daß  die  Budgetverweigerung  als 
eine  unwiderstehliche  Waffe  der  Volksvertretung  gegenüber  der  Regierung 
betrachtet  wird,  und  daß  die  königliche  Regierungsgewalt  nur  soweit  reicht, 
wie  der  gute  Wille  des  Reichstags  es  gestattet.  Bei  einem  Konflikt  behält 
der  Reichstag  kraft  seines  Budgetrechts  die  Oberhand.  Verschärfend  wirkt 
hier  die  Bestimmung  des  Art.  61,  daß  die  Abgaben  nur  bis  zum  Schluß  des 
Jahres  zu  entrichten  sind,  in  dessen  Verlauf  die  Bewilligungen  vom  Reichs- 
tage aufs  neue  festgestellte  werden  —  eine  Bestimmung,  die  in  recht  scharfem 
Kontrast  gegen  die  der  preußischen  Verfassung  steht,  wonach  die  Steuern 
forterhoben  werden,  bis  sie  durch  Gesetz  geändert  sind.  Praktisch  findet 
das  allerdings  in  Schweden  auch  statt  bei  den  Einkünften  aus  Zöllen,  Akzise, 
Post  usw.  (seit  1853/54),  aber  die  eigentlichen  Steuern,  namentlich  auch  die  1902 
und  1909  hinzugekommenen  Einkommens-  und  Vermögenssteuern,  müssen 
alljährlich  neu  bewilligt  werden.  Kommt  das  Budgetgesetz  nicht  rechtzeitig 
zustande,  so  wird  auf  den  Etat  des  vorigen  Jahres  und  die  darin  bestimmten 
Einkünfte  zurückgegriffen.  Das  ist  ein  Bollwerk  gegen  Mißbrauch  des  Budget- 
rechts. 

Die  Armee,  die  durch  ein  von  König  und  Reichstag  erlassenes  Gesetz 
1901  auf  die  neue  Grundlage  der  allgemeinen  Wehrpflicht  mit  verlängerten, 
aber  nach  unseren  Begriffen  sehr  kurzen  Dienst-  und  Übungszeiten  gestellt 
worden  ist,  hat  eine  ganz  andere  verfassungsmäßige  Stellung  wie  in  Preußen. 
Sie  ist  nicht  durch  Eid  an  die  Person  des  Monarchen  gebunden,  allerdings 
auch  nicht  auf  die  Verfassung  vereidigt.  Ähnlich  steht  es  mit  dem  Beamtentum. 
Nirgends  schreibt  die  Verfassung  einen  Diensteid  vor  und  er  existiert  auch 
in  der  Tat  nicht.  Darin  zeigt  sich  ein  sehr  tiefgreifender  Unterschied 
gegenüber  den  kontinentalen  Staaten,  der  in  der  ganzen  Vergangenheit  wurzelt. 
Die  Stärkung  der  monarchischen  Gewalt,  die  in  den  Institutionen  des  Lehn- 
wesens und  in  der  Einwirkung  römisch-byzantinischer  Ordnungen  und  Ideen 
beruht,  fehlt  eben  in  Schweden.  Der  uralte  Gegensatz  von  Königs-  und 
Volksgewalt  hat  in  der  Regierungsform  von  1809  zu  einer  reinlichen  Schei- 
dung zwischen  beiden  und  zu  einer  Verteilung  der  Gewalten  geführt,  die 
ein  Gleichgewicht  zwischen  ihnen  begründen  soll. 


494      Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung. 

Aber  dieses  Gleichgewicht,  obwohl  es  sich  ein  Jahrhundert  hindurch 
im  wesentlichen  unverändert  erhalten  hat,  scheint  doch  von  ziemlich  labilem 
Charakter  zu  sein  und  keineswegs,  wie  Prof.  Fahlbeck  meint,  ein  Bollwerk 
gegen  die  Gefahr  des  Parlamentarismus  darzubieten.  Die  Neigung  zum 
Übergewicht  des  parlamentarischen  Faktors  ist  nach  dem  ganzen  Geiste  der 
Verfassung  so  groß,  daß  eine  Beeinflussung  der  Eegierung  durch  die  Parla- 
mentsmajoritäten kaum  ausbleiben  kann.  Es  hat  nur  bisher  in  der  Wind- 
stille des  politischen  Lebens,  in  der  sich  Schweden  ein  Jahrhundert  hindurch 
befunden  hat,  an  einem  kräftigen  Anstoß  dazu  gefehlt.  Aber  die  neueste 
Wendung  in  der  Entwicklung  der  schwedischen  Verfassung  scheint  ein  Hin- 
übergleiten in  die  Bahnen  parlamentarischer  Regierungsweise  einzuleiten. 
Im  vorigen  Herbst  (1911),  wo  zum  erstenmal  die  Wahlen  nach  dem  allge- 
meinen Stimmrecht  stattfanden,  ist  die  konservative  Partei,  die  bisher  ge- 
wohnheitsmäßig die  Minister  stellte,  der  Koalition  von  Liberalen  und  Sozial- 
demokraten erlegen,  und  die  Folge  war,  daß  alsbald  an  die  Stelle  des  kon- 
servativen ein  liberales  Ministerium  trat.  Das  ist  noch  nicht  parlamentarische 
Regierungsweise,  aber  es  ist  der  Anfang  dazu.  Es  ist  zwar  richtig,  was 
P.  Fahlbeck  einmal  hervorhebt,  daß  die  vollkommene  Gleichberechtigung  der 
beiden  Kammern  des  Reichstags  die  Möglichkeit  ausschließt,  daß  die  Majorität 
der  zweiten  Kammer  zum  Sitze  der  eigentlichen  Gewalt  im  Staat  werden 
könne  (im  Fall  einer  Meinungsverschiedenheit  zwischen  beiden  Kammern 
entscheidet  die  Mehrheit  der  beiden  vereinigten  Körperschaften)  —  aber, 
wenn  die  Mehrheit  eine  gewisse  Größe  erlangt,  so  könnte  das  doch  der  Fall 
sein;  denn  die  erste  Kammer  zählt  nur  150  Mitglieder,  die  zweite  dagegen  230. 
Die  Schwankung  zum  parlamentarischen  Regierungssystem,  die  in  den  Vor- 
gängen aus  dem  Herbst  des  Jahres  1911  liegt,  hat  Prof.  Fahlbeck  noch  nicht 
berücksichtigen  können;  es  scheint  aber,  daß  die  neueren  Reformen,  und 
namentlich  die  Reform  des  Wahlrechts  ihn  schon  mit  einer  Ahnung  des  Bevor- 
stehenden erfüllt  hat;  auf  Seite  157  finden  wir  die  Bemerkung:  „Ob  dennoch 
faktisch  Verschiebungen  in  dem  Verhältnis  der  beiden  Staatsmächte  König 
und  Reichstag  infolge  dieser  Reformen  eingetreten  sind  oder  eintreten  werden, 
hängt  wesentlich  von  der  Persönlichkeit  des  Monarchen  ab." 

Damit  ist  allerdings  ein  Moment  von  großer  Bedeutung  berührt,  das 
die  Regierungsweise  oft  mehr  bestimmt  hat  als  die  Artikel  einer  Verfassung. 
Im  allgemeinen  wird  man  sagen  dürfen,  daß  parlamentarische  Regierungs- 
weise durch  die  modernen  Verfassungen  weder  eingeführt  noch  ausgeschlossen 
wird.  Es  ist  ein  Ergebnis  des  praktischen  Staatslebens,  nicht  eine  staats- 
rechtliche Institution.  Nur  von  der  amerikanischen  Verfassung  darf  wohl 
gelten,  daß  sie  das  parlamentarische  Regierungssystem  prinzipiell  ausschließt. 
Bei  der  schwedischen  Regierungsform  von  1809  ist  das  doch  nicht  in  ganz 
gleichem  Maße  der  Fall.  Die  Teilung  der  Gewalten  ist  dazu  nicht  scharf 
genug  durchgeführt.  Der  Dualismus  zwischen  Krone  und  Volksvertretung 
schafft  nur  ein  labiles  Gleichgewicht,  bei  dem  die  parlamentarische  Gewalt 
leicht  ins  Übergewicht  kommen  kann;  charakteristisch  ist  auch  schon  die 
Bezeichnung,  die  Prof.  Fahlbeck  selbst  dem  schwedischen  System  gibt: 
„dualistischer  Parlamentarismus".  Das  Übergewicht  des  parlamentarischen 
Faktors  kommt  darin  doch  auch  schon  zum  Ausdruck.  Ein  Bollwerk  gegen 
den  Parlamentarismus  ist  diese  Verfassung  keineswegs. 

Aber  auch  wenn  sie  es  wäre,  so  würde  doch  kaum  daran  zu  denken 
sein,  sie  auf  dem  Kontinent  und  namentlich  in  Preußen  nachzuahmen.  Man 
muß  sich  eigentlich  wundem,  daß  ein  so  historischer  Kopf  wie  Prof.  Fahlbeck 


Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Kegierung.      495 

auf  diesen  Gedanken  gekommen  ist.  Sein  ganzes  Buch  ist  ja  doch  ein  Be- 
weis für  die  Tatsache,  daß  die  schwedische  Verfassung  des  19.  Jahrhunderts 
auf  einer  eigenartigen  historischen  Grundlage  ruht,  wie  sie  anderswo  nicht 
vorhanden  ist.  Das  schwedische  Königtum  ist  aus  der  altgermanischen  Königs- 
gewalt hervorgewachsen,  einem  patriarchalisch-volksfreien  Urkönigtum,  dem 
der  genossenschaftliche  Gegenpol  irgendeiner  Art  von  Vertretung  der  Volks- 
gemeinde  niemals  gefehlt  hat.  Der  Reichstag,  wie  er  seit  dem  IB.,  17.  Jahrhundert 
erscheint,  in  seinen  altständischen  Formen,  hat  zugleich  die  Bedeutung,  das 
Instrument  zur  Vollendung  der  Staatseinheit  zu  sein,  die  anderswo,  z.  B.  gerade 
in  Previßen,  lediglich  dui-ch  die  Krone  im  Gegensatz  zu  den  Provinzialständen 
herbeigeführt  worden  ist.  In  der  ständisch-aristokratischen  Monarchie  Gustav 
Adolfs  war  der  monarchische  Faktor  zwar  nicht  gerade  verfassungsmäßig, 
aber  moralisch -politisch  der  überwiegende.  Nach  seinem  Tode  trat  der 
Dualismus  stärker  hervor.  Karl  XL  gründete  dann  1680  den  Absolutismus; 
aber  diese  Regierungsform  hatte  nicht  die  Existenzberechtigung  in  Schweden, 
die  ihr  anderswo  zukam,  wo  sie  die  große  Mission  der  Herstellung  der  Staats- 
einheit und  einer  militärisch -politischen  Großmachtsstellung  erfüllt  hat,  wie 
in  Preußen.  Daher  der  jähe  Rückschlag  nach  dem  Tode  Karls  XU.,  der 
Parlamentarismus  der  sogenannten  Freiheitszeit  (1720 — 72),  bis  nach  einer 
monarchischen  Reaktion  unter  Gustav  III.,  der  zwar  den  parlamentarischen 
Faktor  nicht  gänzlich  ausschaltete,  aber  ihn  doch  zu  einer  Stellung  herab- 
drückte, die  den  geschichtlichen  Traditionen  nicht  entsprach,  1809  die  end- 
gültige Synthese  der  beiden  auseinandergetretenen  und  in  Widerspruch  mit- 
einander geratenen  Staatsmächte,  Krone  und  Reichstag,  in  der  noch  jetzt 
geltenden  dualistischen  Regierungsform  hergestellt  wurde.  Prof.  Fahlbeck 
hat  ganz  recht  darin,  daß  diese  Regierungsform  gewissermaßen  der  staats- 
rechtliche Niederschlag  der  ganzen  schwedischen  Verfassungsgeschichte  ist; 
aber  eben  deshalb  paßt  das  Prinzip,  auf  dem  sie  beruht,  nicht  für  andere 
Länder  mit  anderer  Geschichte  und  anderer  Machtverteilung  zwischen  Krone 
und  Volksvertretung,  ganz  besonders  nicht  für  Preußen. 

Die  königliche  Gewalt  in  Preußen  ist  eine  Fortsetzung  der  territorialen 
Fürstenmacht  und  ist  wie  diese  auf  einem  von  Feudalismus  durchwühlten 
Boden  gewachsen  und  später  an  dem  Beispiel  römisch-kaiserlicher  Macht- 
vollkommenheit direkt  oder  indirekt  gestärkt  worden.  Sie  hat  im  Zeitalter 
des  Absolutismus  ihren  unvertilgbaren  Charakter  empfangen;  sie  ist  damals 
der  alleinige  Schöpfer  des  Großstaats  gewesen  unter  Ausschluß  der  im  Pro- 
vinzialpartikularismus  steckenbleibenden  Stände.  Sie  hat  das  Heer  und  das 
Beamtentum  geschaffen  als  Werkzeuge  monarchischer  Staatskunst,  und  wenn 
beide  später  auch  eine  gesetzliche  Basis  erhalten  haben,  so  tragen  sie  doch 
noch  heute  einen  wesentlich  stärkeren  monarchischen  Charakter  als  in  Schweden, 
ganz  besonders  das  Heer,  das  allein  auf  den  obersten  Kriegsherrn  vereidigt 
ist.  Der  genossenschaftliche  Gegenpol  der  starken  Herrschergewalt  ist  in 
diesem  Militär-  imd  Beamtenstaat  einigermaßen  verkümmert;  die  Selbst- 
verwaltung ist  nur  eine  Ergänzung  der  im  wesentlichen  bureaukratischen 
Verwaltungsorganisation,  und  die  Volksvertretung  ist  eigentlich  auch  mehr 
nur  eine  Ergänzung  der  monarchischen  Staatsordnung  als  ein  wirklich  ganz 
gleichberechtigtes  selbständiges  Staatsorgan  neben  der  Krone.  Man  kann 
diese  Verkümmerung  des  genossenschaftlichen  Prinzips  bedauern;  eine  ihrer 
bösesten  Folgen  ist  die  abnorme  Entwicklung  der  Sozialdemokratie,  die  gerade 
deswegen  bei  uns  stärker  und  staatsfeindlicher  ist,  als  in  irgendeinem  andern 
Lande.    Aber  man  wird  nicht  glauben  dürfen,  daß  sich  ein  solches  Verhältnis 


496      Hintz e,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  der  konstitut.  Regierung. 

durch  eine  einfache  gesetzgeberische  Aktion  von  Grund  auf  verändern  läßt. 
Dem  Freiherrn  von  Stein  schwebte  eine  Staatsordnung  vor,  die  zwar  nicht 
dualistisch  war,  aber  dem  genossenschaftlichen  Organisationsprinzip  einen  viel 
breiteren  Spielraum  gewährte;  aber  seine  Ideen  sind  damals  nur  zum  kleineren 
Teil  durchgedrungen,  und  der  Ausbau  der  Selbstverwaltung  hat  erst  statt- 
gefunden, als  die  Königsmacht  unzweifelhaft  als  erster  und  grundlegender 
Staatsfaktor  sich  behauptet  hatte.  Auf  diesen  Voraussetzungen  beruht  das 
monarchisch-konstitutionelle  Regiment  in  Preußen.  Ich  glaube  nicht,  wie 
viele  meinen  und  wie  es  Hatschek  noch  jüngst  ausdrücklich  formuliert  hat, 
daß  diese  Regierungsform  nur  ein  Übergangszustand  zwischen  Absolutismus 
und  Parlamentarismus  ist,  und  ich  befinde  mich  dabei  in  Übereinstimmung 
mit  Prof.  Fahlbeck.  Ich  habe  vor  kurzem  an  einem  andern  Ort  ausgeführt, 
daß  das  monarchisch-konstitutionelle  Regiment  in  Wahrheit  eine  Fortent- 
wicklung des  aufgeklärten  Absolutismus  ist  und  daß  es  daher  für  Preußen 
ebenso  das  staatsrechtlich-politische  Ergebnis  seiner  ganzen  Geschichte  dar- 
stellt wie  der  Dualismus  der  Regierungsform  von  1809  für  Schweden.  Dabei 
ist  aber  noch  ein  Gesichtspunkt  von  allergrößter  Wichtigkeit  geltend  zu 
machen,  der  eine  Übertragung  des  schwedischen  Systems  nach  Preußen  und 
Deutschland  völlig  als  Unmöglichkeit  erscheinen  läßt. 

Warum  hat  sich  denn  in  Preußen  das  herrschaftliche  Prinzip  auf  Kosten 
des  genossenschaftlichen  so  überaus  stark  ausgebildet?  Mit  anderen  Worten : 
warum  ist  Preußen  ein  Militär-  und  Beamtenstaat  von  solcher  Härte  und 
Schroffheit  geworden?  Ist  es  eine  Despotenlaune  der  Herrscher,  was  dazu 
geführt  hat?  Ist  es  Mangel  an  Freiheitssinn  oder  angeborene  Disziplin  bei 
den  Untertanen?  Niemand,  der  die  preußische  Geschichte  kennt,  wird  das 
behaupten  wollen.  Es  ist  vielmehr  ganz  klar,  daß  es  sich  um  eine  historisch- 
politische Notwendigkeit  handelt,  die  aus  der  Lage  Deutschlands  und  Preußens 
in  der  Mitte  des  Kontinents,  zwischen  den  größten  europäischen  Militär- 
mächten, hervorgeht  und  aus  dem  ganzen  Geist  der  europäischen  Politik 
seit  den  Tagen  Macchiavellis.  An  dieser  Stelle  und  unter  diesen  Umständen 
konnte  sich  nur  ein  Staat  als  selbständige  Macht  bilden  und  behaupten,  der 
ganz  straff  militärisch  imd  bureaukratisch  organisiert  war.  Der  Druck,  den 
die  Nachbarn  auf  die  Grenzen  ausübten,  gestattete  hier  nicht  den  Luxus 
„freiheitlicher"  Institutionen,  Polen,  in  ähnlicher  Lage,  ist  durch  sein  Übermaß 
von  „Freiheit"  politisch  zugrunde  gegangen.  Und  diese  allgemeine  politische 
Lage,  die  für  die  Verfassungsform  der  Staaten  schließlich  maßgebend  ist, 
besteht  bekanntlich  noch  heute  und  zwar  in  verstärktem  Maße.  Der  schwedische 
Dualismus,  den  uns  Prof.  Fahlbeck  empfiehlt,  würde,  wenn  er  überhaupt 
haltbar  wäre,  uns  bald  dazu  veranlassen,  aus  der  Reihe  der  Großmächte 
auszuscheiden.  Ich  weiß  nicht,  ob  das  Bewußtsein  davon  dem  schwedischen 
Gelehrten  bei  seinem  Vorschlage  lebendig  gewesen  ist.  Was  sein  Vaterland 
selbst  anbetrifft,  so  hat  er  sehr  wohl  eingesehen,  daß  die  Herstellung  der 
gepriesenen  dualistischen  Staatsform  Schweden  seine  Großmachtstellung  ge- 
kostet hat.  Wir  können  ruhig  sagen:  eine  solche  Staatsform  ist  überhaupt 
nur  in  der  pohtischen  Windstille  haltbar,  in  der  Schweden  seit  1809  gelebt 
hat;  sie  schließt  den  Verzicht  auf  eine  Großmachtstellung  in  sich,  weil  die 
gegenseitige  Hemmung  der  beiden  Staatsorgane  zu  stark  ist,  als  daß  außer- 
ordentliche militärische  und  finanzielle  Anstrengungen,  wie  sie  eine  Groß- 
machtpolitik mit  sich  bringt,  auf  dem  verfassungsmäßigen  Wege  zu  erreichen 
sein  würden.  Das  schwedische  Volk  scheint  in  dieser  Hinsicht  etwas  anders 
gestimmt   zu   sein,    als    seine    verfassungsmäßigen  Vertreter,    mit   denen    die 


Hintze,  Die  schwed.  Verfassung  u.  d.  Problem  derkonstitut,  Regierung.      497 

Krone  einen  Konflikt  offenbar  scheut.  Der  kürzlich  vom  Reichstag  abge- 
lehnte Bau  eines  Kriegsschiffes  ist  durch  freiwillige  Sammlungen  ermöglicht 
worden.  Das  ist  ehrend  für  den  öffentlichen  Geist,  a1)er  es  enthält  eine  herbe 
Kritik  der  vielgerühmten  Verfassung.  Mit  der  amerikanischen  kann  die 
schwedische  Verfassung  auch  in  dieser  Hinsicht  nicht  verglichen  werden;  der 
Dualismus  zwischen  Präsident  und  Kongreß  findet  in  Amerika  seine  Lösung 
in  dem  Willen  des  souveränen  Volkes,  aus  dessen  Wahlen  das  eine  wie  das 
andere  Staatsorgan  hervorgeht,  und  zwar  in  einer  Weise,  die  bei  einer  vor- 
handenen Meinungsverschiedenheit  einen  baldigen  Ausgleich  ermöglicht.  Der 
schwedische  Dualismus  ist  infolge  der  Selbständigkeit  des  erblichen  König- 
tums ganz  anderer  Natur.  Sollte  Schweden  einmal  in  einen  Kampf  um  seine 
Lebensinteressen  oder  gar  um  seine  Existenz  verwickelt  werden,  so  würde 
sich  diese  Verfassung  schwerlich  behaupten  können.  Die  Geschichte  lehrt, 
daß  solche  Kämpfe  nur  durch  eine  starke  Staatsgewalt  mit  einheitlicher  Spitze 
durchgeführt  werden  können:  in  der  fi-anzöschen  Revolution  treten  in  der 
Stunde  der  Gefahr  und  der  gi-oßen  Unternehmungen  die  Verfassungsexperimente 
zurück  vor  der  Diktatur  des  Konvents  und  später  Napoleons.  In  England 
schuf  die  Thronveränderung  von  1688  und  die  Declaration  of  Rights  von  1689 
ein  ähnliches  dualistisches  Gleichgewichtsverhältnis  zwischen  Krone  und  Par- 
lament, wie  es  in  Schweden  besteht;  aber  die  großen  Kämpfe  mit  Frankreich 
während  des  18.  Jahrhunderts  gaben  erst  dem  König  Wilhelm  HI.  und  später 
den  Ministern  der  hannoverschen  Könige  entschieden  die  Führung;  die  Minister- 
herrschaft, wie  sie  die  beiden  Pitt  zwischen  Krone  und  Parlament  geführt  hatten, 
ging  dann  im  19.  Jahrhundert  in  das  moderne  parlamentarische  System  über,  das 
den  Dualismus  völlig  überwunden  hat.  In  Preußen  war  es  die  große  Frage  der 
Militärreform,  die  1862 — 66  den  Verfassungskonflikt  hervorrief  und  das  Über- 
gewicht der  Krone  endgültig  feststellte;  mit  einem  dualistischen  Regierungs- 
system wie  in  Schweden  wäre  weder  1866  noch  1870  möglich  gewesen. 
Preußen  und  Deutschland  würden  ihre  politische  Stoßkraft  einbüßen,  wenn 
sie  heute  dazu  übergehen  würden ;  und  aus  diesem  Grunde  ist  der  Vorschlag 
des  schwedischen  Verfassers  für  uns  überhaupt  nicht  näher  diskutabel. 

Praktisch-politisch  also  hat  das  Buch  für  uns  nicht  die  Bedeutung,  die 
der  Verfasser  ihm  geben  möchte;  wohl  aber  ist  es  wissenschaftlich,  wie  noch 
einmal  hervorgehoben  werden  mag  eine  sehr  wünschenswerte  Bereicherung 
unserer  Literatur,  für  die  wir  alle  Ursache  haben  dankbar  zu  sein. 


Zeitschrift  für  Politik.   6.  32 


V. 

Die  Mischehenfrage  in  den  deutschen  Kolonien 

Von  Dr.  Eduard  Hub  rieh 

Zu  den  interessantesten  Problemen  der  deutschen  Kolonialrechtswissen- 
schaft gehört  unbestreitbar  die  Mischehen  frage.  Sie  empfiehlt  sich  um  so  mehr 
als  Gegenstand  rechtswissenschaftlicher  Untersuchung,  als  sie  bereits  wieder- 
holt in  recht  abweichendem  Sinne  ausfallende  Behandlungsversuche  erfahren 
hat.  Eine  interessante  Übersicht  über  die  verschiedenen  bisher  zum  Thema 
geäußerten  Ansichten  samt  einem  neuen  Lösungsversuch  gibt  im  Oktoberheft 
der  „Zeitschrift  für  Kolonialpolitik,  Kolonialrecht  tmd  Kolonial  Wirtschaft", 
Jahrgang  1912,  Karl  von  Stengel  in  seinem  Aufsatz:  „Zur  Frage  der  jVIisch- 
ehen  in  den  deutschen  Schutzgebieten"').  Ohne  daß  sich  jedoch  behaupten 
ließe,  daß  hierdurch  die  Streitfrage  rechtswissenschaftlich  erledigt  wäre!  Die 
Situation  für  die  Praxis  beleuchten  aber  namentlich  zwei  Momente  aus  neuester 
Zeit.  Am  8.  Mai  1912  hat  der  Eeichstag  eine  Resolution  angenommen:  „die 
verbündeten  Regierungen  um  Einbringung  eines  Gesetzentwurfs  zu  ersuchen, 
welcher  die  Gültigkeit  der  Ehen  zwischen  Weißen  und  Eingeborenen  in  allen 
deutschen  Schutzgebieten  sicherstellt".  Airf  der  anderen  Seite  hat  der  süd- 
westafrikanische Landesrat  in  der  Sitzung  vom  14.  Mai  1912  folgende  vom 
Gouverneur  gebilligte  Entschließung  angenommen:  „der  Landesrat  bittet  das 
Kaiserliche  Gouvernement,  dafür  eintreten  zu  wollen,  daß  alle  bis  zum  Jahre 
1905  geschlossenen  Mischehen  anerkannt  werden,  da,  wo  nach  Beurteilung 
des  zuständigen  Bezirksrates  das  Leben  der  Eltern  und  die  Erziehung  der 
Kinder  den  allgemeinen  Anforderungen  an  Sitte  und  Moral  entsi^richt.  Den 
Betroffenen  soll  eine  diesbezügliche  Bescheinigung  gegeben  werden,  die  68 
ausspricht,  der  oder  die  soundso  gilt  weiß.  Es  ist  dafür  zu  sorgen,  daß  den 
als  Weiße  anerkannten  Personen  ihre  Rechte  gesetzlich  garantiert  werden. 
Für  die  Zukunft  ist  jede  Ehe  zwischen  Weiß  en  und  Einge- 
borenen aufs  strengste  zu  verbieten.  Der  Landesrat  sieht  in  einer 
weiteren  Heiratserlaubnis  zwischen  Weißen  und  Eingeborenen  eine  direkte 
schwere  Gefahr  für  die  weitere  Entwicklung  des  Deutschtums,  hält  es  auch 
nicht  für  ausgeschlossen,  daß  in  solchem  Falle  eine  Rückwanderung  bester 
und  schätzbarer  Kolonistenelemente  zu  erwarten  sein  würde.    Der  Landesrat 


0  S.  738  f.  Manche  der  zum  vorliegenden  Thema  lautgewordenen  Stimmen 
haben  geringen  wissenschaftlichen  Wert,  weshalb  hier  die  summarische  Ver- 
weisung auf  die  Übersicht  von  Stengels  genüge.  Hervorgehoben  sei  Fleisch- 
mann in  Zeitschrift  für  Kolonialpolitik  XII,  1910  S.  83  f.;  Verhandlungen 
des  Deutschen  Kolonialkongresses  1910  S.  548  f.;  Jahrbuch  über  die  deutschen 
Kolonien  V,  1912  S.  58. 


Hub  rieh,  Die  Mischehenfrage  in  den  deutschen  Kolonien.  499 

bittet  um  telegraphische  Übermittlung  dieser  Resolution  an  das  Reichs- 
kolouialaint"  '). 

Daß  dieser  auf  voller  Lokalkenntnis  beruhenden  Entschließung  des 
Landesrats  der  Vorzug  gegenüber  der  von  verwässerter  Humanitätsschwärmerei 
diktierten  Reichstagsresolution,  welche  die  schon  sich  anmeldende  Kalamität 
der  Mischehenfrage  in  den  deutschen  Kolonien  verewigen  möchte,  gebührt, 
wird  vom  Standpunkt  praktischer  Reichspolitik  nicht  zu  bezweifeln  sein.  Mit 
Recht  ist  auch  noch  zur  Verstärkung  der  in  der  Entschließung  des  Landes- 
rats gegen  die  Mischehen  vorgebrachten  Gründe  darauf  hingewiesen  worden, 
daß  gerade  das  Interesse  der  sich  in  erfreulicher  Weise  mehrenden,  weißen 
Kolonistenfrauen  in  Zukunft  das  Verbot  der  Mischehen  nötig  mache.  Schon 
nach  dem  Eingang  der  Reichsverfassung  gehört  es  zu  den  ersten  verfassungs- 
mäßigen Aufgaben  der  Reichsgewalt,  Kulturpflege  im  Interesse  des  Deutsch- 
tums zu  treiben,  und  auch  der  Besitz  an  Kolonien  hat  für  das  Reich  nm* 
dann  einen  Wert,  wenn  in  ihnen  für  deutsche  Kulturpflege  ein  neues  Feld 
erhalten  bleibt.  Der  Aufzüchtung  einer  dem  deutschen  Kulturinteresse  recht 
fragwürdig  gegenüberstehenden  Mischlingsrasse  dürfen  die  deutschen  Schutz- 
gebiete nicht  ausgeliefert  sein.  Und  da  der  Verfassungsgesetzgeber,  der  die 
„Pflege  der  Wohlfahrt  des  deutschen  Volks"  ausdrücklich  zu  den  ersten 
Bundeszwecken  der  deutschen  Staaten  rechnete,  von  vornherein  auch  die 
Möglichkeit  eines  kommenden  Kolonialerwerbs  von  selten  des  Bundes  deutscher 
Staaten  in  Betracht  zog  —  woran  für  den  aufmerksamen  Leser  der  Rede  des 
Bvmdeskommissars  von  Savigny  in  der  Reichstagssitzung  vom  20.  März  1867 
kein  Zweifel  sein  kann')  —  erscheint  das  Verlangen  des  gegenwärtigen 
Reichstags  nach  einem  geradezu  die  „Sicherstellung"  der  Mischehen  in  allen 
deutschen  Schutzgebieten  verbürgenden  Gesetzentwurf  im  letzten  Ende  eigent- 
lich als  direkter  Widerspruch  gegen  die  uranfänglichen,  zu  vollem  Bewußtsein 
gediehenen  Absichten  des  deutschen  Verfassungsgesetzgebers. 

Daß  die  Reichsregierung  selbst  das  Verlangen  des  Reichstags  nach  dem 
zuletzt  erwähnten  Gesetzentwurf  alsbald  stillen  wird,  erscheint  nach  den 
hervorgetretenen  Kundgebungen    erfreulicherweise   ausgeschlossen.     Auf  der 


0  Zeitschrift  für  Kolonialpolitik  XIV,  S.  675. 

^)  Bezold,  Materialien  der  Reichsverfassung  I  Seite  462:  Abgeordneter 
Dr.  Schieiden:  „Ich  möchte  mir  die  Frage  an  die  Herren  Kommissare  der 
Königl.  Preußischen  Regierung  erlauben,  ob  schon  jetzt  ein  bestimmter  Plan 
gefaßt  ist,  demnächst  deutsche  Kolonien  zu  gründen  oder  ob  man  das  Wort 
lediglich  beschränkt  wissen  will  auf  Flottenstationen."  Darauf  Bundes- 
kommissar von  Savigny:  „Unter  Kolonisation  (Art.  4  Z.  1)  hat  der  Entwurf 
nicht  gemeint,  einen  Begriff  aufzustellen,  der  sich  auf  dieses  oder  jenes  Gebiet 
ausschließlich  beschränken  soll;  als  Motiv  lag  dem  Ent\\'urf  allerdings  der 
Gedanke  in  erster  Linie  zugrunde,  die  Regelung  von  Flottenstationen  zu 
sichern,  welche  man  von  dem  Augenblicke  an  nötig  hat,  wo  man  sich  über- 
haupt an  transatlantischen  Beziehungen  so  beteiligen  will,  wie  wir  es  zu  tun 
gedenken  und  wie  wir  es  in  Deutschland  schon  längst  erstreben.  Damit 
bleibt  aber  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Gesetzgebung  sich 
auch  überhaupt  mit  Kolonisationsfragen  beschäftigen  kann. 
Wir  können  unmöglich  schon  jetzt  dem  vorgreifen,  ob  nicht  seitens  der  Re- 
gierungen einerseits  oder  seitens  des  Reichstags  andrerseits,  d.  h.  seitens  der 
öffentlichen  Meinung,  die  ihren  Ausdruck  im  Reichstag  finden  wird,  das  Be- 
dürfnis geltend  gemacht  ward,  in  dieser  oder  jener  Form  das  Kolonisations- 
wesen zu  ordnen  oder  selbst  anzuregen.  Das  bleibt  alles  der  Zukunft  über- 
lassen." 

32* 


500  Hub  rieh,  Die  Mischehenfrage  in  den  deutschen  Kolonien. 

andern  Seite  bleibt  damit  einstweilen  freilich  der  Zweifelszustand  erhalten, 
welcher  infolge  einer  von  vornherein  nicht  ganz  klaren  Gesetzgebung  die 
Frage  der  Rechtsgültigkeit  der  in  manchen  Schutzgebieten  bereits  abge- 
schlossenen Mischehen  umgibt  bzw.  die  Frage  der  Gültigkeit  gewisser  Ver- 
ordnungen, mit  denen  einige  Schutzgebietsverwaltungen  den  Mischehen  bereits 
entgegengetreten  sind.  In  Südwestafrika  hat  nämlich  eine  Gouverneursver- 
ordnung schon  1905  die  standesamtliche  Eheschließung  zwischen  Weißen  und 
Eingeborenen  schlechthin  untersagt,  während  in  Ostafrika  der  Gouverneur 
durch  einen  Erlaß  von  1906  sich  für  jede  bei  dem  Standesbeamten  beantragte 
Eheschließung  z\vischen  Weißen  und  Eingeborenen  eine  besondere  Anweisung 
vorbehalten  und  zu  diesem  Zweck  die  Standesbeamten  veranlaßt  hat,  in  jedem 
Fall  an  ihn  zu  berichten.  Auch  sind  in  der  Selbstverwaltungsordnung  für 
Südwestafrika  vom  28.  Januar  1909  vom  Wahlrecht  solche  Gemeindeangehörigen 
ausgeschlossen,  welche  mit  einer  Eingeborenen  verheiratet  sind  oder  mit  einer 
solchen  im  Konkubinat  leben.  Endlich  hat  selbst  der  Staatssekretär  des 
Eeichskolonialamts  Dr.  Solf  in  einer  neuerlichen  Verordnung  die  Mischehen- 
frage für  Samoa  zu  regeln  unternommen,  indem  die  bisher  formgerecht  ge- 
schlossenen Ehen  zwischen  Weißen  und  Samoanerinnen  als  gültig  anerkannt, 
dagegen  in  Zukunft  Ehen  zwischen  Eingeborenen  und  Weißen  grundsätzlich 
verboten  worden  sind ').  Gerade  die  Giltigkeit  dieser  im  Verordnungswege 
getroffenen  Anordnungen  ist  besonders  stark  angefochten,  und  da  auch  die 
Untersuchung  von  Karl  von  Stengel  nicht  als  eine  abschließende  Lösung  der 
streitigen  Mischehenfrage  angesehen  werden  kann,  sei  der  letzteren  nochmals 
an  diesem  Orte  ein  knappes  Wort  vom  juristischen  Standpunkt  aus  gewidmet. 

Soviel  haben  die  bisherigen  Erörterungen  über  die  ]\Iischehenfrage 
jedenfalls  an  sicherem  Ergebnis  gezeitigt,  daß  die  Prüfung,  ob  eine  derartige 
Eheschließung  gültig  vorgenommen  werden  kann  oder  nicht,  sowohl  der 
materiell-  als  der  formellrechtlichen  Seite  der  Streitfi-age  gerecht  werden 
muß.  Eine  gültige  Eheschließung  ist  nämlich  überall  bedingt,  einerseits  durch 
das  Vorhandensein  der  vorgeschriebenen  materiellen  Eheschließungsvoraus- 
setzungen, andrerseits  durch  die  Beobachtung  der  vorgeschriebenen  Ehe- 
schließungsform. Das  Schutzgebietsgesetz  vom  25.  Juli  1900  bestimmt  selbst 
in  §  7:  „Auf  die  Eheschließung  und  die  Beurkundung  des  Personenstandes 
in  den  Schutzgebieten  finden  die  §§  2—9,  11,  12  und  14  des  Gesetzes  vom 
4.  Mai  1870  entsprechende  Anwendung.  Die  Ermächtigung  zur  Eheschließung 
und  zur  Beurkundung  des  Personenstandes  wird  durch  den  Reichskanzler 
erteilt. 

Die  Form  einer  Ehe,  die  in  einem  Schutzgebiet  geschlossen  wird,  be- 
stimmt sich  ausschließlich  nach  den  Vorschriften  des  bezeichneten  Gesetzes. 

Die  Eingeborenen  unterliegen  den  Vorschriften  der  Abs.  1,  2  nur  in- 
soweit, als  dies  durch  Kaiserliche  Verordnung  bestimmt  wird.  Den  Ein- 
geborenen können  durch  Kaiserliche  Verordnung  bestimmte  andere  Teile  der 
Bevölkerung  gleichgestellt  werden." 

Vergleicht  man  nun  den  Wortlaut  des  §  7  mit  den  Vorschriften  des 
Gesetzes  von  1870,  so  erhellt  zunächst,  daß  der  Reichsgesetzgeber  mit  §  7 
prima  facie  nur  eine  Vorschrift  über  die  Eheschließungsform  hat  treffen 
wollen,  und  zwar  unter  besonderer  Gegenüberstellung  von  Weißen  und  Ein- 


*)  Vgl.  Neumeyer  in  Zeitschrift  für  Völkerrecht  und  Bundesstaats- 
recht 1912  S.  193  f.  Fleischmann  im  Jahrbuch  für  die  deutschen  Kolonien 
V  S.  58. 


Hubrich,  Die  Mischehenfrage  in  den  deutschen  Kolonien.  501 

geborenen.  Für  die  Eheschließung  der  Weißen  in  den  Schutzgebieten  gilt 
ausschließlich  die  standesamtliche  Eheschließungsform,  dagegen  ist  die  An- 
wendung dieser  Eheschließungsform  auf  die  Eingeborenen  von  einer  be- 
sonderen Kaiserlichen  Verordnung  abhängig  gemacht,  welche  bis  zur  Stunde 
noch  nicht  ergangen.  Doch  wird  der  wahren  Rechtslage  nicht  gerecht,  wer 
etwa  mit  von  Hoff  mann')  und  von  Stengel")  deduzieren  will,  daß  wegen 
der  bisher  fehlenden  Kaiserlichen  Verordnung  nach  §  7  Abs.  3  Mischehen 
zwischen  Weißen  und  Eingeborenen  in  den  deutschen  Schutzgebieten  rechts- 
gültig überhaupt  nicht  geschlossen  werden  können. 

Die  im  Abs.  3  §  7  mit  den  Eingeborenen  gemachte  Ausnahme  stellt 
offensichtlich  unmittelbar  nur  eine  abstrakte  Regelung  für  den  entsprechenden 
Rechtsverkehr  der  Eingeborenen  untereinander  dar,  wie  umgekehrt  die 
Bestimmungen  des  §  7  Abs.  1  und  2  für  den  entsprechenden  Rechtsverkehr 
der  Weißen  untereinander.  Konkrete  Mischbeziehungen  zwischen  Weißen 
und  Eingeborenen  auf  dem  im  §  7  berührten  Gebiet  werden  dagegen  durch 
diesen  Paragraphen  nicht  unmittelbar  getroffen  und  in  ihrer  Rechtsgültigkeit 
nicht  direkt  in  Frage  gestellt.  Angesichts  der  Tatsache,  daß  der  Wortlaut 
des  §  7  selbst  die  Anwendung  der  standesamtlichen  Eheschließungsform  auf 
die  Eingeborenen  nicht  an  sich  als  unzulässig  bezeichnet,  sondern  nur 
temporär  durch  den  Erlaß  einer  Kaiserlichen  Verordnung  bedingt  sein  läßt, 
hätte  der  Reichsgesetzgeber  es  positiv  sagen  müssen,  wenn  er  von  vornherein 
in  der  Zwischenzeit  bis  zum  Ei-laß  dieser  kaiserlichen  Verordnung  konkreten 
standesamtlich  abgeschlossenen  Mischehen  die  Achtung  rechtmäßiger  Ehe- 
verbindungen versagen  wollte.  Es  erscheint  sogar  nicht  ausgeschlossen,  daß 
der  Reichsgesetzgeber  bei  Normierung  des  §  7  Schutzgebietsgesetz  von  1900 
absichtlich  die  Möglichkeit  konkreter  Mischehen  von  Weißen  und  Ein- 
geborenen in  gewissem  Sinn  offen  gelassen  hat,  um  die  Gelegenheit,  hinläng- 
liche Erfahrungen  darüber  zu  sammeln,  nicht  gleich  abzuschneiden.  Denn 
in  dem  Schutzgebietsgesetz  von  1900  hat  der  Reichsgesetzgeber  hinwiederum 
mittelbar  es  auch  nicht  an  den  nötigen  Handhaben  für  die  zuständigen 
Organe  fehlen  lassen,  den  mit  dem  Mischehewesen  etwa  verbundenen  Gefahren 
gebührend  entgegen  zu  treten. 

Die  richtige  Anleitung  aber,  daß  man  in  dieser  Weise  den  §  7  Schutz- 
gebietsgesetz zu  interpretieren  hat,  gibt  direkt  die  Parallelvorscbrift  des  §  4. 
Auch  hiernach  „unterliegen  die  Eingeborenen"  der  Gerichtsbarkeit  und  dem 
materiellen  Recht  der  Weißen  „nur  insoweit,  als  dies  durch  kaiserliche  Ver- 
ordnung bestimmt  wird".  Hierdurch  wird  ebenfalls  nur  eine  abstrakte  Regelung 
dahin,  daß  die  Eingeborenen,  wie  die  Weißen,  einstweilen  in  ihrem  Rechts- 
verkehr mit  ihresgleichen  je  einem  besonderen  Normenkreis  imterstehen, 
verlautbart,  dagegen  vorkommenden  konkreten  Mischbeziehungen  zwischen 
Weißen  und  Eingeborenen  die  Möglichkeit  rechtlicher  Bewertung  nicht  dui-ch- 
aus  abgesprochen  (vgl.  hierüber  besonders  Neumeyer,  Privatrechtliche  Misch- 
beziehungen nach  deutschem  Kolonialrecht  im  VI.  Band  der  „Zeitschrift  für 
Völkerrecht  und  Bundesstaatsrecht"  S.  125  f.).  Dem  Reichsgesetzgeber  war 
sicher  auch  bei  Erlaß  des  Schutzgebietsgesetzes  von  1900  gegenwärtig,  daß 
die  von  ihm  beeinflußte  Rechtsordnung  als  integrierenden  Bestandteil  auch 
eine  Reihe  von  Rechtssätzen  in  sich  schließe,  welche  über  die  rechtliche  Be- 


')  S.  V.  Hoffmann,  Einführung  in   das   deutsche  Kolonialrecht  1911 
S.  176  f.     Gegen  v.  Hoffmann  schon  zutreffend  Fleischmann  a.  a.  0. 
^)  a.  a.  0.  S.  760  f. 


502  Hubrich,  Die  Mischehenfi-age  in  den  deutschen  Kolonien. 

Wertung  von  Mischverliältnissen  solcher  Personen  Anweisung  erteilen,  die  an 
sich  verschiedenen  Eechtsnormbereichen  zugehören. 

Es  handelt  sich  hier  um  nichts  anderes,  als  um  die  Eechtssätze,  welche 
bekanntermaßen  die  Lehre  von  der  „Statutenkollision"  oder  vom  „internatio- 
nalen Privatrecht"  umfaßt,  und  welche  da  Platz  greifen,  wo  hinsichtlich  des 
Privatrechts  verschiedene  Eechtsquellen  desselben  Staatsgebiets  oder  die 
Eechtsquellen  verschiedener  Staatsgebiete  zusammenstoßen.  Auch  das  Ein- 
führuugsgesetz  zum  Bürgerlichen  Gesetzbuch  hat,  wenngleich  es  auf  eine  er- 
schöpfende Eegelung  des  sog.  internationalen  Privatrechts  verzichtet,  in  den 
Art.  7  f.  einzelne  wichtige  Fragen  desselben  von  sich  aus  geordnet,  darunter 
im  Art.  13  die  Eingehung  der  Ehe  dergestalt,  daß  die  letztere,  ,, sofern  auch 
nur  einer  der  Verlobten  ein  Deutscher  ist,  in  Ansehung  eines  j  eden  der  Ver- 
lobten nach  den  Gesetzen  des  Staats  beurteilt  wird,  dem  er  angehört".  Zwar 
bezieht  sich  die  Norm  des  Art.  13,  wie  die  anderen  hier  berührten  Vorschriften 
des  EG.  z.  BGB.,  unmittelbar  nur  auf  den  Zusammenstoß  verschiedener 
„Nationalrechte",  nicht  auf  den  Zusammenstoß  verschiedener  Partikularrechte 
desselben  Staatsgebiets.  Aber  maßgebende  Vertreter  der  deutschen  Eechts- 
theorie  haben  sowohl  vor,  wie  nach  dem  BGB.  sich  zu  der  Ansicht  bekannt, 
daß  für  den  Zusammenstoß  von  Partikularrechten,  wie  für  den  von  „National- 
rechten" die  maßgebenden  Eechtssätze  ,,im  wesentlichen  identisch  lauten" 
(Gierke,  Privatrecht  I,  S,  210;  Enneccerus,  Bürgerliches  Eecht  I,  S.  150; 
Neumeyer,  S.  154  f.).  Es  unterliegt  daher  keinem  Bedenken,  nach  den 
Normen,  welche  im  EG.  z.  BGB.  die  Art.  7  f,  und  insbesondere  auch  der  Art.  13 
über  den  Zusammenstoß  von  „Nationalrechten"  aufstellen,  auch  innerhalb  der 
deutschen  Schutzgebiete  den  Zusammenstoß  von  Partikularrechten  zu  be- 
urteilen, der  in  konkreten  IVlischfällen  dadurch  hervorgerufen  wird,  daß  da- 
selbst an  sich  für  die  Weißen  das  Eecht  des  BGB.  und  der  sonstigen  Eeichs- 
gesetze  gilt,  dagegen  für  die  Eingeborenen  ihr  Stammesrecht.  Daraus  ergibt 
sich  freilich  für  konkrete  der  Materie  der  Eheschließung  angehörige  Misch- 
fälle, daß  gemäß  Art.  13  EG.  für  die  Weißen  zunächst  an  sich  das  BGB. 
(samt  EG.)  und  der  §  7  Schutzgebietsgesetz  maßgebend  ist,  für  die  Ein- 
geborenen aber  ihr  Stammesrecht.  Wenn  wenigstens  von  Stengel  zwar 
die  wirtschaftlichen  Mischbeziehungen  zwischen  Weißen  und  Eingeborenen 
nach  Analogie  des  internationalen  Privatrechts  behandeln  will,  hingegen  für 
die  persönlichen,  auf  den  Geschlechtsverkehr  beruhenden  Mischbeziehungen 
diese  Analogie  verwirft'),  so  wird  einem  solchen  Verfahren  die  Nachsage 
subjektiver  Willkürlichkeit  nicht  erspart  bleiben  können.  Denn  sofern  in  bezug 
auf  Ehe  imd  Familienverhältnisse  das  Stammesrecht  der  Eingeborenen  Ein- 
richtungen aufweist,  welche  dem  auf  dem  Boden  deutscher  Kultur  stehenden 
zwingenden  Eecht  der  Weißen  durchaus  widersprechen,  folgt  ohne  weiteres 
die  Nichtberücksichtigung  jener  Einrichtungen  schon  aus  dem  Art.  30  EG. 
z.  BGB.,  welcher  die  Anwendung  eines  ausländischen  Gesetzes  —  also  in  den 
Schutzgebieten  auch  des  Stammesrechts  der  Eingeborenen  —  ausschließt,  wenn 
die  Anwendung  gegen  die  guten  Sitten  oder  gegen  den  Zweck  eines  deutschen 
Gesetzes  verstoßen  würde.  Die  alleinige  Anwendung  des  Eechts  der  Weißen 
erscheint  aber  um  so  unbedenklicher,  als  die  §§  4,  7  Schutzgebietsgesetz 
deutlich  die  Meinung  des  Eeichsgesetzgebers  erkennen  lassen,  daß  für  ihn  die 
Eechtsordnung  der  Weißen  als  die  kulturell  höhere  und  dereinst  auch  einmal 
den  Eingeborenen  erschließbar  gilt. 

')  a.  a.  0.  S.  760. 


Hubrioh,  Die  Mischelieufrage  in  den  deutschen  Kolonien.  503 

Eine  ^tige  Eheschließung  verlangt  nun,  wie  bereits  oben  bemerkt, 
allemal  einerseits  die  Beobachtung  der  vorgeschriebenen  Eheschließungs- 
form, andrerseits  die  Wahrung  der  vorgeschriebenen  materiellen  Ehe- 
Bchließungsvoraussetzungen.  Da  der  Inhalt  des  Schutzgebietsgesetzes  von  1900, 
soweit  er  bisher  ermittelt,  die  Möglichkeit  konkreter  Mischehen  zwischen 
Weißen  und  Eingeborenen  nicht  absolut  ausschließen  will,  würde  das  Zu- 
standekommen solcher  Eheschließungen  gemäß  dem  Prinzip  des  Art.  13 
EG.  z.  BGB.  sowohl  in  Ansehung  der  Eheschließungsform,  wie  der  materiellen 
Eheschließungsvoraussetzimgen  nötig  machen,  daß  die  bezüglichen  Anforde- 
rungen des  Eechts  der  Weißen  und  des  Stammesreehts  der  Eingeborenen 
erfüllt  werden.  Hinsichtlich  der  Eheschließungsform  bewirkt  indessen  eine 
Korrektur  dieses  Ergebnisses  die  apodiktische  Bestimmung  des  Absatz  2 
§  7  Schutzgebietsgesetz,  wonach  innerhalb  der  deutschen  Schutzgebiete  die 
standesamtliche  Eheschließung  ausschließlich  gegenüber  einer  weißen 
Person  in  Frage  kommen  soll.  Damit  entfällt  für  die  Eingehung  einer 
konkreten  Mischehe  zwischen  einer  weißen  und  einer  eingeborenen  Person 
in  einem  deutschen  Schutzgebiet  die  Zulässigkeit  einer  etwaigen  Verbindung 
von  standesamtlicher  und  stammesrechtlicher  Eheschließungsform.  Die 
standesamtliche  Eheschließungsform  nach  Abs.  2  §  7  Schutzgebietsgesetz 
greift  unbedingt  auch  gegenüber  dem  eingeborenen,  zu  einer  Mischehe  mit 
einer  weißen  Person  schreitenden  Eheteil  Platz,  und  dieser  muß  sich  dem 
um  so  mehr  fügen,  als  die  Vorschrift  des  Abs.  2  §  7  nur  ein  Willensaus  druck 
der  nämlichen  staatlichen  Macht  ist,  welcher  der  Eingeborene  überhaupt 
staatsrechtlichen  Untertanengehorsam  schuldet.  Andrerseits  entfällt  damit 
auch  für  jede  weiße  Person  die  Möglichkeit  einer  rechtmäßigen  Ehever- 
bindung mit  einer  eingeborenen  Person  bloß  unter  Wahrung  der  stammes- 
rechtlichen Eheschließungsform.  Denn  diese  verstößt  unmittelbar  gegen  den 
Zweck  des  für  alle  Weißen  die  standesamtliche  Eheschließungsform  aus- 
nahmslos vorschreibenden  Gesetzes,  nämlich,  daß  Weiße  eine  gültige  Ehe  nur 
in  der  Form  der  Zuziehung  eines  staatlich  dafür  besonders  bestellten  Be- 
amten schließen  dürfen.  Dagegen  hinsichtlich  der  materiellen  Eheschließungs- 
voraussetzungen müssen  zur  Erzielung  einer  gültigen  Mischehe  die  Eechts- 
vorschriften  für  Weiße  und  das  Stammesrecht  der  Eingeborenen  im  konkreten 
Fall  gleichmäßig  nebeneinander  gewahrt  sein,  soweit  nicht  gewisse  stammes- 
rechtliche Einrichtungen  überhaupt  gemäß  Art.  30  EG.  z.  BGB.  unanwendbar 
sind.  Während  für  nichtreichsangehörige  Weiße  in  dieser  Hinsicht  nach 
Art.  13  EG.  z.  BGB.  das  Recht  des  Heimatstaats  maßgebend  ist,  ergeben  sich 
für  die  reichsangehörigen  Weißen  die  materiellen  Eheschließungsvoraus- 
setzungen —  die  Ehehindernisse  —  aus  dem  BGB.,  und  dasselbe  kennt  —  wie 
auch  wohl  in  der  Regel  das  Heimatsrecht  der  nichtreichsangehörigen  Weißen  — 
gerade  die  Rasseverschiedenheit  nicht  als  Ehehindernis.  Andrerseits  wird 
auch  in  dem  Stammesrecht  der  Eingeborenen  Rasseverschiedenheit  regelmäßig 
nicht  als  Ehehindernis  nachzuweisen  sein  (vgl.  Radlauer,  Annalen  1909 
S.  856).  Das  unmittelbare  Resultat  dieser  Betrachtung  des  Schutzgebiets- 
gesetzes von  1900  ist  also,  daß  an  der  Rechtsgültigkeit  standesamtlich  ab- 
geschlossener und  den  Ehehindernissen  des  Rechts  der  W^eißen  und  der  Ein- 
geborenen Rechnung  tragender  Mischehen  in  den  deutschen  Schutzgebieten 
nicht  zu  zweifeln  ist. 

Nichtsdestoweniger  hat  der  Reichsgesetzgeber  dem  Schutzgebietsgesetz 
von  1900  eine  solche  Fassung  gegeben,  daß  dasselbe  mittelbar  genug  Hand- 
haben aufweist,  um  den  aus  dem  Mischehewesen  den  deutschen  Schutzgebieten 
etwa  drohenden  Gefahren  erfolgreich  entgegen  zu  treten. 


504  Hubrich,  Die  Mischehenfrage  in  den  deutschen  Kolonien. 

1.  Das  materielle  Eherecht  der  Eingeborenen  untersteht  gemäß  §  1 
Schutzgebietsgesetz  durchaus  der  gesetzgebenden  Gewalt  des  Kaisers.  Im 
Wege  einseitiger  Rechtsverordnung  kann  daher  der  Kaiser  zu  jeder  Zeit 
den  Eingeborenen  gegenüber  bestimmen,  daß  für  sie  ein  unmittelbar  zwingen- 
des Ehehindernis  in  Ansehung  einer  mit  einer  weißen  Person  beabsichtigten 
Eheschließung  besteht.  Schon  durch  eine  solche  Verordnung  würde  es  auch 
mittelbar  den  Weißen  unmöglich  gemacht  sein,  an  eine  Mischehe  mit  einer 
eingeborenen  Person  zu  denken.  (Übereinstimmend  ßadlauer  S.  8.58,  Neu- 
meyer S.  193.) 

2.  Der  Abs.  1  §  7,  welcher  im  ersten  Satz  mit  Bezug  auf  Weiße  gewisse 
Paragraphen  des  Gesetzes  vom  4.  Mai  1870  für  entsprechend  anwendbar  er- 
klärt, sagt  in  gleicher  Richtung  S.  2:  ,,Die  Ermächtigung  zur  Eheschließung  .  .  . 
wird  durch  den  Reichskanzler  erteilt."  Mit  dieser  Gesetzesverfügung  läßt 
sich  weiter  ebenfalls  S.  1  §  15  in  Verbindung  bringen:  ,,Der  Reichskanzler 
hat  die  zur  Ausführung  des  (Schutzgebiets-)Gesetzes  erforderlichen  Anord- 
nungen zu  erlassen."  Es  handelt  sich  hier  unbestreitbar  um  die  Zuständigkeit 
des  Reichskanzlers,  Rechtsverordnungen,  die  alle  dem  Schutzgebietsgesetz 
unterstellten  Rechtssubjekte,  einschließlich  der  Weißen,  unmittelbar  verbinden 
können,  zu  erlassen.  Die  Ausführungsrechtsverordnungen  des  Reichskanzlers 
müssen  sich  freilich  innerhalb  der  Grenzen  des  Schutzgebietsgesetzes  halten, 
tun  dies  aber  jedenfalls,  wenn  sie  sich  darauf  beschränken,  einzelne  vom 
Schutzgebietsgesetz  aufgestellte  Rechtssätze  selbständiger  Natur  hinsicht- 
lich einer  erkennbaren  Lücke  zu  ergänzen.  Der  S.  2  Abs.  1  §  7  Schutz- 
gebietsgesetz: „Die  Ermächtigung  zur  Eheschließung  .  .  .  wird  durch  den 
Reichskanzler  erteilt",  ist  jedoch,  wie  der  Wortlaut  ergibt,  als  ein  Rechts- 
satz selbständiger  Natur  dem  S.  1,  welcher  die  entsprechende  Anwendbar- 
keitserklärung einiger  Paragraphen  des  Gesetzes  von  1870  enthält,  angefügt. 
Seine  Tragweite  ist  juristisch  durchaus  nicht  auf  die  reine  Bezeichnung  der 
Standesbeamten  in  den  Schutzgebieten  durch  den  Reichskanzler  beschränkt. 
Der  S.  2  Abs.  1  §  7  schließt  es  vielmehr  nach  seiner  objektiven  Fassimg  nicht 
aus,  ,,die  Ermächtigung  zur  Eheschließung"  mit  besonderen  Bedingungen 
auszustatten,  die  sich  im  Rahmen  des  auch  für  den  Reichskanzler  maßgebenden 
Rechtsnormwillens  halten ').  Die  nach  dieser  Richtung  vorliegende  Ergänzungs- 
möglichkeit des  Satzes:  „Die  Ermächtigung  zur  Eheschließung  .  .  .  wird  durch 
den  Reichskanzler  erteilt",  erlaubt  es  daher  sicher  auch,  daß  der  Reichs- 
kanzler vermittelst  seiner  Befugnis,  das  Schutzgebietsgesetz  durch  Ausführungs- 
rechtsverordnungen zu  ergänzen  (§  15  Abs.  1),  „die  Ermächtigung  zur  Ehe- 
schließung" mit  Bedingungen  ausstattet,  die  dem  besonderen  Milieu  eines 
deutschen   Schutzgebiets   entnommen   sind*).     Angesichts   der   Gefährlichkeit 


^)  Es  ist  ja  allgemein  herrschende  Lehre,  daß  die  Ausführungsrechts- 
verordnung das  Gesetz  ergänzen  kann,  zwar  „nicht  nach  der  Seite  der  Zweck- 
setzung, wohl  aber  nach  der  Seite  der  Beschaffvmg  der  zur  Durchführung  des 
Gesetzes  erforderlichen  Mittel".    Rosin,  Polizeiverordnungsrecht  2.  Aufl.  S.  35. 

*)  Das  muß  um  so  mehr  als  zulässig  gelten,  als  §  7  S.  1  Schutzgebiets- 
gesetz eben  nur  ,, entsprechende  Anwendung"  der  angeführten  Paragraphen 
des  Gesetzes  vom  4.  Mai  1870  vorsieht  und  auch  Gerstmeyer,  Kommentar 
S.  48  meint,  daß  bei  der  Lückenhaftigkeit  des  Schutzgebietsgesetzes  die  Grenzen 
für  die  Ausführungsverordnungen  des  Reichskanzlers  nach  §  15  S.  1  weit  zu 
ziehen  seien.  Innerhalb  des  „Zweckes"  des  Schutzgebietsgesetzes,  welches  in 
weitgehender  Selbstbeschränkung  dem  Reichskanzler  in  §  15  Abs.  1  allgemein 
die  „erforderlichen"  Anordnungen   zu   seiner  Ausführung  übertragen,   liegen 


Hub  rieh,  Die  Mischehenfi-age  in  den  deutschen  Kolonien.  505 

namentlich,  welche  das  Mischehewesen  für  das  weitere  Gedeihen  der  deutschen 
Schutzgebiete  in  sich  birgt,  ist  demgemäß  der  Reichskanzler  rechtlich  durch- 
aus in  der  Lage,  ,,die  Ermächtigung  zur  Eheschließung"  nur  in  der  durch  eine 
Rechtsverordnung  gemäß  §  15  Abs.  1  modifizierten  Weise  zu  erteilen,  daß 
Mischehen  zwischen  Weißen  und  Eingeborenen  ausgeschlossen  sind.  Diese 
nach  §  15  Abs.  1  zu  §  7  Abs.  1  S.  2  ergehende  Rechtsverordnung  stellte  dann 
direkt  die  Verpflichtung  fest:  einerseits  des  ermächtigten  Standesbeamten, 
seinen  Dienst  bei  dem  Versuch  einer  Mischeheschließung  zu  versagen,  andrer- 
seits der  Weißen  der  Schutzgebiete,  den  Dienst  des  Staudesbeamten  zu  dem 
Versuch  einer  Mischehe  nicht  in  Anspruch  zu  nehmen. 

3.  Der  §  15  Abs.  2  Schutzgebietsgesetz  erklärt  den  Reichskanzler  femer 
für  befugt,  für  die  Schutzgebiete  oder  für  einzelne  Teile  derselben  ,, polizeiliche 
und  sonstige  die  Verwaltung  betreffende  Vorschriften"  mit  Strafandrohungen 
von  Gefängnis  bis  zu  drei  Monaten,  Haft,  Geldstrafe  und  Einziehung  einzelner 
Gegenstände  zu  erlassen.  Hiermit  ist  ein  besonderes  Rechtsverorduungsrecht 
des  Reichskanzlers,  außerhalb  der  Ausführung  des  Schutzgebietsgesetzes,  be- 
gründet, und  auch  vermittelst  desselben  kann  dem  Mischehewesen  in  den 
deutschen  Schutzgebieten  begegnet  werden. 

Das  Schutzgebietsgesetz  von  1900,  welches  in  seiner  unmittelbaren  Fassung 
die  Möglichkeit  von  Mischehen  zwischen  Weißen  und  Eingeborenen  offenläßt, 
betrachtet  in  seinem  unmittelbar  eherechtlichen  Teil  die  Eheschließung  grund- 
sätzlich als  eine  Angelegenheit  einzelner  gleichberechtigt  nebeneinander 
stehender  Privatpersonen.  Auch  das  Institut  der  Standesbeamten  ist  grund- 
sätzlich nur  eine  Einrichtung,  welche  die  bürgerliche  Rechtsordnung  einzelnen 
Privatpersonen  anbietet,  um  die  sie  angehende  Eheschließungsangelegenheit 
mit  voller  Rechtssicherheit  zu  regulieren.  Aber  die  Eheschließungsmaterie 
braucht  nicht  ausnahmslos  so  geordnet  zu  sein.  Sie  verträgt  auch  eine  recht- 
liche Gestaltung,  welche  die  Eheschließenden  und  den  Standesbeamten  in  un- 
mittelbare Verbindung  bringt  mit  deren  Eigenschaft  als  Glieder  eines  unter 
staatlicher  Autorität  stehenden  Zwangsverbandes  und  jene  aus  diesem  Gesichts- 
punkt heraus  verpflichtet,  unter  bestimmten  Voraussetzungen  den  Versuch 
einer  Eheschließung  zu  unterlassen. 

Es  erübrigt  sich  an  diesem  Orte  durchaus,  die  „polizeilichen"  Vor- 
schriften, welche  der  Reichskanzler  nach  §  15  Abs.  2  Schutzgebietsgesetz  er- 
lassen kann,  von  den  „sonstigen  die  Verwaltung  betreffenden  Vorschriften" 
des  Kanzlers  vollkommen  präzis  zu  trennen.  Jedenfalls  geht  der  Ausdruck 
„polizeiliche  Vorschriften"  auf  einen  materiellen  Begriff  der  Polizei,  und  schon 
das  nötigt  auch  den  ,, sonstigen  die  Verwaltung  betreffenden  Vorschriften" 
den  allgemeinen,  materiellen  Begriff  der  „Verwaltung"  im 
Gegensatz  zur  Rechtssetzung  und  Rechtsprechung  zu  unter- 
stellen^). Es  soll  demgemäß  das  Rechtsverordnungsrecht  des  Reichskanzlers 
nach  §  15  Abs.  2  überall  zur  Anwendung  kommen  dürfen,  wo  es  sich  um 
das  freie,  von  Zweckmäßigkeitsgedanken  beherrschte,  wenn  auch  innerhalb 

augenscheinlich  alle  solche  Ergänzungsanordnungen  begriffen,  welche  die 
einzelnen  Gesetzesparagraphen  allein  zu  Bestandteilen  einer  wirklich  „lebens- 
fähigen" Rechtsordnung  in  den  Schutzgebietdn  erheben  können. 

^)  Zu  eng  faßt  hier  den  Begriff  der  ,, Verwaltung"  auch  Sassen,  Das 
Gesetzgebungs-  und  Verordnungsrecht  in  den  deutschen  Kolonien,  1909  S.  108, 
der  nui-  ,, innere"  Verwaltung  darin  sehen  wül.  Ubi  lex  non  distinguit,  ibi 
judicis  non  est  distinguere!  Die  koloniale  Praxis  nähert  sich  mehr  dem 
richtigen  Wege.     Vgl.  Laband,  Staatsrecht,  5.  Aufl.  11  S.  295. 


506  Hubrich,  Die  Misch ehenfi-age  in  den  deutschen  Kolonien. 

der  Schranken  der  Eechtsordnung  sich  bewegende  Verfolgen  von  staatlichen 
Aufgaben  handelt.  (Vgl.  hierzu  Hubrich,  Das  Eeichsgericht  über  den  Ge- 
setzes- und  Verordnungsbegriff  nach  Reichsrecht  S.  66  ff.,  74  f.)  Es  muß 
hierbei  naturgemäß  eine  bestimmte  Tätigkeit  der  Schutzgebietsorgane  in 
Frage  kommen,  welcher  auf  der  andern  Seite  gegebenenfalls  ein  gewisses 
Tun  (Handeln,  Unterlassen)  der  gewöhnlichen  Schutzgebietsangehörigen  ent- 
spricht. Die  so  gestaltete  Erfaßbarkeit  der  Schutzgebietsorgane  und  der  ge- 
wöhnlichen Schutzgebietsangehörigen  ist  aber  dabei  nur  die  unmittelbare 
Folge  der  Eigenschaft  jener  als  Glieder  eines  unter  staatlicher  Autorität 
stehenden  Zwangsverbandes.  Angesichts  der  schweren  Nachteile  nun,  welche 
nach  den  inzwischen  gemachten  Erfahrungen  das  Mischehewesen  dem  deutschen 
Kulturinteresse  in  den  Schutzgebieten  bereiten  kann,  ist  es  selbstverständlich 
eine  der  zweckmäßigsten  Aufgaben  des  amtlichen  Wirkens  der  Schutzgebiets- 
organe, nach  Möglichkeit  das  Mschehewesen  zu  beschneiden.  Der  Reichs- 
kanzler kann  daher  diese  materielle  Verwaltungsaufgabe  dm-ch  eine  Rechts- 
verordnung gemäß  §  15  Abs.  2  Schutzgebietsgesetz  auch  in  der  Weise  sicher- 
stellen, daß  er  die  gewöhnlichen  weißen  Schutzgebietsangehörigen  rechtssatz- 
mäßig  verpflichtet,  gerade  als  untertänige  Glieder  eines  unter  staatlicher 
Autorität  stehenden  Zwangsverbandes  die  Inanspruchnahme  der  Standes- 
beamten behufs  Abschlusses  einer  dem  deutschen  Kulturinteresse  wider- 
streitenden Mischehe  zu  unterlassen.  Diese  Anordnung  wäre  ohne  Bedenken 
als  eine  diu"ch  den  materiellen  Begriff  der  Verwaltung  vollkommen  gedeckte 
Rechtsvorschrift  anzusehen,  und  die  privatrechtliche  Regelung  der  Ehe- 
schließuugsmaterie,  bei  welcher  die  Eheschließenden  nur  als  für  sich  ge- 
sonderte Privatpersonen  ins  Auge  gefaßt  sind,  könnte  als  eine  besondere 
Welt  für  sich  das  selbständige  Danebentreten  der  aus  zwingenden  öffent- 
lichen Gründen  getroffenen  Maßnahme  des  Reichskanzlers  keineswegs  hindern. 

4.  Nach  Abs.  3  §  1.5  Schutzgebietsgesetz  kann  der  Reichskanzler  „die 
Ausübung  der  Befugnis  zum  Erlasse  von  Ausführungsbestimmimgen  (Abs.  1) 
und  von  Verordnungen  der  im  Abs.  2  bezeichneten  Art"  an  Beamte  des 
Schutzgebiets  weiter  delegieren.  Infolgedessen  sind  auch  die  Gouverneure 
der  Schutzgebiete,  an  welche  etwa  eine  derartige  Delegation  erfolgt  ist 
(vgl.  Verf.  des  Reichskanzlers  vom  27.  September  1903  bei  Riebow  VII 
S.  214)  genau  in  der  Weise  zum  Vorgehen  berechtigt,  wie  dies  vorstehend 
sub  2  und  3  bezüglich  des  Reichskanzlers  ausgeführt  ist.  Sofern  die  bereits 
für  Ostafrika  und  Südwestafrika  gegen  das  Mischehewesen  ergangenen 
Gouverneurs  Verordnungen  den  sub  2  und  3  hervorgehobenen  Gesichtspunkten 
gerecht  werden,  kann  ihre  Rechtsgültigkeit  demgemäß  nicht  beanstandet 
werden.  Die  Verordnung  des  Kolonialstaatsseki-etärs  für  Samoa  ist  aber  ohne 
weiteres  an  Rechtskraft  einer  Reichskanzlerverordnung  gleichzustellen  (vgl. 
La  band  II  S.  296). 

Gegenüber  der  Frage,  ob  die  formelle  Reichsgesetzgebung  nicht  selbst 
in  das  koloniale  Mischehewesen  eingreifen  soll,  kann  angesichts  der  Zu- 
sammensetzung des  gegenwärtigen  Reichstags  nur  der  Rat  gelten:  Quieta 
non  movere.  Die  koloniale  Praxis  ist  anscheinend  auf  dem  Ansatz  zum 
richtigen  Wege,  den  sie  nur  weiter  mit  Entschlossenheit  verfolgen  sollte. 
Die  theoretischen  Zweifel  in  der  IVIischehenfrage  hat  zum  Teil  nur  mangel- 
hafte Orientierung  verschuldet,  und  es  steht  zu  erwarten,  daß  man  sich  mit 
der  Zeit  auch  in  der  Theorie  allgemein  zum  richtigen  Standpunkt  durchzuringen 
wissen  wird. 


Besprecliungen 


Kurt  von  Böckmann,  Die  Geltung  der  Eeichsverfassung  in  den  deutschen 
Kolonien.  (Freiburger  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  des  öffentlichen 
Eechts,  Heft  20.)     Karlsruhe  1912.     G.  Braun.     VIII  u.  272  S. 

Die  „Freiburger  Abhandlungen"  haben  bisher  nur  vereinzelte,  aber 
dafür  um  so  beachtenswertere  Darstellungen  aus  dem  Gebiete  des  Kolonial- 
rechts gebracht.  In  Heft  16  hat  Dr.  Fritz  Hüssen  die  Verfassungsentwicklung 
Transvaals  zur  „Selfgoverning  Colony",  in  Heft  19  Dr.  Hans  Haarhaus  das 
Eecht  der  deutschen  Kolonialbeamten  unter  Berücksichtigung  des  englischen, 
französischen  und  niederländischen  Kolonialbeamtenrechts  einer  sorgfältigen 
Erörterung  unterzogen.  Beide  Schriften  haben  mit  Recht  eine  günstige  Auf- 
nahme gefunden.  Ihnen  reiht  sich  der  vorliegende  neueste,  zugleich  statt- 
lichste Band  der  Sammlung  würdig  an.  Er  enthält,  um  dies  gleich  vorweg 
zu  betonen,  einen  außerordentlich  förderlichen  Beitrag  zur  theoretischen 
Vertiefung  des  Kolonialrechts  wie  der  allgemeinen  Staatsrechtslehre,  förderlich 
nicht  im  Sinne  einer  alle  gegensätzlichen  Meinungen  ausgleichenden  Zusammen- 
stellung, sondern  förderlich  im  Sinne  einer  entschiedenen,  selbständigen, 
freilich  infolgedessen  auch  fortgesetzt  mehr  oder  minder  lebhaften  Wider- 
spruch herausfordernden  Bearbeitung.  Daß  aber  durch  solche  Untersuchungen 
der  Eechtsmssenschaft,  speziell  der  Kolonialrechtswissenschaft  bessere  Dienste 
geleistet  werden  als  durch  die  bei  Erstlingsschriften  oft  üblichen  glatten, 
neuen  Gedankengängen  ängstlich  ausweichenden  Mosaikarbeiten,  bedarf  keiner 
näheren  Begründung. 

Gegenstand  unserer  Abhandlung  ist  ein  Problem,  das  in  den  letzten 
Jahren  vdederholt  angeschnitten  worden  ist,  die  Frage,  ob  und  inwieweit 
Vorschriften  der  deutschen  Eeichsverfassung  trotz  des  Fundamentalsatzes  ihrer 
Nichtgeltung  in  den  Kolonien  gleichwohl  dort  anwendbar  seien.  Diese  Frage 
ist  vor  allem  geprüft  worden  bei  dem  Versuch,  eine  formal-gesetzliche  Grund- 
lage für  die  kolonialen  Gesetzgel)ungsfunktionen  von  Bundesrat  und  Eeichs- 
tag  zu  finden.  Wie  ist  es  zu  erklären,  daß  in  den  Kolonien  Gesetze  gelten, 
die  in  den  Formen  der  lediglich  von  der  Eeichsverfassung  geordneten  Eeichs- 
gesetzgebung  zustande  gebracht  sind,  obwohl  die  Eeichsverfassung  dort  gar 
nicht  gilt?  Wie  kommt  es,  daß  in  den  Kolonien  zwei  Eeichsorgane,  Bundes- 
rat und  Eeichstag,  tätig  werden,  die  ihr  Dasein  lediglich  der  auf  die  Kolonien, 
gar  nicht  ausgedehnten  Eeichsverfassung  verdanken?  Den  ersten  tief  er- 
gehenden Erklärungsversuch  hat  Edler  von  Hoffmann  (Kolonialregierung  und 
Kolonialgesetzgebung,  Zeitschrift  für  Kolonialpolitik,  Kolonialrecht  und  Ko- 
lonialwirtschaft, Band  7,  1905,  S.  365 — 370)  unternommen.  Er  führt  die 
legislatorische  Tätigkeit  von  Bundesrat  und  Eeichstag  in  den  deutschen 
Kolonien  auf  gewohnheitsrechtliche  Übung  zurück.  Dieser  Gewohnheits- 
rechtstheorie hat  sich  später  Sassen  (Das  Gesetzgebungs-  und  Verordnungs- 
recht in  den  deutschen  Kolonien,  1909,  S.  34  ff.)  —  allerdings  nur  vorüber- 
gehend —  angeschlossen.    Demgegenüber  habe  ich  in  der  Festgabe  der  Bonner 


508  Besprechungen. 


Juristischen  Fakultät  für  Paul  Krüger  zum  Doktorjubiläum  (Berlin  1911, 
S.  417- — 446:  Zur  Geltung  der  Eeichsverfassung  in  den  deutschen  Kolonien) 
nachzuweisen  versucht,  daß  diese  gewohnheitsrechtliche  Begründung  der 
kolonialen  Gesetzgebungskompetenz  von  Bundesrat  und  Eeichstag  keine 
befriedigende  Konstruktion  zu  bieten  vermag,  daß  diese  Zuständigkeit  viel- 
mehr nur  durch  die  Erwägung  zu  erklären  ist:  „Bundesrat  und  Reichstag 
haben  durch  die  Tatsache  des  Erlasses  des  ersten  kolonialen  Eeichsgesetzes 
den  Eechtssatz  aufgestellt,  daß  Art.  5  Abs.  1  der  EV.  fortan  in  den  Kolonien 
gelten,  daß  die  Kolonialgesetzgebung  auf  Grund  .Übereinstimmung  der  Mehr- 
heitsbeschlüsse beider  Versammlungen'  ausgeübt  werden  soll.  Das  erste 
Kolonialgesetz  hat  also  eine  doppelte  Funktion  erfüllt.  Es  hat  zunächst  die 
Zuständigkeit  von  Bundesrat  und  Eeichstag  zur  Teilnahme  an  der  Kolonial- 
gesetzgebung begründet  und  gleichzeitig  auf  der  Grundlage  der  so  begrün- 
deten Kompetenz  die  erste  Eegelung  kolonialer  Eechtsverhältnisse  vorge- 
nommen" (a.  a.  0.  S.  429,  430).  Meine  Ausführungen  beschränkten  sich  im 
übrigen  auf  den  Nachweis,  daß  überhaupt  in  der  Eeichsverfassung  Bestim- 
mungen enthalten  sind,  welche  als  in  den  Kolonien  anwendbar  bezeichnet 
werden  müssen.  Die  erschöpfende  Feststellung,  welche  einzelnen  Vorschriften 
dahin  gehören,  mußte  ich  mir  an  jener  Stelle  versagen. 

Hier  greift  nun  die  Arbeit  v.  Böckmanns  in  dankenswerter  Weise  ein. 
Sie  erblickt  darin,  daß  die  Frage  nach  dem  Geltungsbegi-iff  der  EV.  und 
der  Eeichsgesetze  bislang  noch  keine  geschlossene  Darstellung  erfahren  hat, 
eine  Lücke  des  deutschen  Staatsrechts,  deren  Ausfüllmig  nicht  allein  aus 
theoretischen,  sondern  auch  aus  praktischen  Gründen  nottut ;  hat  doch  die 
hier  herrschende  Unklarheit  sogar  zu  rechtlich  anfechtbaren  Maßnahmen 
der  kolonialen  Eegierungsorgane  geführt.  Im  Gegensatz  zii  der  bisherigen 
literarischen  Behandlung  des  Problems,  die  immer  nur  den  Weg  der  Spezial- 
konstruktion  eingeschlagen  und  die  Geltung  reichsgesetzlicher  Normen  im 
Ausland  und  in  den  Kolonien  auf  vorausgehende,  spezielle  Formalübertra- 
gungen zu  gründen  gesucht  hat,  glaubt  der  Verf.  die  wichtige  Frage  nach 
den  Regeln,  in  denen  sich  die  Verwirklichung  deutscher  Verfassungsnormen 
in  Ausland  und  Kolonien  vollzieht,  von  einer  freieren  Seite  anfassen  und  aus 
der  rechtlichen  Struktur  des  Staates  als  Ganzen  erklären  zu  müssen.  Er 
lehnt  zunächst  den  „Fundamentalsatz"  der  Nichtgeltung  der  EV.  in  den  Ko- 
lonien scharf  ab  und  weist  darauf  hin,  „daß  die  Herrschaft  dieses  unerbitt- 
lichen Dogmas  in  Wirklichkeit  auf  recht  schwachen  Füßen  steht".  Wenn 
jener  Satz  theoretisch  daraus  abgeleitet  worden  ist,  daß  die  EV.  nur  inner- 
halb des  in  Art.  1  umschriebenen  „Bundesgebietes"  gelte,  so  wird  diese  wört- 
liche Auslegung  des  Verfassvmgstextes  seinem  wirklichen  Sinn  nicht  gerecht. 
„Der  Gesetzgeber  hat  lediglich  die  Absicht  zu  erkennen  gegeben,  daß  die 
Verfassung  im  Gesamtgebiet  der  vereinigten  Partikularstaaten  gelten  solle, 
daß  sie  nur  innerhalb  dieses  Gebietes  gelten  solle,  hat  er  aber  an  keiner 
Stelle  ausgesprochen."  Und  auch  mit  der  praktischen  Handhabung  steht 
jene  wörtliche  Auslegung  nicht  im  Einklang,  denn  es  gibt  eine  ganze  Eeihe 
von  Verfassungsnormen,  die  auch  ohne  formelle  Übertragung  im  Ausland 
gelten.  Also  ist  das  Prinzip  der  Formalübertragung,  das  heute  auf  die  Geltung 
der  EV.  und  jedes  Eeichsgesetzes  angewendet  wird,  abzulehnen  und  durch 
ein  anderes  zu  ersetzen.  „Es  muß  ein  Geltungsprinzip  aufgestellt  werden, 
das  ohne  die  engherzige  Starrheit  des  obigen  Grundsatzes  doch  insoweit  uni- 
versell und  konstant  ist,  daß  es  den  ganzen  Stand  der  modernen  Geltungs- 
frage deckt,  nicht  nur  den  im  Übertragungsprinzip  enthaltenen  gesunden 
Kern  beibehält,  sondern  auch  auf  alle  Realisierungsfälle  von  Gesetzesnormen 
anwendbar  ist."  Aus  der  Verfassungsurkunde  lassen  sich  die  positiven  Grund- 
lagen einer  solchen  Geltungstheorie  nicht  entnehmen,  vielmehr  muß  zu  diesem 
Zweck  auf  die  Verfassung  im  materiellen  Sinne  zurückgegangen  werden. 
„Nur  der  materielle  Verfassungsbegriff,  das  tatsächliche  Charakterbild  der 
Eeichsgewalt,    sagt   uns    mit   absoluter  Eichtigkeit,    wann,   in   welcher  Weise 


Besprechungen.  509 


und  auf  welchen  GnincHagen  das  Keich  seine  einzelnen  Normen  zur  Anwen- 
dung bringt."  Unter  diesen  materiellen  Verfassungsbegrifi'  fallen  außer  den 
Vorschriften  über  die  (Tewaltenübung  im  Staate  auch  diejenigen  über  die 
grundsätzliche  Stellung  des  Individuums  im  Staatsverbande. 

Schon  gegen  diese  einleitenden  Bemerkungen  muß  Einspruch  erhoben 
werden.  Welchen  Ersatz  der  N'erf.  für  die  von  ihm  als  unhaltbar  abgelehnte 
herrschende  Geltungstheorie  der  Formalübertragung  bieten  wird,  steht  hier 
noch  dahin.  Eine  Verschiebung  aber  der  bisher  in  der  Literatur  erörterten 
Streitfrage  stellt  die  Zugrundelegung  des  „materiellen"  Verfassungsbegriffes 
dar.  Daß  es  ein  materielles  Verfassungsrecht  gibt,  soll  gewiß  nicht  geleugnet 
werden.  Darunter  ist  der  Inbegriff  derjenigen  Rechtsnormen  zu  verstehen, 
welche  die  bekannte  rechtswissenschaftliche  Disziplin  des  Verfassungsrechts 
=  Staatsrechts  im  engereu  Sinne  ausmachen.  Bildet  denn  aber  dieses  mate- 
rielle Verfassungsrecht  den  Gegenstand  der  literarischen  Konti'overse,  deren 
Lösung  man  nach  dem  Titel  des  Buclies  von  dem  V^erf.  erwartet  hatte?  Nein! 
Jene  Streitfrage  betrifft  gar  nicht  das  materielle,  sondern  das  formelle  Ver- 
fassungsrecht! Freilich  ist  es  das  gute  Recht  des  Autors,  sein  Thema  abzu- 
stecken, wie  es  ihm  gut  dünkt.  Dann  muß  dies  aber  auch  in  dem  Titel  der 
Abhandlung  zum  deutlichen  Ausdruck  gebracht  werden.  „Geltung  der  Reichs- 
verfassung'' deutet  darauf  hin,  als  wolle  der  Verf.  nur  das  in  der  RV.  nieder- 
gelegte, also  das  formelle  Verfassungsrecht  in  den  Ki'eis  seiner  Betrachtungen 
ziehen.  Richtig  wäre  die  Bezeichnung  „Geltung  des  Reichsverfassungs rechts" 
gewesen.  Und  ferner  darf  der  Verf.  dann  nicht  Ansichten  bekämpfen  und 
ablehnen,  die  das,  was  er  beweisen  will,  vielleicht  gar  nicht  einmal  bestreiten, 
weil  sie  zu  einer,  wenn  auch  ähnlichen,  so  doch  wesentlich  anders  lautenden 
Streitfrage  Stellung  nehmen. 

Sehen  wir  nun  zu,  welche  Formulierung  der  „Geltungsfrage"  v.  Böck- 
mann vertritt.  Dieser  Erörterung  ist  das  erste  Buch  der  Abhandlung,  das 
der  Verf.  selbst  als  Schwerpunkt  der  ganzen  Darstellung  bezeichnet,  gewidmet. 
Hier  will  er  die  Unhaltbarkeit  der  herrschenden  Theorie  beweisen  und  zu- 
gleich Ersatz  schaffen.  Er  beginnt  mit  einer  Untersuchung  des  Begriffes  der 
Staatsverfassung.  Die  letztere  ist  zunächst  ein  materieller  Kollektivbegriff, 
der  alle  für  die  individuelle  Eigenart  des  Staates  grundlegenden  Wesenszüge 
in  sich  vereinigt;  sie  ist  ebensowenig  wie  ihr  Substrat,  der  Staat,  eine  kon- 
stante Größe;  sie  ist  infolgedessen  einer  verschiedenen  Beurteilung  durch 
die  Masse  der  Beobachter  ausgesetzt.  Den  Gegensatz  zu  dieser  materiellen 
bildet  die  formelle,  in  der  Verf.-Urk.  niedergelegte  Staatsverfassung.  Nur 
der  erstere  Begriff  ist  absolut  zuverlässig,  der  letztere  kann,  weil  konstant 
und  anpassimgsunfähig,  Abweichungen  von  der  Wirklichkeit  enthalten.  Die 
Unterscheidung  beider  Begriffe  vermittelt  uns  auch  die  richtige  Vorstellung 
von  der  bedeutungsvollen  Erscheinung  der  Verfassungswidrigkeit.  Ein  ver- 
fassungswidriges Handeln  kann  niemals  vom  Staat  als  solchem,  sondern  nur 
von  seinen  Organen  begangen  werden.  Au  diesen  allgemeinen  Überblick 
über  das  Wesen  des  Verfassungsbegriffes  schließt  sich  ein  näheres  Eingehen 
auf  den  rechtlichen  Charakter,  die  Entstehung  und  den  Inhalt  der  Staats- 
verfassung. Das  Charakteristikum  der  Verfassungsgesetze  besteht  in  ihrer 
formellen,  vielfach  noch  erhöhten  Gesetzeskraft  und  in  der  Gewährung  einer 
formellen  Rechtsgrundlage  für  das  Handeln  der  Staatsorgane.  Was  die  Ent- 
stehung der  Verfassung  anlangt,  so  ist  die  Verfassung  im  formellen  Sinne  recht- 
lich allseitig  ableitbar,  nämlich  aus  der  schon  vor  ihr  bestehenden  Verfassung 
im  materiellen  Sinne;  die  Verfassung  im  materiellen  Sinne  als  erste  Ordnung 
des  Staates  beruht  hingegen  ausschließlich  auf  dem  Willen  des  Staates  selbst, 
erhält  ihre  Sanktion  in  einem  menschliche  und  juristische  Kenntnis  über- 
steigenden, metaphysischen  Vorgange,  nämlich  durch  ihre  Realisierung  seitens 
des  Staates.  Ihrem  Inhalt  nach  birgt  die  Staatsverfassung  einerseits  Normen, 
welche  von  der  Gewaltenübung  im  Staate  handeln,  d.  h.  Grundsätze  über 
die   obersten   Staatsorgane,   ihre  Bestellung,   ihr  Verhältnis  zueinander,   ihre 


510  Besp'recliimgen. 


Kompetenzen,  anderseits  Normen  über  das  Individualrecht,  d.  h.  Grundsätze 
über  das  Verhältnis  des  einzelnen  zur  Staatsgewalt,  Das  Individualrecht 
umfaßt  wieder  zwei  Bestandteile:  Normen  über  die  Rechte  und  über  die 
Pflichten  des  Staatsbürgers.  Alle  subjektiven  öffentlichen  Rechte  der  Staats- 
bürger sind  abhängig  von  Tatsache  und  Umfang  der  Anspruchsgewährung 
seitens  des  Staates.  Die  subjektive  Rechtssphäre  ist  eine  gänzlich  in  der 
Person  des  Individuums  liegende  Rechtstatsache.  Das  allgemeine  Merkmal 
des  subjektiven  öffentlichen  Rechts  besteht  in  seiner  Richtung  auf  Befriedigung 
eines  individuellen  Interesses,  sowie  darin,  daß  dem  Individuum  Schutzmittel 
zur  allseitigen  Behauptung  dieses  Rechts  gewährt  sind.  Die  hieraus  im  kon- 
kreten Falle  fließenden  Ansprüche  der  einzelnen  gehen  teils  auf  positive 
Leistungen  des  Staates  im  Interesse  eines  individuellen  Zweckes,  teils  auf 
Unterlassung  staatlicher  Einwirkungen  innerhalb  einer  bestimmten  indivi- 
duellen Rechtssphäre,  teils  darauf,  als  Organ  des  Staates  zu  fungieren  und 
an  der  Bildung  staatlicher  Organe  teilzunehmen.  Die  Pflichten  des  Staats- 
bürgers bestehen  in  der  Gehorsamspflicht,  in  Sachleistungen,  in  der  öffent- 
lichen Diensti^flicht. 

Nach  diesen  grundlegenden  Ausführungen  geht  der  Verf.  dazu  über, 
das  gewonnene  Begriffsschema  der  Staatsverfassung  auf  die  Verfassung  des 
Deutschen  Reiches  anzuwenden.  Auch  diese  enthält  Normen  sowohl  über 
die  Gewaltenübung  im  Reiche  als  auch  über  die  grundsätzliche  Stellung  der 
Reichsangehörigen  zur  Reichsgewalt.  Nun  fehlen  zwar  im  Text  der  RV. 
zahlreiche  Normen  aus  beiden  Gruppen,  vor  allem  aus  dem  Individualrecht. 
Gleichwohl  ist  im  Reich  ein  umfassendes  System  subjektiver  öffentlicher  Rechte 
des  Individuums  gemeinrechtlich  begründet  worden.  Auch  die  Realisierbar- 
keit des  subjektiven  Individualrechts  läßt  nichts  zu  wünschen  übrig.  Wenn 
auch  zu  einem  vollkommenen  Rechtsschutz  der  Reichsangehörigen  gegenüber 
den  Maßnahmen  der  Verwaltungsbehörden  der  allseitige  Ausbau  der  Reichs- 
Verwaltungsgerichtsbarkeit  und  die  Einführung  von  Verwaltungsgerichten  in 
einzelnen  Staaten  noch  fehlt,  kann  man  doch  das  Bestehen  eines  Verwaltungs- 
rechtsschutzes im  Reich  nicht  in  Abrede  stellen.  Denn  es  besteht  eine  Fülle 
unaljhängiger  richterlicher  Behörden  auf  dem  Gebiete  der  Justiz  und  der 
Verwaltung,  die  zum  Teil  durch  das  Reich,  in  der  Hauptsache  aber  durch 
die  Gliedstaaten  eingesetzt  sind. 

Den  vorstehend  skizzierten  Ausführungen  des  Verf.  kann  wie  im  Er- 
gebnis so  auch  fast  dm-chweg  in  den  Einzelheiten  zugestimmt  werden. 
Besonders  treffend  und  klar  zum  Ausdruck  gelangt  sind  z.  B.  seine  Dar- 
legungen über  die  Entstehung  des  Staates,  über  die  Entstehung  der  Ver- 
fassung, über  das  Wesen  der  subjektiven  öffentlichen  Rechte,  über  die 
begriffliche  Notwendigkeit  ihrer  Realisierbarkeit.  Nur  hätte  der  Verf.  mit 
seinen  Zitaten  hier  und  da  etwas  freigebiger  sein  können,  so  z.  B.  S.  38  f. 
in  Anm.  21.  Einzelne  Bemerkungen  sind  nicht  unbedenklich.  Ist  die  Ver- 
fassungsurkunde wirklich  immer  erst  aus  der  Verfassung  im  materiellen  Sinne 
hervorgegangen  (S.  18)?  Man  denke  an  die  Verfassung  des  Norddeutschen 
Bundes,  des  Deutschen  Reichs.  Ist  der  „materielle  Geist"  der  RV.  CS.  25) 
ein  juristischer  Begriff?  Wird  nicht  die  Bedeutung  des  Individualrechts 
gegenüber  derjenigen  der  Grundsätze  von  der  Gewaltenübung  (S.  44)  ein 
wenig  zu  hoch  gewertet? 

Mit  besonderem  Interesse  wenden  wir  uns  nun  den  Folgerungen  zu,  die 
der  Verf.  aus  den  grundlegenden  Feststellungen  für  seine  Theorie  der  Norm- 
geltung zieht.  Er  untersucht  zunächst  den  Begriff  der  „Geltung"  nach  ver- 
fassungsrechtlichen Grundsätzen,  um  sodann  zu  ermitteln,  ob  und  wieweit  er 
sich  als  Rechtsbegriff  auf  die  Geltung  von  Verfassungsnormen  anwenden 
läßt.  Und  zwar  erhebt  er  die  Geltungsfi-age  sowohl  für  die  Verfassung  als 
Ganzes  wie  für  die  einzelne  Verfassimgsnorm.  Die  Verfassung  als  Ganzes 
„gilt"  im  staatlichen  Innenverhältnis  kraft  der  durch  den  Staatswillen  voll- 
zogenen  Sanktion    als   Teil    der    staatlichen   Rechtsordnung,    im   staatlichen 


Besprechungen.  511 


Außenverhältnis,  d.  h.  im  völkerrechtlichen  Verkehr,  kraft  der  durch  den 
Willen  der  Völkerrechtssubjekte  vollzogenen  Sanktion  als  Teil  der  völker- 
rechtlichen Ordnung.  Die  Geltungsfrage  der  einzelnen  Verfassungsnormen 
läßt  sich  nur  nach  den  besonderen  Grundsätzen  über  die  Gesetzesgeltung 
beantworten.  Hierbei  ist  davon  auszugehen,  daß  es  nicht  nur  eine  Geltung 
des  Gesetzes  als  verfassungsmäßig  erklärten  staatlichen  Willens  (abstrakte 
Geltung),  sondern  auch  eine  Geltung  des  Gesetzes  im  Augenblick  seiner  An- 
wendung auf  einen  konkreten  Tatbestand  (praktische  Geltung)  gibt.  Zwischen 
diese  beiden  Geltungsbegriffe  schiebt  sich  noch  ein  dritter  Geltungsbegriff, 
der  der  konkreten  Geltung,  ein.  Konkrete  Geltung  ist  in  dem  Augenblick 
vorhanden,  in  dem  der  gesetzliche  Tatbestand  sich  in  einem  Tatljestand  des 
täglichen  Lebens  verwirklicht.  Ergebnis:  Eine  jede  Rechtsnorm  gilt  an  jedem 
Orte,  in  jedem  Personenverhältnis,  in  dem  sie  zu  einer  rechtmäßigen,  prak- 
tischen Anwendung  gelangt.  Wie  die  Verfassung  als  Ganzes  besitzt  auch 
die  einzelne  Norm  je  nach  der  Beschaffenheit  ihres  gesetzlichen  Tatbestandes 
die  Fähigkeit,  sowohl  auf  staatsrechtlichem  wie  auf  völkerrechtlichem  Gebiete 
zur  Anwendung  zu  gelangen.  „Die  Verfassung  als  Gesamtordnung  des  Staates 
ist  an  kein  bestimmtes  Territorium  gebunden,  sondern  gilt,  soweit  wie  der 
Staat  selbst  gilt,  wie  seine  positive  Machtsphäre  sich  erstreckt.  Die  einzelne 
Norm,  die  in  ein  Gesetz  gekleidet  ist  und  als  Gesetz  bewertet  werden  muß, 
ist  auch  an  kein  bestimmtes  Territorium  gebunden,  sondern  gilt,  soweit  wie 
ihre  praktische  Anwendung  dm"ch  ein  Organ  des  Staates  oder  durch  das 
Individuum  möglich  ist.  Wo  immer  daher  die  Verfassung  als  Totalbegriff 
oder  die  Einzelnorm  praktisch  in  Aktion  treten,  ist  die  Greltung  der  Ver- 
fassung wie  der  Norm  eine  staatsrechtliche  oder  staatsrechtliche  und  völker- 
rechthche  zugleich,  in  allen  Fällen  aber  eine  juristische," 

Wendet  man  diese  Ergebnisse  auf  die  EV.  als  Ganzes  an,  so  ergibt 
sich  die  grundsätzliche  Möglichkeit,  daß  die  RV.  in  Gebieten  juristisch  gelten 
kann  und  muß,  in  denen  sie  formell  nicht  eingeführt  ist.  Die  Ansicht,  daß 
die  RV.  nur  innerhalb  des  europäischen  Reichsgebietes  gelte,  ist  überdies 
mit  den  Grundsätzen  des  Konstitutionalismus  und  der  modernen  internatio- 
nalen Evolution  der  Staaten  unvereinbar. 

Wendet  man  jene  Ergebnisse  auf  die  einzelnen  Normen  des  Reichs- 
verfassungsrechts an,  so  ergibt  sich  der  Satz,  daß  die  allgemeine  Verbind- 
lichkeit der  Gesetze  soweit  reicht,  wie  Angehörige  des  Staates  sich  aufhalten. 
„Die  einzelne  Gesetzesnorm  hat  als  verfassungsmäßig  erklärter  Reichswillensakt 
eine  regelmäßig  nur  personal  begrenzte  und  damit  territorialer  Grenze  nent- 
hobene  Verbindlichkeit  für  alle  Reichsangehörigen  (abstrakte  Geltung).  So- 
bald an  irgendeinem  Orte,  in  irgendeiner  Person  oder  einem  Personenver- 
hältnis sich  der  in  ihr  festgestellte  gesetzliche  Tatbestand  verwirklicht,  tritt 
ohne  weiteres  ihre  juristische  Geltung  in  einem  konkreten  Einzelfall  ein 
(konkrete  Geltung).  Sobald  ein  Reichsorgan  oder  ein  Reichsangehöriger  in 
Verfolg  dieser  juristischen  Geltung  die  vom  Gesetz  geforderte  Aktion  in  ihrer 
Person  eintreten  lassen,  wird  das  (besetz  aktiv  realisiert,  sein  Wille  in  den 
Handlungen  der  betreffenden  Personen  lebendig  (praktische  Geltimg).  Der 
Eintritt  der  konkreten  Geltung  ist  ein  ohne  individuelles  Zutun  eintretender 
Rechtserfolg."    „Der  Geltungsbegi-iff  hat  mit  dem  Territorium  nichts  zu  tun." 

Die  Normen  über  die  Gewaltenübung  und  die  Normen  über  das  Indi\a- 
dualrecht  haben  je  einen  potentiellen  und  einen  aktuellen  Geltungsbereich. 
Während  der  potentielle  Geltungsbereich  der  ersteren  Normen  mit  den  posi- 
tiven Machtgrenzen  des  Reiches  zusammenfällt,  ist  der  der  letzteren  Normen 
personal  durch  das  Vorhandensein  von  Reichsangehörigen  begrenzt.  Während 
der  aktuelle  Geltungsbereich  der  ersteren  Normen  sich  durch  deren  staats- 
und  völkerrechtliche  Realisierungsmöglichkeit  bestimmt,  erstreckt  er  sich  bei 
den  letzteren  Normen  auf  alle  diejenigen  staatsrechtlichen  Gebiete  und  Per- 
sonenverhältnisse, deren  rechtliche  Gestaltung  eine  Realisierung  der  fraglichen 
Norm  durch  das  Reich  oder  den  Reichsangehörigen   zuläßt.     Die  Gebunden- 


512  Besprechungen. 


heit  aller  dieser  Normen  an  ein  im  voraus  bestimmtes  Territorium  ist  grund- 
sätzlich ausgeschlossen. 

Diese  mit  großem  Scharfsinn  angestellten  Deduktionen  dürften  aller- 
dings den  Nachweis  einer  personalen  Geltung  reichsrechtlicher  Bestim- 
mungen im  Auslande  erbracht  haben.  Zu  beachten  ist  jedoch,  daß  von  per- 
sonaler Geltung  zu  territorialer  Geltung  noch  ein  großer  Schritt  ist.  Für 
die  Frage  der  Geltung  reichsverfassuugsrechtlicher  Normen  in  unseren  Kolonien 
ist  aber  nur  der  Beweis,  daß  diese  Normen  dort  auch  territorial  gelten, 
eine  Lösung  der  die  Literatur  beschäftigenden  Streitfrage.  Prüfen  wir  nun- 
mehr, was  der  Verf.  uns  in  dieser  Hinsicht  neues  bietet. 

Im  zweiten  Buche  seiner  Schrift  beschäftigt  er  sich  mit  der  Frage  der 
Geltung  der  RV.  (soll  heißen :  des  Eeichsverfassungsrechts)  in  den  deutschen 
Kolonien.  Die  Herrschaft  des  Reiches  über  die  Kolonien  als  Objekte  der 
Reichsgewalt  ist  territorialer,  staatsrechtlicher  Art.  Die  Kolonien  liegen 
ebenso  wie  das  engere  Reichsgebiet  im  potentiellen  Geltungsbereich  der 
Normen  über  die  Gewaltenübung  und  über  das  Individualrecht.  Theorie 
und  Praxis  leugnen  das,  indem  sie  die  Geltung  der  RV.  in  den  Kolonien 
von  der  ausdrücklichen  Ausdehnungserklärung  abhängig  machen.  Zu  Unrecht. 
Wie  Elsaß-Lothringen  im  Augenblick  der  Unterwerfung  unter  die  faktische 
staatsrechtliche  Gewalt  in  den  potentiellen  Geltungsbereich  der  RV.  getreten, 
folglich  dort  von  diesem  Moment  an  die  jederzeitige  aktuelle  Realisierimg 
der  Verfassungsnormen  möglich  geworden  ist,  so  war  dies  auch  bei  den  Ko- 
lonien der  Fall.  In  ihnen  gelten  alle  Verfassungsnormen,  die  dort  praktisch 
angewendet  werden.  Aber  auch  die  in  ihnen  nicht  praktisch  angewendeten 
Normen  haben  gleichwohl  die  abstrakte  wie  auch  die  konkrete  Geltung  er- 
langt. Soweit  es  sich  dabei  um  Normen  handelt,  für  deren  praktische  Geltung 
die  Kolonien  nach  ihrer  kulturellen,  sozialen  und  rechtlichen  Entwicklung 
reif  sind,  kann  ihre  Nichtanwendung  daher  eine  Verfassungswidrigkeit 
bedeuten. 

Im  einzelnen  Ijetrachtet  der  Verf.  auch  hier  zunächst  die  Normen  über 
die  Gewaltenübung.  Eine  Reihe  von  Normen  ist  nur  einmalig  realisiert 
worden,  diejenigen  nämlich,  die  sich  auf  den  Erwerb  der  Kolonien  beziehen. 
Andere  Normen,  die  die  Organisation  der  Kolonien  betreffenden,  gelten  heute 
noch.  Dahin  gehören  die  Vorschriften  über  die  Rechtsstellung  des  Kaisers, 
die  Zuständigkeit  von  Bundesrat  und  Reichstag  zum  Erlaß  kolonialer  Reichs- 
gesetze, den  Weg  der  Eeichsgesetzgebung,  die  völkerrechtliche  Vertretung 
der  Kolonien,  die  Kriegserklärung.  Hervorzuheben  ist  die  sehr  eingehende 
und  gründliche  Stellungnahme  des  Verf.  zu  der  eingangs  dieser  Besprechung 
erwähnten  Streitfrage  über  die  Rechtfertigimg  und  Begründung  der  kolonialen 
Gesetzgebungskompetenz  von  Bundesrat  und  Reichstag.  (Vgl.  dazu  meine 
Bemerkungen  in  der  Zeitschrift  für  Kolonialpolitik,  Kolonialrecht  und  Kolo- 
nialwirtschaft, 1912,  Heft  5,  S.  336,  337.) 

Es  folgt  die  Prüfung  der  Anwendbarkeit  der  Normen  des  reichsgesetz- 
lichen Individualrechts.  Auch  hier  glaubt  der  Verf.  die  Unhaltbarkeit  des 
Übertragungsprinzips  dartun  zu  können.  Den  durch  die  positive  Rechtsetzung 
erfolgten  Ausschluß  des  Individualrechts  vom  kolonialen  Rechtsgebiet  bezeichnet 
er  als  Verstoß  gegen  den  durch  die  rechtliche  Struktur  des  Reiches  unmittelbar 
realisierten  Grundsatz  der  konstitutionellen  Herrschaftsübung  —  auch  in  den 
Kolonien.  Aus  diesem  Grundsatz  und  aus  dem  Begriff  der  Reichsangehörigkeit 
folgert  er,  daß  auch  das  subjektive  Individualrecht  grundsätzlich  überall  vor- 
handen sein  muß,  wo  konstitutionelle  Reichsgewalt  und  Reichsangehörige 
zusammentreffen,  insbesondere  also  in  den  Kolonien,  wo  jenes  Zusammen- 
treffen auf  der  Grundlage  territorialer,  staatsrechtlicher  Maehtlage  der  Reichs- 
gewalt erfolgt.  An  die  Stelle  des  Übertragungsprinzips  hat  demnach  auch 
hier  das  Geltungsprinzip  zu  treten.  Das  Individualrecht  ist  ein  Zustand,  in 
den  der  einzelne  nicht  kraft  territorialer  Beziehungen,  sondern  durch  den 
Erwerb    der   Staatsangehörigkeit   eintritt.     Das    gesamte  Individualrecht   gilt 


Besprechungen.  513 


überall,  wo  Eeichsangehörige  vorbanden  sind,  auch  im  Ausland  und  in  den 
Kolonien.  Sobald  der  gesetzliche  Tatbestand  der  Norm  sich  in  einen  positiven 
des  praktischen  Lebens  verwandelt,  erlangt  die  Norm  konkrete  Geltung,  der 
sodann  die  praktische  Anwendung  zu  folgen  hat. 

An  diese  theoretische  Grundlegung  schließt  sich  der  positive  Beweis  an, 
daß  diese  Geltungstheorie  auch  für  das  koloniale  Individualrecht  wirklich 
einem  praktischen  Bedürfnis  entspricht.  Der  Verfasser  will  hier  jedoch  keine 
lückenlose  Darstellung  bieten,  sondern  in  erster  Linie  das  Individualrecht 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Konsetfuenzen  der  Übertragungstheorie  beleuchten. 
Er  weist  darauf  hin,  daß  es  Theorie  und  Praxis  auch  bezüglich  des  Individual- 
rechts nicht  gelungen  sei,  den  Grundsatz  der  Formalübertragung  ganz  folge- 
richtig durchzuführen,  daß  auch  da,  wo  letzteres  erreicht  ist,  doch  zum  Teil 
erhebliche  theoretische  und  praktische  Mißstände  zutage  getreten  seien.  Auf 
den  nun  folgenden  Rundgang  durch  das  koloniale  Individualrecht  soll  hier 
nicht  im  einzelnen  eingegangen  werden.  Erörtert  werden  das  koloniale 
Eechtsmittelwesen  (Rechtsschutz  auf  dem  Gebiete  der  .Justiz  und  der  Ver- 
waltung), die  subjektiven  öffentlichen  Rechte,  und  zwar  die  politischen  Rechte 
(Wahlrecht  zum  Reichstag,  zu  einer  partikularen  Kammer,  zu  einem  kolonialen 
Landesparlament,  zu  kommunalen  Körj^erschaften),  die  bürgerlichen  Rechte 
(Recht  des  Aufenthalts  im  Staatsgebiet,  Anspruch  auf  staatlichen  Schutz  und 
Fürsorge),  die  individuellen  Freiheitsrechte  (Begriff  derselben,  die  einzelnen 
Rechte:  Unverletzlichkeit  der  Person,  der  Wohnung  und  der  Papiere,  Fi-eiheit 
der  persönlichen  und  wirtschaftlichen  Bewegung,  Gewerbefreiheit.  Verehe- 
lichungsfreiheit,  Bekenntnisfreiheit,  Preßfi'eiheit,  Unverletzlichkeit  des  Ver- 
mögens), Beschwerde  und  Petition,  die  staatsbürgerlichen  Pflichten  (zu  Dienst- 
und Sachleistungen). 

Auch  dieses  zweite  Buch  der  Schrift  gibt  im  einzelnen  wie  im  ganzen 
zu  Bedenken  Anlaß.  Nicht  zu  billigen  sind  von  den  einzelnen  Ausführungen 
vor  allem  diejenigen  über  die  Geltung  der  RV.  in  Elsaß-Lothringen  (S.  115, 
116)  und  über  die  Rechte  des  Bundesrats  (S.  131,  in  der  Anm.).  Hinsichtlich 
der  Darstellung  im  ganzen  ist  vor  allem  zu  bemerken,  daß  es  dem  Verf. 
nicht  gelungen  ist,  den  überzeugenden  Nachweis  der  territorialen  Geltung 
deutscher  Verfassungsvorschriften  in  den  Kolonien  zu  erbringen.  Allerdings 
glaubt  er  diese  territoriale  Geltung  nachgemesen  zu  haben,  doch  ist  die  Be- 
gründung dieser  Behauptung  durchaus  unzulänglich.  Er  führt  aus:  „Ist  der 
Herrschaftsbereich,  in  dem  die  Norm  praktisch  realisiert  wird,  lediglich  per- 
sonal begrenzt,  so  ist  auch  die  Geltung  der  Norm  nur  personaler  Art.  Ist 
dagegen  der  Herrschaftsbereich  der  Reichsgewalt  unmittelbar  und  ausschließ- 
lich unterworfen,  wie  in  den  Kolonien,  so  erlangt  die  Norm  mit  der  ten-i- 
torialen  Machtlage  des  sie  einführenden  Reichswillens  ohne  weiteres  auch 
die  territoriale  Geltung.  Mit  dieser  Deduktion  wird  man  sich  abfinden  müssen, 
denn  für  alle  ohne  besonderen  Rechtstitel  in  den  Kolonien  angewandten 
Normen  läßt  sich  eine  andere  Geltungskonstruktion  eben  nicht  finden  —  es 
sei  denn,  daß  man  seine  Zuflucht  zu  dem  für  diese  Frage  immer  bedenklichen 
Gewohnheitsrecht  nimmt"  (S.  143).  Ich  vermag  in  diesen  Worten,  deren 
im  Gegensatz  zu  der  sonst  entschiedenen  Ausdrucksweise  des  Verf.  recht 
zaghafte  Formulierung  sehr  bezeichnend  ist,  nur  eine  unbewiesene  Behauptung 
zu  erblicken.  Den  vollen  Beweis,  daß  verfassungsrechtliche  Normen  nicht 
bloß  personal,  sondern  auch  temtorial  gelten,  ist  uns  der  Verf.  schuldig 
geblieben.  Dieser  Nachweis  läßt  sich  m.  E.  nur  erbringen  durch  die  Fest- 
stellung, daß  solche  Normen  diarch  eine  irgend^\^e  geartete  Erklärung  der 
zuständigen  Reichsorgane  auf  die  Kolonien  übertragen  worden  sind.  Das 
vom  Verf.  so  scharf  bekämpfte  Übertragungsprinzip  dürfte 
daher  der  Geltungstheorie  nach  wie  vor  vorzuziehen  sein.  Denn 
nur  mit  seiner  Hilfe  ist  der  Beweis  territorialer  Geltung  ver- 
fassungsrechtlicher Normen  in  den  Kolonien  konstruktiv  zu  er- 
bringen, während  die  Geltungstheorie  hier  versagt. 

Zeitschrift  für  Politik.   6.  33 


514  Besprechungen. 


Trotz  alledem  muß  rückhaltlos  anerkannt  werden,  daß  der  Verf,  mit 
seinen  scharfsinnigen,  gründlichen,  gewandt  abgefaßten  Ausführungen  einen 
außerordentlich  wertvollen  und  verdienstlichen  Beitrag  zur  weiteren  Klärung 
eines  schwierigen  kolonialrechtlichen  und  auch  kolonialrechtspolitisch  be- 
deutsamen Problemes  beigetragen  hat.  Das  Buch  ist  eine  der  besten  wissen- 
schaftlichen Leistungen,  die  uns  in  den  letzten  Jahren  auf  kolonialrechtlichem 
Gebiet  beschert  worden  sind. 

Knüpfen  wir  zum  Schluß  eine  kurze  Betrachtung  de  lege  ferenda  an. 
Daß  der  Verf.  keine  solche  anstellt,  ist  folgerichtig  von  seinem  Standpunkte 
aus.  Gilt  nach  seiner  Auffassung  heute  bereits  —  vorbehaltlich  allerdings 
der  praktischen  Anwendung  —  das  ganze  Reichsverfassungsrecht  im  materiellen 
Sinne  abstrakt  und  konkret  in  unseren  Kolonien,  so  entfällt  damit  das  Problem 
der  Erstreckung  von  Normen  der  Eeichsverfassung  auf  die  Kolonien  im  Wege 
der  Einführung.  Vertritt  man  hingegen  den  Standpunkt,  von  dessen  Un- 
richtigkeit mich  die  Ausführungen  des  Verf.  nicht  haben  überzeugen  können, 
daß  die  Reichsverfassung  in  den  Kolonien  territorial  geltendes  Recht  nur 
insoweit  ist,  als  ihre  Vorschriften  ausdrücklich  oder  stillschweigend  auf  sie 
ausgedehnt  worden  sind,  so  stehen  wir  vor  der  rechtspolitischen  Frage,  ob 
eine  solche  Ausdehnung  weiterer  Vorschriften  der  RV.  oder  gar  der  ganzen 
RV.  auf  die  Kolonien  ratsam  ist.  Daß  der  Gedanke  der  Einführung  der  ganzen 
RV.  infolge  der  großen  ethnographischen,  wirtschaftlichen  und  kulturellen 
Gegensätze  zwischen  Mutterland  und  Kolonien  in  absehbarer  Zeit  keine  Ver- 
wirklichung finden  kann,  bedarf  wohl  keiner  tieferen  Begi'ündung.  Umgekehrt 
erscheint  es  dringend  notwendig,  diejenigen  Vorschriften  der  RV.,  welche 
heute  bereits  —  auch  mangels  ausdrücklicher  Einfühi-ung  —  als  in  den  Ko- 
lonien geltend  bezeichnet  werden  müssen,  im  Interesse  der  Rechtssicherheit 
nun  auch  formaljurisch  auf  die  Kolonien  zu  erstrecken.  Wieweit  in  diesem 
Falle  noch  anderweitige  Vorschriften  der  RV.  in  die  Übertragung  miteinzu- 
beziehen  wären,  läßt  sich  nicht  prinzipiell,  sondern  nur  nach  der  einzelnen 
konkreten  Rechtsnorm  beantworten.  Bezüglich  der  äußeren  Form  dieser  ge- 
setzlichen Maßnahmen  darf  ich  auf  meinen  Vorschlag  in  der  Ki'üger-Festgabe 
(a.  a.  0.  S.  445)  verweisen:  Diejenigen  Vorschriften  der  RV.,  welche  als  still- 
schweigend im  Wege  der  Gesetzgebung  oder  auf  Grund  gewohnheitsrecht- 
licher Übung  auf  die  Kolonien  ausgedehnt  zu  erachten  sind,  gemeinschaftlich 
mit  den  übrigen  wichtigeren  kolonialstaatsrechtlichen  Bestimmungen  und  den 
einzelnen  sonst  etwa  noch  für  die  Kolonien  geeigneten  Vorschriften  der  RV. 
in  einem  besonderen  kolonialen  Staatsgrundgesetz  zusammenzufassen.  Die  be- 
vorstehende Kolonialrechtsreform  bietet  Gelegenheit  zu  dieser  Neugestaltung. 
Möge  diese  Gelegenheit  ergriffen  werden  zur  Beseitigung  eines  für  Theorie 
und  Praxis  gleich  unerquicklichen  Zustandes.  Friedrich  Giese. 


Richard  Seligmann,  Die  staatsrechtliche  Stellung  des  deutschen  Reichstags- 
präsidenten. Frankfurt  a.  M.  1912.  Druckerei  Jacob  und  Alfred  Mayer. 
VI  und  112  S. 

Die  vorliegende,  klar  geschriebene,  aus  den  Quellen  schöpfende,  aber 
auch  die  Literatur  sorgfältig  verwertende  Arbeit  will  —  anders  als  es  der 
Titel  vermuten  läßt  —  „das  Recht"  (nicht,  wie  Verf.  im  Text  wiederholt 
holt  sagt,  nur  „die  Rechte")  des  Präsidenten  des  deutschen  Reichstages  dar- 
stellen. Diese  Aufgabe  hat  der  Verf,  in  anerkennenswerter  Weise  erfüllt, 
wenngleich  er  seine  Absicht,  nur  von  der  lex  lata  zu  sprechen  und  jedes 
politische  Moment  auszuschalten,  nicht  in  vollem  Umfange  zur  Ausführung 
gebracht  hat  (vgl.  etwa  S.  37,  39,  41  f.,  61). 

Die  Abhandlung  gliedert  sich  in  acht  Hauptabschnitte:  I.  Die  gesetz- 
lichen Grundlagen  der  Befugnisse  des  Reichstagspräsidenten.  11.  Die  Wahl 
des  Präsidenten.     III.  Der  Präsident  als  Mitglied  der  kollegialen  Organe  des 


Besprechungen.  515 


Reichstages.  IV.  Die  Tätigkeit  des  Präsidenten  in  den  Plenarsitzungen. 
(1,  Die  Leitung  der  Verhandlung:  a)  Die  Festsetzung  der  Tagesordnung; 
b)  kann  der  Präsident  mit  rechtlicher  Wirkung  eine  geheime  Plenarsitzung 
beantragen?;  c)  die  Vollziehung  des  .Sitzungsprotokolls;  d)  die  Handhabung 
der  Redeordnung;  e)  die  Leitung  der  Abstimmung;  f)  Funktion  des  Präsi- 
denten bei  Feststellung  der  Beschlußfähigkeit  [gemeint  Beachlußunfähigkeit] 
des  Hauses;  g)  ist  der  Präsident  Subjekt  der  Auslegung  der  Geschäfts- 
ordnung? —  2.  Die  Handhabung  der  Ordnung:  a)  gegenüber  den  Reichstags- 
mitgliedern ;  b)  gegenüber  den  Bundesratsmitgliedem  etc. ;  c)  gegenüber  den 
Reichstagsbesuchern.)  V.  Urlaubserteilung.  VI.  Vertretung  des  Reichstags 
nach  außen  und  Ausgabendekret.  VII.  Anstellung  der  Reichstagsbeamten. 
Vin.  Verhältnis  des  Präsidenten  zu  den  Quästoren. 

In  diese  Kapitel  ist  allerdings  nicht  weniges  hineingebracht  worden, 
was  nur  sehr  lose  und  äußerlich  mit  dem  Recht  des  Reichstagspräsidenten 
zusammenhängt,  wie  denn  z.  B.  die  Frage  nach  der  Zulässigkeit  geheimer 
Reichstagssitzungen  und  den  Folgen  ihrer  Abhaltung,  nach  der  Redezeit  der 
Abgeordneten,  nach  der  Geschäftssprache  und  den  Abstimmungsformen  und 
wie  ferner  das  parlamentarische  Disziplinarrecht  in  einer  Ausdehnung  behandelt 
ist,  die  nicht  im  rechten  Verhältnis  zum  Thema  steht.  Wenn  man  andererseits 
in  der  Erörterung  der  Behandlung  von  Interpellationen  einen  Hinweis  auf  die 
Funktionen  des  Präsidenten  bei  den  sog.  „kurzen  Anfragen"  vermißt,  so  mag 
der  Zeitpunkt  des  Abschlusses  der  Schrift  diesen  objektiven  Mangel  erklären. 
Dagegen  fällt  aiif,  daß  der  Verf.  S.  88  f.  behauptet,  außer  dem  Reichsrecht 
kenne  in  Deutschland  nur  das  braunschweigische  Parlamentsrecht  die  Strafe 
der  Ausschließung  eines  Abgeordneten  wegen  Ordnungsverletzung,  die  Aus- 
schließungsbefuguis  fehle  insbesondere  dem  Präsidenten  des  preußischen  Ab- 
geordnetenhauses (s.  aber  die  Bemerkung  S.  84  unter  Anm.  2). 

Was  die  Abhandhmg  über  den  Durchschnitt  juristischer  Anfängerarbeiten 
entschieden  hinaushebt,  das  ist,  abgesehen  von  ihrer  sachlichen  Darstellungs- 
weise, die  besonnene,  ruhige  und  selbständige  Kritik,  mit  welcher  Verf.  zu 
den  in  der  Literatur  vertretenen  Ansichten  Stellung  nimmt.  Die  Polemik 
richtet  sich  naturgemäß  auch  gegen  den  Unterzeichneten,  dessen  autonomes 
Reichstagsrecht  der  vorliegenden  Schrift  in  nicht  unerheblichem  Umfange  zur 
Grundlage  gedient  hat.  Eine  Auseinandersetzung  mit  dem  Verf.  ist  an  dieser 
Stelle  natürlich  ausgeschlossen.  Doch  steht  Ref.  nicht  an,  in  einem  wichtigen 
Punkte,  nämlich  bezüglich  des  Umfanges  des  Rechtes  des  Reichstagspräsidenten 
zur  Auslegung  der  Geschäftsordnung,  seine  bisherige  Auffassung  zugunsten 
der  von  S.  53  f.  vertretenen  zu  modifizieren.  Dagegen  kann  Ref.  der  auch 
von  S.  (S.  98  f.)  vertretenen  Ansicht,  nach  welcher  dem  Reichstag  und.  kraft  De- 
legation, seinem  Präsidenten  im  Reichstagsgebäude  wahre  Polizeigewalt  „und 
zwar  hauptsächlich  Befugnisse  und  Pflichten  der  Sicherheitspolizei"  zustehen 
sollen,  nicht  zustimmen,  da  es  an  jeder  gesetzlichen  Bestimmung  fehlt,  welche 
den  Reichstag,  im  Gegensatz  zu  allen  anderen  Reichsorganen, 
mit  derartigen  Befugnissen  der  Exekutive  ausstattete.  Kurt  Pereis. 


L.  Luzzatti,  Freiheit  des  Gewissens  und  Wissens.     Studien  zur  Trennung 
von   Staat   und   Kirche.      (Übersetzung  von    Dr.   I.   Bluw stein,   mit 
einem   Bildnis    des  Verfassers.)     Leipzig   1911.     Dunker   &   Humblot. 
XrV  u.  155  s. 
Der  Verf.,   Professor   an   der  Universität  Rom   und  früher  italienischer 
Ministerpräsident,  hat  1909  ein  Buch  veröffentlicht:    „Libertä  di  coscienza  e 
di  scienza;  studi  storici  del  diritto  costitutionale."    Aus  diesem  Buche  werden 
in  der  vorliegenden  Übersetzung  einige  Ausschnitte  wiedergegeben,  die  jedoch 
vom  Verfasser  teils  umgeändert,   teils  mit  Zusätzen  und   einer  Vorrede  ver- 
sehen worden  sind,  „so  daß  diese  deutsche  Ausgabe  gegenüber  der  italienischen 

33* 


516  Besprechungen. 


Vorlage  als  vervollkommnet  gelten  darf".  Wenn  auch  der  Übersetzer  hervor- 
hebt, daß  vor  allem  diejenigen  Ausschnitte  ausgewählt  seien,  die  die  Stellung  der 
Kirche  im  modernen  Staate  behandeln,  so  darf  man  doch  nicht  etwa  eine 
grundlegende  Auffassung  von  Staat  und  Kirche  erwarten,  wie  sie  seinerzeit 
Marco  Miughetti  in  seinem,  in  der  italienischen  Literatur  auch  heute  noch 
nicht  übertroffenen  Werke  gegeben  hat.  Vielmehr  handelt  es  sich  wesentlich 
um  Erörterungen  des  Gegensatzes  und  der  Vereinbarkeit  von  Glaube  und 
Wissen,  die  in  der  erhabenen  Sprache  romanischer  Beredsamkeit  vorgetragen 
werden.  Sie  sind  erfüllt  von  einem  edlen  Feuer  der  Begeisterung  für  das 
Gute  und  Hohe,  ja  man  wird  zuweilen  so  sehr  in  die  Wolken  erhoben,  daß 
man  fast  Sehnsucht  nach  dem  harten  trockenen  Brot  nüchterner  Erkenntnis 
der  Tatsachen  verspüren  könnte.  Und  man  möchte  meinen,  daß  Luzzatti 
auch  sie  zu  bieten  vermöchte,  hat  er  doch,  wie  sein  Übersetzer  berichtet, 
26  Handelsverträge  abgeschlossen,  und  weiß  er  doch  selbst  dm-chaus  jenen 
idealen  Zug  mit  der  Wertschätzung  der  Einrichtungen  des  modernen  Bank- 
und  Börsenwesens  zu  verbinden.  Er  preist  den  Schotten,  „der  zu  derselben 
Zeit  den  religiösen  Geist  Calvins  erfaßte,  den  starrsten,  der  den  menschlichen 
Willen  der  unwiderruflichen  Vorherbestimmung  nach  göttlicher  Entscheidung 
preisgibt  und  —  der  die  Emissionsbanken  moderner  Ai-t  erfand,  die  mit- 
einander in  Wettbewerb  traten". 

Der  Grundgedanke  Luzzattis,  der  vor  allem  in  den  beiden  letzten 
Untersuchungen  ausgesprochen  ist,  besteht  darin,  daß  Wissen  und  Glauben 
getrennt  zu  halten  seien,  daß  die  Bedeutung  der  Wissenschaft  nicht  in  der 
Auflösimg  des  Glaubens  bestehen  könne.  Er  verwirft  im  Sinne  eines,  wie 
er  sagt,  wissenschaftlichen  Idealismus  den  Materialismus.  Diese  Trennung 
von  Glauben  und  Wissen  wird  nun,  wenn  ich  ihn  richtig  verstehe,  auch 
politisch  wichtig;  denn  sie  macht  die  Trennung  von  Kirche  und  Staat  not- 
wendig. Wie  diese  Trennung  im  einzelnen  rechtlich  beschaffen  sein  soll, 
wird  nicht  erörtert.  Der  Verf.  hält  lediglich  an  dem  Satze  der  „freien  Kirche 
im  souveränen  Staate"  fest,  lehrt  also,  in  der  Sprache  des  deutschen  Staats- 
rechts ausgedrückt,  daß  die  Kirchen  unter  allen  Umständen  unter  der  Hoheit 
des  Staates  bleiben.  Er  erkennt  richtig,  daß  alle  Gesetzgebungen,  die 
sich  auf  die  Trennung  von  Staat  und  Kirche  beziehen,  ausgegangen 
sind  entweder  von  der  „Reinheit  des  religiösen  Gefühls"  oder  vom  Anti- 
klerikalismus. „Sie  gehen  einmal  vom  Glauben,  das  andere  Mal  vom  Un- 
glauben aus;  bald  begünstigen  sie  das  religiöse  Leben,  bald  wollen  sie  es 
unterdrücken". 

Der  Verf.  untersucht  nun  an  drei  Beispielen  die  Trennung  von  Staat 
und  Kirche,  nämlich  an  dem  Rechte  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika, 
Frankreichs,  Japans  und  Indiens.  Es  folgen  sodann  Bemerkungen  über  die 
Stellung  der  Kirche  zum  Staate  in  Italien,  der  Schweiz  und  in  Schottland. 
Es  wird  nicht  beabsichtigt,  eine  neue  wissenschaftliche  Erkenntnis  zu  ver- 
mitteln, sondern  die  Ausführungen  sollen  lediglich  den  theoretischen  Grund- 
gedanken erläutern.  Ob  dies  immer  gelungen  ist,  wage  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden. Es  scheint  mir,  als  ob  der  Verfasser  nicht  stets  das  Wesentliche 
gesehen  hätte,  zuweilen  an  nebensächlichen  Einzelheiten  haften  geblieben 
wäre,  ganz  abgesehen  davon,  daß  ihm  wichtige  Tatsachen  unbekannt  geblieben 
sind,  so  z.  B.  die  neuere  Gesetzgebung  auf  kirchenpolitischem  Gebiete  im 
Staate  New-York  und  anderer  amerikanischer  Gliedstaaten,  deren  Kenntnis 
den  Verf.  zweifellos  zu  weiteren  Ausführungen  veranlaßt  hätte,  —  wenn  ihm 
nicht  lediglich  die  ältere,  wesentlich  in  den  60  er  und  70  er  Jahren  erschienene 
Literatur  des  amerikanischen  Staatskirchenrechts  bekannt  gewesen  wäre.  Der 
Verf.  kommt  zum  Schlüsse,  daß  es  für  die  Regierungen  und  Parlamente  die 
einzige  Pflicht  sei,  „die  vollste  Freiheit  den  Gottsuchenden  und  den  Wahrheit- 
suchenden zu  gewährleisten".  Das  Ziel  erblickt  er  darin,  „die  Wissenden 
weniger  anspi-uchsvoU  und  die  Gläubigen  mehr  demütig  zu  machen,  die 
gegenseitige  Achtung  in  Diesen  und  Jenen  zu  erwecken,  die  Gläubigen  fühlen 


Besprechungen.  517 


zu  lassen,  daß  ihr  Glaube  ohne  Freiheit  seiner  Lebensnahrung  entbehrt  und 
die  Gelehrten,  daß  iu  den  moralischen  und  religiösen  Wahrheiten  sich  auch 
ein  Wissensgchalt  findet,  der  nur  mit  anderen  von  der  wissenschaftlichen 
Logik  verschiedenen  Methoden  beweisbar  ist,  von  dem  aber  die  soziale  Güte 
und  Solidarität  ihre  größten  Einflüsse  bekommen  können". 

Gewissermaßen  zur  Bekräftigung  des  Gesagten  führt  Luzzatti  schließlich 
einige  Vertreter  der  Freiheit  des  Gewissens  und  des  Kultus  an  und  zwar 
solche,  die  dem  größeren  Kreise  der  Gebildeten  heute  teils  noch  unbekannt, 
teils  nicht  mehr  in  Erinnerung  sind,  nämlich  den  König  Asoka,  Themistins, 
Studita,  Bernhard  von  Clairvaux,  Spinoza.  Auch  hier  möchte  mir 
fast  scheinen,  als  ob  das  heilige  Feuer  der  Begeisterung  ein  wenig  Eauch 
entwickelt  hätte,  so  daß  dem  Verfasser  die  volle  geschichtliche  Wahrlieit 
nicht  stets  ganz  deutlich  geworden  wäre.  Zum  Beisjnel  erscheint  mir  zweifel- 
haft, ob  Spinoza  „ein  Heiliger  der  Philosophie  als  Verkünder  der  Freiheit 
des  Gewissens  und  Wissens"  so  schlechthin  für  den  Gedanken  der  unum- 
schränkten Gewissensfi-eiheit  und  der  Trennung  von  Staat  imd  Kirche  in 
Anspruch  genommen  werden  dürfe.  Denn  in  dem  „Theologisch-politischen 
Traktat"  lesen  wir  wohl  eine  glänzende  Verteidigung  der  freien  Meinungs- 
äußerung, aber  wir  finden  andererseits  im  19,  Kapitel  dortselbst  auch  den 
Satz,  „daß  das  oberste  Eecht  in  Eeligionsangelegenheiten  bei  der  Staats- 
gewalt sein  müsse  und  daß  der  äußere  Gottesdienst  dem  Frieden  des  Staats 
angepaßt  werden  müsse,  wenn  man  Gott  recht  gehorchen  wolle".  Spinoza, 
der  hier  zweifellos  sehr  stark  von  Hobbes  beeinflußt  ist,  macht  sich  von  der 
Vorstellung  des  Staatskultes  durchaus  nicht  frei.  Er  verteidigt  gegenüber 
der  auch  von  ihm  für  notwendig  erachteten  Einheit  der  Religion  im  Staate 
lediglich  das  Eecht  der  inneren  Eeligion.  Und  es  ist  ja  auch  nicht  un- 
bekannt, daß  er  in  dem  nach  seinem  Tode  veröffentlichten  „Politischen 
Traktat"  zwar  „eine  Ai't  Trennung  von  Staat  und  Kirche  für  die  Monarchie" 
empfiehlt,  dagegen  für  aristokratisch  regierte  Staaten  die  Aufrechterhaltuug 
einer  Staatsreligion  für  angemessen  erachtet. 

Im  ganzen  ist  die  Schrift  das  Zeugnis  einer  auf  stark  optimistischer 
Grundlage  fußenden  Fi-eiheitsüberzeugi;ng.  .Dieser  Liberalismus  bleibt  un- 
bedingt grundsatztreu  und  erscheint  nicht,  wie  dies  oft  auf  dem  Gebiete  der 
Kirchenpolitik  der  Fall  ist,  als  Antiklerikalismus.  Luzzatti  gehört  nicht  zu 
jenen  in  den  romanischen  Ländern  häufigen  Anhängern  der  Trennung  von 
Staat  und  Kirche,  die  diese  zur  Bekämpfung  des  Glaubens  und  der  Kirchen 
benützen  wollen,  sondern  er  ist  gi'undsätzlich  von  jenem  Liberalismus  erfüllt, 
der  auf  der  Achtung  jedes  geistigen  Strebens  beruht,  wie  ihn  in  Italien  schon 
Cavour  und  Minghetti  gelehrt  haben. 

Die  Gründe,  die  seit  Jahrhunderten  zugunsten  der  Freiheit  des  Ge- 
wissens und  Wissens,  d.  h.  der  geistigen  Bewegung  vorgebracht  werden, 
lassen  sich  schließlich  auf  drei  Hauptgedanken  zurückführen:  Einmal  meinen 
kühl  urteilende  Beobachter  des  Lebens,  daß  Gewissenszwang  ein  unge- 
eignetes Mittel  zu  dem  beabsichtigten  Zwecke,  der  Herrschaft  einer  Meinung, 
sei,  ja  daß  er  \äelleicht  sogar  auf  den  Staat  schädlich  wirke.  Sie  lassen,  da 
sie  nur  die  Zweckmässigkeit  des  Gewissenszwanges  prüfen,  die  Frage  nach 
dessen  Rechtsgrund  offen.  Andere  betonen,  daß  Glaubenszwang  nicht  nur 
unwirksam  sei,  sondern  ein  Verbrechen  gegen  Gott  selbst  darstelle,  indem 
der  Gezwungene  widerwillig  am  Gottesdienst  teilnehme,  daß  die  Sittlichkeit 
des  Gezwungenen  zerstört  werde,  indem  er  gegen  die  Wahrhaftigkeit  sündige 
und  zum  Lügner  und  Heuchler  gemacht  werde;  daß  also  das  Wesen  der 
Eeligion  verkannt  und  dem  angestrebten  Zwecke  zuwidergehandelt  werde. 
Und  endlich  wird  das  Recht  zum  Glaubenszwang  überlaaupt  bestritten. 
Denn  es  sei  unsittlich,  daher  unerlaubt,  einen  Menschen  in  seiner  Meinung 
oder  Überzeugung  zwingen  zu  w^ollen.  Es  handle  sich  hier  um  ein  höchstes 
unveräußerliches  Gut  der  Persönlichkeit,  auf  das  jeder  Mensch  kraft  Gottes 
Willen  oder  kraft  Naturrecht  einen  unverlierbaren  Anspruch  habe.    Zu  dieser 


518  Besprechungen. 


Anschauung,  bei  der  die  Frage  der  Zweckmäßigkeit  und  Wirksamkeit  aus- 
geschieden und  lediglich  die  nach  der  Berechtigung  gestellt  wird,  tritt  noch 
ein  weiterer  Beweisgrund,  der  von  einer  anderen  Auffassung  bestimmt  ist. 
Wenn  nämlich  der  Zwang  zu  einem  bestimmten  Glauben,  die  Beschränkung 
der  Freiheit  der  Wissenschaft,  damit  begründet  wird,  daß  ja  die  allein  gel- 
tende Wahrheit  bekannt  sei,  daß  es  daher  sündhaft  und  strafbar  sei,  sie  nicht 
anzunehmen,  daß  also  der  Irrtum  kein  Recht  haben  könne,  so  wird  dieser 
von  der  katholischen  Kirche  an  in  allen  möglichen  Abstufungen  vertretenen 
Meinung  die  zweifelnde  Frage  entgegengesetzt:  „Was  ist  Wahrheit?"  Seit 
dem  Altertum  ist  dieser  Zweifel  nie  erloschen,  die  Meinung,  daß  man  Gott 
in  den  verschiedensten  Formen  verehren  könne,  ist  von  dem  Deismus  ver- 
treten worden,  und  heute  ist  diese  Gedankenrichtung  immer  mehr  im  Vor- 
dringen. Die  Berechtigung  des  Gewissenszwanges  wird  also  damit  bestritten, 
daß  ja  die  Voraussetzung  für  die  Beschränkung  des  Wissens  und  Gewissens, 
nämlich  der  Besitz  einer  unbezweifelbaren  Wahrheit  nicht  gegeben  sei. 

Diese  vier  Hauptgedanken  sind  in  der  Geschichte  teils  einzeln,  teils 
verbunden  immer  wieder  zugunsten  der  Gewissensfreiheit  vorgebracht  worden. 
Luzzatti  ist  vornehmlich  jenen  zuzurechnen,  die  aus  sittlichen  Gründen  und 
aus  Achtung  vor  der  Persönlichkeit  ohne  Vorbehalte  für  volle  Freiheit  ein- 
treten. Wenn  trotzdem  die  Wirkung  seiner  Schrift  nicht  so  sehr  stark  ist, 
so  mag  dies  daran  liegen,  daß  sie  im  ganzen  weich,  fast  lyrisch  gehalten  ist, 
nicht  in  jenem  leidenschaftlich  tiefen  Ernste  und  der  schneidenden  Schärfe, 
die  die  klassischen  Verteidiger  der  Gewissensfreiheit  auszeichnet. 

Karl  Rothenbücher. 

Othmar  Spann,  Zur  Soziologie  und  Philosophie  des  Krieges.  Berlin  1913. 
J.  Guttentag.  39  S. 
Diese  Arbeit  ist  die  Wiedergabe  eines  Vortrags,  den  der  Verf.  im 
„Verbände  Deutsch-völkischer  Akademiker"  in  Brunn  gehalten  hat.  Wer  den 
Wert  des  Krieges  in  kurz  gefaßter  Schilderung  sich  vorführen  lassen  will, 
der  greife  zu  der  kleinen  Schrift.  Sie  kann  die  „Philosophie  des  Krieges" 
von  Rudolf  Steinmetz,  die  im  ersten  Bande  der  „Zeitschrift  für  Politik" 
durch  L.  v.  Wiese  besprochen  wurde,  natürlich  nicht  ersetzen.  Als  Ein- 
führung in  die  Probleme  aber  ist  sie  vorzüglich.  Heute,  wo  die  Welt- 
anschauung des  Imperialismus,  des  Prinzips  der  äußersten  Zusammenfassung 
aller  Kräfte  des  Staates  zu  Zwecken  wirtschaftlicher  und  territorialer  Ex- 
pansion, immer  weiteren  Anhang  gewinnt,  ist  der  Pazifismus  zweifellos  in 
den  Hintergrund  gedrängt  worden.  Von  hier  aber  bis  zur  grundsätzlichen 
Anerkennung  des  Ki'ieges  ist  doch  noch  ein  weiter  Schritt.  Ihn  versuchen 
sowohl  Steinmetz  wie  Spann  zu  tun,  wobei  sich  die  beiden  jedoch  in  be- 
merkenswerter Weise  voneinander  unterscheiden.  Steinmetz  gehört  einer 
älteren,  mehr  demokratisch  gerichteten  Generation  an,  und  er  verweilt  des- 
halb auch,  so  sehr  er  dem  Kriege  anhängt,  ausführlich  bei  den  Einwendungen, 
die  gegen  ihn  gemacht  werden  können.  So  geht  denn  durch  sein  Buch 
immerhin  ein  etwas  skeptischer  Zug.  Seit  1907  aber  ist  erst  eigentlich  der 
Imiierialismus  hochgekommen.  Von  ihm,  der  zwar  ein  Gedanke  ist,  der  das 
ganze  Volk  entflammen  will  und  muß,  der  aber  doch  auf  die  einzelnen,  auf 
die  Führermenschen,  abzielt,  ist  Spann  stark  beeinflußt.  Er  verbindet  diesen 
Aristokratismus  ganz  im  modern-konservativen  Sinne  mit  dem  Staatsgedanken 
und  gewinnt  hierdurch  das  Begeisternde,  das  diesen  vorwärtsstürmenden 
Ideen  eigentümlich  ist.  Freilich  galoppiert  er  dabei  auch  über  sehr  heftige 
Bedenken  gegen  den  Krieg  glatt  hinweg,  vor  allem  über  dessen  kontra- 
selektorische  Wirkungen.  Gewiß  erwähnt  er,  daß  die  Menschenverluste,  die 
der  Krieg  mit  sich  bringt,  eine  negative  Auslese  darstellen,  weil  sie  die  ge- 
svmdesten  und  kräftigsten  Männer  im  besten  Alter  treffen,  aber  er  geht  dieser 
Frage   nicht   weiter   nach.      Steinmetz   widmet  der   Kontraselektion   ein   be- 


Besprechungen.  519 


sonderes  (das  achte)  Kapitel.  Hier  findet  sich  die  wohl  endgültige  Lösung 
des  Pix)blems.  Steinmetz  erklärt,  daß  für  die  Menschheit  der  Nachteil  der 
individuellen  Kontraselektion  durch  die  günstige  Kollektivselektion  wett- 
gemacht werde.  Sie  verliere  mehr  an  den  Begabten  des  besiegten  Volkes, 
als  ohne  Ki'ieg  der  Fall  wäre,  dafür  aber  werde  das  siegende  V'^olk  empor- 
gehoben. 

Nach  einer  anderen  Richtung  hat  Spanns  Enthusiasmus  freilich  seine 
Vorzüge:  er  bringt  ihn  dazu,  letzte  große  Gesichtspunkte  zu  finden.  Vom 
Staate  ausgehend,  den  er  mit  vollem  Recht  für  unendlich  mehr  hält  als  nur 
ürdnungs-  und  Herrschergewalt,  nämlich  für  die  oberste  Zusammenfassung 
aller  Geistes-  und  Kulturgemeinschaft,  erkennt  er  Staat  und  Nation  nicht 
als  bloße  Mittel  des  Lebens,  sondern  als  das  Leben  selbst.  „Im  Kriegsopfer", 
sagt  er,  „wird  also  das  Leben  nicht  dem  Staate  als  einem  Mittel  des  Lebens 
geopfert,  sondern  dem  Staate  als  dem  Träger  des  Lebens  selbst.  Das  Leben 
wird  sich  selbst  geopfert,  seinen  eigenen  höheren  und  letzten  Zwecken. 
Diejenigen  Opfer,  die  wir  dem  Leben  bringen,  müssen  wir  auch  dem 
Staate  bringen." 

Spann  nennt  den  Krieg  dasjenige  Organ,  mit  welchem  die  internationale 
Entwicklung  ihre  großen  politischen  Wirkungen  erzielt.  Der  Krieg  ist  Ent- 
wicklungsträger, und  deshalb  gerecht.  Die  großen  Kriege  entscheidet  nicht 
rohe  Gewalt  und  der  Zufall  der  Schlachten,  sondern  der  Gang  der  großen 
Entwickhmg,  alles  Können  und  Wollen  der  Gemeinschaft.  Indem  die  Staaten 
für  den  Ki'ieg  alle  ihre  inneren  Kräfte  zusammenfassen  und  nach  außen  zum 
Schlagen  bringen  müssen,  wird  der  Aufbau  ihres  eigenen  Kräftesystems  klar. 
Diese  Gerechtigkeit  des  Krieges  macht  sich  nach  Spann  im  großen  und 
ganzen  geltend.  In  diesem  Punkte  geht  Steinmetz  weiter.  Er  erklärt 
die  Gerechtigkeit  des  Krieges  für  eine  unfehlbai-e,  nie  aussetzende.  Ich 
möchte  mich  mehr  für  die  vorsichtigere  Fassung  Spanns  erklären.  Ohne  den 
zweifelhaften  Zufallsbegriff  hier  einführen  zu  wollen,  läßt  es  sich  doch  nicht 
bestreiten,  daß  im  Kriege  manchmal  auch  untergeordnete  Dinge  von  ent- 
scheidendem Einfluß  sind.  In  den  meisten  Fällen  finden  diese  Dinge  durch 
andere  günstige  Momente  ihre  Kompensation,  und  so  siegt  hier  schließlich 
die  Gerechtigkeit.  Es  lassen  sich  aber  auch  Fälle  aufzählen,  in  denen  solche 
Kompensation  nicht  eintrat.  Immerhin  sei  zugegeben,  daß  diese  Ausnahmen 
für  die  prinzipielle  Beurteilung  des  Krieges  nicht  mitzählen. 

Noch  tiefere  und  nachhaltigere  Wirkungen  als  für  den  Staat  hat  der 
Krieg  nach  Spann  für  den  Einzelnen.  Der  Krieg  hebt  jeden  Einzelnen  über 
das  Maß  seiner  Natur  hinaus ;  er  erreicht  beim  gemeinen  Manne  das,  was  im 
Frieden  die  Philosophie  nur  bei  wenigen  Auserwählten  erreicht.  Dies  ist 
durchaus  richtig;  wenn  aber  Spann  weiterhin  erklärt,  daß  auf  diese  Weise 
der  Krieg,  indem  er  die  metaphysische  Empfindung  aufs  gewaltigste  in  einem 
Volke  weckt,  zur  Geburt  der  Philosophie  und,  indem  die  Tatkraft  zu  dieser 
Empfindung  hinzutrete,  auch  der  Kunst  führe,  so  generalisiert  der  Verf.  doch 
allzu  sehr.  Der  Krieg  von  1870  hat  auf  deutscher  Seite  weder  die  Geburt 
der  Philosophie  noch  die  der  Kunst  zuwege  gebracht.  Im  Gegenteil  zeigte 
sich  nach  dem  Kriege  ein  lediglich  materieller  Aufschwung  so  starken  Grades, 
daß  dagegen  geistige  Tendenzen  gar  nicht  aufkamen.  Auch  während  des 
deutsch-französischen  Krieges  ist,  wie  man  schon  öfters  nicht  ohne  Erstaunen 
bemerkt  hat,  wenig  gute  Dichtung  geschaffen  worden.  Hier  liegt  zweifellos 
ein  Problem,  das  mit  dem  viel  weiteren  Prolilem  zusammenhängt,  ob  staat- 
lich starke  oder  staatlich  schwache  Völker  mehr  für  Kunst  und  Wissenschaft 
geleistet  haben.  Politisch  unbefriedigende  Verhältnisse  vermögen  vielleicht 
den  Blick  mehr  nach  innen,  auf  die  geistigen  Werte  zu  lenken.  Spann  ist 
der  Erörterung  dieser  Frage  ausgewichen. 

Die  Lösung  scheint  mir  im  folgenden  zu  liegen:  Das  Größte  in  der 
Welt  entsteht  nicht  aus  der  Erfüllung,  sondern  aus  der  Sehnsucht.  So  werden 
saturierte  Völker  in  kulturellen  Dingen  stets  weniger  leisten  als  Völker,  die 


520  Besprechungen. 


ihr  Ziel  noch  vor  sich  haben.  Es  kommt  nun  alles  darauf  an,  einem  Volk, 
hat  es  einmal  ein  Ziel  erreicht,  sofort  wieder  ein  neues  Ziel  zu  schaffen.  Ge- 
lingt das,  so  kann  sich  der  Zustand  der  Saturiertheit  niemals  einstellen. 
Andererseits  werden  Völker,  die  so  zurückgekommen  sind,  daß  sie  überhaupt 
kein  großes  Ziel  mehr  aufbringen  können,  keine  wirklichen  Kulturleistungen 
aufweisen.  Nur  an  sich  starke  Völker  also,  die  aber  nach  irgendeiner  Eichtung 
noch  unbefriedigt  sind,  haben  eine  bedeutende  Kunst  und  Wissenschaft.  Im 
Kriege  von  1870  kamen  die  deutschen  Erfolge  wohl  zu  rasch,  es  folgte  alles 
zu  sehr  Schlag  auf  Schlag,  als  daß  sich  eine  große  Sehusuchtsstimmung 
hätte  durchringen  und  ein  Boden  für  die  Kunst  hätte  bereitet  sein  können. 
Nach  einem  glücklichen  Kriege  aber  kommen  erst  so  viele  Segnungen,  daß 
neue  ideelle  Ziele  bedeutender  Art  kaum  sofort  mächtig  werden.  Die 
Tatsache  jedoch  des  glücklichen  Krieges  wirkt  so  stärkend  avif  das  Volk, 
daß  es  einige  Zeit  später  befähigt  ist.  neue  große  Aufgaben  ins  Auge 
zu  fassen.  Diese  Aufgaben  erwecken  wieder  die  Sehnsucht  und  damit  wieder 
die  Kultur.  So  ist  schließlich  der  Krieg  zwar  nicht  unmittelbar,  aber  mittel- 
bar der  Erzeuger  großer  Kulturwerke.  Von  diesen  nach  außen  in  die  Er- 
scheinung tretenden  Werken  scharf  zu  sondern  ist  die  ideelle  Stimmung,  die 
im  kämjjfenden  Volke  hervorgerufen  wird.  Sie  ist  in  jedem  Falle  vorhanden. 
Sie  wirkt  oftmals  auch  über  den  Krieg  hinaus  nach,  aber  eben  ohne  not- 
wendig sogleich  bemerkenswerte  Kultm-leistungen  im  Gefolge  zu  haben.  — 
Diese  andeutenden  Hinweise  müssen  an  dieser  Stelle  genügen. 

Adolf  Grabowsky. 

Albert  B.  Faust,  Das  Deutschtum  in  den  Vereinigten  Staaten  in  seiner 
geschichtlichen  Entwicklung.  Leipzig  1912.  B.  G.  Teubner.  Vm  und 
504  S.  9  Mark,  und :  Das  Deutschtum  in  den  Vereinigten  Staaten  in 
seiner  Bedeutung  für  die  amerikanische  Kultur.  Leipzig  1912. 
B.  G.  Teubner.     XU  und  447  Seiten.     9  Mark. 

Eiue  Chicagoer  Dame,  Frau  Katherine  Seipp,  stiftete  1904  Preise 
für  die  drei  besten  Arbeiten  über  „das  deutsche  Element  in  den  Vereinigten 
Staaten  unter  besonderer  Berücksichtigung  seines  politischen,  ethischen, 
sozialen  und  erzieherischen  Einflusses".  In  diesem  Wettbewerb  wurde  der 
erste  Preis  Professor  Faust  von  der  Cornell-Universität  zuerkannt.  Sein 
Werk,  das  ursprünglich  in  englischer  Sjwache  verfaßt  war,  liegt  jetzt  in 
einer  deutschen  Bearbeitung  (nicht  Übersetzung)  vor,  die  gegenüber  der 
1909  erschienenen  englischen  Ausgabe  mannigfache  Zusätze  erfahren  hat. 
Erwähnt  sei,  daß  die  Preußische  Akademie  der  Wissenschaften  das  Werk 
durch  den  Loubat-Preis  für  amerikanische  Geschichte  ausgezeichnet  hat. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  bei  dem  gegenwärtigen  Stande 
der  Vorarbeiten  über  die  amerikanische  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte 
die  Zeit  für  ein  abschließendes  Werk  über  das  Deutschtum  in  den  Vereinigten 
Staaten  noch  nicht  gekommen  ist;  aber  mit  Eecht  weist  Faust  diesen  Ein- 
wand mit  den  beherzigenswerten  Worten  zurück:  „Nur  immer  sammeln, 
ohne  umsichtige  Verwertiing,  heißt  dem  eigentlichen  Zwecke  der  Forschung 
nicht  gerecht  werden."  Zusammenfassende  Arlaeiten  müssen  auch  gewagt 
werden,  selbst  wenn  das  Material  noch  lückenhaft  ist. 

Faust  hat  seinen  Stoff  in  folgender  Weise  disponiert:  Der  eine  Band 
gibt  eine  Geschichte  des  Deutschtums  in  den  Vereinigten  Staaten,  der  andere 
sucht  den  Einfluß  der  Deutschen  auf  den  verschiedenen  Gebieten  des  ameri- 
kanischen Lebens  festzustellen. 

Der  historische  Teil  beginnt  mit  den  ältesten  Zeiten  der  amerikanischen 
Geschichte,  schildert  die  deutsche  Einwandenmg  in  der  Kolonialzeit,  wobei 
natürlich  Pennsylvanien  besonders  berücksichtigt  ist,  aber  auch  die  weniger 
bekannte  Geschichte   der  Deutschen  des  Südens  ausführlich  dargestellt  wird, 


Besprechungen.  521 


den  Anteil  der  Deutschen  am  UnaVjhängigkeitskrieg,  ihre  Beteiligung  au  der 
Gewinnung  und  Kolonisation  des  Westens,  und  schließlich  ihre  Mitwirkung 
bei  den  Kriegen,  welche  die  Union  im  19.  Jahrhundert  geführt  hat,  vor 
allem  natürlich  beim  Bürgerkrieg.  Von  besonders  interessanten  Ergebnissen 
hebe  ich  hervor,  daß  Faust  die  Zahl  der  Einwohner  deutschen  Blutes  beim 
Ausbruch  des  Unabhängigkeitskrieges  auf  mindestens  225000  Ijerechnet 
(S.  236),  d.  h.  ungefähr  ein  Zehntel  der  weißen  Bevölkerung  der  Kolonien 
in  jener  Zeit.  Von  diesen  225000  entfielen  nicht  weniger  als  110000  auf 
Pennsylvanien,  in  dem  ungefähr  ein  Drittel  der  Bevölkerung  deutscher  Ab- 
kunft war.  Von  großem  Interessse  ist  auch  der  Nachweis,  daß  die  Deutschen 
einen  hervorragenden  Anteil  an  der  Besiedlung  gi-ade  der  Grenzgegenden 
genommen  haben.  Faust  hat  ferner  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die 
Deutschen  in  der  Kolonialzeit  im  Besitze  des  besten  Ackerbodens  in  den 
Kolonien  gewesen  sind.  — 

In  dem  andern  Bande  sucht  Faust  zunächst  festzustellen,  wie  viele 
Personen  deutschen  Blutes  in  der  Gegenwart  (d.  h.  im  Jahre  1900)  in  den 
Vereinigten  Staaten  leben.  Er  kommt  zu  dem  Resultat,  daß  es  1900  ungefähr 
I8V2  Millionen  Personen  deutscher  Herkunft  in  der  Union  gab,  d.  h.  etwas 
mehr  als  ein  Viertel  der  im  Lande  überhaupt  befindlichen  Weißen.  Die 
Personen  britischer  und  irischer  Herkunft  berechnet  Faust  auf  etwa 
34  Millionen,  während  der  Best  auf  Skandinavier,  Franzosen,  Italiener,  Slawen, 
Juden  usw.  entfällt.  Man  darf  freilich  nicht  verkennen,  daß  alle  diese 
Ziffern  hypothetische  sind;  sagt  doch  Faust  selbst,  daß  die  Frage,  wieweit 
das  ganze  amerikanische  Volk  deutsches  Blut  in  den  Adern  hat,  jenseits 
aller  Berechnungsmöglichkeit  liegt. 

Vielleicht  noch  schwieriger  als  die  quantitative  Bestimmung  ist  die 
Beantwortung  der  Frage,  welche  Bedeutung  dem  Deutschtum  in  qualitativer 
Beziehung  zukommt.  Das  Problem  ist  um  so  schwieriger,  als  der  Einfluß 
des  einheimischen  Deutschtums  sich  von  dem  des  Deutschtums  überhaupt  oft 
nur  schwer  trennen  läßt,  obwohl  es  sich  dabei  begrifflich  um  völlig  ver- 
schiedene Dinge  handelt.  Um  Beispiele  zu  erwähnen,  so  ist  gewiß  deutsche 
Kunst  und  Wissenschaft  auch  durch  die  amerikanischen  Deutschen  in  den 
Vereinigten  Staaten  verbreitet  worden,  aber  es  ist  sicher,  daß  die  Amerikaner 
sich  in  viel  höherem  Grade  in  Deutschland  selbst  an  der  Quelle  gebildet 
haben.  Für  die  Bestimmung  des  Einflusses  des  Deutschtums  auf  die  geistige 
Kultur  Amerikas  liegen  hier  außerordentlich  verwickelte  und  vielleicht  zwca 
Teil  imlösbare  Probleme  vor.  Viel  leichter  ist  es,  die  Bedeutung  des 
Deutschtums  für  die  Gestaltung  der  materiellen  Kultur  der  Union  zu  be- 
stimmen, und  auf  diesem  Gebiet  hat  Faust  durch  eine  Fülle  von  oft  un- 
bekannten oder  bisher  unbeachteten  Einzeltatsachen  die  staunenswerte  Tätigkeit 
der  Deutschamerikaner  in  Landwirtschaft,  Gewerbe  und  Technik  belegt. 
Ein  sehr  interessantes  Kapitel  behandelt  den  Einfluß  des  deutschen  Elements 
auf  Gesellschaft  und  Sitte,  ein  weiteres  den  politischen  Einfluß  der  Deutschen 
in  Amerika. 

Eine  Frage,  die  uns  immer  in  erster  Linie  beschäftigt,  ist  allerdings 
in  dem  Buche  kaum  behandelt:  Die  Frage  nach  der  Erhaltung  des 
Deutschtums  in  den  Vereinigten  Staaten.  Es  wäre  von  Interesse  gewesen, 
in  einem  solchen  Buche  und  von  einem  so  kompetenten  Manne  auch  über 
dies  wichtige,  für  uns  freilich  schmerzliche  Problem  etwas  zu  hören.  Die 
für  den  Deutschen  tram-ige,  aber  doch  lehrreiche  und  interessante  Geschichte 
der  Assimilation  der  Deutschen  und  ihi-es  allmählichen  Aufgehens  im 
amerikanischen  Volkstmn  hätte  doch  eingehender  geschildert  werden  müssen. 
Aber  auch  so  bietet  das  Buch  von  Faust  eine  Fülle  von  Belehrung;  er  hat 
unstreitig  einen  höchst  wichtigen  und  interessanten  Beitrag  nicht  nur  zur 
Geschichte  des  Deutschtums  in  den  Vereinigten  Staaten  gehefert,  sondern 
auch  eine  unentbehrliche  Vorarbeit  für  eine  künftige  amerikanische  Sozial- 
und  Wirtschaftsgeschichte  geleistet.  Paul  Darmstädter. 


522  Besprechungen. 


Friedrich  Janson,  Fichtes  Reden  an  die  deutsche  Nation.  Eine  Unter- 
suchung ihres  aktuell-politischen  Gehaltes.  (Heft  33  der  Abhandlungen 
zur  mittleren  und  neueren  Geschichte.)  Berlin  und  Leipzig  1911. 
Dr.  Walther  Rothschild.     112  S. 

Der  Gegenstand  der  vorliegenden  Untersuchung  über  Fichtes  Reden  an 
die  deutsche  Nation  sind  ihre  Beziehungen  zu  den  dringenden  Fragen  staat- 
lichen Lebens  der  damaligen  Zeit.  Zunächst  wird  Preußens  politisches 
System  als  Ganzes  im  Spiegel  der  Reden  betrachtet,  sodann  werden  Fichtes 
Aussprüche  zur  Ki'itik  des  Zeitgeistes  und  der  Gesellschaft  in  diesen  sechs 
Abschnitten  zusammengestellt:  1.  Fichtes  Urteil  über  die  politische  Schund- 
literatur. 2.  Seine  Stellung  zur  Zensur.  3.  Protest  gegen  die  Verheri'lichung 
französischen  Wesens  und  des  napoleonischen  Genies.  4.  Über  Fürsten  und 
Adel.  5.  Über  Minister  und  Beamte.  6.  Über  das  stehende  Heer.  Es  werden 
weiter  Fichtes  Reformpläne  und  ihr  Zusammenhang  mit  den  praktischen 
Reformen  nach  1806  besprochen;  der  Schluß  enthält  eine  Erörterung  über 
die  augenblickliche  Forderung  der  Reden.  Die  umfangreiche  Schi-ift  ist 
wegen  der  eingehenden  Beschäftigung  mit  den  Reden  selbst  tmd  der  großen 
Belesenheit  namentlich  in  der  damaligen  Tagesschriftstellerei  im  einzelnen 
sehr  unterrichtend,  entbehrt  aber  der  erforderlichen  Klarheit,  wo  es  sich  um 
die  Vorbedingungen  des  Verständnisses,  um  Grundanschauungen  handelt.  So 
heißt  es  z.  B.  in  der  Einleitung  von  dem  politischen  Gehalt  der  Reden,  er 
sei,  etwa  mit  dem  des  um  ein  halbes  Jahr  früher  erschienenen  Macchiavelli- 
Aufsatzes  verglichen,  auffallend  gering.  So  rein  und  unverhüllt  wie  hier  habe 
Fichte  politische  Gedanken  nie  wieder  ausgesprochen.  In  den  Reden  über- 
wögen bereits  durchaus  wieder  die  ethisch-philosophischen  Interessen.  Daran 
wird  folgende  Betrachtung  geknüpft:  „Der  ethische  Gehalt,  nicht  der  historisch- 
politische, noch  weniger  der  rein  pädagogische  ist  es  auch  zweifellos,  der 
den  Reden  ihren  bleibenden  Wert  gibt,  ihnen  die  Unsterblichkeit  sichert. 
Gleichwohl  darf  man  neben  diesen  Ewigkeitsworten  das  rein  Historische  der 
Reden  nicht  übersehen."  Auf  dem  Wege  über  solche  Sätze  gelangt  der  Verf. 
zu  einer  Rechtfertigung  der  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt  hat.  Es  dürfte 
schwer  sein,  den  ethischen  und  den  historisch-politischen  Gehalt  der  Reden 
voneinander  zu  scheiden.  Fichte  hatte  schon  in  den  Vorlesungen  über  die 
„Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters"  im  Winter' 1804/05,  also  noch  vor 
der  Katastrophe  von  1806  und  lange  vor  der  Ehrenrettung  Macchiavellis,  den 
Satz  aufgestellt:  „Darin  besteht  eines  jeglichen  Bestimmung  und  Wert,  daß 
er  mit  allem,  was  er  ist,  hat  und  vermag,  sich  an  den  Dienst  der  Gattung, 
—  und  da  und  inwiefern  der  Staat  die  Art  des  Dienstes,  welcher  diese  Gattung 
in  der  Regel  bedarf,  bestimmt,  —  an  den  Dienst  des  Staates  setze."  Hier 
wird  also  schon,  zwar  noch  in  der  Form  der  Ableitung,  aber  doch  schließlich 
deutlich  genug,  die  sittliche  Forderung  als  Hingabe  an  den  Staat  gefaßt. 
Von  hier  aus  kam  Fichte,  der  in  der  Unglückszeit  die  Wahrheit  des  ausge- 
sprochenen Satzes  in  erschütternder  Weise  an  sich  selbst  dm-chlebte,  zu  der 
Arbeit  über  Macchiavelli  und  zu  den  Reden.  Kuno  Fischer,  der  den  Mac- 
chiavelli-Aufsatz  übersehen  hat,  konnte  noch  aus  Fichtes  Reden  und  sonstigen 
Schriften  von  ihm  herauslesen,  sein  Patriotismus  oder  Nationalismus  und  sein 
Kosmopolitismus  seien  ein  und  dasselbe,  und  Windelband,  der  in  seiner  Rede 
„Fichtes  Idee  des  deutschen  Staates"  (Freiburg  1890)  die  Abhandlung  über 
den  Florentiner  Patrioten  nur  streift,  hat  dort  die  gleiche  Auffassung  vor- 
getragen. Auch  Janson,  für  den  Fichte  ein  Republikaner  ist,  auch  in  den 
Reden,  ist  sich  nicht  darüber  klar  geworden,  daß  Fichte  diese  Reden  als 
preußischer  Staatsdiener,  mit  dem  vollen  Bewußtsein  davon,  gehalten  hat. 
Der  politische  Inhalt  der  Königsberger  Schrift  über  Macchiavelli  ist  in  den 
Reden  nur  vertieft  und  mit  allem  verbunden,  was  deutsche  Herzen  erheben 
kann.  Der  Unterschied  liegt  also  nicht  in  der  Gedaukenrichtung,  wohl  aber 
mußte  die  gerade  in  die  Zeit  der  Reden  fallende  Konfiskation  der  Zeitschrift 


Besijrecbunofen.  523 


Vesta.  in  deren  erstem  Heft  die  Studie  über  Macchiavelli  gestanden  hatte, 
in  Verbindunor  mit  den  großen  Schwierigkeiten,  die  die  preußische  Zensur 
von  vornherein  den  Eeden  bereitete,  dem  Verfasser  der  Reden  endgültig  die 
Augen  darüber  öffnen,  daß  er  das  Letzte  nicht  immer  sagen  durfte,  wenn 
er  seine  Eeden  überhaupt  zu  Ende  führen  wollte.  Freilich  hat  sich  Fichtes 
Gewissen  stets  von  neuem  gegen  diese  Erkenntnis  aufgebäumt,  so  daß  der 
Kampf  mit  der  Behörde,  die  sich  verpflichtet  fühlte,  dem  Staat  Verlegen- 
heiten zu  ersparen  und  zugleich  einen  Untertan  gegen  Verfolgungen  zu 
schützen,  nie  zur  Ruhe  kam.  So  wurde  z.  B.  in  der  letzten  Rede  der  von 
der  Selbsthilfe  handelnde  Schlußsatz  vor  der  gi'oßen  Beschwörung  bean- 
standet, nicht  nur  von  dem  Oberkonsistorium,  das  die  Zensur  handhabte, 
sondern  auch  von  der  darüber  stehenden  Behörde,  der  Immediat-Kommission, 
die  die  höchste  Regierungsgewalt  in  Berlin  ausübte,  und  endlich  von  Stein 
selbst,  der  damals  gerade  in  Berlin  weilte.  Fichte  durfte  schließlich  den 
angefochtenen  Satz  nur  deshalb  stehen  lassen,  weil  er  sich  zu  einem  Zusatz 
verstand,  der  die  Aufmerksamkeit  von  dem  Aufruf  an  die  Gesamtheit  ab- 
lenkte, indem  er  jeden  auf  sich  selbst  verwies.  Janson  sieht  in  diesem  Zusatz 
nur  eine  Bekräftigung  dessen,  was  Fichte  soeben  und  an  anderen  Stellen 
gesagt  habe,  und  Fichtes  Sträuben  rühre  daher,  daß  der  Zusatz  überflüssig 
gewesen  sei.  Stein,  Scharnhorst,  Gneisenau  seien  allerdings  für  die  sofortige 
Erhebung  gewesen,  aber  Fichte  habe  den  bewaffneten  Widerstand  in  den 
Reden  von  vornherein  wideiTaten.  Durch  die  Aufstellung  eines  derartigen 
Gegensatzes  zwischen  Fichte  und  den  großen  Männern  seiner  Zeit  wird  aber 
in  sein  Verhältnis  zu  ihnen  etwas  Schiefes  hineingebracht.  Gewiß  bezeichnet 
Fichte  gemäß  der  ihm  eigentümlichen  Geistesrichtung  und  seiner  ganzen 
Lebensstellung  als  die  Forderung  des  Tages  das  ernstliche  Eingehen  auf  die 
neue  Erziehung,  aber  diese,  so  wie  sie  Fichte  versteht,  ist  von  dem  Scharn- 
horstschen  Gedanken  der  allgemeinen  Wehrpflicht  ja  gar  nicht  zu  trennen, 
und  diese  sollte  doch  wieder  der  Dvirchführung  des  nächsten  Krieges  dienen. 
Wann  die  Erhebung  zu  erfolgen  habe,  ob  sofort  oder  später,  darüber  zu  be- 
finden, war  allerdings  nicht  seine  Sache,  sondern  den  Räten  des  Königs  vor- 
behalten, aber  über  das  endgültige  Ziel  ist  sich  Fichte  mit  den  genannten 
Männern  völlig  eins,  und  was  augenblicklich  geschehen  soll,  ist  die  An- 
spannung und  Bereithaltung  aller  Kräfte  zm-  Erkämpfung  dieses  Zieles. 
Wie  sehr  hier  eins  ins  andere  übergreift,  wie  es  sich  hier  um  Berührungen 
und  Angleichungen  handelt,  sieht  man  an  der  Entschiedenheit,  mit  der 
damals  umgekehrt  die  Militärs  ihr  Augenmerk  auf  die  Erziehung  gerichtet 
haben.  Eine  Denkschrift  Scharnhorsts  war  von  dem  Aufsatz  „Die  militärische 
Organisation  der  Schulen  im  Lande"  begleitet;  er  stammt  von  Scharnhorst 
selbst  oder  von  Gneisenau  und  wurde  von  Stein,  dem  er  zur  Begutachtung 
vorgelegt  wurde,  mit  zustimmenden  Randbemerkungen  versehen.  Fichte  und 
Stein  gehören  auf  eine  Seite;  wenn  aber  doch  einmal  der  Diplomat  in  Stein 
der  unbeirrten.  jede  Rücksicht  von  sich  weisenden  Sinnesart  Fichtes  entgegen- 
trat, so  darf  man  Fichte,  der  Stein  zu  weit  ging,  nicht  als  den  Mann  hin- 
stellen, der  mit  seiner  Forderung  zurückblieb  und  an  einem  aussichtslosen 
Frieden  festhielt.  Der  Verf.  hat  auf  die  vorliegende  Untersuchung  viel  Fleiß 
und  Scharfsinn  verwendet,  aber  sein  Urteil  ist  in  w-esentlichen  Eragen  an- 
fechtbar. Franz  Fröhlich. 


Gustav  Mayer,  Die  Trennung  der  proletarischen  von  der  bürgerlichen 
Demokratie  in  Deutschland  (1863 — 70).  (Sonderabdruck  aus  dem  Grün- 
bergschen  Archiv  für  die  Geschichte  des  Sozialismus  und  der  Arbeiter- 
bewegung,   n.  Jahrg.  1.  Heft.)    Leipzig  1911.    C.  L.  Hirschfeld.    67  S. 

Ein  überaus  lehrreicher  Gegenstand  in  sachverständigster  Behandlung! 
Das  Problem   dieser  Abhandlung  könnte  man  fast  als  „aktuell"  bezeichnen: 


524  Besprechungen. 


im  Hinblick  vor  allem  auf  die  politischen  „Großblock"ver8uche  unserer  Tage 
und  alles,  was  damit  zusammenhängt.  Woran  hat  es  gelegen  und  wie  ist 
es  zugegangen,  daß  dem  deutschen  Bürgertum  die  politische  Führung  der 
Arbeitermassen  schon  so  früh  aus  den  Händen  geglitten  ist,  kaum  daß  diese 
zu  politischem  Selbstbewußtsein  erwacht  waren  ?  Welche  Gegensätze,  dauernder 
oder  vorübergehender  Natur,  haben  das  Proletariat  von  der  Seite  der  bürger- 
lichen Oppositionsparteien  hinweggetrieben  ? 

Der  Verf.  beantwortet  diese  Fragen  nicht  ausdi'ücklich,  gibt  aber  wert- 
volle Beiträge  zu  ihrer  Auflösung.  Die  vorliegende  Studie  ist  als  Ergänzung 
zu  M.s  früheren  Arbeiten  über  die  proletarische  Klassenbewegung  0  zu  be- 
trachten; in  ihrer  konzentrierten  Sachlichkeit  ist  sie  wohl  nur  für  den  ver- 
ständlich, der  mit  diesen  Dingen  bereits  einigermaßen  vertraut  ist.  Ins- 
besondere werden  die  Parteiverhältnisse  in  Preußen  nur  einleitungsweise 
rasch  skizziert;  über  die  Kämpfe  Lassalles  mit  der  preußischen  Fortschritts- 
partei existiert  ja  bereits  ein  gute  Literatur,  und  die  Fortsetzung  der  Agitation 
unter  den  Nachfolgern  des  Arbeiterdiktators  hat  M.  selbst  (in  s.  „Schweitzer") 
ausführlich  geschildert.  Überdies  spielt  der  „Allgemeine  deutsche  Arbeiter- 
verein" kaum  ernstlich  eine  Rolle  bei  den  Versuchen  bürgerlicher  Demokraten 
seit  1865,  die  entstehende  proletarische  Klassenbewegung  für  ihre  politischen 
Zwecke  einzufangen.  Die  Gründung  Lassalles  geschah  ja  in  der  ausgesprochenen 
Absicht,  der  schwer  um  ihre  politische  Stellung  ringenden  Bourgeoisie  in  den 
Rücken  zu  fallen ;  diesen  Geist  des  Klassenkamjjfes  haben  die  Lassalleaner 
kernen  Augenblick  verleugnet:  eher  schon  bändelten  sie  mit  den  konservativen 
Machthabern  an,  als  mit  den  fortschrittlichen  Gegnern.  Faßt  man  die  Ver- 
hältnisse in  Preußen  allein  ins  Auge,  so  erscheint  die  Persönlichkeit  Lassalles, 
mit  ihrem  Führerehrgeiz  wie  mit  ihrem  radikalen  Idealismias,  fast  als  wichtigste 
Ursache  für  die  fi-ühe  Trennung  der  proletarischen  von  der  bürgerlichen 
Demokratie:  mindestens  als  ebenso  bedeutungsvoll,  wie  der  Mangel  an  sozialem 
Verständnis  innerhalb  der  preußischen  Fortschrittspartei.  Zur  historischen 
Erklärung  dieses  Mangels  bringt  übrigens  M.  einige  neue  Materialien  bei: 
hauptsächlich  über  die  persönlichen  Verhältnisse  der  Fraktionsführer  ^). 

Lehrreicher  und  merkwürdiger  ist  das  Verhältnis  der  bürgerlichen  zur 
proletarischen  Demokratie  im  außerpreußischen  Deutschland,  dem  das  Hauj)t- 
interesse  unserer  Arbeit  gehört.  Wir  erhalten  vor  allem  eine  quellenmäßige 
Geschichte  der  „deutschen  Volkspartei"  und  ihrer  sozialpolitischen  Bestre- 
bungen bis  1870  —  also  derjenigen  bürgerlichen  Gruppe,  in  der  sich  die 
alten  demokratischen  Ideale  von  achtundvierzig  noch  einmal  erneuerten  \;nd 
die  infolgedessen  auch  am  längsten  ijolitische  Fühlung  mit  den  Massen  des 
Industrieproletariats  bewahrte.  Entgegen  den  fi'üheren  parteiischen  Schil- 
derungen dieser  Fraktion  —  der  tendenziösen  Beschönigung  ihrer  Politik 
durch  den  modernen  Erben  und  Fortsetzer  ihrer  sozialpolitischen  Bestre- 
bungen^), wie  andrerseits  der  brutalen  Verspottung  jener  Bemühungen  vom 
Standpunkt  der  heutigen  Sozialdemokratie'')  —  bringt  M.  eine  verständnis- 
volle, sachliche  Darstellung,  die  uns  wesentlich  klarer  sehen  läßt. 

^)  „Schweitzer  und  die  Sozialdemokratie",  Jena  1909.  —  Die  „Lösung 
der  deutschen  Frage  1866  und  die  Arbeiterbewegung",  Jena  1907  (Festgaben 
f.  Lexis).  —  Kapitel  „Volkspartei  und  Arbeiterpartei"  in  der  „Geschichte 
der  Frankfurter  Zeitung".  Die  letztere  Skizze  erhalten  wir  jetzt  in  aus- 
geführter Gestalt. 

'^)  An  neuen  Quellen  findet  man  hauptsächlich  eine  Reihe  un ge- 
druckter Briefe  demokratischer  Parteihäupter  aus  dem  Nachlaß  J.  Ja- 
kobys  verwertet. 

'')  Vgl.  F.  Naumann:  Süddeutsche  Monatshefte  Januar  1910.  Quellen- 
wert hat  dagegen  die  objektivere  Schilderung  Pay  er s:  Patria,  Jahrbuch  der 
Hilfe  1908. 

■*)  Vor  allem  durch  Me bring  vertreten,  der  übrigens  schon  in  den 
Arbeiten  seiner  bürgerlichen  Epoche  ähnlich  urteilte. 


Besprechungen.  525 


War  die  „deutsche  X'olkspartei"'  ihrem  Wesen  nach  jemals  imstande, 
die  Brücke  zwischen  bürgerlichen  und  proletarischen  Klassenbestrebungen  zu 
bilden,  deren  Bestehen  nach  Ansicht  mancher  Beurteiler')  „vielleicht  oder 
sehr  wahrscheinlicherweise"  das  Proletariat  noch  längere  Zeit  vom  offenen 
Klassenkampf  zurückgehalten  hätte?  An  dem  \\'illen  der  volksparteilichen 
Führer,  die  Arbeiterklasse  auch  politisch  mündig  zu  machen  und  mit  den 
radikalen  Schichten  des  Bürgertums  zu  einer  großen  demokratischen  Partei 
zusamnieuzuschweißen,  ist  kein  Zweifel.  Freilich  empfand  man  von  Anfang  an 
die  Schwierigkeit  eines  solchen  Versuches,  solange  die  bürgerliche  Demokratie 
nicht  auf  stärkereu  politischen  Anhang  unter  den  Arbeitern  rechnen  konnte ; 
dafür  ist  es  bezeichnend,  daß  gerade  die  fähigsten  Köpfe,  wie  Sonnemann  und 
F,  A.  Lange,  anfangs  vorsichtig  zurückhielten:  sie  glaubten  (im  Sommer  1865) 
die  Zeit  noch  nicht  gekommen,  um  eine  Organisation  der  Arbeiter  auf  poh- 
tischem  Gebiet  zu  versuchen,  bemühten  sich  vielmehr,  das  Progi'amm  der 
von  ihnen  geleiteten  Arbeitervereine  vorläufig  von  politischen  Forderungen 
frei  zu  halten.  Da  überdies  die  preußischen  Gesinnungsgenossen  durch  ihre 
Verfassungskämpfe  in  Anspruch  genommen  und  für  weitergehende  Bestre- 
bungen einstweilen  nicht  zu  gewinnen  waren,  so  erhielten  bei  der  Grün- 
dung der  deutschen  Volkspartei  von  vornherein  die  süddeutschen  Klein- 
staatler unter  Führung  des  geschäftigen  Redakteurs  L.  Eckardt  und 
L.  Büchners  das  Übergewicht. 

Diese  landschaftliche  Beschränktheit  wurde  der  Partei  sogleich  zum 
Verhängnis.  Ihre  Gründung  fiel  in  die  Monate  kurz  vor  dem  Ausbruch 
des  preußisch-österreichischen  Krieges:  also  in  den  Zeitpunkt,  da  vor  der 
Gewalt  des  nationalen  Verfassungsstreites  alle  einigenden  Bänder  der  öffent- 
lichen Meinung  zu  zerreißen,  alle  Parteien  in  ihre  landschaftlichen,  partiku- 
laristischen  Bestandteile  zu  zerfallen  schienen.  Es  war  ganz  unvermeidlich, 
daß  die  Opposition  gegen  das  drohende  ,.preußische  Militärregiment"  zum 
eigentlichen  Sohiboleth  der  neuen  Partei  wurde.  Ihre  besondere  Färbung 
empfing  diese  großdeutsche  Tendenz  aus  den  Traditionen  des  schwäbischen 
Stammlandes  der  Parteigründer.  Sie  gewann  sogleich  die  größte  Bedeutung 
auch  für  die  soziale  Ausdehnung  und  Wirksamkeit  der  Partei.  In  der  Schil- 
derung dieser  Verhältnisse  liegt  —  für  mich  wenigstens  —  der  eigentliche 
Eeiz  der  M. sehen  Ai-beit:  in  dem  Nachweise,  wie  die  sozialpolitischen  Ten- 
denzen beständig  von  den  nationalpolitischen  durchkreuzt  —  bald  gefördert, 
bald  aber  gehemmt  werden. 

Auf  die  bestehenden  Arbeiterorganisationen  wirkte  das  großdeutsche 
Programm  sehr  verschieden.  Die  Lassalleaner  konnten  schon  ihren  Traditionen 
nach  nicht  anders,  als  den  kleinstaatlichen  Partikularismus  aufs  schärfste  ab- 
lehnen; und  90  schien  die  geplante  Verschmelzung  der  „süddeutschen  bürger- 
lichen mit  der  sozialen  Demokratie  des  Nordens"  gleich  anfangs  zu  miß- 
lingen. Indessen  zog  die  scharf  antipreußische  Tendenz  der  Volkspartei  die 
sächsischen  Arbeiterbildungsvereine  unter  der  Führung  Liebknechts  herbei, 
der  soeben  in  Bebeis  Leipziger  Kreise  eingetreten  war.  In  diesen  Monaten 
der  „preußischen  Gefahr"  sammelte  sich  ja  alles,  was  außerhalb  Preußens 
ein  demokratisches  Herz  in  der  Brust  trug,  um  seine  aufs  äußerste  ])edi-ohten 
Ideale  zu  retten,  und  gerade  Liebknecht  empfand  diese  Gefahr  lebhafter  als 
irgend  ein  anderer.  Es  ist  bemerkenswert,  wie  weit  er  damals  noch  die 
sozialen  Forderungen  hinter  die  nationalen  zurückstellte ;  die  Zahmheit  des 
Chemnitzer  Arbeiterprogramms  vom  19.  "VTII.  186H  erklärt  M,  hauptsächlich  aus 
der  Rücksichtnahme  auf  die  süddeutsche  Demokratie. 

Für  die  Weiterentwicklung  der  Partei  wurden  die  gi-oßen  geschicht- 
lichen Ereignisse  von  1866  entscheidend.  Zunächst  führten  sie  dahin,  daß 
die  rein  politische  Demokratie  in  Preußen    das  Spiel  endgültig  verlor.     Die 


^)   Ich   zitiere  W.  Sombart,   Sozialismus  und  sozialistische  Bewegung. 
5.  Aufl.  S.  147. 


526  Besprechungen. 


wachsende  Freude  an  Bismarcks  nationaler  Schöpfung,  die  allgemeine  Be- 
kehrung zur  „Realpolitik"  und  vor  allem  die  Ohnmacht  der  grundsätzlichen 
Opposition  gegen  den  gewaltigen  Staatsmann  führten  zum  Erlahmen  der  demo- 
kratischen Stoßkraft:  nur  einzelne  Gesinnungsgenossen  blieben  der  Volks- 
partei in  dem  norddeutschen  Militärstaat.  Dafür  war  in  den  nächsten  Jahren 
die  Flut  des  Preußenhasses  im  außerpreußischen  Deutschland  freilich  noch 
im  Steigen;  die  Volkspartei  gewann  sogar  neue  Gebiete  für  ihre  Agitation: 
die  annektierten  Provinzen;  und  der  süddeutsche  Partikularismus  trieb  ja 
gerade  in  diesen  Übergangs  jähren  seine  wunderbarsten  Blüten.  So  erlebte 
die  Volkspartei  jetzt  ihre  größte  äußere  Entfaltung.  Aber  damit  wuchsen 
zugleich  die  inneren  Spannungen.  Die  soziale  Spannweite  von  den  weifischen 
Hannoveranern  bis  zu  den  schwäbischen  Kleinbürgern  und  sächsischen  Industrie- 
arbeitern war  schon  recht  bedeutend.  Dazu  kamen  landschaftliche  und  vielerlei 
politische  Gegensätze. 

Nicht  einmal  in  der  nationalen  Frage  war  man  sich  über  die  positiven 
Ziele  einig;  so  bekämpfte  z.  B.  Liebknecht  immer  offener  den  Föderalismus 
der  Süddeutschen,  den  er  im  Grunde  verachtete.  Außer  der  Verwerfimg  der 
preußischen  Hegemonie  war  es  schwierig,  überhaupt  ein  klares  politisches 
Progi-amm  zu  formulieren;  war  doch  das  allgemeine  Stimmrecht  im  Nord- 
bunde eingeführt,  und  dadurch  aus  dem  alten  Programm  ausgefallen!  Die 
Programme  der  Volkspartei  enthalten  zweifellos  die  luftigsten  politischen 
Kartenhäuser,  die  überhaupt  in  diesem  plänereichen  Jahrzehnt  gebaut  wurden. 
Das  war  die  Partei,  die  sich  berufen  glaubte,  die  soziale  Führung  der 
proletarischen  Massen  zu  übernehmen.  M.  schildert  ausführlich  ihre  zahl- 
reichen Versuche,  ein  zugkräftiges  soziales  Programm  aufzustellen.  Vor  1866 
mißlangen  sie  durchaus;  die  fortschrittlich-manchesterliche  Auffassung  des 
Wirtschaftslebens  überwog  bei  weitem  unter  den  Parteigenossen.  Ende  1867 
setzen  dann  neue  Versuche  ein,  die  Partei  auf  sozialpolitischer  Grundlage  zu 
organisieren.  Der  führende  Geist  ist  jetzt  (nach  Eckardts  frühem  Sturz) 
Leop.  Sonnemann,  der  nicht  nur  eine  umfassende  Organisation  in  lilittel-  und 
Süddeutschland  bis  nach  Österreich  hinein  vorbereitete^),  sondern  vor  allem 
auch  im  westlichen  Preußen  eifrig  tätig  war,  um  den  volksparteilichen  Arbeiter- 
vereinen neuen  Boden  zu  gewinnen.  Den  Höhepunkt  der  großdeutsch-demo- 
kratischen Agitation  bildet  das  gi-oße  Wiener  Schützenfest  vom  August  1868, 
auf  dem  die  deutschen  Vertreter  eine  glänzende  Werbeaktion  für  die  deutsche 
Volkspartei  vorbereiteten.  Aber  gerade  hier  trat  plötzlich  und  erschreckend 
der  tiefe  soziale  Gegensatz  zwischen  Bürgertum  und  Arbeiterschaft  zutage. 
In  der  entscheidenden  Versammlung  warfen  die  sozialdemokratischen  Wiener 
Arbeiter  die  nationalpolitische  Resolution  der  Volkspartei  über  den  Haufen 
und  meldeten  stüi-misch  ihre  sozialen  Forderungen  an. 

Daß  die  Arbeiterschaft  sich  nicht  als  bloßes  Anhängsel  der  Volkspartei 
würde  behandeln  lassen,  hatte  sich  freilich  schon  längst  gezeigt.  Schon  1866 
hatte  Sonnemann  darauf  verzichten  müssen,  die  Arbeitervereine  von  der  Politik 
fernzuhalten.  Daß  die  sozialen  Gegensätze  bislang  noch  nicht  schroffer  hervor- 
getreten waren,  lag  wohl  vor  allem  an  der  kräftigen  Empfindung  des  gemein- 
samen Hasses  gegen  den  „preußischen  Despotismus".  Man  könnte  auch  zur 
Erklärung  darauf  hinweisen,  daß  der  Stamm  der  Volkspartei  noch  immer 
von  schwäbischen,  teilweise  halb  agrarischen  Kleinbürgern  gebildet  wurde: 
der  soziale  Abstand  zwischen  dieser  Gruppe  und  der  industriellen  Arbeiter- 
schaft war  jedenfalls  erheblich  geringer,  als  der  zwischen  Proletariat  und 
liberaler  Bourgeoisie.  Und  auch  die  Wortführer  der  Partei,  zumeist  Journa- 
listen und  politisierende  Advokaten,  mochten  persönlich  die  Gegensätzlichkeit 
der  sozialen  Interessen  weniger  scharf  emj^finden,  als  etwa  ein  liberales  Partei- 
haupt von  der  Art  V.  v.  Unruh's.     Dennoch  trat  diese  Gegensätzlichkeit  not- 

')  ]\I.  druckt  hierzu  einen  sehr  interessanten  Beleg  aus  einem  Briefe 
öonnemanns  an  Jakoby  vom  1.  VI.  1868  ab. 


Besprechungen.  527 


wendig  immer  schärfer  hervor,  je  mehr  sich  die  Arbeiterschaft  —  in  den 
Jahren  des  Aufsteigens  der  kapitalistischen  Bourgeoisie  in  Deutschland  — 
den  Idealen  der  marxistischen  Internationalen  zuwandte.  Der  Wiener  Vorgang 
war  ein  deutliches  Vorzeichen  davon. 

Wir  wollen  hier  nur  die  wichtigsten  Etappen  der  Entwicklung  zum 
Marxismus  bezeichnen:  Nürnberger  Vereinstag  der  deutschen  Arbeitervereine 
1868  (Zustimmung  zu  dem  Programm  der  Internationalen),  Eisenacber  Kongreß 
1869,  Streit  um  die  Baseler  kommunistischen  Beschlüsse  der  Internationalen 
1869,  Übernahme  derselben  durch  die  Arbeitervereine  auf  dem  Stuttgarter 
Kongreß  1870.  Die  große  Bedeutung  der  Kämpfe  zwisclien  Liebknecht  und 
Schweitzer  für  die  Beschleunigung  dieses  Prozesses  ist  bekannt.  Man  kann 
es  ja  fast  als  eine  tragische  Ironie  empfinden,  daß  gerade  diejenige  Organi- 
sation der  Ai'beiter  am  fi'ühesten  sich  den  internationalen  und  kommuni- 
stischen Idealen  zuwandte,  die  von  dem  liberalen  und  demokratischen  Bürger- 
tum ins  Leben  gerufen  und  mit  Mühen  großgezogen  war  —  im  Interesse 
der  „deutschen  Einheits-  und  Freiheitssache"!  Die  Erklärung  der  Tatsache 
ist  nicht  möglich,  ohne  die  überaus  große  Bedeutung  der  Persönlichkeit  Lieb- 
knechts zu  würdigen.  Vielleicht  darf  man  aber  auch  hier  an  die  überwiegend 
mittel-  und  kleinstaatliche  Heimat  der  demokratischen  Arbeitervereine  er- 
innern: man  versteht  dann  wenigstens,  daß  die  Lassalleschen  Arbeiter  auf 
preußischem  Boden  trotz  alles  Kadikalismus  länger  ein  positives  Verhältnis 
zu  dem  bestehenden  Staate  bewahren  konnten,  als  die  von  abstrakten  klein- 
staatlichen Republikanern  geführten  Arbeiterbildungsvereine '). 

Die  soziale  Politik  der  Volkspartei  bietet  seit  den  Wiener  Ereignissen 
von  1868  ein  bedenkliches  Schauspiel:  ein  Wettrennen  um  die  Gunst  der 
Massen,  bei  dem  den  Bürgerlichen  zuletzt  doch  der  Atem  ausgeht.  Am  weitesten 
kam  dabei  noch  Sonnemann  voran,  der  noch  immer  Vorsitzender  des  Ver- 
bandes deutscher  Arbeitervereine  war.  Ihm  und  dem  Württemberger  Hauß- 
mann  gelang  es  im  September  1868  auf  dem  Stuttgarter  Parteikongreß,  ein 
wirksames  soziales  Programm  durchzubringen,  das  die  Partei  in  sozialpoli- 
tischer Beziehung  an  die  Spitze  des  deutschen  Bürgertums  stellte.  Einen 
ähnlichen,  fi'eilich  weniger  erfolgreichen  Versuch  hatte  der  alte  Jakoby  für 
seine  Person  schon  1868  mit  einem  sozialen  Programm  gemacht.  Wenn  das 
heute  gangbare  Urteil  die  Lostrennung  der  proletarischen  Klassenbewegung 
vom  bürgerlichen  Radikalismus  hauptsächlich  der  sozialen  Unverständigkeit 
des  Bürgertums  Schiüd  gibt,  so  sollte  man  doch  diese  Bemühungen  der  bürger- 
lichen Demokraten  um  soziales  Entgegenkommen  nicht  vergessen.  Auch  hier 
liegt  die  Schuld  weniger  in  den  Gesinnungen,  als  in  den  Verhältnissen.  Die 
Dinge  haben  sich  eben  in  Deutschland  unheimlich  schnell  entwickelt:  1864 
hatte  Lassalle  noch  Mühe,  die  Ai-beitermassen  zu  finden,  die  er  organisieren 
konnte,  1869  wurde  die  zweite  große  Arbeiterpartei  mit  sozialistischem  Pro- 
gramm gegi'ündet,  die  bürgerliche  Arbeiterorganisation  aufgelöst.  Der  Stutt- 
garter Parteibeschluß  im  Jahre  vorher  kam  bereits  zu  spät.  Sonnemann  hatte 
ausgespielt,  sobald  die  Arbeiter  das  demokratische  Bürgertum  zu  ihrer  Unter- 
stützung nicht  mehr  zu  bedürfen  glaubten.  Gewiß  lag  Liebknecht  nichts 
daran,  diese  Unterstützung  ohne  zwingenden  Grund  zu  verlieren;  aber  er 
war  doch  mit  Bebel  längst  entschlossen,  bei  dem  Bündnis  der  Führer  und 
nicht  der  Geführte  zu  sein.  M.  tadelt  die  unsinnige,  streitlustige  Haltung  der 
volksparteilichen  Parteikorrespondenz  unter  der  Redaktion  Freses,  des  ab- 
strakten Individualisten,   der  den  Abfall   der  Arbeiter   beschleunigt  und  den 


^)  Über  den  Zusammenhang  zwischen  Kleinstaaterei  und  abstraktem 
Universalismus  der  politischen  Idee  findet  man  feine  Bemerkungen  in 
Meineckes  „Weltbürgertum  und  Nationalstaat",  bes.  II,  cap.  6.  In  diesen 
Zusammenhang  gehört  auch  die  Tatsache,  daß  viele  der  volksparteilichen 
Führer  ebenfalls  einer  internationalen  Gesellschaft  angehörten,  der  „Friedens- 
und Freiheitsliffa". 


528  Besprechungen. 


letzten  Annäherungsversuch  Bebeis  (1869)  unnötig  zerstört  hat.  Aber  hätte 
diese  Annäherung  von  Dauer  sein  können?  Und  was  wichtiger  ist:  hätte  sie 
einer  von  beiden  Parteien  jetzt  noch  ernsthaft  nützen  können?  Hatten  die 
schwäbischen  Gesinnungspolitiker  schließlich  so  ganz  Unrecht,  wenn  sie  von 
den  Arbeiterführern  übertölpelt  und  mißbraucht  zu  werden  fürchteten? 

Der  Krifto-  von  1870  hat  bald  darauf  der  großdeutsch-revolutionären  Be- 
wegung ein  Ende  gemacht  und  damit  das  letzte  Band  zwischen  bürgerlicher 
und  proletarischer  Demokratie  zerrissen.  Die  rein  politische  Demokratie 
verfiel  dann  dem  hoffnungslosen  Siechtum.  M.  kann  es  mit  Recht  als  das 
Ergebnis  seiner  Arbeit  bezeichnen:  daß  „das  Bedürfnis  nach  nationaler  Eini- 
gung und  die  Vertiefung  der  sozialen  Gegensätze  sich  als  lebendigere  und 
damit  auch  für  die  Parteibildung  fruchtbarere  Kräfte  erwiesen  als  die  auf 
formal-staatsrechtlichem  Boden  zurückbleibenden  Forderungen  der  ,reinen' 
Demokratie." 

Man  kann  es  vielleicht  bedauern,  daß  die  Trennung  der  proletarischen 
und  bürgerlichen  Demokratie  so  früh  erfolgt  ist  —  im  Interesse  unserer 
nationalen  und  sozialen  Entwicklung.  Aber  man  muß  sich  dann  darüber 
klar  sein,  daß  dieser  Trennungsprozeß  geschichtlich  unaufhaltsam  war.  Eine 
aufstrebende  Klasse  kann  auf  die  Dauer  nicht  von  einer  niedergehenden 
geführt  werden.  Ebenso  undenkbar  aber  war  es,  daß  sich  die  demokratischen 
Grundsätze  noch  nach  1866  unter  den  lebenskräftigeren  Elementen  des  deutschen 
Bürgertums  ausbreiteten:  die  realen  Lebensinteressen  der  Bourgeoisie  wiesen 
diese  jetzt  in  eine  andere  Richtung.  Und  so  ist  denn  auch  hier  der  ge- 
schichtliche Fortschritt  nicht  aus  der  Vereinigung  des  Unverträglichen,  sondern 
aus  dem  Kampf  der  Gegensätze  hervorgegangen.  Ob  heute,  da  nach  der 
Arbeiterschaft  bereits  das  Kleinbürgertum  unter  den  Gesichtspunkt  der 
„sozialen  Frage"  gerückt  wird,  die  Zeit  schon  gekommen  ist,  um  aus  der 
Antithese  die  Synthese  werden  zu  lassen?  Jedenfalls  haben  die  praktischen 
Politiker,  die  sich  heute  um  eine  solche  Vereinigung  bemühen,  mit  noch  viel 
größeren  Schwierigkeiten  zu  rechnen,  als  die  ehemalige  Volkspartei;  denn 
die  Selbständigkeit  der  jaroletarischen  Bewegung  ist  seither  unendlich  ge- 
wachsen, die  des  bürgerlichen  Radikalismus  aber  gleichermaßen  gesunken. 

Gerh.  Ritter. 

Arthur  Böhtlingk,  Bismarck  und  das  päpstliche  Rom.  Berlin  1911. 
Puttkamer  und  Mühlbrecht.  XV  u.  470  S.  —  Johannes  B.Kißling, 
Geschichte  des  Kulturkampfes  im  Deutschen  Reiche.  Erster  Band: 
Die  Vorgeschichte.  Freiburg  i.  B.  1911.  Herder.  VII  u.  486  S.  — 
Graf  Paul  von  Hoensbroech,  Rom  und  das  Zentrum.  Volksausgabe. 
Leipzig.     Breitkopf  u.  Härtel.     XH  u.  284  S. 

Noch  gibt  es  keine  objektive  Darstellung  des  Kulturkampfes  in  Deutsch- 
land; denn  wenn  er  auch  offiziell  beendet  ist,  seine  Wirkungen  auf  die  Re- 
gierung und  die  Kirche  sind  noch  zu  stark,  die  Leidenschaften  auf  beiden 
Seiten  noch  zu  erregt,  um  ein  endgültiges  historisches  Urteil  über  ihn  fällen 
zu  können.  Die  noch  während  des  Kulturkampfes  erschienenen  Werke  sind 
fast  ausschließlich  Urkundensammlungen.  Die  erste  wirkliche  Darstellung 
ist  das  1887  erschienene  Werk  von  Paul  Majunke,  „Geschichte  des  Kultur- 
kampfes in  Preußen -Deutschland".  Aber  Majunke,  der  selber  mitten  im 
Kampf  gestanden,  Zentrumsabgeordneter  und  Redakteur  der  „Germania"  war, 
ist  ein  glühender  Fanatiker,  der  Bismarck  mit  dem  wildesten  Hasse  gegen- 
übersteht, er  konnte  wohl  eine  politische  Kampfschrift,  aber  keine  histo- 
rische Darstellung  schreiben.  Auf  katholischer  Seite  ist  sein  Buch  bis  heute 
maßgebend  gewesen,  wie  auch  noch  die  „Geschichte  der  katholischen  Kirche 
im  19.  Jahrhundert"  vom  Mainzer  Bischof  Heinrich  Brück  (herausgegeben 
und  fortgesetzt  von  J.  B.  Kißling)  beweist.     Natürlich   haben  auch  die  ein- 


Besprechungen.  529 


zelnen  „Zentninislieldeu"  ihre  Biographen  gefunden,  unter  denen  sich  der 
historisch  vollkommen  ungeschulte  Jesuit  Otto  Pfülf  wohl  durch  den  Umfang 
seiner  Lebensbeschreibungen  Kettlers  und  Mallinckrodts,  sowie  der  des  Erz- 
bischofs Geißel  auszeichnet,  in  der  Darstellung  aber  mit  einer  geradezu  be- 
wundernswerten Kunst  die  von  ihm  beigebrachten  Materialien  so  zu  benutzen 
weiß,  daß  die  Geschichte  einfach  Kopf  steht;  immerhin  bringt  er  eine 
solche  Fülle  von  Material,  daß  seine  Schriften  unentbehrlicli  bleiben.  Die 
Biographien  ßeichenspergers  von  Ludwig  Pastor  und  Windhorsts  von 
E.  Hüsgen  stehen  bedeutend  höher,  doch  zeigt  auch  die  erstere,  daß  ein  so 
bedeutender  Historiker  wie  Ludwig  Pastor  versagt,  sobald  er  kirchenpolitische 
Kämpfe  der  jüngsten  Vergangenheit  zu  schildern  hat.  Martin  Spahn  findet 
sich  in  seinem  Buch  „Das  deutsche  Zentrum"  mit  diesen  Fragen  in  seiner 
bekannten,  allzu  eleganten  Weise  ab.  Das  kürzlich  erschienene  französische 
Werk  von  Georges  Goyau,  Bismarck  et  l'Eglise  (Paris  1911)  ragt  über  alle 
die  vorhergenannten  Arbeiten  weit  hinaus  und  ist  in  seiner  Beurteilung  der 
einzelnen  Ereignisse  recht  interessant,  stützt  sich  aber  im  wesentlichen  auf 
die  oben  charakterisierten  Darstellungen  und  reicht  auch  nur  bis  1878. 

Bei  dieser  Lage  der  historischen  Forschung  konnte  man  nur  erfreut 
sein,  daß  jetzt  kurz  hintereinander  zwei  Darstellungen  der  Geschichte  des 
Kulturkampfes  erschienen.  Um  es  gleich  vorauszuschicken,  beide  haben  sie 
enttäuscht.  Wenn  Kißling  im  Auftrage  des  „Zentralkomitees  für  die 
Generalversammlungen  der  Katholiken  Deutschlands"  schreibt ,  so  macht 
Böhtlingks  Buch  den  Eindruck,  als  sei  es  im  Auftrage  des  „Evangelischen 
Bundes"  verfaßt.  Objektiv  historische  Darstellungen  sind  sie  beide  nicht, 
können  es  auch  nicht  sein,  wenn  man  die  Auftraggeber  Kißlings  und  die 
bisherigen  kirchenpolitischen  Schriften  Böhtlingks  näher  kennt.  Über  Kiß- 
lings Werk  läßt  sich  ein  abschließendes  Urteil  noch  nicht  fällen,  da  noch 
die  beiden  wichtigsten  Bände  ausstehen.  Aber  eins  ist  schon  jetzt  sicher: 
„das"  Buch  über  den  Kultm-kampf  wird  er  uns  nicht  bescheren,  doch  wird 
es  auf  lange  Zeit  hinaus,  schon  wegen  seiner  Auftraggeber,  leider  das  Standard 
book  für  die  katholische  Welt  bleiben.  Böhtlingks  Buch  aber  liegt  voll- 
ständig vor  und  steht  Kißlings  Werk  so  sehr  entgegen,  daß  man  gespannt 
sein  darf,  wie  dieser  sich  in  den  beiden  folgenden  Bänden  damit  abfinden  wird. 

Abgesehen  von  dem  Umfang  unterscheiden  sich  die  beiden  Werke  rein 
äußerlich  schon  dadurch,  daß  Kißling  eine  Fülle  von  Anmerkungen  mit  den 
Belegen  für  seine  Behauptungen  bringt,  während  Böhtlingk  darauf  so  gut 
wie  ganz  verzichtet.  So  macht  Kißlings  Arbeit  von  vornherein  einen  wissen- 
schaftlicheren Eindruck,  was  nicht  etwa  heißen  soll,  daß  Böhtlingks  Dar- 
stellung an  und  für  sich  etwa  unwissenschaftlicher  wäre;  die  Mängel  sind 
bei  beiden  gleich  groß. 

Beide  Historiker  sind  darin  einig,  daß  der  „Kulturkampf",  d.  h.  jene 
Reihe  von  Kämpfen  zwischen  dem  Staat  und  der  römischen  Kirche  in  den 
Jahren  1871 — 87,  die  wir  heute  unter  diesem  Namen  zusammenfassen,  ohne 
eine  eingehende  Kenntnis  der  „katholisch-kirchlichen  Politik  Preußens"  in 
der  älteren  Zeit  nicht  richtig  gewürdigt  werden  kann,  ist  doch  Preußen  und 
später  das  neue  Deutsche  Reich  —  darin  hat  Böhtlingk  recht  —  in  ganz 
Europa  dasjenige  politische  Gebilde,  das  „in  so  diametralem  Gegensatz  zum 
päpstlichen  Rom  ins  Leben  getreten"  ist  wie  kein  anderes.  Und  auch  darin 
kann  man  ihm  gerne  zustimmen,  daß  dieser  Gegensatz  bei  den  preußischen 
Historikern  viel  zu  wenig  Berücksichtigung  gefunden  hat,  daß  die  treibende 
Kraft  in  der  preußischen  Politik  der  letzten  200  Jahre  —  den  aktiven 
Staatsmännern  selbst  teilweise  nicht  deutlich  erkennbar  —  der  Kampf  mit 
Rom  gewesen  ist.  Doch  hätte  er  sich  die  wenig  schöne  Polemik  gegen  die 
„Historikerzunft"  dabei  sparen  können. 

Beide  Verfasser  gehen  nun  al^er  bei  der  Darstellung  des  Verhältnisses 
des  alten  Preußen  zur  römischen  Kirche  ganz  verschiedene  Wege.  Kißling 
sucht  zu  beweisen,  daß  von  der  hauptsächlich  von  Max  Lehmann  in  seinem 

Zeitschrift  für  Politik.   6.  34 


530  Besprechungen. 


Aktenwerk  „Preußen  und  die  katholische  Kirche  seit  1640"  behaupteten  „sehr 
frühzeitigen  und  weitgehenden  Toleranz  gegen  die  katholischen  Untertanen" 
keine  Kede  sein  kann.  Dieser  Beweis  mag,  wenn  man  auch  hier  und  da 
Bedenken  erheben  kann,  als  im  großen  und  ganzen  geglückt  gelten.  Man 
wird  ihm  auch  zustimmen,  daß  einzelne  wirkliche  Toleranzmaßnahmen  der 
Hohenzollern,  wie  der  vielgerühmte  Verzicht  Johann  Sigismunds  auf  das 
landesherrliche  ius  reformandi  nicht  persönlichen,  sondern  rein  politischen 
Erwägungen  entsprungen  sind,  daß  auch  Friedrich  der  Große,  wenn  es  im 
Interesse  seiner  Politik  lag,  intolerant  sein  konnte.  Für  den  gi-oßen  Frei- 
denker auf  dem  Hohenzollernthron  gab  es  keine  Gefühlspolitik,  auch  der 
Schutz,  den  er  der  vom  Papste  aufgehobenen  Gesellschaft  Jesu  angedeihen 
ließ,  ist  sehr  realen  Erwägungen  entsprungen.  Im  allgemeinen  wird  man 
sagen  können,  daß  kein  preußischer  König,  mit  Ausnahme  Friedrich  Wilhelms  IV., 
eine  Gleichberechtigung  der  Katholiken  mit  den  Protestanten  durchgeführt 
hat.  Insofern  ist  Kißlings  quellenmäßige  Beweisfühi'ung  geglückt.  Und  doch 
ist  seine  Darstellung  durchaus  tendenziös,  wenn  man  ihm  ja  wohl  bei  seinem 
schroff  katholischen  Standpunkt  auch  die  bona  fides  zugestehen  muß.  Für 
ihn  gilt  noch  die  alte  kuriale  Auffassung,  daß  das  Kirchenrecht  über  dem 
Staatsrecht  steht,  daß  jeder  Eingriff  des  Staates  in  die  Eechte  der  Kirche, 
selbst  wenn  diese  ganz  einseitig  von  Eom  aus  formuliert  sind,  ein  Verbrechen 
ist.  Mit  einem  Historiker,  der  solche  Anschauungen  hat,  ist  eine  Diskussion 
schlechterdings  unmöglich.  Am  charakteristischsten  ist  in  dieser  Beziehung 
die  Schilderung  des  Kölner  Bistumsstreites.  Wer  hier  auf  katholischer  Seite 
nicht  den  reinen  römischen  Standj^unkt  vertrat,  wird  von  Kißling  einfach 
abgetan.  Der  Erzbischof  Spiegel  von  Köln  war  bei  seiner  Nachgiebigkeit 
in  der  Frage  der  gemischten  Ehen  „wohl  das  Opfer  der  Überredungskunst 
Bunsens  und  des  Domkapitulars  Dr.  München",  der  Fürstbischof  Sedlnitzky 
von  Breslau,  der  später  zum  Protestantismus  übertrat,  ist  ein  „theologisch 
ungebildeter,  charakterschwacher  Mann",  während  natürlich  alles,  was  gegen 
einen  so  dunklen  Ehrenmann  wie  Droste-Vischering  vorgebracht  wird,  „nieder- 
trächtige Verdächtigungen"  sind.  In  feierlichen  Tönen  wird  der  letztere 
gepriesen  als  der  Mann,  der  „die  staatliche  Polizeigewalt  aus  dem  Heiligtum 
der  Kirche  gewiesen"  hat.  Daß  man  auf  jirotestantischer  Seite  die  Jesuiten 
völlig  falsch  beurteilt  „dank  der  jahrhundertealten  Verleumdungen  über  die 
Gesellschaft  Jesu",  ist  eine  Ansicht,  die  bei  dem  Standpunkt  des  Verfassers 
eigentlich  selbstverständlich  ist.  „Freidenkertum  und  bourbonischer  Absolutis- 
mus" waren  1773  bestrebt,  den  Jesuitenorden  auszurotten,  daß  ihn  Clemens  XFV. 
offiziell  ex  cathedra  aufgehoben  hat,  wird  den  Gläubigen,  für  die  dieses  Werk 
in  erster  Linie  berechnet  ist,  verschwiegen. 

Im  Verschweigen  ist  Kißling  überhaupt  ein  Meister,  objektiv  steht  in 
seinem  Buch  kein  unwahres  Wort,  alles  kann  bewiesen  werden,  aber  alles 
was  nicht  dazu  dienen  kann,  zu  zeigen,  welch  prächtiges  nur  das  Beste  er- 
strebende Institut  die  römische  Kirche  ist,  die  von  dem  bösen  preußischen 
Staat  auf  Schritt  und  Tritt  verfolgt  und  geknechtet  wird,  wird  mit  Still- 
schweigen übergangen.  Daß  von  einer  Toleranzpolitik  der  älteren  Hohen- 
zollern keine  Rede  sein  kann,  hat  der  Verfasser  bewiesen,  was  er  aber  ver- 
schweigt ist,  daß  es  vom  16. — 18.  Jahrhundert,  überhaupt  im  Zeitalter  des 
Absolutismus,  in  ganz  Europa  keinen  Staat  gab,  der  eine  Politik  der  Toleranz 
getrieben  hat,  daß  Toleranzgedanken  zuerst  in  der  französischen  Revolution 
auftauchen  und  erst  im  19.  Jahrhundert  an  Boden  gewonnen  haben.  War 
etwa  Ludwig  XIV.  tolerant,  als  er  das  Edikt  von  Nantes  aufhob  und  die 
Protestanten  aus  Frankreich  vertrieb,  war  es  etwa  der  Kaiser  oder  der  Erz- 
bischof Firmian  von  Salzburg?  Zu  derartigen  Repressalien,  wie  diese  Fürsten 
ihren  evangelischen  Untertanen  gegenüber,  haben  die  Hohenzollern  nie  ge- 
griffen. Die  Aufnahme  der  vertriebenen  Salzburger  durch  Friedrich  Wilhelm  I. 
wird  wohlweislich  verschwiegen,  wenn  er  aber  sein^e  Offiziere  mit  kirchlichen 
Pfründen  bezahlt,   dann  wird  so  etwas  als  „Skrupellosigkeit"  gebrandmarkt. 


Besprechungen.  531 


In  dieser  absichtlichen  Einseitigkeit  des  Kißlingschen  Buches  liegt  eine  große 
Gefahr,  der  Katholik  wird,  wenn  er  sich  über  die  Kirchenpolitik  der  Hohen- 
zollern  unterrichten  will,  selbstverständlich  zuerst  zu  diesem  greifen  und, 
wenn  er  nicht  besondere  historische  Kenntnisse  besitzt,  zu  der  Ansicht 
kommen,  daß  die  katholische  Kirche  in  keinem  Staat  Europas  von  jeher  so 
schlecht  behandelt  worden  ist,  wie  in  Preußen ').  Das  ist  auch  wohl  die 
Absicht  des  Verfassers  und  seiner  Förderer,  der  Herren  Dr.  Adolf  Franz  und 
Dr.  Julius  Bachern.  Das  Buch  ist  das  beste  Beispiel  dafür,  daß  man  Geschichte 
schreiben  kann  objektiv  richtig,  aber  deshalb  noch  lange  nicht  ob- 
jektiv wahr.  Für  den  Fachmann  enthalten  die  beiden  ersten  Bücher 
Kißlings,  die  bis  1860  reichen,  eine  Fülle  von  Anregungen,  für  den  Laien 
aber  geben  sie  ein  ganz  entstelltes  Bild.  Die  weitere  Darstellung  seit  1860 
soll  weiter  unten  berücksichtigt  werden,  zunächst  wollen  wir  Kißling  die 
Böhtlingksche  Darstellung  der  Kirchenpolitik  des  18.  Jahrhunderts  gegen- 
überstellen. 

Denn  Böhtlingk  beginnt  nach  einer  allgemeinen  kurzen  Charakteristik 
der  päpstlichen  Politik  erst  mit  Friedrich  III.,  dem  späteren  König  Friedrich  I. 
Sein  Plan  ist  ein  anderer  als  derjenige  Kißlings.  Wenn  jener  die  Politik 
Preußens  der  römischen  Kirche  gegenüber  schildert,  so  Böhtlingk  umgekehrt 
die  Politik  Roms  Preußen  gegenüber,  er  faßt  sich  hierbei  recht  kurz.  Bei 
dem  Treiben  der  Jesuiten  am  Hofe  Friedrichs  I,  hat  er  die  neusten  For- 
schungen Philipp  Hiltebrandts  noch  nicht  berücksichtigt,  die  nachgewiesen 
haben,  daß  diese  „ohne  Leitung  von  Rom  aus"  vorgingen.  Daß  sie  aller- 
dings im  Sinne  der  Kurie  handelten,  wird  niemand  bestreiten.  Dagegen 
wird  der  Protest  der  Kurie  gegen  den  preußischen  Königstitel  gebührend 
gewüi'digt,  während  Kißling  sich  sehr  zartfühlend  damit  abzufinden  sucht. 
Allzu  kurz  nur  geht  Böhtlingk  auf  das  Verhältnis  der  folgenden  Könige  zu 
Rom  ein,  Friedrichs  des  Großen  Kirchenpolitik  wäre  einer  ausführlicheren 
Darstellung  wert  gewesen.  Genauer  wird  dann  erst  der  Streit  über  die  ge- 
mischten Ehen  behandelt.  Welch  ein  Gegensatz  in  der  Beurteilung  zu  Kiß- 
ling, wie  verschieden  läßt  sich  doch  ein  und  dasselbe  Ereignis  darstellen. 
Hie  Staatsrecht,  hie  Kirchenrecht!  Zwei  Auffassungen,  die  sich  nie  und 
nimmer  vereinigen  lassen.  Das  Nachgeben  Friedrich  Wilhelms  FV.  wird  von 
Böhtlingk  mit  Recht  verurteilt,  wenn  er  sagt:  „Glatter  ist  die  Fahrt  von 
Berlin  nach  Canossa  nie  zurückgelegt  worden",  während  nach  Kißling  der 
König  der  Kirche  noch  lange  nicht  weit  genug  entgegengekommen  ist.  Was 
man  aber  bei  Böhtlingk  leider  überall  vermißt  —  sonst  wäre  sein  Buch, 
allerdings  mit  starken  Einschränkungen,  gut  —  ist  eine  sachlich  ruhige  Dar- 
stellung und  Beurteilung  der  Er  eignisse,  er  polemisiert  zu  sehr.  Man  lese 
S.  26  die  Schilderung  der  Wallfahrt  zum  heiligen  Rock  von  Trier  (die  Kiß- 
ling bezeichnenderweise  einfach  mit  Stillschweigen  übergeht)  —  mit  ein  paar 
spöttischen  Worten  läßt  sich  das  doch  nicht  abtun,  knüpft  doch  an  sie  die 
wenn  auch  nur  episodenhafte  deutschkatholische  Bewegung  an,  wiirde  doch 
dadurch  der  Gegensatz  der  Protestanten  und  Katholiken  erst  recht  geschürt. 
Gewiß  wird  Böhtlingk  entgegnen  können,  daß  dies  alles  von  Treitschke  aus- 
führlich und  glänzend  dargestellt  sei,  daß  er  bei  der  Fassung  in  den  paar 
Einleitungskapiteln  nicht  näher  darauf  eingehen  woUte;  so  einfach  durfte  er 
aber  doch  nicht  darüber  hinweggehen. 

Darin,  daß  das  Revolutionsjahr  1848/49  der  römischen  Kirche  in  Preußen 
große  Vorteile  gebracht  hat,  daß  besonders  der  Art,  12  der  Verfassung  von 
1848  (der  Art.  15  der  Verfassung  von  1850)  für  die  römische  Kirche  weit 
wichtiger  wurde   als   für   die   evangelische,   stimmen  Böhtlingk  und  Kißling 


^)  Das  anonym  erschienene  Buch  ,.Die  Kirchenpolitik  der  Hohenzollem" 
von  einem  Deutschen,  Frankfurt  a.  M.  1906,  das  trotz  seines  vielfach  zu  schroffen 
antikatholischen  Standpunktes  eine  treffliche  Übersicht  bietet,  scheint  Kißling 
nicht  gekannt  zu  haben. 

34* 


532  Besprechungen. 


überein.  Nur  zeigt  sich  auch  hier  wieder  der  fundamentale  Unterschied  in 
der  Auffassung;  Böhtlingk  erkennt  die  großen  Nachteile,  die  Eom  als  Ver- 
bündeter der  Reaktion  Preußen  bereitet  hat,  während  Kißling  begeistert 
über  den  „unerhörten  Aufschwung"  ist,  den  das  kirchliche  Leben  im  katho- 
lischen Preußen  nahm.  Die  „unvergänglichen  Verdienste",  die  sich  die  Jesuiten 
erwarben,  werden  gebührend  gerühmt.  Wie  zersetzend  sie  auf  den  konfes- 
sionellen Frieden  wirkten,  wie  der  nun  in  weitere  katholische  Volkskreise 
eindringende  Ultramontanismus  das  preußische  Staatswesen  schädigen  mußte, 
dafür  hat  er  kein  Verständnis,  ja  er  wagt  sogar  die  kühne  Behauptung,  daß 
die  Gründung  der  „Katholischen  Fraktion"  ein  Akt  legitimster  politischer 
Notwehr  war ;  die  richtige  Charakteristik  der  Fraktion  aber  dürfte  wohl  bei 
Böhtlingk  zu  suchen  sein,  der  auch  zum  Teil  mit  den  Worten  ihres  Bio- 
graphen Pfülf  die  Gebrüder  Mallinckrodt  ti-efflich  zu  schildern  weiß,  doch 
auch  hier  ist  der  Ton,  den  er  anschlägt,  bisweilen  gar  zu  spöttisch.  Aber  es 
ist  schließlich  gut,  daß  der  allzu  reichliche  Weihrauch,  in  den  bisher  diese 
Leute  von  ihren  Anhängern  eingehüllt  worden  sind,  einmal  fortgeblasen  wird. 
Mag  einzelnes  zu  scharf  sein,  auf  der  anderen  Seite  wird  es  nicht  besser 
gemacht,  wenn  Kißling  so  schön  sagt:  „Die  glänzenden  Geistesgaben  seines 
Bruders  waren  Wilhelm  I.  versagt",  wobei  natürlich  in  diesem  Falle  zu  er- 
gänzen ist,  weil  er  sich  ganz  als  Protestant  fühlte  und  die  allzu  große  Nach- 
giebigkeit Friedrich  Wilhelms  TV.  ultramontanen  Machtgelüsten  gegenüber 
nicht  teilte.  Vielleicht  war  dies  aber  doch  ein  Zeichen  von  gi-ößerer  politi- 
scher Einsicht.  Daß  Kißling  für  die  so  äußerst  komplizierte  religiöse  Ent- 
wicklung Bismarcks  bei  dem  Gegensatz,  in  dem  seine  „Politik  zu  den  Grund- 
sätzen des  Evangeliums"  angeblich  steht,  nicht  das  geringste  Verständnis  hat, 
ist  bei  seinen  Anschauungen  erklärlich,  wenn  er  aber  die  Untersuchungen, 
die  über  Bismarcks  Religion  von  Forschern  -wie  Marcks,  Baumgarten  und 
Müsebeck  —  auch  Max  Lenz  hätte  er  hier  zitieren  müssen  —  als  „methodisch 
durchaus  verkehrt"  und  als  „protestantisch -erbauliche  Betrachtungsweise" 
charakterisiert,  so  fällt  dieser  Vorwurf  mit  der  Änderimg  des  „protestantisch" 
in  „katholisch"  auf  sein  eigenes  Werk  zurück.  Die  wenigen  Bemerkungen 
Böhtlings  über  Bismarcks  Religiosität  bieten  nichts  Neues,  sind  aber  zutreffend. 
Die  Besprechung  von  Bismarcks  Verhalten  bei  der  Auflehnung  des 
Freiburger  Erzbischofs  von  Vicari  und  des  Limburger  Kirchenstreites  fällt 
demgemäß  bei  den  beiden  Autoren  ganz  verschieden  aus,  auch  hier  zeigt 
sich  Böhtlingk  als  der  Historiker,  der  Bismarcks  Politik  gerecht  wird,  vor 
allem  auch  die  hinterhältige  Diplomatie  der  Ultramontanen,  die  für  Kißling 
natürlich  gar  nicht  vorhanden  ist,  ins  rechte  Licht  rückt.  Das  eigentümliche 
Verhalten  der  katholischen  Geistlichkeit  bei  der  Königsberger  Krönung  sowie 
die  kathoiisierenden  Tendenzen  der  Königin  Augusta,  denen  Böhtlingk  je  ein 
eigenes  Kapitel  gewidmet  hat,  werden  von  Kißling  nicht  berücksichtigt.  Bei 
der  Stellung  der  deutschen  Katholiken  zur  deutschen  und  zur  italienischen 
Frage,  zeigt  nun  aber  Kißling  deutlich,  daß  bei  der  Mehrzahl  ganz  allein 
kirchliche,  nicht  nationale  und  politische  Interessen  maßgebend  waren.  Das 
ist  ja  das,  was  sonst  von  ultramontaner  Seite  am  liebsten  bestritten  wird. 
Kißling  selber  bringt  hier  den  Beweis  (S.  243  ff.),  daß  es  den  Ultramontanen 
—  so  muß  man  sagen,  denn  es  gab  auch  anders  gesinnte  Katholiken  — 
lediglich  darauf  ankam,  ob  in  Preußen  oder  in  Österreich  die  Kirche  größeren 
Einfluß  und  größere  Freiheit  habe.  Er  wagt  dann  aber  bei  dem  Kampf, 
den  protestantische  Gelehrte  wie  Sybel,  H.  v.  Treitschke  u.  a.  gegen  diesen 
Ultramontanismus  führten,  die  niedrige  Schmähung  der  Historisch-politischen 
Blätter  zu  wiederholen,  daß  diese  Männer  im  Antikatholizismus  gute  Geschäfte 
machen  wollten.  Es  fehlt  ihm  völlig  der  Sinn  dafür  zu  sehen,  daß  hier  nicht 
Protestanten  imd  Katholiken  einander  gegenü1)erstanden,  sondern  Patrioten 
und  unpatriotische  Ultramontane.  Wohlweislich  verschweigt  er  deshalb  auch 
die  Stellungnahme  jener  Kreise  zur  Polenfrage,  das  —  um  Böhtlingk  zu 
zitieren   —   überaus   bezeichnende   Verhalten    „des   preußischen   Renegaten", 


Besprechungen.  533 


des  Freih.  v.  Kettler  in  Mainz  1863  Vjis  1867.  Böhtlingk  hat  hier  dankens- 
werter Weise  alles  zusammengestellt,  was  für  das  Verhalten  der  führenden 
ultramontanen  Kreise  1866  charakteristisch  ist,  die  Äulieiningen  Mallinckrodts, 
Eeichenspergers  und  vor  allen  Dingen  Kettlers,  eine  wundervolle  Blütenlese. 
Warum  erwähnt  diese  Kißling  nicht  auch?  Er  ist  doch  sonst  schnell  dabei 
zu  zitieren,  wenn  es  sich  um  irgendeine  Äußerung  handelt,  die  gegen  die 
Kirche  gerichtet  ist. 

Ich  will  nicht  weiter  auf  Einzelheiten  eingehen,  die  Schilderung  der 
„Kämpfe  deutscher  Gelehrter  gegen  die  Autonomie  der  Kirche  in  Preußen 
und  die  Beschlüsse  des  Vatikanums"  und  „die  Stellung  des  Protestantismus 
zur  katholischen  Kirche  vor  dem  Kulturkampf"  sind  von  Kißling  im  allge- 
meinen zutreffend  geschildert  worden ;  daß  zu  weit  gehende  und  ungerechte 
Vorwürfe  erhoben  wurden,  wird  man  ihm  ohne  weiteres  zugeben.  Natürlich 
kann  er  den  Kampf  gegen  den  Ultramontanismus  nicht  anders  ansehen  als 
einen  Kampf  gegen  die  Eeligion.  Denn  welcher  L^ltramontane  wäre  heute 
schon  dazu  fähig?  Daß  (laut  Sy Ilabus)  der  Liberalismus  „jede  Art  positiver 
Religion"  mit  seinem  blinden  Haß  verfolgt,  ist  für  Kißling  wohl  mehr 
Glaubenssache  als  historische  Überzeugung.  Das  vierte  Buch  mit  der  Über- 
schrift „Vorboten  des  Kulturkampfes  in  Bayern,  Baden  und  Hessen",  mit 
dem  dieser  Band  schließt,  gleicht  den  vorhergehenden,  auch  hier  ist  alles 
zu  belegen,  was  Kißling  behauptet,  nur  wird  auch  hier  alles  genau  so  ein- 
seitig dargestellt  wie  vorher.  Man  kann  unter  diesen  Umständen  auf  die 
noch  ausstehenden  Bände  gespannt  sein  und  kann  jetzt  schon  voraussehen, 
daß  sie  sich  in  gleicher  Richtung  bewegen  werden.  So  wird  der  Historiker 
an  Kißlings  Werk  nicht  vorübergehen  können,  schon  die  Fülle  des  hier  ver- 
arbeiteten Materials  wird  dies  Buch  unentbehrlich  machen,  wer  sich  aber 
ernstlich  über  die  Vorgeschichte  des  Kulturkampfes  unterrichten  will,  der 
wird  auch  hier  keine  nach  beiden  Seiten  hin  gerecht  abwägende  Darstellung 
finden.  Es  scheint  als  ob  Kißling  bei  seiner  Arbeit  sich  von  den  Anschau- 
ungen, die  Ruvalle  auf  dem  Mainzer  Katholikentage  über  die  Aufgabe  des 
katholischen  Historikers  ausgesprochen  hat,  leiten  ließ. 

Was  Böhtlingk  über  den  Kultm-kampf  selber,  der  natürlich  den  Hauptteil 
seines  Buches  einnimmt,  zu  sagen  hat,  ist  im  großen  und  ganzen  nicht  neu. 
Irgendwelches  bisher  unbekannte  Material  hat  er  nicht  verwertet,  es  ist  sein 
Verdienst,  das  bereits  Bekannte  zu  einer  recht  gut  lesbaren,  lebendigen  Dar- 
stellung verarbeitet  zu  haben.  Leider  ist  diese  nun  aber  auch  einseitig  vom 
protestantischen  Standpunkt  aus  und  wird  immer  wieder  durch  den  heftigen 
polemischen  Ton  gestört.  Mit  Urteilen  hält  er  möglichst  zurück,  er  gibt 
eigentlich  nur  Tatsachen,  aber  man  liest  zwischen  den  Zeilen,  wie  er  darüber 
denkt.  Der  Referent  mag  nicht  mit  ihm  rechten,  ob  er  mehr  eine  historische 
oder  eine  politische  Arbeit  liefern  wollte;  wäre  ersteres  der  Fall,  so  müßte 
man  gar  vieles  an  ihr  aussetzen,  wollte  er  aber  eine  politische  Arbeit  auf 
historischer  Grundlage  liefern,  eine  W^affe  zum  Kampf  gegen  ultramontane 
Machtgelüste,  so  kann  man  nur  wünschen,  daß  das  Buch  weite  Verbreitung 
findet,  daß  es  vor  allen  Dingen  auch  unsere  Parlamentarier  recht  eifrig 
studieren  mögen,  um  gerüstet  zu  sein,  wenn  das  Zentrum  mit  den  Beweisen 
seines  Historikers  Kißling  heranrückt.  Die  Geschichte  des  Kulturkampfes 
muß  also  auch  nach  diesen  beiden  Büchern  noch  geschrieben  werden,  eine 
Aufgabe,  die  nur  im  Sinne  und  mit  der  Kunst  eines  Ranke  zu  lösen  ist,  bei 
der  der  Politiker  hinter  dem  Historiker  völlig  zurücktreten  muß. 

Das  Buch  des  Grafen  Hoensbroech  „Rom  und  das  Zentrum",  das  jetzt 
in  einer  Volksausgabe  erschienen  ist,  ist  nicht  die  Arbeit  eines  Historikers, 
sondern  lediglich  eines  Politikers  —  Historiker  ist  Hoensbroech  wohl  nie 
gewesen.  Man  mag  über  die  Kampfesart  Hoensbroechs  verschiedener  Ansicht 
sein  —  es  gibt  Leute,  die  behaupten,  daß  er  der  von  ihm  vertretenen  Sache 
mehr  schade  als  nütze  — ,  so  bleibt  ihm  dennoch  das  Verdienst,  durch  seine 
Schriften  weitere  Ki-eise  über  das  Wesen  des   Ultramontanismus  aufgeklärt 


534  Besprechungen. 


zu  haben.  Leider  verquickt  er  in  den  meisten  seiner  Arbeiten,  besonders  in 
seinem  „Papsttum"  Vergangenheit  und  Gegenwart  miteinander,  so  daß  er 
hier  gar  zu  leicht  von  seinen  Gegnern  geschlagen  werden  kann;  es  fehlt  ihm 
an  historischer  Schulung.  Dieser  Mangel  tritt  bei  dem  vorliegenden  Buch 
nicht  so  hervor,  in  dem  Waffen  gegen  die  Behauptung  des  Zentrums,  daß  es 
politisch  von  Rom  unabhängig  sei,  geliefert  werden.  Hoensbroech  stellt  alles 
zusammen,  was  das  Gegenteil  beweist.  Werden  aber  die  Herren  vom  Zentrum 
offiziell  diesen  Beweis  anerkennen?  Nie  und  nimmer!  Sie  werden  bei 
ihrer  Behauptung  bleiben,  auch  wenn  es  ihnen,  wie  hier,  schwarz  auf  weiß 
bewiesen  wird.  Nur  auf  die  Einleitung  sei  noch  aufmerksam  gemacht,  sie 
gleicht  einem  Flugblatt  mit  kulturkämpferischer  Tendenz.  Im  ganzen  ist 
das  Buch  vielleicht  eine  nützliche,  aber  keine  erfreuliche  Erscheinung  und 
verdient  in  dieser  Zeitschrift  kein  näheres  Eingehen. 

Fritz  Schillmann. 

Karl  V.  Grabmayr,  Von   Badeni  bis  Stürgkh.     Gesammelte  Reden.    Wien 
1912.     F.  Tempsky.     197  S. 

Die  politische  Redekunst  hat  in  Österreich  köstliche  Blüten  gezeitigt. 
Aber  wie  die  meisten  Staatsmänner  und  Politiker  sogleich  der  Vergessenheit 
anheimfielen,  wenn  sie  aufhörten,  im  Mittelpunkte  der  Ereignisse  zu  stehen, 
so  verlor  sich  auch  das  Interesse  an  dem  gesprochenen  Worte  immer  gleich, 
nachdem  der  Klang  verhallte.  Daß  gi-oße  Reden  über  den  Tag  hinaus  wirken 
können,  daß  sie  ein  Quell  der  Erkenntnis  für  ferne  Geschlechter  zu  sein  ver- 
mögen, dies  scheint  der  Bevölkerung  noch  nicht  klar  geworden  zu  sein.  Das 
Jahr  1848  hat  sicherlich  unter  zu  viel  Redseligkeit  gelitten,  aber  es  war  eine 
Zeit,  in  der  das  Wort  eine  Waffe  bildete,  die  viele  glänzend  zu  handhaben 
verstanden.  Der  Österreicher  weiß  jedoch  mit  dem  Schatze  von  rhetorischen 
Prachtleistungen,  die  das  Revolutionsjahr  angehäuft  hat,  nichts  anzufangen. 
Wohl  gibt  es  fünf  stattliche  Bände  der  Protokolle  des  ersten  Reichstages, 
allein  sie  führen  in  wenigen  Bibliotheken  ein  unbeachtetes  Dasein.  Niemandem 
fällt  es  ein,  ihren  reichen  Inhalt  wenigstens  zum  Teil  für  unsere  Zeit  lebendig 
zu  machen.  Nicht  besser  ist  es  den  Rednern  ergangen,  die  im  österreichischen 
Reichsrate  das  Wort  ergriffen,  die  also  seit  dem  Jahre  1861  das  Ohr  der 
Öffentlichkeit  für  sich  zu  gewinnen  suchten.  Man  kennt  sie  heute  im  besten 
Falle  nur  mehr  dem  Namen  nach;  ihre  physische  Persönlichkeit,  ihr  geistiges 
Wesen  ist  uns  fi-emd  geworden,  und  ihrer  parlamentarischen  Triumphe  er- 
innert sich  unsere  Zeit  nicht  mehr.  Einzelne  der  philosoj^hischen  Schriften 
von  Carneri  erquicken  heute  in  billigen  Ausgaben  tausende  Leser;  doch 
niemand  denkt  daran,  sich  an  seinen  politischen  Reden  zu  erbauen.  Sie  sind 
überhaujit  nur  in  den  Protokollen  zugänglich.  Dasselbe  gilt  für  Giskra,  den 
temperamentvollsten  Redner  der  österreichischen  Liberalen,  füi-  Unger,  ihren 
geistreichsten  Kopf,  und  für  Sueß,  ihren  vollendetsten,  gedankentiefsten 
Sprecher.  Die  Konservativen  haben  es  nicht  anders  gehalten.  Selbst  ein 
Lueger,  der  es  bis  zu  den  höchsten  Ehren  brachte  und  mit  dessen  Persön- 
lichkeit förmlich  ein  Kult  getrieben  wm-de,  hat  als  Redner  nur  für  den 
Augenblick  gelebt.  Was  er  als  Gemeinderat,  als  Reichsratsabgeordneter  und 
als  Landtagsabgeordneter  sprach,  ist  längst  verklungen;  seinen  Parteigenossen 
fällt  es  nicht  ein,  ihren  toten  Führer  durch  die  Belebung  seiner  Worte  zu 
ehren.  Übrigens  scheint  die  Geringschätzung  der  politischen  Redekunst  nicht 
nur  eine  Eigentümlichkeit  der  Deutschösterreicher  zu  sein;  die  Slaven  halten 
es  damit  —  soweit  man  in  dem  vielsprachigen  Lande  einen  Überblick  ge- 
winnen kann  —  nicht  anders. 

In  der  letzten  Zeit  ist  allerdings  einiges  geschehen,  um  das  Übel  und 
die  Schuld  etwas  zu  verringern.  Eine  Sammlung  der  Reden  des  Grafen 
Anton  Auersperg  —  als  Anastasius  Grün  ist  er  bekannter  —  liegt  in  einem 
Bande  vor;   leider  muß   das  Buch   schon  wegen   des  verhältnismäßig  hohen 


Besprechungen.  535 


Preises  darauf  verzichten,  in  weitere  Kreise  zu  dringen.  Vor  kurzem  er- 
schienen die  Reden,  die  Dr.  Enist  Freiherr  von  Plener  zwischen  1873  und 
1911  gehalten  hat,  in  einem  Folianten  vereinigt,  der  nicht  weniger  als 
1092  Seiten  aufweist.  Eine  Schrift  von  diesem  Umfange  kann  kaum  ihren 
Weg  in  das  Haus  des  Bürgers  machen.  Statt  einer  geschickten  Auswahl 
wurde  eben  eine  vollständige  Sammlung  geboten,  was  in  mehrfacher  Hinsicht 
ein  Fehlgi-iff  war.  Jetzt  liegen  die  Reden  gesammelt  vor,  die  Karl  v.  Grabmayr 
an  verschiedenen  Stätten:  im  Tiroler  Landtage,  im  Abgeordnetenhause  des 
Reichsrates,  in  der  österreichischen  Delegation,  im  Herrenhause  und  in  Volks- 
versammlungen gehalten  hat.  Seine  politischen  Freunde,  die  zur  Gruppe  des 
verfassungstreuen  Tiroler  Großgrundbesitzes  gehören,  haben  ihn  durch  ein 
Gewinde  erfi-eut,  dessen  Blätter  die  verschiedenen  Darlegungen,  Mahnungen 
und  Ermutigungen  des  eigenartigen  Parlamentariers  bilden. 

Karl  V.  GrabmajT,  der  seine  Karriere  im  öffentlichen  Leben  mit  der 
Berufung  ins  Herrenhaus  nicht  abgeschlossen  haben  dürfte,  der  vielleicht 
noch  einmal  auf  einem  Ministerfauteuil  seinen  Platz  finden  \\Trd,  ist  eine  der 
interessantesten  Persönlichkeiten  in  der  österreichischen  Politik.  Er  hat 
immer  den  Mut  besessen,  ganz  er  selbst  zu  bleiben,  und  so  ist  sein  vor- 
nehmes Wesen  in  allen  Fällen  zur  Geltung  gekommen.  Deutsch,  ohne 
Chauvinist  zu  sein,  liberal,  ohne  den  Radikalismus  zu  lieben,  aufrecht,  ohne 
deshalb  starrsinnig  zu  sein,  ging  er  stets  seinen  eigenen  Weg.  Das  sieht 
man  jetzt  recht  deutlich,  wenn  man  die  Reden  durchliest,  die  in  die  Zeit 
vom  7.  Januar  1896  bis  zum  21.  Dezember  1911  fallen.  Graf  Badeni  war 
Ministerpräsident,  als  die  erste  Rede  gehalten  wurde,  Graf  Stürgkh,  der 
einstige  Parteigenosse  Grabmayrs  im  Parlamente,  wurde  Ministerpräsident, 
als  die  letzte  Rede,  die  in  der  Sammlung  Aufnahme  fand,  erklang.  Wie  viel 
an  Ereignissen  liegt  dazwischen !  Die  Kämpfe,  die  sich  an  die  Badenischen 
Sprachenverordnungen  anschlössen  und  der  Kampf  um  die  Wahlreform,  Ver- 
zagtheit und  Hoffnung:  all  das  spiegelt  sich  in  dem  Buche  weder.  Grabmayr 
ist  kein  brillanter  Sprecher;  er  sucht  nicht  zu  leuchten,  sondern  er  will 
wärmen;  ihm  ist  die  Pointe  nicht  alles  und  die  äußerlich  sieghafte,  wenn- 
gleich innerlich  hohle  Dialektik  nicht  höchstes  Ziel.  Er  sagt  schlicht,  was 
ihn  bewegt,  er  spricht  mit  Sachlichkeit  und  mit  Klarheit. 

In  einer  Rede,  die  mit  der  Überschrift:  „Ein  liberales  Kredo"  versehen 
ist,  bringt  Grabmayr  gleichsam  seine  Weltanschauung  zum  Ausdrucke.  „Dem 
Prinzip  der  Autorität,  das  gleichberechtigte  und  gleichwertige  Prinzip  der 
Freiheit  gegenübergestellt  zu  haben,  ist  das  unvergängliche  Verdienst  des 
Liberalismus,  der  die  Völker  aus  Sklavenketten  der  feudalen  und  absoluti- 
stischen Welt-  und  Rechtsordnung  erlöste.  Gegenüber  einem  System,  das 
niu"  für  wenige  bevorzugte  Kasten  das  Recht,  für  die  Millionen  Unter- 
tanen nur  die  Pflicht  betonte,  erkämpfte  der  Liberalismus  die  allgemeine 
Staatsbürgerschaft,  das  gleiche  Recht  aller  vor  dem  Gesetze.  Wo  früher 
das  Gottesgnadentum  der  Fürsten  ausschließlich  herrschte,  brachte  der 
Liberalismus  das  ebenbürtige  Recht  der  Völker  zu  Ehren,  so  daß  ich  heute, 
ohne  Widerspruch  zu  fürchten,  sagen  darf,  wir  sitzen  ebenso  von  Gottes 
Gnaden  auf  diesen  unsern  Plätzen  wie  der  Monarch  auf  seinem  Throne. 
Diese  liberalen  Grundideen  weiter  auszubauen  und  ihnen  im  praktischen 
Leben  mehr  als  es  bisher  geschah.  Geltung  zu  verschaffen,  bildet  die  Zukunfts- 
aufgabe der  liberalen  Partei "    Freilich  stößt  man  später  auf  eine  Rede, 

die  Grabmayi-  am  7.  März  1906  im  Parlamente  hielt.  In  ihr  trat  er  gegen 
die  Wahlreformvorschläge  des  Freiherrn  von  Gautsch  auf.  Er  verwahrte 
sich  zwar  dagegen,  „etwa  die  Güte  und  die  üntadelhaftigkeit"  des  damals 
in  Österreich  bestandenen  Kuriensystems  zu  verteidigen,  und  er  schloß  seine 
Ausführungen  mit  dem  Rufe :  „Die  Gautschsche  Wahlreform  ist  tot,  es 
lebe  die  Wahlreform!"  Was  er  aber  bot,  war  eine  heftige  Polemik  gegen 
das  „gleiche  Recht  für  alle",  war  ein  Fürspruch  für  Pri^^legien  in  neuem 
Gewände.    Das  allgemeine  gleiche  Stimmrecht  hat  für  Österreich  wohl  nicht 


536  Besprecliungen. 


das  gebracht,  was  manche  erwarteten:  eine  Gesundung,  eine  durchgreifende 
Eenaissance,  doch  es  ist  trotzdem  eine  Tat  gewesen,  und  noch  dazu  eine  be- 
freiende Tat.  Im  Jahre  1900  hielt  Grabmayr  eine  treffliche  Eede  über  die 
Parlamentsmüdigkeit  in  Österreich.  „Wenn  Sie  heute  hinausgehen  und 
horchen,  was  das  Volk  sagt,  so  werden  sie  sich"  —  die  Ausfükrungen  richteten 
sich  an  die  Abgeordneten  —  „überzeugen,  um  wieviel  geringer  jene  einst  so 
hoch  gehaltene  Ehre  (des  Mandats)  geschätzt  wird.  Und  wenn  diese  hohe 
Versammlung  morgen  vom  Schauplatze  verschwindet,  dann  dürfte  für  die 
ihr  nachgeweinten  Tränen  in  einer  winzigen  Urne  Raum  sein."  Außer- 
ordentlich einsichtsvoll  ist  all  das,  was  Grabmayr  über  das  Verhältnis  Öster- 
reichs zu  Italien  sprach;  seine  Darlegungen  vom  22.  Februar  1911  über 
Dreibund  und  Irredenta  verraten  nicht  nur  eine  genaue  Kenntnis  der  Ver- 
hältnisse, sondern  auch  einen  staatsmännischen  Blick. 

Die  Redensammlung  „Von  Badeni  bis  Stürgkh"  weist  verschiedene 
Mängel  auf.  Vor  allem  ist  nicht  mit  einem  Satze  der  Persönlichkeit  Grab- 
mayrs  gedacht  worden,  gleichsam  als  hätten  sich  die  Herausgeber  gar  nicht 
mit  dem  Gedanken  beschäftigt,  daß  das  Buch  von  Leuten  gelesen  werden 
könnte,  die  einiges  über  den  Menschen  erfahren  möchten,  dessen  Worte  sie 
in  sich  aufnehmen.  Ebenso  wurden  die  einzelnen  Reden  ohne  Verbindung 
und  ohne  Einleitung  aneinandergeschlossen.  Für  den,  der  die  eineinhalb 
Jahrzehnte  mit  vollem  Interesse  erlebt  hat,  wird  die  Orientierung  nicht 
schwer  sein ;  für  jene  aber,  die  den  Ereignissen  ferner  standen,  wäre  da  und 
dort  ein  aufklärendes  Wort  von  Vorteil.  Richard  Charmatz. 


W.  Wygodzinski,  Das  Genossenschaftswesen  in  Deutschland.    Leipzig  und 
Berlin  1911.     B.  G.  Teubner.     VI  und  287  S. 

Das  zur  Teubnerschen  Sammlung  der  „Handbücher  für  Handel  und  Gewerbe  " 
gehörige  Buch  ist  ein  wirtschaftswissenschaftliches  Lekrbuch  über  das  Genossen- 
schaftswesen. Dadurch,  daß  es  sich  dem  Zwecke  der  bekannten  Sammlung 
anzupassen  hatte,  hat  es  gegenüber  vielen  anderen  genossenschaftlichen  Schriften 
seine  besondere  Eigenart  (die  eines  vortrefflichen  Lehrbuchs)  erhalten.  Theo- 
retisch hat  es  seine  allgemeine  Bedeutung  darin,  daß  es  die  genossenschaft- 
liche Unternehmungsform  in  die  Zusammenhänge  der  Gesamtwirtschaft  ein- 
ordnet. Die  Darstellung  der  vielseitigen  Erscheinungen  des  Genossenschafts- 
wesens ist  in  hohem  Maße  unparteiisch  und  fi'ei  von  der  Teilnahme  am  Streite 
zwischen  den  „Systemen"  imd  „Richtungen",  frei  auch  von  allem  fachlichen 
Enthusiasmus.  Der  Verf.  ist  bemüht,  ein  scharfes  und  klares  Urteil  im  ein- 
zelnen zu  vermitteln,  und  erweckt  in  dem  Leser  das  wohltuende  Gefühl,  daß 
man  sich  an  der  Hand  eines  zuverlässigen  Führers  bewegt*).  Als  solcher  ist 
er  durch  die  volle  Beherrschung  der  Theorie  und  Praxis  auch  durchaus 
b  eruf en. 

Das  Buch  beginnt  mit  einer  nicht  sehr  umfänglichen,  aber  desto  inhalts- 
reicheren Darstellung  des  Wesens  der  Genossenschaft,  die  als  eine  der 
unsere  Volks-  und  Privatwirtschaft  beherrschenden  Kollektiv-Unternehmungs- 
formen bezeichnet  und  als  die  Organisation  kleinster  wirtschaftlicher  Kräfte 
gerühmt  wird.  Als  Unternehmungsform  ist  sie  dem  Verf.  so  gut  und  so 
schlecht  wie  jede  andere;  aber  ihre  innere  Kraft  beruht  in  der  Bodenständig- 
keit ihres  Mitgliederkreises,    d.  h.   sie  assoziiert  nicht  Kapital,    sondern  wirt- 

*)  Ganz  beiläufig  mag  bemängelt  werden,  daß  das  Buch  recht  häufig 
den  Ausdruck  „Haftpflicht"  und  „Haftung"  vertauscht.  Ist  das  auch  an  keiner 
Stelle  sinnstörend,  so  wäre  es  doch  gerade  für  ein  „Lehrbuch"  richtiger,  wenn 
die  Sprache  des  Gesetzes,  die  bei  den  eingetragenen  Genossenschaften  nur 
die  „Haftpflicht"  kennt,  streng  beibehalten  wäre.  Einmal  (S.  186)  findet  sich 
auch  umgekehrt  bei  „Gesellschaft  mit  beschränkter  Haftung"  der  Ausdruck 
„Haftiiflicht". 


Besprechungen.  537 


schaftliche  Kräfte  und  zwar  solche  finanzieller,  wie  persönlicher  und  sogar 
ethischer  Art  im  Nachbarschaftsverbande;  die  persönliche  Anteilnahme 
an  ihrer  Arbeit  ist  das  Weseuhafte  an  ihr.  Die  deutsche  (Tenussenschaft  ist 
nach  Wygodzinski  die  am  meisten  demokratische  Unternehmungsform,  wo- 
gegen die  Gesellschaft  mit  beschränkter  Haftung  als  die  aristokratische,  das 
Kartell  als  die  oligarchische  und  die  Aktiengesellschaft  als  die  bürgerliche 
in  hübscher  Zuspitzung  bezeichnet  wird. 

Die  geschichtliche  Entwicklung  des  Genossenschaftswesens  wird 
in  drei  Kapiteln  des  Buches  behandelt.  Wygodzinski  betrachtet  sie  von 
dem  höheren  Standpunkte  uralter  genossenschaftlicher  Triebe  in  der  Menschen- 
brust, die  eine  Genossenschaftswirtschaft  viel  eher  gezeitigt  habe  als  eine 
Einzelwirtschaft.  Er  verweilt  dazu  allerdings  nicht  bei  den  Tiefen  der  Ur- 
zeit, sondern  geht  aus  von  bestimmten  wirtschaftlichen  Zuständen  in  Deutsch- 
land, der  rheinischen  und  fränkischen  Landwirtschaft  (nach  Lamprecht, 
Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Mittelalter),  den  Zünften  (nach  Gierke, 
Deutsches  Genossenschaftsrecht)  usw.  und  kennzeichnet  die  älteren  Genossen- 
schaften dahin,  daß  sie  den  Einzelnen  mit  seinen  persönlichen  Bedürfnissen 
unter  den  genossenschaftlichen  Zwang  stellten,  während  für  die  Genossenschaft 
unsrer  Zeit  umgekehrt  Rücksichtnahme  auf  die  Einzelpersönlichkeit  und  auf 
die  Wahrung  ihrer  wirtschaftlichen  Selbständigkeit  das  kennzeichnende  Merk- 
mal ist.  Die  Entwicklung  im  19.  Jahrhundert,  die  zu  der  heutigen  Genossen- 
schaftsform geführt  hat,  wird  mit  größerer  Ausführlichkeit  behandelt,  sowohl 
was  die  leitenden  Gedanken  der  Entwicklung,  wie  was  die  tatsächlichen  Vor- 
gänge anlangt.  Hier  zeigt  Wygodzinski  die  Grenzen  und  Möglichkeiten 
dieser  wirtschaftlichen  Organisationsform,  die  er  in  seiner  überzeugenden  ob- 
jektiven Weise  warnt  zu  überschätzen  und  zu  unterschätzen.  Das,  was  hier 
ausgeführt  wird,  ist  in  vielen  Stücken  von  so  hoher  genossenschaftspolitischer 
Bedeutung,  daß  bessere  Fingerzeige  nicht  gegeben  werden  können  zur  Be- 
urteilung der  notwendigen  wirtschaftlichen,  sittlichen  und  psychologischen 
Vorbedingungen  für  jede  Art  von  genossenschaftlicher  Gründertätigkeit.  Die 
Entwicklungsgeschichte  der  Genossenschaften  findet  ihren  Abschluß  in  der 
Darstellung  der  Rechtsform,  die  dem  heutigen  Genossenschaftswesen  durch 
die  Gesetzgebung  gegeben  worden  ist,  womit  dann  übergeleitet  wird  zu  einer 
ausgiebigen  Erörterung  der  „Struktur"  der  Genossenschaften. 

In  diesem  fast  genau  ein  Drittel  des  Werkes  einnehmenden  Teile  (zweites 
Buch,  erster  imd  zweiter  Abschnitt)  wird  das  geltende  Genossenschaftsgesetz 
mit  seinen  Bestimmungen  und  in  seiner  Anwendung  erläutert,  nicht  etwa  im 
Sinne  eines  juristischen  Kommentars,  sondern  in  seiner  Bedeutung  als  äußerer 
Rahmen  der  genossenschaftlichen  Wirtschaftstätigkeit.  Diese  selbst  ist  dem 
Verf.  die  Hauptsache,  und  sie  gibt  ihm  als  Theoretiker  wie  namentlich  als 
Praktiker  zu  einer  Reihe  von  gescheiten  Ausführungen  Veranlassung.  So 
knüpft  er  an  die  Besprechung  der  für  manche  Arten  von  Genossenschaften 
gesetzlich  verbotenen  Ausdehnung  des  Geschäftsverkehrs  auf  Nichtmitglieder 
die  Bemerkung,  daß  ein  mehr  als  gelegentlicher  Geschäftsverkehr  der  Ge- 
nossenschaft mit  Nichtgenossen  dem  Wesen  der  Genossenschaft  als  Personen- 
vereinigung nicht  entspreche;  es  könne  dann  gar  zu  leicht  die  Förderung  von 
Erwerb  und  Wirtschaft  der  Mitglieder  nicht  mehr  Selbst-  und  Hauptzweck 
des  Unternehmens,  sondern  bloßer  Ausgangspunkt  werden.  „Das  Verbot  der 
Gewährung  von  Darlehen  an  Nichtmitglieder  wurde  erst  durch  das  Gesetz 
von  1889  eingeführt;  seine  nächste  Folge  war,  daß  eine  ganze  Anzahl  Kredit- 
genossenschaften ....  es  nun  vorzogen,  sich  in  Aktiengesellschaften  umzu- 
wandeln. Die  auch  heute  gar  nicht  seltene,  vielbeklagte  Umwandlung  blü- 
hender Kreditgenossenschaften  in  Aktiengesellschaften  dürfte  ....  oft  genug 
den  Grund  haben,  daß  sie  es  lukrativer  finden,  auch  mit  Nichtgenossen  Ge- 
schäfte zu  machen;  es  ist  das  eben  ein  Zeichen  dafür,  daß  der  genossenschaft- 
liche Geist  dem  des  Erwerbes  gewichen  ist.  Eine  Klage  darüber  scheint  mir 
nicht  berechtigt;  wenn  aus  den  Umständen  heraus  eine  Entwicklung  zur  Klein- 


538  Besprechungen. 


bank  sich  vollzogen  hat,  so  ist  das  durchaus  nicht  eine  ungesunde  Entwicklung. 
Nur  muß  dann  ehrlich  und  aufrichtig  Farbe  bekannt  werden."  Das  sind  sehr 
treffende  Bemerkungen,  frei  von  Voreingenommenheit  und  Fachenthusiasmus.  — 
In  gleichem  Sinne  sind  die  Ausführungen  über  den  Geschäftsanteil,  die  Haft- 
summen, die  Geschäftsguthaben,  die  Reserven  und  die  eigenen  und  fremden 
Gelder  sehr  lehrreich,  wobei  der  Verf.  sich  häufig  auf  die  statistischen  Unter- 
lagen stützt,  die  der  Referent  in  seinen  „Mtteilungen  zur  deutschen  Ge- 
nossenschaftsstatistik" beigebracht  hat.  So  ist  sehr  lichtvoll  die  Beurteilung 
der  beiden  Hauptbestandteile  des  genossenschaftlichen  Vermögens,  nämlich 
des  Geschäftsguthabens  der  Mitglieder  und  der  Reserven.  Während,  heißt  es 
da  ungefähr,  das  Verhältnis  der  Aktie  zur  Aktiengesellschaft  ein  festes  ist, 
dergestalt,  daß  die  Aktiengesellschaft  festhält,  was  sie  einmal  an  Kapital  an 
sich  gezogen  hat,  ist  das  Geschäftsguthaben  der  Genossenschaftsmitglieder, 
eben  weil  die  Genossenschaft  eine  Gemeinschaft  von  Personen  ist  und  den 
Mitgliederbestand  leicht  wechseln  kann,  bei  weitem  nicht  ein  sehr  sicherer, 
d.  h.  beständiger  Faktor  des  Reinvermögens ;  jeder  ausscheidende  Genosse 
nimmt  sein  Geschäftsguthaben  mit,  wenn  auch  mit  einem  Fristaufschub ;  aber 
tatsächlich  noch  mehr  als  das:  mit  dem  Austritt  entzieht  der  Genosse  dem 
Unternehmen  auch  ein  Stück  der  Ereditbasis,  die  u.  a.  auf  seiner  Haftpflicht 
beruht.  Die  finanzielle  Lage  der  Genossenschaft  ist  also  von  dem  Geschäfts- 
guthaben (Geschäftsanteil)  doppelt  abhängig.  Deshalb  sind  die  Reserven  bei 
der  Genossenschaft  (als  das  mehr  beständige)  ungleich  wdchtiger  als  bei  der 
Aktiengesellschaft,  und  Stärkung  der  Reserven  ist  die  erste  Pflicht  genossen- 
schaftlicher Verwaltung.  —  Bei  Besprechung  des  letztinstanzlichen  Organs 
der  Genossenschaft,  der  Generalversammlung,  wird  die  Frage  aufgeworfen, 
ob  diese  sich  die  beherrschende  Stellung  erhalten  habe,  die  sie  nach  den  Ab- 
sichten der  alten  Genossenschafter  und  des  Gesetzes  haben  sollte.  „Man  wird 
nicht  leugnen  können,  daß  gewisse  Zersetzungstendenzen  sich  auch  hier  geltend 
machen.  Sie  liegen  einmal  in  objektiven  Eigenschaften  der  menschlichen 
Natur  .  .  ,  Aber  auch  die  (sachlichen)  Unterlagen  für  die  überragende  Be- 
deutung der  Generalversammlung  haben  sich  vielfach  verschoben,  vor  allem 
dadurch,  daß  die  Genossenschaften  an  Mitgliederzahl  zu  stark  gewachsen 
sind."  Bei  so  hohen  Mitgliederzahlen,  wie  sie  nicht  selten  bei  Kredit-  und 
bei  Konsumgenossenschaften  vorkommen,  ist  in  der  Tat  eine  regelmäßige  Be- 
teiligung der  Genossen  an  der  Generalversammlung  undenkbar;  schon  aus 
äußerlichen  Gründen  (weil  es  keine  Säle  gibt,  die  Tausende  von  Mitgliedern 
fassen)  können  die  Genossen  bei  großem  Umfange  gewisser  Genossenschaften 
von  ihrem  Stimmrecht  keinen  Gebrauch  machen.  Der  Zusammenhang  zwischen 
den  Mitgliedern  dieser  Personenvereinigungen  lockert  sich.  Schließlich  ergibt 
sich  die  Notwendigkeit  der  Um-  und  Weiterbildung  der  Vertretungsform 
oder  des  Aufgebens  der  Form  der  Genossenschaft. 

Man  hat  deshalb  den  Versuch  gemacht,  ein  Mittelglied  zwischen  dem 
Aufsichtsrat  und  Vorstand  einerseits  und  der  schwerfälligen  Generalversamm- 
lung andrerseits  in  Gestalt  eines  parlamentarischen  Ausschusses,  eines  „Ge- 
nossenschaftsrats", einzuschieben,  der  schließlich  im  wesentlichen  auch  durch 
Oberlandes-  und  reichsgerichtliches  Urteil  in  einer  Anfechtmigsklage  gebilligt 
worden  und  damit  auf  gesetzliche  Grundlage  gestellt  worden  ist  (vgl.  Konsum- 
genossenschaftliche Rundschau  1910  S.  553  ff.).  —  In  ähnlicher  Weise  hat 
das  Anwachsen  des  Umfangs  der  Genossenschaften  auf  die  beamtlichen  Organe 
eingewirkt;  die  Zahl  der  Beamten  wächst  ständig.  Wo  die  Genossenschaften 
sich  zu  großbetrieblichen  Unternehmungen  ausgewachsen  haben,  ist  die  Ge- 
schäftsführung ohne  technisch,  kaufmännisch  oder  bankmäßig  gelernte  Be- 
amte nicht  mehr  möglich.  „Das  muß  man  anerkennen,  auch  wenn  man  be- 
dauert, daß  die  Genossenschaften  damit  von  dem  ersten  Ziele  als  selbstver- 
waltete Nachbarschaftsverbände  immer  weiter  abkommen."  Bei  den  Genossen- 
schaften großen  Umfangs,  insbesondere  bei  den  Konsumvereinen,  beginnt  auch 
achon  eine  besondere  Arbeiter-  und  Sozialpolitik  einzusetzen,  wozu  es  wieder 


Besprechunofeu.  539 


leitender  Kräfte  bedarf.  Diese  sind  für  die  Geschichte  und  Entwicklung  des 
Genossenschaftswesens  von  der  ältesten  Zeit  bis  in  unsre  Tage  immer  not- 
wendig und  tätig  gewesen.  Sind  die  Genossenschaften  demokratische  Ge- 
bilde, so  bedürfen  sie  wie  alle  Demokratie  starker  Persönlichkeiten  als 
Führer.  —  Den  Verbänden  und  Verbandsrevisionen  widmet  der  Verf.  längere 
Ausführungen.  Ohne  deren  ununterbrochene  Tätigkeit  würde  an  vielen  Stellen 
das  Genossenschaftswesen  versumpfen.  —  Wie  in  den  Verbänden  neben  der 
Revision  das  gemeinsame  Interesse  der  angeschlossenen  Genossenschaften  ge- 
pflegt wird,  so  gibt  es  auch  Zusammenfassungen  zum  Zweck  bestimmter  streng 
wirtschaftlicher  Tätigkeiten;  dies  sind  die  Zentralgenossenschaften  (Haupt- 
genossenschaften), die  eine  hervorragende  Bedeutung  namentlich  auf  dem 
Gebiete  des  Geldwesens  und  des  gemeinsamen  Bezugs,  also  der  eigentlichen 
wirtschaftlichen  Tätigkeit  der  Vereinigungen,  erlangt  haben.  Wygodzinski 
hebt  richtig  die  auch  von  Crüger  öfter  besprochenen  Bedenken,  zu  denen 
diese  Gebilde  Anlaß  geben,  hervor,  etwa  den  Mißbrauch  der  dadurch  ermög- 
lichten mehrfachen  Haftung,  die  künstliche  Steigerung  der  Kreditfähigkeit, 
das  Verlassen  des  ursprünglichen  Charakters  des  Nachbarschaftsverbandes, 
das  Aufgeben  der  wirtschaftlichen  Unternehmungen  rein  örtlicher  Natur  u.  a.  m.; 
aber  er  gibt  auch  zu,  daß  diese  Bedenken  sich  in  der  Praxis  bisher  doch  als 
unerheblich  erwiesen  und  die  großen  Leistungen  der  Zentralgenossenschaften, 
ohne  die  die  heutige  Blüte  des  Genossenschaftswesens  ganz  undenkbar  wäre, 
nicht  beeinträchtigt  haben.  Damit  hat  er  vollkommen  recht,  und  auch  da- 
mit, daß  er  die  Krönung  des  ganzen  Gebäudes  genossenschaftlichen  Zusammen- 
schlusses, die  vom  Staate  begi'ündete  Preußische  Zentral-Genossenschaftskasse, 
im  Gegensatz  zu  ihren  Verkleinerern  in  ein  wohlverdientes  Licht  setzt.  Mit 
dieser  Anstalt  und  den  Zentralgenossenschaften  (Verbandskassen)  gelingt  es, 
schließlich  doch  zwischen  verschiedenen  Berufskreisen  und  Landesteilen  den 
Geldausgleich  herbeizuführen  und  dem  kleinen  Manne  als  Genossenschafter 
den  Anschloß  an  den  großen  Geldmarkt  zu  ermöglichen.  Der  wirtschaftliche 
Segen  dieser  Organisationen  beruht  u.  a.  auch  darauf,  daß  sie  die  mittels  der 
werbenden  Kraft  der  Selbsthilfe  geschaffenen  Kleinkapitalien  zu  größeren 
finanziellen  Machtmitteln  ansammeln  und  sie  doch  wieder  den  Wirtschafts- 
gebieten, aus  denen  die  Kapitalien  stammen,  zu  geeigneter  Zeit  und  in  ge- 
eigneter Form  zuführen,  eine  volkswirtschaftliche  Arbeit,  die  unsres  Erachtens 
mindestens  dieselbe  Bedeutung  hat,  wie  die  wirtschaftsabsolutistische  Beherr- 
schung der  vielen  durch  wenige  in  den  Großbanken. 

Es  ist  nicht  angängig,  in  diesem  literarischenBerichtüberWygodzinskis 
Buch  auf  alle  Seiten  seiner  J)ar8tellung  einzugehen.  Nur  folgendes  mag  noch 
berührt  werden. 

Ln  dritten  Buche  des  Werkes  wird  die  „wirtschaftliche  Betätigung 
der  Genossenschaften"  ausführlich  behandelt  und  zwar  unter  Berück- 
sichtigimg der  hauptsächlichen  Arten  der  Genossenschaften.  Hier  ist,  abge- 
sehen von  dem  sehr  lehiTeichen  praktischen  Inhalte  dieses  größeren  Teils 
der  Schrift  und  den  vielen  nachdenklichen  und  gedankenreichen  allgemeinen 
Bemerkungen,  theoretisch  besonders  beachtenswert,  was  der  Verf.  über  die 
-Systematik  für  die  Unterscheidung  land  Einteilung  der  Genossenschaften  aus- 
führt. Verschiedene  Köpfe  haben  sich  schon  Mühe  gegeben,  ein  brauchbares 
Einteilungssystem  zu  finden  und  die  im  Genossenschaftsgesetze  mehr  nur 
beispielsweise  gegebene,  jedenfalls  recht  mechanische  Einteilung  der  Genossen- 
schaften nach  dem  äußeren  Merkmale  des  Gegenstandes  des  Unternehmens 
durch  etwas  besseres  zu  ersetzen.  Wygodzinski  bemerkt,  daß  vielleicht 
zu  viel  Scharfsinn  auf  diese  rein  formale  Frage  verwandt  worden  sei.  Gewiß 
ist  richtig,  daß  die  „genossenschaftliche"  Unternehmungsform  einzig  und 
allein  das  Verbindende  (der  einheitliche  Nenner)  für  eine  Kreditgenossenschaft, 
einen  Konsumverein,  eine  Molkereigenossenschaft  usw.  ist,  und  daß  innere 
Beziehungen  zwischen  diesen  verschiedenen  Genossenschaftsarten  kaum  zu 
entdecken  sind.     Das  hindert  aber  doch  nicht,    daß  man  alle   die  genossen- 


540  Besprechungen. 


schaftlichen  Erscheinungsformen  in  ein  wissenschaftliches  System  zu  bringen 
sucht,  und  das  tut  der  Verf,  ja  selbst,  so  gut  wie  es  andere  getan  haben, 
jeder  von  seinem  und  einem  besonderen  Gesichtspunkte  aus.  Wygodzinski 
wählt  als  Einteilungsgrundsatz  wirtschaftliche  Gesichtspunkte ;  H.  Kauf- 
mann z.B.  nimmt  dazu  die  persönlichen  Beziehungen  der  Genossen  zu  ihrer 
Genossenschaft,  E.  Hetz  geht  von  der  Zweiteilung  der  Produzenten-  und  der 
Konsumenten-Genossenschaften  aus  und  unterscheidet  sie  weiter  nach  der 
Deckung  des  Eigenbedarfs  und  des  Fremdbedarfs  usw.  Dem  System  Wy- 
godzinskis  an  sich  will  ich  nicht  widersprechen;  ich  habe  in  langer  ge- 
nossenschaftsstatistischer Arbeit  gelernt,  mich  auf  diesem  umstrittenen  Gebiete 
vor  systematischer  Eigenwilligkeit  und  vor  Besserwissen  zu  hüten.  Aber  als 
unfehlbar  imd  völlig  einwandfi-ei  mag  ich  doch  auch  das  neue  System  nicht 
erklären,  dessen  Terminologie  der  Verf.  selbst  als  etwas  schwerfällig  be- 
zeichnet. Der  Leser  wolle  die  Ausführungen  auf  S.  120 — 123  des  Werkes 
nachprüfen,  wenn  er  füi"  die  Frage  der  genossenschaftlichen  Systematik  Teil- 
nahme hat;  ich  erachte  sie  allerdings  für  eine  besonders  bedeutsame  Seite 
der  Arbeit  des  Verf.,  auch  wenn  ich  mir  seine  Einteilung  nicht  aneigne. 

Schließlich  will  ich.  mit  Übergehung  manches  wichtigen,  noch  auf  das 
Schlußkapitel  hinweisen,  das  sich  mit  den  Entwicklungstendenzen  des 
Genossenschaftswesens  beschäftigt.  Wie  nach  dem  bisher  berichteten 
anzunehmen  ist,  bringt  auch  dieses  Kapitel  eine  Reihe  von  feinen,  sich  auf 
das  abgeklärte  Urteil  des  Verf.  stützenden  Bemerkungen.  Allerdings  kann 
man  sie  eigentlich  nur  verstehen,  wenn  man  das  Buch  b  i  s  zu  diesem  Kapitel 
durchstudiert  hat.  Insbesondere  ergibt  sich  für  den  Leser  erst  dann  der 
innere  Grund,  weswegen  sich  der  Verf.  in  diesem  Schlußkapitel  ganz  über- 
wiegend mit  den  Konsumvereinen  der  Hamburger  Richtung  befaßt.  Gewiß, 
diese  sind  in  der  heutigen  Bewegung  der  Konsumgenossenschaften  das  ent- 
scheidende, vne  ihr  Führer,  Heinrich  Kaufmann,  zu  den  ausgeprägtesten, 
denkenden  Persönlichkeiten  der  heutigen  Genossenschaftsbewegung  gehört. 
Erwünscht  wäre  es  gleichwohl  gewesen,  wenn  Wygodzinski  seine  beachtens- 
werte Ansicht  über  das  Breitere  des  Genossenschaftswesens  uns  nicht  vor- 
enthalten hätte.  Indessen  ist  auch  das  Gebotene  an  Fingerzeigen  durchaus 
nicht  arm.  Die  tatsächliche  Entwicklung  des  Genossenschaftswesens  ergibt 
ein  glänzendes  Vorwärtskommen  der  Kreditgenossenschaften,  an  zweiter  Stelle 
der  landwirtschaftlichen  Teilproduktionsgenossenschaften  (Molkereigenossen- 
schaften, Winzereien  n.  dgl.),  drittens  der  Einkaufsgenossenschaften  (Konsum- 
vereine. Rohstoffanschaffungsvereine  u.  dgl.);  auch  die  Baugenossenschaften 
stehen  auf  einer  oberen  Stufe  der  Pyramide  der  Genossenschaftsentwicklung. 
Wygodzinski  meint,  daß  sich  die  Baugenossenschaften,  wenn  erst  die 
Periode  der  billigen  Gelder  von  öffentlichen  Körperschaften  vorüber  sei,  noch 
erst  zu  bewähren  haben  würden;  ich  selbst  halte  diese  Grenze  für  bedeutungs- 
los, weil  sie  einen  Wandel  im  sozialen  Emiifinden  unsrer  Zeit  zur  Voraus- 
setzung hätte.  Im  übrigen  aber  nimmt  er,  wie  es  scheint,  nicht  ohne  einen 
leichten  Ton  der  Resignation,  die  Entwicklung,  wie  sie  sich  tatsächlich  voll- 
zogen hat,  als  das  Richtung  gebende  für  die  Zukunft  hin.  Das  Ergebnis 
selbst  ist  ihm  stattlich,  aber  „es  dürfte  diejenigen  wenig  befriedigen,  die  in 
der  Genossenschaft  nicht  nur  eine  wirtschaftlich  zu  wertende  Unternehmimgs- 
form,  sondern  ein  Gebilde  ethischer  Art  sehen,  das  in  einem  ausgesprochenen 
Gegensatze  zu  dem  individualistisch  gerichteten  Sinne  der  Zeit  stehe".  Denn 
die  drei  erfolgreichen  Genossenschaftsarten  (s.  o.)  stellen  nach  Überwindung 
der  Anfangsschwierigkeiten  doch  recht  geringe  Anforderungen  an  den  ge- 
nossenschaftlichen Geist.  Der  Genosse  steht  seiner  Genossenschaft  nur 
dann  anders  als  einem  beliebigen  fremden  Unternehmen  gegenüber,  wenn  sie 
ihm  günstigere  Bedingimgen  bietet.  „Es  ist  wirklich  keine  ethisch  besonders 
zu  bewertende  Leistung,  seinen  Kaffee  und  seine  Scheuerluirsten  beim  Konsum- 
verein statt  beim*  Händler  zu  kaufen  oder  ein  Darlehn  von  der  Kredit- 
genossenschaft   anzunehmen.      Sowie    der  Kaffee    beim   Händler  billiger  ist, 


Besprechuugen.  541 


sowie  irgend  ein  beliebiges  Bankinstitut  für  Depositen  V4  7o  ™ebr  bietet  als 
die  Kreditgenossenschaft,  gerät  die  genossenschaftliche  Treue  bedenklich  ins 
Wanken."  Aber  wenn  aucli  der  letzte  Grund  des  Erfolges  nicht  im  genossen- 
schaftlichen Sinne  der  Mitglieder  liegen  mag.  so  beherrscht  die  siegreichen 
Genossenschaften  doch  auch  ein  auf  die  „Stärkung  der  Gesamtpersönlichkeit" 
gerichteter  Zug.  Dieser  kollektivistische  Zug  zielt  aus  modern-proletarischen 
Anschauungen  heraus  schließlicli.  namentlich  in  den  Konsumvereinen  der 
Hamburger  Richtung,  auf  Verdrängung  und  Ersetzung  der  individualistisch- 
kapitalistischen Produktion  ab,  und  das  ist  eine  ausgesprochene  und  sehr 
bedeutsame  genossenschaftliche  Entwicklungstendenz,  wenn  ihr  auch  umge- 
kehrt manche  oft  sehr  wirksamen  individualistischen  Vorgänge  entgegen- 
arbeiten. Was  hierzu  über  die  proletarische  Konsumvereinsbewegung  und 
ihre  Vorkämi^ferin,  die  Hamburger  Großeinkaufsbewegung,  vom  Verf.  aus- 
geführt wird,  ist  sehr  lehrreich.  Sie  ist  zuletzt  nichts  anderes  als  die  Ver- 
gesellschaftung aller  Produktionsmittel.  ,,Es  ist  gewiß  aufrichtig,  wenu  die 
Führer  der  Konsumvereinsbewegung  von  einem  Bekenntnis  zur  sozialdemo- 
kratischen Partei  nichts  wissen  wollen,  wenn  sie  vielleicht  sogar  sich  gar 
nicht  als  Sozialdemokraten  fühlen.  Aber  sie  sind  nichtsdestoweniger  Sozia- 
listen, ja  man  könnte  sagen:  bessere  Sozialisten  als  die  Unentwegten."  Dem 
möchte  der  Berichterstatter  noch  hinzufügen,  daß  nach  den  scharfen  Angriffen, 
die  die  Leitung  des  konsumgenossenschaftlichen  Zentralverbandes  i.  J.  1911 
auf  dem  sozialdemokratischen  Parteitage  zu  Jena  erfahren  hat.  dieser  reinere 
Sozialismus  auf  die  Dauer  nicht  verhindern  wird,  daß  die  Konsumvereins- 
bewegung dennoch  unter  die  Botmäßigkeit  der  sozialdemokratischen  Partei 
gelangen  wird. 

Das  Grundproblem  der  Entwicklung  des  Genossenschaftswesens  ist  nach 
Wygodzinski  das  der  „Möglichkeit  einer  wirtschaftlichen  Demokratie". 
In  Fragen  dieser  Art  gibt  es  keine  exakten  Beweise.  Das  Genossenschafts- 
wesen steht  wie  alle  demokratischen  Gebilde  zunächst  unter  dem  überragen- 
den Einflüsse  von  Persönlichkeiten;  nach  der  Tyrannis  folgt  die  Autokratie, 
dann  die  Bureaukratie,  dann  vielleicht  die  mit  konstitutioneller  Gewährschaft 
umgebene  Beamtenherrschaft  —  oder  die  brutale  HeiTSchaft  der  „kompakten 
Majorität".  „So  erweist  sich  die  Genossenschaft  als  ein  ökonomischer  Mikro- 
kosmus, in  dem,  wie  in  der  großen  Welt  draußen,  alle  menschlichen  Fähig- 
keiten. Leidenschaften,  Schwächen  ihr  Spiel  treiben.  Dies  ist  ihr  Reiz  für 
den  Forscher,  dies  auch  ihre  soziale  Bedeutung,  daß  sie,  richtig  verstanden, 
eine  Schule  für  jedes  Zusammenarbeiten  von  Menschen  zu  sein  vermag." 

Alwin  Petersilie. 


Alfred  Wilke,  Probleme  der  Verwaltung  im  Industriebezirk  mit  besonderer 
Berücksichtigimg  des  rheinisch- westfälischen  Kohlendistrikts.  Eine 
verwaltungspolitische  Studie.  Berlin  1911.  Julius  Springer.  52  S. 
—  Wilhelm  Kahler,  Die  Bildung  von  Industriebezirken  und  ihre 
Probleme  (Vorträge  der  Gehestiftung,  4.  Band,  Heft  5.)  Leipzig  1912. 
B.  G.  Teubner.     27  S. 

Noch  immer  beschäftigt  z.  Zt.  das  seit  einigen  Jahren  mit  aller  Schärfe 
aufgetauchte  Problem  der  Verwaltungsreform  die  beteiligten  Kreise.  Be- 
sonders seit  dem  bekannten  allerhöchsten  Erlaß  vom  8.  November  1909  hat 
der  Gedanke  einer  Reform  an  Haupt  und  Gliedern  unserer  gesamten  Ver- 
waltungsorganisation greifbare  Gestalt  angenommen,  sind  die  Vorschläge  für 
eine  Besserung  auf  den  verschiedensten  Gebieten  aus  dem  Stadium  theoreti- 
scher Erwägung  in  dasjenige  praktischer  Realisierbarkeit  getreten  und  haben 
die  namhaftesten  Autoritäten  immer  und  immer  wieder  ihre  Stimme  ziir 
Förderung  des  gewaltigen  Werkes  in  die  Wagschale  geworfen. 


542  Besprechungen, 


Unter  den  Arbeiten  ans  jüngster  Zeit,  die  zu  der  Frage  der  Verwaltungs- 
reform in  entschiedener  und  durch  besondere  Eigenart  ausgezeichneter  Form 
Stellimg  nehmen,  gehört  die  oben  angezeigte  Schrift,  Die  eigene  Anziehungs- 
kraft, die  von  diesem  interessanten  und  lesenswerten  Büchlein  ausgeht,  beruht 
vor  allem  auf  dem  Milieu,  in  das  es  uns  hineinführt,  auf  den  eigenartigen, 
in  ihrer  großzügigen  Entwicklung  so  typisch  modernen  Verhältnissen  des 
rheinisch-westfälischen  Industriegebiets,  in  denen  alle  verwaltungsrechtlichen 
Probleme  eine  so  scharfe  Beleuchtung  erfahren,  und  alle  Tagesfragen  der 
Eeform  besonders  brennend  erscheinen.  Diese  Probleme  in  ihrer  durch  die 
Besonderheit  der  dortigen  Verhältnisse  bedingten  Sonderart  aufzuzeigen  und 
sie  einer  Lösung  entgegenzuführen,  ist  die  Absicht  des  Verf.,  und  es  hat  einen 
gi'oßen  Eeiz  für  den  Verwaltungsbeamten,  ihm  in  seinen  von  tiefem  Ver- 
ständnis für  die  Bedürfnisse  der  Praxis  zeugenden  Gedankengänge  zu  folgen, 
selbst  wenn  man  der  Meinung  des  Verf,  nicht  überall  beizustimmen  vermag. 

Im  ersten  Abschnitt  seiner  Abhandlung  skizziert  Verf.  das  Großstadt- 
problem überhaupt,  worunter  er  die  wichtige  Frage  versteht:  wie  dem 
schädlichen  Einflüsse,  den  die  Anhäufung  der  Bevölkerung  in  großen  städti- 
schen Sammelpunkten  auf  Volksgeist  und  Volksgesundheit  mit  sich  bringt, 
zu  begegnen  sei,  damit  sie  nicht  bei  dem  heute  schon  erreichten  zahlenmäßigen 
Übergewicht  der  städtischen  über  die  ländliche  Bevölkerung  für  die  Entwick- 
lung unseres  Staates,  die  Zukunft  unseres  Volkes  schwere  Gefahren  nach 
sich  zieht. 

Unter  Ablehnung  der  Anschauung,  daß  das  Großstadtproblem  an  sich 
mit  der  Größe  der  Bevölkerungsziffer  einer  Stadt  zusammenhängt,  führt  Verf. 
es  in  charakteristischer  und  zutreffender  Weise  auf  den  industriellen  Ursprung 
der  Massensiedelung  zurück  und  enthüllt  es  damit  als  Industriestadt- 
problem, als  Problem  des  Industriebezirks,  denn  „das  schnelle  Wachstum 
und  der  weite  Umfang  solcher  Industriebezirke  bringen  die  Schattenseiten 
städtischer  Lebens-  und  Wohnweise  besonders  stark  zur  Entwicklung,  er- 
schweren technisch  die  Erfüllung  fast  aller  Aufgaben  der  öffentlichen  Ver- 
waltung, zugleich  aber  auch  die  Sammlung  und  Organisationen  der  zu  ihrer 
Erfüllung  fähigen  Ki-äfte".  Aus  diesen  Grundzügen  des  Industriebezirks  er- 
geben sich  für  Verf.  zwei  Eichtungen  des  Problems,  eine  technisch- organisa- 
torische und  eine  ethisch-soziale,  —  die  erstere  als  die  Sammlung  und  die 
richtige  Verwendung  der  vorhandenen  Kjt'äfte  als  Grundlagen  für  alle  weiteren 
Erfolge,  die  letztere  in  der  Hauptsache  aus  dem  Gesichtspunkt  eines  weiteren 
Ausbaues  der  Sozialpolitik. 

Den  Gedanken,  die  organisatorische  Seite  des  Problems  durch  den  an 
die  wirtschaftliche  Einheit  des  Industriebezirks  anknüpfenden  Plan  der  Bildung 
einer  „Industrieprovinz"  zur  Lösung  zu  bringen,  lehnt  Verf,  mit  guten 
Gründen  ab,  kennzeichnet  die  mannigfaltigen  Bedenken,  die  dem  entgegen- 
stehen und  findet  grade  in  der  jetzt  bestehenden  Dezentralisation,  in  der 
Teilung  des  Industriebezirks  unter  mehrere  Prozinzen  und  Eegiervmgsbezirke 
einen  Vorzug.  So  würde  denn  der  organische  Ausdruck  für  die  Einheit 
des  Bezirks  nicht  in  seiner  L^mgestaltung  zu  einer  besonderen  Provinz,  \'iel- 
mehr  in  der  Ausbildung  gemeinsamer  Institutionen  zur  Erfüllung  der  ihnen 
eigentümlichen  Bedürfnisse  zu  suchen  sein,  dies  um  so  mehr  als,  wie  Verf. 
zeigt,  der  so  blühende,  von  so  rührigen  wirtschaftlichen  Kräften  belebte 
Bezirk  von  jeher  der  fruchtbare  Boden  für  die  Entwicklung  einer  gi-oßartigen 
Selbsthilfe  der  leistungsfähigen  Kommunen  gewesen  sei,  die  hierüber  das 
gewöhnliche  Maß  hinaus  auf  die  verständnisvolle  Förderung  und  Anregung 
durch  die  staatlichen  Behörden  angewiesen  seien. 

Besondere  Beachtung  verdient  der  nächste  Abschnitt,  wo  die  Bedeutung 
der  Großindustrie  als  Faktor  der  öffentlichen  Entwicklung 
in  ihrem  Zusammenwirken  mit  und  neben  den  Gemeinden  dargestellt  wird. 
Sind  hier  besonders  die  Fälle  zu  nennen,  wo  einer  Gemeinde  ein  industrielles 
Wasserwerk  zur  Verfügung  gestellt  wird  oder  wo,   wie  in  Essen,   sich  Stadt 


1 


Besprechungen.  543 


und  industrielles  Werk  in  gemeinnütziger  Weise  zur  Erwerbung  von  Gelände 
für  Parkanlagen  und  Kleinwohnungen  zusammentun,  so  kennzeichnet  Verf. 
als  typische  Beispiele  für  industrielle  Kulturwerke  großen  Stils  zur  Behebung 
öffentlicher  Notstände  in  Fällen,  wo  es  sich  um  die  Eri-eichung  von  Zwecken 
handelt,  die  außerhalb  des  Rahmens  der  einzelnen  Gemeinde  zu  verwirklichen 
und  wo  einige,  den  ganzen  Bezirk  umfassende  Aufgaben  zu  lösen  waren :  die 
Emscher  Genossenschaft,  den  Ruhrtalsi)erren-Verein  und  den  in  Gelsenkirchen 
bestehenden  Verein  zur  Bekämpfung  der  Volkskrankheiten  im  Ruhrkohlen- 
gebiet. In  diesen  Zusammenhang  stellt  Verf.  auch  das  rheinisch-westfälische 
Elektrizitätswerk,  das  sich  die  zentralisierte  Elektrizitätsversorgung  zum  Ziele 
gesetzt  hat,  und  das  ein  großartiges,  zur  Förderung  allgemeiner  Verwaltungs- 
zwecke dienliches  Instrument  darstellt,  insbesondere  nachdem  es  auch  die 
Vermittlung  der  Gas-Femversorgimg  und  den  Betrieb  elektrischer  Klein- 
bahnen übernommen  hat. 

Auch  das  Gebiet  der  Arbeiterfürsorge,  auf  dem  zwischen  den 
Aufgaben  der  Gemeinde  und  den  Bestrebungen  der  industriellen  Betriebe 
ebenfalls  viele  Berührungsjjunkte  vorhanden  sind,  zieht  Verf.  in  den  Kreis 
seiner  Betrachtungen.  Aus  den  besprochenen  Erscheinungen  und  Möglich- 
keiten gewinnt  Verf.  ein  wichtiges  Gesetz  praktischen  Fortschritts,  das  im 
wesentlichen  auf  den  häufig  gleichgerichteten  oder  ergänzenden  Interessen 
der  öffentlichen  Korporationen  und  der  großindustriellen  Betriebe  beruht, 
und  das  zum  Zusammenschluß  führt,  durch  den  es  dann  gelingt,  dem  all- 
gemeinen Bedürfnis  in  großartigerer  Weise  zu  genügen,  als  es  die  vereinzelten 
Kräfte  erreichen  könnten.  Andererseits  verhehlt  Verf.  auch  nicht  die  Kehr- 
seite dieser  Entwicklung,  welche  die  Zukunft  des  Bezirks  durchaus  abhängig 
gemacht  hat  von  der  Entwicklung  innerhalb  der  Großindustrie.  Es  ist  dies 
die  katastrophale  Gefahr,  mit  der  große  Wirtschaftskämpfe  wie  die  Nicht- 
erneuerung  der  großen  Verbände  für  die  Kohlen-  und  Eisenindustrie  oder 
große  Arbeitskämi^fe  erhebliche  Teile  des  Industriebezirks  hedrohen.  — 
Im  dritten  Abschnitt  entwickelt  Verf.  das  Wesen  der  Zweckverbands- 
bildung, erörtert  die  Tragweite  der  Wirkung  des  Zweckverbandsgesetzes 
vom  19.  Juli  1911  in  seiner  Anwendung  auf  Rheinland  und  Westfalen  und 
grenzt  das  hier  gegebene  organisatorische  Problem  von  demjenigen  ab,  das 
sich  in  Groß-Berlin  darbietet.  Weniger  gelungen  erscheinen  die  beiden 
Schlußabschnitte  des  Buches,  deren  Ausführungen  man  trotz  der  auch  hier 
zutage  tretenden  Gedankenschärfe  imd  bestechenden  Form  der  Darstellung 
nicht  allenthalben  zu  folgen  vermag.  Im  vierten  Abschnitt,  in  dem  das 
Verhältnis  der  Staatsverwaltung  zu  den  Industriegemeinden 
gekennzeichnet  wrd,  fordert  Verf.  zunächst  —  gewiß  mit  Recht  —  eine  leb- 
haftere Beteiligung  der  Staatsverwaltungsbehörde  an  den  lokalen  Angelegen- 
heiten, namentlich  an  solchen  kommunalen  Verwaltungsaufgaben  technischer 
und  wirtschaftlicher  Natur,  die  einheitlich  für  ein  größeres  Gebiet  gelöst 
werden  müssen.  Abzulehnen  aber  dürfte  sein,  wenn  Verf.  als  Organisations- 
form für  die  Lösung  einer  großen  Anzahl  von  ihm  skizzierter  „interkommu- 
naler" vorzugsweise  sozialer  Aufgaben  die  Bildung  von  „Spezialbehörden" 
unter  Leitung  des  Regierungspräsidenten  und  mit  wesentlich  lokalen  Auf- 
gaben fordert.  Seine  Ausführungen  lassen  kein  klares  Bild  von  der  Organi- 
sation und  Zuständigkeit  derartiger  Behörden  erkennen,  ganz  abgesehen  davon, 
daß  eine  Komplizieruug  des  Behördenapjjarates  wenig  wünschenswert  erscheint. 
Auch  die  Ausführungen  des  fünften  und  letzten  Abschnittes  über  „Landes- 
sozialpolitik" erscheinen  insofern  weniger  gelungen,  als  Verf.  im  wesent- 
lichen lediglich  den  Arbeitskammergesetzentwurf  in  seinen  Einzelheiten  be- 
leuchtet und  verfolgt. 

Wenn  wir  hiermit  auch  eine  zum  Teil  abweichende  Meinung  dargelegt 
haben,  so  kann  dies  selbstverständlich  doch  keineswegs  die  große  Wert- 
schätzung des  Buches  beeinträchtigen,  das  niemand,  der  sich  in  seinen  reichen 
und  wohldurchdachten  Gedankeninhalt  vertieft,  ohne  Nutzen  aus  der  Hand 
legen  wird. 


544  Besprechungen. 


In  wesentlich  anderer  Beleuchtung  zeigt  die  Kahl  er  sehe  Schrift  das 
Wesen  des  Industrie b e z i r k s  als  einerweiteren,  mit  der  Großstadt  sich 
mannigfach  berührenden  und  doch  auch  von  ihr  wesentlich  unterschiedenen 
Form  der  modernen  Bevölkerungsanhäufung,  indem  er  das  wissenschaft- 
liche Problem  stellt,  die  praktischen  Probleme  aufdeckt  und  umgrenzt, 
sowie  die  Versuche  zu  ihrer  Lösung  zusammenfassend  betrachtet. 

Als  Ausgangspunkt  für  die  Frage  nach  dem  Wesen  des  Industriebezirks 
wählt  er  in  überzeugender  Weise  den  alten  Gegensatz  von  Stadt  und  Land 
und  die  Bedeutung  der  Stadt  für  die  moderne  industrielle  Entwicklung. 
Beide  werden  durch  die  neuzeitliche  Entwicklung  des  Industriebezirks  ver- 
wischt und  so  bietet  der  Gegensatz  zwischen  der  bisherigen  Art  der  Be- 
völkerungsverteilung und  -anhäufung  den  Anhalt  für  die  Erkenntnis  von  den 
besonderen  Eigentümlichkeiten  der  neuen  Art.  Die  neue  Art,  die  der  ge- 
häuften Industriesiedelung,  scheidet  er  in  die  drei  in  ihren  Grundzügen  ver- 
wandten, in  ihren  einzelnen  Merkmalen  aber  wesentlich  verschiedenen  Gruppen 
des  großstädtischen,  zugleich  universal-industriellen,  des  ländlichen, 
zugleich  spezial-industriellen  und  des  Bergbaubezirks.  Die  erstere,  als  die 
bei  dem  Aufkommen  der  neuzeitlichen  Industrie  mit  ihrer  Tendenz  zum 
größeren  und  Großbetrieb  ursprüngliche,  Form  der  industriellen  Bevölkerungs- 
anhäufung kennzeichnet  sich  durch  ihre  Anlehnung  an  die  städtische  Siedelung. 
Neben  dieser  städtischen  Industrieansiedelung  besteht  aber  auch  eine  Industrie- 
entwicklung außerhalb  der  historischen  Stadtgrenze  schon  in  der  älteren  Zeit, 
also  eine  ländliche  Industriesiedelung,  während  die  dritte  Art  der  gehäuften 
Industriesiedelung  durch  das  monopolistische  Vorkommen  besonders  wichtiger 
Roh-  und  Hilfsstoffe  der  Industrie  innerhalb  der  Erdrinde  hervorgerufen 
wird,  durch  Bergbauprodukte.  In  scharfsinniger  und  überzeugender  Begrün- 
dung kennzeichnet  Kahler  mit  wenigen,  klar  abgrenzenden  Strichen  die 
Voraussetzungen  für  die  Entstehung  und  die  Eigenart  der  Fortbildimg  jedes 
einzelnen  dieser  Industriebezirke  und  belegt  dies  mit  einer  Reihe  beweis- 
kräftiger Beispiele. 

Nachdem  Kahler  auf  diese  Weise  die  Grundzüge,  die  der  Industrie- 
bezirksl)ildung  gemeinsam  sind  und  die  Merkmale  der  von  ihm  unterschiedenen 
drei  Arten  von  Bezirken  festgestellt  hat,  sucht  er  im  zweiten  Abschnitt  seiner 
Arbeit  eine  Reihe  von  Merkmalen  aufzustellen,  die  den  Industriebezirk  sowohl 
als  eine  besondere  Form  der  Bevölkerungsanhäufung  von  den  anderen,  den 
reinstädtischen  Siedelungsformen  unterscheidet,  als  auch  die  einzelnen  Industrie- 
bezirkstypen je  in  ihrer  Eigenart  wieder  als  Abweichungen  von  diesem  Durch- 
schnittstypus erkennen  lassen.  Die  Andeutungen  für  diese  Merkmale  gruppiert 
Verf.  unter  die  folgenden  Mutmaßungen  und  Beobachtungen: 

1.  Die  Bevölkerungsanhäufung  im  Industriebezirk  vollzieht  sich  schneller 
als  in  der  städtischen  Siedelung  im  allgemeinen. 

2.  Die  berufliche  und  soziale  Gliederung  der  Bevölkerung  im  Industrie- 
bezirk harrt  noch  der  Erforschung,  im  allgemeinen  kennzeichnet  sie 
sich  durch  eine  mehr  oder  minder  stark  einseitige  Spezialisierung. 

3.  Allgemeiner  findet  sich  beim  Industriebezirk  die  erst  beim  Wachsen 
der  städtischen  Siedelung  sich  herausstellende  Verschiedenheit  von 
Beschäftigungs-  und  Wohnort. 

4.  Die  Industriebezirke  werden  zweifellos  für  die  Verteilung  der  Ge- 
schlechter und  den  Altersaufbau  der  Bevölkerung  eigenartige  Verhält- 
nisse zeigen,  wobei  einerseits  der  Frauenüberschuß  der  Textilstädte, 
der  Frauenmangel  der  Städte  des  Bergbaubezirks,  andererseits  beim 
Altersaufbau  die  starke  Besetzung  des  dritten  und  vierten  Jahrzehnts, 
sowie  der  jüngsten  Jahresklassen  eine  Rolle  spielen. 

Für  die  hier  skizzierten  interessanten  Erscheinungen  vermißt  Kahler 
mit  Recht  wissenschaftlich  verwertbare  statistische  Beobachtungen,  denen 
sich  hier  praktische  Aufgaben  von  größter  Wichtigkeit  erschließen.  Schon 
jetzt   glaubt  Kahler   das    eine  feststellen   zu  können,   daß   auch   in   der  sta- 


Besprechungen.  545 


tistischen  Erkenntnis  sich  der  Industriebezirk  nicht  einfach  als  eine  Fort- 
bildung der  Großstadt  zeigen,  sondern  eigenartige  Grundziige  seines  Wesens 
erkennen  lassen  wird,  das  stadtähnlich,  aber  nicht  städtisch  ist.  Seine  teils 
auf  Beobachtung,  teils  auf  Eeflexion  beruhenden  fruchtbaren  Erörterungen 
lassen  dies  allerdings  schon  jetzt  als  erwiesen  erscheinen. 

Im  dritten  Abschnitt  endlich  wendet  sich  Kahler  der  —  auch  von 
Wilke  besonders  betonten  —  Frage  nach  der  zweckmäßigsten  Organisations- 
form der  Industriebezirke  zu,  da  mehr  und  mehr  die  bestehenden  Organisationen, 
vor  allem  die  Stadt,  die  Landgemeinde  und  die  über  ihnen  sich  aufliauenden 
staatlichen  Verbände  (Kreise  und  Provinzen)  für  die  Fülle  der  hier  zu  lösenden 
Aufgaben  sich  teils  als  zu  eng,  teils  als  nicht  geeignet  erwiesen  haben.  Hier 
können  nur  Wege  für  die  gemeinschaftliche  Arbeit  der  verschiedenen  selb- 
ständig nebeneinander  stehenden  Kommunalkörper  gesucht  werden,  wie 
z.  B.  in  dem  Zusammenschluß  auf  genossenschaftlicher  Grund- 
lage (Emscher-Genossenschaft)  zu  neuer  organisatorischer  Bildung  Anlaß 
gegeben  war.  Wie  diesen  Bestrebungen  das  Zweckverbandsgesetz  neue 
Bahnen  eVmen  will,  so  hat  Ministerialdirektor  Freund  (D.  JZ.  XVI  [1911] 
S.  1113)  für  die  Zusammenfassung  der  im  Industriebezirk  vorhandenen  Kräfte 
eine  Modifikation  der  Verfassung  der  Aktiengesellschaft  in  der  sogenannten 
„gemischt-wirtschaftlichen  Unternehmung"  vorgeschlagen.  Indem 
Kahler  das  in  allen  diesen  Bestrebungen  nach  neuen  Organisationsformen 
liegende  Wesentliche  wie  die  sich  ergebenden  Schwierigkeiten  in  aller  Kürze 
kritisch  würdigt,  gelangt  er  zu  dem  für  die  Lösung  des  Problems  wohl 
grundlegenden  Gesetz: 

„Zur  Lösung  der  Bezirksaufgaben  müssen  die  widerstrebenden  Nachbar- 
interessen und  die  Unterschiede  der  Leistungsfähigkeit  zusammengefaßt 
werden,  so  daß  die  auseinanderstrebenden  Kräfte  nicht  sich  erschöpfen  in 
gegenseitiger  Reibung,  sondern  hingelenkt  werden  auf  das  notwendige  Ziel, 
im  Industriebezirk  einen  Ausgleich  der  Gegensätze  in  räumlicher  Einsicht  zu 
fördern.  Nicht  durch  Aufhebung  der  bisherigen  Organisationen, 
sondern,  soweit  möglich,  durch  mannigfache  Kombinationen 
ihrer  gestaltungsfähigen  Triebkräfte  scheint  mir  die  Lösung 
des  praktischen  Problems  der  Industriebezirke  möglich." 

So  bildet  die  hochinteressante  Kahl  er  sehe  Schrift  mit  ihrem  scharf 
umrissenen,  reichen  Gedankeninhalt  einen  überaus  wertvollen  Beitrag  zur 
Lösung  der  Reformprobleme  der  Industriebezirke  und  zugleich  eine  not- 
wendige Ergänzung  für  die  Anregungen,  welche  —  in  erster  Linie  auf 
verwaltungstechnischem  Gebiet  —  dieWilkesche  Studie  darbietet. 

Walter  Saran. 

Jahrbuch  des  öffentlichen  Rechts,  hrsg.  von  f  JelUnek,  Laband  und 
Püoty.  Bd.  IV.  Tübingen  1910.  Mohr.  VI  u.  571  S.  Bd.  V.  1911. 
X  u.  660  S. 

Die  beiden  Bände  zeichnen  sich,  wie  die  vorhergehenden,  durch  mehrere 
wertvolle  Beiträge  und  eingehende  Berichte  über  deutsche  Reichs-  und  Landes- 
gesetzgebung wie  die  gesetzgeberische  Tätigkeit  einer  Reihe  außerdeutscher 
Länder  aus. 

Bd.  IV  wird  durch  den  an  anderer  Stelle  näher  zu  erwähnenden  Aufsatz 
von  Uli  mann,  Die  Fortbildung  des  Seekriegsrechts  durch  die  Londoner 
Deklaration  vom  26.  Februar  1909  eröffnet.  Ihm  schließen  sich  zwei  Ab- 
handlungen an:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  soziologischen  Grundlagen  des 
Völkerrechts  und  der  Staatengesellschaft  von  Hub  er,  und  Rechtsstaatsidee 
und  Verwaltungsrechtswissenschaft  von  Thonia,  von  denen  die  erstere  in 
der  Zeit  des  heutigen  Pazifismus  und  „Internationalismus",  in  der  die  Frage 
der  Weltorganisation  so  viel  erörtert  wird,  besonders  wertvoU  ist.  AUerdinga 
wird  sie  auf  manchen  Widerspruch  stoßen. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  35 


546  Besprechungen. 


Politischen  Kreisen  dürfte  die  weitere  Abhandlung  über  die  ungarische 
parlamentarische  Reform  von  Nemethy  von  Ujfalu  willkommen  sein,  weil 
sie  einen  guten  Überblick  über  Geschichte  und  Stand  der  so  viel  umstrittenen 
Wahlrechtsreform  Ungarns  bietet,  und  zwar  gerade  seitens  eines  Mtarbeiters 
des  Andrässyschen  Gesetzentwurfes.  —  Von  den  zahlreichen  Berichten  be- 
anspruchen besonderes  Interesse  die  über  die  Gesetzgebung  des  Deutschen 
Eeiches  im  Jahre  1909  (Endres),  über  die  Reichsfinanzreform  von  1908/9 
(Schneider),  über  die  preußischen  Staatsverträge  auf  dem  Gebiete  der 
sozialen  Versicherung  (Laß),  über  die  Entwicklung  des  öffentlichen  Rechts 
in  Preußen  (Schoenborn),  aber  auch  der  über  das  neue  sächsische  Wasser- 
gesetz (Scheich er).  Von  den  ausländischen  Berichten  verdient  der  über 
die  bosnische  Verfassung  (Steinbach)  besondere  Erwähnung.  Des  weiteren 
wird  je  ein  kurzer  Überblick  über  die  Entwicklung  des  öffentlichen  Rechts 
oder  einzelner  Teile  desselben  in  Belgien,  Frankreich,  Japan,  Italien,  Norwegen 
und  Rußland  geboten. 

Bd.  V,  der  durch  einen  warmen  Nachruf  auf  Jelliuek  eingeleitet  wird, 
enthält  nicht  weniger  als  neun  teilweise  sehr  umfangreiche  Abhandlungen. 
Von  besonderer  Bedeutung  ist  der  eingehende  Aufsatz  von  Lamp:  Die  Ver- 
fassung von  Bosnien  und  der  Herzegowina  von  1910,  ferner  das  Gutachten 
Bornhaks  in  Sachen  von  Hellfeld  gegen  den  russischen  Staat:  Die  inlän- 
dische Gerichtsbarkeit  über  ausländische  Staaten,  sowie  die  Abhandlung  von 
Coester:  Die  Haftung  des  Staates  für  Amtsdelikte  bei  Ausübung  der  öffent- 
lichen Gewalt  nach  preußischem  Rechte.  Groesch  erörtert  die  Stellung 
des  Staates  als  Kontrahent  im  Privat-,  öffentlichen  und  Völkerrecht,  Keet- 
mann  bringt  in  „Die  Römischen  Katakomben"  einen  Beitrag  zu  dem  Ver- 
hältnis von  Staat  und  Kirche  im  heidnischen  Römerreich.  Ein  kurzer  Bericht 
macht  auf  das  große  Unternehmen  des  Earl  of  Halsbury,  „Die  Gesetze 
Englands",  eine  vollständige  Sammlung  des  gesamten  englischen  Rechts,  auf- 
merksam. Esmein  behandelt  La  question  de  la  Jurisdiction  administrative 
devant  l'Assemblee  Constituante,  Ratnitzky  das  Problem  über  den  Anteil 
des  Parlaments  an  Staatsgesetz  und  Staatsvertrag.  Tezners  Beitrag  „Das 
detournement  de  pouvoir  und  die  deutsche  Rechtsbeschwerde"  stellt  sich  dar 
als  Verteidigung  seines  Standijunktes  in  seiner  Kontroverse  mit  Bernatzik 
über  die  Grenzen  des  sog.  freien  Ermessens  gegenüber  einer  diese  Frage 
neuerdings  behandelnden  Monographie  von  Laun.  —  Im  zweiten  Teile  be- 
richtet Thoma  über  die  deutsche  Reichsgesetzgebung  des  Jahres  1910, 
Schneider  wiederum  über  das  öffentliche  Recht  Preußens  (insbesondere 
die  Wahlrechtsbewegung),  Bracker  über  die  bayerische  Steuerreform,  Walz 
über  die  badische  Gesetzgebung  von  1909  und  1910  und  Schücking  über 
die  Regelung  der  oldenburgischen  Thronfolge  im  Jahre  1904.  Weitere  Berichte 
beschäftigen  sich  mit  dem  öffentlichen  Recht  in  Belgien,  Frankreich,  Japan, 
Rußland  und  Schweden.  Gr.  J,  Ebers. 


Georg  Neuhaus,  Die  deutsche  Volkswirtschaft  und  ihre  Wandhmgen  im 
letzten  Vierteljahrhundert.  Bearbeitet  auf  Grund  der  Ergebnisse  der 
Berufs-  und  Betriebszählungen  1882,  1895  und  1907.  I.  Die  berufliche 
und  soziale  Gliederung  des  deutschen  Volks.  München-Gladbach  1911. 
Volksvereins -Verlag.  VHI  und  278  S.  —  Wilh.  Gerloff,  Verände- 
rungen der  Bevölkerungsgliederung  in  der  kapitalistischen  Wirtschaft 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Ergebnisse  der  deutschen  Berufs- 
zählungen. Volkswirtsch.  Zeitfragen,  herausgeg.  v.  d.  Volksw.  Gesell- 
schaft in  Berlin.     Heft  249/50.    Berlin  1910.    Leonhard  Simion.    70  S. 

Unter  Bezug  auf  das,  was  der  frühere  Direktor  des  Kaiserlich.  Statistischen 
Amts  von  Scheel  in  seiner  Schrift   „Die  deutsche  Volkswirtschaft  am  Schluß 


Besprechungen.  547 


des  19.  Jahrhunderts"  geleistet  hat,  will  Neuhaus  in  obiger  Arbeit  die  Er- 
gebnisse der  Berufs-  und  Betriebszählung  1907  durch  deren  zweckent- 
sprechende Bearbeitung  möglichst  weiten  Kreisen  des  deutschen  Volks  zu- 
gänglich machen,  und  zwar  unter  Berücksichtigung  der  Entwicklung  seit 
1882  sowie  der  Verhältnisse  in  den  Bundesstaaten  und  in  den  Großstädten. 
Einteilung  der  Darstellung  und  selbst  der  Titel  des  Buches  schließt  sich  enge 
an  das  von  mir  verfaßte  amtliche  Werk  „Die  berufliche  und  soziale  Gliederung 
-des  deutschen  Volks  auf  Grund  der  Berufszählung  1895"  (Bd.  111  der  Statistik 
des  Deutschen  Reichs)  an,  wenn  es  auch  nicht  zitiert  wird.  Die  textlichen 
Ausführungen  halten  sich  in  der  Hauptsache  streng  an  die  Zahlen,  verhalten 
sich  aber  ihnen  gegenüber  vielfach  zu  wenig  kritisch  und  deduzieren  daher 
wiederholt  aus  ihnen  Fehlschlüsse,  abgesehen  von  den  tatsächlichen  Zahlen- 
irrtümern, die  dem  Verf.  passiert  sind,  worauf  schon  Petersilie  in  der  Zeit- 
schrift des  Preußischen  Statistischen  Landesamts  (Jahrg.  1911  S.  337)  hin- 
gewiesen hat.  Dem  großen  Lob,  das  K.  Ehrberg  in  seinen  „Annalen  des 
Deutschen  Reichs"  (1911  S.  711)  der  Arbeit  von  Neuhaus  gezollt  hat,  kann 
sich  daher  der  statistische  Fachmann  bei  aller  freundschaftlichen  Kollegialität 
—  Neuhaus  ist  Direktor  der  Statistischen  Amts  in  Königsberg,  nächstens  in 
Cöln  —  keineswegs  anschließen. 

Ja,  man  mußte  von  Neuhaus  geradezu  eine  wesentlich  bessere  statistische 
wissenschaftliche  Leistung  verlangen,  weil  ihm  schon  eine  Reihe  Arbeiten 
zur  Verfügung  standen,  die  das  gleiche  Thema  behandelten.  Ich  erinnere 
an  V.  d,  Borght  (Beruf,  gesellschaftliche  Gliederung  und  Betrieb  1910), 
Böhmert  (Wandlungen  der  deutschen  Volkswirtschaft,  Arbeiterfreund  1910), 
Hesse  (Berufliche  und  soziale  Gliederung,  Conrads  Jahrb.  f.  Nat.-Ök.  u.  Stat. 
1910),  meine  Aufsätze  (Deutschlands  wirtschaftliche  Entwicklung  unter  Berück- 
sichtigung der  Volkszählung  1905  und  der  Berufs-  imd  Betriebszählung  1907, 
Annalen  des  Deutschen  Reichs  Frühjahr  1910).  Auch  die  oben  an  zweiter 
Stelle  genannte  Schrift  von  W.  Gerloff  (erschienen  im  Frühjahr  1910),  die 
eine  treffliche  wissenschaftliche  Darstellung  der  Berufsstatistik  1907  darbietet 
und  gebührende  Rücksicht  auf  andere  einschlägige  Untersuchungen  nimmt, 
hätte  für  Neuhaus  vorbildlich  sein  können. 

Daß  die  lange  vor  Neuhaus  erschienenen  Arbeiten  sämtlich  diesem  ent- 
gangen sind,  ist  schwerlich  anzunehmen.  Jedenfalls  ist  es  absolut  falsch, 
wenn  auf  dem  Außenumschlag  das  Buch  von  Neuhaus  als  „das  erste  (! !) 
Werk"  angepriesen  wird,  „das  die  Resultate  der  Berufs-  und  Betriebszählungen 
in  einer  kürzeren,  gemeinverständlichen  Form  zusammenfaßt  und  sie  auf 
diese  Weise  der  Allgemeinheit  in  weiterem  Umfang  vermittelt  und  nutzbar 
macht".  Letzteres  haben  bereits  vor  Neuhaus  andere  besser  und  gi-üudlicher 
getan.  Offenbar  hat  Neuhaus  dies  inzwischen  eingesehen,  da  er  den  für 
Herbst  1911  angekündigten  n.  Band,  der  Landwirtschaft.  Industrie,  Handel, 
Verkehr  behandeln  soll,  bis  heute  (Frühjahr  1912)  noch  nicht  veröffentlichte. 

Friedrich  Zahn. 


Emil  Schiff,  Kleingewerbliche  Werkstättenhäuser.  Plan  eines  Erwerbs- 
Untemehmens  zur  Förderung  des  Kleingewerbes.  Berlin  1912.  Jul. 
Springer. 

Die  Abhandlung  von  Schiff  ist  eine  erweiterte  Sonderausgabe  aus  „Technik 
und  Wirtschaft",  Monatsschrift  des  „Vereins  Deutscher  Ingenieure".  Sie  be- 
handelt zunächst  die  „Vorfragen",  ob  eine  wirksame  Unterstützung  des  Klein- 
gewerbes bei  der  heute  vorherrschenden  großkapitalistischen  Wirtschaftsweise 
überhaupt  möglich  ist  und  des  weiteren,  ob  es  richtig  ist,  das  Kleingewerbe 
zu  erhalten  und  zu  fördern.  Bezüglich  der  zweiten  Frage  bringt  sie  zum 
Ausdruck,  daß  das  Kleingewerbe  imstande  ist,  eine  Lücke  auszufüllen,  die 
das  Großgewerbe  läßt,  daß  es  eine  Bedeutung  hat  für  die  Heranbildung  des 

35* 


548  Besprechungen. 


Nachwuchses  an  industriellen  Arbeitern  und  daß  es  zur  Erhaltung  selbstän- 
diger Persönlichkeiten  beitragen  kann. 

Von  den  Mitteln  zur  Förderung  des  Kleingewerbes  hält  die  Abhandlung 
nicht  die  politischen,  sondern  die  wirtschaftlichen  Maßnahmen  für  die  ge- 
eignetsten. Bei  den  wirtschaftlichen  Maßnahmen  wieder  rechnet  sie  nicht 
mit  den  rein  geldwirtschaftlichen,  sondern  mit  den  technisch-wirtschaftlichen, 
und  kommt  so  zu  folgendem  Vorschlage: 

„Erwerbsunternehmer  sollen  mustergültig  angelegte  Werkstattgebäude 
errichten,  in  jedem  solchen  Gebäude  eine  Anzahl  verschiedenartiger  Werk- 
stätten mit  vollen  und  vollkommenen  Einrichtungen  an  Betriebsmitteln, 
Werkzeugmaschinen  und  Werkzeugen  schaffen  und  die  einzelnen  Werkstätten 
einschließlich  der  betriebsfertigen  Einrichtungen  an  tüchtige  Gewerbetreibende 
vermieten." 

Für  das  Kleingewerbe  sollen  sich  hierbei  folgende  Vorteile  ergeben :  Unter- 
bringung des  Betriebes  in  einem  wahrhaft  zweckmäßigen  Eaume;  Benutzung 
von  Betriebsanlagen  von  höchster  technischer  Leistungsfähigkeit;  Zusammen- 
fassung der  Erzeugung  von  Betriebskraft,  Licht  und  Heizung;  Heranziehung 
guter  Arbeiter  und  Vertrauen  der  Verbraucher  gegenüber  solchen  Muster- 
werkstätten; darüber  hinaus  unter  Umständen  gemeinsame  Verwaltungskanzlei, 
welche  die  Buchführung,  die  Selbstkostenberechnung  und  die  Ausstellung  der 
Rechnungen,  ferner  die  werbende  Tätigkeit,  sodann  die  L'^nterhaltung  von 
Annahmestellen  für  Aufträge  und  damit  zusammenhängende  Mitteilungen  in 
entferntere  Stadtteile,  die  Unterhaltimg  gemeinsamen  Fuhrwerks  und  endlich 
die  Möglichkeit  eines  gemeinsamen  Einkaufs  übernimmt. 

Zum  Schlüsse  wird  noch  die  „Beschaffung  von  Betriebsmitteln"  und 
die  „Art  und  Wirtschaftlichkeit  des  Unternehmens"  erörtert. 

Schiff  geht  von  durchaus  gesunden  und  richtigen  Grundlagen  aus  und 
verfolgt  das  gestellte  Thema  bis  in  alle  Einzelheiten.  Er  ist  sich  hierbei 
aber  selbst  bewnißt,  daß  in  der  Praxis  nicht  alle  Vorschläge  befolgt  werden 
können.  Da  die  Kleingewerbe  mehr  oder  minder  nur  örtliche  Bedeutung 
haben  können,  müssen  die  zu  ihrer  Förderung  zu  treffenden  Maßnahmen 
auch  dem  jeweiligen  Verhältnis  entsprechend  von  Fall  zu  Fall  verschieden 
getroffen  werden.  Insbesondere  muß  eine  Grenze  zwischen  dem  praktisch 
Erreichbaren  und  dem  Nichterreichbaren  gezogen  werden.  Wenn  man  nun 
auch  vielleicht  bezüglich  dieser  Grenze  nicht  die  Auffassung  von  Schiff  teilt, 
kann  man  doch  die  kleine  Schrift  jedem  zum  Studium  warm  empfehlen, 
welcher  der  Erhaltung  des  Kleingewerbes  Verständnis  entgegenbringt. 

Alfred  Schulte. 


Abhandlungen 

VIII. 
Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England') 

Von  Dr.  Wolfgang  Michael 

Das  Kabinett,  die  höchste  regierende  Behörde  des  britischen 
Reiches,  ist  nicht  eines  Tages  durch  einen  Akt  der  Gesetz- 
gebung ins  Leben  getreten.  Es  hat  sich,  halb  verborgen,  im 
Königspalaste  unter  den  Augen  des  Monarchen  entwickelt  und 
ist  von  der  Öffentlichkeit  noch  lange  wie  ein  ärgerlicher  Miß- 
brauch, der  sich  eingeschlichen  und  beseitigt  werden  müsse, 
empfunden  worden.  Unvermerkt  hat  sich  jedoch  das  Verhältnis 
geändert.  Das  Mißtrauen  gegen  die  unkontrollierte  Willkür  des 
Kabinetts  hat  zwar  nicht  zu  einer  gesetzhchen  Festlegung  des 
Umfangs  seiner  Rechte  und  Pflichten  geführt,  wohl  aber  dahin, 
daß  es  ganz  allmählich  aus  einem  Organ  des  Monarchen  zum 
Vollstrecker  des  Parlaments  willens  geworden  ist. 

Der  Zweck  der  folgenden  Untersuchung  ist  es,  die  Ent- 
stehung und  die  frühe  Geschichte  des  Kabinetts  zu  behandeln 
und  sie  bis  zu  einem  Zeitpunkt  zu  verfolgen,  wo  es  die  Re-, 
gierung  selbständig  übernommen  hat,  von  der  Krone  fast  los- 
gelöst, ohne  darum  schon  der  Herrschaft  des  Parlaments  ver- 
fallen zu  sein.  Wir  werden  mit  der  Restaurationsperiode  zu 
beginnen  und  mit  dem  Zeitalter  Walpoles  zu  schließen  haben  2). 

Bevor  das  Kabinett  die  regierende  Behörde  in  England 
wurde,  hatte  es  übrigens  an  einer  durch  das  Gesetz  anerkannten 

^)  Das  Thema  soll  hier  ausführlicher  und  weiter  ausholend  behandelt 
werden,  als  es  in  dem  demnächst  erscheinenden  zweiten  Bande  meiner 
Englischen  Geschichte  im  18.  Jahrhundert  möglich  ist.  Neben  den  gedruckten 
Quellen  hat  das  für  die  Geschichte  der  Zeit  benutzte  archivalische  Material, 
besonders  dasjenige  aus  dem  Eecord  Office,  dem  Britischen  Museum,  den 
Archiven  zu  Berlin,  Wien,  Hannover,  sich  auch  für  die  hier  behandelte  Frage 
als  höchst  wertvoll  erwiesen. 

*)  Von  neuerer  Literatur  über  die  Geschichte  des  Kabinetts  nenne  ich 
zunächst  Torrens,  History  of  Cabinets  2  Bde.,  London  1894,  der  fi-eilich 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  zu  35 


550      Michael.  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

Zeutralinstanz  für  die  gesamte  Exekutive  keineswegs  gefehlt. 
Schon  unter  den  Tudors  stand  das  Privy  Council  als  beratende 
Körperschaft  dem  Könige  zur  Seite,  was  freihch  dem  rein  per- 
sönlichen Charakter  der  Regierung  unter  den  Herrschern  aus 
dieser  Dynastie  keinen  Abbruch  tat.  Nicht  die  konstitutionelle 
Verpflichtung  des  Souveräns  zur  Befolgung  der  Ratschläge  des 
Council  ist  dieses  Mal  das  Entscheidende,  sondern  vielmehr  die 
Tatsache  einer  Zusammenfassung  der  Regierungsgewalten  an 
einer  einzigen  Stelle.  Gegen  das  Ende  der  Epoche,  unter 
Ehsabeth,  waren  alle  Ressorts,  Inneres,  Krieg,  Finanzen,  hier 
vereinigt  und  empfingen  ihre  Direktiven  von  dieser  Zentrale 
aus^).  Wer  sich  eine  Fortentwicklung  dieses  Systems  bis  zur 
konstitutionellen  Bindung  des  monarchischen  Willens  vorstellen 
wollte,  würde  an  ein  Privy  Council  zu  denken  haben,  dem  es 
gelungen  wäre,  den  König  zur  Befolgung  seines  Rates  zu  zwingen 
und  dafür  die  volle  Verantwortung  für  alle  Regierungshand- 
lungen zu  übernehmen.  Und  dann  könnte  dieses  Privy  Council 
in  seiner  ferneren  Geschichte  vielleicht  seinerseits  in  die  Ab- 
hängigkeit des  Parlaments  geraten  oder  in  irgendeiner  anderen 
Form  zur  Dienerin  des  Volks  willens  geworden  sein. 

Diese  Entwicklung  ist  zwar  nicht  eingetreten,  aber  sie  hat 
doch,  was  die  Abhängigkeit  des  Königs  vom  Privy  Council  be- 
trifft, den  Politikern  des  17.  Jahrhunderts  als  das  Ideal  vor- 
geschwebt. Clarendon,  der  Minister  Karls  IL,  erblickte  in  einer 
solchen  Gesamtverwaltung  durch  das  Privy  Council,  dessen 
Ratschlägen  der  König  folgen  müßte,  den  wahrhaft  verfassungs- 
mäßigen Zustand  der  Regierung  2).  Daß  das  Privy  Council 
dennoch  diese  Rolle  nicht  gespielt  hat,  ergab  sich  aus  seiner 
Zusammensetzung  wie  aus  der  großen  Zahl  seiner  Mitgheder. 
Zur  wahren  Leitung  der  Verwaltung,  zur  Verfolgung  einer  be- 


so  ziemlich  die  ganze  Verfassungsgeschichte  und  innere  Politik  behandelt 
und  bei  vielen  wertvollen  Mitteilungen  es  doch  dem  Leser  nicht  leicht  macht, 
das  zur  Sache  Gehörige  herauszufinden;  ferner  das  auf  gründlicher  Kenntnis 
der  gedruckten  Quellen  beruhende  Buch  von  Blauvelt,  The  Development 
of  Cabinet  Government  in  England,  New  York  1902;  und  den  wertvollen, 
auf  handschriftlichem  Material  beruhenden  Aufsatz  von  Temperley,  Inner 
and  Outer  Cabinet  and  Privy  Council  1679—1783  (Engl.  Hist.  Rev.  XXVH, 
1912).  Wenig  Wert  liesitzt  Jenks  Parliamentary  England,  The  Evolution  of 
the  Cabinet  System.  London  1903. 

0  Vgl.  neuerdings:  K.  Hornemann,  Das  Privy  Council  von  England 
zur  Zeit  der  Königin  Elisabeth.     Hannover  1912, 

')  Vgl.  E.  J.  Carlyle,  Clarendon  and  the  Privy  Councü,  1660—1667. 
Engl.  Hist.  ßev.  XVII  (1912)  251  ff. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      551 

stimmten  Politik  war  es  eigentlich  nie  zu  brauchen.  Für  die 
zu  leistende  praktische  Arbeit  tritt  frühzeitig  die  Regierung 
durch  Ausschüsse  auf,  die  sich  aus  dem  Gesamtkörper  des 
Geheimen  Rates  loslösen.  Es  sind  entweder  ständige  oder  vor- 
übergehend ernannte  Ausschüsse,  die  sich  in  die  Geschäfte  teilen. 
Das  mochte  so  gehen,  solange  die  Autorität  des  Monarchen  noch 
das  gesamte  Getriebe  beherrschte.  Aber  was  sollte  geschehen, 
seitdem  einmal  die  überragende  Stellung,  die  das  Königtum 
der  Tudors  besessen  hatte,  unter  den  Stuarts  verloren  ge- 
gangen war? 

Da  ist  nun  als  ein  Kreis  vertrauter  Ratgeber  des  Monarchen, 
die  nach  gemeinsamen  Grundsätzen  handelten,  das  Kabinett 
entstanden.  Der  König  hat  das  Bedürfnis,  mit  einer  kleinen 
Zahl  von  Staatsmännern  in  beständigem  Einvernehmen  zu  sein, 
ihre  Meinungen  zu  hören  und  auf  Grund  ihrer  Ratschläge  seine 
politischen  Entschlüsse  zu  fassen.  Er  flüchtet  sich  vor  der 
beschränkten  und  widerspruchsvollen  Beamtenweisheit  seines 
Privy  Council  in  einen  vertrauten  Kreis  praktischer  Politiker. 
Denn,  wohlverstanden,  der  Souverän  ist  es,  der  das  Kabinett 
ins  Leben  gerufen  hat,  der  gemeinsam  mit  ihm  im  17.  Jahr- 
hundert die  Arbeit  leistet,  und  der  sich  im  18.,  wie  wir  sehen 
werden,  aus  dem  Kabinett  zurückzieht,  um  ihm  die  Last  der 
Geschäfte  allein  zu  überlassen. 

Es  kommt  im  Grunde  nicht  viel  darauf  an,  ob  zuzeiten 
ein  Ausschuß  des  Privy  Council  oder  ein  beliebig  zusammen- 
gesetztes Kollegium  in  ein  derartiges  Verhältnis  zum  Monarchen 
getreten  ist^).  Man  meint,  einen  ersten  Ansatz  zur  Bildung 
eines  Kabinetts  schon  1553  unter  Eduard  VL  zu  bemerken. 
Man  hört  zunächst  von  mehreren  Ausschüssen,  die  für  ver- 
schiedene Zwecke  berufen  werden  und  jedesmal  aus  anderen 
Mitgliedern  des  Privy  Council  bestehen  sollen;  dann  aber  auch, 
daß  der  eine  dieser  Ausschüsse  geradezu  bestimmt  ist,  die .  all- 
gemeinen Fragen  des  Staates  zu  behandeln.  Der  junge  König 
hat  in  einer  eigenhändigen  Niederschrift  die  Absicht  ausge- 
sprochen: ,,Ich  will  einmal  wöchenthch  mit  ihnen  Sitzung  halten 
und  hören,  wie  hier  über  die  wichtigsten  Angelegenheiten  ge- 
redet wird"  2).     Aber   diese   engeren   Kollegien   von   Ratgebern 

^)  Manche  wollen  überhaupt  das  Kabinett  schlechthin  als  einen  Aus- 
schuß aus  dem  Privy  Council  auffassen.  Vgl.  F.  Pollock,  Die  Kommissions- 
verwaltung in  England.  (Jahrb.  f.  Gesetzgebg.,  Verwaltung  u.  Volkswirtsch. 
im  Dtschen.  Reich.    33.    1909.) 

^)  Bumet,  History  of  the  Eeformation  ed.  Pocock.    V  119. 


552       Michael.  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

des  Königs  sind  unbeliebt  und  verdächtig,  das  Parlament  miß- 
traut ihnen,  die  Klagen  kehren  in  steigendem  Maße  immer 
wieder.  Man  verlangt,  daß  die  gesetzlich  anerkannte,  weithin 
sichtbare  Behörde,  das  Privy  Council,  regiere,  nicht  aber  ein 
kleinerer  Kreis  königlicher  Vertrauter,  deren  verborgenes  Wirken 
jeglicher  Kontrolle  spottet.  Je  kleiner  das  Kollegium,  um  so 
größer  die  Anfeindung.  Und  wenn  gelegenthch  gar  einzelne 
Staatsmänner  dazu  gelangen,  viele  Ämter  auf  ihrer  Person  zu 
vereinigen,  um  einen  starken,  persönlichen  Einfluß  auf  den 
Souverän  auszuüben,  wie  etwa  Buckingham  oder  Strafford  unter 
den  ersten  Stuarts,  so  verfallen  sie  mit  Sicherheit  der  gehässig- 
sten Beurteilung  durch  Volk  und  Parlament.  In  schweren  Zeiten 
droht  ihnen  der  Dolch  des  Mörders  oder  gar  das  Beil  des 
Henkers.  Der  Zorn  der  öffentlichen  Meinung  kann  ihnen  nun- 
mehr im  17.  Jahrhundert  leicht  ebenso  furchtbar  werden  wie 
im  Zeitalter  Heinrichs  VHI.  die  stets  lebensgefährliche  Ungnade 
des  Monarchen. 

Unter  Karl  I.  kommt  der  Name  Kabinettsrat  auf.  Clarendon 
erzählt  vom  Jahre  1640^),  die  ganze  Last  der  Exekutive  habe 
damals  auf  den  Schultern  weniger  Männer  geruht,  die  den 
Regierungsausschuß  (Committee  of  State)  bildeten,  aber  man 
habe   sie   in  gehässigem  Sinne  als  Cabinet  Council  bezeichnet. 

Während  des  Interregnums  verschwindet  wohl  der  Name, 
aber  die  regierenden  Ausschüsse,  unter  denen  der  Staatsrat  der 
vornehmste  ist,  ziehen  sich  durch  die  ganze  Epoche  hindurch. 
Cromwell  hat  als  Protektor  nur  eine  kleine  Zahl  vertrauter 
Räte  in  das  Geheimnis  seiner  Politik  gezogen  2).  Doch  trug 
seine  Herrschaft  so  sehr  den  Charakter  eines  persönlichen 
Regiments,  daß  man  wohl  über  dieses,  nicht  aber  über  den  zu 
kleinen  Kreis  seiner  Ratgeber  Klage  zu  führen  pflegte. 

In  allen  diesen  Körperschaften,  in  den  Staatsausschüssen 
Eduards  VI.  wie  Karls  L,  in  den  kleinen  Konventikeln  des 
Protektors  wird  man  gewiß  die  Vorläufer  des  modernen  Kabi- 
netts erkennen,  wie  ja  auch  der  Name  schon  den  Zeitgenossen 
der  frülieren  Stuartkönige  vollkommen  geläufig  ist.  Aber  die 
Geschichte  des  Kabinetts  kann  man  erst  mit  dem  Zeitpunkt 
beginnen,  wo  diese  Behörde  zu  einer  regelmäßigen,  kontinuier- 
lichen wird,  die  zwar  in  der  Art  ihrer  Zusammensetzung  wie 
in  ihrem  Personenstande  oft  wechselt,  aber  grundsätzlich  keine 


0  History  of  the  Rebellion  ed.  Macray.    1888.    I  196. 
')  Vgl,  Michael,  Cromwell  U  29. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      553 

Unterbrechung  mehr  erfährt.  Dieser  Zustand  tritt  nach  der 
Restauration  der  Stuarts,  unter  Karl  IL,  ein.  Neben  dem  Namen 
Cabinet  Council,  der  zuerst  1667  wieder  genannt  wird  ^),  er- 
scheint nunmehr  ein  neuer,  die  Kabale.  Er  bezeichnet  einige 
Jahre  lang  dieselbe  Sache,  nämlich  diejenigen  hohen  Staats- 
beamten, in  deren  Kreis  der  König  die  wichtigsten  Entschei- 
dungen zu  treffen  pflegt.  Der  Name,  dessen  gehässiger  Sinn 
nicht  zweifelhaft  ist,  kommt  in  Pepys'  Tagebuch  zuerst  1665 
vor,  also  da  Clarendon  noch  Minister  war.  Er  bezeichnet  auch 
zunächst  gar  nicht  bestimmte  Männer,  sondern  eben  nur  die 
Gesamtheit  derjenigen,  die  vom  Könige  zu  seineu  intimen  Be- 
ratungen berufen  zu  werden  pflegten.  ,,Der  Erzbischof  von 
Canterbury"  wird  nicht  mehr  zur  Kabale  hinzugezogen",  heißt 
es  im  Dezember  1667.  Erst  nach  einigen  Jahren  ist  man 
darauf  verfallen,  in  dem  Namen  ,,Cabal"  die  zu  einem  Worte 
zusammengefügten  Anfangsbuchstaben  der  fünf  einflußreichsten 
Minister    zu    sehen.     Daß  man  aber  nun  auch,   sozusagen  im 


^)  Pepys  Diary  ed.  Braybrooke  3,  288.  Die  Bemerkung  des  Heraus- 
gebers 4,  240,  daß  hier  der  Name  wohl  zum  ersten  Male  vorkomme,  ist  nach 
dem  Gesagten  nicht  zutreffend.  —  In  einem  eigentümlichen  Irrtum  befindet 
sich  Hatschek  (Englisches  Staatsrecht  II  25  ff.),  wenn  er  eine  der  Ursachen, 
die  zur  Kabinettsbildung  geführt  haben,  in  der  Tatsache  zu  finden  meint, 
daß  im  Privy  Council  seit  der  Zeit  der  Stuarts  nie  wirklich  beraten  wurde. 
Die  hierfür  herangezogene  Publikation  (Notes  which  passed  at  Meetings  of 
the  Privy  Council  between  Charles  IE  and  the  Earl  of  Clarendon,  1660 — 1667. 
London  1896.  Roxburghe  Club  129.)  gibt  die  Zettelchen  wieder,  welche 
während  der  Sitzungen  des  Privy  Council  zwischen  Karl  IT.  und  seinem 
Minister  Clarendon  ausgetauscht  wurden,  und  deren  Entstehung  darauf  be- 
ruhte, daß  „private  oral  conversation"  verpönt  war,  was  einfach  heißt,  daß 
man  nicht  während  der  Verhandlungen  Privatgespräche  führen  sollte,  wie  es 
z.  B.  im  Parlamente  immer  unbeanstandet  geschah.  Die  kleinen,  hier  wieder- 
gegebenen schriftlichen  Gespräche  beziehen  sich  in  vielen  Fällen  auf  Dinge,  die 
mit  der  Tagesordnung  der  Versammlung  nichts  zu  tun  hatten.  Oder  der  König 
erbittet  sich  von  dem  Minister  auf  diesem  privaten  Wege  einen  Wink  für  seine 
Führung  der  Beratung.  So  könnte  z.  B.  das  Gespräch  p.  23  zu  verstehen 
sein.  Daß  in  den  Versammlungen  des  Privy  Council  in  jener  Zeit  geredet 
und  debattiert  wurde,  ist  ganz  unzweifelhaft.  Es  ist  auch  wohl  die  Meinung 
aller  Verfassungshistoriker.  Sie  pflegen  ja  gerade  im  Gegensatz  zu  der  alten 
Bedeutung  des  Privy  Coimcil  darauf  hinzuweisen,  daß,  seit  der  Ausbildung  des 
Kabinetts,  das  Privy  Council  nur  noch  Formalitäten  erledige.  (Vgl.  z.  B.  Todd 
Parliameutary  Government  dtsch.  II  48.)  Daß  auch  unter  Karl  II.  im  Privy 
Council  noch  Verhandlungen  mit  oft  sehr  langen  Reden  gehalten  wurden, 
zeigt  z.  B.  das  Blatt  p.  50,  wo  König  und  Minister  halb  scherzhaft  sich 
darüber  unterhalten,  ob  es  nicht  möglich  sei,  zwei  Mitglieder,  von  denen 
noch  lange  Reden  zu  erwarten  seien,  zum  Abendessen  hinauszuschicken,  um 
das  eben  schwebende  Geschäft  noch  an  diesem  Abend  erledigen  zu  können. 


554      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

hellen  Lichte  der  Zeitgeschichte,  hierin  den  Ursprung  des 
Namens  erblicken  wollte,  zeigt  nur,  ^de  rasch  die  Entstehung 
der  historischen  Legende  dem  Ereignis  zu  folgen  vermag. 

Genug,  auch  Karl  IL  fand  es  ebenso  untunHch,  mit  dem 
schwerfälligen  Apparat  des  Privy  Council  auszukommen,  wie  es 
schon  den  Königen  vor  der  Revolutionsepoche  erschienen  sein 
mag^).  Immerhin  hat  auch  er  sich  noch  einmal  förmlich  zur 
Regierung  durch  das  Privy  Council  bekannt.  Es  geschah  im 
Jahre  1679,  als  Sir  William  Temple,  der  berühmte  Staatsmann 
und  Schriftsteller,  aufgefordert  wurde,  einen  Plan  für  die  Neu- 
einrichtung der  Regierung  zu  entwerfen  2).  Er  folgte  dem  Wunsche 
des  Königs  und  meinte,  aus  einem  richtig  zusammengesetzten 
und  in  seiner  Mitgliederzahl  beschränkten  Privy  Council,  trotz 
allem  die  Behörde  machen  zu  können,  mit  der  es  sich  regieren 
lasse.  Worin  er  die  Schäden  des  bisherigen  Geheimen  Rates 
erblickte  und  wie  überhaupt  bisher  regiert  worden  war,  ergibt 
sich  am  deutlichsten  aus  der  Ansprache,  die  der  König  an  das 
aufzulösende  Privy  Council  halten  ließ  ^).  Er  würde  sich,  heißt 
es,  seiner  Ratschläge  noch  häufiger  bedient  haben,  ,,wenn  nicht 
die  große  Mitgliederzahl  dieses  Council  der  Geheimhaltung  und 
schnellen  Erledigung  der  Geschäfte,  wie  sie  in  großen  Fragen 
oft  notwendig  seien,  im  Wege  gestanden  hätte.  Dadurch  war 
er  seit  vielen  Jahren  gezwungen,  eine  kleinere  Zahl  von  Ihnen 
in  einem  auswärtigen  Ausschuß  (foreign  Committee)  zu  vereinigen, 
zuweilen  sogar  die  Ratschläge  einiger  weniger  einzuholen".  Man 
sieht,  es  ist  ein  offenes  Zugestehen  der  bisher  geübten  Regie- 
rungsweise durch  ein  Kabinett.  Und  dann  folgt  sogar  die  treu- 
herzige Erklärung,  daß  der  König  mit  diesem  System  schlechte 
Erfahrungen  gemacht  habe,  ,,daß  starke  Eifersucht  und  Unzu- 
friedenheit unter  seinen  Untertanen  geweckt  worden  seien  und 
dadurch  Krone  und  Regierung  in  einen  Zustand  versetzt,  der 
sie  zu  schwach  erscheinen  lasse  gegenüber  den  daheim  und 
von  auswärts  drohenden  Gefahren". 


*)  Als  es  sich  1678  darum  handelte,  daß  das  Unterhaus  den  König  er- 
suchen sollte,  seinen  Bruder,  den  Herzog  von  York,  aus  seiner  Umgebung 
und  seinem  Rate  zu  entfernen,  ward  eine  unbestimmte  Ausdrucksweise  (from 
the  king's  person  and  Councils)  gewählt,  die  wohl  mehr  als  nur  die  Teil- 
nahme am  Privy  Council  andeuten  soll.     Pari.  Hist.  4,  1026  ff. 

-)  Die  Sache  ist  ausführlich  dargestellt  bei  Blauvelt,  The  Development 
of  Cabinet  Government  in  England.     New  York  1902.     p.  64  ff. 

^)  Sie  ist  mitgeteilt  bei  Temperley,  Inner  and  Outer  Cabinet  and 
Privy  Council,  1679—1783.     Engl.  Hist.  Rev.  XXVII,  684—5. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabiuettsreg'ieruno'  in  England.      555 

Das  neue  Privy  Council  sollte  nicht  mehr  als  30  Mitglieder 
enthalten,  die  Hälfte  davon  würden  die  höchsten  Würdenträger 
sein,  durch  ihr  Amt  dazu  berufen.  Zehn  Männer  vom  Adel 
und  fünf  Commoners  würden  die  Zahl  voll  machen.  Also  ein 
Versuch,  aus  den  hohen  Staatsbeamten,  den  Ressortchefs,  zu- 
sammen mit  einer  kleinen  Anzahl  von  Mitgliedern  beider  Häuser, 
den  Rat  des  Königs  zusammenzusetzen.  Mit  aller  Feierlichkeit 
ward  die  neue  Einrichtung  ins  Leben  gerufen.  Karl  II.  trat 
selbst  vor  das  Parlament,  damit  es  aus  seinem  eigenen  Munde 
das  Geschehene  vernehme^).  ,,Ich  bin  entschlossen,  mich  in 
allen  wichtigen  und  ernsten  Fragen,  nächst  der  Hilfe  meines 
großen  Rates  im  Parlament,  (an  den  ich  mich  häufig  wenden 
werde),  von  diesem  Privy  Council  beraten  zu  lassen." 

Dennoch  scheiterte  der  ganze  klug  ersonnene  Plan.  30  Mit- 
gheder  waren  für  die  Handhabung  der  Exekutive  immer 
noch  zu  viel,  und  auch  mit  der  Ernennung  kleinerer  Aus- 
schüsse aus  dem  Privy  Council  für  besondere  Zwecke  war  nicht 
viel  geholfen.  Da  Männer  der  verschiedenen  Richtung  unter 
den  30  waren  —  denn  man  hatte  allen  Parteien  gefallen 
wollen  —  so  fehlte  es  an  der  inneren  Harmonie.  Bald  hatte 
sich  wieder  ein  enger  Kreis  von  drei,  dann  vier  Männern  zu- 
sammengefunden, deren  Ratschlägen  der  König  folgte,  und  es 
entbehrt  nicht  einer  gewissen  .Komik,  daß  auch  Sir  William 
Temple  sich  darunter  befand:  So  endete  der  letzte  Versuch, 
das  Privy  Council  zum  Sitz  der  Exekutive  zu  machen  mit 
einem  Triumph  des  Kabinettssystems. 


Vollends  war  dies  die  Zeit,  da  mit  den  neu  aufkommenden 
Namen  der  Whigs  und  Tories  auch  die  Gegensätze  der  Parteien 
im  politischen  Leben  schärfer  als  bisher  hervorzutreten  be- 
gannen. Sie  strebten  darnach,  jede  mit  Ausschluß  der  andern, 
die  Regierung  an  sich  zu  reißen  und  die  Gegner  daraus  zu 
verdrängen.  Nimmermehr  konnte  sich  ein  solches  Spiel  der 
Kräfte  innerhalb  des  nach  Stand  und  Würden  seiner  Mitglieder 
zusammengesetzten  Privy  Council  entfalten.  So  verschwindet 
denn  das  Kabinett  nicht  mehr.  Denn  auch  die  ,, glorreiche 
Revolution"  von  1688  und  die  Thronbesteigung  des  Oraniers 
bilden  in  der  Geschichte  des  Kabinetts  keine  Epoche.  Daß  es 
als  regelmäßig  funktionierende  Behörde  unter  Wilhelm  HL  be- 
standen  hat,   ist  nicht  zweifelhaft.     Es  handelt  sich  dabei  um 


0  Pari.  Eist.  IV.  1122—3. 


556      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

einen  jeweils  abgeschlossenen  Kreis  von  hohen  Staatsbeamten. 
Aber  auch  anderen  kann  das  Recht  verliehen  werden,  an  den 
Sitzungen  des  Kabinetts  teilzunehmen.  Ein  solcher  Minister 
ohne  Portefeuille  ist  Lord  Normanby,  der  sich  einmal  beklagt, 
als  er  zu  einer  Konferenz  nicht  herangezogen  worden  ist  und 
dem  darauf  feierlich  versichert  werden  muß,  daß  es  sich  in 
dem  gegebenen  Falle  gar  nicht  um  eine  Kabinettssitzung  ge- 
handelt habe.  Denn  das  Recht,  zu  einer  solchen  berufen  zu 
werden,  wird  ihm  noch  einmal  vom  Könige  förmlich  gewähr- 
leistet i).  Ist  also  der  Bestand  des  Kabinetts  außer  Zweifel,  so 
ist  freilich  seine  Macht  unter  Wilhelm  III.  nicht  allzu  groß. 
Denn  die  Regierung  dieses  Königs  hat  viel  von  einem  persön- 
lichen Regiment  an  sich.  Er  beruft  das  Kabinett  oder  auch, 
wie  der  Fall  Normanbys  zeigt,  einen  nach  seinem  Beheben 
zusammengesetzten  Kreis  hoher  Würdenträger.  In  der  aus- 
w^ärtigen  Politik  entscheidet  er  fast  allein,  oder  richtiger  gesagt, 
er  verständigt  sich  schriftlich  und  mündlich  mit  dem  hollän- 
dischen Ratspensionarius  Heinsius,  über  die  Haltung  der  beiden 
Mächte,  deren  Oberhaupt  er  ist.  Auch  die  innere  Politik  über- 
läßt er  keineswegs  den  Ministern,  ja,  er  zieht  sie  gar  nicht 
immer  in  sein  Geheimnis.  Als  er  1701,  da  der  spanische 
Erbfall  den  Weltteil  in  Flammen  zu  setzen  drohte,  sich  nach 
Holland  begab,  hatte  niemand  vor  seiner  Abreise  ergründen 
können,  ob  er  eigentlich  das  Parlament  aufzulösen  beabsichtige 
oder  nicht.  Als  er  zurückkehrte,  schritt  er  zur  Auflösung,  und 
zwar  gegen  den  Rat  seiner  Minister,  von  denen  nun  einige  aus 
dem  Amte  traten  2). 

Es  ist  derselbe  Eindruck  des  stark  persönlichen  Regiments, 
den  auch  eine  größere  Reihe  von  Kabinettsprotokollen  gewährt, 
die   uns   aus   den   Jahren  1694—97    erhalten    sind 3).     Nur   ein 


^)  Vgl.  Anson,  The  Law  and  Custom  of  the  Constitution.  Vol.  II  The 
Crown.     Part.  I  (1907)  p.  85. 

")  „The  new  Ministry  struggled  hard  against  a  Dissolution,  and  when 
they  saw  the  King  resolved  on  it,  some  of  them  left  his  Service."  Burnet, 
History  of  his  own  Time.     U  (1734)  295. 

')  Hist.  Manuscr.  Commission.     Report  on  the  Mss at  Montagu 

House,  Whitehall.  Vol.  II,  Part.  1,  1903.  Der  Herausgeber  hat  sich  offenbar 
nicht  entschließen  können  (vgl.  Introd.  p.  XVI.),  die  fraglichen  Schriftstücke 
als  Kaljincttsprotokolle  zu  bezeichnen  und  gibt  ihnen  regelmäßig  die  irre- 
führende Überschrift  „Privy  Council  Minutes".  Aber  wenn  schon  Form  und 
Inhalt  über  den  Charakter  der  Schriftstücke  keinen  Zweifel  lassen,  so  hat  in 
einem  Falle  (j).  85)  Shrewsbury  selbst  noch  auf  der  Rückseite  den  Vermerk 
„Cabinet  Council  at  Whitehall"  angebracht.     Ein  anderes  Mal  (p.  323,  April  5, 


Michael,  Die  Entstehimp:  der  Kabinettsreofierunof  in  England.      557 

Zufall  konnte  dieses  historische  Material  schaffen  und  auf  die 
Nachwelt  bringen.  Eines  der  Mitglieder  des  Kabinetts,  der 
Herzog  von  Shrewsbury,  machte  sich  Aufzeichnungen  über  den 
Inhalt  von  mehr  als  fünfzig  Sitzungen.  Daß  diese  Nieder- 
schriften —  sie  sind  sämtlich  in  Shrewsburys  Handschrift  er- 
halten —  nur  für  ihn  selbst  bestimmt  waren,  geht  aus  der  oft 
persönlichen  Fassung  derselben  hervor.  ,,Ich  verlas  die  Nach- 
richten, die  ich  mit  den  beiden  letzten  Posten  aus  Frankreich 
empfangen  hatte  ^)."  ,,Ich  schlug  vor,  Duplikate  der  Befehle 
für  Sir  George  Rooke  zu  Lande  durch  Frankreich  zu  schicken-)." 
,, Seine  Majestät  trägt  mir  auf,  an  die  Admiralität  zu  schreiben^)." 
Niemand  außer  dem  Schreiber  wird  damals  Einsicht  in  diese 
Protokolle  genommen  haben,  auch  gewiß  nicht  der  König,  für 
den  sie  in  ganz  anderer  Form  hätten  abgefaßt  werden  müssen. 
Wie  sie  hier  vorliegen,  sind  es  die  Notizen,  die  Shrewsbury 
sich  während  der  Sitzungen  machte,  um  die  Beschlüsse  genau 
festzuhalten,  die  er  als  Staatssekretär  hernach  auszuführen  hatte. 
Die  Sitzungen  finden  häufig  statt,  wahrscheinlich  mehr  als  ein- 
mal in  jeder  Woche,  gelegentlich  sogar  mehrere*)  an  einem 
Tage.  Gewöhnlich  nahmen  sechs  bis  zehn  Kabinettsmitglieder 
an  den  Sitzungen  teil,  aber  manchmal  geht  die  Zahl  der  An- 
wesenden bis  auf  vier  herunter.  Der  König  ist  in  diesen  Jahren 
regelmäßig  auf  lange  Monate  nach  dem  Festlande  gereist,  wo 
der  Krieg  gegen  Ludwig  XIV.  ihn  beschäftigte.  Unterdessen 
regierte  1694  in  England  kraft  eigenen  Rechts  seine  Gattin  — 
denn  wir  befinden  uns  in  der  Zeit  des  Doppelkönigtums  von 
Wilhelm  und  Maria. 


1696)  wird  ausdrücklich  beschlossen,  eine  die  Verwaltung  Irlands  betreffende 
Frage  demnächst  im  Kabinettsrate  zu  untersuchen  (to  be  examined  at  the 
Cabinet  Council).  Diese  Untersuchung  findet  ein  jiaar  Wochen  später  wirk- 
lich in  einer  dieser  Sitzungen  statt,  deren  Protokoll  vom  Herausgeber  doch 
wieder  als  „Privy  Council  Minutes"  bezeichnet  wird.  Übrigens  findet  sich 
in  demselben  Bande  (p.  29)  auch  ein  wirkliches  Protokoll  aus  dem  Privy 
Council  und  ferner  (p.  60 — 62)  vier  Protokolle  über  Sitzungen  von  Aus- 
schüssen (in  den  Schriftstücken  selbst  als  „Committee"  bezeichnet)  des  Privy 
Council.  —  Endlich  muß  noch  bemerkt  werden,  daß  der  Ausdruck  Cabinet 
Council  damals  und  noch  auf  lange  nur  auf  einen  ia  Gegenwart  des  Souveräns 
tagenden  Ministerrat  angewendet  wurde. 

')  a.  a.  0.  p.  291. 

-)  a.  a.  0.  p.  300. 

*)  a.  a.  0.  p.  241. 

■*)  a.  a.  0.  p.  182,  183,  wo  es  sich  freilich  nicht  um  6  Sitzungen  handelt, 
wie  Anson  11,  Part.  I,  p.  86  meint,  sondern  wahrscheinlich  nur  um  2. 


558      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

In  den  beiden  nächsten  Jahren  —  Maria  ist  im  Januar  1695 
gestorben  —  wurde  unter  dem  Namen  der  Lords  Justices  eine 
Regentschaft  der  bedeutendsten  Würdenträger  eingesetzt.  So 
kommen  die  einheithchen  Kabinettssitzungen  für  diese  Zeit  in 
Wegfall.  Die  Beschlüsse  der  Regentschaften  sind  in  offiziellen 
Protokollen  aufgezeichnet.  Unterdessen  schweigen  die  Minutes 
von  Shrewsbury,  um  wieder  einzusetzen,  wenn  mit  der  Rück- 
kehr des  Königs  die  Regentschaft  erlischt  und  aus  den  Lords 
Justices  wieder  einfache  Kabinettsmitglieder  werden. 

Was  die  Königin  Maria  betrifft,  so  kennt  man  ihre  völlige 
Zurückhaltung  in  der  Politik.  Sie  ist  niemals  im  Ministerrate 
erschienen.  Wo  ihr  Name  einmal  erwähnt  wird,  etwa  in  dem 
Sinne,  daß  gewisse  Befehle  von  ihr  ausgehen  sollen,  da  handelt 
es  sich  um  eine  bloße  Form.  Ganz  das  Gegenteil  ist  beim 
Könige  der  Fall.  Wenn  er  in  England  weilt,  so  findet  er  sich 
oft,  wenn  auch  nicht  regelmäßig  im  Ministerrate  ein.  Und 
hier  gibt  er  wirklich  die  Entscheidung.  Er  teilt  gewissermaßen 
seine  Befehle  aus,  er  teilt  seine  Hoffnungen  und  Befürchtungen 
mit.  Shrewsbury  fragt  ihn,  was  er  dem  Admiral  Sir  George 
Rooke  schreiben  solle.  Der  König  antwortet,  er  werde  es  ihm 
bis  zum  nächsten  Dienstag  mitteilen  i).  Er  eröffnet  seinen 
Ministern  im  Kabinette,  daß  unter  gewissen  Umständen  ein 
Geschwader  nach  Cadix  gesandt  werden  müsse,  und  es  geschieht 
so  2).  Einmal  hat  man  sich,  da  der  König  nicht  anwesend  ist, 
dahin  verständigt,  daß  man  seinen  Willen  hören  müsse,  von 
wem,  wenn  er  im  Auslande  sei,  die  Admirahtät  ihre  Befehle 
erhalten  solle.  Da  tritt  der  Monarch  herein  und  gibt  sofort 
die  gewünschte  Entscheidung^). 

Man  wird  freihch,  um  diese  imperatorische  Haltung 
Wilhelms  HL  seinem  Kabinette  gegenüber  zu  verstehen,  sich 
auch  erinnern  müssen,  daß  es  sich  meistens  in  diesen  Jahren 
um  Maßregeln  für  die  Zwecke  des  Krieges  handelt,  und  daß 
kein  anderer,  so  wie  Wilhelm  selbst,  das  Ganze  überschaute, 
er,  der  von  England  nach  Holland  hin  und  wieder  reiste  und 
die  Hilfskräfte  beider  Länder  kannte.  In  der  Tat  bilden  mili- 
tärische und  maritime  Maßnahmen  und  Fragen  der  auswärtigen 
Politik  den  Hauptstoff  für  die  Arbeit  des  Kabinetts,  in  geringerem 
Maße  auch  die  Angelegenheiten  von  Irland  und  Schottland 
und  einzelne  Fragen  der  inneren  Politik. 

')  a.  a.  0.  p.  278. 

')  a,  a.  0.  p.  326,  378. 

")  a.  a.  0.  p.  182. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierunof  in  England.      559 

Aber  so  imentbehrlicli  es  zu  sein  scheint,  noch  hat  das 
Kabinett  seinen  Platz  im  enghschen  Verfassungsleben  nicht  so 
sicher  eingenommen,  daß  er  ihm  nicht  noch  hätte  streitig 
gemacht  werden  können.  Das  Vorhandensein  eines  regierenden 
Kollegiums  ohne  gesetzliche  Anerkennung  blieb  noch  für  einige 
Jahre  eine  schwache  Stelle  in  der  Staatsverwaltung.  So  waren 
denn  auch  einmal,  im  Jahre  1692,  die  Angriffe,  welche  eigentlich 
der  PoHtik  Wilhelms  III.  und  den  bis  dahin  unbefriedigenden 
Erfolgen  seiner  Kriegführung  galten,  an  die  Adresse  des  hieran 
in  der  Tat  unschuldigen  Kabinetts  gerichtet  worden.  Man 
sagt  sich,  der  König  kann  kein  Unrecht  tun,  aber  wo  sind  die 
verantwortlichen  Ratgeber  zu  finden,  wenn  das  Privy  Council 
nicht  mehr  die  den  König  beratende  Körperschaft  ist?  Das 
Verlangen  des  Parlaments  nach  einer  deutlich  erkennbaren 
verantwortlichen  Stelle,  führt  also  zu  einem  Angriff  gegen  das 
Kabinett.  Anknüpfend  au  eine  Stelle  der  Thronrede,  in  welcher 
der  König  seiner  Hoffnung  auf  Rat  und  Hilfe  seitens  des 
Parlaments  Ausdruck  gegeben  hatte,  beschäftigte  sich  das  Unter- 
haus im  November  1692  einige  Tage  lang  mit  der  allgemeinen 
politischen  Lage.  Man  findet  sie  nicht  befriedigend.  ,,Es 
muß",  erklärte  ein  Redner,  mit  vielsagender  Unbestimmtheit, 
,,eiue  gewisse  Ungeschicklichkeit  in  beratenden  Körperschaften 
vorhanden  sein."  Der  nächste  Redner  wird  deutlicher.  ,,Ich 
kenne  keinen  großen  Rat  der  Nation  als  uns  hier  und  das 
Privy  Council,  nicht  aber  eine  geheime  Kabale."  ,,Mir  ist  es 
nicht  zweifelhaft",  sagt  der  nächste,  der  König  sieht  ein,  daß 
er  auf  Anraten  eines  Kreises  von  Privatmännern,  der  hier 
soeben  als  Kabale  bezeichnet  worden  ist,  Fehler  begangen  hat 
und  sich  nun  an  uns  um  Rat  wendet:  gewiß  das  Beste,  was 
er  tun  kann."  Ein  paar  Tage  später  wird  die  Verhandlung 
fortgesetzt  mit  der  Erörterung  eines  Antrages,  den  König,  im 
Hinblick  auf  die  Mißerfolge  seiner  Regierung,  zu  ersuchen,  er 
möge  in  Zukunft  Männer  von  anerkannter  Ehrenhaftigkeit  und 
Treue  in  seinem  Dienste  verwenden.  ,,Das  wird  nicht  geschehen," 
fuhr  ein  Abgeordneter  mit  brutaler  Offenheit  heraus,  ,,so  lange 
wir  einen  Kabinettsrat  besitzen."  Man  erschrickt  förmlich,  als 
das  Wort  gefallen  ist.  ,, Kabinettsrat,"  erläutert  der  Nächste, 
,,ist  ein  Wort,  daß  in  unseren  Gesetzbüchern  nicht  vorkommt. 
Wir  haben  es  früher  nicht  gekannt,  wir  haben  es  für  einen 
Spottnamen  gehalten."  Nichts  Schlimmeres  könne  geschehen, 
als  wenn  man  unterscheiden  müsse  zwischen  Kabinett  und 
Privy  Council.     Und  wieder  ein  anderer  führt  aus,    die  herr- 


560      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

sehende  Praxis  sei,  daß  alle  Fragen  bereits  im  Kabinett  ent- 
schieden sind,  ehe  sie  nur  dem  Privy  Council  vorgelegt  werden. 
Dieses  müsse  seine  Zustimmung  zu  Maßregeln  geben,  für  die 
es  nicht  einmal  die  Gründe  erfahre.  Nach  solchen  Reden 
wurde  endhch  der  erwähnte  Antrag  zum  Beschlüsse  erhoben, 
der  freilich  das  verfassungsrechtliche  Thema  unberührt  ließ,  aber 
doch  in  allgemeiner  Form  einen  deutlichen  Tadel  gegen  die 
Minister  des  Königs  enthielt^).  Ein  modernes  englisches  Mini- 
sterium würde  schon  nach  einem  solchen  verhüllten  Tadels- 
votum überhaupt  nicht  im  Amte  bleiben  können.  Unter 
Wilhelm  III.  zieht  man  diese  Konsequenz  noch  nicht. 

Der  eigentliche  Sinn  dieses  eifervollen  Ankämpfens  gegen 
das  Kabinett  ist  unter  Wilhelm  III.  immer  in  dem  Wunsche 
des  Parlaments  zu  erblicken,  der  Politik  des  Königs  ihren  per- 
sönlichen Charakter  zu  nehmen,  eine  stärkere  Kontrolle  ihr 
gegenüber  ausüben  zu  können.  Allzu  ernst  waren  die  erwähnten 
verfassungsrechtlichen  Erörterungen,  also  die  Bedenken  gegen 
das  Kabinett,  wohl  auch  gar  nicht  gemeint.  So  ist  denn  auch 
der  stärkste,  scheinbar  siegreiche  Angriff,  der  gegen  das  Kabinett 
geführt  wurde,  nicht  allzu  tragisch  aufzufassen.  Er  erfolgte 
bei  dem  Beschlüsse  der  sogenannten  Act  of  Settlement  von  1701, 
welche  die  Thronfolge  des  Hauses  Hannover  zu  sichern  bestimmt 
war.  Dem  Hauptinhalt  des  Gesetzes  waren  eine  Reihe  von 
Artikeln  angehängt,  die  sich  als  künftige  Beschränkungen  der 
Krone,  wenn  dieselbe  in  den  Besitz  der  neuen  Dynastie  über- 
gegangen sein  würde,  gaben.  Das  Gesetz  erhielt  den  völlig 
irreführenden  Titel  ,,An  Act  for  the  further  Limitation  of  the 
Crown,  and  better  Securing  the  Rights  und  Liberties  of  the 
Subject."  Die  nebensächlichen  Punkte  waren  zur  Hauptsache 
erhoben  worden.  Der  König  fühlte  sich  schwer  gekränkt,  denn 
in  jedem  dieser  Punkte  schien  ein  Tadel  ausgesprochen,  der 
ihn  persönlich  treffen  mußte.  Schon  darin  lag  etwas  derartiges, 
daß  es  sich  um  Vorkehrungen  für  den  Fall  handelte,  daß  der 
König  ein  Fremder  war,  daß  England  ohne  Zustimmung  des 
Parlaments  nicht  in  einen  fremden  Krieg  hinein  gezogen  werden 
dürfe,  daß  der  künftige  Träger  der  Krone,  ohne  Erlaubnis  des 
Parlaments  das  Reich  nicht  verlassen  dürfe,  daß  kein  Fremder 
ein  Amt  bekleiden  solle.    Mit  allen  diesen  Verfügungen  schienen 

0  Pari.  Hist.  5,  722—34.  Als  Zeugnisse  für  die  Anschauungen  der 
Zeit  behalten  die  mitgeteilten  Eeden  ihre  Bedeutung,  auch  wenn,  wie  es  den 
Anschein  hat,  die  zunächst  nur  im  Committee  of  the  whole  House  angenommene 
Adresse  gar  nicht  im  Plenum  zum  Beschluß  erhoben  wurde. 


Michael,   Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      561 

Mißbräuche  der  gegenwärtigen  Regierung  getroffen  zu  sein. 
Die  Bestimmung  aber,  die  uns  hier  am  meisten  interessiert, 
besagte,  daß  unter  der  neuen  Dynastie  die  Regierungsgeschäfte 
im  Privy  Council  entschieden  werden  sollten,  und  daß  in  jedem 
Falle  die  Zustimmung  der  einzelnen  Räte  durch  ihre  Unter- 
schrift kenntlich  werden  solle.  Es  war  die  förmliche  Al)schaffung 
des  Kabinetts,  das  übrigens  nicht  einmal  genannt  zu  werden 
brauchte,  ja  auch  nicht  gut  genannt  werden  konnte,  da  es  ja 
rechtlich  gar  keinen  Bestand  hatte.  Bei  den  Lords,  erzählt 
Burnet  1),  waren  die  Anhänger  des  Gesetzes  froh,  dasselbe  in 
Sicherheit  gebracht  zu  sehen.  Sie  hielten  sich  mit  der  Prüfung 
der  Beschränkungen  nicht  lange  auf  und  meinten,  man  werde 
schon  noch  Gelegenheit  finden,  sich  diese  Punkte  besser  zu 
überlegen.  Gewiß  war  dies  auch  die  Meinung  Wilhelms  III., 
als  er  die  bitteren  Pillen,  die  ihm  gereicht  wurden,  willig  ver- 
schluckte, dem  ganzen  Gesetze  seine  Zustimmung  gab  und  das- 
selbe durch  eine  feierliche  Gesandtschaft  der  Kurfürstin  Sophie 
von  Hannover,  als  der  Erbin  des  Thrones,  mitteilte. 

Ich  glaube  wirklich  nicht,  daß  die  Gesetzgeber  von  1701 
es  noch  für  möglich  hielten,  dem  Privy  Council  wieder  die  Re- 
gierung des  Landes  aufzuzwingen.  Die  erwartete  Gelegenheit, 
jene  Klausel  rückgängig  zu  machen,  bot  sich  einige  Jahre 
später  —  es  war  1706,  Wilhelm  III.  war  gestorben  und  seine 
Schwägerin  Anna  Stuart  saß  auf  dem  Throne  —  und  zwar  bei 
der  Beratung  eines  Regentschaftgesetzes,  als  man  sich  wieder  mit 
der  schwierigen  Thronfolgefrage  beschäftigte.  Das  neue  Gesetz 
erklärte  die  Klausel  vom  Privy  Council  für  null  und  nichtig. 
Niemand,  sagten  die  Zeitgenossen,  hätte  unter  diesem  Gesetze 
Privy  Counseller,  aber  auch  niemand  hätte  Minister  werden  mögen. 

Mit  der  Aufhebung  der  erwähnten  Klausel  war  der  letzte 
Angriff  auf  das  Kabinett  als  Behörde  siegreich  abgewehrt.  Ja, 
man  kann  fast  sagen,  seine  Position  war  nun,  nachdem  die 
Gesetzgebung  die  schon  ausgesprochene  Beseitigung  wieder 
zurückgenommen  hatte,  fester  als  zuvor.  Die  Entfernung  jener 
Klausel  wirkte  fast  wie  eine  gesetzliche  Sanktionierung  des 
Kabinetts,  und  Angriffe  auf  seinen  Bestand  sind  meines  Wissens 
seit  dem  Jahre  1706  auch  nie  mehr  erfolgt. 

Jedermann  ist  nun  von  seiner  UnentbehrUchkeit  überzeugt. 
Und  doch  nennt  man  es  vorläufig  noch  nicht  gern  in  offizieller 
Sprache.     Es  geschah  zum  ersten  Male  im  Jahre  1711,  als  im 


^)  History  of  his  own  time.     11  271. 
Zeitschrift  für  Politik.   6.  36 


562       Michael,   Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

Oberhause  eine  Adresse  an  die  Königin  beschlossen  wurde,  um 
sie  zu  bitten,  sie  möge  durch  einen  oder  den  andern  der  Lords 
von  ihrem  Kabinettsrat  dem  Hause  Schriftstücke  über  die  spani- 
schen Verhältnisse  vorlegen  lassen  i). 

Als  aber  am  selben  Tage  ein  Tadelsvotum  gegen  die  Re- 
gierung über  den  Krieg  in  Spanien  beantragt  wurde,  erhob 
sich  eine  lange  Debatte"^)  über  die  Frage,  ob  man  dabei  vom 
Kabinette  oder  einfach  von  den  Ministern  reden  solle.  Einige 
finden  den  Ausdruck  ,,Cabinet  Council"  unzulässig.  Ihn  aber 
durch  ,,Privy  Council"  zu  ersetzen,  kam  schon  niemandem 
mehr  in  den  Sinn.  Lord  Peterboraugh  prägte  das  Scherzwort, 
Privy  Counsellors  seien  Leute,  die  alles  wissen  sollten  und  doch 
gar  nichts  \\dssen.  Schon  ist  das  Wort  ,, Ministers"  für  ,,Cabinet 
Council"  vorgeschlagen.  Aber  der  ehemalige  Lord -Kanzler 
Cowper  findet  beides  gleich  schlecht.  ,,]\Iinisters"  sei  ein  ganz 
unbestimmter  Ausdruck,  „Cabinet  Council"  aber  der  englischen 
Rechtssprache  völlig  fremd.  Der  Herzog  von  Argyle  sagt: 
,,Ich  denke,  es  sind  wohl  alle  Minister  im  Kabinettsrat,  aber 
nicht  alle  Mitglieder  des  Kabinettsrats  sind  Minister".  Da  ein 
Tadelsvotum  beabsichtigt  war,  so  waren  diejenigen,  die  es 
treffen  sollte,  mit  dem  Wort  ,, Ministers"  immer  noch  deuthcher 
bezeichnet  und  so  wurde  denn  dieses  statt  des  verfänghchen 
,, Cabinet  Council"  gewählt.  Man  sieht  zugleich  aus  diesem 
Vorgange,  daß  zwar  das  Kabinett  als  Zentralbehörde  bereits 
jedermann  deutlich  vor  Augen  stand,  daß  aber  von  einer  kollek- 
tiven Verantwortlichkeit  desselben,  wie  sie  heute  besteht,  noch 
gar  keine  Rede  war. 

Übrigens  ist  auch  das  Privy  Council,  das  nun  immer  melir 
zur  RoUe  einer  die  wichtigsten  Regierungshandlungen  nur  formell 
sanktionierenden  Behörde  herabsinkt,  einmal  noch,  1714,  beim 
Sterben  der  Königin  Anna,  gleichsam  aus  der  Versenkung 
emporgestiegen.  Die  der  hanuövrischen  Thronfolge  unbedingt 
ergebenen  Whigs,  die  in  dem  Tory- Kabinett  Bolingbrokes 
keinen  Platz  hatten,  haben  höchst  geschickt  aus  den  für  den 
Fall  des  Thronwechsels  im  Privy  Council  zu  vollziehenden 
Formalitäten  eine  große  politische  Aktion  gemacht.  Sie  haben 
damit  den  befürchteten  Streich  zur  Berufung  des  stuartischen 
Prätendenten  im  voraus  vereitelt.  Das  Priv}^  Council  hat  da- 
mals über  das  Schicksal  Englands  entschieden  s). 

')  Pari.  Hist.  VI  970.  -)  Pari.  Hist.  VI  971  ff. 

')  Vgl.  W.  Michael,  Engl.  Gesch.  im  18.  Jahrhundert  I  363  ff.; 
R.  Schmidt.   Allg.  Staatslehre  11  745.     Daß  es  sich  um  eine  Versammlung 


Michael,   Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      563 

Zum  letzten  Male.  Denn  von  nun  an  hat  es  sich  nie  mehr 
über  den  Rang  einer  vornehmen,  aber  politisch  ganz  bedeutungs- 
losen Körperschaft  erhoben. 

Halten  wir  einen  Augenblick  inne,  um  über  den  Stand  der 
Entwicklung  unter  Königin  Anna  zu  möglichster  Klarheit  zu 
kommen,  so  haben  wir  erfahren,  wie  das  Fortbestelien  des 
Kabinetts  dadurch  gesichert  erschien,  daß  man  auf  seine  Be- 
seitigung auf  gesetzgeberischem  Wege  ausdrücklich  verzichtete. 
Wir  finden  denn  auch  in  den  Korrespondenzen  der  Zeit  eine 
Fülle  von  Notizen  über  die  Abhaltung  von  Kabinettssitzungen. 
Cowpers  Diary  ^)  erwähnt  sie  zahlreich  besonders  in  den  Jahren 
1705  und  1706,  in  den  Briefen  Bolingbrokes  2)  begegnen  wir 
ihnen  immer  wieder,  und  sie  scheinen  erst  seltener  zu  werden, 
als  im  letzten  Jahr  seiner  Amtsführung  der  Gesundheitszustand 
der  Königin  ihr  die  Teilnahme  an  den  Sitzungen  verbietet. 

Unzweifelhaft  ist  also  der  um  die  Herrscherin  versammelte 
Kabinettsrat  die  höchste  Stelle,  von  der  aus  das  Land  regiert  wird. 
Königin  Anna  legt  Wert  darauf,  alle  wichtigen  Entscheidungen 
persönlich  zu  treffen.  Sie  scheint  einmal  geglaubt  zu  haben, 
daß  BoUngbroke  zu  selbständig  verfahren  sei,  denn  wir  lesen 
seine  Entschuldigung  3) :  „Gott  soll  mich  davor  bewahren,  an 
einem  Befehl  Ew.  Majestät  ein  Wörtchen  zu  ändern  ohne  Ihre 
besondere  Erlaubnis.  Ich  bitte  um  Vergebung,  wenn  ein  irr- 
tümlicher Ausdruck  in  meinem  Briefe  einen  solchen  Verdacht 
wecken  konnte."  Sie  versammelt  die  Minister  regelmäßig;  eine 
Zeitlang  ist  der  Sonntag  für  die  Sitzungen  bestimmt.  ,,Ich 
nehme  an",  heißt  es  ein  paarmal  in  Briefen  Bohngbrokes, 
„Ew.  Majestät  wird  das  Kabinett  wie  gewöhnlich  am  Sonntag 
abhalten  wollen -i)."  Der  Charakter  dieser  Sitzungen  ist  darnach 
völlig  klar.  Sie  finden  im  Palaste  der  Königin  statt,  und  ohne 
ihre  Anwesenheit  würde  es  wohl  auch  niemandem  eingefallen 
sein,  von  einer  Sitzung  des  Kabinetts  zu  reden. 


des  Privy  Council,  und  nicht  des  Kabinetts,  ^\^e  oft  behauptet  worden  ist, 
handelt,  ist  inzwischen  nach  dem  Privy  Council  Register  im  Privy  Council 
Office  noch  bestätigt  durch  Anson  a.  a.  0.  ü.  Part.  I.  p.  %  und  Teraperley 
i.  d.  Engl.  Hist.  Rev.  XXVH  686. 

')  Herausgeg.  in  den  Veröffentlichungen  des  Roxburghe  Club.    Bd.  49. 
Eton  1833. 

-)  Bolingbroke,  Letters  and  Correspondence.    4  vols.    Lond.  1798. 

=*)  Bol.  Letters  I  372. 

*)  ibid.  IV  29^  302. 

36* 


564      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

Aber  damit  kommt  man  nicht  mehr  aus.  Der  kränkelnde 
Zustand  der  Königin,  die  man  nicht  zu  oft  mit  Kabinetts- 
sitzungen belästigen  darf,  machen  eine  freie  Verständigung 
der  Minister  unter  sich  zu  einer  regelmäßig  eintretenden  Not- 
wendigkeit. Auch  wurde,  bei  der  mittelmäßigen  Begabung  der 
Fürstin,  ihre  leitende  Hand  wohl  nicht  allzu  schmerzlich  ver- 
mißt. Wir  lesen  denn  auch  in  der  Tat  von  sehr  häufigen 
Versammlungen  der  entscheidenden  PersönHchkeiten  außerhalb 
des  Palastes.  ,,Committee  of  Council"  ist  dafür  der  gewöhnliche, 
bei  Bolingbroke  wie  bei  Cowper  gebrauchte  Ausdruck.  Auch 
wenn  Bolingbroke  von  den  ,, Lords  of  the  Committee"  oder  den 
,, Lords  of  the  Council"  spricht,  handelt  es  sich  offenbar  um 
denselben  Kreis  hoher  Würdenträger.  Wie  aber  verhält  sich 
nun  dieses  ,, Committee  of  Council"  zum  Kabinette?  Der  Name 
scheint  anzudeuten,  daß  es  sich  um  einen  Ausschuß  des  Privy 
Council  handelt.  Im  Ernste  wird  man  sich  die  Sache  aber 
nicht  so  vorstellen  dürfen.  Das  bedeutungslos  gewordene  Privy 
Council  konnte  nicht  mehr  durch  eigenen  Beschluß  die  zu  so 
hoher  Aufgabe  berufene  Körperschaft  zusammensetzen.  Der 
Auftrag  muß  von  der  Krone  ausgegangen  sein.  Die  natür- 
lichste Annahme  ist  darnach  die,  daß  es  sich  eben  um  dieselben 
Männer  handelt,  welche  sich  sonst  unter  den  Augen  der  Königin 
im  Kabinette  zu  versammeln  pflegten.  Die  Kabinettsmitglieder 
waren,  wie  wir  wissen,  ein  jeweils  geschlossener  Kreis.  Wir 
hätten  es  also,  nach  dieser  Logik  der  Tatsachen,  am  wahrschein- 
lichsten auch  im  Committee  of  Council  wieder  mit  denselben 
Leuten  zu  tun.  Oder  das  Committee  of  Council  ist,  wie  eine 
spätere  Zeit  gesagt  hätte,  das  Kabinett  ohne  den  Souverän. 
Und  welche  andere  Behörde  sollte  es  sonst  wohl  sein?  Über 
die  Bedeutung  eines  der  Ausschüsse  des  Privy  Council,  selbst  des 
alten  Foreign  Committee,  ist  es  sichtlich  weit  hinausgewachsen. 
Es  ist  recht  eigentlich  die  Körperschaft,  in  der  die  Politik 
gemacht,  das  Für  und  Wider  der  Beschlüsse  erwogen  wird,  die 
man  der  Königin  im  Kabinette  zu  unterbreiten  beabsichtigt. 
Noch  von  anderer  Seite  hören  wir,  daß  die  Mitglieder  des 
Kabinettsrats  sich  auch  außerhalb  des  Kabinetts,  nämlich  im 
Amtszimmer  des  ältesten  Staatssekretärs,  zu  versammeln  und 
die  Geschäfte  für  die  Arbeit  im  Kabinett  vorzubereiten  pflegen  i), 

*)  Relation  sur  la  Cour  d'Angleterre  et  l'etat  du  Conseil  da  la  Reine. 
Par  le  Duc  d'Aumont.  „Les  membres  de  ce  Conseil  s'assemblent  dans  le 
bureau  du  plus  ancien  secretaire  d'Estat,  et  \k  ils  preparent  ce  qu'ils  ont  h 
rapporter  devant  la  Reyne."     Abgedruckt  bei  F.  Salomon,   Geschichte  des 


^lichael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      565 

eine  Notiz,  die  uns  noch  zum  Überfluß  die  volle  Sicherheit 
gibt,  daß  es  sich  bei  dem  Committee  of  Council  einfach  um 
das  ohne  den  Souverän  versammelte  Kabinett  handelt.  Denn 
wenn  es  anders  wäre,  ständen  wir  vor  der  auffallenden  Tat- 
sache, daß  Bolingbroke  diese  Versammlungen  niemals  erwähnt, 
dagegen  regelmäßig  das  Committee  of  Council  als  die  den 
Kabinettssitzungen  vorarbeitende  Körperschaft  ^). 

Auch  die  Art,  wie  gelegentlich  diesem  Committee  selbst 
schon  vorgearbeitet  ist,  deutet  auf  seine  hohe  zentrale  Stellung. 
Wegen  eines  mit  Frankreich  geplanten  Handelsvertrages  nimmt 
Bolingbroke  zunächst  an  einer  Sitzung  im  Handelsamt  (Board 
of  Trade)  teil.  Er  hofft  alles  so  weit  klargestellt  zu  haben, 
daß  die  Lords  of  the  Council,  wenig  Arbeit  mehr  zu  tun  finden 
werden,  wenn  sie  sich  morgen  versammeln,  um  sich  mit  dem 
französischen  Handelsvertrage  zu  befassen  2).  Ein  paar  Tage 
später  ist  die  Sache  umgekehrt:  Bolingbroke  empfängt  die 
Minister  von  Frankreich  und  Sizilien  am  Abend,  nachdem 
morgens  eine  Sitzung  des  Committee  of  Council  war,  d.  h.  nach- 
dem hier  die  Politik  festgelegt  ist^),  —  natürlich  vorbehaltlich 


letzten  Ministeriums  Königin  Annas  von  England.  Gotha  1894.  p.  356. 
Vgl.  dazu  auch  die  Anmerkung,  die  mit  ihrer  j^räzisen  Umschreibung  des 
Tatbestandes  viel  mehr  das  Richtige  trifft  als  die  Formulierung  bei  Anson 
n,  I  p.  93—94. 

')  Daß  im  Committee  of  Council  nicht  immer  sämtliche  Mitglieder  des 
Kabinetts  anwesend  waren,  ist  wohl  anzunehmen,  wie  ja  auch  im  Kabinett 
selbst  nicht  stets  alle  zu  erscheinen  pflegten.  Daß  es  sich  aber  bei  dem 
Committee  um  eine  von  dem  Kabinett  grundsätzlich  verschiedene  Körper- 
schaft, etwa  um  einen  engeren  Ausschuß  desselben  handelte,  der  die  ]\Iacht 
der  Königin  und  des  Kabinetts  in  Schranken  zu  halten  suchte,  vennag  ich 
schon  deshalb  nicht  zu  glauben,  weil  die  Quellen  gar  keinen  Anhalt  dafür 
geben.  Als  ein  fernerer  Beweis  dafür,  daß  man  sich  unter  dem  Committee 
of  Council  unter  Anna  einfach  das  Kabinett  ohne  die  Königin  zu  denken 
hat,  mag  gelten,  daß  dieselbe  Ausdrucksweise  in  diesem  Sinne  auch  unter 
Georg  I.  noch  gebraucht  wird.  So  ist  z.  B.  in  einem  Briefe  Townshends 
an  den  König  vom  November  1716  an  einer  Stelle  (Coxe,  Walpole  11  p.  130) 
von  „Committee  of  Council",  an  einer  andern  (ib.  p.  133)  von  den  „Lords 
of  the  Committee"  die  Rede.  In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  das 
Kabinett,  die  für  den  König  bestimmte  französische  Übersetzung  sagt  beide 
Male  „Les  seigneurs  du  conseil".  Und  der  Brief  stammt  aus  einer  Zeit,  wo 
der  König  (oder  in  seiner  Abwesenheit  der  Prinz  von  Wales)  noch,  wie  wir 
sehen  werden,  persönlich  an  den  Kabinettssitzungen  teilzunehmen  pflegten. 
Man  hat  sich  eben  noch  nicht  daran  gewöhnt,  den  ohne  den  König  ver- 
sammelten Ministerrat  als  Kabinett  zu  bezeichnen  und  wählt  dafür  lieber 
noch  die  aus  der  Zeit  der  Vorgängerin  geläufigen  Namen.    Vgl.  auch  S.  572. 

-)  Bolingbroke  Letters  IV  396.  ')  ibid.  407. 


566       Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

der  im  Kabinette  zu  erteilenden  Einwilligung  der  Königin. 
Aber  man  rechnet  gewöhnlich  im  voraus  mit  dieser  Einwilligung, 
obwohl  es  ihr  ja  frei  steht,  sich  im  Kabinette  noch  einmal  die 
Gründe  und  Gegengründe  vortragen  zu  lassen  und  sich  von 
der  Berechtigung  der  vorläufig  im  Committee  of  Council  ge- 
faßten Beschlüsse  zu  überzeugen.  ,,Kein  Zweifel",  schreibt 
Bolingbroke  einmal^),  ,,die  Königin  wird  dem  Protokoll  des 
Committee  of  Council  zustimmen."  Vier  Tage  später  hören 
wir,  daß  die  Zustimmung  erfolgt  ist  2).  Aber  auch  im  Kabinett 
ist  —  besonders  wohl  in  den  ersten  Jahren  der  Regierung 
Annas  —  oft  noch  ernst  gearbeitet  worden.  Cowper  notiert 
eine  Kabinettssitzung  im  Dezember  1705,  in  der  die  Admiralität 
zugezogen  wurde,  um  über  den  Zustand  der  Flotte  zu  berichten. 
Als  man  dann  zur  auswärtigen  Politik  überging,  ward  ein 
wichtiger  Brief  aus  Kopenhagen  vom  Staatssekretär  mit  leiser 
Stimme  verlesen,  damit  der  noch  am  Tische  sitzende  Prinz 
Georg  von  Dänemark,  der  Gemahl  der  Königin  und  Leiter  der 
Flotten  Verwaltung,  ihn  nicht  höre^). 


Mit  dem  Thronwechsel  von  1714  lassen  die  neueren  Ver- 
fassungshistoriker meistens  einen  neuen  Abschnitt  in  der  Ge- 
schichte des  Kabinetts  beginnen,  ja  sie  finden,  dieser  Zeitpunkt 
bedeute  die  Entstehung  des  Kabinetts  in  seiner  modernen  Gestalt. 
,,Die  Thronbesteigung  Georgs  L",  sagt  Anson*),  „bezeichnet 
den  Beginn  der  Kabinettsregierung,  wie  wir  heute  den  Ausdruck 
verstehen."  Diese  Anschauung  wird  mit  der  Tatsache  begründet, 
daß  der  neue  König  nicht  mehr  im  Kabinette  erschien.  Er 
überläßt  diese  Behörde  sich  selbst.  Aber  sie  kann  die  leitende 
Persönlichkeit  nicht  entbehren.  Den  Platz,  der  durch  das  Aus- 
scheiden des  Souveräns  frei  geworden  ist,  nimmt  fortan  der 
Premierminister  ein.  Dieser  aber  gelangt  in  seine  Stellung  als 
der  Vertrauensmann  des  Parlaments,  oder  genauer  derjenigen 
Partei,  die  eben  die  Majorität  im  Unterhause  besitzt.  ,,Die 
Parteiregierung",  sagt  Lord  Acton^),  ,,ward  im  Jahre  1714 
errichtet,  d.  h.  das  System  einer  jeweils  durch  das  Kabinett 
regierenden  Partei." 


')  ibid.  II  8. 

-)  ibid.  II  16. 

^)  Cowper'  Diary.     Roxburghe  Club  49  p.  23. 

*)  a.  a.  0.  U,  I  p.  97. 

^)  Zitiert  bei  Anson  11,  I  p.  97. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      567 

Die  hier  angedeutete  Auffassung  preßt  nun  in  Wahrheit 
eine  Entwicklung,  die  sich  über  einen  längeren  Zeitraum  er- 
streckt, in  einen  einzigen  Moment  zusammen.  Um  bei  unserm 
Thema  zu  bleiben,  so  haben  wir  es  vor  allem  mit  dem  Aus- 
scheiden des  Souveräns  aus  dem  Kabinette  zu  tun.  In  dieser 
Frage  ist  nun  der  Thronwechsel  von  1714  überhaupt  nicht 
epochemachend  gewesen.  Das  Bild,  das  sich  aus  einer  großen 
Reihe  von  Notizen  in  den  Gesandtschaftsberichten,  aus  hand- 
schriftlich erhaltenen  Protokollen  und  anderem  archivalischen 
Material  gewinnen  läßt,  ist  vielmehr  das  folgende. 

Der  König  aus  deutschem  Geschlecht  hat  die  ehrliche  Ab- 
sicht gehabt,  ganz  nach  der  Weise  seiner  Vorgängerin  zu  regieren. 

Sein  Gesandter  in  London,  Graf  Bothmer,  hat  ihm  vor 
seiner  Überfahrt  nach  England  durch  seine  Berichte  und  Rat- 
schläge —  immer  im  Einvernehmen  mit  den  Häuptern  der 
Whigpartei  —  die  Richtlinien  vorgezeichnet,  in  denen  der  mit 
englischen  Dingen  völlig  unbekannte  Monarch  sich  bei  der 
Bildung  seiner  Regierung  halten  möge.  Vom  Kabinett  ist  in 
einem  Gutachten  einmal  die  Rede,  wobei  Bothmer  nach  der  hier 
gewählten  Ausdrucksweise  unzweifelhaft  der  Meinung  ist,  Georg  I. 
werde  den  Kabinettsrat  in  Person  abhalten.  Er  rät  ihm  nur, 
es  nicht  sogleich  zu  tun.  ,, Einen  Cabinet  Rath  zu  halten,  würde 
S.  M.  zu  vermeiden  haben,  so  lange  das  alte  Ministerium  noch 
bestehet."  Dagegen  sei  die  Neuernennung  der  höchsten  Hof- 
und  Staatsbeamten  allerdings  das  erste  und  wichtigste  Geschäft, 
das  dem  Monarchen  nach  seiner  Ankunft  in  England  obliege, 
,,weil  aus  denenselben  der  Cabinet  Rath  formiret  wird,  auf  welchen 
die  Führung  des  Regiments  vornehmlich  ankommt"  ^). 

Der  König  hat  den  Rat  befolgt.  Die  sämtlichen  Minister- 
posten sind  neu  besetzt  worden.  Und  am  8.  Oktober  1714, 
neun  Tage  nach  der  Ankunft  des  Herrschers  auf  englischem 
Boden  hat  Bothmer  in  sein  Tagebuch  geschrieben:  ,, Heute  haben 
I.  May.  zum  ersten  Male  Cabinet  Rath  gehalten"  2). 

Es  ist  auch  nicht  das  letzte  Mal  gewesen.  So  spärlich 
die  Notizen  sind,  die  über  die  Anwesenheit  des  Königs  im 
Kabinett  Kunde  geben,    so   genügen   sie  doch,   um  von  einem 


')  „Des  Grafen  von  Botmar  Gutachten,  wie  Seine  Königl.  Maj.  (ieorg 
bei  dero  Ankunft  in  Engelland  dero  Hofstaat  und  Ministerium  würden  ein- 
richten können."  Pauli,  Aktenstücke  zur  Thronbesteigung  des  Welfenhauses 
in  England  (Zeitschr.  des  hist.  Vereins  f,  Niedersachs.  1883,  S.  84  ff.). 

^)  Bothmers  Diarium  8.  Okt.  1714.     Staatsarchiv  Hannover. 


568       Michael,   Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

regelmäßigen  Brauche  zu  reden.  Kenner  englischer  Verhältnisse, 
wie  der  preußische  Resident,  der  jüngere  Friedrich  Bonet,  einer 
war  —  er  hatte  die  Zeiten  Wilhelms  III.  und  der  Königin  Anna 
gesehen,  und  seit  fast  zwei  Jahrzehnten,  zweimal  wöchentlich 
seine  Berichte  nach  Berhn  gesandt  —  wunderten  sich  nicht 
etwa  darüber,  daß  der  König  noch  fortfahre,  Kabinettssitzungen 
abzuhalten,  sondern  daß  er  es  überhaupt  dulde,  daß  die  Mit- 
gheder  des  Kabinetts  sich  so  oft  auch  ohne  ihn  versammeln. 
Bonet  spricht  von  dem  Kabinettsausschusse  (Comite  du  Conseil 
du  Cabinet),  der  als  eine  mißbräuchliche  Einrichtung  schon 
unter  der  Königin  Anna  infolge  ihrer  Unkenntnis  der  Geschäfte 
bestand,  und  den  zu  beseitigen  Georg  I.  bisher  nicht  vermocht 
habe.  ,,Die  Unkenntnis  der  Sprache  und  der  Geschäfte  hat  es 
ihm  nicht  gestattet".  So  geschieht  es  denn,  daß  die  ISIinister 
in  diesen  Ausschußsitzungen  alles  entwerfen  und  dem  Könige 
im  Kabinette  nur  das  Ergebnis  ihrer  Beratungen  mitteilen. 
Ihm  aber,  findet  Bonet,  entgeht  dadurch  die  Gelegenheit  zu 
vielseitiger  Orientierung,  er  sieht  nur  die  Schale,  nicht  den 
Kern  der  Dinge  und  die  Minister  steigen  in  ihrer  Macht  ^). 

Wir  sehen  hier  eine  Praxis,  die  von  derjenigen  der  Vor- 
gängerin gar  nicht  verschieden  ist.  Die  Minister  finden  sich 
entweder  unter  den  Augen  des  Königs  im  Kabinett  zusammen 
—  und  in  strengerem  Sprachgebrauche  reden  die  Quellen  der 
Zeit  auch  nur  in  diesem  Sinne  vom  Cabinet  Council  —  oder 
der  König  bleibt  ihrem  Kreise  fern,  und  alsdann  hat  man  es 
mit  dem  von  Bonet  sogenannten  Comite  du  Conseil  du  Cabinet 
zu  tun,  das  wir  nun  auch  unbedenklich  mit  dem  von  Boling- 
broke  so  oft  genannten  Committee  of  Council  identifizieren 
dürfen.  Mit  anderen  Worten:  Die  politischen  Entscheidungen 
werden  in  den  ersten  Zeiten  Georgs  I.  zwar  nach  wie  vor  durch 
den  König  im  Kabinette  gefaßt.  Aber  die  Hauptarbeit  wird 
allmählich  immer  mehr  durch  die  in  Abwesenheit  des  Monarchen 
sich  versammelnden  Mitgheder  des  Kabinetts  geleistet. 


')  „Cette  ignorance  de  la  langue  et  des  affaires  n'a  pas  permis  au  Roi 

d'abolir  un  conseil  que  l'ignorance  des  affaires  dans  le  chef  a  introduit  sous 

le  regne  presedent.    Je  veux  parier  du  Comite  du  Conseil  du  Cabinet,   coni- 

pose   des  principaux   officiers,   qui  s'assemblent  en   l'absence  du  Roi,  et  qui 

minutent  toutes   choses,  pour  rendre    compte  ensuite  du  resultat  ä  S.  M.  en 

Conseil.     Cette  necessite  oü  S.  M.  est  de  continuer  ce  Conceil  le  prive  d'une 

infinite   de  lumieres,  ne   lui  fait  voir  que  l'ecorce    de   plusieurs   affaires    et 

f.                    1             ■    -             ■  ■  .       u  ry         .    T,     •  1 .           24.  Dez.  1714 
confere  un  grand  pouvoir  a  ses  mimstres.     Bonets  Bericht  vom  — — = Ti^v^ 

Geh.  Staatsarchiv.  *•  J^"'  ^^^^ 


]ilichael.  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      5H9 

Natürlich  besteht  daneben  auch  das  Privy  Council  in  seiner 
alten  Wesenheit  fort.  An  die  Stelle  der  etwa  80  Mitglieder 
aus  der  Zeit  der  Königin  Anna,  trat  das  neuformierte  Privy 
Council,  mit  38  Mitgliedern,  deren  Zahl  bald  auf  50  erhöht 
wurde  ^).  An  der  politischen  Bedeutungslosigkeit  dieser  Körper- 
schaft hat  sich  nichts  geändert.  ,  Hier  werden  nicht  politische 
Beschlüsse  gefaßt,  sondern  nur  zu  formellem  Ausdruck  gebracht. 
Im  Priv}^  Council  gelegentlich  zu  erscheinen  war  eine  Pflicht, 
der  der  Monarch  sich  am  wenigsten  entziehen  konnte.  Wir 
hören  denn  auch-),  wie  er  wenige  Tage  nach  seiner  Ankunft 
die  Versammlung  daselbst  abgehalten,  wie  er,  der  Landessprache 
unkundig,  seine  englisch  aufgesetzte  Rede  ,,aus  dem  Sack  ge- 
zogen", und  sie  dem  Lord-Kanzler  überreicht  hat,  der  sie  statt 
seiner  verlas. 

Wenn  wir  also  an  der  Regelmäßigkeit  der  von  Georg  I. 
persönlich  abgehalteneu  Kabiuettssitzungen  für  die  ersten  Jahre 
seiner  Regierung  nicht  zu  zweifeln  brauchen,  so  sind  es  freilich 
bis  in  das  Jahr  1716  hinein  nur  vereinzelte  Notizen,  die  als 
direkte  Zeugnisse  gelten  können.  Aber  man  ward  auch  nicht 
viel  anderes  zu  erwarten  haben.  Die  fortlaufende  intime  Korre- 
spondenz eines  der  großen  Mithandelnden,  wie  vordem  diejenige 
Bolingbrokes,  liegt  aus  diesen  Jahren  nicht  vor.  Offizielle 
Protokolle  werden  nicht  geführt.  Man  versammelt  sich  im 
,, Kabinette",  d.  h.  im  Palaste  des  Königs.  Niemand  findet 
etwas  Bemerkenswertes  darin,  die  Minister  beim  Monarchen 
ein-  und  ausgehen  zu  sehen.  Die  Öffentlichkeit  nimmt  nicht 
Notiz  davon,  selbst  die  Diplomaten  reden  in  ihren  Berichten 
so  wenig  darüber,  wie  von  anderen  täglichen  Gepflogenheiten 
des  Hofes.  Nur  gelegentlich  geschieht  es  einmal,  daß  über 
eine  besonders  dramatische  Szene,  die  sich  hier  abspielt,  auch 
über  den  engsten  Kreis  der  Teilnehmenden  hinaus  etwas  bekannt 
wird,  oder  daß  eine  mündlich  fortgepflanzte  Tradition  zufällig 
schriftlich  fixiert  ^ärd. 

So  ward  im  Jahre  1715,  in  der  Zeit  des  jakobitischen 
Aufstandes,  in  einer  Kabinettssitzung  die  Verhaftung  Wyndhams 
beschlossen,  obwohl  sein  Schwiegervater,  der  Herzog  von  Somer- 
set, der  selbst  Mitglied  des  Kabinetts  war,  sich  für  ihn  verbürgt 
hatte.      Dem    Staatssekretär    Townshend,    der    den    peinlichen 


^)  Ein  Verzeichnis  derselben  gibt  E.  Pauli.  Aktenstücke  zur  Thron- 
besteigung des  Welfenhauses  in  England.  (Ztschr.  d.  hist.  Vereins  f.  Nieder- 
sacbs.  1883.    S.  79,  80.) 

-)  Hoffmanns  Bericht  vom  5.  Okt.  1714.    Wiener  Staatsarchiv. 


570      Michael,  Die  Entstehuno:  der  Kabinettsregierun^  in  England. 

Beschluß  herbeigeführt  hatte,  drückte,  als  man  auseinander- 
ging, dem  König  die  Hand  mit  den  Worten:  „Sie  haben  mir 
heute  einen  großen  Dienst  geleistet."  Wir  hören  ferner  von 
einer  Sitzung,  die  im  Januar  1716,  als  der  Prätendent  in  Schott- 
land gelandet  war,  stattgefunden  haben  muß,  bei  der  die  Minister 
dem  Könige  einstimmig  im  Kabinette  den  Rat  erteilten,  aus- 
wärtige Truppen  in  seine  Dienste  zu  nehmen,  um  der  drohenden 
Gefahr  zu  begegnen  ^). 

In  den  Berichten  des  österreichischen  Residenten  in  London  -) 
wird  ein  weiterer  Fall  erwähnt,  der  sich  einige  Wochen  später 
zutrug,  als  der  Aufstand  bewältigt,  über  sechs  Lords,  die  daran 
beteiligt  waren,  das  Todesurteil  gefällt  und  vom  Könige  unter- 
zeichnet war.  Da  hat  sich  wenige  Tage  vor  dem  Termin  der 
Hinrichtung  die  unglückliche  Gattin  des  einen  der  Verurteilten, 
die  jugendliche  Gräfin  Derwentwater,  auf  offener  Straße  dem 
Monarchen  zu  Füßen  geworfen,  um  seine  Gnade  anzuflehen. 
Georg  L,  tief  erschüttert,  brachte  nur  ein  paar  höfliche  Worte 
des  Bedauerns  hervor.  Auf  den  Abend  aber  beruft  er  die 
Minister  zu  einem  Kabinettsrat.  Sie  sollen  ihm  raten,  ob  er 
Gnade  üben  könne  oder  nicht.  Wir  erfahren  noch,  daß  die 
Sitzung  zwei  Stunden  dauerte  und  daß  alle  Mitglieder  des 
Kabinetts  mit  der  einzigen  Ausnahme  des  Grafen  Nottingham 
die  Begnadigung  widerrieten. 

Es  ist  leicht  einzusehen,  wieso  gerade  dieser  Fall  über- 
liefert ist.  Die  Szene  auf  der  Straße  ist  von  vielen  gesehen 
worden.  Das  Schicksal  des  jungen  Grafen  Derwentwater  er- 
regte allgemeine  Teilnahme.  Nottingham  hat  noch  an  anderer 
Stelle,  nämlich  im  Oberhause,  einen  Versuch  zur  Rettung  des 
Verurteilten  gemacht.  So  waren  diese  Vorgänge  in  aller  Munde, 
und  wenigstens  den  Diplomaten  entschleiert  sich  auch  einmal 
das  Geheimnis  einer  dramatisch  bewegten,  entscheidungsvollen 
Kabinettssitzung. 

Haben  wir  es  bisher  nur  mit  vereinzelten  Nachrichten  aus 
der  Regierungszeit  Georgs  I.  über  die  Teilnahme  des  Königs 
an  den  Kabinettssitzungen  zu  tun  gehabt,  so  kommen  wir  mit 
dem  Juli  1716  plötzlich  in  eine  viel  günstigere  Lage.  Jetzt 
handelt  es  sich  freilich  nicht  um  den  König  selbst,  sondern 
um  den  Prinzen  von   Wales,    seinen   Sohn,    der,    während   der 

')  Coxe,  Walpole  I  71,  11  116.  Diese  beiden  Fälle  sind  schon  bei 
Blauvelt  a.  a.  0.  p.  177  ff.  hervorgehoben. 

")  Holfiiianns  Bericht  vom  3.  März   1716.     Wiener  Staatsarchiv. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      571 

Vater  iu  Hannover  war,  die  Regierung  des  Landes  als  Statt- 
halter führte.  Hier  besitzen  wir  nun  in  den  Briefen,  welche 
der  in  England  verbleibende  Staatssekretär  Methuen  an  seinen 
Kollegen  Stanhope  in  Hannover  gerichtet  hat,  ein  prächtiges 
Material^)  für  unsere  Frage,  eine  solche  Fülle  von  Angaben 
über  das  Kabinett  und  die  Stellung  des  Prinzen  Statthalters, 
daß  plötzlich  das  Dunkel  aufgehellt  erscheint  und  wir  beinalie 
alles  erfahren,  was  wir  zu  wissen  wünschen. 

So  vernehmen  wir  denn,  wie  nach  dem  Eintreffen  der 
Nachricht,  daß  der  König  in  Holland  gelandet  sei  —  solange 
er  auf  dem  Meere  war,  galt  noch  die  Fiktion,  daß  er  sein  Reich 
nicht  verlassen  habe  —  wie  aber  nunmehr  das  Patent  des 
Prinzen  im  Privy  Council  verlesen  wurde.  Alsdann  hat  er  eine 
fast  dreistündige  Sitzung  im  Kabinettsrat  abgehalten.  Und 
nun  häufen  sich  die  Stellen  iu  den  Briefen,  die  alle  dasselbe 
besagen,  nämlich,  daß  der  Prinz  persönlich  den  Kabinettsrat 
abhält.  ,,Wir  gaben  seiner  Königlichen  Hoheit  im  Kabinetts- 
rate einen  Bericht  von  dem,  was  gestern  geschehen  ist,  und  er 
geruhte  unser  Verhalten  zu  bilhgen."  ,,Die  Schriftstücke  wurden 
seiner  Königlichen  Hoheit  vorgestern  im  Kabinettsrate  vor- 
gelegt." ,,Die  Sache  ist  gestern  im  Kabinettsrate  vor  seine 
Könighche  Hoheit  gekommen."  Alle  diese  Meldungen  reden 
eine  deutliche  Sprache.  Auch  in  seinem  Sommeraufenthalt  in 
Hampton  Court,  und  hier  vorzüglich,  versammelt  der  Prinz 
Statthalter  die  Minister  um  sich.  ,,Der  Kourier",  heißt  es  ein- 
mal 2),  ,,soll  fortan  am  Freitag  abgehen,  weil  der  für  den 
Kabinettsrat  bestimmte  Tag,  solange  Seine  Könighche  Hoheit 
in  Hampton  Court  weilt,  der  Donnerstag  ist."  In  der  Tat 
hören  wir  von  einer  ganzen  Reihe  solcher  Donnerstagskabinetts- 
sitzungen. Der  Prinz  ist  immer  dabei.  Oder  sagen  wir  lieber, 
der  Ausdruck  ,,Cabinet  Council"  wird  auch  noch  jetzt  nur  dann 
angewendet,  wenn  er  zugegen  ist. 

Andererseits  bestätigt  uns  auch  diese  Korrespondenz  wieder 
die  Tatsache,  daß  die  zum  Kabinett  gehörigen  Minister  sich 
nach  wie  vor  auch  ohne  den  Souverän  —  an  dessen  Stelle  wir 
hier  den  Prinzen  Statthalter  erblicken  —  zu  versammeln  pflegen. 
Sie  arbeiten  die  zu  entscheidenden  Fragen  vorläufig  durch, 
einigen  sich  wohl  meistens  auch  schon  über  den  Beschluß,  den 


')  State  Papers,  Domestic  Entry  Books  267.    Publ.  Record  Office. 
-)  Methuen  an  Stanhope.     London  7.  Aug.  1716.    St.  F.,  Dom.  Entry 
Books  267.     Rec.  Off. 


572       Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregiening  in  England. 

sie  unverbindlich  fassen,  um  ihn  dem  Prinzen  zur  Bestätigung 
im  Kabinette  vorzulegen.  In  manchen  Fällen  verweist  der 
Prinz  eine  Frage  ausdrücklich  zur  Erwägung  an  die  „Lords  of 
the  Committee"  —  denn  dies  ist  immer  noch  die  (uns  aus 
Bolingbrokes  Korrespondenz  geläufige)  Bezeichnung  des  Minister- 
kollegiums ohne  den  König  —  d.  h.  er  will,  bevor  er  entscheidet, 
nicht  nur  den  Ressortchef,  sondern  die  Gesamtheit  der  Minister 
darüber  gehört  haben.  Dann  pflegen  sie  wohl  das  Resultat 
ihrer  Beratung  in  ein  Protokoll  zusammenzufassen,  das  sie  dem 
Prinzen  im  Kabinette  vorlegen  und  das  durch  seine  Bestätigung 
den  Charakter  eines  Regierungsbeschlusses  erhält.  Auch  ein 
solches  Protokoll  ist  überliefert  i),  es  betrifft  die  Behandlung 
gefangener  Rebellen.  Die  Lords  of  the  Committee  empfehlen, 
drei  derselben  hinrichten  zu  lassen,  und  der  Prinz  macht  aus 
ihrem  Protokolle  einen  Befehl. 

Auch  eine  Verhandlung,  die  mit  dem  französischen  Ge- 
sandten D'Iberville  wegen  der  Hafenbefestigungen  von  Mardyck 
geführt  wird,  gewährt  einen  interessanten  Einblick  in  die  Ar- 
beitsweise des  Prinzen  Statthalters  und  des  Kabinetts.  Die  Ver- 
handlung zieht  sich  durch  etwa  drei  Wochen  hin,  sie  wird 
zuerst  mündlich,  dann  schriftlich  geführt.  An  drei  Donners- 
tagen wird  dem  Prinzen  im  Kabinett  der  jeweilige  Stand  der 
Sache  vorgetragen.  Am  ersten  Donnerstage  spricht  er  seine 
Billigung  der  von  den  beiden  Staatssekretären  dem  Franzosen 
gegenüber  beobachteten  Haltung  aus.  Am  zweiten  Donnerstage 
gibt  er  seine  Zustimmung  zu  einer  Note,  welche  die  Lords  of 
the  Committee  als  Antwort  auf  ein  von  D'Iberville  überreichtes 
Schriftstück  entworfen  haben.  Mit  anderen  Worten:  zwischen 
die  Aktion  der  Staatssekretäre  und  der  Entscheidung  im  Kabinett 
ist  dieses  Mal  noch  eine  Verweisung  an  das  Ministerkollegium, 
an  die  Lords  of  the  Committee  eingeschoben  worden.  Wegen 
einer  neuen  Antwort  D'Ibervilles  findet  eine  abermalige  Sitzung 
des  Committee  statt,  wobei  noch  einige  maritime  und  technische 
Fachleute  hinzugezogen  werden.  In  der  nächsten,  am  dritten 
Donnerstage,  stattfindenden  Kabinettssitzung  sind  der  Prinz  und 
die  Minister  der  Meinung,  daß  D'Iberville  seinen  letzten,  nur 
mündlich  gemachten  Vorschlag,  auch  noch  schriftlich  geben 
sollte.      Der    Staatssekretär    Methuen    verläßt    auf    Befehl    des 


0  Datiert  Whiteball,  Nov.  17,  171(5.  Als  Anwesende  werden  genannt: 
Lord  Chancellor,  Lord  Chamberlain,  Lord  Townshend,  Mr.  P.  Methuen,  Lord 
Steward,  Duke  of  Roxburghe,  Lord  Parker.  —  State  Papers  Dom.  Entry 
Books  267.     Rec.  Off. 


]\Iichael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      573 

Prinzen  die  Sitzung,  begibt  sich  zu  D'Iberville,  den  wir  uns 
gleichfalls  in  Hampton  Court  vorzustellen  haben,  kehrt  mit  dem 
unterzeichneten  Schriftstück  in  die  noch  andauernde  Sitzung 
zurück,  und  nunmehr  „war  es  die  Meinung  Seiner  Königlichen 
Hoheit  und  die  der  übrigen  Lords,  daß  in  der  jetzt  aufgestellten 
Alternative  S.  Maj.  selbst  entscheiden  möge."  In  diesem  Sinne 
wird  also  an  den  König  nach  Hannover  berichtet.  Trotz  der 
damit  drohenden  Verzögerung  gelingt  es  durch  weitere  Ver- 
handlung nach  wenigen  Tagen  einen  Abschluß  zu  erreichen. 
Die  Staatssekretäre  berichten  dem  Prinzen,  und  er  gibt  ihnen, 
ohne  die  Sache  noch  einmal  vor  das  Kabinett  zu  bringen,  den 
Auftrag  zur  Unterzeichnung  eines  dem  Resultate  der  Verhand- 
lung entsprechenden  Vertragsartikels.  In  der  nach  weiteren 
14  Tagen  stattfindenden  Donnerstagssitzung  des  Kabinetts  nimmt 
man  mit  Genugtuung  von  der  Tatsache  Kenntnis,  daß  der  König 
seine  Billigung  des  Geschehenen  ausgesprochen  hat. 

Fragen  wir  noch  einmal,  was  diese  Briefe  uns  für  unsere 
Untersuchung  so  wertvoll  erscheinen  läßt,  so  ist  es  die  nun 
unzweifelhafte  Tatsache,  daß  der  den  König  vertretende  Prinz 
von  Wales  während  des  Halbjahres  vom  Juli  1716  bis  in  den 
Januar  1717  hinein  ganz  regelmäßig  die  Minister  im  Kabinette 
um  sich  versammelt  hat.  Er  hält  also  den  Brauch  aufrecht, 
wie  Karl  II.  und  Jakob  IL,  Wilhelm  III.  und  Anna  ihn  geübt 
haben.  Wohl,  wird  man  einwenden,  der  Prinz,  aber  nicht  der 
König.  Aber  hätte  der  Prinz  Statthalter  es  wohl  so  treiben 
dürfen,  wenn  nicht  der  König,  an  dessen  Stelle  er  stand.  Ahn- 
liches tat?  Bei  der,  zwischen  Vater  und  Sohn  bestehenden 
Eifersucht  waren  ohnehin  die  Befugnisse  des  Statthalters  an 
allen  Ecken  und  Enden  beschnitten  worden.  Wie  hätte  er  es 
wagen  sollen,  in  so  persönlicher  Form  an  der  Regierung  teil- 
zunehmen, wie  hätten  die  Minister  solches  zugelassen,  wie  hätte 
man  so  in  aller  Unschuld  nach  Hannover  berichtet,  wenn  hier 
nicht  alles  der  herrschenden  Regel  entsprach? 

Sehen  wir  nun,  ehe  wir  weiter  gehen,  welche  Nachrichten 
wir  über  die  von  Georg  I.  befolgte  Praxis  ferner  noch  besitzen. 

Nach  seiner  Rückkehr  hat  der  König  zunächst  einige  Per- 
sonalveränderungen im  Ministerium  vorgenommen  und  sogleich 
—  etwa  eine  Woche  nach  seiner  Ankunft  hören  wir  wieder 
von  einer  Kabinettssitzung.  ,, Gestern  hat  sich",  schreibt  der 
österreichische  Resident  am  9.  Februar  1717  ^),  ,,das  dem  äußer- 

0  Bericht  Hoffmanns  vom  9.  Febr.  1717.     Wiener  Staatsarchiv. 


574      Michael.  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

liehen  Schein  nach  wieder  vereinigte  Ministerium  zum  erstenmal 
in  einer  Conferenz  versammlet,  auf  welche  der  König  anheut 
Cabinetrath  gehalten". 

Aber  nun  lassen  uns  die  Gesandschaftsberichte  auch  bald 
erkennen,  wie  der  König  den  guten  alten  Brauch,  die  Minister 
in  seinem  Kabinette  um  sich  zu  versammeln,  allmählich  fallen 
läßt.  Im  Sommer  1717,  als  Georg  I.  in  Hampton  Court  resi- 
diert, weiß  der  preußische  Resident  Bonet  noch  zu  berichten^), 
jetzt  solle  daselbst  regelmäßig,  und  zwar  an  jedem  Donnerstag 
um  die  Mittagszeit,  Kabinettsrat  gehalten  werden,  ,, während  es", 
fügte  er  hinzu,  ,,in  London  fast  nie  mehr  geschah,  geschweige 
denn,  daß  man  einen  festen  Tag  dafür  bestimmt  gehabt  hätte." 
Der  Donnerstag  ist  wohl  wieder  im  Hinblick  auf  die  am  Freitag 
übliche  Abfertigung  der  Kuriere  gewählt.  Statt  der  Mittags- 
stunde scheint  man  aber  die  Sitzungen  häufiger  auf  die  Abend- 
zeit verlegt  zu  haben.  Von  anderer  Seite  hören  wir,  daß  der 
Kanzler  ,, diese  abendlichen  Kabinettssitzungen  nicht  liebte", 
denn  es  ist  nicht  dafür  gesorgt,  daß  er  im  Palaste  übernachten 
kann.  Und  so  ganz  regelmäßig  wurden  sie  wohl  auch  nicht 
lange  abgehalten.  Zehn  Tage  nach  seiner  früheren  Mitteilung 
berichtet  Bonet,  der  König  werde  nunmehr  14  Tage  lang 
Egerer  (d.  h.  wohl  Karlsbader)  Wasser  trinken  und  während 
dieser  Zeit  weder  Audienzen  erteilen  noch  öffentlich  erscheinen, 
keinen  Kabinettsrat  abhalten  und  niemanden  zur  Tafel  ziehen. 
Auch  nach  der  Beendigung  dieser  Brunnenkur  ,, fährt  der  König 
fort,   ein   sehr  ruhiges  Leben  in  Hampton  Court  zu  führen  2)." 

Ich  glaube,  mit  der  Annahme  nicht  fehl  zu  gehen,  daß 
jene  Sommerwochen  des  Jahres  1717  in  Hampton  Court  den 
Zeitraum  darstellen,  innerhalb  dessen  der  hannövrische  König 
zum  letzten  Male  seine  Minister  regelmäßig  im  Kabinette  um  sich 
zu  versammeln  pflegte.  Denn  wenn  uns  auch  noch  fernerhin 
ein  paar  Notizen  begegnen  —  wir  werden  sie  gleich  mitteilen  — 
die  den  König  im  Kabinette  zeigen,  so  treten  sie  doch  in  einer 
Form  auf,  die  deutlich  beweist,   daß  von  einem  festen  Brauch 


')  „on  en  a  deja  parle  dans  le  conseil  de  cabinet,  qui  se  tiendra  dore- 
navant  regulierement  tous  les  jeudis  a  midi  ä  Hampton  Court,  au  Heu  qu'ici 
ä  Londi-es  il  ne  s'en  tenait  presque  jamais,  et  qu'il  n'y  avait  aucun  temjis 
marque  pour  cela."  Bericht  Bonets  vom  30.  Juli/lü.  Aug.  1717.  Geh.  Staats- 
arohiv. Hoff  mann  berichtet  schon  am  6.  Aug.  n.  St.  über  einen  in  Hamj)ton 
(Jourt  abgehaltenen  Kabinettsrat.     Wiener  Staatsarchiv. 

')  Bonets  Berichte  vom  9./20.  Aug.,  30.  Aug./lO.  Sept.  1717.  Geh.  Staats- 
archiv. 


Michael,  Die  Eutstehung  der  Kabinettsregiernng  in  England.      575 

nicht  mehr  die  Rede  sein  kann,  daß  es  sich  vielmehr  um  Aus- 
nahmen handelt.  Im  Dezeniher  1717,  nachdem  der  Hof  von 
Hampton  Court  nach  London  verlegt  war,  erhob  sich  bei  Ge- 
legenheit der  Taufe  eines  jüngst  geborenen  Prinzen  zwischen 
dem  Könige  und  dem  Thronfolger  ein  schwerer  Konflikt,  der 
dahin  führte,  daß  dem  letzteren  und  seinem  ganzen  Gefolge 
das  Erscheinen  bei  Hofe  untersagt  wurde.  In  diesen  aufgeregten 
Tagen  hat  der  König  zweimal  den  Kabinettsrat  berufen.  Man 
erkennt  aber  auch  das  Ungewöhnliche  der  Maßregel  —  und 
nur  darauf  kommt  es  hier  an  —  wenn  es  in  einem  zeit- 
genössischen Briefe  heißt  i),  der  König  solle  im  Kabinette  gesagt 
haben:  ,,Wenn  ich  in  Hannover  gewesen  wäre,  so  hätte  ich 
gewußt,  was  ich  zu  tun  habe.  Da  ich  aber  hierher  gekommen 
bin,  um  nach  den  Gesetzen  dieses  Landes  zu  regieren,  so  bitte 
ich  um  Ihren  Rat  in  dieser  wichtigen  Sache." 

Ebenso  bedeutsam  ist  ein  weiterer  Fall  —  der  letzte,  von 
dem  wir  zu  berichten  wissen.  Es  war  im  März  1718,  als  der 
österreichische  Gesandte  in  London,  Freiherr  von  Pendten- 
riedter,  von  dem  verbündeten  England  die  Entsendung  einer 
starken  Flotte  ins  Mittelmeer  forderte,  um  den  Spaniern  daselbst 
entgegenzutreten.  Die  britische  Nation  aber  war  derzeit  friedlich 
gesinnt.  Die  Minister  fürchten  das  Parlament,  das  freilich  in 
wenigen  Tagen  auseinander  gehen  wird,  dem  sie  aber  nun  mit 
neuen  Forderungen  nicht  mehr  zu  kommen  wagen,  zumal  auch 
der  spanische  Gesandte  Marquis  Monteleone  die  Überreichung 
einer  Note  angekündigt  und  die  Kaufmannschaft  schon  im 
voraus  dadurch  alarmiert  hat.  Pendtenriedter  führt  starke 
Reden  gegenüber  dem  Minister  Stanhope,  gegenüber  dem  Könige 
selbst,  der  unvorbereitet  und  verlegen  war,  und  auch  gegenüber 
dem  hannövrischen  Minister  Bernstorff.  Bei  dem  letzten  macht 
er  am  meisten  Eindruck.  ,,Er  wollte  sich  bewerben",  berichtet 
Pendtenriedter,  ,,daß  der  König  seine  englischen  Räte  zusammen- 
berufen und  in  Sr.  Majestät  Gegenwart  das  Werk  wohl  über- 
legen müßte."  Das  geschieht  nun  wirkUch,  und  es  kann  sich 
doch  wohl  um  nichts  anderes,  als  um  einen  vom  König  be- 
rufenen Kabinettsrat  handeln.  Pendtenriedter  berichtet  auch, 
wie  hier  die  Geister  aufeinander  platzen,  und  endlich  der  Be- 
schluß gefaßt  wird,  sich  ans  Unterhaus  zu  wenden.  Am 
nächsten  Tage  ward  daselbst  eine  königliche  Botschaft  verlesen, 
in   der   die   Hoffnung    ausgesprochen   wird,    das    Haus    werde, 


')  Calendar  of  the  Stuart  Papers  V  275.    Vgl.  ebendort  p.  274.     281. 


576      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

wenn  der  König  genötigt  wäre,  über  die  bewilligte  Zahl  der 
für  dieses  Jahr  in  Dienst  zu  stellenden  Matrosen,  hinauszu- 
gehen, die  erforderlichen  Summen  auch  nachträglich  noch  bereit 
stellen.  Eine  loyale  Adresse  war  die  Antwort  ^).  Die  nach  dem 
Süden  segelnde  Flotte  aber  vernichtete  die  Spanier  in  der  See- 
schlacht am  Cap  Passaro. 

So  bekommen  die  geschilderten  Vorgänge  ihre  historische 
Bedeutung  durch  die  großen  Weltereignisse  des  Jahres  1718. 
Und  selbst  zu  ihrer  verfassungsgeschichtlichen  Erklärung  muß 
man  die  politische  Lage  der  Zeit  noch  im  Auge  behalten.  Die 
Erzählung  Pendtenriedters  scheint  sagen  zu  sollen,  daß  zur 
Erreichung  eines  großen  Zweckes  ein  ungewöhnlicher  Schritt 
getan  wurde.  Und  ungewöhnlich  war  es  auch,  daß  nicht  einer 
der  englischen  Minister,  sondern  der  Deutsche  Bernstorff  es  war, 
der  dem  Könige  die  Versammlung  des  Ministerrates  nahe  legte. 
Diese  Sitzung,  mit  dem  Souverän  an  der  Spitze  ist  des  alltäg- 
lichen Charakters  entkleidet.  Die  Gefahren  der  europäischen 
Lage  haben  den  Monarchen  noch  einmal  zur  Berufung  der 
Minister  in  sein  Kabinett  bewogen. 

Von  nun  an  schweigen  die  Quellen  von  ferneren  Kabinetts- 
sitzungen, die  der  König  abgehalten  hätte  2).  Man  ist  versucht, 
jenen  26.  März  des  Jahres  1718  als  den  Zeitpunkt  zu  bezeichen, 
da  der  Monarch  zum  letzten  Male  mit  dem  Ministerkollegium 
zu  Rate  saß,  um  fortan  ihrem  Kreise  fern  zu  bleiben  und  dem 


^)  Bericht  Pendtenriedters  aus  London  vom  27.  März  1718.  Wiener 
Staatsarchiv.  Wenn  es  sodann  in  einem  P.  S.  vom  29.  noch  heißt,  es  sei  nun- 
mehr im  „königlichen  Eat"  die  Entsendung  einer  Flotte  von  20  Kriegsschiffen 
l)eschlossen  worden,  so  ist  es  bei  der  unbestimmten  Ausdrucksweise  doch 
zweifelhaft,  ob  man  dabei  vielleicht  noch  an  einen  weiteren  vom  Könige 
selbst  abgehaltenen  Kabinettsrat  zu  denken  hat  oder  an  eine  Sitzung  des 
Privy  Council. 

^)  Die  von  Temperley  a.  a.  0.  p.  693  mit  aller  Vorsicht  mitgeteilten 
Fälle  scheinen  sämtlich  auf  mißverständlicher  Überlieferung  zu  beruhen  und 
würden  auch  an  der  Tatsache  der  seit  1718  verschwundenen  Praxis  nichts 
ändern.  Über  den  Fall  von  1729  habe  ich  die  handschriftliche  Überlieferung 
(State  Papers  Domestic  Varions  1.  Eec.  Off.)  selbst  geprüft.  Die  auf  der 
Rückseite  befindliche  Aufschrift  ,Summons  for  a  Cabinet  June  9*^  1729'  ist 
allerdings  gleichzeitig,  ich  glaube  von  der  Hand  Tilsons  oder  Delafayes.  Daß 
es  sich  aber  trotzdem  nicht  um  eine  Kabinettssitzung,  sondern  um  ein  Privy 
Council  handelt,  ergibt  sich  aus  dem  Zusatz:  „Notice  to  be  given  to  the 
Recorder  or  to  the  Deputy  Recorder  of  the  City  of  London,  and  also  to  the 
Clerk  of  the  Council  in  Waiting  to  attend  at  the  same  time.  Notice  likewise 
to  be  given  to  the  Gentlemen  Ushers  and  Keejiers  of  the  Council  Chamber. 
Die  Liste  umfaßt  14  Namen  von  Männern,  welche  „are  to  attend  Her  Maj. 
(Königin  Caroline  als  Guardian  of  the  Realm)  to  morrow  .  .  .  ." 


Michael,   Die  Entstehung  der  Kahinettsregierung  in  England.      577 

außerhalb  des  Palastes  tagenden  Kollegium  die  Geschäfte  wie 
den  Namen  des  Kabinetts  zu  belassen.  Ja,  auch  wenn  noch 
die  eine  oder  andere  Notiz  zutage  treten  und  von  einem  ge- 
legentlichen Erscheinen  des  Monarchen  im  Kabinette  erzählen 
sollte  —  an  dem  Bilde,  das  die  hier  mitgeteilten  Tatsachen 
gewähren,  würde  nichts  mehr  geändert  werden.  Der  wiederholt 
genannte  preußische  Resident  Bouet  ist  unser  Zeuge,  daß  mit 
dem  Jahre  1718  die  alte  Praxis  verschwand.  ,,Ich  habe", 
schreibt  der  mit  den  Gepflogenheiten  englischer  Souveräne 
altvertraute  Diplomat^),  ,,ich  habe  unter  den  beiden  letzten 
Regierungen  gesehen,  wie  man  ernste  Fragen  im  Kabiuettsrate 
erörterte.  Unter  der  jetzigen  Regierung  wird  der  Kabinettsrat 
nur  sehr  selten  gehalten,  die  Staatsminister  entwerfen  alles  und 
lassen  sich  von  dem  Könige  nur  zum  Handeln  ermächtigen. 
Er  aber  erfährt  auf  diese  Weise  wohl  die  Beschlüsse  und  auch 
Gründe  dafür,  aber  doch  nicht  die  besonderen  Gesichtspunkte, 
welche  für  die  Haltung  dieser  oder  jeuer  Persönlichkeit  unter 
den  leitenden  Staatsmännern  maßgebend  gewesen  ist." 


Was  aber  hat  denn  nun  eigentlich  den  König  aus  dem 
Kabinette  getrieben?  Die  hergebrachte  Anschauung  sagt:  seine 
Unkenntnis  der  englischen  Sprache  -).  Er  fand  es  unerträglich, 
in  einem  Kollegium  den  Vorsitz  zu  führen,  dessen  Verhand- 
lungen er  nicht  zu  folgen  vermochte.  Ein  geringfügiger  Umstand 
hätte  also  eine  bedeutsame  Wandlung  im  englischen  Verfassungs- 
leben herbeigeführt  3).  Und  doch  scheint  mir  diese  Erklärung 
nicht  mehr  stichhaltig  zu  sein.  Eine  merkwürdige  Brief  stelle 
in  den  Berichten  des  österreichischen  Residenten  in  London, 
welche  von  der  Einsetzung  der  Regentschaft  des  Prinzen  von 
Wales  im  Jahre  1716  handelt,  erzählt*),  was  wir  übrigens  schon 
wissen,  daß  er  sogleich,  nachdem  im  Privy  Council  sein  Patent 
verlesen    war,    ,,in   den    Cabinet    Rath    getreten    ist",    welcher, 


^)  Bon  et  14./25.  Jan.  1718,  Geh.  Staatsarchiv. 

^)  Auch  ich  selbst  habe  bisher  die  Sache  so  zu  erklären  versucht,  zuletzt 
noch  in  dem  Abschnitt  über  Die  Gesch.  des  Parlamentarismus  in  England  im 
Handbuch  der  Politik.    1912.    I  382. 

^)  „Der  Brauch  trat  außer  Kraft,  weil  Georg  I.  kein  Englisch  verstand. 
Dem  zufälligen  Ereignis,  daß  der  Thron  in  einer  kritischen  Periode  unserer 
Geschichte  von  deutschen  Prinzen  besetzt  war,  verdanken  wir  die  eigenartige 
Verfassung  der  höchsten  Exekutivgewalt."  S.Low,  Die  Regierung  Englands. 
Übers,  v.  J.  Hoops.    Tübingen  1908. 

*)  Hoffmanns  Bericht  vom  24.  Juli  1716.     Wiener  Staatsarchiv. 
Zeitschrift  für  Politik.   6.  37 


578      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

fährt  der  Bericht  wörthch  fort,  ,,zwey  Stunden  lang  gewehret 
hat,  und  in  welchem,  weyleu  der  Printz  die  Engeländische 
Sprach  wohl  verstehet,  auch  redet,  anyetzo  alle  geschaffte  in 
dieser  sprach  tractiret  werden."  Was  hier  in  aller  Unbe- 
fangenheit ausgesprochen  wird,  muß  doch  notwendig  dahin 
verstanden  werden,  daß  bisher  unter  Georg  I.  im  englischen 
Kabinett  nicht  Englisch  gesprochen  wurde,  sondern  irgendeine 
andere  Sprache,  wahrscheinlich  Französisch,  das  wohl  die  meisten 
Mitglieder  verstanden. 

Mit  der  lächerlichen  Figur  des  verständnislos  und  stumm 
unter  seinen  Ministern  im  Kabinette  sitzenden  Königs  scheint 
es  darnach  nichts  zu  sein.  Wenn  selbst  nicht  alle  Anwesenden 
französisch  zu  reden  vermochten,  so  hat  der  Monarch  sich  doch 
gewiß  den  Sinn  ihrer  Reden  durch  einen  französisch  sprechen- 
den Nachbarn  (etwa  einen  der  Staatssekretäre,  die  mit  den 
fremden  Diplomaten  zu  verhandeln  gewohnt  waren)  verständlich 
machen  lassen.  Auch  hätten  ja  die  beschriebenen  Vorgänge, 
wo  Georg  I.  Townshend  die  Hand  drückt:  ,,Sie  haben  mir 
heute  einen  großen  Dienst  erwiesen",  oder  die  Berufung  des 
Kabinettsrats  nach  dem  Fußfall  der  Gräfin  Derwentwater,  keinen 
Sinn,  wenn  der  König  nicht  genau  wußte,  was  vorging. 

Der  wahre  Grund  liegt  tiefer,  er  liegt  in  der  gesamten 
Verfassungsentwicklung  seit  der  ,, glorreichen  Revolution".  Die 
Minister  haben  das  starke  Bestreben,  in  ihrer  Amtsführung 
sich  der  Kontrolle  des  Souveräns  nach  Möglichkeit  zu  entziehen. 
Die  Krone  ist  zwar  noch  frei  in  der  Wahl  ihrer  Ratgeber. 
Aber  diese  sind  für  ihre  Handlungen  weniger  dem  Monarchen 
verantwortlich,  der  sie  schlimmsten  Falles  entlassen  kann,  als 
gegenüber  dem  Parlamente,  das  mit  Anklage  und  Hinrichtung 
droht.  Aber  auch  abgesehen  von  solchen  Gefahren  ist  die 
Rücksicht  auf  das  Parlament  für  die  leitenden  Politiker  bei 
ihrer  täglichen  Arbeit  das  oberste  Gesetz.  Sie  können  nur 
regieren,  wenn  sie  mit  dem  Parlamente  im  Einvernehmen  leben, 
d.  h.  wenn  sie  eine  Majorität  im  Unterhause  besitzen.  Die 
Kontrolle  der  Legislative  über  die  Exekutive  fängt  an  zu  einer 
dauernden  Abhängigkeit  der  letzteren  von  der  ersteren  zu  führen. 
Die  Sicherheitsakte  von  1706^)  hatte  jene  verfängliche  Klausel 
der  Act  of  Settlement,  welche  den  Inhabern  von  Ämtern  die  Wähl- 
barkeit zum  Unterhause  versagte,  wieder  aufgehoben,  sie  hatte 
damit  den  Zusammenhang  zwischen  Parlament  und  Regierung 

')  4  Anne  c.  8,  §  25. 


Michael.   Die  Entstehimg'  der  Kabinettsregierung  in  England.       579 

gestärkt,  aber  auch  den  Ministern  die  Pflicht,  dem  Parlamente 
Rede  zu  stehen,  noch  fühlbarer  gemacht.  Das  Parlament  im 
Zeitalter  der  George  hätte  sich  eine  Behandlung,  wie  es  sie  noch 
unter  Wilhelm  III.  erfuhr,  nicht  mehr  gefallen  lassen.  Georg  I. 
selbst  pflegte  fremden  Diplomaten  gegenüber  die  Wendung  zu 
gebrauchen,  seine  Minister  seien  der  Nation  verantwortlich,  und 
er  könne  sie  nicht  schützen  i).  Kurz,  mit  der  persönlichen  Re- 
gierung des  Königs  war  es  vorbei. 

Wie  sehr  hätte  er  dieses  auf  die  Dauer  bei  einer  fort- 
gesetzten Teilnahme  an  den  Kabinettssitzungen  empfinden 
müssen.  Er  zieht  es  vor,  die  Minister  unter  sich  beraten  zu 
lassen  und  von  ihnen  durch  persönliche  Mitteilungen  zu  er- 
fahren, welche  Politik  ihnen  richtig  und  durchführbar,  besonders 
im  Hinblick  auf  die  parlamentarische  Genehmhaltung  durch- 
führbar erscheint.  Bei  aller  Macht,  die  dem  Könige  noch  ge- 
blieben ist  und  die  er  geltend  zu  machen  weiß,  muß  er  sich 
doch  von  jenen  belehren  lassen,  wie  w^eit  seine  persönlichen 
Wünsche  erfüllbar  sind.  Die  Minister  sind  nicht  mehr  die 
Vollstrecker  des  königlichen  Willens,  sie  sind  die  Mitarbeiter, 
allenfalls  die  Leiter  des  Parlaments.  Das  Königtum  steht  da 
wie  eine  von  fernher  wirkende  Kraft.  Das  Kabinett,  d.  h.  die 
Ressortchefs,  die  hohen  Würdenträger,  die  parlamentarischen 
Größen  entscheiden  in  letzter  Linie  über  die  Politik,  nicht  mehr 
die  Kj-one.  Der  König  zieht  sich  aus  dem  Kabinette  zurück, 
weil  seine  Rolle  hier  ausgespielt  ist. 


Kehren  wir  nun  noch  einmal  zu  der  Regentschaft  des 
Prinzen  von  Wales  im  Jahre  1716  zurück,  so  vermögen  wir 
unschwer  einen  gewissen  Zusammenhang  z\^dschen  der  oben 
beschriebenen  Amtswaltung  des  Prinzen  und  dem  ein  Jahr 
später  erfolgenden  völligen  Bruch  mit  dem  Könige  zu  er- 
kennen. Der  Vater  war  in  höchstem  Maße  eifersüchtig  auf 
den  Sohn.  Er  war  aufgebracht  darüber,  daß  der  Prinz  während 
seiner  Abwesenheit  eifi'ig  bemüht  schien,  die  Herzen  des  Volkes 
für  sich  zu  gewinnen,  daß  er  bei  einer  großen  Feuersbrunst 
in  London  persönlich  auf  der  Brandstätte  erschienen  war. 
Georg  I.  hatte  dergleichen  nie  getan  und  auch  kaum  tun 
können,  da  er  mit  den  Leuten  nicht  zu  reden  vermochte.  Die 
ungünstigen    Berichte,     die    damals    nach    Hannover    gesandt 


^)   Bericht  Pendtenriedters  vom   27,  März   1718.     Wiener  Staats- 
archiv. 

37* 


580      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierimg  in  England. 

wurden,  scheinen  aber  besonders  ausführlich  und  gehässig  bei 
den  vom  Prinzen  regelmäßig  abgehaltenen  Kabinettsitzungen 
verweilt  zu  haben.  Der  Bericht  Bonets  bringt  jene  vom  Prinzen 
1716  befolgte  Praxis,  geradezu  in  einen  ursächlichen  Zusammen- 
hang mit  dem  später  ausgebrochenen  Konflikte  zwischen  Vater 
und  Sohn.  Er  spricht  —  wir  haben  diesen  Bericht  schon 
einmal  herangezogen  —  von  der  Seltenheit  der  Kabinetts- 
sitzungen durch  die  der  König  über  die  Meinungsverschieden- 
heiten unter  den  Ministern  nicht  mehr  unterrichtet  werde. 
Der  Prinz,  dieses  Manöver  durchschauend,  hat  die  Pflicht  gegen 
seinen  Vater  nicht  zu  verletzen  gemeint,  indem  er  sich  bei 
den  in  seiner  Abwesenheit  angenommenen  Beschlüssen  nicht 
beruhigte,  und  sie  für  weniger  wertvoll  hielt,  als  die  in 
seiner  Gegenwart  gefaßten,  d.  h.  wenn  er  zuvor  Gelegenheit 
gehabt,  das  Für  und  Wider  selbst  zu  prüfen.  Wir  verstehen 
den  Groll  der  Minister,  die  dem  an  der  Stelle  des  Königs 
stehenden  Prinzen  die  Abhaltung  von  Kabinettssitzungen 
natürlich  nicht  verwehren  konnten.  Wir  verstehen  es  auch, 
wenn  Georg  I.  selbst  ein  Zuviel  des  Prinzen  darin  erblickte, 
wenn  er  fand,  daß  sein  Sohn  zu  sehr  den  König  im  Kabinette 
gespielt  habe.  Bonet  führt  auf  diese  und  andere  Umstände 
das  Mißverständnis  zwischen  Vater  und  Sohn  zurück,  welches 
sich  seither  immer  steigerte,  bis  der  Bruch  erfolgte.  ,,Das  ist", 
sagt  er,  „die  Entwicklung  der  Dinge,  die  ich  mitzuteilen  hatte." 
Blicken  wir  aber  von  der  menschlichen  Seite  dieser  Vor- 
gänge hinweg  auf  ihre  verfassungsgeschichtliche  Bedeutung,  so 
sehen  wir  den  Prinzen  einen  Brauch  aufrecht  erhalten,  den 
der  König  selbst  schon  aufzugeben  im  Begriffe  war.  Der  Thron- 
folger erscheint  wie  der  letzte  Verteidiger  einer  Position,  aus 
der  die  Monarchie  eben  damals,  während  der  Regierung  Georgs  L, 
sachte  verdrängt  wurde.  Und  dann  entbehrt  es  auch  nicht 
einer  gewissen  Tragik,  daß  der  König  gleichwohl  nur  den  Stolz 
des  Prinzen  in  seinem  Tun  erkennen  wollte,  und  daß  eben 
hier  die  tiefere  Ursache  des  berühmten  Konflikts  zwischen 
Vater  und  Sohn  gelegen  war. 


Haben  wir  nun  den  Zeitpunkt  erreicht,  wo  der  König  end- 
gültig darauf  verzichtet  hat,  den  Ministerrat  um  sich  zu  ver- 
sammeln, wo  das  sozusagen  verwaiste  Kabinett  die  Staats- 
geschäfte unter  sich  abmacht,  so  ist  es  endHch  die  Aufgabe 
der  vorliegenden  Untersuchung  zum  Schlüsse  noch  eine  kurze 
Schilderung  der  ersten  Jahrzehnte  aus  der  Geschichte  des  Ka- 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      581 

binetts  in  seiner  neuen  Gestalt,  d.  h.  des  Kabinetts  ohne  den 
König  zu  versuchen.  Es  ist  vornehmhch  die  Zeit  Walpoles,  von 
der  wir  zu  reden  haben.  Und  dabei  werden  wir  nicht  umhin 
können,  dem  Leser  fast  ebenso  viel  über  die  Natur  des  Quellen- 
materials, dem  wir  folgen,  wie  über  die  Sache  selbst,  mitzuteilen. 

Jetzt  so  wenig  wie  früher  wurden  offizielle  Protokolle  ge- 
führt. Eine  volle  Geschichte  der  Kabinettssitzungen  und  der 
hier  vertretenen  politischen  Ansichten  zu  schreiben,  würde  schon 
aus  diesem  Grunde  nicht  möglich  sein.  Immerhin  hat  sich 
eine  nicht  geringe  Anzahl  von  Niederschriften  gefunden,  welche 
die  Namen  der  Anwesenden,  sowie  einige  Mitteilungen  über 
die  zur  Behandlung  kommenden  Fragen  und  endlich  die  ge- 
faßten Beschlüsse  enthalten.  Im  britischen  Staatsarchiv  (Public 
Record  Office)  werden  mehrere  Bände  solcher  privater  Auf- 
zeichnungen, ,, Minutes"  genannt,  aufbewahrt^).  Hier  und  da 
begegnet  man  auch  an  anderen  Stellen  vereinzelten  Protokollen, 
die  sich  irgendwie  unter  Akten  verschiedenen  Ursprungs  ver- 
loren haben  2).  Und  endlich  sind  solche  gelegentlich  auch  unter 
den  handschriftlichen  Sammlungen  des  Britischen  Museums 
erhalten^).  So  läßt  sich  über  das  Kabinett  unter  Walpole  immer- 
hin einiges  sagen. 

Zunächst  muß  das  Eine  bemerkt  werden.  Der  Souverän 
ist  fort,  der  Premier  hat  seinen  Einzug  ins  Kabinett  gehalten. 
Wir  wissen  genug  von  der  Geschichte  der  Zeit,  um  sagen  zu 
können,  daß  seit  1721  Walpole  als  der  wahre  Leiter  dieser 
Versammlungen  zu  denken  ist.  Aber  die  Protokolle  lassen  es 
nicht  erkennen.  Sie  weisen  einfach  die  Namen  der  Teilnehmer 
auf,  einen  Vorsitzenden  gibt  es  nicht.  Auch  von  einer  Geschäfts- 
ordnung bemerkt  man  nicht  viel.  Von  Abstimmungen  sehen 
wir  keine  Spur.  Man  einigt  sich  über  einen  Beschluß  oder  ein 
solcher  kommt  überhaupt  nicht  zustande.  Auch  wer  das  Ka- 
binett beruft,  wird  nicht  ersichtlich,  und  wahrscheinlich  hat 
auch  eine  feste  Regel   dafür  nicht  existiert,   ebensowenig,  wie 


^)  State  Papers,    Domestic.    Various.    vol.  1 — 3. 

^)  So  State  Papers.  Domestic.  George  11.  Bündle  7,  enthaltend  Proto- 
kolle vom  21.  und  28.  Juni  1728;  Bündle  12,  enthaltend  ein  Protokoll  vom 
5.  Juni  1729;  Bündle  23,  enthaltend  ein  Protokoll  vom  30.  Juni  1731.  (Das- 
selbe ist  in  sauberer  Abschrift,  wahrscheinlich  für  den  König  bestimmt  auch 
State  Papers  Dom.  Var.  1  überliefert. 

^)  So  in  den  Newcastle  Papers.  Add.  Mss.  32993.  darin  etliche  Proto- 
kolle von  1739  bis  1745.  Die  folgenden  Bände  enthalten  noch  zahlreiche 
„Minutes"  bis  in  die  Zeiten  Georgs  ELI.  hinein,  mit  denen  wir  uns  hier  nicht 
weiter  befassen. 


582       Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

für  den  Ort  der  Versammlung.  Daß  Walpole  in  vielen  Fällen 
als  der  Berufende  zu  denken  ist,  mag  daraus  geschlossen  werden, 
daß  die  Protokolle  oft,  in  den  letzten  Jahren  gewöhnhch  ,,At 
Sir  Robert  Walpole's"  oder  vollständiger  ,,At  Sir  Robert  Wal- 
pole's  House  at  Chelsea",  datiert  sind.  Aber  auch  andere  Da- 
tierungen wie  ,,WhitehaH",  oder  ,,Claremont"  (der  Wohnsitz 
des  Herzogs  von  Newcastle),  oder  ,,At  Lord  Harrington's" 
kommen  vor.  Die  Zahl  der  Anwesenden  ist  sehr  schwankend. 
Im  Durchschnitt  sind  es  etwa  6,  gelegentlich  aber  nur  4  Mit- 
glieder, oft  aber  auch  mehr,  10,  12,  ja  14  Anwesende.  Robert 
Walpole  ist  wohl  immer  dabei. 

Die  erwähnten  Protokolle  haben,  wie  gesagt,  keinen  völhg 
offiziellen  Charakter.  Sie  sind  nicht  systematisch  angelegt.  Es 
ist  nicht,  wie  im  Privy  Council,  ein  besonderer  Beamter,  ein 
Clerk,  vorhanden,  der  sie  führt.  Sie  sind  von  einem  der  Teil- 
nehmer —  es  ist  meistens,  vielleicht  durchweg  der  Herzog  von 
Newcastle  ^)  —  im  Augenblick  niedergeschrieben,  daher  meist 
abgerissen  und  skizzenhaft.  Aber  außer  diesen,  oft  schwer 
leserlichen  Originalen  liegen  sie  häufig  noch  in  sauberen  Ab- 
schriften, manche  dieser  Abschriften  sogar  in  drei  bis  vier 
Exemplaren  vor.  Ich  denke,  man  wird  nicht  fehlgehen  mit 
der  Annahme,  daß  diese  Abschriften  oder  daß  doch  wenigstens 
eine  von  ihnen  für  den  König  bestimmt  war.  Denn  der  König 
muß  doch  über  den  Verlauf,  besonders  über  das  Ergebnis  der 
Kabinettssitzungen  unterrichtet  worden  sein.  Zu  formeller  Er- 
ledigung kamen  ja  die  Regierungsbeschlüsse  immer  noch  durch 
ihn  selbst,  dann  nämlich,  wenn  ihm  die  einzelnen  Minister 
Vortrag  hielten,  wenn  man  ihm  die  zu  erteilenden  Befehle  zur 
Unterschrift  vorlegte.  Der  Vollzug,  der  Abschluß  der  Handlung 
mußte  durch  den  Monarchen  in  Person,  wir  würden  sagen :  in 
seinem  Kabinette,  erfolgen,  wenn  nicht  der  Ausdruck  eben  um 
diese  Zeit  schon  einen  andern  Sinn  angenommen  hätte.  Kurz, 
der  König  empfängt  seine  Mitteilungen  und  man  wird  bei  den 
in  sauberer  Abschrift  vorliegenden  Protokollen  zunächst  an  die 
Pflicht  der  Minister  zu  denken  haben,  die  bei  aller  Freiheit 
ihres  Schaltens  doch  immer  noch  die  Majestät  über  sich  hatten. 
Allein,  an  eine  ganz  regelmäßige  schriftliche  Berichterstattung, 

*)  Sie  sind  oft  in  seiner  Handschrift.  Seine  Name  erscheint  in  der 
Präsenzliste  meist  an  letzter  Stelle.  Besonders  tritt  es  in  dem  Protokoll 
vom  30.  Juni  1731  (S.  P.  Dom.  G.  II  Bündle  23)  hervor,  wo  Newcastles  Name 
vor  „Mr.  Seeretary  at  War"  stand,  aber  nachträglich  durchstrichen  ist,  um 
an  die  letzte  Stelle  gesetzt  zu  werden.   Newcastle  war  seit  1724  Staatssekretär. 


Michael,  Die  Entstellung  der  Kabinettsregierung  in  England,      583 

die  dem  Monarchen  über  jede  Kabinettssitzung  zuteil  geworden 
wäre,  zu  glauben,  geben  uns  diese  gerade  erhaltenen  Stücke 
doch  noch  kein  Recht.  Denn  auch  da,  wo  sie  reichlicher  ein- 
setzen —  bis  1728  ist  überhaupt  nichts  erhalten  —  bleiben  sie 
lückenhaft,  sporadisch,  aus  dem  Jahre  1733  ist  nur  ein  einziges 
Protokoll  vorhanden,  und  auch  für  die  ganze  Periode  der 
14  Jahre  Walpoleschen  Regiments,  dem  sie  angehören,  mögen 
die  hier  verzeichneten  Kabinettssitzungen  gewiß  nicht  mehr  als 
den  zehnten  Teil  aller  überhaupt  stattgehabten  ausmachen. 
Vielleicht  darf  man  nun  sagen,  daß  in  der  Regel  wohl  über- 
haupt nichts  niedergeschrieben  wurde,  daß  aber  gelegentlich 
das  Bedürfnis  nach  einer  präzisen  Formulierung  der  gefaßten 
Beschlüsse  empfunden  und  alsdann  dasjenige,  was  dieser  oder 
jener  Minister  für  sich  zu  Papier  gebracht,  sauber  abgeschrieben 
auch  dem  Könige  vorgelegt  wurde. 


Haben  nun  die  erwähnten  Protokolle,  auch  die  in  Abschrift 
dem  Könige  vorgelegten,  durchaus  keinen  offiziellen  Charakter, 
was  schon  aus  ihrer  äußeren  Form,  vielleicht  sogar  aus  der 
Art  der  Aufbewahrung  hervorgeht  —  es  sind  noch  heute  ^) 
lose  Blätter,  die  nur  zu  Aktenbündeln  zusammengelegt  und 
niemals  geheftet  worden  sind  — ,  so  dürfen  wir,  ohne  von 
unserem  Thema  abzuschweifen,  noch  auf  die  Tatsache  hin- 
weisen, daß  die  Kabinettsmitglieder  unter  den  beiden  ersten 
Georgen  zu  anderen  Zeiten  auch  Sitzungen  abgehalten  haben, 
deren  Ergebnisse  wir  nun  doch  in  hochoffiziellen  Protokollen 
verzeichnet  finden.    Hören  wir,  um  was  es  sich  dabei  handelt. 

Die  beiden  ersten  George,  denen  ihr  deutsches  Kurfürsten- 
tum weit  mehr  am  Herzen  lag,  als  ihr  britisches  Königreich, 
haben,  so  oft  die  Umstände  es  gestatteten,  die  Fahrt  übers  ]\Ieer 
angetreten,  um  für  einige  Monate  ihre  Residenz  in  Hannover 
aufzuschlagen.  Sie  pflegten  dann  vor  der  Mitte  des  Jahres, 
wenn  das  Parlament  in  die  Ferien  ging,  aus  England  za  ver- 
schwinden, um  gewöhnlich  erst  gegen  Jahresschluß,  gelegent- 
lich sogar  noch  später,  zur  Eröffnung  der  Session  wieder  zur 
Stelle  zu  sein.  Für  die  Zeit  ihrer  Abwesenheit  mußte  alsdann 
eine  Stellvertretung  des  Monarchen  geschaffen  werden,  indem 
entweder  einem  Mitgliede  des  königlichen  Hauses  die  Statt- 
halterschaft unter  dem  Namen  eines  ,, Guardian  of  the  Realm" 
übertragen   oder   aber   die  Regentschaft   eines  Kollegiums^  von 


*)  Ich  habe  sie  im  Jahre  1910  eingesehen. 


584      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

hohen  Beamten  eingesetzt  wurde.  Für  beide  Formen  gab  es 
Präzedenzfälle  aus  der  Zeit  Wilhelms  III.  ^),  beide  sind  auch 
unter  Georg  I.  und  II.  wiederholt  gewählt  worden.  Als  Georg  I. 
1716  nach  Hannover  ging,  wurde  der  Prinz  von  Wales  mit 
der  Statthalterschaft  betraut  —  es  ist  jene  oben  behandelte 
Periode,  die  uns  durch  die  Teilnahme  des  Prinzen  an  den 
Kabinettssitzungen  interessant  war.  Als  der  König  zum  zweiten 
Male  (1719)  fortging,  war,  wie  wir  auch  schon  wissen,  das 
Vertrauen  des  Vaters  zum  Sohne  inzwischen  so  gründlich  zer- 
stört worden,  daß  er  weit  davon  entfernt  war,  ihm  zum  zweiten 
Male  ein  so  hohes  Amt  zu  übertragen.  So  wurde  denn  statt 
dessen  eine  Regentschaft  eingesetzt,  ein  Verfahren,  das  auch 
in  allen  weiteren  Fällen  einer  Abwesenheit  Georgs  L,  nämhch 
1720,  1723,  1725,  1727,  wieder  befolgt  wurde.  Georg  IL  da- 
gegen pflegte  der  Königin  Caroline  die  Statthalterschaft  ebenso 
zu  übertragen,  wie  er  selbst  sie  als  Prinz  von  W^ales  1716  inne 
gehabt.  Nach  dem  Tode  der  Königin  aber  (sie  starb  1737) 
ging  auch  er  zu  dem  System  der  Regentschaften  über. 

Diese  Regentschaften  sind  es  nun,  die  uns  ein  interessantes 
Material,  auch  für  die  Geschichte  des  Kabinetts,  liefern.  Re- 
genten waren  nämlich  regelmäßig  die  sämtlichen  Mitglieder 
des  Kabinetts.  Es  ist  ein  verfassungsgeschichtliches  Kuriosum, 
wenn  man  so  dieselben  Männer,  die  vordem  miteinander  das 
nach  dem  Gesetze  gar  nicht  existierende  Kabinett  gebildet 
haben,  jetzt  als  gesetzlich  anerkannte,  höchste  Regierungs- 
stelle sich  versammeln  sieht.  Nun  erhält  ihr  ganzes  Tun  einen 
offiziellen  Charakter  und  amtliche  Protokolle  belehren  uns  über 
ihre  Tätigkeit.  Dem  Namen  nach  sind  ihre  Befugnisse  er- 
weitert. Statt  wie  sonst  ,, demütig  der  Meinung"  zu  sein,  daß 
der  König  diese  oder  jene  Anordnung  treffe,  geben  sie  diese 
Anordnung  selbst,  denn  sie  sind  jetzt  im  Besitz  der  monar- 
chischen Gewalt.  In  der  Sache  ist  aber  der  Unterschied  nicht 
groß.  Sie  sind  heute  als  Regenten  (der  Titel  ist  Lords  Justices) 
derselbe  Kreis  von  Männern,,  die  sie  gestern  als  Kabinett  ge- 
wesen waren,  und  ihre  heute  befolgte  Politik  ist  nur  die  Fort- 
setzung der  gestrigen. 

So  ergänzen  denn  die  amtlichen  Sitzungsprotokolle  2)  der 
Lords  Justices  auch  in   erwünschter  Weise  jene   skizzenhaften 


')  Vgl.  oben  Seite  558. 

")  Sie  sind  in  17  Entry  Books  eingetragen,  die  jetzt  unter  State  Papers 
Domestic  Entry  Books  im  Record  Office  aufbewahrt  werden.     Leider  ist  die 


Michael,   Die  Entstehiin*^  der  Kahinettsregierung  in  England.      585 

Notizen  über  die  Versammlungen  des  Kabinetts.  Wir  werden 
gewiß  manches  von  der  hier  befolgten  Praxis  auch  ohne 
weiteres  auf  das  Kabinett  beziehen  dürfen.  Wenn  wir  im 
Jahre  1720  in  dem  Protokoll  der  konstituierenden  Sitzung  von 
dem  Beschluß  der  Regentsciiaft  lesen,  sich  zweimal  wöchent- 
lich, nämlich  jeweils  am  Dienstag  und  Donnerstag  um  10  Uhr 
morgens  pünktlich  zu  versammeln,  wenn  wir  hören,  daß  sie 
mit  der  Verhandlung  nicht  beginnen  wollen,  bis  wenigstens 
vier  von  ihnen  anwesend  sind,  so  haben  wir  darin  wahr- 
scheinlich nichts  anderes  als  die  in  eine  feste  Geschäftsordnung 
verwandelte  regelmäßige  Praxis  des  Kabinetts  vor  uns.  Denn 
auch  die  Kabinettsprotokolle  geben  uns  die  vier  als  die  ge- 
ringste vorkommende  Anzahl  der  Teilnehmer.  Überhaupt  scheint 
die  Frequenz  sich  in  beiden  Fällen  auf  derselben  Höhe  zu 
halten,  oder  genauer  gesprochen,  hier  wie  dort  fehlt  gewöhnlich 
die  größere  Hälfte  der  Mitglieder.  Im  Jahre  1720  sind  von 
den  15  Regenten  niemals  mehr  als  12  anwesend,  und  auch 
diese  Zahl  wird  nur  ein  einziges  Mal  erreicht.  Sonst  sind  stets 
weniger  zur  Stelle,  und  im  Laufe  des  Augustmonats,  wo  gewiß 
die  meisten  lieber  außerhalb  Londons  auf  ihren  Landgütern 
weilten,  zeigt  die  Präsenzliste  einige  Male  nur  vier  Teilnehmer, 
d.  h.  die  kleinste  beschlußfähige  Anzahl. 

Die  gefaßten  Beschlüsse  selbst  beziehen  sich,  ganz  wie  in 
den  Kabinettssitzungen,  auf  Heer  und  Flotte,  Kolonien,  auch 
auf  innere  Verwaltung.  In  bezug  auf  die  auswärtige  Politik 
machen  wir  freilich  die  Beobachtung,  daß  die  Regentschaft  nicht 
nur  keine  größeren  Machtbefugnisse  besitzt  als  das  Kabinett, 
sondern  beinahe  überhaupt  auf  diesem  Gebiete  nichts  ent- 
scheidet. Die  Instruktion  für  die  Regenten  besagt  im  Jahre  1723 
einfach,  daß  sie  kein  Bündnis  und  keinen  Vertrag  mit  einem 
auswärtigen  Fürsten  oder  Staate  verhandeln  oder  abschließen 
sollen,  es  sei  denn  auf  die  ausdrückliche  Weisung  des  Königs. 
Praktisch  hat  dies  den  Sinn,  wie  wir  aus  den  Protokollen  er- 
sehen, daß  die  auswärtige  Politik  in  dieser  Zeit  einfach  in 
Hannover  gemacht  wird,  nicht  in  London.  Wir  sehen,  und  das 
ist  bedeutungsvoll  für  den  ganzen  Charakter  der  Regierung, 
für  die  Stellung  des  Königs,  für  die  Macht  des  Kabinetts,  wie 
das  gesamte  Getriebe  der  Diplomatie  in  Hannover  seinen  Mittel- 
punkt hat.  Dorthin  schicken  die  englischen  Gesandten  im  Aus- 
früher vorhandene  Abteilung  „Regencies".  die  in  184  Bänden  das  ganze 
Aktenmaterial  zur  Geschichte  der  Regentschaften  umfaßte,  jetzt  aufgelöst 
und  unter  andere  Aktenreihen  verteilt  worden. 


586       Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

lande  ihre  Berichte,  von  dort  her  empfangen  sie  ihre  Weisungen. 
Man  erhält  hier  die  aktenmäßige  Bestätigung  der  Tatsache, 
daß  die  beiden  ersten  George,  wenigstens  auf  dem  Gebiete  der 
auswärtigen  Politik,  noch  stark  persönlich  regierten.  Der  in 
Hannover  weilende  König  hat  regelmäßig  einen  der  Staats- 
sekretäre bei  sich^).  Dieser  korrespondiert  mit  den  andern  in 
London  zurückgebliebenen  Kollegen  und  teilt  ihm  mit,  zu 
welcher  Pohtik  man  sich  in  Hannover  entschlossen  habe. 
Meistens,  aber  keineswegs  immer,  werden  die  Regenten  durch 
Abschriften  der  diplomatischen  Korrespondenzen  auf  dem 
Laufenden  erhalten.  Im  allgemeinen  wurden  ihnen  die  so- 
genannten „public  letters",  d.  h.  die  offizielle  Korrespondenz, 
vorgelesen.  Aber  jeder  mit  diplomatischen  Akten  des  18.  Jahr- 
hunderts Vertraute  weiß  auch,  wie  oft  die  entscheidenden 
Motive  erst  in  den  nebenher  gesandten  Privatbriefen,  den  mit 
Vermerken  wie  ,, private"  „very  private",  ,,secret  and  con- 
fidential"  bezeichneten  Depeschen  enthalten  waren.  Diese 
intime  Korrespondenz  blieb  gewöhnlich  das  Geheimnis  des 
Königs  und  der  Staatssekretäre.  Ja,  auch  die  öffentlichen  Briefe 
wurden  dem  Kabinett  oder  der  Regentschaft  wohl  nicht  aus- 
nahmslos unterbreitet  2). 


So  wertvoll  alle  diese  Angaben  für  uns  sind,  so  besitzen 
doch  beide  Gruppen  von  Protokollen  in  ihrer  knappen  Fassung 
so  wenig  Leben  und  Farbe,  daß  wir  uns  kaum  eine  Vorstellung 
davon  machen  können,  wie  man  in  diesen  Sitzungen  geredet, 
debattiert,  Beschluß  gefaßt  hat,  welche  Intriguen  gespielt,  wie 
gelegentlich  die  Geister  aufeinander  geplatzt  sind,  und,  was  wir 
am  meisten  vermissen,  wie  sich  Robert  Walpole,  der  wahre 
Herrscher  in  England,  hier  in  dem  intimen  Kreise  der  Genossen 
seiner    Amtsführung    gegeben    hat.     Denn    daß    er    als    Prime 


*)  1723  sind  beide,  die  Lords  Townshend  und  Carter  et,  mit  dem 
Könige  gegangen.  Unterdessen  übernahm  der  in  England  verbleibende 
Walpole  zu  seineu  übrigen  Ämtern  noch  die  interimistische  Führung  der  Ge- 
schäfte eines  Staatssekretärs,  freilich  ohne  die  formale  Seite  der  Sache  recht 
zu  beherrschen.  Er  ist  eines  Tages  nicht  völlig  sicher,  ob  die  Ratifikation 
eines  Vertrages  auch  seinen  ganzen  Inhalt  wiedergebe.  „Aber  bitte  verraten 
Sie  niemandem",  fügt  er  gemütlich  hinzu,  „daß  der  Herr  Staatssekretär  so 
etwas  nicht  weiß."  Walpole  an  Newcastle.  Houghton.  Oct.  24.  1723.  Add. 
Mss.  32686.     Brit.  Mus. 

')  „I  don't  see  whj-  y.  Grace  should  decline  laying  L^  Townshend's 
public  letter  before  the  Lords  Justices."  ibid.  —  Man  erkennt  dieselbe  Praxis 
schon  in  Bolingbroke  Letters  11  131. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      587 

Minister  so  gar  nicht  hervortritt,  fällt  doch  auf.  Da  müssen 
wir  uns  denn  nach  anderen  Nacln-ichten  umsehen,  die  uns  die 
Situation  lebendiger  zu  machen  geeignet  sind.  Horace  Walpole 
und  Lord  Hervey  geben  uns  in  ihren  Memoiren  einen  so  deut- 
lichen Begriff  von  der  überragenden  Stellung  Walpoles,  daß 
uns  sein  Bild  auch  vorschwebt,  wenn  wir  uns  den  Verlauf  der 
Kabinettssitzungen  zu  denken  versuchen.  Hervey  hat  aber 
auch,  als  er  1740  ins  Kabinett  eintrat,  ein  paar  Sitzungen, 
leider  nur  wenige,  die  er  selbst  erlebt  hat,  beschrieben  ^).  Es 
sind  lebendige  Schilderungen,  pikant,  wie  von  einem  Franzosen, 
voll  von  feiner  Beobachtung,  von  überlegenem  Spott.  Die  be- 
deutendsten Handelnden,  Walpole,  Newcastle,  treten  uns  in 
plastischer  Anschaulichkeit  entgegen.  Mag  es  richtig  sein 
oder  nicht,  wer  diese  Blätter  gelesen  hat,  wird  sich  von 
Newcastle  nicht  so  bald  eine  andere  Vorstellung  machen,  als 
die  er  hier  gewonnen  hat.  Man  meint  ihn  zu  sehen,  wie 
er,  eitel  und  selbstgefällig,  die  bewundernden  Blicke  des 
Kollegiums  auf  sich  zu  ziehen  sucht,  wie  er,  von  seinem 
eigenen  Stil  entzückt,  seine  politischen  Depeschen  den  ver- 
sammelten Lords  immer  wieder  vorliest,  wie  er  mit  rück- 
schauender Weisheit  die  Anordnungen  und  Taten  anderer  kriti- 
siert und  ärgerlich  verstummt,  als  ihm  Walpole  ins  Wort  fällt 
und  energisch  mahnt,  lieber  für  die  Zukunft  zu  sorgen.  Denn 
Walpole  erscheint  unzweifelhaft  als  der  überlegene  Geist  in  dem 
ganzen  Kreise,  in  dem  er  mit  seiner  harten  Sachlichkeit  ge- 
wöhnlich durchdringt  und  zu  dem  die  anderen,  sei  es  mit 
Freude  oder  Widerwillen,  bewundernd  aufbhcken.  Hervey  hat 
einmal  vorgeschlagen,  in  einem  zu  schließenden  Vertrage  zu 
größerer  Deutlichkeit  noch  ein  kräftiges  Wort  hinzuzufügen. 
Die  meisten  der  Lords  bhcken  erstaunt  und  unwillig.  Als  aber 
Sir  Robert  dem  Redner  beipflichtet,  klingt  es  gleich  von  allen 
Seiten:  ,, Gewiß,  gewiß,  solche  Dinge  können  gar  nicht  zu  klar 
ausgesprochen  werden." 

Auch  wie  der  Prime  Minister  als  Vermittler  zwischen 
König  und  Kabinett  steht,  wird  deutlich.  Er  ist  es,  der 
den  König  bewegt,  in  der  Thronrede  lieber  nichts  von  seiner 
beabsichtigten  Reise  nach  Hannover  zu  sagen.  Als  Georg  H., 
in  ähnlichem  Konflikt  mit  seinem  Sohne,  wie  er  ihn  in 
jüngeren  Jahren   mit   seinem  Vater  gehabt   hat,    dem  Prinzen 


^)  Hervey.  Memoirs  of  the  Reign  of  George  the  Second,    ed.   Oroker. 
Lond.  1848.    H  553  ff. 


588      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

eine  Botschaft  zugehen  lassen  will,  die  als  ein  Akt  des 
Kabinetts  erscheinen  soll,  beginnen  die  Mitglieder  die 
Richtigkeit  einer  solchen  Maßregel  zu  diskutieren.  Walpole 
aber  entgegnet  ihnen  mit  schneidender  Schärfe,  das  Kabinett 
sei  berufen  worden,  weil  der  König  seinen  Rat  wünsche  über 
die  Art  und  Weise  der  Ausführung,  nicht  aber  darüber,  ob 
die  Sache  gemacht  werden  solle  oder  nicht  i).  Ein  anderes  Mal, 
als  es  sich  um  die  Verheiratung  einer  Prinzessin,  insbesondere 
um  die  Frage  handelt,  ob  die  wirkliche  Trauung  in  England 
oder  im  Ausland  erfolgen  solle,  wiederholt  er  vor  den  Lords 
of  the  Cabinet  Council  auch  schonungslos  die  schmähenden 
Worte,  mit  denen  der  Monarch  ihre  Bedenken  wegen  der  For- 
mahen  der  Trauung  aufgenommen  hat:  ,,Ich  will  von  Eurem 
Unsinn  über  Kirche  und  Gesetz  nichts  mehr  hören,  ich  will 
meine  Tochter  verheiratet  sehen,  und  zwar  mit  voller  Rechts- 
kraft." Aber  dann  ist  es  auch  wieder  Walpole,  der  den  König 
zuletzt  dahin  bringt,  sich  den  Gründen  des  Kabinetts  zu  fügen. 


Wenn  wir  erfahren  haben,  daß  die  Geheimnisse  der  aus- 
wärtigen Politik  den  meisten  Mitgliedern  des  Kabinetts  oder 
der  Regentschaft  tatsächlich  nicht  enthüllt  wurden,  so  mag  wohl 
auch  auf  anderen  Gebieten  eine  ähnliche  Praxis  geherrscht 
haben.  Ja,  schon  aus  den  Teilnehmerlisten  erhält  man  den 
Eindruck,  daß  meistens  nicht  das  ganze  Kabinett  mitwirkt, 
sondern  nur  ein  Teil  desselben.  Wir  haben  bei  dieser  Ge- 
legenheit über  die  Ungleichheit  der  Frequenz  noch  einige 
Worte  zu  sagen. 

Die  Schriftsteller  haben  neuerdings  geradezu  von  einem 
inneren  und  äußeren  Kabinett,  wie  von  zwei  verschiedenen 
Behörden  reden  wollen 2).  Das  innere  regiert;  die  Zugehörigkeit 
zum  äußeren  ist  eine  Ehre.  An  eine  so  scharfe  und  besonders 
eine  so  grundsätzliche  Trennung  der  beiden  Gruppen  vermag 
ich  nicht  zu  glauben.  Die  Erwägungen,  die  hier  besonders  am 
Platze  zu  sein  scheinen,  sind  die  folgenden. 

Noch  gibt  es  keine  kollektive  Verantwortlichkeit  des  Ka- 
binetts. Walpole  hat  allerdings  1725  das  Prinzip  einmal  ver- 
kündigt, aber  die  Praxis  stimmt  nicht  damit  überein.  Jeder 
Minister  ist  nur  für  sich  selbst  verantwortlich.  So  fällt  denn 
für  die  Gesamtheit  auch  das  Bedürfnis  fort,  auf  jeden  einzelnen 

')  ibid.  II  431. 

'-')  Win  Stanley,  George  III  and  his  first  Cabinet.  Engl.  Hist,  Rev.  XVII 
1902  p.  678  ff.     So  auch  Anson  und  neuerdings  vor  allem  Temperley  a.  a.  0. 


Michael,   Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      589 

ein  wachsames  Auge  zu  haben,  denn  die  Furcht,  daß  das  Ka- 
binett als  solches  durch  die  Fehler  eines  seiner  Mitglieder  zu 
Falle  kommen  könnte,  besteht  noch  nicht.  Daraus  ergibt  sich 
weiter,  daß  man  in  aller  Ruhe  dem  Kabinette  fernbleiben 
konnte,  wenn  man  nicht  gerade  durch  Angelegenheiten  des 
eigenen  Ressorts  oder  andere  Gründe  zur  Teilnahme  au  den 
Sitzungen  gezwungen  war.  So  angesehen  bedarf  es  für  die 
meistens  so  geringe  Frequenz  der  Kabinettssitzungen  keiner 
andern  Erklärung,  als  man  sie  etwa  für  den  oft  schwachen 
Besuch  des  Privy  Council,  oder  auch  der  beiden  Häuser  des 
Parlaments,  zumal  des  Hauses  der  Lords,  zu  geben  haben  würde. 

Blickt  man  ferner  auf  die  Zusammensetzung  des  Kabinetts 
jener  Tage,  so  findet  man  hier  einen  weiteren  Grund  für  et- 
liche Mitglieder  desselben,  nicht  allzu  häufig  zu  erscheinen. 
Neben  den  hohen  Staatsbeamten,  den  Ressortchefs,  sieht  man 
eine  ganze  Gruppe  von  Hofbeamten,  den  Lord  Steward,  den 
Lord  Chamberlain,  den  Master  of  the  Horse,  den  Groom  of 
the  Stole,  als  Mitglieder  des  Kabinetts  figurieren.  Sie  haben  in 
Wahrheit  wenig  darin  zu  tun  gehabt  und  werden  es  wohl,  wie 
man  gelegentlich  zu  erkennen  vermag,  meistens  nur  dann  fre- 
quentiert haben,  wenn  persönliche  Angelegenheiten  des  Königs, 
seiner  Familie,  des  Hofhalts  usw.  in  Frage  standen.  Sie  kommen 
also  für  die  Mehrzahl  aller  Geschäfte,  mit  denen  sich  das  Ka- 
binett zu  befassen  hatte,  nicht  in  Betracht.  Man  braucht  auch 
nicht  etwa  ihre  Stimmen,  denn  man  stimmt  nicht  ab.  So 
bleiben  sie  eben  meistens  fort. 

Nicht  viel  anders  mag  es  mit  den  gelegentlich  ernannten 
Kabinettsmitgliedern  gewesen  sein,  die  ohne  Amt  (Minister  ohne 
Portefeuille)  waren,  die  nur  ehrenhalber  ins  Kabinett,  oder,  wie 
1720  die  Herzöge  von  Devonshire  und  Bolton^),  zur  Regent- 
schaft gezogen  wurden. 


')  Hoffmann,  2.5.  .Juni  1720,  berichtet,  der  König  habe  die  sämtlichen 
13  lyiitglieder  des  Kabinetts  zu  Regenten  erhoben  und  jene  beiden,  die  kein 
Amt  hätten,  noch  hinzugefügt,  so  daß  die  Regentschaft  nunmehr  15  Mitglieder 
umfasse.  Wiener  Staatsarchiv.  —  Vor  den  Protokollen  von  1720  (S.  P.  Dom, 
Entry  Books  283,  Rec.  Off.)  findet  sich  dementsprechend  das  folgende  Ver- 
zeichnis : 

Lords    Justices  Declared   in    Council   June  11*^  1720.     Appointed   by 

Commission  dated  14*^  opened  18  th, 
Lord  Archbishop  of  Caaterbury, 
Lord  Chancellor, 
Lord  President, 
„      Privy  Seal, 


590       Michael,   Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

So  ist  es  denn  von  vornherein  einer  Anzahl  der  Kabinetts- 
mitglieder nahegelegt,  nur  bei  bedeutenderen  Anlässen  zu  er- 
scheinen. Und  daß  auch  von  den  übrigen  besonders  fleißig 
nur  diejenigen  kommen,  die  durch  ihren  Einfluß  beim  Könige, 
durch  ihre  Macht  im  Parlament,  oder  jeweils  durch  die  Be- 
dürfnisse ihres  Ressorts  dazu  getrieben  werden,  ist  ebenso  ein- 
leuchtend. Man  fühlt  sich  entbehrlich,  man  ist  ,,out  of  town", 
man  ist  durch  Krankheit  oder  anderweitig  verhindert,  man  wird 
nicht  mehr  regelmäßig  geladen,  und  man  bleibt  fort.  Der  kleine 
Kreis  der  wirklich  Regierenden  bleibt  übrig.  Man  erblickt 
darin  den  ersten  Schatzlord  (der  zum  Prime  Minister  wird), 
die  beiden  Staatssekretäre,  den  Lord-Kanzler,  als  diejenigen  vier 
hohen  Staatsbeamten,  die  schon  aus  dem  Grunde  den  Kern 
des  Kabinetts  zu  bilden  berufen  erscheinen,  weil  sie  die  Ge- 
schäfte, um  die  es  sich  meistens  handelt,  schon  von  Amts  wegen 
praktisch  zu  bearbeiten  haben.  Der  Präsident  des  Privy  Council, 
der  erste  Lord  der  Admiralität,  vielleicht  noch  einige  andere 
Mitglieder  des  Kabinetts  treten  hinzu.  Die  Zusammensetzung 
des  Kreises  ändert  sich  rasch  und  oft.  Er  ist  niemals  scharf 
umgrenzt.  Das  Unbestimmte,  Fluktuierende,  gehört  zu  seinem 
Wesen.  Er  hat  auch  nicht  jene  Notorietät,  nicht  jene  durch 
die  Aufhebung  des  legislativen  Verbots  (1706)  geschaffene  quasi- 
gesetzliche Existenz,  wie  sie  dem  Kabinette  eignet.  Er  ent- 
scheidet wohl  über  die  PoUtik  seiner  Tage,  aber  er  bleibt  auch 
selbst  ein  Produkt  der  TagespoHtik.  Vom  Standpunkt  des 
Verfassungshistorikers  aus  ist  er  doch  nicht  allzu  ernst  zu 
nehmen.  Man  sollte  in  ihm,  so  wie  auch  seine  Mitglieder 
es  getan  haben,  nichts  anderes  als  ein  schwach  besuchtes 
Kabinett,  aber  doch  das  Kabinett  schlechthin,  erblicken. 

Und  dann  sieht  man  auch  immer  wieder,  wie  von  Fall 
zu  Fall  der  engere  Kreis  sich  zu  dem  größeren  erweitern 
kann,  wie  je  nach  Bedarf,  durch  zufällige  Umstände,  gelegentlich 


Lord  Steward, 

„      Chamberlain, 
Duke  of  Grafton  (Hofbeamter,  vielleicht  Master  of  the  Horse), 

„        „    Bolton  (ohne  Amt), 

„       „    Devonshire  (ohne  Amt), 

„        „    Marlborough  (Captain  General), 

„        „    Roxbnrghe  (Staatssekretär  für  Schottland), 
Earl  of  Suuderland  (Ester  Schatzlord), 

„      „    Berkeley  (Erster  Admiralitätslord), 

„      „    Stanhope  (Staatssekretär), 
Mr.  Secretary  Craggs  (Staatssekretär). 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      591 

vielleicht  auf  den  Wunsch  des  Königs,  die  anderen,  die  scheinbar 
zur  Seite  geschobenen  Mitglieder,  wieder  erscheinen,  man  sieht 
wie  statt  eines  Konventikels  von  vier  bis  sechs  Mitgliedern, 
gelegentlich  ein  volleres  Kabinett  von  8 — 12  oder  14  Teil- 
nehmenden sich  versammelt. 

Daß  eine  kleine  Anzahl  der  Mächtigsten  sich  zusammenfand, 
um  sich  über  die  Grundsätze  der  Politik  zu  verständigen,  war  auch 
nicht  neu.  Ja,  in  der  Zeit  vor  Walpole  findet  man  diese  engen 
Verbindungen  manchmal  wunderlich  genug  zusammengesetzt. 
Man  würde  sich  versucht  fühlen,  statt  von  einem  engeren 
Kabinette  von  einem  N  e  b  e  n  kabinette  zu  reden.  Ich  meine 
jene  Verbindungen,  die  gar  nicht  einmal  nur  aus  Mitgliedern 
des  Kabinetts  bestehen,  die  untereinander  die  entscheidenden 
Fragen  durchsprechen  und  vorläufige  Beschlüsse  fassen.  Das 
Kabinett  wird  dann  mit  Vorschlägen  überrascht,  deren  wahre 
Gründe  nur  ein  paar  Eingeweihte  durchschauen.  Unter  Königin 
Anna  haben  die  ,,Saturday  Dinners"  Robert  Harleys,  auf  denen 
mit  viel  Geist  beim  Glase  Wein  Pohtik  gemacht  wurde,  einen 
gewissen  Ruhm  besessen.  Hier  saß  neben  den  Ministern  und 
als  ihr  treuer  literarischer  Helfer  der  glänzendste  Schriftsteller 
jener  Tage,  Jonathan  Swift.  Von  ihm  wissen  wir,  wie  hier 
die  großen  Fragen  der  Politik,  Krieg  und  Frieden,  England  und 
Europa,  im  Plauderton  erörtert  und  die  Maßregeln  der  Regierung 
von  Woche  zu  Woche  vereinbart  wurden  i). 

Nach  dem  Thronwechsel  von  1714  hört  man  von  einem 
regierenden  Kreise  von  vier  Männern,  dem  sogenanten  Quadrum- 
virat.  Es  waren  die  beiden  deutschen  Minister  des  Königs, 
Bernstorff  und  Bothmer,  die  sich  hier  mit  Townshend  und  dem 
noch  einmal  zur  Macht  gelangten  Herzog  von  Marlborough 
zusammenfanden  und  als  die  Vertrauensmänner  des  Königs 
die  Interessen  seiner  beiden  Reiche  in  aller   Stille   erwogen-). 

Ein  paar  Jahre  später,  nach  dem  Rücktritt  von  Townshend 
und  Walpole,  im  April  1717,  hat  das  sogenannte  Trium\arat, 
d.  h.  die  Verbindung  von  Stanhope,  Sunderland  und  Cadogan 
eine  ähnliche  Rolle  gespielt.  Diese  Drei,  heißt  es  in  diploma- 
tischen Berichten  3),  haben  am  meisten  das  Ohr  des  Königs. 
„Das  Triumvirat",  schreibt  Bonet  im  April  1718  ,,hält  an  seinem 
alten  Grundsatze  fest,   alles  gemeinsam  oder  jeder  für  sich,  je 

^)  Vgl.  Blauvelt  a.  a.  0.  p.  130  ff. 

^)  Vgl.  meine  Englische  Geschichte  im  achtzehnten  Jahrhundert  I  449. 
^)   Nach   den   Berichten   Bonets    und  Hoffmanns  im  Geh.  Staats- 
Archiv  und  Wiener  Staatsarchiv. 


592      Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England. 

nach  der  Natur  des  Geschäfts  zu  entscheiden  und  die  schwe- 
benden Fragen  weder  im  Kabinette  vor  den  König  zu  bringen 
noch  auch  mit  andern  Ministern  darüber  zu  konferieren."  ,,Sie 
sind",  heißt  es  ein  anderes  Mal,  ,,wie  drei  Souveräne  in  ihren 
besonderen  Geschäftskreisen,  Stanhope  für  das  Auswärtige,  Sun- 
derland  für  die  Finanzen,  Cadogan  in  allen  Wehrfragen."  Und 
auch  dieses  Mal  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  der  General 
und  Diplomat  Cadogan  dem  Kabinett  überhaupt  gar  nicht 
angehörte. 

Und  blickt  man  nun  auf  die  Zeit  Walpoles,  so  braucht 
man,  um  eine  Parallele  zu  finden,  nicht  einmal  bei  den  oben 
beschriebenen  Versammlungen  der  4  bis  6  Kabinettmitglieder 
stehen  zu  bleiben.  Denn  unter  diesen  sind  es  in  den  ersten 
Jahren  wiederum  besonders  zwei  gewesen,  die  recht  eigent- 
lich im  Besitz  der  Macht  erscheinen.  Wie  Walpole  in  den 
inneren,  so  gilt  Townshend  in  den  auswärtigen  Fragen  als 
der  entscheidende  Mann.  Der  andere  Staatssekretär,  der  Herzog 
von  Newcastle,  ist  schlecht  unterrichtet,  da  Townshend  die 
auswärtige  Politik  völlig  ,,en  clief  und  meist  allein"^)  erledigt. 
,,Der  König  hat  sich  gänzlich  in  der  zwei  Schwäger  Hände 
geworfen  und  will  mit  keinem  anderen  als  mit  ihnen  mehr 
von  Geschäften  reden."  Man  wundert  sich,  daß  er  sich  den 
„allzugroßen  Despotismus"  dieser  beiden  gefallen  lasse  2).  So 
dürften  wir  denn,  um  uns  der  Sprache  jener  Zeit  zu  bedienen, 
hier  wohl  von  einem  Duumvirat  von  Walpole  und  Townshend 
reden.  Und  wir  hätten  es  mit  der  Tatsache  zu  tun,  daß 
durch  dieses  Duumvirat  selbst  jenen  intimen  Kabinettssitzungen 
der  4  bis  6  Minister  die  Entscheidung  der  wichtigsten  Fragen 
schon  vorweggenommen  wurde. 


Wenn  wir  hier  abbrechen,  so  geschieht  es  freilich  mit  der 
klaren  Erkenntnis,  daß  wir  bei  weitem  nicht  alle  Fragen  berührt 
haben,  die  für  die  Geschichte  des  englischen  Kabinetts,  auch 
in  so  früher  Zeit,  Bedeutung  und  Interesse  besitzen.  Was  wir 
zu  schildern  versucht,  ist  die  Entstehung  und  Entwicklung  der 
regierenden  Körperschaft  an  sich,  wie  sie  unter  den  späteren 
Stuarts  vom  Souverän  ins  Leben  gerufen  wird,  wie  sie  unter 
Wilhelm  IH.  als  Werkzeug  des  königlichen  Willens  funktioniert, 
wie  sie  sich  unter  Anna  zu  selbständiger  Politik  erhebt,  in  der 


')   Bericht  Starhembergs   vom   20.  Okt.  1724.     Wiener   Staatsarchiv. 
")  Vgl.  meinen  Aufsatz  „Walpole  als  Premierminister".  H.  Z.  104.  S.  508. 


Michael,  Die  Entstehung  der  Kabinettsregierung  in  England.      593 

folgenden  Regierung  den  Monarchen  sachte  aus  ihrem  Kreise 
hinausdrängt,  und  endUch  in  der  Zeit  Walpoles  sich  um  den 
Prime  Minister  schart.  Wir  haben  die  Entstellungsgeschichte 
des  Kabinetts  nur  von  der  einen,  von  der  Seite  der  Monarchie 
her  betrachtet.  Aber  wollten  wir  auch  die  andere  Seite  der 
Entwicklung,  die  Stellung  des  Kabinetts  zum  Parlament  behan- 
deln, wollten  wir  zu  schildern  versuchen,  wie  jenes  dem  be- 
herrschenden Einfluß  des  Souveräns  nur  entflohen  zu  sein 
scheint,  um  unter  den  des  Parlaments  zu  geraten,  und  um 
zuletzt  nur  noch  als  das  exekutive  Organ  der  jeweiligen  Unter- 
hausmajorität zu  erscheinen,  so  hätten  wir  freilich  nicht  mit 
dem  Zeitalter  Walpoles  schließen  dürfen.  Denn  die  angedeutete 
Entwicklung  hob  damals  erst  an.  Wir  aber  haben  nur  zeigen 
wollen,  wie  das  Kabinett  zur  regierenden  Behörde  in  England 
wurde. 

Auch  mit  der  überragenden  Stellung  des  Premierministers 
ist  es  nicht  anders.  Walpole  ist  nicht  der  Erwählte  des  Par- 
laments, nicht  der  von  der  Unterhausmajorität,  dem  Könige 
Präsentierte,  den  dieser  seinerseits  mit  der  Bildung  des  Kabi- 
netts beauftragt.  Kaum  die  ersten  Ansätze  zu  einer  solchen 
Entwicklung  sind  vorhanden.  Bei  Walpole  und  seiner  Stellung 
zu  den  Kollegen  im  Kabinett  hat  man  der  Kämpfe  und  Intriguen 
zu  gedenken,  die  hier  gespielt  haben,  hat  sich  zu  erinnern, 
wie  er  zuerst  dem  Prinzip  der  Parteiregierung  zum  Siege  ver- 
holfen  hat,  wie  er  Carteret  aus  dem  Kabinette  verdrängt,  wie 
er  mit  Townshend  gerungen  und  zuletzt  auch  ihn  beiseite 
geschoben  hat,  dann  aber  auch  wie  endlich  die  parlamen- 
tarische Opposition,  gegen  die  er  sein  Leben  lang  angekämpft 
hat,  auf  das  Kabinett  übergreift  und  ihn  stürzt.  Erwägt  man 
also  die  Stellung  Walpoles,  der  zwar  dem  Parlament  durch 
Bestechung  beizukommen  sucht,  aber  endlich  im  Kabinette 
selbst  nicht  mehr  der  Plerr  ist,  so  versteht  man  erst  das 
historisch  Merkwürdige,  das  Widerspruchsvolle,  die  eigentliche 
Tragik  seines  Lebens.  Und  man  versteht  es,  wenn  er  am 
Ende  seiner  Laufbahn  die  Behauptung  der  Gegner,  er  habe 
als  ein  Prime  Minister  über  England  geherrscht,  wie  eine 
schändHche  Verleumdung  von  sich  wies. 


Zeitschrift  für  Politik.    6.  38 


IX. 

Die  parteipolitische  Lage  beim  Zusammentritt 
des  Vorparlaments 

Von  Dr.  Ludwig  Bergsträßer 

Hansemanu  hat  einmal  die  treffende  Bemerkung  gemacht, 
daß  die  Scheidung  der  Parteien  deutlich  erst  nach  dem  Siege  er- 
folge (Das  preußische  und  das  deutsche  Verfassungswerk  S.  73). 
Die  Etappen  der  Scheidung  zwischen  radikalem  und  konsti- 
tutionellem Liberalismus  im  Beginn  des  Jahres  1848,  die  wir 
in  dieser  Studie  betrachten  wollen,  sind  ein  Beleg  für  Hanse- 
manns Bemerkung. 

Die  liberale  Bewegung  ist  in  Deutschland  zwischen  1832 
und  1846  etwa  durchaus  einheitlich;  Gagern  und  Blum  treffen 
sich  in  gemeinsamen  Beratungen  (vgl.  Jucho  in  der  Einleitung  zu 
den  Verhandlungen  des  deutschen  Parlaments  S.  V  und  Gottschall, 
Aus  meiner  Jugend  S.  206  ff.).  In  den  Kammern  ebenso  ein 
geschlossenes  Zusammengehen  derer,  die  später  auf  der  rechten 
und  auf  der  linken  Seite  des  Konstitutionalismus  stehen  werden. 
Hecker  und  Mathy,  Gagern  und  Zitz.  Auch  im  Vereinigten 
Landtag  ist  das  Zentrum  der  Liberalen  durchaus  geschlossen; 
allerdings  war  die  extremere  Linke  in  dieser  Versammlung  über- 
haupt nicht  vertreten. 

In  Baden  waren  die  Verhältnisse  am  weitesten  fortgeschritten. 
Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  die  Gründe  dieser  Erscheinung 
zu  untersuchen.  Wir  stellen  dies  hier  nur  fest.  In  Baden  hatte 
auch  der  Liberalismus  kurz  vor  dem  Sturm  jähre  einen  gewissen 
Erfolg  errungen.  Auf  ein  extrem-reaktionäres  Ministerium  war 
ein  gemäßigteres  gefolgt.  Um  dieselbe  Zeit  etwa  fanden  die 
Verschiedenheiten  der  Gesinnung  und  des  Temperamentes,  wie 
sie  auch  im  badischen  Liberahsmus  natürUch  vorhanden  waren, 
sich  aber  bisher  nach  außen  nicht  gezeigt  hatten,  ihren  ersten 
Niederschlag  in  programmatischen  Kundgebungen.  Wir  wissen 
wenigstens  nicht  von  früheren 


Bergsträßer.  Die  parteipolit.  Lage  h. Zusammentritt  d.  Vorparlaments.      595 


Am  12.  September  1847  hielt  die  radikalere  Richtung  des 
badischen  Liberahsmus  in  Offenburg  eine  große  Volksversamm- 
lung ab,  man  berichtete  von  5 — 600  Teilnehmern.  Es  sprachen 
hauptsächlich  Hecker,  Struve,  die  beiden  späteren  Führer  des 
Aufstandes,  und  Kapp,  ein  mit  St.  Simonistischen  Gedanken 
sympathisierender  Heidelberger.  Auf  dieser  Versammlung 
wurde  eine  Resolution  angenommen  ^j,  die  in  13  Punkten  das 
Programm  des  radikalen  Liberahsmus  enthielt,  der  ,, Entschie- 
denen", wie  sie  sich  im  Gegensatz  zu  den  ,, Halben"  nannten. 
Es  war  nicht  nach  inneren  Gesichtspunkten,  sondern  nach  der 
äußeren  Unterscheidung  aufgebaut.  1. ,,  Wiederherstellung  unserer 
verletzten  Verfassung."  Darunter  gehörte  Preßfreiheit,  ^^ereins- 
und  Versammlungsrecht,  Gewissensfreiheit,  Vereidigung  des 
Mihtärs  auf  die  Verfassung  und  in  bezug  auf  die  deutschen 
Angelegenheiten:  ,,Wir  verlangen,  daß  die  Regierung  sich  los- 
sage von  den  Karlsbader  Beschlüssen  von  1819,  von  den  Frank- 
furter Beschlüssen  von  1831  und  1832  und  von  den  Wiener 
Beschlüssen  von  1834.  Diese  Beschlüsse  verletzen  gleichmäßig 
unsere  unveränderlichen  Menschenrechte,  wie  die  deutsche 
Bundesakte  und  unsere  Landes  Verfassung." 

,,Die  Entwicklung  unserer  Verfassung",  der  zweite  Teil,  be- 
ginnt natürhch  mit  dem  Bunde.  ,,Wir  verlangen  Vertretung 
des  Volkes  bei  dem  deutschen  Bunde.  Dem  Deutschen  werde 
ein  Vaterland  und  eine  Stimme  in  dessen  Angelegenheiten. 
Gerechtigkeit  und  Freiheit  im  Innern,  eine  feste  Stellung  dem 
Auslande  gegenüber  gebühren  uns  als  Nation."  Im  einzelnen 
weiter  eine  volkstümliche  Wehrverfassung  ohne  stehendes  Heer, 
eine  volkstümliche  Staatsverwaltung;  Geschworenengerichte;  ,,der 
Bürger  werde  vom  Bürger  gerichtet",  die  Bildung  durch  Unter- 
richt soU  allen  gleich  und  unentgeltlich  zugänglich  sein.  Jeder 
soll  nach  seinen  Kräften  zu  den  Lasten  des  Staates  beitragen, 
also  progressive  Einkommensteuer,  und  da  die  Gesellschaft  ver- 
pflichtet ist,  die  Arbeit,  d.  h.  den  Arbeiter,  zu  schützen  und  zu 
heben,  ,, Ausgleichung  des  Mißverhältnisses  zwischen  Arbeit  und 
Kapital".  Ein  letzter  dreizehnter  Artikel  verlangt  Abschaffung 
aller  Vorrechte;  ,, jedem  sei  die  Achtung  freier  Mitbürger  einziger 
Vorzug  und  Lohn". 


^)    Vgl.   den    ausführlichen   Bericht    der    Allgemeinen    Zeitung    (A.  Z.) 
S.  2094  (Xr.  v.  19.  Sept.  1847). 

38* 


596      Bergsträßer,  Die  parteipolit.  Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

Betrachten  wir  dieses  Programm  näher,  so  sind  von  seinen 
innerpoHtischen  Forderungen  einige  jetzt  verwirkUcht,  andere 
wie  das  Volksheer  gehören  in  unseren  Tagen  zu  dem  Programm 
der  Sozialdemokratie.  Wir  dürfen  uns  durch  solche  Fest- 
stellungen nicht  zu  dem  Schlüsse  verleiten  lassen,  als  wäre 
dieses  Programm  für  damalige  Zeiten  sehr  revolutionär  gewesen. 
Auch  so  strenge  Konstitutionelle  wie  Mathy  verlangten  damals 
die  Vereidigung  des  Heeres  auf  die  Verfassung.  Über  das  ge- 
wöhnliche Maß  damaliger  liberaler  Forderungen  geht  nur  der 
letzte  Artikel,  der  sich  gegen  Titel  und  Adelsvorrechte  richtet, 
hinaus.  Er  hat  bei  vielen  badischen  Oppositionellen  keinen 
Anklang  gefunden.  Dann  die  soziale  Tendenz.  Sie  war  für 
damalige  Zeit  in  gewissem  Sinne  eine  Vorwegnahme;  leise  nur 
klang  die  soziale  Frage  an,  auf  dem  badischen  Landtag  hatte 
sie  der  ultramontane  Büß  zum  ersten  Male  zur  Sprache  ge- 
bracht, und  auch  der  demokratische  Flügel  des  Liberalismus 
behandelt  sie  im  Jahre  1848  noch  recht  theoretisch,  ist  sie  doch 
hauptsächlich  eine  Handwerker-  und  noch  keine  Arbeiterfrage. 
Auch  im  vorliegenden  Programm  bleibt  man  noch  gar  sehr  im 
Allgemeinen  stecken.  Noch  weniger  radikal  ist  der  Teil,  der 
sich  mit  den  allgemeinen  deutschen  Verhältnissen  befaßt.  Der 
Bund  wird  als  bestehende  Organisation  anerkannt,  er  soll  aus- 
gebaut durch  eine  Volksvertretung  für  die  moderne  Zeit  brauchbar 
gemacht  werden.  Von  einer  Republik  ist  nicht  die  Rede,  der 
Einheitsgedanke  ist  noch  stark  betont.  Die  Verdammung  der 
reaktionären  Zwangsmaßregeln  war  unter  den  damaligen  Libe- 
ralen allgemein. 

Dieses  Programm  erregte  denn  auch  auf  der  anderen  Seite, 
bei  den  Halben  oder  Konstitutionellen  kein  besonderes  Aufsehen, 
vor  allem  kein  unliebsames.  Man  empfand  den  Unterschied 
nur  als  einen  solchen  des  Temperaments.  Die  Heidelberger 
Deutsche  Zeitung  bezweifelt,  daß  die  Versammlung  in  Offenburg 
nun  die  lang  erstrebte  Frucht  von  Jahren  ungesäumt  zur  Reife 
bringen  werde.  Ein  leiser  Spott,  wie  ihn  der  Verfasser  der 
Notiz,  Mathy,  oft  genug  zur  Verfügung  hatte.  Daneben  über- 
wiegt jedoch  das  Gefühl  der  Solidarität  durchaus.  Die  Notiz 
will  von  vornherein  den  übertriebenen  Schilderungen  der  reaktio- 
nären Seite  entgegentreten,  und  derselbe  Mathy  spricht  sich,  als 
weitere  ähnliche  Versammlungen  verboten  werden,  scharf  gegen 
dieses  Verbot  aus  (Aus  dem  Nachlaß  von  Karl  Mathy  S.  59,  62), 
ebenso  wie  in  dem  am  7.  Dezember  neu  zusammentretenden  Land- 
tage die  um  Mathy  Seite  an  Seite  mit  denen  um  Hecker  kämpften, 


Bergsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b. Zusammentritt  d. Vorparlaments.      597 

sogar  den  Radikalen  Peter  zum  Vizepräsidenten  vorschlugen, 
denselben,  der  später  mit  Fickler  zusammen  Revolution  im 
Seekreis,  in  Konstanz  machte.  Wirklich  waren  auch  die  pro- 
grammatischen Unterschiede  durchaus  nicht  groß,  wie  auf  der 
letzten  Zusammenkunft  von  Parlamentariern,  der  berühmten 
Heppenheimer  Zusammenkunft  am  10.  Oktober  zutage  trat. 
Die  Anregung  zu  dieser  Versammlung  ging  von  Hansemann 
aus,  der  nach  Schluß  des  ersten  vereinigten  Landtags  eine  Reise 
nach  Stuttgart,  München  und  Baden  machte,  um  die  süd- 
deutschen Gesinnungsgenossen  persönlich  kennen  zu  lernen. 
(Hansemann  a.  a.  O.  S.  73,  Mathy  an  Buhl,  Nachlaß  S.  60.) 
Leider  erlaubt  das  bis  jetzt  vorliegende  Material  nur  sehr  vor- 
sichtige Schlüsse  über  die  Debatten  und  die  dabei  geäußerten 
Ansichten.  Einheit  herrschte  bei  den  Anwesenden,  unter  denen 
Hansemann,  Mathy,  Gagern,  Hergenhahn  aus  Nassau,  Römer 
aus  Württemberg,  beide  spätere  Märzminister,  und  Bassermann 
aus  Mannheim  die  bedeutendsten  waren  —  Einheit  der  An- 
schauung herrschte  nur  darüber,  daß  die  nationale  Frage  von 
den  Regierenden  allein,  ohne  Zuziehung  des  Volkes,  d.  h.  ohne 
eine  Volksvertretung  nicht  zu  lösen  und  daß  sie  bedingt  sei 
durch  eine  freiheitlichere  Ausgestaltung  des  politischen  Lebens 
in  den  einzelnen  Staaten.  Was  Mathy  in  seinem  Berichte  in 
der  Deutschen  Zeitung  als  dahingehende  Forderungen  aufzählt 
(Preßfreiheit,  Schwurgerichte,  Trennung  der  Justiz  von  der 
Verwaltung,  Minderung  des  Aufwandes  für  das  stehende  Heer, 
Volksbewaffnung)  ist  von  den  Offenburger  Leitsätzen  nicht  groß 
verschieden.  Daß  der  Bund  seine  Aufgabe  nicht  erfüllt,  viel- 
mehr der  Lösung  der  Einheitsfrage  entgegen  gearbeitet  habe, 
war  hier  wie  dort  feststehende  Überzeugung.  Darüber,  welche 
Institution  besser  als  die  Bundesversammlung  die  Lösung  der 
Einheitsfrage  in  die  Hand  nehmen  könne,  war  man  geteilter 
Ansicht.  Eine  Richtung  —  wie  der  Biograph  Mevissens  sagt, 
war  Bassermann  ihr  Führer;  sicher  gehörte  Hergenhahn  zu 
ihr  (Allg.  D.  Biographie  Bd.  12  S.  106)  —  redete  der  Weiter- 
bildung des  Bundes  durch  Beiordnung  einer  Volksvertretung 
das  Wort,  vertrat  also  denselben  Standtpunkt  wie  die  Offen- 
burger Versammlung.  Eine  andere  Gruppe  machte  geltend, 
daß  eine  Weiterbildung  des  Bundes  nicht  zu  der  deutschen 
Einheit  führen  könnte,  weil  dem  Bunde  nichtdeutsche  Staaten 
wie  Dänemark  angehörten,  deutsche  Gebiete  wie  Ostpreußen 
in  ihm  nicht  vertreten  seien,  und  weil  Österreichs  Verhält- 
nisse  nicht   der  Art  seien,    um    mit  ihm  in   eine   engere  Ver- 


598      Bergsträßer,  Die  parteiijolit. Lage  b.  Zusammentritt  d. Vorparlaments. 

bindung  als  den  Bund  zu  treten.  Diese  Richtung  empfahl 
vielmehr  eine  Weiterbildung  des  einzigen  lebendigen  nationalen 
Instituts,  das  damals  schon  zu  einem  Teile  die  deutsche 
Einheit  vorwegnahm,  des  Zollvereins.  Hansemann  hatte  schon 
auf  dem  rheinischen  Proviuziallandtag  von  1845  den  Antrag 
gestellt,  daß  ständische  Deputierte  aller  Zollvereinsstaaten 
wenigstens  zu  den  Tarif beratungen  hinzugezogen  werden  sollten. 
Der  positiven  und  volkswirtschaftlichen  Deduktionen  immer 
besonders  geneigte  Mathy  schloß  sich  ihm  an,  auch  Gagern 
soll  sich  entschieden  für  dieses  Projekt  ausgesprochen  haben. 
Die  übrigen  Teilnehmer  erklärten  schließlich  ihre  Zustimmung 
dazu,  daß  dieser  Weg  als  der  zunächst  zu  empfehlende  anzu- 
sehen sei.  So  wird  er  denn  auch  in  Mathy s  Bericht  besonders 
hervorgehoben.     (Deutsche  Zeitung  Nr.  707  S.  852.) 

Doch  betonten  die  übrigen  Teilnehmer,  daß  aber  auch 
keine  andere  Gelegenheit,  welche  Zeit  und  Ereignisse  bringen 
mögen,  unbenutzt  zu  lassen  sei,  um  die  Idee  der  deutschen 
Einigung  zu  stärken.  Der  Unterschied  zwischen  diesem  Pro- 
gramm und  dem  Offenburger  ist  augenfällig.  Es  ist  kein 
Unterschied  der  Gesinnung,  sondern  eine  verschiedene  Be- 
trachtungsweise, die  ihn  schuf.  Die  Heppenheimer  Versamm- 
lung würdigt  die  bestehenden  Verhältnisse  wie  sie  sind.  Das 
zeigt  schon  der  Umstand  allein,  daß  sie  sich  dem  Plane  der 
Umgestaltung  des  Bundestages  nicht  direkt  verschließt,  daß 
sie  die  Möglichkeit  anerkennt,  durch  den  Druck  der  öffentlichen 
Meinung,  die  gerade  diesen  Gedanken  propagierte,  könne  eine 
Besserung  der  Verhältnisse  in  dieser  Richtung  vielleicht  erzielt 
werden.  Wenn  sie  diesen  Weg  trotzdem  erst  an  zweiter  Stelle 
sieht,  so  schätzt  sie  eben  die  Stärke  der  bestehenden  Mächte, 
besonders  die  von  Osterreich  ausgehenden  Wirkungen,  größer 
und  richtiger  ein,  als  die  Offenburger;  sie  ist  weniger  enthu- 
siastisch, sie  ist  realpolitischer  in  dieser  Frage. 

Die  Macht  der  Tatsachen  erwies  sich  stärker  auch  als  dieses 
Programm.  Die  ihm  zustimmten,  und  auch  die  es  anregten, 
haben  es  selbst  im  Laufe  der  Entwicklung  aufgegeben.  Zu- 
nächst die  Badener  schon  vor  der  Märzbewegung;  Hansemann 
am  Anfang  derselben.  Sie  sahen  wohl,  daß  die  politische 
Stimmung  nun  allzuweit  fortgeschritten  war,  als  daß  sie  damit 
zufrieden  gewesen  wäre,  auf  dem  Umwege  materieller  Interessen 
langsam  auch  ihre  nationalen  zu  verfechten.  Dazu  kam,  daß 
gerade  in  jenen  Jahren  der  Gegensatz  des  Zollvereins  zu  den 
Hansastädten  und  der  lebhafte  Kampf  zwischen  Schutzzöllnern 


m^ 


Ber gsträß  er,  Die  parteipolit.  Lage  b.  Zusaniinentritt  d.  V'orparlaments.      599 

und  Freihändlern  den  Zollverein  in  keinem  idealen  Lichte  er- 
scheinen ließ.  Das  mag  auch  für  einen  der  eifrigsten  Ver- 
fechter des  Heppenheimer  Programms,  eben  für  Mathy,  den 
Ausschlag  gegeben  haben,  daß  er  den  anderen  Weg  mitging, 
den  Weg,  der  durch  ßassermanns  Antrag  im  badischen  Land- 
tag betr.  die  Vertretung  der  deutschen  Ständekammern  am 
Bundestage  gekennzeichnet  ist.  Sicher  hat  dieses  Vorgehen 
große  Erfolge  gehabt,  während  man  das  von  den  wenigen  Ver- 
suchen, die  in  der  anderen  Richtung  gemacht  worden  sind, 
nicht  sagen  kann.  Bassermanns  Motion  fand  ein  allgemeines 
Echo;  es  war  eine  Tat,  wäre  es  auch  gewesen,  wenn  nicht 
14  Tage  darauf  die  Revolution  eingesetzt  hätte.  Dagegen  fand 
weder  der  Antrag  Zentners  ^)  auf  Einführung  eines  allgemeinen 
bürgerlichen  Gesetzbuches  in  allen  deutschen  Staaten  noch  die 
direkt  auf  die  Heppenheimer  Beschlüsse  zurückgehende  Aktion 
in  Württemberg  allgemeinere  Beachtung.  Dort  hatte  Federer 
vor  Beginn  der  neuen  Landtagssession  in  Stuttgart  am  17.  Ja- 
nuar eine  A-'olks Versammlung  abgehalten,  auf  der  auch  die  all- 
gemeinen deutschen  Angelegenheiten  besprochen  wurden.  Die 
Versammlung  hatte  sich  sofort  für  Weiterbildung  des  Zollvereins, 
für  eine  Ausdehnung  auf  alle  deutschen  Staaten  ausgesprochen, 
ferner  für  Vertretung  des  Zollvereins  im  Auslande  durch  deutsche 
Konsuln  und  Beschickung  der  Zollkongresse  durch  Sachver- 
ständige, welche  in  den  Ständekammern  gewählt  werden  sollten  2), 
also  genau  das  Heppenheimer  Programm.  Wieweit  gerade  der 
Umstand,  daß  die  Volksversammlungsbeschlüsse,  sowie  Reden 
liberaler  Abgeordneter  in  der  Kammer,  die  denselben  Gedanken 
vertraten,  nicht  beachtet  wurden  —  wieweit  das  auf  Basser- 
manns und  der  badischen  Liberalen  Vorgehen  von  Einfluß  war, 
entzieht  sich,  wne  so  vieles  von  den  inneren  Zusammenhängen, 
unserer  Kenntnis.  Bassermann  selbst  hatte  ja  immer  die  Idee 
einer  dem  Bundestag  anzugliedernden  Volksvertretung  ver- 
fochten und  hatte  sie,  wie  aus  seiner  Rede  im  Landtag  hervor- 
geht (D.  Z.  Nr.  45  S.  4a)  in  Heppenheim  nur  aufgegeben,  weil 

*)  D.  Z.  1848  Bd.  I  S.  173,  Antrag  in  der  badischen  Kammer  am 
20.  .Januar  begründet. 

-)  Allgemeine  Zeitung  (A.  Z.)  vom  22.  Januar  1848  S.  341,  Deutsche 
Zeitung  (D.  Z.)  S.  173.  Zu  dem  Wunsche  auf  Zuziehung  der  Abgeordneten 
zur  Tarifberatung  sagt  der  Berichterstatter:  „ein  Punkt,  der  alle  Beachtung 
verdient."  Wer  den  Bericht  verfaßt  hat,  ist  leider  nicht  festzustellen.  Die 
Volksversammlung  hatte  Federer  berufen,  um  auf  ihr  die  Wünsche  seiner 
Wähler  entgegen  zu  nehmen. 


600      B ergsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

er  daran  zweifelte,  der  Weg  zu  Deutschlands  Einheit  könne 
doch  noch  durch  die  Bundesversammlung  führen.  Wenn  er 
jetzt  doch  wieder  den  Bundestag  in  seine  Rechnung  einstellt, 
so  deshalb,  weil  er  „von  einem  Zollverein,  der  stets  nach  wenigen 
Jahren  kündbar  ist,  und  von  dessen  Trennung  in  Nord  und 
Süd  schon  mehr  als  einmal  gesprochen  worden,  von  einem 
Zollkongreß,  der  über  den  Tarif  von  Zucker,  Kaffee  und  Baum- 
wolle beratet,  kein  allgemeines  Gesetz  über  Presse,  Strafverfahren 
und  Strafrecht,  eine  deutsche  Kriegswehr,  die  Entscheidung  über 
Krieg  und  Frieden  von  ihm  nicht  erwarten  kann,  und  deshalb 
auch  nicht  die  Wiedergeburt  von  Deutschlands  politischer 
Größe"  (ebd.). 

Diese  Formulierung  bedeutet  nicht,  wie  auch  Treitschke 
angenommen  hat,  ein  großdeutsches  Bekenntnis  gegenüber  dem 
kleindeutschen  Programm  Hansemanns  und  Mathys;  diese 
Frage  war  damals  noch  nicht  in  solcher  Klarheit  formu- 
liert, auch  nicht  eine  Absage  an  den  Zollverein,  sondern  ein- 
fach die  Überzeugung,  daß  die  Entwicklung  auf  diesem  Wege, 
wenn  sie  möglich  wäre,  zu  langsam  gehen  würde,  daß  das 
Volk  mehr  verlangt  als  ,,in  den  trocknen  Gegenständen  des 
Postwesens  und  der  Wechselordnung  geschminkte  Herolde  einer 
besseren  Zeit"  zu  sehen.  Es  hat  allen  Grund  mehr  zu  verlangen, 
denn  der  Bund  hat  nichts  getan  zu  seinem  Schutze,  nichts  ge- 
tan seine  Wehrkraft  zu  stärken,  ihm  das  nationale  Ansehen  zu 
verschaffen,  dessen  es  bedarf,  um  sich  sicher  zu  fühlen  vor 
den  Angriffen  seiner  Feinde.  Mit  einem  deutschen  Parlament 
wäre  kein  Basler  Friede,  kein  Rheinbund  möglich  gewesen, 
denn  die  gemeinsame  Volksvertretung  hätte  das  Einheitsgefühl, 
das  Bewußtsein  staatlicher  und  nationaler  Verantwortung  ge- 
stärkt, wie  es  die  Geschichte  der  amerikanischen  Einheit  lehrt. 
Und  offenbar  ist  ein  Bund,  der  inmitten  der  kriegerischen  Groß- 
mächte der  alten  Welt  seine  Bestimmung  erfüllen  soll,  in  noch 
höherem  Grade  einheitsbedürftig  als  dieses  Amerika,  das  von 
zahllosen  Konflikten  der  europäischen  Staatengesellschaft  durch 
den  Ozean  getrennt  ist  und  keine  oder  nur  schwache  Nachbarn 
hat.  Schon  im  ersten  Teile  seiner  Rede  hat  Bassermann  die 
Unhaltbarkeit  und  die  Gefährlichkeit  loser  Staatsformen  durch 
geschichtliche  Beispiele  besonders  aus  der  deutschen  Vergangen- 
heit nachgewiesen  und  es  ausgesprochen:  ,, Unserem  Vaterlande 
tut  ein  einheitliches  Regiment,  ein  festerer  Zusammenhalt  not, 
als  die  Bundesakte  will.  Sowohl  zur  Sicherung  der  Zukunft, 
zum  glücklicheren  Überstehen  einer  neuen  Krisis,  als  auch  zur 


Bergsträljer.  Die  parteipulit.  Lacje  b.  Zusammentritt  (I.Vorparlaments.      601 

friedlichen  inneren  Entwicklung  bedarf  Deutschland  eines  mäch- 
tigeren Mittelpunktes."  Nur  eine  Weiterentwicklung,  eine  Reform 
der  Verfassung  kann  dieses  dringende  und  notwendige  Be- 
dürfnis befriedigen,  eine  Reform,  keine  Revolution.  ,,Das  mo- 
narchische Deutschland  kann  bleiben  wie  es  ist,  es  braucht  sich 
nicht  zu  demokratisieren";  es  will  nur  und  muß,  um  bestehen 
bleiben  zu  können,  selbst  die  notwendigen  Vorbedingungen 
seiner  Erhaltung  schaffen.  ,,Der  Weltfriede  steht  auf  zwei 
Augen.  An  der  Seine  und  an  der  Donau  neigen  sich  die  Tage." 
,,Mag  es  auch  wieder  erst  einer  Zeit  der  Not  zur  Ausführung 
der  Reform  bedürfen,  diese  Ausführung  wird  dann  um  so 
sicherer  und  leichter  geschehen,  je  fester  die  Überzeugung  der 
Notwendigkeit  vorher  begründet  und  je  allgemeiner  die  Zweck- 
mäßigkeit der  Heilmittel  unserer  Übel  in  der  Nation  verbreitet 
ist.  Diese  Überzeugung  auszusprechen  ist  die  Aufgabe  der 
Vertreter  des  A^olkes,  ist  ihre  Pflicht." 

Dieser  Antrag  Bassermanns,  dem  die  liberale  Mehrheit 
der  Kammer  enthusiastisch  beistimmte,  gilt  allgemein,  weil  die 
Revolution  so  bald  darauf  einsetzte,  als  das  Fanal,  der  Weg- 
weiser derselben. 

Er  wird  dadurch  mit  der  folgenden  Zeit  verknüpft,  und 
der  Zusammenhang  nach  rückwärts  nicht  beachtet,  der  doch 
allein  eine  gerechte  Würdigung  erlaubt.  Es  war  das  drittemal, 
daß  im  badischen  Landtag  dieser  Antrag  gestellt  wairde;  1831 
hatte  es  Welcker  zum  erstenmal  getan,  1841  zum  zweiten. 
Das  erstemal  hatte  die  Regierung  selbst  jede  Begründung  des 
Antrages  zu  hintertreiben  versucht,  ihre  Vertreter  und  Anhänger 
in  der  Kammer  hatten  die  Sitzung  ostentativ  verlassen,  die 
Motion  war  nicht  ins  Protokoll  aufgenommen  worden.  Diesmal 
sprachen  der  Ministerpräsident  und  der  Minister  des  Äußeren, 
ablehnend  natürlich;  und  sie  wußten  sich  keinen  bessern  Rat, 
als  den  Sondergeist  und  den  Eigendünkel  aufzurufen,  indem 
sie  darauf  hinwiesen,  daß  gerade  die  Kammer  einen  großen 
Teil  ihrer  Rechte  an  ein  solches  deutsches  Parlament  abtreten 
müsse,  wenn  ihre  Wünsche  sich  erfüllten.  Trotzdem  —  vom 
Standpunkte  des  Antragstellers  und  seiner  Freunde  —  ein  Fort- 
schritt, der  auch  in  der  Debatte  anerkannt  wurde.  Wichtiger 
noch  ist  die  innere  Verknüpfung.  Und  da  ist  vor  allem  hervor- 
zuheben, wie  ruhig  und  sachlich,  ohne  Phrasen  und  über- 
treibendes Pathos  Bassermann  die  Verhältnisse  gezeichnet  hat, 
wie  er  in  seiner  Motion  durchaus  nichts  Unerreichbares  verlangt, 
keinen  plötzHchen  Bruch  mit  dem  Bestehenden,  weder  mit  der 


602      Bergsträßer.  Die  parteipolit.  Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

partikularistischen,  noch  mit  der  monarchischen  Entwicklung, 
nicht  einmal  mit  dem  Bunde.  Organische  Weiterentwicklung 
würden  wir  heute  nennen,  was  er  will.  Eine  deutliche  Absage 
an  all  die  hastigen  Dränger,  die  überschnellen,  republikanisch 
gefärbten.  Hier  liegt  die  Entwicklungslinie  für  die  wichtigste 
Partei  des  Jahres  1848,  für  die  wichtigste  Partei  der  deutschen 
Einigung  überhaupt,  hier  ist  der  Kern  derer,  die  das  nationale 
Prinzip  über  alles  andere  stellen  und  am  reinsten  den  uni- 
tarischen Gedanken  verkörpern  wollen,  deren  Weg  über  die  Erb- 
kaiserlichen der  Paulskirche,  die  Gothaer  der  beginnendeu,  den 
National  verein  der  endenden  Reaktion  zu  den  Nationalliberalen 
des  werdenden  Reiches  führt. 

Alle  gemäßigten  Redner  unterstreichen  dies,  Welcker  vor- 
weg, der  alte  Vorkämpfer,  den  lange  Jahre  des  Druckes,  der 
Schikane  nicht  zum  Radikalen  machten.  Er  warnt  die  Re- 
gierung allzulange  zu  warten,  es  könnte  ein  plötzlicher  Sturm 
kommen,  eine  Entwicklung  von  unten  aus  dem  Volke,  die  sie 
zwänge  zu  dem,  was  sie  besser  freiwillig  täte.  ,, Zertrümmert 
fast  liegt  das  System  der  Reaktion,  die  Zeit  mehr  als  unsere 
Worte  unterstützt  den  Antrag  auf  Nationalrepräsentation."  Mit 
der  Warnung  zugleich  aber  die  Versicherung,  daß  ,,man  es  als 
iieilige  Pflicht  erachte,  wenn  die  große  Krisis  kommt,  zusammen- 
zutreten, sich  hinzustellen  als  Männer,  denen  ihre  Mitbürger 
vertrauen,  nicht  um  ungesetzlich  eine  Macht  zu  usurpieren, 
aber  um  die  freiwilligen  Leistungen  und  die  Opfer  des  Volkes 
zu  leiten,  um  mit  Rat  und  Tat  den  Fürsten  zur  Seite  zu  stehen, 
damit  nicht  wieder  so  unglückliche  Beschlüsse  gefaßt  werden 
wie  früher,  und  um  zu  sorgen,  daß  Vertrauen  erweckt  und 
Wort  gehalten  werde.  So  wird  allerdings  eine  Nationalpräsen- 
tation entstehen." 

IT. 

Schneller  als  all  diese  Redner  geglaubt  hatten,  sollte  der 
Augenblick  kommen,  den  sie  warnend  vorausgesehen  hatten, 
schneller  als  sie  gedacht,  sollten  gerade  diese  Gemäßigten  die 
Aufgabe  zu  lösen  haben,  die  Welcker  bezeichnete,  au  die  Seite 
der  Regierung  zu  treten,  um  ihr  zu  helfen,  Ruhe  und  Ordnung 
zu  erhalten  und  freie  Bahn  zu  schaffen  für  eine  friedliche 
Weiterentwicklung. 

Vierzehn  Tage  nach  dieser  Kammerberatung  brach  die 
Revolution  aus;  am  27.  Februar  war  die  erste  große  politische 
Versammlung  in  Mannheim,  und  am  28.  Februar  schon  ließen 


Bergsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments.      603 

die  badischen  Abgeordneten  Einladungen  an  ihre  süd-  und 
westdeutschen  Kollegen  ergehen  zu  einer  gemeinsamen  Beratung 
der  neuen  Lage. 

Am  5.  März  fand  diese  Versammlung  im  Badischen  Hof 
in  Heidelberg  statt;  da  eine  so  kurze  Zeit  zwischen  Einladung 
und  Tagung  lag,  waren  hauptsächlich  Süddeutsche  erscliienen, 
unter  ihnen  22  Badener,  an  Zahl  allen  anderen  Süddeutschen  (23) 
fast  gleich ;  aus  Preußen  nur  4  Rheinländer,  als  Vertreter  Öster- 
reichs der  zufällig  in  Heidelberg  anwesende  Wiesner.  Innerlich, 
den  Anschauungen  nach  war  die  Versammlung  homogener. 
Alle  Erschieneneu  waren  bekannte  Vorkämpfer  der  deutschen 
Einheit  und  Freiheit.  Innerhalb  dieses  Rahmens  aber  gab  es 
doch  große  Unterschiede,  um  nicht  zu  sagen  Gegensätze.  Sie 
hatten  sich  in  den  kurzen  Tagen  zwischen  Einladung  und  Tagung 
noch  verschärft,  nicht  verwunderlich  bei  der  ungeheuer  schnellen 
Entwicklung  in  jenen  Wochen,  begreiflich  besonders,  da  man 
jetzt  nicht  mehr  durch  einen  alles  beherrschenden  Gegensatz 
gegen  die  Regierungen  zusammengehalten  wurde,  sondern  die 
positive  Arbeit,  die  Gestaltung  anfing  und  über  das  Wie,  das 
nun  plötzlich  mit  seinen  Forderungen  auftrat,  die  verschiedensten 
Ansichten,  Stimmungen  und  Gefühle  sich  geltend  machten. 
Das  hatte  sich  schon  in  den  badischen  Landtagssitzungen  jener 
Tage  gezeigt.  Ein  großer  Flügel  wollte  viel  weiter  gehen,  als 
die  um  Welcker  und  Mathy,  wollte  unter  den  außerordentlichen 
Umständen  den  Boden  der  althergebrachten  Ordnung  verlassen: 
als  eine  Abordnung  aus  Mannheim  am  1.  März  die  Wünsche 
der  Bürgerschaft  überbrachte,  beantragte  Hecker  mit  Unter- 
stützung einiger  anderer  Abgeordneter,  den  geschäftsordnungs- 
mäßigen Weg  nicht  einzuhalten,  sondern  die  Wünsche  direkt 
an  den  Thron  zu  bringen.  Nur  mit  einiger  Mühe  konnte  Mathy 
die  menschenumlagerte  Kammer  dazu  bringen,  die  notwendige 
Ausschußberatung  zu  beschließen. 

Unter  den  Nichtbadenern  herrschte  die  gemäßigte  Richtung 
vor.  Hansemann  war  in  der  direkten  Absicht  gekommen,  Maß 
und  Besonnenheit  zu  predigen,  was  ihm  wie  Mevissen  nach 
den  Zeitungsberichten  sehr  notwendig  schien  (Hansen,  Me- 
vissen II  S.  175),  Gagern  ,,um  für  das  monarchische  Prinzip 
gegen  großen  republikanischen  Andrang  einzutreten"  ^).  Über 
den    Gang   der  Verhandlungen    selbst   wissen    wir   leider    sehr 


^)  Hans  an  Fritz  Gagern.     Bei  H.  v.  Gagern,  Das  Leben  des  Generals 
Friedrich  von  Gasfern  112  S.  641. 


604      Bergsträßer,  Die  parteipolit.  Lage  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

wenig.  Sicher  ist  nur,  daß  diese  Gegensätze  auch  zum  Aus- 
druck kamen.  Hecker  und  Struve  sprachen  sich  für  eine 
Umwandlung  Deutschlands  in  eine  Republik,  wohl  in  dem, 
auch  noch  auf  Versammlungen  bis  Ende  März  festgehaltenen 
Sinne  aus,  daß  die  einzelnen  Staaten  in  einer  Union  mit  repu- 
blikanischer Spitze,  ähnlich  der  amerikanischen,  vereinigt  werden 
sollten.  Demgegenüber  machten  andere  Teilnehmer  geltend, 
daß  der  größte  Teil  des  Volkes  das  nicht  wolle,  vielmehr  an 
der  Monarchie  festhalte  ,und  durch  die  Republik  nur  ein  Riß 
in  die  Bewegung  gebracht,  das  Deutschland,  das  zu  einigen 
man  versammelt  sei,  von  vornherein  gespalten  werde.  Man 
wird  dabei,  wie  es  in  jenen  Jahren  vielfach  geschah,  theoretisch 
sich  für  die  Republik  ausgesprochen,  sie  aber  für  augen- 
blicklich undurchführbar  erklärt  haben.  Andere  machten 
geltend,  diese  Vorversammlung  könne  derartiges  überhaupt 
nicht  beschließen,  da  nur  der  kleinste  Teil  von  Deutschland 
vertreten  sei.  Die  entschiedensten,  unter  ihnen  Hansemann,  der 
ja  noch  damals  nur  für  eine  Reform  des  Bundestages  war,  und 
Gagern  ^)  sprachen  sich  offen  für  die  konstitutionelle  Monarchie 
aus.  Gagern  erklärte,  wenn  Hecker  und  Konsorten  ihre  Idee 
nicht  aufgäben,  so  müsse  man  jetzt  gleich  eine  reinliche  Schei- 
dung vollziehen.  Darauf  erst  gab  Hecker  die  Versicherung 
ab,  auch  er  werde  sich  dem  Beschlüsse  der  Mehrheit  fügen. 
(Hansemann,  Preußische  und  Deutsche  Verfassungswerke  S.  90. 
Jürgens,  Zur  Geschichte  des  deutschen  Verfassungswerkes 
1848/49  I  S.  24.  Artikel  Struve,  Badische  Biographien  II  S.332). 
Auch  nachdem  man  sich  so  auf  ein  konstitutionell-monarchisches 
Programm  geeinigt  2)  hatte,   war  man  über  den  Weg,  auf  dem 

0  Zu  Gagerns  Auftreten  vgl.  des  Versammlungsteilnehmers  Häussers 
Schilderung  —  „Die  Gregenwart"  Bd.  III  S.  458,  über  die  Quelle  das  S.  610 
Anm.  1  Gesagte. 

*)  Wenn  G.  Hebeisen  in  seiner  Dissertation:  Die  radikale  und  die 
konstitutionelle  Partei  in  Baden,  Freiburg  1909,  S.  22  zu  beweisen  sucht,  daß 
Mathy  am  5.  März  in  Heidelberg  für  die  Eepublik  gewesen  sei,  so  ist  das 
sicher  nicht  richtig.  Einen  Hinweis,  wie  der  Widerspruch  zu  lösen  sei,  gibt 
Häusser  (Gegenwart  UI  S.  258),  nach  dessen  Bericht  auch  Gagern  die  Re- 
publik als  theoretisches  Ideal  anerkannte,  übrigens  in  einer  typischen  For- 
mulierung, die  zeigt,  wie  stark  der  Einfluß  des  klassischen  Altertums  auch 
in  diesen  Dingen  gewesen  ist.  Ähnlich  mag  sich  Mathy  geäußert  haben; 
aber  nach  seinem  sonstigen  Auftreten  wird  auch  er  wie  Gagern  die  Republik 
als  praktische,  jetzt  zu  erhebende  Forderung  abgelehnt  haben.  Hebeisen  hält 
sich  überhaupt  zu  sehr  an  Worte  und  berücksichtigt  nicht  die  Wandlungen 
und  Nuancierungen,  denen  sie  unterworfen  sind.  —  Hebeisen  bringt  zu  dieser 
Frage  selbst  Material  in  dem  Flugblatt  Welckers  zur  Offenburger  Versamm- 


Bergsträß  er,  Die  parteipolit.Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments.      t)05 

es  durchzusetzen  sei,  uoch  sehr  verschiedener  Meinung.  Eine 
Minorität  wollte  den  Bundestag  bei  der  ganzen  Aktion  gleich- 
sam als  Luft  behandeln,  sich  über  ihn  ganz  hinwegsetzen,  eine 
sehr  wenig  positive  Art  Politik  zu  treiben.  Eine  andere  Minder- 
heit wollte  die  ganze  Verfassungsfrage  vertagt  sehen.  (Kriti- 
scher Artikel  der  Deutschen  Zeitung  vom  8.  März  Nr.  68,  wohl 
wie  die  meisten  Leitartikel  von  Gervinus.)  Auch  die  Frage,  ob 
die  Regierung  zu  dem  Verfassungswerke  überhaupt  herange- 
zogen werden  sollte,  wurde  angeschnitten.  Das  verrät  eine 
Einschiebung  in  den  ersten  Beschlußsatz  der  Erklärung,  der 
lautet:  ,, Einmütig  entschlossen  in  der  Hingebung  für  Freiheit, 
Einheit,  Selbständigkeit  und  Ehre  der  deutschen  Nation  sprachen 
alle  die  Überzeugung  aus,  daß  die  Herstellung  und  Verteidigung 
dieser  höchsten  Güter  im  Zusammenhange  aller  deutschen 
Volksstämme  mit  ihren  Regierungen,  solange  auf  diesem 
Wege  Rettung  noch  möglich  ist,  erstrebt  werden  müsse" ^). 
Über  die  Ausführung  dieses  Programmes  sagen  die  nächsten 
Sätze:  ,, die  Versammlung  einer  in  llen  deutschen  Landen  nach 
der  Volkszahl  gewählten  Natioualvertretung  ist  unaufschiebbar, 
sowohl  zur  Beseitigung  der  nächsten  inneren  und  äußeren  Ge- 
fahren, wie  zur  Entwicklung  der  Kraft  und  Blüte  deutschen 
Nationallebens.  Um  zur  schleunigsten  und  möghchst  voll- 
ständigen Vertretung  der  Nation  das  ihrige  beizutragen,  haben 
die  Versammelten  beschlossen,  ihre  betreffenden  Regierungen 
auf  das  dringendste  anzugehen,  so  bald  und  so  vollständig  wie 
nur  immer  möglich  ist,  das  gesamte  deutsche  Vaterland  und 
die  Throne  mit  diesem  kräftigen  Schutzwall  zu  umgeben.  Zu- 
gleich haben  sie  verabredet,  dahin  zu  wirken,  daß  baldmöghchst 
eine  vollständige  Versammlung  von  Männern  des  Vertrauens 
aller  deutschen  Volksstämme  zusammentrete,  um  diese  wichtigste 
Angelegenheit  weiter  zu  beraten  und  dem  Vaterlande  wie  den 
Regierungen  ihre  Unterstützung  anzubieten." 

Zu  dem  Ende  wurden  viele  Mitgheder  ersucht,  ,, hinsichtlich 
der  Wahl  und  der  Einrichtung  einer   angemessenen  National- 


lung  (H.  S.  28  f.).  Auch  W.  spricht  sich  darin  theoretisch  für  die  Republik 
aus,  die  er  praktisch  bekämpft.  Bezüglich  Mathys  widerspricht  H.  sich  selbst, 
wenn  er  S.  48  sagt,  Mathy  sei  am  5.  März  wieder  ganz  auf  die  Seite  der 
Monarchie  getreten. 

^)  Man  wird  nicht  fehlgehen,  wenn  man  diese  Einschiebung  als  den 
Ausdruck  eines  zwischen  der  radikalen  und  der  konstitutionellen  Richtung 
geschlossenen  Kompromisses  ansieht;  die  Konstitutionellen  geben  in  der 
Formulierung  nach  und  halten  ihr  Prinzip  fest. 


606      B  ergsträßer ,  Die  parteipolit. Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

Vertretung  Vorschläge  vorzubereiten  und  die  Einladung  zu 
einer  Versammlung  deutscher  Männer  schleunig  zu  besorgen." 
Damit  war  der  erste  Schritt  getan  auf  dem  Wege  zu  einem 
deutschen  Parlament.  Aber  schon  in  dem  letzten  Satze  ist 
enthalten,  daß  die  Versammlung  der  51  nicht  nur  weitere  Schritte 
dazu  tun  wollte,  daß  ein  deutsches  Parlament  zusammenkomme, 
sondern  daß  eine  Vorbesprechung  über  die  Einzelheiten  der 
Ausführung  über  das  Wie  stattgefunden  hat. 

Ein  Siebenerausschuß  sollte  einer  vollständigeren  Versamm- 
lung der  Männer  des  Vertrauens  Vorschläge  machen  auch  über 
die  Einrichtung  einer  angemessenen  Nationalvertretung. 

Die  Vorbesprechung  hatte  noch  zu  einem  weiteren  Ergebnis 
geführt,  das  der  Einheitsbewegung  ein  bestimmtes  Ziel  steckte, 
man  möchte  sagen  ein  Mindestprogramm  für  die  Einigung  auf- 
stellte: ,,Eine  Hauptaufgabe  der  Nationalvertretung  wdrd  jeden- 
falls die  Gemeinschaftlichkeit  der  Verteidigung  und  der  Ver- 
tretung nach  außen  sein,  wodurch  große  Geldmittel  für  andere 
wichtige  Bedürfnisse  erspart  werden,  während  zugleich  die  Be- 
sonderheit und  angemessene  Selbstverwaltung  der  einzelnen 
Länder  bestehen  bleibt."  Wir  werden  nicht  fehl  gehen,  wenn 
wir  auch  in  der  eigentümlichen  Fassung  dieses  Satzes  ein 
Kompromiß  zwischen  rechter  und  linker  Seite  der  Versammlung 
sehen,  ein  kluges  Kompromiß,  bei  dem  die  Rechte  scheinbar 
nachgab  und  praktisch  einen  Sieg  erfocht.  Wir  wissen  aus  den 
Versammlungen,  die  die  extreme  Linke  im  März  in  Baden  ab- 
hielt, daß  sie  hauptsächlich  mit  dem  Argument  für  eine  repu- 
blikanische Neuordnung  focht,  daß  die  Monarchie  das  Volk 
finanziell  ruiniere,  deshalb  der  sonst  ganz  unmotivierte  Zwischen- 
satz. Es  war  eine  Konzession  an  die  Anschauung  der  Linken 
und  eine  Rückendeckung  für  die  Gemäßigten,  die  sagen  konnten : 
Auch  wir  sind  für  tunlichste  Verbilligung  des  Staatsapparates  i). 

In  den  Siebenerausschuß  waren  gewählt:  Willich,  Advokat 
aus  Frankenthal   in  der  bayrischen  Pfalz,    Stedtmann,   Römer, 

^)  Für  die  Agitation  der  Kadikaien  in  dieser  Hinsicht  charakteristisch 
ist  eine  Flugschi-ift:  „Republik!"  —  ein  Sonderdruck  aus  der  Deutschen 
Volkszeitung,  Mannheim,  Verlag  von  Heinrich  Hoff  1848.  Die  dritte  Abhand- 
lung der  Flugschrift  heißt:  Was  ist  wohlfeiler,  die  Republik  oder  die  Monarchie? 
—  Der  Beweis,  wie  ihn  die  Agitation  erfordert,  wird  durch  Steuerzahlen 
erbracht,  die  für  Schweizer  Kantone  und  monarchische  Länder  verglichen 
werden. 

Wentzcke,  Kritische  Bibliographie  der  Flugschriften  zur  deutschen 
Verfassungsfrage,  führt  sie  als  Nr.  80.  Die  Datierung  der  AUg.  Bibl.  ist 
viel  zu  spät. 


Bergstraße I',  Die  parteipolit.  Lage  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments.      607 

nun  bald  Minister  in  Württemberg,  Gagern,  der  es  am  Tag 
nach  dieser  Wahl  wurde,  Itzstein,  der  Frankfurter  Binding  I, 
der  in  seiner  Vaterstadt  die  Vorbereitungen  treffen  sollte,  und 
Welcker;  in  ihrer  Mehrzahl  gemäßigten  Anschauungen  huldigend. 
Der  Ausschuß  trat  am  12.  März  zu  einer  Sitzung  in  Heidelberg 
zusammen.  Er  beschäftigte  sich  mit  zweierlei:  Einmal  mit  den 
Einladungen  zu  der  vorbereitenden  Versammlung.  Generell 
eingeladen  wurden  ,,alle  früheren  oder  gegenwärtigen  Stände- 
mitglieder und  Teilnehmer  an  gesetzgebenden  Versammlungen 
in  allen  deutschen  Landen,  natürlich  Ost-  und  Westpreußen  und 
Schleswig-Holstein  einbegriffen".  Schleswig-Holstein  wurde  aus- 
drücklich erwähnt,  weil  damals  gerade  Dänemark  es  sich  ein- 
verleiben wollte,  Ost-  und  Westpreußen,  weil  diese  Provinzen 
nicht  zum  deutschen  Bunde  gehörten.  Die  Presse  (vgl.  A.  Z.) 
machte  bald  darauf  aufmerksam,  daß  Posen  in  derselben  Lage, 
aber  nicht  genannt  sei,  worauf  Welcker  unterm  18.  März  erklärte 
(Deutsche  Zeitung  20.  März),  daß  es  keineswegs  die  Absicht 
gewesen  sei,  die  posenschen  Ständemitglieder  auszuschheßen, 
und  das  um  so  weniger,  ,,da  \\ar  deutlich  die  höchste  politische 
Notwendigkeit  erkannten,  daß  Preußen  mit  all  seinen  Landen 
demselben  deutschen  Nationalverein  angehöre."  Damit  setzte 
sich  die  Einheitsbewegung  in  bewußten  Gegensatz  zur  dyna- 
stischen Politik  der  Vergangenheit.  Hätte  man  sich  auf  diese 
Kategorie  deutscher  Männer  allein  beschränkt,  so  hätte  man 
eine  Reihe  gerade  solcher  Männer  ausgeschlossen,  die  bisher 
Träger  des  Gedankens  einer  fortschrittlichen  Entwicklung  ge- 
wesen waren,  ohne  Mitglieder  einer  Vertretung  zu  sein.  Es 
war  also  durchaus  konsequent  im  Rahmen  dieses  ganzen  Ge- 
schehens und  der  Absichten,  die  man  hegte,  daß  man  beschloß, 
eine  bestimmte  Anzahl  anderer  durch  das  Vertrauen  des  deutschen 
Volkes  ausgezeichneter  Männer,  die  bisher  nicht  Ständemitglieder 
waren,  besonders  einzuladen.  Solche  Einladungen  wurden  auch 
sofort  von  dem  Siebenerkomitee  in  größerer  Anzahl  verschickt, 
z.  B.  an  Robert  Blum  (Biedermann,  Mein  Leben  und  ein  Stück 
Zeitgeschichte  S.  278),  an  Heinrich  Simon  in  Breslau  (Jacoby, 
Simon  H  S.  17),  aber  auch  an  den  Ultramontanen  Peter  Reichens- 
perger  (Erinnerungen  eines  alten  Parlamentariers  S.  31).  Dieser 
scheint,  da  er  auf  einem  gemäßigteren  Boden  stand,  recht  er- 
staunt über  diese  Einladung  gewesen  zu  sein,  die  er  nur  darauf 
zurückführte,  daß  er  sich  durch  verschiedene  Schriften  zur  Ver- 
teidigung der  rheinischen  Rechtsinstitutionen  gegen  die  Angriffe 
des  preußischen  Ministeriums,    besonders   Kamptz,    bemerkbar 


608      Bergsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b, Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

gemacht  hatte.  Wie  sehr  seine  Anschauung  von  der  der  Heidel- 
berger abwich,  zeigt  uns  der  Umstand,  daß  er  ihr  Vorgehen 
für  in  gewissem  Sinne  revohitionär  erachtete,  da  es  jeder  recht- 
hchen  Grundlage  entbehre.  Einzelne  der  so  Eingeladenen  er- 
hielten überdies  ihrerseits  eine  Anzahl  Blankoeinladungskarten 
zu  beliebiger  Verwendung,  so  z.  B.  Simon,  der  eine  davon  an 
seinen  Freund  Immermann,  einen  Verwandten  des  Dichters, 
weitergab.  Auch  die  einzelnen  Ausschußmitglieder  sollen  der- 
artige persönliche  Einladungen  verschickt  haben,  besonders  Itz- 
stein  an  eine  Reihe  sehr  linksstehender  Männer.     (Jürgens.) 

Daß  er  darin  systematisch  vorgegangen  sei,  um  einer  be- 
stimmten Richtung  die  Übermacht  zu  sichern,  ist  aber  nicht 
erweislich^).  Mit  den  näheren  örthchen  Vorbereitungen  wie 
der  Prüfung  der  Legitimationen  wTirden  die  Frankfurter  Mit- 
glieder betraut.  Ein  unvorhergesehener  Zwischenfall  ließ  es 
diesen  notwendig  erscheinen,  über  das  am  12.  Beschlossene 
hinauszugehen.  Inzwischen  hatte  Friedrich  Wilhelm  IV.  den 
vereinigten  Landtag  auf  den  1.  April  zusammenberufen;  damit 
waren  die  preußischen  Ständemitgiieder,  die  dieser  wichtigen 
Tagung  in  einer  solchen  Zeit  unmögUch  fernbleiben  konnten, 
von  der  Teilnahme  an  der  Frankfurter  Versammlung  aus- 
geschlossen. Wir  sahen  schon  aus  Welckers  Erklärung,  welchen 
Wert  man  einer  zahlreichen  Vertretung  der  preußischen  Ge- 
bietsteile beilegte  und  so  entschlossen  sich  die  Frankfurter 
kurz,  einer  Anregung  Stedtmanns  (Jürgens  a.  a.  0.)  zu  folgen 
und  sämtliche  preußischen  Stadtverordnetenversammlungen  ein- 
zuladen, Vertreter  zu  schicken.  Die  Gemeinderäte  der  rheini- 
schen Städte  traten  jeweils  in  einem  besonderen  Wahlakt  zu- 
sammen. Man  kann  durchaus  nicht  sagen,  daß  durch  die 
Wahlen  die  radikale  Richtung  gestärkt  worden  wäre,  denn  es 
kamen  z.  B.  die  konservativen  Ultramontanen  Adams  und  Lingen 
aus  Koblenz  (Rhein-  und  Mosel-Ztg.  1848  März  30.  Koblenz 
29.  März.)  Inzwischen  hatte  die  Anregung  der  Heidelberger 
Versammlung  vom  5.  März  überall  in  Deutschland  lebhaften 
Widerhall  und  begeisterte  Zustimmung  gefunden.  Auf  diesem 
Wege   erwartete   man  Rettung   und  Erlösung  aus  allen  Nöten. 


')  Im  Gegenteil  ist  man  im  allgemeinen  durchaus  objektiv  verfahren, 
indem  z.  B.  in  der  Rheinprovinz  auch  anerkannte  Ultramontane,  wie  General- 
vikar Baudri  und  das  Mitglied  des  Stadtrates  Domkapitular  Dr.  Broix  Ein- 
ladungen erhalten  (Rhein-  und  Mosel-Ztg..  Nr.  vom  4.  April  imter  Köln). 
Letzterer  ging  auch  nach  Frankfurt,  er  steht  als  Schulinspektor  unter  den 
preußischen  Mitgliedern,  Jucho  S.  XL 


Bergsträßer,  Die  parteipolit,  Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments.      6C>9 

Die  Gemäßigten  hofften  durch  sie  die  Ruhe  zu  erhalten,  ge- 
ordnete Zustände  zu  schaffen;  die  Radikalen  Erfüllung  ihrer 
Träume.  Überall  war  der  Aufruf  vom  5.  März  bekannt  geworden, 
und  da  und  dort  schritt  man.  da  die  Beschlüsse  vom  12.  noch 
nicht  bekannt  geworden  waren,  dazu,  in  Volksversammlungen 
Männer  des  Vertrauens  zu  wählen,  die  an  der  Vertretung  teil- 
nehmen sollten.  So  wurde  in  Leipzig  in  einer  Versammlung 
am  12.  März  beschlossen,  das  ^'orparlament  zu  beschicken  und 
Professor  Biedermann  als  Delegiener  gewählt,  in  Göttingen 
erkor  eine  Versammlung  den  Staatsrechtslehrer  Professor 
Zachariä.  Da  die  Kommission  selbst  durchaus  freihändig 
und  ohne  bestimmte  Grundsätze  und  Regeln  aufzusteUen.  ein- 
zelne Männer  zur  Teilnahme  eingeladen  hatte,  konnte  sie  solche 
Delegierte,  wenn  sie  sich  nur  über  den  Versammlungsbeschluß 
auswiesen,  nicht  wohl  zurückweisen.  Et^enso wenig  einige  Dele- 
gierte nichtpreußischer  Kommunalvertretungen.  Durch  all  das 
wurde  natürhch  die  Zusammensetzung  eine  wesentlich  andere, 
als  man  anfänghch  gedacht  hatte.  Das  nichtparlamentarische 
Element  war  viel  stärker,  fast  überwiegend.  Und  das  ist  für 
den  geregelten  Gang  der  Verhandlungen  durchaus  nicht  einerlei, 
sollte  gerade  diesmal  sich  noch  recht  geltend  machen.  Falsch 
ist  allerdings  meines  Erachtens  die  Ansicht,  die  verschiedenthch 
von  sehr  gemäßigten  Teilnehmern  später  vertreten  worden  ist, 
als  hätten  gerade  diese  Unregelmäßigkeiten  die  radikale  Seite 
der  Versammlung  gestärkt.  Namen  wie  Zachariä  und  Bieder- 
mann sprachen  dagegen;  anzimehmen  ist  wohl,  daß  auch  hier 
ein  natürhcher  Ausgleich  der  Kräfte  stattfand. 

Weit  entscheidender  für  den  schheßHchen  Verlauf  des  Vor- 
parlaments waren  die  Ereignisse,  die  sich  zwischen  dem  12.  März 
und  dem  Zusammentritt  der  Versammlung  in  Deutschland  ab- 
spielten, die  Bewegung  in  Berhn  und  in  Wien  und  ihre  Rück- 
wirkung auf  Baden  und  die  ganze  deutsche  pohtische  Beweoiini:. 

m. 

Diese  Ereignisse  hatten  eine  doppelte  Wirkung.  Zunächst 
war  der  plötzhche  und  so  tiefe  Fall  der  Staatsautorität  von 
großem  Einfluß  auf  die  Weiterbildung  des  revolutionär-repu- 
blikanischen Gedankens  innerhalb  des  radikalen  Liberalismus. 
Am  stärksten  war  hier  die  Wirkimg  der  Berliner  Ereignisse, 
nicht  nur  weil  die  Demütigung  des  Königtums  eine  tiefere  war 
als  in  Wien,  sondern  weil  sie  überraschender  kam.    Man  hatte 

Z«ilsciirift  ßi  Politii.   6.  39 


610      Bergsträßer,  Die  parteipolit.  Lage  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

Preußen  doch  auch  in  den  Reihen  der  Liberalen  mehr  Kraft 
zugetraut.  Dann  aus  einem  persönhchen  Gefülil  heraus: 
Friedrich  Wilhelm  IV.  war  viel  stärker,  mit  viel  mehr  Prätension 
hervorgetreten  als  der  österreichische  Kaiser.  Die  Märztage 
hatten  nicht  nur  irgend  eine  Dynastie  besiegt,  auch  nicht  nur 
irgend  einen  Träger  des  reaktionären  Systems  —  einen  unter 
vielen,  der  eben  auch  diesen  Weg  ging  — ,  sondern  gerade 
den,  der  ihn  bewußt,  absichthch  gegangen  war,  der  sich  mit 
den  Fragen  der  Gegenwart  und  Zukunft  öffentlich  auseinander- 
gesetzt hatte.  Er  war  erlegen.  Das  gab  den  republikanischen 
Unterströmungen  einen  starken  Anstoß.  Sie  hatten  ja  schon 
lange  bestanden,  wohl  seit  der  großen  französischen  Revolution, 
aber  sie  waren  nie  zu  einem  wirkhchen  Ausdruck  gekommen, 
wenigstens  nicht  in  Deutschland  und  besonders  nicht  bei  denen, 
die  in  den  einzelnen  Ländern  in  politischen  Kämpfen  standen. 
Nur  unter  den  im  Ausland  lebenden  Flüchtlingen,  unter  denen 
besonders,  die  sich  in  der  Schweiz  und  in  Frankreich  aufhielten, 
hatte  der  Repubhkanismus  gesiegt,  war  er  so  erstarkt,  daß  er 
auch  zur  Maxime  praktischen  Handelns  wurde,  aus  dem  Zu- 
stande eines  Idols  heraustrat.  Der  Zentralausschuß  der  deut- 
schen Legion  in  der  Schweiz  unter  Führung  von  Job.  Ph.  Becker 
und  das  Oberkommando  der  deutschen  Legion  in  Paris  mit 
Herwegh  und  Corvin  an  der  Spitze  rüsteten  Korps  aus  die  von 
Westdeutschland  her  die  Republik  ausbreiten  sollten.  Sie  hatten 
auch  Beziehungen  zu  den  Radikalen  in  Baden.  Aber  bis  zum 
20.  März  ungefähr  waren  diese  noch  recht  platonischer  Natur. 
Bis  dahin  hat  sich  in  Baden  noch  kein  offizieller  Führer  für 
die  RepubUk  ausgesprochen.  Nur  der  Kaufmann  Fickler  in 
Konstanz  agitierte  in  Wort  und  Schrift,  in  den  Seeblättern,  die 
er  seit  1830  herausgab,  im  Sinne  der  Pariser  Legion.  Noch 
am  19.  März  unterlag  er  mit  seinen  An-  und  Absichten  in 
einer  Beratung  und  Volksversammlung  in  Offenburg  ^). 


^)  Das  Folgende  hauptsächlich  nach  dem  Aufsatze  „Baden  im  Frühjahr 
1848"  im  dritten  Bande  der  „Gegenwart"  443  ff.,  der  wie  ein  Vergleich  mit 
Häussers  Denkwürdigkeiten  zur  Geschichte  der  badischen  Eevolution  ergibt, 
auch  von  Häusser  verfaßt  ist.  Beide  zeigen  zahlreiche  wörtliche  Überein- 
stimmungen nur  fehlt  in  der  Buchausgabe  ein  großer  Teil  der  interessanten 
Einzelheiten.  Auf  eine  Anfrage  hin  hat  mir  inzwischen  der  Verlag  Brock- 
haus in  dankenswerterweise  meine  Vermutung  bestätigt.  Dazu  vgl.  Bekk, 
Die  Bewegung  in  Baden,  Andlaw.  Aufruhr  und  Umsturz  in  Baden.  Aus 
Mathys  Nachlaß,  Deutsche  und  Allgemeine  Zeitung;  für  die  einzelnen  Per- 
sonen die  Badischen  Biographien,  deren  Artikel  allerdings  oft  Häussers  Dar- 
stellung gar  sehr  benutzen. 


Bergsträßer,  Die  parteipolit.  Lage  b.  Zusammentritt  (I.Vorparlaments.      611 

Die  radikale  Seite  des  Liberalismus  verstand  es  sofort  aus- 
gezeichnet, die  neuen  Freiheiten  und  die  Gunst  der  Zeit  zur 
Agitation  zu  benutzen.  Von  einem  ihrer  Führer,  dem  kalt- 
doktrinären Struve  ging  der  Plan  aus,  eine  große  Volksver- 
sammlung für  ganz  Baden  abzuhalten  und  eine  Organisation 
in  Ausschüssen  und  Vereinen,  eine  Art  liberales  Klubsystem 
zu  schaffen.  Ein  Teil  der  gemäßigt  liberalen  Führer  sah  schon 
hier  einen  republikanisch-revolutionären  Pferdefuß,  sprach  seine 
Abneigung  unverhohlen  aus  und  hielt  sich  fern,  andere,  wie 
Soiron  und  Welcker,  stimmten  bei.  Die  Besprechung  in  Itz- 
steins  Zimmer  über  diesen  Plan  war  die  letzte,  bei  der  radikale 
und  konstitutionelle  Linke  sich  zusammenfanden.  Der  Ver- 
sammlung in  Offenburg  (am  19.  März)  lagen  republikanische 
Gedanken  noch  fern.  Hecker  wies  dahin  zielende  Bestrebungen 
einzelner  derb  und  leidenschaftlich  zurück,  Itzstein  mahnte  von 
republikanischer  Sonderbündelei  ab,  Fickler  stand  allein,  er  war 
schon  in  der  Vorberatung  des  Komitees  überstimmt  worden. 
Die  Beschlüsse  der  Versammlung,  von  Struve  formuliert,  gingen 
noch  nicht  weit  über  das  hinaus,  was  auch  die  Gemäßigten 
wollten.  Unter  dem  Titel  ,,F orderungen  des  deutschen 
Volkes"  wird  hier  verlangt 

,, Allgemeine  Volksbewaffnung  mit  freier  Wahl  der 
Offiziere.  Ein  deutsches  Parlament  frei  gewählt  durch 
das  Volk.  Jeder  Deutsche,  der  das  20.  Lebensjahr  er- 
reicht, ist  wahlfähig  als  Urwähler  und  wählbar  zum  ^^'ahl- 
mann.  Auf  je  1000  Seelen  wird  ein  Wahlmann,  auf 
100000  ein  Abgeordneter  gewählt.  Jeder  Deutsche,  ohne 
Rücksicht  auf  Rang,  Stand,  Vermögen  und  Religion  kann 
Mitghed  des  Parlamentes  werden,  sobald  er  das  2ö.  Lebens- 
jahr zurückgelegt  hat.  Das  Parlament  wird  seinen  Sitz 
in  Frankfurt  haben  und  seine  Geschäftsordnung  selbst 
entwerfen.  Unbedingte  Preß-,  vollständige  Religions-, 
Gewissens-  und  Lehrfreiheit.  Volkstümliche  Rechtspflege 
mit  Schwurgerichten.  Allgemeines  deutsches  Staatsbürger- 
recht. Gerechte  Besteuerung  nach  dem  Einkommen,  Wohl- 
stand, Bildung  und  Unterricht  für  alle.  Schutz  und  Ge- 
währleistung der  Arbeit.  Ausgleichung  des  Mißverhält- 
nisses von  Kapital  und  Arbeit.  Volkstümliche  und  bilhge 
Staatsverwaltung.  Verantworthchkeit  aller  Minister  und 
Staatsbeamten.  Abschaffung  aller  Vorrechte." 
Wir  können  in  diesem  Programm  zunächst  einen  starken 
soziahstischen   Einschlag  feststellen,    der   aber  rein   wirtschaft- 

39* 


612      Bergsträßer,  Die  parteipolit.  Lage  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

liehe  Momente  berührend  in  der  poUtischen  Frage  nach  Organi- 
sation des  Staates  noch  keine  bestimmte  Meinung  zu  bedingen 
brauchte  und  damals  auch  nicht  bedang.  Wiederkehrende 
Forderungen  der  letzten  Jahre  und  die  Mannheimer  Begehre, 
verschärft  nur  die  nach  Volksbewaffnung  durch  den  Zusatz, 
daß  die  Offiziere  frei  gewählt  werden  sollten.  Die  Forderungen 
betreffend  ein  deutsches  Parlament  sind  durchaus  nicht  radikal. 
Das  aktive  Wahlrecht  fällt  mit  der  Mündigkeit  für  Baden  zu- 
sammen, das  passive  mit  der  oberen  Altersgrenze  der  Mündig- 
keit in  Deutschland  überhaupt.  Interessant  ist  das  Festhalten 
an  der  indirekten  Wahl  und  die  Größe  der  Wahlkreise. 

Die  badischen  Angelegenheiten  betreffend,  verlangte  man 
Demission  des  Kriegsministers,  Beseitigung  einiger  anderer 
mißliebiger  Personen  und  eine  Reinigung  der  Kammer  von  den 
Mitgliedern,  die  nicht  mehr  das  Vertrauen  des  Volkes  hätten. 
Im  Prinzip  sprach  man  sich  für  ein  Einkammersystem  aus, 
da  die  erste  ja  nur  auf  Privilegien  beruhe,  deren  Abschaffung 
jetzt  nötig  sei.  Da  man  auch  in  den  bisherigen  Zugeständ- 
nissen der  Regierung  keine  Garantie  für  die  Zukunft  sehe, 
müsse  sich  das  Volk  Bürgschaft  für  die  Verwirklichung  seiner 
Forderungen  und  für  Begründung  eines  dauerhaften  Zustandes 
der  Freiheit  selbst  schaffen,  und  zu  diesem  Zwecke  Vereine 
bilden,  die  nach  Bezirken  und  Kreisen  organisiert  werden 
sollten  und  an  deren  Spitze  man  Mitglieder  der  radikalen 
Partei  sofort  wählen  ließ.  In  dieser  Maßnahme  lag  die  Be- 
deutung der  Versammlung  1).  Die  Radikalen  verstanden  es, 
sich  eine  feste  Anhängerschaft  zu  organisieren,  was  die  Ge- 
mäßigten verabsäumten.  Diese  Anhängerschaft  konnte  später 
zu  extremeren  Beschlüssen  und  Handlungen  hingerissen  werden, 
so  gut  wie  zu  diesen.  Denn  es  lag  in  der  Natur  der  noch  in 
den  Anfängen  stehenden  politischen  Bewegung,  daß  die  Masse 
des  Volkes  in  politischen  Dingen  noch  durchaus  unselbständig 
und  urteilslos  war. 

Daß  die  Haltung  der  Radikalen  auf  dieser  Versamrnlung 
nicht  eine  zufällig  gemäßigte,  sondern  bis  daliin  ihre  Über- 
zeugung war,  zeigt  allein  der  Umstand,  daß  z.  B.  Heckers 
Stellungnahme  in  der  Kammer  bis  zum  20.  März  noch  genau 
die  alte  blieb.  Er  sprach  sich  noch  anerkennend  über  die 
Regierung  aus,  lehnte  jede  Einmischung  von  außen,  jede 
Verbindung    mit    den    schweizerischen   und   französischen   Re- 


*)  Von  Häusser  richtig  hervorgehoben. 


Bergsträßer,  Die  parteipolit.  Lage  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments.      613 

volutionären  ab.  In  der  Woche  zwischen  dem  20.  und 
26.  März  erst  liegt  die  Entwicklung  zu  einer  wirklich 
offen  und  energisch  republikanischen  Partei.  Zu 
öffentlichem  Ausdruck  kam  sie  auf  den  Volksversammlungen, 
die  in  Freiburg  und  in  Heidelberg  am  Sonntag  dem  26.  März 
abgehalten  wurden.  Beide  waren  (vgl.  Allgemeine  Zeitung  1315 
und  1427,  die  Berichte  der  Allgemeinen  Zeitung  sind  meist 
von  dem  konservativen,  aber  nicht  extremen  Bruder  des  Seekreis- 
Fickler,  G3'-mnasialdirektor  Karl  Alois  Fickler  vgl.  Badische 
Biographien  I  S.  248)  schon  am  19.  von  den  Veranstaltern 
der  Offenburger  Versammlung  geplant  worden.  In  Heidelberg 
waren  die  Veranstalter  der  Mannheimer  Verlagsbuchhändler 
Hoff,  bei  dem  vom  selben  Tage  an  die  Deutsche  Volkszeitung 
erschien,  die  Hecker  und  Struve  in  Verbindung  mit  anderen 
Radikalen  herausgaben  (Anzeige  in  Nr.  89  der  D.  Z.)  und  einige 
andere  Radikale;  in  Freiburg  hatte  Struve  die  Leitung,  neben 
ihm  der  radikale  Neffe  des  alten  Rotteck.  An  beiden  Orten 
(Berichte  der  D.  Z.  S.  702,  706,  721,  731,  A.  Z.  1411,  1426  für 
Freiburg  noch  Andlaw,  Aufruhr  und  Umsturz  in  Baden  I  126) 
forderten  die  Veranstalter  die  Anwesenden  auf,  sich  für  eine 
deutsche  Föderativrepublick  (oder  Gesamtrepublik)  zu  erklären 
und  setzten  hinzu,  diese  Erklärung  der  anwesenden  Männer  solle 
dem  Ende  des  Monats  zusammentretenden  Parlament  in  Frank- 
furt (d.  h.  dem  Vorparlament)  als  maßgebend  für  die  hiesige 
Gegend  vorgelegt  werden.  Beide  Male  war  das  Arrangement  sehr 
geschickt,  man  hatte  nicht,  wie  sonst  übhch,  ein  Programm 
der  zu  fassenden  Beschlüsse  herausgegeben,  hatte  auch  die 
Vorberatung  im  engen  Kreise  der  sicher  Zustimmenden  gehalten. 
Das  versammelte  Volk  sollte  mit  dem  Antrage  auf  Föderativ- 
republik überrascht  werden.  In  Freiburg  gelang  es;  einer  kleinen 
Gegenpartei  wurde  das  Wort  abgeschnitten.  In  Heidelberg  aber 
waren  Welcker,  Mittermaier  und  andere  bekannte  Volksredner 
gegen  die  Republik  aufgetreten  und  hatten  die  Ablehnung 
erreicht.  Welcker  hatte  gesagt,  er  fürchte  sich  nach  der  Be- 
willigung der  Volksforderungen  nicht  vor  der  Reaktion,  die  die 
Republikaner  an  die  Wand  malten,  wohl  aber  vor  der,  die 
unvermeidlich  eintreten  müsse,  wenn  die  deutsche  Bewegung 
sich  überstürze  wie  die  französische  Revolution,  die  in  Dikta- 
turen, Despotismus  und  Restauration  umgeschlagen  sei.  Die 
Versammlungsleiter  zogen  die  erste  Resolution,  „daß  die  un- 
ermeßhche  Mehrheit  des  deutschen  Volkes  die  Föderativrepublik 
wolle,   und  daß  die  Nationalversammlung  diese  Staatsform  an- 


614      Bergsträßer.  Die  parteipolit.  Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorpariaments. 

nehmen  möge",  zurück  zugunsten  des  viel  milderen,  geradezu 
nichtssagenden  ,,Die  Versammlung  glaubt,  daß  bei  der  Aus- 
arbeitung der  künftigen  Verfassung  Deutschlands  die  nord- 
amerikanische Verfassung  einige  Berücksichtigung  verdiene." 
Eine  weniger  gemäßigte  mittlere  Fassung  hatte  die  Versamm- 
lung abgelehnt,  dieser  scheint  man  nur  ihrer  gänzlichen  Harm- 
losigkeit wegen  zugestimmt  zu  haben,  nachdem  die  überwiegende 
Mehrzahl  ihre  Abneigung  gegen  die  Republik  deutlich  genug 
kundgetan  hatte.  — 

Dieses  Vorgehen  der  Radikalen  in  den  zwei  Versamm- 
lungen vom  26.  März  ist  ein  durchaus  überlegtes  gewesen,  der 
erste  Teil  eines  großen  und  durchaus  konsequenten  Planes. 
Der  Plan  selbst  hieß :  Republik  für  Gesamtdeutschland,  d.  h.  die 
deutschen  Einzelstaaten  sollen  in  einen  Bund  mit  einem  Prä- 
sidenten an  der  Spitze  zusammengefaßt  werden,  der  Präsident 
selbst  ist  in  seinen  Handlungen  abhängig  vom  Parlament^). 
Durchsetzen  wollte  man  diesen  Plan  auf  der  Tagung  des  Vor- 
parlaments. Dieses  sollte  die  Regierungsgewalt  usurpieren, 
indem  es  sich  als  die  Vertretung  des  Volkes  in  Permanenz 
konstituierte,  bis  die  Wahlen  für  eine  verfassunggebende  National- 
versammlung stattgefunden  hätten.  Diese  Wahlen,  meinte  man, 
würden  schon  so  radikal  ausfallen,  daß  man  weiterarbeiten 
könnte.  Der  Gedanke,  derartige  Phantasien  in  die  Wirklich- 
keit umsetzen  zu  können,  der  Mut,  sie  öffentlich  auszusprechen, 
konnte  erst  mit  dem  tiefen  Falle  des  Königtums  in  Berlin 
überhaupt  aufkommen.  Die  Wandlung  wurde  am  deutlichsten 
bei  Hecker,  er  war  seiner  ganzen  Natur  nach  lebhaft,  nervös, 
phantastisch  und  ohne  festen  Halt,  ohne  Sinn  für  Realitäten  — 
und  so  mußte  er  am  ersten  der  Stimmung  des  Augenbhcks 
ganz    unterliegen.     Schon    am   25.    hat    er    in    der    Karlsruher 


^)  Hebeisen  sagt  S.  33  seiner  Arbeit:  „Auch  die  Republikaner  waren 
in  zwei  Lager  geteilt,  da  die  einen  nur  eine  deutsche  Republik,  die  anderen 
aber  einen  Bund  von  deutschen  Republiken  vertraten."  Das  ist  in  dieser 
Fassung  nicht  richtig.  Die  Radikalen  wollten  alle  erst  nur  die  Föderativ- 
republik.  Die  Forderung,  auch  in  den  Bundesstaaten  die  bestehenden  Regie- 
rungen durch  republikanische  zu  ersetzen,  taucht  erstmalig  in  dem  Antrag 
auf,  den  Struve  dem  Vorparlament  überreicht  (Verhandlungen  des  Deutschen 
Parlaments,  herausgegeben  von  Jucho,  S.  5  ff.).  Die  Differenzierung  des 
Radikalismus  liegt  später  als  H.  sie  ansetzt,  sie  liegt  im  Frankfurter  Parla- 
ment und  tritt  da  parteibildend  erst  nach  den  Beratungen  über  die  provi- 
sorische Zentralgewalt  hervor.  Vgl.  Wilhelm  Zimmermann,  Die  deutsche 
Revolution,  Bd.  IV  der  ersten  Auflage  von  J.  G.  H.  Wirths  Geschichte  der 
deutschen  Staaten,  Karlsruhe  1848,  S.  641  ff. 


Ber^sträßer,  Die  parteipolit.  Laj^e  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments.      615 

Kammer,  bei  Gelegenheit  der  Beratung  des  Bassermannschen 
Antrages,  oder  vielmehr  des  Welckerschen  Berichtes  zu  dem- 
selben, seine  Pläne  ausgesprochen.  Die  Frankfurter  Versamm- 
lung solle  sich  sofort  als  konstituierende  Versammlung  erklären, 
Deutschland  bedarf  sofort  eines  Sammelpunktes  —  das  hieß 
Permanenz  und  Usurpierung  der  Regierungsgewalt  (D.  Z.  701). 
Auf  die  Frankfurter  Versammlung  hatte  man  alle  Hoff- 
nungen gesetzt.  Hecker  selbst  hat  später  auf  den  Vorwurf, 
warum  er  nicht  schon  in  Offenburg  oder  Freiburg  losgeschlagen 
liahe,  geantwortet:  (Hecker,  Die  Erhebung  des  Volkes  in  Baden 
für  die  Repubhk)  ,,daß  die  republikanischen  Leiter  der  festen 
Zuversicht  lebten,  in  Frankfurt  die  Permanenz  der  großen  Ver- 
sammlung durchzusetzen  und  damit  die  Sache  der  Republik 
auf  jenem  großen  Felde  für  ganz  Deutschland  zu  entscheiden." 
Aus  diesem  Grund  auch  war  den  Führern  ihre  Niederlage  in 
Heidelberg  doppelt  unangenehm.  Man  hatte  den  Beschluß  in 
Frankfurt  verwenden,  mit  ihm  Eindruck  machen  wollen.  In  der 
Not  half  man  sich  damit,  daß  man  in  der  Mannheimer  Partei- 
zeitung die  Sache  so  hinstellte,  als  sei  die  Änderung  nur  eine 
formelle  und  die  Mehrheit  der  Versammlung  eigentlich  repu- 
bhkanisch  gewesen  ^).  Darmstädter  Teihiehmer  an  der  Versamm- 
lung haben  in  der  Deutschen  Zeitung  gegen  diese  Verschleierung 
energisch  Protest  erhoben.  Mag  sein,  daß  man  gerade  durch 
diese  Heidelberger  Niederlage  bedenklich  wurde,  ob  denn  in 
Frankfurt  eine  Mehrheit  für  die  Republik  vorhanden  sei  oder 
gewonnen  werden  könne.  Sicher  ist,  daß  die  Republikaner  in 
diesen  letzten  Tagen  vor  der  Notabeinversammlung  noch  einen 
neuen  und  sehr  unparlamentarischen  Weg  einschlugen,  sich 
den  Erfolg  in  Frankfurt  zu  sichern. 

^)  Es  geschah  dies  in  einem  der  Nr.  14  des  „Deutschen  Zuschauers" 
beigegebenen  Flugblatt,  das  auf  der  einen  Seite  einen  Bericht  über  die 
Heidelberger,  auf  der  anderen  einen  über  die  Freibm-ger  Versammlung  ent- 
hielt. Im  Bericht  über  Freibung  lautet  der  betr.  Beschluß:  „Das  deutsche 
Volk  verlangt  daher  vor  allen  Dingen,  daß  das  deutsche  Parlament:  I.  Die 
von  demselben  zu  entwerfende  neue  Verfassung  Deutschlands  auf  den  (Grund- 
lagen der  föderativen  Republik  (des  repuldikanischen  Bundesstaats)  fest- 
stelle  "     In   dem  Bericht  über  Heidelberg  lautet  die  betreffende  Stelle: 

„daß  ....  ein  ....  freigewähltes  Parlament:  I.  Die  ....  Verfassung  auf  den 
allerfreiesten  Grundlagen    ohne   zweckwidrige  Rücksicht  auf  die  bestehenden 

Verhältnisse  feststelle Die  Mehrheit  der  Heidelberger  Versammlung  ist 

überzeugt,  daß  das  deutsche  Volk  für  die  uordamerikanische  Verfassung  reif 
ist  und  sie  wünscht."  Diese  Fassung  widerspricht  durchaus  dem  glaubhaft 
von  der  anderen  Seite  angegebenen  Verlauf.  Das  Flugblatt  hal)e  ich  aus 
dem  Nachlaß  von  Ludwig  Häusser  im  Original  benutzt. 


616      Bergsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b. Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

Wir  haben  schon  erwähnt,  wie  die  Radikalen  in  Offenburg 
eine  Organisation  über  das  ganze  Land  hin  beschlossen.  Die 
Macht  dieser  Organisation  wurde  noch  gestärkt  durch  ein  in 
den  letzten  Tagen  des  März  angenommenes  Gesetz  über  Volks- 
bewaffnung und  Bürgerwehr,  das  Hecker,  der  den  Entwurf  der 
Regierung  umzuarbeiten  hatte,  den  republikanischen  Organi- 
sationen auf  den  Leib  zuschnitt. 

Auch  von  außen  kam  Unterstützung  in  derselben  Richtung. 
Die  deutsche  Legion  in  Frankreich,  und  besonders  die  in  der 
Schweiz,  hatte  mit  badischen  Oppositionellen  Verbindung  an- 
geknüpft. Ihre  Pläne  gingen  ausgesprochen  auf  eine  Repu- 
bhk.  Sie  waren  noch  weit  extremer  als  selbst  Hecker  bis  zur 
Tagung  des  Vorparlaments.  Sie  waren  sich  von  vornherein 
klar  darüber,  daß  ,,nur  durch  eine  blutige  Revolution  die  deutsche 
Republik  erlangt  werden  könne".  (Brief  von  Joh.  Ph.  Becker 
an  Mathy,  Nachlaß  S.  151.  Becker  war  Präsident  des  Zentral- 
ausschusses der  deutschen  Legion  aus  der  Schweiz.)  Ihre 
gänzliche  Unkenntnis  deutscher  Verkältnisse  geht  schon  allein 
daraus  hervor,  daß  Becker  gerade  an  den  gemäßigten  Mathy 
um  Beihilfe  für  seine  revolutionären  Bestrebungen  schrieb. 
Bei  anderen  aber,  bei  Struve,  Hecker  und  ihren  Gesinnungs- 
genossen, fand  er  Verständnis.  Er  konnte  einige  hundert 
Bewaffnete  in  Aussicht  stellen.  So  reifte  in  den  Republikanern 
allmählich  der  Gedanke,  das  Vorparlament  durch  äußeren  Druck, 
durch  eine  starke  Konzentration  von  Freischärlern  einzu- 
schüchtern und  der  republikanischen  Idee  dienstbar  zu  machen. 

Man  glaubte  es  nicht  einmal  nötig  zu  haben,  diese  Absicht 
zu  verheimlichen;  schon  in  der  Heidelberger  Versammlung  waren 
Drohungen  in  dieser  Hinsicht  gefallen  (D.  Z.).  Kein  Wunder, 
wenn  gemäßigte  Männer  den  Frankfurter  Tagen  mit  Bangen 
entgegen  sahen,  wenn  aufgeregte  und  aufregende  Nachrichten 
auch  in  andere  deutsche  Landesteile  drangen,  wenn  man  eine 
Spaltung  zwischen  Nord  und  Süd  oder  eine  Herrschaft  der 
roten  Elemente,  ein  unentwirrbares  Chaos  in  naher  Zukunft  sah 
(Brief  Wiesners  an  Biedermann,  B.s  Bemerkung  „unterm  16. 
erhalten"  ist  wohl  falsch,  denn  es  ist  deutlich  auf  die  Heidel- 
berger Versammlung  vom  26.  angespielt.  Biedermann,  Mein 
Leben  II  S.  278). 

In  Wien  und  in  Berlin  waren  die  Throne  ins  Wanken  ge- 
raten; würden  sie  in  Frankfurt  umgestoßen  werden?  das  war 
die  bange  Frage  aller  Gemäßigten,  war  der  heiße  Wunsch  aller 
Radikalen.    Eine  tiefe  Aufregung  hatte  nach  all  den  sich  über- 


Berpsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b. Zusammentritt  d. Vorparlaments.      H17 

Stürzenden  Ereignissen  die  Bevölkerung  Badens  und  ganz  Süd- 
deutschlands ergriffen,  das  öffentliche  Leben,  das  so  plötzlich 
und  gleich  so  stark  einsetzte,  trieb  das  Blut  schneller  durch 
die  Adern,  wie  ein  Fieberwahn  erscheint  uns  die  Gemütsver- 
fassung der  breiten  Massen.  Wir,  die  wir  durch  die  Steigerung 
des  Verkehrs  an  das  kaleidoskopartige  Wechseln  der  Eindrücke 
gewöhnt  sind,  können  uns  kaum  einen  Begriff  davon  machen, 
wie  überladen,  überhitzt  und  überreizt  die  Phantasie  der  Mit- 
lebenden in  jenem  ersten  Monat  der  Bewegung  sein  mußte. 
Nur  so  verstehen  wir,  wie  sich  Hecker  und  sein  Anhang  in 
die  fixe  Idee  verrennen  konnten,  daß  ihr  Ziel  der  Republik 
auch  nur  die  mindeste  Aussicht  auf  Erfolg  haben  könne. 

IV. 

Noch  in  einer  anderen  Hinsicht  hatten  die  Ereignisse  in 
Berlin  eine  auf  die  Lösung  der  nationalen  Fragen  hemmende 
Wirkung.  Das  Problem  der  deutschen  Einheit  .schloß  in  sich 
die  Aufgabe,  eine  Zentralgewalt  zu  schaffen,  die  Träger  und 
ausführendes  Organ  der  Einheitskräfte  werden  konnte.  Theo- 
retisch gab  es  drei  Wege  der  Lösung.  Vorherrschaft  Öster- 
reichs, preußische  Spitze,  Wechsel  des  Präsidiums  nach  einer 
bestimmten  Reihe  von  Jahren  in  einem  festen  Turnus.  Bei 
der  letzten  Lösung  war  es  möglich,  auch  die  kleineren  Staaten 
oder  wenigstens  einige  von  ihnen  zu  beteiligen.  Jede  dieser 
drei  Lösungen  hatte  natürliche  Anhänger.  Die  preußische  alle 
Preußen  und  einige  norddeutsche,  die  österreichische  alle  Oster- 
reicher  und  einige  süddeutsche  Kleinstaaten,  dann  die  katho- 
lische Partei  und  alle  die,  die  eine  Stärkung  der  Zentralgewalt 
nicht  gern  gesehen  hätten  und  hofften,  wenn  man  das  öster- 
reichische Kaisertum  wieder  errichte,  werde  es  an  dem  natür- 
lichen Antagonismus  zugrunde  gehen  oder  zur  Unwirksamkeit 
verdammt  bleiben  wie  das  alte  Deutsche  Reich.  Die  Idee,  die 
Kleinstaaten  auch  zu  beteihgen,  hatte  ihre  natürlichen  Anhänger 
in  den  größeren  derselben,  in  Bayern,  Baden,  Hannover.  Wer- 
bende Kraft  hatten  diese  beiden  Ideen  nicht,  ihnen  hing  niemand 
an,  der  nicht  durch  Herkunft,  Verknüpfung  mit  einem  dieser 
etwaigen  Machtträger,  oder  durch  Sonderinteressen  an  sie  ge- 
bunden war.  Werbende  Kraft  hatte  allein  die  dritte  Möglichkeit 
gezeigt,  die  preußische  Spitze.  Pfizer,  Friedrich  Gagern  (vgl. 
Meinecke,  Weltbürgertum  und  Nationalstaat)  hatten  sie  als  die 
einzig  mögliche  erwiesen,  letzterer  fast  gegen  seine  innerste 
Herzensempfindung.     Sie  hatte   ihre   werbende   Kraft   gestärkt 


618      Bergsträßer,  Die  parteipolit.  Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

dadurch,  daß  der  einzige  Schritt  zur  Einheit,  den  Deutschland 
vor  1848  getan  hatte,  der  Zollverein,  von  Preußen  ausging. 
All  denen,  die  eine  Weiterentwicklung  der  deutschen  Verhältnisse 
im  Anschluß  an  den  Zollverein  gewollt  hatten,  hatte,  mehr  oder 
minder  klar,  die  preußische  Führung  vorgeschwebt.  Österreich 
hatte  statt  werbender  Kräfte  nur  negative,  abstoßende  gezeigt, 
denn  es  war  doch  letzten  Endes  an  der  ganzen  Schmach  der 
Bundestagszeit  schuld,  wurde  auch  dafür  verantwortlich  ge- 
macht. Überdies  hatte,  vor  1848,  Preußen  es  noch  jederzeit 
in  der  Hand,  die  Stimmung  für  sich  zu  stärken,  Österreich 
auch  gefühlsmäßige  Werte  zu  rauben,  moralische  Eroberungen 
zu  machen.  Viele  waren  nur  deshalb  nicht  für  die  preußische 
Spitze,  weil  sich  in  ihnen  die  Einheitsfrage  aufs  engste  mit 
der  Freiheitsfrage  verband  und  Preußen  in  dieser  Hinsicht 
berechtigte  Wünsche  zu  erfüllen  allzulauge  gezögert  hatte  ^). 
Selbst  die  Freunde  der  preußischen  Spitze  hatten,  aus  einer 
bestimmten  Art  der  eifernden  Liebe  heraus,  oft  gerade  in  erster 
Linie  auf  den  Staat  und  auf  den  König  gescholten,  der  für  sie 
doch  der  gewollte  Träger  alles  Fortschrittes  war,  der  scheltende 
Gervinus  der  Deutschen  Zeitung  ist  der  Typus  dieser  Richtung. 
Alle,  die  ihr  anhingen,  hatten  mit  der  beginnenden  Freiheits- 
bewegung gehofft  und  ersehnt,  daß  nun  Preußen  die  Stunde 
wahrnehmen  und  die  Vorbedingung  erfüllen  werde,  um  an  die 
Spitze  zu  treten,  um  all  die  Kräfte  zu  leiten,  die  jetzt  über 
Nacht  frei  geworden  waren.  (Hansemann,  Fallati,  D.  Z.)  Bitterste 
Enttäuschung  statt  dessen.  Die  Stunde  wurde  verpaßt,  niemand 
zögerte  länger  als  Preußen,  man  gab  sich  einen  Schein  be- 
sonderer Kraft,  und  wie  als  wenn  man  durch  Hochmut  den 
Fall  herausgefordert  hätte,  kam  er  nun  gerade  in  Berlin  am 
schrecklichsten,  am  kränkendsten,  beschämendsten,  und  unter 
Begleitumständen,  die  die  Gefühle  der  großen  Masse  des  Volkes 
aufs  tiefste  erregen  und  gegen  die  Träger  der  Staatsgewalt 
erbittern  mußten. 

Noch  am  16.  März  schrieb  Fallati,  Professor  in  Tübingen, 
und  schon  immer  durchaus  überzeugt  von  der  Notwendigkeit  der 
preußischen  Hegemonie,  an  einen  der  rheinischen  liberalen  Führer, 
an  Mevissen  (Hansen  H  S.  343),  indem  er  eine  Tübinger  Petition 
übersandte:  ,,Aber  voran,  voran  in  Preußen,  wir  harren  sehn- 
liehst darauf!"    Und  genau  10  Tage  später,  nachdem  die  Ereig- 

^)  Ein  Beispiel  bietet  Platen  vgl.:  Renck,  Platens  polit.  Denken.  Breslau 
1910,  besonders  S.  92. 


Bergsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b. Zusammentritt  tl.  Vorparlaments.      619 

nisse  in  Berlin  durch  ganz  Süddeutschland  bekannt  geworden 
sind:  ,,Nuu,  da  der  König  von  Preußen  sich  wirklich  als  Leiter 
von  Deutschland  aufgeworfen  hat,  bin  ich  in  Besorgnis,  wohin  das 
führen  wird,  nachdem  es  so  geschehen,  wie  es  geschehen  ist.  Um 
es  rund  heraus  zu  sagen,  ich  fürchte,  daß  nach  der  Nacht  vom 
18.  zum  19.  eine  Hegemonie  Preußens  unter  Friedrich  Wilhelm  IV. 
unmöglich  ist.  Allerdings  haben  die  Berliner  dem  König  schon 
wieder  entgegengejubelt,  aber  wird  das  halten?  Was  wird  man 
im  übrigen  Lande  zu  dieser  Harlekinade  auf  blutgetränktem 
Boden  sagen?  Und  wenn  er  an  Deutschlands  Spitze  treten  will, 
muß  auch  das  übrige  Deutschland  ein  Wort  dabei  haben.  Und 
dieses  Wort  fängt  an  laut  zu  werden,  daß  man  den  blutigen 
Komödianten  nicht  an  der  Spitze  von  Deutschland  sehen 
wolle"  ^).  ,, Blutigen  Komödianten",  in  diesem  schneidend  scharfen 
Wort  liegt  die  ganze  Stimmung.  Die  einen  waren  erbittert  auf 
den  König,  der  auf  die  Freiheitsfreunde  hatte  schießen  lassen, 
und  die  anderen  darüber,  daß  er  jetzt,  gerade  jetzt  es  wagte, 
wo  er  erniedrigt  war,  die  Führerschaft  in  der  deutschen 
Frage  zu  markieren.  Es  ist  tragisch  wie  die  Deutsche 
Zeitung  selbst,  deren  ganzes  Ideal  die  preußische  Spitze  ist, 
den  augenblicklichen  Träger  der  Krone  aufgibt,  wie  sie  alle 
Macht  der  Logik  und  der  Sachlichkeit  aufbieten  und  beschwören 
muß,  doch  den  König,  das  Vergängliche  nicht  mit  dem  Staate 
zu  verwechseln,  der  Dauer  habe  und  dessen  Macht  bestehe 
trotz  dieses  Königs.  Preußens  König  ist  tot  für  die  deutsche 
Sache.  Wäre  das  Patent  des  Königs  eher  erschienen,  wäre 
nicht  Bürgerblut  geflossen,  und  hätte  der  Thron  nicht  gewankt, 
dann  war  mit  ihm  der  große  Tag  erschienen,  ,,der  Tag,  auf 
den  man  Jahrzehnte  lang  gewartet  hatte".  „Mit  Jauchzen 
hätte  sich  ganz  Deutschland  um  dieses  Programm  geschart, 
sich  scharen  dürfen  und  müssen.  Jetzt  ist  es  zu  Boden  gefallen, 
seine  Züge  verblaßt  und  verwischt  (674  a)."  Das  Verhältnis 
Preußens  zu  Deutschland  ist  durch  das  Blutbad  vom  18.  März 
so  gut  wie  zerstört.  Die  Wirksamkeit  für  Preußens  Häuptlings- 
schaft in  Deutschland  ist  jetzt  eine  ungemein  schwierige  und 
wahrscheinhch  fruchtlose  geworden  (27.  März  689).  Nm*  ein 
Ausweg  schien  ihr  möghch!  Der  König  mußte  abdanken,  um 
seinem  Staate  die  Vorherrschaft  zu  erhalten.  Die  Zeitung  ver- 
hehlte sich  das  Bedenkliche  ihres  Vorschlages,  der  die  Regierung 
eines  Minderjährigen,   denn  auch  der  Prinz  von  Preußen  galt 

>)  ebda.  S.  352. 


620      Bergsträßer,  Die  parteipolit. Lage  b.  Zusammentritt  d.  Vorparlaments. 

ihr  als  unmöglich,  involvierte,  nicht;  gerade  für  die  unruhigen 
Zeiten  nicht,  denen  man  entgegenging.  Resigniert  fand  sie 
keinen  anderen  Ausweg;  ging  es  so  mit  den  treuesten  An- 
hängern, so  wundern  wir  uns  nicht,  wenn  man  anderswo  dem 
Haß  gegen  den  preußischen  König  offen  Ausdruck  gab.  In 
München  wurde  sein  Bild  auf  offener  Straße  dem  Scheiterhaufen 
übergeben,  und  auch  in  Württemberg,  wo  doch  in  manchen 
Kreisen  durch  den  Zollverein  preußische  Sympathien  gewesen 
waren,  blieb  jetzt  nur  erbitterte  Wut.  Am  26.  März  hatte  auch 
Württemberg  seine  große  Volksversammlung  in  Göppingen. 
Da  wurde  eine  Adresse  an  die  Wiener  und  die  Berliner  vorgelesen, 
ihnen  Dank  zu  sagen  für  ihren  Heldenmut  im  Kampfe  für 
die  Freiheit.  Der  Redner  hielt  bei  der  Stelle,  die  von  Preußens 
König  handelte,  inne,  er  kam  auf  die  alten  Sünden  des  dortigen 
Systems  zurück,  er  erzählte  von  der  Revolution  und  von  den 
Szenen,  die  jetzt  dort  vorgingen  und  richtete  nun  an  die  Ver- 
sammelten die  Frage,  ob  sie  den  König  als  deutschen  König 
anerkennen  könne.  Ein  tausendstimmiges  Nein  erscholl.  —  So 
der  Bericht  der  Deutschen  Zeitung  (Nr.  90  Beilage  S.  2).  Die 
gleiche  Stimmung  kam  in  der  letzten  Sitzung  der  Württem- 
bergischen Kammer  deutlich  zum  Ausdruck  (A.  Z.  1426,  D.  Z. 
Nr.  91  Beilage  S.  2).  Allgemeiner  Unwille  als  des  Königs 
Aspirationen  erwähnt  wurden. 

*  * 

* 

So  war  die  Lage  beim  Zusammentritt  des  Vorpar- 
laments eine  denkbar  ungünstige;  die  Parteien  hatten 
sich,  wesentlich  durch  die  Märzereignisse,  stark  radikalisiert ; 
wo  dies  bei  den  Gemäßigten  nicht  der  Fall  war,  so  hatten 
sie  sich  wenigstens  von  der  klaren  Erkenntnis  des  Zieles  einer 
deutschen  Einheit  durch  die  Ereignisse  abdrängen  lassen.  Von 
der  preußischen  Spitze  war  nicht  mehr  die  Rede.  Die  Radikalen 
haben  weder  auf  dem  Vorparlament,  noch  in  der  Nationalver- 
sammlung gesiegt;  aber  die  Gemäßigten  brauchten  doch  fast 
ein  Jahr,  bis  sie  endlich  die  Oberhand  hatten  und  bis  sie  sich 
selbst  wieder  zu  ihrem  eigenthchen  Programm  zurückfanden 
—  und  da  war  es  zu  spät. 

Man  muß  diese  ungünstige  parteipolitische  Lage 
zu  Beginn  der  Revolution  sich  durchaus  klar  machen, 
wenn  man  die  Frankfurter  Nationalversammlung 
richtig    beurteilen    will. 


X. 

Einzelstaat  und  Provinz 

Eine  staatsrechtliche  und  politische  Betrachtung 

Von  Dr.  Otto  Koellreutter 

Die  Tatsache,  daß  wir  heute  in  Deutschland  in  einem  aus 
einer  Anzahl  einzelner  Staaten  zusammengesetzten  Reiche  leben, 
hat  der  deutschen  Staatsrechtswissenschaft  der  letzten  Jahr- 
zehnte mancherlei  Probleme  gestellt.  Erwuchs  ihr  doch  mit 
der  Gründung  des  Deutschen  Reiches  die  Aufgabe,  die  Zentral- 
gewalt des  neuen  Bundes,  sowie  die  den  einzelnen  Mitgliedern 
des  Bundes  verbliebene  Gewalt  und  das  Verhältnis  der  einzel- 
staatlichen Gewalten  zur  Zentralgewalt  und  zueinander  rechtlich 
zu  erfassen  und  dadurch  zu  einer  juristischen  Konstruktion  des 
neuen  Staatengebildes  zu  gelangen. 

Wenn  man  nun  auch  sagen  kann,  daß  im  Laufe  der  letzten 
Jahrzehnte  wenigstens  eine  Klärung  der  einzelnen  Ansichten, 
in  den  wichtigsten  Punkten  sogar  eine  Übereinstimmung  über 
diese  Fragen  in  der  Wissenschaft  erzielt  worden  ist,  so  sind 
doch  die  in  der  Existenz  des  Bundesstaats  als  solchem  liegenden 
Probleme  keineswegs  verschwunden.  Die  Rechtsbildung  steht 
ja  nie  stille,  sondern  befindet  sich  in  stetem  Flusse  und  unter- 
wirft so  auch  das  geltende  Verfassungsrecht  beständigen  Ände- 
rungen. Ihr  Maß  und  ihre  Art,  sowie  die  dadurch  zutage 
tretenden  politischen  Kräfteverschiebungen  erschließen  sich 
nun  aber  durch  ein  bloßes  Studium  der  Verfassungsurkunde 
und  der  sonstigen  Verfassungsgesetze  nicht.  Sehr  treffend 
drückt  dies  Bornhak i)  mit  folgenden  Worten  aus:  „Von  dem 
geltenden  Verfassungsrechte  wird  der  schwerlich  eine  richtige 
Vorstellung  bekommen,  der  es  etwa  nur  aus  dem  Texte  der 
Reichsverfassung  kennen  lernen  wollte.  Wir  befinden  uns  im 
lebendigen  Flusse  einer  Entwicklung,  die  die  Reichsverfassung 


*)  Bornhak:  Wandlungen  der  Reichsverfassung,   ArchOeffR.,   Bd.  26, 
1910,  S.  373  ff.  auf  S.  375. 


622  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

ZU  etwas  ganz  anderem  macht,  als  sie  ursprünglich  sein  wollte." 
Diese  Tatsache  der  Umwandlung  der  Verfassung,  die  in  Eng- 
land schon  lange  ein  festes  und  wichtiges  Kapitel  der  Staats- 
rechtslehre bildet^),  wird  neuerdings  auch  in  Deutschland  mit 
steigendem  Interesse  verfolgt  und  jedenfalls  allgemein  zugegeben. 
Ich  verweise  außer  dem  eben  zitierten  Aufsatz  von  Bornhak 
nur  auf  die  Arbeiten  und  Aufsätze  von  HaeneP),  Laband^), 
Rehm*),  v.  Böckmann s)  und  vor  allem  auf  die  feine  Studie 
von  Triepel*'). 

Bei  dem  Studium  dieser  Tatsachen  drängt  sich  natürlich 
zunächst  die  Frage  auf,  welcher  Art  denn  nun  die  Regeln  sind, 
durch  welche  sich  diese  Änderungen  und  Kräfteverschiebungen 
ausdrücken.  Darüber  herrscht  nun  noch  keineswegs  Überein- 
stimmung. Z.  B.  bezeichnet  sie  Bornhak  als  Gewohnheitsrecht 
und  sagt  von  ihm:  ,,Wie  das  Efeu  um  die  Mauer,  schlingt  es  sich 
um  das  Gesetzesrecht,  gibt  ihm  teilweise  ein  anderes  Aussehen, 
ja  zersetzt  es  schließlich,  so  daß  das  lebendige  geltende  Recht 
aus  dem  toten  Buchstaben  der  Paragraphen  nicht  wieder  zu 
erkennen  ist^)."  Ganz  ähnlich  charakterisiert  Hatschek  das 
tatsächliche  Wirken  dieser  Regeln.  Er  bezeichnet  sie  als 
,, Normen,  welche  gewissermaßen  unter  der  Decke  der  Rechts- 
ordnung, insbesondere  unter  der  des  öffentlichen  Rechts,  sich 
ausbilden,  sie  teils  ergänzend,  teils  auf  ihren  Untergang  lauernd, 
um  sich,    wo  der  Widerstand  schwach  geworden,   rücksichtslos 


^)  Vgl.  dafür  vor  allem  die  grundlegenden  Erörterungen  von  Dicey, 
Introduction  to  the  study  of  the  law  of  the  Constitution,  7.  ed.,  1908,  Part.  3, 
S.  413  ff.  Dazu  Hatschek,  Engl.  Staatsrecht,  Tübingen,  1905,  Bd.  1,  besonders 
S.  546,  Anrn.  1.  Gegen  Hatschek  die  Ki-itik  Schusters  in  der  Law  Quar- 
terly  Review,  Bd.  21,  S.  311  ff.  Trotz  der  zum  Teil  verfehlten  Ausführungen 
Hatscheks  gebührt  ihm  sicher  das  Verdienst,  auf  die  so  eminent  wichtige 
Tatsache  des  Bestehens  der  „Konventialregeln"  als  einer  der  ersten  hingewiesen 
zu  haben. 

^)  Haenel:  Die  organisatorische  Entwickkmg  der  deutschen  Reichs- 
verfassung (Studien  zum  deutschen  Staatsrecht,  H,  1),  Leipzig,  1880. 

')  Lab  and:  Die  Wandlungen  der  deutschen  Reichsverfassung,  Dresden, 
1895 ;  Die  geschichtliche  Entwicklung  der  Reichsverfassung  seit  der  Reichs- 
gründung, JahrbOeffR.,  1907,  S.  1  ff. 

*)  Rehm:  Unitarismus  und  Föderalismus  in  der  deutschen  Reichsver- 
fassung, Dresden,  1899. 

^)  V.  Böckmann:  Die  Geltung  der  Reichsverfassung  in  den  deutschen 
Kolonien,  Karlsruhe,  1912,  S,  16  ff. 

^)  Triepel:  Dnitarismus  und  Föderalismus  im  Deutschen  Reiche, 
Tübingen,  1907. 

')  Bornhak:  a.  a.  0.  S.  374. 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  623 

an  ihre  Stelle  zu  setzen  i)."  Aber  ihm  sind  diese  Regeln  keine 
Reehtsregeln,  sondern  sie  bilden  für  Hatschek  nur  ein  Vor- 
stadium des  Rechts,  sie  sind  sogenannte  „Konventionairegeln". 
Zu  der  Lösung  der  interessanten  Frage  über  den  Charakter 
dieser  Normen  kann  und  soll  hier  nichts  beigetragen  werden. 
Sie  rührt  an  die  Lehre  von  den  Rechtsquellen  und  überschreitet 
den  Rahmen  dieser  Abhandlung  2).  Hier  soll  nur  an  einem  be- 
sonderen Problem  des  deutschen  Staatsrechts  dem  Wirken  dieser 
Kräfteverschiebungen  nachgegangen  und  festgestellt  werden, 
welche  Wirkung  sie  auf  diesem  Gebiete  ausgeübt  haben  und 
noch  ausüben. 

Die  Natur  eines  zusammengesetzten  Staates  bringt  es  ja 
vor  allem  mit  sich,  daß  die  an  seiner  Zusammensetzung  interes- 
sierten politischen  Kräfte  besonders  markant  als  solche  uni- 
tarischer und  föderalistischer  Tendenz  zueinander  in  Gegensatz 
treten,  je  nachdem  eine  Stärkung  der  Zentralgewalt  oder  die 
der  einzelstaatlichen  Gewalten  von  ihnen  als  das  erstrebens- 
wertere Ziel  betrachtet  wird.  So  hat  besonders  Triepel  in 
seiner  oben  erwähnten  Studie  diese  treibenden  politischen  Kräfte 
analysiert  und  ist  durch  diese,  wie  er  sie  selbst  nennt,  ,, dyna- 
mische Betrachtungsweise"  ^)  den  Änderungen  in  den  staats- 
rechtlichen Beziehungen  zwischen  Reich  und  Einzelstaaten  nach- 
gegangen. Er  hat  auch  nachzuweisen  gesucht,  daß  mindestens 
zurzeit  eine  Tendenz  zur  Stärkung  der  unitarischen  Elemente 
in  der  Reichsverfassung  nachweisbar  ist.  Ahnliches  bietet 
Lab  and  in  seinem  schon  erwähnten  Aufsatze  über  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  der  Reichsverfassung.  Hat  uns  der 
Altmeister  der  heutigen  deutschen  Staatsrechtswissenschaft  das 
dogmatische  Rüstzeug  geschmiedet  für  die  rechtliche  Erfassung 
und   Gestaltung   der   durch    die   Reichsgründung   geschaffenen 


^)  Hatschek:  Konventionalregeln  oder  über  die  Grenzen  der  natur- 
wissenschaftlichen Begriffsbildung  im  öffentlichen  Eecht,  JahrbOeffE.  Bd.  3, 
1909,  S.  1  ff.  auf  S.  4. 

*)  Von  besonderem  Interesse  ist  die  verschiedene  Betrachtungsweise 
dieser  Probleme  in  zwei  kürzlich  erschienenen  bedeutenden  Schriften.  Ich 
meine  einerseits  Kelsens  „Hauptprobleme  der  Staatsrechtslehre",  Tübingen, 
1911,  der  die  Rechtswissenschaft  zu  einer  rein  normativen  Disziplin  stempelt 
und  das  Recht  vollkommen  von  der  Wirklichkeit  losgelöst  betrachtet.  Auf 
dem  entgegengesetzten  Standpunkte  steht  dagegen  Walter  Jellinek,  der  in 
seiner  Schrift  „Gesetz,  Gesetzesanwendung  und  Zweckmäßigkeitserwägung", 
Tübingen,  1913,  Wirklichkeit  und  Rechtssatz  als  ebenbürtige  Eechtsquellen 
bezeichnet  (vgl.  S.  13  ff.  u.  S.  178  ff.). 

')  Triepel:  a.  a.  0.  S.  23. 


624  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

Verhältnisse,  so  entwirft  er  uns  in  diesem  Aufsatze  ebenfalls 
auf  Grund  einer  dynamischen  Betrachtungsweise  ein  Bild  von 
den  Kräfteverschiebungen  zwischen  Einzelstaaten  und  Reich 
und  von  ihren  Wirkungen.  Triepel  wie  Lab  and  zeigen  uns 
also  hauptsächlich  die  Verschiebungen  in  dem  Kräfteverhältnis 
der  dem  Reich  eingegliederten  Einzelstaaten  zum  Reiche  selbst. 
Und  von  welcher  Wichtigkeit  die  richtige  Beurteilung  dieser 
Verschiebungen  ist,  erhellt  ohne  weiteres.  Denn  von  einer 
richtigen  Ausgestaltung  dieser  Verhältnisse  hängt  eine  stetige 
und  sichere  Weiterentwicklung  unseres  Verfassungslebens  ganz 
wesentlich  ab. 

Aber  man  kann  diesen  Satz  noch  erweitern.  Nicht  nur  eine 
gesunde  Regelung  des  Verhältnisses  von  Einzelstaaten  und  Reich, 
sondern  die  richtige  Einordnung  aller  politischen  Gemeinwesen 
innerhalb  eines  staatlichen  Gebildes  überhaupt  erscheint  für  ihre 
normale  organische  Entwicklung  von  ausschlaggebender  Bedeu- 
tung. Und  schon  deshalb  werden  Verschiebungen  in  den  Beziehun- 
gen der  übergeordneten  Gemeinwesen  zueinander  eine  notwendige 
Rückwirkung  auf  ihr  Verhältnis  zu  den  ihnen  eingegliederten 
niedereren  politischen  Gemeinwesen  zeitigen  müssen.  Zeigt  eine 
dynamische  Betrachtung,  daß  das  Verhältnis  der  Einzelstaaten 
zum  Reich  sich  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  verschoben 
hat,  daß  das  Kräfteverhältnis  beider  ein  anderes  geworden  ist, 
so  muß  diese  Tatsache  auch  für  die  ganze  Struktur  des  Staats- 
organismus innerhalb  des  Reiches  von  Bedeutung  sein.  So  weisen 
denn  auch  die  neusten  Betrachtungen  über  die  Wandlungen  der 
Reichsverfassung,  vor  allem  die  von  Bornhak,  Triepel  und 
Lab  and  alle  darauf  hin,  daß  die  Reichsgewalt  eine  entschiedene 
Stärkung  erfahren  habe.  Bei  einer  Machtverschiebung  zwischen 
zwei  Gewalten  muß  aber  notwendigerweise  der  eine  Teil  der  Leid- 
tragende sein.  Was  der  eine  gewinnt,  verliert  der  andere.  Die 
Stärkung  der  Reichsgewalt  hatte  deshalb  zur  notwendigen  Konse- 
quenz eine  Schwächung  der  einzelstaatlichen  Gewalten.  Triepel^) 
hat  treffend  darauf  hingewiesen,  daß  dieser  Kampf  zwischen 
Zentralgewalt  und  einzelstaatlicher  Gewalt  etwas  dem  Bundesstaate 
als  Mischform  inhärentes  sei,  daß  er  also  im  Wesen  der  Sache  not- 
wendig begründet  liege.  Wenn  das  aber  so  ist,  so  kann  man  sich 
nicht  darauf  beschränken,  die  Tatsache  dieses  Kampfes  einfach 
zu  registrieren,  sondern  man  muß  all  seinen  Wirkungen  im  ein- 
zelnen nachgehen.    Wird  nämlich  die  Stellung  der  Einzelstaaten 

')  a.  a.  0.  S.  9/10. 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  625 

im  Reich  durch  die  vordringende  uuitarische  Bewegung 
notwendig  geschwächt,  so  hat  dies  an  und  für  sich  schon  eine 
Veränderung  in  der  Position  der  Einzelstaaten  zur  Folge.  Denn 
notwendigerweise  muß  der  Einzelstaat,  der  an  Macht  dem  Reiche 
gegenüber  eingebüßt  hat,  zu  den  politischen  Verbänden,  die 
sich  außer  ihm  innerhalb  des  Reiches  finden,  und  die  ihn  oft 
an  Größe,  Bevölkerungszahl  und  Steuerkraft  weit  überragen, 
in  einem  andern  Verhältnisse  stehen,  als  dies  früher  der  Fall 
war.  Ist  also  die  Position  der  Einzelstaaten  geschwächt,  so 
wird  es  immer  schwieriger,  eine  feste  Grenze  zwischen  ihnen 
und  den  anderen  politischen  Gemeinwesen  im  Reiche  zu  ziehen. 
Und  so  lautet  die  Frage,  die  wir  stellen:  Was  scheidet  den 
zur  pohtischen  Einflußlosigkeit  verurteilten  Einzelstaat  noch 
begrifflich  von  den  größeren  Kommunalverbänden,  was  trennt 
heute  noch  Einzelstaat  und  Provinz? 

Wenn  diese  Frage  bisher  überhaupt  nicht  oder  nur  neben- 
bei aufgeworfen  worden  war,  so  hatte  dies  seinen  guten  Grund. 
Denn  als  die  deutsche  Staatsrechtswissenschaft  nach  der  Grün- 
dung des  Reiches  es  mit  Recht  als  eine  ihrer  vornehmsten 
Aufgaben  betrachtete,  die  Gewinnung  scharfer  Begriffe  zu  er- 
streben, mit  denen  man  die  Flut  der  neuen  Erscheinungen 
meistern  konnte,  da  wurde  auch  allerseits  eine  feste  begriffliche 
Grenzziehung  zwischen  Staat  und  Kommunalverband  als  un- 
erläßlich erachtet  und  mit  den  verschiedensten  Mitteln  versucht. 
Und  diese  begriffliche  Grenzziehung  erschien  um  so  nötiger, 
als  die  herrschende  Ansicht  ^)  den  Souveränitätsbegriff  als  Essen 
tiale  des  Staatsbegriffes  aufgegeben  hatte  und  dadurch  um  so 
mehr  gezwungen  war,  nach  einem  rechtHchen  Begriffsmerkmal  zu 
suchen,  das  den  Unterschied  zwischen  Staat  und  Kommunal- 
verband bilden  konnte. 

Die  Haupttheorien  dieser  Unterscheidung  sind  ja  Gemein- 
gut der  deutschen  Staatsrechtswissenschaft  geworden.  So  haben 
Brie  2)  und  Rosin^)  den  Zweck  eines  Gemeinwesens  als  Rechts- 
begriff erklärt  und  in  der  Verschiedenheit  der  Zwecke  von 
Staat  und  Kommunalverband  das  Unterscheidungsmerkmal  zu 
finden  geglaubt.  Zweck  eines  Kommunalverbandes  sei  die  Be- 
friedigung lokaler  Bedürfnisse,  Zweck  des  Staates  die  Befriedi- 


^)  Statt  aller  vgl.  La  band,  Staatsrecht  des  Deutschen  Reiches,  5.  Aufl., 
1911,  1.  Bd.  S.  72  ff. 

-)  Brie:  Theorie  der  Staatenverbindungen,  Breslau,  1886,  S.  4. 

^)  Eosin:   Souverän  etat,   Staat,   Gemeinde,   Selbstverwaltung,  in  Hirths 
Annalen,  1883,  S.  265  ff.  auf  S.  302. 

Zeitschrift  für  Politik.    6.  4Q 


626  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

gung  nationaler  Bedürfnisse.  Im  allgemeinen  ist  dieses  Unter 
Scheidungsmerkmal  in  der  Wissenschaft  nicht  akzeptiert  worden. 
Man  hat  darauf  hingewiesen,  daß  die  Zwecke  großer  Kommunal- 
verbände, wie  z.  B.  der  preußischen  Provinzen  und  der  Mittel- 
staaten zum  großen  Teile  identische  seien  und  erklärt,  es  sei 
nicht  einzusehen,  welche  nationalen  Zwecke  z.  B.  ein  Staat  wie 
Reuß  ä.  L.  im  Gegensatz  zur  Rheinprovinz  verfolge. 

Wieder  andere  haben  deshalb  nach  einem  neuen  Begriffs- 
merkmal gesucht  und  als  solches  das  staatliche  ,, Herrschaf  ts- 
recht" herausgehoben.  Das  Wesen  dieses  staatlichen  Herr- 
schaftsrechtes findet  Laband^)  ,,in  der  rechtlichen  Macht  der 
Obrigkeit  über  den  Untertan,  in  der  rechtlich  anerkannten 
Gewalt  über  ihn,  kraft  deren  derselbe  gezwungen  wird,  dem 
an  ihn  ergangenen  Befehl  zu  gehorchen."  Nur  der  Staat  hat 
nach  Lab  and  dieses  Herrschaftsrecht,  das  er  als  Zwangsrecht 
konstruiert.  Die  Kommunalverbäude  hätten  keine  eigenen  und 
selbständigen  Herrschaftsrechte,  sondern  nur  vom  Staate  über- 
tragene. Gegen  diese  Formulierung  Labands  ist  nun  von 
Rosin  u.  a.  mit  Recht  Widerspruch  erhoben  worden.  Rosin 
gibt  dabei  zu,  daß  die  Herrschaftsrechte  der  Kommunalver- 
bände nicht  originäre  seien,  behauptet  aber,  dies  schließe  nicht 
aus,  daß  sie  trotzdem  als  ihre  eigenen  Rechte  zu  gelten  hätten. 
Denn  jedes  Recht  sei  für  sein  Subjekt  eigenes  Recht,  und 
deshalb  unterliege  es  keinem  Zweifel,  daß  der  Kommunalverband 
alle  Rechte,  deren  Subjekt  er  sei,  als  eigene  übe.  Es  könnten 
also  auch  dem  Kommunalverbande  als  solchem  eigene  Herr- 
schaftsrechte 2)  zustehen.  Dieser  Ansicht  Rosins  hat  sich  z.  B.  auch 
Georg  Meyer- Anschütz ^)  angeschlossen.  Jellinek^)  hebt  seiner- 
seits besonders  den  originären  Charakter  der  Herrschaftsgewalt 
als  spezifische  Eigenschaft  der  Staatsgewalt  heraus.  So  erklärt 
er:  „Wo  daher  Herrschergewalt  bei  einem  dem  Staate  ein- 
gegliederten Verbände  oder  einem  Individuum  zu  finden  ist, 
da  stammt  sie  aus  der  Staatsgewalt,  ist,  selbst  wenn  sie  zum 
eigenen  Rechte  des  Verbandes  geworden  ist,  nicht  ursprüngliche, 
sondern  abgeleitete  Gewalt^)."  Sachlich  dasselbe  wie  Jellinek 
meinen Haenel*'),  welcher  von  der  den  Einzelstaaten  verbliebenen 

*)  Das  Staatsrecht  des  Deutschen  Reiches,  5.  Aufl.,  1911,  Bd.  1,  S.  69. 
')  Rosin:  a.  a.  0.  S.  277  ff. 

*)  Meyer-Anschütz:  Lehrbuch  des  deutschen  Staatsrechts,  6.  Aufl., 
1905,  S.  7/8. 

*)  Jellinek:  Allgemeine  Staatslehre,  2.  Aufl.,  1905,  S.  413  ff. 

*)  Jellinek:  a.  a.  0.  S.  416. 

*)  Haenel:  Deutsches  Staatsrecht,  Bd.  1,  1892,  S.  803. 


Koellreutter.  Einzelstaat  und  Provinz.  627 

„Landeshoheit"  spricht  und  Meyer-Anschütz'),  der  auf  die 
besonderen  Befugnisse  der  Staaten,  poH tische  Aufgaben  selb- 
ständig, d.  li.  durch  eigene  Gesetze  zu  regeln,  abhebt.  Stets 
handelt  es  sich  hierbei  um  die  nähere  Erfassung  der  originären 
Staatsgewalt  der  Einzelstaaten,  die  sie  bei  ihrem  Eintritt  in 
das  Reich  besaßen  und  noch  heute  besitzen,  soweit  nicht  die 
Kompetenz  des  Reiches  dieselbe  beschränkt  hat. 

Den  Inhalt  dieser  originären  Staatsgewalt  hat  man  dann 
des  näheren  zu  fixieren  gesucht.  Zusammenfassend  bezeichnet 
Jellinek  als  die  speziellen  Eigenschaften  der  originären  Staats- 
gewalt die  Fähigkeit  zur  Selbstorganisation  und  zur  Autonomie 
d.  h.  wie  er  sich  ausdrückt,  die  Fähigkeit,  eigene  Gesetze  zu 
haben  und  ihnen  gemäß  und  innerhalb  ihrer  Schranken  zu 
handeln  2).  Sachlich  im  ganzen  übereinstimmend  betrachtet 
Rosenberg  ^)  die  Gebietshoheit,  die  Personalhoheit  und  die 
Autonomie  in  Verfassungsangelegenheiten  als  den  begrifflichen 
Inhalt  der  Staatsgewalt.  Er  fügt  dann  noch  das  für  den  be- 
grifflichen Unterschied  des  Staates  vom  Kommunalverband 
zunächst  nicht  in  Betracht  kommende  Merkmal  der  völkerrecht- 
lichen Persönhchkeit  des  Staates  hinzu.  Ausschlaggebend  bleibt 
dabei  immer  der  Gesichtspunkt,  daß  diese  Staatsgewalt  sowohl 
bei  souveränen  wie  bei  nichtsouveränen  Staaten  eine  originäre 
ist,  also  nicht  ihrerseits  durch  eine  staatliche  Rechtsordnung 
verliehen  wurde. 

Nur  einen  Teil  dieser  originären  Gewalt,  nämlich  die  Gebiets- 
hoheit, -wäll  Preuß*)  als  das  Unterscheidungsmerkmal  ,, zwischen 
den  deutschen  Gemeinden  jeder  Ordnung  einerseits  und  den 
deutschen  Gliedstaaten  andererseits"  gelten  lassen.  Unter  Ge- 
bietshoheit versteht  er  dabei  ,,die  rechthche  Fähigkeit  einer 
Gebietskörperschaft,  sich  selbst  wesenthch  zu  verändern"  s). 


')  a.  a.  0.  S.  10. 

*)  Jellinek:  a.  a.  0.  S.  475  ff. 

')  Rosenberg:  Staat.  Souveränität  und  Bundesstaat,  Hirths  Annaleu. 
1905,  S.  276  ff.  auf  S.  279  ff. 

*)  Preuß:  Gemeinde,  Staat,  Reich  als  Gebietskörperschaften,  Berlin, 
1889,  S.  403  ff. 

*)  a.  a.  0.  S.  406.  Neuerdings  hat  Preuß  in  seinem  anregenden  Auf- 
satze „Selbstverwaltung,  Gemeinde,  Staat,  Souveränität"  in  der  Festgabe  für 
Laband,  Tübingen,  1908.  n.  Bd.,  S.  198  ff.  das  Problem  des  begrifflichen 
Unterschiedes  von  Staat  imd  Gemeinde  für  unlösbar  erklärt  (S.  244).  Er 
verwirft  es,  unter  „der  Firma  Staat"  (S.  234)  gewisse  Gemeinwesen  heraus- 
zugreifen imd  ihnen  besondere  Herrschaftsrechte  zuzuweisen.  Diese  Heraus- 
hebung bedeutet  ihm  nur  die  ungelöste  Dissonanz  heterogener  Organisations- 

40* 


628  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

Sieht  man  also  von  der  Zwecktheorie  Bries  und  Rosins 
ab,  so  sehen  wir,  daß  sowohl  die  Vertreter  der  organischen 
wie  die  der  anorganischen  Schule  im  Staatsrecht  eine  irgendwie 
ausgestaltete  Gewalt  zu  dem  unterscheidenden  Charakteristikum 
zwischen  Einzelstaat  und  Kommunalverband  stempeln.  Mag 
man  nun  diese  besondere  Gewalt  ,, Herrschergewalt"  nennen,  me 
La  band,  oder  ,, Landeshoheit",  wie  Haenel,  mag  man  die 
Gebietshoheit,  wie  Preuß,  oder  die  Fähigkeit  zur  Selbst- 
organisation und  zur  Autonomie,  wie  Jellinek,  als  das  spezifi- 
sche Charakteristikum  des  Staates  bezeichnen,  die  Tatsache 
bleibt  bestehen,  daß  der  Einzelstaat  ein  irgendwie  ausgestaltetes 
Machtzentrum  besitzen  muß,  das  ihm  im  Gegensatz  zum 
Kommunalverband  eigentümlich  ist. 

Nun  soll  hinsichtlieh  des  rechtlichen  Charakters  dieses 
Unterscheidungsmerkmals  keine  neue  Theorie  aufgestellt  werden, 
deren  praktischer  Wert  ja  auch  recht  problematisch  wäre. 
Sondern  es  soll  hier  nur  versucht  werden,  auf  induktivem  Wege 
zu  einer  Klärung  der  oben  aufgeworfenen  Frage  beizutragen 
und  festzustellen,  welche  Wirkung  denn  nun  eigentlich  die  all- 
seitig zugegebexie  Kräfteverschiebung  zwischen  Reich  und  Einzel- 
staaten auf  das  Verhältnis  der  letzteren  zu  den  großen  Kom- 
munalverbänden gehabt  hat.  Welche  Aufgaben  haben  die 
Einzelstaaten  und  diese  Kommunalverbände  heute  und  welche 
Schlüsse  lassen  sich  aus  der  Art  dieser  Aufgaben  auf  die  weitere 
Entwicklung  beider  Kategorien  ziehen? 

Um  die  aufgeworfenen  Fragen  zu  lösen,  wollen  wir  nun 
einen  deutschen  Mittelstaat  und  den  größten  Kommunalverband 
innerhalb  der  Reichsgrenzen,  nämlich  eine  preußische  Provinz, 
miteinander  vergleichen  und  dabei  feststellen,  welchen  Aufgabeu- 
kreis  beide  haben,  inwieweit  sich  diese  decken,  und  inwiefern 
die  beiden  verschiedene  Zwecke  verfolgen.  Als  konkrete  Ver- 
gleichsobjekte wähle  ich  dabei  das  Großherzogtum  Baden  und 
die  Rheinprovinz,  wobei  die  letztere  mit  einem  Flächeninlialt 
von  beinahe  27000  Quadratkilometern  und  77-2  Millionen  Ein- 
wohnern an  Größe  und  Volkszahl  weit  das  Großherzogtum  Baden 
mit  seinen  15000  Quadratkilometern  und  seiner  Bevölkerungs- 
zahl von  etwas  über  2  Millionen  überragt. 

Betrachten  wir  demnach  zunächst  den  Wirkungskreis  der 
Rheinprovinz.  Seine  Festlegung  ist  erfolgt  in  der  Provinzial- 
ordnung  vom  29.  Juni  1875,  die  in  der  Rheinprovinz  durch 
die  Provinzialordnung  für  die  Rheinprovinz  vom  1.  Juni  1887 
eingeführt    wurde.      Danach    umfasst    der  Wirkungskreis    der 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  629 

Provinz    sowohl    die    Selbstgesetzgebung,    wie    die    eigentliche 
Selbstverwaltung  ^). 

Was  zunächst  die  Selbstgesetzgebung  der  Provinz  betrifft, 
so  kommt  dafür  in  Betracht  der  §  8  der  Provinzialordnung, 
der  in  seinen  wesentlichen  Bestimmungen  lautet:  ,,Der  Provinzial- 
verband  ist  befugt:  1.  zum  Erlasse  besonderer  statutarischer 
Anordnungen  über  solche,  seine  Verfassung  betreffenden  An- 
gelegenheiten, hinsichtlich  deren  das  Gesetz  auf  statutarische 
Regelung  verweist  oder  keine  ausdrücklichen  Vorschriften  ent- 
hält. Das  Statut  darf  den  bestehenden  Gesetzen  nicht  wider- 
sprechen ;  2.  zum  Erlasse  von  Reglements  über  besondere  Ein- 
richtungen des  Pro vinzial Verbandes."  Entscheidend  für  den 
Unterschied  zwischen  Statuten  und  Reglements  im  Sinne  der 
Provinzialordnung  ist  also  der  Gegenstand  der  Anordnung. 
Handelt  es  sich  um  Ersatz  und  Ergänzung  gesetzlicher  Be- 
stimmungen, so  liegt  ein  Statut,  handelt  es  sich  um  die 
Regelung  besonderer  Einrichtungen  der  Provinz,  so  liegt  ein 
Reglement  vor.  Der  Unterschied  ist  von  großer  praktischer 
Bedeutung.  Statutarische  Anordnungen  bedürfen  nämhch  stets 
der  landesherrlichen  Genehmigung-),  während  Reglements  prin- 
zipiell keiner  Bestätigung  von  Aufsichts  wegen  bedürfen,  soweit 
eine  Bestätigung  bestimmter  Arten  von  Reglements  durch  den 
zuständigen  Minister  nicht  gesetzlich  vorgeschrieben  ist^).  Die 
Zahl  und  Bedeutung  der  durch  den  rheinischen  Provinzial- 
verband  erlassenen  statutarischen  Bestimmungen  ist  nun  ver- 
hältnismäßig recht  gering.  Ein  BHck  in  das  offizielle  Hand- 
buch für  die  rheinische  Provinzialverwaltung^)  belehrt  uns,  daß 
nur  zwei  Statuten  ergangen  sind,  die  zusammen  sechs  Para- 
graphen umfassen.  Sie  betreffen  Bestimmungen  über  die  Zahl 
der  Mitglieder  des  Provinzialausschusses  und  ihrer  Stellvertreter, 
über  die  Zahl  und  Art  der  dem  Landeshauptmann  zugeordneten 
oberen  Beamten  und  über  das  Recht  des  Provinzialausschusses 
zur  Veräußerung  gewisser  Grundstücke  ohne  vorhergegangenen 
Beschluß  des  Provinziallandtages.  Die  Zahl  der  Reglements, 
die   zur  Regelung  der  Zentralverwaltung  und  der  Verwaltung 


Prinzipien",  nämlich  des  „obrigkeitlichen"  gegenüber  dem  ,. genossenschaft- 
lichen" (S.  230  u.  S.  244/45). 

')  Über  diese  Begriffe  vgl.  Rosin:  a.  a.  U.  S.  305  ff. 

-)  ProvOrd.  §  119  Z.  1. 

=*)  ProvOrd.  §  120. 

*)  Handbuch  für  die  Rheinische  Provinzialverwaltung,  7.  Aufl.,  Düssel- 
dorf, 1913. 


630  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

der  Provinzialanstalten  ergangen  sind,  ist  allerdings  größer. 
Dazu  tritt  dann  noch  die  gutachtliche  Tätigkeit  der  Provinzial- 
verbände  bei  Gesetzentwürfen  und  sonstigen  Gegenständen, 
welche  ihnen  zu  diesem  Zweck  von  der  Staatsregierung  über- 
wiesen werden  1).  Eine  Verpflichtung  der  Staatsregierung  zur 
Vorlage  derartiger  Sachen  an  die  Provinzialverbände  besteht 
aber  nicht.  Im  großen  und  ganzen  kann  man  also  sagen,  daß 
das  Gebiet  der  Selbstgesetzgebung  des  Provinzialverbandes  sehr 
eng  gesteckt  ist. 

Anders  steht  es  mit  der  eigenthchen  Selbstverwaltung  des 
Provinzialverbandes .  Der  Wirkungskreis  der  Pro vinzialgemeinden 
umfaßt  nämlich  teils  solche  Aufgaben,  zu  deren  Ausführung  sie 
gesetzlich  verpflichtet  sind,  teils  solche,  die  sie  freiwillig  über- 
nehmen können.  Wie  sich  Bornhak 2)  ausdrückt,  ,, handelt  es 
sich  bei  der  Kommunalverwaltung  der  Provinz  um  einen  nicht 
geschlossenen  Kreis  von  Aufgaben  der  kommunalen  Wohlfahrts- 
pflege". 

Der  Provinzialverband  kann  also  zunächst  prinzipiell  stets 
neue  Angelegenheiten  als  im  Interesse  der  Provinz  liegend  zum 
Gegenstaude  der  Provinzialverwaltung  machen  und  die  dafür 
erforderlichen  Ausgaben  beschließen,  darf  aber  dabei  weder  in 
das  Gebiet  der  allgemeinen  Landesverwaltung,  noch  in  das 
Interessengebiet  der  Kreise  und  Einzelgemeinden  übergreifen. 
In  der  Wahrung  dieser  Grenzen  liegt  das  Aufsichtsrecht  des 
Staates  begründet.  Außerdem  bedarf  die  finanziell  zu 
drückende  Übernahme  freiwilliger  Aufgaben  durch  die  Pro- 
vinzialverbände einer  besonderen  Genehmigung^). 

Aber  abgesehen  hiervon  ist  vor  allem  der  durch  die  Gesetz- 
gebung den  Provinzialverbänden  ausdrücklich  überwiesene  Wir- 
kungskreis außerordentlich  groß.  Wollen  wir  nun  einen  Ein- 
blick dahin  gewinnen,  auf  welchen  Gebieten  eigentlich  die 
Verwaltungstätigkeit  der  Provinzialverwaltung  am  intensivsten 
und  stärksten  entwickelt  ist,  so  gibt  uns  ihr  Etat  darüber  den 
besten  Aufschluß.  Aus  den  Zifl'ern  dieser  Etats  ergibt  sich, 
daß  folgende  Verwaltungszweige  als  die  wichtigsten  der  Pro- 
vinzialverwaltung angesprochen  werden  können:  die  Straßen- 
verwaltung, das  Landarmenwesen,  die  sogenannte  erweiterte 
Armenpflege,  die  Fürsorgeerziehung  und  die  Sorge  für  die 
Provinzial-  und  Heilanstalten  und  für  ähnliche  Anstalten. 


•)  ProvOrd.  §  34  I. 

^)  Bornhak:  Preußisches  Staatsrecht,  2.  Aufl..  2.  Bd.,  S.  376. 

*)  Vgl.  §  33  des  Kreis-  und  Provinzialabgabengesetzes  vom  23.  April  1906. 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  631 

Was  nun  zAinächst  die  Straßenverwaltung  angeht,  so  wurde 
die  Verwaltung  und  Unterhaltung  der  Staatsstraßen  durch  §  l-S 
des  Ausführungsgesetzes  zum  Dotationsgesetz  vom  8.  Juli  1875 
den  Provinzialverbändeu  übertragen.  Zugleich  ging  auch  das 
Eigentum  an  ihnen  auf  die  Provinzialverbände  über.  Die 
von  der  Provinz  so  übernommenen  Straßen  heißen  Provinzial- 
straßen  und  ihre  Verwaltung  bildet  den  wichtigsten  Teil  der 
Provinzialverwaltung.  Provinzialbeamte  sind  auch  das  Heer 
der  in  der  Zentral-  und  Lokalverwaltung  der  Provinz  be- 
schäftigten technischen  Beamten  von  den  Landesbauräten  bis 
hinab  zu  den  Straßen  Wärtern.  Auf  dem  Gebiet  der  Straßen - 
Verwaltung  tritt  also  der  Provinzialverband  vollständig  an  die 
Stelle  des  Staates. 

Ebenso  untersteht  dem  Provinzialverband  das  gesamte  Land- 
armenwesen. §  5  des  Unterstützungs -Wohnsitzgesetzes  in  der 
Fassung  vom  3.  Mai  1908  regelt  bekanntlich  die  Pflicht  der 
Landarmenverbände  zur  öffentlichen  Unterstützung  der  soge- 
nannten Landarmen,  d.  h.  der  Armen,  deren  Unterstützung  nicht 
endgültig  einem  Ortsarmenverbande  zur  Last  fällt.  Es  ist  den 
Bundesstaaten  dabei  überlassen,  entweder  selbst  die  Funktion 
eines  Landarmenverbandes  zu  übernehmen  oder  innerhalb  ihres 
Gebietes  räumlich  abgegrenzte  Landarmenverbände  einzurichten. 
Durch  Verordnung  vom  2.  Oktober  1871  wurde  nun  die  Rhein- 
provinz als  solche  zum  Landarmenverband  gemacht  und  ihr 
damit  die  Pflicht  zur  Unterstützung  der  Landarmen  auferlegt. 

Damit  erschöpft  sich  aber  die  Tätigkeit  des  Provinzial- 
verbandes  auf  dem  Gebiet  des  Armenwesens  nicht.  §  31  des 
Preußischen  Ausführungsgesetzes  zum  Unterstützungs -Wohn- 
sitzgesetz vom  8.  März  1891  bezeichnet  es  weiter  als  ihre  gesetz- 
liche Pflicht,  für  Bewahrung,  Kur  und  Pflege  der  hilfsbedürf- 
tigen Geisteskranken,  Idioten,  Epileptischen,  Taubstummen  und 
Blinden,  soweit  dieselben  der  Anstaltpflege  bedürfen,  in  ge- 
eigneten Anstalten  Fürsorge  zu  treffen.  Es  ist  also  damit 
dieser  Teil  der  Armenlast  ausschließlich  den  Landarmenver- 
bänden übertragen,  allerdings  vorbehaltlich  eines  teilweisen 
Kostenersatzes  durch  die  Ortsarmenverbände.  Und  zur  Be- 
wältigung dieser  sogenannten  erweiterten  Armenpflege  ist  auch 
die  Errichtung,  Verwaltung  und  Unterhaltung  der  dazu  er- 
forderlichen Anstalten  Sache  der  Provinzialverbände. 

Ähnhch  ist  die  Regelung  hinsichtlich  der  Fürsorgeerziehung. 
Die  gesamte  Ausführung  der  Fürsorgeerziehung  hegt  nach  den 
§§  9  und  14  des  preußischen  Gesetzes  vom  2.  Juli  1900  „über  die 


632  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

Fürsorgeerziehung  Minderjähriger"  den  Provinzialverbänden  ob. 
Sie  entscheiden,  in  welcher  Weise  der  Zöghng  untergebracht 
werden  soll.  Ebenso  trägt,  abgesehen  von  den  Überführungs- 
kosten, die  Provinz  die  sämtlichen  Kosten  der  Fürsorgeerziehung, 
erhält  allerdings  aus  der  Staatskasse  dazu  einen  Zuschuß  in 
Höhe  von  zwei  Drittel  der  notwendigen  Kosten^). 

Welche  Rolle  nun  die  angeführten  Verwaltungszweige  in 
der  Pro vinzial Verwaltung  spielen,  ergibt  ein  Blick  in  den  Etat 
der  Rheinprovinz.  Im  Voranschlag  1912/13  in  der  Gesamthöhe 
der  Ausgaben  von  19110000  M.  waren  vorgesehen  für: 

1.  die  Straßenverwaltung 7444214  M. 

2.  das  Landarmenwesen  .......       1753311  ,, 

3.  die  erweiterte  Armenpflege 1300000  ,, 

4.  die  Fürsorgeerziehung 1034000  ,, 

5.  die    Provinzial-    und    Heilanstalten    und 
Ahnliches  (Taubstummenwesen,  Blinden- 

wesen,  Hebammenwesen) 1336040  ,, 

zusammen     12  867  565  M. 

Wir  sehen  daraus,  daß  die  oben  erwähnten  Verwaltungs- 
zweige weitaus  das  Gros  der  Aufgaben  der  Provinzialverwaltung 
ausmachen. 

Wie  stellen  sich  nun  demgegenüber  die  Aufgaben  eines 
Mittelstaates?  Wie  erledigt  dieser  die  Aufgaben,  die  den  Pro- 
vinzen übertragen  sind,  und  wie  charakterisiert  sich  im  Ver- 
hältnis zu  diesen  Aufgaben  der  sonstige  Wirkungskreis  des- 
selben? Wenn  wir  dafür  die  Verhältnisse  in  Baden  zum  Ver- 
gleich heranziehen,  so  können  wir  zunächst  prinzipiell  die  Fest- 
stellung treffen,  daß  die  Aufgaben,  welche  die  preußische  Provinz 
als  eigene  erledigt,  und  die  Bornhak  als  ,,  Auf  gaben  der  kom- 
munalen Wohlfahrtspflege"  kennzeichnet,  in  Baden  durchaus 
nicht  alle  durch  Kommunalverbände  erledigt  werden.  Sondern 
es  findet  in  Baden  hinsichtlich  dieser  Aufgaben  eine  Teilung 
statt.  Sie  werden  entweder  vollständig  durch  die  Kommunal- 
verbände erledigt  oder  sie  gehören  teils  zum  Aufgabenkreis  der 
Staatsverwaltung,  teils  zu  dem  der  Kommunalverwaltung  oder 
schließlich  sie  fallen  einzig  und  allein  in  das  Gebiet  der  Staats- 
verwaltung. 

Die  badischen  größten  Kommunalverbände^),  welche  für  die 
Erledigung  derartiger  Aufgaben  in  Betracht  kommen,  sind  die 

')  §  15  d.  G. 

0  Die  Größe  der  badischen  Kreise  schwankt  an  Flächeninhalt  von 
2183  qkm   (Freiburg)   bis   463  qkm   (Mannheim)  und   an  Einwohnerzahl  von 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  633 

Kreisverbände,  deren  Zahl  sich  auf  11  beläuft.  Sie  sind  rein 
als  Kommunalverbände  organisiert  und  besitzen  analog  den 
preußischen  Provinzen  als  Organe  die  Kreisversammlung  und 
den  Kreisausschuß.  Dazu  tritt  fioch  der  Kreishauptmann,  der 
als  Vertreter  der  Staatsregierung  in  der  Kreisverwaltung  fungiert. 
Wie  die  Provinzialverbände,  so  dürfen  auch  die  Kreisverbände 
prinzipiell  alle  Interessen  und  Einrichtungen  des  Kreises  in 
ihren  Verwaltungsbereich  ziehen.  Wird  dadurch  aber  ein  be- 
sonderer Kostenaufwand  nötig,  so  dürfen  derartige  Einrich- 
tungen und  Anstalten  nur  dann  beschlossen  werden,  wenn  ein 
Gesetz  hierzu  die  Ermächtigung  gibt^). 

Die  wichtigsten  obligatorischen  Verwaltungsaufgaben,  die 
den  Kreis  verbänden  in  Baden  überwiesen  sind,  sind  die  Be- 
sorgung des  Landarmenwesens  und  des  Kreisstraßenwesens. 

Ausschließlich  Sache  der  Kreisverbände  ist  vor  allem  die 
Verwaltung  des  Landarmenwesens,  da  die  Kreisverbände  in 
Baden  als  Landarmenverbände  fungieren^).  Damit  ist  aber  auch 
die  gesetzliche  Verpflichtung  der  Kreisverbände  auf  dem  Gebiet 
der  Armenverwaltung  erschöpft.  Eine  Überwälzung  der  so- 
genannten erweiterten  Armenpflege  auf  die  Landarmenverbände 
hat  in  Baden  nicht  stattgefunden.  Deshalb  ist  auch  die  Ein- 
richtung und  Verwaltung  der  für  die  Pflege  solcher  Kranken 
erforderlichen  Anstalten  in  Baden  prinzipiell  Sache  des  Staates. 

Einer  Teilung  der  Verwaltungstätigkeit  unterhegt  in  Baden 
das  Gebiet  der  Straßenverwaltung.  Den  größten  und  wichtigsten 
Teil  derselben,  nämlich  das  ganze  Landstraßen wesen,  hat  der 
Staat  in  eigener  Verwaltung  behalten,  während  die  in  dem 
Straßengesetz  als  Kreisstraßen  aufgeführten  oder  später  dem 
Kreisstraßenverband  zugewiesenen  Straßen  der  Verwaltung  der 
Kreisverbände  unterliegen"^). 

Alleiniger  Gegenstand  der  staatlichen  Verwaltung  ist  schließ- 
lich in  Baden  die  Fürsorgeerziehung  oder,  wie  der  Ausdruck 
dort  lautet,  die  Zwangserziehung.  Für  die  Zwangserziehung 
ist  in  Baden  sowohl  antrags-  wie  vollzugsberechtigt  die  niedere 
Verwaltungsbehörde,  das  Bezirksamt.  Dem  Staate  fallen  aber 
auch  die  Kosten  der  Zwangserziehung  zur  Last,  abgesehen  von 


rund  445000  Einwohnern  (Karlsruhe)  bis  rund  82000  Einwohnern  (Villingen). 
(Vgl.  Hof-  und  Staatshandbuch  des  Großherzogtums  Baden,  1913,  S.  285.) 

')  §  25  d.  Ct.  vom  5.  Oktober  1863,  „die  Organisation  der  inneren  Ver- 
waltung" betreffend, 

^)  G.  vom  14.  März  1872  §  1  Abs.  1. 

')  Straßengesetz  vom  14.  Juni  1884  §§  1  ff. 


634  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

den  Überführungskosten,  der  ersten  Ausstattung  des  Zwangs- 
zöglings und  einem  Drittel  der  Verpflegungskosten,  die  von  dem 
unterstützungspflichtigen  Armenverband  zu  bestreiten  sind  ^). 

So  erscheinen  also  als  die  Hauptgebiete  der  Kreisverwaltung 
in  Baden  das  Landarmenwesen  und  die  Kreisstraßenverwaltung. 
Nach  dem  Voranschlag  des  Kreisverbandes  Freiburg  i.  Br.  für 
das  Jahr  1910  entfielen  denn  auch  von  der  Gesamtsumme  aller 
Ausgaben  des  Kreisverbandes  in  Höhe  von  694302  M.  140000  M. 
auf  den  Landarmenverband  und  ca.  275000  M.  auf  die  Kreis- 
straßenverwaltung. 

Wie  sich  nun  aus  dieser  Gegenüberstellung  ergibt,  nimmt 
die  Rheinprovinz  hinsichtlich  ihres  eigenen  Wirkungskreises 
auf  dem  Gebiet  der  Selbstverwaltung  eine  Mittelstellung  zwischen 
dem  Staat  Baden  und  den  badischen  Kreisverbänden  ein.  Die 
ganze  Straßenverwaltuug,  die  Sorge  für  das  Heil-  und  Pflege- 
wesen und  für  die  Fürsorgeerziehung  gehören  in  Preußen  zum 
Wirkungskreis  der  Provinz,  während  sie  in  Baden  ganz  oder 
überwiegend  Teile  der  Staatsverwaltung  sind.  Und  einen  wie 
großen  Teil  der  inneren  Staatsverwaltung  Badens  gerade  diese 
Verwaltungszweige  ausmachen,  das  zeigt  ein  Blick  in  den  Etat 
des  Ministeriums  des  Lmern.  Der  Gesamtetat  dieses  Ministe- 
riums für  das  Jahr  1910/11  behef  sich  auf  241/2  Mill.  M.  Zieht 
man  nun  von  diesem  Betrag  die  in  den  Etat  eingestellten 
Summen  für  die  genannten  Verwaltungszweige  ab,  so  verringert 
sich  der  Gesamtetat  um  einen  Betrag  von  über  10  Mill.  M. 
auf  etwa  die  Hälfte  der  jetzigen  Höhe.  Das  Ministerium  des 
Innern  bliebe  dann  de  facto  nur  noch  beschränkt  auf  die 
Aufgaben  der  allgemeinen  Landesverwaltung  und  der  Polizei. 
Denn  auf  diese  Aufgaben  entfällt  der  Rest  des  Etats. 

So  erstreckt  sich  in  Baden  die  Staatsverwaltung  als  solche 
auf  einen  Kreis  von  Geschäften,  die  in  Preußen  von  den  Pro- 
vinzen besorgt  werden.  Preußen  hat  also  den  Kreis  der 
Tätigkeit  seiner  größten  Kommunalverbände  bedeutend  weiter 
gezogen,  wie  Baden.  Diese  Tatsache  findet  nun  aber  ihre 
natürliche  Erklärung,  sobald  man  sich  die  besondere  Stellung, 
die  ein  Mittelstaat  wie  Baden  im  Gegensatz  zu  dem  Groß- 
staat Preußen  innerhalb  des  Reiches  einnimmt,  klarmacht. 
Denn  an  und  für  sich  wäre  auch  in  Baden  eine  Übertragung 
all  dieser  Verwaltuugszweige  auf  die  Kommunalverbände  sehr 


')  Gesetz,  betreffend  die  Zwangserziehung,  in  der  Fassung  vom  26.  Au- 
gust 1900,  §§  3,  6,  9. 


Koellreutter .  Einzelstaat  und  Provinz.  635 

wohl  möglich.  Allerdings  müßte  Baden,  wenn  es  den  Kreis 
der  Aufgaben  seiner  großen  Kommunalverbände  erweitern  wollte, 
auch  ihre  Größe  und  Leistungsfähigkeit  auf  eine  breitere 
Basis  stellen.  Und  es  ist  tatsächlich  schon  die  Frage  ventihert 
worden,  die  bestehenden  11  Kreisverbände  in  Baden  zu  größeren 
zusammenzufassen  und  etwa  aus  den  jetzt  bestehenden  vier 
Bezirken  der  Landeskommissäre  große  Kommunalverbände,  die 
dann  im  Durchschnitt  eine  halbe  Million  Einwohner  zählen 
würden,  zu  bilden^).  Daß  solche  Kommunalverbände  bei  der 
entsprechenden  Dotation  durch  den  Staat  imstande  wären,  außer 
ihren  heutigen  Aufgaben  auch  noch  alle  jetzt  den  preußischen 
Provinzen  obliegenden  Aufgaben  ihrerseits  als  eigene  zu  er- 
füllen, kann  wohl  füglich  nicht  bezweifelt  werden.  Aber  dann 
wäre  die  Frage  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  ob  gerade  bei 
der  Stellung  Badens  zum  Reiche  eine  solche  ,,Mediatisierung" 
des  Ministeriums  des  Innern  nicht  eine  bedenkliche  Schwächung 
der  badischen  Staatsgewalt  als  solcher  bedeuten  würde.  Man 
vergegenwärtige  sich  doch  nur  die  Stellung  eines  Mittelstaates 
wie  Baden  in  dieser  Hinsicht.  Von  oben  drückt  auf  ihn  das 
Reich.  Die  Kompetenz  des  Reiches  auf  dem  Gebiet  der  Gesetz- 
gebung dehnt  sich  ständig  aus  und  auch  in  den  den  Einzel- 
staaten verbliebenen  Wirkungskreis  vermag  es  vermittelst  seiner 
Kompetenz-Kompetenz  einzugreifen.  Neue  Gebiete  wachsen  dem 
Einzelstaat  nicht  mehr  zu,  er  hat  höchstens  die  weitere  Ein- 
schränkung der  ihm  verbliebenen  zu  erwarten.  Gerade  also 
dem  Reich  gegenüber  hat  Baden  als  Einzelstaat  und  damit  als 
natürlicher  Vertreter  des  Föderalismus  nichts  zu  gewinnen, 
sondern  nur  zu  verlieren.  Und  so  muß  es  eben  haushalten 
mit  dem,  was  ihm  verblieben  ist.  Ein  Großstaat  wie  Preußen 
kann  ruhig  in  seinen  Provinzen  derartig  große  Kommunal- 
verbände schaffen,  daß  sie  sich  auf  dem  Gebiet  der  Ver- 
waltung wie  Mittelstaaten  im  Gebiete  eines  Großstaates  aus- 
nehmen, und  daß  ihre  Zentralverwaltung  ein  kleines  Mini- 
sterium des  Innern  für  sich  bildet.  Für  einen  Mittelstaat  wie 
Baden  dagegen  würde  eine  ähnliche  Dezentralisation  immer- 
hin ein  Experiment  bedeuten,  welches  das  an  und  für  sich 
nicht  mehr  sehr  große  eigene  Tätigkeitsfeld  desselben  noch 
mehr   einschränken   würde.     Wie   mau   sich   also   auch  zu  der 


')  Die  jetzt  bestehenden  vier  Bezirke  der  Landeskommissäre  haben 
folgende  Einwohnerzahlen:  Konstanz  325924,  Freiburg  .564:580,  Karlsruhe 
610784,  Mannheim  641545  (Hof-  und  Staatshandbuch  des  (iroßherzogtums 
Baden,  1913,  S.  284). 


636  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

Selbstverwaltung  als  solcher  stellen  mag,  vom  Standpunkt  des 
Mittelstaates  aus  könnte  man  einer  Begrenzung  des  eigenen 
Wirkungskreises  der  ihm  eingeghederten  Selbstverwaltungs- 
körper insoweit  das  Wort  reden,  daß  die  einzelstaatliche  Staats- 
gewalt in  der  Lage  bleibt,  ihre  Stellung  nach  oben  wie  nach 
unten  zu  wahren  und  nicht  die  Gefahr  laufen  kann,  zwischen 
einer  stets  wachsenden  Machtausdehnung  des  Reiches  und  der 
eigenen  Kommunalverbände  erdrückt  zu  werden. 

So  sind  es  also  reine  Zweckmäßigkeitserwägungen,  welche 
die  Verwaltung  der  angeführten  Verwaltungszweige  bald  Staats- 
organen, bald  Organen  der  Kommunalverbände  übertragen. 
Und  deshalb  ist  auch  die  Brie -Rosin sehe  Zwecktheorie  nicht 
haltbar.  Denn  nicht  nur  leistet  die  Rheinprovinz  für  nationale 
Zwecke,  für  die  ganze  Entwicklung  der  deutschen  Nation  un- 
endlich mehr,  als  irgendeiner  der  deutschen  Zwergstaaten, 
sondern  diese,  ihr  überlasseuen  Verwaltungszw^eige  und  Wohl- 
fahrtsaufgaben, werden  in  einem  Mittelstaate  wie  Baden  nicht 
als  kommunale,  sondern  als  staatliche  behandelt.  Eine  Grenze 
zwischen  kommunalen  und  staatlichen  Kultur-  und  Wohlfahrts- 
aufgaben läßt  sich  eben  nicht  ziehen.  Es  sind  politische  Zweck- 
mäßigkeitserwägungen, die  dieselben  Verwaltungszweige  bald 
dem  Staat,  bald  den  Kommunen  zur  Erledigung  zuweisen  i). 

Trifft  das  für  die  Verwaltung  zu,  so  erhebt  sich  jetzt  die 
Frage,  wie  es  hinsichtlich  der  Gesetzgebung  steht.  Und  auf 
diesem  Gebiet  ist  allerdings  der  Unterschied  zwischen  Provinz 
und  Mittelstaat  bedeutend  größer.  Wir  haben  gesehen,  daß 
sich  die  Selbstgesetzgebung  der  Provinz  in  sehr  engen  Grenzen 
hält.  Dasselbe  gilt  von  der  Selbstgesetzgebung  der  Kreis- 
verbände in  Baden.  Die  Kreisverbände  sind  nämlich  auf  diesem 
Gebiete  beschränkt  auf  die  Festsetzung  der  Statuten  der  von 
ihnen  gegründeten  Anstalten'^).  Gegenüber  der  staatlichen 
Gesetzgebung  kommt  also  die  Selbstgesetzgebung  der  Kom- 
munalverbände nicht  in  Betracht. 

Und  wiederholen  wir  nun  nach  den  gemachten  Erörterungen 
die  anfangs  aufgew^orfene  Frage  nach  dem  generellen  Unter- 
scheidungsmerkmal zwischen  Staat  und  Kommunalverband,  so 
können  wir  als  das  Ergebnis  des  angestellten  Vergleichs  zu- 
nächst folgendes  feststellen.     Auf  dem  Gebiet  der  Verwaltung 


*)  Mit  Recht  erklärt  deshalb  Richard  Schmidt,  Allgemeine  Staats- 
lehre, Leipzig,  1901,  Bd.  1  S.  276  dieses  Unterscheidungsmerkmal  nur  für 
ein  relatives. 

')  §  42  d.  G.  vom  5.  X.  1863. 


Koellreutter,  Einzelstaat  uud  Provinz.  H37 

besteht  ein  prinzipieller  Unterschied  zwischen  Staat  und  Kom- 
munalverband nicht.  Von  politischen  Gemeinwesen  zu  leistende 
Kulturaufgaben  können  bald  vom  Staate  selbst,  bald  von 
Kommunalverbänden  erledigt  werden,  ohne  daß  sich  der  Cha- 
rakter der  betreffenden  Aufgabe  als  solcher  ändert.  Allerdings  ist 
die  Tätigkeit  des  Einzelstaates  eine  weit  vielseitigere  als  die 
einer  Provinz,  die  sich  nur  auf  die  Erfüllung  von  Kulturauf- 
gaben auf  gewissen  Gebieten  der  inneren  Verwaltung  beschränkt. 
Nur  ein  Gebiet  der  Verwaltung  können  wir  als  rein  staatliches 
ansprechen,  und  das  ist  die  Polizeiverwaltung  i).  Gerade  die 
größten  Kommunalverbände  haben  mit  ihr  überhaupt  nichts 
zu  tun.  Ebenso  ist  die  Rolle  der  großen  Kommunalverbände 
auf  dem  Gebiet  der  Gesetzgebung  eine  minimale  und  mit  der 
dem  Einzelstaat  verbliebenen  Gesetzgebungsgewalt  überhaupt 
nicht  in  Vergleich  zu  ziehen. 

Und  so  kann  man  vielleicht  sagen :  die  auf  eigenem  Rechte 
und  eigener  Gesetzgebung  beruhende  Organisation  des  Staates 
und  die  Verwaltung  der  Machtmittel  zu  ihrer  Aufrecht- 
erhaltung bilden  im  Gegensatz  zur  Provinz  die  charakteristi- 
schen Eigentümlichkeiten  des  Staates.  Solange  sie  noch  vor- 
handen sind,  hat  der  Staat  eine  eigene  Herrschergewalt,  er  ist 
ein  politisches  Machtzentrum.  Und  gerade  das  letztere  ist  die 
Provinz  nicht.  Der  Kommunalverband  kann  eigene  Rechte 
haben,  so  gut  wie  der  Staat.  Aber  er  verfügt  nicht  über 
das  dem  Staate  charakteristische  Machtzentrum.  Die  Provinz 
verwaltet,  sie  erfüllt  wichtige  Kulturaufgaben  auf  einzelnen  ihr 
vom  Staate  übertragenen  Gebieten.  Der  Staat  regiert,  die  Staats- 
gewalt des  Einzelstaates  äußert  sich  noch  in  ihren  verschiedenen 
Formen.  Der  Tätigkeitskreis  des  Einzelstaates  ist  ein  univer- 
seller, er  bildet  ein  eigenes  Machtzentrum.  Der  Unterschied 
zwischen  beiden  liegt  nicht  in  dem  tatsächlichen  Umfang  der 
staatlichen  Tätigkeit,  sondern  in  dem  generell  verschiedenen 
Machtzentrum,  das  sich  in  dem  Staat  im  Gegensatz  zur  Provinz 
noch  konzentriert. 


*)  Der  rein  staatliche  Charakter  der  Polizeiverwaltung  ^vird  bestritten, 
so  auch  von  Eosiu,  der  aber  für  das  preußische  j^ositive  Staatsrecht  den 
staatlichen  Charakter  der  Polizei  zugibt  (Rosin:  üas  Polizeiverordnungsrecht 
in  Preußen,  Berlin,  1895  II.  Aufl.  S.  233/34;  der  Begriff  der  Polizei.  Sonder- 
abdruck aus  dem  VerwAi-ch.,  1895,  S.  89).  Den  Charakter  der  Polizei  als 
staatliches  Amt  betont  Otto  Mayer,  Deutsches  Verwaltungsrecht.  Leipzig, 
1896,  n.  Bd.,  S.  425,  und,  für  Baden,  Walz,  Das  Staatsrecht  des  Großherzog- 
tums  Baden,  Tübingen,  1909,  S.  300  Anm.  6. 


638  Koellreuttei';  Einzelstaat  und  Provinz. 

Zusammenfassend  wäre  nun  als  unser  auf  induktivem 
Wege  gewonnenes  Ergebnis:  Diejenigen  politischen  Gemein- 
wesen der  Gegenwart  führen  die  Bezeichnung  ,, Staaten",  die 
ein  Machtzentrum  besitzen,  dessen  wesentlicher  Kern  ihnen 
allen  charakteristisch  ist,  dessen  Umfang  und  dessen  verschieden- 
artige Kompetenzen  im  konkreten  Falle  aber  wechseln  können. 
Und  dieser  wesentliche  Kern  des  staatlichen  Machtzentrums 
besteht  in  der  Schaffung  und  Erhaltung  der  eigenen  staatlichen 
Organisation  und  in  der  Möglichkeit,  dieselbe  durch  eigene 
Machtmittel,  sei  es  Polizei,  Militär  oder  beides  zu  behaupten 
und  zu  stützen^).  Um  diesen  typischen  Kern  des  staatlichen 
Machtzentrums  gruppieren  sich  dann  im  modernen  Staate  die 
zahlreichen  Wohlfahrts-  und  Kulturaufgaben,  deren  Erledigung, 
wie  wir  gesehen  haben,  ebensogut  auch  durch  nichtstaatliche 
Verbände  erfolgen  kann. 

Wie  ist  nun  aber  in  dem  konkreten  Falle  der  deutschen 
Einzelstaaten  der  Umfang  dieses  staatüchen  Machtzentrums  im 
einzelnen  beschaffen?  Welchen  Einwirkungen  und  Verände- 
rungen ist  es  ausgesetzt  und  geht  die  Tendenz  auf  eine 
Stärkung  oder  Schwächung  der  Einzelstaaten,  d.  h.,  bleibt  ihr 
staatliches,  spezifisches  Machtzentrum  intakt,  oder  verschwindet 
es  und  sinken  dadurch  die  Einzelstaaten  immer  mehr  zu  Reichs- 
provinzen herab? 

Die  Einzelstaaten  traten  in  das  Reich  ein,  ausgerüstet  mit 
ihrer  alten  Landeshoheit,  deren  Umfang  und  Bestand  zunächst 
unverändert  blieb,  soweit  die  Ausgestaltung  der  höheren  Gewalt 
über  ihnen,  der  Reichsgewalt,  das  gestattete.  Auf  jeden  Fall 
kamen  sie  durch  ihren  Eintritt  in  das  Reich  nach  der  herr- 
schenden Ansicht  2),  die  auch  durchaus  den  tatsächlichen  Ver- 
hältnissen entspricht,  in  den  Bannkreis  einer  höheren  Gewalt, 
nämlich  der  des  Reiches.  Und  in  diesem  Verhältnis  ähneln 
sie  zunächst  wieder  durchaus  den  Kommunalverbänden.  Im 
Hinblick  auf  das  höhere  politische  Gemeinwesen,  dem  sie  ein- 
gegliedert sind,  sind  die  Kommunalverbände  und  die  Einzel- 
staaten nichts  anderes  als  ,, Selbstverwaltungskörper".  Das  Ver- 
hältnis zu  der  höheren  Gewalt  abstrahiert  bei  beiden  von  ihrem 
eigenen  Wirkungskreis.     Schon  Rosin   und  Laban d^)  haben 

')  über  den  „Vorrang  der  Sicherungsaufgaben''  des  Staates  überhaupt, 
vor  allem  aber  des  nationalen  Staates  der  Gegenwart,  von  dem  hier  allein 
die  Rede  ist,  vgl.  Richard  Schmidt,  Allgemeine  Staatslehre,  Leipzig,  1901, 
1.  Bd.,  S.  153  ff. 

')  Statt  aller  La  band:  a.  a.  0.  S.  102  ff. 

')  Laband:  a.  a.  0.  S.  102  Anm.  4. 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  'iSO 

beide  den  Begriff  der  Selbstverwaltung  als  einen  juristischen 
Verhältnisbegriff  gekennzeichnet.  So  erklärt  Rosin:  „Der  Rechts- 
begriff der  Selbstverwaltung  .  .  .  bezieht  sich  auf  das  Verhältnis 
zweier  politischer  Gemeinwesen  zueinander,  das  des  sogenannten 
Selbstverwaltungskörpers  zu  der  ihm  übergeordneten  souveränen 
Gewalt  ^).  .  .  .  Selbstverwaltung  ...  im  staatsrechtlichen  Sinne  ist 
danach  die  Anerkennung  eines  nichtsouveränen  politischen  Ge- 
meinwesens durch  das  souveräne  als  verwaltende  Rechtspersön- 
lichkeit." 2)  Damit  sind  aber  die  Grenzen  dieses  Begriffs  fixiert. 
Der  Rechtsbegriff  „Selbstverwaltung"  als  solcher  sagt  absolut 
nichts  aus  über  die  Größe  und  Beschaffenheit  des  Wirkungs- 
kreises, der  dem  Selbstverwaltungskörper  gelassen  ist,  noch 
auch  über  die  Art  und  Intensität  der  Einwirkung  des  höheren 
Verbandes  auf  denselben.  Obwohl  also  das  Verhältnis  beider 
unter  den  Begriff  der  Selbstverwaltung  fällt,  so  ist  doch  die 
Stellung  der  Eiuzelstaaten  auf  den  Gebieten,  auf  denen  sie  der 
Gesetzgebung  und  Aufsicht  des  Reiches  unterliegen  und  diese 
Einwirkung  des  Reiches  selbst  durchaus  anders  gestaltet  als 
die  Stellung  der  preußischen  Provinzen  zum  Staat. 

Nun  hatten  wir  vorhin  festgestellt,  daß  der  Unterschied 
zwischen  einer  preußischen  Provinz  und  einem  deutschen 
Einzelstaat  darin  zu  finden  sei,  daß  der  letztere  seine  eigene 
organisatorische  Gesetzgebung  besitze  und  auf  dem  Gebiet  der 
inneren  Verwaltung  der  Inhaber  der  Polizeigewalt  sei.  Dazu 
kommen  nun  dem  Reich  gegenüber  noch  die  verschiedenen 
anderen  Verwaltungsgebiete,  auf  denen  sich  die  Landeshoheit 
der  Einzelstaaten  betätigt,  und  das  ist  für  Baden  hauptsächlich 
die  von  Dotationen  unabhängige  staatliche  Finauzverwaltung,  die 
Justizverwaltung,  das  Unterrichtswesen  und  das  Eisenbahnwesen. 

Wie  stellt  sich  denn  nun  aber  überhaupt  die  badische  Gesetz- 
gebung zur  Gesetzgebungskompetenz  des  Reiches?  Auf  welche 
Gebiete  beschränkt  sie  sich  und  welche  Schranken  setzt  ihr  die 
Reichsgesetzgebung?  Welche  badischen  Gesetzgebungsakte  sind 
es  denn,  die  uns  beim  Durchblättern  der  badischen  Gesetzes- 
sammlung der  letzten  Jahrzehnte  in  die  Augen  fallen?  Ihren 
wichtigsten  Teil  bilden  die  Organisations-  und  Beamtengesetze. 
Dazu  kommen  eine  große  Anzahl  von  Steuergesetzen  auf 
dem  den  Einzelstaaten  bisher  verbliebenen  Gebiet  der  direk- 
ten  Besteuerung.      Ferner  treten  hierzu  eine   Reihe  von   Ver- 


')  Rosin:  a.a.O.  S.  312. 
■)  Rosin:  a.  a.  0.  S.  309. 


640  Ko  ellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

waltungsgesetzen  auf  verschiedenen  Verwaltungsgebieten,  wie 
z.  B.  auf  dem  der  Eisenbahnen,  Straßen,  der  Wasser-  und 
Bergverwaltung.  Von  dieser  ganzen  Gesetzgebung  ist  nun 
wieder  spezifisch  staatlich  und  auf  das  eigentliche  politische 
Machtzentrum  des  Staates  zielend  die  Organisationsgesetzgebung. 
Sie  ist  deshalb  von  besonderer  Bedeutung,  weil  in  ihr  der 
Einzelstaat  seine  eigenen  Wege  gehen  kann,  ohne  Rücksicht 
auf  die  übrigen  Staaten  und  auf  das  Reich.  Denn  die  Or- 
ganisationsgesetzgebung wird  als  interne  eigene  Angelegenheit 
jedes  Staates  betrachtet.  Und  so  hat  gerade  Baden  im  letzten 
Jahrzehnt  durch  die  Einführung  des  allgemeinen  direkten 
Wahlrechts  zur  zweiten  Kammer  und  durch  die  starke  Demo- 
kratisierung des  Wahlrechts  für  die  Wahl  der  Gemeindever- 
tretungen seine  Verfassung  in  besonders  ausgeprägter  Weise 
anders  ausgebaut,  wie  die  meisten  norddeutschen  Staaten,  vor 
allem  Preußen. 

Abgesehen  von  der  Organisationsgesetzgebung  ist  aber  die 
Verwaltungsgesetzgebung  der  Einzelstaaten  in  weitem  Maße 
dem  Eingriff  des  Reiches  ausgesetzt.  Man  betrachte  nur  die 
Entwicklung  der  Gesetzgebung  auf  dem  Gebiete  des  Ar- 
tikel 4  der  Reichsverfassung.  Während  in  den  Anfangsjahren 
der  Geltung  der  Verfassung  der  Einzelstaat  auf  der  Mehr- 
zahl dieser  Gebiete  mit  seiner  Gesetzgebung  noch  dominierte, 
hat  jetzt  das  Reich  beinahe  alle  Gebiete  des  Artikel  4 
seiner  Gesetzgebung  unterworfen.  Ich  erinnere  nur  aus  den 
allerletzten  Jahren  an  das  Reichsvereinsgesetz  und  will  nur 
weiter  darauf  hinweisen,  daß  das  Reich  durch  das  Gesetz  vom 
3.  Juli  1913  ,,über  einen  einmaligen  außerordentlichen  Wehr- 
beitrag" und  das  Besitzsteuergesetz  vom  gleichen  Datum  soeben 
auch  in  die  Gesetzgebung  über  die  direkten  Steuern  eingegriffen 
und  damit  in  dieses  bisher  den  Einzelstaaten  verbliebene  Ge- 
biet der  direkten  Besteuerung  eine  Bresche  geschlagen  hat. 
Da  sich  damit  automatisch  der  Umfang  der  Reichsauf  sieht 
immer  mehr  erweitert,  so  bringt  das  vor  allem  ein  Sinken  in 
der  Stellung  der  Klein-  und  Mittelstaaten  mit  sich.  Denn 
unter  diesem  Druck  des  Reiches  auf  dem  Gebiet  der  Gesetz- 
gebung leiden  die  Klein-  und  Mittelstaaten  viel  mehr  als  ein 
Großstaat  wie  z.  B.  Preußen.  Gerade  in  Preußen  spielt  der 
Erlaß  von  Organisations-  und  Verwaltungsgesetzen  nicht  nur 
für  die  Gesamtmonarchie,  sondern  auch  für  die  einzelnen 
Provinzen  eine  sehr  große  Rolle.  Obwohl  also  die  Beschränkung 
Preußens  auf  dem  Gebiete  der  Gesetzgebung  durch  das  Reich 


Koellreutter,  Eiuzelstaat  und  Provinz.  B41 

dieselbe  ist,  wie  die  jedes  anderen  Einzelstaates,  so  ist  sie  doch 
bei  dem  viel  größeren  Wirkungskreise  des  Großstaates  Preußen 
nicht  so  fühlbar. 

Und  diese  Sonderstellung,  die  Preußen  als  Großstaat  ein- 
nimmt, zeigt  sich  besonders  deutlich  auch  auf  dem  Gebiet  der 
Verwaltung.  Zwei  Verwaltungsgebiete  sind  es,  auf  denen  der 
Großstaat  Preußen  im  Gegensatz  zu  den  Mittel-  und  Klein- 
staaten heute  ausschlaggebend  ist,  und  das  ist  das  Gebiet  der 
äußeren  Verwaltung  und  das  der  Finanzen,  beides  Gebiete,  die 
an  die  Wurzeln  jedes  Staatswesens  greifen. 

Es  ist  von  Triepel,  Laband  und  Bornhak  in  ihren 
oben  ^)  erwähnten  Aufsätzen  schon  die  Tatsache  aufgedeckt  und 
beleuchtet  worden,  daß  der  Bundesrat  als  Reichsorgan  an  Be- 
deutung stark  eingebüßt  hat.  Jedenfalls  als  Ganzes,  als  Institut 
ist  diese  föderalistische  Einrichtung  der  Reichsverfassung  im 
Gegensatz  zu  den  Wünschen  und  Erwartungen  ihres  Schöpfers 
heute  nicht  mehr  von  der  ursprünglich  ihr  zugedachten  Be- 
deutung. Und  dieses  Sinken  der  äußeren  Stellung  des  Bundes- 
rats, in  dem  gerade  die  politische  Macht  und  der  politische 
Einfluß  der  Einzelstaaten  im  Reich  zur  Geltung  kommen  sollen, 
hat  naturgemäß  eine  Stärkung  der  unitarischen  Elemente,  vor 
allem  des  Kaisers,  zur  Folge.  Erfährt  aber  das  Kaisertum  eine 
Stärkung,  so  kommt  diese  auch  dem  Staat  zugute,  der  die 
Basis  und  den  Rückhalt  des  Kaisertums  bildet,  und  das  ist 
Preußen. 

Das  zeigt  sich  vor  allem  in  der  Führung  der  äußeren 
Politik.  Denn  in  ihr  tritt  die  Reichsregierung  ganz  selbständig 
auf.  Der  Bundesratsausschuß  für  die  auswärtigen  Angelegen- 
heiten hat  von  jeher  nur  eine  unbedeutende  Rolle  gespielt.  Und 
das  ist  auch  ganz  verständlich.  Denn  kein  Verwaltungsgebiet 
bedarf  mehr  einer  einheitlichen  Leitung,  einer  Konzentration 
in  einer  Hand,  als  gerade  das  der  auswärtigen  Politik.  So 
hat  sich  ganz  naturgemäß  die  Ausschaltung  der  Einzelstaaten 
auf  diesem  Gebiete  durchgesetzt. 

Und  das  zweite  Gebiet,  auf  dem  sich  das  Verhältnis  des 
Reiches  und  Preußens  zu  den  übrigen  Einzelstaaten  sehr  zu- 
ungunsten der  letzteren  verschoben  hat,  ist  das  der  Finanzen. 
Man    geht   heute    kaum   fehl,    wenn   man  behauptet,    daß    die 


')  S.  294.    Vgl.  vor  allem  auch  noch  Lab ands  Aufsatz  „Der  Bundesrat" 
in  der  D.  J.  Z.,  1911,  S.  1  ff. 

Zeitschrift  für  Politik.   6.  41 


642  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

Klein-  und  Mittelstaaten  nächstens  nicht  mehr  in  der  Lage  sind, 
die  Kosten,  welche  ihnen  die  Aufrechterhaltung  ihres  pohtischen 
Machtzentrums,  ihrer  Landeshoheit,  auferlegt,  zutragen.  Beson- 
ders Bornhak^)  hat  die  Tatsache  in  das  richtige  Licht  gerückt, 
den  die  unweigerlich  kommenden  —  durch  das  Besitzsteuergesetz 
vom  3.  Juli  1913  soeben  in  Erscheinung  getretenen  —  direkten 
Reichssteuern  die  Finanzen  der  kleineren  Staaten  völHg  unter- 
graben. ,,Sie  sind  dann  darauf  angewiesen,  gleich  Kommunal- 
verbänden Zuschläge  zu  den  direkten  Staatssteuern  zu  erheben"  2). 
Die  Stützen  ihrer  finanziellen  Selbständigkeit  schwanken,  und 
das  bedeutet  für  ihr  pohtisches  Machtzentrum  den  Anfang  vom 
Ende.  Bekanntlich  hat  das  Fürstentum  Waldeck  schon  im 
Jahre  1867  die  Konsequenz  aus  seinem  Unvermögen,  alle  aus 
seiner  Zugehörigkeit  zum  Bund  erwachsenden  finanziellen  Lasten 
zu  tragen,  gezogen  und  das  Land  in  preußische  Verwaltung 
gegeben.  Man  beobachte  nur  einmal  das  Sparsystem  an  allen 
Ecken  und  Enden,  das  notgedrungen  auch  oft  am  unrechten 
Orte  in  den  kleineren  Staaten  eingerissen  ist.  Dasselbe  macht 
sich  sehr  oft  störend  bemerkbar,  wird  aber  trotzdem  den 
Gang  der  Entwicklung  nicht  auflialten  können.  Krampfhaft 
suchen  diese  kleineren  Staaten  nach  Mitteln  zur  Aufbesserung 
ihrer  Finanzen.  Das  Rückgrat  der  einzelstaathchen  Finanz- 
verwaltungen bilden  in  den  meisten  Fällen  die  Eisenbahnen. 
Sie  rentieren  in  Preußen  sehr  gut,  in  Baden  z.  B.  schlecht^). 
Und  das  einzige  Mittel,  um  dem  abzuhelfen,  wäre  die  Über- 
nahme der  Eisenbahnen  in  die  Verwaltung  des  Reichs  oder 
der  Anschluß  der  einzelstaatlichen  Eisenbahnverwaltungen  an 
das  preußische  Netz.  Hessen  hat  ja  den  letzteren  Weg  bereits 
beschritten.  Daß  es  damit  wieder  einen  Teil  seiner  staatlichen 
Selbständigkeit  aufgegeben  hat,  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel. 
Dagegen  hält  Baden  an  der  eigenen  Verwaltung  seiner  Eisen- 


')  Bornhak:  ArchOeffiR.,  Bd.  26,  1910,  S.  394  ff. 

*)  a.  a.  0.  S.  395. 

■'')  Die  Verzinsung  des  Anlagekapitals  betrug  in  Vq: 

1910  1911 

Preußisch-hessische  Staatsbahnen:  6,48  7,2 

Badische  Staatsbahnen:  3,69  4,17. 

(Vgl.  Archiv  für  Eisenbahnwesen,  1912,  S.  421 ;  1913,  S.  240  u.  442.)  Auch 
bei  Berücksichtigung  des  immerhin  kilometrisch  größeren  Anlagekapitals  der 
badischen  Staatsbahuen  ergibt  sich,  wie  die  Tabelle  zeigt,  ein  tJberschuß  in 
den  Erträgnissen  für  die  preußischen  Bahnen,  der  sich  nach  Sachlage  nui* 
aus  den  Vorteilen  des  Großbetriebes  erklären  läßt. 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  643 

bahnen,  die  das  größte  Objekt  der  badischen  Finanzverwaltung 
bilden,  noch  fest,  obwohl  die  Verzinsung  der  badischen  Bahnen 
eine  durchaus  ungenügende  ist.  Denn  vom  föderalistischen 
Standpunkte  aus  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  daß  ein  Auf- 
geben der  eigenen  Eisenbahnverwaltung  in  die  staatliche  und 
finanzielle  Selbständigkeit  Badens  wieder  eine  große  Bresche 
schlagen  würde.  Und  trotzdem  wird  die  Weiterentwicklung 
wohl  auch  in  dieser  Hinsicht  nicht  aufzuhalten  sein. 

Dagegen  haben  Baden  und  die  übrigen  süddeutschen  Staaten 
den  Schritt  einer  Verwaltungsgemeinschaft  mit  Preußen  auf 
dem  Gebiete  des  Lotteriewesens  erst  kürzlich  getan.  Die  durch 
den  Lotterievertrag  vom  19.  Juli  1911  ins  Leben  gerufene 
Preußisch-süddeutsche  Klassenlotterie  ist  in  Baden  durch  das 
Gesetz  vom  26.  April  1912  eingeführt  worden. 

So  sehen  wir  also  das  politische  Machtzentrum  der  Einzel- 
staaten, das  wir  in  seinem  jetzigen  Umfang  als  das  generelle 
Unterscheidungsmerkmal  der  Einzelstaaten  von  den  großen 
Kommunalverbänden  festgestellt  haben,  bedroht  durch  die  stets 
wachsende  Macht  des  Reiches  und  Preußens,  das  als  die  reale 
Basis  der  Reichsgewalt  untrennbar  mit  diesem  verbunden  ist. 
Denn  gerade  durch  diese  Verbindung  ist  Preußen  unzweifelhaft 
heute  das  Schicksal  des  Reiches.  Von  der  politischen  Ent- 
wicklung Preußens  hängt  das  Wohl  und  Wehe  des  Reiches  in 
der  Zukunft  ab,   man  kann  beides  nicht  voneinander  trennen. 

Aber  gerade  weil  Preußen  das  politische  Schicksal  des  Reiches 
ist,  deshalb  ist  die  politische  Gestaltung  der  Dinge  in  Preußen 
über  seine  Grenzen  hinaus  für  alle  Angehörigen  des  Reiches 
von  besonderem  Interesse.  Wenn  von  süddeutscher  Seite  so 
oft  eine  Einmischung  Preußens  in  die  inneren  Verhältnisse  der 
süddeutschen  Staaten  befürchtet  und  bekämpft  wird,  so  mag 
das  dahingehen.  Denn  wenn  auch  die  Divergenz  in  der  politi- 
schen Entwicklung  der  süddeutschen  Staaten  und  Preußens 
oft  unerfreulich  erscheint,  so  sind  doch  ihre  Folgen  für  das 
Schicksal  des  Reiches  selbst  nicht  von  ausschlaggebender  Be- 
deutung. Ganz  anders  ist  es  aber  umgekehrt.  Wer  der  Über- 
zeugung ist,  daß  mit  der  Gestaltung  der  politischen  Dinge  in 
Preußen  auch  das  Schicksal  und  das  Werden  des  Reiches  un- 
trennbar verknüpft  ist,  der  muß  der  politischen  Entwicklung 
in  Preußen,  von  welchem  Standpunkte  auch  immer  er  sie  be- 
trachtet, das  lebhafteste  Interesse  entgegenbringen.  ,,Nur  wer 
auf  das  Reich  pfeift,  wer  es  lieber  heute  wie  morgen  aufgeben 

41* 


644  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

möchte"^),  kann  das  Interesse  der  nichtpreußischen  Deutschen 
an  der  Gestaltung  der  politischen  Dinge  in  Preußen  leugnen. 
Das  Reich  als  ein  Staat,  der  nach  außen  und  innen  stark  da- 
stehen will,  muß  seine  Kräfte  zusammenfassen,  es  kann  nur 
ein  pohtisches  Machtzentrum  haben.  Und  dieses  Machtzentrum 
muß  sich  stützen  auf  reale  Faktoren.  Das  Machtzentrum  des 
Reiches  liegt  aber  unzweifelhaft  in  erster  Linie  in  der  Stärke 
Preußens. 

Der  politische  Einfluß  der  Einzelstaaten,  ihr  Anteil  an  der 
Willensbildung  des  Reiches  ist  so  bei  den  kleinsten  derselben 
vollständig  auf  Null  gesunken  und  bei  den  Mittelstaateu  stark 
verringert.  Sie  scheiden  aus  von  einer  maßgeblichen  Mit- 
bestimmung bei  den  Fragen,  die  für  die  Stellung  des  Reiches 
in  der  Welt  in  der  nächsten  Zeit  ausschlaggebend  sein  werden, 
und  das  sind  die  Fragen  der  äußeren  Politik.  Diese  kann  nur 
nach  einheitlichen  Gesichtspunkten  geführt  werden,  und  zwar 
geschieht  dies  von  der  auf  Preußen  gestützten  Reichsregierung. 
Nur  die  auf  Preußen  gestützte  Reichsregierung  verfügt  ja  auch 
in  vollem  Maße  über  die  ,, ultima  ratio",  über  das  Mittel,  ihrem 
Willen  nach  außen  Nachdruck  zu  verschaffen,  und  das  ist  die 
Verfügung  über  Armee  und  Marine.  Beide  sehen  ihren  obersten 
Kriegsherrn  in  dem  Kaiser,  der  als  deutscher  Kaiser  wie  als 
König  von  Preußen  die  Verfügung  über  das  Schwert  des  Reiches 
in  der  Hand  hält  2). 

Schrumpft  so  die  Bedeutung  der  Einzelstaaten  als  politische 
Machtzentren  immer  mehr  zusammen,  so  bleibt  ihnen  fernerhin 
nur  noch  die  Erfüllung  von  Kultur-  und  Wohlfahrtsaufgaben 
innerhalb  des  Reiches.  In  der  Erfüllung  dieser  ja  stets  wachsen- 
den Aufgaben  nähern  sie  sich  aber  wieder  den  großen  Kom- 
munalverbänden, den  Provinzen.  Nur  hat  bei  den  Einzel- 
staaten das  Verhältnis  zu  der  ihnen  übergeordneten  Gewalt,  dem 
Reiche,  eine  andere  Entwicklung  genommen  wie  das  Verhältnis 
der  preußischen  Provinzen  zu  dem  Staate,  dem  sie  eingegliedert 
sind.  Die  preußischen  Provinzen  können  mindestens  auf  die 
Erhaltung,    wahrscheinhch    aber    auf    eine    Ausdehnung   ihres 


')  Wörtlich:  „Denn  alle  diese  Herren  (Junker  und  Zentrum)  pfeifen 
auf  das  Reich  und  würden  es  lieber  heute  als  morgen  aufgeben"'  (Denkwürdig- 
keiten des  Fürsten  Chlodwig  zu  Hohenlohe-Schillingsfürst,  1902,  2.  Bd.,  S.  534 
[Äußerung  aus  dem  Journal  des  Fürsten  vom  15.  Dezember  1898]). 

*)  Über  die  Wandlungen  auf  dem  Gebiet  des  Heerwesens  vgl.  die  kurzen 
treffenden  Bemerkungen  von  Bornhak  a.  a.  0.  S.  397. 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  645 

Wirkungskreises  rechnen.  Ein  Großstaat  wie  Preußen  kann  sehr 
wohl  seinen  größten  Kommunalverbänden  noch  die  Erfüllung 
weiterer  Kulturaufgaben,  die  ja  stets  im  Wachsen  begriffen 
sind,  übertragen  und  tut  das  auch.  Denn  Preußen  ist  ein 
Staat,  der  kraft  seiner  Größe  seine  Kulturaufgaben  weithin 
dezentralisieren  und  seine  dadurch  konzentrierte  Zentralgewalt 
für  die  großen  Aufgaben,  die  des  Reiches  nach  innen  und  außen 
noch  harren,  zur  Verfügung  stellen  kann.  Anders  die  übrigen 
Einzelstaaten.  Ihr  Machtzentrum  ist  durch  die  unitarische  Ent- 
wicklung bedroht.  Sie  haben  keinesfalls  eine  Stärkung,  sondern 
höchstens  eine  weitere  Schwächung  ihres  politischen  Macht- 
zentrums zu  erwarten.  Und  so  verschiebt  sich  bei  den  Pro- 
vinzen die  Entwicklung  zu  ihren  Gunsten,  während  sie  bei  den 
Einzelstaaten  entgegengesetzt  verläuft.  Gerade  die  verschiedene 
Tendenz  dieser  Entwicklung  droht  nun  aber,  den  Unterschied 
zwischen  Einzelstaat  und  Provinz  immer  mehr  zu  verwischen. 
Denn  mit  der  Beschränkung  der  Einzelstaaten  auf  die  Er- 
füllung von  Kulturaufgaben  nähern  sich  dieselben  immer  mehr 
dem  Charakter  von  Reichsprovinzen,  deren  generelle  Aufgaben 
sich  nicht  mehr  von  denen  der  Provinzen  im  sonstigen  Sinne 
unterscheiden. 

Und  wenn  wir  so  in  Deutschland  dem  dezentralisierten 
Einheitsstaate  zutreiben,  so  ist  das  ein  Ziel,  dem  ein  anderer 
Staat,  nämlich  England,  gerade  von  dem  entgegengesetzten 
Ausgangspunkte  aus,  ebenfalls  zustrebt.  Im  Einheitsstaate  Groß- 
britannien geht  nämlich  gerade  jetzt  die  Entwicklung  dahin, 
auf  dem  Wege  der  Dezentralisation  ebenfalls  die  Wohlfahrts- 
und Kulturaufgaben  von  den  Machtaufgaben  zu  trennen.  Das 
wichtigste  Staatsorgan  Englands,  das  englische  Parlament,  ist 
nämlich  derartig  mit  den  heterogensten  Aufgaben  aller  Art  über- 
lastet^), daß  es  auf  die  Fragen  der  großen  Politik,  des  Aus- 
baues und  der  Festigung  des  politischen  Machtzentrums  nicht 
die  gebührende  Zeit  verwenden  kann.  Und  man  beginnt  auch 
in  England  langsam  einzusehen,  welche  Verschwendung  an 
Kraft  durch  diese  Inanspruchnahme  des  höchsten  Staatsorgans 
für  die  kleinsten   lokalen   und   persönlichen  Zwecke   getrieben 


^)  Es  muß  dabei  daran  erinnert  werden,  daß  das  englische  Parlament 
nicht  nur  Organ  der  Gesetzgebung  ist,  sondern  auch  Verwaltungs-  und  ver- 
waltungsgerichtliche Aufgaben  zu  erfüllen  hat.  Dies  gilt  vor  allem  von  der 
sogenannten  Private  Bill  Legislation.  Über  dieselbe  vgl.  meine  kurzen  Be- 
merkungen in  „Verwaltungsrecht  und  Verwaltungsrechtsprechung  im  modernen 
England"  S.  93  ff.  und  die  dort  zitierten. 


646  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

wird.  Ein  englischer  Politiker  i)  schildert  diesen  Zustand  mit 
treffenden  Worten:  ,,We  have  an  Imperial  assembly  with  only 
a  limited  time  at  its  disposal,  even  if  it  were  to  sit  all  the 
year  through,  but  with  an  unlimited  Warrant  —  one  and  the 
same  assembly  to  decide  about  a  school  in  a  Welsh  village, 
a  naval  loan,  our  relations  with  the  Dominion  of  Canada  and 
our  policy  with  regard  to  the  Chinese  Empire".  Und  er 
schlägt  wenige  Zeilen  nachher  auch  gleich  ein  Heilmittel  für 
diesen  Zustand  vor:  „Obviously,  if  you  agree  to  divide  the 
functions  of  your  present  Parliament,  and  to  set  up  in  its  place 
one  supreme  Parliament  and  a  certain  number  of  subordinate 
national  or  provincial  parliaments,  you  will  greatly  lessen  this 
confusion  and  waste  of  good  energy"  2).  Es  ist  die  Idee  der 
„Homerule  allround",  die  sich  in  diesen  Worten  ausspricht. 
Während  die  irische  Home  Rule-Bewegung  sicher  noch  heute 
sehr  viel  separatistische  Tendenzen  in  sich  birgt  und  die  mög- 
lichste Lockerung  der  Verbindung  Englands  mit  Irland  erstrebt, 
ruht  die  Idee  der  Home  Rule  allround  auf  überwiegend  anderen 
Grundlagen.  In  ihr  setzt  sich  der  Gedanke  durch,  daß  eine  maß- 
volle Dezentralisierung,  die  sich  nicht  nur  auf  die  Selbstverwaltung 
der  kleineren  Kommunalverbände,  wie  der  Grafschaften,  sondern 
auch  auf  die  einzelnen  Landesteile  des  vereinigten  Königreiches, 
wie  Irland,  Schottland  und  Wales,  erstrecken  würde,  für  die  weitere 
Entwicklung  des  Reichsgedankens  nicht  schädlich,  sondern  im 
Gegenteil  direkt  förderlich  sein  würde.  Denn  wie  jeder  große 
intelligent  geleitete  Betrieb  bedarf  vor  allem  der  Staat  der 
richtigen  Verwendung  seiner  Kräfte  an  der  richtigen  Stelle. 
Eine  Trennung  der  Macht-  von  den  Kultur-  und  Wohlfahrts- 
aufgaben erscheint  aber  in  der  heutigen  Zeit,  die  von  allen 
selbstbewußten  Staaten  die  äußerste  Anspannung  und  Aus- 
nutzung ihrer  Kräfte  verlangt,  auch  für  die  weitere  Entwick- 
lung und  Festigung  des  britischen  Weltreiches  das  Gegebene 
zu  sein.  Natürlich  ist  die  eine  große  Gefahr,  die  in  dieser  Ent- 
wicklung liegt,  nicht  zu  verkennen.  Ein  dezentralisierter  Staat 
ist  dem  Aufkommen  separatistischer  Neigungen  in  einzelneu 
seiner  Teile  mehr  ausgesetzt,  wie  ein  straff  zentralisierter.  Und 
wenn    die    unionistische  Partei    in   England    die    irische  Home 


')  Pacificus,  in  den  Briefen  an  die  Times  aus  dem  Jahre  1910, 
veröffentlicht  in  Buchform  unter  dem  Titel:  „Federalism  and  Home  Rule", 
London,  1910,  S.  78. 

')  a.  a.  0.  S.  79. 


Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz.  647 

Ruie-Gesetzgebung  der  liberalen  Regierung  aus  diesem  Grunde 
bekämpft,  so  hat  das  seine  Berechtigung.  Dagegen  hat  eine 
prinzipielle  Bekämpfung  dieser  dezentralisierenden  Ideen  ihre 
schweren  Bedenken,  zumal  in  England  mit  ihr  auch  die  heikle 
Frage  des  Verhältnisses  zu  den  selfgoverning  Colonies  verknüpft 
ist.  Pacificus^)  weist  ganz  richtig  darauf  hin,  daß  eine  ver- 
nünftige Dezentralisierung  auch  gerade  die  ,, Dominions"  von 
der  jetzt  vorhandenen  Gefahr,  in  die  inneren  politischen  Kontro- 
versen des  Mutterlandes  hineingezogen  zu  werden,  befreien 
würde.  Ein  gemeinsames  Reichsparlament  würde  die  Stelle 
sein,  bei  der  die  dem  Mutterland  und  den  Kolonien  gemein- 
samen Macht-  und  Lebensfragen  zur  Erörterung  und  Erledigung 
gelangen  könnten.  Denn  die  periodisch  zusammentretenden 
Imperial  Conferences,  d.  h.  die  unter  dem  Vorsitz  des  Kolonial- 
staatssekretärs von  Zeit  zu  Zeit  2)  in  London  stattfindenden  Be- 
sprechungen der  leitenden  Minister  der  Dominions  erfüllen 
diesen  Zweck  nur  unvollkommen.  Wie  Pacificus^)  mit  Recht 
betont,  kann  man  Unionist  und  Föderalist  in  dem  Sinne  zu- 
gleich sein,  daß  man  sich  nicht  auf  die  einseitige  Betonung 
der  Ideen  von  Zentralisation  oder  Dezentralisation  festlegt, 
sondern  für  das  einzelne  Land  und  für  die  Situation,  in  der 
sich  dasselbe  im  gegebenen  Zeitpunkt  befindet,  eine  zweckmäßige 
Verteilung  der  Staatskräfte  für  das  Erstrebenswerte  hält. 

Und  diesem  Ziel  streben  Deutschland  wie  England  von 
ihren  verschiedenen  Ausgangspunkten  aus  zu.  Für  beide  er- 
scheint zur  Zeit  die  gegebene  Form  der  Einheitsstaat  mit  starker 
Dezentralisation  bei  Erfüllung  aller  Kulturaufgaben  und  ein- 
heitlich in  einer  Hand  vereinigtem  Machtzentrum.  Denn  nur 
so  können  beide  Mächte  den  Anforderungen  gerecht  werden, 
welche  die  heutige  Zeit  an  sie  stellt.  Nur  so  können  sie 
einerseits  nach  innen  die  verschieden  gestalteten  Kj-äfte  zur  Er- 
füllung aller  Kulturaufgaben  zusammenfassen  und  ihnen  den 
weitesten  Spielraum  zur  Entfaltung  gewähren.  Andererseits 
können  sie  nach  außen  nur  dann  ihre  ganze  Macht  in  die 
Wagschale  werfen,  wenn  ihr  politisches  Machtzentrum  in  einer 
Hand  konzentriert  ist. 

Wie  also  in  dem  bisher  zentralistisch  regierten  England 
die  einzelnen  Landesteile  mehr  und  mehr  das  Bestreben  zeigen, 


')  a.  a.  0.  S.  83. 

')  Die  letzte  im  Jahre  1911. 

^)  a.  a.  0.  S.  75  ff. 


648  Koellreutter,  Einzelstaat  und  Provinz. 

ZU  selbständigen  Verwaltungs-  und  Kulturzentren  zu  werden, 
so  treibt  die  bisherige  bundesstaatliche  Entwicklung  in  Deutsch- 
land auf  das  gleiche  Ziel  zu.  Das  politische  Machtzentrum  der 
Einzelstaaten  wird  mehr  und  mehr  vom  Reiche  aufgesogen,  es 
konzentriert  sich  in  dem  preußisch  -  deutschen  Machtzentrum 
des  Reiches.  Die  Einzelstaaten  werden  dadurch  allmählich  zu 
verschieden  organisierten  "Verwaltungs-  und  Kulturzentren,  sie 
werden  in  diesem  Sinne  zu  „Provinzen  des  Reiches".  Verlieren 
sie  dadurch  langsam  die  Qualität  als  Staaten,  als  politische 
Machtzentren,  so  behalten  sie  doch  ihre  Bedeutung  als  gesonderte 
Kulturmittelpunkte.  Auch  als  ,, Provinzen  des  Reiches"  haben 
sie  auf  diesen  Gebieten  noch  ein  weites  Feld  und  eine  große 
Zukunft. 


Zum  Stand  der  politischen  Probleme 

Zusammenfassende  und  vergleichende  Übersichten 


VI. 
Die  Finnische  Frage 

Von  Dr.  Ludwig  v.  Barf  *) 

Um  die  Finnische  Frage  tiefer  beurteilen  zu  können,  ist  der  vor  kurzem 
erschienene  18.  Band  des  „Öffentlichen  Kechts  der  Gegenwart"  hervorragend 
geeignet.  Er  ist  verfaßt  von  Dr.  Rafael  Erich,  Professor  an  der  Universität 
Helsingfors,  und  betitelt  sich  „Das  Staatsrecht  des  Großfürstentums  Finnland". 
Wenn  auch  im  Augenblick  die  Finnische  Frage  durch  die  politischen  Ereig- 
nisse im  Südosten  Europas  etwas  in  den  Hintergrund  getreten  ist,  so  wird 
sie  doch  zweifellos  bald  wieder  in  größerem  Maße  die  öffentliche  Meinung 
Europas  beschäftigen.  Erichs  „Finnisches  Staatsrecht"  entrollt  ein  überaus 
interessantes  Bild  der  Finnischen  Frage,  die  ja  im  wesentlichen  eine  Ver- 
fasBungsfrage  ist. 

Einerseits  gelten  in  Finnland  noch  in  erheblicher  Bedeutung  aus  dem 
18.  Jahrhundert,  aus  der  Zeit  der  Zugehörigkeit  Finnlands  zu  Schweden 
stammende  Gesetze,  so  namentlich  das  als  Regierungsform  bezeichnete  Gesetz 
vom  21.  August  1772  und  die  Vereinigungs-  und  Sicherungsakte  vom  21.  Fe- 
bruar und  3.  April  1789,  und  andererseits  treten  Gesetze  hervor  sehr  mo- 
dernen Gepräges,  wie  die  Landtagsordnimg  vom  20.  Juli  1906.  Althergebrachtes, 
zum  Teil  Rückständiges,  wie  die  Stellung  der  lutherischen  Kirche  als  Staats- 
kirche, die  Steuerverfassung,  behauptet  zur  Zeit  noch  seinen  Platz,  während 
zugleich  die  völkerrechtliche  imd  staatsrechtliche  Zugehörigkeit  zu  Rußland 
einer  konsequenten  Durchführung  wirklich  konstitutioneller  Grundsätze  eigen- 
tümliche, in  anderen  Ländern  nicht  vorhandene  Schwierigkeiten  bereitet. 
Trotz  dieser  Schwierigkeiten  und  der  periodisch  wiederholten  Eingriffe  der 
russischen  Regierung  in  die  Gesetzgebung  und  Verwaltung  Finnlands  hat  man, 
wie  auch  auf  anderen  Kulturgebieten  Hervorragendes  geleistet  worden  ist, 
verstanden,  rüstig  weiter  zu  arbeiten  und  vielfach  der  Neuzeit  Entsprechen- 
des zur  Befi-iedigung   der  Bevölkerung  zur  Geltung  zu  bringen.     Denn  un- 


*)  Dies  ist  wahrscheinlich  die  letzte  Arbeit  des  hochgeschätzten  Verfassers. 
Sie  ist  ims  kurz  vor  seinem  Tode  zugegangen.  Die  Herausgeber. 


650  V.  Bar,  Die  Finnische  Frage. 

geachtet  der  vorhandenen  Sprachunterschiede  —  der  größere  Teil  der  Be- 
völkerung redet  finnisch,  während  die  höheren  Stände  bekanntlich  der 
schwedischen  Sprache  sich  bedienen  —  herrscht  in  der  Bevölkerung  wesent- 
lich Einigkeit,  und  Klassen-  und  Standesunterschiede  sind  störend  nicht  hervor- 
getreten, religiöse  Gegensätze  nicht  vorhanden.  Bei  so  bedeutenden  Port- 
schritten konnte  die  ihrer  Zeit  vorzügliche  Darstellung,  welche  von  Senator 
Mechelin  1889  für  das  „Oeffentliche  Recht  der  Gegenwart"  geliefert  ist  und  für 
Erichs  Werk  in  mannigfachen  Beziehungen  die  Vorarbeit  bildet,  gegenwärtig 
nicht  mehr  genügen.  Die  umfangreichere  und  mehr  eingehende  und  auch 
die  Einzelheiten  des  finnischen  Staats-  und  Verwaltungsrechts  kritischer  Be- 
trachtung unterwerfende  Arbeit  Erichs  ist  daher  um  so  mehr  als  zeitgemäß 
und  dankenswert  zu  begrüßen. 

Im  einzelnen  mag  folgendes  hervorgehoben  werden.  Finnland  ist  eine 
beschränkte  Monarchie,  prinzipiell  in  der  Art  der  alten  schwedischen  Ver- 
fassung. Nach  der  in  Finnland  herrschenden  Ansicht,  die  1809  von  Kaiser 
Alexander  I.  durch  Beiiifung  des  Landtags  von  Borgö  und  sodann  von 
Kaiser  Alexander  11.  1863  durch  Wiederberufung  des  Landtags  nach  Maß- 
gabe der  vor  1809  geltenden  Gesetze  anerkannt  wurde,  ist  der  finnische 
Landtag  an  die  Stelle  des  schwedischen  Reichstags  getreten.  Im  Gegensatz 
zu  dem  übrigen  modernen  Staatsrechte  der  Staaten  des  europäischen  Konti- 
nents hat  das  Herkommen  im  finnischen  Staatsrechte  eine  recht  erhebliche 
Bedeutung.  So  ist  die  Frage,  ob  eine  Anordnung  des  Monarchen  der  Zu- 
stimmung des  Landtags  bedarf,  in  mannigfachen  Fällen  nur  nach  dem  Her- 
kommen zu  beantwoi'ten  (S.  62,  120),  und  damit  hängt  es  zusammen,  daß 
man  der  Verwaltung  (also  in  höchster  Instanz  dem  Monarchen)  in  weitem 
Umfange  innerhalb  der  hergebrachten  Grenzen  ein  Dispensationsrecht  von 
der  Beobachtung  mancher  Gesetze  zuerkennt  (S.  91),  und  daß  man  anderer- 
seits stets  die  Versammlungsfreiheit  als  ein  natürliches  Recht  eines  jeden 
volljährigen  Staatsbürgers  behandelt  hat,  welches  nunmehr  allerdings  1907 
eine  bestimmte  gesetzliche  Anerkennung  und  Gestaltung  erhalten  hat,  die 
liberaler  ist.  als  das  Versammlungsrecht  nach  dem  deutschen  Gesetze  vom 
18.  April  1908.  Die  gesamte  Staatsverwaltung  wird  in  oberster  Instanz  vom 
Senat,  dessen  Vorsitzender  der  vom  Monarchen  ernannte  Generalgouverneur 
ist,  wahrgenommen,  dessen  Mitglieder  zwar  vom  Monarchen  ernannt  werden, 
der  aber  tatsächlich  dem  Herkommen  zufolge  seine  Entschließungen  recht 
unabhängig  gefaßt  hat  und,  insoweit  eine  seiner  Abteilungen  die  Funktion 
eines  höchsten  Gerichtshofes  wahrnimmt  oder  es  sich  um  Verwaltungsjustiz 
handelt,  auch  vollkommene  rechtliche  Unabhängigkeit  von  Verfügungen  des 
Monarchen  in  Anspruch  nimmt.  Über  Polizei  und  Militär  verfügt  der  General- 
gouverneur, der  zugleich  Chef  der  zivilen  Exekutive  ist  und  alle  Anträge 
des  Senats  an  den  Monarchen  einsendet.  Eine  Anzahl  Entschließungen  sind 
dem  Monarchen  selbst  vorbehalten,  und  über  alles,  worüber  solche  Ent- 
schließung erforderlich  ist,  hat  zuvor  der  finnische  Minister  -  Staatssekretär 
in  Petersburg  dem  Monarchen  Vortrag  zu  erstatten. 

Der  Landtag,  der  früher  ständisch  zusammengesetzt  war,  und  zu  dessen 
Beschlüssen  der  allgemeinen  Regel  nach  Übereinstimmung  der  vier  Stände 
erforderlich  war,  ist  seit  der  Landtagsordnung  von  1906  völlig  nach  modernen 
Prinzipien  zusammengesetzt.  Es  gilt  allgemeines,  gleiches,  auch  Frauen  be- 
rechtigendes, geheim  auszuübendes  Wahlrecht. 

Dem  Landtage  kommt  auch  jetzt  noch  kein  vollständiges  Budget- 
recht zu.     Er  hat  insofern   das  Bewilligungsrecht,   als  die  ordentlichen,  der 


V.  Bar,  Die  Finnische  Frage.  651 

Regierunpf  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  nicht  ausreichen.  Aber  bei  Fest- 
setzung der  Zölle  und  Gebühren  —  und  unter  letztere  Kategorien  fallen 
auch  manche  Abgaben,  z.  B.  Stempelsteuern  —  hat  der  Landtag  nicht  mit- 
zureden, wenngleich  der  Senat  oder  der  Monarch  nicht  selten  ein  Gutachten 
des  Landtags  einzieht  über  Gegenstände,  die  der  Zustimmung  des  Landtags 
nicht  bedürfen, 

Finnland  ist  insofern  eine  Dependenz  Kußlands  als  1.  Staatsoberhaujit 
stets  der  durch  die  russische  Thronfolgeordnung  bestimmte  russische  Kaiser 
ist,  der,  da  Finnland  schon  seit  langer  Zeit  unter  schwedischer  Herrschaft 
als  Großfürstentum  Finnland  bezeichnet  wurde,  den  Titel  Großfürst  von 
Finnland  führt,  und  2.  Finnland  völkerrechtliches  Persönlichkeitsrecht  nicht 
hat,  vielmehr  international  von  Eußland  vertreten  wird,  so  daß  Kriegs-  und 
Friedenszustand  Eußlands  auf  Finnland  sich  erstreckt  und  alle  von  Rußland 
abgeschlossenen  internationalen  Verti'äge,  sofern  nicht  Ausnahmen  gemacht 
sind,  für  Finnland  mitgelten,  freilich  aber,  um  in  Finnland  ausgeführt  zu  wer- 
den, der  Ausführung  durch  finnische  Beamte  und  der  Zustimmung  des 
finnischen  Landtags  bedürfen  können. 

Der  seit  1899  offiziell  zwischen  dem  finnischen  Landtage  einer-  und  dem 
russischen  Ministerium  und  jetzt  auch  der  russischen  Duma  andererseits  geführte 
Streit  beruht  nun,  in  der  Kürze  gesagt,  darauf,  daß  von  finnischer  Seite  behauptet 
wird,  Kaiser  Alexander  I.  habe  1809  Finnland  nur  als  selbständigen  Staat  in 
der  Art  erworben,  daß  die  Rechte  des  schwedischen  Reichstags  nunmehr  auf  den 
finnischen  Landtag  —  bestehend  aus  denselben  Elementen,  welche  Finnland 
früher  im  schwedischen  Reichstage  repräsentierten  —  übergegangen  sei,  und 
daß  überhaupt  die  bis  1809  bestehenden  schwedischen  Verfassungsgesetze, 
soweit  dies  tatsächlich  möglich,  für  Finnland  fortzugelten  hätten  —  während 
von  russischer  Seite  entgegnet  wird,  Alexander  I.  habe  Finnland  durch 
Eroberung  und  Friedensschluß  ohne  irgendeine  besondere  Beschränkung 
erworben  Tind  nur  als  eine  in  gewissem  Sinne  autonome  Provinz  behandelt, 
deren  Sonderstellung,  soweit  das  Wohl  des  Gesamtreichs  Rußland  es  erfordere 
oder  wünschenswert  erscheinen  lasse,  aufgehoben  werden  könne,  ohne  daß 
es  der  Zustimmung  Finnlands  bedürfe.  Demnach  hat  ein  kaiserliches  Manifest 
vom  15.  Februar  1899  das  Prinzip  verkündet,  daß  russische  Gesetze  über 
Gegenstände  der  allgemeinen  Reichsgesetzgebung  und  auch  solche  Gesetze, 
die  zwar  nur  in  Finnland  zur  Anwendung  kommen,  aber  allgemeine  Rechts- 
interessen berühren,  der  Zustimmung  des  finnischen  Landtages  nicht  bedürfen, 
und  der  Aufstellung  dieses  Prinzips  ist  dann  eine  Reihe  tiefgehender  Eingriffe 
in  die  Gesetze  und  die  Verwaltung  Finnlands  gefolgt.  Der  Landtag  hat  sich 
dagegen  mit  rechtsverwehrenden  Eingaben  an  den  Monarchen  gewandt,  die 
Beamtenschaft  hat  unter  Berufimg  auf  die  Rechtswidrigkeit  der  ergangenen 
Anordnungen  den  Gehorsam  verweigert,  und  die  Landeseinwohner  haben 
passiven  Widerstand  geleistet,  den  von  der  Regierung  ergriffene  Gegen- 
maßregeln zu  beseitigen  nicht  vermochten.  Die  infolge  des  japanischen 
Krieges  in  Rußland  ausbrechende  Revolution  bewirkte  dann,  daß  1905  und 
1906  kaiserliche  Manifeste  die  von  1900 — 1904  für  Finnland  erlassenen 
russischen  Gesetze  suspendierten,  den  früheren  Verfassungszustand  wieder- 
herstellten und  Reformen  durch  GesetzgeVjungsakte  verhießen.  Dieser  für 
Finnland  erfreuliche,  durch  Herstellung  der  neuen  und  Feststellung  der 
Preß-,  Verhandlungs-  und  Vereinsfreiheit  gut  benutzte  Zustand  fand  aber 
ein  Ende,  sobald  man  in  Petersburg  nach  Niederwerfung  der  Revolution  sich 
wieder    sicher    fühlte.     Weitere    Gesetzesvorschläge    erhielten    jetzt    die    Ge- 


652  V.  Bar,  Die  Finnische  Frage. 

nehmigung  des  Monarchen  nicht;  das  russische  Ministerium  wurde  als  begut- 
achtende Zwischeninstanz  für  die  finnischen  Angelegenheiten  eingeschoben 
und,  was  besonders  in  Betracht  kommt,  ein  von  der  russischen  Duma  an- 
genommenes Gesetz  von  1910  hat  ziemlich  ausnahmslos  alle  wichtigeren 
Angelegenheiten  als  „die  Interessen  des  Reichs  berührend"  der  russischen 
Reichsgesetzgebung  und  (in  höchster  Instanz)  der  russischen  Verwaltung 
unterworfen  und  läßt  zugleich  eine  Erweiterung  dieser  russischen  Reichs- 
zuständigkeit durch  die  russische  Gesetzgebung  zu,  so  daß  dem  finnischen 
Landtage  in  den  bezeichneten  Angelegenheiten  nur  die  bescheidene  Funktion 
der  Abgabe  eines  Gutachtens  verbleibt.  Danach  ist  in  der  Tat  die  Russi- 
fizierung  dm-ch  eingreifende  russische  Gesetze  und  Verwaltung  im  Prinzip 
festgestellt  und  ihre  vollständige  Verwirklichung  nur  noch  eine  Frage  der 
Zeit  —  falls  nicht  der  fortdauernde  Widerstand  des  Landes  und  günstige 
Zwischenfälle  eine  Änderung  herbeiführen,  eine  Hoffnung,  welche  die  Finn- 
länder freilich  festhalten. 

Man  will  übrigens  auf  russischer  Seite  sich  nicht  allein  auf  die  Macht 
stützen.  Eine  ganze  Anzahl  von  Schriften  russischer  Senatoren  und  anderer 
Autoren  seit  1899  soll  beweisen,  daß  Alexander  I.  bei  der  Besitzergreifung 
Finnlands  nicht  die  Errichtung  eines  besonderen  Staatswesens  beabsichtigt 
habe,  als  er  erklärte,  er  wolle  die  Grundgesetze  „Lois  fondamentales"  der 
Finnländer  aufrecht  erhalten.  Man  will  entweder  unter  „Lois  fondamentales" 
—  was  offenbar  unrichtig  ist  —  Privatrechtsbestimmungen  verstehen  oder 
nur  provinzielle  Ordnungen,  da  Finnland  nie  ein  selbständiges  Land,  viel- 
mehr eine  Depedenz  Schwedens  gewesen  sei.  Der  bei  den  Schriftstellern 
des  Natur-  und  Völkerrechts  oft  vorkommende  Ausdruck  „Leges  funda- 
mentales" ist  aber  gleichbedeutend  mit  dem  heutigen  Ausdruck  Ver- 
fassungsgesetze. So  heißt  es  bei  Textor,  Synopsis  juris  gentium  cap.  11  §  2: 
als  Lex  fundamentalis  könne  bezeichnet  werden  für  das  Deutsche  Reich  die 
Aurea  Bulla,  die  Constitutiones  pacis  profanae  et  religiosae,  der  westfälische 
Frieden,  die  kaiserliche  Wahlkapitulation.  Was  besonders  wichtig  ist:  im 
folgenden  §  3  wird  von  Textor  das  Wesen  der  Leges  fundamentales  dahin 
festgestellt,  daß  sie  den  Consensus  darstellt  „eorum  qui  imperant  et  parent" 
und  in  §  4  wird  ausgeführt,  ein  König  könne  nach  seinem  Ermessen  und 
ohne  Consensus  der  „Ordines",  also  der  Stände  seines  Reichs,  die  Leges 
fundamentales  nicht  ändern.  Damit  übereinstimmend  erklärt  Chr.  v.  Wolff 
in  seinem  Jus  gentium  cap.  1  §  154  das  Jus  emigrandi  für  ein  aus  einer 
Lex  fundamentalis  abgeleitetes  Recht  der  Untertanen;  ferner  nennt  er  cap.  3 
§  344  Anm.  ein  Lex  fundamentalis  eine  Bestimmung  über  freie  Religions- 
übung und  cap.  6  §  748  Beschränkvmgen  des  Rechts,  Soldaten  auszuheben. 
Vattel  (Droit  des  gens  I  §§  34,  46)  ferner  gebraucht  die  Ausdrücke  „Lois 
fondamentales"  und  „Constitution  de  l'Etat"  völlig  als  gleichbedeutende  und 
die  „Lois  fondamentales"  sind  nach  ihm  insbesondere  solche  Gesetze,  durch 
welche  eines  Fürsten  „jjuissance  souveraine  est  limitee".  Joh.  Jakob  von  Moser 
(Europäisches  Völkerrecht  in  Friedenszeiteu  Buch  2  Kap.  21  §  7)  führt  das 
Gesetz  üljer  die  Thronfolge  als  ein  Reichs-  oder  Landesgrundgesetz  an  und 
erörtert  sodann  die  Frage,  ob  man  einen  Regenten  wegen  Verletzung  der 
Grundgesetze  absetzen  dürfe;  überhaupt  bedeutet  bei  Moser  der  Ausdruck 
„ReichsgTundgesetze"  soviel  wie  Reichsverfassung.  Überall  kommen  auch  bei 
Moser  bei  den  Reichsgruudgesetzen  die  Rechte  der  Reichsstände  in  Betracht, 
so  auch  betreffend  die  Aufrechterhaltung  der  Rechte  der  Untertanen  bei 
Abtretung  von  Territorien    in  Friedensschlüssen,    wofür  dann  auch  Beispiele 


V.  Bar,  Die  Finnische  Frage.  653 

gegeben  werden  (Europäisches  Völkerrecht  in  Kriegszeiten,  Buch  6  Kap.  10 
§§  4  und  10). 

Es  sind  also  Leges  fundamentales,  Lois  fondamentales,  im  Sinne  der 
Rechtssprache  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  Verfassungsgesetze  und  solche 
Gesetze,  die  nicht  ohne  Zustimmung  der  Untertanen,  d.  h.  im  Sinne  der 
damaligen  Zeit  der  ausschließlich  im  öffentlichen  Eecht  berechtigten  Unter- 
tanen, der  Stände  geändert  werden  können  und  deren  Aufrechterhaltung  in 
Friedensschlüssen  bei  Gebietsabtretungen  nichts  Außergewöhnliches,  ja  nach 
Mosers  Ansicht  der  Billigkeit  gemäß  war*).  Unerheblich  ist  es  dabei,  ob 
solche  als  Lex  fundamentalis  bezeichnete  Bestimmung  sich  in  einem  Gesetze 
ausschließlich  verfassungsrechtlichen  Inhalts  findet  oder  in  einem  Gesetze, 
das  noch  andere  Bestimmungen  minderer  und  selbst  nur  vorübergehender 
Bedeutung  enthält.  Da  nun  die  sogen,  schwedische  Eegierungsform  von  1772 
wie  die  schwedische  Vereinigungs-  und  Sicherungsakte  auch  manches  von 
nur  vorübergehender  Bedeutung  enthielten  und  einiges  auch  dadurch  unan- 
wendbar wurde,  daß  das  russische  Staatsoberhaupt  an  die  Stelle  des  schwedischen 
trat,  so  erklärt  sich,  daß  nicht  diese  schwedischen  Gesetze  nach  ihrer  sonst 
hergebrachten  Bezeichnung  von  Alexander  I.  ins  Auge  gefaßt  wurden')- 
Versprach  daher  Alexander  I.  bei  der  Besitznahme  Finnlands  die  Aufrecht- 
erhaltung der  „Lois  fondamentales",  so  konnte  das  nur  heißen  die  Aufrecht- 
erhaltung der  schwedischen  Verfassungsgesetze,  zumal  Kaiser  Alexander  in 
der  feierlichen  Eröffnungsrede  die  Worte  „Constitution"  und  „Lois  fonda- 
mentales" als  gleichbedeutende  Ausdrücke  gebrauchte,  nur  mit  der  selbst- 
verständlichen Beschränkung,  daß  an  Stelle  des  Königs  von  Schweden  nun- 
mehr der  nach  dem  russischen  Thronfolgerecht  jeweilige  russische  Kaiser  trat, 
und  daß  Finnland  als  Teil  des  Gesamtreiches  Rußland  international  an- 
gesehen wurde,  wie  es  vorher  international  als  Teil  Schwedens  galt.  Die 
Aufrechterhaltung  der  „Lois  fondamentales"  bedeutete  aber  namentlich,  daß 
die  bis  dahin  mit  dem  Rechte  der  Zustimmung  zu  Gesetzen  ausgestatteten 
Stände  dies  Recht  auch  bebalten  sollten,  und  von  dieser  Voraussetzung 
ist  auch  Alexander  11.  ausgegangen,  als  er  nach  langer  Zwischenzeit  1863  den 
finnischen  Landtag  wieder  zusammenberief.  Oder  soll  man  annehmen,  daß 
die  hochgebildeten  Ratgeber  Alexanders  I.  nicht  gewußt  hätten,  was  der  Aus- 
druck „Lois  fondamentales"  oder  der  gleichstehende  Ausdruck  in  der  russi- 
schen und  der  finnischen  Sprache  bedeutete?  Soll  man  ferner  annehmen,  daß 
Alexander  IL  und  die  ihn  beratenden  Persönlichkeiten  in  gleicher  Weise  in 
Unkenntnis  der  Bedeutimg  der  entscheidenden  Worte  Alexanders  I.  gewesen 
seien,  während  doch  Alexander  II.  und  später  noch  die  russische  Regierung 
bis  zur  Herrschaft   der  panslawistischen  aggressiven  Richtung  im  russischen 


')  Dem  entsprechend  muß  auch  der  Friede  von  Frederikshamn  auf- 
gefaßt werden,  welcher  von  einer  die  Rechte  der  Bewohner  des  abgetretenen 
Gebietes  wahrenden  Bestimmung  mit  der  Motivierung  absieht,  daß  in  dieser 
Beziehung  schon  Fürsorge  getroffen  sei  (durch  die  feierliche  Erklärung 
Alexanders  L). 

^)  „J'ai  promis  de  maintenir  votre  Constitution,  vos  lois  fondamentales." 
In  der  anonym  1902  in  französischer  Übersetzung  erschienenen  Schrift  „La 
condition  juridique  de  la  Finlande"  (Paris,  Societe  d'editions  scientifiques) 
wird  unter  anderem  ausgeführt,  daß,  wenn  Alexander  I.  die  schwedische  Ver- 
fassung als  nunmehr  für  Finland  fortbestehend  hätte  erklären  wollen,  er  doch 
statt  der  „Lois  fondamentales''  einfach  die  für  die  schwedische  Verfassung 
maßgebenden  schwedischen  Gesetze  in  seiner  Erklärung  angegeben  haben  würde. 


654  V.  Bar,  Die  Finnische  Frage. 

Reiche  so  handelten,  als  seien  die  Verfassungsgesetze  Schwedens  in  Kraft 
geblieben,  und  als  seien  die  Rechte  des  schwedischen  Reichstags,  soweit  es 
sich  um  Finnland  handelt,  auf  die  Vereinigung  derjenigen  in  Finnland  heimi- 
schen Personen  übergegangen,  welche  früher  im  schwedischen  Reichstage  Sitz 
und  Stimme  hatten? 

Dazu  kommt,  daß  Alexander  I.  und  seine  Ratgeber  bei  Zusammen- 
bernfung  des  Landtags  von  Borgö  das  Bewußtsein  haben  mußten,  einen  end- 
gültigen und  sicheren  Besitz  Finnlands  noch  nicht  erlangt  zu  haben.  Die 
Eroberung  war,  da  ein  Widerstand  noch  möglich  war,  damals  keineswegs 
gesichert;  vielmehr  hing  die  Erwerbung  zugleich  ab  von  dem  guten  Willen 
Napoleons,  der  fast  dem  ganzen  europäischen  Kontinent  das  Verhalten  vor- 
schrieb, und  ohne  dessen  Ermunterung  der  Feldzug  nach  Finnland  nicht 
wäre  unternommen  worden.  So  mußte  man  die  Bewohner  Finnlands  zu  ge- 
winnen und  mit  ihrer  Zustimmung  dem  noch  prekären  Besitz  einen  besseren 
Halt  zu  geben  suchen.  Die  Bona  fides,  deren  Beobachtung  ein  Grundprinzip 
des  Völkerrechts  ist  und  bleiben  muß,  verlangt  aber,  daß  in  solchem  Falle 
die  Versprechen,  welche  den  Staatsangehörigen  des  Territoriums  gegeben 
werden,  eben  weil  man  sie  selbst  als  Hilfspartei  benutzt  und  daher  als  solche  an- 
erkennt, auch  in  Zukunft  gehalten  werden ').  Daß  Finnland  lange  Zeit  (von 
1809  bis  1863)  ohne  Berufung  des  Landtags  regiert  werden  konnte,  erklärt 
sich  aus  dem  oben  erwähnten  eigentümlichen  Verhältnis  der  Rechte  des 
Landtags  imd  der  Rechte  des  Monarchen  nach  dem  alten  Verfassungsrecht, 
welches  in  einer  Zeit,  die  nicht  gerade  tiefgehende  Reformen  verlangte,  viel- 
mehr sich  begnügte  mit  stillereu  Fortschritten  der  Kultur,  ein  Regieren  auch 
ohne  Landtag  und  zugleich  ohne  Verfassungsverletzung  ermöglichte. 

Freilich  können  die  russische  Regierung  und  das  russische  Volk  ver- 
langen, daß  Finnland  sich  wirklichen  Gesamtinteressen  gegenüber  nicht 
ablehnend  verhalte,  demnach  auch  seine  Gesetzgebung  und  Verwaltung 
so  gestalte,  wie  jene  Gesamtinteressen  den  Zeitumständen  nach  es  fordern  "). 
Bis  jetzt  ist  aber  nicht  erwiesen,  daß  der  finnländische  Landtag  hierin  einen 
unerträglichen  Egoismus  befolgt  hätte  *),   wenn   auch   Fälle  gedacht  werden 


')  Vgl.  auch  V.  Bar,  Der  Bm-enkrieg,  die  Russifizierung  Finnlands. 
Hannover  1900.     S.  30. 

^  Anerkannt  in  der  Reservation  der  linnländischen  Mitglieder  des 
Comite,  welches  1909  zur  Beratung  des  Stolypinschen  Gesetzentwurfs,  be- 
treffend das  Verhältnis  Finnlands  zum  russischen  Reich  niedergesetzt  war 
(mitgeteilt  von  Hab  ermann.  Der  finnländische  Verfassungskampf.  Der 
Stolypinsche  Gesetzentwurf.  I.  Die  vorbereitenden  Verhandlungen  1910. 
S.  10  ff.). 

')  Vgl.  die  wesentlich  russische  Standpunkte  geltend  machende,  in 
mehreren  Sprachen  übersetzte,  ursprünglich  als  Aufsatz  in  der  Nowoie  Wremja, 
Dezember  1909  erschienene  kleine  Schrift  K.  Valiszewski,  Zur  Finnischen 
Frage  „Strauß  und  Sperling",  —  Ein  Hauptargument  der  panslawistischen 
Russifiziernngspartei  ist  jetzt  übrigens  juristischer  Natur  —  freilich  ein  nicht 
zutreffendes.  Es  wird  darauf  hingewiesen,  daß  selbst  in  modernen  Bundes- 
staaten die  zentrale  Bundesgesetzgebung  den  Gesetzen  der  einzelnen  im  Bunde 
vereinigten  Staaten  vorgehe;  um  so  mehr  müsse  dies  für  das  Verhältnis 
Rußlands  zu  Finnland  gelten,  das  nicht  einmal  ein  wirklicher  Staat  sei. 
Dabei  wird  übersehen,  daß  die  Bundesstaaten  aus  gleichgearteten  nationalen 
Elementen  bestehen  und  daß  die  Bundesverfassungen  Bestimmungen  getroffen 
haben,  welche  gegen  die  Vernichtung  der  Selbständigkeit  der  Bundesglieder 


V.  Bar,  Die  Finnische  Frage.  655 

können,  wo  ein  „Ausgleich",  wie  man  in  Österreich-Ungarn  sagt,  durch  güt- 
liche Vereinbarung  ebenso  schwierig  sein  mag,  wie  die  zweckmäßige  Ein- 
richtung einer  in  solchen  Fällen  für  zwei  miteinander  verbundene  Staats- 
organisraen  letztlich  entscheidende  Instanz ').  Jedenfalls  widerspricht  es  aller 
Billigkeit,  zu  fordern,  daß  der  schwächere  Organismus  unbedingt  iu  allem, 
was  der  stärkere  Organismus  für  wünschenswert  erachtet,  ohne  weiteres  dessen 
Willen  befolgen  müsse,  wie  Finnland  durch  das  russische  Gesetz  von  1910 
auferlegt  wird.  Die  Gefahr  aber,  durch  den  mächtigeren  Staatsorganismus 
aller  und  jeder  Selbständigkeit  beraubt  zu  werden,  kann  für  den  schwächeren 
Staat  weit  größer  sein,  wenn  in  dem  mächtigeren  Staat  eine  Volksvertretimg 
irgendwelcher  Art  besteht,  als  wenn  der  schwächere  Staat  es  zu  tun  hat  mit 
einer  absoluten  Monarchie  in  dem  stärkeren  Staate.  Das  Äquivalent,  daß 
etwa  der  schwächere  Staat  einige  wenige  Abgeordnete  in  die  Volksvertretung 
des  Gesamtstaats  oder  des  weit  mächtigeren  Staates  entsenden  könnte,  be- 
deutet in  Wahrheit  nichts. 

Als  ein  wichtiger  Beweis,  daß  der  finnische  Landtag  billigen  Anforde- 
rungen der  Gesamtmonarchie  und  des  russischen  Teils  der  Gesamtmonarchie 
nachzukommen  sich  weigere,  wird  es  von  russischer  Seite  angesehen,  daß 
nach  dem  bisherigen  finnischen  Staatsrecht  in  Finnland  russische  Staats- 
angehörige politische  Rechte  nicht  genießen  und  insbesondere  finnische  Staats- 
ämter nicht  bekleiden  können^),  während  man  in  Rußland  den  Finnländem 
gegenüber  ein  völlig  liberales  Verhalten  beobachtet  habe  und  femer  beobachten 
wolle.  Eine  derartige  Gleichstellung  russischer  und  finnländischer  Staats- 
angehöriger wirkt  aber  in  Finnland  durchaus  anders  als  in  Rußland^).  Das 
nur  etwa  drei  IVIillionen  Einwohner  zählende  Finnland  kann  mit  Beamten 
und  Gewerbetreibenden  russischer  Nationalität  leicht  überschwemmt  werden; 
in  dem  großen  russischen  Reiche  verschwinden  einflußlos  Finnländer,  die  dort 
in  Beamtenstellungen  eintreten  oder  Gewerbe  betreiben  würden,  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  bei  den  Finnländern,  von  denen  allerdings  manche  in 
früheren,    durch    den    Gegensatz   der  Nationalitäten  noch   nicht   aufgeregten 


Schutz  gewähren.  Vgl.  in  diesem  Sinne  auch  die  auf  vorliegender  Seite 
Anmerkung  3  zitierte  Ausführung  Kokoschkins. 

')  Es  sind  aber  solche  Fälle,  wenn  der  eine  der  beiden  Staatsorganismen 
so  sehr  viel  schwächer  ist.  als  der  andere,  und  dazu  die  internationalen  Ver- 
hältnisse anlangend,  nur  eine  Dependenz  des  andern  darstellt,  sehr  viel  weniger 
zu  befürchten,  als  wenn  die  Kräfte  der  beiden  Staatsorganismen  annähernd 
gleiche  sind  und  international  auch  die  gleiche  Stellung  behaupten. 

^)  Vgl.  insbesondere:  P.  Suvoroff,  Zur  Frage  der  Gleichberechtigung. 
Die  Lage  der  Russen  in  Finnland  und  der  Finnländer  im  Reich.  St.  Peters- 
burg 1910.  (Übersetzung  nach  dem  1907  erschienenen  russischen  Original.) 
S.  24  werden  die  die  Russen  als  Ausländer  behandelnden  finnländischen  Ge- 
setze zui-ückgeführt  auf  die  Blindheit  und  mangelnde  Kenntnis  der  finn- 
ländischen Verhältnisse,  welche  bei  den  russischen  Behörden  und  Beamten, 
besonders  bei  den  Generalgouverneuren  früher  geherrscht  habe  —  eine  für 
Rußland  etwas  bedenkliche  Annahme.  —  Im  Sinne  einer  billigen  Vermittlung 
hat  sich  Prof.  Ed.  Berendts  ausgesprochen:  Über  Grenzmarkenpolitik  und 
die  Finnländische  Frage  insbesondere  (Rede).     St.  Petersburg  1907. 

^)  Vgl.  in  diesem  Sinne  auch  die  treffende  Ausführung  von  G.  Kokosch- 
kin,  Professor  des  Staatsrechts  an  der  Universität  Moskau,  mitgeteilt  bei 
Habermann,  Finnland  und  die  öffentliche  Meinung  Europas,  Leipzig  1910, 
S.  46  ff.,  besonders  S.  49, 


656  V.  Bar,  Die  Finnische  Frage. 

Zeiten  durch  persönliche  Tüchtigkeit  in  hohe  russische  Staatsstellungen  gelangt 
sind,  jetzt  wenig  Neigung  bestehen  dürfte,  ihre  Heimat  mit  Rußland  zu  ver- 
tauschen^). 

Das  Erichsche  Werk  dient,  wie  man  sieht,  auch  zur  besseren  Aufklärung 
über  einen  hochbedeutsamen  „Kampf  ums  Recht". 


^)  Ein  russisches  Gesetz  vom  20.  Januar  und  29.  Februar  1912  hat  die 
russischen  Untertanen  den  finnländischen  Staatsbürgern  gleichgestellt.  Dagegen 
wendet  sich  eine  am  15.  März  1913  vom  finnländischen  Landtag  beschlossene, 
an  den  Kaiser  und  Großfürsten  gerichtete  Adresse.  Die  Magistrate  von  Viborg 
und  Nystad  haben  das  russische  Gesetz  als  ungültig  behandelt.  Die  Mit- 
glieder dieser  Magistrate  sind  deshalb  —  so  berichtet  die  Adresse  des  Land- 
tags —  verhaftet,  von  russischen  Gerichten  verurteilt  und  in  Petersburger 
Gefängnisse  gebracht  worden. 


YII. 
Der  Geburtenrückgang 

Von  Dr.  Pontus  Fahlbeck 

Die  Reihe  ist  nun  an  Deutschland  gekommen.  Lange  glaubte  man.  daß 
der  Niedergang  der  Geburten,  der  seit  einem  Menschenalter  in  Frankreich 
beobachtet  worden  war  und  dort  durch  das  sog.  Zweikindersystem  verursacht 
wurde,  eine  spezifisch  französische  Erscheinung  sei.  Sie  wurde  auch  kurz 
und  gut  als  „welsche  Sitten"  charakterisiert,  von  denen  man  meinte,  daß  sie 
eine  Eigentümlichkeit  des  französischen  Volkes  verbleiben  würden.  Bald 
wußten  indessen  die  Statistiker  von  derselben  Erscheinung  in  Australien  und 
in  den  östlichen  Staaten  der  Vereinigten  Staaten  zu  berichten.  Diese  lagen 
ja  aber  weitab,  und  das  europäische  Publikum  kümmerte  sich  nicht  viel 
darum.  Der  aufmerksame  Beobachter  war  sich  jedoch  bereits  damals,  in 
den  80  er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts,  klar  darüber,  daß  es  sich  hier 
nicht  um  eine  vereinzelte  Erscheinung  bei  dem  einen  oder  anderen  Volk 
oder  in  den  Großstädten  und  gewissen  Gesellschaftsklassen  —  denn  auch 
dies  war  beobachtet  worden  —  handelte,  sondern  um  eine  im  Vorrücken 
begriffene  allgemeine  Volksbewegung  oder,  wenn  man  sie  so  nennen  will, 
Volkskrankheit. 

Die  folgende  Zeit  hat  die  volle  Bestätigimg  hierfür  erbracht.  Die 
Angelsachsen  in  Europa,  die  skandinavischen  Völker,  die  Belgier,  Ungarn, 
Italiener  und  zuletzt  die  Deutschen  haben  binnen  weniger  Jahre  denselben 
Weg  eingeschlagen.  Es  sind  eigentlich  nur  die  slawischen  Völker,  die  ihn 
noch  nicht  gefunden  haben.  Für  denjenigen  aber,  der  die  Richtung  der 
Entwicklung  sieht,  kann  kaum  ein  Zweifel  darüber  obwalten,  daß  einmal 
auch  sie  der  Stimme  der  Zeit  gehorchen  werden.  Es  ist  ein  und  dieselbe 
große  Volksbewegung,  die  durch  sämtliche  christliche  Völker  hindurchgeht, 
obwohl  sie  sich  gegenwärtig  in  verschiedenen  Stadien  derselben  befinden, 
einige  weit  voran  auf  dem  Wege  der  Kinderbeschränkung,  andere  an  seinem 
Anfange,  während  wieder  andere  noch  gar  nicht  an  ihn  herangelangt  sind. 
Ihre  Zeit  aber  wird  sicherlich  kommen.  Was  man  dagegen  nicht  voraussehen 
kann,  ist,  wie  lange  es  bis  dahin  dauern  wird. 

Nach  der  Raschheit  zu  urteilen,  mit  der  die  erstgenannten  Völker  in 
die  Bewegung  hineingezogen  worden  sind,  möchte  man  glauben,  daß  die 
Slawen  bald  folgen  werden.  Noch  1898,  als  ich  in  einer  Arbeit  über  den 
schwedischen  Adel  diese  Entwicklung  voraussagte,  konnte  ein  Rezensent, 
einer  der  hervorragendsten  Statistiker  vinserer  Zeit,  seinen  Zweifel  äußern. 
Im  Jahre  1907  konstatierte  derselbe  Forscher  auf  der  Versammlung  des 
Internationalen  Statistischen  Instituts  in  Kopenhagen,  daß  die  Bewegung  mit 
Zeitschrift  für  Politik.   6.  42 


658  F  a  h  1  b  e  c  k  ,  Der  Geburtenrückgang. 

rasender  Geschwindigkeit  sich  in  Ländern  ausbreitete,  die  bis  dahin  sie  nicht 
gekannt  hatten.  Wenig  glaublich  ist,  daß  die  slawischen  Völker  ebenso 
schnell  diesen  Weg  beschreiten  werden  —  sie  sind  ja  in  allen  anderen  min- 
destens ein  Jahrhundert  hinter  den  übrigen  christlichen  Völkern  zurück  — 
allzu  lange  wird  es  jedoch  sicher  nicht  dauern,  bis  auch  sie  mit  den  „wel- 
schen Sitten"  vertraut  sein  werden.  Die  politische  Kordialität  zwischen 
Frankreich  und  Eußland  und  die  BewTinderung  für  alles  Französische,  die 
die  höheren  Klassen  dieses  Landes  zeigen,  müßten  ja,  möchte  man  meinen, 
zu  rascher  Nachfolge  auch  hierin  antreiben. 

Man  hat  anfangs  die  unangenehme  Erscheinung  der  Geburtenabnahme 
wegzuer klären  versucht,  indem  man  sie  lediglich  als  Folge  gewisser 
anderer  Erscheinungen  deutete.  So  hieß  es,  daß  die  verminderte  Nativität 
eine  Wirkung  sei  bald  einer  sinkenden  Kindersterblichkeit,  bald  einer  ver- 
änderten Alterszusammensetzung  infolge  allgemeinen  Rückganges  der  Sterb- 
lichkeit oder  starker  Auswanderung,  bald  endlich  einer  Abnahme  der  Zahl 
der  Eheschließungen  oder  steigenden  Ehealters,  Keine  dieser  Erklärungen 
hält  aber  Stich,  Die  angeführten  Momente  können  zwar  jeder  für  sich  die 
„allgemeine  Geburtenziffer",  das  Verhältnis  zwischen  Geborenen  und  der 
Gesamtbevölkerung  beeinflussen.  Diese  Geburtenziffer  ist  aber  ein  schlechter 
Maßstab  für  die  Nativität.  Man  muß  den  Dingen  schärfer  auf  den  Leib 
rücken  und  die  „Fz'uchtbarkeit",  das  Verhältnis  zwischen  Geborenen  und 
Frauen  in  gebärfähigem  Alter  oder  noch  besser  die  Zahl  der  Geborenen  nach 
den  Altersklassen  der  Mütter,  untersuchen.  Tut  man  das  und  insoliert  somit 
die  Erscheinung,  so  zeigt  es  sich,  daß  sie  volle  Wirklichkeit  besitzt,  unab- 
hängig von  all  den  genannten  oder  anderen  auf  die  allgemeine  Geburtenziffer 
einwirkenden  Umständen.  Die  Nativität,  gemessen  an  dem  Maße  der  Frucht- 
barkeit, ist  im  Sinken  begriffen.     Darüber  kann  kein  Zweifel  herrschen. 

Es  gibt  übrigens  noch  eine  andere,  handgreiflichere  Weise,  diese  Tat- 
sache zu  studieren.  Sie  besteht  darin,  daß  man  statt  relativer  Zahlen  die 
absoluten  nimmt.  Eine  Beobachtung  derselben  während  einer  längeren 
Reihe  von  Jahren  gewährt  einen  klareren  Einblick,  als  irgend  etwas  anderes 
es  vermag,  vor  allem  in  Rücksicht  auf  den  politisch-demographischen  Gesichts- 
punkt, der  uns  hier  am  meisten  interessiert.  Man  konstatiert  nämlich  bei 
jedem  Volke,  das  von  der  modernen  Bewegung  ergriffen  worden  ist,  folgendes: 

In  der  älteren  Zeit  wächst  die  Geburtenmasse  mit  jedem  Jahre,  außer 
wenn  Mißernte  oder  andere  das  ganze  Volk  betreffende  Mißverhältnisse  eine 
vorübergehende  Unterbrechung  verursachen.  Die  Nativität  ist  gewöhnlich 
während  dieser  Zeit  unverändert,  wenn  sie  nicht,  wie  in  Deutschland  1851 — 80, 
steigt.  Dieser  Zustand,  der  l)estanden  hat,  seitdem  die  Bevölkerung  in  Europa 
mit  dem  Eintritt  in  das  19.  Jahrhundert  rasch  zuzunehmen  begann,  wird 
nach  kürzeren  oder  längeren  Vorboten  durch  eine  Periode  des  Stillstandes 
abgelöst.  Die  Jahreszahl  der  Geburten  bewegt  sich  nun  mit  Über-  und  Unter- 
variationen Jahr  für  Jahr  um  eine  gewisse  Durchschnittszahl  herum.  In 
Frankreich  trat  dieser  Zustand  des  Status  quo  etwa  um  1820  mit  einer  jähr- 
lichen Geburtenzahl  von  etwa  950000  Lebendgeborenen  ein  und  dauerte  bis 
1870.  Danach  begann  in  diesem  Lande  die  jährliche  Geburtenmasse  zu  sinken, 
zuerst  langsam,  dann  immer  schneller.  Gegenwärtig  steht  sie  nicht  weit  von 
700000.  In  den  meisten  anderen  Ländern  außer  Rußland,  einschließlich 
Finnland,  sowie  den  Balkanstaaten  und  den  slavischen  Bestandteilen  der  Be- 
völkerung östen-eichs  ist  man  ganz  neuerdings  in  das  erwähnte  Status-quo- 
Stadium  eingetreten.    Was  Schweden  betrifft,  so  geschah  dies  bereits  1876/80 


Fahlbeck,  Der  Geburtenrückgang.  659 

mit  etwa  136000  Lebendgeborenen  im  Jahre.  In  den  ül)rigen  Ländern  ist 
fs  später  gekommen,  für  die  meisten,  darunter  das  Deutsche  Reich,  während 
der  Zeit  1901/06.  Der  Jahreszuschuß  der  deutschen  Bevölkerung  durch  Lebend- 
geborene ist  so  bei  der  Ziffer  2000000  ungefähr  stehen  geblieben.  Wie 
lange  dieser  Zustand  dauern  wird,  ist  unmöglich  zu  sagen.  Wahrscheinlich 
für  die  meisten  Völker  ziemlich  kurze  Zeit.  Man  glaubt  bereits  in  gewissen 
Ländern  den  Übergang  zum  nächsten  Stadium  mit  abnehmenden  Geburten- 
massen verspüren  zu  können  (so  in  Norwegen,  Schweiz,  Ungarn),  Bestätigt 
wird  dies  auch  dadurch,  daß  zwei  Länder  offenbar  mit  Überspringung  des 
/.wischenliegenden  stationären  Stadiums  direkt  zu  dem  letzten  übergegangen 
sind.  Dies  scheint  nämlich  sowohl  bei  Großbritannien  als  bei  Belgien  der 
Fall  zu  sein,  wo  seit  Beginn  dieses  Jahrhunderts  ohne  vorhergehenden  Status 
quo  die  jährlichen  Geburtenmassen  im  Sinken  begriffen  sind.  So  hatte  Groß- 
britannien nach  früherem  stetigen  Anwachsen  1901/05  im  jährlichen  Durch- 
schnitt 1174000  Lebendgeborene,  aber  1911  nur  1105000;  in  Belgien  er- 
reichte die  Geburtenmasse  ebenso  1901/05  ihr  Maximum  mit  durchschnittlich 
193000  Lebendgeborenen,  1911  betrug  sie  172000. 

Während  der  Zeit  der  konstanten  Gebnrtenmasse  sinkt  nicht  nur  die 
allgemeine  Geburtenziffer,  sondern  auch  die  Fruchtbarkeit.  Der  Rückgang 
ist  aber  meistens  mäßig.  Erst  mit  dem  letzten  Stadium,  wenn  die  Geburten 
jährlich  abnehmen,  hat  die  Nativität  eine  gefährliche  Wendung  genommen. 
Denn  die  Folge  davon  muß  zunächst  eine  konstante  Bevölkerungsmenge  und 
später,  wenn  die  Sterblichkeit  nicht  mehr  ebenso  rasch  wie  die  Geburten 
sinkt,  eine  abnehmende  sein.  Dann  steht  die  Gefahr  vor  der  Tür.  Die 
natürliche  Regeneration  versagt,  und  eine  wirkliche  Volkskrankheit  ist  ein- 
getreten. 

Inwieweit  diese  dann  mehr  oder  weniger  gefährlich  wird  —  denn  ge- 
fährlich ist  sie  immer  —  hängt  von  äußeren  Umständen,  anders  ausgedrückt, 
von  den  Nachbarn  ab.  Wenn  sämtliche  angrenzenden  Völker  an  demselben 
Übel  leiden,  so  vollzieht  sich  der  Rückgang  bei  ihnen  gemeinsam,  und 
keines  tut  dem  anderen  Eintrag.  Befinden  sich  dagegen  die  Nachbarn  in 
einem  der  früheren  Stadien  dieses  Wachstumsprozesses  der  Völker,  und  nimmt 
demnach  bei  ihnen  die  Bevölkerung  zu,  so  dringt  diese  in  das  Volk  mit  der 
geschwächten  Nativität  ein.  Letzteres  wirkt  nämlich  auf  das  andere  saugend 
wie  der  leere  Raum  auf  die  umgebenden  Luftschichten.  Frankreich  hat  dies 
lange  erfahren  müssen.  Die  dadurch  bedingte  Gefahr  ist  aber  insofern 
geringer  gewesen,  als  die  ringsumher  wohnenden  Völker  teils  sich  auf  dem- 
selben Kulturstandpunkt  befinden,  teils  in  letzterer  Zeit  keinen  großen  Be- 
völkerungsüberschuß hervorgebracht  haV)en.  Für  Deutschland,  das  die  slawische 
Welt  mit  ihren  ungeheuren,  ständig  wachsenden  Geburtenmassen  (allein  in 
Rußland  nunmehr  über  5  Millionen  jährlich)  neben  sich  hat,  ist  dagegen 
die  Gefahr  höchst  bedeutend.  Der  Vormarsch  der  Slawen  auf  dem  Wege 
der  verschiedenen  Nativität  ist  die  größte  Gefahr  der  Germanen,  größer  als 
die  direkt  politische.  Denn  gegen  diese  ist  man  gerüstet  mit  bekannten 
Waffen  —  wie  aber  die  erstere  bekämpfen?  Es  ist  dies  heute  schon  eine 
brennende  Frage  geworden.     Mehr  noch  wird  sie  es  morgen  sein. 


Kaum  hat  der  Geburtenrückgang  in  Deutschland  konstatiert  werden 
können,  so  haben  nicht  nur  Statistiker,  sondern  noch  mehr  Nationalökonomen 
und  das  große  Publikum  nach  einer  Erklärung  und  auch  nach  einer  Abhilfe 

42* 


660  Fahlbeck,  Der  Geburtenrückgang. 

der  bedrohlichen  Erscheinung  gesucht.  Man  hat  hierbei  eine  ganze  Eeihe 
von  Ursachen  für  Deutschland  herangezogen,  gleichwie  es  früher  in  Frank- 
reich geschah,  wo  bereits  zu  Ende  des  vergangenen  Jahrhunderts  eine  große 
Kommission  (Commission  Piot)  mehrere  Jahre  lang  sich  damit  beschäftigte. 
So  sind  als  Grund  der  sinkenden  Nativität  angeführt  worden:  bei  der  Land- 
bevölkerung mangelhafte  Entwicklungsmöglichkeiten  durch  Kolonisation  und 
Parzellierung,  in  den  Städten  das  enge  Zusammenwohnen  und  bei  allen  eine 
Hebung  der  Lebenshaltung  und  erhöhte  Ansprüche  an  das  Leben,  ferner 
neue  Möglichkeiten  zu  Zerstreuung  und  Lebensgenuß  wie  auch  eigene  Bequem- 
lichkeit und  abnehmende  Eeligiosität.  Andererseits  hat  man  die  Erscheinung 
auch  erklärt  diu-ch  ein  erhöhtes  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  und  durch 
die  Rücksichtnahme  auf  Frau  und  Kinder,  sowie  besonders  bei  den  Frauen 
durch  ihre  wachsende  Selbständigkeit  und  Abneigung,  die  Mühen  der  Mutter- 
schaft auf  sich  zu  nehmen  usw. 

Es  ist  ein  ganzes  Heer  von  Ursachen,  denen  man  die  Vaterschaft  für 
den  leidigen  Geburtenrückgang  hat  aufbürden  wollen.  Und  wie  gewöhnlich 
in  solchen  Fällen,  hat  man  sich  darüber  gestritten,  welche  von  den  Ursachen 
die  eigentliche  Verantwortung  hierfür  trüge.  Ein  Forscher  hat  sich  haupt- 
sächlich an  eine  Ursache  gehalten,  ein  anderer  an  andere;  und  zu  einer 
Einigung  der  Ansichten  hat  man  nicht  gelangen  können.  Unseres  Erachtens 
haben  alle,  die  hierüber  in  Deutschland,  wie  vorher  in  Frankreich,  geschrieben 
haben:  Brentano,  Oppenheimer,  Mombert,  Wolf  u.  a.  recht.  Denn  sämtliche 
angeführten  Ursachen  sind  als  Komponenten,  die  eine  in  einem  Fall,  die 
andere  in  einem  anderen,  enthalten.  Die  Erscheinung  saugt  Nahrung  aus 
vielen  Quellen,  verschieden  für  verschiedene  Gesellschaftsklassen  und  Lebens- 
lagen oder  sogar  für  verschiedene  Individuen.  Eben  hierdurch  wird  sie  so 
universal. 

Versucht  man  indessen  alle  diese  Ursachen  unter  einen  Generalnenner 
zu  bringen,  so  dürfte  wohl  das  von  Julius  Wolf  ^)  gefundene  Wort  Rationa- 
lisierung des  Sexuallebens  —  das  treffendste  sein.  Diese  Rationali- 
sierung bedeutet,  daß  die  Menschen  nicht  mehr  dem  Gebote  der  Natur  in 
dieser  Sache  folgen.  Sie  wünschen  wohl  den  Geschlechtstrieb  ebensosehr 
wie  früher  zu  befriedigen,  aber  sie  wollen  sich  nicht  blind  seinen  Folgen 
unterwerfen,  sondern  wünschen  selbst  hierüber  zu  bestimmen.  Der  instinktive 
Naturprozeß  ist  bewußter  Regelung  unterworfen  worden.  Dies  ist  unzweifel- 
haft der  allgemeinste  Grund  der  Erscheinung,  der  alle  anderen  in  sich  schließt. 

Indessen  ist  eine  derartige  Rationalisierung  des  Sexuallebens  keineswegs 
etwas  Ungewöhnliches.  Zwar  kommt  sie  bei  den  eigentlichen  Kulturvölkern 
nicht  auf  ihren  früheren  Entwicklungsstufen  vor  und  war  somit  nach  dem 
Untergang  der  Antike  in  Europa  bis  vor  kurzem  unbekannt.  Sie  stellt  sich 
aber  unfehlbar  ein,  sobald  die  Kultur  eine  gevdsse  höhere  Entwicklung 
erreicht  hat  —  außer  wenn,  wie  in  China,  der  Ahnenkult  fortlebt.  Man 
möchte  demnach  geneigt  sein,  sie  ohne  weiteres  ein  Kulturerzeugnis  zu 
nennen.  Und  im  vorliegenden  Falle  ist  sie  es  wirklich.  Eine  absichtliche 
Regelung  des  Sexuallebens  hinsichtlich  seiner  Folgen  kommt  aber  auch  unter 
sog.  wilden  oder  halbkultivierten  Völkern,  z.  B.  Australnegern  und  Polynesiern, 
vor.  Sie  ist  mithin  eine  allgemein  menschliche  Erscheinung,  obwohl  sie  nicht 
anders  als  unter  bestimmten  Voraussetzungen  auftritt,  in  denen  wir  also  die 


0    Der    Geburtenrückgang.     Die  Rationalisierung    des  Sexuallebens    in 
unserer  Zeit.     Jena  1912. 


F  a  h  1  b  e  c  k ,  Der  Geburtenrückgang.  661 

fernerliegenden  Ursachen  für  die  Beschränkung  der  Kinderzahl  zu  erblicken 
haben. 

Für  den  Australneger  und  Polynesier  liegen  diese  in  der  klaren  Einsicht 
in  die  Beschränktheit  der  Ernährungsmöglichkeiten  und  in  der  Notwendig- 
keit, die  Bevölkerungsziffer  stationär  zu  halten,  damit  nicht  alle  Hunger 
leiden.  Die  Kultiu-völker,  die  Kulturvölker  eben  dadurch  sind,  daß  der  Er- 
nährungsspielraum für  sie  keine  unveränderliche,  von  der  Natur  gegebene 
Größe  ist,  sondern  durch  Arbeit  unaufhörlich  erweitert  werden  kann,  entliehren 
lange  dieser  Erfahrung.  Früher  oder  später  aber  kommt  sie,  wenn  auch 
nicht  in  so  krasser  Form.  Nicht  der  absolute  Ernährungsspielraum,  sondern 
der  relative,  den  man  auch  den  sozialen,  die  standesraäßige  Lebenshaltung, 
nennen  kann,  ist  es,  der  hier  den  Gedanken  an  eine  Beschränkung  der 
Familien  erweckt.  Am  frühesten  tritt  er  daher  bei  bäuerlichen  Bevölkerungen 
hervor,  denen  Entwicklungsmöglichkeiten  durch  Anbau  neuen  Landes  oder 
durch  Güterparzellien;ng  usw.  abgehen,  und  die  nicht  gern  die  väterliche 
Scholle  verlassen.  Beispiele  bieten  die  Bauern  Frankreichs  nach  der  großen 
Revolution  und  die  Gottländer  auf  ihrer  Insel.  Demnächst  sind  es  die  höheren 
Klassen,  besonders  die  Beamten,  denen  der  Blick  für  die  Knappheit  des 
standesmäßigen  Ernährungsspielraums  aufgegangen  ist,  und  die  daher  den- 
selben Weg  einschlagen.  Zu  diesen  ökonomischen  Antrieben  gesellen  sich 
dann  andere,  vor  allem  die  allgemeine  Rationalisierung  der  Denkweise  be- 
sonders unter  den  Frauen  und  eine  unselige  Propaganda  für  Präventivmittel. 
Und  dann  breitet  sich  die  Erscheinung  über  alle  Klassen  hin  aus,  mit  Aus- 
nahme des  Proletariats,  dem  das  Gefühl  einer  besonderen  Standeswürde  abgeht 
und  das  nicht  an  den  morgigen  Tag  und  an  die  Zukunft  der  Kinder  denkt. 

Gegen  die  Regelung  des  Sexuallebens  wäre  indessen  an  sich  nichts 
einzuwenden,  wenn  ein  lobenswertes  Verantwortlichkeitsgefühl  allein  darüber 
bestimmte.  Denn  dann  nähme  sie  keine  schädlichen  Formen  an.  Leider 
aber  ist  es  so,  daß,  wenn  der  Kulturmensch  einmal  von  der  Frucht  dieses 
Baumes  der  Erkenntnis  gekostet  hat,  leicht  eigene  Bequemlichkeit  und  Genuß- 
sucht die  einzigen  Richter  in  der  Sache  werden.  Auf  diese  Weise  beginnt 
das  Zweikindersystem  —  des  Einkindsystems  oder  der  fi-eiwilligen  Sterilität 
zu  geschweigen  —  in  Anwendung  zu  kommen  und  allgemeine  Volkssitte  zu 
werden.  Hiermit  ist  die  Rationalisierung  des  Sexuallebens  in  eine  Volks- 
krankheit umgeschlagen,  die  den  Bestand  der  Völker  und  Staaten  bedrohen 
kann. 

Kein  Wunder  daher,  daß  diese  Bewegung  überall,  wo  sie  entstanden, 
Besorgnis  erweckt  und  energische  Proteste  hervorgerufen  hat.  In  Frankreich 
hat  seit  lange  ein  Verein  unter  Bertilluns  Leitung  dieselbe  bekämpft.  Und 
gegenwärtig  versuchen  eine  Regierungskommission,  der  Senat  und  die  Aca- 
demie  des  sciences  morales  et  politiques  Mittel  dagegen  ausfindig  zu  machen. 
In  Deutschland  hat  die  „Gesellschaft  für  Rassenhygiene"  den  Kampf  gegen 
die  Präventivmittel  aufgenommen.  Meistens  hat  man  sich  jedoch  bisher  an 
der  Konstatierung  der  Erscheinung  und  an  dem  Versuche  genügen  lassen, 
ihre  Ursachen  festzustellen.  Lange  dürfte  es  jedoch  nicht  dauern,  bis  auch 
in  Deutschland  ihre  Bekämpfung  eine  Lebensfrage  für  die  ganze  Nation  wird. 

Es  muß  indessen  sogleich  gesagt  werden,  daß.  wenn  der  Kampf  den 
Zweck  verfolgt,  die  neue  Bewegung  gänzlich  niederzuschlagen  und  das  Kinder- 
erzeugen  zu  den  Sitten  unserer  Väter  und  Großväter  zurückzuführen,  er  un- 
rettbar mit  einer  Niederlage  enden  muß.  Die  Rationalisierimg  des  Sexual- 
lebens kann,  einmal  geschehen,  nie  wieder  zurückgehen.     Sind  die  Menschen 


662  Fall Ib eck,  Der  Gebui'tenrückgang. 

einmal  auf  den  Gedanken  gekommen,  selbst  über  die  Kinderzalil  zu  bestimmen. 
80  lassen  sie  ihn  nie  mehr  fallen.  Nur  gegen  die  Übertreibungen  und  gegen 
die  selbstsüchtige  Ausnutzung  dieses  Gedankens  kann  der  Kampf  mit  Aus- 
sicht auf  irgendwelchen  Erfolg  geführt  werden. 

Selbstverständlich  muß  ein  solcher  Kampf  in  erster  Linie  gegen  alle 
die  Umstände  gerichtet  werden,  die  den  Gedanken  erweckt  und  die  Ratio- 
nalisierung veranlaßt  haben  —  also  gegen  die  ökonomischen  Faktoren,  die 
eine  Rolle  hierbei  spielen,  wie  der  Mangel  an  Erde  zu  Heimstätten,  das  enge 
Zusammenwohnen  in  den  Städten  usw.,  vor  allem  aber  gegen  die  Propaganda 
für  Präventivmittel  und  den  Handel  damit,  sowie  die  so  gewöhnlichen  Ver- 
brechen gegen  keimendes  Leben.  Eine  strengere  und  detailliertere  Gesetz- 
gebimg gegen  diese  Äußerungen  der  neuen  Sitte  dürfte  die  kräftigste  Waffe 
sein,  die  man  gegen  eine  gefährliche  Entwicklung  derselben  hat.  Es  ist  je- 
doch weniger  die  direkte  Wirkung  einer  solchen  Gesetzgebung  als  Strafmittel, 
an  die  ich  hierbei  denke,  als  die  indirekte.  Die  Gesetzesvorsckriften  erinnern 
daran,  daß  das  Kindererzeugen  nicht  lediglich  eine  Angelegenheit  des  ein- 
zelnen ist,  sondern  daß  das  Gemeinwesen  ein  Interesse  daran  hat.  Die  Über- 
treibungen in  der  Rationalisierung  des  Sexuallebens  können  am  besten  durch 
eine  neue  Rationalisierung  bekämpft  werden,  die  das  Verantwortlichkeits- 
gefühl der  Menschen  gegen  den  Staat  auch  in  dieser  Sache  weckt.  Hierzu 
kann  eine  derartige  Gesetzgebung  nebst  Aufklärung  beitragen,  und  zu  ihr 
ist  daher  vor  allem  anderen  zu  greifen.  Dagegen  scheinen  mir  alle  Maß- 
nahmen, die  eine  Prämiierung  des  Kindererzeugens  bezwecken,  zum  Mißlingen 
verurteilt.  Erfahrungen  in  dieser  Hinsicht  liegen  wie  bekannt  schon  aus  der 
alten  Zeit  vor;  und  die  neuen  französischen  Versuche  in  derselben  Richtung 
scheinen  dieser  Erfahrung  nicht  zu  widersprechen.  Steuernachlaß  für  große 
Familien  ist  eine  beherzigenswerte  Sache  und  kann  eine  soziale  Pflicht  sein; 
er  wird  aber  nicht  die  Menschen  dazu  vermögen,  sich  eine  große  Kinderzahl 
zu  schaffen,  wenn  die  Anschauungen  und  die  Sitte  in  entgegengesetzte  Rich- 
tung gehen.     Und   das  Gleiche  gilt  für  alle  anderen  ähnlichen  Maßnahmen. 

Überhaupt  ist  es  sehr  schwer,  wirksam  diese  Erscheinung  zu  bekämpfen 
—  ich  will  nicht  sagen  in  ihrer  Allgemeinheit,  was,  wie  gesagt,  unmöglich 
ist  —  sondern  in  ihren  gefährlichen  Übertreibungen  wie  dem  Zweikinder- 
system und  ähnlichem.  Darüber  muß  man  sich  von  vornherein  klar  sein. 
Deutschland  befindet  sich  indessen  insofern  in  einer  glücklichen  Lage,  als  es 
bis  auf  weiteres  Mittel  besitzt,  die  Wirkungen  eines  Stagnierens  oder  Sinkens 
der  Geburtenmassen  zu  bekämpfen.  Die  Bevölkerungsziffer  kann  so  trotzdem 
noch  lange  steigen,  sofern  nur  das  deutsche  Volk  die  Kindersterblichkeit 
herabzubringen  vermag  und  mit  der  inneren  Kolonisation  Ernst  machen  will. 

Die  Sterblichkeit  im  ersten  Lebensjahr  ist  immer  noch  sehr  gi-oß  in 
Deutschland,  etwa  18  Vo-  Die  schwedische  Ziffer,  die  zweifellos  noch  nicht 
das  Minimum  erreicht  hat,  ist  beinahe  77o.  Hier  finden  sich  also  höchst 
bedeutende  Reserven,  die  durch  bessere  öffentliche  und  private  Hygiene  heran- 
gezogen werden  können,  um  einer  sinkenden  Geburtenzahl  das  Gleichgewicht 
zu  halten.  Eine  andere  Maßnahme  mit  derselben  Wirkung  besteht  in  der 
Schaffung  von  Wohnstätten  für  kleine  Leute  imd  von  Bauerngütern,  also  in 
innerer  Kolonisation.  Dies  würde  eine  Zeitlang  die  Zahl  der  Eheschließungen 
vermehren  und  dadurch  die  Geburteumasse  aufrechterhalten.  Eine  Stärkimg 
des  Bauernstandes,  besonders  in  den  östlichen  Teilen  Deutschlands,  ist  auch 
mit  Rücksicht  auf  die  andrängenden  Polen  von  gi'oßem  Wert.  Deutschland 
bi-aucht   eine    demographische   Militärgrenze   gegen    die    Slawen.      Und    eine 


F  a  h  1  b  e  c  k ,  Der  Geburtenrückgang.  663 

solche  kann  nui"  ein  lebenskräftiger  Bauernstand  geben  —  wenigstens  für 
einige  Zeit.  Auf  die  Dauer  bleibt  es  stets  aus  Gründen,  die  oben  erwähnt 
wurden,  ein  ungleicher  Kampf,  jiolange  auf  der  einen  Seite  der  Grenze  ein 
Volk  wohnt,  das  ,,die  Rationalisierung  des  Sexuallebens"  gelernt  hat,  und 
auf  der  anderen  eines,  das  noch  nicht  von  dem  Gedanken  ergriffen  worden  ist. 
Durch  diese  beiden  Maßnahmen  und  möglicherweise  andere  können, 
wie  gesagt,  die  für  die  Bevölkerungsziffer  unbehaglichen  Wirkungen  des 
Geburtenrückgangs  bis  auf  weiteres  aufgehoben  werden.  Auf  diesen  Rück- 
gang selbst  haben  sie  keinen  Einfluß.  Die  sinkende  Nativität  gleicht  dem 
Steine,  der  auf  einem  Abhänge  in  Bewegung  gesetzt  worden  ist.  Es  ist 
schwer,  ihn  aufzuhalten,  in  diesem  Falle  aber  vielleicht  nicht  unmöglich,  wenn 
man  seine  Hoffnungen  und  Bestrebungen  auf  das  oben  angedeutete  Maß  be- 
schränkt —  gefährliche  Übertreibungen  zu  verhindern. 


VIII. 

Bäuerliche  Bevölkerung  und  politische  Parteien  in 
Deutschland  und  Frankreich 

Von  Hans  L.  Rudioff 

I.  Deutschland. 

Unsere  Bauern,  so  zahlreich  sie  auch  sind  und  so  einflußreich  sie  als 
Eigentümer  von  sieben  Zehnteln  der  nutzbaren  Fläche  unseres  Landes  sein 
könnten,  bedeuten  doch  als  politisch  s  elb ständige  Volksgruppe,  als  Klasse, 
die  ihre  politische  Sache  selbst  führt,  so  gut  wie  nichts.  Ihr  politischer 
Einfluß  kommt  heute  nur  mittelbar  zur  Geltung,  soweit  nämlich  gewisse 
politische  Parteien,  denen  sie  sozusagen  traditionell  ihre  Stimme  geben,  die 
ihnen  eignen  wirtschaftlichen  Interessen  mit  vertreten  oder  zu  ver- 
treten vorgeben. 

Wohl  hat  man  hie  und  da,  besonders  in  Bayern,  gewisse  Ansätze  poli- 
tischer Selbstbetätigung  der  Bauernschaft  wahrnehmen  können;  aber 
die  notorische  Unzulänglichkeit  ihrer  Führer  und  der  Mangel  eines  die  bäuer- 
lichen Wähler  des  ganzen  Reiches  berücksichtigenden  Parteiprogrammes 
läßt  die  Annahme  gerechtfertigt  erscheinen,  daß  diese  Bewegung  auf  ihren 
regionalen  Charakter  beschränkt  bleiben,  ja  vielleicht  ganz  und  gar  im  Sande 
verlaufen  wird  '). 

Wenn  also  feststeht,  daß  unsere  Bauern  ihre  politischen  Angelegen- 
heiten nicht  selbst  besorgen,  sondern  fremder  Fühi-ung  unterstehen,  so  handelt 
es  sich  jetzt  darum,  zu  wissen,  von  welchen  Parteien  sie  geführt  werden. 
Die  liberalen  Schriftsteller  pflegen  darauf  zu  antworten :  von  den  Konser- 
vativen (den  Junkern)  und  dem  ihnen  verwandten  „Bund  der  Landwirte" 
in  den  protestantischen  Teilen,  von  dem  Zentrum  (den  Greistlichen)  in  den 
katholischen  Bezirken  des  Reiches.  Ist  das  richtig?  Bestätigen  die  Tat- 
sachen, soweit  sie  aus  der  Wahl-  und  landwirtschaftlichen  Betriebsstatistik 
herausgelesen  werden  können,  diese  weit  verbreitete  Ansicht? 

Wir  haben  uns  die  Aufgabe  gesetzt,  diesen  Punkt  klarzustellen,  soweit 
es  sich  um  die  bäuerlichen  Wahlkreise  des  Reiches  handelt.  Wir  ver- 
stehen darunter  alle  die  Wahlkreise,  in  denen  die  Anzahl  der  bäuerlichen 
Betriebe  (von  3- — 50  ha)  mehr  als  2.5  Prozent  der  Anzahl  der  Wahlberech- 
tigten dieser  Kreise  beträgt.  Dabei  wird  angenommen,  daß  die  Anzahl  der 
bäuerlichen  Betriebe  in  einem  Wahlkreis  ungefähr  gleich  der  Anzahl  der 
wahlberechtigten    Bauern    dieses    Kreises    ist.     Natürlich    steht    nicht    hinter 

')  Der  Bayerische  Bauernbund  erzielte  bei  den  Reichstagswahlen  von  1903 
104841  Stimmen,  während  1907  72564  und  1912  nur  noch  48219  Stimmen 
für  ihn  abgegeben  wurden. 


Radioff,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutschi.  u.  Frankr.      665 

jedem  bäuerlichen  Betrieb  ein  Wahlberechtigter,  sondern  es  mögen  auf 
100  Betriebe  durchschnittlich  12  Betriebe  von  nicht  wahlberechtigten  Per- 
sonen geleitet  werden ;  indessen  kommen  auf  die  verbleibenden  88  Betriebe 
mit  wahlberechtigten  Leitern  weit  mehr  als  88  Wahlberechtigte,  so,  daß  der 
Ausfall  von  12  Wahlberechtigten  reichlich  gedeckt  wird. 

Man  wird  hier  vielleicht  einwenden,  daß  ein  Wahlkreis  mit  nur  26  oder 
27  Prozent  bäuerlichen  Wahlberechtigten  nicht  mehr  als  ein  bäuerlicher 
Wahlkreis  anzusprechen  sei.  Dieser  Einwurf  wäre  nicht  stichhaltig.  Man 
darf  nämlich  nicht  übersehen,  daß  die  Anzahl  der  mehr  oder  weniger  bäuer- 
lichen Wahlberechtigten  in  diesen  Kreisen  sofort  auf  mehr  als  40  Prozent 
aller  Wahlberechtigten  anwächst,  sobald  die  Inhaber  der  landwirtschaftlichen 
Betriebe  von  1 — 3  ha  mitgezählt  werden.^ 

So  steigt  z.  B.  im  Wahlkreis  Fritzlar-Homberg-Ziegenhain 
(Regierungsbezirk  Kassel  3),  der  nur  4769  bäuerliche  Betriebe  (von  3 — 50  ha) 
auf  17926  Wahlberechtigte  zählt,  bei  Einrechnung  der  Kleinbetriebe  von 
1—3  ha  die  Anzahl  der  landwirtschaftlichen  Betriebe  sofort  auf  7871  oder 
43,9  Prozent  der  Anzahl  der  Wahlberechtigten.  Fügen  wir  noch  hinzu,  daß 
dieser  Wahlkreis  nur  drei  Landstädtchen  von  3100 — 3700  Einwohnern  und 
ein  viertes  mit  2400  Einwohnern  zählt,  während  die  Hauptmasse  der  Bevöl- 
kerung in  187  Ortschaften  unter  2000  Einwohnern  sitzt,  davon  ca.  90  imter 
300  Einwohnern,  daß  die  Industrie  daselbst  unbedeutend  ist  (nur  1027  sozial- 
demokratische Wähler !),  so  wird  man  leicht  erkennen,  daß  die  Bauern  mit 
Einschluß  des  ihnen  ziemlich  sichern  Zuzuges  von  grundbesitzenden  Land- 
arbeitern und  Landwirtschaft  treibenden  Handwerkern  den  Wahlkreis  be- 
herrschen können. 

Was  aber  für  diesen  Wahlkreis  gilt,  das  gilt  mehr  oder  weniger  von 
allen  bäuerlichen  Wahlkreisen,  wo  die  Anzahl  der  bäuerlichen  Betriebe  (von 
3 — 50  ha)  kaum  25  Prozent  aller  Wahlberechtigten  überschreitet,  auch  wenn 
einmal  eine  Stadt  von  24000  Einwohnern  (Fulda,  Marburg)  sich  darin  be- 
finden sollte. 

Nachdem  diese  Vorbemerkungen  gemacht  sind,  ist  festzustellen,  daß  nach 
der  untenstehenden  Tabelle,  die  auf  Grund  der  landwirtschaftlichen  Betriebs- 
statistik und  der  Statistik  der  Reichstagswahlen  aufgestellt  ist,  63  Reichs- 
tagswahlkreise als  bäuerliche  zu  betrachten  sind.  An  erster  Stelle  steht 
Donauwörth,  wo  die  Anzahl  der  bäuerlichen  Betriebe  nicht  w^eniger  als 
48,97  Prozent  der  Anzahl  der  Wahlberechtigten  ausmacht,  an  letzter  Stelle 
Homl)urg-Kusel  mit  nur  25,05  Prozent. 

Verteilt  man  diese  Wahlkreise  auf  die  Parteien,  welche  sie  gegen- 
wärtig vertreten,  so  erhält  man  die  folgende  Übersicht: 

Zentrum 37  bäuerliche  Wahlkreise 

Nationalliberale 4  „  „ 

Fortschrittliche  Volkspartei      ....       4  „  » 

Deutschkonservative  und  Reichspartei  .       5  „  „ 

Bund  der  Landwirte 2  „  „ 

Antisemiten 3  „  „ 

(Deutsch-soziale  2,  D.  Reformpartei  1) 

Bayerischer  Bauembund 2  „  „ 

Deutscher  Bauernbund 2  „  „ 

Weifen 3  „  „ 

Däne 1  „  „ 


Zusammen     63  bäuerliche  Wahlkreise. 


666      ßudlof  f ,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutschl.  u,  Frankr. 

Diese  Zusammenstellung  zeigt,  daß  die  Bauerukreise  in  überwiegender 
Mehrheit,  mit  58,73  Prozent,  in  den  Händen  des  Zentrums  sind.  Die 
Minderheit.  26  Kreise  oder  41,27  Prozent,  verteilt  sich  auf  fast  alle  andern 
Parteien,  wobei  wir  besonders  hervorheben  wollen,  daß  auf  Konservative  und 
Bund  der  Landwirte  nur  7  Kreise  entfallen,  die  mit  Ausnahme  von  zweien 
in  Süddeutschland  liegen  und  nicht  von  Großgruadbesitzern  vertreten  werden. 

Steht  hiernach  fest,  daß  von  den  63  bäuerlichen  Kreisen  nur  zwei 
(Salzwedel-Gardelegen  und  Sensburg-Ortelsburg)  in  den  Händen  konservativer 
Großgrundbesitzer  sind,  so  kann  man  wahrlich  nicht  mehr  behaupten,  daß 
unsere  Bauern,  wenigstens  da,  wo  sie  die  politische  Vormacht  bilden, 
den  Junkern  „Vorspanndienste"  leisteten.  Wahrheit  ist  vielmehr  dies,  daß 
sie  in  den  katholischen  Bezirken  ausnahms-  und  vorbehaltlos  in  den  Händen 
des  Zentrums,  in  den  protestantischen  Kreisen  aber  eine  Beute  aller  andern 
Parteien  —  mit  Ausnahme  der  Sozialdemokratie  —  sind  ')• 

Verteilt  mau  die  bäuerlichen  Wahlkreise  auf  die  verschiedenen  Staaten 
des  Eeiches,  so  entfallen  auf 

Bayern ,     .  31  Kreise, 

Preußen 19  „  , 

Württemberg 6  .,  , 

Baden 3  „  , 

Oldenburg 1  ,.  , 

Hessen-Darmstadt 1  „  , 

Waldeck 1 

Elsaß-Lothringen 1  „  , 


Zusammen     63  Kreise. 

Danach  entfällt  fast  die  Hälfte  (31)  aller  bäuerlichen  Wahlkreise  allein 
auf  Bayern.  Was  Preußen  betrifft,  so  kommen  auf  Hannover  6,  auf  Hessen- 
Kassel  4,  auf  die  Rheinprovinz  3  Kreise,  auf  Schlesien,  Sachsen,  Ostpreußen 
und  Sigraaringen  je  1  Kreis.  Dabei  ist  bemerkenswert,  daß  die  Bauernki'eise 
Kurhessens  fast  nur  Antisemiten,  die  Hannovers  meist  Weifen,  die  der  Rhein- 
provinz nur  Anhänger  des  Zentrums  in  den  Reichstag  entsandt  haben. 

Soweit  unsere  rein  theoretischen  Fesstellungeu,  wie  sie  aus  unten- 
stehender Tabelle  zu  entnehmen  sind.  Sie  haben  aber  auch  eine  große 
praktische  Bedeutung.  Sie  zeigen  nämlich  bis  zur  Evidenz,  daß  unsere 
Bauern  mindestens  60  Wahlkreise  mehr  oder  weniger  aus  eigner  Kraft  er- 
obern könnten^).  Das  ist  ein  Fingerzeig,  der  die  Beachtung  aller  derer 
verdient,  die  es  angeht. 


')  Wir  glauben  hervorheben  zu  sollen,  daß  nui-  zwei  der  in  der  Tabelle 
aufgeführten  bäuerlichen  Wahlkreise  in  Ostelbien  liegen.  Das  sind  Löwenberg 
in  Schlesien  und  Sensburg-Ortels]>urg  in  Ostpreußen. 

^)  Von  den  Wahlkreisen  mit  bäuerlich-industrieller  Bevölkerung, 
wo  die  Bauern  neben  den  Industriearbeitern  die  zahlreichste  Volkspruppe 
bilden  und  mithin  darauf  rechnen  könnten,  in  aussichtsvoUcr  Stichwahl 
zu  kommen,  ist  hier  nicht  zu  handeln. 


Rudi  off,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutsclü.  u.  Frankr.      667 


Bäuerliche  Reichstags  -Wahlkreise. 


Wahlkreise 


Anzahl  der 

bäuerlichen 

Betriebe 

(3—50  ha) 


Anzahl  der 

Wahl- 
berechtigten 


Proz.  Ver- 
hältnis der 
Anzahl  der 
bäuerlichen 

Betriebe 
zur  Anzahl 
der  Wahl- 
berechtigten 


Partei - 

Stellung  des 

gegenwärtig. 

Vortreters 


Landw. 
Betriebe 

von 
1-3  ha 


1.  Donauwörth     .... 

2.  Neustadt  a.  S.       ... 

3.  Neumarkt 

4.  Kaufbeuren      .... 

5.  Dillingen 

6.  Dinkelsbühl      .... 

7.  Ehingeu-Laupheim  .     . 

8.  Signiaringen    .... 

9.  Rothenburg  a,  T.     .     . 

10.  Wasserburg     .... 

11.  Neunburg  v.  W.  .     .     . 

12.  Lohr 

13.  Pfarrkirchen    .... 

14.  Weilheim 

15.  Forchheim 

16.  Kelheim 

17.  Eichstädt 

18.  Tondern -Husum -Eider- 
stedt  

19.  Illertissen 

20.  Biberach -Waldsee    .     . 

21.  Amberg 

22.  Aalen-Ellwangen      .     . 

23.  Ingolstadt 

24.  Daun-Prüm-Bitburg 

25.  Straubing 

26.  Ravensburg-Saulgau 

27.  Neustadt  a.  W.  N.    .     . 

28.  Landshut 

29.  Donaueschingen  -Villin- 
gen      

30.  Gerabronn-Künzelsau   . 

31.  Aichach 

32.  Lahr -Wolfach      .     .     . 

33.  Schweinfurth  .     .     .     . 

34.  Vechta-Cloppenburg     . 

35.  Deggendorf     .     .     .     . 

36.  Lauterbach-Alsfeld   .     . 

37.  Hadersleben-Sonderburg 

38.  Passau 

39.  Kitzingen 

40.  Schleiden-Malmedy  .     . 

41.  Melle-Diepholz     .     .     . 


11155 

11557 
9046 

11337 
9036 
8423 
9051 
6489 
9867 
9858 
7930 

10215 
9173 

10761 

10387 
7152 

-7091 


8983 
9600 
9025 
7890 
8067 
8644 
8485 
9763 
9395 
8181 
7604 


86.53 
8405 
8426 
7982 
7  639 
9407 
7560 
6118 
6207 
8297 
7166 
7366 
6328 


22780 
25017 
19962 
25313 
20801 
19457 
21826 
15  727 
24495 
25057 
20189 
26362 
24156 
28444 
28465 
19682 
19614 

25381 
27667 
26110 
22936 
23665 
25423 
25449 
29301 
28524 
24844 
23104 

26402 
25753 
25986 
24700 
23769 
29  320 
23622 
19151 
19698 
26364 
22961 
23304 
21174 


48,97 
46,19 
45,32 
44,79 
43,44 
43,27 
41,47 
41,26 
40,04 
39,34 
39,28 
38,75 
37,97 
37.83 
36,49 
36,34 
36,15 

35,39 
34,70 
34,54 
34,39 
34,09 
34,00 
33.34 
33.32 
32,94 
32,93 
32,91 

32.79 
32,63 
32,42 
32,32 
32,13 
32,08 
32,00 
31,89 
31,50 
31,47 
31.21 
31.18 
29.89 


Ztr. 

Z. 

Z. 

Z. 

Z. 
D.-Kons. 

Z. 

Z. 
D.  Bbd. 

Z. 

Z. 

Z. 
B.  Bbd. 

Z. 
B.  d.  L. 

Z. 

Z. 

F.  Vpt. 
Z. 

z. 
z. 
z. 
z. 
z. 

B.  Bbd. 
Z. 
Z. 
Z. 

Z. 
D.-K. 

Z. 

Z. 

Z. 

Z. 

Z. 
N.-L. 
Däne 

Z. 

Z. 

z. 

Weife 


2244 
3150 

3277 
3348 
2556 


2941 


2750 


3447 


1643 


668      Eudlof  f ,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutschi.  u.  Frankr. 


Proz.  Ver- 

hältnis der 

Anzahl  der 

Ajizähl  dör 

Anzahl  der 

Partei - 

Landw. 

Wahlkreise 

bäuerlichen 
Betriebe 

(3—50  ha) 

Wahl- 
berechtigten 

bäuerlichen 
Betriebe 
zur  Anzahl 
der  Wahl- 
berechtigten 

Stellung  des 

gegenwärtig. 

Vertreters 

Betriebe 

von 
1— 3  ha 

42.  Sensburg-Ortelsburg      . 

6472 

21812 

29,68 

D.-K. 

43.  Traunstein 

92.56 

31246 

29,62 

Z. 

44.  Waldeck 

3724 

12776 

29,15 

D.  Soz, 

45.  Salzwedel-Gardelegeu    . 

7613 

27118 

28,09 

D.-K. 

46,  Lüchow-Uelzen    .     .     . 

8030 

28678 

28,00 

Weife 

5494 

47.  Hall-Öhringen .     .     .     . 

7019 

25070 

27,99 

D.-K. 

48.  Syke-Hoya 

7  773 

28032 

27,73 

N.-L. 

5454 

49.  Neustadt  a.  E.-Nienburg 

7859 

28461 

27,61 

Weife 

50.  Freudenstadt-Oberndorf 

6536 

23837 

27,41 

F.  Vpt, 

51.  Löwenberg      .... 

3837 

14024 

27,36 

F,  Vpt, 

52.  Iramenstadt     .... 

8040 

29797 

27,07 

N.-L. 

53.  Fulda-Schlüchtern    .     . 

6495 

24107 

26,94 

Z. 

3439 

54.  Fritzlar -Homberg- Zie- 

genhain   

4  769 

17926 

26,54 

D,  Bbd. 

3102 

55.  Rosenheim 

9716 

36825 

26,38 

Z, 

2400 

56.  Hersfeld-Eotenburg  .     . 

5073 

19242 

26,36 

D.  Ept. 

3690 

57.  Zabern 

5320 

20478 

25,98 

F.  Vpt, 

5377 

58.  Marburg-Frankenberg  . 

5645 

21789 

25,90 

D,  Soz. 

59.  Meppen-Bentheim     .     . 

7453 

29091 

25,62 

Z. 

60,  Adenau-Kochem-Zell     . 

5828 

22974 

25,37 

z. 

61.  Schopf heim-Waldshut  . 

6969 

27661 

25,19 

z. 

62.  Gifhorn-Peine       ;     .     . 

9531 

37961 

25,11 

N,-L. 

5903 

63.  Homburg-Kusel    .     .     , 

6448 

25  739 

25,05 

B,  d.  L. 

4378 

II.  Frankreich. 

In  einem  Lande,  wo  die  bäuerliche  Bevölkerung  im  Verhältnis  zur 
Gesamtbevölkerung  numerisch  eine  so  dominierende  Stellung  einnimmt  wie 
in  Frankreich,  gewinnt  selbstverständlich  die  Frage,  wie  der  Bauer  von 
seinen  politischen  Eechten  Gebrauch  macht,  eine  ganz  besondere  Bedeutung. 
Es  ist  bekannt,  daß  er  unter  dem  dritten  Kaiserreich  ein  willfähriges  Wahl- 
instrument des  Verwaltungsapparates  der  Monarchie  war.  Wie  steht  es  jetzt 
mit  ihm  ?  Ist  er  Anhänger  der  Eepublik,  der  gegenwärtigen  Eegierungs- 
forra  ?  Und  welchen  Parteien  wendet  er  vornehmlich  seine  Gunst  zu  ?  Ist 
er  vielleicht  noch  ein  einfacher  politischer  Gefolgsmann  des  konservativen 
Großgrundbesitzes  ?  Oder  ein  gehorsamer  politischer  Diener  des  katholischen 
Klerus?  Oder  hat  er  sich  den  radikalen  Parteien  zugewendet?  Alles  das 
sind  Fragen,  die  in  der  folgenden  Untersuchimg,  soweit  es  die  landwirt- 
schaftliche Betriebsstatistik  und  die  Ergebnisse  der  Kamraerwahlen  von  1910 
gestatten,  beantwortet  werden  sollen. 

1.  Ehe  wir  die  gegenwärtigen  politischen  Strömungen  in  der  franzö- 
sischen Bauernschaft  zu  bestimmen  versuchen,  müssen  wir  erst  die  bäuer- 
lichen Wahlkreise  Frankreichs  kennen.  Da  die  Anzahl  der  bäuerlichen 
Betriebe   in   den    einzelnen  Wahlkreisen    aus   den  Ziffern  der  landwirtschaft- 


Kudloff,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutschi.  u.  Frankr.      669 

liehen  Betriebsstatistik  nicht  festzustellen  ist,  müssen  wir  uns  damit  be- 
gnügen, die  bäuerlichen  Departements,  mehrere  Wahlkreise  umfassend, 
ausfindig  zu  machen. 

Die  nachstehende  Tabelle  macht  uns  mit  ihnen  bekannt.  Sie  enthält 
außerdem  in  diesen  Verwaltungsbezirken  die  Anzahl  der  kleinbäuerlichen 
Betriebe  von  2 — 6  ha  und  der  mittel-  und  großbäuerlichen  Betriebe  von 
6 — 50  ha,  die  Gesamtzahl  der  Wahlberechtigten  und  das  prozentuale  Ver- 
hältnis der  Anzahl  der  Bauernbetriebe  zur  Anzahl  der  Wahlberechtigten  und 
schließlich  die  Parteistellung  der  gegenwärtigen  Vertretung. 

Der  am  meisten  bäuerliche  Bezirk  ist  das  Departement  Lot.  An  letzter 
Stelle  steht  das  schon  mit  Industrie  durchsetzte  Departement  Saone-et-Loire. 
Betrachten  wir  die  Eeihe  der  stark  bäuerlichen  Departements  genauer,  so 
stellen  wir  fest,  daß  sie  den  Alpen,  den  Pyrenäen  und  vor  allem  dem  Plateau 
central,  dem  Cevennengebiet  angehören  (Lot,  Aveyron,  Lozere,  0.  Marne, 
Dröme,  Dordogne,  Creuse,  0.  Loire,  Cantal,  Puy-de-Dome,  Ardeche.  Correze). 
Stark  bäuerlich  sind  auch  gewisse  Departements  des  alten  Poitou  (Charente 
und  Charente-Inferieure),  der  Normandie  (Manche,  Eure,  Orne),  des  Südens 
(Aveyron,  Gers,  Tarn-et-Garonue,  Lot-et-Garonne,  Aude  und  Ariege).  Die 
bäuerlichen  Departements  der  Bretagne  (Morbihan,  Ille-et-Vilaine,  Finistere), 
des  alten  Anjou  (Maine-et-Loire)  und  Maine  (Mayenne),  sowie  die  beiden 
Vienne  und  Savoyen  stehen  schon  in  zweiter  oder  dritter  Eeihe.  Ganz  zuletzt 
finden  wir  die  Departements,  die  neben  dem  bäuerlichen  Besitz  einen  starken 
Großgrundbesitz  aufweisen  (Nievre,  Landes,  Deux-Sevres,  Cher)  oder  die 
schon  eine  ansehnliche  Industrie  haben  (Isere,  Tarn,  Saone-et-Loire). 

Unter  den  bäuerlichen  Departements  hat  der  Großgrundbesitz  (über 
100  ha)  mehr  als  40  7o  der  Fläche  in  den  Ostalpen,  Ostpyrenäen,  Landes, 
Cher,  Indre,  Loir-et-Cher,  Niederalpen,  Nievre.  Der  Kleingrundbesitz  (bis 
6  ha)  dominiert  in  Hoch-Savoyen,  Puy-de-D6me.  V'aucluse,  ist  auch  stark 
vertreten  in  der  Charente,  Unter-Charente,  Jura,  Manche,  Ain,  Saone-et-Loire. 
In  den  andern  bäuerlichen  Departements,  besonders  im  Cevennengebiet,  über- 
wiegt meist  der  Mittelbesitz  (von  H — 50  ha). 

2.  Verteilt  man  die  bäuerlichen  Departements  auf  die  Parteien,  die 
sie  gegenwärtig  vertreten,  so  entfallen  auf  die 

Konservativen   (mit  Einschluß    der  katholischen  „Liberalen"   und   der 

Nationalisten) 50  Sitze, 

Progressisten  (Eechtsrepublikaner) 17      ,,    , 

Eepublikaner  (Linksrepublikaner) 67 

Eadikalen  und  Eadikalsozialisten 142 

Sozialisten  (sozialistische  Eepublikaner  u.  geeinte  Sozialisten)       23      „    , 

Zusammen     299  Sitze. 

Gruppiert  man  diese  Parteien,  wie  sie  sich  bei  den  entscheidenden 
politischen  Abstimmungen  zu  sondern  pflegen,  in  eine  Eechte  und  eine  Linke, 
80  kommen  auf  die 

Eechte 67  Wahlkreise  oder  22.5  Prozent, 

Linke 232  „  „      77,5         „      . 

Dringen  wir  in  die  Einzelheiten  der  Verteilung  der  Wahlkreise 
auf  die  verschiedenen  politischen  Parteien  ein,  so  stellen  wir  fest,  daß  die 
Konservativen  nur  noch  in  4  Departements  die  Mehrheit  der  Vertretung 
besitzen :  in  Maine-et-Loire,  Mayenne,  Morbihan  und  Finistere.  Mit  Einschluß 
der  Progressisten  verfügen  sie  auch  in  Lozere  und  Manche  über  die  Majorität. 


I)    ) 


670      Rudioff,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutschi.  u.  Frankr. 

Die  Wage  halten  sie  der  Linken  in  Aveyron  und  Ober-Loire.  Li  32  bäuer- 
lichen Departements  haben  sie  überhaupt  keine  Vertretung  mehr. 

Die  P  rogr  essist en  (als  Partei  der  Großbourgeoisie)  haben,  wie  auch 
die  Sozialdemokratie,  in  den  bäuerlichen  Departements  nur  wenig 
Boden  fassen  können.  Die  dort  speziell  von  den  Sozialisten  vertretenen  Bezirke 
sind  entweder  Städte  oder  ländliche  Industriegebiete  oder  auch  solche  Bezirke, 
wo  der  Großgrundbesitz  stark  vorherrscht  und  die  zahlreichen  Landarbeiter 
den  Sozialdemokraten  ihre  Stimme  geben  (Cher). 

Eine  ansehnliche  Vertretung  in  den  bäuerlichen  Departements  besitzen 
die  Linksrepublikaner  (67  Sitze).  Man  findet  sie  in  der  Regel  in  den 
Bezirken,  die  vor  einigen  Jahren  noch  konservativ  wählten,  und  die  all- 
mählich für  die  republikanische  Sache  gewonnen  worden  sind :  so  in  den 
N.  Alpen,  Charente,  Charente-Inferieure,  Orne,  Dordogne,  Mans,  C6tes-du-Nord, 
Finistere,  Landes,  Ariege. 

Die  gi'oße  Masse  der  bäuerlichen  Wahlbezirke  ist  indessen  in  den  Händen 
der  Radikalen  und  Radikalsozialisten  (142).  Acht  bäuei'liche  Dej^ar- 
tements  haben  rein  radikale  und  radikalsozialistische  Vertretungen,  in  zwanzig 
andern  haben  sie  die  Mehrheit. 

Hiernach  kann  man  als  Hauptergebnis  der  Untersuchung  feststellen, 
daß  die  große  Masse  der  französischen  Bauern  mit  den  Radikalen  und 
Radikalsozialisten  geht,  in  Gegenden  mit  gemäßigten  politischen  Anschauungen 
meist  mit  den  Linksrepublikanern,  vereinzelt  mit  den  Progressisten.  Die 
Konservativen  haben  ihre  bäuerliche  Wählerschaft  nur  noch  in  der  Bretagne, 
Angou  und  Maine  und  in  gewissen  Bezirken  der  Normandie  festhalten  können. 
Sporadisch  wählen  die  Bauern  auch  noch  konservativ  im  Süden  (Aveyron, 
Lozere)  und  im  Westen  (Charente).  Im  allgemeinen  aber  ist  der  politische 
Einfluß  des  Großgrundbesitzes  auf  die  Bauernschaft  in  Frankreich  gebrochen. 

Bäuerliche  Departements. 

Abkürzungen:  C  =  Conservative,  L  =  Liberale,  P  =  Progressisten, 
Rp  =  Republikaner,  R  =  Radikale,  RS  =  Radikal-Sozialisten, 
SR  =  Sozialistische  Republikaner,  S.  u.  =  Sozialisten  (geeinte). 


Bäuerliche 

Anzahl 
der  bäuer- 
lichen 

Anzahl 
der  bäuer- 
lichen 

Anzahl 
der  Wahl- 

Proz. Ver- 
hältnis der 
Gesamtzahl 
der  bäuerl. 

Parteistellung  der 

Departements 

Betriebe 

von 
2-6  ha 

Betriebe 

von 
6—50  ha 

berech- 
tigten 

Betriebe  zur 
Anzahl  der 
Wahlberech- 
tigten 

Vertretung 

1.  Lot 

32813 

20555 

77159 

69,08 

3R 

2.  N.  Alpen    .     .     . 

12410 

13813 

38882 

67,80 

4  Rp,  1  SR 

3.  H.  Alpen    .     .     . 

10908 

8504 

30  782 

63,23 

1  L,  1  Rp.   1  SR 

4.  AvejTon    .     .     . 

51 798 

26320 

124709 

62,64 

3  C,  2  Rp,  1  R 

5.  Charente   .     .     . 

51437 

20331 

116150 

61,81 

2  C,  4  Rp 

6.  Maas  (3Ieuse)     . 

27632 

18350 

74918 

61,40 

3  Rp,  1  R 

7.  Gers      .     .     .     . 

27778 

22397 

83553 

60,90 

1  R,  4  RS 

8.  Lozere  .... 

12134 

12224 

40310 

60,49 

1  L,  2P 

9.  0.  Marne  .     .     . 

23616 

17184 

68942 

59,07 

2  Rp,  2  R 

10.  Eure-et-Loir  .     . 

28339 

14399 

77842 

54,90 

IL,    1  P,    1  Rp, 
1  R.  1  RS 

Rudi  off,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutschi.  u.  Frankr.      671 


Proz.  Ver- 

Anzahl 

Anzahl 

hältnis  der 

Bäuerliche 

der  bäuer- 
lichen 

der  bäuer- 
lichen 

Anzahl 
der  "Wahl- 

Gesamtzahl 
der  bäuerl. 

Parteistellung  der 

Departements 

Betriebe 

von 
2-6  ha 

Betriebe 

von 
6—60  ha 

berech- 
tigten 

Betriebe  zur 
Anzahl  der 
"Wahlberech- 
tigten 

gegenwärtigen 
Vertretung 

11.  Urne     .     .     .     . 

30659 

18612 

93517 

52,69 

1  C,  1  P,  3  Rp 

12.  Tarn-et-Garonne 

14140 

21052 

67866 

51,90 

1  L,  1  Rp,   1  RS 

13,  Drome  .... 

28353 

20024 

94238 

51,35 

2R,  2  RS,  IS.u. 

14.  Creuse  .... 

22162 

20328 

83307 

51,00 

1  R,  2  RS,  1  SR 

15.  0.  Loire    .     .     . 

28043 

17996 

94450 

48,77 

2  L,  1  R,  1  RS 

16.  Cantal  .... 

14443 

17967 

66541 

48,72 

1  Rp,  3  R 

17.  Charente-Inf. 

48211 

23002 

146543 

48,60 

3  Rp,  4  R 

18.  Yonne  .... 

27962 

20988 

101246 

48,31 

2  P,  2  R,  2  RS 

19.  Dordogne  .     .     . 

39271 

31848 

148109 

48,05 

1  C,  4  Rp,  2  R 

20.  Lot-et-Garonne  . 

26026 

19058 

94796 

47,60 

2  Rp,  1  R,  1  RS 

21.  Eure      .     .     .     . 

29195 

15411 

96458 

46,24 

IC,  1L,2P,  IRp 

22.  Manche      .     .     . 

39949 

19342 

131713 

45,02 

3  C,   1  P,   1  Rp, 

1  S.u. 

23.  Cote  d'Or      .     . 

29435 

19724 

109527 

44,89 

3Rp.  IR,  2  S.u. 

24.  Jura      .... 

24035 

11424 

79003 

44,87 

4R 

25.  Ariege  .... 

20186 

8675 

64788 

44,45 

2  Rp.  1  R 

26.  Puy-de-D6me      . 

48981 

25232 

175682 

42,26 

7R 

27.  Ardeche     .     .     . 

26698 

19310 

111311 

41,47 

1  L,  2  P,  2  RS 

28.  Aude     .... 

28100 

11665 

101713 

39,10 

1  R,  4RS,  IS.u. 

29.  Savoyen     .     .     . 

21224 

7842 

75387 

38,60 

2  Rp,  3  R 

30.  N.  PjTenäen  .     . 

24345 

21680 

120623 

38,16 

2  L,  1  P,  4  R 

31.  H.  Pyrenäen  .     . 

18385 

7741 

67169 

38,14 

1  Rp,  1  R,  2  RS 

32.  Morbihan  .     .     . 

35420 

22938 

154492 

37,80 

6C,  2R 

33.  Correze      .     .     . 

18738 

18 1.54 

97312 

37,29 

2  Rp,  2  R,   1  RS 

34.  Loir-et-Cher  .     . 

20559 

11122 

85501 

37,05 

2  R,  2  RS 

35.  Indre-et-Loire    . 

25156 

14499 

107165 

37,03 

3  R,  1  S.  u. 

36.  Vaucluse    . 

17796 

11623 

80030 

36,77 

4  RS 

37.  0.  Saone    .     .     . 

13008 

16300 

81959 

35,80 

4R 

38.  Ille-et-Vilaine     . 

35559 

22227 

167340 

34,54 

3C,  IP.  2Rp.  2R 

39.  H.  Savoyen    .     . 

19462 

9839 

85212 

34,47 

1  L,  2  R,  1  RS 

40.  Doubs   .     .     .     . 

17219 

12717 

87074 

34,41 

1  P,  3  R.  1  RS 

41.  Indre    .     .     .     . 

20051 

11743 

93490 

34,40 

1  P,  1  Rp,  2  RS, 
IS.u. 

42.  Mayenne    .     .     . 

13545 

15649 

87  690 

33,33 

3  C,  1  P,  1  R 

43.  Ain 

20780 

14132 

105399 

33,15 

6R 

44.  Loiret  .     .     .     . 

23.591 

12959 

111220 

32,87 

2  Rp,  1  R,  2  RS 

45.  Vienne       .     .     . 

18651 

17312 

110613 

32,51 

lC.2P,2Rp,lR 

46.  Isere     .     .     .     . 

43813 

19529 

171905 

31,61 

2  P,  3  R,  3  S.  u. 

47.  C6tes-du-Nord    . 

29216 

20962 

168103 

30,80 

3  C,  5  Rp,  1  R 

48.  Finistere   .     .     . 

32665 

23018 

190458 

29,20 

5C,  4Rp,  IS.u. 

49.  Nievre  .     .     .     . 

21801 

11378 

99860 

28,77 

1  P,  1  R,  2  RS, 
IS.u. 

50.  Tarn      .     .     .     . 

18140 

14022 

113077 

28,46 

1  L,   1  R,   3  RS, 

1  S.u. 

672      Rudioff,  Bäuerl.  Bevölkerung  u.  polit.  Parteien  in  Deutschi.  u.  Frankr, 


Bäuerliche 

Anzahl 
der  bäuer- 
lichen 

Anzahl 
der  bäuer- 
lichen 

Anzahl 
der  "Wahl- 

Proz. Ver- 
hältnis der 
Gesamtzahl 
der  bäuerl. 

Parteistellung  der 

Departements 

Betriebe 

von 
2-6  ha 

Betriebe 

von 
6—59  ha 

berech- 
tigten 

Betriebe  zur 
Anzahl  der 
Wahlberech- 
tigten 

gegenwärtigen 
Vertretung 

51.  0.  Vienne      .     . 

14440 

16822 

115307 

27,11 

1  R,  3  RS,  1  S.  u. 

52.  Maine-et-Loire    . 

25634 

15454 

157743 

26,40 

5  C,  1  P,  1  R 

53.  Landes       .     .     . 

9650 

14310 

92429 

25.94 

3  Rp.  2  RS 

54.  D.  Sevres  .     .     . 

14712 

14266 

112386 

25,80 

IC,   3  R,  1  S.  u. 

55.  Cher      .... 

18953 

9216 

109335 

25,77 

2  RS,  3  S.  u. 

56.  Saone-et-Loire    . 

30271 

16960 

187964 

25,14 

1  L,  2  Rp,  2  R, 
3  RS,  1  S.  u. 

Besprecliungeii 


Zur  Geschichte  der  PoHtik 

Von  Dr.  Carl  Brinkmann 

H.  Spangenberg,  Vom  Lehnstaat  zum  Ständestaat.    Historische  Bibliothek 
herausgeg.  von  der  Redaktion   der  Historischen  Zeitschrift.  Band  29. 
München  und  Berlin  1912.  Oldenbourg.  XII  und  207  S.  —  E.  W.Mayer, 
Machiavellis  Geschichtsverfassung  und  sein  Begriff  virtü.  Ebenda  Band  31. 
X  und  126  S.   —  Auguste  Jörns,   Studien  über  die   Sozialpolitik 
der  Quäker.     Volkswirtschaftliche  Abhandlungen  der  badischen  Hoch- 
schulen.  Neue  Folge  Heft  10.   Karlsruhe  1912.  Braun.  XII  und  151  S. — 
Jessie  Marburg,  Die  sozialökonomischen  Grundlagen  der  englischen 
Araienpolitik  im  ersten  Drittel  des  XIX.  Jahrhunderts.    Ebenda  Heft  11. 
121  S.   —   A.  V.  Peez  und  P.  Dehn,  Englands  Vorherrschaft.     Aus 
der  Zeit  der  Kontinentalsperre.    Leipzig  1912.    Duncker  und  Humblot. 
XX  und  381  S. 
Die  Lebendigkeit  der  Geschichtswissenschaft  bewähi't  sich  an  der  Politik 
wie  die  der  Naturwissenschaft  an  der  Technik.    Wie  die  leljlose.  biographisch- 
antiquarische  Periode   der   neueren  Historiographie   trotz    ihrer  Vorliebe   für 
die  politische  Geschichte  diese  Bewährung  floh,   so  fängt  die  heutige  an  mit 
der  Ausdehnung   ihrer   Literessen   auf  das  Ganze  der  Menschengesellschaften 
auch  wieder  die  Praxis  und  die  Werterkenntnis   zu   suchen   oder  doch  nicht 
zu  scheuen.     Auch  dadurch  erneuert   sie  für  diese  Zeit  ein  Erbe  der  großen 
Entstehungsepoche   moderner  Wissenschaft.     Und   man    könnte    nicht   sagen, 
eine    so   innige  Wechselwirkung   ist    es,    ob    sich    an  den  Wirklichkeiten  der 
Gegenwart  ihr  Blick  mehr  für  die  der  Vergangenheit  schärft  oder  an  diesen 
für  jene.     Auch   die   neuen  historischeu  Bücher,    die  ich  hier  der  politischen 
Betrachtung   empfehlen   möchte,    kommen   einer   solchen   schon  von  sich  aus 
entgegen :    Sie    stellen   nicht   nur   politische  Entwicklungen   dar,   sondern  an 
welchen  Punkten   sie   das  tun,  ist  in  hohem  Grade  von  den  Einsichten  (und 
auch  den  Moden)  des  augenblicklichen  politischen  Denkens  bestimmt. 

Vielleicht  noch  am  wenigsten  trifft  das  für  die  erste  der  beiden  Arbeiten 
zu,  die  sich  mit  dem  Ursprung  der  neuzeitlichen  Staatskunst  aus  dem  Mittel- 
alter beschäftigen.  Die  beiden  Begriffe  des  Lehnstaats  und  des  Ständestaats, 
mittels  deren  Spangenberg  die  Stetigkeit  der  deutschen  Staatsentwicklung 
scharf  zertrennt,  entsprechen  vielleicht  ebensowenig  wie  der  populären  Auf- 
fassung, die  das  „feudale"  Staatsprinzip  bis  zur  französischen  Eevolution 
dauern  läßt,  auf  der  andern  Seite  noch  den  letzten  Ergebnissen  der  historischen 
Forschung  selber,  die  mit  umgekehrter  Betonung  das  Dasein  eines  eigent- 
lichen ,,Lehnstaats"  sogar  für  das  hohe  Mittelalter  in  Frage  stellen  und  den 
ständischen  Territorialstaat  zum  unmittelbaren  Nachfolger  der  Reichsstaats- 
Zeitschrift  für  Politü.   6.  43 


674  Besin'echungen. 


gewalt  machen.  Gewiß  ist  mit  dem  territorialen  und,  was  im  Grunde  dasselbe 
bedeutet,  dem  ständischen  Abschluß  der  deutschen  Teilstaaten  ein  völlig 
neues  und  das  entscheidende  Element  in  das  politische  Leben  Deutschlands 
eingetreten.  Auch  ein  wichtiges  Moment  dieser  Staatsbildung,  an  dem  Spangen- 
berg fast  ganz  vorübergeht,  der  Aufbau  der  inneren  sozialen  Ordnung  durch 
die  lokale  Klassenherrschaft  eben  jener  auch  zentral  regierenden  oder  mit- 
regierenden Stände,  ist  begreiflich  nur  aus  der  eigentümlichen  Kompromiß- 
natur der  neuen  fürstlichen  Staatsgewalten  und  aus  der  Schwierigkeit  ihrer 
Erhebung  über  iirsprünglich  gleichmächtige,  wenn  nicht  gleichberechtigte 
politische  Faktoren.  Aber  es  genügt  doch  nicht,  diesen  Vorgang  bloß  immer 
von  seinem  Endpunkte  anzusehen  und  diesen  in  begrifflichen  Gegensatz  gegen 
die  Anfänge  zu  bringen,  etwa  die  Landdinge  der  landschaftlichen  Magnaten 
bis  zum  13.  Jahrhundert  von  den  nachherigen  Ständetagen,  dann  eine  Früh- 
zeit vasallischer  Ohnmacht  und  fürstlicher  Macht  von  einer  Spätzeit  „privat- 
rechtlicher Verbildung"  der  Dynastien  und  ständischen  Emporkommens  zu 
unterscheiden.  Das  alles  betrifft  nur  die  äußere  Erscheinung,  die  sehr  leicht 
darüber  täuscht,  daß  die  gleiche  Mischung  rechtlicher  und  sozialer,  öffent- 
licher und  privater  Kräfte  von  Beginn  an  zugrunde  liegt,  daß  lediglich  ein 
Teil  davon  an  dem  einen  Pole  der  neueu  politischen  Gestaltimg  als  Terri- 
torialherrschaft, ein  andrer  an  dem  andern  als  Territorialstände  zusammen- 
strömt. Schließlich  liegt  der  Unterschied  der  vielen  mittelalterlichen  Dynasten 
und  der  wenigen  neuzeitlichen  Dynastien  gar  nicht  in  ihrem  Verhältnis  zu 
Lehnsleuten  oder  Ständen  unter  ihnen,  sondern  zur  Organisation  des  Reiches 
über  ihnen,  die,  der  politischen  Konsequenz  nach,  die  einen  voraussetzten,  die 
andern  dagegen  ausschlössen.  Dieser  beherrschende  Hintergrund  der  deutschen 
Staatsgeschichte  muß  fi-eilich  verschwinden,  wo  das  Märchen  vom  germanischen 
Freiheitsgefühl  als  staatloser  Gesinnung  geradezu  zum  Ausgangspunkt  der 
Erörterung  genommen  wird ').  So  erscheint  im  Allgemeinsten  als  politische 
Konstruktion,  was  in  Wahrheit  Rekonstruktion  war.  Von  den  einzelnen 
Reihen  paralleler  Tatsachen  in  der  Herausbildung  der  ständischen  deutschen 
Staatsform  ist,  wiewohl  mitunter  etwas  wahllos  und  unbestimmt,  eine  nütz- 
liche Zusammenstellung  gegeben,  die  vom  Wege  einer  künftigen  Geschichte 
des  deutschen  Staats  mindestens  nicht  weit  abliegt. 

Mayers  Untersuchung  über  Machiavellis  Geschichtsauffassung  ist  aus 
der  feinnervigen  Lehre  Friedrich  Meineckes  hervorgegangen.  Damit  ist  schon 
gesagt,  daß  sie  mehr  ist  als  bloße  Interpretation  von  Texten,  wie  sie  die 
klassische  Philologie  mit  ihrer  Methode  zu  Hunderten  der  Historie  vermacht 
hat.  Die  Quellenanalyse  und  die  Beobachtung  des  sprachlichen  Ausdrucks 
sind  Hilfsmittel  für  eine  geistesgeschichtliche  Leistung  echten  Sinnes,  wo  in 
der  Einzelpersönlichkeit  die  Schnittpunkte  von  großen  Zügen  des  europäischen 
Denkens  bloßgelegt  werden.  Gerade  dadurch,  daß  das  Entgegengesetzte  und 
Widerspruchsvolle  dieser  Züge  schonungslos  beleuchtet  wird,  daß  diese  ratio- 
nalistische Anatomie  aller  intuitiven  Zusammenfassung  vorgeht,  nicht  das 
historische  und  damit  das  politische  Werk  des  Mannes  in  die  größte  Per- 
spektive unserer  Geschichte,  die  sich  von  der  Renaissance  auf  die  mittleren 
und  die  neueren  Zeitalter  eröffnet.  Das  Dämonische  der  Machiavellistischen 
Weltbetrachtung  ist  stets  zu  ausschließlich  in  ihrer  modernen  Komponente, 
der  zeitlosen  Freiheit  ihrer  Intelligenz  und  ihrer  Moral,  gesucht  worden. 
Mayer  knüpft  vielleicht  unbewußt  an  jene  neuerliche  historiographische  Rich- 
tung an,  die  die  (eigentlich  selbstverständliche)  mittelalterliche  Wesenshälfte 
der  Renaissance  herauszuarbeiten  strebt,  wenn  er  zeigt,  eine  wieviel  stärkere 
Folie  als  in  seiner  Zeit  der  moderne  Mensch  Machiavelli  in  seinem  eigenen 
Wesen  hat.     Sein  ethisch-politischer  Utilitarismus  wird  erst  „satanisch",  da 

0  In  meiner  Sclirift  über  „Freiheit  und  Staatlichkeit  in  der  Älteren 
Deutschen  Verfassung"  (München-Leipzig  1912)  habe  ich  versucht  sein  Gegen- 
teil zu  erweisen. 


Besprechungeu.  675 


er  gleichzeitig  die  cliristliche  Moral  bis  in  die  materiellsten  Beurteilungen 
als  Norm,  nur  eben  als  unerfüllbare,  voraussetzt.  Der  wundervoll  neutrale 
Kraftbegriff  der  virtü  von  Individuen  und  Völkern  bekommt  seine  verzweifelt 
pessimistische  Farbe,  da  ihm  in  der  Materie  der  Aristotelischen  Entelechie, 
in  dem  Kreislauf  der  stoischen  Staats-  und  Kulturperioden  dogmatisch  der 
entwicklungslose  Kosmos  des  lyiittel alters  entgegentritt  und  so  außer  persön- 
licher Zwecksetzung  nur  der  Zufall,  die  Fortuna,  als  Ausdruck  transzendentaler 
geschichtlicher  Gesetzmäßigkeit  übrig  ist.  Der  V'erkünder  einer  kaum  schon 
erreichbaren  Machtpolitik  ist  noch  tausendmal  zynischer  als  Bewunderer  der 
primitiven  Staats-  und  Gesellschaftszustände  im  republikanischen  Rom,  als 
Ankläger  seines  degenerierten  Vaterlands,  als  Gegner  der  neuen  materiellen 
und  geistigen  Kultur,  des  neuen  Kriegswesens,  als  Anwalt  des  Kleinstaats. 
Am  Ende  bleibt  hinter  dem  allen  (namentlich  wenn  man  die  glatteren  Zeit- 
genossen vergleicht)  doch  die  nicht  mehr  mittelalterliche  Seele,  die  alte  und 
neue  Überzeugungen  und  Erfahrungen  mit  demselben  Schmerz  in  sich  ein- 
drückt, leidenschaftlich,  hart  und  ohne  Versöhnung  als  eigne  Willens-  und 
Verstandesreinheit. 

Wie  die  beiden  besprochenen  Wei'ke  auf  die  eine  Epoche  der  europäi- 
schen Geschichte,  so  sind  die  drei  übrigen  auf  die  zweite,  nicht  minder  ein- 
schneidende bezogen,  in  der  seit  den  Revolutionen  das  wirtschaftlich  führende 
Bürgertum  seine  eigne  Erhebung  mit  den  ersten  großen  Reformen  der  Gesell- 
schaftsverfassung zugleich  ermöglichte  und  rechtfertigte.  Auf  welche  Weise 
sich  bei  dieser  Bewegung  noch  in  ihren  ideologischesten  Vortrupi^en  materielle 
Antriebe  mit  den  geistigen  und  sittlichen  verflechten,  daran  erinnert  wiederum 
die  Übersicht  von  Jörns  über  die  sozialpolitische  Theorie  und  Wirksamkeit 
der  „Freunde"  in  England  und  Amerika.  Das  soziologische  Phänomen  (es 
wird  von  der  Verfasserin  kaum  so  hervorgehoben),  daß  vom  17.  Jahrhundert 
ab  eine  religiöse  Sekte  nicht  nur  die  praktischen  Fragen  der  Gesellschafts- 
ordnung zum  Mittelpunkt  ihrer  Tätigkeit  wählt,  sondern  an  ihrer  Lösung 
auch  wirklich  in  ausschlaggebendem  Maße  mitzuarbeiten  imstande  ist,  dies 
Phänomen  allein  gibt  eine  Ahnung  von  der  Verwicklung  der  Mittel  bei  der 
Geburt  des  ersten  europäischen  Bürgertums  in  England.  Und  man  müßte 
sehr  weit  ausholen  in  die  Gebiete  der  allgemeinen  englischen  Wirtschafts- 
und Verfassungsgeschichte,  um  zu  erklären,  was  als  Faktum  Staunen  erregt, 
wie  die  Propaganda  gerade  dieser  Sektierer  von  Anfang  an  von  den  Arbeits- 
nnd  Nützlichkeitsinstinkten  aufsteigender  Klassen  aufgegi'iffen,  getragen,  mit 
ihrer  offenen  und  verborgenen  materiellen  flacht  genährt  wird;  wie  die  reli- 
giöse Einigung  von  Unternehmern  und  Arbeitern  oder  auch  des  alten  Mittel- 
standes in  sich  einem  vor  der  neuen  Zeit  großenteils  noch  ohnmächtigen 
Staate  die  bedeutendsten  sozialpolitischen  Leistungen,  Armenunterstützungs- 
imd  Arbeitsnachweissysteme,  Volks-  und  Fachschulen,  einen  ganzen  Kolonial- 
staat, vorwegnimmt,  wie  endlich  auch  gegenüber  den  ausbrechenden  Wunden 
des  bürgerlichen  Sieges  in  so  rücksichtslosen  Menschenfreunden,  wie  John 
Howard,  William  Tuke,  William  Allen,  Elizabeth  Fry,  den  Genossen  der 
ersten  Sozialisten,  eben  der  optimistische  Glaube  an  den  Erfolg  der  Arbeit, 
die  Ethik  der  gleichen  Weltarbeitsbedingimgen  (Sklavenbefreiung!)  tüchtig  ist. 

Auch  die  Studie  von  Jilarljurg  über  die  1834  er  Reform  der  englischen 
Armengesetzgebung  könnte  und  müßte  ungleich  tiefer  gehen,  wenn  sie  wirk- 
lich die  „sozialökonomischen  Grundlagen"  des  Ereignisses  und  nicht  so  gut 
wie  ausschließlich  die  vorbereitende  öffentliche  Diskussion  behandelte.  Statt 
den  weiteren  sozialgeschichtlichen  Rahmen  des  Gegenstandes  im  wesentlichen 
an  Kostaneckis  sicherlich  brauchbares  Schema  von  der  mittelalterlichen  und 
modernen  Auffassung  der  Armut  als  Vermögens-  und  Einkommensschwäche 
anzulehnen,  hätte  die  Verfasserin  dann  den  Parallelismus  untersuchen  können, 
der  zwischen  den  Wandlungen  der  Armenpolitik  und  denen  der  Wirtschafts- 
verfassung in  England  imverkennbar  ist.  Die  Zeit,  die  die  Notwendigkeit 
der  „arbeitenden  Armut"   mit   fast   zynischer  Naivität   postulierte   und   ihren 

43* 


676  Besprechungen. 


naturrechtlichen  Anspruch  auf  Existenz  und  Beschäftigung  überall  bereit- 
willig unterstützte,  war  dieselbe,  da  die  Industrialisierung  des  Landes  vor 
allen  Dingen  die  größte  Beweglichkeit  und  das  gi'ößte  Wachstum  der  Be- 
völkerung erforderte.  Am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  und  besonders  in  dem 
Elend  der  Eevolutionskriege  trat  langsam  ins  allgemeine  Bewußtsein,  wie 
furchtbar  vollständig  dies  Ziel  erreicht  war,  und  jetzt  wälzt  in  Malthus  der 
Kapitalismus  alle  Schuld  von  sich  auf  (o  englischer  Philister  I)  den  Geschlechts- 
trieb der  ausgehaltenen  Arbeiterklasse.  Aber  ferner  —  und  das  war  als  die 
Grundlage  der  ganzen  Parteiung  in  Literatur  und  Parlament  nicht  deutlich 
genug  herauszustellen  (die  Polemik  gegen  Adolf  Held  S.  24  stößt  da  bloß 
längst  offene  Türen  ein):  Mit  der  dauernden  Übervölkerung  ist  die  Armen- 
pflege aus  einer  mittelbaren  Beförderung  des  Arbeitsangeljots  eine  ganz  un- 
mittelbare Liebesgabe  für  bestimmte  Unternehmerklassen,  hauptsächlich  die 
agrarischen  Großbetriel)e  in  den  Heimatbezirken  der  Arbeiterreserven,  ge- 
worden, und  so  verbindet  sich  nun  der  Steuerzahler,  aufgeschreckt  durch 
die  Kolonisationsprojekte  der  Tories,  mit  den  industriellen  und  kommerziellen 
Liberalen  zu  der  imposanten  Rechtsverwahrung  gegen  die  Verschleuderung 
der  öffentlichen  Mittel.  Wobei  nur  nach  der  Weise  solcher  sozialen  Aus- 
einandersetzungen auf  das  arme  Objekt  die  schlimmsten  Schläge  (die  sach- 
liche Wiedereinschärfung  des  Workhouse-test)  abfallen. 

Das  letzte  Buch  des  verstorbenen  österreichischen  Handelspolitikers  und 
Wirtschaftshistorikers  Alexander  v.  Peez  (denn  ihm  weist  der  Mitverfasser 
Paul  Dehn  „das  Beste"  darin  zu  und  ihm  gehört  wohl  zumeist  der  knorrig 
saloppe  AltheiTcnstil  der  Form '),  der  erste  Teil  einer  geplanten  Monograi:ihie 
über  die  „VorheiTschaft"  Englands  (bis  zur  Gegenwart^),  könnte  trotz  oder 
wegen  der  bunten  Vielfältigkeit  seines  Gehalts  ein  gutes  Volksbuch  sein, 
das  auch  den  Kenner  unterrichtet,  weil  es  sagt  „was  die  andern  nicht  gesagt 
haben" ;  wie  unabsehlich  viel  kommt  heute  in  der  geschichtlichen  Literatur 
auf  dies  Sagen  von  Dingen  au,  die  jeder  weiß.  Aber  wenn  so  im  wesent- 
lichen die  Mittel  und  Wege  nationaler  Wirtschaftsautarkie  aus  dem  Beispiel 
der  hundertjährigen  Vergangenheit  verlebendigt  werden  sollen,  so  wird  doch 
leider  nach  zwei  Seiten  zuviel  damit  bewiesen.  Ich  meine  nicht  allein  das 
unbewußt  doppelzüngige  Verfahren,  politische  Methoden  zuerst  bei  andern 
sittlich  bloßzustellen,  um  sie  hernach  inhaltlich  desto  unbedenklicher  daheim 
zu  empfehlen.  Ich  denke  weit  mehr  noch  an  den  unvermeidlichen  Verlust 
der  rein  historischen  Kriterien.  Die  Bedeutung  der  Napoleonischen  Kriege 
als  eines  einzigen  großen  Kampfs  gegen  England  ist  durchaus  keine  neue 
Erkenntnis.  Sie  ließe  sich  allerdings  vertiefen  zu  einem  Verständnis  dessen, 
wie  dabei  der  radikale,  über  sich  selbst  hinaus  dringende  Flügel  des  europäi- 
schen Bürgertums  mit  dem  besitzenden,  systematisch  in  sich  befestigten  ringt. 
Aber  dazu  müßte  man  für  die  Großartigkeit  der  revolutionären,  für  die 
Großartigkeit  auch  der  antirevolutionären  Solidarität  wenigstens  die  Möglich- 
keit eines  Begriffs  haben,  und  ich  gestehe,  seltsamerweise  einmal  gegen 
historischen  Materialismus  scheinbar  protestierend,  daß  von  einer  solchen 
Möglichkeit  hier  keine  Spur  ist.  Es  bleibt  im  Grunde  die  Selbstverständlich- 
keit, daß  weder  Frankreich  noch  England  es  mit  dem  Deutschland  des  zer- 
störten Reiches  so  gut  meinten,  wie  es  der  heutige  nationale  Wirtschafts- 
politiker getan  hätte.  Aber  war  es  (von  Peezischen  Voraussetzungen  aus)  für 
Frankreich  nicht  genug,  die  Lügenhaftigkeit  Englands,  für  England,  die 
Heuchelei  Frankreichs  zu  bekriegen?  Nichts  tut  dem  Historiker  mehr  Not 
als  eine  gewisse  Hlusionslosigkeit  gegenüber  der  Weisheit  und  Güte  großer 
Politik.  Aber  die  Witterung  von  Dummheit  und  Schlechtigkeit  kann  einen 
Grad  erreichen,  wo  sie   einfach  falsche  Werte  in  eine  auch  anderswoher  zu 


^)  Gehören  aber  in  ein  so  selbstbewußt  deutsches  Werk  Entgleisungen 
wie  die,  daß  Napoleon  (S.  268)  die  ,. Zerlegbarkeit  von  Kali  und  Natron  ver- 
anlaßte"? 


Besprechungen.  677 


probierende  Rechnung  einsetzt.  Sollte  wirklich  im  Seerecht  vor  hundert 
Jahren  offener  Raub  selbst  auf  der  Seite  des  mächtigsten  Seestaats  ausführbar 
gewesen  sein?  Das  Verhältnis  der  englischen  Flottenkommandos  zu  Admi- 
ralität und  Prisengerichten  lehrt  es  anders.  Ist  vorstellbar,  daß  Napoleon 
tatsächlich  aus  Kurzsichtigkeit  (wie  Peez  Rose  nachschreibt)  die  von  jeher 
gefürchtete  Aushungerung  Englands  unterlassen  habe?  Die  kurze  Überlegung, 
wie  der  russische  Adel  Getreideausfuhrverbote  in  Riga  und  Danzig  aufge- 
nommen hätte,  zeigt  das  Alisurde  einer  derartigen  Korrektur  der  Welt- 
geschichte. So  fih'chte  ich,  daß  politische  Literatur  wie  diese  mehr  als  alle 
ihre  Vorzüge  die  Untugend  mitzuteilen  sich  eignet,  aus  der  sie  hervorgegangen 
ist:  Von  dem  Geschäftsmann  wesentlich  die  kleinen  Anthropomorphien  auf 
die  Geschichte  zu  übertragen,  wo  wir  seinen  großen  Blick  in  technische 
Zusammenhänge  brauchten. 


Hermann  Oncken,  Lassalle.     Zweite  durchgearbeitete  Auflage.     Stuttgart 
1912.     Fr.  Frommann.     (E.  Hauff.)     526  S. 

Bis  im  Jahre  1904  die  erste  Auflage  dieses  Werkes  an  die  Öffentlichkeit 
kam.  da  besaßen  wir  noch  keine  rein  wissenschaftliche  monographische  Dar- 
stellung der  Laufl)ahn  Ferdinand  Lassalles,  zrnn  mindesten  keine,  die  unter 
Benutzung  aller  erreichbaren  Quellen  diese  große  politische  Persönlichkeit 
im  Zusammenhang  mit  ihrer  Zeit  geschildert  hätte.  Unbefangene  Beurteiler 
gaben  alsbald  der  Überzeugung  Ausdruck,  daß  der  dankbare  Stoff  endlich 
in  Oncken  den  berufenen  Bearbeiter  gefimden  habe  und  daß  seine  auf 
gewissenhafter  Forschung  beruhende,  durch  eine  glänzende  Darstellungsweise 
gehobene  Lassallebiographie  bis  zum  künftigen  Wiederauftauchen  von 
Lassalles  Nachlaß  als  eine  abschließende  Leistung  anzusehen  sein  möchte. 
Auch  der  Referent  sprach  schon  damals  diese  Ansicht  aus,  und  es  ist  ihm 
jetzt  nicht  möglich,  über  ein  Werk,  das  er  seit  bald  einem  Jahrzehnt  genau 
kennt,  wie  über  eines  zu  berichten,  das  er  eben  zum  erstenmale  gelesen  hat. 
Diese  Anzeige  beschränkt  sich  deshalb,  nicht  überall,  aber  vorwiegend  darauf, 
die  zweite  Auflage  als  solche  ins  Auge  zu  fassen  und  an  manchen  Stellen 
ergänzende  Hinweise  für  die  dritte  zu  geben,  die  dann  hoffentlich  ein  Register 
haben  wird. 

Beim  ersten  Erscheinen  des  Werks  hatten  einzelne  Kritiker  bemängelt, 
daß  der  Verf.  nicht  auch  unveröffentlichtes  und  schwer  beschaffbares  Material 
für  seine  Darstellung  herangezogen  hatte.  Diesen  Einwand  erledigt  die  neue 
Bearbeitung,  denn  sie  benutzt  wertvolle  und  vorher  ungedruckte  Quellen, 
wie  Lassalles  Briefe  an  Otto  Dammer,  an  das  Ehepaar  Stahr-Lewald  und 
an  LudmUla  Assing.  Die  fi'üher  nur  auszugsweise  bekannten  Briefe  an  Moses 
Heß  erschienen  in  Grünbergs  Archiv  erst  nach  der  Drucklegung  des  „Lassalle"  ; 
einer  von  ihnen  bestätigt  eine  wichtige  These  Onckens  auf  schlagende  Weise. 
Wiederum  wurde  vom  Verf.  die  Lassalleliteratur  mit  Sorgfalt  benutzt 
und  bis  zu  den  neuesten  Erscheinungen  in  die  Quellennachweise  eingefügt. 
Auch  sonst  enthält  die  zweite  Auflage  gegen  die  erste  Erweiterungen  und 
Präzisierungen  im  einzelnen,  aber  keine  einschneidenden  Umgestaltungen. 
Der  Referent  darf  es  sich  ersparen,  den  Inhalt  des  bekannten  Werks  nach- 
zuzeichnen und  er  beschränkt  sich  unter  Einhaltimg  der  chronologischen 
Reihenfolge  darauf,  nur  an  solchen  Stellen  zu  verweilen,  wo  er  Bemerkungen 
einzufügen  hat. 

Meisterhaft  ist  gleich  zu  Anfang  Onckens  Analyse  von  Lassalles  Her- 
kunft und  Jugendentwicklung,  die  einen  teils  Übereinstimmungen,  teils  Unter- 
schiede ergebenden  Vergleich  mit  anderen  politisch  gerichteten  Zeitgenossen 
jüdischer  Abstammung  zieht:  mit  Börne,  Heine,  Disraeli  und  besonders  mit 
Marx.  Daß  wir  doch  so  wenig  wissen,  auf  welche  Wege  die  sozialen 
Probleme   zuerst  in  Lassalles  Interessenkreis  getreten  sind!     Natürlich  wird 


I 


678  Besprechungen. 


die  große  Welle,  die  zu  Beginn  des  Jahres  1843  nach  der  Unterdrückung 
der  Deutschen  Jahrbücher  und  der  Rheinischen  Zeitung  die  Schriften  der 
französischen  Sozialreformer  über  Deutschland  verbreitete,  auch  bis  Breslau 
vorgedrungen  sein.  Aber  wir  besäßen  gern  persönlicher  gefärbte  Kunde ! 
Den  Einfluß  Wilhelm  Wolffs,  dessen  Andenken  Marx  später  „Das  Kapital" 
gewidmet  hat,  auf  den  jüngeren  Landsmann  hebt  Oncken  mit  Kecht  hervor. 
Noch  nicht  ganz  klar  blickt  man  in  der  Frage,  wie  es  mit  dem  äußeren 
Abschluß  von  Lassalles  akademischen  Studien  bestellt  war.  Wir  wissen,  daß 
er  den  Doktortitel  niemals  erworben  hat.  Lag  aber  der  Grund  ausschließlich 
darin,  daß  der  Hatzfeldthandel,  der  ihn  seit  1846  in  seine  Netze  zog,  ihm 
die  Zeit  dazu  nicht  ließ?  Bei  einem  Polizeiverhör  in  Berlin,  von  dem  ich 
aus  den  Akten  Kenntnis  habe,  erklärte  er  im  Juni  1847,  daß  er  nicht  Doctor 
promotus  sei,  sondern  nur  die  Lizenz  zu  Vorlesungen  bei  der  Universität, 
jedoch  vergeblich,  nachgesucht  habe.  Oncken  berichtet,  daß  ihm  am 
24.  Januar  1846,  nach  der  Rückkehr  aus  Paris,  das  akademische  Abgangszeugnis, 
welches  man  ihm  wegen  privater  Händel  mit  Schneider  und  Hauswirt 
früher  verweigert  hatte,  ausgeliefert  wurde.  Trotzdem  bekundet  Lassalle  im 
Oktober  1847,  als  er  sich  von  neuem  um  einen  Paß  für  eine  Auslandsreise, 
die  nachher  unterblieb,  bemühte,  wie  ich  ebenfalls  aus  den  Akten  ersehe, 
vor  dem  Polizeidirektor  Müller  in  Köln:  seine  Papiere  ruhten  in  Berlin;  er 
verzichte  aber  auf  die  Anführung  eines  Titels  und  wolle  als  Privatier  reisen. 
Nun  brauchte  es  sich  hier  freilich  nicht  um  die  gleichen  Papiere  gehandelt 
zu  haben.  Aber  eine  Unklarheit  bleibt  bestehen.  Wahrscheinlich  ist  von 
Lassalle  ein  offizielles  Habilitationsgesuch  niemals  eingereicht  worden.  Er 
wii'd,  wie  es  heute  noch  üblich  ist,  auf  privatem  Wege  das  Terrain  sondiert, 
einen  ablehnenden  Bescheid  erhalten  und  deshalb  auch  auf  die  Promotion 
verzichtet  haben!     Doch  ich  äußere  damit  nur  eine  Vermutung! 

Aus  den  gleichen  Akten  „betreffend  die  Zensur  und  den  Debit  der  über 
die  gräflich  Hatzfeldtsche  Angelegenheit  erschienenen  Druckschriften  und 
Abhandlungen"  ergibt  sich  noch  manches  andere,  was  für  die  Biographie 
Lassalles  in  Betracht  kommt.  So  findet  man  dort  ein  Leumundszeugnis  des 
Generals  Graf  Kalckreuth  vom  28.  Mai  1846,  der  sich  „für  die  guten  Ge- 
sinnungen und  das  zweckmäßige  Betragen  des  genannten  Herrn  Lassal",  den 
er  seit  längerer  Zeit  kenne,  bei  der  Regierung  verbürgt.  Man  erfährt,  daß 
die  königliche  Departementsersatzkommission  Lassalle  am  3.  August  1847 
als  Halbinvaliden  für  den  Militärdienst  untauglich  erklärt.  Man  stößt  auf 
höchst  pittoreske  Schilderungen  des  verunglückten  Versuchs,  den  die  Gräfin 
und  Lassalle  am  4.  Juli  1847  unternehmen,  um  sich  mit  Gewalt  in  den  Besitz 
der  Hatzfeldtschen  Schlösser  Schönstein  und  Crottorf  zu  setzen,  und  man 
vernimmt,  daß  der  König  gegen  diesen  „Gewaltstreich"  am  8.  August  „ein 
ungesäumtes  Einschreiten  der  Regierung"  fordert.  Aber  wichtiger  als  diese 
Einzelheiten,  die  dem  Bilde  Lassalles  keinen  neuen  Zug  einfügen,  ist  eine 
bisher  nicht  beachtete  Korrespondenz  der  Augsburger  Allgemeinen  Zeitung 
aus  Berlin  vom  18.  Mai  1847,  die  sich  mit  einer  Anwesenheit  Lassalles  in 
der  bekannten  Versammlung  der  oppositionellen  Mitglieder  des  Vereinigten 
Landtages  im  Rheinischen  Hofe  vom  14.  Mai  dieses  Jahres  beschäftigt,  wo 
der  denkwürdige  Beschluß  gefaßt  wurde,  l)ei  jeder  künftigen  Geldbewilligung, 
besonders  aber  bei  der  bevorstehenden  Eisenbahnanleihe  „die  Konsequenzen 
geltend  zu  machen",  also  nichts  zu  bewilligen,  bevor  nicht  zum  wenigsten 
die  Periodizität  der  Landtagsverhandlungen  zugestanden  worden  wäre.  Bevor 
Vincke  die  Beratung  der  141  Abgeordneten  eröffnen  konnte,  mußte  die  Ver- 
sammlung, wie  es  in  jenem  Berichte  heißt,  „eine  Purifizierung  an  sich  selbst" 
vornehmen.  Denn  obgleich  die  Teilnehmer  nur  auf  Einlaßkarten  hin  zugelassen 
worden  waren,  hatten  sich  doch  zwei  ungeladene  Persönlichkeiten :  ein  ritter- 
schaftlicher Deputierter  und  der  „aus  dem  Hatzfeldtschen  Prozeß  bekannt 
gewordene  Doktor  Lassalle"  Zutritt  verschafft.  Erst  nachdem  man  sie  mehrere- 
male  hatte  auffordern  müssen,  räumten  sie  das  Lokal.    Das  ist  ein  Bild,  das 


Besprecliuugeu.  679 


unter  manchem  Gesichtswinkel  eine  Interpretation  verdient:  es  beweist,  wie 
die  Unbedenklichkeit,  mit  der  in  dem  Hatzfeldtschen  Konflikt  auf  beiden 
Seiten  gekämpft  wurde,  einen  stolzen  Menschen  wie  Lassalle  auch  bei  anderen 
Gelegenheiten  zu  dem  Weg  über  Hintertreppen  verleitet,  es  läßt  darüber  hin- 
aus erkennen,  daß  Lassalles  Interesse  an  den  politischen  Vorgängen  schon  um 
diese  Zeit  einen  fieberhaften  Grad  erreicht  haben  mußte;  schließlich  wirkt 
es  auf  uns  Nachlebende  fast  wie  ein  symbolischer  Vorgang,  daß  der  künftige 
Fahnenträger  der  sozialen  Demokratie  und  des  allgemeinen  Stimmrechts  sich 
in  die  erste  Versammlung  der  Opposition  des  preußischen  Ständeparlaraents 
dui-ch  die  Hintertür  einschleicht  und,  wie  es  unter  solchen  Umständen  nicht 
anders  gehen  konnte,  als  einer,  der  hier  nicht  hineingehörte,  an  die  Luft 
gesetzt  wird! 

Sophie  Hatzfeldts  und  ihrer  Händel  Bedeutung  für  die  Biographie  Lassalles 
erörtert  üncken  mit  feinem  psychologischen  Verständnis,  aber  auch  mit  der 
taktvollen  Zurückhaltimg,  die  bei  dem  echten  Historiker  selbstverständlich 
ist.  Hierbei  weist  er  gelegentlich  darauf  hin,  daß  die  Lebensgeschichte 
Lassalles  bis  auf  ihren  tiefsten  und  geheimsten  Grund  nicht  ausgeschöpft 
werden  kann,  solange  sein  Briefwechsel  mit  diesem  vertrautesten  „Freund" 
—  er  nannte  sie  nicht  Freundin  —  verschlossen  bleibt.  Es  ist  ein  Glück, 
daß  wir  von  dem  nächstwichtigsten  Briefwechsel,  dem  mit  Marx,  wenigstens 
die  Briefe  Lassalles  besitzen;  für  die  Schilderung  der  theoretischen  Ent- 
wicklung seines  Helden  dienen  sie  dem  Verf.  als  Hauptquelle.  Die  einzigen, 
bisher  bekannt  gewordenen  Antworten  von  Marx,  beide  aus  dem  Jahre  1855 
habe  ich  kürzlich  in  der  Frankfurter  Zeitung  veröffentlicht.  Sie  lassen 
erkennen,  daß  das  erste  Einschlafen  des  Briefwechsels  nicht,  wie  Oncken 
annimmt,  erfolgte,  weil  Marx  eine  von  Lassalle  erbetene  Auskunft  nicht  er- 
teilte, denn  tatsächlich  ging  Marx  in  seinem  Brief  vom  8.  November  1855 
auf  die  Anfrage  ein.  Auch  Lassalle  hat  nach  diesem  Datum  noch  einmal 
geschrieben  —  einen  Brief,  der  sich  anscheinend  nicht  erhalten  hat  — , 
aber  diesmal  hat  er  keine  Antwort  mehr  bekommen.  Denunziationen  gegen 
ihn,  die  von  Düsseldorf  nach  London  gelangt  waren,  hatten  bei  dem  stets 
zu  Mißtrauen  geneigten  Marx  Glauben  gefunden  und  ihm  die  Fortsetzung 
des  Briefwechsels  verleidet.  Über  diesen,  sowie  über  andere  Punkte  ihres 
Verhältnisses,  dürfte  der  demnächt  erscheinende  Briefwechsel  zwischen  Marx 
und  Engels  Klarheit  verbreiten. 

Über  Lassalles  Umgang  und  Lebensweise  nach  seiner  Übersiedlung 
nach  Berlin  hätten  sich  väelleicht  in  Fontanes  Scherenberg  noch  einige  Hin- 
weise finden  lassen.  Sehr  anschaulich  schildert  Oncken  die  politische  Situation 
von  1859,  in  die  Lassalle  mit  einer  Broschüre  eingriff,  die  durch  die  neuer- 
liche Aufrollung  des  südslawischen  Problems  fiu-  die  deutsch-österreichische 
Sozialdemokratie  ein  aktuelles  Gesicht  erhalten  hat.  Lassalle  sandte  diese 
Schrift  damals  auch  an  Johann  Jacoby,  zu  dem  er  über  Adolf  Stahr  in 
flüchtige  Beziehungen  geraten  war.  Dieser  in  Preußen  angesehenste  Wortführer 
der  ideologischen  Demokratie  schrieb  darüber  in  einem  unveröffentlichten  Brief 
an  Fanny  Lewald,  die  übrigens  wie  auch  ihr  Gatte  anfänglich  Lassalles  Ein- 
fluß stark  gespürt  hatte:  „Lassalle,  dem  ich  für  seine  Schrift  den  besten  Dank 
sage,  hat  den  Konflikt  w-ahr  und  gut  geschildert;  gegen  sein  schließliches 
Progi'amm  aber  ist  dasselbe  geltend  zu  machen,  was  er  gegen  Vogts  Vor- 
schlag erinnert:  Es  fehlt  der  Krückstock  des  alten  Fritz!  Der  Knüppel  „ist 
aus  dem  Sack",  doch  wohin  damit,  das  weiß  der  Knüppel  so  wenig,  wie  der 
„herrliche"  Knüppel.  Und  das  Ende?  fragen  Sie,  nicht  eher  wird  es  kommen, 
als  bis  nach  des  Psalmisten  Wort  „Friede  und  Gerechtigkeit  sich  küßten." 
Die  Nemesis  straft  Östep-eich  durch  Napoleon  und  wird  auch  Napoleon  sicher 
ereilen;  sie  straft  Preußen  für  die  U^nterlassungssünde  von  1849  und  die 
Katharsis  wird  Freiheit  der  Völker  sein."  Es  genügt,  diese  Sätze  Jacobys 
anzuführen,  um  zu  empfinden,  wie  fern  Lassalle  in  seiner  Geschichtsauffassung 
der  bürgerlichen  Demokratie    stand  und  wie   wenig  er  übertrieb,   wenn  er 


I 


680  Besprechiingen. 


Marx  und  Engels  wiederholt  versicherte,  daß  er  in  der  Heimat  noch  mehr 
als  sie  in  der  Verbannung  zu  geistiger  Vereinsamung  verurteilt  sei. 

Neu  hinzugekommen  sind  in  der  zweiten  Auflage  einige  Seiten  über 
Lassalles  Verhältnis  zu  Fichte,  das  früher  nur  kurz  behandelt  worden  war. 
Was  beiden  Persönlichkeiten  gemeinsam  war,  faßt  Oncken  mit  schöner  Präg- 
nanz zusammen:  „das  Unerschrockene  des  Denkens  bis  zu  Ende  —  so  viel 
originaler  auch  Fichte  darin  erscheint  — ,  die  Tätigkeit  zur  Ideenkonzentration 
und  zu  ihrer  Umsetzung  in  einen  ihr  ebenbürtigen  Willen".  Für  ein  Per- 
sönlichkeitsgefühl, wie  es  in  Lassalles  Blute  lag,  habe  es  keine  gemäßere 
Philosophie  geben  können  als  Fichtes  selbstherrlichen  Idealismus,  nichts  Höheres 
und  Lockenderes,  als  den  vermessenen  Glauben,  selbst  zur  Umsetzung  der 
Idee  in  die  nationale  Wirklichkeit  berufen  zu  sein!  Dann  aber  heißt  es: 
„Die  dogmatische  Überheblichkeit  der  sozialdemokratischen  Theorie  von  heute 
ist  ja  in  erster  Linie  in  der  materialistischen  Geschichtskonstruktion  Marxens 
begründet  —  aber  über  Lassalle  hinweg  führt  ein  Wurzelstrang  auch  in  die 
Tiefen  des  Selbstbewußtseins  dieser  idealistischen  Philosophie  zurück."  Hier 
nun  muß  ich  gestehen,  daß  ich  die  Ausführungen  des  Verf.  mir  nicht  völlig 
zu  eigen  machen  kann :  Fichtes  Einfluß  auf  Lassalle  schätze  ich  um  mehrere 
Nuancen  peripherer  ein  als  er;  auch  würde  es  mir  schwer,  irgendwo  in  der 
Theorie  unserer  heutigen  Sozialdemokratie  einen  Nachklang  Fichteschen  Geistes 
zu  entdecken.  Anders  stünde  es  mit  dem  proletarischen  Anarchismus,  dessen 
markantester  Vertreter  in  Deutschland  Gustav  Landauer  ist!  Übrigens  wird 
das  Problem  der  erworbenen  Rechte  von  Fichte  mit  einer  so  primitiven 
wissenschaftlichen  Technik  angefaßt,  daß  ich  hinsichtlich  dieses  Punkts  nicht 
viel  mehr  als  eine  Koinzidenz  der  Interessen  wahrnehmen  kann.  Die  Be- 
sprechung von  Lassalles  theoretischem  Hauptwerk,  das  diesen  Gegenstand 
behandelt,  hat  Oncken  in  seiner  zweiten  Auflage  nicht  unbeträchtlich  erweitert 
und  auch  über  die  Aufnahme,  die  es  bei  Fachleuten  gefunden  hat,  einige 
dankenswerte  Bemerkungen  hinzugefügt.  — 

Den  zweiten  der  beiden  Abschnitte,  in  welche  die  Biographie  zerfällt, 
—  auf  „die  Vorbereitung"  folgt  ,,die  Aktion"  —  eröffnen  neu  hinzugekom- 
mene oder  wenigstens  erweiterte  Betrachtungen,  die  in  dem  großen  Freskostil, 
den  Oncken  liebt  und  beherrscht,  die  Herkunft  der  demokratischen  Ideale 
skizzieren.  Vielleicht  hätte  er  uns  hier  noch  zeigen  können,  weshalb  der 
Demokratie  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  „fast  überall  in  Europa  der 
nationale  Wind  aus  den  Segeln  genommen"  wurde.  Ein  Überblick  über  die 
Herkunft  des  Liberalismus,  über  seine  Grenzen  und  über  den  besonderen 
Charakter  des  deutschen  Liberalismus  führt  zu  dem  preußischen  Verfassungs- 
konflikt hinüber,  mit  dem  Lassalles  kurze  aber  weltgeschichtlich  gewordene 
Aktion  eng  verwachsen  bleibt.  Der  Demokrat  „entdeckte  nun  wieder  den 
Sozialisten  in  sich".  Meisterhaft  ist  die  Charakteristik  Lothar  Buchers  und 
der  Beziehungen  Lassalles  zu  diesem  Manne,  „der  nur  noch  die  Dinge  sah 
und  die  Worte  verachtete".  Ungern  vermisse  ich  aber  eine  gleich  gründliche 
Würdigung  Franz  Zieglers,  dessen  Einfluß  auf  Lassalle  mir  größer  erscheint 
als  gemeinhin  angenommen  wird.  Der  von  der  Reaktion  abgesetzte  Ober- 
bürgermeister von  Brandenburg  hatte  schon  sehr  früh  die  Erwartung  ausge- 
sprochen, daß  das  allgemeine  Stimmrecht  „zur  Ausgleichung  der  sozialen 
Übelstände"  führen  könnte  und  „daß  das  Volk  politisch  reif  gemacht 
werden  müsse,  um  befähigt  zu  sein,  wenn  die  soziale  Krisis  eintritt,  sie 
reformatorisch  zu  überwinden".  Aber  noch  mehr,  Ziegler  hatte  bereits  1850 
dem  Staat  die  Pflicht  zugesprochen,  „die  Initiative  der  indu- 
striellen Reformen  zu  übernehmen,  welche  die  Arbeit  organisieren  und  vom 
Lohnverhältnis  zur  Assoziation  führen"  müsse.  Franz  Zieglers  Bio- 
graphie zu  schreiben  wäre  eine  lohnende  Aufgabe.  Er  war  ein  Einspänner, 
der  sich  nur  unter  dem  Druck  der  Verhältnisse  und  später  als  alle  seine 
engeren  Gesinnungsgenossen  der  Fortschrittspartei  anschloß,  auf  deren  Bänken 
er  besonders   deshalb   mit  Mißtrauen  betrachtet  wurde,   weil    er  zu  den  mit 


Besprechunfi:fn.  681 

der  Zeit  selten  gewordenen  alten  Demokraten  gehörte,  in  deren  Innern  noch 
ein  starkes  StaatsbewulJtsein  lebte,  das  aus  Hegel  und  preußischer  Tradition 
eigentümlich  gemischt  und  v(m  sozialem  Geist  erfüllt  war.  Hermann  Wagener 
behauptet  von  diesem  wurzelhaften,  dichterisch  begabten,  geist-  und  kenntnis- 
reichen Märker,  dali  er  mir  ,, durch  einen  politischen  Rechenfehler''  unter  die 
Demokraten  geraten  sei.  Vor  der  Revolution  wurde  sein  Umgang  wegen  seiner 
glänzenden  gesellschaftlichen  Begabung  vom  König,  vom  Adel  und  der 
hohen  Beamtenschaft,  die  sein  hervorragendes  Organisationstalent  zu  schätzen 
wußten,  sehr  gesucht,  imd  auch  er  fühlte  sich,  wie  der  andere  märkische 
Epiker  Fontaue,  zu  einem  geselligen  Verkehr  mit  diesen  Kreisen  hingezogen. 
Lassalle  mag  ihn  im  Stahrschen  Hause  kennen  gelernt  haben.  Anfänglich 
mochte  Ähnlichkeit  im  Geschmack,  in  den  Gesinnungen  und  in  den  Umgangs- 
bedürfnissen sie  einander  näher  gebracht  haben.  Die  Wahlverwandtschaft 
ihrer  Naturen  erzeugte  dann  bald  eine  innige  Freuntlschaft. 

, .Einen  aber  gebraucht  auch  der  Stärkste,  ihn  zu  verstehen,  und  Du 
fandst  in  mir  den.  der  Dich  liebt  und  begi-eift",  rief  Lassalle  dem  mehr  als 
20  Jahre  Älteren  zu,  und  dieser  klagte,  als  ihn  die  Nachricht  vom  plötzlichen 
Tode  des  Freundes  bis  in  die  tiefste  Seele  erschütterte:  .,I\Iich  hat  kein  Mensch 
so  geliebt  wie  dieser".  Ziegler  empfand  für  Lassalle  eine  Liebe,  die  sich 
nur  mit  der  jener  Väter  vergleichen  läßt,  die  das  Ziel,  das  sie  im  Hoch- 
gemut der  Jugend  vergebens  sich  gesteckt  hatten,  nun  von  ihrem  begabteren, 
stärkeren  oder  glücklicheren  Sohne  erreicht  sehen  möchten.  Deutlich  spiegelt 
sich  diese  Gesinnung  im  Schluß  eines  Sonnets,  das  er  beim  Beginn  von  dessen 
Arbeiteragitation  an  Lassalle  richtete  und  das  einen  Pokal  begleitete,  den 
er  dem  Freund  übersandte: 

,,Nimm  diesen  Kelch  und  siehst  Du,  daß  Dein  Mühen 

Vergeblich  ist  und  will  Dein  Herz  verbluten. 

Setz'  ihn  zum  letzten  Trünke  an  die  Lippe. 

Gedenke  mein  —  Statt  langsam  zu  verglühen, 

Trink  prometheisch  trotzend  Lebensgluten 

Und  wirf  mit  ihm  ins  Meer  Dich  von  der  KJippe."' 

'  Es  war  immer  bekannt,  daß  Lassalle  sich  von  Ziegler  die  Statuten  des 
Allgemeinen  Deutschen  Arbeitervereins  entwerfen  ließ.  Gerade  weil  dies 
immer  bekannt  war,  ist  es  merkwürdig,  daß  die  tieferen  Beziehungen  zwischen 
beiden  Männern  bisher  niemals  gründlicher  untersucht  worden  sind.  Einige 
aus  der  Korrespondenz  Zieglers  geschöpfte  wertvolle  Hinweise  findet  man  in 
Franz  Mehrings  .,Lessinglegende".  Ich  möchte  es  für  wahrscheinlich  halten, 
daß  Lassalle  bei  der  Aufstellung  seines  Aktionsprogramms  an  Ziegler  den 
verständnisvollsten  Berater  besaß.  Aber  auch  hernach,  als  er  dem  Gedanken 
des  sozialen  Königtums  näher  trat,  wird  er  bei  dem  alten  sozialen  Demokraten 
neben  manchem  Bedenken  auch  auf  produktives  Verständnis  gestoßen  sein! 
Natürlich  durfte  der  Biograph  nicht  vollständig  an  der  Frage  nach 
dem  Stammbaume  des  Programms,  mit  dem  Lassalle  seine  Arljeiterbewegung 
eröffnete,  vorübergehen.  Aber  Oncken  hütet  sich  glücklicherweise,  diese  Frage 
zu  überschätzen.  Er  erkennt,  daß  es  bei  dem  Politiker  nicht  darauf  ankommt, 
originale  Ideen  zu  produzieren,  sondern  einzig  darauf,  daß  er  vorgefundene 
und  leibhaft  ergriffene  Ideen  in  die  Tat  umsetzt:  ein  gewisses  selbständiges 
Leben  müsse  sogar  diesen  Ideen  schon  von  fi-üher  innewohnen,  solle  die  Tat 
ihnen  zum  Siege  verhelfen  können.  Nun  waren  wirklich  fast  alle  Punkte 
von  Lassalles  Programm  und  seiner  Begründung  in  den  Anfängen  der  deutschen 
kommunistischen  Bewegung  schon  irgendwo  aufgetaucht.  Aber  eben  diese 
Anknüpfung  an  Vorstellungen,  die  in  den  Köpfen  vereinzelter  Arbeitergruppen 
in  den  vierziger  Jahren  heimisch  gewesen  waren,  bedeutete  keine  Schwäche 
sondern  eine  Stärke.  Lassalles  Originalität  bestand  darin,  daß  er  mit  den 
ehernen  Klammern  seines  Lohngesetzes  und  seiner  zentralistischen  Organi- 
sation   dieses  Programm    zu    der  Festung   machte,    hinter    deren  Mauern   die 


682  Besprechungen. 


ersten  Vorkämpfer  einer  selbständigen  deutschen  Arbeiterpartei  sich  zu 
sammeln  vermochten. 

Über  ein  Kapitel,  das  die  Gründung  des  Allgemeinen  Deutschen  Arbeiter- 
vereins schildert,  jedoch  den  Widerstand  der  Mehrheit  der  bereits  bestehenden 
lokalen  Arbeitervereine,  besonders  den  Umstand,  daß  Sonnemann  den  Verband 
deutscher  Arbeitervereine  direkt  als  eine  Gregengründung  gegen  Lassalles 
Gründung  ins  Leben  rief,  nicht  scharf  genug  heraushebt  (vgl.  meine  Dar- 
stellung in  der  Geschichte  der  Frankfurter  Zeitung  S.  75  ff.),  gelangt  Oncken 
zu  dem  meisterhaften  Abschnitt  über  ,,Bismarck  und  Lassalle'',  der  einen 
der  Höhepunkte  seines  Werkes  bildet.  Neu  hinzugekommen  ist  hier  die  Er- 
örterung, ob  vielleicht  Anregungen,  die  von  Schw^eitzer  stammten,  auf  Lassalles 
Annäherung  an  Bismarck  miteingewirkt  haben  könnten.  Oncken  gelangt 
hierbei  zu  dem  Ergebnis,  daß  zwar  auf  (xrund  des  bisher  vorliegenden  Materials 
eine  endgültige  Antwort  auf  diese  Frage  noch  nicht  möglich  sei.  daß  sich 
aber  Lassalles  ,, taktische  Wendung"  auch  unmittelbar  aus  der  allgemeinen 
Ijolitischen  vind  aus  seiner  persönlichen  Lage  erkläre.  Dies  ist  ebenso  voll- 
ständig richtig  wie  Onckens  Feststellung,  daß  Lassalle  dort,  wo  er  die 
Üktroyierung  des  allgemeinen  Stimmrechts  empfahl,  stets  Preußen  im  Auge 
hatte,  während  Bismarck  bereits  gleichzeitig  erwog,  ob  er  diese  revolutionäre 
Maßregel   nicht   besser  noch   für  die  Lösung  der  deutschen  Frage  aufsparte. 

Eine  tiefer  eingreifende  Umarbeitung  erfuhr  das  folgende  Kapitel,  das 
jetzt  überschrieben  ist:  „Fortbildung  der  nationalökonomischen  Theorie  in 
der  Polemik",  Die  politischen  und  menschlichen  Beziehungen  zwischen  Marx 
und  Lassalle  hatte  der  Verf.  schon  an  früheren  Stellen  des  Buches  geprüft. 
Hier  faßt  er  ihr  intellektuelles  Verhältnis  im  Zusammenhang  ins  Auge  und 
sucht  nach  der  Grenze,  an  der  Lassalles  geistige  Abhängigkeit  von  Marx 
aufhört.  Übernommen  habe  Lassalle  von  jenem  die  Bedingtheit  der  sozialen 
durch  die  Produktionsverhältnisse,  die  Auffassung  der  Geschichte  als  eines 
Kampfes  zwischen  einer  herrschenden  und  einer  unterdrückten  Schicht, 
schließlich  den  Ausblick  auf  eine  künftige  Aufhebung  dieses  Kampfes 
durch  den  Herrschaftsantritt  des  Proletariats.  Aber  weder  seine  idealistische 
Grundstimmung  noch  seinen  organischen  Staatsbegriff  habe  er  dessen  ma- 
terialistischer Auslegung  der  Geschichte  geopfert.  Wo  Marx  in  dem  großen 
welthistorischen  Klassenkamjjf  die  staatlichen  Sonderbildungen  als  neben- 
sächliche Momente  untergehen  lasse,  berücksichtigte  er  die  Realität  des  staat- 
lichen Moments  und  halte  den  Staat  innerhalb  der  dem  fi-eien  Willen  ver- 
schlossenen allumfassenden  ökonomischen  Sphäre  für  die  Sphäre  der  Freiheit 
und  des  politischen  Handelns.  Oncken  möchte  es  dem  ,, tiefen  Einfluß  des 
Rodbertus"  zuschreiben,  daß  Lassalle  für  das  organische  Leben  einer  Staats- 
wirtschaft Verständnis  und  die  Erkenntnis  gewann,  daß  die  „ethischen  Auf- 
gaben der  Hegeischen  Staatsidee"  in  der  sozialen  Sphäre  ikre  eigentliche  Domäne 
hätten.  Eine  ,, nackte  Gegenüberstellung"  der  beiden  Gründer  der  deutschen 
Sozialdemokratie  hält  er  mit  Recht  für  unzweckmäßig  und  insbesondere 
lehnt  er  es  ab,  ihr  historisches  Verhältnis  von  ihrer  fachwissenschaftlichen 
Beziehung  al)hängig  zu  machen.  Er  findet,  daß  Lassalle  gerade  dm-ch  sein 
stärkeres  Gebundensein  an  die  geschichtlichen  Gegelienheiten  doch  wieder 
auch  ,,zu  tieferer  Einsicht  in  die  Bedürfnisse  seiner  Zeit  und  seines  Volkes 
und  damit  zu  stärkeren  Wirkungen  in  der  Zukunft  berufen"  sei.  Wo  Oncken 
in  dieser  Weise  zwischen  Marx  und  Lassalle  abwägt,  wird  man  ihm  in  allen 
wesentlichen  Punkten  beipflichten  können.  Mit  vollem  Recht  legt  er  einen 
entscheidenden  Nachdruck  auf  die  verschiedene  Stellungnahme  beider  zum 
Staatsproblem.  Den  Einfluß  von  Rodbertus  auf  Lassalles  grundfassende  An- 
sicht von  den  Aufgaben  des  Staats,  nicht  auf  deren  konkrete  Ausgestaltung, 
schätze  ich  freilich  niedriger  ein  als  er.  Eine  Wendung  der  Hegeischen 
Staatsidee  ins  Demokratische  hatte  sich  schon  bei  den  .Tunghegelianeru  voll- 
zogen, und  die  sozialen  Pflichten  des  Staats  waren  ebenfalls  von  ihnen  er- 
örtert worden.     Die  preußisch-realistische  Ausgestaltung  eines  solchen  Ideals 


Besprechungen.  683 


mochte  Lassalle  wie  in  den  Briefen  aus  Jagetzow  —  freilich  andere  orientiert 
—  auch  in  den  Gesprächen  mit  IVanz  Ziegler  entgegentreten,  der  als 
fanatischer  Zentralist  und  Staatsdemokrat  auch  ein  Hasser  des  Manchester- 
tums  war  und  die  Macht  und  Ki-aft  des  Staats,  so  übel  der  eigene  ihm  mit- 
gespielt hatte,  immer  als  eine  Herzenssache  ))etrachtete. 

Auf  die  von  Lassalle  auf  die  deutsche  Sozialwissenschaft  aus- 
gegangenen Einwirkungen  weisen  einige  von  Oncken  neu  hinzugefügte  Be- 
merkungen hin.  Mit  Kecht  sieht  er  in  Lassalle  die  vielleicht  stärkste  unter 
den  persönlichen  Kräften,  welche  die  Gedankenwelt  des  Kathedersozialismus 
in  Bewegung  gesetzt  haben.  Zu  weit  geht  er  wohl,  wenn  er  Friedrich  Albert 
Lange  zu  den  Publizisten  rechnet,  denen  erst  durch  Lassalles  Auftreten  das 
Verständnis  für  die  Bedeutung  des  sozialen  Problems  aufging.  Lange  hatte 
die  ungeheure  Wichtigkeit  dieser  Frage  bereits  ergriffen,  als  er  durch  Lassalles 
Schriften  starke  Anregungen  erhielt.  Für  sein  N'erhältnis  zu  dem  Agitator 
wäre  übrigens  außer  seinem  von  Lassalle  und  Oncken  zitierten  Aufsatz  in 
der  Süddeutschen  Zeitung  vom  25.  September  1863  auch  sein  an  der  gleichen 
Stelle  veröffentlichter  Beitrag  „Veränderungen"  vom  3.  Mai  des  gleichen  Jahres 
heranzuziehen. 

„Die  neue  Taktik"  überschreibt  Oncken  das  Kapitel,  das  in  einer  Weise, 
der  ich  überall  zustimme,  die  letzte  Phase  von  Lassalles  politischer  Wirksamkeit 
mit  feiner  Psychologie  charakterisiert.  Nach  den  vielen  großen  Worten  mußte 
auf  ihn  der  Eintritt  in  die  praktische  Kleinarbeit  der  Agitation,  zumal  er 
als  Organisator  keineswegs  befähigt  war  (nicht  entfernt  wie  Schweitzer  und 
Bebel).  „wie  ein  eisiges  Bad  auf  einen  Fi eb erglühenden  gewirkt  haben". 
Überdies  fehlte  ihm  die  praktische  Fühlung  mit  der  sozialen  Lage  der  Arbeiter: 
,,er  lebte  nicht  mit  ihnen,  sondern  dachte  nur  für  sie".  Die  Langsamkeit, 
mit  der  sich  der  Erfolg  einstellte,  brachte  ihn  zur  Verzweiflung.  Der  Brief 
vom  12.  Februar,  der  diesem  Gefühl  Ausdruck  gibt  und  dessen  Adi-essaten 
Oncken  nicht  festzustellen  vermochte,  ist  an  Gustav  Lewy  gerichtet  und  vor 
langen  Jahren  von  Schmidt-Weißenfels  in  der  Gartenlaube  abgedruckt  worden. 
Die  oberflächliche  Auffassung,  die  neuerdings  wieder  aufgetaucht  ist,  als  ob 
der  Revolutionär  Lassalle  in  seinen  letzten  Monaten  plötzlich  ein  überzeugter 
Monarchist  geworden  wäre,  findet  in  Onckens  Augen  keine  Gunst.  Scharf- 
sichtig durchleuchtet  er  den  komplizierten  Zusammenhang  (S.  461):  „Der 
Lassalle  von  1864,  der  mit  Leidenschaft  das  Banner  des  sozialen  Königtums 
ergreifen  will,  hat  übeiTaschende  Ähnlichkeit  mit  dem  Lassalle  von  1859, 
der  der  Herold  einer  nationale  und  demokratische  Eroberungspolitik  treiben- 
den preußischen  Monarchie  sein  wollte."  Das  Königtum,  das  er  beidemale 
haben  wollte,  war  weder  1859  noch  1864  vorhanden:  „er  suchte  es  zu  locken- 
den Zielen  auf  neue  Wege  zu  drängen,  auf  denen  er  sich  selbst  und  seine 
Ideen  mit  in  die  Höhe  bringen  wollte;  versagte  die  Macht  sich,  so  schlugen 
Dialektik  und  Taktik  ohne  Mühe  wieder  um."  So  verhielt  es  sich  und 
nicht  anders. 

Vielleicht  wird  über  die  „beginnende  Minierarbeit  der  Marxisten"  gegen 
die  halsbrecherische  Taktik  Lassalles  in  seiner  letzten  Zeit  der  Briefwechsel 
zwischen  Marx  und  Engels  einiges  neue  Licht  verbreiten.  Keinem  Zweifel 
unterliegt,  daß  Liebknecht  und  Vahlteich  die  treibenden  Kräfte  der  Oppo- 
sition waren.  Nach  Oncken  hätten  „Mißhelligkeiten  über  finanzielle  Ver- 
pflichtungen, die  Marx  Lassalle  gegenüber  eingegangen  \var",  die  Spannung 
zwischen  ihnen  verschärft.  Er  beruft  sich  hierfür  auf  einen  Brief  Ludmilla 
Assings  an  Lassalle  vom  21.  April  1864,  dessen  Original  sich  auf  der  Berliner 
Königl.  Bibliothek  befindet,  und  kombiniert  damit  eine  gelegentliche  Mit- 
teilung Bernsteins,  wonach  Engels  den  letzten  Brief  Lassalles  an  Marx,  den 
er  ihm  noch  gezeigt  hatte,  später  vernichtet  hätte.  Man  muß  erwarten,  daß  von 
den  sozialdemokratischen  Parteihistorikern  an  der  Hand  des  Materials,  das 
ihnen  vorliegt  oder  vorlag,  diese  Frage  aufgehellt  wird.  Ein  ausgesprochener 
schroffer    persönlicher    Bruch    hat    wohl    trotz     aller    sachlichen    Divergenz 


684  Bes2ii'echungen. 


zwischen  Marx  und  Lassalle  niemals  stattgefunden;  denn  wie  an  Bismarck 
übersandte  Lassalle  bis  an  sein  Lebensende  auch  an  Marx  Exemplare  seiner 
Publikationen. 

Das  Schlußkapitel  des  Buches  hat  sich  gegen  die  erste  Auflage  kaum 
verändert.  Hinzugekommen  ist  die  Stelle,  an  der  die  Überzeugnang  aus- 
gedrückt wird,  daß  die  deutsche  Sozialdemokratie  noch  einmal  den  Weg 
zurück  zu  Lassalle  finden  werde,  zwar  nicht  zu  seinem  Programm  von  1863  64, 
aber  zu  seiner  Auffassung  von  Staat  und  Nation  und  zu  seiner  realpolitischen 
Schätzung  des  Möglichen.  Zu  einer  solchen  Wiederanknüpfung  zwingen 
werde  sie  die  für  sie  wachsende  Notwendigkeit,  den  nationalen  Boden  zurück- 
zugewinnen, den  sie  unter  dem  Einfluß  von  Marx  und  seinen  Jüngern  und 
unter  der  Nachwirkung  harter  Verfolgungen  verloren  habe.  Er  glaubt,  daß 
sie  ohne  eine  rückhaltlose  Wiedergewinnung  dieses  Bodens  niemals  werde  daran 
denken  können,  ,,ihre  Kraft  in  Macht  umzusetzten''.  Dem  Biogi-aphen  Lassalles 
steht  ein  solcher  Gedankengang,  der  sich  mit  dem  von  Bernhard  Harms  zwar 
berührt  aber  nicht  deckt,  wohl  an.  Eine  kritische  Auseinandersetzimg  mit 
ihm  hätte  an  die  Interpretation  der  Ausdrücke  ,, nationaler  Boden''  und 
., rückhaltslos"  anzuknüpfen.  Die  Epoche  großer  internationaler  Verschie- 
bungen, in  die  Europa  von  neuem  eingetreten  ist,  muß  der  Sozialdemokratie 
die  UnVollständigkeit  einer  nur  auf  Klassen  kämjif e  basierten  Geschichts- 
auffassung ad  oculos  demonstrieren.  Aber  auf  der  anderen  Seite  ist  eben- 
falls nicht  zu  übersehen,  daß  die  inneren  und  auswärtigen  Lebensäußerungen 
der  Staaten  sich  gegenseitig  durchdringen  und  daß  am  wenigsten  in  einem 
modernen  Industriestaat  die  innere  Politik  eine  bloße  Funktion  des  auswärtigen 
sein  kann.  Für  die  deutsche  Arbeiterpartei  kann  Lassalles  Staatsauffassung 
erst  dann  zum  ,,Dio''  werden,  wenn  Preußen -Deutschland  sich  eine  gute 
Strecke  weiter  als  bis  jetzt  dem  Staatsideal  angenähert  haben  werden,  das 
Lassalle  und  Lothar  Bucher  vorschwebte,  als  sie  ihrem  Meinungsaustausch 
Mazzinis:  „Dio  e  Popolo"  zugrunde  legten! 

Der  deutschen  Geschichtsforschung  wünschen  wir  noch  viele  so  groß- 
zügige und  gedankenreiche  Politiker-Biographieen  wie  Onckens  Lassalle. 

Gustav  Mayer. 


Viktor  Reven,  Die  Fremdenlegion.    Stuttgart  1911.    Robert  Lutz.    112  S. 

Die  Fremdenlegion  wurde  errichtet  im  Jahre  1831.  unmittelbar  nach 
der  Erobenxng  von  Algier,  zur  Verteidigung  der  französischen  Kolonie  in 
Afrika.  Zuerst  wurde  nur  ein  Regiment  gebildet,  das  aus  sieben  Bataillonen 
bestand.  In  die  drei  ersten  Bataillone  nahm  man  Deutsche  und  Schweizer, 
in  das  vierte  Spanier,  in  die  drei  übrigen,  jedoch  getrennt,  Italiener,  Belgier 
und  Polen  auf.  Dieses  System  wurde  später  verlassen,  da  sich  natio- 
nale Gegensätze  unter  den  einzelnen  Abteilimgen  geltend  machten,  zumal 
das  verschmelzende  Element  der  Nationalfi-anzosen  in  denselben  fehlte. 

.Jetzt  besteht  die  zwei  Regimenter  umfassende  Fremdenlegion  nach 
französischen  Angaben  nur  mehr  aus  50  "/q  Ausländern,  darunter  etwa  55  7o 
Elsässer,  die  sich  dem  deutschen  Heeresdienst  entzogen,  20 — 25  7o  Deutsche, 
10  °/'o  Schweizer  und  etwa  10 — 15  7o  Leute  anderer  Nationalität;  selten  trifft 
man  Russen,  fast  gar  nicht  Engländer,  niemals  Amerikaner.  Aufgenommen 
werden  alle  tauglichen  männlichen  Personen  vom  18.— 45,  Lebensjahre,  ohne 
daß  freilich  diese  Grenze  immer  festgehalten  wird. 

Schon  wiederholt  haben  Erzählungen  über  die  nicht  bloß  schlechte, 
sondern  geradezu  rohe  Behandlung,  der  die  Legionäre  ausgesetzt  sind,  die 
Aufmerksamkeit  der  gebildeten  Welt,  namentlich  in  Deutschland  auf  sich 
gezogen. 

Im  Februar  1911  wurde  die  Fremdenlegion  auch  im  Deutschen  Reichs- 
tage vom  Abg.  Erzberger  zur  Sprache  gebracht.    Erzberger  wies  darauf  hin, 


Besprechungen.  685 


daß  diese  Einrichtung  in  ihrer  Eigentümlichkeit  den  deutschen  Soldaten 
vor  Augen  gefülirt  werden  sollte,  um  den  Zuzug  nach  Algier  zu  verhindern, 
und  bemerkte,  daß  sich  auch  die  französische  Nation  überlegen  solle,  ob  sie 
eine  solche  Institution,  die  einer  Kulturnation  nicht  würdig  ist,  noch  länger 
beibehalten  wolle.  Anknüpfend  an  diese  Ausführungen  erklärte  der  Kriegs- 
minister V.  Heeriugeu,  daß  er  ebenfalls  möglichste  Aufklärung  über  die 
Fremdenlegion  wünsche,  daß  aber  in  dieser  Beziehung  vor  allem  die  Presse 
ihre  Schuldigkeit  tun  müsse,  leider  werde  aber  von  einem  Teile  der  Presse 
die  Fremdenlegion  geradezu  verherrlicht. 

Diese  gewiß  unverfängliche  Erklänmg  des  preußischen  Kriegsmiuisters 
rief  in  der  französischen  Presse  einen  Sturm  der  Entrüstung  hervor.  Man 
sprach  von  einer  Beleidigung  der  französischen  Armee,  betonte,  daß  Frank- 
reich allein  den  Oberbefehl  über  seine  Armee  ausübe,  und  daß  jede,  wenn 
auch  noch  so  diplomatische  Einmischung  in  die  freie  Ausübung  dieses  Rechts 
als  durchaus  ungerechtfertigt  angesehen  werden  müsse  usw.  ^lit  Recht  wurden 
diese  Ausbrüche  eines  nervösen  nationalen  Gefühls  von  der  deutschen  Presse, 
namentlich  der  Nordd.  Allg.  Ztg.  und  der  Köln.  Ztg.,  entschieden  zurück- 
gewiesen. Die  Köln.  Ztg.  hob  dabei  als  besonders  empörend  hervor,  daß 
Minderjährige  ohne  weiteres  in  die  Fremdenlegion  eingestellt  und  trotz  aller 
Bitten  der  unglücklichen  Angehörigen  dieser  betörten  jungen  Leute  nicht 
wieder  losgelassen  werden,  und  unterließ  nicht  darauf  hinzuweisen,  daß  eine 
Nation,  die  so  sehr  wie  die  französische  den  „Ruhm  der  Ritterlichkeit"  be- 
anspruche, sich  der  Einsicht  nicht  verschließen  solle,  daß  dieses  Verfahren 
den  Grundsätzen  der  Gerechtigkeit  und  Billigkeit,  ja  den  einfachsten  For- 
derungen der  Menschlichkeit  nicht  entspreche. 

Es  ist  vorauszusehen,  daß  die  Verhältnisse  der  Fremdenlegion  noch 
öfter  Gegenstand  von  Erörterungen  werden,  zumal  der  Staatssekretär  des 
Auswärtigen  Amtes  in  der  Budgetkommission  des  Reichstags  erklärte,  die 
französische  Regierung  habe  zugesagt,  in  Zukunft  jeden  einzelnen  Fall,  der 
zur  Sprache  gebracht  werde,  zu  prüfen  und  der  Reklamation  Folge  zu  geben, 
wenn  besondere  Gründe  vorlägen. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  zu  begrüßen,  daß  in  der  jüngsten  Zeit 
in  Deutschland  zwei  Schriften  erschienen  sind,  die  sich  eingehender  mit  der 
Fremdenlegion  beschäftigen:  Erwin  Rosen,  „In  der  Fremdenlegion!  Er- 
inneiTingen  und  Eindrücke",  eine  Schrift,  die  die  Verhältnisse  in  der  Fremden- 
legion auf  Grund  eigener  Erlebnisse  in  packender,  die  Entrüstung  des  Lesers 
hervorrufender  Weise  schildert,  dann  die  hier  zu  besprechende  Schrift  von 
Eeven,  die  die  Institution  der  Fremdenlegion  und  die  in  derselben  herrschen- 
den Zustände  unter  sozialen,  völkerrechtlichen  und  weltpolitischen  Gesichts- 
punkten zu  behandeln  versucht. 

Die  Fremdenlegion  ist  eine  Söldnertruppe,  deren  Angehörige  dem  fi-an- 
zösischen  Staate  ihre  Dienste  nicht  auf  Grund  gesetzlicher  Verpflichtung, 
sondern  eines  Werbevertrages  leisten.  Daß,  wie  Reven  hervorhebt,  eine 
solche  Truppe  im  Widerspruch  steht  mit  dem  auch  in  Frankreich  zur  Geltung 
gelangten  Prinzip  der  allgemeinen  Wehrpflicht,  nach  welchem  jeder  Staats- 
angehörige, aber  auch  nur  der  Staatsangehörige,  für  nationale  Zwecke,  also 
auch  für  die  Erwerbung  und  Verteidigung  von  Kolonien  herangezogen  werden 
kann,  ist  ohne  weiteres  klar;  als  unzulässig  kann  aber  die  Errichtung  einer 
solchen  Truppe  im  Allgemeinen  nicht  bezeichnet  werden.  Jeder  Staat  kann  nach 
seinem  Ermessen  sein  stehendes  Heer  auf  der  gesetzlichen  Wehrpflicht  aufbauen, 
wie  dies  die  meisten  zivilisierten  Staaten  tun,  oder  wie  England  noch  an  dem 
alten  System  der  Werbung  festhalten.  Auch  dagegen  läßt  sich  grundsätzlich 
nichts  einwenden,  daß  für  eine  solche  Truppe  nicht  bloß  Staatsangehörige, 
sondern  auch  Fremde  angeworben  werden.  Kolonialstaaten  mit  verhältnis- 
mäßig geringer  Bevölkerung,  wie  Holland  und  Belgien,  sind  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  gezwungen,  für  ihre  Kolonialtruppen  auch  fremde  Staats- 
angehörige anzuwerben.     Endlich  liegt  es  auch  in  der  Natur  der  Sache,  daß 


686  Besprechungen. 


Kolonialtruppen,  wie  die  Fremdenlegion,  nicht  bloß  zu  militärischen  Dienst- 
leistungen, sondern  auch  zu  wirtschaftlichen  Arbeiten  im  Interesse  der  Er- 
schließung der  Kolonien  herangezogen  werden,  wie  schon  Rom  seine  Legionäre 
zur  Kultivierung  eroberter  Provinzen  verwendete. 

An  die  Tatsache,  daß  die  Fremdenlegion  in  großem  Umfange  von  jeher 
zu  wirtschaftlichen  Arbeiten  in  den  Kolonien  herangezogen  wurde  und  daß 
ihr  Frankreich  die  Erwerbung  seines  jetzigen  umfangreichen  Kolonialbesitses 
nicht  bloß  vom  militärischen  Standjjunkte  aus  sehr  wesentlich  zu  danken  hat, 
knüpft  zunächst  Reven  mit  seiner  Kritik  der  Fremdenlegion  an,  indem  er 
das  Verhältnis  der  Legionäre  zum  französischen  Staate  vom  Standjaunkte  des 
Arbeitsvertrags  beurteilt,  zumal  ja  auch  die  militärischen  Leistungen  der  Legion 
für  die  Kolonialpolitik  auch  ihre  gi'oße  wirtschaftliche  Bedeutung  haben  (S.26ff.). 
Er  hebt  in  dieser  Beziehung  hervor,  daß  die  Wenigsten,  die  sich  als  Legionäre 
anwerben  lassen,  sich  darüber  klar  sind,  welche  Leistungen  sie  zu  machen 
haben,  und  daß  die  Legionäre  vor  allem  Arbeiter  und  dann  erst  Soldaten 
oder  daß  sie  doch  mindestens  zum  gleichen  Teile  das  eine  wie  das  andere  sind. 

In  sehr  drastischer  Weise  schildert  sodann  Reven  (S.  39  ff.)  wie  schwer  der 
Dienst  der  Legionäre  ist,  wie  sehr  sie  roher  Behandlung  seitens  ihrer  Vor- 
gesetzten und  außerdem  den  schwersten,  geradezu  brutalen,  die  Dienstzeit  ver- 
längernden Strafen  ausgesetzt  sind  und  wie  gering  die  Gegenleistung  des  franzö- 
sischen Staates  für  das  ist,  was  die  Legionäre  zu  leisten  und  zu  erdulden  haben. 

Wenn  auch  die  Verpflegung  im  allgemeinen  ausreichend  sein  mag,  so 
ist  doch  die  Löhnung  (5  Centimes  täglich)  lächerlich  gering,  von  einer  einiger- 
maßen ausreichenden  ärztlichen  Fürsorge  für  die  Legionäre  ist  keine  Rede, 
Aussicht  auf  Beförderung  ist  so  gut  wie  nicht  vorhanden,  ebensowenig  sorgt 
der  Staat  für  die  Zukunft  der  Legionäre  nach  Ableistung  ihrer  Dienstzeit  in 
einer  irgendwie  ins  Gewicht  fallenden  Weise.  Erst  nach  15 jähriger  Dienstzeit 
erhält  der  Legionär  eine  Pension  von  500  Francs;  hat  der  Legionär  das  Glück 
gehabt,  sich  das  mit  einer  jährlichen  Pension  von  500  Francs  verbundene 
Kreuz  der  Ehrenlegion  zu  erwerben,  so  kann  er  nach  löjähriger  Dienstzeit 
in  den  Genuß  einer  Pension  von  1000  Francs  kommen.  Es  ist  dies  aber, 
wie  Reven  S.  45  hervorhebt,  ein  Fall,  der  ebenso  häufig  vorkommt  wie  der 
Gewinn  des  großen  Loses  in  der  Lotterie.  Überhaupt  kommt  es  äußerst 
selten  vor,  daß  ein  Legionär  die  Zeit  der  Pensionsberechtigung  erlebt. 

Im  Anschlüsse  an  diese  Darlegrmgen  führt  Reven  S.  71  ff.  aus,  daß  in 
der  Aufrechthaltung  der  Institution  der  Fremdenlegion  eine  Verletzung  des 
Völkerrechts  sowohl  wie  des  französischen  Rechts  selbst  liege.  Er  geht  von 
dem  zweifellosen  Satze  aus,  daß  auch  jeder  Fremde,  der  sich  in  einem  der 
Völkerrechtsgemeinschaft  angehörigen  Staate  aufhält,  dem  Rechte  des  Auf- 
enthaltsstaates in  zivilrechtlicher  und  strafrechtlicher  Hinsicht  unterworfen 
ist,  daß  er  aber,  wie  er  keine  politischen  Rechte  genießt,  auch  nicht  zur  Er- 
füllung politischer  Pflichten  herangezogen  werden  kann,  also  namentlich  auch 
nicht  zur  Leistung  von  Heeresdienst.  Allerdings  stehe  nichts  im  Wege,  daß 
jemand  freiwillig  in  ein  fremdes  Heer  eintritt;  wenn  sich  aber  der  fireiwillig  Ein- 
tretende durch  diesen  Eintritt  in  das  fremde  Heer  dem  Heeresdienst  seines 
Heimatstaates  entzieht  und  wenn  der  fi-emde  Staat  ausdrücklich  darauf  absehe, 
Angehörige  eines  anderen  Staates  dazu  zu  veranlassen,  die  Pflichten  gegen 
den  Heimatstaat  in  so  auffälliger  Weise  zu  verletzen,  so  handle  er  zweifellos 
im  Widerspruch  mit  dem  Geiste  des  Völkerrechts,  da  er  eines  der  wichtigsten 
Souveränitätsrechte  des  Staates  der  betreffenden  Freiwilligen,  nämlich  des 
Rechts  über  die  Wehrkraft  seiner  Angehörigen  zu  verfügen,  verletze.  Man 
könne  es  daher  als  eine  Verletzung  des  Völkerrechts  bezeichnen,  wenn  der 
französische  Staat  an  der  deutschen  Grenze  und  sogar  in  Deutschland  selbst 
seine  Werber  für  die  Fremdenlegion  sitzen  hat,  und  wenn  französische  Be- 
amte mehr  oder  minder  verschleiert  einen  bestimmten  Kreis  der  der  deutschen 
Souveränität  Unterworfenen,  nämlich  die  Elsaß-Lothringer  ausdrücklich  auf- 
muntern, in  französischen  Heeresdienst  zu  treten. 


Besprechungen.  687 


Viel  bedenklielier  sei  natürlich  die  Sache,  wenn  der  Angehörige  eines 
Staates  ausdrücklich  gezwungen  wird,  fremden  Heeresdienst  zu  leisten.  Aus- 
gehend von  der  Auffassung,  dab  durch  privat-rechtliche  Verträge  weder 
staatsbürgerliche  Rechte,  noch  staatsljürgerliche  Verpflichtungen  begründet 
werden  können,  nimmt  Reven  einen  solchen  Zwang  auch  bei  denjenigen 
an,  die  freiwillig  in  ein  fremdes  Heer  eingetreten  sind,  demselben  aber  nicht 
mehr  länger  angehören  wollen  und  trotzdem  wider  ihren  Willen  im  Dienste 
zurückgehalten  werden. 

Reven  sagt  daher  S.  7  f.,  der  Legionär  könne  nicht  auf  Grund  einer 
öffentlichen  Pflicht  zum  Weiterdienen  angehalten  werden,  abgesehen  von  dem 
Falle,  daß  er  vor  dem  Feind  den  Dienst  nicht  verweigern  kann,  er  könne  nur  auf 
Grund  seines  Privatvertrages  nocih  angehalten  werden,  die  rein  wirtschaftliche 
Seite  seiner  Verpflichtung  zu  leisten,  aber  auch  nicht  in  der  Weise,  dab  er 
in  ein  Arbeitsbataillon  gesteckt  wird,  da  er  ja  auch  hier  noch  militärischer 
Disziplin  und  Rechtsprechung  unterliege.  Werde  ein  entflohener  Legionär 
wieder  eingefangen  und  neuerdings  in  die  Legion  gesteckt,  so  liege  zweifellos 
eine  Verletzung  des  Grundsatzes  vor,  daß  kein  Angehöriger  eines  Staates  in 
einem  fi'emden  Staate  zum  Heeresdienste  gezwungen  werden  könne. 

Diese  Ausführungen  können  nicht  in  jeder  Hinsicht  als  zutreffend  be- 
zeichnet werden. 

Die  Zugehörigkeit  zur  Fremdenlegion  beruht  allerdings  auf  einem  Ver- 
trage, einem  Werbevertrage,  durch  welchen  sich  der  den  Vertrag  Abschließende 
verpflichtet,  dem  betreffenden  Staate  während  einer  bestimmten  Zeit  militä- 
rische Dienste  zu  leisten,  und  durch  welchen  er  sich,  weil  er  Angehöriger 
der  bewaffneten  Macht  des  Werbestaats  wird,  der  militärischen  Disziplin  und 
Gerichtsbarkeit  und  den  sonstigen  auf  die  bewaffnete  Macht  bezüglichen  Vor- 
schriften des  Werbestaats  unterwirft.  Daß  derartige  Verträge,  auch  wenn 
sie  von  Fremden  abgeschlossen  werden,  an  und  für  sich  zulässig  sind,  unter- 
liegt keinem  Zweifel;  wie  jemand  freiwillig  in  den  Zivildienst  eines  fremden 
Staates  treten  kann,  so  kann  er  auch  in  den  Militärdienst  eines  fremden 
Staates  fi-eiwillig  eintreten,  wobei  es  zunächst  gleichgültig  ist,  ob  er  durch 
diesen  Eintritt  in  fi-emde  Zivil-  oder  Militärdienste  die  fremde  Staatsange- 
hörigkeit erwirbt  und  seine  bisherige  verliert  oder  ob  eine  Änderung  in  der 
Staatsangehörigkeit  nicht  eintritt.  Ebenso  ist  es  an  und  für  sich  nicht  von 
entscheidender  Bedeutung,  ob  man  derartige  Verträge  als  privatrechtliche 
oder  öffentlich-rechtliche  Verträge  betrachtet.  Jedenfalls  geht  der  Werbe- 
vertrag auf  Leistung  öffentlicher  Dienste,  namentlich  militärischer  Dienste, 
wobei  es  nicht  ins  Gewicht  fällt,  daß  die  Legionäre  noch  allerlei  Arbeiten  im 
Interesse  der  kolonialen  Entwickelung  machen  müssen.  Es  geht  daher  nicht  an, 
den  von  den  Legionären  abgeschlossenen  Werbevertrag  vorwiegend  vom  Stand- 
punkte des  Arbeitsrechts  zu  beurteilen,  das  Entscheidende  liegt  bei  diesem 
Vertrage  immer  im  Eintritt  in  die  bewaffnete  Macht  des  fremden  Staates, 
weshalb  es  auch  nahe  liegt,  solche  Verträge  als  öffentlich-rechtliche  ^'erträge 
zu  behandeln.  Jedenfalls  müssen  solche  Verträge,  um  gültig  zu  sein,  den 
allgemeinen  für  die  Gültigkeit  von  Verträgen  maßgebenden  Gnmdsätzen  ent- 
sprechen. 

Das  erste  Erfordernis  für  die  Gültigkeit  von  Verträgen  ist  aber,  daß 
die  den  Vertrag  schließenden  Personen  handlungsfähig  und  namentlich  fähig 
sind,  gerade  den  betreffenden  Vertrag  abzuschließen. 

In  dieser  Beziehung  besteht  nun  bei  der  Fremdenlegion  der  große 
Unfug,  der  nicht  scharf  genug  gerügt  werden  kann,  daß  nämlich  Minder- 
jährige ohne  weiteres,  d.  h.  ohne  Zustimmung  ihrer  Gewalthaber  (Eltern  oder 
Vormünder)  angenommen  werden.  Daß  solche  Werbeverträge  nichtig  bzw. 
anfechtbar  sind,  ist  zweifellos;  auch  nach  französischem  Rechte  kann  nur 
der  emanzipierte  Minderjährige  selbständig  einen  Militärdienstvertrag  ab- 
schließen. Die  Altersgrenze  von  18  Jahren  ist  in  dieser  Beziehung  von  keiner 
Bedeutung. 


688  Besprechungen. 


Ein  weiteres  Erfordernis  füi-  die  Gültigkeit  eines  Vertrags  ist.  daß  die 
Willensfreiheit  der  Vertragschließenden  nicht  durch  Täuschung  oder  Irrtum 
über  den  Inhalt  des  Vertrags  ausgeschlossen  ist.  Auch  von  diesem  Stand- 
punkte aus  sind  sicherlich  sehr  viele  Werbeverträge  der  Fremdenlegion  an- 
fechtbar, wenn  auch  im  einzelnen  Falle  oft  schwer  nachweisbar  sein  mag, 
inwiefern  ein  Irrtum  oder  eine  von  den  Werbern  hervorgerufene  Täuschung 
über  das  abgeschlossene  Rechtsgeschäft  bei  dem  Angeworbenen  vorlag. 

Daß  das,  was  der  französische  Staat  den  Legionären,  die  ja  ihre  Gesund- 
heit und  ihr  Leben  ihm  zu  opfern  verpflichtet  sind,  als  Gegenleistung  gewährt, 
durchaus  ungenügend  und  einer  zivilisierten  Nation  geradezu  uuwüi-dig  ist, 
kann  nicht  bezweifelt  w^erden.  Eine  Anfechtung  der  Werbeverträge  von 
diesem  Gesichtspunkte  allein  ist  aber  ausgeschlossen,  da  sich  die  Legionäre 
durch  Abschluß  des  Werbevertrags  stillschweigend  mit  den  Leistungen  ein- 
verstanden   erklärt   haben,    die    ihnen   der  französische  Staat  gewähren  wird. 

Diejenigen,  die  sich  für  die  Fremdenlegion  anwerben  lassen,  verpflichten 
sich  zu  einer  fünfjährigen  Dienstzeit.  Vor  Ablauf  seiner  Dienstzeit  kann  der 
Legionär  freiwillig  nicht  aus  dem  Dienste  ausscheiden.  Er  kann  nicht  bloß 
in  dem  Falle,  daß  er  vor  dem  Feinde  seine  Truppe  verläßt,  als  Deserteur 
behandelt  werden,  denn  durch  Abschluß  des  Werbevertrags  hat  er  sich  den 
Militärgesetzen  des  fremden  Staates  unterworfen,  die  jedes  fi-eiwillige  Ver- 
lassen der  Truppe  als  Desertion  behandelt.  Daraus  folgt,  daß  wenn  ein 
Deutscher  aus  der  Fremdenlegion  desertiert  und  bei  einem  in  einem  der 
französischen  Staatsgewalt  unterworfenen  Gebiete  befindlichen  Eeichskonsul 
Zuflucht  findet,  von  diesem  der  französischen  Militärbehörde  ausgeliefert 
werden  muß.  Dabei  sind  jedoch  zwei  Ausnahmen  zu  machen.  Hat  sich  der 
Deutsche,  der  in  die  Fremdenlegion  eingetreten  ist,  in  seiner  Heimat  der 
Wehrpflicht  entzogen,  so  braucht  die  Auslieferung  nicht  zu  erfolgen.  Das 
Recht  des  Heimatstaates  auf  die  Dienste  seines  Angehörigen  geht  dem  Rechte 
eines  fremden  Staates  vor. 

Ebenso  kann  die  Überlassung  des  Deserteurs  an  die  fi-anzösische  Militär- 
behörde nicht  begehrt  werden,  wenn  der  Betreffende  sich  in  Deutschland 
der  Strafverfolgung  entzogen  hätte  und  Deutschland  von  Frankreich  dessen 
Auslieferung  zu  verlangen  berechtigt  wäre. 

Reven  erörtert  auch  die  Frage,  wie  es  denn  kommt,  daß  die  Fremden- 
legion, gegen  die  sich  so  viele  begründete  Einwendungen  erheben  lassen,  immer 
noch  besteht  (S.  85  ff.).  Er  findet  den  hauptsächlichsten  Grund  für  diese 
Erscheinung  in  der  Tatsache  der  stehenden  Bevölkerungszahl  Frankreichs, 
die  zur  Folge  habe,  daß  diesem  Staate  für  seine  expansive  Kolonialpolitik, 
die  selbst  wieder  in  einem  gewissen  Zusammenhange  mit  dem  Eevanche- 
gedanken  stehe,  nicht  das  erforderliche  Menschenmaterial  zur  Verfügung  stehe. 
Es  besteht  kein  Anlaß,  auf  diese  teilweise  ziemlich  weit  hergeholten  und 
nicht  immer  ganz  zutreffenden  Ausführungen  genauer  einzugehen.  Es  mag 
sein,  daß  hier  die  stehende  Bevölkerungszahl  eine  gewisse  Rolle  spielt,  obwohl 
man  meinen  sollte,  daß  ein  Volk  von  etwa  40  Millionen  doch  in  der  Lage 
sein  müsse,  eine  Kolonialtruppe  von  etwa  12000  Mann  zu  stellen.  Das  Nächst- 
liegende ist  wohl,  daß  die  französischen  Bauern  und  Bourgeois  in  ihrem 
Egoismus  es  sehr  bequem  gefunden  haben,  daß  angeworbene  Fremde  ihnen 
die  Kolonien  erwerben  und  verteidigen,  so  daß  sie  für  diese  Zwecke  ihre  Haut 
nicht  zu  Markte  tragen  brauchen.  Dieser  naive  Egoismus  läßt  die  Franzosen, 
wie  namentlich  die  Verhandlungen  über  den  Fall  des  Elsässers  Weißrock  im 
französischen  Parlamente  gezeigt  haben,  vollständig  übersehen,  daß  der  Fort- 
bestand einer  solchen  Einrichtung  für  ihr  Vaterland  eine  Schande  ist.  \V  ürde 
Deutschland  eine  solche  Truppe  haben,  so  wären  die  Franzosen  die  ersten, 
die  auf  diese  barbarische  Eim-ichtung  hinweisen  würden,  und  die  französischen 
Pazifisten  würden  nicht  verfehlen,  von  den  Auswüchsen  des  deutschen  Mili- 
tarismus zu  sprechen.  Da  es  sich  aber  um  eine  fi-anzösische  Einrichtung 
handelt,  so  heißt  es:  „Ja,  Bauer,  das  ist  etwas  anderes." 


Besprechungen.  689 


„La  grande  nation"  glaubt  sich  eben  alles  erlauben  zu  dürfen,  da  sie 
namentlich  von  Deutschland  zu  zimperlich  behandelt  wird.  Auch  Reven  ist 
teilweise  in  diesen  Fehler  verfallen.  Den  Erfolg,  den  man  dadurch  erreichen 
will,  nämlich  die  Aussöhnung  mit  Fi'ankreich,  hat  man  aber,  wie  die  neuesten 
Ausbrüche  des  Chauvinismus  zeigen,  nicht  erreicht  und  wird  ihn  auch  auf 
diese  Weise  nicht  eiTeichen;  das  fi-anzösische  Volk  macht  den  P^indruck  eines 
verhätschelten  Kiudes,  das  um  so  ungezogener  wird,  je  mehr  man  ihm  nach- 
gibt. Gewiß  wäre  eine  ernstliche  Aussöhnung  zwischen  Deutschland  und 
Frankreich  für  die  ganze  Welt  von  größter  Bedeutung.  Diese  Aussöhnung 
kann  aber  erst  dann  eintreten,  wenn  die  Franzosen  selbst  zur  Vernunft  kommen 
und  einsehen,  daß  diese  auch  für  sie  von  Wert  ist.  Erzwingen  läßt  sich 
jedenfalls  die  Aussöhnung  durch  Annäherungsversuche  von  deutscher  Seite 
nicht.  Im  Gegenteil  werden  dadurch  die  Franzosen  nur  noch  eingebildeter 
gemacht.  Von  diesem  Standpunkte  aus  mufi  auch  die  Frage  der  Fremden- 
legion behandelt  werden.  Bisher  hat  man  dieselbe  in  Deutschland,  obwohl 
Deutschland  an  derselben  am  meisten  interessiert  ist,  mit  großer  Zurück- 
haltung und  einer  gewissen  Scheu  behandelt.  Dies  muß  aufhören.  Es  ist 
sehr  zu  wünschen,  daß  namentlich  auch  die  Reichsregierung  mehr  als  bisher 
sich  der  in  der  Fremdenlegion  befindlichen  Deutschen,  die  mitunter  durch 
die  verwerflichsten  ]\Iittel  der  Legion  zugeführt  wurden,  annimint  und  in 
allen  Fällen,  die  nach  Lage  der  Sache  geeignet  sind,  energische  Reklamationen 
hervorhebt.  Was  in  dieser  Weise  gesehen  kann,  hat  Reven  für  einzelne  Fälle 
in  zutreffender  Weise  (S.  83  f.)  hervorgehoben. 

Jeder  Reichsangehörige  hat  nach  Art.  3  Abs.  6  RV.  dem  Auslande 
gegenüber  Anspruch  auf  den  Schutz  des  Reiches.  Diese  Vorschrift  findet 
auch  Anwendung  auf  die  Deutschen,  welche  in  der  Fremdenlegion  dienen, 
trotzdem  aber  ihre  Staatsangehörigkeit  nicht  verloren  haben.  Das  Auswärtige 
Amt  ist  daher  verpflichtet,  sich  dieser  Legionäre,  die  sich  hilfesuchend  an 
dasselbe  wenden,  viel  entschiedener  anzunehmen  als  bisher,  und  namentlich 
in  allen  Fällen,  in  denen  Minderjährige  angeworben  worden  sind.  Reklama- 
tionen zu  erheben,  um  der  französischen  Regierung  das  Unzulässige  und 
Gesetzxndrige   ihres  Verfahrens   immer  wieder   zum  Bewußtsein  zu  bringen. 

Karl  Frh.  v.  Stengel. 


Georg   Loesche,    Von   der  Duldung  zm-  Gleichberechtigung.     Wien   1911. 

Manz.     812  S.;     Ders.,    Von    der  Toleranz    zur  Parität  in  Österreich. 

1781—1861.  Leipzig  1911.  Hinrich.  96  S. 
Die  Glaubenskämpfe  in  Österreich  haben  eine  reiche  historische  Literatur 
gezeitigt.  Das  Jahrhundert  der  Reformation  und  Gegenreformation  wurde 
von  katholischen  und  protestantischen  Historikern  eifrig  durchforscht,  so  daß 
heute  in  unserer  Kenntnis  der  denkwürdigen  Geschehnisse  kaum  noch  eine 
empfindliche  Lücke  besteht.  Um  so  dürftiger  ist  die  Darstellung  der  Ereig- 
nisse geblieben,  die  sich  im  Leben  der  evangelischen  Glaubensbekenner  nach 
der  Abkehr  des  Staates  von  der  Unduldsamkeit  abgespielt  haben.  Diesen 
Mangel  mußte  nicht  nur  der  Historiker  beklagen,  auch  der  Politiker  litt 
darunter.  Frühzeitig  haben  die  einsichtigeren  Elemente  ja  erkannt,  welcher 
innige  Zusammenhang  in  Österreich  zwischen  der  staatlichen  und  der  reli- 
giösen Politik,  zwischen  der  geistigen  Freiheit  und  der  wirtschaftlichen  Ent- 
faltung bestand.  Fast  alle  gründlich  durchdachten  und  ernstgemeinten  Reform- 
vorschläge, die  in  den  Jahrzehnten  nach  dem  Siege  der  römischkatholischen 
Kirche  in  der  Habsburger  Monarchie  üVjer  die  Bekenner  der  evangelisclien 
Lehren  erstattet  wurden,  wiesen  die  Schäden  auf,  die  m  der  Verfolgung  der 
tüchtigen,  arbeitsamen,  unternehmungslustigen  Protestanten  ihre  Ursache 
hatten.  In  dieser  Beziehung  war  es  gleichgültig,  ob  Staatsmänner  oder 
Volkswirte  das  Wort  ergriffen,  ob  der  Ruf  nach  einer  Ermanmmg  Östen-eichs 
Zeitschrift  für  Politik.    6.  44 


690  Besprechungen. 


aus  Amtsstuben  oder  aus  den  Arbeitszimmern  der  Praktiker  und  Theoretiker 
erschallte.  Die  Gedenkfeier  des  fünfzigjährigen  Bestandes  der  vollen  Gleich- 
berechtigung für  die  Protestanten  in  Österreich,  die  in  das  Jahr  1911  fiel, 
hat  die  geschichtliche  Literatur  nun  um  zwei  Schriften  bereichert,  auf  die 
wir  die  Aufmerksamkeit  lenken  möchten.  Der  Verf.  der  beiden  in  ihrem 
Umfange  und  in  ihrer  Anlage  —  nicht  in  der  Qualität  —  ungleichen  Arbeiten 
ist  der  Wiener  Universitätsprofessor  Dr.  Georg  Loesche,  der  sich  schon  durch 
eine  gi-oße  Reihe  von  Werken  verdient  gemacht  hat  und  dessen  sehr  emp- 
fehlenswerte, zusammenfassende  und  anschauliche  „Geschichte  des  Protestan- 
tismus in  Österreich"  (Tübingen  1902,  251  S.)  sicherlich  in  weiten  Kreisen 
bekannt  wurde. 

Das  trockene,  aktenbeschwerte  Werk  „Von  der  Duldimg  zur  Gleich- 
berechtigung", das  auf  ungewöhnlich  fleißigen  Archivstudien  aufgebaut  ist, 
wendet  sich  vornehmlich  an  den  Historiker.  Dem  Politiker  werden  die  ins 
Detail  gehenden  Spezialforschungen  nicht  immer  Interesse  abgewinnen.  Das 
Kapitel  über  die  Außerkraftsetzung  des  josefinischen  Protestantenpatents  in 
Tirol  und  die  in  den  dreißiger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  vollzogene 
Vertreibung  der  Protestanten  aus  dem  Zillertal  bietet  jedoch  mancherlei  be- 
achtenswerten Aufschluß ;  ebenso  gewährt  der  Abschnitt  über  das  Zusammen- 
fließen der  religiösen  und  der  konstitutionellen  Bewegung  im  Jahre  1848 
auch  dem  Politiker  Anregung.  Am  15.  März  1848  wurde  die  Umwandlung 
Österreichs  in  einen  konstitutionellen  Staat  zugesagt,  vmd  schon  vier  Tage 
später  predigte  der  Konsistorialrat  Franz:  „Josefs  Zeit  war  eine  große, 
schöne  Zeit;  herrlicher  und  beglückender  noch,  allgemeiner  begriffen  und 
sicherer  gewährleistet  scheint  uns  die  Zeit,  die  mit  unserem  konstitutionellen 
Ferdinand  beginnt."  Tatsächlich  brachte  die  Verfassung  vom  25.  April  1848 
die  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit.  Aber  schon  damals  wiu-den  Stimmen 
laut,  die  sagten,  daß  die  Protestanten  sich  über  die  verheißene  Freiheit  nicht 
zu  sehr  freuen  möchten.  Seit  der  Einnahme  Wiens  Ende  Oktober  1848,  die 
einen  Umschwung  in  der  Politik  Österreichs  bedeutete,  fürchtete  man,  daß 
die  Reaktion  auch  in  religiöser  Hinsicht  siegen  würde.  In  Wirklichkeit 
mußte  noch  mehr  als  ein  Jahrzehnt  verfließen,  ehe  die  in  der  Zeit  des  Völker- 
frühlings verkündete  Parität  aller  Staatsbürger  ohne  Unterschied  des  Glaubens 
wenigstens  für  die  Christen  zm-  Tat  wurde.  Kaiser  Josef  IT.,  der  voll  Liebe 
an  der  römischkatholischen  Kirche  hing,  hatte  dennoch  durch  das  Patent 
vom  13.  Oktober  1781  den  EvangeUschen  Duldung  zugesichert,  weil  er  den 
Vorteil  erkannte,  den  die  freiere  Entwicklung  der  protestantischen  Unter- 
tanen für  die  Blüte  der  Monarchie  bedeutete.  „Überzeugt  einerseits  von  der 
Schädlichkeit  alles  Gewissenszwanges  und  andererseits  von  dem  großen  Nutzen, 
der  für  die  Regierung  und  den  Staat  aus  einer  wahren  christlichen  Toleranz 
entspringt,  haben  wir  uns  bewogen  gefunden,  den  augsburgischen  und  hel- 
vetischen Religionsverwandten,  dann  den  nichtunierten  Griechen  ein  ihrer 
Religion  gemäßes  Privatexerzitium  allenthalben  zu  gestatten,  ohne  Rücksicht, 
ob  selbes  jemals  gebräuchlich  oder  eingeführt  gewesen  sei  oder  nicht."  Mit 
diesen  Worten  begann  das  berühmte  Dokument  der  kaiserlichen  Duldsamkeit, 
das  für  die  Habsburger  Monarchie  eine  neue  Epoche  des  geistigen  Lebens 
einleitete.  Allerdings  sprach  schon  der  nächste  Satz  aus,  daß  der  römisch- 
katholischen Kirche  allein  der  Vorzug  „des  öffentlichen  Religionsexercitii" 
vorbehalten  bleiben  solle.  Durch  das  josefinische  Patent  wurde  nur  Toleranz 
gewährt,  nicht  Gleichberechtigung.  Den  großen  Schritt  nach  vorwärts  unter- 
nahm erst  Kaiser  Franz  Josef  am  8.  April  1861  im  dreizehnten  Jahre  seiner 
Regierung.  Durch  diese  epochale  Maßnahme  erhielten  die  Protestanten  in 
Österreich  die  volle  Freiheit  nach  innen  und  außen,  in  der  Ordnung  ihrer 
religiösen  Angelegenheiten  und  in  ihrer  Stellung  zum  Staate. 

Einen  vorzüglichen,  sehr  lesenswerten  Überblick  über  das,  was  für  die 
Protestanten  an  wichtigen  Ereignissen  zwischen  1781  und  1861  lag,  gewährt 
Loesches   temperamentvoll    geschriebenes   Büchlein    „Von    der  Toleranz    zur 


I 


Besprechungen.  H91 


Parität  in  Österreich",  das  von  dem  schweren  Dokumentenballast  des  früher 
erwähnten  größeren  Werkes  vollständig  frei  ist.  Es  zerfällt  eigentlich  in 
zwei  Teile,  indem  es  zuerst  „die  Umwelt  des  Toleranzprotestantismus"  an- 
ziehend darstellt  und  dann  die  kirchenpolitischen  Verhältnisse  des  Akatho- 
lizismus  behandelt.  Der  erste  Abschnitt  bringt  einen  kurzen  Abriß  der 
Geistesgeschichte  Österreichs,  der  Persönlichkeiten  des  Hofes  und  der  Be- 
amtenschaft und  der  römischkatholischen  Kirche,  die  den  Ideen  der  Auf- 
klärung zugänglich  waren.  Die  von  Josef  II.  ausgestreute  Saat  wurde  von 
Leopold  n.  getreulich  behütet.  So  sehr  er  auch  auf  manchen  Gebieten  vor 
der  Reaktion  zurückweichen  mußte;  die  josetinischeu  Kirchenreformen  gab  er 
nicht  preis.  Doch  das  hinderte  den  hochsinnigen  Monarchen,  den  gelehrigen 
Schüler  Montesquieus  nicht,  den  Akatholiken  zu  Gemüte  zu  führen,  daß  das 
Toleranzedikt  des  Jahres  1781  kein  unwiderrufliches  Staatsgesetz  sei.  Von 
der  Toleranz  ging  auch  Kaiser  Franz  nicht  ab,  der  42  Jahre  regierte.  Der 
Druck,  der  in  diesen  Dezennien  auf  Österreich  lag,  teilte  sich  natürlich  den 
Protestanten  mit;  die  Toleranzverordnungen  wurden  zum  Teil  ungünstiger 
ausgelegt,  ohne  daß  man  es  jedoch  wagte,  an  ihnen  zu  rütteln.  Den  Aka- 
tholiken kam  damals  zugute,  daß  die  erste  von  den  vier  Frauen  des  Kaisers 
eine  Konvertitin  war,  daß  Erzherzog  Carl  eine  evangelische  Prinzessin  hei- 
ratete, die  ihrem  Glauben  Treue  hielt  und  daß  die  Gemahlin  des  imgarischen 
Palatins  Erzherzog  Josef  ihren  religiösen  Pietismus  in  Wort  imd  Taten  be- 
wundernswert vertrat.  Die  Regierung  des  Kaisers  Ferdinand  begann  mit 
der  Austreibung  der  Zillertaler  Protestanten.  Das  war  eine  Gesetzeswidrig- 
keit, ein  Verstoß  gegen  die  deutschen  Bundesakte,  deren  ij  16  bestimmte, 
daß  die  Verschiedenheit  der  christlichen  Religionsbekenntnisse  keinen  Unter- 
schied im  Genüsse  der  bürgerlichen  und  politischen  Rechte  begründen  solle. 
Sonst  konnten  sich  die  Evangelischen  in  der  ferdinandeischen  Ära  behaupten. 
Das  Protestantenpatent  vom  Jahre  1861  erfloß  zu  einer  Zeit,  da  Erzherzog 
Rainer,  der  freisinnigste  aller  kaiserlichen  Prinzen,  an  der  Spitze  der  öster- 
reichischen Regierung  stand.  Loesche  erinnert  aber  auch  an  den  Erzherzog 
Max,  der  später  Kaiser  von  Mexiko  wurde  und  der  in  den  Kreisen  des  Hofes 
im  Geiste  Josefs  11.,  ja  über  diesen  hinaus,  wirkte.  Er  mußte  sogar  mit  der 
Möglichkeit  rechnen,  von  der  römischkatholischen  Kirche  exkommuniziert  zu 
werden,  ein  Los,  das  ihn  als  vierten  Erzherzog  des  Hauses  Habsburg  und 
Habsburg- Lothringen  getroffen  hätte.  Nicht  weniger  interessant  ist  der 
zweite  Teil  der  Schrift,  dem  sich  der  vollständige  Text  des  Toleranzpatents 
und  des  Protestantenpatents  anschließt.  Die  kleine  Abhandlung  würde  es 
verdienen,  viel  gelesen  zu  werden.  Noch  wünschenswerter  wäre  es,  daß 
man  ihre  Lehren  beherzige.  Richard  Charmatz. 


Heinrich  Marczali.  Ungarisches  Verfassungsrecht.  Band  XV  des  Öffent- 
lichen Rechts  der  Gegenwart.  Tübingen  1911.  Mohr.  XIE  und  234  S. 
Diesen  Band  der  groß  angelegten  Sammlung  werden  viele,  die  sich  mit 
öffentlich-rechtlichen  Problemen  beschäftigen,  schon  deshalb  zur  Hand  nehmen, 
weil  Ungarns  Staatsrecht  zu  mannigfachsten  und  entgegengesetzten  Auf- 
fassungen Anlaß  bietet.  So  ist  bekannt,  daß  z.  B.  in  bezug  auf  diejenigen 
Angelegenheiten,  die  zwischen  Ungarn  und  dem  unter  dem  Habsburger  Zepter 
stehenden  anderen  Staate,  Österreich,  gemeinsam  sind,  die  wissenschaftUche 
Auffassung  der  ungarischen  Staatsrechtler  eine  andere  ist  als  die  der  öster- 
reichischen. Die  ungarische  staatsrechtliche  Literatur,  davon  ausgehend, 
daß  Ungarn  ein  seit  mehr  als  tausend  Jahren  bestehender  imabhängiger  Ver- 
fassungsstaat ist,  und  auch  unter  der  Regierung  der  Habsburger  geblieben 
ist,  dessen  Unabhängigkeit  außerdem  von  den,  aus  dem  Hause  der  Habsburger 
stammenden  Königen  unzählige  Male  —  durch  Gesetze  und  Krönungseide  — 
bekräftigt   wurde:    betrachtet   die   gemeinsamen   Angelegenheiten   der  öster- 

44* 


692  Besprechungen. 


reichisch-ungarischen  Monarchie  als  Konzessionen  aus  der  ungarischen 
Staatlichkeit,  interpretiert  sie  also  restriktiv;  die  österreichischen  staats- 
rechtlichen Schriftsteller  dagegen,  mit  Hinsicht  darauf,  daß  unmittelbar  vor 
dem  1867er  Ausgleich  die  Monarchie  einheitlich  (absolutistisch)  regiert  wurde, 
und  daß  ferner  nach  der  Niederlage  des  1848 — 1849  er  ungarischen  Freiheits- 
kampfes vorübergehend  auch  Ungarn  in  das  österreichische  Staatsgebiet  ein- 
verleibt wurde:  betrachten  die  gemeinsamen  österreichisch-ungarischen  An- 
gelegenheiten als  Konzession  aus  der  Eeichseinheit,  als  eine  Be- 
schränkung der  Reichssouveränität  und  interpretieren  daher  die  ge- 
meinsamen Angelegenheiten  und  Institutionen  in  erweiterndem  Sinne.  Nach 
ungarischer  Auffassung  bildet  die  Selbständigkeit  (Unabhängigkeit)  der  beiden 
Staaten  die  Basis,  wogegen  die  zugunsten  der  gemeinsamen  Angelegenheiten 
durchgeführte  Souveränitätseinschränkung  eine  Ausnahme  ist.  Im  Gegensatze 
hierzu,  hält  die  österreichische  Auffassung  in  erster  Reihe  das  Bestehen  des 
Reiches  für  wichtig.  Schon  aus  diesem  einen  Problem  des  ungarischen  Staats- 
rechtes wird  ersichtlich,  daß  es  der  Mühe  wert  ist,  sich  damit  zu  befassen 
und  die  Aufmerksamkeit  des  Staatsrechtlers  wird  hierdurch  auf  manche  Frage 
gelenkt,  deren  Lösung  von  allgemeinem  Interesse  ist. 

Doch  nicht  bloß  deshalb  gestaltet  sich  das  Studium  des  ungarischen 
Verfassungsrechtes  lohnend,  sondern  auch  im  allgemeinen,  wegen  der  speziellen 
Eigenheit  der  ungarischen  Verfassungsentwicklung.  Ungarn  besitzt  nämlich 
eine  historische  Verfassung,  von  der  nur  ein  verhältnismäßig  kleiner  Teil  in 
geschriebenen  Rechtssatzungen,  Gesetzen  und  Verordnungen  niedergelegt  ist, 
während  gerade  die  wichtigsten  Institutionen  der  ungarischen  Verfassung 
gi'ößtenteils  durch  das  Gewohnheitsrecht  geschaffen  sind.  Daher  ist  diese 
Rechtsquelle  dort  von  viel  gi-ößerer  Bedeutung  und  spielt  eine  namhaftere 
Rolle  als  in  anderen  Staaten.  Ferner  weisen  sowohl  die  sog.  Theorie  der  Heiligen 
Krone,  mit  der  die  deutsche  juristische  Welt  durch  das  umfassende  Werk 
„Ungarische  Verfassungs-  und  Rechtsgeschichte"  des  Budapester  Universitäts- 
professors Akusius  V.  Timon  bekannt  wurde,  als  auch  die  ungarische  Komitats- 
verfassung (Organisation)  einen  ganz  speziellen  Entwicklungsgang  auf,  der 
im  Westen  Europas  kaum  seinesgleichen  hat.  Die  Autonomie  der  Komitate 
war  durch  die  öffentlich-rechtlichen  Institutionen,  die  der  Adel  ausübte,  im 
Zeitalter  der  Ständeverfassung  zu  einer  Macht  gelangt,  die  öfters  selbst  der 
königlichen  Gewalt  zu  trotzen  wagte.  Ohne  daher  bei  dieser  Gelegenheit 
alle  diejenigen  Detailfi-agen  anzuführen,  deretwegen  es  sich  lohnt,  vom 
besonderen  Standj^unkte  aus  sich  mit  der  ungarischen  Verfassung  zu  be- 
schäftigen, hielten  wir  es  für  unsere  Pflicht  kurz  darauf  hinzuweisen,  daß 
wir  einer  zusammenfassenden  Darstellung  des  ungarischen  Staatsrechtes  in 
einem  Verlage,  der  sich  eines  so  guten  Rufes  erfreut,  nicht  ohne  Berechtigung 
mit  gewisser  Erwartung  entgegensahen,  da  vorausgesetzt  werden  durfte,  daß 
dadurch  den  Staatsrechtlern  der  Welt  eine,  die  historische  Entwicklung,  sowie 
die  bestehenden  Institutionen  der  ungarischen  Verfassung  berücksichtigende, 
vollständig  übersichtliche,  selbst  den  Anforderungen  der  strengen  Ki-itik  ent- 
sprechende Arbeit  geboten  wird. 

Leider  muß  schon  im  voraus  konstatiert  werden,  daß  sich  diese  Hoffnung 
nicht  erfüllt  hat,  und  zwar  weil  der  Verlag  —  aus  welchen  Gründen  ist  un- 
bekannt —  mit  der  Lösung  der  Aufgabe  keinen  Juristen,  sondern  einen 
Historiker  betraute,  Heinrich  Marczali,  Professor  der  ungarischen  Geschichte 
an  der  Budapester  Universität,  einen  Schriftsteller  von  anerkanntem  Rufe, 
der  auf  dem  (Tcbiete  der  ungarischen  Geschichte  schon  zahlreiche  wertvolle 
Werke  verfaßt  hat.  Aber  Marczali  ist  kein  .Jurist  und  aus  seinem 
eben  erschienenen  Werke  kann  auf  Schritt  und  Tritt  konstatiert 
werden,  daß  ihm  die  juristische  Fachbildung  abgeht,  ohne  die  er 
aber  an  eine  staatsrechtliche  Monographie  gar  nicht  hätte  herangehen  sollen, 
zumal  in  einer  so  hervorragenden  Monographienserie.  Es  ist  uns  nicht 
bekannt,  ist  aber  auch  nicht  unsere  Aufgabe  zu  erforschen,  warum  mit  dieser 


Besprechungen.  693 


Aufgabe  ein  Nichtjurist  betraut  wurde,  obwohl  gerade  Ungarn,  wo  das  Staats- 
recht ein  bevorzugtes  Studium  bildet,  zahlreiche  namhafte  Persönlichkeiten 
aufweisen  kann,  die  imstande  gewesen  wären,  den  Stoff  unter  juristischen 
Gesichtspunkten  zu  formen.  Doch  müssen  wir  diese  Tatsache  besonders 
hervorhellen,  denn  dadurch  werden  uns  die  vielen  Fehler,  die  das  Werk  des 
Verfassers  aufweist,  verständlich,  wenn  sie  sie  auch  nicht  entschuldigt.  Der 
wenig  einwandfreien  Argumentation,  den  irrigen  Schlußfolgerungen,  sowie 
den  an  vielen  Stellen  selbst  den  elementaren  Satzungen  des  ungarischen  Ver- 
fassungsrechtes spottenden  Details  können  die  ungarischen  Staatsrechtler  leider 
keine  Anerkennung  zollen  und  obgleich  ]\[arczalis  Verdienste  als  Historiker 
auch  in  seinem  Vaterlande  anerkannt  und  gewürdigt  werden,  können  doch 
zahlreiche  Stellen  seines  jetzt  erschienenen  staatsrechtlichen  Werkes  nicht  als 
authentische  Darstellung  der  ungarischen  staatsrechtlichen  Auffassung  be- 
trachtet werden.  Diese  Tatsache  mußte  dezidiert  festgestellt 
werden,  damit  das  große  Leserpublikum,  das  seine  Kenntnis  des 
ungarischen  Staatsrechtes  aus  diesem  Werke  schöpft,  nicht  sämt- 
liche Behauptungen  Marczalis  als  unbedingte  Resultate  des 
Studiums  des  ungarischen  Verfassuugsrechtes  betrachtet. 

Marczali  berichtet  übrigens  im  Vorwort  seines  Werkes  darüber,  was  ihn 
zur  Ausführung  dieser  juristischen  Aufgabe  bewogen  hatte:  der  Umstand 
nämlich,  daß  das  ungarische  Staatsrecht  —  wie  er  sich  ausdrückt  —  noch 
nicht  geschrieben  ist,  sondern  mit  der  Geschichte  der  bestehenden  Verfassung 
identisch  ist.  Daher  ist  es  erklärlich  —  so  schreibt  er  —  daß  der  Historiker, 
der  die  Geschichte  des  Landes  kennt,  auch  das  Staatsrecht  desselben  kennen 
muß.  Nun  kann  aber  dieser  Satz  in  dieser  Form  nicht  ganz  zu  Recht  gelten, 
denn  tatsächlich  ist  es  zwar  unmöglich  das  ungarische  Staatsrecht  ohne 
historische  Kenntnisse  darzustellen,  und  ebenso  gewiß  ist  es  auch,  daß  der- 
jenige, der  sich  mit  der  ungarischen  Geschichte  Ijefaßt,  auch  in  manchen 
staatsrechtlichen  Fragen  bewandert  sein  muß,  doch  folgt  daraus  noch  nicht, 
daß  der  Historiker  als  solcher  zugleich  auch  Staatsrechtler  sein  müßte,  um 
so  weniger  in  einem  Falle,  wenn  es  sich  nicht  um  eine  populäre  Ai't  der 
Darstellung,  sondern  um  ein  zur  Informierung  der  Jm'isten  der  gesamten 
Kulturwelt  dienendes  g:-undlegendes  Werk  handelt.  Marczali  ist,  als  ein,  mit 
umfassenden  Wissen  ausgerüsteter  Historiker  gewiß  imstande,  auch  zahlreiche 
Fragen  des  ungarischen  Staatsrechtes  in  geistreicher  Weise  zu  schildern,  aber 
nur  in  einem  Milieu,  das  an  die  juristische  Genauigkeit  und  die  Höhe  des  Niveaus 
nicht  die  strengsten  Anforderungen  stellt.  Dagegen  ist  es  sehr  schwer  an- 
zunehmen, daß  er  Staatsrecbtlern  von  Beruf,  und  überhaupt  solchen,  die 
sich  ex  asse  mit  öffentlichem  Recht  beschäftigen  —  und  der  Leserkreis 
seines  Werkes  wird  zum  gi-ößten  Teile  aus  solchen  bestehen  —  die  Satzungen 
des  ungarischen  Verfassungsrechtes  in  so  einwandfreier  Weise  darzustellen 
vermag,  wie  es  dem  Niveau  seiner  historischen  Werke  entsprechen  würde. 

Gewiß  wird  auch  er  durch  die  Kenntnisse  des  Historikers  dazu  ver- 
leitet, jene  Detailfragen  des  imgarischen  Staatsrechtes,  die  besonders  auf  die 
historischen  Prämissen  Bezug  haben,  eingehender  zu  behandeln.  Wir  selbst 
halten  die  Methode,  die  die  Erklärung  der  bestehenden  staatsrechtlichen  Zu- 
stände auf  die  historische  Entwicklung  der  öffentlich-rechtlichen  Listitutionen 
basiert,  für  richtig  und  eben  deshalb,  weil  Ungarns  Verfassung  keine  Charta  — , 
sondern  eine  historische  Verfassung  ist,  die  sich  durch  Jahrhunderte  zu 
ihrer  heutigen  Höhe  herauf  entwickelt  hat,  finden  wir  zu  jeder  bestehenden 
Verfassungsinstitution  irgendein  Vorbild  aus  der  alten  Ständeverfassung. 
Doch  darf  die  historische  Methode  nicht  übertrieben  werden  und  darin  besteht 
eben  ein  großer  Fehler  Marczalis.  In  seinem  Staatsrechte  schildert  er  oft 
ganze  Seiten  hindiu-ch  ausschließlich  geschichtliche  Ereignisse,  ja  er  geht  so 
weit,  nicht  nur  längst  verflossene,  in  den  Retorten  der  Ki'itik  geläuterte 
Dinge  zu  behandeln,  sondern  verarbeitet  selbst  gänzlich  in  unseren  Tagen 
spielende  Ereignisse,   die  wohl  in  einer  politischen  Flugschrift,   doch  keines- 


694  Besprechungen. 


wegs  in  einem  wissenschaftlichen  staatsrechtlichen  Werke  hätten  Platz  finden 
können.  Ich  verweise  hier  z.  B.  auf  die  Ausführungen  über  die  Obstruktion, 
wo  Marczali  auch  eines  Armeebefehls  von  Chlopy  —  in  welchem  sich  der 
König  von  Ungarn  gegen  die  Konzessionen  bezüglich  des  Heeres  im  nationalen 
Sinne  geäußert  hatte  —  der  seinerzeit  viel  Staub  aufwirbelte,  sowie  einen 
offenen  Brief  des  bekannten  ungarischen  Politikers,  des  Grafen  Stephan  Tisza 
an  seine  Wähler  erwähnt,  Fälle,  die  durchaus  nicht  in  ein  Handbuch  des 
ungarischen  Staatsrechtes  gehören.  Als  ein  Fehler  muß  es  ferner  angesehen 
werden,  daß  sogar  die  Ausführungen  einzelner  Parlamentarier  in  seinem 
Werke  häufig  Anwendung  finden,  durch  die  er  staatsrechtliche  Thesen  be- 
weisen oder  für  unrichtig  gehaltene  umstoßen  will.  In  einem  wissenschaft- 
lichen Werke  kann  bei  der  Beurteilung  besonders  strittiger  Fälle,  wo  ent- 
gegengesetzte Auffassungen  tatsächlich  nicht  entschieden  werden  können,  zur 
Bekräftigung  des  vom  Verfasser  eingenommenen  Standpunktes  eventuell  her- 
vorgehoben werden,  daß  auch  dieser  oder  jener  Politiker  denselben  Stand- 
punkt vertritt,  aber  es  ist  nicht  nur  ungewöhnlich,  sondern  sogar  verfehlt, 
Parlamentsreden  so  oft  und  in  solchem  Umfange  zu  zitieren,  wie  dies 
Marczali  tut.  Politische  Debatten  sind  schließlich  noch  keine  staatsrecht- 
lichen Wahrheiten  und  es  muß  schon  eine  vollständig  anerkannte  und  im 
Laufe  der  Zeit  zu  allgemeiner  Autorität  gelangte  Kapazität  sein,  auf  den, 
oder  auf  dessen  parlamentarische  Äußerungen  man  sich  bei  Entscheidung 
^einer  staatsrechtlichen  wissenschaftlichen  Frage  als  Beweis  berufen  kann. 

Das  geeigneteste  System  für  die  Darstellung  des  Staatsrechtes  im  all- 
gemeinen und  besonders  des  ungarischen  Staatsrechtes  ist  entschieden  dasjenige, 
das  davon  ausgehend,  daß  die  Bestandteile  des  Staates  das  Gebiet,  das  Volk 
und  die  darüber  ausgeübte  Staatsmacht  (Souveränität)  sind:  auch  die  ganze 
Materie  des  Staatsrechtes  in  dieser  Einteilung  behandelt.  Die  Staatsmacht 
kann  weiter  durch  die  Einteilung  in  die  gesetzgebende,  regierende  oder  voll- 
ziehende und  richterliche  Gewalt,  besonders  untersucht  werden.  Nachdem 
aber  Ungarn  einerseits  mit  Kroatien,  Slavonien,  Dalmatien,  andererseits  aber 
mit  Österreich  in  staatsrechtlicher  Verbindung  steht,  außerdem  aber  auch 
das  Verhältnis  zu  dem  1878  okkupierten  und  1908  annektierten  Bosnien  und 
Herzegowina  der  Erläuterung  bedarf,  kann  das  ungarisch-kroatische,  sowie 
das  Österreich  gegenüber  bestehende  staatsrechtliche  Verhältnis  in  besonde- 
ren Abschnitten  behandelt  und  auf  dieselbe  Weise  kann  auch  die  Dar- 
stellung der  staatsrechtlichen  Stellung  von  Bosnien  und  der  Herzegowina 
gelöst  werden.  Ich  behaupte  durchaus  nicht,  daß  dies  das  einzig  richtige 
System  ist,  doch  kann  kaum  in  Zweifel  gezogen  werden,  daß  diese  Art  der 
Einteilung  leicht  verständlich  und  übersichtlich  ist,  was  schließlich  bei  Lesern, 
denen  das  ungarische  Staatsrecht  bis  dahin  gänzlich  oder  meistens  unbekannt 
war,  die  Hauptsache  ist.  Marczali  befolgt  jedoch  nicht  dieses  System,  sondern 
er  gibt  auf  24  Seiten  eine  historische  Einleitung,  in  der  er  die  Entwicklung 
des  ungarischen  Staatsrechtes  in  drei  Perioden  einteilt:  in  die  patriarchalische, 
in  die  ständische  und  in  die  nationale  Periode.  Im  nächstfolgenden  Ab- 
schnitte behandelt  er  —  auf  25  Seiten  —  die  Grundlagen  des  Staates,  ein- 
schließlich der  Lehre  von  der  Heiligen  Krone,  des  Staatsgebietes,  des  Staats- 
wappens,  der  Staatsfarben    und   der  Staatssprache.     Der   dritte  Abschnitt  ist 

—  auf  20  Seiten  —  der  Darstellung  der  Staatsmacht  gewidmet,  während  die 
Details  die  Majestätsrechte,  die  Rechte  des  Parlaments,  der  Regierung,  des 
obersten  Staatsrechnungshofes,  der  Gerichte  und  der  städtischen  Ver- 
waltungen klarlegen.  Ein  besonderer  Abschnitt  behandelt  sodann  —  auf 
34  Seiten  —  die  Verwaltung  der  Kirchen  und  Schulen.    Der  fünfte  Abschnitt 

—  auf  19  Seiten  —  befaßt  sich  mit  der  staatsrechtlichen  Stellung  von 
Kroatien  und  Slavonien  und  unter  demselben  Haupttitel  auch  mit  der  staats- 
rechtlichen Stellung  der  königlich  freien  Hafenstadt  Fiume.  Der  sechste  Teil 
endlich  —  auf  60  Seiten  —  behandelt  das  ungarisch -österreichische  staats- 
rechtliche Verhältnis  und  in  diesem  Rahmen  auch  Bosnien  und  die  Herzegowina. 


Besprechunjjen.  695 


Ein  Blick  auf  diese  Einteilung  genügt,  uns  von  ihren  Fehlem  zu  über- 
zeugen. Es  ist  mehr  als  zu  viel  dem  gegenseitigen  Verhältnis  zwischen 
(»sterreich  und  Ungarn  60  Seiten  zu  widmen,  während  das  ganze  Werk  nur 
234  Seiten  zählt.  Dieser  Al)schnitt,  der  streng  genommen,  kaum  zur  Frage  des 
engeren  ungarischen  Staatsrechts  gehört,  nimmt  mehr  als  den  vierten  Teil  der 
Arbeit  ein.  Beginnen  wir  aber  mit  der  Lektüre  dieses  Abschnitts,  so  wird  seine 
Weitläufigkeit  verständlich.  Der  Verf.  behandelt  nämlich  darin  alles  mit 
einer  Ausführlichkeit,  die  durchaus  überflüssig  ist.  Dem  österreichisch- 
ungarischen Handelsvertrage  z.  B.  sind  volle  20  Seiten  gewidmet,  obwohl 
diese  Frage,  die  ja  schließlich  kein  staatsrechtliches,  sondern  ein  volkswirt- 
schaftliches Problem  bildet  ^  in  einem  staatsrechtlichen  Handbuche  bloli 
in  kurzer,  markanter  Weise  behandelt  werden  sollte.  Wozu  ist  es  nötig,  fast 
jeden  Paragi-aphen  des  österreichisch-ungarischen  Ausgleichgesetzes  von  1908 
einzeln  durchzuarbeiten '?  Im  übrigen  hat  der  Verfasser  eine  besondere  Vor- 
liebe für  die  Wiedergabe  des  Textes  der  einzelnen  Gesetze.  Er  erweckt 
dadurch  den  Anschein,  als  ob  er  vermeiden  wollte,  tiefer  in  die  staatsrecht- 
lichen Fragen  einzudringen  und  anstatt  dessen  lieber  die  keinen  Widerspruch 
duldenden  Gesetzestexte  hervor  zu  heben!  Das  ist  jedoch  falsch,  denn  bei 
der  Erläuterung  der  einzelnen  Fragen  wird  in  der  Staatsrechtswissenschaft 
in  der  Regel  in  solchen  Fällen  der  einschlägige  Gesetzestext  nur  da  zitiert, 
wo  das  System  des  Gesetzes  auch  von  wissenschaftlichem  Standpunkte  aus 
einwandfrei  ist,  dagegen  ist  die  von  Paragraph  zu  Paragraph  gehende  Be- 
handlung in  jedem  Falle  dort  ungewöhnlich,  wo  die  ganze  Frage  nach  ein- 
heitlichen Gesichtspunkten,  in  wissenschaftlicher  Weise  dargestellt  werden 
kann.  Zu  einem  3Iißverständnis  kann  femer  die  Einteilung  des  Verf.  Anlaß 
geben,  nach  der  die  staatsrechtliche  Stellung  der  königlich  privilegierten  Hafen- 
stadt Fiume  in  dem  Kroatien  behandelnden  Abschnitte  dargestellt  wird,  dort 
aber  gar  nicht  am  Platz  ist.  Fiume  bildet  nämlich  dem  Privilegium  der 
Königin  Maria  Theresia  und  den  darauf  fußenden  Gesetzen  und  Verordnimgen 
zufolge  einen  besonderen  Teil  der  Heiligen  Krone  Ungarns  (separatum  corpus 
sacrae  regni  coronae),  d.  h.  das  heutige  ungarische  Reich  besteht  aus  drei 
staatsrechtlichen  Teilen:  aus  dem  eigentlichen  Ungarn  (also  aus  dem  Mutter- 
lande), dann  den  Ländern  Elroatien  und  Slavonien  und  endlich  aus  Fiume. 
Die  Stadt  besitzt  eine  ausgedehnte  Autonomie,  in  der  auch  der  historischen 
Entwicklung  Rechnung  getragen  ist.  Deshalb  ist  es  unrichtig,  Fiume  in 
einem  Abschnitte  mit  Kroatien  und  Slavonien  zu  behandeln,  weil  dadurch 
der  Anschein  erweckt  wird,  als  wäre  Fiume  ein  Teil  der  erwähnten  Neben- 
länder. Dies  scheint  vielleicht  von  geringer  Bedeutung,  beweist  aber,  daß 
Marczalis  Darstellung  in  Hinsicht  auf  jurirtische  Präzision  Kritik  heraus- 
fordert. Übrigens  wäre  es  weit  zweckmäßiger  gewesen,  die  staatsrechtliche 
Stellung  Fiumes  an  jener  Stelle  zu  besprechen,  wo  der  Verf.  auf  die  historische 
Entwicklung  des  heutigen  ungarischen  Staatsgebietes  eingeht,  um  so  mehr, 
als  sich  ihm  dabei  Gelegenheit  geboten  hätte,  die  zeitlichen  Veränderungen 
in  der  staatsrechtlichen  Stellung  Fiumes  mit  der  heutigen  gesetzlichen 
Regelung  derselben  zu  vergleichen. 

Bezüglich  der  Einteilung  des  Werkes  sind  wir  fernerhin  der  Ansicht, 
daß  die  Einteilung  der  Entwicklung  des  ungarischen  Staatsrechtes  in  ein 
patriarchalisches,  ständisches  und  nationales  Zeitalter  vielleicht  neu  ist.  Doch 
kann  bestritten  werden,  ob  in  staatsrechtlicher  Hinsicht  das  patriarchalische 
Zeitalter  —  wie  es  der  Verf.  behauptet  —  sich  ungefähr  bis  zur  Zeit 
König  Ludwigs  des  Großen  (also  bis  zum  XIV.  .Jahrhundert),  das  ständische 
Zeitalter  sich  nm-  bis  1790  erstreckt.  Weil  einmal,  wenn  man  in  l'^ngam 
von  einer  patriarchalischen  Staatsverfassung  sprechen  will,  dieser  Ausdruck 
bloß  auf  die  Periode  zutreffen  könnte,  die  als  das  vormonarchistische  Zeitalter 
bezeichnet  wird  (also  von  der  Landnahme,  d.  h.  vom  Ende  des  IX.  .Jahr- 
hunderts bis  zur  Gründung  des  Königtums  resp.  bis  zu  Beginn  des  XI.  .Jahr- 
hunderts),   zu    welcher    Zeit    die    Oberhäupter    der    einzelnen    magyarischen 


696  Besprechungen. 


Stämme  zugleich  als  Volksführer  galten.  Doch  sobald  sich  einmal  das  König- 
tum entfaltet  hatte,  kann  in  politischem  Sinne  von  einem  patriarchalischen 
Zeitalter  nicht  mehr  gesprochen  werden.  Warum  denn  auch?  Vielleicht 
deshalb,  weil  das  Königtum  in  den  ersten  Jahrhunderten  sehr  mächtig  war 
und  der  Nation  in  den  öffentlichen  Angelegenheiten  verhältnismäßig  wenig 
Einfluß  ließ?  Aber  auch  das  ist  nicht  ganz  zutreffend,  denn  auch  da  gab 
es  Zeiten,  wo  der  König  die  Macht  der  Xation  sehr  empfindhch  zu  fühlen 
bekam.  Ein  Beispiel  hierfür  ist  die  von  König  Andreas  11  im  Jahre  1222 
erlassene  Goldene  Bulle,  die  sich  gleichzeitig  mit  der  englischen  ilagna 
Charta  zum  wahren  Kodex  der  Adelsvorrechte  der  königlichen  Macht  gegen- 
über gestaltete.  Hatte  dagegen  der  König  eine  starke  Hand,  so  hatte  dies 
höchstens  vorübergehend  ein  autokratisches,  aber  keineswegs  patriarchalisches 
Eegiment  zur  Folge.  Auch  der  von  Marczali  unternommene  Versuch,  das 
Zeitalter  der  Ständeverfassung  bloß  bis  1790  zu  bemessen,  kann  nicht  ge- 
billigt werden,  weil  ja  in  Ungarn  die  Ständeverfassung  —  samt  allen  ihren 
Konsequenzen  —  bis  1848  fortbestanden  hatte,  oder  wenigstens  nur  unmittel- 
bar vor  diesem  Jahre  einer  teilweisen  Re%'ision  unterzogen  wurde,  z.  B.  durch 
die  Gesetze  von  1844  über  den  Erwerb  adliger  Güter  dm-ch  Nichtadlige, 
über  die  Amtsfähigkeit  der  Nichtadligen  usw.  C'bwohl  wir  also  nicht  in 
Zweifel  ziehen  wollen,  daß  in  Ungarn  das  sog.  Zeitalter  des  nationalen  Auf- 
schwunges —  besonders  mit  Eücksicht  auf  die  Ereignisse  der  französischen 
Revolution  —  mit  dem  Jahre  1790  beginnt,  und  daß  es  das  Verdienst  dieses 
Zeitalters  war  —  ein  Beweis  dafür  ist  die  von  Marczali  vor  einigen  Jahren 
verfaßte  Monographie  der  Geschichte  des  ungarischen  1790  er  Reichstages  — 
daß  die  öffentlichen  Angelegenheiten  von  nun  an  von  nationalem  Geiste 
durchweht  wurden  (was  einerseits  aus  der  erwähnten  natürlichen  Wirkimg 
der  fi-anzösischen  Revolution,  andererseits  aber  daraus  erklärt  werden  kann. 
daß  nach  der  von  1780 — 1790  dauernden  absolutistischen  Regierung  Kaiser 
Josephs  n.  die  nationale  verfassungsgemäße  Richtung  zur  Geltung  gelangte), 
trotzdem  wurde  die  ungarische  Ständeverfassung,  in  staatsrechtlichem  Sinne 
genommen,  erst  1848  aufgehoben,  imd  so  hat  in  diesem  Falle,  wo  der  Ver- 
fasser die  Ständeverfassung  schon  im  Jahre  1790  als  aufgehoben  betrachtet, 
die  Denkungsart  des  Historikers  die  auf  Präzision  gerichtete  Argumentierung 
des  Rechtsdogmatikers  verdrängt.  In  bezug  auf  die  allgemeine  Einteilung 
muß  endlich  noch  bemerkt  werden,  daß  eine  so  weitläufige  Behandlung  der 
Kirchen-  und  Schulverwaltung,  wie  dies  bei  Marczali  geschieht,  ungewöhnlich 
ist.  und  auch  eher  in  den  Rahmen  des  Verwaltungsrechtes  passen  würde. 
Unseres  Wissens  wird  aber  das  Verwaltungsrecht  Ungarns  in  derselben  Mono- 
graphienserie gesondert  behandelt  werden. 

Zur  eingehenderen  Kritik  des  gesamten  Inhaltes  des  Werkes  übergehend, 
muß  im  voraus  hervorgehoben  werden,  daß  es  nicht  vmsere  Absicht  ist,  sämt- 
liche der  Kritik  bedürftigen  Stellen  des  Buches  hier  anzuführen,  dagegen 
wollen  wir  versuchen,  durch  Erwähnung  der  hauptsächlichsten  Irrtümer  ein 
Bild  von  den  Mängeln  des  Werkes  zu  geben. 

Unzulänglich  ist  zunächst  die  Aufzählung  der  Literatur  des  ungarischen 
Staatsrechts  im  Literaturverzeichnis  des  Buches.  Besonders  lückenhaft  ist 
die  Anführung  der  staatsrechtlichen  Monographien  und  doch  hätte 
Marczali  auf  diesem  Gebiete  nicht  nur  die  in  deutscher,  fr-anzösischer  und 
englischer  Sprache  erschienenen,  größere  Werke,  die  den  Stoff  des  ungarischen 
Verfassungsrechts,  oder  einzelne  Teile  desselben  behandeln,  sondern  auch 
selbst  die  kleineren  Abhandlungen  auf  diesem  Gebiet,  aus  denen  die  Kenntnis 
einzelner  Fragen  des  ungarischen  Staatsrechts  gewonnen  werden  kann,  beriick- 
sichtigen  sollen.  Aber  selbst  die  Aufzählung  der  verbreiteten,  in  ungarischer 
Sprache  erschienenen  Handbücher  des  ungarischen  Staatsrechts  ist  mangelhaft. 
Ebenso  entging  der  Aufmerksamkeit  des  Verfassers  das  1907  in  Nagyszeben 
(Hermannstadt)  in  deutscher  Sprache  unter  dem  Titel  ..Grundzüge  der  Ver- 
fassimg  L'ngams"  erschienene,  geschickte,  kiu-zgefaßte  Werk  von  August 
Gmeiner. 


Besprechungen.  697 


Ungewöhnlich  und  in  Deutschland  uugcbräuclilich  ist  auch  die  Methode 
des  Verf.  zu  zitieren.  Er  zitiert  nämlich  auf  folgende  Weise:  G.A.  ((xesetz- 
Artikel)  18(38:  XXX,  §  65.  Dies  entspricht  wohl  dem  Charakter  der  un- 
garischen Sprache,  dagegen  ist  die  übliche  Art  des  Zitierens  im  deutschen 
die  folgende:  §  H5  des  G.A.  XXX  vom  .Jahre  1868;  oder  kurz:  (t.A.  XXX,  §  65. 

In  dem  Abschnitt,  der  den  Verlust  des  Staatsbürgerrechts  behandelt, 
wird  der  G.A.  II  vom  .Tahre  1909,  betreffend  die  Auswanderung  ,dev  den  Verlust 
der  Staatsbürgerschaft  durch  Entlassung  aus  dem  Staatsverbande  für  einen 
erheblichen  Teil  der  ungarischen  Bürger  in  einer,  von  den  üblichen  Ge- 
pflogenheiten abweichenden  Weise  regelt,  vom  Verf.  gar  nicht  behandelt;  die 
Bearbeitung  dieses  Gesetzes  durfte  aber  nicht  unterbleiben,  um  so  weniger, 
da  die  Frage  der  Lösung  des  Auswanderungsproblems  den  Staat  schon  viel 
beschäftigt  hat. 

Die  Letre  von  den  Staatsbürgerpflichten,  unter  die  gewöhnlich  die 
Steueri^flicht  und  die  Wehrpflicht  fallen,  sind  bei  Marczali  kaum  in  10  bis 
12  Zeilen  behandelt  (S.  41).  Denkt  man  daran,  daß  die  Frage  der  gegen- 
wärtigen Organisation  der  ungarischen  Wehrmacht  außerordentlich  aktuell 
ist,  so  hätte  der  Verf.,  wenn  auch  die  Einbeziehung  von  Problemen  der  Tages- 
politik nicht  in  den  Rahmen  des  Verfassungsrechtes  gehört,  eben  bei  aus- 
führlicherer Behandlung  dieser  Frage  Gelegenheit  gehabt,  das  Ausland  über 
diese  Frage  in  objektiver  Weise  zu  informieren,  zumal  er  z.  B.  der  Schul- 
verwaltimg  einen  besonderen  Abschnitt  widmet  imd  den  wirtschaftlichen 
Ausgleich  mit  Österreich  —  wie  oben  bereits  erwähnt  wurde  —  sogar  in 
einer  über  den  Kahmen  eines  staatsrechtlichen  Handbuches  weit  hinaus- 
gehenden Weise  behandelt,  eine  Unzweckmäßigkeit  der  Einteilung,  ebenso 
wie  die  Behandlung  der  Institution  der  Kronhüter  (dies  sind  zur  Bewahrung 
der  heiligen  Stephanskrone  berufene  Staatswürdenträger,  die  auch  eine  ge- 
wisse staatsrechtliche  Rolle  spielen)  auf  2^/^  Seiten,  was  die  Bedeutung  dieser 
Institution  —  mit  Rücksicht  auf  den  Umfang  des  Werkes  —  vielleicht  doch 
übersteigt.  Die  historische  Entwicklung  des  Heeres  wird  vom  Verf. 
eingehender  behandelt;  auf  seine  diesbezüglichen  Ausführungen  muß  jedoch 
bemerkt  werden,  daß  wie  in  ganz  Euroj^a,  so  auch  in  Ungarn  das  Heer 
jahrhundertelang  ein  dynastisches  Organ  war.  Nachdem  aber  die  Habs- 
burger Herrscher  nicht  nur  in  Ungarn,  sondern  auch  in  zahlreichen  anderen 
Staaten  Europas  herrschten,  so  waren  auch  in  ihrer  Armee  verschiedene 
europäische  Nationen  vertreten  und  dies  erklärt,  warum  das  Heer  in  den 
Befreiungskriegen  des  XVII.  und  X\TII.  Jahrhunderts  gegen  die  Türken  nicht 
ungarisch  war,  sondern  daß  man  unter  den  Heerführern  ebenso  wie  im 
Offiziers-  und  Mannschaftskorps  sehr  vielen  Deutschen  begegnet.  Ungarn 
stand  nämlich  ebenfalls  unter  dem  Zepter  der  Habsburger  imd  nachdem  das 
Land  von  den  Türken  okkupiert  wurde,  war  die  Rückeroberung  nicht  nur 
im  Interesse  des  ungarischen  Staates  und  der  Nation,  sondern  auch  der 
Dynastie  gelegen. 

Bei  der  Aufzählung  der  Mitglieder  des  Magnatenhauses  (Erste  Kammer) 
kann  die  Stilisierung  des  Verf.,  wonach  diejenigen  ungarischen  Magnaten,  die 
mindestens  6000  Kronen  staatliche  Grundsteuer  zahlen  und  die  in  Ungarn 
oder  in  Siebenbürgen  ansässige  Grundbesitzer  sind.  Mitgliedsrecht  besitzen, 
zu  einem  Mißverständnis  Anlaß  geben.  Wer  nämlich  ungarisches  Staatsrecht 
nicht  kennt,  könnte  vielleicht  annehmen,  daß  die  in  Ki-oatien-Slavonien  an- 
sässigen Magnaten-Grundbesitzer  nicht  zu  den  Mitgliedern  der  ungarischen 
Magnatentafel  zählen.  Zwar  ist  es  richtig,  daß  in  dem  Ausdruck  resp.  Begriff 
„Ungarn"  auch  die  Nebenländer  (Kroatien-Slavonien)  inbegriffen  sein  können, 
wenn  aber  schon  Siebenbürgen  an  dieser  Stelle  nicht  als  staatsrechtlicher, 
sondern  bloß  geographischer  Begriff  besonders  erwähnt  wurde,  so  wäre  die 
Hervorhebung  Kroatien-Slavoniens  um  so  begründeter  gewesen,  namentlich 
weil  eben  die  Tatsache,  daß  die  dortigen  Magnaten-Grundbesitzer  Mitglieder 
der  ungarischen  Magnatentafel  sind,  ein  Beweis  für  die  staatsrechtliche  Wahrheit 


698  Besprechungen. 


ist.  daß  Kroatien  kein  selbständiger  Staat  ist,  sondern  einen  Bestandteil  des 
ungarischen  Eeiches  bildet,  daß  es  infolgedessen  keine  spezielle  kroatische 
Aristokratie  gibt,  sondern  nur  eine  ungarische,  wie  auch  der  König  nie  einen 
kroatischen,  sondern  ausschließlich  einen  ungarischen  Adel  verleiht,  und  wie  es 
auch  keine  kroatische,  sondern  bloß  eine  ungarische  Staatsbürgerschaft  gibt. 

Im  Abschnitte  der  Magnatentafel  sind  übrigens  auch  noch  andere  kleinere 
Fehler  zu  bemerken,  so  z.  B.  vermissen  wir  unter  ihren  Mitgliedern  die  Erwäh- 
nung des  Vizepräsidenten  des  königlich  ungarischen  Verwaltungsgerichts- 
hofes, weiter  wird  als  Mitglied  der  Präsident  des  Obergerichtshofes  (könig- 
liche Tafel)  augeführt,  doch  wird  nicht  erwähnt,  daß  von  den  11  königlich 
ungarischen  (ierichtstafelpräsidenten  dieses  Recht  ausschließlich  dem  Buda- 
pester Tafelpräsidenten  zukommt. 

Der  dogmatischen  Darstellung  des  Inkompatibilitätsgesetzes  des  Abge- 
ordnetenhauses, das  zu  den  laemerkenswertesten  staatsrechtlichen  Schöpfungen 
Ungarns  gehört,  da  eine  ganze  Reihe  von  öffentlichen  Ämtern,  Würden  und 
wirtschaftlichen  Berufen  als  mit  der  Stellung  eines  Reichstagsabgeordneten 
inkompatibel  erklärt  wird,  wurde  vom  Verf.  leider  ein  sehr  beschränkter 
Raum  gewidmet.  Dies  ist  um  so  auffallender,  da  er  sich  über  einen  Inkora- 
patibilitätsfall,  in  dem  das  Mandat  eines  Abgeordneten  trotz  seiner  Ernennung 
zum  Bischof  weiter  in  Kraft  blieb,  des  längern  verbreitet. 

Gelungen  ist  dagegen  die  Darstellung  der  Geschäftsordnung  des  Ab- 
geordnetenhauses, doch  wiederum  weitschweifig  und  ganz  ins  Gebiet  der 
Tagespolitik  hinüberspielend  ist  das  Kapitel  von  der  Obstruktion,  das  mit 
geradezu  ängstlicher  Ausführlichkeit  behandelt  und  mit  politischen  Tages- 
fragen ganz  verquickt  ist,  obgleich  solche  Details  höchstens  in  die  politische 
Geschichte  des  letzten  Dezenniums  Ungarns,  aber  nicht  in  den  Bereich  des 
ungarischen  Staatsrechtes  gehören. 

Im  Teile  von  der  Gerichtsbarkeit  und  Rechtspflege  behauptet  der  Verf. 
zu  Unrecht,  daß  nach  G.A.  XXXIII  vom  Jahre  1897  die  Strafgerichtsbarkeit 
dem  Geschworenengerichte  zugewiesen  sei  (S.  123),  obgleich  gegenwärtig  nur 
ein  kleiner  Teil  derselben,  nämlich  die  schwersten  Verbrechen,  sowie  ein  Teil 
der  durch  die  Presse  begangenen  Delikte  vor  die  Geschworenengerichte 
gehören,  nicht  aber  die  ganze  Strafgerichtsbarkeit.  Ein  weiterer  Mangel 
dieses  Abschnittes  von  der  Gerichtsbarkeit  besteht  darin,  daß  das  Gesetz 
das  königlich  ungarische  Hofmai-schallgericht  in  Budapest  betreffend  bloß 
erwähnt,  aber  gar  nicht  behandelt  wird,  obgleich  die  Schaffung  dieses  Gerichts- 
hofes gegenüber  der  Tatsache,  daß  es  bis  dahin  nur  ein  Marschallgericht  für 
die  Mitglieder  des  Herrscherhauses,  und  zwar  beim  Wiener  Hofe  gegeben  hat, 
als  ein  Beweis  der  ungarischen  staatlichen  Unabhängigkeit  oder  wenigstens 
der  separaten  ungarischen  Hofhaltung  gelten  kann. 

Bei  der  Schilderung  der  historischen  Vergangenheit  der  Komitate  muß 
dem  Wissen  des  Historikers  wieder  Anerkennung  gezollt  werden,  doch  ist 
die  gegenwärtige  staatsrechtliche  Stellung  der  Munizipien  eigentlich  kaum 
ausgeführt. 

Als  ein  bemerkenswerter  Mangel  in  diesem  Teile  muß  bezeichnet  werden, 
daß  der  Wirkungskreis  der  Obergespäne  nicht  ausführlicher  behandelt  wird, 
denn  sie  stellen  eine  der  interessantesten  staatsrechtlichen  Institutionen  Ungarns 
dar.  In  den  ausländischen  Staatsrechten  ist  diese  Einrichtung  gänzlich  un- 
bekannt, weshalb  auch  eine  ausführlichere  Behandlung  derselben  auf  ein 
erhöhtes  Interesse  hätte  rechnen  können.  Dieser  von  den  Komitaten,  sowie 
Städten  mit  Munizipalrecht  berichtende  Teil  ist  auch  sonst  mangelhaft,  ja  es 
lassen  sich  sogar  grobe  Fehler  darin  entdecken.  So  sagt  z.  B.  der  Verf. 
vom  Muuizipalverwaltungsausschuß  (S.  126),  daß  er  zur  Vorbereitung 
der  Angelegenheiten  des  Munizipalausschusses  l)erufen  sei.  Dies  ist  jedoch 
falsch,  eine  solche  Tätigkeit  fällt  nicht  dem  Bereich  des  Verwaltungs- 
ausschusses zu,  dagegen  ist  er  zur  Kontrolle  der  Verwaltung,  sowie  zur  Aus- 
übung  des   Disziplinarrechts   und    -Verfahrens    gegen  Munizipalbeamten    und 


Besprechungen.  699 


endlicli  als  Berufungsinstanz  in  Verwaltungssachen  bestimmt,  was  jedoch 
vom  Verf.  gar  nicht  erwälmt,  ja  es  wird  seihst  das  nicht  gesagt,  wer 
die  Mitglieder  dieses  Ausschusses  sind,  wohl  seine  Zusammensetzung  ebenfalls 
eine  bemerkenswerte  Lösung  der  Zusammenwirkung  von  staatlichen  und 
autonomen  Elementen  bedeutet. 

Äußerst  kurz  verfährt  der  Autor  mit  den  vor  kaum  einigen  Jahren 
geschaffenen  Verfassungsgarantie-Gesetzen,  hingegen  wird  das  Problem  der 
Verstaatlichung  der  Verwaltung,  das  vorläufig  nur  noch  als  ein  politisches 
Programm  oder  eine  politische  Auffassung  angesehen,  aber  auf  keinen  Fall 
zu  den  gesetzlich  bestehenden  staatsrechtlichen  Institutionen  gezählt  werden 
kann  und  daher  auch  gar  nicht  in  den  Stoff  des  Staatsrechtes  gehört,  aus- 
führlich behandelt.  Im  allgemeinen  muß  wiederholt  auf  die,  unserer  Ansicht 
nach  nicht  zutreffende  Darstellungsweise  Marczalis  hingewiesen  werden, 
ständig  politische  Ideen,  ja  sogar  Aktualitäten  in  seinen 
Gegenstand  einzumengen.  Beispielsweise  erwähnt  Marczali  bei  der 
Schilderung  der  staatsrechtlichen  Stellung  der  Kirchen,  daß,  trotzdem  in 
neuerer  Zeit  sämtliche  rezipierte  Konfessionen  das  gleiche  Recht  besitzen, 
seiner  Ansicht  nach  der  Katholizismus  dennoch  eine  führende  Rolle  anstrebt, 
und  erwähnt  zur  Bekräftigung  dieser  Behauptung,  daß  im  .Jahre  1906  vom 
Abgeordnetenhause  und  von  der  Magnatentafel  ein  Gesetzentwurf  angenommen 
wurde,  demzufolge  Ungarn  in  den  Gesetzen  stets  folgendermaßen  zu  benennen 
ist:  „Die  Länder  der  Heiligen  Krone''.  Ungeachtet  dessen,  daß  aus 
dieser,  auf  historischen  Traditionen  beruhenden  Tatsache  (denn 
schon  seit  .Jahrhunderten  ist  dies  die  offizielle  Bezeichnung  für  das  ungarische 
Reich :  die  Länder  der  Heiligen  ungarischen  Krone,  oder  die  Länder  der 
Elrone  Stefans  des  Heiligen)  noch  keine  einseitigen  Aspirationen  des  Katho- 
lizismus herausgelesen  werden  können,  ist  es  auch  überflüssig,  durch  solche 
Äußerungen  in  einem  staatsrechtlichen  Handbuche  Grund  zu  Voraussetzungen 
über  mangelnde  Objektivität  zu  geben. 

Der  Abschnitt  von  der  rechtlichen  Stellung  der  Kirchen  enthält  auch 
außer  den  erwähnten,  noch  einige  der  Kritik  bedürftige  Stellen.  Nicht  ins 
Staatsrecht  gehörig  ist  z.  B.  das  Eherecht  und  besonders  derjenige  Teil 
desselben,  der  sich  auf  die  Fragen  der  Eheschließung  bezieht,  da  dies  keine 
staatsrechtliche,  sondern  eine  privatrechtliche  Frage  ist  und  somit  nicht  in 
den  Bereich  des  Staatsrechts  gehört  (S.  134).  Durch  die  Einreichung  solcher 
Gegenstände  beweist  der  Verf.  wiederholt,  daß  er  juristisch  absolut  nicht 
orientiert  ist.  Bei  den  protestantischen  Kirchen  spricht  der  Verf.  stets 
von  Superintendenten  und  nm*  ausnahmsweise  von  Bischöfen,  trotzdem  es 
nach  der  ungarischen  protestantischen  Kirchenverfassung  nur  Bischöfe  und 
keine  Superintendenten  gibt.  Auch  das  bleibt  bei  ihm  unerwähnt,  daß  es 
in  der  evangelischen  Kirche  Augsburger  Konfession  Ungarns  keine  Kuratoren 
gibt,  sondern  Inspektoren.  Statt  „Kirchen distrikt"  wird  bei  ihm  der  Terminus 
technicus  „Superintendenz"  gebraucht.  Weiter  behauptet  er,  daß  die  oberste 
Behörde  in  den  sämtlichen  protestantischen  Kirchen  —  also  sowohl  Augs- 
burger, als  auch  helvetischer  Konfession  —  der  Konvent  sei,  obwohl  dies 
bloß  für  die  helvetische  Kirche  zutrifft,  während  bei  der  Kirche  Augsburger 
Konfession  an  dessen  Stelle  die  Generalversammlung  tritt.  Die  protestantische 
Kirchensynode  wird  von  ihm  ohne  jeden  Grund  eine  Na  t  io  na  Isynode 
genannt.  Diese  Synode  wird  nach  seiner  Behauptung  von  den  Helvetikern 
alle  drei  Jahre,  von  den  Lutheranern  aber  alle  zehn  Jahre  abgehalten;  diese 
Äußerung  entliehrt  aber  jeder  Grundlage.  Die  ungarischen  protestantischen 
Bischöfe  müssen  seiner  Behauptung  nach  vom  Staate  bestätigt  werden,  was 
ebenfalls  nicht  der  Wahrheit  entspricht;  denn  bloß  die  siebenbürgischen 
werden  staatlich  bestätigt  (S.  137  u.  f.  S.).  Der  Verf.  behauptet  ferner 
(S.  140),  daß  die  Seelsorger  der  rezipierten  Konfessionen  auf  Grund  des 
G.A.  XTV.  vom  Jahre  1898  vom  Staate  eine  Kongrua  -  Ergänzung  erhalten, 
wogegen  sich  der  zitierte  Gesetzartikel  bloß  auf  die  akatholischen  Seelsorger 


700  Besprechungen. 


bezieht;  dieser  Gesetzartikel  wurde  durch  das  G.A.  XIEE  vom  Jahre  1909 
abgeändert,  der  die  Kongruabezüge  sämtlicher  rezipierten  Konfessionen  regelt. 
Unrichtig  ist  auch  die  Behauptung  des  Verf.,  daß  das  Einkommen  der 
Seelsorger  vom  Staate  auf  600  resp.  800  Kronen  ergänzt  wird,  da  in  der 
Wirklichkeit  die  Ergänzung  auf  800  bzw.  1600  Kronen  geschieht.  Von  der 
katholischen  Autonomie  zu  sprechen,  die  in  Ungarn  noch  keine  staatsrecht- 
liche Institution  ist,  sondern  bloß  geplant  wird,  ist  ebenso  überflüssig,  wie 
in  den  darauf  bezüglichen  Stellen  Klage  darüber  zu  führen,  daß  obwohl  der 
katholische  Klerus  ein  Vermögen  von  über  zwei  Millionen  Morgen  betragen- 
den Grundbesitz  sein  eigen  nennt,  die  katholischen  Schulen  Ungarns  dessen 
ungeachtet  aus  Staatsmitteln  unterstützt  werden.  Dies  ist  eine  politische 
aber  keine  staatsrechtliche  Argumentierung  (S.  142). 

Bei  der  Erläuterung  der  staatsrechtlichen  Stellung  Bosniens  und  der 
Herzegowina  können  wir  ims  an  jenen  Stellen,  wo  das  umfassende  Wissen 
des  Historikers  notwendig  ist,  wo  der  Autor  die  historische  Vergangenheit 
klarlegt,  seines  schönen,  abgerundeten  Vortrags  freuen,  wo  es  sich  aber  um 
eine  juristische  Behandlung  des  Stoffes  handelt,  sinkt  das  Niveau  des  Werkes 
wieder  um  ein  bedeutendes.  Vom  kroatischen  Wahlgesetze  z.  B..  das  aus  dem 
Jahre  1910  stammt,  und  bei  der  Darstellung  der  Verfassung  der  ungarischen 
Nebenländer  keinesfalls  übergangen  werden  kann,  berichtet  er  in  kaum 
zwei  Zeilen,  da  er  bloß  erwähnt,  wieviel  Abgeordnete  von  den  städtischen 
und  wie  viele  von  den  ländlichen  Bezirken  gewählt  werden  (S.  167).  Er 
spricht  aber  weder  vom  aktiven  und  passiven  Wahlrecht,  noch  geht  er  auf 
Einzelheiten  ein,  die  durchaus  nicht  übergangen  werden  durften,  denn  da 
Kroatien  und  Slavonien  Bestandteile  des  ungarischen  Reiches  sind,  so  müssen 
im  Eahmen  des  ungarischen  Verfassungsrechtes  nicht  nur  das  Kapitel  über 
die  Verwaltung  der  Kroatischen  Landesautonomie,  sondern  auch  das  der 
Gesetzgebung  des  Landes  behandelt  werden. 

Die  Schilderung  des  historischen  Hintergrundes  der  staatsrechtlichen 
Stellung  Ungarns  zu  Österreich  zeigt  den  Verf.  wieder  als  Historiker  und 
auch  hier  muß  die  Korrektheit  seines  staatsrechtlichen  Standpunktes  hervor- 
gehoben werden,  doch  herrscht  an  vielen  Stellen  der  Geschichtsschreiber 
vor,  während  der  Jurist  schweigt. 

Unrichtig  ist  die  Behauptung  des  Verf.,  daß  die  hinsichtlich  der  Fest- 
setzung des  Leistungsverhältnisses  (der  sog.  Quote)  des  gemeinsamen  öster- 
reichisch-ungarischen Kostenvoranschlags  berufene  Quotendeputation  aus  zehn 
Mitgliedern  besteht  (S.  184).  Außer  den  zehn  Abgeordneten  ist  nämlich  darin 
auch  das  Magnatenhaus  durch  fünf  Mitglieder  vertreten.  Unrichtig  ist  auch 
sein  Standpunkt  (auf  S.  185),  daß  laut  dem  G.A.  LV.  vom  Jahre  1907,  die 
auf  Ungarn  entfallende  Quote  37  %  beträgt,  während  sie  36,4  7o  ausmacht. 
Der  L-rtum  scheint  geringfügig  zu  sein,  aber  die  Daten  entsprechen  erstens 
nicht  dem  bestehenden  Gesetze,  ferner  bedeutet  aber  diese  augenscheinlich 
kleine  Differenz  mit  Rücksicht  darauf,  daß  das  gemeinsame  österreichisch- 
ungarische Budget  ca.  1  !5Iilliarde  Kronen  beträgt,  eine  recht  hohe  Summe, 
Weiterhin  ist  unzutreffend,  daß  Marczali  den  Ausdruck  „österreichisch- 
ungarische gemeinsame  Regierung"  gebraucht,  obwohl  es  im  Sinne  des 
ungarischen  Gesetzes  bloß  gemeinsame  Minister  mit  einem  beschränkten 
Wirkungskreis,  aber  keine  gemeinsame  Regierung  gibt. 

Ebenso  kann  zu  Mißverständnissen  Anlaß  geben,  daß  der  Verf. 
Bosnien  und  die  Herzegowina  in  dem  Abschnitte,  das  den  Titel  „Unser  Ver- 
hältnis zum  österreichischen  Kaiserreich"  trägt,  behandelt,  trotzdem  die 
zwei  annektierten  Provinzen  (bezüglich  derer  übrigens  T^ngarn  historische 
Rechte  im  königlichen  Krönungseide  gesichert  sind)  so  lange  bezüglich  ihrer 
staatsrechtlichen  Zugehörigkeit  eine  endgültige  gesetzliche  Entscheidung  nicht 
getroffen  wird,  die  gemeinsame  Erwerbung  Österreichs  und  Ungarns  bilden. 

Auf  dem  Gebiete  der  ungarischen  Gesetzgebung  der  letzten  Zeit  ist 
dem  Autor  mancherlei  entgangen,  z.  B.  behandelt  er  das  zwischen  Österreich 


Besprechungen.  701 


nnd  Ungarn  zustande  gekommene  und  das  Privilegium  der  üsterreichiscli- 
ungarischen  Rank  his  1917  verlängernde  Gesetz  ((t.A.  XVIII.  vom  Jahre  1911) 
noch  als  Entwurf  imd  korrigiert  diesen  Irrtum  auch  im  Anhange  nicht. 

Ein  Versäumnis  Marczalis  ist  es  auch,  daß  ei-  nicht  auf  die  Abweichungen 
hinweist,  die  zwischen  den  sich  auf  die  österreichisch-ungai'ischen  Angelegen- 
heiten beziehenden  österreichischen  und  ungarischen  Gesetzen  bestehen, 
obwohl  ihre  Kenntnis  sehr  interessant  und  vom  Standpunkte  der  staatsrecht- 
lichen Stellung  der  beiden  Staaten  von  gewisser  Bedeutung  ist  und  es  läßt  sich 
dadurch  erklären,  daß  die  österreichische  und  die  ungarische  Auffassung  bei 
der  Entscheidung  über  einzelne  gemeinsame  Angelegenheiten  in  Gegensatz 
zueinander  geraten. 

Alles  zusammengefaßt,  kann  über  das  Werk  Marczalis  kein  günstiges 
Urteil  gefällt  werden.  Es  soll  zwar  nicht  geleugnet  werden,  daß  es  denen, 
die  sich  für  die  Vergangenheit  und  die  historische  Entwicklung 
der  verfassungsmäßigen  Institutionen  Ungarns  interessieren,  wertvolle  Auf- 
schlüsse gibt,  —  dies  ist  aber  durch  Marczalis  ebenfalls  bei  Mohr  in  Tübingen 
1910  erschienene  Ungarische  Verfassungsgeschichte  viel  leichter  mög- 
lich —  das  bestehende  gültige  ungarische  Staatsrecht  aber  kommt  im  neuen 
Werke  sehr  zu  kurz.  Seine  Arbeit  wird  daher  zur  Kenntnis  des  ungarischen 
Staatsrechtes  im  Auslande  kaum  günstig  beitragen,  ja  was  noch  viel  ärger 
ist,  in  manchen  Fragen  werden  diejenigen,  die  sich  für  die  ungarische  Ver- 
fassung interessieren,  durch  dieses  Werk  falsch  informiert.  Dies  kann  aber 
nur  bedauert  werden,  besonders  da  wir  uns  dessen  wohl  bewußt  sind,  daß 
wenn  Marczali  bei  seinem  Fach,  der  Geschichtsforschung  geblieben  wäre, 
er  der  Wissenschaft  einen  wichtigen  Dienst  geleistet  hätte. 

Nagy  von  Eötteveny. 


David  Koigen,  Ideen  zur  Philosophie  der  Kultur.    Der  Kulturakt.    München 

und  Leipzig  1910.     Georg  Müller.     XVm  u.  593  S. 

Trotz  mancher  feinsinniger  Einzelheiten  erscheint  im  ganzen  genommen 
die  umfängliche  Arbeit  von  Koigen  als  ein  unkritisches  verworrenes  Werk, 
dessen  Lektüre  die  zahlreichen  Verstöße  gegen  die  Gesetze  eines  guten  Stils 
nicht  erfireulicher  gestalten. 

Koigen  steckt  sich  das  Ziel  hoch  genug:  das  Wesen  der  Kultur  soll 
ergründet  werden.  Er  sucht  daher  in  dem  ersten  Buche  des  Werkes  die 
nach  seiner  Überzeugung  aller  Kultur  wesentlichen  Willensrichtungen  zu 
analysieren  und  deren  für  eine  kulturelle  Entwicklung  erforderliches  Zusammen- 
wirken zu  bestimmen. 

Der  Bildungsprinzipien  der  Kultur  soll  es  vier  geben.  Die  aristokrati- 
sche, die  demokratische,  die  revohxtionäre,  die  auf  Gemeinschaft  abzielende 
Willensrichtung. 

Die  aristokratische  Lebenstendenz,  insbesondere  deren  typische  Objek- 
tivierung im  kapitalistischen  Liberalismus  fordert  nach  Koigen  eine  herr- 
schaftliche Position  für  jedermann  nach  Maßregeln  der  Quantität  seines 
„Habens",  d.  h.  seines  Vennögens.  Da  diese  Willensrichtung  allzusehr  die 
Bedeutung  des  „Habens"  vor  der  des  „Seins"  der  Persönlichkeit  betont,  so 
führt  sie  zu  ödem  Materialismus,  zur  Entfremdimg  der  Menschen  untereinander, 
bedarf  daher  ihrer  Ergänzung  durch   das  demokratische  Wollen  (Kap.  I). 

Das  demokratische  Lebensprinzip,  insbesondere  deinen  typische  Objekti- 
vierung im  protestantischen  Christenmenschen,  im  homo  kantianus.  erheischt 
dagegen  eine  qualitative  Wertung  des  Menschendaseins,  eine  Koexistenz 
autonomer  Persönlichkeiten. 

Diese  Willensrichtung  vermag  ebensowenig  wie  die  aristokratische  das 
Kulturproblem  zu  lösen.  Koexistenz  freier  Persönlichkeiten  ist  ohne  wechsel- 
seitige Rücksicht,   also  ohne  Befolgung  heteronomer  Regeln  nicht    möglich. 


702  Besprechungen. 


Konsequente  Durchführung  des  demokratischen  Prinzips  bedingt  daher  dessen 
Auflösung  (Kap.  11). 

Noch  weniger  als  die  genannten  Lebensrichtungen  vermag  das  in  der 
Arbeit  objektivierte  Eevolutionsprinzip  Kultur  zu  begründen,  kennzeichnet  doch 
das  revolutionäre  Wollen  ein  blindes  Streben  vom  Nichts  ins  Nichts  (Kap.  III). 

Was  diese  drei  Prinzipien  allein  nicht  vermögen,  schafft  diese  beherrschend 
das  vierte.  Der  Gemeinschaftswille  erstrebt  die  Zusammenordnung  der 
Menschen,  er  ist  imstande,  die  drei  „zentrifiigalen"  Tendenzen  harmonisch 
auszugleichen.  Deren  lebendiger  Zusammenschluß  unter  der  Hegemonie  des 
Gemeinschaftswillen  bedeutet  die  Lösung  des  Kulturproblems.  Diese  setzt 
aber  voraus,  daß  die  dem  Gemeinschaftsprinzip  immanente  Gefahr  der  Hyper- 
trophie überwunden  ist.  Wie  vornehmlich  die  Geschichte  des  Judentums  zeigt, 
eignet  dem  Gemeinschaftsprinzip  die  Tendenz,  alle  dem  kulturellen  Geschehen 
wesentlichen  jaartikulären  Willeusrichtungen  zu  ersticken,  und  so  den  Lebens- 
gehalt herabzusetzen  (Kaj).  IV). 

Dieser  Gefahr  begegnet  der  Wille  zur  Parteiung  mit  der  Forderung 
nach  kleinen  Gemeinschaftszentren,  in  denen  die  divergierenden  Tendenzen 
ihre  individuelle  Frische  behalten,  und  welche  wechselseitig  zu  höchster 
Einheit  verbunden  sind  (Kap.  V). 

Diese  Ausführvmgen  Koigens  sind  völlig  unklar.  Koigen  hat  weder 
in  brauchbarer  Schärfe  bezeichnet  das  Wesen  jener  Kulturfaktoren,  noch  die 
Art  ihres  für  alles  kulturelle  Geschehen  erforderlichen  Zusammengreifens, 
noch  endlich  das  Wesen  der  Kultur  überhaupt. 

Die  vier  Bildungsprinzipien,  die  nach  Koigen  im  Leben  in  voller 
Eeinheit  vorkommen  können,  fließen  ineinander  über.  Die  aristokratische 
Lebensrichtung  fordert  „herrschaftliche  Position  für  jedermann",  also  ist  sie 
demokratisch,  denn  das  demokratische  Prinzip  verlangt  eine  Koexistenz 
autonomer  Persönlichkeiten,  also  die  Zusammenordnung  von  Selbstherrschen- 
den. Zielen  aber  beide  Willensrichtungen  auf  Zusammenordnung  von  Menschen 
ab,  so  sind  sie  Erscheinungsformen  des  Gemeinschaftswillens,  erstrebt 
dieser  doch  gerade  Zusammenordnung  an.  Objektiviert  schließlich  die  Arbeit 
wirklich  das  revolutionäre  Prinzip,  so  bliebe  eine  Willensrichtung,  die  nicht 
revolutionär  wäre,  schwer  denkbar. 

Die  drei  ersten  dieser  verschwommenen  Größen  soll  der  Gemeinschafts- 
wüle  harmonisch  aussöhnen.  Die  hoffnungslose  Aufgabe,  sich  die  Möglichkeit 
solcher  Synthese  vorzustellen,  überläßt  Koigen  der  Phantasie  seines  Lesers. 

Nun  soll  diese  rätselhafte  Verknüpfung  unbekannter  Größen  allem 
Kulturgeschehen  wesentlich  sein.  Vielleicht  hätten  die  besprochenen  Aus- 
führungen an  Klarheit  gewinnen  können,  wenn  Koigen  es  versucht  hätte, 
zu  bestimmen,  was  er  sich  unter  Kultur  vorstellt  und  inwiefern  jeder  Kultur- 
typus, die  ägyptische  Kultm-  z.  B.  oder  etwa  die  japanische  gerade  durch 
jene  Verbindung  bedingt  sei.  Von  alle  dem  ist  bei  Koigen  nichts  zu  finden. 
Die  Quintessenz  des  ersten  Buches  wäre  demnach  auf  die  Formel  zu  bringen : 
Die  Kultur,  diese  unbekannte  Größe,  entspricht  der  unbekannten  Verbindung 
von  vier  anderen  unbekannten. 

Noch  schlimmer  als  ums  erste  Buch  ist  es  um  das  zweite  bestellt.  Koigen 
redet  hier  von  Religion,  Kunst,  Sittlichkeit  und  Lebensinhalt  des  einzelnen. 
Von  organischer  Verbindung  der  beiden  Teile  des  Werks  ist  keine  Eede, 
deren  Verknüpfung  ist  ebenso  äußerlich  wie  konfus. 

Da  Religion  (Kap.  VI)  und  Sittlichkeit  (Kap.  ^TII)  als  Aktivitätsarten 
dargestellt  werden,  ferner  die  besprochenen  Willensrichtungen  im  zweiten 
Buch  zu  Willenskategorien  hj^ostasiert  erscheinen,  so  behauptet  Koigen, 
daß  es  vier  Arten  der  Religion  und  der  Sittlichkeit  gibt,  nämlich  die  der 
aristokratischen,  demokratischen,  revolutionären  und  auf  Gemeinschaft  ab- 
zielenden WoUens,  Die  Berechtigung,  jene  so  unklar  gezeichneten  Bildungs- 
faktoren der  Kultur  als  Willenskategorien  anzusprechen,  hat  Koigen  nicht 
zu  beweisen  versucht. 


Besprechungen.  703 


Die  Ausfühnmgen  über  die  Kunst  (Kap.  VII)  bedeuten  noch  eine  Steige- 
i-ung  der  das  Buch  durchziehenden  Fnklarheiten.  Nach  Koigen  individu- 
alisiert die  Kunst  einen  lebensvollen  Weltausschnitt.  Das  Kunstwerk  wird 
in  seiner  Ganzheit  aufgenommen  und  enthüllt  ho  die  Ganzheit  des  Lebens: 
infolgedessen  soll  sie  dem  Gemeinschaftswillen  zur  Herrschaft  verhelfen. 
So  gelangt  man  etwa  zu  folgender  Gleichung:  Gemeinschaftswille  =  ent- 
scheidender Bildungsfaktor  der  Kultur  =  Willenskategorie  =  Welttotalität! 

Im  letzten  Kapitel  des  Werkes  (IX)  geht  Koigen  davon  aus,  daß 
jedem  Menschen  ein  konstanter  Typus  eigne,  dem  ein  variables  subjektives 
Innere  entspreche,  welches  der  Charakter  mit  dem  Typus  zu  verbinden  und 
beide  zu  beherrschen  strebe. 

Nach  dieser  durch  nichts  begründeten  Einführung  erzählt  Koigen 
zunächst  einiges  „aus  dem  Bereich  des  Typischen",  nämlich,  wie  sich  die  Frau 
mit  der  aristokratischen,  demokratischen,  revolutionären  und  auf  Gemeinschaft 
abzielenden  Willensrichtung  abfände,  ferner  welche  typischen  Eigenschaften 
jene  Willensrichtungen  bei  ihren  Trägern  zu  erzeugen  jaflegen. 

Sodann  wird  eine  bunte  Reihe  von  Erscheinungen  „aus  dem  Bereich 
des  Subjektiven"  erörtert.  Da  handelt  Koigen  von  Einsamkeit  und  Lebens- 
verwiiTung,  von  dem  kulturfeindlichen  Rassenkultus  und  dem  Wesen  der 
Deiatschen,  und  —  da  „neben  der  Einsamkeit  und  der  Lebensverwirrung, 
Weltschmerz  und  Kulturschmerz,  sowie  das  pessimistische  Erleben,  das  Wesen 
des  Subjektiven  ausmachen"  (S.  497)  —  weiter  vom  Weltschmerz,  Kultur- 
schmerz und  Pessimismus.  Endlich  bestimmt  Koigen  das  Wesen  der  Mythe 
als  das  in  der  Vorzeit  gesuchte  Ideal  einer  Zeit  und  erklärt  dann  den  Anar- 
chismus für  die  Mythe  des  Revolutions-,  den  Kommunismus  als  die  des 
Gemeinschaftswillens. 

Der  Schlußabschnitt  des  letzten  Kapitels  erzählt  einiges  „aus  dem 
Bereich  der  Charakterideale".  Nach  Koigen  sollen  heute  miteinander  ringen 
die  aristokratische  und  die  demokratische  Richtung  der  Charakterbildung. 
Daher  soll  die  Seelenverfassung  heute  vor  demselben  Konflikt  stehen  wie  die 
Kulturverfassung,  und  auch  auf  dem  Gebiet  dieser  seelischen  Kämpfe  soll 
der  Gemeinschafts wille  zu  Sieg  und  Erlösung  führen.  Der  Gemeinschaftswille, 
dieses  höchst  rätselhafte  Etwas,  soll  imstande  sein,  den  einzelnen  zum  Träger 
des  Totalen  zu  machen,  alle  Lebenswidersprüche  zu  überwinden;  und  darin  liegt 
nach  Koigen  der  Sinn  der  Kultur.  — 

Die  Feinheiten  des  Werkes  bilden  das  Korrelat  zu  dessen  Schwächen. 
Der  Verf.  gibt  die  Eindrücke  wieder,  die  das  Kulturleben  und  die  mit  diesem 
in  Beziehung  stehenden  Erscheinungen  in  ihm  ausgelöst  haben.  Aus  der 
Fülle  der  Einzelheiten  findet  er  aber  nicht  den  Weg  zu  geschlossener  Einheit, 
von  warmem  subjektiven  Empfinden  aus  nicht  den  Weg  zu  wissenschaft- 
licher Darstellung.  Der  fatale,  stets  wiederkehrende  Fehler  jener  Gefühls- 
aufzeichnungen liege  darin :  all  die  Eindrücke  des  David  Koigen  werden 
hypostesiert  zu  aphoristischen  Urteilen :  ein  „ich  empfinde,  ich  glaube,  ich 
sehe"  wird  zum  „so  ist  es",  und  so  verwandelt  sich  auch  eine  recht  vage 
Vorstellimg  davon,  wie  die  Fülle  jener  Eindrücke  geordnet  werden  könnte, 
in   das   zuvor  näher   erörterte  Trugbild   eines   geschlossenen  Gedankengangs. 

Die  Hauptthemen,  die  Koigen  in  angedeuteter  Weise  angeschlagen  hat, 
sind  zuvor  berührt.  Die  Gefühlsreflexe  David  Koigens  an  dieser  Stelle 
näher  zu  erörtern,  hat  keinen  Zweck,  sein  extremer  Subjektivismus  schließt 
eine  die  Richtigkeit  der  Darstellung  erwägende  Kritik  aus.  Es  läßt  sich 
übrigens  verstehen,  wenn  wegen  der  Wärme,  wegen  der  Originalität  der  in 
ihm  geäußerten  Empfindungen  Koigens  Buch  manchen  Leser  nicht  unbefriedigt 
läßt.  — 

Die  stilistischen  Mängel  des  Buches  schließlich  sind,  um  in  der  Sprache 
David  Koigens  zu  reden,  in  erster  Linie  zu  erklären  als  „Hypertrophie  des 
Pathos".     Für  stark  Empfundenes  sucht  der  Verf.  die  Formen  großer  Worte. 


704  Besprechungen. 


Allein  zu  oft  werden  die  Worte,  die  Bilder  maßlos:  das  angestrebte  groß- 
zügige Bild  wird  zu  bombastischer  Karikatur.     Verwiesen  sei  auf  folgendes: 

..Alle  scharfen  Kanten  der  Geschehnisse  und  Dinge  fallen  weg,  lauter 
bekannte  Gewässer  eröffnen  sich  dem  Blicke,  und  der  einzelne  badet  in  der 
Wonne  der  Wogen"  (S.  325), 

„Das  Fühlen  und  Wollen  umsj^ülen  den  Seelenpunkt,  den  wir  Selbst 
nennen"  (S.  3.53). 

,.Die  Musik  tut  dies,  indem  sie  den  Zeitstrom  des  Weltlebens  erfaßt 
und  so  das  Rauschen  und  den  Wirbel  der  universellen  Wendungen,  des 
Geschehens  in  Kompositionen  überführt"  (S.  364). 

„Ein  in  der  Ferne  sich  windender  Ton"  (S.  365). 

„Den  Verzweifelten  zieht  es  nach  unten,  er  streckt  weit  die  Hände 
aus,  und  der  bezauberte  Abgrund  verschlingt  ihn  in  seinen  weiten  dunkel- 
hellen Schatten"  (S.  483/4). 

„Die  preußischen  Deutschen  bedürfen  des  Pessimismus,  um  dem  in 
jüngster  Zeit  liebgewordenen  Barbarismus  einige  Stiche  beizubringen"  (S  508). 

Horst  Kollmann. 


Heinrich  Dietzel,  Kriegssteuer  oder  Kriegsanleihe?  Tübingen  1912. 
J.  C.  B.  Mohr,     m  und  65  S. 

Die  materielle  Ordnung  des  öffentlichen  Finanzwesens  ist  von  der  In- 
anspruchnahme zweckentsprechender  Deckungsmittel  abhängig.  Die  Frage  der 
Wahl  der  Staatsbedarfsdeckungsmittel  ist  daher  eines  der  wichtigsten  Kapitel 
der  Finanzwissenschaft.  Ad.  Wagner,  Schäffle.  Röscher,  Leroy-Beaulieu  u.  a. 
haben  sie  erörtert  und  stets  nachdrücklich  die  Bedeutung  richtig  gewählter 
Deckungsmittel  für  die  Volks-  und  Finanzwirtschaft  betont.  Neuerdings  hat 
Dietzel  mit  der  Fragestellung:  Kriegssteuer  oder  Kriegsanleihe,  einen  Teil 
dieses  Problemes  einer  Prüfung  unterzogen.  Anstoß  gab  ihm  die  in  jüngster 
Zeit  wiederholt  von  Finanzschriftstellern  —  auch  von  mir  —  vertretene  For- 
derung, dem  Finanzwesen  des  Reiches  eine  Steuer  einzugliedern,  „die  in 
Zeiten  der  Gefahr  die  ganze  Finanzkraft  des  deutschen  Volkes  mobil  machen 
kann"  ^).  Dietzel  tritt  nun  zwar  auch  für  eine  bewegliche  Besitzabgabe  des 
Reiches  ein,  aber  er  ist  doch  der  Meinung,  „daß  es,  solange  bis  des 
Krieges  Stürme  schweigen,  heißen  müsse :  Hände  weg  von  der 
Steuerschraube". 

Mit  dieser  radikalen  Finanzregel  schießt  der  scharfsinnige  Autor  m.  E. 
über  das  Ziel  hinaus.  Der  Fehler  seiner  Argumentation  liegt  in  der  Frage- 
stellung: „Wie  könnten,  einmal  zugegeben,  daß  sie  es  dürften,  Kriegsausgaben 
ohne  Anleihen  überhaupt  gedeckt  werden?"  Die  Forderung,  alle  Kriegs- 
ausgaben ohne  Anleihen  zu  decken,  ist  m.  W.  nie  erhoben  worden ;  wenn 
auch  die  Ansichten  über  das  Maß  der  finanzpolitisch  zu  Inlligenden  Kriegs- 
steuern auseinander  gehen  und,  wie  Dietzel  zeigt,  zuweilen  übertriebene  Vor- 
stellungen (Schmoller)  über  die  Ergiebigkeit  solcher  Abgaben  herrschen.  Aus 
dem  Zusammenhang  meiner  Ausführungen  in  der  von  Dietzel  zitierten  Schrift 
geht  hervor,  daß  ich  in  einer  beweglichen  Einkommensteuer  in  erster  Linie 
einen  Ersatz  für  die  in  Kriegszeiten  versagenden  Zölle  und  Verbrauchssteuern 
erblicke.  Nach  Dietzels  zutreffend  begründeter  Meinung  bringen  Kriegs- 
steuern im  Verhältnis  zum  Kriegsbedarf  so  wenig  ein,  daß  ganz  abgesehen 
von  allerdings  entscheidenden  volkswirtschaftlichen  schon  aus  bloßen  finanz- 
politischen Gründen  in  erheblichem  Umfange  zu  Anleihen  gegriffen  werden 
muß.  Nach  meiner,  damit  keineswegs  im  Widerspruch  stehenden  Ansicht 
werden  im  Kriegsfalle  Anleihen  in  einem  solchen  Ausmaß  benötigt,  daß  so- 
weit die  sonstigen  ordentlichen  Einnahmen   versasren  und  wohl  auch  darüber 


')  Ger  1  off,  Matrikularbeiträge  und  direkte  Reichssteuern,  1908.    S.  59. 


Besprechunpfen.  705 


hinaus  auf  Kriegsstouern  nicht  verzichtet  werden  kann.  Dietzel  zeigt  sehr 
gut.  daß  das  englische  Beispiel  einer  vorwiegend  Steuerdeckung  wählenden 
Ki'iegsfinanz  für  die  meisten  Staaten  praktisch  nicht  in  Betracht  kommen 
kann,  aber  er  zeigt  nicht,  daß  auf  die  von  allen  Staaten  bisher  geübte  In- 
anspruchnahme von  Kriegssteuern  neben  Kriegsanleihen  künftig  wrd  verzichtet 
werden  können. 

Die  Ausfühnmgen  Dietzels  beanspruchen  jedoch  heute  noch  aus  einem 
ganz  andern  Cxrunde  besonderes  Interesse.  Indem  er  nämlich  in  seiner  Broschüre 
darlegt,  daß  Steuern  zur  Deckung  eines  außerordentlichen  Bedarfes 
aus  finanziellen,  volkswirtschaftlichen  und  sozialjiolitischen  (Iründen  nicht  zu 
empfehlen  sind,  begegnen  wir  einer  Problemstellung,  die  wie  zugeschnitten 
auf  die  deutschen  Finanzfi-agen  dieses  Jahres  erscheint.  Der  Bonner  National- 
ökonom geht  davon  aus,  daß  es  auf  die  Dauer  volkswirtschaftlich  wie  privat- 
wirtschaftlich gleichgültig  sei,  ob  ein  großer  außerordentlicher  Bedarf  durch 
Steuern  oder  Anleihen  gedeckt  wird.  „Im  Moment  aber",  sagt  er,  „ist  es 
keineswegs  egal!'"  Da  differieren  die  Wirkungen  von  Steuern  und  Anleihe  — 
und  zwar  nicht  nur  die  wirtschaftlichen  Wirkungen  —  außerordentlich.  Wird 
die  Bilanz  gezogen,  so  ergibt  sich  ein  starkes  Saldo  zugunsten  der  Anleihe. 
Für  die  ,, verschobene  Steuerdeckung",  wie  Schäffle  die  Inanspruchnahme  des 
Kredits  einmal  bezeichnet  und  gegen  sofortige  Steuerdeckung  des  Extra- 
bedarfs sprechen  nach  Dietzel  vom  Standpunkt  finanzieller  Zweckmäßigkeit 
zwei  Gründe.  Zunächst  die  raschere  Flüssigstellung  des  Bedarfs  und  anderer- 
seits der  geringere  Eeibungswiderstand,  dem  die  Anleihe  im  Vergleich  zur 
Steuer  begegnet.  Wichtiger  aber  sind  die  volkswirtschaftlichen  Gründe.  Die 
Anleihedeckung  beeinträchtigt  das  Kontinuitätsinteresse  der  Volkswirtschaft 
lange  nicht  in  gleichem  Maße  wie  die  Steuerdeckung;  denn  sie  hat  den  Vorzug 
des  „suaviter  in  modo".  Mit  ihr  wendet  der  Staat  sich  an  jene  Kreise,  die 
Mittel  disponibel  haben  und  diese  auch  sonst  wahrscheinlich  nicht  konsumiert, 
sondern  kapitalisiert  hätten.  Freilich  wird  auch  in  diesem  Falle  der  Pro- 
duktion Kapital  entzogen,  aber  doch  nur  ihre  Steigerung  und  Ausdehnung 
unterbunden,  während  die  vorhandene  Produktion  nicht  gehemmt  wird.  Die 
Steuer  hingegen  ergreift  das  Kapital  ohne  Rücksicht  auf  seine  Entbehrlichkeit 
und  beste  Verwendung,  und  „die  Gefahr,  daß  die  Konsumtion  der  Privaten 
mit  einem  Male  erheblich  abebbe,  ist,  wenn  der  Staat  die  Summe  X  ersteuert, 
d.  h.  sie  ohne  Rücksicht  auf  Disponibilität  und  Möglichkeit  der  Inanspruch- 
nahme privaten  Kredits  eintreibt,  eine  ungleich  größere,  als  wenn  der  Staat 
die  Summe  borgt  und  damit  in  der  Hauptsache  nur  disponibles  Kapital  in 
seine  Tasche  lockt."     Dietzel  macht  das  an  einem  Beispiel  deutlich. 

„Angenommen:  A,  B,  C  verfügen  über  ein  steuerpflichtiges  Einkommen 
gleicher  Höhe;  sie  würden  also  bei  Steuerdeckung  gleiches  zu  zahlen  haben. 
Aber  ihre  Wirtschaftslage  mag  trotz  gleichen  Einkommensbetrages  ganz 
verschieden  ausschauen,  und  daher  mag  auf  Anleihedeckung  jeder  dieser  drei 
Privaten  verschieden  reagieren.  A  mag  durchaus  richtig  handeln,  wenn  er 
nichts  zeichnet:  deshalb,  weil  er  alles,  was  er  einnimmt,  benötigt  behufs 
Konsumtion,  zufolge  deren  Einschränkung  er  seine  wirtschaftliche  Leistimgs- 
fähigkeit  oder  die  seiner  Angehörigen  derart  schmälern  würde,  daß  der  Er- 
werb einer  Zinsrente  seitens  des  Reiches  für  ihn  ein  schlechtes  Geschäft 
wäre.  Und  B,  wenn  er  nur  wenig  zeichnet:  deshalb,  weil  er,  was  ihm  außer- 
dem noch  übrig  ist,  in  der  eigenen,  derzeit  blühenden  Unternehmung  zu 
investieren  vermag.  Dagegen  C,  wenn  er  eine  Reihe  von  Titeln  kaiift: 
deshalb,  weil  die  von  ihm  betriebene  Branche  jetzt  daniederliegt,  oder  weil 
gewisse  Anlagen,  die  er  bisher  für  sein  Kapital  gewählt  hatte,  ihm  weniger 
ersprießlich  scheinen  als  die,  zu  welcher  jetzt  das  Reich  einladet.  Bei  An- 
leihedeckung steht  es  den  Privaten  frei,  ob  sie  sich  gänzUch  fem  halten, 
oder  nur  schwach,  oder  stark  beteiligen  wollen  —  je  nachdem  ihnen  Kapital 
gar  nicht  disponibel  ist,  oder  nur  in  kleinen  oder  in  großen  Mengen.  Bei 
Anleihedeckung  wird  die  Summe  X  in  der  Hauptsache  seitens  derer  auf- 
Zeitschrift für  Politik.   6.  45 


706  Besprechungen. 


gebracht,  die  Kajjital  disponibel  haben  —  wird  sie  auf  die  Privaten  so- 
zusagen   ,umgelegt'    nach    dem    Quantum    disponiblen    Kapitals,    das    jedem 

eignet." Bei   Steuerdeckung   ist   es   weit  weniger  verbürgt.     Jene  A, 

B,  C  —  die  zwar  über  ein  steuerpflichtiges  Einkommen  gleicher  Höhe  ver- 
fügen, deren  Wirtschaftslage  aber  ganz  verschieden  ausschaut  —  werden  bei 
Steuerdeckung  über  einen  Kamm  geschoren.  Daher  steht  zu  befürchten, 
„daß  der  Staat  in  größerem  Umfange  sich  solchen  Geldes  bemächtigt,  das 
seitens  der  Privaten  erst  hat  fi-eigesetzt  werden  müssen.  Geschieht  dies  durch 
irrationelle  Einschränkimg  der  Konsumtion  oder  irrationelles  Herausziehen 
aus  der  eigenen  Unternehmung,  bzw.  aus  sonstigen  Anlagen,  so  leidet  das 
Eentabilitätsinteresse  der  Privaten;  mit  ihm  aber  das  Produktivitätsinteresse 
der  Volkswirtschaft". 

Aber  auch  vom  Standpunkt  der  Gerechtigkeit  ist  nach  Dietzel  die 
Deckung  eines  Extrabedarfs  durch  Anleihe  der  Steuerdeckung  vorzuziehen. 
Jede  auch  nur  vorübergehende  Erhöhung  der  Steuern  verschärft  die  unver- 
meidlichen Härten  und  Ungerechtigkeiten,  die  jeder  Steuer  anhaften.  Auch 
die  bloße  Heranziehung  der  „Mehrbegüterten"  vermag  —  abgesehen  von  der 
finanziell  geringeren  Ergiebigkeit  —  keineswegs  die  üngleichmäßigkeiten 
zu  umgehen;  im  Gegenteil,  die  Willkür  in  der  Steuerbemessung  muß  nur 
um  so  gi-ößer  werden.  Vor  allem  aber  droht  die  Gefahr  einer  volkswirt- 
schaftlich außerordentlich  schädlichen  Konsumverschiebung.  Ein  „Abbruch 
am  Luxus,  zu  dem  die  Millionärsteuer  zwingt,  mag  den  Millionären  gar  nicht 
besonders  hart  ankommen  —  aber  die,  deren  Kunden  bisher  die  Millionäre  waren, 
in  schlimmste  Bedrängnis  treiben".  Nicht  das  Kapital,  sondern  die  Arbeit  wird 
man  letzten  Endes  treffen,  die  Arbeit  jener,  die  von  den  Millionären  wirt- 
schaftlich abhängen,  von  diesen  ihren  Gewinnst  und  Lohn  herleiten.  „Auf 
den  ersten  Blick",  sagt  Dietzel,  „schaut  der  Plan,  durch  eine  Sondersteuer 
die  Kriegskosten  zu  wälzen  auf  die  stärkeren  Schultern,  recht  annehmbar 
aus.  Bei  näherem  Zusehen  erkennt  man:  die  Bedenken,  die  vom  Standpunkt 
volksvnrtschaftlicher  Zweckmäßigkeit  und  Gerechtigkeit  gegen  Kriegssteuer 
überhaupt  sprechen,  sprechen  erst  recht  gegen  Sondersteuer." 

Was  hier  von  Kriegssteuer  und  Ki-iegsanleihe  gesagt  wird,  gilt  national- 
ökonomisch überhaupt  von  der  Frage  der  Deckung  eines  großen,  einmaligen 
Bedarfes.  Inzwischen  hat  denn  auch  Dietzel  in  zwei  Ai-tikeln  „Wider  die 
Einmalige"  das  Wort  gegen  die  einmalige  Wehrabgabe  ergriffen.  (Frankfurter 
Zeitung  vom  28.  und  29.  März  1913.  Erstes  Morgenblatt).  Er  stützt  sich 
dabei  im  wesentlichen  auf  die  hier  wiedergegebenen  Gedankengänge,  denen 
Folgerichtigkeit  gewiß  nicht  abgesprochen  werden  kann.  Dennoch  hat  man 
bei    der  Ausgestaltung   des  Wehrbeitrags  Dietzels   Einwände   nicht  beachtet. 

Wilhelm  Gerloff. 


Joachim  Graßmann,   Deutsche  Konsularberichterstattung.     Berlin  1910. 
F.  Siemenroth.     95  S. 

Der  Verf.  gibt  in  der  Einleitung  eine  kurze  Übersicht  über  die  Ent- 
wicklung des  Konsularwesens  und  seiner  Aufgaben.  Er  bringt  sodann  im 
ersten  Teil  eine  Übersicht  über  die  Normen  der  konsularischen  Bericht- 
erstattung, im  dritten  Teil  über  diejenigen  der  konsularischen  Auskunfts- 
erteilung, beides  auf  der  Grundlage  der  im  „Handbuche  des  Deutschen 
Konsularwesens"  von  B.  W.  v.  König  enthaltenen  Runderlasse  des  Auswärtigen 
Amts.  Im  dritten  Teil  behandelt  er  das  Institut  der  Sachverständigen  für 
Handelsangelegenheiten,  für  Land-  und  Forstwirtschaft.  Daran  schließt  sich 
als   vierter  Teil  ein  Abschnitt  über  deutsche  Handelskammern  im  Auslande. 

Die  Abhandlung  enthält  einen  guten  Überblick  über  die  bestehenden 
Einrichtungen  mit  Beziehung  auf  die  konsularische  Berichterstattung  und 
ihre  Vorwertung.     Hier  und  da  findet  sich  eine  kritische  Äußerung,  so  wird 


Besprechungen.  707 


bemerkt  (S.  32  33),  daß  wegen  allzugroßer  amtlicher  Ängstlichkeit  vieles 
von  den  wertvollen  Berichten  in  den  Akten  vergraben  werde,  vieles  aber 
auch  durch  die  große  Verzögerung  der  Veröffentlichung  nicht  zu  angemessener 
Verwertung  kommt.  „Es  kann",  so  heißt  es  S.  17,  „die  Verwertung  der 
Berichte  nur  schädigen,  wenn,  wie  es  jetzt  geschieht,  die  .Jahresberichte  erst 
ein  halbes  Jahr  nach  dem  Schluß  des  Berichtsjahres  erstattet  wei-den,  wiederum 
ein  halbes  Jahr  si»iter  al)er  erst  zur  Veröffentlichung  im  Handelsarchiv 
gelangen."  Von  den  vertraulichen  Mitteilungen  über  Absatz-  und  Kredit- 
verhältnisse, die  den  Handelskammern  in  großer  Zahl  von  den  Behörden 
regelmäßig  zugehen,  wird  gesagt  (S.  40),  daß  sie  meist  ihren  Zweck  ver- 
fehlen, wobei  der  Hauptgrund  wohl  darin  liegt,  daß  die  vertrauliche,  die 
Benutzung  der  Presse  ausschließende  Behandlung  vorgeschrieben  ist. 

Gelobt  und  zur  Nachahmung  empfohlen  wird  die  Einrichtung  einer 
„Handelsauskunftsstelle"  in  den  Räumen  des  Kaiserlichen  Generalkonsulats 
in  Kapstadt,  die  anfangs  1908  errichtet  wurde.  Sie  ist  bestimmt,  Handels- 
kreisen Gelegenheit  zu  geben,  sich  über  deutsche  Handelshäuser  und  die 
Leistungsfähigkeit  von  Deutschlands  Handel  und  Industrie  Aufschluß  zu  ver- 
schaffen. Zu  diesem  Zwecke  sind  dort  sämtliche  von  deutschen  Firmen  ein- 
gehende Kataloge,  Zeitschriften  usw.,  sowie  die  zur  Verfügung  stehenden 
deutschen  Adreßbücher  ausgelegt.  Ein  Firmenregister,  das  alle  in  den  Kata- 
logen und  den  anderen  Publikationen  deutscher  Firmen  erwähnten  Waren 
in  alphabetischer  Reihenfolge,  ferner  daneben  Vermerke  über  liefernde 
Firmen  usw.  enthält,  orientiert  in  leichter  Weise  den  Interessenten. 

In  dem  Abschnitt  über  die  Sachverständigen  befürwortet  Graßmann, 
von  der  Entsendung  von  Spezialsachverständigen  noch  mehr  wie  bisher 
Gebrauch  zu  machen.  Auch  von  anderer  Seite,  so  von  Schanz,  Ziele  der 
Exportpraxis,  ist  die  öftere  Aussendung  von  Spezialmissionen  empfohlen 
worden. 

Die  konsularische  Berichterstattung  ist  letzthin  mederholt  Gegenstand 
der  Erörterung  gewesen,  so  von  Bernhard  Harms  in  seiner  Schrift  „Welt- 
wirtschaftliche Aufgaben  der  deutschen  Verwaltungspolitik'',  die  der  Unter- 
zeichnete Band  V  S.  450  der  „Zeitschrift  für  Politik"  besprochen  hat.  Ferner 
seitens  des  früheren  Handelssachverständigen  Otto  Goebel  im  Juuiheft  1911 
von  „Technik  und  Wirtschaft.  Der  Unterzeichnete  hat  S.  322/4  des  III.  Bandes 
der  „Zeitschrift  für  Politik"  eine  vergleichende  Studie  über  den  Konsular- 
dienst  der  wichtigsten  Handelsmächte  veröffentlicht  und  dabei  bereits  auf 
einige  Bestimmungen  der  außerdeutschen  Reglements  hingewiesen,  die  wir 
uns  zum  Vorbild  dienen  lassen  könnten.  Ausführlicher  hat  er  diesen  Gegen- 
stand behandelt  in  einer  „im  Bankarchiv"  (I.Juli  1911  und  folgende  Nummern) 
erschienenen  Artikelserie  über  „die  konsularische  Berichterstattung  und  den 
amtlichen  Nachrichtendienst".  Es  sind  dort  eine  Reihe  von  Vorschlägen 
enthalten,  deren  Berücksichtigung  für  die  wirksame  Ausgestaltung  des  amt- 
lichen Nachrichtendienstes  im  Interesse  des  Außenhandels  vielleicht  von 
Nutzen  sein  möchte.  Bernhard  v.  König. 


Hans  Graf  von  Schwerin-Löwitz,  Aufsätze  und  Reden  aus  Anlaß  seiner 
zehnjährigen  Präsidentschaft.  Herausgegeben  vom  deutschen  Land- 
wirtschaftsrat.    Berlin  1911.     Paul  Parey.     402  S. 

Der  deutsche  Landwirtschaftsrat  hat  sich  ein  dankenswertes  Verdienst 
erworben,  als  er  beim  zehnjährigen  Präsidentschaftsjubiläum  seines  Vor- 
sitzenden die  Gelegenheit  nicht  vorübergehen  ließ,  durch  die  Sammlung  der 
Aufsätze  und  Reden  des  Grafen  Schwerin-Löwitz  die  Öffentlichkeit  auf  die 
Bedeutung  des  Grafen  im  pohtischen  Leben  Deutschlands  hinzuweisen. 

Eine  bündige,  von  jeder  persönlichen  Anhimmlung  freie  Einleitung 
wertet  ihn  als  Soldaten,   Landwirt  und  Politiker,   dann  folgen  zunächst  die 

45* 


708  Besprechungen. 


Begrüßungsreden,  mit  denen  der  Graf  die  Tagungen  des  deutschen  Land- 
wirtschaftsrates in  den  Jahi-en  1901 — ^1911  einleitete,  ihrem  Charakter  als 
offizielle  Ansprachen  gemäß  mehr  allgemeinen  Inhalts.  Daran  reiht  sich 
eine  Anzahl  von  Äußerungen  über  die  verschiedensten  wirtschafts-politischen 
Fragen  über  (letreidezölle,  Transitlager  Zollkredite,  Identitätsnachweis,  den 
Antrag  Kanitz  u.  a.  m.  Etwas  unvermittelt  findet  sich  darunter  auch  der 
einzige  Aufsatz  des  Buches  „Über  die  Meistbegünstigimg  und  das  handels- 
politische Verhältnis  Deutschlands  zu  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika", dem  das  Buch  den  nicht  ganz  gerechtfertigten  Teil  seines  Titels 
„Aufsätze"  verdankt.  Seine  Tätigkeit  als  Parlamentarier  und  praktischer 
Landwirt  brachte  es  mit  sich,  daß  im  letzten  Jahrzehnt  kaum  ein  bedeutendes 
handelspolitisches  oder  bodenwirtschaftliches  Problem  existiert,  zu  dem  Graf 
Schwerin-Löwitz  nicht  Stellung  genommen  hätte. 

An  sein  bekanntes  Gutachten  über  die  Moorkultur  auf  seinem  Gute, 
die  einen  Teil  seiner  praktischen  Lebensarbeit  bildet,  das  er  im  Jahre  1905 
vor  der  Zentralmoorkommission  erstattete,  und  das  bahnbrechend  für  die 
Entwicklung  der  Moorkultur  in  Deutschland  gewesen  ist,  schließen  sich 
Eeferate  aus  der  parlamentarischen  Tätigkeit  über  den  Quebrachozoll,  über 
die  Zuckersteuer,  das  Kaligesetz,  die  Brüsseler  Zuckerkonvention,  den  Getreide- 
terminhandel usw. 

Bei  aller  durch  den  Stoff  gebotenen  Nüchternheit  und  einer  auf  Kampf 
gerichteten  Tendenz  tragen  die  Reden  den  Stempel  einer  menschlich  wie  als 
gründlichen  Kenner  der  Materie  schätzenswerten  Persönlichkeit.  Die  einfache 
und  dennoch  ausdrucksvolle,  von  jedem  falschen  Pathos  fi-eie  Art  der  Wieder- 
gabe zeigt  bei  allem  Nachdruck,  mit  dem  Graf  Schwerin-Löwitz  für  die  eigene 
Sache  eintritt,  einen  sympathischen,  vielseitig  gebildeten,  von  jedem  kleinen 
Parteifanatismus  fi'eien  Menschen,  den  auch  mitten  im  erbitterten  Kampf 
niemals  die  Ruhe  und  die  Achtung  vor  der  Persönlichkeit  des  Gegners  verläßt. 

Die  Anordnung  des  Stoffes  zeigt  zwar  nach  außen  hin  keine  organische 
Gliederung,  doch  als  ganzes  erfüllt  die  Sammlung  vollkommen  ihren 
Zweck,  der  Öffentlichkeit  ein  anschauliches  Bild  vom  Lebenswerk  des 
Jubilars  zu  geben. 

Einen  fühlbaren  Mangel  bedeutet  das  Fehlen  eines  Kommentars  und 
eines  Sachregisters,  da  es  sich  um  Reden  über  aktuelle  Probleme  handelt, 
die  mancherlei  enthalten,  das  wohl  den  Zuhörern  im  Augenblick  geläufig 
sein  mochte,  für  späterhin  aber  unbedingt  der  nähern  Erläuterung  bedürfen. 
Bei  einer  Neuauflage  der  Sammlung  sollte  der  Verlag  es  nicht  unterlassen, 
dies  nachzuholen.  Eugen  Fridrichowicz. 


Sach- 


und  Namenregister. 


Abgi'enzung  des  Ordinariums  und 
Extraordinariums  im  Eeichsetat  444. 

Abhängigkeit  des  Budgetrechts  von 
der  Regierungsform  466  f. 

Ablehnung  der  allgemeinen  Wehr- 
pflicht in  England  132  f. 

Abschreibung  vom  Anleihesoll  im 
Reiche  446. 

Abstufungen  der  Katholisch-Konser- 
vativen 154  f. 

Act  of  Settlement  1701.    560. 

Ägypten,  StaatsrechtÄ.  (Besprechung) 
249  ff. 

Algeciras-Konferenz  122. 

Alldeutsche  Bestrebungen  123. 

allotted  days  der  Budgetberatung  395. 

Altenstein  12. 

Amerika  und  China  186  ff. 

Amerikanischer  Besitz   in  Asien  197. 

Amerikanismus,  katholischer  157. 

Analogien,  verfassungsrechtliche  und 
staatswirtschaftliche  in  Preußen  und 
England  461  ff. 

Anarchistisch  -  kommunistisches  Pro- 
gramm von  Moses  Heß  78  f. 

Andrässy,  Graf  Julius,  Biographie 
(Besprechung)  256  ff. 

Anerkennung  des  Kabinetts  in  Eng- 
land 561. 

Anfänge  des  Radikalismus  in  Berlin 
42  ff. 

Anleihebewilligungsrecht  des  Reichs- 
tags 392  f. 

Anleihepolitik  im  Reich  und  inPreußen 
422  ff. 

Anleihepraxis  des  preußischen  Land- 
tages 429. 

Anna,  Königin,  Kabinett  unter  A.  563. 

Annuitätentilgung  in  Frankreich  und 
England  420  f. 

Anson,  William  R.  398. 

Antagonismus  zwischen  England  und 
Deutschland  120  f. 


Antikonstitutionelle  im  vormärzlichen 
Preußen  24. 

Appropriationsakte  354  f. 

Ai'beitsweise  des  Kabinetts  unter  Prinz 
von  Wales  572. 

Armenpolitik,  englische  (Besprechung) 
673  ff. 

V.  Arnim-Boitzenburg  32. 

Arten  der  parlamentarischen  Enquete 
267. 

Atheismus  der  „Freien"  55, 

„Athenaeum"  —  Organ  des  Berliner 
Radikalismus  43. 

Auersperg  307. 

Aufgaben  des  katholischen  Konserva- 
tismus 155  f. 

Aufgabenkreis  der  Mittelstaaten  632  f. 

—  von  Staat  und  Provinz  628. 
Auflösung  des  philosophischen  Radi- 
kalismus 82  ff. 

Aufrechterhaltung  der  britischen  Vor- 
macht 140  f. 

Aufi-uhi-  in  China  1900  187. 

Ausbau  der  Matrikularbeiträge  diu'ch 
den  Reichstag  385  f. 

V.  Ausfeld  293. 

Ausführungsanweisungen  zur  Instruk- 
tion für  die  Rheinlande  184  f. 

Ausgabe,   keine,   ohne   Deckung   436. 

Ausgabebewilligungsrecht,  Beschrän- 
kung des  A.  439. 

—  des  Reichstags  387  f. 
Ausgleich,  sozialer.  Budgetrecht  und 

Finanzpraxis  im  Dienste  des  A. 
474  ff. 

Ausgleichsfonds  für  die  preuß.  Eisen- 
bahnverwaltung 427. 

Auskunftspflicht,  parlamentarische,  der 
österreichischen  Minister  319. 

Auskunftsrecht  der  österreichischen 
Parlamentsausschüsse  314  ff. 

Ausland  über  Englands  Seemacht  128. 

Ausschüsse,  parlamentarische  265. 

Außerordentliche  Schuldentilgung  im 
Reiche  455. 


710 


Sach-  und  Namenregfister. 


Authentische  Interpretation  der  In- 
struktion  für  die   Rheinlande    183. 

B. 

Baden,  Kreisverbände  633. 

—  Staatsstelhmg  635. 

—  Wahlprüfungsenquete  in  B.  292. 
Badeni  (Besprechung)  534  ff. 

—  Kabinett  B.  341. 

Badischer  Liberalismus,  Polemik  Ed- 
gar Bauers 

Balfour  400. 

Bankinteressen,  amerikanische,  in 
China  199  f. 

Bannermann,  Campbell  402. 

Bauer,  Bruno  16. 

—  Bruno  und  Edgar  als  Haupt  der 
vormärzlichen  Opposition  46  f. 

—  Edgar  5,  13. 

—  Edgar,  als  Führer  des  Eadikalis- 
mus  in  Preußen  58  ff. 

—  Edgar,  als  Radikalist  84. 
Bäuerliche  Bevölkerung  und  politische 

Parteien  in  Deutschland  und  Frank- 
reich 664  ff. 
Bassermann,  Antrag  B.  1848  601. 

—  im  badischen  Landtag  1848  599. 
Bayern,  Budgetverhältnisse  373. 

—  Erledigung  des  Budgets  in  B.  404. 

—  Wahlprüfungsenquete  in  B.  291  f. 
Begriff:  Konservativ  151  f. 
Begrifflicher     Unterschied     zwischen 

Einzelstaat  und  Provinz  625. 
Behörden,    Staatsbürgerliche  Freiheit 

und   freies   Ermessen   der  B.    (Be- 

sjarechung)  239, 
Behördenorganisation  159  ff. 
Beiräte    als   legislative  Informations- 
organe 344  f. 
Bekämpfung  des  Cleburtenrückganges 

662  f. 
Belgien,  Budgetrecht  in  B.  368. 
Beratungsrecht    der    Mitglieder    von 

Kollegien  161. 
Berlin,  Anfänge  des  Radikalismus  in 

B.  42  ff. 

—  vormärzlicher  Liberalismus  in  B. 
25, 

Beschränkungen  des  Reichsbudget- 
rechts 377  f. 

Beschwerderecht  der  Volksvertretung 
(Hannover)  275  f, 

Besserung  der  Finanzpraxis  im  Reiche 
456  f. 

Bismarck  und  das  päpstliche  Rom 
(Besprechung)  528  ff. 


Bismarck,  i^reußisches  Enqueterecht 
unter  B.  286. 

V.  Bodelschwinghs  Konzession  der 
„Rheinischen  Zeitung"  27,  28. 

Bolingbroke  562. 

Bonet,  Friedrich  568. 

Börne,  Ludwig  9. 

Börsenderoute,  Wiener  1891,  Parla- 
mentsenquete wegen  der  B.  335  f. 

Bothmer,  Graf  567. 

Bowles,  Thomas  Gibson  401. 

Breiter  342. 

Brestel  300. 

Britische  Politik,  Grundlagen  der  B, 
P.  114  ff. 

Bruch  der  Junghegelianer  mit  der 
Politik  66  ff. 

Brutto-  oder  Nettobudget  409, 

Buckingham  552, 

Budget-Zwölftel  in  Frankreich  404. 

Budgetgesetz,  kein  B.  in  Bayern  374  f. 

Budgetkonflikt  in  England  1909/10 
357  ff. 

Budgetkonflikte  in  Preußen,  Wir- 
kung 372. 

Budgetprovisorium  365. 

—  in  England  418. 
Budgetrecht  346  ff. 

—  als  politische  Waffe  457  ff. 

—  des  Reichstags  440  ff. 
Budgetrechtliche  Natur  der  Ausgabe- 
bewilligung 389. 

Budgetverweigerung    in    Frankreich, 

Folgen  der  B.  365. 
Buhl,  Ludwig  5,  7,  58. 
Bulgaren  und  Panslavismus  223. 
Bündnistreue     Englands     gegenüber 

Frankreich  125. 
Bureaukratische  Geschäftsform  166. 
Bureaukratismus     in    den    Behörden 

159  f. 

o. 

Cal)inet  Council  552. 

Cadogan  592, 

China,  Abwehr  europäischer  Ideen  207. 

—  und  dieVereinigten  Staaten  186  ff. 

—  Erwachen  202  ff. 

—  politische  Zukunft  213  f. 
„Charte  Wal  deck"  284. 
CJlarendon  550. 

Cochery,  Georges  408. 
Comitee  of  Council  564  f. 
Consolidated  fund  349  f, 
Corollartheorie  307. 
cour  des  comptes  406. 


i 


Sach-  und  Namenregister. 


711 


Cowpers  Diary  563. 
Cromwell  552. 

£>. 

Dahlmann  274. 
Daszyiiski  338,  341. 
Deckimirsfrage  470. 
Defizitanleiben  im   Deutschen  Keicb, 

Preußen  und  England  423  f. 
Delcasse  122. 
Demokratie,  deutsche,  Trennung  der 

proletarischen  von  der  bürgerlichen 

(Bespreciiung)  523  ff. 

—  als  Schlagwort  der  Radikalen  73. 
Demokratismus  Ficbtes  10. 
Departements,  bäuerliche,    in  Frank- 
reich 670  f. 

Derby.  Lord  397. 
Derwentwater  570. 
Detente,  deutsch-englische  142  f. 
Deutsch-englische  Beziehungen  118  f. 
Deutsch-französische  Beziehungen  123. 
Deutsch-nationaler  Katholizismus  158. 
Deutschkonservative  Partei  152. 
Deutschland,   bäuerliche  Bevölkerung 
und  politische  Parteien  in  D.  6d4  ff. 

—  parlamentarische  Enquete  265  ff. 

—  Verzicht  auf  die  Hegemonie   in 
Europa  145  f. 

Deutschtum  in  denVereinigten  Staaten 
(Besprechung)  520  f. 

Dlberville  572. 

Differenzen  zwischen  Voranschlag  und 
Wirklichkeit  415. 

Dingelstedt  8. 

Diskontinuität  der  österreichischen 
Enquetekommissionen  326  f. 

Diskussion  über  die  Notwendigkeit  der 
politischen  Partei  in  Preußen  5  ff. 

Dobrovsky,  Jos.  216. 

Dotationen,  System  der  D.  462. 

Dotes  of  account  404. 

Druck  von  außen  auf  die  Weltmächte 
138. 

Dualismus  der  schwedischen  Verfas- 
sung 485  ff. 

Dumont-Schauberg,  Joseph  26. 

Durych,  F.  V.  217. 

E. 

Eduard  VI.,   Anfänge    des   Kabinetts 

unter  Ed.  551. 
Effektive  Schuldentilgung  im  Reiche 

1911/12  451  f. 
Egoismus  als  Weltanschauung  88. 


Eherecht  der  Eingeborenen  in  deut- 
schen Kolonien  504  f. 

Eichhorn  15,   175. 

Einkreisung  Dentschhinds  124. 

Einnahme,  Bewilligungsrechte,  Fest- 
halten des  Reichstags  an  E.  391  f. 

Einnahmegesetze  389. 

Einnahme verkottuugssystem  414. 

Einschränkung  der  politischen  Tätig- 
keit des  Klerus  157. 

—  der  Seerüstungen  143. 

—  des    parlamentarischen    Budget- 
rechts in  Frankreich  367. 

Einwanderung,  japanische  inAmerika 

190  f. 
Einzelstaat  und  Provinz  621  ff". 
Einzelstaateu  als  Reichsprovinzen  645. 
Einzige,  Der,  u.  sein  Eigentum  (Stirner) 

88  f. 
Eisenbahnschuld,  Preußische,  Tilgung 

der  E.  425  f. 
Eisenbahnuiiternehmen  in  China  195. 
Engels,  Friedrich  9,  80. 
England.  Budgetrecht  in  E.  347  ff, 

—  Einfluß  des  Sessionsschlusses  auf 
die  Enquetekommission  329. 

—  Einheitsbestrebungen   in  E.  646. 

—  Erledigung    des    Budgets    in    E. 
402  f.,  404. 

—  Kabinettsregierimg  549  ff. 

—  parlamentarische  Behandlung  des 
Budgets  in  E.  394  f. 

—  parlamentarische  Enquete  in  E. 
274. 

—  Politik  E.  115  ff. 

—  Vorherrschaft  zur  Zeit  der  Kon- 
tinentalsperre 673  ff. 

Englands  Herrschaft  zur  See  als  poli- 
tische Doktrin  127. 

—  Stellung  unter  den  Weltmächten 
138. 

Englische  Politik,  Schriften  zur  e.  P. 

(Besprechung)  236  ff. 
Englisch  -  französische    Bundestreue 

125. 
Englisches  System  der  Finanzpraxis 

479. 
Enqueterecht,       parlamentarisches 

265  ff. 

—  der  österreichischen  Parlaments- 
ausschüsse, Umfang  314  ff. 

Entente,  anglo-russische  122. 

—  englisch-fi'anzösische  120,  122. 
Entstehung  des  englischen  Kabinetts 

549. 

—  der      politischen      Parteien      in 
Preußen  3  f. 


712 


Sach-  und  Namenregister. 


Erfurter  Unionsverfassung,  Enquete- 
recht  in  der  E.  282. 

Erhebung  der  Volksmassen  zur  Demo- 
kratie 74. 

Erich,  Eafael  649. 

Eroberung  Finnlands  654. 

Erstarkung  des  chinesischen  National- 
gefühls 201. 

Etat  der  Eheinprovinz  632. 

Etatsdefizits,  künstliche  429  f. 

Etatsjahr  1911,  Schuldentilgungssätze 
für  E.  449  f. 

Etatstechnik,  englische  400  f. 

Etatsüberschreitungen  387. 

Etatswirtschaft  429  ff. 

Europa,  Verhältnis  zu  China  203. 

Europäisch-chinesischer  Krieg  264, 

Europäisches  Gleichgemcht,  Wahrung 
des  E.  G.  durch  England  134  f. 

Expansionsbestrebungen ,     deutsche, 
keine  Unterbindung  dui-ch  England 
146  f. 

Extraordinarium  des  Eeichsetats,  Sa- 
nierung des  E.  444. 

F. 

Fahlbeck,  Pontus  E.  483. 

Fallati  618. 

Fehlbetrag  des  Staatshaushaltsetats 
412  f. 

Feststehende  Einnahmen  und  Aus- 
gaben im  Preußischen  Etat  438. 

Feuerbach,  Ludwig  75. 

Fichte  10. 

Fichtes  Eeden,  ihr  aktuell-politischer 
Gehalt  (Besprechung)  522  f. 

Fickler  610. 

Finance  account  348, 

Finanzbedarf  für  die  Heeresverstär- 
kung 1911  434, 

—  imd  Etatswirtschaft  429  ff, 
Finanzbill,  englische  1909/10  359  f. 
Finanzgesetz  vom  15.  Juni  1909  449. 
Finanzgi'undlagen  des  Preuß.  Staats- 
haushalts 368  ff. 

Finanzgi-undsätze,  feste,  im  Eeichs- 
liaushaltsetat  481. 

Finanzhoheit  der  Ej*one  458. 

Finanzkraft,  sinkende,  der  Einzel- 
staaten 642, 

Finanznot  im  Eeiche  464, 

Finanzpraxis  346  ff, 

—  Preußische  435  f. 

—  zukünftige,  im  Eeiche  454  ff. 
Finanzprobleme     der     Zukunft     im 

Eeiche  469  ff. 


Finnische  Frage  649  ff. 
Finnland  als  russische  Provinz  651, 
Flottenvermehrungeu,  deutsche  124. 
Flottenvorlage,  deutsche.  Begründung 

der  Fl,  128. 
Flottwell.  Eduard  91  f. 
Föderativrepublik,  deutsche  613, 
Folien,  August  67. 
„Forderungen  des  deutschen  Volkes" 

(Programm)  611. 
Foreign  comitee  554. 
Fortdauer     der     Enquetekommission 

nach  Sessionsschluß  328  f. 
Franckensteinsche  Klausel  440  f, 
Frankfurter  Nationalversammlung  615. 
Frankreich,    Bäuerliche   Bevölkerung 

und  i^olitische  Parteien  in  F,  668  ff. 

—  Budgetrecht  in  F.  362  ff. 
Französisch-russisches  Bündnis   123. 
Französische  Eevolution  imd  Pansla- 

vismus  215  ff. 
Fi'anzösisches   Eecht   in   preußischen 

Gebietsteilen  171  f. 
Freien,  die,   und  die  Eheinische  Zei- 

ttmg  68  f. 

—  die,  im  Kampfe  gegen  den  christ- 
lichen Staat  50  ff. 

„Freien",  Programm  der  F,  107  ff. 
„Freier  Staat"  (Bruno  Bauer)  51. 
Fremdenlegion   (Besprechung)  684  ff. 
Frequenz   in   den  Kabinettssitzungen 

589. 
Friedrich  Wilhelm  III,  2, 
Friedrich  Wilhelm  IV,  2, 

—  und  die  Junghegelianer  13  ff, 

—  Einberufung  des  vereinigten  Land- 
tages 608. 

Fröbel,  Julius  67. 

Gagern  604, 

Gaj,  L,  219, 

Gebarungsperioden,  Eechnung  nach 
G,  408. 

Gebietshoheit,  als  Unterscheidungs- 
merkmal zwischen  Staat  und  Pro- 
vinz 627, 

Geburtenrückgang  in  Deutschland 
657  ff. 

„Gegenwort",  Stirners  Broschüre  91  ff', 
96  ff. 

Gegenwartsaufgaben  der  Finanzpolitik 
482, 

Gelbe  Gefahr  204. 

Geldljewilligungsrecht  des  Eeichstages 
383  ff. 


Sach-  und  Namenretfister. 


713 


Geltimg  der  ßeichsverfassung  in  den 

deutschen  Kolonien   (Besprechung) 

507  ff. 
Genossenschaftswesen  in  Deutschland 

(Besprechung)  ö36  ff. 
Georg  I.,  Kabinettsregierung  unter  G. 

566  f. 
Georg  n.  588. 
Gerechte  Erfassung  der  Steuerobjekte 

472. 
Gerichtsbehörden,  Kollegialverfassung 

bei  G.  162. 
Geschäftsform  der  Behörden  159  ff. 
Geschichte  der  Politik,  Schriften  zur 

G.  (Besprechung)  673  ff. 
Gesetzgebung,  Badische  639  f. 
Gesetzgebungsenquete  268. 
Gesetz     über    Volksbewaffnung    und 

Bürgerwehr  1848  616. 
Gesetzgebungsgewalt  des  Staates  als 

Trennungsmerkmal  von  d.  Provinz 

637. 
Gleichberechtigung,  Von  der  Duldung 

zur  G.  (Besprechung)  689  f. 
Gleichgewicht,  politisches   der  Macht 

in  Schweden  489. 
Giskra  318. 

Gotha,     Enqueterecht    in     der    Ver- 
fassung für  G.  283. 
Gottschall  8. 

Graßmann,  Joachim,  Deutsche  Konsu- 
larb erichterstattung  (Bespr.)  706  f. 
Grenzen     des    Budgetrechts    in    den 

deutschen  Bundesstaaten  371. 
Grey,  Edward.  Politik  E.  G.'s  116. 
Gründe    für   Englands    Seeherrschaft 

129  f. 
Grundgesetz,  österreichisches  über  die 

Eeichsvertretung  §  21  305  f,  310  f. 
Grundlagen     der    britischen    Politik 

114  ff. 
Gründung  der  „Rheinischen  Zeitung" 

27  f. 
V.  Gutzkow  8. 

PI. 

Haldanes  Besuch  in  Berlin  118. 

Hampton  Court,  Eesidenz  Georg  I. 
in  H.  574. 

Handel,  Amerikas  mit  dem  fernen 
Osten  198  f. 

Handwerker,  deutsche  u.  der  Kommu- 
nismus 77  f. 

Hansemann  597. 

Hardenberg  173. 

Hatschek  350.  356  f. 


Hay  und  die  amerikanisch-chinesische 

Politik  188. 
Hecker  614. 
Hegel  4. 
Hegels  GeschichtsphiloBophie   in   der 

Politik  10  f. 
Heidelberg.    Badische    Versammlung 

vom  5.  März  1848  603. 
Heine,  Heinrich  8  f. 
Heppenheimer  Versammlung  1847  598. 
Hermes  40. 

Herrschaftsrecht,  staatliches  626. 
Herwegh  6 ',  8. 

Herwegh  und  die  „Freien"  70. 
Hervey  587. 
Heß,  Moses  28.  75  f. 
Höhe  der  Matrikularbeiträge  384  f. 
Humanität  der  Chinesen  208. 


Illyrismus  220. 

Immediat- Justizkommission  für  die 
Rheinlande,  Instruktion  für  die  I. 
171  ff.,  Text  175  Ö'. 

Immunitätsausschuß  des  österr.  Abge- 
ordnetenhauses, Ladung  von  Zeugen 
dm-ch  den  I.  319  ff. 

Imperial  Council  138  \ 

Indolenz,  politische,  der  Masse  im 
vormärzlichen  Preußen  73  f. 

Industriebezirke,  Verwaltung  und  Pro- 
bleme (Besprechung)  541  ff. 

Informationsrecht  des  österr.  Parla- 
ments. Umfang  des  I.  311. 

Initiative  legislative  269. 

Inselcharakter  Großbritanniens  118  f. 

Instruktion  der  Preußischenlmmediat- 
Justizkommission  für  die  Rhein- 
lande von  1816.    171  ff. 

Interessenstandpunkt     Deutschlands 
148. 

Internationalität  der  politischen  Partei 
(Marx)  81. 

J. 

Jacobys  Freisprechung  vom  Hochver- 
rat 23. 

Jahrbuch  des  Öffentl.  Rechts  Bd.  IV 
(Besprechung)  545  f. 

Japan  und  Amerika  190. 

—  Unterstützung  Chinas  durch  J.  189, 
Japelj,  Georg  217. 

V.  Jaworski  335. 
Jung.  Alexander  8,  21. 
Junghegelianer,  Berliner  Bruch  der  J. 
mit  der  Politik  66  ff. 

—  und  Fi-iedrich  Wilhelm  IV.  13  ff. 


714 


Sach-  und  Namenregister. 


Jungmann,  Jos.  217. 

Juristische   Natur   des   Enqueterechts 

270. 
„Juste  milieu",  Edgar  Bauers  61. 

K. 

Kabale  553. 

Kabinett,  englisches,  unter  Wilhelm  III. 

558  ff. 
Kabinettskrisis  Briand  421. 
Kabinettsrat  in  England  552. 
Kabinettsregierung  iu  England  549  ff. 

—  unter  Georg  I.  568  f. 
Kabinettssitzung     des     Jahres     1718 

576  f. 

Kaffeehauspolitiker  im  vormärzlichen 
Berlin  43. 

Kaiser  342. 

Kaiserbesuch  in  Tanger  122. 

Kamjif  der  „Freien"  gegen  den  christ- 
lichen Staat  50  ff. 

—  um  das  parlamentarische  Enquete- 
recht im  Reichstag  293  ff. 

Kämpfe  zwischen  der  Rheinischen  Zei- 
tung und  der  preußischen  Regierung 
26  ff. 

Kanonisches  Verbot  der  Kleruspolitik 
157. 

Kant  6. 

Kantischer  Liberalismus  21  f. 

Karl  I.,  Kabinettsrat  unter  K.  552. 

Katholischer  Konservatismus  151  ff. 

V.  Kircheisen  173. 

Kirchhoff,  A.  428,  436. 

Knox  und  China  192. 

Koeppen,  Friedrich  Karl  13. 

Kollär,  Joh.  218. 

Kollegialverfassung  der  Behörden 
159  f. 

Kolonien,  deutsche.  Geltung  der 
Eeichsverfassung  in  den  K.  (Be- 
sprechung) 507  ff. 

—  deutsche,  Mischehenfrage  in  den 
K.  498  ff. 

—  Unterstützung  der  britischen  See- 
macht durch  die  K.  140  f. 

Kouiiriissionen  und  Ausschüsse  in  Öster- 
reich, parlamentarisches  Enquete- 
recht der  K.  303  f. 

Komnumalverband  und  Staat,  Unter- 
schied zwischen  K.  625, 

Kommunismus,  Anhänger  in  Deutsch- 
land 75. 

Komptabilitätsgesetz  369. 

Konfessioneller  Konservatismus  des 
Zentrums  153  f. 

Kongresse,  die  slawischen  228  ff. 


Königsberger  Liberalen,  Kampf  Edgar 
Bauers  gegen  die  K.  61  ff. 

Konservatismus,  katholischer  151  ff. 

Konsistorien,  Kollegialverfassung  163. 

Konstantes  Budget  in  England  360  ff. 

KonstituierendeNationalversammlung, 
Enqueterecht  der  K.  278  ff. 

Konstitutionalismus  in  Schweden  483ff . 

Konstitutionelle  Monarchie,  Kamjjf  des 
vormärzlichen  Radikalismus  gegen 
die  K.  63. 

Konstitutioneller  Staat,  Enqueterecht 
im  K.  272  f. 

Konsularberichterstattnng ,  deutsche 
(Besprechung)  706  f. 

Kontinentalsperre,  Englands  Vorherr- 
schaft zur  Zeit  der  K.  (Besprechung) 
673  ff. 

Kontrolle  des  Reichshaushalts  411. 

Kontroverse,  deutsch-englische  121  ff. 
—  über  das  preußische  Enqueterecht 
287  ff. 

Konventionalregeln  623. 

Kopitar,  Bartolomaeus  218. 

Kopp  332. 

Kräfteverschiebungen  zwischen  Reich 
und  Einzelstaaten  624. 

Kreisverbände,  Badische  Verwaltungs- 
aufgaben 633. 

Ki-ieg,  Soziologie  und  Philosophie  des 
K.  518  f. 

Kriegssteuer  oder  Kriegsanleihe  (Be- 
sprechung) 704  ff. 

Krizaniö  215, 

Kronawetter  331. 

KJrone,  englische,  Mitwirkung  am 
Budget  352. 

Krone  und  Reichstag  in  Schweden, 
Gleichberechtigung  der  K.  489  ff. 

Kronfideikommißrente  370. 

Kuhungming  207. 

Kultur  der  Chinesen  206. 

Kulturkampf  in  Deutschland  (Be- 
sprechung) 528  ff. 

Kumerdej,  B.  217. 

Künstliche  Überschüsse  413. 

Kursstand  der  Reichsanleihen  472. 

L. 

Laband  623. 
Landeshoheit  627. 
Landes-Konservatismus  152  f. 
Landesverwaltungsbehörden ,     keine 

kollegiale  Entscheidimg  iu  L.  165. 
Landtag,    finnischer,    Streit    mit    der 

Duma  651. 
—  Preußischer,  Budgetrecht  372. 


Sach-  und  Namenreorister. 


715 


Lansdowne,  Lord  358. 

Lasker  286,  293. 

Lassalle  (Besprechung)  677  ff. 

Leges  fundamentales  in  Finnland  653. 

Legislative  Enqueten  in  Österreich 
338  ff. 

Legitimationsausschuß  des  österreichi- 
schen Parlaments,  kein  Enquete- 
recht  312. 

Lehnsstaat,  vom  L.  zum  Ständestaat 
(Besprechung)  673  ff. 

Lentze  382. 

Leroy-Beaulieu  367. 

Lex  Stengel  383,  443,  445. 

Liaotung  als  japanischer  Besitz  191  f. 

Liberalismus,  ostpreußischer,  und  die 
„Freien"  71  f. 

Liberalismus  und  Radikalismus  im 
vormärzlichen  Preußen  18  f. 

Lichtenfels  306.  318. 

Lienbacher  330. 

Literarisches  Comptoir  in  Zürich  67. 

—  FiHalen  des  L.  C.  72  f. 
Lloyd,  George  357. 
Loening  433. 

Lords  of  the  Committee  572. 
Lords  Justices  584. 
Lueger  335. 

M. 

Machiavellis  Geschichtsauffassung  (Be- 
sprechung) 673  ff. 

JMachtzentrum  als  Kennzeichen  des 
Staates  638. 

Magg  334. 

Mahan  127. 

Mängel  der  Budgetkontrolle  in  Frank- 
reich 406  f. 

Maria,  Königin  von  England  558. 

Marineetat,  englischer  129. 

Marokkanische  Frage  121  f. 

Marx  und  der  Kommunismus  76. 

—  als  Redakteur  der   „Rheinischen 
Zeitung"  34  f. 

—  und  die  „Freien"  69. 
Marxistische     Sozialdemokratie     (Be- 

si^rechung)  264. 
Märztage  in  Berlin  und  Wien  609  f. 
Maihj  597. 
Matrikularbeiträge  380  f. 

—  als    Ursache    der    Defizit-    oder 
Überschußwirtschaft  433  f. 

Mayer  300. 

Meinimgsverschiedenheiten   bei   nicht 
rein  kollegialer  Geschäftsform  170. 
Methuen,  Briefe  571. 
Mevissen  40. 


Meyen  70. 

„Ministers"  562. 

Ministerialerlaß  vom  30.  JEärz  1817 
184  f. 

Ministerialverfassung,  Zweiheit  der 
Geschäftsform  in  der  M.  169. 

Minutes  581. 

Mischehenfrage  in  den  deutschen 
Kolonien  498  ff. 

Mittelform  von  bureaukratischer  und 
kollegialer  Geschäftsform   167  f. 

Mittelmeerfrage,  die  englische  M.  120. 

Mitwirkung  des  Parlaments  bei  der 
Vorbereitung  des  Budgets  in  Eng- 
land 394  f. 

Monarchismus  Friedrich  Wilhelms  IV. 
14  f. 

Money  bills,  Zustandekommen  in  Eng- 
land 397. 

Moralsystem  der  Chinesen  210  f. 

Mühlfeld  302. 

N. 

Nationalliberale  1848  602. 
Nativitätskuren  in   den   europäischen 

Ländern  658  f. 
Nauwerck,  Karl  58. 
Netto-Staatsbedarf  Preußens  438  f. 
Newcastle  582,  587. 
Niederlande,  Enquetegesetz  1850  329. 
Normanby,  Lord  556. 
Notetats  im  Reiche  403. 
Notwendigkeit  der  politischen  Partei 

5  f. 

o. 

Oberhaus,  englisches,  Vetorecht  im 
Budget  356. 

Oberrechnungsamt,  Kontrolle  des  0. 
410. 

Oben^echnungskammer,  Geschäftsfor- 
men der  0.   164. 

Offenburg,  Versammlung  17.  März  1848 
611  f. 

Organisationsgesetzgebung  der  Einzel- 
staaten 640. 

Originäre  Staatsgewalt  627. 

Opiumimport  in  China  194  f. 

Österreich,  parlamentarische  Enquete 
26off. 
—  verfassungsmäßiges  Enqueterecht 
in  Ö.  299  ff. 

Osten,  der  ferne,  und  die  Vereinigten 
Staaten  186  ff. 

Ostpreußen,  vormäi'zlicher  Liberalis- 
mus in  0.  21  ff. 


716 


Sach-  und  Namenregister. 


P. 

Palmerston  397. 

Panslavismus  215  ff. 

Parität   in   Österreich    (Besprechung) 

689  f. 
Parlament,   Behandlung  des  Budgets 

im  P.  393  ff. 
Parlamente ,    französische ,     Uneinge- 
schränktes Budgetrecht  der  P.  363. 
Parlamentsausschüsse    in    Österreich, 

Prüfung  V.  Verwaltungsakten  durch 

die  P.  308,  311. 
Parlamentsenqueten ,     österreichische 

Fälle  von  P.  330  ff. 
Parteien,  politische,  im  vormärzlichen 

Preußen  3. 
Parteipolitik   zur  Zeit  des  deutschen 

Vorj)arlamentes  594  ff. 
Pavloviö,  T.  219. 
Pendtenriedter,  Freiherr  von  575. 
Pepys  Diary  553  \ 
Personalenqueten  in  Österreich  340. 

—  Unzulässigkeit  der  P.  272. 
Peterboraugh,  Lord  562. 

v.  Pfaff,  Freiherr  448. 
Pietismus  Friedrich  Wilhelms  IV.  16. 
Plathner  279. 

Polen  und  Panslavismus  223. 
Politik,  britische,  Grundlagen  der  P. 
114  ff. 

—  der  mittleren   Linie  in  England 
116. 

—  englische,   Schriften  zur  P.    (Be- 
sprechung) 236  ff. 

—  Schriften   zur  Geschichte  der  P. 
673  ff. 

Politisierung  der  katholischen  Kirche 

155. 
Politische  Bedeutung  des  englischen 

Budgets  349. 

—  Bedeutung  des  französ.  Budget- 
rechts 364. 

—  Presse  im  vormärzlichen  Deutsch- 
land 26. 

Politischer  und  strategischer  Stand- 
punkt Englands  gegenüber  Deutsch- 
lands 147. 

—  Radikalismus    im    vormärzlichen 
Preußen   1  ff. 

Polizeiverwaltung  als  staatliches  Ver- 
waltungsgebiet 637. 

Posadowsky  als  Sozialpolitiker  (Be- 
sprechung) 255  f. 

Philosophie  der  Kultur,  der  Kultur- 
akt (Besi^rechung)  701  ff. 

Philosophie  und  Proletariat  80. 


Prärogative  der  Krone  bei  der  eng- 
lischen Budgetberatung  396. 

Präventivkontrolle  in  England  407. 

Praxis,  finanzpolitische  412  ff. 

Preferenzialzölle,  englische  130. 

Premierminister  in  England  593. 

Preßedikte  Friedrich  Wilhelms  IV. 
17  f. 

Preuß  627. 

Preußen,  Anfänge  des  Radikalismus 
in  P.  1  ff. 

—  als  Führer  der  deutschen  Einheit 
617  f. 

—  Einfluß  auf  die  Einzelstaaten  643  f. 

—  Enqueterecht     im     Verfassungs- 
gesetz für  P.  284  f. 

—  Staatshaushalt,  Rechts-  u.  Finanz- 
gruudlagen  368  ff. 

Preußisch-süddeutsche  Klassenlotterie 

643. 
Prinz  von  Wales   im  Kabinett   1716 

580. 
Privy  Council  550. 

—  Council,  beschränktes  555. 
Problem  der  Masse,  Radikalismus  und 

das  P.  72  ff. 
Programm  der  „Freien"  91  ff.,  107  ff., 
111  ff. 

—  des  radikalen  Liberalismus  1847 
596. 

Proletariat  in  der  Philosoi^hie  80. 

Protokolle  der  Kabinettssitzungen 
582  f. 

Provinz,  Einzelstaat  und  P.  621  ff. 

Provinzen,  Entwicklungsfähigkeit  der 
P.  645. 

Provinzialbehörden,  Kollegialverfas- 
sung bei  P.  162. 

Prutz,  Robert  2  f.,  8. 

public  letters  586. 

Ct. 

Quadrumvirat  und  Triumvirat  591. 
Quäker,     Sozialpolitik     der    Q.    (Be- 
sprechung) 673  ff. 

R. 

Radikalen,  die  deutschen  1848  616  f. 
Radikaler  Liberalismus  in  Baden  595  f. 
Radikalismus,    Anfänge     des     R.    in 
Berlin  42  ff. 

—  philosophischer,  Auflösung  des  R. 
82  ff. 

—  politischer,      im      vormärzlichen 
Preußen  1  ff. 


Sacli-  und  Namenregrister. 


717 


Radikalismus  und  das  Problem  der 
Masse  72  ff. 

Eadikalisten  im  vormärzlichenPreußen 
58  ff. 

Eationalisierung  des  Sexuallebens 
660  ff. 

Eave,  Bernliard  36. 

Reaktion,  katliolische  154. 

Rechtsj^rundlagen  im  Preuß.  Staats- 
haushalt 369. 

Rechtsschutz  der  Zeugenaussage  im 
Parlament  325  f. 

Redlich  356. 

Redner,  politische,  in  Österreich  (Be- 
sprechung) 534  ff, 

Reform  des  Budgetrechts  des  Reichs- 
tages 473  f.,  480. 

Regentschaften,  das  englische  Kabinett 
unter  den  R.  584. 

Regierungen,  Preußische,  Geschäfts- 
betrieb bei  den  R.  163. 

Regierungsform  und  Wahlrecht,  Bud- 
getrecht im  Verhältnis  zu  R.  466  ff. 

Regierungsinstruktion,  Geschäftsbe- 
handlung nach  der  R.  163. 

Reglements  der  Provinz  629. 

Reichensperger,  Peter  280,  607. 

Reichsbankdirektorium,  Fester  Etat 
des  R.  379  f. 

Reichsbudgetrecht  375  ff. 

Reichseinnahmen,  unabhängige  380. 

Reichserbschaftssteuer  386. 

Reichsfinanzreformen  1904,  1906,  1909 
443. 

Reichsgericht,  Kollegialprinzip  des  R. 
161. 

Reichsgesetzgebung,  Abhängigkeit  des 
Budgets  von  der  R.  370  f. 

Reichshaushaltsetat  als  lex  annua  376. 

Reichskontrollgesetz  von  1910  411. 

Reichsparlament,  englisches  647. 

Reichspartei  154. 

Reichsschuldenwirtschaft  442. 

Reichssteuern,  direkte,  Notwendigkeit 
der  R.  469. 

Reichstag  gegen  Festlegung  der  Ma- 
trikularbeiträge  381  f. 

—  Budgetrecht  440  ff. 

—  kein  Entqueterecht  im  R.  293  f., 
296  f. 

—  Geldbewilligungsrecht  des  R.  383. 

—  Kontrolltätigkeit  des  R.  411. 
Reichstagspräsident,  deutscher,  Staats- 
rechtliche   Stellung    (Besprechung) 
514  f. 

Reichstags  -Wahlkreise,     bäuerliche 
667  f. 


Reichstagswahlrecht  und  Budgetrecht 

468. 
Eeichsverfassung  vom  28.  März  1849, 

Enqueterecht  in  §  99  der  R.  281  f. 

—  Geltung  der  RV.  in  den  deutschen 
Kolonien  (Besprechung)  507  ff. 

—  Kommentar  (Besprechung)  247  ff. 
Reichsvei-sicherungsbehörden,      keine 

Kollegien   164  f. 
Reichsverteidigung    Englands    durch 

die  Kolonien  139  f. 
Reichswertzuwachssteuer  390. 
Reincke  294  f. 

Reinüberschüsse  der  jjreuß.  Eisenbahn- 
verwaltung, Verwendung  der   431. 
Religionsedikt  Friedrich  Wilhelms  IV. 

53. 
Republik  China  205. 
Republikanische    Partei,    Entstehung 

in  Deutschland  1848  613. 
Republikanismus  in  Deutschland  1848 

610. 
Resolution  des  Radikalliberalismus  in 

Offenburg  1847  595. 
Revolution  1848  603. 

—  chinesische  196,  212  f. 

—  des  Proletariats  85. 
Rheinische     Zeitung     und     die     vor- 
märzliche Opposition  26  ff. 

Rheinlande,  Instruktion  der  Preußi- 
schen Immediat- Justizkommission 
für  die  R.  171  ff. 

Rheinprovinz,  Wirkungskreis  der  E. 
628  f. 

Rochows  Kampf  gegen  die  „Rheini- 
sche Zeitung"  30  f. 

Eoesler  280. 

Eom  und  das  Zentrum  (Besprechung) 
528  ff. 

Eomantiker,  Fi-iedrich  Wilhelm  IV. 
als  E.  15. 

Eooke,  Sir  George  558. 

Eoosevelts  Japanpolitik  189. 

Eosenkranz,  Karl  6,  20. 

Eotteck  274. 

Eückkauf  der  mandschurischen  Eisen- 
bahn durch  China  192. 

Enge,  Arnold  10,  46. 

Russen  und  Panslavismus  224  ff. 

Eussifizierung  Finnlands  652. 

Eußlands  Einfluß  auf  die  Mandschurei 
188  f. 

Eüstungsfolgen  in  England  u.  Deutsch- 
land 131. 

Eüstungswettkampf,  englisch-  deut- 
scher 138  f. 

Eutenberg  18  f.,  44. 


718 


Sach-  und  Namenregister. 


s. 

Safafik,  Paul  J.  218. 

Saint,  Paul  als  Zensor  der  „Rheini- 
schen Zeitung"  37  f. 

Sallet,  Friedrich  von  58. 

Saß,  Friedrich  87. 

Saturday  Dinners  591. 

Say,  Leon  366. 

Schanz,  Georg  441. 

Schellings  Berufimg  nach  Berlin  15  f. 

Schleswig -Holstein,  Enqueterecht  in 
der  Verfassung  von  S.  283. 

Scholl  301. 

Schönborn,  Graf  335. 

Schranken  der  Finanzverwaltung  in 
Preußen  437  f. 

Schriftsteller,  i^olitische,  der  „Fi'eien" 
58. 

Schriftverkehr  bei  Kollegien  160. 

Schulausbildung,  militärische,  in  Eng- 
land 130. 

SchuldenjDolitik  im  Reich  und  in 
Preußen  422  ff. 

Schuldentilgung,  effektive,  in  Eng- 
land 419. 

—  gesetzliche,  in  Preußen  426. 

—  im  Reiche  445  ff. 
Schuldentilgungspraxis     des    Reiches 

442. 

Schutzzoll  in  England  130. 

Schwedische  Verfassung  und  konstitu- 
tionelle Regierung  483  ff. 

Schwerin -Löwitz,  Hans  Graf  von. 
Reden  (Besprechung)  707  f. 

Sea  Power  126. 

Seeley,  John  116. 

Seemacht,  britische,  Doktrin  der  S. 
126  f. 

—  und  Schutzzoll  131. 
Seewege,  Bedeutung  der  S.  129. 
Selbstgesetzgebung    der    Kommunal- 
verbände 636. 

Selbstverwaltung  des  Provinzialver- 
bandes  630. 

Selbstverwaltungskörper,  Kommunal- 
verbände als  S.  638. 

Serenade  für  Welcker  44. 

Shrewsbury,  Aufzeichnungen  557. 

Siebenerausschuß  der  badischen  Li- 
beralen 1848  606  f. 

Simson  279. 

Sitzungen  des  Kabinetts  unter  Georg  I. 
574. 

Slawische  Kongresse  228  ff. 

Solidität  der  preußischen  Finanzen 
465  f. 


Sonderstellung,  staatliche,  Preußens 
641. 

Sonntagsfeier,  der  Kampf  um  die  S. 
53  ff. 

Souveränität,  parlamentarische,  in 
England  398  f. 

Sozialdemokratischer  Antrag  auf  Ein- 
führung des  Enqueterechts  im 
Reichstag  297  f. 

Soziale  Steuerpolitik  im  Reiche  476. 

Sozialismus,  französischer,  Einfluß  auf 
das  vormärzliche  Preußen  79  f. 

Soziologie  und  Philosoj^hie  des  Ki'ieges 
(Besprechung)  518  ff. 

Soziologische  Theorien  (Besprechung) 
263  f. 

Spender,  J.  A.  114  f. 

Sperrpolitik,  englische  144. 

StaatsbürgerHche  Freiheit  und  freies 
Ermessen  der  Behörden  (Bespre- 
chung) 239. 

Staatshaushalt,  preußischer,  Rechts- 
und Finanzgrundlagen  368  ff. 

Staatshaushaltsgesetz  von  1898  410. 

Staatsideal  des  vormärzlicheu  Radika- 
lismus 66. 

Staatslehren  der  Chinesen  212. 

Staatsnebenfonds  370. 

Staatsrecht  Ägyptens  (Besprechung) 
249  ff. 

—  Finnlands  649  ff. 
Staatsverfassung    und     Budgetrecht 

457  ff. 

Staatsverwaltung,  badische,  Gegen- 
stand der  St.  633. 

Stabilisierung  von  Teilen  des  Reichs- 
budgets 470,  473. 

Ständestaat,  vom  Lehnsstaat  zum  St. 
(Besprechung)  673  ff. 

Stanhope  575,  592. 

Statute  der  Rheinprovinz  629. 

Steinbach  336. 

Stengel,  Karl  v.,  über  Mischehenfrage 
498  ff. 

Steuerbewilligungsrecht  des  Parla- 
ments in  Bayern  374. 

Stirncr  82  f. 

Stirners  Broschüre:  „Das  Gegenwort" 
53  f.,  91  ff. 

—  Programm  der  „Freien"  107  ff., 
111  ff. 

Stourm  366. 

Strafford  552. 

Strauß,  David  Friedrich  11. 

Struve  611. 

Stürgkh  (Besprechimg)  534  ff. 


Sach-  und  Namenregiater. 


719 


Sunderland  592. 
Sun  Yatsen  197. 
supplementary  grants  416. 
V.  Sydow  381  f. 


Taaffe,  Graf  332,  335. 

tacking  of  money  bill  358. 

Taft  und  China  194. 

Temple.  William  554. 

Theodizee,  Problem  der  Th.  (Be- 
sprechung) 260  ff. 

Thronbesteigung  Georg  I.,  Beginn  der 
Kabinettsregierung  mit  der  Th.  566. 

Thun.  Graf  302. 

Townshend  591. 

Trennung  der  Mächte  von  den  Kultur- 
aufgaben 646. 

—  von   Staat  und  Kirche  (Bespre- 
chung) 515  ff. 

Triepel  623. 

Tschechen  und  der  Panslavismus  221  f. 

Tudor.  Dynastie  550. 

Twesten  296. 

u. 

Überschreitung  des  Enqueterechts  271. 
Überschuß     des     Staatshaushaltsetats 

Übersee-Interessen  Englands  149. 

Überwachung  des  Budgetvollzuges  in 
England  405,  imd  Frankreich  406. 

Umwandlung  der  Reichsverfassung622, 

Unabhängigkeit  des  Kabinetts  vom 
König  578  f. 

Ungarn .  Verfassungsrecht  (Bespre- 
chung) 691  ff. 

Unterdrückung  der  politischen  Presse 
im  vormärzlichen  Preußen  72  f. 

—  der  „Rheinischen  Zeitung"  37  f. 
Unterhaus,  englisches,  Mitwirkung  am 

Budget  350  f.,  356  f. 
Untersuchungskommission,      Bildung 

gesetzlicher  U.  298. 
Ursachen  d.  Geburtenrückganges  660  f. 

V. 

Varnhagen  3. 

Verbot  der  chinesischen  Einwanderung 

in  Amerika  194. 
Vereinigte  Staaten  und  der  ferne  Osten 

186  ff. 
Verfassung    des     deutschen     Reichs, 

Kommentar  (Besprechimg)  247  ff. 

—  Schwedens   und   konstitutionelle 
Regierung  483  ff. 


Verfassungsfrage  1848  604  ff. 

Verfassungskrisis,     englische     1909 
352  f.,  358  f. 

Verfassungskrise  in  England,  Budget- 
recht in  der  V.  459  ff. 

Verfassungsrecht,  ungarisches  691  ff', 

Verfassungsreform,        österreichische 
1867,  Enqueterecht  in  der  V.  305. 

Verlauf  der  Kabinettssitzungen  587. 

Verletzung  des  Emiueterechts  270. 

Vennittlerrolle  Englands  126. 

Vermögensbildung     in     Deutschland 
471. 

Verpflichtung    zu    einem    Religions- 
bekenntnis 111  ff. 

Verschärfimg   der  Zeitungszensur  im 
vormärzlichen  Preußen  72. 

Verwaltungsbehörden,      Kollegialver- 
fassung bei  V.  162. 

Verwaltungsenquete  267. 

Verwaltungsgesetzgebung  der  Einzel- 
staaten 640. 

Verwaltungsrecht,    deutsches,    Lehr- 
buch (Besprechung)  240  ff. 

Verwaltungszweige  der  Provinz  630  f. 

Verwerfung   des   Budgets   in   Frank- 
reich, Folgen  der  V.  364  ff. 

VetobiU  349. 

Vetorecht  des  englischen  Königs  bei 
der  Budgetberatung  397  f. 

V.  Vincke  279. 

Volkssouveränität,    Enqueterecht   bei 
V.  277  f. 

Volkswirtschaft,    deutsche,  Wandlun- 
gen der  V.  (Besprechung)  546  f. 

Vollzug  derSteuer-  undAbgabegesetze 
unabhängige  vom  Budget  370. 

Vorbedingungen  solider  Finanzpraxis 
478  ff. 

Vorbereitung  des  Etats  393. 

Vormärzlicher  Radikalismus  in  Preu- 
ßen 1  ff. 

Vorparlament,    deutsches,   parteipoli- 
tische Lage  zur  Zeit  des  V.  594  ff. 

Vorrangstellung  Preußens  641  f. 


Wahlenquete  267. 

Wahlmißbräuche  in  Galizien.  Parla- 
mentsenquete wegen  W.  337  f. 

Wahlrecht  und  Budgetrecht  466  ff. 

„Wahrhafte  Liberale"  im  vormärz- 
lichen Preußen  24. 

„Wahrhafter  Staat"  (Edgar  Bauer)  52. 

Wahi'ungsreform,  chinesische  196. 


720 


Sach-  und  Namenresister. 


Währungsenquete  1892,  in  Österreich 
339. 

Waldeck-Pyrmont,    Enqueterecht    in 
der  Verfassung  von  W.  283. 

Waldecker  Landessynode  161. 

Wales,  Prince  of,  Kabinettsregierung 
unter  W.  571. 

Walesrode  25. 

V.  Walewski  341  f. 

Walpole,  Kabinett  unter  W.  581. 

Wandlungen,  politische,    der   Brüder 
Bauer  48. 

Wechselseitigkeit,  slawische,  und  deut- 
sche Einheitsbestrebungen  218  ff. 

Wehrpflicht,  allgemeine,  für  England 
130. 

Wehrpflichtler,  Politik  der  englischen 
W.  132  f. 

„Weiße  Gefahr"  in  China  207. 

Weitling  77. 

Welcker  43,  602. 

Weltanschauung  Stirners  im  „Gegen- 
wort" 98  f. 

Werbende  Ausgaben  im  Reiche  445. 

Werkstättenhäuser ,   kleingewerbliche 
(Besprechung)  547  f. 

Wermuth  387. 
—  über  Schuldentilgung  im  Reiche 
452  f. 

Whigs  und  Tories  555. 

Wilhelm  III.  von  Oranien  556. 

Wirtschaftsenquete  268. 

Witt,  Carl  6,  25. 

Württemberg,  Wahl-Enqueterecht  in 
W.  291. 

Wyndhams  Verhaftung  569. 


Y. 


Yuanschikai  213. 


Zachariä,  Karl  Salomo  293. 

Zensurpolitik  Friedrich  Wühelms  IV. 
17  ff. 

Zentner  599. 

Zentralgewalt  für  die  deutsche  Ein- 
heit 617. 

Zentrum,  das,  und  Rom  (Besprechung) 
528  ff. 

Zentrum-Konservatismus  152  f. 

Zentripetale  Tendenz  der  Weltreiche 
136  f. 

Zeugenvernehmung  im  österreichi- 
schen Parlament  324  f. 

Ziele  des  vormärzlichen  Liberalismus 
25. 

Zolltarifgesetz  und  Reichstag  390  f. 

Zollverein  598  f. 

Zugeständnisse,  gegenseitige  Politik 
der  Z.  zwischen  England  u.  Deutsch- 
land 148  f. 

Zusammenhang,  enger,  zwischen  Bud- 
getrecht und  Finanzpraxis  463. 

Zusammenschluß  der  englischen  Kolo- 
nien mit  dem  Mutterland  142. 

Zusammensetzung  des  Kabinetts  unter 
Walpole  589  f. 
—  des  Vorparlaments  609. 

Zusammentritt  des  Vorparlaments 
620. 

Zuschußanleihe  393. 

Zwangstilgung  447. 

Zweck  der  allgemeinen  Wehrpflicht 
in  England  133  f. 

Zweiheit  der  Geschäftsform  bei  Mini- 
sterialverwaltungen  169  f. 


Ö 


JA  Zeitschrift  für  l-'olitik 

U 

Z43 

Bd.  6 


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