Zeitschrift für Politik
Sechster Band
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Zeitschrift für Politik
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Herausgegeben
von
Dr. Richard Schmidt und Dr. Adolf Grabowsky
Leipzig Berlin
Sechsten Band
BERLIN
Carl Heymanns Verlag
1913
Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., BerliE "W 8
JA
/V
Verlags-Archiv 5491
Inhaltsverzeichnis zum sechsten Band
A. Abliandhinoen
~ Seite
Bergsträßer, Ludwig: Die parteipolitische Lage beim Zusamnieu-
tritt des Vorparlameuts 594
Blum, Johannes: Budgetrecht und Fiuanzpraxis 346
Koellreutter, Otto: Einzelstaat und Provinz. Eine staatsrechtliche
und politische Betrachtung 621
Landsberg, Ernst: Die Instruktion der Preußischen Lnmediat-
Justiz-Kommission für die Rheinlande von 1816 .... 171
Mayer, Gustav: Die Anfänge des politischen Eadikalismus im
vormärzlichen Preußen. (Mit einem Anhang: Unbekanntes
von Stirner) 1
Michael, Wolfgang: Die Entstehung der Kabinettsregierung in
England " 549
Niedner, Johannes: Die Geschäftsform der Behörden .... 159
Eehm, Hermann: Der katholische Konservatismus 151
Spender, J. Alfred: Die Grundlagen der britischen Politik.
(Übersetzt und eingeleitet von Arnold X. Eennebarth) . . 115
Zweig, Egon: Das parlamentarische Enqueterecht 265
B. Zum Stand der politischen Probleme (Zusammen-
fassende und vergleichende Übersichten)
V. Bar -j-, Ludwig: Die Finnische Frage 649
Fahlbeck, Pontus: Der Geburteni'ückgang 657
Hintze, Otto : Die schwedische Verfassung vmd das Problem der
konstitutionellen Regierung 483
Hubrich, Eduard : Die Mischeheufrage in den deutschen Kolonien 498
Reinsch, Paul S. : Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten 186
Rudioff, Hans L. : Bäuerliche Bevölkerung und politische Parteien
in Deutschland und Frankreich 664
Tobolka, Zdenek: Der Panslavismus 215
Wegener, Georg: Chinas Erwachen 202
^ I luhaltsverzeichnis zum sechsten Band.
C. Besprechungen g^.^^
V. Böckmann, Kurt: Die Geltung der Eeichsverfassung in den
deutschen Kolonien (Friedricli Griese) 507
Böhtlingk, Arthur: Bismarck und das päpstliche Rom (Fritz
Schillmann) 528
Dambitsch, Ludwig: Die Verfassimg des Deutscheu Eeichs, mit
Erläuterungen (Friedrich Giese) 247
Dietzel, Heinrich: Ki-iegssteuer oder Kriegsanleihe? (Wilhelm
Gerloff) 704
V. Dimgern, Frh. Otto : Das Staatsrecht Ägyptens (Kurt Weigelt) 249
Faust, Albert B.: Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten
in seiner geschichtlichen Entwicklung (Paul Darmstädter) 520
V. Grabmaj^r, Karl : Von Badeni bis Stüi-gkh. Gesammelte Reden
(Richard Charmatz) 534
Graßmann, Joachim: Deutsche Konsularberichterstattung (Beruh.
V. König) 706
V. Hoensbroech, Graf P. : Rom und das Zentrum (Fritz Schillmann) 528
Jahrbuch des öffentlichen Rechts Band IV und V (G. J. Ebers) 545
Janson, Friedrich: Fichtes Reden an die deutsche Nation. Eine
Untersuchung ihres aktuell-politischen Gehaltes (Franz
Fröhlich) 522
Jörns, Auguste: Studien über die Sozialpolitik der Quäker (Carl
Brinkmann) 671
Kißling, Johannes B. : Geschichte des Kulturkampfes im Deut-
schen Reiche. Erster Band: Die Vorgeschichte (Fritz Schill-
mann) 528
Koigen, David: Ideen ziu- Philosophie der Kultur. Der Kultiu-akt
(Horst Kollmann) 701
Lempp, Otto : Das Problem der Theodizee in der Philosophie
und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller
(Horst Kollmann) 260
Liebig, Hugo: Über die marxistisch-sozialdemokratische Gedanken-
welt und die Grenze des Sozialismus (Franz Oppenheimer) 264
Lloyd George: Bessere Zeiten (Carl Brinkmann) 236
Loesche, Georg: Von der Duldung zur Gleichberechtigung
(Richard Charmatz) 689
Loesche, Georg: Von der Toleranz zur Parität in Österreich
1781—1861 (Richard Charmatz) 689
Luzatti, L.: Freiheit des Gewissens und Wissens. Studien zur
Trennung von Staat und Kirche (Karl Rothenbücher) . . 515
Marbiu-g, Jessie: Die sozialökonomischen Grimdlagen der eng-
lischen Armenpolitik im ersten Drittel des XIX. Jahr-
hunderts (Carl Brinkmann) 671
Marczali, Heinrich: Ungarisches Verfassungsrecht (Nagy v. Eötte-
veny) ' 691
Mayer, E. W. : Machiavellis Geschichtsauffassung und sein Begriff
virtü (Carl Brinkmann) 671
lulialtsverzeichnis zum sechsten Band. VII
Seite
Mayer, Gustav : Die Trennung der proletarischen von der bürger-
lichen Demokratie in Deutschland (1863 — 70) (Gerhard Ritter) 523
Meyer, Georg: Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts. Nach
dem Tode des Verfassers in dritter Auflage bearbeitet von
Franz Dochow (Karl Kormanu) 240
Neuhaus, Georg: Die deutsche Volkswirtschaft und ihre Wand-
lungen im letzten Vierteljahrhundert. Die berufliche und
soziale Gliederung des deutschen Volkes (Friedrich Zahn) 546
Oertmann, Paul: Die staatsbürgerliche Freiheit uud das freie
Ermessen der Behörden (Richard Thoma) 239
Oncken, Hermann: Lassalle (Gustav Mayer) 677
Parow, Walter: Die Englische Verfassung seit 100 Jahren und
die gegenwärtige &isis (Carl Brinkmann) 236
V. Peez, A. und P. Dehn: Englands Vorherrschaft. Aus der
Zeit der Kontinentalsperre (Carl Brinkmann) 671
Reven, Viktor: Die Fremdenlegion (Karl Frh. v. Stengel) . . 684
Robertson, John M. : Patriotismus — Militarismus — Imperialis-
mus. Aus dem Englischen übertragen von Karl Hanselmaun
(Carl Brinkmann) 236
Schiff, Emil: Kleingewerbliche Werkstättenhäuser. Plan eines
Erwerbsunternehmens zur Förderung des Kleingewerbes
(Alfred Schulte) 547
V. Schwerin-Löwitz, Graf Hans: Aufsätze und Reden aus Anlaß
seiner zehnjährigen Präsidentschaft (Eugen Fridrichowicz) 707
Seligmann, Richard: Die staatsrechtliche Stellung des deutschen
Reichstagspräsidenten (Kurt Pereis) 514
Simon, Fritz : Englische Stadtverwaltung (Carl Brinkmann) . . 236
Spangenberg, H., Vom Lehnstaat zum Ständestaat (Carl Brinkmann) 671
Spann, Othmar: Zur Soziologie und Philosophie des Krieges
(Adolf Grabowsky) 518
Squillace, Fausto: Die soziologischen Theorien (Alfred Vierkandt) 263
Steffen, Gustaf F.: Die Demokratie in England. Einige Be-
obachtungen im neuen Jahrhimdert imd ein Renaissanceepilog
(Carl Brinkmann) 236
V. Wertheimer, Eduard: Graf Julius Andrässy, sein Leben und
seine Zeit. Nach ungedruckten Quellen. I. Band. Bis zui-
Ernennung zum Minister des Äußern (Fritz Härtung) . . 256
V. Wiese, Leopold: Posadowsky als Sozialpolitiker. Ein Beitrag
zur Geschichte der Sozialpolitik des Deutschen Reiches
(W. Ed. Biermann) 255
Wilke, Alfred: Probleme der Verwaltung im Industriebezirk
mit besonderer Berücksichtigung des rheinisch-westfälischen
Kohlendistrikts. Eine verwaltungspolitische Studie (Walter
Saran) 541
Wygodzinski, W. : Das Genossenschaftswesen in Deutschland
(Alwin Petersilie) 536
Sach- und Namenregister 707
vv
l\
Autoreiiregister
Seite
V. Bar -j", Ludwig, Geh. Ju-
stizrat, Prof. Dr. . . . 649
Bergsträßer, Ludwig, Pri-
vatdoz. Dr 594
Biermann, W. Ed., Prof. Dr. 255
Blum, Johannes, Dr. . . . 346
Brinkmann, Carl, Dr. . 236, 671
Charmatz, Richard . 584, 689
Darmstädter, Paul, Prof. Dr. 520
Ebers, G. J., Prof. Dr. . . 545
V. Eötteveny, Nagy, Prof. Dr. 691
Fahlbeck, Pontus, Prof. Dr. 657
Fridrichowicz, Eugen, Dr. . 707
Fröhlich, Franz, Prof. Dr. . 522
Gerloff, Wilhehn, Prof. Dr. 704
Giese, Friedr., Prof. Dr. 247, 507
Grabowsky, Adolf, Dr. . . 518
Härtung, Fritz, Privatdoz.
Dr 256
Hintze, Otto, Prof. Dr. . . 483
Hubrich, Eduard, Prof. Dr. 498
Kollmann, Horst, Privatdoz.
Dr 260, 701
Koellreutter, Otto, Privat-
doz. Dr 621
V. König, B., Wirkl. Geh.
Legationsrat 706
Kormanu, Karl, Privatdoz.
Dr 240
Laudsberg, Ernst, Prof. Dr. 171
Seite
Mayer, Gustav, Dr. . . 1, 677
Michael, Wolfgang, Prof. Dr. 549
Niedner, Johannes, Prof. Dr. 159
Oppenheimer, Franz, Privat-
doz. Dr 264
Pereis, Kurt, Prof. Dr. . . 514
Petersilie, Alwin, Geh. Ee-
gierungsrat, Prof. Dr. . 536
Eehm, Hermann, Prof. Dr. 151
Eeinsch, Paul S., Prof. Dr. 186
Eitter, Gerhard, Dr. . . . 528
Eothenbücher, Karl, Prof. Dr. 515
Eudloff, Hans L 664
Saran, Walter, Stadtrat Dr. 541
Schillmanu, Fritz, Dr, , , 528
Schulte, Alfred, Ing. . . . 547
Spender, J. Alfred, Chef-
redakteur 114
V. Stengel, Frhr. Karl, Geh,
Eat Prof. Dr 684
Thoma, Richard, Prof. Dr. . 239
Tobolka, Zdeuek, Universi-
tätsbibliothekar, Dr. . . 215
Vierkandt, Alfred, Prof. Dr. 268
Wegener, Georg, Prof. Dr. 202
Weigelt, Kurt, Dr. . . , 249
Zahn, Friedrich, Ministerial-
rat Prof. Dr 546
Zweig, Egon, Ministerialrat
Dr 265
2cichc:i;
Nummer;
Abhandlungen
I.
Die Anfänge des politischen Radikalismus im vor-
märzlichen Preußen
(Mit einem Anhang: Unbekanntes Yon Stirner)
Von Dr. Gustav Mayer
Inhalt:
I. Das "Wesen der politischen Partei und die
Entstehung von Parteien in Preußen.
II. Die Diskussion über die Notwendigkeit
von Parteien. Das Hindrängen des „Ge-
dankens" zur „Tat".
III. Friedrich "Wilhelm IV. und die Jung-
hegelianer.
rV. Die Zensurpolitik des Königs und ihre
Folgen. Liberalismus und Radikalismus.
V. Der Kampf zwischen der Regierung und
der Rheinischen Zeitung.
VI. Die Anfänge einer radikalen Opposition in
Berlin.
"Vn. Bruno und Edgar Bauer.
"VIII. Der Kampf der „Freien" gegen den
„christlichen Staat".
IX. Der Radikalismus und „der Staat".
X. Der Bruch des politischen mit dem philo-
sophischen Radikalismus.
XI. Der Radikalismus und das Problem der
„Masse".
XII. Die Auflösang des philosophischen Radi-
kalismus und sein Bruch mit der prak-
tischen Politik.
Frei in Wort und Schrift und wenig behindert durch die
Regierung ringen heute unsere pohtischen Parteien um den
Anteil an der Gestaltung der heiroischen Zustände, den eine
festgefügte Staatsge"walt ihnen überläßt. Wie heben sich von
dieser Freiheit der politischen Betätigung die Polizeischranken
ab, "welche die Anfänge eines Parteilebens in Preußen umgaben,
als noch keine Parlamentstribüne bestand, "weder politische
Versammlungen und Vereine noch Leitartikel gestattet "waren
und die Zensur, diese Guillotine des Geistes, selbst das Werben
für politische Überzeugungen durch Druckschriften so gut wie
verhinderte! Bloß im mündlichen Verkehr von Mensch zu
Mensch oder in Briefen, die häufig noch das schwarze Kabinett
der postalischen Polizei ^) zu passieren hatten, vermochte man über
^) Vgl. „Das schwarze Postkabinet in Preußen" in Einundzwanzig Bogen
aus der Schweiz, herausgeg. von Herwegh. Zürich u. Winterthui' 1843.
Zeitschrift für Politik. 6. 1
2 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
öffentliche Fragen seine Gedanken auszutauschen. Aber auf die
Gesinnungen weiterer Kreise konnten weder Privatbriefe, auch
wenn sie, wie es übhch war, im Freundeskreis herumgingen,
noch der Verkehr von Tisch zu Tisch zwischen den Stamm-
gästen der Konditoreien und Bierlokale annähernd jene Richtung
gebende, Forderungen herausarbeitende und zusammenfassende
Wirkung ausüben, wie sie heute von dem politischen Leitartikel
einer verbreiteten Tageszeitung ausgeht, der von vielen Tausenden
gelesen wird.
Nun beschäftigte sich freilich in den trägen Jahrzehnten, die
auf die Hochspannung der Befreiungskriege folgten, und sonder-
lich nach dem Abflauen der burschenschaftlichen Bestrebungen
das preußische Publikum nur wenig mit Staatsangelegenheiten.
Denn die bureaukratisch-patriarchahsche Regierung Friedrich
"Wilhelms III. nahm die auswärtige wie die innere Politik als
ein Monopol in Anspruch, um das sich ,,der beschränkte Unter-
tanenverstand" nicht kümmern sollte. Hinter dicht verschlos-
senen Türen arbeitete damals die Staatsmaschine, und die kleine
Elite der Bevölkerung, die sich bereits für Politik interessierte,
mußte schon zufrieden sein, wenn gelegentlich durch Klatsch
oder auf dem Umweg über die Leipziger Allgemeine Zeitung
Indiskretionen liberaler Beamter zu ihrer Kenntnis gelangten.
Dies konnte hingehen, solange keine außerordentlichen Ereignisse
eintraten und die Krone unter Friedrich Wilhelms III. langer
Regierungszeit sich zurückhielt. Auf religiösem und wissen-
schaftlichem Gebiet hatte das Bedürfnis nach Freiheit seit
dem Zeitalter der Aufklärung im preußischen Volk immer
mehr Boden gefaßt, aber es mußten erst starke Impulse einwir-
ken, bis auch hier der Ruf nach Befreiung von der bestehen
den politischen Bevormundung, der in Süddeutschland schon
längst erscholl, deutlicher hörbar wurde! Zwar blieb die mann-
hafte Haltung der sieben Göttinger Professoren bei dem Ver-
fassungsbruch in Hannover nicht ohne Widerhall in Preußen;
aber weitere Kreise ergriff das Verlangen nach Teilnahme an
den öffentlichen Dingen erst, als Friedrich Wilhelm IV. den
Thron bestieg, persönlich hervortrat und überall Hoffnungen
weckte und wieder auslöschte. Wie langsam gewöhnte sich
unser Bürgertum, die Politik als ein auch ihm zugäng-
liches Bereich anzusehen! Noch 1847 verglich der Pommer
Robert Prutz^) seine Landsleute mit Kindern, die sich wohl
') Zehn Jahre, Bd. I S. 11 ff. Leipzig 1850.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 3
seit kurzem von ßreisüppchen entwöhnt hätten, denen aber
Brot und Fleisch noch immer nicht munden wollten. ,,Wir
haben keine Parteien", klagte dieser Historiker in seiner Schilde-
rung jener gärungsreichen Jahre und schrieb ihr Fehlen der
,, übergroßen Zersplitterung" der Ansichten zu. Aber erklärte
er damit nicht bloß die Armut aus der Pauvrete? Hatte die
Zersplitterung der Ansichten eine andere Ursache als die herr-
schende Unfreiheit, die den Meinungsaustausch im Großen und
Öffentlichen, der auf die Ideen vereinfachend und zusammen-
fassend wirkt, unterband? ,,Wir haben hier keine Parteien",
schrieb auch Varnhagen im November 1846 bedauernd in sein
Tagebuch. ,,Wenn wir den Ausdruck dennoch gebrauchen, so
ist es nur bitt- und leihweise mit großen Abzügen."
Wer das Wesen der politischen Partei allein aus den Zu-
ständen unserer Gegenwart ableiten wollte, könnte vielleicht als
spezifisches Kennzeichen des Parteigängers eine aktive Regung
verlangen, sei es durch Abstimmung bei Wahlen, durch Zahlung
eines Beitrages oder durch Teilnahme an der öffentlichen Agi-
tation. Als sich im Vormärz politische Parteien langsam auch
bei uns zu bilden begannen, kannte in Preußen der Untertan Par-
lamente, politische Vereine und Versammlungen bloß aus den
Zeitungen, die über die Vorgänge in den westeuropäischen
Staaten und in Süddeutschland berichteten! Doch Parteien
krystallisieren sich überall, wo das Interesse einer größeren
Menschenzahl durch eine wesentliche Kontroverse, die an die
Öffentlichkeit dringt, gefangen genommen wird. Und wo das
Bevormundungssystem der Regierung die Pohtik der freien Dis-
kussion verschließt, entfalten sie sich in anderen Sphären, deren
Inhalte den Massen zugänglicher sind. In Preußen zeigten sich
also die Anfänge einer Parteibildung zuerst auf kirchlichem und
philosophischem Gebiete und schlugen erst in die Politik hin-
über, als eine günstige Konjunktur diese in den Verhältnissen
längst vorbereitete Ausdehnung gestattete^).
So ist bei uns das Parteiwesen allmählich vom Himmel
auf die Erde heruntergestiegen. Die Entwicklung setzte seit
der Mitte der dreißiger Jahre ein mit der Revolutionierung der
^) Inwieweit überhaupt die Parteibildung aus der religiösen Sphäre ihren
Ursprung nimmt, kann hier nicht untersucht werden. Mit einer vorsichtigen
Tendenz zur Verallgemeinerung behauptet dies vom Radikalismus, besonders
in England, schon Rutenberg in seinem Artikel: Radikal, Radikalismus in
Rotteck-Welckers Staatslexikon, I. Aufl. Bd. 13 (1842) S. 412.
1*
4 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
Theologie durch D. F. Strauß, über den Feuerbach und Bruno
Bauer noch hinausgingen; sie nahm ihren Fortgang in der
Selbstauflösung der Hegeischen Philosophie und vollendete sich,
unter Mitwirkung französischer Einflüsse, in der Politisierung
und Sozialisierung der gesamten Weltanschauung. Dem Histo-
riker kann es nicht viel verschlagen, ob man diese Epoche,
die ihre Kämpfe noch vorwiegend auf theoretischem Gebiet
ausfechten mußte, in die Vorgeschichte oder in die Anfangs-
geschichte der politischen Parteien verweist. Die Parteien
sind älter als die politischen Parteien, und sie sind nicht von
einem Tage zum andern pohtische geworden!
Weniger noch als auf das Wesen der politischen Partei
überhaupt lassen sich auf die einzelnen Parteibildungen ver-
gangener Epochen ohne weiteres Terminologien anwenden, die
selbst Produkte von Entwicklungen sind, die damals noch der
Zukunft angehörten. Wie im Frankreich des achtzehnten
und im Rußland des neunzehnten Jahrhunderts hat sich auch
bei uns innerhalb der oppositionell gestimmten Schichten erst
mit dem Herannahen der Revolution eine deutliche Differen-
zierung vollzogen. Solange der einzelne nicht vom Denken zum
Handeln übergehen konnte, wurde ihm auch nicht klar, welche
Ziele ihm verwandt, welche ihm fremd waren. Die Enge des
Kreises, der sich vor 1848 für politische Fragen interessierte,
die Neuheit der Probleme, die Unmöglichkeit, die gewonnenen
Anschauungen in der Praxis zu erproben, erschwerte dieser
auf die Doktrin versessenen Generation die scharfe Herausarbei-
tung von Parteiprogrammen. Um so ungeklärter wohnen Ge-
danken beieinander, je behinderter sie sind, ihren Wahrheits-
gehalt zu erproben. Und wenn auch die Hegeische Dialektik
in ihrem nimmer rastenden Fluß sich ganz besonders eignete,
die Gegensätze in der Theorie herauszutreiben, die Praxis konnte
sie nicht ersetzen. Beschleunigt hat sie die Verarbeitung der
Gedankenüberfülle, die der ,,Selbstverständigungsprozess" der Op-
position in den Jahren von 1841 bis 1844 an die Oberfläche
spülte! Den Einzelnen, dem Erfahrung und Charakter nicht
einen festen Standpunkt vorzeichneten, hob sie oft von Klippe
zu Klippe, so daß er morgen an einem Ufer landete, das er
gestern noch gar nicht gesehen hatte. Der Allgemeinheit
aber nützte ihre unvergleichliche Fähigkeit, unklare Gedanken-
blöcke in leuchtende Krystalle auszuschleifen !
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 5
II
Da bei uns noch heute einflußreiche Persönlichkeiten das
Bestehen pohtischer Parteien für ein Unglück ansehen, so nimmt
es nicht Wunder, daß der monarchisch-bureaukratische Absolu-
tismus ihr Vorhandensein im preußischen Staat solange es irgend
anging, leugnete. Man sträubte sich, in den Kämpfen der
Orthodoxie gegen die Rationalisten und der historisch-romanti-
schen Schule gegen die Hegelianer die Keime eines Parteilebens
zu erkennen und machte sich ein Dogma zurecht, wonach
jene verderblichen Parteikämpfe, die Englands und Frankreichs
Bevölkerung aufwühlten, für Preußen nichts Lockendes haben
sollten, weil hier die Regierung die Bahnbrecherin jedes Fort-
schritts wäre^). Aber im ausgesprochenen Gegensatz zu diesem
gouvernementalen Standpunkt feierten die jungen pohtischen
Dichter, deren Stunde jetzt herankam, die Partei als die Mutter
aller Siege ^) und auch die führenden Oppositionsblätter, Königs-
berger und Rheinische Zeitung, lehrten im Bunde mit den
Deutschen Jahrbüchern, daß sie für den Fortschritt unentbehr-
lich sei. Mochte Edgar Bauer später auf seine kurze konsti-
tutionelle Epoche wie auf eine Jugendsünde zurückblicken,
jetzt feierte selbst dieser ins Schrankenlose strebende Geist die
Parteien als das Salz der Welt^), als die Pole, die das vorher
gleichgültige, regellose Treiben einer chaotischen Masse in eine
gesetzmäßige Bewegung zwingen. Auch für seinen Freund und
Genossen in Hegel Ludwig Buhl, entwickelte sich alles histori-
sche Leben aus der Dialektik der Gegensätze, die ihre Ver-
körperung in den Parteien finden*). Sie waren ihm die Hebel,
deren sich die Geschichte bediente, um die Staaten weiter zu
bilden^). Betonten diese jungen Berliner Hegelianer haupt-
sächlich die entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit der Par-
teien, so bewiesen ihre Kampfgenossen in der Heimat Kants
^) Vgl. u. a. E. Meyen in Buhls Berliner Monatsschrift. Einziges Heft.
Mannheim 1844.
^) In Herweghs Sinne schrieb auch Rüge: „Wer ist und wer ist nicht
Partei?" Deutsche Jahrbücher, 26. Februar 1842.
') Rheinische Zeitung, 14. Juni 1842. Berl. Kon-esp. vom 10. Juni.
Den gleichen Ausdruck braucht er schon in seiner Polemik gegen Carriere,
Deutsche Jahrb., 15. Februar 1842. Bauers Verfasserschaft ergibt sich aus
dem Artikel „1842" in der von seinem Bruder herausgegebenen Allgem.
Lit. Ztg., Juli 1844.
*) Buhl, Die Verfassungsfrage in Preußen. Zürich 1842. S. 51.
*) Buhl, Der Beruf der preußischen Presse. Berlin 1842.
6 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
deren Unentbelirlichkeit aus ethisch-politischem Gesichtspunkt.
Der jugendhche Oberlehrer Carl Witt, der die Königsberger
Zeitung redigierte, sah in ihrem Hervortreten den wichtig-
sten Schritt, den ein Volk in seiner Bildung machen könne^).
Er blickte mit Neid auf die Zustände in Frankreich und
England, wo das ununterbrochene Reiben der Gegensätze die
Nationalkraft in Spannung erhielte und ihr ein frisches Jugeud-
leben bewahrte. Einem Volke ohne Parteien drohte in den
Augen dieses Wortführers des ostpreußischen Liberalismus ver-
sumpfende Stagnation und Gleichgültigkeit der Gesinnungen;
wer nicht Partei ergriff, bewies damit, daß er am Staatsleben
kein eignes Interesse nahm. Aber selbst seinem politisch ge-
mäßigteren Landsmann Karl Rosenkranz, der das aktuelle Thema
am 18. Januar 1843 in Königsberg in einer akademischen Fest-
rede behandelte, galt die Reibung der Parteien als die Bedingung
für die Bildung einer wahrhaft öffentlichen Meinung. Diese
wieder hatte nach ihm die Aufgabe, die Vorarbeiten zu über-
nehmen, um die Richtung zu bestimmen, der die Regierung
zu folgen hätte 2). Während den ostpreußischen Liberahsmus
in allen seinen Ausstrahlungen der Geist Kants erfüllte, atmeten
die politischen Wortführer der Hallischen (später Deutschen)
Jahrbücher und der Rheinischen Zeitung in der Atmosphäre
Hegels, dessen Dialektik den gleichgültigen Unterschied logisch
zum feindlichen Gegensatz forttrieb. Jetzt steigerte sich bei
den jüngeren Hegelianern die bloß theoretische Kritik zur
Praxis des Handelns, zur Partei 3). In Vergangenheit und
Gegenwart wollte diese neue Generation Entwicklung und Leben
nur dort erblicken, wo Meinungen einander unausgeglichen
gegenübertrateu. So wurde ihr die Freigabe und Konstituierung
der Parteibewegung gleichwertig mit der Freigabe der geistigen
Gegensätze überhaupt. Die Brüder Bauer, die Wortführer der
^) „Preußen seit der Einsetzung Arndts bis zur Al)setzung Bauers" in
Herweghs „21 Bogen aus der Schweiz". Witts Autorschaft ergibt sich aus
der wörtlichen Übereinstimmung ganzer Absätze in diesem Aufsatz und der
Broschüre „Über Partei und das Parteinehmen der Königsberger Zeitung",
Königsberg 1842. In dieser Broschüre spricht der Verfasser mehrfach von
„unserer Zeitung". Witt war nicht nur der Redakteur, sondern auch der
Verfasser der meisten der damals so großes Aufsehen erregenden Leitartikel
dieses Blattes.
') Rosenkranz, Über den Begriff der politischen Partei. Königs-
berg 1843.
^) Kritik und Partei, der Vorwurf gegen die neueste Geistesent-
wicklung. Deutsche Jahrbücher 10. Dezember 1842 ff.
Mayer, Die Anfänge des i:>olit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 7
„absoluten Kritik", verharrten in der Regel nicht lange auf
dem gleichen Standpunkt, jetzt stimmten auch sie ihrem Freunde
Buhl zu, als er darauf hinwies, daß das Bestehen von Parteien
nicht zur Revolution führe, sondern gerade ein Mittel sei, sie
gründlich zu vermeiden. Wer die befruchtende Macht der
Negativität nicht verstünde, der kenne weder die Geschichte
noch die Philosophie. Eine gewaltsame Explosion der Gegen-
sätze wäre nur dort zu befürchten, wo man die Parteien unter-
drückte. Buhl empfahl den parlamentarischen Kampf als einen
Prozeß der Abschleifung und der Vermittlung^).
Nach einigen Monaten der Diskussion hatte im geistig
beweglichen Teil des Volkes die Überzeugung, daß das Bestehen
politischer Parteien auch für Preußen eine Notwendigkeit sei,
den Sieg davongetragen. Die Rheinische Zeitung stellte es im
März 1843 ausdrücklich fest 2). Länger behielt die Forderung,
daß man sich selbst im lieben Preußen zu Parteien zusammen-
scharen solle, für das Ohr des Philisters einen fremdartigen
Klang. Die Vorkämpfer der modernen Ideen mußten ihm
deshalb nicht nur die Ungefährlichkeit der Parteien für das
Staatsganze beweisen, sondern auch die Grenzen ziehen, die
der Parteikampf vom Standpunkt einer höheren Sittlichkeit
nicht überschreiten sollte. So betonten sie denn immer wieder,
daß das Parteileben das Staatsleben keineswegs aufheben, sondern
es erst recht festigen wolle, auch daß die Partei allezeit die Trägerin
eines Prinzips und niemals die Verfechterin individueller Inter-
essen sein dürfe: ,, Bloße Personen sind allemal ekelhaft, wenn
sie als Partei hypostasiert werden" ^). Nur wenn die Parteien
sich selbst über ihre Prinzipien ganz klar werden, könne ihre
Reibung zu einem ergiebigen Ende führen^), meinten die Jung-
hegelianer, und die Kantianer erhoben gegen jeden, der von
keinem bestimmten Prinzip ausging und zwischen den
Parteien durchzuschlüpfen gedachte, den Vorwurf, daß er des
Maßstabes zur Beurteilung der Wahrheit entbehre. ,, Parteien
sind auf Grundsätze aufgebaut", erklärte im Sinne Johann
Jacobys sein Freund Carl Witt, und wollte — ein Symptom,
daß man sich an der Scheide des philosophischen und des
pohtischen Zeitalters befand — es nicht mehr für einen Tadel,
^) Buhl, Der Beruf der preußischen Presse. Berlin 1842.
^) Rheinische Zeitung, Beiblatt vom 21. März: „Herwegh und das
deutsche Publikum" (Verf. war Moritz Fleischer).
^) Kritik und Partei etc. a. a. 0.
*) Edgar Bauer in der Rheinischen Zeitung vom 15. Juni 1842.
8 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
sondern für ein Lob gelten lassen, daß man ihn einen Partei-
mann nannte. Sein Landsmann Alexander Jung, ein ehemaliger
Theologe aus Schleiermachers Schule, der das Königsberger
Literaturblatt herausgab, hatte sich zu solcher Unbedenklichkeit
noch nicht hindurchgekämpft. Diesen gedankenreichen Pubü-
zisten schreckte die Perspektive, daß der Mensch mit seinem
ganzen Wesen in die Partei aufgehen könnte. Verlor er
damit nicht Natur und Geschichte aus dem Auge, die sich in
größeren Zeiträumen, als der,, Parteimensch" ahne, einem höheren
Glück der Völker entgegenbewegten i) ?
Das freudige Bekenntnis einer jungen Generation zur
Politik konnte auch auf die Dichtung nicht ohne Wirkung
bleiben. Die politische Lyrik erlebte ihre Blütezeit: Herwegh,
Sallet, Dingelstedt, Prutz, Karl Beck, Rudolf Gottschall u. a.
erhoben ihre Stimmen und fanden Tausende begeisterter Leser.
In einem Triumphzug, der bei uns nie wieder seinesgleichen
gefunden hat, durchzog der ,, Lebendige" Preußen von Köln bis
Königsberg. Wohl hatte auch schon das Junge Deutschland die
Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Welt bekämpft, welche die
Romantik verkündigt hatte, und die Literatur dem Leben der
eigenen Zeit anzunähern gesucht. Aber die mutige Generation von
1840 schrieb ausdrücklich das Wort ,, Gesinnung" auf ihre Fahne;
sie stellte auch an den Charakter die größten Ansprüche! In
ihrer Schar war keiner mehr, der es wie noch Gutzkow seiner
würdig gefunden hätte, dem preußischen Pohzeiminister zu
klagen, daß er bloß durch materielle Gründe ,, gezwungen
an all dem Wirrsal des Tages teilnehme" 2). ,,Es ward zur
Propaganda das deutsche Dichterheer" (Sallet).
Wie noch jede junge Truppe, die mit einem neuen Ideal
das Blachfeld betritt, hielt diese Schar fürchterliche Muste-
rung unter den Dichtern, die einstmals ihren Knabenjahren die
anerkannten Götter des Tages bedeutet hatten. Keines leben-
den Dichters Stern hatte nach Goethes Tod heller geleuchtet
als der Heinrich Heines. Aber mochte sein Stil noch so wunder-
voll in allen Farben des Regenbogens schillern, mochte sein
Seherbhck in den Eingeweiden der Gesellschaft die Keime künf-
tiger Entwicklung scharf erkennen, mochte sein souveräner Spott
^) Königsberger Literaturblatt, 27. Oktober 1841.
") Gutzkow an den Minister des Innern von Eocbow, 2. Januar 1842,
Geh. Staatsarchiv Akten über den „Telegraph für Deutschland". Um dieses
von ihm herausgegebene Blatt zu retten, suchte der Schreiber sich als politisch
vminteressiert hinzustellen.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 9
Yor keinem selbstgefälligen Machthaber und keiner politischen
Mißbildung im lieben Vaterland haltmachen — diese Männer,
die dem deutschen Bürgertum seine Freiheit erkämpfen wollten,
empörte sein schrankenloser Subjektivismus, der sich nicht
scheute, an Jdealen, die ihnen — vielleicht gar ihm selbst —
bitter ernst waren, seine Ironie auszulassen und Männer zu
bekritteln, die sie als ihre Bannerträger verehrten. Heines
freier Geist eignete ihn nicht zum Parteimann. Sein Genius
suchte, wenn er sie auch oftmals nicht fand, eine höhere Warte
als die Zinne der Partei. Aber die einst ihn angebetet hatten,
verstanden ihn hierin nicht. Durch das Vergrößerungsglas ihrer
enttäuschten Liebe sahen sie nur noch auf die Schlacken, die
jedem erkennbar seinem Wesen anhafteten. Völhgen Mangel an
Charakter warfen sie ihm vor, nannten ihn eine Bedienten-
seele und klagten über die ,, geniale Gesinnungslosigkeit des über-
mütigen Subjekts". Was sie aber bei ihm vermißten, ,,die Ge-
sinnung, die allein unserem Wesen Halt, unserem Streben Ziel
gibt"^), fanden sie in reichem Maße bei Börne. Der besaß
jene tiefe Ehrlichkeit der Überzeugung, jene liebevolle und
vorbehaltslose Hingabe an eine große Sache, nach der sie ver-
langten. Als nun gar Heine in diesem ungeeignetsten Zeitpunkt
sein boshaftes Pamphlet gegen den einstigen Schicksals- und
Kampfesgenossen veröffentlichte, da entfremdete er sich vollends
der Partei der Jungen, während für Börne jetzt, drei Jahre
nach seinem Tode, die Zeit seines höchsten Ruhmes kam. Der
junge Friedrich Engels auf seinem Kontorbock im Bremer
Handelshaus Leupold stellte den Frankfurter Juden als den
,,Mann der politischen Praxis" unmittelbar neben Hegel, den
,,Mann des Gedankens", und die ,, Durchdringung Hegels und
Börnes", die ,, Vereinigung des Gedankens mit der Tat" er-
schien ihm als die Aufgabe der Zeit^).
0 K(öppen) in Hall. Jahrb., 22. September 1840.
^) Teleg-rapli für Deutschland 1841 Nr. 2—5. „Ernst Moritz Arndt" von
Fried r. Oswald. Daß Oswald das Pseudonym von Engels ist, ergab sich mir
u. a. aus seinen unveröffentlichten Briefen an seine ehemaligen Schulgefährten
Friedrich und Wilhelm Gräber. Für das Urteil der „Jungen" über Heine
und Börne vgl. u. a. Gottschalls Gedichte „Börne" und „Heine" in seinen
„Liedern der Gegenwart" ; Euges Brief an Stahr, 9. Dezember 1840 in Ruges
Briefen, herausgeg. von Nerrlich ; Mevissens Urteil in Hansen, Mevissen
Bd. n S. 32 f.; E. Meyen, die neueste belletristische Literatur im Berliner
„Athenaeum", herausgeg. von Riedel, 9. Januar 1841; K(öppen) in Hall. Jahrb.
22. September 1840 bei Besprechung der Schrift Heines über Börne; selbst-
redend auch Gutzkow in seiner Lebensbeschreibung Börnes; Stahr in seiner
10 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
In Preußen vollzog sich dieses Hindrängen des Ge-
dankens zur Tat, der Philosophie zum politischen Leben am
sichtbarsten in den Hallischen Jahrbüchern, deren treibende
Kraft Arnold Rüge war. Er betrachtete es als die Aufgabe
seiner philosophischen Tageszeitung, aus der faulen Beschau-
lichkeit des Hegelianismus die Fichtesche Tatkraft^) wieder
zu erwecken, was in der Sprache Hegels, dessen System er
fortbilden aber nicht beseitigen wollte, hieß: das ,, inhaltvolle
Sollen der sich selbst erkennenden geschichtlichen Gegenwart"
als das ,, göttliche Sollen", als die Dialektik der Geschichte zu
enthüllen. Rüge tadelte an Hegel, daß er das Märtyrertum
seines Prinzips nur deshalb vermieden hätte, weil er es niemals
ertragen haben würde, mit der Autorität in Kirche und Staat
brouilliert zu sein. Von solchen Rücksichten wollte die junge
Generation nichts mehr wissen; sie verlangte, daß die Philo-
sophie hinfort alle Zurechtmacherei beiseite heße und mit der
Forderung Ernst machte, daß die Geschichte nichts anderes sei
als die Verwirklichung der Freiheit. Von Kant und Hegel be-
hauptete Rüge, sie hätten bloß erst die ,, Privattugend" geschätzt
und noch nicht die ,, politische Tugend", die darin bestünde,
nicht nur die Wahrheit zu sagen, sondern sie auch geltend
zu machen. Ihn dünkte es unvereinbar mit der ,, abstrakten
Innerlichkeit des Protestantismus", wenn man bloß in der Theorie
und nicht auch in der Praxis frei sein wollte. Gerade Hegel
sah in jeder Philosophie den gedanklichen Ausdruck einer be
stimmten Zeit, Ihm wurde der Konflikt erspart, daß die Zeit
sich gegen seine Theorie wandte. Hätte er es erlebt, so wäre
er vielleicht aus seiner olympischen Ruhe aufgeschreckt und
ein politischer Charakter geworden ! Dann hätte er eingesehen,
daß die wahre Verbindung des Begriffs mit der Wirklichkeit
nicht in der Apotheose des Existierenden zum Begriff, sondern
in der Inkarnation des göttlichen Begriffs zur Existenz
besteht. Wie konnte Hegel den Staat absolut nehmen und aus
Anzeige dieses Buches in Hall, Jahrb., 18, Dezember 1840; Euge, F. von
Florencourt und die Kategorien der politischen Praxis in Hall. Jahrb,
23. November 1840, Diese Beispiele ließen sich mit Leichtigkeit vermehren.
Auf die Angriffe der „Tendenzdichter", deren „gereimte Zeitungsartikel" er
verspottete, reagierte Heine bekanntlich in seinem „Atta Troll", der im Herbst
1841 entstand.
') Auf Fichtes „Demokratismus" und „Atheismus" vpies damals Koppen
hin. Vgl. „Fichte und die Revolution" in Anekdota zur neuesten deutschen
Philosophie und Publizistik, herausgeg. von Rüge, Zürich und Winterthur 1843.
Bd. I.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 11
der Geschichte herauslösen, wo doch jeder Begriff von ihm,
me überhaupt jede bestimmte Philosophie, selbst ein geschicht-
liches Erzeugnis ist! Daß die historische Bewegung an sich
objektive Kritik sei, hatte zuerst David Friedrich Strauß im
Vorwort seiner Dogmatik deutlich ausgesprochen. Rüge und
die jüngeren Hegelianer, die sich um ihn scharten, wandelten
in den Spuren des schwäbischen Theologen. Sie begriffen nicht
mehr, daß Hegel „Produkte der Geschichte", wie den erblichen
König, die Majorate, das Zweikammersystem, als logische
Notwendigkeiten ansehen konnte. Ihnen war es bereits ganz
natürlich, daß diese flüssigen Existenzen der Geschichte nie
und nimmer ewige Bestimmtheiten waren ^).
HL
Unmöglich konnte der preußischen Regierung lange ver-
borgen bleiben, daß die Hallischen Jahrbücher ihren großen
Erfolg nicht sowohl ,,dem unverkennbaren Geschick" verdankten,
womit „die Redaktion die Lehren der Hegeischen Philosophie
auf dem Wege der Kritik für alle -^dssenschaftlichen Disziphnen
geltend" machte, ,,als der entschieden rationalistischen und
liberalen Tendenz ihrer Mitarbeiter" und ihrer Polemik gegen
die preußische Staatsverwaltung, die sie als unfrei und inner-
hch abgestorben darstelle 2). Solange Altenstein von Friedrich
Wilhelm HI. unbehindert die Kulturpolitik des Staates leitete,
waren die Jahrbücher unangefochten geblieben. Seiner „prak-
tischen Weisheit" dünkte es am angemessensten, wenn man
„geistige Kämpfe in der theoretischen Erörterung sich verzehren
ließ" ^). Da dieser Sohn der Aufklärung den religiösen Fragen
^) Für Ruges Historisierung und Politisierung des Hegeltums bedeutsam
sind besonders die folgenden Aufsätze seiner Jahrbücher: 10, Februar 1840
„Konsequenz der Eeaktion", 25. Juni 1840 ff. „Zur Kritik des gegenwärtigen
Staats- und Völken-echts", 25. Juli 1840 „Das Manifest der Philosophie und
seine Gegner", 7. Oktober 1840 „Ernst Moritz Arndts Erinnerungen aus dem
äußeren Leben", 23. November 1840 „Friedrich von Florencourt und die Kate-
gorien der politischen Praxis", 13. Februar 1841 ff. „Die Allgemeine Zeitung
und die öffentliche Meinung", 3. Januar 1842 „Die Zeit und die Zeitschrift",
10. August 1842 ff. „Die Hegeische Kechtsphilosophie und die Politik
unserer Zeit".
^) Bericht Eochows an Friedrich Wilhelm IV. vom 26. Februar 1841,
Geh. Staatsarchiv.
') Rosenkranz, „Preußen, Deutschland und die Wissenschaft im
Jahre 1839, veröffentlicht im Königsb. Literaturblatt, 13. — 23. November 1844
(geschrieben Oktober 1839).
12 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
innerlich fernstand, so kostete es ihn keine Überwindung, bei
den kirchlichen Parteikämpfen sich jeder Einmischung zu ent-
halten. Selbst Strauß' Leben Jesu hatte er unbeanstandet ge-
lassen, als beim Erscheinen des ketzerischen Buches die Evan-
gelische Kirchenzeitung und das Berl. Pol. Wochenblatt dessen
Unterdrückung forderten. Weil er die Freiheit der Wissen-
schaft schützte, betrachtete die aufkommende Bewegungspartei
Altenstein als ihren Gesinnungsgenossen. Aber eigentlich war
dieser ,, liberale" Beamte nur ein Anhänger des aufgeklärten
Despotismus. Der grausamen Unterdrückung der Burschen-
schaften hatte er sich nicht widersetzt und zum Beschützer und
Gönner Hegels und seiner Schule war er nur geworden, weil
diese eine starke Staatsgesinnung erfüllte, von deren Einfluß
er eine Förderung der konservativen Kräfte im Staat erhoffen
durfte 1).
Selbst an dem Organ der jungen Hegeischen Schule
schätzte Alteustein das hoffnungsvolle Vertrauen, das es der
künftigen Entwicklung des Friderizianischen Staates entgegen-
brachte. Während die Hallischen Jahrbücher in dem katho-
lischen Österreich nur den ,, Staat der Erinnerung" sahen, galt
ihnen das tüchtige preußische Beamtentum als die eigentliche
Substanz für die Fortbildung der deutschen Verfassung. Das
Jubiläumsjahr 1840 gehörte überall in Preußen dem Gedächtnis
Friedrichs des Großen. Aber bei diesem Anlaß feierte nie-
mand lebhafter als die Schriftsteller der jungen Richtung den
Staat der Intelligenz, der mit der Aufklärung zusammen in der
Wiege gelegen hätte, und den großen König, den Heros jener
Geistesfreiheit, deren volle Verwirklichung sie jetzt von seinem
jüngsten Nachfolger erwarteten. Wohl nie wieder hat unser
Volk beim Hinscheiden eines Monarchen größere Hoffnungen
auf den Thronerben gesetzt als beim Tode Friedrich Wilhelms HI.!
Über die ungewöhnlichen Geistesgaben des neuen Königs
herrschte nur eine Stimme. Wohl wußte man von der Freund-
schaft des bisherigen Kronprinzen mit dem katholischen Roman-
tiker Radowitz und von seinen nahen Beziehungen zu dem
orthodoxen Zeloten Hengstenberg. Aber die öffentliche Meinung
rechnete nicht anders, als daß ein geistig so hoch stehender
König in Religion und Wissenschaft sich die Toleranz zum
0 Vgl. Lenz, Geschichte der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Berlin, Bd. 11 i. Halle 1910. Den Liberalismus des Beamtentums charakteri-
sierte neuerdings gut A. Wahl, Beiträge zur deutschen Parteigeschichte im
19. Jahrhundert, S. 101.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 13
Vorbild nehmen müsse, welche die liberale Tradition mit dem
Namen Friedrichs verband. Ein Schriftsteller aus dem Kreise
der Halhschen Jahrbücher, der Berliner Oberlehrer Friedrich
Karl Koeppen, gab diesem Vertrauen der jungen Hegelianer
klassischen Ausdruck: ,,Der Himmel", schrieb er, ,,ruht nicht
sicherer auf den Schultern des Atlas als Preußen auf der zeit-
gemäßen Fortentwicklung der Grundsätze Friedrichs des Großen,
Es ist alter Volksglaube, daß nach hundert Jahren die Leute
wiedergeboren werden. Die Zeit ist erfüllet"^). Und eine Schrift,
die solche Erwartungen aussprach, konnte damals auf dem
Titelblatt die Widmung tragen: ,, Meinem Freunde Karl Hein-
rich Marx aus Trier"! Sogar der unbändigste Rufer in jenem
Streit, der ausbrach, als bald darauf die Hoffnungen der radi-
kalen Jugend so bitter enttäuscht wurden, Edgar Bauer, schrieb
nach dem Thronwechsel an seinen Bruder in Bonn: ,,Die meisten
hegen die besten Erwartungen von der neuen Regierung, der
König werde als solcher sich über den Parteien halten 2)."
Solche Selbstbeschränkung aber lag nicht in der Natur
Friedrich Wilhelms IV. ^). Innig durchdrungen von dem christ-
lich-romantischen Ideal der Restaurationszeit und tief erfüllt
von dem Glauben an die ,, geheimnisvolle Erleuchtung, die den
Königen vor allen anderen Sterblichen durch Gottes Gnade
beschieden sei", betrachtete er als seine historische Mission,
im öffentlichen Leben seine Überzeugungen zur Geltung zu
bringen. Ein geschworener Feind der Aufklärung, die mit
unerschütterlichem Selbstgefühl die Souveränität der Vernunft
proklamierte und über die Satzungen des Glaubens wie über
die anderen Überlieferungen der Jahrhunderte sieges sicher zu
neuen Zielen fortstürmte, erblickte er das Heil einzig in der
langsamen Fortbildung und dem organischen Ausbau der aus
ferner Vergangenheit überkommenen Einrichtungen. Im Grunde
seines Gemüts wurzelte eine tief-religiöse Verehrung für das
allmähliche Wachstum der geschichtlichen Welt, ein natürlicher
*) Koeppen, Friedrich der Große und seine Widersacher. Eine Jubel-
schrift. Leipzig 1840. Von ähnlicher Tendenz erfüllt ist D. Karl Eiedel,
Staat und Kirche. Manuskript aus Norddeutschland als Antwort an Eom und
seine Freunde. Beitrag zur Gedächtnisfeier der Thronbesteigung Friedrichs
des Großen. Berlin 1840.
*) Briefwechsel zwischen Bruno Bauer und Edgar Bauer während der
Jahre 1839 — 1842 aus Bonn und Berlin. Charlottenburg 1844. Edgar an
Bruno 13. Juni 1840.
^) Treitschke, Deutsche Geschichte V, S. 7.
14 Mayer, Die Anfänge des polit. Kadikalismus im vormärzl. Preußen.
Abscheu gegen die Revolutionen, die mit täppischer Selbst-
überhebung in diesen göttlichen Prozeß hineinpfuschten. Dabei
übersah er nur, daß auch die Revolutionen, wie die Katastrophen
in den Naturprozeß, in den Verlauf der Geschichte hineingehören
und daß von ihnen Wirkungen ausgehen, die sich mit dem
geistigen Organismus der Völker so unlösbar verbinden, daß
es sich rächen muß, wenn man sie hochmütig übersieht. Nun
hatte zwar der Geist der Aufklärung, den sein Erzieher dem Kron-
prinzen vergebens zu vermitteln gesucht hatte, in Preußen nicht
zur Revolution geführt sondern sich nach Beseitigung der aus-
wärtigen Gefahr mit der konservativen Praxis der Restaurations-
zeit sogar gut abgefunden. Aber dennoch besaßen die Vernunft-
ideen und der Zentralismus einer Epoche, die wenig Sinn für
die bunte Mannigfaltigkeit des regionalen Lebens zeigte, doch auch
hier einen gewaltigen Einfluß auf das allmächtige Beamtentum.
Starken Rückhalt gewährte ihnen dabei die Hegeische Philo-
sophie, deren aller Romantik abgewandtes Verstandeswesen die
preußischen Hochschulen beherrschte.
Schon der Kronprinz hatte versucht, in diese ,, kahle"
und von einer ,, seelenaustrocknenden" Vernunft erfüllte Welt
mehr Wärme und Farbe hineinzutragen. Aber seine Verwen-
dungen für die Berufung glaubensstarker Geistlicher und histo-
risch empfindender Gelehrter fanden nur selten Anklang bei
Altenstein und dem allem Pietismus und aller Romantik ab-
holden Sinn seines königlichen Vaters. Nun hatte der Tod
fast gleichzeitig den Monarchen und seinen Minister ereilt und
die Bahn frei gemacht für die Absichten des neuen Herrn, der
sich zutraute, ein ,,entkirchlichtes" Geschlecht zu jenem lebendi-
gen Christentum zurückzuführen, in dem seine empfindungsreiche
Seele ihren Halt fand^). Der Spruch des Augustinus war ihm
Erlebnis geworden: Der menschliche Geist zeuge wohl vom
Licht, aber sei nicht das Licht, das wahre Licht sei das Wort,
welches Gott ist, der alles geschaffen habe. Von diesem Glauben
an einen persönlichen Gott und Weltschöpfer führte keine Brücke
zu einer Philosophie, die nur einen Gott kannte, der als absolute
Substanz die Menschheit durchdringt und dadurch seiner selbst
bewußt wird.
Im Kampf der Meinungen kümmert sich selbst die den-
kende Menge selten um das feine geistige Geäder, das die
') Kanke, Aus dem Briehvechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen,
S. 76 f.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 15
Gesinnungen ihres Königs mit jenen Zielen verbindet, die sie
ihn in der Öffentlichkeit verfolgen sieht. Wohl ehrte auch
der König auf seine Weise die Freiheit des Geistes, aber kraft
des Glaubens an seine göttliche Berufung hielt er doch die
eigene Weltanschauung für die allein wahre, und diese sagte ihm,
daß alle gesellschaftliche Ordnung zusammenstürzen müsse,
wenn der Glauben an die Offenbarung verloren ginge. Jedoch
der Zeitgeist wollte diese Schranke nicht anerkennen. Da
wußte der König sich nicht anders zu helfen, als durch
eine kleinhche und brutale Unterdrückungspolitik, die seiner
nicht würdig war und auch niemals zu dem gewünschten
Ziele führen konnte.
Schon bei der Wahl von Altensteins Nachfolger zeigte
Friedrich Wilhelm keine glückliche Hand. Zwar brachte das
Publikum dem neuen Kultusminister Eichhorn anfangs Ver-
trauen entgegen, da es seine Verdienste um die Ausgestaltung
des Zollvereins kannte. Aber er wurde bald der bestgehaßte
Mann im preußischen Staat, als er im Einverständnis mit
seinem königlichen Herrn einen schroffen Systemwechsel in der
Kirchen- und Unterrichtspolitik vollzog. Nichts verletzt ein Volk
mehr, als wenn es sich in einer Sphäre beeinträchtigt sieht, in der
es an Freiheit und Selbstbestimmung gewöhnt ist. Nun waren
in Preußen bis dahin Religion und Weltanschauung ziemHch
die einzigen Gebiete, innerhalb deren die sonst überall bevor-
mundende Regierung leidhche Zurückhaltung beobachtete. Hier
zuerst hatte das beginnende Parteiwesen sich frei entfalten
können. Von hier aus drängte jetzt eine auf Kant und Hegel
fußende, aber über sie hinausstrebende junge Generation auf die
Eroberungen der politischen Praxis zu. Wie mußte sie es ent-
täuschen, als sie erkannte, daß der neue König gegen sie Partei
ergriff und ganz im Sinne der von ihr gehaßten Romantik i)
die Durchdringung von Staat und Gesellschaft mit dem Geist
des positiven Christentums als seine eigentlichste Aufgabe be-
trachtete! Plötzlich sah sich die Hegeische Schule, die seit
zwanzig Jahren die Universitäten Preußens beherrschte, bei
allen Neubesetzungen akademischer Lehrstühle übergangen.
Dafür sonnten sich Orthodoxe, Pietisten, Romantiker, Wort-
führer der historischen Rechtsschule in der Gunst des neuen
Ministers. Schellings Berufung von München nach Berlin, von
^) Vgl. u. a. Rüge u. Echtermeyer: „Manifest zur Verständigung über
die Zeit und ihre Gegensätze. Der Protestantismus und die Romantik" in
Hall. Jahrb. 1839 und 1840.
16 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen,
Friedrich Wilhelm schon seit acht Jahren betrieben, erfolgte in
der ausgesprochenen Absicht, daß die Offenbarungsphilosophie,
die er mitbrachte, die ,, Drachensaat des Hegeischen Pantheis-
mus"^) aus den Geistern der heranwachsenden Jugend aus-
rotten sollte.
Für staatsgefährlich hielt der König die Hegeische Lehre,
die er immer verabscheut hatte, besonders seitdem jüngere
Vertreter die Wendung auf die Tagespolitik genommen hatten
und, wie er es auffaßte, in den Hallischen Jahrbüchern den
Umsturz predigten. Dieses wissenschaftliche Organ einer un-
gläubigen Opposition unschädlich zu machen, hielt er direkt
für seine Pflicht. Auf seinen persönlichen Antrieb 2) erzwang
die Regierung im Frühling 1841 die Entfernung der Jahrbücher
aus Halle, ohne aber vorläufig etwas anderes damit zu erreichen,
als daß deren ,,Zügellosigkeit" in Leipzig eine schnelle und fröh-
hche Auferstehung feierte. Das letzte Signal zum Losbrechen
der junghegelschen Opposition gegen das Schreckbild des ,, christ-
lichen Staats" und danach gegen Christentum und Staat über-
haupt gab kurz darauf die Maßregelung des Privatdozenten der
Theologie Bruno Bauer in Bonn, der in einem kirchengeschicht-
lichen Werk den göttlichen Ursprung der Evangelien geleugnet
hatte. Stärker als die zögernde Haltung des Königs in der
Verfassungsfrage hat seine Verständnislosigkeit für das geistige
Freiheitsbedürfnis eines erwachenden Volks die allgemeine
Unzufriedenheit geschürt. Seine offensichtliche Begünstigung
muckerischer Bestrebungen, deren Sieg das heilige Palladium
der Geistesfreiheit zu vernichten drohte, bewirkte jetzt zum
erstenmal einen elementaren Zusammenschluß aller unzufriedenen
und vorwärts drängenden Elemente 3). Für Preußen war das
eine völhg neue und bedeutende Erscheinung. Wir stehen hier
in der Tat an der Wiege der Bewegung, die in der März-
revolution von 1848 gipfelte.
IV.
Ein ,, Mensch in seinem Widerspruch" war Friedrich
Wilhelm IV. auch in seinem Verhalten zur Presse, die ihn
0 Worte des Königs. Vgl. TreitschkeVS. 8.
*) Kabinetsorder vom 11. März 1841, Geh. St. Arch.
") Näheres über das System Eichhorn bei Prutz, Zehn Jahre, 11 S. 52 ff.
und Ijei Treitschke Bd. V S. 229 f. Das Sündenregister Eichhorns vom
Standpunkt des Liberalismus u. a. bei Joh. Jacoby, Preußen im Jahre 1845.
Wieder abgedruckt in Gesammelte Reden und Schriften I S. 286 ff.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 17
seit seinem Regierungsantritt beschäftigte. Im Interesse des
öffentlichen Lebens wünschte er ihr eine größere Freiheit zu
gewähren, aber gleichzeitig fürchtete er, einer ,, schrankenlosen
Verbreitung verführerischer Irrtümer und verderbter Theorien
über die heiligsten und ehrwürdigsten Angelegenheiten der Gesell-
schaft auf dem leichtesten Wege und in der flüchtigsten Form"
Vorschub zu leisten^). Selbst als er Österreich zuliebe im
Sommer 1841 einer Verlängerung der reaktionären Bundes-
gesetze über die Presse zugestimmt hatte, hielt er fest an dem
Vorhaben, den Zeitungen seines Landes, soweit das Bundes-
recht es gestattete, zu einer freieren Bewegung zu verhelfen.
Aus dieser Absicht entsprang sein Edikt vom 24. Dezember 1841,
das die Minister zu einer milderen Handhabung der bestehen-
den Zensurverfügungen ermahnte. Eine ,, freimütige Besprechung
vaterländischer Angelegenheiten, insofern sie wohlmei-
nend und anständig sei", wollte er hinfort gestatten. Ein
weiterer Schritt auf diesem löblichen Wege war die Freigebung
von Bildern und Karrikaturen im Mai 1842, die im Februar
des folgenden Jahres zurückgenommen wurde. Im Oktober
wurde dann noch für alle Bücher von mehr als zwanzig Bogen
die Zensur gänzlich abgeschafft.
Hernach kam der Rückschlag. Friedrich Wilhelm hatte
sich nämlich falsch beurteilt, als er angenommen, daß er eine
freimütige Kritik seiner Regierungshandlungen vertragen könnte.
Als nach dem Weihnachtsedikt, wie von einem Zauberstabe
berührt, die preußische Publizistik mit ungeahnter Kraft und
Fruchtbarkeit in die Halme schoß, erhob er sich fast täglich
in seinen heiligsten Gefühlen gekränkt von der Lektüre der
Zeitungen, die er mit Eifer betrieb 2). Schon die Maßregelung
der Redakteure Witt von der Königsberger und Rutenberg von
der Rheinischen Zeitung sowie die Kabinetsorder vom 14. Okto-
ber 1842 konnten den zu Hoffnungsreichen zu Gemüte führen, daß
aus dem herrschenden politischen Halbdunkel nicht notwendig
die Morgenröte hervorbrechen mußte. Herweghs nicht zur
Veröffentlichung bestimmter, freimütiger, aber prahlerischer
^) Kabinetsorder betreffend die Zensur der Zeitungen und Flugscliriften
und die Genehmigung der vom Staatsministerium entworfenen Zensurinstruk-
tion vom 31. Januar 1843." Vgl. für das folgende Treitschke, Deutsche
Geschichte V 189 ff.
^) Vgl. die Erzählungen des Ministers von Bülow an Varnhagen von
Ense in dessen Tagebuch unter dem 22. Dezember 1842 und ebendort
20. Oktober.
Zeitschrift für Politik. 6. Q
18 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
Brief, der durch eine Unvorsichtigkeit Reinhold Jachmanns ^)
in die Leipziger Allgemeine Zeitung gelangte, brachte nur ein
ohnehin volles Faß zum Überfließen. Mit der Kabinetsorder
vom 31. Januar 1843 zerstörte sich Friedrich Wilhelm sein
eigenes Werk : fast alle Zugeständnisse wurden zurückgenommen,
und der Nation, die sich schon auf dem Wege zur vollen Preß-
freiheit vermuten konnte, verblieben Enttäuschung und Ver-
bitterung sowie die Überzeugung, daß auch der ,, letzte Fürst,
auf den man baute", keine wirklich freiheitliche Wendung der
Zustände herbeiführen werde.
Aber der kurze Zeitraum zwischen jenem liberalen und
diesem reaktionären Preßedikt, der im wesentlichen das Jahr 1842
umfaßt, diese Monate der ,, bedingten Preßfreiheit" erwiesen
sich als ungeahnt folgenreich für das politische Parteiwesen in
Preußen, das sich zum erstenmal mit einiger Freiheit entfalten
konnte !
Aus der zunehmenden Lebhaftigkeit des Kampfes, der auf
der ganzen Linie mit explosiver Kraft entbrannte, ergab sich,
daß die Regierung den einzelnen Forderungen der Opposition,
wenn sie nicht in aufreizender Sprache vorgebracht wurden,
allmähhch mit mehr Gelassenheit begegnete. Kundgebungen,
die noch zu Anfang 1841 Anklagen wegen Hochverrats zur
Folge hatten, klangen gemäßigt, als zu Anfang des folgenden
Jahres die Zensur die Zügel lockerer Heß und nun weit radikalere
Stimmen laut wurden.
Eine scharfe Grenze zwischen Liberalismus und Radikalis-
mus kannte der Sprachgebrauch im Anfang der vierziger Jahre
noch nicht. Selbst später hat in Deutschland das Wort „radikal"
niemals, wie in andern Ländern, als offizielle Parteibezeichnung
einen festen historischen Inhalt besessen. In seinem Artikel
über ,,RadikaHsmus" für das Rotteck- Welckersche Staatslexikon
wendet Rutenberg den Begriff auf deutsche Zustände über-
haupt nicht an. Auch hierin im Widerspruch zu den meisten
seiner Zeitgenossen, sogar zu seinem Freunde Bunsen, faßte
Friedrich Wilhelm IV. den ,,RadikaHsmus" als eine eigene
Richtung auf, die ,, wissen thch vom Christentum, von Gott, von
jedem Rechte, das besteht, von götthchen und menschlichen
0 Herwegh an Jacoby, 14. Januar 1843 (ungedruckt): „Da wäre ich denn
wieder auf dem Trockenen, nachdem mich Jachmanns Unvorsichtigkeit recht
in die Patsche gebracht hatte. Ich grüße ihn übrigens herzlich und danke
ihm, daß er der Audienz einen Schhiß zugefügt; es mußte alles so kommen,
wie es kam, zu meinem Besten und zu Nutz und Frommen der Sache."
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 19
Gesetzen abgefallen" i) und mit dem Liberalismus wesensver-
schieden ist. Aber die große Mehrzahl der Stimmen, die sich
hierzu äußern, läßt zwischen Liberalismus und Radikalismus
nur einen quantitativen Gegensatz zu. Ruten berg sieht den
Namen und den Inhalt des modernen Radikalismus zuerst im
amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auftauchen. Eine Wesens-
gleichheit von Radikalismus und Republikanismus will er aber
nicht gelten lassen und auf die Volkssouveränität als Kenn-
zeichen weist er kaum hin. Eher scheint ihm unter dem
Eindruck der Chartistenbewegung, die er mit Recht als die
wichtigste Äußerung des zeitgenössischen Radikalismus ansieht,
das allgemeine gleiche Stimmrecht dessen Charakterzeichen zu
sein. Je mehr nun in der Folge auch bei uns die politischen
Bestrebungen in den Vordergrund traten, um so mehr ver-
drängte im deutschen Parteileben die für diese Sphäre präg-
nantere Bezeichnung ,, Demokratie" 2) die umfassendere aber
unbestimmtere ,, Radikalismus". Aber die Umschreibung der
Bestrebungen, die diese Studie berücksichtigen will, wird er-
leichtert, wenn wir für eine Zeit, da die Begriffe noch in Fluß
waren, die auch späterhin parteihistorisch nicht fest aus-
geprägte Bezeichnung beibehalten. Wir befinden uns mit der
großen Mehrzahl der Schriftsteller und Politiker der Epoche
im Einverständnis, wenn wir beim Liberalismus dieser Jahre
den praktischen, beim Radikalismus den theoretischen Aus-
gangspunkt unterstreichen, wenn wir den Liberalismus stärker
an die Gedanken und Forderungen der preußischen Reform-
ära, den Radikalismus an die der französischen Revolution
anknüpfen lassen, wenn wir die Theorie des Liberalismus mit
Kant, die des Radikalismus mit Rousseau und der junghegelia-
nischen Auslegung der Identitätsphilosophie in nahe Verbindung
setzen, wenn wir den Liberalismus also mehr von innen, den
Radikalismus mehr von außen her an den bestehenden Zustän-
den Kritik üben sehen. Da der Liberalismus in der politischen
^) Der König an Bansen 4. und 8. Dezember 1847. Ähnlich wie der
König dachte Bakunin, nur daß dieser bereits von der demokratischen
Partei spricht.
*) Den Spuren des Worts „Demokratie" bei den deutschen Staatsphilo-
sophen und Politikern nachzugehen, wäre eine dankbare Aufgabe. Fichte
benutzte den Ausdruck bereits im modernen Sinne. Unter den Junghegelianem
verwandte ihn anscheinend mit am frühesten Bakunin (Jules Elysard) in
seinem bekannten Aufsatz: „Die Reaktion in Deutschland" in Deutsche Jahr-
bücher 17. bis 21. Oktober 1842.
20 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
Sphäre seine Heimat sah, so konnte er von der Reahtät nicht
so völhg abstrahieren wie der Radikahsmus, der aus der Wurzel
des Prinzips aufschießt und auf nichts ängsthcher bedacht ist,
als dieses rein zu erhalten.
Wie unratsam es für den Historiker wäre, die beiden Rich-
tungen schon hier qualitativ zu scheiden, lehrt am anschau-
lichsten ein Blick auf die spezifisch liberale Bewegung der
Provinz Preußen. In der Öffentlichkeit traten hier bis zu
den Verhandlungen des Vereinigten Landtages zwischen den
späteren Vorkämpfern des Vereinbarungsprinzips und der Volks-
souveränität, also zwischen Konstitutionellen und Demokraten,
sachliche Gegensätze nicht hervor. Als Edgar Bauer von seinem
radikalen Standpunkt den Kampf gegen die ,, Irrtümer der ost-
preußischen Opposition" eröffnete, wählte er Johann Jacoby als
den typischen Vertreter des konstitutionell gesinnten Libera-
hsmus zum Zielpunkt seines Angriffs. IVIan lasse sich nicht
beirren, wenn Rosenkranz i), der in Königsberg lebte, die
Menschen kannte und auch ihre privatim geäußerten Ansich-
ten berücksichtigt, jene Männer, die im Dezember 1842
im Kneiphöf sehen Junkerhof Herwegh feierten, als ,, unsere
Radikalen" bezeichnet, von denen er als Liberaler abrückt.
Temperament, Abstammung und Einflüsse bedingten natürlich
schon Gradunterschiede in den Anschauungen; diese konnten
sogar beträchtlich sein, aber eine prinzipielle Herausarbeitung
der Gegensätze war noch nicht erfolgt.
Die von den ostpreußischen Ständen ausgehende Ver-
fassungsbewegung, die in Jacobys Vier Fragen ihren klassischen
Ausdruck fand, entsprang der Überzeugung, daß die Zeit der
patriarchalischen Regierungen, ,,für welche das Volk aus einer
Masse Unmündiger bestehen und sich beliebig leiten und führen
lassen solle" (Th. von Schön: Woher und Wohin?) auf immer
vorüber sei, daß der politische Anteil des preußischen Volks
mit seinem Kulturgrad in keinem Verhältnis stände (Jacoby),
*) Rosenkranz, Aus einem Tagebuch (1833 bis 1846). Leipzig 1854.
S. 245. Der Oberpräsident Bötticher erhielt auf seinen ausdrücklichen Wunsch
vom Polizeipräsidenten Abegg die Liste der Beamten, die an der Herwegh-
Feier teilgenommen hatten. Nur wenige von diesen entwickelten sich später
in „radikaler" Richtung. Genannt wurden u. a. Oberlaudesgerichtsrat Cre-
linger, Justizrat Malinski, Justizkommissar Mahraun, Landesgerichtsassessor
Flottwell, die Universitätsprofessoren A. Hagen und von Lengerke. Das Ko-
mitee, das die Einladung ergehen ließ, hatte bestanden aus Stadtrat Funke,
Kaufmann Heinrich, Buchliändler Voigt und Walesrode. Vgl. im Geh. Staats-
archiv die Akten über Herwegh.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 21
und daß Preußen nicht eher „die seiner Bildung angemessene
Stelle im Gesamtvaterlande erhalten und behaupten" werde, als
die Bedürfnisse, Wünsche und Beschwerden des Volks durch
selbständige Vertreter unmittelbar zum Throne gelangen
könnten (Jacoby). Zwar klangen noch zuweilen bei den Vor-
kämpfern des ostpreußischen Liberalismus die weltbürgerlichen
Töne einer absterbenden Epoche^) mit an; aber in den prak-
tischen Forderungen, über die man sich hier einiger war als
irgendwo sonst im Lande, stellte man sich mit entschiedener
Loyalität auf den Boden des preußischen Staats und der Hohen-
zollernschen Tradition.
„Wer wagt's, den Vormund über uns zu spielen,
Sobald wir mündig sind, uns mündig fühlen?!'"')
Diese Worte des Königsberger Studenten Rudolph Gott-
schall drücken deutlich den Grundklang der mächtigen Bewe-
gung aus, die jetzt zum erstenmal auf preußischem Boden,
von Königsberg und Elbing ausgehend, doch weit ins platte
Land hinein nachhallend, etwas schuf, das wie eine wirkliche
politische Partei aussah. Aber die Idee der Volksmündigkeit,
die ihr zugrunde lag, war nur die prägnante Ausprägung des
Persönlichkeitsideals Immanuel Kants, des Lehrers dieser ganzen
Generation von Ostpreußen. Daß Kant in der geistigsten Bedeu-
tung des Wortes auferstanden sei, stellte Alexander Jung in seinem
Literaturblatt fest. Der nannte ihn den eigentlichen Polarstern
dieser Bewegung, die auf pohtischem, kirchlichem, literarischem
und geselligem Gebiet die Anerkennung der Vernunft und der
Freiheit des Individuums zur Geltung bringen wolle ^). Durch-
blättert man die damals in ganz Deutschland beachteten Leit-
artikel der führenden Zeitung der Provinz aus der Zeit der
,, beschränkten Preßfreiheit", so findet man sie völlig durch-
tränkt mit den Anschauungen der Aufklärung, wie Kant sie
ausgeprägt hatte. In Dingen, die auf reiner Vernunfterkenntnis
beruhen, heißt es einmal, also in der Religion und der Moral,
könne man nicht von Laien sprechen, so wenig wie in der
Politik, zumal Politik ,, bekanntlich" nichts anderes sei als Moral
in ihrer Anwendung auf den Staat und auf die Staatsverhält-
nisse. Freilich dürfe man Politik nicht verwechseln mit der
') Vgl. z. B. Reinh. Jachmanns Artikel: „Spanische Literatur in
Deutschland" im Königsb. Literaturblatt vom 24. November 184L
^) (R. Gottschall), Lieder der Gegenwart. Königsberg 1842.
*) ,,Der Geist Königsbergs und der Provinz" in Königsb. Lit. Zeitung,
21. September 1842.
22 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
positiven Staatswissenschaftslehre, die in ihren gesetzhchen Be-
stimmungen und dem ganzen sogenannten Aktenkram aller-
dings erlernt werden müsse ^). Als höchster Staatszweck gilt
diesem Liberalismus, wo er unmittelbar aus der Weltanschauung
heraus seine Grundsätze formuliert, die Bildung der ganzen
Nation. Dieser Zweck könne aber nur erreicht werden, wenn
der einzelne in seinen angeborenen und erworbenen Rechten
geschützt und jedem nützhchen Talent die Ausbildung erleichtert
würde. Für große Staaten wird die konstitutionelle Monarchie
als die passendste Form angesehen, dabei unter Konstitution
diejenige Art von Verfassung verstanden, in der das Volk durch
besondere Einrichtungen gegen jede vom Staatszweck abweichende
Anwendung der höchsten Gewalt geschützt ist ^).
Unter ihrem Liberahsmus begriffen diese Kantianer na-
türlich nichts anderes als die Vernunfterkenntnis, an-
gewandt auf die bestehenden Zustände. Freiheit und
Vernunft war ihnen ein und dasselbe, und sie haßten nichts
mehr als ,, Vorurteile und Voraussetzungen", diese ,, unvermeid-
lichen Anhängsel des Historischen". Da sie das Gewordene
nach dem alleinigen Maßstabe des Vernünftigen beurteilten, so
betrachteten sie es als ihre Aufgabe, die Menschheit von ihrer
Geschichte zu heilen. Wohl walte die Vernunft auch in der
Geschichte, aber sie sei darum nicht identisch mit dem Geschicht-
lichen, wohl sei die Vernunft so alt wie die Geschichte, aber
sie sei darum nicht das Alte^). Ihr Vertrauen in die Ver-
nunft, deren Inhalt sie blindhngs mit ihren Anschauungen
identifizierten, in eine absolute Vernunft, die nicht wie bei
den Hegelianern unter den Verwandlungskünsten der Dialektik
ihren Inhalt verändern konnte, dazu ihr ausgesprochener Zweifel
an der Heiligkeit des historisch Gewordenen, verliehen diesen
preußischen Liberalen eine wundervolle Selbstsicherheit, eine
Stärke und Zähigkeit des Charakters, wie sie nur Menschen
eignet, die bodenständig in einer Weltanschauung wurzeln.
Später, als es darauf ankam, von dem Kampf gegen das Ver-
altete und Abgestorbene zum Aufbauen überzugehen, wobei
das Anknüpfen an das historisch Gewordene sich nicht ver-
0 Königsb. Zeitung, 1842, Nr. 167: „Laien in der Politik."
^) Ebendort Nr. 1.58: „Konstitutionelle Verfassungen."
*) ,, Preußen seit der Einsetzung Arndts bis zur Absetzung Bauers" (verfaßt
etwa im Mai 1842) in Herweghs Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz.
Zürich und Winterthur 1843.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 23
meiden ließ, da zeigte es sich freilich, daß gerade mancher der
am stärksten hervorgetretenen Wortführer der Richtung dieser
noch schwierigeren Aufgabe nicht gewachsen war.
Die geographische Lage der Provinz, die geistige Alleinherr-
schaft der Albertina, Kants überragende Größe — alles wirkte zu-
sammen, um dem kraftvollen Individualismus, der diese Weltan-
schauung erfüllte, eine fast ausschließhche Herrschaft über die Ge-
müter zu verschaffen. Denn die Beamten aller Kategorien, die Geist-
hchen, die Lehrer und die Literaten, auch die zahlreichen Guts-
besitzer, die gern einige Semester in Königsberg studierten, bevor
sie sich auf ihren einsamen Gütern der Praxis ausheferten, sie
alle, der fast wie ein König verehrte Oberpräsident von Schön
an der Spitze, waren durch Kants Schule gegangen. Als
nach der mutigen Rede des Königsberger Gewüi'zkrämers Hein-
rich auf dem Provinziallandtag und der durch kein Verbot
aufzuhaltenden Massenverbreitung der Vier Fragen die Ver-
fassungsbewegung lebhaft in Gang gekommen war, zeigte
sich eine solche Übereinstimmung zwischen der Majorität des
ostpreußischen Adels und den führenden Geistern in den
Städten, daß der König und seine Minister beinahe aus der
Fassung gerieten und in Berlin das törichte Gerücht Glauben
finden konnte, die Provinz beabsichtige, sich von der Monarchie
loszureißen und Schön zum Herzog zu wählen^). Das von
Friedrich Wilhelm IV. mit Leidenschaft geforderte Hochverrats-
und Majestätsbeleidigungs verfahren gegen Jacoby, das durch alle
Instanzen ging, endete bekanntlich zum Entsetzen der Majestät mit
der völligen Freisprechung des Angeklagten. Diese Vorgänge
trugen viel dazu bei, die Gemüter wach zu halten und noch mehr
aufzurütteln. Auf eine Bevölkerung, die an die öffentliche
Behandlung politischer Fragen noch nicht gewöhnt war, mußte
Jacobys starres Festhalten am Rechtspunkt und seine ständige
Berufung auf die Zusage Friedrich Wilhelms IH. eine poh-
tisch erzieherische Wirkung ausüben. Jacoby war in diesem
Prozeß ,,der Repräsentant der konstitutionellen Partei,
von der bis dahin in Preußen kaum erst vereinzelte Anfänge
existiert hatten, die aber jetzt an dem Prozesse selbst sich
heranbildete" 2). Da die liberale Bewegung in Ostpreußen die
breiten Massen der städtischen und ländlichen Bevölkerung,
wenn auch noch nicht das Proletariat, erfaßt hatte, so suchte
^) Alexander Küntzel an Jacoby, 23. März 1841 (ungedruckt),
^) Prutz, Zehn Jahre, Bd. I S. 518.
24 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
die konservative Minderheit, unter dem Schutz des mit Schön
verfeindeten Ministers von Rochow, sich ihrerseits zu organi-
sieren, um die Verfassungsbestrebungen zu bekämpfen. Die
Männer, die am 15. Februar 1841 in Preußiscli - Holland zu
diesem Zweck eine viel beachtete Versammlung abhielten,
nannten sich Antikonstitutionelle und Patrioten, aber auch
die ,, wahrhaft Liberalen". Unter dem jubelnden Beifall der
halben Provinz entlarvte die Unehrlichkeit dieser letzteren
Firmierung Jacobys Freund Walesrode in einem „Sendschreiben
an die wahrhaft Liberalen". Aber nach dem moralischen
Schiffbruch des Landrats von Hacke, des betriebsamen Füh-
rers jener Aktion, der noch kurz vor seiner Verhaftung wegen
ehrenrühriger Handlungen dem König sein Programm über-
reichen durfte, und nach dem Rücktritt Rochows, den der
König für diese Bloßstellung der Krone verantworthch
machte, verlief die konservative Gegenbewegung im Sande ^).
Doch Friedrich Wilhelm IV. beehrte den Königsberger Libe-
ralismus, neben Jacoby besonders die Königsberger Zeitung
und ihren tapferen Redakteur Witt, auch ferner mit seinem
allerhöchsten Haß. Es lag nicht an ihm, wenn das Blatt trotz
zweier darauf hinzielenden Kabinetsorders nicht unterdrückt
wurde. Noch am 24. März 1843 schrieb der Monarch im Hin-
bhck auf die Königsberger Zeitung den Zensurmiuistern, daß
er es für unzulässig erachte, ,, Zeitungsprivilegien aufrecht zu
erhalten, wo dieselben zu einer Tendenz der Blätter gemiß-
braucht werden, bei deren Duldung alles Regieren auf das
äußerste erschwert, endlich unmöglich gemacht werden würde" 2).
Um den Aufschwung der Presse zu würdigen, der nach
dem Bekanntwerden des Zensurzirkulars von Weihnachten 1841
wenigstens in einigen Gegenden der Monarchie eintrat, muß
man sich die Bedingungen vorstellen können, unter denen sie
bis dahin vegetiert hatte. Soweit die Zeitungen überhaupt
politische Angelegenheiten berühren durften, waren sie nur ein
Echo der Regierungsansichten gewesen. Höchstens gelang es
einmal, in belletristische Blätter einen liberal angehauchten
Artikel einzuschmuggeln. Legte man selbst den bescheidensten
Maßstab an, so durfte man die Presse nicht als den Nieder-
*) Für diese Bestrebungen vgl. Polizeipräsident Abegg an Rocbow,
23. Februar und Eochow an Oberlandesgerichtspräsident von Zander, 27. Fe-
bruar 1841, (Geh. Staatsarchiv), Prutz I S. 357 ff. und Aus den Papieren
Schöns US a. a. 0.
^) Geh. St.-Arch. Akten über „Berliner Zeitungen".
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 25
schlag der öffentlichen Meinung ansehen. Und nun auf einmal
war es, freilich immer unter Aufsicht von Beamten, gestattet,
nicht mehr bloß über Straßenpflasterung und Viehmärkte, sondern
über ernste politische Fragen mit eigenen Ansichten hervor-
zutreten. Die Königsberger Zeitung eröffnete den Reigen.
Noch niemals hatte man die inneren Angelegenheiten des
preußischen Staats mit soviel Gründlichkeit, Umsicht und
Freimut in einer Tageszeitung behandelt gesehen! Von festen
Prinzipien geleitet, brachten hier der wackere Witt und seine
Mitarbeiter die Wünsche der freisinnigen Kreise Ostpreußens
in fest umschriebenen praktischen Forderungen zum Ausdruck.
Neben der Einführung einer Repräsentativverfassung und voller
Preßfreiheit, zu der das Zensurzirkular den ersten Stein zu
Hefern schien, verlangten sie besonders die Einführung des
öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens und die Gleich-
stellung der Juden. Einige Provinzblätter des Ostens wie die
Elbinger Anzeigen und die Börsenblätter der Ostsee schlössen
sich der Richtung der Hartungschen Zeitung an.
Man hätte erwarten sollen, daß die hauptstädtischen.
Blätter bei der Ausnutzung der neu gewährten Freiheit sich
von der Provinz nicht überflügeln lassen würden. Aber am
Sitz der Zentralregierung durfte sich das liberale Beamtentum
seine Gesinnungen noch weniger anmerken lassen als in der
Provinz, und nur in einem kleineren Kreis von Literaten regten
sich schon Spuren oppositioneller Betätigung. Berlin war noch in
erster Reihe Residenzstadt und seine Bevölkerung loyal und
unpolitisch. Königsberger, die damals die Hauptstadt besuchten,
kamen sich wie nach Korinth verschlagene Lakedämonier vor.
Mit Entrüstung berichtet Walesrode noch im Sommer 1843 den
ostpreußischen Freunden, daß man sich an der Spree mit Witzen
gegen die ,, Gesinnung" abfände: ,,Sie glauben ungeheuer frei
zu sein, wenn sie Cerf, die Hagen, den König, die Tagesereig-
nisse etc. etc. in den Kaffeehäusern bewitzeln auf Eckensteher-
Manier in der bekannten Tonart i)." Indifferenz gemischt mit
zahmer Furchtsamkeit beherrschte in der ,, Metropole der
deutschen Bildung" auch die Presse. Die Vossische und be-
sonders die Spenersche Zeitung glaubten sich ihrer Abonnenten
sicher, auch ohne sonderliche Anstrengungen zu machen, und
lehnten die Dienste, welche die jungen einheimischen radikalen
Schriftsteller ihnen jetzt, bei Beginn der größeren Zensurfrei-
0 Walesrode an Jacoby, 9. Juni 1843 (ungedruckt).
26 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
heit anboten, um so leichteren Herzens ab, als sie gar nicht
daran dachten, sich nach obenhin bloßzustellen. Jene aber
sahen sich gezwungen, ihre übervollen Köcher in Broschüren
oder in auswärtige Zeitungen zu entleeren. Denn die Konzession
zu einem neuen politischen Blatt in der Residenz wurde von
der Regierung anhaltend verweigert^).
Für außerpreußische Blätter freiheitlicher Richtung wie die
Mannheimer Abendzeitung, die Hamburger Neue Zeitung und
die Leipziger Allgemeine, die freilich den Mantel gelegentlich von
einer Schulter auf die andere nahm, korrespondierten viele dieser
Berliner Literaten. Auch Ruges Jahrbücher zählten in deren
Kreise tüchtige Mitarbeiter. Aber in der inländischen Presse
entstand ein rechtes Sammelbecken für ihre sich überstürzenden
Ideen erst, als ihnen jetzt in Köln die Rheinische Zeitung ihre
Spalten auftat.
y.
Für die Beurteilung dieses bedeutendsten Oppositionsblatts
des Vormärz war es wichtig, die lokalen und persönlichen
Umstände, aus denen es hervorwuchs, zu berücksichtigen, auch
auf Grund der Akten die Kämpfe kennen zu lernen, die es
vom Anfang bis zum Ende seiner fünfzehnmonatlichen Existenz
mit der preußischen Regierung zu bestehen hatte ^).
Die Männer, die für dieses neuartige Unternehmen das
Geld hergaben, angesehene Kaufleute und Industrielle der Rhein-
provinz, ahnten so wenig wie der Oberpräsident von Bodel-
schwingh, der die vorläufige Konzession erteilte, daß sie damit
der radikalen Richtung zu einem Organ verhalfen. Während
des schweren Konflikts zwischen der preußischen Krone und
der katholischen Kirche hatte die Haltung der Kölnischen
Zeitung mit ihren mehr als 8000 Abonnenten der Regierung
zu mannigfachen Klagen Anlaß gegeben, auf die deren Besitzer,
der unternehmende Joseph Dumont - Schauberg, immer nur
antwortete, daß er als Geschäftsmann von seinen Lesern ab-
hängig wäre^). Nun übte aber dieser Verleger in Köln tat-
*) Deutschlands politische Zeitungen. Zürich und Winterthur 1842. Der
Verfasser gehörte offenbar dem Berliner Literatenkreise an. Vgl. auch F. Saß,
Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung. Leipzig 1846. S. 139 ff.
") Das einschlägige umfangreiche Aktenmaterial des Geh. Staatsarchivs,
das ich benutzen durfte, wurde hier nur insoweit herangezogen, als die
Ökonomie dieser Arbeit es zuließ. Dem künftigen Geschichtsschreiber der
Rheinischen Zeitung bleibt noch eine reiche Nachlese übrig.
^) Vgl. St. Pauls aufschlußreiche Berichte vom 10. Feb. und 5. März 1843.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 27
sächlich ein Zeitungsmonopol aus, da er die alle paar Jahre
von neuem auftauchenden Konkurrenzblätter bis dahin immer
durch Ankauf beseitigt hatte. Deshalb fürchtete die Regierung,
daß die ultra-katholische Partei bei künftigen Konflikten zwischen
Staat und Kirche im deutschen Rom auch einmal die Allein-
herrschaft über die öffentliche Meinung besitzen könnte i). Solche
Erwägungen hatten die Minister schon im Dezember 1839 be-
stimmt, den Literaten Dr. B. Rave und Dr. Schulte die Heraus-
gabe einer Rheinischen Allgemeinen Zeitung zu gestatten. Aber
gleich ihren Vorgängerinnen war diese mit ihrem Gelde schnell
fertig geworden. Schon nach zwei Jahren erwies es sich, daß
sie nur über Wasser zu halten war, wenn man die Mittel für
ihre vollständige Umgestaltung und Erweiterung aufbrachte.
Wirklich zeigte sich diesmal eine Anzahl wohlhabender Bürger
geneigt, nach einer bis dahin nur in England und Frankreich,
aber noch nicht in Preußen erprobten Methode zu diesem Behuf
ein Kapital auf Aktien zu beschaffen. Der Oberpräsident be-
günstigte ein Vorhaben, an dessen Spitze er ernsthafte, an-
gesehene und unverdächtige Persönlichkeiten bemerkte, um so
lieber, als er nun endlich hoffen konnte, daß der Kölnischen
Zeitung in nächster Nähe eine widerstandsfähige Rivalin er-
stehen werde.
In den ersten Wochen des Jahres 1842, mit dessen Beginn
die Rheinische Zeitung ins Leben trat, war Bodelschwingh aus
der Provinz abwesend und blieb deshalb ohne genauere Kenntnis
von dem Inhalt des Blattes. Bei seiner Rückkehr waren aus
Berlin Klagen über dessen ,, subversive Tendenz" eingetroffen,
und er mußte sich jetzt überzeugen, daß es vielleicht ein Mißgriff
gewesen war, die Rheinische Zeitung anstandslos als eine Fort-
setzung der Rheinischen Allgemeinen anzuerkennen und ihr
eine vorläufige Konzession zu erteilen 2). Die Bankiers, Kauf-
leute und Industriellen, die das Blatt finanzierten, sahen es als
einen Vorteil an, daß sich am Rhein eine moderne Zeitung
auftat, die dem Ausbau der Verkehrswege im großen Stil, der
Selbstverwaltung, der freien Entfesselung der wirtschaftlichen
Kräfte das Wort redete und das Monopol eines Klüngels brechen
half, der nicht selten die Herrschaft, die er über die öffentliche
Meinung ausübte, einseitigen geschäftlichen Tendenzen dienstbar
gemacht hatte. Da ein Bedürfnis vorhanden war, hofften sie
^) Bodelschwingh an die Zensurminister 26. März 1842.
^) Bodelschwingh an Rochow 31. Dezember 1841 und derselbe an die
drei Zensurminister 26. März 1842.
28 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl, Preußen.
überdies, daß ihnen auch das Geld, das sie hergaben, zum minde-
sten nicht verloren gehen würde. Aber um die journalistische
Einrichtung des Unternehmens und selbst um die Tendenz,
die dieses in den einzelnen politischen Fragen einschlagen
würde, kümmerten sie sich nicht. Hierzu fühlten sie sich um
so weniger veranlaßt, als sich dieser Seite der Angelegenheit
zwei ihren engsten Kreisen entstammende junge Leute an-
genommen hatten. Nun waren aber — was jene Männer der
Praxis nicht ahnten und kaum begriffen hätten - — der Land-
gerichtsreferendar Jung und der frühere Oberlandesgerichts-
assessor Oppenheim begeisterte Junghegelianer von der radikalen.
Observanz, die dazu noch unter dem speziellen Einfluß ihres
Landsmanns, des Dr. Moses Heß standen, den die Eingeweihten
als die treibende Kraft des Unternehmens kannten^). Über die
Staatsgefährlichkeit der Ziele, die diese Gruppe verfolgte, wurde
der wachsame Rochow sich klar, sobald ihm hinterbracht wurde,
daß Dr. Adolf Rutenberg''*) in die Redaktion eintreten würde.
Dieser galt als der Urheber eines Festessens, das man einige
Monate zuvor in Berlin dem badischen Liberalen Welcker zu
Ehren gegeben hatte. Seit dieser Zeit stand er auf Befehl des
Königs unter strenger polizeilicher Überwachung. Überdies war
er noch wegen seiner Mitarbeit an außerpreußischen liberalen
Blättern höheren Orts verdächtig. Natürlich wollte der Minister
unter allen Umständen verhindern, daß ,,eine Richtung, die
sich durch entschiedene Opposition gegen alles Bestehende in
Staat und Kirche besonders bemerklich macht, im Inlande ein
öffentliches Organ" gewönne. Gerade in der katholischen Rhein-
provinz hatten ,,die destruktiven Lehren der Deutschen Jahr-
bücher bisher keinen bemerkbaren Anklang gefunden"^) und Eich-
horn neigte deshalb anfangs der Ansicht zu, daß bei dem hier vor-
herrschenden praktischen Verstand die ,, Extravaganzen der jung-
hegelschen Schule kein Glück machen würden"^). Den Ministern
*) Ed. Flottwell an Jacoby, 9. September 1841 (ungedruckt) nennt Heß „den
Hauptredakteur und die Seele des Ganzen". Am 15. Februar 1842 berichtet
er, daß Heß noch bei der Redaktion beschäftigt sei, daß er eine Zeitlang
durch Dr. Höfken neutralisiert war, seit Eutenbergs Eintreffen aber von
neuem gemeinsam mit diesem freudig und tüchtig wirke. Vgl. auch Hansen,
Mevissen a. a. 0. und die ungedruckten Protokolle der Geschäftsführerver-
sammlungen, deren Kenntnis ich Herrn Professor Hansen verdanke.
^) Rutenberg kam durch Empfehlung von Marx an Jung an die Rhei-
nische Ztg. Vgl. Marx an Rüge, 9. Juli 1842. Dokumente des Sozialismus Bd. I.
*) Rochow an Regierungspräsident von Gerlach in Köln, 31. Januar 1842.
*) Eichhorn an Rochow und Maltzan, 5. Januar 1842.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl, Preußen. 29
des Inneren und des Äußeren, die gemeinsam mit dem des Kultus
für die Zensurverhältnisse verantwortlich waren, hatte er geraten,
die von Bodelschwingh erteilte provisorische Konzession zu
einer endgültigen zu machen. Nachträghch wird er jedoch zu-
frieden gewesen sein, daß sich Rochow nicht in diesem Sinne
entschieden hatte. Denn schon am 3. März erteilte er gemein-
sam mit diesem und mit Maltzan, der gleich darauf durch Hum-
boldts Schwiegersohn Bülow ersetzt wurde, dem Oberpräsidenten
die Weisung, mit dem Quartalsschluß die Rheinische Zeitung
eingehen zu lassen. Aber die Rücksicht auf die angesehenen Ka-
pitalisten, die das Blatt finanzierten und auf deren Gesinnung er
vertrauen konnte, bestimmten Bodelschwingh, der sich übrigens
dabei im besten Glauben befand, noch einen Rettungsversuch
zu unternehmen. Er malte seinen Vorgesetzten in einem langen
Bericht den ungünstigen Eindruck aus, den eine so plötzliche
Unterdrückung nicht bloß in der Rheinprovinz sondern in ganz
Deutschland hervorrufen müßte in einem Augenbhck, ,,wo die
von Preußen gewährte größere Zensurfreiheit jetzt eben allge-
meine Anerkennung finde". Frohlocken würden darüber einzig
der Herausgeber der Kölnischen Zeitung und die ultra-katho-
lische Partei. In Übereinstimmung mit dem Kölner Regierungs-
präsidenten von Gerlach machte der Oberpräsident sich an-
heischig, die Haltung des Blattes dadurch mäßigend zu beein-
flussen, daß sie einen strengeren Zensor bestellten, sich mit den
Aktionären ins Benehmen setzten und die Redaktion durch
Drohungen einschüchterten ^).
Aber dieser Vorschlag fand nicht die Zustimmung aller Zensur-
minister. Eichhorn legte freilich noch immer den meisten Nach-
druck auf die Notwendigkeit, ,,der ultramontanen Tendenz der
Kölnischen Zeitung" entgegenzuwirken, die sich letzthin sogar zum
Organ der katholischen Partei in Bayern habe mißbrauchen lassen
und die konfessionelle Aufregung in Württemberg zu vermehren
trachte. Wenn er jetzt auch einräumte, daß die Richtung der
Rheinischen Zeitung ,,fast noch bedenklicher" sei, als die seit
Jahren von der Kölnischen Zeitung verfolgte, so wollte doch
weder er noch Bülow das Blatt unterdrücken, bevor sich gezeigt
hätte, ob die von Bodelschwingh in Aussicht gestellten Maßnahmen
Erfolg haben würden 2). Doch Rochow mit seiner großen Erfah-
rung auf diesem Gebiet beharrte bei seiner Überzeugung: die
0 Bodelschwingh. an die Zensurminister, 26. März 1842.
^) Eichhorns Votum vom 13. April 1842, Bülows Äußerung vom 18. April.
30 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
Rheinische Zeitung trüge den entschiedenen Charakter eines
Oppositionsblattes; sie habe sich die Aufgabe gestellt, die franzö-
sisch-liberalen Ideen in Deutschland zu propagieren und dem kon-
stitutionellen Staate, als dem allein zeitgemäßen, das Wort zu
reden ^). Dieser Ansicht suche sie sowohl auf dem Wege wissen-
schaftlicher Begründung, indem sie den konstitutionellen Staat
als die notwendige Konsequenz der deutschen Philosophie hin-
stelle, als auch durch unausgesetzte Angriffe gegen die bestehende
Verfassung Eingang zu verschaffen. Wie sie in politischer
Beziehung dem Rationalismus französicher Staatstheorien das Wort
rede, so bekenne sie sich in religiöser Hinsicht ohne Hehl zu
dem Unglauben der Hallischen Jahrbücher und zu der Meinung,
daß die heutige Philosophie das Christentum ersetze. Mit Vor-
liebe behandle sie die protestantisch-kirchlichen Fragen und
suche auf diesem Gebiet die Regierung der Unterdrückung
der Glaubens-, Denk- und Lehrfreiheit zu verdächtigen. Wenn
sie nun auch mit diesen Bemühungen, die Rheinländer für
die wissenschaftlich -politischen Kontroversen der heutigen
philosophischen Schulen zu interessieren, in einer Bevölke-
rung, deren Glaube und praktischer Sinn solchen ideologischen
Anmutungen entschieden widerstrebe, schwerlich zahlreiche
Proselyten machen werde, so könnte doch ihre praktisch-
politische Tendenz Schaden anrichten. Den Bewohnern einer
Provinz, deren Sympathien für Frankreich eben zu sinken be-
gännen, dürfe man nicht unermüdlich predigen, um wie vieles
die französischen Staatstheorien und Institutionen der vater-
ländischen Verfassung und ihrer ständischen Grundlage vorzu-
ziehen seien. Im ganzen preußischen Staatsgebiet gefalle sich
nur noch die Königsberger Zeitung, mit der die Rheinische
in sehr bemerklicher innerer und äußerlicher Relation stünde,
in einer gleich methodischen Opposition. Beide Blätter seien zum
Glück nur Organe vereinzelter Fraktionen und krankhafte Er-
scheinungen in einem Staat, der nicht auf einer Teilung der
Gewalten, sondern auf der Idee der Einheit von Regierung und
Volk beruhe. Bloß von ganz entschiedenen Maßregeln verspräche
er sich Erfolg gegenüber einer Zeitung, die in eine gut ge-
stimmte Provinz einen Geist verpflanzen möchte, der, weder
im Glauben noch im politischen Leben etwas Objektives an-
erkennend, jede Hingebung und Loyalität zerstören, nur die
eigenen zügellosen Wünsche als Gesetz betrachten und so die
^) Rochows Votum vom 18. Mai 1842.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 31
natürliche Ordnung der Dinge umkehren wolle. Rochow gestand
nicht einmal zu, daß die neue Konkurrenz auf die Kölnische
Zeitung einen für die Regierung günstigen Einfluß ausübe, denn
er glaubte bemerkt zu haben, daß die letztere sich neuerdings
zu einem exzessiven, ihr früher fremden Liberalismus hinreißen
ließ. Auch erwartete er keine erfolgreiche Abwehr klerikaler
Übergriffe von einem Organ, das innerhalb des Protestantismus
eine Richtung verfolgte, die zu Irrtum und Unzufriedenheit im
eigenen Hause führen müßte und ,,zu der sich ein evangelischer
Christ schwerlich bekennen dürfte".
Da Rochow bereits wußte, daß der König seine Ansicht
teilte und entschlossen war, ,, dieser ohne unsere Bewilligung
erscheinenden Zeitschrift die Konzession zu versagen", so
machte er seinen Kollegen den Vorschlag, dem Monarchen
die Schlichtung ihrer Meinungsverschiedenheit zu überlassen.
Aber obschon Eichhorn an Rochows Charakterisierung der
Rheinischen Zeitung nichts auszusetzen hatte, beharrte er den-
noch bei der Ansicht, daß man erst den Erfolg von Bodel-
schwinghs Maßnahmen abwarten sollte. Dabei hob auch er
jetzt den Gesichtspunkt hervor, daß es sich nicht um die
Konzessionierung einer neuen, sondern um die Beseitigung einer
bereits bestehenden Zeitung handeln würde. Bestimmend be-
einflußte ihn nach wie vor das Interesse seines eigenen Ressorts.
Er konnte der Kölnischen Zeitung nicht vergessen, daß sie
während der Kölner Wirren ,, allen preußischen Sympathien
fremd" geblieben war. Überdies hatten mittlerweile in der Rhein-
provinz eingezogene Erkundigungen ihn in der Überzeugung
bestärkt, daß die Rheinische Zeitung dort keinen Schaden
stiftete: das Publikum der Provinz sähe im allgemeinen ein,
daß in dem Blatt mit Ideen gespielt würde, die keiner, der
irgend festen Fuß im Leben habe, mit bestehenden Zuständen
in eine praktische Verbindung bringen könne ^). Bülow fand
an Rochows Vorschlag auszusetzen, daß er die Angelegenheit
zu frühzeitig der Entscheidung des Königs unterbreiten wollte,
noch hätte man nicht versucht, durch eine Beratung im Staats-
ministerium der Meinungsverschiedenheit Herr zu werden 2).
In diesem Stadium befand sich die Angelegenheit, als
Rochows von den Liberalen längst erwartete und bei ihrem
endlichen Eintritt mit Jubel begrüßte Entlassung die Rhei-
^) Eichhorns Votum vom 1. Juni 1842.
^) Bülows Votum vom 15. Juni.
32 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
nische Zeitung von ihrem gefährlichsten Gegner befreite.
Bodelschwingh T\airde aus Koblenz abgerufen und trat an die
Spitze des Finanzministeriums, sein Nachfolger am Rhein wurde
Herr von Schaper, während das Ministerium des Innern Graf
von Arnim-Boitzenburg übernahm. Die neuen Männer fanden
nicht sogleich einen Anlaß, sich mit dem inzwischen noch radi-
kaler gewordenen Blatte zu befassen. Erst am 23. Juli be-
schwerte sich Arnim zum erstenmal in Koblenz über einen Ar-
tikel der Rheinischen Zeitung, auf deren verwerfliche Tendenz
er hinwies. Da ihm aber zu Ohren gekommen war, daß diese
die Achtung der Provinz bereits eingebüßt hätte und sich nicht
lange mehr würde halten können, so dünkte es ihn ratsamer,
ihr natürliches Ende abzuwarten, ohne erst durch Aufhebung
der vorläufigen Erlaubnis die öffentliche Teilnahme für sie zu
erregen. Auch wurde jenes Gerücht von Schaper anfänglich
bestätigt 1). Aber das ,, unzulässige Treiben der Tagespresse" 2)
beunruhigte in steigendem Maße den leicht erregbaren König,
der einen Anlaß, dem führenden Blatt der Opposition einen
Strick zu drehen, freudig ergriff, als dieses im Spätjahr den
von der liberalen Bevölkerung mit äußerstem Unwillen aufge-
nommenen Gesetzentwurf über die Ehescheidung vorzeitig ver-
öffentlichte. Dienstwidrige Handlungen von Beamten ließ
Friedrich Wilhelm bei jeder Gelegenheit streng untersuchen und
bestrafen. Auch jetzt verlangte er, daß seine Minister das Fort-
bestehen der Rheinischen Zeitung, sofern ein solches überhaupt
noch in Frage käme, von der Bedingung abhängig machten,
daß die Redaktion ihre Quelle nenne 3). Nun wußte Arnim
aber im voraus, daß man in Köln diesen Verrat nicht
begehen würde und trug gerechtes Bedenken, die Rheinische
Zeitung auf dieser Klippe scheitern zu lassen. Überdies hielt er
es für unklug, der Redaktion eine Märtyrerkrone zu flechten.
Er stellte zur Erwägung, daß der Entwurf des fraglichen Ge-
^) Schaper an Arnim, 8. August 1842. Die Zahl der Abonnenten gibt
der Oberpräsident hier mit 885 an.
■) Die Zensurminister an Schaper, 13. November: „Ein baldiges, ener-
gisches Einschreiten erscheint um so notwendiger, als des Königs Majestät
sich über das unzulässige Treiben der Tagespresse mehrfach sehr mißfällig
zu äußern geruht hat."
^) Friedrich Wilhelm an Eichhorn, Bülow und Arnim, 13. November 1842.
Gegen Eduard Flottwell und seinen in Berlin studierenden jüngeren Bruder
Theodor wurde eine Untersuchung eingeleitet, die aber erfolglos war. Den-
noch blieb, bei Eduard Flottwells nahen Beziehungen zur Rheinischen Zei-
tung, ein Verdacht auf ihm ruhen und wurde ihm in der Folge verhängnisvoll.
Mayer. Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 33
setzes wirklich „sehr rücksichtslos gegen das über den Gegen-
stand leider gänzlich verdorbene Urteil der Zeit" anliefe und
eine „große sehr allgemeine Opposition" erregte. Außerdem
habe der in der Rheinischen Zeitung veröffentlichte Entwurf
noch gar nicht die legislativen Stadien durchlaufen. Wenn die
Regierung jetzt durch ihre Maßnahmen den Anschein erweckte,
daß dieser die endgültige Form des Gesetzes darstelle, würde
jede spätere Modifikation als ein furchtsames Zurückweichen
vor der Opposition aufgefaßt werden. Der Minister mochte
voraussehen, daß auch ,, unabhängig von der in Rede stehenden
Angelegenheit" die Unterdrückung der Rheinischen Zeitung
eintreten werde. Vorerst verabredete er mit seinen Kollegen,
ihre Bedenken gegen den Inhalt der Kabinetsorder dem König
in Gemeinschaft auseinanderzusetzen i) und ihn zu bitten, von
einer Verwarnung der Rheinischen Zeitung in dieser Form
Abstand zu nehmen 2).
Die Rheinische Zeitung war stets für ein starkes, freilich auch
für ein freies Preußen eingetreten. Deshalb fand selbst bei den
Ministern eine Mitteilung des preußischen Gesandten in Paris,
die das Gerücht verzeichnete, sie werde von der französischen
Regierung mit Geld unterstützt, keinen rechten Glauben 3). Viel
mehr Gewicht legten sie auf die Meldung Schapers, daß die
Abonnentenzahl des Blattes mächtig gestiegen sei und daß seine
Tendenz immer frecher und feindseliger werde''). Auf eine
Anregung des Oberpräsideuten, der, wie auch Dr. Hermes in
der Kölnischen Zeitung, den Erlaß einer Verfügung vorschlug,
nach der leitende oder räsonnierende Artikel künftig vom Ver-
fasser unterzeichnet werden sollten, gingen die Zensurminister
nicht ein. Sie erkannten das Hauptübel darin, daß der Verleger
Renard, der ein bloßer Strohmann war, die Redaktion verant-
wortlich vertreten durfte. Deshalb verlangten sie jetzt, unter
Androhung der endgültigen Konzessionsverweigerung, die Ein-
^) Arnims Schreiben an Eichhorn und Bülow vom 2.5. November 1842
stützt sich auf ein ihm von Mathis erteiltes Referat. Schon am 4. November
hatte Savigny an Arnim geschrieben, daß jener erste Entwurf seither schon
durch neuere Beratungen modifiziert und in dieser seiner früheren Gestalt
beseitigt sei.
'^) Die drei Zensurminister an den König 22. Dezember 1842.
^) Graf Arnim (Paris) an Bülow 29. Oktober 1842; Schaper an den
Minister von Arnim 16. November.
*) Schaper an Arnim-Boitzenburg, 10. November. Innerhalb eines Monats
hatte sich die Abonnentenzahl von 885 auf 1820 gehoben; nach dem Bekannt-
werden des Verbots stieg sie auf 3400.
Zeitschrift für Politik. 6. 3
34 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
Setzung eines verantwortlichen Redakteurs, dessen Persönlichkeit
den Anforderungen der bestehenden Zensurgesetze wirklich ent-
spräche ^). Weil die Nachsicht des bisherigen Zensors der
Rheinischen Zeitung, der mit einigen Hauptaktionären nahe
befreundet war, in ganz Preußen sprichwörtlich zu werden
begann, w^urde gleichzeitig dessen Absetzung verfügt.
Eigentlich sollte Renard bei dieser Gelegenheit protokolla-
risch vernommen werden. Aber aus naheliegenden Gründen
hielt die Redaktion es für vorteilhafter, daß er sich beim Ober-
präsidenten schriftlich verantwortete. Die Abfassung dieses be-
deutsamen Briefes, für den der Verleger blos die Unterschrift
lieferte, übertrug man dem Dr. Karl Marx aus Trier, der seit
dem 15. Oktober in die Redaktion eingetreten war und trotz
seiner Jugend alsbald von allen Seiten, selbst von der Zensur,
als die treibende Kraft der Zeitung respektiert wurde 2).
Der künftige Vorkämpfer der Arbeiterklasse verteidigt hier
gegen die Regierung mit berechtigtem Stolz aber auch mit
schneidender Ironie die freiheithchen Forderungen des preußi-
schen Bürgertums. Die Tendenz eines Blattes, meinte er, dürfe
nicht bloß ein gesinnungsloses Amalgam von trockenen Referaten
und niedrigen Lobhudeleien sein; es müsse mit einer eines
edlen Zwecks bewußten Kritik die staatlichen Verhältnisse und
Einrichtungen beleuchten, wie es die jüngst erlassene Zensur-
instruktion und auch die anderwärts oft geäußerten Ansichten
des Königs forderten. Auch in Zukunft wolle die Rheinische
Zeitung, soviel an ihr läge, den Weg des Fortschritts bahnen
helfen, auf dem Preußen gegenwärtig dem übrigen Deutschland
vorangehe. Wie könnte ein Blatt mit solcher Tendenz im
Rheinland französische Sympathien und Ideen verbreiten wollen?
Gerade das Gegenteil sei der Fall: die Rheinische Zeitung be-
trachte es als ihre Aufgabe, in der Provinz, wo sie erscheine,
die Bhcke auf Deutschland zu lenken und hier statt eines
französischen einen deutschen Liberalismus hervorzurufen, was
der Regierung Friedrich Wilhelms IV. gewiss nicht unangenehm
sein werde. Auch sei in ihren Spalten stets darauf verwiesen
worden, daß von der Entwicklung Preußens die des übrigen
■) Die Zensurminister an Regierungspräsident von Gerlach in Köln
9. November,
'') Wie Herr Professor Joseph Hansen mir freundlich mitteilte, befindet
sich der Entwurf der Eingabe von Marxens Hand im Kölner Stadtarchiv.
Hansen selbst druckt in seinem bekannten Werk über Mevissen nur wenige
Sätze daraus ab. Man vergleiche für die ganze Geschichte der Rheinischen
Zeitung Hansens Darstellung in Bd. I Kap. 7.
Mayer, Die Anfäug-e des ijolit. Kadikalisinus im vormärzl. Preußen. 35
Deutschland abhänge. Neben ihren polemischen Artikeln gegen
die antipreußischen Bestrebungen der Augsburger Allgemeinen
Zeitung und neben ihrer Agitation für die Ausdehnung des
Zollvereins auf das nordwestliche Deutschland, zeigten sich ihre
preußischen Sympathien vor allem in ihrem steten Hinweisen
auf norddeutsche Wissenschaft im Gegensatz zu der Oberfläch-
lichkeit der französischen und auch der süddeutschen Theorien.
Die Rheinische Zeitung sei das erste „rheinische und überhaupt
süddeutsche Blatt", das hier den norddeutschen Geist einführe und
damit zu der geistigen Einigung der getrennten Stämme beitrage.
Die Religion als solche sei von ihr niemals angetastet
worden und auch in Zukunft werde es nicht geschehen. Hin-
sichtlich des Gehalts eines bestimmten positiven Glaubens sei
ganz Deutschland und vorzugsweise Preußen in zwei Heerlager
geteilt, die beide in Wissenschaft und Staat hochgestellte
Männer zu ihren ^'erfechtern zählten. Sollte etwa eine Zeitung
in diesem noch unentschiedenen Zweikampf keine oder blo&
eine ihr auf amtlichem Wege vorgeschriebene Partei ergreifen
dürfen? Dogmen, kircliHche Doktrinen und Zustände habe sie
immer nur berührt, wenn andere Blätter die Religion zum
Staatsrecht machen und aus ihrer eigenen Sphäre in die Sphäre
der Politik versetzen wollten. So dürfe sie annehmen, daß sie
ganz vorzugsweise den in der Zensurinstruktion niedergelegten
Wunsch Seiner Majestät nach einer unabhängigen, freisinnigen
Presse realisiert und hierdurch nicht wenig zu den Segens-
sprüchen beigetragen habe, mit denen ganz Deutschland Seine
Majestät den König auf seiner emporstrebenden Laufbahn be-
gleite. Nicht als eine Buchhändlerspekulation sei die Rheinische
Zeitung ins Leben getreten, sondern eine große Zahl der an-
gesehensten Männer Kölns und der Rheinlande hätten, in ge-
rechtem Unwillen über den jammervollen Zustand der deutschen
Presse, den Willen Seiner Majestät nicht besser ehren zu können
geglaubt, als indem sie ein Blatt gründeten, das charaktervoll
und furchtlos die Sprache freier Männer führe und den König
die wahre Stimme des Volks vernehmen lasse!
Soweit es ,,mit dem Beruf eines unabhängigen Blattes ver-
einbar" war, wollte die Rheinische Zeitung gern alles tun, um sich
vor dem drohenden Untergang zu bewahren. Für die Zukunft
versprach deshalb das Schreiben mehr Mäßigung in bezug auf
die Form, soweit der Inhalt es gestattete. Auch wollte man, wie
es schon seit einiger Zeit geschehen sei ^), von allen kirchlichen
') Vgl. s. 70.
3*
36 Jlayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
und religiösen Gegenständen hinfort absehen. „Der Gewalt
nachgebend" wurde endlich die einstweilige Entfernung Ruten-
bergs zugestanden und die Präsentation eines verantwortlichen
Redakteurs in Aussicht gestellt.
In seiner Antwort auf dieses aus Bosheit und Diplomatie
gemischte Schreiben rieb Schaper der Redaktion unter die
Nase, daß die Rheinische Zeitung für die Regierung bisher
noch „gar nicht existiere", weshalb diese auch befugt wäre, ihr
Weitererscheinen an Bedingungen zu knüpfen i). Würde Ruten-
berg, (dessen Einfluß die Minister offenbar überschätzten) '^), nicht
sofort entfernt und bis zum 12. Dezember ein durchaus geeig-
neter Redakteur namhaft gemacht, so erfolge unweigerlich die
Unterdrückung des Blattes. Aber selbst wenn diesen Anforde-
rungen Genüge geschah, wollten die Minister die Erteilung der
Konzession erst von der weiteren Haltung des Blattes abhängig
machen. Der neue Finanzminister war von seiner Koblenzer
Zeit her ein guter Kenner Rheinischer Zustände. Ihn befragten
seine Kollegen über Dr. Bernhard Rave, den die Zeitung wohl
deshalb jetzt als verantwortlichen Redakteur vorschob, weil er
während der kirchlichen Wirren als Leiter des Welt- und Staats-
boten in Köln den Regierungsstandpunkt vertreten hatte.
Diesem traute Bodelschwingh jedoch nicht die Entscliiedenheit
der Gesinnung, die Energie und Festigkeit zu, die dazu gehören
würden, um der ,, völlig verwerflichen Tendenz des Blattes eine
durchgreifend gute zu substituieren" 3).
Aber der König und seine Regierung sorgten dafür, daß
die Rheinische Zeitung die moderierte Sprache, zu der sie sich
verpflichtet hatte, nicht lange einhalten konnte. Um Weih-
nachten wurde die Leipziger Allgemeine Zeitung in Preußen
verboten, und gleich darauf erfolgte in Leipzig die Unter-
drückung der Deutschen Jahrbücher auf Veranlassung der
preußischen Regierung. Dazu trat das Gerücht von der bevor-
stehenden gänzlichen Zurücknahme der liberalen Zensurinstruk-
tion. Marx und seine Kampfgenossen konnten nicht mehr zwei-
feln, daß auch ihres Blattes Stündlein bald schlagen würde. Für
sie handelte es sich hinfort nur noch darum, die kurze Spanne
Zeit, die ihnen blieb, auszunutzen. So geißelten sie von jetzt ab
^) Schapers Antwort an Renard, vom 19, November.
^) Vgl. Marx an Rüge 30. November 1842 in Dokumente des Sozia-
lismus I 9.
") Schaper an die Zensurminister 5. Dezember 1842; Bodelschwingh an
dieselben 8. Januar 1843.
Mayer. Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 37
voll Empörung die offensichtliche Umkehr der Regierung in der
Preßpolitik und die tiefe Unsittlichkeit, die im Wesen einer
jeglichen Zensur läge. Kurz danach löste sich wirklich aus den
Wolken, die immer über der Rheinischen Zeitung geschwebt
hatten, der tötende Blitzstrahl. Vom 1. April ab sollte sie zu
bestehen aufhören. In der Sitzung, die das Todesurteil fällte,
sprach der König sein ernstes Mißvergnügen darüber aus, daß
man dieser Zeitung so lange eine Ungebundenheit verstattet
habe, die mit den Gesetzen und mit der Autorität der Staats-
verwaltung durchaus in Widerspruch stünde^). Ein solcher
Wink genügte den Ministern, um die Reform der Kölner
Zensur, von der auch sie jetzt behaupteten, daß sie ,,die
preußische Regierung geradezu kompromittiert" hätte, ener-
gisch in Angriff zu nehmen 2). Während der Galgenfrist,
die mit Rücksicht auf die Aktionäre der Rheinischen Zei-
tung vergönnt blieb, sollte sie mit der größten Strenge be-
handelt werden. Dagegen wollte man der Kölnischen Zeitung
,,bei der von ihr in der letzten Zeit im ganzen entwickelten
Loyalität" unbedenklich Spielraum verstatten, um so dem Pub-
likum zu zeigen, daß das Gouvernement nur die schlechten
Tendenzen mit Energie bekämpfe, der wohltätigen Seite der
durch die Tagespresse erfolgenden Meinungsäußerungen dagegen
volle Anerkennung widerfahren lasse ^). In der Rheinprovinz
fand sich kein Beamter für die unpopuläre Aufgabe, das ge-
richtete Blatt bis zu seinem Eingehen zu überwachen. Deshalb
entsandte die Regierung in ihrer Verlegenheit zu diesem Zweck
den expedierenden Sekretär von Saint-Paul, der sich im Zeitungs-
bureau der Zensurverwaltung eine gründliche Kenntnis der
zeitgenössischen Presse erworben hatte. Aber selbst dieser ge-
niale Cyniker empfand lebhaft die Undankbarkeit der ihm über-
tragenen Mission. Wollte er nicht sämtliche Artikel, die ihm ein-
gereicht wurden, streichen und dem Blatt damit ein vorzeitiges
Ende bereiten, was nicht in der Absicht der Regierung lag, so
war er gezwungen, seinerseits jene gefährlichen Beiträge umzu-
arbeiten, was für einen Beamten eine heikle und Mißverständ-
nis erregende Beschäftigung war"^). Die Aufgabe, dem Blatt auch
^) Das Staatsministerium an Regierungspräsident von Gerlach 21. Ja-
nuar 1843. ^) Ebendort.
^) Die Zensurminister an Gerlach 8. Februar.
*) Die Berichte St. Pauls sind an den Geh. Regierungsrat Bitter ge-
richtet, der mit dem Referat über die Presse beauftragt war. Ich benutze
hier die Berichte vom 31. Januar, 5. Februar, 13. Februar 1843. Über St. Pauls
PersönHchkeit vgl. Fontane, Ch. F. Scherenberg S. 137 f.
38 Maj-er, Die Anfänge des polit. Badikalismus im vormärzl. Preußen.
nur soviel Manuskript zuzugestehen, daß es in einer honnete
pauvrete bis zum Erlöschen vegetieren konnte, wurde dem Zen-
sor dadurch noch mehr erschwert, daß selbst die ausländischen
Korrespondenzen mit dem inländischen Teil die Farbe der
,, schlechten Tendenz" teilten. Schon nach vier Wochen wäre
St. Paul am liebsten nach Berlin zurückgekehrt.
Obzwar die Rheinische Zeitung wegen ihres ausgesprochen
antikatholischen Geistes dem frommen Kleinbürgertum der
Provinz bis dahin als ein Fremdling gegolten hatte, so traf
die Ankündigung ihrer bevorstehenden Unterdrückung den
lebhaften Sinn des Rheinländers für Öffentlichkeit und strenges
Recht dennoch mit ungeahnter Wucht. Weil die Zensur die
Macht besaß, die Veröffentlichung jeder strafbaren oder auch
nur mißfälligen Äußerung zu verhindern, wollte man sich nicht
überzeugen lassen, daß die Notwendigkeit für eine radikale
Maßregelung vorgelegen hätte. ,,Man sah in dem einen Schritte
den Ausdruck eines ganzen Systems, welches auf dem Grund-
satz der Ausübung einer willkürlichen Gewalt beruhte"^). Jetzt
verlangte die ganze Provinz das Weitererscheinen des Blattes,
und die Petitionen, die nun auf Veranlassung von Jung, Oppen-
heim und ihren Freunden den Weg nach Berlin nahtnen, be-
deckten sich schnell mit Tausenden von Unterschriften. Aber
des Königs Entschließung stand fest: hätte er nur gegen die
Königsberger Zeitung die gleiche Waffe in der Hand gehabt
wie gegen ihre ,, Hurenschwester am Rhein" 2)1 Um ihm zu
zeigen, bis zu welchem Grade der Frechheit die Rheinische
Zeitung es noch in ihrer letzten Stunde trieb, übersandte ihm
Arnim einen vom Zensor angehaltenen Aufsatz ,,Der letzte
Karneval", der angeblich Gott, Christus, Altes und Neues Te-
stament verhöhnte und dartat, wie nach Beseitigung dieser Irr-
tümer die neue Philosophie den wahren Heilszustand begründe.
,,Es ist fast zu bedauern", schrieb der Minister, ,,daß der
Zensor verpflichtet ist, den Druck solcher Artikel zu verhindern,
der allein hinreichte, um die Schändlichkeit dieses Treibens vor
aller Welt aufzudecken und die beste Waffe der Regierung
gegen dasselbe wäre." Dieses Argument, mit dem er sich zum
Advocatus diaboli machte, da es natürlich für Preßfreiheit sprach,
entnahm Arnim offensichtlich einem Bericht St. Pauls, den er so-
') Dr. K. H. Hermes, Redakteur der Kölnischen Zeitung, an St. Paul
ohne Datum etwa Ende Januar und K. H. Hermes, Blicke aus der Zeit in die
Zeit. 3 Bde. Braunschweig 1843. Vorrede S. XXH.
'') Treitschke, Deutsche Geschichte V S. 207. Worte des Königs.
Maj-er, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 39
eben gelesen haben mußte. Ob es vielleicht dem Zensor von Marx
suggeriert worden war? In der letzten Zeit hatte seine amtliche
Tätigkeit St. Paul mit diesem in häufige Berührung gebracht, und
nur mühsam verbarg der geistvolle Bohemien in seinen Berichten
nach Berlin das große Vergnügen, das ihm der ungewohnte Verkehr
mit dem überragenden Jüngling bereitete. Auf diesem Wege erfuhr
man im Ministerium zum erstenmal von dem künftigen Be-
gründer der Sozialdemokratie. St. Paul bezeichnete ihn in
seinen Berichten als den ,, doktrinären Mittelpunkt" und ,,den
lebendigen Quell der Theorien des Blattes"; auch rühmte er
seinen Charakter, denn er versicherte, Marx ,, sterbe auf seine
Ansichten, die ihm zur Überzeugung geworden" seien. Dem
jungen Redakteur gereichte es offensichtlich zum Vergnügen,
den Zensor in zensurfreien privaten Unterhaltungen mit dem
Kern seiner philosophischen und politischen Ansichten bekannt
zu machen. Dieser berichtete darüber seinem Vorgesetzten :
,,Wir haben mehrere erschöpfende Unterredungen gehabt, deren
Ergebnisse ich mir vorbehalte, ausführlich mitzuteilen, da sie
den Einblick in die Elemente und Richtungen der geistigen
Bewegung der Gegenwart gewähren. So gewiß die Ansicht
des Dr. Marx auf einem tiefen spekulativen Irrtum beruht, wie
ich ihm auf seinem eigenen Terrain nachzuweisen bemüht war,
so gewiß ist er von der Wahrheit seiner Meinung überzeugt,
wie denn überhaupt den Mitarbeitern der Rheinischen Zeitung,
soweit ich sie kennen gelernt, eher alles andere, nur nicht
Gesinnungslosigkeit im eben erwähnten Sinn zur Last
fällt 1)."
Bereits am 2. März hatte St. Paul nach Berlin gemeldet,
daß Marx sich entschlossen habe, ,, unter den jetzigen Umständen"
jede Verbindung mit der Rheinischen Zeitung aufzugeben und
Preußen zu verlassen. Bei seinem Austritt am 17. März atmete
der von ihm bis zuletzt arg drangsalierte Zensor glücklich auf:
,,Der Spiritus rector des ganzen Unternehmens, Dr. Marx, ist
gestern definitiv ausgetreten und Oppenheim, — ein wirklich
im ganzen gemäßigter, übrigens unbedeutender Mann, hat die
Redaktion übernommen. . . . Ich befinde mich dabei sehr wohl
und habe heute kaum ein Viertel der sonstigen Zeit auf die
^) St. Pauls Äußerungen über Marx stehen in seinem Bericht vom 2. März
und in einem anderen undatierten, den Bitter am 12. März mit seinem Lese-
vermerk versah. Sj^äter erwähnte er noch, daß er sich die angekündigten
ausführlichen Mitteilungen über ihn für eine mündliche Berichterstattung vor-
behielte.
40 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
Zensur verwandt i)." Aber auch die Regierung begriff nun
schon, daß die „ultrademokratischen Gesinnungen" von Dr. Marx
„mit dem Prinzip des preußischen Staats in völhgem Wider-
spruch" ständen und daß deshalb seine beabsichtigte Auswande-
rung für sie „kein Verlust wäre" 2).
Daß Marx während des halben Jahrs seiner redaktionellen
Tätigkeit die Seele des Blattes war, geht auch daraus hervor,
daß St. Paul gleich nach seinem plötzlichen Ausscheiden, wenn
auch ohne Erfolg, die Frage anregte, ob man die Zeitung nun-
mehr nicht fortbestehen lassen solle, da ein das protestan-
tische Prinzip mit Mäßigung vertretendes Organ in Köln nach
wie vor eine politische Notwendigkeit bliebe. Heinzen, Jung,
Advokat Mayer, Mevissen wären zwar auch scharfe Federn, sie
alle seien aber nur instinktmäßig Radikale, ihnen fehle der
wissenschaftliche Kern ihrer Meinung, sie hätten sich bloß nach
gewissen Seiten hin die praktischen Konsequenzen der Ruge-
Bauer-Marxschen Doktrinen angeeignet. Jetzt fand der Zensor,
daß man in Berlin die Gefährlichkeit der Rheinischen Zeitung
überschätzt hätte. Ihr Idealismus wäre abstrakt, über alles
Aktuelle, Nähere und Nächste w^egseheud, übersichtig und
exzentrisch, und könne deshalb nicht praktisch auf die Zustände
einwirken. Viel gefährlicher seien scheinbar unbedeutende
Blätter, die das nächste ergriffen und in ganz konkreter ge-
meinverständlicher Weise gegen einzelne bestimmte Institutionen
herzögen 3). Als aber die Regierung das Fortbestehen der Rheini-
schen Zeitung nicht in Erwägung ziehen wollte, da richtete
St. Paul, obgleich Dumont-Schauberg ihm kein Vertrauen ein-
flößte, das Augenmerk nun doch auf die Kölnische Zeitung.
Mit Dr. Hermes, einem geborenen Schlesier, der die pohtischen
Leitartikel schrieb, hatte der gewandte Sendling der Regierung
bereits seit längerem intime Beziehungen angeknüpft, die man sich
in Berlin später gegen gutes Geld zunutze machte. Solange
dieser brauchbare Mann die Leitartikel schrieb, hielt St. Paul die
Kölnische Zeitung für geeignet, das Organ zu werden, das am
Rhein die preußischen Zustände mit loyaler Kritik bespräche,
ohne daß es gegen sich Vorurteile erweckte, wie sie gegen
Zeitungen beständen, von denen das Publikum wisse, daß die
Regierung sie subventioniert. Der Zensor traute sich auch zu.
') St. Paul an Bitter 18. März 1843.
*) Bitter an? 22. März.
') St. Pauls Berichte vom 27. Februar und 21. März.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 41
von Dumont-Schauberg zu erreichen, daß er Hermes in Zukunft
freiere Hand ließe ^).
Außer dem Klerus 2), der nunmehr hoffen durfte, daß die
ketzerische Saat des Junghegelianismus in der frommen Provinz
niemals aufgehen werde, war, wie Bodelschwingh es voraus-
gesagt hatte, über das Eingehen der Rheinischen Zeitung, die
am 31. März zum letzten Mal erschien, niemand glücklicher als
der Besitzer der Kölnischen Zeitung, den die Regierung von
einer Konkurrenz befreite, die ihm gefährlicher und unbequemer
gewesen war als irgend eine frühere! —
Ein Vergleich zwdschen der Rheinischen und der Königs-
berger Zeitung, die Freund und Feind damals stets in einem
Atem nannten, zeigt bei aller Ähnlichkeit der Grundrichtimg
doch auch bedeutende und lehrreiche Unterschiede. In der
Stadt der reinen Vernunft und der Provinz, die sie mit geistiger
Nahrung versorgte, konnten die Weltanschauung, die von dem
liberalen Blatt verkündet, und die praktischen Forderungen,
die auf sie begründet wurden, ein einheitlicheres und geschlos-
seneres Gepräge tragen als in der klerikalen Hochburg am
Rhein, wo modern kapitahstische Elemente eine Zeitung errich-
teten, die für die Interessen des wirtschaftlichen Liberalismus
eintreten sollte und deren theoretischer und politischer Teil sich
nur dm-ch einen glücklichen Zufall den Doktrinen der radikalen
Richtung auftat. Hinzu tritt, daß die Königsberger Zeitung
immerhin ein Provinzblatt blieb, in einem kleinen Format er-
schien und im wesentlichen von einer vöUig homogenen Gruppe
von ganz wenigen Personen geschrieben wurde, während die
Rheinische Zeitung reichlich über den dreifachen Raum ver-
fügte, auch außerhalb Kölns einen umfangreichen Mitarbeiter-
stab besaß und sich von vornherein mit dem Anspruch der
Ebenbürtigkeit neben die große Kölnische Zeitung stellte. Der
wichtigste Unterschied war aber, daß in dem ostpreußischen
Blatt die liberalen, in dem rheinischen die radikalen Bestrebungen
stärker in der Vordergrund traten. Die Wortführer dieser noch
zu entwickelnden radikalen Ideen, die sich, wie bereits angedeutet
wurde, keineswegs auf das politische Gebiet im engeren Sinne
beschränkten, waren während der längsten Zeit des Bestehens
der Rheinischen Zeitung die durch Rutenberg und Heß, durch
'■) Bericht St. Pauls vom 5. März.
^) Schaper an die Zensurminister 17. März.
42 Mayer, Die Anfänge des polit. ßadikalismus im vormärzl. Preußen.
]\Iarx und Bruno Bauer mit ihr in Verbindung gesetzten Berliner
Literaten der junghegelschen Richtung, von denen bisher erst
vorübergehend die Rede gewesen ist.
VI.
Wir wissen schon, daß im Vormärz das Interesse für
PoHtik in Berhn ungleich schwächer war als in der westlichen
und östlichen Grenzprovinz der Monarchie, im Rheinland und
in Ostpreußen. Während dort die Gemeinsamkeit kultureller,
religiöser oder wirtschaftlicher Interessen bereits kompakte
Gruppen auf die Erkämpfung bestimmter Ziele hinlenkte, läu-
teten in der Hauptstadt bloß erst ein paar Literaten Sturm über
den Häuptern einer noch ruhig schlafenden Bevölkerung. An
Pregel und Weichsel hatte sich die Intelligenz mit der Geburts-
und Besitzaristokratie, am Rhein wenigstens mit der letzteren
zusammengefunden, um auf politischen Fortschritt hinzuwirken.
Dagegen konnten in Berlin diese Elemente neben dem beherr-
schenden Ansehen, das Hof und Bureaukratie genossen, noch
zu keinem Einfluß gelangen i). Wer hier etwas gelten wollte,
hütete sich ängstlich, durch die Äußerung liberaler Über-
zeugungen nach oben Anstoß zu erregen. Man bewunderte
wohl im Stillen die ostpreußischen Adeligen und rheinischen
Großkaufleute, die auf den Provinziallandtagen Verfassung und
Preßfreiheit forderten, aber man hatte nicht den Mut, es ihnen
gleich zu tun. Für den Berliner war in der ersten Hälfte der
vierziger Jahre der politische Klatsch, dem der volkswüchsige
Witz nicht selten zu plastischer Gestalt verhalf, die eigentliche
Form, in der seine innere Unabhängigkeit Selbstbewußtsein er-
hielt und in der gleichzeitig sein Oppositionsdrang sich er-
schöpfte.
Innerhalb dieses servilen Milieus bestand ein kleiner, locker
zusammenhängender Kreis von jungen Schriftstellern, der es
wagte, ohne jede Rücksicht die Zeitideen zu verkündigen. Ge-
sellschaftlich hatten die Männer, die ihm zugehörten, nichts zu
verlieren, sie waren mehr oder weniger Bohemiens, nur einige
von ihnen mußten sich um des Amtes willen, das ihnen ihr kärg-
hches Brot gewährte, hinter Pseudonymen verstecken. Die realen
Wünsche bestimmter Volksschichten hatten sich hier noch nicht
genügend verdichtet, als daß sie deren politisclie Wortführer
hätten werden können. So führten sie ohne Rückhalt bei der
') Saß, Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung-. Leipzig 1846.
Player. Die Anfänge des ])olit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 4'i
Einwohnerschaft ein Kaffeehausdasein, das sie um so eher einem
extremen Subjektivismus entgegentrieb, als ihre besten Köpfe
persönhche Veranlagung ohnehin dafür prädestinierte. Das
Bernsteinsche Lesekabinett in der Behrenstraße und das rote
Zimmer der Konditorei von Stehely waren die Nachrichtenbörse
dieser ,, Literaten, die von der Journalschriftstellerei und dem
pohtischen Räsonnement ein Gewerbe machten"^). Am Abend
war die Hippeische Weinstube oder die Tabagie von Clausing
in der Zimmerstraße die Stätte ihres Gedankenaustausches. In
seinem Buch über Stirner hat Mackay das Treiben dieser Leute
liebevoll und anschaulich geschildert-).
Während des Jahres 1841 bildete einen Sammelpunkt für
ihre geistigen Bestrebungen die Wochenschrift ,,Athenaeum",
die der ehemalige bayrische Pfarrer D. Karl Riedel mit Hilfe
von Dr. Eduard Meyen, der auch sonst für ultraliberale Blätter
,, böswillige Artikel" schrieb, im Verlage von Kiemann heraus-
gab. Beide Männer hatten sich bei der Abwehr der bekannten
Angriffe Heinrich Leos auf die Junghegelianer hervorgetan.
Neben ihnen standen als hauptsächliche Mitarbeiter Dr. Ludwig
Eichler, der Privatdozent Dr. Karl Nauwerck, Dr. Ludwig Buhl
und Dr. Rutenberg. Die meisten Mitglieder des Kreises waren
geborene Berliner, auch Buhl, den Treitschke irrtümlich für
einen Rheinländer ausgibt ^). Karl Marx, der in diesem Jahre
in Berlin promovierte und viel mit Rutenberg und Konsorten
verkehrte, lud im Athenaeum zwei Gedichte ab, die hinreichend
bewiesen, daß der Parnaß nicht seine geistige Heimat war.
Die Behörden beschäftigten sich zum erstenmal mit diesen
Leuten, als sie Ende September 1841 für den nach Berlin ge-
kommenen liberalen badischen Landtagsabgeordneten Welcker
eine Serenade und ein Mittagessen veranstalteten und dadurch
*) So drückte sich die Polizei aus. Ein anonymer Bericht, etwa vom
März 1842, den ich in den Akten des Geh. Staatsarchivs fand, nennt sie
„Zeloten, die sich selbst als die zum Streit für Deutschlands Freiheit berufene
Propaganda bezeichnen und als solche nun, begünstigt durch die freie Presse,
systematisch wirken wollen".
^) Vgl. auch Ludwig Eichler, Der Zeitungskorrespondent. — Eine
Konditorei. Berlin 1842 (in , .Berlin und die Berliner'" Neue Folge IV) und
F. Saß a. a. 0. S. 49 ff.
") Charakteristiken von Rutenberg, Meyen, Buhl, Stirner bei Saß,
Berlin etc. a. a. 0. Meyen korrespondierte 1841 für die Hamb. Neue Zeitung,
hernach eifrig für die Eheinische Zeitung. Buhl (ursprünglich Boule) ent-
stammte der französischen Kolonie.
4-4 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vorraärzl. Preußen.
den Zorn des Königs auf sich lenkten i). Bei diesem Schmaus,
der in der Wallburgschen Weinstube stattfand, feierte Bruno
Bauer, damals noch unabgesetzter Privatdozent in Bonn, mit
einem ostentativen Toast Hegels Auffassung vom Staat, über
die in Süddeutschland noch manche irrige Vorstellung ver-
breitet wäre. Ihm erschien es wichtig, dem Herausgeber des
Staatslexikons zu zeigen, daß er selbst und die anderen Jung-
hegelianer über den Staat Ansichten hegten, welche die der
süddeutschen Liberalen an Kühnheit und Entschiedenheit weit
überragten 2). Welcker verstand diese Absicht und war darüber
,,sehr chokiert"^). Aber erst Edgar Bauers Buch über die
badische Opposition vollendete ein Jahr später den Bruch dieser
Radikalen mit dem süddeutschen Liberalismus.
Bei der politischen Schläfrigkeit, die in der Hauptstadt
waltete, war es ein ganz unerhörtes Ereignis, daß eine Serenade,
für die offenbar bei der Polizei nicht im voraus die Genehmigung
eingeholt worden war, zu einer politischen Manifestation benutzt
wurde. Wie sollte man es auch sonst erklären, daß der König
dieser harmlosen Kundgebung einen ,, auf regenden Charakter"
beimaß! Über alle Teilnehmer wollte er die strengste j)olizei-
liche Aufsicht verhängt und sie für die Zukunft von jeder An-
stellung im preußischen Staatsdienst ausgeschlossen sehen ^).
Als Anstifter galt, wir hörten es schon, Dr. Adolf Rutenberg,
früher Lehrer der Geographie am Berliner Kadettenhaus, der
seine Stelle verloren hatte, als er eines Morgens betrunken im
Rinnstein gefunden wurde, wahrscheinlicher aber weil man ihn
als Verfasser ,, böswilliger Artikel" für die Leipziger Allgemeine
und die Hamburger Neue Zeitung kannte. Unter den übrigen Teil-
nehmern begegnen wir außer Bruno Bauer noch dem Oberlehrer
an der Dorotheenstädtschen Realschule Karl Friedrich Koppen,
dessen Marx gewidmete Broschüre über Friedrich den Großen
schon erwähnt wurde, dem Romanschriftsteller Dr. Theodor
Mügge, der sich besonders durch seine Beiträge für Willes
^) Die Akten über die Festlichkeit für Welcker durfte ich nicht ein-
sehen, doch verdanke ich der Liebenswürdigkeit von Herrn Geheimrat Ballieu
die Namen derjenigen Teilnehmer, die zur Verantwortung gezogen wurden.
Die Mehrzahl der Demonstranten erwies sich hernach als unauffindbar.
^) Bruno an Edgar Bauer 9. Dezember 1841, in Briefwechsel zwischen
Bruno und Edgar Bauer während der Jahre 1839 — 1842. Charlottenburg 1841.
*) B. Bauer an Enge 24. Dezember 1841 (ungedruckt, im Besitz von
Herrn Hofgerichtsadvokat Dr. W. Pappenheim in Wien).
*) Rochow an Eegierungspräsident von Gerlach in Köln 31. Januar 1842.
Geh. Staatsarchiv. Vgl. S. 17.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 45
Mannheimer Journal bei der Regierung mißliebig gemacht hatte,
Riedel, dem Herausgeber, Kleefeld, dem Verleger, und Meyen
und Eichler, den eifrigsten Mitarbeitern des ,,Athenaeums", dem
Lehrer Dr. Friedrich Zabel, späterem Redakteur der National-
zeitung, dem Buchhändler Cornelius, der einst in Straßburg das
,, Konstitutionelle Deutschland" herausgegeben hatte und sich
nun schon Jahre hindurch vergebens um die Konzessionierung
einer neuen politischen Zeitung in Berlin bemühte, dem Buch-
händler, Schriftsteller und Vorsteher der Judenschaft Moritz
Veit, dem Arzt Dr. Julius Waldeck, einem Vetter und Freund
Johann Jacobys, dem Assessor Eduard Flottwell, dem ältesten
Sohn des Oberpräsidenten u. a. Von diesen Männern fand ich
Cornelius, Meyen, Zabel, Waldeck und Mügge auch als Unter-
zeichner eines Aufrufs, der im folgenden Jahre dem wegen
Hochverrats und Majestätsbeleidigung verfolgten Johann Ja-
coby eine Bürgerkrone stiften wollte; zu ihnen gesellten sich
dort u. a. noch Nauwerck, Dr. Heinrich Runge, der spätere Stadt-
kämmerer, Dr. Cajetan Hoppe und A. Hiller, von Studenten
Theodor Flottwell, der zweite Sohn des Oberpräsidenten, und —
Jakob Burckhardt. Daß Schmidt, der hier 15 Sgr. zeichnete,
mit Stirner identisch gewesen ist, läßt sich nicht beweisen. Man
darf es aber für um so wahrscheinlicher halten, als Stirner das Ver-
dienst Jacobys um die Weckung des politischen Bewußtseins noch
im Oktober 1842 in der Leipziger Allgemeinen Zeitung warm an-
erkannte. Er achtete in ihm den Menschen, ,,der eine Idee in
sich ,persönlich' werden Meß und nun die zeitlichen Leiden der
Idee an seinem Leibe zu tragen hat"^). Ein Bericht des
Ministers des Innern an den König betonte damals mit Genug-
tuung den geringen Anklang, den der Aufruf in Berlin gefunden
hätte: Die Subskribenten seien ,,der ultraliberalen Schule an-
gehörige, bei der literarischen Welt jedoch in keiner besonderen
Achtung stehende Zeitungskorrespondenten und Broschüren-
schreiber", zu denen noch ein paar Studenten, junge Doktoren
der Medizin und Juden kämen 2).
VII.
Der literarische Mittelpunkt für alle durch die Hegeische
Schule gegangenen Elemente, die nun zur Praxis drängten und
0 Leipz. Allg. Ztg. 9. Oktober 1842, Beilage: „Dr. Jacobys weitere
Verteidigung." Den Beweis für Stirners Autorschaft findet man S. 92 An-
merkung 2.
') Arnim an den König 12. Januar 1843. Geh. Staatsarchiv.
46 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
denen ,, Gesinnung" die Seele füllte, war Arnold Rüge. Er
selbst hat sich einmal nicht übel als Großkaufmaun im Reiche
des Geistes bezeichnet und damit ausgedrückt, daß er sich nicht
sowohl für einen schöpferischen Denker hielt, als für einen
Mann, der mit Takt und Geschick die Ideen und Forderungen
der Zeit auf die richtige und zündende Formel zu bringen
verstand. Die Berliner Junghegelianer schätzten den Heraus-
geber der Halh sehen Jahrbücher, dem sie ihre Beiträge ein-
schickten, ohne daß sie ihn vorläufig persönlich kannten, unge-
mein. Aber als ihr geistiges Oberhaupt verehrten sie Bruno Bauer,
den kühnen Kritiker der Evangelien, der zwar noch bis zum
Frühling 1842 als Privatdozent in Bonn lebte, aber die Ferien
immer in seinem Elternhaus in Charlottenburg verbrachte, von
wo aus er mit seinem um elf Jahre jüngeren Bruder Edgar, der
damals noch Theologie studierte, in ihrem Kreise verkehrte.
Bauer seinerseits urteilte über die ,,Athenaer" und ihr ,, Dreck-
blatt" in seinen Briefen an Rüge mit Geringschätzung^). Er
traute ihnen nicht zu, daß sie an die ,, Kraft der Sache" glaubten
und wollte diesen ihren ,, Unglauben" von Rüge in der Leip-
ziger Allgemeinen Zeitung gezüchtigt sehen. Aber urteilte der
Erfinder der souveränen Kritik nicht, ohne es zu merken, auch
über sich selbst, wenn er in einem Brief an Rüge den ,, Berliner
Bier-Literaten" vorwarf: ,,Sie glauben überhaupt an keine Kraft,
als an die ihrer eigenen Klugheit." ?
Bruno Bauer war wie auch sein Bruder Edgar ein ,, Fana-
tiker des Verstandes" 2), und die Hegeische Dialektik, die er
mit Virtuosität handhabte, schien wie geschaffen für die Ge-
dankenarbeit dieses Geistes, dem es weniger darauf ankam, feste
Resultate zu erzielen, als dem niemals endenden Kampf der
Ideen sein eigenes Bewußtsein als Schlachtfeld darzubieten. In
der Rastlosigkeit, mit der die Brüder die Kritik in sich arbeiten
ließen, in ihrer ,, dialektischen Ehrlichkeit" und ,, logischen Gründ-
lichkeit" (wie Edgar es nannte) liegt ein Moment, das uns Ach-
tung abnötigt. Man kann sie auch im herkömmlichen Sinne
des Worts nicht eitel nennen, denn ihr Persönlichkeitsgefühl
war genau so intellektualistisch begrenzt wie ihre Gedanken-
welt. ,, Solange die Kritik eine kämpfende Macht ist", schrieb
') Bruno Bauer an Rüge 6. Dezember 1841 (ungedruckt, im Besitz
von Herrn Dr. W. Pappenheim in Wien, der mir die Benutzung freundlich
gestattete).
-) Prutz, Zehn Jahre, Bd. II S. 58 ff.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 47
Edgar einmal, ,,siud die PersoneD, welche sieh in ihren Dienst
stellen, gleichgültig und halten sich nur insofern für etwas,
als sie eben die Kritik in sich arbeiten lassen^)."
Aber die Brüder Bauer besaßen nicht nur den Mut der
Konsequenz, sie übertrieben ihn auch. Jedes eigene Urteil, das
sie gefällt hatten, wurde ilmen in kurzer Zeit zum Vorurteil,
das sie überwanden, indem sie es als ein solches erkannten.
Auf ihre intellektuelle Hemmungslosigkeit waren sie stolz, und
sie hätten es für unwissenschaftlich gehalten, das Räderwerk
der einmal aufgezogenen Verstandesmaschine aus Neigung
oder Abneigung an irgendeiner Stelle anzuhalten. Eine
solche Denkweise konnte sich selbstredend nur bei Männern
ausbilden, die alle irrationalen Wertungen verachteten und
für die aus den unbewußten Tiefen des Empfindungslebens
hervorbrechenden Forderungen kein Organ besaßen. Da ihr
Schiboleth ,,die Kritik" nicht stille stehen durfte, so hielten sie
schließlich den Wechsel der Überzeugung für ein Symptom
der Fortentwicklung. Wohl zollten auch sie dem Zeitgeist der
Jahre 1841 und 1842, der stürmisch ,, Gesinnung" forderte, ihren
Tribut. Aber bald erkannten sie, daß sie sich nicht einreihen,
nicht auf Programme, die sich kritisch auflösen ließen, fest-
legen konnten. Im Lauf ihres langen Lebens haben sie dann ihren
politischen Standpunkt häufig geändert. Edgar war Liberaler,
Radikaler, Kommunist, Anarchist, Konservativer und schließlich
sogar Weife. Und Bruno endete als Mitarbeiter Herrmann
Wageners. Ähnlich wie Nietzsche-), mit dem er sich in einiger
Hinsicht berührt — man vergleiche den ,, Antichrist" mit dem
,, Entdeckten Christentum" ! — zog ihn innere Verwandtschaft
nur zu Geistern, die sich wandelten. Bloß eine Epoche schneller
Umbildung konnte die produktive Seite in einer solchen Natur
auslösen !
^) Preßprozeß Edgar Bauers über das von ihm verfaßte Werk „Der
Streit der Kritik mit Kirche und Staat". Aktenstücke. Bern 1844. S. 110.
Die Stellung der „Kritik" innerhalb der Geschichte der Philosophie behan-
delte bisher am gründlichsten K o i g e n , Zur Vorgeschichte des modernen
philosophischen Sozialismus in Deutschland. Bern 1901. Auf die rein philo-
sophischen Zusammenhänge konnten wir bei unserer Problemstellung nicht
eingehen.
') Auf die Berührungen der beiden Bauer mit Nietzsche verweist auch
Koigen a. a. 0. S. 73 f. Zwischen Bruno Bauer und Nietzsche haben noch
persönliche Beziehungen bestanden. Vgl. Nietzsche an Taine 4. Juli 1887
in Gesammelte Briefe III 1 S. 201.
48 Mayer, Die Aufänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
Ein feinsinniger zeitgenössischer Kritiker^) tadelt an den
Brüdern Bauer, daß sie die Menschen als Gattung wie als
Individualität zu tief einschätzten. Wie konnte dies aber bei
Denkern anders sein, die ausschließlich die Verstandeskategorie
beachteten? Weil das intellektuelle Ich für sie schon
der ganze Mensch war, weil sie die Psychologie und
alles ,, jenseits" sichtbare Land absichtlich ignorierten und nur
dem absoluten Selbstbewußtsein und seiner Entwicklung Wert
beilegten, verkörpern sie im deutschen Geistesleben die schärfste
Reaktion gegen die Romantik. Nicht in den Köpfen der
Masse, die ihnen nichts galt, nicht im Volksgeist, den sie
leugneten, sondern im absoluten Selbstbewußtsein, das schließlich
doch bloß ihr eigenes war, vollzog sich für sie der endlose Kampf
der Ideen, der die Selbstbefreiung des Geistes bedeutete und des-
halb den einzig würdigen Inhalt der Geschichte* ausmachte. Be-
strebungen, die sie einmal kritisch vernichtet hatten, betrachteten
sie als endgültig abgetan, sogar dann, wenn sich diese im realen
Leben einer robusten Gesundheit erfreuten. Die praktische
Verwirklichung der Ergebnisse, zu denen sie in der Theorie
gelangt waren, hatte für sie höchstens eine nebensächhche Be-
deutung. Sie sahen keinen Unterschied darin, ob man seinem
Feind auf dem Papier oder in der Wirklichkeit den Kopf ab-
schlug. So erschöpften sie sich in der Kritik, während sie sich
selbst für schöpferisch hielten und ihre Worte für Taten nahmen.
Ursprünglich hatte Bruno Bauer in seiner wandlungsreichen
Entwicklung zur orthodoxen Richtung geschworen und zu den
entschiedensten Gegnern von David Friedrich Strauß gehört.
Hernach wandte er den Künsteleien der Apologetik schroff den
Rücken, wurde zum radikalen Kritiker der biblischen Tradition
und nannte sich selbst einen Atheisten. Letzteres geschah zu-
erst in einer anonymen, alsbald konfiszierten Schrift, die unter
der Maske des Pietismus nachwies, daß bereits Hegel ein
Erzjakobiner gewesen sei, der das Historische in Ideen ver-
wandelte und damit den festen Besitz der konservativen Mächte
verschleuderte und in die willkürliche Gewalt der Gegenwart
brachte. Die ,, Posaune" kündigte an, daß Hegels Jünger im
Begriff stünden, aus seiner Lehre die Konsequenz zu ziehen
und den ,, Umsturz alles Bestehenden" zu vollenden 2),
') (Alex. Jung), „Die Kritik in Charlottenburg oder die Gebrüder
Bauer" im Königsb. Literaturbl., 17., 20., 24. Juli 1844,
-) Für Bruno Bauers politische Entwicklung in dieser Epoche kommen
hauptsächlich die folgenden Schriften und Aufsätze in Betracht: Dr. Hengsten-
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 49
VILT.
Den Rückfall der preußischen Kulturpolitik in Romantik
und Reaktion hatte Bruno Bauer schon von Bonn aus öffentlich
bekämpft. In Ruj2;es Jahrhüchern hatte er dar^elei^t, wie
überall in der Geschichte die Religion die anderen Mächte des
Geistes zu verschlingen oder zu unterjochen strebe. Aber
die Revoluticm, die Aufklärung und die Philosoi)hie hätten als
die umiassendste Erscheinung des sittlichen Selbstbewußtseins
den Staat erkannt. Ist er (hes wirklich, ist er die „objektive
Existenz der Sittlichkeit", so dürfe die Kirche nicht bean-
spruchen, ihn zu bevornuniden. Da der Staat einen endlosen
dialektischen Werdeprozeß durchlebt, so ist er niemals identisch
mit der bestinnnten Regierung. Deshalb gehört auch die Op-
j)Osition in ihn hinein als die Vertreterin berechtigter Prinzipien,
die in den gesetzlichen Einrichtungen noch nicht ausgeprägt
sind. Die Opposition vollendet sich als dialektische Theorie.
l)erg, VAn Beitrag zur Kritik des religi()8en Bewußtseins, Berlin 1839; Der
christliche Staat und unsere Zeit (Hall. Jahrb. 7. und 12. Juni 1841); anonym
Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und (Jhristen.
Ein Ultimatum, Leipzig 1841 (beendet August, erschienen November); Be-
kenntnisse einer schwachen Seele (Deutsch. Jahrb., 23. und 24. Juni 1842);
Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit, Zürich und
Winterthur 1842; Die Judenfrage (Deutsch. Jahrb., 17. November ff. 1842,
auch separat Braunschweig 1843); Das entdeckte Christentum, eine Erinne-
rung au das achtzehnte Jahrhundert und ein Beitrag zur Krisis des neun-
zehnten, Zürich und Winterthur 1843 (beendet wohl im Januar); anonym,
Staat, Religion und Partei, Leipzig 1843 (geschrieben im März); endlich
mehrere Aufsätze ohne Unterschrift in der von ihm herausgegebenen AUgem.
Lit.-Ztg. — Die Rheinische Zeitung brachte von Bruno Bauer die folgenden
größeren anonynum Beiträge, deren Originahnanuskripte ich einsehen durfte:
Über die neuesten Erscheinungen der engüsclien Kirche Beibl. 20. Jan. 1842;
Die Parteien im jetzigen Fi'ankreich Beibl. 23. Jan.; Die Rheingrenze Beibl.
30. Jan.; Die deutschen Sym))atliieu für Frankreich Beibl. 6. P'ebr.; Die Zer-
s])litterung der Parteien in b'rankreich Beilil. 10. Febr.; Das Cölner Quartett
Feuill. 1. März; Lebensbilder aus den Befreiungskriegen Beibl. 1., 6., 13.,
31. März; Die Deutschen Nationalen 10. März; Joseph II. und die belgische
Revolution Beibl. 13. März; Die Kollisionen in den konstitutionellen Staaten
Beibl. 27. März; Eine von den Tendenzen der Augsb. Allg. Ztg. ebendort;
Kirche und Staatsgouvernement Beibl. 29. März; Preußen, seine Verfassung,
seine Verwaltung etc. von Bülow-Cummerow Beibl. 7. April; Wie Lüttich dem
deutschen Reich verloren ging Beibl. 3. April; Was ist Lehrfreiheit'? Beibl.
12. April; Der Terrorismus der Augsb. Allg. Ztg. Beibl. 24. April; Die deut-
schen Artikel der Augsb. Allg. Ztg. Beibl. 1. Mai; Etwas über die Presse
in der Schweiz Beibl. 3. Mai; Deutschlands Beruf in der Gegenwart und
Zukunft von Theodor Rohmer Beibl. 7. Juni; Louis Philip}) und die Juli-
regiorung Beibl. 19., 21., 23. Juni 1842.
Zeitschrift für Politik. G. 4
50 Mayer. Die Anfänge des polit. Eadikalisnius im vormärzl. Preußen.
Doch die Regierung mißtraut dem Selbstbewußtsein, das sich
erkühnt, seine Sache auf sich selbst zu stellen.
Bauer war der Ansicht, daß der Kampf zwischen der als
abstraktes Postulat -^deder auferstandenen Kirche und der "Wissen-
schaft im preußischen Staate seine Entscheidung finden werde.
Seit seiner Absetzung im März 1842 wurde ,,die gute Sache
der Freiheit" ihm vollends zu seiner eigenen Angelegenheit.
Die Entziehung der venia legendi bewies ihm und seinen Partei-
gängern in Berlin auf die schlagendste Weise, daß die Freiheit
der wissenschaftlichen Forschung der preußischen Regierung,
die sie früher respektiert hatte, nichts mehr galt. Mit der
Aureole des Märt}Tertums um die Stirn kehrte er nach
Berlin zurück, um dort an der Spitze der Jungen und unter
dem Schutz der erweiterten Zensurfreiheit den Kampf gegen
die christhch-romantische Richtung aufzunehmen.
Hier in der politischen Sandwüste an der Spree milderte
sich bald sein Urteil über den Kreis der Stehely-Literaten, denen
die gemeinsame Arbeit für das große rheinische Oppositions-
blatt jetzt einen stärkeren Zusammenhang gab als das im Ge-
folge des Festessens für Welcker unterdrückte Athenaeum, um
dessen Wiedererweckung Meyen und Nauwerck sich vergebens be-
mühten^). Bruno Bauer empfand die ,, geistige Armut Berlins"
anfangs sehr drückend. Die ,, Freien", wie man die dortigen Jung-
hegelianer seit kurzem nannte, schienen ihm noch die einzigen
zu sein, ,,die sich von den neueren Prinzipien tingieren" ließen.
Bheb nun, wie er Rüge gestand, diese Tinktur auch bei ihnen bloß
äußerlich, so erschien es ihm doch nicht ratsam, sie allein zu
lassen, wo er einmal mit ihnen innerhalb derselben Mauern
wohnte 2). Übrigens wurde der Name ,,die Freien" im weiteren
Sinne bald auf alle Kreise angewandt, die gegen die Kultur-
politik Eichhorns öffentlich Einspruch erhoben.
Innere und äußere Umstände trugen dazu bei, daß die
,, Freien" anfänglich an der hohen Wertung des Staats fest-
hielten, die Hegels Rechtsphilosophie verkündigte und die Bruno
Bauer fast wie eine Kampfansage des Radikalismus an die
Liberalen dem Heidelberger Professor entgegengeschleudert
*) Vgl. Stimers Korrespondenz in der Leipz. Allg. Ztg. vom 2. Oktober 1842.
') Bruno Bauer an Rüge, 15. .Juni 1842 (ungedruckt). Am 17. August
schreibt er an Enge: ,,Es ist mir lieb, daß Ihnen .Jung von den Freien bierselbst
erzählt hat. Ich bin nicht dazu gekommen, Ihnen die ganze Entwicklungs-
geschichte zu erzählen, obwohl es interessant gewesen wäre." Vgl. Euge an
Prutz, 18. November 1842, in Ruges Briefwechsel, herausgeg. von Nerrlich.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalisrnus im voniiürzl. Preußen. 51
hatte! Die Romantiker, die auch die Gesinnung des Königs
ausdrückten, sahen allein in der Kirche eine Offenbarung des
göttlichen Prinzips und ordneten ihr den Staat, dem sie den
,, Geist" absprachen, unter. Die jungen und alten Hegelianer
wiederum empörte es, daß der Staat eine bloß äußerliche Anstalt
sein sollte; sie erblickten in dieser Auffassung eine ,, wegwerf ende
Verkennung der tieferen Staatsidee"'). Bruno Bauer warnte 2)
jetzt den bestehenden Staat, sein Schicksal mit dem der Kirche
zu verbinden, weil er sonst mit ihr untergehen würde, um Platz
zu schaffen für einen ,, freien Staat". Denn ebenso wie im
Wesen der Kirche und der Religion die Knechtschaft läge, so
entspräche die Freiheit dem eigentlichen Wesen des Staates.
Während die Kirche den Menschen mit sich selbst entzweie,
sollte er im Staate mit sich einig werden. Der Staat sei keine
starr-abstrakte Macht, die den einzelnen gängeln dürfe, noch
ein jenseitiges Wesen, dem er sich in Demut beuge. Die
Idealität des Staates müsse in der Persönlichkeit leben und
weben und in ihr Fleisch und Blut übergegangen sein^)!
Aber auch äußerlich ließ sich der Kampf gegen die Über-
griffe der Kirche erfolgreicher führen, w^enn es keinem Zweifel
unterlag, daß man die Autarkie des Staates rückhaltslos an-
erkannte. Deshalb lag Methode in dem Bestreben der radikalen
Junghegelianer, die sich jetzt als die zuverlässigsten Verteidiger
des Staatsprinzips aufspielten und bei jeder Gelegenheit
aussprachen, daß man sehr wohl ein guter Bürger sein könne,
ohne zugleich ein guter Christ zu sein. In einer von mir
aufgefundenen Kundgebung aus dem Sommer 1842*) er-
klären sie, daß sie den Staat ehren wollen, ,,nur nicht den
christlichen", daß sie ihm mit Leib und Seele ergeben seien und
Gut und Blut opfern wollen, wenn seine Zwecke es erheischen!
Diese staatsfreundliche Haltung kostete die ,, Freien" solange
keine Überwindung, als sie noch mit einer baldigen Liberalisierung
Preußens rechneten, die den bestehenden reaktionären Staat
^) Vgl, u. a. Xauwercks Besprechung von K. Riedels ,, Staat und Kirche" in
den Deutsch. Jahrb. 1841 Nr. 76 f. (September) und Edgar Bauers Polemik
gegen die Literar. Zeitung und gegen Haller in seiner anonymen Broschüre:
Georg Herwegh u. d. Literar. Zeitung. Leipzig 1843. S. 22 ff. Auch Stirner
schreibt: „Von der Höhe der Freiheit der ,Kinder Gottes' schaut der Christ
mitleidig auf jede andere Freiheit als auf eine äußere herab." Vgl. seinen
Artikel „Die Freien" in der Beilage der Leipz. Allg. Ztg. vom 14. Juli 1842.
^) Die gute Sache der Freiheit a. a. 0.
^) Staat, Religion und Partei. März 1843.
*) Vgl. Anhang IL
52 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
dem ihnen vorschwebenden Staatsideal annähern würde. Be-
sonders Edgar Bauer malte sich und den anderen dieses Ideal
in verlockenden Farben aus. Dem „christlichen Staat" stellte
auch er den „wahrhaften Staat" gegenüber, wo wie im Himmel
alles im harmonischen Einklang ineinander greifen und die
einzelnen Töne zu einem Lobliede für die Allgemeinheit der
Gesellschaft zusammenklingen würden. ,,Die Wirksamkeit für
die Freiheit und Würde des Staats" bezeichnet er hier kurzweg
als seine ,, Religion" ^).
,,Wer meint es nicht wohl mit dem Staate?" fragte gleich-
falls Ludwig Buhl. ,,Wir alle wünschen ihn groß, mächtig,
stark, vernünftig. Wir alle haben keinen anderen Wunsch
als in ihn aufzugehen, ihm unsere Kräfte zu weihen;
unser höchstes Ziel ist, Staatsbürger zu werden, uns als solche
zu wissen und zu betätigen 2)." Jeder einzelne, so fordert Buhl,
solle daran arbeiten, daß der Staat zu der Stufe emporgehoben
werde, auf der er den höchsten Begriffen entspricht^)!
Bei dem Kampf zwischen dem vom König geförderten
,, historischen Christentum", das sich für die Gegner vor allem
in Eichhorns Amtsführung verkörperte, und den Wortführern
persönlicher Freiheit und Würde, wie die Kantianer, und der
Autonomie der Geister, wie die Hegelianer es mit Vorliebe
formulierten, ließ sich bald nicht mehr entscheiden, wer sich
im Angriff und wer in der Abwehr befand. Denn die ursprüng-
lich Aufgestörten gingen, wie es immer in der Schlacht geschieht,
unwillkürlich selbst zum Sturm über! Besonders die ,, Freien"
wünschten keine Vermittlung und keinen Ausgleich mehr, sie
freute es, daß die Böcke sich endlich von den Lämmern schieden.
Die ,, Posaune" hatte den ,, Gottlosen" zum Sammeln geblasen.
Auf der anderen Seite fühlte die Orthodoxie richtig heraus,
daß ihr Bollwerk die vom Staat geschützte kirchliche Praxis
war*). Schon seit den ersten Monaten der neuen Regierung ging
^) Edgar Bauer, Bruno Bauer und seine Gegner. Berlin 1843. Das
Buch ist spätestens im November 1842 erschienen. Varnhagen schrieb am
21. November 1842 in sein Tagebuch, es sei die keckste Schrift, die seit vielen
Jahren in Berlin gedruckt worden. A. Rüge erwähnt die Schrift in einem
Brief an Prutz vom 18. November.
^) L, B u h 1 , Der Beruf der preußischen Presse. Berlin 1842.
^) Buhl, Der Patriot. Inländische Fragen. Heft I. Das alte Preußen-
tum. Berlin 1842.
*) L. B(uh)l, Aus Berlin, in „Telegraph f. Deutschland", Februar 1842
Nr. 26.
Mayer, Die Anfänge des polit. Kadikalismus im vormärzl. Preußen. 53
die Rede von einem Religionsedikt, das hohen Orts geplant
sei und besonders die Wiedereinführung einer strengen Kirchen-
disziplin, Anordnungen über den regelmäßigen Kirchenbesuch
der Beamten und über ihre Teilnahme am Abendmahl sowie
eine Verschärfung der Sonntagsfeier bezweckte. Als im No-
vember 1841 von einer Anzahl Berliner Prediger, denen sich
hochgestellte Laien besonders aus Beamtenkreisen zugesellten,
ein Verein zur Förderung einer würdigen Sonntagsfeier ins
Leben gerufen wurde, erblickte die mißtrauisch gewordene
öffentliche Meinung hierin einen ersten Schritt zur Verkirch-
lichung des öffentlichen Lebens, dem bald andere folgen würden.
Am Neujahrstage verbreiteten 57 Berliner Geistliche mit Vor-
wissen des Königs in allen Kirchen der Hauptstadt eine An-
sprache an die Bevölkerung „Die christhche Sonntagsfeier. Ein
Wort der Liebe an unsere Gemeinen." Aber trotz der warmen
Anpreisung des Staatsanzeigers fand diese Einladung zu fleißi-
gerem Kirchenbesuch geringen Anklang im Publikum. Der Ber-
liner Witz erdichtete sogleich ähnliche ,, Bettelbriefe" der Schau-
spieler und der Professoren, die mit dem Besuch der Theater
und der Kollegien nicht zufrieden wären ^). Varnhagen ver-
mißte an dieser Ansprache ,,Salz und Kraft". Daran fehlte es
einer Erwiderung nicht, die gleich darauf erschien, aber
schon am 3. Februar verboten wurde. Der Verfasser dieses
anonymen ,,Gegenworts" 2) war der Mädchenschullehrer Johann
Caspar Schmidt, der dem Kreis der Freien angehörte. Von ihm
hat die Polizei kaum jemals mehr als sein Pseudonym Stirner
erfahren, das sie auf Berlinisch ,,Styrna" schrieb. Welcher
Lehrer Schmidt dahinter steckte, hat sie nicht herausgebracht.
Ein Oberlehrer Schmidt vom Werderschen Gymnasium, der
in Verdacht geriet, konnte bei der Untersuchung, die ein vom
2. März datierter Bericht Stirners an die Rheinische Zeitung über
die geheime Polizei hervorrief, seine politische Unbescholtenheit
nachweisen. Der in Wahrheit Schuldige aber wußte sich an-
scheinend mit der Pohzei treffhch abzufinden. Denn der Polizei-
Inspektor Hofrichter, der damals auch über ihn Erkundigungen
0 Vgl, Prutz I S. 339, II S. 76 f., 99; Varnhagen, Tagebuch, 3. und
10. Januar 1842; Treitschke V S. 254 ff.; Dronke, Berlin I S. 216 ff.;
Rheinische Zeitung, 19. Februar; Bruno Bauer, Vollständige Geschichte der
Parteikänipfe in Deutschland während der Jahre 1842—1846. Charlotten-
burg 1847. Bd. n S. 32 f.
') Vgl. Anhang I.
54 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
einzog, konnte über diesen Herrn „von gesetztem Alter" „nur
Gutes" in' Erfahrung bringen. Es scheint nicht einmal zu einem
Verhör gekommen zu sein. Der Bericht, vom 14. April 1842,
befindet sich in den Akten über Buhl im Geh. Staatsarchiv.
Stirner ersah sich also den Kampf um die Sonntagsfeier,
der große Dimensionen annahm und auch eine umfangreiche
Broschürenliteratur hervorrief, zu einem Frontangriff auf die
Kirche. Wie Bruno Bauer warf er ihr vor, daß sie bloß Gehorsam
und fatalistische Hingebung predige : Ist es aber nicht überlebt,
immer bloß nach des Christen Bestimmung und Beruf zu fragen,
und nicht lieber, was des Menschen würdig ist? Wir wollen vom
Christlichen nichts wissen, wenn es nicht das Menschliche ist. Das
Menschliche aber ist nicht das, was andere erkannt haben und
ich ihnen glauben soll, sondern das, was ich mit ganzer Seele
erfasse und mein eigen nenne. Neben unseren sonstigen Über-
zeugungen haben wir keinen Platz mehr für die Religion: sich
selbst erkennen, lieben, suchen, besitzen, heißt Gott erkennen,
lieben, suchen, besitzen. Der Ruf der Geistlichen: ,,Ihr seid
keine guten Christen mehr" sollte die Gemeinden zu der Er-
kenntnis und zu dem Bekenntnis bringen: ,,Wir sind keine
Gläubigen mehr." Die Zeiten einer formellen und toten Frömmig-
keit seien vorüber, die Gegenwart fordere eine sittKche und mutige
Freiheit! Ein Geschlecht freier Menschen werde erblühen,
und wenn man es so nennen wolle, ein neues Christentum!
In die gleiche Kerbe wie das ,, Gegenwort" schlug gleich
darauf Buhls ebenfalls anonyme^) Broschüre: ,,Die Not der
Kirche und die christliche Sonntagsfeier." Nach dem Vorbild
der ,, Posaune" hüllte sich der Verfasser in das Gewand eines
Pietisten, so daß er in der Rheinischen Zeitung vom 9. März
scheinheilig von einer ,, zelotischen Broschüre" sprechen konnte 2).
Wenn Stirner und Buhl unter der Einwirkung Ludwig
Feuerbachs hier noch eine ,, Religion der Menschlichkeit" ver-
kündigten, die freilich das Ich ,,des Einzigen" schon recht
entschieden in den Mittelpunkt stellte, so machte Bruno Bauer
jetzt den Sturz der Religion schlechthin, nicht bloß mehr
') Bubis Autorschaft ergibt sieb aus einem ungedi-uckten Brief Eduard
Flottwells an Jobann Jacoby vom 12. März: „Ein Seitenstück vom , Gegen-
wort' ist die .Not der Kircbe', Berlin, bei Hermes (von Dr. Bubi) . . . ."
Gegen das „Wort der Liebe" polemisiert Bubi auch im Telegraph Nr. 26.
^) Die Identifizierung von Bubis Korrespondentenzeichen C C verdanke
ich Herrn Prof. Dr. Hansen in Köln.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 55
einer bestimmten Religion, zur Aufgabe der Kritik i). Auf
diesen offen atheistischen Standpunkt stellte sich, etwa seit
dem Frühling 1842 der ganze Kreis der ,, Freien".
Doch in der Politik, die freilich für Bruno Bauer und Stirner
hinter den Weltanschauungskämpfen zurücktrat, hofften die mei-
sten von ihnen damals noch auf eine freiheitliche Entwicklung
des preußischen Staats und auf seine fortschreitende Umbildung
in jenen freien Volksstaat, dessen Ideal Edgar Bauer in lebhaf-
ten Farben ausmalte. Wohl sprachen sie gelegentlich auch
schon davon, daß mau jede Autorität bekämpfen müsse. Aber
in ihren öffentlichen Äußerungen trat eine prinzipielle
Gegnerschaft gegen den Staat erst hervor, als die Wieder-
aufhebung der ,, erweiterten Preßfreiheit" ihnen zeigte, daß
es eine aussichtslose Spekulation gewesen war, auf einen Bruch
zwischen der Regierung und der religiösen Reaktion hinzu-
arbeiten oder den neuen König für die ihnen am Herzen
liegenden Forderungen zu gewinnen'^).
Die ,, Freien" lebten und webten in der Anschauungswelt
der französischen Revolution und verglichen sich selbst gern
mit den Encyklopädisten, an deren Denkweise sie anknüpften,
mit denen sie sich aber weder in bezug auf geistige Ursprüng-
lichkeit noch auf menschliche Bedeutung messen konnten.
Immerhin hatte der rücksichtslose Kampf, den sie von der
Hauptstadt aus gegen die kirchliche Reaktion führten, ihnen
in allen freiheitlich gesinnten Kreisen der Monarchie zu einer
großen Popularität verholfen. Als im Sommer 1842 die falsche
Meldung auftauchte, sie beabsichtigten die Organisierung der
religiösen Opposition zu einem Verein der ,, Freien", erklärte,
wie Stirner berichtet, eine Anzahl ostpreußischer Gutsbesitzer
im voraus ihren Beitritt ^). Was an der Nachricht wahr
gewesen ist, läßt sich nur noch schwer ermitteln. Äußerungen
^) Die gute Sache der Freiheit etc. S. 201.
^) In einer Besprechung von Alison, Geschichte Europas seit der ersten
Revolution, die vom 14. bis 16. Dezember 1842 in den Deutsch. Jahrb. erschien,
entwickelte Edgar Bauer eine ganz radikale Geschichtsphilosoishie: „Der
moderne Mensch schüttelt alle Autorität ab, die ihn bisher hinderte, er selber
zu sein. Er hat vor nichts mehr Respekt als vor sich selbst," Edgar tadelt
hier bereits, daß die Revolution die Sicherheit des Eigentums unter die
„natürlichen Rechte" aufgenommen habe, die er überhaupt leugnet. Aber
vor dem Staat macht er noch seine Reverenz, obgleich er ihn schon für
Meuschenvrerk erklärt.
') Stirners Mitteilungen in seinen Besprechungen von Rosenkranz,
Königsberger Skizzen in Rhein. Ztg., 26. Juli und Leipz. Allg. Ztg., 20. Juli.
56 Mayer, Die Anfänge des polit. Kadikalismus im vormärzl. Preußen.
Stirners in der Leipziger Allgemeinen Zeitung deuten darauf
hin, daß das Gerücht einen Hintergrund hatte i). In die Presse
gelangte es ^) durch eine Berliner Korrespondenz der Königs-
berger Zeitung vom 12. Juni, nachdem das Frankfurter Journal
schon einige Tage vorher ein pantheistisch verwaschenes und
völlig apokryphes Glaubensbekenntnis der ,, Freien" in die
Welt gesetzt hatte ^). Mit einem Anflug gut berechneter
Frömmigkeit bekreuzigte sich damals die Kölnische Zeitung
bei dem Gedanken, daß der auf christlicher Grundlage ruhende
preußische Staat die Bildung einer junghegeliauischen Gemeinde,
die sich den Untergang des Christentums und aller religiösen
Gesinnung zur offen ausgesprochenen Aufgabe setzte, gestatten
könnte. Noch unvernünftiger gebärdete sich die Spener-
sche Zeitung. Sie sah bereits alle Bande des Glaubens, der
Zucht und der religiösen Scheu gelockert, und erteilte den
braven Weißbierphilistern, die sich an ihr erbauten, den gro-
tesken Rat, Panzerhemden unter den Kleidern zu tragen und
Haus und Familie sorgfältig zu verschließen. Die liberale Presse
hielt sich selbstredend von solcher Gespensterseherei fern. Ganz
richtig deutete die Aachener Zeitung, das Organ Hansemanns,
die Bestrebungen der ,, Freien" als eine Reaktion gegen das Um-
sichgreifen des Pietismus und betonte zugleich eindringlich, daß
es sich hier nur um eine ,, isolierte" Erscheinung handle, die mit
dem preußischen Liberalismus in keinem Zusammenhang stände.
Mit neugieriger Sympathie aber ohne das Vorgefühl, daß die
von den ,, Freien" verfolgten Tendenzen im Grunde nicht die
ihrigen waren, nahm die Königsberger Zeitung Stellung zu
dem falschen Gerücht. Ihr Freisinn verbot ihr einzugestehen,
daß eine Gruppe, die das Bedürfnis fühlte, eine Gemeinschaft
zu bilden, im tieferen und freieren Sinne des Worts irreligiös
sein könne. Am genauesten hätte die Rheinische Zeitung wissen
^) Leipziger Allgemeine Zeitung, 9. .Juli: ,,Wie der Königsberger
Artikel beweist, scheinen sie wirklich der Versuchung nahe gewesen zu sein,
ihre Namen zum besten zu geben und dadurch handlich zu werden. Nach-
dem sie jedoch mannigfach davor gewarnt worden sind . . . mögen die Freien
wohl jenen Plan aufgegeben haben, um vor der Hand ihre Wirksamkeit nicht
durch förmliche Konstituierung zu hemmen und eine geistige Macht vor der
Gefahr zu bewahren, durch Voreiligkeit zu einer materiellen Ohnmacht herab-
zusinken."
^) Vgl. Bruno Bauer, Vollständige Geschichte etc. 11 S. 35.
') In der Leipz. AUg. Ztg. vom 27. Juli nennt Stirner diese ,, Mystifi-
kation" das „lächerlichste Produkt von der Welt" und spottet darüber, daß
man bei den „Freien" von einem „Glaubensbekenntnis" rede.
Mayer, Die Anfänge des i)olit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 57
müssen, welcher Kern jener Meldung zugrunde lag. Sie aber
bestritt deren Richtigkeit^).
Die ,, Freien" benutzten die Berühmtheit, die ihnen plötz-
lich zuteil geworden war, um eine kräftige Propaganda für
ihre Ideen ins Werk zu setzen. Dabei gaben sie nun nicht etwa
zu, daß sie wirklich die Gründung einer Gemeinde geplant
hatten. Aber sie stellten sich so, als ob sie nicht begriffen,
weshalb der Staat einer derartigen Vereinigung nicht die gleichen
Rechte gewähren sollte wie ,, Fanatikern und halb wahnsinnigen
Sektierern, Wiedertäufern und Muckern aller Art", die un-
gestört und öffentlich ihr M'^esen trieben 2). Übrigens ver-
hielten die Brüder Bauer sich gegen das Projekt ablehnend,
weil sie befürchteten, daß das Bestehen einer Gesellschaft der
Freien einer Angelegenheit, welche die Sache der ganzen fol-
genden Geschichte sei, den falschen Schein einer Privatsache
geben möchte. Eine geschichtliche Lösung werde die Ent-
scheidung niemals in das willkürhche Belieben der einzelnen
legen. Wer austrete, trete zurück, glaube aber wunder wie
weit vorgerückt zu sein^)! Eine bisher unbekannte Erwiderung
der ,, Freien" auf die Beschuldigungen der Kölnischen und
Spenerschen Zeitung sollte damals in den Ostpreußischen Pro-
vinzialblättern erscheinen. Aber der liberale Polizeipräsident
Abegg verweigerte das Imprimatur. Vielleicht befand er sich
dabei in Übereinstimmung mit Führern des Königsberger
Liberalismus, die es ähnlich wie die Aachener Zeitung für
angemessen halten mochten, die konstitutionelle Bewegung
nicht durch das Eintreten für weitergehende Bestrebungen
bei der Regierung und beim Publikum unnötig zu kompromit-
tieren. Doch auch die ,, Freien" verfolgten im Sommer 1842
mit ihrem Vorgehen noch keineswegs die Absicht, den politi-
schen Liberalismus vor den Kopf zu stoßen. Ein diplomatischer
Artikel Stirners in der Leipziger Allgemeinen Zeitung verteidigte
sie ausdrücklich gegen die Unterschiebung, daß sie die Gläu-
^) Vgl. Köln. Ztg. L. A., 28. Juni (vgl. dazu Marx an Rüge, 9. Juli, in
Dokum. des Sozialismus, I 9 S. 391 f.), Königsb. Ztg., 24, Juni, ,, Religion und
Kirche", Rhein. Ztg., 30. Juni (Abdruck des Artikels der Aachener Ztg. vom
29. Juni), 1., 9. und 10. Juli, Spenersche Ztg. vom 1. Juli.
^) Mannh. Journal, 9. Juli. Häufig korresj^ondierte Theodor Mügge für
dieses Blatt.
'*) Bruno Bauer, Die gute Sache etc. S. 209 imd B. Radge (Edgar B.)
in Deutsche Jahrb., 10. August 1842, sowie Edgar Bauer, Bruno Bauer und
seine Gegner. Berlin 1843. S. 26 und 104 f.
58 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
bigen zu vergewaltigen und auf dem Wege „des Stürmens und
Revolutionierens" zu wandeln gedächten i).
IX.
Die eigentlich politischen Schriftsteller der „Freien" waren
Edgar Bauer, der Privatdozent Dr. Karl Nauwerck, der für
eine konstitutionell-demokratische Monarchie eintrat, die sich
auf den konsequenten Stein und den konsequenten Hegel stützen
sollte 2), und Ludwig Buhl, ein tüchtiger aber ,,mit seinen
Finanzen stets brouillierter" Literat, der besonders mit Stirner,
Mügge und Meyen eng befreundet war 3). Gegen die vier von
ihm im Jahre 1842 herausgebrachten Schriften erhob der Dichter
Friedrich von Sallet einen charakteristischen Einwand. Obgleich
auch er zugab, daß die konstitutionelle Monarchie für das da-
malige Preußen die höchste geschichtliche Berechtigung hatte,
so wollte es ihm doch scheinen, als ob Buhl diese relativ
höchste Berechtigung für eine absolut höchste entweder wirk-
lich hielt oder zu halten sich anstellte. Damit konnte
nun Sallet sich nicht einverstanden erklären, da er in der kon-
stitutionellen Monarchie nur die geschichtliche Vermittlung
^) ,,Die Freien" in Beilage zur Leijiz. Allg. Ztg. vom 14. Juli. Vgl. Anhang 11.
') „Ein Blick in die inneren Zustände des preuß. Staats etc." in
Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik, herausgeg. von
Rüge. Zürich und Winterthur 1843. Bd. I. Nauwercks politische Publizistik
war mehr fruchtbar als tief. Er schrieb sowohl für die Rheinische Zeitung
wie für die Deutschen Jahrbücher zahlreiche Artikel. Ihn hatte mehr der
Zufall in diesen radikalen Ki-eis hineingeführt, mit dem seine innere Natur
nicht sympathisieren konnte.
^) Der Polizeiinspektor Hofrichter berichtete über Buhl und seine litera-
rische Tätigkeit ausführlich am 14. April 1842. Ich durfte die Zensurakten über
ihn im Geh. Staatsarchiv benutzen. Für Buhls politische Entwicklung vgl. : Die
Weltstellung der Revolution im „Athenaeura" vom 31. Juli 1841 ; Der Beruf der
preußischen Presse, Berlin 1842; Die Verfassungsfrage in Preußen nach ihrem
geschichtlichen Verlauf, Zürich 1842 (verf. etwa Herbst 1841); Die Bedeutung
der Provinzialstände in Preußen, Berlin 1842; verschiedene Aufsätze in den
von ihm herausgegebenen Zeitschriften „Der Patriot" (1842) und „Der Pilot"
(1843); Fragen der inneren Politik und Verwaltung, Zürich und Winterthur
1843 (März); Die wahre Bedeutung der reichsständischen Verfassung, in „Ber-
liner Monatsschrift" I (einziges) Heft, Mannheim 1844 (geschrieben im Sommer
1843); Offenes Bekenntnis, ebendort; Die Herrschaft des Geburts- und Boden-
privilegs in Preußen, Mannheim 1844; Buhls Vorrede zu seiner Übersetzung
von L. Blanc, Geschichte der zehn Jahre, Berlin 1844; Andeutungen über
die Not der arbeitenden Klassen und über die Vereine zum Wohl derselben,
Berlin 1845; Die Gemeindeverfassung der östlichen Provinzen des preußischen
Staats und der Rheinprovinz, Leipzig 1846.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 59
zwischen einem monarchischen und einem demokratischen Welt-
alter sehen wollte ^). Aber es läßt sich heute kaum noch genau ent-
scheiden, wie Bulil in diesem Jahre der erweiterten Preßfreiheit
inner Hell über die staatlichen Fragen gedacht hat. Nach seinen
damaligen Schriften könnte man meinen, daß er lediglich ein
konstitutionelles und parlamentarisches Preußen anstrebte. Auf
eine revolutionäre Wendung der Dinge setzte er anscheinend
keine Hoffnungen. Er zeigte sich noch ganz erfüllt von dem
Glauben an die künftige Führung Deutschlands durch ein
liberales Preußen, das in den Kleinstaaten seine natürlichen
Bundesgenossen zu suchen hätte. Die gewaltige Bedeutung
des gesellschaftlichen Problems erkannte er dabei früh. Aber
Abwarten und Vermittlung schienen ihm die Signatur der
Epoche zu sein, und er hielt die Zeit noch nicht für gekommen,
wo man auf diesem Gebiet von der Theorie zur Praxis über-
gehen könnte. Gelegentlich klagte er, daß er in einer Epoche
lebte, wo man sich nicht mehr von ganzem Herzen einer Idee
anschließen könne. Aber nach dem wenigen, was über seinen
Charakter bekannt ist, möchte man eher annehmen, daß Buhl
seinem Temperament nach nicht zu den Extremen neigte.
Seine nahen Freunde wußten auch, daß dieser vor der Zeit
ergraute Bohemien mit der ungepflegten Mähne und den grün-
lichen Zähnen im Grunde der Seele von schmeidig-zarter Natur
war und daß er das Blut vielleicht noch mehr scheute als die
Seife 2).
Weit mehr das Zeug zum Jakobiner hatte der damals ein-
undzwanzigjährige Edgar Bauer. Der hängte im Februar 1842
das Studium der Theologie an den Nagel und stürzte sich Hals
über Kopf mit dem Ruf: ,,Es lebe das Extrem!" in den Strudel
des Zeitkampfes, dort wo er am heftigsten brauste^). Kampf
*) Deutsche Jahrbücher, 5. und 6. Januar 1843: „L. Buhl als Publizist."
^) Vgl. (Friedrich Engels), Die frech bedräute, jedoch wunderbar
befreite B i b e 1. Oder: Der Triumph des Glaubens. Das ist: Schreck-
liche, jedoch wahrhafte und erkleckliche Historia von dem weiland Licentiaten
Bruno Bauer; wie selbiger vom Teufel verführet, vom reinen Glauben ab-
gefallen, Oberteufel geworden und endlich kräftiglich entsetzet ist. Christ-
liches Heldengedicht in vier Gesängen. Neumünster bei Zürich 1842 (Ein
Exemplar in der Bibliothek von Herrn Hofgerichtsadvokat Dr. Theodor
Mauthner in Wien). Den Beweis für Engels' Autorschaft gedenke ich an
anderer Stelle zu erbringen. Wo in dem Epos der ,, Patriot" genannt wird,
ist Buhl gemeint, der ein Blättchen dieses Namens herausgab, das Ende 1842
unterdrückt wurde. tJber Buhl vgl. u. a. Fontane, Scherenberg S. 148.
'0 Für Edgar Bauers politische Anfänge vgl. Deutsche Jahrb., 14. und
15. Februar 1842 die Besprechung von Carriere, Vom Geist; B. Eadge
60 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vomiärzl. Preußen.
war ihm die Losung der Zeit: Kampf zwischen der starren An-
maßung des Überheferten und der jungen Wahrheit, die nach
neuen Wegen des Lichts und des Lebens Umschau hielt! Dieser
philosophische Revolutionär kannte nur zwei Parteien: die des
Volks, der Freiheit, der Menschheit und die der Bevormundung
von Gottes Gnaden, der Abhängigkeit, des Autoritätsglaubens,
Eine Partei war für ihn wie für seinen Bruder die Verkörpe-
rung eines Prinzips und jedes Prinzip extrem. Der Konstitu-
tionalismus aber (das Juste-Milieu) hatte kein Prinzip; seiner
,,Zwitterhaftigkeit" maß Edgar Bauer die Schuld bei, daß die
Freiheitsfragen der Zeit nicht schneller der Lösung entgegen-
reiften. Wie Bruno war auch ihm die Welt der Prinzipien das-
jenige Schlachtfeld, auf dem die eigentlichen Entscheidungen
fielen. Doch nicht umsonst schrieb man 1842 das Jahr der
erweiterten Preßfreiheit, nicht umsonst führte er am liebsten
Rousseau im Munde ! Für ihn bedeutete die französische Revo-
lution die lebensvolle Einführung des Staatsbegriffs in die Ge-
schichte, sie hatte an die Stelle des Einen Menschen den Einen
und unteilbaren Staat gesetzt. Diese Errungenschaft wollte er
festgehalten, der Vollendung zugeführt sehen. Wer sich jetzt
noch von den öffentlichen Fragen fernhielt, verstieß gegen die
Sittlichkeit, denn er beschränkte sich in seiner Selbstsucht auf
die Eigen- und Einzelinteressen ^).
Schon im Februar 1842 hatte Edgar seinem Bruder mit-
geteilt, daß er gegen die ,, hausbackenen" Konstitutionellen vom
Kaliber des Rotteck -Welckerschen Staatslexikons ein kräftiges
Bombardement zu eröffnen gedenke-). Die Brüder verargten
(= Edgar B.) ebendort 27, Juni fE., 22. Juli ff., 8. August ff„ mehrere Be-
sprechungen, die von der Amtsentsetzung seines Bruders ausgehen; ebendort
14, Dezember 1842 ff, die aufschlußreiche Anzeige von Alison, Geschichte
Europas seit der ersten französischen Eevolution. Edgar Bauer selbst kritisierte
später seine radikal-liberale Epoche in dem Aufsatz „1842" der von seinem
Bruder herausgeg, Literatur-Zeitung, Bd. U, Juli 1844, Die geistige Entwick-
lung dieser seiner Frühzeit schildert er in dem umfangreichen Aufsatz: ,,Die
Eeise auf öffentliche Kosten" in „Epigonen", Jahrg. 1848. Die Allg, Deutsche
Biogi-aphie berücksichtigt Edgar Bauer ebensowenig wie Buhl,
') Vgl. seine Artikelfolge „Das Juste-Milieu" in der Rheinischen Zeitung,
Beibl. 5. Juni, 16,, 18., 21., 23. August und seine Kritik von Werders „Co-
lumbus" in Deutsch. Jahrb. 1842 S. 110 f.
'') Edgar an Bruno 25. Februar 1842. Bruno Bauer hatte zum ersten-
mal in seinem Aufsatz über „Die Parteien im jetzigen Frankreich" in der
Rhein. Ztg. Beibl. 23. Januar auf den im Konstitutionalismus liegenden Wider-
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 61
den badischen Professoren, daß sie in ihrem großen Sammel-
werk die Hegeische Philosophie nicht zu Worte kommen ließen.
Überhaupt verachteten sie die Prinziplosigkeit des süddeutschen
Liberalisnms und verwarfen den „Staat des gesunden Menschen-
verstands", der den Liberalen vorschwebte, und dem sie den
,. Staat der Prinzipien und der Theorie" entgegenstellten^). Im
Juni eröffnete Edgar mit seiner Abhandlung über das Juste-
Milieu in der Rheinischen Zeitung den Feldzug der ,, Kritik"
gegen den Konstitutionalismus. Aber hier hütete er sich noch
vor persönlichen, politischen und praktischen ,, Seitenblicken".
Er berührte ebensowenig wie sein Bruder, der zur gleichen
Zeit die Kollisionen in den konstitutionellen Staaten behandelte,
die deutschen Parteibestrebungen und beteuerte nachdrücklich,
er wolle nur die reine Theorie kritisieren, aber nicht die
Kritik spezialisieren. Man empfindet, daß selbst dieser Quer-
kopf, solange die Aussicht bestand, die Regierung auf dem
Weg freiheitlicher Zugeständnisse vorwärts zu drängen, auf die
Einigkeit der oppositionellen Phalanx Rücksicht nahm. Doch
im Herbst traten deutlich Anzeichen hervor, die erkennen
ließen, daß die Hoffnung auf Preußens liberale Entwicklung
trügerisch gewesen war. Jetzt hatte Edgar Bauer um so weniger
Grund, mit seiner Ansicht noch hinter dem Berg zu bleiben,
als er ohnehin an den wirklichen politischen Zuständen, wie
er selbst einräumte, mehr mit der Vernunft als mit dem Herzen
teilnahm-).
Die lautesten Herolde der konstitutionellen Monarchie, die
in Baden bereits dem Namen nach bestand, waren in Preußen
die Königsberger Liberalen. Gegen die Irrtümer der badischen
und ostpreußischen Liberalen mußte sich die Kritik also richten,
wenn sie die inneren Widersprüche des Konstitutionalismus
aufdecken wollte^).
Spruch hingewiesen, den Mirabeau bereits erkannt hätte. Er kommt darauf
zurück in der Ehein. Ztg. vom 6. und 10. Februar, 27. und 31. März und
7, Juni.
^) (Bruno Bauer), Staat, Religion und Partei, Leipzig 1843 (geschrieben
im März).
") Reise auf öffentl. Kosten S. 76. Am Schlüsse der Artikelserie über
das Juste-Milieu in der Rhein. Ztg. sj^richt Edgar Bauer, für ihn recht
charakteristisch, von der ,.Leidenschaft der Wahrheit", die ihn bei der Ab-
fassung beseelt habe.
^) Edgar Bauer, Die liberalen Bestrebungen in Deutschland. Erstes
Heft: Die ostpreußische Opposition. Zweites Heft: Die badische Opposition.
Zürich und Winterthur 1843.
62 Mayei", Die Anfänge des polit. Kadikalismus im vormärzl. Preußen.
Nun behauptete Edgar Bauer zwar, daß er den „Königs-
bergern" nicht den Krieg erkläre, sondern eine Verständigung
mit ihnen suche. Aber im Grunde seines Herzens dachte er
bereits: ,,Wer nicht für uns ist, der ist hinter uns^)." In der
Tat entwickelte die Schrift Gesichtspunkte, die denen der ost-
preußischen Liberalen gänzlich widersprachen. Zweierlei ver-
mißte er bei ihnen : Haß gegen das Bestehende und
„Theorie". Beides hing in den Augen des Junghegelianers
eng zusammen. Die echte Theorie, nämlich die von Edgar
Bauer, erwartete den Sieg des Neuen erst von der gänzlichen
Vernichtung des Alten. Für sie beruhte jeder Reformismus
auf Selbsttäuschung. Während jenen Kantianern die Vernunft
als etwas Feststehendes, Ausgemachtes und Absolutes galt, sah
er sie in ewiger Entwicklung begriffen, waren ihm die politischen
und sozialen Zustände jeder Epoche nur die zeitweiligen Stufen
dieser Entwicklung 2). In einem unaufhaltsamen Prozeß unter-
wühle die Vernunft alles, was besteht und absolute Geltung
beansprucht; sie unterwühle also auch ihre eigenen Formen,
die sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen eine Existenz
geschaffen hätten und sich nun gegen die in der Theorie fort-
geschrittenere Vernunft sträubten : Bis die Theorie selbst eine
Form für ihre Existenz gefunden hat, äußert sie sich also als
Opposition. Immer wird diese nach der Herrschaft streben,
denn erst, wenn sie diese Herrschaft erreicht hat, ist eine
Weiterentwicklung der Theorie und damit neue Opposition,
neuer Kampf möglich. Wie bringt sich nun die Opposition
zur Herrschaft? Tut sie es auf gesetzlichem Wege? Wer das
meint, kennt die Geschichte nicht. Sie besitzt kein anderes
Verhältnis zum Bestehenden, als das des Kampfes und der
Zerstörung. Die Vernunft kann die vorhandenen Formen nicht
regenerieren — sie kann bloß neue schaffen. Sie legt ihren
Samen in die Formen des Bestehenden nur hinein, um diese
auseinander zu sprengen. Das Alte platzt und zerspringt —
doch nicht damit aus seinen Fugen eine neue Schöpfung hervor-
waclise; über Nacht fällt es zu Boden und dient nur noch dazu,
diesen zu düngen und zur Hervorbringung neuer Formen fähig
zu machen.
•) B. Radge (= Edgar B.) in Deutsche Jahrb., S.August 1842 ff. bei
Besprechung einer Schrift: „Ül»er die AnsteUung der Theologen an den deutschen
Universitäten."
*) Vgl. hierzu auch Edgar Bauer, Der Streit der Kritik mit Kirche
und Staat. 2. Aufl. Bern 1844. S. 182 ff.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 63
Will die Opposition in den Kämpfen der Gegenwart siegen,
so vermag sie es nur im Zeichen der Freiheit. Was heißt in
diesem Sinne Freiheit? Die moderne absolute Monarchie kennt
bloß einen Einzigen, der das Recht der Freiheit und Selbst-
bestimmung für sich in Anspruch nehmen darf. Diese zum
Extrem gediehene Unfreiheit muß sich selbst vernichten und
in eine Freiheit umschlagen, wo alle gleichberechtigt sind und
niemand mehr den andern bevormundet. Aber auch in der
konstitutionellen Monarchie, dem ,, Staat der Bevor-
rechtung", kann die Freiheit ihre Verwirklichung nicht finden.
Denn hier, wo im Zensus das Äußerlichste und Zufälligste,
was es für den Menschen gibt, der Besitz, eine bevorzugte
und eine zurückgesetzte Klasse schafft, erkennt das Volk sich
zwar als Inhaber aller Souveränität, aber es entäußert sich
ihrer freiwillig und vertrauensvoll zugunsten eines Regenten.
Da Edgar Bauer bei seiner Schilderung des Konstitutionalismus
im wesentlichen Baden im Auge hatte, während sein Bruder
dabei besonders Frankreich berücksichtigte, so erblickte er
nicht zwei in der Ausübung der Macht abwechselnde Parteien,
sondern nur eine kompakte Regierung und ein embryonisches
Volk im Kampf gegeneinander. Nun sind ihm Regierung
und Volk, wie dem vormärzlichen Radikalismus überhaupt,
völlig getrennte Mächte, deren jeder entweder alles oder kein
Recht zukommt. ,, Regierung ist der gerade Gegensatz vom
Volk; je kräftiger die Regierung, desto schwächer das Volk."
Im konstitutionellen Staat ist für Edgar Bauer das Volk noch
eine beherrschte Masse. Der Volksvertretung fehlt hier noch
,,der kompakte Hintergrund, auf den sie sich stützen kann",
weshalb sie auch immer auf Frieden und einträchtiges Zu-
sammenwirken antragen, immer nur reden und niemals handeln
wird. Dieses ewige ,,die Wahrheit sagen" und dieses ewige
Abprallen der Wahrheit an der Konsequenz der Reaktion ent-
hüllt sich ihm als die ,, Tragödie des Konstitutionalismus", in
dessen Natur es läge, alle Fragen in der Schwebe zu erhalten
und keine zur prinzipiellen Entscheidung zu bringen. Zu
Resultaten könne der Konstitutionalismus nur dann kommen,
wenn er über sich hinausgehe und revolutionär und republika-
nisch werde, wenn er es aufgebe, stets praktisch und vermittelnd
sein zu wollen, wenn er den Zustand ewigen Kampfes zwischen
Regierung und Volk, der sein Wesen ausmacht, durch eine
totale Umwälzung beendigt. Erst in einem vernünftigen Staat,
im ,, freien Volksstaat", in der ,, Republik" ist der Kampf zwischen
64 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
Regierung und Volk aufgehoben. Hier ist das Volk in Wahr-
heit die einzige Quelle aller Macht. Denn hier gibt es keine
ihr wesensfremde Regierung mehr, sondern nur noch eine aus-
führende Gewalt ^). Die Freiheit ist das Ziel der Zeitbewegung,
sie will die Völker zur Selbstregierung und zur Gleichheit
anleiten, alle äußeren Unterschiede und jede Form von Bevor-
zugung und Aristokratie aufheben. Aber dieser Sieg der Ver-
nunft läßt sich niemals auf gesetzlichem Wege herbei-
führen !
Seine revolutionäre Geschichtsphilosophie und extrem-
demokratische Staatsauf fassung lieferten Edgar Bauer nun
den Maßstab zu einer Kritik des ostpreußischen Liberalis-
mus, wie er sich in Jacobys Vier Fragen und in den Leit-
artikeln der Königsberger Zeitung darstellte. Dabei erkannte
er als dessen Grundübel, daß er in der Opposition ,, nichts
Selbständiges mit durchgebildeter Theorie und festem Ziele",
sondern nur eine ,, notwendige Ergänzung" der Regierung er-
blickte. Aus dieser irrigen Auffassung entspränge sein un-
seliger Reformismus, der das Volk in dem Wahn ließe, daß
ein echter Fortschritt an die bestehenden Verhältnisse an-
knüpfen könne. Dieser Reformismus lulle es in süßes Ver-
trauen ein, statt es zu gewaltigem und kraftvollem Handeln
aufzurütteln. Auch Jacoby dünkte sich ,, praktisch", als er die
Forderung nach einer Verfassung statt auf das Recht des Volks
auf das Versprechen eines Königs begründete. Aber man binde
dem Fortschritt die Füße, wenn man ihn legitimistisch machen
wolle. Jacoby gebe sich einer Selbsttäuschung hin, wenn er an-
nehme, daß die Beteiligung des Volks am Staatsleben mit dem
christlichen preußischen Staat vereinbar sei. Weil er durchaus
ein guter Preuße bleiben wollte, habe er sich abgequält, einem
System Vernunft beizubringen, das von vornherein mit Vernunft
nichts zu schaffen hätte. Gerade sein Auftreten sei ein Beweis
dafür, daß die Theorie die wahre Praxis ist. In ihrem falschen
Vertrauen auf eine friedliche, organische Entwicklung in Preußen
mäkle die Königsberger Richtung noch immer an einzelnen
Gesetzen herum, anstatt dem System der Regierung ihr eigenes
selbständiges System entgegen zu setzen. Der ostpreußische
Liberalismus habe noch nicht begriffen, daß selbst eine Konsti-
tution bloß die Vorrechte des Königs und der besitzenden Klassen
sanktionieren, nicht aber auch die sogenannten niederen Klassen
0 Auf die Abhängigkeit Edgar Bauers von Rousseau braucht nicht erst
ausdrücklich verwiesen zu werden.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 65
durch Organisation in den Staatsverband aufnehmen werde.
Die große Masse des Volkes würde auch im konstitutionellen
Staat im rohen, teilnahmslosen, chaotischen Zustande verbleiben
und die schwersten Lasten zu tragen haben. Bevor die Ge-
schichte ihr neues Werk beginnen und den Vernunftstaat
gründen könne, müsse die Kritik erst, dem Sturmwind gleich,
alles Morsche, das sich den Schein der Festigkeit anmaße, um-
werfen und alle Fesseln durchfeilen, die den Menschen an das
Alte ketten. Das Gesellschaftstier des absolutistischen Staats
müsse erst die Anlage zur freien Selbstbestimmung zurück-
gewinnen! ,,Bei dem Löwen der Wüste! der Mensch muß
wieder wild werden, damit er etwas werde !"
Mit seiner Kritik der ostpreußischen Opposition stellte Edgar
Bauer sich offensichtlich auf einen revolutionären Standpunkt.
Der preußische Staat, wie er war, sollte vernichtet, ein neuer
an seinen Platz gesetzt werden. Dieser neue Staat sollte aber
nicht nur vom absoluten Polizeistaat, sondern auch vom kon-
stitutionellen Staat Wesens verschieden sein. Die Republik tritt
an die Stelle der Monarchie, die Selbstregieruug des Volkes
an die Stelle von Bevormundung und Bevorrechtung ^). Das
Zensuswahlrecht wird scharf bekämpft, aber ebenso die ,, un-
beschränkte aktive und passive Wahlfreiheit", wie sie die
Chartisten forderten. Wenn nämlich der Abgeordnete wirklich
Vertreter des Volkswillens sein solle, so müsse er bloß ab-
stimmen, nicht aber auch diskutieren dürfen. Jede Reprä-
sentation schaffe eine Aristokratie und passe deshalb — das
lehre schon der Contrat social — nicht für ein politisch ge-
bildetes Volk. Nur Gemeindeversammlungen müßten die Gesetze
annehmen oder ablehnen 2). Auf diese Weise hoffte Edgar
Bauer für den freien Vernunftstaat, der ihm vorschwebte, nicht
nur jede Inkongruenz von Volk und Regierung zu beseitigen,
sondern beide miteinander zu verschmelzen. Auch der Gegen-
satz von gesetzgebender und exekutiver Gewalt, an dem sein
Bruder sich stieß, war damit offenbar für ihn überbrückt.
Volk und Regierung wurden eins, eine Regierung im herkömm-
lichen Sinne gab es nicht mehr. Daß er hierdurch den Weg
^) Auch Bruno Baiaer erklärte die Republik für die wakre Folge des
konstitutionellen Prinzips. In ihr seien die Widersprüche jenes System auf-
gelöst. Vgl. in Rhein. Ztg. 7. Juni 1842 Beibl. seine Besprechung der Schrift
von Th. Rehmer.
^) Für Edgar Bauers Polemik gegen das Repräsentativsystem vgl. am
ausführlichsten Rhein. Ztg., 21. August: ,,Das Juste-Milieu".
Zeitschrift für Politik. 6. 6
66 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
zum anarchistischen Ideal ebnete, begriff er selbst vorerst
nicht. Der Verfasser der Kampfschrift gegen den konstitutio-
nellen Liberalismus hält noch mit großem Glauben fest an
dem freien Volksstaat der Demokratie, zu dem er sich auch in
der Streitschrift für seinen Bruder und in seinen Beiträgen zur
Rheinischen Zeitung bekannte. Daß Edgar im Februar 1843
ebenso wie sein Bruder ^) — im Gegensatz zu Stirner und Buhl —
offenbar noch aufrichtig am demokratischen Staatsideal fest-
hielt, beweist seine anonym erschiene Broschüre ,, Georg Herwegh
und die literarische Zeitung" (Leipzig, Wigand), die in den man-
nigfachsten Wendungen den von der Vernunft durchgeisteten
Staat als die Atmosphäre preist, in welcher der Mensch seine
wahre Seele findet und zu einem edlen Geschöpf gedeiht. Auf
die Herausarbeitung eines modernen demokratischen Staatsideals
durch die Verschmelzung des Contrat social und der in Frank-
reich daraus gezogenen praktischen Folgerungen mit der Hegel-
schen Rechtsphilosophie, wie die Junghegelianer sie fortgebildet
hatten, auf diese schöj)ferische Tat des vormärzlichen Radi-
kalismus hat Edgar Bauer, obgleich er selbst alsbald andere
Wege ging, mit seiner scharfen, wenn auch doktrinären Kritik
des Konstitutionalismus befruchtend eingewirkt. Hernach hat
freilich niemand den pohtischen Radikalismus, der ,, nichts als
fordern" könne, und den Kultus, den er mit dem Staat und
besonders mit dem Volke getrieben hätte, sowie ,,das törichte
Selbstgefühl", mit dem er für die Handlungen der Regierung
seine Klugheit als Maßstab angesehen, beißender kritisiert
als Edgar Bauer selbst. Nun war er überzeugt, daß die das
Volk bevormundende Regierung die echte Volksregierung sei,
nun hatte der gewaltsame Triumph der Reaktion über die
Rheinische Zeitung und die anderen Organe der Opposition
ihn belehrt, daß die ,, Kritik" ansichts-, System-, gesinnungslos
sein müsse und daß sie keine andere Aufgabe haben könne
als die Dinge kennen zu lernen, daß sie aufhören müßte,
politisch zu sein 2).
X.
Noch aber bereiteten sich erst die Ereignisse vor, die bei
den Berliner Juughegelianern den Bruch mit der Politik
vollendeten.
^) (Bruno Bauer) Staat, Religion und Partei a. a. 0. Vgl. hierzu
freilich Brunos Äußerungen zu Rüge auf S. 68.
*) „1842" in AUgem. Literatur-Ztg., Juli 1844.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 67
Die reaktionäre Zensurinstruktion vom 31. Januar 1843 hatte
Edgar Bauer bestimmt, seine Streitschrift gegen den Liberahs-
mus bei dem Literarischen Comptoir in Zürich und Winterthur
drucken zu lassen, wo sie erst im Juli des Jahres zur Ausgabe
gelangte, in dem gleichen Moment, als sein Hauptwerk: ,,Der
Streit der Kritik mit Kirche und Staat" in Charlottenburg gleich
beim Erscheinen beschlagnahmt wurde 2). Dieses Literarische
Comptoir, an dessen Spitze Julius Fröbel und August Folien
standen, war seit einiger Zeit der sicherste Zufluchtsort für solche
Schriften der preußischen Opposition geworden, die selbst
,,Blücher"-Wigand innerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes
nicht zu drucken wagen konnte. Die Rolle dieser Waffen-
kammer der Freiheit auf Schweizer Boden schilderte der dortige
preußische Gesandte von Werther in einem Bericht, den er am
11. April 1843 dem Minister von Bülow übersandte: ,,Es fließen
in diesem Verlage zwei Richtungen zusammen: die praktisch-
radikale der Rheinischen Zeitung und die theoretische der
Deutschen Jahrbücher, daher sowohl die preußischen Opposi-
tionellen wie Dr. Jacoby als Rüge und Bruno Bauer usw. sich
mit Schriften, deren Imprimatur in Deutschland verweigert
würde oder wurde", hierher begeben. Hinzu komme als
drittes und wirksamstes Element die radikalisierende Poesie,
deren Erzeugnisse das Literarische Comptoir als Verleger von
Herweghs Gedichten selbstredend in die Hand bekäme. Von
den Leitern des Literarischen Comptoirs nahm besonders Fröbel
nach der Wiederaufhebung der liberalen Zensurbestimmungen
in Preußen eifrig an den Bemühungen teil, die der im Inland
unterdrückten radikalen Presse auf ausländischem Boden eine
Heimstatt schaffen wollten.
Nun war im November 1842 in dem Verhältnis der ,, Freien"
zu dem führenden Oppositionsblatt am Rhein eine bedeutsame
Wandlung vor sich gegangen. Zwar sah Marx genau '\\ae
Edgar Bauer in der konstitutionellen Monarchie ein ,, durch
und durch sich widersprechendes und aufhebendes Zwitter-
ding" 3). Und auch über religiöse Fragen dachte er so frei wie
^) Vgl. Preßprozeß Edgar Bauers über das von ihm verfaßte Werk:
„Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat." Aktenstücke. Bern 1844.
^) Marx an Rüge, 5. März 1842, in Dokumente des Sozialismus I 9
S. 387. Die Charakterisierung des Konstitutionalismus als ,,Zmtterding" war
bei dem linken Flügel der Junghegelianer damals schon gang und gäbe. In
der Rhein. Ztg. finde ich sie zuerst am 19. April in dem wohl von Heß ver-
faßten Feuilleton: ,,Das Rätsel des 19. Jahrhunderts."
5*
68 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
nur irgendeiner der „Freien". Aber er erkannte, daß die Zwing-
burg der Reaktion nicht vor ,,weltumwälzungsschwangeren"
Theorien zusammenfiel, sondern bloß im zähen, hartnäckigen
politischen Tageskampf zu erobern war, auf dessen Wichtigkeit
der dogmatische Hochmut jener achselzuckend herabsah. Mit
Rüge und den jungen Tendenzdichtern forderte er vom Politiker
vor allem anderen Stärke der Gesinnung. Aus seiner Berliner
Zeit kannte er die Stehely-Literaten auf das genaueste und wußte,
daß sich wohl unter ihnen scharfe Dialektiker befanden, daß
sie aber in der Mehrzahl keine politischen Charaktere waren,
die ihre bürgerliche Existenz für die Erkämpfung ihrer Ideale
einsetzen würden. Das gleiche fand Rüge heraus, als er im No-
vember 1842 diesen Kreis persönlich kennen lernte. Die ,,von
allem honetten Pathos entblößte" Blasiertheit der ,, Freien"
stieß ihn ab, und es kam zu einem vollständigen und un-
bemäntelten Bruch mit den früheren Mitarbeitern. Rüge er-
klärte, daß Frivolität, wenn sie politische Freiheit Larifari
nenne, ebenso gestürzt werden müsse wie Heines Frivolität.
,, Hingabe" war ihm ,,die wahre Form des schaffenden Geistes",
und selbst Bruno Bauer hatte es bei ihm verspielt, als er jetzt
die ,, Freien" gegen ihn in Schutz nahm und sich dabei zu dem
Geständnis hinreißen ließ, daß nicht nur die Religion, son-
dern auch Staat, Eigentum, Familie, ja sogar die Begeisterung
negiert werden müßten ^). Der ehemalige Theologe verfaßte
damals gerade seine Schrift über ,,Das entdeckte Christentum".
Hier enthüllte sich ihm die Religion als das ,, Unglück der Welt"
und als die Entzweiung der Menschheit mit sich selbst. Am
Christentum bemerkte er nur noch den ,, Eigensinn des Privi-
legiums"; er aber hielt es jetzt für seine Aufgabe, die Herrschaft
jedes Ausschließlichen über die Menschen zu bekämpfen. Nun
besaß jedoch Bruno Bauer für die Politik bloß ein reflek-
tiertes Interesse, und die Meinungen, die er darüber äußerte,
waren immer bedingt durch seinen religiösen Standpunkt. Zu
Rüge urteilte er über Staat und Gesellschaft anscheinend radikaler
als im ,, Entdeckten Christentum". Dies kam daher, daß ihm mehr
an seinen Kampfgenossen gegen das Christentum als an den Vor-
kämpfern der bürgerlichen Forderungen lag. In Ruges Gesell-
schaft befand sich Herwegh, der in diesen Tagen jene berühmt
^) Rüge über die „Freien" an Prutz 18. November und 7, Dezember,
und an Fleischer 12. Dezember 1842. Vgl. auch Bruno Bauer an Marx
13. Dezember, bei Mchring, Nachlaß von Marx, Engels, Lassalle Bd. I S. 195
und Mehrings Darstellung des Zusammenhangs.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismns im vormärzl. Preußen. 69
gewordene Unterredung mit dem König hatte, die für seine Zu-
kunft verhängnisvoll wurde. Den beiden in Streit geratenen
Gruppen mußte daran liegen, das führende Oppositionsblatt am
Rhein auf ihrer Seite zu behalten ; beide wandten sich deshalb an
Marx, die eine durch Herwegh, die andere durch Meyen. Bis
zum Frühhng 1842 hatten Marx und Bruno Bauer in Bonn
nahe verbündet miteinander gehaust; seither war der eine
mitten ins politische Leben, der andere nach der Entfernung
von der Universität erst recht tief in den Sumpf einer welt-
fremden Ideologie hineingeraten. Daher ergaben sich die
Voraussetzungen für den endgültigen Bruch zwischen ihnen,
der jetzt erfolgte. Schon früher hatte Marx mit den Korre-
spondenzen, die ihm die ,, Freien" für die Rheinische Zeitung
sandten, der Zensur gegenüber einen schweren Stand gehabt.
Jene trugen darin ihren Atheismus und andere extreme Theo-
rien, denen der Leser den dernier cri der geistigen Mode an-
merken sollte, mit selbstgefälliger Geflissenheit zur Schau und
erschwerten, wie wir schon sahen, dadurch noch mehr die
Stellung des hart um seine Existenz kämpfenden Blattes sowohl
bei der Zensur wie bei dem Publikum der stockkatholischen
Provinz. Die Redaktion wünschte von ihren Berliner Mitarbeitern
mehr Bestimmtheit, mehr Eingehen in die konkreten Zustände,
mehr Sachkenntnis und weniger vages Raisonnement und groß-
klingende Phrasen 1).
Ausschlaggebend für Marxens Haltung in dem Konflikt
wurde aber doch allein die prinzipielle Seite der Sache. Die
,, Freien" wußten genau, daß die Rheinische Zeitung seit ihrem
Bestehen mit der Regierung um ihre Existenz rang. Aber da
sie alle mehr oder weniger den politischen Tageskampf niedrig
einschätzten, so mißbilligten sie, daß das Kölner Blatt den
politischen und sogar den wirtschaftlichen Fragen größeren Raum
einräumte als den Weltanschauungskämpfen, denen sie eine
fast ausschließliche Wichtigkeit beilegten. Sie forderten, daß die
Rheinische Zeitung ohne Sorge um ihr Fortbestehen die De-
klamationen gegen Gott und jede andere Autorität, mit denen
sie die Redaktion überschwemmten, vollzähhg aufnehmen sollte.
In ihrer doktrinären Verbohrtheit dünkte es sie richtiger, das
Blatt ginge ein, als daß es die Reinheit des Prinzips, wie sie
es verstanden, trübte, indem es ihre Elukubrationen beschnitt
oder unterdrückte. Doch Marx dachte anders. Auf seinen Rat
*) Marx an Rüge 30, November 1842, in Dokumente des Sozialismus a. a. 0.
70 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
hatte gerade in diesen Tagen der Verleger Renard dem Oberpräsi-
denten versprochen, die kirchhchen und rehgiösen Gegenstände
in der Zeitung künftig zurücktreten zu lassen i). Ihn empörte
die „schreckliche Dosis Eitelkeit", die nicht begreifen wollte,
daß man, ,,um ein politisches Organ zu retten, einige Berliner
Windbeuteleien" preisgeben durfte 2). Nach einem erregten
Briefwechsel zwischen ihm und dem ,, kleinen" Meyen, der die
Situation gar nicht begriff, brach die Rheinische Zeitung in
aller Form mit ihren bisherigen Berliner Mitarbeitern. Ohne
Kommentar veröffentlichte sie am 29. November eine Korre-
spondenz, die besagte, daß eine Zeit, die ernste, männliche und
gehaltene Charaktere für die Erkämpfung ihrer erhabenen
Zwecke verlange, laut und entschlossen Frivolität, Berlinerei
und die platte Nachäffung französischer Klubs desavouieren
müsse. Die eiserne Lerche, die dem Artikel vorgedruckt war,
machte es für jedermann kenntlich, daß er auf eine Information
Herweghs zurückging. In der Tat hatte der Dichter sich bei
der Redaktion über das Treiben der ,, Freien" beklagt: ,,Sie
kompromittieren", so schrieb er, ,, durch diese revolutionäre
Romantik, diese Geniesucht, diese Renommage unsere Sache
und Partei, Rüge und ich haben ihnen dies unumwunden er-
klärt. Sie haben es uns übel genommen — immerhin! ich
möchte nicht gegen sie auftreten und bitte sie daher um eine
Notiz in der Rheinischen Zeitung, die die Sache in ihrem
wahren Lichte zeigt. Wenn ich die Gesellschaft der Freien,
die einzeln meist treffliche Leute sind, nicht besucht habe, so
geschah es nicht, weil ich etwa eine andere Sache verfechte,
sondern es geschah lediglich darum, weil ich diese Frivolität,
diese ßerlinerei in der Art ihres Auftretens, weil ich diese glatte
Nachäfferei der französischen Klubs bei aller Achtung vor und
Enthusiasmus für die französische Revolution, als ein Mensch,
der auch von der Autorität dieser Revolution frei sein will,
hasse und lächerlich finde." Der Brief war im Einverständnis
mit Rüge abgefaßt 3).
') Vgl. S. 35 f.
') Marx an Rüge, 30. November.
") Auch die Benutzung dieses Briefes verdanke ich Herrn Professor
Hansen. Überschrieben ist er „Meine lieben Freunde" und datiert „Dienstag".
Gemeint ist vrohl der 21. November. Man vergleiche Ruges Brief an Her-
wegh vom 13. Dezember, den kürzlich Fleury in seiner gründlichen und
materialreichen Biographie des Dichters zum erstenmal abgedruckt. Dort
heißt es: „Marx hat Ihren Brief in der Zeitung vom 29. zu einer Korrespondenz
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl, Preußen. 71
Zur Königsberger Zeitung hatten die „Freien" niemals in
so nahen Beziehungen gestanden wie zur Rheinischen. Aber
ihr rücksichtsloser Kampf gegen die Frömmelei hatte ihnen,
wie sich schon zeigte, dort Sympathien erworben, die sich erst
verflüchtigten, als Edgar Bauers erbarmungslose Kritik gegen
den ostpreußischen Liberalismus bekannt wurde. Die Freunde
Jacobys fanden, daß der hinter den Ohren noch kaum trocken
gewordene Heißsporn den A'^erfasser der Vier Fragen, der den
Forderungen der Zeit zuerst eine feste Form gegeben hatte,
als einen ganz anderen ,, gesetzt" hätte als er wirklich wäre.
,,Wie oft sage ich es diesen Leuten", schrieb Julius Waldeck
am 1. September 1843 seinem Vetter, „wir alle sind doch eigent-
lich im Innersten, und ich glaube Du ebenso, Kommu-
nisten und Atheisten, nur mit dem Unterschiede, daß
die einen die Unmöglichkeit, jenes ersehnte Ziel
jetztschonherbeizuführen, einsehend, aufErreich-
bares ausgehen, während die anderen, eben die Bauers,
Buhl etc. darin eine Heuchelei sehen und behaupten, man
müsse womöglich nach mehr streben, als man in der Tat will,
man müsse die Unhaltbarkeit der jetzigen sozialen Verhältnisse
des Himmels und der Erde auf das krasseste dartun und so
die Notwendigkeit der Umgestaltung oder vielmehr Neubildung
in der Theorie beweisen, in der Praxis mache sie sich dann
von selbst. Ich glaube, daß diese Leute, solange bedeutende
Übermacht auf selten der Reaktionäre ist, mehr schaden als
nützen, aber das ist ihre Absicht, denn sie sind leider alle
Pessimisten." Der Arzt aus der Hasenhaide, dessen Briefe
nach dem heimatlichen Königsberg von einer nicht alltäglichen
Beobachtungsgabe zeugen, erkannte richtig den springenden
Punkt, auf den es bei dieser ganzen Auseinandersetzung ankam :
Die Optimisten, die an den Fortschritt glaubten und sich die
Fähigkeit zutrauten, die Aufgabe stellten, seinem langsamen
und oft aufgehaltenen Siegeszug den Weg zu ebnen, wandten
sich ab von den Skeptikern, von den Jongleuren mit Ideen,
von den Sophisten, die der Inhalt der politischen Zeitbestre-
bungen in der Tiefe ihrer Persönlichkeit kalt ließ und die des-
halb auch in ihrem theoretischen Denken aus der Vereinzelung,
in die ihre Dialektik sie einspann, nicht den Pfad ins Freie
benutzt, die viel Effekt nach beiden Seiten hin machte, und einen förmlichen
Bruch der Freien mit der Zeitung führte Herr Meyen herbei." V. Fleury,
le poete Georges Herwegh. Paris 1911. S. 96 Anm.
72 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
und Weite hinaus fanden. Diese Frivolität des bloßen Form-
verstandes, der ,,um keines Menschen Kummer sich kümmert",
warf ihnen besonders der Mann vor, der mit am frühesten und
unermüdlichsten den abstrakten Gedanken der deutschen Philo-
sophie auf das politische Leben verwiesen hatte. Rüge war es
auch jetzt, der die Überzeugung aussprach, daß selbst das geistige
Leben der Völker der ,,politischen Bewegtheit in großen
praktischen Problemen" bedürfe, ,,die jedes Individuum
beim Schöpfe fassen und aus der Übersättigung an sich selbst
herausreißen"^).
XL
Aber was nützte dem entschiedenen Liberalismus am Rhein
und am Pregel die klare Erkenntnis dessen, was nottat, wenn
die brutale Gewalt es ihm unmöglich machte, seine Überzeugungen
immer von neuem in die Masse zu tragen? Noch einmal zer-
teilte sich die Brandung der austürmenden Opposition am
rocher de bronce des preußischen Königstums. Noch einmal
gelang es dem Polizeistaat, den Forderungen der Zeit den Maul-
korb anzulegen. Um die Jahreswende von 1842 auf 1843 ver-
lor die Bewegungspartei im Verlauf weniger Wochen alle
ihre führenden Blätter: der Leipziger Allgemeinen Zeitung
wurde für Preußen, wo ihre meisten Abonnenten lebten, das
Debit entzogen, die Deutschen Jahrbücher und die Rheinische
Zeitung wurden unterdrückt, die Königsberger Zeitung mund-
tot gemacht. Angesichts der neuerlichen Verschärfung der
Zensur hielten Rüge, Marx und ihre Gesinnungsgenossen 2) es
für hoffnungslos, den Kampf auf deutschem Boden fortzusetzen.
Ihre und ihrer Freunde Bemühungen zielten jetzt dahin, das
Geld und die Intelligenzen zu sammeln, damit man von der
Schweiz oder vom Elsaß aus durch Organe, die der deutschen
Zensur nicht unterstanden, das Volk aufrütteln könnte. Mit
Hilfe der Aktionäre der Rheinischen Zeitung und der Liberalen
Ostpreußens, für deren Gewinnung sich Rüge an Jacoby wandte,
sollte das Literarische Comptoir eine Filiale in Straßburg oder
0 „Eine Selbstkritik des Liberalismus" in Deutsche Jahrbücher 2, bis
4. Januar 1843.
*) Auch Jacoby sprach sich zu Euge in ähnlichem Sinne aus; er schlug
vor, daß alle Schriftsteller der entschiedeneren Eichtung sich gegenseitig
verpflichten sollten, unter Zensur kein Wort mehr drucken zu lassen. (Jacoby
an Euge, 25. November 1843, ungedruckt.)
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalisnius im vormärzl. Preußen. 73
Brüssel errichten. Diese wollte man zum Arsenal der Demo-
kratie machen.
Nachdem sie mit dem nur philosophischen Radikalismus
gebrochen hatten, bevorzugten die politischen Radikalen, wenn
sie von ihrer eigenen Richtung sprachen, das Wort Demokratie.
Denn auch der ,, Liberalismus" war bei ihnen in Mißkredit ge-
raten, seitdem sie sich den Einflüssen von jenseits des Rheins
mit Bewußtsein hingaben, die Volkssouveränität als ihr Kenn-
zeichen betrachteten und die politische Bedeutung der gesell-
schaftlichen Probleme zu ahnen begannen.
Aber die Gründung einer Agitationszentrale im zensurfreien
Ausland kam in der umfassenden und großzügigen Weise, in der
sie ersonnen und von einem kleinen Kreis von Enthusiasten auf-
genommen worden war, niemals zustande. Die Führer der
Radikalen hatten gehofft, daß die Mundtotmachung der Oppo-
sition, ,, dieser schneidende Rückfall vom Reden ins Schweigen,
vom Hoffen in die Hoffnungslosigkeit, von einem menschen-
ähnlichen in einen sklavischen Zustand" ^), alle Lebensgeister
aufregen und der Nation den einmütigen Schrei der Entrüstung
entlocken würde! Aber nichts von alledem geschah. Die
politische Gleichgültigkeit der weiten Volkskreise war noch un-
begrenzt. Der einzelne ballte die Faust in der Tasche und machte
wohl auch seinen Gefühlen vorsichtig am Stammtisch Luft; zu
einer Aktion in der (3ffentlichkeit kam es nirgends. Die Größe
dieser Indolenz enttäuschte niemanden tiefer als Arnold Rüge,
der sich seit Jahren um die Politisierung der deutschen Welt-
anschauung bemühte, aber weder jetzt noch später den Weg
zur Masse des Volkes fand. Ihn frappierte, daß die Deutschen
es selbst in dem Augenblick nicht zum ,, Gefühl ihrer Leiden"
brachten, wo ,,der Sieg der Verstummung", wenn ihn die nächste
Zukunft, wie es den Anschein hatte, ratifizierte, die ,, humane"
Form der Entwicklung endgültig zugunsten der ,, brutalen"
Form überwand. Besonders niederdrückend wirkte auf die
kleine Zahl zielbewußter Politiker, die den Zeitforderungen auf
ausländischem Boden ein zensurfreies Organ schaffen wollten,
daß nicht einmal das besitzende Bürgertum zu pekuniären Opfern
für diesen Zweck bereit war. Unter dem Eindruck des Fiaskos
der von ihm in Ostpreußen ausgelegten Subskriptionslisten, wohl
^) Enge, Zur Verständigung der Deutschen und Franzosen, Vorwort zu
Finks Übersetzung von Louis Blanc, Geschichte der zehn Jahre. Zürich und
Winterthur 1843. S. XIX.
74 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen,
auch berührt von der Lektüre Proudhons und Louis Blancs,
deren Schriften seit dem Sommer 1843 überall in Deutschland
gelesen wurden, klagte damals Johann Jacoby über die Selbst-
sucht und Feigheit der ,, sogenannten Gebildeten", von denen
nichts zu erwarten sei; alles käme darauf an, die tatkräftigen
arbeitenden Klassen — das eigentliche Volk, durch Be-
lehrung zum Bewußtsein ihrer unwürdigen Stellung zu bringen:
,,o-elingt dies — und es wird sicher gelingen — dann wollen
wir mit den Junkern und Pfaffen bald fertig werden!" i) Auch
Rüge hatte, kurz vor ihrer Unterdrückung, in seinen Jahr-
büchern die Aufhebung des Pöbels als eine Frage bezeichnet,
mit der die Welt sich solange beschäftigen müsse, bis sie gelöst
wäre, und danach im Vorwort zu Finks Übersetzung von Blancs
Geschichte der zehn Jahre die Verwahrlosung der großen
Masse auf die Einrichtung unserer Gesellschaft zurückgeführt,
deren Prinzip nicht der Mensch und sein unverjährbares
Recht, sondern das Eigentum sei. „Sie haben vollkommen
Recht", schrieb ihm Jacoby dazu, ,,die unteren Volksklassen
müssen zur Menschenwürde erhoben werden; nur als Mittel
zu diesem Zweck haben die freien politischen Institutionen
einen Sinn." 2) Aber wenn Rüge den Pöbel abgeschafft und
Jacoby die unteren Volksklassen zur Menschenwürde erhoben
sehen wollte, so bestimmte sie dabei doch bloß der Gedanke
an ein demokratisches Endziel, in dem das höchste Postulat
ihrer liberalen Weltanschauung seine Erfüllung fand. Ruges
Selbstkritik des Liberalismus läßt erkennen, wie fremd ihm
die Vorstellung war, daß die ,, Reform der Welt", die er
anstrebte, sich auch in der ökonomischen Sphäre und nicht
bloß als Reform des Bewußtseins vollziehen könnte^). Ebenso
fern lag ursprünglich dem Mittelpunkt von Jacobys Denken
eine organische Verbindung der idealen Postulate, für die er
lebte, mit wirtschafthchen Umgestaltungen. Als praktischer
Arzt sah er in dem ,, Pauperismus" eine Frage der „sozialen
Heilkunde" und hielt es für einen Fehler Weithngs, den er
im übrigen schätzte, daß er zu Eisen und Feuer greifen wollte.
') Jacoby an Carl Weil in Stuttgart, 11. Dezember 1843 (ungedruckt).
Die gesperrten Worte sind von Jacoby unterstrichen.
^) Jacoby an Kuge, 25. November 1843 (ungedruckt). Ruges und Jacobys
Altersgenosse Franz Ziegler faßte bereits um diese Zeit die Demokratie „als
eine Magd im Dienste der sozialen Frage" auf. Vgl. Mehring, Lessing-
legende. 2. Aufl. Stuttgart 1906. S. 39.
^) Vgl. auch Ruges Gespräche mit Heß in Ruges Werken Bd. 5 S. 34 ff.
Mayer, Die Anfänge des polit, Radikalismus im vormärzl. Prenßen. 75
solange noch durch Medikamente eine Heilung zu bewirken
wäre ^). —
Weil es der Regierung hatte gelingen können, durch Ge-
waltmaßregeln die Bewegungspartei mundtot zu machen, hatten
manche Radikale, besonders die Brüder Bauer und ihr engerer
Kreis, sich zu der Ansicht zurück gewandt, daß die entschei-
denden Kämpfe eben doch allein in der Theorie auszufechten
seien. Andere, die sich von Hegels Einfluß schon entschiedener
befreit hatten, sahen zwar ebenfalls ein, daß der Befreiungs-
kampf, für den sie lebten, sich nicht auf die politische Sphäre
beschränken ließ, aber ihr Blick richtete sich nicht rückwärts
zur reinen Philosophie, sondern unter dem Einfluß der franzö-
sischen Sozialisten und Kommunisten 2) vorwärts — den gesell-
schaftlichen Problemen zu.
Die Bedeutung des Kommunismus als Weltanschauung
erfaßte in Deutschland zuerst eine Reihe von jüngeren Geistern,
die den Einfluß Ludwig Feuerbachs erfahren hatten. An ihrer
Spitze stand anfangs Moses Heß aus Köln^), ein Mann von bedeu-
tender Rezeptivität, aber ohne jene Stärke der Persönlichkeit, die
schöpferisch amalgamiert. Rüge befand sich auf dem Wege
nach Paris, als er in dessen Heimatstadt Köln dem Kommunisten-
rabbi, wie man ihn nannte, begegnete. Der ehemalige Re-
dakteur und spätere Pariser Korrespondent der Rheinischen
Zeitung stand gerade im Begriff, dorthin zurückzukehren, um
die deutschen Handwerksgesellen an der Seine für seine Lehre
zu gewinnen. So hatte Rüge die beste Gelegenheit, im Post-
wagen aus dem Munde des ,, kundigsten Piloten", den es da-
mals in Deutschland gab, das ,,Land der Zukunft", wie er es
0 Jacoby an Julius Fröbel 23. November 1843 (ungedruckt).
^) Für die Unterscheidung, die zwischen Sozialismiis und Kommunismus
der Sprachgebrauch der vierziger Jahre machte, vgl. Me bring, Geschichte
der deutschen Sozialdemokratie 3. Aufl. Stuttg. 1906. Bd. I S. 1.
^) Von Heß kommen für unseren Zweck besonders in Betracht: (ano-
nym). Die europäische Triarchie, Leipzig 1841; im ,,Atheuaeum'' vom 9. ()k-
tober 1841 Gegenwärtige Krisis der deutschen Philosophie; seine zahlreichen
Arbeiten in der Rheinischen Zeitung, die an dem Zeichen -H- zu erkennen
sind; seine beiden wichtigen Aufsätze in Herweghs Einundzwanzig Bogen
aus der Schweiz, nämlich ,, Sozialismus und Kommunismus" und ,, Philosophie
der Tat" ; sein Aufsatz : Über die sozialistische Bewegung in Deutschland, in
Karl Grüns Anekdota, Darmstadt 1845 (geschrieben Mai 1844) und die gegen
B. Bauer und Stirner gerichtete Broschüre: Die letzten Philosophen, Darm-
stadt 1845. Im übrigen sei in bezug auf Heß verwiesen auf Koigen a. a. 0.,
Me bring, Nachlaß von Marx, Engels, Lassalle a. a. 0. u. Zlocisti, Moses Heß,
Berlin 0. J.
76 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
nannte, kennen zu lernen, das für ihn immer hinter Wolken
blieb 1). Heß war jetzt zu der Überzeugung gekommen, daß das
Gerede von Freiheit und politischem Fortschritt sich abgenutzt
habe und allein eine gründhche gesellschaftliche Reform die Welt
noch interessieren könne. Die Verschmelzung der Ergebnisse
deutscher Philosophie und französischer Gesellschaftstheorien
wollte er zum Programm der Bewegungspartei machen. Nun
galt ihm aber als das spezifische Ideal des modernen Frank-
reichs die Gleichheit, während er in der absoluten Freiheit, die
ihm mit dem Atheismus identisch war, das Endergebnis der
deutschen Philosophie sah. Vereinigen wollte er die Gedanken-
reihen, die von Babeuf zu Proudhon und von Fichte zu Feuer-
bach führten. Kommunismus und Anarchismus waren ihm
identisch, weil die absolute Freiheit erst durchführbar wäre,
wenn auch Gütergemeinschaft bestände. In der Rheinischen
Zeitung hatte er solche Ansichten nur vorsichtig durchschimmern
lassen, wenngleich er später nicht ohne Grund für sich in An-
spruch nehmen konnte, daß er hier den Kommunismus ,, ein-
geschwärzt" hätte.
Auch Marx, der dem um sechs Jahre älteren Vorgänger
starke Anregungen 2) verdankte, behandelte an der gleichen
Stelle, den Schikanen der Zensur und dem Kläffen denun-
zierender Gegner zum Trotz, den Kommunismus, diesen ,, Aus-
wuchs" des französischen Geistes, mit ernster, zurückhaltender
Achtung. Dies war notwendig, weil das gebildete Publikum,
bevor es durch Lorenz Stein den Kommunismus näher kennen
lernte, ihn für eine ebenso utopische wie gefährliche Erschei-
nung hielt. Marx zeigte ^), daß diese Gefährlichkeit nicht so-
wohl in den praktischen Anläufen zur Verwirklichung jenes
Ideals liegen könne, die durch Kanonen leicht zu überwinden
wären, wie in dessen theoretischer Bedeutung, an deren Kritik
man sich freilich nur nach lang anhaltenden und tief ein-
gehenden Studien wagen dürfe. Die zu solchen Studien er-
^) Vgl. über Ruges Gespräche mit Heß in Ruges Werken Bd. V S. 34 ff.
^) Es würde den Rahmen unserer Abhandhmg sprengen, wollten wir
hier auf die Geschichte der sozialistischen Ideen in Deutschland eingehen.
Auch besteht darüber schon eine weitschichtige und teilweise ausgezeichnete
Literatur. Mit dem gedanklichen Verhältnis zwischen Heß und Marx in
dieser Zeit befaßt sich besonders Koigen a. a. 0. und neuerdings Emil
Hammacher, Zur Würdigung des ., wahren" Sozialismus in Grünbergs
Archiv Bd. I S. 89 ff.
") Rhein. Ztg., 16. Oktob., *% Köln, 15. Oktob. Neu abgedr. bei Mehring,
Nachlaß Marx-Engels I 275 ff.
Mayer, Die Anfänge des polit. ßadikalismus im vorniärzl. Preußen. 77
forderliche Muße verschaffte ihm sein Rücktritt von der Rheini-
schen Zeitung.
Aber nicht der Ideengeschichte gehen wir hier nach, sondern
den Anfängen praktischen Zusammenwirkens zur VerwirkKchung
von poHtischen Überzeugungen i). Als der erste jener preußischen
Radikalen, die an der Bewegung von 1842 teilgenommen hatten,
knüpfte Moses Heß mit den untersten Volksschichten unmittel-
bare Beziehungen an. Weil für solche Bemühungen in Preußen
noch kein Boden war, wandte er sich an die deutschen Hand-
werksgesellen in Paris, unter denen besonders Weitling kommu-
nistische Gedanken ausgesät hatte. Der Gesandte von Arnim
bezeichnete Heß bereits im September 1843 der Berliner Regie-
rung als einen der Chefs und den fähigsten Kopf der deutschen
kommunistischen Handwerker in Paris, deren Zahl sich in
letzter Zeit stark vermehrt hätte -) und zu denen hauptsächlich
Schneider, Sattler, Ebenisten und Mechaniker gehörten. Auf
ausländischem Boden hatten die den radikalsten Richtungen
angehörenden deutschen Emigranten sich frühzeitig zu Ver-
bänden zusammengeschlossen. Je nach den Vereinsgesetzen
der Staaten, auf die Rücksicht zu nehmen war, trugen ihre
Organisationen, die durch heim wandernde Gesellen auch
innerhalb der Bundesgrenzen kleine Gruppen von Anhängern
gewannen, den Charakter größerer oder geringerer Heimlich-
keit. Die preußische Regierung wurde über die Teilnahme
ihrer Untertanen an dem Handwerkerkommunismus durch
ihre Gesandten in Bern und Paris auf dem Laufendenge-
halten. Aber die Vorstellungen, mit denen sie nicht kargte,
fanden nicht überall ein so williges Gehör, wie bei dem von
den Konservativen beherrschten Zürich, das Weitling auswies
und das ganze kommunistische Treiben am Gestade seines
blauen Sees ausräucherte. Das Ministerium Guizot besonders
war anfangs wenig geneigt, sich zum Büttel der preußischen
Reaktion zu machen, und Graf Arnim mußte in Berlin wieder-
^) Den psychologischen Übergang des Eadikalismiis zum Kommu-
nismus schildert geistreich, aber auf seine einseitig ideologische Weise Bruno
Bauer, Vollständige Geschichte der Parteikämpf e in Deutschland während
der Jahre 1842—1846. Charlottenbm-g 1847. Bd. II S. 78 ff.
^) Ein Aufsatz von A. Weill im „Telegraph" 1842 Nr. 60 schätzt die
Zahl der deutschen Handwerker in Paris auf über 50000, wobei die Elsässer
nicht mitgerechnet sind. Die 1845 in Paris erscheinende Zeitschrift „Der
deutsche Steuermann" spricht von der „Wanderungswut" nach Paris und von
der Arbeitslosigkeit unter den dortigen Deutschen, deren Zahl ohne die
Elsässer mit beinahe 87000 angegeben wird.
78 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
holt Klage darüber führen, daß die französische Regierung gegen
das ,, planmäßige revolutionäre Treiben" der Kommunisten nicht
größere Energie aufbot.
Moses Heß hatte sein anarchistisch -kommunistisches Pro-
gramm zuerst in Herweghs Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz
entwickelt, die im Juli 1843 erschienen. Diese Publikation enthielt
die wichtigsten Beiträge, die für den Deutschen Boten einge-
laufen waren, der ein führendes Organ des politischen Radi-
kalismus hatte werden sollen. Um für dieses Projekt Mit-
arbeiter zu werben, hatte der Dichter im Herbst 1842 seine
bekannte Rundreise durch Deutschland unternommen. Es schei-
terte, weil die Berliner Regierung zu verhindern wußte, daß Her-
wegh in Zürich das Bürgerrecht erwarb. Natürlich wurde das
„höchst verwerfliche Buch", als das Arnim-Boitzenburg die Ein-
undzwanzig Bogen bezeichnete, in Preußen sofort verboten ^). Dar-
aus erklärt es sich wohl, daß Rüge, wie Heß bezeugt-), diese Schrift
bei ihrem Zusammentreffen noch nicht kannte. Diese Feststellung
ist nicht unwichtig, weil Heß hier die Staatsauffassung des politi-
schen Radikalismus Hegelscher Observanz, deren bedeutendster
Vertreter Rüge war, um ihrer Absolutheit willen angriff und
überhaupt dem Kultus des ,, Allgemeinen" den Krieg erklärte. Da-
mit aber begann die Auseinandersetzung des Kommunismus mit
dem ideologisch gebliebenen, wenn auch demokratisch gewordenen
Junghegelianismus, dem es nicht gelang, zu den gesellschaft-
lichen Problemen in ein richtiges Verhältnis zu kommen.
Denjenigen Jünghegelianern, die ernsthaft die Brücke zur
sozialen Wirklichkeit überschritten und darauf in die Schule der
Franzosen und Engländer traten, wurde jetzt Ludwig Feuerbach
zum Führer aus dem Labyrinth der Ideologie. Ihn erhoben
Heß und Marx auf den Schild, weil er das Denken aus dem
Sein und nicht mehr das Sein aus dem Denken ableitete, weil
er dem Prinzip der Hegeischen Schule, dem abstrakten Denken
die Anschauung als das Prinzip des Lebens entgegenstellte,
weil er das vom Menschen abgetrennte Selbstbewußtsein als
eine bloße Abstraktion ohne Realität enthüllte, aus dessen Schale
er den wirklichen Menschen herausholte 3).
') Arnim- Boitzenburg an Polizeipräsident von Puttkammer in Berlin
21. Juli 1843. Geh. Staatsarchiv.
'') Heß, die sozialistische Bewegung in Deutschland in Grüns Anekdota,
Darmstadt 1845. Vgl. noch Rage über Heß in Sämtliche Werke, Bd. V S. 31:
,,Er ist ein langer hagerer Mann mit wohlwollendem Blick" usw. Vgl.
dort auch S. 64, 69 ff.
^) Für Feuerbachs Kritik Hegels vgl. besonders seine Vorläufigen Thesen
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vonuärzl. Preußen. 79
So zeigte Feuerbach einer vorwärts stürmenden Jugend
hinter dem Schleier der Philosophie die reale Wirklichkeit, wie
sie sich im Menschen und seinen Taten verkörperte. Aber über
die Welt, in der dieser wirkliche Mensch lebte, wußte der ein-
same Denker von Bruckberg keine Kunde zu geben: in Politik
und Gesellschaftswissenschaft war er nicht zu Hause! Hier
setzte der Einfluß des französischen Sozialismus ein. Das reine
Denken hatte sich, als das tätige Leben ernsthaft sein Recht
geltend machte, unzulänglich erwiesen. Der Mensch enthüllte
sich nunmehr als die Welt des Menschen, als Staat und
Gesellschaft: Die Religion wirke auf das Volk wie Opium und
spiegele ihm ein imaginäres Glück als wirklich vor; erst nach
der Befreiung aus ihren Fesseln werde der Mensch lernen, sich
um sich selbst als um seine wirkliche Sonne zu bewegen. So
lehrte jetzt Marx^). Die nur praktischen Politiker in Deutsch-
land, meinte er, forderten die Negation der Philosophie und
glaubten dieses Ziel zu erreichen, indem sie ihr den Rücken
kehrten. Dagegen vergäßen die von der Philosophie herkom-
menden theoretischen Politiker bei ihrer Bekämpfung der
bestehenden Zustände, daß dazu auch die seitherige Philosophie
gehöre, die eine ideelle Ergänzung dieser Welt bilde. Diese
Philosophie lasse sich nur aufheben, indem man sie verwirk-
liche. Zwar sei bei uns das praktische Leben noch zu geistlos
und das geistige Leben noch zu unpraktisch, als daß eine Klasse
der bürgerlichen Gesellschaft die allgemeine Emanzipation voll-
ziehen könnte, wenn sie nicht durch die materielle Notwendig-
keit, durch ihra Ketten selbst, dazu gezwungen sei. Aber die
auch in Deutschland emporstrebende industrielle Bewegung
erzeuge das Proletariat, und dieses werde der deutschen Phi-
losophie die Waffe zu ihrer Verwirklichung darbieten. Der
Kopf des künftigen Befreiungskampfes sei die Philosophie, sein
Herz das Proletariat. Die Philosophie könne sich nicht ver-
wirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Prole-
zii einer Reform der Philosophie, in den Anekdota zur neuesten deutschen
Philosophie und Publizistik, Bd. 2. Zürich und Winterthur. 1843. Über
Feuerbachs Bedeutung für seine Zeit vgl. F. Engels, Ludwig Feuerbach
und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. 5. Aufl. Stuttgart
1910, S. 30 und Koigen a. a. 0. S. 113 ff. Koigen nennt ihn den Ideologen
der aufkommenden Demoki-atie.
*) Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in Deutsch-
Französische Jahrbücher, herausgeg. von Rüge und Marx. (Einziges Heft.)
Paris 1844, S, 71 f.
80 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
tariat sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philo-
sophie ^).
Diese weltgeschichtlich bedeutsame Verknüpfung zwischen
Philosophie und Proletariat vollzog Marx in den Deutsch-
Französischen Jahrbüchern, mit denen er und Rüge den Kampf
gegen den preußischen Absolutismus, den sie nach der Unter-
drückung der Deutschen Jahrbücher und der Rheinischen
Zeitung unterbrochen hatten, neu eröffnen wollten. Sie zeich-
neten als Herausgeber und hatten sich u. a. die Mitarbeit von
Engels, Heß, Herwegh, Heine und Jacoby gesichert. Aber die
Beiträge von Marx und Engels, die in dem ersten und ein-
zigen Heft das meiste Aufsehen erregten, erhoben schon weiter-
gehende Forderungen, als die der bloß pohtischen Freiheit, über
die Ruges „humaner Liberalismus" nicht hinaus gelangte. Eine
konsequente Demokratie wollte hier Ernst machen mit der Anwen-
dung des Ideals der Gleichheit auf das gesellschaftliche Leben.
Als ein Problem neben anderen betrachtete auch Rüge die
Emanzipierung der unterdrückten Volksklassen. Wie er jetzt aber
auf französischem Boden die Erfahrung machte, daß beträcht-
liche Elemente das Problem bereits zum Experiment forttreiben
wollten, da zuckte er zurück. Er blieb zu sehr Hegelianer, um
sich von dem Geist der idealistischen Philosophie so weit zu
lösen, daß er dem ,, Traum des irdischen Paradieses" die ,, ideellen
und allgemeinen Mächte" hätte opfern können. Ihm wurde
der Kommunismus nicht Glaubenssache, und er hielt ihn für
eine Sekte, die in dem ersten Sturm der Politik zugrunde gehen
würde 2). Deshalb fehlte ihm auch jedes Verständnis für den
Eifer, mit dem Marx in den Kreisen der deutschen Handwerker
in Paris Boden zu fassen strebte. Weil er die materiellen Kräfte
*) Der erste, der in Deutschland, freilich noch mit besonderem Hinweis
auf Frankreich, verkündete, daß die nächste Revolution eine soziale sein
werde, war wohl Lorenz Stein. Vgl. das Vorwort zu Der Sozialismus und
Kommunismus des heutigen Frankreichs. Leipzig 1842. Auch die Bedeutung
des Klassenkampfes gelangte durch dieses Werk zuerst in das Bewußtsein
einiger deutscher Denker. Über das preußische Proletariat im Vormärz
vgl. u. a. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, I S. 237 ff.
und Kampffmeyer, Geschichte der Gesellschaftsklassen in Deutschland.
Berlin 1910. Das reichste zeitgenössische Material enthielt der von M. Heß
redigierte Gesellschaftsspiegel. Elberfeld 1845.
*) Rüge, Der deutsche Kommunismus, in der von Heinzen herausge-
gebenen Opposition, Mannheim 1846, S. 114; Rüge an Simon Meyerowitz
11. Februar 1845 (ungedruckt); Rüge an Fleischer 27. Mai 1845, in Brief-
wechsel etc. I. 396 u. a. a. 0.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 81
unterschätzte, vergrößerten und isolierten sich ihm die rein
pohtischen Gegensätze ins Schrankenlose. Während Marx und
Engels den internationalen Charakter der sozialen Bewegung
auf ihr Programm setzten, erhob er die Internationalität der
politischen Partei und den ,, Sturz des Patriotismus" zu seiner
Forderung^). Ruges führende Rolle in der Politik war damit
ausgespielt.
Verhängnisvoll wurde der Bruch zwischen ihm und Marx,
an dem hier nur die sachliche Seite interessiert, für jene Be-
mühungen, die auf dem zensurfreien Boden des Auslandes die
radikale Kampagne des Jahres 1842 wieder aufleben lassen
wollten. Da es eine parteipolitische Praxis in Preußen noch
nicht gab, so hatte diese prinzipielle Scheidung zwischen dem
künftigen Fülirer der sozialen Demokratie und dem bis dahin ziel-
bewußtesten Vorkämpfer eines demokratischen Liberalismus vor-
läufig keine anderen sichtbaren Folgen, als daß auf der traurigen
Fläche der Flüchtling;szänkereien ein paar trübe Blasen aufstiegen.
Vor der massiven Übermacht der Reaktion verschwanden noch
alle Meinungsverschiedenheiten über das schließliche Ziel. In
der Bewegung von 1848 kämpften Proletariat und Bürgertum
Seite an Seite für die Sache der Freiheit. Auch die Neue
Rheinische Zeitung, deren Seele wiederum Karl Marx war, trat
damals für dieses Bündnis ein, obgleich sie doch schon offen
das sozialdemokratische Banner wehen ließ.
XII.
Die ,, geistige Not" der ,, gefallenen Radikalen", dieser
,, politischen Mönche", die Kunst und Wissenschaft dem Moloch
Staat zum Opfer gebracht hätten, suche ihre Zuflucht bei der
,, leiblichen Not" der großen Masse, die ebenso hilflos wäre wie
sie selbst! — Mit Deduktionen von dieser Art erklärte sich
Bruno Bauer das Aufgehen seiner ehemaligen Kampfgenossen
in das Problem der Masse, für das ihm das Organ fehlte, weil
er an dem Primat der theoretischen Entwicklung festhielt.
Sein Bruder hatte ihm im Feuilleton der Rheinischen Zeitung
aus der Seele gesprochen:
„Wenn Massen Ihr auf Massen,
Wenn Berg auf Berge türmt,
Glaubt Ihr, daß Ihr des Geistes
Unendlich Reich erstürmt?"
^) Rüge an Fleischer 9. Juli 1844 und an Prutz 14. Januar 1846; ferner
Rüge, An einen Patinoten, in Telegraph f. Deutschland 1844 Nr. 203 f.
Auch dort: „An die Stelle des Vaterlandes gehört die Partei."
Zeitschrift für Politik. 6. ß
82 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalisnius im vormärzl. Preußen.
Wem einmal der Staat als das „Lebensbrot des Geistes"
galt, dem verdachte Bauer nicht, daß er von demselben auch
-^drkliches Brot und Arbeit und Beschäftigung für jedermann
forderte^). Es war noch nicht lange her, da hatten auch er
und die ,, Freien" ihre Vergötterung für die Staatsidee demon-
strativ bekundet, da hatten die philosophischen Radikalen in
überschwenglichen Worten ihre Hoffnung sogar auf den Staat des
großen Friedrich gesetzt ! Seitdem aber die Regierung sich gegen
das ,, Recht der Vernunft" und für das ,, Recht des Bestehenden"
entschied, hielten sie wie Rüge Preußens geschichtliche Rolle
für ausgespielt 2). Daß es immer noch der protestantische Staat
blieb, fiel nicht mehr ins Gewicht. Denn die Auflehnung gegen
eine beschränkte Autorität hatte keine Bedeutung für eine
Literatur, die jetzt gegen jede Autorität protestierte. Der Sub-
jektivismus der Berliner Junghegelianer mußte mit Notwendig-
keit zur Auflösung aller absoluten Werte führen und in der
politischen Sphäre bei der Skepsis oder beim Anarchismus
landen. Die Umkehr der Regierung zur unverhüllten Reaktion
mochte diese Entwicklung beschleunigen. Im Grunde entband
sie die Geister nur von einer Zurückhaltung, die nunmehr über-
flüssig wurde. Auch Proudhons Einfluß machte sich vielleicht
auf die Abkehr dieser Radikalen vom Staatsideal nebenher
bemerkbar, aber er war hier nicht ausschlaggebend wie bei
Moses Heß.
Schon nach dem Erscheinen von Edgar Bauers Kampf-
schrift gegen die Konstitutionellen hatte Stirner, aber ohne daß
er sie vorerst veröffentlichte, eine Kritik niedergeschrieben,
die er später in sein Hauptwerk hineinarbeitete. Daß über dem
Souverän, ob er nun Fürst oder Volk heiße, niemals eine Re-
gierung stehe, das sei selbstverständlich: ,,Aber über Mir wird
in jedem ,, Staate" eine Regierung stehen, sowohl im absoluten
als im republikanischen oder , freien'. Ich bin in dem einen
so schlimm daran wie im andern." Edgar Bauers radikales
Staatsideal laufe nur auf einen Herren -Wechsel hinaus. Statt
das Volk frei machen zu wollen, hätte er auf die einzig
realisierbare Freiheit, auf die seinige, bedacht sein sollen ^j.
') Br. Bauer, Vollständige Geschichte etc. Bd. II S. 78 ff. Vgl. auch
Bchon 1844, Allg. Lit. Ztg., Juli: „Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik?"
^) Vgl. z. B. Buhl, Die Herrschaft des Geburts- und Bodenprivilegs
in Preußen. Mannheim 1844. S. 316,
') Der Einzige und sein Eigentum (Reclam S, 265 u, 267). Stirners
Kritik des radikalen Staatsideals deckt sich, sogar in einzelne Wendungen,
Mayer, Die Anfänge des polit. EadikalisTiius im v(jniiärzl. Preußen. 83
Um ein eigenes Organ für die Verkündung ihrer Ansichten
zu erhalten, betrieb Buhl die Errichtung einer „Berliner Monats-
schrift" i), zu derem Probeheft ihm Stirner, Meyen und Dr. Julius
Waldeck Beiträge lieferten. Aber der Prospekt, den er im
Juli 1843 der Zensur einreichte, fand bei ihr keine Gnade.
Buhl erklärte darin offen, daß er sich mit der Politik nur
noch beschäftigen wolle, um sie aufzulösen. Er wolle sie
aber auflösen, weil er sie für unfähig halte, die allgemeine
Freiheit zu realisieren. Einen anderen Grund für seine Abkehr
von der Politik gab er bald danach im Vorwort zu seiner vor-
züglichen Übersetzung von Louis Blancs Zehn Jahren an. Hier
behauptete er in Anlehnung an die Franzosen und wohl auch
an Heß, daß alle politischen Revolutionen der Masse des
Volks nicht nützen können und daß die Politik überhaupt kein
Gefühl fürs Volk, kein Herz für seine Not habe.
Max Stirner war ein vorsichtiger Herr, wie sein Freund
Buhl ausdrücklich bezeugt 2) und zog die Nutzanwendung seiner
revolutionären Ideen auf das politische Leben am liebsten, wo
er sicher war, nicht belangt zu werden. Der ,, würdevolle"
Mädchenschullehrer wollte nicht, daß die Polizei erfuhr, auf
welchem Amboß und von welchem Schmidt die Gedankenpfeile
gehämmert wurden, die er aus wohlbehüteter Anonymität in die
Welt hinaussandte ^). Aber was seine Aufsätze in der Rhei-
nischen Zeitung ahnen lassen, bestätigt Friedrich Engels, der
ihm damals befreundet war, in seinem Heldenepos vom Triumph
des Glaubens. Dieser ,,bedächt'ge Schrankenhasser" ging schon
im Sommer 1842 über den Radikalismus seiner Genossen
hinaus und übertrumpfte schon damals ihr ,,ä bas les rois!"
mit seinem: ,,Weg Satzung, weg Gesetz! . . . ä bas aussi
les lois!"
Unbekümmerter um das eigene Schicksal schlug Edgar
Bauers burschikose Jugend die Person für die Überzeugung in
die Schanze ! Was scherte es ihn, daß ,,Der Streit der Kritik
mit der von Moses Heß in der Philosophie der Tat. Herweghs Einund-
zwanzig Bogen, die den Aufsatz von Heß enthielten, erschienen etwa gleich-
zeitig mit Edgar Bauers Kampfschrift und in dem gleichen Verlag. Stirner
konnte also möglicherweise den Aufsatz von Heß bereits kennen. Für
unsere Arbeit haben solche Nachweise von gegenseitiger intellektueller Be-
einflussung bei den radikalen Denkern nur akzessorisches Interesse.
^) Das erste und einzige Heft der Berliner Monatsschrift erschien im
Selbstverlag in Mannheim.
') Buhl, Der Preßprozeß, in „Epigonen", 1846 S. 182.
^) Das Geh. Staatsarchiv besitzt keine Zensurakten über ihn.
6*
84 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
mit Kirche und Staat", sein Hauptwerk, das er im Sommer 1843
drucken ließ, sofort beschlagnahmt wurde und ihm einen Kri-
minalprozeß und mehrjährige Freiheitsberaubung einbrachte?
Lehrte nicht die souveräne Kritik, daß der menschliche Geist
die Verhältnisse und nicht die Verhältnisse die Menschen
beherrschten? Unter dem Einfluß von Stirner, Proudhon und
Heß wandte er jetzt von dem bloßen Republikanismus sich
mit der Behauptung ab, daß auch eine republikanische Re-
gierung, weil sie nun doch einmal Regierung sei, zur Unter-
drückungssucht hinneige. Nun gestand selbst dieser Prophet
des freien Volksstaats, der sich vor kurzem noch ,,rein gläubig
und theologisch" zu den Abstraktionen Staat, Regierung, Recht
und Gesetz verhalten hatte, daß die volle Freiheit innerhalb des
Staats nicht zu reahsieren sei, weil im Staat immer einander
untergeordnete Stände und Klassen entstehen müßten. Zum
Wesen des Staates gehöre, daß er Rechte, die stets auch Vor-
rechte seien, respektiere. Deshalb solle die Menschheit über
das Staatsleben hinweg zu den Formen eines freien Gemein-
wesens fortschreiten!
Aber ,, Privatbesitzer und Egoisten" könnten keine freie
Gesellschaft bilden. Der Privatbesitz sei eine Art von Dieb-
stahl. Nur nach seinem Verschwinden wäre vollständige Herr-
schaf tslosigkeit möglich, nur nach dem Untergang der Ehe,
der Standesunterschiede und aller anderen Stützen des Staats,
dieser ,, kirchlich" organisierten Gesellschaft. Umsonst quäle
sich der Liberalismus mit dem Problem der Armut, umsonst
fordere der Radikalismus das allgemeine Stimmrecht, dessen Ver-
wirklichung übrigens den Staat sprengen müßte ! Das Scheitern
der französischen Revolution habe bewiesen, daß es nicht mög-
lich sei, den Menschen innerhalb des Staates freizumachen
und daß erst die Anarchie aller guten Dinge Anfang ist. Den
Zustand der wahren Gleichheit, wo jeder an den Wohltaten des
gesellschaftlichen Lebens teilnehmen könne, herbeizuführen, ver-
möge nur die ,, Kritik"! Freilich konstruieren sei nicht ihre
Aufgabe, ihr Pronunziamento sei negativ, aber die Geschichte
werde die Bejahung dazu schreiben ^). Viel weniger scharf als
Marx einige Monate später in den Deutsch-Französischen Jahr-
^) Für den „bakunistischen" Charakter der „Kritik", die „Negation ohne
Grenze" sei, vgl. Koigen a. a. 0. S. 50. Koigen führt die „Entartung" der
„Kritik" ausschließlich auf immanente Ursachen ziu-ück. Aber zum min-
desten in zweiter Linie wirkten auch die Zeitverhältnisse mit, wenn sie bei
„buddhistischer Passivität" landete. Vgl. Koigen a. a. 0. S. 79.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 85
bücheru, aber doch unter den gleichen Eindrücken wie jener, er-
wartet hier Edgar Bauer die Vollendung des neuen irdischen
Evangeliums von einer Revolution des Proletariats '). Aber wenn
ihm im Leben damals auch sonst nichts menschliches fremd
sein mochte, sein Denken konnte höchstens vorübergehend die
Erde streifen, um bald wieder in den Äther der Spekulation
aufzusteigen, wo die Gedanken von keiner Wirklichkeit be-
schwert wurden.
Unter dem Einfluß des französischen Kommunismus, dem
sich im Jahre 1843 von den radikalen Schriftstellern nur wenige
ganz entzogen, hatte auch dieser Gegner alles Bestehenden das
Proletariat zum Vollstrecker des Todesurteils ausersehen, das er
über den Staat und die herrschende Gesellschaftsordnung ver-
hängte. Aber so wenig wie die Liebe zur Masse hierbei den
Ausschlag gab, so wenig war der Glauben an ihre historische
Mission bei Edgar Bauer nachhaltig. Auch an der Aufhebung
des Privateigentums bestach ihn allein die theoretische Er-
wägung, daß sie einen Schritt auf dem Wege zur ,,Zustands-
losigkeit" bedeutete, von der er nunmehr die Erfüllung der
Freiheit erwartete-).
Wir wissen schon, daß die souveräne ,, Kritik" aus der Gleich-
gültigkeit, mit der die Masse des preußischen Volkes der neuer-
lichen Knechtung des Geistes zusah, die Folgerung zog, daß ihre
Entwicklung sich von aller Politik frei machen müsse ^). Das
Schicksal der Zensur in der Praxis behandelte sie jetzt mit
ostentativer Gleichgültigkeit. Sie behauptete, kein Interesse
mehr daran zu haben, da sie die Voraussetzungen der Zensur un-
vermischt dargestellt und damit theoretisch überwunden hätte '^).
Überhaupt hatte die ,, Kritik" den politischen Radikalismus mit
^) Vgl. dazu Edgar Bauers Artikel über Proudhon in der von Bruno
Bauer herausgegebenen Literatm--Ztg., April 1844. Auch Koppen s Aufsatz
über P. J. Proudhon, der radikale Sozialist, in den von ihm herausgegebenen
Norddeutschen Blättern für Kritik, Literatur und Unterhaltung, Oktober
und November 1844, und Marx' Kritik dieses Artikels in Die heilige Familie
oder Kritik der kritischen Ki-itik (Nachl. ed. Mehring Bd. 11 S. 129 ff.) wäre
für eine nähere Untersuchung des Verhältnisses dieses Ki-eises zu Proudhon
heranzuzuzi eh en.
*) Die Reise auf öffentl. Kosten in Epigonen 1848 S. 29. „Ich selber,
nur ich war das Ziel meiner Entwicklung", beichtet er hier, auf das Jahr
1843 zurückblickend.
^) Was ist jetzt der Gegenstand der Kj-itik? (Verf. wohl Bruno Bauer)
in Allg. Literatur-Ztg., Juli 1844.
*) Koppen in Norddeutsche Blätter, August 1844.
86 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
seinen Schlagwörtern und Phrasen, „diesen bequemen Verbin-
dungsmittehi der Parteien", aufgelöst und erledigt. Das Helden-
tum der ,, Überzeugung", ,,mit dem man sich an die Partei
verkauft", war für sie ein überwundener Standpunkt i). Schon
neigte sie dazu, in dem Kampf zwischen Regierung und Oppo-
sition der Regierung, die scheinbar Siegerin geblieben war, recht
zu geben und in ihr das ,, verkörperte Volk" und die ,, echte
Volksvertretung" zu sehen, welche die Partei des Staats und
des Volks nahm, als sie die radikale Kritik unterdrückte 2).
Jetzt brüstete sie sich damit, daß sie über Liebe und Haß,
über Effekt und Empfindung erhaben, ansichts-, System- und
gesinnungslos geworden sei^). Ihr fester Glauben an die Supe-
riorität des Geistes brachte sie schon mit Naturnotwendigkeit
in Gegensatz zu der ,, Masse", die der verhaßte Kommunismus
jetzt zum Gegenstand eines Kultus machte*). Umgekehrt
mußte ihr Dogma von dem außerhalb der Masse und über ihr
schwebenden Geist, der alle Umgestaltungen im gesellschaftlichen
Leben schließhch in die Gedankentätigkeit der souveränen
,, Kritik" auflöste, bei denen Widerspruch hervorrufen, die in
der Masse das Substrat der geschichtlichen Entwicklung ent-
deckt zu haben glaubten. Das Pamphlet: ,,Die heilige Familie"
von Marx und Engels sollte den einstigen Freunden beweisen,
daß sie mit ihrem intellektualistischen Übermenschentum hinter
der von der deutschen theoretischen Entwicklung inzwischen
erreichten Höhe zurückgeblieben seien, und daß die ,, Kritik",
wenn ihr ,, Einsamkeitsbedürfnis" sie über alle Parteien erhob.
^) Norddeutsche Blätter, August 1844. Briefe aus Berlin, S. 23 ff.
(Verf. wohl einer der Brüder Bauer.) Vgl. auch Th. Opitz, Die Ohnmacht
Bruno Bauers in seiner Schrift: Bruno Bauer und seine Gegner. Breslau 1846.
^) Vgl. u. a. den Artikel: Köuigsberger Broschüren-Literatur, in Allg.
Literatur-Zeitung September 1844, und ebendort Juli 1844 Edgar Bauer,
„1842".
') Eine gute Kritik der ,, Kritik" enthält der Aufsatz: Bruno Bauer
oder die Entwicklung des theologischen Humanismus unserer Tage. Eine
Kritik und Charakteristik, in Wiegands Vierteljahrschrift, 1845 III. Dort
heißt es über Bruno Bauer: „Seine eigenen Gedanken verwandeln sich gleich-
sam durch eine religiöse Illusion zu rein objektiven, göttlichen Urteilen der
,Kritik' — er spricht immer nur von sich selbst in dieser Allgemeinheit
seines Orakels, das er selber ist."
'') Die Gattung und die Masse, in Allg. Lit.-Ztg., herausgeg. von Bnino
Bauer, Bd. ü, Heft 10, Sept. 1844. Vgl. auch die Darstellung dieser Zu-
sammenhänge bei Me bring, Aus dem literarischen Nachlaß von Marx, Engels,
Lassalle, Bd. H, S. 67 ff.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 87
sich damit als Partei — als eine „heilige Familie" — der ganzen
übrigen Menschheit gegenüberstellte^).
Das psychologische Motiv der Brüder Bauer, Koeppens
und ihres Anhangs deckte für das Publikum noch deutlicher
ein bald danach anonym erschienener Aufsatz der Wiegandschen
Vierteljahrsschrift auf, der die kritischen Gedanken von Marx
und Engels in eine allgemein verständliche Sprache übersetzte ^j.
Das Geheimnis der ,, Kritik" enthüllte sich nunmehr als Wut
über die eigene Ohnmacht, etwas gegen das wirklich Gegebene
zu unternehmen, ihre Anerkennung des Bestehenden als
Produkt ihrer Verzweifelung und als erzwungene Resigna-
tion! Die ,, Kritik", hieß es hier, bliebe in dem Dogma von
ihrer Unfehlbarkeit nur deshalb stecken, weil sie eine Wirklich-
keit nicht hervorbringen könne ! — Wie man in unseren Tagen
in Nietzsche den Philosophen des Kapitalismus erkennen zu
dürfen glaubte, so bezeichnete damals Friedrich Saß, der selbst
zu den ,, Freien" gehört hatte, die ,, Kritik" als den philoso-
phischen Ausdruck der rohen Gleichgültigkeit der Aristokraten
und Geldmenschen gegen das Schicksal der Masse ! ^) —
Ebenfalls als eine Resignation, wenn auch nicht in der
gleichen Gestalt, erscheint uns heute die Art von Anarchismus,
zu der sich damals eine andere Gruppe des philosophischen
Radikalismus offen bekannte. Schon häufig berauschte sich
am Ideal von übermorgen, das ihn bei der Gegenwart los-
kaufen sollte, derjenige, dem Kraft und Zähigkeit fehlten, für
die Forderungen des Tages beharrlich zu kämpfen.
Allem ,, Glauben", aller ,, Gesinnung" hatte die ,, Kritik" die
Daseinsberechtigung abgesprochen, aller Ausschließlichkeit den
Krieg erklärt, weil sie den eigentlichen Menschen nicht zum
Vorschein kommen ließ. Einen Glauben aber hatten selbst
die Brüder Bauer noch nicht abgestreift : die ,, Kritik" war ,,die
Priesterin des Denkens" gebheben. Den Glauben an die
0 Die Heilige Familie oder Ej'itik der kritischen Kritik. Gegen Bruno
Bauer und Konsorten (geschrieben September bis Dezember 1844), neu ab-
gedruckt bei Mehring, Gesammelte Schriften von Karl Marx u. Friedr. Engels
(1841—50), Bd. II, Stuttg. 1902. Vgl. bes. S. 103, 114, 133, 178 ff., 184 ff.,
268, 271. Wir beschränken uns hier wie in der ganzen Abhandlung nach
Möglichkeit auf den parteipolitischen Gesichtspunkt und berücksichtigen die
philosoj^hische Entwicklung, die bekannt ist, nur soweit das Verständnis des
Zusammenhangs es erfordert.
^) Nicht viel anders urteilte übrigens auch Stirner über die Flucht der
Brüder Bauer ,,in ihr Kämmerlein". Vgl. Der Einzige und sein Eigentum, S. 374.
') Sass, Berlin a. a. 0. S. 176 f.
88 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl, Preußen.
Heiligkeit des Geistes und an die Hoheit des Ideals der
Menschheit hatten sie sich noch bewahrt. Stirner blieb es vor-
behalten, die Selbstauflösung der Hegeischen Philosophie zu voll-
enden, indem er den Glauben an den Geist, ebenso wie den
Menschheitskultus Feuerbachs als Überbleibsel des Christentums
enthüllte ^) und in den Orkus schleuderte. Der Interesselosigkeit
der ,, Kritik" setzte er den nackten sensualistischen Egoismus
entgegen, der abstrakten Anschauung das verlangende Ich.
Aber schon hellsichtige Zeitgenossen fühlten heraus, daß dieses
Ich nicht der empirische Mensch war, der mit Notwendigkeit
in der Gesellschaft lebt, sondern bloß eine Verpflanzung des
Bauerschen absoluten Selbstbewußtseins in die materielle Sphäre ^).
In der ,, Kritik", von der er übrigens mit Achtung sprach, erkannte
Stirner die letzte Vollendung der religiösen Welt. Er aber er-
teilte ,,mit einem Recken der Glieder" dem Gedanken überhaupt
den Abschied. Er wollte die ,, lange Nacht des Denkens
und Glaubens" beenden^).
In der Ablehnung des Hegeischen Panlogismus berührte
sich sein ,, Einziger^' trotz der Verschiedenheit des Ausgangs-
und Zielpunktes mit Marx und Engels: ,,Der theoretische
Kampf", schrieb er gegen die Bauers, „kann nicht den Sieg
^) Der Einzige und sein Eigentum. Die erste Auflage erschien anonym
in Leipzig, November 1844. Wir zitieren nach der Eeclamschen Ausgabe.
S. 206: „Die menschliche Religion ist nur die letzte Metamorphose der
christlichen Religion", S. 211: „Der Mensch das Ende und Ergebnis des
Christentums."
^) Für die Art, wie Stirner sich Bauers „Selbstbewußtsein" philosophisch
auslegte, ist charakteristisch sein bisher nicht beachteter Aufsatz „Marheinekes
Separatvotum" in der Beilage der Leipz. AUg. Ztg. vom 31. Mai 1842. Von
zeitgenössischen Kritikern Stirners kommen für den mehr politischen Zusammen-
hang, der uns hier interessiert, besonders in Betracht: Marx-Engels-Heß,
Sankt Max a. a. 0. [erst nach Jahrzehnten in den Dokumenten des Sozia-
lismus gedruckt]; M.Heß, Die letzten Philosophen, Darmstadt 1845, (Bauer
müßte konsequent lehren: werdet Pflanzen! Stirner: werdet Tiere!);
Franz Schmidt in Deutsch. Bürgerbuch für 1846, vergleiche a. a. 0.;
Dronke behandelt im zweiten Band seines Buches „Berlin", Frankfurt
1846, auf S. 115 ff. B. Bauer und Stirner als philosophische Possenreißer
und Übermenschen, die das Leben unbeachtet lassen darf, da sie über
dem Leben stehen wollen. Der schlesische Poet Th. Opitz, ein Verehrer
Bruno Bauers, entdeckte in seiner Schrift: Bruno Bauer und seine Gegner,
Breslau 1846, daß Stirner die geheimsten Gedanken Bruno Bauers ver-
rate. Vgl. auch Stirners Erwiderung an Heß in Wiegands Vierteljahrs-
schrift, 1845 m. (Heß' „wirklicher Mensch" sei ein Begriff, also kein wirk-
licher Mensch.)
') a. a. 0. S. 174 und 175.
Mayer, Die Anfänge des pol it. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 89
vollenden, und die heilige Macht des Gedankens unterliegt der
Gewalt des Egoismus. Nur der egoistische Kampf, der Kampf
von Egoisten auf beiden Seiten, bringt alles ins klare ^)." Aber
Stirner hatte die Idiosynkrasie, allen Idealen und jeder Auto-
rität den Heiligenschein abreißen zu wollen. Den Egoismus
im engsten Sinne proklamierte er als die allein wirksame
Kraft in der Geschichte und begründete Recht und Gesetz völlig
auf das Machtverhältnis zwischen den Individuen 2). Wie er nur
den Einzelnen kennen will und in allen Zusammenfassungen
,, höhere Mächte", in Allgemeinheit, Familie, A^olk, Staat, Mensch-
heit Spuk und Gespenster sieht, so lehnt er auch die Partei
ab, weil sie ,, gewisse Prinzipien bindend macht". Wohl dürfe
der ,, Eigene" gelegentlich Partei ergreifen, aber nie sich von
der Partei ergreifen und einnehmen lassen, denn die Partei
verlange ein Glaubensbekenntnis, der ,, Egoist" aber dürfe
keinerlei Verpflichtungen respektieren ^) .
Daß Stirners Einziger eine unwirkHche Konstruktion war,
daß sie nur in einem Lande ohne öffentliches Leben, nur in
einem Menschen, dessen Beziehungen zur Wirklichkeit auf ein
Minimum reduziert blieben ^), entstehen konnte, erkannte nie-
mand deutlicher als Marx und Engels, deren Begriffswelt sich
in der bewegteren Luft des französischen und englischen Lebens
rasch aus den letzten Hüllen der Spekulation gelöst hatte. Im
frischen Besitz der Erkenntnis, daß die politischen Ideen die
realen Interessen sozialer Klassen in idealistischer Form zum
Ausdruck bringen, fühlten sie sich erhaben über den Berliner
Schulmeister, ,, dessen Welt von Moabit bis Köpenick geht und
hinter dem Hamburger Tor mit Brettern zugenagelt ist"^). Der
vereinsamende und ,,auf sein kleines Tun" beschränkte Literat,
ohne Kenntnis der Vergangenheit und Gegenwart der Gesell-
schaft, ignorierte die großen sozialen Realitäten und empfand.
0 a. a. 0. S. 177 und 302.
') a. a. 0. S. 220 f.: „Wer die Gewalt hat, der hat — Eecht" (S. 225).
,,Des Staates Betragen ist Gewalttätigkeit, und seine Gewalt nennt er
,Recht' . . ." (S. 230).
*) a. a. 0. S. 274 ff. und 358.
*) Marx-Engels, Sankt Max (verf. 1845/46 unter Mitarbeit von Heß).
Zuerst gedruckt in Dokum. des Sozialismus Bd. III S. 1 ff. Vgl. besonders die
Ausführungen in Bd. IV S. 214 f., wo die „abgeschmackte kleinbürgerliche
deutsche Form", in der Stirner ,,den Widerspruch der persönlichen und all-
gemeinen Interessen erfaßt", kritisiert wird.
') Sankt Max a. a. 0. Bd. IV S. 267 f.
90 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismns im vormärzl. Preußen.
wenn er Abend für Abend in einem stillen Keller allein sein Weiß-
bier schlürfte, schließlich nur noch die eigene Wirklichkeit. Auch
der „Verein der Egoisten", dessen Konturen Stirners Werk ver-
schwommen zeichnet, bedeutete für Marx und Engels bloß die
Spiegelung des Kreises der ,, Freien", dem sie selbst vorübergehend
zugehört hatten. Stirner begriff richtig, daß die reale Entwick-
lung es nicht mit losgelösten Ideen, sondern mit Menschen zu
tun hat, aber in seiner ,, Besessenheit" übersah er, daß die
persönhchen Interessen den Personen zum Trotz immer wieder
zu gemeinschaftlichen Interessen zusammenfließen, die dem ein-
zelnen selbständig gegen übertreten und als allgemeine Inter-
essen dem Bewußtsein in idealer Gestalt erscheinen^). So spot-
tete in Stirner der Geist seiner selbst und wußte es nicht !
Bei dem Abstieg der deutschen Lebensauffassung vom
Himmel auf die Erde, den die vorstehende Abhandlung schildern
wollte, blieb der philosophische Radikalismus der Berliner Jung-
hegelianer, wie das Beispiel Bauers und Stirners zeigt, zwischen
den Wolken hangen und fand den Weg nicht auf unsere Erde,
von der doch immer wieder im endlosen Wechsel die Wünsche
der Menschen wie die Dämpfe des Bodens nach oben steigen.
Aber diese Bestrebungen verdienen dennoch einen Platz in
der Vorgeschichte des Parteiwesens. Hier spiegelt sich für die
allgemeine Erkenntnis mit seltener Klarheit, wie Willenskraft
und Inhalt und Form des Denkens in Tiefen der Seele, die
das Lot des Historikers nicht erreicht, einander bestimmen.
Der Historiker Preußens insbesondere erkennt, daß hier der
politische Parteimensch entstehen oder wenigstens Selbstän-
digkeit gewinnen konnte erst nach der Zurückdränguug der
spekulativen Philosophie durch die realeren Bedürfnisse des
irdischen Menschen. Erst mußte das Gefülil der führenden
Schichten die Überschätzung einer hemmungslosen und schein-
bar von den Schlacken der Individualität abgelösten Dialektik
überwinden und den ethischen Wert der Hingabe des Subjekts
an zeitliche Aufgaben sich von neuem erobern, bevor der Wille
der Nation für die Tat reif werden konnte. Als die Brüder
Bauer und ihr Kreis, nach dem vorläufigen Sieg der Reaktion
im Januar 1843, das Denken noch einmal von den Bedürfnissen
des Tages abzulenken trachteten, folgten ihnen die Gebildeten,
0 Sankt Max in Bd. IV S. 214. Älmlich Franz Schmidt, Die deutsche
Philosopliie in ihrer Entwicklung zum SoziaUsmus, in Deutsches Bürgerbuch
für 1846, herausgeg. von Püttmann. Mannheim 1846.
llayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 91
die unaufhaltsam zur politischen Selbstbestimmung drängten,
nicht mehr auf diesem Wege. Jetzt zeigte es sich, daß die
Deutschen Jahrbücher und die Rheinische Zeitung trotz ihres
zeitlichen Mißerfolgs nicht in den Wind gesät hatten. Denn
die dort verkündeten Gedanken eroberten nun von Jahr zu
Jahr mehr die öffentliche Meinung. Freilich, den ,, freien Volks-
staat", das Ideal des politischen Radikalismus, konnte die
Revolution von 1848 noch nicht verwirklichen. So leicht und
schnell weicht das feste Gefüge bestehender Einrichtungen
nicht dem aufschäumenden Begehren erst entstehender Kräfte !
Aber auch der rücksichtslosen Gew^alt der Gegenrevolution
gelang es nicht wieder, das preußische Parteiwesen auf den
Standpunkt des Vormärz zurückzuschrauben, wo jede Organi-
sationsmöglichkeit ihm gefehlt hatte!
Anhang
Eine unbekannte Broschüre Stirners und ein ungedrucktes
Programm der „Freien"
I.
Das ,,Gegenwort"
Vorbemerkung
Da die preußischen Zeitungen, wie wir sahen, im Vormärz das Inter-
essanteste, was sie erfuhren, der Mitwelt nicht offenbaren durften, so war
jeder Politiker, der nicht selbst am Sitz der Eegierung wohnte, aber doch
auf dem Laufenden bleiben wollte, darauf angewiesen, von Berliner Gesin-
nungsgenossen regelmäßige briefliche Berichte zu erhalten. Für Johann
Jacoby, in dem die Zeitgenossen den geistigen Führer der ostpreußischen
Opposition sahen, bedeutete sein Landsmann, der Oberlandesgerichtsreferendar
Eduard Flottwell in den Jahren 1841 und 1842 eine besonders wertvolle Quelle.
Dieser älteste Sohn des bekannten preußischen Staatsmanns war ein begeisterter
Liberaler. Schon bei derEinschmuggelung der „Vier Fragen'' in den preußischen
Provinziallandtag zu Danzig hatte er die Hände im Spiel gehabt. Jetzt
benutzte er die Zeit, die er des Assessorexamens wegen in Berlin verbringen
durfte, um das politische Leben der Hauptstadt gründlich kennen zu lernen.
Als Sohn seines Vaters besaß er Fühlung mit dem hohen Beamtentum, aber
als Anhänger der modernen Zeitbestrebungen suchte und fand er auch bald
Anschluß bei dem Kreis der „Freien", in dessen Mitte er sich an der Mani-
festation für Welcker beteiligte. Wohl durch Dr. Julius Waldeck, den Vetter
92 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
Jacobys, lernte er im Sommer 1841 Meyen und Eichler kennen. Bald ver-
kehrte er auch mit Eutenberg, Bruno Bauer, Cornelius, Koppen, Stimer,
Fr. Engels u. a. Für die Parteigeschichte ist Flottwell insofern von Interesse,
als er der Mittelsmann war, durch den die Rheinische Zeitung mit den ost-
preußischen Liberalen in Beziehung trat und um. ihre Mitarbeit warb. Für
uns kommt er an dieser Stelle aber nur als eine neue und bisher unbenutzte
Quelle der Stirner-Forschung in Betracht.
Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Biographie Johann Caspar Schmidts
äußert John Henry Mackay, der seit Jahrzehnten allen Spuren von Stirners
Erdenwallen mit rührender Gewissenhaftigkeit nachgeht, die Überzeugung,
daß er bis zu den verstecktesten Quellen dieses verschollenen Lebens vor-
gedrungen sei und neue und überraschende Entdeckungen auch von der
Zukimft nicht mehr erwarte. Nun hat der Zufall, dieser beste Freund des
Historikers, mich in die Lage gebracht, seinen Pessimismus widerlegen zu
dürfen, und gewiß wird sich niemand aufrichtiger darüber freuen, als der
hingebende Forscher selbst ! An der Hand von Flottwells Briefen an Jacoby
ist es mir gelungen, eine bisher gänzlich unbekannte Broschüre Stirn ers auf-
zufinden, das bereits im Text der vorstehenden Abhandlung berücksichtigte
„Gegen wort".
Flottwell beklagte sich am 12. März 1842 bei Jacoby über die Ängstlich-
keit des zeitweise suspendiert gewesenen, nun aber wieder eingesetzten
Dr. Abegg, des liberal gesinnten Zensors der Königsberger Zeitung: ,,Wenn
er nur wenigstens nicht die Aufsätze verstümmeln möchte, wie er es
neuerlich mit einem f Artikel der Königsberger Zeitung getan hat^), welcher
zum Schluß, als Pointe des Ganzen, des Gegen wortes gedachte, und nun
sich wie der Rhein spurlos im Sande verläuft. Verfasser des Gegenwortes
ist übrigens Dr. Schmidt, ein Mitglied des ehemals Rutenbergschen, jetzt
völlig republikanischen Kreises . . ." Dieser „Dr." Schmidt ist natürlich kein
anderer als Stirner, der sich im Feuilleton der Rheinischen Zeitung einmal
darüber beschwert, daß man durch die Promotion zu einem wohlklingenderen
Titel gelange als durch das schwierigere Staatsexamen^). Wohl aus Geldmangel
') Gemeint ist die Berliner Korrespondenz vom 3. März in der Königsb.
Ztg. vom 9. März.
') Rhein. Ztg., 20. September 1842: Der Doktortitel. In bezug auf
Stirn ers journalistische Beiträge für die Rhein. Ztg. und die Leipz. Allg. Ztg.
vergleiche man im Feuilleton der Frankf. Zeitg. vom 4. Oktober 1912 meinen
Aufsatz: Stirner als Publizist. Den Korrespondenzen für die Rhein. Zeitg.
ist, soweit sie nicht, was selten geschah, mit seinem Namen unterschrieben
sind, ein Zeichen vorgedruckt, das aus der Verschlingung der Buchstaben
Mund S besteht (MS = Max Stirner). Eine genaue Untersuchung sämtlicher
Berliner Korrespondenzen des Blattes, bei denen sich vielfach jetzt der Ver-
fasser urkundlich feststellen ließ, und besonders der Inhalt der mit MS ge-
zeichneten, lassen nicht den geringsten Zweifel, daß dieses Monogramm in der
Regel, denn einige Versehen oder absichtliche Irreführungen liegen vor,
Stirners Korrespondentenzeichen war. So beschäftigt er sich z. B. in der
Nummer vom 10. Mai mit dem Verein zur Beförderung der Sonntagsruhe
und mit der traurigen Lage der Schullehrer, in der Nummer vom 26. Juli
mit den Privilegien der akademisch Graduierten usw. Was Stirners Bei-
träge für die Leipz. Allg. Ztg. betrifft, so verdanke ich deren Nachweis Herrn
Dr. Hermann Michel in Leii^zig, der das Kontobuch und das Zeitungsexem-
plar der Firma Brockhaus, in dem die Verfasser der Artikel mit Bleistift
danebengeschrieben sind, einsehen konnte. Stirners Beiträge tragen teilweise
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 93
hatte er den Doktortitel nicht erworben; aber wie die meisten Lehrer noch
heute, wTirde man auch damals — gelegentlich selbst von der Polizei — mit
diesem Titel angeredet. Zweifelte ich so von vornherein nicht, daß Stimer
das ,, Gegenwort" geschrieben hatte, so wußte ich darimi doch noch nicht,
was es mit diesem „Gegenwort'' auf sich hatte. Wo war es gedruckt? Wie
war es zu finden? Erst nach langem Forschen entdeckte ich den Titel einer
Broschüre, die dieses Wort enthielt, im Katalog der Friedländerschen Samm-
lung der Berliner Magistratsbibliothek. Als ich sie gelesen hatte, bestand
kein Zweifel mehr: ich hatte gefimden, was ich suchte.
Auf die zeitgeschichtliche Bedeutung des ,, Gegenworts" brauche ich hier
nicht noch einmal zurückzukommen. Erwähnt sei höchstens noch die Gegen-
schrift: Ein Wort gegen Wort und Gegenwort in der Berliner Sonn-
tagsangelegenheit. Von einem prakt. Geistlichen. Glogau 1842, welche die
„rückhaltlose Offenheit und kecke Freimütigkeit" des ,,Gegenworts" anerkennt,
aber ,, sittlichen Ernst und Gemütslauterkeit" bei ihm vermißt. Ihr Ver-
fasser weist auch darauf hin, daß im „Gegenwort" die Begriffsbestimmung
des „wahrhaft Menschlichen" „schwankend und willkürlich" sei ').
Da das ,,Wort der Liebe" am Neujahrstage 1842 verteilt, das „Gegen-
wort" aber bereits am 3. Februar polizeilich verboten wurde, so besteht kein
Zweifel, daß es im Laufe des Januar, wahrscheinlich in der ersten Hälfte des
Monats, entstanden ist. Nächst der in dem gleichen Januar gedruckten Be-
sjsrechung von Bruno Bauers schon im November erschienenen „Posaune des
jüngsten Gerichts" in Gutzkows Telegraph stellt die Broschüre also die fi-üheste
bisher bekannt gewordene Veröffentlichung des Verfassers dar. Für die Bem--
teilung von Stirners geistigem Entwicklungsgang ist dieses ., Gegenwort" von
der höchsten Bedeutung. Wir finden ihn hier deutlicher als irgendwo sonst unter
dem Einfluß Feuerbachs, aber doch bereits in einem Prozeß, der von dessen
Humanismus zu dem konsequenten Egoismus des „Einzigen" hinüberführt.
Auch in seiner Besprechung der „Posaune" las er schon aus Hegel die
Lehi-e heraus: „daß niemand außer und über sich das Heil zu suchen habe,
sondern sein eigner Heiland und Erretter sei" und bekämpfte den „be-
wegungslosen Gott" der Orthodoxie und Schleiermachers: ihn will er „zur
Leiche machen". Sonst steht dem ,, Gegenwort" zeitlich und inhaltlich am
nächsten die vier Monate später in der Eheinischen Zeitung veröffentlichte
Artikelfolge: „Das unwahre Prinzip unserer Erziehimg oder der Humanismus
und der Realismus"^).
das Vermerk „Schmidt-Friese", teilweise „Gymnasiallehrer Schmidt". Daß
beides die gleiche Person gewesen sein muß, ergibt sich daraus, daß die Konti
ineinander übergehen. Ob Friese ein Strohmann oder ein Mittelsmann war,
weiß ich nicht. Stirners Honorar betrug im ganzen 55 Thaler 22V2 Neu-
groschen. Sein Korrespondentenzeichen war hier am häufigsten ein kleiner
Kreis. Neben dem urkundlichen Beweis liegen auch inhaltliche für seine
Verfasserschaft vor, wie mein Aufsatz in der Frankf. Ztg. nachweist. Sach-
lich am bedeutendsten sind von den größeren Aufsätzen: „Die Freien" in
Beilage vom 14. Juli und „Die Lebenslustigen" in Beilage vom 5. Nov. 1842.
^) Die Vereinsagitation für die Sonntagsfeier lehnt dieser Geistliche
übrigens ebenso ab wie sein Kollege H. W. A. Schnur in Mühlhausen in seiner
Schrift: Die Sonntagsfeier. Ein Wort an seine Zeitgenossen. Königsberg 1843.
^) Abgedruckt in Stirners kleineren Schriften, herausgeg. von Mackay.
Berlin 1898.
94 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
Bei dem Zweck, dem das Gegenwort dienen sollte, wäre es nicht an-
gebracht gewesen, wenn der Verfasser sich hier offen als Atheisten und Anti-
christen ausgegeben hätte. Wie jemand, der die Fäden eines Knäuels aus-
einanderwirrt, aber sorgfältig bemüht ist, sie nicht zu durchschneiden, sagte er
deshalb hier : „Gott ist mein bestes Teil, mein innerstes Wesen, mein besseres
oder vielmehr bestes und wahres Selbst. Gott ist der Mensch, das ist die
Lehre Christi." Aber er gibt dem „Selbstgenügen des freien Menschen" noch
deutlicheren Ausdruck: Wie sollen wir uns mit einem Gott begnügen, der
nicht unser eigenes selbst ist? Könnte man mit ihm jemals eins werden?
Nur mit uns selbst können wir eins und einig werden, nicht mit einem andern.
Deshalb „schleudert die Demut von Euch , die einen Herrn braucht, und
seid Ihr selbst" '). Noch eine Hülle mehr löst der Verfasser von seinen
innersten Gedanken, deren er sich selbst kaum erst bewußt ist. Wo er den
Geistlichen offen zugibt, daß mit der Gottesfurcht auch die Ehrfurcht vergeht,
beklagt er dies nicht, sondern läßt durchblicken, daß er die Selbstsucht
höher werte als Zucht und Sitte. Er beneidet die auf den Bibelbuchstaben
vereidigten „Diener am göttlichen Worte", weil sie die Erlaubnis haben, auf
das enge Verhältnis von Ehrfurcht und Gottesfurcht hinzuweisen : „wir aber,
die wir reden möchten, wie's uns ums Herz ist und wie's allen ums
Herz sein sollte", haben „nur das Gebot — zu schweigen".
Al)er man hüte sich, diese eine Andeutung zu sehr auszunutzen. Noch
ist Stirner sich über den Amoralismus oder Antimoralismus, bei dem er landen
wird, nicht klar geworden. Noch ist ihm das rein Menschliche, wie Feuer-
bach es gefaßt hatte, wirklich und allein das wahrhaft Göttliche, noch sind
für ihn Sittlichkeit und Vernünftigkeit die Forderungen der Zeit, noch
nennt er es die Aufgabe der freien Geistes, zu forschen „in den Tiefen der
Gottheit", noch erklärt er dem Gedanken Saint Simons von einem neuen
Christentum der befreiten Menschheit nicht förmlich den Krieg!
Tiefer als früher überschauen wir künftig den inneren Entwicklungsgang
Stirners. Bevor der Glaube an die Menschheit und ihre Mission sich ihm
als ein bloßer „Herrenwechsel" im Götterkultus enthüllte, war er selbst in
diesem Bann befangen, bevor er sich gegen die Herrschaft des Geistes als
der vollendetsten Form der Eeligion aufbäumte, befand er sich unter ihren
Gläubigen. Diese letzten Symbole hat er nicht gestürzt, bevor er mit heißem
Bemühen sie in seine Sprache zu übersetzen, sie in seinem Geiste aus-
zulegen versucht hatte.
Die beachtenswerteste zeitgenössische Äußerung, die ich über das
„Gegenwort" kenne, stammt von Stirners nächstem Freunde, von Ludwig
Buhl. Dessen einige Wochen nach dem „Gegenwort" ebenfalls anonym
veröffentlichte und ebenfalls gleich beschlagnahmte Broschüre „Die Not der
Kirche und die christliche Sonntagsfeier. Ein Wort des Ernstes an die
Frivolität der Zeit" legt mit scheinheiligem Unwllen dem „Gegen wort" unter,
daß es hinter den Angriffen auf die Eeligion „politische Umwälzungssucht",
hinter den Worten ..Knechte und Freie" die politischen Schlagwörter
„sozial und liberal" verberge: „Wenn sie nur erst Gott gestürzt haben,
denken sie mit seinen Stellvertretern auf Erden auch wohl schon fertig zu
werden." Aber dieser Gedanke, der selljstredend auch Stirner nahe lag, ent-
entsprach doch noch mehr dem Denken Buhls, der damals voll Eührigkeit
0 Auch in dem gleichzeitigen Aufsatz im „Telegraph" will er „alle
und jede Furcht" ausrotten, „die Ehrfurcht selber und die Gottesfurcht".
Mayer, Die Anfänjje des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 95
an dem ersten großen Feldzug des preußischen Liberalismus teilnahm und
auch später ein spezifisch politischer Publizist blieb. Für Stirner lag sicher-
lich in dem Kampf gegen die Religion mehr Selbstzweck, als Buhl annahm,
Wohl schrieb auch er für die Erkämpfung der Preßfreiheit; doch wurde er
selbst in diesem Jahr der liberalen Hoffnungen nicht in dem Maße Politiker,
daß seine Ideale sich auf diese Sphäre beschränkten. Dem „Schrankenhasser",
als den Engels ihn im „Triumph des Griaubens" porträtiert, war die theo-
retische Absetzung jeder Autorität wesentlicher als der praktische Erfolg
der liberalen Opposition.
Auf die Gedankenwege, die von Feuerbach zu dem „Einzigen und sein
Eigentum" führen, wirft auch Buhls bisher ebenfalls kaum beachtete „Not
der Kirche" neues Licht. Er beruft sich hier ausdrücklich auf das Wort des
„Himmelsstürmers" Feuerbach: „So weit Dein Wesen reicht. Dein unbe-
schränktes Selbstgefühl, so w^eit bist Du Gott." Dieser „Ich-Gott" sei freilich
ein Gott, der mit sich reden lassen werde. Sollte aber trotzdem zuweilen
das Gewissen noch mahnen, „so setzen wir auch ihn ab und leben wie die
Tiere des Waldes".
Sind das vielleicht im Gespräch aufgefangene Stirnersche Gedanken?
Möglich wäre es ! Am Schluß einer kürzlich erschienenen ernsthaften kleinen
Schrift') über Stirners „historisches Denken" vermißt der Verfasser in der
vorhandenen Literatur jede Vorarbeit für die Beantwortung der Frage nach
dem Verhältnis des „Einzigen" zu den anderen Denkern der Hegeischen
Linken. Unter dem Gesichtspunkt der politischen Entwicklung glaube
ich in der vorstehenden Abhandlung ühev den Radikalismus dieses Problem ge-
fördert zu haben. Für die Zukunft erleichtert dem Historiker der Philosophie
die Wiederauffindung von Stirners frühester selbständiger Schrift, deren Ab-
druck hier folgt, die Lösung der Aufgabe, das geistige Eigentum der führenden
Berliner Junghegelianer deutlicher als es bisher möglich war abzugrenzen.
Das sich überstürzende Tempo, in dem die Selbstauflösvmg der spekulativen
Philosophie sich schließlich vollzog, auch der enge persönliche Verkehr der
wichtigsten Vertreter, den man als eine ständige gegenseitige Beeinflussung
auslegen kann, macht diese Arbeit zu einer ungemein schwierigen. Eines
ihrer Ergebnisse läßt sich mit Sicherheit voraussehen: es wird sich dann
endgültig herausstellen, wie innig Stirners Gedankengänge mit denen Bruno
Bauers, Köppens, Buhls, Edgar Bauers usw. zusammenhängen, und wie längst
nicht alles von ihrem Inhalt Eigentum des „Einzigen" ist. Aber den Ruhm
des bedeutendsten Schriftstellers des Ki-eises wird ihm niemand streitig
machen. Vielleicht verdient in dieser Hinsicht unter seinen Schriften die
Palme gerade diese frühe Arbeit, die hier ans Licht tritt. Mir scheint, daß
man sie getrost unter die klassischen Kampfschriften der deutschen Literatur
einreihen darf.
^) Horst Engert, Das historische Denken Max Stirn ers, Leipzig 191L
96 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vonnärzl. Preußen.
Gegenwort
eines
Mitgliedes der Berliner Gemeinde
wider die Schrift
der sieben und fünfzig Berliner Geistlichen :
Die christliche Sonntagsfeier,
Ein Wort der Liebe an unsere Gemeinen.
Leipzig, 1842.
Eobert Binder.
Liebe Brüder und Schwestern!
Es ist ein Wort der Liebe an uns gerichtet worden, dem wir unsere
Ohren nicht verschließen dürfen. Am ersten Tage dieses Jahres wurde den
Kirchengängern Berlins ein Schriftchen im Gotteshause überreicht, das den
Titel führt: ,,Die christliche Sonntagsfeier. Ein Wort der Liebe an unsere
Gemeinen", und das uns alle gar nahe angeht. Fassen wir den Inhalt des-
selben bevor wir ihn später im einzelnen beherzigen, in die wenigen bezeich-
nenden Worte der zweiten Seite zusammen: „Da es unleugbar ist, daß sich
der Verfall der Kirche äußerlich am stärksten offenbart durch die Entweihung
der kirchlichen Feiertage, und daß die Glieder anderer Eeligionsgemeinschaften
an der Art, wie diese Tage unter uns begangen werden, den größten Anstoß
nehmen usw., so bieten wir unsern Gemeinen zunächst die folgende Schrift
„über die christliche Sonntagsfeier" dar, nicht meinend, daß diese Angelegen-
heit die höchste sei im Wesen der christlichen Frömmigkeit, sondern weil
wir glauben, daß für das Höchste, nämlich die christliche Wahrheit und Liebe,
eine größere Empfänglichkeit und eine erweiterte Tätigkeit ward gewonnen
sein, wenn die heiligen Tage ihrer ursprünglichen Bestimmung, nämlich der
Euhe von der Arbeit, der ernsten Einkehr in sich selbst, der Aufmerksamkeit
auf das göttliche Wort wiedergegeben werden." So werden wir von sieben
und fünfzig unserer evangelischen Geistlichen, deren Namen am Schlüsse
unterzeichnet sind, unverhohlen mit dem ,, Verfall der Kirche" bekannt ge-
macht und eines unkirchlichen Sinnes vmd Treibens angeklagt. Wer es bis jetzt
noch nicht hat glauben wollen, daß der Andächtigen immer weniger werden
und die christlichen Kirchen immer leerer, der erfährt die unwiderlegliche
Tatsache nun von deneü, welche ohne Zweifel die beste Auskunft darüber zu
geben vermögen. Sie rufen uns zurück in die verlassenen Sitze, mit väter-
licher Freundlichkeit die ungeratenen Kinder wieder zu sich winkend; wir
aber haben die gebannten Eäume der Kirche und die Grenzen andächtigen
Glaubens unbewußt überschritten und werden erst jetzt durch den mahnenden
Zuruf unserer unwillkürlichen Flucht gewahr. Laßt uns denn unseres jetzigen
Zustandes recht inne werden und das inhaltsschwere Wort, daß ,,der Verfall
der Kirche sich offenbare", nach allen Seiten gründlich erwägen, ohne vor
seinem Eingeständnisse zurückzubeben. Es nützet uns nichts so sehr, als
Offenheit gegen uns selbst, und schadet uns nichts mehr, als wenn wir aus
Angst eine unbestreitbare Tatsache vor uns selbst verbergen und von dem
nichts wissen wollen, was wir doch nicht ableugnen oder ändern können.
Sammelt, Ihr Lieben, dazu Euern Geist und vor allem Euern Mut!
Die uns zur Umkehr ermuntern, die erinnern uns erst daran, daß wir
wirklich schon über die alte Heimat hinaus und in der Fremde sind. Dank
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 97
ihnen, daß sie uns über unsern Fortschritt, an dessen Wirklichkeit zu glauben
wir uns noch nicht einmal getrauten, gründlich belehren. Sie rufen uns zu:
Ihr seid nicht mehr kirchlich gesinnt! Wenn wir es denn nicht mehr sind
(und lassen wir uns nicht durch Heuchelei und verzagte Ängstlichkeit be-
stimmen, so können wir uns gar nicht mehr darüber täuschen, daß jene
Beschuldigung uns in gewisser Beziehung vollkommen trifft), so fragen wir
uns unwillkürlich selbst: Was bist du nun denn? Und bist du darum
schlechter, weil du nicht mehr nach alter Art kirchlich bist?
Nun ja, der Vorwurf, in einer empfänglichen Stunde auf unser Gewissen
geschleudert, hat wohl die Macht, uns augenblicklich in Schrecken zu setzen
und eine Reue zu erzeugen, die für einige Zeit den guten Vorsatz, künftig
die Kirche gewissenhaft zu besuchen, hervon-uft. Aber wie lange dauert's,
so sind wir wieder die alten Sünder. So treibt ims denn die Reue zur Buße,
und die Langeweile der Buße wieder zur Sünde. Beklagenswertes Los derer,
die, mit ihrem eignen Tun, obgleich sie darin nur dem Zuge der Zeit folgen,
unzufrieden, sich doch nicht zu bessern vermögen. Sie haben die Kraft nicht,
gegen den Strom der Zeit zu schwimmen, und haben den Mut und Freiheitssinn
nicht, sich und ihr ruhiges Gewissen von seinen Fluten tragen zu lassen. Sie
möchten gerne fromme Christen sein, wenn es noch an der Zeit wäre, und
möchten auch gerne mit der Zeit gehen und mit ihrer augenscheinlichen
Gleichgültigkeit gegen das Christentum oder vielleicht auch nur wider ge-
wisse Äußerlichkeiten desselben, wenn nur der alte Glaube und die alte
Furcht nicht wäre. So aber schweben sie zwischen Himmel und Erde, zu
schwer, um zu steigen, und zu leicht, um zu sinken: ein verzweifelter Zu-
stand. Auf den Gewinn solcher Seelen ziehen denn die Seelsorger aus, und
sie werden deren viele einfangen. Aber auch wir müssen retten.
Siehe dort, ein kältezitternd Reh
Flüchtet vor den Wölfen durch den Schnee!
Laß es ein, damit es kann erwarmen!
Was in aller Welt macht uns denn so kalt und gleichgültig, was fehlt
uns denn? Eine Begeisterung fehlt uns, die den ganzen Menschen dm-ch-
glüht, die alle Zweifel des Gedankens und alle Verfühnmgen der Sinne in
ihrer reinen Flamme aufzehrt, die den Tod zur Auferstehung erklärt! Nach
einer solchen Begeisterung sehnen wir uns !
Weiß man Euch etwa für die Kirche so zu begeistern? Regt die
Predigt Eurer Geistlichen den Enthusiasmus in Euch auf, der freudig auf
die Wahlstatt des Todes zieht, predigen sie Euch ein neues Evangelium,
womit einst Luther die offnen Gemüter hinriß und die schlafsüchtige Welt
aus ihrer Ermattung aufrüttelte? Oder bedarf etwa Euer Gemüt keiner neuen
Offenbarung der Wahrheit? Seid Ihr, um nur an Eines zu erinnern, noch
immer zufi-ieden mit jener fatalistischen Hingebung, die lieber schweigsam
leidet, als sich Recht zu verschaffen nur versucht, und wird das Recht noch
immer nicht höher von Euch geachtet? Wollt Ihr noch immer nur gehorsam
sein auf Erden und frei erst im Himmel? Redet Euch das doch nicht ein;
Ihr handelt vernünftiger als Ihr glaubt. Nur bleibt Ihr Euch in Eurem
Handeln nicht beständig gleich, eben weil Ihr vom alten Glauben und seiner
Angst noch vielfältig berückt werdet. Sonst aber pflegt Ihr keine Gewalt
zu leiden, außer da, wo Ihr Euch fürchtet Euer Recht zu behaupten ; leider
aber fürchtet Ihr Euch gar oft und fallet von Eurem Rechte und damit von
Gott ab, bloß weil Ihr es buchstäblich nehmet, daß man die andere Backe
Zeitschrift für Politik. 6. 7
98 Mayer, Die Anfänge des polit. Kadikalismus im vormärzl. Preußen.
hinhalten solle, nachdem die eine geschlagen worden. Gut das, wenn Ihr
Eure persönliche Kränkung verzeiht ; Ihr veräußert aber auch aus demselben
Grundsatze Eure unveräußerlichen Eechte und lasset Euch behandeln wie
Kinder, wo Ihr das unvertilgbare Recht der Männer zu verwahren hättet,
laßt Euch bevormunden, wo es entehrendes Unrecht ist, nicht einen eigenen
Mund und eigene Rede zu führen, seid kriechend, wo Ihr Eurem Manne
stehen solltet, seid Maschinen, wo Ihr Geister sein solltet, die sich und andere
befreien.
Seid Ihr aber überhaupt noch so gleichgültig gegen das Reich dieser
Welt und nur sehnsüchtig nach dem Himmel, wie Eure Seelsorger Euch gerne
sehen möchten? Seid Ihr unempfindlich gegen die Dinge der Erde, um im
Himmel desto mehr zu haben? Wollt Ihr von Em-en Predigern nur hören,
was Ihr hier alles aufgeben sollt, um dort die Fülle zu empfangen; wie Ihr
Euch kasteien sollt und den Erdenfreuden entsagen, um im Himmel zu Gnaden
angenommen zu werden? Seid Ihr mit Einem Worte nur zukünftige Bürger
des Himmels und keine Bürger der Erde? Wenn Ihr aber auch das letztere
seid, wollt Ihr dann nicht Belehrung darüber erhalten, was dem Erdenbürger
gezieme? Steht ihm etwa nur die geduldige Sanftmut gut an, oder soll er
auch ein Mensch sein, der sich selbst fühlt und nicht gegängelt sein will,
wenn er seinen Weg allein zu verfolgen weiß? —
Laßt die Lehrer, die man Prediger nennt. Euch sagen dürfen, was des
Menschen Wert ausmacht, ohne daß sie sich gebunden sehen, nur in alther-
gebrachter Weise Euch vorzutragen, was den Christen ziert, und Ihr werdet
ihre Kirchen mit Eifer und Fi'eude besuchen. Der Grundsatz der Lelir-
freiheit sei ausgesprochen, und jeder freie Lehrer wird willige und un-
ermüdliche Zuhörer in Menge um sich versammeln ! Seid Ihr nicht Menschen,
ehe Ihr Christen seid, und bleibt Ihr nicht Menschen, auch nachdem Ihr
Christen geworden? Warum wollt Ihr denn bloß wissen, worin des Christen
Bestimmung und Beruf bestehe, warum nicht vor allem erfahren, was des
Menschen würdig ist? Weil Hir meint, wenn Ihr nur Christen seiet, so seiet
Ihr wahrhafte Menschen ! Ich will Euch das zugeben, daß Ihr den wahr-
haften Christen für so gleichbedeutend ansehen möget mit dem wahrhaften
Menschen. Auch so bleibt es Eure einzige Aufgabe, nach dem wahrhaft
Menschlichen zu fragen. Wie aber, wenn nun einmal das Christliche, wenig-
stens so wie es zurzeit verstanden und als Lehre geboten wird, nicht mit
dem rein Menschlichen in Eins zusammenfällt? Inwieweit dies gegenwärtig
der Fall ist, darüber muß ich ja auch schweigen, da ich der Lehrfi-eiheit
nicht genieße. Aber ich will Euch auf Luther verweisen. Was zu seiner
Zeit für christlich galt, das war unmenschlich und schlecht. Nahm er sich
nicht die Lehrfreiheit, die verbotene, dies Christliche in seiner Erbärmlichkeit
aufzuzeigen? Er stellte sich und der Welt die Frage, was denn das rein
Christliche sei? Ungehemmt forschte er darnach, und weil er das Biblische
dafür erkannte, so predigte er's ohne Scheu. Wie denn nun, wenn drei Jahr-
hunderte rastloser Forschung in den Tiefen der Gottheit uns darüber auf-
geklärt hätten, es sei auch, was so Biblisch heißt, noch nicht das Wahrhafte?
Sollen wir dabei beharren, auch wenn das Menschliche darunter litte? Sollen
wir uns aufs Christliche verpflichten, selbst mit Aufopferung des Menschlichen?
Sollen wir um jeden Preis und namentlich um diesen Preis Christen sein
wollen? „Der wahre Christ, das ist der wahre Mensch!" Wohl denn, so
lehret uns, was des wahren Menschen ist, so lernen wir wahre Christen sein.
Wir wollen vom Christlichen nichts wissen, wenn es nicht das Menschliche
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 99
ist. Lehret uns die Religion der Menschlichkeit! Müssen aber, diese Frage
entsteht uns hierbei sogleich, müssen die Prediger dieser erhabensten Religion,
gleich den heutigen Predigern der christlichen Konfessionen, verpflichtet
werden auf ein Symbol? Müssen sie in eine Vorschrift eingezwängt werden
Was hätten wir da gewonnen, wenn uns auch diese Religion um den freien
Lehrer betröge? Nein, das Menschliche ist nicht Das, was Andere erkannt
haben und ich ihnen glauben soll, sondern Das, was ich mit ganzer Seele
erfasse und mein eigen nenne. Ich bin kein ganzer, kein voller Mensch,
wenn ich andern nur glaube, was sie mir von meinem eigenen innersten
Wesen, von meinem Berufe und von dem Gotte, der in mir selbst wohnt,
erzählen und versichern; ich bin es nur, wenn ich es selbst erkenne, wenn
ich davon durchdrungen und überzeugt bin. Lasset nun den Lehrer mir
gegenüber stehen und seine gewichtigen Worte an mich richten; ich werde
ihnen folgen und, soweit sie mich überzeugen, sie zu meinem Eigentum
machen. Soweit sie mich aber nicht überzeugen, werden sie mir auch nicht
ein Glaubensartikel sein. Ich werde mich von nichts abhängig machen, was
ich nicht selbst bin oder wovon ich nicht bis ins Innerste durchdrungen
bin. Ist nun der Prediger gehalten, mir Glaubensartikel einzuprägen, oder
ist es sein Beruf, mich zu überzeugen, mich über mich selbst, über den Geist,
der in mir wohnet und göttlichen Ursprunges ist, dessen ich mir nur bewußt
zu werden brauche, zu belehren? Jener ist der Pfaffe, der gebieterisch
meinen Glauben verlangt, dieser der Mitbruder und Mensch, der mich nur
zu mir selbst führt, dessen gewiß, daß ich nie wieder von mir selbst lassen
werde, wenn ich mich einmal gewonnen und inne habe. Nur der ist mensch-
lich, der ganz in sich selbst ist, und der wahre Mensch wird dem ewigen
Geiste, wird Gott selbst ähnlich zu werden stets trachten: Gott ist ja mein
bestes Teil, mein innerstes Wesen, mein besseres oder vielmehr bestes und
wahres Selbst. Gott ist der Mensch, das ist die Lehi-e Christi; wer sich selbst
ganz besitzt, wer in das Heiligtum seines eigenen Wesens eingedrungen, wer
bei sich ist, der ist beim Vater. So lehrt uns Christus, daß wir Christen
sein sollen, und das ist seine wahre Wiederkunft, wenn in den Christen
Christus lebendig worden ist; dann erscheint der Christus wieder auf Erden.
Meint Ihr, das sei gotteslästerlich? 0 nein; der Gott, den uns Christi
Prophetenwort verkündet, der wiedergekommene Christus, wird damit ge-
feiert. Lasset Euch durch Eure Lehrer zu Euch selbst führen und ent-
wöhnet sie der abgebrauchten Redensart, als ob sie Euch zu Gott führen
wollten, und Ihr werdet sie mit Liebe hören. Allerdings führen sie Euch
zu Gott, wenn sie Euch zu Euch selbst führen, und der Ausdi-uck ist nicht
falsch; aber welcher Mißbrauch wird damit getrieben, und wie werden die
Gläubigen irre geführt! Gott ist, so lehren sie, außer Euch, eine andere
Person, Ihr vermöchtet ihm nicht in Euch einen Tempel zu errichten. Es
wäre ein andres, wenn Ikr Euch am besten dientet und wenn ihm, einem
fremden Herrn : ihm wolltet Ihr gefallen. Aus Knechten seid Ihr zu Kindern
worden, aber freie und mündige Menschen seid Ihr nicht. Den fin-
stem Herrn habt Ihr nur mit dem frevmdlichen Vater vertauscht, aber Geister,
die sich selbst aus freiem Antriebe zu Dienern Gottes machen, das seid Ihr
nicht. „Ihr sollt aber vollkommen sein, gleich wie Euer Vater im Himmel
vollkommen ist."
Ihr meint immer noch eine Religion haben zu müssen neben Euren
sonstigen Überzeugungen. Erkennet Euch, so erkennt Ihr Gott und die Welt,
liebet Euch, so liebet Ihr alle, suchet Euch, so sucht Ihr Gott, habt Euch,
100 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
so habt Ihr alles, trachtet im hohem Sinne zuerst nach Euch, so fällt Euch
alles andere zu. Nichts ist Euch so verborgen, als Ihr Euch selbst; nichts
kann Euch aber auch so offenbar werden, als Euer Selbst: und auch darin
offenbart sich Gott Eurem suchenden Geiste.
Und forschet nur in Euch nach, ob Ihr wirklich damit zufrieden seid,
wenn Ihr von Euren Predigern stets an Gott gewiesen werdet, an den Gott,
der nicht Euer eigenes Selbst ist. Könnt Ihr mit ihm jemals eins werden?
Nur mit Euch könnt Ihr eins und einig werden, nicht mit einem andern,
der Euch immer, auch in der innigsten Verbindung noch fremd bleiben muß,
ein Herr und Vater in unnahbarer Majestät. Schleudert die Demut von Euch,
die einen Herrn braucht, und seid Ihr selbst. Gesteht es Euch selbst, daß
Ihr das wollt, habt niu' den Mut, es Euch nicht länger zu verhehlen, fürchtet
Euch nur nicht, zu denken, was Ihr unbewußt doch tut; denn Ihr seid längst
nicht mehr gottesfürchtig nach alter Art, und Eure Geistlichen sagen es Euch,
daß Ihr den kirchlichen Sinn verloren habt. Ihr schlendert noch so in der
alten Gewohnheit hin und meint gute Christen zu sein; nehmt aber das Wort
Eurer Geistlichen Euch zu Herzen und lasset es nicht ungehört und unbe-
achtet verhallen: sie, die Eure berufenen Lehrer sind, verkündigen es Euch,
daß Ihr schlechte Christen seid. Ja, kommt dadurch zur Erkenntnis und
bekennet es fi-ei: Wir sind keine Gläubigen mehr! Wir glauben nicht ernst-
lich mehr an den alten Herrgott, und wenn wir nur wüßten, wie ohne ihn
die Welt hätte entstehen und bestehen können, so würden wir dieser ganzen
unbegründeten Voraussetzung nicht mehr bedürfen. Und wenn Ihr mit
diesem Selbstbekenntnisse die Last Eurer Selbsttäuschung abgeworfen und
Euch wenigstens offen gesagt habt, wie es um Euch und Euren Glauben steht,
so fordert für Eure Lehrer das freie Wort, die unveräußerliche Lehr-
freiheit. Ihr werdet schwerlich verlieren, was Ihr noch länger besitzen
möchtet, viel aber gewinnen, wovon Ihr in Eurer träumerischen Anhäng-
lichkeit am Alten nie zu träumen wagtet.
Lasset uns nun das vorliegende ,,Wort der Liebe an unsere Gemeinen"
ein wenig näher betrachten. Eure Seelsorger, „welchen das Amt des gött-
lichen Wortes anvertraut ist", wollen ein Wort des Ernstes und der Liebe
über die Feier unserer christlichen Sonn- und Festtage an Euch richten. Ver-
weilen wir einen Augenblick bei diesem ,, an vertrauten Amte des göttlichen
Wortes". Bedeutet es das Amt, ims zu lehren alles, was sie als wahr er-
kennen, fühlen und denken, uns sich selbst und die Wahrheiten zu offen-
baren, welche sie im ernsten Bemühen um die ewige Wahrheit gefunden
haben, oder ist es das Amt, die Bibel buchstäblich, treu und ohne Einmischimg
eines Urteiles zu erklären, und das Bibelwort als das göttliche Wort zu ver-
ehren? Niemand unter Euch kann zweifeln, daß ein christlicher Prediger
allein auf das letztere angewiesen ist. Aber auch nicht leicht wird einer
unter Euch anzutreffen sein, dessen andächtiges Gefühl nicht schon von
mancher Predigt aufs tiefste verletzt worden wäre, in welcher ein sklavischer
,, Diener am göttlichen Worte" durch alle möglichen Kvinststücke des Scharf-
sinnes solange am Bibelworte drehte und deutelte, bis ein leidlicher Sinn
herauskam. 0, es ist widerwärtig, dieses Deuteln an dem, was geschrieben
steht, an dem nicht gerückt werden soll, bloß weil es geschrieben steht;
daß der Seelsorger nur darum loben soll, nicht tadeln. Er ,,soll", wie es
im Schriftchen selbst heißt, „unseren Kindern das dritte Gebot einschärfen";
er soll! Seid Ihr, das fragt Euch selbst, seid Ihr damit zufiieden, daß man
Euch sagt: So steht es geschrieben! — seid Ihr beruhigt über Eure Zweifel,
Mayer, Die Anfänge des polit. L'adikalismus im vormärzl. Preußen. 101
sobald Ihr wisset, so und so laute die Bibel; gilt Euch etwas darum schon
für wahr, weil Ihr's im Testamente leset, und wollt Ihr nur die Schrift aus-
legen hören oder verlangt Ihr nach — der ewigen Wahrheit? Und wenn
Ihr darnach verlangt, genügt Euch da ein „Diener des göttlichen Wortes",
der auf die Bibel geschworen hat, geschworen. Euch nur biblische Lehren
beizubringen, geschworen. Euch seine abweichende Ansicht und seine Ein-
würfe zu verschweigen, — oder seht Ihr Euch nicht vielmehr nach einem
freien Lehrer um? Es ist wahrlich erhebender und göttlicher, einen
freien Menschen zu vernehmen, als anzuhören, wie ein Diener des Wortes
seine pflichtschuldigen und diensteifrigen Lobgesänge anstimmt, und lieber
lausche ich einem Sünder, der im Kampfe der Gedanken sich verirrt hat, als
neunundneunzig solcher Gerechten.
Doch für jetzt müssen wir ihren Worten weiter mit Aufmerksamkeit
folgen. Wir könnten uns durch den Beginn der Anrede geschmeichelt fühlen,
weil uns gesagt wird, „ein bedeutender Teil der evangelischen Einwohner
Berlins zeichne sich vor den Bewohnern anderer Ortschaften unseres Vater-
landes in der Begehung der Sonntagsfeier vorteilhaft aus", wenn wir nicht
die Eichtigkeit der Angabe sehr bezweifeln müßten und ohnehin der Jammerruf
über die „leeren Kirchen" bald nachschallete. Zuvörderst jedoch heißt es in
den Eingangsworten: „Es war eine gesegnete Frucht der schweren Drang-
sale, welche vor mehr als 30 Jahren unser Vaterland trafen, daß so viele
Herzen dem Gott, der uns geschlagen hatte, sich zuwandten, damit er uns
wieder heilen möchte." Der Gott, der uns geschlagen hatte, das war unser
besseres Selbst, das über den Rhein herüberkam und unsere mattherzige
Selbstsucht zerbrach; und wir wendeten ims ihm auch wieder zu, anfangs
freilich in taumelnder Frömmigkeit, endhch aber — und das ist die gesegnete
Frucht der 30 Jahre, ja die wahrhaft gesegnete! mit bewußtem, männlichem
Mute. — Jetzt erst, da wir ihn nicht mehr bloß in den Kirchen suchen,
haben wii- ihn noch mehr zu unserem Freunde gemacht.
Weiter wird uns gesagt : „Darüber sind ohne Zweifel alle ernste, ge-
wissenhafte Bewohner unserer Stadt und unseres Vaterlandes mit uns ein-
verstanden: ein Volk, das die Gottesfurcht verläßt, und von dem Höchsten
und Heiligsten, was es für die Menschen gibt, sich entfremdet, das ist auf
dem Wege, auch die irdischen Segnungen wieder zu verlieren, deren es sich
noch zu erfreuen hat." Wir, meine Lieben, sind ohne Zweifel auch ernste,
gewissenhafte Leute, und viele auch Bewohner dieser Stadt und dieses Vater-
landes ; allein sind wir damit einverstanden, daß die Gottesfurcht das Höchste
und Heiligste sei? Fürchten mag sich, wer vor einem Furchtbaren im Staube
kriecht; fürchten vor einem Mächtigen, wer nicht alle Macht über sich in
sich selbst hat; wir fürchten uns so wenig als unsere Altvordern, von
denen schon ein wackerer Römer sagte, daß sie sich gegen Götter und
Menschen sicher wußten. Als Christen sollten wir schon gelernt haben, Gott
nicht zu fürchten, sondern zu lieben. Allein sie wollen ja, daß er throne
bloß außer und über uns, mit aller Macht und Majestät bekleidet, vor der
ein ergebenes, nach Gnade dürstendes Gemüt immer auf den Knien anbetet
und nicht durch Handlungen, wie sie Menschen ziemen; einen Herrscher und
Herrn nicht zu fürchten, das heißt wohl das Unmögliche begehren. Aber
sie tun recht, daß sie ihn fürchten, die Gottesfürchtigen ! In ihm lebt doch
ihr eigener Geist schon hier, wenn er ein reiner ist, obwohl sie ihn noch,
verborgen wie er ihnen ist, im Jenseits suchen; bis sie zu sich kommen,
können sie ihn nur fürchten und lieben. Darum mögen wir ihnen auch
102 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
zugeben, daß alle, die ihr bestes Teil als Gott ins Jenseits geworfen, in
„kurzsüchtige Selbstsucht" verfallen, sobald sie die Gottesfurcht ablegen.
Zu fürchten darf ja nur der aufhören, der den Allmächtigen nicht mehr
außer sich, sondern in sich hat. Ja, wir bestreiten ihnen selbst nicht, daß
mit der Gottesfurcht auch die Ehrfurcht vergeht und „an die Stelle des
Gehorsams gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit und ihre heilsamen
Ordnungen , an die Stelle der milden und ernsten Zucht und Sitte des Hauses
und der Familie eine zügellose Willkür, eine stete Auflehnung gegen die
Schranken, die jeden in seinem Berufe umgeben, Unzufriedenheit, Mißmut
und Murren über sein Schicksal tritt;" wir bestreiten dies ihnen um so weniger,
als zwar die auf den Bibelbuchstaben vereidigten „Diener am göttlichen
Worte" die Erlaubnis haben, solches zu reden, wir aber, die wir reden möchten,
wie's uns ums Herz ist und wie's allen ums Herz sein sollte, nur das Gebot —
zu schweigen. Wahr aber ist es allerdings, daß die Selbstsucht in dem
Maße steigt, als die Gottesfurcht sinkt; denn es berühren sich ja allezeit die
Extreme und lösen einander ab, weil sie, obzwar feindliche Brüder, doch
eben deshalb die nächsten Verwandten sind.
Wir kommen nun an die Schilderung unserer Gottverlassenheit und
müssen sie wörtlich mitteilen als deutlichen Beweis dafür, wie klärlich unsere
Geistlichen den Verfall der Kirche einsehen. „Wir bemerken mit Schmerz,
wie so viele des großen Segens sich selbst berauben, den die wahre Ruhe,
die Ruhe von irdischen Mühen und Sorgen, die Erhebung der Seele zu Gott
an einem bestimmten, von Gott dazu festgesetzten Tage, uns gewährt. Ohne
einzelnen Ständen hier besonders nahe treten zu wollen, lasset uns nur daran
denken, wie die Reicheren und Vornehmeren ihre oft bis an den Sonntag-
morgen dauernden Vergnügungen jetzt vorzugsweise auf den Abend des Sonn-
abends verlegen und sich dadurch für jede ernste, heilige Beschäftigung am
Sonntagvormittag unfähig machen; wie so viele Beamte einen Teil ihrer Ge-
schäfte besonders gern am Sonntagvormittag besorgen; wie so viele Gewerb-
treibende und Handwerker öffentlich und in iliren Werkstätten den halben
Sonntag wenigstens arbeiten und erst am Nachmittage ruhen, wie man in
allen Berufs- und Erwerbszweigen gern wenigstens Nebenarbeiten am Sonn-
tage abmacht; wie das Kaufen und Verkaufen am Sonntage zu allen Stunden
fortgeht, außer wo die Obrigkeit es strenge ahndet. Welch' ein trauriges
Beispiel gibt Berlin hierin den nächsten Dörfern und kleinen Städten, deren
Einwohner, weil sie wissen, daß man hier ungescheut am Sonntage Handel
und Verkehr aller Art treibt, gerade an diesem Tage frühmorgens so zahl-
reich der Hauptstadt zuströmen, während die Gotteshäuser in den umliegen-
den Ortschaften leer stehen! Welch ein Ärgernis geben unsere Christen den
Juden in unserer Mitte, die, solange noch eine Spur von Gottesfurcht in ihnen
ist, ihren Sabbath nie auf solche Weise entheiligen. Und welch ein tiefer
Schmerz ist es besonders uns, Euren Seelsorgern, denen Ihr Eure Kinder zur
Konfirmation anvertraut, wenn wir diesen im Unterrichte das dritte Gebot
einschärfen sollen, zu dessen Übertretung so häufig das Beispiel der eigenen
Eltern und der nächsten Umgebung im Hause sie verleitet; oder wenn wir
sehen, wie Lehrlinge und Gehilfen aller Art fast allgemein Sonntagsvormittags,
ja bis in die späteren Nachmittagstunden arbeiten müssen, wo sie das Gottes-
haus nicht mehr besuchen können imd den schlimmsten Versuchungen aus-
gesetzt sind ! Wie viele Geschäftszimmer und Werkstätten gibt es wohl noch
in unserer Hauptstadt, welche alle Sonntagmorgen geschlossen sind? wie viele
Läden, welche den ganzen Tag über nicht geöffnet werden? wie viele Ma-
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen. 103
schinen, wie viele Stühle, welche den ganzen Sonntag stillstehen? Väter und
Mütter, Vormünder nnd Pfleger der Jugend, wie viele Eurer Kinder besuchen
wohl noch regelmäßig an Eurer Seite das Gotteshaus? wie viele hören wohl
noch, gerade in den gefahrvollsten Jahren, wo die Kichtung für ihr ganzes
Leben sich entscheidet, das Wort des ewigen Lebens, welches sie vom Wege
der Sünde abzieht und hier und dort sie zu seligen und Gott wohlgefälligen
Menschen macht?'' — Und angesichts dieses erschreckenden Bildes geht Ihr
noch nicht in Euch, Ihr Geistlichen, und fragt Euch, ob die Schuld nicht an
Euch liege? Greift doch in Euren Busen und erkennt, daß an dem Tisch
der Knechte kein Freier sich setzen mag! — Mancherlei hätten wir über das
Voranstehende zu sagen, wie wir freilich fast in jedem Worte des Schriftchens
reichlichen Stoff zu Bemerkungen fänden; für die gewählte Kürze mag es
genügen, auf eine Stelle aufmerksam zu machen. Welch wunderliches Zeugnis
legen unsere Geistlichen von ihrer Bildung ab, indem sie uns zurufen: Schämet
Euch doch vor den Juden und seid — wie die Juden! Jeder gleißende
Grund muß herhalten, wenn es gilt, die christlichen Gemeinen zu — über-
reden. Wenn die Juden „ihren Sabbath nie auf solche Weise entheiligen",
so sollten wir das doch für einen Beweis ansehen, daß ihren Bedürfnissen in
den Synagogen eine bessere Befi-iedigung zuteil wird, als unsere Geistlichen
unseren Bedürfnissen zu gewähren verstehen oder — wagen. Lasset sie den
Gemeinen nur statt der eingelernten Litanei ein freies Wort bieten, wie es
aus einer frischen Seele und einem lebendigen Geiste kommt, und sie sollen
Wunder sehen, wie sich ihre Kirchen trotz der Synagogen füllen werden. Sie
irren sehr, wenn sie wähnen, wir hätten unser Heiligstes abgeworfen und
strebten nur nach vergänglichem Tand ; wir mögen nur ihre gefesselten Reden
nicht und fliehen die Kutte, unter der nur ein demütiges, kein mutiges Herz
schlägt, und das salbungsreiche Gelispel, das sich nie zum seelenvollen Laute
erhebt, zum offenen Worte eines furchtlosen Geistes.
Es werden weiterhin die Gründe für die Sabbathfeier angegeben, und
da die allbekannten durch keine neuen vermehrt werden, so verdienen sie
keine besondere Erwähnung und zeigen sich nur insofern bemerkenswert, als
ihre ganze Färbung der sonst so verhaßten Aufklärung abgeborgt ist.
Auch die Ausflüchte der zähen Kirchengänger mußten zurückgewiesen
werden, was zwar in ziemlicher Breite, aber leider auch mit allem Aufwand
überzeugungsloser Klügelei geschieht. Gleichwohl sind die Ermahnungen
richtig, und die gottvergessenen Christen werden völlig davon getroffen. Sie
sollen sich nicht entschuldigen damit, daß „sie Gott im Stillen dienen auf
ihre Weise", denn der rechte „Segen könne ihnen nur aus der Gemeinschaft
mit andern beim Gottesdienste durch Gesang, Gebet und andächtige Be-
trachtung des göttlichen Wortes zufließen;" auch sollen sie nicht sagen, daß
„sie ihren Gottesdienst am liebsten in der freien Natur halten," weil die
„Natur nur das Kleid Gottes sei und allein im Wort Gottes die Geheimnisse
der göttlichen Liebe aufgeschlossen werden"; sie sollen auch nicht Mangel
an Zeit zum Kirchenbesuche vorschieben, denn „mit dieser Entschuldigung
mögen sie allenfalls vor einigen Menschen ausreichen, nicht aber vor dem
Allwissenden, vor dem ihr ganzes Herz und Leben offen da liegt"; endlich
aber „fehlen die am meisten, welche sagen, man könne ja auch ohne Kirchen-
besuch ein guter Mensch, ein guter Bürger, ja, wie einige hinzusetzen, ein
guter Christ sein:" den Feiertag zu heiligen, ist ja eines der Gebote Gottes,
imd „wer das ganze Gesetz hält und sündiget an Einem, der ist es ganz
schuldig". Das ist alles recht schön und gut, und die Gottesfürchtigen müssen
104 Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
gegen solche Gründe verstummen; wer Gott fürchtet und meidet doch den
Gottesdienst, wie will der mit jenen Ausreden bestehen? Wir aber, die wir
Gott nicht fürchten, suchen auch keine Ausflüchte und brauchen der Ent-
schuldigung nicht, weil wir nicht in der Schuld, sondern im Rechte stehen.
Wir meiden das Gotteshaus, solange das Gotteswort geknechtet ist im Buch-
staben, und solange seine Ausleger nicht sprechen dürfen als freie Geister.
An die Ermahnung zur Sabbathsfeier und die Aufdeckimg der gewöhn-
lichen Entschuldigungen als bloßer Winkelzüge schließt sich nun füglich an
„die Erinnerung an Das, was zu einer gesegneten Feier unseres christlichen
Ruhetages notwendig ist". Mit eindringlicher Wärme wird besonders allen
denen ihr Unrecht zu Herzen geführt, welche ihren Dienstboten und Unter-
gebenen den Ruhetag verkümmern. Wir, die wir für die Erhebung und
Heiligung des menschlichen Geistes gewiß ebensoviel Eifer hegen, als die
unterzeichneten evangelischen Geistlichen, wir sind weit davon entfernt, eine
so berechtigte Ermahnung anzufeinden. Warum aber wollen unsere Seelsorger
es denn nicht einsehen, daß ihre wahren Gegner nicht „der Weltsinn und
die herzlose Gleichgültigkeit" sind? Mit denen ist den wahrhaft Frommen
der Kamjjf noch nie sonderlich schwer geworden. Ein ganz anderer Feind
stellt sich ihnen jetzt gegenüber, zu dem sie übergehen müssen, wenn sie
ihm nicht das Feld räumen wollen. Denn auf den Kampfplatz tritt der
wiedergekommene Christus!
Was soll es helfen, mit Sehnsucht rückwärts zu blicken und die Wieder-
erweckung der guten alten Zeit zu empfehlen, wo „Sonnabends die Arbeit etwas
früher, als sonst, beendigt, und nun das Haus gekehrt und die Zimmer auf-
geräumt wurden, damit am Sonntage schon die früheste Morgenstunde vor
Störung gesichert sei. Dann wurde des Morgens die Heiligung des Tages damit
begonnen, daß, nach Beseitigung aller nicht durchaus notwendigen Geschäfte,
Ruhe und Stille im Hause herrschte. Und wie sie im Hause herrschte, so auch
auf den Plätzen, in den Straßen der Stadt. Selten hörte man da einen Wagen
rollen; die Läden blieben geschlossen; der öffentliche Verkehr hörte auf; nichts
unterbrach die ernste, heilige Sabbathstille. Dann pflegten der Hausvater, die
Mutter, die Herrschaft wohl die Ihrigen zur Andacht zu versammeln. Man
las einen Abschnitt der Bibel, am liebsten das Evangelium und die Epistel
des Sonntags, man stimmte ein Lied zum Preise Gottes an. Hierauf besuchten
alle, welche im Hause nicht schlechterdings unentbehrlich waren, den öffent-
lichen Gottesdienst, und für die Zurückbleibenden pflegte sogleich von vorn-
herein eine andere Zeit festgesetzt zu werden, wo sie am Gottesdienst und
an der Ruhe des Tages auch ihrerseits teilnehmen sollten. 0 daß die frühere
fi'omme Sitte wieder unter uns allgemein würde!" Ja, wohin verirrt man
sich, wenn man, nachdem man uns schon die Juden als Muster vorgehalten,
nun auch die „Engländer, Schotten und Nordamerikaner" uns zur Nach-
ahmung anpreist, „bei denen der Sonntag am strengsten geheiligt wird, und
die reiche, blühende Völker sind". Und warum sind sie reich und blühend?
Darum, antwortet man, „weil die Gottseligkeit zu allen Dingen nütze ist,
weil sie die Verheißungen dieses und des zukünftigen Lebens hat, und weil
denen, die vor allem nach dem Reiche Gottes trachten, alles andere zufällt".
0 über die Unredlichkeit des Vergleiches zwischen Deutschen und Briten!
Wie, wenn man nun erwiderte, die Briten sind reich und blühend, weil sie
frei sind, und frei sind sie — trotz der Tyrannei ihrer Kirche? Wenn Ihr
Deutschen britische und amerikanische Gottesfurcht holen wollt, da ver-
geßt doch vor allen Dingen nicht, britische und amerikanische Fr eiheit
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 105
über das Meer und über den Kanal auch mit herüberzubringen! Der freie
Mensch kann selbst die — qualvolle Last einer Hochkirche ertragen, bis er
sie endlich abschüttelt; Ihr aber möchtet Euch gerne noch die Tyrannei
englicher Gewissensbeschränktheit aufladen zu Euren andern Bürden, alles
in blinder Dienstergebenheit.
Nein, vorwärts winkt uns das Heil, nicht rückwärts; oder können wir
in unserer Mutter Leib zurückkehren? Versteht man die Wiedergeburt noch
immer so, wie einst Nikodemus, und findet sie nicht einmal so widersinnig,
wie er? Weil unsere Vorfahren glücklich waren durch ihre Frömmigkeit,
darum ist uns noch nicht das gleiche Los durch ein gleiches Mittel bestimmt.
Es wäre das kaum anders, als wenn der vierzigjährige Mensch noch immer
in Spiel und Tanz seine Freude finden müßte, weil sie vor zwanzig Jahren
ihn vergnügten. Nein, die Zeiten der Frö mmigkeit sind vorüber, und was
man heutiges Tages fi'omm nennt, das darf sich wahrlich nicht mit der echten
Frömmigkeit unserer Voreltern vergleichen. Damals ein gesunder, natur-
gemäßer Zustand — ist sie heute eine krankhafte Überreizung oder eine
Täuschung anderer und unserer selbst, eine Lüge, die wir Furcht haben
uns einzugestehen. Die Gegenwart fordert das rein Menschliche, das allein
das wahrhaft Göttliche ist, sie fordert nicht Frömmigkeit, sondern Sittlich-
keit und Vernünftigkeit; mündige Männlichkeit des Geistes, nicht bevor-
mundete Kindlichkeit; Begeisterung für die ewig gegenwärtige Welt des
Wollens und Handelns, nicht blind ergebene Sehnsucht nach dem Jenseits.
Das könntet Ihr alle wissen, wenn Ihr nur recht bedenken wolltet, wie Ihr
schon wirklich gesonnen seid. Fragt Ihr etwa bei Euren Dichtem, die Ihr
so innig verehrt, ob sie fromme Christen gewesen? Liebt Ihr Schiller we-
niger, als Klopstock, weil dieser einen Messias ganz im Tone unserer hinauf-
geschraubten Frömmigkeit gedichtet, jener aber kein chi-istlich frommes Lied
zustande gebracht? Achtet Ihr den Staatsmann höher, der Eure Gedanken-
äußerungen streichen und überwachen läßt, auf daß sie in Staat und Kirche
rechtgläubig seien, als den, welcher dem Gedanken und Streben der Menschen
keine orthodoxen Fesseln anlegt? Ja, verurteilt Ihr auch nur einen Eurer
Mitmenschen, den Ihr sittlich und edel handeln, frei und fiu-chtlos denken
seht, darum, weil er keine herkömmliche Frömmigkeit übt? Und tut es
einer oder der andere unter Euch, zeigt er sich Euch da nicht als ein blinder
Ketzerrichter, den Ihr bemitleidet? Ihr stellt selbst nicht mehr die Forde-
rung an den Menschen, daß er fromm sei; wenn er ein sittlich-freier Mensch
ist, wie Schiller, da schämt Ihr Euch, Wehe über ihn zu rufen und ihn dem
Satan zu überliefern. Und doch ist er kein Christ im geltenden Sinne und
ist nicht fromm! Erwägt diese Gerechtigkeit, die Ihr unwillkürlich übt,
recht reiflich in Eurem Herzen und Ihr werdet finden, wie verstockt Eure
Gedanken hinter der unbewußten Freiheit Eures Handelns zurückbleiben.
Aber freilich, wo hättet Ihr auch die Gelegenheit finden sollen, Euer Denken
auszubilden, da Eure Geistlichen selbst, berufen Euren Geist zu erheben und
zu erleuchten. Euch in die gute alte Zeit und in den Mutterleib wieder
zurückbringen möchten, und Euer Gewissen, statt es zu stärken, mit Furcht
und Zittern erfüllen, daß es Euch anklagt und ängstiget ob der verlassenen
Frömmigkeit! Das Leben bewährte sich als einen besseren Lehrmeister; es
lehrte Euch längst, daß die Sittlichkeit und die Freiheit besser sei, als die
formelle, tote Frömmigkeit. Eilet, daß Ihr erkennet, was Ihr ausübet, und
daß die Einsicht und das Bewußtsein Euren voraneilenden Taten und Eurer
unwillkürlich erworbenen Bildung nachkomme, damit Ihr nicht länger Euch
106 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
selbst verdammet und aus Gewissensangst in die knappen Kinderschuhe
zurücktretet. Könnt Ihr dazu beitragen wollen, daß der Nachbar den Kirch-
gang und die Andacht des Nachbars bewache, der Freund den Freund an-
schuldige, die Schwester den Bruder, der Bruder die Schwester um der Un-
christlichkeit willen schelte, und jeder den andern anschwärze und anfeinde
— aus Rehgion? Und muß es nicht, wenn Ihr erst schwach genug seid,
den Verlust der alten Frömmigkeit für ein Unglück zu halten, muß es nicht
dahin kommen, daß die Heuchler scharenweise zur Kirche ziehen, um, wenn
sie Beamte sind, in Amt und Würden zu bleiben, wenn aber unabhängige Bürger,
ihren guten Leumund nicht einzubüßen? Seid stark, seid mutig genug, den
Versucher von Euch zu weisen und offen zu sagen: Wir, die wir nur freie
Lehrer hören wollen, wir stehen mit unserer Unkirchlichkeit im Rechte!
Gehen wir nim dem Ende des Schriftchens zu, so erfahren wir noch,
wie die einzelnen Gemeindeglieder, an denen „dies Wort der Liebe nicht
spurlos vorübergeht", aufgefordert werden, „um ihre Prediger Vereine solcher
Christen zu bilden, welche sich freudig und ernstlich entschließen, die Heili-
gung des Feiertags nicht nur sich selbst angelegen sein zu lassen, sondern
auch für Förderung derselben überall nach Kräften zu wirken". Sehr wahr-
scheinlich wird es da schlimm um jeden stehen, der keine Scheu trägt, sich
anzuschließen, und sein Name, in den Vereinslisten, welche zur Subskription
einladend gleich mit ausgegeben vrarden, fehlend, wird geächtet sein.
Nun endlich der Schluß : „Bei euch steht es, ob die Heiligtümer unserer
Religion, ob der größte Segen, den Gott uns geschenkt hat, unseren Nach-
kommen unversehrt überliefert werden, oder ob wir und sie immer tiefer
hinabsteigen und verlieren sollen, was von wahrer, echter Frömmigkeit,
kindlichem Sinn, Liebe, Zucht und guter Sitte noch unter uns ist. Möge
Gott Euch Augen und Herzen öffnen, das Gute zu erkennen und — zu
wählen!" Ja, möge er sie Euch öffnen! Denn bei Euch steht's wirklich, ob
die fromme Abhängigkeit oder die sittliche und mutige Freiheit hinfort
herrschen soll. Kindlicher Sinn aber, Liebe, Zucht und gute Sitte werden
darum wahrlich nicht zugrunde gehen, wohl aber edler und schöner wieder
auferstehen. — Es gab eine Zeit, da die römischen Heidenpriester Wehe
riefen über das Volk, dessen Tempel leer standen; es war das aber die Zeit,
da die Kirchen der Christen die herbeiströmenden Andächtigen kaum fassen
konnten. Die leeren Tempel, sie waren ein echtes Zeichen der erfüllten
Zeit!
Jetzt, da die Kirche, wie ja laut behauptet wird, „in Verfall gerät",
wollen uns unsere Geistlichen mit blinkenden Worten dahin zurückführen,
sie, die als christliche Seelsorger wissen sollten, daß man „nicht Most in
alte Schläuche fasset; wo anders so zerreißet der Most die Schläuche und
wird verschüttet, und die Schläuche kommen um. Sondern den Most soll
man in neue Schläuche fassen, so werden sie beide behalten". Sie könnten
ihre Kirchen wohl wieder füllen, obgleich der Verfall der alten Kirche, wie
sie es schauernd ahnen, unaufhaltsam vor sich gehen wird, wenn sie statt
des Splitters im Auge der Gemeinen den Balken im eigenen sehen wollten.
So aber schelten sie ihre Gemeinen darum, daß sie keinen bevormundeten
und durch Verpflichtung gebundenen Redner hören mögen, der ihnen doch
nicht sagen darf, was der Geist, der ewig freie, erforscht in den Tiefen der
Gottheit, sondern sagen muß, was, so erhaben und heilig es auch sei. doch
im unfreien Munde nicht menschlich, nicht das eigene aus der Tiefe der
Brust heraufgeholte Wort eines aufrichtigen Menschen ist, sondern eine leb-
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 107
lose und versteinerte Wahrheit. — Erkämpft Euch, Ihr Prediger des gött-
lichen Wortes, die Freiheit der Rede, und wir finden ims mit Freuden bei
Euch ein; tut zu allererst ab den eigenen Knechtessinn, dann könnt Ihr
freie Menschen zu Euch einladen; opfert die elende Furcht auf dem Altare
des Heldenmuts, und Ihr sollt unsere geliebten Führer sein; feiert den
festlichen Tag der errungenen Lehrfreiheit, so feiern wir alle gerne mit Euch
den Sonntag. Dann werden Eure Kirchen voll sein, und um jeden Helden
des freien Wortes werden sich lernbegierige Scharen sammeln. Aber die
Kirche, — Ihr selbst habt das unwiderrufliche Wort gesprochen — die
Kirche wird dennoch verhallen, wenn Ihr sie nur in der Form und nicht im
Geiste sucht und in der Wahrheit! Ein Geschlecht freier Menschen wird
erblühen, und wenn man so will, ein neues Christentum, obgleich im Geist
und in der Wahrheit das alte, jenes zur Weltreligion reifende, das in Bibel-
worten heißt: Unter allerlei Volk, wer Gott fürchtet und Recht
tut, ist ihm angenehm!
Viele unserer edelsten und wichtigsten Angelegenheiten, manche Frage
von umfassendster Bedeutung habe ich hier mehr mit schneidender Kühnheit
als bedächtiger Begründung aufstellen können — wie wäre das auch in dem
engen Räume dieser wenigen Blätter anders möglich — , verschafft Euch
aber nur freie Lehrer, unverstrickte und ungegängelte Prediger der Wahrheit,
und Ihr werdet bald die offenste und ausführlichste Belehrung, ganz wie Ihr
sie wünschet, von den Kanzeln herab erhalten. So nehme ich denn Abschied
von Euch und hoffe auf Eure Erweckung. Ich habe nicht bloß an die
Laien, auch an Euch Geistliche habe ich meine Worte gerichtet. Lasset
uns, wo und wie wir uns auch wieder begegnen, als freie Menschen einander
ins Auge sehen! —
n.
Ein Programm der ,, Freien"
Vorbemerkung
Eine wie diplomatische Natur der Mann im Leben war, der als Philo-
soph seine Sache auf nichts gestellt hatte, zeigt sich vollends, wenn man, vde
es hier zum erstenmal geschieht, auch seine journalistische Kleinarbeit berück-
sichtigt. Nun zwang freilich die Zensur mehr oder weniger alle damaligen
Schriftsteller, ihre geheimsten Gedanken unter großen Ballen von Phrasen
zu verstecken oder ihnen freiwillig die Zähne stumpf zu machen. Die Worte
mußten Zoll bezahlen oder als Schmuggelware passieren, so drückte Stimer
selbst diese Notwendigkeit aus')- Wo man sicher gehen wollte, daß ein
Artikel gedruckt würde, mußte man sich deshalb im voraus genau über die
Zensurverhältnisse unterrichten, die bei der betreffenden Zeitung obwalteten,
und seineu Stil und seine Gedankengänge dem anpassen. Der Journalist Stirner
hat es in der Kunst, seine wahren Ansichten so zu formulieren, daß man
am Ende auch das Gegenteil herauslesen konnte, zu großer Virtuosität gebracht.
Kein anderes ausländisches Blatt war der preußischen Regierung da-
mals so unbequem wie die Leipziger Allgemeine Zeitung, die häufig ihre
Informationen aus den Kreisen des liberalen Beamtentums bezog. Man
wartete deshalb in Berlin geradezu auf die Gelegenheit, diesem in Preußen
stark verbreiteten Blatt das Debit zu entziehen, und war sicherlich sehr zu-
^) „Woher und Wohin?" in Beilage der Leipziger Allgemeinen Zeitung,
16. Oktober 1842.
108 Mayer. Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preußen.
frieden, als der hier veröffentlichte Brief Herweghs an Friedrich Wilhelm IV.
den Brockhausschen Verlag auf Unterhandlungen mit der preußischen Ee-
gierung anwies. Wollte Stimer für die Sache der ^Freien" diese in Berhn
gelesenste auswärtige Zeitung benutzen, so mußte der Wolf sich in den
Schafspelz hüllen und die eigenen Gedanken im Schmuggelsack tief ver-
stecken. Deshalb ist es nicht leicht, aus dem großen Aufsatz über ,.Die Freien",
der am 14. Juli in dem Leipziger Blatt erschien, den esoterischen Stimer
herauszufinden. Als die Absicht des Kreises gibt er hier an, daß er die
Grundüberzeugung der modernen Philosophie aus der besonderen Sphäre der
Wissenschaft auch in die weiteren Kreise des Lebens einzuführen und daselbst
geltend zu machen gedächte. Zu der geplanten, doch seither schon wieder
aufgegebenen Vereinsgründung nimmt er nicht klar Stellung, läßt aber durch-
blicken, daß er und die anderen aus praktischen Erwägungen von dem
Projekt Abstand genommen hätten. Auch den Austritt aus der Kirche
lehnt er ab betnahe wie einer, der nur das „Gehässige" des ,. Scheines"' ver-
meiden möchte. Überhaupt dreht Stimer es hier so, als ob das ganze
Vorgehen der „Freien" sich nicht gegen die Kirche gerichtet hätte, die an
sich harmlos, weil ohne Zwangsmittel wäre, wenn der Staat nicht hinter ihr
stände, sondern gegen die Gewalt des Staats: ,,Ich höre häufig sagen, es sei
nicht zu verlangen, daß der Staat um einiger weniger \\Tllen ein Gesetz
oder eine Listitution ändere. Im Gegenteil, auch um eines Menschen wülen
müßte er sogar ein tausendjähriges Gesetz umstoßen, wenn eben dies Gesetz
ein Unrecht wäre."' Er nennt es geradezu die wichtigste Frage des gegen-
wärtigen Staatslebens, ob der moderne europäische Staat ein ..christlicher"
öder ein „humaner" sein soUe. Da nim aber die Kirche, wie gesagt, ihre
Macht nur vom Staate bezieht, richte sich die Opposition der „Freien'' im
letzten Grunde gegen diesen oder richtiger gegen eine seiner Institutionen.
Jedoch diese Opposition wolle loyal sein und nicht im mindesten büder-
stürmerisch oder revolutionär^).
Schon an einer anderen Stelle wies ich darauf hiu, daß diese höchst
vorsichtig gehaltenen Äußerungen Stimers offensichtlich den Zweck hatten,
die im Sommer 1842 noch ungestörte Einigkeit in den Eeihen der Oppo-
sition vor Störungen zu bewahren. Vielleicht wollte er gleichzeitig auch die
preußische Eegierung über die umstürzhcheren Bestrebungen beruhigen, die
von der Juste-müieu-Presse den „Freien"' nachgesagt worden waren.
Mochte aber Stimer nicht auch das Bedürfnis empfinden, in dieser
Sache, die ihm so nahe am Herzen lag. seine Ansicht in die Welt hinaus
zu rufen, ohne daß er eine Larve vorlegen mußte? Königsberg war bekannt
durch die überaus liberale Zensur, die hier gehandhabt wurde und die dem
freisinnigen PoUzeipräsidenten Abegg schon manchen Eüffel Eochows zuge-
zogen hatte. Stimer verkehrte im Ejeise der ..Freien"', wie wir schon wissen,
mit Eduard Flottwell. Diesem genügte es nicht, in seiner ostpreußischen
Heimat Mitarbeiter für die Eheinische Zeitimg zu werben, er suchte auch
Aufsätze seiner Berliner Freunde in freigesinnten ostpreußischen Blättern
unterzubringen. Nun bittet er auf einem Briefbogen, der wohl zu einem
anderen, der das Datum des 28. Juni trägt, gehört, seinen Freund Jacoby,
einer Antikritik Bruno Bauers gegen Plank in den Preußischen Provinz-
blättem, die vom 1. Juli ab mit erweiterter Tendenz erscheinen würden, Auf-
nahme zu verschaffen. Gleichzeitig aber beauftragt er Jacoby, E einhold Jach-
') Vgl. S. 58 oben.
Mayer, Die Anfänge des polit. Eadikalismus im vormärzl. Preulien. 109
mann zu fragen, ob ein Aufsatz Stirners, den er jenem schon früher einge-
sandt hätte, hier Aufnahme finden würde. Der Aufsatz handle ,,Über die
Verpflichtung der Staatsbürger zu ir gendei n em Rel i gions-
b ekenn tnisse".
Wirklich habe ich im Nachlaß Jacobys einen Aufsatz gefunden, der
diese Frage behandelt und der dem Stil und Inhalt nach sehr wohl an Stirner
als Autor denken läßt. Aber — dieses Manuskript, dem Abegg am 6. Juli
die Druckerlaubnis versagte, ist vom 4. Juli datiert und kann auch nicht gut
früher abgefaßt sein, da es auf die Leitartikel der Kölnischen Zeitung vom
28. Juni und der Spenerschen Zeitung vom 1. Juli Bezug nimmt. Seine Iden-
tität mit der Abhandlung Stimers, die Flottwell ,, schon früher" an Jachmann
eingesandt haben will, ist somit ausgeschlossen. Besteht aber nicht vielleicht
trotzdem ein Zusammenhang? Von Flottwells Briefen an Jachmann, die über
Stimer wichtige Auskünfte geben müßten, besitzen wir so wenig eine Spur
wie von dem Manuskript des erwähnten Stirnerschen Aufsatzes. Auch suchte
ich in den Preußischen Pro\'inzblättern vergebens nach einem Beitrag Stirners.
Wäre es nun aber nicht denkbar, daß Stirner seine bis zum Juli nicht ge-
druckte Abhandlung veraltet gefunden und durch eine andere ersetzt hätte,
als das von ihm früher behandelte Thema nach dem Artikel der Königsberger
Zeitung vom 12. Juni brennend aktuell wurde? In der Zeitungspraxis kommt
derartiges öfter vor! Selbstredend handelt es sich dabei nur um eine Hypo-
these. Wer käme übrigens sonst als Verfasser ernstlich in Betracht? Die
Brüder Bauer fallen weg, weil sie den Austritt aus der Kirche nicht, wie es
hier geschieht, befürworteten^). Eher ließe sich an Buhl, noch eher an die
flüssige und kräftige Sckreibweise des jungen Friedrich Engels denken! Aber
von allem anderen abgesehen, was gegen ihre Autorschaft spricht, so wissen wir
doch nur von Stirner, daß von ihm ein Aufsatz über dieses Thema nach Ost-
preußen gesandt wiu-de.
Alle Ai-tikel, in denen die „Freien" auf die Angriffe der reaktionären
und der Juste-milieu-Presse damals reagierten, nahmen die Äußertmgen dieser
Blätter zum Ausgangspunkt ihrer Polemik. Deshalb wäre es voreilig,
wollten wir für eine vom gleichen Tage wie unser Aufsatz datierte Korre-
sjjondenz der Rheinischen Zeitung aus Berlin, weil sie sich in Einzelheiten
mit ihm berührt, den gleichen Verfasser annehmen'). Auch der eigent-
liche Gedankenkern der in dem Aufsatz entwickelten Ansichten war dem
engeren Kj-eis der „Freien" gemeinsam. Daß man ein guter Mensch
und sogar ein gi;ter Bürger sein kann, ohne auch ein guter Christ zu sein,
betonten sie noch alle anno 1842^). Die Gründe, aus denen sie es vorerst
unterließen, den Staat als solchen zu bekämpfen, sind dem Leser bekannt*).
Selbst Stirner könnte aus taktischen Gründen sehr wohl den Staat gegen
Kirche und Eeligion ausgespielt haben. Wie wir wissen, lag ihm noch
^) Vgl. Bruno Bauer, Die gute Sache der Freiheit und meine eigene
Angelegenheit, Zürich und Winterthiu- 1842, S. 209 ff., und B. Radge (Edgar
Bauer) in Deutsche Jahrb., 10. August 1842. (Der willkürliche Rücktritt der
Einzelnen wäre keine „wissenschaftliche" Lösung usw.)
") Rhein. Ztg., 8. Juli. Dort auch Hinweis auf die Verbrechen des
christlichen Mittelalters und Spott über das Panzerhemde.
') Vgl. z. B. Buhls Berliner Brief im Telegi-aph Nr. 26 (Februar),
Koppen unter Berufung auf Fichte in Anekdota I S. 193, die Brüder
Bauer a. a. 0.
*) Vgl. oben S. 51 f.
110 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
mehr daran, Gott als den König zu stürzen. Der Artikel war für Ost-
preußen bestimmt, wo auch das Beamtentum über religiöse Dinge frei dachte.
Daß die dortigen liberalen Gutsbesitzer mit den „Freien" harmonierten,
erfahren wir gerade von ihm. Da er die Gesinnungen der Provinz, in der
er Jahre hindurch gelebt hatte, kannte, so mußte er wissen, daß Äußerungen
gegen den Staat als solchen hier gar kein Verständnis finden und den
„Freien" alle Sympathien verscherzen würden. Wie ängstlich auch er da-
mals darauf bedacht war, keine Eisse in der noch geschlossenen Mauer der
Opposition eintreten zu lassen, zeigte sein Aiifsatz für die Leipziger All-
gemeine Zeitung, mit dessen wahrer Tendenz sich das unten abgedruckte
Manuskript in keinem Punkte widerspricht. Zum Überfluß sei erinnert,
daß er dort nicht etwa schon den Staat überhaupt, sondern den „christlichen
Staat" bekämpft, dem er noch den „Staat der Bildung", den „humanen"
Staat entgegenstellt!
In bezug auf die Weltanschauungsfragen steht der Verfasser des
Artikels auf einem sehr verwandten Boden wie der des ,, Gegen worts". Höch-
stens läßt sich sagen, daß hier — ein bedeutungsvolles halbes Jahr später —
bereits mit größerer Offenheit jede Eeligion abgelehnt wird: Dem Menschen
solle nicht als Fremdes vorgeführt werden, was in seiner eigenen Brust lebt.
Doch auch hier wird nur erst der offenbarte Gott geleugnet, nicht schon
„der Gott im Menschen und in der Geschichte, wenn man diesen noch so
nennen will". Das humane Ideal in der Ausprägung Feuerbachs findet volle
und begeisterte Zustimmung. Schon wird alle Autorität als „unmenschlich"
verworfen. Wo von den Geistlichen als der Leibgarde Gottes gesprochen wird,
denkt wohl jeder Leser an die verwandten Stellen des „Gegenworts".
Nach allem, was wir wissen, ist es zweifellos, daß Stirner für das
wohl von den jüngeren Mitgliedern des Kreises ausgeheckte Vereinsprojekt
und somit auch für die staatsbürgerlichen Konsequenzen, zu denen die
Mitglieder sich verpflichten sollten, anfänglich Sympathien hegte. Vielleicht
war es dann Bruno Bauer, der ihn von der Unausführbarkeit oder von der
Gefährlichkeit eines solchen Unternehmens überzeugte. In dieser Hinsicht
ist es nicht sehr wesentlich, ob ein Artikel der Deutschen Jahrbücher
vom 11. Januar 1842 über , .Christentum und Antichristeutum", in dem die
Gedanken von Austritt aus der Kii-che usw. wohl ziemlich zuerst spukten,
von ihm oder einem anderen Mitglied des Kreises verfaßt ist^). Wie der
Wunsch nach völliger Befreiung von den kirchlichen Zeremonien, die der
Staat damals noch bei der Eheschließung und anderen Gelegenheiten forderte,
gehörte auch das allgemeinere Verlangen, daß der Staat von seinen Bürgern
nicht die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Religionsbekenntnis bean-
spruchen dürfe, in den Rahmen des Kampfes der jungen deutschen Auf-
klärung gegen den ,, christlichen Staat".
Vielleicht gelingt es der Zukunft, mit Sicherheit festzustellen, ob Stimer
oder ein anderer das hier zum erstenmal gedruckte authentische Pro-
gramm des engsten Kreises der ,, Freien'" verfaßt hat. Als Dokument
für die Geschichte der Empörung der radikalen Aufklärung in Preußen gegen
das historische Christentum kommt ihm unter allen Umständen Bedeutung zu.
') Flottwell berichtet an Jacoby am 12. März 1842, daß Stimer auch
für die Deutschen Jahrl)ücher „vortreffliche Aufsätze" geliefert hätte. Bei einer
Durchsicht dieser Zeitschrift schien mir möglicherweise der Aufsatz:
„Christentum und Antichristeutum", der „Ein Philosoph" unterzeichnet ist,
in Betracht zu kommen.
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 111
Berlin, 4. Juli.
Am Rande steht eine Bemerkung des Zensors: „darf nicht ab-
gedruckt werden K. 6. Juli, Abegg."
Über die Verpflichtung der Staatsbüi-g-er zu irgend einem Religlons-
belieuutnis.
Es ist schlimm, wenn wohlmeinender Unverstand sich in Sachen mischt,
die über seinen Gesichtskreis hinausliegen, wie dies der Kölnischen und der
Spenerschen Zeitung in bezug auf den projektierten Verein der ,, Freien" be-
gegnet ist; beide überbieten sich in faselnder Altweiberweisheit, krassen
Mißdeutungen und sinnlosen Voraussetzungen. Und doch war es so leicht,
hier das Wahre zu finden, da der Boden, aus welchem dieser Entschluß
hervorgewachsen ist, für keinen Gebildeten mehr eine terra incognita sein
kann. Es wäre nur nötig gewesen, auf Strauß, Feuerbach, Bauer und auf
die „Deutschen Jahrbücher" zurückzugehen, um sich solche phantastische und
abenteuerliche Vorstellungen vom Halse zu halten. Aber es sollte ja die
Religion verteidigt, es sollte die freie durch die christliche Gesinnung be-
kämpft werden; das gibt der Sache freilich ein anderes Ansehen, und was
zunächst als Unverstand erscheint, ist vielleicht wohlberechnete, durch alle
bisherigen Präzedentien und durch die Heiligkeit der Sache berechtigte Taktik.
Dann erscheint freilich die Redensart von den Panzerhemden nur als eine
prächtige rhetorische Figur, die Erinnerung an die Vernunftgöttin als ein
Popanz, der für schwache Geister hergestellt wird. Diesen nun mag daher
auch die Versicherung gelten, daß sie nach wie vor ruhig schlafen können,
wenn sie ein gutes Gewissen zum Kopfkissen haben und der Polizei das
wohlverdiente Zutrauen schenken, daß sie meuchlerische Angriffe auf das
Leben friedlicher Bürger und ehrbarer Familienväter zu verhüten wissen
werde. Überdies wissen wir wohl, daß im Namen Gottes imd der Religion
Scheiterhaufen errichtet, Dolche gezückt, Verfolgungen verhängt worden sind;
der größte Bogen, der je aus Englands Papierfabriken hervorgegangen ist,
würde nicht genügen, um eine vollständige Martyrologie der Schlachtopfer
der Religion aufzunehmen. Von der Philosophie ist nichts dergleichen bekannt;
sie ist nur immer die Unterdrückte und Verfolgte gewesen und wird diese
edlere Stelle auch schwerlich gegen die der Verfolgung vertauschen wollen.
Allerdings haben die Zeiten sich etwas gebessert: man steinigt nicht mehr,
man kreuzigt nicht mehr, man verbrennt nicht mehr; - — aber man hat
noch andere nicht weniger probate Mittel: man vertreibt die Lehrenden
von Amt und Brot, man verjagt diejenigen, welche ihrem alten Glauben
treu bleiben, aus der Heimat, man verdächtigt diejenigen, welche die Ver-
nunft als einzige und ausschließliche Norm ihres Lebens und Handelns an-
erkennen, man ruft gegen sie die Leidenschaften des Pöbels auf. Man sagt
nicht: steinigt die Verruchten! aber man meint mit einer versteckten argu-
mentatio ad hominem, der gesunde Sinn der Mitbürger werde solches Treiben
nicht dulden. Vielleicht wirkt's; wo nicht, so versucht man's anders. Oder
man deutet auf eine sehr verständliche Weise an, daß Leute, die eine freie
Gesinnung haben, Hallunken, Mörder, Banditen sein müssen.
Was woUen denn nun die ,, Freien", was so lächerliche Anklagen hervor-
rufen konnte? Die Antwort ist einfach: sie wollen eben frei sein, frei von
allem Glauben, aller Überlieferung und Autorität, weil diese unmenschlich
sind. Sie wollen keine Religion, weil alle Religion nur äußerlich fixiert
und als Fremdes dem Menschen vorführt, was in seiner eigenen Brust lebt.
112 Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen.
Es ist daher lächerlich, ihnen die Vernunftreligion oder die Vernunftgöttin
imterzuschieben. Von Vernunftreligion konnte nur da die Rede sein, wo
man die Kette zwar zersprengt, aber noch nicht abgeworfen hatte. Die
„Freien" kennen keinen jenseitigen, in nebelhafter Ungewißheit schwebenden
Gott, keinen geoffenb arten, kein etre supreme, oder wie es sonst heißen
möge, sondern nur den Gott im Menschen und in der Geschichte, wenn man
diesen noch so nennen will. Sie allein sind bei ihm, weil er in ihnen ist.
Alle anderen Stufen des Bewußtseins haben nur ein trügerisches Spiegelbild,
eine leere Fantasmagorie. Für sie gibt es natürlich keine Offenbarung, denn
dem Menschen kann sein eigenes Wesen nicht geoffenbart, sondern nur zum
Bewußtsein gebracht werden; für sie gibt es nicht die gemeine Vorstellung
der persönlichen Unsterblichkeit, weil sie wissen, daß der Geist allein un-
sterblich ist, für sie nicht so viele andere entwürdigende Vorstellungen,
welche nur darauf hinausgehen, das Endliche zu verunendlichen und den
Geist durch rohe Versinnlichung zu schänden.
Also jammert, Ihr Sklavenseelen, denen das Bewußtsein ihrer Knecht-
schaft angeboren ist und deren Knie zu biegsam geformt sind, um sich in
der Stellung zu gefallen, welche dem freien und edlen Menschentum allein ge-
ziemt. Also zittert, Ihr ehrbaren Leute, haltet Eure Börsen fest und nehmt
Eure Hälse in acht! Wer wird Euch Em-e 4 Prozente garantieren, wenn es
keine Religion mehr gibt? Wer Euch vor Mord und Totschlag schützen?
Indes vertraut nur der Polizei, vor allen Dingen mißtraut aber denen, welche
nicht müde werden. Euch zu sagen, daß die Religion die Bedingung der
Moral und der Sittlichkeit sei. Seid überzeugt, daß wo Ihr diese Redensart
hört, immer im Trüben gefischt wird. Freilich haben uns unsere Seelsorger
versichert, daß man nicht guter Mensch sein könne, ohne guter Christ zu
sein. Ja, wohl, so haben sie gesagt, aber wer hat's ihnen geglaubt? In
dem Interesse ihrer Kaste mag es liegen, daß das Christentum als der
einzige Quell aller Tugenden erscheine, denn sie sind dessen Verweser; in
ihrem Interesse mag es liegen, von einem jenseitigen Gott zu sprechen,
denn sie sind seine Leibgarde, seine Söldlinge, seine Hofschranzen, welche
aus guten Gründen die Entfremdung zwischen ihm und 'uns so viel wie
möglich zu erweitern suchen. Aber wir? wir sollten glauben, daß es
ohne Religion, besonders ohne Christentum, keine Tugend, keine Moral,
keine Sittlichkeit gebe. Mit solchen Märchen äfft man Kinder. Wir wissen,
wo wir das Rechte und Gute zu suchen haben, und werden uns wohl
hüten, es aus zweiter Hand zu nehmen, da wir leider nur zu gewiß sind,
daß wir es nicht rein und unverfälscht aus derselben erhalten. Wer wahr-
hafter Mensch sein will, der greife in seinen Busen, der suche das Edle und
Große in der Menschennatur und in der Geschichte der Menschheit, und wem
das nicht genügt, der betrachte das als ein Kennzeichen, daß er der Freiheit
nicht wert ist, und daß ihm wahre Menschenwürde fehlt. Nein, Ihr Phari-
säer, das werdet Ihr uns nicht vorreden, daß es außerhalb des Christentums
keine Moral und keine Sittlichkeit gibt. Dieses hat vielmehr beiden Begriffen
den Stempel des Eigennutzes aufgedrückt, indem es die Lehre der Vergeltung
und der Belohnung einführte. Seien wir edler und tuen vsdr das Gute nicht
im Hinblick auf das Jenseits und den jenseitigen Lohn, sondern weil es
unserer und der menschlichen Natur würdig ist.
Hat man uns doch auch vorgeredet, daß man guter Christ sein müsse,
um guter Bürger zu sein; spricht man uns doch unaufhörlich vom christ-
lichen Staate, als ob Kirche und Staat nicht zwei ganz getrennte, nur zu-
Mayer, Die Anfänge des polit. Radikalismus im vormärzl. Preußen. 113
fällig und unrechtmäßig vermischte Gebiete wären. Als ob ich nicht meine
Pflichten gegen den Staat erfüllen könnte, ohne irgendeiner Kirche anzuge-
hören. Ob nicht vielleicht sogar besser, da die konsequente Durchführung
der religiösen Forderungen zu gänzliclier Negation des Staates führt'). Frei-
lich liegt es wiederum im Interesse der schwarzen Männer, unter dem Schutze
des Staates die Gewissen zu binden, die Überzeugungen zu fesseln. Schlimm
für den Staat, wenn er auf sie hört, wenn er christlicher Staat sein
will. War's doch der christliche Staat, der die Juden der Religion wegen
aus der Gemeinschaft ihrer Mitbürger ausrangieren und in besonderen Kor-
porationen belassen wollte, war's doch der christliche Staat, der die Alt-
lutheraner nicht dulden und die Lehrfreiheit nur innerhalb der Grenzen
des Christentums gestatten wollte. Die ,, Freien" ehren den Staat, nur
nicht den christlichen; sie sind ihm mit Leib und Seele ergeben^), sie werden
Gut und Blut opfern, wenn seine Zwecke erheischen, und wollen fürs erste
wenigstens seine Donner-Legion sein. Aber sie wollen nichts mit der Kirche
zu schaffen haben und werden suchen, den unvermeidlichen Scheidungs-
prozeß zwischen Kirche und Staat nach Kräften zu beschleunigen. Sie er-
kennen das Christentum nicht an, aber da der Staat gewisse religiöse Formen
zur Bestätigung bürgerlicher Akte adoptiert hat, so müssen sie sich diesen
unterwerfen, sie müssen sich taufen, einsegnen, trauen lassen usw. Sie
können nicht ins Leben treten, dasselbe nicht verlassen, keine wichtige
Handlung begehen, ohne mit der Kirche in Kollision zu kommen; ja sie
müssen selbst den Namen eines Gottes, den sie nicht kennen, als Zeugnis
der Wahrheit anrufen. Das ist ein unleidlicher Zustand für sie, dem sie sich
um jeden Preis entziehen wollen.
Das ist alles, was sie fordern; sie wollen Bürger sein dürfen, ohne eine
Religion zu haben. Und das scheint nicht zuviel verlangt. Wo die Unver-
nunft in so vielen Formen herrscht, da wird doch auch der Vernunft eine
Existenz vergönnt werden können. Also keine Religion ! Austritt aus der
Kirche! Aber Moral, Sittlichkeit, Pflichten gegen Familie, bürgerliche Ge-
sellschaft und Staat. Kein Götzendienst, aber Verehrung der sittlichen Mächte
und alles wahrhaft Menschlichen. Aber warum jetzt schon damit hervor-
treten? fragst Du, wackerer Th. H., dessen Christentum selbst nicht ganz
unverdächtig scheint, da Du die Sache nur um ein paar Jahrtausende vertagt
wissen willst. Warum jetzt? Weil endlich eine Zeit kommt, wo die Hülse
gesprengt werden muß. Früher war die Freiheit nur in der Wissenschaft,
und da auch nur in dunkle Formeln gehüllt. Leibniz, Spinoza, Hegel hatten
die Wahrheit, a))er das war eine esoterische. Jetzt endlich macht sie Miene,
aus der Wissenschaft ins Leben überzuspringen und exoterisch und praktisch
zu werden. Hoffen wir, daß es ihr schon gelingen werde.
Und nun, Du furchtsamer Mann, der Du von Mord und Dolchen träumst,
wird auch wohl Deine Angst gestillt sein. Oder nicht? So wollen wir Dir
beim engeren Ausschuß der j.BVeien" eine Sicherheitskarte für Dich und Deine
Familie und eine sauve garde für Dein Haus erwirken, damit Du siehst, daß
sich ,, Freie" edel rächen. Und dann, si fractus illabatur orbis, Du bist geborgen!
^) Vgl. hierzu u. a. Edgar Bauer, Bruno Bauer und seine Gegner,
Berlin 184y S. 25.
^) Vgl. Bruno Bauer, Die gute Sache etc., S. 219, und Edgar Bauer,
Bruno Bauer und seine Gegner S. 27 und 28.
Zeitschrift für Politik. 6.
II.
Die Grundlagen der britischen Politik
Von J. Alfred Spender
übersetzt von Arnold N. Eennebarth
Inhalt:
Einführung des Übersetzers.
Einleitung des Verfassers.
I. Die Kontroverse mit Deutschland.
1. Vom britischen Standpunkt.
2. Vom deutschen Standpunkt.
3. Freimut vonnöten.
n. Die Beherrschung der See.
1. Die britische Doktrin von der See-
macht.
2. Einspruch des Auslandes.
3. Entgegnung vom britischen Standpunkt.
4. Allgemeine Wehrpflicht, Schutzzoll und
Seemacht.
5. Eine gefährliche Ketzerei.
in. Die allgemeine Wehrpflicht und das euro-
päische Gleichgewicht.
1. Die allgemeine Wehrpflicht und die
Politik der „Wehrpflichtler".
2. Das europäische Gleichgewicht.
IV. Die Stellung des Reichs (Empire) zu der
Frage.
1. Die große zentripetale Tendenz.
2. Einfluß auf das britische Weltreich.
3. Logische Dilemmas u. praktische Folge-
rungen.
4. Ein Akt des Glaubens.
V. Eine deutsch-englische Detente.
1. Deutsche Anklagen und britische Ent-
gegnungen.
2. Taten, nicht Worte.
3. Kleinere Reibungen.
VI. Schlußwort.
Einführung des Übersetzers
Da der Verfasser der „Grundlagen der britischen Politik"
schon eine besondere Einleitung für seine deutschen Leser
seinen Ausführungen vorausschickt, kann der Übersetzer sich
kurz fassen.
Der Verfasser, Mr. J. A. Spender, ist seit Jahren der
Chefredakteur der ,,Westminster Gazette", der bekannten, und
man kann fast sagen, einzigen englischen liberalen Abend-
zeitung. Man liest und beachtet, was Mr. Spender zu sagen
hat, nicht nur in liberalen, sondern auch in konservativen
Kreisen. Er gehört zu der kleinen Zahl englischer Journalisten,
die Einfluß haben, und zwar einen Einfluß, der nicht etwa
herrührt aus den Quellen, aus denen er schöpft, sondern aus
seiner Persönlichkeit und seinem anerkannten common sense.
Spender, Die Grundlaijen der britischen Politik. 115
Die „Grundlagen" erschienen zuerst als eine Reihe von
Aufsätzen in der „Westminster Gazette", und zwar am Ende
des ereignisreichen Jahres 1911. Sie sind also unter dem
Eindruck der Ereignisse geschrieben, die man gewöhnlich unter
dem Sammelnamen ,, Marokkokrise" zusammenfaßt. Der Unter-
zeichnete, der seit einem Jahrzehnt an Ort und Stelle die eng-
lische Politik beobachtet und verfolgt — oder zu verfolgen
sucht — und im Laufe seiner journalistischen Tätigkeit ge-
zwungen ist, sich täglich über seine Beobachtungen Rechen-
schaft abzulegen, hat aus dieser Krise einen festen Eindruck
empfangen : das grenzenlose Erstaunen — fast Bestürzung zu
nennen — , mit dem sehr weite Kreise in England aus den
Debatten im Parlament und Reichstag vernahmen, daß England
und Deutschland mehr als einmal im Verlauf der Krise dicht
vor dem Ausbruch des ,, unvermeidlichen" Krieges gestanden
hatten. Das nötigte zur Einkehr, hüben und drüben. —
Kein Deutscher wird mit allem übereinstimmen, was
Mr. Spender über Deutschland, die deutsche Politik und das
deutsch-englische Verhältnis sagt. Aber wir alle, die Heraus-
geber dieser Zeitschrift, Mr. Spender und der Unterzeichnete,
hoffen, daß diese Ausführungen dazu beitragen werden, die
deutsch-englischen Beziehungen zu klären und vielleicht zu
weiteren Erörterungen Veranlassung zu geben, nicht zu Er-
örterungen, was einmal war, sondern was ist und werden soll.
Dabei drängt sich die Frage auf: Sind diese ,, Grund-
lagen der britischen Politik" sichere Grundlagen, auf
denen eine deutsch-englische Politik sich aufbauen
läßt? Mit anderen Worten: selbst angenommen, daß uns, als
Deutschen und mit unseren Wünschen für die deutsche Zukunft,
diese ,, Grundlagen" weder bequem noch genehm sind, ist die
Politik, die auf diesen Grundlagen ruhen würde, wirkhch die
derzeitige englische Politik? Ist es die Politik des englischen
Kabinetts, des Staatssekretärs Sir Edward Grey, des britischen
Auswärtigen Amts? Vor allen Dingen, ist es die Politik, die
auch die Unterstützung der konservativen Opposition findet und
also die ganze Nation geeint hinter sich hat? Die Frage ist
in dem kleinen Räume, der mir zur Verfügung steht, schwer
zu beantworten. Dazu müßte man erst die Vorfrage erörtern:
Wer ,, macht" eigentlich die englische auswärtige Politik, eine
Frage, die noch an keiner Stelle in genügender Weise erörtert
wurde und über die Engländer in der Regel sich sehr zurück-
haltend äußern.
116 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
Mr. Spender lehnt jede „Inspirierung" seiner Ausführungen
ab: sie sind weder offiziell, noch halboffiziell, noch offiziös.
Aber er gilt im allgemeinen als der beste Kenner und Erklärer
der Politik Sir Edward Greys; seine Kenntnis beruht auf
ständigem persönlichen Verkehr nicht nur mit diesem Leiter
der auswärtigen Politik, sondern auch mit den anderen, aus-
schlaggebenden Stellen und Kreisen. Ich möchte seine Politik
die Politik der mittleren Linie nennen, oder besser, die
Resultante aus den zwei Komponenten, den Radikalen und den
Imperialisten. Die Radikalen möchten zur Politik der ,, splendid
Isolation" zurückkehren, einer Politik, die Sir Edward Grey
ausdrücklich als ,, unmöglich" bezeichnet hat. Die Imperialisten
möchten die ,, Entente" mit Frankreich und Rußland in ein
Bündnis umwandeln. Diese Politik der Resultante hat den
Nachteil, daß sie keine ganz gerade Linie darstellt, sondern
von Zeit zu Zeit und Fall zu Fall von der Mitte abweicht, je
nachdem die eine der Komponenten stärker oder schwächer ist. —
Ich möchte die Aufmerksamkeit des Lesers besonders auf
den Abschnitt IV: ,,Die Stellung dcs Reichs zu der Frage"
lenken, d. h. den Einfluß, den die großen selbständigen Kolonien
oder ,, Schwesterstaaten" auf die auswärtige Politik ausüben
oder jedenfalls ausüben werden. Man nimmt hier ziemlich
allgemein an, — und Mr. Spender bringt das auch in diesem
Abschnitt zum Ausdruck - — ■, daß dieser Einfluß in der Richtung
einer größeren Vorsicht und Zurückhaltung in der englischen
Politik sich fühlbar machen wird. Diese Vorsicht und Zurück-
haltung will man bereits in der Haltung der englischen Politik
während des Balkankrieges bemerkt haben. Das kann wohl
sein; aber es ist auch sehr wohl möglich, daß die ,, Schwester-
staaten", die nicht gerade an einer Unterschätzung ihrer Kräfte
leiden und von den europäischen Verhältnissen herzlich wenig
wissen, das Mutterland in Schwierigkeiten verwickeln. Wie
dem auch sei : auf jeden Fall wird der Apparat, der die Kräfte
des Reichs nach irgendeiner Richtung in Bewegung setzen soll,
durch Hinzuziehung der ,, Schwesterstaaten", zum ,,Rat der
Alten", sehr viel komplizierter und schwerfälliger, und fast
unfähig, schnelle Entschlüsse zu fassen.
Ich möchte zum Schluß noch eine eigene Ansicht aus-
sprechen, anknüpfend an die letzten Worte Mr. Spenders, mit
denen er vor unbegründeten Befürchtungen und Besorgnissen
warnt. Sir John Seeley, der Historiker, sagt in seinem berühmten,
1883 erschienenen Buch ,,The Expansion of England", die Eng-
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 117
länder scheinen ihr Imperium begründet zu haben „in a fit of
absence of mind" — in einem Anfall von Geistesabwesenheit.
Er will damit wohl sagen, daß das englische Weltreich sich
sozusagen spontan entwickelt hat, und nicht nach einem wohl-
durchdachten Plan. In gewisser Hinsicht scheint mir das auch
auf die englische auswärtige Politik anzuwenden zu sein. Es
besteht hier eine große Tradition, die sich in den herrschenden
Klassen verkörpert, und die englische Politik fast instinktiv das
Richtige im Augenblick finden läßt. Aber die Größe der eng-
lischen Politik besteht nicht in der Durchführung eines von
langer Hand vorbedachten und vorbereiteten Planes, wie man
es oft in Deutschland dargestellt findet. Die Größe der engli-
schen Politik scheint mir vielmehr darin zu bestehen, daß sie
sich neuen Verhältnissen rasch anpaßt, schnell ihre Maßnahmen
trifft, überraschend eingreift. Das ist nicht unwichtig für die
Staatsmänner des Auslands, besonders die Deutschlands. Die
deutsche Politik der Neuzeit scheint immer damit zu rechnen,
daß die englische Politik sich mit tiefen und weitreichenden
Plänen herum trägt, und damit beschäftigt zu sein, einen ebenso
tiefen Gegenplan zu elaborieren, — Mine und Kontremine.
Wenn aber die Kontremine springen soll, wird man gewahr,
daß die Mine gar nicht existierte, oder bereits einen anderen
Weg eingeschlagen hat. Der englischen Politik muß man mit
ihren eigenen Waffen entgegentreten: mit raschem Entschluß,
energischem Zupacken, schneller Anpassung. Wir hatten diese
Politik schon einmal. Es braucht dazu kein Genie: die aus-
wärtige Politik Englands ist selten oder nie von genialen
Männern geleitet worden.
London, Ende Januar 1913.
Arnold N. Rennebarth
Einleitung des Verfassers
Die folgenden Ausführungen über die europäische Lage
waren ursprünglich einzig und allein für ein britisches Publi-
kum bestimmt. Aber gerade das muß die Veröffentlichung einer
Übersetzung ohne Textänderungen — einige Kapitel am Anfang
und Ende sind fortgelassen, da sie nur lokales Interesse haben —
in einer deutschen Zeitschrift rechtfertigen. Wenn ein Engländer
sich mit einer besonders für diesen Zweck verfaßten Schrift
an das deutsche Publikum wendet, oder ein Deutscher in der-
selben Weise an ein enghsches Publikum, so setzt er sich dem
118 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
Argwohn aus, daß er seine Darstellung eigens zurecht gemacht
hat, daß sie vielleicht sogar entstellt ist durch die Weglassung
wichtiger Tatsachen, die zu erwähnen ihm peinlich war oder
inopportun schien. Aber wenn er für seine eigenen Landsleute
schreibt, kann man wohl annehmen, daß ihm die Absicht,
einem Dritten zu schmeicheln oder ihn zu täuschen, fern lag,
in der sichern Erkenntnis, daß Ausflüchte und Verheimlichung
von Tatsachen, die dem Leser geläufig sind, sofort offenbar
geworden wären. Ich bitte deshalb meine deutschen Leser, es
mir nicht zu verargen, daß ich stellenweise die deutsche Politik
und die in Deutschland herrschenden Ansichten mit großem
Freimut behandele. Freimut ist in diesem Falle die beste Methode.
Seit der Niederschrift der folgenden Kapitel sind gewisse
neue Tatsachen hinzugetreten, die man mit in Betracht ziehen
muß, die aber m. E. die Grundzüge der Lage, wie sie sich im
vergangenen Jahre darstellte, nicht geändert, sondern nur noch
schärfer ausgeprägt haben. Diese Tatsachen sind in der Haupt-
sache: Lord Haldane's Besuch in Berlin, die neue deutsche
Flottenvorlage, die Erörterungen über dieselbe in England,
und die Erörterungen von militärischen und maritimen Sach-
verständigen über die britische Stellung im Mittelmeer. Das
neue Kapitel, das Lord Haldane's Besuch in Berlin einleitet,
hat noch viele leere Seiten, wird aber, so hoffe ich ernsthaft,
fortgesetzt werden bis zu einem guten Ende. Die Größe des
Erfolges hängt davon ab, ob die beiden Völker ihren beider-
seitigen gleichberechtigten Standpunkt verstehen lernen. Die
Gefahr ist, daß aus Mangel an gegenseitigem Verständnis sie
sich gegenseitig zu Handlungen treiben, die ihnen beiden zu-
wider sind und ihren wirklichen Interessen im besten Sinne
des Wortes zuwiderlaufen. Wenn Großbritannien keine Insel,
sondern ein Teil des europäischen Kontinents wäre, würde es
seine Wehrmacht gerade so organisieren, wie Deutschland und
Frankreich die ihren. Es würde ein starkes stehendes Heer
haben und sich einer der verbündeten Gruppen anschließen,
um den Frieden zu erhalten und seine Grenzen gegen Einfall
zu schützen. Diese Notwendigkeit läßt sich einzig und allein
dadurch vermeiden, daß Großbritannien auch in politischer
Hinsicht eine Insel bleibt, d. h. die britische Flotte muß so
stark sein, daß sie den britischen Handel gegen jede Unter-
brechung und die britischen Küsten vor jeder Invasion schützen
kann. Zweifel daran, eine wirklich gefährliche Herausforderung
der britischen Seemacht haben notwendigerweise die Tendenz,
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 119
die britische Politik vom alten Wege in die Richtung auf Kon-
tinentalismus und Militarismus abzulenken. Wenn Deutschland
wirklich die Absicht hätte, eine Flotte zu bauen, stärker als die
Großbritanniens, und diese Absicht wirklich ausführte, so wäre
damit der Ärmelkanal abgeschafft: Großbritannien wäre eine
Festlandsmacht geworden und dadurch gezwungen, für die
Sicherung seiner Interessen mit denselben Mitteln zu sorgen,
als seine kontinentalen Nachbarn.
Auf die Erkenntnis dieser Tatsachen müssen die deutsch-
englischen Beziehungen sich gründen. Es gibt für Großbritan-
nien keine Kompensation für den Verlust der Vormachtstellung
zur See. Kann England diese Stellung zur See nicht aus eigenen
Kräften aufrecht erhalten, so muß es Bündnisse suchen, und
für diese Bündnisse müßte es damit zahlen, daß es seine latente
Wehrkraft zu Lande ausbaut. Bedenkt man das in Deutsch-
land, so wird man verstehen, warum die englischen Liberalen,
trotzdem sie das beste Einvernehmen mit Deutschland wünschen,
für die starke Marine eintreten, das einzige Abwehrmittel gegen
die Alternative — allgemeine Wehrpflicht.
Sie wünschen es nicht, daß England Verpflichtungen ein-
geht, die es in rein europäische Angelegenheiten verwickeln
und zwingen würde, eine Landmacht aufzustellen, wie es eine
solche Rolle erfordert. Sie wollen, daß ihr Land eine Insel
bleibt und die Vorteile sich erhält, die die insulare Lage gewähr-
leistet, vor allen Dingen den Vorteil, alle Energie auf die Lösung
innerer Fragen und die Organisation des Imperiums anwenden
zu können.
Von deutscher Seite wird man den Einwand erheben —
und ich kann das verstehen : England habe dieser Politik den
Rücken gekehrt, als es sein Abkommen mit Frankreich schloß ;
die Ereignisse der letzten Jahre seien nur die notwendigen
Folgen dieses ersten Schrittes. Im folgenden habe ich mehrfach
darauf hingewiesen, daß das weder die Absicht der britischen
Staatsmänner war, die das Abkommen mit Frankreich schlössen,
noch ihrer Nachfolger, die mit den Folgen zu tun hatten. Ich
glaube, von uns Engländern im allgemeinen behaupten zu können,
daß wir gewiß darauf bedacht sind, nicht isoliert in einer Welt
von Gegnern dazustehen, daß wir aber dennoch heute wie nur
jemals vorher in der Geschichte erstreben, unabhängig zu bleiben
und uns selbst genügend.
Die letzten Erörterungen über das Mittelmeer werfen ein
scharfes Licht auf diesen Punkt. Einige konservative Blätter
120 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
benützten diese Gelegenheit, um einem Bündnis mit Frankreich
das Wort zu reden als dem besten Mittel, eine britische Flotte
im Mittelmeer entbehrlich zu machen. Nie hatte ein Ballon d'essai
weniger Erfolg. Die Antwort kam von allen Seiten: aus eigenen
Kräften müsse Großbritannien sein Werk tun; die Verteidigung
seiner Lebensinteressen einem Nachbarn, selbst dem engstbefreun-
deten, zu übertragen, stehe im schärfsten Widerspruch zur tradi-
tionellen englischen Politik. Diese Ablehnung warf nicht den
leisesten Schatten der Geringschätzung auf Frankreich — welches,
es ist wohl kaum nötig hinzuzufügen, über das geplante Bündnis
nicht befragt worden war - — ; aber der ganze Vorgang bezeugte
in hervorragender Weise die Stärke des alten Instinkts, der den
Engländer lehrt, daß seine Lebensinteresssen sich nicht sichern
lassen mit geschickten politischen Schachzügen oder der Mani-
pulierung kontinentaler Streitkräfte, sondern daß es diese Inter-
essen zu verteidigen hat mit eigener Kraft. Dieses instinktive
Gefühl des englischen Volkes in bezug auf die äußeren Ange-
legenheiten ist, glaube ich, immer noch das weitaus stärkste
Moment in unserer auswärtigen Politik, und das englische Volk
hatte ganz gewiß nicht die Absicht, sich davon abzukehren,
als man die Entente mit Frankreich einging.
Hier haben wir also eine der Grundlagen der britischen
Politik, und die Mehrzahl unseres Volkes wünscht sie uner-
schüttert zu erhalten. Woher kommt es nun, daß die letzten
acht Jahre sie zu erschüttern drohten? Der Glaube von deut-
scher Seite, daß England teil hatte an dem Plan, Deutschland
zu isolieren; der Glaube von englischer Seite, daß Deutschland
in der Freundschaft Englands mit seinem nächsten Nachbar
eine Gefahr für sich sah, und nach einer Gelegenheit suchte,
es Frankreich entgelten zu lassen, daß es Englands Freund
war: diese beiden Vorstellungen sind, glaube ich, gleich un-
berechtigt, aber wenn wir fortfahren, zu handeln, als ob sie zu
Recht bestehen, so müssen sie Folgen haben, die wir beide
fürchten. Wir halten uns gebunden, fest zu einem Freunde
zu stehen, dem man einen Vorwurf daraus macht, daß er eben
unser Freund ist; Deutschland sieht darin einen Akt der Feind-
schaft. Die Folge ist: zwei Nationen, die eigentlich keinen
Grund haben, miteinander zu hadern, sondern, im Gegenteil,
wie kaum zwei andere aufeinander angewiesen sind in ihrem
Fortschritt und Wohlstand, bleiben in einem Zustand chroni-
schen Antagonismus gegeneinander, unter gewaltigen und un-
nützen Kosten für beide und zum Schaden der allgemeinen
Spender, Die (xrimdlagen der Vjritischen Politik. 121
Zivilisation. Ich kann es nicht glauben, daß England und
Deutschland, zwei Nationen, die sich gemeinhin ihres prakti-
schen gesunden Menschenverstandes rühmen, sich dabei beruhigen
werden; daß sie nicht ihr Äußerstes tun, den Tatsachen ins
Gesicht zu sehen, und zu verstehen suchen, wie und warum
es dahin kam. Wenn wir das beide tun, so werden wir kaum
finden, daß wir beide oder einer von uns ohne Schuld ist;
aber wir werden entdecken, daß es durchaus tunlich ist, unsere
Motive zu würdigen, unseren beiderseitigen Standpunkt ein-
ander anzupassen, wenn wir uns nur erst gegenseitig verstehen.
Ein deutscher Staatsmann sagte kürzlich sehr treffend, die Not
der Stunde sei eine Detente zwischen der Entente und der
Allianz. Und diese Worte möchte ich meinen folgenden Aus-
führungen zum Motto setzen.
I. Die Kontroverse mit Deutschland
1. Vom britischen Standpunkt
Gewöhnlich stellt man es so dar, als ob die Reihe von Er-
eignissen, die zu der gegenwärtigen deutsch-englischen Kontro-
verse führte, sozusagen das Erbe eines jahrhundertelangen
Wettkampfes zwischen den beiden Völkern sei.
Tatsache ist doch aber wohl, daß noch vor etwa zwölf
Jahren kein Engländer und nur wenige Deutsche eine Spur
von Ahnung hatten, wohin man trieb. Die Beziehungen zwischen
den beiden Völkern waren zwar getrübt worden durch gelegent-
liche Ausbrüche von Gereiztheit, aber kaum jemand konnte
von einer ,, Deutschen Gefahr" sprechen, und an keinem wesent-
lichen Punkt schienen die Interessen der beiden Völker zu
kollidieren. Die Engländer waren somit ehrlich überrascht, als
sie, etwa vom Beginn des Jahres 1905 an, eine stetige anti-
britische Tendenz in der deutschen Politik entdeckten. Damit,
daß Deutschland die marokkanische Frage wählte, um
einen Druck auf Frankreich auszuüben, zwang es England,
seinen Stand an der Seite Frankreichs zu nehmen.
Die Entente wurde damit ein Faktor der europäischen
Politik. Es war der ganzen Welt offen verkündet worden, daß
die marokkanische Frage eine der Fragen sei, in der Groß-
britannien und Frankreich zusammenstehen würden; und als
der deutsche Kaiser Tanger im März 1905 seinen plötzlichen
Besuch abstattete, konnte er unmöglich über die unausbleib-
lichen Folgen in Zweifel gewesen sein. Deutschland war zu
122 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
diesem Vorgehen ohne Frage berechtigt und hatte Grund zu einer
formalen Beschwerde gegen M. Delcasse, wenn, wie es behauptete,
die anglo-französische Entente ihm nicht in korrekter Weise
notifiziert worden war. Bis dahin war es niemand in England
eingefallen, daß Deutschland in Marokko Interessen oder Ab-
sichten hatte, die einen Protest gegen das anglo-französische
Abkommen hervorrufen würden, oder eine Politik, die es an
diesem Punkt der Erde in Kollision mit Frankreich bringen
könnte. Dem Kaiserbesuch in Tanger folgte ein höchst gefähr-
licher diplomatischer Waffengang: die deutsche Regierung lief
unseres Erachtens ein Risiko, das in gar keinem Verhältnis
zu irgendwelchen Interessen stand, die Deutschland in Marokko
haben konnte. Um den Frieden zu erhalten, opferten die
Franzosen ihren Minister des Auswärtigen; aber Deutschland
gab sich damit nicht zufrieden, und der Druck auf Frankreich
wurde fortgesetzt. Allgemein glaubte man damals, daß es einzig
und allein die Unterstützung, welche die britische Regierung
der französischen gab, war, die eine Katastrophe Anfang 1906
abwandte und Deutschland dahin brachte, die Konferenz zu
Algeciras als einen Ausweg aus einer gefährlichen Lage anzu-
nehmen.
Es ist unnötig, die verwickelten Gänge der Marokkoaffäre
weiter zu verfolgen bis zur letzten und hoffentlich endgültigen
Phase. Der Eindruck, den man in Europa gewann, war, daß
es Deutschland weniger um Marokko selbst zu tun war, als
vielmehr darum, sein Mißfallen an der anglo-französischen und
in der Folge der anglo- russischen Entente zu manifestieren.
Deutschland, das muß als ein wichtiger Faktor betont werden,
erschien auf der Bühne in dem Augenblick, als Rußland im
Fernen Osten die schwerste Niederlage erlitten hatte und un-
fähig war, Frankreich mit Erfolg beizustehen. Die Engländer,
welche die russische Macht im Osten gefürchtet hatten, mußten
jetzt erkennen, daß ein starkes Rußland wesentlich ist für die
Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im Westen. Durch den
russisch-japanischen Krieg und die darauf folgende russische
Revolution wurde in den folgenden sechs Jahren die gesamte
Politik Europas zu Englands Nachteil in eine andere Richtung
gedrängt; ob wirklich zu Deutschlands Vorteil, ist eine andere
Frage. Das Vorgehen Deutschlands trieb Großbritannien Frank-
reich und Rußland in die Arme, machte aus der Entente, die
ursprünglich nichts weiter beabsichtigte, als die Erledigung
von Kolonial- und Übersee-Fragen, ein Instrument der europäi-
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 123
sehen Politik. Das war ursprünglich nicht die Absicht Groß-
britanniens, aber es wurde nun zur Ehrensache, und die ge-
samte englische Politik orientierte sich danach; ein Abweichen
wäre ein grober Vertrauensbruch gewesen. Großbritannien
konnte unmöglich untätig zusehen, wie Frankreich bedroht
wurde, augenscheinhch aus keinem anderen Grunde, als dem,
daß es sich erlaubt hatte, zu England in freundschaftliche Be-
ziehungen zu treten. Notwendigerweise mußte England darauf
bestehen, daß sein Recht, mit Frankreich und Rußland solche
Beziehungen zu pflegen, nicht minder gut war als das Deutsch-
lands in seinem Verhältnis zu Österreich-Ungarn und Italien.
2. Vom deutschen Standpunkt
Ein Deutscher wird diesen kurzen Überblick jedenfalls als
unbillig und unvollständig verwerfen. Ich will deshalb ver-
suchen, die Sache auch vom deutschen Standpunkt zu betrachten.
Es ist für einen Engländer außerordentlich schwierig, sich hinein
zu versetzen in die Stimmung, die zwischen Deutschland und
Frankreich herrscht. Beide Länder leben beständig in dem
Gefühl kommender Gefahren. Der ganze große von Bismarcks
Diplomatie mit unendlicher Mühe errichtete Bau hatte von
Anfang bis zu Ende den Hauptzweck, gegen einen neuen Krieg
mit Frankreich vorzusorgen, und die deutschen Staaten, eben
durch die Drohung vonseiten Frankreichs, immer fester ans
Reich zu schmieden.
Dieses Ziel wurde zuerst gefährdet durch den Abschluß
des franko-russischen Bündnisses, und schließlich erschüttert
durch die an sich berechtigten Abmachungen, die England an
Frankreich und Rußland näher heranbrachten. Dem Engländer
erscheint die Stellung Deutschlands unangreifbar. Deutschland,
so meint er, ist nicht nur sicher vor jedem Angriff in Europa;
Deutschland hat sogar einen Überschuß an Energie zur Ver-
folgung gefährlicher Ambitionen und Übergriffe gegen seinen
Nachbar. Das was man gewöhnlich mit dem Namen der ,, all-
deutschen Bestrebungen" bezeichnet, findet ohne Zweifel den
Beifall eines Teils des deutschen Volkes, wenn auch der
Einfluß der Alldeutschen im Ausland meist stark überschätzt
wird. Trotz alledem, so schwer es auch dem Durchschnitts-
engländer ankommen mag, es zu glauben: die Hauptsorge der
deutschen Staatsmänner ist und bleibt der Schutz Deutschlands
gegen einen Angriff. Die Engländer lächelten und nannten es
124 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
eine phantastische und heuchlerische Erfindung, als man während
der Jahre 1906/07 in Deutschland gegen die Verschwörung
protestierte, die das Deutsche Reich in einen ,, eisernen Ring"
einschnüren wollte. Sie waren im Irrtum: man fürchtet tat-
sächlich diesen eisernen Ring in Deutschland. Österreich-Ungarn
war kühl, Italien unter Verdacht, Frankreich, Rußland und
England auf dem Wege, sich zu einem festen Bund zusammen-
zuschließen. Grund genug also auch für durchaus nüchtern
denkende Deutsche, die Lage äußerst ernst zu nehmen !
Es ist deutsche Eigenart, Kräfte gegeneinander abzuwägen
und nicht nach Gründen und Erklärungen zu forschen. Was
auch immer der Grund der anglo-französischen Entente war,
selbst angenommen, daß sie so ,, unschuldig" war, wie die Eng-
länder behaupteten, entscheidend für die Deutschen war, daß
Frankreich und England sich verstanden hatten und infolge-
dessen das Kräfteverhältnis, mit dem Deutschland bisher ge-
rechnet hatte, sich verschoben hatte. Wichtig für Deutschland
war allein, daß die britische Flotte möglicherweise auf Frank-
reichs Seite sein würde und die britische Armee dazu dienen
könnte, die Überzahl der deutschen Truppen über die franzö-
sischen auszugleichen. Die deutsche Politik hielt es für ihre
Aufgabe, diese neue Kombination sozusagen mit der Sonde zu
untersuchen, um festzustellen, was schlimmstenfalls zu erwarten
war, und dagegen Vorsorge zu treffen. Es war unausbleiblich,
daß diese ,, Sondierungen" schlechte Erfolge lieferten: ein Druck
auf Frankreich brachte England auf den Plan. Die britische
Flotte, so meinte die deutsche Diplomatie, sei Schuld an diesen
Mißerfolgen: die Moral sei, daß Deutschland eine Flotte min-
destens von einer solchen Stärke haben müsse, daß ein Kampf
gegen sie, selbst für die stärkste Flotte der Welt, ein höchst
gefährliches Unternehmen bedeuten würde. Man imputierte
Großbritannien die Absicht, die deutsche Flotte vernichten zu
wollen, solange sie noch schwach war. Deshalb, hieß es weiter,
muß der Bau der Flotte vorwärts getrieben werden, um mög-
lichst rasch über die Gefahrenperiode hinweg zu kommen. Und
zwischendurch muß man zu verstehen geben, daß, wenn Eng-
land Deutschland zur See angriffe, Deutschland den Gegen-
schlag gegen Frankreich zu Lande führen würde. So wuchs
der Hader. Eine aufgeregte Presse schürte ihn in jeder Phase
damit, daß sie Befürchtungen und Beunruhigungen, die beide
Teile allen Ernstes hegten, in gehässiger Weise auslegte und
zu weitreichenden feindseligen Intriguen stempelte.
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 125
3. Freimut vonnöten
Je besser wir diese Lage der Dinge erkennen, desto eher
sind wir imstande, die Gefahren unserer Verbindlichkeiten auf
ihr richtiges Maß zu beschränken. Es ist nutzlos, weiter Worte
zu wechseln; gegenüber der Tatsache, daß wir unsere Macht
während der letzten sechs Jahre gewaltig zugunsten Frankreichs
gebraucht haben, hilft es uns nichts, daß wir Deutschland
gegenüber unsere Schuldlosigkeit beteuern. Rückhaltlose Offen-
heit ist in diesem Falle das beste Heilmittel. Wir halten uns,
was auch immer geschehen mag, an die Verpflichtungen ge-
bunden, die aus unserer Entente mit Frankreich fließen. Wir
sind der Ansicht, daß Deutschland keine Veranlassung hat,
daran Anstoß zu nehmen; tut es das dennoch, so können wir
das eben nicht ändern. Wir werden unser an Frankreich ver-
pfändetes Wort einlösen, wenn eine Lage eintritt, die uns dazu
verpflichtet; wenn Frankreich mit Repressalien bedroht wird
wegen seiner Freundschaft und Beziehungen zu uns, so werden
wir unser Bestes tun, Frankreich zu unterstützen. Sollten wir
aus diesem Grunde in einen Krieg verwickelt werden, so werden
wir diesen Krieg natürlich mit allen uns verfügbaren Kräften
führen, zu Wasser und zu Lande, um ihn zu einem erfolg-
reichen Ende zu bringen. Aber wir können nicht glauben,
daß diese Folgen eintreten werden oder können als die Konse-
quenz unserer Stellungnahme. Wir haben nicht die geringste
Neigung, uns in das politische System Europas hineinzustürzen
oder Deutschland auch nur eines der Vorteile zu berauben, die
es kraft seiner Stärke und großen Bevölkerungszahl mit Recht
genießt. Natürlich wünschen wir auch nicht, daß sich eine
Koalition in Europa gegen uns bildet; und eine solche Koahtion
gegen uns würde zustande kommen, wenn alle Völker zu der
Überzeugung gelangen, daß wir falsche Freunde und gefährliche
Gegner sind. Aber wir wünschen auch nicht, den gegenwärtigen
Status quo zu stören oder einen unserer Freunde dazu anzu-
stacheln, die Rolle des Angreifers zu spielen. Unsere Armee
reicht nicht aus für irgendwelche kontinentalen Abenteuer.
Wir wissen sehr wohl: dehnten wir das Rüstungswettrennen
auch auf die Armee aus, so würde es denselben Lauf nehmen
wie das Wettrennen um die Marine. Die anderen Mächte
würden ihre Rüstungen ebenfalls verstärken, und das Stärke-
verhältnis bliebe am Ende das gleiche. Wir werden alle unsere
Kräfte anzuspannen haben, um unsere Marine auf der Höhe
ihrer Stärke zu erhalten, und dazu ein Expeditionskorps, dessen
126 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
wir für überseeische UnternehmuDgen bedürfen. Es würde
wahrscheinlich über unsere Kräfte gehen, dazu noch eine Armee
aufzustellen, die eine entscheidende Rolle auf dem europäischen
Kontinente spielen könnte, d. h. eine Armee von der Stärke
der europäischen Volksheere. Und vor allen Dingen: wir haben
nichts zu gewinnen mit Abenteuern an irgend einem Punkte
der Welt. Unsere einzige Sorge ist, das, was wir haben, zu
erhalten und zu entwickeln. Die einzige Rolle in Europa, nach
der wir vielleicht noch streben würden, wäre die des Vermittlers.
Sonst aber liegt es im Wesen unserer Politik, unsere Ver-
pflichtungen in Europa auf ein Mindestmaß zu beschränken
und alle unsere Kräfte zu konzentrieren auf unsere inneren
Angelegenheiten und die Organisation unseres Imperiums.
Vor allen Dingen also müßten die beiden Völker ehrlich
versuchen, ihren gegensätzlichen, aber beiderseits notwendigen
Standpunkt zu würdigen. Diplomatische Künste können dabei
wenig helfen. Vonnöten ist: Volle Freimütigkeit, volle An-
erkennung der beiderseitigen Verpflichtungen und der Be-
fürchtungen, die jeder für sich oder beide gegeneinander
ehrlich hegen. Das bringt uns notwendigerweise zu einer Er-
örterung der britischen Seegewalt (Sea Power) und der deutschen
Auffassung derselben.
IL Die Beherrschung der See
1. Die britische Doktrin von der Seemacht
Die Beherrschung der See durch England ist für alle
Engländer unerschütterlicher Grundsatz. Wenn England je
versäumte, die Überseeverbindungen mit seinen selbständigen
und anderen Kolonien offenzuhalten, würde es aufhören, ein
Imperium zu sein; wenn England nicht mehr imstande wäre,
seinen Handel gegen feindliche Flotten zu schützen, hörte es
auf, eine Großmacht zu sein ; wenn England je seine Zufuhr
von Lebensmitteln nicht mehr sicherstellen könnte, hörte es
überhaupt auf, als Nation zu existieren : es wäre, sozusagen,
eine belagerte Festung, und kein Landheer, selbst das tapferste
und stärkste nicht, könnte ihm Hilfe bringen. Das ist keine
leere Phrase, sondern einfach die nackte Tatsache.
Diese Doktrin von der Seemacht ^) ist von den Engländern
instinktiv immer erfaßt worden ; aber erst in den letzten Jahren
*) Das englische Sea Power wird im deutschen gewilhnlich mit See-
macht übersetzt. Besser wäre vielleicht dafür Seemachtstellung zu wählen.
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 127
ist sie ausdrücklich von ihnen proklamiert worden. Admiral
Mahan, sagt man, hat die Engländer erst über das Geheimnis
ihrer eigenen Macht aufklären müssen ; das mag sein, aber er
hat alle anderen Nationen gleichzeitig darüber aufgeklärt.
Admiral Mahans Bücher mit ihrem allgemein verständlichen
Tatsachenmaterial und glänzenden Belegen aus der Geschichte
sind das Evangelium nicht nur des britischen, sondern auch
des deutschen Flottenvereins. Der entscheidende Einfluß der
Seemacht auf die Geschicke der Völker, die gewaltigen Vor-
teile, die der Nation erwachsen, welche die Meere beherrscht,
das ist heutzutage dem Deutschen nicht weniger geläufig als dem
Engländer. Die Lehren Mahans wurden außerdem den Land-
mächten durch eine Reihe von Ereignissen der letzten Zeit
sozusagen ad oculos demonstriert. Warum waren die Völker
machtlos, während des Burenkrieges irgend etwas gegen Eng-
land zu unternehmen? Es war die britische Flotte, die sie
daran hinderte. Was verschaffte den Japanern ihre Siege im
Kampf gegen Rußland? Einzig und allein die Tatsache, daß
Japan das Meer beherrschte und infolgedessen in Korea und
der Mandschurei Truppen landen konnte. Ein einziger russischer
Panzerkreuzer, der aus Wladiwostock ausgebrochen war, hielt
die japanischen Transporte drei Tage lang in den Häfen zurück,
d. h. so lange, bis man ihn aufgespürt hatte. Diese einfachen
und greifbaren Beispiele kamen gerade im richtigen Augenblicke,
um die Grundsätze des gelehrten Historikers und Strategen zu
bekräftigen; niemand konnte jetzt daran zweifeln, daß Seemacht
der Lebensnerv aber auch die Achillesferse eines Inselreichs
sei, sowohl im Westen als auch im Fernen Osten.
2. Einspruch des Auslandes
Aber, wird man fragen, wie ist diese britische Auffassung
mit den berechtigten Forderungen anderer Nationen in Einklang
zu bringen? Das ist ohne Zweifel eines der Grundprobleme der
britischen Politik, ein Problem, das durch die unbedachtsame
Anwendung des Ausdrucks ,, Beherrschung der See" nur noch
komphzierter geworden ist. Dieser Ausdruck, wenn ohne Ein
schränkungen und mißverständlich angewendet, stempelt das
britische Reich zu einer herrischen und aggressiven Macht; es
wäre die Anmaßung einer Oberherrschaft zur See, wie sie
keine Nation sich je unterfangen würde, zu Lande zu bean-
spruchen. Tatsächlich können wir weder uns noch andere
darüber täuschen, daß unsere Seemacht, wenn es uns so paßt.
128 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
nicht nur zur Verteidigung und zum Besten der Freiheit, sondern
ebensogut für den Angriff und zur Unterdrückung anderer ver-
wendet werden kann. Es ist unsere feste Überzeugung, daß
sie rein defensiv ist; aber unglückhch erweise läßt sich das nicht
mit Argumenten beweisen, denn dieselbe Flotte kann ganz gut
beiden Zwecken dienen. Wir können dagegen nur zu bedenken
geben, daß selbst in einem erfolgreichen Kriege gegen einen
schwächeren Gegner voraussichtlich unsere Verluste so stark
sein würden, daß unsere eigene Oberherrschaft gefährdet wäre,
und daß wir deshalb alle Ursache haben, Frieden zu halten,
es sei denn, daß wir in unseren Lebensinteressen bedroht
werden. Aber, was wir auch an Argumenten vorbringen, ein
Ausländer wird bei seiner Meinung bleiben, daß unsere Flotte
uns schon in Friedenszeiten übermäßige Vorteile verschafft.
Eine große Flotte hat einen sehr viel weiteren Wirkungs-
bereich als selbst das stärkste Heer. Die Flotte ist frei und
beweglich, ist ihr eigenes Beförderungsmittel, ist an keine
Grenzen und keine Straße gebunden, wirkt, selbst wenn sie in
den Heimatgewässern konzentriert ist, durch ihre bloße Existenz
bis in die fernsten Punkte der Erde. So erklärt es sich, daß
man sich auf dem Kontinent darüber beschwert, daß England
sich überall einmische und überall seine Hände im Spiel habe.
Darauf müssen wir entgegnen, daß tatsächlich England sich
selten oder nie in die Angelegenheiten seiner Nachbarn mischt,
es sei denn, daß die englischen weit verbreiteten Interessen
betroffen werden; aber die Tatsache, daß England sich ein-
mischen kann, und zwar mit stärkerer Wirkung und auf weitere
Entfernung als irgendeine andere Macht, ist ein mächtiger Hebel
für die englische Diplomatie, und diese Möglichkeit an sich ist
die Quelle von Reibungen mit anderen Nationen.
Die Deutschen haben ihre ,, Flottenpaniken", gerade wie wir
unsere ,,Iuvasionspaniken". Es gibt Leute in Deutschland, die
im Laufe der letzten Jahre allen Ernstes geglaubt haben, daß
wir einen plötzlichen Angriff auf Kiel planten, etwas wie eine
Wiederholung der Schlacht von Kopenhagen. Deshalb auch
die Formel in der Begründung zur deutschen Flottenvorlage :
Deutschland muß eine Flotte haben, die so gewaltig ist, daß
selbst die stärkste Seemacht sie nicht angreifen kann ohne ihre
eigene Suprematie zu gefährden. Noch ein letzter Funkt: die
anderen Mächte fühlen, daß alle Überseeunternehmungen so-
zusagen von der Gnade der stärksten Seemacht abhängen, einer
Macht, die nicht nur die größte Flotte hat, sondern auch im
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik, 129
Besitz aller Kohlen Stationen und der wichtigsten strategischen
Punkte der Welt ist. (Gibraltar, Malta, Aden, Suez-Kanal,
Singapore, Ärmelkanal.)
Dieses Problem wird dringender, je mehr auch unsere
Nachbarn auf die Einfuhr von Lebensmitteln zur Ernährung
ihrer wachsenden Einwohnerschaft angewiesen sind. Gerade
wie wir, allerdings noch nicht so intensiv, fühlen sie, daß die
Sicherheit der Seewege für sie alle von hoher, vielleicht höchster
Wichtigkeit ist.
3. Entgegnung vom britischen Standpunkt
Jeder Engländer muß gewillt sein, eher sein letztes Hemd
vom Leib wegzugeben, als die Oberherrschaft zur See zu ver-
lieren: und eine jede Nation, die davon träumt, ihm diese Ober-
herrschaft streitig zu machen, sollte erwägen, was dabei auf dem
Spiele steht. W^ir ächzen jetzt unter der Last eines 45 Mill. Pf. Sterl.
(900 Mill. Mark) betragenden Marineetats; aber selbst diese un-
geheure Summe ist nichts im Vergleich zu der Last, die wir
in einem Kampf um Leben und Tod auf uns nehmen würden.
Am Ende der napoleonischen Kriege hatten wir eine Staats-
schuld angehäuft, die im Vergleich zu unserer jetzigen Be-
völkerung, unserem Nationalvermögen und dem Wert des Geldes
am Anfang des 19. Jahrhunderts etwa einer Summe von 800 Mil-
liarden Mark entspricht. Im äußersten Falle würde uns kein
Opfer zu groß sein. Aber Ausgaben von so gewaltiger Höhe
wären ein großes Unglück für uns und unsere Nachbarn, und
wir wünschen ehrlich, sie, wenn irgend möglich, in Grenzen
zu halten. Zu diesem Zweck müssen wir der Welt im ganzen
die Überzeugung beibringen, daß unsere Politik eine friedliche
und nicht aggressive ist. Das ist das einzige Mittel. Denn in
der Theorie läßt es sich eben nicht verteidigen, daß eine Macht
die Herrschaft zur See ausübt, aber praktisch können wir be-
weisen, daß unsere Herrschaft niemand zum Schaden gereicht.
Oder, um ein praktisches Beispiel zu geben: Was würde
wohl ein kluger englischer Staatssekretär des Auswärtigen einem
Botschafter antworten, der ihm die Einwände des Auslands
gegen eine britische Herrschaft zur See darlegte? Etwa folgendes :
1. hat England keine Armee, mit der es irgendeine andere
Macht ernstlich bedrohen könnte. Keine Macht braucht
eine englische Invasion zu fürchten, während wir (Eng-
land) einer Invasion ausgesetzt wären, sobald wir die
Herrschaft zur See verlieren;
Zeitschrift für Politik. 6. 9
130 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
2. daß wir die wirtschaftlichen Vorteile, die wir kraft unserer
Seemacht erwerben, freiwillig mit aller Welt teilen infolge
unserer Politik des Freihandels und der offenen Tür.
Wenn wir irgendwo in der Welt neue Länder der Kultur
öffnen, so können alle unsere Nachbarn dort Handel
treiben unter denselben Bedingungen wie wir selbst, wenn
man von den unbedeutenden Ausnahmen der Preferenzial-
zölle in einigen Kolonien absieht. Wir tun das allerdings
nicht aus irgendwelchen Don. Quixote- Idealen, sondern
weil wir der Überzeugung sind, damit am besten unseren
eigenen Interessen zu dienen. Aber dennoch können wir
wohl verlangen, daß man uns diesen ,, aufgeklärten" Eigen-
nutz zugute hält, da er auch unsern Nachbarn zugute kommt.
4. Allgemeine Wehrpflicht, Schutzzoll und Seemacht
Entrüstet werden mich nun unsere Tarif reformer und ,,Wehr-
pflichtler" fragen, ob wir, England, uns etwa vom Ausland vor-
schreiben lassen sollen, was für ein Heer und was für eine
Handelspolitik für uns gut wäre. Über diese Entrüstung hat
man manche schwungvolle Rede gehalten. Ich denke natürlich
nicht daran, uns irgendetwas vom Auslande vorschreiben zu
lassen ; und wenn ich glauben würde, daß allgemeine Wehrpflicht
und Zolltarif für England gut wäre, würde ich dafür stimmen
und mich nicht im geringsten um das Ausland kümmern. Aber
gleichzeitig würde ich als verständiger Mann die Konsequenzen
erwägen und damit rechnen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach
dieser Wechsel in unserer Politik die Rivalität in den Seerüstungen
noch verschärfen und der Gegnerschaft gegen unsere Seeherr-
schaft eine stärkere Berechtigung verleihen würde. Und —
wir dürfen uns darüber nicht täuschen — das ist bereits ge-
schehen durch die Tarifreform- und Wehrpfiichtpropaganda der
letzten Jahre. Viele Deutsche sind der festen Überzeugung,
daß wir im Begriff sind, unsere Handels- und Wehrpolitik
von Grund aus zu ändern; daß wir uns in einem allbritischen
Zollverein gegen die übrige Welt abschließen und mit der all-
gemeinen Wehrpflicht ein Millionenheer schaffen wollen, zur
Verwendung in Europa. Darüber entrüstet sich nun wieder
der Tarif reformer: Welches Recht hat gerade Deutschland, sich
darüber zu beschweren? Deutschland mit seinem hohen Zoll-
tarif und seiner Monsterarmee? Ich antworte: Es hat kein
Recht, gar kein Recht, aber das kommt leider gar nicht in
Frage. Die Frage ist einzig und allein, wie englische Interessen
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 131
und Verpflichtungen dabei fahren würden; welche Folge es für
uns haben würde, wenn wir, die größte Seemacht, bei der
ganzen Welt den Argwohn erregten, daß wir uns mit gewaltigen
militärischen Plänen tragen und die Absicht haben, unsere
Machtstellung dazu auszunützen, um aus unserm weiten Länder-
besitz ein wirtschaftliches Monopol zu machen.
5. Eine gefährliche Ketzerei
Den letzten Punkt will ich hier nicht weiter erörtern, er
ist eine Frage der Zukunft. Nur so viel möchte ich sagen:
Ich bin der Meinung, daß grundlegende Änderungen in unserer
Wirtschaftspolitik einen tiefgehenden Einfluß auf unsere Stellung
als Seemacht haben müssen. Ob wir nun dabei gewinnen oder
verlieren, eins ist gewiß: die Welt wird sich ganz gewiß nicht
bereitwilliger in unsere Seeherrschaft fügen, wenn wir zum
Schutzzoll übergehen, als wenn wir beim Freihandel bleiben.
In der anderen Frage aber, was unsere Armee anbetrifft,
haben wir schon praktische Erfahrung, und es ist fast ein
Dogma der britischen Politik, daß eine Verstärkung unserer
Machtmittel in der Richtung, daß wir fähig sind, mit einem
Heer effektiv auf dem Kontinent einzugreifen, eine gleichzeitige
Verstärkung unserer Seerüstung bedingt. Rüstungen rufen
Gegenrüstungen hervor, ob es sich nun um Land- oder See-
rüstungen handelt. Erhöhen wir unsere gesamte Stärke, zu
Lande oder zu Wasser, so wird das Ausland dagegen rüsten;
aber es ist durchaus nicht gesagt, daß die Gegenrüstung von
derselben Art ist. Es ist für mich so gut wie sicher, daß sie
in erster Linie gegen unsere Flotte sich richten wird. Unsere
europäischen Rivalen werden suchen, uns an unserer verwund-
baren Stelle zu treffen und es uns gleichzeitig schwerer zu
machen, unser Heer für kontinentale Unternehmungen zu ver-
wenden. Als das Gerücht ging, daß wir ,, militärische Unter-
haltungen" mit Frankreich hielten, verstärkte Deutschland nicht
sein Heer, sondern brachte eine Novelle zum Flottengesetz ein.
Die Idee also, die eine Zeitlang populär war, daß wir an unseren
Ausgaben für die Flotte sparen könnten, wenn wir unser Heer
verstärkten, ist eine in jeder Hinsicht gefährliche Chimäre.
Gerade das Gegenteil ist der Fall. Indiskretes Gerede von mili-
tärischen Operationen in Europa bringt uns geradenwegs zu
höheren Flottenforderungen, und eine außergewöhnliche Ver-
stärkung unserer Armee würde ganz gewiß eine gleichzeitige
Verstärkung unserer Flotte bedingen.
9*
132 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
III. Die allgemeine Wehrpflicht und das europäische
Gleichgewicht
Der Leser wird aus dem Vorhergehenden entnehmen, daß
die Ablehnung der allgemeinen Wehrpflicht nicht etwa aus
Antimihtarismus erfolgt, sondern aus Gründen der allgemeinen
und Finanzpohtik. Der Schreiber dieser Zeilen sympathisiert
durchaus mit der Forderung nach militärischer Ausbildung als
einem ^Mittel, Charakter und Körper zu stärken, und er hofft,
daß baldigst „Wehrpflichtler" und Erzieher sich einigen in der
Forderung, die jungen Leute bis zum siebzehnten Jahre auf
Fortbildungsschulen zu schicken, und einen genügenden Teil
der so gewonnenen Schulzeit auf eine militärische Ausbildung
zu verwenden^).
Das ist nach seiner Meinung der einzig richtige Weg, um
für die Territorialarmee den nötigen Ersatz zu schaffen, und
gleichzeitig ein Reservoir, aus dem die Berufsarmee in Zeiten
der Gefahr schöpfen kann. Die Propaganda der Wehrpflichtler
hat sich aber leider nicht in dieser Richtung bewegt, sondern
hat sich beherrschen lassen von politischen Ideen, die, wenn sie
durchdrängen, zu einer Verzettelung der Kräfte des Imperiums
führen würden und zu einer Verschwendung von Geld und
Energie auf Nebenzwecke, zum Schaden der eigentlichen Quelle
unserer Macht.
1. Allgemeine Wehrpflicht und die Politik der ,, Wehr-
pflichtler"
Die Veröffentlichung des Buches des Generals Sir Jan
Hamilton ,,Ueber allgemeine Wehrpflicht" 2) und die Erörte-
') Dieser Plan ist kürzlich von General Sir Jan Hamilton (s. u.) in
Birmingham des Näheren erörtert worden. Er schlug vor, allen Knaben im
Alter von 12 bis 18 Jahren eine militärische Ausbildung zu geben. Die
jährlichen Kosten für etwa 785000 Knaben berechnete er auf 380000 Pfund
Sterling (etwa 7600000 Mark), die auf den Schul etat zu übernehmen seien.
^) Dieses Buch war ursprünglich ein Memorandum, das General Sir
Jan Hamilton im Auftrage des damaligen Kriegsministers, Mr. Haidane —
jetzt Lordkanzler Haidane — ausgearbeitet hatte, um dem Kabinett ein
fachmännisches Urteil über diesen Punkt zu unterbreiten. Das Buch wurde
von Lord Eoberts und der National Service League, eben den „Wehrpflicht-
lern", scharf angegi-iffen, und in einer Gegenschrift zu widerlegen versucht.
Beide Teile beharrten und beharren übrigens noch bei ihrer Meinung, der
erst kürzlich wieder Lord Eoberts in seiner Eede in Manchester scharfen
Ausdruck gab.
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 133
rungen über das Buch haben in dieser Hinsicht die erwünschte
Klarheit gebracht. Es stellte sich sehr bald heraus, daß die
Leute, denen es mit der Einführung der allgemeinen Wehr-
pflicht ernst war, die Aufgabe der so geschaffenen Armee durch-
aus nicht nur in einer Defensive (gegen eine Invasion) in Eng-
land selbst sahen. Sir Jan Hamilton hatte in seinen Büchern
die Absurdität der nur in England operierenden rein defensiven
Armee schlagend bewiesen. Es wurde deshalb auch sofort von
allen Seiten zugegeben, daß keine noch so gewaltige Armee im-
stande wäre, die Situation zu retten, wenn England die Herr-
schaft zur See einmal verloren hat : zur See geschlagen, befindet
es sich im Belagerungszustand, auch ohne jede Invasion. Die
ganze Propaganda der Wehrpflichtler beruhte vielmehr darauf,
daß diese Armee, rekrutiert auf Grund allgemeiner Wehrpflicht,
auf dem europäischen Kontinent zur Verwendung kommen
sollte, und deshalb auch eine Ausbildung ähnlich der der kon-
tinentalen Armeen erhalten müßte. Das wird ganz klar aus-
gesprochen in dem Buch, das unter der Ägide Lord Roberts'
von der National Service Leagiie als Entgegnung veröffentlicht
wurde. Die Schätzung der Kosten einer solchen Armee auf
6000000 Pfund Sterling ist deshalb nicht der Erörterung
wert; eine solche Armee würde uns jedenfalls das Doppelte
oder Dreifache kosten. Denn die Höhe der Kosten, gerade
wie bei unserem Marineetat, würde nicht davon abhängen, was
wir gern möchten, sondern davon, was die anderen Mächte
tun, und von der Stärke, Ausbildung und Ausrüstung der
Armeen unserer mutmaßlichen Gegner. Mit einem Wort: eine
Armee, auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht ausgehoben,
würde uns ganz ebensoviel kosten als die anderer Mächte.
Aber, abgesehen von diesen und anderen technischen
Schwierigkeiten, und angenommen, daß England die allgemeine
Wehrpflicht einführen könnte und würde, wenn die Nation es
will und seine Politik es verlangt, muß dann nicht zuerst die
Frage beantwortet werden: Ist die Politik eine gesunde, die
einer solchen Armee bedarf, und kann man es einer Nation,
die wie Großbritannien schon so gewaltige Summen für ihre
Rüstungen ausgibt, zumuten, noch außerdem die ungeheuren
Kosten der allgemeinen Wehrpflicht auf sich zu nehmen? Einer
der Mitarbeiter in dem oben genannten Buche des Lord Roberts
stellt fest, daß wir in einer ,, durchaus nicht fernen Zukunft"
mit einem Marineetat von 60 bis 80 Millionen Pfund Sterling
(1200 bis 1600 Millionen Mark) zu rechnen haben, ,,um auch
134 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
nur das gegenwärtige Stärkeverhältnis zu den Flotten unserer
Rivalen aufrecht zu erhalten"; aber diese Aussicht macht ihn
nicht etwa bedenklich, ob es weise sei, auch noch unsere Aus-
gaben für das Heer zu erhöhen. — ,,Die 80 Millionen -Flotte
und allgemeine Wehrpflicht", anders sei das Empire nicht vor
sicherem Untergang zu retten! Die Finanzierung ist für ihn
augenscheinlich ein Detail, das der Finanzminister auf Grund
der Forderung der Sachverständigen zu arrangieren hat. Ich
wiederhole hier, was ich schon oben sagte: der Engländer ist
bereit, jedes Opfer zu bringen, um die Seeherrschaft Großbri-
tanniens aufrecht zu erhalten; was aber die Ausgaben für die
Armee anbetrifft, so hat er darin durchaus nicht dieselbe Opfer-
willigkeit. Er kennt instinktiv und aus praktischer Erfahrung
die Notwendigkeit der Seemacht und die Politik, deren Diener
sie ist. Aber er weiß nicht, und niemand hat es ihm bisher
in allgemein verständlicher Weise erklärt, wozu die allgemeine
Wehrpflicht und ein Massenheer dienen sollen. Und diese Er-
klärung muß ihm gegeben werden, nicht von militärischen
Sachverständigen, von Berufs- oder Amateurstrategen, sondern
von seineu Staatsmännern. Ein Massenheer für den Krieg
auf dem europäischen Kontinent ist nur als das Instrument
einer bestimmten Politik denkbar, und wir müssen vorerst wissen :
Worin besteht diese Politik?
2. Das europäische Gleichgewicht
Wenn man Militärs diese Frage vorlegt, erhält man gewöhn-
lich zur Antwort, daß wir verpflichtet seien, das europäische
Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Die Legende ist im Umlauf,
daß Sir Edward Grey in einer seiner öffentlichen Reden uns
in aller Form dazu verpflichtet habe; aber den Beweis dafür,
das wörtliche Zitat, ist man uns stets schuldig geblieben. Sir
Edward Grey ist natürlich viel zu klug und vorsichtig, als daß
er unser Land je auf eine Formel verpflichtet hätte, die, wenn
sie überhaupt einen Sinn hat, uns sozusagen in jeden europäi-
schen Krieg verwickeln würde. In Wahrheit ist dieses europäische
Gleichgewicht eine Fiktion der Rechtsgelehrten einer vergangenen
Zeit, und hat in der modernen Welt wenig oder keinen Sinn.
Wenn wir uns in der Geschichte umsehen, finden wir in Wahrheit
immer eine Macht in der Vormachtstellung, der aber, trotz alle-
dem, enge Grenzen der Betätigung gesetzt sind, und die, sollte
sie diese Grenzen überschreiten, ein gewaltiges Risiko läuft.
Tatsächüch und erfahrungsgemäß ist der Friede in Europa
Spender, Die (Tnindlagen der britischen Politik. 135
immer am besten gesichert gewesen nicht durch ein empfind-
Hches und schwankendes Gleichgewicht zwischen gleichen oder
annähernd gleichen Mächten, sondern durch ein mäßiges Über-
gewicht einer Macht, die man nicht leichthin herausfordert,
die aber mehr zu verlieren als zu gewinnen hat, wenn sie die
anderen herausfordernd behandelt. Diese Bedingungen der
europäischen Lage sind heutzutage nicht weniger, sondern mehr
zutreffend; die wirtschaftliche Anarchie, die selbst ein glück-
hcher Krieg zur Folge hat, die Verluste, die selbst dem Sieger
drohen, sind unter modernen Verhältnissen, mehr als je vorher,
ein höchst wirksames Abschreckungsmittel.
Es ist somit nicht unsere Sache, das europäische Gleich-
gewicht aufrecht zu erhalten, wenn man darunter versteht, daß
wir unser Gewicht in die Wagschale zu werfen haben gegen
die stärkste Macht, um diese Macht zu verhindern, der Vor-
teile teilhaftig zu werden, die ihr kraft ihrer Bevölkerung und
Stärke zustehen. Wir würden es Deutschland sehr verübeln,
wenn die Deutschen erklärten, es sei ihre Mission in der Welt,
das Gleichgewicht auf den Meeren gegen Großbritannien auf-
recht zu erhalten; wir können kaum annehmen, daß es den
Deutschen angenehmer klingt, wenn die Engländer erklären,
es sei ihre Pflicht, das Gleichgewicht zu Lande gegen Deutsch-
land wiederherzustellen. In beiden Fällen verbirgt die ,, schöne
Phrase" schlecht die feindliche Absicht. Damit die Gereiztheit
nicht chronisch werde, vermeiden wir besser die veraltete Ter-
minologie und die Gedanken, die sie erweckt. Wenn wir diese
Phrase erst los sind, erscheint das Problem sofort vereinfacht.
An Stelle einer vagen Formel, die uns zu Allem oder zu Nichts
verflichtet, setzen wir ein klares Prinzip und festbegrenzte Ver-
pflichtungen. Das Prinzip ist, unsere Politik so einzurichten,
daß wir keine feindliche Kombination zu fürchten haben, die
stärker ist als unsere Machtmittel, wie wir sie uns mit einem in ver-
nünftigen Grenzen gehaltenen Aufwand für die Rüstungen ver-
schaffen können. Unsere Verpflichtungen sind in der Haupt-
sache diejenigen, die wir Frankreich und Rußland gegenüber
eingegangen sind. Sie sind in den Abkommen mit diesen beiden
Staaten genau definiert. Dagegen gehört es nicht zu
unserer Politik, diesen Abkommen eine weite und
vage Auslegung zu geben, die sie zu Bündnissen
für europäische Zwecke machen würde, oder sie so
auszulegen, als ob sie freundschaftliche Beziehung
zu Deutschland ausschlössen.
136 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
IV. Die Stellung des Eeichs (Empire) zu der Frage
Meine Zeitgenossen, die wie ich in mittleren Jahren stehen,
werden sich noch daran erinnern, daß die ältere Generation
mit einer gewissen ,, düsteren Zuversicht", den unausbleiblichen
Zusammenbruch der damals bestehenden großen europäischen
Reiche voraussagte. Sie hatten den Untergang des französischen
Kaiserreichs erlebt; sie zweifelten stark an der Stabilität des
Deutschen Reiches; sie waren sicher, daß Österreich-Ungarn in
Stücke gehen würde; sie betrachteten die Lostrennung der bri-
tischen Kolonien vom Mutterlande entweder als ,, bedingt in
den unvermeidhchen Gesetzen der Evolution", oder sogar als
ein erstrebenswertes Ziel. Und doch: heute, nach 40 Jahren,
ist keine dieser Prophezeihungen eingetroffen, und selbst das
Türkische Reich besteht noch. Es lohnt sich, dieser scheinbar
so plötzhchen Umwandlung von zentrifugalen in zentripetale
Kräfte auf den Grund zu gehen. Vielleicht finden wir dabei
das Geheimnis der modernen Weltreiche.
1. Die große zentripetale Tendenz
Die verschiedenen Staatssysteme, eben die Weltreiche, stehen
in einem ganz bestimmten Verhältnis zueinander. So lange
eins der Systeme zusammenhält, stellen sich die Aussichten
des andern, ebenfalls zusammen zu halten, günstiger. Wäre
zum Beispiel das Deutsche Reich wieder auseinander gefallen,
anstatt sich zu einer festen Masse zu konsolidieren, so wären
damit überall in Europa zentripetale Kräfte ausgelöst worden.
Bismarck, so möchte man meinen, hielt die Einverleibung
Elsaß-Lothringens nicht nur für eine strategische, sondern be-
sonders auch für eine politische Notwendigkeit. Frankreich,
sah er voraus, würde alles daran setzen die verlorenen Provinzen
zurück zu erobern; die Furcht vor dem Revanchekriege sollte
die deutschen Staaten zusammenhalten, um den Angriffen, so-
lange das Nationalgefühl noch nicht genügend erstarkt war,
gerüstet und geeint unter einem obersten Kriegsherrn
entgegenzutreten.
Andererseits wurde der Haß gegen Deutschland zum Band,
das das französische Volk zusammenschmiedete, und den Be-
stand der Republik, als der Regierungsform, auf der alle Par-
teien sich noch am ehesten einigen konnten, gegen innere und
äußere Feinde sicherstellte. In ähnlicher Weise wirkte, wenn
auch vielleicht nicht mit gleicher Stärke, die Furcht vor Ruß-
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. lo7
land in Deutschland und die vor Deutschland in Rußland. In
Österreich-Ungarn war es die Überzeugung, daß nur eine große
geeinigte Macht gegen die anderen größeren Einheiten jenseits
der Grenzen sich behaupten und den inneren Zerfall verhüten
könnte. Und in Italien endlich ist es die Existenz von großen
gefestigten Staatssystemen im Norden und Osten, die ein
Zurückfallen in die alte Zeit der kleinen Fürstentümern und
Herrschaften zum Unding macht. So, um zusammenzufassen,
drücken also die Nationen gegenseitig von außen aufeinander,
und dieser Druck von außen hält die verschiedenen Systeme
zusammen. Diese zentripetale Tendenz ist durchaus vereinbar,
wie es Deutschland und Osterreich zeigen, mit einem erheb-
lichen Maß von Selbständigkeit der Teile und Verschiedenheit
in der Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten. Die Reichs-
regierungen zentralisieren die Reichswehr, lassen aber sonst der
Selbständigkeit der Teile einen weiten Spielraum, im Vertrauen
auf die einigende Kraft der gemeinsamen Interessen. Gerade
wie der Großbetrieb, so ist die Großmacht der Typus der mo-
dernen Welt; die Kleinstaaten, die ihre Unabhängigkeit be-
haupten, können es nur unter der Protektion der Großmächte.
2. Einfluß auf das britische Weltreich
Genau dieselbe Tendenz ist im Britischen Weltreich am
Werke. In einer Welt, die aus Kleinstaaten betände, wäre es
Großbritannien außerordentlich schwierig, vielleicht unmöglich,
allein als einziges Weltreich zu bestehen. Die englischen Staats-
männer der 50 er Jahre träumten vom Weltfrieden und dachten
sich Europa als ein System von einer großen Zahl verhältnis-
mäßig kleiner Nationalitäten, die unbehelligt von stärkeren
Nachbarn, weder starke Rüstungen hatten, noch ehrgeizige
Pläne hegten. War dies ihr Ideal, so konnten sie mit heiterer
Resignation der Zeit entgegensehen, in der die britischen
Kolonien ihr Mannesalter erreichen, und Anspruch auf Unab-
hängigkeit erheben würden. Auf keinen Fall, so dachten sie,
würde das zu ihrem Schaden sein, und jedenfalls könnten die
Beziehungen zum Mutterlande immerhin freundschaftliche und
sympathische bleiben. Der moderne Staatsmann dagegen muß
sich fragen, wenn er die riesigen Rüstungen und hochstrebenden
Pläne der anderen Großmächte betrachtet: ,,Wo werden wir
bleiben, Mutterland und Tochterstaaten, wenn wir nicht zu-
sammenhalten?"
138 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
All dies ist eigentlich selbstverständlich, und doch wird es
von unseren Parteipolitikern nur zu oft außer acht gelassen,
in ihrer Suche nach einem neuen Bindemittel, einem politischen
oder wirtschaftlichen Allheilmittel, durch dessen Anwendung
allein das Reich vor dem sonst unvermeidlichen Zusammen-
bruch zu retten sei. Die Leute reden, als ob wir noch in der
Welt der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts lebten, —
und diese Welt war selbst damals zum Teil wenigstens ein
Phantasiegebilde — in einer Zeit, als jede kleine Gemeinschaft
ein Reich unter eigener Flagge aufrichten konnte, unter dem
bewundernden und uneigennützigen Applaus der anderen
Nationen. Diese Zeit, wenn sie jemals war, ist gründlich vor-
über, und es ist kaum noch ein Paradox, zu behaupten, daß
als ,, Zement" des Britischen Weltreiches, die deutsche Flotte
hundertmal mehr wert ist, als Präfenzerialzölle und sogar als
ein gemeinsamer ,, Reichsrat" i).
Das ist nicht bilhger politischer Zynismus; wir können
eher dankbar dafür sein, daß die ungeheuren Kosten, die uns der
Rüstungswettkampf aufzwingt, wenigstens diesen positiven Posten
auf der Kreditseite ergeben. Blutsverwandtschaft, Traditionen,
Geschichte, die Gefühlsmotive, spielen zwar noch immer eine
große Rolle; aber dieser Zwang zu Einigkeit, dieser Druck von
außen ist die starke und reale Triebkraft. Angenommen, die
großen britischen Kolonien wären nicht spezifisch britisch in
ihrem Empfinden, und hätten für keine der anderen großen
Nationen eine besondere Vorliebe, so würden ihnen verschiedene
Möglichkeiten des Anschlusses offenstehen. Die eine könnte sich
Deutschland anschließen, eine andere den Vereinigten Staaten,
eine dritte Frankreich. In jedem System müssen wir einen
allen Teilen gemeinsam ,, Anziehungspunkt" der Empfindung
und Tradition voraussetzen, der stärker ist, als die Anziehungs-
kräfte der anderen Systeme. Auf die Frage, warum die briti-
schen Kolonien den Anschluß an das Mutterland allen an-
deren möglichen Verbindungen vorziehen, müssen sie eine
*) „Imperial Council" (Eeicbsrat): Eine Art Bundesrat füi* das Muttei^
land und die Tochterstaaten (selbständige Kolonien), der als nächster Schritt
in der Konsolidierung des britischen Imperiums von den Imperialisten erstrebt
wird. Die Zuziehung eines kanadischen Ministers zu den Sitzungen des
Imperial Committee of Defence (Reichsverteidigungskomitee), die der kana-
dische Premier, Mr. Borden, in seiner Rede am 5. Dezember im kanadischen
Parlament zur Bedingung der Schenkung der drei „Dreadnoughts" gemacht
hat, ist ein weiterer Schritt auf dem Wege zu diesem Reichrat.
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 139
entschiedene und positive Antwort geben, die im besten Sinne
des Wortes auf ,, sentimentaler" Grundlage ruht. Ist diese
Antwort unklar, so steht die Sache der Einigung von vorn-
herein schlecht, und keine noch so starke Organisation kann
das ändern. Im anderen Falle dagegen, wenn die Bevorzugung
des britischen Systems vor allen anderen klar und positiv ist,
so können wir mit Zuversicht behaupten, daß der Trieb, das
Imperium in einem gemeinsamen Wehrsystem zu einigen,
heute stärker ist als je vorher in unserer Geschichte.
3. Logische Dilemmas und praktische Folgerungen
Tatsächlich ist dieser Trieb, diese treibende Kraft, seit
30 Jahren mächtig am Werk, und besonders seit dem Buren-
kriege. Das sehen wir an den verschiedenen Reichs-(Kolonial-)
Konferenzen, Wehr- und Pressekonferenzen. Der Gedanke,
lokale Wehrkräfte zu organisieren und das Mutterland in irgend-
einer Weise in der Reichsverteidigung zu unterstützen, ist
lebendiger als je zuvor. Die Bevölkerung in unseren ,, Gebieten
jenseits der Meere", braucht nur über die Bedingungen und
Möglichkeiten eines modernen Krieges unterrichtet zu werden,
und sofort wird der Wunsch lebendig, dem Mutterland zu helfen.
Das gibt unseren Pessimisten sofort neue Veranlassungen zu
Zweifeln und Befürchtungen. Rein strategische Erwägungen
kommen in Konflikt mit politischen Grundsätzen. Unsere
Admiralität und das Kriegsministerium finden es natürlich
wünschenswert, daß die überse^eischen Streitkräfte ihnen un-
bedingt zur Verfügung stehen. Die Regierungen unserer Über-
seegebiete^) fordern ^ und das ist von ihrem Standpunkt aus
eben so selbstverständlich — daß der Grundsatz der selbständigen
Regierung auch auf die navalen und militärischen Angelegen-
heiten angewendet wird. Südafrika und Neuseeland sind es
zufrieden, direkt mit Geldsummen zu den Kosten der britischen
Marine beizutragen; Australien und Kanada dagegen ziehen es
vor, eigene Kriegsmarinen unter eigener Kontrolle zu errichten -).
^) D. li. Kolonien. Gemeint sind die großen selbständigen Kolonien.
Der Ausdruck „Dominions heyond the Sea" wurde beim Regierungsantritt
König Edward VII. gewählt, um den großen selbständigen Kolonien entgegen
zu kommen, für die der Ausdruck ,, Kolonie" immer etwas wie , .Hörigkeit"
in sich schloß. Heute werden sie mit Vorliebe „Tochterstaaten" oder noch
lieber ,, Schwesterstaaten" genannt.
^) Das wenigstens war der Plan der liberalen kanadischen Eegierung.
Die jetzt herrschende konservative Eegierung hat andere Absichten, die der
140 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
Aus Kanada, Südafrika und Australien hat man die Mei-
nung vernommen, daß immerhin Umstände eintreten könnten,
unter denen die Regierungen dieser Gebiete bei einem Kriege,
in den das Mutterland verwickelt wird, neutral bleiben könnten.
In allen diesen Gebieten aber stellt man die Bedingung, daß
die lokalen Streitkräfte dem Reich, d. h. dem Mutterlande, nur
zur Verfügung stehen, nachdem die betreffenden Parlamente
ausdrücklich ihre Zustimmung gegeben haben. Man hat über
diese Vorbehalte bedenklich den Kopf geschüttelt und zahl-
reiche und gelehrte Abhandlungen geschrieben über die an-
geblichen Gefahren, die nach den Gesetzen strenger Logik sich
aus ihnen entwickeln könnten. In Wahrheit ist indessen diese
Kontroverse eine rein akademische. Keine dieser von Juristen
ausgeklügelten Fälle wird vorkommen, solange Großbritannien
seine Seeherrschaft aufrecht erhält; und wenn es das erst nicht
mehr kann, ist es überhaupt überflüssig, noch weiter zu argu-
mentieren. Es ist einzig und allein die Macht Großbritanniens,
des Mutterlandes, die die selbständigen Gebiete überhaupt erst
in die Lage versetzt, Krieg oder Frieden zu wählen. Fällt
diese Macht, so würde nicht mehr das betreffende Parlament
entscheiden, ob Krieg oder Frieden, sondern der Feind würde
seinen Willen diktieren. Aus diesem Dilemma gäbe es nur
einen Ausweg, — Lostrennung, und diese ist ausgeschlossen,
da, wie wir oben ausführten, der Anschluß an ein anderes
Staatssystem nicht die Vorteile bietet wie Verbleiben im briti-
schen Reiche.
Für die Dominien sowohl als auch für das Mutterland, ist
deshalb die Aufrechterhaltung der britischen Seeherrschaft die
höchste Aufgabe, und es handelt sich für beide darum, eine
Wehrorganisation auf Gegenseitigkeit zu gründen, die das Prinzip
der Selbständigkeit nicht verletzt, dieser Selbständigkeit, die
so recht der Eckstein des britischen politischen Systems ist.
kanadische Premierminister am 5. Dezember v. .J. dem kanadischen Parlament
in Ottawa vorlegte. Danach stellt Kanada dem Mutterland sofort die Summe
von 35 Millionen Dollars (7 Millionen Pfund Sterling) zur Verfügung zum
Bau von drei Großkampfschiffen („Dreadnoughts"). Die Errichtung einer
eigenen kanadischen Flotte bleibt „späterer Erwägung vorbehalten". Die
Vorlage ist vom kanadischen Parlament noch nicht angenommen, wird aber
wohl, trotz des Widerspruchs der liberalen Partei, durchgehen. Das Memo-
randum der britischen Admiralität, das im kanadischen Parlament verlesen
wurde und auf das sich die kanadische „Subvention" stützt, soll hiermit ganz
besonderer Beachtung empfohlen werden.
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 141
Der Grundzug unserer Zeit ist, daß die Dominien sich der
Wichtigkeit dieser Frage bewußt werden. An uns ist es, ihnen
die Wege zu ebnen. Das tun wir aber nicht, wenn wir sie
beständig vor ausgeklügelte logische Dilemmas stellen, wie es
einige unserer Imperialisten und Strategen belieben. Entweder,
so hört man diese Leute sagen, stellt ihr — die Dominien —
euch unter die unbedingte Kontrolle der britischen Admiralität,
oder eure Marinen sind ohne Wert für den Kriegsfall; ent-
weder müßt ihr euch ohne jeden Vorbehalt zur Unterstützung
des Mutterlandes verpflichten, oder das Mutterland kann über-
haupt nicht auf euch rechnen; entweder müßt ihr mehr tun
und euch enger an uns anschließen, oder ihr könntet, wenn
es wirklich zum Kriege kommt, ebensogut nichts tun. Wenn
man diesen logischen Pedanten folgte, würden wir vielleicht
eine Reichsflotte unter der Kontrolle der Admiralität in London
haben; aber das britische Imperium würde bald aufhören zu
existieren. Denn es würden uns bald wieder alle jene Streit-
fragen trennen — Steuerfragen, Vertretung im Parlament,
politische Kontrolle usw. — , die uns seinerzeit die amerika-
nischen Kolonien kosteten. Wir haben nun einmal damit zu
rechnen, daß die selbständigen Dominien nicht willens sind,
die Kontrolle über die Wehrkräfte, die sie mit ihren Steuern
bezahlen, aus der Hand zu geben. Der deutsche Generalstab
ist ohne Zweifel der Meinung, daß unter solchen Umständen
der Wert dieser Kräfte für den Kriegsfall gleich null ist. Der
Engländer aber, der an die britische Art gewöhnt ist, versteht,
daß es die unerläßliche Bedingung ist, die gegenseitige Unter-
stützung zu gewährleisten.
4. Ein Akt des Glaubens
Die loyale Anerkennung dieser Bedingung, nämlich, daß
die Parlamente der Dominien aus freien Stücken ihre Zustim-
mung geben, ist sozusagen der Akt des Glaubens, auf dem
das ganze britische System ruht. Wenn wir nicht glauben, daß
die Parlamente im Augenblick der Not und Gefahr aus freien
Stücken ihre Zustimmung geben werden, für die gemeinsame
Sache einzutreten, oder wenn wir denken, daß die Parlamente
reif für die Lostrennung sind, so gibt es dagegen keine Abhilfe,
und rein mechanische Mittel, sie gegen ihren Willen an uns
zu binden, würden die Sache nur noch schlimmer machen.
Aber wenn — und das ist unsere Ansicht — die Zeichen der
Zeit dahin zu deuten sind, daß die Ergebenheit an die gemein-
142 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
same Sache sozusagen aus sich selbst heraus wächst, und die
Erkenntnis zeitigt, daß nur eine wirkhche Einheit die nötigen
Garantien für die Freiheit und Sicherheit der einzelnen Teile
bietet, so können wir um unsere Zukunft beruhigt sein. Die
Lösung der Probleme allerdings besteht in einem allmählichen
Wachsen, nicht in einer plötzlichen ,, Erfindung". Es kann nicht
die Aufgabe unserer Staatsmänner sein, einen Plan fix und
fertig auszuarbeiten und dem Reich ,, auf zuoktroyieren"; viel-
mehr werden viele Staatsmänner der Reihe nach, im Mutter-
land und den Dominien, langsam ein System entwickeln, das
die strategischen Forderungen mit den politischen Grundsätzen
soweit aussöhnt, daß sich damit praktisch arbeiten läßt. Das
mag mit der Schöpfung eines ,, zentralen Reichsrats" erreicht
werden, oder auf irgendeinem anderen Wege: nötig ist auf
jeden Fall eine gemeinsame Auffassung davon, was das Reich
uns ist, und Übereinstimmung in den Hauptgrundlinien seiner
Politik. Deshalb ist so wichtig, was auf der letzten Reichs-
(Kolonial)Konferenz zum erstenmal geschah: vertrauliche Mit-
teilungen vonseiten des Staatssekretärs des Auswärtigen über
die auswärtige Politik, und sein Versprechen, die Dominien bei
wichtigen Angelegenheiten ins Vertrauen zu ziehen. Wenn das
fortgesetzt und zur Regel wird, so werden die oben erwähnten
Vorbehalte der Regierungen der Dominien jede praktische Be-
deutung verlieren. Denn die Regierung in London wird stets
darüber unterrichtet sein, für welche Dinge sie auf die Unter-
stützung der Dominien rechnen kann, und für welche sie das
nicht kann, und wird ihre Politik so einrichten, daß diese Unter-
stützung stets außer Frage ist. Diese Politik muß notwendiger-
weise, glaube ich, eine friedliche sein. Ihr Ausblick würde
auf die weite Welt gerichtet sein und weniger ausschließlich
auf Europa; sie wird es sich zur Aufgabe machen, eine Ver-
wickelung in rein diplomatische Streitigkeiten zu vermeiden.
Ihr Grundstein würde die Seemacht sein, und die Aufrecht-
erhaltung der vorherrschenden Flotte der erste Artikel ihres
Glaubensbekenntnisses.
V. Eine deutsch-englische Detente
Wollen wir zu Deutschland dauernd in bessere Beziehungen
treten, so müssen wir gewisse Dinge vollständig vergessen;
andere dagegen, die während der letzten sechs Jahre Gegen-
stand der Kontroverse gewesen sind, sorgfältig im Gedächtnis
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 143
behalteD. Wir müssen uns nicht länger einbilden, daß es
unsere Mission sei, das europäische Gleichgewicht wieder her-
zustellen. Wir dürfen auch nicht mehr leichthin so reden, als
ob wir einen kontinentalen Krieg mit großen Truppenmassen
planten, und unsere Streitkräfte daraufhin organisierten. Na-
türlich würden wir in jedem Krieg, in den wir verwickelt
werden, alle unsere Kräfte einsetzen, zu Lande und zu Wasser,
um ihn erfolgreich zu Ende zu führen; und wenn wir un-
glücklicherweise im Kriege gegen Deutschland ständen, w'ürden
wir natürlich je nach Notwendigkeit Armee und Marine ein-
setzen. Aber es ist recht wünschenswert, keinen unserer Nach-
barn darüber im Zweifel zu lassen, daß wir in erster Linie
eine Seemacht sind; daß, was wir für unsere Freunde und
gegen unsere Feinde leisten können, in erster Linie und haupt-
sächlich von unserer Marine und nicht von unserer Armee
abhängt; daß endlich die Aufrechterhaltung unserer Marine
unsere Hauptaufgabe ist, und daß kein Traum von militärischem
Ruhm uns dieser unserer Hauptaufgabe untreu machen wird.
Halten wir daran fest, so mag eine gewisse Rivalität fort-
bestehen, aber keine Bitterkeit und Feindschaft zwischen uns
und einer der großen europäischen Militärmächte. Wir würden
in diesem Falle nur tun, was ganz Europa als unsere Pflicht
anerkennt; unsere Vertrags Verpflichtungen würden nicht mit
der deutschen Politik kollidieren, es sei denn, daß Deutschland
aggressiv vorgehe, eine Handlungsweise, die es selbst durchaus
in Abrede stellt. Dann bleibt immer noch die Möglichkeit einer
gegenseitigen vertraglichen Einschränkung der Seerüstungen
offen. Wir aber können nicht mehr darauf dringen: die Er-
fahrung lehrt uns, daß dahingehende Vorschläge, wenn die-
selben von der vorherrschenden Seemacht ausgehen, der an-
deren schwächeren immer Anlaß zu schweren Mißverständnissen
geben. Aber was verschiedene britische Regierungen in dieser
Hinsicht geäußert haben, behält seine Gültigkeit. Die Gründe
für eine solche Einschränkung der Seerüstungen, w^obei sich
das Stärkeverhältnis der rivalisierenden Mächte nicht verschieben
würde, haben noch das gleiche Gewicht, werden vielleicht im
Laufe der Zeit noch schwerer wiegen.
1. Deutsche Anklagen und britische Entgegnungen
Eine Detente in den Seerüstungen indessen, wenn wir je
dahin kommen, wird einer politischen Detente folgen, ihr nie
vorangehen. Die Schiffsbauprogramme sind ein Ausdruck der
144 Spender. Die Grundlagen der britischen Politik.
Politik und werden automatisch steigen und fallen, jenachdem
unsere Beziehungen schlechte oder gute sind. Ein Engländer,
der eine politische Detente wünscht, muß ein wenig aus sich
herausgehen und sich in Deutschlands Lage versetzen, um zu
verstehen, was man in Deutschland Großbritannien und der
britischen Politik vorwirft. Wir können eine Stimmung nicht
als reine Unvernunft bezeichnen, die durch das ganze Volk
geht, und die, wie Engländer wissen, die Deutschland besuchen
oder deutsche Freunde haben, von durchaus verständigen und
ruhigen Leuten geteilt wird, selbst solchen, die England sonst
wohlwollen. Wenn wir die Anglophoben und alldeutschen
Jingoes beiseite lassen, was wirft man uns in Deutschland vor?
In der Hauptsache, daß Großbritannien seine Seemachtstellung
mißbraucht zur Durchführung einer ,, Sperrpolitik" gegen jede
Nation, die es für seinen Konkurrenten oder Rivalen hält. So
erging es Rußland, dessen Zugang zu den warmen Wassern
des Mittleren und Fernen Ostens England blockierte, und das
es mit allen Mitteln auf seine Steppen und den kalten Norden
zurückzutreiben trachtete. So erging es Frankreich, wenigstens
bis zum Jahre 1904, als die englische Politik eine plötzliche
und unerklärliche Schwenkung machte. So ergeht es Deutsch-
land jetzt: die englische Politik durchkreuzt die deutsche in
China, legt ihr Veto ein gegen eine Endstation der Bagdad-
bahn am Persischen Golf, mischt sich ohne jede Berechtigung
in den Marokkohandel ein, und verhindert Deutschland, sich
mit Frankreich über die Besetzung eines marokkanischen Hafens
zu einigen, zwingt es, sich mit Kompensationen zufrieden zu
geben, die, fern ab vom Meere gelegen, der britischen See-
macht genehm oder doch nicht zu unangenehm sind. Der
Stein des Anstoßes ist immer wieder die britische Seemacht,
ihr ungreifbarer, mysteriöser, weitreichender Einfluß, der Eng-
land befähigt, die Hände überall im Spiel zu haben, Englands
Nachbarn von ihrem ,, Platz in der Sonne" wegzudrängen, und
sich ohne jede Berechtigung in Dinge einzumischen, die es
nichts angehen.
So geht die Rede: oft ausgeschmückt mit plausiblen und
nicht selten freierfundenen Details, und erhält neue Nahrung
mit jedem diplomatischen Waffengang, aus dem Deutschland
tatsächlich oder vermeintlich als der ,, Zweitbeste" hervorgeht.
Der Engländer entgegnet natürlich : Die Tatsache, daß Deutsch-
land sich beschwert, ist gerade der Beweis dafür, daß seine
ehrgeizigen Pläne es nicht zur Ruhe kommen lassen, daß es
Spender, Die Grundlaj^en der britischen Politik. 145
aggressive Absichten hat, denen England sich pflichtgemäß
widersetzen muß. Darauf entgegnen die Deutschen, daß sie
nichts mehr erbittere, als diese selbstgerechte Pose der beleidig-
ten Unschuld, in der sich der Engländer gefalle. So geht es
hin und her, und wir kommen nicht weiter. Ob diese gegen-
seitigen Empfindungen nun berechtigt sind oder nicht, wir
haben mit ihnen als Tatsachen zu rechnen. Gibt es ein
Mittel dagegen?
2. Taten, nicht Worte
Der Versicherungen und Beteuerungen sind wirklich genug
gewechselt; man verlangt in beiden Ländern Taten, nicht Worte.
Beide Länder versichern, daß sie mit gewissen Machtmitteln
zu rechnen haben, deren mutmaßlicher Gebrauch sich nicht
mit Sicherheit voraussagen läßt. Die Regierungen wechseln;
die Rüstungen aber, die von einer Regierung rein zur Defensive
bestimmt waren, können in der Hand einer anderen, ihrer Nach-
folgerin, aggressiv verwendet werden. So versichern die Staats-
männer ,,von ihrer hohen Warte"; tatsächlich aber macht es
einen gewaltigen Unterschied, ob die Beziehungen der einzelnen
Mächte zueinander freundschaftlich oder das Gegenteil sind.
Die große österreichisch - ungarische Armee könnte vielleicht
gegen Deutschland verwendet werden; tatsächlich aber sind
es die deutschen Staatsmänner zufrieden, anzunehmen, daß sie
für Deutschland verwendet werden wird. Frankreichs Land-
und See -Streitkräfte könnten vielleicht gegen Großbritannien
verwendet werden; tatsächlich rechnet die britische Politik da-
mit, daß sie für Großbritannien stehen werden. Ebenso würde
es für die Höhe der Flottenetats der beiden Länder, Deutsch-
lands und Englands, einen gewaltigen Unterschied machen, wenn
Deutschland die Überzeugung gewänne, daß die britische See-
macht nicht unbedingt gegen Deutschland verwendet werden
wird. Diese Überzeugung aber läßt sich nur schaffen, wenn
das diplomatische Sichaneinanderreiben aufhört, und das große
Publikum allmählich die Überzeugung gewinnt, daß man nicht
darauf aus ist, sich gegenseitig ein Bein zu stellen.
Diese Ausführungen beschäftigen sich mit britischer Politik ;
es liegt somit nicht in ihrem Rahmen, näher auf die deutsche
Politik einzugehen. Aber, um es kurz zu sagen, die Aufgabe
der deutschen Politik würde es sein, um der anglo- deutschen
Kontroverse ein Ende zu machen, England zu überzeugen, daß
Deutschland nicht nach einer Hegemonie in Europa trachtet,
Zeitschrift für Politik. 6. IQ
146 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
in deren Verfolg nach Frankreichs Niederwerfung England das
nächste Opfer sein würde. Das ist etwas kraß ausgedrückt;
es soll auch nicht damit gesagt werden, daß Deutschland wirk-
lich solche Absichten hege. Aber tatsächlich ist es dieser
Argwohn, der die diplomatischen Zusammenstöße der letzten
sieben Jahre veranlaßte. Im Folgenden — und ich hoffe, daß
ich dabei auch dem deutschen Standpunkt gerecht werde —
beschränke ich mich darauf, zu erörtern, was wir in England
tun müssen, um Deutschland weder Grund noch Vor wand
zu geben, unsere Politik zu beargwöhnen.
Oben zitierte ich die deutsche Auffassung unserer Politik
Rußland gegenüber; wir können daraus lernen, was wir grund-
sätzlich vermeiden müssen. Wir müssen es vermeiden, daß
Deutschland an die Stelle tritt, die Rußland früher in unserer
Politik einnahm. Wir erkennen jetzt im Lichte der Erfahrung,
daß nichts so kostspielig und nutzlos war, als der Zustand
chronischer Gereiztheit, der vierzig Jahre lang zwischen Rußland
und England bestand. Rußland war ein für allemal für uns,
und wir für Rußland, der Bösewicht, und am Ende charak-
terisierte ein englischer Premierminister diese ganze Politik als
eine solche, ,,die auf das falsche Pferd gesetzt hat" ^).
Von Rußland wurde uns genau derselbe Vorwurf gemacht,
den uns jetzt Deutschland macht: daß wir seinen Zugang zur
See blockierten und dem natürlichen' Wachstum und der Ex-
pansion Rußlands überall in der Welt einen Riegel vorschöben
durch unsere Flotte. Das sollte uns eine Warnung sein.
Selbst vom rein egoistischen Standpunkt können wir es
als ein allgemein gültiges Prinzip formulieren: es ist weit ge-
fährlicher, auf die Dauer berechtigte deutsche Expansions-
bestrebungen zu durchkreuzen, als gelegentlich das Risiko zu
übernehmen, Deutschland ein Stück Küstenland oder einen
Hafen erwerben zu lassen, der vielleicht, aber durchaus nicht
unbedingt, im Kriegsfalle einen Kreuzer beherbergen oder als
Kohleustation dienen könne. Eine Seebeherrschung, die in der
Praxis einem britischen Veto gegen jede Expansion anderer
Mächte gleichkäme, wegen der Befürchtung, daß die britische
Flotte im Kriegsfalle Nachteile davon haben könnte, wäre un-
erträglich. Eine der Hauptursachen der kriegerischen Aktionen
oder doch der Rivalität in den Rüstungen ist die ängsthche
*) Lord Salisbury sprach von „backing the wrong horse". Das falsche
Pferd war die Türkei.
Spender, Uie Grundlagen der britischen Politik. 147
Sorge der militärischen Führer, ihrer Nation beim Ausbruch
des Krieges eine „günstige strategische Stellung" zu sichern.
Die moderne Diplomatie, hat man gesagt, besteht in einem
„Manövrieren für eine günstige Position in Kriegslagen, die
von den Generalstäben auf dem Papier ausgetiftelt wurden".
Bei diesem Manövrieren vergißt man es beständig, die pohti-
schen Bedingungen in Rechnung zu stellen, die für die Erhal-
tung des Friedens wirken.
In unserem Falle sind es zwei Punkte, die man beständig
im Auge behalten muß:
1. Vom politischen Standpunkt ist die Erhaltung des Friedens
davon bedingt, daß Deutschland Raum zur Expansion
erhält, ohne darum kämpfen zu müssen, d. h. gute Ko-
lonien oder wirtschaftliche Einflußsphären, mit Zugang
zum Meere.
2. Vom rein strategischen Standpunkt ist es die Aufgabe
der britischen Admiralität, dahin zu wirken, daß Deutsch-
land oder ein anderer möglicher Rivale möglichst wenige
Häfen mit tiefem Wasser besitze, die zu Kriegshäfen
ausgebaut werden und Kreuzern als Stützpunkt für den
Kaperkrieg dienen können. Denn, unter modernen Be-
dingungen, so belehren uns die Sachverständigen der
Admirahtät, gehören immer drei Kreuzer dazu, um einen
feindlichen zu blockieren, und deshalb erfordert jeder
neue feindliche Flottenstützpunkt ganz unverhältnismäßig
größere Aufwendungen von britischer Seite.
Es ist die Aufgabe des Staatsmanns, zwischen diesen beiden
Standpunkten den Ausgleich zu finden. Der rein strategische
Standpunkt wird unhaltbar, wenn er zu Reibungen, Argwohn
und allgemeiner Beunruhigung Veranlassung gibt, welche wie-
derum zu allgemeinen Rüstungen führen, die auf die Dauer
weit kostspieliger sind, als die notwendigen Abwehrrüstungen
gegen eine bestimmte Gefahr. Der politische Standpunkt
muß Rücksicht nehmen auf die seestrategische Ansicht, daß
diese oder jene Expansion einer fremden Macht das strategische
Problem kompliziere, und muß nach Ausgleichen suchen, die
solche Konsequenzen vermeiden.
Es ist keine leichte Aufgabe, diese allgemeinen Grundsätze
in die Praxis umzusetzen, z. B. in einem Falle wie dem der
Bagdadbahn, und ihrem Endpunkt am Persischen Golf. Man
wird dabei vielleicht zu Abmachungen kommen, die den Chau-
vinisten in beiden Ländern recht wenig gefallen. Wir müssen
10*
148 Spender, Die Grundlagen der britischen Politik.
indessen daran denken, daß die deutsche Diplomatie in diesen
Dingen durchaus „geschäftsmäßig" handelt. Es wäre töricht,
zu erwarten, daß Deutschland eine Konzession aufgibt, die es
als eine deutsche Konzession ansieht, ohne dafür von uns ein
Äquivalent zu erhalten. Aber anderseits, gerade weil Deutsch-
land höchst unsentimental diese Do ut des Politik treibt, ist
die Lage geklärt. Wenn Deutschland selbst Gott nicht für
nichts dient, so hat es sich damit doch noch lange nicht dem
Teufel verschrieben. Am Ende entscheidet Deutschland die
Frage, ob Krieg oder Frieden, strikt vom Interessenstandpunkt.
Bei der letzten Marokkokrise hatte es sogar schon halb das
Schwert aus der Scheide gezogen und entschied sich dann
dennoch für einen geschäftlichen Handel. Die Expansion
Deutschlands wird also in diesem Sinne Veranlassung geben
zu manchem schwierigen Handelsgeschäft, sollte aber nicht
zum Kriege führen.
3. Kleinere Reibungen
Da es sich im vorliegenden nur um Grundlagen der Politik
handelt, kann es nicht meine Aufgabe sein, einen Plan in
allen Einzelheiten zu entwickeln. Dazu ist es noch zu früh;
es könnte sogar gefährlich sein. Die Hauptsache ist, daß wir
beide grundsätzlich zu einer Politik gegenseitiger Zugeständnisse
bereit sind, und daß wir Engländer vor allen Dingen, selbst
unter Opferung rein strategischer Vorteile, den An-
schein vermeiden, als ob wir uns vorsätzlich einer deutschen
Expansion in den Weg stellen. Im einzelnen sollten wir es
vermeiden, Deutschland zu hofmeistern, wenn die deutsche
Politik sich Vorteile sichert, wie zum Beispiel in der Türkei,
die unsere Interessen in keiner Weise bedrohen. Ein anderer
wichtiger Punkt wäre: in den weniger wichtigen diplomatischen
Fragen ein erträgliches Verhältnis herzustellen. Wie die Dinge
liegen, glauben die beiderseitigen auswärtigen Ämter die Hand
des Rivalen selbst in den harmlosesten Angelegenheiten zu
sehen. Der Argwohn Deutschlands erstreckt sich auf jede
britische Vertretung im Ausland, sei es Botschaft oder Konsulat,
und ganz dasselbe gilt von England. Jeder junge Diplomat
bildet sich augenscheinlich ein, daß er seinem Chef einen be-
sonderen Gefallen tue, wenn er sein Quentchen dazu beiträgt,
um die Summe der Erregung über triviale Dinge zu steigern.
Deshalb die beständigen gegenseitigen Nadelstiche. Die Männer
in den verantwortlichen Stellen sprechen ihr Bedauern aus,
Spender, Die Grundlagen der britischen Politik. 149
aber sie tun nichts dazu, der Sache ein Ende zu machen. Je
schwieriger die ernsten Streitfragen zwischen zwei Mächten sind,
desto ausgesucht höflicher sollten sie in kleinen Dingen zuein-
ander sein; dies sollte im diplomatischen Verkehr die Regel
bilden. Schwierige ernste Fragen erledigen sich viel leichter,
wenn man für verständig und freundschaftlich in kleinen Dingen
gilt. Gerade die Häufung von absurden kleinen Zwistigkeiten
über Dinge, die am Ende von gar keiner Wichtigkeit sind, war
von höchst verderbhcher Wirkung auf die deutsch-enghschen
Beziehungen.
VI. Schlußwort
In der zusammenfassenden Darstellung der Politik Groß-
britanniens, welche die vorhergehenden Ausführungen versuchen,
findet der deutsche Leser vielleicht manche Kritik deutscher
Angelegenheiten oder der deutschen Politik, die man anmaßend
nennen könnte, wenn sie direkt an deutsche Leser gerichtet
wäre. Deshalb möchte ich wiederholen, was ich schon in der
Einleitung sagte, nämlich, daß diese Kapitel Teile einer Bro-
schüre sind, die ausschließlich für Engländer bestimmt war.
Aber ich möchte hier noch hinzufügen: sie sind von einem
Engländer geschrieben, der der Überzeugung ist, daß zur gegen-
wärtigen Zeit für ganz Europa nichts erstrebenswerter ist, als
ein gutes Einvernehmen zwischen Deutschland und Großbritan-
nien. Wenn ich nun meinen deutschen Leser auffordern darf,
eine Schlußfolgerung zu ziehen, so ist es diese: daß keine
britische Regierung es wünschen kann, sich ohne Grund und
angriffsweise in europäische Angelegenheiten einzumischen.
Keine Macht ist schlechter organisiert für eine aggressive
Politik, als das britische Reich, aber, füge ich hinzu, keine ist
besser befähigt, große Energie und Ausdauer zu entfalten in der
Verteidigung seiner Interessen. Vieles, was man in Deutsch-
land und Frankreich über die auswärtige Politik Großbritan-
niens schreibt, leidet, wenn ich so sagen darf, unter einem
Grundfehler: man übersieht, daß die Übersee-Interessen in der
britischen Politik ausschlaggebend sind. Die englischen Staats-
männer haben nicht den Ehrgeiz, wie man es oft darstellt, eine
aktive Rolle auf dem europäischen Schachbrett zn spielen; sie
denken weit mehr an ihre weitreichenden Verpflichtungen in
anderen Teilen der Welt und an die Rückwirkung der euro-
päischen Politik auf diese. Für die Engländer war die Entente
mit Frankreich eine Abmachung über außereuropäische und
150 S 23 ender, Die Grundlagen der britischen Politik.
koloniale Fragen, und sie waren wirklich ehrlich erstaunt, als
man sie in Deutschland auffaßte als einen macchiavellistischen
Schachzug gegen Deutschland. Für die Engländer war die
Verständigung mit Rußland von größter Wichtigkeit in bezug
auf Indien, aber nicht in bezug auf Europa. Ich glaube, manche
Mißverständnisse würden vermieden, wenn man es sich öfter
vergegenwärtigte, wie komplex und verschiedenartig die Fragen
sind, die innerhalb des britischen Weltreichs von Zeit zu Zeit
zu lösen sind, und wie unendlich wertvoll es deshalb für jede
britische Regierung ist, mit anderen Ländern, deren Interessen
mit den britischen in fernen Teilen der Erde in Konflikt geraten
könnten, freundschaftliche Abmachungen zu treffen. Man würde
dann diese Abmachungen nach dem beurteilen, was sie tat-
sächhch enthalten, und nicht mehr andere Absichten und Motive
hineinlesen.
Ich möchte sogar noch weiter gehen: Ist man nicht in
jedem Lande nur zu geneigt, jedem anderen Land tiefgehende und
weitreichende politische Pläne zu imputieren, die in Wirklich-
keit gar nicht existieren? Einige Engländer haben die tiefe
Überzeugung, daß an der Spitze Deutschlands Staatsmänner
von unübertroffener Klugheit und Kühnheit stehen, die mit
sorgfältigst geplanter unterirdischer Minierarbeit an dem Unter-
gang Großbritanniens tätig sind. Und einige Deutsche, so höre
ich, sind nicht weniger tief überzeugt, daß englische Staats-
minister in tückischer List von langer Hand an einem weit-
reichenden Plan arbeiten, Deutschland zu vernichten. Wie
liegen die Dinge in Wirklichkeit? Ist nicht vielleicht keiner
von uns beiden so klug oder so böse, als er dem anderen
scheint? Geben wir nicht vielleicht beide oft Befürchtungen
über die vermeintlichen Absichten des anderen Raum, die
grundlos sind? Sind wir nicht vielleicht beide durch Mißver-
ständnis und Mißgriffe in ein Verhältnis zueinander geraten,
welches sich nur dadurch bessern läßt, daß wir mit ehrlichem
Bemühen jeder des anderen Schwierigkeiten uns zu vergegen-
wärtigen und des anderen Standpunkt zu verstehen suchen?
III.
Der katholische Konservatismus
Von Dr. Hermann Rehm
I. Katholisch-konservativ ist eine politische Nuance, deren
Besonderheit noch der Aufhellung bedarf. Gewiß läßt sich die
Eigenart des katholischen Konservatismus gefühlsmäßig fest-
stellen. Er will eine konservative Richtung unter Katholiken
sein, die nicht klerikal ist. Allein damit ist über sein Wesen
noch nicht völlige Klarheit geschaffen. Der Begriff muß auch
wissenschaftlich untersucht werden. Gestreift habe ich die
Frage in meinem ,, Deutschlands politische Parteien" betitelten
Grundriß der Parteienlehre i).
Der Unterschied zwischen den Parteien liegt in den Gegen-
ständen, die sie verfolgen, und in der Art, wie sie ihnen nach-
gehen. Die Parteien haben politische, wirtschaftliche, religiöse,
soziale Interessen im Auge und streben sie zu verwirklichen in
konservativer oder fortschrittlicher Weise. Konservativ bedeutet
dabei ein mehrfaches. Im engsten Sinne heißt konservativ,
wer so ist, wie die Deutschkonservative Partei, ihrem Wesen
sehr nahe kommt; im engeren Sinne sind konservativ die
Parteien, die erhalten, aber nicht zurückschreiten wollen —
dahin gehören Deutschkonservative und Reichspartei — ; die
weiteste Bedeutung von konservativ umfaßt sowohl Parteien,
die bestehende Zustände zu erhalten, wie Parteien, die frühere
Zustände wiederherzustellen wünschen; konservativ in diesem
Sinne ist auch die reaktionäre, die rückschrittliche Partei. Aus
der letzten Begriffsbestimmung geht hervor, wie möglich ist,
daß eine Partei in gewissen Dingen für Erhalten, in anderen
für Rückkehr zu einem früheren Stande sich einsetzen kann.
Sie hat dann gemischt-konservativen, teils konservativen teils
reaktionären Charakter. Für die Einordnung in die drei Be-
^) 1912, S. 59.
152 Rehm, Der katholische Konservatismus.
griffe kommt es darauf an, was sie in erster Linie verfolgt,
Erhaltung oder Rückkehr. In dem einen Falle ist sie konservativ
in der zweiten, in dem anderen nur konservativ in der weite-
sten Bedeutung. Soviel zur Verständigung über den Begriff
konservativ ^).
Um den katholischen Konservatismus in dieses begriffliche
Schema einzuordnen, vergleicht man ihn am besten mit kon-
kreten Parteien, mit den konkreten Hauptformen der konser-
vativen Parteirichtungen, d. h. Deutschkonservativen, Zentrum,
Reichspartei '^).
Die Art dieser wie aller Parteien ist verschieden, je nach-
dem es sich um Reichs- oder Landesparteien handelt. Die
katholischkonservative Staatsanschauung ist mehr eine Erschei-
nung des politischen Lebens der Einzelstaaten. Daher ist das
richtige, sie an dem Wesen der konservativen Landesparteien
zu messen.
Die Deutschkonservative Partei stellt sich jedenfalls drei
Ziele : das ländliche, das christliche und das monarchische Inter-
esse. Zum mindesten bei den preußischen Konservativen kommt
noch das partikularistische Interesse dazu. Die gleichen Ele-
mente finden wir bei den klerikalen Landesparteien. Aber es
bestehen Unterschiede. Zunächst was das religiöse Interesse
angeht. Die konservative Partei tritt ein für Schutz und Pflege
der christlichen Religion in der Ausgestaltung, die sie in der
evangelischen Kirche gefunden hat. Sie steht der katholischen
Religion nicht feindlich gegenüber, aber sie will ihr nur helfen,
soweit die evangelische Kirche dadurch nicht geschädigt wird
oder der Grundsatz der Parität es verlangt. Das Zentrum, in
katholischen Landen zu Hause, ist eine politische Richtung
von Katholiken und daher ist sein Interesse an der Pflege der
Religiosität eine Fürsorge für römisch-katholischen Glauben und
römisch-katholische Kirche, wenn natürlich auch, wenigstens
was offizielles Zentrum und Kölner Richtung angeht, unter
Wahrung der Rücksichten, die der staatliche Grundsatz der
Gleichberechtigung der Konfessionen von einer Partei des staat-
lichen Lebens fordert.
Zu diesem selbstverständlichen Unterschiede treten andere,
die schwerer erkennbar sind. Der Landes-Konservatismus will
auf allen Gebieten seiner Betätigung nur Erhaltung, auf keinem
') Weiteres a. a. 0. S. 6 ff.
') A.a.O. §§8, 10, 11.
Rehm, Der katholische Konservatismus. 153
Rückschritt. Er will Erhaltung der Vormachtstellung der Land-
bevölkerung, aber nicht Wiederherstellung der aufgehobenen
Privilegien des Landadels. Er will Erhaltung der Monarchie,
aber nicht gerade Rückkehr zum Absolutismus. Er will Be-
wahrung des überlieferten Glaubens, aber nicht Rückkehr zu
der früheren Macht der Kirche gegenüber dem Staate. Er will
Erhaltung des den Einzelstaaten verbliebenen Selbständigkeits-
maßes, aber keineswegs Wiederherstellung der alten staaten-
bündischen Verfassung des Deutschtums.
Beim Landeszentrum liegt in denselben Dingen zum Teil
ein anderes Streben vor. Was Landwirtschaft, Monarchismus
und Partikularismus anlangt, begnügt sich auch das Zentrum
mit Erhaltung, in der religiösen Frage aber ist es reaktionär.
Hier ist sein Streben nicht nur auf Erhaltung des alten Glaubens,
auf Kampf gegen kirchlichen Liberalismus und gegen Unglauben
gerichtet, sondern hier will es Rückkehr zu früheren Verhält-
nissen, Rückkehr zu einer Stellung, wie sie die katholische
Kirche einstens besaß, Gleichordnung der Kirche mit dem Staate.
Dazu kommt noch ein weiteres. Das Zentrum verfolgt
seine Ziele in einer anderen Reihenfolge. Auch bei den Konser-
vativen bestehen verschiedene Abstufungen. Die einen, die
Agrarkonservativen , stellen voran die Interessen des platten
Landes, die Beamten und Stadtkonservativen das Interesse der
Monarchie usw. Jedenfalls aber tritt bei den meisten Anhängern
der konservativen Partei die Pflege der religiösen Interessen
hinter den monarchischen, also staatlichen zurück. Die Konser-
vativen sind nicht in erster Reihe konfessionelle Partei. Keine
Freiheit der Kirche auf Kosten des Staatsinteresses.
Anders das Zentrum. Ihm steht die Wahrung kirchlicher
Interessen obenan. Erst dann kommt das monarchische und
das wirtschaftliche Ziel. Das Zentrum will zwar für die ka-
tholische Kirche vom Staate nicht mehr Pflege haben, als sie
andere Religionen von ihm empfangen, aber es will vom Staate
für die katholische Konfession mehr Freiheit, als sie andere
Kirchen vom Staatswesen fordern. Das Zentrum will weniger
Polizei, weniger Gewalt des Staates über die Kirche, Erweiterung
der Rechte der Kirche. Der Staat soll der katholischen Religions-
gesellschaft nichts befehlen dürfen, sondern sich mit ihr ver-
ständigen müssen. Das offizielle Zentrum und die Kölner
Richtung vertreten die Anschauung, in dieser Stellungnahme
liege keine Reaktion zugunsten der Kirche auf Kosten des
Staates, das nationale Interesse leide nicht, wenn der Staat bei
154 Rehm, Der katholische Konservatismus.
Widerstreit seiner und der kirchlichen Interessen auf den Weg
der Verständigung angewiesen sei. Allein das ist Irrtum. Klar
ist doch, daß sich nicht mehr von einem Vor-, sondern nur
von einem Gleichrange des nationalen Zieles sprechen läßt,
sobald der Staat das Verhältnis, in das er staatliches und
kirchliches Bedürfnis zueinander zu stellen wünscht, nur noch
durch Vereinbarung mit der Kirche bestimmen kann. Die kleri-
kale, die ultramontane Richtung im Zentrum geht weiter: ihr
Ziel ist Abhängigkeit des Staates von der Kirche. Der Papst
hat nicht nur Ehrenrechte vor dem Könige, sondern der König,
der Staat steht in einem Kiudesverhältnis zum Papste, zur Kirche.
Der Kardinal erhält vom Papste die Anrede frater, der katho-
lische Landesherr nur die Anrede filius. Ja, jeder Landesherr,
auch der nichtkatholische, ist ihm Untertan: ,, denn jeder, welcher
die Taufe empfangen, heißt es in dem Schreiben, das Pius IX.
an Kaiser Wilhelm am 7. August 18 ?3 gerichtet hat, gehört
in irgendeiner Art und in irgendeiner Weise, gehört, sage ich,
dem Papste an." Das bedeutet: eine Verständigung ist er-
wünscht, aber kommt keine zustande, so entscheidet das Er-
messen des Papstes. Dies auch der Standpunkt der constitutio
de christiana civitate vom 1. November 1885. Das Kirchen-
w^ohl geht dem Stäatswohl vor, d. h. Romanismus über Natio-
nalismus.
Zu skizzieren ist noch das Wesen der Reichspartei. Mit
wenigen Worten ist es geschehen. Die Freikonserativen wollen,
wie die Deutschkouservativen, Erhaltung der Monarchie und
der Religiosität auf evangelischer Grundlage, zum Unterschiede
von ihnen aber Dämpfung der Macht der Kirche, Teilung des
politischen Einflusses zwischen Landadel und gebildetem Städter-
tum, Vorrang des Reichs- vor dem Staatsgedanken.
Nun sind wir in der Lage, die Katholisch -Konservativen
einzureihen. Wie bei den übrigen Parteien, gibt es auch bei
ihnen Abstufungen. Die einen sind mehr reichsparteilich, d. h.
treten für einen gleichen Einfluß der gebildeten Klassen von
Land und Stadt ein; die anderen mehr stadt-, die dritten mehr
landkonservativ. Jedenfalls stehen sie den konservativen Gruppen
näher als dem Zentrum. In ihrer Mehrheit lassen sie sich so
bestimmen: Sie sind in erster Linie monarchisch, in zweiter
agrarisch, in dritter katholisch, in vierter partikularistisch ; in
erster Reihe für Erhaltung der konstitutionellen Monarchie,
in zweiter für Pflege der Landwirtschaft vor Handel und In-
dustrie, in dritter Linie für Schutz und Wahrung der katholi-
Rehm, Der katholische Konservatismus. 155
sehen Religion, in vierter Reihe für Erhaltung der Selbständig-
keit der Einzelstaaten.
Vom Zentrum trennen den katholischen Konservatismus
zwei Dinge. Erstens will er den Einfluß der katholischen Kirche
nur erhalten, nicht erweitern; er ist konfessionell nicht reak-
tionär, sondern nur konservativ. Zweitens steht ihm nicht das
konfessionelle, sondern das staatliche Interesse voran; die Staats-
macht geht vor; das Verhältnis von Staat und Kirche, Gesetz,
Recht und Billigkeit ihr gegenüher, wird vom nationalen Inter-
esse aus beurteilt, ausgelegt und bemessen; die Kirche im Staate
ist nicht koordiniert; die rechtliche Stellung der Bischöfe als
Untertanen tritt hervor; was der Kirche nützt, aber dem Staate
schadet, unterbleibt; Nationalismus über Romanismus. Klar
erkannt hat das Spezifische im Begriffe des katholischen Kon-
servativmus der preußische Landwirtschaftsminister Freiherr
von Schorlemer-Lieser, wenn er am 23. Mai 1912 bei einer
Polendebatte die Worte sprach i): Bei staatlichen Notwendig-
keiten lasse ich mich von allen anderen als einseitig konfessio-
nellen Gesichtspunkten leiten.
II. Des katholischen Konservatismus harren große Auf-
gaben. Die katholische Kirche seit dem Jahre 1870 zeigt eine
eigentümliche Erscheinung. Mehr als je halten die Hirten der
Kirche das Volk zum strengen Bibelglauben an, sie selbst aber
dispensieren von wichtigen Geboten der Schrift. Jesus hat
gesprochen: Mein Reich ist nicht von dieser "Welt. In der
Gegenwart mehren sich die Formen des Gottesdienstes, die
zugleich Darstellungen der Macht und des Einflusses des römi-
schen Stuhles sind. Das Wort des Apostels mahnt und die
päpstliche Dekretalengesetzgebung gebietet, daß Geistliche sich
in weltliche Geschäfte nicht mischen. Wenn irgend etwas, ist
die Politik ein weltliches Geschäft. Statt dessen sehen wir,
wie Geistliche die Politik geradezu zum Lebensberufe machen,
Wochen, Monate, Jahre ihres Lebens ihr widmen. Es gibt
Gegenden Deutschlands, wo die Führer der Zentrumspartei
vermuten dürfen, daß jeder Pfarrer für sie nicht nur Gesin-
nungsgenosse, sondern eifriger Agitator sei. Nur in einer Zeit
der Überschätzung der äußeren, der Machtformen des Glaubens,
können Priester Lust und Neigung verspüren 2), solch weltlichen
Geschäften ihre ganze Kraft und Fähigkeit zuzuwenden; denn
^) Rehm a. a. 0. S. 54.
■^) Über andere Gründe a. a. 0. S. 18, 49, 50.
156 Eehm, Der katholisclie Konservatismus.
dann ist auch bei der Religionsübung im Priester leicht das
Gefühl für das Innerliche und Weitabgewandte des Glaubens-
dienstes zurückgedrängt. Was noch vor fünfzig Jahren die
Träger des bischöflichen Lehramtes durchgehends verpönten,
dulden heute viele von ihnen als eine Selbstverständlichkeit.
Auf diese Weise erfährt die Macht der Kirche eine ungeahnte
Erweiterung. Wem davon Schaden droht, das ist der Staat.
Um nur ein Beispiel zu geben. Die Fälle mehren sich, daß
im Religionsunterrichte gelehrt wird, ein gläubiger Katholik
darf die Verfassung nur in den Stücken anerkennen, wo sie
mit der katholischen Weltanschauung übereinstimmt. Muß da
nicht die Sorge aufkommen, daß die staatsbürgerliche Heran-
bildung, die Erweckung der Vaterlandsliebe zu kurz kommt,
zumal wir sehen, in welchem Maße diese Erziehung im Aus-
lande, z. B. in Schweden, bei der Jugendbildung gepflegt wird?
Hier hat die katholische konservative Parteirichtung einzu-
greifen. Ihr Ziel ist Erhaltung der Religiosität. Das umfaßt
nicht bloß Kampf gegen den Unglauben, sondern auch Kampf
gegen Übertreibung der äußeren Formen der Religion. Zum
priesterlichen Dienste gehört nach dem Herrenworte Fürsorge
für die Seelen der Gläubigen, aber nicht für den äußeren Glanz
und Prunk der Gottesverehrung. Und zum anderen hat der
katholische Konservatismus zur Aufgabe die Erhaltung des
Einflusses der Kirche. Er hat ihn also nur zu erhalten, seine
Beseitigung zu verhindern ; eine Erweiterung, wo es dem staat-
lichen Ansehen schadet, darf er nicht zulassen. Er unterstützt
die Kirche im Kampfe gegen den Unglauben, aber nicht im
Kampfe gegen den Staat, im Ringen mit ihm um die Herr-
schaft über das Volk.
Die katholisch-konservative Richtung besitzt ihre Anhänger-
schaft zurzeit hauptsächlich in den Schichten, aus denen die
ersten Kammern sich zusammensetzen. Eine Regierung, welche
die katholisch-konservativen Ziele vor Augen hat, kann sie ihrer
Verwirklichung daher näher bringen, wenn diese Kreise in dem
Oberhause das Übergewicht besitzen und Regierung und Ober-
haus sich stets der Grenze bewußt sind, durch die sie von der
Zentrumsrichtung getrennt werden. Werden prunkvolle Kirchen-
feste mit päpstlichen Vertretern von päpstlichem Range durch
diese Scliichten gefördert und andererseits bei der Auslegung
staatlicher Kirchengesetze nicht die staatlichen Interessen voran-
gestellt, so beweist dies aflerdings, daß die Klarheit über jene
Grenze noch zu wünschen übrig läßt. Erheblich erleichtert
Rehm, Der katholische Konservatismus. 157
wird die Erreichung der Ziele natürlich, sobald die Staatsleitung
in der unteren Kammer zwei Mehrheiten, eine klerikale und
eine antiklerikale, zur Verfügung hat, was allerdings voraus-
setzt, daß auch die Antiklerikalen katholischen Konservatismus
und katholische Reaktion scharf auseinander halten. In den
Vereinigten Staaten von Nordamerika ist dieser konservative
Katholizismus verwirklicht. Die Wissenschaft nennt den ka-
tholischen Konservatismus daher auch Amerikanismus.
Ein erstes Mittel, die Schäden zu beseitigen, welche das
religiöse und das nationale Interesse von der katholisch-reaktio-
nären Richtung erleidet, ist eine Einschränkung der freiwilligen,
d. h. nicht mit dem Amte verbundenen politischen Tätigkeit
des Klerus. In der nordamerikanischen Union hält sich der
Priester von Politik fern. Die Religionsbetätigung ist inner-
licher, auch dem Priester geht Staatswohl über Kirchenwohl.
Die Zeit scheint nicht ferne, wo selbst die Masse der Laien bei
uns Dämpfung der politisierenden Richtung im Klerus fordern
wird. Die Gebildeten unter ihnen und die Stillen unter den
Priestern hegen den Wunsch schon lange.
Eine solche Einschränkung bildet freilich ein Ausnahmerecht.
Aber auch der Soldat steht in dieser Hinsicht aus höheren
Gründen unter Ausnahmegesetz. Die Teilnahme an politischen
Vereinen und Versammlungen ist ihm untersagt. Zudem bedarf
es nicht einer Neueinführung des Verbotes, etwa eines Verbotes
von Staats wegen, obwohl es im Auslande auch derartige Staats-
gesetze gibt. Das vorhandene Kirchengesetz muß nur ange-
wendet werden. Ne clerici vel monachi saecularibus negotiis
se immisceant, lautet die kanonische Rechtsregel '). Eine von
den Trägern des katholischen Konservatismus zielbewußt unter-
stützte deutsche Regierung kann die Wiederanweudung des
Grundsatzes bei der Kurie durchsetzen. Die Religionsdiener
der übrigen Glaubensgesellschaften legen sich mit geringen
Ausnahmen aus Interesse ihrer seelsorgerischen Tätigkeit und
der Würde, die der geisthche Beruf von ihnen fordert, in der
Teilnahme am politischen Leben Zurückhaltung auf. Tut es
ein großer Teil der katholischen Geistlichkeit nicht und ent-
stehen daraus Nachteile für Religion und Staatsgedanke, so
liegt im wohlverstandenen Interesse des Volkes, auf eine stär-
kere Beachtung des kanonischen Verbotes hinzuarbeiten.
') cap. 1 — 10 X 3,50. S. dazu Meurer, Das katholische Ordenswesen
nach dem Recht der deutschen Bundesstaaten, 1912, S. 78.
158
Rehm, Der katholische Konservatismus.
Eine zweite wichtige Angelegenheit des poHtischen Katho
hzismus konservativer Art muß die Verteidigung der interkon-
fessionellen Güter gegen Beeinträchtigung durch konfessionelle
Trennung sein. Es ist mehr, was Katholiken und Anders-
gläubige einigt, als was sie scheidet. Wir haben eine gemein-
same Wirtschaft, eine gemeinsame Kultur, ein gemeinsames
Vaterland. Sie gedeihen nur unter Zusammenarbeit der Kon-
fessionen. Sie muß erhalten werden. Eine das Nationale über
das Konfessionelle stellende Partei hat gegen Rom wirksam die
Anschauung zu vertreten, daß die päpstliche Politik sich schärfer
die Pflicht der Rüchsichtnahme gegenwärtig hält, die dem Papst-
tum seine völkerrechtliche Stellung im Verhältnis zu konfessionell-
gemischten Staaten auferlegt. Ein selbstsicherer deutsch-natio-
naler Katholizismus vermag eine dem Romanismus ebenbürtige
Macht zu sein.
Eine dritte große Aufgabe des katholischen Konservatismus
bildet dann die Stützung und Stärkung der in erster Linie das
staatliche Element betonenden Anhänger des Zentrums, um auf
diese Weise womöglich zu erreichen, daß das Zentrum aus
einer konfessionell -reaktionären eine konfessionell -gemäßigte
Parteiorganisation wird. Ihre Vertretung findet die ultramon-
tane Richtung besonders in der Presse. Das Mittel hierzu bildet
also die Vermehrung der vom Klerikalismus unabhängigen Preß-
organe.
Wir sehen, dem katholischen Konservatismus Deutschlands
eröffnet sieb ein reiches Arbeitsfeld.
IV.
Die Geschäftsforiii der Behörden
Von Dr. Johannes Niedner
In den Lehrbüchern findet man von alters her bis heute
als unbestritten die Lehre vorgetragen, daß die aus mehreren
Beamten bestehenden Behörden entweder kollegialisch oder
bureaukratisch organisiert seien, in ersterem Falle beruhten alle
Beschlüsse der Behörde auf einer Abstimmung, bei welcher die
Majorität den Ausschlag gebe, im letzteren Falle liege die
alleinige Entscheidung in den Händen des Chefs der Behörde,
dem gegenüber die anderen Mitglieder nur den Charakter von
Gehilfen hätten ^). Jeder, der die Praxis kennt, weiß, daß
dieses ,, entweder — oder" nicht zutrifft. Es hat sich eine
weitere zwischen beiden gewissermaßen in der Mitte liegende
Geschäftsform herausgebildet, in der wohl die größere Masse
der behördlichen Arbeit erledigt wird. Darauf einmal besonders
hinzuweisen ist vielleicht gerade gegenwärtig am Platze, wo die
Frage nach einer zweckmäßigen Behördenorganisation so viel
erörtert wird.
Um zu sehen, ob man alle Geschäftsformen unter den Begriff
der bureaukratischen oder den der kollegialen Verfassung unter-
bringen kann, muß mau sich zunächst über diese beiden Be-
griffe selbst klar sein. Worin das Wesen der bureaumäßigen
Erledigung der Geschäfte einer Behörde besteht, ist nicht
zweifelhaft: Der Chef der Behörde hat — im Verhältnis zu
den anderen Beamten der Behörde — die alleinige Entscheidung
über das, was nach außen im Namen der Behörde zu verfügen
') So, übereinstimmend mit den älteren (vgl. z. B. Kl üb er, Öffentl.
Recht des Teutschen Bundes § 345, H. A. Zachariae, Deutsches Staats- und
Bundesrecht Bd. 11 S. 14), G. Meyer in seinem Lehrbuch des deutschen Staats-
rechts § 106 und neuerlich wieder in Stengels Wörterbuch des deutschen
Verwaltungsrechts 1912 Art. Behörden § 3, wie bei Bornhak, Preuß. Staats-
echt 1912 Bd. 2 § 97 u. a.
160 Niedner, Die Geschäftsform der Behörden.
ist; er kann jede Verfügung allein treffen. Er ist deshalb
auch nach außen hin allein verantwortlich für das, was namens
der Behörde geschieht. Die kollegiale Verfassung gebietet bei
der Feststellung dessen, was namens der Behörde zu geschehen
hat, ein Zusammenwirken aller Mitglieder der Behörde. Nicht
fordert sie, daß alle Mitglieder in dem, was verfügt wird, über-
einkommen; vielmehr entscheidet in der Regel die Majorität.
Das Wesentliche des Zusammenwirkens liegt darin, daß sie alle
mit ihrer Ansicht gehört werden; bei den Verfügungen, die
namens der Behörde ergehen, sollen die Kenntnisse und Er-
fahrungen aller Mitglieder verwertet werden, jeder soll sich
erst entscheiden, nachdem er die Ansichten der übrigen Mit-
glieder gehört hat : Die gegenseitige Beratung gehört zum Wesen
der kollegialen Geschäftsform. Daraus ergibt sich, daß kollegial
zu behandelnde Geschäfte regelmäßig nur in gemeinschaftlichen
Sitzungen der Mitglieder der Behörde erledigt werden können.
Kollegien sind, wie man gesagt hat, ,,eine Spezies organisierter
Versammlungen" 1). Ein schriftlicher gegenseitiger Gedanken-
austausch ist zwar theoretisch denkbar, aber — jedenfalls in
einem größeren Kollegium — praktisch undurchführbar. Dami^
ist nicht gesagt, daß, wie manche annehmen, schriftliche Ab-
stimmung unbedingt dem Kollegialprinzip widerspräche. Es
ist nur geboten, daß die Möglichkeit für jedes Mitglied besteht,
das Wort zur Beratung zu ergreifen. Liegt eine Sache so, daß
sich niemand zum Wort meldet, weil jeder jeden für ausreichend
informiert hält, dann entfällt eine Beratung von selbst; der
Abstimmungsakt aber braucht nicht mündlich zu sein. Es ist
daher nicht zu beanstanden, wenn Sachen, bei denen anzunehmen
ist, daß doch niemand das Wort ergreifen würde, zur schrift-
lichen Abstimmung herumgeschickt werden. Das geschieht
z. B. herkömmlich selbst bei den ordentlichen Gerichten, wo
die kollegiale Verfassung in besonderer Weise garantiert ist.
Ganz klar liegende Sachen, wie z. B. manche Armenrechts-
gesuche, werden wohl hier und da durch Umlauf erledigt; eben-
so werden Beweisbeschlüsse auf Grund nachträglich mitgeteilter
Tatsachen kurzer Hand geändert; schriftliche Abstimmung über
die Urteilsgründe liegt auch in der Unterschrift der beteiligten
Richter, und sie ist herkömmlich auch zur Entscheidung gering-
fügiger Meinungsverschiedenheiten, die dabei hervortreten. Durch
^) Vgl. Jacke, Über Beschlußfassungen in Versammlungen und Kollegien,
Leipzig 1867, S. 24.
Niedner, Die Geschäftsform der Behörden. 161
den Umlauf wird für jedes Mitglied die Möglichkeit eröffnet, zur
Sache das Wort zu ergreifen, und durch die vorbehaltlose Abgabe
der Stimme erklären die Mitglieder, daß sie zur Sache nichts zu
bemerken haben. Das Kollegialprinzip ist dabei durchaus gewahrt.
Bedenken gegen dies formell nicht zu beanstandende Verfahren
entstehen nur, wenn es bei nicht ganz klar liegenden Sachen
angewandt wird, denn es wird darin doch leicht ein gewisser
Druck auf die Mitglieder der Behörde ausgeübt, auf Beratung
zu verzichten. Deshalb ist es erklärlich, daß eine höchste
Behörde, wie das Reichsgericht, grundsätzlich von dieser
Geschäftsform absieht'). Und immer ist zu beachten, daß
jedes Mitglied mündliche Beratung verlangen kann, wenn es
einen Meinungsaustausch, der anders nicht erfolgen kann, für
erforderlich hält. Man hat dies neuerlich einmal bestritten.
Auf der Waldecker Landessynode-) beschwerte sich ein Mitglied
des durch den Synodalausschuß erweiterten Konsistoriums, daß
gegen seinen Widerspruch schriftliche Abstimmung erfolgt sei.
Das Konsistorium vertrat dabei den Standpunkt, dem Kolle-
gialitätsprinzip sei der Grundsatz eigen, daß die Majoritäts-
beschlüsse maßgebend seien, wenn also die Mehrheit beschlösse
auf Beratung zu verzichten, so könne der einzelne dagegen
nichts machen. Es bedarf keiner Ausführung, daß in dieser
Deduction eine Begriffsverwirrung liegt; selbstverständlich kann
ein Kollegium nicht durch Majoritätsbeschlüsse seine Kollegial-
verfassung selbst ändern, die jedem Mitglied das Recht gibt,
das Wort zu ergreifen. Wir sehen denn auch selbst dort, w^o
die Gesetze für Kollegien aus überwiegenden praktischen
Gründen schriftliche Abstimmung generell zulassen, den Vor-
behalt gemacht, daß jedes Mitglied mündliche Abstimmung
verlangen kann^). Es liegt dasselbe Prinzip zugrunde, welches
für das Vereinswesen in § 32 Abs. 2 des BGB. ausgesprochen
ist. ,,Auch ohne Versammlung der Mitglieder ist ein Beschluß
gültig, wenn alle Mitglieder ihre Zustimmung zu den Beschlüssen
schriftlich erklären." Daß die Mitglieder der Behörde sich
gegenseitig beraten, gehört eben zum Wesen der Kollegial-
verfassung, und daraus ergibt sich, daß die Geschäfte regel-
mäßig nur in Sitzungen der Mitglieder erledigt werden können.
') Vgl. dessen Geschäftsordnung (Zentralblatt f. d. Deutsche Reich 1880
S. 190) § 15 Abs. 3. „Eine schriftliche Abstimmung, insbesondere durch
Umlauf, findet nicht statt."
*) Vgl. deren Verhandlungen von 1909 S. 10 ff., 25 f.
^) Vgl. z.B. §.55 der Rechtsanwaltsordnung vom I.Juli 1878 (RGBl. S.177).
Zeitschrift für Politik. 6. H
162 Niedner, Die Gescbäftsform der Behörden.
So ist das Wesen der Kollegialverfassung nicht nur bei
Gerichtsbehörden, sondern auch bei der Einrichtung von kol-
legialen Verwaltungsbehörden angesehen: Bei der epochemachen-
den Reorganisation der kollegialen Verwaltungsbehörden in
Preußen unter Friedrich Wilhelm I. wurde folgender Geschäfts-
gang festgelegt: Der Minister erbricht die Eingänge „und sendet
sie nachgeheuds an die bei seinem Departement stehenden Ge-
heimen Finanz-, Kriegs- und Domänenräte, um davon an dem
Tage ihres Departements in pleno zu referieren. . . Das Direk-
torium soll alle Montag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag zu-
sammenkommen und miteinander alle Sachen collegialiter, nicht
aber in den Häusern w^ie bisher traktieren . . . Sie sollen nicht
eher auseinander gehen, bis alle und jede Sache . . . abgetan wor-
den, damit nicht ein Zettel davon übrig bleibe . . . können sie in
einer Stunde mit den Affären fertig w^erden, so steht ihnen frei,
auseinander zu gehen. Können sie aber des Vormittags nicht
fertig werden, so müssen sie sans Interruption bis auf den Abend
um 6 Uhr oder bis sie alle Affären abgetan, beisammen bleiben."
Ebenso ist für die kollegialen Provinzialbehörden Erledigung
aller Geschäfte in gemeinschaftlicher Sitzung vorgesehen, denn
ihnen ist ,, anbefohlen, sich täglich in ihren Collegiis zu ver-
sammeln und zwar des Morgens im Sommer um 7 und des
Winters um 8 Uhr. Um 11 72 Uhr endiget sich die Session und
des Nachmittags um 2 Uhr nimmt sie wieder ihren Anfang
und kontinuieret bis des Abends um 6 Uhr"i). Ebenso geht
in Übereinstimmung mit der damals durchaus herrschenden
Auffassung 2) das Preußische Allgemeine Landrecht davon aus,
daß alle Sachen durch mündliche Beratung des ganzen Kolle-
giums hindurchgehen müssen^). Derhalb ,, müssen Geschäfte,
welche dem ganzen Collegio obliegen, von allen Mitgliedern
') Vgl. die Instruktion für das General-, Ober-, Finanz-, Kriegs- und
Domänendirektorium vom 20. Dezember 1722.
'') J. J. Moser (Einleitung zu den Kantzleygeschäften 1750, Lib. 2, c. 2,
§§ 33, 34) hält schriftliche Abstimmung nur bei periculum in mora für zu-
lässig; Pütter sagt auch nur (Anleitung zur juristischen Praxis, 6. Aufl. 1802,
§ 405): ,,üft fällt außer den Sessionen etwas vor, und es ist doch nicht der
Mühe wert, oder die Umstände leiden es nicht, außerordentliche Sessionen
deswegen zu halten. Alsdann wird von Seiten des Direktorii ein Kästchen
herumgeschickt, worin die Stimmen schriftlich gesammelt werden."
") ^'gl- § 114 ALR. II 10: Wenn mehrere Beamte in ein Kollegium zu-
sammengezogen sind, so gilt wegen ihrer Versammlungen, Beratschlagimgen
und Schlüsse in der Regel eben das, was im 6. Titel von öffentlichen Gesell-
schaften und Korporationen verordnet worden ist (vgl. die §§ 51 ff. 11 6)<
Niedner, Die Geschäftsform der Behörden. 163
desselben vertreten werden." ,,Hat das Kollegium die Besorgung
der verschiedenen Arten seiner Geschäfte unter seine Mitglieder
eigenmächtig verteilt, so ändert dieses nichts in der Vertretungs-
verbindlichkeit." Nur durch schriftliches Separatvotum kann
sich das stimmberechtigte Mitglied entlasten i).
Will man sich nun ein Bild davon machen, in welcher
Geschäftsform, insbesondere in welchem Umfange bureau-
kratisch und in welchem Umfange kollegialisch in dem eben
entwickelten Sinne, in einem Staate verwaltet wird, so darf man
zunächst nicht ohne weiteres die von Kollegien wahrgenom-
menen Geschäfte zu den kollegial behandelten zählen. Nicht
bei allen kollegial verfaßten Behörden ist die kollegiale Be-
handlung aller Geschäfte schlechthin vorgeschrieben, wie das
z. B. bei den ordentlichen Gerichten und den evangelischen
Konsistorien die Regel bildet"^). In manchen Gesetzen über
Einrichtung von Kollegialbehörden wird in dieser Hinsicht
unterschieden und schon von vornherein die Möglichkeit nicht
kollegialischer Behandlung gewisser Geschäfte vorgesehen. So
z, B. bei den preußischen Regierungen ; die Verordnung vom
30. April 1815 •^) bestimmte: ,,Der Geschäftsbetrieb bei den
beiden Abteilungen der Regierung ist in allen Angelegenheiten,
worin ein anderes nicht ausdrücklich festgesetzt wird,
kollegialisch", und die Regierungsinstruktion vom 23. Ok-
tober 1817*) unterschied danach zwischen ,, Sachen, die ohne
Vortrag — durch die Dezernenten allein — abzumachen sind",
und Sachen, die vorgetragen werden müssen. Bei den kollegial
verfaßten Provinzialräten, Bezirks- und Kreisausschüssen ist
ganz allgemein vorgesehen, daß vorbereitende und das Verfahren
leitende Geschäfte von einem Mitglied unter Mitzeichnung des
Vorsitzenden allein erledigt werden, vorbehaltlich der Beschluß-
fassung des Kollegiums bei Meinungsverschiedenheit zwischen
beiden^). Ebenso besagte z. B. das Gesetz betr. die Einrichtung
1) Vgl. §§ 127. 136, 144 11 10.
^) Vgl. die Dienstinstruktion f. d. altpreuß. Provinzialkonsistorien vom
23. Oktober 1817 (GS. S. 237) § 13: Die innere Verfassung der Konsistorien
ist kollegialisch, und alle Gegenstände desselben werden, sofern darin nicht
nach § 3 und 4 dem Oberpräsidenten die alleinige Entscheidung beigelegt
ist (eine Ausnahme, die jetzt nicht mehr in Betracht kommt), nach Mehrheit
der Stimmen entschieden; vgl. dazu § 7* der Geueral-Synodalordnung vom
20. Januar 1876 (GS. S. 7).
') GS. S. 8.Ö.
*) GS. S. 248 §§ 26/27.
^) Vgl. die Regulative für den Geschäftsgang und das Verfahren bei
11*
164 Niedner, Die Geschäftsform der Behörden.
und die Befugnisse der preußischen Oberrechnungskammer ^)
zunächst nur: „Die Oberrechnungskammer faßt ihre Beschlüsse
nach Stimmenmehrheit der Mitglieder die kollegiali-
sche Beratung und Beschlußfassung ist jedenfalls erforderlich,
wenn ... u. s. f." Das zur Ausführung des Gesetzes ergangene
Regulativ über den Geschäftsgang-) führte dann noch weitere
Fälle auf und bemerkte abschließend: „Die auf Grund des
Vortrages und der Beschlußfassung im Kollegium ergehenden
Angaben sind auf den betr. Konzepten als solche zu bezeichnen.
Alle übrigen Gegenstände des gewöhnlichen Geschäftslaufes,
welche unbedenklich sind und nach feststehenden Bestim-
mungen und Grundsätzen ihre Erledigung finden, bedürfen des
Vortrages und der Beschlußfassung in den Sitzungen nicht, er-
gehen jedoch unter derselben Form und Firma wie die ersteren."
Bei manchen Behörden, z. B. bei den Reichsversiche-
rungsbehörden, ist außerdem zu beachten, daß sie im ganzen
überhaupt keine Kollegien darstellen, sondern nur zur Er-
ledigung bestimmter Angelegenheiten kollegiale Ausschüsse
bilden. Deshalb war z. B. in der Geschäftsordnung für das
Reichsversicherungsamt ^) unterschieden zwischen den Ge-
schäften, ,,die durch den Präsidenten oder unter Mitzeichnung
des Präsidenten, eines Direktors oder des Leiters einer Unter-
abteilung, von dem mit der Bearbeitung betrauten Mitgliede
bearbeitet werden" und den in Sitzungen zu erledigenden Ge-
schäften. In der neuen Geschäftsordnung ist die besondere
Hervorhebung der ersten Gruppe von Geschäften als offenbar
überflüssig unterblieben, da die jetzige Reichsversicherungs-
ordnung kollegiale Behandlung von vornherein nur für be-
stimmte Geschäfte vorschreibt^). In der Geschäftsordnung für
die Oberversicherungsämter ^) ist für ,, Beschlußsachen, die nicht
durch die Beschlußkammer zu entscheiden sind", die Erledigung
durch ein Mitglied und den Vorsitzenden besonders vorge-
schrieben; beide müssen auch hier einstimmig sein^). Auch
den Provinzialräten (§ 7), den Bezirksausschüssen (§ 8) und den Kreisaus-
schüBsen (§ 8) (MinBl. f. d. innere Verw. 1884 S. 35 ff.).
') Vom 27. März 1872, GS. S. 278, v^l. § 8.
") Vom 22. September 1873, GS. S. 459, vgl. §§ 7 und 8.
') Vom 19. Oktober 1900 (RGB. S. 983 § 10).
*) §§ :35, 1545 ff. (RGBl. 1911 S. 509).
°) vom 24. Dezember 1911 (RGBl. S. 1095) vgl. §§ 2 und 7.
*) Reichsversicherungsordnung § 1781 Abs. 2. Diese Bestimmung zeigt
zugleich, daß jene Geschäftsform auch bei den anderen Versicherungsbehörden
vorausgesetzt wird.
Nie (In er, Die Geschäftsform der Behörden. 165
kommt es vor, daß in den Organisationsgesetzen einzelne be-
stimmte Entscheidungen hervorgehoben werden, die von dem
Vorsitzenden der Behörde allein oder mit nur einzelnen Mit-
ghedern zusammen getroffen werden können. So die Ent-
scheidungen über Verwaltungsklagen und Berufungen, die
nach §§ 64, 86 des Landesverwaltungsgesetzes der Vorsitzende
des Kreisausschusses bzw. der Vorsitzende des Bezirksaus-
schusses im Einverständnis mit dessen ernannten Mitgliedern
treffen kann. Auch in letzterem Fall liegt keine kollegialische
Entscheidung vor, da unter Umständen nur ein ernanntes Mit-
glied außer dem Vorsitzenden in Betracht kommt, die Ent-
scheidung also in der Hand von nur zwei Mitgliedern der Be-
hörde liegt. Ebenso konnten z. B. nach § 22 der früheren Ge-
schäftsordnung des Reichsversicherungsamts der Abteilungs-
direktor oder Vorsitzende des Senats mit dem Berichterstatter
allein Enscheidung darüber treffen, ob eine Sache vor das er-
weiterte Kollegium zu verweisen ist.
Nun hat aber über diese gesetzlichen Bestimmungen hinaus
gewohnheitsrechtlich eine viel weitergehende Entwickelung statt-
gefunden; tatsächlich wird in der Praxis in viel größerem
Umfange, als es gesetzlich vorgesehen ist, von der kollegialischen
Geschäftsform abgesehen. Selbst die ordentlichen Gerichte
tun dies. Es ist wohl überall üblich, daß ganz einfach liegende
Entscheidungen nicht nur ohne Beratung, sondern sogar ohne
Anhörung aller Mitglieder nur von dem Vorsitzenden und
Referenten getroffen werden, z. B. Ablehnung von Vertagungen
nach feststehenden Grundsätzen, geringfügige Änderungen eines
Beweisbeschlusses, Bewilligung des Armenrechts für den Be-
rufungsbeklagten, offenbar unzulässige Beschwerden, belehrende
Bescheide auf verfehlte Eingaben u. dgl. Aber das spielt keine
Rolle. Bedeutsamer ist, daß bei den kollegialen Verwaltungs-
behörden in der Praxis die Masse der laufenden Geschäfte
regelmäßig überhaupt nicht kollegialisch behandelt wird. Nach
der Instruktion für die preußischen Regierungen (§ 26) durften
ohne Vortrag nur erledigt werden ,, einleitende und vorbereitende
Verfügungen, sowie alle Sachen, die ihren gewiesenen Gang,
ihre Norm und Form haben". Sobald es ,, darin auf eine
materielle Entscheidung ankommt", mußten sie zum Vortrag
gebracht werden, es sei denn, daß ,, diese auf unzweifelhaften
ausdrücklichen Vorschriften beruht". „In allen Fällen, welche
der Dezernent ohne Vortrag abmacht, muß solches aber aus-
drücklich von ihm auf dem Stück vermerkt werden." Dies
166 Xiedner, Die Geschäftsform der Behörden.
Verhältnis hat sich im Laufe der Zeit umgekehrt. In Wirk-
Hchkeit werden, jedenfalls an größeren Regierungen, soweit sie
überhaupt noch Kollegialverfassung haben, wohl nur noch
prinzipielle oder besonders zweifelhafte Sachen der ganzen
Kollegialabteilung zur Kenntnis gebracht; die Regel bildet die
Erledigung ohne Vortrag. Und nicht anders ist die Übung
z. B. bei den Konsistorien, obwohl hier nicht einmal, wie bei
den Regierungen, eine Ermächtigung vorliegt, deren Interpre-
tation, unmerklich ausdehnend, zu der jetzigen Praxis führen
konnte. Die wirklich kollegiale Behandlung aller Geschäfte
eines größeren Verwaltungskollegiums erweist sich einfach als
undurchführbar.
Die Geschäftsform, in der in den Kollegialbehörden die
nicht kollegial behandelten Sachen erledigt werden, ist ander-
seits aber auch nicht die sogen, bureaukratische. Sie besteht
darin, daß unbedingt zwei Mitglieder der Behörde zusammen-
wirken und übereinstimmen müssen; es genügt formell, wenn
Dezernent und Präsident oder Abteilungsvorsteher die Sache be-
arbeiten, es können aber auch noch weitere Mitglieder hinzu-
gezogen werden, in deren besonderen Geschäftskreis die Sache
einschlägt. In den Geschäftsordnungen einiger Behörden be-
stehen darüber bestimmte Vorschriften, sonst steht es dem
Präsidenten frei, darüber zu bestimmen, welche Mitglieder der
Behörde im einzelnen Fall zu beteiligen sind i).
Damit nähert sich diese Geschäftsform in der Praxis aller-
dings sehr der bureaukratischen, denn auch bei jener kommt
es kaum vor, daß der Chef der Behörde zu dem einzelnen
Geschäft nicht ein Mitglied seiner Behörde, welches ihm vor-
zuverfügen hat, hinzuzieht. Der Geschäftsgang ist auch hier
regelmäßig der, daß die einzelne Sache von einem Referenten,
eventuell noch weiteren Korreferenten bearbeitet und dann
abschließend vom Abteilungsdirigenten bzw. Präsidenten oder
beiden gezeichnet wird. Der wesentliche Unterschied liegt darin,
daß bei der bureaukratischen Geschäftsform der vorgesetzte
Abteilungsdirigent und Präsident nicht an die Zustimmung der
mitwirkenden Mitglieder der Behörde gebunden sind, während
bei der vereinfachten Geschäftsform, die sich in den Kollegial-
behördeu herausgebildet hat, die Übereinstimmung der einmal
') Vgl. z. B. wieder die preußische Regierungsinstruktion § 24 und das
Regulativ ül)er den Geschäftsgang bei der Oberrechnungskammer § 27 in
Verbindung mit § 24^* — 13 ^
Niedner, Die Geschäftsform der Behörden. 167
zugezogenen INIitglieder erforderlich ist. Stimmen sie in der
Bearbeitung der Sache nicht überein, so muß sie zum Vortrag
im vollen Kollegium kommen^).
Auch diesen Unterschied darf man in seiner praktischen
Bedeutung freilich nicht überschätzen. Denn auch bei bureau-
kratischer Verfassung pflegt ein Präsident nicht ohne weiteres
gegen die Ansicht seiner sachkundigen Referenten zu handeln,
es besteht auch in den meisten bureaukratischen Behörden die
Einrichtung von regelmäßigen Sitzungen, in denen über Meinungs-
verschiedenheiten, die bei der Bearbeitung der einzelnen Sachen
hervorgetreten sind, wie überhaupt von vornherein über prin-
zipiell wichtige Entscheidungen gemeinsam beraten wird 2), und
selten wohl handelt der Chef einer Behörde gegen die aus-
gesprochene Ansicht der Majorität seiner Mitarbeiter. Wie der
Unterschied in der Praxis wirkt, ist mehr Personenfrage. Manch
bureaukratischer Chef wird von den Mitgliedern seiner Behörde
beherrscht und mancher Vorsitzende eines Kollegiums beherrscht
dieses. Immerhin ist festzustellen, daß nicht, wie man überall
zu lesen pflegt, jede Verwaltung in mehrgliedrigen Behörden
entweder bureaukratisch oder kollegialisch ist, sondern daß
daneben noch eine weitere — in der Theorie bisher wenig
beachtete — Geschäftsform besonderer rechtlicher Ausprägung
besteht, nämlich die Führung der Geschäfte durch zwei oder
mehrere Mitglieder einer Behörde, die einstimmig sein müssen.
Der Gedanke, welcher der Ausbildung dieser Geschäftsform
offenbar zugrunde hegt, ist wohl der: Bei der Führung der Ge-
schäfte durch eine Einzelperson kann doch zu leicht etwas
übersehen werden und eine nur einseitige Beurteilung Platz
greifen; wenn zwei eine Sache besprechen, so kann sie nur
gewinnen. Andererseits genügt es bei den laufenden Geschäften
in der Regel, wenn zwei verständige Menschen zusammen-
wirken; stimmen sie in der Behandlung der Sache überein, so
ist damit eine gewisse Garantie gegeben, daß nichts Wesent-
liches übersehen und die Sache nicht ganz einseitig beurteilt
ist. Alle Mitglieder der Behörde brauchen deshalb nicht immer
gehört zu werden, es genügt, wenn im einzelnen Fall die hin-
') Vgl. z. B. §27' der zit. Regierungsinstruktion und § 7^ des zit.
Regulativs für die Oberrechnungskammer.
*) Den preußischen Regienmgspräsidenten ist bei dem tJbergang von
der Kollegial- zur bureaukratischen Verfassung die Beibehaltung solcher
Sitzungen besonders empfohlen (vgl. den Circular-Erlaß vom 9. Februar 1884,
MinBl. f. d. innere Verw. S. 15).
168 Niedner, Die Geschäftsform der Behörden.
zugezogen werden, in deren besonderen Geschäftskreis die
Sache fällt.
Wie man kein richtiges Bild von der Art unserer Verwaltung
bekommt, wenn man diese Mittelform, die in der Praxis eine große
Bedeutung hat, nicht beachtet, so muß man diese Geschäftsform
auch bei der rechtspolitischen Frage nach einer besseren Be-
hördenorganisation berücksichtigen. Die Frage darf auch hier
nicht, wie es gewöhnlich geschieht, nur dahin gestellt werden:
kollegialische oder bureaukratische Verfassung? sondern es ist
auch zu erwägen, ob nicht jene Mittelform, soweit sie tatsächlich
besteht, gesetzlich anzuerkennen und eventuell weiter auszubilden
sein möchte. Einen wertvollen Gesichtspunkt zur Würdigung
der kollegialischen Behördenverfassung gibt dabei die Beob-
achtung, wie sich aus ihr die Mittelform entwickelt hat. Soweit
sich diese Entwickelung im Wege des Gewohnheitsrechts voll-
zogen hat, tritt damit offenbar zutage, daß ein überwiegendes
praktisches Bedürfnis zu einer Änderung vorlag und daß dieses
praktische Bedürfnis durch den Gebrauch jener Mittelform be-
friedigt wurde. So bemerkte man z. B. bei dem erwähnten
Vorgang in der Waldecker Landessynode, es sei immer so ge-
wesen und zweckmäßig, von gemeinsamer Beratung im Kol-
legium abzusehen, und bezeichnete die dagegen geltend gemachte
Ansicht, daß Beratung bei kollegialischer Verfassung grund-
sätzlich geboten sei, als unpraktische Professorenweisheit i).
Und mehr noch als diese Abschwächung der Kollegialverfassung
ist die Entwicklung zu beachten, in der es in einem Kollegium
üblich wird, daß sich überhaupt nicht mehr alle Mitglieder an
allen Geschäften beteiligen. Symptomatisch ist es in dieser
Hinsicht z. B., daß bei der Prüfung der Formalien der Be-
rufung im Senat eines Gerichts auch die gewissenhaftesten
Beisitzer sich nicht mehr für verpflichtet halten zuzuhören,
sondern die Sorge dafür lediglich als Sache des Referenten
und Präsidenten oder auch wohl nur des letzteren ansehen, und
höchst beachtenswert ist es, wenn aus der Praxis mancher Ge-
richte bezeugt wird, ,,daß bei Übereinstimmung des Referenten
und Vorsitzenden eine wirklich ernsthafte Diskussion mit und
unter den übrigen Mitgliedern des Kollegiums überhaupt nicht
*) Dabei kam übrigens auch wieder in anderer Weise der Gedanke zum
Ausdruck, daß Entscheidungen einer Zweiheit von Personen überlassen werden
könnten, indem man nämlich resolvierte, das Konsistorium zu ersuchen, münd-
liche Beratung stattfinden zu lassen, wenn dieselbe von zwei Mitgliedern ge-
wünscht würde.
Niedner, Die Geschäftsform der Behörden. 169
mehr stattfindet"^). Glaubt man wirklich mit dieser Praxis aus-
kommen zu können, so wäre damit die Berechtigung jener
mittleren Geschäftsform anerkannt. Man hat sie ja kürzlich
auch zur Einführung für die ordentlichen Gerichte nach dem
Vorbild des englischen Rechts 2) vielfach empfohlen. Weiterhin
ist zu beachten, wo und wie diese Geschäftsform wiederum
nicht aus der kollegialischen entwickelt, sondern geschaffen ist,
um die bureaukratische zu vermeiden, wir sehen dies dort, wo
es in bureaukratisch organisierten Behörden immer mehr als
geboten angesehen wird, daß der Chef der Behörde mindestens
noch ein Mitglied, z. B. in technischen Fragen den technischen
Referenten, hinzuzieht und bei Nichtübereinstimmung mit diesem
weitere Beratung veranlaßt. Eine reine Ausprägung der auf
die Zweiheit gestellten Geschäftsform finden wir in der Mini-
sterialverfassung derjenigen Staaten, in denen ein sogenannter
dirigierender Staatsminister mit einem verantwortlichen Depar-
tementschef zusammenwirken muß. So scheint sich ja auch
die Ministerialverfassung im Deutschen Reich praktisch ent-
wickeln zu wollen. Nach dem Gesetz ist die oberste Reichsleitung
bureaukratisch organisiert. Von vielen wird ein kollegiales Reichs-
ministerium gefordert. Tatsächlich scheint sich die Überzeugung
immer mehr zu befestigen, daß weder das eine noch das andere
praktisch ist, daß es vielmehr erforderlich ist, aber auch ge-
nügt, wenn in der höchsten Leitung zwei Personen, Reichs-
kanzler und Staatssekretär, zusammenwirken und übereinstimmen.
Als politische Forderung ist es heute schon unbestritten, daß
der Staatssekretär sich nicht nur als Gehilfe des Reichskanzlers be-
trachten darf, und manche sehen es gar wohl schon als Gewohn-
heitsrecht an, daß er dem Reichskanzler nicht zum Instruktions-
gehorsam verpflichtet ist^). Liegt nicht auch der staatsrecht-
lichen Einrichtung der Mitwirkung eines Ministers bei den Re-
gierungshandlungen des Staatsoberhauptes derselbe Gedanke
zugrunde? Die Ausübung so gewaltiger Befugnisse wie der des
Staatsoberhauptes soll nicht in der Hand eines Menschen liegen ;
mindestens zwei sollen jedesmal zusammenwirken und überein-
stimmen. Das erscheint als notwendige, aber auch als aus-
reichende Garantie. Darin liegt die eigentlich praktische Recht-
^) Vgl. A. Niedner, Zur Frage einer durchgreifenden Justizreform.
Hannover (Helwing).
^) Vgl. über dieses u. a. Gerland, Die englische Gerichtsverfassung.
Leipzig 1910. S. 341, 570.
*) Vgl. dazu Kosenthai, Die Reichsregierung. Jena 1911. S. 62.
170 Xiedner, Die Geschäftsform der Behörden.
fertigung der Einrichtung; die Einführung der juristischen '
VerantwortHchkeit ist mehr von theoretischem Interesse.
Belehrend würde es weiter auch sein, festzustellen, inwieweit
in großen Privat Verwaltungen, deren Gestaltung sich lediglich
nach praktischen Bedürfnissen, nicht nach staatsrechtlichen
Theorien richtet, eben jene auf Zweiheit gestellte Geschäfts-
form üblich ist oder vielleicht gar überwiegt.
Bei einer Behörde, die laufende Geschäfte in der gedachten,
Einstimmigkeit Mehrerer fordernden, Geschäftsform zu be-
handeln hat, muß selbstverständlich für den Fall der Meinungs-
verschiedenheit eine Bestimmung vorgesehen sein. Sie kann
dahin gehen, daß nun kollegialische Entschließung in der Be-
hörde zu erfolgen hat, oder dahin, daß die Entscheidung an
die vorgesetzte Behörde devolviert wird, wie wir es vielfach
finden, wo zwei auf Zusammenwirken angewiesene selbständige
Instanzen sich nicht einigen können. Daraus ergibt sich die
praktische Grenze für die Anwendbarkeit dieser Geschäftsform:
sie eignet sich weniger für kontradiktorische Entscheidungen,
bei denen erfahrungsgemäß Meinungsverschiedenheiten häufig
sind. Denn in solchen Fällen wird der Geschäftsgang, da an
der zunächst berufenen Stelle die Entschließung überhaupt
ausfällt, aufgehalten '). In der streitigen Gerichtsbarkeit wird
sie daher wohl immer nur die Ausnahme bilden können. An-
ders bei der laufenden Verwaltung, wo diejenigen Entscheidungen
für welche die eigentlich kollegialische Beratung angezeigt ist,
jetzt immer mehr besonderen Beschlußbehörden zugewiesen
sind. Hier wird für die laufende Tätigkeit der ordentlichen
Landesverwaltungsbehörde jene mittlere Geschäftsform wohl die
rein kollegialische, wo sie noch besteht, zu ersetzen berufen sein.
') Die Verzögerung ist übrigens in diesem Fall, was wiederum inter-
essant und zu beachten ist, geringer bei gleichzeitig kollegialorganisierten,
als bei bureaukratisch verfaßten Behörden.
V.
Die Instruktion der Preußischen Immediat-Jnstiz-
Kommission für die Rbeinlande von 1816
Von Dr. Ernst Landsberg
I.
Während der Befreiungskriege nahm die Preußische Re-
gierung es als selbstverständhch an, daß mit der französischen
Herrschaft das französische Recht ganz aus Deutschland ent-
fernt und, soweit die Preußische Herrschaft an Stelle jener trat,
durch das altpreußische Recht ersetzt werden müsse i). Dem-
gemäß erging, noch bevor der endgültige völkerrechtliche Ge-
bietserwerb erfolgt war, das „Patent wegen Wiedereinführung
des Allgemeinen Landrechts und der Allgemeinen Gerichts-
ordnung in die von den Preußischen Staaten getrennt gewesenen,
mit denselben wieder vereinigten Provinzen" vom 9. Sep-
tember 1814 ■-). Aber auch für die neu gewonnenen Rhein-
provinzen war, soweit sie dem französischen Rechte unter-
standen, der Entwurf zu einem Patente durchaus ähnlichen In-
halts, mit nur ganz wenigen, wennschon nicht so ganz gering-
fügigen Abänderungen, bereits im September 1815 ausgearbeitet^),
während gleichzeitig die Vorarbeiten zur Einführung ,,der
Preußischen Kriminalverfassung, in Form und Materie, an Stelle
') Diese bisher schon sehr allgemein herrschende Ansicht wird nament-
lich bestätigt durch einen diesbezüglich klar durchgearbeiteten Aufsatz des
damaligen Justizministers Friedr. Leop.v. Kircheisen (1749 — 1825, s. A. D. B. 15,
789 f.) V. 18. Juli 1814, mitgeteilt an Hardenberg am 28. ejusdem, enthalten
in den Akten R. 74 R 1 Nr. 16 des Preußischen Geheimen Staatsarchivs zu
Berlin (bisher unveröffentlicht).
^) GS. S. 89; Grotefend, Gesetze u. Verordnungen f. d. preußischen
Staat u. d. Deutsche Reich 1, 83 f.
^) Dies ergibt sich aus den Akten der Immediat-Justiz-Kommission, be-
ruhend im Kgl. Staatsarchiv zu Düsseldorf, Aktenbündel Nr. 66, betr. Ein-
führung der Preußischen Gesetzgebung in die Rheinprovinz, bes. fol. 11 f.
172 Landsberg. Instruktion d. Immediat-.Tustiz-Komm. für die Eheini. 1816.
der jetzigen" (französischen) lebhaft betrieben wurden^). Da
traten zunächst recht bedeutungslos erscheinende Reibungen
und Schwierigkeiten ein, über die hier nicht berichtet werden
soll-); und tatsächlich ist es dann zu einer Einführung des
alten Preußischen Privatrechts, Strafrechts und Prozesses in die
französischrechtlichen Gebiete der Rheinprovinz mit wenigen
Ausnahmen nie gekommen. Erst durch die jüngere konstitu-
tionelle Preußische oder gar erst Deutsche Gesetzgebung, zuerst
in breiterem Umfange durch das Preußische Strafgesetzbuch
vom 14. April 1851, ist das französische Recht aus der Preu-
ßischen Rheinprovinz verdrängt worden.
Der 35 jährige Kampf, der zu diesem Ergebnisse geführt
hat, ist weniger ein juristischer, als ein politischer gewesen,
und zwar wiederum weniger ein national-politischer — Neigung
zu französischem Wesen bewegte die Rheinländer kaum, so
gerne solche Neigung ihnen von den Gegnern vorgeworfen
wird — als vielmehr ein partei-politischer. Es ist der Kampf
des liberalen und modernen, sozial selbstbewußten und wirt-
schaftlich vorwärts drängenden rheinischen Bürgertums gegen
das altpreußische feudal-bureaukratische Regiment. Eben darum
ist dieser Kampf von weittragendem, über das bloß rechts-
geschichtliche hinausgehendem, allgemeinstem politischen Inter-
esse. Trotzdem, und obschon es wahrlich der Untersuchung
lohnt, wieso damals die Partei so vollständig besiegt werden
konnte, die ausschließhch im Besitze der pohtischeu Herrschaft
und aUer greifbaren staatlichen Machtmittel sich befand, mangelt
uns bisher jede, auf genaueres Aktenstudium begründete und auf
eingehendere Darstellung gerichtete Sonderbearbeitung 3) dieses
») Ebenda fol. 40 f.
*) Vgl. etwa einstweilen Adolf Stölzel, Brandenburg-Preußens Eechts-
verwaltung und Eechtsverfassung 2, 443 f. Diese bisher wohl einzige akten-
mäßige Darstellung dieser Dinge ist aber natürlich nur vom Gesichtspunkte
allgemein preußischer Verwaltungsgeschiehte aus gearbeitet und daher plan-
gemäß weit davon entfernt, die Eheinische Entwicklung vollständig imd zu-
sammenhängend wiederzugeben.
*) Im Eahmen weiterer, allgemein-geschichtlicher Darstellung äußern
sich natürlich die meisten politischen Historiker der Zeit darüber, in mehr
oder weniger fragmentarischer, mehr oder weniger treffender ^^ eise ; s. etwa,
wohl am besten Treitschke. D. Gesch. im 19. Jhhdt. 2. 221 f.; im Eahmen
der Preußischen Eechtsverfassungsgeschichte eingehend, aktenmäßig und wie
stets objektiv, Stölzel a. a. 0.; dagegen beschränken sich durchweg die Ju-
risten, die besonders rechtsgeschichtlich oder als Einleitung in eine dogma-
tische Darstellung die rheinischen Eechtsverhältnisse erörtern, auf die Fest-
stellung der äußeren Tatsache, daß es beim französischen Eecht geblieben ist.
»
Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816. 173
Gegenstandes. Diese soll auch hier selbstverständlich noch
nicht gegeben werden, da der Verfasser verpflichtet ist, sie einer
dafür besonders bestimmten Veröffentlichung vorzubehalten.
Diese wenigen Zeilen sollen vielmehr nur als vorläufige Er-
klärung dafür dienen, warum ein bisher unveröffentlichtes
Aktenstück hier abgedruckt und der Aufmerksamkeit der Leser
dieser Zeitschrift für Politik empfohlen werden möchte.
Die erste Wendung gegen die Einführung des Preußischen
Rechts vollzog sich nämlich, indem man gegen den Justiz-
minister von Kircheisen, ja unter Umgehung desselben in Berlin
es bei dem lenkenden Staatskanzler Hardenberg durchsetzte,
daß zunächst die Möglichkeit und Wirkung jener Maßregel
einer gründlichen Voruntersuchung unterzogen werden solle,
wobei namentlich die Eigentümlichkeiten der Rheinprovinz und
des bisher dort geltenden Rechts zu prüfen seien. Zu dem
Behufe ordnete die Königliche Kabinettsorder vom 20. Juni 1816,
die auf Hardenbergs Betreiben erging, die Einsetzung einer
Immediat-Justiz-Kommission in Köln an; die Order ist oft ge-
druckt i) und oft angeführt mit ihrem etwas kosmopolitisch-
phrasenhaft klingenden, von den Rheinländern aber sehr konkret
ausgelegten und sehr ernsthaft festgehaltenen Schlußabsatze :
,,Ich will, daß das Gute überall, wo es sich findet, benutzt und
das Rechte anerkannt werde" — worauf dann noch der aus-
drückliche Hinweis folgt, daß auch Einrichtungen ,, deshalb,
weil sie sich nicht in dieser Art in Meinen übrigen Staaten
finden, nicht verworfen, sondern nur in eine solche Richtung
gebracht werden" sollen, ,,als sie der Zusammenhang mit dem
Ganzen verträgt". — Immerhin ist es auffallend, wie wenig
schließlich die Immediat-Justiz-Kommission die in den letzt-
angeführten Worten enthaltene Weisung befolgt hat, wie aus-
schließlich sie mit ihrer Majorität oder selbst einstimmig in
ihren Erwägungen und Schlußvoten den Prinzipien des franzö-
sischen Rechts sich untergeordnet hat: sowohl in den ganz
oder auszugsweise durch den Druck damals schon vervielfäl-
tigten 2), wie in den sämtlichen, noch gar viel weiter ausgeführten
^) S. z. B. Math. Simon. Übersicht der in den Rhein provinzen bei
ihrer Vereinigung mit der Krone Preußen geltenden Gesetze, Cöln 1824, An-
lagen, I S. 1 f., oder Lottners Sammhmg d. f. d. Eheinprovinz u. s. f. er-
gangenen Gesetze 1, 414 f.
^) Besonders bekannt geworden sind die Gutachten über das öffentliche
Verfahren in Zivilsachen, über das öffentliche und mündliche Verfahren in
Untersuchungssachen und über das Geschworenengericht durch die zum Teile
allerdings äußerst zusammengestrichenen Auszüge in Bd. 4 des (alten) söge-
174 Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816.
sonstigen Berichten und Vorschlägen, die sie an die Zentral-
instanz nach Berlin gerichtet hat^) und durch die dann auch
der weitere Gang der Dinge wesentlich beeinflußt worden ist.
Davon aber, wie es zu solchen Ergebnissen im Schöße der
Kommission gekommen ist, wird man sich natürlich nur durch
Betrachtung des Ganges ihrer Arbeiten Rechenschaft ablegen
können, und eben hierfür mußte wieder die ihr erteilte In-
struktion maßgebend werden, die bisher unveröffentlicht und
uuverwertet in den Akten geschlummert hat.
n.
Die Order selbst enthält den Satz:
,,Für den ganzen Geschäftskreis, welcher der Kommission
hierdurch von Mir übertragen wird, überlasse Ich Ihnen" (die
Order ist an Hardenberg persönlich gerichtet), — ,, dieselbe mit
einer näheren Instruktion zu versehen."
Demgemäß ist denn auch die Instruktion gezeichnet von
Hardenberg unter dem ausdrücklichen, dem ersten Entwurf
erst nachträglich, also als besonders bedeutsam zugefügten Zu-
sätze: ,,Auf Allerhöchsten Befehl und Namens Sr. Majestät des
Königs." Und schon der erste Blick in den Wortlaut erklärt
allerdings, wie dringend es der Berufung auf diese Autorität
bedurfte, wenn z. B. gleich in § 2 die Ausführung des Patentes
vom 9. September 1814 zum Teile sistiert wird — eine bisher
unbekannte Anordnung, durch deren Fund ein staatsrechtliches
Rätsel gelöst wird, die bisher immer nur als Tatsache konstatierte
NichtWiedereinführung des altpreußischen Rechtes in die alt-
preußischen Teile der linksrheinischen Rheinprovinz '-^j.
nannten Rheinischen Archivs (genauer: „Niederrheinisches Archiv für Gesetz-
gebung, Rechtswissenschaft und Rechtspflege'"), herausgegeben von G. von Sandt
und C. Zum Bach, dieser Band Cöln 1819, S. 286 f. Dies Archiv stand über-
haupt der Kommission sehr nahe und darf als ihr offiziöses Organ angesehen
werden. Die vollständigen Drucke der Voten sind kaum veröffentlicht.
*) Hierher gehören Voten und sonstige Äußerungen über das öffentliche
Ministerium, über Trennung von Justiz und Verwaltung, über die Einrich-
tungen des Notariats, der Anwaltschaft u. s. f.; vgl. Akten der Immediat-
Justiz-Kommission auf dem Kgl. Staatsarchiv zu Düsseldorf, Nr. 84, 72 und
31, 5, 50; auch Nr. 85, 56 — 60, 89; dort auch die Originale der gedruckten
Stücke, Nr. 86 f. Über die Drucke selbst und ihre Schicksale ist an anderem
Orte zu berichten.
*) Näheres hierüber aus Akten des Kgl. Geheimen Staatsarchivs zu
Berlin mitzuteilen, muß ich mir hier vorbehalten; die Sache hat eine weiter-
führende Vorgeschichte.
Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816. 175
Verfaßt aber ist die Instruktion von dem Manne, der nach
Lage der Berliner Akten nun als der geistige Urheber der
ganzen Maßregel erscheint^), Johann Albrecht Friedrich Eich-
horn, dem wohlbekannten, später um die Einführung des Zoll-
vereins so hochverdienten Preußischen Staatsmann und Minister,
damals Geh. Legationsrat und besonders (neben Stägemann
und Rother) im staatskanzlerischen Kabinett tätig. Von seiner
Hand ist der ganze Entwurf der Instruktion geschrieben 2), und
genau nach seinem Entwurf ist die Ausfertigung-) hergestellt,
die Hardenberg am 8. Juli 1816 zu Karlsbad vollzogen hat.
Man wird diese Tatsache bei der Würdigung des ganzen Vor-
ganges wohl zu berücksichtigen haben : namentlich schließt sie
die bequeme Erklärung aus gallomanisch vaterlandsloser Ge-
sinnung, die so oft vorgebracht wird, bei der ganzen Persön-
lichkeit Eichhorns doch wohl ohne weiteres aus; vielmehr be-
stärkt sie mich in der Auffassung, daß es sich um ernsthafte
sachliche Erwägungen teils politischer, teils kultureller Natur
handelte, die man dann allerdings in den Rheinlanden selbst
eifrig auszubeuten wohl verstanden haben mag.
Indessen auch dies weiter auszuführen wird Sache weiteren
Zusammenhangs sein; ich lasse nun hier den Text der In-
struktion selbst folgen, genau nach dem Wortlaute des in der
letzten Note näher angeführten Originals. Einer weiteren Aus-
legung zum Verständnisse im einzelnen wird dieser Text kaum
bedürftig erscheinen.
Instruction der Immediat Justiz Commission für
die Rheinprovinzen.
§ 1. Der Zweck dieser Instruction ist, die Bildung einer Immediat
Justiz Commission, ihr Verhältniß zu andern Behörden, den Gegenstand und
Umfang ihres Geschäfts, die Ordnung des Geschäftsgangs und die Grundsätze,
welche sie zu beobachten hat, nach der Absicht der Allerhöchsten Cabinets
Ordre vom 20. Juny d. J. näher zu bestimmen. Was die Instruction besonders
über den Gegenstand des Geschäfts und die Grundsätze dessen Behandlung
enthält, soll die Commission nicht sowohl als Schranken ansehen, wodurch
0 Acta der geheimen Eegistratur des Staatskanzlers betr. die Organi-
sation der Justiz in den Eheinprovinzen, Geh. Staatsarchiv Berlin, R. 74,
E IX, Nr. la. Generalia, Vol. I, 1816 bis Mai 1817.
') Angeführte Akten, fol. 29 f.
^) A. a. 0. fol. 38 — 47. Mehrfache Abschriften in anderen Akten derselben
Registratur, auch bei den Oberpräsidialakten zu Koblenz; dagegen merk-
würdiger Weise nicht bei den Düsseldorfer Akten der Immediat- Justiz-
Kommission selbst, die überhaupt nur fragmentarisch sind.
176 Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816.
ihre Thätigkeit begrenzt und von einer im Verfolge des Geschäfts ihr etwa
nötig scheinenden Richtung abgehalten werden möchte, sondern vielmehr als
Andeutungen, die Fülle und Vielseitigkeit ihres Auftrags recht lebendig
zu fassen.
I, Bildung der Immediat Justiz Commission.
a. Geographischer Wirkungskreis.
§ 2. Die Immediat Justiz Commission ist für die Rheinprovinzen an-
geordnet. Darunter werden alle diejenigen Landstriche sowohl am linken,
als rechten Rheinufer gerechnet, die mediatisirten Gebiete mit einbegriffen,
welche zu den Verwaltungs Bezirken der Oberpräsidien zu Coblenz und Cöln
gehören. Zwar sind durch die Patente vom 9. Septbr. 1814 und 22. May 1815
das Allgemeine Landrecht, die Allgemeine Gerichtsordnung und die Hypo-
thekeuordnung in den Herzogthümern Cleve und Geldern und in dem Fürsten-
thum Moers bereits publicirt. So weit aber auf den Grund dieser Publication
die Rückkehr der alten Justizverfassung und Gesetze noch nicht würklich ge-
schehen ist, soll die weitere Ausführung auch in 'den genannten Landstrichen
sistirt werden. Bei den Vorschlägen, welche hiernächst die Commission
für den Umfang ihres ganzen Auftrags in Beziehung auf alle Rhein-Provinzen
zu machen hat, sind die genannten Landestheile besonders zu berücksichtigen.
b. Sitz der Commission.
§ 3. Zum Sitz der Commission ist Cöln gewählt, weil die französischen
Gesetze vorzugsweise am linken Rheinufer ihre Macht ausgeübt haben, und
jene Stadt als der Aufenthalt eines Oberpräsidii imd mehrerer administra-
tiven und gerichtlichen Behörden, oder ganz in deren Nähe, und als der Mittel-
punkt eines großen bürgerlichen und geistigen Verkehrs, der Immediat Justiz
Commission Ansichten, Bedürfnisse und Wünsche unmittelbarer und vernehm-
licher zuträgt und zu einer vielseitigen Berathung und Rücksprache Gelegen-
heit giebt.
c. Personal und dessen Remuneration.
§ 4. Die Commission besteht vorläufig aus einem Präsidenten und
vier Mitgliedern, wovon bereits der Präsident in der Person des Ober Landes
Gerichts Präsidenten Sethe und zwei Mitglieder, nemlich. der Ober Appellations
Rath Boelling und der Justiz Commissar Simon durch die Allerhöchste Cabinets
Ordre ernannt sind. Zu den beiden noch unbesezten Stellen haben die
ernannten Commissarien mehrere Vorschläge wenigstens nicht unter zwei für
jede Stelle, bei dem Staats Canzler einzureichen, und in ihrer Auswahl besonders
auf solche Männer zu sehen, welche, im Besitze eines wohlbegründeten Rufs
der Rechtschaffenheit, mit gründlichen allgemeinen Rechtskenntnis&en und
einer vollständigen, auf Uebung und Erfahrung beruhenden Einsicht in die
französischen Gesetze und Rechtsverfassung auch eine nähere Kenntniß der
Rechtsverhältnisse, der eine des ehemaligen Erzstifts Trier, der andere des
Erzstifts Cöln verbinden. Die Bestimmung der Zahl, die Auswahl und An-
stellung der Subalternen, wird dem Präsidenten überlassen, mit Vorbehalt
der von dem Staats Canzler einzuholenden Genehmigung.
Der Präsident, die Mitglieder und Subalternen erhalten ihre Diäten
nach § 1 Nr, 7 Lit. A. des Regulatifs vom 28. Febr. 1816, wobei der
Präsident dem Director der Abtheilung eines Ministerii gleich zu stellen ist.
Der Fond hiezu sowie für Canzley Bedürfnisse und extraordinaire Ausgaben
wird der Commission von dem Finanz Ministerio angewiesen werden.
Landsberg^, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Eheini. 1816. 177
Ausgaben, die nicht aus der Natur des Geschäfts als notwendig sich
ergeben, müssen vorher die Genehmigung des Staats Canzlers erhalten. Bei
diesem ist auch zu seiner Zeit Eechnung abzulegen.
n. Verhältniß der Commission zu andern Behörden.
§ 5. Das Verhältniß der Commission zu andern Behörden ist folgendes
a) Mit den Oberpräsidien und Regierungen steht sie in gleicher Ordnung,
und das Verkehr mit denselben geschieht im Wege der Requisition.
Dies findet auch in den Berührungen mit den Militair Behörden statt.
b) Die gerichtlichen Behörden jeden Ranges in den Rhein Provinzen sind
ihr untergeordnet, haben an sie zu berichten und empfangen von ihr
Verfügungen.
c) In denjenigen Fällen, welche sonst die Einwirkung des französischen
Justiz Minist erii nötig gemacht haben, und zur Direction der Commission
übergehen, wird dieselbe unter den § 8 nahmhaft gemachten Be-
stimmungen dem Justiz Minister untergeordnet.
d) Wo die übrigen Ministerien an die Immediat Commission etwas zu er-
lassen haben, oder letztere bey denselben in Antrag zu bringen nötig
hält, sind sowohl von dieser als jener Seite die Anträge an den Staats
Kanzler zu richten, von welchem das Weitere veranlaßt wird.
Auf diese Weise steht die Immediat Commission
e) mit Ausnahme der bei c) gedachten Gegenstände unter der ausschließ-
lichen Leitung des Staats Canzlers, der ihre Berichte empfängt, mit
Bescheid sie versieht und nach Bewandnis der Umstände mit den be-
treffenden Ministerien in den angemessenen Fällen Rücksprache nehmen
wird.
III. Gegenstand und Umfang des Geschäfts.
§ 6. Die der Commission aufgetragenen Geschäfte beziehen sich:
A) auf die currente Leitung des Justiz Wesens als Justiz Minist erial-Behörde;
B) auf die Bearbeitung eines interimistischen Regulativs für alle Berüh-
rungen zwischen Gerichts und Verwaltungsbehörden;
C) auf die Berathung und Ausarbeitung von Entwürfen zu Verordnungen,
welche die Gesetze und Gerichtsverfassung in den Rheinprovinzen be-
stimmen sollen.
A. Die Commission als Justiz Ministerial Behörde.
§ 7. Die cuiTente Leitung des Justizwesens als Justiz Ministerial Behörde,
wodurch aber der bisherigen Unabhängigkeit der Gerichte nirgends Eintrag
geschehen darf, ist das erste Geschäft, womit die Commission den Anfang
machen muß. Zu dem Ende wird sie alle Akten und Papiere, welche hier-
über bey dem aufgelößten General Gouvernement und nachher bey dem Re-
gierungs Präsidium in Achen vorhanden sind, an sich ziehen, auch gleich
nach ihrem Eintritt ihre Bestimmung nebst der Allerhöchsten Königlichen
Cabinets Ordre in den Amtsblättern der dortigen Provinzen bekannt machen.
§ 8. Die Gegenstände welche zu Berichten an das Justiz Ministerium
nach fi-anzösischer Verfassung Veranlassung geben, finden sich größtentheils
in der Beilage verzeichnet. Dieselben, wozu insbesondere auch die Aufsicht
über die Gerichte zu rechnen, bearbeitet die Commission ausschließlich und
ohne höhere Einwirkung mit nachstehenden Einschränkungen:
a) Sie berichtet an den Justiz Minister zur weitern Verfügung in folgenden
Angelegenheiten: in allen Bestallungssachen eigentlicher Richter, wo-
Zeitschrift für Politik. 6. 12
178 Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816.
bey übrigens in neuen Anstellungen, welche bis zur definitiven Organi-
sation nötig werden sollten als Bedingung festzusetzen, daß sie nur
.als provisorisch gelten; wegen Dispensation in Ehesachen, vom Alter
und dem Verwandschaftsgrade;
wenn mit Justizbeamten wegen körperlicher Gebrechen und Un-
fähigkeit, eine Veränderung vorzunehmen ist; in Untersuchungen wegen
Dienstvergehungen richterlicher Personen.
b) Sie überreicht dem Justiz Minister auf Erfordern eine Liste der
schwebenden Civilsachen und berichtet an denselben, wo von ihm
aus dem Gesichtspunkte der obersten Aufsicht über die Justizverwaltung
Aufklärungen verlangt werden.
c) Sie überreicht an den Justiz Minister mit einem Gutachten alle Er-
kenn tniße, welche zur Bestätigung des Königs Majestät gehen.
d) In allen Fällen der currenten Justiz Verwaltung, welche der Commission
überhaupt bedenklich scheinen, bleibt es ihr überlassen, die Sache dem
Justiz Minister zur Entscheidung vorzutragen,
e) Wenn vor der definitiven Einführung der neuen Justiz Verfassung die
Erläuterung eines Gesetzes für nötig befunden wird, so geschieht die
Anfi'age, welche s-onst an den französischen Justiz Minister ergangen,
unter Begleitung eines Gutachtens bey dem Staats Kanzler. An eben
denselben ist zu berichten, wenn Functionen des Justiz Ministerii nach
französischer Verfassung in unserm Staate andern Ministerien über-
wiesen sind und an die Ober Präsidien und Regierungen nicht jetzo
schon übergegangen oder in Gemäßheit des nach § 6 B auszuarbeiten-
den Regulativs noch übergehen.
§ 9. Soweit es ohne erhebliche Störung in den Geschäften geschehen
kann, muß abwechselnd ein Mitglied der Commission nach einer vom
Präsidenten zu machenden Eintheilung die Gerichte bereisen, den Geist und
die Art ihrer Geschäftsführung näher beobachten und über den Ruf und
die Qualification der richterlichen Personen sich so vollständig als möglich
unterrichten, um hiernach die definitive Anstellung mit den angemessenen
Motiven reguliren zu können.
§ 10. Es bestehen gegenwärtig in den Rhein Provinzen
a) drey Appellationshöfe zu Düsseldorff, Cöln und Trier,
b) zwey Revisionshöfe zu Düsseldorff und Coblenz in sehr unvollkommener
Einrichtung. Ohne Noth würde trotz dieser Unvollkommenheit, da mit
Ernst an der definitiven Organisation gearbeitet wird und diese auf
alle Weise zu beschleunigen ist, eine, obgleich das Bessere beab-
sichtigende Veränderung nicht vorzunehmen sein, weil diese doch nur
von provisorischem Bestände seyn könnte. Doch bleibt es der Be-
urtheilung und den gutachtlichen Anträgen der Commission unbenommen,
ob und welche Aenderungen vorläufig bey jenen Gerichtshöfen zweck-
mäßig und leicht ausführbar seyn mögen.
B. Bearbeitung des interimistischen Regulativs für den Conflict
zwischen Justiz und Verwaltungs-Behörden.
§ 11. Unmittelbar nachdem sie constituirt ist, hat auch die Commis-
sion für das oben § 6 B. erwähnte Regulativ unter Berathung mit den Ober
Präsidien, welche ihrerseits die gutachtlichen Vorschläge der Regierungen
einzuholen haben, wie die Commission die der Gerichte, einen vollständigen
Entwurf auszuarbeiten und hiernächst mit dem motivirenden Bericht bey
Landsberg-, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816. 179
dem Staats Canzler einzureichen. Hiebey ist niclit nur darauf zu sehen, daß
naan für alle vorkommenden Geschäfte genaue Normen aufstelle, ob sie Gegen-
stände der Justiz oder Verwaltung seyen, sondern daß überall auch die Be-
hörde bestimmt werde, vor welche sie gehören und die Form des Verfahrens,
wonach sie behandelt werden müssen. Hieher ist besonders zu rechnen,
welche Grundsätze wegen der nach französischer Verfassung den Präfectur-
Eäthen zustehenden Gerichtspflege eintreten sollen. Das Regulativ darf jedoch
nur das zeitige Verhältniß zwischen preußischen Verwaltungs- und franzö-
sischen Justiz Behörden im Auge haben und beabsichtiget nur provisorische
Bestimmungen. Was für die Verhältnisse zwischen Verwaltungs- und Justiz
Behörden in bleibender Einrichtung anzuordnen sey, greift in den dritten Theil
des Auftrags § 6 C. ein.
C. Definitive Bestimmung der künftig gültigen Gesetze und
Gerichts Verfassung.
§ 12. Dieser Theil des Auftrags ist der wichtigste.
Ehe die definitive Bestimmung über die Gesetze und Gerichtsverfassung,
welche künftig in Anwendung treten, im Ganzen geschehen kann, wird es
nötig seyn, daß die Commission genau untersuche und gutachtliche Vorschläge
mache, ob und wo wegen eigenthümlicher und dringender Verhältniße, eine
materielle provisorische Verordnung eintreten muß. Zu einer solchen mag
unter andern der vorübergehende Aufenthalt oder das Standquartier der aus
den alten Provinzen herbeigezogenen Truppen und das Verhältniß der aus
den alten Provinzen dorthin versezten Verwaltungs-Bearnten Anlaß geben.
§ IB. Den Vorschlägen über die materielle Gesetzgebung und Gerichts-
verfassung muß :
a) eine genaue Vergleichung der preußischen und französischen Gesetze
in allen Zweigen des bürgerlichen Eechts und des Strafrechts und
beiderlei Gerichtsverfassungen,
b) eine Prüfung der Abweichungen beiderlei Rechts- und Gerichtssysteme,
sowohl nach allgemeinen Rechtsprinzipien als nach der Eigenthümlich-
keit der Rhein Provinzen, wie dieselbe theils ursprünglich aus der frühern
Zeit noch fortdauert, theils eine Folge deren Schicksale unter der fran-
zösischen HeiTschaft ist,
vorausgehen. Bei Beurtheilung der abweichenden französischen Verfassung
gegen die unsrige ist vorzüglich
c) die bisherige Erfahrung über beide unter gleichen Bedingungen, und
d) für deren sichere Erkenntniß das Gutachten, sowohl der Tribunale, als
ausgezeichneter Rechtsgelehrten, wenn diese auch nicht in einem Staats-
amte sich befinden,
zu Hülfe zu rufen.
§ 14. Zu diesen Gegenständen einer genauen Prüfung gehören besonders
a) das öffentliche Verfahren im Civil und Criminal Prozeß,
b) die Jury im Criminal Prozeß,
c) die Eintheilung, Form und das Verhältniß der Gerichtsbehörden, als
Friedensrichter, Districtsgerichte, Appellationshöfe, Cassations Tri-
bunal XX.,
d) die Trennung der fi-eiwilligen Gerichtsbarkeit von der streitigen,
e) das öffentliche Ministerium, welchem das Geschäft unserer Fiskale,
jedoch nur entfernt, zu vergleichen ist,
f) die vormundschaftliche Einrichtung,
g) die Trennung aller Administration von der Justiz.
12*
180 Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für dieEheinl. 1816.
Hier hat die Commission alle Gründe, welche dafür oder dagegen
sprechen, mit Sorgfalt aufzusuchen und zu erwägen, ob und mit welchen
etwaio-en Modificationen dieselben beizubehalten, oder was dagegen aus unserer
Verfassung zu substituiren sey.
§ 15. Ferner muß die Commission darüber berathen und Vorschläge
machen, ob und in welcher Art unsere Hypotheken Verfassung und unser
Depositalwesen einzuführen sey; auch ist von ihr der Entwurf eines Sportul-
edikts mit Rücksicht auf die bei uns und in der französischen Verfassung ge-
raachten Erfahrungen auszuarbeiten.
§ 16. Bei der Arbeit, welche den dritten Theil des Auftrags der
Commission ausmacht, und § 12 bis 15 näher beschrieben ist, beabsichtiget
man nicht sowohl die Eedaction eines eigenen Codex über die Gesetze und
Gerichtsverfaßung in den Eheinländern als vielmehr eine genaue Bestimmung
mittelst besonderer Verordnungen, was von den vorhandenen französischen
Gesetzen, Eechtsinstituten und Einrichtungen oder denen aus der frühern
deutschen Verfassung der Eheinländer etwa noch übrig gebliebenen Eechts-
gewohnheiten, in Kraft bleiben, was davon abgeändert werden, endlich ob
und in welcher Art bey dieser Abänderung unsere Gesetze und Eechts-
verfassung zur Anwendung kommen sollen. Um alle Ungewißheit des Eechts
zu vermeiden, müssen jene Verordnungen alle Theile und Materien des bürger-
lichen Eechts, als des Personen Eechts, des Sachen Eechts und des Eechts der
Forderungen, des Kirchen-Eechts und Eegierungs Eechts und aller übrigen
Eechte, worüber sich unser Allgemeines Li. ndrecht verbreitet, desgleichen
unsere Gerichtsordnung, Hypotheken und Depositalordnung, das Sportuledikt
mit allen späteren Declarationen xx. von der einen Seite, so wie von der
andern alle Gesetzbücher und Ordnungen, welche gegenwärtig das Eecht in
den Eheinländern bestimmen, genau und besonders durchgehen und bei
jeder abgesonderten Materie festsetzen, was dabey von den bisherigen Gesetzen
gültig bleibe, oder von den unsrigen zur Anwendung komme, oder an sich,
wie für die Verschmelzung von beiden, neu anzuordnen sey. Ob dieser Zweck
durch eine oder mehrere Verordnungen und in welcher Form derselben am
besten zu erreichen sey, wird die Commission nach Maaßgabe des Inhalta
beurtheilen.
IV. Geschäftsgang bei der Commission.
§ 17. Ueber den Gang des Geschäftsbetriebs bei der Commission bleibt
deren Präsidenten überlassen, unter Beirath der übrigen Mitglieder, ein an-
gemessenes Geschäfts Eeglement auszuarbeiten. Die Berathung und der Besc^hluß
kann nur in coUegialischer Form geschehen, und bei etwaniger Gleichheit
der Stimmen, wenn die Commission nicht vollzählig beisammen ist, giebt die
Meinung des Präsidenten den Ausschlag. Auch wird festgesetzt, daß allen
mündlichen Discussionen über die zu HC. gehörigen Gegenstände nicht nur
die schriftliche Eelation eines Mitgliedes, sondern auch die besondere schrift-
liche Begutachtung der Relation von Seiten der übrigen Mitglieder voraus-
gegangen sein muß, und daß über jeden Beschluß ein Pi-otokoll zu führen
ist, worin die Stimmenden und deren Anträge besonders zu verzeichnen.
Zu seiner Zeit sind die Eelationen, die schriftlichen Vota und diese Protokolle
mit den ausgearbeiteten Entwürfen bey dem Staats Kanzler einzureichen.
§ 18. Die Commission muß mit vorzüglichem Fleiße die Ausrichtung
ihres Auftrages sich angelegen sein lassen, damit dem so dringenden Be-
dürfniß einer definitiven Justiz Organisation sobald als möglich abgeholfen
Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816. 181
•werde. Über den Fortgang ihres Gescliäfts hat sie alle vier Wochen an den
Staats Kanzler zu berichten.
V. Grundsätze, welche die Commission vor Augen haben muß.
§ 19. Dieselbe muß stets den Inhalt der Allerhöchsten Cabinets Ordre
vor Augen haben, um von dem wahren Sinn ihrer Aufgalje, von den Grund-
sätzen, welche dabey zu beachten sind und von den Erwartungen, die man
zu ihr hegt, stets durchdrungen zu bleiben.
Die Königl. Cabinets Ordre warnt vor Einseitigkeit. Die Neuerungs-
sucht, welche das Heimathliche ohne Noth aufgiebt, ist eben so verwerflich
als die starre Anhänglichkeit an dem Hergebrachten, welche alles Fremde,
das dem neuerworbenen Lande und dessen Bewohnern anhängend, eine Auf-
nahme sucht, trotz aller Vorzüge zurückweiset. Die preußische Regierung
hat sich bisher durch ihre Justiz-Verfassung besonders ausgezeichnet. Dies
beruhte aber eben sowohl auf der Gesinnung und dem Geiste, welcher die
Justiz Reform in dem Staate hervorgebracht hat und das Rechte suchend,
immer fortbildet, als in dem Material der Gesetze und Ordnungen.
Carlsbad den 8. .Tuly 1816.
Auf allerhöchsten Befehl und Namens Sr. Majestät des Königs
(gez.) C. F. von Hardenberg.
Gegenstände welche zu Berichten an das Justiz Ministerium nach
der französischen Justiz- Verfassung Veranlassung geben.
A. Generalia und Civil Sachen.
1. Alle Bestallungs Sachen.
2. Disciplinar-Sachen.
3. Nötig befundene Erläuterung eines Gesetzes.
4. Confiicte zwischen der Vei'waltungs und der Justiz Behörde.
5. Dispensationen in Ehe-Sachen vom Alter und dem Verwandschafts Grad.
6. Dispensationen votd 2ten Anf gebot, welche der Staatsprocurator er-
theilt hat.
7. Erlaubniß zum Eintritt in ausländische Dienste mit Beibehaltung des
Staatsbüi-gerrechts.
8. Einsendung der präparatorischen und definitiven Erkenntnisse, eine
Abwesenheits Erklärung betreffend und deren Bekantmachung.
Cod. Nap. Art. 119.
9. Beschlüsse eines Appellations Hofes, daß eine Civil Sache nicht
öffentlich, sondern bey verschlossenen Thüren plaidirt werden soll.
Code de proced. civ. Art. 87.
10. Einsendung der Listen der schwebenden Civil Sachen im April und
Septemb.
Decret v. 30. März 1808 Art. 80 et 81.
11. Verhandlungen in der ersten Sitzung des Appellationshofes nach den
Ferien.
Decret v. 20. April 1810 Art. 8 & 9.
12. Einsendung der dem Staats Anwalt geschehenen Insinuationen für
Ausländer.
Art. 69 du Code de proced.
13. Urlaubs-Angelegenheiten.
182 Landsberg, Instruktion d. Inimediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816.
a) Bem-laubungen der höhern Justiz Beamten.
Gesetz vom 27. ventose J. 8.
Art. 24 sqq. des Decrets vom 30. July 1810.
Art. 30 des Decrets vom 18. August 1810.
Art. 24 sqq. des Decrets vom 6. July 1810.
b) Vierteljährige Anzeige der ertheilten Beurlaubungen der Justiz-
Beamten bei den Untergerichten.
Art. 32 des Decrets vom 18. Aug. 1810.
14. Anzeige einer eingetretenen Schvfägerschaft zwischen den Gliedern
desselben Justiz Collegiums.
Art. 63 der Ges. v. 20. April 1810.
15. Anzeige in Betreff der Justiz Beamten, die wegen körperlicher Ge-
brechen außer Stande gekommen ihrem Amte fernerhin vorzustehen.
Decret vom 2. 8 her 1807 art. 2.
B. In Correctionellen und Criminalsachen.
16. Cassasitions Gesuche in Correctionellen und Criminalsachen.
Code d'instr. crim. art. 423. 439 & 443.
17. Untersuchungen wegen Dienstvergehungen richterlicher Personen.
ibid. art. 481. 482 & 486.
18. Revisionsgesuche.
ibid. art. 443 sqq.
19. Jurisdictions-Conflicte zwischen Gerichten, welche nicht vom nämlichen
Appellations Hofe ressortiren.
ibid. art. 532.
20. Surrogations Gesuche aus Gründen des öffentlichen Interesse.
Code d'instr. crim. art. 544 & 548.
21. Accusations Urteile, wodurch eine Sache an einen Special Gerichts
Hof verwiesen wird.
ibid. art. 568.
22. Rehabitations Gesuche').
ibid. art. 629.
23. Antrag auf Autorisation einen Regierungs Agenten wegen Amtsver-
brechen zu verfolgen.
Constitution vom Jahr 8. art. 175.
24. Einsendung der alphabetischen Register der zur Gefangenschaft oder
einer schwereren Strafe Verurtheilten.
Art. 601 du Code d'instr. crim.
25. Einsendung der Listen der unter die Aufsicht der Hohen Polizey ge-
stellten Individuen.
26. Unterbringung der zur Bauarbeit Verurtheilten in die gehörigen Straf-
anstalten.
27. Bericht des Assißen Präsidenten über die gehaltenen Assißen und das
Betragen der Geschworenen.
28. Anzeige der Fälle, wo ein Ausländer innerhalb des Staatsgebietes ein
Verbrechen begangen, zur Bewirkung dessen Auslieferung und umge-
kehrt Anzeige der Fälle, wo die Auslieferung eines Einländers, welcher
sich außerhalb Landes eines Verbrechens schuldig gemacht von der
fremden Regierung verlangt wird.
Decret vom 23. Octobr. 1811 Bulletin des lois. No. 400.
^) Lies: Rehabilitationsgesuche.
Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Rheinl. 1816. 183
29. Amtliche Anzeige von verfügten Zahlungsbefehlen für dringende Kosten
in Criminal Sachen.
Art. 136 des Decrets vom 18. Juny 1811.
III.
Vorstehendes ist die Instruktion, die als solche an alle
beteiligten Behörden geschickt und der Kommission bis zu Ende
ihrer Tätigkeit offiziell vorgeschrieben wurde. Unter der Hand
aber hat Eichhorn — natürlich unter Hardenbergs Unterschrift
und Autorität — fortwährend den ganzen Gang der Kommissions-
geschäfte, in Anknüpfung an die von ihr (§18 der Instruktion)
zu liefernden Monatsberichte, bis ins einzelne hinein geleitet i).
Dabei ist es auch gelegentlich zu Rügen gekommen, die er der
Kommission macheu zu müssen glaubte, und anläßlich solcher
ist er einmal sogar so weit gegangen, ihr eine bestimmtere
Erläuterung ihrer Instruktion zu geben, die als deren authen-
tische Interpretation angesehen werden muß, auch da, wo sie
nach der Art solcher ,, authentischer" Interpretationen über den
interpretierten Text hinausgeht oder gar ihm widerspricht, wie das
hier in nicht ganz geringem Maße der Fall ist. Die Kommission
hat sich denn auch von da ab durchaus an diese neue An-
weisung gehalten, die sonst gar nicht bekannt gegeben worden
ist, nicht einmal den Ministerien und Oberpräsidien. Zur ge-
rechten Beurteilung der Kommissionsleistungen bedarf es um
so mehr auch ihrer Kenntnis. Es werden damit manche Vor-
würfe hinfällig, die später der Kommission gemacht worden
sind, z. B. selbst unbilhgerweise von Eingeweihten, daß sie
sich nicht genau nach § 16 Satz 2 ihrer Instruktion an die
einzelnen Gesetzesbestimmungen Paragraph für Paragraph ge-
halten habe-), vgl. dagegen unten Nr. 4, eine offenbar viel
richtigere, ja wohl die einzig praktisch durchführbare Bestim-
mung, aus der dann die abschließenden Gutachten der Kom-
mission hervorgegangen sind.
Darum erscheint es mir angemessen, sogleich hier auch
schon diese späteren Anweisungen mitzuteilen. Dieselben sind
jedoch nicht so scharf ausgearbeitet und in fester Vorschriften
') Die betreffenden Vorgänge ergeben sich, übereinstimmend von der
Berliner und von der Cölner Seite, aus den Akten des Geheimen Staatsarchivs
zu Berlin, R. 74 E IX Nr. 1 a Vol. I u. fg. einerseits, den Akten der Immediat-
Justiz-Kommission auf dem Staatsarchiv zu Düsseldorf Nr. 71 andererseits.
^) Protokoll über eine Konferenz, abgehalten zu Cöln am 9. Sep-
tember 1818, zvnschen Hardenberg, Bejme. Eichhorn und Daniels, in den
Akten des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin. E. 841 Nr. 121, Band 2 fol, 118^p.
184 Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Komm. für die Eheini. 1816.
Form redigiert wie die Instruktion, sondern schlagen mehr den
Ton einer erläuternden Belehrung an. Sie erstrecken sich durch
mehrere Erlasse Hardenbergs an die Kommission, sind aber
wesentlich enthalten und zusammengefaßt in dem Erlasse vom
30. März 1817^). Ich beschränke mich deshalb darauf, einen
Auszug zu geben, der mit Eichhorns eigenen Worten das
Wesentliche aufzählt; ich benutze dabei einen solchen Auszug,
der für Beyme auf dessen Ministerium aus Hardenbergs zu
diesem Zwecke vorübergehend dorthin entliehenen Akten her-
gestellt worden ist 2).
1. Das Allg. L.R. und die Allg. G.O. sollen eingeführt werden, jedoch mit
den nöthigen Modificationen.
2. Nene Gesetze sollen ihrem Wesen nach nicht aufgestellt werden, sondern
es ist bei jeder Materie nur zu fragen, ob unsere Gesetze nur ver-
ändert eingeführt werden können, oder ob das bisherige fi-anzösische
Recht beizubehalten, oder eine frühere Rechtsgewohnheit wiederherzu-
stellen sei.
3. Neue Bestimmungen sind nur zu dem Ende nothwendig, wo etwas aus
dem bisherigen französischen Rechtssystenie. oder wo eine alte Rechts-
gewohnheit in das System unserer materiellen Gesetze oder unseres
äußeren gerichtlichen Verfahrens aufgenommen werden soll.
4. Die Vergleichung zwischen dem französischen und unserm Rechte ist
nicht in einzelnen Vorschriften, sondern hauptsächlich nur auf ganze
Rechtsmaterien, Institute und allgemeine Rechtsverhältnisse zu richten;
es ist bloß zu prüfen, ob das ganze Rechtsinstitut nach französischen,
oder nach unsern Gesetzen festzusetzen; wo letztere im allgemeinen
passen, soll man an Einzelheiten nicht mäckeln.
5. Da das Publicationspatent des Allg. L.R. mannigfaltiges Provinzialrecht
Bupponirt und rücksichts dessen nur subsidiarisch sein soll, der Code
Napoleon das Provinzialrecht aber gänzlich (?) verdrängt hat, so ist bei
jeder Rechtsmaterie die Frage aufzuwerfen:
a) Ist das Institut selbst oder das allgemeine Rechtsverhältniß an sich
auch nach der französischen Rechtsverfassung vorhanden und ent-
hält letztere darüber specielle Vorschriften?
Dann bleibt es überall bei unsern Gesetzen und es kömmt auf
die etwaigen bessern Bestimmungen und schärfern Begi'iffsfest-
setzungen nicht an. Nur wenn die besondern abweichenden Vor-
schriften des fi-anzösischen Rechts ein auch äußerer Verfassung an-
gehöriges Institut oder Rechtsverhältniß im Lelien eigenthümlich
gebildet haben, so daß auch selbst für die Zukunft eine Abänderung
nach dem Bilde unsrer Verfassung ohne gewaltsame Willkühr für
Sitten u. Geist des Volks nicht geschehen kann, — wird dies einen
Punkt vorzüglicher Erwägung und Begutachtung, was künftig ge-
schehen soll, für die Commission abgeben.
*) Berlin R. 74 R IX, la, Bd. 2 fol. 207 fg., Düsseldorf Nr. 71 fol. 32 fg.
') Berliner Geh. Staatsarchiv, R. 84 I Nr. 50.
Landsberg, Instruktion d. Immediat-Justiz-Konim. für die Rheinl. 1816. 185
b) Wenn das Institut dem französischen Rechtssysteme fi'emd ist, so
entsteht die Frage, ob von der Seite unsere Gesetze gar nicht ein-
zuführen sind, oder in welcher Art dies zulässig sein kann.
c) Wo die französischen Gesetze im materiellen Rechte ein unserer
Rechtsverfassung ganz unbekanntes positives Rechtsinstitut oder
Verhältniß aufgestellt hätten, würde dasselbe, in so fern es bereits
Wurzeln geschlagen hätte, und der von ihm handelnde Inhalt des
Code Napoleon im Verhältniß eines Provinzial-Particularrechts bei-
zubehalten sein.
6. Was nach der Publication des AUg. L.R. bis zum Jahre 1806 in dem
materiellen Rechte wirklich geändert oder neu geschaffen worden ist,
geschah nur hin und wieder, in Beziehung auf einzelne Provinzial-
verfassungen, in der Regel nicht für den gesamten Preußischen Staat
und dessen gemeinschaftliches Recht. Erst seit dem Jahre 1806 nahm
auch bei uns die Gesetzgebung eine auf das Ganze materiell einwirkende
und abändernde centrale Tendenz, deshalb würden alle seitdem bei
uns erschienenen Gesetze in gleicher Art, wie das Allg. L.R. überhaupt,
mit der französischen Gerichtsverfassung zu vergleichen sein.
7. Wo hierbei einzelne Rechtsmaterien mehr in das öffentliche Recht,
als in das bürgerliche im engern Sinne einschlagen, ist mit den Re-
gierungen eine nähere Communication zu eröffnen und deren Gutachten
zu erfordern.
8. Jedes Mitglied der Commission, welchem bei der allgemeinen Ver-
theilung besondere Rechtsmaterien zugefallen sind, wird vor allen
Dingen damit anfangen müssen, beiderlei Rechtssysteme hierüber genau
zu vergleichen und für sich, abgesehen von weitern Materialien, ein
Urtheil, was für die Zukunft bestimmt in Vorschlag zu bringen sei,
sich so deutlich als möglich zu bilden haben. Erst hiedurch wird das
Mitglied der ganzen Umarbeitung mächtig und kann nun erst mit
Nutzen über Zweifel und Bedenken Erkundigung einziehen, fremde
Meinungen um Rath fragen und hiernächst seine unter solchen Vor-
bereitungen vollendete Arbeit zur Mitberathung der übrigen Mitglieder
der Commission gelangen lassen und einen Schluß behufs des definitv
zu erstattenden Gutachtens veranlassen.
Zum Stand der politischen Probleme
Zusammenfassende und vergleichende Übersichten
Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten
Von Dr. Paul S. Reinsch
Nach dem für die amerikanische auswärtige Politik folgenschweren
Kriege von 1898 sollte es nicht lange währen, bis sich die Folgen der neuen
Weltstellung der Vereinigten Staaten auch in der chinesischen Politik offen-
barten. Gerade während des Krieges, durch welchen die Amerikaner in den
Besitz der Philippinen gelangten, brach in China jene energische und schnelle
Bewegung durch, welche zum Ziel hatte, das durch seine schwache Regierung
entkräftete China unter europäische Kuratel zu bringen, und zwar in der
Form, daß jede der großen Nationen in einem besonderen Teile Chinas ihre
Interessen zu entwickeln trachtete. Schon in den frühen Jahren, als der
diplomatische Verkehr zwischen China und der Außenwelt anfing, hatten sich
die Vereinigten Staaten zugunsten der Unverletzlichkeit des Reichsgebiets
und der allgemeinen Handelsfreiheit darin ausgesijrochen. An diese Tradi-
tionen knüpfte Staatssekretär Hay im Jahre 1899 wieder an. Es war klar,
daß den Vereinigten Staaten aus dem Vorgehen der europäischen Mächte in
China in der Zukunft bedeutender Schaden erwachsen könnte. Obwohl
Amerika durch den Ozean in enge Nachbarschaft mit China gebracht ist und
ein blühender Handel zwischen den beiden Ländern sich ganz natürlich ent-
wickeln würde, so könnten doch diesen engen Beziehungen bedeutende Hinder-
nisse in den Weg gelegt werden, sollte es den europäischen Mächten ge-
lungen sein, das Chinesische Reich wirklich aufzuteilen und in ihren Kolonial-
kreis hineinzuziehen. Man glaubte zwar in Amerika nicht ernstlich an die
Möglichkeit einer dauernden Unterjochung Chinas, doch fürchtete man, daß
ein Versuch der Aufteilung zu ernsten Kämpfen und großer Verbitterung
führen würde. Unter allen Umständen aber schien es weise, den ökono-
mischen Resultaten einer solchen Aufteilung von Anfang an entgegenzutreten.
So leitete Staatssekretär Hay einen Notenaustausch mit den anderen Regie-
rungen ein, welcher sich mit der Erhaltung der Handelsfreiheit befaßte. Da
in dieser Korrespondenz ganz klar dargelegt wird, was unter der „Politik
der offenen Tür" zu verstehen sei, so lohnt es sich wohl, die Fassung, welche
der Staatssekretär seinen Vorschlägen gab, etwas näher zu betrachten. Er
instruierte die Gesandten der Vereinigten Staaten an den Höfen der Groß-
mächte, womöglich Zusicherung zu den folgenden Punkten zu erwirken:
f
Reinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten. 187
1. Daß die betreffende Macht in keiner Weise auf einen Vertragshafen
oder auf rechtUch l)egriindete Interessen in ihrer Interessensphäre oder
in einem Landstrich, welcher ihr in China mietweise übertragen worden
ist, störend einwirken wird.
2. Daß der chinesische Vertragszoll auf alle Waren angewendet werden
soll, welche eingetührt werden in Häfen, die innerhalb dieser Inter-
essensphäre liegen (sie seien denn Freihäfen), gleichgültig, welcher
Nation sie gehören mögen; daß femer solche Zölle durch die chine-
sische Regierung selbst eingezogen werden.
3. Daß die betreffende Macht verspricht, von Schiffen einer anderen Na-
tion, welche in einen Hafen ihrer Interessensphäre einlaufen, keine
höheren Hafengebühren zu erheben als von Schiffen ihrer eigenen
Staatsuntertanen, noch auf Eisenbahnen, welche in ihrer Interessen-
sphäre gebaut und verwaltet werden, höhere Frachtsätze zu verlangen
von Waren der Untertanen anderer Staaten, als von Waren gleicher
Art, welche ihren eigenen Staatsuntertanen gehören.
So wollte man, war die politische Einheit Chinas nicht absolut zu
retten, wenigstens verhindern, daß die ökonomische Einheit sofort zerstört
und die verschiedenen Teile Chinas in handelspolitischer Hinsicht zu An-
hängseln dieser oder jener Großmacht ausgebildet würden. Der Vorschlag
des Staatssekretärs fand im ganzen eine günstige Aufnahme. Die verschie-
denen Regierungen erklärten sich bereit, bei der Aufrechterhaltung der an-
gedeuteten Prinzipien mitzuwirken. Nur Rußland, auf dessen Handlungs-
weise in der ganzen Angelegenheit ja so viel ankam, gab seiner Antwort
eine ausweichende und zweideutige Form. Obgleich man es nicht erreicht
noch versucht hatte, die Erklärung in einen formellen Vertrag zusammen zu
fassen, so war es doch gelungen, die großen Mächte zu einer öffentlichen
Stellungnahme zu bewegen, die der ökonomischen Einheit des Chinesischen
Reichs günstig war, die somit in einem gewissen Sinne ein Gegengewicht
darstellte zu den Bestrebungen, welche auf die politische Aufteilung Chinas
hinzielten.
Als im Jahre 1900 die erregten Massen Chinas sich in aufrührerischer
Form zuerst gegen die eigene Regierung, dann aber gegen die Fremden im
Lande wandten, wurde es für die Vereinigten Staaten nötig, zum Schutz
ihrer eigenen Gesandtschaft mit den anderen Mächten zusammen zu wirken.
Der amerikanische Gesandte schloß sich in den Vorstellungen, welche bei
der chinesischen Regierung gemacht wurden, seinen europäischen Kollegen
an und erhielt auch von seiner Regierung die Erlaubnis, an diesem gemein-
samen Vorgehen teilzunehmen. Es war aber immerhin für die Regierung in
"Washington schwer, sich zu einer Handlungsweise zu entschließen, welche
den amerikanischen Traditionen über Nichteinmischung in überseeische An-
gelegenheiten entgegenzulaufen schien. So erhielt auch der Kommandant des
amerikanischen Geschwaders vor Taku den Befehl, sich aller positiven Demon-
strationen zu enthalten; er nahm daher nicht teil an der Beschießung der
Forts. Nur als es sich um den Entsatz der Gesandtschaften und ihres mili-
tärischen Schutzes handelte, entzogen sich die Amerikaner nicht ihrem Anteil
an diesem Unternehmen und der damit verbundenen Verantwortlichkeit.
Am 3. Juli 1900 richtete die Regienmg der Vereinigten Staaten ein
Rundschreiben an die Mächte, in welchem sie ihre Stellungnahme zur chine-
sischen Krisis erklärte. Die Regierung unterschied scharf zwischen den
Nordprovinzen, welche ganz und gar von der Anarchie überflutet waren,
188 Reinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten.
und dem Süden und Südosten des Eeichs; sie sah in den Gouverneuren der
letztgenannten Provinzen rechtmäßige Vertreter des chinesischen Volkes, mit
welchem Friede und Freundschaft aufrecht zu erhalten sei. Die Absichten
der Regierung bezweckten nicht einen Krieg gegen China, sondern die
Rettung der belagerten Gesandtschaften, das Verhindern des Umsichgreifens
der Anarchie und den Schutz des Lebens und Eigentums von Amerikanern
in China. Die Note schloß mit den Worten:
,.Es ist der Vorsatz der Regierung der Vereinigten Staaten, eine
Lösung der Schwierigkeiten zu suchen, welche dauernde Sicherheit
und Frieden für China erwirken kann, die Land- und Verwaltungs-
einheit Chinas zu erhalten, alle vertragsmäßig und völkerrechtlich zu-
gestandenen Rechte der verschiedenen Nationen zu schützen und das
Prinzip der Handelsfreiheit und Gleichheit in allen Teilen des chine-
sischen Reichs für die ganze Welt aufrecht zu erhalten."
So wurde auch hier das Prinzip der Einheit des Chinesischen Reichs
und der Aufrechterhaltung der allgemeinen Rechte der Nationen in China
von neuem betont und den anderen Regiervmgen anempfohlen.
Während der Verhandhmgen, welche nach der Unterdrückung der Auf-
stände zum Zwecke der Regulierung der Beziehungen Chinas zu den Mächten
vorgenommen wurden, versuchten es die Vereinigten Staaten auch weiter,
gegen die Schwächung und eventuelle Aufteilung des Chinesischen Reichs zu
wirken. Dem Ansinnen Rußlands, von China auf Grund einer angeblich
bevorzugten Stellung in der Mandschurei besonders günstige Vertragsrechte
zu erlangen, stellten sich die Vereinigten Staaten entgegen und unterstützten
die Bewegung für ein einheitliches Vorgehen in den Verhandlungen. Als
die Frage der Entschädigungssummen zur Sprache kam, wirkte der ameri-
kanische Vertreter darauf hin, die Ansprüche möglichst zu mildern und im
ganzen das Maß der damaligen Zahlungsfähigkeit Chinas nicht zu überschreiten,
damit das Chinesische Reich nicht mit einer Schuld belastet würde, die
einen Staatsbankerott mit der darauffolgenden Kuratel seitens der Mächte un-
vermeidlich mache. Die amerikanische Regierung machte geltend, daß es
besser sei, für die Zukunft sichere Garantien der fremden Rechte und Immuni-
täten zu gewinnen und ganz besonders die weitere Eröffnung Chinas für
den Handel der ganzen Welt auf gleichem Fuße zu bewirken. Die Stellung-
nahme der Vereinigten Staaten vor und während dieser großen Krise machte
auf das chinesische Volk und seine Regierung den Eindruck der Gerechtigkeit
und Hilfsbereitschaft, und es ist darauf namentlich das gi-oße Vertrauen
zurückzuführen, welches seither fast immer den Vereinigten Staaten von
selten des chinesischen Volkes entgegengebracht worden ist. Dies Gefühl
wurde noch dadurch verstärkt, daß im Jahre 1907 die Vereinigten Staaten
über die Hälfte ihres vertragsmäßigen Anspruchs auf Schadensersatz dem
Chinesischen Reich erließ. Es ist diese Handlungsweise oft so hingestellt
worden, als ob sie sozusagen einer Bestechung Chinas durch die Amerikaner
gleichkäme; man hätte sich durch diese 12 Millionen Dollars auf leichte Weise
die Freundschaft Chinas sichern wollen, und es sei im Grunde genommen
eine Handelsanlage gewesen. Es verhält sich jedoch anders. Das Geld wurde
zurückbezahlt, weil alle Unkosten und alle gerechtfertigten Ansprüche einzelner
gedeckt worden waren und man es einfach für recht und billig hielt, China
den Überschuß zurück zu erstatten, so wie es von einem Bankier erwartet wird.
Als in den nun folgenden drei Jahren Rußland auf jede Weise ver-
suchte, seine Stellung in der Mandschurei zu befestigen, und sich dabei in
I
Reinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten. 189
seiner gewohnten Weise gegen die Rechte anderer ziemlich rücksichtslos
verhielt, unterstützten die Vereinigten Staaten gemeinsam mit Japan die
chinesische Regierung in ihren Versuchen, gegen den russischen Einfluß an-
zukämpfen. Es mußte wohl zugegeben werden, daß, obgleich der amerikanische
Handel in Mandschurien durch die definitive Besetzung der Provinzen seitens
Rußlands schwer leiden würde, doch das Interesse des amerikanischen Volkes
an dieser Angelegenheit nicht genügend stark war, um es zu bewegen, seine
Regierung bis zu einem bewaffneten Vorgehen zu unterstützen. Bis zu
diesem Grade hatte sich das Interesse Amerikas doch noch nicht heraus-
gebildet. Die Regierung mußte es daher versuchen, soviel als möglich durch
diplomatische Mittel die Wirkung der russischen Politik zu dämpfen. Die
große Aufgabe, den Vormarsch Rußlands effektiv aufzuhalten, fiel seiner
natürlichen Lage wegen auf Japan, solange China selbst noch nicht imstande
war, seine Rechte und seinen Besitz wirksam zu verteidigen. Gerade vor
dem Ausbruch des großen ostasiatischen Krieges hatten es die Vereinigten
Staaten und Japan noch erreicht, daß von China drei mandschurische Städte,
Antung, Tatuug-Kau und Mukden, dem Handel aller Nationen geöffnet wurden.
Auf diese Weise wurde es versucht, der gänzlichen Verschlingimg des
mandschurischen Handels durch Rußland ein Hindernis in den Weg zu
stellen. Da aber der Krieg nun anfing, weigerte sich Rußland, Konsuln der
Vereinigten Staaten in diesen Städten zuzulassen.
Während des Krieges war, wie bekannt, die Sympathie des amerikanischen
Volkes größtenteils auf der Seite Japans. Es hatte dies verschiedene Gründe.
Für Japan schien der Krieg ein ihm aufgedrungener Kampf um das Leben
selbst zu sein, während er für Rußland nur ein Abenteuer der Spekulation
bedeutete; man war daher dem kleinen angegriffenen Volke günstiger ge-
sinnt als der Regierung des ungeheuren Landes, welche durch rücksichts-
loses Vorgehen den Kampf heraufbeschworen hatte. In Japan sah man über-
dies den fähigen Schüler Europas und Amerikas, der sich die Einrichtungen
der westlichen Zivilisation zum Muster genommen hatte. Für die Wertung
des japanischen Lebens hatten die Schriften des Lafcadio Hearne unter
dem amerikanischen Volke einen bedeutenden Einfluß ausgeübt; die feine,
gemütstiefe Seite der alten japanischen Zivilisation war von ihm in einer
so poesievollen Weise beschrieben worden, daß in das ganze Leben Japans
ein idealer Geist hineingelegt wnirde. Alle Beziehungen zwischen Amerika
und Japan hatten damals eine für das letztere Land günstige Richtung an-
genommen. Die glänzenden Erfolge Japans zur See und zu Land erweckten
in Amerika große Freude; man sah in ihnen den Beweis der Tüchtigkeit
der von Japan übernommenen westlichen Zivilisation gegenüber der barba-
rischen Rückständigkeit Rußlands.
Als Präsident Roosevelt eine Friedenskonferenz in Vorschlag brachte,
glaubte man in Amerika allgemein, daß dies ein voreiliger Schritt sei, da
man Japan Zeit lassen wolle, die Mandschurei gänzlich von Rußland zu be-
freien und so den Zweck des Krieges zu erreichen. Man hatte aber bei
dieser Kritik die Sachlage doch wohl nicht richtig erfaßt, denn Rußland war
trotz aller seiner Niederlagen nicht in dem Maße geschwächt worden, daß es
Japan nicht eine bedeutende Anstrengung gekostet hätte, seinen Gegner auch
nur noch um ein Geringes weiter zurück zu drängen. Die Friedenskonferenz
von Portsmouth trat also zusammen, und es gebührt Roosevelt nicht nur das
Verdienst, diese vorgeschlagen zu haben, sondern er trug auch in hohem
Maße zu ihrem Gelingen bei durch die beständigen Verhandlungen, die er
sowohl mit Rußland als mit Japan führte.
190 Rein seh, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten.
Schon während der Konferenz zeigte sich ein gewisser Umschwung der
öffentlichen ]^[einung in Amerika. Es war ganz natürlich, daß Japan, der
Sieger, der Oberherr von Korea, der Besitzer der südmandschurischen Eisen-
bahn, der Nachfolger Rußlands, nicht nriehr auf so ungeteilte Sympathie
rechnen konnte, als das bedrängte, für das eigene Leben kämpfende Land.
Auch waren die Russen in der Wahl ihres Vertreters in Portsmouth glück-
lich gewesen. Die starke, interessante Persönlichkeit des Grafen Witte impo-
nierte und gefiel dem amerikanischen Volk. Auch wußte er sich auf einen
sehr guten Fuß mit den Zeitungen zu stellen, während die Zurückgezogenheit
und Schweigsamkeit des Grafen Komura fast abstoßend wirkte. Es war eine
jener Lagen, wo eine einzelne Persönlichkeit einen starken Eindruck machen
konnte. Es kann nun keineswegs mit Recht gesagt werden, daß das ameri-
kanische Volk plötzlich Japan seine Sympathie gänzlich entzog — am Ende
war der Unterschied kein so bedeutender — ; jedoch war es nicht zu ver-
neinen, daß der Enthusiasmus, den man während des Krieges gefühlt hatte,
jetzt etwas abgeschwächt war, und man der Tätigkeit und den Plänen Japans
etwas kühler gegenüberstand. Japan war ja auch gar nicht der Sympathie
besonders bedürftig, sondern stani vor der Welt siegreich, ein mächtiger
Rivale im Handel und im politischen Einfluß.
In den Jahren, die nun folgen, schien es manchmal, als könne eine ernst-
liche Verschlechterung der Beziehungen zwischen Japan und den Vereinigten
Staaten eintreten. Dies war namentlich der Fall, als das Volk in den west-
lichen Staaten anfing, gegen die Einwanderung von Japanern stark Opposi-
tion zu machen und den schon Eingewanderten auf nicht immer freundliche
Weise entgegenzutreten. So wurde in Kalifornien der Versuch gemacht, Sonder-
schulen für Japaner einzurichten, sowie Maßregeln einzuführen, durch welche
der Grunderwerb imd die Geschäftstätigkeit der Japaner behindert worden
wären. Die japanische Regierung beklagte sich bei der amerikanischen, und
es entspann sich nun ein Streit der Kompetenzen zwischen letzterer und dem
Staat Kalifornien. Die Staatsregierung stellte sich smi den Standpunkt, daß die
Verwaltung des Schulsystems ganz ihre Sache sei und daß sie es für ange-
messen halte, die \ielfach erwachsenen japanischen Schüler aus Erziehungs-
rücksichten von den übrigen zu trennen. Präsident Roosevelt, welcher sich
der Sache in eigener Person angenommen hatte, nahm den Rechtsstandpunkt
der Japaner ein, dieselbe Behandlung zu beanspruchen, welche den Ange-
hörigen anderer Vertragsnationen gewährt wird; man könne nur alle Aus-
länder aus den öffentlichen Schulen ausschließen, gegen eine einzelne Nation
sei ein solcher Schritt nicht zulässig. Die Kalifornier warfen nun die ganze
Frage der japanischen Einwanderung auf imd machten deutlich, daß
die Einführung großer Massen von Japanern zu ernstlichen Störungen führen
müsse, da sich unter diesen Umständen unbedingt eine Fehde zwischen
den weißen und den japanischen Arbeitern entspinnen würde. Präsident
Eoosevelt wirkte jetzt seinerseits auf die japanische Regierung ein und
stellte ihr die Gefahren einer uneingeschränkten Einwanderung japanischer
Arbeiter vor. Die Gegensätze, über welche man hier verhandelte, sind so
unleugl)ar, daß wenn man auch ihr Dasein bedauert, man doch in der Politik
und im Leben mit ihnen rechnen muß. So erklärte sich denn die japanische
Regierung bereit, aus freien Stücken und mit ihren eigenen Mitteln der un-
angenehmen Situation abzuhelfen, indem sie dem Abgeben von Pässen an
Arbeiter, welche nach Amerika auswandern wollten, ein Ende machte. Dies
war für sie umso leichter, als die Unternehmungen Japans auf dem asiatischen
[
Rein seh, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten. 191
Festlande Menschenkräfte beanspruchen und daher auf diese Weise für alle
Arbeiter Beschäftigung gefunden werden kann. Von seiten Amerikas wurden
nun alle Maßregeln, welche den Japanern unrechtmäßig erschienen, rück-
gängig gemacht oder auf die Seite geräumt. Obgleich dieser Konflikt manch-
mal bis zu einem gewissen Grade zu gegenseitiger Bitterkeit Anlaß gab, so
wurde seine Bedeutung seitens der europäischen Presse stark übertrieben.
Man sprach von einem unvermeidlichen Kriege zwischen den beiden Ländern
und ließ sich dabei durch ganz allgemeine Konstruktirmen und oberflächliche
Andeutungen irreleiten. Weder für die Vereinigten Staaten noch für .Japan
lag eine Frage vor, deren Wichtigkeit einen Krieg möglich gemacht haben
könnte. Daß Vorfälle, die an sich unbedeutend waren, und mit denen tat-
sächlich die Diplomatie auch sehr gut fertig wurde, eine Zeitlang so stark
die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zogen, mag bis zu einem gewissen
Maße der Gewandtheit der japanischen Diplomatie zugeschrieben werden.
Von ihrem Standpunkte aus war es zu wünschen, daß, während sie ihre
Stellung in der Mandschurei befestigte, die Aufmerksamkeit der Welt und
namentlich der Vereinigten Staaten nach einer anderen Stelle hingezogen
würde.
Die unangenehmen Zwischenfälle, die wir soeben besprochen haben,
hinterließen jedoch weder in den Vereinigten Staaten noch in Japan eine
dauernde Mißstimmung. Als der Handelsvertrag von 1911 abgeschlossen
wurde, wiederholte die japanische Regierung in einer durch ihren Gesandten
abgegebenen gleichzeitigen Note die Versicherung, daß sie bereit sei, die
Beschränkung und Kontrolle der Einwanderung von Arbeitern nach den
Vereinigten Staaten mit derselben Wirksamkeit aufrecht zu erhalten und aus-
zuüben, mit welcher sie es in den letzten 3 Jahren getan habe.
Während die Schulangelegenheit zwischen Japan und den Vereinigten
Staaten verhandelt wurde, fuhren die Japaner emsig fort, die ihnen durch
den Krieg gegebene Stellung in Südmanschurien auszunutzen und zu festigen.
Zwar waren sowohl von Rußland als auch von Japan Erklärungen abgegeben
worden zugunsten der Erhaltung der chinesischen Oberherrlichkeit und der
Handelsfreiheit in Mandschurien. Sn hatten beide Mächte schon in dem
Vertrag von Portsmouth versprochen, Mandschurien mit Ausnahme derLiaotung-
Halbinsel gänzlich zu räumen und die ausschließliche Verwaltung durch
China in allen Teilen Mandschuriens wieder herzustellen. Beide verpflichteten
sich auch, gegen allgemeine Maßregeln, welche China im Interesse aller Länder
zum Zweck der Entwicklung des Handels und der Industrie in Mandschurien
einleiten würde, nicht hindernd einzuschreiten. Wörtlich ausgelegt und in
ihrem Zusammenhange mit den übrigen Vertragsabmachungen angesehen,
würden diese Versprechen die Stellung Japans und Rußlands beschränken
auf ein Recht an den gemieteten Eisenbahnen bis zu dem Jahre 1923 und
1939, zu welcher Zeit auf Grund der Verträge die Bahnen von China wieder
zurückgekauft werden können. In dem V^ertrag zwischen China und Japan,
welcher im Jahre 1905 abgeschlossen wurde, war die Eröffnung von 12 weiteren
Städten für den internationalen Handel vorgesehen; auch diese Maßregel
schien dazu geeignet zu sein, China vor der Abbröckelung seiner Provinzen
zu schützen.
Jedoch auf der anderen Seite war für Japan durch seinen Besitz von
Liaotung und der südmandschurischen Bahn eine bedeutende Vorrechtsstellung
geschaffen. Man braucht nun Japan nicht des Vertragsbruchs oder auch nur
einer betrügerischen Diplomatie zu bezichtigen, wenn man sagt, daß die
192 Eeinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten.
japanische Eegierung und die japanischen Handeltreibenden von ihrer Stellung
in Mandschurien den ausgiebigsten Gebrauch machten. Die Ansiedlungs-
fi'eiheit in den neueröffneten Handelsstädten kam an und für sich schon am
meisten den Japanern zugute, und der Besitz der Eisenbahn gab ihnen einen
kontrollierenden Einfluß auf den mandschurischen Handel. Daß es unter
solchen Umständen leicht dahin kommen konnte, daß bei aller äußerlichen
Wahrung der chinesischen Oberhoheit und der gemeinsamen Handelsfreiheit
aller Völker sich doch tatsächlich die Herrschaft Japans sowohl auf dem
ökonomischen wie dem politischen Gebiete erweitern und befestigen konnte,
ist leicht zu verstehen. Wenn sich nun die Regierung der Vereinigten Staaten
auf den Standpunkt strikter Auslegung der Verträge stellte und deren Inne-
haltung sowohl Japan als Rußland gegenüber vertrat, so verfolgte sie hier
nur ihre ursprüngliche Politik, in welcher die Sicherheit des amerikanischen
und des ganzen auswärtigen Handels schon immer mit der Integrität Chinas
aufs engste verbunden gewesen war. Vor seinem Austritt aus dem Amt als
Staatssekretär hatte Root mit dem japanischen Gesandten Takahira einen Noten-
austausch (30. November 1908), in welchem beiderseits die Verteidigung des
Prinzips der gleichen Handelsfreiheit und der Unabhängigkeit und Einigkeit
des chinesischen Reichs als grundlegend bezeichnet wurde und man sich im
nötigen Fall Untei'stützung in der Erhaltung dieses Status quo, im Sinne der
gegenseitigen Verständigung über anzuwendende Mittel, versprach. Während
dieser Jahre handelten die Konsuln der Vereinigten Staaten unter der In-
struktion, die Rechte amerikanischer Handeltreibender gegen irgend eine
Auslegung der V^ ertrage zu schützen, durch welche es seitens Rußlands oder
Japans versucht werden könnte, eine nur der wirklichen Regierung des
Landes zukommende Kontrolle auszuüben. So protestierte man gegen die
versuchte Besteuerung von ausländischen Einwohnern in Harbin durch die
russische Verwaltung.
Als Knox sein Amt als Staatssekretär angetreten hatte, verfolgte er die-
selbe Politik in noch entschiedenerer Weise, indem er im Dezember 1909 die
Welt dadurch in Erstaunen setzte, daß er den Rückkauf und die Neutra-
lisierung der mandschurischen Eisenbahn vorschlug. China sollte mit dem
ihm von den sechs Großmächten geborgten Gelde die Bahn zurückkaufen,
welche dann unter internationaler Kontrolle verwaltet worden wäre mit der
Bedingung, daß sie nicht zu militärischen Zwecken benutzt werden sollte.
Wäre dieser Plan durchführbar gewesen, so hätte er ja gewiß eine Lösung
der mandschurischen Schwierigkeiten dargestellt, denn man hätte dann weder
an der Aufrechterhaltung der chinesischen Oberhoheit, noch an dem Schutze
der allgemeinen Handelsfreiheit zweifeln können, und somit wären auch die
Gefahren kriegerischer Zuspitzungen, welche die Situation in sich trägt, aus
der Welt geschafft worden. Hätten sich Rußland und Japan wirklieb nur
als zeitweilige Verwalter der mandschurischen Eisenbahnen angesehen, so
hätte es ihnen ja auch nicht unangenehm sein können, dieses verantwortungs-
volle Unternehmen für einen guten Preis sofort an China zu übertragen. Da
sie aber keineswegs bereit waren, auf den Plan des amerikanischen Staats-
sekretärs einzugehen, so machten sie schon dadurch ihre eigene Anschauung
der Stellung, die sie in Mandschurien einnehmen, klar. Die V'orzüge, welche
sie sich durch die Verausgabung großer Summen und den Verlust vieler
Menschen erworben hatten, wollten sie nicht aufgeben. Das konnte also nur
heißen, daß diesen zwei Regierungen daran gelegen war, ihre Interessen
in Mandschurien in jeder Hinsicht von dem Standpunkt einer tatsächlichen
Reinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten. 193
Vorrechtstellung aus zu entwickeln. Sie schlössen nun auch am 4. Juli 1910
einen Vertrag, in dem sie sich gegenseitige Unterstützung in der Verteidigung
ihrer Interessen versprachen. Durch all diese Vorgänge wurde es der Welt
klargemacht, daß die Situation gänzlich davon abhänge, in welchem Maße die
chinesische Regierung erstarken und sich die Macht verschaffen würde, die
eigenen Rechte in Maudschurien wirksam zu wahren und zu verteidigen.
Da Rußland und Japan versprochen hatten, keiner Unternehmung Chinas
für die Entwicklung des Handels und der Industrie in Mandschurien Hinder-
nisse in den Weg zu legen, mit der einzigen Ausnahme, daß es China nicht
gestattet sein solle, in Südmandschurien eine der japanischen parallel laufende
Eisenbahn zu bauen, so versuchte die amerikanische Regierung nun, China
in dem Bau einer Bahn vom Golf von Petchile durch die östliche Mongolei,
durch die Nordprovinz Mandschuriens bis nach Aigum am Amurflusse zu
unterstützen. Diese Bahn würde die russische Linie in Tsitsihar kreuzen, käme
aber nicht direkt als Parallele der japanischen Bahn in Südmandschurien in
Betracht. Gegen dieses Unternehmen, in welchem China dm-ch amerikanisches
und britisches Kapital oder, wenn es angebracht erscheinen würde, auch das
noch anderer Länder unterstützt werden sollte, legten die in Mandschurien
ansässigen Jlächte ihre Verwahrung ein. Rußland opponierte besonders stark
und erklärte kurzweg, daß die Erbauung einer solchen Bahn mit seinen eigenen
Interessen in Nordmandschurien nicht vereinbar sei. Über die Natur dieser
Interessen gab es keine eingehende Erklärung ab. So war auch hier der
Plan der amerikanischen Regierung vereitelt worden, obgleich er keineswegs
über die Vertragsrechte Chinas in seinem eigenen Lande hinausging.
Es war ganz natürlich, daß die Stellungnahme der Vereinigten Staaten
in der mandschurischen Angelegenheit in China selbst großen Beifall erregte.
Denn obgleich es nicht gelungen war, die spezifischen Vorschläge durchzu-
führen, so hatte man doch einen Protest registriert gegen die allmähliche
Besitznahme Mandschuriens durch Rußland und Japan, und hatte so dazu
beigetragen, die Rechte Chinas am Leben zu erhalten. Der Stellung der Ver-
einigten Staaten wurde trotz des zeitweiligen Mißerfolgs dadurch eine gewisse
moralische Autorität verliehen, daß sie von Anfang ihrer Beziehungen mit
China an eine einfache Politik konsequent und ohne plötzlichen Wechsel durch-
geführt hatten. So kam es, daß China in den Vereinigten Staaten seinen
besten Freund erblickte, und obgleich es sich nicht der Hoffnung hingeben
durfte, daß die Vereinigten Staaten in der Verfolgung ihrer Politik auch
nachdi'ücklichere Mittel anwenden würden, es sei denn, daß sie in ihren
Rechten direkt angegriffen werden sollten, so war diese Politik doch für
China eine Ermutigung, wenigstens in der diplomatischen Führung der Ge-
schäfte und in der Vindikation seiner Rechte, die Hilfe und Zustimmung der
Vereinigten Staaten zu haben.
Mittlerweile war auch das chinesische Nationalgefühl sehr erstarkt.
Nach dem ersten tumultartigen Ausbruch in den Jahren vor 1900 hatte sich
nun schon eine Klärung der Ideen vollzogen, und man wurde sich der nationalen
Zwecke und Ziele immer mehr bewußt. Es war merkwürdig, daß es gerade
die Vereinigten Staaten waren, gegen die sich das Erwachen der nationalen
Empfindungen Chinas zuerst richtete. Im Jahre 1906 wurde ein Boykott über
amerikanische Waren verhängt. Es hatte dies seinen Grund darin, daß die
intelligenten Kreise Chinas und namentlich die aus dem Westen zurückge-
kehrten Studierenden empört waren über die Behandlungsweise, welche die
Einwanderungsbehörden der Vereinigten Staaten den Chinesen angedeihen
Zeitschrift für Politik. 6. 13
194 Reinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten.
ließen. Durch ein Gesetz der Vereinigten Staaten wurde die Einwanderung
von chinesischen Arbeitern verboten, und nur Studierende, Reisende undHandel-
treibende durften zugelassen werden. In der Ausführung dieses Gesetzes
zeigten sich die Beamten häufig sehr rücksichtslos gegen Chinesen der besseren
Klassen, welchen sie bei der Landung in Amerika große Schwierigkeiten und
Unannehmlichkeiten verursachten. Wenn schon die Ausschließung von chine-
sischen Arbeitern an sich den Chinesen nicht annehmbar schien, so waren sie
erst recht gereizt durch die Schärfe des amerikanischen Verfahrens gegen
jene, welche selbst unter diesem Gesetz das Recht hatten, Amerika zu be-
suchen. Um gegen diese Illiberalität wirksam Einsprache zu erheben, hatte
man den Boykott organisiert, und er fügte auch in der Tat dem amerika-
nischen Handel erheblichen Schaden zu. Die Dauer dieser Bewegung war
allerdings nicht lang; der amerikanische Gesandte in Peking wurde bei der
Regierung vorstellig, und diese tat alles mögliche, um den Boykott zu vinter-
drücken. Aber noch wirksamer als die Bemühungen der Regierung war der
Haß, der nun aufs neue in China gegen Japan aufflammte. Die Politik
der Erweiterung der japanischen Interessen in Mandschurien hatte sich zu
dieser Zeit ziemlich klar offenbart, und China sah in dem Vordringen der
japanischen Macht eine Gefahr, die die Einheit des Reichs bedrohte. So ver-
gaß man die Sünden der Amerikaner und warf sich mit Wucht in die anti-
japanische Bewegung, welche nachhaltiger war als die erste, denn die drohende
Gefahr stand immer klar vor Augen.
Im Jahre 1907 machte Taft, der damals Kriegssekretär war, auf seiner
Orientreise einen Besuch in China. In den öffentlichen Reden, welche er bei
dieser Gelegenheit hielt, sprach er mit warmen Worten über das Erwachen
des Nationalgefühls in China und gab großen Hoffnungen auf das Erstarken
der chinesischen Nation Ausdruck. Dadurch, daß er es als ein ganz natürliches
Ziel darstellte, daß China im eigenen Hause Herr sein wolle, erregte er zwar
das starke Mißfallen der in den fremden Ansiedelungen wohnenden Handels-
leute, aber dafür erntete er das Freundschaftsgefühl Chinas. Als die ameri-
kanische E'lotte den Orient besuchte, machte sie auch in den chinesischen
Gewässern einen Besuch; es wurde nur bedauert, daß sich der Empfang so-
wie der Besuch selbst wegen gewisser Versehen nicht so glänzend gestaltete
wie es in Japan der Fall gewesen war. Es wurde nur ein Teil der Flotte
gesandt, und dieser besuchte nur die Hafenstadt Amoy.
Bald darauf war den Vereinigten Staaten nochmals Gelegenheit ge-
geben, China einen guten Dienst zu erweisen. Der erwachende Nationalgeist
nahm an nichts stärkeren Anstoß als an dem Übel des Opiumgenusses, das
die Kraft, ja sogar das Leben des Volkes zu bedrohen schien. Die Vereinigten
Staaten hatten schon vormals bei verschiedenen Gelegenheiten China in den
Versuchen unterstützt, sich des Übels zu erwehren. Jetzt galt es darum, dem
Opiumimport entgegen zu wirken, was nur durch die Gewinnung der in-
dischen Regierung für die Sache gründlich bewerkstelligt werden konnte.
Die Regierung der Vereinigten Staaten schlug die Abhaltung einer Konferenz
vor, welche dann auch im Dezember 1909 in Shanghai zusammentrat und
auf welcher die Mächte des Fernen Ostens vertreten waren. Es wurde das
Opiumübel vom internationalen Standpunkt aus besprochen und verschiedene
Beschlüsse im Hinblick auf gemeinsames Vorgehen und gegenseitige Unter-
stützung in der Unterdrückung des Handels wurden gefaßt. Diese Kon-
ferenz hatte das Resultat, daß wieder auf Anregung des amerikanischen Staats-
sekretärs eine diplomatische Konferenz über dieselbe Angelegenheit zusammen-
Eeinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten. 195
gerufen wurde, welche im Jahre 1912 im Haag tagte. Mittlerweile war es auch
China gelungen, mit der britischen Regierung einen Vertrag abzuschließen,
um eine rasche Verminderung des Opinmimports aus Indien herbeizuführen.
Im Jahre 1909 begannen die Vereinigten Staaten sich auf die regste
Weise für die großen Eisenbahnunternehmen in China zu interessieren. Es
handelte sich um die zur Erbauung der Linien von Hangkau-Kanton und Hangkau-
Szechuan nötigen Anleihen. Schon im Jahre 1905 hatten Verhandlungen
wegen der letzteren Bahn mit einem amerikanischen Syndikat stattgefunden.
Das Interesse der Amerikaner war aber damals noch nicht stark genug, und
sie hatten das Unternehmen nicht aufgenommen; der amerikanische Gesandte
hatte aber das Versprechen erhalten, daß den Vereinigten Staaten immer
Gelegenheit gegeben werden solle, sich an den auswärtigen Eisenbahnanleihen
Chinas zu beteiligen. Es gelang nun zuerst dem deutschen Syndikat, einen
Anleihevertrag mit China zuwege zu bringen; aber als dies bekannt wurde,
drang auch England auf Berücksichtigung, und nach langen, schwierigen Ver-
handlungen hatte man sich im Mai 1909 geeinigt, daß eine Anleihe von
ö'/o Millionen £ durch die Syndikate Großbritanniens, Deutschlands und Frank-
reichs geliefert werden sollten. Als das Geschäft soeben tatsächlich abge-
schlossen werden sollte, erschienen plötzlich zum Mißvergnügen der anderen
drei Mächte die Vereinigten Staaten auf der Bildfläche und verlangten nun
auch ihren Anteil an dem Unternehmen. Obgleich die Amerikaner sich versj^ätet
hatten, holten sie das Versäumte durch besondere Energie ein; denn Präsi-
dent Taft hielt die Angelegenheit für so wichtig, daß er direkt ein persönliches
Kabeltelegramm an den Regenten des Chinesischen Reichs schickte, indem er
ihn ersuchte, den Vereinigten Staaten auf Grund des gegebenen Versprechens
ihren Anteil einzuräumen. Die chinesische Regierung hielt so viel auf ein
gutes Einvernehmen mit den Vereinigten Staaten, daß, obgleich sie ja hätte
vorgeben können, die Sache sei leider schon abgeschlossen, sie doch die
ganzen Verhandlungen wieder eröffnete. Diese zogen sich nun noch eine
geraume Weile hin, und erst am 20. Mai 1911 kam der endgültige Vertrag
zustande zwischen China und den vier Mächten. Es sollten 6 Millionen £
geliehen werden auf Sicherheit der Eisenbahn- und Zolleinnahmen in den
betreffenden Provinzen. An der Lieferung von Materialien und technischen
Kräften sollten die vier Länder gleichen Anteil haben.
Die Handlungsweise der Vereinigten Staaten in dieser Angelegenheit
ist dadurch zu erklären, daß die Regierung es eingesehen hatte, daß An-
leihen, für welche Steuern als Sicherheit dienen sollten und welche eine
gewisse Überwachung der Verwaltung mit sich brachten, leicht einen poli-
tischen Charakter gewinnen können, wenn nicht von Anfang an darauf ge-
sehen würde, daß sie im Sinne der strengsten Parität der gemeinsamen
Interessen aller Nationen und der vollständigen Wahrung der chinesischen
Oberhoheit geleitet würden. Nur wenn alle großen Mächte, die ein Interesse
am Handel Chinas haben, sich an solchen Anleihen beteiligen oder beteiligen
würden, kann dem allgemeinen Interesse in China eine konkrete und dauernde
Form gegeben werden. Es ist daher das einheitliche Zusammenwirken der
großen Mächte auf dem finanziellen Gebiet in China die Lösung der Frage,
wie man die zur Entwicklung des Landes nötigen Anleihen mit Sicherheit
des Chinesischen Reichs gegen Aufteilungsversuche verbinden kann. Daher
war auch den Vereinigten Staaten sehr daran gelegen, daß Rußland und
Japan an den Anleiheverhandlungen, durch die im Jahre 1912 der neuen
Regierung Mittel geschaffen werden sollten, teilnahmen.
13*
196 Reinsch, Die Vereinigten Staaten vmd der Ferne Osten.
Schon seit langer Zeit hatten sich die Vereinigten Staaten besonders
für die Währungsreform in (^hina interessiert. Man hatte in den Philippinen
mit der Einführung einer stabilen auf Goldwerten beruhenden Silberwährung
so gute Erfahrungen gemacht, daß man glaubte, die Schwierigkeiten Chinas
würden sich auf diese Weise leicht lösen lassen. Im Jahre 1907 hatte eine
amerikanische Kommission als Berater der chinesischen Eegierung das Geld-
wesen untersucht und Vorschläge zur Einführung einer einheitlichen Währung
gemacht. Aber obgleich in manchen Provinzen Verbesserungen eingeführt
worden waren, so fehlte es doch immer noch an Mitteln, um einem nationalen
Geldsystem eine sichere Basis zu geben. So fanden Verhandlungen statt
zwischen der chinesischen Regierung und einem amerikanischen Syndikat
betreffs einer Anleihe von 50 ]\Iillionen Dollars, welche größtenteils zum
Zwecke der Währungsreform verwendet werden sollte. Der endgültige Ab-
schluß eines Vertrages wurde durch den Ausbruch der Unruhen von 1911
verhindert. Aber schon vorher hatte die amerikanische Eegierung vor-
geschlagen, daß auch dieser Anleihe ein internationaler Charakter gegeben
werden solle. Die Angelegenheit mündete unter der neuen Regierung aus in
die Anleiheverhandlungen mit den sechs großen Mächten.
Die Unruhen, welche in China im Jahre 1911 ausbrachen und welche
bald zur Abdankung des mandschurischen Kaiserhauses und der Errichtung
einer chinesischen Republik führten, unterbrachen die diplomatischen Ver-
handlungen betreffs Weiterentwicklung der chinesischen Eisenbahnen, der
Industrie und der Mitwirkung auswärtigen Ki nitals. Während dieses Krieges
wurde oft die Furcht ausgesprochen, daß eines oder das andere der in China
interessierten Länder die Gelegenheit dazu benutzen möchte, seine Interessen
auf Kosten der chinesischen Souveränität weiter zu entfalten. Die Regierung
der Vereinigten Staaten befürwortete eine Politik der strengen Neutralität
und der Nichteinmischung, solange auswärtige Rechte nicht direkt verletzt
würden, damit es dem chinesischen Volke gestattet sei, die Lebensfragen des
Reichs, an sich schwierig genug, ungestört zu lösen. Im Verein mit der
deutschen Regierung regte sie eine dieser Politik günstige Erklärung seitens
der großen Mächte an. Auf diese Weise durch die öffentliche Meinung der
Welt geschützt, gelang es China nach verhältnismäßig leichten Kämpfen eine
neue rechtliche Regierung ins Leben zu rufen.
Die republikanische Regierung Chinas hatte jedoch gleich von Anfang
an mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Um die Reform des Staats-
und Verwaltungswesens in allen Teilen der Eegierung gründlich durchführen
zu können, benötigte sie größerer Mittel, als die Steuern einbrachten. Es
war nun schon vorher von der Regierung der Vereinigten Staaten vor-
geschlagen worden, daß es China gestattet werden sollte, seine Einfuhrzölle
zu erhöhen; aber in dieser Sache war es bei dem Vorschlage geblieben. Da
es für die chinesische Regierung zu einer Lebensfrage wurde, sich Mittel zu
verschaffen, wurden Anfang 1912 Verhandlungen wegen einer großen aus-
wärtigen Anleihe begonnen. Die Eegierung der Vereinigten Staaten hatte
in ähnlichen Angelegenheiten ja immer das Prinzip der allgemeinen Teil-
nahme der großen Mächte an solchen Anleihen vertreten. Jetzt, als die
Verhandlungen begannen, waren Rußland und Japan zuerst nicht geneigt,
mit den anderen Mächten gemeinsame Sache zu machen. Vielmehr wollten sie
auf Grund ihrer Spezialinteressen in China mit der chinesischen Regierung
Sonderabkommen treffen. Die harmonische und einheitliche Handlungsweise
der übrigen vier Mächte hatte jedoch auf sie ihren Einfluß, und sie entschieden
Kein seh, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten. 197
sich nun auch, an den gemeinsamen Verhandhingen teil zu nehmen. Da sich
die chinesische Regierung sehr gegen die Einrichtung einer wenn auch be-
schränkten internationalen Finanzkontrolle sträubte, ist es im Sommer 1912
noch nicht zu einem endgültigen Vertrag gekommen.
In vielen Hinsichten trug die nationale Bewegung der Jahre 1911 und
1912 dazu bei, die freundlichen Beziehungen zwischen China und den Ver-
einigten Staaten noch zu verstärken. Da das chinesische Volk das fremde
Herrscherhaus nicht mehr dulden wollte, entschied es sich für die Form der
Republik und nahm sich dabei die föderative Republik der Vereinigten Staaten
zum Muster. Dr. Sun Yatsen, der große Organisator der Bewegung, hat
lange Zeit in den Vereinigten Staaten gelebt, ist mit den Verhältnissen dort
vertraut und kann im ganzen als ein Bewunderer des amerikanischen Staats-
wesens angesehen werden. Diese Zugi-undelegung der Verfassungsform der
Vereinigten Staaten für die Neuerungen in China wirkte im Sinne einer
weiteren Annährung zwischen den beiden Völkern.
Hierzu trug noch die Tatsache bei, daß in den letzten Jahren eine
große Zahl junger Chinesen in den Vereinigten Staaten ihre Bildung ge-
nossen hatten. Schon seit einiger Zeit hatte die chinesische Regierung Stu-
denten nach Amerika geschickt, und viele waren auch aus eigenem Antriebe
gekommen, weil sie das Erziehungswesen in den Vereinigten Staaten als für
ihre Zwecke sehr praktisch erkannten. Als im Jahre 1909 die Vereinigten
Staaten an China die Hälfte der Schadenersatzsumme von 1900 zurücker-
stattete, wurde dieses Geld größtenteils als ein Kapital verwendet, von dessen
Einkommen noch mehr chinesische Studenten nach Amerika geschickt wurden.
In den amerikanischen Universitäten werden die jungen Chinesen mit großer
Freundlichkeit aufgenommen, sie nehmen dort ihre Stellung inmitten des
Studentenlebens ein, und es stehen ihnen alle erzieherischen sowie auch gesell-
schaftlichen Gelegenheiten offen.
Wenn nach dieser kurzen Übersicht über die Beziehungen der Ver-
einigten Staaten zum Fernen Osten wir uns nun die Grundlinien der ameri-
kanischen Stellung auf diesem Gebiet vergegenwärtigen, so treten gewisse
Elemente der Schwäche sowie auch der Stärke klar hervor. Die Vereinigten
Staaten haben keinen Landbesitz in China oder an dessen Grenzen. Rußland
dagegen ist in direkter Greuznachbarschaft mit China und hat schon hier-
durch seine natürlichen Interessen im Fernen Osten. Japan hat sich nun
auch durch seine Oberherrschaft in Korea und den Besitz von Liaotung das
kontinentale Interesse in Asien erworben, und im Süden grenzen Frankreich
und Großbritannien mit ihren indischen Besitzungen an das Reich der Mitte
an. Ob für Deutschland der Besitz von Kiautschou eine Stärkung bedeuten
wird, darüber kann man sich jetzt noch nicht ganz klar sein, jedoch gibt er
jedenfalls der deutschen Regierung auch den Vorteil des direkten Kontinental-
interesses. Von all diesen Vorzügen zur Geltendmachung ihrer Macht haben
die Vereinigten Staaten keine; nur indirekt durch den Besitz der Philippinen
wirken sie als besitzende Macht auf das Geschick des Fernen Ostens ein.
Allerdings bildet die Inselkette, welche von Amerika nach Asien hinüberführt,
einen großen Vorzug, aber doch kommt dies, wenn entscheidende Fragen auf
dem asiatischen Kontinent vorliegen, nicht dem Landbesitz gleich, wie sofort
klar wird, wenn man sich Großbritannien mit Malta, Aden, Sokotra und
Ceylon, aber ohne Indien denken würde. Die Vereinigten Staaten haben
198 Reinsch, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten.
diesen Landbesitz nie gewollt und erwünschten ihn jetzt so wenig als je; es
ist, im ganzen genommen, von ihrer Stellung aus betrachtet ja ein Vorzug,
daß sie nicht auf diese direkte Weise in die Fragen des Fernen Ostens ver-
wickelt sind. Jedoch muß man auch anerkennen, daß sie dann auch in der
Geltendmachung ihrer Politik zuweilen einen Vorteil einbüßen, weil sie nicht
immer von einem gegebenen konkreten Interesse aus sprechen und handeln
können.
Von größerer Wichtigkeit aber ist die Tatsache, daß das Hauptinteresse
der Vereinigten Staaten in auswärtigen Angelegenheiten sich auf den eigenen
Kontinent bezieht und beziehen muß. Die Erbauimg des Panamakanals, das
Zusammenwirken mit den lateinischen Republiken, die Hilfeleistung bei der
Entwicklung derjenigen Staaten, die besonders auf den Schutz und die Unter-
stützung der Vereinigten Staaten angewiesen sind, die Weiterbildung der
freundschaftlichen Beziehungen zu dem großen Nordreich Kanada, all diese
Dinge bergen die Hauptprobleme der amerikanischen Diplomatie. Dies wird
aiach vom ganzen Volke instinktiv gefühlt. Trotz aller Handelsaussichten
wäre es schwer, die Politik der offenen Tür in China zu einem Schlachtruf
der Massen zu erheben; aber eine Bedrohung der Monroedoktrin braucht nur
angedeutet zu werden, um die gi-ößte Erregung unter dem Volke hervor-
zurufen.
In den allerletzten Jahren haben die Vereinigten Staaten einen posi-
tiven Rückgang ihres Handels mit dem Fernen Osten und namentlich mit
China erleben müssen. Dies tritt aus der beigefügten Tabelle sehr klar hervor.
Handel der Vereinigten Staaten mit dem Fernen Osten.
(In lOüO Dollars ausgedrückt.)
Export nach:
Honkong :
Japan :
China:
1890
4,434
5,227
2,943
1895
4,244
4,559
3,602
1900
8,475
29,042
15,213
1903
8,700
20,820
18,780
1905
10,755
51,215
53,301
1906
8,888
41,315
22,330
1910
6,422
21,761
16,252
Import
von:
1890
969
21,103
16,260
1895
776
23,695
20,545
1900
1,256
32,748
26,896
1903
1,359
—
26,648
1905
: 1,552
51,821
27,884
1908
2,129
68,107
26,020
1910
: 2,831
66,398
29,990
Viele Versuche sind gemacht worden, diese Tatsachen zu erklären.
Man hat davon gesprochen, daß Japan trotz angeblicher Unterstützung der
Handelsfreiheit und Einhaltung der Verträge doch seine Stellung in Mand-
schurien ganz einseitig zur Begünstigung der eigenen Untertanen benutzt
hat, und leitet hiervon den Rückgang des amerikanischen Handels in Mand-
schurien und in weiterer Folge auch im übrigen China ab. Auch wird der Boykott
von 1906 als ein Angriff beschrieben, von dem sich der amerikanische Handel
Reinscb, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten. 199
noch nicht erholt hat. Jedoch ist es klar, daß der Handelsrückgang andere
Ursachen als diese angeblichen haben muß. Denn wäre nicht eine innere
Schwäche zu finden, so könnte sich der amerikanische Handel unter dem
Schutz der Verträge jedenfalls sogar in Mandschurien halten, und die Störung
des Boykotts hätte er längst überwunden. Die Ursache ist vielmehr darin
zu suchen, daß es dem amerikanischen Handel fast noch gänzlich an einer
wirksamen Exportorganisation fehlt. Diejenigen amerikanischen Industrien,
welche in Betracht kommen, sind in der Anbringung ihrer Waren noch stark
von Handeltreibenden anderer Nationen abhängig. Sowohl Großbritannien
wie Deutschland haben ihre großen Kommissionshäuser, welche gänzlich mit
dem Vorgehen vertraut sind, durch das man neue Gebiete für den nationalen
Handel erwerben könnte. Dazu kommt noch ein Zusammenwirken der ver-
schiedenen Exportindustrien und der Nationalregierung, welches besonders
stark in der deutschen und japanischen Handelsorganisation hervortritt. In
Japan besitzt die Regierung die Eisenbahn, sie subventioniert die Schiffahrts-
gesellschaften und Reedereien; das Bankwesen ist unter ihrer direkten Kon-
trolle, und in verschiedenen Industrien, wie z. B. in der Eisenindustrie, übt sie
sogar einen ausschlaggebenden Einfluß. In der Ausbildung des auswärtigen
Handels von Japan bewirkt nun die Regierung ein Zusammenarbeiten und
gegenseitiges Unterstützen aller dieser Faktoren. Nicht genug mit der Orga-
nisation des Verkaufs, befördert Japan noch namentlich dadurch den aus-
wärtigen Handel, daß es einen Markt für die Produkte seiner Käufer schafft.
Durch all diese Tatsachen ist das bedeutende Anwachsen des japanischen
Handels in Mandschurien zu erklären. Eine so geschlossene Organisation
der Handels- und Industrieinteressen zu Exportzwecken gibt es in den Ver-
einigten Staaten noch nicht, und es wird sie wohl auch für lange Zeit nicht
geben. Einige Ansätze dazu haben sich allerdings gebildet. So sind es
namentlich die großen Trusts, die Standard Oil Company, der Tabak Trust
und die Stahlgesellschaft, welche eine eigene Organisation zur Entwicklung
ihres auswärtigen Handels zu bilden angefangen haben. Gerade die Produkte
des Öl- und Tabaktrusts haben sich auf dem Markt des Fernen Ostens ihre
Stellung erhalten können, obgleich den letzteren natürlich durch üie Schaffung
des japanischen Tabakmonopols der Markt in Japan versperrt und in anderen
Teilen Asiens scharfe Konkurrenz gemacht wurde.
Auch die amerikanischen Bankinteressen haben erst in allerjüngster Zeit
angefangen, auf auswärtige Anlagen und überseeischen Handel einzugehen.
Die Gesetze, welche die National- und die Staatsbanken kontrollieren, ent-
halten betreffs der Anlage der Bankgelder so strenge Vorschriften, daß sich
diese Banken nicht fi'ei genug fühlten, um an auswärtigen Geschäften teilzu-
nehmen; übrigens fehlte ihnen dazu auch die Organisation. So sind es
wieder die Banken, welche die großen Trustinteressen vertreten, wie die
National City Bank und die National Bank of Commerce, sowie einige gi'oße
Privatbankgesellschaften, wie Kuhn, Lob & Co. und James Speyer & Co.,
welche sich jetzt für die Entwicklung der auswärtigen finanziellen Beziehungen
interessieren. Sie betätigten sich in der Gründung der International Banking
Corporation, der ersten auswärtigen Bankgesellschaft der Vereinigten Staaten.
An sie wandten sich Präsident Taft und Staatssekretär Knox, als sie Inter-
essenten zur Übernahme der zentralamerikanischen Anleiben und zur Teil-
nahme an der chinesischen Eisenbahnentwicklung suchten. Sie senden zur-
zeit ihre Vertreter durch Südamerika, um dort die Gründung nordamerika-
nischer Bankinstitute vorzubereiten.
200 Rein seh, Die Vereinigten Staaten und der Ferne Osten.
Obgleich nun die Teilnahme dieser großen Interessen an der Ent-
wicklung des auswärtigen Handels der Vereinigten Staaten bei der jetzigen
Lage der internationalen Konkurrenz absolut nötig ist, so bildet doch dies
Zusammenwirken der Regierung mit groIJen Finanzinteressen, welches ja
auch in anderen Ländern stattfindet, ein Schauspiel, das in Amerika durchaus
nicht günstig wirkt. So war es unmöglich, für die Anleiheverträge mit
Honduras und Nigaragua die Zustimmung des Senats zu erhalten, und die
auswärtige Politik der Vereinigten Staaten ist, seit sie sich auf diese Weise
des Handels angenommen hat, im eigenen Lande der schärfsten Kritik unter-
worfen gewesen. Man vermutet überall eine Ausbeutung durch die großen
Interessen und erst, w^enn im Lande selbst das Problem der Beziehungen der
großen Organisationen zum Volke und zu der Regierung auf eine zufrieden-
stellende Art gelöst sind, wird man ein derartiges Zusammenwirken der
Regierung mit kapitalistischen Interessen gutheißen. Auch gegen die Sub-
ventionierung der Schiffahrtsgesellschaften herrscht ein weit verbreitetes Vor-
urteil, weil man fürchtet, den schon jetzt bestehenden gefräßigen Interessen
durch eine solche Politik noch eine weitere hinzuzufügen. Große Eisenbahn-
männer, wie Harriman und Hill, haben sich sehr für die Entwicklung des
Handels mit dem Fernen Osten interessiert und dessen große Wichtigkeit dem
Volke dargelegt. Aber es gelang ihnen nicht, amerikanische Schiffahrts-
interessen auf dem Stillen Ozean aufi'echt zu erhalten gegen den Wettbewerb
Englands, Deutschlands und Japans.
Die Tradition der Nichteinmischung in die Angelegenheiten fremder
Völker ist auch noch im amerikanischen Staatswesen und unter dem Volke
so stark, daß sie bei einem Versuch der Regierung, die Politik zur Unter-
stützung von Handelsinteressen zu gebrauchen, noch lange Zeit hindernd ein-
wirken wird.
Wenn wir nach der Besprechung dieser Tatsachen, welche der Politik
der Ausdehnung des amerikanischen Handels im Femen Osten Hindernisse
entgegensetzen, nun die Vorzüge in der Situation der Vereinigten Staaten
betrachten, so kann man wohl sagen, daß sich aus gewissen dieser Schwächen
eine ausgleichende Stärke ergibt. Ohne durch Landbesitz in Asien Verwick-
lungen ausgesetzt zu sein, ist doch die geographische Lage der Vereinigten
Staaten und ihrer Besitzungen eine solche, daß sie ihnen eine Nachbarschaft
mit China und Japan gewährt, der nur die Landnachbarschaft Rußlands
gleichkommt. Ist der Panamakanal erst vollendet, so können von beiden
Küsten der Vereinigten Staaten Japan und China leichter erreicht werden als
von Europa. Diese von der Natur bevorzugte Stellung gibt den Vereinigten
Staaten ein direktes und fundamentales Interesse daran, daß China dem
Handel der Welt offen bleibt.
Dies macht diese Politik der Vereinigten Staaten geradeaus und einfach.
Sie ist nicht gezwungen, sich durch Lokalinteressen einmal auf diese, dann
wieder auf jene Seite einer Bewegung zu stellen. Ein geeinigtes China, sich
stark entwickelnd, Herr in seinem eigenen Lande, welches es dem Handel
aller Nationen der Welt in gleichem Maße offen hält, das sind die Grund-
gedanken der amerikanischen Politik. Daher kommt es, daß diese Politik
nie den Charakter oder auch nur den Anschein eines engen, selbstsüchtigen
Strebens haben kann. Die Vereinigten Staaten verteidigen nicht in erster
Linie ein Spezialinteresse, sondern sie verlassen sich darauf, daß in der Ver-
tretung eines Interesses, welches den meisten, wenn nicht allen Nationen ge-
meinsam ist, eine weise und haltbare Politik liegt. Soweit eine Nation ihre
Reinsch, Die Vereinigten Staaten nnd der Ferne Osten. 201
Bestrebungen in China mit der Entwicklung des allgemeinen Welthandels
und der Erstarkung des chinesischen Staats- und Volkslebens in Einklang
bringt, kann sie auf den guten Willen und die Unterstützung der Vereinigten
Staaten vertrauen, und ihrerseits erwarten dieselben wieder, daß in der Be-
handlung der Fragen der chinesischen Politik in erster Linie die Interessen
des gemeinsamen Welthandels und des großen Reiches selbst beobachtet
werden mögen.
Hieraus erklärt sich auch die Stellungnahme der Vereinigten Staaten
gegenüber der Erstarkimg des chinesischen Nationalgefühls. Es ist eine Tra-
dition des amerikanischen Staatsgefühls, den Einheitsbestrebungen großer
Nationen Sympathie entgegen zu bringen. So begrüßte man die Gründung
des Deutschen Reichs und des italienischen Nationalstaates mit Beifall. Mit
Freude würde man die Errichtung einer starken, verantwortungsvollen Föde-
ration der zentral-amerikanischen Republiken sehen. So bringt man auch
dem Erwachen des chinesischen Nationalgefühls nicht Befürchtungen, sondern
die Hoffnungen auf eine große Zukunft entgegen. Man hat das Vertrauen,
daß in der Entwicklung der Welt die Gründung großer Nationalstaaten einen
Fortschritt bedeutet. Sie steuern der Anarchie, lenken das politische und
industrielle Leben in regelmäßige Bahnen und führen zu der Bildung von
großen, mächtigen, politischen Organisationen, deren Verantwortungsgefühl
die Sicherheit der Zivilisation garantiert. So sieht man auch mit weit
größerer Zuversicht auf ein erstarkendes China, das entschlossen ist, die
Kriterien der höchsten Zivilisation auf sich selbst anzuwenden, als auf ein
schwaches zerrissenes China, dessen Notzustand zu beständigen Angriffen
herausfordern und so den Frieden der Welt dauernd gefährden würde.
IL
Chinas Erwachen
Von Dr. Georg Wegener
In den Bergen der Provinz Sz'tschwan im westlichen China ist aus
einer senkrechten Felsenwand ein menschliches Antlitz herausgemeißelt, uralt
und von ungeheurer Größe. Gestrüpp überwuchert das verwitterte Gestein,
und allmählich erst erkennt man die seltsam bedeutenden Züge: die wohl-
geformte Stirn, die vornehme Nase, die sinnlich starken Lippen, das schwere
Kinn. Die tiefliegenden Augen sind geschlossen, und das Gras, das aus
Felsenspalten darüber hervorwächst, überwölbt sie in Form von Brauen, die
in langen Büscheln über ihnen herniederfallen; wie ein Bart hängt es über
Lippen und Kinn, den Eindruck urweltlichen Alters verstärkend. Zuerst
erscheint das starre Antlitz wie das eines Toten. Schaut man das mystisch
feierliche Bildnis jedoch länger an, so wird es mit einem Male, als löse sich
diese Todesstarre, als habe man nicht die Züge eines Leblosen, sondern eines
Schlummei-nden vor sich, dessen Atemzug das Gehäng über seinem Munde
leise bewegt und dessen Augen im Begriff sind, sich langsam zu öffnen, um
uns mit einem Eätselblick voll Schicksalstiefe anzuschauen, wie der Sphinx
von Gizeh. —
Das Felsenhaupt von Sz'tschwan ist mir immer wie eine Art Symbol
vorgekommen für die chinesische Kultur, wie sie wenigstens uns Europäern
in der jüngsten Zeit erschien: Unbekannte Jahrtausende alt, mit ehrfurcht-
gebietenden Zügen von ehemaliger Ki-aft und Größe, aber verwittert und
überwuchert mit bizarrem Gestrüpp, seit langem versteinert, scheinbar end-
gültig zum Tode erstarrt — bis wir plötzlich zu fühlen begannen, daß diese
Erstarrung doch wohl kein wirklicher Tod, kein Aufhören aller Fortbildungs-
fähigkeiten und Keimkräfte war, sondern nur ein Schlummer; bis wir spürten,
wie der Atemzug eines neuen Lebens und Regens langsam den ungefügen
Koloß bewegte, wie er seine Augen aufzuschlagen begann, um der neuen Zeit
und den neuen Welten, die sich an ihn herandrängen, ernsthaft ins Auge
zu schauen.
Das „Erwachen Chinas" ist neuerdings bei uns der Titel für eine Fülle
an Büchern und Schriften über die Vorgänge im fernen Osten geworden
und das Schlagwort für einen heute ausnahmslos als höchst bedeutsam emp-
fundenen neuen Abschnitt in der zeitgenössischen Geschichte und Politik
der Welt geworden. Und wir sehen in Europa diesem Vorgange zu, ent-
weder mit der stolzen und begehrlichen Zuversicht auf neuen Gewinn und
Machtzuwachs für die europäischen Völker, oder auch mit einem geheimen
Bangen und dem Gefühl „Was will das werden?" Diejenigen von uns, die
Wegen er, Chinas Erwachen. 203
am meisten von (Jhina wissen, sind vielleicht am unsichersten darüber, was
sie von der Zukunft dieses merkwürdigen Landes und Volkes erwarten sollen.
Es ist sehr interessant zu verfolgen, wie stark in der kurzen Zeitspanne,
seit der sich Europa wirklich näher mit China beschäftigt — es dürften
nicht viel mehr als zweihundert Jahre sein — , die populäre Auffassung vom
Wesen und Wert dieser Kultur geschwankt hat. Die ersten eingehenderen
und zugleich allgemein beachteten Nachrichten über China — von Marco
Polos Schilderungen im Mittelalter kann man wenigstens das letztere nicht
sagen — stammen uns von den glänzenden Jesuiten-Missionaren des 17. und
18. Jahrhunderts. Ihr Ergebnis im Abendlande war ein recht bedeutender
Eespekt vor dem Riesenreich im Osten und seiner Zivilisation. Gegen Ende
des 18. Jahrhunderts steigerte sich dieser sogar zu einer phantastischen Be-
wunderung; denn die der französischen Revolution voraufgehenden und sie
vorbereitenden Sozial- und Moralschriftsteller liebten es, gewisse politische
und gesellschaftliche Idealzustände, die ihnen vorschwebten, auf Grund jener
Jesuitennachrichten im fernen China verwirklicht zu sehen und sie dem
Abendlande als leuchtenden Spiegel vorzuhalten. Zeigten doch die Prinzipien
dieser Zivilisation eine Monarchie, in der alle Glieder zu ihrem Herrscher
in patriarchalischem Verhältnis wie zu dem Vater einer einzigen großen
Familie aufschauten, der infolge uralten Herkommens das tiefste Verantwort-
lichkeitsgefühl für ihr Wohlergehen besaß. Ein Staatswesen, wo es keine
Kasten und Standesvorrechte gab, sondern wo der Niedrigstgeborene es zu
den höchsten Staatsämtern bringen konnte, nicht durch Reichtum, nicht
durch Verbindungen, sondern lediglich durch Bildung, bewiesen durch
Examina. Ein Sozialgefüge, wo nicht der Kriegsmann, sondern der Gelehrte,
der Literat Lenker des Volks, wo Kindesliebe, Ehrfurcht vor dem Alter,
Höflichkeit in den Umgangsformen die Grundlagen aller Sitten waren.
Darauf folgte dann aber eine Zeit, wo man China überhaujjt nicht
mehr ernst nahm. Jene literarischen Idealgemälde von China wurden all-
gemach gänzlich Märchenbilder im Stil von Turandot, mit humoristischer
Färbung. Die „Chinoiserien", die das Rokoko so liebte, wurden — mit dem
Rokoko selbst — als spielerisch, zopfig, grotesk empfunden, und man stellte
sich zuletzt die Chinesen etwa so vor wie die Porzellanpagoden, mit
nickenden Köpfen, mit dicken Bäuchen und idiotisch emporgehobenen Zeige-
fingern; ihre Kultur als eine Sammlung verschnörkelter Bizarrerien. Das
Symbol Chinas wurde der damals so viel abgebildete Porzellanturm von Nan-
king mit seinen Glöckchen.
Hierzu trat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Note. Man
erfuhr, wie die chinesische Welt sich so hartnäckig dem weiteren Eindringen
der Europäer widersetzte und auch geistig sich gegen Europas Ideen ver-
schloß. Jetzt entstand bei uns die Empfindung von der Erstarrung und Ver-
steinerung der uralten Kultur Chinas; ihr Symbol wurde nun die Große chine-
sische Mauer, jenes ungeheuerliche, im Grunde als verrückt empfundene Archi-
tekturwerk, mit dem, wie man meinte, Wirklichkeit und Fortschrittsnotwendig-
keit verkennende Autokraten den töricht unmöglichen Versuch einer herme-
tischen Abschließung eines ganzen Reiches gemacht hätten. — Nun war es nur
noch ein Schritt zu einer ganz der früheren entgegengesetzten Auffassung der
chinesischen Kultur. Man hörte von den fürchterlichen Begleiterscheinungen der
Taiping-Rebellion und anderer jener entsetzlichen Krämpfe der jüngsten inneren
Geschichte Chinas. Die immer häufiger werdenden flüchtigen „Globetrotter", die
vorwiegend den Abschaum der Hafenstädte kennen lernten und daraus Stoff
204 Wegen er, Chinas Erwachen.
zu pikanten Eeiseschilderungen schöpften, schwelgten in der Ausmalung
chinesischer Folterkünste, die den Sensationsgierigen ihre gemieteten Führer
mit Vorliebe zeigten; oder sie brillierten in der Schilderung des chinesischen
Schmutzes — die um jene Zeit bei uns erwachende oder wenigstens von
England her allgemeiner werdende Eeinlichkeit des täglichen Lebens und der
neu sich entwickelnde Begriff des „Komforts" ließ sie auch in dieser Richtung
einen, früher gar nicht in der Weise vorhandenen Gegensatz zur chinesischen Welt
empfinden. Und so schlug die Stimmung völlig um. Man sah jetzt mit einem
Male in den Chinesen eine in jeder Hinsicht abstoßende Masse unsauberer,
armseliger Individuen, behaftet mit Krankheiten und allen Lastern der De-
kadenz, feige im einzelnen, von unerhörter, perverser Grausamkeit in der
Überzahl, widerwärtig dichtgedrängt, wie gelbe Maden, auf ihrem überfüllten
Boden durcheinander kriechend — das Ganze ein in künstlicher Abgeschlossen-
heit überalt gewordener Organismus mit allen eklen Zeichen des Verfalls am
lebendigen Leib, und dennoch für uns trotz dieser moralischen und kulturellen
Minderwertigkeit eine Gefahr — die „gelbe Gefahr" — durch ihre Zahl!
Den Höhepunkt des Widerwillens, ja Hasses gegen die Chinesen er-
reichte die öffentliche Meinung im Abendlande zur Zeit des Boxerkrieges.
Die unniutflammenden Worte unseres Kaisers in Wilhelmshaven: „Pardon
wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht", die unsere gutmütigen
Khaki-Krieger mit der Stimmung eines heiligen Rachezuges gegen die Nach-
kommen der Hunnen nach China entsandten, sind auf dem Hintergrunde
solcher Empfindungen entstanden.
Auch diese Vorstellung ist aber heute unzweifelhaft schon wieder über-
wunden. Der Krieg von 1900 selbst, in seiner überraschenden, fast operetten-
haften Friedfertigkeit, gab jener Hunnenstimmung an Ort und Stelle so gar
keine Nahrung, sondern pflanzte im Gegenteil manche Keime der Sympathie:
die Gutmütigkeit des niederen chinesischen Volkes schuf vielfach ganz behag-
liche Verhältnisse zwischen den europäischen Truppen und den Chinesen,
und der Offizier mußte anerkennen, daß der chinesische Soldat sehr wohl
Mut und Strammheit zeigen könne. Auch die sichtliche Gesundheit und
große körperliche Leistungsfähigkeit des Durchschnittchinesen widerlegte die
Vorstellungen von Entartung des ganzen Volkes. Anderes trat hinzu. Die
merkwürdige Frau, die seit einem Menschenalter die Geschicke Chinas gelenkt
hatte und sie nach dem Kriege mit unerschütterter Machtfülle wieder in die
Hand nahm, begann in Europa populär zu werden; aus dem brandrot be-
leuchteten Schauerroman-Porträt einer gelbhäutigen Herodias oder Messalina,
wie die Kaiserinwitwe Jehonala 1900 in der Vorstellung des Abendlandes
gelebt hatte, wurde das Bild einer in ihrer Art bewundernswerten Persön-
lichkeit von ungewöhnlicher Charakterkraft und diplomatischer Kunst, zu
deren zielsicherer Leitung des einer Erneuerung zustrebenden Reiches man
Zutrauen gewann. In kommerziellen Kreisen verbreitete sich die Meinung,
daß der chinesische Kaufmann sich gerade durch eine besondere Ehrlichkeit
auszeichne. In künstlerischen entdeckte man mit Erstaunen und Begeiste-
rung die klassische Schönheit der chinesischen Maler und Poeten und er-
kannte in ihnen die bedeutenderen Lehrmeister der vor kurzem so hoch-
gepriesenen Künstler Japans. Kurz, in der öffentlichen Meinung entstand
unzweifelhaft ein wohlwollenderes Verhältnis zu China. Man betrachtet mit
einer freundlichen Symjjathie die von der Kaiserinwitwe in maßvollem Tempo
geleiteten Versuche einer Reform in europäischem Sinne, im Stillen geschmeichelt
durch die darin liegende endliche Anerkennung der Überlegenheit unserer
Gesittung durch die Chinesen.
Wesfener, Chinas Erwachen. 205
Denn das ist keine Frage, uns allen steckt doch mehr oder minder die
Vorstellung als etwas selbstverständliches im Blute, daß unsere Kultur nicht
nur materiell, auch geistig und sittlich, der chinesischen unbedingt an Wert
überlegen ist, daß es ein absoluter Segen für das Land sein wird, wenn wir
ihm unsere Kultur bringen, daß China erst durch uns und auf den von uns
gewiesenen Pfaden zu materieller und sittlicher Gesundung und zu höheren
Menschheitszielen kommen kann. Wurde somit die vielberedete „Fremden-
feindlichkeit" der großen Menge in China ohne weiteres als das beste Zeichen
der kulturellen Minderwertigkeit und Beschränktheit des bisherigen chinesi-
schen Volkes angesehen, so nahm man an, daß bei den „besseren Elementen",
die jetzt eine Modernisierung Chinas anstrebten, jene Fremdenfeindlichkeit
geschwunden sei und sich in tiefen Eespekt vor unserer Zivilisation und Sehn-
sucht nach allen ihren Segnungen verwandelt habe. Wir sahen solchen Be-
strebungen gnädig zu und waren höchstens etwas verblüfft und geärgert, daß
diese Leute in der allerjüngsten Zeit gar so hastig vorgingen und die edelsten
und höchsten Ziele unserer Gesittung so im Handumdrehen übernehmen
wollten, die unsere Völker in mühsamer Jahrtausendarbeit errungen haben.
Das trat ganz besonders hervor, als sich vor unsem Augen allerjüngst
das alte Eeich der Mitte urplötzlich in eine Eepublik der Mitte verwandelte.
Man war im Grunde geradezu indigniert, daß sich dieses vor kurzem noch halb
mittelalterliche Staatsgebilde mit einem Male, unter Überspringung aller
Zwischenstufen, die allerfortgeschrittenste der modernen Staatsformen geben
wollte. Man empfand und erklärte das für einen hirnverbrannten Unsinn,
etwas, das unmöglich Bestand haben könne. —
Diese hier skizzierten mannigfachen Schwankungen der öffentlichen
Meinung von China im Abendlande sind nur zu geringem Teil in wirklichen
Wandlungen Chinas während der gleichen Zeit begründet; sie sind vielmehr
ein guter Ausdruck für die Dürftigkeit des tatsächlichen Wissens und die
Geringfügigkeit des Verständnisses von China bei uns.
Leider wird die Sache nicht sehr viel besser, wenn man die abend-
ländischen China- Autoritäten zu Hilfe ruft. Man findet unter ihnen fast soviel
Meinungen und Auffassungen wie Köpfe, und gerade diejenigen unter ihnen,
die sich am längsten mit chinesischen Dingen beschäftigt haben, verlieren
sich häufig in allerlei Einzelwissen und sind über das Ganze recht uner-
giebig oder ungewiß. Das ist eben die Eigentümlichkeit des großen chine-
sischen Problems, daß es von feni verhältnismäßig einfach erscheint, aber
immer schwieriger und verworrener wird, je näher man ihm tritt. Ich habe
kürzlich schon einmal an einer anderen Stelle') das amüsante Wort eines
alten Chinamissionars angezogen, der zu sagen pflegte: „Wenn jemand vier
Monate in China gewesen ist, schreibt er ein Buch über das Land. War er
vier Jahre dort und ein Verleger wünscht von ihm ein solches, so kraut er
sich hinter den Ohren und meint: Ich glaube, ich kenne dazu doch China
noch nicht genug. Hat er aber vierzig Jahre im Reich der Mitte geweilt,
so weist er ein derartiges Ansinnen ganz erschrocken von sich und sagt :
Um Gotteswillen, ich weiß ja gar nichts von China."
Der Grund für diese merkwürdige Erscheinung liegt nicht allein in dem
Mangel an positivem Wissen über Ostasien und die Entwicklung seiner Kultur —
') China und seine jüngste Entwicklung. Vortrag vor der Gesellschaft
für Erdkunde zu Berlin am 4. November 1911 (Geographische Zeitschrift,
Jahrg. XVni).
206 Wegen er, Chinas Erwachen.
von der ja auf unseren Schulen, in unseren sogenannten „Weltgeschichten"
fast immer noch keine Eede ist — sondern in der außerordentlichen Ver-
schiedenheit der Psyche, die sich auf beiden Seiten in so lange getrennter
Kulturentwicklung herausgebildet hat. Eine Verschiedenheit, die beiden Teilen
oft genug die Empfindung gibt, als müsse auf der Gegenseite das logische
Denken nach anderen Gesetzen als im eigenen Hirn vorsichgehen ; die den
einen aus Prämissen von scheinbar zwingender Gewalt ganz andere Schlüsse
ziehen läßt, als der andere erwartete; die oft genug dem nach seiner Meinung
völlig Vorurteilslosen unter uns plötzlich zum Bewußtsein bringt, wie stark
auch er doch noch von Voraussetzungen beeinflußt wird, die dem Ostasiaten
fehlen oder durch ganz abweichende ersetzt werden, und umgekehrt.
So erweist sich bei näherem Zusehen vor allem die Meinung, die
Chinesen hätten die absolute Überlegenheit der abendländischen, womöglich
die der „christlichen" Kultur jetzt anerkannt, durchaus als ein Irrtum.
Das fällt ihnen auch heute noch nicht im Geringsten ein. Und gerade denen
am wenigsten, die sich am ernstesten um die Behauptung und Erstarkung
ihres Volkes sorgen. Und ferner: ,, fremdenfeindlich" sind sie noch heute
alle, in dem Sinne dem Fremden und seinem Einfluß widerstrebend, daß sie
vor allem durchaus Chinesen bleiben und das tiefste innerste Wesen ihrer
Kultur vor dem europäischen Einfluß soviel als irgend möglich bewahren
wollen. Sie geben lediglich zu, daß ihnen die abendländische Zivilisation
zurzeit überlegen ist an materiellen Mitteln: an Mitteln des Krieges, an Rütteln
des Verkehrs, an Mitteln der Gütererzeugung. Allein eine moralische Über-
legenheit unserer Zivilisation über die ihrige erkennen sie nicht. Im Gegen-
teil! Das Gefühl der höheren Humanität ihrer eigenen Gesittung ist durch
die Berührung mit den Abendländern nur noch gestiegen.
Und das ist nur zu begreiflich. Haben doch für China die wichtigsten
Berührungen mit unserer Kultur seit den letzten Menschenaltern fast immer
die Form von Beleidigung, Demütigung, Brandschatzung gehabt. Das innerste
Wesen unserer modernen Kultur ist aggressiv, das der chinesischen passiv,
quietistisch. Wir haben uns den Chinesen gewalttätig aufgedrängt und tun es
immer wieder. Begonnen hat die Sache mit einem Akt der Gewalt, bei dem
für das Gefühl des Chinesen die Gerechtigkeit so sonnenklar wie möglich
auf seiner Seite war, mit dem Oi^iumkrieg von 1840, durch den die Engländer
die Zulassung des volkverwüstenden Giftes erzwangen. Nach dieser Ouvertüre,
der die Vertreter der christlichen Kultur so unchristlich wie möglich zeigte,
kam die Überschwemmung mit Missionaren, die mit ihrer Lehre die dem
Chinesen ehrwürdigsten Grundlagen seiner gesamten Kultur, den Familien-
und Ahnenkult, antasteten, die in ihrem eigenen Lande mit dem ganzen Hoch-
mut ihres Christentums gegenüber den „Heiden" auftraten, Sonderstellungen
für sich mitten im fremden Volksgebiete beanspruchten und mit Hilfe ihrer
Regierungen auch durchsetzten. Es kamen immer neue Konflikte und mili-
tärische Niederlagen durch die Europäer hinzu, die Plünderung der kaiser-
lichen Paläste, die Schändung der kaiserlichen Gräber und im Gefolge damit
eine immer wachsende finanzielle Abhängigkeit vom Auslande, die Kontrolle
über die Seezölle, die Ausbeutung der einheimischen Kohlenfelder, die Weg-
nahme von Tsingtau, Port Arthur, Weihaiwei, Kwangtschouwan. Das gewalt-
same Hineinzwingen eines Volkes, das es für eine hohe Kulturerrungenschaft
erachtete, die Künste des Friedens höher zu stellen als die des Krieges, in
kostspielige Rüstungen; es kam das für den Chinesen nur allzu deutliche
Schauspiel der gegenseitigen Eifersucht der Großmächte, die einer dem Lande
Wegen er, Chinas Erwachen. 207
immer schönere Worte machte als der andere und die doch allesamt in Wahr-
heit einem Rudel gieriger Wölfe glichen, die das gehetzte Opfer umstellen.
Man kann daher heute die Grundstimmung derjenigen Kreise, die in
China für europäische Eeformen sind, ungefähr so zusammenfassen: Da wir
leider zugeben müssen, daß die Europäer uns zurzeit an materiellen Macht-
mitteln überlegen sind, und da diese Barbaren, den bösen Tieren gleich, den
Gründen der Vernunft und Sittlichkeit unzugänglich sind, so müssen wir
wohl oder übel diese ihre äußeren Machtmittel uns aneignen, um unsere
edlere Kultur vor dem Untergange durch sie zu retten. Das Schlagwort ist
also nicht: Annahme der christlichen Kultur, sondern Rettung vor ihr durch
Nachahmung ihrer eigenen Kampfmittel. Wie uns eine „gelbe Gefahr" vor-
schwebt, so ihnen eine „weiße Gefahr".
Ein fesselndes Zeugnis dafür legt das Buch des Chinesen Kuhungming
ab, das jüngst auch in deutscher Übersetzung erschien: Chinas Verteidigung
gegen europäische Ideen." (Kritische Aufsätze von Kuhungming. Heraus-
gegeben von A. Paquet. Jena 1911. E. Diederichs.) Der Verfasser hatte
als Privatsekretär des großen chinesischen Patrioten Tschangtschitung, des
berühmten Vizekönigs der Hukwang-Provinzen und späteren Großsekretärs
in Peking, Gelegenheit, die Auffassung der modernen politischen Entwicklung
Chinas bei den führenden Köpfen der letzten Jahre zu beobachten, und er
hat sich zugleich durch europäische Universitätsstudien und eine ungewöhn-
liche Kenntnis europäischer Sprachen — ich lernte ihn selbst 1906 in China
kennen und hörte ihn zu meinem Erstaunen fließend deutsch über Goethe
und Schopenhauer plaudern — eine besondere Vertrautheit der abendlän-
dischen Gesittung erworben.
Wie stellt er sich nun zu der Frage?
Bezeichnend dafür ist gleich der Titel des Buches. Abwehr also, nicht
nur gegen europäische Übergriffe in China, gegen finanzielle Ausbeutung u. dgl.,
sondern gegen die europäischen „Ideen", also gegen das eigentliche Wesen
der ganzen europäischen Kultur! Ich möchte als Beispiel einen der Ge-
dankengänge des Verfassers näher analysieren. Der erste der in diesem Buche
gesammelten Aufsätze ist überschrieben: Kultur und Anarchie. Kuhungming
beginnt ihn mit dem Satze, weit über die politische und ökonomische Seite
der „ostasiatischen Frage" erhebe sich deren moralische Seite! Wir sehen
sogleich, worauf er hinaus will : auf die höhere Moralität der chinesischen
Sache. Gewiß ist diese Flucht ins Moralische zunächst die instinktive Geste
des Schwächeren. Aber sie spricht wirklich die Grundmeinung der Literaten-
kreise aus. Wie alle Einsichtigen fühlt auch Ku, daß die weißen Rassen
gegenwärtig an brutaler Kraft überlegen sind. Doch von der höheren ethischen
Qualität der chinesischen Kultur ist er nach wie vor vollkommen überzeugt,
und in diesem Glauben an die moralische Überlegenheit der konfuzianischen
Gesittung Chinas findet er den Trost gegenüber den schreckenerregenden
äußeren Niederlagen der Gegenwart und die Hoffnung auf den endlichen
künftigen Sieg der chinesischen Kultur und der chinesischen Eigenart.
Nach dieser Problemstellung schreitet er fort zu einem Vergleich des
gegenwärtigen Andrängens der europäischen Völker gegen Ostasien mit dem
Kreuzzugssturm des Mittelalters. Die Worte, mit denen Kaiser Wilhelm, der
Urheber des Bildes „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter!", im
Jahre 1900 in mittelalterlich feierlicher Weise seine Truppen in den Boxer-
krieg entsandte, legen ihm diese Parallele noch besonders nahe. Das Er-
gebnis der mittelalterlichen Kreuzzüge sei nun, nach Gmzots Zeugnis, gerade
208 We gener, Chinas Erwachen.
der Zusammenbruch der damaligen mönchischen Kultur Europas gewesen,
also das Gegenteil dessen, was gewollt worden war, und gerade dadurch ein
Schritt zur Befi'eiung des menschlichen Geistes. Es sei denkbar, daß ganz
ebenso auch bei der jetzigen Angriffsbewegung des Westens gegen den Osten
ein Eückschlag eintrete, der die ganze Kultur des gegenwärtigen Europas —
statt derjenigen Chinas — verändern werde, und zwar zum Glück für die
ganze Menschheit.
In einem überraschenden Gedankengange sucht er durchzuführen, daß das,
was heute die europäische Kultur zu einem so hartnäckigen Ansturm gegen
die ostasiatische bringe, und das, was sie in China durchsetzen wolle, gar nicht
eigentlich ihr moderner Bestandteil, sondern der Eest des Mittelalters sei, der
noch in ihr stecke. Ku kehrt die Lage für unser Gefühl gänzlich um. Wäh-
rend wir glauben, China durch unsere modernen Ideen auf die Bahn mensch-
lichen Fortschritts zu drängen, sieht er uns in diesem Kampfe für reaktionäre
und überlebte Kulturformen eintreten. Er folgert dabei so: Die Siegesstunde
der modernen liberalen Ideen in Europa war die französische Eevolution.
Hier wurde die auf der Autorität der Bibel ruhende bisherige, mittelalterliche
Kultur Europas abgelöst durch die unmittelbar auf ethischen Grundforderungen
der Menschennatur beruhende moderne Kultur. Zunächst freilich nur theo-
retisch; praktisch nur zum Teil, und es sei nun eine unabwendbare Notwendig-
keit für die europäische Menschheit, sich wirklich in diese neue Kultur hinein-
zuleben. Den Unterschied zwischen der alten und der neuen Kultur formt
er etwa folgendermaßen: Die alte biblische Kultur appellierte hauptsächlich
an die selbstischen Gefühle des Menschen, Furcht und Hoffnung; die neue
moralische Kultur an seine Vernunft ebensosehr wie an seine Gefühle. Nach
der alten Kultur war der Mensch in Sünde geboren und radikal böse, und
nur die göttliche ,, Gnade" konnte ihm helfen; die neue moralische Kultur
halte ihn für radikal gut, so daß er, wenn er sich nur frei gemäß der Ver-
nunft und seiner Natur entwickeln kann, selbst die sittliche Wohlfahrt und
die gesellschaftliche Ordnung in der Welt herbeiführen muß und wird. Diese
letztere Überzeugung aber entspricht ganz und gar dem Geiste der konfu-
zianischen Philosophie. Sie herrscht seit Jahrtausenden in China und — die
Entwicklung der modernen liberalen Ideen in Europa bis zur französischen
Eevolution ist, so meint Ku, zurückzuführen auf die Übertragung dieser Ge-
danken der chinesischen Zivilisation ins Abendland durch die französischen
.Tesuitenmissionen! — Dem Chinesen werde es daher nicht nur sehr leicht
sein, die moderne liberale Kultur bei sich durchzuführen; er habe sie ja eigent-
lich dem Wesen nach bereits; er besitze eine Kultur, die in ihren Wurzeln
auf wahrer, natürlicher Moral, auf „Humanität" beruht. Der Europäer, dem
sie neu sei, finde große Schwierigkeiten, den Übergang zu ihr zu vollziehen.
Die alte mittelalterliche Kultur Europas habe als staatliches Ideal
blinden, passiven Gehorsam gegen die Autorität gehabt; die neue moderne
Kultur des Liberalismus dagegen Selbstvertrauen der Bevölkerung gegenüber
dem Staat, und ihr Endziel sei eine Eegierung durch fi-eie Einrichtungen,
d. h. durch weitgehende Selbstverwaltung. Alles letztere sei aber gerade das, was
nicht nur in China selbst, sondern auch von einsichtigen Ausländern (Maggowan)
als Eigentümlichkeit der Chinesen erkannt würde. (Und das ist richtiger
als bei uns, wo man China für ein-bisher desjjotisch zentralisiertes Staatswesen
zu halten pflegt, weiteren Kreisen bekannt ist. Diese tatsächlich seit alters
in großem Maßstabe ausgebildete Selbstverwaltung hilft die uns so erstaun-
liche übergangslose Verwandlung einer absoluten Monarchie in die Eepublik
We gener, Chinas Erwachen. 209
erklären.) In Europa sähe man das Schauspiel, daß die alte, durch das Au-
toritätsprinzip gewahrte Ordnung ins Wanken gekommen sei, während die
neue liberale Kultur die dortige Menschheit doch noch nicht hinreichend für
eine neue selbständige Ordnung ergriffen habe, und so werde dort gegen-
wärtig die Ordnung nicht durch irgendeine moralische Kraft aufrecht erhalten,
sondern von den Eegierendeu durch Mittel der Gewalt, durch die Polizei oder
den Militarismus. In China dagegen sei Militarismus dazu nicht mehr not-
wendig, denn China werde bereits seit alters vorwiegend mit moralischen
Mitteln regiert. (Auch das letztere ist nicht unrichtig, setzt freilich auch
eine moralische Regierung voraus. Deshalb bindet auch den Chinesen tatsäch-
lich kein mystisches Pietätsgefühl an die Person oder die Familie eines
Herrschers; er fühlt die sittliche Berechtigung ihr entgegenzutreten oder sie
über den Haufen zu werfen. Kein Hauch von Nibelungentreue scheint sich
in den Seelen des chinesischen Volkes jetzt beim Sturze des Kaiserhauses, im
Fall der Unwürdigkeit geregt zu haben, das in seinen Augen das moralische
Anrecht auf den Thron verwirkt hatte.) Der Ansturm der Europäer gegen
China während des letzten Menschenalters bezwecke nun, gerade die rück-
ständigen Formen ihrer Zivilation in Ostasien einzuführen, teils in Gestalt
der in Europa selbst schon ins Wanken geratenen Bibelkultur durch die
Missionare (hier sieht man den Zorn des gebildeten Chinesen insbesondere
gegen die Mission), teils in Form des IVIilitarismus. Das aber sei eine rück-
läufige Bewegung in der Menschheitsentwicklung und darum ohne Aussicht
auf Erfolg. Würden die Europäer wirklich China aufteilen und in euro-
päischer Art militärisch in Ordnung halten, so würde das den betreffenden
Mächten schon pekuniär so teuer kommen, daß es sie auf die Dauer ruinieren
müßte. (Das ist nicht unwahrscheinlich.) Deshalb müsse es dazu kommen
und darin allein liege für die Zukunft das Heil für beide Rassen, daß die
liberalen Ideen überall so vollkommen wie möglich zum Siege gelangten.
In Eviropa sei leider der Liberalismus selbst auf einen bedenklichen Weg
geraten. An ein Wort von Beaconsfield anknüpfend, sagt Kuhungming, der
Liberalismus des heutigen Europas scheine ihm eine Oligarchie gesättigter
Einzelner geworden zu sein. „Der europäische Liberalismus des 18. Jahr-
hunderts hatte Kultur, der Liberalismus von heute hat seine Kultur verloren.
Der Liberalismus der Vergangenheit las Bücher und verstand Ideen, der
moderne Liberalismus liest höchstens Zeitungen und benutzt die großen
liberalen Phrasen der Vergangenheit als Stichworte für seine selbstischen
Interessen." (Es ist natürlich, daß ein unserer Welt so fernstehender Be-
urteiler nur einzelne Seiten unserer modernen Kultur sieht, allein es ist doch
erstaunlich, wie gut er hier eine dieser Seiten trifft.)
Noch energischer und zorniger verurteilt Ku diese moderne materiali-
stische Entwicklung des europäischen Liberalismus in einem zweiten Aufsatz,
den er „Die Geschichte einer chinesischen Oxford-Bewegung" nennt, in An-
knüpfung an die im vorigen Jahrhundert von Oxford ausgehende aristokratisch-
ästhetische Opposition, die sich — erfolglos — gegen den modernen Mittel-
standsliberalismus und seine geistige Verödung und ästhetische Verhäßlichung
des Lebens richtete. Er macht in klaren Worten und in voller Überzeugung
die Gegenüberstellung, daß die moderne europäische Kultur, die in China
eindringt, durch und durch materialistisch, die alte chinesische Literaten-
kultur, die sich dagegen wehrt, idealistisch sei, daß die erstere mit ihrer
öden Gleichmacherei, mit ihrer Maschinenproduktion, mit ihrer Betonung des
sinnlichen Wohllebens, ihrer Wertüberschätzung des „Komforts", mit ihrer
Zeitschrift für Politik. 6. 14
210 Wegener, Chinas Erwachen.
eklen Gier nach dem Gelde, ihrer ruhelosen, verflachenden Hast usw. das
ganze Leben verrohe, veräußerliche, verhäßliche, während die letztere die
Pflege der Feinheit des Geistes, der Anmut der Formen, der Vornehmheit
und Äbgeklärtheit des Charakters bedeute. In immer neuen leidenschaft-
lichen Wendungen und historischen Vergleichen erklärt er die „Euroi^äisierung"
Chinas für gleichbedeutend mit dem Einströmen von Gemeinheit und Häß-
lichkeit' in das chinesische Leben, die Kräfte der Kultur Europas für durch-
aus zerstörend für das wahrhaft Wertvolle im Menschenleben, und mit wirk-
lich packender Pathetik schildert er den Kampf der vaterländischen Ge-
lehrtenpartei im letzten Menschenalter für die Ideale ihrer vieltausendjährigen
Kultur gegen die europäische und die tiefe Verzweiflung, mit der ihre führenden
Geister — der verehrungswürdige Tschangtschitung an der Spitze — erkennen,
daß alles vergebens ist, und daß auch China sich in einen „Raubtierstaat"
mit Kanonen und Soldaten verwandeln müsse, wie die Westmächte, um seine
Existenz zu retten.
Der Verfasser selbst will sich dieser Verzweiflung, so gerechtfertigt sie
auch für den Augenblick scheine, noch nicht anschließen. Er hofft immer
noch auf einen endlichen Sieg der chinesischen Kultur. Und zwar eben
deshalb, und hier kommen wir wieder zum Ausgangspunkt zurück, weil sie
die moralisch höher stehende sei, und weil er — echt konfuzianisch — tief
davon überzeugt ist, daß zuletzt doch nicht die äußeren Machtmittel, sondern
die moralischen Qualitäten einer Zivil'sation den- Sieg entscheiden werden.
Hier werden viele modernen Leser skeptisch lächeln über den Chinesen.
Er findet aber doch einen höchst merkwürdigen Bundesgenossen in unserem
eigenen Lager. Vor einem Jahrzehnt schon erschien ein deutsches Buch, das
die Frage des Kampfes zwischen der weißen und der gelben Rasse genau
mit der gleichen Problemstellung wie Kuhungming behandelt und zu über-
raschend gleichen Schlüssen kommt wie der Chinese. Der Titel lautet: „Die
gelbe Gefahr als Moralproblem" von H. von Samson-Himmelstjerna (Berlin 1902).
Es ist seinerzeit ziemlich unbeachtet geblieben, erscheint mir aber hier in
diesem Zusammenhang recht erwähnenswert. In kühnster Entschiedenheit tritt
der Verfasser der um die Wende des Jahrhunderts herrschenden Auffassung
von den Chinesen als einer in jeder Hinsicht degenerierten, einer „geradezu
verruchten Nation" entgegen und sucht nachzuweisen, daß dieses Vorurteil
teils Unwissenheit, teils bewußte Verleumdung ist, und daß die chinesische
Gesittung im Gegenteil in vielen Punkten wirklich gegenüber der unsrigen
die moralisch höher stehende sei. So, um nur ein Beispiel zu nennen, auf
dem Gebiet des Familienlebens, dessen Innigkeit die unsrige weit überträfe
und das dabei viel mehr als bei uns, wo man soviel davon rede, die Grund-
lage des ganzen (xesellschafts- und Staatsgefüges sei. So noch auf einer Fülle
anderer Gebiete. Samson-Himmelstjerna spricht in den flammenden, vielfach
übertreibenden Worten eines Fanatikers der Ehrlichkeit, den die ungeheure
Borniertheit des landläufigen Urteils bei uns und die daraus entspringende
ungerechte und törichte Behandlung der Chinesen empört, aber es ist dringend
zu empfehlen, diese eigentümliche Schrift einmal zu lesen. Der Verfasser
leugnet die großen gegenwärtigen Schäden im öffentlichen Leben Chinas
nicht, aber indem er sie als eine erst seit kaum mehr als zwei Menschen-
altern eingerissene Mißwirtschaft nachweist, glaubt er auch, daß sie eine
vorübergehende Erscheinung sein wird. Natürlich gibt auch er die augen-
blickliche materielle Überlegenheit unserer Kultur vollkommen zu; aber er
sagt ganz wie Ku, daß es darauf im letzten Grunde gar nicht ankommt,
Wegen er, Chinas Erwachen. 211
sondern auf die moralische Höhe einer Gesittung. Dabei bleibt er jedoch
nicht, wie Ku, nur mit einer idealistisch vagen Hoffnung stehen, sondern er
führt das doch ganz realistisch aus, indem er der Meinung ist, daß die
moralische Gefestigtheit einer Gesittung auch ihre physische Kraft, ihre Wider-
standsfähigkeit auf die Dauer bedinge. Nicht mit Unrecht findet er, daß in
unserer Kultur eine außerordentliche innere Unsicherheit herrscht. Wir geben
vor, unsere Kultur beruhe auf den Grundsätzen des Christentums, und doch
decke sich unser Handeln in der Welt, jene Aktivität, die uns den Erdkreis
erobern läßt, nicht im geringsten mit christlichen Grundsätzen, die darin
gipfelten: „Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen; haltet dem, der euch
einen Streich auf die rechte Backe gibt, auch noch die linke hin; nimmt dir
einer den Mantel, so gib ihm auch noch den Rock." Ganz im Gegenteil,
das, was unsere Kultur augenblicklich so siegreich macht, ist gerade das
nicht-christliche daran! Da aber unser tiefstes Moralgefühl doch noch
atavistisch im Banne des Christentums steht, so geht durch unsere Welt-
anschauung ein verhängnisvoller Riß, der uns tief unsicher macht und uns
die innere Widerstandskraft zerbricht. Ganz anders sei es bei den Chinesen:
Das großartige Moralsystem, das allen Einrichtungen Chinas und der
Lebensauffassung des ganzen chinesischen Volkes zugrunde liegt, ist rein
irdisch abgeleitet, im wesentlichen aus dem natürlichen Verhältnis zwischen
Eltern und Kindern, nicht von transzendentalen „Offenbarungen". Und
nicht mit dem Begriff eines .Jenseits arbeitet die chinesische Moral, für
das dieses Leben hier lediglich eine Vorbereitung ist, sondern nur mit
dem des vernunftgemäßen Zusammenlebens von Menschen. Darum gebe
sie ihren Anhängern keinen Anlaß zu einer solchen tiefen inneren Uu-
befriedigtheit, wie sie für uns charakteristisch ist, sondern Ruhe. Klarheit,
innere Sicherheit. Die zurzeit höheren materiellen (intellektuellen) Errungen-
schaften des Abendlandes erzeugten ausnahmslos nicht Befriedigung, sondern
steigerten nur die Begierde, während es bekannt sei, daß der Chinese sich
im allgemeinen höchst glücklich und zufrieden fühlt, daß ihm jene inneren
Disharmonien völlig fehlen. Die materiellen Besitztümer der europäischen
Kultur ließen sich erwerben, und zwar, wie Japans Beispiel lehre, über-
raschend leicht und schnell, die moralischen Vorzüge der Chinesen aber: ihre
Anspruchslosigkeit, Zufriedenheit, Arbeitsfreudigkeit, ihr patriarchalisches
Gefühl zwischen Volk und Obrigkeit, ihr inneres Gleichgewicht, ihre Toleranz
in Glaubenssachen usw. würden von uns viel schwerer nachgeahmt werden
können. Und — dennoch, so schließt der Verfasser, müssen wir das ver-
suchen, wenn wir am letzten Ende bestehen wollen. Denn an dieser Ruhe
und inneren Sicherheit und Geschlossenheit des Chinesentums wird unsere
moderne Hast und unsere Gebrochenheit schließlich zerschellen. Hier, nicht
auf kriegerischem, nicht auf industriellem Konkurrenzgebiet, liege die eigent-
liche, größte Gefahr, die uns von der „gelben Rasse" drohe. — Nachdenk-
liche Worte, die nur demjenigen völlig absurd khngen können, der noch
nie das Wurzellose in der wilden Jagd unserer modernen Entwicklung emp-
funden hat.
Auch das ausgezeichnete Werk von Paul S. Reinsch „Intellectual and
political currents in the far East" (Boston & New York 1911), von dem
sogleich noch die Rede sein wird, findet den wesentlichen Unterschied
zwischen dem Orientalen und dem Abendländer darin, daß jener Idealist,
dieser Utilitarier sei; also wie Ku. Und ebenso gibt es zu, daß jedenfalls
der Unterschied zwischen Glauben und Handeln bei den Konfuzianern,
14*
212 Wegen er, Chinas Erwachen.
Schintoisten und Buddhisten geringer sei als bei den führenden christlichen
Völkern; also wie Samson-Himmelstjerna.
Diese Schriften sind alle noch vor der jüngsten chinesischen Revolution
erschienen. Sie schildern alle das allmähliche Vordringen der europäischen
Ideen in China und den Prozeß des langsamen, widerwilligen Auseinander-
setzens der Chinesen mit ihnen.
Die Geschichte des inneren Werdens der gegenwärtigen chinesischen
Revolution, die geistigen Vorbedingungen, aus denen sie entstand und erklär-
lich wird, behandelt das eben genannte Buch des Professors Reinsch in einer
ganz hervorragenden Weise, klar, durchsichtig, gestützt ebensosehr auf eine
eingehende Vertrautheit mit der älteren staatsphilosophischen Literatur der
Chinesen wie mit den modernen geistigen Strömungen und mit dem tatsäch-
lichen Geschehen dort. In dem Abschnitt: „Intellectual tendencies in the
Chinese reform movement" stellt er die verschiedenen Staatslehren der großen
literarischen Autoritäten der Vergangenheit Chinas dar, die bis zum heutigen
Tage das politische Denken der Nation beeinflussen, und die Ideen der haupt-
sächlichsten modernen Leiter und schildert die Reformversuche der letzten
Jahrzehnte. Im Abschnitt: „The new education in China" entwickelt er das
moderne Erziehungswesen. In „a parliament for China" das Ringen um eine
parlamentarische Beteiligung des Volkes an der Regierung und die Versuche
der Regierung, diese Bewegung in ein ruhigeres Fahrwasser zu leiten.
Reinsch zieht mit Ernst die außerordentlichen Schwierigkeiten einer
Modernisierung Chinas ans Licht, erkennt abc. auch ebenso die mannigfachen
und bedeutenden Impulse, die China für eine solche Erneuerung zu Gebote
stehen: das erwachende Nationalempfinden, das geschärfte Ehrgefühl und
vor allem den hohen, zu jedem Opfer, auch dem des Lebens, freudig bereiten
Idealismus, der im chinesischen Volke für die Sache der Nation überall sicht-
bar wird. Auch Reinschs Ausführungen bestätigen durchaus, was ich weiter
oben andeutete : Die Leiter der chinesischen Bewegung, auch die radikalsten
Fortschrittler und am meisten euroj^äisierenden Reformer, denken nicht im
mindesten daran, die westliche Zivilisation für die moralisch höherwertige
zu halten; einzig und allein die technischen, die materiellen Mittel dieser
Zivilisation sind es, die sie sich aneignen wollen und von denen sie über-
zeugt sind, daß man sie sich aneignen kann, ohne die moralische Struktur
der eigenen Gesittung irgendwie ändern zu müssen. —
Seitdem ist nun zur Überraschung der Welt jener plötzliche Ausbruch
einer Revolution erfolgt, die für uns so ziemlich Avie die radikalste Umwäl-
zung in der Weltgeschichte aussieht, da eine etwas mehr als zweitausend-
jährige absolute Monarchie — in feudalistischer Form ist sie noch ein paar
Tausend Jahr älter — sich in eine Republik und zwar in eine föderative
Republik verwandelt.
Wie steht es jetzt in China?
Ich glaube, die ehrlichste Antwort darauf ist die, daß heute kein Mensch
existiert, der das klar weiß. Augenblicklich erscheint China vollkommen
wie ein Chaos, von dem niemand auf der Welt mit Sicherheit sagen kann,
ob es eine neue Ordnung gebären wird, oder ob es den endgültigen Unter-
gang auch dieses ältesten aller bestehenden Reiche bedeutet, wäe ihn die
Zeitgenossen seiner Jugend, die Reiche der Pharaonen und der persischen
Großkönige, des gi-oßen Alexander und der römischen Imperatoren, wie ihn
soviele spätere Reiche neben ihm gefunden haben und wie ihn das Reich
der Türken demnächst zu finden scheint. Eins ist gewiß: ein tiefes
Wegen er. Chinas Erwachen. 213
Entsetzen geht durch die ganze chinesische Welt; ein Entsetzen ganz der
gleichen Art, wie es der gi'eise Tschangtschitung so tragisch empfand; das
Entsetzen darüber, daß die Ablehnung der Europäer tatsächlich unmöglich
ist, daß China notgedrungen die tief verhaßten fi-emden Barbaren nach-
ahmen muß in Dingen, gegen die das innerste Wesen des Chinsen sich
sträubt, wenn es seine Existenz retten will; ja daß es vielleicht schon zu
spät dazu ist. Schon lange waren das Gedanken einzelner, jetzt aber erst
hat diese Gewißheit durch die neugeschaffene Schule und Presse sich un-
gezählten Mllionen mitgeteilt und das ganze Volk zu einem ..Erwachen"
gebracht, das nicht mehr langsam vor sich geht und mystisch-feierlich aus-
sieht, wie der Ausdruck jenes alten Felsenhauptes von Sz'tschwan, sondern
jäh und angstvoll. Und das Ergebnis ist Schrecken und Verwirrung überall.
Die Lage Chinas ist zurzeit zweifellos fvu-chtbar. Das Schlimmste ist,
daß offenbar im ganzen Volk in dieser Stunde der höchsten Not der Führer
fehlt, daß keine überragende Intelligenz, kein beherrschender Wille, kein
fortreißender Charakter vorhanden ist, der die ungeheuren, willig zum Guten
drängenden Massenkräfte zusammenfassen und in flammender Begeisterung
um seine Person scharen könnte. Yuanschikai ist dieser Mann nicht; er ist
zu tief verstrickt gewesen in die Intriguen des alten Regimes, das Volk er-
kennt in ihm keinen nationalen Helden. Es scheint, als ob seine Autorität
selbst in seiner nahen Umgebung zweifelhaft ist. Sunjatsen, dieser durch
ausländische Erziehung dem innersten Fühlen der chinesischen Massen, wie
es scheint, stark entfremdete Idealist (dafür möchte ich ihn halten), wandelt
Wege, auf denen ihm die Volksmenge nicht folgen kann. Will er doch in
China jetzt sogar, nachdem er die „Eepublik". der Form nach wenigstens,
en-eicht hat, auch noch das Zukunftsideal der Sozialisten verwirklichen ! Fn-
versöhnbar durcheinander zu wirken scheinen heut die entfesselten partikula-
ristischen und demokratischen Tendenzen der einzelnen Provinzen, Clans, ge-
heimen Gesellschaften, kaufmännischen und Nobilitätsverhände, und den bitter
notwendigen Zusammenschluß der Kräfte und die Herausbildung einer wirk-
samen Zentralregierung zu hindern. Es ist kein Geld da und keine Aussicht,
solches auf eine Ai"t zu bekommen, die nicht noch Schlimmeres nach sich zieht.
Dazu Nachbarn, wie Japan und Rußland, deren Haltung immer besorgnis-
erregender wird. Und im Untergrund von alledem, als Unheimlichstes, die
schweigenden Millionenmassen des niedern Chinesenvolks, die mit unendlicher
Geduld Trübsal und Bedrückung, Mißregiening und Elend tragen, bis sie
plötzlich einmal in einem jener Feuerbrände von rasender, vernichtender Wut
emporflammen, die an elementarer Zerstörungskraft alles hinter sich lassen,
was wir in unserer Erdhälfte kennen.
Es scheint mir gewiß, daß China erst am Anfang einer Periode schwerster
Prüfungen steht, ehe es zu einer Nenschöpfimg seines Staatswesens und Volks-
tums gelangen kann. Ich halte es sehr wohl für möglich, daß es zeit-
weilig in Nord und Süd zerfällt — es ist schon wiederholt so zerfallen im
Laufe seiner Geschichte — ; ich halte es sogar für möglich, daß es zeitweilig,
mindestens teilweise, unter fi-emde Herrschaft gerät, obwohl ich den Staat
nicht beneidenswert erachte, der den Versuch zu einer Beherrschung größerer
Bereiche des eigentlichen Chinas macht. Aber ebenso glaube ich, daß die
Chinesen sich zuletzt doch als Volk, als Kulturgemeinschaft, als einheit-
liches Staatswesen wieder finden und sich bewehren werden. Zu groß ist
ihre im Lauf von Jahrtausenden gewordene Eigenart gegenüber andern
Völkern, zu gewaltig die bindende Kraft ihrer Sprache, Sitte, Literatur,
214 Wegener, Chinas Erwachen.
Philosophie, ihrer ganzen gemeinsamen Geistesrichtung, die ihnen ja bisher
eine wie alle Völker, mit denen sie in näherer Berührung kamen, beispiellos
assimilierende Kraft gegeben, zu gesund, physisch und moralisch, die Natur
dieser überwiegend aus Bauern bestehenden Millionen. Die Chinesen sind
ein altes, aber gar kein „gealtertes" Volk. Vielleicht hat gerade ihr langer
kultureller Stillstand ihre Nervenruhe gestärkt wie ein Schlaf.
Und in dieser Hinsicht ist nun jene unerschütterte Überzeugung von
der höheren Trefflichkeit der eigenen Gesittung eine gute Anwartschaft auf
einstige Rettung. Gewiß läßt die Söhne der Mitte der Hochmut, mit dem
sie zurzeit glauben, die materiellen Vorsprünge unserer Zivilisation seien nur
äußerliche Begleiterscheinungen, ohne die inneren Tüchtigkeiten zu erkennen,
aus denen bei uns diese Errungenschaften langsam hervorgereift sind, heute
große Torheiten begehn. Andererseits ist es aber das einzige Heil eines
Volks, den Kern seines Wesens nicht aufzugeben, sondern sich zu bemühen,
aus ihm heraus sich zu erneuern; nicht sich wegzuwerfen an das Fremde,
sondern sich selbst darin zu bewahren. Dieses starke Streben der Chinesen
wird im Verein mit den in ihm ruhenden gewaltigen Kräften der Verjüngung
meiner festen Überzeugung nach ihnen ihre Zukunft sichern.
Und damit soll unsere Politik rechnen!
III.
Der Panslavismiis
Von Dr. Zdenök Tobolka
I. Die Entwicklung des panslavistischen Gedankens
1. Der Panslavismus vor der großen französischen Revolution
Obwohl der Ausdruck: „slavische Wechselseitigkeit" oder „Panslavismus"
erst aus dem 19. Jahrhundert stammt, reichen die Anfänge der panslavistischen
Idee trotzdem weit in die ältesten Zeiten des Mittelalters zurück. Bei den
alten böhmischen, polnischen, wendischen und südslavischen Schriftstellern^)
findet man sehr häufig Spuren eines Bewußtseins dessen, daß die slavischen
Völker eines gemeinsamen Ursprunges, daß sie sehr verbreitet und die
slavischen Sprachen untereinander verwandt sind. Dieses Bewußtsein, das
man schon im 10. Jahrhundert') nachweisen kann, vertiefte sich bei den
späteren slavischen Schriftsteilem infolge der humanistischen Bewegung.
Bei den Schriftstellern des klassischen Altertums, besonders bei den latei-
nischen, findet man sehr häufig Nachrichten von den Slaven. Und diese
Nachrichten bestärkten nun im Zeitalter des Humanismus jene innere Über-
zeugung der slavischen Schriftsteller von dem gemeinschaftlichen Ursprünge,
von der Verwandtschaft und gi-oßen Verbreitung der slavischen Völker. Nur
auf die Bulgaren, die im Mittelalter noch nicht in die Sphäre der kultui'ellen
Völker gehörten, bezog sich dieses slavische Bewußtsein nicht.
Ein volles Jahrhundert vor der großen französischen Revolution gab
es bereits einen slavischen Schriftsteller, der sehr viel über das Problem der
slavischen Wechselseitigkeit nachdachte und der das erste Programm des
Panslavismus aufgestellt hat. Es war der Kroate Georg Krizaniö^), der
im 17. Jahrhundert lebte und katholischer Priester war. Er hatte große
Reisen durch die slavischen Länder gemacht und kannte die slavische Welt
nicht nur aus den Büchern, sondern auch aus eigener Anschauung. Er war
recht unbefriedigt von dem Zustande, in dem er die slavischen Völker an-
getroffen hatte. Rußland allein war im 17. Jahrhundert selbständig, alle
übrigen slavischen Völker befanden sich unter der Herrschaft von Fremden.
Kriäaniö bezeichnete Rußland „als einziges, unabhängiges Organisationselement
^) J. Perwolf: Slavjane, ich vzajemnyja otno§enija i svjazi (Die Slaven,
ihre wechselseitigen Beziehungen und Bündnisse). Varsava (Warschau) 1886 u. w.
^) In der Legende Christians, die aus dem 10. Jahrhundert stammt.
Siehe J. Pekaf: Die Wenzels- und Ludmilalegenden und die Echtheit Chri-
stians. Prag 1906.
*) Siehe Perwolfs Werk 11, 309. — J. Vui6: Kri^aniöeva politika
(Die Politik Krizaniö's).
216 Tobolka, Der Panslavismus.
der slavischen Welt". — Er wünschte, daß der russische Kaiser für die
Wohlfahrt der slavischen Völker Sorge trage, er verlangte, daß die slavischen
Töchter keine Fremden heirateten und erstrebte die kirchliehe Einigung der
orthodoxen und katholischen Slaven. Er beschäftigte sich viel mit slavischer
Philologie, erdachte sogar eine allslavische Sprache, deren sich alle slavischen
Schriftsteller bedienen sollten, und schlug die Ausarbeitung einer allslavischen
Grammatik, eines allslavischen Wörterbuches und einer allslavischen Geschichte
vor. Allein seine Vorschläge blieben die Stimme eines Eufenden in der
Wüste. Seine Zeit hatte für Krizaniö's Ideen noch kein Verständnis.
2^). Einfluß der Ideen der französischen Revolution auf den
Panslavismus
Die Gedanken der gi'oßen französischen Eevolution hatten zur Folge,
daß die Organisation der Völker nach der kirchlichen und Landeszugehörigkeit
aufhörte und sie ebneten den Weg zur Organisation nach der Volkszuge-
hörigkeit. Die slavischen Völker, unter denen die Ideen der französischen
Eevolution direkt oder indirekt durch die deutschen Schriftsteller bekannt
wurden, begannen zu fühlen, daß sie Mitglieder einer Nationalität seien.
Damit hebt unter den Slaven die nationale Bewegung an und gewinnt an
Boden. Von allen Ideen der französischen Eevolution übten diejenigen
Eousseaus den größten Einfluß auf die nationale Wiedergeburt der Slaven
aus. Unter dem Einflüsse Eousseaus begannen deutsche Dichter und Gelehrte
(Herder, Schlözer, Michaelis u. a.) von den Slaven sympathisch zu schreiben;
sie glaubten, daß die slavische Welt ein bedeutsames Beispiel für die
Eousseauschen Theorien darstelle. Auch beschäftigten sich diese deutschen
Forscher mit der slavischen Vergangenheit.
A. L. Schlözer stärkte, indem er die alte slavische Geschichte studierte,
das nationale Bewußtsein der Slaven. Die Deutschen brauchten für ihre
Studien die Kenntnis der slavischen Sprachen imd sie forderten ihre Schüler
zur Erlernung dieser Sprachen auf. Dies tat z. B. der Göttinger Professor
der orientalischen Sprachen J. D. Michaelis, der damals der Führer einer
neuen, kritischen Eichtung des Bibelstudiums in Deutschland war*).
Der erste große böhmische Gelehrte der Neuzeit, der Begründer der
Slavistik, zugleich der eigentliche Erwecker des tschechisch-böhmischen Volks-
bewußtseins, der Ordenspriester Jos. Dobrovsky (1753 — 1829), gehörte zu
den Panslavisten jener Zeit. Er studierte nach den neuen wissenschaftlichen
Methoden die slavische Grammatik, die alte slavische Geschichte und kam
auf wissenschaftlichem Wege zu derselben Überzeugung, zu welcher die alten
slavischen Schriftsteller gelangt waren, nämlich, daß die slavischen Völker
eines gemeinschaftlichen Ursprungs und die slavischen Sprachen verwandt
seien. Wie die alten slavischen Schriftsteller, so geriet auch Dobrovsky durch
die Erkenntnis der großen Verbreitung der Slaven in Begeisterung. Indem
Dobrovsky die sprachliche Vereinigung der Deutschen als Muster ansah,
wünschte er, daß auch die Slaven in sprachlicher Hinsicht vereinigt würden.
') Siehe mein Buch: Slovansky sjezd v Praze roku 1848 (Der slavische
Kongreß in Prag im Jahre 1848). Prag 1901. S. 3 u. w.
") J. Jakubec: K poöätküm studii slavistickych v stoleti 18 (Zu den
Anfängen der slavistischen Studien im 18. Jahrhundert). — Listy filologicke
(Philologische Blätter) XXVIII, 459 u. w.
Tobolka, Der Panslavismus. 217
Er meinte, daß die slavisulien Völkerschaften die literarische Herrschaft einer
slavischen Sprache anerkennen und sich bloß einer einzigen Orthographie
bedienen sollten und ging in seinen Schlußfolgerungen so weit, daß er die
Vereinigung aller Slaven in einem Staate wünschte. Er glaubte auch fest
daran, daß seine Wünsche einmal in Erfüllung gehen würden.
Der Vorläufer Dobrovskys in Böhmen, aber trotzdem in Hinblick auf
seine wissenschaftliche Forschertätigkeit, dessen Schüler, Mitglied des Paulaner
Ordens, F. V. Durych (1735 — 1802) beschäftigte sich mit dem kulturellen
Leben der alten Slaven und im Gegensatz zu Dobrovsky, suchte er zu be-
weisen, daß die alten Slaven auch eine selbständige Kultur besessen hätten,
obwohl fi-erade Einflüsse daran bemerkbar wären.
Der Kenner der slavistischen Arbeiten Dobrovskys im slavischen Süden '),
der Slovene und katholischer Priester Georg Japelj (1744 — 1807) wollte
die Mutter der slavischen Sprachen finden. Er gewann die Überzeugung,
daß diese slavische Sluttersprache nicht mehr existiere und daß alle slavischen
Sprachen untereinander in geschwisterlichem Verhältnisse ständen. Er sprach
auch den Gedanken aus, daß sie sich als Schwestern untereinander lieben
sollten. Japelj erstrebte die Annäherung der Slaven auf kulturellem Gebiete
und seine Gedanken hierüber formulierte er in durchaus konkreter Weise.
Er schlug die Gründung eines slavischen Gelehrtenvereins vor, der nicht nur
schriftliche, sondern auch persönliche Beziehungen unter den Slaven pflegen
soUte. Dieser slavische Gelehrtenverein sollte seine Tätigkeit vor allem
fulgeiden Aufgaben widmen: 1. Die Ausdrücke, die allen slavischen Sprachen
gemeinschaftlich sind, herauszusuchen und zu sammeln. 2. Eine vergleichende
Grammatik der slavischen Sprachen auszuarbeiten. 3. Eine allen Slaven
gemeinschaftliche Schrift einzuführen. 4. Kleine und praktische vergleichende
Grammatiken für jede slavische Mundart zusammenzustellen. Japelj war
überzeugt, daß nach der Durchführung aller seiner Vorschläge nicht nur
slavische Wissenschaft und Kunst, sondern auch der slavische Handel sehr
viel gewinnen könnten. Japelj, der unter dem Einflüsse der Miehaelischen
Richtung an der slovenischen Übersetzung der Bibel arbeitete, hatte einen
Mitarbeiter. Es war dies der katholische Priester B. Kumerde j (1738 — 1805).
Dieser war gleichfalls ein Anhänger der slavischen Wechselseitigkeit. Er er-
dachte, wie einige bereits erwähnte vor ihm, eine allslavische Sprache und
verfaßte auch eine Grammatik zu deren Erlernung.
Der zweite unter den Erweckern des tschechisch-böhmischen National-
bewußtseins, Jos. Jungmann (1773 — 1847), der eigentliche Begründer der
neueren tschechischen Schriftsprache, war ein Panslavist. Er glaubte an eine
große Zukunft der Slaven. Er sah, wie zu seiner Zeit Napoleon von Eußland
besiegt wurde, er war darüber glücklich und erwartete noch größere Dinge
von Rußland. Nach dem Vorbilde der Deutschen wünschte er die sprach-
liche Einigung der Slaven und zwar durch allgemeine Annahme des
Russischen. Jungmann war nicht dagegen, daß die Slaven auch unter der
Führung Rußlands einen einzigen Staat bildeten. Es machte ihm keine Be-
denken, daß Rußland absolutistischer Staat war, denn er war Anhänger der
Idee des aufgeklärten Absolutismus. Jungmann stand in Böhmen mit seinen
Gedanken nicht allein; unter seiner geistigen Führung verbreiteten sich viel-
mehr seine Ideen unter der ganzen Intelligenz.
*) F. Ilesiß: Vzäjemnost öeskoslovinskä v minulosti (Die böhmisch-
slovenische Wechselseitigkeit in der Vergangenheit). Slovansky Pfehled
(Slavische Revue) 11, 170 u. w. IV, 453 u. w.
218 Tobolka, Der Panslavismus.
Der Slovene Bartolomaeus Kopitar (1780—1844), einer von den
Wiener Slavisten jener Zeit, riet als überzeugter Panslavist, daß sich die
slavischen Nationen, wenn sie etwas Größeres leisten wollten, vereinigen
sollten. Kopitar war ein Forscher und darum beschränkten sich seine Vor-
schläge auf das kulturelle Gebiet. Er redigierte ein paar Monate die „Wiener
Jahrbücher für Literatur" und wollte diese Zeitschrift zu einem Zentralorgan
aller westslavischen Gelehrten ausgestalten. Er verlangte die Gründung einer
slavischen Zentral- Akademie in Wien; es war dies zur Zeit, als in Österreich
noch keine deutsche Akademie der Wissenschaft bestand. Er legte Dobrovsky
einen Plan für die Herausgabe einer slavischen Enzyklopädie vor und meinte,
daß die Slaven nach dem Muster der alten Griechen in verschiedenen Mund-
arten schreiben könnten, aber stets mit den gleichen Schriftzeichen und mit
Anwendung derselben Rechtschreibung.
3^). Der Gedanke der slavischen Wechselseitigkeit unter dem
Einfluß der deutschen Einheitsbestrebungen
Die bisher geschilderte Entwicklung des allslavischen Gedankens erfuhr
dadurch weitere Förderung, daß die Slaven bei den Deutschen ein Beispiel
des Kampfes einer Nation um ihre Emanzipation mit ansahen und dabei auch
die Wichtigkeit dieses bis dahin im allgemeinen unbekannten Kampfzieles
erkannten.
Diese Erkenntnis wurde den Slaven durch die Tschechen und be-
sonders durch zwei ihrer Schriftsteller, den wissenschaftlichen Forscher
Paul J. äafafik (1795 — 1861) und durch den Dichter und Publizisten Joh.
Kollär (1793 — 1852) vermittelt. Die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts sind
in Deutschland durch den heftigen Kampf gegen Frankreich charakterisiert.
Die Deutschen als bewußte Nationalisten standen gegen alles, was französisch
hieß und zwar in der Literatur, in der Schule, in Vereinen und auf der
Rednertribüne. Sie haßten die Franzosen, und dieser Haß drang durch die
Zeitungen in das Volk. Die Deutschen erhofften ihr Heil in der Einigung
aller Deutschen. Als Mittelpunkt dieser Bewegung galt damals die Universität
Jena. An dieser studierten Safafik und Kollär, der erste im Jahre 1815,
der zweite von 1817 — 1819. Schon bevor die beiden Männer nach Jena
kamen, gehörten sie der nationalistischen Strömung an, die Jungmann in
Böhmen repräsentierte. In Jena fanden sie Gelegenheit, ihre Anschauungen
zu vertiefen und zu ergänzen. Beide Männer kamen zu denselben Gedanken
über die slavische Frage und beide wurden Herolde dieser Gedanken unter
den Slaven. Aber beide hatten nicht ein und denselben Einfluß. Kollär
gewann größeren Einfluß, weil er eine dichterische, heißblütige Natur war,
während Safafik mehr als ruhiger Gelehrter zu bezeichnen ist.
Safafik und Kollär verkündeten ihre Ideen in der slavischen Frage zu
derselben Zeit, obwohl sie nicht gleichzeitig in Jena gewesen waren. Beide
staunten über die Verbreitung der Slaven, glaubten an das russische Slaven-
tum, anerkannten die Bestrebungen des russischen Kaisers Alexander und
hofften, daß durch die russischen Waffen ein großes slavisches Reich mit
Rußland an der Spitze gegründet werde. Aber als sie die Undurchführbar-
keit ihrer politischen Ideale erkannt hatten, beschränkten sie sich in der
slavischen Frage auf das kulturelle Gebiet. Kollär legte im Jahre 1837 seine
') Siehe mein zit. Buch S. 13 u. w.
Tobolka, Der Panslavismus. 219
Gedanken in einer deutsch ofeschriebenen Studie nieder, die den Titel trug:
„Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen
und Mundarten der slavischen Nation." Öafafik drückte sofort nach dem Er-
scheinen dieser Schrift seine Zustimmung aus, wobei er auch deren Übersetzung
in das Russische anriet.
Was für Gedanken enthält das Kollärsche Buch? Nichts, was vorher
völlig unbekannt war. Kollär stellte nur das alles in ein System zusammen,
was wir sporadisch in den Schriften und Korrespondenzen der damaligen
slavischen Erwecker finden könnten. Kollär erdachte bloß das Wort: „slo-
vanskä vzäjemnost", „slavische Wechselseitigkeit", und stellte diesen Begriff
auf eine ästhetische und humanistische Grundlage. Er wünschte, daß die
Slaven groß würden, und meinte, daß diese Größe durch die Vereinigung
aller ihrer Völkerschaften in eine Nation erlangt werden könnte. Er be-
trachtete alle slavischen Sprachen als Mundarten einer einzigen. In dieser
sprachlichen Vereinigung sah er keinen Landesverrat. Er riet auch, daß die
Slaven ihre Streitigkeiten aufgeben sollten. So allgemein motivierte Kollär
die slavische Wechselseitigkeit.
Nach Kollär sollten die Slaven in wechselseitigen kulturellen Beziehungen
leben. Die Schriften einer Nation sollten auch von den übrigen angeschafft
und gelesen werden, und die Ausdrücke, die dieser oder jener Sprache fehlten,
sollten aus der anderen slavischen Sprache genommen werden. Die literarische
Wechselseitigkeit der Slaven, wie sie sich Kollär vorstellte, sollte die Grenzen
der Staaten oder Kirchen nicht tangieren, es lag ihr auch kein Streben nach
einem Zusammenfließen aller slavischen Sprachen in eine Haupt- oder Schrift-
sprache zugrunde. Der, welcher als überzeugter Slave gelten wolle, müsse
mindestens vier slavische Sprachen kennen, russisch, illyrisch, polnisch und
tschechoslovakisch, iind zwar wenigstens in grammatisch-lexikalischer Hinsicht.
Kollär schlug aber auch die Mittel vor, die zur Durchführung seiner
Gedanken dienen sollten: In allen slavischen Hauptstädten sollten slavische
Buchhandlungen gegründet werden; die slavischen Schriftsteller sollten unter-
einander ihre Bücher austauschen; an den slavischen Hochschulen sollten
Lehrstühle der slavischen Sprachen errichtet werden. Es sollte eine Zeitung
für alle Slaven und in allen slavischen Sprachen erscheinen ; es sollten öffent-
liche und Privatbibliotheken der slavistischen Literatur gegründet werden. Kollär
befürwortete die Herausgabe slavischer vergleichender Grammatiken, von
Wörterbüchern der slavischen Sprachen, die Sammlung der slavischen Volks-
lieder, Sprichwörter u. dgl. Er wollte alle Fremdwörter aus den slavischen
Sprachen beseitigen und wie andere slavische Schriftsteller vor ihm, wollte
auch er eine einheitliche Rechtschreibung für alle slavischen Sprachen ein-
führen. Dies sollten die ersten Schritte zum Ideal einer allslavischen Schrift-
sprache sein.
Kollärs Schrift war mit großer Sympathie bei allen Slaven aufgenommen
■worden. Der kroatische Journalist L. Gaj (1809 — 1872) wurde der Apostel
der slavischen Wechselseitigkeit im slavischen Süden, der serbische Jour-
nalist T. Pavloviß (1804 — 1854) wirkte im Sinne der Gedanken Kollärs unter
den Serben. Das Buch Kollärs erschien deutsch im Jahre 1844 zum zweiten
Mal und ist zweimal in das Russische, einmal in das Serbische und Tschechische
übersetzt worden. Die südslavischen Schriftsteller nannten Kollärs Schrift
das slavische Evangelium. Kollär beeinflußte die slavische Welt nicht nur
durch diese Schrift, sondern auch als Dichter, und zwar als Verfasser der
Dichtung „Slävy dcera" (Slävas Tochter), in der er die gi-oße Vergangenheit
ebenso wie die herrliche Zukunft der vereinigten Slaven schilderte. —
220 Tobolka, Der Panslavismus.
In der Slovakei war der katholische Pfarrer in Madunic und einer von
den berühmtesten slovakischen Dichtern J. Holy (1785 — 1849) der Führer
der KoUärianer, deren wii* eine lange Reihe nennen können. Die Vorläufer
der sogenannten slovakischen literarischen Stürschen Schule, die nach dem
Begründer, Publizisten L. Stur (1815 — 1856) ihren Namen trägt, standen
unter dem Einflüsse der slavischen Wechselseitigkeit. Die Schriftsteller S.
Chalüpka (1812—1883), K. Stur (1811—1851), S. Godra (1808—1873),
gehörten zu den Panslavisten und nach ihnen L. Stür mit allen seinen
Schülern. Unter den Wenden verbreiteten Kollärs Gedanken die Studenten
dieses Stammes, welche das Prager wendische Seminar besucht hatten. Vom
Jahre 1839 an agitierte KoUär selbst unter den Wenden für seine Anschau-
ungen. Er pflegte seine Schriften nach der Lausitz zu senden und gewann
für seine Meinung in der slavischen Frage zwei Führer der wendischen
Schriftsteller, die Journalisten J. E. Smolef (1816—1884) und J. P. Jordan
(1818 — 1891). Der slavische Süden wurde sehr bald in seiner Ganzheit zum
Apostel der Kollärschen Gedanken. Vom Jahre 1819 an unterhielt Kollär in
Budajjest lebhafte Beziehungen mit den Südslaven. Er selbst kam mit den
südslavischen Studenten zusammen, lud sie zu sich ein, und wenn sie Buda-
pest verließen, pflegte er mit ihnen in regem Briefwechsel zu bleiben, besuchte
sie in ihrer Heimat und vergaß nicht, ihnen seine Schriften zu senden.
Der obengenannte Eroate Gaj sprach sich in seiner im Jahre 1830
erschienenen Schrift „Kratka osnova horvatskoslovenskoga pravopisanja"
(Kurze Einführung in die kroatisch-slovenische Rechtschreibung) für die
Kollärschen Gedanken aus, und unter dem Einflüsse dieser fand er den Be-
griff: Illyrismus. Der Illyrismus entsprang denselben Gründen wie die
Kollärsche Wechselseitigkeit, nämlich der Erkenntnis, daß die slavischen
Nationen getrennt sehr schwach seien, aber daß sie etwas Großes leisten
könnten, wenn sie vereinigt würden. Gaj wünschte zuerst auf die Vereinigung
aller Siidslaven hinzuarbeiten, und zwar jener Südslaven, die das damalige
Llyrien bewohnten. Sie sollten als ihre Sprache das Kroatische annehmen,
das mit der serbischen Schriftsprache, wie sie in der neuesten Literatur zur
Anwendung kam, verschmolzen werden sollte.
Kollär erweckte die Südslaven nicht nur durch seine Wechselseitigkeit,
sondern auch, wie schon angedeutet wurde, durch sein dichterisches Wirken.
Wie die südslavischen Forscher unter dem Einflüsse der panslavistischen
Gedanken arbeiteten, so schufen damals die südslavischen Dichter, beeinflußt
und geleitet durch Kollärs Werk.
In Galizien war es Lemberg, wo die Kollärsche slavische Wechsel-
seitigkeit Annahme gefunden hatte. Zwei Tschechen, der tschechische Archäologe
K.V.Zap(1812— 1871) und der tschechische Dichter J.P.Koubek (1805— 1854),
die eine längere Zeit in Lemberg als Staatsbeamte weilten, warben für die
Kollärschen Gedanken. Die kulturelle Anstalt der Ossoliüski wurde der
Mittelpunkt aller derer, die den Kollärschen Ideen anhingen. Es waren dies
nicht nur Polen, sondern auch Ruthenen, die damals in der Anstalt der
Ossoliüski mit den Polen in brüderlicher Liebe lebten. Auch in der ükrajine
fanden die Kollärschen Gedanken große Verbreitung. Die Intelligenz von
Charkow las mit Vergnügen die Schriften Kollärs und in einer slavistischen
Gesellschaft, zu der der Archäologe J. J. Sreznevskij (1812—80) und der
Historiker N. J. Kostonarov (1817 — 85) gehörten, wurden Diskussionen über
die slavische Wechselseitigkeit geführt. Kostonarov hatte, als er im .Jahre 1845
nach Kijew übersiedelte, ein ganzes Programm ausgearbeitet, nach welchem
Tobolka, Der Panslavismus. 221
die slavische Frage zu lösen sei. Er stimmte allen Gedanken KoUärs zu,
aber er kam noch weiter als Kollär und schloß auch ein ])raktisches Pro-
gramm in die slavische Frage ein. Er wollte aus allen slavischen Nationen
eine Föderation unter dem Protektorate des russischen Kaisers schaffen, doch
verkündigte er ausdrücklich, daß dabei die Eigenart der slavischen Nationen
nicht angetastet werden solle.
Unter dem Einflüsse dieser Gedanken entstand in Kijew ein Verein, „Die
Bruderschaft St. Cyrills und Methods", und unter dem Einflüsse dieser Ge-
danken schuf auch der ruthenische Dichter T. Sevöenko (1814 — 61).
Der Einfluß der Schriften Safafiks auf die slavische Intelligenz war
kleiner als der Einfluß jener KoUärs. Der Grund dafür lag nicht nm- in der
Verschiedenheit der Natur der beiden Schriftsteller, sondern auch in dem
Gebiete, auf dem sie tätig waren. Safafik war Verfasser streng wissenschaft-
lich gehaltener Werke, er war kein Dichter und kein Journalist. In den
Jahren 1836 — 37 veröffentlichte er das Buch „Slovanske Staro2itnosti" (Slavische
Altertümer). Dieses große Werk wurde den Slaven eine Fundgrube von
Gegengründen im Kampfe mit den Deutschen. Safafik bewies in seinem
Werke, daß die Slaven schon vor Christi Gebnrt in Europa ansässig gewesen
sind, und zwar in allen Gegenden, die von der Ostsee bis zur Adria und
dem Schwarzen Meere, von Weichsel bis zum Don reichen. Durch sein Werk
gelang es ihm, festzustellen, daß die Slaven in Europa ebenso wie die
Germanen, Gallier, Italier und Griechen seit Menschengedenken heimisch
sind. Die „Slavischen Altertümer" riefen in der slavischen Gelehrtenwelt eine
freudige Erregung hervor. Sie wurden in das Polnische und Deutsche und
teilweise auch in das Serbische und Russische übersetzt. Das slavische Be-
wußtsein ist durch dieses Werk sehr gefördert worden. Aber verbreiteter
als die „Sla\'ischen Altertümer" Safafiks war sein anderes Werk „Slovansky
närodopis (Slavische Ethnographie). Es war dies ein Buch, das die Gegen-
wart schilderte, das die Wohnsitze aller Slaven und dadurch ihre große Zahl
feststellen sollte. Safafik führte diese schwere Aufgabe avif philologischer
Grundlage durch. Im Tschechischen erschien dies Buch mehr als einmal
und wurde in das Russische und Polnische übertragen. Die Südslaven
schätzten die „Slavische Ethnographie" Safafiks ebenso hoch, wie Kollärs
Buch „Über die slavische Wechselseitigkeit".
Safafiik und Kollär hatten in ihren Arbeiten für die slavische Frage
ein Programm aufgestellt. Safafik bewies die geschichtliche Gleichberech-
tigung der Slaven mit den Germanen, Italiem, Griechen und Galliern und
zeigte, wie sehr die Slaven in der Vergangenheit, wie auch zu seiner Zeit
verbreitet waren; Kollär träumte von einer besseren Zukunft der Slaven und
machte Vorschläge, wie man im Sinne der slavischen Wechselseitigkeit auf
dem kulturellen Gebiete arbeiten sollte.
41). Die tschechische Opposition gegen Kollärs slavische
Wechselseitigkeit
Im Jahre 1846 entstand gegen die Kollärschen Gedanken eine Opposition,
deren Führer der tschechische Journalist Karl Havliöek (1821 — 1856) war.
HavHöek gehörte schon als akademischer Hörer in Prag zu den Anhängern
Kollärs. Als solcher empfand er die Pflicht, die slavischen Sprachen zu er-
^) Siehe mein Buch: Karel Havlidek. Prag 1905. S. 132 u. w.
222 Tobolka, Der Panslavismus.
lernen, die slavische Welt zu besichtigen und ihre Vergangenheit und Gegen-
wart kennen zu lernen. Er eignete sich nicht nur die Kenntnis der wichtigsten
slavischen Sprachen an, sondern unternahm auch Eeisen nach Mähren, in
die Slovakei, Galizien, machte sich in Wien mit Südslaven bekannt und lebte
über ein ganzes Jahr in Moskau, wo er auch mit einem Bulgaren Beziehungen
unterhielt.
Havliöek erkannte, daß einige Slaven die Kollärschen Gedanken sehr
obei-flächlich aufgefaßt hatten und entschloß sich deshalb dagegen zu schreiben,
aber er ging noch weiter und wollte auf publizistischem Wege dartun, was
er an den Kollärschen Ideen selbst für unrichtig hielt. Havliöek war in
Moskau unter dem Einfluß der deutschen Literatur, besonders unter dem
Lessings, Anhänger der liberalistischen Ideen geworden und haßte als solcher
den russischen Absolutismus. Aber er sah noch mehr, er sah, daß die Russen,
soweit sie sich zur slavischen Wechselseitigkeit bekannten, das Eintreten für
diese Idee als Weg zur Erreichung eines russischen Universalreiches be-
trachteten. Havliöek hatte Gelegenheit in Eußland zu erkennen, daß die
Behauptung, die Slaven lebten in brüderlicher Liebe, nicht zutreffe und daß
die volle slavische Wechselseitigkeit wegen des alten Streites zwischen Polen
und Russen auf längere Zeit unmöglich sei. Havliöek wollte die kulturellen
Beziehungen aller slavischen Völker fördern, aber in bezug auf das politische
Leben wollte er als Tscheche nur mit den österreichischen Südslaven ge-
meinsame Aktionen unternehmen. Er kam schon in Rußland zur Über-
zeugung, daß einige Voraussetzungen der Kollärschen Gedanken falsch und
daß die Slaven keine Nation, sondern eine Familie von eng verwandten
Völkern seien. Als er nach Prag heimkehrte, führte er eine in Rußland
gefaßte Absicht aus und stellte alles, was er von der slavischen Frage dachte,
in einem Aufsatze zusammen, der im Jahre 1846 unter dem Titel „Slovan
a Öech" (Der Slave und der Tscheche) 0 in den „Prazske Noviny" (Prager
Zeitung) erschien. In diesem Aufsatze brachte Havliöek ein neues Programm
in der slavischen Frage, welches bis auf unsere Tage von allen tschechischen
Parteien als einzig mögliches Programm anerkannt wird. Havliöek wollte
nicht gegen die slavische Wechselseitigkeit, sondern gegen ihre oberflächliche
Auffassung und gegen ihre Abstraktion kämpfen. Er befürwortete die
Wechselseitigkeit unter den Slaven auf dem kulturellen Gebiete, aber er be-
hauptete, daß bisher die slavische Wechselseitigkeit noch keine Tatsache,
sondern nur ein frommer Wunsch sei. Er erhob seine Stimme gegen das
russische Bestreben nach der Universalmonarchie und verlangte, daß jede
slavische Nation ihre volle Selbständigkeit fest bewahren und beb alten sollte.
Als Konsequenz dieser Erkenntnisse sprach er folgenden Gedanken aus:
„Die österreichische Monarchie ist die beste Garantie für die Erhaltung
unserer (d. h. der tschechischen) und der illyrischen Nationalität, je höher
die Macht des österreichischen Kaiserreiches emporwächst, desto kräftiger
werden auch unsere Nationen dastehen." Die bessere Zukunft der Slaven
sah er eben im Aufblühen der einzelnen slavischen Nationen.
Das, was Havliöek im Jahre 1846 ausgesprochen hatte, verkündigte der
tschechische Historiker Franz Palacky (1798—1876) im Jahre 1848. Er*)
tat es nicht nur aus den Gründen, die Havliöek dazu bewogen hatten, sondern
^) Siehe in meiner Ausgabe: Karla Havliöka Borovskeho Politicke Spisy
(Karl Havliöek Borovskys Politische Schriften). Prag 1900, I, 28 u. w.
*) Siehe Fr. Palacky: Gedenkblätter. Prag 1874. S. 148 u. w.
Tobolka, Der Panslavismus. 223
auch aus Furcht vor der Vereinigung der Deutschen, die sich im Jahre 1848
zu Frankfurt a. M. zu verwirklichen begann. Palacky als überzeugtem Natio-
nalisten gab eine solche Vereinigung der Deutschen Anlaß zu Befürchtungen
und er sah alles Heil für die nichtdeutschen Nationalitäten in Österreich, in
einem starken Österreich.
Im Jahre 1871 kam es zum Deutschen Reich. Fi-ankfurt a. M. hörte
auf, für die Slaven in Österreich eine „Gefahr ohne Grenzen" nach Palacky
zu sein, seine Stelle übernahm Berlin. Die Slaven in Österreich standen seit
diesem Jahre auf der Seite des sogenannten Austroslavismus, mehr aus den
nationalistischen gegendeutschen Gründen, als aus Rücksicht auf Rußland.
Heutzutage wollen die Tschechen die slavische Wechselseitigkeit auch auf das
ökonomische Gebiet ausdehnen. Sie wollen ihre Beziehungen nicht mehr
auf die kulturellen Fragen beechränken, sondern sie wollen auch auf dem
ökonomischen Felde in brüderlichen Beziehungen leben. Dieser Gedanke,
den der sogenannte Neoslavismus mit dem böhmischen Reichsratsabgeordneten
Dr. K. Kramäf (1860) an der Spitze durchzuführen bestrebt ist, findet
freudige Aufnahme, besonders in den Balkanländern.
5. Die slavische Wechselseitigkeit und die Bulgaren ^)
Bei den Bulgaren kann man am Ende des 18. und am Anfange des
19. Jahrhundertes nicht von einem nationalen Bewußtsein und infolgedessen
auch nicht von einer slavischen Wechselseitigkeit sprechen. Die Bulgaren
waren selbst den berühmten westslavischen Forschern, z. B. Dobrovsky, Ko-
pitar, Vuk Karadzic, Kollär, Havlißek u. a. als selbständige Nation unbekannt.
Sie lebten mit den übrigen Slaven in keinerlei Beziehungen. Erst unter dem
Einflüsse der Russen in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann
auch die slavische Wechselseitigkeit bei ihnen eine gewisse Rolle zu spielen.
Von den Tschechen arbeitete der Wiener Universitätsprofessor Kon st. Jireöek
(1854), der auch in den Jahren 1881 — 82 das Amt des bulgarischen Unterrichts-
ministers bekleidete, in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter den
Bulgaren sehr viel für den Gedanken der slavischen Wechselseitigkeit. Heut-
zutage fördert vor allen der bulgarische Publizist und Professor der slavi-
schen Rechtsgeschichte an der Universität in Sofia Stefan S. Boböev (1853)
den Gedanken der slavischen Wechselseitigkeit im Sinne des Neoslavismus.
6. Die slavische Wechselseitigkeit und die Polen -)
Die Polen waren nie große Apostel des slavischen Gedankens. Als am
Ende des 18. Jahrhunderts ihr selbständiger Staat zugrunde ging, erst damals
wollten sie in brüderlicher Liebe mit Rußland leben, weil sie von Rußland
erwarteten, daß es ihnen die politische Selbständigkeit wiedergeben werile.
Aber sobald der russische Kaiser Nikolaus I. den Thron bestieg, verleugneten
sie ihre slavischen Ideale, weil sie zu Rußland in nationaler, religiöser und
politischer Hinsicht kein Vertrauen mehr hatten.
In den Jahren 1830 — 31 wollten sie sich ihre Selbständigkeit durch
eine Revolution erzwingen, aber ihr Unternehmen schlug fehl. Die Führer
0 Siehe mein Buch: Slovansky sjezd v Praze roku 1848 (Der slavische
Kongreß in Prag im Jahre 1848). Prag 1901. 29 u. w.
*) J. Perwolf: Slovanske hnuti mezi Poläky r. 1800—1830. (Die
slavische Bewegung unter den Polen 1800 — 1830). Osvöta (Aufklärung). 1879.
89 u. w.
224 Tobolka. Der Panslavismus.
der Polen mußten ihre Heimat verlassen, und als sie als Emigranten in
fremden Ländern, vor allem in Paris lebten, haßten sie Rußland. Sie unter-
stützten alle Schritte, die gegen Rußland zielten; ihre Hoffnungen, daß sie
sich dadurch ihrer politischen Selbständigkeit nähern könnten, erfüllten sich
nicht. Seit der Revolution im Jahre 1863 hörte die ^ilehrzahl der Polen auf,
an die Möglichkeit des Wiedererstehens Polens zu glauben.
Nach der Durchführung der Vereinigung der Deutschen im Jahre 1871
begannen auch die Polen die Expansion der Deutschen zu fühlen. Unter
dem Einflüsse dieser Tatsache verkündigten die fortschrittlichen Polen den
Kampf gegen den deutschen Drang nach Osten. In diesem Kampfe sahen
sie die übrigen Slaven, die auch die deutsche Gefahr fürchteten, als ihre Ver-
bündeten an. Sie wollten seit dieser Zeit ebenfalls Apostel des slavischen
Gedankens werden. Diese Überzeugung verbreitete sich unter den Polen
besonders durch die Tätigkeit der Publizisten: des Krakauer Universitäts-
professors M. Zdiechowski, des Warschauer Redakteurs und gewesenen
Vorsitzenden des polnischen Klubs in der russischen Duma, Rom. Dmowsk i '),
des Krakauer Universitätsbibliothekars und Redakteurs der Monatschrift
„Swiat slowianski" (Slavische Welt), Felix Koneczny, u. a. Die Polen
stellen sich selbstverständlich die slavische Wechselseitigkeit so vor, daß dabei
die Freiheit und Nationalität der einzelnen slavischen Nationen erhalten bleibe.
72). Der Gedanke des Panslavismus und die Russen
Unter den Russen begann sich der Gedanke der slavischen Wechsel-
seitigkeit zu verbreiten, sobald sie in engere Beziehungen mit dem europäi-
schen Slaventum traten. Die Vorstellungen, die die Russen vor dem Ende
des 18. Jahrhunderts von den Slaven hatten, verschwanden, als die Russen
große Reisen durch slavische Länder unternahmen. So zum Beispiel war der
russische Offizier VI. Bogdanoviö Bronevskij (1784 — 1835) in Dalmatien,
Montenegro, und sah Triest, Kärnten, Krain, Kroatien, Ungarn, Galizien, Polen
und Rußland. Bronevskij geriet in Begeisterung darüber, daß alle Gegenden
zwischen Triest und Petersburg von Slaven bewohnt waren und daß in jenen
Gegenden die slavische Sprache herrschte. Bronevskij war ein überzeugter
Panslavist. Er interessierte sich besonders für die Beziehungen Dalmatiens
und Montenegros zu Rußland und schlug dem russischen Kaiser Alexander I.
vor, die Südslaven nicht zu vernachlässigen, sondern ihre Liebe zu Rußland
auszunützen. Er meinte, daß Rußland verpflichtet sei, den Serben zur Freiheit
und zu einer besseren Zukunft zu verhelfen. Bronevskij wünschte und glaubte
an eine Föderation der Slaven, mit Rußland an der Spitze. Im Jahre 1804
lenkte der russische Schriftsteller, der Begründer der Universität in Charkow,
V. N. Karazin (1773—1842) am russischen Kaiserhofe selbst das Augenmerk
der Regierung auf die unterdrückten Südslaven, und als die Serben von dem
russischen Kaiser Hilfe verlangten, trat er sehr dafür ein.
0 Siehe vor allem Dmowskis Buch: „Niemcy, Rosya i kwestja polska"
(Die Deutschen, Rußland und die polnische Frage). Lemberg 1908.
*) Pypin, A.: Panslavzm o proSlom i nastoja^öem. Der Panslavismus
in Vergangenheit und Gegenwart Veätnik Jevropy (Europäische Rundschau).
1878. V, 743 u. w. — Derselbe: Literaturnyj panslavizm (Der literarische
Panslavismus), 1879 III, 591 u. w. — J. Perwolf: Slovanskä myäleuka ua Rusi
(Der slavische Gedanke in Rußland). Osvßta (Aufklärung). 1879. S. 527 u. w.
Tobolka, Der Panslavismus. 225
Karazin, der Feindschaft zwischen Rußland und Österreich herbei-
sehnte, träumte von einem neuen Kaiserreiche, das aus den Ländern zwischen
der Adria, Albanien und Makedonien und aus den serbo-kroatischen Gegenden
in Österreich aufgerichtet werden sollte. An der Spitze dieses Kaiserreiches
sollte einer von den Brüdern Alexanders I. stehen. BroDevskij und Karazin
standen mit ihren Anschauungen nicht allein. Ihre Gedanken wurden zum
Gemeingut fast aller ihrer russischen Zeitgenossen. Das slavische Bewußt-
sein vertiefte sich in Rußland im 19, Jahrhundert unter dem Einflüsse der
geschichtlichen uud philologischen Forschungen, Ein Schüler Schlözers,
Andrej Sergejeviö Kajsarov (1782 — 1813), der im Jahre 1811 zum Pro-
fessor der russischen Sprache an der Dorpater Universität ernannt wurde,
gab unter den Russen den Anstoß zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit
den slavischen Altertümern. Der russische Kanzler Nikolaus Petroviö
Rumjancev (1754 — 1826) organisierte die archivalische Durchforschung
Rußlands, Die russischen Gelehrten begannen nicht nur in Korrespondenz
mit der westslavischen Welt zu treten, sondern unternahmen auch längere
Reisen nach Westeuropa, schlössen Freundschaft mit westslavischen Forschern
und luden sie nach Rußland ein. Der russische Historiograph Nikolaus
Michajloviö Karamzin (1766 — 1826), der die neue historische Schule in
Rußland begründete und der bei seinem Schaffen unter dem Einflüsse Rousseaus
und Herders stand, trug zur Bekanntschaft der Russen mit der slavischen
Welt sehr viel bei.
In den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitete
sich in Rußland, unter dem Einflüsse der westeuropäischen literarischen
Strömungen, der Gedanke, daß die unter fremder Herrschaft stehenden Slaven
zu befreien seien. Es wurden geheime Vereine gegründet, die sich mit der
slavischen Wechselseitigkeit befaßten. Einer von diesen Vereinen, es war
das „Obsöestvo sojedinennych Slavjan" (Gesellschaft der vereinigten Slaven),
hatte einen ausführlichen Plan ausgearbeitet, wie die Slaven ihre Vereinigung
durchführen sollten. Die Mitglieder wünschten die Vereinigung aller Slaven
in einer Föderation, unter Wahrung ihrer nationalen Selbständigkeit. Den
Mittelpunkt der föderalisierten slavischen Länder sollte eine Hauptstadt bilden,
wo alle slavischen Abgeordneten wohnen und untereinander Beziehungen
pflegen sollten. Diese Hauptstadt sollte auch der Sitz der Zentralregieruug
werden. Man dachte sich dies slavische Reich als starke Handelsmacht mit
vielen Häfen. Die slavische Föderation sollte Rußland, Polen, Böhmen,
Mähren, Dalmatien, Kroatien, Ungarn mit Siebenbürgen, die Serben mit der
Walachei und der Moldau umfassen und sollte eine Einwohnerschaft von
30 Millionen zählen. Es gab in Rußland noch mehrere geheime Vereine,
die sich ähnliche Aufgaben gestellt hatten, aber alle gingen zugrunde, als
sie unter der Regierung des Kaisers Nikolaus im Jahre 1825 eine Revolution
vorbereiteten, die vor ihrem Ausbruche entdeckt wurde. Kaiser Nikolaus als
streng absolutistischer Herrscher war gegen jeden geheimen Verein, auch
gegen jene Vereine, die die Pflege der slavischen Wechselseitigkeit als ihre
Aufgabe betrachteten.
Der wissenschaftlichen Durchforschung des Slaven tums dagegen war die
russische Regierung niemals abgeneigt. Sie unterstützte sogar diese Studien.
In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts brachte es der russische Ge-
lehrte Petr Ivanoviö Koppen (1793 — 1864), der seiner Zeit im Jahre 1822
in Wien und Prag gewesen imd daselbst mit Kopitar und Dobrovsky in
freundschaftliche Beziehungen getreten war, so weit, daß die russischen
Zeitschrift für Politik. 6. 15
226 Tobolka, Der Panslavismuö.
Eegierungskreise die westslavischen Slavisten nach Rußland berufen wollten,
um ihre Kenntnisse und Kräfte bei den Arbeiten der russischen Akademie,
der einzigen Eepräsentantin der slavistischen Studien in Rußland, auszunützen.
Dieser ursprüngliche Plan wurde dann dahin abgeändert, daß sich die be-
gabten jungen Russen in Westeuropa für die Slavistik vorbereiten sollten.
Am Ende der dreißiger Jahre war infolgedessen auch in Rußland für
das Aufblühen der Slavistik gesorgt. Unter der Regierung Nikolaus I. wurde
der ünterrichtsminister im Sinne der slavischen Wechselseitigkeit durch
den Gelehrten, russischen Archäologen und wissenschaftlichen Organisator
M. P. Pogodin (1800 — 75) beeinflußt, der zweimal, und zwar in den
Jahren 1839 und 1842, die westslavische Welt besucht und besichtigt hatte.
Pogodin wollte die Sympathien der Slaven für Rußland auch politisch für
sein Vaterland ausnützen. Er glaubte an eine große und bessere Zukunft
der Slaven und besonders Rußlands. Seiner Meinung nach sollte Rußland
die bedrückten und schwachen slavischen Nationen, zu denen er die in
Österreich zählte, unterstützen. Er behauptete, daß die österreichischen
Slaven, weil sie unglücklich seien, keine Liebe für ihren Staat hätten und
ihre Augen nach Rußland wendeten. Unter den Südslaven, besonders in der
Türkei, sollte Rußland Kultur verbreiten und für sie auch in der diplo-
matischen Welt arbeiten. In ähnlicher Weise sollte die russische Regierung
unter den Serben und Ruthenen tätig sein. Pogodin befürwortete den Frieden
zwischen den Russen und Polen und meinte, daß sich die Polen gegen die
Annahme der russischen Sprache nicht sträuben sollten, weil diese in der
Zukunft als die Schriftsprache aller Slaven gelten werde. Im Sinne Kollärs
machte Pogodin, der ein intimer Freund Safafiks war, Vorschläge, wie die
slavische Wechselseitigkeit zu verwirklichen sei. Er empfahl die Herausgabe
einer historischen Grammatik, eines Wörterbuches, einer Sammlung der
slavischen Volkslieder, Sprichwörter etc. und wünschte dabei die Unter-
stützung der hervorragendsten Slavisten und die Förderung ihrer Arbeiten
seitens der Regierung, sowie den Unterricht in der Slavistik an den russischen
Schulen. Pogodin wollte dadurch besonders die Polen für Rußland gewinnen
und ihrer eventuellen Hinneigung zu Preußen vorl)eugen. Was KoUär seiner-
zeit als frommen Wunsch ausgesprochen hatte, das durchzuführen verlangte
Pogodin von der russischen Regierung. In Warschau sollte eine Revue er-
scheinen, die über alle Slaven in allen ihren Sprachen zu berichten hätte,
in Leipzig eine allslavische Buchhandlung gegründet und die slavischen
Pädagogen und Gelehrten nach Rußland berufen werden. Pogodin wollte
aber noch weiter gehen als Kollär. Er wünschte, die slavische Wechsel-
seitigkeit nicht auf das kulturelle Gebiet zu beschränken, sondern wollte,
daß alles, was in kultureller Hinsicht verbunden würde, auch in politischer
einmal zusammengehöre.
Unter den Russen verbreiteten den Gedanken der slavischen Wechsel-
seitigkeit auch die sogenannten Slavjanophilen (Slavenfreunde), Literaten und
Gelehrte, mit denen Pogodin vertrauliche Beziehungen imterhielt. Sie kannten
die slavische Welt nicht so gut we Pogodin, aber sympathisierten aus den
Ideen der Gleichheit und Freiheit heraus mit den Kämpfen der Slaven für
Freiheit und ihre nationalen Rechte. Sie glaubten freilich, daß alles Heil
in der orthodoxen Kirche liege und arbeiteten deshalb darauf hin, alle Slaven
für die orthodoxe Kirche zu gewinnen.
In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ergänzte der russische
Gelehrte V. J. Lamanskij (geb. im Jahre 1833), seit dem Jahre 1865
Tobolka, Der Panslavisinus. 227
Professor der slavischen Sprache an der Petersburger Universität, das, was
man in Eußland über die slavische Wechsolseitigkeit dachte. Lamanskij
hatte eine längere Reise durch die westslavische Welt gemacht und war
durchaus unzufrieden mit den Verhältnissen, in denen er die Slaven an-
getroffen hatte. Er sah, wie klein die westslavischen Nationen waren, und
wie ihnen die Germanisation drohte. Er wollte aber die slavischen Völker
gegen die deutsche Expansion in anderer Weise schützen als Kollär. Gegen
KoUär verfocht er den Gedanken, daß die Slaven von der Rassenidee durch-
drungen seien und sich für ein gemeinschaftliches Organ der Vereinigung
und Tätigkeit entscheiden müßten. Dies gemeinschaftliche Organ sollte die
russische Sprache sein. Alle Slaven sollten das Russische als Schriftsjjrache
annehmen.
Der russischen Auffassung von der slavischen Wechselseitigkeit mit der
Annahme der russischen Sprache und der orthodoxen Religion als Grundlage,
trat in Rußland jene publizistische Strömimg entgegen, die die sogenannten fort-
schrittlichen Russen, mit den Abgeordneten der russischen Duma J. Lopatin,
VI. M. Volodimirov usw. an der Spitze repräsentierten, die aber erst
nach dem formellen Aufhören des Absolutismus am Anfange des 20, Jahr-
hunderts entstehen konnte. Die fortschrittlichen Russen besitzen bisher in
der öffentlichen Meinung Rußlands nicht die Majorität; sie wünschen auf-
richtige Versöhnung der Russen und Polen auf demokratischer Grundlage
und mit völliger Wahrung der Nationalitätenrechte. Die fortschrittlichen
Russen sind der Ansicht, daß schon im Interesse des russischen Staates selbst
die heikle polnische Frage zu einem glücklichen Ende gebracht werden sollte.
Sie erkennen die Rechte der polnischen Nation auf dem Gebiete der Nationalität
und Kultur an, sie wollen nicht, daß die Polen in der Schule, in den Ämtern
oder sonstwo hinsichtlich ihrer Muttersprache bedrückt werden und raten
für sie die Selbstverwaltung an. Sie wollen aus Rußland einen slavischen
Staat nicht nur in der auswärtigen, sondern auch in der inneren Politik
machen. Diese Strömung heißt Neoslavismus. Neoslavismus bedeutet aber
nur in Rußland etwas Neues, er ist eine Reaktion gegen das Streben der
älteren russischen Richtung, die sich die slavische Wechselseitigkeit nur als
Russifizierung und Beitritt zur orthodoxen Kirche vorzustellen imstande war.
Die übrigen Slaven haben diese Anschauung der fortschrittlichen Russen
schon längst. Die Überzeugung, daß die slavische Wechselseitigkeit nur auf
der Grundlage völliger Gleichheit und Freiheit aller slavischen Nationen zu
verwirklichen sei, ist vor allem in Böhmen, wie wir oben gezeigt haben,
schon seit dem Jahre 1848 verbreitet.
8. Schlußwort
Der Gedanke der slavischen Wechselseitigkeit hat in seiner Entwicklung
große Fortschritte gemacht. Er ist zwar bisher noch Idee, die sich aber
Schritt für Schritt auf dem kulturellen und volkswirtschaftlichen Felde
realisiert. Wenn die Slaven von der slavischen Wechselseitigkeit sprechen,
so wollen sie in kultureller und volkswirtschaftlicher Hinsicht als Slaven
leben, aber sie wollen auch in den Staaten, zu denen sie gehören, als Staats-
bürger leben. Der Panslavismus ist also kein Landesverrat; so romantisch
sind die Slaven nicht mehr, daß sie glauben wüi-den, alle Slaven könnten
einmal zu einem einzigen Staate vereinigt werden. Sie schielen nicht über
die Grenze des Staates, in dem sie wohnen, aber sie verlangen, daß sie im
15*
228 Tobolka, Der Panslavismus.
Staate, in dem sie leben müssen, als Slaven leben und fortschreiten können.
Sie verlangen für sich keine Vorrechte, sondern bloß die politische Freiheit
im Rahmen des bestehenden Staates, und auf Grundlage der geltenden Ge-
setze volle Freiheit in kultureller und volkswirtschaftlicher Beziehung.
II. Die slavischen Kongresse
Dreimal haben die Slaven versucht, ihre panslavistischen Ideale in die
Tat umzusetzen. Es war dies in den Jahren 1848, 1867 und am Anfange
des laufenden Jahrhunderts durch die sogenannten slavischen Kongresse.
Zu jedem von diesen Kongressen war den Slaven vor allem die Rücksicht
auf die Deutschen und, klar heraus gesagt, auf die Expansion der Deutschen
der Anlaß.
1. Der slavische Kongreß im Jahre 1848 in Prag^)
Durch die Versuche der Deutschen auf dem Frankfurter Parlament,
sich in einem großen Bundesstaate zu vereinigen, kamen im Jahre 1848 die
Slaven auf den Gedanken, nach Prag einen slavischen Kongreß einzu))erufen.
Die Slaven fürchteten sich in nationaler Hinsicht vor einem geeinigten
Deutschland und wollten beraten, wie sie dieser Gefahr begegnen könnten.
In zweiter Reihe war Anlaß zum Kongreß die Furcht der Südslaven vor
der Expansion der Magyaren. Die vorbereitenden Arbeiten lagen in den
Händen der Tschechen, weil sie die ersten .ipostel der slavischen Wechsel-
seitigkeit unter allen Slaven waren, und Prag mußte als Tagungsort gewählt
werden, weil Prag schon im Jahre 1848 als Mittelpunkt der slavischen Ge-
danken und der hervorragenden slavischen Gelehrten imd Schriftsteller galt.
Jeder Slave konnte nach Prag zur Tagung kommen. Wie in Frankfurt die
Auslese der Deutschen versammelt war, so kamen nach Prag die besten
Männer der Slaven. Alle slavischen Nationen waren vertreten, die Russen
nicht ausgenommen. Die Russen freilich bloß durch den revolutionären
Agitator M. Bakunin, der damals nicht in Rußland lebte; die Russen aus
Rußland konnten sich nicht beteiligen, weil es die absolutistische Regierung
Rußlands nicht dulden wollte. Das Programm des Kongresses war zunächst
unklar. Zwei Richtungen kämpften untereinander: Die erste Richtung, ver-
treten vor allem durch die besten Häupter der Tschechen, wie den Geschicht-
schreiber Fr. Palacky und den Archäologen P. Safafik, standen aus-
nahmslos auf dem Boden des Austroslavismus; die zweite Richtung wollte
sich nicht bloß auf die Interessen der österreichischen Slaven beschränken,
sondern wollte sich mit den Interessen aller europäischen Slaven beschäftigen.
Diese Richtung repräsentierte damals in Prag der polnische Philosoph Karl
Libelt, der die deutsche Philosophie von Kant bis Hegel gründlich kannte.
Libelt siegte mit seiner Ansicht. Hiernach beschloß die Vollversammlung
des Kongresses folgende drei Aufgaben nach den Beratungen der Ausschüsse
auszuarbeiten. 1. Ein Manifest an die europäischen Völker. 2. Eine Petition
an den österreichischen Herrscher, welche die Desiderata der einzelnen öster-
reichischen Nationen enthalten sollte. 3. Zusammenstellung der Mittel, durch
welche alle Slaven in einem Bunde zusammengehalten werden könnten. Die
erste Aufgabe ist vollkommen ausgearbeitet, die übrigen zwei sind nicht zu
^) Siehe mein Buch: Slovansky sjezd v Praze r. 1848 (Der slavische
Kongreß in Prag im Jahre 1848). Prag 1901.
Tobolka, Der Panslavismus. 229
Ende gebracht worden, weil am Pfingstenmontag im Jahre 1848 in Prag
große Straßendemonstrationen ausbrachen, die sich vor allem gegen den
Prager Militärkommandanten Windischgrätz richteten. Sie waren nicht vor-
bereitet worden und ihr Ausbruch läßt sich ganz leicht aus der Seele der
Masse erklären. Diese Demonstrationen hatten zur Folge, daß alle kon-
stitutionellen Freiheiten in Prag sistiert wurden und daß die weitere Tagung
des slavischen Kongresses unmöglich wurde.
Trotz der Unfertigkeit der Beschlüsse des slavischen Kongresses, lassen
sich bestimmte Richtlinien zusammenfassen.
Der Aufruf des ersten SlaA'enkongresses an die Völker Europas war
von verschiedenen Männern verfaßt und von verschiedenen Weltanschauungen
durchdrungen. Der Aufruf ist vor allem eine Variation der damaligen,
liberalen Schlagworte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Völker.
Die Slaven verlangten die Freiheit und Gleichheit nicht nur für den Einzelnen,
sondern auch für die Nationen. Man sprach sich im Sinne des Liberalismus
gegen den Absolutismus und für das konstitutionelle System aus. Im Geiste
der austroslavistischen Anschauungen wünschte der Aufruf die Umwandlung
des österreichischen Kaiserstaates in eine Föderation von gleichgestellten
Nationen. Für dieses Programm verlangten die Slaven die Sympathien aller
uichtslavischen Völker Europas.
Die Polen stellten dazu ihre selbständigen Wünsche auf, die hauptsächlich
natürlich auf Wiedererrichtung ihres alten Staates zielten.
Die Slaven aus Ungarn riefen in dem ersten Manifeste nach Gleich-
berechtigung der nichtmagyarischen Nationen. Als im Interesse aller Völker
Europas gelegen verlangte die Proklamation die Befreiung der Slaven in der
Türkei. „Wir. die wir die Jüngsten, doch nicht die Schwächsten, auf Europas
politischer Bühne wieder erscheinen, wir erklären uns bereit, einen all-
gemeinen europäischen Völkerkongress zur Ausgleichung aller internationalen
Fragen zu beschicken, denn wir sind überzeugt, daß sich fi'eie Völker leichter
untereinander verstehen als bezahlte Dii^lomaten.'" Wäre es wirklich zu einem
solchen Völkerkongi-esse gekommen, so hätte er schwerlich einen Erfolg haben
können. Ein solcher Vorschlag konnte auch nur in der Zeit der politischen
Romantik ausgesprochen werden. Dieses Manifest war der einzig fertige Akt
des ersten slavischen Kongresses.
Was allen österreichischen Mitgliedern des Kongresses im Prinzip
gemeinsam war, war der liberalistische, antiabsolutistische Standpunkt und
die feste Überzeugung, daß ÖsteiTeich im nationalen Interesse der öster-
reichischen Slaven auch in Hinkunft erhalten bleiben müsse und zwar als
ein von Deutschland unabhängiger Föderativstaät mit gleichen Rechten der
verschiedenen Nationalitäten. „Die Freiheit und die brüderliche Gleich-
berechtigung" waren die Platform, auf welcher die Adresse an den öster-
reichischen Kaiser stand, die in den Ausschüssen vorbereitet, im Plenum aber
unter Meinungsverschiedenheiten begraben wurde. Was verlangten nun die
einzelnen slavischen Nationen vom österreichischen Kaiser?
Die Tschechen von Böhmen wollten sich mit dem Kaiserlichen Hand-
schreiben vom 8. April 1848, durch welches die gesetzgeberische und admini-
strative Selbständigkeit und die sprachliche Gleichberechtigung im ganzen
Königreiche Böhmen und die Zweisprachigkeit aller Staatsbeamten zugesichert
werden sollte, begnügen. Die Tschechen aus Mähren oder wie sie selbst
sich damals genannt haben, „die Mährer", wandten sich an den Kaiser mit
folgenden Bitten: 1. Daß sie derselben Rechte teilhaftig werden, welche die
230 Tobolka, Der Panslavismus.
Böhmen dvirch das oben erwähnte Patent erlangt haben, sowohl in betreff
der Landesverwaltung, als auch der Gemeindeverfassung; 2. daß Mähren bei
dieser Grleichstellung der Rechte doch seine Selbständigkeit behalte. 3. Daß
die oberste verantwortliche Zentralbehörde für Böhmen auch die inneren
Angelegenheiten Mährens in den Bereich ihrer Verjjflichtungen aufnehme.
4, Daß die Ausschüsse des böhmischen und mährischen Landtags sich zu
gemeinschaftlichen Beratungen versammeln. 5. Daß die Böhmen und Mährer
sich wechselseitig ihre bürgerliche Freiheit, wie auch die Gleichberechtigung
ihrer Nationalität verbürgen." Die Slaven aus Galizien, und zwar nicht nur
die Polen, sondern auch Euthenen verlangten: „Daß sie derselben Rechte
teilhaftig werden, welche den Böhmen verliehen wurden." Sie baten um „die
Einsetzung solcher verantwortlichen Zentralbehörden, wie jene sind, die den
Böhmen zugesichert wurden", ferner verlangten sie „die baldige Einberufung
des konstituierenden Landtags (für Galizien), der seine Beschlüsse über alle
Landesangelegenheiten noch vor der Eröffnung des Wiener Reichstags zu
fassen hat". Für den galizischen Postulatenlandtag baten sie um ein Wahl-
gesetz, durch das der galizische Landtag befähigt wäre, die wahre Vertretung
der beiden galizischen Nationalitäten zu repräsentieren. Was die Durch-
führung der nationalen Gleichberechtigung in Galizien in Amt und Schule
anbelangt, haben die galizischen Polen und Ruthenen folgende Vereinbarung
geschlossen :
„1. Nach der Mehrzahl der polnischen oder ruthenischen Bevöl-
kerung soll in jedem Bezirke die i^olnische oder die ruthenische
Sprache die Sprache der Behörden sein. Dabei wird aber den einzelnen
Gemeinden und Stadtbehörden der ungeschmälerte Gebrauch der
Sprache der an Zahl überwiegenden Bevölkerimg zugestanden; jedem
Eingebornen wird die Freiheit zugesichert, sich der polnischen oder
ruthenischen Sprache bei den Verhandlungen mit der Regierung zu
bedienen, und diese hat in derselben Sprache ihre Erledigungen zu
erteilen. .Jeder Eingeborene, ohne Unterschied der Nationahtät, ist zu
allen Ämtern gleichberechtigt; bei Besetzungen der Beamtenstellen
aber, deren Erwählung vom Volke nicht abhängt, soll die Nationalität
der Kandidaten gehörig berücksichtigt werden. In Gegenden von
gemischter Bevölkerung soll der Beamte beider Sprachen kundig sein.
2. Die Unterrichtssprache an den Pfarr-, Trivial- und Normalschulen
soll die Sprache der überwiegenden Bevölkervmg sein; demungeachtet
bleibt der Minderzahl das Recht vorbehalten, Schulen für ihre eigene
Nationalität zu besitzen. In der dritten Klasse aller ruthenischen
Normalschulen soll die polnische Sprache, in der dritten Klasse aller
polnischen Normalschulen aber die ruthenische Sprache vorgetragen
werden. Für die polnische sowohl als für die ruthenische Nationalität
sollen besondere Gymnasien errichtet werden; die Anzahl dieser
Gymnasien soll von dem Bedürfnisse der sich den Wissenschaften
widmenden Jugend abhängen. An jedem Gymnasium soll die Literatur
beider Sprachen vorgetragen werden. An den Universitäten und Lyzeen
soll der Gebrauch jeder Sprache beim Vortrage gestattet sein. 3. Die
galizische Nationalgarde soll an jenen 0-iten, wo sie errichtet wird,
durch Stimmenmehrheit ihre Offiziere wählen, und den Gebrauch des
polnischen oder ruthenischen Kommandos festsetzen: als Abzeichen soll
die Garde die Wappen beider Nationen nebeneinander tragen. 4. Das
ganze Land hat eine gemeinschaftliche Zentralregierung, die mit den
ruthenischen Behörden in ruthenischer, mit den polnischen in polnischer
Sprache zu korrespondieren hat. Beide Nationalitäten haben einen
gemeinschaftlichen Landtag, zu dem die Volksrepräsentanten nach den
Tobolka, Der Panslavisnius. 231
festzustellenden Grundsätzen gewählt werden sollen. Auf dem Land-
tage wird die polnische wie die ruthenische Sprache zugelassen. Die
Beschlüsse und Verordnungen der Landcsstellen sollen in beiden
Landessprachen veröffentlicht werden. 5. Alle im Lande befindlichen
Konfessionen sollen gleiche Rechte genießen; dieses gilt auch von der
Geistlichkeit, welche im Range sowohl, wie in den Einkünften gleich-
zustellen ist. 6. Durch die Verfassung soll sowohl den Polen als den
Ruthenen jene Gleichheit der menschlichen, politischen und religiösen
Rechte zugesichert werden, die aus der Heiligkeit und Unverletzbarkeit
einer jeden der in Galizien vorhandenen Nationalitäten sich ergibt.
7. Die Teilung Galiziens in zwei besondere Verwaltungsdistrikte, die
eine Forderung der Zeit bedeutet, ist ein Verhandlungsgegenstand des
konstituirenden Landtages."
Um dieses Kompromiß durchführen zu können, verlangten sie, daß die
einsprachigen Beamten pensioniert und nur die Beamten, die der beiden
Landessprachen in Wort und Schrift vollkommen mächtig seien, angestellt
würden.
Die Slovaken und Ruthenen in Ungarn richteten ihre Wünsche gegen
die chauvinistischen Bestrebungen der Magyaren. Sie sprachen folgende
Bitten aus:
„L Daß die Slovaken und Ruthenen in Ungarn als eine Nation
von den Magyaren anerkannt und im Landtage gleicher Rechte mit
diesen teilhaftig würden. 2. Daß ihnen gestattet werde, ihre be-
sonderen Nationalkongi'esse zu halten, mit einem beständigen slova-
kischen und ruthenischen Ausschusse, welchem das Recht und die Ver-
pflichtung zukommen solle, über die Nationalrechte der Slovaken und
Ruthenen zu wachen und die Beschlüsse des Nationalkongresses aus-
zuführen. 3. Daß ihnen gestattet werde. Nationalschulen, sowohl für
den Elementar- als auch Realunterricht, wie auch Bürger- und Diözesan-
schulen, Schullehrerseminarien, höhere Unterrichtsanstalten, als Gym-
nasien, Lyzeen, Akademien, polytechnische Anstalten und eine Universität
für sich zu errichten. Die Unterrichtssprache soll nach dem Bedürf-
nisse die slovakische oder die ruthenische sein; die Freiheit der National-
erziehung wird festgestellt. 4. Für die Magyaren soll ein Lehrstuhl
der slovakischen und ruthenischen Sprache, für die Slovaken und
Ruthenen aber eine Lehrkanzel der magyarischen Sprache auf Landes-
kosten errichtet werden. 5. Keine Nation in Ungarn soll für die
herrschende gelten, sondern alle sollen gleichberechtigt sein. 6. Jene
Slovaken, welche für die Verteidigung der Nationalrechte der Slovaken
gefangen gehalten werden, sind unverzüglich in Fi'eiheit zu setzen.
7. Sie bitten, daß man den Slovaken und Ruthenen das Recht nicht
vorenthalte, Vereine zu gründen, die zum Zwecke haben, das nationale
Leben der Slovaken und Ruthenen zu fördern, und daß sie in dieser
Beziehung sich einer gleichen Berechtigung wie die Magyaren er-
freuen dürfen."
Die ungarischen Serben wollten sich befi-iedigt fühlen durch die Be-
stätigung eines Patriarchen und eines „Wojewoden", entsprechend den Be-
schlüssen des Karlovitzer Landtages und durch Vereinigung aller Gegenden,
die in Ungarn von Serben bewohnt sind, mit der serbischen Wojewodschaft,
unter der Oberherrschaft der ungarischen Krone.
Wie die ungarischen Serben, so formulierten auch die Kroaten ihre
Wünsche nur unzm-eichend. Man kann sagen, daß die Kroaten sie noch un-
genügender ausgesprochen haben als die Serben. Sie wünschten bloß, daß
das bestätigt würde, was ihr Banus zum Heil und Frommen der regierenden
232 Tobolka, Der Panslavismus.
Dynastie, der Nationalität und der Selbständigkeit der Königreiche Kroatien,
Slavonien und Dalmatien vollbracht hatte und was der Landtag der König-
reiche Dalmatien, Kroatien und Slavonien in diesem Sinne verlangen würde.
Die Slovenen gingen bei der Formulierung ihres Programms von den
Anschauungen des Joh. Bleiweis aus. Sie wollten :
„1. Daß alle Slovenen, welche Steiermark. Krain, Kärnthen und das
Litorale bewohnen, zu einem politischen Ganzen unter dem Namen
des Königreichs Slovenien vereinigt würden und daß Laibach der Sitz
ihrer gemeinschaftlichen Eegierung werde. 2. Daß die slovenische
Sprache zur diplomatischen Geltung gelange, und in die Schulen,
Ämter und Gerichte eingeführt werde, daß man ferner die Kenntnis
der slovenischen Sprache für jeden Beamten zu einer unerläßlichen
Pflicht mache. Außerdem solle eine slovenische Universität in Laibach
errichtet werden."
Das dritte Aktenstück des slavischen Kongresses blieb in sachlicher
und in formeller Hinsicht ganz unfertig und das, was man von diesem Akten-
stücke sagen könnte, wäre nur eine Hypothese. Man weiß aber, daß bei
den Beratungen hierüber wieder zwei Richtungen miteinander kämpften, und
zwar die Richtung, die den Inhalt des Aktes bloß auf Österreich beschränken
wollte, und die Richtung, die über den austroslavistischen Standpunkt hinaus-
zugehen wünschte.
Nach den Prager Pfingstereignissen war es unmöglich, den slavischen
Kongreß beisammenzuhalten oder zu späteren Beratungen zusammenzurufen.
Die politische Reaktion, welche nach den Prager Pfingstereignissen in ganz
Österreich einsetzte, verhinderte alle weiteren Verhandlungen.
2. Der zweite slavische Kongreß in Moskau im Jahre 1867 ^)
Im Jahre 1867, also 19 Jahre nach dem ersten Slavenkongresse, sind
die Slaven zum zweitenmal in Moskau zusammengekommen. Es war dies
bei der Gelegenheit einer von Rußland veranstalteten ethnographischen Aus-
stellung. Nach Moskau kamen die Vertreter der Slovenen,- Bulgaren, Serben,
Kroaten, Ruthenen und Tschechen. Die Polen, die den Russen nicht ver-
gessen konnten, wie feindlich sie die Polen nach der mißlungenen Revolution
im Jahre 1863 behandelt hatten, waren nicht anwesend, und agitierten sogar
unter den Slaven gegen die Teilnahme an der Ausstellung. Die Tschechen
waren in Moskau unter der Führung ihrer politischen Häupter: Fr. Palacky,
Dr. F. L. Rieger u. a. Ihre Reise geschah in politischer Tendenz und ganz
demonstrativ. Sie waren darüber aufgebracht, daß die österreichische Regie-
rung mit den Magyaren einen Ausgleich gemacht und daß sie auf die
Wünsche der politisch schwachen Tschechen keine Rücksicht genommen
hatte. Sie suchten deshalb einen Rückhalt ihrer Forderungen in der An-
bahnung slavischer Wechselseitigkeit.
Der zweite Slavenkongreß beschränkte sich bei den Ausschußverhand-
lungen auf das kulturelle Gebiet. Zur Durchfühiung der slavischen Wechsel-
seitigkeit wurde angenommen, daß die Slaven immer nach zwei Jahren eine
allslavische Vollversammlung veranstalten sollten, die sich nur mit kulturellen
Fragen befassen dürfe. Diese Fragen sollten vorher auf den Kongressen der
einzelnen slavischen Völker vorbereitet werden. Es sollte sofort ein „Matice",
') Siehe mein Buch: Dejiny öeske politiky nove doby (Die Geschichte
der tschechischen Politik der Neuzeit). Prag 1908. S. 315 — 321.
Tobolka, Der Panslavismus. 233
ein allslavischer Selbstverlag, gegründet werden. In Moskau sollte ein stän-
diger Ausschuß errichtet werden, der für die Verwirklichung der slavischen
Einigkeit auf dem kulturellen Gebiete Sorge tragen sollte. Auf der Grundlage
der ganzen slavischen Literatur sollte eine gemeinschaftliche Terminologie
für die exakten Wissenschaften zusammengestellt werden. Bis auf den
ständigen allslavischen Ausschuß blieben alle erwähnten Beschlüsse auf dem
Papier und wurden nie in die Tat umgesetzt.
In politischer Hinsicht zeigte der zweite Slavenkongi-eß große Zwie-
spältigkeiten, die einerseits zwischen dem tschechischen und russischen und
anderseits zwischen dem russischen und polnischen Standpunkte vorhanden
waren. Die Tschechen verteidigten die Selbständigkeit und Gleichberechtigung
aller slavischen Nationen im Sinne der Beschlüsse des ersten Slavenkongresses,
die Russen dagegen verlangten, daß die Slaven eine einzige Schriftsprache,
d. h. die russische, die einzige Schrift, d. h. die Azbuka, und eine einzige
Eeligion und Kirche, d. h. die orthodoxe, annehmen sollten. Entgegen der
tschechischen Forderung wollten die Russen von einer brüderlichen Gemein-
schaft mit den Polen nichts wissen. Der zweite Kongreß zeigte, daß die
Slaven von dem Ideal der slavischen Wechselseitigkeit noch sehr weit ent-
fernt waren.
3. Die slavischen Konferenzen am Anfang des 20. Jahrhunderts
60 Jahre waren seit dem ersten Slavenkongresse verflossen und nun
versuchten die österreichischen Slaven, vor allem die Tschechen, die Idee der
slavischen Wechselseitigkeit wieder in die Tat umzusetzen. Es schien ihnen
die beste Gelegenheit hierzu nach den schweren Kämpfen der Russen in der
Mandschurei und nach der russischen Revolution gekommen zu sein. Die
österreichischen Slaven glaubten, daß Rußland in Zukunft sich auf den kon-
stitutionellen Boden stellen und daß es in seinem eigenen Interesse die innere
Politik auf slavischer Grundlage treiben müsse, wenn es nach außen den
slavischen Standpunkt vertreten wolle. Die österreichischen Slaven glaubten,
daß die Zeit gekommen sei, die großen freiheitlichen Gedanken des ersten
Slavenkongresses zu verwirklichen. Sie kannten die Schwere der Aufgabe
Sie wußten, daß sie die alte Frage des polnisch-russischen Streites lösen
müßten und wünschten im Interesse ihrer Stellung in Österreich dies zu er-
reichen. Die österreichischen Slaven, vor allem die Tschechen und Südslaven,
trugen sehr schwer daran, daß die auswärtige Politik Österreichs mit der
Deutschlands verbunden ist und wünschten, Österreichs auswärtige Politik
selbständig zu machen. Sie erhofften eine Annäherung zwischen Österreich
und Rußland und meinten in der Bearbeitung der öffentlichen Meinung in
Österreich und in Rußland in der Richtung der slavischen Wechselseitigkeit
den besten Weg gefunden zu haben.
In Rußland gewannen sie für ihre Pläne die sogenannte Kadettenpartei,
die im Interesse des inneren Friedens des russischen Staates die polnische
Frage lösen wollte und zwar auf der Grundlage der nationalen Gleichberechtig-
keit und Selbständigkeit.
Im Juli 1908 fanden die ersten vorbereitenden Slavenkonferenzen in
Prag statt. Nicht nur alle Slavenvölker Zisleithaniens, sondern auch die Russen
und Polen aus Rußland nahmen an den Konferenzen teil. Nur die ukraini-
schen Russen, Slovaken und die preußischen Polen waren nicht anwesend.
Die kleinrussische Frage wurde auf den Konferenzen nicht berührt, eingehend
234 Tobolka, Der Panslavismus.
aber wurde die polnische Frage in Rußland bebandelt. Man kam zu dem
Schlüsse, daß diese Frage in Eußland nach den Grundsätzen der Gleichheit
und Freiheit der Völker gelöst werden müsse. Auch wurde den slavischen
kulturellen und wirtschaftlichen Aufgaben sehr viel Zeit gewidmet. In
kultureller Hinsicht wurde die Veranstaltung einer allslavischen Ausstellung
in Moskau beschlossen, ferner Förderimg der Tom-istik in den slavischen
Ländern, Ausdehnung der Organisation der sogenannten Sokolisten (Turner)
auf alle slavischen Völker, Gründung von Vereinen für Volkserziehung
und Volksbildung in allen slavischen Ländern nach gemeinsamem Plane und
endlich Durchführung einer gemeinschaftlichen slavischen Buchhändlermesse.
Diese Beschlüsse bewegten sich ganz auf dem Boden der kulturellen slavischen
Wechselseitigkeit vor dem Jahre 1848. Das Neue der Prager Konferenzen
vom Jahre 1908 bestand in der Ausdehnung der slavischen Wechselseitigkeit
auf das wirtschaftliche Gebiet. Zwei Anträge wurden in dieser Beziehung
angenommen: 1. Gründung einer allslavischen Bank; 2. daß die landwirt-
schaftlichen Studienreisen, die die Tschechen vor dem Jahre 1908 größten-
teils nach Dänemark gemacht hatten, in die slavischen Länder veranstaltet
werden sollten.
Der Verwirklichung aller dieser Beschlüsse stellten sich große Hinder-
nisse entgegen. Österreich hatte Bosnien und Herzegowina annektiert und
durch dieses Ereignis war die öffentliche Meinung in Eußland antiösterreichisch
geworden. In Rußland betraten auch die entscheidenden politischen Kreise
den Weg des nationalen russischen Imperialismus, des Chauvinismus und der
Unduldsamkeit gegenüber den Polen, und die russischen Politiker, die mit
den russischen Polen einen aufrichtigen Frieden auf der Grundlage der
Gleichberechtigung und Selbstverwaltung wünschten, wurden in eine wenig
bedeutende Minderheit gedrängt. Trotz alledem ließen die Urheber der
slavischen Konferenzen ihren Gedanken nicht im Stich und beriefen neue Vor-
bereitungskonferenzen im Juli 1910 nach Sofia ein, welche die Arbeit der
Prager Konferenzen weiterführen sollte. Was die Politik anbelangt, so
konnten sich die Verhandlungen in Sofia bloß auf die allgemeine Resolution
beschränken, daß der nicht als Slave gelten könne, der ein anderes slavisches
Volk unterdrücken wolle; in konkreter Weise dieses Programm zu lösen, war
damals unmöglich, weil der wichtigste Faktor, die Polen, die Konferenzen in
Sofia nicht beschickt hatten, nach dem, was die Russen gegen sie — vor
allem in der Angelegenheit des Cholmischen Gouvernements — planten. Die
Polen trauten den Russen nicht mehr.
Die Bedeutung der Konferenzen in Sofia lag nicht in den politischen
Beschlüssen, sondern in den Arbeiten für die Verwirklichung der kultm-ellen
und wirtschaftlichen slavischen Wechselseitigkeit. Nicht weniger als 18 Reso-
lutionen') wurden angenommen. Nur die wichtigsten seien erwähnt. Wie
im Jahre 1867 in Moskau, wurde auch im Jahre 1910 in Sofia die Einberufimg
eines slavistischen Kongresses beschlossen, dem vorbereitende Kongresse der
einzelnen slavischen Völker vorangehen sollten. Es wurden Modalitäten fest-
gesetzt, unter denen die slavischen Akademien und gelehrten Gesellschaften
in Beziehungen treten sollen. Es wurden — und nicht ohne den Einfiuß der
westeuropäischen Völker — die Bedingungen des wechselseitigen literarischen
Verkehres und Büchertausches festgelegt. Es wurde die Reziprozität für die
0 Siehe alle diese Resolutionen in meiner Öeskä Revue (Tschechieche
Eevue). Jahrg. 1910. S. 709—713.
Tobolka, Der Panslavismus. 235
Hürer au deu slaviscLeu Uuiveröitäten beschlossen. Es wurde der Antrag
auf Zusammenstellung einer slavischen musterhaften Anthologie, eines all-
slavischen Wörterbuches, einer allslavischen Terminologie, einer slavischen
Encyklopädie, eines Bücherkataloges für slavische Volksbibliotheken und
Lesehallen angenommen. Das Russische soll in Zukunft nach Möglichkeit
bei allen allslavischen Kongressen die Verhandlungssprache sein. An den
westslavischen Mittelschulen soll der Unterricht der Kyrillika eingeführt
werden. Es wurde weiter gründlich verhandelt: über die Organisation des
slavischen Büchermarktes, über die Organisation der slavischen Theater und
slavischen Touristik, über die Veranstaltung einer allslavischen Kunstaus-
stellung in Prag und über die Gründung eines allslavischen Telegi'aphen- und
Korrespondenzbureaus. Was das wirtschaftliche Leben der Slaven betrifft,
so blieb der Beschluß der Prager Slavenkonferenzen bezüglich einer all-
slavischen Bank bis auf weiteres nur ein frommer Wunsch und es wurde nur
für den slavischen Geschäftsverkehr der Grundsatz „Jeder halte zu den
Seinen" verkündigt.
Die Vorbereitungskonferenzen in Sofia brachten noch weitere Anre-
gungen, die Verhandlungsgegenstand der künftigen Konferenzen sein werden.
Einzelne Fachleute wurden in Sofia auch mit Referaten betraut.
* *
*
Die neue slavische Bewegung hat schon ihre ersten Früchte ge-
bracht. Gerade im Jahre 1912 ist ein großes Werk: Slovanstvo. Obraz jeho
minulosti a pfitomnosti. (Das Slaventum. Sein Bild in Vergangenheit und
Gegenwart) in Prag erschienen. Es entstand aus Anlaß der Prager Vor-
bereitungskonferenzen im Jahre 1908, ist größtenteils von den Professoren der
tschechischen Universität und von hervorragenden tschechischen Publizisten
geschrieben. Dies Werk soll durch wissenschaftlich fundierte und trotzdem
populär geschriebene Aufsätze die ganze slavische Welt über die geschicht-
liche Entwicklung, den gegenwärtigen Stand des Slaventums in nationaler,
politischer und kirchlicher Beziehung, über das slavische Schulwesen, über
die slavischen Literaturen, Künste, Musik, Journalistik, Sokolistenvereine
und Touristik unterrichten. Das Buch, das auch in anderen slavischen
Sprachen erscheinen soll, ist ein ausgezeichneter Beitrag zu einer Vertiefung
der Kenntnisse von den Slaven unter den Slaven. Es ist schade, daß sich
die Herausgeber nur auf die kulturellen Fragen des Slaventums beschränkt
und daß sie die wirtschaftlichen Fragen im Sinne der Prager Vorbereitungs-
konferenzen nicht in ihr Programm aufgenommen haben. Die Herausgabe
des Werkes „Slovanstvo" beweist, daß sich die slavische Wechselseitigkeit
in die Tat umzusetzen beginnt, beweist aber auch, daß die Slaven in der
Frage der slavischen Wechselseitigkeit auf dem kulturellen Gebiete stehen
geblieben sind und daß die slavische Wechselseitigkeit bisher vor allem
eine Angelegenheit der slavischen Gelehrtenwelt ist.
Besprechungen
Schriften zur englischen Politik
Von Dr. Carl Brinkmann
Walter Parow, Die Englische Verfassung seit 100 Jaliren und die gegen-
wärtige Krisis. Berlin 1911. Puttkammer und Mühlbrecht. 234 S. —
Gustaf F. Steffen, Die Demokratie in England. Einige Beobach-
tungen im neuen Jahrhundert und ein Renaissanceepilog. 3. und
4. Tausend. Jena 1911. Eug. Diederichs. VIH und 228 S. — Lloyd
George, Bessere Zeiten. 1. — 4. Tausend. Jena 1911. Eugen Diederichs.
XI und 256 S. — John M. Robertson, Patriotismus — Militarismus
— Imperialismus. Aus dem Englischen übertragen von Karl Hansel-
mann. Dresden und Leipzig 1910. E. Pierson. XIV und 184 S. —
Fritz Simon, Englische Stadtverwaltung. Berlin und Leipzig 1911.
Dr. Walther Rothschild. 115 S.
Die fi'eundlich- feindlichen Berührungen der politischen Oberfläche und
ihr tieferer Grund, die Ähnlichkeit der Gesellschaftslage in der industriellen
Entwicklung, haben zwischen Deutschland und England auch in der politischen
Literatur einen Verkehr der Nachrichten und Beurteilungen herbeigeführt,
der in der heutigen Periode nationaler Abschließung ebenso ausnahmsweise
als erstrebenswert ist. Von den fünf vorliegenden Büchern über englisches
Staats- und Gesellschaftsleben sind drei von Nichtengl ändern für Deutsche
geschrieben, zwei von Engländern durch Übertragungen ihnen zugänglich
gemacht.
Die Darstellung von Parow ist nicht etwa der Versuch einer Populari-
sation des gegenwärtigen englischen Verfassungsrechts, die trotz des kom-
pendiösen VVerkes von Hatschek immer noch einem lebhaften Bedürfnis ent-
gegenkäme. Sie beginnt mit einer ganz äußerlich chronologischen Erzählung
der konstitutionellen (xesetzgebung in England seit der ersten Parlanients-
reform und erliebt sich auch im zweiten Teil, wo die Verhandlungen beim
„Kampf gegen das Oberhaus" in derselben äußerlichen, um das Thema
durchaus nicht zentrierten Weise berichtet werden, kaum über das bessere
Pressereferat. Für die eigentlichen formellen und sachlichen, d. h. juristischen
und politischen Probleme seines Gegenstandes ist der Verfasser nur unge-
nügend ausgerüstet. Die Grundlage des ganzen englischen Staatsrechts, die
Lehre von den sogen. Konventionen, kann er nicht verstanden haben, sonst
würde er nicht im Ernst die Gneistschen Phantasien von einer Wiederbelebung
des Kron-Vetos auf die jetzige Krise anwenden (S. 191 — 195). Und ein
offenbar von konservativen Agitationsreden in ihn transfundierter Haß gegen
die „Demokratie'' (deren wirtschaftliche Notwendigkeiten doch noch im letzten
Abschnitt des ersten Teiles gewissenhaft gewürdigt worden sind) verwirrt
Bespi-echungeu. 237
seine Begriffe derart, daß er (S. 163 Anm.) die i)arlamentarischen Kämpfe
um Trades Disputes Act und Osborne Decision, also die einfache Behauptung
des Vorranges der gesetzgebenden vor der richterlichen Gewalt, als eine
, .Vergewaltigung der Rechtspflege durch Mehrheitsbeschlüsse" denunziert.
Über Home Rule wird man danach nicht erwarten, auch nur ein einsichtiges
und (objektiv) ehrliches Wort zu finden. Es versteht sich allerdings, dali
auch die rein auf den Wert der Einzeltatsachen beschränkte Brauchbarkeit
solcher Geschichtschreibimg bei der Entlegenheit ihrer Quellen im Auslande
nicht zu unterschätzen ist. Die Darbietung von Daten wie der über das
englische Wahlrecht und die Übersicht auch nur über den bloß zeitlichen
Zusammenhang der neueren Parlamentsgeschichte bleibt ein Verdienst des
Autors und ein Hilfsmittel der Wissenschaft').
Die beiden Bände der Diederichschen ,, Politischen Bibliothek", der des
schwedischen Gelehrten und der des englischen „Demagogen", haben bei
allen natürlichen Unterschieden des Temperaments und der Form doch eine
weitgehende Gemeinsamkeit der politischen Leistung. Wenn die N'^olks- und
Parlamentsreden des großen Schatzkanzlers gegen die grundherrliche Aristo-
kratie gerade seine spezifisch bürgerlichen, freihändlerischen Überzeugungen
neben den sozialistischen besonders hervortreten lassen, so ist doch auch der
Standpunkt des großen Soziologen und Gesinnungsgenossen der Fabians
entfernt genug von den scharfen Forderungen der sozialistischen National-
ökonomie. Er erklärt zwar die prachtvolle psychologische Intuition seiner
englischen Gesellschaftsbilder ausdrücklich für Erlebnis, nicht Wissenschaft,
aber man wird ihm diese Bescheidenheit nach zwei Seiten, widersprechend
und anerkennend, bestreiten dürfen. Ich weiß nicht, ob er eine national-
ökonomische Naivetät unterschreiben würde wie die Lloyd Georges (S. 97),
daß der Inhaber von Wertpapieren, der den größten Teil seiner Dividenden
neu anlege, durch seine Enthaltsamkeit den Reichtum der Gesellschaft ver-
mehre. Aber ich zweifle, ob der ,, Wissenschaftler" Steffen wohl daran tut
vor den optimistischen Träumen der englischen Bourgeoisie, seien sie Scherz
wie Shaws ündershaft oder Ernst wie des ehrwürdigen Marshall Unternehmer-
aristokratie, den politischen Leser innerhalb der ästhetischen Sphäre im
Stiche zu lassen. Und damit berühre ich einen Punkt, wo die demokratischen
Ideale des europäischen Beamten- und Pi'ofessorentums fast regelmäßig sich
selbst der eigentlich logischen (und damit propagandistischen) Wirkung be-
rauben. Dem begrifflich letzten Endes unauflösbaren Kulturideal dieses
Libei-alismus wird die festgeschlossene wirtschaftliche Macht der nationalen
Staaten mit dem wachsenden Wettbewerl) ihrer kapitalistischen Ausdehnungs-
tendenzen allmählich immer erfolgreicher andre eben so unauflösbare
., höchste Güter" wie Volkstum, Rasse, Religion entgegensetzen können, ja
ihn auf diesem Wege vielleicht schließlich ganz sich angleichen und verzehren.
Erst die Politik, der es gelingen wird, den Begriff des Rechtes als moralischen
Minimums innerer und auswärtiger Verbindlichkeiten wieder zum wissen-
schaftlichen Maßstab des Streites zu machen, wird imstande sein, die Ge-
fahren theoretischer Unklarheit und praktischer Katastrophen durch die
wechselseitige Bestimmung von Einsicht und Tat zu überwinden. Es ist
gleichwohl des wissenschaftlich Belangvollen genug, was die Stelle der beiden
Bücher in einer politischen Stoffsammlung rechtfertigt. Allein Steffen's Ka-
pitel „die Psychologie des Demokratismus" mit den glänzenden Ausführungen
') Ich ergreife die Gelegenheit, hier ein kleines tatsächliches Versehen
in meiner Skizze über den Englischen Parlamentarismus (Schmollers Jahrb.
f. Gesetzgebg. u. Verwaltg. 1911 S. 1145 f.) zu berichtigen: Die Bewährung des
Oberhausvetos am „appeal to the people" 1884 und 1893 erfolgte nicht im Wege
der Auflösung des Unterhauses, sondern beim ersten Fall durch die öffent-
liche Diskussion zwischen Frühjahrs- und Herbstsession, beim zweiten durch
die ordentlichen Neuwahlen von 1895.
238 Besprechungen.
über den Konservatismus der Massen muß seiner Schrift die ernste Beachtung
aller Soziologen zuwenden, und als Lloyd George in den Druck seiner An-
spraclien willigte, sagte er sich wohl selbst, daß er damit nicht so sehr die
Agitation verstäi'ke, als ein einzigartiges Denkmal der sozial-psj^chologischen
Entstehung und Einwurzelung gesetzgeberischer Arbeit errichte. Der Text
der beiden Budgetreden mit all ihrem statistischen Material kommt dem
Finanzhistoriker gelegen, und der Genießer von Kunstformen sieht das Jahr-
hunderte alte Erz der englischen Staatsberedsamkeit in einem glühenden
Fluß von volkstümlichem Witz und Pathos, der ihr und den in ihr ausge-
drückten Sachlichkeiten der Gesellschaftsverfassung ebenso heilsam als un-
bequem sein muß.
Im geraden Gegensatze zu dem mehr üben-edenden Stil der Demokraten
versucht die treffliche Broschüre Robertsons, des Arbeiterführers im Unter-
hause, eine Kritik der politischen Vernvmft in dem angedeuteten Sinne eines
Zurückgehens auf notwendige Imperative des Rechtes und der Sittlichkeit.
Es ist heute eine fast unlösbar schwere Aufgabe bei einem solchen Unter-
nehmen, zugleich mit genügender Sorgfalt zu den tiefsten, d. h. allgemeinsten
Überzeugungen vorzudringen und die praktischen Entscheidungen daraus
wiederum mit der erforderlichen Kürze und Durchsichtigkeit abzuleiten. Im
Grunde sind es die alten Lehren des Sozialismus von dem Selbstbetruge der
der Völker in der rein negativen Feindschaftseinigkeit gegeneinander, die
hier mit mancher neuen und i3ersönlichen Wendung und einem tapferen
Aufwände an Geschichtskenntnis und Formallogik vorgetragen werden. Aber
mir scheint, sie entbehren, wie so oft. leider auch unter dieser Fassung im
ganzen für exoterische Wirkungen das rechte Maß von diplomatischer Zurück-
haltung im Ton und, was schlimmer ist, von menschlicher Ehrfurcht vor
den Unerforschlichkeiten des Lebens und seiner unendlichen Mischungen der
Werte. Ist man schon verwundert, daß der Ästhetiker Steffen einen Künstler
wie Kipling zu den Barbaren wirft, was soll man zu Robertsons Ausfällen
auf Dickens, den ersten weltbekannten Ankläger der kapitalistischen englischen
Gesellschaft, sagen? In Deutschland, fürchte ich, werden seine unvorsichtigen
Bemerkungen über die Helden des neuen Reichs die unberechtigten Angriffe,
die schon gegen seine angebliche nationale Befangenheit gemacht worden
sind, kaum zum Schweigen zu bringen geeignet sein. Sollte nicht eine wahr-
haft sozialistische Auffassung der großen unbewußten Strömungen und Ver-
hältnisse in der Geschichte eben ihre persönlichen Träger vor der Tugend-
und Lasterbeurteilung der älteren Historie schützen?
Wenn ich zum Schluß Simons schöne Abhandlung über englisches
Kommimalwesen hier anzeige, muß ich fürchten mit einem kurzen allgemein-
politischen Urteil ihrem Inhaltsreichtum kaum gerecht zu werden. Aber
eben was ihre Mitteilungen praktisch so äußerst nützlich und lebendig macht,
daß sie der Hauptsache nach aus Augenschein und mündlich-persönlichen
Auskünften am Orte geschöpft oder daran orientiert sind, behaftet sie nach
der Seite der Theorie (ich meine: der wissenschaftlichen Ursacherklärung)
mit einer gewissen Schwäche. Der Schlüssel zum Verständnis der englischen
Stadtverwaltung ist ihr Verharren auf der Stufe der mittelalterlichen, vor-
staatlichen Klassenregierung: Daher die weitgehende Unabhängigkeit von
der Staatsgewalt, der Mangel einer wirklichen Verantwortlichkeit in dem (in
Beamte und Bürgervertreter) noch ungeschiedenen Stadtrat mit seinen rein
formellen Plenarsitzungen, aber auch die völlig aristokratische Verfassung
der besoldeten technischen Hilfsämter, als Hauptergebnis von dem allen die
schreiende Finanzwirtschaft auf der Grundlage der Mietssteuer, deren Miß-
erfolge auf dem Gebiete des Kommunalsozialismus mit Unrecht gegen diesen
selbst geltend gemacht werden. Von alledem wird man durch die Häupter
der Verwaltungen natürlich schwer etwas erfahren, aber es liegt deshalb
nicht weniger am Tage und hätte auch Simons Darstellung ein kräftigeres
Rückgrat gegeben. Wenn die (echt mittelalterlich) noch immer von den
Bespiechuugen. 239
Kommunen gesonderte Armen verwaltimg ganz richtig mit einbezogen wurde,
wäre statt der Bedenken gegen die neue Sozialfürsorge des Staates (S. 86 f.)
besser die geplante Übernahme der alten Armen von der parochialen Unter-
stützung auf die Staatsrente erwähnt worden. Untersuchungen wie Rown-
trees „Poverty in Cities" fehlen leider im Literaturverzeichnis; sonst wäre
wohl von dem entsetzlichen Elend der Fabrikstädte mehr die Rede gewesen
als von der selbstverschuldeten Armut.
Ein Wort zu dpr wichtigen Fi-age der Übertragungen aus dem Eng-
lischen, die sich ja weit übei- das bloß Sprachliche der Übersetzung hinaus
erstreckt, kann ich nicht unterdrücken. Wie soll die Kunde eines fremden
Landes fortschreiten, ohne daß den allergeringsten Anforderungen an Ver-
trautheit mit den Besonderheiten seines Lebens entsprochen wird? Die
Verdeutschung von Robertsons Schrift schwankt fortwährend zwischen Un-
verständlichkeit und unfreiwilliger Komik, auch für die erheblich geschicktere
Übersetzerin von Lloyd Georges Reden (S. 178) ist Downing Street „die
Straße, die zum Parlament führt", und sogar bei Simon liest man (S. 41),
daß „red tape", der englische Aktenheftfaden, das „grüne Tuch" des dortigen
Bureaukratentisches bedeute.
Paul Oertmann, Die staatsbürgerliche Freiheit und das freie Ermessen der
Behörden. (Vorträge der Gehe-Stiftung. 4. Bd. 2. Heft.) Leipzig 1912.
Teubner. 29 S.
Verf. geht davon aus, daß die staatsbürgei'liche Freiheit ihre Verbürgung
in den Institutionen findet, die den sog. „Rechtsstaat" ausmachen, wenn
man das vieldeutige Wort in dem wesentlich formalen Sinne verwendet, den
ihm Fr. J. Stahl aufgeprägt hat imd der ihm in der juristischen Literatur
der Gegenwart beigelegt wird. Der Rechtsstaat habe nun aber die Tendenz,
das diskretionäre Ermessen der Behörden möglichst auszuschließen, und so
erhebe sich die Frage, ob denn diese rechtsstaatliche Maxime einigermaßen
durchgeführt sei. Demnach untersucht Verf. zuerst für die Gerichte, dann
für die Verwaltungsbehörden den Umfang des ihnen zukommenden freien
Ermessens und findet — natürlich — , daß jene angebliche Maxime nicht
durchgeführt, vielmehr ein „ungeheurer Umfang des Ermessungsgebietes auch
im modernen Staate" (S. 23) wahrzunehmen sei. Da nun nach Ansicht des
Verf. Rechtsstaatsidee und behördliche Freiheit zu individualisierender Be-
handlung des Einzelfalls sich vertragen wie Feuer und Wasser (S. 28), so
kommt er zu dem Schluß: Soweit das freie Ermessen reiche, sei der Rechts-
staat nicht durchgeführt. Die Rechtsstaatsidee, wiewohl von unverlierbarem
Wert, sei überhaupt nicht radikal durchführbar, neben ihr müsse auch die
entgegengesetzte Leitidee der behördlichen Freiheit zu ihrem Rechte kommen;
„jede da, wo überwiegende Gründe der salus publica zu ihrer Verwertung
hinführen".
Das ist in sich gewiß richtig, aber es ist eine etwas triviale Wahrheit.
Außerdem ist ihre Formulierung irreführend, denn sie arbeitet mit einer Art
Popanz des Rechtsstaatsbegriffs. So ist die Sache doch nicht gemeint, wenn
die Autoritäten des Verwaltungsrechts die Bindung an das Gesetz, die ge-
naue Abgrenzung zwischen Freiheit und Staatsgewalt, den Vorrang der Ver-
ordnung vor der Verfügung, die durchgeführte verwaltungsgerichtliche Kon-
trolle als rechtsstaatliche Einrichtungen teils lehren, teils postulieren. Ich
kann das nicht im einzelnen hier ausführen; aber freies Ermessen der Behörde
ist so wenig die Verneinung des Rechtsstaats in diesem Sinne, daß um-
gekehrt die juristische Bewältigung dieses Lebenselementes der Verwaltung —
die Scheidung des Ermessens von der Willkür; der Nachweis, daß das Er-
messen der Behörde auch bei weitestem Spielraum seine juristisch präzis
(„genau" sagt Stahl, nicht „eng") zu bezeichnenden und unter Rechtsschutz
240 Besprechungen.
zu stellenden Voraussetzungen Formen und Grenzen habe; die Untersuchung
wie dem Mißbrauch des Ermessens zu begegnen sei, ohne die der Behörde
gebührende, verwaltungspolitisch in zahlreichen Verhältnissen unentbehrliche
Freiheit und Initiative zu hemmen — Hauptgegenstände „rechtsstaatlicher"
Erörterungen und Urteilsbegründungen sind. Gewiß ist Bindung der Bureau-
kratie an gesetzliche Grundlagen und Grenzen das Grundprinzip des Rechts-
staats oder überhaupt des Verwaltungsrechts, aber doch so, daß der richtige
und klare Ausgleich zwischen den Leitideen der behördlichen Freiheit und
Gebundenheit das Thema und nicht die Aufhebung der rechtsstaatlichen
Ordnung ist. — Was die Einzelheiten betrifft, so muß ich es mir in dieser
Zeitschrift versagen, zu den interessanten verwaltungsrechtlichen Ausführungen
Stellung zu nehmen, zu denen Verf. durch R. v. Launs Buch über das Freie
Ermessen angeregt wurde (S. 23—28), um so mehr als ich dieses Werk ander-
wärts (Verwaltungsarchiv 20 S. 444 ff.) ausführlich besprochen habe. Von
allgemeinem Interesse ist dagegen die Beobachtung des Verf., daß die meisten
„Freirechtler" politisch dem Liberalismus naheständen (S. 29 n. 1) und die
Bemerkungen, die er daran knüpft. Verf., dessen unterschiedslose Gegner-
schaft gegen alles Freirechtliche ich übrigens keineswegs teile, betont ganz
richtig, daß die Sorglosigkeit, mit der die Enkel wichtigste Entscheidungen
ins Ermessen der richterlichen Beamten stellen wollen, seltsam kontrastiere
mit dem Bemühen der liberalen Großväter, das diskretionäre Ermessen der
Verwaltungsbeamten möglichst auszuschalten. Indes ganz so seltsam ist die
Sache doch nicht! Der Durchschnittsliberale der 50er und 60er Jahre hat
zwar — und nicht ganz mit Unrecht — ein gesteigertes Mißtrauen gegen die
Sachlichkeit der abhängigen Verwaltungsbeamten, dagegen ein fast unbe-
grenztes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Unparteilichkeit der Justiz-
richter. Nicht Gueist, sondern Bahr ist typisch für die liberalen Ansichten
in diesen Dingen, und die Anhänger des sog. Justizstaats sind immer auf der
Linken zu suchen. An liberaler Tradition fehlt es also auch den extremen
Freirechtlern nicht, so gewiß natürlich auch die Anhänger strenger Gesetzes-
dienerschaft des Richters sich auf eine solche berufen können.
Einen breiten Raum (S. 11 — 23) nehmen übrigens die erwähnten Nach-
weise des häufigen Vorkommens fi-eien Ermessens ein, mit den treffend ge-
zeichneten Unterscheidungen zwischen gebundenem und freiem, freiem richter-
lichen (S. 20 und 22) und freiem Verwaltungsermessen.
Es finden sich da zahlreiche feine und einleuchtende Bemerkungen, wie
denn überhaupt der Vortrag im Ganzen durch klaren Aufbau und Reichtum
des Inhalts ausgezeichnet ist. Richard Thoma.
Georg Meyer, Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts. Nach dem
Tode des Verfassers in dritter Auflage bearbeitet von Franz
Dochow. Leipzig 1910. Duncker & Humblot. 762 S.
I.
Will man dies Buch, die Neubearbeitung des bekannten, 1893 in zweiter
Auflage erschienenen Meyerschen Lehrbuchs, richtig würdigen, so wird man
m. E. zunächst einmal absehen müssen davon, wie es wirklich ist, vielmehr
sich über die Frage klar sein müssen, wie es hätte sein können oder sein
sollen und welche objektiven Leistungsmöglichkeiten für den Be-
arbeiter vorhanden waren. —
Als ich es zuerst zur Hand nahm, da mußte ich unwillkürlich denken
an ein Wort, das ich während meiner Universitätszeit von einem hervorragend
tüchtigen Zivilrechtslehrer gehört hatte: „Der Fortschritt der Wissen-
schaft vollzieht sich in Monographien, den Ruhm aber ernten die
Besprechungen. 241
Lehrbücher, obwohl sie doch nur Konipilatorenarbeit darstellen." Und nach-
dem ich den umfangi-eichen Band von fast 50 Bogen durchgeblättert hatte,
da glaubte ich durch ihn die Richtigkeit jenes Satzes vollgültig bewiesen zu
sehen, und dieser Glaube an die notwendige wissenschaftliche Unfruchtbarkeit
aller systematischen Gesamtdarstelhiugen, soweit sie nicht selbst mono-
graphische Ausführlichkeit annehmen wie das Kirchenrecht von Hinschius
in seiner splendid Isolation, bildete mit einen der Gründe, die mich fast
veranlaßt hätten, die Aufforderung, im Rahmen des „Öffentlichen Rechts der
Gegenwart" ein sächsisches Verwaltungsrecht zu schreiben, trotz aller
Lockungen eines solchen Anerbietens abzulehnen.
Heute, wo ich mitten drin stehe in der Arbeit an diesem schließlich
doch noch übernommenen Werk, denke ich über die wirklichen
Leistungsmöglichkeiten einer lehrbuchmäßigen Darstellung
wenigstens für das Gebiet des Verwaltungsrechts anders und es will
mir scheinen, daß jener Zivilrechtslehrer allzusehr die andersartigen Ver-
hältnisse des bürgerlichen Rechts im Auge gehabt hat. Es bedarf dabei
keines Hinweises auf Otto Mayers Deutsches Verwaltungsrecht, das eben
als die geniale Intuition eines geistvollen und durchaus originalen Juristen
eine Sonderstellung einnimmt und in der Schablone des verwaltungsrecht-
lichen Lehrbuchs keinen Platz finden würde. Vielmehr glaube ich, daß
gerade auch unter Beibehaltung des von Georg Meyer übernommenen
Lehrbuchcharakters und insbesondere des ja auch von Max v. Seydel
gegen Otto Mayer verteidigten „staatswissenschaftlichen Systems" in der
Stoffgliederung drei bedeutsame Leistungsmöglichkeiten für den Bearbeiter
gegeben waren.
Die erste lag in der reizvollen, dem privatrechtlichen Lehrbuch vom
BGB. §§ 1 — 432 entrissenen, Aufgabe, aus dem unendlichen Chaos der in
Paragraphentausende zerstreuten Einzelbestimmungen die Grundsätze eines
„allgemeinen Teils" des Verwaltungsrechts heraus zu destillieren. Die Fülle
der Probleme, die in ihm enthalten sind, habe ich inzwischen in meinen
„Grundzügen eines allgemeinen Teils des öffentlichen Rechts" (in Annalen
des Deutschen Reichs 1911, 1912) versucht wenigstens anzudeuten. Die
Notwendigkeit seiner Schaffung hatten schon längst vorher Bernatzik,
Stoei'k und andere hervorgehoben. Wissenschaftliche Vorarbeiten für ihn
standen dem Bearbeiter in ganz anderm Mal^e als Georg Meyer zur Ver-
fügung; neben Otto Mayers Verwaltungsrecht mußte er sich vor allem
Georg Jellineks glänzendes System der subjektiven öffentlichen Rechte
und mehr noch Walter Jellineks bedeutsame Schrift über den fehlerhaften
Staatsakt nutzbar machen, und auch aus der von Georg Meyer nicht näher
berücksichtigten ausgezeichneten Schrift von Rosin üqer das Recht der
öffentlichen Genossenschaft hätte er noch viel Anregung holen können, und
soweit diese Vorarbeiten Lücken oder Zweifel ließen, bot sich gerade
jemanden, der kein partikulares, sondern ein gemeindeutsches Verwaltungs-
recht zu schreiben unternahm, der also gezwungen war, sich mit allen
Partikularrechten wesentlich gleichmäßig zu beschäftigen und vertraut zu
machen, weit mehr als dem partikularrechtlich arbeitenden Forscher die
Möglichkeit einer Nutzbarmachung des partikulär zerstreuten Gesetzesmaterials
für die Schaffung jenes allgemeinen Teils.
Und war diese erste Aufgabe gelöst, so konnte von der gewonnenen
Grundlage aus selbst eine aus Raumrücksichten knapp gehaltene Darstellung
des speziellen Teils auch in dieser etwas schaffen, was ihr einen eigenen
W^ert neben dem eingehendsten und genauesten Kommentar eines Spezial-
gesetzes zu verleihen geeignet war, nämlich die Vereinheitlichung des spe-
ziellen Verwaltungsrechts. Wie liegen doch die Verhältnisse in unserer
Verwaltungsgesetzgebung? Haben wir ein einheitliches Verwaltungsrecht? —
In der Idee wohl ja; zum Ausdruck kommt sie darin, daß wir von dem
Zeitschrift für Poütik. 6. 16
242 Besprechungen.
„Eechtssystem eines Landes" und insbesondere vom System seines öffentliclien
Rechts sprechen; begründet ist sie in der durch die historische Schule zum
Siege gekommenen Anschauung vom „Wachsen des Eechts", einer Anschauung,
die fi-eilich gar oft gerade von den beredesten Wortführern einer „historischen
Rechtsauffassung" gröblich dahin mißverstanden wird, daß das Schv^^er-
gewicht zu legen sei auf die Konservierung „historisch gewordener" Ab-
normitäten, die zwar in das heutige Rechtssytem nicht mehr paßten, aber
nun doch einmal von der Vergangenheit überkommen seien und darum
ehrfurchtsvoll respektiert werden müßten, während mir doch im Gegenteil
scheinen will, daß die tiefere historische Auffassung gerade bei denen liegt,
die eine Assimilierung jener Abnormitäten an und durch ihre moderne
Umgebung annehmen und zwar eine Assimilierung ohne Zutun des Gesetz-
gebers und ohne jede äußerlich erkennbar werdende Änderung der positiven
Normen, von denen jene Abnormitäten ausgingen (vgl. Kormann, System
der rechtsgeschäftlichen Staatsakte, S. 332, 333). — Aber auch wenn man in
der Idee die innere organische Einheit des Verwaltungsrechts eines Landes
anerkennt, so stellt sich doch in der äußeren Wirklichkeit dieses Recht nicht
als Einheit, sondern als ein Konglomerat von Hunderten von Einzelgesetzen
dar, deren Text Hunderte von Geheimräten jeder auf eigene Faust und ohne
viel Zusammenhang mit dem andern mehr oder minder gut entworfen und
Hunderte von Abgeordneten mehr oder weniger verschlechtert haben. Und
hier setzt die zweite große Aufgabe der wissenschaftlich systematischen
Gesamtdarstellung des Verwaltungsrechts ein, die dahin geht, dieses Kon-
glomerat umzuschaffen und zu verschmelzen zur organischen Einheit, die es
sein muß, wenn anders jene Grundidee der historischen Rechtsauf fassung
richtig ist. Dazu aber ist nötig, daß der Bearbeiter sich unabhängig macht
gegenüber den Hunderten von Geheimräten und den Hunderten von Ab-
geordneten, daß er deren Arbeit nicht behandelt nach ihren mannigfachen
SpezialSystemen, die doch nur ein großes System der Systemlosigkeit dar-
stellen, sondern daß er mit bestimmten überall einander gleichen Gesichts-
punkten, eben denen, die er sich in dem ».allgemeinen Teil" gebildet hat,
an die Betrachtung der Einzelgebiete herantritt vmd, ohne auf Einzelheiten
einzugehen, deren Erörterung ihm der Raummangel ja doch verbietet und
in denen er doch nicht mit dem Kommentar konkurrieren kann, von jenen
Gesichtspunkten aus die konstruktiven Grundlagen der Einzelgesetze aufdeckt.
Auch das ist eine Aufgabe des Verwaltungsrechtlers, der der Verfasser eines
zivilrechtlichen Lehrbuchs keine gleichartige gegenüberstellen kann; denn
unser Zivilrecht ist ja in seiner großen Masse in einheitlichen Gesetzen, ins-
besondere in unserm BGB., über das wir uns trotz aller seiner viel zu scharf
kritisierten Mängel von Herzen freuen sollen, kodifiziert, und auch insoweit
es sich in kleineren Spezialgesetzen verstreut findet, ist der Schade nicht so
groß, da die Geheimräte, die diese Gesetze entwarfen, durch jene großen
Kodifikationen und die gemeinsame zivilistisch-wissenschaftliche Vorbildung
genügend beeinflußt waren, um unter sich in den leitenden Gesichtspunkten
übereinzustimmen.
Wenn ich im vorigen von der Notwendigkeit der Aufdeckung der
„konstruktiven Grundlagen" unserer verwaltungsrechtlichen Gesetze gesprochen
und dabei zugleich einen halb neidischen IBlick auf den Zustand unserer
privatrechtlichen Gesetzgebung geworfen habe, die ihrerseits eheu wesentlich
stärker „konstruktiv" beeinflußt ist, so muß ich dabei natürlich auf den
Einwand gefaßt sein, es sei verfehlt oder gar absurd, für die Einführung
der „konstruktiven Jurisprudenz" in die Verwaltungsrechtswissenschaft gerade
zu einer Zeit einzutreten, wo man in der bisher durch sie völlig beherrschten
Privatrechtswissenschaft ihr wegen ihrer „Gemeinschädlichkeit" vielfach die
Treue aufsagt. — Da mir über das Verhältnis dieser konstruktiven zu der,
wie wir sie kurz nennen wollen, „Zweckjurisprudenz" mancherlei Unklarheit
zu bestehen scheint, so mag hier mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen
Besprechungen. 243
hierauf eingegangen w-erden. Es liegt in der Natur der Sache, daß die
konstruktive Methode allgemeine Eechtsbegriffe (und Eechtsinstitute !) als
Ausgangspunkte benützt und die zahlreichen oder zahllosen Einzelerscheinungen
der Paragi-aphentausende diesen allgemeinen Begriffen unterzuordnen und
einzugliedern bemüht ist, und es liegt dabei dann ferner wenigstens nahe,
daß Leute, denen das nicht paßt, sie dadurch zu diskreditieren versuchen, daß
sie das bekannte Wort vom „ Begriff shimniel" herbeirufen, wobei diese neunmal-
klugen und vielbelesenen Weisen — es sind meist Praktiker — nur leider
vergessen, daß derselbe Jhering, der gegenüber einer scholastischen Begriffs-
bildnerei (vgl. Kormann, System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte S. 11, 12)
mit Recht das Spottwort vom Begriffshimmel erfunden hat, den Wert
praktisch brauchbarer Begriffe (vgl. a. a. 0.) voll zu würdigen wußte: in
seinem „Geist des römischen Eechts" (dritter Teil, erste Abteilung, 4. Aufl.
S. 12, 13) nämlich meint er gelegentlich der Entwicklung einer Analytik des
Eechts gegenüber Ciceros bekanntem, ganz im Sinne der modernen Anti-
konstruktiven gehaltenen Ausspruch: „Juris consulti quod positum in una
cognitione est id in infinita dispertiuntur" folgendes: es sei „dieser Ausspruch,
insoweit er einen Tadel gegen die Jurisprudenz begründen sollte, nur ein
Beweis für die juristische Urteilslosigkeit seines Urhebers. Was . . Cicero
hier als Gebrechen der juristischen Wissenschaft seiner Zeit kennzeichnet,
war nichts als der analytisch-juristische Geist des römischen Eechts, und
nur indem er die totale Verschiedenheit des Gesichtspunktes, durch den
der Philosoph und durch den der Jurist sich bei seiner Begriffszersetzung
leiten zu lassen hat, übersah, konnte er dahin gelangen, der alten Juris-
prudenz zum Vorwurf anzurechnen, was das Lebensgesetz des Rechts ausmacht
und ihr zur ewigen unvergänglichen Ehre gereicht. Berechtigt wäre der
Tadel nur dann gewesen, wenn die Jurisprudenz bei ihren Einteilungen den
praktischen Zweck außer Augen gelassen und sich von einer derartigen
formalen dialektischen Scheidewut hätte hinreißen lassen, wie sie in Zeiten
wissenschaftlicher Impotenz als Zerrbild wahren Denkens aufzutreten pflegt.
Das alte Eecht, welches uns sonst ein so reiches Material für die Schilderung
der analytischen Methode an die Hand gibt, bietet für diesen letzten Vorwurf
auch nicht die geringste Handhabe dar. im Gegenteil, alle seine Begriffe,
so fein gespalten sie auch sein mögen, finden in einem praktischen Motiv
ihre Eechtfertigung." Aber so hoch auch die konstruktive Methode die
Bedeutung der allgemeinen Eechtsbegriffe bewertet, so wird doch keiner
ihrer Verti'eter sich der Einsicht verschließen, daß daneben auch die besondere
Eigenart und die besonderen Zweckgedanken der einzelnen Eechtsgebiete
berücksichtigt werden müssen; der uralte Gegensatz zwischen ius strictum
und ius aequum, zwischen strengem und Billigkeitsrecht ist ja gar nicht zu
verkennen, und daß man Wechselrecht und Familienrecht, Finanzrecht und
Sozialversicherungsrecht nicht im gleichen Sinne auslegen und handhaben
kann, ist offensichtlich. — Für die Frage aber, von der wir hier ausgingen,
nämlich die Frage nach den Aufgaben einer verwaltungsrechtlichen Gesamt-
darstellung folgt aus diesen Erörterungen über das Verhältnis der kon-
struktiven zu der Zweckjurisjjrudenz, daß auch eine konstruktiv angelegte
Darstellung in ihrem speziellen Teil sich nicht beschränken kann auf die
Aufdeckung der konstruktiven Elemente, sondern daß sie zugleich der Be-
trachtung der einzelnen Verwaltungsgebiete jeweils eine Kennzeichnung der
besonderen Eigenart und der besonderen Zweckgedanken gerade dieses
besonderen Gebiets vorausschicken muß.
Hätte der Verfasser oder der Bearbeiter sein Werk geschaffen im Sinne
der hier gekennzeichneten Gesichtspunkte, so hätte man ihm Beifall zollen
müssen, von welchem Standpunkt aus man es auch betrachtet und so ver-
schieden auch im übrigen der Standpunkt ist. den die Verw^altungs-
rechtswissenschaft, die Verwaltungspraxis, die Wissenschaft
und die Praxis der Politik dazu einnehmen.
16*
244 Besprechungen.
Vom Standpunkt der Verwaltungsrechtswissenschaft aus wäre sowohl
die Schaffung des allgemeinen Teils wie die Nachweisung der konstruktiven
Grundlagen und der besonderen Eigentümlichkeiten im speziellen Teil von
Wert gewesen, das erste an sich, das zweite insofern, als es das Gerippe
für eine in die Einzelheiten eindringende Untersuchung geboten hätte.
Vom Standpunkt der Verwaltungspraxis aus hätte man jedenfalls dem
allgemeinen Teil Dank gewußt. Denn wenn auch die Praxis im übrigen von
dem Kommentar beherrscht wird, mit dem die systematische Darstellung
niir in der Form des groß angelegten Handbuchs in Konkurrenz treten
kann, so gibt es doch einen Punkt, in dem selbt die knapp gehaltene
systematische Darstellung aus natürlichen Gründen einen weiten Vorsprung
vor dem Kommentar hat: das ist eben der „allgemeine Teil", bei dessen
Problemen der Kommentar entweder schweigt oder, sofern er selbständig
von der Theorie ihre Lösung unter Beschränkung auf die Fragen des von
ihm bearbeiteten Gesetzes versuchen sollte, alsbald an sich das treffende
Wort Manigks schmerzlich erfahren wird, daß „die kasuistische Behandlung
der einzelnen Spezies mühevoll, wenig ertragreich und dazu gefährlich ist."
Vom Standpunkt der Politik endlich, der uns an dieser Stelle am
meisten interessiert, wäre ein Werk, das in genügender positivrechtlicher
Fundierung einen „allgemeinen Teil" und zugleich mit dessen Hilfe in seinem
speziellen Teil die Vereinheitlichung des großen Konglomerats verwaltungs-
rechtlicher Gesetze geschaffen oder vorbereitet hätte, eine schöpferische
rechtspolitische') Tat gewesen, nämlich die Lösung oder ein Schritt zur
Lösung dessen, was ich unter Verweisung auf meine obigen Ausführungen
über das „Wachsen des Eechts" und seine Unabhängigkeit von äußerlich
erkennbaren Änderungen der positiven Korm^u als die in diesem Zusammen-
hang keineswegs als innerer Widerspruch erscheinende „Kodifikationsaufgabe
der Verwaltungsrechtswissenschaft" bezeichnen möchte.
Hat uns die Neubearbeitung des Meyerschen Lehrbuchs ein
solches Werk geliefert? Ich wage es kaum, die Frage noch anf zuwerfen,
da ich fast fürchte, mich lächerlich mit ihr zu machen. Es fehlt in ihr ja
jeder Ansatz dazu, sie hat es ja gar nicht versucht, nicht einmal daran gedacht.
Für die Lösung der ersten Aufgabe, die Schaffung des allgemeinen
Teils, hat sie nichts getan; sie hat zwar aus der früheren Auflage ein erstes
Buch beibehalten mit der Überschrift „Allgemeine Lehren", in dem von den
„Organen der Verwaltung" (in dankenswerter Küi'ze, unter Verweisung auf
die genauere Darstellung im Lehrbuch des Staatsrechts), von der „Rechtlichen
Natur der Verwaltungsakte", von der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Ver-
waltungsexekution und (was neu und billigenswert ist, obwohl der Bearbeiter
selbst S. 70 Anm. 1 meint, „vermutlich" habe er doch auch hier nicht den
richtigen Platz für dies Eechtsinstitut gefunden) von der Enteignung ge-
sprochen wird, — durchweg Dingen, die in der Tat in einen allgemeinen
Teil hineingehören, aber doch nur vielleicht ein fünftel von ihm enthalten,
wie man leicht feststellen kann, wenn man sich die Mühe macht, sie einmal
mit den Paragraphenüberschriften meiner erwähnten Grundzüge zu vergleichen.
Von den Anregungen, die die vorhin erwähnte, nach der zweiten Auflage
erschienene Literatur bot, hat die Neubearbeitung keinerlei Nutzen zu ziehen
gewußt; Otto Mayers Werk fi-eilich ist berücksichtigt, aber nur in der
Weise, daß seine Meinungen anmerkungsweise im Wortlaut wiedergegeben
werden, so daß man fast versucht sein möchte, zu sagen, diese Zitate seien
das beste an dem ganzen Buch; dagegen iet Walter Jellineks Schrift, obwohl
^) Über die Stellung der dogmatischen, insbesondere der verwaltungs-
rechtlichen Wissenschaft zur Politik, bei der die Verwaltungspolitik und
Eechtspolitik zu scheiden sind, vgl. Piloty im Archiv des öffentlichen
Eechts 28, S. 335 und dazu Kor mann, Politik und Wissenschaft, in der
Konservativen Monatsschrift Band 70 S. 130.
Bespreclanngen. 245
eie doch schon 2 Jahre vor dem Erscheinen dieser Neuauflage veröffentlicht
war, lediglich mit einem Zitat ihres Titels, der seinerseits übrigens den
Reichtum ihres Inhalts gar nicht erkennen läßt, abgetan.
Für die Lösung der zweiten Aufgabe fehlte es mangels der Lösung der
ersten an jeder Grundlage und es ist daher nicht verwunderlich, wenn man
vergeblich nach leitenden Gedanken in der Behandlung des speziellen Teils
sucht, der sich vielmehr darstellt lediglich als eine Aneinanderreihung des
Hauptinhalts von hunderten von Gesetzen unter gelegentlicher Einfügung
einiger Bemerkungen über bekanntere Streitfragen, — gerade als ob Gesetzes-
paraphrase mit kompilatorischem Anhängsel das Ziel der Wissenschaft wäre.
II.
Aber der Bearbeiter hat nun einmal die vorhandenen Leistungs-
möglichkeiten nicht benutzt und wir müssen sein Werk so nehmen wie es
wirklich ist. Es fi-agt sich, welcher Wert ihm in diesem tatsächlichen
Zustand beizumessen ist. —
Dabei entsteht m. E. zunächst die Vorfi-age: ist denn überhaupt
ein Bedürfnis vorhanden für ein „deutsches" Verwaltungsrecht
im Sinne des vorliegenden Werkes?
Natürlich dürfen wir diese Frage nicht beantworten nach dem buch-
händlerischen Erfolg. Dieser Erfolg ist anscheinend recht gut gewesen und
wenn ich richtig unterrichtet bin, wird sogar schon eine neue Auflage vor-
bereitet; wenn man berücksichtigt, daß zwischen der ersten und zweiten
Auflage ein Zeitraum von 10, zwischen der zweiten und dritten ein solcher
von 17 Jahren lag, so würde das gewiß viel sagen, nur freilich nicht über
die hier zu erörternde Frage, da dieser Erfolg eben lediglich auf der der-
zeitigen Monopolstellung des Meyerschen Werkes beruht, insbesondere auf
dem bisherigen Maugel eines wissenschaftlichen Lehrbuchs des Verwaltungs-
rechts unseres größten Bundesstaats, — ob die inzwischen erschienene Neu-
auflage von Bornhaks Preußischem Staatsrecht diese Lücke schließen kann,
will ich hier nicht untersuchen. Zu einer richtigen Beantwortung der auf-
geworfenen Frage kann man vielmehr nur kommen, wenn man sie einerseits
vom Standpunkt der Verwaltungspraxis, andi-erseits vom Standpunkt der
Verwaltungsrechtswissenschaft aus erörtert.
Vom Standpunkt der Verwaltungsj^raxis, also des Verwaltungsbeamten
wie des Verwaltungsrichters, aus vermag ich nicht zu erkennen, wie man zu
einer Bejahung des Bedürfnisses gelangen sollte. Die Praxis wird, wie ich
schon in anderm Zusammenhang hervorhob, grundsätzlich beheiTScht durch
den Kommentar, der allein in der Lage ist, ihr auf die sie vorwiegend
interessierenden Spezialfragen verlässige Auskunft zu geben. Soweit sie aber
ausnahmsweise das Bedürfnis empfindet, sich mehr allgemein über eine Frage
zu orientieren, namentlich über das Vorhandensein von Rechtsnormen (Gesetz-
und Ausführungsnormeu ! — meist interessieren dann aber auch die bloßen
Verwaltungsverordnungen), ist es nicht ein „deutsches" Verwaltungsrecht,
sondern das preußische, das bajTische, das württembergische, das sächsische,
das hessische Verwaltungsrecht, dessen sie bedarf.
Vom Standpunkt der Verwaltungsrechtswassenschaft aus, der in dieser
Beziehung sich übrigens deckt mit dem Standpunkt der wissenschaftlichen
Politik, liegen die Dinge allerdings nicht völlig gleich. Es kann zugegeben
werden, daB ein wissenschaftliches Bedüi-fnis dafüi- besteht, die Verwaltungs-
rechtsnormen aller oder doch wenigstens der wichtigsten deutschen Glied-
staaten an einem Platz einheitlich zusammen behandelt oder mindestens
genannt zu finden, — man kann dies zugeben namentlich mit Rücksicht auf
verwaltungsrechtliche Monographien, die eine bestimmte Rechtsfrage ohne
partikuläre Beschränkung behandeln wollen und dafür eines Wegweisers
bedürfen, sowie auch mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der vergleichenden
Verwaltungsrechtswissenschaft und der mit ihr zusammenhängenden wissen-
246 Besprechungen.
schaftlichen Politik. Aber zur Befriedigung dieses Bedürfnisses scheint mir
nicht das Lehrbuch berufen, sondern das Wörterbuch ; für das letztere, das
mit einem Stab von Spezialisten arbeitet, ist es ein leichtes, jenem Bedürfnis
in unbedingt zuverlässiger Weise zu genügen, wie wir das auch bei dem
Stengel-Fleischmannschen Wörterbuch sehen können; für das Lehrbuch da-
gegen bedeutet es einen hohen Kraftverbrauch, wenn sein Verfasser, der
nun doch einmal auch unter der allgemeinen menschlichen Beschränktheit
seiner Arbeitskraft leidet, sein Augenmerk ständig auch auf die rastlos
arbeitende Gesetzgebungsmaschine von Staaten richten muß, deren Recht
ihn nicht unmittelbar berührt, und es scheint mir darum wissenschaftlich
rationeller zu sein, wenn der Verfasser des Lehrbuchs seine Arbeitskraft
weniger extensiv für ein „deutsch'es" Verwaltungsrecht, sondern vielmehr um
so intensiver fijr ein bestimmtes partikuläres Verwaltungsrecht nutzbar macht,
wobei er es der Zukunft überlassen mag, ob vielleicht später einmal nach
gründlicherer Durchforschung der partikulären Verwaltungsrechte die Zeit
dafür reif sein wird, über diesen partikulären Verwaltungsrechten ein gemeines
deutsches Verwaltungsrecht nach Art des einstigen gemeinen deutschen
Privatrechts aufzubauen.
Wenn ich hiernach glaube, daß schon allein aus dem Gesichtspunkt des
mangelnden praktischen und wissenschaftlichen Bedürfnisses einem ,,deutschen"
Verwaltungsrecht im Sinne von Meyer-Dochow nur ein sehr beschränkter
Wert beizumessen ist, so muß dieser Wert m. E., wenn wir die Art der
Ausführung bei dem vorliegenden Werk prüfen, noch um ein erheblichea
weiter vermindert werden. Denn diese Ausführung ist höchst mangelhaft.
Von näherer Substanzierung und Beweis dieser Vorwürfe muß ich an dieser
Stelle absehen, wenn ich nicht auf juristische, die Leser dieser Zeitschrift
nicht weiter berührende Einzelheiten eingeben wollte; ich darf es aber um
80 eher, da ich in dieser Beziehung verweisen kann auf eine ausführliche
juristische Kritik, die ich gleichzeitig mit der vorliegenden für die Kritische
Vierteljahrsschrift (über „Die neuesten Lehr- und Handbücher der Verwaltungs-
rechtswissenschaft" IV) schreibe. An dieser Stelle mag es genügen, zur Illustra-
tion der von mir behaupteten Unzulänglichkeit des besprochenen Werkes anzu-
führen, daß aus der vor fast 20 Jahren erschienenen zweiten Auflage folgende
Sätze sich auch in die neue Auflage hinübergerettet haben: S. 354 „die
Emission von Schuldurkunden, die auf den Inhaber lauten, wird nach vielen
Landesgesetzgebungen von einer Genehmigung der Verwaltung abhängig
gemacht" sowie ferner 356: die Hypothekenbanken, deren wirtschaftliche
Funktionen zunächst richtig geschildert werden, „haben den Charakter von
Aktiengesellschaften und stehen unter den gewöhnlichen Grundsätzen des
Privatrechtes"; daß es heute ein BGB. und in diesem BGB. einen § 795 über
Inhaberpapiere gibt und daß es heute ferner ein Hypothekenbankgesetz gibt,
hätte ein Buch, das für Studenten des fünften Semesters ab aufwärts ein
Lehrbuch sein will, schließlieh doch wohl wissen können!
Ich glaube wohl, daß diese völlige Ablehnung des Meyer-Dochowschen
Werkes, zu der ich mich für berechtigt und verpflichtet hielt, das schärfste
Urteil ist, das bisher darüber gefällt worden ist. Aber immerhin haben
auch wohlwollendere Kritiken, soweit ich mich ihrer erinnere, dm-chweg im
Grunde sachlich recht unbefriedigt geklungen, wobei sie nur jeweils ein-
leitend oder abschließend eine versöhnende Note einbrachten durch die
persönliche Anerkennung des Fleißes des Bearbeiters. Ich muß selbst
das ablehnen. Denn seit wann ist Fleiß ein wissenschaftliches Verdienst?
Ethische Anerkennung gebührt dem Fleiß, aber dem wissenschaftlichen
Kritiker steht es nicht an, mit dem Maßstab des Sittenrichters zu messen,
für ihn muß es bleiben bei dem Satz: Nur der Erfolg ist ein Verdienst.
Karl Kormann.
Besprechungen. 247
Ludwig Dambitsch, Die Verfassung des Deutschen Eeichs, mit Erläute-
rungen. Berlin 1910. Franz Vahlen. VI und 696 S.
Einen neuen Kommentar zum Staatsgrundgesetz des Deutschen Eeichs
wird man immer mit besonderem Interesse zur Hand nehmen, allein schon,
um festzustellen, wodurch er sich von seinen älteren Brüdern unterscheidet,
ob er in der ganzen Anlage und in der Art der Darstellung etwas neues
bietet. Das vorliegende Buch läßt gleich beim ersten Zusehen erkennen,
daß es im äußeren Aufbau ziemlich erheblich von den landläufigen Gesetzes-
kommentaren abweicht. Anstatt die einzelnen Stichworte der Verfassungs-
artikel in der zufälligen Reihenfolge des Textes nacheinander zu erläutern,
hat der Verfasser es vorgezogen, den Rechtsinhalt jedes Artikels in geschlossener
systematischer Bearbeitung, gewissermaßen in Gestalt einer kleinen Mono-
graphie, wiederzugeben. An den Wortlaut des Gesetzes schließt sich eine
logisch wohlgeordnete Disposition, die sodann in eingehender Darstellung
und in übersichtlicher Form abgehandelt wird.
Dringt man tiefer in diese einzelnen „Monographien" ein, so entdeckt
man eine weitere Eigenart der Schrift, ihre grundsätzlich praktische Zweck-
bestimmung. Von einem Rechtspraktiker — Dambitsch ist Amtsrichter —
verfaßt, will das Buch auch nach der Art, wie es dem Leser den reichen
Stoff vorführt, offenbar in erster Linie praktischen Zielen dienen. Nicht als
ob der Verfasser theoretischen Streitfragen aus dem Wege ginge. Aber er
hält sich nicht länger bei ihnen auf, als es unbedingt nottut. Er vermeidet
eine allzu breite Erörterung der lediglich den Theoretiker interessierenden
Fragen des Reichsstaatsrechts. Kurz und bündig nimmt er z. B. zu den
Problemen über die Entstehung und die juristische Konstruktion des Deutschen
Reiches, über die Unterscheidung von formellen und materiellen Gesetzen,
über die Rechtsnatur des Staatshaushaltsgesetzes u. dgl. Stellung. Dagegen
berücksichtigt er viel eingehender und liebevoller, als es sonst üblich ist,
den Werdegang, die parlamentarische Auslegung und Handhabung sowie die
judiziellft Wertung der einzelnen Verfassungsvorschriften. Dem Bestreben, ein
praktisches Handbuch zu schaffen, dient auch die deutlich erkennbare Tendenz,
abstrakte Ausführungen durch konkrete Fälle zu beleben und bei der Be-
handlung praktisch erheblicher Streitfragen tunlichst, jedoch nicht kritiklos,
der bewährten Praxis der Behörden, namentlich der Gerichte, zu folgen.
Auch die Auswahl des verarbeiteten Materials trägt dem Gesichtspunkt
der praktischen Verwendbarkeit Rechnung. Dambitsch beschränkt sich
nicht darauf, seinen Erörterungen lediglich den Inhalt der Verfassungsartikel
zugrunde zu legen, sondern er hat es — nicht bloß bei dem hierzu besonders
geeigneten Artikel 4, sondern auch anderwärts — verstanden, den ganzen
unendlichen Stoff des Reichsverfassungs- und Verwaltungsrechts in sein
System einzugliedern. Natürlich kann es sich dabei nicht um eine erschöpfende
Würdigung der neben der Verfassung füi* das Reichsstaatsrecht noch maß-
gebenden Reichsgesetze handeln. Doch werden die einschlägigen Gesetze
immerhin ihrem wesentlichen Inhalt nach km'z vermerkt, so daß das Buch
eine vollständige Materialsammlung des gesamten öffentlichen Reichsrechtes
bis zum Ende des Jahres 1909 enthält.
Darf hiernach die Frage der praktischen Verwertbarkeit des neuen
Kommentars unbedenklich bejaht werden, so ist auf der anderen Seite die
Förderung, welche es der Wissenschaft des Eeichsstaatsrechts bietet, nicht
sonderlich bedeutend. Gewiß kann man nicht zwei Herren dienen, nicht
Theorie und Praxis zugleich voll befriedigen. Gleichwohl hätte der \'erf asser
nach einer doppelten Richtung aber doch auch der Theorie etwas mehr
entgegenkommen sollen.
Zunächst in der Wahl der herangezogenen Rechtsliteratur. Neben den
größeren Lehrbüchern des Reichsstaatsrechts und des preußischen Staatsrechts
sind nur die staatsrechtlichen Aufsätze der einschlägigen Zeitschriften berück-
248 Bespi'echungen.
sichtigt worden. Die ganze wertvolle monographische Literatur des Eeichs-
staatsrechts wird fast gar nicht gewürdigt. So führt der Verfasser z. B. bei
der Erörterung der Kolonisation (S. 141 f.) keine einzige Schrift aus der
neuerdigs bereits recht reichhaltigen Kolonialrechtsliteratur, bei der Skizze
über das Vereinswesen (S. lt)9) keinen einzigen Kommentar zum neuen
Eeichsvereinsgesetz, bei der Lehre von der Eeichskanzlerverantwortlichkeit
(S. 335 ff.) keine einzige Sonderbearbeitung dieser wichtigen Frage an. Es
stand ihm allerdings frei, den Bereich der beizuziehenden Ar])eiten enger
oder weiter abzugrenzen. Aber wenn er dabei die Zeitschriftenliteratur,
und sogar anscheinend erschöpfend, verwertet, so durfte er die bei weitem
wichtigere monographische Literatur nicht ganz übergehen.
Daß man bei der unendlichen Menge der Streitfragen, zu denen die
Eeichsverfassung trotz aller ihr gewidmeten wissenschaftlichen Arbeiten immer
noch Anlaß gibt, nicht durchweg der vom Verfasser vertretenen Auffassung
zu folgen vermag, ist klar. Es soll hieraus auch kein Vorwurf hergeleitet
werden. Vielmehr erscheint es durchaus dankenswert, daß Dambitsch sich
nicht gescheut hat. an zahlreichen Stellen der bislang anerkannten Meinung
najnhafter Staatsrechtsautoren eine eigene, wohlbegründete Ansicht entgegen-
zusetzen. Weniger aber wird man sich damit befi-eunden können, daß er
es, wenn auch offenbar in dem Bestreben, der praktischen Anschauung der
Dinge etwas entgegenzukommen, an einer Eeihe von Stellen mit den als fest-
stehend zu erachtenden theoretischen Grundsätzen des Staatsrechts nicht eben
sehr genau genommen hat. Einige Beispiele zum Beleg. Über das Ergebnis
mühevoller wissenschaftlicher Forschung, daß ein Staat seine Verfassung nur
durch sich selbst, nicht anderswoher erhalten kann, setzt sich Dambitsch
mit der kurzen Bemerkung hinweg, der Bundesstaat beruhe auf der Verfassung
und könne sich daher die Verfassung nicht selbst gegeben haben (S. 8).
Während es heute als ziemlich allgemein anerkannt gelten kann, daß die
Eingangsworte der Eeichsverfassung nur historische, keine völkerrechtliche
Bedeutung haben und jedenfalls nicht zum Text der Verfassung gehören,
meint Dambitsch: Die dauernde Voraussetzung für die Existenz dieses
Bundes, der dm-ch den Beitritt der süddeutschen Staaten nur eine Erweiterung
und keine Veränderung seiner rechtlichen Natur erfahren habe, bilde jedoch
das in dem Eingang der Verfassung zum Ausdruck gebrachte vertragsmäßige
Verhältnis. Die Bestimmung des Eingangs sei für die Einzelstaaten ein
Staatsvertrag mit der völkerrechtlichen Wirkung eines solchen, daß, soweit
der Eechtsinhalt des Eingangs reiche (nur der erste Satz kommt in Betracht),
die Einzelstaaten wechselseitig gebunden imd berechtigt seien. . . . Anderer-
seits hätten dadurch, daß diese Bestimmung formell einen Bestandteil der
Verfassungsurkunde bilde, die Einzelstaaten sich dem Eeich gegenüber ver-
pflichtet, einseitig an dem Bündnis nichts mehr zu ändern. . . . Die Be-
stimmung sei also für die Einzelstaaten Vertragsrecht (S. 10). — Während man
mit dem Wort „Verfassung" heute die verschiedensten Begriffe verbindet,
scheint Dambitsch (S. 26) einen einheitlichen, umfassenden Verfassungs-
begriff anzunehmen. — Der schlimmste Fehlgriff ist dem Verfasser da unter-
laufen, wo er mit dem Begriff der „Souveränität" operiert. Seine Ausfüh-
rungen lassen sich hier nur dadurch erklären, daß er diesem Worte einen
ganz falschen Sinn unterschiebt. Während gegenwärtig kein Zweifel mehr
darüber obwaltet, daß nur der Bundesrat, nicht der Kaiser Eej^räsentaut des
Eeichssouveräns ist, behauptet Dambitsch (S. 267 f.). der Kaiser sei, weil
in den wesentlichsten seiner Funktionen unabhängig, im Kreise seiner Macht-
vollkommenheiten souverän. Der überlieferte Begriff der Unteilbarkeit der
Souveränität scheitere an dem eigenartigen staatsrechtlichen Aufbau des
Eeichs. Es gebe im Eeich zwei souveräne Gewalten, den Kaiser und die
durch den Bundesrat vertretene Gesamtheit der Verbündeten Eegierungen.
Es klingt mehr als seltsam, wenn Dambitsch sodann die einzig richtige
Ansicht mit den Worten abfertigt: „dagegen namentlich Lab and I S. 195 ff..
Besprechungen. 249
der von der Unteilbarkeit der Souveränität ausgehend dem Kaiser die Sou-
veränität abspricht" (S. 268). Aber nicht nur der Kaiser als solcher, sondern
auch die Einzelstaaten sind nach Dambitsch (S. 274, 598) souverän! Aller-
dings gibt er zu, daß z. B. iva internationalen Verkehr das Keich als ein
geschlossenes Ganze auftritt und daß „insoweit die Souveränität der Einzel-
staaten in der Hauptsache (?) in ihrer Teilnahme an der Leitung des Reichs
aufgegangen ist" (S. 274). Man sieht also, daß bei der wissenschaftlichen
Benutzung des Buches ein recht erhebliches Maß von Vorsicht geboten ist.
Ein kurzes Wort noch über die Stellung des Buches zu politischen
Fragen. Seiner praktischen Tendenz entspricht es, daß eine Reihe rechts-
politischer Bemerkungen und Erwägungen eingestreut ist. Der Grundton
der Arbeit aber ist und bleibt ein objektiv-juristischer. Von allgemein-
politischen oder gar parteipolitischen Exkursen ist keine Rede. Wohl aber
werden wirtschaftliche, insbesondere volkswirtschaftliche und rechtspolitische
Ideen zum Zwecke der besseren Veranschaulichung der Tragweite einzelner
Vorschriften eingeflochten. Hervorhebung verdienen beispielsweise die Aus-
führungen (S. 127 ff.) des Verfassers über die Sozialpolitik des Deutschen
Reiches und über deren herrschende Motive im Verlaufe der Sozialgesetz-
gebung. Er versteht dabei unter Sozialpolitik im umfassendsten Sinne die
Politik, welche darauf abzielt, dem schwächeren, unterstützungsbedürftigen
Teile der Staatsangehörigen zu helfen auf Kosten des Staatsganzen und auf
Kosten der wirtschaftlich stärkeren Mitglieder des Staats, und zwar erstreckt
sich die Hilfe gi-undsätzlich auf jede Art der bestehenden Not, in erster
Reihe natürlich auf eine Besserung der wirtschaftlichen Lage, außerdem
aber auch, namentlich soweit jugendliche und weibliche Personen in Betracht
kommen, auf eine Linderung sittlicher Notstände, auf hygienische Verbesse-
rungen und auf Beförderung des geistigen Wohls, der Erziehung Und des
Unterrichts (S. 127). Von besonderem Interesse sind ferner die eingehenden
Bemerkungen (S. 400 ff.) über die politischen Beweggründe für die Ein-
führung der allgemeinen, direkten und geheimen Wahl. Der Verfasser prüft
hier die Bedenken gegen das preußische Dreiklassen-System, erörtert die
politische Situation bei Einführung des Reichstagswahlrechts, die Gründe für
die Allgemeinheit des Wahlrechts, für die direkte Wahl, endlich die Be-
denken gegen die geheime Stimmenabgabe. Er stellt (S. 408) fest, daß das
allgemeine Wahlrecht in vielen Beziehungen die Erwartungen, die darauf
gesetzt worden sind, nicht erfüllt hat, daß es aber eine Grundlage des ganzen
politischen Lebens geworden ist, die ohne schwere Erschütterung des Ver-
fassungsbaues, auf dem das Reich beruht, nicht mehr beseitigt werden könnte.
Dem Programm der Reichsregierung und dem der preußischen Regierung
entspreche die grundsätzliche Aufrechterhaltung des status quo ante, ein
Prinzip, dem zeitgemäße Reformen natürlich nicht widersprächen (S. 410).
Bedenkt man, daß gerade derartige rechtspolitische Ausführungen den
Praktikern des Staatslebens, den Staatsbehörden, den Staatsbeamten und den
Parlamentariern die zum Teil recht komplizierten Bestimnumgen unseres
Reichsverfassungsrechts rascher verständlich zu machen geeignet sind, so
wird man dem neuen Kommentar trotz der schwerwiegenden Bedenken, zu
denen er in theoretisch-wissenschaftlicher Hinsicht Anlaß gibt, eine weite
Verbreitung wünschen und ihn auch dem Studium derer empfehlen dürfen,
die sich einen Einblick in das weitverzweigie Gebiet des deutschen öffent-
lichen Rechts verschaffen wollen. Friedrich Giese.
Otto Frhr. v. Dungern, Das Staatsrecht Ägy^^tens. Graz 1911. Lej-kam.
126 S.
Der Verf., der in Czernovritz als Staatsrechtler wirkt, hat in diesem
Werke den Versuch gemacht, das komplizierte Bild, das uns heute der Staat
250 Besprechungen.
Ägypten bietet, auf Grund einer Methode zu entwirren, die er für die Be-
urteihmg orientalischer Verfassungsfragen aus dem Geiste mohammedanischen
Denkens und Empfindens glaubte abstrahieren zu können. Das Gesamtbild,
das er nach seiner Methode uns zeichnet, mag wohl dem tatsächlichen Macht-
verhältnis von heute eher entsprechen, als das, was wir nach der her-
gebrachten staatsrechtlichen Theorie uns heute noch von Ägypten zu machen
haben, ob es aber auch nur klarer ist, ob dadurch das verwirrende Durch-
einander von türkischen Firmanen und ägyptischen Erlassen, von Souzeränität
und Okkupation auch nur um einen Deut behoben ist, muß billig bezweifelt
werden. Für den praktischen Politiker wird das Buch keine Bedeutung
haben, das hat der Verf. auch nicht bezweckt. Es ist gedacht als rechts-
philosophische Studie, deren Wirkung hinsichtlich der Methodik wohl auch
weit über den engeren Rahmen gerade des ägyptischen Staatsrechts hinaus
berechnet war. Unter diesem Gesichtspunkte ist vieles, was der Verf. vor-
trägt, bedeutungsvoll und regt lebhaft zum Nachdenken über den großen
Wandel auch der staatsrechtlichen Formen an, dem wir scheinbar mit anderen
Erscheinungen des öffentlichen Rechts im Zeichen der neuen wirtschafts-
politischen Zeit entgegen gehen. Dennoch kann das gefundene Resultat nicht
recht befriedigen, selbst wenn wir mit dem Verf. lediglich den Wert der
Verträge wägen und das untersuchen, was ist, nicht, was sein sollte. Dann
hätte dem Verf., der in Ägypten selbst seine Studien gemacht hat, das gi'oße
Imponderabile nicht entgehen dürfen, das der Begi'iff des Kalifats be-
deutet, besonders da dieses Kalifat in Union mit dem Souverain sich befindet,
dessen Oberhoheit der Verf. nicht mehr glaubt annehmen zu dürfen. Auch
die jüngste Geschichte spricht gegen das in diesem interessanten Werke ge-
fundene Resultat.
In der üblichen Darstellung des ägyptischen Verfassungsrechtes, die
in der Tat meist zugleich die kommentierende Methode mit der historischen
verbindet, sieht v. Dungern deshalb einen großen Fehler, weil durch die
Hervorhebung alter Firmane die Bedeutung dieser älteren Grundgesetze
überschätzt werde, während zugleich die durch zuwiderlaufende Praxis be-
wiesene Entwertung mancher älteren Bestimmungen übersehen würde. Ein
staatsrechtlicher Grundsatz, der, wenn auch nur einmal, mit dem klaren
Bewußtsein durchbrochen werde, daß man ihm entgegenhandelt, bestehe nicht
mehr. In den Firmanen finde sich auch keine einzige Beschränkung einer
vollkommenen landesherrlichen Gewalt der ägyptischen Herrscher, die nicht
durch entgegenstehende Praxis als heute aufgehoben erwiesen wäre (S. 5).
Deshalb gilt dem Verf. die formelle Existenz der Firmane garnichts, und er
will den gegenwärtigen Rechtszustand aus den tatsächlichen Rechtserscheinungen
herleiten. Die bloße Beobachtung des praktischen Lebens an die Stelle
grundgesetzlich festgelegter Verfassangsregeln zu setzen, muß bedenklich
sein, — darüber ist sich der Verf. klar und er zieht zur Unterstützung seiner
neuen „Methode" nun die Abnormität heran, die den Geist des Orients vom
westeuropäischen unterscheidet. „Bei uns sind Ausdrucksform und Inhalt
eines Gedankens so sehr aneinander gebunden, daß keines ohne das andere
besteht. Wenn wir etwa eine ganz neue Strafgewalt einführen wollten, so
würden wir zu erkennen geben, daß wir etwas Neues einführen; statt dessen
zu sagen, daß wir eine alte Regel durchzuführen beschließen, schiene uns
absurd. Im Orient wählt der Wille nicht den nächsten Weg, den ihm die
Sprache zur Verfügung stellt, um sich zum Ausdruck zu bringen, sondern er
redet in einer umständlichen Bildersprache oder er kleidet seinen Gedanken
in eine bekannte hergebrachte Formel" (S. ö).
Die Form führe im Orient ihr eigenes Leben neben dem Inhalte. Der
Orientale ließe daher eine „Form in Gesetzesfragen fortbestehen und versehe
sie durch stillschweigendes Einverständnis mit einem neuen Inhalt". Ganz
besonders al)cr sei die Gesetzgebung der Türken völlig Kasuistik: Gehorsams-
befehle aus dem Erobererrecht in die wildfremden Formen des vorgefundenen
Besprechungen. 251
byzantinischen Regierungssystemes gegossen. Das alles sei bisher bei der
Beurteilung des ägyptischen Staatsrechtes übersehen worden, und deshalb
sei man immer lediglich zu einer Darstellung des Zustandes gekommen, der
auf dem Papier steht, nicht dem, der wirklich ist. „Die einzige fruchtbare
Methode einer Untersuchung, die feststellen will, was in staatsrechtlicher Be-
ziehung heute in Ägypten und für Ägypten Rechtens ist, zwingt zu dem
Versuch, dies Punkt für Punkt aus der Staats- und verfassungsrechtlichen
Praxis zu eruieren." Was in seiner. V^ des Büchleins ausmachenden Ein-
leitung der Verf. ferner von den Tendenzen und Strömungen, denen die
französischen und englischen Bearbeiter dieses Stoffes unterliegen, sagt, bedarf
hier keiner besonderen Wiedergabe, obgleich es interessant zu lesen ist und
ihm hierin beigestimmt werden kann.
Die Kritik dieser Einleitung, mit der das ganze Buch steht und fällt,
muß zunächst hervorheben, daß die Zweckmäßigkeitsgründe, die der Verf.
zur Perhorreszierung der bisher üblichen wissenschaftlichen Methoden anführt,
nicht stichhaltig genug sind, um von diesen bewährten Arbeitsformen ab-
zugehen. Daß die historische Methode eine Überschätzung antiquierter Grund-
gesetze notwendig mit sich bringe, kann wirklich nicht behauptet werden.
Ihrer werden wir sicherlich gerade in dem ägyptischen Staatsrecht nicht
entraten können. Im übrigen ist die Art, wie der Verf. selbst an seinen
Stoff herantritt, im besten Sinne kommentierend, leider scheint es mir jedoch
keine rein rechtliche Kommentierarbeit zu sein. Wenn der Verf. die bloße
Beobachtung des rein praktischen Lebens an die Stelle grundgesetzlich fest-
gelegter Verfassungsregeln setzen will, so ist der Interpretation des Politikers
Tür und Tor geöffnet, ein Spiegel der tatsächlichen Machtverhältnisse entsteht
dann, aber nicht dessen, was Rechtens ist. Vielleicht auch ein Idealstaat, zu
dem einmal Ägypten werden könnte, wenn die ihn formten, die jetzt die
Macht, aber nicht das — Recht auf ihrer Seite haben. Der Umstand, daß
die Rechte der Türkei auf Ägypten heute so gut wie auf dem Papiere
stehen, nimmt ihnen doch noch nicht den Charakter als Rechte. Wenn
jemand zu schwach ist, sein Recht auszuüben, so geht er deshalb desselben
noch nicht verlustig. Wir kommen eben mit dieser neuen Methode des Herrn
von Dungern aus den rechtlichen Erörterungen völlig heraus und müssen
uns dann wieder, um zu erfahren, was denn nun eigentlich Rechtens ist,
Rat holen gerade bei den von ihm so verpönten praktischen Werken, ins-
besondere der gediegenen Arbeit des Freiherrn von Grünau. Zugegeben sei
ihm gern, daß etwas Richtiges in dem liegt, was er als Kasuistik der
türkischen Gesetzgebung bezeichnet. Die Türken fühlen sich auch heute noch
in ihren eroberten Ländern nicht völlig als friedliche Besitzer, sondern, wie
sich aus ihrer Verwaltung ergibt, immer im Kriegszustande, ihre Gesetze
mögen daher tatsächlich vielfach nicht mit dem Gedanken für vorläufig un-
begrenzte Dauer geschaffen sein. Daß nun aber die Firmane unter Discrepans
ihres Inhalts und ihrer Form rechenschaftslos in die Welt gesetzt sein sollen,
geht daraus noch lange nicht hervor und ist auch höchst unwahrscheinlich in
sich. Gerade bei dem Orientalen kann man ein großes Verständnis für die
juristisch genaue Abfassung von Vertragsbedingungen beobachten, bei dem
modernen Orientalen! Sogar eine gewisse übertriebene Genauigkeit bei der
Beurteilung öffentlichrechtlicher Akte, vielleicht hervorgerufen durch schlechte
Erfahrungen im Umgange mit der abendländischen Diplomatie. Sicherlich
trifft in diesem Zusammenhange nicht zu. was der Verf. — S. 7 — sagt, daß
der Orientale mit der größten Seelenruhe Gesetze über sich ergehen lasse,
die seine ganze Existenz vernichten müssen, die Vorschrift schrecke ihn nicht,
er frage nur, wieviel von dem gesetzlichen Inhalte durchgeführt werde. Das
klingt wie aus Zeiten von tausend und einer Nacht. Man denke für die
heutigen ägyptischen Verhältnisse doch nur an die starke durch das ganze
Volk gehende Aufregung, die die Wiedereinführung verstaubter Straf-
bestimmung-en für die Preßdelikte vor zwei .lahren am Nil verm-sachte, oder
252 Besprechungen.
an die vom äg-yptischen Volke getragene Bewegung gegen die Pläne der
Regierung hinsichtlich des Suezkanals und in vielen anderen Fällen. Mag
auch au diesem modernen Geiste im ägyptischen Volke die starke Auf-
klärungsarbeit der politischen Parteien ihr wesentliches Anteil haben, so muß
andrerseits doch angenommen werden, daß die gleich genaue Beurteilung
von Staatsgesetzen innerhalb der letzten 80 Jahre bei gebildeten Leuten vor-
handen gewesen ist, die die Regierungsverträge schlössen. Der Verf. kommt
zu der Behauptung, daß, so eindeutig die Sprache der Firmane klinge, in
ihnen doch keine einzige Beschränkung einer vollkommenen landesherrlichen
Gewalt der ägyptischen Herrscher enthalten sei, die nicht durch entgegen-
stehende Praxis als aufgehoben erwiesen wäre. Diese These, die er sich
anschickt in den folgenden Teilen des Buches zu beweisen, ist für das ganze
Buch kennzeichnend und gibt ihm eine gewisse Tendenz, sie führt aber auch
in ihrer Allgemeinheit den Verf. dazu, in den folgenden Einzelfragen An-
sichten zu vertreten, die man trotz weitgehendster Würdigung der neuartigen
Gesichtspunkte nicht als gerechtfertigt ei-achten kann.
In dem umfangreichsten, den Elementen der ägyptischen Staatsgewalt
gewidmeten Teile des Buches werden nacheinander das Volk, die Sprache,
das Staatsgebiet und die Verfassung behandelt. Beim Kapitel Volk erwähnt
der Verf. zwar die wichtige, insbesondere für die Beurteilung des Rechts-
verhältnisses zwischen der Türkei und Ägypten erhebliche Tatsache, daß die
Ägypter, ebenso wie die Einwohner von ilassaua und bis 1910 die Tunesier
im Auslande von den Türken diplomatisch vertreten werden, die seine An-
schauung sehr erschütternden Schlüsse werden aber nicht gezogen. Auch der
Umstand, daß die Türkei keine Konsuln in Ägypten unterhält, macht ihn
nicht stutzig. Die Anschauung einer von der Oberhoheit der Türkei völlig
losgelösten ägyptischen Staatsverfassung würde doch gerade durch das Vor-
handensein von türkischen Konsuln sehr unterstützt werden. Hinsichtlich
der Landessprachen erwähnt von Düngern die Anwendung des Türkischen
als Kommandosprache in der Armee garnicht, während er den Einfluß der
hauptsächlich in Ägypten gesprochenen europäischen Sprachen stark hervor-
hebt und m. E. überschätzt. Seine Behauptung, das Arabische eigne sich
nicht für rechtliche Angelegenheiten, ist mir von Arabern heftigst bestritten
worden. Selbst aber wenn dies der Fall wäre, so dürfte dies noch lange
nicht den Schluß rechtfertigen, den der Verf. zieht, daß es deshalb überhaupt
nicht zum offizielen Text der Gesetze werden könne. Das Wort offiziell habe
keine Bedeutung, solange diese Gesetze auf französisch oder englisch ent-
worfen und der englische oder fi-anzösische Text der Gesetzgebung zugrunde
gelegt werde, vielfach sogar allein dieser Text verstanden werde und die
offizielle Fassung eine Übersetzung in eine nur wenigen zugängliche Sprache
ist. Diese Ansicht ist so abwegig und steht in so starkem Widersjjruch zu
den tatsächlichen Verhältnissen, daß man nur glauben kann, der Verf. habe
seine Ansichten lediglich in den europäischen Kreisen Kairos geschöpft, wie
sollte man sonst in Ägypten vom Arabischen als einer nur wenigen zugänglichen
Sprache reden können?
Größere Berechtigung muß dagegen wieder den Ausführungen über das
Staatsgebiet zugesprochen werden. In ihnen kommt der Verf. zu dem Er-
gebnis, daß heute Ägypten selbständig über sein Staatsgebiet bestimmt. Das
mag richtig sein, spricht aber nicht gegen die Vasallität oder ein ähnliches
Verhältnis. Bedenklich muß es ferner erscheinen, bei der Begründung dieses
Satzes auch die Grenzregulierungen heranzuziehen, die zwischen dem Ober-
staat und dem Unterstaat, zwischen der Türkei und Ägypten vorgenommen
wurden, wie die Akaba und Sinai-Affären, denn in diesen kann niemals ein
Handeln gegen die Bestimmungen der Firmane gesehen werden, nach denen
es dem Khediven verboten sein soll, über das altägyjitische Provinzgelnet
zugunsten Fremder zu verfügen. Die Abtretung des Sudan, über den aller-
dings heute eine Oberhoheit der Pforte nicht billig angenommen werden
Besprechungen. 253
kann, ist andrerseits ebenfalls als Argument nicht sehr stichhaltig. Die weiten
Entfernungen im Inneren Afrikas machten zur Zeit der ersten EroVjerung der
Sudanländer die Abhängigkeit dieser zu einer nur relativen, ähnlich der der
Tsadseeländer bis herunter nach dem jetzt deutschen Adamaua, die alle der
Pforte tril)utär waren. Dann hätte sich auch Deutschland bei der Inbesitz-
nahme Adamauas mit der Türkei ins Einvernehmen setzen müssen! Hinzu
kommt die gänzliche Neueroberung und die jetzt geschaffene eigenartige
Zweckmäßigkeitsform, da — wie Cromer sagt — „den widerstreitenden
Interessen nicht ohne Schaffung irgendeiner bisher der internationalen Rechts-
wissenschaft unbekannten Bastardform . . . genügt werden konnte". Daß
sich ein nicht voll souverainer Staat neben dem Staatengebiet, mit dem er
abhängig ist, noch Gebiete schafft, in denen er völlig selbstherrlich schaltet,
ist überdies sehr wohl möglich; man denke an Preußen! Ein solcher Tat-
bestand spricht also nicht gegen die Vasall ität. Hinsichtlich der von dem
ünterstaat Ägypten ohne Genehmigung der Pforte vorgenommenen Abtretung
Massauas an die Italiener ist hervorzuheben, daß die Türkei energisch gegen
diese Grenzenänderung protestiert hat. „Eine Zeitlang hallten die aus-
wärtigen Ämter Europas wider von den zornigen, aber wirkungslosen Pro-
testen der Pforte" (Cromer II 55). v. Dungern erwähnt selbst diese Proteste,
benutzt aber dennoch die Abtretung Massauas als Beweismittel seiner An-
schauung, was recht widerspruchsvoll ist.
Zur Darstellung der Verfassung (S. 37 ff.) gibt der Verf. zunächst einen
historischen (!) Teil: die Entwicklung der Beziehungen Ägyptens zur Türkei,
dann eine Interpretation der Firmane, kommt darauf zum Verhältnis Ägyptens
zu den Mächten und erst ganz zuletzt zu den staatsbürgerlichen Rechten und
Pflichten. Man mußte nun von dem Verf., der sich ja gerade vorgenommen
hatte, die rein tatsächlichen Bestände rechtlich abzuwägen, besonders eine
Lösung der doch rein theoretischen Fiktion der Okkupantenstellung der
Engländer am Nil erwarten, einer leereu Form, die in ihrer Wirkung einem
Protektorate gleichkommt und rechtlich schon lange nicht mehr gerechtfertigt
ist. Aber grade bei diesem Punkte verläßt der Verf. die angekündigte
Methode und flüchtet zu der Fiktion zurück. Er erklärt von den britischen
Okkupationstruppen: „Da sie als ein vom Lande zur Aufrechterhaltung der
inneren Ordnung benötigter Faktor gelten, ist dieser Zustand verfassungs-
mäßig anerkannt" (S. 44/45).
Die InteriJretation der Firmane gibt zum Teil recht viel Richtiges. Man
muß mit dem Verf. annehmen, daß viele Bestimmungen der Firmane anti-
quiert sind. Seine Ausführungen über das Thronfolgerecht dürften tatsächliche
Richtigkeit beanspruchen. Andrerseits unterschätzt der Verf. den Wert, den
noch heute manche Firmanbestimmungen im jiraktischen Leben Ägyptens
besitzen, und sucht manchmal etwas künstlich und gezwungen ihre Beweis-
kraft für die rechtliche Abhängigkeit von der Pforte zu verkleinern. Dies
gilt von dem Münzenschlagen im Namen und auf den Namenszug des Sultans,
dem ägyptischen Tribut, den militärischen Beschränkungen und den Be-
schränktmgen in der Ordensverleihung. Die Teilnahme ägyptischer Truppen
im Krimkrieg fällt ganz unter den Tisch, daß der Khedive Titel, Orden und
Auszeichnungen aller Grade in voller Freiheit austeilt (S. 70), ist nicht zu-
treffend. Auch die Vertretung der Mächte durch Agenten und Generalkonsuln
hindert v. Dungern nicht daran, anzunehmen, daß das Ausscheiden Ägyptens
aus dem türkischen Reichsverband tatsächlich heute vollzogen ist (S. 77), und
ebensowenig der Umstand, daß ein Ausländer nur, nachdem er zuvor tür-
kischer Untertan geworden ist, das ägyptische ludigenat erwerben kann, daß
ferner 1884 Ägypten auf der Londoner Konferenz durch die Türkei vertreten
wurde, daß es auf den Konferenzen in Venedig 1892 und Paris 1904 kein
Stimmrecht erhalten konnte, bzw. nicht ins Plenum kam. — Beide Tagungen
waren wissenschaftlicher Natur. Es ist schlechterdings unverständlich, wenn
auf Grund dieser Kongresse der Verf. die Unfähigkeit Ägyptens, im Völker-
254 Besprechungen.
rechtlichen Verkehr selbständig aufzutreten, heute nicht mehr glaubt an-
nehmen zu brauchen.
Bei Besprechung des Verhältnisses Ägyptens zu den Mächten kommt
der Verf. zu der Behauptung, daß die Staatsschuldenverwaltuug, die Ver-
waltung der französischen Post, die Quarantänebehörden, die gemischten
Gerichtshöfe, der Gerichtshof für die Aburteilung militäriseher Vergehen
und einige andere Justizbehörden zwar internationale Behörden seien, aber
sich als Einrichtungen der ägyptischen Verfassung charakterisierten (S. 85).
Diese Auffassung wird manchem recht bedenklich sein. Besonders aber
können keinesfalls die Kriegsgerichte für die englische Okkupationsarmee zu
den verfassungsmäßigen Einrichtungen gerechnet werden. An anderer Stelle
will dem Verf. die Einreihung der englisclien Okkupation noch weniger ge-
lingen: Die durch die Okkupation bedingten Einrichtungen und Beschränkungen
„stellen sieh im Eahmen der ägyptischen Staatsorganisation als Einrichtungen
dar, die gleichmäßig neben und mit den übrigen Einrichtungen des Ver-
fassungslebens funktionieren". Das ist keine klare juristische Lösung, die im
geringsten geeignet sein könnte, die bisherigen praktisch angewandten
Theorien zu ersetzen. Wenn der Verf. so leicht geneigt ist, hier fremden
verfassungsmäßigen Einfluß anzunehmen, so muß es um so erstaunlicher er-
scheinen und ist um so weniger gerechtfertigt, wenn er die Ingerenz der
Pforte verneinen und die Beziehungen Ägyptens zu ihr lediglich auf das
Völkerrecht beschränken will.
Bei den staatsbürgerlichen Eechten und Pflichten der Ägypter glaubt
v. Dungern aus der Art der Organisation und aus den Funktionen der
Staatsgewalt dieselbe Praxis der Eegierung herauslesen zu können, die wir
in den Staaten mit durchgebildeter Parlamentsverfassung finden, und diese
Praxis auf dieselbe Basis zu stellen, nämlich Verantwortlichkeit der Eegierung
den Eegierten gegenüber. Da keine Gesetze die Eegierung binden, so zu
verfahren, wie es der Verf. aus vielen Argumenten glaubt entnehmen zu
müssen, so können diese Konstruktionen, sebst wenn sie richtig sind, doch
eines Tages durch die Tatsachen über den Haufen gerannt werden. Ins-
besondere scheint zu Ausnahmegesetzen, die der Verf. ausschließt, gewisse
Neigung vorhanden zu sein, wenn wir nicht gar ein solches in dem Preß-
gesetz zu erblicken haben. Im einzelnen darf die Darstellung nicht unwider-
legt bleiben, die der Verf. für die Entstehung des Sondereigentums an den
Dattelpalmen gibt. Diese, wie er es nennt ,.Anomalie" ist schwerlich dadurch
entstanden, daß der Khedive Ismail bei seinen Bodenkonfiskationen die
Palmbäume vergessen haben soll • — das klingt recht naiv — , vielmehr findet
man das Sondereigentum an den Palmen in ganz Nordafrika bei den ur-
sprünglichen Eingeborenenrechten, so heute noch in Tripolis und in Abessinien,
ebenso wie im Sudan. Das ist eine ganz bekannte Tatsache der vergleichenden
Eechtswissenschaft. Ebenso vermißt man bei der Erklärung des Verf. „die
Möglichkeit des Eigentumserwerbes an Grund und Boden ist in keiner Weise
eingeschränkt" jedweden Hinweis auf das Terrain der wakfs (Stiftungen), eine
Frage, die grade in Ägypten die Juristen sehr beschäftigt.
V. Dungern wendet sich auch gegen die Auffassung, der Khedive sei
unumschränkter Landesherr und seine Eegierung eine absolute, die Eegierung
unterliege vielmehr einer eingreifenden Kontrolle durch die Mitregierung der
ausländischen Diplomaten, dieses w^äre eine verfassungsmäßige Beschränkung
des Khedive (S. 109). Schließlich führt ihn seine Theorie zu dem Satze, daß
speziell die großbritannische Mitregierung und Kontrolle heute in Ägypten
einen ordentlichen Verfassungszustand darstellt. Wenn das die Eechts-
auffassung unter den beiden Hauptbeteiligten wäre, dann würde sich heute
nicht England um die Erklärung des türkischen Desinteressements bei der
Pforte bemühen und nicht zvdassen, daß sein König auf ägyptischem Boden
von den Vertretern des Sultans begrüßt würde, wodurch gerade in den letzten
Wochen die Oberhoheit der Türkei deutlicli von neuem dokumentiert wurde.
Besprechungen. 255
Unter „Organisationen und Funktionen der Staatsgewalt" bringt der
Verf. das tatsächliche vorhandene Material in gedrängter Form, indem er
sich der üblichen Darstellung anschließt.
Dem Buche ist in einer Anlage das Dekret v. 29. Juni 1900 über das
ägyptische Indigenat beigefügt. Km-t Weigelt.
Leopold von Wiese, Posadowsky als Sozialpolitiker. Ein Beitrag zur
Geschichte der Sozialpolitik des Deutschen Reiches. Köln 1909.
Christlicher Gewerkschaftsverlag. 189 S.
Diese Schrift wurde im Auftrage des zweiten deutschen Arbeiterkongreeses
verfaßt und ist, wie der Verfasser ausdrücklich im Vorwort bemerkt, in erster
Linie für Arbeiter bestimmt, „natürlich nur für die Arbeiter, die den sozialen
Problemen und politischen Aufgaben der Gegenwart Verständnis entgegen-
bringen". Die Hauptquellen des schönen Buches bilden die „Soziale Praxis"
und die Drucksachen des Eeichstages. Es zerfällt in vier Kapitel, die sich
mit der Vorgeschichte der Ära Posadowsky, mit seinem Lebensgang bis zur
Ernennung als Staatssekretär des Inneren, seinem Wirken als Staatssekretär
bis zum Jahre 1900 und in den Jahren 1901^ — 1907 beschäftigen. — Im ersten
Kapitel wird die Vorgeschichte der Ära Posadowsky, also die Sozialpolitik
des Deutschen Eeiches in den Jahren 1891 — 1897, geschildert. Die Vorzüge
und Mängel der Ära Bismarck, seine Arbeiterversicherungs- und seine Sozialisten-
politik, sowie seine Ablehnung des Arbeiter Schutzes werden objektiv gewürdigt.
Es folgt die Ära Bötticher-Berlepsch, die Zeit des Februarerlasses und der
internationalen Arbeiterschutzkonferenz, endlich die Ära Stumm. Der Ver-
fasser versteht es, stets das Wesentliche der Entwicklung hervorzuheben und
ein möglichst objektives leidenschaftsloses Urteil zu fällen. Das zeigt deutlich
die Beurteilung der Bismarckschen Ablehnung des Arbeiterschutzes und die
Deutung einer Persönlichkeit, wie es Frhr. v. Stumm war. Obwohl selbst
eifriger und überzeugter Soziali^olitiker, sucht doch Wiese beiden Männern
gerecht zu werden. Wenn ihm auch Bismarcks Ablehnung des Arbeiter-
ßchutzes sachlich unhaltbar erscheint, so hält er doch den Gesichtspunkt für
berechtigt, daß der Staat nicht mehr als dringend notwendig in die Wirt-
schaftssphäre des einzelnen Bürgers eingreifen soll. Den Frhrn. v. Stumm
erklärt er für einen ganzen Mann, der immer im Vordertreffen gestanden
habe, „furchtlos und voll kraftvoller Instinkte, auch nicht ohne Geist und
innere Selbständigkeit". Er nennt ihn einen Kerl, d. h. „jemanden, mit
dem wir unbedingt kämpfen müssen, so lange er oder wir das Leben haben,
mit dem man auf Tod und Leben ringt, auf dessen Grab man aber den
Lorbeerkranz mit der Widmung legt: so wünsche ich mir alle meine Feinde".
Das zweite Kapitel bringt die eigentliche Biographie des Grafen und sein
Wirken bis zu seiner Ernennung zum Staatssekretär des Inneren. Hier er-
scheint uns der Graf als Vertreter des besten Typus altpreußischen Beamten-
tums, den strenge Eechtlichkeit und Pflichttreue, Fleiß imd Sachlichkeit
kennzeichnen, in dem man aber noch nicht den späteren Minister für Sozial-
politik vermuten würde. Sein segensreiches Wirken in Posen und seine
Tätigkeit als Staatssekretär des Eeichsschatzamtes werden geschildert. Es
folgen die beiden Kapitel über Posadowsky als Staatssekretär des Inneren.
Sie verfolgen in erster Linie den Zweck, die Wandlung des Ministers in der
Sozialpolitik sowohl nach der theoretischen Erfassung wie nach der prak-
tischen Betätigung dem Leser verständlich zu machen. Bis 1900/01 bedeutet
Posadowskys staatsmännisches Verhalten keinen Fortschritt in sozialpolitischer
Einsicht gegen die Ära Berlepsch und Bötticher, seitdem aber — in den
letzten sechs Jahren seiner Tätigkeit als Staatssekretär — ist Posadowsky
zum überzeugten Sozialreformer geworden, der mit der Gleichberechtigung
256 Besprechungen.
der Arbeiterklasse ernst macht. Er wird in dieser Epoche zum „bronzenen
Fels, an dem sich immer wieder auftauchende Neigungen der parlamentarischen
Eechten zum sozialen Eückschritt brachen". Diese beiden letzten Kapitel
sind zugleich eine vortreffliche Geschichte der deutschen Sozialpolitik im
letzten Jahrzehnt. Auch hier bewährt sich der psychologische Scharfblick
und der objektive Sinn des Verfassers. Meisterhaft ist dargestellt, wie sich
im Laufe der Jahre Posadowskys engeres Verhältnis zur konservativen Partei
lockert. Die Krisis brachte die 1 2 000-Mark- Affäre, die so gewaltigen Staub
aufgewirbelt hat — sie findet eine ebenso vorsichtig abwägende wie treffende
Beurteilung. JVIit Recht sieht Wiese in jener Affäre in erster Linie die Un-
vorsichtigkeit einer vornehmen, jeder Hinterlist baren Persönlichkeit, und es
gehört zu den wenigen erfreulichen Kapiteln unserer Parlamentsgeschichte,
daß selbst die sozialdemokratische Partei ihre anfangs heftigen Angriffe gegen
den Grafen einstellte und sich davon überzeugen ließ, daß er das Opfer einer
Unvorsichtigkeit geworden war. Die gleiche objektive Kritik finden die
späteren Gesetzentw^ürfe, deren eigentlicher Schöpfer Posadowsky ist. Vor
allen Dingen läßt es sich Wiese angelegen sein, die Meisterreden des Staats-
sekretärs in ihren besonders charakteristischen Abschnitten in seine historische
Darstellung einzufl echten. IVIit Eecht sieht er in dem, auf dem Höhepunkt
seines Schaffens so tragisch gestürzten „Eeichsminister für Sozialpolitik"
den getreuen Eckart der Nation und einen jener Männer, die pflichttreu,
gütig und selbstlos sind. — Wir können das Buch einem jeden, der sich
für die Geschichte der Sozialpolitik des Deutschen Eeiches in den drei letzten
Jahrzehnten interessiert und nicht in der Lage ist, die Eeichstagsdrucksachen
oder das gi-oße Penzlersche Werk zu studieren, auf das wärmste empfehlen
W. Ed. Biermann.
Eduard von Wertheimer, Graf Julius Andrässy, sein Leben und seine
Zeit. Nach ungedruckten Quellen. I. Band: Bis zur Ernennung zum
Minister des Äußern. Stuttgart 1910. Deutsche Verlagsans talt.
XXII und 650 S.
Die Quellen, die Wertheimer für das vorliegende Werk hat benutzen
können, sind ganz ausgezeichnet. Außer dem reichhaltigen Nachlaß Andrässys,
den ungedruckten Briefen und Tagebüchern des Barons Bela Orczy u. a.
haben ihm die Akten des österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußern,
des österreichischen und des ungarischen Ministerpräsidiums und des kaiser-
lichen Kabinetsarchivs zur Verfügung gestanden, und entgegen dem Brauche,
an dem die preußische Staatsregierung deutschen Gelehi-ten gegenüber fest-
hält, sind ihm auch die Akten des preußischen Staatsarchivs, darunter die
Berichte der preußischen Gesandten aus Wien und die Weisungen Bismarcks
an sie. zugänglich gemacht worden. Daß Wertheimer dieses reiche Material
gründlich ausgeschöpft uud ausführlich mitgeteilt hat, verleiht seinem Buche
bleibenden Wert und verdient unsern Dank. Leider hat er sich damit
begnügt, sein Material mitzuteilen, und hat darauf verzichtet, es in kritischer
Verarbeitung darzubieten. Man könnte sich damit al)finden, daß Wertheimer
auf einseitig magyarischem Standpunkt steht und ganz im Stile magyarischer
Tendenzschriftsteller die Eechthchkeit und die dynastische Treue der Magyaren
in den Himmel erhebt, ohne die Berechtigung anderer Anschauungen auch
nur zu prüfen. Aber der bedauerlichste Mangel seines Buches bleibt, daß
er überhaupt keinen Versuch macht, seinen reichhaltigen Stoff zu einem ein-
heitlichen Charakterbilde Andrässys zusammenzufas-sen. Zwar verspricht er
im Vorwort, eine Charakteristik der Persönlichkeit Andrässys im Schlußkapitel
des zweiten Bandes zu geben; aber diese kann, auch wenn sie noch so
glänzend ausfallen sollte, doch keinen Ersatz für die im ersten Bande nicht
Besprechungen. 257
geleistete Arbeit der wissenschaftlichen und künstlerischen Gestaltung des
Stoffes bilden. Wertheinier legt sein llatcrial als formlose Masse vor; es
bleibt dem Leser überlassen, sich aus der Fülle der Nachrichten die heraus-
zusuchen, die sich auf die Entwicklung der Persönlichkeit und der jjolitischen
Anschauungen Andn'issys l)eziehen, und sich daraus ein Bild von dem Wesen
Andrässys zu formen. Diese Aufgabe kann in einer Anzeige, auch wenn der
Eaum noch so freigebig bemessen wird, nicht gelöst werden, aber ich will
wenigstens versuchen, die Hauptmomente in Andrässys Lebensgang hervor-
zuheben.
Andrässy ist Magyar mit allen Vorzügen und allen Schwächen seiner
Easse, mit leidenschaftlicher Hingabe an sein Vaterland und mit schroffer
Einseitigkeit in der Beurteilung politischer Verhältnisse und vor allem der
Bestrebungen anderer Nationalitäten. Aber er ist zugleich — und das tritt
immer mehr zutage, je älter er wird und je mehr er sich praktisch mit der
Politik befaßt — ein Staatsmann mit einem weit über den vielberufenen
„magyarischen Globus" hinausreichenden Gesichtskreis, mit tiefem Verständnis
für die Lebensbedingungen einer Großmacht, mit stolzem Bewußtsein der
eigenen Kraft und einem daraus entspringenden Drang zur Betätigung. Als
junger Mann von 26 Jahren hat er sich von dem Radikalismus der Unab-
hängigkeitspartei berauschen lassen und sich am Aufstand des .Jahres 1849
beteiligt, zuletzt als Gesandter der revolutionären Regierung in der Türkei.
Diese Mission war erfolglos ; die Türkei erkannte ihn nicht als Gesandten an,
und während er noch in der Türkei weilte, w'urde die ungarische Revolution
niedergeworfen. Ihn persönlich erreichte das Strafgericht der Sieger nicht,
da er sich rechtzeitig nach England, sjsäter nach Frankreich flüchtete; nur
in effigie wurde das Todesurteil an ihm vollstreckt. Aber die Rolle des
Emigranten genügte seinem Tatendrang nicht; so unterwarf er sich dem
Kaiser, reichte ein Gnadengesuch ein — das hat Wertheimer gegenüber der
populären magyarischen Auffassung, die jedes Paktieren mit dem ungekrönten,
also zur Regierung noch nicht berechtigten König als Versündigung gegen
den Geist der Verfassung ansieht und Andrässy eines solchen Vergehens nicht
zeihen wollte, endgültig festgestellt (S. 76) — und gelobte für die Zukunft
Gehorsam (1857).
In den ersten Jahren nach seiner Rückkehr hielt sich Andrässy vor-
sichtig zurück. Er erkannte die Gefahr, daß er sich durch Mitwirkung an
einem der vielen Versuche, durch halbes Entgegenkommen gegen die un-
garischen Forderungen den Frieden zwischen der Regierung und Ungarn
herzustellen, bei der Masse der Magyaren nur kompromittieren und sich vor-
zeitig verbrauchen werde. Deshalb lehnte er es z. B. ab. unter der Geltung
des Oktoberdiploms das Amt eines Obergespans anzunehmen, aber er vermied
dabei, wie Kossuth es gewünscht hätte, den prinzipiellen Gegensatz zu der
„ungesetzlichen" Regierung öffentlich hervorzuheben. Er hielt sich eben im
Hintergrunde; nicht er, sondern Deäk führte die weiteren Verhandlungen
mit der AViener Regierung und hat das Verdienst um die nach mancherlei
Wechselfällen endlich herbeigeführte Annäherung zwischen der Regierung
und Ungarn. In den politischen Anschauungen stimmte Andrässy mit Deäk
fast vollkommen überein, vor allem hinsichtlich der zvrischen Österreich und
Ungarn gemeinsamen Angelegenheiten, deren Bestehen Deäk im Gegensatz
zu den Gesetzen von 1848 seit 1865 öffentlich zugab. In einer Frage freilich
bestand zwischen Andrässy und Deäk eine sehr bezeichnende Differenz: nach
Deäk sollte Ungarn bloß zur „gemeinsamen Sicherheit" beitragen; Andrässy
dagegen sah die Aufgabe L;ngarns darin, daß es mitwirke, der Monarchie
jene Stellung wieder zu gewinnen, „die dem gemeinsamen Herrscher und
dem Gesamtreich im Rate der europäischen Mächte gebührt" (S. 194). Da-
mit bewies Andrässy, daß er der berufene Mann war, um den Ausgleich
zwischen den konstitutionellen Anforderungen der Ungarn und den Bedürf-
nissen der europäischen Großmacht Österreich zu vollziehen. So trat er
Zeitschrift für Politik. 6 17
258 Besprechungen.
denn, als nach Königgrätz die längst notwendige, aber immer wieder ge-
scheiterte Befriedigung Ungarns namentlich im Interesse des geplanten
Revanchekrieges dringlich wurde, in den Vordergrund der politischen Bühne.
Am 18. Februar 1867 wurde er Präsident des konstitutionellen ungarischen
Ministeriums ; dann setzte er zunächst die Bewilligung des Rekrutenkontingents
und der Steuern durch — denn diese unentbehrlichen Machtmittel des Ge-
samtstaates sollten nicht vom Gang der Ausgleichsverhandlungen abhängig
gemacht werden — und führte schließlich auch die Ausgleichsgesetzgebung
zum Ende.
Es ist hier nicht der Ort, in eine Beurteilung des Ausgleichs einzutreten.
Nur darauf möchte ich hinweisen, daß der Ausgleich als ein KomiDromiß
zwischen dem Großmachtinteresse, das unbedingte Einheitlichkeit der aus-
wärtigen Politik und eine Zentralisierung mindestens der Wehrkraft erfordert,
und dem ungarischen Verlangen nach besonderer „Staatlichkeit" so recht
dem innersten Wesen Andi'ässys entspricht. Die beiden Richtungen, die sich
so lange bekämpft hatten, waren in Andrässy vereinigt. Er wollte die Er-
haltung Österreichs als Großmacht, deshalb war er für die Ordnung der
gemeinsamen Angelegenheiten und die Einrichtung der Delegationen, die
zwar aus den Parlamenten der beiden Reichshälften hervorgehen, aber ent-
gegen Deäks ursprünglichem Plan nicht an deren Instruktionen gebunden
sind, sondern frei beschließen können, was ihnen im Interesse der Gesamt-
monarchie notwendig erscheint. Und so sehr war Andrässy von der zwin-
genden Kraft dieses Großmachtinteresses überzeugt, daß er an die Möglich-
keit einer Spaltung zwischen der österreichischen und ungarischen Delegation
überhaupt nicht glauben wollte und besondere Einrichtungen zur Beilegung
von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Delegationen, etwa die von Deäk
gewünschte gemeinsame Sitzung mit Durchzählung der Stimmen für über-
flüssig hielt. Er drang damit nicht durch, nach dem Ausgleichsgesetz können
gemeinsame Delegationssitzungen stattfinden; aber die Erfahrung hat gezeigt,
daß Andrässy Recht gehabt hat: nicht durch Überstimmen in gemeinsamen
Sitzungen, sondern durch gegenseitige Vereinbarung werden Streitfragen
zwischen den Delegationen erledigt, und trotz aller Umständlichkeit der
Organisation vermag die Großmacht Österreich doch immer noch sich zu
behaupten, und erhält die unentbehrlichen Mittel von den Delegationen
bewilligt.
Aber auch das einseitig Magyarische, das ich als einen Bestandteil von
Andrässys Wesen bezeichnet habe, verleugnet sich im Ausgleich nicht. Der
Dualismus, der durch ihn geschaffen wurde, bedeutet nicht nur einen Gegen-
satz zu dem Zentralismus, sondern auch zu dem Föderalismus, der die Slawen
mit gleichen Rechten neben die Ungarn stellen wollte und dadurch die Allein-
herrschaft der Magyaren in Ungarn gefährdete. Der Dualismus sollte sich
nach Andrässys Ansicht gründen auf das Übergewicht der Deutschen in der
westlichen, der Magyaren in der östlichen Reichshälfte und — das ist die
notwendige Folge — auf die Unterdrückung der Slawen in beiden.
Es ist bekannt, daß in Zisleithanien die Deutschen nicht imstande
gewesen sind, die ihnen von Andrässy zugedachte Hegemonie zu behaupten;
sie haben es sogar unterlassen, die notwendigsten Voraussetzungen einer
geordneten Regierung wie die gesetzliche Festlegung der deutschen Staats-
sprache zu schaffen. Dagegen ist Andrässy in Ungarn mit rücksichtsloser
Energie daran gegangen, die Stellung der Magyaren zu sichern und alle
separatistischen Neigungen zu unterdrücken. Die gefährlichsten Gegner
waren — das hatte Jellachichs Vorgehen 1848 bewiesen — die Kroaten.
Es war deshalb eine der Bedingungen des Ausgleichs, daß Kj'oatien in Ungarn
einverleibt werde. Den Widerstand, den der kroatische Landtag dagegen
erhob, beseitigte Andrässy auf eine Art und Weise, die dem Zweck zwar
durchaus entsprach, aber, den Ungarn gegenüber angewendet, ohne Zweifel
Besprechung^en. 259
ein lautes Geschrei über Gewalttat und Rechtsbruch hervorgerufen hätte.
Wertheimer ist sich des Widerspruchs nicht bewußt geworden, der in seiner
verschiedenen Beurteilung der ungarischen und kroatischen Selbständigkeits-
bestrebungen liegt. Wenn Magyaren sich ihrer Treue gegen den König
rühmen, so ist das selbstverständlich für bare Münze zu nehmen; aber wenn
Kroaten ihre „unbegrenzte Treue" versichern, so hat Andrässy ebenso selbst-
verständlich das Recht, darüber hinwegzugehen (S. 374), den Landtag auf-
zulösen und ein neues Wahlrecht zu oktroyieren. Die kroatischen Beamten
wurden dui-ch Androhung der Entlassung ohne Pension zum Gehorsam
gebracht. Damit war der Widerstand gebrochen, und Kroatien fügte sich.
Um die ungarische Herrschaft in diesen Gegenden vollständig zu begründen,
setzte Andrässy noch die Einverleibung der bisher unter Militärverwaltung
stehenden südslawischen Grenzbezirke, der sogenannten Militärgrenze,
durch.
Im übrigen hören wir nicht viel ül)er die innere Entwicklung Ungarns
in der Zeit des Ministeriums Andrässy. Das Hauptinteresse beansprucht die
auswärtige Politik, über die Wertheimer viel Neues und Wertvolles mitzu-
teilen hat. Andrässys Einfluß war auf diesem Gebiete weit größer, als er
nach der Verfassung sein sollte; Beusts Eifersucht auf den sehr bald als
Nebenbuhler erkannten und gefürchteten Ministerpräsidenten ist durchaus
begreiflich, um so mehr als seit 1868 ein Vertrauensmann Andrässys, Baron
Bela Orczy, ihm als Sektionschef formell unterstellt, tatsächlich zu dauernder
Kontrolle beigeordnet war. Der Gegensatz zwischen Beust und Andrässy
war aber nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie ein persönlicher, sondern
ein sachlicher. Es ist längst bekannt, daß Beust im Einvernehmen mit ein-
flußreichen Hofkreisen, vor allem mit Erzherzog Albrecht, den Revanchekrieg
gegen Preußen diplomatisch vorbereitete. Andrässy dagegen betrachtete auch
die auswärtige Politik Österreich-Ungarns vom magyarischen Standpunkt aus
und war deshalb gegen einen Revanchekrieg, der bei günstigem Verlauf
leicht auch der Selbständigkeit Ungarns gefährlich werden konnte. Er wollte
also eine vorwiegend ungarische PoHtik, aber ungarische Großmachtpolitik,
bei der auch die andere Reichshälfte auf ihre Rechnung kam. Der Orient —
darin berührte er sich mit Bismarcks bekannter Anschauung, Österreich solle
seinen Schwerpunkt nach Ofen verlegen — war das Gebiet, wo seiner Ansicht
nach die Hauptinteressen der Monarchie lagen; wegen der Orientpolitik schien
ihm Rußland, nicht Preußen der Hauptgegner zu sein ; er wollte alles ver-
meiden, was Preußen Zweifel an Österreichs Friedensliebe erwecken und es
zum Anschluß an Rußland nötigen könnte. So zogen also Beust und Andrässy
nach verschiedenen Seiten; fi-eilich war in den ersten Jahren Beust entschieden
der stärkere, denn der Revanche war auch der Kaiser geneigt.
Eine besondere Bedeutung gewann diese Differenz der Anschauungen über
die Interessen der Monarchie natürlich bei der Ej-iegsgefahr des Jahres 1870.
Wertheimers Quellen, so wertvoll sie auch sind, genügen nicht, um den Gang
der österreichischen Politik in allen Einzelheiten festzustellen; die fast gleich-
zeitig erschienene Veröffentlichung Wilhelm Alters „Deutschlands Einigung
und die österreichische Politik" (Deutsche Rundschau, Oktober 1910) zeigt
in manchen Punkten Abweichungen, die zu erklären Aufgabe der historischen
Einzelkritik sein wird. Im ganzen aber stimmen beide Darstellungen überein.
Es ergibt sich, daß Beust den Franzosen mit halben Versprechungen doch
erheblich weiter entgegengekommen ist, als er später zugeben wollte; auch
ein mit den Dingen so wohlvertrauter Mann wie Bela Orczy war schon
damals der Ansicht, daß Beust zu weit gegangen sei. Der Ausbruch des
deutsch-französischen Krieges kam freilich auch den eifrigsten Anhängern
des Rachegedankens zu früh; trotzdem war viel Stimmung für den Anschluß
an Franki-eich. Dagegen blieb Andrässy auch jetzt seiner Ansicht getreu,
daß Österreich-Ungarn zwar einen Sieg Preußens nicht wünschen könne,
aber doch in dem Kriege neutral bleiben müsse; er traute Napoleon nicht
17*
260 Besprechimo;en.
und fürchtete, dieser könne mit Preußen plötzlich Frieden schließen; dann
stehe Österreich isoliert Preußen und Eußland gegenüber. Wenn nun der
Kxonrat vom 18. Juli 1870 sich gleichfalls für die Neutralität entschied, so
darf man darin kaum einen Sieg Andrässys über Beust sehen. Denn zum
sofortigen Losschlagen, das z. B. der Kriegsminister Kuhn für nötig hielt,
wagte auch Beust nicht zu raten. Er vertrat vielmehr eine zweideutige
„Politik der freien Hand", die im geeigneten Augenblick, d. h. nach den
erwarteten ersten Siegen der Franzosen sich doch noch diesen angeschlossen
hätte, und dieser Politik neigte auch der Kaiser zu, der die Gelegenheit, die
alte Stellung in Deutschland wieder zu gewinnen, nicht ungenutzt vorüber-
gehen lassen wollte. Daß Österreich neutral blieb, ist nicht Andrässys Verdienst,
so sehr er sich auch darum bemüht hat, sondern allein die Folge der raschen
Siege der deutschen Heere. Nur die Genugtuung hatte Andrässy, daß die
von ihm empfohlene Politik sich als die bessere erwies.
Der Eevanchegedanke ließ sich nicht mehr verwirklichen, und damit
hatte Beust abgewirtschaftet. Daß Andrässy sein Nachfolger werde, darüber
war sich auch Beust klar. Sein Sturz ist aber nicht durch Fragen der aus-
wärtigen Politik herbeigeführt worden, obgleich Bismarck (vgl. S. 530) die
Entfernung Beusts als Vorbedingung dauernd guter Beziehungen zwischen dem
Deutschen Reiche und Österreich bezeichnete, sondern durch die schwierigen
inneren Verhältnisse in Österreich. Während Andrässy in Ungarn jeden
Widerstand gegen den Ausgleich rasch und energisch unterdrückt hatte,
standen in Zisleithanien noch 1871 die Tschechen der neuen Ordnung feind-
lich gegenüber. Die Versuche, sie zu gewinnen, sind hier nicht zu erzählen;
es genügt zu erwähnen, daß unter Beusts Mitwirkung an einer föderali-
stischen Gestaltung der österreichischen Eeichshälfte gearbeitet wurde. Dieser
Plan veranlaßte Andrässy zum Eingreifen, denn jede Anerkennung der Na-
tionalitätsbestrebungen in Österreich mußte naturgemäß auf die mühsam
beruhigten nichtmagyarischen Völkerschaften in Ungarn zurückwirken. Den
Verlauf im einzelnen brauche ich nicht zu schildern; zielbewußt und geschickt,
wenn auch nicht immer auf ganz geraden Wegen ist Andrässy vorgegangen,
bis das föderalistische Ministerium Hohenwart und bald darauf auch Beust
zur Strecke gebracht war. Am 8. November 1871 wurde er zum Nachfolger
Beusts in der Leitung des Ministeriums des Äußern ernannt.
Damit schließt der erste Band der Biographie Wertheimers. Der zweite,
der die Wirksamkeit Andrässys als Leiters der auswärtigen Politik Österreich-
Ungarns umfassen soll, wird natürlich noch mehr als der erste von allge-
meinem Interesse sein; wird doch darin die Orientkrisis der Jahre 1876/78
und der Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses zu erzählen sein.
Doch auch der erste Band wird trotz der bemerkten Mängel der Komposition
seinen Wert behalten, nicht nur für die Geschichte Andrässys, Ungarns und
Österreichs, sondern auch für die Geschichte Europas in den Jahren 1867
bis 1871. Fritz Härtung.
Otto Lempp, Das Problem der Theodizee in der Philosophie und Literatur
des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller. Leipzig 1910. Dürr.
432 S.
I. Gegenstand der Untersuchung der wertvollen Arbeit von Lempp
bilden Darstellung und Kritik der Lösungen des Theodizeeprobleins auf Grund-
lage des die Philosophie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmen-
den Intellektualisinus, sodann der Nachweis, daß eine befinedigende Begrün-
dung der Theodizee nur auf religiös-idealistischem Wege zu finden und von
Kant und dann von Schiller geboten ist.
Besprechungen. 261
Den wirkunofs vollen Ausgano:spimkt für die historisch-kritische Ab-
lehnung der intellektualistischen Theodizee bildet eine systematisierende Dar-
stellung der Ki-itik des Gottesbegriffes durch ßayle. Nach dieser muß Gott als
allmächtig alles physische und moralische Übel verschuldet haben, mag man
die Freiheit des Menscheu anerkennen oder leugnen. Gab Gott dem Menschen
die Freiheit, so mußte er als allwissend die Folgen dieses Danaergeschenkes
voraussehen. Dieses also von Gott direkt oder indirekt gesetzte physische
und moralische Übel steht in schneidendem Widerspruch mit der behaupteten
Allgüte Gottes. Wollte Bayle auch nur die Ohnmacht der menschlichen
Vernunft dartun, für die erstarkende rationalistische Philosophie lag hier
ein Problem, dem Leibniz den Namen gab, die Rechtfertigung Gottes wegen
des Übels in der Welt.
Leibnizens Intellektualismus suchte das Wesen des moralischen Übels
als unklare Vorstellung zu erfassen und erklärte es so, wie auch das physische
Übel, metaphysisch als unvermeidlichen Mangel der Weltorganisation (S. 50).
Es müssen nämlich, soll überhaupt eine Welt möglich sein, nach dem princi-
pium indiscernibilium sich die Monaden unterscheiden, können somit nicht
alle gleichmäßig vollkommen sein ; also wäre eine vollkommene Welt eine
contradictio in adjecto (S. 57). Nach seiner Güte wählte nun Gott unter den
möglichen Welten die höchstmöglich vollkommene.
Sehr feinsinnig zeigt Lempp, daß damit das Problem der Theodizee nicht
gelöst, vielmehr völlig beiseite geschoben sei. Da Gott nur möglichen Welten
von mehr oder minder großer Unvollkommenheit gegenüberstand, gab es in
Wahrheit für seine Güte gar keine Wahl, er mußte die höchstmöglich voll-
kommene Welt realisieren (S. 62). Damit wird Gott zu dem die Welt reali-
sierenden Faktor: der Begriff eines persönlichen Gottes wird überflüssig.
Im Grunde lehrt Leibniz. die Welt ist so, wie sie eben ist — eine Theodizee
ist illusorisch. Daß übrigens ein solcher „Optimismus" wie ihn Leibniz ver-
tritt, nur allzusehr dem Pessimismus verwandt ist, hat Lempp treffend (S. 78)
hervorgehoben. (Vgl. über diesen Punkt die feinsinnigen Ausführungen von
Jean Baruzi, Leibniz et l'organisation religieuse de la terre S. 478 ff.).
Weder für den Universalismus des Wolffschen Eationalismus, dieser
Vergröberung Leibnizischer Gedanken, noch für den der englischen Empirie,
insbesondere den Shaftesburys gab es in Wahrheit ein Theodizeeproblem.
Nach Wolff ist das physische Übel für das Weltganze keineswegs ein solches
(S. 73), das moralische Böse ist zwar ein Übel, das Gott setzen mußte, weil
er die beste Welt erschuf, sub specie aeternitatio betrachtet, kommt ihm je-
doch der Charakter der Bösen nicht zu (S. 74). Für die konsequent univer-
salistische Betrachtung Shaftesbrn-ys löst sich alles scheinbare physische und
moralische Übel analog in vollkommener Harmonie auf. „Die Theodizee
Shaftesburys ist im Grunde nichts anderes als der glänzende Nachweis, daß
auf dem Boden seiner universalistischen Weltbetrachtung das Theodizee-
problem gar keinen Platz hat" (S. 95).
Diese Lösung oder besser Umgehung des Theodizeeproblems beherrschte
den späteren unsystematischen Aufklärungsoptimismus. Diese Scheintheodizee
wurde als unhaltbar erkannt, als der Optimismus pessimistischer Weltbetrach-
tung gewichen, als die Erkenntniskritik Humes die begrifflichen Grundlagen
der rationahstischen Philosophie zersetzt hatte (Abschnitt 3 und 4).
Diese geistvolle Kritik der intellektualistischen Theodizee. die eingehende,
klare Darstellung der einzelnen Schattierungen der Lehre, des Erwachens
einer Opposition, die endlich zum Zusammenbruch jener Theorie führte, bildet
den anziehendsten Teil des Werkes ; weniger glücklich ist der weitere Versuch
in den Schriften Kants und Schillers eine befriedigende Lösung des Theodizee-
problems nachzuweisen.
n. Die Grundlage für eine wirkliche Theodizee erblickt Lempp in der
von Lessing, Eousseau und Herder geforderten individuellen Religiosität, in
262 Besprechungen.
der von ihnen erkannten Autonomie der sittlichen Persönlichkeit (IT. Teil
1. Abschnitt).
In sehr eingehender, scharfsinniger Ausführung bringt Lenipp des
weiteren den Nachweis, daß eine Lösung des Theodizeeproblems mit der
Kantschen Erkenntnistheorie nicht vereinbar sei (insb. S. 281 ff., S. 302). Erst
nachdem Kant durch seine Kritik der teleologischen Urteilskraft eine Basis
gefunden hat. „die ganz von der Ej-itik der reinen Vernunft sich abgelöst
hat" (S. 337), welche den Menschen ,.in seinem sinnlich-übersinnlichen Wesen
wieder als Einheit betrachten lehrt" (S. 341), wird eine Theodizee möglich.
Im Lichte solcher Betrachtung hat der Mensch als Noumenon die sittliche
Freiheit „alles Naturgeschehen in den Dienst des Sittlichen zu zwingen",
„die ganze natürliche Welt muß als Mittel für die sittlichen Wesen beurteilt
werden; jedes einzelne Geschehen hat nur einen Sinn und Wert dadurch, daß
es j\Iittel zur Betätigung sittlicher Kraft und sittlichen Geistes ist" (S. 335).
Die sittliche Welt aber findet ihre Einheit in Gott. Die Macht des Bösen
bedeutet nur eine Aufgabe für die in Gott geeinten sittlichen Menschen,
welche das Böse schließlich überwinden werden (S. 350).
Schillers Theodizee ist eine künstlerisch lebendige Ausgestaltung jener
Kantischen Gedanken (S. 428). Schiller, dessen Kantstudium ein Durch-
arbeiten der Kritik der Urteilskraft einleitete (S. 379), steht der Kantischen
Erkenntnistheorie fern (vgl. S. 403), von vornherein lehrt er die Einheit des
Menschen in seinem „sinnlich-übersinnlichen Wesen". Auf dieser Grundlage
reproduziert er selbständig „die Kantische Lehre von der Beurteilung der
Natur als Mittel für den sittlichen Menschen als Selbstzweck" (S. 412). Der
Mensch kann „frei von jeder Zeitgewalt" (S. 419) das sittliche Ideal in seinen
Willen aufnehmen, die erwachsende „Neigung zur Pflicht" überbindet die
Kluft zwischen dem Ideal und der sittlichen Minderwertigkeit, der Schuld
des Menschen (S. 421). Das physische Unheil weckt die sittliche Persön-
lichkeit, zeigt deren Überlegenheit dem Schicksal gegenüber (S. 382 und 422).
In derartigen Betrachtungen erblickt Lempp eine Lösung des Theodizee-
problems. Indessen enthalten derartige Ausführungen keinesfalls eine „Lösung"
eines Problems und erst recht nicht eine „Theodizee".
Kant wie Schiller behaupten nur die Einheit des sinnlich-übersinnlichen
Wesens im Menschen, sie behaupten eine im täglichen Leben wirksame sitt-
liche Freiheit. Daß man bei solcher Unterstellung schließlich zu dem Re-
sultat kommen kann, daß das sinnliche Wesen vom übersinnlichen überwunden
werden muß und kann, daß also keine Dissonanz besteht zwischen Ideal und
Wirklichkeit — das ist ja ganz richtig. Es fragt sich aber gerade, ob denn diese
Annahme auch erkeuntniskritisch gerechtfertigt ist. Nach Kants Vernunft-
kritik ist jene Freiheitslehre geradezu falsch. Schiller hat sie ganz unkritisch
verfochten. Von einer Lösung des Problems kann doch erst gesprochen
werden, wenn die Lehre vom im Tagesleben wirksamen Noumenon erkenntnis-
kritisch als notwendig dargetan ist. Bis dahin ist bestenfalls das Beweis-
thema schärfer formuliert worden. Kant und Schiller haben also höchstens
die Frage: „Ist eine Theodizee möglich?" auf die andere zurückgeführt: „Ist
die Annahme eines im täglichen Leben wirksamen Noumenon erkenntnis-
kritisch zu rechtfertigen?" Die Schwerkraft der Kantschen Vernunftskritik
aber fordert eine unbedingte Verneinung.
Doch selbst wenn diese Kant-Schillersche Freiheitslehre berechtigt wäre,
selbst wenn Schillers Behauptung, alles physische Unheil diene der Verklärung
der sittlichen Persönlichkeit, mehr sein sollte als eine unkritische Einseitig-
keit eines genialen Tragödiendichters — so wäre doch für das Theodizee-
problem gar nichts gewonnen. Selbst wenn es richtig sein sollte, daß jeder
Mensch Sünde und Unheil frei überwinden kann, so bleibt doch die Tat-
sache der Sünde und des Unheils mit Annahme eines allwissenden gütigen
Schöpfers im Widerspruch. In Wahrheit haben Schiller wie Kant durch
Besprechungen. 263
den Schluß vom „sollen" aufs „können" dem Menschen wieder Sünde und
Schuld „ins Gewissen geschoben" (v^l. Schiller: Die Philosophen). Daß
damit aber Gott nicht „gerechtfertigt' sei, hatte Lempjj im Beginn seiner
Ausführung ganz deutlich dargetan.
Daß Lempp trotzdem annimmt, bei Kant und Schiller sei eine Lösung
des Theodizeeproblems zu finden, erklärt sich aus einer Verschiebung in
seiner Bestimmung des Begriifes „Theodizee". Einleitend definiert er die
Theodizee als „Rechtfertigung Gottes wegen der (Tbel in der Welt." Die
Annahme eines allgütigen Schöpfers und die Tatsache von Unglück und
Sünde weisen auf einen Konflikt zwischen der natürlichen Welt und der
vom sittlich-religiösen Bewußtsein als der Güte Gottes entsprechend ge-
forderten. In diesem Konflikt findet Lempp den Kern des Theodizeeproblems
(S. 206). In seinen weiteren Ausführungen läßt er aber die Frage nach der
Güte Gottes gänzlich außer Betracht; allein die Divergenz zwischen realer
und von dem sittlichen Bewußtsein geforderten Welt steht zur Erörterung.
Der Umstand, daß ein solcher Konflikt und damit Unglück wie Sünde von
Gott verschuldet sein muß, wird gar nicht mehr erwähnt. Mag auch
schließlich die sittliche Weltordnung siegen, daß dieser Sieg über Leichen
führte, dm-ch Unglück, Sünde und Schuld, ist von Gott gewollt. Das Problem
der Theodizee erhebt sich in alter Größe. Dadurch, daß Lempp ihm ein anderes
substituierte, konnte es nicht gelöst werden (vgl. hierzu S. 7, 2L5 f., 231,
264, 271, 306, 312 ff., 321, 335 ff., 341, 343, 360, 370, 380 ff., 391, 403 f.,
419, 424).
Der Umstand aber, daß Lempp im zweiten Teile seines Werkes das
Theodizeeproblem in Wahrheit aus den Augen verlor, kann der Tatsache
nicht Abbruch tun, daß er einen überaus anziehenden Einblick in das religions-
philosophische Geistesleben des 18. Jahrhunderts bietet.
Horst Kollmann.
Fausto Squillace, Die soziologischen Theorien. Deutsch v. Rudolph Eisler.
Leipzig 1911. Dr. Werner Klinkhardt. 352 S.
Das Buch gibt eine Übersicht über die verschiedenen Richtungen in
der Soziologie, indem es über eine große Reihe einzelner Systeme kurz be-
richtet. Es erinnert in der Hauptsache an das bekannte Buch Paul Barths:
Die Philosophie der Geschichte als Soziologie (Band I). Es unterscheidet
sich von ihm, abgesehen von einer größeren Kürze der Darstellung, haupt-
sächlich dadurch, daß es fast nur referierender Natur ist und sich beinahe jeder
Beurteilung bei der Darstellung der Systeme enthält. Stellung nimmt der
Verfasser nur im ganzen: die verschiedenen Richtungen der Soziologie ordnen
sich ihm im Sinne einer inneren Entwicklung. Die Besinnung über das
Wesen der Gesellschaft beginnt mit der Orientierung an fremden Tatsachen
und Disziplinen: die Gesellschaft wird mit einem Aggregat, mit einer chemi-
schen Verbindung oder einem Organismus verglichen, und es werden Begriffe
aus dem Bereiche der Nationalökonomie, der Statistik und der Rechtswissen-
schaft zu ihrer Erklärung herangezogen. Zu einer Wissenschaft kann die
Soziologie aber nur werden, wenn sie sich aus ihrem eigenen Objekt ihre
Begriffe und ihre Probleme ableitet. Die psychologischen Theorien, welche
von der Natur des Indi\'iduums oder von der Kollektivverfassung der Gruppe
ausgehen, kommen diesem Stadium schon erheblich näher; verwirklicht ist
es aber erst bei Denkern wie Simmel, Durkheim und Stuckenberg.
Diese Grundauffassung ist gewiß richtig. Im übrigen aber erheben
sich gegen die ganze Art, ja fast gegen die Daseinsberechtigung des Werkes
schwere Bedenken. Vielfach ist die Darstellung infolge der Kürze unklar
geblieben. So heißt es von de Roberty S. 295, daß seine Theorie des Kollektiv-
psychismus den gi-ößten Fortschritt darstellt; worin dieser und auch die
264 Besprechungen.
Theorie selbst aber eigentlich besteht, ist nicht zu erkennen. Ähnlich ist
es mit der Behandlung Durkheims bestellt. Eine Häufung von Referaten
wie hier ist bei einer so unfertigen Disziplin wie der Soziologie schwerlich
von großem Werte. Daß eine so junge Wissenschaft schon eine solche
Fülle von Verirrungen und Verwirrungen hinter sich hat, interessiert nur
den Spezialisten. Für jeden anderen kommt es vor allem auf die richtige
Problemstellung, auf Direktiven und begriffliche Klärung an. Ein systema-
tisches Werk wie der kleine Katechismus der Soziologie von Eisler ist für
ihn unvergleichlich nützlicher als eine derartige historische Darstellung.
Fällt das Buch einem unkritischen Laien in die Hand, so kann dieser durch
die Fülle der sich widersj)rechenden großenteils vagen und nebulosen Systeme
nur verwirrt werden. Ein kritischer Laie aber, insbesondere ein Vertreter
anderer Diszii^linen, wird aus dem Buche leicht die Überzeugung schöpfen
oder in ihr bestärkt werden, daß man gut tut, einer so phantastischen
Disziplin den Rücken zu kehren.
Alfred Vierkandt,
Hugo Liebig, Über die marxistisch-sozialdemoki-atische Gedankenwelt und
die Grenze des Sozialismus. Mühlhausen i. Th. Hey. VIII u. 186 S.
Die kleine antimarxistische Streitschrift ist die Studie eines gescheiten
Menschen, der tüchtige Kenntnisse in Technologie und Mathematik, aber nur
eine sehr schwache Ahnung von Nationalökonomie hat. Er konstatiert zum
so und so vielten Male Marx' Fehler, nur die manuelle Arbeit als wertschaffend
gelten zu lassen, und fällt nun seinerseits in den mindestens so krassen Fehler
der Neu-Manchestermänner (Wolf, Ehrenberg), alles Unternehmereinkommen
als „Genielohn" anzusehen, also den Profit als arbeitsloses Einkommen zu
leugnen: was nicht zu halten ist.
Das amüsant, zum Teil burschikos geschriebene, leider des öfteren allzu
unehrerbietige Büchlein kann als Einführung in die Marxsche Wertlehre
solchen Lesern wohl empfohlen werden, die sich vor mathematischen Formeln
nicht fürchten. Den übrigen Bestandteilen des Marxschen Systems bleibt es
fast alles schuldig.
Im übrigen ist der Verfasser ein ehrlicher Verfechter der Koalitions-
freiheit und ebenso Freund der Gewerkschaftsbewegung und der sozialen
Reform.
Franz Oppenheimer.
Abhandlungen
VI.
Die parlamentarische Enquete nach deutschem
und österreichischem Recht
Von Dr. Egon Zweig
Das parlamentarische Enqueterecht ist die der Volksver-
tretung, sei es grundgesetzlich, sei es durch ihre Geschäfts-
ordnung eingeräumte oder auch bloß kraft Gewohnheit zu-
kommende Befugnis, Tatsachen und Vorgänge festzustellen und
zu untersuchen, deren Kenntnis zur Ausübung der parlamen-
tarischen Funktionen erforderlich ist. Als häufigstes, nach
manchen Verfassungen als einziges Mittel hiefür dient die
Einsetzung von Ausschüssen, welche die Kammer zu dieser
Beschaffung des Tatsachenstoffes für die parlamentarische Arbeit
berechtigt und verpflichtet. Daß die Kammern auch dort, wo
das Gesetz ihnen anheim gibt, selbst als Plenum eine Unter-
suchung zu führen, mit dieser Aufgabe Teilkollegien aus ihrer
Mitte betrauen, erklärt sich durch Charakter und Organisation
der parlamentarischen Ausschüsse, da es zu den Entstehungs-
gründen und Daseinszwecken dieser Einrichtung gehört, Aus-
künfte einzuziehen und zu erhalten, und die freiere, durch den
Formalismus des parlamentarischen Prozesses nicht beengte
Kommissionsverhandlung eine rasche und gründliche Übung
der Untersuchungsfunktion erwarten läßt^). Zugleich macht
1) Vgl. Neumann-Hofer, Zeitschr. f. Politik Bd IV S. 71 f. — Den
Kammern als solchen ist das Eecht der Enquete verfassungsmäßig eingeräimxt
in Belgien (Verf. Art. 40), Holland (seit der Verfassungsrevision v. 1-887 beiden
Kammern, sowohl jeder abgesondert als auch in gemeinsamer Versammlung:
Grondwet v. 15. Nov. 1887 Art. 95), Luxemburg (Verf. v. 17. Okt. 1868 Art. 64),
Norwegen (Grundges. v. 1814 § 75 lit. f u. h), Rumänien (Verf. v. 30. Juni
[12. Juli] 1866 Art. 47), Serbien (Verf. v. 5./18. Juni 1903 Art. 121), Monte-
Zeitschrift für Politik. 6. zu 17
266 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
sich hier eine allgemeine Entwicklungstendenz geltend, die in
eine Teilung des parlamentarischen Geschäfts zu münden scheint,
indem die Austragung der großen politischen Probleme dem
Plenum vorbehalten bleibt, der Schwerpunkt der sachhchen
und fachlichen Detailarbeit jedoch auch vermöge ihres stetig
wachsenden Umfangs in die kollegialen Unterorgane verlegt
wird 1).
negro (Verf. v. 6./19. Dezember 1905 Art. 95). In andern Verfassungen ist
die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen vorgeschrieben. So — abge-
sehen von Preußen und Österreich — in Dänemark (revidiertes Grundges.
V. 28. Juli 1866 § 46), Island (Grundges. v. 5. Januar 1874 § 22), Griechen-
land (Verf. v. 1. Juni 1911 Art. 58), Bulgarien (Verf. v. 16./28. April 1879
Art. 106).
^) Der älteren Staatsrechtslehre lag dieser Gedanke parlamentarischer
Arbeitsteilung fern; sie sah in den Kommissionen immer nur unselbständige
Organe zur Vorbereitung der Plenargeschäfte: s. z.B. Bentham, Tactique
des assemblees politiques deliberantes eh. XXVI (Oeuvres, Brüssel 1829 Bd I
S. 431 f.); v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht imd Politik Bd I (Tübingen
1860) S. 296 ff. Die moderne Volksvertretung hat durch die Erweiterung
ihres Aufgabenkreises vmd die Verbreiterung ihrer sozialen Bildungsbasis an
technischer Leistungsfähigkeit eingebüßt, und diese Erfahrimg hat Vorschläge
ausgewirkt, die auf einer stärkeren Inanspruchnahme des parlamentarischen
Kommissionssystems beruhen und sogar die Einrichtung außerparlamentari-
scher Fachorganisationen bezwecken, neben welchen das Votum der Kammer
lediglich als Referendum in Betracht käme: vgl. v. Herrnritt, Die öster-
reichische Parlamentsreform, Archiv f. öff. Recht Bd XXTT S. 98 u. N. 43
und die dort angeführte Literatur. Bedeutsam ist namentlich die Entwicklung
in Frankreich, wo schon die Komitees der Revolutionsparlamente die Funk-
tionen der letzteren zum großen Teil absorbierten und grade diese Er-
fahrungen bis in die neuere Zeit der Schaffiing großer permanenter Aus-
schüsse im Wege standen: vgl. de Ferron, Les commissions parlementaires
et le travail legislatif des Chambres, These, Paris 1900 S. 5 ff., 27 ff., 138 ff. ;
Graux, La revision du reglement de la Chambre, Re^a^e politique et parle-
mentaire Bd XVI S. 545 ff.; Delpech i. d. Revue du droit public et de la
science politique Bd XXI S. 343 ff. — In Schweden und Norwegen wird
schon seit den Anfängen des konstitutionellen Systems die gesamte Tätigkeit
der Volksvertretung in ständige Fachausschüsse verlegt, deren Beschluß unter
Umständen sogar jenen des Plenum ersetzt: vgl. Aschehoug, Das Staats-
recht der Vereinigten Königreiche Schweden und Norwegen (Handb. d. öff.
Rechts IV, n, 2), Freiburg i. B. 1886 S. 56 f., Fahlbeck, La Constitution
Suedoise et le parlementarisme moderne, Paris 1905 S. 211, 261 f.; ders.,
Die Regierungsform Schwedens, Berlin 1911 S. 156 ff.; Morgenstierna,
Das Staatsrecht d. Königreichs Norwegen (D. öff. R. d. Gegenwart Bd XIH),
Tübingen 1911 S. 71. Ebenso in Finnland: Erich, Das Staatsrecht d. Groß-
fürstentums Finnland (D. öff. R. d. Gegenwart Bd XVHI), Tübingen 1912
S. 81 ff. Für die amerikanische Union, wo die Komiteeverfassung einen
wesentlichen Bestandteil der Parteimaschinerie bildet, s. Mc Conachie,
Congressional Committees, New- York 1898; Bryce, The American Common-
wealth, new ed., New- York 1911 Bd I S. 159 ff.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 267
Schon aus der Definition des parlamentarischen Enquete-
rechts ergibt sich die dynamische Natur der Einrichtung. Sie
erscheint als logisch oder juristisch notwendiges Korollar der
der Volksvertretung zugewiesenen Tätigkeit, als sachliche Vor-
bereitung und Ergänzung jener Formalakte, in welchen ein
Parlament seine verfassungsmäßige Zuständigkeit verwirklicht.
Hierin liegt die Zweck- und Grenzbestimmung für die durch
die parlamentarische Enquete zu leistende Ermittlungsfunktion,
deren Inhalt und Umfang sich in jedem einzelnen Fall nach
der allgemeinen Kompetenz des Vertretungskörpers bemißt,
während andrerseits die rechtliche Organisation der Enquete,
ihre Verfahrensweise und Häufigkeit, ihre Anlässe und Ergeb-
nisse einen Rückschluß auf die Natur des Verfassungssystems
gestatten, in dessen Rahmen sie eingeordnet ist. Obgleich es
hienach bei der bunten Mannigfaltigkeit der zu überschauen-
den Induktionsreihe als ausgeschlossen gelten darf, einen festen
Durchschnittstypus des parlamentarischen Untersuchungsrechts
aufzufinden, kann man doch, den Hauptrichtungen folgend,
nach welchen sich die Funktionen der Volksvertretung im mo-
dernen Staat orientieren, drei Arten der Enquete unterscheiden ^).
Sie steht entweder im Zusammenhang mit dem Recht einer
Wahlkammer, in Form der sogenannten Verifikation die organ-
schaftliche Stellung ihrer Mitglieder anzuerkennen und zu diesem
Behuf den Vorgang der Mandaterteilung zu prüfen: — die
Wahlenquete. Oder sie knüpft sich an die Kontrollbefugnisse
der Volksvertretung und bezweckt dann Erhebung und Klar-
stellung solcher Verhältnisse, die durch Akte der Vollzugsgewalt
geschaffen sind und deren Kenntnis die Voraussetzung bildet
für alle Formen parlamentarischer Überwachung des admini-
strativen Apparats von der Resolution bis hinauf zur Minister-
anklage 2) — der Fall der Verwaltungsenquete. Die praktisch
^) S. die bei Michon, Des enquetes parlementaires, Paris 1890 S. 5 f.
zitierte Stelle aus Duvergier de Hauranne, De l'ordre legal en France
et des abus d'autorite, die wohl als zeitlich erster Versuch einer solchen
Einteilung gelten darf. Vgl. Degommier, Les enquetes parlementaires,
Paris 1899 S. 15 ff.; Miceli, Inchieste parlamentari, Mailand 1901 S. 8 ff.;
Racioppi-Brunelli, Commento allo Statute del Regno, Tiu-in 1909 Bd III
S. 170 f.
-) Zu weit geht die Behauptung B o d e s , Die Mitwirkung der Landtage
an der Erledigimg staatlicher Aufgaben, Heidelb. Diss., Borna-Leipzig 1910
S. 62, daß das Informationsrecht der Volksvertretung auf dem Grundsatz der
Ministerverantwortlichkeit „basiert". (Damit stimmt nicht die — systematisch
übrigens verfehlte — Bemerkung S. 63, das parlamentarische Enqueterecht
sei eine „Erweiterung des Adreßrechts"). Allerdings tritt der enge geschieht-
268 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
•weitaus wichtigste und fruchtbarste Anwendung des parlamen-
tarischen Informationsrechts ist aber die durch die Enquete
bewirkte Sammlung und Sichtung von Tatsachenmaterial, das
den Unterbau für eine legislative Maßnahme bilden soll, die
Gesetzgebungsenquete. Daß innerhalb dieser Kategorie die
Wirtschaftsenquete, die Ermittlung ökonomischer und sozialer
Sachverhalte, insbesondere die Untersuchung von Arbeits- und
Daseinsbedingungen der wirtschaftlich schwächsten Schichten
einen immer breiteren Raum einnimmt, zeigt deutlich, wie die
parlamentarische Enquete der Kurve folgt, in der sich die
Sorgen und Wünsche der Gesamtheit und mit ihnen als ihr
Ausdruck und ihre Erfüllung die Arbeiten der Parlamente be
wegen oder bewegen sollen ^).
liehe Zusammenhang des Enqueterechts mit der IVIinisterverantwortlichkeit
darin zutage, daß die Geltendmachung der letzteren in den Anfängen des
festländischen Konstitutionalismus sich der Formen der parlamentarischen
Untersuchung bedient. So beantragte in der Sitzung der „Chambre introu-
vable" V. 23. Dezember 1815 der Deputierte Bouville die Einsetzung einer
Kommission, welche die Haltung des Ministeriums in der Affäre des Generals
Lavalette untersuchen und der Kammer hierüber berichten sollte (Arch.
pari. 2me serie Bd XV S. 603). Der Ausschuß beschloß, der Kammer vor-
zuschlagen, es sei der Krone mittels Adresse bekannt zu geben, daß der
Justiz- und der Polizeiminister das Vertrauen der Nation verloren haben
(Arch. pari. a. a. 0. S. 606). Dieser Beschluß, der auf die Überlieferungen
der Constituante zurückgriff, blieb unausgeführt: s. Michon, Le gouverne-
ment parlementaire sous la Restauration, Paris 1905 S. 100 ff. Ungenau die
Darstellung bei Rudioff, Die Entstehung der Theorie der parlamentarischen
Regierung in Frankreich, Zeitschr. f. d. ges. Staatswissenschaft Bd LXII
S. 611 f. — Michon, Enquetes parlementaires, unterscheidet S. 9 ff, richtig
die politische Enquete, deren Ergebnisse unter Umständen die Erhebung der
Ministeranklage zur Folge haben können und zu deren Einleitimg nach gelten-
dem französischem Staatsrecht beide Kammern befugt wären, von der „en-
quete judiciaire", die der Senat als Staatsgerichtshof durchzuführen hat.
Dagegen beruhen die Ausführungen bei Degommier S. 22 f. u. passim auf
der Verwechslung dieser Sachverhalte. Vgl. Delpech i. d. Revue du dr.
publ. et de la science politique Bd XXI S. 338 N. 1. Über das parlamen-
tarische Enqueterecht als praktische Konsequenz der Ministerverantwortlioh-
s. die bei Mancini-Galeotti, Norme ed usi del Parlamento Italiano, Rom
1887 S. 381 wiedergegebenen Ausführungen des Senators Vacca.
0 Die technischen und organisatorischen Fragen — wie namentlich
Mündlichkeit oder Schriftlichkeit der Untersuchung, Öffentlichkeit oder Nicht-
öffentlichkeit der Verhandlungen — bleiben hier außer Betracht: s. hiezu
Cohn, Über parlamentarische Untersuchungen in England, Jena 1875 S. lOff. ;
Embden, Cohn, Stieda, Das Verfahren l)ei Enqueten über soziale Ver-
hältnisse. Drei Gutachten, Leipzig 1877; Kämpfe, Art. Enquete, Staatslexikon
d. Görres-Gesellschaft" (Freiburg i. B. 1911) Bd H S. 9 ff.; Stieda im Hand-
wörterbuch d. Staatswissenschaften ^ Bd HI S. 949 ff. und die dort angegebene
Literatur; Frommer, Die Gewinnbeteiligung (Schmollers Staats- u. sozial-
Zweig", Die parlament. Enciuete mich deutschem und österr. Recht. 269
Aber noch in anderem Sinn liefert dieses Recht einen
Gradmesser für Stärke und Lagerung der in einem Staat wirk-
samen pohtischen Spanuungsverhältnisse. In seinen Schicksalen
spiegelt sich gleichsam mikrokosmisch der Entwicklungsgang
der parlamentarischen Macht, die — trotz oder wegen der Aus-
breitung des allgemeinen Wahlrechts — keineswegs im Steigen
begriffen ist. Es eröffnet ein allerdings bescheidenes Demon-
strationsfeld für die Erscheinung, daß dem Fortschreiten des
Konstitutionalismus in immer wachsendem Maß die Tendenz
entspricht, den Schwerpunkt des ganzen staatlichen Kräfte-
systems in die Regierung zu verlegen ^). Der Gang der folgen-
den Untersuchung wird zeigen, daß das Informationsbedürfnis
der Parlamente immer mehr schwindet und die Vorbereitung
gesetzgeberischer Aktionen durch Tatsachenermittlung allmäh-
lich in die Sphäre der Vollzugsgewalt hinüberrückt, wofür die
Übung der legislativen Initiative eine naheliegende und in der
Wesens Verwandtschaft begründete Analogie bietet 2).
wissenschaftliche Forschungen Bd VI H. 2), Leipzig 1886 S. 4 ff.; Lotz,
Über die deutsche Währungsenquete v. 1894, Schmollers Jahrb. Bd XIX
S. 182 f.; Herkner, Die belgische Arbeiterenquete u. ihre sozialpolitischen
Resultate, Arch. f. soziale Gresetzgebung u. Statistik, Bd I S. 270 ff.
^) S. Jellinek, Die Entwicklung des Ministeriums in der konstitutio-
nellen Monarchie, Ausgewählte Schriften u. Reden, Berlin 1911 Bd 11 S. 107.
*) Das Enqueterecht wird bei Thonissen, La Constitution beige an-
notee, 3me ed. Brüssel 1879 S. 155 als natürliche Folge der Initiative be-
zeichnet: die Kammern müssen, wenn sie die Befugnis des Gesetz Vorschlags
haben, auch in der Lage sein, sich das notwendige Material zur Ausübung
dieser wichtigen Prärogative zu verschaffen. (Derselbe Gesichtspunkt wurde
schon bei Beratung des Budgets für 1865 in der belgischen Kammer geltend
gemacht: Salefranque im Bulletin de la societe de legislation comparee
Bd XXII S. 598). Vgl. Degommier S. 16; Brunialti, II diritto costitu-
zionale e la politica nella scienza e nelle istituzioni, Turin ] 896 Bd I S. 846.
Für den angedeuteten Zusammenhang ist bezeichnend, daß die parlamen-
tarische Enquete in Frankreich 1852 zugleich mit der parlamentarischen
Initiative, dem Interpellationsrecht und der Ministerverantwortlichkeit ver-
schwindet und mit diesen Institutionen am Ende des zweiten Kaiserreichs wieder
erscheint: Esmein, Elements de droit constitutionnel frangais et compare, ^
Paris 1909 S. 947 f. Das niederländische Grondwet v. 11. Okt. 1848 gab in
Art. 90 bloß der Zweiten Kammer der Generalstaaten die Befugnis der En-
quete, Nur diese Kammer besaß die Initiative für die von den Generalstaaten
an den König gelangenden Gesetzentwürfe (Artt. 110, 111) und nach dem Ges.
v. 22. April 1855 das Recht der Ministeranklage. Die Verfassungsrevision
von 1887 hat diesen Zustand teilweise zugunsten der Ersten Kammer geändert
und dieser auch das Enqueterecht eingeräumt (Grondwet v. 15. Nov. 1887
Art. 95). Vgl. Karsten, De parlamentaire enquete in de constitutionele
staten, Utrecht 1860 S. 202 ff.; de Hartog, Das Staatsrecht d. Königreichs
270 Zweig, Die parlaraent. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Von einem der Kammer oder ihren Ausschüssen zustehenden
Recht kann aber auch hier, wie immer wenn von Rechten des
Parlaments gesprochen wird, nur im uneigenthchen, sozusagen
populären Sinn die Rede sein. In Wahrheit handelt es sich
um eine Abbreviatur, die freilich weitverbreiteten und tief-
wurzelnden Irrtümern Vorschub geleistet hat, um die zusammen-
fassende Bezeichnung einer bestimmten, einem Staatsorgan zu-
gewiesenen Funktion, einer organschaftlichen Kompetenz, die der
nichtwissenschaftlichen Vorstellung unter dem Bilde des sub-
jektiven Rechts erscheint, weil das Moment freier Dispositions-
macht über den Inhalt der in Frage kommenden Befugnisse
stärker ins Bewußtsein gehoben wird. Der Schein trügt auch
in der juristischen Erscheinungswelt. Das sogenannte Recht
der Enquete ist nichts andres als eine durch staatsrechthche
Organisationsnormen dem Parlament erteilte Zuständigkeit, auf
welche der Begriff des subjektiven Rechts schon deshalb nicht
angewendet werden kann, weil die diesem wesenthche Zweck-
beziehung auf ein rechtschutzbedürftiges individuelles Interesse
fehlt. Subjekt des der Kompetenzübung zugrundeliegenden
Rechtes ist stets die mit der Kompetenzkompetenz ausgestattete
Persönlichkeit, bei Abgrenzung staatlicher Zuständigkeiten also
der Staat, Substrat des Rechtes aber ein Stück der objektiven
Rechtsordnung, die hier als Quelle organisatorischer Arbeits-
teilung erscheint, indem sie bestimmte Organe zur Vornahme
bestimmter Akte des einheitlichen Staatswillens beruft, ohne
jedoch diese Berufung in der Wirkungssphäre der Organe
rechtlich zu lokalisieren. Die Auseinandersetzung zwischen
solchen Organen über Art und Maß ihrer Kompetenz ist daher
nicht ein Streit über den Bestand subjektiver Rechte, sondern
ein solcher über die Bedeutung objektiven Rechts, woraus sich
ergibt, daß eine Regierung, welche die der Volksvertretung
gesetzlich gewährleistete Untersuchungsfunktiou etwa durch
passiven Widerstand zu hemmen sucht, das Gesetz verletzt,
nicht aber ein Eigenrecht des Parlaments, das als Staatsorgan
überhaupt niemals Träger solchen Rechtes sein kann^).
d. Niederlande (Handb. d. öff. R. d. Gegenwart Bd IV, 1, 4), Freiburg i. B.
1886 S. 38 f.
^) Vgl. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte", Tü-
bingen 1905 S. 227 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre^ Berlin 1905 S. 547 f.,
551; ders., Ausgewählte Schriften u. Reden Bd 11 S. 254 f. (Für unsere
Frage besonders interessant die Ausführung bei Jellinek, System S. 228:
durch die Möglichkeit, daß der Staat in seinen Organen seine einheitliche
Zweic^, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 271
Andrerseits eröffnet sich grade von hier aus auch die
Möghchkeit parlamentarischen Unrechts im Sinn der Über-
schreitung verfassungsmäßiger Kompetenzen. Da die Volks-
vertretung in ihrer Informationsbefugnis an ihre allgemeine
Zuständigkeit gebunden ist, jene nur als Reflex dieser erscheint,
handelt sie rechtswidrig und, sofern diese Beziehung grund-
gesetzlich fixiert ist, auch verfassungswidrig, wenn sie die
Untersuchungsfunktion über den Kreis ihrer ordentlichen Zu-
ständigkeit erstrecken will^). Ohne Zweifel bekundet ein
Parlament durch die Handhabung des Enqueterechts sein
Verantwortungsgefühl gegenüber der Öffentlichkeit im all-
gemeinen und seinem Kreationsorgan im besondern. Aber
vom Standpunkt dieses Organs, also namentlich der Wähler-
schaft gesehen, bildet den Inhalt des dem Repräseutativorgan
erteilten Mandats die Erfüllung seiner von Verfassungswegen
vorgezeichneten, nach Gegenstand und Umfang durch Rechts-
satz determinierten Aufgabe. So wie ein Parlament hinter
dieser zurückbleiben und durch Vernachlässigung seiner Kompe-
tenz, durch NichtÜbung seines ,, Rechtes" seine ,, Pflicht" ver-
letzen kann, so macht es sich eines Mandatsexcesses schuldig,
wenn es mit Ausnützung gewisser politischer Augenblicks-
konstellationen seine Kompetenz ohne rechtliche Deckung zu
erweitern sucht. Im Bereich des parlamentarischen Enquete-
rechts ist diese Erscheinung dort zu beobachten, wo sich ein
Parlament aus eigener Macht als Standesgericht konstituiert
Persönlichkeit gleichsam spaltet und so sich selbst als ein von sich ver-
schiedenes Wesen gegenübertritt, ist es zu verstehen, vrieso eine Behörde
bei der anderen sich informieren kann.) — Eine kritische Auseinander-
setzung mit der Theorie von der Organpersönlichkeit und dem Recht auf
Organstellung würde den Rahmen der vorliegenden Aufgabe überschreiten.
Das Bemühen Kelsens, diese Theorie zu galvanisieren (Hauptprobleme der
Staatsrechtslehre, Tübingen 1911 S. 521 ff.), — wofür in der Hauptsache
Tezners Ausführungen in Grünhuts Zeitschr. Bd XXI S. 150 ff., 183 ff. den
dialektischen Apparat geliefert haben, — ist m. E. ein Versuch mit untaug-
lichen Mitteln, dessen Erkenntniswert sich schon danach abmißt, daß der
Autor die Faktoren der Gesetzgebung nicht als Staatsorgane gelten läßt, im
übrigen den Staatsorganen zwar Persönlichkeit im Rechtssinn zuschreibt,
in einem Atem jedoch subjektive Rechte auf Organstellung abspricht
(S. 467 f., 665 f.). Das ist in der Tat die Konstruktion mit der einfachen,
aber schiefen Ebene.
') Hello, Du regime constitutionnel dans ses rapports avec l'etat
actuel de la science sociale et politique, 3me ed. Paris 1848 Bd II S. 118: . , .
„Cette enquete (ordonnee par une des Chambres pour s'eclairer sur la
matiere de ses deliberations) est legitime ä une condition, c'est que l'acte
auquel eile se rattache soit de la competence de la Chambre."
272 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
und über seine Disziplinargewalt hinaus das Verhalten seiner
Mitglieder zum Gegenstand einer Untersuchung macht. Diese
sogenannten Personalenqueten lassen sich nur rechtfertigen,
wenn und soweit dem betreffenden Vertretungskörper überhaupt
eine Jurisdiktion über seine Angehörigen zusteht, wie dies
z. B. in England kraft Gewohnheitsrechts gilt und in Italien
durch eine freilich nicht unbestrittene Praxis anerkannt ist^).
Man geht übrigens nicht fehl, wenn man, ganz abgesehen von
der Rechtsfrage, solche Maßnahmen als Entartungen des politi-
schen Trieblebeus beurteilt. Unter dem Schein, die Würde des
Hauses zu wahren, dienen sie in der Regel der Befriedigung
taktischer Interessen oder persönhcher Ranküne ; sie sind nicht
auf Tatsachen, sondern gegen Individuen gerichtet und zählen
zu den in jedem Sinn gehässigsten Ausdrucksformen des
Parteiwesens 2).
Der deutsche Typus des konstitutionellen Staates bot,
zumindest in den Anfängen der Entwicklung, dem parlamen-
tarischen Untersuchungsrecht nur dürftigen Raum. Die mehr
oder weniger bewußte Anknüpfung an die Ständezeit, deren
Erfahrungen und Eindrücke bestimmend wurden für Bildung
und Wirkungskreis der ersten deutschen Volksvertretungen, war
dem Gedanken einer Kontrollbefugnis dieser Körperschaften
in welcher Form und Art immer überhaupt nicht günstig 3).
Der Grundsatz, daß im Zweifel die Vermutung für das Recht
der „Landeshoheit" gegen die ,, Landesfreiheiten" gilt, wurde
aus der älteren landständischen Verfassung auf die Beziehungen
des konstitutionellen Monarchen zur Volksvertretung über-
*) Das englische Unterhaus legt seinem Erkenntnis auf Ausstoßung
eines Mitgliedes mitunter den Bericht einer Enquetekommission zugrunde:
s, May, A treatise on the law, privileges, proceedings and usage of Parliament
llth ed., London 1906 S. 57 u. N. 12; Eedlich, Eecht u. Technik d. eng-
lischen Parlamentarismus, Leipzig 1905 S. 623 f. Über die Personalenqueten
des italienischen Parlaments s. Mancini-Galeotti . Norme ed usi S. 396 ff.;
Eacioppi-Brunelli, Commento Bd III S. 171 ff,; Brunialti a. a. 0.
S, 849 ff. Vgl. ferner Michon, Enquetes parlementaires S. 14 ff. und gegen
die sporadischen Versuche solcher Personalenqueten in der fi-anzösischen
Deputiertenkammer Degommier S. 26 ff.
^) Eichtig sagt Degommier S. 31 von einer Enquete solcher Art:
„Elle constitue une sorte de detournement de pouvoirs, en faisant servir un
droit donne ä la Chambre ä un but autre que celui dans lequel ü lui etait
confie."
*) Vgl. Jellinek, Die Entwicklung des Ministeriums in der kon-
Btitutionellen Monarchie, Ausgewählte Schriften u. Eeden a, a. 0, S. 133.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und ÖBterr. Recht. 273
tragen^). Neben dieser oft ausdrücklich betonten Rechts-
kontiuuität fällt entscheidend ins Gewicht, daß das monarchische
Prinzip, das in der Wiener Schlußakte zu einem in seiner
Vieldeutigkeit verhängnisvollen Satz des Bundesrechts erhoben
wurde, den Hauptakzent des gesamten öffentlichen Wesens dem
Souverain zuschiebt und diesen oder seine Regierung nur in
Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung repräsentativer
Organe bindet 2). Es ist unter diesem Gesichtspunkt be-
zeichnend, daß grade die älteste Verfassung auf deutschem
Boden, Carl Augusts Grundgesetz für Sachsen- Weimar, also eine
der Wiener Schlußakte vorangehende Kodifikation, der Ver-
sammlung der Landstände das Recht gewährt, wo sie es für
dienhch findet, Ausschüsse zur Anstellung von Untersuchungen
niederzusetzen 3). Der Fall bleibt indes vereinzelt*) und so
lange die Verfassungsbewegung in den Bahnen der französischen
Charte ging, — die ja der Wiener Schlußakte das mon-
archische Prinzip als obersten konstitutionellen Grundsatz ver-
mittelt hatte ^), — waren die Kammern, gleichsam die lebendigen,
^) Kl üb er, öffentliches Recht d. Teutschen Bundes und der Bundes-
staaten*, Frankfurt 1840 S. 449; Zachariä, Deutsches Staats- und Bundes-
recht^ Göttingen 1865/67 T. I S. 647 f.; Zöpfl, Grundsätze d. gemeinen
deutschen Staatsrechts*, Leipzig und Heidelberg 1863 T. 11 S. 200, 245 ff.
^) Vgl. Jellinek, Regierung u. Parlament in Deutschland, Leipzig u.
Dresden 1909 S. 7 f.
^) Grundges. über die landständische Verfassung des Großherzogtums
Sachsen-Weimar-Eisenach v. 5. Mai 1816 § 91. Nach der geltenden Ver-
fassung hingegen hat der Landtag bloß das Recht, dem Großherzog Vortrag
zu tun über Mängel und Mißbräuche in der Gesetzgebung und Verwaltung
des Landes mit gutachtlichen Vorschlägen zur Abstellung derselben: Revi-
diertes Grundges. v. 15. Oktober 1850 § 4 P. 4, §§ 45, 46. Nur der zur
Vorerörterung einer Ministeranklage eingesetzte Ausschuß hat das Recht,
nicht bloß von jeder Staatsbehörde die die Anklagepunkte betreffenden
Akten und Urkunden einzufordern, sondern auch Zeugen zu vernehmen und
Sachverständige zuzuziehen: Ges. über Erhebung von Anklagen gegen Minister
V. 22. Okt. 1850 § 3 Abs. 2.
*) Wenn die Thronrede, mit welcher die allgemeine Ständeversammlung
des Königreichs Hannover nach Herstellung der alten Landschaftsverfassung
im Jahre 1814 begrüßt wurde, davon sprach, daß die Versammlung dem
König das sein soll, „was in dem mit uns verschwisterten Großbritannien
das Parlament ist, der hohe Rat der Nation", so wollte diese rhetorische
Wendung, wie sich alsbald zeigte, keineswegs besagen, daß den Ständen die
Attribute des englischen Parlaments, darunter also auch das Untersuchungs-
recht, eingeräumt werden: s. v. Meier, Hannoversche Verfassimgs- und
Verwaltungsgeschichte 1680—1866, Leipzig 1898 Bd I S. 397.
*) Jellinek a. a. 0. S. 6; Allgemeine Staatslehre^ S. 456; Kaufmann,
Studien zur Staatslehre d. monarchischen Prinzips, Diss. Leipzig 1906 S. 46.
Zeitschrift für PoUtik. 6. 18
274 Zwei^, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
stets mahnenden Zeugen halb erzwungener Selbstverleugnung
der monarchischen Gewalt, auf Mitwirkung beschränkt und
eben deshalb von jeder eigentlichen Wirkung ausgeschlossen.
Auch nach der Meinung hberaler Staatslehrer sollten sie bloß
„mitgesetzgebend, gesetzwahrend, aber eben darum nicht mit-
regierend, nicht mitverwaltend sein"^), und die Sicherung und
Anerkennung dieser kümmerlichen Zuständigkeit, zu deren
Ungunsten eine bundesrechtliche Vermutung galt, nahm ihre
Kraft und ihr Interesse zuvörderst so sehr in Anspruch, daß
von einer Aus- und Durchbildung ihrer verfassungsmäßigen
Stellung, etwa im Sinn eines Informationsrechts mit korre-
spondierender Auskunftspflicht der Regierung keine Rede
sein konnte.
Die zentrale Bedeutung aber, welche schon damals der
parlamentarischen Enquete im Triebwerk des englischen Ver-
fassungslebens zukam, war der deutschen Staatstheorie jener
Tage ebenso unbekannt wie das eigentliche Wesen der parla-
mentarischen Regierung überhaupt, als deren Ausstrahlung und
Symptom das Untersuchungsrecht zu gelten hat 2). Nur so ist
zu begreifen, daß Dahlmann, ohne Frage einer der besten
Kenner englischen Verfassungswesens, in seiner ,, Politik", die
er doch auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände
zurückführen will, die parlamentarische Enquete auch nicht
mit einem Wort erwähnt. Rotteck spricht zwar von dem
den Landständen gebührenden Recht, von allem Kenntnis zu
nehmen, ,,was im Staate vorgeht oder ist, insofern solches auf
den Zweck des Staates Bezug hat oder auf die Ausübung oder
Richtung einer der den Landständen zustehenden Befugnisse
von Einfluß sein kann". Aber er beeilt sich hinzuzufügen,
daß dieses Recht nicht mit dem unmittelbaren Aufsichts- und
Inspektionsrecht der Regierung gleichbedeutend, d. h. in der
Regel nicht mit selbsteigener Untersuchungsgewalt verbunden
ist, vielmehr meist nur darin besteht, daß die Regierung den
Ständen ,, nichts verheimlichen darf, sondern alle zur Darstellung
der Lage des Staates und der von den Ständen zu vertretenden
Interessen nötigen Weisungen, Aufklärungen, Aktenstücke, Ur
0 Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen
Zustände zurückgeführt, Bdl^ Leipzig 1847 S. 165.
^) Vgl. Jellinek, Ausgew. Schriften und Eeden a. a. 0. S. 286. tJber
die mißverständliche Auffassung englischer Verfassungsverhältnisse in der
kontinentalen Staatslehre vor und zur Zeit der Julirevolution vgl. Jellinek,
Parlament vmd Regierung S. 12 ff., 16 f.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht. 275
künden usw. auf Verlangen vorlegen muß, und daß auf ihre
Aufforderungen die nötigen Untersuchungen von seite der
Regierung zu veranstalten sind" i). Damit beschreibt Rotteck
im wesentlichen den verfassungsmäßigen status causae — von
einem status controversiae kann nicht gesprochen werden —
für seine Zeit. Die Volksvertretung wird, soweit es sich um
Abstellung von Mißbräuchen und Mängeln in Rechtspflege und
Verwaltung handelt, ledighch auf die Übung eines Beschwerde-
oder Anzeigerechts verwiesen, dem die gTundgesetzliche Pflicht
des Ministeriums entspricht, Auskunft zn erteilen, die vorge-
brachte Beschwerde zu untersuchen und gegebenenfalls ihr ab-
zuhelfen 2). Die hannoverschen Verfassungsgesetze von 1833
^) Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften', Stuttgart
1840 Bd n S. 256. Die gleiche Auffassung noch bei v. Kaltenborn, Ein-
leitung in das konstitutionelle Verfassungsrecht, Leipzig 1863 S. 89: daa
Kontrollrecht der Volksvertretung habe nicht die Bedeutung, daß zu Kontroll-
zwecken jeder Beamte, jede Behörde des Staates unmittelbar von der Volks-
vertretung zur Rechenschaft gezogen werden dürfe, wodurch die ganze Ord-
nung der Staatsverwaltung durchbrochen würde; regelmäßig habe diese
Kontrolle durch Vermittlung der staatlichen Zentralbehörden zu erfolgen
und die Volksvertretung höchstens durch eine Kommission aus ihrer Mitte
dabei mitzuwirken. — Ganz vereinzelt ist die Meinung Zöpfls a. a. 0.
S. 442 f., der das Enqueterecht in unmittelbare Verbindung mit dem ständischen
Recht zur Annahme von Beschwerden bringt, zu deren Untersuchung die
Kommissionen dienen sollen.
*) S. z, B, Sachsen-Meiningensches Grundges. v. 23. Aug. 1829 Art. 87;
Badische Verf.Urk. v. 22. Aug. 1818 § 67 (hierüber Walz, Das Staats-
recht d. Großherzogtums Baden, Tübingen 1909 S. 78 f.) ; Württembergische
Verf.Urk. v. 25. Sept. 1819 § 124; Verf. d. Königreichs Sachsen v. 4. Sept. 1831
§ 109 Abs. 2; Grundges. f. d. Herzogtum Sachsen-Altenburg v. 29. April 1831
§ 215; Entwurf der Verf.Urk. f. d. Fürstentum HohenzoUern-Sigmaringen
V. J. 1832 § 70; Kurhessische Verf. v. 13. April 1852 § 77. So auch noch
Liechtensteinsches Verf.Ges. v. 26. Sept. 1862 § 42. — In Bayern (Verf.Urk.
T. X § 5) ist das Beschwerderecht der Kammern (wohl auch das Recht der
Beschwerde an die Kammern nach T. VIT § 21) auf den Fall der Ver-
fassungsverletzung beschränkt: v. Seydel, Bayerisches Staatsrecht^, Frei-
burg i. B. u. Leipzig 1896 Bd I S. 373 ff., 386 ff.; ders.. Das Staatsrecht d.
Königreichs Bayern^ (Handb. d. öff. Rechts ü, 4) Tübingen u. Leipzig 1903
S. 54 ff. Das „Mitaufsichtsrecht" der braunschweigschen Landesversammlung
umfaßt die Befugnis, „wegen bemerkter Mängel oder Mißbräuche bei der
Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten
Vorträge an die Landesregierung zu richten und sich über deren Abstellung
gutachtlich zu äußern": Neue Landschafts-Ordnung v. 12. Okt. 1832 § 106
(übereinstimmend mit § 30 der Erneuerten Landschafts-Ordnung v. 25. April
1820; ähnlich nach geltendem sachsen-weimarschem Recht: s. oben S. 273 N. 3).
Vgl. Rhamm, Die Verfassungsgesetze des Herzogtums Braunschweig ^, Braun-
schweig 1907 S. 189.
18*
276 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
und 1840 fügen ausdrücklich hinzu, daß den Ständen über
dieses Recht der Beschwerde hinaus eine Einmischung in die
Verwaltung nicht zusteht ^). Die Landtage wie ihre Ausschüsse
haben sich behufs Erlangung von Informationen an die Re-
gierung und bloß an sie zu wenden 2). Überall das ängstliche
^) Grundges. v. 26. Sept. 1833 § 90; ebenso Landesverfassungsges. v.
6. Aug. 1840 § 125. Doch hat die zweite Kammer 1835 die Bildung einer
Kommission beschlossen, welche prüfen sollte, ob die seit dem Staatsgrund-
gesetz erlassenen Gesetze und Verordnungen mit den von der Ständever-
sammlung angenommenen Prinzipien übereinstimmten: v. Meier a. a. 0. S. 401.
Ebenso hat die zweite Kammer im J. 1841 eine Kommission behufs Zusammen-
stellung, Prüfung und Bearbeitung der verschiedenen Landesbeschwerden
eingesetzt. In der Debatte wurde diese Kommission als „eine Art von Wohl-
fahrtsausschuß" bezeichnet und die Besorgnis ausgesprochen, daß „die An-
ordnung einer derartigen Generalrevision und Generalkontrolle aller Hand-
lungen der Regierung und des Königs Selbst einen höchst offensiven Charakter
annehmen werde". Ein Antrag auf Berufung einer gemeinschaftlichen
Kommission beider Kammern wurde abgelehnt: s. Hannoversches Portfolio,
Bd IV (Stuttgart 1840) S. 269, 278 ff., 288 ff., 300. Das Ges. verschiedene
Änderungen des Landesverfassungsgesetzes betreffend v. 5, Sept. 1848 verbot
(§ 75 Abs, 2) gleichfalls der allgemeinen Ständeversammlung, sich über den
Vortrag von Beschwerden und Wünschen hinaus in die Landesverwaltung
einzumischen. Den Ausschüssen der Ständeversammlung war nach § 72
Abs. 2 der Geschäftsordnung v, 7. Februar 1850 das Recht eingeräumt, Sach-
verständige unter Vermittlung der Regierung beizuziehen.
^) Zöpfl a. a. 0. S. 331, 352. Vgl. bayrisches Edikt über die Stände-
versammlung v. 26. Mai 1818 § 35; Edikt über die Geschäftsordnung für
die Kammer der Abgeordneten v. 28. Febr. 1825 § 78 (so auch nach geltendem
Recht: Ges. den Geschäftsgang des Landtags betreffend v. 19. Jan. 1872
§ 32). S. ferner Verf.-Urk. f. d. Kurfürstentum Hessen v. 5. Jan. 1831 § 93
(die jedoch den landständischen Kommissionen behufs Erlangung der not-
wendigen Aufklärungen zur Ermittlung des Steuerbedarfs gestattet, sich un-
mittelbar an die einschlägigen Behörden zu wenden) ; hannoversches Grundges.
V. 1833 § 112 (übernommen in die Verf.-Urk. v. 13, April 1852 §§ 72, 73);
Verf.-Urk. f. Anhalt-Dessau v. 29. Okt. 1848 § 52; Landesverf.-Ges. f. Anhalt-
Bernburg V. 28. Februar 1850 § 71. Nach § 83 der Geschäftsordnung für
die braunschweigsche Landesversammlung v. 12. Okt. 1832 (herübergenommen
in § 75 der Gesch.-O. v. 20. Jan. 1893) darf die Landesversammlung nur an
den Landesfürsten oder das Staatsministerium Anträge richten, dagegen mit
keiner andern Landesbehörde in irgendeine Geschäftsverbindung treten.
Hiedurch ist nach Rhamm, Das Staatsrecht d. Herzogtums Braunschweig
(D. öff. R. d. Gegenwart Bd IV), Tübingen 1908 S. 21 N. 1 das Recht der
Enquete ausgeschlossen. Vgl. Otto, D. Staatsrecht d. Herzogtums Braun-
schweig (bei Marquardsen Bd HI, H, 1), Freiburg i. B. und Tübingen 1884
S. 123 u. N. 2, der in den angezogenen Geschäftsordnungsbestimmungen
einen indirekten Ausdruck des Grundsatzes erblickt, daß die Landesvertretung
nicht zur Ausübung der Staatsgewalt berufen ist und nicht unmittelbar in
die Staatsverwaltung eingreifen darf.
Zweig, Die parlament. Enciuete nach deutschem und österr. Recht. 277
Bemühen, die Volksvertretung zu isolieren und ihrer Wirksam-
keit grade nur das Minimum dessen anheim zu geben, was
der landläufige Begriff des Konstitutionalismus fordert^).
Das ändert sich ganz unvermittelt, ohne erkennbaren Über-
gang in und mit dem großen Völkersturm der deutschen Re-
volution. Kraft jener antithetischen Dialektik, die anscheinend
auch im Bereich staatlichen Lebens die Entwicklung der Tat-
sachen und Vorstellungen beherrscht, wird jetzt unter dem
Einfluß wiederauftauchender naturrechtlicher Doktrinen, der
Lehre von der vertragsmäßigen Staats- und Verfassungsbildung
durch ursprünglich freie Individuen, von der Volkssouveränetät
und dem nationalen pouvoir constituant, der Schwerpunkt in
die Selbstbestimmung der Gesamtheit verlegt. Ihr repräsenta-
tives Organ wird in gewollter Abkehr von der historischen Über-
heferung mit einer Fülle von Kompetenzen ausgestattet, in
deren Rahmen nunmehr auch Einrichtungen ihre Stätte finden,
welche bestimmt und geeignet sind, die Vollzugsgewalt formell
in Abhängigkeit von der Volksvertretung zu bringen, dieser
aber zugleich materiell eine Ingerenz auf Inhalt und Richtung
der Verwaltungstätigkeit zu sichern. Alles Mißtrauen, von dem
bis dahin die Regierungen in ihrem Verhältnis zum kollegialen
Mitgesetzgeber geleitet waren, scheint sich jetzt mit einer durch
die radikale Grundstimmung jener Tage verschärften Hast und
Heftigkeit gegen die Regierungen zu wenden, und alle Aus-
drucksmittel dieses Mißtrauens, welche die politische Theorie
seit den großen Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts
bereithielt, finden Aufnahme in die ephemeren staatsrechtlichen
Schöpfungen, die dem Völkerfrühling ihr Dasein verdanken
und mit ihm verweht sind. In der Verfassungskrise des
Jahres 1848 läßt sich deutlich erkennen, wie der Kerngedanke
des parlamentarischen Regierungssystems, das schon dem Worte
nach ein Ineinanderarbeiten, ein Ineinanderaufgehen von Legis-
^) Der von Hanns Georg v. Carlowitz herrührende Verfassungsentwurf
für das Königreich Sachsen gewährte in § 120 jedem von den Ständen zu
einer vorbereitenden Arbeit oder Geschäftseinleitung gewählten Ausschuß das
Recht, zur Erlangung der ihm nötig erscheinenden Aufschlüsse über die ihm
vorliegenden Gegenstände mit den betreffenden Staatsbehörden sich mündlich
oder schriftlich zu benehmen und die persönliche Zuziehung der dazu sich
hauptsächlich eignenden Staatsbeamten bei dem Vorstande der Behörde zu
veranlassen (bei v. Witzleben, Die Entstehung der konstitutionellen Ver-
fassung des Königreichs Sachsen, Leipzig 1881 S. 349). Die Schlußredaktion
der Verfassungsurkunde hat auch dieses Rudiment eines Informationsrechts
beseitigt.
278 Zweig, Die parlameut. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
lative und Executive bedeutet und bezweckt, durch die über-
kommenen, sozusagen gefühlsmäßigen Voraussetzungen und
Folgerungen der modernen Demokratie in sein Gegenteil ver-
kehrt wird. Denn es ist klar, daß dieser grundsätzliche Ver-
dacht gegen alles, was von der Vollzugsgewalt ausgeht, —
mochte er auch grade in Deutschland vielfältig durch die
Erfahrung gerechtfertigt sein, — ein beständiges Gegeneinander-
wirken von Regierung und Volksvertretung zur Folge hat und
daß der demokratische Kanon, indem er dergestalt die Summe
der politischen Arbeitsleistung in ihre Komponenten zerlegt,
sicherlich ohne es zu ahnen, die mittelalterliche Dualisierung
des Staates, die Scheidung von rex und regnum fortsetzt statt
sie zu überwinden. Das soll eine Feststellung sein, keine
Kritik ^). Wobei nur noch anzumerken wäre, daß jenes Kontroll-
bedürfnis, ein gemeinsamer Familienzug aller demokratischen
Bekenntnisse, sich nach seinem Gegenstande differenziert: in
Europa macht sich die überwachende und einschränkende
Tendenz im Verhältnis von Repräsentativorgan und Staats-
leitung geltend, in Amerika hat man Eifersucht und Argwohn
in staatlichen Dingen sozusagen auf breiter Grundlage orga-
nisiert und das Gesamtvolk schon seit den Anfängen der Union
von Verfassungswegen dazu erzogen, vor seinen Vertretungs-
körpern auf der Hut zu sein 2).
Es lag in der Linie der angedeuteten Entwicklung, daß
die deutsche konstituierende Nationalversammlung das parla-
mentarische Untersuchungsrecht zum Rang einer grundgesetz-
Hchen Einrichtung erhob. Schon die Geschäftsordnung, die
im wesentlichen von Robert Mohl ausgearbeitet und auch von
ihm als Berichterstatter vertreten wurde, enthielt die Bestim-
mung, daß die Versammlung einem Ausschusse das Recht
^) Eine solche Kritik liegt in der Bemerkung Hegels, „daß es zu der
Ansicht des Pöbels, dem Standpunkt des Negativen überhaupt gehört, bei
der Regierung einen bösen oder weniger guten Willen vorauszusetzen ....
der Glaube an die Notwendigkeit dieses feindseligen Verhältnisses (von Re-
gierung und Ständen) ist ein trauriger Irrtum" : Grundlinien der Philosophie
des Rechts § 302 und Zusatz; vgl. §§ 244, 272. Mit gradezu paradig-
matischer Deutlichkeit erscheint das Mißtrauen gegen die Regierung als
Maxime des politischen Verhaltens bereits im württembergischen Verfassungs-
konflikt; es wird von den „Altrechtlern" in ein förmliches System gebracht:
List, Der Kampf ums gute alte Recht (1815—1819), Tübingen 1913 S. 49 f., 67.
*) Vgl. meine Studien und Kritiken, Wien u. Leipzig 1907 S. 159 f.;
meine Lehre vom Pouvoir Constituant, Tübingen 1909 S. 408 und die dort
angegebene Literatur.
Zweig, Die parlainent. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 279
einräumen kann, Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu
vernehmen, vernehmen zu lassen oder mit Behörden in Ver-
bindung zu treten 1). Diese zunächst als Ausnahme gedachte
Befugnis wurde bald sämtlichen Kommissionen der National-
versammlung ein für allemal auch ohne vorherige Einholung
eines Plenarbeschlusses beigelegt, da ein Mißbrauch dieses
Rechtes nicht zu besorgen war, es vielmehr im Interesse jedes
Ausschusses und seiner Arbeiten gelegen schien, eine unnötige
Zeugen- und Sachverständigenladung, sowie den überflüssigen
Verkehr mit Behörden zu vermeiden 2.) Schon früher war die
Frage, ob und wieweit einer Kommission die in der Geschäfts-
ordnung vorgesehene Ermächtigung zu erteilen sei, aktuell ge-
worden. In der Verhandlung über den Antrag des Vizepräsi-
denten Simson, das Begehren des Frankfurter Kriminal-
gerichts wegen Auslieferung mehrerer Abgeordneter einem Aus-
schuß zur Begutachtung zuzuweisen, nahm Ludwig Simon
für diesen Ausschuß das Recht in Anspruch, die Beteiligten
vorzufordern und Zeugen selbst oder im Requisitionsweg zu
vernehmen 3). Dagegen erklärte sich der Abgeordnete Pia thner
mit der Begründung: ,,Wir haben nur zu prüfen, ob die Ge-
richte mit Recht die Verhaftung beantragen. Aber daß wir
uns als ein Gericht etablieren, daß wir Zeugen vernehmen,
das ist nicht die Stellung, die wir den Gerichten gegenüber
einzunehmen haben." In der Sache übereinstimmend warnte
V. Vincke die Nationalversammlung, den Gerichten vorzugreifen
und deren Befugnisse zu beeinträchtigen; es könne nur die
Aufgabe der Versammlung sein, sich darüber zu informieren,
ob der Richter rechtlich verfahren ist, ob die Vernehmungen
der Zeugen in der rechten Form geschehen sind*). Endlich
^) § 24. (Wigard), Stenographischer Bericht über die Verhandlungen
der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. S. 164.
^) Antrag Eisenmann und Genossen. S. hierüber den Bericht der
Geschäftsordnungskommission i. d. Sitzg. v. 7. Nov. 1848, Sten. Ber. S. 3138.
Vgl. die Erklärungen des Vizepräsidenten Simson in der Sitzg. v. 6. Okt.,
Sten. Ber. S. 2432 u. 2435.
») Sitzg. V. 6. Okt. 1848, Sten. Ber. S. 2431.
*) Sten. Ber. S. 2432. — Als geschichtliche Eeminiszenz sei hier er-
vrähnt, daß auch die mit Beschluß der deutschen Bundesversammlung v.
20. Sept. 1819 in Mainz eingesetzte Zentraluntersuchungskommission nicht
„eine richterliche oder rechtsprechende Behörde" sein, vielmehr nur Material
für die weiteren Beschlüsse der Bundesversammlung „zu Einleitung des ge-
richtlichen Verfahrens" liefern sollte: Klub er, Öffentliches Recht d.Teutschen
Bundes* S. 199.
280 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
aber versuchte Reichensperger zur Auslegung des strittigen
Paragraphen die Lehre von der Gewaltenteilung heranzuziehen,
indem er es als eine ganz unzulässige Vermischung der Ge-
walten bezeichnete, wenn die zu ernennende Kommission irgend-
wie richterliche Attributionen erhalten sollte. Die Zeugen-
vernehmung im Sinn der Geschäftsordnung beziehe sich mehr
auf das, was in den Bereich von Sachverständigen fällt und
zur Aufklärung des Komitees tnbetreff isolierter Tatsachen
dienen könnte ; keineswegs sollte dadurch gleichsam eine Kon-
kurrenz mit gerichtlichen Behörden geschaffen werden i). Die
Debatte, in welche übrigens parteitaktische Momente hinein-
spielten, schloß damit, daß dem zur Begutachtung und Prüfung
der Angelegenheit niedergesetzten Ausschuß die geschäftsord-
nungsmäßigen Befugnisse aller andern Ausschüsse zuerkannt
wurden 2).
Wie stark in der Paulskirche die Vorstellung von einem
Durchschnittstypus der volkstümlichen Verfassungsorganisation,
einem gemeinen Recht der Demokratie gewirkt hat, zeigt das
weitere parlamentarische Schicksal der Frage. In einer der
ersten Sitzungen beantragte Roesler, daß die Nationalver-
sammlung sich dieselben Befugnisse und Vorrechte beilege,
welche die gesetzgebenden Versammlungen anderer freier
Staaten besitzen, somit vor allem das Recht, Untersuchungen
anzustellen. Daher sollen der Bundestag, beziehungsweise die
zu errichtende Zentralgewalt wie die Regierungen und Unter-
behörden der einzelnen Staaten verpflichtet sein, der National-
versammlung selbst oder dem betreffenden Ausschuß amtliche
Auskunft zu erteilen, insbesondere die nötigen Urkunden, amt-
lichen Schriften, Berichte usw. vorzulegen. Bei Untersuchungen,
welche die Nationalversammlung anordnet, sind die dazu ein-
gesetzten Ausschüsse befugt, Sachverständige zu berufen und,
wenn sie es für zweckmäßig erachten, jeden Beamten eines
deutschen Staats auf seinen Amtseid, jede Privatperson aber
') Sten. Ber. S. 2433 f. Im wesentlichen übereinstimmend Beseler
das. S. 2434. Aus Eeichenspergers Ausführungen geht hervor, daß eine
eidliche Vernehmung von Zeugen durch die Kommissionen der National-
versammlung nicht statthaft war.
*) Sten. Ber. S. 2435. Der Ausschuß war von dem Grundsatz geleitet,
„daß die Nationalversammlung in Betreff der beantragten gerichtlichen Unter-
suchung .... sich nicht auf den richterlichen Standpunkt zu stellen, daß
sie kein Urteil über die Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu fällen
habe": Sten. Ber. S. 3998.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 281
unter Zeugeneid zu vernehmen. Wegen der in solchen Unter-
suchungen abgelegten Aussagen darf, den Fall des Meineides
ausgenommen, niemand gerichtlich noch sonst verfolgt oder
zur Rechenschaft gezogen werden. ^) Die Nachwirkung der
englischen Praxis ist nicht zu verkennen, was sich auch daraus
ergibt, daß — offenbar im Zusammenhang mit diesen Sätzen —
eine Bestimmung vorgeschlagen wird, laut welcher über Beleidi-
gungen der Nationalversammlung als solcher, namentlich über
Verweigerung der Anerkennung ihrer Autorität, also über con-
tempt sie selbst richtet.
Die deutsche Reichsverfassung vom 28. März 1849 bestimmt
in § 99, daß das Recht des Gesetzvorschlags, der Beschwerde,
der Adresse und der Erhebung von Tatsachen, sowie der
Anklage der Minister jedem Hause des Reichstags, dem Staaten-
und dem Volkshause, zusteht. Wie diese Aufzählung erkennen
läßt, war das Informationsrecht vor allem als eine Kontroll-
maßregel gegenüber der Exekutive gedacht. Noch deutlicher
hatte der Ausschußentwurf von einem Recht der Untersuchung
gesprochen, und in dieser Fassung war auch der Paragraph
in der ersten Beratung angenommen worden 2). Die Frage
taucht flüchtig bei der Verhandlung über die Grundrechte
wieder auf, die ein Zuständigkeitsminimum der künftigen
Volksvertretungen in den einzelnen deutschen Staaten fest-
setzten, ohne jedoch des Enqueterechts Erwähnung zu tun.
Für die zweite Lesung lag ein Antrag der Ausschußminorität
vor, welcher jeder Volksvertretung und bei Zweikammersystem
jeder Kammer für sich das Recht der Erhebung von Tatsachen
garantiert wissen wollte^). Daß dieses Minoritätsvotum ab-
gelehnt wurde*), ist nicht weiter von Belang; wichtigerscheint,
daß die Kollektivnote, welche Preußen im Verein mit andern
') Sitzg. V. 31. Mai 1848, Sten. Ber. S. 194. Der Antrag wird als
„offenbar gemischter Natur, indem er Verfassungsfragen und Fragen von
rein reglementärer Natur enthält'', dem Prioritätsauschuß zugewiesen, der
zur Entscheidung betreffend die Reihenfolge der Diskussion über die einzelnen
Anträge in der Sitzg. v. 24. Mai (Sten. Ber. S. 75) eingesetzt worden war.
') Art. V § 17 der Ausschußvorlage: Sitzg. v. 12. Dez. 1848, Sten, Ber.
S. 4066. Ein nicht weiter motivierter Antrag des Abg. v. Linde auf
Streichung der Worte: „des Gesetzvorschlags und der Untersuchung" wurde
abgelehnt.
^) § 46 des Ausschußentwurfs. Sten. Ber. S. 5599.
*) Sitzg. V. 9. März 1849, Sten. Ber. S. 5647. Ebenso ein Antrag
Hildebrand u. Genossen auf Einfügung der Worte: „selbständige Erhebung
von Tatsachen". Sten. Ber. S. 5642, 5644. S. RV. v. 1849 § 187.
282 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Regierungen in Angelegenheit des Verfassungswerkes an die
Nationalversammlung richtete, Beseitigung des Enqueterechts
empfahl, weil dieses in einem Bundesstaat leicht zur Ein-
mischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates führen
könnte. Der Verfassungsausschuß hielt an der Idee eines
solchen Rechtes fest, weil man einer großen parlamentarischen
Versammlung, — wie auch die bedeutenden Leistungen des
englischen Unterhauses zeigen, — die Befugnis nicht absprechen
könne, tatsächliche Erhebungen vorzunehmen, Sachverständige
zu hören und auf andere Weise sich über allgemein wichtige
Verhältnisse Auskunft zu verschaffen. Er ersetzte aber das
Wort ,, Untersuchung", welches in der Nachbarschaft der
Ministeranklage zu Mißverständnissen Anlaß geben mochte,
durch die Wendung ,, Erhebung von Tatsachen" ^). In dieser
Redaktion wurde der Paragraph beschlossen 2). Er ist dann
gleichlautend in den Entwurf der Erfurter Unionsverfassung
übergegangen ^).
Es wurde bereits erwähnt, daß in dem Katalog von Zu-
ständigkeiten, den die Grundrechte de lege ferenda für die
deutschen Landesparlamente aufstellten, das Untersuchungsrecht
fehlt. Trotzdem hat es zu jener Zeit unter dem Eindruck —
oder darf man sagen: unter dem Druck — der allgemeinen poli-
tischen Grundtendenz, die auf Festigung und Erweiterung der
parlamentarischen Prärogative gerichtet war, in mehreren deut-
schen Einzelstaaten verfassungsmäßige Regelung erfahren. So
in dem von einer Constituante beschlossenen und von der
provisorischen Regierung verkündeten Staatsgrundgesetz für
') ,, Dieser Ausdruck schien geeignet, um statt des fremden droit d'en-
quete in der bestimmten technischen Bedeutung angenommen und einge-
bürgert zu werden." S. den Bericht d. Verfassimgsausschusses über die
Vorlage für die zweite Lesung der deutschen Reichsverfassung zu § 106
(= Abschnitt V Art. V § 17 d. Verfassungsentwurfs nach der ersten Lesimg)
Sten. Ber. S. 5771.
^) Sitzg. V. 26. März 1849, Sten. Ber. S. 6028. Ein Minoritätsvotum,
wonach es statt „Erhebung von Tatsachen" heißen sollte: „das Recht,
Zeugen und Sachverständige vorzufordem, zu vernehmen oder vernehmen
zu lassen," wurde abgelehnt, nachdem der Präsident erklärt hatte, daß es
sich um einen rein stilistischen Unterschied handle und der Intention nach
beide Fassungen dasselbe sagen.
") § 97. Ebenso Hannoverscher Entwurf zur Verfassung des Deutschen
Reiches I.Abschnitt Ai-t. 3 §6 (Rauchs Parlamentarisches Taschenbuch'
5. Lieferg. S. 113).
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 283
Schleswig-Holstein 1), in Gotha 2) und in Waldeck -Pyrmont 3).
Hier war die einschlägige Bestimmung fast wörtlich der Frank-
furter Reichsverfassung entnommen, daher die Kontrollfunktion
des Enqueterechts in den Vordergrund gestellt, während in
Schleswig und Gotha die von der Landesvertretung eingeleitete
Untersuchung vor allem zur Information und zur Vorbereitung
gesetzgeberischer Aufgaben dienen sollte. Bei der Verfassungs-
revision des Jahres 1852 wurde dann auch in Waldeck die
Aufklärung von Tatsachen und die Vorbereitung landtäglicher
Beratungsgegenstände als der wesentliche Inhalt des Rechtes
bezeichnet, Ausschüsse mit Beiziehung von Sachverständigen
niederzusetzen; wobei ganz im Sinn des konstitutionellen
Systems älterer Observanz der Landtag nur zur Staatsregierung
und im Fall der Ministeranklage zu dem mit deren Entscheidung
betrauten Gerichtshof in unmittelbare geschäfthche Beziehung
treten darf*).
^) StGG. V. 15. Sept. 1848 Art. 73: „Die Landesversammlung kann in
Ausführung der ihr in Betreff des Staatshaushalts und sonst zustehenden Be-
fugnisse Ausschüsse zur Untersuchung von Tatsachen ernennen und denselben
das Eecht verleihen, allein oder unter Zuziehung von richterlichen Beamten
Vernehmungen vorzunehmen und die Behörde zur Hilfe zu requirieren."
^) StGrG. V. 26. März 1849 § 67: „Der Abgeordnetenversammlung steht
das Eecht zu, in allen Fällen, wo ihr zur Ausübung ihrer verfassungsmäßigen
Wirksamkeit die Ermittlung und Aufklärung tatsächlicher Verhältnisse
wünschenswert oder notwendig erscheint, entweder die nötigen Untersuchungen
durch einen der bereits bestehenden Ausschüsse vornehmen zu lassen oder
aber zu demselben Zwecke einen besonderen Ausschuß aus ihrer Mitte zu
ernennen. Insoweit diese Ausschüsse zur Feststellung von Tatsachen der
Auskunftserteilung oder sonstiger Mitwirkung der Behörden bedürfen, sind
die Behörden auf Veranlassung der Abgeordnetenversammlung von der Staats-
regierung hiezu anzuweisen." In dem geltenden StGG. der Herzogtümer
Koburg u. Gotha v. 3. Mai 1852 fehlt eine solche Bestimmimg.
^) StGG. V. 23. Mai 1849 § 66: „Das Eecht der Beschwerde, der Adresse
und der Erhebung von Tatsachen und Gutachten, sowie der Anklage der
verantwortlichen Mitglieder der Staatsregierung steht dem Landtage zu."
*) Verf.-Urk. v. 17. August 1852 § 64 Abs. 2 u. 3. — Ein rudimentäres
Informationsrecht hatte die hamburgische Bürgerschaft nach der in der kon-
stituierenden Versammlung des Freistaates v. 11. Juli 1849 beschlossenen
Verfassung, deren Art. 85 sie berechtigt, von jedem Staatsangehörigen die
im öffentlichen Interesse erforderliche Auskunft zu verlangen, wogegen der
Aufgeforderte verpflichtet ist, letztere nach besten Kräften zu erteilen. Seit
der Verf. v. 28. Sept. 1860 ist diese Befugnis von der Bürgerschaft auf deren
Ausschüsse übergegangen, die sich gemäß Art. 51 wegen der zur Vorbereitung
legislativer Arbeiten erforderlichen Auskünfte direkt an den Senat wenden
können, aber auch das Eecht haben, solche Auskunft von jedem Staats-
angehörigen in eben dem Umfang, in welchem er sie öffentlichen Verwaltungs-
284 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Für diese Ausgestaltung und Einschränkung des parlamen-
tarischen Untersuchungsrechts ist ohne Zweifel Preußen maß-
gebend und vorbildlich gewesen. Daß ein Staat, dessen führende
historische Elemente — Krone und Beamtentum — sich so lange
mit zähem Instinkt gegen die Rezeption des konstitutionellen
Prinzips gewehrt hatten, nunmehr bei der Aufrichtung ver-
fassungsmäßiger Ordnungen dem Repräsentativorgan eine Be-
fugnis einräumte, die schon vermöge ihrer Herkunft auf das
System der Parlamentsherrschaft wies, darf als ein beachtens-
wertes Symptom gelten für die politische Atmosphäre, aus der
das preußische Grundgesetz hervorgegangen ist und in der es
zu wirken bestimmt war, für eine Zeit, die vor allem in staat-
lichen Dingen, aber auch sonst im Bereich des Gemeinschafts-
lebens geneigt schien, unbesehen und unvermittelt ein Extrem
mit einem andern zu vertauschen. Weder der von einer Mini-
sterialkommission ausgearbeitete Entwurf, der dem König vom
Staatsministerium unterm 15. Mai 1848 eingereicht wurde i),
noch das der preußischen Nationalversammlung im selben Monat
vorgelegte ,, Verfassungsgesetz" 2) enthielt Bestimmungen über
das parlamentarische Enqueterecht, aber schon die von der
Nationalversammlung im Juni gewählte Verfassungskommission
hatte in den nach ihrem Vorsitzenden Benedict Waldeck von
Friedrich Wilhelm IV. als „Charte Waldeck" bezeichneten
„Entwurf der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat"
den Satz aufgenommen, daß eine jede Kammer die Befugnis
hat, Kommissionen zur Untersuchung von Tatsachen zu er-
behörden zu erteilen schuldig ist, und insofern nicht besondere Amts-
pflichten entgegenstehen, zu verlangen. Ähnlich nach Art. 51 der Redaktion
V. 13. Okt. 1879. Hienach ist auf dieses Auskunftsverlangen das Ges. v.
23. April 1879 betreffend das Verhältnis der Verwaltung zur Rechtspflege
anwendbar, das in § 20 Verwaltungsbehörden das Recht einräumt, zur Fest-
stellung der in ihren Geschäftskreis fallenden Tatsachen Vorladungen unter
Strafandrohung bis zu 30 M zu erlassen: s. Wolffson im Handb. d. öff.
Rechts Bd HI, 2, 3, Freiburg i. B. u. Tübingen 1884 S. 19 u. N. 3.
*) Über diesen Entwurf: Seitz, Entstehung und Entwicklung der
preußischen Verfassungsurkunde im Jahre 1848, Diss. Greifswald 1909 S. 26 ff.,
42 f., 181 ff.; Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde f. d. Preußischen Staat,
Bd I (Berlin 1912) S. 36 ff. Nach § 55 dieses sog. Urentwurfs und der Re-
gierungsvorlage V. 20. Mai 1848 sind die Minister verpflichtet, der Kammer
auf ihr Verlangen Auskunft zu erteilen, wenn eine an sie gerichtete Bitt-
schrift Beschwerden über die Verwaltung enthält.
^) S. dieses in den Stenogr. Berichten über die Verhandlungen der zur
Vereinbarung der preußischen Staats-Verfassung berufenen Versammlung,
Berlin 1848 S. 1 ff.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 285
nennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten
Zeugen eidhch zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz
zu requirieren ^). Die nach Auflösung der Nationalversammlung
im Dezember 1848 vorbehaltlich der Revision im ordentlichen
Gesetzgebungsweg2) oktroyierte Verfassung enthielt zwar in
Art. 81 den Grundsatz des parlamentarischen Untersuchungs-
rechts, nicht aber den Zusatz betreffend die Attribute der Unter-
suchungskommissionen, und in dieser Gestalt ist die Vorschrift
als Art. 82 in die geltende Verfassungsurkunde von 1850 über-
gegangen. Jenen Zusatz heß man, wie die Materialien be-
weisen, nur deshalb fallen, weil es für unzweifelhaft erachtet
wurde, daß den Untersuchungsausschüssen der Kammern auch
ohne besondere grundgesetzliche Ermächtigung das Recht zu-
stehe, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen 3). Von dieser
Befugnis haben denn auch die auf Grund des Art. 82 bestellten
Kommissionen, so ein Ausschuß des Herrenhauses zur Vor-
beratung des Preßgesetzes, Gebrauch gemacht.
Im übrigen war in Preußen die praktische Bedeutung und
die faktische Leistung des parlamentarischen Enqueterechts
sehr dürftig. Man muß wohl sagen: war. Denn seit dem Jahre
1864 ist es zur Niedersetzung von Untersuchungsausschüssen
*) Art. 73 nach dem Antrag Mätzke. Hiezu bemerken die Motive
(Stenogr. Ber. S. 733): „Das Recht, Untersuchungskommissionen zu ernennen,
mußte den Kammern vindiziert werden, wenn sie mit voller Sachkenntnis
alle zu ihrer Wirksamkeit gehörigen Aufgaben lösen sollen. Es wurde
hiebei für unnötig erachtet, die Requisition der Behörde nur durch Ver-
mittlung des Staatsministeriums eintreten zu lassen." Letzteres hatte
Reichensperger als Referent der Verfassungskommission vorgeschlagen,
dem nach der Darstelltmg bei Seitz S. 75 ff. der weitaus überwiegende Anteil
an Inhalt und Form des Kommissionsentwurfs gebührt. — S. v. Roenne-
Zorn, Das Staatsrecht d. preußischen Monarchie Bd I (Leipzig 1899) S. 360
N. 4. Die Versammlung hielt sich für befugt, Untersuchungskommissionen
ohne verfassungsmäßige Grundlage einzusetzen. So wurde in der Sitzung
V. 28. Juni 1848 eine solche gewählt „zur Untersuchung der eigentümlichen
Verhältnisse der Weber und Spinner, sowie der gesamten preußischen Linnen-
manufaktur" (Sten. Ber. S. 307). Der Antrag auf Ernennung einer Kommission
zur Berichterstattung über die aus der Feudalität entstandenen Notstände
der schlesischen Landbewohner (das. S. 825) scheint nicht mehr zur Ver-
handlung gelangt zu sein.
^) Art. 112 d. Verf.-Urk. v. 5. Dez. 1848. Vgl. Eingang der revidierten
Verf.-Urk. v. 31. Januar 1850 (bei v. Roenne-Zorn a. a. 0. S. 69 N. 3).
*) Bericht der am 18. August 1849 zur Revision der Verfassung ein-
gesetzten Kommission der Zweiten Kammer: v. Roenne-Zorn S. 360 N. 4;
Schwartz, Die Verfassungsurkunde f. d. preußischen Staat, 2. Ausg., Breslau
1898 S. 239 f.
286 Zweig, Die parlaraent. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
nicht mehr gekommen, und bis dahin hat der Art. 82 nur in
vier Fällen Anwendung gefunden i). Die Ära Bismarck kündigt
sich auch hier vernehmlich an, und für die ihr eigentümliche
Einengung der parlamentarischen Wirkungssphäre ist grade
ein Vorgang kennzeichnend, der im Jahre 1873 auf dem Gebiet
des Enqueterechts gespielt hat. Damals beantragte der Ab-
geordnete Lasker Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
behufs Information über die Grundsätze, die bei der Erteilung
von Eisenbahnkonzessionen befolgt worden waren. Die Regie-
rung, die nach der Absicht des Antragstellers zur Mitwirkung
bei dieser Untersuchung einzuladen war, kam der Wißbegierde
der Volksvertretung zuvor. Noch vor der Beratung des Antrags
verfügte eine königliche Botschaft die Bildung einer Spezial-
untersuchungskommission zu dem in Rede stehenden Zweck,
welcher teils von der Staatsregierung ernannte Beamte, teils
von beiden Häusern des Landtags zu erwählende Mitglieder
angehören und deren Berichte seinerzeit der Landesvertretung
zugehen sollten. Lasker zog hierauf seinen Antrag zurück 2).
Die letzte Ausübung des parlamentarischen Enquete-
rechts — Bestellung einer Kommission zur Untersuchung von
Wahlmiß brauchen — hat im Jahre 1864 dem preußischen Ab-
geordnetenhaus zu einer gründlichen Erörterung der Streit-
fragen Anlaß geboten, die sich an Art. 82 knüpfen, zum Teil
^) S. die Zusammenstellung bei Plate, Die Geschäftsordnung d. Preußi-
schen Abgeordnetenhauses ^ Berlin 1904 S. 93. Unrichtig van Eaalte im
Bulletin de la societe de legislation comparee Bd XXII (Paris 1893) S. 285.
^) Antrag Lasker: Sitzg. v. 8. Febr. 1873, Sten. Ber. über die Ver-
handlungen d. Hauses d. Abgeordneten XI. Legislaturperiode 3. Session
S. 953, Anlage Nr. 160. Ah. Botschaft v. 14. Febr. 1873: Sitzg. v. 14. Febr.
1873, Sten. Ber. das. S. 1031 f., Anlage Nr. 179. Debatte in der Sitzg. v.
15. Febr. 1873, Sten. Ber. S. 1043 ff. Die Abgg. v. Mallinckrodt u. Ge-
nossen hatten beantragt, zunächst eine 14gliedrige Kommission zu wählen
und ihr den Antrag Lasker zur Prüfung, insbesondere zur eventuellen Bezeichnung
jener Tatsachen zu überweisen, betreffs welcher die Niedersetzung einer par-
lamentarischen Kommission auf Grund Art. 82 Verf.-Urk. zu beschließen sein
wird: Anlage Nr. 177. Das Abgeordnetenhaus wählte in den durch die Ah.
Botschaft eingesetzten gemischten Ausschuß zwei Mitglieder nach den Be-
stimmungen des § 7 Abs. 3 Gesch.-O., der auch sonst bei Einsetzung von
Untersuchungskommissionen angewendet wurde: Plate S, 38, 93. — Merk-
würdigerweise haben Mißstände des Eisenbahnwesens vor kurzem in Rußland
zu einem ähnlichen Vorgang geführt. Die Duma wollte zur Untersuchung
der Eisenbahnverwaltung eine Kommission einsetzen. Die Regierung ernannte
ihrerseits eine solche, in die auch Deputierte berufen wurden: Gribowski
im Jahrb. d. öff. Rechts Bd. IH S. 605.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 287
noch in die Entstehungszeit der Verfassung zurückreichen,
aber heut und wohl für absehbare Zeit der Aktuahtät ent-
behren 1). Sie werden hier nur deshalb gestreift, weil sich an
dieser Kontroverse über ein weder theoretisch noch praktisch
übermäßig belangreiches Institut nachweisen läßt, wie in den
Dingen des öffentlichen Rechtes die persönliche politische Grund-
anschauung des einzelnen Autors zur Geltung kommt. Von
der Erfüllung der Rank eschen Maxime: auszusprechen, was
ist, scheint die Staatsrechtslehre heutigen Tags noch weit ent-
fernt. Bis zu einem gewissen Grade trägt freilich ihr Forschungs-
objekt die Schuld, wenn sie jener leidenschaftslosen Gegen-
ständüchkeit ermangelt, die — wenigstens vorläufig — die Inter-
pretation von Sätzen und Verhältnissen des Privatrechts kenn-
zeichnet und auszeichnet. Aber man soll nicht allein die Dinge,
man muß auch die Personen dafür verantwortlich machen, daß
sich in die wissenschaftHche Betrachtung publizistischer Rechts-
bildungen immer wieder Gesichtspunkte eindrängen, die nach
bestimmten, nicht selten rein parteimäßigen Interessen und
Ansprüchen orientiert sind, daß, um eine Wendung Labands
zu brauchen, die staatsrechtliche Literatur unjuristisch wird
und auf das Niveau der politischen Tagesliteratur hinabsinkt.
In der Auslegung der preußischen Verfassung und ihres Ar-
') S. Nr. 169 der Anlagen zu d. Sten. Ber. über die Verhandlungen d.
Preuß. Abgeordnetenhauses Sess. 1863/64 Bd VIII S. 1853 ff. Vgl. v. ßoenne-
Zorn a. a. 0. S. 36-1 N. 2. Es handelte sich im wesentlichen darum, daß
das Ministerium des Innern allen Staatsbeamten untersagt hatte, den Requi-
sitionen der Untersuchungskommission des Abgeordnetenhauses Folge zu leisten,
worauf die Kommission fiii- das Gemeindewesen beantragte, das Haus möge
erklären, daß hiedurch Art. 82 der Verfassung verletzt worden sei. Hiezu
bemerkte der Ministerialkommissar, daß Untersuchungsausschüsse nicht die
Rechte einer Behörde und überhaupt keine weitergehende Befugnis haben
als jede andere Kommission oder das Haus selbst, welches nach Art. 81
Verf.-Urk. bloß direkt mit den Ministern verhandeln dürfe. Nur durch aus-
drücklichen Verfassungssatz hätten die Untersuchungskommissionen das Recht
erhalten können, mit den den Ministern imtergeordneten Behörden UBmittel-
bar in Verbindung zu treten. Daß Art. 82 solche Rechte der Exekutive an diese
Kommissionen stillschweigend übertragen wollte, sei um so weniger anzunehmen,
„als es sich hiebei um so eminente Attribute der vollziehenden Gewalt
handelt, daß deren konsequente Anwendung .... geeignet erscheint, den
gesamten Staatsorganismus zu gefährden". Die Untersuchungskommission,
welche direkte Requisitionen an untergeordnete Behörden und Beamte er-
gehen ließ, habe verfassungswidrig gehandelt. Dagegen vertrat ein Kommissions-
mitglied die Meinung, daß ein auf Grund Art. 82 von| einer Kammer er-
nannter Ausschuß in die Reihe der staatlichen Untersuchungskommissionen
eintritt, Staatsbehörde wird und alle einer solchen zustehenden Rechte ausübt.
288 Zweig, Die Parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
tikels 82 klingt die politische Note besonders deutlich an, und
hier, wie übrigens auch anderwärts, hat solche Zweckjurisprudenz
— das Wort in seinem schlimmsten Sinn genommen — eine
so seltsame Umkehrung des natürlichen Verhältnisses ergeben,
daß für eine die Rechtssphäre der Volksvertretung einschränkende
Deutung zugunsten des gouvernementalen Standpunktes grade
die jüngere Schriftstellergeneration eintritt, — wobei unent-
schieden bleiben mag, ob diese Erscheinung jeweils auf an-
geborene oder durch Anpassung erworbene Eigenschaften und
Überzeugungen des Auslegers zurückzuführen ist.
In der Frage der parlamentarischen Enquete nach preußi-
schem Recht stehen eigentlich nur drei Punkte außer Streit.
Einmal der Satz, daß nicht das Plenum als Untersuchungs-
instanz fungieren, vielmehr jede Kammer ihr Informations-
bedürfnis bloß im Wege von Kommissionen befriedigen darf,
sodann das — angesichts manches verfassungsgeschichtlichen
Präzedens keineswegs selbstverständliche — Prinzip, daß die
Tätigkeit solcher Ausschüsse sich nur auf Materien erstreckt,
die überhaupt in die Kompetenz der Volksvertretung fallen i),
endlich die Tatsache, daß eine Kommission weder Jemand zum
Erscheinen zwingen, noch ihn eidlich vernehmen kann, daß
ihr also Behördenqualität und obrigkeithche Zwangsmittel ver-
sagt sind -). Im übrigen ist fast alles kontrovers, was sich
auf Umfang und Inhalt des Untersuchungsrechtes der Kammern
wie des Erhebungsrechtes ihrer Ausschüsse bezieht. So nament-
lich die Frage, ob jedes der beiden Häuser des Landtags die
Befugnis habe, Beweismittel zur Feststellung von Tatsachen
lediglich mit dem animus informandi zu sammeln, oder auch
*) Bei der Revision der Verfassungsurkunde wurde in der Ersten Kammer
beantragt, daß der Untersuchungskommission „Feststellung tatsächlicher Ver-
hältnisse, welche auf die Gesetzgebung von Einfluß sind", obliegen sollte.
Diese Formulierung, welche Mißbräuche der Kommissionen durch Ein-
schränkung ihrer sachlichen Zuständigkeit ausschließen wollte, wurde ab-
gelehnt: Schwartz S. 240.
'') Arndt. Das Staatsrecht d. Deutschen Reiches, Berlin 1901, S. 148;
ders., Die Verfassungsurkunde f. d. Preuß. Staat (Guttentagsche Sammlung
preußischer Gesetze Nr. 1'), Berlin 1911 S. 290 f.; Hubrich, Preußisches
Staatsrecht (Bibliothek d.öff. Rechts Bd 15), Hannover 1909 S.218; v. Roenne-
Zorn a. a. 0. S. 366. Auch Anschütz, der (in v. Holtzendorff-Kohlers
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, Leipzig u. Berlin 1903 Bd 11 S. 585)
annimmt, daß die Untersuchungskommissionen nicht bloß die Minister, sondern
alle Staatsbehörden um Ausführung von Aufträgen oder Auskunft ersuchen
dürfen, meint, daß Niemand, weder Behörde noch Privatperson, verpflichtet
ist, der Requisition bzw. Vorladung Folge zu leisten.
Zweigf, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 289
das Recht, das im Untersuchungsweg gewonoene Material zur
Stellung von Anträgen, Erhebung von Beschwerden, zum Er-
laß einer Adresse zu benutzen, und dergestalt Maßregeln der
Regierung oder das ganze Verwaltungssystem einer Enquete
zu unterwerfen^). Das leitet zu der zweiten Frage, ob das
Haus mit dem Gegenstand, der die Einsetzung einer Kommission
veranlaßt, bereits durch eine Regierungsvorlage oder einen
andern Antrag befaßt sein muß, oder ob auch ohne solchen
Zusammenbang mit einer konkreten Angelegenheit die Nieder-
setzung eines Ausschusses zulässig sei, um im Hinblick auf
einen erst zu stellenden Antrag, zur Vorbereitung einer erst
zu fassenden Resolution den Tatsachenstoff und die dazu not-
wendige Information zu liefern -). Auch darüber herrscht Streit,
ob die Untersuchungskommission sich lediglich auf Herbei-
schaffen und Sichten von Tatsachen behufs deren Kenntnis-
nahme durch das Plenum zu beschränken, sich also jedes dem
Hause vorgreifenden Urteils über die rechtliche Bedeutung des
zu Tage geförderten Materials zu enthalten hat, oder ob sie
^) Für die letztere Alternative Schulze, Das Preußische Staatsrecht
Bd I* (Leipzig 1888) S. 615; Born hak, Preußisches Staatsrecht Bd I*
(Breslau 1911) S. 460; v. Roenne-Zorn S. 361 ff. (dagegen Zorn in diesem
Werk S. 362 N. 2 a. E.). tJber eine ähnliche Streitfrage in der französischen
Parlamentspraxis vgl. Pierre, Traite de droit politique, electoral et par-
Iementaire^ Paris 1902 S. 712 ff.
^) Für die auch durch die Praxis gestützte weitere Auslegung v, Roenne-
Zorn S. 362f.; Schwartz S. 240 f. ; Hubrich S. 218; Bode in der oben
erv?ähnten Dissertation S. 63 f. Dagegen Arndt in der Guttentagschen
Sammig. S. 290 (auf Grund des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte
des Art. 82); v. Stengel, Das Staatsrecht d. Königreichs Preußen (Handb.
d. öff. R. II, 3), Freiburg i. B. u. Leipzig 1894 S. 84. — Die Frage, ob die
Durchführung einer Enquete über eine Regierungsvorlage mit den Grund-
sätzen des parlamentarischen Systems vereinbar sei. hat im J. 1905 lebhafte
Erörterungen in der belgischen Dejautiertenkammer veranlaßt. Der Abg.
Woeste führte damals aus, jede solche Maßnahme bedeute ein Mißtrauens-
votum und schließe den Vorwurf in sich, daß die Regierung ihren Gesetz-
entwurf in unzulänglicher Weise vorbereitet habe. Dagegen machte Abg.
Lantsheere geltend, daß die Verfassung den Kammern ohne einschränkende
Klausel das Informationsrecht gewähre und das Parlament kraft seiner ge-
setzgeberischen Funktion berechtigt und verpflichtet sei, sich über alle Ge-
genstände dieser Funktion die erforderlichen Aufklärungen zu verschaffen:
s. Dupriez i. d. Revue du droit public Bd XXIII S. 296 ff., dessen Aus-
führungen übrigens zu entnehmen ist, daß der erwähnte Fall ins politische
Raritätenk abinet gehört. Der Beschluß der Zweiten holländischen Kammer,
über einen Gesetzentwurf der Regierung eine Enquete zu veranstalten, wurde
(1853) im Einvernehmen mit dem Ministerium gefaßt: Dupriez S. 300;
Karsten S. 226 f.
Zeitschrift für Politik. 6. 19
290 Zweig, Die parlament. Enquete nacli deutschem und österr. Recht,
über diese Belehrung hinaus das Untersuchungsresultat zum
Gegenstand der Begutachtung machen kann^).
Endlich knüpft sich eine Meinungsverschiedenheit an die von
der Staatsregierung konsequent bekämpfte Lehre, daß einem Aus-
schuß auch das Recht zustehe, mit Umgehung der Ressortminister
die diesen untergeordneten Behörden zur Vernehmung von
Zeugen, Erteilung amtlicher Auskünfte oder Ermittlungen an
Ort und Stelle heranzuziehen '^). Die Frage ist nicht ohne Belang,
weil in der Theorie diese Ausschaltung der Zentralinstanz auch
für das Geschäft der Wahlprüfung behauptet und sowohl der
Kammer als auch einem von ihr hiezu beauftragten Ausschuß
das Recht vindiziert wurde, alle zur Beurteilung einer bestrittenen
oder zweifelhaften Wahl notwendigen tatsächlichen Ermittlungen
selbständig vorzunehmen^). Diese Meinung ist aber wissen-
*) Eine der ältesten Art. 82 betreffenden Kontroversen: s. v. Eoenne-
Zorn S. 362 f. (insbesondere zu deren Geschichte S. 362 N. 1); für die engere
Auslegung Hub rieh S. 218 f.
^) So V. Roenne in den ersten Auflagen seines Werkes (jetzt bei
V. Roenne-Zorn Bd I S. 365 ff.); Hub rieh a. a. 0.; Schulze a. a. 0.
S. 614; Schwartz S. 241 f. Auch Anschütz will a.a.O. hier eine Aus-
nahme von der Regel konstruieren, daß der Landtag nur mit den Ministern,
nicht mit den unteren Behörden und noch weniger mit einzelnen Staats-
bürgern in direktem Verkehr steht. Dagegen wendet Bornhak a. a, 0. ein,
eine solche Ausnahme hätte zum mindesten ausgesprochen werden müssen,
(S, oben S, 287 N. 1.) Übereinstimmend Zorn bei v. Roenne-Zorn S. 364 f. ;
V. Stengel S. 83; Arndt a. a. 0. S. 291; Bode S, 64; Art. „Kommissionen
in den parlamentarischen Vertretungskörpern" in v. Bitters Handwörter-
buch d. preuß. Verwaltung ^ Leipzig 1911 T. 1 S, 1046,
*) So Schulze S, 616 u. N. 1; v. Roenne in den früheren Auf-
lagen (i. d. 5. Aufl, Bd I S. 331 f.) mit Berufung auf die Ausführungen
bei Robert v. Mo hl (Staatsrecht, Völkerrecht u. Politik Bd I S, 208 ff.,
216 ff.), der jedoch selbst den Verkehr mit untergeordneten Beamten
als verboten voraussetzt und meint, wenn eine Untersuchung die Ver-
nehmung eines solchen nötig macht, hätte die Requisition des ständischen
Ausschusses durch das Ministerium zu gehen (a, a. 0. S. 218). Auch
V. Roenne muß zugeben, daß Art, 82 VU., den er für die den beiden
Häusern in Art, 78 beigelegte Entscheidung über die Legitimation ihrer Mit-
glieder zu verwerten sucht, den Kammern mangels einer selbständigen Exe-
kutive ein sehr beschränktes Recht einräumt, da sie nur mit Hilfe der Re-
gierungsorgane Vernehmung von Zeugen, Anweisungen an Behörden zur
Einreichung von Aktenstücken u, dgl, erlangen könnten. Gegen v, Roenne:
Zorn in der von ihm besorgten 5, Aufl. a. a. 0. S. 332; Arndt i. d. Gutten-
tagschen Slg. S. 283; Walz, Über die Prüfung der parlamentarischen Wahlen
zunächst nach badischem Recht (S,-A, aus Jahrg, 1902 d. Zeitschr. f. Bad.
Verwaltung u, Verwaltungsrechtspflege) S. 76; Leser, Untersuchungen über
das Wahlprüfungsrecht d. Deutschen Reichstags (Staats- u. völkerrechtliche
Abhandlungen, herausgg. v. Jellinek u. Anschütz Bd VII H, 2), Leipzig
1908 S. 41 N. 46.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht. 291
schaftlich isohert gebheben, und in Preußen haben sie auch
die Kammern selbst nur in vereinzelten Fällen geltend gemacht.
Wohl aber geschah solches in Württemberg, wo die Abge-
ordnetenkammer in den Sechziger- und Siebzigerjahren die Ein-
führung eines Euqueterechts der Volksvertretung zu Zwecken
der Wahlprüfung angestrebt hat, ohne daß die einschlägigen
Projekte auch nur zur Beratung gelangten. Die Volksvertretung
hat dort weder in Legitimationssachen noch sonst überhaupt
ein Recht zur selbständigen Ermittlung von Tatsachen, ist viel-
mehr ganz auf das Entgegenkommen des Staatsministeriums
angewiesen. Die Geschäftsordnungen beider Häuser geben zwar
den Kommissionen das Recht, wo sie es zur Ausführung ihres
Auftrags für erf orderhch halten, Sachverständige — in der zweiten
Kammer auch Zeugen — zur Äußerung zu veranlassen, doch
hat gegen diese Bestimmung ein könighches Reskript schon im
Jahre 1851 Verwahrung eingelegt^).
Auch in Bayern gilt für das Wahlprüfungsverfahren der
Satz, daß in Bezug auf die Vornahme von Erhebungen die
Kammern nur Wünsche und zwar nur gegenüber der Staats-
regierung äußern können. Aber weder sie noch ihre Ab-
teilungen und Ausschüsse haben eine juristische Möglichkeit,
der Regierung Art und Umfang solcher Erhebungen zum Zweck
der erbetenen Auskunfterteilung vorzuzeichnen '^). Das ist nur
eine spezielle Anwendung des Satzes, daß die Kammern —
ebenso wie die Abteilungen und Ausschüsse 3) — im Rahmen
') Innere GeschO, d. Kammer d. Standesherren v. 21. Juni 1876 § 62
Abs. 2; GeschO, d. Zweiten Kammer v. 14./19. Jimi 187.5 § 56 Abs. 3 (über-
einstimmend mit Art. 21 d. GeschO, vom 23. Juni 1821) und dazu kgl.
Reskript v. 26. Mai 1851. Vgl. Leser a. a. 0.; v. Sarwey, Das Staats-
recht d. Königreichs Württemberg, Tübingen 1883 Bd IT S. 231 f.; Göz,
Das Staatsrecht d. Königreichs Württemberg (D. öff. R. d. Gegenwart Bd 11),
Tübingen 1908 S. 132. 143 u. X. 2; ders., Die Verfassungsurkunde f. d.
Königreich Württemberg, Tübingen 1906 S. 318; Bazille, Das Staats- und
Verwaltungsrecht d. Königreichs Württemberg (Bibl. d. öff. Rechts Bd 2),
Hannover 1908 S. 68.
*) V. Seydel, Bayerisches Staatsrecht' Bd I S. 443 f.
^) Die durchgängige Gleichstellung von Kammer-Ausschüssen und -Ab-
teilungen, die V. Seydel a. a. 0. S. 354, 443 u. N. 42 hinsichtlich des In-
formationsrechts behauptet, erscheint einigermaßen zweifelhaft, da nach
Kammerbeschluß v. 12. Febr. 1878 den Abteilungen das bis dahin von
ihnen geübte Recht nicht zukommt, „von sich aus und ohne Genehmigung
der Kammer Erhebungen zu verlangen, welche weitere Amtshandlungen zu
Untersuchimgen und Vernehmungen notwendig machen", (v. Seydel das.
S. 444 u. N. 44).
19*
292 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
ihres Wirkungskreises berechtigt sind, Erläuterungen und Auf-
schlüsse von den Staatsministerien zu fordern, nicht aber sich
selbst aus den amtlichen Quellen etwa durch Akteneinsicht
zu informieren. Jener Befugnis der Volksvertretung entspricht
eine Antwort- und Auskunftspflicht der Regierung, die jedoch
in Bezug auf den Weg der hienach notwendigen Erhebungen
durcli keine Vorschrift der Kammer gebunden werden kann.
Ein eigentliches Enqueterecht hat — abgesehen von dem Fall
der Ministeranklage — der bayrische Landtag nur in sehr
bedingter Weise. Den Kammerausschüssen steht das Recht
zu, das mündliche und schriftliche Gutachten von Sachver-
ständigen einzuholen. Doch kann Niemand zur Abgabe solcher
Gutachten verhalten werden ^), und dem Staatsschatz dürfen
daraus keine eigenen Kosten erwachsen '^). Auch in Baden sind
nach der Landtagswahlreform von 1904 die Kammern nicht
befugt, von sich aus Tatsachen zu erheben, die für ihre Ent-
scheidung über die streitige Wahl eines Kammermitgliedes
von Bedeutung sind; sie haben vielmehr das Ministerium des
Innern um weitere Veranlassung zu ersuchen, welches ver-
pflichtet ist, die von den Kammern als erforderlich bezeichneten
Ermittlungen anzustellen, im übrigen aber nach freiem Er-
messen bestimmt, was zur Aufklärung des in Betracht kom-
menden Sachverhalts notwendig erscheint^). Da über das bei
Vornahme von Beweiserhebungen anzuwendende Verfahren bis
dahin Zweifel bestanden, wurde ausdrücklich festgesetzt, daß
hiefür die Vorschriften über das Verfahren in Verwaltungs-
*) Hierauf berief sich Freiherr v. Lichtenfels in der Debatte des Osten-.
Herrenhauses über § 8 des Geschäftsordnungsgesetzes v. 1861, um nachzuweisen,
daß das bayrische Recht durch die Verneinung eines Äußerungszwanges,
der seiner Natur nach dem Bereich der Exekutive zugehöre, die Grenzen
zwischen dieser und der gesetzgebenden Gewalt aufrechthalte : Sitzg. d
Herrenhauses v. I.Juli 1861, Sten. Prot. d. I. Session S. 111 (S. unten S. 302)
^) Ges. den Geschäftsgang des Landtags betr. v. 19. Januar 1872 Art. 33
GeschO, d. Kammer d. Reichsräte v. 29. Mai 1896 § 32; GeschO, d. Kam-
mer d. Abgeordneten v. 8. Aug. 1904 § 28. S. v. Sey del a. a. 0. S. 354 ff.
ders,, Das Staatsrecht d. Königreichs Bayern (Handb. d. öff. R. II. 4), Tü-
bingen u. Leipzig 1903 S. 52,
^) Bad. Ges. v. 24. August 1904 das Verfahren bei den Wahlen z.
Ständeversammlung betr. § 73. Vgl. Walz im Jahrb. d. öff. R. Bd I S. 338;
ders., Staatsrecht d. Großherzogtums Baden S. 81 f.; Glockner, Badisches
Verfassungsrecht, Karlsruhe 1905 S. 229 f. Nach § 8a der GeschO, für die
zweite Kammer sind Erhebungen über beanstandete Wahlen dringlich zu
behandeln.
Zweig. Die parlament. Enquete uach deutschem und österr. Recht. 293
Sachen zu gelten haben und Zeugen sowie Sachverständige in
der Regel eidlich zu vernehmen sind ^).
Es zeigt sich, daß das Recht der parlamentarischen Unter-
suchung im deutschen Boden nicht Wurzel fassen konnte. In
den Dreißigerjahren hat Karl Salomo Zachariä prophezeit,
daß diese Einrichtung, soviel sie auch für sich hat, doch in
den deutschen konstitutionellen Monarchien schwerlich das
Bürgerrecht erhalten möchte 2). Die Entwicklung hat ihn nicht
Lügen gestraft, und die Richtigkeit seiner Vorhersage erhält
eine neue Bestätigung durch den Umstand, daß diese aus dem
Vorstellungskreise des parlamentarischen Systems stammende
Institution auch im Recht des Deutschen Reiches keinen Platz
gefunden hat ^). Nicht etwa infolge eines Versehens oder Über-
sehen s. Denn bei der staatsrechtlichen Fundamentierung des
Norddeutschen Bundes wurde allerdings der Versuch unter-
nommen, für den Reichstag eine Befugnis nach dem Muster
des Art. 82 der preußischen Verfassungsurkunde zu erlangen.
In der Debatte über Art. 23 der Bundesverfassung, welcher
die gesetzgeberische Zuständigkeit des Reichstags umschreibt,
beantragte der Abgeordnete v. Ausfeld, dem Reichstag auch
das Recht zur Erhebung von Tatsachen zu gewähren. Weiter
ging der Vorschlag Laskers auf Einschaltung eines neuen
Artikels, laut dessen der Reichstag nebst dem Interpellations-
recht, dem Recht, Adressen an das Bundespräsidium zu richten,
Beschwerden entgegenzunehmen und sie dem Bundeskanzler
zu überweisen, auch die Befugnis erhalten sollte, Tatsachen
durch Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und andern
Auskunftspersonen zu erheben, sich somit in pleno als Unter-
suchungsausschuß zu konstituieren und in gleicher Weise
Kommissionen mit der Erhebung von Tatsachen zu beauf-
*) Die Zeugen und Auskunftspersonen sind zum Erscheinen verpflichtet
und können hiezu durch Geldstrafe oder persönlichen Zwang verhalten
werden: Landesherrliche Verordnung v. 31. Aug. 1884, das Verfahren in
Verwaltungssachen betr. § 1 Abs. 2. Vgl. Glockner S. 230 f.
') Vierzig Bücher vom Staate ^ Heidelberg 1839/43 Bd m S. 263.
^) Auch nicht in der Verfassung Elsaß-Lothringens von 1911. Da das
Verfassungsgesetz über ein dem Landtag zustehendes Enqueterecht schweigt,
dieser aber grundsätzlich nur die ihm diu-ch Gesetz zugeteilten Kompetenzen
hat, fehlt ihm das Eecht, behufs seiner Information Untersuchungsausschüsse
einzusetzen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß dem Landtag auch
die Wahlprüfung nicht zukommt: s. Heim, Das Elsaß-Lothringische Ver-
fassungsgesetz V. 31. Mai 1911, Straßburg 1911 S. 66.
294 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
tragen ^). In dieser Fassung war die Vorschrift offenbar darauf
berechnet, den Reichstag mit dem überheferten konstitutionellen
Rüstzeug zur wirksamen Geltendmachung einer poHtischen
Verantwortlichkeit der Reichsexekutive auszustatten. Aber
nicht unter solchem Gesichtspunkt hat sie Gegner gefunden,
sondern vor allem im Hinblick auf den geringen Effekt, den
das parlamentarische Untersuchungsrecht in Preußen zu ver-
zeichnen hatte 2). Es wurde hervorgehoben, daß dieses Recht
vielleicht in Einzelstaaten und bei unbegrenzter legislativer
Machtsphäre der Volksvertretung am Platz wäre, nicht aber
für eine Versammlung statuiert werden kann, deren gesetz-
geberische Zwecke fest bestimmt sind, die sich zudem vorzugs-
weise mit auswärtigen und militärischen Angelegenheiten be-
schäftigen dürfte, worüber eine Enquete nicht leicht durch-
zuführen ist 3). Die Tätigkeit der Untersuchungskommissionen
würde den Reichstag der Gefahr aussetzen, immer wieder seine
Zuständigkeit zu überschreiten und dadurch unnötigerweise
Konflikte herbeizuführen*). Auch hier wurde betont, daß es
der Repräsentativkörperschaft an Organen fehle, um gegen
etwaigen Widerstand der Regierung eine Erforschung des in
Untersuchung gezogenen Sachverhalts zu bewirken s).
Artikel 23 wurde schließlich nach der Regierungsvorlage
angenommen, der Versuch, ein parlamentarisches Enqueterecht
durch ausdrücklichen Verfassungssatz zu kodifizieren, jedoch
nach kurzer Zeit durch den Abgeordneten Reincke erneuert,
der die Einfügung folgender Bestimmung als Art. 23 a in die
Bundesverfassung beantragte: ,,Der Reichstag hat das Recht,
*) Konstituierender norddeutscher Reichstag, Sitzg. v. 29. März 1867:
V. Holtzendorff-Bezold, Materialien d. deutschen Reichsverfassung,
Berlin 1873 Bd 11 S. 85 f.
*) S. die Ausführungen des Abg. Baumstark bei v. Holtzendorff-
Bezold S. 88.
^) Abg. V, Vincke: v. Holtzendorff-Bezold S. 100.
*) Ein ähnliches Argument gegen das Enqueterecht eines bundesstaat-
lichen Parlaments bereits in der oben S. 281 f. erwähnten Kollektivnote be-
treffend das Verfassungswerk der Frankfurter Nationalversammlung.
^) Abg. Scherer: v. Holtzendorff-Bezold S. 93 f. — Grade dieser
Gesichtspunkt veranlaßte 1891 die sozialdemokratische Fraktion, in ihrem
Antrag auf Festlegung eines Enqueterechts des Reichstags (s. unten S. 297 f.)
über den Art. 82 der preußischen Verfassung hinauszugehen und für die
Untersuchungsausschüsse das Recht eidlicher Abhörung von Zeugen und Sach-
verständigen in Anspruch zu nehmen: Abg. Bebel im Deutschen Reichstag,
136. Sitzg. V. 9. Dez. 1891, Sten. Ber. 8. Legislaturperiode I. Sess. 1890/91
S. 3297.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 295
behufs seiner Information Kommissionen zur Untersuchung
von Tatsachen zu ernennen. Die Behörden sind gehalten, diesen
Kommissionen bei Ausübung ihrer Amtspflicht innerhalb der
Grenzen ihres Kommissoriums die geforderte Unterstützung
zu gewähren"^). Der Vorschlag war nach den "Worten des
Antragstellers hauptsächlich durch sozialpolitische Erwägungen
bestimmt: die Einsetzung von Kommissionen sollte die Lage
der arbeitenden Klassen zum Gesamtbewußtsein erheben, um
die so ermittelten und vermittelten Kenntnisse' zum Gemein-
gut der Gesamtheit zu machen-). Der Antrag stieß zunächst
auf das Bedenken, es sei nicht rätlich, jetzt schon Änderungen
in eine Verfassung einzuführen, die sich erst einzuleben habe,
und unter diesem Gesichtspunkt des ,, Einbruchs" in die Bundes-
verfassung empfahl auch der Berichterstatter, Untersuchungs-
kommissionen lediglich fallweise zu ernennen 2). Im übrigen
wiederholte er zur Begründung seiner ablehnenden Haltung
die aus der Verfassungsdebatte bekannten Argumente und hob
hervor, daß Untersuchungsausschüsse eine ,, Administrativ-
gewalt und eine Exekutivgewalt" d. h. das Recht haben müßten,
nach ihrer Wahl jeden Beamten irgendeiner Behörde zu ver-
nehmen. Diese Beamten müßten verpflichtet sein, vor der
Kommission zu erscheinen und ihr Rede zu stehen. Nach den
Erfahrungen, die bei der Anwendung des Untersuchungsrechtes
in Preußen den schroffsten Widerspruch zwischen dem Buch-
staben der Verfassung und der bureaukratischen Tradition auf-
gewiesen hatten, lag hier die eigentliche Schwierigkeit, und
deshalb meinte der Berichterstatter, man müßte erst die den
Staatsdienst betreffenden Vorschriften ändern, ehe Beamte als
Zeugen vor parlamentarischen Ausschüssen auftreten könnten;
so wie die Dinge jetzt lägen, werde es ein Beamter mit seinem
^) Anlage Nr. 33 zu den Sten. Ber. über die Verhandlungen d. Reichs-
tages d. norddeutschen Bundes, I. Legislaturperiode Sess. 1868. Der Antrag
gelangte in der 16. Sitzg. v. 5. Juni 1868 zur Verhandlung: Sten. Ber. S. 258 ff.
^) Abg. Dr. Reincke, Sten. Ber. S. 265. Nach der Darstellung des
Abg. Schraps war ursprünglich die Einsetzung einer ständigen Kommission
beabsichtigt, die dem Reichstag über die Lage der arbeitenden Klassen regel-
mäßig Bericht erstatten sollte. Um die geschäftsordnungsmäßig erforderliche
Zahl von Unterschriften zu gewinnen, entschloß man sich zu einer Formu-
lierung, die sich dem Art. 82 der preuß. Verfassungsurkunde näherte: Sten.
Ber. S. 259.
^) Präsident des Bundeskanzleramtes Delbrück, Sten. Ber. S. 260; Be-
richterstatter Dr. Engel das. S. 259.
296 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
Eide nicht verträglich finden, außerdiensthch über Dinge zu
reden, welche dienstlich zu seiner Kenntnis gekommen sind.
In den zwei Jahrzehnten seit der Paulskirche hatte, wie man
sieht, die grundsätzliche Stellung der parlamentarischen Körper-
schaften zu der Frage der im Beamtentum verkörperten Staats-
autorität einen Prozeß konservativer Läuterung durchgemacht,
und vergeblich mühte sich Waldeck, ein Zeuge aus den
Jugendtagen des preußischen Konstitutionalismus, die Ver-
sammlung für den Antrag Reincke zu gewinnen, weil dieser
dem Wunsche förderlich sei, daß der norddeutsche Bund wirk-
lich eine parlamentarische Verfassung gegenüber einem verant-
worthchen Ministerium erhalte i). Auch der Abgeordnete
T Westen erklärte, keine Vermischung der parlamentarischen
Befugnisse und der Exekutive zu besorgen, wenn Beamte an-
gewiesen würden, den Requisitionen eines Parlamentsausschusses
zu entsprechen; er wollte vielmehr hierin einen großen Fort-
schritt in der Homogeneität zwischen den parlamentarischen
Institutionen des Vaterlandes und der herrschenden Verwaltungs-
gewohnheit erblicken. Aber auch er versprach sich praktischen
Erfolg nur davon, daß für die Behörden eine formelle Ver-
pflichtung geschaffen werde, den parlamentarischen Unter-
suchungsausschüssen Akten zur Verfügung zu stellen und auf
Requisitionen Auskunft zu erteilen 2). Den Ausschlag gab
wieder die aus der Natur des Bundesstaates abgeleitete Er-
wägung, daß in einem solchen Staatswesen die Funktion der
parlamentarischen Enquete eine ganz andere wäre als im Ein-
heitsstaat, der Hinweis auf das preußische Vorbild daher nicht
am Platze sei ^). Und da es sich nach dem Ausdruck des
Berichterstatters um ein Recht handelte, das ,, nicht soviel wert
ist wie man gewöhnlich glaubt", wurde der Antrag schheßlich
abgelehnt*).
Der deutsche Reichstag hat also verfassungsmäßig kein
Enqueterecht 5) und scheint auch nicht geneigt, diese Lücke
^) Sten. Ber. S. 261.
*) Sten. Ber. S. 260 f.
") Präsident Delbrück, Sten. Ber. S. 260; Abg. Twesten das. S. 261.
*) Sten. Ber. S. 267.
*) Als in der Reichstagssitzung v. 12. Mai 1906 der Antrag auf Gewährung
freier Eisenbalinfahrt für die Mitglieder des Reichstags damit begründet wurde,
daß diese selbst Erhebungen an Ort und Stelle vornehmen wollten, erklärte
Staatssekretär Dr. v. Posadowsky, es sei nach Ansicht der verbündeten
Regierungen Sache der Exekutive, Erhebungen anzustellen und Tatsachen zu
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und östeiT, Recht. 297
seiner Zuständigkeit durch eine generelle Regelung auszufüllen ^).
Ein im Jahre 1891 seitens der sozialdemokratischen Fraktion
eingebrachter Antrag, in die Reichsverfassung als Artikel 23 a
eine Bestimmung wegen Einsetzung von Reichstagskommissionen
zur Untersuchung von Tatsachen aufzunehmen, ist nicht zur
Verabschiedung gelangt'). Abgesehen von dem taktischen Zweck,
durch Aktionen solcher Art ein parlamentarisches Regime vor-
zubereiten, wollte der Antrag in erster Linie den Reichstag in
die Lage versetzen, durch Personen aus seiner Mitte an den
Erhebungen über die soziale Lage bestimmter Bevölkerungs-
gruppen teilzunehmen und mit größerer Sachkenntnis und Ge-
wissenhaftigkeit, als es sonst der Fall sein kann, sein Votum
erforschen. (S. Dambitsch, Die Verfassung d. Deutschen Reichs, Berlin
1911 S. 4-10,) — Mit dem Text übereinstimmend v. Seydel, Commentar z.
Verf.-Urk. f. d. Deutsche Reich ^ Freiburg i. B. u. Leipzig 1897 S. 203, der
jedoch meint, es sei dem Reichstag nicht untersagt, Auskunftspersonen oder
Sachverständige mündlich oder schriftlich einzuvernehmen; nur könne er
Niemand zwingen, sich einvernehmen zu lassen. Gegen eine solche über
Art. 82 der preuß. Verf.-Urk. hinausgehende Kompetenz des Reichstags Arndt,
Staatsrecht d. Deutschen Reiches S. 148; ders. , Verfassung d. Deutschen
Reichs*, Berlin 1911 S. 184 f.; Dambitsch a. a. 0. Über die Auffassung
V. Jagemanns, Die deutsche Reichs Verfassung, Heidelberg 1904 S. 129,
daß die Parlamentsenquete ein Eingriff in die Verwaltung wäre, ließe sich
noch streiten. Wenn aber dieser Autor unter den „freien Mitteln", die dem
Reichstag auf anderem Wege gewünschte Kenntnisse und Gelegenheit zur
Anschauung bieten sollen, die korporative Besichtigung einer Zündstoff-
fabrik oder die Teilnahme an der Eröffnung des Nordostseekanals anfühi-t,
so gestattet diese Aufstellung einen Rückschluß auf die völlige Verkennung
des eigentlichen Wesens der Materie. In diesem Betracht steht freilich das
Enqueterecht in dem erwähnten Buch nicht vereinzelt da.
^) Auch Neumann- Hof er, der de lege ferenda für die parlamentari-
schen Ausschüsse Erweiterung der Informationsmöglichkeit fordert, gibt zu,
daß das Verlangen darnach sich nicht oft und niemals stürmisch geregt hat
(Zeitschr. f. Politik Bd IV S. 72).
") „Der Reichstag hat das Recht, behufs seiner Information Kommis-
sionen zur Untersuchung von Tatsachen zu ernennen. Diese Kommissionen
sind berechtigt, Zeugen und Sachverständige — auch eidlich — zu vernehmen
und überhaupt alle diejenigen Erhebungen zu veranstalten, die sie zur Klar-
stellung der Tatsachen für nötig erachten. Die Behörden sind gehalten,
diesen Kommissionen bei Ausübung ihrer Amtspflicht innerhalb der Grenzen
ihrer Aufgaben die geforderte Unterstützung zu gewähren. Die Mitglieder
dieser Kommissionen erhalten für ihre Zeitversäumnisse und Auslagen Ent-
schädigung, deren Höhe reichsgesetzlich festgestellt wird": Antrag Au er u.
Genossen, Anlage Nr. 39 der Sten. Ber. über die Verhandlungen d. Reichstags,
8, Legislaturperiode I. Sess. 1890/91 S. 237. (S. auch Arch. f. soziale Gesetz-
gebung u. Statistik Bd III S. 630 f.) Der Antrag kam nur zur ersten Lesung:
136. Sitzg. V. 9. Dez. 1891, Sten. Ber. das. S. 3287 ff.
298 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
abzugeben. Die Debatte wurde im wesentlichen mit den von
früheren Anlässen her bekannten Argumenten bestritten. Es
fehlte weder die Abwehr des Versuchs, einen Teil der Exekutive
auf den Reichstag zu übertragen, noch die Warnung, immer
wieder an der Verfassung herumzure vidieren i). Unverkennbar
schlägt aber die Note einer gewissen Enquetemüdigkeit durch.
Redner verschiedener Parteien sind darin einig, daß die Trag-
weite des parlamentarischen Untersuchungsrechtes geringer sei
als fünfzig oder sechzig Jahre früher, daß das Parlament zu
seiner Information jetzt nicht auf das angewiesen ist, was man
ihm vom Regierungstisch unterbreitet, weil die Auskunfterteilung
in umfassender Weise durch Presse und Vereinswesen geleistet
wird 2). Der deutsche Reichstag hat somit auf ausdrückhche
Festlegung eines Enqueterechts verzichtet 3), in der Praxis jedoch
sein Auskunftsbedürfnis nach dem früher in Belgien geübten
Vorgang realisiert, indem er mittels Gesetzes die Bildung einer
Untersuchungskommission verfügte. So wurde im Jahre 1878
zur Klarstellung der Verhältnisse des Tabakbaus eine Enquete
berufen, welche die sachliche Grundlage des Tabaksteuergesetzes
von 1879 geliefert hat*). Soweit es sich um wirtschaftspolitische
Orientierung und Vorbereitung der einschlägigen legislativen
Maßnahmen handelt, geht der Zug der Entwicklung dahin, das
Hauptgewicht der Information vom Reichstag in den Bundesrat
und die Reichsregierung zu verschieben s).
') Abgg. V. Manteuffel u. Bachern: Sten.Ber. S. 3292, 3293.
") Abgg. Bachern u. v, Marquardsen, Sten.Ber. das.
^) Im norddeutschen Reichstag hatte bei Beratung des Antrags Reincke
(s. oben S, 294 f.) Lasker gegen diesen eingewendet, der Reichstag bedürfe
gar nicht des vorliegenden Antrags, um Kommissionen zur Untersuchimg
von Tatsachen einzusetzen, weil die Bestellung solcher Kommissionen jedem
Parlament schon als natürliches Recht zustehe (Sten. Ber. über d. Verhand-
lungen des Reichstags des norddeutschen Bundes 1. Legislatm-periode Sess.
1868 S. 262). Ähnlich meinte Abg. Schrader in der Debatte über den Antrag
Auer, der Reichstag brauche für sein Enqueterecht keine Verfassungsände-
rung, sondern könne solches auch durch seine Geschäftsordnung erreichen,
wenn er nicht beansprucht, Zeugen und Sachverständige zu vereidigen oder
zum Erscheinen zu zwingen, sie vielmehr ohne jeden Zwang zu seiner Infor-
mation vorladen will. (Sten. Ber. über d. Verhandlungen d. Reichstags 8. Le-
gislaturperiode I. Sess. 1890/91 S. 3294.)
*) Reichsges. v. 26. Juni 1878 RGBl. S. 129. S. v. Mayr, Art. Tabak-
steuer in v. Stengels Wörterbuch d. Deutschen Verwaltungsrechts Bd 11
S. 599; V. Heckel, Tabak imd Tabaksteuer, im Handwörterbuch d. Staats-
wissenschaften' Bd VII S. 1080; V. Roenne-Zorn a. a. 0. S. 363 N. 1.
*) Die gleiche Erscheinung — allmähliche Verdrängung der Parlaments-
enquete durch Regierungskommissionen — ist in England zu beobachten.
Zweig, Die Parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 299
Für die Erhebungen, die etwa im Laufe der dem Reichstag
zustehenden und obhegenden Legitimatiousprüfung notwendig
werden, gelten sinngemäß die Sätze des preußischen Rechts.
Der Reichstag kann zur Vornahme solcher Erhebungen die
beteiligte Eiuzelstaatsregierung durch den Reichskanzler ersuchen
lassen, nicht aber zu diesem Behuf unmittelbar mit andern
Instanzen — Gerichts- oder Polizeibehörden — in Verbindung
treten, geschweige denn selbständig Ermittlungen vornehmen^).
Und auch dieses eingeschränkte Informationsrecht darf er nur
ausüben, um über die Gültigkeit einer Wahl zu entscheiden,
also nicht mehr, wenn er die Wahl bereits agnosziert oder
verworfen hat, etwa zu dem Zweck, um durch nachträgliche
Beweiserhebungen Unregelmäßigkeiten festzustellen und so
wenigstens indirekt eine Kontrolle oder Ahndung der in Frage
stehenden Vorgänge herbeizuführen 2). Der Reichstag kann zur
Ausübung des ihm in Art. 23 RV. eingeräumten Rechtes einer
Kommission Petitionen, die in den Geschäftskreis der Kom-
mission fallen, zur Erledigung übermitteln, die Kommission
hat aber nicht etwa die Befugnis, die Petenten selbst zu ver-
nehmen, ist vielmehr auch hier für Beweisaufnahme und Ur-
kundenrequisition au die Hilfe der Reichsregierung gewiesen^).
Als letzter von den Staaten des ehemaligen deutschen Bundes
hat Österreich das Enqueterecht der Volksvertretung verfassungs-
Über deren Gründe: Cohn, Parlamentarische Untersuchungen in England
S. 4 ff. Vgl. Eedlich, Englische Lokalverwaltung, Leipzig 1901 S. 679 ff.
') Walz, tJber die Prüfung d. parlamentarischen Wahlen S. 80
Leser S. 41; Arndt, Staatsrecht S. 126, 148. (Dagegen Wagner in Hirth-
Seydels Annalen d. Deutschen Eeichs, Jhgg. 1906 S. 141.) Ähnliches gilt
für Baden: Walz S. 78 f.
^) Walz S. 80; Leser S. 42 ff.; v. Seydel, Kommentar S. 208, mit
dessen Meinung, daß für Erhebungen solcher Art kein reichsgesetzlicher
Zeugniszwang besteht, Arndt a. a. 0. insofern übereinstimmt, als Jeder, da
die Wahl geheim ist, seine Aussage darüber, wen er gewählt hat, verweigern
kann, wenn es sich dabei um Gültigkeit der Wahl, nicht aber wenn es sich
um eine angeblich begangene Fälschung handelt. Die Frage, ob und inwie-
weit der Reichstag ein Recht auf Einsicht von Gerichtsakten habe, wurde
laut Berichtes der Petitionskommission v. 23. Mai 1906 (Anlagen, 11. Legis-
laturperiode n. Sess. Bd VI S. 4807) dahin entschieden, daß der Reichstag
nicht unmittelbar Akten einfordern, sondern den Reichskanzler um deren
Übersendung ersuchen kann, aber keinen Anspruch darauf hat, daß dem
Wunsch Folge gegeben werde: Dambitsch a. a. 0.
^) Neumann-Hof er a. a. 0. S. 72, der das. S. 85 de lege ferenda für
die Kommissionen das Recht fordert, bei Petitionen und Wahlprotesten die
Literessenten zu vernehmen.
300 Zweig, Die parlament, Enquete nach deutschem und österr. Recht.
mäßig kodifiziert. Hier zeigt sicli eine offenbar in gleicliartigen
politisclien Voraussetzungen begründete Parallelität mit der Ent-
wicklung der Frage in Preußen. Das Untersuchungsrecht der
österreichischen Reichsvertretung hat Herkunft und Schicksal der
in Art. 82 der preußischen Verfassungsurkunde gegebenen Kom-
petenzbestimmung geteilt. Es kommt wie diese aus der Revolu-
tionsepoche und ist wie sie oder noch mehr als sie auf dem Papier
geblieben. Schon der von Kajetan Mayer ausgearbeitete Entwurf
der Fünferkommission, den der Konstitutionsausschuß des Krem-
sierer Reichstags zur Grundlage seiner Verhandlungen nahm ^),
enthielt als § 64 den der belgischen Verfassung entnommenen
lapidaren Satz, daß eine jede Kammer das Recht habe, Unter-
suchungen anzustellen; wobei man sich erinnern mag, daß die
Verfassungsbewegung und Verfassungsberatung vom Gedanken
der Volkssouveränität ihren Ausgang genommen hat-). In der
Debatte hierüber sind — und das bekundet die hohe politische
Bildungsreife dieser ersten österreichischen Constituante — alle
historischen und dogmatischen Gesichtspunkte zum Wort ge-
langt, die bis dahin für die Lösung der Frage in Betracht
kamen ^). Es wurde darauf hingewiesen, daß der Paragraph
zu dem Mißbrauch verleiten könnte, Eingriffe in den Bereich
der Exekutive zu unternehmen, und es wurde sogar die Ver-
mutung laut, daß die Bestimmung bei der Krone mehr Wider-
stand finden werde als das Suspensivveto. Brestel wollte den
Ausdruck ,, Untersuchung", der einige Ausschußmitglieder an
die Inquisition erinnerte, durch das Wort ,, Enquete" ersetzen,
welches die Sache deutlicher bezeichne. Er unterscheidet eine
Enquete in Wahlsachen und eine solche, die dem Ausspruch
der Kammer als Anklagejury im Fall einer Ministerklage vorher-
gehen müsse. Andere Redner betonten, daß nur solche Unter-
suchungen gemeint sein können, die zum Zweck der Vorbereitung
legislativer Arbeiten stattfinden. Daß eine Berufung auf das
preußische Vorbild sich in den Protokollen nicht nachweisen
läßt, ist um so merkwürdiger, als der Ausschuß schließlich
') Die Vorgeschichte bei Springer, Protokolle d. Verfassungsaus-
schusses im österreichischen Reichstage 1848 — 1849, Leipzig 1885 S. 4 ff.
Vgl. (Fischel), Die Protokolle des VerfassuDgsausschusses über die Grund-
rechte, Wien u. Leipzig 1912 S. X ff.
') Vgl. meine Studien u. Kritiken S. 199; (Fischel) a. a. 0. S. XVI,
XX, 20, 77.
") Zum folgenden (Sitzung d. Verfassungsausschusses v. 10. Febr. 1849)
vgl. Springer S. 167 ff.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und östeir. Recht. 301
ein Amendement des Abgeordneten Scholl annahm, das den
Artikel 82 der preußischen Verfassungsurkunde wörtlich kopiert.
Hienach hat jede Kammer das Recht, behufs ihrer Information
zur Untersuchung von Tatsachen Kommissionen zu ernennen,
und so erscheint der Satz als § 89 in der Kremsierer Verfassung.
§ 91, der jeder Kammer die Befugnis gibt, von den Ministern
Auskünfte zu verlangen und durch sie Erhebungen zu veran-
lassen, ist auf einen Antrag Riegers zurückzuführen und hat,
wie schon aus den Materialien hervorgeht, enge Beziehung zum
Untersuchungsrecht der Kammern, welchen anheimgestellt
werden sollte, gegebenenfalls dieses Recht durch die Minister
üben zu lassen ^). Die Bestimmung, daß die Landtage berechtigt
sind, von der Regierung Aufschlüsse über alle Zweige der
Landesverwaltung zu verlangen und Untersuchungskommissionen
anzuordnen, hat im Ausschuß zu keiner Erörterung Anlaß
gegeben-). Sie erklärt sich im Zusammenhang damit, daß
der Konstitutionsentwurf, den man nicht mit Unrecht als
„zentralistisch- föderalistische" Verfassung persiffliert hat, aus
einem Kompromiß gegensätzlicher Partei Strömungen hervor-
gegangen ist 3) und in den Kapiteln über die Landesregierungs-
gewalt ein Überwiegen der autonomistischen Idee zeigt, die
ganz mechanisch den Landtag zu einem Reichstag im kleinen
gestalten wollte und für ihn dem Gliche zuliebe sogar das
Recht in Anspruch nahm, gegen den Landeschef oder die ihm
zur Seite stehenden verantwortlichen Räte die Anklage vor dem
obersten Reichsgericht zu erheben*). Man sieht, wie auch hier
der Verstärkung der politischen und sachlichen Machtsphäre
eines Repräsentativorgans als eine beinah automatische Begleit-
erscheinung die Anerkennung seines Enqueterechts entspricht.
Grade deshalb ist von einem solchen in den folgenden
Verfassungswerken bis zu den Dezembergesetzen von 1867
nicht die Rede. Bei der Beratung der ersten autonomen Ge-
schäftsordnung von 1861 unternahm das Abgeordnetenhaus den
schüchternen Versuch, wenigstens Rudimente eines Informa-
tionsrechts zu erlangen. Der Ausschußentwurf des Geschäfts-
ordnungsgesetzes gewährte den Kommissionen beider Häuser
die Möglichkeit, durch die Präsidenten auf gesetzlichem Wege
') S. die Debatte bei Springer S. 170 f.
^) Entwurf des Fünferausschusses § 96. Kremsierer Verfassung § 118.
=>) Vgl. Springer S. 7.
*) Kremsierer Verfassung §§ 102 E.
302 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
allfällig erforderliche Erhebungen einleiten oder Zeugen und
Sachverständige zur unmittelbaren Vernehmung vorladen zu
lassen 1). Die Regierung erblickte in der Abhörung von Zeugen
einen Eingriff in die Zuständigkeit der Exekutive und ließ
durch Schmerling Streichung des ganzen Paragraphen oder
doch wenigstens des die Zeugenvernehmung betreffenden Passus
beantragen. Sie blieb, nachdem Mühlfeld die Fassung der
Ausschußvorlage befürwortet hatte, in der Minorität 2), ver-
mochte aber für ihre Anschauung das Herrenhaus zu gewinnen,
dessen politische Kommission den ,, gesetzlichen Weg" für die
Einleitung von Erhebungen näher dahin bestimmte, daß um
diese die Minister, Hofkanzler und Chefs der Zentralstellen an-
zugehen sind; sie empfahl jedoch zugleich die Eliminierung
des Rechts zur Zeugenvernehmung, um so den Gesichtspunkt
zu wahren, daß die bloß mit legislativen Aufgaben betrauten
Ausschüsse beider Häuser nicht in den Beruf der Exekutiv-
gewalt und die ihr obliegenden Amtshandlungen übergreifen 3).
Gegenüber dieser zweifellos durch die Lehre von der Gewalten-
teilung beeinflußten Redaktion verlangte ein Amendement des
Grafen Thun für die Kommissionen und Ausschüsse die formell
und materiell weitergehende Befugnis, auf Grund spezieller Er-
mächtigung der betreffenden Kammer ,,zur Beleuchtung legis-
lativer, den Gegenstand ihrer Beratung bildender Fragen und
der ihnen zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse Er-
hebungen und Einvernehmungen auf gesetzlichem Wege durch
die Verwaltungsbehörden zu veranlassen oder auch selbst vor-
zunehmen"*). Der Antrag umging also, und zwar absichthch,
') § 8. Sten. Prot. d. Abgeordnetenhauses I. Sess. S. 212. In der Sitzg.
V. 15. Mai 1861 beantragte Dr. Fischer, daß das Haus den von seinen Ab-
teilungen zur Vorberatung des Gesetzentwurfs betreffend die Lehnallodiali-
sierung gebildeten Ausschuß anweise, aus jedem Kronland Sachkundige nach
§ 13 GeschO, beizuziehen. Hierunter waren aber bloß sachkundige Mit-
glieder des Hauses verstanden: Sten. Prot. a. a. 0. S. 121, 125.
') Sitzg. V. 5. Juni 1861, Sten. Prot. S. 216 f.
") „ein Gesichtspunkt, mit Rücksicht auf welchen die prinzipielle Be-
stimmung des § 15 des Gesetzentwurfes, nach welchem der Außenverkehr
nur durch die Präsidenten des Hauses und durch die betreffenden Minister
vermittelt werden darf, auch in Betreff der Ausschüsse und Kommissionen
keine Ausnahmen erleiden kann." Sten. Prot. d. Herrenh. I. Sess. S. 99. Vgl.
die Ausführungen des Berichterstatters Grafen Hartig i. d. Sitzg. v. 1. Juli 1861,
Sten. Prot. S. 103 u. des Freiherrn v. Lichtenfels S. 111.
*) Sten. Prot. S. 104. S. die Begründung durch den Autragsteller
S. 109 f. Dafür Fürst Salm S. 111 f., der ebenso wie Graf Thun ausdrück-
lich von „Enquete" spricht.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht. 303
die Frage der Abhörung von Zeugen, führte aber ein neues
folgenreiches Moment in die Diskussion ein, indem er das
Enqueterecht der Ausschüsse an einen vorgäugigen ausdrück-
lichen Beschluß des Hauses knüpft und den Umfang dieses
Rechtes mit den gesetzgeberischen Aufgaben des Parlaments in
funktionellen Zusammenhang bringt. Das Herrenhaus entschied
sich jedoch für den Text der Kommissionsvorlage ^). Dieser
ist auch Gesetz geworden, nachdem das Abgeordnetenhaus ihm
am Schluß einer kurzen, aber lebhaften Debatte mit einer un-
wesentlichen Änderung beigetreten war 2).
Hienach hatten die Kommissionen und Ausschüsse beider
Häuser das Recht, durch den Präsidenten ihres Hauses die
Minister, Hofkanzler und Chefs der Zentralstellen um die Ein-
leitung allfälhg erforderlicher Erhebungen anzugehen und Sach-
verständige zur mündlichen Vernehmung vorladen oder zur
Abgabe eines schriftlichen Gutachtens auffordern zu lassen 3).
') Sten. Prot. S. 113.
") Sitzg, d. Abgeordnetenhauses v, 12. Juli 1861, Sten. Prot. S. 460 ff.
*) Ges. V. 31. Juli 1861 in Betreff der Geschäftsorduung des Reichsrates
RGBl. Nr. 78 § 8. — Diese Fassung wurde in den einschlägigen Vorschriften
der Geschäftsordnung mehrerer Landtage nachgebildet. So haben die Aus-
schüsse des niederösterreichischen Landtags das Eecht, durch den Land-
marschall „die Absendung von Mitgliedern der Regierungsbehörden wegen
Erteilung von Auskünften und Aufklärungen" zu veranlassen, Sachverständige
zur mündlichen Vernehmung vorzuladen oder zur Abgabe eines schriftlichen
Gutachtens aufzufordern. (GeschO. § 17 Abs. 2; § 19 Abs, 2. Landesordnung
§ 37.) Auf Grund dieser Bestimmung hat der Gemeinde- und Verfassungs-
ausschuß dieses Landtags im September 1907 eine Enquete in Sachen einer
Automobil-Landessteuer einberufen. Ähnlich GeschO, d. oberösterreichischen
Landtags § 21 Abs, 3; § 23 Abs, 2 und GeschO, d. mährischen Landtags
§ 16 Abs. 1, 2. Nach der GeschO, des steiermärkischen Landtags (§ 18)
steht es jedem der gemäß §14 bei Beginn der Landtagssession zu wählenden
sechs Sonderausschüsse zu, durch den Landeshauptmann den Statthalter und
die Chefs anderer Landesbehörden um allfällig notwendige Erhebungen und
Aufklärungen zu ersuchen und Sachverständige zur mündlichen Vernehmung
oder zur Abgabe eines schriftlichen Gutachtens einzuladen. Den Ausschüssen
des Tiroler Landtages steht es fi-ei, „erforderlichenfalls Sachverständige ihren
Beratungen beizuziehen oder zur Abgabe eines schriftlichen Gutachtens ein-
zuladen und sich die nötigen Auskünfte auf geeignetem Wege, erforderlichen-
falls durch den Landeshauptmann zu verschaffen." (GeschO, v, 1898 § 34
Abs, 1.) Jene des Vorarlberger Landtags sind befugt, „durch den Landes-
hauptmann Sachverständige zur mündlichen Vernehmung vorzuladen oder
zur Abgabe eines schriftlichen Gutachtens auffordern zu lassen, im Falle
jedoch größere Auslagen damit verbunden wären, nur über erhaltene Zu-
stimmung des Landtags". (GeschO, § 15,) Ebenso hat der Vorarlberger
Landesausschuß nach § 32 seiner GeschO, das Recht, Sachverständige zur
304 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
Ein Untersuchungsrecht im technischen Sinn, insbesondere
als Maßnahme der parlamentarischen Kontrolle war damit
nur in den äußersten Umrissen gegeben und selbst im
mündlichen Verhandlung vorzuladen oder zur Abgabe eines schriftlichen Gut-
achtens aufzufordern. Ähnliches gilt für die Ausschüsse des dalmatinischen
Landtags. (GeschO. § 16.) Nach der GeschO, des Krainer Landtags von
1909 §§ 38, 39 können die Ausschüsse zu ihren Sitzungen durch den Landes-
hauptmann Eegierungsvertreter und Landesbeamte beiziehen, von letzteren
Aufklärungen verlangen, sowie Sachverständige zur mündlichen Vernehmung
oder zur Abgabe eines schriftlichen Gutachtens vorladen. Den Kommissionen
des istrianischen Landtags ist gestattet, Sachverständige und Zeugen zur
mündlichen oder schriftlichen Abgabe ihrer Äußerungen aufzufordern. (GeschO.
§ 25 Abs. 4.) Der GeschO, für den galizischen Landtag v. 1907 (§§ 31 — 33) ist
die Einladung von Zeugen und Sachverständigen unbekannt, und die Auskunfts-
pflicht ist hier nur für die Beamten der Staats- und der autonomen Verwaltung
ausdrücklich normiert. Doch hat der galizische Landesausschuß im Januar 1911
auf Grund eines vier Jahre zuvor gefaßten Landtagsbeschlusses eine münd-
liche Enquete abgehalten, um die Ursachen der in der jüdischen Bevölkerung
Galiziens überhandnehmenden Notlage zu prüfen. Die Ausschüsse des Buko-
winaer Landtags können ihren Sitzungen Landesbeamte beiziehen, von ihnen
Aufklärungen verlangen, sowie Sachverständige zur mündlichen Vernehmung
oder zur Abgabe eines schriftlichen Gutachtens vorladen. (GeschO, vom
4. Febr. 1910 § 39,) Wo zum Zweck der durch den Landtag vorzunehmen-
den Wahlen nationale Kurien bestehen, werden auch Untersuchungs- und
Überwachungskommissionen des Landtags kurienweise zusammengesetzt: § 10 c
d. mähr. Ges. v. 27, November 1905 LGBl. Nr, 1 ex 06 und des Bukowinaer
Landesges. v. 26, Mai 1910 LGBl, Nr. 26. Nach § 98 des kais. Patents
V, 12, April 1850 RGBl. Nr. 139 betr, die Verfassung für die reichsunmittel-
bare Stadt Triest hat der Stadtrat das Eecht, „die städtischen Anstalten und
Unternehmungen durch Abordnung eigener Kommissionen untersuchen zu
lassen, wozu er auch Kommissäre außer seinem Mittel bestimmen kann".
In Art, 42 d, GeschO, für den Stadtrat sind Spezialkommissonen „per
inchieste particolari" vorgesehen. Nach den Geschäftsordnungen der öster-
reichischen Städte mit eigenem Statut haben die Sektionen und Ausschüsse
zumeist die Befugnis, von den Gemeindebehörden Auskünfte zu verlangen,
Sachverständige zu vernehmen, Urkunden, Schriften und Eechnungen einzu-
sehen (S. Hof mann, Die Geschäftsordnungen der deutschen Statutar-
gemeinden Österreichs, Wien 1907 S, 75). So ist z. B, den Sektionen des
Brünner Geraeinderats in § 41 GeschO, eine Befugnis eingeräumt, die sich
schon vermöge ihrer Zweckbestimmung — gründliche Prüfimg und Beur-
teilung der den Sektionen zur Vorberatung zugewiesenen Angelegenheiten,
Vorbereitung sachgemäßer und erschöpfender Anträge — dem parlamenta-
rischen Enqueterecht nähert (bei Hof mann S. 99), Vgl. GeschO, f. d. Ge-
meinderat von Czernowitz § 50. Graz § 50, Innsbruck § 31 Abs, 2, Klagen-
furt § 15 Abs. 2, Linz § 7 Abs. 7 (Hof mann S. 116, 122, 131, 136, 141),
In Troppau sind die Abteilungen des Gemeinderats berechtigt, „sich mit
den einzelnen Gemeinderatsmitgliedern, mit bestehenden Überwachungs-
ausschüssen und Abgeordneten, Zeugen und Sachverständigen oder Fach-
männern ins Einvernehmen zu setzen". (Anhang z. GeschO. § 16 bei Hof-
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 305
günstigsten Fall auf die schwanke Grundlage des interpre-
tativen Ermessens gestellt. Erst die Verfassungsreform von
1867 hat ein solches als staatsgrundgesetzlich vorgesehenes
Institut geschaffen. Der Entwurf betreffend die Abänderung
des Grundgesetzes über die Reichsvertretung, den die Regierung
im Juni 1867 dem Abgeordnetenhaus vorlegte, wußte freilich
noch nichts von einem Informations- und Auskunftsrecht der
Volksvertretung, aber der Verfassungsausschuß beantragte Ein-
fügung des Paragraph 21, der jedes der beiden Häuser des
Reichsrats für berechtigt erklärte, die Verwaltungsakte der Re-
gierung der Prüfung zu unterziehen, zu diesem Behuf e die
Minister zu interpellieren, von ihnen über eingehende Be-
schwerden Auskünfte zu verlangen und zum Zweck der Infor-
mation Kommissionen zu ernennen, sowie seiner Ansicht in
Form der Adresse, Beschwerde oder einer Resolution Ausdruck
zu geben!).
Wie man sieht, war hier die Summe mehr als halb-
hundertjähriger konstitutioneller Erfahrungen und Enttäu-
schungen gleichsam kondensiert. Alle in diesem Paragraph
vorgesehenen rechtlichen Möglichkeiten — Interpellation und
Beschwerde, Resolution, Adresse und Enquete — sind auf und
gegen die Verwaltungstätigkeit der Regierung gerichtet, und
schon aus der Legalordnung, die im nächsten Paragraph ein
besonderes Gesetz über die Ausübung der parlamentarischen
Staatsschuldenkontrolle verhieß, geht zur Genüge hervor, daß
der ganze Normenkomplex des § 21 von Mißtrauen gegen das
mann S. 168.) Nach § 100 Abs. 2 der Prager Gemeindeordnung (Landesges.
V. 27. April 1850, LGBl. Nr. 85) kann das Stadtverordnetenkollegium die
Geschäftsführung aller städtischen Organe durch eigene Kommissionen unter-
suchen lassen und Vorlegung aller einschlägigen Akten, Urkunden etc. ver-
langen. Vgl. ferner Görzer Gemeindeordnung v. 18. Nov. 1850 §§ 82 ff., Ge-
meindestatut f. Rovigno (Land.Ges. v. 30. Dez. 1869, LGBl. Nr. 6 ex 70) § 71,
f. Iglau (L.G. V. 24. Nov. 1874 LGBl. Nr. 64) § 84, Kremsier (L.G. v. 18. Fe-
bruar 1870 LGBl. Nr. 25) § 77, Olmütz (L.G. v. 24. Januar 1866 LGBl. Nr. 6)
§ 82 Abs. 2, Rovereto (L.G. v. 12. Dez. 1869 LGBl. Nr. 1 ex 70) § 35, Inns-
bruck (L.G. V. 14. April 1874 LGBl. Nr. 28) § 61, Bozen (L.G. v. 19. Juli 1882,
LGBl. Nr. 23) § 53 Abs. 2, Cilli (L.G. v. 21. Januar 1867, LGBl. Nr. 7)
§ 30 usw. usw. Nach § 51 des Gesetzentwurfs über das Gemeindestatut samt
Wahlordnung für die Landeshauptstadt Sarajewo steht es dem Gemeinderat
frei, den Vorberatungen seiner Ausschüsse oder Sektionen Sachverständige
oder Vertrauensmänner, die nicht Gemeinderäte sind, beizuziehen und sie um
ihr Gutachten zu befragen.
^) S. Die neue Gesetzgebung Österreichs. Erläutert aus den Reichsrats-
verhandlungen, Wien 1868 Bd. I S. 124. Angenommen in der Sitzg. d. Ab-
geordnetenhauses V. 16. Okt. 1867, Sten. Prot. d. IV. Sess. S. 982.
Zeitschrift für Politik. 6. 20
306 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Wirken der Exekutive erfüllt und bestimmt war^). Es ist
daher einigermaßen erstaunlich, daß der Bericht, der dem
Herrenhause von seiner vereinigten juridisch-politischen Kom-
mission erstattet wurde, behaupten konnte, der § 21 fasse nur
ein seit dem Bestehen des Reichsrats faktisch geübtes Recht
in die entsprechende Gesetzesformel 2). Das Plenum des Herren-
hauses war denn auch keineswegs dieser Meinung. Es lehnte
die von der Kommission übereinstimmend mit dem Beschluß
des Abgeordnetenhauses vorgeschlagene Stilisierung ab und er-
setzte sie nach längerer Debatte durch eine von Lichtenfels
herrührende Fassung, die dann vom Abgeordnetenhaus an-
genommen wurde und so in das Gesetz über die Reichsver-
tretung übergegangen ist 3). Lichtenfels wollte anfangs den
Paragraph gänzlich eliminieren, weil die den Häusern geschäfts-
ordnungsmäßig zustehenden Informationsrechte sich bisher als
ausreichend erwiesen hätten. Er befürchtete, daß der vom Ab-
geordnetenhause beschlossene Text eine Vermengung von exe-
kutiver und legislativer Gewalt herbeiführen könnte, weil hie-
nach die Häuser in der Lage wären, alle Verwaltungsakte der
Regierung ohne Rücksicht, ob dies für die gesetzgeberischen
Akte notwendig ist oder nicht, zu prüfen und weil die zur In-
formation ernannten Kommissionen berechtigt wären, sich selbst
in die Amter zu verfügen, Beamte, Minister zu vernehmen,
Zeugen zu verhören, Kassenbestände und Vorräte zu revidieren,
Festungen, Arsenale und Zeughäuser zu untersuchen^). Diese
^) Auch Art. 82 der preuß. Verfassungsurkunde „war wesentlich gedacht
als ein Kampfparagraph gegen die Regierung" : Abg. Schraderim Deutschen
Reichstag, 136. Sitzung vom 9. Dezember 1891, Sten. Ber. 8. Legislaturperiode
I. Sess. 1890/91 S. 3290.
^) Die neue Gesetzgebung Österreichs S. 219. Ebenso der Bericht-
erstatter Graf Anton Auersperg i. d. Sitzg. d. Herrenhauses v. 30. Nov. 1867,
Sten. Prot. d. IV. Sess. S. 349.
') Sitzungen d. Herrenhauses v. 30. Nov, u. 2, Dez. 1867, Sten. Prot. a. a. 0.
S. 349 fE., 355 ff. Neue Gesetzgebung S. 272 ff., 288.
*) Ebenso hatte bei der Revision der oktroyierten Verfassungsurkunde
in der Ersten Kammer des preußischen Landtags der Zentralausschuß
Streichung des Art. 81 beantragt, um der Gefahr von Übergriffen der Legis-
lative in das Gebiet der ausübenden Gewalt zu begegnen. Dagegen war das
Plenum der Meinung der Ausschußminorität beigetreten, daß die Kammern
zur vollständigen Erhaltung ihrer Rechte und zur Ausübung ihrer Pflichten
die Untersuchungsbefugnis nicht entbehren könnten und nicht lediglich auf
die Mitteilungen der Staatsregierung angewiesen bleiben dürften, die mög-
licherweise in einer Sache auch Partei sein könne: Schwartz, Preuß.
Verfassungsurkunde S. 240. Es ist kaum zu bezweifeln, daß diese Verband-
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 307
Besorgnis einer „Vormundschaft in Verwaltungssachen" war
bestimmend für sein Amendement, das einerseits eine Ein-
schränkung, andererseits — zwar nicht der Intention des An-
tragstellers, aber dem Effekt nach — eine Ausdehnung des
parlamentarischen Kontroll- und Erkundigungsrechtes in sich
schloß. Die Befugnis, die Verwaltungsakte der Regierung einer
Prüfung zu unterziehen, wurde durch den verfassungsmäßigen
Wirkungskreis der Volksvertretung umgrenzt, weil den beiden
Häusern des Reichsrats, wie Lichten f eis sich ausdrückte, ein
,, Verwaltungsrecht" oder, wie der Berichterstatter Graf Anton
Auersperg sagte, ein administrativer oder exekutiver Wirkungs-
kreis nicht zusteht, jenes Prüfungsrecht sich also nur soweit
erstrecken kann, als es die verfassungsmäßigen Arbeiten, Gesetz-
entwürfe, das Budget und andere Geschäfte erfordern. Damit
war die Corollartheorie anerkannt i). Wie die mit der Unter-
suchung betrauten Ausschüsse zu ihren Informationen gelangen
können und dürfen, war in der Kommissionsvorlage nicht ge-
sagt, und es schien daher immerhin möglich, daß sie ihr
Mandat mit Umgehung der Ministerien durch selbständige Er-
kundigung vollziehen. Nun hatte aber schon das Geschäfts-
ordnungsgesetz von 1861 das Prinzip ausgesprochen, daß alle
Erhebungen und Auskünfte, welche die beiden Häuser wie
deren Abteilungen, Kommissionen und Ausschüsse verlangen,
ihren Weg durch und über die Zentralbehörden zu nehmen
haben 2). Um die Übereinstimmung mit diesem Grundsatz her-
lungen den Gang der Debatte im österreichischen Herrenhause mitbestimmt
haben.
^) Auch seitens des Berichterstatters, welcher die gegen die Fassung
der Kommissionsvorlage erhobenen Bedenken durch den Zusatz: „(Kommis-
sionen) zum Zweck der Einholung von Informationen" beseitigen wollte, weil
dies das direkte Einvernehmen mit der Regierung und das Vorgehen mittels
der von ihr aufgestellten Organe voraussetze. Dagegen wandte Lichten-
fels ein, daß man zum Zweck der Einholung von Informationen keine andern
Kommissionen braucht als jene, die für Gesetzgebungsarbeiten ohnehin ein-
gesetzt werden. Er wisse nicht, warum man erst zur Einholung von Infor-
mationen andere Kommissionen ernennen soll, wenn man ihnen nicht ein
Erhebungsrecht vorbehalten will: Sitzg. v. 30. Nov. 1867, Sten. Prot. S. 350.
^) Ges. V. 31. Juli 1861 R.G.Bl. Nr. 78 § 8: „Die Kommissionen und Aus-
schüsse beider Häuser haben das Recht, durch den Präsidenten ihres Hauses
die Minister, Hofkanzler und Chefs der Zentralstellen um die Einleitung all-
fällig erforderlicher Erhebungen anzugehen und Sachverständige zur münd-
lichen Vernehmung vorladen oder zur Abgabe eines schriftlichen Gutachtens
auffordern zu lassen." — § 15 Abs. 2: „Die Häuser und deren Abteilungen,
Kommissionen und Ausschüsse dürfen nach außen nur durch die Präsidenten
20*
308 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
zustellen, den man aus der Lehre von der Gewaltenteilung
heraus- oder in sie hineininterpretiert hatte und der zum
festen Bestand des gemeinen deutschen Verfassungsrechts ge-
hörte, erwirkte Lichtenfels Aufnahme einer Vorschrift, wo-
nach den zur Prüfung von Verwaltungsakten der Regierung
ernannten Parlamentsausschüssen seitens der Ministerien die
erforderliche Information zu geben ist. Damit war freihch für
diese Ausschüsse eine Beschränkung der Erkundigungsfreiheit,
aber zugleich für die Minister eine Pflicht zur positiven Aus-
kunfterteilung statuiert, wie sie nach dem ursprünglichen Text
nicht bestand und Interpellationen gegenüber auch heute nicht
besteht 1). Im Drang und Zwang des legislativen Großbetriebs
scheint man damals neben wichtigerem auch die Bedeutung
dieser Differenz übersehen zu haben, und so erklärt es sich,
daß in der zweiten Verfassungsdebatte des Abgeordnetenhauses
der Berichterstatter Annahme des § 21 in der vom Herren-
haus beschlossenen Redaktion mit der Begründung empfahl,
im wesentlichen sei damit der Gedanke ausgedrückt, den die
Fassung des Abgeordnetenhauses ausdrücken wollte 2).
der ersteren und bloß mit den Ministern, Hofkanzlern und Chefs der Zentral-
stellen verkehren . .'' GeschO, d. Abgeordnetenhauses v. 1861 §§ 21, 68 Abs. 2.
^) Damit berichtigt sich die Meinung Tezners, Die Volksvertretung,
Wien 1912 S. 358 f., daß das Recht des östen-eichischen Parlaments, Recherchen
zu pflegen in seiner allerdings schwächlichen Ausgestaltung so weit wie das
Interpellationsrecht reicht und in gleicher Weise wie dieses beschränkt ist.
Nach Hauke, Verfassungsrecht (Finger-Frankl, Grundriß d. Österreich.
Rechtes lH, 1) Leipz. 1905 S. 55 liegt schon dem Interpellationsrecht ein
Informationsanspruch des Parlaments zugrunde. Er nimmt übrigens eine
Pflicht der Regierung an, den parlamentarischen Kommissionen die erforder-
liche Information zu geben.
-) Sitzg. d. Abgeordnetenhauses v. 7. Dez. 1867, Sten. Prot, d, IV. Sess.
S. 1626. In dieser Sitzung trat das Abgeordnetenhaus auch der einzigen
Änderung bei, welche das Herrenhaus an dem Gesetz über die allen Ländern
der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten vorgenommen
hatte und die das Enqueterecht der Delegationen betraf. § 28 dieses Ge-
setzes gab in der vom Abgeordnetenhaus beschlossenen Fassung den De-
legationen die Befugnis, Kommissionen zum Zwecke der Information zu er-
nennen, während § 22 des von der Regierung vorgelegten Gesetzentwurfs
„über die Delegationen im allgemeinen und insbesondere über die Delegation
des Reichsrates" diesen Satz nicht enthalten hatte, (Neue Gesetzgebung
S. 510, 527.) Nach dem Beschluß des Herrenhauses heißt es jetzt: ,, Kom-
missionen, welchen von Seite der Ministerien die erforderliche Information
zu geben ist." Der Antragsteller Freih. v. Lichtenfels berief sich darauf,
daß er schon bei der Verhandlung über § 21 des Reichsvertretungsgesetzes
hervorgehoben habe, die hinsichtlich der Kommissionen zu beschließende
Fassung müsse für das Delegationsgesetz maßgebend sein, weil beide Gesetz-
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 309
Die parlamentarische Schöpfungsgeschichte dieser grund-
gesetzUchen Vorschrift mußte vergleichsweise ausführHch dar-
gelegt werden, weil sie einen bei der Knappheit des Textes
unentbehrlichen Interpretationsbehelf gewährt^). Ohne in die
Diskussion über die Deutung und Bedeutung gesetzgeberischer
Materialien einzutreten, sei darauf hingewiesen, daß hier ein
gradezu typischer Fall für die entwicklungsgeschichtliche
entwürfe in dieser Beziehung analog sind. (Sitzg. d. Herrenh. v. 2. Dez. 1867,
Sten. Prot. S. 356, 368 f.) Hienach besteht eine Auskunftspflicht der gemein-
samen Eegierung gegenüber den von der österreichischen Delegation ein-
gesetzten Kommissionen, die geschäftsordnungsmäßig das Recht haben, durch
den Präsidenten der Delegation die gemeinsamen Minister zur Auskunft-
erteilung aufzufordern, sowie Fachleute zur mündlichen Vernehmung oder
zur Erstattung eines schriftlichen Berichts einzuladen: GeschO, f. d. Delega-
tion d. Reichsrats v. 21. Januar 1868 § 20. Vgl. Artt. 18, 26 d. GeschO, f. d.
ungarische Delegation (bei Moreau-Delpech, Les reglements des assemblees
legislatives, Paris 1906 Bd. I S. 401, 403). Für das Plenum der ungarischen
Delegation statuiert der G.A. XII: 1867 das Interpellationsrecht und für die
gemeinsamen l^Iinister die Pflicht, Anfragen zu beantworten, mündliche oder
schriftliche Aufklärungen zu geben oder, wenn es ohne Nachteil geschehen
kann, auch die nötigen Dokumente vorzulegen (§ 39). — Hier sei noch eine
verfassungsgeschichtliche Reminiszenz erwähnt. Nach Art. V P. 4 der so-
genannten Fundamentalartikel von 1871 sollte die Delegation, welche das
Gesetzgebungsrecht hinsichtlich der dem Königreich Böhmen mit den übrigen
Ländern der Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten ausübt, zur Ernennung
von Kommissionen befugt sein, denen von Seite der Minister die erforder-
liche Information zu geben ist (bei Bernatzik, Die österreichischen Ver-
fassungsgesetze mit Erläuterungen*, Wien 1911 S. 1100).
^) A. M. Tezner, Volksvertretung S. 357 N. 11, dem die sich an den
Antrag Lichten f eis knüpfende Debatte für die Auslegung ganz wertlos
erscheint, weil sich nicht bestimmen lasse, ob der Antragsteller auch die
Prüfung des ]\Iißbrauchs der Prärogative z. B. bei Beamtenernennungen aus-
geschlossen wissen wollte. Es ist nicht ganz zu begreifen, wie ein Zweifel
in dieser Richtung überhaupt entstehen mag und wie Tezner a. a. 0. S, 370
u. N. 46 zu der Annahme gelangt, daß das Enqueterecht des Reichsrates sich
auch auf den Bereich der monarchischen Prärogative erstreckt. Grade solchem
Übergriff soll der von Licht enfels beantragte Zusatz vorbeugen. Da nach
Artt. 3, 4 d. StGG. über die Ausübung der Regierungs- und der Vollzugs-
gewalt der Kaiser die Minister ernennt und entläßt, alle Ämter in allen
Zweigen des Staatsdienstes besetzt, Titel, Orden und sonstige staatliche Aus-
zeichnungen verleiht, kann man schwerlich behaupten, daß diese Angelegen-
heiten in den Wirkungskreis des Reichsrats gehören, und nur im Rahmen
dessen, was dieser Wirkungskreis erfordert, kann der Reichsrat sein Enquete-
recht üben. Für den „Anspruch des Volkes auf Gehör und sachliche Wür-
digung seiner Beschwerden über die Übung der Prärogativen" ist — in
Österi'eich wenigstens — die parlamentarische Untersuchung kein geeignetes
und zulässiges Instrument. Die pai-lamentarische Verhandlung der ein-
schlägigen Fragen kann unmöglich deshalb wertlos sein, weil ihr Ergebnis
einer vorgefaßten Lehrmeinung widerstreitet.
310 Zweig, Die Parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
Erklärung von Erscheinungen und Problemen des öffent-
lichen Rechts gegeben ist; wobei es sicherlich als methodo-
logischer Gemeinplatz gelten darf, daß seit der Einführung des
Konstitutionalismus zur Entwicklungsgeschichte eines Rechts-
satzes auch und vor allem sein parlamentarischer Werdegang
gehört. Die Debatten, aus welchen der in Rede stehende
§21 hervorgegangen ist, lassen im Zusammenhalt mit seiner
Stellung in der Legalordnung erkennen, daß hier die pohtische
Enquete im technischen Sinn d. i. als parlamentarisches In-
formationsmittel zum Zweck der Kontrolle von Akten der
Vollzugsgewalt ihren Platz im Verfassungssystem gefunden hat.
Damit sollten andere Arten und Fälle der Tatsachenerhebung
nicht etwa ausgeschlossen, wohl aber jene Enqueten, die Ver-
waltungsakte der Regierung zum Anlaß und Gegenstand haben,
besonders privilegiert werden. Für sie und nur für sie wurde
eine Auskunftspflicht der der parlamentarischen Kontrolle
unterworfenen Organe gruudgesetzlich sichergestellt, weil grade
hier die Gefahr nahelag, daß die Auskunft verweigert und
damit die Wirksamkeit des parlamentarischen jus inspectionis
vereitelt werde. Diese politische Maxime bestimmt und begrenzt
den Umfang der Auskunftspflicht, welche hienach nicht allein
die unmittelbare Aufklärung über die in Frage kommenden
Tatsachen, sondern auch die Herbeischaffung mittelbarer Be-
helfe zur Übung der parlamentarischen Verwaltungskontrolle,
insbesondere die Vorlage von Akten und Urkunden in sich
schließt^). Für die Requisition solchen Materials ist der Grund-
satz maßgebend, daß alle Staatsbehörden kraft und innerhalb
ihrer gesetzlichen Zuständigkeit einander wechselseitige Unter-
stützung zu leisten haben ^). Eine Regierung, die bei Erfüllung
ihrer verfassungsmäßigen Informationspflicht diesen Grundsatz
außer acht läßt, handelt auf die Gefahr, hiefür zur Ver-
antwortung gezogen zu werden^).
^) Nach Tezner, Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens,
Wien 1896 S. 147 darf Jemand, dem bloß die Pflicht zu Auskünften auf-
erlegt ist, unter diesem Titel nicht zur Edition von Urkunden verhalten
werden, die sich in seinem Besitz befinden. Dies gilt für die Parteien und
Zeugen im Verwaltungsprozeß, trifft aber natürlich nicht den hier inter-
essierenden Fall.
') S. den Art. „Amtshilfe" in v. Stengel-Fleischmanns Wörterbuch
d. Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts Bd. I S. 118 ff.; Stein, Grenzen
und Beziehungen zwischen Justiz und Verwaltung, Tübingen 1912 S. 121 ff.
^) Vgl. Schwartz, Preuß. Verfassungsurkunde S. 242, der aus dem
der Volksvertretung obliegenden und von der Untersuchungskommission als
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 311
Als Ergebnis darf somit gelten, daß das Informations-
recht des österreichischen Parlaments alle, aber auch nur die
Gegenstände seiner gesetzlichen Kompetenz in sich begreift,
daß jedes der beiden Häuser in Ergänzung der ihm von
Verfassungswegen eingeräumten Funktionen und als Vorbe-
reitung der ihm hienach obliegenden Geschäfte die Be-
schaffung der erforderlichen Auskünfte ins Werk setzen kann,
daß diese Informationsarbeit nicht durch das Plenum, sondern
durch Ausschüsse zu leisten ist und daß letztere die notwendigen
Ermittlungen nicht selbständig, sondern nur unter Mitwirkung
der Zentralbehörden durchzuführen haben, die im Fall des
§ 21 zu solcher Mitwirkung rechtlich verpflichtet sind. Diese
Ausschüsse qualifizieren sich im Verhältnis zu dem sie ent-
sendenden Hause als sekundäre Organe, deren Tätigkeit eines
Spezialauftrags des primären Organs bedarf, durch ihn bestimmt
und an ihn gebunden ist^). Damit scheiden aus der Kategorie
der Enquetekommission alle kollegialen Organe des Parlaments
aus, die ihre Zuständigkeit generell durch ein Gesetz oder die
Geschäftsordnung empfangen, wie etwa die Staatsschulden-
kontrollkommission oder der Legitimationsausschuß des Ab-
geordnetenhauses. Die erstere schon deshalb, weil sie von
beiden Häusern des Reichsrats konstituiert wird und die Bildung
solcher ,, Joint committees" nach österreichischem Recht als
Ausnahme zu behandeln, das heißt auf die FäUe zu beschränken
ist, in denen sie ausdrückhch vorgesehen wurde 2). Auch spricht
einem Teil der Volksvertretung zu wahrenden Beruf einer custodia legum
et jurium patriae die offenbar zuweit gehende Folgerung ableitet, daß das
Ministerium das Verlangen einer Kommission auf Vorlegung oder AusUeferung
von Urkunden, die sich in amtlicher Verwahrung befinden, nicht deshalb
ablehnen kann, weil das Bekanntwerden des Inhalts der Urkunde dem Wohl
des Eeiches oder eines Bvmdesstaats Nachteil bereiten würde. Aus diesem
Grund kann nach § 96 EStPO die Vorlegung oder Auslieferung von Akten
oder andern in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken durch Be-
hörden oder öffentliche Beamte seitens deren oberster Dienstbehörde unter-
sagt werden. (Vgl. Gerichtsverfassungsges. f. d. Deutsche Reich § 169).
Wenn letztere das Ministerium ist, wird es durch eine solche Vorschrift
seiner Auskunftspflicht entbunden, für welche das Gesetz unter allen Um-
ständen die Schranke bezeichnet.
^) Bei der Beratung des § 21 im Herrenhaus erklärte der Bericht-
erstatter, daß „nicht die Kommissionen direkte aus eigenem Ermessen . . .
Informationen einholen, . . . sondern es muß jedenfalls ein Beschluß jedes
der beiden Häuser in seinem Wirkungskreise vorausgehen". Sitzg. v. 30, No-
vember 1867, Sten. Prot. S. 350.
^) Wie etwa die gemeinschaftliche Konferenz nach § 11 des Geschäfts-
ordnungsgesetzes oder jene zur Beratung und Beschlußfassung über die
312 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
zumindest der Wortlaut des § 21 gegen die Annahme, daß
beide Häuser eine gemeinsame Untersuchungskommission ein-
setzen können. Aber selbst abgesehen hievon wollte die Ver-
fassung die parlamentarische Überwachungsfunktion, soweit
sie sich auf die Staatsschuld bezieht, im HinbHck auf ihre
besondere rechthche und wirtschaftHche Bedeutung durch eine
lex specialis regeln, diese Seite der staatlichen Verwaltungs-
tätigkeit also dem allgemeinen Informationsrecht nach § 21
entziehen 1). Das Beispiel des Legitimationsausschusses wird
hier als negative Instanz gewählt, weil seine Tätigkeit nach
Wesen und Zweck sich jener einer Informationskommission
am meisten nähert, wie das Enqueterecht ja auch geschichthch
in engem Zusammenhang mit der Wahlprüfung steht. Trotz-
dem wäre es irrig, den zur Vorberatung über die Wahlakten
eingesetzten Ausschuß ohne weiters als eine permanente Unter-
suchungskommission ansehen zu wollen, — eine contradictio
in adjecto, welche Inhalt und Richtung der parlamentarischen
Enquete verkennt. Der Legitimationsausschuß des öster-
reichischen Abgeordnetenhauses hat, wie die Reichsratswahl-
ordnung sagt, Wahlakten, das heißt, wie das Geschäftsordnungs-
gesetz sich richtiger ausdrückt, Wahlakte zu prüfen 2), und das
müssen nicht notwendig Verwaltungsakte der Regierung sein,
sind es auch hoffentlich nur in seltenen Fällen. Nach strenger
Auffassung und nach dem parlamentarischen Brauch anderer
Länder^) müßte der Legitimationsausschuß, wenn er im Laufe
neue Zivilprozeßordnung auf Grund des Ges. v. o. Dez. 1894 EGBl. Nr. 227.
Nach § 14 d. Ges. v. 30. Juli 1867 RGBL Nr. 104 über die Behandlung
umfangreicher Gesetze im Eeichsrate hat auch ein gemäß diesem Gesetz
bestellter, nach der Session oder während der Vertagung des Eeichsrates
tätiger Ausschuß die in § 8 GeschOGes. angeführten Befugnisse (s. Bernatzik,
Verfassungsgesetze S. 381 N. 3).
*) Der Staatsschuldenkontrollkommission ist ein spezielles, durch ihre
Funktion bedingtes und begrenztes Informationsrecht eingeräumt: Ges. v.
13. Dez. 1862 EGBl. Nr. 96 §§ 10, 11; Ges. v. 10. Juni 1868 EGBl. Nr. 53
§§ 20, 21 ; Ges. v. 10. Juni 1868 EGBl. Nr. 54 §§ 2, 11, 12.
*) Eeichsratswahlordnung von 1907 § 41 : „Das Haus der Abgeordneten
veranlaßt die Vorberatung über die Wahlakten . . ." Ges. v. 12. Mai 1873
EGBl. Nr. 94 § 3 Abs. 1: „Nach erfolgter feierlicher Eröffnung nimmt das
Abgeordnetenhaus vor allem die Prüfung der Wahlakte vor." Ebenso
GeschO, f. d. Abgeordnetenhaus § 3.
^) Vor allem Englands, wo ein parlamentarischer Ausschuß an die ihm
vom Hause zugewiesene Aufgabe stfeng gebunden ist und zu deren Änderung
oder Erweiterung einer speziellen Instruktion bedarf, die für Komitees des
Oberhauses und Select-Committees der Gemeinen auch imperativ sein kann:
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 313
des Prüfungs Verfahrens zur Ein sieht gelangt, daß die Ent-
scheidung über die Gültigkeit einer Wahl von der vorgängigen
Untersuchung des Verhaltens staatlicher Behörden abhängig
ist, ein hierauf gerichtetes Spezialmandat des Plenums einholen.
Praktisch wäre diese konstitutionelle Feinfühligkeit freilich
ohne Belang, da der Untersuchungskommission nach öster-
reichischem Recht keine anderen und stärkeren Mittel der
Tatsachenerhebung zu Gebote stehen als jedem Ausschuß und
für die Form ihrer Einsetzung, ihr Verfahren und ihren
Wirkungskreis im wesentlichen alle Bestimmungen der Geschäfts-
ordnung maßgebend sind, die in den einschlägigen Punkten
für Ausschüsse überhaupt gelten. Von diesen Bestimmungen
interessiert hier zunächst jene, laut welcher Ausschüsse das
Recht haben. Erlassung von Gesetzen oder Fassung von Be-
schlüssen zu beantragen, die mit dem dem Ausschuß zur Vor-
beratung zugewiesenen Gegenstand in Verbindung stehen^). Ein
solcher Antrag kann also auch das Ergebnis der Tätigkeit einer
Enquetekommission sein, und damit ist die früher berührte
Streitfrage des preußischen Rechtes, ob Untersuchungsausschüsse
nur im Hinblick auf eine bereits eingeleitete legislative Aktion
niedergesetzt werden können 2), für das österreichische Recht
im Sinn weitergehender Zuständigkeit entschieden.
Wichtiger für die Gleichstellung der Enquetekommissionen
mit andern Ausschüssen^) sind jene Vorschriften, die sich auf
vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht Bd. I (Tübingen 1905) S. 445; Red-
lich, Recht und Technik des englischen Parlamentarismus S. 462; May
S. 400 f., 482 f.
^) GeschO, d. Abgeordnetenh. § 19 Abs. 1.
^) S. oben S. 289.
^) Sie käme gegebenenfalls auch für die Frage in Betracht, ob und in
welchem Maß die Verhandlungen einer Enquetekommission öffentlich durch-
zuführen sind. Im österreichischen Herrenhaus ist die Öffentlichkeit der
Kommissionssitzungen geschäftsordnungsmäßig ausgeschlossen, da diesen im
allgemeinen selbst die der Kommission nicht angehörigen Mitglieder des
Hauses nicht beiwohnen dürfen (GeschO. § 12 Abs. 2 u. 3; vgl. § 19),
Auch die GeschO, des Abgeordnetenhauses kennt bloß eine relative Öffent-
lichkeit der Ausschüsse, indem nur die Verhandlungen der dem Budget- und
dem Wehrausschuß zugewiesenen Vorlagen und Anträge allen Mitgliedern
des Hauses zugänglich sind (vgl. Neisser, Die Geschäftsordnung des Ab-
geordnetenhauses des Reichsrates, Wien 1909 Bd, II S. 85 f.), die Beratungen
andrer Ausschüsse nur dann, wenn es das Haus von Fall zu Fall beschließt.
Es steht aber jedem Ausschuß fi-ei, NichtÖffentlichkeit seiner Sitzungen,
d. h. Ausschluß der Abgeordneten, die nicht Ausschußmitglieder sind, mittelst
Zweidrittelmehrheit zu verfügen (GeschO. § 25 Abs. 4, 5; vgl. § 27). Dies
würde sinngemäß auch für die Tätigkeit einer Enquetekommission gelten.
314 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
die informatorische Tätigkeit der parlamentarischen Unter-
organe beziehen. Die Ausschüsse beider Häuser, somit auch
die Kommissionen des § 21 haben das Recht, durch den
In den letzten Jahren wurde wiederholt Abänderung der erwähnten Be-
stimmungen in dem Sinn angeregt, daß die Ausschußverhandlungen prinzipiell
allen Abgeordneten zugänglich sein und die Ausschließung der Öffentlichkeit
vom Hause selbst, nicht vom Ausschuß, verfügt werden sollte: s. Beilagen
zu den Sten. Prot. d. Abgeordnetenh. XU. Sess. Nr. 184, Xm. Sess. Nr, 211,
XIV. Sess. Nr. 281, XVI. Sess. Nr. 444, XTB.. Sess. Nr. 999. — In England
haben zu den Verhandlungen eines vom Oberhaus eingesetzten Sonderaus-
schusses nm- Lords, deren präsumtive Nachfolger und ältesten Söhne Zutritt;
Mitglieder des Hauses können auch das Wort ergreifen, ob sie nun dem
Ausschuß angehören oder nicht (Standing Orders of the House of Lords LV,
LVI). Bei Einvernahme von Zeugen wird dem Herkommen gemäß die
Öffentlichkeit ausgeschlossen, ebenso dann, wenn es sich von vornherein um
eine geheime Kommission handelt. Die Select-Committees des Unterhauses
gehen in betreff der Zulassung von Nichtmitgliedern des Hauses nach
freiem Ermessen vor, doch dürfen solche der Beratung des Komitees (im
Gegensatz zur Abhörung von Zeugen) niemals beiwohnen. Abgeordnete
können für sich das Recht beanspruchen, den Kommissionsberatungen und
der Zeugeneinvernahme anzuwohnen; wenn sie aber ersucht werden, sich
zu entfernen, sollen sie dies aus Courtoisie tun, sobald die Kojnmission ihre
Beratung beginnt. Übrigens kann auch das Unterhaus die Verhandlungen
eines Ausschusses als geheim erklären, wie dies z. B. 1626 und 1782 für die
Enqueten über das Verhalten des Herzogs von Buckingham und über die
indischen Angelegenheiten beschlossen wurde (Hymans, Des Enquetes
parlementaires, La Belgique judiciaire Bd. XVH S. 1330). Die Verhandlungen
finden dann bei geschlossenen Türen statt: s. May S. 408 ff. ; Hatschek
a. a. 0. S. 415; Redlich a.a.O. 8.460; Michon, Enquetes parlementaires
S. 35f.; Fromageot, Bulletin de la societe de legislation comparee Bd. XXTT
S. 180, 183 f. — In Belgien wird das Publikum, wenn die Kommission nichts
andres verfügt, zur Einvernahme von Sachverständigen und Zeugen zuge-
lassen, dagegen von allen Untersuchungsakten (Lokalaugenschein, Haussuchung
und sonstigen Maßnahmen der Erhebung und Nachforschung) ausgeschlossen.
Die Mitglieder der betreffenden Kammer dürfen allen Verhandlungen ihrer
Untersuchungsausschüsse beiwohnen, doch ist es ihnen, wenn sie diesen nicht
angehören, untersagt, das Wort zu nehmen und in den Gang der Unter-
suchung durch Fragestellung u. dgl. einzugreifen: Ges. v. 3. Mai 1880 Art. 3
(die Begi'ündung dieser Vorschrift durch Thonissen s. bei Pierre S. 707).
Vgl. Michon S. 37 f., 46; Salefranque im Bulletin de la societe de legis-
lation comparee a. a. 0. S. 599. Die Enquete im Verfahren über die Richtig-
stellung der Wählerlisten, die auf Anordnung des Ai^pellhofs vor einem
Friedensrichter stattfindet und sich, obgleich materiell verwaltungsgericht-
licher Natur, zur Gänze in den Formen des ordentlichen Prozesses abwickelt,
ist öffentlich; die beteiligten Parteien können ihr persönlich anwohnen
oder Bevollmächtigte entsenden: Code electoral v. 12. April 1894 Art. 110
Abs. 4. — Am weitesten geht der Ausschluß der Öffentlichkeit in Frankreich,
wo nur für wirtschaftspolitische Enqueten das Bedürfnis nach größerer
Publizität anerkannt wurde (vgl. Michon S. 45 f.). Das geheime Verfahren
Zweig, Die parlament. Enguete nach deutschem und österr. Recht. 315
Präsidenten des betreffenden Hauses die Minister und Chefs
der Zentralstellen um Aufklärungen und Auskünfte anzu-
gehen und zu diesem Zweck in ihre Sitzungen einzuladen ^),
von Untersuchungsausschüssen hat besondere Wichtigkeit bei Veranstaltung
einer Enquete über bestrittene Wahlen, da z. B. in Frankreich und Belgien
selbst der Abgeordnete, dessen Recht in Frage steht, nicht als aktiv Be-
teiligter vor der Kommission erscheinen darf. In Frankreich wirkt an diesem
Punkt die Lehre von der Gewaltenteilung nach, da der Gesichtspunkt geltend
gemacht wurde, daß eine Wahlenquete nicht auf die gleiche Linie mit einer
„enquete civile" zu stellen ist: s. Michon S. 38 ff., 42 ff.; Pierre S. 697,
707; Payen, Les enquetes parlementaires et la loi beige du 3 mai 1880,
Annales de l'ecole libre des sciences politiques Bd. VIII S. 330 ff. In Belgien
soll für die Aufnahme der einschlägigen Vorschrift, welche den Träger des
bestrittenen Mandats im Fall einer Wahlenquete den der Kommission nicht
angehörigen Abgeordneten gleichstellt, das Argument entscheidend gewesen sein,
daß nach der Geschäftsordnung der Repräsentantenkammer ein Abgeordneter,
dessen Wahl Gegenstand einer Untersuchung bildet, an den Kammerverhand-
lungen nicht mehr teilnehmen darf (Michon S. 40; Payen S. 333; da-
gegen s, Salefranque S. 599). Im Jahre 1859 stellte bei der Verhandlung
des Gesetzes über die Untersuchung der Wahlen in Löwen der Deputierte
Wasseige den Antrag, es seien die Träger der bestrittenen Mandate von
der Enquetekommission zu hören. Der Antrag wurde mit Berufung auf jene
Vorschrift der GeschO, abgelehnt, doch schien es zweifelhaft, ob eine solche
Vorschrift mit der Verfassung im Einklang stehe (Hymans a. a. 0. S. 1315).
Ich habe mich vergebens bemüht, die in Rede stehende Bestimmung aiif-
zufinden, die allerdings in Frankreich hinsichtlich der Teilnahme an den
Abstimmungen sowohl für Abgeordnete, wie für Senatoren gilt: Reglement
de la Chambre des Deputes Art. 6 § 2; Reglement du Senat Art. 10 § 1
(Pierre S. 1162; Duguit, Traite de droit constitutionnel, Paris 1911 Bd. 11
S. 306). Für das englische Recht ist die Frage gegenstandslos, da im Ver-
fahren vor dem Wahlgerichtshof der gewählte Kandidat als Partei erscheint
und auch vor der königlichen Kommission, die im Fall von Wahlmiß-
bräuchen auf Antrag des Unterhauses eingesetzt wird, der Abgeordnete,
dessen Mandat in Frage kommt, sich am Zeugenverhör beteiligen und selbst
Ladung von Zeugen beantragen darf: Hatschek S. 302. — In Italien ist
die Öffentlichkeit der Parlamentsenquete grundsätzlich anerkannt, doch kann
die betreffende Kammer jeweils bestimmen, ob Protokolle und andere Ur-
kunden der Enquete zu veröffentlichen sind. Das Prinzip, daß jeder Depu-
tierte berechtigt ist, diese Urkunden einzusehen, hat in neuerer Zeit nament-
lich für die Verwaltungsenquete i. e. S. mannigfache Einschränkung erfahren :
Mancini-Galeotti, Norme ed usi S. 395 f.; Racioppi-Brunelli
Bd.inS.182; Miceli, Inchieste parlamentari S. 64. Im Wahlprüfungsverfahren
vor der Giunta delle elezioni ist hier ähnlich wie in England der Deputierte,
dessen Mandat bestritten wird, Partei und kann als solche Zeugen führen:
Regolamento della Camera dei Deputati Art. 24; Mancini-Galeotti
S, 23 f. — Über die prinzipielle Frage der Öffentlichkeit von Ausschuß-
verhandlungen vgl. Neumann-Hof er a. a. 0. S. 58 f., 73 ff.
') Ges. V. 12. Mai 1873 RGBl. Nr. 94 § 7 Abs. 2; GeschO, f. d.
Herrenhaus § 14 Abs. 2; GeschO, f. d. Abgeordnetenhaus § 29 Abs. 2.
(Ebenso § 7 Abs. 2 der Geschäftsordnungsgesetze v. 31. Juli 1861 RGBl. Nr, 78
316 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
sie um die Einleitung allfällig erforderlicher Erhebungen
zu ersuchen und Sachverständige oder Zeugen zur münd-
lichen Vernehmung vorladen oder zur Abgabe eines schrift-
lichen Gutachtens oder Zeugnisses auffordern zu lassen i).
u. V. 15. Mai 1868 RGBl, Nr. 42,) Dieses Recht und die ihm entsprechende
Pflicht bezieht sich jedoch nur auf die österreichischen Minister, nicht auch
auf die Mitglieder des gemeinsamen Ministeriums, dem es nach § 5 Abs. 1
des Ges. v. 21. Dez. 1867 RGBl. Nr. 146 untersagt ist, neben den gemein-
samen Angelegenheiten auch die besonderen Regierungsgeschäfte eines der
beiden Reichsteile zu führen. Auf diese Vorschrift berief sich im Jahre 1909
der Präsident des Abgeordnetenhauses und m\ Jahre 1912 der Minister-
präsident-Stellvertreter gegenüber dem Ersuchen des zur Beratung der An-
nexionsvorlage eingesetzten sog. bosnischen Ausschusses, zu seinen Verhand-
lungen gemäß § 7 GeschOGes. gemeinsame Minister einzuladen (s. Neisser
Bd. n S. 90; Tezner, Volksvertretung S. 468 N. 8). In dem letzterwähnten
Fall scheint übrigens der Obmann des Ausschusses mit Umgehung der nach
§ 8 des zit. Gesetzes erforderlichen Intervention des Präsidenten unmittelbar
die Regierung um Einladung des gemeinsamen Ministers ersucht zu haben:
s, d. Schreiben des Ministerpräsident-Stellvertreters in der „Wiener Zeitung"
Nr. 144 V. 26. Juni 1912, welches auch die Zuziehung eines Beamten des
Reichsfinanzministeriums als Sachverständigen ablehnt, obgleich in früheren
Jahren Vertreter des gemeinsamen Ministeriums an den Verhandlungen des
Abgeordnetenhauses und seiner Ausschüsse teilgenommen haben (Neisser
a. a. 0. N. 1). Diese Verschärfung der Praxis stützt sich wahrscheinlich
auf die an den österreichischen Ministerpräsidenten unterm 1. Mai 1909
gerichtete Zuschrift des Ministers des Äußern, laut welcher „die ge-
meinsamen Minister weder verpflichtet noch berechtigt sind, an Verhand-
lungen von Ausschüssen eines der Parlamente der beiden Staaten der
Monarchie teilzunehmen, und das Gleiche auch von den den gemeinsamen
Ministern unterstehenden amtlichen Organen zu gelten hat, welche einer
Einladung zum Erscheinen in einem parlamentarischen Ausschuß, der ikre
Chefs vorzuladen nicht berechtigt ist, ebenfalls nicht Folge leisten könnten".
Vor kurzem — im Februar 1913 — bot die Vergebung einer für die Kriegs-
flotte bestimmten Lieferung an eine reichs deutsche Firma dem Budgetausschuß
des Abgeordnetenhauses den Anlaß, mit der Untersuchung dieses Vorgangs-
ein Subkomite zu beauftragen, welches Durchführung einer mündlichen Enquete
und Aktenrequisition bei der Marineverwaltung beschloß. Die Regierung
erklärte sich außerstande, dem Ersuchen zu entsprechen, und berief sich für
ihre ablehnende Haltimg auf §§ 16 u. 28 d. Ges. v. 21. Dez. 1867 RGBl.
Nr. 146, sowie § 11 Abs. 1 d. Ges. v, 21, Dez, 1867 RGBl. Nr. 141, d. h. auf
jene Verfassungsbestimmungen, die den Wirkungskreis des Reichsrats, die
Verantwortlichkeit und Auskunftspflicht der gemeinsamen Minister gegenüber
den Delegationen festsetzen. Das Subcomite sprach sein Bedauern darüber
aus, daß die Regierung durch Verweigerung der Aktenvorlage die pflicht-
gemäße Prüfung und Untersuchung der Frage erschwert, zumindest ver-
schleppt habe,
0 Ges. v. 12. Mai 1873 RGBl. Nr. 94 § 8; GeschO, f. d. Herrenhaus
§ 15; GeschO, f, d. Abgeordnetenhaus § 30. Zeuge kann auch ein ehe-
maliger Minister sein, wenn man einen solchen schon nicht als Sachver-
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht. 317
Das Recht, Sachverständige beizuziehen, hatten die Ausschüsse
und Kommissionen, wie erwähnt, schon seit 1861. Die Ab-
hörung von Zeugen wurde ihnen erst durch die Geschäftsord-
nungsreform des Jahres 1868 zugestanden. Der Verfassungs-
ausschuß des Abgeordnetenhauses, der diese keineswegs be-
deutungslose Kompetenzerweiterung anregte und damit auf
die Beratung der ersten autonomen Geschäftsordnung zurück-
griff, machte hiefür den Gesichtspunkt geltend, daß die Kom-
missionen beider Häuser im Punkt der Zeugenvernehmung
dem zur Verhandlung über eine Ministeranklage berufenen
ständigen gelten lassen will. Der Budgetausschuß des Abgeordnetenhauses
hat im Jahre 1906 kraft seiner geschäftsordnungsmäßigen Befugnis ehemalige
Minister vorgeladen (s. Bernatzik S. 813 N. 6). Als Zeuge oder Sach-
verständiger könnte vor einem Ausschuß des österreichischen Reichsrats
auch ein gemeinsamer Minister oder ein ihm untergeordneter Beamter er-
scheinen. Das in der vorigen Note erwähnte Verlangen des bosnischen
Ausschusses war in beiden Fällen insofern unrichtig formuliert, als es sich
auf § 7 statt auf § 8 des GeschOGr. stützte, obgleich ein Eventualantrag
dahin ging, das gemeinsame Finanzministerium anzugehen, einen seiner
Beamten als Sachverständigen in die Sitzungen des Ausschusses zu entsenden.
Juristisch völlig haltlos war der Einwand des Eegierungsvertreters, daß
ein Beamter über Gegenstände seiner Amtsführung überhaupt nicht als
Sachverständiger vernommen werden könne, weil ein solcher an der Sache
vollständig unbeteiligt sein muß und in seiner Meinungsäußerung in keiner
Weise gebunden sein dürfe, was bei dem durch die Dienstpflicht gebundenen
Beamten nicht der Fall sei. Auch würde die Einvernahme eines Beamten
als Sachverständigen mit der Ministerverantwortlichkeit in Kollision geraten,
da er dann eventuell Erklärungen abgeben müßte, „durch die er sich mit
seinem Minister in Widerspruch setzen würde" („Wiener Zeitimg" Nr. 149
V. 3. Juli 1912). Das letzte Argument stammt offenbar aus den Herrenhaus-
protokollen von 1867 und verkennt dm-chaus das Wesen der Sache, ebenso
wie das erste auf einer irrigen Anschauung von der Rolle des Beamten-
Sachverständigen beruht. Beide Argumente müßten eher den — natürlich
falschen — Schluß nahelegen, daß ein Beamter nicht als Zeuge vor einer
parlamentarischen Untersuchungskommission erscheinen darf. (Hierüber s.
unten S. 322 f.). Daß es auch sachverständige Zeugen gibt (s. unten S. 319
N. 1) — und ein Beamter ist ein solcher xaTe^oxrjv in den Angelegen-
heiten seiner Dienstsphäre — scheint dem Regierungsvertreter unbekannt
geblieben zu sein. Zu größerer Vorsicht hätte ihn aber der Umstand ver-
anlassen sollen, daß vor der durch kaiserliches Handschreiben bestellten, also
nicht einmal durch Gesetz autorisierten Kommission zur Förderung der Ver-
waltungsreform (s. unten S. 344 N. 1) Staatsbedienstete oder Bedienstete staat-
licher Betriebe als Sachverständige oder Auskunftspersonen erscheinen dürfen
(Ah. genehmigte Grundsätze für die Tätigkeit dieser Kommission §7 Abs. 2;
GeschO. § 14 Abs. 1). Es ist doch nicht anzunehmen, daß ein kaiserlicher
Willensakt sich mit „der gegebenen monokratischen Einrichtung der Be-
hördenorganisation" und mit ,,der bestehenden Einrichtung der Minister-
verantwortlichkeit" in so flagranten Widerspruch setzen sollte.
318 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Ausschuß gleichgestellt werden müssen, damit die Häuser von
den ihnen staatsgrundgesetzlich zustehenden Berechtigungen,
namentlich von der Befugnis der Verwaltungskontrolle vollen
Gebrauch machen können^). Lichtenfels, der im Herren-
haus den Bericht über die Geschäftsordnungsreform erstattete,
trat auch jetzt einem Recht der Zeugeneinvernahme entgegen,
weil schon der bisherige Rechtszustand den Kommissionen die
Möglichkeit gewähre, die Zentralstellen um Einleitung allfälhg
erforderlicher Erhebungen anzugehen, mithin die Gelegenheit
biete, Personen, deren Aussage ihnen wichtig ist, durch die
Behörden vernehmen zu lassen und sich so jene Aufklärungen
zu verschaffen, die ihnen, in welcher Beziehung immer, not-
wendig erscheinen. Er war der Meinung, daß auch das neue
Staatsgrundgesetz eine Ausdehnung der Befugnisse in dieser
Richtung nicht zur Folge haben müsse, da beiden Häusern
das Recht, innerhalb ihres Wirkungskreises die Verwaltungs-
akte der Regierung zu prüfen, schon nach der früheren Ver-
fassung unzweifelhaft zustand, während eine ,, selbsteigene Ver-
nehmung der Zeugen von Seite der Reichsvertretung" nur
gelegentlich der Ministeranklage, also in einem bereits gesetz-
Hch vorgesehenen Fall stattfinden kann 2). Lichtenfels er-
innerte daran, daß schon 1861 die vom Abgeordneten-
hause beabsichtigte Statuierung eines solchen Rechtes unter-
bheb, weil die Vernehmung von Zeugen ein nur der Vollzugs-
gewalt zustehender Jurisdiktionsakt ist^). Auch habe sie das
Mißliche, daß auf diese Weise Beamte in die Lage kommen
können, gegen ihre eigenen Ministerien auszusagen, und daß
so Amtshandlungen der Regierung außer dem gehörigen Wege
zur Verhandlung und zur Verantwortung gezogen werden*).
Demgegenüber vertrat Giskra als Minister des Innern den
Standpunkt, daß sich die Aufnahme der angefochtenen Be-
stimmung — abgesehen von der terminologischen Frage, ob
nicht zu den Sachverständigen im weiteren Sinn auch Zeugen
*) Berichterstatter Dr. Dinstl i. d. Sitzg. d. Abgeordnetenhauses v.
30. März 1868, Sten. Prot. d. IV. Sess. S. 2392 f. Nach § 10 des Ges. v.
25. Juli 1867 RGBl. Nr. 101 hat der zur Vorberatung des Antrags auf
Ministeranklage gewählte Ausschuß die zur Begründung der Anklage zweck-
dienlichen Vorerhebungen zu pflegen und kann Zeugen sowie Sachver-
ständige vernehmen.
') Sitzg. V. 30. April 1868, Sten. Prot. d. Herrenh. IV. Sess. S. 785.
") S. oben S. 302.
*) Sten. Prot. das. S. 787.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 319
gehören 1), — schon im Hinbhck auf das Verifikationsrecht
des Abgeordnetenhauses empfehle. Die Verweigerung des
Rechtes, Personen, die bei einer Wahl anwesend waren, über
die Umstände, welche deren Ungiltigkeit herbeiführen könnten,
unmittelbar zu hören, würde das Abgeordnetenhaus auf ein
mittelbares Verfahren, d. i. auf die bloß aktenmäßige Er-
hebung von Vorgängen beschränken, die so häufig hinter der
richtigen Auffassung der Verhältnisse zurückbleibt 2). Schließ-
lich wurde der Paragraph gegen den Antrag der Kommission
in der vom Abgeordnetenhause vorgeschlagenen Textierung
mit einer Stimme Majorität angenommen 3).
Auch hier ist die parlamentarische Entstehungsgeschichte
für die Auslegung nicht ohne Wert. Sie zeigt deutlich, daß
für keines der beiden Häuser ein selbständiges Erhebungsrecht
ihrer Kommissionen mit Ausschaltung der Minister in Frage
kam, aber ebenso evident, daß niemals an die Möglichkeit ge-
dacht wurde, ein Minister könnte sich weigern, dem Informa-
tionsbegehren der Kommission zu entsprechen. Die Frage ist
vor nicht langer Zeit praktisch geworden und hat, wde es nun
einmal die seltsame Fügung will, die über Verfassungsfragen
in Österreich waltet, durch Schließung der Session wenn nicht
ihre Lösung, so doch ihre Erledigung gefunden. Der Immunitäts-
ausschuß des Abgeordnetenhauses hatte beschlossen, wegen Ver-
haftung zweier Abgeordneter einige an dieser Maßnahme beteiligte
Polizeiorgane zur Einvernehmung als Zeugen vorzuladen, weil er
den ihm übermittelten amtlichen Polizeibericht zur Klarstellung
des Falles für nicht genügend erachtete und die Aussage der betei-
ligten Abgeordneten der Darstellung dieses Berichtes widersprach.
Das Ministerium des Innern, dem dieses Verlangen durch den
^) Die Frage war schon in der Debatte über § 8 des Geschäftsordnungs-
ges. V. 1861 gestreift worden: Abg. Dr. v. Mühlfeld i, d. Sitzg. d. Ab-
geordnetenh. v. 5. Juni 1861, Sten. Prot. d. I. Sess. S. 217. — Beiläufig sei
hier erwähnt, daß die österreichische Zivilprozeßordnung v. 1895 neben
Zeugen und Sachverständigen auch sachverständige Zeugen kennt, d. i. Per-
sonen, welche über Vorgänge, Tatsachen oder Tatumstände verhört werden,
zu deren Wahrnehmung besondere Sachkunde erforderlich war (§ 350),
^) Sten. Prot. d. Herrenh. a. a. 0. S. 786. Vgl. das. die Ausführungen
des Grafen Hartig. Die Notwendigkeit der Zeugeneinvernahme im Veri-
fikationsverfahren war schon gelegentlich der Debatte über § 8 des Geschäfts-
ordnungsges. v. 1861 im Abgeordnetenhause von jenen Rednern hervorgehoben
worden, die den Ausschüssen ein solches Recht eingeräumt wissen wollten:
Dr. V. Mühlfeld u. Dr. Brauner in den Sitzungen v. 5. Juni u. 12. Juli 1861,
Sten. Prot. d. I. Sess. S. 217, 461.
') Sten. Prot. d. Herrenh. IV. Sess. S. 788.
320 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Präsidenten des Abgeordnetenhauses übermittelt wurde, weigerte
sieh aus zwei Gründen, die Vorladung zu veranlassen. Einmal
seien die staatlichen Organe in der betreffenden Angelegenheit
bereits von ihrer vorgesetzten Behörde unter Diensteid verhört
und die Vernehmungsprotokolle dem Abgeordnetenhause zur
Kenntnis gebracht worden. Sodann könnte das Erscheinen der
PoHzeiorgane vor dem Ausschuß nur die Bedeutung haben,
daß ihr Vorgehen zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht
werden soll, daß sie somit als Beschuldigte auftreten. Eine
unmittelbare Untersuchung gegen Organe der staatlichen Be-
hörden könne aber nur von der zuständigen Disziplinarinstanz
oder dem Strafgericht durchgeführt werden. Das Ministerium
wies endlich darauf hin, daß § 8 des Geschäftsordnungsgesetzes
keine Zeugenpflicht begründet i). Das trifft, wie noch gezeigt
werden soll, vollkommen zu. Auch ist nach dem klaren Wort-
laut des Gesetzes nicht zu bezweifeln, daß weder dem Hause
noch den Ausschüssen ein unmittelbares Einschreiten gestattet
ist, der Verkehr der parlamentarischen Kollegien und Organe
nach außen den Weg über die Regierung nehmen muß 2).
Allein die Folgerung, daß dieser Verkehr des Hauses mit den
behördlichen Organen stets nur im Wege der Zentralstellen
und nicht durch Zeugeneinvernehmung erfolgen könne, findet
weder im Gesetz noch in dessen Entstehungsgeschichte einen
Halt. Denn dann würde sich § 8 des Geschäftsordnungsgesetzes
nur auf Privatpersonen beziehen. Da jedoch das Gesetz nicht
unterscheidet, ist es nach der alten Paroemie Niemandes Amt,
zu unterscheiden. Grade weil der Regierung im Verhältnis
der Volksvertretung zu der außerparlamentarischen Sphäre eine
Art Verkehrsmonopol eingeräumt ist, das sich durch geschicht-
liche Erfahrungen immerhin rechtfertigen mag, entbehrt die
Argumentation des Ministeriums im vorliegenden Fall der Be-
gründung. Indem das Gesetz den Vertretungskörpern und
ihren Teilorganen einen bestimmten Modus jenes Verkehrs
vorschrieb und alle direkte Beziehung zu Behörden und Einzelnen
ausschloß, hat es ihnen eine unter Umständen sehr empfind-
liche Selbstverleugnung und einen Verzicht auf mannigfache
Möglichkeiten der Kenntnisnahme von Tatsachen zugemutet.
Es will und muß ihnen ein Äquivalent für solche Beschränkung
0 Anfrage des Abg. Dr. Släma als Obmannes des Immunitätsausschusses
an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses: Sitzg. v. 7. JuH 1909, Sten. Prot,
d. XIX. Sess. S. 2637 f.
') S. die Erklärung des Präsidenten Dr. Pattai a, a. 0. S. 2638.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 321
bieten, indem es sie mit ihrem Informationsbedürfnis an die
Regierung weist, die schon vermöge ihrer Stellung und ihres
technischen Apparats Raschheit, Sicherheit und vor allem Voll-
ständigkeit der eingeholten Auskunft garantiert. Weigert sich
die Regierung, dieser Aufklärungspflicht zu entsprechen, so tut
sie es auf ihre Verantwortung, und sicherlich ist der Fall
denkbar, daß ein Minister angesichts der politischen Tragweite
der geforderten Erhebungen und im Hinblick auf verhängnis-
volle Wirkungen der Auskunfterteilung die Volksvertretung vor
die Wahl stellt, ob sie gegen ihn die Anklage erheben oder
auf ihr Ermittlungsrecht verzichten will. Davon war natürlich
hier nicht die Rede^).
Nach der Meinung des Ministeriums mußte sich der Im-
munitätsausschuß mit dem ihm vorgelegten amtlichen Protokoll
— es war übrigens bloß eine Polizeirelation — begnügen, ob-
zwar es doch offenbar allein Sache des Ausschusses sein konnte,
zu entscheiden, welches Beweismaterial zu seiner Schlußfassung
nötig und ausreichend ist. Damit erledigt sich auch der Hin-
weis auf den Umstand, daß der Vorfall bereits gerichthch an-
hängig sei, was besagen soUte, daß die Sache, wenn der Aus-
schuß dem Auslieferungsbegehren Folge gibt, auch gerichthch
erledigt wird. Aber der Ausschuß hat weder Untersuchungsrecht
noch Untersuchungszweck, er hat kein Strafverfahren vorzu-
bereiten, sondern hatte im gegebenen Fall ledighch auszu-
sprechen, ob ein der Volksvertretung verfassungsmäßig gewähr-
leistetes Recht verletzt wurde oder nicht. Seine Tätigkeit ist
daher weder formell noch materiell an das Ergebnis gebunden,
zu dem die gerichtliche Kognition der gleichen Angelegenheit
führt. Man sieht, daß hier noch immer die alte durch den
Gleichklang des Wortes verursachte Vorstellung von der ,,en-
0 Richtig Tezner, Der Kaiser, Wien 1909 S. 318 und Die Volksver-
tretung S. 358, daß für die Minister vernünftigerweise eine unbedingte
Pflicht, der Requisition der Ausschüsse zu entsprechen, nicht besteht, da
sie hiedurch unter Umständen zur Verletzung ihrer eigenen Amtspflicht
genötigt wären und es Fälle absoluter Notwendigkeit der Geheimhaltung
von Tatsachen geben kann. Die Meinung Tezner s, daß den Kommissionen
und Ausschüssen beider Häuser keine staatliche Befehlsgewalt zukommt, ist,
wie gezeigt, auch in der parlamentarischen Geschichte der einschlägigen Vor-
schriften begründet, sagt jedoch nur selbstverständliches aus, da der Rechts-
kreis sekundärer Organe nicht weiter reichen kann als jener des primären
Organs und dieses — im vorliegenden Fall das Parlament — zweifellos kein
Imperium besitzt. Vgl. hiezu Dupriez i. d. Revue du droit public Bd XXTTT
S. 299 f.
Zeitschrift für Politik. 6. 21
322 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
quete judiciaire" wirkt und eine Vermengung der Funktionen
bewirkt, an deren sorgfältiger Scheidung grade die Exekutive
von jeher am stärksten interessiert war. So ist auch die Be-
sorgnis zu erklären und zu entkräften, daß der Ausschuß die
vorgeladenen Polizisten als Beschuldigte verhören könnte, eine
Annahme, die nur dann einen Schein von Berechtigung hat,
wenn man einem Organ von vornherein Überschreitung seiner
gesetzlichen Kompetenz zumutet. Zur Einvernahme eines Be-
schuldigten oder zur Beschuldigung eines Einvernommenen hat
aber der Ausschuß kein Recht, noch hat er sich ein solches
zugeschrieben, da er expressis verbis um Vorladung der Polizei-
organe als Zeugen ersuchte. Man ist übrigens gegen das Er-
scheinen von Polizeiorganen im österreichischen Abgeordneten-
hause nicht immer so empfindlich gewesen.
Die hier vertretene Auffassung von der grundsätzlichen
Pflicht der Regierung, dem Begehren eines Ausschusses nach
§ 8 des Geschäftsordnungsgesetzes zu entsprechen, muß freilich
den Vorwurf auf sich nehmen, daß sie lege non distinguente
einen Unterschied zwischen behördlichen Organen und Privat-
personen konstruiert und für die erste Kategorie einen mittel-
baren Zeugnis- oder vielmehr Erscheinungszwang schafft, der
für die zweite nicht anerkannt wird^). Das ist scheinbar richtig.
Aber auch nur scheinbar. Denn jener Zwang ist derivativer
Art, ein Ausfluß der Dienstpflicht und als solcher in nichts
verschieden von andern onerosen Privilegien, die das quali-
fizierte Abhängigkeitsverhältnis des Beamten auch sonst im
^) Vgl. Tezner, Volksvertretung S. 358 N. 13, S. 501 N. 99. — Eine
andere Tragweite hat in Frankreich die Unterscheidung von Beamten und
Privatpersonen hinsichtlich ihrer Eigenschaft als Zeugen vor einer joarlamen-
tarischen Untersuchungskommission. Die Minister haben hier im Interesse
der hierarchischen Ordnung und zur Wahrung des Prinzips der Gewaltenteilung
das Recht in Anspruch genommen, die Ladung von Beamten im Dienstweg
zu veranlassen oder bei deren Einvernahme anwesend zu sein, sowie über
die ilitteilung amtlicher Geschäftsstücke von Fall zu Fall zu entscheiden.
(Vgl. Pierre S. 694 ff.; Michon S. 122 ff.) So hat schon im Jahre 1842 der
Minister des Innern Beamten untersagt, vor einem zur Untersuchung be-
strittener Wahlen eingesetzten Kammerausschuß zu erscheinen, und das Verbot
damit begründet, daß nach der Charte der König allein die Vollzugsgewalt
besitzt und es diesem Prinzip widerspräche, wenn die Kammern den Beamten
unmittelbar Weisungen erteilen könnten. Die Kommission beschloß, die in
Betracht kommenden Funktionäre in Gegenwart des Ministers zu vernehmen.
(Pierre a. a. 0.; Hymans a. a. 0. S. 1334.) — In Belgien hat die Frage,
ob eine parlamentarische Kommission Angehörige des Zivil- und Militärdienstes
vorladen und vernehmen darf, im Jahre 1905 zu einer lebhaften Erörterung
Anlaß gegeben: vgl. Dupriez a. a. 0. S. 296 ff.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 323
Gefolge hat. Der Beamte muß nicht vor dem Ausschuß er-
scheinen, weil es der Ausschuß will, sondern weil es die Re-
gierung befiehlt, und die Regierung muß befehlen, weil es das
Gesetz will. Es ist wohl überflüssig hervorzuheben, daß das
staatliche Organ, welches, dem Dienstbefehl gehorsam, seiner
Zeugenpflicht nachkommt, alle jene Vorrechte genießt, die bei
der gerichtlichen Einvernahme von dieser Pflicht befreien oder
deren Erfüllung sogar verbieten i). Wenn es das Bedürfnis der
Wahrheitserforschuug regelmäßig nicht einmal im gerichtlichen
Verfahren erheischt, daß der Beamte seine Schweigepflicht ver-
letzt und daß der Zeuge sich durch seine Aussage schädigt,
so kann das noch viel weniger für eine Ermittlungsaktion
gelten, an deren Ergebnissen das Wohl und das Interesse der
Gesamtheit sicherlich nicht entfernt so stark beteiHgt sind.
Für Privatpersonen kommen alle diese Erwägungen nicht in
Betracht, weil sie gegenüber einem parlamentarischen Ausschuß
keiner Erscheinungs- und keiner Aussagepflicht unterhegen 2).
Eine solche könnte, da sie eine Einengung der staatsfreien
Sphäre des Individuums bedeutet, nur durch Gesetz ausge-
sprochen werden, wie dies für den Untersuchungsausschuß im
Fall einer Ministeranklage geschehen ist, dem alle im ordent-
lichen Strafverfahren einem Untersuchungsrichter eingeräumten
Befugnisse zustehen^). Argumento a contrario hat kein andrer
Ausschuß, auch nicht eine Informationskommission das Recht,
Zeugen und Sachverständige eidlich zu vernehmen oder deren
Vernehmung durch das Gericht zu veranlassen^).
') StPO. §§ 151, 153; CPO. § 320; vgl. RStPO. § 53; RCPO. § 376. Das
badische Landtagswahlgesetz v. 1904 bestimmt ausdrücklich, daß für die im
Wahlprüfungsverfahren vernommenen Zeugen- und Sachverständigen die
Vorschriften der StPO. über den Ausschluß der Beeidigung und über das
Recht zur Auskunftverweigerung entsprechende Anwendung finden. Ähnliches
gilt für die Auskunftspflicht der vor eine Enquetekommission geladenen Be-
amten nach fi-anzösischem Recht: Pierre, Supplement', Paris 1910 S. 499 f.
^) Die Vorstellung, daß dem Laderecht des Ausschusses notwendig eine
Erscheinungspflicht des Zeugen entspreche, hat mit dazu beigetragen, daß
beim Zustandekommen der GeschO, v. 1861 den Ausschüssen die Befugnis
der Zeugeneinvernahme versagt wurde, da man Zeugniszwang jeder Art in
den Rechtsbereich der Exekutive verwies und Übergriffe der Legislative
besorgte. S. die Ausführungen des Berichterstatters Grafen H artig und
des Freiherrn v. Lichtenfels i. d. Debatte des Herrenhauses über § 8 d.
GeschOGes. V. 1861: Sitzg. v. 1. Jtdi 1861, Sten. Prot, d, L Sess. S. 113, 111.
Vgl. oben S. 302 N. 3.
") Ges. V. 25. Juli 1867 RGBl. Nr. 101 § 17.
*) Übereinstimmend Bernatzik, Verfassungsgesetze S. 814 N. 7. Da-
gegen wirft Tezner, Volksvertretung S. 501 die Frage auf, ob nicht mangels
21*
324 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Aus analogen Gründen, d. h. weil eben parlamentarische
Ausschüsse keine Gerichtsbehörden sind, steht die falsche Aus-
sage eines Zeugen, welcher der Ladung Folge geleistet hat,
nicht unter der Sanktion des § 199 a) StG., der die Gefährdung
der staatlichen Rechtspflege mit Strafe bedroht und dessen
Tatbestände immer ein gerichtliches Verfahren voraussetzen^).
Hieran würde sich auch nichts ändern, wenn der vor kurzem
im Reichsrat eingebrachte Entwurf eines Strafgesetzbuchs Gesetz
werden sollte; nur ergäbe sich dann freilich der seltsame Zu-
stand, daß wohl die falsche Aussage vor einer internationalen
Untersuchungskommission, nicht aber jene vor einer parlamen-
einer Beschränkung in betreff der zur Erhebung heranzuziehenden Behörden
„die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen durch die Gerichte mit
allen Wirkungen einer gerichtlichen Vernehmung zulässig erscheint, zumal
zu den Zentralstellen auch der Oberste Gerichtshof gehört, der den Auftrag
zur Erhebung an die unterstehenden Gerichte erster Instanz ergehen lassen
könnte". Abgesehen davon, daß ein solcher Auftrag nicht in die Zuständigkeit
des Obersten Gerichtshofs fiele und das „unterstehende" Gericht sich mit
Grund weigern müßte, eine Abhörung von Zeugen zu andern als gesetzlich
vorgezeichneten Zwecken vorzunehmen, ist die ganze Argumentation ver-
unglückt, weil weder der Oberste Gerichtshof noch irgend eine andre der
von Tezner S. 461 genannten Behörden zu den Zentralstellen zählt, deren
Chefs nach §§ 8 u. 15 GeschOGes. die Vorladung von Zeugen und Sach-
verständigen zu vermitteln haben. NachTezners Auslegung hätte z.B. der
Präsident des Patentgerichtshofs die Befugnis, an allen Beratungen des Reichs-
rats teilzunehmen, könnte der Präsident des Reichsgerichts interpelliert
werden, der Präsident des Obersten Rechnungshofs in allen Kommissionen
und Ausschüssen erscheinen usf. Unter „Chefs der Zentralstellen" in dem
hier maßgebenden Sinn sind heute „die mit der selbständigen Leitung eines
Ministeriums betrauten Beamten" zu verstehen, die nach § 4 des Ges. v.
25. Juli 1867 RGBl. Nr. 101 den Ministern in Bezug auf deren Verantwort-
lichkeit gleichzuhalten sind.
0 E. d. Ob.Ger.- u. KassH. v. 27. Januar 1879 Z. 12782. Stooß, Lehr-
buch d. österr. Strafrechts, Wien u. Leipzig 1910 S. 482; Lammasch, Straf-
recht* (Finger-Frankl, Grundriß d. österr. Rechts II, 4), Leipzig 1911
S. 138; Bernatzik a. a. 0. Da das allgemeine Interesse des Staates an der
Erforschung der Wahrheit das Angriffsobjekt der falschen Aussage darstellt,
billigt Janka, Das österr. Strafrecht^ Prag, Wien, Leipzig 1902 S. 264,
daß das deutsche Recht die Beschränkung auf die falsche gerichtliche Aus-
sage fallen gelassen hat (RStGB. §§ 154 ff.). Das deutsche Strafgesetzbuch
stellt hier den Sachverständigen dem Zeugen gleich, während nach öster-
reichischem Recht das falsche Gutachten des Sachverständigen, auch wenn
es im gerichtUchen Verfahren abgegeben wird, kein Zeugnis, daher nicht
nach § 199 a), sondern eventuell als Übertretung des Betruges nach § 461
strafbar ist: E. d. Ob.Ger.- und KassH. v. 10. Februar 1902 Z. 9545, Slg.
Nr. 2740. Stooß a. a. 0. A. M. Janka a. a. 0.; Lammasch a. a. 0. Vgl.
Tezner a. a. 0. S. 318.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 325
tarischen Untersuchungskommission in Österreich strafbar wäre^).
Die namenthch in der französischen Literatur stark umstrittene
Frage, ob die in einer parlamentarischen Enquete abgegebene
Aussage dem Zeugen quahfizierten Rechtsschutz sichert 2), ist
*) Entwurf eines Strafgesetzhuchs (Nr. 90 d. Beill. zu d. Sten. Prot. d.
Herrenhauses XXI. Sess. 1912) § 180. Ebenso schon der Vorentwurf zu
einem österreichischen Strafgesetzbuch und zu dem Einführungsgesetze,
Wien 1909 § 180. (S. Kahl in Löfflers Ost. Zeitschr. f. Strafi-echt Bd. IE
S, .314ff). — In Frankreich bleibt die falsche Aussage vor einer parlamen-
tarischen Kommission straflos, selbst wenn sie unter Eid erfolgt, weil der
Code penal (Artt. 361 ff.) nur das falsche Zeugnis im Straf-, Zuchtpolizei- und
Zivilprozeß bedroht: Michon S. 80 ff.; Degommier S. 98. Nach Art. 25
d. niederländischen Ges. v. 5. Aug. 1850 gelten die allgemeinen strafgesetz-
lichen Bestimmungen auch für die vor einer Untersuchungskommission ab-
gelegte wissentlich falsche Aussage. Das belgische Ges. v. 3. Mai 1880 be-
droht die falsche Aussage eines Zeugen, Dolmetschers oder Sachverständigen
ebenso wie die Verleitung einer dieser Personen zur falschen Aussage mit
Fi'eiheitsstrafe (unter Umständen mit konkurrierender Geldstrafe) und Ent-
ziehung der Wahlfähigkeit und der Wählbarkeit. (Art. 9. Vgl, Payen
a. a. 0. S. 339.) — Art. 6 § 2 des Entwurfs eines italienischen Enquete-
gesetzes v. 1863 stellte falsche Aussage eines von der Untersuchungskommission
vernommenen Zeugen oder Sachverständigen unter die Sanktion des all-
gemeinen Strafgesetzes, wenn die betreffenden Äußerungen vor der Kommission
in den Formen des ordentlichen Gerichtsverfahrens abgegeben wurden (bei
Michon S. 84). Nach Art. 97 d. italienischen Wahlges. v. 28. März 1895,
der die bisherige parlamentarische Gewohnheit kodifiziert, stehen die bei
einer Wahlenquete abgegebenen Zeugenaussagen unter der Strafsanktion der
falschen Bekundung, Verweigerung der Aussage, Verschleierung der Wahrheit.
Die Praxis verwendet diese Bestimmung analog für andere Enqueten:
Mancini-Galeotti S. 393; Brusa, Das Staatsrecht d. Königreichs Italien
(Handb. d. öff. R. IV, I, 7), Freiburg i. B. 1892 S. 137, 168. — In England
gilt die einfache falsche Aussage vor einem Komitee des Parlaments als
Privilegienbruch, während sie, wenn unter Eid abgelegt, als „perjury" vom
Generalanwalt verfolgt wird. (Für das Unterhaus ist dies rechtens seit dem
Parliamentary Witnesses Oaths Act v. 1871: 34 & 35 Vict. c. 83). Nach
einem „sessional order" des Unterhauses wird mit äußerster Strenge gegen
solche verfahren, die vor dem Haus oder einem seiner Ausschüsse falsches
Zeugnis abgelegt, wie auch gegen jene, die das „high crime and misdemeanor"
begangen haben, die Aussagen eines Zeugen zu beeinflussen oder ihn mittel-
bar oder unmittelbar vom Erscheinen und der Bekundung abzuhalten:
8. May S. 75, 86 f., 430 f.; Redli ch S. 457 f.; Mi chon S. 84 f.
*) Vgl. Michon S. 78 f. Degommier S. 90 ff.; Delpech i. d. Revue
du droit public Bd XXI S. 579 f. Dieser Rechtsschutz bei Ausübung der
Zeugnispflicht ist in England durch den Witnesses (Public Inquiries) Pro-
tection Act V. 1892 (55 & 56 Vict. c. 64) verbürgt. Hienach wird Freiheits-
und Geldstrafe ausgesprochen gegen jeden, der einen Zeugen im Hinblick
auf seine vor einem Untersuchungsausschuß oder einer königlichen Kommission
abzulegende Aussage bedroht, verletzt oder schädigt: May S, 125 ff., 431;
Redlich S. 457; Fromageot a. a. 0. S. 189 f. Das belgische Gesetz v. 1880
schützt in Ai"t. 7 nur die an einer Enquete beteiligten Parlamentsmitglieder,
326 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
nach geltendem österreichischem Recht zu verneinen, da sowohl
die Strafdrohung wegen Verbrechens der schweren körperlichen
Beschädigung nach § 153 als auch jene wegen Aufreizung
nach § 300 StG. Gerichtszeugen und -sachverständige im Auge
hat^). Die gleichfalls in Frankreich wiederholt erörterte Kon-
troverse, ob die Angaben des Zeugen gegen eine etwaige
Ehrenbeleidigungsklage immunisiert sind 2), ist nicht nur für
unseren Fall, sondern für das österreichische Recht überhaupt
gegenstandslos, weil hier der Zeuge, auch wenn er in Erfüllung
einer erzwingbaren Pflicht aussagt, für die Richtigkeit seines
Vorbringens einstehen und die Folgen einer irrigen Behauptung
tragen muß.
Da Euquetekommissionen nach österreichischem Recht
geschäftsordnungsmäßig sich in nichts von andern parlamen-
tarischen Ausschüssen unterscheiden, gilt auch für sie das Prinzip
der Diskontinuität der Sitzungsperioden, d. h. ihr Dasein und
ihre Tätigkeit findet mit dem Sessionsschluß ein Ende^). Hier
deren Beleidigung und tätliche Verletzung nach den einschlägigen Normen
des Strafgesetzes geahndet werden soll (vgl. Pierre S. 1321 f.). Hier er-
scheint der qualifizierte Schutz als Ausfluß der Kontrolle, zu deren Übung
die Kammermitglieder berechtigt und verpflichtet sind: Payen S. 333. Das
Bedürfnis, Zeugen vor ungünstigen Folgen ihrer Bekundung zu schützen,
hat sich deutlich bei der auf Grund des niederländ. Ges. v. 19. Januar 1890
durchgeführten sozialpolitischen Enquete gezeigt, indem Arbeiter aus Furcht
vor Entlassung wiederholt die Aussage verweigerten; Pringsheim im Arch.
f. soziale Gesetzgebung u. Statistik Bd. IV S. 695.
^) Für § 153 StG. a. M. Finger, Das Strafrecht (Kompendien d. Öster-
reich. Rechts VH) Bd. H (Berlin 1895) S. 36.
-) S. hierüber Michon 8. 69 ff.; Pierre S. 691 ff. Vgl. May S. 129 f.
Für das italienische Recht dürfte die Frage wohl zu bejahen sein: vgl.
Racioppi-Brunelli Bd. III S. 182; dagegen Bragaglia, H sindacato
Parlamentäre, Turin 1903 S. 170.
^) Das Prinzip der Diskontinuität, wonach das Ende einer Session
auch jenes der gesamten parlamentarischen Arbeit bedeutet, die mit der
nächsten Sitzungsj^eriode nicht fortzusetzen, sondern von neuem aufzunehmen
ist (zur geschichtlichen Entwicklung vgl. meine Lehre vom Pouvoir con-
stituant S. 430 N. 1), gilt in Österreich kraft Gewohnheitsrechtes, da gesetzlich
nur die Wahl des Präsidenten und der Vizepräsidenten des Abgeordneten-
hauses zu Beginn jeder Session vorgeschrieben ist, für den Gesamtbereich
der parlamentarischen Geschäfte aber keine Norm dieser Art besteht:
v. Herrnritt, Handb. d. Österreich. Verfassungsrechtes, Tübingen 1909
S. 139 N. 15; Bernatzik S. 405 f.; vgl. die Erklärung des Präsidenten
V. Chlumecky i. d. Sitzg. d. Abgeordnetenhauses v. 18. Dez. 1895 (bei
Neisser Bd 11 S. 11). Die Ausschüsse des Abgeordnetenhauses sind,
abgesehen von den Permanenzausschüssen für die Behandlung umfangreicher
Gesetze, in allen Sessionen neu gewählt worden: Neisser S. 15 N. 1. Der
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 327
zeigt sich an einem Punkt von untergeordneter praktischer Be-
deutung die Wichtigkeit des Rechtes, die Schheßung der Session
herbeizuführen; es gewährt der Regierung die unanfechtbare
MögHchkeit, einer ihr nicht genehmen parlamentarischen Unter-
suchung den Lebensfaden abzuschneiden. Die Vertagung des
Reichsrats hat hingegen ledigUch die Wirkung, daß die Arbeiten
der Enquetekommission unterbrochen werden und bis zur
Wiederaufnahme der parlamentarischen Geschäfte in suspenso
bleiben. Unzulässig wäre die Permanenz eines Untersuchungs-
ausschusses während der Vertagung des Reichsrates und über
die Session hinaus, weil eine solche Ausnahmsverfügung auf den
Fall der Behandlung umfangreicher Gesetze eingeschränkt ist^).
Sessionsschluß gemäß Art. 12 d. Deutschen RV. bewirkt, daß Reichstags-
kommissionen nach Schhiß der Sitzungsperiode ihre Tätigkeit nicht fort-
setzen können. Die Diskontinuität beruht nicht auf Reichsgesetz (Laband,
Das Staatsrecht d. Deutschen Reiches^ Bd I S. 342 f.), ist jedoch ebenso wie
in Preußen geschäftsordnungsmäßig festgelegt. So bereits GeschO, f. d.
Reichstag d. norddeutschen Bundes § 67. GeschO, d. deutschen Reichstags
§ 70 (GeschO, d. preuß. Herrenh. § 80; GeschO, d. preuß. Abgeordnetenh.
§ 74). S. Kieschke, Die Vertagung, Schließung und Auflösung des Deutschen
Reichstags, Berlin 1907 S. 38 ff. ; Zorn, Das Staatsrecht d. Deutschen Reiches*
Bd I (Berlin 1895) S. 420 N. 40; Plate, Die Geschäftsordnung d. preuß.
Abgeordnetenhauses', Berlin 1904 S. 211 ff.; v. Roenne-Zorn Bd I S. 349
N. 3, (wo jedoch Zorn im Text gegenüber der einmütigen Auffassung in
Theorie und Praxis m. E. ohne Grund behauptet, ein so wichtiges staats-
rechtliches Prinzip müßte positiv in der VerfUrk. zum Ausdi-uck gelangt
sein; die Diskontinuität trete daher nur und erst mit Ablauf der Legislatur-
periode, bzw. mit der Auflösung ein). — ■ Über die Tendenz neuerer Gesetz-
gebungen, den Grundsatz der Diskontinuität zu durchbrechen, vgl. Hatschek,
Allgemeines Staatsrecht, Leipzig 1909 T. I S. 89.
') Ges. V. 30. Juli 1867 RGBl. Nr. 104. Ebenso nach preußischem und
Reichsrecht. Der in § 74 der GeschO, f. d. preuß. Abgeordnetenh. aus-
gesprochene Grundsatz der Diskontinuität (s. vor. N.) wird analog auf die
Kommissionen angewendet, die mit jeder Session erneuert werden und deren
Dasein mit Sessionsschluß erlischt (Plate S. 91, 118, 211). Dagegen werden
die Kommissionsarbeiten durch Selbstvertagung grundsätzlich nicht gehindert
(Plate S. 214). Weil Kommissionen des deutschen Reichstags in der Regel
nach Schluß der Sitzungsperiode ihre Tätigkeit nicht wieder aufnehmen können,
mußten solche gegebenenfalls durch Spezialgesetze ermächtigt werden, ihre
Verhandlungen zwischen zwei Sessionen fortzuführen: Plate S. 213;
Laband a. a. 0. S. 343 u. N. 1; ders. Deutsches Reichsstaatsrecht® (D. öff.
R. d. Gegenw. Bd I), Tübingen 1912 S. 81 N. 8. Vgl. Zorn, D. Staatsr. d.
Deutschen Reiches^ Bd I S. 243 f. Vertagung bewirkt auch hier bloß
Ruhen der parlamentarischen Tätigkeit, ohne daher die Arbeiten der
Kommissionen zum Stillstand zu bringen. So Pereis, Das autonome
Reichstagsrecht, Berlin 1903 S. 105 u. N. 585 u. zw. unterschiedslos für
den Fall der Vertagung durch den Kaiser nach Artt. 12, 26 RV. wie
für jenen der Selbstvertagung, deren geschäftsordnungsmäßige Zulässigkeit
328 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
Anderwärts hat man die Enquete häufig von dem Fort-
gang der parlamentarischen Tätigkeit emanzipiert. So bietet
z. B. die Praxis des itahenischen Parlaments die Möglichkeit,
die Existenz einer Untersuchungskommission über die Ver-
tagung oder den Sessionsschluß hinaus zu verlängern, doch
bleiben die Arbeiten einer solchen wie jeder Kommission im
Fall des Sessionsschlusses oder der durch königliches Dekret
angeordneten Vertagung suspendiert^). In Frankreich können
Untersuchungskommissionen wie andere Ausschüsse in der
Sessionspause verhandeln, selbst wenn diese infolge Vertagung
durch Dekret des Staatsoberhauptes eintritt 2). Nach dem nieder-
ßich aus §§ 53, 57 der GeschO, f. d. Eeichstag ergibt. A.M.Arndt, Verf.
d. Deutschen Reichs, Berlin 1911 S. 189, der behauptet, daß während der
Vertagung nach Artt. 12, 26 RV. (im Gegensatz zum „adjournment") keine
Abteilungs- und Kommissionssitzungen stattfinden düi-fen. (Ebenso für das
preuß. Recht ders., Verfürk. f. d. preuß. Staat S. 212). Über die Erörterung
dieser Frage i. d. Reichstagssitzung v. 16. Juni 1882 vgl. Meyer-Anschütz,
Lehrbuch d. Deutschen Staatsrechts, Leipzig 1905 S. 449 u. N. 6, welcher der
von Arndt vertretenen Meinung zuneigt und S. 325 f. auch für das Landes-
staatsrecht der Vertagung durch den Monarchen die Wirkung zuschreibt, daß
sie die gesamte Tätigkeit des Landtags, somit auch der Kommissionen unter-
bricht. Mit Pereis stimmt Lab and, Staatsr. d. Deutschen Reiches a.a.O.
N. 2 u. Deutsches Reichsstaatsrecht a. a. 0. N. 7, insofern überein, als er kein
verfassungsmäßiges Bedenken gegen die Arbeit der Kommissionen während
der Vertagung gelten läßt und aus dem Begriff der Vertagung die Zulässig-
keit solcher Kommissionstätigkeit folgert. Dafür spricht auch das von Per eis
a. a. 0. angezogene, von Meyer-Anschütz S. 449 N. 6 m. E. mit Unrecht
bekämpfte Präzedens aus d. J. 1890: vgl. Dambitsch S. 311, der ebenso
wie V. Seydel, Commentar S. 206 die Frage in Schwebe lassen und sich
bei jenem Präzedens beruhigen will. Auch nach Kieschke S. 52 und
V. Jage mann, Deutsche Reichsverfassung S. 131 können die Kommissionen
bei Vertagung weiterarbeiten.
') Die Deputiertenkammer pflegt — wohl nach englischem Vorbild —
das Mandat einer Untersuchungskommission mit Beginn der neuen Sitzungs-
periode zu verlängern (vgl. Bragaglia S. 182 ff.; Mancini-Galeotti
S. 86, 394; Br us a S. 168 N. 2). Ist die Bestellung einer solchen Kommission
mittels Gesetzes erfolgt, so wird ihr Dasein weder durch Sessionsschluß noch
durch Auflösung der Wahlkammer berührt, und es tritt nur eine Änderung
in ihrer Zusammensetzung mit der neuen Legislaturperiode ein. In einem
Einzelfall — Enquete über das Eisenbahnwesen — hat die Kammer bei Beginn
einer neuen Legislaturperiode das Mandat jener Mitglieder bestätigt, die in der
vorhergehenden der Untersuchungskommission angehört hatten : Mancini-
Galeotti S. 394 ; M i c e 1 i , Inchieste parlamentari S. 63; Racioppi-
Brunelli a. a. 0. S. 181 f.
^) Pierre S. 555 f., 708; Michon S. 23 ff. (mit dem aus der Gewalten-
teilungslehre hergeholten Argument, daß ein Schließungs- oder Auflösungs-
dekret die Organe des Pouvoir legislatif nur soweit berührt, als sie eben
legislative Organe sind, sie also bloß hindert, Gesetze zu geben, nicht aber
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 329
ländischen Enquetegesetz von 1850 werden die Arbeiten eines
Untersuchungsausschusses durch Sessionsschluß nicht beeinflußt,
finden aber mit der Auflösung von selbst ihr Ende, was u. a.
die wichtige Folge hat, daß die wegen Verweigerung der Aus-
sage verhafteten Zeugen und Sachverständigen sofort in Frei-
heit zu setzen sind^). In Belgien bewirkt der Sessiousschluß,
daß die Befugnisse einer Enquetekommission suspendiert werden,
wenn die Kammer nicht das Gegenteil verfügt. Die Auflösung
bringt auch hier diese Befugnisse zum Erlöschen -). Strengere
Wirkungen hat der Sessionsschluß in England, indem die Pro-
rogation des Parlaments dem Mandat seiner Ausschüsse ein
Ende macht. Es ist daher üblich, eine Kommission, die ihr
Pensum innerhalb einer Sitzungsperiode nicht erledigt, d. h.
den Bericht über die Untersuchung noch nicht erstattet hat,
bei Beginn der nächsten Periode in der gleichen Zusammen-
setzung zu erneuern^).
solche im Wege einer Enquete vorzubereiten: S. 26). Der Ausschuß, der i.
J. 1835 eine Untersuchung über die Lage der Tabakindustrie führte, ver-
tagte sich bei Schließung der Session. Die 1842 zur Prüfung bestrittener
Wahlen eingesetzte Kommission beschloß, ihre Arbeiten im Fall einer Pro-
rogation der Kammern zu unterbrechen: Hymans S. 1332.
^) Art. 28. Die Arbeiten der von der Zweiten Kammer der nieder-
ländischen Generalstaaten 1886 zur Untersuchung der Arbeiterverhältnisse
eingesetzten Kommission haben merkwürdigerweise grade während der
Parlamentstagung geruht: Pringsheim, Die Lage der arbeitenden Klassen
in Holland, Archiv f. soz. Gesetzgebg. u. Statistik Bd I S. 69. Nach dem
laxemburgschen Enquetegesetz v. 18. April 1911 Art. 13 enden die Befug-
nisse der Untersuchungskommission mit der Auflösung der Kammer und
ruhen bei Sessionsschluß, wenn nicht die Kammer anderes bestimmt.
^) Ges. V. 3. Mai 1880 Art. 13. (Zur Entstehungsgeschichte s. Payen
S. 334 f.). Grundlos scheint die Behauptung Pierres S. 708, daß hienach
die Enqueteausschüsse der belgischen Kammern sich gegenüber einer durch
die Vollzugsgewalt ausgesprochenen Vertagung (im Gegensatz zur Selbst-
vertagung) in schlechterer Lage befinden als jene des französichen Parlaments,
weil man in Belgien dieses ajournement nach Analogie der Kammerauflösung
behandeln würde. Bei der Beratung des Art. 13 wurde allerdings eine Ee-
daktion abgelehnt, nach welcher Sessionsschluß und königliche Vertagung
die gleiche Wirkung haben, nämlich die Operation der Untersuchungsaus-
schüsse hemmen sollten. Doch ist die Frage nicht praktisch, da die Krnne
in Belgien seit 1857 von ihrem Vertagungsrecht (Verf. Art. 72) keinen Ge-
brauch gemacht hat: Orban, Le droit constitutionnel de la Belgique Bd 11
(Lüttich 1908) S. 487; Errera, Traite de droit public beige, Paris 1909
S. 167.
*) Hatschek, Engl. Staatsrecht Bd I S. 415; Michon S. 28. Dagegen
übt das Adjoumment, die Selbstvertagung des Hauses, auf die Arbeit in den
Ausschüssen keine Wirkung.
330 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
Wenn die Ausübung des Informationsrechts einen Rück-
schluß auf Machtstellung und Machtbewußtsein eines Parlaments
gestattet, so ergibt sich für das österreichische Abgeordneten-
haus eine wenig günstige Folgerung. Hier wurde von der
Möglichkeit, Untersuchungen anzustellen, und von dem Recht,
zu diesem Zweck Kommissionen einzusetzen, nur spärlich Ge-
brauch gemacht, ohne daß sich das Haus jemals ausdrücklich
auf die verfassungsmäßige Ermächtigung des § 21 berufen hätte.
Unter dem Eindruck des Wiener Börsenkrachs vom Mai 1873
beantragten die Abgeordneten Lienbacher und Genossen im
November beim Zusammentritt des ersten aus direkten Wahlen
hervorgehenden Reichsrats Einsetzung eines besonderen fünf-
zehngliedrigen Ausschusses, welcher die Ursachen der Entstehung
und Ausbreitung der finanziellen und wirtschaftlichen Krisis
mit aller Eindringlichkeit erforschen und dem Abgeordneten-
haus darlegen, diesem zugleich Vorschläge erstatten und An-
träge stellen sollte, die geeignet erscheinen, die fernere Wirk-
samkeit jener verderbhchen Ursachen aufzuheben und die
Wiederkehr der letzteren für die Zukunft zu verhindern ^). Der
Antragsteller beabsichtigte nicht unmittelbar Handhabung der
parlamentarischen Kontrolle über Maßnahmen der Vollzugs-
gewalt, wenngleich er für den wirtschaftlichen Zusammenbruch
das Konzessionswesen und die mit der Überwachung der Geld-
institute betrauten Regierungskommissare verantwortlich machen
wollte. Es handelte sich ihm in erster Reihe um eine legis-
lative Enquete, um die Sammlung und Sichtung des Materials
zur Reform lückenhafter Gesetze; während sonst ein Ausschuß
im Punkt der Materialbeschaffung an die Mithilfe der Regierung
gewiesen ist, sollten grade dieser nach der Meinung Lien-
bachers die Ergebnisse der Untersuchung zugute kommen.
Er sprach die Erwartung aus, daß die Regierung diese Ergeb-
nisse benutzen und zu deren Benutzung die untergeordneten
Organe verhalten werde ^). Der weitere Gang der Dinge ließ
erkennen, daß es dem Hause mit der Übung seines Unter-
suchungsrechtes nicht Ernst war. Der Antrag wurde in seinem
meritorischen Teil zwar einstimmig angenommen, aber nicht
einer Spezialkommission, sondern dem bereits zur Vorberatung
') Sitzg. V. 13. Nov. 1873, Sten. Prot. d. Vm. Sess. S. 64; Beill. Nr. 7.
^) Sitzg. V. 21. Nov. 1873, Sten. Prot. S. 140 ff. Äüt kaum verhüllter
Ironie bemerkte später Abg. Dr. Herbst, daß der Antrag Lienbacher
„eigentlich wesentlich eine wissenschaftliche Frage" zum Gegenstand habe:
Sitzg. V. 4. Mai 1874, Sten. Prot. d. Vm. Sess. S. 2197.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 331
der Finanzvorlagen eingesetzten Ausschuß zugewiesen, der
seinerseits vorschlug, für die Verhandlung des Antrags die
Öffentlichkeit der Kommissionsberatung auszuschließen, weil es
nur dann Mitgliedern des Hauses und Sachverständigen mögüch
wäre, sich ohne Rückhalt zu äußern ^). Eine Anregung des
Abgeordneten Kronawetter, daß nach englischem Vorbild
nicht bloß Experten, sondern auch Zeugen mit obligatorischer
Aussagepflicht vernommen werden sollten, blieb unbeachtet.
Die Öffenthchkeit wurde ausgeschlossen 2). Sie nahm ihre Re-
vanche und kümmerte sich nicht weiter um die ganze Unter-
suchung, die Aktualität und Interesse längst verloren hatte,
als sie zwei Jahre später ihren formellen Abschluß in einem
dem Abgeordnetenhaus erstatteten Berichte fand, der auf Grund
offizieller Auskünfte allbekannte Tatsachen wiederholte^).
Daß solche Unfruchtbarkeit einer parlamentarischen Enquete
nicht etwa bloß der zufälligen Verknüpfung hemmender Umstände
aufs Konto zu setzen war, lehrt das Schicksal der Untersuchung,
die das Abgeordnetenhaus in seiner neunten Session beschäftigte
und Vorgänge bei der Vergebung des Baues der galizischen
Transversalbahn zum Gegenstand hatte. Mitteilungen der Tages-
blätter über die Pression, welche in dieser Angelegenheit ein
Abgeordneter auf die Regierung geübt habe, veranlaßten den
^) Sten. Prot. S. 144 f., 147. Der Antrag Steudel, es möge jedem
Abgeordneten das Recht zustehen, den Verhandlungen des Finanzausschusses
über den Antrag Lienbacher beizuwohnen (Sitzg. v. 21. Nov. 1873, Sten.
Prot. S. 148; Beili. Nr. 14), wm-de i. d. Sitzg. v. 21. Januar 1874 diesem
Ausschuß zugewiesen (Sten. Prot. S, 368 f.), der dann mit Berufung auf § 25
GeschO, (s. oben S, 313 N. 3) den im Text erwähnten Antrag auf Ausschluß der
Öffentlichkeit stellte (Beill. Nr. 49). Dies mußte um so seltsamer berühren,
als km-z vorher das Haus gleichfalls auf Antrag Steudels Öffentlichkeit der
Ausschußverhandlungen über die Finanzvorlagen beschlossen hatte (Sitzg.
V, 13. Nov. 1873, Sten. Prot. S. 64 ff.). Grade für die Ausschußdebatten über
die Börsenpanik wurde also die geschäftsordnungsmäßige Regel wieder-
hergestellt.
') Sitzg. V. 26. Januar 1874, Sten. Prot. S. 457, 463.
^) Der Bericht ist vom 3. Dez. 1876 datiert (Sten. Prot. d. Vni. Sess.,
Beill. Nr. 445). Die Untersuchung wurde in der Form durchgeführt, daß
der Ausschuß an die Regierung zwölf die Krisis betreffende Fragen richtete,
welche der Regierung durch das Präsidium des Hauses zur Beantwortung
übermittelt wurden. Die Beendigung der Ausschußberatungen wurde wieder-
holt urgiert: Sitzungen v. 4. Mai 1874 u. 26. Nov. 1875, Sten. Prot. S. 2198 ff.,
5210. Über die Ergebnislosigkeit der Untersuchungsaktion s. die Äußerung
d. Abg. V. Schönerer i. d. Sitzg. v. 10. Febr. 1883 (Sten. Prot. d. IX. Sess.
S. 9107). Vgl. Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich Bd H
(Wien u. Leipzig 1903) S. 475 f.
332 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Abgeordneten Dr. Kopp, die Einsetzung eines fünfzehnglied-
rigen Ausschusses zu beantragen, welcher die in jenen Zeitungs-
meldungen erwähnten Tatsachen, soweit sie das öffentliche In-
teresse berühren, einer eingehenden Prüfung unterziehen sollte ^).
Da hiebei die Erwägung entscheidend war, daß diese Meldungen
das Publikum in bedenklichem Maß beunruhigten und es im
öffentlichen Interesse geboten sei, die Grundlosigkeit des gegen
Regierungsorgane lautwerdenden Verdachts nachzuweisen und
der Regierung Gelegenheit zur Rechtfertigung ihres Verhaltens
zu bieten, erklärte Ministerpräsident Graf Taaffe sich bereit,
dem Ausschuß alle ,, parlamentarischen Behelfe" zur Verfügung
zu stellen 2). Wie viel oder wie wenig dies zu bedeuten hatte,
zeigt der Umstand, daß ein Abgeordneter mehr als ein Jahr
später den Antrag stellte, das Haus möge die Regierung auf-
fordern, die in der Provisionsaffäre der galizischen Transversal-
bahn beim Wiener Strafgericht aufgenommenen Protokolle und
sonstige einschlägige Akten dem Abgeordnetenhaus oder dem
betreffenden Ausschuß unverzüglich vorzulegen und zur ent-
sprechenden Gebrauchnahme zu überlassen =^). Dem Ausschuß
lagen nämlich nur die Akten über eine im Handelsministerium
geführte Disziplinaruntersuchung vor, während ihm von den
übrigen die Bauvergebung betreffenden Akten dieser Zentral-
stelle bloß ein Teil zur Einsicht übermittelt worden war. Da-
gegen weigerte sich der Justizminister, gestützt auf Gutachten
der beteiligten Gerichtsbehörden, die Akten jener Untersuchung
vorzulegen, die beim Wiener Strafgericht anläßlich der er-
wähnten Zeitungsartikel geführt und während der Ausschuß-
verhandlungen durch Einstellungsbeschluß erledigt worden war.
Er erklärte sich außerstande, dem Gericht die Aktenmitteilung
aufzutragen, da sich aus § 8 des Geschäftsordnungsgesetzes ein
Recht, die Ausfolgung von gerichtlichen Strafuntersuchungs-
akten zu verlangen, nicht ableiten lasse, indem die von den
Strafgerichten gepflogenen Erhebungen und die vor ihnen ab-
gelegten Aussagen nur prozessualen Zwecken dienen und nur
für solche Zwecke die Pflicht des Vernommenen bestehe, ohne
•) Sitzg. V. 8. Februar 1883, Sten. Prot. d. IX. Sess. S. 9077, Beill. Nr. 648.
Der Antrag wurde i. d. Sitzg. v. 10. Februar angenommen, jener des Abg.
V. Schönerer, die Beratungen dieses Ausschusses für öffentlich zu erklären,
abgelehnt: Sten. Prot. S. 9110. Der Ausschuß wurde i. d. Sitzg. v. 13. Febr.
1883 gewählt: Sten. Prot. S. 9128.
') Sitzg. V. 10. Febr. 1883, Sten. Prot. S. 9101.
") Antrag v. Schönerer: Sitzg. v. 29. April 1884, Sten. Prot. S. 12598.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 333
Rückhalt und gegebenenfalls unter Eid auszusagen. Es sei
unstatthaft, Erhebungen, die mit diesem Zwang der strafgericht-
lichen Gewalt vorgenommen wurden, zu andern Zwecken zu
verwenden, für welche der Zwang nicht gesetzlich begründet ist.
Der Ausschuß bedauerte in seinem Bericht, daß In-
formationsmittel und Behelfe, die er für wesentlich und anzu-
sprechen sich für berechtigt hielt, ihm nicht zugänglich ge-
macht wurden. Seine Mehrheit stellte es dem Abgeordneten-
haus anheim, ob nicht durch eine erweiternde Änderung des
§ 8 des Geschäftsordnungsgesetzes ähnlichen Vorkommnissen
für die Zukunft vorgebeugt werden sollte ^). Dagegen erklärte
eine Minorität diesem Antrag nicht beitreten zu können, weil
dem Ausschuß trotz einstimmigen Beschlusses die strafgericht-
lichen Vorerhebungsakten nicht zur Kenntnis gebracht wurden
und er die Einvernahme mehrerer höherer Beamten nicht er-
reichen konnte. Nach der Anschauung dieser Minorität gehören
zu den Verwaltungsakten, auf welche das Untersuchungsrecht
nach § 21 des Staatsgrundgesetzes zielt, nicht bloß die Gestion
der Verw^altung im engeren, d. i. im Sinn der politischen
Verwaltung, sondern auch straf gerichtliche Vorerhebungen, da
in der zitierten Vorschrift jeder Minister, auch der Justizminister
zur Erteilung von Informationen verpflichtet wird. Ebenso
seien die Erhebungen, um deren Einleitung ein Ausschuß einen
Minister nach dem Geschäftsordnungsgesetz angehen kann,
lege non distinguente auch straf gerichtliche und justizpolizei-
liche Erhebungen. Zutreffend folgerte die Ausschußminderheit,
daß dem Recht des Ausschusses und des Hauses die Pflicht
der Regierung entspreche und daß letztere durch Ablehnung
des Begehrens nach Mitteilung der Akten diese ihre Pflicht
verletzt habe. Die Minorität beantragte daher, das Haus möge
die der Tätigkeit des Ausschusses bereiteten Hindernisse und
Verzögerungen mißbilligen und die Regierung auffordern, diesem
die strafgerichtlichen Vorerhebungsakten mitzuteilen und die
zu vernehmenden Beamten unter Enthebung von der Ver-
schwiegenheitspflicht anzuweisen, behufs Einvernahme vor dem
Ausschuß zu erscheinen. Hierauf hätte letzterer neuerlich zu
berichten und die geeigneten Anträge zu stellen.
Das Recht war hier, wie auch sonst nicht selten, auf Seite
der kleineren Zahl. Die Sachlage erfuhr eine unvorhergesehene
^) Der Ausschlißbericht (Beill. Nr. 956) wurde i. d. Sitzg. v. 23. Mai
1884 verteilt: Sten. Prot. S. 13078.
334 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Komplikation, als in einer öffentlichen Wählerversammlung ein
Teil jener Gerichtsakten, deren Beschaffung der Justizminister
abgelehnt hatte, in wörtlichem Auszug vorgelesen wurde. Damit
war freilich die Argumentation des Ministers, die auf der
Annahme eines Diskretionsverhältnisses zwischen Richter
und Partei beruhte, als haltlos erwiesen. Deshalb beantragte
Dr. Mag g, der Führer der Ausschußminorität, der auf Kopps
Antrag eingesetzte Ausschuß möge die Tatsachen, welche auf
diese Art bekannt geworden waren, in den Kreis seiner Auf-
gaben ziehen, da gegenüber einem solchen Inhalt von Unter-
suchungsakten, welcher das öffentliche Interesse und nur dieses
berührt, die Weigerung des Ministeriums, dem Ausschuß die
von ihm verlangten Akten mitzuteilen, auch jeden Schein der
Begründung verloren habe^). Aus den Vernehmungsprotokollen
des Strafgerichts ging u. a. hervor, daß eine am Bau der
galizischen Transversalbahn interessierte Bank einem Mitglied
des Abgeordnetenhauses eine hohe Provision zugesichert hatte,
und dieser Abgeordnete war kein anderer als der Bericht-
erstatter über alle Vorlagen, welche die in Rede stehende Bahn
betrafen. Nunmehr wurde dem Wunsch des Ausschusses auf
Vorlage jener Vernehmungsprotokolle Folge gegeben. Die
Mehrheit des Ausschusses beantragte, das Haus möge zur
Kenntnis nehmen, daß der durch die Gerichtsakten sicher-
gestellte Tatbestand der Vermutung keinen Raum gebe, als
ob der betreffende Abgeordnete sich von der Bank habe
Geld versprechen lassen 2). Dagegen stellte die Ausschuß-
minorität den Antrag, das Haus wolle über das Verhalten
dieses Abgeordneten sein Bedauern aussprechen; sie konstatierte,
daß die beklagenswerten Vorgänge, welche das Substrat der
parlamentarischen Untersuchung gebildet hatten, längst und
weit vollständiger aufgeklärt worden wären, wenn die Regierung
ihrer Zusage — Gewährung aller parlamentarischen Behelfe —
und der vom Ausschuß einstimmig beschlossenen Aufforderung
zur Vorlage des gesamten Aktenmaterials pflichtmäßig ent-
sprochen hätte. Die Regierung begnügte sich aber nicht damit,
„durch ihre Haltung der erschöpfenden Feststellung der Tat-
sachen Hindernisse in den Weg gelegt zu haben": sie löste
') Sitzg. V. 4, Dez. 1884. Begründung durch den Antragsteller i. d.
Sitzg. V. 12. Dez. 1884. Der Antrag (Beill. Nr. 985) wird in dieser Sitzung
angenommen: Sten. Prot. S. 13185, 13287 ff., 13291.
*) Der Ausschußbericht (Beill. Nr. 1134) gelangte i. d. Sitzg. v. 26. März
1885 zur Verteilung: Sten. Prot. S. 14936.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht. 335
den Reichsrat auf und gab so für alle Zukunft ein Rezept, nach
welchem ähnliche Anfälle parlamentarischer Verwaltungskontrolle
gründlich zu behandeln waren ^).
Daß es sich hier um typische, einem bestimmten System
der politischen Machtverteilung eigentümliche Erscheinungen
handelt, wurde offenbar, als ein zweites Mal Vorgänge an der
Wiener Börse dem Abgeordnetenhaus den Anlaß boten, sich
seines Untersuchungsrechtes wenigstens flüchtig, oder besser
gesagt zum Schein, zu erinnern. Eine Zeitungsnachricht, laut
welcher der Kaiser dem Obmann des Polenklubs v. Jaworski
in einer Audienz die auswärtige Lage als sehr ernst dargestellt
hatte, gab im November 1891 das Signal zu einer Börsenderoute,
mit der man galizische Abgeordnete als Urheber und Interes-
senten in Verbindung brachte-). Jaworski erklärte öffentlich,
er halte es, um die Ehre des Klubs zu wahren, für seine Pflicht,
die Angelegenheit ,,usque ad finem" zu verfolgen. Im Ab-
geordnetenhause wurden mehrere Interpellationen eingebracht,
die Eruierung und Bestrafung der Schuldigen forderten^) und
vom Ministerpräsidenten Grafen Taaffe dahin beantwortet
wurden, daß die Wiener Börsekammer zur Untersuchung
dieser Vorgänge ein besonderes Komitee eingesetzt habe
und die Staatsanwaltschaft strafprozessuale Erhebungen dar-
über pflege. Die Regierung wolle in ihrem Wirkungskreise
die Bestrebungen zur völligen Aufklärung und Ahndung dieser
Vorgänge aufs kräftigste unterstützen^). Freilich erwiderte kurz
nachher der Justizminister Graf Schönborn auf eine Inter-
pellation Jaworskis, die Sache sei in einem Stadium, in
welchem ausschließlich gerichtliche Organe sich mit ihr zu
befassen haben. Weiteren Anfragen über das Ergebnis der
Straf Untersuchung setzte die Regierung beharrliches Schweigen
entgegen.
Das kaum mehr verhüllte Bemühen, die parlamenta-
rische Ingerenz von der Behandlung des delikaten Gegen-
standes auszuschalten, veranlaßte den Dringlichkeitsantrag der
Abgeordneten Dr. Lueger und Genossen, die Regierung zur
Vorlage der Akten über die bei der Wiener Börsekammer und
beim Wiener Landesgericht in Strafsachen anhängige Unter-
^) Vgl. Kolmer a. a. 0. Bd m (Wien u. Leipzig 1905) S. 407 ff.
-) Zum Folgenden s. Kolmer Bd V (Wien u. Leipzig 1909) S. 224 ff.
^) Interpellationen Heilsberg, Steinwender u, Lueger: Sitzg.
V. 17. Nov. 1891, Sten. Prot. d. XI. Sess. S. 3152, 3154 f.
*) Sten. Prot. das. S. 3193.
336 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
suchung aufzufordern und diese Akten einem Ausschuß von
24 Mitghedern zur Prüfung und Berichterstattung zuzuweisen^).
Der Antrag dieses Ausschusses, die Regierung habe dem Hause
sobald als möglich die Akten der strafgerichtlichen Unter-
suchung vorzulegen und zu veranlassen, daß auch die Akten
der Wiener Börsekammer dem Ausschuß übermittelt werden,
wurde einstimmig angenommen 2), blieb aber auf dem Papier.
Der Justizminister, der sich nicht für berechtigt hielt, die Aus-
folgung gerichtlicher Untersuchungsakten anzuordnen, veranlaßte
das Gericht zur Beschlußfassung, die auf Abweisung des Be-
gehrens lautete. Ebenso erklärte sich Finanzminister Steinbach
außerstande, die Akten der Wiener Börsekammer dem Aus-
schuß zur Verfügung zu stellen, weil es als ein Eingriff in die
auf dem Gesetz beruhende Autonomie der Börsekorporation
gelten müßte, ,,wenn seitens der Regierung von den ihr nur
zur Ausübung des staatlichen Überwachungsrechtes zugänglichen
Akten ein über die Grenzen dieses von den staatlichen Organen
auszuübenden Aufsichtsrechtes hinausgehender Gebrauch ge-
macht werden würde" 3). Angesichts dieser durch politisch-
0 Sitzg. V. 3. Febr. 1892, Sten. Prot. d. XI. Sess. S. 4945 f. Die Dring-
lichkeit wurde einstimmig beschlossen (S, 4947) und der Ausschuß i. d. Sitzg.
V. 8. Febr. 1892 gewählt. Seine Sitzungen sollten allen Abgeordneten nach
§ 25 Abs. 4 GeschO, zugänglich sein (Sten. Prot. S. 5080, 5085). Noch im
Dezember 1895 wurden Nachwahlen in den Ausschuß vorgenommen: Sten.
Prot. S. 21871, 22135.
') Sitzg. V. 15. Febr. 1892, Sten. Prot. S. 5259 f.
^) Sitzg. V. 26. April 1892, Sten. Prot. S. 5465 f. Die Berufung des
Justizministers auf § 82 StPO. war nicht originell, da schon sein Amtsvor-
gänger Freih. v. Prazak damit die Weigerung begründet liatte, dem Aus-
schuß in Angelegenheit der galizischen Transversalbabn (s. oben) strafgericht-
liche UnterBuchungsakten auszufolgen. Auch damals hatten die Gerichts-
behörden erklärt, § 82 StPO. finde auf den vorliegenden Fall keine
Anwendung, weil unter „Partei" nur eine Prozeßpartei oder doch nur eine
solche zu verstehen sei, welche der Akteneinsicht oder -mitteilung zur Durch-
setzung ihrer eigenen Rechte bedarf. Dem hatte schon der Bericht der Aus-
schußminorität entgegengehalten, daß das Abgeordnetenhaus und seine
Ausschüsse nicht rechtsuchende Parteien sind, die Berufung auf § 82 StPO.
daher belanglos erscheint. In der Tat spricht dieser Paragraph von der Be-
willigung der Akteneinsicht durch eine Partei oder ihren ausgewiesenen Ver-
treter. Ebenso verfehlte .Justizminister Graf Schönborn den Kern der
Frage, indem er § 170 d. Strafgerichtsinstruktion v. 16, Juni 1854 RGBl.
Nr. 165 heranzog, dessen AI. 2 für die Mitteilung von Auskünften oder Akten
an andere Behörden den „ämtlichen Weg" vorsieht. Dagegen war der Ar-
gumentation des Finanzministers die Berechtigung nicht abzusprechen, da
das Ges. v. 1. April 1875 RGBl. Nr. 67 die Autonomie der Börseleitung
ausspricht (§ 1) und die Börsen nur in Verwaltungsangelegenheiten der
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 337
taktische Gründe vorgezeiclmeten Haltung, mit welcher die Re-
gierung ohne Zweifel ihre verfassungsmäßige Auskunftspflicht
verletzte, begnügte man sich gegenüber wiederholten Anfragen
über Stand und Gang der Untersuchung mit der Feststellung,
daß der Ausschuß keine Wirksamkeit entfalte und keine ent-
falten könne, weil das Ministerium die Aktenvorlage verweigert
habe. Der Obmann des Ausschusses selbst erklärte nach mehr
als dreijähriger ,, Tätigkeit", er sei nicht in der Lage, den Aus-
schuß einzuberufen und weitere Verhandlungen zu pflegen, da
es dem Ausschuß an jedem Substrat für solche fehle und sein
Zweck obsolet geworden sei^). Indes gedieh die Angelegenheit
wirklich, wie verheißen, ,,usque ad finem"; allerdings nicht
bis zu ihrem, sondern zum Ende der Wahlperiode. Mit der
Auflösung des Abgeordnetenhauses fand im Januar 1897 die
fünf Jalire vorher eingeleitete Untersuchung nicht ihre Er-
ledigung, aber ihren Abschluß.
Gleich der Beginn der folgenden Legislaturperiode, für
welche das Abgeordnetenhaus zum ersten Mal nach den Badeni-
schen Reformgesetzen gewählt worden war, brachte einen Antrag
auf Durchführung einer parlamentarischen Enquete, und es schien
der historischen Kontinuität zu entsprechen, daß auch diesmal
res polonicae den Verhandlungsgegenstand bildeten. Behufs
unparteiischer und gründlicher Untersuchung der in Galizien
angebüch verübten Wahlmißbräuche wurde Bestellung einer
Kommission verlangt, der das Recht zustehen sollte, gemäß
§ 8 der Geschäftsordnung Zeugen zur mündlichen Vernehmung
vorladen oder zur Abgabe einer schriftlichen Aussage auffordern
zu lassen-). Abermals erklärte sich die Regierung bereit, einem
politischen Landesbehörde unterstellt (§ 4), die allerdings auch in Disziplinai*-
angelegenheiten als Berufungsinstanz fungiert (§ 17). Der Eegierung fehlt
die gesetzliche Handhabe, eine autonome Körperschaft innerhalb deren staats-
freier Sphäre zu einem Tun oder Lassen zu zwingen, und auch an diesem
Eecht der Selbstverwaltungskörper findet die Informationspflicht der Regierung
ihre natürliche Grenze.
^) Sitzungen v. 27. u. 29. Nov. 1895, Sten. Prot. S. 21651, 21871. Noch
in d. Sitzg. v. 19. Januar 1897, also fast fünf Jahre nach Einsetzung des
Ausschusses, wurde eine Anfrage gestellt, zu welchem Resultat die Unter-
suchung geführt habe: Sten. Prot. S. 29219.
^) Sitzg. V. 7. April 1897: Dringlichkeitsanträge der Abgg. Daszyiiski
u. Genossen (Sten. Prot. S. 137) u. der Abgg. Okuniewski u. Genossen
(Sten. Prot. S. 138). Die Dringlichkeit wurde einstimmig beschlossen: S. 146.
Die Heranziehung des § 8 GeschO, war überflüssig, weil geschäftsordnungs-
mäßig die BefugTjis der Zeugeneinvernahme ipso facto jedem Ausschuß zu-
steht. Wie sehr aber diese Bestimmung dem parlamentarischen Bewußtsein
Zeitschrift für Politik. 6. 22
338 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
solchen Ausschuß das gesamte ihr zu Gebote stehende Material
zur Verfügung zu stellen und alle gewünschten Erhebungen
aufs genaueste durchzuführen ^). Der Antrag wurde jedoch
dem Legitimationsausschuß zur allfälligen Berücksichtigung der
in der Debatte vorgebrachten Tatsachen bei der Verifizierung
der betreffenden Wahlen zugewiesen, obgleich der Abgeordnete
Daszynski als Antragsteller hervorhob, daß sein Vorschlag
nicht den Sinn habe, einzelne angefochtene Wahlen der Prüfung
zu unterziehen und daß nur hiefür der Legitimationsausschuß
zuständig sei 2). Mit der Annahme jenes Verweisungsantrags
war — und das ist wohl sein eigentlicher Zweck gewesen —
die Untersuchung begraben.
Ein besseres Schicksal war in Österreich den legislativen
Enqueten beschieden, vielleicht weil sie zumeist nicht vom
Parlament selbst, sondern auf dessen Anregung oder Anordnung
von der Regierung durchgeführt worden sind ^). Die Ergebnisse
solcher Umfragen haben in bedeutsamer Weise das Zustande-
kommen gesetzgeberischer Aktionen vor allem auf finanz- und
wirtschaftspolitischem Gebiet bestimmt und gefördert Unter
fremd geworden war, zeigt der Umstand, daß in der Debatte über die
Dringlichkeit Abg. Graf Stürgkh — freilich unter Widerspruch — behaupten
konnte, der Antrag sei ein Novum, insofern die parlamentarische Unter-
suchimgskommission zm- Zeugenvernehmung legitimiert und befugt werden soll.
In dieser Form sei sie der Geschäftsordnung unbekannt: Sten. Prot. S. 141.
0 Sitzg. V. 7. April 1897, Sten. Prot. S. 166.
'') Sitzg. V. 8. April 1897, Sten. Prot. S. 227. Ebenso Abg. Dr. Groß:
S. 230. Dagegen hatte Abg. Dr. Stransky geltend gemacht, daß das Haus
nicht geeignet sei, unparteiisch eine Untersuchung zu führen, weil es zum
Teil Untersuchungsrichter und Eichter in eigener Sache wäre : S. 198. Über-
einstimmend Abg. V. Milewski: S. 225. Ebenso hatte schon in der Debatte
über die Dringlichkeit Abg. Graf Stürgkh die Meinung vertreten, eine solche
parlamentarische Untersuchungskommission wäre eigentlich nichts andres
als ein erweiterter Legitimationsausschuß, indem hier wie dort Parteien über
Parteisachen zu Gericht sitzen: S. 141. Allen diesen Ausführimgen ist ge-
meinsam die Verwechslung der parlamentarischen Enquete mit der enquete
judiciaire,
*) Als Beispiele für wirtschaftspolitische Umfragen, die aus der Initiative
des Abgeordnetenhauses hervorgingen und von ihm durchgeführt wurden,
seien erwähnt: die Enquete, welche ein zur Beratung der Gesetzentwürfe
über die Arbeiterkammern eingesetzter Ausschuß im Februar 1887, und jene,
welche der Gewerbeausschuß 1892 über die Vorlage betreffend Arbeiteraus-
schüsse und Einigungsämter veranstaltet hat (s. Mi schier im Österr. Staats-
wörterbuch^ Bd I S. 313 f.). In neuerer Zeit hat das Subkomitee des Sozial-
versicherungsausschusses die Krankenversicherungspflicht der Privatbeamten
und andere einschlägige Fragen zum Gegenstand einer mündlichen Enquete
gemacht.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht. 339
diesem wie auch unter verfassungsrechtlichem Gesichtspunkt
ist hier die Währungsenquete von 1892 hervorzuheben, zu deren
Veranstaltung die Regierungen der beiden Reichshälften sich
im dritten Zoll- und Handelsbündnis verpflichtet hatten i).
Ebenso wurden dem Gesetz über das Höt'erecht zum Teil Er-
gebnisse einer schriftlichen Enquete zugrunde gelegt, welche
die österreichische Regierung durch Versendung eines Frage-
bogens im Jahre 1882 veranstaltet hatte 2). Auch der parlamen-
tarischen Verhandlung des Gesetzes über den börsemäßigen
Terminhandel mit landwirtschaftlichen Produkten ist eine um-
fassende Befragung sachverständiger und beteiligter Kreise
vorausgegangen^). Die Lage gewisser Industrien und deren
Betriebs- und Arbeiterverhältnisse haben in fast periodischer
Wiederkehr das österreichische Parlament veranlaßt, die Ab-
haltung von Enqueten zu fordern, obgleich doch grade hie-
durch jede Enquete die Nutzlosigkeit oder das Mißlingen der
vorhergehenden bewies^). In jüngster Zeit sind Enqueten zur
■ ') In § 2 des Ges. v. 21. Mai 1887 EGBl. Nr. 48 verpflichteten sich die
beiderseitigen Regierungen „unmittelbar nach Abschluß des Zoll- und Handels-
bündnisses eine Kommission einzusetzen zum Zweck der Beratung jener vor-
bereitenden Maßregeln, welche notwendig sind, um . . . die Herstellung der
Barzahlungen in der Monarchie zu ermöglichen". Trotz dieser ganz ein-
deutigen Fassung ergaben sich Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die
Enquete gemeinschaftlich oder von jeder Regierung gesondert durchzuführen
sei. Die Anschauung der ungarischen Regierung, die sich in letzterem
Sinn entschied, gewann natürlich die Oberhand. Vgl. Spitzmüller i. d.
Zeitschr. f. Volkswirtschaft, Sozialpolitik u. Verwaltung Bd XI S. 350.
^) Ges. V. 1. April 1889 RGBl. Nr. 52 betr. die Einführung besonderer
Erbteilungsvorschriften für landwirtschaftliche Besitzungen mittlerer Größe.
S. Sten. Prot. d. Abgeordnetenhauses, IX. Sess., Beill. Nr. 872. Vgl. Klein-
wächter in Schmollers Jahrb. Bd IX S. 1225 ff.; Marchet das. Bd XQI
S. 1311 f.
^) Sten. Protokoll über die Enquete betr. die Reform des börsemäßigen
Terminhandels mit landwirtschaftlichen Produkten, 3 Bde, Wien 1901. Die
Enquete war nach P. 10 ihrer Geschäftsordnung nicht öffentlich, doch hatte
jeder Experte das Recht, mit Ausnahme der als vertraulich erklärten Teile
der Debatte seine Aussage zu veröffentlichen. S. v. Schullern -Schratten-
hof en, Jahrbücher f. Nationalökonomie u. Statistik, HI. F. Bd XXI S. 289 ff.
*) So hat namentlich die Zuckerindustrie zu wiederholten Malen das
Untersuchungsobjekt gebildet, wobei vor allem die Wirkungen der Besteuerung
durch die Enquete klargestellt werden sollten. Zuletzt geschah dies in der
Rübenzuckerenquete, um deren Durchführung die Regierung vom landwirt-
schaftlichen Ausschuß des Abgeordnetenhauses im März 1895 ersucht wurde.
Die Regierung lud den Ausschuß ein, die der Enquete vorzulegenden Fragen
zu formulieren, worauf das Präsidium des Abgeordnetenhauses den Frage-
bogen dem Ackerbauministerium übermittelte, welches ihn im Einvernehmen
22*
340 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht.
Vorbereitung von Gesetzen über Baurecht, Kartelle und Aus-
wanderungswesen durchgeführt worden.
Gleich andern Degenerationserscheinungen des öffentlichen
Wesens ist auch die sogenannte Personalenquete, wie sie früher
als Mittel der parlamentarischen Disziplin in England und
Itahen angewendet wurde ^), dem politischen Leben Österreichs
nicht fremd geblieben. Die stenographischen Protokolle des
Abgeordnetenhauses berichten auf ihren dunkelsten Blättern
über sporadische Versuche, das Haus als Standesgericht zu
konstituieren und behufs Übung solcher Zensur das Verhalten
einzelner Mitglieder zum Gegenstand einer Untersuchung zu
machen. Das war der von den Urhebern dieser Aktionen er-
strebte und erklärte Enderfolg, wenngleich scheinbar und
mittelbar durch Untersuchungen der bezeichneten Art Hand-
lungen der Vollzugsgewalt kontrolliert und gerügt werden
sollten. Hieher zählt schon in gewissem Sinn der zu Beginn
der vierzehnten Session von sozialdemokratischer Seite gestellte
Dringlichkeitsantrag auf Wahl eines Untersuchungsauschusses,
mit dem Finanz- und dem Handelsministerium einer Eedaktion unterzog:
s. Sten. Prot, über die vom 2. bis 6. April 1895 abgehaltenen Sitzungen der
Eübenzuckerenquete, Wien 1895 S. V. Bei früheren Anlässen hatte ein solches
Zusammenwirken von Regierung und Vertretungskörper nicht stattgefunden,
das Abgeordnetenhaus sich vielmehr begnügt, die Einleitung einer Enquete
anzuregen, deren Durchführung im Detail völlig der Regierung anheimgestellt
war. So hatte z. B. der volkswirtschaftliche Ausschuß in der IX. Session
über die ihm zugewiesenen den Schutz der Zuckerindustrie betreffenden
Petitionen einen Bericht erstattet, in welchem die Regierung aufgefordert
wurde, eine Enquete aus Vertretern der Zuckerproduzenten und der rüben-
bauenden Landwirte „zur Beratung der notwendigen Maßnahmen bezüglich
der Abwendung der der Zuckerindustrie und der beteiligten Landwirtschaft
drohenden Gefahr" zu veranstalten. (Sten. Prot. d. IX. Sess., Beill. N. 914.
Der Antrag wurde i. d. Sitzg. v. 8. Mai 1884 angenommen: Sten. Prot.
S. 12691 f., 12703. Vgl. Sitzg. v. 18. Dez. 1884, Sten. Prot. S. 13396.) In der
X. Session forderte das Abgeordnetenhaus die Regierung auf, vor Erlassung
der Durchführungsvorschrift zum neuen Zuckersteuergesetz eine Enquete aus
Interessentenkreisen zur Begutachtung dieser Vorschrift einzuberufen. (Sitzg.
v. 7. Febr. 1888, Sten. Prot. S. 6812 f.) Auch vor Erlassung der Vollzugs-
bestimmungen zum Branntweinsteuergesetz sollte eine Umfrage den Interes-
senten Gelegenheit bieten, ihre Wünsche zu äußern. (Sitzg. v. 4. Juni 1888,
Sten. Prot. d. X. Sess. S. 9273 f.) Andere auf Abhaltung einer Enquete ge-
richtete Anregungen des Abgeordnetenhauses betrafen die Regelung des
öffentlichen Archivwesens in Böhmen (Sitzg. v. 15. März 1884, Sten. Prot. d.
IX. Sess. S. 11980), die Überprüfung der medizinischen Rigorosenoi-dnung
(Sitzg. v. 19. März 1884, das. S. 12111), Vorkehrungen gegen Explosionen
in den Kohlengruben (Sitzg. v. 27. Mai 1885, Sten. Prot. das. S. 15021, 15024).
') S. oben S. 272.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 341
der erheben sollte, wer von den Mitgliedern und Angestellten
des Abgeordnetenhauses, von den Ministern des Kabinetts
Badeni sowie von den Exekutivorganen der Regierung sich
der Verletzung der verfassungsmäßig gewährleisteten Ab-
geordnetenimmunität und damit des Mißbrauehs der Amts-
gewalt, der öffentlichen Gewalttätigkeit durch unbefugte Ein-
schränkung der persönlichen Freiheit schuldig gemacht habe
und deshalb den zur Strafverfolgung berufenen Organen an-
zuzeigen wäre^). Ein zweiter Fall, der noch deutlicher lehrt,
wie das parlamentarische Enqueterecht unter dem Deckmantel
des politischen Rigorismus in den Dienst taktischer Augen-
blicksbedürfnisse gestellt werden kann, ist in den Berichten
über die siebzehnte Session verzeichnet. In der 279. Sitzung
dieser Session ersuchte der Abgeordnete Das zynski das Präsi-
dium, im Verein mit der Regierung eine Liste jener Ab-
geordneten aufzustellen, die in geschäftlicher Verbindung mit
der Regierung oder in materieller Abhängigkeit von ihr sich
befinden, worauf ihm der Bescheid wurde, daß dem Präsidium
kein Mittel in dieser Richtung zu Gebote stehe; vielmehr
müßte das Haus aus sich heraus, durch einen Antrag ver-
anlaßt, eine Untersuchung darüber einleiten, welche seiner
Mitglieder ihre Stellung mißbraucht haben-). Der Fragesteller
verstand den Wink und überreichte in der nächsten Sitzung
einen dringlichen Antrag auf Einsetzung eines Ausschusses,
der feststellen sollte, welche Abgeordnete Lieferungen für das
Ärar übernehmen, Waldabstockungs vertrage mit dem Staat
kontrahieren, der Verwaltung der von der Regierung abhängigen
Finanzinstitute und Unternehmungen angehören. Der Bericht
dieses Ausschusses wäre dem Hause binnen Monatsfrist
vorzulegen 3). Als in derselben Sitzung eine an das Ge-
samtministerium gerichtete Interpellation den Abgeordneten
Dr. V. Walewski bezichtigte, er habe sein Mandat unter Mt-
hilfe der Regierung zu persönhchen Zwecken ausgebeutet, ver-
langte der Angegriffene Konstituierung eines Untersuchungs-
ausschusses, der die Behauptungen der Interpellation auf ihre
Wahrheit zu prüfen hätte, weil schon die Anregung Das-
zynskis und die Antwort des Präsidiums geeignet seien,
Mitglieder des Hauses der öffentlichen Verachtung preiszugeben
^) Antrag Dr. Verkauf, Dr. Jarosiewicz u. Genossen: Sitzg. v.
21. März 1898, Sten. Prot. S. 25 f.
') Sitzg. V. 6. Mai 1904, Sten. Prot. d. XVH. Sess. S. 25056.
') Sitzg. V. 10. Mai 1904, Sten. Prot. S. 25183.
342 Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
und das Ansehen des Parlaments, das ein solches Mitglied in
seiner Mitte dulde, tief herabzusetzen^). Während die nach
Anlaß und Verlauf analogen Fälle, die sich in der italienischen
Deputiertenkammer zugetragen hatten, mit dem Austritt des
Beschuldigten endeten'-^), war hier die Untersuchungsaktion
durch den Mandatsverzicht Walewskis keineswegs erledigt.
Der Abgeordnete Breiter, dessen Interpellation die Angelegen-
heit ins Rollen gebracht hatte, stellte an den Präsidenten die Frage,
ob er die Sache infolge dieses Mandatsverzichtes als gegen-
standslos ansehe oder den Ausschuß zu weiterer Tätigkeit auf-
fordern wolle; letzteres müsse geschehen, weil die Affaire nicht
als eine private, sondern als eine öffentliche zu betrachten sei
und der Ausschuß auch das Verhalten der Regierung zu prüfen
hätte. Unter lebhaftem Widerspruch erklärte Vizepräsident
Kaiser, er halte den Gegenstand für erledigt, denn das Haus
habe ,,nur die Möglichkeit und die Aufgabe, Angelegenheiten
der Abgeordneten in Untersuchung zu ziehen"^). Diese irrige
Ansicht wurde indes weder vom Obmann des Untersuchungs-
ausschusses noch vom Bureau des Hauses selbst geteilt. Der
Ausschuß wurde mit ausdrücklicher Billigung des Präsidenten
auch später noch einberufen^).
Der Versuch, die Haltung eines einzelnen Abgeordneten im
Wege einer Enquete zu beurteilen d. h. zu verurteilen, wurde auch
einmal in der Delegation des österreichischen Reichsrats unter-
nommen ^). Im übrigen hat sich diese Körperschaft wohl angesichts
^) Anfrage d. Abg. Breiter i. d. Sitzg. v. 10. Mai 1904, Sten. Prot.
S. 25232 ff. — Antrag des Abg. Dr. R. v. Walewski i. d. Sitzg. v. 23. Nov.
1904, Sten. Prot. S. 25679. Wahl des Walewski -Ausschusses i. d. Sitzg. v.
21. März 1905 (Sten. Prot. S. 28271). Über seine Konstituierung s. Sten. Prot,
d. Sitzg. V. 24. März 1905, S. 28291. Der Ausschuß unterbrach seine Tätig-
keit mit Rücksicht auf einen in derselben Sache schwebenden Ehrenbeleidi-
gungsprozeß: Sitzg. V. 16. Juni 1905, Sten. Prot. S. 30024 f.
') Brusa S. 168.
") Sitzg. V. 19. Juni 1905, Sten. Prot. S. 30116 f.
*) S. die Erklärung des Präsidenten Grafen Vetter i. d. Sitzg. v.
27. Juni 1905, Sten. Prot. S. 30617.
*) Antrag des Delegierten Seitz i. d. Sitzg. v. 16. Nov. 1910 auf Ein-
setzung einer siebengliedrigen Kommission zur Prüfung der Eigentumsver-
hältnisse, des Abforstungsbetriebes und der Holzverwertung der bosnischen
Landeswälder, sowie der administrativen Zuweisungen von Landeswäldern
ins Privateigentum. Der Antrag bezweckte Aufklärung über die Rolle, die
ein christlichsozialer Delegierter in diesen Angelegenheiten gespielt haben
sollte, und wurde in derselben Sitzung abgelehnt: Sten. Prot. d. Delegation
d. Reichsrats, 44. Sess., Wien 1910 S. 441, 452.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 343
der zeitlichen Begrenzung ihrer Funktionen zumeist damit begnügt,
bei der Regierung die Dm'chführuug von Umfragen anzuregen.
So wurde gleich in der ersten Session der Reichskriegsminister
aufgefordert, „eine Enquete -Kriegskommission von Fach-
männern aus Zivil- und Militärpersonen zu berufen, um die
möglichsten Ersparungen bei Erhaltung der Truppen zu er-
zielen" ^). Im eigenen Wirkungskreis hat in der vierundvier-
zigsten Session das für die Armeelieferungen eingesetzte Sub-
komitee des Heeresausschusses eine Enquete veranstaltet, um
die bei der Versorgung des Schiffsbaus mit Produkten der
Eisen- und Stahlindustrie bestehenden Verhältnisse zu erörtern^).
Parallel der sinkenden realen Bedeutung des parlamen-
tarischen Apparats geht die Entwicklung dahin, die Möglichkeit
und Notwendigkeit der durch die Enquete vermittelten Er-
kenntnis immer stärker im Bereich der Regierungsgewalt zu
lokalisieren. Der Zug dieser Entwicklung wird deutlich durch
die Tatsache gekennzeichnet, daß in den letzten Jahrzehnten
') Sitzg. V. 2. Dez. 1868, Sten. Prot. d. Delegation d, Eeichsrats, 1, Sess.,
Wien 1869 S. 330, 339. S. ferner Sten. Sitzungsprotokolle 5. Sess., Wien 1872
S. 170 f., 40. Sess., Wien 1904 S. 123. Eine Besonderheit zeigt die am
13. Juli 1871 angenommene Resolution: „es sei eine Enquete durch beide
legislative Körper zu entsenden, um eine allseitig richtige Grundlage
zur Berechnung des Geldaufwandes . . . für die Truppen festzustellen".
Sten. Sitzgs.-Prot. 4. Sess., Wien 1871 S. 138. In derselben Session
sprach die Delegation den Wunsch aus, daß das Reichskriegsministerium eine
Kommission einsetze und zu derselben je sechs durch die Delegationen zu
bezeichnende Mitglieder beider Körperschaften einlade, „um die zur Auf-
stellung eines Normal -Friedens -Budgets für die Landarmee nötigen Er-
hebungen zu pflegen und die einzelnen Ansätze des Budgets zu prüfen."
Sten. Sitzgs.-Prot. S. 238. In der nächsten Session wiederholte die Dele-
gation diesen Wunsch und forderte außerdem die Kriegsverwaltung auf,
die Frage der Heeresverpflegung durch eine vom Ministerium unabhängige
Kommission prüfen zu lassen und überdies zur Untersuchung von Angelegen-
heiten des Lieferungs- und Ausrüstungswesen eine Enquetekommission einzu-
berufen, in die von beiden Delegationen und beiden Regierungen je drei
unabhängige Männer und je ein Abgeordneter der Handelsministerien ent-
sendet werden sollten: Sten. Sitzgs.-Prot. 5. Sess., Wien 1872 S. 195 ff., 280 f.
^) Sten. Prot. d. Delegation d. Reichsrats, 44. Sess., Wien 1910, Anhang X
S. 985 ff. Die am 9. Nov. 1910 an der Hand eines Fragebogens mündlich
durchgeführte Enquete beschäftigte sich in erster Linie mit dem Unterschied
der in- und ausländischen Eisenpreise bei den Lieferungen für die Marine-
verwaltung und blieb fast völlig ergebnislos, weil die einvernommenen Ex-
perten aus dienstlichen oder geschäftlichen Rücksichten die Erteilung von
Auskünften verweigerten. Die Frage der Heereslieferungen hatte früher auch
schon im österreichischen Abgeordnetenhaus Anlaß zu einer parlamentarischen
Untersuchungsaktion geboten: s. Sten. Prot. d. X. Sess. S. 11302, 11319,
11348, Beill. Nr. 723.
344 Zweig, Die iDarlament. Enquete nach deutschem und österr. Eecht.
die Exekutive im Deutschen Reich und in Österreich zur Vor-
bereitung gesetzgeberischer und administrativer Maßnahmen
unter dem Namen „Beiräte" ein dichtes Netz permanenter,
außerparlamentarischer Informationsorgane geschaffen hat, stän-
dige und sachverständige Kollegien, die aus Berufsbeamten
und Laien zusammengesetzt und einer Behörde als beratende
Organe für konkrete Fachgegenstände angegliedert sind ^). Von
der Enquete unterscheidet sich die Tätigkeit solcher Beiräte
nicht bloß dadurch, daß sie auf Dauer berechnet ist, sondern
vor allem durch den für die Information in Betracht kommenden
Personenkreis, der im FaU der Enquete zur Auskunfterteilung
nicht rechthch oder berufsmäßig verpflichtet, also von vorn-
herein unbestimmt ist und sich nicht auf die durch Spezial-
vorschrift mit der Behandlung des Gegenstandes betrauten
0 Vgl. Hacker, Die Beiräte für besondere Gebiete der Staatstätigkeit
im Deutschen Eeiche und in seinen bedeutenderen Gliedstaaten, Tübingen
1903 S. 3 ff.; Sachsse, Beiräte und Umfragen auf dem Unterrichtsgebiet,
Preuß. Jahrb. Bd CXLVIII S. 241 ff.; Layer, Art. Beiräte, Österreich. Staats-
wörterb.^ Bd I S. 437 ff. In Österreich werden den Beiräten häufig noch
Spezialfachleute als Experten mit Konsultativvotum beigezogen: s. z. B. Kund-
machung d. Handelsministeriums v. 13. Mai 1900 EGBl. Nr. 86 betr. die Er-
richtung einer Unfallverhütungskommission § 8; MinVdg. v. 30. März 1888
EGBl. Nr. 34 betr. den Versicherungsbeirat § 3. Hauke, Über einige Fragen
des Parlamentsrechts, Eektorsrede, Czernowitz 1901 S. 22 f., regt an, das
System der Fachbeiräte mit den vom Parlament bestellten Ausschüssen zu
„fachparlamentarischer" Organisation zu verbinden und den auf solche Weise
entstehenden Kollegien ein förmliches Beschlußrecht zuzuerkennen, sie als
Verwaltungsparlamente gegenüber und neben dem Verfassungsparlament zu
organisieren. — Ein dem kontinentalen Staatsrecht fi-emder Informationstypus
wurde in Österreich mit der durch kais. Handschreiben v. 22. Mai 1911 ein-
gesetzten Kommission zur Förderung der Verwaltungsreforin geschaffen. Sie
ist den „royal commissions" des englischen Eechts nachgebildet und hält
etwa die Mitte zwischen den Funktionen eines Beirates und einer außer-
parlamentarischen Enquete. Die Kommission hat nach § 7 der Ah. geneh-
migten Grundsätze für ihre Tätigkeit das Eecht, Sachverständige oder Aus-
kunftspersonen, sowie sonstige Persönlichkeiten, deren Kenntnisse und Er-
fahrungen für die Lösung ihrer Aufgaben von Wert sein könnten, zum Er-
scheinen behufs mündlicher Einvernahme oder zur Erstattung schriftlicher
Äußerungen einzuladen. § 13 der GeschO, bezeichnet unter den Mitteln
zur Erreichung des der Kommission gesetzten Zieles die Veranstaltung
schriftlicher Umfragen bei staatlichen und autonomen Behörden und Ämtern,
die Einholung schriftlicher Gutachten von hiezu berufenen Fachmännern
und Sachkennern, sowie die Veranstaltung von mündlichen Enqueten durch
Einvernahme von Sachverständigen und Auskunftspersoueu. Die Veranstaltung
und Durchführung von Enqueten, namentlich die Abhaltung und Beurkundung
mündlicher Enqueten ist in den §§ 14 — 19 der GeschO, im wesentlichen
nach dem englischen Muster geregelt.
Zweig, Die parlament. Enquete nach deutschem und österr. Recht. 345
Faktoren beschränkt^). In diesen Einrichtungen lassen sich
zukunftvoUe Symptome für die steigende, immer größere Stoff-
und Personenkreise erfassende Heranziehung gesellschafthcher
Elemente zu den Aufgaben der Staatsverwaltung erkennen.
Sie bilden so das logische Gegenstück zu der verfassungsmäßig
sich stetig erweiternden Teilnahme des Volkes an den Funk-
tionen der Rechtsbildung. Eben deshalb scheinen sie im
Rahmen des konstitutionellen Systems berufen, der parlamen-
tarischen Enquete allmählig die sachliche Grundlage zu ent-
ziehen-) und dergestalt durch ihre von bestimmten Anlässen
unabhängige und darüber hinauswirkende Tätigkeit den Gang
der Dinge zu vollenden, dessen Richtung in den vorstehenden
Betrachtungen aufgezeigt worden ist.
^) über ständige Informationskollegien als „Hilfsorgan für alle Faktoren
der Gesetzgebung" im Gegensatz zu den Enqueten ad hoc s. die Ausführungen
des Füi'sten Bismarck i. d. Sitzg. d. Deutschen Eeichstags v. 1. Dez. 1881,
namentlich die Polemik gegen den Abg. Dr. Bamberger, der eine solche
Einrichtung als Nebenparlament verurteilte, das leicht ein Instrument der
Regierung gegen die Volksvertretung werden könnte: (Philipp Stein), Fürst
Bismarcks Reden Bd Vm S. 288 ff., 293 ff.
^) Bezeichnend hiefür der Ausspruch des Deputierten Charles Benoist
anläßlich des Kammerbeschlusses auf Einleitung einer außerparlamentarischen
Enquete über den Zustand der französischen Marine; „ . . . avec les regle-
ments d'administration publique et les commissions d'enquete extraparle-
mentaire, il ne reste plus rien de la Chambre." (Sitzg. v. 30. März 1904,
Joum. Off. S. 1052.)
VII.
Budgetrecht und Finanzpraxis
Ihre Gegenwartsaufgaben
Von Dr. Johannes Blum
Einleitung
Die Anfänge des Etatswesens reichen weit zurück in die
Zeiten des staatlichen Absolutismus. Ursprünglich ein rein
äußerliches Hilfsmittel der Haushaltsführung, deren ständig
wachsender Umfang die Adoption des kaufmännischen Soll
und Haben nahelegte, hat das Budget lange Jahrhunderte hin-
durch den Charakter der Rechnungs-Aufstellung und -Über-
sicht behalten und ist über das Niveau einer Verwaltungs-
maßnahme, einer unter vielen anderen, nicht hinausgekommen.
Erst der Verfassungsstaat mit seiner höheren politischen und
sozialen Ethik hat den Daseinszweck des Budgets entdeckt und
ihn zu seiner heutigen, überaus verschieden gearteten und
verschieden gewerteten, aber doch in jedem Falle positiven,
in keinem Falle indifferenten Auswirkung entwickelt. In allen
Fällen auch ist die Verschwisterung des Budgets mit den Staats-
finanzen enger und fester geworden : Keine Akte der staatlichen
Finanzhoheit, keine Maßnahmen der staatlichen Steuer- und
Abgabenpolitik sind denkbar, die nicht mit der Budgetlage
irgendwie im Zusammenhang stände oder im Rahmen des
Budgets in der einen oder anderen Weise zum Ausdruck käme.
Die vornehmste Aufgabe des modernen Kulturstaates,
in seinem Hoheitsgebiete den Ausgleich zwischen den Bedürf-
nissen und den vorhandenen Mitteln im ganzen wie im
einzelnen so zu vollziehen, daß möglichst alle Teile der Volks-
gemeinschaft in ihren Kräften sich solidarisch, in ihren
Interessen sich aufeinander angewiesen und einander eng ver-
bunden fühlen, daß sie der gemeinsamen nationalen Grundlage
der Staats- und Volkswirtschaft inne werden — zu einem
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 347
wesentlichen Teil kann diese Aufgabe in dem in bestimmten
regelmäßigen Zeiträumen zu votierenden Budget gelöst werden
und wird sie, wenn auch in verschiedenartigem Umfang und
Verfahren, in zahlreichen Ländern bereits gelöst.
Einer kritischen Betrachtung der Budgetgebarung wird
zweckmäßig eine Untersuchung der rechtlichen Natur des
Budgets vorausgehen müssen. In zahlreichen Fällen wird ein
abschließendes Urteil über die in der Budgetpolitik beobachteten
prinzipiellen und technischen Gepflogenheiten erst gewonnen
werden können, wenn Klarheit darüber besteht, wie die Be-
ziehungen des Budgets zu Gesetzgebung und Ver-
waltung einerseits, zu den parlamentarischen A^olks-
vertretungen andererseits im Rahmen der verfassungs-
mäßigen Staatsgrundgesetze gedacht sind und wie sie
sich in der Praxis entwickelt haben. Der Ausspruch
Friedrich Wilhelms IV. in der Konseilsitzung vom 15. Februar
1852, daß eine geordnete Finanzverwaltung eine der Bedingungen
der politischen Existenz Preußens sei, weist dem Budget, das
in seiner regelmäßigen Wiederkehr den Niederschlag der je-
weiligen Ordnung des Finanzwesens bilden und das beste
Mittel zur Beurteilung der Finanzlage des Staates und seines
Kredits an die Hand geben soll, im öffentlichen Haushalt eine
überaus wichtige Stellung zu. In dem Maße aber, wie die
Aufgaben des Staates quantitativ und qualitativ gewachsen und
demgemäß die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Be-
völkerung größer geworden sind, in dem Maße, wie Staats-
bewußtsein und Interesse an staatlichen Einrichtungen und
Zielen in immer weiteren Volkskreisen Eingang gefunden
haben, ist auch das Bestreben hervorgetreten, in dem Budget
eine Handhabe zu gewinnen, mit der, weit hinaus über das
Gebiet der Finanzverwaltung und Finanzwirtschaft, der ge-
samte Staat sorganismus in allen Erscheinungsformen
und Bestätigungsarten wirksam beeinflußt und bestimmten
pohtischen Grundanschauungen dienstbar gemacht werden kann.
I. Das englische Budgetrecht.
Am weitesten ist diese Entwicklung in dem Lande vor-
geschritten, das die parlamentarischen Funktionen am frühesten
ausgebildet und unausgesetzt mit politischen Machtfragen aufs
engste verknüpft hat. In England ist das Budget mehr als in
irgend einem anderen Lande das Spiegelbild der pohtischen
348 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Tageskämpfe, ein Gradmesser des Emporkommens der parla-
mentarischen Macht, obgleich weder der finance account, der
mit der Nebeneinanderstellung von Einnahmen und Ausgaben
noch am ehesten dem deutschen Budget verglichen werden
kann, und noch viel weniger die seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts üblichen estimates, in denen der Ausgabebedarf
zusammengestellt ist, Gesetze im eigentlichen Sinne sind.
Lange bevor die Commons mit der Neuerung der sogenannten
„bepackten Finanzgesetze" Erfolg gehabt hatten, lange bevor
es, seit Peel und Gladstone, üblich geworden war, ein-
schneidende gesetzgeberische Maßregeln dem finance act ein-
zufügen ^), hatten einfache Beschlüsse zur Behandlung der
Budgetangelegenheiten dem Unterhause immer mehr Terrain
gewonnen und das Budgetrecht der aus den allgemeinen Wahlen
hervorgegangenen Kammer auf Kosten der Privilegien und
Machtbefugnisse des Oberhauses immer mehr erweitert 2). Alle
folgenden Errungenschaften setzen nur die Entwicklung in
derselben Richtung fort. Sie drängte dem letzten und ent-
scheidenden Stadium zu, seitdem von dem Mittel des tacking
of money bills rücksichtslos Gebrauch gemacht wird^). Wenn
auch die Annahme Redlichs*), daß die durch den schutz-
zöUnerischen Imperialismus hervorgerufene Krise in dem Partei-
0 Vgl. Sußmann, Das Budget-Privileg des Hauses der Gemeinen.
Mannheim-Leipzig 1909, p. 196: „Seitdem (seit der Aufhebung der Papier-
abgaben durch die Customs and Inland Revenue Bill von 1861) wird all-
jährlich die Praxis befolgt, die nicht für die Dauer, sondern nur für ein
Jahr geltenden Steuerbewilligungen und damit zusammenhängenden Be-
stimmungen zu einem solchen Schema zu vereinigen, das seit dem Jahre 1894
den Namen Finance Bill führt."
-) Bereits am 3. Juli 1678, im Wege einer einfachen Resolution, hatte
das Unterhaus den Lords das Recht abgesprochen, irgendwelche Abänderung
an Steuergesetzen vorzunehmen. So war ein Gewohnheitsrecht geschaffen,
das bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein dem entschiedenen
Widerspruch des Oberhauses begegnete, das aber im Jahre 1886 durch eme
autoritative Entscheidung der Rechtsabteilung des Geheimen Rats (Judicial
Committee of the Privy Council) — vgl. Sußmann, Das Budget-Privileg,
p. 147 — , die das Recht des Oberhauses auf Amendierung von Geldbills
erneuerte, in aller Form bestätigt wurde. Die 3 Resolutionen vom 3. Juli
1860 cf. Hansard 3. ser. 159 1384; bei Sußmann a. a. 0. p. 195.
=*) Besonders in den Jahren 1860, 1894 und 1899. Vgl. Jellinek, Fest-
gabe für Laband, der Anteil der ersten Kammern an der Finanzgesetzgebung.
Tübingen 1908. Bd. I p. 103 und L. Courtney, the Working Constitution of
the United Kingdom. London 1907. p. 24.
•*) In Recht und Technik des englischen Parlamentarismus. Leipzig 1905.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 849
zustand Englands ihre Lösung in dem Budget eines der nächsten
Jahre finden werde, durch die tatsächlichen Geschehnisse bis-
her nicht bestätigt ist, so wird doch zweifellos, nachdem in-
folge der Annahme der sog. Vetobill im Oberhause das
Selbstbestimmungsrecht des Unterhauses auch gegenüber dem
Willen der erblichen Kammer vor der Hand sichergestellt ist,
das englische Budget in der nächsten Zukunft berufen
sein, die politischen und wirtschaftlichen Grundanschauungen
zu verwirklichen, um deren Vorherrschaft gegenwärtig gerungen
wird. Sei es als Träger der liberalen und radikalen Steuer-
maximen, sei es als Niederschlag eines auf protektionistischer
Grundlage ruhenden Schutz- und Finanzzollsystems, in jedem
Fall wird das Budget auch fernerhin sein, was es seit Pitt
gewesen ist: die weitaus stärkste Stütze und Waffe der je-
weiligen Regierungspolitik.
Es fragt sich aber, in welcher Ausdehnung, und weiter,
mit welchem Erfolge diese Waffe unter den heutigen Ver-
hältnissen benutzt werden kann. Zunächst ist ein erheb-
licher Teil der Ausgaben und Einnahmen der unmittel-
baren Bewilligung durch das Parlament entzogen.
Innerhalb des konstanten Budgets werden aus dem Consolidated fund
bzw. aus den in diesen rechnungsmäßig bestehenden Fonds fließenden Einnahmen
eine Reihe permanenter Ausgaben bestritten, vor allem der Zinsendienst der
Staatsschuld, die Zivilliste des Königs, die Apanagen sämtlicher Mitglieder
des königlichen Hauses, die Richtergehälter, das Einkommen des Speaker,
zahlreiche Pensionen für Richter, ehemalige Minister, Beamte usw., Lebens-
renten für Nachkommen nationaler Heroen und noch verschiedene andere
Ausgabengruppen. Die Ausgaben, die gesetzlich zm* Deckung auf den kon-
solidierten Fonds angewiesen sind, schwanken gegenwärtig zwischen ^|^ und V5
des gesamten Staatsaufwandes. Aber die dem Fonds zufließenden Einnahmen
übersteigen diesen fixierten Bedarf sehr erheblich, sodaß z. B. nach dem
Stande des Budgets von 1903 — nach den Angaben bei Redlich p. 680 —
die sog. Consolidated fimd Services, d. h. der auf diesen Fonds angewiesene
öffentliche Bedarf, nur 30,1 Mill. Pfund ausmachten. In Wirklichkeit haben
in demselben Budget nahezu 80 Mill. Pfund aus den permanenten Mitteln, die
in den vorhandenen, der jährlichen Bewilligung nicht unterliegenden Fonds,
ganz überwiegend in dem c. f. dargeboten werden, zur Befriedigimg von
Ausgabebedürfnissen Verwendung gefunden. Da in dem genannten Jahre
die Einnahmen, ausschließlich der Anleihe zur Kriegskostendeckung, ein
Gesamt von 152 Mill. Pfund aufwiesen, wurde also über die Hälfte der
Einnahmen im Staatshaushalt verwendet, ohne daß eine Bewilligung, wie sie
für die supply Services erforderlich ist und ausgesprochen wird, seitens des
Parlaments erfolgt war.
Für die Jahre 1906 bis 1910 ergeben sich folgende Verhältnisse. Im
Rechnungsjahre 1906/07 betrug die Einnahme aus den permanent bewilligten
Steuern 88,7 Mill. Pfund, die Einnahme aus den für die Dauer des Rechnungs-
350 Bliim, Budjsretrecht und Finanzpraxis.
Jahres bewilligten Steuern 41,3 IVIill. Pfund 0. Im Rechnungsjahre 1907/08
beliefen sich, nach Hazells Annual, in den Estimates die c. f. Services ein-
schließlich der Payments to Local taxation Accounts auf 42,6 Mill. Pfund,
die supply Services auf 109,2 Mill. Pfund. Im Jahre 1908/09 die ersteren
auf rund 41 ülilL, die letzteren auf 113,1 Mill.; im Jahre 1909/10 die c. f.
Services auf 36,7 Mill., die supply Services auf 162,1 Mill.; im Jahre 1910/11
die ersteren auf 36,9 Mill., die letzteren auf 134,9 Mill. -). In diesen 4 Eechnungs-
jahren haben also der Eeihe nach die c. f. Services etwa V41 V4) ^U "^^^ ^U
der gesamten Staatsausgaben, wie sie in den Estimates veranschlagt waren,
betragen ^).
Die festgelegten, der parlamentarischen Be-
willigungnichtmehrbedürfenden Ausgaben nehmen
also im Staatshaushalt eine sehr viel bedeutendere
Stellung ein, als Hatschek ihnen zuweisen will.
Um die eigentliche Natur des englischen Budgetrechts zu
erkennen, bedarf es der Untersuchung, bis zu welchem Grade
das Unterhaus zur Mitwirkung an der einheitlichen zentralen
Staatskassenverwaltung, die durch das Gesetz über die Bildung
des c. f. geschaffen wurde, tatsächlich befugt ist. Eine un-
beschränkte Verfügung des Unterhauses über die gesamte Staats-
') Hansard, Parliamentary Debates, 4. ser. 174 465 f.
^) Die Ende Januar 1912 abgeschlossene Darstellung berücksichtigt die
Etatsjahre 1911 nach dem Stande der Voranschläge.
^) Eene Stourm, der zum Überfluß betont, daß das Wort Consolidated
eine bestimmten Ausgaben und bestimmten Einnahmen beigelegte Eigen-
schaft bezeichnet, daß aber darunter keinesfalls ein Budget neben oder außer
dem regelmäßigen Budget verstanden werden darf, stellt an der Hand der
das Jahr 1900 betreffenden Ausweise des finance account fest, daß die Aus-
gaben des Consolidated fund V4 des Gesamtbudgets, die konsolidierten Ein-
nahmen dagegen Vs desselben Budgets darstellen. Entsprechende Teile
der Ausgaben und der Einnahmen sind also von der jährlichen Abstimmung
und Bewilligung ausgenommen. J. Hatschek, Englisches Staatsrecht (im
Handbuch des öffentUchen Rechts) Bd. I p. 478, führt zur Stütze seiner
Theorie von der geringen Bedeutung des Consolidated fund für die Staats-
ausgaben (c, f. Services) aus dem financial statement 1902/3 an, daß die
Gesamtheit der auf den c. f. durch Gesetze ein für allemal angewiesenen
Geldsummen in dem genannten Jahre 25 Vg Mill. Pfimd, die der allgemein
zu bewilligenden anderen Ausgaben jedoch ungefähr 163 Mill. Pfund betrug.
Nach dem Etatsanschlag für 1904/5, den er selbst mitteilt (p. 488), war das
Verhältnis folgendes: c. f. Services 29,8 ]\Iill. Pfund, supply Services 112,6 Mill.
Pfund. Die Mittel des c. f. wurden also in diesem Jahre mit nahezu Vb, im
Jahre 1902/3 nur mit etwa V? zur Deckung des Staatsbedarfs in Anspruch
genommen. Somit ist Hatschek nicht berechtigt, zu sagen — was er p. 477
tut — daß „die Staatsausgaben die der parlamentarischen Bewilligung nicht
unterliegen, gegenwärtig V7 der gesamten Staatsausgaben betragen".
Blum, Budgetrecht und Finauzpraxis. 351
Wirtschaft, wie Redlich behauptet i), besteht nicht 2). Das Unter-
haus als solches ist in seinem Verfügungs- und An Weisungsrecht
in bemerkenswerter Weise eingeengt durch die standing order 67,
die für die Bewilligung öffentlicher Gelder oder Belastung des
Staatsschatzes eine Empfehlung seitens der Krone vorschreibt ^),
also Geld- und Ausgabebewilligungsanträge aus der
Mitte des Hauses untersagt. In dieser Hinsicht ist das
member of Parliament weniger frei und selbständig als in
Deutschland das Mitglied des Reichstages, dem ein solches
Initiativrecht, wenn auch in beschränktem Maße und mit zweifel-
haftem Erfolg, zusteht*). Durch die Geschäftsordnungsreform
von 1882 haben die budgetrechtlichen Befugnisse der Unter-
hausmitglieder eine weitere Einschränkung erfahren 5).
Eine vieljährige Praxis und Erfahrung unter der Herr-
schaft der Königin Viktoria mochte es berechtigt erscheinen
^) Recht und Technik des engl. Parlamentarismus p. 683.
*) Eedlich sagt selbst (a. a. 0. p 720) : „ AUe diese Ausgaben (die auf den c. f
angewiesenen) werden auf bloße Anweisung des Schatzamtes ausgezahlt. Da
sie auf dauernder gesetzlicher Grundlage beruhen, bedürfen sie nicht der
jährlichen besonderen Bewilligung und Anweisung durch das Parlament."
Und an anderer Stelle (p. 722) von den auf dem c. f. liegenden permanenten
Ausgaben: „Diese bedeuten ebensoviel Ausnahmen von dem jährlichen
Badgetbewilligungsrecht der Commons." Ebenso erkennt Hatschek (p. 500)
an: „Während die französischen ]\Iinister auf das Budgetgesetz sehnsüchtig
warten .... ist die englische Ajapropriationsakte für die englischen IMinister
nur eine formale Deckung nach außen." Es wird darauf noch zurück-
zukommen sein.
') Diese Eegel — sagt Sußmann a. a. 0. p. 183 — bildet einen der
wichtigsten Grundsätze des neueren englischen Parlamentarismus.
*) "Wilson, The National Budget, p. 147. The House forms
itself into a „Committee of supply", and sanctions every item in the three
bulky volumes, but its members have not, as a rule, knowledge enough of
the details to offer effective criticism, and the utmost the committee can be
said to do, on the average is to render flagrant abuses impossible. On
the average perhaps that is enough. — Dazu bemerkt Carl C. Plehn,
Introduction to Public Finance, p. 329: „Parliament cannot directly or
indirectly increasc the appropriations asked by the ministry in the name
oi the krown, nor add new appropriations." Ebenso E. F. Bastable,
Public Finance, Third ed. p. 661. „No addition can be made to the estimates
submitted, and anything that even indirectly violates this rule is opposed to
the stricter constitutional doctrine. All expeuditure therefore originates with
those who have an evident interest in keeping it within bounds, as they
will have to suggest the taxation required to meet it .... The evil
effect of the absence of such a rule is seen in the increased expenditure
often proposed by the French budgetary commission."
^) Vgl. Sußmann, a. a. 0. p. 183.
352 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
lassen, Krone und Regierung zu identifizieren in dem Sinne,
daß das jeweilige unionistische oder radikale Kabinett das
Bestimmungs- und Verfügungsrecht der Krone nur zum Scheine
aufrecht erhielt, tatsächhch aber selbst diese Rechte besaß
und ausübte ^). Daß es sich dabei nur um eine Form, um
eine gleichviel aus welchen Gründen gewährte Konzession
handelte, die jederzeit zurückgenommen werden konnte, hat
die Regierung Eduard VII. bewiesen. Sein persönlicher Ein-
fluß auf die Führung der auswärtigen Politik, sein selbständiges
Eingreifen bei der Wahrnehmung der englischen Auslands-
interessen involvierte Verpfhchtungen auf den Gebieten der
Landesverteidigung und Rüstungspolitik, denen sich die Re-
gierung zu Lebzeiten des Herrschers nicht entziehen konnte
und denen sie voraussichtlich auf lange hinaus wird Rechnung
tragen müssen. So wird England, um nur eins zu erwähnen,
infolge der entente cordiale mit Frankreich sich schwerlich
der Pflicht entziehen können, für das Landheer erheblich
größere Aufwendungen zu machen als bisher. Das ist teilweise
bereits geschehen. Jedenfalls kann, wie die Erfahrungen der
letzten Jahre zeigen, von einer schrankenlosen Freiheit des
Parlaments bezw. der parlamentarischen Regierung in der
Gestaltung des Budgets unter diesem Gesichtspunkte nur die
Rede sein, solange sich der Träger der Krone der Einfluß-
nahme auf die auswärtige Politik ganz oder doch so gut wie
ganz enthält. Bei wichtigen Entscheidungen über verfassungs-
rechtliche und innerpolitische Fragen ist ein solcher Verzicht,
auch wenn der Herrscher selbst danach verlangen oder dazu
erbötig sein sollte, nicht immer zulässig oder möglich. Verlauf
und Ausgang des letzten entscheidenden Streites zwischen den
beiden Häusern des Parlaments haben das deutlich gezeigt. Die
Stellung der englischen Krone in der viktorianischen Ära
und in der Regierungszeit Eduards VII. war, was auch
G. Jellinek in der zweiten Auflage seiner ,, Allgemeinen Staats-
lehre" in einem Nachtrag (p. 664) betont, keineswegs völlig
gleichartig. In der Verfassungskrisis vollends lag die oberste
Entscheidung bei der Krone; ohne die Zusage Georgs V., die
Annahme der Vetobill im Oberhause nötigenfalls im Wege des
0 Die Beziehungen zwischen „the Sovereign and his confidential ad-
visers" sind „the subtle spot in the machinery of the English Constitution".
L. Courtney in The Fortnightly Review 1. Sept. 1911 p. 458,
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 353
Pairsschub bezw. mittels withholding writs of summons^) sicher-
stellen zu wollen, hätte es eines neuen, in seinem Ausgang
zweifelhaften und gleichfalls nicht ohne einen königlichen Willens-
akt herbeizuführenden Wahlkampfes bedurft, um den Wider-
stand des Oberhauses zu brechen. 2)
■) cfr. Nineteenth Century Aug. 1911. J. H. Morgan, The King and bis
prerogative p. 215.
^) Die Beantragung eines „vote of censure" am 7. August 1911 gab
dem Chef des Kabinetts erwünschte Gelegenheit, das Vorgehen der
Regierung bei der Lösung der Verfassungsfrage zu rechtfertigen.
Aus seinen Erklärungen, die er mit ausdrücklicher Genehmigung des Königs
— bis dahin war über die Vorgänge strengstes Geheimnis beobachtet worden —
vor dem Unterhause abgab, war zu entnehmen, daß Mr. Asquith nach An-
nahme der Veto-Resolutionen im April 1910 dem Könige Mitteilung gemacht
hatte von seiner damals, am 14. April 1910, im Unterhause abgegebenen
Erklärung: falls die Lords die in den Resolutionen ausgedrückte Politik
der Regierung verwerfen würden, würde die Regierung entweder zurück-
treten oder dem Herrscher die Auflösung des Parlaments anraten; die Auf-
lösung des Parlaments werde die Regierung nur unter der Bedingung
empfehlen, daß in dem aus den Wahlen hervorgegangenen neuen Parlament
der Entscheidung des Volkes unter allen Umständen zu gesetzlicher Durch-
setzung und Geltung verholfen werden würde. Als dann am 10. November
1911 die Konferenz über die konstitutionelle Frage ergebnislos zu Ende ge-
gangen war, rieten die Minister König Georg zur Auflösung des Parlaments,
wobei sie zugleich betonten: „Die Itfinister Sr. Majestät können die Ver-
antwortung, die Auflösung des Parlaments anzuraten, nur übernehmen, wenn,
für den Fall daß die Politik der Regierung im neuen Unterhause eine angemessene
Mehrheit findet, Se. Maj estät sich bereit erklären will , seine konstitutionellen
Rechte auszuüben, darunter die Prärogative der Ernennung von Peers,
und, falls erforderlich, volle Sicherheit zu gewähren, daß der Wille der
Nation wie er in den Wahlen zum Ausdruck kommt, tatsächlich befolgt
und in die Tat umgesetzt wird. Namens des Kabinetts brachte Mr. Asquith
in seiner Erklärung ferner zum Ausdruck, daß die Minister pflichtgemäß die
ganze und ausschließliche Verantwortung für die Politik übernehmen, über
die die Wählerschaft das Urteil sprechen solle. Se. Majestät würde zweifellos
als nicht im Staatsinteresse gelegen erachten, daß über das Vorhaben der
Krone irgendeine IMitteilung an die Öffentlichkeit gebracht würde, es sei
denn daß und sobald der äußere Anlaß dazu gekommen. ,. Seine Majestät",
damit schloß die bedeutsame Mitteilung des leitenden Staatsmannes, „fühlte
sich verpflichtet, dem Vorschlag des Kabinetts beizutreten." Daraufhin
wurde das ,,vote of censure" mit 365 gegen 246 Stimmen abgelehnt. Am
8. August stand im Oberhause ein vote of censure zur Verhandlung, das
mit 282 gegen 60 Stimmen angenommen wurde. In der Debatte hatte Lord
Crewe berichtet, daß Se. Majestät natürliche und legitime Abneigung
empfunden habe, zu der Ausübimg der Prärogative der Krone in der von
seinen Ministem angeratenen Form seine Zustimmung zu geben. Ob mit
dieser Bemerkung, die auf besonderen Wunsch des Königs erfolgt sein soU,
die Entschließung des Herrschers vor dem Oberhause gewissermaßen ent-
schuldigt, ob etwas anderes damit bezweckt werden sollte, ist von geringem
Zeitschrift für Politik. 6. 23
354 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Die Appropriationsakte bildet mit ihrer Ermächtigung zur Ver-
ausgabung der Eestsumme der benötigten Ausgaben und mit der Zusammen-
Belang. Dagegen steht die Tatsache unweigerlich fest, daß der
Verfassungskonflikt ohne die Mitwirkung der Krone nichthätte
zum Abschluß gebracht werden können. Aus dem staatsrechtlichen
System des King in Parliament konnte bei der Entscheidung über eine
Verfassungsreform, durch die nunmehr für die beiden historischen Parteien
des Landes gleichmäßig in staatsmännischer und gesetzgeberischer Hinsicht
gleiche Bedingungen geschaffen sind, der eine der drei Faktoren nicht aus-
geschaltet werden; er hat vielmehr den Ausschlag gegeben. — Der Ver-
fassungskampf nahm dann den bekannten Verlauf. Die Parlamentsbill wurde
vom Unterhause in der ursprünglichen Form, nach Ablehnung aller Amen-
dements, an das Oberhaus zurückgesandt, wo sie schließlich, nachdem Lord
Morley nochmals den Entschluß des Königs feierlichst betont hatte, durch
Ernennung einer hinreichenden Zahl neuer Peers die Annahme der Bill
unter allen Umständen sicherzustellen, mit knapper Mehrheit bei äußerst
schwach besetztem Hause angenommen wurde. Der Widerwille gegen das Ein-
dringen von ,,500 mushroom members" hatte gesiegt. Am 18. August erhielt
der Parliament Act den Royal Assent.
Auch während der Verhandlungen über die Veto-Resolutionen hatte
der Premierminister keinen Zweifel darüber gelassen, wie hoch er als der
verantwortliche Staatsmann den verfassungsmäßigen Wert und den positiven
Einfluß der königlichen Prärogative einschätzt. Gegenwärtig, so führte
Mr. Asquith am 29. März 1910 im Unterhause aus, sei der einzige ver-
fassungsmäßige Weg, der Verwirrung ein Ende zu bereiten, der, daß das
Parlament aufgelöst oder daß neue Peers von der Krone ernannt werden.
(Jede dieser beiden Maßnahmen wäre ohne die auf freier Entschließung be-
ruhende Mitwirkung des Königs unausführbar.) Das Vorrecht der Krone
sei, obwohl es selten ausgeübt werde, ein wesentlicher Bestandteil der
Verfassung. In derselben Rede erklärte der Pemierminister, der Meinung
zu sein, daß dem absoluten Veto der Lords das absolute Veto der Krone
folgen müsse, bevor der Weg freigemacht werden könnte für eine ungefesselte
Demokratie. Deutlich und absichtlich ist in diesen Worten der Beruf der
Krone, über den Parteien zu stehen, und die Anmaßung der Lords,
nach Willkür zu Gunsten einer Partei und gegen die andere den Ausschlag
geben zu wollen, in Gegensatz gestellt.
In diesem Zusammenhang ist noch eine andere Äußerung des Premier-
ministers Asquith über die Prärogative der Krone und den Einfluß der
Unterhaus-Regierung auf die königliche Entschließung und
Willensmeinung zu erwähnen. In der Adreßdebatte des Unterhausos
über die Thronrede von 1910 erwartete man allgemein, da zahlreiche Kon-
ferenzen des Königs mit ]\Ir. Asquith stattgefunden hatten, Mitteilungen
über etwaige dem Chef des Kabinetts zugestandene „safeguards". Aber Mr.
Asquith erklärte, keine Garantien empfangen, aber auch keine verlangt zu
haben, und er fügte hinzu: „. . . . to ask in advance for an indefinite
exercise of the Royal prerogative with regard to a measure which has never
been submitted to, or approved by, the House of Commons is a request
which, in my judgment, no Constitutional statesman should properly make
and which no Constitutional Sovereign could be expected to grant".
In diesen Sätzen ist klar und bestimmt die Grenze gezogen, wo
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 355
Stellung der Ausgaben-Etats gewissermaßen das Schlußstück der Ergebnisse
der Beratungsarbeit, die die committees of the whole house in ihren llesolu-
tionen niedergelegt haben'). Nicht minder ist zu beachten, daß die Appro-
priationsakte nur Ausgabeermächtigungen enthält, also die zur Deckung
erforderlichen Einnahmen als vorhanden, eben im c. f. vor-
handen, voraussetzt. Immer handelt es sich um Geldbewilligungen für
Ausgabezwecke. Die für den Bedarf bezw. zur Ergänzung des Bedarfs
benötigten Einnahmen haben ihre rechtliche Basis in den bestehenden Ein-
nahmegesetzen oder erhalten sie in Anordnungen des Unterhauses, welch
letztere aber nur unter der Voraussetzung des nachträglichen Zustande-
kommens des finance act erlassen und befolgt werden. Dagegen wird der
Consolidated fund mit der gesetzlichen Regelung, die er um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts erfahren hat, als ein Gesetz empfunden, das alljährliche
Leistungen vorschreibt, ohne daß es einer speziellen Ermächtigung der
gesetzgebenden Köperschaften bedarf. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts
vollzog sich eine Entlastung des Consolidated fund im Rahmen und in natür-
licher Nachwirkung der Reform, die mit dem Übergang vom Netto- zum
Brutto-Budget ein neues System des Etatswesens schuf. Indessen wird die
Einnahmewirtschaft des konsolidierten Fonds davon in keiner Weise berührt ;
auch der finance act, der unter normalen Verhältnissen gegen den Schluß
der Session zustande kommt und dem Appropriationsakt kurz voranzugehen
pflegt, zählt nur") die alljährlich neu zu bewilligenden Steuern auf, vor allem
die income tax, customs und excise, gewisse stamps und duties, nicht aber
die perpetuierten Steuern und Abgaben, die auch heute noch das Gros der
Staatseinnahmen bilden^).
Machtbefugnis und Machtbereich der parlamentarischen Regierung aufhören
und der selbständige Wille des konstitutionellen Herrschers einsetzt!
*) In einem Memorandum des Schatzkanzlers Sir George Cornwall
Lewis vom Jahre 1857 ist wörtlich gesagt : „The Appropriations Act at the
end of the session gathers together the whole of the votes in supply
and the grants already authorized out of the Consolidated fund
to meet in part the supplies voted." Und weiter heißt es in demselben
Memorandum von dem Appropriationsakt, daß er „thus completes the
financial proceedings of the session. By this act, therefore, the votes
in supply, originally passed by the house of Commons only, receive
füll legislative sanction". Ausdrücklich wird in dieser authentischen Inter-
pretation des Begriffs und Wesens der Appropriationsakte zwischen den
„votes in supply" und den Bewilligungen unterschieden, zu denen der Con-
solidated fund bereits ermächtigt hat. Der Consolidated fund act kurz vor
dem Beginn des neuen Rechnungsjahres — 1907 am 22. März, 1908 am
27. März, 1909 am 15. und 30. März — ermächtigt zur Verausgabung von
Hunderten von Millionen Mark, ohne daß für das neue Etatsjahr auch nur
1 Pfennig an Einnahme bewilligt worden wäre! Wieviel wird dadurch allein
der Etatsberatung an Bedeutung und Gewicht genommen!
^) Über vereinzelte Ausnahmen cfr. Sußmann, a. a. 0. p. 196.
^) Wilson, The National Budget, p. 147: ... the strictness with which
the accounts of each financial year are made to end with that year. The
moment the 31th of March ends the balance is Struck on both sides, and
credit is taken only for the actual money received within the twelve months,
while all authority to spend money for any pm-pose, except theconsoli-
23*
356 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Auf der anderen Seite hat der Umstand, daß nahezu 50 Jahre hindurch
das Vetorecht des Oberhauses gegenüber Geldbills nicht zur Anwendung ge-
kommen war, zu einer Überschätzung der budgetrechtlichen
Position des Unterhauses Anlaß gegeben. Bis 1909 wurde vielfach be-
stritten, daß ein Budget auch infolge ablehnenden Votums der Lordskammer
nicht zustande kommen kann. Mit Entschiedenheit hat besonders Redlich
diese Auffassung vertreten^).
Zu einem anderen Urteile über die budgetäre Machtstellung
des Unterhauses hat sich, gleichfalls im Jahre 1905, J. Hatschek
bekannt, der im übrigen hinsichtlich der staatsrechtlichen
Bedeutung der permanenten Einnahmequellen derselben Ansicht
ist wie Redlich 2). Ihm, nicht Redlich — beide sind begeisterte
Lobredner des parlamentarischen Regierungssystems und der
dated fund, immediately lapses. — Carl C. Plehn, Introduction to Public
Finance p. 330: All credits of disbursing officers expire, and their accounts
close March 31. All appropriations lapse at that time, except those
appropriated for the Consolidated fund. — Gaston Jeze, Le budget,
p. 62: En resume, le droit anglais consacre la double regle de l'annalite
de l'impot et de l'annalite des depenses; seulement, cette double regle
est limitee a certains impots et ä certains depenses. Elle n'a pas une
portee generale. En fait, le quart environ des depenses et les quatre
cinquiemes environ des recettes ont un caractere permanent et echap-
pent h la rögle de ^.l'annalite Les agents administratif s
n'ont besoin d'aucune autorisation annuelle du Parlement pour
engager ou payer les depenses, pour etablir les titres de recettes et
les mettre en recouvrement.
*) A. a. 0. (p. 671): „Das Recht des Oberhauses, seine Zustimmung zu
dem vom Unterhause beschlossenen Budget als einem Ganzen zu erteilen oder
zu verweigern, ohne daß es die geringste Befugnis zur Abänderung besäße,
erscheint im Lichte der Entwicklung, welche das englische Budgetrecht im
19. Jahrhundert genommen hat, nur noch als eine Formalität." So auch
Sußmann, Das Budget-Privileg des Hauses der Gemeinen. Mannheim-Leipzig
1909. p. 197 u. 204. Und Redlich an anderer Stelle: „Die Ausschließung
des Oberhauses von jedem rechtlichen und tatsächlichen Einflüsse auf die
Staatsfinanzen ist eine vollzogene und nicht mehr rückgängig zu machende
Tatsache." Solche Aussprüche stehen auf derselben Höhe wie z. B. die
Behauptung, die englische Krone habe ihr Vetorecht in der Gesetzgebung
„by disuse" verloren; auch davon kann nicht die Rede sein, denn das
Königliche Einspruchsrecht ist faktisch niemals aufgehoben. Vgl. unten
p. 459 Anm. 1).
^) Hatschek sagt in seinem Englischen Staatsrecht, im Handbuch des
öffentlichen Rechts IV, 1, 491 : „Eine parlamentarische Steuern- und Ausgabe-
Verweigerung wird nicht oft vorkommen, schon wegen der parlamentarischen
Regierung, aber sie bleibt dennoch, wie dies auch die herrschende Ansicht
der Gelehrten in England ist, — er führt Dicey an — die letzte juristische
Waffe des Parlaments gegen die Regierung." In der Zeit von 1708 bis 1860
hat das Oberhaus 34 Geldbills abgelehnt und mit Hilfe seines Vetorechts
kassiert.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 357
parlamentarischen Souveränetät — hat die nachfolgende Ent-
wicklung Recht gegeben^).
Am 19. April 1909 hatte der Schatzkanzler Lloyd George ein Budget
vorgelegt ''), das von der im Oberhause von jeher verpönten und in ständiger
*) Dicey, Introduction to the study of the law of the Constitution,
London 1902 p. 308, vertritt in dem entscheidenden Punkte die Auffassung,
daß der größte Teil der Staatseinnahmen eingehoben werden kann, selbst
dann, wenn das Parlament überhaupt nicht tagt: „the notion that at the
present day no mcmey could legally be levied if Parliament ceased to meet
is unfounded. Millions of money would come into the Exchequer
even though Parliament did not sit at all. For though all taxation
depends upon Act of Parliament it is far from being the case that all taxation
now depends upon annual or temporary Acts Taxes, the proceeds
of which amouuted in the year 1895 — 1896 to at least four fifths of the
whole year revenue, are imposed by permanent Acts; such taxes are
the land tax, the excise, the stamp duties and the like. These taxes would
continue to be payable even though Parliament should not be convened for
years." Dagegen: „other taxes — and notably the income tax — the proceeds
of which make up the remainder of the national income are imposed by
yearly Acts. If by any chance Parliament should not be convened for a
year, no one could be under any legal Obligation to pay income tax." Also
ein scharfer Unterschied zwischen den Einnahmen auf Grund ständiger und
denen auf Grund zeitlich begrenzter Gesetzgebung! Aber Dicey constatiert
noch einen zweiten, nicht minder wichtigen Unterschied. In dem Abschnitt
„Authority for expending revenue" a. a. 0. p. 310 f. führt er aus: „Not a
penny of revenue can be legally expended except under the authority of
some Act of Parliament. This authority may be given by a permanent Act,
as for example by the Civil List Act, 1. & 2. Vict. c. 2, or by the National
Debt and Local Loans Act, 1887; or it may be given by the Appropriation
Act, that is the annual Act by which Parliament „appropriates" or fixes
the sums payaVjle to objects (the chief of which is the support of the army
and navy) which are not provided for, as is the payment of the National
Debt by permanent Acts of Parliament." In jedem normalen Jahre wird
in die Bank von England ein aus verschiedenen, im Laufe der Zeit nicht
immer gleichmäßig herangezogenen Abgabequellen aufkommendes nationales
Einkommen von ca. 102 Mill. Pfd. eingezahlt. Dazu bemerkt Dicey: This
£ 102000000 constitute the revenue or „Consolidated fund". Every
penny of it is, unless the law is broken, paid away in accordance
with Act of Parliament. The authority to make payments from it is
given in many cases by permanent Acts; thus the whole of the interest
of the National Debt is payable out of the Consolidated fund under the
National Debt and Local Loans Act 1887. The order or authority to make
payments out of it is in other cases given by a yearly Act, namely the
Appropriation Act, which determines the mode in which the supplies
granted by Parliament (and not otherwise appropriated by permanent Acts)
are to be spent."
'^) Hierzu Mendelssohn-Bartholdy, Die Eeform des Oberhauses im
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Bd. III, 1909. — A. Ponsonby,
After the crisis, Cotemporary Review, September 1911 p. 308 ff.
358 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Praxis bis 1861 energisch bekämpften Methode des tacking of money bill
im weitesten Maße und mit voller Rücksichtslosigkeit Gebrauch machte.
Die Vorlage, hauptsächlich bestimmt, den Beweis zu liefern, daß die Geld-
mittel für den Flottenbedarf und die Sozialreform auch ohne Tarifreform
und ohne Einfuhrzölle auf Lebensmittel und gewerbliche Rohstoffe beschafft
werden könnten, enthielt außer den üblichen Voranschlägen neue gesetz-
lich durchzuführende Normen, die eine Wiederholung der wichtigsten
Bestimmungen des verunglückten Schankstättengesetzes, eine Reform der
Landbesteuerung (zwanzigprozentige Abgabe vom unverdienten Wertzuwachs,
Terrain-, Erbpachtsteuer usw.), eine stark progressive Erhöhung der Erbschafts-
und Nachlaßsteuer, eine Erhöhung der Einkommensteuer auf einen Schilling
und zwei Pence auf das Pfund, Einführung einer Ergänzungssteuer für Ein-
kommen über 5000 Pfund und eine Verdoppelung der Stempelsteuer auf
börsengängige Papiere enthielten und zugleich mit dem Budget durch den
finance act dauernd sanktioniert werden sollten. Nach heftigen, langwierigen
Kämpfen wurde die Bill am 4. November vom Unterhause in dritter Lesung
angenommen. Am 30. November 1909 machte das Oberhaus von seinem
Veto-Recht Gebrauch. Es geschah dies aber lediglich aus politischen und
wahltaktischen Motiven, nicht in der brüsken Form der Verwerfung des
Budgets, sondern dm-ch Annahme des oppositionellen Antrages Lord Lansdowne:
„Das Oberhaus ist nicht berechtigt, seine Zustimmung zu diesem Gesetze zu
geben, bis es dem Urteile des Landes unterbreitet worden ist." Ausdrück-
lich protestierte Lord Lansdowne wieder gegen das System des tacking,
besonders im Hinblick auf die Neuerungen in der Schankkonzession und die
Besteuerung des Grundeigentums. Jedenfalls hatte das Oberhaus tatsächlich
das Budget mit erdrückender Mehrheit verworfen und damit auch, wie der
Lordkanzler sagte, den Jahresbedarf abgelehnt. Beide Parteien be-
schuldigten sich gegenseitig des Verfassungsbruches. Die Liberalen konnten
sich auf die seit 1861 bestehende Praxis des tacking berufen, die Unionisten
dagegen geltend machen, daß das Recht, Finanzgesetze im ganzen anzu-
nehmen oder abzulehnen, tatsächlich bis dahin von den Lords niemals auf-
gegeben war. Nunmehr trat für den Rest des Finanzjahres, das schon nahe-
zu 4 Monate länger, als es sonst der Fall zu sein pflegt, ohne budgetrechtliche
Unterlage geblieben war, ein budgetloser Zustand ein. Das Parlament,
das am 10. Januar 1910 der Auflösung verfiel und Ende Januar durch ein
neues ersetzt wurde ^), hatte die Ausgaben für 1909/10 genehmigt, aber die
Einnahmen durch Steuern nicht beschafft "0- In den Public General Acta
des Jahres 1909 fehlt der finance act. Auf Grund der Appropriationsakte
vom 16. August 1909 (Public General Acts 9 Edward p. 15) wurde, in Er-
gänzung des C. F. Act vom 30. März 1909 mit rund 4874 Mill. Pfund Aus-
gab ebe willigung, die Treasury zur Verausgabung von rund 77 Mill. Pfund
aus dem Consolidated Fund und zur Bestreitung unvorhergesehener Ausgaben
für die Heeres- und Flottenverwaltung aus Überschüssen und Ersparnissen
ermächtigt, letzteres mit der Begründung, daß es im öffentlichen Interesse
') Hierzu Zeitschrift für Politik 1910 Bd. 3. C. Grant Robert-
son, Die allgemeinen Wahlen in Großbritannien im Jahre 1910. p. 567 ff.
^) Vgl. Thronrede bei der Vertagung des Parlaments am 3. Dezember
1909 bis 10. Januar 1910 : der König dankt für die Sorge und Freigebigkeit,
die das Unterhaus für nationale Ausgaben an den Tag gelegt habe, bedauert
aber, daß die dahin gerichteten Maßnahmen fruchtlos geblieben seien.
Blum, Budgetreclit und Finanzpraxis. 359
nicht angängig sei, die Eegelung hinauszuschieben, „until provision can be
made for it by ParHament in the ueual course". Nur von den Ein-
nahmen durch Steuern spricht die Thronrede Eduards VII. vom 21, Fe-
bruar 1910, und tatsächlich wurden auch vom Zollamt die früheren Zölle
auf Tabak, Rum usw. weiter erhoben. (Die Kaufleute verpflichteten sich zu
späterer Nachzahlung der auf Grund der Sätze des neuen Budgets sich er-
gebenden höheren Abgaben. Für die „nichtbeschafften Einnahmen durch
Steuern" wurde, wie die Thronrede besagte, in einer zeitweiligen Anleihe
Ersatz gefunden ')•
Trotz äußerster Dringlichkeit der Verabschiedung der Finanzbill für
1909/10 erfolgte die Einbringung des Budgets keineswegs sogleich oder auch
nur alsbald nach der Eröffnung des neuen Parlaments (am 21. Februar 1910).
Es vergingen vielmehr nahezu zwei Monate — rund 3 Wochen dieses Zeit-
raumes lagen bereits in dem neuen Finanzjahr 1910/11) — bis das Budget
für 1909/10 (am 19. April 1910) aufs neue dem Unterhause vorgelegt wurde.
Am 3. März hatte der Premierminister erklärt, daß die Resolutionen gegen
das Oberhaus, mit denen die Regierung stehe und falle, im Sinne der
Regierung erledigt sein müßten, bevor an die Budgetberatung herangegangen
werden könne, und danach wurde, der Proteste der Opposition ungeachtet,
verfahren. Die letzte der drei Veto-Resolutionen gelangte am 14. April zur
Annahme. Wie der Schatzkanzler in seinem Finanzexpose am 19. April erklärte,
war ein tatsächliches Defizit von rund 26V4 Millionen Pfund vorhanden.
Während der Dauer von vier Monaten, so führte der Schatzkanzler bei der-
selben Gelegenheit aus, hätten sich die Finanzen des Landes in einem Zu-
stande der Verwirrung befunden. Doch habe die Regierung 3 Millionen aus
den Staatseinkünften des Jahres zur Verminderung der öffentlichen Schuld
verwendet und einen Überschuß von 2,9 Millionen Pfund erzielt, der beliebig
verwendet werden könne; er glaube nicht, daß irgend ein anderes
Land das fertig bekommen hätte. Der gesamte Staatsbedarf, soweit
er über den Betrag von rund 500 Millionen Mark hinausging, wurde also
durch das Nichtzustandekommen des Budgets nicht in Frage gestellt. Bereits
am 27. April wurde das Budget im Unterhause, am 28. April im Oberhause
endgültig verabschiedet. Darauf vertagte sich das Parlament bis zum
26. Mai, nahm aber — der Tod König Eduards und die Krönung Georgs V.
waren dazwischen getreten — die ordentlichen Verhandlungen erst am
7. Juni wieder auf. Am 29. Juli vertagte sich das Parlament bis zum
15. November. Inzwischen waren die sogenannten Vetokonferenzen nach
mehrmonatiger Dauer als ergebnislos abgebrochen worden. Am 30. Juni
hatte der Schatzsekretär Lloyd George bei Einbringung des neuen Budgets
für 1910/11, einer fast genauen Wiederholung des vorjährigen, im Unterhause
erklärt: Die Ablehnung des Budgets durch das Oberhaus im Jahre 1909 habe
die Finanzlage des Vorjahres sowie das gegenwärtige Budget ungünstig be-
einflußt, die größten Schwierigkeiten seien entstanden durch den Aufschub,
den die Erhebung gewisser Steuern erlitten haben ^). Also auch hier
die indirekte Bestätigung, daß nur „gewisse Steuern" infolge des
0 „Da für die vom letzten Parlament genehmigten Ausgaben die Ein-
nahmen nicht dm-ch Steuern beschafft worden sind, hat man unter Zu-
stimmung des Parlaments zu einer zeitweiligen Anleihe seine Zuflucht nehmen
müssen." Schultheß, Europ. Geschichtskalender 26. Jahrgang 1910 p. 500.
^) Wippermann, Geschichtskalender 1910 Bd. I, p. 263.
360 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Budgetkonflikts ausgefallen sind. Die Budgetverhandlungen wurden
wieder mit der Entscheidung über die Verfassungsfrage ver-
knüpft, die Erledigung beider Angelegenheiten auf die Herbstsession 1910
verschoben. Am 18. November machte der Premierminister mit Rücksicht
auf die nahe Auflösung des Parlaments und die bevorstehenden allgemeinen
Wahlen den Vorschlag, nur die wesentlichen Teile des Budgets, den
Teezoll, die Einkommensteuer und den Amorisationsfonds, zu erledigen. Am
23. November, fünf Tage vor der Auflösung des Parlaments, erfolgte die
Annahme der Finanzbill in dritter Lesung. Der Rest des Budgets für das
Finanzjahr 1910/11 wurde erst Ende März 1911, in dem Revenue Act 1911,
erledigt. Das Budget für 1911/12 wurde am 16, Mai 1911 von dem
Schatzkanzler eingebracht. Am 10. August vertagte sich das Parlament bis
zum 24. Oktober. Im November waren die Budgetberatungen noch nicht
bis zur zweiten Lesung gediehen ^). Dies der äußere Verlauf der Budget-
verhandlungen und Budgetkämpfe in den letzten Jahren^). ^
Danach dürfte unweigerlich feststehen, daß das enghsche
Parlament ein völlig schrankenloses Budgetrecht mit allen sich
daraus ergebenden Konsequenzen auch heute noch nicht
besitzt und daß die von Redhch und anderen vertretene Auf-
fassung, erst durch die Appropriationsakte gebe das Unterhaus
endgültig der ganzen Staatswirtschaft die rechtliche und finanzielle
Basis für die Dauer des folgenden Jahres, in den tatsächlichen
Verhältnissen keinerlei Stütze findet. Die dem consoUdated
fund auf Grund früherer Gesetze zugewiesenen Einnahmen und
ebenso die auf diesen Fonds gleichfalls durch frühere Akte
der Gesetzgebung angewiesenen Ausgaben bilden das konstante
Budget, das der parlamentarischen Bewilligung nur noch formell
untersteht und der willkürlichen Disposition seitens des Par-
laments entzogen ist, um in kritischen Zeiten die Staatswirt-
schaft sicher zu stellen und für den notwendigsten Staatsbedarf
hinreichende Deckung zur Hand zu haben. In der weitgehenden
Selbstbeschränkung, die das englische Unterhaus damit voll-
zogen hat, liegt ebensoviel politische Einsicht wie
Zweckmäßigkeit. Es offenbart sich darin die Erkenntnis
der Gefahren, die das Staatswesen bei einer Überspannung
des parlamentarischen Regierungssystems bedrohen.
Wenn durch einen vielleicht absichthch herbeigeführten Budget-
konflikt nicht nur die jeweilige Regierung unter den Willen
der Parlamentsmehrheit gezwungen, sondern auch, um mit
Bismark zu reden, das ganze Staatsleben zum Stillstand gebracht
werden kann — ein Ausspruch, dem Stourm trotz allem Wider-
0 Hazells Annual 1912 p. 119, 364 ff.
') Vgl. unten p. 458 ff.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 361
Spruch gegen die „conclusions violentes" des Kanzlers nichts
von seiner zwingenden Logik zu nehmen vermag — dann wird
eine ihre Verantworthchkeit sich hinreichend bewußte Volks-
vertretung dafür Sorge tragen, daß die Grundlagen des Staates
auch in Zeiten tiefster Erschütterung und erbittertster Partei-
kämpfe den nötigen Schutz und Bestand behalten. Die Finanzen,
gegenwärtig mehr als je das Rückgrat des Staates und ein
ebenso empfindlicher wie zuverlässiger Gradmesser seiner Sicher-
heit und Angreifbarkeit bedürfen am allerdringendsten der
Verankerung, die sie davor bewahrt, in das Chaos einer politisch
leidenschaftlich bewegten Zeit hineingerissen zu werden. Eine
solche Bürgschaft, die zugleich ein zuverlässiges
Gegengewicht gegen die Einflüsse demokratischer
Entwicklung darstellt und, einem demokratischen
Wahlrecht zum Trotz, die staatliche Existenz und
Bewegungsfreiheit mit hinreichenden Kautelen um-
gibt, hat sich England, abgesehen von anderen mit der gleichen
Absicht und der gleichen Wirkung geschaffenen Einrichtungen,
in seinem konstanten, von dem Wechsel der parlamentarischen
Mehrheiten und Regierungen unberührt bleibenden Budget ge-
schaffen. Der Wert einer solchen Einrichtung ist gerade in
neuester Zeit in den verschiedenen Stadien, die die englische
Verfassungskrise durchlaufen hat, in die Erscheinung getreten !
Die schweren inneren Kämpfe der letzten Jahre, die Verwirrung
und Ungewißheit im Finanzwesen infolge des Nichtzustande-
kommens des Budgets im Jahre 1909, die schnelle Aufeinander-
folge der Wahlbewegungen, das Scheitern der Veto-Konferenz,
der plötzliche Thronwechsel haben, obwohl die äußere Lage,
1908 und 1909, zeitweilig recht gespannt, zum mindesten von
Befürchtungen nicht frei war, die Aktionskraft und Tatbereit-
schaft der Nation — ganz zu schweigen von dem ruhigen
Fortgang des geschäftlichen und öffentlichen Lebens im Innern —
nicht im geringsten beeinträchtigen können, weil eben die all-
gemein bekannte Tatsache der absolut sicheren
Fundamentierung der Staatswirtschaft, die die Er-
füllung der unerläßlichen Staatsnotwendigkeiten unter allen Um-
ständen sicherstellt, einen Zweifel an der unveränderten Fort-
dauer des staatlichen Gefüges in allen seinen Teilen und der
in ihm geeinten Kraft und Leistungsfähigkeit nicht im mindesten
aufkommen ließ und ungeachtet der Unterbrechung des regel-
mäßigen Flusses der Staatseinnahmequellen den Staatskredit
Englands auch nicht einen Augenbhck in Mitleidenschaft zog.
362 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
In Zukunft 1) dürfte, nachdem das Haus der Lords als Hemm-
schuh demokratisch-radikaler Tendenzen und Übergriffe aus-
geschaltet und der König allein als diejenige Instanz übrig ge-
blieben ist, auf die das Unterhaus bzw. die jeweilige Regierung
Rücksicht nehmen muß, ohne deren Zustimmung und Mit-
wirkung es nichts vermag, neben den in der Prärogative
der Krone enthaltenen Kautelen das konstante Bud-
get als sicherer Grund des von Finanzstürmen bedrängten
englischen Staatsschiffes noch größere Bedeutung gewinnen 2).
IL Das Budgetrecht der französischen Republik.
In den entscheidenden, staatsrechtlich grundlegenden
Befugnissen wesentlich anders geartet ist das französische
Budgetrecht. Die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Seite
des Budgets fällt in die Geburtsstunde des Verfassungsstaates;
^) Seit dem 18, August 1911, dem Tage der Erteilung des Royal
Assent (vgl. p. 13d) ist das budgetrechtliche Verhältnis zwischen
Lords und Commons durch den Parliament Act (Ch. 13, 1 u. 2. Geo. V)
geregelt, der in seinem ersten von den Finanzvorlagen (Money Bills) handelnden
Abschnitte (nach der endgültigen, von der in Bd. IV p. 31 f. abweichenden
Fassung) bestimmt: 1. If a Money Bill, having been passed by the House
of Commons, and sent up to the House of Lords at least one month before
the end of the session, is not passed by the House of Lords without
amendment within one month after it is so sent up to that House, the Bill
shall, unless the House of Commons direct to the contrary, be presented to
His Maj esty and become an Act on the Royal Assent being signified notwith-
standing that the House of Lords have not consented to the Bill; 2. A Money
Bill means a Public Bill which in the opinion of the Speaker of the House
of Commons contains only provisions dealing with all or any of the
foUowing subjects, namely, the imposition, repeal, remission, alteration, or
regulation of taxation ; the imposition for the payment of debt or other
financial purposes of charges on the Consolidated Fund, or on money
provided by Parliament, or the Variation or repeal of any such charges;
supply ; the appropriation, receipt, custody, issue or audit of accounts of
public money; the raising or guarantee of any loan or the repayment
thereof; or subordinate matters incidental to those subjects or any of them.
In this subsection the expressions „taxation," „public money," and „loan"
respectively do not iuclude any taxation, money, or loan raised by local
authorities or bodies for local purposes; 3. there shall be endorsed on every
Money Bill when it is sent up to the House of Lords and when it is
presented to His Majesty for assent the certificate of the Speaker of
the House of Commons signed by him that it is a Money Bill. Before
giving his certificate, the Speaker shall consult, if practicable, two members
to be appointed from the Chairman's Panel at the beginning of each Session
by the Committee of Selection.
^) s. unten p. 459 f.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 363
sehr viel schneller als in England sind in Frankreich die
finanz- und steuerpolitischen Normen zur Geltung gelangt, die
das budgetäre System befruchtet und durch dessen Rezeption
in verschiedenen Ländern Einfluß gewonnen haben, und zu-
gleich ist sehr viel entschiedener als in dem monarchischen
England die volle parlamentarische Macht auch hin-
sichtlich der Budgetfeststellung und Budgetwirkung
zur Durchsetzung gelangt. In der französischen Republik
existiert tatsächhch das, was Hatschek und Redlich als un-
eingeschränkte Macht der Volksvertretung über sämtliche
Staatsgeschäfte bezeichnen und dem englischen Unterhaus, ohne
jede Berücksichtigung der in der Krone und im Oberhause
verkörperten hemmenden und sichernden Staatsgewalten, zu-
erkennen wollten.
Die nahezu schrankenlose Machtvollkommenheit der Kammern in Frank-
reich ist kurz dahin zu präzisieren: Für jedwede Ausgabe, die die Führung
der Staatsgeschäfte, der Staatshaushalt in allen seinen Erscheinungen und
Bedürfnissen, den Dienst der Staatsschulden nicht ausgenommen, mit sich
bringt, kann Zahlung nur kraft des jährlichen Finanzgesetzes geleistet werden.
Nach dem Grundgesetz für das staatliche Rechnungswesen vom 31. Mai 1862
darf, wenn das Budget vor dem I.Januar, dem Beginn des Finanz-
jahres, nicht beschlossen ist, keine Steuer erhoben und keine
Ausgabe geleistet werden. Nicht bloß die direkten Steuern, auch die
ihrer Natur nach ständigen indirekten Steuern müssen alljährlich neu be-
willigt werden. Aber noch weit mehr.
Wenn irgendwo, so hat auf dem Gebiete der parlamen-
tarischen Rivalitäten das Wort l'appetit vient en mangeant
sich bewahrheitet. Allerdings hat der politische Egoismus und
Despotismus nur da zu voller Kraßheit sich entfalten können,
wo kein Regulativ, wie es in dem immer komphzierter werdenden
sozialen und wirtschaftlichen Aufbau des modernen Staates
allein die monarchische Tradition und Institution zu geben
vermag, ihm bestimmte nur schwer übersteigliche Schranken
zieht. So ist es in allen Staaten, die, sei es durch ihre Ver-
fassung, sei es durch den Selbstvollzug der staatlichen Gewalten,
die parlamentarischen Körperschaften, vorwiegend sogar nur
die eine der beiden Kammern und zwar die aus den allgemeinen
Wahlen hervorgegangene, mit einem uneingeschränkten Budget-
recht ausgestattet haben, nur eine Frage der Zeit oder Gelegen-
heit, daß sich zwischen Budgetrecht und Gesetzgebung ein
Verhältnis herausbildet, bei dem jenes auf Kosten dieser seine
Herrschaft zu betätigen und zu steigern weiß. In Frankreich
Hegen nun die Dinge so, daß die Deputiertenkammer durch
364 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
einen einfachen Abstrich bei der Budgetberatung, vorausgesetzt,
daß er durch das Finanzgesetz bestätigt wird, jede gesetzhche
Vorschrift, deren Wirkung oder Geltung aus öffenthchen Mitteln
bestritten wird, faktisch außer Kraft setzen kann. Das ist
jedenfalls ein charakteristisches Merkmal für die besondere
Art und die im Vergleich zu den englischen Verhältnissen —
in England kann die Einhebung der ständigen Abgaben nur
durch besonderes Gesetz modifiziert oder sistiert werden —
wesentlich größere Trag- und Reichweite, aber auch
sehr viel größere Verantwortlichkeit des französischen
Budgetrechts.
Kein Wunder, daß es in Frankreich selbst an Bedenken
und Protesten gegen diese außerordentliche Macht-
fülle der Kammern nicht fehlt! Bemerkenswerter Weise
sind es gerade die angesehensten finanzpolitischen Schriftsteller
Frankreichs, die in diesem stark erweiterten Votierungs- und
Budgetrecht der Deputiertenkammer schwere Gefahren erblicken
und dem englischen System, gerade wegen der von der ge-
wählten Kammer selbst vollzogenen Beschränkung, den Vor-
zug geben und das Wort reden i).
Die Verwerfung des Budgets, in Frankreich ein legitimes
Mittel, müßte die Tätigkeit der anderen Kammer
^) Leroy-Beaulieu sagt in seinem Traite de la science des finances
p. 88/89: Un pays continental, comme la France, entoure de dangers, ne
peut pas abandonner au hasard d'une election le sort des Services
essentiels. Und dann eine ungemein treffende allgemeine Bemerknng: „Dans
un pays democratique oii regne le suffrage universel, oü l'opinion publique
est singulierement mobile, il pourrait arriver que des majorites passageres
compromissent gravement la destinee du pays par la suppression imprevoyante
des credits pour des rouages indispensables de la vie nationale. On nous dira
que les precautions constitutionnelles sont des freins impuissants quand les
pouvoirs publics sont egares; cela n'est vrai que dans une certaine mesure:
l'egarement, en effet, peut n'etre pas de longue duree; l'empecher de
produire des effets immediats en desorganisant des Services essentiels, c'est
venir en aide ä la stabilite nationale et aux institutions liberales.
n est, d'ailleurs, manifester que si la Cliambre des deputes est absolument
maitresse de reduire ou de supprimer a eile seule tous les credits, la Chambre
haute devient presque inutile: au moins faut-il que celle-ci soit constituee
gardienne des Services essentiels a l'independance et ä la vitalite nationales:
or, le seul moyen d'atteindre ce resultat, c'est de limiter, par les lois
constitutionnelles le pouvoir absolu de la Chambre basse en ce qui
concerne les Services vitaux. L'exemple de l'Angleterre pour la dette
publique, la liste civile, les pensions et les traitements diplomatiques, les
grandes cours de justice, justifierait cette disposition."
B 1 u m , Budgetrecht und Finanzpraxis. 365
illusorisch und schließlich jede staatliche Aktion
von der Entscheidung einer einzigen Kammer ab-
hängig machen. Aber nicht nur das. Im Fall des Nicht-
zustandekommens oder der Ablehnung des Budgets würde das
französische Staats- und Wirtschaftsleben in seiner Gesamtheit
lahm gelegt sein ^). Es träte der Zustand ein, dem Bismarck
in der Konfliktszeit jede Daseinsberechtigung nicht nur, sondern
auch die Daseinsmöglichkeit abgesprochen hat'-*). Nicht minder
verhängnisvoll und unerträglich wären die Folgen eines Zu-
standes, der mangels der Genehmigung des Budgets die Ein-
hebung der Steuern, Zölle usw. nicht gestattete. Ohne das
Finanzgesetz keine Zölle, ohne diese kein Schutz der heimischen
Märkte und Industrien, ohne diesen Schutz keine staatlichen
Einkünfte, keine Verteidigungs- und Subsistenzmittel!
Wenn aber die Budgetverweigerung nichts anderes be-
deutet als die Revolutionierung des gesamten Staatslebens in
allen seinen Grundlagen und Betätigungsgebieten, so muß die
Frage gestellt werden, ob einer Körperschaft, auf deren
Zusammensetzung häufig genug bestimmte äußere Umstände,
politische Leidenschaften, unkontrollierbareEinflüsse, persönliche
Interessen und zahllose andere Momente wechselnder Natur
einwirken, so weitgehende Machtbefugnisse überantwortet
werden dürfen. Die praktische Bedeutung der Angelegenheit
ist überaus gering, denn tatsächlich ist ein budgetloser Zustand,
der ein Unding wäre, sei es durch den Zwang der Verhältnisse,
sei es durch Nachgiebigkeit auf einer der beiden Seiten, noch
immer verhindert worden; in anderen Fällen — wenn in
monarchischen Ländern das Ansehen der Krone unter allen
Umständen gewahrt bleiben mußte — hat die Regierung auf
Grund eines einseitig festgestellten Budgets ^j bzw. Budget-
provisoriums die Geschäfte geführt oder, wie in Preußen
während der Konfliktszeit, bestimmte, im Staatsinteresse für
unerläßlich erkannte Maßnahmen durchgeführt und dann später
') Stourm (a. a. 0. p. 383 ff.) schildert das höchst anschaulich und
eindrucksvoll: „Si l'annee s'ouvre sans que le bud<?et ait ete vote. les rentiers
ne touchent plus leurs rentes, ni les pensionnaires leurs pensions; les four-
nisseurs frappent en vain aux guichets du Tresor, les fonctionnaires ne
regoivent pas leurs salairs; les ecoles sont fermees; Tarmee est privee de sa
solde, de son entretien meme, en un mot tous les tributaires de I'Etat, c'est
ä dire ä peu pres tout le monde aujourd'hui, se trouve atteint; la vie du
pays s'arrete."
') Vgl. p. 138.
') Nur unter Zustimmung des Herrenhauses.
366 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Genehmigung nachgesucht. Wenn aber auf der einen Seite
die budgetäre Ermächtigung zur Bestreitung der Staatshaus-
haltsausgaben auch gegen den Willen der Kammer stipuliert
werden kann, unter Umständen mit Rücksicht auf die Staats-
notwendigkeiten nach Pflicht und Gewissen stipuliert werden
muß und die Kammern das Geschehene schließlich wohl oder
übel sanktionieren müssen, wenn auf der anderen Seite die
Gewißheit besteht, mit der Ablehnung des Budgets das staats-
wirtschaftliche Chaos heraufzubeschwören, dann muß das, was
angeblich der höchste Triumph eines freiheitlichen, schranken-
losen Budgetrechts sein soll, für die Praxis als belanglos
erscheinen. In der Theorie mag man, wie Stourm es tut,
mit dem Argument operieren, daß das droit d'autoriser ohne
sein logisches Gegenstück, das droit de ne pas autoriser, un-
verständhch wäre. Für die Praxis steht dieses Recht auf dem
Papier, und die Drohung, daß das Budget bei Nichterfüllung
bestimmter Forderungen abgelehnt werden würde — noch
unlängst hat sich ein Abgeordneter der Zentrumsfraktion des
Deutschen Reichstages in öffentlicher Versammlung, wohl-
weislich nicht im Reichstag, zu dieser fürchterlichen Drohung
verstiegen — wird von niemand mehr ernst genommen.
Größte Freiheit berührt sich auch in diesem Falle mit
größtem Zwang; jedenfalls dürfte erwiesen sein, daß das
Budgetrecht auch in parlamentarisch regierten Ländern tat-
sächlich nicht lücken- und schrankenlos ist, und schon aus
diesem Grunde muß der Versuch, das Recht der Einnahme-
und Ausgabebewilligung als ein Attribut der Souveränetät in
Anspruch zu nehmen, — ein Versuch, den Leon Say (Journal
des döbats 27. fevrier 1898) mit der sarkastischen Bemerkung
zurückgewiesen hat, daß dann das Streben nach der Macht
darin bestehe, den einen zugunsten der andern Abgaben auf-
zuerlegen — vollkommen hinfälHg erscheinen.
Ein solcher Anspruch ist nur da denkbar, wo die Staats-
verfassung grundsätzlich die uneingeschränkte Regierungshoheit
der parlamentarischen Körperschaften anerkennt und begründet.
So ist es denn durchaus folgerichtig, wenn Stourm ^) den Satz
aufstellt, daß die Exekutive rechtzeitig dem W^illen der Volks-
vertretung Rechnung tragen müsse, um das Recht der Budget-
*) „Le pouvoir executif doit s'incliner h temps devant la volonte
des representants du pays, afin d'eviter meme qu ce droit ait besoin de
s'exercer."
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 367
Verweigerung nicht faktisch werden zu lassen. Wiederum muß
man fragen: Was ist das für ein Recht und wie kann man
von einer Rechtshoheit sprechen , wenn mit allen Mitteln,
selbst unter schonungsloser Hinopferung der Re-
gierungsautorität, unter rücksichtsloser Nichtach-
tung der regierungsseitigen Verantwortlichkeit und
Sachkenntnis verhindert werden soll und tatsäch-
lich verhindert wird, daß die letzten Konsequen-
zen des verfassungsmäßigen und gesetzlichen Bud-
getrechts gezogen werden können? Re vera ist
also in Frankreich die Budgetverweigerung ein actus inanis.
Denn wenn es sich darum handelt, ein mißliebiges oder für
einen bestimmten Zweck nicht brauchbares Ministerium zu be-
seitigen, gibt es dafür so viele andere wirksame Mittel, daß
man nicht zu der Waffe der Budgetverweigerung zu greifen
und die Gefahren einer völhgen Staatsumwälzung i) heraufzu-
beschwören braucht. Das jährliche Gesamtbudget und die darin
liegende Rechtsbefugnis der Kammern ist — das wird auch
von überzeugten Anhängern des parlamentarischen Systems aner-
kannt — ursprünglich und tatsächlich ein Zufallsgebilde, ein
Auskunftsmittel, zu dem man in der Not der Zeit, sogar
wider bessere Erkenntnis, gegriffen hat ! Erst in der
Folge, unter der Herrschaft des ,, ideal parlementaire de nos
jours", von dem Leroy-Beaulieu spricht 2), ist planmäßig und
zielbewußt der Gedanke der Volkssouveränetät auch mit der
Vorstellung schrankenloser Willkür über die Staatseinnahmen
und Staatsausgaben erfüllt worden, und so sehr auch die Ein-
sicht des Gefährlichen und Widerspruchsvollen eines solchen
Zustandes gestiegen ist und nach Reformen verlangt hat, das
politische Calcul und Machtbegehr hat sich bisher als der stärkere
Faktor erwiesen und alle Besserungsvorschläge a limine ver-
worfen. Noch glaubt die französische Budgettechnik und
Finanzpolitik auf das Recht der jährlichen Festsetzung
aller Einnahmen und Ausgaben nicht verzichten zu können,
in der Hauptsache, weil ohne dieses Recht die parlamentarische
Regierung von der Höhe ihrer gegenwärtigen Machtfülle herab-
gedrängt werden könnte. Tatsächlich erfolgt ja, wie weiter
unten gezeigt werden wird, eine jährliche Bewilligung aller
Einnahmen und Ausgaben kaum noch; die Supplementskredite
') „Refuser le budget, savez-vous ce que c'est, Messieurs? c'est la re-
volution" (Maurice Rouvier 10, Dezember
') a. a. 0. p. 34.
368 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
und die provisorischen Zwölftel sind in Frankreich zur Regel
geworden und schmälern somit, durch die eigene
Schuld seiner Mitglieder, das Budgetrecht des
Parlaments^). Gerade diese Erfahrungstatsache müßte stärker
als irgend ein anderes Moment zugunsten einer Differenzierung
des ßudgetinhalts sprechen, wenn nicht die Interessen und
Bedürfnisse der republikanischen Regierung und Volksvertretung
aus allgemeinen politischen Gründen über dieses Gebot der
Vernunft und Zweckmäßigkeit sich hinwegsetzten.
III. Die Rechts- und Finanzgrundlageu im
preußischen Staatshaushalt.
Im Deutschen Reiche und in den deutschen Bundesstaaten,
die bis auf Mecklenburg und die Hansestädte konstitutionelle
Monarchieen sind, muß sich schon aus diesem Grunde von
den Beziehungen zwischen Budget einerseits und Volksvertretung
und Gesetzgebung andererseits ein völlig anderes Bild dar-
bieten. Die Preußische Staatsverfassung hat aus der
belgischen Verfassung mehrere wichtige Bestimmungen über
das Budget sinngetreu übernommen, andere nicht minder
wichtige dem eigenen Bedürfnis und Verfassungszustand ent-
sprechend umgebildet.
Nach der belgischen Verfassung von 1831 ist jedes Einnahmegesetz
lex annua. Art. 111 bestimmt: „les impots au profit de 1' Etat sont votes
annuellement. Les lois qui les etablissent n'ont de force que pour un an,
si elles ne sont renouvelees." In voller Übereinstimmung damit und logischer
Fortführung des Grundgedankens besagt Art. 115: „Chaque annee, les
Chambres arretent la loi des comptes et votent le budget. Toutes les
recettes et depenses de l'Etat doivent etre portees au budget et dans les
comptes." Die Preußische Verfassung hat aus Art. 111 den ersten Satz und
den ganzen Artikel 115 sinngemäß übernommen. Jenem entspricht Art. 99 :
„Alle Einnahmen und Ausgaben des Staates müssen für jedes Jahr im voraus
veranschlagt und auf den Staatshaushaltsetat gebracht werden. Letzterer
wird jährlich durch ein Gesetz festgesetzt." Mit Artikel 115 der belgischen
Verfassung steht im Einklang Artikel 100: „Steuern und Abgaben für die
Staatskasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushaltsetat aufgenommen
oder durch besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben werden." Dagegen
ist der Preußischen Verfassung die Bestimmung, daß die Gesetze, auf denen
') Im Etatsjahre 1911 ist das Budget erst Anfang September, also
reichlich acht Monate nach Beginn des Etatsjahres, zur Verabschiedung ge-
langt! In diesen acht Monaten haben sich also Staatsbedarf und Staatshaus-
halt wohl oder übel und unbeschadet etwaiger Mehr- oder Minderbedürfnisse
mit aufs Geratewohl bewilligten öffentlichen Mitteln behelfen müssen.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 369
die Staatseinnahmen beruhen, nur für 1 Jahr in Kraft bleiben sollen, falls
sie nicht ausdrücklich erneuert werden, nicht nur fremd, sondern sie enthält
im Gegenteil in Artikel 109 die von dem französisch-belgischen
Rechte grundsätzlich abweichende Bestimmung: „Die be-
stehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben .... bis sie durch ein
Gesetz abgeändert werden."
Wie alle anderen Interessengebiete und Aufgabenkreise
von größerer Tragweite und Dauer sind die Staatsfinanzen
Gegenstand der Gesetzgebung. Ein Gesetzentwurf ist der Staats-
haushaltungsplan, den der Finanzmiuister alljährlich, gewöhnlich
im zehnten Monat des vorausgehenden Etatsjahres, dem Ab-
geordnetenhause vorlegt, ein Gesetzentwurf ist der Etat in
der Fassung, die er in den Verhandlungen im Plenum und in
Kommissionen des Landtags erhält; wie jeder andere Gesetz-
entwurf kann er angenommen oder abgelehnt werden. Wie die
Entstehungsgeschichte und die Behandlungsart teilt er auch
das Schicksal anderer Gesetze. Wer die seit langem fest-
begründete Machtstellung des mit dem Veto-Recht ausgestatteten
Finanzministers in Preußen sich vergegenwärtigt, wer nach
Gebühr würdigt, daß bestimmte etatsrechtliche Grundsätze ge-
setzhch fixiert sind (Komptabihtätsgesetz), wer die Bemühungen
um Hebung des Einflusses des Schatzsekretärs im Reiche ver-
folgt^), wer daran denkt, wie an den Etatsentwm-f bei der
ersten Lesung die allgemeine Aussprache über politische Tages-
fragen und Tagesinteressen anknüpft und wie noch kurz vor
dem Ende des Rechnungjahres, wiederum in Verbindung
mit bestimmten Ressortetats, über die wichtigsten Angelegen-
heiten der inneren und äußeren Politik amtliche Erklärungen
verlangt und gegeben zu werden pflegen — um nur diese
wenigen Momente anzuführen und von dem Budget als Träger
parlamentarischer Macht und als Werkzeug republikanischer
Regierungsform, von dem Budget als integrierendem Bestandteil
des gesamten Staats- und Wirtschaftslebens ganz zu schweigen —
kann die Folgen und Gefahren eines ernsten Budgetkonflikts
unmöglich auf die leichte Achsel nehmen oder das Budget,
wie es auch geschehen ist, mit einem herzlich unbedeutenden
Verwaltungsgeschäft identifizieren .
^) Im Eechnungsjahr 1911 hat, was vordem nicht dagewesen, der Reichs-
schatzsekretär, allerdings gestützt durch den Reichskanzler, beträchtliche
Abstriche im Heeres- und Flottenetat gegen den Widerspruch der zustän-
digen Ressortminister durchgesetzt; cf. Königsberg - Hartungsche Zeitung,
1. Febr. 1912.
Zeitschrift für Politik. 6. 24
370 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Aber weil das nicht angeht, in jedem neuen Jahre weniger
als jemals zuvor, weil das Budget sozusagen der Rechtsboden
ist, auf dem die Volksvertretungen, auch in den monarchisch
regierten Ländern, ihre Existenzberechtigung erweisen und
wachsende Machtansprüche durchsetzen wollen, muß die Staats-
und Finanzwirtschaft mit ausreichenden Kautelen gegen zu
weitgehende Einflüsse dieser Art sichergestellt werden. Das ist
in Preußen geschehen. Wenn nach Artikel 109 der Verfassung
die bestehenden Steuern und Abgaben forterhoben werden,
bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden, so bedarf es
selbstverständlich nicht des Budgetgesetzes, um die Steuer- und
Abgabepflicht zu begründen und den Vollzug der per-
manenten Steuer- und Abgabegesetze zu rechtfertigen.
Durch diese Bestimmung wird zunächst der materielle Inhalt
des Budgetgesetzes sehr erheblich eingeschränkt; denn der
weitaus größte Teil der Staatseinnahmen rührt aus ständigen
Steuern, Zöllen usw. her, die ihre gesetzliche Grundlage in be-
sonderen Gesetzen haben. Dazu kommt, daß in Preußen
— ähnlich auch in Bayern — sogenannte ,, mittelbare Staats-
fonds" oder ,, Staatsnebenfonds," besonders zahlreich bei der
Unterrichtsverwaltung und der Verwaltung des Innern bestehen,
die nur zum Teil im Etat berücksichtigt sind, daß ferner der
durch Gesetz vom 17. Jan. 1820 auf die „Kronfideikommißrente"
angewiesene Teil der Zivifliste im Hauptetat vorweggenommen,
unter den Ausgaben nicht eingestellt, also der Bewilhgung ent-
zogen ist. Endhch darf nicht außer acht gelassen werden, —
worauf in einem späteren Abschnitt zurückzukommen sein wird —
daß die Reichsgesetzgebung, die der Landesgesetzgebung
vorangeht 1), wichtige staatliche Aufgaben und Wirkungskreise
der bundesstaatlichen Legislative entzogen, gleichzeitig aber,
so in der Bemessung der Matrikularbeiträge, in der reichs-
gesetzlichen Regelung des Etats des Reichsheeres — mittelbar
auch für Bayern trotz dessen Sonderstellung in dieser Hinsicht —
tiefe Eingriffe in die finanziefle Selbständigkeit der GHedstaaten
des Reiches sich vorbehalten hat. Auf der anderen Seite besteht
auch hinsichthch der bundesstaatlichen Einnahmen nach wie
vor in gewissem allerdings eingeschränktem Umfange eine Ab-
hängigkeit vom Reiche; man denke nur an das Aufkommen
^) über den Weg zur Durchsetzung reichsgesetzlicher Vorschriften
gegenüber widerstrebenden Bundesstaaten vergl. Rede des Staatssekretärs
Delbrück Sten. Ber. des Reichstages XII. Leg.-P. H. Session 1909/11 (Sitzung
vom 18. Oktober 1911), p. 7404.
Blum, Bndofetrecht und Finanzpraxis. 371
aus der Überweisungssteuer oder an die Beteiligung der Einzel-
staaten an den Erträgen der Reichserbschaftssteuer. Dement-
sprechend ist in den deutschen Bundesstaaten das Budgetrecht
der Volksvertretungen tatsächlich stark eingeschränkt und ge-
mindert.
Bei alledem bandelt es sich, wie schon kurz angedeutet, bei den Staats-
Einnabmen und -Ausgaben in Preußen, die ohne die Genehmigung durch die
Kammern der rechtlichen Grundlage entbehrten, nur noch um verhältnis-
mäßig geringfügige Summen, Nach dem Netto-Voranschlag der Staats-
Einnahmen und -Ausgaben für 1911/12 sind bei einem Gesamtbedarf von
833,6 Mill. nicht weniger als 737,8 Mill., also nahezu 90% durch ständige,
auf Gesetzen beruhende, also der Bewilligung nicht mehr unterliegende
Einnahmen gedeckt; davon entfallen rund 380 Mill. auf die direkten
Steuern, 337 Mill. auf die Betriebsverwaltungen (darunter Domänen und
Forsten mit 83 Mill., abzüglich 7,7 Mill. Ki-onfideikommißrente) und Eisen-
bahnen mit 220 Mill. (abzüglich 32,5 Mill. zur Verstärkung des Ausgleichs-
fonds) und 21,3 Mill. auf die sonstigen Einnahmen. Bei den Reinerträgen
der Zölle und indirekten Steuern, die mit 66,8 Mill. erscheinen, handelt es
sich gleichfalls zu einem erheblichen Teil um eigene, fortlaufende, gesetzlich
festgelegte Einnahmen, denn im Etat der Verwaltung der Zölle und in-
direkten Steuern sind „Einnahmen für alleinige Eechnung Preußens" zum
Gesamtbetrage von 69,1 Mll. ausgeworfen, davon allein 65,5 I^lill. aus der
Stempelsteuer. Die Höhe der Erhebungskosten, mithin auch die reine Höhe
des Überschusses ist aus dem Etat nicht ersichtlich. Immerhin wird mit
einem sehr beträchtlichen Reinertrag gerechnet werden dürfen; um diesen
erhöht sich die ständige, der Bewilligung entzogene Gesamteinnahme, die
damit auf weit über 90 Vq steigt. Auch die Staatsausgaben unterliegen nicht
entfernt in ganzer Höhe der Bewilligung, Ausgenommen sind, ungerechnet
den Anteil der Eisenbahnverwaltung an der Staatsschuld, Verzinsung und
Tügung der Staatsschuld mit 92,5 Mill., Kosten des Landtags mit 2,1 Mill.,
Matrikularbeiträge mit 31,3 Mill. Auch die übrigen Ausgaben sind, was
weiter unter des näheren dargelegt werden soll, zum weitaus größten Teil
von solcher Art, daß sie bewilligt werden müssen. Bliebe aber die Ge-
nehmigung einmal aus, so träte keineswegs ein budgetloser Zustand ein ; das
verhindert Artikel 109. Demgemäß hätte auch der Landtag sich damit
abzufinden, wenn die Regierung notgedrungen die Staats Wirtschaft einmal
auf Grund eines Budgets führte, dem die gewählte Kammer nicht zugestimmt
hat^. Nach Artikel 108 beschwören die Mitglieder der beiden Kammern
die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung, sie verpflichten sich also
eidlich auch zur Anerkennung der in den Artikeln 99—104 der Verfassung
enthaltenen Vorschriften. Endlich sind in der Freiheit der Königlichen
Entschließung und in der Mitwirkung des Königs an der Gesetzgebung
wertvolle Garantien zur Sicherung der Staatswirtschaft gegeben. Nach
Artikel 62 der Verfassung ist zu jedem Gesetze erforderlich die Überein-
stimmung des Königs und beider Kammern. Dem Könige steht ferner (nach
^) In den Jahren 1862 und 1864 bildete der Regierungsentwurf des
Etatsgesetzes, dem nur das Herrenhaus zugestimmt hatte, die Unterlage des
Staatshaushalts. Die vom Abgeordnetenhaus vorgenommenen Abänderungen
blieben unberücksichtigt.
24*
372 Blum, Bud^etrecht und Finanzpraxis.
Artikel 51) das Auflösungsrecht gegenüber der Zweiten Kammer zu, so daß
dieser in ihi'er politischen Betätigung eine gewisse Grenze gezogen ist, die
auch bei der Gestaltung des Staatshaushalts innegehalten werden muß. Und
dazu kommt schließlich noch das verfassungsmäßige Eecht des
Königs zur persönlichen Leitung der Politik, das in dem Allerhöch-
sten Erlaß vom 4. Januar 1882 ausdrücklich für Preußen und die gesetzgebenden
Körper des Reichs proklamiert wird. Es ist schlechterdings undenkljar, daß eine
selbständige, nach Pflicht und Gewissen im Hinblick auf das ideelle oder
materielle Staatswohl getroffene Entschließung des Königs von Preußen
zurückgenommen, ignoriert oder negiert wird, weil die Kammern widerstreben.
Im Abgeordnetenhause, solange über dessen Zusammensetzung das heutige
Dreiklassenwahlrecht entscheidet, wird in solchen Fällen durch die Auflösung
und Neuwahlen, im Herrenhause durch das Königliche Berufungsrecht eine
dem WiUen des Heri'schers beitretende Mehrheit sichergestellt werden können.
So vereinigen sich in Preußen Verfassungsinhalt, Ver-
fassungseid, monarchische Tradition und Autorität der Krone,
um auch im Falle eines akuten Budgetkonfliktes die regelmäßige
Erledigung der Staatspflichten und Staatsgeschäfte zu verbürgen.
Genau in demselben Maße und durch dieselben Faktoren ist
aber auch das Budgetrecht des preußischen Landtages gebunden,
und in bestimmter festbegrenzter Richtung festgelegt. Unter
der frischen, z. T. unmittelbaren Nachwirkung der Ereignisse
von 1848 entstanden, verleugnet die preußische Staatsverfassung
auch in dem von den Finanzen handelnden Abschnitt das
Milieu nicht, aus dem sie hervorgegangen: es sollte einem
etwaigen Versuche, das Budget als politische Waffe zu miß-
brauchen, ein Riegel vorgeschoben werden. Hat sich diese
Absicht auch nicht lückenlos verwirklichen lassen, so ist doch
soviel erreicht, daß die Fortdauer der Staatswirtschaft, die
Kontinuität der Wechselwirkung zwischen Staats-
zweck und Staatsleistung durch einen Budgetkonflikt
nicht im mindesten unterbrochen, die Existenz des
Staates nicht im entferntesten in Frage gestellt
werden kann, weil ihm im Falle der Not auch ohne aus-
drückliche Genehmigung seitens der Kammern ausreichende
Existenzmittel zur Verfügung stehen. /
In Preußen sind sich Regierung und Volksvertretung
stets in der Überzeugung einig gewesen, daß die Sache über
die Form gestellt und die von den Vorfahren überkommene,
sozusagen sprichwörtlich gewordene Solidität und pein-
liche Ordnung der preußischen Finanzen unter allen
Umständen erhalten werden müsse. Das ist auch erreicht
worden. Ein solches dauerndes Einvernehmen aber, ein
solcher in der ganzen Welt anerkannter Erfolg wäre sicher
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 373
nicht möglich gewesen, wenn den preußischen Kammern ein
schrankenloses Budgetrecht zur Verfügung und eine schwache
Finanzverwaltung gegenübergestanden hätte. In der preußi-
schen Verfassung mag manches enthalten sein, das angesichts
der modernen Zeit und ihrer Anforderungen die Daseins-
berechtigung verloren hat. Aber nur Unverstand oder Un-
ehrlichkeit werden bestreiten können, daß die Verfassung
vom 31. Januar 1850, gleichsam die Folgen voraus-
ahnend, die die Erweiterung der Eigenwirtschaft des
Staates (Eisenbahn- Verstaatlichung) und der Eintritt in
den bundesstaatlichen Organismus für die preußischen
Finanzen nach sich ziehen würde, dem preußischen
Staate das auf den Weg mitgegeben hat, was er unter
solchen Umständen an Kautelen und Bürgschaften
nötig hatte.
IV. Die Budgetverhältnisse in Bayern.
In Bayern ist das Prinzip der völligen Unabhängigkeit
der staatlichen Existenz von budgetären Machtfragen und par-
lamentarischen Machtfaktoren noch schärfer zum Ausdruck
gebracht. Das Budget erscheint als Anlage des nur die Steuer-
bewilligung enthaltenden Finanzgesetzes; das bayerische Budget
ist überhaupt nicht Gesetz, sondern, wie es in der Verfassung
heißt, die genaue Übersicht der Staatsbedürfnisse sowie der
gesamten Staatseinnahmen. Das Budget ist danach nichts an-
deres als ein gewöhnhcher Wirtschaftsplan und inhaltlich jeden-
falls kein Akt der Gesetzgebung. Aber weiter. In Bayern —
ähnüch übrigens auch in Sachsen^), Württemberg, Baden und
anderen deutschen Mittelstaaten, deren vor 1848 erlassene Ver-
fassungen einerseits auf den älteren ständischen Verhältnissen
fußen, andererseits von der französischen Charte von 1814 be-
einflußt sind — ist die Feststellung des Etats nicht nur materiell,
sondern auch formell ein Akt der Verwaltung. Das dem
bayerischen Landtag verfassungsmäßig zustehende Steuerbewilli-
gungsrecht erstreckt sich nur auf die direkten Steuern, die
allerdings die Haupteinnahmequelle des bayerischen Staates
bilden, und auf neue oder zu erhöhende indirekte Steuern;
') über das Steuerbewilligungsrecht in Sachsen, wo der König die
Budgetanträge der Stände ablehnen und selbst mittels Verordnung die er-
forderlichen Steuern auf ein Jahr ausschreiben und erheben lassen kann, vgl.
F. V. Schroeder, Das Budgetrecht des Königreichs Sachsen, Leipzig 1906,
p. 27 ff., 35 f., 42 f., p. 93, 96.
374 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
es erstreckt sich nicht auf die Einkünfte aus den Staatsgütern
und andere staathche Einnahmequellen wie Gebühren, Zölle usw.,
ist also kein unbedingtes Einnahmebewilligungsrecht. Das
bringt die Sanktionsformel des Finanzgesetzes klar zum Aus-
druck, wenn sie nur die Zustimmung der Kammer der Reichs-
räte und der Kammer der Abgeordneten fordert und erwähnt,
,, soviel die Erhebung der direkten und die Veränderung der
indirekten Steuern betrifft". Dazu kommt noch, daß die Kam-
mern zwar über die Spezialetats befinden, die zur Bestreitung
der Ausgaben des bayerischen Militäretats dienen, aber dabei
doch, und zwar auf Grund des Bündnisvertrages vom 23. No-
vember 1870, an die Etatsansätze sich halten müssen, die bei
den übrigen Kontingenten im Reichsetat Aufnahme gefunden
haben. Aber auch das Steuerbewilligungsrecht ist insofern
bestimmt abgegrenzt, als die Feststellung des Etats nicht benutzt
werden darf, um gesetzliche Neuerungen einzuführen, die an
sich mit dem Etat nichts zu tun haben (Verbot der sog. tackings).
Auch das Recht der Zustimmung zu Veräußerungen von Staats-
gütern und das Recht der Ermächtigung zur Aufnahme von
Staatsanleihen kann das Einnahmebewilligungsrecht nicht zu
einem allgemeinen machen; immer bleiben erhebliche Teile
der Staatseinnahmen der Einwirkung seitens der Volksvertretung
entzogen, sind also als permanente Einnahmen charakterisiert.
Ein korrespondierendes fixes Ausgabebudget für alle gesetzUch
notwendigen Ausgaben, wie Ph. Zorn, Annalen des Deutschen
Reiches 1889 p. 370 meint, existiert in Bayern ebensowenig
wie in fast allen anderen deutschen Staaten; in den meisten
Verfassungsurkunden fehlen derartige Bestimmungen. Aber es
bedarf derer für Bayern sicherlich nicht. Die ausdrückliche
Charakterisierung des Budgets als Übersicht der Staatsbedürf-
nisse und Staatseinnahmen begründet einen bewußten und ge-
wollten Unterschied gegenüber den Staatsgesetzen. Das Verbot
der ,, tackings" spricht deutlich aus, daß der jeweilige Stand der
Gesetzgebung von den Kammern respektiert werden soll. Die
Gesetze, auf Grund deren staatliche Ausgaben zu leisten sind,
bestehen also fort und müssen ausgeführt werden; demnach
wäre eine Nichtbewilligung der gesetzlich festgelegten Ausgaben
ein Unding oder, als offene Auflehnung gegen das Staatsgrund-
gesetz, Verfassungsbruch ^). Überdies wären Versuche der Art von
0 So Finanzminister von Riedel i. J. 1882, bei E. v. Ziegler, Die
Praxis des bayerischen Budgetrechts p. 24; auch p. 26 und passim.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 375
vornherein aussichtslos, da ohne die Zustimmung und Mitwirkung
der Krone Gesetze nicht aufgehoben oder abgeändert werden
können ^). Vermuthch ist die Summe der gesetzhch festgelegten
Ausgaben beträchtlich größer als die Summe des aus Staats-
gütererträgen, Gebühren, Zöllen, ständigen Steuern, Erträgnissen
des Staatsvermögens sich zusammensetzenden fixen Einnahme-
budgets. Für den überschießenden Betrag muß Deckung be-
schafft werden, — auch hier ein deutlicher Anklang an den
alten Grundsatz der ständischen Steuerpolitik, daß Steuern in-
soweit zu erheben sind, als der Ertrag des Staatsvermögens
und der indirekten Staatseinkünfte nicht ausreicht 2). So sind
in der bayerischen Verfassung imperative und prohibitive
Vorschriften in hinreichender Zahl und Wirkung vor-
handen, um das Staatsinteresse und die Staatsexi-
stenz gegen budgetrechtliche Angriffe und Eingriffe
von Seiten der Volksvertretung sicherzustellen.
V. Das Eeichsbudgetrecht.
Die deutsche Reichsverfassung ist das Kind einer anderen
Zeit, und ganz anders waren in ihrer Geburtsstuude die politi-
schen Umstände und die staatsmännischen Auffassungen als
im Geburtsjahr der unter den Nachwirkungen von 1848 ent-
standenen preußischen Staatsverfassung. Das tritt auch in dem
Verfassungsabschnitt über die Reichsfinanzen klar zu
Tage: er verrät deutliche Anlehnung an das französisch-bel-
gische Vorbild, andererseits läßt er Sicherheitsvorschriften ver-
missen, wie sie als Gegengewicht gegen zu weitgehende budget-
rechtliche Freiheit, Selbständigkeit und Machtvollkommenheit
unbedingt zu fordern sind.
In sinngetreuer Übereinstimmung mit der lex annua der französischen
und der belgischen Staatsverfassung bestimmt Artikel 69 der Eeichsverfassung:
„Alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs müssen für jedes Jahr ver-
anschlagt und auf den Reichshaushaltsetat gebracht werden. Letzterer wird
vor Beginn des Etatsjahres nach folgenden Grundsätzen durch ein Gesetz
festgestellt," Auch in Preußen müssen alle Einnahmen und Ausgaben des
Staats auf den Staatshaushaltsetat gebracht werden, wie denn Art. 69 der
Reichsverfassung dem Ai-t. 99 der preußischen Staatsverfassung nachgebildet
ist. Ebenso stipulieren beide Verfassungen den Gesetzescharakter des Budgets
und stellen letzteres wie jedes andere Gesetz in rechtliche Abhängigkeit von
^) Ähnlich in Sachsen, dessen Verfassung (§ 97) ausdrücklich von einer
Pflicht zur Deckung des Staatsbedarfs spricht. Vgl. auch §§ 96 und 104
der sächsischen Verfassung.
') Dazu E. V. Ziegler a. a. 0. p. 145 ff.
376 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
den gesetzgebenden Faktoren, — dort König und die beiden Kammern, hier
Bundesrat und Reichstag. Aber im Reiche begründet die Bestimmung, daß
der Reichshaushaltsetat: „vor Beginn des Etatsjahres" durch ein Gesetz fest-
gestellt werden muß, ein neues Moment der Abhängigkeit der Regierung
und eine Erhöhung des Budgetrechts des Reichstages. Erst dadurch, daß
dieser Zusatz „vor Beginn des Etatsjahres" in dem grundlegenden Artikel
über die Reichsfinanzen Aufnahme gefimden hat, ist die Charakterisierung
des Reichshaushaltsetats als einer lex annua vollendet und über
jeden Zweifel festgestellt. Indem dieser Zusatz für nötig gehalten wurde,
obwohl in demselben Art. 69 bereits die Aufstellung des Reichshaushaltsetats
„für jedes Jahr" angeordnet wird, sollte klar und bestimmt zum Ausdruck
gebracht werden, daß ohne rechtzeitiges und normales Zustandekommen des
Reichshaushaltsetats grundsätzlich weder Einnahinen noch Ausgaben des
Reichs eine rechtliche Unterlage haben. Da der Reichshaushaltsetat nach
IDOsitiver Verfassungsvorschrift unweigerlich Gesetz ist — zweifelsohne auch
Gesetz im materiellen Sinne, weil er Verausgabungen enthält auf Grund von
Gesetzen, die durch Übereinstimmung der gesetzgebenden Faktoren zustande
gekommen .sind und deren Wirkung sich nicht selten auf weitere Etats-
perioden erstreckt — , bliebe das Reich ohne Budget, wenn der Etatsgesetz-
entwurf durch Mehrheitsbeschluß des Reichstages oder des Bundesrats ab-
gelehnt würde 0- Wie zu jedem Reichsgesetz, ist auch zum Reichshaushalts-
etat, wenn er Gesetz werden und die Reichswirtschaft auf legitime Basis
stellen soll, die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrats
und des Reichstags erforderlich und ausreichend. (Art. 5.)
Die Charakterisierung des Reichshaushaltsetats als einer lex annua ist
auch in Art, 71 der Reichsverfassung festgehalten: „Die gemeinschaftlichen
Ausgaben werden in der Regel für ein Jahr bewilligt, können jedoch in
besonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden." Die Regel
ist danach die Votierung der Ausgaben auf die Dauer eines Jahres. Eine
Bestimmung, die, dem Art. 71 entsprechend, auch den Einnahmeertrag bzw.
die Wirkung der Einnahmegesetze auf die Dauer eines Jahres beschränkte,
ist in der Reichsverfassung — abweichend von der belgischen Verfassung —
nicht enthalten.
Ein allgemeines, völlig schrankenlos auf sämtliche Steuern,
Zölle, Abgaben und sonstige Reichseinnahmen sich erstrecken-
des Einnahmebewilligungsrecht ist also dem Reichstage nicht
zugestanden. Die Einnahmegesetze behalten ihre Wirkung,
die Einnahmen aus Gebühren, Stempelsteuern, Zöllen und
Verbrauchsteuern, aus den Überschüssen der Reichseisenbahnen,
dem Reingewinn der Reichsbank usw. fließen nach Art. 38 RV.
in die Reichskasse. Die entsprechenden Ansätze im Etat haben
sekundäre Bedeutung; ihre rechnungsmäßige Unterlage ist die
^) Vgl. den Satz Labands, daß das Parlament die staatsrechtlich
notwendigen Ausgaben, d. h. die Mittel, die zur Ableistung rechtlich finan-
zieller Verpflichtungen des Staates benötigt werden, bewilligen müsse. Bei
E.V. Ziegler, Die Praxis des bayerischen Budgetrechts. München 1905. p. 19.
Mit Bezug auf die Einschi-änkung des Budgetrechts durch Gesetz, s. Laband,
Budgetrecht p. 20 ff.
Blum, BudgetrecM und Finanzpraxis. . 377
Erfahrung der Vorjahre und die jeweihge Wirtschaftslage;
sie enthält aber keinerlei Aktivlegitimation zur Instradierung
des Abgabevorganges; dieser beruht auf gesetzlicher Ermächti-
gung, die vorher oder nebenher ergangen ist. Ferner bleibt
zu beachten : im Reiche bestimmt keine dem Artikel 109 der
preußischen Verfassung analoge Vorschrift, daß die bestehen-
den Steuern und Abgaben, bis ein Gesetz sie abändert, fort-
erhoben werden, und der Reichstag kann mit der Ab-
lehnung des Etatgesetzes die Zweckbestimmung der
Einnahmegesetze für die praktische Wirtschafts-
führung aufheben. Allerdings sind in der Verfassung an
anderer Stelle hinreichende Kautelen vorhanden, die als Be-
schränkung des Budgetrechts wirken und gegen dessen
Mißbrauch schützen. Solche Beschränkungen sind in der Ver-
fassung, in den finanzrechtlichen Beziehungen zwischen Reich
und Einzelstaaten und in der Reichsgesetzgebung enthalten.
In der Verfassung ist ziinächst (Art. 5 Abs. 2) eine Schutzwehr auf-
gerichtet — über die der Reichstag nicht hinweg kann und die ihn auch in
finanzieller Hinsicht verpflichtet — zur Aufrechterhaltung der bestehenden
Einrichtungen im Militärwesen, in der Kriegsmarine, im Zollwesen und in
der in Artikel 35 RV. genannten Verbrauchsbesteuerung. Jedes Etatsgesetz
bietet die Möglichkeit einer Abänderung bestehender Einrichtungen zu
mindesten bei den Zöllen und Verbrauchsteuern. In solchen Fällen wüi-de
der Widerspruch Preußens genügen, um ein solches Etatsgesetz zum Scheitern
zu bringen. Eine gewisse Einschränkung enthält auch Art. 7 Abs. 4. Nach
Art. 58 sind die Kosten und Lasten des gesamten Kriegswesens des Reichs
von allen Bundesstaaten und ihren Angehörigen gleichmäßig zu tragen.
Wie alle übrigen Staaten ist danach auch Bayern, das hinsichtlich seines
Militäretats auf Grund des Bündnisvertrages vom 23. November 1870 eine
Sonderstellung einnimmt, zur Leistung bestimmter Ausgaben für Heereszwecke
verpflichtet, und zwar zu Ausgaben in gleicher Höhe des Geldbetrages, der
nach Verhältnis der Kopfstärke durch den Militäretat des Reichs für die
übrigen Teile des Reichsheeres ausgesetzt ist. Hinsichtlich der Gesamtaus-
gabe, der sog. bayerischen Quote, ist Bayern also abhängig, dagegen hat
es volle Freiheit bei der Aufstellung der Spezialetats seiner Heeresverwaltung,
wenn auch die für das übrige Reichsheer in den einzelnen Titeln ausge-
worfenen Etatsansätze nach Verhältnis zur Richtschnur dienen sollen. (Im
entschiedenen Gegensatz dazu steht für die übrigen Kontingente die Auf-
stellung der Spezialetats dem Reiche zu; der Reichshaushalt enthält also die
Spezialetats für Preußen, Sachsen und Württemberg, nicht aber die für
Bayern). Eine ähnliche Ausnahmestellung ist Bayern hinsichtlich der Rech-
nungslegung durch die Schlußbestimmung zum XII. Abschnitt RV, vor-
behalten. Danach ist durch die jährliche Rechnungslegung nur nachzuweisen,
daß die Überweisung der erforderlichen Summen an Bayern erfolgt ist.
Weder müssen die Einnahmen und Ausgaben im einzelnen auf den Reichs-
haushaltsetat gebracht, noch muß über die Verwendung der einzelnen Posten
zur Entlastung jährlich Rechnung gelegt werden, wie dies in Art. 69 und
378 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
72 allgemein bestimmt ist. Diese Bestandteile des Reichshaushalts sind mit-
hin dem Ermessen und dem unmittelbaren Einfluß des Eeichstages entzogen.
Ebenso sind, nach Art. 78 der Reichsverfassung, die Sonderrechte einzelner
Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit — ohne Zustimmung des
berechtigten Bundesstaats — jedem gesetzlichen Eingriff, also auch dem des
Etatsgesetzes entzogen ^).
Dazu kommen positive Verfassungsvorschriften imd zahlreiche
Gesetzgebungsakte. Art. 62 bestimmt in Abs. 3 und 4: „Die Veraus-
gabung dieser Summe für das gesamte Reichsheer und dessen Einrichtungen
wird durch das Etatsgesetz festgestellt. Bei der Feststellung des Militär-
Ausgabe-Etats vrird die auf Grundlage dieser Verfassung gesetzlich fest-
stehende Organisation des Reichsheeres zu Grunde gelegt." Die Summe ist
also nicht nur vorhanden (sie muß nach Art. 62 Abs. 2 „zur Reichskasse
fortgezahlt werden"), sie ist nicht nur auf einer gesetzlichen Grundlage vor-
handen, es ist auch ein bestimmter Maßstab für die Feststellung dieses Etats
durch die Verfassung vorgeschrieben.
Auf diesem Gebiete ist also das Ausgaberecht des
Reichstages gebunden und eine Ausgabepflicht sti-
puliert. Diese in dem Hinweis auf die gesetzlich feststehende
Organisation von Reichsinstitutionen ausdrücklich ausgespro-
chene Beschränkung des AusgabebeMdlligungsrechts findet sich
— sehr bezeichnend und sehr wichtig ! — nur in dem Abschnitt
der Verfassung über das Reichskriegswesen.
Denn auch für die Marine bestimmt die Verfassung (in Art. 53 Abs. 3):
„Der zui- Gründung und Erhaltung der Kriegsflotte und der damit zusammen-
hängenden Anstalten erforderliche Aufwand wird aus der Eeichskasse be-
stritten." Die für die „Erhaltung der Kriegsflotte" erforderlichen Ausgaben
müssen gemacht, die dazi; nötigen Deckungsmittel müssen beschafft werden.
Der Begriff „Erhaltung der Ki-iegsflotte" hat sich naturgemäß seit 1871 er-
heblich gewandelt. Offenbar sind die Neuforderungen des Flottengesetzes
vom 14. Juni 1900 nicht mehr als im Rahmen der „Erhaltung der Flotte"
liegend verstanden worden, denn § 5 dieses Gesetzes bestimmt: „Die Bereit-
stellung der zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen Mittel unterliegt
der jährlichen Festsetzung durch den Reichshaushaltsetat". In diesem Falle
hat der Gesetzgeber einer Konfliktsmöglichkeit von vornherein den Boden
entzogen, indem er in das Gesetz selbst die Bestimmung aufnahm, daß die
nach Maßgabe des Gesetzes entstehenden Ausgaben jäkrlich durch das Etats-
gesetz bereitgestellt werden müssen.
Wenn somit die Ausgaben für die Bedürfnisse des Reichs-
kriegswesens zu Wasser und zu Lande nach Maßgabe grund-
und reichsgesetzlicher Vorschriften geleistet werden müssen, so
ist damit das Ausgabebewilligungsrecht des Bundes-
rats und des Reichstages für den größten Teil des
*) „Kraft letzterer Anordnung ist eine Tangierung der Reservatrechte
auf dem Wege der Budgetbeschlüsse als verfassungswidrig zu betrachten,"
(Jellinek, Art. Budgetrecht Hdw. d. St. p. 318.)
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 379
Jahresaufwandes im Reiche gebunden. Im Etat für
1911 betragen die Ausgaben für Heer und Flotte 1274 Mill.,
die Netto-Einnahmen (abzüglich der Betriebsausgaben, der
Überweisungen, der Anleihe, der durchlaufenden Post für
die Schuldentilgung) 17öi) Mill. Über zwei Drittel der
Reichsausgaben sind also allein durch die Insti-
tutionen des Reichsheeres und der Flotte bzw.
durch die entsprechenden Verfassungsvorschriften
budgetmäßig festgelegt; daher besitzt für den weitaus
größten Teil des Bedarfs dieser beiden Verwaltungen der
Reichstag nur ein scheinbares, weil in völliger Abhängigkeit
von klaren Verfassungsbestimmungen stehendes Ausgabe-
bewilUgungsrecht.
In ganz ähnlicher Weise wie für die Bedürfnisse des Eeichskriegswesens,
niu" mit weit geringerer finanzieller Tragweite, sind Bundesrat und Reichstag
hinsichtlich ihres Ausgabebewilligungsrechts im Besoldungs- und Pensionsetat
des vom Kaiser auf Vorschlag des Bundesrats auf Lebenszeit ernannten
Reichsbankdirektoriums gebunden. Auch dieser Etat, also der Etat
eines zwischen staatlichem und privatem Unternehmen in der Mitte stehenden
Instituts, wird, in strikter Befolgung der Vorschrift in Art. 69 der Reichs-
verfassung, jährlich im Wege der Reichsgesetzgebung durch den Reichshaus-
haltsetat festgestellt. So bestimmt § 28 des Bankgesetzes vom 14. März 1875,
der im übrigen das Besoldungs- und Pensionswesen der Beamten der Eeichs-
bank dem Ermessen des Reichstages entzieht (die Festsetzung erfolgt dm-ch
den Kaiser im Einvernehmen mit dem Bundesrat auf Antrag des Reichs-
kanzlers). Die Geldmittel für alle diese Zwecke hat aber der Reichstag
nicht zu bewilligen. Sie sind, ohne daß eine Bewilligi;ng zu erfolgen brauchte,
dauernd vorhanden, denn § 28 a. a. 0. bestimmt: „Die Besoldungen, Pen-
sionen und sonstigen Dienstbezüge der Beamten der Reichsbank, sowie die
Pensionen und Unterstützungen für ihre Hinterbliebenen trägt die Reichs-
bank." Gegenüber diesem Institut ist somit das Einnahmebewilligungsrecht
der gesetzgebenden Körperschaften im Reiche ganz, das Ausgabebewilligungs-
recht nahezu ganz aufgehoben.
In demselben Zusammenhang ist die Reichseinnahme aus der Münz-
prägung zu nennen. Es handelt sich dabei um eine laufende Einnahme,
der der Reichstag mit gebundenen Händen gegenübersteht, da über den
Umfang der Prägungen die Reichsbank bzw. der Reichskanzler und die
bundesstaatlichen Finanzverwaltungen, denen die noch vorhandenen 6 Münz-
stätten unterstehen, gemäß den Bedürfnissen des Verkehrs- und Wirtschafts-
lebens, sowie mit Rücksicht auf die Bevölkerungszunahme befinden')- Um-
fang der Prägungen und Höhe des Schlagschatzes werden also nm- bei gleich-
mäßig steigender Konjunktur und Bevölkerungszunahme ungefähr stationär
bleiben. Vollends sind die Privatprägungen und deren Münzgewinne der
Einwirkung von selten des Reiches entzogen. Die Zweckbestimmung des
Münzgewinnes war bis 1910/11 die Verstärkung der sog. eisernen Bestände
des Reichs, die ihrerseits durch Etatsgesetz von 1872 geschaffen sind, aber
^) Vgl. S. 90 Anm.
380 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
aus den normalen Quellen häufig genug nicht ausreichend gespeist werden
konnten. Seit 1911 werden die aus den Prägungen verfügbaren Mittel zu
Schuldentilgungszwecken verwendet. Mit der seitens des Reichsschatzamtes
vorgenommenen Regelung hat sich der Reichstag bisher einverstanden erklärt.
Eine vorübergehende Verstärkung der Betriebsfonds der Reichshaupt-
kasse ist sehr häufig durch Ausgabe von Schatzanweisungen bewirkt
worden, die an die Stelle der in älteren Finanzverwaltungen üblichen, aber
wegen des Zinsendienstes unvorteilhaften baren Reservefonds getreten sind.
Es handelte sich dabei in den letzten Rechnungsjahren um Beträge von
373 Mill., 450 MilL, ja 600 Mill., deren Verausgabung auf Grund von Schatz-
anweisungen durch das Etatsgesetz für zulässig erklärt wurde. Für derartige
Transaktionen, die allerdings durch die kurzfristige Rückzahlungsverpflichtung
an das Wort erinnern „Beim Ersten sind wir fi'ei, beim Zweiten sind wir
Knechte" und ein auf folgende Etatsperioden ausgreifendes Abhängigkeits-
verhältnis begründen, übernimmt der Reichstag — genau wie der Bundesrat
— die volle Verantwortung; in diesem Falle steht also dem Reichstag ein
nicht minder unumschränktes Einnahme- und Ausgabebewilligungsrecht wie
bei den meisten Anleiheoperationen zu').
Die ständigen, auf besonderen Gesetzen beruhenden Einnahmen des
Reichs haben mit dem allmählichen Aufbrauch der aus der französischen
Kriegsentschädigung gebildeten Fonds, zuletzt des Reichsinvalidenfonds, eine
Herabminderung erfahren. Aber auch jetzt noch fließt gemäß Art. 38
RV. der weitaus größte Teil der Reichseinnahmen in die Reichs-
kasse, ohne daß Bundesrat und Reichstag im Etat den Weg der
Gesetzgebung zu beschreiten brauchen. Nach dem Etatsgesetzent-
wurf für 1911/12 sollten erbringen die Reichsstempelabgaben 1H8,1 Mill., die
Zölle 638,3 Mill., die Verbrauchssteuern 646,2 Mill., die Überschüsse der
Reichspost, der Reichseisenbahnen und der Reichsdruckerei 104,1 Mill., die
sog. Verwaltungseinnahmen 75,5 Mill., aus dem Bankwesen 15,6 Mill., zusammen
rund 1678 Mill. Dieser Summe gegenüber, die zur Befriedigung sämtlicher
Reichsausgaben (nach Abzug des Bedarfs bei der Reichsjaost. Reichsdruckerei
und Reichseisenbahnverwaltung) bis auf einen Rest von 475 Mill. ausreicht,
also fast vier Fünftel des gesamten Reichsbedarfs deckt*), treten die sonstigen
Reichseinnahmen, die sich in der Hauptsache aus den Matrikularb ei trägen,
den Schatzscheinen und der Anleihe zusammensetzen, erheblich zurück; sie
repräsentieren in demselben Etat einen Betrag von nur 212 Mill. (Matrikular-
beiträgen), 98 Mill. Anleihe, bis 375 Mill. Schatzanw^eisungen. (Den Matri-
kularb eiträgen stehen 163,5 Mill. Überweisungen gegenüber.) Die erste Gruppe
der Einnahmen hat unanfechtbare gesetzliche Grundlagen, Grundlagen, die
gegen den Willen der Reichsregierung vom Reichstag nicht angefochten
bzw. in ihren finanziellen Erträgnissen nicht willkürlich heraufgesetzt werden
können. Sollte dies dennoch versucht werden, so würde der Bundesrat von
seinem Recht der Verwerfung des Etats Gebrauch machen können.
Dazu kommt, daß der Reichstag mit dem konsequenten
Festhalten an dem System der Matrikularbeiträge die
Verfügung über einen beweglichen Einnahmefaktor von
erheblicher budgetrechtlicher Tragweite sich gesichert hat. Die
0 über die Bedeutung der Etat-Dispositive s. S. 155.
*) Vgl. die Äußerung des Abgeordneten Speck, p. 154.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 381
Einzelstaaten sind zur Zahlung von Matrikularbeiträgen staats-
rechtlich verpflichtet, ebenso sind die Bundesregierungen ver-
pflichtet, die Zahlungen für den gedachten Zweck aus Landes-
mitteln zu leisten, auch ohne daß die ausdrückliche Genehmi-
gung seitens der einzelstaatlichen Landtage usw. erforderlich
wäre; demgemäß könnten die Bundesregierungen unter Berufung
auf Art. 70 RV., Matrikularbeiträge an die Reichskasse ab-
führen, auch wenn ein Etatsgesetz nicht zustande kommt und
demnach eine Ausschreibung in Höhe des budgetmäßigen Be-
trages durch den Reichskanzler nicht erfolgt — alles das ändert
nicht das Geringste an dem beweglichen Charakter dieses Ein-
nahmefaktors im Reich und nichts an der finanzrechtlichen
Tatsache, daß sein Sein oder Nichtsein gänzlich in das
Ermessen des Reichstages gestellt ist^). In bezug auf
die Matrikularbeiträge besteht sowohl hinsichtlich der Höhe
der Beiträge wie hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Heran-
ziehung für finanzielle Reichsbedürfnisse ein volles unein-
geschränktes Budgetrecht des Bundrats und des
Reichstages. Daran ist schlechterdings nicht zu zweifeln 2).
In vollem Bewußtsein dessen, was sie an diesem Bestand-
teil des Budgetrechtes besitzen, haben nahezu alle Fraktionen
des Reichstages dem Vorschlag einer gesetzlichen Fixierung
der Matrikularbeiträge, wie bei allen früheren Anlässen,
so auch neuerdings ^) entschiedenen Widerstand entgegengesetzt.
In den Finanzgesetzentwürfen, die im Spätherbst 1908 dem
Reichstage vorgelegt wurden, war der A'^orschlag enthalten, daß
eine Obergrenze für die Matrikularbeiträge alle fünf Jahre ge-
setzlich festgesetzt werden sollte. Namens der verbündeten
Regierungen erklärte der Reichsschatzsekretär Sydow, daß die
Übernahme eines festen höheren Betrages (80 Pf. pro Kopf der
Bevölkerung) für sie im untrennbaren Zusammenhang mit der
Frage der Festsetzung eines Höchstbetrages für eine gewisse
') Hier wäre auch des Kontrollrechts des Eeichstags, des „zweiten Teiles"
seines Budgetrechts, zu gedenken; indessen wird infolge der meist stark
verspäteten Eechnungslegiing der Kontrollbefugnis des Reichstags nahezu
jeder Inhalt genommen. Darüber dauernd Klagen im Reichstag; vgl. 12. Legis-
laturperiode n. Session 103. Sitzung 3786 A, 3787 D, 3788 A.
^) Vgl. Eeichsschatzsekretär Sydow, 12. Legislaturperiode L Session
163. Sitzung (19. November 1908): „Schließlich können alle Matrikularbeiträge
nur im Wege des Etats festgestellt werden und bei der Feststellung des Etats
haben die verbündeten Regierungen im Bundesrat ebenso mitzureden wie
der Reichstag."
^) Reichstag der Legislaturperiode 1907 — 1911.
382 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Zeit stehe ^). Der Reichsschatzsekretär erinnerte selbst daran,
daß im Jahre 1906 dieselbe Maßnahme mit der Begründung,
daß sie eine Schmälerung des Einnahmebewilligungsrechts des
Reichstages enthalte, abgelehnt worden war, gab aber gleich-
zeitig zur Erwägung, daß der Schwerpunkt des Bewilligungs-
rechts nicht in der Einnahmebewilligung, sondern in der Aus-
gabebewilligung liege, daß also durch den vorgeschlagenen Weg
das Budgetrecht des Reichstages formell und materiell in keiner
Weise beeinträchtigt werde.
Der Reichstag war anderer Meinung 2). Während das Reichs-
schatzamt und die meisten einzelstaatlichen Finanzverwaltungen,
besonders auch der preußische Finanzminister Dr. Lentze"), auf
feste Begrenzung der ungedeckten Matrikularbeiträge unablässig
hindrängen^), haben sich die Parteien des Reichstags ausnahms-
los gegen eine auch nur für einen bestimmten kurzen Zeitraum
gedachte Einschränkung des Einnahmebewilligungsrechts er-
klärt — was freilich wenige Monate später nicht gehindert hat,
daß dieselben Parteien (Konservative und Zentrum), die den
Gedanken der Festlegung so nachdrücklich bekämpft hatten,
in eine Vereinbarung auf die Dauer von fünf Jahren — also
doch hinübergreifend in die neue Legislaturperiode und einen
neuen Reichstag, was der Abgeordnete Dr. Spahn nachdrück-
lichst zurückgewiesen hatte! — schließlich einwilligten,
') 1908 — 163. Sitzung p. 5563 C.
^) Der Zentrumsabgeordnete Dr. Spahn erklärte: „Ich beziehe mich
auf Richter, ich beziehe mich auf Windthorst, die an den Matrikularbeiträgen
als dem beweglichen Faktor der Einnahmebewilligung und der finanziellen
Bedeutung des Einnahmebewilligungsrechtes unbedingt festgehalten haben".
Der Abgeordnete Freiherr von Richthofen -Damsdorf (kons.): „Wir wollen
nicht, daß das Einnahmebewilligungsrecht des Reichstages irgendwie ge-
schmälert wii-d." Der Abgeordnete Dr. Paasche (natl.) äußerte sich dahin:
„Darin liegt die Kraft unseres Einnahmebewilligungsrechts, daß wir, wenn
Matrikularbeiträge zu Recht bestehen, eventuell über die Taschen der Einzel-
staaten verfügen können. . , ." Ähnlich äußerten sich die liuksliberalen Ab-
geordneten Dr. Wiemer und Schrader. Der sozialdemokratische Abgeordnete
Dr. Südekum erklärte: „Wer das Budgetrecht des Reichstages so außer-
ordentlich beschneiden will, der ändert die Verfassung." Und bei der Be-
ratung über die Anträge betreffend die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers
und die Abänderung der Reichsverfassung (2. Dezember 1908) wm-de der
Ausspruch des Abgeordneten Erzberger: „Gesunden können unsere Finanzen
nur, wenn der Reichstag seine Machtmittel, vsde sie ihm das Budgetrecht
gewährt, gebraucht" von dem Abgeordneten v. Dirksen (Rp.) zitiert und
vollinhaltlich gebilligt.
^) In seiner Etatsrede vom 15. Januar 1912.
*) Vgl. auch Rede des Finanzministers Rheinboldt in der zweiten badi-
schen Kammer am 31. Januar 1912.
Blum, Budgetrecht und Knanzj^raxis. 383
VI, Das Greldbewilligungsrecht des Eeichstages.
In fortlaufender, nach einem einheitlichen Plan sich voll-
ziehender Entwicklung hat der Reichstag das Matrikularsystem
in seinem Budgetrecht immer fester verankert, besonders in den
Reichfinanzreformen von 1904 — 1909. Die Reichsverfassung,
in der ursprünglichen Fassung des Art. 70, hatte ,, Beiträge der
einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung" nur
als ein Provisorium gedacht und zugelassen. Sie sollten fähig und
erhoben werden nur, ,, solange Reichssteuern nicht eingeführt
sind". Seit Jahren sind Reichssteuern (reichseigene Steuern)
in großer Zahl vorhanden; trotzdem besteht das System der
Matrikularbeiträge ruhig weiter. Die Mahnung, die verfassungs-
mäßige Verpflichtung, die nur als Provisorium und Notbehelf
gedachte, politisch und wirtschaftlich gleich bedenkliche In-
stitution der Matrikularbeiträge zu beseitigen und Sorge zu
tragen, daß für einen Fehlbetrag im ordentlichen Reichsbedarf
Deckung aus eigenen steuerlichen Einnahmen beschafft wird,
ist vom Röichstag bisher nicht befolgt worden, und die Regierung
hat die Schwäche gehabt, ihrerseits auf der Erfüllung dieser
Pflicht nicht zu bestehen. In dem Bestreben, neben die Ein-
nahmebewilligungspflicht, die in den im Hinblick auf die
Reichsbedürfnisse geschaffenen Finanz- und Steuergesetzen aus-
drücklich ausgesprochen oder stillschweigend enthalten ist, ein
Einnahmebewilligungsrecht mit praktischer Bedeutung, neben
die durch die Verfassung an bestimmte Zwecke gebundene
Ausgabeverpflichtung ein Ausgabebewilligungsrecht zu stellen, ist
das Doppelspiel von Überweisungen und Martrikular-
beiträgen eingerichtet und in einer gesetzgeberischen Szenen-
folge von 1879 bis 1904 durchgeführt worden, bis in letzterem
Jahre durch die sog. lex Stengel (Gesetz vom 14. Mai 1904)
in dem Regierungsentwurf zur Abänderung des Art. 70 der
Verfassung der Passus, der, in Übereinstimmung mit dem
Geist und Wortlaut der Verfassung von 1871, von den ver-
pflichtenden Beziehungen zwischen Matrikularbeiträgen und
Reichssteuern und zwar im Sinne der Abschaffung der ersteren
handelte, vom Reichstag gestrichen und gleichzeitig die
Überweisungen, entsprechend der Regierungsvorlage zu
Art. 70, im neuen Text des Art. 70 ausdrücklich genannt
wurden. Der Reichstag hat damit erreicht, daß diese beiden
Institutionen, die dem ursprünghchen Grundgedanken der Reichs-
finanzwirtschaft widerstreiten, als bleibende v er fassuugs-
384 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
mäßige Einrichtungen das Budgetrecht der Volks-
vertretung in seinem Werte sehr nachdrücklich
betonen und mit einer Wirkungsbefugnis ausstatten, deren
Tendenz und Charakter auch unter dem Gesichtspunkte der
konstitutionellen Garantien nicht verkannt werden kann.
Auch noch in einem anderen Punkte verrät die Neu-
fassung des Art. 70 RV. Einflußnahme auf das Budget-
recht. In der ursprünglichen Fassung des Art. 70 war bestimmt,
daß die Matrikularbeiträge, welche die einzelnen Bundestaaten
nach Maßgabe ihrer Bevölkerung aufzubringen haben, ,,bis zur
Höhe des budgetmäßigen Betrages durch den Reichskanzler
ausgeschrieben werden". Die auszuschreibende Summe war
also in das Ermessen des Reichskanzlers gestellt i). Diese
Befugnis des Reichskanzlers, die Erhebung der Matrikular-
beiträge den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen, also unter
Umständen die Matrikularbeiträge nicht bis zur vollen Höhe
auszuschreiben, ist bereits nach dem Gesetz vom 14. Mai 1904
nicht mehr vorhanden. Denn an der fraglichen Stelle hat
Art. 70 R.V. die Fassung erhalten, daß die Matrikular-
beiträge „in Höhe" des budgetmäßigen Betrages durch den
Reichskanzler ausgeschrieben werden. Ist erst der budget-
mäßige Betrag ermittelt, so gibt es für die Folgezeit kein
Weniger, dieser Betrag muß in voller Höhe mittels Aus-
schreibung erhoben werden, auch dann, wenn ein entsprechendes
Bedürfnis nicht vorhanden ist. Auf der einen Seite ist damit
das Gewicht des beweglichen Faktors in den Reichs-
einnahmen, demgegenüber das Budgetrecht des Reichs-
tags unbeschränkt ist, weiter gesteigert, denn die
Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben, die der Reichs-
tag in der Etatsfestsetzung herausarbeitet, ist nunmehr ganz
*) Dieses wichtige Moment hat Lab and (Staatsrecht IV, 479 Anm.)
treffend hervorgehoben: „Der Reichskanzler ist nicht verpflichtet, die Matrikular-
beiträge in ihrem vollen budgetmäßigen Betrage zu erheben. Liefern die sog.
eigenen Eeichseinnahmequellen unerwartete Überschüsse, so können die
Matrikularbeiträge teilweise unerhoben bleiben, nur müssen alle Staaten in
dieser Beziehung gleichmäßig behandelt werden." Und im Text a. a. 0. :
„Die von den Einzelstaaten im Laufe des Jahres zu machenden Zahlungen,
welche der Reichskanzler gemäß Art. 70 der Reichsverfassung bis zur Höhe
des budgetmäßigen Betrages einzufordern liefugt ist, werden gleichsam nur
ä conto geleistet. So wie im Falle eines Defizits eine Nachforderung an die
Einzelstaaten erfolgen kann, so ist in dem Falle, daß die Einnahmen die
Ausgaben übersteigen, der zuviel erhobene Betrag an Matrikularbeiträgen
zurückzuzahlen."
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 385
bestimmt begrenzt und muß unweigerlich in ganzer Höhe von
den Einzelstaaten aufgebracht und der Reichskasse zugeführt
werden. Auf der anderen Seite hat der Reichskanzler nur
noch den Beschluß des Reichstages zu vollziehen,
bezüglich der Höhe des auszuschreibenden Betrages hat er den
letzten Einfluß verloren, und die Einzelstaaten müssen unter
allen Umständen tatsächlich den Betrag zahlen, den der Reichs-
tag in den Etat eingestellt und der Bundesrat genehmigt hat.
Zweifellos ist auch in dieser Regelung ein neuer Erfolg der
auf die Erhöhung seines Budgetrechts gerichteten
Bemühungen des Reichstags zu erblicken. Denn dieselbe
Institution in der Reichsfinanzwirtschaft, die nach dem klaren
Sinn und Wortlaut der Verfassung als Provisorium gedacht
war und wegen der durch sie bewirkten Verknüpfung zwischen
Reichsbudget und einzelstaatlichen Budgets durch Schaffung
reichseigener Einnahmen beseitigt werden sollte, ist gerade nach
dieser Richtung, analog dem Vorgange im § 8 des Zolltarif-
gesetzes vom 15. Juh 1879 (Einführung der Überweisungen),
nunmehr noch entschiedener entwickelt und festgelegt.
Das Verlangen, das Einnahmebewilligungsrecht
des Reichstages an diesem seinen wichtigsten Teile
zu wahren, war stärker als selbst die Erkenntnis — der
auch die Finanzpohtiker im Parlament sich nicht entziehen
konnten — daß eine gesetzliche Bindung der Matri-
kularbeiträge im allgemeinen Interesse der deut-
schen Finanzverwaltungen gelegen war. Die in der-
selben Richtung in den Jahren 1904 und 1906 bheben
ebenso wie die in Verbindung mit der Finanzreform von 1909
unternommenen Versuche und aus dem gleichen Grunde er-
folglos. Aber nicht nur das. Der Reichstag benutzte beide
Gelegenheiten, um das System der Matrikularbeiträge aus-
zubauen und sich selbst entprechend größeren Einfluß auf
diesem Gebiete der Etatsfeststellung zu sichern. Die budget-
rechtliche Bedeutung des Reichsgesetzes vom 14. Mai 1904, die
in der Beseitigung der Worte ,, solange Reichssteuern nicht ein-
geführt sind" und bezüghch der Ausschreibung in der neuen
Fassung „in der Höhe ihres budgetmäßigen Betrages" zum
Ausdruck kommt, ist bereits oben eingehend behandelt. Auch
bei der Reform von 1906 war in der Matrikularfrage das Er-
gebnis ein ganz anderes, als seitens der verbündeten Regierungen
in Aussicht genommen war. Diese wünschten gesetzliche Bin-
dung der Matrikularbeiträge auf 40 Pf., Aussetzung der Er-
Zeitschrift für Politik. 6. 25
386 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
hebung eines etwaigen Mehrbetrages für das laufende Rechnungs-
jahr und Einweisung der ungedeckten Matrikularbeiträge unter
die ordentHchen Ausgaben des zweitfolgenden Rechnungsjahres.
Der Reichstag lehnte ab, sich dadurch auf eine jährliche Höhe
von 24 Mill. Matrikularbeiträge binden zu lassen, obwohl gleich-
zeitig eine Erweiterung des Einnahmebewilligungs-
rechts bei der Reichserbschaftssteuer angeboten \\airde.
Der Reichstag akzeptierte die Bestimmung, daß der Anteil des
Reichs an der Erbschaftssteuer durch Etatsgesetz festgestellt
wird, gestand aber nur eine scheinbare Bindung der
Matrikularbeiträge zu, indem er gestundete Matrikular-
beiträge einführte, d. h. die Bundesstaaten zur Nachzahlung
des Fehlbetrages im Juli des drittfolgenden Rechnungs-
jahres verpflichtete. Wenn auch diese dritte Kategorie der
Matrikularbeiträge sich als unhaltbar erwiesen hat und durch
die Finanzgesetzgebung des Jahres 1909 wieder beseitigt ist,
so zeigt doch die Tatsache, daß ein solcher Beschluß überhaupt
angeregt und gefaßt werden konnte, wie sehr der Reichstag
von dem Gewicht des Matrikularbewilligungsrechts durchdrungen
ist und wie er auf eine schrankenlose Ausgestaltung dieses
Rechts hinarbeitet!
Auch die in neuester Zeit erfolgte Regelung der Matri-
kularbeiträge im Wege der Verständigung hat daran
nichts geändert. Eine sehr bezeichnende Illustration dazu
lieferte ein Vorgang in der Sitzung des preußischen Ab-
geordnetenhauses vom 10. Januar 1911. Die Bundesstaaten
und das Reich haben im Jahre 1909 mit Wirkung bis zum
Jahre 1913 eine Vereinbarung dahin getroffen, daß auf der
einen Seite das Reich die Branntweinsteuer stets in Höhe des
Etatsbetrages zu überweisen hat, einerlei, welche Beträge in
dem betreffenden Jahre eingenommen werden, und auf der
andern Seite, daß die Bundesstaaten auch rechnungsmäßig stets
einen Betrag von 80 Pf. auf den Kopf der Bevölkerung des
Reichs an ungedeckten Matrikularbeiträgen an das Reich ab-
zuführen haben. Als der preußische Finanzminister Dr. Lentze
in der erwähnten Sitzung von dieser Vereinbarung sprach und
dabei sagte, der Betrag an ungedeckten Matrikularbeiträgen sei
auf 80 Pf. für den Kopf festgesetzt, erfolgte Widerspruch von
der linken Seite des Hauses — ein deutlicher Hinweis darauf,
daß unter keinen Umständen der Vermutung Nahrung gegeben
werden soll, als habe der Reichstag mit jener Abgrenzung der
Matrikularbeiträge, die im Wege der Vereinbarung zustande
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 387
gekommen ist, irgendwie in eine, wenn auch noch so gering-
fügige, Einschränkung seines Einnahmebewilhgungsrechts ge-
wilHgt^). Diese zähe und zielbewußte Konsequenz ist um so
bemerkenswerter, als der Reichstag noch andere Mittel
in Händen hat, um sein Budgetrecht praktisch zu
betätigen. Der Staatssekretär des Reichsschatzamts Wermuth
hat jenes Abkommen über den Matrikularbeitrag als den
Schlußstein für eine selbstverantwortliche Eigenwirtschaft des
Reiches bezeichnet. Er hat damit wohl aussprechen wollen,
daß auch er den Gedanken einer gesetzlichen Bindung der
Matrikularbeiträge in absehbarer Zeit für aussichtslos hält.
Aber selbst wenn der Gedanke Wirklichkeit würde, das Ein-
nahmebewilligungsrecht wäre dann kaum geschmälert, denn die
Ermächtigung des Reichskanzlers durch das Etats-
gesetz zur Beschaffung großer Teile des Reichsbedarfs bliebe
nach wie vor bestehen ebenso wie der andere wichtige Bestand-
teil des Einnahmebewilligungsrechts, die Zustimmung zur
Aufnahme einer Anleihe, bzw. Übernahme einer Garantie.
Sehr viel weniger hat sich der Reichstag um die Wahrung
oder Erweiterung seines Ausgabebewilligungsrechts bemüht.
Sehr einschneidende Verletzungen dieses Eechts hat er lange Zeit hin-
durch fast ohne Widerspruch hingenommen. Mit größerem Nachdruck ist
ein Protest erst im Jahre 1908 erfolgt, nachdem im Etat von 190.5 Über-
schreitungen im Betrage von fast 16 Mill., in der Eechnung des Jahres 1907
Etatsüberschreitungen und außeretatsmäßige Ausgaben von
51 Va Mll. festgestellt waren. Allerdings ist der Eeichstag bei solchen Eigen-
mächtigkeiten der Etatspraxis (Verstoß gegen Art. 69 EV.) von Schuld
nicht freizusprechen. Er selbst ist es zumeist, der die Erträge der Einnahmen
ansatzmäßig erhöht und darauf Ausgaben begründet bzw. damit den Fehl-
betrag zu mindern sucht. So werden dann, da notwendige Ausgaben Be-
friedigung verlangen, Etatsüberschreitungen usw. unvermeidlich '*). Und wenn
nachträglich Entlastung nachgesucht und erteilt wird, so ist das nur eine
Formalität, kein eigentliches Ausgabebewilligungsrecht').
^) Die gleiche Auffassung wurde in den Verhandlungen über die Vor-
lage zur Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres wieder-
holt zum Ausdruck gebracht.
^) Über Sicherungsmaßnahmen des Eeichstags und die tatsächlichen
Zustände cf. Sten. Ber. des Eeichstags Bd. 266 p. 6337 C; Bd. 263 p. 3787 D,
3788 A.
^) Vgl. Abg. Speck. „Ich will den Fall setzen, der Eeichstag versagt
einmal diesen Etatsüberschreitungen seine Genehmigung! Was dann? dann
werden diese Überschreitungen eben einfach so lange in der Übersicht fort-
geführt, bis sich schließlich ein Eeichstag findet, der sie genehmigt."
(Eeichstagssitzung vom 5. Dezember 1908 p. 6009 C)
25*
388 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Die Einnahmewirtschaft ist eben immer, und mit
Recht, als der wichtigere Teil der Haushaltführung angesehen
worden. Einmal sind im Reichshaushalt die Ausgaben, ins-
besondere für Heer und Flotte, für Verwaltungs- und Betriebs-
zwecke, in solchem Maße gebunden, daß für die freie
Ausgabebewilligung nur noch verhältnismäßig gering-
fügige Summen zur Verfügung stehen i).
Und dann erscheint es selbstverständlich, daß die vor-
handenen Einnahmen einem angemessenen, dem Bedürfnis und
dem Interesse des Reichs entsprechenden Verwendungszweck
zugeführt, bzw. im Sinne des bereits gesetzlich festgelegten
Verwendungszweckes verausgabt werden. Mithin kann man
ruhig sagen, daß der Reichstag nur etwas Selbstver-
ständliches und Naturnotwendiges tut, wenn er
die Quoten des Ausgabeetats einstellt und durch
das Etatsgesetz feststellt.
Die Ausgaben sind zum weitaus größten Teil durch Gesetz
festgelegt, also unabhängig von den Entschließungen und Willens-
akten der gesetzgebenden Faktoren. Hinsichtlich der fortdauern-
den Ausgaben ist das Ausgabebewilligungsrecht zumeist auf-
gehoben, bzw; überhaupt nicht vorhanden. Wohl aber hat der
Reichstag bei der allerdings geringeren Zahl und Bedeutung
der einmaligen Ausgaben ein tatsächliches Ausgabebewil-
hgungsrecht in Händen, über dessen Bedeutung noch aus an-
derem Anlaß zu sprechen sein wird ^).
Endlich sind noch die Dispositive im Etat zu nennen,
die zwar keine Geldbewilhgung im eigentlichen Sinne, wohl
') Vgl. die Äußerung des Abg. Speck. Wo neun Zehntel unserer
Ausgaben von vornherein durch Gesetz festgelegt seien, könne man nicht
ernstlich davon sprechen, daß der Eeichstag ein unbegrenztes Ausgabe-
bewilligungsrecht habe. (Reichstagssitzung vom 26. Nov. 1908 p. 5745D.)
^) In der Sitzung des Reichstags vom 18, Februar 1908 fand eine in-
teressante Debatte statt über die etatsrechtliche Behandlung einer
Resolution. Die sozialdemokratische Fraktion vertrat die Auffassung, daß
im Etatsrecht des Reichstags vollkommen begründet sei, ohne die vorherige
Zustimmung der verbündeten Regierungen, also aus eigener, fi-eier Initiative,
Positionen im Etat einzustellen; die Regierung habe nur die Entscheidung
darüber zu treffen, ob sie im Streitfalle den Etat nicht zustande kommen
lassen wolle. Entgegen dieser Auffassung wurde aber überzeugend dargetan,
daß die Zustimmung des Bundesrats unbedingt erforderlich sei und daß eine
Mehrausgabe (in dem betr. Fall 690000 Mark für Ostmarkenzulagen im Etat
der Reichspostverwaltung) nicht mehr zwischen zweiter und dritter Lesung
in den Etat eingeschoben, sondern nur in einem Nachtragsetat und nach
dreimaliger Lesung bewilligt werden könnte.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 389
aber eine solche insofern aussprechen, als sie die Verwendung
der Gelder an bestimmte Vorschriften und Normen binden, die
ohne Zustimmung des Reichstags nicht abgeändert werden
können. Jede A'^erwaltung muß Rechenschaft geben, wenn sie
den betreffenden Etatstitel überschreitet.
Darüber hinaus liegt die budgetrechtliche Natur
der Ausgabebewilligung in den Beziehungen zu dem be-
weglichen Teil der Reichseinnahmen und zur Reichssteuergesetz-
gebung. In einer Finanzepoche, in der die Losung lauten muß
,, Keine neue Ausgabe ohne gleichzeitige volle Deckung", ist
dieser Zusammenhang von größerer Bedeutung als jemals zuvor.
Gewiß sind die Einnahmen des Reichs zum größten Teil ent-
weder durch die Verfassung, in Art. 38 und 70, oder durch
bestehende Einnahmegesetze festgelegt. Diese Einnahmegesetz-
gebung ruht nicht, sie hat vielmehr in steigendem Grade Akti-
vität gezeigt und sie ist immer häufiger, wenn nicht in un-
mittelbaren, so doch in allerengsten Zusammenhang mit der
Reichswirtschaft gebracht worden. Wiederholt sind Einnahme-
gesetze gleichzeitig mit dem Etat vorgelegt und nahezu gleich-
zeitig verabschiedet worden; kaum in Kraft getreten, haben
sie ihre Erträgnisse zur Bestreitung von Nachtragsetats her-
geben oder sonst die Mittel des Reichs verstärken müssen. Im
Jahre 1911, mit Wirkung für das Rechnungsjahr 1911/12 ist
sogar der Fall vorgekommen, daß die mutmaßlichen Erträge
eines Steuergesetzes, das noch nicht ergangen und dessen
Schicksal bei seiner etatsmäßigen Inanspruchnahme für den
Reichsbedarf sehr zweifelhaft war (Reichszuwachssteuer mit
50 Prozent Anteil für das Reich) auf den Reichshaushaltsetat
gebracht wurde, gleichzeitig mit angeforderten neuen Ausgaben
in entsprechender Höhe (Heeresverstärkung und Erweiterung
der Veteranenbeihilfen) ^). Zugleich mit demselben Etatsentwurf
wurde ein neues Quinquennat vorgelegt und im Laufe der
Etatsberatung verabschiedet, obwohl über die finanzielle Trag-
weite der darin angestrebten Heeresverstärkung keinerlei zu-
verlässige Angaben gemacht wurden und auch der tatsächliche
^) In Preußen hat bezeichnenderweise eine ähnliche Praxis bisher nisht
Eingang gefunden. Die letzte Novelle zur Neuordnung der direkten Staats-
steuern ist zwar nur wenige Tage nach dem Staatshaushaltsetat für 1912 (im
Januar 1912) dem Landtage vorgelegt worden, aber die Voranschläge des
Etats sind völlig unabhängig von den Wirkungen der Einkommen- und Er-
gänzungssteuernovelle aufgestellt.
390 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Ertrag der zur Deckung bestimmten Reichszuwaehssteuer eine
unbekannte Größe war. So korrekt und finanzpolitisch richtig
damit verfahren ist, so hegt darin zugleich ein Anerkenntnis
des Budgetrechts des Reichstages von Seiten der Re-
gierung, das die Natur und Tragweite der Beziehungen
zwischen Ausgabebewilligung und Einnahmebewilligung deutlich
hervortreten läßt. Wenn in diesem Falle die verbündeten Re-
gierungen die Übernahme von Mehrleistungen ausdrückhch in
das budgetrechtliche Ermessen des Reichstags gestellt haben,
so ist ein ähnhcher Weg, und zwar entgegen den Ansichten
und Wünschen der verbündeten Regierungen, vom Reichstag
zuerst beschritten worden. Der Reichstag hat von seinem
Einnahmebewilligungsrecht Gebrauch gemacht und hat sich und
die Regierung auf einen bestimmten Verausgabungszweck fest-
gelegt, indem auf seine Veranlassung in das Zolltarifgesetz
vom 25. Dezember 1902 (§15) die Bestimmung aufgenommen
wurde, daß gewisse Mehreinnahmen an Zöllen für die Zwecke
einer Witwen- und Waisen Versorgung festgelegt werden sollten.
In jedem neuen Rechnungsjahre hat dieser Bestimmung bei der
Etatsaufstellung Rechnung getragen werden müssen, praktische
Bedeutung hat sie allerdings nur in einem Jahre (1907) erlangt.
Die Heranziehung und Betrachtung ähnhcher Maßnahmen
würde zu weit führen ; das Ergebnis wäre auch nur Bestätigung,
bzw. Wiederholung des Verfügungsrechts über die Ein-
nahmegestaltung, von dem der Reichstag mit größerer Ent-
schiedenheit erstmalig im Jahre 1879 Gebrauch gemacht hat.
Der durch die Verfassung bedingte Grundsatz, daß im Reichs-
etat, von den Fällen eines außerordentlichen Bedürfnisses (Art. 73)
abgesehen, ein Defizit nicht möglich ist, weil die Bundesstaaten
in voller Höhe des Restbedarfs zur Zahlung herangezogen werden
können, und ferner das Abrechnungsverhältnis zwischen Reich
und Bundesstaaten infolge der verschiedenen Einnahme- und
Ausgabegemeinschaften innerhalb des Reichs haben s. Zt. zu
der allerdings provisorisch gedachten Beibehaltung des Matri-
kularsystems, dieses zur Zeit des Zollvereins und des Nord-
deutschen Bundes berechtigten sozietätsmäßigen Bestandteils
der Finanzwirtschaft, Anlaß gegeben. Nach dem klaren Wort-
laut der Reichsverfassung (Art. 70) sollte es bei diesem Zustande
aber nur so lange bleiben, bis Reichssteuern eingeführt würden.
Für die Deckung der gemeinschaftlichen Ausgaben des Reichs
sollten also ausschließlich Reichsquellen in Anspruch genommen
werden.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 391
Über diese eindeutige Verfassungsbestimmung bat sich der Reichstag,
und zwar unter Führung des Zentrums, mit immer größerer Bedenken- und
Rücksichtslosigkeit hinweggesetzt. Den Anfang des hier durchlaufenen, für
die Entwicklung des Budgetrechts des Reichstags und die Beurteilung dieser
Phase unseres politischen Lebens aliein ausschlaggebenden Weges Vjezeichnet
der einem Antrag des Zentrumsabgeordneten Franckenstein entsprechende
§ 8 des Zolltarifgesetzes vom 15, Juli 1879, der bestimmt, daß von
den Einnahmen aus den Zöllen und der Tabaksteuer nur der Betrag von
130 Millionen dem Reiche verbleiben, die über diesen Betrag hinausgehende
Summe aber den Bundesstaaten herausgezahlt werden sollte. Auf diese Weise
wollte der Reichstag, nach der Darlegung des Antragstellers, sein Einnahme-
bewilligungsrecht, das im ordentlichen Etat mit den Matrikularbeiträgen
steht und fällt, nicht gefährden lassen, sondern vielmehr fest verankern und,
wenn nicht für alle Zeiten, so doch so lange festlegen, bis ein anderer beweg-
licher Einnahmefaktor, ähnlich wie die Matrikularbeiträge, im Rahmen der
Finanzwirtschaft des Reichs geschaffen sei. Die bisher letzten Etappen
auf dem im Jahre 1879 betretenen Wege sind die Finanzreform von
1904 (teilweise Aufhebung der Franckensteinschen Klausel, Beschränkung
der Überweisungspolitik auf ungefähr ein Drittel ihres bisherigen Umfanges,
Beseitigung des provisorischen Charakters der Matrikularbeiträge, Festlegung
in Höhe des budgetmäßigen Betrages), ferner die Finanzreform von 1906
(Gesetz vom 3. Juni 1906: Einführung des Systems der gestundeten Matri-
kularbeiträge, d. h. mindestens in der Theorie wesentliche Erweiterung des
Einnahmebewilligungsrechts), endlich die Finanzreform von 1909 (Gesetz
vom 15. Juli 1909: Erhöhung des Kopfbetrages der ungedeckten Matrikular-
beiträge von 40 auf 80 Pfennig, Beibehaltung des Systems der Überweisungen
und Matrikularbeiträge trotz Vereinbarung über zeitweise Festlegung des Be-
trages; nur noch eine Überweisungssteuer, die Branntweinverbrauchsabgabe,
d. h. gegebenenfalls größere Unabhängigkeit hinsichtlich der Festsetzung der
Matrikul arbeiträge) .
Wie ein roter Faden zieht sich durch diese genau dreißig-
jährige Entwicklungsperiode als Richtschnur die Losung:
unter keinen Umständen Preisgabe des Einnahmebewilligungs-
rechts i) durch Verzicht auf die Beweglichkeit der Matrikular-
beiträge, vielmehr Festlegung dieser Institutionen und Er-
weiterung des Einnahmebewilligungsrechts, selbst
aufKosten einer gesunden und vernünftigen Finanz-
wirtschaft 2).
^) Das Einnahmebewilligungsrecht des Reichstags wird auch durch so-
zusagen automatisch hinzutretende Mehreinnahmen tangiert, z. B. im Etat
für 1911 durch Steigerung des Aufkommens aus den Matrikularbeiträgen
infolge der Volkszählung von 1910, sowie infolge des jährlichen Bevölkerungs-
zuwachses durch Erhöhung des Silberprägungsgewinnes, da an dem Betrage
von 20 Mark auf den Kopf der Bevölkerung (laut Münzgesetz von 1909) noch
3,90 Mark fehlen.
^) Die durch die Schutz- und Finanzzollgesetzgebung des Jahres 1879
bewirkten Mehreinnahmen hätten für eine Reihe von Jahren Matrikular-
beiträge völlig entbehrlich gemacht. Lediglich zu dem Zwecke, das in dem
392 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
In einem Reichstag, in dem das Zentrum, seitdem die un-
heilvollen Wirkungen des Überweisungs- und Matrikularsystems
hervorgetreten, bis zum Jahre 1912 stets die stärkste Ver-
tretung besessen, konnte füghch eine andere Entwicklung nicht
erwartet werden! Das Zentrum hat dabei stets an dem Grund-
gedanken festgehalten, daß die Gesamtsumme der einmaligen
Ausgaben einem erheblichen Teil des den Einzelstaaten
durch die Überweisungen zuzuführenden Betrages zu ent-
sprechen habe.
Im Rechnungsjahre 1908 beliefen sich nach dem Etatsgesetz die Über-
weisungen auf 195,7 Mill. Mark, die einmaligen Ausgaben auf 329,4 Mill. Mark;
im Jahre 1909 standen 195,2 Mill. Überweisungen 393,7 Mill. einmaligen
Ausgaben gegenüber; im .Jahre 1910 waren 180 Mill. Überweisungen und
351,7 Mill. einmalige Ausgaben im Etatsgesetz enthalten, im Etatsentwurf für
1911 163,5 Älill. Überweisungen und 318,1 Mill. einmalige Ausgaben. Auch
in dieser Gegenüberstellung von Eeichsausgaben und bundesstaatlichen Ein-
nahmen — denn nach der Höhe der Überweisungen richtet sich die Höhe
der bedeckten Matrikularbeiträge — soll, jährlich sich wiederholend, deutlich
auf das Budgetrecht des Reichstags hingewiesen werden.
Ohne Bewilhgung der einmaligen Ausgaben keine Über-
weisungen, ohne Überweisungen entsprechend stärkere Heran-
ziehung der Einzelstaaten zur Deckung des Fehlbetrages im
ordentlichen Etat; ohne Genehmigung des Etatgesetzes durch
den Reichstag keine Aufrechnung der Überweisungs-Steuer-
einnahmen gegen die Matrikularbeiträge, dagegen Vereinuahmung
der Überweisungssteuern durch die Einzelstaaten und Abführung
an das Reich — in diesem Widerspiel haben Budget-
recht und Etatspraxis ein sehr wirksames Gegen-
gewicht dagegen geschaffen, daß ein erheblicher
Teil der Einnahmen und Ausgaben durch Ver-
fassung oder selbständige Gesetze festgelegt ist,
ein Gegengewicht, das die weitgehende Abhängig-
keit der Etatsfeststellung von dem Ermessen und
Willen des Reichstags eindrucksvoll hervortreten
läßt.
Was im ordentlichen Etat die Matrikularbeiträge sind, ist
im außerordentlichen Etat die Anleihe. Nach Art. 73 RV.
ist die Zustimmung des Reichstags zur Aufnahme einer Anleihe
erforderlich; die Aufnahme kann nur in Fällen eines außer-
Matrikularsystem liegende Bewilligungsrecht nicht verkürzen zu lassen, wurden
die Überweisungen an die Einzelstaaten so bemessen, daß diese das Erhaltene
in der Hauptsache als Matrikularbeiträge an das Reich wiederum zurück-
zahlen mußten!
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 393
ordentlichen Bedürfnisses erfolgen. Ohne den Reichstag also
kein Einvernehmen über Regelung und Deckung des außer-
ordentlichen Bedarfs, ohne den Reichstag keine Verständigung
über den Begriff und Maßstab des außerordentlichen Bedürf-
nisses. Dieser Teil des Einnahm ebewilligungsrechts
wird gewöhnlich stark unterschätzt. Wenn man sich
aber vergegenwärtigt, daß von der Gesamtsumme der Einnahmen
durch Anleihe gedeckt wurden im Etatsjahr 1905 der siebente,
in 1906 der neunte, in 1907 der zehnte, in 1908 der elfte, in
1909 der vierzehnte, in 1910 der achtzehnte Teil der Einnahmen,
Beträge zwischen 152 und 342 Mill. Mark, so wird man zu
richtiger Würdigung dieses Einnahmefaktors und seiner budget-
rechtlichen Grundlage gelangen. Im Laufe der Jahrzehnte haben
Bundesrat und Reichstag von der von der Verfassung offenbar
gemeinten Voraussetzung für die Heranziehung von Anleihen
sich soweit entfernt, daß sogar Fehlbeträge im ordentlichen
Etat durch das Mittel der Anleihe, der sog. Zuschuß an leihe,
vor der Hand beseitigt wurden.
Angesichts dieser Entwicklung wäre es vollkommen irrig,
etwa aus der zuletzt in den Jahren 1904, 1906 und 1909 vor-
genommenen teilweisen Einschränkung der Überweisungspolitik,
aus der Vereinbarung über die Höhe der Matrikularbeiträge
für eine fünfjährige Periode oder aus dem im § 5 des Flotten-
gesetzes vom 14. Juni 1900 ausgesprochenen Verzicht auf das
Recht der jährlichen Ausgabebewilligung auf ein schwindendes
Interesse des Reichstags in budgetrechtlicher Beziehung schließen
zu wollen. Das wäre vielleicht eine noch größere Täuschung
als die Auffassung, die in den Matrikularbeiträgen bloß eine
rechnungsmäßige Operation erblickt. Die entwickelten Tat-
sachen zeigen, daß der Reichstag den entgegen-
gesetzten Weg gegangen ist, zielbewußt wollend
und erfolgreich vollbringend gegangen ist, und nun
und nimmer würde er sich, ohne den entschiedensten Wider-
stand zu leisten, von dieser konsequent innegehaltenen Bahn
abbringen lassen.
VII. Die parlamentarische Behandlung des Budgets.
Sie äußern sich bereits in dem in bestimmten regelmäßigen
Zeiträumen, meist alljährlich wiederkehrenden, finanzpolitischen
Vorstadium, der Vorbereitung des Etats. In England ist
die Aufstellung der Etats nicht ausschließlich Sache der zu-
394 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
ständigen Finanzbehörden. Nachdem die von den Ressort-
ministern übersandten Ausgabeetats im Schatzamt eingegangen
sind, werden sie dort von sechs MitgHedern des Unterhauses,
die als Kommissare und Sekretäre fungieren, unter Leitung des
Ersten Lords des Schatzes und des Schatzkanzlers, die Mitgheder
der Regierung sind, durchgeprüft und in der Form, in der sie
die committees of the whole house beschäftigen sollen, aufgestellt.
Der Einnahmeetat mit den Bestimmungen über die beweglichen
Einnahmen (Einkommensteuer, Verbrauchszölle, Steuererhö-
hungen usw.) wird in der Treasury aufgestellt. Dieser ist
andererseits die Einwirkung auf die einzelnen Positionen des
Armee- und Marineetats entzogen, eine Beschränkung ihrer Be-
fugnisse, die auch darin zum Ausdruck kommt, daß die Etats
der Armee- und der Marineverwaltung im Unterhause von den
beiden zuständigen Ressortministern, nicht vom Chancellor of
the Exchequer vertreten werden. Somit hat tatsächUch das
Parlament als solches oder wenigstens die Mehrheit des Parla-
ments, aus der die genannten Minister hervorgegangen sind,
über die Aufstellung sämtlicher Etats zu befinden.
Diese sogleich im Vorstadium einsetzende Beteiligung von
Abgeordneten an der Butgetgebarung weicht erheblich ab von
dem im Reiche und in den meisten deutschen Einzelstaaten
üblichen System, wonach Vorbereitung und Aufstellung des
Etats, die natürlich in Gemäßheit der bestehenden Gesetze, der
Grundsätze der Verwaltung, der Bedürfnisse der Staatswirtschaft,
nicht zuletzt in Gemäßheit der in den Parlamenten hervor-
getretenen Wünsche und Auffassungen erfolgen muß, ganz in
den Händen der vollziehenden Gewalten liegen; aber das in
England übliche Verfahren gewährt doppelten Vo r -
teil. Ein großer Teil des Mißtrauens, das, oft genug in
der Unkenntnis der Verhältnisse begründet, gegen die Voran-
schläge und Forderungen der Regierung, bzw. der Einzelressorts
zu bestehen pflegt oder aus parteipolitischen Motiven, besonders
seitens der Opposition zur Schau getragen wird, ist von vorn-
herein ausgeschaltet. Die an der Vorbereitung des Budgets be-
teiligten Partei Vertreter werden jede Position gewissenhaft darauf-
hin prüfen, ob sie mit den gesetzlichen Bestimmungen im Ein-
klang steht und"^ nicht auf prinzipiellen Widerspruch seitens der
Parteien, in deren Auftrag sie als Kommissare fungieren, zu
rechnen hat. Das Parlamentsstadium der Budgetgebarung kann
infolgedessen ruhiger, leidenschaftsloser, sachlicher verlaufen
und auch hinsichtlich der Dauer in bemerkenswertem Umfang
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 395
eingeschränkt werden, indem Auskünfte, Berichtigungen, über-
haupt Auseinandersetzungen nicht in dem Umfange erforder-
lich werden wie da, wo Staatsbehörden und Ministeriahnstanzen
allein die verantwortlichen Redakteure sind. In England be-
steht nun, nach verschiedenen Phasen im Jahre 1902 abge-
schlossen, die Einrichtung der 20 bzw. 23 allotted days für
die eigentliche Budgetberatung. In der Praxis stellte sich näm-
lich heraus, daß die Vorbereitung des Budgets unter Mitwirkung
von Unterhausmitgliedern und die anderen Umstände, die die
Budgetberatung zeitlich hätten einschränken können (Entlastung
der Budgetberatung durch das permanente Budget, Fehlen der
Initiative zu Mehrbewilligungen u. a. m.) keineswegs diese Wir-
kung gehabt haben. Aber weshalb konnte sich diese Wirkung
nicht einstellen? Weshalb wurden die zweite und dritte Lesung
der die votes der beiden committees zusammenfassenden Bill
bis an das Ende der Session, gewöhnlich Anfang August, hinaus-
geschoben, ja, die Session damit geschlossen? Es ist das Be-
dürfnis der stets und ständig um ihre Machtstellung besorgten
und bemühten Parlamentsregierung, das hier seine Wirkungen
äußert. Tatsächlich nämlich ist die Budgetberatung, wenigstens
das, was man gewöhnlich darunter versteht, keineswegs auf
jene 20 oder 23 Tage beschränkt. Als allotted days kommen
nur diejenigen Sitzungstage in Betracht, die ausschließlich der
Beratung der jährlichen Voranschläge für Heer, Flotte und
Zivildienst gewidmet sind. Verhandlungen über das Budget
oder im Anschluß an das Budget — Debatten allgemein poli-
tischer Natur — können auch an zahlreichen anderen Sitzungs-
tagen stattfinden; z. B. an den Sitzungen, deren Tagesordnung
Budgetangelegenheiten erst an zweiter, dritter usw. Stelle nennt.
Auch sonst schützt die Frist der 20 Tage nicht im mindesten
vor ausgiebiger Benutzung der Handhaben und Anknüpfungs-
punkte, die das Budget zu politischen Exkursen und Kritiken
bietet, und tatsächlich zieht sich, ähnlich wie im Deutschen
Reich, die parlamentarische Behandlung des Budgets über einen
Zeitraum von reichlich fünf Monaten hin, wobei noch zu be-
achten ist, daß vielfach an einem und demselben Tage Doppel-
sitzungen (nachmittags und abends) behufs Förderung der Budget-
beratung abgehalten werden.
Welche Unsummen von Schwierigkeiten, Hemmnissen,
Verzögerungen, Gefahren und Erschwerungen könnten dabei
entstehen und der ruhigen, normalen Abwicklung der Etats-
arbeit hinderhch werden, wenn nicht durch das Zusammen-
396 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
wirken von Regierung und Unterhaus bei der Aufstellung der
Voranschläge durch die Einrichtung des Consolidated fund und
des Systems der stehenden Einnahmen, durch das alljährlich
wiederkehrende Budgetprovisorium, durch die Vorschußver-
pflichtung der Bank von England, durch die Beteiligung des
ganzen, zum Ausschuß gewandelten Hauses, in dem der Aus-
schußvorsitzende den Platz des Speaker einnimmt, an der Ein-
nahme- und Ausgabefeststellung, in dem committee of ways
and means, ganz besonders auch durch das Bewußtsein, daß
das System der allotted days unter allen Umständen einen un-
erläßlichen Zwang für die rechtzeitige (nach englischer
Anschauung) Verabschiedung der beiden Finanzgesetze darstellt,
vor allem aber durch die Prärogative der Krone, wovon
später die Rede sein soll, eine weitgehende Gebundenheit ge-
schaffen wäre, eine Gebundenheit, die der parlamentarischen
Regierung und Verwaltung in England als notwendiges, segens-
reiches und unentbehrliches Korrelat gegenübergestellt ist^).
In der gleichen Richtung wirkt ein anderes Moment.
Das Unterhaus als solches, d. h. als Plenarversammlung,
besitzt keinerlei Initiativrecht in Geldangelegenheiten.
Ein solches steht nur dem als committee formierten Hause zu,
aber mit der wichtigen Einschränkung, daß die commitees nur
Anträge auf Herabsetzung der in den Voranschlägen ausge-
brachten Positionen stellen dürfen. Dagegen ist der Träger
der Krone auch auf dem finanziellen Gebiet in seinem Ver-
hältnis zum Unterhause mit sehr weitgehenden Befugnissen und
Rechten ausgestattet. Die Regierung stellt einen entsprechenden
Antrag, etwa in der Form: .... that a sum not exceeding
^ . . . . be granted to His Majesty to complete the sum
necessary etc. Die Mitglieder des Kabinetts sind aber nicht in
der Lage, wichtige Gesetzentwürfe ohne die ausdrückliche Ge-
nehmigung des Herrschers dem Parlament vorzulegen 2). Auch
dadurch werden in großer Zahl Streitfragen ferngehalten, wie
sie im Deutschen Reiche durch den Reichskanzler, in Preußen
durch den mit einem Vetorecht ausgestatteten Finanzminister,
letzten Endes durch den König entschieden werden müssen.
') Wie anders in Frankreich, wo die Erledigung des Finanzgesetzes,
diese wichtigste Aufgabe der Volksvertretung, häufig hinter dem heillosen
Unfug endloser Interpellationen zurücktreten muß. (Heckel bei Elster, Wb.
der Volksw. I, 577.)
*) Auf dieser Basis haben im Jahre 1909 die Lords ihren Operationsplan
zur Bekämpfung des „revolutionären" Budgets aufgebaut.
Blum, Biulgetrecht und Finanzpraxis. 397
Das bei Money Bills zur Anwendung kommende Verfahren ist
in den standing Orders 50 — 61 geregelt. Danach können Money
Bills nur eingebracht werden auf besondere Veranlassung der
Krone (royal recommandation) und nur durch jene Mitglieder
des Unterhauses, welche Minister oder wenigstens Privy Coun-
cillors sind ^). Das gleiche gilt nach stand, ord. 62 für die
Appropriationsakte. Mag über den positiven Wert des könig-
lichen Vetorechts gestritten werden, die Existenz und praktische
Bedeutung des Royal Assent ist nicht zu bezweifeln.
Hatschek, der förmlich nach Gelegenheiten sucht, um die Über-
legenheit und die unbeschränkte Macht der parlamentarischen
Regierungsform zu betonen, muß (Bd. I p. 645) mit Rücksicht auf
die Etatspraxis folgende Sätze niederschreiben: »Seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts vollzieht sich ein Wandel der Anschauungen,
der bewirkt, daß man die Vetobefugnis der Krone heute als
antiquiert betrachten muß. Sie hängt mit der in den Geschäfts-
ordnungsregeln seit Mitte des 19. Jahrhunderts begründeten
ministeriellen Präponderanz zusammen, die bewirkt, daß eine
Bill von Bedeutung heut unmöglich von jemand anderem als
von Ministern der Krone eingebracht werden kann. Da die
Krone nun von vornherein ihren Ministern eine ihr unpassend
scheinende Bill einzubringen verbieten darf, so haben wir es
heut faktisch mit einer Art Vor Sanktion von Gesetzen zu
tun, die der Krone an Stelle des früheren Veto zusteht.«
Hatschek führt gleichzeitig aus einer am 29. Juni 1854 im
Unterhause gehaltenen Rede des Premierministers Lord Derby,
einem ausgesprochen Hochtory, die folgenden Sätze an: »Die
Autorität der Krone ruht nicht auf dem Veto, das sie gegenüber
Gesetzbeschlüssen des Parlaments theoretisch besitzt, sondern
auf dem Recht der besonderen Einflußnahme, das sie ihren
Ministern gegenüber ausüben kann und durch sie gegenüber
beiden Häusern, was ihr Gelegenheit bietet, ihr Urteil über
gesetzgeberische Maßregeln abzugeben, bevor diese
dem Parlament unterbreitet werden, nicht nachher.« So auch
Lord Palmerston im Jahre 1860: »Daß das königliche Veto
der Krone aufgehört habe, ist ein großer Irrtum. Diese Be-
fugnis lebt nach wde vor, aber sie ward jetzt in anderer Art
ausgeübt. Statt daß sie ausgeübt wird, wenn die Gesetz-
entwürfe dem Royal assent unterbreitet werden, erfolgt sie
durch Anticipation vor den Debatten und Verhandlungen
^) Mitgeteilt bei Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I p. 463.
398 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
des Parlaments.« In genauester Übereinstimmung damit be-
stätigt William R. Anson in vollem Umfang diesen Tatbestand
für die Gegenwart. Er führt aus (the law and custom of the
Constitution, 4. Aufl. Oxford 1909, p. 315 f.): »If the King in
modern times disapproved of proposed legislation, he would
begin his Opposition earlier. He can inform bis ministers
that a bin which they intend to propose is distasteful to him,
and that he cannot entertain it. If the ministers insist upon
their measure he can dismiss them and employ others, in the
hope that those others may be supported by Parliament. He
thus appeals from his ministers to Parhament. If Parliament,
in its desire for this particular measure, refuses its confidence
to the new ministers and puts them in a minority on divisions
upon important questions, the King has once more resource.
He can dissolve Parliament and appeal to the country. If the
constituencies return a new Parliament pledged to the measure,
of which the Crown disapproves, this last resource has failed.
It remains for the Crown, in the words of Lord Macaulay, to
yield, to abdicate, or to fight.«
In bezug auf Finanzgesetze betont Anson ausdrücklich,
daß sie, wenn sie von den Commons und den Lords ange-
nommen sind, der Zustimmung der Krone bedürfen, um
Gültigkeit zu erlangen: »A money bill is a grant of supply
or an appropriation of supply granted by the Commons to the
Crown, and it needs for its efficacy the assent of the Lords
and the Crown. The form of assent to such a biU is« — im
Gegensatz zu der im anderen Falle üblichen, allerdings seit
1707 bei der Scotch Militia Bill nicht mehr gebrauchten Formel
»le roy s'avisera« — »le roy remercie ses bons sujets, accepte
leur benevolence et ainsi le veult«.
Über den Begriff der parlamentarischen Souveränetät
in England haben sich zwei herrschende Doktrinen herausge-
bildet. Die eine, die communis opinio geworden ist, erblickt
den Rechtsgrund und Sitz der Souveränetät in der »Parliament«
genannten Körperschaft, die »constituted by the King, the
House of Lords and the house of Commons « ; die andere, (bei
Austin, Jurisprudence, 4. Aufl., p. 251 ff. vertretene) nennt als
letzten Träger der Souveränetät die Commons oder die Wähler. In
jedem Falle ist jedoch das Königtum der eine der drei Fak-
toren, aus denen sich die parlamentarische Macht und Gesetz-
gebungstätigkeit zusammensetzt. Daher Dicey, Law of the Con-
stitution 1902, p. 350: »The commands of Parliament can
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 399
be uttered only through the combined action of its three
constituant parts«. Die königliche Prärogative in ihrer
allgemeinen Bedeutung wird von Dicey (a. a. 0. p. 405 ff.) in
folgenden Sätzen ihrem Inhalt nach erschöpft : every Act of state
is done in the name of the Crown .... The personal influence
of the Crown exists, not because acts of state are done formally
in the Crowns name, but because neither the legal sovereign
power, namely Parliament, nor the political sovereign, namely
the nation, wishes that the reigning monarch should be
without personal weight in the government of the
country . . . . The fact that all important acts of state are
done in the name of the King .... and that many of these
acts .... are exempt from the direct coutrol or supervision
of Parliament, gives the reigning monarch an opportunity for
exercising great influence on the conduct of affairs.« Nach
alledem ist völlig unbestreitbar, daß der konstitutionelle Herrscher
in England mit zahlreichen, in legitimer Hinsicht gänzlich ein-
wandfreien und vollkommen garantierten Mitteln doch in be-
trächtlichem Umfange in die öffentlichen Angelegenheiten ein-
greifen und auf sie einwirken kann. Auch hier begegnen wir,
ähnlich wie in Preußen und an derselben maß-
gebenden Stelle, einem restringierenden und de-
terminierenden Faktor, der die Freiheiten und
Befugnisse des parlamentarischen Regimes, be-
sonders in budgetärer Hinsicht, auf ein erträg-
liches Maß herabmindert!
Diese Verteilung der Rollen bei den gesetzgeberischen
Arbeiten, dieses Neben- und Gegeneinanderstellen des Staats-
oberhaupts und des Staatskörpers, das Widerspiel von Haupt
und Gliedern, das in historischer Entwicklung und reifer poli-
tischer Bildung und Erfahrung herausgearbeitete System des
Ineinandergreifens der drei Organe, die die verantwortlichen
Träger der Souveränetät sind, der Vorbehalt, daß jeder Autrag
zm- Beschaffung von Geldmitteln von der Krone ausgehen muß,
ferner die geschilderte Art der Vorbereitung der Estimates, die
Heranziehung des ganzen Unterhauses zur Kommissionsberatung
und demgemäß die frühzeitige Entfernung fast aller Konflikts-
stoffe, der Zwang der allotted days, die Ausnahmestellung der
Consolidated fund Services — das alles wirkt zusammen, um
trotz vielleicht langer Ausdehnung der Budgetdebatten eipe nur
teilweise Durchberatung der Etatspositionen möglich und erträg-
lich erscheinen zu lassen und trotzdem einen sehr hohen
400 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Grad der Solidität und Exaktheit im englischen
Staatshaushalt und Budgetwesen sicher zustellen. So-
lange behebig viele Sitzungen für die Budgetberatung zur Ver-
fügung standen, konnte das Unterhaus oder konnten einzelne
Parteien immer noch erreichen, daß bestimmte Kapitel, auf die
sie gerade Wert legten oder bei denen sie bestimmte Dinge zur
Sprache bringen wollten, zur Debatte gestellt wurden. Diese
Möglichkeit ist erheblich eingeschränkt, seitdem im Jahre 1902
das System der parlamentarischen Guillotine eine
ständige Einrichtung geworden ist^). Dieses unter dem kon-
servativen Ministerium Balfour eingeführte Verfahren, wodurch
die Budgetberatung im committee of Supply auf 20 bzw. 23 Tage
vor dem 5. August beschränkt wird, hat also der vorher häufig
vorkommenden außerordentlichen Ausdehnung der Debatten
über Angelegenheiten des Staatshaushalts einen Riegel vor-
geschoben, andererseits aber einen nicht unbeträchtlichen Teil
des Budgets der parlamentarischen Behandlung überhaupt ent-
zogen, wenn auch vielleicht in der Hauptsache gerade den Teil,
der mehr oder weniger selbstverständlicher, unbestrittener oder
nebensächlicher Natur ist, während die Budgetkritik an die
finanziell wichtigsten Votes anknüpfen kann. Darin hegt ja
gerade einerderwesentlichen Unterschiede zwischen
der deutschen und der englischen Etatstechnik, daß
in England nicht alle Einnahmen und Ausgaben auf den Etat
gebracht werden, d. h. in den Estimates Aufnahme finden, daß
vielmehr die letzteren nur solche Positionen enthalten, bei denen
die Zustimmung des Parlaments von materieller Bedeutung ist'-*).
Immerhin bleibt die für manchen deutschen Parlamentarier
gewiß erschreckende Tatsache bestehen, daß selbst dieses bereits
so sehr beschränkte englische Budget in den entscheidenden
Stadien auch nicht annähernd seinem ganzen Inhalt
nach durch beraten wird. Wiederholt sind im Wege der
Guillotine ungeheure Summen bewilligt worden, ohne daß bei
den betreffenden Kapiteln auch nur ein Wort für oder wider
') Supply Rule von 1896 bei Redlich, Recht und Technik, p. 833.
*) Im Reiche und in Preußen schreiben die Verfassungen vor, daß »alle
Einnahmen und Ausgaben« auf den Etat gebracht werden müssen. Diese
Vorschrift ist nicht ganz erfüllt, indem z. B. im preußischen Etat 7,7 Millionen
Kronfideikommißrente nicht in Ausgabe eingestellt sind; sie ist überschritten,
indem als Einnahmen und Ausgaben hinterlegte Gelder, im Etat für 1910
ca. 44 Millionen Mark, eingestellt sind, die keine Staatseinnahmen sind. Sten.
Ber. d. Preuß. Herrenhauses 30. Mai 1910 p. 242.
Blum, Budgetrecht und Finanz])raxis. 401
den Bedarf, Aufwand und Verwendungszweck hätte gesprochen
werden können^). In den Kreisen der eigenen Parteifreunde
begegnete das Kabinett Balfour mit dieser Neuerung scharfer
Kritik: »Seit der neuen Budgetordnung, welche die Zahl der
Budgetsitzungen fest begrenzt — so erklärte der konservative
Abgeordnete Thomas Gibson Bowles im Jahre 1902 vor dem
Select Committee of National Expenditure (b. Redlich p. 691) —
kümmert sich die Regierung nicht darum, ob die Debatte über
einzelne Kapitel länger dauert oder nicht, denn am Ende der
20 oder 23 Tage fällt die Guillotine automatisch und die Minister
bekommen alle ihre noch ausstehenden Budgetforderungen be-
willigt, gleichviel, ob sie diskutiert sind oder nicht; und dabei
sind denn auch regelmäßig viele Budgetposten, die dringend
einer Diskussion bedurft hätten, aber keine erlangt haben.« —
Der Leader des Hauses, Mr. Balfour, suchte solchen Einwänden
mit dem Hinweise zu begegnen, daß sich das Budget alljähr-
hch in allen wesentlichen Zügen gleiche und daß seit vielen
Jahren keine faktische Veränderung der Prähminarien durch
die Beratung im Hause herbeigeführt worden sei (Redlich p. 226).
Aber zweifellos hat das englische Unterhaus, indem es die
supply rule von 1896 zur standing order und damit zu einem
ständigen Verfahren erhob, einen nicht unwesentlichen
Teil seines konstitutionellen Budgetrechts preis-
gegeben. Gewiß kommt es auch in anderen Parlamenten
und zwar nicht selten vor, so im deutschen Reichstag und im
preußischen Abgeordnetenhaus im Frühjahr 1911, daß wich-
tige Teile des Budgets von einem mangelhaft besetzten und
teilnahmslosen, nur mechanisch den Abstimmungsmodus mit-
machenden Hause innerhalb weniger Stunden erledigt werden.
Aber das pflegt doch nur zu geschehen, nachdem im Kommissions-
stadium und in vorangegangenen Plenarverhandlungen die be-
treffenden Posten diskutiert worden sind. Das Entscheidende
aber ist, daß in anderen, auch in den deutschen Parlamenten
Budgetbewilligung und Budgetkritik auch in der letzten Instanz
und bei jeder einzelnen Position nebeneinander hergehen oder
daß wenigstens die Möghchkeit dazu gegeben ist. Dieser
Möglichkeit hat sich das englische Unterhaus be-
geben, und zwar unter Zustimmung der damaligen liberalen
^) Im Jahre 1904 wurden gegen Sessionsschluß 28 Millionen Pfund ohne
Debatte en bloc bewilligt. Sidney Low, The Governance of England.
London 1906. p. 89. Bei Jellinek, Festgabe für Laband. Tübingen 1908.
Bd. L p. 123.
Zeitschrift für Politik. 6. 26
402 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Opposition, insbesondere ihres damaligen Führers Campbell
Bannerman und ihrer hervorragendsten Budgetkenner Courtney
und Harcourt. Eine solche Entschließung, zu der äußere Gründe
und Rücksichten auf die geschäftlichen Dispositionen des Par-
laments den Anstoß gegeben haben, war nur denkbar unter den
drei Vo raussetzungen, daß der Gang und die Methode der
Vorbereitung des Budgets hinreichende Gewähr für eine zuver-
lässige Etatsfestsetzung gibt, daß erfahrungsgemäß Verände-
rungen an den Votes auch im Committeestadium nur in sehr
beschränktem Umfange vorgenommen werden — nach Balfours
Ausspruch ist die wichtigste Funktion der Budgetdebatte kriti-
sche Beleuchtung der Regierungstätigkeit hinsichtlich der Politik
und Verwaltung — und endlich, daß alle Mitgheder des Unter-
hauses von dem Gedanken durchdrungen sind, es bestehe ein
Zwang, das Budget alljährlich durchzubringen. Aber auch unter
diesen Voraussetzungen hätte eine Volksvertretung, die in Finanz-
angelegenheiten so peinhch und gewissenhaft denkt und handelt
wie das englische Unterhaus, schwerlich zu einem solchen System
im Endstadium der Staatshaushaltsbehandlung gegriffen, wenn
nicht in der ganzen Organisation der englischen Finanz- und
Etatswirtschaft für einen normalen, allen billigen Anforderungen,
allen sachhchen Bedürfnissen genügenden Verlauf der Budget-
gebahrung volle Gewähr gegeben wäre ^).
Dabei fehlt es nicht an Umständen und Gepflogenheiten,
die eine reguläre Ausübung der Budgetpraxis erschweren können
und in anderen Ländern auch tatsächlich erschweren. In England
wie in Frankreich kommt das Budget regelmäßig nicht vor Beginn,
sondern erst im Laufe des Etatsjahres zustande. In beiden
^) Jeze, Le budget. Theoriegenerale. Paris 1910. p. 279. LeParlament
britannique ne vote pas le budget des recettes. Le Chancelier de l'Echiquier. dans
le budget statement qu'il prononce ä la Chambre des Communes devant le
Committee of Ways and Means, indique, en chiffres ronds, les produits probables,
pour l'annee fiscale, des grandes branches de revenue. Les Assemblees ne
discutent pas, ne revisent pas, n'approuvent pas las chiffres du
Chancelier. Elles ni le fönt ni pour les revenues permanents, ni
pour les recettes annuelles. Sans doute, le Parlament donne, chaque
annee, dans le Finance Act, l'autorisation de percevoir certains impots, tels
que l'income tax, mais il n'en fait pas l'evaluation officielle des produits.
Ebenso Bas table, Public Finance, pag. 660 the »estimates« and
the proposed annual taxes are placed at once before the whole House sitting
as a committee, and examined without any previous inquiry. Mini-
sterial responsibility is thereby increased, as the measures that
make up the ensemble of the budget are altogether the work of
the Cabinet, whose liability is undivided.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 403
Ländern reicht die Budgetberatung weit hinein in den
Bereich des Etats Jahres, für das sie die rechthchen und
die finanziellen Grundlagen schaffen soll. Im Deutschen Reiche
und in den deutschen Einzelstaaten wird im allgemeinen streng
darauf gehalten, daß Etat und Etatsgesetz vor Beginn des
Rechnungsjahres verabschiedet werden. In Preußen ist die
nicht rechtzeitige Erledigung des Budgets eine seltene Aus-
nahme; die darin zum Ausdruck kommende Selbstzucht der
beiden Kammern verdient um so größere Anerkennung, als in
Preußen die meisten Staatseinnahmen auch ohne Verabschiedung
des Etats forterhoben werden können, und alle Gebühren, Lei-
stungen usw., auf die der Staat Anspruch hat, der Staatskasse auch
ohne daß sie in den Etat aufgenommen sind, zufließen müssen.
Obwohl also eine empfindliche Störung der Staatsverwaltung
und Staatswirtschaft in keiner Weise zu besorgen ist, hat die
preußische Volksvertretung gewissenhaft darauf gehalten, daß
nicht bloß die Veranschlagung der Einnahmen und Ausgaben,
sondern auch die Etatsfestsetzung »im voraus« erfolgt und
somit der Vorschrift in Art. 99 der Verfassung die denkbar
strengste Auslegung gegeben wird. Anders im Reiche. Dort
sind wiederholt sog. Notetats i) erforderlich geworden, ganz be-
sonders in den Jahren, in denen schwere poUtische Wirren oder,
vor Beginn sowie unmittelbar nach einer neuen Wahlperiode,
außerordentliche Bedürfnisse des Parteiwesens die für die Er-
ledigung des Budgets verfügbare Zeit anderweitig in Anspruch
genommen haben. Und doch hätte gerade der Deutsche
Reichstag, weil er stets mit größtem Nachdruck sein Budget-
recht, besonders sein Einnahmebewilligungsrecht betont hat, alle
Ursache, mit Rücksicht auf die oft monatelang in Ungewißheit
gelassenen einzelstaatlichen Budgets 2) geradezu die moralische
Verpflichtung gehabt, den verfassungsmäßigen Termin für die
Verabschiedung des Etatsgesetzes (Art. 69 RV.) strikte innezu-
halten! Anders liegen die Verhältnisse in Bayern, wo der
Etat gewöhnhch erst im zweiten Vierteljahr nach Beginn der
^) Im Jahre 1911 ist allerdings der bisher einzig dastehende Fall vor-
gekommen, daß ein Notgesetz nicht erging, obwohl die dritte Lesung des
Eeichsetats für 1911/12 erst am 4. April 1911 beendet wurde. Vier Tage lang
hat also der gesamte Haushalt des Reichs in der Luft geschwebt; für die
Zahlimg der Beamtengehälter, die im voraus gezahlt werden, hat die staats-
rechtliche Unterlage gefehlt usw.
^) Für den laufenden Reichsbedarf wird durch ein sog. Notgesetz für
den Zeitraum von gewöhnlich zwei, neuerdings drei Monaten gesorgt.
26*
404 Blum, Budgetrecht und Fiuanzpraxis.
laufeuden Rechnungsperiode zustande kommt. Aber wie in
Preußen ist in Bayern die Regierung befugt, unabhängig von
der BewilHgung des Landtages alle Erträgnisse des Staatsver-
mögens, die Gebühren und die ständigen Steuern, sofern die-
selben nicht vermindert oder erhöht werden, fortzuerheben.
Überdies spricht die Verfassung (Tit. VII § 7) dem Könige
das Recht zu, die letztbewilligten Steuern noch ein halbes Jahr
forterheben zu lassen, falls er durch außerordentliche Umstände
oder äußere Verhältnisse verhindert ist, die Stände im letzten
Jahre der Finanzperiode zu versammeln i). Trotzdem ist es,
wie gesagt, ein Mangel an Selbstzucht und Verantwortlichkeits-
gefühl, wenn der Etat, obwohl er den Ständen rechtzeitig zu-
gegangen ist, ein viertel bis ein halbes Jahr zu spät zustande
kommt, und dieser Mangel steht derjenigen Partei schlecht an,
die im Reichstag am entschiedensten auf Erweiterung des
Budgetrechts hingearbeitet hat, die also, weil sie im bayrischen
Landtag die Führung hat, auf die Respektierung der budget-
rechtlichen Befugnisse und Interessen der »anderen Seite« ganz
besonders Wert legen müßte!
In England ist weit über ein Drittel, nahezu die Hälfte
der einjährigen Finanzperiode bereits verflossen, wenn in dem
Appropriation Act die letzten und größten Summen für den
Haushalt bereitgestellt werden. Für die Zeit bis zum 5. August,
dem Schlußtage der für die eigentliche Budgetberatung kon-
tingentierten Frist, — fast gleichzeitig mit ihr läuft auch die
Session ab — werden in den votes of account unmittelbar
vor dem Beginn des Rechnungsjahres hinreichende Abschlags-
summen mit weitgehender Bewegungsfreiheit durch virement
bewilligt, dagegen bedarf es der excess grants, die in Frank-
reich an der Tagesordnung sind, nur verhältnismäßig selten
und in nicht erheblichem Umfange. Somit nimmt in bei-
den Ländern unter diesem Gesichtspunkte die Budgetpraxis
einen analogen Verlauf: dort Budget-Zwölftel, hier Pro-
visorien für ungefähr die gleiche Zeitdauer. In beiden Ländern
sind diese Vorausbewilligungen organische und nach Lage der
Dinge notwendige Bestandteile des Budgetverfahrens. Aber in
England werden nicht, wie es in Frankreich bei dem Zwölftel-
system in budgettechnisch roher und finanzpolitisch bedenk-
hcher Weise geschieht, die Einnahmen wie im vorangegangenen
Etatsjahr eingehoben und entsprechend die Ausgaben bemessen
bis zur Höhe der für das Budgetprovisorium zu bewilligenden
0 Heckel, Budget, p. 115.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 405
Mittel, sondern — und das ist ein sehr wesentlicher Unter-
schied! — die votes on account sind bereits auf die vom
Schatzamt im Verein mit den Kommissaren aus dem Hause
vorgelegten Estimates für das kommende Finanzjahr aufgebaut.
Dadurch wird erreicht, daß in England die für das Budget-
provisorium im voraus bewilligten Mittel sich mit dem wirk-
hchen Bedarf ziemlich genau decken, weil eben schon die oft
erheblich anders gearteten Budgetverhältnisse des neuen Etats-
jahres von den sachkundigsten Kennern dieser Verhältnisse be-
rücksichtigt sind, während in Frankreich das rohe, kurzer Hand
disponierende Verfahren der Zwölftelung häufig genug ganz
bedeutende Differenzen und entsprechende Schwierigkeiten in
späteren Stadien der Etatspraxis unvermeidlich werden läßt.
Die letzte und entscheidende Ursache dieser nahezu regelmäßig
wiederkehrenden Erscheinung ist natürlich die Verquickung
der Ressortetats mit Finanz- und Steuerreform-
fragen, der infolgedessen sich ergebende Streit der Parteien,
überhaupt der rücksichtslose Mißbrauch der Budgetberatung
zu poHtisch-taktischen Zwecken, bei deren Verfolgung in Ländern
mit schrankenloser parlamentarischer Regierung das Budget
als die stärkste Waffe im politischen Tageskampf geschätzt ist
und Geltung gewonnen hat.
Ähnhche Resultate — z. T. fallen sie noch viel eklatanter
zu Ungunsten der französischen Verhältnisse aus — begegnen
immer wieder, wo und wie man auch die Art und Hand-
habung der Etatspraxis in Großbritannien und Frank-
reich vergleichen mag. Um nur noch einige Beispiele an-
zuführen. In England wird bei Beginn jeder Session neben
anderen ständigen Ausschüssen das Committee of Public Ac-
counts gewählt, dessen Mandat für die ganze Dauer der Session
läuft. Aufgabe dieses Ausschusses ist die Prüfung und
Kontrolle der Staatsrechnungen, insbesondere Überwachung
des Budgetvollzuges in der Richtung, daß die bewilligten
Ausgaben tatsächlich so verwandt werden, wie sie appropriiert
sind. Die während der ganzen Session ununterbrochen aus-
geübte, neben der Budgetberatung hergehende Tätigkeit dieses
Ausschusses in Verbindung mit der des Audit Department er-
gänzt und vervollständigt die mannigfachen Kautelen, die die
engUsche Budgetpraxis wie mit einer Schutz wehr gegen jeden
Mißbrauch der etatsmäßigen Befugnisse umgibt. In Frankreich
ist der Apparat, der zur Kontrolle des Staatshaushalts
in Tätigkeit gesetzt wird, sehr viel umfangreicher und um-
406 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
ständlicher : die gesetzgebenden Körperschaften, die Verwaltungs-
behörden, die Gerichte werden nach- und nebeneinander be-
müht, um Unregelmäßigkeiten in der Einnahme- und Ausgabe-
wirtschaft zu verhüten und die Ausführung der Budget-
besclilüsse zu überwachen. Aber die legislative Kontrolle kann
ihre Tragweite nicht bis auf die Einzelheiten der Rechnungs-
legung ausdehnen, sie erstreckt sich nur auf die, welche die
Ausgaben anordnen und die Mittel anweisen, aber nicht auf
die Rechnungsbeamten, sie ist nur eine halbe Kontrolle, nur
der erste Teil einer Revision. Die administrative Kontrolle, die
mit periodischen Revisionen und Inspektionen eine unausgesetzte
Überwachung ausübt und ebensowohl die Anweiser wie die
Verwalter der Staatsgelder in ihren Bereich zieht, ist voll
ständiger und genauer als die legislative Kontrolle, aber ihr
Wirken entzieht sich mehr der Öffentlichkeit und entbehrt der
völligen Unabhängigkeit. Endlich die gerichtliche Kontrolle
oder der Rechnungshof (cour des comptes). Er ist heute nur
noch ein Gerichtshof, der Beschlüsse faßt, eine Art Zensur-
behörde, die über die allgemeine Führung der Finanzgeschäfte
Erklärungen und Berichte veröffentlicht, die nur den Wert
haben, den die öffentUchen Gewalten und die öffentliche
Meinung ihnen beilegen, und die in keiner Weise einen Zwang
zu energischem Einschreiten gegen Mißbräuche begründen.
Dem Bestehen und Zusammenwirken dieser drei Institutionen
zum Trotz bleiben in der Kontrolle des Budgetvollzugs und
Staatshaushalts empfindliche Lücken und Mängel. Leroy-
Beaulieu (p. 141) schildert sie folgendermaßen: 1. Dem Rech-
nungshof steht keine Jurisdiktion gegen die ordonnateurs zu.
2. Die Beziehungen zwischen dem Rechnungshof und den
Kammern sind nicht eng genug. 3. Ein nicht geringer Teil
der öffentlichen Gelder bleibt von der legislativen und gericht-
lichen Kontrolle und sogar von der administrativen Kontrolle
völlig unberührt. Eine ganz andere, sehr viel größere Be-
deutung hat der Rechnungshof in verschiedenen anderen
Ländern: in Belgien, in den Niederlanden, in Italien^) können
^) Von dem Werte und der Zweckmäßigkeit des in England, Belgien,
Holland und Italien üblichen Systems der sog. Präventivkontrolle ist
Leroy-Beaulieu so durchdrungen, daß er die Untersuchungen über die
Rechnungs- und Wirtschaftskontrolle in seinem Vaterlande mit dem Urteil
und Vorschlag abschließt (p. 158): »Les democraties modernes, particulierement
dans le domaine financier oü elles montrent tres peu de prevoyance, ont
besoin de frein. Le controle preventif de la cour des Cornj^tes en est un;
s'il n'est pas d'une efficacite absolue, il serait utile dans nombre de cas, et
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 407
Staatsgelder, ohne daß die dem franzößischen Rechnungshof ent-
sprechende Behörde dazu autorisiert hat, nicht verausgabt werden.
In England ist das System der Präventivkontrolle so
gestaltet, daß der Comptroller and Auditor General of the
Public Account und sein Stellvertreter (Deputy Comptroller), —
die vom Schatzamt ernannt werden, ihre Gehälter unter den
Consolidated fund Services beziehen, also ohne daß sie in den
Estimates ausgebracht und vom Parlament bewilligt werden,
und nur auf Antrag beider Häuser des Parlaments von der
Krone entlassen werden können, also weit emporgehoben sind
über die subalterne und unfreie Stellung der Mitgleder des
französischen cour des comptes, — die Anweisungen zu kon-
trolUeren und festzustellen haben, ob die Verwendung der
Staatsgelder nach Maßgabe der Zweckbestimmung und des Be-
trages mit den Votes in den committees und dem Inhalt des
Appropriation Act übereinstimmt. Aus der Bank von England
kann auf bloße Anweisung des Exchequer kein Penny für
Staatszwecke gezalilt werden, es bedarf dazu noch der Autorisation
durch den obersten Beamten des Exchequer and Audit Depart-
ment. (Ein charakteristisches Beispiel für die peinliche Ge-
nauigkeit, mit der diese Behörde ihr Amt versieht, zugleich
aber auch ein gewichtiges Zeugnis für die Selbständigkeit und
Machtvollkommenheit, die das Exchequer and Audit Department
besitzt, gibt Hatschek a. a. 0. Bd. I p. 463 Anm. 1.)
Die größeren Vorteile der Rechnungslegung und Staats-
haushaltskontrolle in England im Vergleich zu dem französischen
System sind nicht zu verkennen. Hierüber, insbesondere über die
Wirkungen des Prinzips der comptes d'exercice, ist bei Stourm,
le budget, Kap. 5, 116 f. und 128 f. und bei Leroy-Beaulieu
ausführlich gehandelt. Der letztere erläutert das Gesetz vom
25. Januar 1889, das in seiner ursprünglichen Fassung derart
abgeändert ist, daß die Budgetperiode, soweit es sich handelt
um Fertigstellung begonnener Arbeiten, um Zahlungsanweisungen,
Zahlungen, Ergänzungskredite, Virements usw., mit dem vierten
Monat nach Ablauf des Etats Jahres und, soweit es sich um
Operationen der Rechnungslegung handelt, mit dem siebenten
Monat des neuen Etatsjahres endet. Das ist zweifellos ein
Fortschritt gegenüber dem früheren Zustande, als Ausgaben
eines Etatsjahres, wenn sie nicht bis zum Ende des siebenten
Monats nach Ablauf des Etats Jahres gemacht waren, immer
tout au moins il instruit le pays des infractions legales dont celui-ci est
victime et le met en etat de se defendre«.
408 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
wieder in das folgende Etatsjahr übernommen werden mußten.
Trotz der vorgenommenen Abschwächung und Verkürzung ist
aber auch jetzt noch die Dauer der comptes d'exercice reichhch
lang (in anderen Staaten überschreitet die Zuschlagsfrist nicht
2 bis 2Y2 Monate) und kann sich in der Praxis mit den
comptes de gestion, der Rechnung nach dem Etatsjahr, die
jedoch ohne eine streng disziplinierte Budgetpraxis auch ihre
Mängel hat, nicht messen. Anderes kommt hinzu. Wenn am
Ende des Etats Jahres überschüssige Kredite zur Verfügung
stehen — vorausgesetzt, daß ihre Verwendung nicht gesetzlich
festgelegt ist — wird an die Staatsbehörde die Versuchung her-
antreten können, unnötige oder doch nicht dringende Arbeiten
in Angriff zu nehmen, also öffentliche Gelder zu verausgaben,
ohne daß ein absolut unerläßlicher Zwang vorliegt. Der Anreiz
zu einem solchen Verfahren ist um so größer, wenn Widerruf
(annulation) und Entziehung der bewilligten Kredite drohen.
Ein langjähriger Budgetberichterstatter der französischen Kammer,
der spätere Finanzminister Georges Cochery, also zweifellos ein
zuverlässiger Kenner der Verwaltungspraxis, sagt (bei Leroy-
Beaulieu p. 151) darüber in einem Referat von 1887: »II n'est
personne parmi ceux qui sont un peu inities aux pratiques ad-
ministratives qui ne sache que les administrations n'eprouvent
aucun scrupule ä engager apres le 31. decembre et jusqu'ä la
cloture de l'exercice des depenses nouvelles contrairement ä tout
droit. — On epuise ainsi les fonds de cette premiöre annee afin
de ne rien laisser tomber en annulation .... les pratiques se
renouvellent en vertu d'une tradition plus forte que les ministres
eux-memes.« Nur um sich nicht der Gefahr auszu-
setzen, daß ein nicht in Anspruch genommener Kredit
zurückgezogen wird, entschließt sich die Verwaltungs-
behörde zu Ausgaben, ein System, das unter Umständen
einer Vergeudung von Staatsvermögen gleichkommen kann.
Eine weitere Wirkung solcher Praktiken ist, daß nur noch in
seltenen Fällen eine Zurückziehung unbenutzter Kredite erfolgen
wird. Auch Stourm fällt über die comptes par exercices, wie
sie in Frankreich gehandhabt werden, ein sehr abfälliges Urteil,
a. a. O. p. 116/7, 118/9, chapitre V passim.
Nach alledem kann es nicht zweifelhaft sein, daß die
Rechnung nach Gebarungsperioden, wenn diese letz-
teren um mehrere Monate über das eigentliche Etatsjahr hinaus
ausgedehnt werden, ihre großen Bedenken hat, weil sie Unregel-
mäßigkeiten und Unzuträglichkeiten Tür und Tor öffnet. Auch
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 409
in den deutschen Staatshaushalten ist die Rechnung nach Ge-
barungsperioden übhch; aber überall handelt es sich nur um
eine ganz kurze Spanne Zeit, um die das Etats jähr betreffs der
Fälligkeit von Einnahmen und Ausgaben verlängert wird, oder
die Eigenart der staatlichen Betriebsverwaltungen nötigt zu
Konzessionen in dieser Richtung; im letzteren Falle sind dann
Rechnungslegung, Kreditgewährung, Einnahmebuchung usw.
genau geregelt. Auf dem Etat der preußischen Berg- und
Hüttenverwaltung werden die Erlöse, die für verkaufte Erzeug-
nisse vor Schluß des Rechnungsjahres fällig geworden sind,
aber erst im folgenden Jahre eingehen, in der Rechnung des
Etatsjahres, in dem der Verkauf getätigt ist, als Einnahmerest
ausgebracht — ein Verfahren, das zweifellos eine größere
Klarheit und Wahrheit des Etats gewährleistet als die
Methode der Verrechnung auf das neue Etatsjahr. Denn für
die Staatswirtschaft kommt auf das Prinzip, — ob Verrechnung
nach Maßgabe der rechthchen Ermächtigung, des Fälhgkeits-
termins usw. — herzlich wenig, alles aber auf die Erkenntnis
an, ob ein Staatsbetrieb mit Gewinn, mit welchem Gewinn und
unter welchen Bedingungen er arbeitet. Zu solcher Betrach-
tungsweise und Urteilsbildung, zugleich auch zu einem Urteil
über die Frage, ob im Staatshaushalt das Brutto- oder das
Nettobudget den Vorzug verdient, läßt sich nur gelangen,
wenn in jedem einzelnen Etatsjahr den Betriebsmitteln und
Betriebskosten die Betriebserträge gegenübergestellt werden. Im
Bereich der preußischen Staatsbahnverwaltung werden zahlreiche
Einnahmen, aber noch weit mehr Ausgaben erst nach Ablauf
des Etatsjahres fällig. Trotzdem werden sämtliche Einnahmen
und Ausgaben auf den Jahresetat gebracht, dem sie tatsächlich
angehören. Dieses Streben und Bemühen, den natürlichen
Zusammenhang der Dinge festzuhalten und dem außen-
stehenden Dechargeberechtigten, der Volksvertretung, ein mög-
lichst richtiges, möglichst anschauliches und vollständiges Bild
der Wirtschaftsgebarung einer staatlichen Verwaltung zu geben,
geht sogar so weit, daß in Preußen, für die Forstverwaltung und
die Lotterieverwaltung, zwölfmonatige Zeiträume zugrunde gelegt
werden, die mit Rücksicht auf die Eigenart des staatswirtschaft-
lichen Betriebs (Saison, Absatzverhältnisse, Organisation usw.)
zweckmäßiger sind als das von April bis März laufende Etats-
jahr. Mit Recht haben derartige Erwägungen und
Grundsätze Prinzip, Theorien und Schablone zu-
gunsten der Etatspraxis und der Etatswahrheit in den
Hintergrund gedrängt.
410 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Was die zeitliche Dauer der Gebarungsperioden betrifft, so
kommen auch in deutschen Staaten mehrmonatige Supplements-
fristen vor. Aber nahezu in allen Fällen ist durch Gesetz Vor-
sorge getroffen, daß der über das Etatsjahr hinausgreifenden
Budgetpraxis nur geringer Spielraum und nebensächliche Be-
deutung bleibt. So bestimmt in Preußen das Staatshaus-
haltsgesetz vom 11. Mai 1898 in § 14 genau diejenigen Ein-
nahmen- und Ausgabenkategorien, in denen Verrechnungen
noch nach Ablauf des Etatsjahres, spätestens im dritten Monat
des neuen Etats Jahres stattfinden dürfen. Wie überall, wo ein
Komptabilitätsgesetz existiert (z. B. in Hessen, Baden, auch in
Italien), ist auch in Preußen dadurch ein hoher Grad von So-
lidität, Realität und Loyalität der gesamten Budgetpraxis und
Finanzgebarung sichergestellt^). Dazu kommt die KontroU-
tätigkeit der Oberrechnungskammer: sie hat, von ver-
einzelten Ausnahmen abgesehen (z. B. Kap. 44 Tit. 15 und
Kap. 95 Tit. 1), alle Staatsrechnungen daraufhin zu prüfen, ob
sie belegen, daß der Staatshaushalt in allen seinen Teilen und
gemäß allen Gesetzen und sonstigen Unterlagen, auf denen er
beruht, zur Ausführung gebracht ist 2). Aber mit dieser retro-
spektiven und kritischen Tätigkeit ist das Wesen der Ober-
rechnungskammer nicht erschöpft. Sie steht in allen Ange-
legenheiten ihres Ressorts gegenüber den Provinzial- und Spe-
zialbehörden im Verhältnis einer vorgesetzten Behörde mit dem
Recht, zur Durchsetzung ihrer Anordnungen Ordnungsstrafen
zu verhängen und Unangemessenheiten zu rügen. Ebenso ordnet
sie gegen schuldige Beamte die weitere Verfolgung an (Gesetz
vom 27. März 1872, preuß. Verf. Art. 104 Abs. 2 und 3). End-
lich ist die Oberrechnungskammer, deren oberste Beamte vom
Könige ernannt werden, dem Landesherrscher verantwortlich
(durch Vorlegung eines Geschäftsberichts). Für das Deutsche
Reich fehlt noch immer ein Komptabilitätsgesetz 3). Die Kon-
*) Im Reiche, wo ein Gesetz über die Einnahmen und Ausgaben des
Reiches und den Rechnungshof seit langem, neuerdings in einer Resolution
gefordert ist, würde ein solches Gesetz, ebenso wie das preußische Staatshaus-
haltsgesetz von 1898, ein „Beitrag zur Erziehung zur Sparsamkeit" sein
(Reichstagssitzung T.März 1911).
^) Gegenwärtig werden 75 °/o der Staatseinnahmen stichprobenweise ge-
prüft. Vgl. Verhandlungen der verstärkten Rechnungskommission des Ab-
geordnetenhauses betr. den Gesetzentwurf zur Abänderung der Vorschriften
über Abnahme und Prüfung der Rechnung. 1911.
^) Seine Vorlegung ist wohl nur eine Frage der Zeit. Jedoch hat der
Reichsschatzsekretär bereits erklärt, daß die Bestinmiungen des Reichseigen-
Blum. Bud^etrecht und Finanzpraxis. 411
trolle des Reich shauslialts erfolgt auf Grund alljährlich
ausgesprochener gesetzhcher Ermächtigung durch den Rech-
nungshof des Deutschen Reiches, der mit der Oberrechnungs-
kammer im wesentlichen identisch ist. Auch die Rechnungs-
legung erfolgt in der Hauptsache nach den für Preußen gelten-
den Grundsätzen (cf. RV. Art. 69, 72, Ges. 5. Februar 1906,
4. Juh 1868, 5. März 1875. Dazu das Reichskontrollgesetz vom
21. März 1910^). Im übrigen ist auch der Reichstag auf Grund
der Verfassung in gewissem Umfange im Besitze eines Kontroll-
rechts. Nach Art. 72 RV. hat der Reichskanzler dem Bundes-
rat und dem Reichstag über die Verwendung aller Einnahmen
des Reiches zur Entlastung jährlich Rechnung zu legen, der
Reichstag übt also hinsichtlich der Einnahmen und Ausgaben
eine Kontrolle aus. Eine mittelbare Kontrollbefugnis ist ferner
enthalten in Art. 17 RV., wonach der Reichskanzler für die von
ihm gegenzuzeichnenden Anordnungen und Verfügungen des
Kaisers die Verantwortung zu übernehmen hat. Endlich ist in
Art. 4 RV. ausdrücklich gesagt, daß dem Reiche die Gesetz-
gebung und die Beaufsichtigung in gewissen Materien zusteht 2).
Auf ihm beruht in der Hauptsache die gesamte kontrol-
lierende Tätigkeit des Reichstages.
Überblickt man in ihrer Gesamtheit die in den Dienst der
Staats- und Verfassungskontrolle gestellten Bestimmungen und
Einrichtungen in den verscliiedenen Ländern, so wird man auf
Grund der angeführten Urteile und Zeugnisse französischer,
den Dingen sehr nahe stehender Sachkenner sich dem Eindruck
nicht entziehen können, daß gerade da, wo die absolute
Herrschaft und Machtvollkommenheit der Volksver-
tretung über die Staatswirtschaft die allergewissen-
hafteste und peinlichste Überwachung und Nachprü-
tumsgesetzes vom 25. Mai 1873, die der Verwaltung die nötige Beweglichkeit
gewähren, um Schädigungen der Reichsfinanzen zu verhüten, materiell er-
halten bleiben müssen (Reichstagssitzung 7. März 1911).
') Das Reichskontrollgesetz vom 21. März 1910 ist lediglich ein tempo-
räres Gesetz, dessen praktische Folgen erprobt werden sollen, um eine end-
gültige gesetzliche Regelung herbeiführen zu können. Berl. Pol. Nachr. vom
29. Juni 1911.
*) „Die beiden Organe des Reichs sind der Bundesrat und der Reichs-
tag. Nun haben die Gründer unseres Reiches sehr weise die Beaufsichtigung
der Legislative hinzugefügt; denn was nützt uns die Legislative — also auch
die Etatsgesetzgebung (d. Verf.) — wenn wir die Regierungen nicht inter-
pellieren können, wenn ein Gesetz entgegen dem Gedanken der Gesetzgeber
angewendet wird? Es muß also die Beaufsichtigung hinzukommen." (Abg.
Dr. Junck [nl.] Sitzung des Reichstages vom 4, Februar 1910, p. 1064 B).
412 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
fung unbedingt geboten erscheinen lassen sollte,
manches, wenn nicht vieles zu wünschen übrig bleibt.
VIII. Die finanzpolitische Praxis,
Wir haben den Abschnitt über die Staatsrechnung, Be-
handlung der Reste, die Budgetkontrolle usw. vorweggenommen,
um zu zeigen, wieviel unnötige Arbeit erspart werden kann,
wieviel Kompetenzschwierigkeiten persönlicher und sachlicher
Art sich vermeiden lassen, und vor allem, wieviel au Exaktheit
und Klarheit für die gesamte Finanzwirtschaft zu gewinnen
ist, wenn Staatshaushaltsplan und Wirklichkeit in
möghchst weitem Umfange sich decken. Eine vollständige
Übereinstimmung wird natürlich niemals zu erzielen sein.
Denn wenn schon in jeder, auch der kleinen Einzelwdrtschaft
die Rechnung über das Verhältnis der Einnahmen zu den
Ausgaben selten so aufgeht, wie bei vorsichtigster Aufstellung
und sorgfältigster Berücksichtigung aller Tatumstände und
Wahrscheinlichkeitsmomente erwartet werden darf, so läßt sich
im Staatshaushalt das praktisch -positive Schalten und Walten
der vorausliegenden Etats- oder Gebarungsperiode noch sehr
viel weniger übersehen. Der Berechnung und vorsichtigen
Abwägung aller Möglichkeiten zum Trotz behält sich, um
ein joviales Wort des früheren Reichsschatzsekretärs Wermuth
zu wiederholen, die Zukunft doch noch immer eine stattliche
Anzahl von Improvisationen vor. Aber gerade weil diese
Perspektive droht, weil es gewiß ist, daß unweigerlich Ab-
weichungen in der Einnahme- und Ausgabewirtschaft sich
einstellen, müssen die verschiedenen Faktoren, die an dem Zu-
standekommen des Budgets teilhaben, den wirklichen Verhält-
nissen möglichst nahezukommen suchen oder für die Fälle
einer nachträglichen Ordnung unvorhergesehener Vorgänge im
Staatshaushalt rechtzeitig und ausreichend Vorsorge treffen.
Die bei der letzteren Aufgabe sich ergebenden Schwierigkeiten
sind allerdings noch viel mannigfaltiger als die Ursachen und
Umstände, die den sorglich gezeichneten Kreis der Voranschläge
und etatisierten Vorausberechnungen zu stören pflegen. Die
beiden gefährhchsten Khppen, durch die das Schiff, das die
Staatsfinanzverwaltung trägt, hindurchgesteuert w^erden muß,
sind Überschuß und Fehlbetrag i). Ist jener auch
*) Das bekannteste Beispiel des künstlichen Fehlbetrages, die Francken-
steinsche Klausel, mit der bewirkt wurde, daß die eigenen Einnahmen des
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 413
zweifellos das weitaus kleinere Übel, so ist er doch nicht etwa
bloß deshalb gefährlich, weil er das Gleichgewicht im Etat
stört und wegen seiner budgetmäßigen Behandlung Schwierig-
keiten macht. Das Bedenkliche und Bedrohliche einer regel-
mäßigen oder auch nur durch mehrere Jahre andauernden
Überschuß Wirtschaft liegt vielmehr in seinen Ursachen und
andererseits in seinen Wirkungen. Rein rechnungsmäßige
Überschüsse werden, da die Wirtschaftskonjunkturen wechseln
und Produktions- und Konsumptionskräfte bald in aufsteigender,
bald in absteigender Linie sich bewegen, immer nur für kürzere
Zeit in die Erscheinung treten, werden in gewissen Perioden
und auf gewissen Gebieten verschwinden und wiederkehren.
Sie werden auch im allgemeinen, bei normalem Gang des
AVirtschaftslebens, sich in mäßiger Höhe bewegen, und nur,
wenn ungewöhnlich günstige Momente die Einnahmeentwicklung
beeinflussen — was z. B. in der Eisenbahnverwaltung infolge
einer durch Steuererhöhungen veranlaßten Voreinfuhr abgabe-
pflichtiger Waren, infolge einer ausgedehnten Streikbewegung
ausländischer Bergarbeiter und dadurch bedingter erhöhter
Kohleuausfuhr usw. eintreten kann — werden Ausnahmen von
der Regel möglich und Überraschungen zu erwarten sein.
Solche natürlichen, in einer gesunden Finanzgebarung be-
gründeten Überschüsse, zumal es sich fast immer um ver-
hältnismäßig geringe Beträge handelt, werden zumeist auch
ohne nachteilige Wirkungen bleiben. Wenn sie im Etatsjahr
hervortreten oder sich aus der Rechnung ergeben, wird die
Finanzverwaltung, die nicht ein einzelnes Wirtschaftsjahr im
Auge hat, sondern ihren Motiven und Maßnahmen einen
längeren Zeitraum zugrunde zu legen gewöhnt ist, um ihre
angemessene, dem Haushalt zuträgliche Verwendung nicht in
Verlegenheit kommen. Anders bei den künstlichen Über-
schüssen. Wie sie ihrer Entstehung nach, wenn sie nicht
etwa in finanzpolitischer Hinsicht erzieherisch wirken sollen
oder durch unabweisliche Staatsnotwendigkeiten veranlaßt sind,
einer ungesunden Auffassung entspringen und häufig eine
Verdunkelung der Etatslage bezwecken, so pflegen auch ihre
Wirkungen und Folgen recht oft bedenklicher Art zu sein.
Künsthche Überschüsse müssen den Anschein einer über den
unerläßlichen Bedarf hinaus leistungsfähigen Finanzlage er-
Reichs zur Deckung des Bedarfs nicht ausreichten. Vgl. Handwb. d. Staatswiss.
(Artikel Reichsfinanzen) Bd, 7 p. 96 d.
414 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
wecken und werden daher nur zu leicht zur Bewilhgung un-
nötiger oder unzeitgemäßer Ausgaben verführen. Unter solchen
Umständen von »Überschüssen« zu sprechen, ist ein ganz un-
berechtigter und dazu törichter Euphemismus. Denn wenn
man berücksichtigt, wie derartige »Überschüsse« zustande ge-
kommen sind, wird man hinter dieser vertrauenerweckenden
Bezeichnung zum mindesten ein großes Fragezeichen zu
machen haben i).
Außerordentliche Unterschiede in der Finanzgebarung
der einzelnen Rechnungsjahre werden verschleiert durch ein
Einnahmeverkettungssystem, von dem Leroy-Beaulieu
treffend sagt: »II resulte qu'un meme excedent de recettes
apparait dans trois ou quatre budgets successifs, passant de
Tun ä l'autre comptant pour quatre fois sa valeur, comme les
soldats du cirque qui, sortant d'un cote et rentrant de l'autre,
semblent etre trois ou quatre fois plus nombreux qu'ils ne le
sont.« Derselbe Autor bemerkt an anderer Stelle: »Les deficits
qui sont la rögle chez nous sont en general beaucoup plus
eleves qu'en apparence.« (Er begründet diese Bemerkung ein-
gehend p. 108 f. Anm.) Auch das ist bezeichnend genug.
Schärfer und treffender, als es in dem famosen Bilde von den
Zirkusstatisten geschehen ist, kann der Zusammenhang
zwischen Budgetrecht und Budgetpraxis in Frankreich
nicht beleuchtet, aber auch die Verlegenheit nicht drastischer
vor Augen gestellt werden, die den Freunden der parlamen-
tarischen Regierung und eines möglichst schrankenlosen Budget-
rechts, einer möglichst vollständigen Herrschaft des Parlaments
über die Staatswirtschaft das Beispiel der französischen Etats-
politik bereiten muß. Wenn Hatschek nicht umhin kann,
solche grundsätzlichen und für die Staatsfinanzen ungemein
bedeutsamen Unterschiede zwischen Budgetrecht undEtats-
0 Charakteristische Beispiele bei Leroy-Beaulieu p. 107 f. Die jüngste
Vergangenheit hat hierin keine Änderung gebracht. Nahezu ein Jahrhundert
hindurch ist Frankreich der geschilderten Budgetpraxis treu geblieben. Zu
einer dem Budget für 1910 beigegebenen Nachweisung über die Defizits der
ordentlichen Budgets von 1814—1908 (1087,5 Millionen Frs.) wird in »The
Statemans Year book (1910) bemerkt: »This, however, does not represent
the actual deficit arising fi-om the difference between the ordinary revenue
and the total expenditure, nor even those arising from the difference between
the total revenue and total expenditure. Moreover, almost uninteiTuptedly,
80 as to make it the rule and not the exception, the budgets voted
by the representatives of the nation have shown a small surplus, while the
jCompte definitif published a number of years afterwards, has exhibited a
large deficit.«
Blum, Budgjetrecht und Finanzpraxis. 415
praxis in England und Frankreich, unbedingt zugunsten
des monarchischen und, wie wir gesehen haben, mit einem
vielfach beschnittenen und beschränkten Budgetrecht aus-
gestatteten England zuzugeben, dann sind nach ihm solche
Vorzüge und Vorteile »nur auf die besser betriebene und ver-
standene parlamentarische Regierung in England zurück-
zuführen«. Nein, die Gründe dafür sind ganz anderer, sind
weit gewichtigerer Art, sie liegen sehr viel mehr in den Dingen
als in den Personen; wir glauben das hinreichend bewiesen zu
haben.
Oder soll etwa in so willkürlicher Weise auch die Tatsache
erklärt werden, daß in England der tatsächliche Staatsbedarf
den Voranschlägen ziemUch genau entspricht, daß dagegen in
Frankreich — allerdings auch infolge eines Systems, das mit
der Vorbereitung des Budgets bereits 15 Monate vor dem Etats-
jahre beginnt — ganz außerordentliche Differenzen zwischen
Voranschlag und Wirklichkeit regelmäßig wiederzukehren
pflegen? In den Jahren 1878 bis 1886 — die Jahre 1871 bis
1877 haben mit Rücksicht auf den Krieg und seine finanziellen
Konsequenzen auszuscheiden — haben regelmäßig hohe Supp-
lementkredite, im Minimum 48 Millionen Frs., im Maximum
375 MilHonen und 240 MiUionen (1878 und 1879) und 180 Mil-
lionen (1885) bewilhgt werden müssen. Etwas besser wurde es
in der Periode 1887 — 1890, als Rouvier mehrere Male das
Ressort des Finanzministeriums inne hatte. Aber dann folgen
wieder Zusatzkredite von über 100 Millionen Frs. alljährhch
bis 1894. In den Etatsjahren 1887—1895 waren NachbewilK-
gungen in Höhe von fast 860 Millionen Frs. erforderhch,
d. h. im Jahresdurchschnitt wurde der Voranschlag um etwa
95 Milhonen überschritten. Ein gänzhch anderes Bild in Eng-
land. In Frankreich in der Periode 1887 bis 1895 ein durch-
schnittUches Plus von 76 Milhonen Mark, in England in den
Jahren 1890—1892 ein durchschnittliches Plus von 0,8 Mil-
Honen Mark bei einem Gesamtbedarf von 5296 Milhonen Mark i) !
Auch in dem Jahrzehnt 1898/1907 waren in Frankreich starke
*) Carl C. Plehn, Introduction to Public Finance, Third Edit., p. 330.
The estimates both of revenues and expenditure are made with such great
care, that there is seldom either a surplus or a deficit of any large
amount at the end of the year. According to Bastable the estimates
of expenditure in England for the three years 1889—1892, as compared
with the result, show an error of only £ 137000 in a total of £ 264000000
or a little over 1 s per £ 100.
416 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Differenzen zwischen den vorhandenen Einnahmen einschUeß-
lich der Anleihen und dem tatsächhchen Ausgabebedarf regel-
mäßige Erscheinungen. In sieben Jahren ein Surplus, darunter
das geringste in Höhe von 60 Millionen Frs. (1905), das größte
im Betrage von 110,6 Millionen Frs., in den übrigen drei Jahren
Fehlbeträge, darunter solche von 125,6 und 116,8 Millionen Frs.
In das Budget für 1910 mußte von vornherein ein Fehlbetrag
von rund 205 Millionen Frs. eingestellt werden, der zur Hälfte
das Ergebnis der Fehlbeträge aus früheren Budgetperioden war^).
In England können zu der Effektuierung von supple-
mentary grants nach standing order 15 drei Möglichkeiten
Anlaß geben: sie können als Ergänzung zu den estimates of
a previous Session hinzutreten, oder sie können im Bereich der
Kriegsverwaltung erforderlich werden und sind dann »votes for
supplementary or additional estimates presented by the govern
ment for war expenditure « , oder endhch sie dienen zur Deckung
neu aufgetretener, im committee-Stadium nicht vorherzusehender
Ausgaben: »votes for any new Service not included in the
ordinary estimates for the year, and any additional estimates
for any new matter in the original estimates for the year.«
Wenn zu diesem Auskunftsmittel der supplementary grants
verhältnismäßig selten und zumeist mit mäßigen Beträgen ge-
griffen wird, so dürfte man auch darin eine Wirkung der
straffen finanzpolitischen Disziplin, die dem Engländer
wohl bis zu einem gewissen Grade im Blute liegt, aber auch
durch die Festlegung bestimmter Einnahmen und Ausgaben
und durch die Minderung der budgetrechtlichen Befugnisse an-
erzogen ist, und zwar wiederum eine günstige Wirkung zu er-
blicken haben. In derselben Richtung wirkt zweifellos der
Umstand, daß der Appropriation Act erst in einem verhältnis-
mäßig späten Zeitpunkt des Etatsjahres, gewöhnhch erst, wenn
sich seine erste Hälfte ihrem Ende zuneigt, zustande kommt.
Das Unterhaus ist also in der Lage, den Lauf der Staats-
wirtschaft während der Dauer mehrerer Monate zu beobachten
und dementsprechend die noch erforderlichen Mittel zu bemessen.
Die original estimates werden in normalen Etatsperioden davon
nicht berührt. Eine Ausnahme brachte das Etatsjahr 1909/10.
Am 19. April 1910 hatte der Schatzkanzler Lloyd George das
am 30. November 1909 von den Lords abgelehnte Budget für
1909/1910 wieder vorgelegt, es enthielt ein voraussichtliches
') Hazell, Annual 1910, p. 261.
Blum, Budgetrecht und Fin^nzpraxis. 417
Defizit von 15,8 Millionen Pfd., hauptsächlich infolge Zurück-
haltung steuerbarer Artikel im Plinblick auf bestehende Steuer-
pläue, ferner infolge Steigerung der Ausgaben für die Flotte
und die Altersversicherung. Dazu kamen noch einige klei-
nere Ausfälle, so daß nach Maßgabe der geltenden Steuer-
gesetze im Voranschlag ein Defizit von 16,5 Millionen Pfd.
angenommen war. Am 22. Oktober desselben Jahres 1910
zog der Schatzkanzler im Unterhause einen Vergleich zwischen
den tatsächlichen Ergebnissen der Einnahme- und der Aus-
gabeseite des Staatshaushalts und den im Budget veran-
schlagten Summen; gleichzeitig machte er Mitteilung von
den Modifikationen, die der Finanzgesetzentwurf im committe-
Stadium erfahren hatte, und von den inzwischen eingeführten
neuen Steuern und Steuererhöhungen, die, wie üblich, so-
fort in Kraft getreten waren. Er betonte dabei, daß es ein
seltenes Vorkommnis sei , daß man die ursprünglichen
Estimates auf Grund der Erfahrungen des halben laufenden
Etatsjahres berichtigen könne.
Die schwierige Lage der englischen Finanzverwaltung war
vor allen Dingen durch die Ausfälle an Steuern und Abgaben
herbeigeführt worden. Nicht bloß nicht die Beschlüsse des
committee of ways and means, nicht bloß nicht die Resolutionen
des whole house, sondern nicht einmal die Bestimmungen der
vom Unterhause in drei Lesungen ordnungsgemäß verabschiedeten
finance bill haben die Abführung der geforderten Mehr- und
Neuabgaben der land tax, der house duty und der income tax
an die Staatskasse sicherzustellen vermocht. Selbstverständlich
mögen von den Zahlungspflichtigen nicht wenige aus purer
Oppositionslust oder, um gegen die neuen Lasten zu pro-
testieren, so gehandelt haben. Aber ausschlaggebend war für
sie der Rechtsstandpunkt: solange die Zustimmung der
Lords und die Erteilung des royal assent zweifelhaft war,
lehnten sie ab, einfache, w^enn auch wiederholte Beschlüsse
des Unterhauses als gesetzlich verbindhche Vorschriften an-
zuerkennen. Ein weiteres Kriterium für den Wert
der Behauptung, das Unterhaus besitze ein unein-
geschränktes Verfügungsrecht über die Finanzwirt-
schaft des Staates!
Aber dieser in der neueren enghschen Finanzgeschichte
einzig dastehende Vorgang liefert auch einen beachtenswerten
Beitrag zur Beurteilung der englischen Budgetpraxis und Finanz-
wirtschaft. So folgerichtig und unanfechtbar der gekenn zeich-
Zeitschrift für Politik. 6. 27
418 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
nete Rechtsstandpunkt war, die Möglichkeit bUeb doch, daß
dem an gewissenhafte Erfüllung der Staatspfiichten gewöhnten,
nach seiner ganzen Anlage gewöhnten Engländer Bedenken
kommen konnten, ob er die von ihm verlangten Beträge zurück-
behalten sollte oder nicht, daß er das Gefühl haben mochte,
in einen Konflikt zwischen Recht und Pflicht hineingedrängt
zu werden. In diesem Widerstreit hat das Rechtsgefühl den
Sieg davongetragen. Gewiß nicht nur vermöge seiner inneren
Kraft. Zwei Erwägungen haben entscheidend mitgesprochen.
Einmal erschien die Befriedigung der neuen Geldbedürfnisse
nicht besonders dringlich. Durch das System der alljährlich
wiederkehrenden Budgetprovisorien — die erforderlich
werden, weil die Finanzbehörden bei Beginn des Rechnungs-
jahres ohne Geldmittel sein würden, die Ersparnisse bzw. Über-
schüsse aus dem abgelaufenen Finanzjahr aber unter keinen Um-
ständen zur Bedeckung von Ausgaben des neuen Etatsjahres
übernommen und verwendet werden dürfen — sind für die
Monate April bis Anfang August jedes Rechnungs-
jahres die Ausgaben im voraus bedeckt. Im Rechnungs-
jahr 1909/10 geschah dies durch den am 30. März 1909 er-
gangenen Consolidated Fund (Nr. 2) Act 1909 (Public General
Acts 9 Edward VII), der das Schatzamt zur Ausgabe von nahezu
48,5 Mill. Pfd. aus dem Consolidated fund ermächtigte. Für
mehr als den dritten Teil des Rechnungsjahres 1909/10 waren
also die erfahrungsgemäß benötigten Mittel bereits vor seinem
Beginn vorhanden. Dank den gesetzlich festgelegten und daher
ständig fließenden Einnahmen war für eine Reihe weiterer Mo-
nate volle Deckung des Staatsbedarfs gesichert. Für den Rest
der Budgetperiode und den nicht zur Vereinnahmung gelangten
Betrag konnte — und darin liegt ein zweites finanzwirtschaft-
liches Charakteristikum — unbedenklich der Weg der Anleihe
beschritten werden.
Denn die zur Deckung vorübergehenden Bedarfs
aufgenommenen Gelder werden in kürzester Frist zu-
rückgezahlt. Jeder Consolidated Fund Act und jeder Appro-
priation Act enthält bezüglich der Treasury Bills die Bestimmung,
daß die Einlösung der Schatzscheine spätestens am letzten Tage
des Rechnungsjahres, auf das eins der erlassenen Finanzgesetze
sich bezieht, erfolgen muß. Und betreffs sonstiger Leihgelder
ist bestimmt: »Any money borrowed otherwise than on Treasury
Bills shall be repaid .... out of the growing produce of the
ConsoHdated Fund, at any period not later than the next
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 419
succeeding quarter to that in which the money was
borrowed.«
In England sind für eine effektive Schulden-
tilgung wohl die stärksten Garantien gegeben, die
ein Großstaat besitzt. Der old sinking fund, die Tilgung
aus dem Fonds, der aus den rechnungsmäßigen Überschüssen
zu bilden ist, ist beibehalten; dazu wurde am Ende der sieb-
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts der new sinking fund
errichtet, der zwar nur wenig bedeutende Summen zur Tilgung
hergibt, aber doch dadurch, daß er eine feststehende Summe
anweist und so die Etatsfeststellung erleichtert, einen gewdssen
Einfluß ausübt; endlich seit 1867/68 das durch Gladstone ein-
geführte System der Schuldentilgung mittels Zeitrenten (Annui-
täten), das im Jahre 1883 unter Herabsetzung der Rente bis
1904, und im Jahre 1899, mit Wirkung auf die Sparkassen-
annuität, bis 1911 bzw. 1923 verlängert wurde. Dreifach ist
also die Schuldentilgung gesichert. Seit mehr als 40 Jahren
ist in England nicht nur der feste Wille zur Schuldentilgung
vorhanden, er ist durch Gesetz zu einem obligatorischen
System erhoben und auch mit Erfolg betätigt worden. Gerade
in den letzten Jahren hat die Schuldentilgung in England sehr
entschiedene Fortschritte gemacht. In der Periode 1903/4 bis
1908/9 sind im Jahresdurchschnitt über 11 Mill. Pfd. getilgt
worden. Selbst im Rechnungsjahr 1909/10, also in dem Jahre, in
dem die Finanzverwirrung einen für englische Verhältnisse
ganz ungewohnt hohen Grad erreicht hatte, ist sowohl die
Funded Debt wie auch die Last der Terminable Annuities (Zeitrenten
für die Dauer des Lebens einer bestimmten Person oder für
eine bestimmte Zeit, nach deren Ablauf sie erlöschen), jene
von 621,8 auf 614,9 Mill., diese von 38,0 auf 35,8 Mill. Pfd.
ermäßigt worden. Ebenso haben die Other Capital Liabilities,
zumeist im Anleihewege bestrittene außerordentliche Ausgaben
für Flotten- und Heereszwecke, die vierte Gruppe im National
Debt-System, eine Ermäßigung von 51,4 auf 49,2 Mill. Pfd. er-
fahren. Das sind durchweg so günstige Entwicklungs Verhältnisse,
daß gegen das Auskunftsmittel einer vorübergehenden Anleihe
zur Beschaffung des Einnahmeausfalls auch nicht das aller-
geringste Bedenken aufkommen konnte. So bestätigt der
Verlauf der letzten schweren Verfassungskrisis, die
England durchgemacht hat, auch ihrerseits das auf
Grund der budgetrechtlichen Untersuchung gewon-
nene Urteil, daß nicht infolge schrankenloser Freiheit
27* •
420 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
der gewählten Kammer — denn in dem durch mehr als
5 Jahre andauernden Streit zwischen den beiden Häusern des
Parlaments sind die Commons bisher nichts weniger als »frei«
und unumschränkte Beherrscher der Staatspolitik und Staats-
wirtschaft gewesen — sondern vielmehr infolge eines
konsequent aufgebauten Systems strenger Grundsätze
des Budgetrechts und der Etatstechnik das Gefüge
der englischen Finanzen so fest geworden ist, daß es
auch schweren Erschütterungen stand zu halten und
nach Maßgabe der Solidität, der Klarheit und der all-
gemeinen Staatsinteressen sehr hohen Anforderungen
zu genügen vermag.
Betrachten wir auch hier wieder die Kehrseite der Münze,
die das Land mit gleichfalls parlamentarischer Regierung, aber
nahezu schrankenlosem Budgetrecht und jährlicher Bewilligung
aller Einnahmen und Ausgaben darbietet, so wäre es doch höchst
merkwürdig, wenn es lediglich dem Zufall zuzuschreiben sein
sollte, daß das repubhkanische Frankreich mit denselben finanz-
pohtischen Maßnahmen, z. B. mit der Staatsschulden-
tilgung durch Annuitäten, ganz andere Erfahrungen ge-
macht hat als das monarchische England. England hat die
Tilgung der Annuitäten nur in Kriegszeiten (Ägypten 1885,
Transvaal 1900 und 1901) ausgesetzt, nach dem Friedensschluß
aber den Schuldendienst in vollem Umfange wieder aufge-
nommen. In England werden die Annuitäten-Tilgungsmittel
dem ordentlichen Etat entnommen und mit ihrer Hilfe, ob-
wohl auch das Zeitrentensystem, wie oben bemerkt, die Mög-
lichkeit der Unterbrechung, der zeitweiligen Einstellung der
Tilgung gewährt, sehr erhebliche Beträge getilgt. In England
hält sich die Annuitätenschuld in mäßigen Grenzen, in den
letzten Jahren nicht über 60 Mill. Pfd. In England hat das
Annuitätensystem so sehr Anklang und so umfangreiche An-
wendung und Wirkung gefunden, daß es die mittelbare Ur-
sache zur fortschreitenden Reduktion der englischen Staats-
schuld geworden ist ^). Auch in allerneuester Zeit ist nicht die
fundierte Schuld vermehrt, sondern der Bedarf durch Ausgabe
schwebender Schuldtitel befriedigt worden. Endlich sind es
in England die Sparkassen, in denen die Annuitäten unter-
gebracht, aus deren Beständen die erforderlichen Mittel besorgt
0 Vgl. den im Finanz-Archiv 1900, p. 912, angeführten Ausspruch des
Schatzkanzlers Hicks-Beach, wiedergegeben unten p. 38.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 421
werden. (Rund 30 7o der gesamten englischen Staatsschuld
sind in England von den öffentlichen Sparkassen übernommen.)
In Frankreich blieben die anfangs günstigen Erfahrungen
aus, als die Mittel zur Deckung von Annuitäten nicht dem
ordentlichen Etat entnommen, sondern aus Anleihen beschafft
wurden. Damit war also auf eine effektive Schuldentilgung
im strengen Sinne verzichtet worden. Ferner. In Frankreich
hat infolge des Tilgungsplanes über Annuitätenschulden vom
Jahre 1878 und seiner späteren Erweiterung die Zeitrenten-
Schuldenlast ungefähr die dreifache Höhe des in England vor-
gekommenen Höchstbetrages erreicht. In England wurde die
Annuitätentilgung, und zwar aus ordentlichen Ein-
nah m e n , tatsächlich durchgeführt. In Frankreich wurde mit
Anleihemitteln gearbeitet und die neukontrahierte Schuldsumme,
die zur Deckung von Defizits im Staatshaushalt bestimmt,
also ursprünglich als schwebende Schuld gedacht war, wenn
sie eine Höhe erreicht hatte, daß an ihre Abbürdung nicht
mehr gedacht werden konnte, in konsolidierte Schuld umge-
wandelt. In England wurden die Verpflichtungen aus Annu-
itäten stets so bemessen, daß sie die Leistungsfähigkeit nicht
überschritten. Dagegen hat Frankreich wiederholt, auch noch
bei dem Annuitätenexperiment von 1900 und 1901, sich mit
Rentenverbindhchkeiten stark übernommen. »In jener Periode
traurigster Finanzwirtschaft in Frankreich ist kein Versuch
gemacht worden, das jährliche Defizit zu beseitigen, vielmehr
nur es möglichst zu verschleiern.« So K. Zorn, Tilgung der
Staatsschulden, p. 77.
Zur Charakteristik der in Frankreich möglichen und
üblichen Behandlung der Budgetgeschäfte hat die Kabinetts-
krisis des zweiten Ministeriums Briand einen bemerkenswerten
Beitrag geliefert. Aus rein politischen Motiven, nämlich um
solange wie möglich der Beschäftigung mit den neuen Streik-
gesetzen zu entgehen, wurde die Durchberatung des Budgets
in den Kommissionen hingeschleppt, jede Etatsposition wurde
zur Obstruktion benutzt, d. h. sie wurden zuerst und zumeist
daraufhin angesehen, wie man sie als Handhabe einer Politik
verwenden könnte, die die Macht und Autorität des einstigen
Parteimannes Briand nicht zu groß werden, vielmehr die Ver-
dienste der einzelnen Parteien in das rechte Licht setzen lassen
könnte. Dazu gehörte auch, das für Geldbewilligungen, auf
die man sich nachher berufen konnte, wenn wirklich eine
strengere Streikgesetzgebung unvermeidhch werden sollte, die
422 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Parteien sich um die Wette begeisterten; woher die Mittel ge-
nommen werden sollten, darum sorgte sich niemand^). Damit
vergleiche man, wie in England die in monar-
chischen und budgetrechtlichen Abhängigkeiten
sich darstellende Finanz- und Wirtschaftspolitik
des Unterhauses die eigentliche Budgetberatung dem poli-
tischen Agitations- und Obstruktionsbedürfnis entzogen hat
und sogar Neubeschaffungen im Heeresbedarf und Kriegs-
ausgaben nahezu ganz aus ordentlichen Mitteln bestreitet oder
doch so schnell wie möglich abbürdet, und man wird keinen
Augenblick im Zweifel sein, weshalb das parlamen-
tarische Regime sich in England ganz anders be-
währt als in Frankreich.
IX. Anleihe- und Schnldenpolitik.
Wie England und Frankreich bieten auch das Deutsche
Reich und Preußen unter den Gesichtspunkten des Charakters
der Schulden und der Schuldenpolitik eine lehrreiche und
für den Gegenstand unserer Betrachtung wertvolle Parallele.
Mehr oder weniger sind heutzutage alle Staatsschulden das,
was E. V. Philippovich von den österreichischen Staatsschulden
gesagt hat: der Preis für die staatliche Existenz^).
Aber einmal ist das, was man unter staatlicher Existenz
versteht, was man zu ihren schlechthin notwendigen Vor-
aussetzungen und Bedingungen rechnet, nicht überall gleich,
und dann ist der Grad der Abhängigkeit der Existenz des
Staates von der Kapitalmacht und der Inanspruchnahme
des Staatskredites doch sehr verschieden. Unter den Groß-
staaten, die wir im Auge haben, liegen in dieser Beziehung für
die französische Republik die Verhältnisse am ungünstigsten.
Frankreich hat eine gewaltige Schuldenlast auf sich nehmen
müssen, um sich nach den schweren Schlägen und Verlusten
von 1870/71 in der Reihe der Großmächte behaupten zu können.
Die Zunahme der Verschuldung wurde dadurch noch befördert,
daß — mittelbar zu den gleichen Endzwecken — gegen 10 Milli-
arden Mark zur Befriedigung des russischen Kreditbedürfnisses
außer Landes gingen. Wenn auch Rußland den daraus resul-
tierenden Verpflichtungen stets nachgekommen ist und sicher-
^) Auf die Gefahren, die sich für die Finanzlage infolge der Popularitäts-
hascherei der Volksvertreter ergeben müssen, ist auch bei Jellinek, Fest-
gabe für Laband, p. 124, hingewiesen.
') Bankarchiv XII, 7, p. 109.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 423
lieh auch weiter nachkommen wird, so erscheint es doch fraghch,
ob die Zinserträge die materiellen Schäden ausgleichen, mit der
eine so bedeutende Kapitalentziehung die französische Volks-
und Staatswirtschaft bedroht. In ähnlicher Lage befindet sich,
äußerlich betrachtet, das Deutsche Reich. Auch hier ist die
Schuldenlast — eine in kurzer Zeit aufgehäufte und immer
schneller gestiegene Schuldenlast ^) — im wesentlichen der Preis,
der für die Aufrechterhaltung der Machtstellung, der Bündnis-
fähigkeit und der Sicherheit des Deutschen Reiches bezahlt
werden mußte. Die gewaltigen Ausgaben für Heer, Flotte,
Kolonialwirtschaft, Sozialpolitik, also in der Hauptsache Aufwen-
dungen nicht werbender Natur 2), gehören hierher. Aber hinter
dem Reich stehen die einzelnen Bundesstaaten. Sie sind, da
ihrer Bevölkerung die Aufwände für Reichszwecke vielfach zu-
gute kommen, als Teilhaber der Reichsschuld zu betrachten,
und als Glieder des Reiches bieten sie mit ihrem Aktivermögen
ein auch nach Berücksichtigung der eigenen Staatsschulden
noch durchaus hinreichendes Gegengewicht gegen die in den
Reichsschulden kontrahierten Passiva. Immerhin hat das Reich
den Boden einer gesunden und vorschauenden Anleihepolitik
recht oft verlassen, in der Auswahl und Bemessung des Finanz-
bedarfs, der im Anleihewege zu decken war, wurden feste Normen
entweder nicht beliebt oder nicht innegehalten, und wiederholt
war eine Defizitanleihe ein willkommenes Auskunftsmittel, um
für den Augenblick der pflichtmäßigen Sorge für Deckung des
ordentlichen Bedarfs überhoben zu sein.
Ganz andere Anschauungen und Zustände dagegen in Preußen
und Großbritannien. In Preußen bilden die Anleihen zur
Deckung von Defizits eine ganz seltene Ausnahme, die fast nur
in anormalen Zeitläuften und bei besonderen Anlässen (in neuester
Zeit z. B. infolge einer fast in allen Verwaltungen und Kate-
gorien bewirkten Erhöhung der Beamtengehälter) begegnet. In
der Regel sind die Anleihen zu produktiven Staatszwecken, in
^) An neuen Schulden sind hinzugekommen 277 Mill. in 1906, 254 Mill.
in 1907, 261 Mill. in 1908, 724 Älill. in 1909.
^) Die Auffassung, daß in Deutschland die Ausgaben für das Heer als
produktive Ausgaben anzusehen sind, im Reichstag von konservativer Seite
vertreten. 12. Leg.-P., U. Session, 1909—11, 133. Sitzung, p. 4868 D. Vgl.
dazu Ad. Wagner, Finanzwissenschaft. Bd. I. 3. Aufl. §36. Ad. Wagner,
Sozialökonomik, p. 107 ff. Nach Wagner kann die Verwendung wirtschaft-
licher Güter in der Staatswirtschaft nur dann als produktiv gelten, wenn dem
»Gesetz der Reproduktion der verwendeten Finanzmittel und Arbeitsleistungen
in der Volkswirtschaft» genügt wird.
424 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
erster Linie zu Eisenbahnbauten und Materialbeschaffung, auf-
genommen^). Derartige Anleihen haben — die als Folge der
letzten großen Investierungen (in den Jahren 1908/10) erzielte
starke Steigerung der Wirtschaftlichkeit des Staatsbahnbetriebes
beweist es zur Genüge ! — unterstützt durch eine im allgemeinen
günstige Wirtschaftslage, die Zwecke durchaus erfüllt, die mit
ihnen angestrebt wurden oder doch deren Erfüllung in sichere
Aussicht gestellt. Vielleicht noch günstiger hegen die Verhält-
nisse für Großbritannien 2). In den Rechnungsjahren 1885/86
bis 1908/9 sind neue Schulden, wenn man von den z. T. auf
Anleihe übernommenen Kosten der Kriege in Südafrika und
China absieht, in dem äußerst geringfügigen Betrage von
4,2^ Mill. Pfd. hinzugekommen. (In derselben Zeitperiode sind
die Schulden des Deutschen Reichs von 440 auf 4500 Mill. Mark
gestiegen!) Die erwähnten Kriegsanleihen brachten einen Zu-
wachs von 162 Mill. Pfd., aber unmittelbar nach Friedensschluß
setzte eine starke effektive Schuldentilgung ein; es wurde in
sechs Jahren eine Schuldenlast von fast P/g Milliarden Mark
abgebürdet. Trotz jener neu aufgenommenen Schulden in Höhe
von fast 3 Vi Milliarden Mark ist gegenwärtig, 1910/11, die
öffentliche Schuld Englands um fast 300 Mill. Mark niedriger
als im Jahre 1885, die Verzinsung erfordert ca. 85 Mill. Mark
weniger als damals ^). Aber nicht das allein. In der 713,2 Mill. Pfd.
betragenden Gesamtschuld stecken 35,9 Mill. Pfd. Terminable
Annuities, die also während einer bestimmten Frist getilgt
werden müssen, und ferner 62,5 MiU. Unfunded Debt (Treasury
Bills, War Stock-Bonds, Exchequer Bonds), die gleichfalls nach
einer vorgeschriebenen kürzeren Frist zurückgezahlt sein müssen.
Dazu kommen dann noch die Other Capital Liabilities, nach
dem Stande von 1910, 31. März, in Höhe von 49,2 Mill. Pfd.,
die fast ausschließlich auf neueren Gesetzen beruhen — das
älteste stammt aus 1890 — und gleichfalls an bestimmte Amorti-
sationsfristen gebunden sind. Aber noch weiter. Fast sämt-
*) Seit 1892 werden Erneuerungen und Verbesserungen der bestehenden
Staatsbahnstrecken aus ordentlichen Etatsmitteln bestritten. Begründung des
Gesetzentwurfs von 1903 betr. die Bildung eines Ausgleichfonds für die Eisen-
bahnverwaltung (Fin.Arch. XX, p. 862).
*) »The national Debt is mainly the remnant of the growth of many
years, and nearly all was raised for foreign wars« (Whitacker, Almanack 1911
p. 467).
^) Dazu hat allerdings auch die Zinsreduktion bei den Konsols bei-
getragen.g
Blum, Budgetreclit und Finanzpraxis. 425
liehe Ausgaben für Flotte und Laudheer werden aus
^ den laufenden Jahreseinnahmen bestritten^).
Sollte es wieder nur ein Zufall sein, daß der preußische
Staat im wesentlichen die gleiche Praxis angewendet hat?
Natürlich ist für die preußischen Verhältnisse ein anderer
Maßstab anzulegen, ein Maßstab, der die anders gearteten Voraus-
setzungen für den Staatsbedarf und die Tilgungsaufgaben be-
rücksichtigt. In Preußen handelt es sich nicht um Ausgaben
für Heeres- und Flottenzwecke und ähnliches; das ist Sache
des Reiches. Die öffentlichen Schulden Preußens sind zum
weitaus größten Teile Eisenbahnschulden: Für das Etatsjahr 1911
ist die Staatsschuld auf 9531,7 Mill. Mark festgestellt. Der
Anteil der Eisenbahnverwaltung beträgt 7234,2 Mill. Mark. Von
393,5 Mill. Mark, die im Etat für 1911/12 für Verzinsung
(336,0 Mill. Mark) und Tilgung (57,5 Mill. Mark) der Staats-
schuld ausgeworfen sind, stehen 301,0 Mill. Mark (257,6 Mill.
Mark Verzinsung und 43,4 Mill. Mark Tilgung) auf dem Etat
der Eisenbahnverwaltung und sind im Netto-Etat von dem
Überschuß in Abzug gebracht. Mit dem Abtragen der Eisenbahn-
schulden ist es schnell vorangegangen. Durch direkte und
indirekte Schuldentilgung ist das statistische Anlagekapital
der Eisenbahn Verwaltung von dem seit 1910, zunächst für fünf
Jahre, die 2,10prozentige Rente als Zuschuß zu den allge-
meinen Staatsbedürfnissen berechnet wird, innerhalb der letzten
30 Jahre (bis 1. April 1910) von 10464 auf 7023 Mill. Mark
vermindert worden, infolgedessen beträgt die heutige Eisenbahn-
*4?ente nur scheinbar 6 7o) ^^ Wirkhchkeit (einschließlich der
') Sir Michael Hicks-Beach, Schatzkanzler im dritten Ministerium Salis-
bury, erklärte bei Begründung des Voranschlages (Budget) für 1899/1900:
»Während andere Staaten, welche durch Aufstellimg ordentlicher und außer-
ordentlicher Voranschläge den wirklichen Betrag ihrer Ausgaben verdecken,
ohne Zaudern ihre Schuldenlast enorm erhöhen, um ihre Marinen oder Armeen
zu verstärken, haben wir unsere Nationalschuld nicht erhöht. . . . Selbst wo
es sich nicht bloß um verbrauchbare Gegenstände, wie Schiffe und Geschütze,
sondern um dauernde Bauten, wie Häfen, Dockanlagen und Kasernen
handelt, aus welchen Generationen Nutzen ziehen, ja sogar beim Ankauf
von Grund und Boden zum Manövrieren und zur Errichtung von Schieß-
ständen, erhöhen wir nicht unsere permanente Schuld. Wir nehmen kurze
Anleihen auf und amortisieren diese Anleihen aus unseren Jahreseinnahmen.
Schließlich kommt hinzu, daß während derselben Zeit, in welcher misere
Marine- und Armeeausgaben um 10 Millionen gewachsen sind, unsere vererbte
Nationalschuld um 29,3 MiL. Pfd. reduziert werden konnte. Es ist zu wünschen,
daß diese Praxis noch lange bestehen bleibt; sie allein schützt uns heutigen
Tages vor finanziellem Euin« (Fin.Arch. 17, II, 385).
426 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Verzinsung und der Eisenbahnschuld und der Speisung des
Ausgleichfonds) über 9 7o^)- Die Schuldentilgung auf indirektem
Wege erfolgt hauptsächhch durch starke Dotierung des
Extra-Ordinariums der Eisenbahnverwaltung; indem
es seit 1910 — aber nicht etwa erst seitdem; in den letzten
Jahren der Miquelschen Finanzverwaltung haben bereits außer-
ordentlich starke Dotierungen des Extra-Ordinariums stattge-
funden 2) — mit 1,15^0 des statistischen Anlagekapitals oder
mindestens 120 Mill. Mark ausgestattet sein muß, wird der im
Wege der Anleihe zu deckende Bedarf in engeren Grenzen
gehalten. Ebenso wird die Lage des allgemeinen Etats dadurch
begünstigt, daß die 2,1 %, bis zu welchem Betrage die Rein-
überschüsse der Eisenbahnverwaltung zur Deckung allgemeiner
Staatsausgaben herangezogen werden dürfen, von dem zuletzt
abgerechneten statistischen Anlagekapital und nicht von dem
nach den Abschreibungen noch verbliebenen Kapital berechnet
werden.
Seit dem 8. März 1897 ist in Preußen die gesetzliche Schulden-
tilgung wieder eingeführt. Vom Etats jähr 1898/99 ab müssen
jährlich mindestens ^5 Prozent der sich jeweils nach dem Staats-
haushaltsetat ergebenden Staatskapitalschuld getilgt werden.
Eine Verrechnung auf bewilligte Anleihen ist einer Tilgung
gleich zu erachten. Überschüsse auf Grund der Jahresrechnung
sind in vollem Betrage zur weiteren Tilgung von Staatsschulden
bzw. zur Verrechnung auf bewilligte Anleihen zu verwenden.
In den Jahren 1882/83 bis 1895/96 hat, obwohl das Eisenbahn-
garantiegesetz vom 27. März 1882 — Verwendung der Eisen-
bahnüberschüsse zur Tilgung der Eisenbahnschulden — versagt
hatte, infolge freiwilliger Entschließung von Regierung
und Parlament die Staatsschuld (durch Tilgung oder Ver-
rechnung auf bewilligte Anleihen) um 584 Mill. Mark verringert
werden können. Auf Grund gesetzlicher oder sonst begründeter
rechtlicher Verpflichtungen hätten nur 61,3 Mill. Mark getilgt
zu werden brauchend) In den jährlichen Etat wurden als
außerordentliche, außergesetzliche Tilgung diejenigen Amorti-
sationsersparnisse eingestellt, welche alljährlich infolge der
mit der Verstaatlichung der Eisenbahn zusammenhängenden
Umwandlung von tilgbaren Eisenbahnobligationen in untilgbare
Konsols gemacht wurden.
0 Drucks. Nr. 10.5 des Hauses der Abg. 21. Leg.-P. IV. Session 1911 p. 6.
*) cf. Schwarz-Strutz p. 196 u. Anlage XTT.
^) cf. Schwarz-Strutz LH, p. 65.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 427
Neue Bestimmungen über die Verwendung von Über-
schüssen brachte das Gesetz vom 3. Mai 1903 betr. die Bildung
eines Ausgleichfonds für die Eisenbahnverwaltung.
Die Überschüsse sollten zunächst verwendet werden zur
Bildung oder Ergänzung eines Ausgleichfonds in Höhe von
200 Mill. Mark, nur der darüber hinausgehende Betrag sollte
zu einer weiteren Tilgung von Staatsschulden bzw. Verrechnung
auf bewilligte Anleihen verwendet werden. Gewiß hat dieses
Gesetz die Möglichkeit der Schuldentilgung enger begrenzt, aber
es hat doch den gesetzlichen Schuldentilgungszwang formell
und materiell unberührt gelassen. Übrigens ist das Gesetz nie
recht zur Anwendung gekommen, da gleich nach seiner Schaf-
fung schlechte Wirtschaftsjahre eintraten, also rechnungsmäßige
Zuschüsse dem Fonds nicht zugeführt werden konnten. In den
ersten fünf Jahren seines Bestehens ist der Fonds erstmalig
mit 30 Millionen Anleihe und dann mit 156 Millionen aus Rech-
nungsüberschüssen der Jahre 1903 — 06 gefüllt, aber gleichzeitig
zur Bildung und Ergänzung des Dispositionsfonds des Ministers
der öffentlichen Arbeiten für unvorhergesehene Ausgaben und
zu teilweiser Deckung des Fehlbetrages in der Rechnung von
1907 so in Anspruch genommen worden, daß sein Bestand
Ende 1907 + 0 war. Der Fonds, dem auch in den Jahren 1908
und 1909 keine Mittel zugeführt werden konnten, hat seinen
Zweck nicht erfüllen können, weil er nur durch zufällige Rech-
nungsüberschüsse gespeist und durch die alljährliche Auffüllung
des 30 Millionen-Dispositionsfonds allzu rasch aufgezehrt wurde ^).
Immerhin ist nicht zu verkennen, daß die 50 — 60 Millionen,
die tatsächlich, abgesehen von den im Anleihewege erfolgten
Dotierungen, in den Eisenbahnausgleichsfonds flössen, dem
Schuldentilgungsbedarf entzogen worden sind.
Von einer ähnlichen Wirkung wird man bei der Ab-
machung sprechen müssen, nach der die Eisenbahnverwaltung
nur noch einen Beitrag in Höhe von 2,1 7o ihres statistischen
Anlagekapitals zu den allgemeinen Staatsfinanzen her-
gibt. Die Mittel, die jetzt dem Ausgleichsfonds bereits durch
den Etat zugeführt werden, sind dem Zugriff von selten des
allgemeinen Staatsaufwandes, also auch zu Schuldentilgungs-
zwecken, entzogen. Aber gerade dadurch wird, allerdings auf
indirektem Wege, zwar nicht eine Tilgung vorhandener Schulden
') Bericht des Finanzministers Freiherrn von Rheinbaben an Seine
Majestät. Preußisches Herrenhaus, Sitzung vom 27. Mai 1910, p. 176, 243, 250.
428 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
erreicht, aber der Tendenz zu weiterer Verschuldung
entgegengearbeitet. Auf der einen Seite hegt in der
Sicherstehung des Ausgleichfonds der Grundsatz ausgesprochen,
daß mehr, als auf Grund der letzten Vereinbarung zwischen
Regierung und Landtag zugestanden ist, nicht auf Anleihe ge-
nommen werden solP). Auf der anderen Seite liegt darin ein
Zwang zur Sparsamkeit, indem erst 120 Millionen für das Extra-
ordinarium der Eisenbahn Verwaltung bereitgestellt werden müssen,
ehe die Überschüsse dieser Verwaltung für die übrigen Ressorts
zur Verfügung stehen. Unter dem letzteren Gesichtspunkte hat
das preußische Abgeordnetenhaus die Stellung des Finanz-
ministers gegenüber den Ansprüchen der einzelnen
Ressorts gestärkt, also die Ausübung budgetrecht-
licher Befugnisse vertrauensvoll einem Mitgliede der
Regierung übertragen; unter dem ersteren Gesichtspunkte
hat sich der preußische Landtag gegen die Versuchungen
einer laxen Anleihewirtschaft mehr als bisher ge-
sichert. Der frühere Ministerialdirektor im Eisenbahn-
ministerium, A. Kirchhoff, hat 2) den Vorschlag gemacht,
1,15 7o dßs statistischen Anlagekapitals dauernd auf Anleihe
zu nehmen. Verführe man so, so würde man nach Ablauf
eines bestimmten Zeitraumes für den Schuldendienst dieser
Anleihen erheblich mehr aufbringen müssen, als jetzt aus
laufenden Eisenbahnmitteln für die Dotierung des Extraordi-
nariums aufzubringen ist. Es ist darüber eine ganz genaue
Berechnung aufgestellt. Danach würden, wenn man jährlich
1,15 V. H. des statistischen Anlagekapitals aus Anleihemitteln
bestreiten würde, bereits nach 17 Jahren allein für Zinsen und
Tilgung 120 Mill. Mark, also der jetzige Betrag des Extra-
ordinariums, verwendet werden müssen und nach 28 Jahren
würde schon ebensoviel für den Schuldendienst aufzubringen
sein, die alsdann 1,15 v. H. des bis dahin regelmäßig gestiegenen
statistischen Anlagekapitals ausmachen würde, nämlich 210 Mill.
Mark. Der Anleihemarkt würde noch mehr belastet, die Steige-
rung der öffentlichen Schuld nicht vermindert werden, statt der
Staatsschuld würde die Eisenbahnschuld wachsen, statt der
transitorischen Defizitanleihe erhielte man Eisenbahnanleihen,
mit denen auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinaus zu rechnen
^) Die betreffenden Auf wandsz wecke sind genannt Sten. Ber. des Herren-
hauses 1910 p. 251.
*) u. a. im Bankarchiv, X. Jahrg. Nr. 7 (1. Januar 1911).
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 429
wäre, der Schuldendienst der Eisenbahnverwaltung würde sehr
stark wachsen, so stark, daß schließlich die verfügbaren Mittel
durch die Verzinsung absorbiert würden. Die weitere Folge
wäre die Möglichkeit einer ernsten Gefährdung der Staats-
finanzen ^). Der preußische Landtag hat wiederum
einen positiven und praktisch wertvollen Beweis
seiner budgetrechtlichen Selbstzucht gegeben, indem
er eine festere Begrenzung des Extraordinariums der Eisenbahn-
verwaltuug zugestand, das für die preußischen Finanzen, weil
es den Charakter einer Abschreibung hat'*), von außerordent-
lichem Werte ist.
X, Finanzbedarf und Etatswirtschaft.
Von dem Staatsschuldenwesen, seinen Ursachen und Folgen,
von der Erscheinung der Nachtrags- und Ergänzungsetats, deren
Zuhilfenahme in vielen Fällen unumgänglich und unbedenklich
sein mag, in jedem Falle aber dem Zustandekommen eines über-
sichtlichen und umfassenden Gesamtbildes der Staatswirtschaft
während der Dauer eines Rechnungsjahres zum mindesten stark
hinderlich ist, sind die Bedingungen und Maßnahmen der Über-
schuß- und Defizitpolitik nicht zu trennen. Wie es für die Finanz-
verwaltung und Volksvertretung, wenn sie im Einvernehmen
handeln, ein Leichtes ist, künstliche Überschüsse in die Welt
zu setzen und so einen den Tatsachen nicht entsprechenden
Stand der Etats- und Finanzlage vorzutäuschen, so haben es
beide ebensogut in der Hand, die Verhältnisse ungünstiger
erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich sind. Dazu dienen
die künstlichen, mit zweckbewußter Absicht herausgearbeiteten
Etatsdefizits^). Die Anfänge eines solchen, das vielleicht erst
gegen Schluß des Rechnungsjahres oder nach der Rechnung
sich herausstellt, liegen oft weit zurück, sie können zeitlich und
*) Ähnlichen Bedenken begegfnen die neuerlichen Vorschläge des Mini-
sterialdirektors Kirchhoff und die in derselben Richtung sich bewegenden
Anregungen des leitenden Direktors der Deutschen Bank Herrn v. Gwinn er,
wie in der Sitzung des preuß. Herrenhauses vom 8. April 1911 Direktor
Offenberg vom Eisenbahnministerium und Prof. Dr. Adolph Wagner
mit schlagenden Gründen nachgewiesen haben.
^) Vgl. Ministerialdirektor Offenberg in der Zeitung des Verbandes
Deutscher Eisenbahnverwaltungen, Jahrgang 1909, Heft 9 und 10.
^) ^gl- P- 25 Anm.
430 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
sachlich schon mit der Vorbereitung des Budgets zusammen-
fallen oder in den parlamentarischen Behandlungstadien hervor-
treten. Die Frage, was etatsmäßiger Finanzbedarf ist^), die
gemäß der Beantwortung dieser Frage gestaltete Ausstattung
des Budgets, die Bemessung der Einnahmen und Ausgaben,
Umfang und Charakter der Beziehungen zwischen Staatswirt-
schaft und Staatsverwaltung, endlich etats- und finanzpolitische
Grundsätze der verschiedensten Art und Berechtigung (z. B. be-
treffend Scheidung zwischen Ordinarium und Extraordinarium,
Behandlung der Überschüsse, Schuldentilgungssystem usw. 2) —
alles das kann in den Dienst einer Etatspraxis gestellt werden,
die den Hauptfinanzabschluß eines Rechnungsjahres in bestimmter,
in diesem Falle den Haushalt belastender Tendenz zu beeinflussen
sucht. Das braucht keineswegs immer in der aus-
gesprochenen Absicht der Täuschung oder auch
nur der Verschleierung zu geschehen. Ein markantes
Beispiel dafür bietet der preußische Staatshaushalt für
das Rechnungsjahr 1911/12.
Schon das Rechnungsjahr 1909 hatte in der Rechnung
ein wesentlich anderes Ergebnis gehabt als nach der Etats-
feststellung. Statt eines etatsmäßigen Defizits in Höhe von
155,9 Mill. Mark ergab sich nach der Rechnung ein Fehlbetrag
von nur 23,4 Mill. Mark, teils weil Eisenbahn- und Forstverwaltung
steigende Erträge gebracht hatten, teils weil ein Betrag von
42,8 Mill. Mark, der zur Erfüllung rückständiger Leistungen
an das Reich aufgesammelt war, infolge Übernahme der ge-
stundeten Matrikularbeiträge auf Reichsfonds entbehrlich wurde
und zu laufenden Ausgaben verwendet werden konnte. Im
Rechnungsjahr 1910 griff eine ähnliche Veränderung Platz:
statt des etatsmäßigen Defizits von 92,8 Mill. Mark ist ein
solches von ca. 40 Mill. Mark zu erwarten. Ohne die Abführung
von 30 Mill. in den Eisenbahnausgleichsfonds würde sich ein
noch um diese Summe geminderter Fehlbetrag ergeben. Der
Etat für das Rechnungsjahr 1911 würde statt eines Fehlbetrages
von 29 Mill. Mark einen Überschuß von 3,5 Mill. Mark auf-
weisen, wenn nicht 32,5 Mill. Mark in den Eisenbahnausgleichs-
fonds, entsprechend der im Etat für 1910 getroffenen Ver-
0 Vgl. Ad. Wagner, Finanzwissenschaft. Bd I. 3. Aufl. § 36. Siehe
auch p. 36 Anm.
^) Vgl. Vereinbarungen über Grundsätze bei Aufstellung des Etats und
bei der Finanzwirtschaft des Keichs. 12. Leg.-Periode II. Session 1909 — 11.
98. Sitzung. 3551 A.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 431
einbarung, abzuführen wären. Nach dieser Vereinbarung
über den neuen Eisenbahnausgleichsfonds^), die bis
1914 gelten soll, dürfen, um für diesen Fonds Füllungsmittel zu
gewinnen, die Reinüberschüsse der Eisenbahn Verwaltung
nur bis zur Höhe von 2,1 Prozent des statistischen Anlage-
kapitals der Eisenbahnen zur Deckung allgemeiner Staats-
ausgaben in Anspruch genommen werden; sind dann noch
Reinüberschüsse vorhanden, so wird dieser Rest dem im Jahre
1 903 geschaffenen Eisenbahnausgleichsfonds zugeführt, der bis
dahin nie recht zur Anwendung gekommen war, da gleich nach
seiner Schaffung schlechte Finanzjahre eintraten. Selbstver-
ständlich stehen für den allgemeinen Staatsbedarf 2,1 Prozent
des statistischen Anlagekapitals nur dann zur Verfügung, wenn
die Reinüberschüsse der Staatseisenbahnverwaltung den nach
Maßgabe dieses Prozentsatzes sich ergebenden Betrag (219,8 Mill.
Mark im Etat für 1911 bei einem Gesamt-Reinüberschuß von
252,3 Mill. Mark) übersteigen. Wenn die Staatseisenbahn-
verwaltung weniger Reineinnahmen hat, können eben nicht
2,1 Prozent, welcher Satz die Höchstgrenze darstellt, sondern
nur der in solchem Falle vorhandene geringere Reinüberschuß
zur Verwendung im Rahmen der allgemeinen Staatsverwaltung
abgeliefert werden. Die Folge wird dann fast immer ein er-
höhtes Defizit sein. Eine zweite außerhalb der eigentlichen
Etats Wirtschaft (gleichfalls auf 5 Jahre) getroffene Vereinbarung,
derselben Sphäre angehörig, geht dahin, daß das Extraordinarium
der Eisenbahn Verwaltung mit 1,15 Prozent des statistischen
Anlagekapitals (mindestens mit 120 Mill. Mark) dotiert wird,
d. h. erst müssen mindestens 120 Mill. Mark für das
Extraordinarium der Eisenbahnverwaltung bereit-
gestellt werden, ehe deren Überschüsse für die übrigen
Ressorts zur Verfügung stehen. Aus allgemeinen finanz-
politischen Gründen, deren Für und Wider in den Sitzungen
des Herrenhauses vom 27. Mai 1910 und 7. und 8. April 1911
eingehend erörtert wurde, für unsere Darstellung jedoch außer
Betracht bleiben darf, hat man sich über bestimmte Normen
für das finanzielle Verhältnis zwischen Eisenbahn-
verwaltung und Staatsverwaltung verständigt. In der
Fixierung des Extraordinariums der Eisenbahnverwaltung und
weiterhin in der Festlegung der Grundsätze für das, was auf
Anleihe zu nehmen ist und was nicht, ist in jedem Falle ein
Fortschritt der Finanzgebarung zu konstatieren. Auf der
') cf. p. 40.
432 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
andern Seite ist der Gewinn nicht geringer. Bei Aufstellung
des Etats kann nunmehr mit einem wenigstens durch eine
Höchstgrenze fixierten Zuschuß aus dem Ressort der Eisenbahn-
verwaltung gerechnet werden; über diese Grenze hinaus hat
der allgemeine Staatsbedarf von der Eisenbahnverwaltung, die
früher sozusagen ihr Letztes für die dadurch immer begehrlicher
gemachten übrigen Ressorts hergeben mußte, in keinem Falle
etwas zu erwarten.
In diese Streitfrage, die infolge der Publikationen des früheren
Ministerialdirektors Dr. A. Kirchhoff und infolge der Herrenhaus-
debatten im Frühsommer 1910 die ihrer Bedeutung entsprechende
Beachtung gefunden hat, spielen, wie man sieht, Interessen und
Erwägungen hinein, die für das gesamte Finanzwesen des
Staates von außerordentlicher Tragweite sind. Aber wenn auch
von einer Erörterung der daraus sich ergebenden Probleme
und Grundsätze, die in das Gebiet der eigentlichen Staats-
finanzpolitik gehören, im Rahmen dieser Darstellung Abstand
zu nehmen ist, so dürfte doch soviel erwiesen sein, daß jenes
im Etat für 1911 künstlich, wenn auch auf Grund bestehender
Vereinbarungen geschaffene Defizit keineswegs als eine be-
wußte Verdunkelung der etatsmäßigen Verhältnisse
gegenüber der Öffentlichkeit hingestellt werden darf.
Zugleich muß auf einen weiteren Gesichtspunkt, der für
die Etatspraxis in Preußen nicht bedeutungslos ist, hingewiesen
werden. Von vornherein ist an die Beurteilung der im
Deutschen Reiche und in den deutschen Einzelstaaten
geübten Budgetpraxis ein anderer Maßstab zu legen, als
häufig geschieht. Wenn mit Recht gefordert werden muß, daß
bei Vergleichen, die zwischen den Zuständen und Einrichtungen
im Deutschen Reiche und denen in anderen Ländern gezogen
werden, die in dem bundesstaatlichen Charakter des Reichs
begründete Sonderart des Reichs nicht unberücksichtigt bleiben
darf, so ist nicht einzusehen, warum nicht für die Fragen des
Budgetrechts und der Etatspraxis der Einzelstaaten derselbe
Vorbehalt gemacht, die gleiche Bedingtheit des Urteils in An-
spruch genommen werden soll. So dürfte z. B. gegen die
deutschen Budgets, sei es des Reichs, sei es der Einzelstaaten,
keinesfalls der Vorwurf der Unvollständigkeit erhoben oder
Einheit, Aufbau und Anordnung des Budgets bemängelt
werden. Die finanziellen Beziehungen der Einzelstaaten zum
Reiche und umgekehrt äußern ihre Rückwirkungen selbstver-
ständlich auch im Etatswesen, das dadurch auf Kosten der
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 433
Klarheit und Übersiclitlichkeit komplizierter werden muß. Wenn
z. B. auch dem preußischen Etat der Vorwurf der schweren
A^erständlichkeit gemacht wird und, solange die Zusagen des
Finanzministers Dr. Lentze^) betreffs Erleichterung des Ver-
ständnisses des Etats nicht verwirklicht sind, auch gemacht
werden darf, so ist doch nicht zu bestreiten, daß die Bestimmung
in Art. 70 der Reichsverfassung über die Finanzwirtschaft der
Einzelstaaten andauernd Störung und Unruhe bringt.
Vollkommen zutreffend sagen Speck und H. Preuß, Reichs-
und Landesfinanzen, Heft Nr. 121 und 122 der volkswirtschaft-
lichen Zeitfragen, Berlin 1894, unter Anführung eklatanter Vor-
gänge in der Finanzgeschichte des Großherzogtums Baden:
»Das System der Matrikularbeiträge und Überweisun-
gen wälzt die Schwankungen dieser Beträge vom Reiche auf
die einzelnen Bundesstaaten ab und führt zu ruckweisem
Wechsel von mehr oder minder kachierter Defizit-
oder Überschußwirtschaft.« Ebenso Edg. Loening in
seiner »Reichsverfassung«, p. 113: »Die Verkettung der Reichs-
und Landesfinanzen raubt der Finanzwirtschaft der Einzelstaaten
Rulie und Beständigkeit, erschwert die Aufstellung eines genauen
und übersichtlichen Budgets, wenn sie die Aufstellung nicht
überhaupt ganz unmöglich macht. « Die einzelstaatlichen Finanz-
minister, sofern sie sich nicht dem Vorwurfe der Unfähigkeit
oder UnVerantwortlichkeit aussetzen wollen, können also gar
nicht anders: sie müssen oder mußten doch bis 1909 alljährhch
in Rücksicht auf einen vielleicht eintretenden Fall der Inan-
spruchnahme durch das Reich für Deckungsmittel sorgen, bzw.
ihre Budgets so gestalten, daß auch bei sehr erheblicher Span-
nung zwischen Matrikularbeiträgen und Überweisungen ein
^) In den Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten, 21, Legisl. vierte
Session, vierte Sitzung p. 116, führte Finanzminister Dr. Lentze aus:
»Es kann der Finanzverwaltung nur angenehm sein, wenn in den Etat nach
Möglichkeit Klarheit hineinkommt. Ein Etat, der über 4 Milliarden umfaßt,
der die gesamte Staatsverwaltung, das gesamte Kulturleben mit zum Ausdruck
bringt, muß von dem einzelnen verstanden werden können. Es
liegt der Königlichen Staatsregierung sehr daran, daß joder Interesse an dem
Etat gewinnt und sich von dem großen Labyrinth der Zahlen nicht abge-
schreckt fühlt, wenn er ihn ohne einen Führer oder ohne die nötige Auf-
klärung in die Hand nimmt.« Der gleichen Erkenntnis und Erwägung Folge
gebend, hatte Keichsschatzsekretär Wermuth die Vorlegung eines be-
sonderen Etats für die allgemeine Finanzverwaltung,, auf dem die durch-
laufenden Posten usw. in besondere Rechnung kommen sollen, für das Rech-
nungsjahr 1912 in Aussicht gestellt. Reichstag 12. Leg.P. 11. Session 1909—11.
Bd. 263 (103. Sitzung) p. 3796 B.
Zeitschrift für Politik. 6. 28
434 Blum, Biidgetrecht und Finanzpraxis.
Defizit vermieden werden konnte. Die Geschichte des
Matrikularsystems, von der Verfassung des Norddeutschen
Bundes angefangen, über die verhängnisvolle Franckensteinsche
Klausel und die leges Lieber hinweg bis zu den letzten Reichs-
finanzreformen, die wiederum die feste Abgrenzung von Reichs-
und Landesfinanzen schuldig geblieben sind, könnte als eine
einzige Entschuldigung für etwaige schwerwiegende
Mängel der Budgetpraxis, wenn sie hervorgetreten wären,
von den Einzelstaaten reklamiert werden.
Daß die Gefahr einer solchen größeren Inanspruchnahme
durch das Reich und die Notwendigkeit einer recht-
zeitigen Fürsorge für erhöhte Matrikularleistungen
auch nach der zwischen Reichsregierung und Reichstag für die
Periode 1910 bis 1914 getroffenen Vereinbarung nicht gänzlich
aus dem Bereiche der Möglichkeit gerückt ist, bewies die bei
Erörterung des Finanzbedarfs infolge der neuen Heeres
Verstärkung von sämtlichen größeren Parteien in der Budget-
kommission und im Plenum des Reichstags (Februar 1911)
übereinstimmend bekundete Ansicht, daß, wenn es nicht mög-
lich sei, diese Kosten in der Folgezeit ganz aus den eigenen
Reichseinnahmen aufzubringen^), die Matrikularbeiträge zur
Deckung einer Differenz herangezogen werden müßten. Zwar
ist das Reichsschatzamt dieser Auffassung und Willensmeinung
sogleich in einer offiziösen Auslassung entgegengetreten, mit der
Mahnung, daß man zum mindesten für die Dauer der Sanie-
rungsperiode, d. h. bis 1913, an dem bisherigen Satze von 80 Pf.
für den Kopf festhalten solle, damit die Einzelstaaten weiter
wie bisher ihre Budgets auf die feste Ausgabe einrichten könnten
und nicht mehr die früher so unangenehm empfundenen
Schwankungen zu gewärtigen hätten; aber es ist doch keines-
wegs sicher, ob nicht der neue Reichstag, von seinem Budget-
recht und der durch die Verfassung gegebenen Befugnis Ge-
brauch machend, die Einzelstaaten doch zu einem noch höheren
Satze heranzieht 2).
^) Eine solche Möglichkeit war um so mehr ins Auge zu fassen, als die
Deckung der erforderlichen Neuausgaben zu einem erheblichen Teil auf das
noch gar nicht verabschiedete Gesetz, das Reichszuwachssteuergesetz vom 14. Fe-
bruar 1911, basiert war. cf. Reichstag, 12. Leg.-Periode, U. Session (1909 bis
1911), 133. Sitzung. 4858 B.
'') Auch oben, Kap. VI, ist bereits darauf hingewiesen, daß der Reichstag,
indem er jene Vereinbarung einging, des Rechts der stärkeren Anspannung
der bundesstaatlichen Beiträge sich keineswegs begeben hat. — Der vor
reichlich zwei Jahren geschriebene Satz hat auch jetzt noch, Frühling 1913,
volle Berechtigung.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 435
Nach dem Gesagten wird man beispielsweise den preußi-
schen Etat, was Inhalt, Technik und Tendenz an-
langt, unter wesentlich anderen Gesichtspunkten
beurteilen müssen als den Etat eines Einheits-
staates, der, wie in England, in seiner Gesetzgebung und
Wirtschaftsführung volle Unabhängigkeit besitzt. Folglich muß
auch ein Urteil über Überschüsse und Fehlbeträge,
die künstlich geschaffen werden, oder die, wie in dem vor-
stehend geschilderten Falle, das unvermeidliche Ergebnis gesetz-
geberischer auf Vereinbarung zwischen Regierung und Volks-
vertretung beruhender Maßnahmen sind, von ganz anderen
Voraussetzungen seinen Ausgang nehmen. Mit budgetrecht-
hchen Erfordernissen und Befugnissen an sich haben Ge-
pflogenheiten der Finanzpraxis, die unter anderen finanzpoli-
tischen Verhältnissen vielleicht anfechtbar und vom strengen
Standpunkte einer soliden Etatswirtschaft vielleicht nicht ver-
tretbar wären, häufig genug nichts zu tun. Sie sind lediglich
Konsequenzen vorhergegangener Beschlüsse und sind als solche
geeignet, vor einer Überschätzung des Wertes und
der Tragweite des Budgetrechts zu warnen. Auch
aus diesem Grunde kann von einem völlig schrankenlosen
Budgetrecht, wie es zu höherem Ruhme des parlamentarischen
Regierungssystems von dessen Anhängern urbi et orbi so oft
verkündet und angepriesen wird, in der Praxis überhaupt nicht
die Rede sein^). Durch die Gesetzgebung und durch Ab-
machungen im Wege der Verständigung können dem Budget-
recht und der Etatspraxis bestimmte Wege gewiesen, können
beide in den Dienst bestimmter politischer Motive
und Ziele gestellt werden.
*) Auf der einen Seite ziehen die unvermeidlichen Schwankungen des
Wirtschaftslebens, denen im Reichshaushalt gerade die Haupteinnahmequellen
ausgesetzt sind, auf der andern Seite Gesetze und Vereinbarungen dem Budget-
recht bestimmte, oft sehr enge Grenzen. So hat im Marineetat, nach Ver-
abschiedung des Flottengesetzes, der Reichstag „überhaupt nichts mehr zu
sagen" (Abg. Dr. Leonhart, 12. Leg.-P. d. Reichst., ü. Session, 127. Sitzung,
p. 4646A). Auch dadurch, daß in diesem Etat eine Deckungsfähigkeit über
mehrere Jahre statfinden kann, sind die Rechte des Reichstags eingeschränkt
(ibid. 4645 D). Ganz ähnlich Hegen die Dinge bei den Etat der Heeresver-
verwaltung. Es ist deshalb von besonderer Bedeutung, daß im § 3 des Ge-
setzes über die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres vom 27. März
1911 die jährliche Zustimmung des Reichstages zu allen Neuausgaben er-
fordert wird. Andererseits hat der am 25. Januar 1907 gewählte Reichstag
seinem Nachfolger in der Festlegung der Matrikularbeiträge bis 1914 eine
das Budgetrecht sehr belastende Erbschaft hinterlassen.
28*
436 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Aber nicht durch die Gesetzgebung allein. Ein Staat, in dessen
Haushalt die Betriebsverwaltungen eine Rolle spielen wie in
keinem anderen Staate der Welt, der in seinen Eisenbahnen
das größte Wirtschafts- und Verkehrsunternehmen betreibt, das
überhaupt existiert, kann und darf sich nicht von der Kon-
junkturgestaltung emanzipieren, kann und darf sich nicht der
Verantwortung entschlagen, die ihm -durch die Beziehungen
zu einem nach Hunderttausenden zählenden Beamten- und Ar-
beiterheer, zu zahlreichen Industrien und Produktionsstätten,
zu der Volkswirtschaft überhaupt auferlegt ist. Solchen Ein-
flüssen, Interessen und Rücksichten muß im Haushaltsetat eines
Staates mit großen Wirtschaftsbetrieben selbstverständlich ebenso
gewissenhaft Rechnung getragen werden wie der Autorität der
Gesetzgebungsakte, die, mittelbar oder unmittelbar, als Voraus-
setzung oder Folgeerscheinung, den Bereich der Staatsfinanzen
berühren. Daß die Finanzverwaltung in einem so gearteten,
in so großem Umfange mit öffentlichen Betrieben arbeitenden
Staatswesen besondere Pflichten und Aufgaben hat, daß ihre
Maßnahmen nicht ohne billige Würdigung der aufgezeigten
Momente beurteilt werden dürfen, liegt auf der Hand. Auch
A. Kirchhoff, der in der Frage der Beseitigung des Defizits
für den Staat Vorschläge gemacht hat, die weder den Beifall
des Finanzministers v. Rheinbaben noch den seines Nachfolgers
gefunden haben, und der in seinen weiteren Publikationen ^)
strikteste Befolgung des im Reiche seit 1910 verbindlichen
Grundsatzes »Keine Ausgabe ohne Deckung« als nötig bezeichnet,
damit also doch für bestimmte Eventualitäten die Erschließung
neuer Einnahmen für unvermeidlich erklärt hat, begegnet sich
mit den amtlichen Leitern der preußischen Staatsfinanzen in
der Forderung, daß der preußische Staat jederzeit größere
Geldmittel zur Verfügung haben müsse, um für plötzlich
auftretende Bedürfnisse gerüstet zu sein 2). Auch nach dieser
Richtung hin sind also Grenzen gezogen und Wegweiser
aufgerichtet, die von den mit Amts- oder Volksmandat aus-
0 In der Februar-Nummer des Bankarchivs, Jahrgang X.
') Er sagt a. a. 0.: »Wenn etwas die Finanzkraft des Staates in den
letzten Jahren geschwächt hat, so war es die allmähliche Heranziehung aller
Ressourcen des Staates zur Herstellung der Balance des Staatshaushalts, so
daß der Herr Eisenbahnminister vor zwei Jahren im Landtag erklären mußte,
die Eisenbahnverwaltung sei aller Reserven bar. Ein Staat, der so große
Industrien betreibt, eine solche politische Stellung hat wie
Preußen, darf nicht seine letzten Ressourcen heranziehen und
seine Gelder allzusehr festlegen; er muß umgekehrt über flüssiges
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 437
gestatteten Personen, die für die Wohlfahrt des Ganzen verant-
wortlich sind, nicht mißachtet werden dürfen ^).
So sind in der Finanzverwaltung und Etatswirt-
schaft in Preußen teils durch Gesetz, teils im Wege der Verein-
barung mannigfache Schranken aufgerichtet, die einen sehr
beträchtlichen Teil derjenigen öffenthchen Gelder, die nach Be-
friedigung der reinen Verwaltungsausgaben, nach Abzug der
Betriebskosten, der Gehälter, Pensionen usw. noch übrig bleiben,
dem Zugriff entziehen und die Ungewißheit und Abhängigkeit,
die dem Staatshaushalt aus den dargelegten Gründen anhaften
müssen, auf ein erträgliches Maß reduzieren. Im Verhältnis
zum Reiche ist das geschehen durch die für einen fünfjährigen
Zeitraum vereinbarte Fixierung der Matrikularbeiträge auf einen
Kopfbetrag von 80 Pf.; im Verhältnis zur Wirtschafts-
konjunktur ist die Staatswirtschaft und die Finanzpraxis
zuerst im Jahre 1903 durch die Bildung des Ausgleichfonds
und sodann durch die Begrenzung des auf Eisenbahn Überschüsse
angewiesenen Staatsbedarfs, durch ein Dotierungsminimum des
Extraordinariums der Eisenbahnverwaltung und materielle Be-
grenzung der Anleiheoperationen auf festen Boden gestellt und,
soweit möglich, in den Rahmen bekannter Größen eingespannt.
Es ist also in Preußen, ganz ähnlich wie in England,
in erheblichem Umfange eine Beschränkung der
Einnahmebewilligung vorgenommen worden 2) und,
Geld in reichem Maße verfügen imd, während er auf der einen Seite seinen
Haushalt straff führt, doch anderseits stets volle Kassen haben. Was dies
in ernsten Zeiten — an die doch auch gedacht werden muß — bedeutet, ist
sofort klar, wenn man erwägt, daß dann Anleihen — wenigstens zunächst —
nicht untergebracht werden können. Stehen für den ersten großen
Geldbedarf große Reserven zur Verfügung, so sind diese gerade
dann von unsagbarem Wert. Man muß bedenken, daß es sich bei Hinzu-
rechnung des zurzeit noch bestehenden eisernen Betriebsfonds der General-
staatskasse und des Ausgleichsfonds in seinem höchsten Bestände im ganzen
um viele hundert Millionen Mark handelt, deren Bereitschaft für alle Fälle
der frühere Finanzminister v. Miquel sehr zu würdigen wußte.«
^) Die Frage der kaufmännischen Buchführung in Staatsbetrieben,
speziell bei der Eisenbahnverwaltung, behandelt Ministerialdirektor Offenberg
im Bankarchiv XI. Jahrgang Nr. 1 und 2 (Oktober 1911). Bei aller Würdigung
der großen Vorzüge der »äußerst geistreich erdachten kaufmännischen Buch-
führung« betont Offenberg a. a. 0. p. 3: es liegt in dem Zwange zur Ver-
anschlagung und der Notwendigkeit, die Veranschlagung hinterher auch zu
vertreten, ein kräftiges Erziehungsmittel zur Wirtschaftlichkeit,
mehr jedenfalls als in der kaufmännischen Buchführung.
-) Im Etat für 1911 beläuft sich der von der Eisenbahnverwaltung für
den allgemeinen Staatsbedarf gelieferte Zuschuß auf mehr als ein Viertel der
438 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
wiederum ähnlich wie in England, das Aufkommen aus
direkten und indirekten Steuern i) als beweghcher Einnahme-
faktor festgehalten. Da die sonstigen Einnahmen (nur noch
138,1 Mill. Mark) teils geringen, teils kaum nennenswerten
Schwankungen unterworfen sind (Domänen, Forsten, Lotterie,
Seehandlung, Münze, Bergverwaltung, Staatsschatz, Reichbank-
rente usw.), ist nahezu die Hälfte der Einnahmen
eine fast genau feststehende Größe. Auch in den
Steuereinnahmen sind die Schwankungen verhältnis-
mässig gering 2). Wenn so die Einnahmewirtschaft, weithin
analog den englischen Verhältnissen, als ein festes Gefüge ge-
staltet ist, so wirkt das naturgemäß auf die Ausgaben-
gestaltung zurück. Aber auch dieser sind bestimmte, weit-
hin begrenzte Bahnen gewiesen.
Die Nettoausgaben in dem »4-Milliarden-Etat« für 1911,
der nach Ausschaltung der sich gegenseitig aufhebenden Ein-
nahmen und Ausgaben bei den Verwaltungen sich auf nahezu
ein Fünftel dieser Summe reduziert — vom Standpunkt der
Übersichtlichkeit und Richtigkeit des Gesamteindrucks ein Nach-
teil des sonst durch große Vorzüge ausgezeichneten Brutto-
Etats — belaufen sich einschließlich der Anleihe in Höhe von
29,1 Mill. auf 833,6 Mill. Mark. Davon sind feststehende
Ausgaben zunächst der Schuldendienst und die an das Reich
nach Abzug der Überweisungen zu zahlenden Matrikularbeiträge.
Jener erfordert im Etat für 1911 für Verzinsung und Tilgung
der Staatsschuld — nach Abzug von über 300 Mill. Mark Zinsen
und Tilgungsbeträgen, die auf dem Etat der Eisenbahnverwaltung
stehen — eine Ausgabe von 92,5 Mill. Mark. Die Matrikular-
ausgaben erfordern 31,3 Mill. Mark. Dazu kommen an größeren
Beträgen noch die auf den Dotationsgesetzen von 1873, 187^
und 1902 beruhenden Provinzialfonds in Höhe von 47,6 Mill.
Mark, der Zuschuß zur Kronfideikommißrente (gleichfalls auf
Gesetz beruhend) mit 10 Mill. Mark, Apanagen, Renten usw.
mit 5,8 Mill. Mark, die Kosten des Landtages mit 2,1 Mill.
Mark; insgesamt sind somit nahezu 190 Mill. Mark für be-
stimmte Ausgabezwecke unweigerlich festgelegt. Dasselbe gilt
Nettoeinnahmen von 804,6 Jlill. Mark, die, wie gezeigt, zum allergrößten Teil
auf bestehenden Gesetzen beruhen.
*) Im Etat für 1911 rund 446,7 Mill. Mark von der Gesamteinnahme in
Höhe von 804,6 Mill. Mai-k.
■) Hier im Gegensatz zu England, wo die Einkommensteuer, aber auch
die Erbschafts- und Nachlaßsteuer, verhältnismäßig große Beweglichkeit zeigt.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 439
für den weitaus größten Teil der Staatsverwaltungsausgaben,
die nach Abzug der in den einzelnen Verwaltungen erfließenden
Einnahmen noch 575 Mill. Mark (im Etat für 1911) betragen.
Demnach ist es kaum zuviel gesagt, daß für rund 90 Prozent
des Netto-Staatsbedarfs das Ausgabebewilligungsrecht
in praxi aufgehoben ist. Es erscheint ja begreiflich, daß
die Mitglieder der zweiten Kammer um so eifersüchtiger über
ihrem Budgetrecht wachen. Es kommen denn auch immer wieder
Fälle vor, in denen in Ausgabe gestellte Budgetpositionen ver-
weigert werden oder doch damit gedroht wird. So hatte, nach
einer unwidersprochen gebliebenen Meldung der »Münchner
Post«, die bayerische Zentrumsfraktion vor etwa Jahresfrist in
Erwägung gezogen, ihrer Unzufriedenheit mit mehreren Mit-
gliedern des Kabinetts Podewils dadurch Ausdruck zu geben,
daß man dem Gesamtministerium gegenüber »alle parla-
mentarischen Machtmittel, vor allem das Geldbewilligungsrecht
in Anwendung« brächte, — eine Aktion, die, wäre sie verwirklicht
worden, sich um so sonderbarer ausgenommen hätte, als in
Bayern, da das Ausgabenbudget fix ist für alle gesetzHch
notwendigen Ausgaben und auch ein sehr erheblicher Teil der
Staatseinnahmen der Machtsphäre der Volksvertretung entzogen
ist, ein Konflikt wie der preußische von 1862—66 nach bayerischem
Staatsrecht unmöglich ist^). Nicht minder war es ein actus
inanis, als im Februar 1911 die sozialdemokratische Fraktion
des preußischen Abgeordnetenhauses ausdrücklich erklärte, daß
sie dem Minister des Innern das Gehalt nicht bewillige. Das
Recht, den Minister zu ernennen und zu entlassen, steht nach
Artikel 45 Prß. Vf. dem Könige zu 2). Die Verweigerung eines
Ministergehalts könnte also immer nur die in ihrer tatsächlichen
Wirkimg häufig genug von anderen Faktoren abhängige Be-
deutung einer politischen Demonstration haben; die Ver-
pflichtungen und Verbindlichkeiten des Staates blieben davon
unberührt. Wenn also wirklich in deutschen Einzelstaaten
Versuche zur Erweiterung des Ausgabebewilligungrechts mittels
Verweigerung des Budgets oder einzelner Budget-
teile unternommen würden und unternommen werden, so ist
ihnen früher und jetzt ein Erfolg versagt geblieben und mußte
ihnen versagt bleiben nach der Natur des durch Verfassung
0 Zorn in Hirths Annalen 1889 p. 368.
^) Über die Verhältnisse in Bayern betr. Schranken, die das Organieations-
recht der Krone dem Geld- und Ausgabebewilligungsrecht des Landtages zieht,
V. Ziegler, Die Praxis des bayer. Budgetrechts, p. 82 ff., 131 ff., 134 ff.
440 Blum. Budgetrecht und Finanzpraxis.
und Gesetz beschränkten Budgetrechts und angesichts einer
Etatspraxis, die planmäßig sich dahin entwickelt hat, daß die
jährliche Haushaltsführung in möglichst festen Gleisen, gesichert
gegen Schwankungen von außen her, sich vollzieht und ihrer-
seits dazu mithilft, die Staatsfinanzen als den rocher de bronce
der gesamten Staatswirtschaft herauszuarbeiten und zu erhalten.
XL Das Budgetrecht des Eeichstags in der Praxis.
Wenden wir uns nunmehr der Etats- und Finanzpraxis im
Reiche zu und betrachten die Wechselbeziehungen zwischen
Budgetrecht einerseits und Budgetpraxis und Finanzlage anderer-
seits, so ist schon in der Darstellung der budgetrechtlichen Verhält-
nisse im Reiche mehrfach betont worden, daß die Entwicklung des
Budgetrechts des Reichstags in verschiedenen Stadien in bewußtem
Gegensatz zu den Forderungen und Grundsätzen einer gesunden
Finanzwirtschaft und Finanzpolitik sich vollzogen hat, daß dabei
viel mehr als diese die Gewinnung wirklicher oder vermeintlicher
Garantien eine erhebliche Rolle gespielt hat. Die nachteihgen
Folgen sind denn auch nicht ausgeblieben. Unklarheit und Un-
gewißheit, ja in gewissem Sinne eine Un Wahrhaftigkeit ist in
den Reichsetat schon dadurch hineingebracht, daß das Reich
eigentlich kein Defizit haben kann, weil nach Art. 70
der Verfassung die Pflicht der Einzelstaaten feststeht, das De-
fizit zu decken 1). Nun halte man sich diese Bestimmung vor
Augen und denke zugleich an den tatsächlichen Gang
und Ablauf der Finanzwirtschaft im Reiche! Man
denke vor allem an das ungeheure Wachstum der Reichsschuld,
man denke an Zuschußanleihen und gestundete Matrikular-
beiträge! Ein schärferer Gegensatz zwischen dem
Geist und Wi Uen, aus dem heraus die Finanzartikel
der Reichsverfassung geschaffen sind, und den
wirklichen Verhältnissen, in die diesen Geist und Willen
die von dem Budgetrecht beeinflußte Etatspraxis umgesetzt
hat, — ein schärferer Gegensatz ist schwerlich denkbar. Ganz
besonders ist durch das Matrikular- und Überweisungssystem,
ist durch die clausula Franckenstein das allerdings durch
die Verfassung geschaffene, aber von ihr nur als vorübergehen-
*) Vgl. Bismarck, Sitzung des Eeichstages 1. Dez. 1884, Sten. Ber.
p. 143. „Ein Defizit ist, was durch Anleihen gedeckt werden muß .... der
Eeichshaushalt kennt kein Defizit, er kennt nui* höhere Matrikularbeiträge."
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 441
der Notbehelf gedachte Netzwerk der Verquickung von Reichs-
finanzen und einzelstaatUchen Finanzen immer engmaschiger
und unauflöshcher gestaltet worden. Die Ausdehnung der
Franckensteinschen Klausel durch die Gesetze vom 1. Juli 1881,
3. Juni 1885, 24. Juni 1887, 16. April 1896 (Abänderung des
Zolltarifgesetzes vom 15. Juli 1879), 24. März 1897, 31. März 1898,
25. März 1899, hat an dem »Hazardieren und Spekulieren« i)
hüben und drüben nichts geändert. Zu welchen Folgen dieser
Zustand geführt, wie sehr er einmal zu einer Verschleierung
der wirklichen Etatslage und sodann zur Schädigung
der Reichsfinanzen beigetragen hat, dafür nur zwei Hin-
weise. Unter der Herrschaft der Franckensteinschen Klausel
konnte das Reich über seine eigenen Einnahmen nicht verfügen,
um damit den eigenen Bedarf zu bestreiten, es mußte vielmehr
die eigenen Einnahmen zum beträchtlichen Teil an die Bundes-
staaten abtreten. Die weitere Folge war, daß das Reich, wenn
die nach Abführung der Überweisungen verbleibenden Ein-
nahmen zur Deckung der Reichsausgaben nicht zulangten, seiner-
seits zu Anleihen greifen mußte. So ergab sich denn, für das
Jahrzehnt 1883/93,, das erbauKche Schauspiel, daß das Reich
auf der einen Seite 486 Millionen als Überweisungen an die
Bundesstaaten herauszahlte, auf der anderen Seite aber selbst
die Summe von 1322 Millionen an Schulden aufnahm. In den
sechs folgenden Rechnungsjahren erhielten die Einzelstaaten
vom Reiche 25,6 MilHonen herausbezahlt, in derselben Zeit
wuchs die Reichsschuld um rund 440 Mill. Mark! Seitdem
haben regelmäßig ungedeckte Matrikularbeiträge von den Einzel-
staaten übernommen werden müssen.
Wie hat nun dieses System in seiner Totalität gewirkt?
Auf Grund der Angaben in den verschiedenen Jahrgängen des
statistischen Jahrbuches des Deutschen Reiches hat Georg Schanz
die Beträge herausgerechnet, die an Mehrüberweisungen an
die Einzelstaaten in den 30 Jahren von 1877 bis 1906
effektiv geleistet wurden. Es kommt dabei 2) zu folgendem
Ergebnis: »Das Reich hat sich nicht nur in kurzer Zeit ver-
schuldet, sondern es hat gleichzeitig infolge der Franckenstein-
schen E^ausel, während es Schulden auf Schulden häufte (von
18,3 Millionen auf 3543,5 Millionen) über Y2 Milliarde seiner
^) Abg. Dr, Paasche, Sten. Ber. d. Reichstags, Sitzung 21. Nov. 1908
p. 5618 B C.
') Finanz-Archiv Jahrg. 1908, Bd. I, p. 255.
442 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis,
Einnahmen weggeschenkt.« Und die Folgen dieser Schulden-
häufung, die ja zum Teil auch auf das Konto der budgetrecht-
lichen Motive und Momente, die zu dem System Franckenstein
geführt haben, zu setzen ist? Schanz stellt fest'), daß, selbst
wenn es fortan gelingen sollte, der künftigen weiteren Ver-
schuldung Einhalt zu tun — eine Hoffnung, die sich auch in
den folgenden fünf Etatsjahren nicht erfüllt hat! — in den
nächsten 30 Jahren, also bis 1936, rund 4100 Mill. Mark
für Verzinsung und Verwaltung der Reichsschuld werden auf-
gebracht werden müssen, d. h. an Zinsen und Verwaltungs-
kosten würde in der Zeit von 1906 — 36 nahezu mehr
zu bezahlen sein, als im Jahre 1906 die gesamte Reichs-
schuld betrug. Das war bis zum Jahre 1909 der im Reiche
geübten Finanzweisheit letzter Schluß!
Die Klarheit und Verständlichkeit des Etats leidet
auch dadurch, daß der Ertrag der Überweisungssteuern (seit 1909
nur der Branntweinverbrauchsgabe) ein in Einnahme und Aus-
gabe durchlaufender Posten ist. Der tatsächliche Ausgabebedarf
des Reiches ist also um den Betrag niedriger, den die durch
Überweisungen gedeckten Matrikularbeiträge darstellen.
Auch die lange Zeit hindurch nicht nach bestimmten Grund-
sätzen, sondern je nach Bedarf künstlich gezogene Schei-
dung zwischen dem Extraordinarium des ordentlichen
und dem des außerordentlichen Etats^) nötigt, mit Frei-
herrn V. Zedlitz-Neukirch ^) festzustellen, daß »die verkünstelte
Gestalt des Reichshaushalts in der Hauptsache von dem Be-
streben herrührt, die Einrichtung der Matrikularumlagen und
die Klausel Franckenstein formell aufrecht zu erhalten,
zugleich aber tatsächlich möglichst außer Wirksamkeit zu
setzen«.
So ist im Deutschen Reich der Mangel an einer feststehen-
den, durch bewußte Unterordnung des Budgetrechts unter Staats-
interessen und Staatsaufgaben anerzogenen Ausgabendeckungs-
und Schuldentilgungspraxis nicht ohne nachteilige Folgen
geblieben. In den letzten Jahren vor der Reform von 1904 und
noch mehr in den folgenden Jahren bis 1910 bietet die Reichs-
finanzwirtschaft ein Bild der Uuentschlossenheit, Kurzsichtigkeit,
ja der Pflichtvergessenheit und Unsolidität, bei dessen
Betrachtung der Eindruck sich nicht von der Hand weisen läßt,
^) a. a. 0. p. 258.
'') Näheres darüber p. 189.
') Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Jahrg. 1901 p. 792.
Blum, Budfretreclit und Finanzpraxis. 443
daß der Reichstag, der in erster Linie für die höchst bedenk-
liche Finanzwirtsctiaft und ihre bösen, bedrohHchen Folgen ver-
antwortlich zu machen ist, auf diesem Gebiete seiner Tätigkeit
den ihm obliegenden Aufgaben sich nicht gewachsen gezeigt
und von der budgetrechtlichen Macht, in deren Besitz er, ent-
gegen den Grundsätzen der Reichsverfassung, im Laufe von
drei Jahrzehnten gelangt ist, keinesfalls den rechten Gebrauch
gemacht hat. Es kann hier nicht die Geschichte der Finanz-
reformen von 1904, 1906 und 1909 erzählt werden, es ist auch
hier nicht der Ort, über das Für und Wider der in diesen
Reformen sich darstellenden Finanzgesetzgebungspraxis abzu-
urteilen, aber auf ein Moment, weil es in allen drei Phasen
dieser Reform ära wiederkehrt und zu der Etatspraxis in nähere
Beziehungen getreten ist, muß auch in diesem Zusammenhang
hingewiesen werden: Diesen drei Finanzreformen ist ge-
meinsam der Tatbestand einer unzureichenden Befrie-
digung des vorhandenen finanziellen Mehr- oderNeube-
darf s und daneben die Zuhilfenahme eines bequemen, aber höchst
bedenklichen Verlegenheitsmittels, der Entlastung der Gegen-
wart durch Beschreiten des Anleiheweges. Die unter dem
Namen der lex Stengel (14. Mai 1904) bekannte sog. kleine
Finanzreform brachte trotz dringender Finanznot neue Steuer-
einnahmen überhaupt nicht. Der Ertrag der durch die Finanz-
reform von 1906 (Gesetz vom 3. Juni 1906) geschaffenen neuen
Steuern blieb auf dem Papier um 40 — 50 Mill. Mark, in der
Wirklichkeit um 80 — 90 Mill. Mark i) hinter der von der Regie-
rung als unbedingt nötig bezeichneten Summe zurück. Endlich
hat die Finanzreform von 1909 (Gesetz vom 15. Juli 1909) statt
der benötigten 500 Mill. Mark — unter Berücksichtigung der
geplanten Herabsetzung der Zuckersteuer, der Aufhebung der
Fahrkartensteuer, Herabsetzung des Ortsportos, bezüglich derer
alles beim alten blieb — neue Steuererträge nur in Höhe v^on
417 Mill. M. (anschlagmäßig und im Beharrungszustande) zur
Verfügung gestellt 2) und in einem Nachtragsetat (vom 27. De-
zember 1909) rund 522 Mill. M. an aufgesammelten Fehlbeträgen
und gestundeten Matrikularbeiträgen durch Übernahme auf
^) Vgl. die Etatsrede des Reichsscliatzsekretärs v. Stengel, Sten. Ber.
des Reichstages 1907—08 p. 1861 ff.
") An neuen Einnahmen auf Grund des Finanzgesetzes vom 15. Juli 1909
sind in den Etats der Rechnungsjahre 1910 und 1911 erst 290 bzw. 320 Mill.
eingestellt. Auch im Etat für 1912 wird die im Jahr 1909 „bewilligte" Summe
noch nicht erreicht werden.
444 Blum. Budgetrecht und Finanzpraxis,
Reichsanleihe »beseitigt«, bzw. mit ihrer Abbürdung »aus den
bereitesten Mitteln« drei spätere Etatsjahre, 1911 — 13, belastet.
Es ist keineswegs allein das Verdienst dieser Reform, daß
diese Abbürdung zum größten Teil bereits im Rechnungsjahre
1911 beendet werden mußte.
Insbesondere ist auch die Aufgabe der Sanierung des
Extraordinariums bisher noch unerledigt geblieben i). Die
Demarkationslinie zwischen beiden, wie Reichsschatzsekretär
Wermuth bei Begründung des Etats für 1911/12 sagte, sind ge-
zogen, aber die Truppen sind noch nicht dahinter zurückgeführt.
Noch immer stehen Ausgaben, die augenscheinlich nicht werbender
Art sind, in großer Zahl im außerordentlichen Etat, so im Ressort
des Reichsamts des Innern für die Erweiterungsbauten am Kaiser-
Willielm-Kanal, ferner Ausgaben für Flotte und Heer. Die außer-
ordentlichen Ausgaben für die Marine sollen mit dem Ende des
Rechnungsjahres 1916 fast ganz aufhören. Im Bereich der
Heeresverwaltung soU der außerordentliche Etat allmählich von
den Ausgaben für den Festungsbau entlastet werden 2). Der
Chef der Reichsfinanzverwaltung erklärte, es müsse angestrebt
werden, daß endlich die Grenzen zwischen dem ordent-
lichen und dem außerordentlichen Etat fester ge-
zogen werden^). Ist das erreicht, dann wird der außerordent-
liche Etat im wesentlichen nur Ausgaben werbender Natur für
Zwecke der Reichspost und der Reichseisenbahnen enthalten.
Auch im Ordinarium befinden sich bisher verschiedene Posten,
die den Betriebsmitteln des Reichs als schwebende Schuld zur
Last fallen und durch Schatzanweisungen bestritten werden
(u. a. im Etat für 1911 bei Kapitel 44 der Ausgaben 85 Mill.
Mark für Beschaffung von Vorräten an Verpflegungsmitteln für
Mann und Pferd und an Kohlen; bei Kapitel 27 und 29
1072 Mill. Mark Mieten für Kasernen, Garnisongebäude und
Lazarette). Diesen Mitteln entspricht, zu 5 % kapitalisiert,
ein Anlage wert von 210 Mill. Mark. In dieser Höhe ist
also neben der im Etat stehenden Anleihe noch eine Anleihe
*) Darüber Reichsschatzsekretär Wermuth, Sten. Ber. d, Reichstages,
12. Leg.-P., n. Session 1909—11, 7. Sitzung, p. 170BC.
^) Vgl. die Äußerungen des Reichsschatzsekretärs in der Budgetkoni-
mission des Reichstags, Februar 1911.
*) Eine wesentliche Besserung im Extraordinariura soll bereits, wie
aus zuverlässiger Quelle verlautet, der Etat für das Rechnungsjahr 1912
bringen.
Blum, Budgetrecht und Finanzj)raxis. 445
bei Gemeinden und bei Privatvermietem aufgenommen worden ^).
Auch hier muß im Interesse der Ordnung des Anleihe- und
Schuldenwesens des Reiches Wandel geschaffen werden. Mit
solcher Regelung würde auch für die Klarheit der Etats-
wirtschaft, die jetzt noch durch das mannigfache Ineinander-
greifen des ordentlichen und des außerordentlichen Etats er-
heblich beeinträchtigt ist, viel gewonnen sein. Gleichzeitig
läge darin ein neues Bekenntnis zu dem Programm, daß in
naher Zukunft alle Ausgaben nicht werbender Natur aus ordent-
lichen Mitteln bestritten werden sollen — also ein gesunder
Finanzgrundsatz allererster Ordnung.
XII. Die Schuldentilgung im Reiche.
Ebenso hat sich, leider erst in den allerletzten Jahren,
ein entschiedener Wandel zum Besseren in der Beurteilung
und Behandlung der Aufgaben der Schuldentilgungs-
politik vollzogen. Eine Zwangstilgung gibt es im Reiche
erst seit dem Jahre 1907. Bis zum Jahre 1896 war es,
obwohl bis dahin die Reichsschuld bereits auf über zwei
Milharden Mark gestiegen, war, zu einer regelmäßigen oder
auch nur gelegentlichen effektiven Schuldentilgung nicht ge-
kommen. In der ersten Periode der Schuldentilgungsgesetze
(leges Lieber), in den Jahren 1896 bis 1899 wurden die Über-
weisungen, die den Stand der Reichsfinanzen so schw^er ge-
schädigt hatten, gekürzt und dadurch rund 143 Mill. Mark der
Abführung an die Einzelstaaten entzogen. Aber diese Beträge
wurden nicht zu wirklicher Schuldentilgung verwendet, sondern
vom Anleihesoll abgeschrieben. Ebenso wurde auf Grund des
Gesetzes vom 28. März 1903 betreffend »Verwendung von Mehr-
erträgen der Reichseinnahmen und Überweisungssteuern zur
Schuldentilgung« mit den in den Jahren 1902/03 verfügbaren
Summen (insgesamt 31,2 Mill. Mark) verfahren, die als Über-
schuß der Erträge aus Zöllen, Tabaksteuer, Branntwein verbrauchs-
abgabe und Zuschlag und den Reichsstempelabgaben über das
Etatssoll sich ergaben. Mit der sog. lex Stengel (Gesetz vom
14. Mai 1904), die eine teilweise Beseitigung der clausula
Franckenstein brachte, wurde wieder der Boden der freien
Tilgung betreten: »Etwaige Überschüsse aus den Vorjahren
dienen, insoweit durch das Gesetz über den Reichshaushaltsetat
0 Berl. Pol. Nachr., XXXI. Jahrg., Nr. 218.
446 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
nicht ein anderes bestimmt wird, zur Deckung gemein-
schaftlicher außerordenthcher Ausgaben.« Also auch hier ist
noch freigestellt, ob Verminderung des Anleihebedarfs oder
wirkliche Tilgung vorzunehmen sei.
So sind im Reiche zehn Jahre und mehr vergangen, ehe
es zu einer obligatorischen und effektiven Schuldentilgung
kam, obwohl in dieser Zeit die Schulden des Reichs sich mehr
als verdoppelt haben, auf weit über 4 Milliarden Mark gestiegen
sind! Das System der Abschreibung vom Anleihesoll,
das bereits bei der Ausführung der leges Lieber durchgeführt
worden war, konnte in vollkommen legaler Weise fortgesetzt
werden, da § 5 der Reichsschuldenordnung vom 19. März 1900
bestimmt, daß »die durch besondere Gesetze angeordnete Ver-
minderung der Schuld durch Absetzung vom Anleihesoll einer
Tilgung gleich zu achten« sei. Tatsächlich aber liegt doch —
Regierungen und Volksvertretungen mögen dagegen sagen, was
sie wollen, und auf die allgemein, auch in Preußen bestehende
Übung der Gleichsetzung von Tilgung und Aufrechnung ver-
weisen — eine wirkliche Tilgung, d. h. Verminderung der
öffentlichen Schuld, worauf hingearbeitet werden muß und
woran jedermanu denkt, wenn im Etat Beträge zur Schulden-
tilgung ausgebracht werden, keineswegs vor. Die öffentliche
Schuld wächst langsamer oder wächst gar nicht, aber sie sinkt
auch nicht. Und auch dann ist die Verrechnung keinesfalls
ein vollkommener Ersatz der Tilgung, wenn der in den
Etat eingestellte Schuldentilgungsbetrag auf eine Anleihe an-
gerechnet wird, die zur Schaffung produktiver Einrichtungen,
mittelbar also zur Erhöhung der öffenthchen Einnahmen, die
Mittel bereitstellt. Auch dann geht das Niveau der öffenthchen
Schuld nicht herunter. Mit streng soliden Etatsgrundsätzen,
mit der Forderung peinhcher Etatswahrheit läßt sich ein solcher
künstUcher Parallelismus jedenfalls nicht vereinbaren. Gewiß
ist in Preußen die gleiche Finanzpraxis in dieser Hinsicht
beobachtet worden. Aber wir haben bereits angemerkt, daß
Preußen in Wirkhchkeit bereits seit dem Jahre 1884 Zwangs-
tilgung hatte und daß in Preußen die Anleihen im allgemeinen
nicht als letztes Auskunftsmittel zur Bestreitung ordentlicher
Ausgaben aufgenommen sind, sondern den Charakter staats-
wirtschaftlicher Kapitalsanlagen tragen, vor allem aber in den
Erträgen des vorhandenen Staatsvermögens eine doppelte bis
dreifache Deckung besitzen. Im Reiche wäre allerdings, auch
wenn in den Jahren 1896 bis 1906 rund 200 Mill. Mark zu
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 447
wirklicher Schuldentilgung Verwendung gefunden hätten, ein
solcher Erfolg bei einer in derselben Zeit eingetretenen Stei-
gerung der Reichsschuld um 2000 Mill. Mark von wenig er-
heblicher Bedeutung gewesen. Was hätte eine jährhche effektive
Tilgung von einigen 20 Mill. Mark besagen können, wenn
gleichzeitig alljährhch neue Schulden in Höhe von 100 Mill.
Mark im Durchschnitt kontrahiert wurden!
Im Jahre 1906 ist dann das Reich dem zehn Jahre früher
von Preußen gegebenen Beispiele gefolgt und von der Praxis
einer nicht planmäßigen, gelegentlichen Schuldentilgung zum
Zwangstilgungsverfahren übergegangen. Nach § 4 des
Gesetzes vom 3. Juni 1906, betreffend die Ordnung des Reichs-
haushalts und die Tilgung der Reichsschuld, sollte die Reichs-
anleiheschuld vom Jahre 1908 ab alljährlich in Höhe von
mindestens drei Fünfteln v. H. des sich jeweils nach der Denk-
schrift über die Ausführung der Anleihegesetze ergebenen
Schuldbetrages — Bereitstellung der erforderlichen Beträge
durch den Reichshaushaltsetat — getilgt werden. Auch in
diesem Gesetze ist wieder die Absetzung vom Anleihesoll der
Tilgung gleichgestellt. Aber nicht einmal dazu ist es gekommen.
Gleich im ersten Jahre (cf. § 4 des Etatsgesetzes für das
Rechnungsjahr 1908) mußte die Tilgung unterbleiben, weil
keine Mittel zur Verfügung standen und die »Tilgung« nur
zu Lasten gesteigerter ungedeckter Matrikularbeiträge hätte er-
folgen können. Hätte man der gesetzlichen Bestimmung ent-
sprechen wollen, so wäre, wie Reichsschatzsekretär Freiherr
von Stengel in seiner Etatsrede ausführte i), die Konsequenz
gewesen, daß das Reich, um einen übrigens geringfügigen Betrag
(24 Mill. Mark) der konsolidierten Schuld zu tilgen, mittels In-
anspruchnahme des Schatzanweisungskredits eine schwebende
Schuld hätte aufnehmen müssen, die mit ihrem Betrag zu den
für 1908 gestundeten Matrikularbeiträgen hinzugetreten wäre
und, wenn der Eingriff durch die Finanzgesetzgebung des
Jahres 1909 nicht erfolgt wäre, bis im Juli 1911 die einzel-
staatlichen Budgets bedroht hätte und dann von den Einzel-
staaten hätte abgetragen werden müssen. Also eine ganz ähn-
liche Wirkung der Finanzpraxis im Reiche wie von der Mitte
der achtziger bis zur Mitte der neunziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts, in welcher Periode die Schulden des Reichs
nahezu um den dreifachen Betrag der Summe stiegen, die als
Überweisungen an die Einzelstaaten gezahlt wurden!
') Sten. Ber. d. Reichstags 1907/8, p. 1866,
448 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Überhaupt hat dieses System der Überweisungen, worauf
bereits wiederholt verwiesen, äußerst verhängnisvoll gewirkt.
Aber noch mehr trifft den Reichstag der Vorwurf, daß er
dem enormen Anwachsen der Reichsschuld ruhig
zugesehen hat, als längst keine Aussicht mehr war, daß ohne
das gesetzliche Mittel der Zwangstilgung Besserung eintreten
konnte ^). Ohne Umschweife und mit jener Bestimmtheit, die
dem Freunde der Wahrheit eigen zu sein pflegt, hat der baye-
rische Finanzminister Freiherr V. Pfaff die Schuld des Reichs-
tags an der Verschuldung des Reichs in ihrer ganzen
Größe aufgezeigt. In der Plenarsitzung der bayerischen Kam-
mer vom 16. Oktober 1907 (Verhandl. p. 205) führte er aus:
»Die ungünstige Lage der Reichsfinanzen ist nicht erst seit
Dezember 1906 vorhanden, sie ist weit älteren Datums ....
sie hat ihren Grund darin, daß dem Reiche nicht
in Form neuer Steuern diejenigen eigenen Mittel
zur Ve rfügung gestellt wurden, die es zur Befriedi-
gung seiner Bedürfnisse braucht. Ich erinnere nur an
die Vorgänge vor zwei Jahren. In eingehender Begründung
wurde seitens des Reichsschatzamts die Notwendigkeit der Be-
willigung neuer Steuern mit 220 bis 230 Millionen hervor-
gehoben. Dem Reiche wurden nur Steuern in der angenommenen,
aber bei weitem nicht erreichten Höhe von 180 Millionen be-
willigt und der Mehrbetrag den Bimdesstaaten als ungedeckte
Matrikularbeiträge zugewiesen. Diese Art der Deckung des
Reichsbedarfs, die keine vorübergehende Maßnahme mehr ist,
sondern eine ständige Einrichtung zu werden droht, hat seit
langer Zeit bei der bayerischen Regierung die lebhaftesten Be-
denken hervorgerufen.«
') Mit vollem Recht sagt 0. Schwarz, Hdw. d. Stw., Bd. 4 p. 241 (Art,
»Finanzen«): » . . . . Im Deutschen Reiche hätte eine so rapide Vermehrung
der auf das Budget drückenden toten Last der Schuldzinsen wohl vermieden
werden können. Wenn zur rechten Zeit, d. h. Anfang der neunziger Jahre,
wo die großen Steigeningen der Heeres- und Flottenausgaben einzusetzen
begannen, etwa 70 bis 80 Mill. Mark neuer Steuern mehr bewilligt worden
wären, wie das damals die Reichsregierung beabsichtigte, so
hätten wir vielleicht heute (1909) IV2 bis 2 Milliarden Schulden weniger zu
verzinsen. Auf der anderen Seite zeigt die glänzende Schuldenpolitik
Englands in der zweiten Hälfte des 19. und im Beginn des 20. Jahrhunderts
und die ebenfalls nachnahmenswerten Grundsätze, welche in dieser Hinsicht
in Frankreich namentlich seit den neunziger Jahren sowie in Italien in den
letzten Jahrzehnten zur Durchführung gelangt sind, wie die hieraus erfolgende
Entlastung des Budgets eine sehr erhebliche Steigerung der übrigen
Verwaltungszweige ohne entsprechenden Steuerdruck ermöglicht«.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 449
Hat nun der Reichstag aus den ehernen Erfahrungstat-
sachen der letzten beiden Dezennien die richtigen Lehren
und Nutzanwendungen gezogen? Hat er wenigstens für die
Zukunft so gesorgt, wie er in der Vergangenheit hätte
sorgen müssen? Das Finanzgesetz vom 15. Juni 1909 ent-
hält — das ist anzuerkennen — Bestimmungen über die
Schuldentilgung, die, wenn sie innegehalten werden, eine
effektive Schuldentilgung in einer wenigstens den allerdrin-
gendsten Anforderungen entsprechenden Weise ermöglichen.
Für die allgemeine Schuldentilgung kommt nunmehr — seit
dem 1. April 1911 — der Mindestsatz von 1 7o zur Anwen-
dung; in den Etat für 1911/12 sind demgemäß, da die
bis zum 30. September 1910 begebenen Anleihen sich auf
4442,4 Mill. Mark beziffern, 44,4 Mill. Mark zur Tilgung ein-
gestellt. Zur Tilgung des nach dem 30. September 1910 be-
gebenen Schuldkapitals sind jährhch 1,9 %, bzw. 3 7o unter
Hinzurechnung der er'^-parten Zinsen zu verwenden; 1,9 7o wenn
es sich um Anleihen für werbende Zw^ecke handelt ; 3 % bei
allen übrigen Anleihen. Demgemäß sollen die Anleihebeträge
in Höhe von 278,3 Mill. Mark, die aus der Übernahme der ge-
stundeten Matrikularbeiträge der Rechnungsjahre 1906 — 1908
auf Anleihe und aus der Übernahme der Fehlbeträge in den
Jahren 1907 und 1908 auf Anleihe herrühren, mit jährüch
1,9 7o unter Hinzurechnung der ersparten Zinsen (31/2 Vo der
zur Tilgung aufgewendeten Summe) innerhalb 30 Jahren getilgt
werden. Ebenso würde in Zukunft mit allen Anleihen, die zu
werbenden Zwecken aufgenommen sind, zu verfahren sein. Der
Fehlbetrag des Jahres 1909, ursprünghch 126,5 Mill. Mark, muß
in den Jahren 1911 — 1913 »aus den bereitesten Rütteln des
Reichs«, in erster Linie also aus Überschüssen, abgebürdet
werden. Gleichzeitig ist durch dasselbe Gesetz § 3 des Gesetzes
vom 3. Juni 1906 (Einführung der gestundeten Matrikular-
beiträge) außer Wirksamkeit gesetzt, § 4 des Gesetzes vom
3. Juni 1906 (Mindestsatz der Tilgung der Reichsanleiheschuld
3/5 Vo des sich jeweils nach der Denkschrift über die Ausführung
der Anleihegesetze ergebenden Schuldbetrages) und § 2 des Ge-
setzes vom 27. März 1903 (Bestimmung über die Tilgung der
Zuschußanleihe für 1903 in Höhe von 72,1 Mill. Mark) auf-
gehoben.
Die Wirkung dieser neuen Schuldentilgungssätze für das
Etats] ahr 1911 ist, daß im Etatsentwurf für 1911/12 rund
93 Mill. Mark, nach Abzug von 3V2 Mill. Mark, die für Anleihe
Zeitschrift für Politik. 6. 29
450 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
ZU werbenden Zwecken in den Etats der Reichspost- und der
Reichseisenbahnverwaltung verrechnet werden, 89,6 Mill. Mark
oder 54,2 Mill. Mark mehr als im Etatsjahr 1910 zur Schulden-
tilgung ausgebracht sind. Dazu kommt noch die außerordent-
liche Tilgung durch den Münzprägungsgewinn in Höhe von
22 Mill. Mark. Eine Tilgung von insgesamt 115 Mill. Mark
fiele auch bei einer Gesamtanleiheschuld von rund 5000 Mill.
Mark immerhin noch ins Gewicht. In Zukunft würde die
Tilgung versältnismäßig noch stärker ausfallen müssen, da der
Tilgungssatz für alle nach dem 30. September 1910 ausgegebenen
Anleihen gemäß § 3 Abs. 3 des Gesetzes vom 15. Juli 1909
von 1 auf 1,9 Prozent, bei den für werbende Zwecke bewilligten
Anleihen im übrigen von 1 auf 3 Prozent — und 1,9 Prozent
und 3 Prozent sind Mindestsätze — sich erhöht. Dazu kommt
weiter, daß die Ausgaben für die Verzinsung, — die bereits
im Rechnungsjahr 1911 infolge der eingetretenen erheblichen
Verminderung bei den Zinsen für die vorübergehenden Anleihen,
für Schatzanweisungen u. dergl. im Gesamtbetrage eine Er-
mäßigung um 6Y4 Mill. Mark erfahren haben, so daß der tat-
sächliche Mehraufwand für die A^'erzinsung der Reichsschuld
nur 6,8 Mill. Mark beträgt — , im nächsten Jahre voraussichtlich
noch eine weitere Verminderung erfahren werden, in dem Maße,
daß dann Mehranforderungen für die Verzinsung der allge-
meinen Reichsschuld nicht nötig werden^). Jene im Gesetz vom
15. Juli 1909 vorgesehenen Schuldentilgungsmindestsätze werden
voraussichtlich überschritten werden, denn die für die Jahre 1911
bis 1913 gesetzlich vorgeschriebene Abbürdung wird ganz sicher
nicht alljährlich den rechnungsmäßigen Betrag von rund 36 Mill.
Mark (nach Abzug von 18 Mill. Mark aus dem Verkauf von
zwei Kriegsschiffen an die Türkei), sondern erheblich weniger
erfordern, voraussichtlich infolge der günstigen Ergebnisse des
Rechnungsjahres 1910 2) sogar schon im Etats jähr 1911 in der
Hauptsache durchgeführt sein. Die frei werdenden Beträge
hätten dann im ordentlichen Haushalt verbleiben, also gemäß
den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen den Einzelstaaten
zugute kommen müssen, wenn nicht inzwischen unter Bezug-
nahme darauf, daß die verschiedenen Prozentsätze für die Reichs-
schuldentilgung im Finanzgesetz von 1909 ausdrücklich als
Mindestsätze bezeichnet sind — wovon noch die Rede sein
•) Vgl. Sten.-Ber. d. Reichstags, Sitzung vom 4. April 1911, p. 6252/63.
') Vgl. p. 57.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 451
wird — auf eine verstärkte Schuldentilgung hinge-
wirkt worden wäre^).
Daß diese Erwartungen in Erfüllung gehen, ist dringend
zu wünschen. Denn eine effektive Schuldentilgung
würde trotz der höheren Tilgungssätze auch im Rechnungs-
jahre 1911/12 im Reiche nicht stattfinden, wenn nicht die
außerordentliche Tilgung auf Grund des Münzgewinnes und
unter der Wirkung des abgeänderten § 4 des Etatsgesetzes
hinzuträte. Auch das Finanzgesetz von 1909 bestimmt wieder
(in § 3 Abs. 5), daß Abschreibungen vom Anleihesoll und An-
rechnungen auf offene Kredite bis zur Höhe der zur Schulden-
tilgung zur Verfügung stehenden Beträge einer Tilgung gleich
zu achten sind. Es ist schon dargetan, daß es nicht völhg
gleich ist, ob alte Schulden getilgt oder notwendig gewordene
neue verhütet, bzw. gar nicht erst gemacht werden. Gewiß ist
der Abstrich, der von der Gesamtschuldsumme gemacht wird,
in beiden Fällen der gleiche. Aber darauf kommt es nicht an.
Das Entscheidende ist doch, ob die vorhandene, d. h. die bei
Beginn des neuen Rechnungsjahres vorhandene Schuldsumme
im Laufe dieses selben Rechnungsjahres tatsächlich vermindert
wird und am Ende dieses selben Rechnungsjahres einen niedri-
geren Stand erreicht hat. Und das wird trotz allen schönen
und großen Worten von Schuldentilgung auf Grund der im Etat
für 1911 für diese Zwecke bereitgestellten ordentlichen Mittel
nicht der Fall sein. Diese ordentlichen Mittel beziffern sich
auf 89,6 Mill. Mark. Selbst wenn man Abschreibung vom An-
leihesoll im Sinne des Gesetzes als Schuldentilgung bewertete,
würde das nicht der Fall sein, denn für das Rechnungs-
jahr 1911/12 ist eine Anleihe in Höhe von fast 98 Mill. Mark
vorgesehen. Von einer wirklichen Tilgung kann aber
dann imErnste nicht mehr die Rede sein, wenneine
Anleihe aufgenommen werden muß, die den Betrag
der Tilgungsumme in einem und demselben Rech-
nungsjahre übersteigt 2). Im Etat 1911/12 ist der Anleihe-
') Eine Ermäßigung der schwebenden Schuld ist erstmalig wieder erfolgt,
als das Reich am 1. Oktober 1911 den Schatzanweisungsumlauf um 40 MiU.
Mark bar zurückgezahlte Schatzanweisungen verminderte.
-) So auch K. Zorn, Über die Tilgung von Staatsschulden in Abhand-
lungen aus dem Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht. Tübingen 1905. I, 3,
p. 96: »Sobald in einem Jahre eine neue Schuldaufnahme nötig ist, die den
Betrag der Tilgungssumme übersteigt, ist tatsächlich keine Tilgung mehr
vorhanden.« Ebenso E. v. Kaufmann im Finanz-Archiv 1900, Jahrg. 17,
Bd. I p. 166/167.
29*
452 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
betrag um 7,4 Mill. Mark größer als die ausgebrachte Tilgungs-
surame! Die Gesamtschuldsumme würde also zum wenigsten
um diesen Betrag wachsen müssen, aber keinesfalls sinken
können. Tilgung bedeutet, wenn man dem Worte nicht Gewalt
antun will, Verminderung der Schuldenlast, d. h. der vorhan-
denen Schuldenlast, die auf die Finanzlage drückt, nach deren
Erleichterung die öffentliche Meinung verlangt. Im Wege der
Verrechnung kann diese Aufgabe niemals gelöst werden.
Wie steht es nun um die Praxis der Schuldentilgung
im Rechnungsjahr 1911? Die Schuldentilgungsmittel er-
scheinen im ordentlichen Etat beim Etat der Reichsschuld als
Ausgabe, im außerordentlichen Etat als Einnahme. Demgemäß
ist im ordentlichen Etat des Rechnungsjahres 1911 unter den
fortdauernden Ausgaben XII (Etat der Reichsschuld) Kap. 72
Titel 1 — 3 der Betrag von 89,6 Mill. Mark, im außerordentlichen
Etat im Kap. 6 der gleiche Betrag unter den Einnahmen
ausgebracht. Mit Hilfe jenes Betrages von 89,6 Mill. Mark
balanciert der ordentliche Etat; der in Ausgabe gestellte Betrag
muß also verausgabt werden. Er wird es auch tatsächlich, aber
nicht in der Weise, daß er effektiv und unmittelbar für den
außerordentlichen Etat, wie es nach dessen Aufstellung scheinen
könnte, vereinnahmt wird. Wie dieser Betrag, der sich ein-
schließlich einiger kleiner Beträge auf 93 Mill. Mark stellt, tat-
sächlich Verwendung finden soll und wird, hat der damalige
Chef der Reichsfinanzverwaltung Staatssekretär Wermuth in
seiner Etatsrede vom 9. Dezember 1910 klar ausgesprochen:
»Inzwischen dürfen wir damit zufrieden sein, daß uns
aus dem ordentlichen Etat 93 Mill. Mark an Schuldentilgungs-
beiträgen zufließen und (daß wir) im Verein mit dem Münz-
gewinn von 22 Mill. Mark das Anleihesoll auf tiefer als die
Hälfte herabdrücken. Aber wir dürfen uns nicht damit
zufrieden geben, etwa nur eine schematische Sub-
traktion vorzunehmen; wir dürfen nicht die Schulden-
tilgungsbeträge der Aufgabe entziehen, zu der sie uns nach
dem Sinne und dem Wortlaute der Reichsschuldenordnung in
erster Linie befähigen soll, nämlich als Käufer unserer alten
Schuldenbestände auf dem Markte aufzutreten und dadurch
das Ansehen unserer Anleihen zu heben. Meine Herren, die
verbündeten Regierungen schlagen Ihnen vor, dies im Etats-
gesetz besonders zum Ausdruck zu bringen.«
§2 des Etatgesetzes für das Rechnungsjahr 1911 bestimmt
in Abs. 1, daß der Reichskanzler ermächtigt wird, zur Bestreitung
Blum, Biid^etreclit und Finanzpraxis. 453
einmaliger außerordentlicher Ausgaben die Summe von 97,7 Mill.
Mark im Wege des Kredits flüssig zu machen. Dann folgt
Abs. 2 der besagt:
»Werden die zur Tilgung der Reichsschuld bestimmten
Mittel (Kapitel 3 — 7 der Einnahme des außerordentlichen Etats)
ganz oder teilweise zum Ankauf von Schuldverschreibungen
verwendet, so erhöht sich die im Abs. 1 bezeichnete Kredit-
summe um den entsprechenden Betrag.«
Abs. 3 endlich lautet: »Das Gleiche gilt für die nach dem
Etat und dem Ergebnis des Rechnungsjahres 1910 zur Tilgung
der Reichsschuld dienenden Beträge.«
Nach der erwähnten Erklärung des Reichsschatzsekretärs
ist diese »Schuldentilgung« so gedacht, daß nicht bloß jene
93 Milhonen, sondern auch die 22 Mill. Münzgewinn, also ins-
gesamt 115 Millionen zum Ankauf von Schuldverschreibungen
verwendet werden können, daß sich also die Anleihe um den
zu diesem Zwecke verausgabten Betrag erhöht. Es ist also un-
richtig zu sagen, daß die Anleihe um den Betrag von 93 Mil-
lionen bzw. 115 Millionen »herabgedrückt« sei. Die im Wege
des Kredits flüssig zu machende Summe ist im Etat für 1911
in ihrer Höhe tatsächlich nicht fest bestimmt, sie kann statt
97,7 MiUionen äußerstenfalls 212,7 Milhonen betragen. Das
ist in § 2 des Etatsgesetzes deutlich und unzweifelhaft ausge-
sprochen. Es findet also auch im Rechnungsjahr 1911
eine effektive Schuldentilgung nicht statt und die Schul-
dentilgungsbestimmungen im Finanzgesetz von 1909 bleiben
zunächst noch toter Buchstabe. Die einzige und tatsächliche
Wirkung der im Etat für 1911 vorgenommenen Schuldentilgung
besteht darin, daß die Reichsschuld sich im Minimum um
97,7 Mill. Mark erhöht, damit allerdings hinter dem in den
vorangegangenen Rechnungsjahren notwendig gewordenem
Schuldenplus erheblich zurückbleibt. Im Minimum; denn was
auf der einen Seite durch Rückkauf alter Schuldverschreibungen
an Verbindlichkeiten beseitigt wird, muß auf der anderen Seite
in gleicher Höhe durch Steigerung der Anleihe wieder einge-
bracht werden. Die Mittel zu dieser Art Schuldentilgung müssen
im Anleihewege beschafft werden, an dem Schuldenbestand im
Reiche wird durch diese in ihrem Inhalt sich ausgleichenden
Operationen im Endeffekt eine Kürzung nicht erreicht, er
würde, völhg unberührt von der Etatspraxis, auf gleicher Höhe
bleiben, wenn er nicht um den Betrag der durch das Etat-
gesetz bewilligten Anleihe gesteigert würde. Mag man zugeben,
454 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
daß die Rücksicht und die Notwendigkeit der Einflußnahme
auf den Anleihemarkt, durch den Rückkauf schon ausgegebener
Schuldverschreibungen, eine Finanzpraxis, wie sie in § 2 des
Etatgesetzes für 1911 zum Ausdruck kommt, geboten erscheinen
lassen kann, so bleibt doch unbestreitbar, daß eine effektive
Schuldentilgung in der Höhe, wie sie im ordenthchen Etat der
Reichsschuld in Ausgabe gestellt ist, nicht erfolgt^). Auf diesen
Tatbestand hat in der dritten Lesung des Etats der Abgeordnete
Dr. Arendt ausdrücklich aufmerksam gemacht, indem er am
Schlüsse einer kurzen Bemerkung zum Etat der Reichsschuld
die Hoffnung aussprach, daß die in den letzten Jahren so sehr
angewachsenen Anforderungen aus dem Etat der Reichsschuld
künftig eine Verminderung nicht bloß durch die Zinsermäßi-
gungen für Schatzanweisungen, sondern »auch durch eine ef-
fektive Schuldentilgung erfahren« werde 2).
Xni. Die Besserung der Finanzpraxis im Reiche.
Für die Erfüllung dieses Wunsches sind wenigstens die ge-
setzlichen Unterlagen vorhanden. Es ist bereits darauf hingewiesen,
daß auf Grund des Finanzgesetzes von 1909 alle in Zukunft be-
gebenen Anleihen, wenn sie für werbende Zwecke begeben sind,
mit mindestens 1,9%, alle übrigen mit mindestens 3 Vo getilgt
werden müssen und daß die so bemessenen Mindestsätze voraus-
sichtüch überschritten werden würden. Die gesetzliche Ermächti-
gung dazu ist dadurch gegeben, daß im § 4 des Etatsgesetzes
für 1911 die Bestimmung Aufnahme gefunden hat, daß die
ordentlichen Einnahmen aus der eigenen Wirtschaft des Reichs
im Rechnungsjahr 1911, soweit sie nach der Rechnung dieses
den Bedarf des Reichs übersteigen, außer zur Deckung des aus
§ 2 Abs. 2 Satz 1 sich ergebenden Kredits zur Deckung solcher
gemeinschaftlicher Ausgaben des außerordentlichen Etats zu
verwenden sind, die nach den Anleihegrundsätzen künftig auf
den ordentlichen Etat zu übernehmen sein würden. Zu den
gleichen Zwecken kann ein den Sollbetrag der Überweisungen
übersteigender Betrag zurückbehalten werden, während ein gegen
^) Bestätigt in einer offiziösen Auslassung: „Gelingt es, den außer-
ordentlichen Etat zur Gesundung zu bringen, so ist endlich Aussicht
vorhanden, daß .... eine Tilgung alter Reichsschulden vorgenommen
wird." Berl. Pol. Nachr. 13. August 1911.
0 Sten. Ber. d. Reichstag-Sitzg. vom 4. April 1911. p. 6252 D.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 455
das Etatssoll der Überweisungen sich ergebender Minderertrag
dem Reiche zur Last fällt ^). Erst infolge dieser Bestim-
mung ist die Möglichkeit einer effektiven Schulden-
tilgung gegeben, denn, vorausgesetzt, daß der Abschluß des
Rechnungsjahres 1911 Überschüsse ergibt, wird um ihren Betrag
die Anleihesumme ermäßigt werden können und Ausgabeposi-
tionen des außerordentlichen Etats, die auf Anleihe genommen
werden mußten, würden, ohne daß Schulden erforderlich wer-
den, bestritten werden können. In ihrer Endwirkung charak-
terisiert sich also diese der Reichsfinanzverwaltung durch das
letzte Etatsgesetz zugestandene Maßnahme als eine außer-
ordentliche Schuldentilgung. Vorausgesetzt ist dabei, daß
das Rechnungsjahr eine erhebliche Überschreitung des Einnahme-
solls liefert. Darauf kann mit Sicherheit gerechnet werden.
Diese Überschreitung wird so erheblich sein, daß es zweifelhaft
erscheint, ob der Bedarf zur Abbürdung der erwähnten Anleihe
aus dem Jahre 1909 nicht durch die Überschüsse des Jahres
1911 überschritten wird. In diesem Falle ist durch die in der
zweiten Etatslesung abgeänderte Fassung des § 4 des Etats-
gesetzes für die Verwendung der zu erwartenden Überschüsse
mit der Absicht und Wirkung einer außerordentlichen Schulden-
tilgung Bestimmung getroffen ^).
Nach alledem sind die Aussichten für eine Besse-
rung der Finanzpraxis im Reiche als günstig zu be-
zeichnen^). Gewiß hat an dieser erfreulichen und dringend
wünschenswerten Wandlung auch der Reichstag sein Verdienst
und es soll ihm nicht geschmälert w^erden. Aber es soll auch
nicht verschwiegen werden, daß die Besserung angebahnt
und vorbereitet ist dadurch, daß derReichstag auf
budgetrechtliche Empfindlichkeiten und Eigen-
mächtigkeiten, auf die er bis dahin, zum Schaden
der Reichsfinanzen, nur zu großes Gewicht gelegt
0 Sten. Berichte des Reichstags Bd. 266 (161. Sitzung) p. 6128 B. und
133. Sitzung p. 4853 D.
^) Ohne außerordentliche Äbbürdungsmaßnahmen würde die Tilgung
der Reichsschuld in den nächsten Jahren das ausgleichen, was als Anleihe-
bedürfnis erforderlich ist. Reichstag 12. Leg.-P. 99. Sitzung p. 3610 A.
^) Dafür spricht auch, daß im Rechnungsjahr 1910 der Etatsanschlag für
die Einnahmen aus den neuen im Jahre 1909 beschlossenen Steuern in Höhe
von rund 290 Mill. Mark um 18 Mill. Mark überschritten worden ist und daß
im Rechnungsjahr 1911 der auf über 320 Mill. Mark angenommene Ertrag
derselben Steuerquellen durch die Wirklichkeit mit einem noch höheren
Überschuß überholt werden dürfte.
456 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
hatte, in mehr als einem Punkte Verzicht geleistet
hat. Er hat sich mit den verbündeten Regierungen über die
Grundlagen, über prinzipielle und einheitliche Erfordernisse
der gegenwärtigen, auf die Dauer von fünf Jahren berechneten
Finanzperiode geeinigt, er hat sich gleichfalls für die Dauer
von fünf Jahren zu der Vereinbarung über die Kopfquote der
Matrikularbeiträge in Höhe von 80 Pf. bereit finden lassen, er
hat dem Verlangen der verbündeten Regierungen betreffend
die Aufrechterhaltung des erhöhten Grundstückumsatzstempels
neben der Wertzuwachssteuer nachgegeben, er hat sich die
Wahrung des Grundsatzes »Keine Ausgabe ohne gleichzeitige
volle Deckung« mit Erfolg angelegen sein lassen, er hat sich
auf gewisse Grundsätze für das Extraordinarium festgelegt, er
hat, indem er an dem Etatsvoranschlag für 1911 nur ganz
geringfügige Abstriche machte (rund 160000 Mark bei einem
Gesamtbedarf von fast 3 Milliarden), dem besseren Verständnis
und der größeren Sachkenntnis der berufenen Leiter der Reichs-
finanzwirtschaft seine eigene Urteilsfähigkeit untergeordnet, er
hat endlich — im schärfsten Widerspruch zu der sonst von
ihm geübten Praxis ^) — durch die Aufnahme jener Bestimmung
in das Etatsgesetz für 1911, die eine außerordentliche Schulden-
tilgung ermöglicht — , auch hier der Führung durch die Reichs-
finanz Verwaltung sich willig überlassend dafür gesorgt, daß auf
die Überschüsse der Reichswirtschaft nicht die Einzelstaaten
Anspruch haben, sondern daß solche Überschüsse in den Dienst
der Schuldentilgung und der allgemeinen Reichsfinanzpolitik
gestellt werden. Genug, man kann geradezu von einer
völligen Umkehr der budgetrechtlichen Anschau-
ungen und der entsprechenden praktischen Maß-
nahmen sprechen.
Wenn es für das Bestehen bestimmter wichtiger Wechsel-
wirkungen zwischen Budgetrecht und Finanzpraxis noch eines
Beweises bedürfte, er wäre hier erbracht: von dem Zeitpunkt
an, wo der Reichstag weniger mißtrauisch und zielbewußt als
zuvor seine budgetrechtlichen Interessen betonte, wo er unter
Verzicht auf budgetrechtliche Ansprüche, die er zuvor mit
Nachdruck vertreten und ständig zu steigern versucht hatte,
sich zu Zugeständnissen bereit finden ließ und an die Stelle
einer regellosen, oberflächlichen Scheinpraxis ein
festes finanzpolitisches System der Schuldenpolitik, der
') Vgl. p. 25 Anm.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 457
Behandlung der Überschüsse, der festen Abgrenzung zwischen
den Finanzen des Reichs und der Einzelstsaten setzte, wo er,
um es mit einem Worte zu sagen, die Sache über die Form,
die Sorge für die Reichsfinanzen über die Sorge für die parla-
mentarischen Interessen stellte, von demselben Zeitpunkt
an beginnt auch die Reichsfinanzlage sich zu bessern,
ist für die Fortführung des im Jahre 1909 erfolgreich begonnenen
Werkes die wichtigste Vorbedingung erfüllt, sind für eine be-
friedigende Lösung der Aufgabe wenigstens die Ansätze gegeben.
Der erfreuliche Wandel, der sich in diesem bisher letzten
Entwickelungsstadium des Budgetrechts des Reichstags i) voll-
zogen hat, ist so offensichtlich, der angebahnte finanzpolitische
Fortschritt so bedeutsam, daß man wünschen möchte, in ihm
wäre die Erkenntnis ausgesprochen und betätigt, daß ein
schrankenloses Budgetrecht zahllose Fehlerquellen in
sich birgt und den wahren Interessen sowohl der
Staatswirtschaft wie der Staatspolitik widerstreitet.
Die Tatsache selbst steht jedenfalls für jeden, der die be-
handelten Erfahrungen und Vergleichsmomente unbefangen
auf sich wirken läßt, unantastbar fest.
XIV, Staatsverfassung und Budgetrecht.
Das Budgetrecht als politische Waffe.
Wie das Budget ist auch das Budgetrecht ein Faktor im
Staatsleben, dessen besondere Art und dessen Schwergewicht
nach dem positiven Recht sich bestimmt und seinen engen, in
gemeinsamem Wachsen und Wirken sich immer wieder er-
neuernden Zusammenhang mit dem Status der öffent-
lichen Einrichtungen und Zustände bei keiner ern-
steren Betätigung verleugnen kann. Die politischen Kräfte
und die staatsrechtlichen Ideen und Motive, die diesen Faktor
herausgebildet und gestaltet haben, sind im Grunde und ur-
sprünglich dieselben, die in den Staatsgrundgesetzen bzw. in
den Staatsverfassungen der verschiedenen Länder sich mani-
festieren. Eine Ausnahme macht nur England mit seiner
,,unwritten Constitution". Im Gegensatz dazu hat Frankreich
in verhältnismäßig schneller Folge den Wandel zahlreicher
und sehr verschiedenartiger Staatsverfassungen erlebt. Das
Deutsche Reich und der Preußische Staat, als konstitutionelle
^) Reichstag der Legislaturperiode 1907—1911.
458 Blum, BudgetrecM und Finanzpraxis.
Monarchien, stehen gewissermaßen in der Mitte. Nimmt man
diese Verhältnisse zum Ausgangspunkt einer vergleichenden,
auch die Methoden und die Ergebnisse der Finanzpraxis be-
rücksichtigenden Betrachtung, so wird man den Satz aussprechen
dürfen, daß das Vorhandensein einer Verfassung nicht schon
mit Notwendigkeit ein zweckmäßiges, die finanzwirtschaftlichen
Aufgaben und Interessen förderndes Budgetrecht zu begründen
braucht und daß noch viel weniger der Wechsel und zeitliche
Ablauf verschiedener Verfassungssysteme zuverlässige Garantien
für ein solchen Anforderungen entsprechendes Budgetrecht zu
bieten vermag.
Aber das nur nebenbei. Entscheidend für den Inhalt und
den Wert des Budgetrechts ist in der Tat in erster Linie die
Staatsverfassung, insoweit sie über die Regierungsform Be-
stimmungen trifft oder, wie in England, als der Ausdruck der
Machtverteilung der öffentlichen Gewalten sich darstellt. Die
Stellung der Krone bedingt in Preußen ebenso wie in
England an sich schon eine Finanzhoheit im budgetrechtlichen
Sinne, die dort in der Mitwirkung des Trägers der Krone an
der Gesetzgebung und der Exekutive, hier in der Bestimmung,
daß Ausgabesteigerungen allein vom Könige beantragt werden
dürfen, unter allen Umständen respektiert wird. Im Deutschen
Reiche fehlt verfassungsrechtlich eine ähnlich geartete Zentral-
instanz, die auf eine Gestaltung des Finanzwesens nach ein-
heitlichen Grundsätzen ohne Rücksichtnahme auf Bundesrat
und Reichstag hinzuwirken, bzw. das Aufkommen bestimmter
Tendenzen und Einflüsse wie überhaupt die Verabschiedung
eines so oder so gearteten Etatsgesetzes zu verhindern ver-
möchte; im Deutschen Reiche fehlt auch der Treueid, den
in Preußen die Mitglieder der beiden Kammern, in England
Lords und Commons leisten müssen. In Frankreich ist die
Staatsgewalt einer Vielheit, noch dazu einer unter Umständen
rasch wechselnden Vielheit von Personen überantwortet, die in
ihren Entschließungen und Maßnahmen nur an die Verfassung
gebunden sind, aber an eine Verfassung, der gegenüber ihnen
jederzeit ein völhg freies Verfügungsrecht zusteht. Naturgemäß
hat sich bei solcher Verschiedenartigkeit der Staatsverfassungen
auch das Budgetrecht in den einzelnen Staaten verschiedenartig
gestalten müssen: es ist da, wo ein monarchischer Herrscher
ein Bestimmungs-, Einspruchs- und Kontrollrecht im gesamten
Bereich der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung geltend
zu machen vermag, bei aller Aufrechterhaltung seiner ver-
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 459
fassungsrechtlichen Tragweite und Befugnis dem politischen
Anwendungsgebiet mehr und mehr entrückt und in
demselben Maße im Interesse der Staatsfinanzen und zum
Wohle des Staatsganzen zu einem Werkzeug ausgebildet, dessen
sich die Volksvertretung bedient, um die notwendigen Lasten
des Staates nach Möglichkeit zu erleichtern oder zum mindesten
gerecht zu verteilen, um den Staatskredit zu kräftigen und damit
der Nation politische und wirtschaftliche Vorteile zuzuwenden,
um mit möglichst geringer Belastung der Steuerzahler möglichst
Großes und Gutes zu leisten, kurz, das Interesse am Staate
und die Freude am Vaterlande in immer breitere und tiefere
Schichten der Bevölkerung zu tragen, also die Staatsidee
auf monarchischer Grundlage zu immer höherer Voll-
endung zu entwickeln, sie dem entscheidenden Siege zuzuführen.
Gegen diese Zurückdrängung politischer Tendenzen spricht
nicht etwa die letzte Verfassungskrise in England,
bei der Fragen des Budgetrechts und der Finanzpraxis eine
erhebliche Rolle gespielt, zum Teil sogar zu der Aufrollung
des Konflikts den Anstoß gegeben haben. Der Streit ging um
die Stellung der beiden Häuser des Parlaments im englischen
Verfassungsleben, niemand dachte im Ernste daran, den Anteil
zu schmälern, der dem Träger der Krone an der Gesetzgebung
und den Regierungsgeschäften zusteht. Das geht u. a. auch
daraus hervor, daß das von der radikal-demokratischen
Koalitionsmehrheit im Unterhause vertretene Programm der
Verfassungsreform die Erhaltung nicht nur einer zweiten
Kammer, sondern auch des Königlichen Berufungsrechts an-
gekündigt hat^). Gewiß ist von den beiden um den Vorrang
^) Das wird bestätigt durch folgende Bemerkung von J. H. Morgan,
Professor of Constitutional Law at University College London in „The King
and his Prerogative" (Nineteenth Century August 1911 p. 224): „I have good
reason for saying that when the time does come to write of these things,
the public will learn that never have the relations of a King and his
Prime Minister ben more harmonious than in the present crisis. To
talk of „the prostitution of the Crown" is mischievous nonsense". Wohl
aber ist nach und infolge der Lösung des Verfassungskonflikts eine Minderung
— nicht eine Beschränkung — der Prärogative der englischen Krone ein-
getreten. Vgl. J. H. Morgan, a. a. 0. p. 220, der als „verdict of posterity on
the events of the month of August 1911" erwartet: „Other and lesser prero-
gatives may be and may remain 'the discretionary power of the executive';
this supreme prerogative of forcing the House of Lords to yield (nämlich
das königliche Recht des Pairsschubs) has passed definitely into the hands
of the people. Juristic speculation in future .... will »peak of the
sovereign electorate". In der Tat ist das Recht der Peersernennung so gut
460 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
und um völlige Unabhängigkeit kämpfenden parlamentarischen
Körperschaften das Budgetrecht als politische Waffe
benutzt worden^). Aber beide sind damit im Rahmen ihrer
Befugnisse und auf dem Boden des gegenwärtigen Rechts-
standes geblieben: das Unterhaus, indem es von dem seit
Jahrzehnten ihm nicht mehr ernstlich bestrittenen Recht des
tacking Gebrauch gemacht hat, das Oberhaus, indem es sein
aus früheren Kampfperioden herübergerettetes Budgetrecht, das
Veto-Verdikt gegenüber einer ihm nicht genehmen Finanzbill,
in vollem Maße zur Anwendung brachte. Und man darf ein
weiteres nicht vergessen. Der bis August 1911 bestehende
Zustand war, je länger er bestand, desto unhaltbarer geworden.
Es ging nicht länger an, daß die gesetzgeberische Freiheit und
Machtfülle, die das Unterhaus besitzt, immer nur dann in
Erscheinung treten sollte, wenn die Mehrheit des Unterhauses
und somit auch der Leader des Hauses und die Regierung der-
selben Partei angehört, die im Oberhause eine erdrückende
Übermacht besitzt, d. h. daß das tatsächliche Bestehen eines
Einkammersystems 2) alle Errungenschaften der jahrhunderte-
wie ganz ausgehöhlt, nachdem die Parliament Bill die unbedingte Vor-
herrschaft der gewählten Kammer auch bei hberaler Mehrheit und
Regierung sichergestellt hat. Trotzdem ist das Recht als solches nach
wie vor existent und könnte jederzeit ausgeübt werden. Es trifft auch noch
heute zu, was Morgan von der Zeit vor August 1911 sagt, a. a. 0. p.221:
„the prerogative of creation of peers has neither been impaired by disuse
nor limited by surrender." Nur zu seinem wichtigsten Zwecke, um nötigen-
falls den Widerstand der Lords zu brechen, kann es und wird es nicht mehr
angewandt werden; da ist es seit August 1911 überflüssig geworden und hat
unter diesem staatsrechtlich bedeutsamsten Gesichtspunkte seinen prak-
tischen Wert eingebüßt.
') Nicht minder von der irischen Fraktion und der Arbeiterpartei. Bei
der ersteren hat die Aussicht auf ein ernst zu nehmendes Homerule-Programm
des Kabinetts Asquith zum mindesten stark mitgewirkt. Vgl. Mendelssohn
Bartholdy, Zeitschr. f. Politik Bd. IV 1911 p. 30 Anm. Jedenfalls haben
die Redmonditen für ein Budget gestimmt, für das sie sonst schwerlich zu
haben gewesen wären. Den steuerpolitischen Grundsätzen imd Wünschen
der Arbeiterpartei aber kam das Budget Lloyd George's geradezu entgegen.
Außerdem waren sie mit der Schwächung des Oberhauses durchaus ein-
verstanden; am liebsten hätten sie es ganz beseitigt. — Ein ähnlicher Ver-
such, das Budget als politische Waffe zu benutzen, hat am 4. November 1911
in Bayern zur Auflösung der zweiten Kammer geführt. Vgl. dazu Sten.
Ber., Verhandl. d. Bayr. Kammer d. Abgeordneten Bd. XIII Nr. 385 p. 654 ff.,
663 f., Nr. 387 p. 730, Nr. 389 p. 763.
'') Das Zweiparteiensystem wäre (nach Sußmann, Das Budgetprivileg der
Gemeinen) „schon längst zusammengebrochen" gewesen. Es hatte aber bisher
überhaupt nicht existiert. Vgl. die Erklärung des Premierministers in der
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 461
langen parlamentarischen Kämpfe, die die englische Nation
durchgefochten hat, illusorisch machen sollte^). In einem
Falle, wo es galt, ein solches Unrecht aus der Welt zu
schaffen, wo es ferner galt, einem äußerst wertvollen, weil
im Interesse des Ausgleichs der Gegensätze, des unbehinderten
Wechsel- und Widerspiels der politischen Kräfte gelegenen,
unter dem Gesichtspunkte der Verwirklichung moderner Staats-
ideen, der Vermeidung schwerer innerer Katastrophen hoch
einzuschätzenden Vorzug, in diesem Falle dem Wechsel
zwischen konservativer und liberaler Regierungs-
mehrheit, positiven Inhalt und die Möglichkeit zu voller Aus-
wirkung zu geben, mußte auch das Budgetrecht als politisches
Kampfmittel, als Angriffs- und Verteidigungswaffe benutzt werden
dürfen, und das um so eher, wenn, wie es in England tatsächlich
der Fall, in der Finanzpraxis und in der gesamten
Führung der Staatswirtschaft hinreichende Gewähr
gegeben ist, daß die öffentlichen Geschäfte und Interessen,
daß Finanzlage und Staatskredit von verfassungs- und budget-
rechtlichen Auseinandersetzungen in keiner Weise zu leiden
haben.
XV. Verfassungsrechtliche und staatswirtschaft-
liche Analogien in Preußen und England und ihre
allgemein-politische Bedeutung.
Auf die Bedeutung dieser Tatsache als eines charakteristischen
Merkmals für den politischen, den staatserhaltenden Inhalt
und Wert der in England zwischen Budgetrecht und Finanz-
praxis obwaltenden Beziehungen ist im, Vorstehenden bereits
wiederholt hingewiesen. Auch in Preußen würden nach
den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen und
den geltenden staatsrechtlichen Grundsätzen die
Finanzen des Landes von Verfassungsstreitigkeiten,
Adreßdebatte im Januar 1910, bei Mendelssohn Bartholdy, Zeitschr. f. Politik
1911 p. 12, ebenso im Jahrbuch des öffentl. Rechts 1909 (die Reform des
Überhauses) p. 208/9, und bei C, ö. Robertson, Zeitschr. f. Politik 1910
p. 575. Vgl. auch oben p. 354.
*) Die Stellung des Oberhauses zum Budget von 1909 war hauptsächlich
bestimmt worden durch die Erwägung, daß eines der stäi'ksten Argumente
für das Progamm der Tarifreformer für immer entkräftet werden würde,
falls das Budget Erfolg hätte. C. G. Robertson, Allgemeine Wahlen in Groß-
britannien. Zeitschi-, f. Politik 1910 p. 369.
462 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Wahlrechtskämpfen oder sonstigen inneren Kon-
flikten nicht berührt werden. Im wohltuendsten und
wertvollsten Gegensatz zu Frankreich, wo in solchen Fällen die
öffentlichen Angelegenheiten schwer in Mitleidenschaft gezogen
werden könnten, im Gegensatz auch zum Deutschen Reich,
wo ein budgetloser Zustand, wenn er einmal einträte, gleich-
falls wichtige Aufgaben, Leistungen und Arbeiten — man
denke nur an die Durchführung des Flottenprogramms, an
Arbeiten wie Kanalbauten, Festungsanlagen usw., an die Zu-
schüsse zur Arbeiterversicherung — ins Stocken geraten lassen
könnte, würde in Preußen kaum ein öffentliches Interesse von
Bedeutung zu leiden haben. Die Staatsverwaltung würde ihren
gewohnten Gang gehen, die Wirtschaft der öffentlichen Betriebe
erlitte keine Unterbrechung, die Staatseinnahmen und die
Staatsausgaben blieben im wesentlichen dieselben, der Schulden-
dienst, Verzinsung und Tilgung, blieben in vollem Umfang
aufrecht erhalten, der Staatskredit erführe keinerlei Ver-
minderung, und auch darin träte keine Änderung ein, daß die
Staatsfinanzen genau so wie in normalen, ruhigen Zeitläuften
von den Reichsfinanzen, bzw. von dem Matrikularrecht des
Reichstags abhängig wären. Aber diese Sicherstellung der
öffenthchen und allgemeinen Interessen vor der Gefährdung
durch finanzpolitische Wirren und Budgetkämpfe, die dadurch
bedingte soziale und wirtschaftliche Gemeinbürgschaft
gegen Störungen des Erwerbslebens und der Lebenshaltung,
die der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterbevölkerung
geboten wird, ist keineswegs die einzige Ähnlichkeit zwischen
den Verhältnissen in Preußen und in England, die unter dem
Gesichtspunkte des Budgetrechts und der Finanzpraxis sich ergibt.
In beiden Staaten werden nur bestimmte Teile des
Budgets einer eingehenderen Beratung, sei es im Kommissions-
stadium oder im Plenum, unterworfen; beide Staaten haben
das System der Dotationen eingeführt — in Preußen Dota-
tionen: Staatsschuld, Zivilliste, Landtag; allgemeine Finanz-
verwaltung: Matrikularbeiträge, Überweisungen, Provinziai-
dotationen, Hinterlegungsgelder (40 Mill. durchlaufende Posten),
in England die Consolidated fund Services für bestimmte fest-
stehende, regelmäßig oder doch für längere Zeit (Zivilliste für
die Dauer der Regierung des Königs) wiederkehrende Ausgaben
— beide Staaten haben, der eine durch die Verfassung, der
andere aus sich selbst heraus im Wege freier EntschUeßung
dafür Sorge getragen, daß der größte Teil der Einnahmen auch
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 463
dann zur Verfügung steht und seiner Bestimmung zugeführt
wird, wenn das Etatgesetz, bzw. die Parlamentsakte als
Grundlagen des Staatshaushalts ausbleiben^). In beiden Staaten
ist das Antragsrecht für Ausgaben den Mitgliedern der ver-
antwortlichen Regierung vorbehalten, in beiden Staaten leisten
die Mitglieder der Kammern dem Könige den Eid der Treue 2).
Dazu kommt nun als das Entscheidende, daß sich beide Staaten
einer bedingungslos gesunden und gesicherten Finanzlage
erfreuen und in ihrer Finanzpraxis einen sonst nirgends er-
reichten Grad von SoHdität und Wirtschaftlichkeit aufweisen.
Das ist für Preußen noch mehr anzuerkennen als für England,
weil die englischen Finanzen ausschließlich den eigenen Ver-
hältnissen und Bedürfnissen entsprechend gestaltet werden
können und nicht, wie es in Preußen geschehen muß, auf ein
übergeordnetes Staatswesen, das noch dazu einen anderen
Verfassungszustand und ein ganz anders geartetes Wahlrecht
besitzt, und auf die wechselnden Erscheinungen der Wirt-
schaftskonjunkturen Rücksicht zu nehmen brauchen. Man er-
kennt auf den ersten Blick, daß es sich bei einer so weit-
gehenden Übereinstimmung, bei einer Übereinstimmung auf so
wichtigen und wesentlichen Gebieten des Staatshaushalts
nicht um ein zufälliges Zusammentreffen handeln kann, daß
vielmehr einerseits der Stand der preußischen und der eng-
Hschen Finanzen, andererseits die während eines budgetlosen
Zustandes gesammelten Erfahrungen (Preußenl862 — 66, England
1909 — 10) den engen wechselseitig ineinandergreifen-
den Zusammenhang zwischen Budgetrecht und Finanz-
praxis deutlich vor Augen stellen. Wo die Volksvertretung
über ein schrankenloses Budgetrecht verfügt, — wie in Frank-
reich — da sind solche Mängel der Etatswirtschaft, solche
Mißgriffe der Finanzpraxis, wie sie nach dem Zeugnis fran-
zösischer Finanzschriftsteller tatsächlich vorhanden sind, die
') In beiden Staaten bis August 1911 der übereinstimmende verfassungs-
rechtliche Zustand, daß das preußische Herrenhaus (vgl. Art. 62 Abs. .3 Prß. Vf.)
und das englische Oberhaus das Etatsgesetz nur als Ganzes annehmen oder
ablehnen können. — Jedoch bestand insofern ein Unterschied, als den Lords
das Amendierungsrecht für Geldbills überhaupt entzogen war.
■) In Preußen nach Art. 108 Prß. Verf. -Urkunde: Die Weigerung, den
Eid auf die Verfassung zu leisten, schließt die Befugnis aus, einen Sitz im
Landtag einzunehmen. Sten. Ber. d. Abgh. 1873/74 Bd. I p. 324. — In
England lautet die Eidesformel: „I, — do swear that I will be faithful
and bear true allegiance to His Majesty King George, his heirs and successors,
according to law. So help me God."
464 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
notwendige Folge, und nicht minder ist die notwendige Folge
eine Finanzlage, die dem Lande ungeheure Lasten für die
Verzinsung und Tilgung der Staatsschulden auferlegt, ohne
daß es doch zu einer Abbürdung in nennenswertem Umfang
kommt. Im Deutschen Reich ^) hat ein Budgetrecht, das schon
durch die Verfassung weit weniger eng begrenzt ist wie in
Preußen, das aber unter der Herrschaft eines Wahlrechts und
einer Wahlkreiseinteilung, die die Existenz und die Entwicklung
der Zentrumspartei außerordentlich begünstigt, planmäßig und,
wie gezeigt, oft genug ohne Rücksicht auf das Finanzinteresse
und Finanzbedürfnis erweitert ist, gleichfalls eine schädliche,
auch den Einzelstaaten schädliche Finanzpraxis ermöglicht und,
weil die verbündeten Regierungen aus mancherlei Gründen,
auch wegen des Fehlens hinreichender Kautelen in der Ver-
fassung Bedenken tragen mußten, es auf einen Konflikt an-
kommen zu lassen, zu einer enormen Schuldenanhäufung und
schheßlich zu einer so ernsten Finanznot geführt, daß die
Zukunft des Reiches, seine Stellung als Großmacht
und der Friede, den es unter dem Schutze einer starken
Rüstung geuießt, auf dem Spiele stand 2).
^) Auch im Deutschen Reiche hat der Mangel an finanzpoIitischemWeitblick
und Pflichtgefühl schwere Nachteile nach sich gezogen. Die Verzinsung
der auf den Betrag von 4996,6 Mill. Mark gestiegenen Reichsschuld er-
forderte im Rechnungsjahr 1911/12 eine Summe von 189,6 Mill. Mark. Der
Zinsendienst erforderte gegenüber dem Jahre 1910 ein Mehr von fast 7 Mill.
Mark. In England dagegen seit 1902 oder, wenn man von den Kriegsjahren
absieht, seit Anfang der neunziger Jahre ein nahezu ununterbrochenes Sinken
der Zinsrate; in den beiden letzten Jahren (1909/10 und 1910/11) von 18,2
auf 17,9 Mill. Pfimd (Whitacker 1911 p. 467), Wenn auch angesichts
des gewaltig gesteigerten Reichsbedarfs eine Zunahme der Verschuldung
und der jährlichen Verbindlichkeiten gewiß nicht vermieden werden konnte,
so hätten doch, wäre der Reichstag den Mahnungen und Vorschlägen der
verbündeten Regierungen rechtzeitig gefolgt, alljährlich Dutzende von Milli-
onen an Schuldzinsen erspart werden können. Manche Milliarde — es ist
nicht zuviel gesagt — ist auf diese Weise im Laufe der Jahrzehnte dem
nationalen Wirtschaftskörper entzogen worden und wird ihm in Zukunft
noch entzogen werden. Manche Milliarde, die, im Dienst der
lebendig schaffenden Kräfte des Vaterlandes verwendet, nicht
nur manches dringende Bedürfnis hätte befriedigen, manchen
8ch.weren Steuerdruck hätte vermeiden lassen, sondern auch zahl-
reiche ernste und verhängnisvolle Konflikte hätte fernhalten können, die in
der andauernden und wachsenden Finanzkalamität ihren Ursprung hatten und zu
gefährlichen Zerwürfnissen geführt, der Sache des inneren Friedens, der
Einigung auf das nationale Programm wahrhaftig nicht gedient haben.
*) Wer wollte bestreiten, daß unter dem Gesichtspunkte der finanziellen
Kriegsbereitschaft des Reichs der Reichstag durch die Vernachlässigung
wichtiger Pflichten, die zu einem freien Budgetrecht das un-
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 465
In ruhigem Gleichschritt, in einem ebenmäßigen Gleich-
gewichtszustand, wie er nur bei möglichst weitgehender Aus-
schaltung aller Konfliktsstoffe, bei möglichst weitgehender
Fixierung der Einnahmeerträge und der Ausgabeverpflichtungen
erreichbar ist, sind dagegen Preußen und Großbritannien
durch schwere Zeiten, durch ernste Prüfungen ver-
fassungsrechtlicher Natur, durch bedeutsame
Perioden staatlicher Leistung, dort rüstungspoli-
tischer, hier kultureller un d staatswirtschaftlicher
Natur, hindurchgegangen: ihre Finanzen haben dabei nichts
von ihrer Güte und Solidität verloren, ihr Staatskredit hat
nicht gelitten — die Notwendigkeit, daß der Typus der
preußischen Staatsanleihen allmählich von 3 Prozent auf
4 Prozent gesteigert werden mußte, findet ihre Erklärung vor-
wiegend in der Konkurrenz, die den Staatswerten auf dem
Geldmarkte aus den Pfandbriefen, aus hoch verzinslichen und
dabei gleichfalls sicheren Industriepapieren erwächst — in beiden
Staaten, in dem einen durch eine außerordentlich starke
Schuldentilgung, in dem andern durch Amortisation der Eisen-
bahnkapitalschuld, durch Verbesserung der Staatsrenten i), durch
erläßliche Gegenstück bilden sollten, schwere Verantwortung auf
sich geladen hat? Es darf nur daran erinnert werden, daß im Falle eines
Krieges die finanziellen Opfer mit der Höhe der Verschuldung wachsen, zu-
mal wenn, wie in Deutschland, bis vor kurzem andauernd eine hohe
schwebende Schuld die Situation für die Inanspruchnahme des Geldmarktes
noch verschlimmert. Es darf nur daran erinnert werden, daß die Be-
dingungen der Staatsgläubiger in Deutschland immer schärfer geworden sind,
während z. B. England auch heute noch zu 2^/^ 7o oder 3 7o Anleihen auf-
nehmen könnte ; es braucht nur auf den eklatanten Unterschied der Schulden-
politik Deutschlands und Englands — bei jenem noch unausgesetzt neue
Geldaufnahmen, wenn auch die Anleihbeträge geringer und die Schulden-
tilgungsbeträge größer geworden sind; bei diesem stetige, starke Abzahlungen,
gefördert durch das System der Annuitäten — verwiesen zu werden, und
man wird dann, wenngleich außerstande, die ideellen und materiellen Werte
abzuschätzen, um die das politische und wirtschaftliche Guthaben des
deutschen Volkes durch solche unzureichende Finanzpraxis geschädigt worden
ist, doch soviel zu sagen haben, daß der Reichstag dem Vertrauen, das ihm
seitens der verbündeten Regierungen entgegengebracht wurde, indem sie
auf budgetrechtlichem Gebiete immer neue Zugeständnisse machten, nicht
entsprochen, daß er von der erhöhten Macht, die damit in seine Hände
gelegt wurde, nicht den Gebrauch gemacht hat, den man kraft der Ver-
antwortung, die die deutsche Volksvertretung als gleichberechtigter Teilhaber
an der Gesetzgebung zu tragen hat, erwarten mußte.
^) Vgl. dazu die Aufsätze von Offen berg und Kirchhoff im Bank-
archiv XI. Jahrgang, Nr. 8 ff. (Januar und Februar 1912); ferner zwei Er-
klärungen in Nr. 18 und 23 der Nordd. Allg. Ztg. (Januar 1912),
Zeitschrift für Politik. 6. 30
466 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Zuwachs an werbendem Staats vermögen, ist das finanzielle
Gesamtbild günstiger geworden. Alles in allem ein vollgiltiger
Beweis, daß ein Budgetrecht, je mehr es die Staats-
wirtschaft in einen bestimmten, fest begrenzten
Rahmen einspannt, und im Staatshaushalt, sei es durch
ein stabiles Budget, sei es durch gesetzliche Bindung der Ein-
gänge und Ausgänge, konstante Größen stipuliert, desto ein-
dringlicher und wirksamer die Volksvertretung
auf die Bedeutung geordneter, gesunder Finanzen
für die staatliche Existenz und Kraftfülle hinweist
und ihr dasjenige Maß an Pflichtbewußtsein und Verant-
wortlichkeitsgefühl anerzieht, das allein eine volle Aus-
nutzung der finanziellen Machtmittel im Interesse des Staats-
ganzen auf die Dauer zu gewährleisten vermag.
XVI. Budgetrecht, Regierungsform und Wahlrecht.
Es wäre seltsam, wenn der budgetrechtliche Zustand, der
so innig mit dem Staatsorganismus verwachsen ist, der unter
so zahheichen und verschiedenartigen Gesichtspunkten ein ge-
treues Abbild der das Staats- und das Parteileben beherrschen-
den oder doch bestimmenden Grundsätze und Kräfte, einen
zuverlässigen Maßstab der politischen Reife und des staathchen
Verantwortlichkeitsgefühls darbietet, nicht auch in ein gewisses
Abhängigkeitsverhältnis zu der Regierungsform ge-
bracht würde. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist offenbar am
größten in Frankreich, wo, wie wir gesehen haben, die Exe-
kutive beileibe nicht gegen die Ausführung eines Kammer-
beschlusses über eine Maßnahme der Finanzpraxis sich sperren
darf, sondern sich im Gegenteil mit der Ausführung beeilen
muß, damit nur ja nicht die ,,horreurs de l'anarchie" in be-
drohlicher Nähe erscheinen! So ist es um die Freiheit der
EntschHeßung und Verfügung der parlamentarischen Regierung
bestellt, bei der das Gegengewicht einer weitgehenden Präro-
gative bzw. Machtvollkommenheit der Krone und ebenso das
Gegengewicht einer an bestimmte staatliche Ansprüche und
Leistungen gebundenen Marschroute der Finanzpraxis fehlt.
Parlamentarische Regierungsform ist nicht schon an und für
sich eine Panacee gegen ein gefährUches Budgetrecht und
schlechte Finanzpraxis. Im Gegenteil, wo das parlamen-
tarische Regime in voller Ungebundenheit besteht
und sich betätigen kann, ist die Gefahr schwerer
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 467
Störungen des Staatshaushalts am größten, ist dem
Mißbrauch des Budgetreehts zu poHtischen Zwecken Tür und
Tor geöffnet, und wenn Hätschele und Redlich Englands Bud-
getrecht und Finanzpraxis nicht genug loben können, so wahr-
haftig nicht deshalb, weil in England eine ,, wahrhaft parlamen-
tarische Regierung" besteht. Nicht infolge, sondern vielmehr
trotz parlamentarischer Regierung haben sich in England
Budgetrecht und Finanzpraxis zu vorbildlicher Methode und
Höhe entwickelt. Trotz und geradezu im Widerspiel, in be-
wußtem Gegensatz zu parlamentarischer Regierung, denn ohne
die Autorität der Krone, von deren Anteil an der Regierung
und Gesetzgebung wir, um diesen Tatbestand zu beleuchten,
ausführlich gehandelt haben, ohne die Existenz der Zweiten
Kammer, die nach Herkommen und Beruf die Politik des
Königs vertritt und jederzeit durch ihn die dazu erforderliche
Zusammensetzung erhalten kann^), wäre nach menschlichem
Ermessen — wofern es nicht der Volkscharakter verhindert
hätte — die finanzrechtliche und finanzwirtschaftliche Ent-
wicklung eine ähnhche gewesen wie in Frankreich. Nachdem
die Verfassungskämpfe in England zu gänzlicher Beseitigung
des Vetorechts des Oberhauses gegenüber Finanzgesetzen ge-
führt haben, bleibt immer noch der in dem Träger der Krone
verkörperte politische Machtfaktor ungeschwächt bestehen. Die
letzte Entscheidung bei Streitigkeiten zwischen den beiden
Häusern des Parlaments wird immer beim Könige liegen 2).
Selbstverständlich ist in das Ermessen des Königs gestellt, ob
er von dem Ernennungsrecht Gebrauch machen will oder nicht.
Die nunmehr vollzogene neueste capitis deminutio der Lords
fiel in eine Zeit, in der die Entwicklung der Finanzpraxis seit
langem zu einer wesentlichen Einschränkung der parlamentari-
schen Behandlung der Staatshaushaltsangelegenheiten geführt
hat und der gegenwärtige Zustand in seiner segens-
reichen Bedeutung und seinem praktischen Wert in
ernsten Konfliktszeiten bereits erprobt ist. Ohne Ge-
fahr könnte deshalb auch die weitere von dem Ministerium
Asquith angekündigte Aktion, die die Schaffung eines allge-
^) Vgl. p. 160 Anm. 1.
^) The Constitution possesses in the unlimited power of nominating
peers a well-understood last resource, should the House of Lords persist in
refusing important measures demanded by the representatives of the people."
Encyclopaedia Britannica 9. ed. vol. XL p. 13, 11. ed. vol. XLT. p. 295.
30*
468 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
meinen privilegienlosen Wahlrechts zum Gegenstande hat, in
die Tat umgesetzt werden i).
Hier drängt sich eine bemerkenswerte Perspektive für die
Verhältnisse im Deutschen Reiche auf. Das Wahlrecht,
nach dem der Deutsche Reichstag gewählt wird, ist
sehr viel demokratischer und radikaler als das englische Wahl-
recht, das in jedem Falle an ein bestimmtes Maß von Besitz
gebunden ist und deshalb doch in recht erheblichem Umfange
einen Ausschluß von der Beteiligung an den Wahlen zum
Unterhause bedingt, auch in nicht zu unterschätzendem Maße
das Pluralwahlrecht zugunsten der wohlhabenden Klassen wirkt.
Könnte Deutschland mit derselben Ruhe, mit dem gleichen
Sicherheitsgefühl wie England den Wirkungen seines demo-
kratischen Wahlrechts entgegensehen, wenn sie sich, sei es in
der Gestaltung der Einnahmequellen und Einnahmeverhältnisse,
sei es in der Anordnung der Verwendungszwecke, äußern sollten?
Man braucht die Frage nur zu stellen, um sie sofort dahin zu
beantworten: die deutsche Reichsverfassung gewährt in ihrer
Form nicht entfernt so starke Bürgschaften für den ununter-
brochenen Ablauf der Haushaltsgeschäfte, wie sie in der preußi-
schen Staatsverfassung enthalten sind. Das deutsche Budget-
recht und die Etatspraxis im Reiche sind in wesentlichen
Punkten nach dem französisch-belgischen Vorbild gestaltet, aber
die Übernahme geschah zu einer Zeit, wo kaum jemand an
die ernsten Möglichkeiten gedacht hat, die sich einstellen
können, wenn die Stoßkraft, mit der durch das Reichstags-
wahlrecht die breiten Massen der Bevölkerung ausgerüstet sind,
zu einem dem nationalen Interesse fernliegenden oder ausge-
sprochen feindlichen Zwecke ausgebeutet wird. Eine Reform
des Reichstagswahlrechts im Sinne einer Minderung der Gefahr,
die es unter diesem Gesichtspunkte birgt, hat wohl für solche
Zeiträume, mit denen man füglich rechnen kann, als ausge-
schlossen zu gelten. Um so dringlicher erscheint die Aufgabe,
das demokratische Wahlrecht in seinen Wirkungen zu be-
schränken. Das ist bereits geschehen, zum Teil auch auf bud-
getrechtlichem Gebiete, und gilt da als eine vollkommen selbst-
verständliche Forderung in bezug auf das eine der unentbehr-
Uchen Fundamente unserer nationalen Existenz und Sicherheit:
Armee und Marine sind den aktiven und passiven Einwir-
*) Schwerlich wird indessen die gesetzgeberische Behandlung der Wahl-
rechtsreform vor Erledigung der Homerulefrage erfolgen.
Blum. Budgetrecht und Finanzpraxis. 469
klingen des allgemeinen gleichen und geheimen Wahlrechts
entzogen, sind auch mit dem größten Teil ihres finanziellen
Bedarfs gegen mißbräuchliche Anwendung und schädliche Wir-
kung des demokratischen Wahlrechts durch klare Verfassungs-
bestimmungen sichergestellt. Warum sollte die gleiche Not-
wendigkeit nicht gegenüber dem anderen, kaum minder wich-
tigen Grundpfeiler der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen
Stellung unseres Vaterlandes gegenüber den Finanzen des
Reichs, Anerkennung finden und zur Tat werden! Was würde
damit gewonnen?
XVII. Finanzprobleme der Zukunft und Aufgaben
der Gegenwart.
In den Kämpfen um die letzte Reichsfinanzreform hat
der Vorhang, der die Zukunft der finanzpolitischen Entwick-
lung im Reiche verhüllt, sich etwas gelüftet, und man hat ge-
wisse Vorboten dessen, was kommen kann und wahrscheinlich
kommen w4rd, kennen lernen können. Die indirekten Ein-
nahmequellen des Reiches sind, vielleicht abgesehen von der
Biersteuer und der Tabaksteuer — nachdem die Aussichten
auf Reichssteuermonopole mehr und mehr geschwunden sind ^) —
so gut wie erschöpft. Soll das Reich in einer Zukunft, die
vielleicht nicht minder große und kostspielige Aufgaben bringt
wie die beiden letzten Jahrzehnte, finanziell auf eigene Füße
gestellt werden, soll namentlich — und vom Standpunkte
unserer finanziellen Kriegsbereitschaft und im Interesse der
Entlastung der Zukunft ist es geradezu ein Gebot vaterlän-
discher Pflicht — eine effektive Schuldentilgung großen Stiles,
wie sie England mit bewundernswerter Energie, trotz enorm
gesteigerter Rüstungsausgaben vorgenommen hat, ermöglicht
werden können, so werden die Mittel dazu mit endlicher
Verwirklichung des Finanzprogramms der Reichs-
verfassung vom 16. April 1871 nur durch direkte
Reichssteuern, die große Erträge liefern, vor allem
durch eine allgemeine Reichserbschaftssteuer zu beschaffen sein.
Ohne neue tief einschneidende Eingriffe in die einzelstaat-
lichen Finanzen, ohne neue ernste Gefährdung der Finanzen
der Einzelstaaten und Erschwerung ilirer kulturellen Aufgaben
^) Die vorliegende Arbeit ist im Frühjalii' 1912 abgeschlossen, als an
die Heeresvorlage von 1913 mit ihren neuen Deckungsaufgaben noch nicht
zu denken war.
470 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Wäre diese letzte und entscheidende Maßnahme zur Sanierung
der Reichsfinanzen nicht durchzuführen. Wenn schon in der
Vergangenheit das Budgetrecht des Reichstags gerade da, wo
es seine größte Stärke besitzt, nämhch in der Heranziehung
der Einzelstaaten, seine gefährlichsten von den einzelstaat-
lichen Finanzministern immer wieder mit vollem Recht be-
klagten und beanstandeten Wirkungen ausgeübt hat, sollte da
nicht zu besorgen sein, daß dann das Abhängigkeits-
verhältnis, in dem sich die Gliedstaaten dem Reiche
gegenüber befinden werden, noch einen sehr viel ge-
fährhcheren Charakter annehmen kann? Wenn diese Pro-
bleme spruchreif werden, sollten sie einen nach
dem in England ausgebildeten System der Stabili-
sierung des Budgets geordneten Zustand derReichs-
finanzen vorfinden, einen Zustand, der auf der einen Seite
den finanziellen Ansprüchen des Reiches an die Eiuzelstaaten,
auch hinsichtlich der Einkommensteuer- und Vermögenssteuer-
belastung, ein für allemal eine feste Grenze zieht und anderer-
seits Ausgaben in angemessener Höhe für Schuldentilgung, für
die Zuschüsse zur Arbeiterversicherung, für die Bedürfnisse der
Reichsverwaltung usw. unter allen Umständen festlegt bzw. die
Möglichkeit beseitigt, daß, wie es schon einmal im Reiche vor-
gekommen ist — im Jahre 1908 — durch das Etatgesetz die
gesetzhchen Bestimmungen über Schuldentilgung für die Dauer
eines Rechnungsjahres außer Kraft gesetzt oder etatstechnische
Maßnahmen getroffen werden können, die einer Außerkraft-
setzung der gesetzlichen Schuldentilgungsbestimmungen gleich-
kommen. Jedenfalls erscheint es überflüssig, wenn nicht sinn-
widrig, etwas zu ,,bewilhgen", was nicht verweigert werden
kann. Jedenfalls bezeichnet der Gedanke einer Ausscheidung
und Stabilisierung von Budgetteilen eine fortgeschrit-
tene Form der budgetrechtlichen Praxis, die auch vom
Standpunkte der allgemeinen Staatspolitik sehr beachtenswerte
Vorteile bietet.
Unter der Herrschaft eines demokratischen Wahlrechts
kann auch die Initiative in Geldangelegenheiten schwere
Gefahren für die Finanzen und die Volkswirtschaft zur Folge
haben. In allen Großstaaten gestaltet sich infolge des wach-
senden Finanzbedarfs, insbesondere für Rüstungszwecke, die
Deckungsfrage immer schwieriger. Nicht minder die Frage,
wie eine möglichst angemessene und gerechte Verteilung der
Lasten auf die Steuer- und Abgabenträger erreicht werden kann.
Blum, Budp^etrecht und Finanzpraxis. 471
In die Verhandlungeu darüber werden von den Parlamenten
Motive und Momente hineingetragen, die parteipolitischer Natur
sind und in dieser Richtung, im Sinne eines Parteigrogramms
oder in Wahrnehmung bestimmter Interessen, zur Geltung ge-
bracht werden. Anders zu verfahren ist in konstitutionell-
monarchischen und in parlamentarisch regierten Staaten nicht
möglich, und es ist auch nur billig und zweckentsprechend,
daß das Mandat der Volksvertreter gerade in dieser Beziehung
keiner Schranke unterliegt. Es gibt aber tollkühne Streiche
und waghalsige Experimente auch in der Finanz- und Steuer-
politik. Wenn die deutsche Sozialdemokratie auch heute noch
sämtliche Verbrauchssteuern im Reiche durch direkte Auflagen
auf den Besitz ersetzen will und auch in dieser Form die
finanziellen Bedürfnisse glaubt dauernd und vollständig be-
streiten zu können, so ist das reichlich naiv und ist kurzsichtig
gedacht: die Vermögensbildung in Deutschland würde dann
sehr bald ins Stocken gebracht werden, und wenn schon jetzt,
wo infolge der deutschen Arbeiterversicherung 2500 Mill. Mark
(sehr bald treten die Bestände der Reichsversicherungsanstalt
hinzu !) durch Festlegungen im Bereiche der Arbeiterversicherung
dem allgemeinen Verkehr entzogen sind und Jahr für Jahr
beinahe 1000 Mill. Mark für laufende Versicherungsleistungen
verausgabt werden müssen, wenn also jetzt schon ernste Be-
sorgnisse wegen der wirtschaftlichen Folgen dieser sozialpoH-
tischen Belastung nicht von der Hand zu weisen sind, wie
dann erst, wenn unter dem Schutze und Beistande eines radi-
kalen Wahlrechts die sozialdemokratischen Steuerreformer auf
den bestens gehaßten Kapitalismus losgelassen würden! Am
meisten wäre dabei das mobile Kapital gefährdet, denn die
agrarischen Parteien würden sich, nach den Ereignissen des
Jahres 1909 und nach Erklärungen konservativer Führer
während der Wahlbewegung von 1912 zu urteilen, sicherlich
keinen Augenblick besinnen, sozialdemokratische Angriffe auf
das börsengängige Großkapital nach Kräften zu unterstützen.
Es soll und kann nicht bestritten werden, daß dahinzielenden
Plänen und Absichten eine gewisse Berechtigung innewohnt,
solange man hinsichtlich der tatsächlichen Höhe des Vermögens-
standes und der Vermögensbildung im Dunklen tappt ^). Das
wird anders werden, wenn erst einmal dem Beispiele Preußens,
*) Dazu Abg. Frbr. v. Zedlitz, Sitzung des Prß. Abgb. vom 31. Ja-
nuar 1912.
472 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
das bei seiner neuesten gegenwärtig noch schwebenden Reform
der direkten Steuern verschiedene Maßnahmen zur ge-
rechten Erfassung der Steuerobjekte, u. a. Vermögens-
und Erbschaftsanzeige, in Aussicht genommen hat, die anderen
deutschen Staaten gefolgt sind. So mancher Konflikt, der jetzt
die Parteien in wildester, leidenschaftlichster Erbitterung gegen-
einander kämpfen läßt und das positive Schaffen aufs äußerste
erschwert, würde dann überhaupt nicht aufkommen können.
Aber alle solche Fortschritte in der Richtung steuerlicher
Gerechtigkeit und Selbständigkeit würden mit Hilfe eines
Wahlrechts, das schon heute, falls die im § 5 des Wahl-
gesetzes vom 31. Mai 1869 vorbehaltene Regelung in den in-
zwischen vergangenen 43 Jahren erfolgt wäre, in dem einen
Faktor der Gesetzgebung die Sozialdemokratie ausschlag-
gebend werden lassen könnte, rückgängig zu machen und durch
eine einseitige, nach bestimmten politischen Theorien gestaltete
Steuergesetzgebung zu ersetzen sein, sofern nicht die in der
Verfassung gegebenen Bürgschaften (Artikel 7 RV.) dem ent-
gegenstehen. In jedem Falle würde beim Eintritt eines solchen
Verfassungskonfliktes, der selbstverständlich für die Beurteilung
der Finanzlage des Reichs und seines Kredits nicht ohne nach-
teilige Folgen bleiben könnte, der Umstand nicht ohne Einfluß
bleiben, daß die Möglichkeit einer Ablehnung des Etatgesetzes i)
gegeben ist, womit der Reichshaushalt in wichtigen Teilen und
in großem Umfange in Frage gestellt werden müßte. Es würde
zu weit führen, die Folgen eines budgetlosen Zu-
standes zu schildern. Diese Folgen lägen keineswegs bloß
auf finanziellem Gebiete. Mindestens ebenso bedenklich und
gefährlich wie ein Herabsinken des öffentlichen Kredits
wären die Schädigungen, die der auch so schon recht wenig
befi'iedigende Kursstand der Reichsanleihen erleiden
müßte; aber selbst das wäre ein noch geringes Übel im Ver-
gleich zu der Erhöhung der Kriegsgefahr, die im modernen
Gegenwartsstaat bei ungesunder, dauernd schwieriger Finanzlage,
man möchte sagen, automatisch sich einstellt. Die Ereignisse
der letzten Jahre haben in dieser Beziehung volle Klarheit
gebracht. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß die
Gefahr eines Angriffskrieges für Deutschland dann in bedroh-
lichste Nähe rücken würde, wenn das Reich nicht mehr imstande
wäre, in der finanzieUen Gesamtleistung für Rüstungs- und Ver-
') Vgl. p. 387.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 473
teidigungszwecke mit dem stärksten seiner Gegner im großen
und ganzen gleichen Schritt zu halten. Zu so furchtbaren Kon-
sequenzen vermag schließlich eine Budgetver Weigerung
zu führen, die vielleicht aus mehr oder weniger be-
langlosen Gründen, aus Parteifehde, Oppositionslust
oder Vergeltungstaktik ausgeübt wird. Wenn die liberale
englische Regierung darauf hinweisen konnte, die nach der
Ablehnung des Budgets von 1909^) eingetretene Beeinträchtigung
der Finanzen des Landes sei in Theorie und Praxis eins
der stärksten Argumente gegen das Vetorecht der Lords gegen-
über Geldbills '-^j, wie viel mehr spricht dann gegen die Bei-
behaltung des in dem entscheidenden Punkte unbeschränkten
Budgetrechts im Deutschen Reiche, wo es an einer Sicherheit,
wie sie England in seinem konstanten Budget, Preußen in den
mehrfach erwähnten Verfassungsbestimmungen besitzt 3), gänz-
lich fehlt.
Da das Budgetrecht des Reichstages — darüber ist außer-
halb des übelberatenen Konzerns der Katastrophenpolitiker kein
Streit — ebensowenig beschränkt und eingeschnürt werden
kann wie das Wahlrecht des Reichstages, das seine Voraus-
setzung und Grundlage ist, so bleibt nur übrig, die im Ab-
schnitt XII der Reichsverfassung vorhandenen Lücken
und Mängel zu beseitigen und durch Vorschriften zu ersetzen,
welche die Finanz- und Kreditwirtschaft des Reichs davor be-
wahren, in den Strudel politischer Kämpfe hineingerissen
zu werden. Vielleicht ist für die Lösung der Aufgabe gerade
jetzt die geeignete Zeit. Nach den diesjährigen Wahlen ist
das Zentrum nicht mehr die stärkste Fraktion im Reichstage,
deshalb aber möglicherweise mehr als früher geneigt, einer
Regelung zuzustimmen, die mehr als früher dringlich und not-
wendig erscheint mit Rücksicht auf das bedrohhche Wachstum
der Sozialdemokratie, die andererseits, da lediglich die faktisch
unerläßlichen, die im Ernste überhaupt nicht strittigen
Einnahmen und Ausgaben (selbstverständlich einschließlich
der Friedenspräsenz- und Rüstungsausgaben) festzulegen
wären, zu keinerlei Bedenken Anlaß geben könnte. Gleichzeitig
würde der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die
nach wie vor gegen den Etat stimmt, zum Bewußtsein ge-
0 Vgl. p. 358.
^) Vgl. Eobertson, a. a. 0. p. 578.
') Vgl. p. 372 u. a, m.
474 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
bracht werden, daß sie damit nicht das Geringste ausrichtet,
denn das Etatgesetz, das der Beschlußfassung der gesetzgebenden
Faktoren unterhegt, würde nur noch solche Positionen enthalten,
durch deren Ablehnung der regelmäßige Ablauf der Reichs-
wirtschaft nicht in Frage gestellt werden könnte. Mancher
möchte es gewiß der deutschen Sozialdemokratie gönnen, daß
sie sich jedes Jahr von neuem durch Ablehnung des Budgets
lächerlich macht; ist sie doch deswegen im Jahre 1910 auf
dem internationalen Sozialistenkongreß in Kopenhagen von
Vertretern der englischen Arbeiterpartei weidlich gehänselt
worden. Aber zu hoch steht doch allen einsichtigen und be-
sonnenen Politikern die Sorge für die finanzielle Wohlfahrt
und Sicherheit des Reiches, als daß nicht eine Nebenwirkung
der vorgeschlagenen Regelung, der erzwungene Verzicht
der Sozialdemokratie auf einen Haupt- und Glanz-
punkt ihrer staatsgegnerischenPosition und Agitation,
sehr gern in Kauf genommen werden sollte.
XVIII. Budgetrecht und Fiiianzpraxis im Dienste
des sozialen Ausgleichs.
Solche Regelung würde ähnliche Vorteile wirtschaftlicher
und sozialer Natur gewähren, wie sie in Preußen die Gewiß-
heit an die Hand gibt, daß selbst ein budgetloser Zustand den
ruhigen, regelmäßigen Verlauf des staatlichen und gewerb-
lichen Lebens nicht beeinträchtigen kann. Ein dauerndes Gleich-
gewicht im Staatshaushalt ist von vornherein in Frage gestellt,
wenn Budgetrecht und Finanzpraxis nach dem System der lex
annua gestaltet sind und die Einnahmen aus Steuern, Zöllen
usw. immer nur für die Dauer eines Jahres bewilhgt werden.
Das heißt geradezu mit dem Feuer spielen, das bei
der Beratung des Budgets und bei Gelegenheit finanzpolitischer
Reformen entfacht werden kann. Die gegenwärtigen Zeitläufe
und Zeitumstände aber sind wahrhaftig danach angetan, immer
wieder daran zu gemahnen, daß alles, was nur irgend die all-
gemeine Wohlfahrt zu fördern und staatserhaltend zu wirken
vermag, in den Dienst des Staatsgedankens und der Staats-
interessen gestellt werden muß. Wenn Rodbertus die Forderung
ausgesprochen hat, die V o 1 k s w i r t s c h a f t müsse mehr Staats-
wirtschaft werden, so kann man mit demselben oder viel-
leicht noch größerem Rechte heute sagen: die Staatswirtschaft
kommt einer solchen Entwicklung immer mehr entgegen und
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 475
muß ihr entgegenkommen, weil gegenwärtig nur eine hoch
entwickelte, zu immer höheren Stufen der Arbeitsteilung und
damit der Arbeitsleistung aufsteigende Volkswirtschaft die
ungeheuren Mittel zu gewähren vermag, die eine moderne
Großmacht zur Behauptung ihrer politischen Existenz und zur
Erfüllung ihrer Kulturaufgaben nicht entbehren kann. In
unserm Vaterlande hat die Volkswirtschaft, gestärkt durch den
gesetzlichen Schutz der nationalen Arbeit und begünstigt
durch Bevölkerungs- und Konjunkturverhältuisse, steigende Er-
träge abgeworfen, wie die Entwicklung der Wehrmacht, der
Sozialpolitik und des Nationalvermögens deutlich erkennen läßt.
Aber diese günstige Entwicklung hat auch ihre Kehrseite: sie
ist auf Kosten der inneren Ausgeglichenheit der
Nation und des sozialen Friedens erfolgt, sie hat die
Abstände zwischen den Einkommensklassen erweitert, hat die
breiten Mittelschichten von beiden Seiten her geschwächt und
geschmälert, sie ist mitschuldig an der Verschärfung der
Gegensätze in der Lebensauffassung und der Lebensführung
und hat damit weder staatserhaltend noch sozial ausgleichend
gewirkt.
Damit soll nicht etwa ein Vorwurf erhoben werden ; nach
Lage der Verhältnisse konnten sich andere Konsequenzen nicht
ergeben. Wohl aber ist die Arbeit an der Wieder-
gesundung unserer inneren Verhältnisse gegen-
wärtig die vornehmste staatsmännische Aufgabe,
und diejenige pohtische Partei, die hier die bessernde Hand
anzulegen, hier gesunde Verhältnisse zu schaffen vermag, wird
sich den Ehrennamen der wahren Kulturpartei erwerben, wird
wahrhaft staatserhaltend sein. Bei der Lösung dieser größten
und schwersten sozialen Aufgabe wird der Hilfe der Finanz-
politik und Finanzwirtschaft um so weniger entraten werden
können, als die der Regierung für staatliche Zwecke zur Ver-
fügung zu stellenden Mittel, je schärfer der politische und
wirtschaftliche Wettbewerb der Staaten entbrennt, desto größere
Bedeutung für das Gesamtleben der Nation beanspruchen dürfen.
Soziale Rücksichtnahme un d Fürsorge, sozialeSteuerpolitik
und finanzwirtschaftliche Sozialpolitik werden in
Zukunft noch weit mehr als bisher ineinander greifen und zu
gemeinsamer systematischer Pflege des staatser-
haltenden Prinzips sich verbinden müssen, um von dieser
Seite her den destruktiven Tendenzen entgegenzuarbeiten, die
nicht so sehr den Bestand als die innere Gesundheit des
476 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Staates und das Solidaritätsgefühl seiner Ange-
hörigen bedrohen^).
Die Gerechtigkeit ist und bleibt für alle Zeiten das
fundamentum regnorum. Diesen Grundpfeiler zu erhalten und
zu sichern in einer Zeit, in der der immer schärfer entbrennende
Kampf um Macht und Besitz gewiß manches schwere Unrecht
im Gefolge hat und unvermeidlich werden läßt, das ist eine
der bedeutsamsten Aufgaben der Gegenwart. Und wieder sehen
wir, daß steuerliche Gerechtigkeit und soziale Finanz-
politik da zur Anwendung gelangt sind und Großes
geleistet haben, wo das Budgetrecht der Volksvertre-
tung auf ein bestimmt begrenztes verhältnismäßig
enges Gebiet beschränkt ist: in Preußen sind die unter-
sten Einkommensklassen steuerfrei, sind Einkommensteuer und
Vermögenssteuer degressiv gestaltet 2), sind besondere, die Lei-
stungsfähigkeit des Steuerpflichtigen wesentlich beeinträchtigende
Verhältnisse (größere Kinderzahl, Versicherungsprämie, Beiträge
zu Pensionskassen) in weitem Umfange berücksichtigt. In
England ist der Gedanke des sozialen Ausgleichs im Wege
der Steuerpolitik durch die Beweglichkeit der Einkommensteuer
und durch eine sehr starke steuerliche Heranziehung der Erb-
schafts- und Nachlaß werte verwirklicht 3). Die Ermöghchung
einer Sozialreform großen Stiles war das Motiv! Im Deutschen
Reiche dagegen hat man im letzten Jahrzehnt drei Finanz-
reformen verabschiedet, ohne — was besonders bei der Be-
willigung von rund 300 Mill. Verbrauchssteuern dringend zu
wünschen gewesen wäre — bei der Verteilung der neuen Lasten
das Gebot des sozialen Ausgleichs zu berücksichtigen und die
wohlhabenden Klassen entsprechend zu belasten^). Die ver-
bündeten Regierungen hatten diese Notwendigkeit allerdings
erkannt und ihr in ihren Vorlagen Rechnung getragen, aber
sie mußten schließlich nach dem Worte handeln : video meliora
proboque, deteriora sequor und auf die allgemeine Erbschafts-
steuer Verzicht leisten. Die Zwangslage, in die die Reichs-
') Vgl. p. 167 Anm.
■) In der Steuernovelle von 1912 ist für die Einkommensstufen über
100000 Mark die Erhöhung des Steuerfußes von 4 auf 5 Prozent vorgeschlagen.
") Vgl. Wilson, The national budget, London 1882 p. 130: „We can
teil broadly that no great nation is so lightly taxed as we are".
^) Vgl. aus neuester Zeit die Äußerungen des badischen Ministerpräsi-
denten Frhr. v. Dusch über die politische Bedeutung einer allgemeinen Erb-
schaftssteuer, Verhandl. d. bad. Kammer, Sitzung vom 30. Januar 1912.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 477
regierung sich gedrängt sah, ist vielleicht die schwerste Anklage
gegen den eifersüchtig über seinem Budgetrecht wachenden
und größere budgetrechtliche Macht anstrebenden Reichstag
und die Zusammensetzung des gegenwärtigen Reichstags ein
ernster Hinweis, wohin es führen kann, wenn Budget-
recht und Finanzpraxis dem Staatsganzen und der
Staatsidee sich nicht unterzuordnen wissen, sondern
benutzt werden, um dem Begehr nach parlamentarischer Macht
Befriedigung zu verschaffen oder politische Gegensätze auszu-
tragen.
Schlußbetrachtung.
In allen konstitutionellen Staaten stehen Budgetrecht und
Finanzpraxis in enger und beständiger Wechselwirkung, derart,
daß eine solide, zweckmäßige und erfolgreiche Finanzpraxis
auf ein gutes, seinen Aufgaben und seinem Wirkungskreise
angepaßtes Budgetrecht schließen läßt. Aber welches ist das
beste Budgetrecht? Nicht etwa dasjenige, das denen, die es
zu benutzen haben, in völliger schrankenloser Freiheit zur Ver-
fügung steht und von ihnen, außerhalb seiner eigentlichen und
natürlichen Zweckbestimmung, zu willkürlicher Beeinflussung
der Staatsfinanzen und der Staatswirtschaft in seinen bestimmten
Parteiinteressen, zur Eroberung politischer Rechte oder sonst
zu störenden Eingriffen in das kunstvolle, aber auch sehr
empfindliche Räderwerk des Staatsganzen angewendet werden
kann.
Der Sphäre und der Materie, in der es zu wirken bestimmt
ist, entspricht vielmehr ein Budgetrecht, das eine Gefährdung
der finanziellen Grundlagen des Staatslebens, eine Störung der
Staatswirtschaft und damit auch eine Minderung des Staats-
kredits unter allen Umständen ausschließt.
In welchem Maße ein unter diesen Gesichtspunkten ein-
geschränktes Budgetrecht im parlamentarischen und politischen
Macht- und Meinungskampfe anwendbar ist oder anwendbar
sein darf, darüber entscheidet die verfassungsmäßige
Struktur des Staates. In der demokratischen Republik ist
jede Schranke des Budgetrechts gefallen und den dem Wechsel
unterworfenen parlamentarischen Mehrheiten völlig freie Ver-
fügung über die gesamte öffenthche Wirtschaftsführung und
Finanzverwaltung eingeräumt. Die am Ende der entgegen-
gesetzten Entwicklung stehende Staatsform, die konsequent
478 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
durchgebildete konstitutionelle Monarchie, hat ein Budgetrecht,
das den Bestand des Staates in Frage stellen könnte, nicht
aufkommen lassen, vielmehr für volle Unabhängigkeit und
unantastbare Sicherheit der Finanzwirtschaft im Bereiche der
vitalen Aufgaben und Bedürfnisse der Staatsverwaltung Sorge
getragen.
Auf verschiedenen Wegen gelangen die monarchischen
Großmächte zu einer mehr oder minder wirksamen Sicherung
gegen Überschreitungen und Überschraubungen des
Budgetrechts. Im Deutschen Reiche ist für große Teile des
Heeres- und Flottenbedarfs auch im Falle eines ernsten Kon-
fliktes zwischen Bundesregierung und Volksvertretung die Fort-
dauer der finanziellen Unterlagen gesichert; im übrigen würde,
wenn das Etatsgesetz die Zustimmung des Reichstags nicht
erhält, der Reichshaushalt zum Stillstand kommen müssen. In
Preußen ist in der Verfassung der Fall einer Budgetverweigerung
vorgesehen und die Forterhebung der hauptsächlichsten Staats-
einnahmen sichergestellt. In England ist zu diesem Zwecke,
in freier Entschließung der gewählten und unter Zustimmung
der erblichen Kammer, das konstante Budget geschaffen, durch
das diejenigen öffentlichen Bedürfnisse und Leistungen, die der
Staat zu seiner Existenz nicht entbehren kann und die nicht
strittig sind, dem parlamentarischen Machtbereich entzogen
werden. In allen drei Staaten kommt, aber durchaus nicht
gleichmäßig, in der Staathaushaltsführung und Finanzgebarung
das monarchische Element zur Geltung. Im Deutschen
Reiche auf dem Umwege über den Bundesrat, im europäischen
England durch die Prärogative der Krone (insbesondere Vor-
sanktion und Initiativrecht in Geldangelegenheiten), in Preußen
durch unmittelbare Mitwirkung der Krone bei der Gesetz-
gebung. Allen drei Staaten ist gemeinsam, daß der Herrscher auf
den Gebieten der äußeren und der inneren Politik Einflüsse
auszuüben vermag, die das Budgetrecht in bestimmter Richtung
in Tätigkeit setzen, die Finanzpraxis nach bestimmten Grund-
sätzen und Zielen gestalten und ausnutzen können.
Für die Solidität, Disziplin und Zweckmäßigkeit
der Finanzpraxis kommen verschiedene Momente in Betracht.
Die Finanzpraxis wird sich von vornherein in ruhigen und
geregelten Bahnen bewegen, wenn entweder, wie in Preußen,
der Chef der Finanzverwaltung genügende Autorität und Macht
besitzt, um die Staatsfinanzen und die Steuerkraft vor allzu
großen Ansprüchen, sei es der Regierung, sei es der Parteien
Blum, Bvuljretrecht und Finanzpraxis. 479
ZU bewahren, oder wenn, wie in England, große Teile des
Budgets der jährlichen Bewilligung entzogen sind und im
übrigen die Abgeordneten bei der Vorbereitung des Budgets
beteiligt werden. Das englische System, nicht alle Ein-
nahmen und Ausgaben auf den Etat zu bringen und solche
Forderungen, die schlechterdings nicht verweigert werden
können, gar nicht erst zur Abstimmung zu stellen, hat nicht
bloß den Vorzug der Zeit- und Kostenersparnis; es gibt mit
seinem Grundgedanken, daß im Wechsel der pohtischen Auf-
fassungen und Vorgänge die Staatsfinanzen und die Staats-
wirtschaft der ruhende unverrückbare Pol sein sollen, dem ge-
samten Staatsleben einen außerordentlich schätzenswerten, ja
in Zeiten innerer Krisen nicht genug zu schätzenden Rückhalt.
Das Beispiel, das das englische Parlament gegeben hat,
indem es sich freiwillig eines Teils seines konstitutionellen
Budgetrechts entäußerte, ist ein unwiderleglicher Beweis da-
für, daß es der Finanzpraxis, ihrer Handhabung und Wirkung
nur dienUch sein kann, wenn mit der Möglichkeit einer Er-
schütterung des Staatskredits, mit der Möglichkeit eines Ver-
sagens der öffentlichen Einnahmequellen oder eines Stillstehens
der öffentlichen Bedarfswirtschaft überhaupt nicht zu rechnen ist.
Es ist zu bedenken, daß das europäische England der
Hauptpfeiler eines die Welt umspannenden Staatengebäudes
ist; sein Fall würde eine Reihe aufblühender Staatswesen ihres
stärksten Halts berauben. Gesunde, absolut gesicherte,
in jedem Augenblick aktionsfähige, jeder Eventualität
gewachsene Finanzen sind für England die unerläß-
liche Vorbedingung seiner Weltmachtstellung. Sollten
nicht ähnliche Gesichtspunkte für das Deutsche Reich
bestimmend sein, seine Finanzen auf ein unbedingt sicheres,
unbedingt tragfähiges Fundament zu stellen? Hat einmal das
Deutsche Reich einen Kampf um seine Existenz auszufechten,
dann wird es in der Lage sein müssen, den letzten Mann und
den letzten Groschen einzusetzen. Darf angesichts einer solchen
Perspektive die Möglichkeit vorhanden sein, daß der Haushalts-
bedarf des Reichs vom Reichstag bestritten und verweigert
wird, daß die Volksvertretung, wenn in ihr die demokra-
tischen Parteien die Mehrheit haben, auf eine Steuer- und
Finanzpolitik hinarbeiten, die ganz andere Gesichtspunkte und
Grundsätze als die für jede Großmacht der Gegenwart
gegebenen Staatsnotwendigkeiten — Schutz der Ehre,
480 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
des Staatsgebiets und der Nationalwirtschaft — über die Auf-
bringung und Verwendung der öffentlichen Einkünfte ent-
scheiden lassen würde? Solchen Gefahren muß begegnet
werden, ehe es zu spät ist. Das kann unschwer geschehen,
indem die Lücken und Mängel in den Finanzartikeln
der Reichsverfassung beseitigt und, im Sinne der Be-
stimmung im Artikel 109 der preußischen Verfassung, die er-
forderlichen Ergänzungen hineingebracht, die Wirkungen einer
Ablehnung des Etatgesetzes durch Ausscheidung eines fest-
stehenden, der Bewilligung nicht mehr unterliegenden Budgets
im wesentlichen aufgehoben werden.
Ein solcher Schritt, den das Staatsinteresse und das Gebot
der nationalen Selbsterhaltung fordern, bringt eine Reihe
weiterer Vorteile mit sich, die ihn unter allen Umständen
rechtfertigen. Die Staaten, in denen Budgetkonflikte, wenn sie
noch vorkommen, gefahrlos vorübergehen, weil sie ihre wirk-
lichen oder vermeintlichen Schrecken verloren haben oder ihrer
revolutionierenden, die Fundamente des Staatslebens bedrohen-
den Stoßkraft entkleidet sind, haben übereinstimmend gesunde
Finanzgrundsätze, eine äußerst solide Haushalts-
führung und einen über jeden Zweifel erhabenen öffent-
lichen Kredit aufzuweisen. So seit zwei Menschenaltern die
preußische und die englische Monarchie, wobei die erstere, weil
sie mit den Ansprüchen und Wechselfällen eines übergeordneten
Staatswesens zu rechnen hat, 'die Aufgabe unter schwierigeren
Verhältnissen löst. In Preußen werden sehr bedeutende An-
forderungen der Eisenbahnverwaltung und deren gesamtes Extra-
ordinarium, in England große Teile des Heeres- und Flotten-
bedarfs aus laufenden Mitteln bestritten. In beiden Ländern
allezeit der Grundsatz ausgesprochen und betätigt, daß die
Gegenwart nicht auf Kosten der Zukunft geschont oder ent-
lastet werden darf, in beiden Ländern eine konsequent durch-
geführte effektive Schuldentilgung, beide Länder hinsichtlich
der Sicherheit ihrer Anlagewerte von keinem anderen Lande
erreicht, in beiden Ländern Steuergesetzgebungen, die — in
Preußen u. a. durch das sog. Kinderprivileg, durch die Degres-
sion der Einkommensteuer, durch die Verpflichtung zur Steuer-
erklärung (geplant ferner: Vermögens- und Inventaranzeige!),
in England durch hohe Bemessung des steuerfreien Existenz-
minimums, vor allem durch eine stark progressiv gestaltete
Erbschafts- und Nachlaßsteuer — in hohem Maße soziale
Gesichtspunkte zur Geltung bringen.
Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis. 481
Und schließlich der schlagendste Beweis. Im Deutschen
Reiche setzt, nach einer sehr ausgedehnten Periode höchst
unzweckmäßiger und unheilvoller, ja geradezu unstatthafter
Wirtschaftsführung, die Besserung der Finanzpraxis in
dem Moment ein, als feststehende Faktoren in die
Reichsfinanzwirtschaft hineingebracht, klare Ver-
hältnisse geschaffen, feste Grenzen zwischen ordentlichem und
außerordentlichem Bedarf gezogen, wichtige Entscheidungen
vertrauensvoll in die Hand des Chefs der Reichsfinanzverwaltung
gelegt, kurz, die Parteien des Reichstags durch die Macht der
Verhältnisse zu der Erkenntnis gebracht werden, daß die
Finanzen eines Landes, wenn sie gesunden und gesund
bleiben sollen, vor allen Dingen der politischen
Sphäre entrückt und vor Schädigung durch budgetrecht-
liche Übergriffe geschützt werden müssen. Dazu gehört an
erster Stelle die feste Abgrenzung der finanziellen Be-
ziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten. In der
Thronrede zur Eröffnung des neugewählten Reichstages vom
7. Februar 1912 heißt es: „Die Finanzen haben festen Halt
gewonnen. Auf den Grundlagen bestimmt bemessener
Matrikularbeiträge ist es gelungen, das Gleichgewicht des
Reichshaushalts herzustellen und mit Hilfe der Überschüsse,
die sich ergeben haben, den außerordentlichen Etat zu ent-
lasten." Der hohe praktische Wert und die günstige Wirkung
der im Reiche für fünf Jahre getroffenen Vereinbarung über
den Matrikularbeitrag sind hier ausdrücklich anerkannt. An
zweiter Stelle: Aufrechterhaltung der seit 1910 geltenden ge-
sunden und strengen Finanzgrundsätze: keine Ausgabe
ohne gleichzeitige Deckung! Bestreitung aller Ausgaben nicht
werbender Natur aus ordentHchen Mitteln! Innehaltung der
Schuldentilgungsbestimmungen! An dritter Stelle endhch:
Verzicht auf budgetrechtliche Rechthaberei und Emp-
findlichkeit, Verzicht auf das Verlangen und die leider nur
zu oft begangene Verfehlung, parlamentarische Machtkämpfe
auf dem Boden der Finanzhoheit und Finanzwirtschaft aus-
zuf echten.
Keinem einsichtigen Parlamentarier fällt es auch nur im
Traume ein, die Grundlagen des Militär- und Marine-
wesens umgestalten zu wollen. Darüber zu befinden, über-
läßt er den zuständigen Fachleuten, die die Arbeit eines Lebens
an die Beherrschung der schwierigen Aufgaben gesetzt haben,
die obendrein vermöge ihrer Persönlichkeit und Stellung volle
Zeitschrift für Politik. 6. 31
482 Blum, Budgetrecht und Finanzpraxis.
Gewähr geben, daß sie die ihnen übertragene Verantwortung
recht verstehen und gewissenhaft beachten. Warum sollte es
bei den Finanzen anders sein, die für den Bestand und die
Sicherheit eines Staates ebenso wichtig sind wie Heer und
Flotte! In der Finanzpolitik und Finanzwirtschaft habe die-
jenige Instanz das letzte und entscheidende Wort, die die öffent-
lichen Einkünfte ausschließhch nach sachlichen Gesichtspunkten
zum Wohle des Ganzen behandelt und verwendet; wer sie als
Einsatz benutzen will, um damit parlamentarische Macht zu
gewinnen, der läßt, zum Wohle des Ganzen, besser die Finger
davon.
Budgetrecht und Finanzpraxis gehören nicht
auf den lauten Markt der Parteiinteressen und
nicht auf die Wahlstatt der politischen Macht-
kämpfe, gehören dahin ebensowenig wie Heer
und Flotte, was jedermann als berechtigt anerkennt. Die
Gegenwartsaufgaben der Finanzpolitik, von ähnlicher Bedeutung
wie die der Rüstungspolitik, müssen wie diese von dem ein-
mütigen Willen und Opferwillen der Nation erfaßt und er-
füllt werden.
Zum Stand der politischen Probleme
Zusammenfassende und vergleichende Übersichten
IV.
Die schwedische Verfassung und das Problem der
konstitutionellen Regierung
Von Dr. Otto Hintze
Bei Erörterungen über die Methode konstitutioneller Eegierung hat
man bisher in der Hauptsache immer nur auf der einen Seite England und
die Staaten, die sein parlamentarisches System nachgeahmt haben, und auf
der andern Seite unsere monarchistische Regierungsweise in Preußen und
Deutschland ins Auge gefaßt. Es gibt aber noch einen dritten sehr interes-
santen Typus konstitutioneller Eegierungsart, das ist der schwedische, mit
dem uns eine bequem und gemeinverständlich abgefaßte Schrift des Staats-
rechtslehrers von Lund, Pontus E. Fahlbeck, näher bekannt macht ^).
Pontus Fahlbeck ist in den Kreisen der deutschen Staats- und Rechts-
gelehrten kein Unbekannter. Sein Bestreben, Interesse und Verständnis für
die schwedische Verfassung bei uns und in andern Ländern zu erwecken,
ist nicht ohne Erfolg geblieben. Was seine Arbeiten besonders charakterisiert,
ist einmal die Neigung zu einer historisch-genetischen Erklärung der be-
stehenden Zustände und daneben eine damit in engem Zusammenhang stehende
vergleichende Methode. Beides halte ich für einen großen Vorzug vor der
bloßen juristisch-staatsrechtlichen Behau dlungsweise, die bei uns mehr als in
irgendeinem andern Lande üblich ist. Und so sind denn seine Arbeiten
immer anregend und fruchtbar, auch wenn man ihren Resultaten nicht ohne
weiteres beistimmen kann.
Das vorliegende Buch verdankt seinen Ursprung der Jahrhundertfeier,
deren Gegenstend die schwedische Verfassung im Jahre 1909 gewesen ist.
Es bietet neben einem Text, der die „Eegierungsform" von 1809 mit den
inzwischen vorgenommenen Veränderungen enthält, einen fortlaufenden,
gemeinverständlich gefaßten Kommentar, der hauptsächlich die historische
Entstehung der einzelnen Verfassungseinrichtungen, daneben auch ihre
praktische Bedeutung und tatsächliche Handhabung berücksichtigt. Eine
^) Pontus E. Fahlbeck, Die Eegierungsform Schwedens. Berlin 1911.
Puttkammer & Mühlbrecht. XXXI, 319 S.
31*
484 Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung-
kurze verfassungsgeschichtliche Einleitung orientiert über die Entwicklung
im allgemeinen. Vorausgeschickt ist ein 29 Seiten langes Vorwort an den
deutschen Leser.
Das Buch war ursprünglich für die Landsleute des Verfassers bestimmt.
Wenn es hier nun, zwei Jahre nach dem Jubiläum, in deutschem Gewände
erscheint (wobei übrigens, wie im Vorbeigehen bemerkt werden mag, manches
in der Sprache den deutsch schreibenden Ausländer verrät), so ist dafür ein
doppelter Beweggrund maßgebend gewesen, ein wissenschaftlich-theoretischer
und ein praktisch-politischer. Der Verfasser wünscht der deutschen Literatur
ein Buch zu geben, aus dem man sich zutreffender über die schwedische
Verfassung und ihre Geschichte unterrichten kann, als es bisher auf Grund
des deutschen Buches von Nordenflycht möglich war (die schwedische Ver-
fassungsgeschichte von E. Hildebrand ist ja bisher nicht ins Deutsche über-
setzt) ; er wünscht die schiefen Auffassungen und Beurteilungen zu korrigieren,
die er bei deutschen Autoren bezüglich des allgemeinen Charakters der
schwedischen Verfassung gefunden hat; und er glaubt andererseits in eben
dieser Verfassung denjenigen Staaten des Kontinents, die bisher das monar-
chische Prinzip mit einer konstitutionellen Verfassung vereinigt haben und
auch in Zukunft den Übergang zu einer parlamentarischen Eegierungsweise
nach englischem Vorbild vermeiden möchten, ein Muster aufstellen zu
können, wie bei den wachsenden Machtansprüchen der Volksvertretung der
monarchische und der repräsentative Faktor des Staatslebens in ein gesundes
und haltbares Gleichgewicht gesetzt werden können. Beide Gesichtspunkte
sind interessant genug, um eine kurze Erörterung zu rechtfertigen.
Die schwedische Regierungsform von 1809 ist bei uns öfter als eine
altständisch-aristokratische Verfassung bezeichnet worden; das ist der Haupt-
punkt, in dem der Verfasser die bei uns herrschende Meinung korrigieren
möchte; er spricht der schwedischen Verfassung des 19. Jahrhunderts viel-
mehr einen modern-konstitutionellen und demokratischen Charakter zu. Faßt
man den heutigen Zustand ins Auge, so kann kein Zweifel daran bestehen,
daß er Recht hat. Heute hat Schweden das allgemeine, gleiche, direkte
Wahlrecht, sogar nach dem System der Proportionalwahl, und nichts erinnert
in dem heutigen Zweikammer -Reichstag an altständische Einrichtungen.
Aber dieser Zustand ist das Ergebnis einer säkularen Wandlung. Bis 1866
bestand der Reichstag noch aus den alten vier Ständen (Adel, Geistlichkeit,
Bürger, Bauern), unter denen der Bauernstand nicht ganz gleichberechtigt
imd ebenbürtig dastand; und als mit dem Jahre 1866 das moderne Zwei-
kammersystem an die Stelle dieser veralteten Form der Zusammensetzung
trat, da wurde das aktive wie das passive Wahlrecht an einen ziemlich
hohen Zensus geknüpft, der eigentlich nicht demokratisch anmutet und —
abgesehen von einigen Milderungen — erst in allerjüngster Zeit verschwunden
ist. Die Demokratisierung des Staatslebens und der Verfassung hat sich also
in Schweden, wie in den meisten europäischen Staaten überhaupt, erst im
Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts langsam vollzogen; immerhin aber stellt
die verhältnismäßig starke Vertretung nicht nur des Bürger-, sondern auch
des Bauernstandes schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein bemerkenswertes
volkstümliches Element in dem sonst überwiegend aristokratischen Gefüge
der Volksvertretung dar. Eine Volksvertretung im modernen Sinne ist aber
der Reichstag von 1809 zweifellos; und darum handelt es sich auch, trotz
der ständischen Gliederung, nicht mehr um ein altständisches, sondern um
ein modern-konstitutionelles Verfassungssystem: darin hat Fahlbeck, in der
Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung. 485
Hauptsache wenigstens, Recht. Die wundervolle historische Kontinuität in
der Verfassungsentwicklung, die in Schweden noch greifVjarer als in England
hervortritt, bewährt sich auch darin, daß ein ganz allmählicher Übergang
von der altständischen zu der modern-konstitutionellen Verfassungsform statt-
findet. Man könnte vielleicht sagen, daß der schwedische Reichstag von
1809 bis 1866 eine modern-konstitutionelle Volksvertretung in altständischen
Formen gewesen sei. Ähnlich hat man sich ja auch in Deutschland in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach den Übergang zum Repräsentativ-
system gedacht, nicht bloß üentz und Metternich und später Friedrich Wil-
helm IV., sondern auch Stein und Hardenberg, ja zeitweis auch Dahlmann.
Die ständische Zusammensetzung ist nicht das Entscheidende für den Charakter
der repräsentativen Versammlung, sondern die Tatsache, daß diese Versamm-
lung wirklich verfassungsmäßig das schwedische Volk und nicht bloß die
einzelnen Stände vertritt, daß ihre Mitglieder an kein imperatives Mandat
gebunden sind, daß sie in ihrer Gesamtheit ein einheitliches, verfassungs-
mäßig berechtigtes Staatsorgan darstellen ebenso wie auch der König.
Die Stände haben, als Vertreter des für einen Moment souverän ge-
wordenen schwedischen Volkes, die Verfassung von 1809 entworfen, der
König hat sie einfach angenommen und als Grundgesetz des Reiches ver-
kündigt. Aber weitere Folgerungen sind aus der Volkssouveränetät von 1809
nicht gezogen worden; im Gegenteil: die Regierungsform beruht auf dem
durchgeführten Grundsatz eines vollkommenen Gleichgewichts zwischen der
königlichen Gewalt und der des Reichstags als des Vertreters des schwedischen
Volkes. Dieser „Dualismus" ist ein bezeichnendes Merkmal der schwedischen
Verfassung bis in die Gegenwart; und es ist von großem Interesse, die Spuren
dieses staatsrechtlichen Verhältnisses in die Vergangenheit zurück zu verfolgen.
Der Verfasser hat in einem lichtvollen Vortrage, den er vor Jahren einmal
in einem Ki-eise deutscher Gelehrten gehalten hat, den Gedanken ausge-
sprochen und durchgeführt, daß dieser Dualismus zwischen König und Volk
eigentlich die fundamentale Tatsache der schwedischen Verfassung durch
mehr als 6 Jahrhunderte hindurch gewesen sei, daß die Regierungsform von
1809 diesen uralten nationalen Rechtsgedanken nur in eine zeitgemäße Form
gebracht habe. Es scheint, daß er jetzt diese Vorstellung, die mir gut
begründet zu sein scheint, vdeder beiseite zu schieben sucht, weil sie zu
einem Mißverständnis bei deutschen Gelehrten Veranlassung gegeben hat,
dessen Aufklärung eine etwas nähere Erörterung verdient. Jeder, der sich
mit deutscher Verfassungsgeschichte beschäftigt hat, weiß, welches Gewicht
gerade neuerdings auf die Erscheinung gelegt worden ist, die man als
„Dualismus" zwischen Fürst und Land in der Verfassung der deutschen
Territorialstaaten zu bezeichnen pflegt. Es lag nahe, den „Dualismus" der
schwedischen Verfassung, der durch die Jahrhunderte geht, mit diesem
„Dualismus" des deutschen Territorialstaats gleichzusetzen, und so kam man
■wohl zu der Auffassung, daß die schwedische Verfassung auf einem halb
mittelalterlichen, auf dem Kontinent längst überwundenen Standpunkt stehen
geblieben sei. Man sah wohl in dem offenbaren Dualismus der Regierungs-
form von 1809 ein Überbleibsel des altständischen Systems, wie man es aus
der Geschichte der deutschen Territorialstaaten kannte. Indessen hier zeigt
sich, wie irreführend die Anwendung solcher vieldeutiger Schlagwörter wie
„Dualismus" sein kann. Jede ständische Verfassung ist ja in gewissem Sinne
dualistisch, insofern als es sich überall um die beiden Faktoren „Fürst" und
„Stände" handelt. Aber das Verhältnis dieser Faktoren und die Bedeutung
486 Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Eegierung.
des einen wie des andern kann eine sehr verschiedenartige sein, und über-
haupt faßt der Begriff der „ständischen Verfassung" sehr verschiedenartige
Erscheinungen des Verfassungslebens unter sich. Wir haben uns vielleicht
zu sehr daran gewöhnt, die aus der deutschen Territorialgeschichte abstra-
hierte Vorstellung einer ständischen Verfassung als die Norm anzusehen, der
auch die ständischen Verfassungen anderer Länder und Reiche im großen
und ganzen entsprechen müßten. Aber, staatsrechtlich betrachtet, besteht
ein fundamentaler Unterschied zwischen der ständischen Verfassung der
deutschen Territorialstaaten, etwa des 15. — 17. Jahrhunderts, und der anderer
Eeiche, wie Schweden oder Frankreich oder England. Dieser Unterschied
besteht darin, daß die deutschen Territorien eigentlich gar keine selbständigen
Staaten sind, sondern nur abhängige Bestandteile des Deutschen Reiches,
daß gerade in der Zeit ihrer ausgeprägten Eigenart der Staatsgedanke in
ihnen noch gar nicht lebendig ist, daß er vielmehr durch den Gedanken
einer patrimonialen Herrschaft über Land und Leute ersetzt wird.
Eine patrimoniale Entartung ist nun ja auch bei andern Staaten zeitweis
wahrzunehmen; aber nirgendwo hat sie einen solchen Grad erreicht wie in den
deutschen Territorialstaaten, eben deshalb, weil hier der Gedanke einer höchsten
öffentlichen Gewalt, einer eigentlichen Staatsgewalt, fehlte. Darin wurzelt ja auch
gerade das, was man den Dualismus in der ständischen Verfassung der Territorien
genannt hat. Hier stehen sich eben Fürst und Landstände als zwei Gewalten
gegenüber, die sich noch nicht als Organe einer einheitlichen über ihnen
stehenden Staatsgewalt fühlen. Der Staat selbst ist hier noch etwas Un-
fertiges; er besteht gleichsam aus zwei Hälften, die sich noch nicht zu einem
Ganzen harmonisch zusammengefügt haben. In den größeren, zusammen-
gesetzten Territorialstaaten wurde dieser Gegensatz zwischen Fürst und
Land noch schi-offer dadurch, daß der kollektiven Landeshoheit des Fürsten
eine partikularistische Absonderung der einzelnen territorialen Bestandteile
des fürstlichen Herrschaftsgebiets gegenübertrat. Unter solchen Umständen
hat sich dann besonders leicht der Absolutismus ausgebildet, bei dem die
neue Staatsidee lediglich in der Person des Fürsten lebendig war und die
Überwindung des ständischen Dualismus eine Notwendigkeit wurde. Damit
kam dann in der Regel die patrimoniale Staatsauffassung zunächst auf ihren
Höhepunkt, um erst später, im Zeitalter des sogenannten aufgeklärten Ab-
solutismus, sich im Sinne einer höchsten öffentlichen Gewalt innerlich um-
zuwandeln.
Dieser ständische Dualismus der deutschen Territorien, bei denen es sich
um eine Zerspaltung des Staatsganzen selbst handelt, oder vielmehr um eine
unvollkommene Vereinigung von zwei Hälften eines werdenden Staatsganzen,
ist nun etwas wesentlich anderes als was wir in anderen, größeren und selb-
ständigeren Staatsbildungen mit demselben Namen bezeichnen. Schon im
Deutschen Reiche, das ja auch eine ständische Verfassung hatte, trägt der
offenbar ebenfalls vorhandene Dualismus einen andern Charakter. Das wird
besonders klar, wenn man das Verhältnis zwischen Kaiser und Reich ins
Auge faßt, wie es namentlich seit dem Westfälischen Frieden deutlich hervor-
tritt. Die Idee einer höchsten öffentlichen Gewalt, die Staatsidee also, fehlt
hier keineswegs; nur sind ihre Träger, der Kaiser wie die Reichsstände, durch
die Verflechtung ihrer Stellung mit territorialen Interessen dem Wesen der
Reichsstaatsidee mehi- oder weniger entfremdet. Deutlicher noch tritt der
Unterschied der deutschen Territorien gegenüber einem Reiche wie Schweden
hervor. Hier ist nicht der Staat selbst gespalten, sondern es handelt sich nur
Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung. 487
um einen Dualismus seiner Organe. Über dem König und den Reichsständen
schwebt durch die Jahrhunderte hindurch der Begriff der öffentlichen Gewalt,
des Staates, der in der „Krone" symbolisiert wird. Ganz ähnlich steht es mit
Polen und Ungarn, wo auch die „Krone" als Symbol des Staatsbegriffs er-
scheint und die Person des Königs von dem Begriff der „Krone" prinzipiell
getrennt wird. Der ständische Dualismus ist vielleicht nirgends schärfer in
die Erscheinung getreten, als in Polen, in der Unterscheidung zwischen dem
König und der „Republik" Polen; aber beide sind dem Begriff der „Krone Polen"
untergeordnet; von einer patrimonialen Entartung des Staatsbegriffs ist hier
nichts zu spüren, mag es sonst Entartung aller Art, politische und soziale,
im Übermaße gegeben haben. Ein prinzipieller Unterschied gegenüber dem
Dualismus der deutschen Territorialstaaten ist nicht zu verkennen.
Daß diese östlichen Grenzstaaten der abendländischen Christenheit ein
80 übereinstimmendes Gepräge in den Grundzügen ihrer Verfassung auf-
weisen, daß sie der patrimonialen Entartung der Staatsgewalt weniger ver-
fallen sind, als die höher kultivierten, in den großen Weltbewegungen stärker
angespannten Staaten von Mittel- und Westeuropa, das hängt, wie mir scheint,
zu einem nicht geringen Teil damit zusammen, daß hier im Osten fast ganz
zwei große Faktoren der Staats- und Verfassungsbildung fehlen, die im
Westen wirksam gewesen sind: das Lehnwesen und die monarchistische
Doktrin der Legisten. Das sieht man besonders deutlich, wenn man einen
Staat wie Frankreich ins Auge faßt, das vielleicht am stärksten von diesen
Mächten durchdrungen und umgestaltet worden ist. Auch Frankreich hat
eine ständische Verfassung gehabt, die nicht bloß im Mittelalter, sondern
noch im 16. Jahrhundert zeitweise von großer Lebendigkeit war. Aber von
einem Dualismus in der Verfassung wird man hier nicht gut sprechen können,
weder in dem Sinne, den das Wort für die deutschen Territorien besitzt,
noch in dem, der ihm für Staaten wie Schweden, Polen, Ungarn, oder auch
das Deutsche Reich zukommt. Die fi-üh zur Erblichkeit gelangte königliche
Gewalt war hier im allgemeinen doch immer zu stark, als daß ihr der
ständische Faktor gleichberechtigt gegenübergestanden hätte. Die General-
stände waren ja in Frankreich vielmehr im Grunde ein Instrument der
monarchischen Gewalt. Diese monarchische Gewalt aber beruhte auf der
Verbindung einer oberlehnsherrlichen Stellung mit den Traditionen der alten
öffentlichen Gewalt des karolingischen Königtums. Und während das Lehn-
wesen in Deutschland unter der Einwirkung des Kampfes mit der Kurie zur
Auflösung des Reiches in halb selbständige Territorialfürstentümer führte,
wurde in Frankreich, wo das Königtum meist einen Rückhalt an der geist-
lichen Gewalt fand, durch die rücksichtslose Anwendung des Heimfallsrechts,
im rechten Gegensatz zu dem im Deutschen Reiche herrschenden Leihezwang,
im Laufe des Mittelalters die Hausmacht der Kapetinger allmählich über
das ganze Königreich ausgedehnt und die Oberlehnsherrlichkeit so in eine
direkte Herrschaft verwandelt, die zwar einen starken patrimonialen Zug
trug, aber durch die Verbindung mit der alten öffentlichen Gewalt doch
davor behütet wurde, den staatlichen Charakter jemals ganz zu verlieren.
In der Lehnsverfassung aber lag im Grunde ein Moment, das dem Dualismus
entgegenwirkte. Ob das Königtum von Anfang an in einem gegensätzlichen
Verhältnis zu der Volksgesamtheit gestanden habe, insonderheit bei den
Germanen, ist eine bestrittene Frage. P. Fahlbeck hat sie in einer seiner
früheren Schriften bejahen zu sollen geglaubt; Brunner verneint sie, wie
mir scheint, mit guten Gründen. Aber das steht fest, daß, sobald eine
488 Hintze, Die schwed. Verfassung u. d, Problem der konstitut. Eegierung.
kompakte Aristokratie sich gebildet hat, wie im fränkischen Eeiche schon
im 7. Jahrhundert, ein Gegensatz zwischen dem König und den Großen des
Reiches, die sich mit mehr oder minder Berechtigung als die Vertreter des
Volks betrachten oder ausgeben, vorhanden ist. Das ist eine ganz natür-
liche Entwicklung, die sich überall wiederholt. Es liegt in der Natur mensch-
licher Gemeinschaften, daß herrschaftliches und genossenschaftliches Organi-
sationsprinzip als zwei Gegenpole sich gegenüberstehen. Aller fürstlich-
ständischer Dualismus wurzelt in dieser elementaren Tatsache. Indem nun
im fränkischen Reiche die großen Grundbesitzer und Senioren, die über
waffenfähige Leute geboten, durch das Lehnsverhältnis an den König mit
den Banden persönlicher Treue gefesselt wurden, wurde der natürliche
Gegensatz zwischen dem König und dem von der Aristokratie beherrschten
und geführten Volk, wie er sich in den östlichen Reichen erhielt, hier sehr
bedeutend abgeschwächt. Die Gefahr für die Monarchie in den Lehnreichen
bestand nicht in der Zusammenballung einer kompakten aristokratischen
Opposition, in dem Dualismus von König und Volk (d. h. einem von der
Aristokratie geleiteten Volk), sondern vielmehr in der Absonderung einzelner
großer Vasallen zu selbständigen Herrschergewalten. Wo diese Gefahr wirk-
sam bekämpft wurde wie in Frankreich, da diente das Lehnwesen der
Monarchie zur Stärkung, indem es die mächtigen Elemente des Landes mit
dem Herrscher verband statt sie sich zu einer geschlossenen Opposition zu-
sammenballen zu lassen. Nur wo, wie in Deutschland, die territoriale Ent-
artung durchdrang, bedeutet das Lehnwesen die unheilbare Ohnmacht der
Staatsgewalt. Eigentümlich ist die Entwicklung in England gewesen. Hier
hat das Lehnwesen zunächst zu einer Art von feudalem Absolutismus der
Könige geführt, dem dann 1215 eine Opposition im Sinne der vorfeudalen
angelsächsischen Institutionen entgegentrat. Damit ist auch hier der Keim
zu einem ständischen Dualismus eigener Art gelegt worden, der England
eine Mittelstellung zwischen Frankreich und den Reichen des Ostens anweist.
Neben dem Lehnwesen spielt die Einwirkung der römisch-rechthchen,
kaiserlich -byzantinischen Staatsanschauungen, wie sie durch die Legisten
vermittelt wurde, eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der west- und
mitteleuropäischen Verfassungen. Sie haben das herrschaftliche Prinzip ge-
stärkt auf Kosten des genossenschaftlichen. Auch hier ist das Maximum
dieser Einwirkungen bei Frankreich festzustellen. In Deutschland sind sie
nicht dem Reich, sondern den territorialen Fürstengewalten zugute gekommen.
In England sind sie minder bedeutend gewesen, in den östlichen Reichen
fehlen sie ganz. In diesen östlichen Reichen, auch in Schweden, hat sich
also der Dualismus in der ursprünglichen Form erhalten, die sich heraus-
bildet, sobald eine mächtige Aristokratie dem Königtum entgegentritt. Es
ist ein Dualismus innerhalb des Rahmens des Staatsverbands, der sich mit
der Zeit zu einem Dualismus der Organe des Staats entwickelt. Dieser Art
ist der Dualismus der schwedischen Verfassung von 1809, im Unterschied
von dem Dualismus der deutschen Territorialstaaten des 15. — 17. Jahrhunderts.
Es ist also derselbe Dualismus, den man auch in den konstitutionellen
Verfassungen des 19. Jahrhunderts hat finden wollen: die Zweiheit der un-
mittelbaren Staatsorgane. Prof. Fahlbeck legt besonderes Gewicht auf diesen
Satz, daß der Dualismus ein charakteristisches Kennzeichen der modernen
konstitutionellen Verfassung sei, offenbar geleitet von dem Wunsche, die
schwedische Verfassung, die in einem so eminenten Sinne dualistisch ist, vor
dem Mißverständnis zu bewahren, als ob sie eben deswegen einen mittel-
Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung. 489
alterlich - ständischen Charakter tragen müsse. Man wird die Richtigkeit
dieses Satzes auch zugeben können, vorausgesetzt, daß damit eben nur die
formale staatsrechtliche Tatsache ausgedrückt werden soll, daß in der kon-
stitutionellen Verfassung zwei selbständige, unmittelbare Staatsorgane neben-
einander vorhanden sind, ohne daß das eine von dem andern abgeleitet
oder beherrscht würde. Was nun aber gerade der schwedischen Verfassung
in 80 eminentem Sinne das Gepräge des Dualismus gibt, ist doch noch etwas
anderes; es ist das politische Gleichgewicht der Macht zwischen den
beiden Faktoren König und Volksvertretung, das man hier verfassungsmäßig
festzulegen versucht hat. Eben dadm-ch unterscheidet sich ja die schwedische
Verfassung von allen andern konstitutionellen Verfassungen der Welt. Sie
stellt geradezu sßnen dritten Typus konstitutioneller Regierungssysteme dar
neben dem parlamentarischen nach englischem Muster und dem monarchisch-
konstitutionellen, dessen reinster Vertreter Preußen ist. Bei dem englischen
System besitzt von den beiden Staatsorganen das parlamentarische das Über-
gewicht und zwar in der Gestalt der Majorität des Unterhauses; bei dem
preußischen System hat der monarchische Faktor praktisch durchaus die
Führung.
Der staatsrechtlich-formale Dualismus des konstitutionellen Staates ver-
wandelt sich also hier und in allen ähnlichen Fällen praktisch-politisch in
ein monistisches System: Vorherrschaft des Parlaments auf der einen, der
monarchischen Regierung auf der andern Seite. In Schweden aber will die
Regierungsform von 1809 den formal-staatsrechtlichen Dualismus der kon-
stitutionellen Staatsform auch zugleich zu einem praktisch -politischen Re-
gierungssystem mit genau ausbalanciertem Gleichgewicht der beiden Staats-
organe gestalten; und eben dieses dualistische Regierungssystem ist es, das
Prof. Fahlbeck uns zur Nachahmung empfiehlt. Er meint, daß das Verfas-
sungsleben in Preußen, namentlich nach Durchführung der unumgänglichen
Wahlrechtsreform, infolge der dann zu erwartenden wachsenden Machtan-
sprüche der Volksvertretung vor der Gefahr eines Konflikts stehe. Eine
parlamentarische Regierungsweise hält auch er nicht für geeignet, einmal
wegen der historischen Machtstellung des preußischen Königtums, anderer-
seits wegen der ungesunden Parteiverhältnisse. Eben darum empfiehlt er
das schwedische System, das eine parlamentarische Parteiregierung ausschließe
und der Krone eine würdige und machtvolle Stellung gebe, ohne die Rechte
der Volksvertretung so stark, wie es beim monarchischen Regieruugssystem
geschieht, zurückzudrängen. Sehen wir das schwedische System etwas näher
darauf an.
Es unterscheidet sich von dem uns geläufigen vor allem durch die un-
abhängige, selbständige Stellung des Reichstags. Die ordentlichen Reichstage,
die jetzt Jahr für Jahr gehalten werden, treten nicht auf königliche Berufung,
sondern von selbst, auf Grund der Verfassung, an einem bestimmten
Termin zusammen und können ohne ihre eigene Einwilligung zum zweiten
Mal nicht vor dem Ablauf von vier Monaten aufgelöst werden. Nur
außerordentliche Reichstage werden vom König berufen. Es ist also auf das
deutlichste zum Ausdruck gebracht, daß die Volksvertretung als völlig gleich-
berechtigtes Organ des Staates neben dem König steht, eine Stellung, die
anderswo durch das königliche Recht der Berufung und der Auflösung, in
Preußen auch durch den Eid der Treue und des Gehorsams, den die Ab-
geordneten zu leisten haben, etwas verdunkelt wird. In einem seltsamen
Kontrast damit steht freilich in Schweden die Tatsache, daß die Sprecher
490 Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung.
der beiden Kammern Cwie früher die der einzelnen Stände) vom König
ernannt werden; indessen diese aus der Vergangenheit herübergenommene
Einrichtung beeinträchtigt praktisch die Selbständigkeit und Unabhängigkeit
des Reichstags nicht im mindesten.
Für den wesentlichen Punkt hält Professor Fahlbeck aber die eigen-
tümliche Teilung der Gewalt zwischen Krone und Reichstag, die in der
Regierungsform von 1809 vorgenommen worden ist. Man kann sie kurz so
charakterisieren, daß die Regierungsgewalt dem König zugewiesen ist, die
Gesetzgebung aber im allgemeinen durch die Übereinstimmung der beiden
Faktoren erfolgt, wobei freilich der Kreis dei; königlichen Verordnungs-
gewalt sehr weit gezogen ist (sie umfaßt so ziemlich die ganze innere Ver-
waltung, die sog. „ökonomische Gesetzgebung", ein Begriff, der theoretisch
nicht scharf zu definieren ist, aber praktisch ziemlich genau feststeht) und daß
andererseits gewisse Gegenstände, wie namentlich gewisse Besteuerungs- und
Finanzangelegenheiten, der ausschließlichen Regelung der Volksvertretung
überlassen sind. Von dem Verhältnis der beiden Staatsorgane zur Recht-
sprechung, das manches Eigentümliche bietet, kann hier abgesehen werden;
charakteristisch ist vor allem die doppelte Justizaufsicht durch den Justiz-
minister des Königs und den Justizanwalt des Reichstags; im übrigen ist
auch hier die Rechtspflege in unabhängiger und selbständiger Form organisiert.
Man sieht nun: die Art der Verteilung der staatlichen Funktionen zwischen
Krone und Volksvertretung ist im Grunde nicht sehr stark verschieden von
der, die in anderen konstitutionellen Staaten und auch bei uns in Preußen
und Deutschland überhaupt üblich ist. Der Vergleich mit der amerikanischen
Union, den Professor Fahlbeck wagt, scheint mir doch nicht ganz berechtigt;
nicht etwa, weil es sich in dem eiiien Falle um einen republikanischen Bundes-
staat, in dem andern um einen monarchischen Einheitsstaat handelt, sondern
weil das Prinzip der Teilung der Gewalten ein verschiedenes ist. Eine eigent-
liche „Teilung der Gewalten", d. h. eine prinzipielle Trennung von Regierung
und Gesetzgebung in den Organen, wie sie der amerikanischen Verfassung
zugrunde liegt, findet in Schweden ebensowenig statt wie in England oder
in Preußen. Das Wesentliche ist, daß an der Gesetzgebung Krone und
Reichstag in der Regel beide ihren Anteil haben, wenn auch daneben für
jeden von beiden Faktoren auf diesem Gebiet ein gesonderter Kreis von
Angelegenheiten vorhanden ist, in denen er allein zu entscheiden hat. Durch
das amerikanische Prinzip der Teilung der Gewalten ist allerdings eine
parlamentarische Regierungsweise ausgeschlossen; ob dies aber bei dem
schwedischen System in gleicher Weise der Fall ist, scheint mir doch sehr
zweifelhaft.
Allerdings wird in der Verfassung mit Nachdruck ausgesprochen, daß
nur der König regieren soll. Diese königliche Regierung soll aber nicht von
persönlicher Willkür abhängen, sondern sie muß sich in verfassungsmäßigen
Formen bewegen, die genau vorgeschrieben sind. Keine königliche Regie-
rungshandlung darf vorgenommen werden, ohne daß zuvor der Staatsrat
gehört worden ist. Der Staatsrat ist seit 1840 in der Hauptsache in ein
Staatsministerium umgewandelt worden, vde es auch in andern konstitu-
tionellen Staaten besteht; die frühere Eigentümlichkeit des schwedischen
Systems, wonach die Vorträge im Staatsrat von sachverständigen Staats-
sekretären gehalten wurden, die eigentlich nicht ihm, sondern der Kanzlei
angehörten, während die Staatsratsmitglieder allein die zur Beratung des
Königs dienenden Voten abzugeben hatten, ist seitdem beseitigt; die Minister,
Hintze, Die schwed. Verfassun«? u. d. Problum der konstitut. Regierung. 491
die Mitglieder des Staatsrats und z. T. auch Ressortcbefs sind, halten selbst
den Vortrag. Sie sind aber doch von Ministern, wie wir sie kennen, sehr
verschieden. Während in Preußen der Schwerpunkt der ministeriellen Tätigkeit
in den Fachressorts liegt, in denen die Minister geradezu an der Spitze der
eigentlichen Verwaltung stehen, sind die schwedischen Minister in erster
Linie „Staatsminister"' und fassen alle Beschlüsse koUegialisch; sie haben als
Ressortminister nicht die Selbständigkeit und den engen Zusammenhang mit
den nachgeordneten Verwaltungsstellen, also auch nicht den ausschlaggeben-
den administrativen Einfluß wie die preußischen Minister. Andrerseits ist
die kollegialische Einheit und Geschlossenheit des Staatsrats viel größer, als
die des preußischen Staatsministeriums. Er gleicht in dieser Hinsicht mehr
dem englischen Kabinet. Was ihn von diesem unterscheidet, ist namentlich
die Tatsache, daß er, außer bei gewissen vorbereitenden Sitzungen, niemals
für sich gesondert, ohne den König, in Tätigkeit tritt. Das schwedische
System kennt also weder den „Ressortminister" noch das „Staatsministerium"
nach preußischer Bezeichnung, sondern in der Regel nur das, was man bei
uns „Kronrat" nennt, eine Sitzung des Gesamtministeriums in Gegenwart
des Königs. Und da sehr vieles, was bei uns die Ressortminister in selb-
ständiger Tätigkeit erledigen, bei diesen Sitzungen erörtert wird, so ergäbe
sich für unsere Verhältnisse die völlige geschäftliche Unmöglichkeit eines
derartigen Verfahrens, das die Zeit des Monarchen in übermäßiger Weise in
Anspruch nehmen muß. Wie ist nun die verfassungsmäßige Stellung dieser
Minister? Auch in diesem Punkt hat das schwedische Regierungssystem
Eigentümlichkeiten, die von den Einrichtungen anderer Länder weit abweichen.
Der König ist verfassungsmäßig verpflichtet, den Rat des Staatsrats
einzuholen, aber er ist keineswegs etwa an Majoritätsbeschlüsse des Staats-
rats gebunden. Er entscheidet schließlich nach eigenem Ermessen und unter-
liegt dabei keiner persönlichen Verantwortlichkeit. Die Minister oder Mit-
glieder des Staatsrats werden von ihm berufen und können ebenso von ihm
entlassen werden; sie sind die Männer seines Vertrauens, aber sie sind nicht
schlechthin die Diener und Werkzeuge des königlichen Willens; sie haben
eine verfassungsmäßig gesicherte Stellung schon dadurch, daß sie als ein
Kollegium konstituiert sind, welches bei allen Entscheidungen der königlichen
Regierung gehört werden muß; sie müssen, praktisch wenigstens, auch das
Vertrauen der Volksvertretung besitzen. Man könnte sagen, daß sie noch
immer, wie der alte schwedische Staatsrat, in der Mitte stehen zwischen König
und Volksvertretung, daß sie eine relativ selbständige dritte Macht im Staate
darstellen, wenn dies auch nicht mehr so deutlich vne früher zutage tritt.
Sie sind dem Reichstag für die Regierungshandlungen des Königs verant-
wortlich, und zwar jeder einzelne für sich. Diese Verantwortlichkeit ist in
sehr eigenartiger Weise unterbaut durch das System der Protokollführung
im Staatrate, aus dem die Stellungnahme jedes der Mitglieder zu den ein-
zelnen Regierungshandlungen erhellt. Die Protokollbücher werden regelmäßig
alle Jahre von einem Reiohstagsausschuß durchgesehen, um ein Urteil darüber
zu ermöglichen, wie sich die Minister verhalten haben. Diese Prüfung soll
nach Art. 107 nicht bloß die Gesetzmäßigkeit ihres Verhaltens, sondern auch
ihre Gewandtheit und Regsamkeit im Amte berücksichtigen ; neben der recht-
lichen steht also eine sehr weit gespannte politische Verantwortlichkeit.
Findet der Ausschuß aus den Protokollen, daß sich Mitglieder des Staatsrats
in der einen oder andern Richtung verantwortlich gemacht haben, so wird
im ersten Falle durch den Justizanwalt des Reichstags (eine der schwedischen
492 Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung.
Verfassung eigentümliche Figur, in der ihr Dualismus besonders deutlich
hervortritt, ein Seitenstück zu dem Justizminister der königlichen Regierung)
Anklage gegen die Minister erhoben vor dem eigens zu diesem Zweck vor-
gesehenen Reichsgericht; im zweiten Fall aber, wo es sich um die politische
Verantwortlichkeit handelt, wird dem Reichstag Anzeige gemacht, „und
dieser kann, wenn er findet, daß das Interesse des Reiches es erheischt, an
den König die schriftliche Bitte richten, daß er geruhen möge, den oder
diejenigen, gegen welche jene Anmerkungen gerichtet sind, ihrer Stellen im
Staatsrat zu entheben." Man möchte meinen, daß damit für den Reichstag
die verfassungsmäßige Möglichkeit gegeben sei, alle ihm nicht genehmen
Minister aus dem Amte zu drängen. Der König ist zwar nicht verpflichtet,
einem solchen Verlangen nachzugeben; aber wenn aus seiner Weigerung ein
Konflikt entsteht, so ist es ihm, wie noch gleich näher erhellen wird, un-
möglich, die Regierung ordnungsmäßig weiter zu führen. Das würde also
eine bedenkliche Annäherung an das System der parlamentarischen Regierung
bedeuten. Nun belehrt uns freilich der Kommentar von Prof. Fahlbeck, daß
in der Praxis diese Bestimmung herkömmlicher Weise umgangen wird, daß
die Prüfung der Protokolle in der Regel nur zu einer „Dechargedebatte"
führt, bei der an den Ministern und der Regierung und ihren Maßregeln
eine mehr oder minder schneidende Kritik geübt wird — etwa wie bei
unseren Etatsdebatten. Aber einen letzten Ausweg in außerordentlichen Fällen
bilden die Art. 106 und 107 doch auch heute noch, und so ist ihre Bedeutung
doch nicht ganz aufgehoben. Merkwürdig ist auch die Bestimmung in Art. 38
der Regieningsform über das Verhalten der vortragenden Mitglieder des
Staatsrats bei königlichen Entschlüssen, die mit der Verfassung in Widerspruch
stehen. In diesem Falle haben die Minister natürlich zunächst nachdrück-
liche Vorstellungen zu machen und, wenn diese unbeachtet bleiben, die
verfassungsmäßig notwendige Gegenzeichnung, ohne die der königliche
Befehl rechtlich nicht gültig ist, zu verweigern. Unterlassen sie das, so
machen sie sich verantwortlich nach Art. 106. Tun sie es aber, so müssen
sie zugleich ihr Amt niederlegen, bis der Reichstag entschieden hat, ob sie
Recht getan haben oder nicht. Billigt der Reichstag, der hier also als
Schiedsrichter in einem Konflikt zwischen König und Minister erscheint, ihr
Verhalten, so sollen sie offenbar ihr Amt weiterführen; inzwischen behalten
sie ihre Besoldung imd alle damit verbundenen Rechte. Diese Möglichkeit,
die zweifellos aus den Worten der Verfassung herausgelesen werden muß,
bezeichnet nun freilich Prof. Fahlbeck in seinem Kommentar als eine „wirk-
liche Ungereimtheit", und er weiß sie nicht anders zu erklären, als durch
einen lapsus calami der Gesetzgeber, die eine Bestimmimg, welche offenbar
hauptsächlich auf die alten vortragenden Staatssekretäre der Zeit vor 1840
gemünzt war, nach der Reform der Ministerialverfassung nicht entsprechend
verändert haben. Beachtenswert für den ganzen Geist der Verfassung bleibt
die Bestimmung aber doch. Im Falle eines Konflikts neigt sich die Wage
eben leichter zugunsten der Volksvertretung, als zugunsten des Königtums.
Aber die Befugnis, die Ratgeber des Königs zur Verantwortung zu ziehen
oder zwischen ihnen und dem König in gewissen Fällen zu entscheiden, ist
praktisch betrachtet nicht die stärkste von den Gewalten der Volksvertretung.
Der eigentliche Schwerpunkt ihrer Macht liegt auf dem Gebiete des Staats-
haushalts, der in ähnlicher Weise die Domäne des Reichstags darstellt, wie
es die innere Verwaltung für die königliche Regierungsgewalt ist. Und hier
kommt es natürlich vor allem auf das Besteuerungsrecht an. Zwar belehrt
Hin t z e , Die schwed. Verfassung u. d. Prol)leni der konstitut. Regierung. 493
uns der Kommentar von Professor Fahlbeck, daß die leicht mißverständliche
Bestimmung des Art. 57: „das uralte Recht des schwedischen Volkes, sich
selbst zu besteuern, wird vom Reichstage allein ausgeübt" nicht so aufzu-
fassen ist, als ob sie sich gegen den König richte, daß vielmehr dadurch
nur die Mitwirkung von Landschaftsversammlungen und Reichstagsausschüssen
ausgeschlossen werden soll. Der König hat ein Recht auf die alten ordent-
lichen Steuern, die später sogenannten Grundsteuern, die unabhängig von
Reichstagsbewilligungen erhoben werden. Aber da diese Steuern neuerdings
bis auf das unbedeutende „Kopfgeld" aufgehoben worden sind, so handelt
es sich praktisch doch in der Hauptsache nur um neue Steuern, die allein
von der Bewilligung des Reichstags abhängen, und diesen werden auch
Zölle, Akzise, Post-, Stempel- und andere Einkünfte zugerechnet; nur hin-
sichtlich der Getreidezölle steht dem König das alleinige Recht der Erhöhung
und Erniedrigung zu — ein merkwürdiger Überrest der ehemals sehr weit
ausgedehnten „ökonomischen Gesetzgebung" aus der Zeit des Merkantilsystems.
Der Etat wird zwar von der Regierung aufgestellt, aber für Deckung der
vorgeschlagenen Ausgaben zu sorgen bleibt der Erwägung des Reichstags
überlassen — was dessen Macht, Arbeitslast und Verantwortlichkeit natürlich
gegenüber unseren Parlamenten stark erhöhen muß. Man sieht auch aus
dem Kommentar von Professor Fahlbeck, daß die Budgetverweigerung als
eine unwiderstehliche Waffe der Volksvertretung gegenüber der Regierung
betrachtet wird, und daß die königliche Regierungsgewalt nur soweit reicht,
wie der gute Wille des Reichstags es gestattet. Bei einem Konflikt behält
der Reichstag kraft seines Budgetrechts die Oberhand. Verschärfend wirkt
hier die Bestimmung des Art. 61, daß die Abgaben nur bis zum Schluß des
Jahres zu entrichten sind, in dessen Verlauf die Bewilligungen vom Reichs-
tage aufs neue festgestellte werden — eine Bestimmung, die in recht scharfem
Kontrast gegen die der preußischen Verfassung steht, wonach die Steuern
forterhoben werden, bis sie durch Gesetz geändert sind. Praktisch findet
das allerdings in Schweden auch statt bei den Einkünften aus Zöllen, Akzise,
Post usw. (seit 1853/54), aber die eigentlichen Steuern, namentlich auch die 1902
und 1909 hinzugekommenen Einkommens- und Vermögenssteuern, müssen
alljährlich neu bewilligt werden. Kommt das Budgetgesetz nicht rechtzeitig
zustande, so wird auf den Etat des vorigen Jahres und die darin bestimmten
Einkünfte zurückgegriffen. Das ist ein Bollwerk gegen Mißbrauch des Budget-
rechts.
Die Armee, die durch ein von König und Reichstag erlassenes Gesetz
1901 auf die neue Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht mit verlängerten,
aber nach unseren Begriffen sehr kurzen Dienst- und Übungszeiten gestellt
worden ist, hat eine ganz andere verfassungsmäßige Stellung wie in Preußen.
Sie ist nicht durch Eid an die Person des Monarchen gebunden, allerdings
auch nicht auf die Verfassung vereidigt. Ähnlich steht es mit dem Beamtentum.
Nirgends schreibt die Verfassung einen Diensteid vor und er existiert auch
in der Tat nicht. Darin zeigt sich ein sehr tiefgreifender Unterschied
gegenüber den kontinentalen Staaten, der in der ganzen Vergangenheit wurzelt.
Die Stärkung der monarchischen Gewalt, die in den Institutionen des Lehn-
wesens und in der Einwirkung römisch-byzantinischer Ordnungen und Ideen
beruht, fehlt eben in Schweden. Der uralte Gegensatz von Königs- und
Volksgewalt hat in der Regierungsform von 1809 zu einer reinlichen Schei-
dung zwischen beiden und zu einer Verteilung der Gewalten geführt, die
ein Gleichgewicht zwischen ihnen begründen soll.
494 Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung.
Aber dieses Gleichgewicht, obwohl es sich ein Jahrhundert hindurch
im wesentlichen unverändert erhalten hat, scheint doch von ziemlich labilem
Charakter zu sein und keineswegs, wie Prof. Fahlbeck meint, ein Bollwerk
gegen die Gefahr des Parlamentarismus darzubieten. Die Neigung zum
Übergewicht des parlamentarischen Faktors ist nach dem ganzen Geiste der
Verfassung so groß, daß eine Beeinflussung der Eegierung durch die Parla-
mentsmajoritäten kaum ausbleiben kann. Es hat nur bisher in der Wind-
stille des politischen Lebens, in der sich Schweden ein Jahrhundert hindurch
befunden hat, an einem kräftigen Anstoß dazu gefehlt. Aber die neueste
Wendung in der Entwicklung der schwedischen Verfassung scheint ein Hin-
übergleiten in die Bahnen parlamentarischer Regierungsweise einzuleiten.
Im vorigen Herbst (1911), wo zum erstenmal die Wahlen nach dem allge-
meinen Stimmrecht stattfanden, ist die konservative Partei, die bisher ge-
wohnheitsmäßig die Minister stellte, der Koalition von Liberalen und Sozial-
demokraten erlegen, und die Folge war, daß alsbald an die Stelle des kon-
servativen ein liberales Ministerium trat. Das ist noch nicht parlamentarische
Regierungsweise, aber es ist der Anfang dazu. Es ist zwar richtig, was
P. Fahlbeck einmal hervorhebt, daß die vollkommene Gleichberechtigung der
beiden Kammern des Reichstags die Möglichkeit ausschließt, daß die Majorität
der zweiten Kammer zum Sitze der eigentlichen Gewalt im Staat werden
könne (im Fall einer Meinungsverschiedenheit zwischen beiden Kammern
entscheidet die Mehrheit der beiden vereinigten Körperschaften) — aber,
wenn die Mehrheit eine gewisse Größe erlangt, so könnte das doch der Fall
sein; denn die erste Kammer zählt nur 150 Mitglieder, die zweite dagegen 230.
Die Schwankung zum parlamentarischen Regierungssystem, die in den Vor-
gängen aus dem Herbst des Jahres 1911 liegt, hat Prof. Fahlbeck noch nicht
berücksichtigen können; es scheint aber, daß die neueren Reformen, und
namentlich die Reform des Wahlrechts ihn schon mit einer Ahnung des Bevor-
stehenden erfüllt hat; auf Seite 157 finden wir die Bemerkung: „Ob dennoch
faktisch Verschiebungen in dem Verhältnis der beiden Staatsmächte König
und Reichstag infolge dieser Reformen eingetreten sind oder eintreten werden,
hängt wesentlich von der Persönlichkeit des Monarchen ab."
Damit ist allerdings ein Moment von großer Bedeutung berührt, das
die Regierungsweise oft mehr bestimmt hat als die Artikel einer Verfassung.
Im allgemeinen wird man sagen dürfen, daß parlamentarische Regierungs-
weise durch die modernen Verfassungen weder eingeführt noch ausgeschlossen
wird. Es ist ein Ergebnis des praktischen Staatslebens, nicht eine staats-
rechtliche Institution. Nur von der amerikanischen Verfassung darf wohl
gelten, daß sie das parlamentarische Regierungssystem prinzipiell ausschließt.
Bei der schwedischen Regierungsform von 1809 ist das doch nicht in ganz
gleichem Maße der Fall. Die Teilung der Gewalten ist dazu nicht scharf
genug durchgeführt. Der Dualismus zwischen Krone und Volksvertretung
schafft nur ein labiles Gleichgewicht, bei dem die parlamentarische Gewalt
leicht ins Übergewicht kommen kann; charakteristisch ist auch schon die
Bezeichnung, die Prof. Fahlbeck selbst dem schwedischen System gibt:
„dualistischer Parlamentarismus". Das Übergewicht des parlamentarischen
Faktors kommt darin doch auch schon zum Ausdruck. Ein Bollwerk gegen
den Parlamentarismus ist diese Verfassung keineswegs.
Aber auch wenn sie es wäre, so würde doch kaum daran zu denken
sein, sie auf dem Kontinent und namentlich in Preußen nachzuahmen. Man
muß sich eigentlich wundem, daß ein so historischer Kopf wie Prof. Fahlbeck
Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Kegierung. 495
auf diesen Gedanken gekommen ist. Sein ganzes Buch ist ja doch ein Be-
weis für die Tatsache, daß die schwedische Verfassung des 19. Jahrhunderts
auf einer eigenartigen historischen Grundlage ruht, wie sie anderswo nicht
vorhanden ist. Das schwedische Königtum ist aus der altgermanischen Königs-
gewalt hervorgewachsen, einem patriarchalisch-volksfreien Urkönigtum, dem
der genossenschaftliche Gegenpol irgendeiner Art von Vertretung der Volks-
gemeinde niemals gefehlt hat. Der Reichstag, wie er seit dem IB., 17. Jahrhundert
erscheint, in seinen altständischen Formen, hat zugleich die Bedeutung, das
Instrument zur Vollendung der Staatseinheit zu sein, die anderswo, z. B. gerade
in Previßen, lediglich dui-ch die Krone im Gegensatz zu den Provinzialständen
herbeigeführt worden ist. In der ständisch-aristokratischen Monarchie Gustav
Adolfs war der monarchische Faktor zwar nicht gerade verfassungsmäßig,
aber moralisch -politisch der überwiegende. Nach seinem Tode trat der
Dualismus stärker hervor. Karl XL gründete dann 1680 den Absolutismus;
aber diese Regierungsform hatte nicht die Existenzberechtigung in Schweden,
die ihr anderswo zukam, wo sie die große Mission der Herstellung der Staats-
einheit und einer militärisch -politischen Großmachtsstellung erfüllt hat, wie
in Preußen. Daher der jähe Rückschlag nach dem Tode Karls XU., der
Parlamentarismus der sogenannten Freiheitszeit (1720 — 72), bis nach einer
monarchischen Reaktion unter Gustav III., der zwar den parlamentarischen
Faktor nicht gänzlich ausschaltete, aber ihn doch zu einer Stellung herab-
drückte, die den geschichtlichen Traditionen nicht entsprach, 1809 die end-
gültige Synthese der beiden auseinandergetretenen und in Widerspruch mit-
einander geratenen Staatsmächte, Krone und Reichstag, in der noch jetzt
geltenden dualistischen Regierungsform hergestellt wurde. Prof. Fahlbeck
hat ganz recht darin, daß diese Regierungsform gewissermaßen der staats-
rechtliche Niederschlag der ganzen schwedischen Verfassungsgeschichte ist;
aber eben deshalb paßt das Prinzip, auf dem sie beruht, nicht für andere
Länder mit anderer Geschichte und anderer Machtverteilung zwischen Krone
und Volksvertretung, ganz besonders nicht für Preußen.
Die königliche Gewalt in Preußen ist eine Fortsetzung der territorialen
Fürstenmacht und ist wie diese auf einem von Feudalismus durchwühlten
Boden gewachsen und später an dem Beispiel römisch-kaiserlicher Macht-
vollkommenheit direkt oder indirekt gestärkt worden. Sie hat im Zeitalter
des Absolutismus ihren unvertilgbaren Charakter empfangen; sie ist damals
der alleinige Schöpfer des Großstaats gewesen unter Ausschluß der im Pro-
vinzialpartikularismus steckenbleibenden Stände. Sie hat das Heer und das
Beamtentum geschaffen als Werkzeuge monarchischer Staatskunst, und wenn
beide später auch eine gesetzliche Basis erhalten haben, so tragen sie doch
noch heute einen wesentlich stärkeren monarchischen Charakter als in Schweden,
ganz besonders das Heer, das allein auf den obersten Kriegsherrn vereidigt
ist. Der genossenschaftliche Gegenpol der starken Herrschergewalt ist in
diesem Militär- imd Beamtenstaat einigermaßen verkümmert; die Selbst-
verwaltung ist nur eine Ergänzung der im wesentlichen bureaukratischen
Verwaltungsorganisation, und die Volksvertretung ist eigentlich auch mehr
nur eine Ergänzung der monarchischen Staatsordnung als ein wirklich ganz
gleichberechtigtes selbständiges Staatsorgan neben der Krone. Man kann
diese Verkümmerung des genossenschaftlichen Prinzips bedauern; eine ihrer
bösesten Folgen ist die abnorme Entwicklung der Sozialdemokratie, die gerade
deswegen bei uns stärker und staatsfeindlicher ist, als in irgendeinem andern
Lande. Aber man wird nicht glauben dürfen, daß sich ein solches Verhältnis
496 Hintz e, Die schwed. Verfassung u. d. Problem der konstitut. Regierung.
durch eine einfache gesetzgeberische Aktion von Grund auf verändern läßt.
Dem Freiherrn von Stein schwebte eine Staatsordnung vor, die zwar nicht
dualistisch war, aber dem genossenschaftlichen Organisationsprinzip einen viel
breiteren Spielraum gewährte; aber seine Ideen sind damals nur zum kleineren
Teil durchgedrungen, und der Ausbau der Selbstverwaltung hat erst statt-
gefunden, als die Königsmacht unzweifelhaft als erster und grundlegender
Staatsfaktor sich behauptet hatte. Auf diesen Voraussetzungen beruht das
monarchisch-konstitutionelle Regiment in Preußen. Ich glaube nicht, wie
viele meinen und wie es Hatschek noch jüngst ausdrücklich formuliert hat,
daß diese Regierungsform nur ein Übergangszustand zwischen Absolutismus
und Parlamentarismus ist, und ich befinde mich dabei in Übereinstimmung
mit Prof. Fahlbeck. Ich habe vor kurzem an einem andern Ort ausgeführt,
daß das monarchisch-konstitutionelle Regiment in Wahrheit eine Fortent-
wicklung des aufgeklärten Absolutismus ist und daß es daher für Preußen
ebenso das staatsrechtlich-politische Ergebnis seiner ganzen Geschichte dar-
stellt wie der Dualismus der Regierungsform von 1809 für Schweden. Dabei
ist aber noch ein Gesichtspunkt von allergrößter Wichtigkeit geltend zu
machen, der eine Übertragung des schwedischen Systems nach Preußen und
Deutschland völlig als Unmöglichkeit erscheinen läßt.
Warum hat sich denn in Preußen das herrschaftliche Prinzip auf Kosten
des genossenschaftlichen so überaus stark ausgebildet? Mit anderen Worten :
warum ist Preußen ein Militär- und Beamtenstaat von solcher Härte und
Schroffheit geworden? Ist es eine Despotenlaune der Herrscher, was dazu
geführt hat? Ist es Mangel an Freiheitssinn oder angeborene Disziplin bei
den Untertanen? Niemand, der die preußische Geschichte kennt, wird das
behaupten wollen. Es ist vielmehr ganz klar, daß es sich um eine historisch-
politische Notwendigkeit handelt, die aus der Lage Deutschlands und Preußens
in der Mitte des Kontinents, zwischen den größten europäischen Militär-
mächten, hervorgeht und aus dem ganzen Geist der europäischen Politik
seit den Tagen Macchiavellis. An dieser Stelle und unter diesen Umständen
konnte sich nur ein Staat als selbständige Macht bilden und behaupten, der
ganz straff militärisch imd bureaukratisch organisiert war. Der Druck, den
die Nachbarn auf die Grenzen ausübten, gestattete hier nicht den Luxus
„freiheitlicher" Institutionen, Polen, in ähnlicher Lage, ist durch sein Übermaß
von „Freiheit" politisch zugrunde gegangen. Und diese allgemeine politische
Lage, die für die Verfassungsform der Staaten schließlich maßgebend ist,
besteht bekanntlich noch heute und zwar in verstärktem Maße. Der schwedische
Dualismus, den uns Prof. Fahlbeck empfiehlt, würde, wenn er überhaupt
haltbar wäre, uns bald dazu veranlassen, aus der Reihe der Großmächte
auszuscheiden. Ich weiß nicht, ob das Bewußtsein davon dem schwedischen
Gelehrten bei seinem Vorschlage lebendig gewesen ist. Was sein Vaterland
selbst anbetrifft, so hat er sehr wohl eingesehen, daß die Herstellung der
gepriesenen dualistischen Staatsform Schweden seine Großmachtstellung ge-
kostet hat. Wir können ruhig sagen: eine solche Staatsform ist überhaupt
nur in der pohtischen Windstille haltbar, in der Schweden seit 1809 gelebt
hat; sie schließt den Verzicht auf eine Großmachtstellung in sich, weil die
gegenseitige Hemmung der beiden Staatsorgane zu stark ist, als daß außer-
ordentliche militärische und finanzielle Anstrengungen, wie sie eine Groß-
machtpolitik mit sich bringt, auf dem verfassungsmäßigen Wege zu erreichen
sein würden. Das schwedische Volk scheint in dieser Hinsicht etwas anders
gestimmt zu sein, als seine verfassungsmäßigen Vertreter, mit denen die
Hintze, Die schwed. Verfassung u. d. Problem derkonstitut, Regierung. 497
Krone einen Konflikt offenbar scheut. Der kürzlich vom Reichstag abge-
lehnte Bau eines Kriegsschiffes ist durch freiwillige Sammlungen ermöglicht
worden. Das ist ehrend für den öffentlichen Geist, a1)er es enthält eine herbe
Kritik der vielgerühmten Verfassung. Mit der amerikanischen kann die
schwedische Verfassung auch in dieser Hinsicht nicht verglichen werden; der
Dualismus zwischen Präsident und Kongreß findet in Amerika seine Lösung
in dem Willen des souveränen Volkes, aus dessen Wahlen das eine wie das
andere Staatsorgan hervorgeht, und zwar in einer Weise, die bei einer vor-
handenen Meinungsverschiedenheit einen baldigen Ausgleich ermöglicht. Der
schwedische Dualismus ist infolge der Selbständigkeit des erblichen König-
tums ganz anderer Natur. Sollte Schweden einmal in einen Kampf um seine
Lebensinteressen oder gar um seine Existenz verwickelt werden, so würde
sich diese Verfassung schwerlich behaupten können. Die Geschichte lehrt,
daß solche Kämpfe nur durch eine starke Staatsgewalt mit einheitlicher Spitze
durchgeführt werden können: in der fi-anzöschen Revolution treten in der
Stunde der Gefahr und der gi-oßen Unternehmungen die Verfassungsexperimente
zurück vor der Diktatur des Konvents und später Napoleons. In England
schuf die Thronveränderung von 1688 und die Declaration of Rights von 1689
ein ähnliches dualistisches Gleichgewichtsverhältnis zwischen Krone und Par-
lament, wie es in Schweden besteht; aber die großen Kämpfe mit Frankreich
während des 18. Jahrhunderts gaben erst dem König Wilhelm HI. und später
den Ministern der hannoverschen Könige entschieden die Führung; die Minister-
herrschaft, wie sie die beiden Pitt zwischen Krone und Parlament geführt hatten,
ging dann im 19. Jahrhundert in das moderne parlamentarische System über, das
den Dualismus völlig überwunden hat. In Preußen war es die große Frage der
Militärreform, die 1862 — 66 den Verfassungskonflikt hervorrief und das Über-
gewicht der Krone endgültig feststellte; mit einem dualistischen Regierungs-
system wie in Schweden wäre weder 1866 noch 1870 möglich gewesen.
Preußen und Deutschland würden ihre politische Stoßkraft einbüßen, wenn
sie heute dazu übergehen würden ; und aus diesem Grunde ist der Vorschlag
des schwedischen Verfassers für uns überhaupt nicht näher diskutabel.
Praktisch-politisch also hat das Buch für uns nicht die Bedeutung, die
der Verfasser ihm geben möchte; wohl aber ist es wissenschaftlich, wie noch
einmal hervorgehoben werden mag eine sehr wünschenswerte Bereicherung
unserer Literatur, für die wir alle Ursache haben dankbar zu sein.
Zeitschrift für Politik. 6. 32
V.
Die Mischehenfrage in den deutschen Kolonien
Von Dr. Eduard Hub rieh
Zu den interessantesten Problemen der deutschen Kolonialrechtswissen-
schaft gehört unbestreitbar die Mischehen frage. Sie empfiehlt sich um so mehr
als Gegenstand rechtswissenschaftlicher Untersuchung, als sie bereits wieder-
holt in recht abweichendem Sinne ausfallende Behandlungsversuche erfahren
hat. Eine interessante Übersicht über die verschiedenen bisher zum Thema
geäußerten Ansichten samt einem neuen Lösungsversuch gibt im Oktoberheft
der „Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht tmd Kolonial Wirtschaft",
Jahrgang 1912, Karl von Stengel in seinem Aufsatz: „Zur Frage der jVIisch-
ehen in den deutschen Schutzgebieten"'). Ohne daß sich jedoch behaupten
ließe, daß hierdurch die Streitfrage rechtswissenschaftlich erledigt wäre! Die
Situation für die Praxis beleuchten aber namentlich zwei Momente aus neuester
Zeit. Am 8. Mai 1912 hat der Eeichstag eine Resolution angenommen: „die
verbündeten Regierungen um Einbringung eines Gesetzentwurfs zu ersuchen,
welcher die Gültigkeit der Ehen zwischen Weißen und Eingeborenen in allen
deutschen Schutzgebieten sicherstellt". Airf der anderen Seite hat der süd-
westafrikanische Landesrat in der Sitzung vom 14. Mai 1912 folgende vom
Gouverneur gebilligte Entschließung angenommen: „der Landesrat bittet das
Kaiserliche Gouvernement, dafür eintreten zu wollen, daß alle bis zum Jahre
1905 geschlossenen Mischehen anerkannt werden, da, wo nach Beurteilung
des zuständigen Bezirksrates das Leben der Eltern und die Erziehung der
Kinder den allgemeinen Anforderungen an Sitte und Moral entsi^richt. Den
Betroffenen soll eine diesbezügliche Bescheinigung gegeben werden, die 68
ausspricht, der oder die soundso gilt weiß. Es ist dafür zu sorgen, daß den
als Weiße anerkannten Personen ihre Rechte gesetzlich garantiert werden.
Für die Zukunft ist jede Ehe zwischen Weiß en und Einge-
borenen aufs strengste zu verbieten. Der Landesrat sieht in einer
weiteren Heiratserlaubnis zwischen Weißen und Eingeborenen eine direkte
schwere Gefahr für die weitere Entwicklung des Deutschtums, hält es auch
nicht für ausgeschlossen, daß in solchem Falle eine Rückwanderung bester
und schätzbarer Kolonistenelemente zu erwarten sein würde. Der Landesrat
0 S. 738 f. Manche der zum vorliegenden Thema lautgewordenen Stimmen
haben geringen wissenschaftlichen Wert, weshalb hier die summarische Ver-
weisung auf die Übersicht von Stengels genüge. Hervorgehoben sei Fleisch-
mann in Zeitschrift für Kolonialpolitik XII, 1910 S. 83 f.; Verhandlungen
des Deutschen Kolonialkongresses 1910 S. 548 f.; Jahrbuch über die deutschen
Kolonien V, 1912 S. 58.
Hub rieh, Die Mischehenfrage in den deutschen Kolonien. 499
bittet um telegraphische Übermittlung dieser Resolution an das Reichs-
kolouialaint" ').
Daß dieser auf voller Lokalkenntnis beruhenden Entschließung des
Landesrats der Vorzug gegenüber der von verwässerter Humanitätsschwärmerei
diktierten Reichstagsresolution, welche die schon sich anmeldende Kalamität
der Mischehenfrage in den deutschen Kolonien verewigen möchte, gebührt,
wird vom Standpunkt praktischer Reichspolitik nicht zu bezweifeln sein. Mit
Recht ist auch noch zur Verstärkung der in der Entschließung des Landes-
rats gegen die Mischehen vorgebrachten Gründe darauf hingewiesen worden,
daß gerade das Interesse der sich in erfreulicher Weise mehrenden, weißen
Kolonistenfrauen in Zukunft das Verbot der Mischehen nötig mache. Schon
nach dem Eingang der Reichsverfassung gehört es zu den ersten verfassungs-
mäßigen Aufgaben der Reichsgewalt, Kulturpflege im Interesse des Deutsch-
tums zu treiben, und auch der Besitz an Kolonien hat für das Reich nm*
dann einen Wert, wenn in ihnen für deutsche Kulturpflege ein neues Feld
erhalten bleibt. Der Aufzüchtung einer dem deutschen Kulturinteresse recht
fragwürdig gegenüberstehenden Mischlingsrasse dürfen die deutschen Schutz-
gebiete nicht ausgeliefert sein. Und da der Verfassungsgesetzgeber, der die
„Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volks" ausdrücklich zu den ersten
Bundeszwecken der deutschen Staaten rechnete, von vornherein auch die
Möglichkeit eines kommenden Kolonialerwerbs von selten des Bundes deutscher
Staaten in Betracht zog — woran für den aufmerksamen Leser der Rede des
Bvmdeskommissars von Savigny in der Reichstagssitzung vom 20. März 1867
kein Zweifel sein kann') — erscheint das Verlangen des gegenwärtigen
Reichstags nach einem geradezu die „Sicherstellung" der Mischehen in allen
deutschen Schutzgebieten verbürgenden Gesetzentwurf im letzten Ende eigent-
lich als direkter Widerspruch gegen die uranfänglichen, zu vollem Bewußtsein
gediehenen Absichten des deutschen Verfassungsgesetzgebers.
Daß die Reichsregierung selbst das Verlangen des Reichstags nach dem
zuletzt erwähnten Gesetzentwurf alsbald stillen wird, erscheint nach den
hervorgetretenen Kundgebungen erfreulicherweise ausgeschlossen. Auf der
0 Zeitschrift für Kolonialpolitik XIV, S. 675.
^) Bezold, Materialien der Reichsverfassung I Seite 462: Abgeordneter
Dr. Schieiden: „Ich möchte mir die Frage an die Herren Kommissare der
Königl. Preußischen Regierung erlauben, ob schon jetzt ein bestimmter Plan
gefaßt ist, demnächst deutsche Kolonien zu gründen oder ob man das Wort
lediglich beschränkt wissen will auf Flottenstationen." Darauf Bundes-
kommissar von Savigny: „Unter Kolonisation (Art. 4 Z. 1) hat der Entwurf
nicht gemeint, einen Begriff aufzustellen, der sich auf dieses oder jenes Gebiet
ausschließlich beschränken soll; als Motiv lag dem Ent\\'urf allerdings der
Gedanke in erster Linie zugrunde, die Regelung von Flottenstationen zu
sichern, welche man von dem Augenblicke an nötig hat, wo man sich über-
haupt an transatlantischen Beziehungen so beteiligen will, wie wir es zu tun
gedenken und wie wir es in Deutschland schon längst erstreben. Damit
bleibt aber nicht ausgeschlossen, daß die Gesetzgebung sich
auch überhaupt mit Kolonisationsfragen beschäftigen kann.
Wir können unmöglich schon jetzt dem vorgreifen, ob nicht seitens der Re-
gierungen einerseits oder seitens des Reichstags andrerseits, d. h. seitens der
öffentlichen Meinung, die ihren Ausdruck im Reichstag finden wird, das Be-
dürfnis geltend gemacht ward, in dieser oder jener Form das Kolonisations-
wesen zu ordnen oder selbst anzuregen. Das bleibt alles der Zukunft über-
lassen."
32*
500 Hub rieh, Die Mischehenfrage in den deutschen Kolonien.
andern Seite bleibt damit einstweilen freilich der Zweifelszustand erhalten,
welcher infolge einer von vornherein nicht ganz klaren Gesetzgebung die
Frage der Rechtsgültigkeit der in manchen Schutzgebieten bereits abge-
schlossenen Mischehen umgibt bzw. die Frage der Gültigkeit gewisser Ver-
ordnungen, mit denen einige Schutzgebietsverwaltungen den Mischehen bereits
entgegengetreten sind. In Südwestafrika hat nämlich eine Gouverneursver-
ordnung schon 1905 die standesamtliche Eheschließung zwischen Weißen und
Eingeborenen schlechthin untersagt, während in Ostafrika der Gouverneur
durch einen Erlaß von 1906 sich für jede bei dem Standesbeamten beantragte
Eheschließung z\vischen Weißen und Eingeborenen eine besondere Anweisung
vorbehalten und zu diesem Zweck die Standesbeamten veranlaßt hat, in jedem
Fall an ihn zu berichten. Auch sind in der Selbstverwaltungsordnung für
Südwestafrika vom 28. Januar 1909 vom Wahlrecht solche Gemeindeangehörigen
ausgeschlossen, welche mit einer Eingeborenen verheiratet sind oder mit einer
solchen im Konkubinat leben. Endlich hat selbst der Staatssekretär des
Eeichskolonialamts Dr. Solf in einer neuerlichen Verordnung die Mischehen-
frage für Samoa zu regeln unternommen, indem die bisher formgerecht ge-
schlossenen Ehen zwischen Weißen und Samoanerinnen als gültig anerkannt,
dagegen in Zukunft Ehen zwischen Eingeborenen und Weißen grundsätzlich
verboten worden sind '). Gerade die Giltigkeit dieser im Verordnungswege
getroffenen Anordnungen ist besonders stark angefochten, und da auch die
Untersuchung von Karl von Stengel nicht als eine abschließende Lösung der
streitigen Mischehenfrage angesehen werden kann, sei der letzteren nochmals
an diesem Orte ein knappes Wort vom juristischen Standpunkt aus gewidmet.
Soviel haben die bisherigen Erörterungen über die ]\Iischehenfrage
jedenfalls an sicherem Ergebnis gezeitigt, daß die Prüfung, ob eine derartige
Eheschließung gültig vorgenommen werden kann oder nicht, sowohl der
materiell- als der formellrechtlichen Seite der Streitfi-age gerecht werden
muß. Eine gültige Eheschließung ist nämlich überall bedingt, einerseits durch
das Vorhandensein der vorgeschriebenen materiellen Eheschließungsvoraus-
setzungen, andrerseits durch die Beobachtung der vorgeschriebenen Ehe-
schließungsform. Das Schutzgebietsgesetz vom 25. Juli 1900 bestimmt selbst
in § 7: „Auf die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes
in den Schutzgebieten finden die §§ 2—9, 11, 12 und 14 des Gesetzes vom
4. Mai 1870 entsprechende Anwendung. Die Ermächtigung zur Eheschließung
und zur Beurkundung des Personenstandes wird durch den Reichskanzler
erteilt.
Die Form einer Ehe, die in einem Schutzgebiet geschlossen wird, be-
stimmt sich ausschließlich nach den Vorschriften des bezeichneten Gesetzes.
Die Eingeborenen unterliegen den Vorschriften der Abs. 1, 2 nur in-
soweit, als dies durch Kaiserliche Verordnung bestimmt wird. Den Ein-
geborenen können durch Kaiserliche Verordnung bestimmte andere Teile der
Bevölkerung gleichgestellt werden."
Vergleicht man nun den Wortlaut des § 7 mit den Vorschriften des
Gesetzes von 1870, so erhellt zunächst, daß der Reichsgesetzgeber mit § 7
prima facie nur eine Vorschrift über die Eheschließungsform hat treffen
wollen, und zwar unter besonderer Gegenüberstellung von Weißen und Ein-
*) Vgl. Neumeyer in Zeitschrift für Völkerrecht und Bundesstaats-
recht 1912 S. 193 f. Fleischmann im Jahrbuch für die deutschen Kolonien
V S. 58.
Hubrich, Die Mischehenfrage in den deutschen Kolonien. 501
geborenen. Für die Eheschließung der Weißen in den Schutzgebieten gilt
ausschließlich die standesamtliche Eheschließungsform, dagegen ist die An-
wendung dieser Eheschließungsform auf die Eingeborenen von einer be-
sonderen Kaiserlichen Verordnung abhängig gemacht, welche bis zur Stunde
noch nicht ergangen. Doch wird der wahren Rechtslage nicht gerecht, wer
etwa mit von Hoff mann') und von Stengel") deduzieren will, daß wegen
der bisher fehlenden Kaiserlichen Verordnung nach § 7 Abs. 3 Mischehen
zwischen Weißen und Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten rechts-
gültig überhaupt nicht geschlossen werden können.
Die im Abs. 3 § 7 mit den Eingeborenen gemachte Ausnahme stellt
offensichtlich unmittelbar nur eine abstrakte Regelung für den entsprechenden
Rechtsverkehr der Eingeborenen untereinander dar, wie umgekehrt die
Bestimmungen des § 7 Abs. 1 und 2 für den entsprechenden Rechtsverkehr
der Weißen untereinander. Konkrete Mischbeziehungen zwischen Weißen
und Eingeborenen auf dem im § 7 berührten Gebiet werden dagegen durch
diesen Paragraphen nicht unmittelbar getroffen und in ihrer Rechtsgültigkeit
nicht direkt in Frage gestellt. Angesichts der Tatsache, daß der Wortlaut
des § 7 selbst die Anwendung der standesamtlichen Eheschließungsform auf
die Eingeborenen nicht an sich als unzulässig bezeichnet, sondern nur
temporär durch den Erlaß einer Kaiserlichen Verordnung bedingt sein läßt,
hätte der Reichsgesetzgeber es positiv sagen müssen, wenn er von vornherein
in der Zwischenzeit bis zum Ei-laß dieser kaiserlichen Verordnung konkreten
standesamtlich abgeschlossenen Mischehen die Achtung rechtmäßiger Ehe-
verbindungen versagen wollte. Es erscheint sogar nicht ausgeschlossen, daß
der Reichsgesetzgeber bei Normierung des § 7 Schutzgebietsgesetz von 1900
absichtlich die Möglichkeit konkreter Mischehen von Weißen und Ein-
geborenen in gewissem Sinn offen gelassen hat, um die Gelegenheit, hinläng-
liche Erfahrungen darüber zu sammeln, nicht gleich abzuschneiden. Denn
in dem Schutzgebietsgesetz von 1900 hat der Reichsgesetzgeber hinwiederum
mittelbar es auch nicht an den nötigen Handhaben für die zuständigen
Organe fehlen lassen, den mit dem Mischehewesen etwa verbundenen Gefahren
gebührend entgegen zu treten.
Die richtige Anleitung aber, daß man in dieser Weise den § 7 Schutz-
gebietsgesetz zu interpretieren hat, gibt direkt die Parallelvorscbrift des § 4.
Auch hiernach „unterliegen die Eingeborenen" der Gerichtsbarkeit und dem
materiellen Recht der Weißen „nur insoweit, als dies durch kaiserliche Ver-
ordnung bestimmt wird". Hierdurch wird ebenfalls nur eine abstrakte Regelung
dahin, daß die Eingeborenen, wie die Weißen, einstweilen in ihrem Rechts-
verkehr mit ihresgleichen je einem besonderen Normenkreis imterstehen,
verlautbart, dagegen vorkommenden konkreten Mischbeziehungen zwischen
Weißen und Eingeborenen die Möglichkeit rechtlicher Bewertung nicht dui-ch-
aus abgesprochen (vgl. hierüber besonders Neumeyer, Privatrechtliche Misch-
beziehungen nach deutschem Kolonialrecht im VI. Band der „Zeitschrift für
Völkerrecht und Bundesstaatsrecht" S. 125 f.). Dem Reichsgesetzgeber war
sicher auch bei Erlaß des Schutzgebietsgesetzes von 1900 gegenwärtig, daß
die von ihm beeinflußte Rechtsordnung als integrierenden Bestandteil auch
eine Reihe von Rechtssätzen in sich schließe, welche über die rechtliche Be-
') S. V. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht 1911
S. 176 f. Gegen v. Hoffmann schon zutreffend Fleischmann a. a. 0.
^) a. a. 0. S. 760 f.
502 Hubrich, Die Mischehenfi-age in den deutschen Kolonien.
Wertung von Mischverliältnissen solcher Personen Anweisung erteilen, die an
sich verschiedenen Eechtsnormbereichen zugehören.
Es handelt sich hier um nichts anderes, als um die Eechtssätze, welche
bekanntermaßen die Lehre von der „Statutenkollision" oder vom „internatio-
nalen Privatrecht" umfaßt, und welche da Platz greifen, wo hinsichtlich des
Privatrechts verschiedene Eechtsquellen desselben Staatsgebiets oder die
Eechtsquellen verschiedener Staatsgebiete zusammenstoßen. Auch das Ein-
führuugsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch hat, wenngleich es auf eine er-
schöpfende Eegelung des sog. internationalen Privatrechts verzichtet, in den
Art. 7 f. einzelne wichtige Fragen desselben von sich aus geordnet, darunter
im Art. 13 die Eingehung der Ehe dergestalt, daß die letztere, ,, sofern auch
nur einer der Verlobten ein Deutscher ist, in Ansehung eines j eden der Ver-
lobten nach den Gesetzen des Staats beurteilt wird, dem er angehört". Zwar
bezieht sich die Norm des Art. 13, wie die anderen hier berührten Vorschriften
des EG. z. BGB., unmittelbar nur auf den Zusammenstoß verschiedener
„Nationalrechte", nicht auf den Zusammenstoß verschiedener Partikularrechte
desselben Staatsgebiets. Aber maßgebende Vertreter der deutschen Eechts-
theorie haben sowohl vor, wie nach dem BGB. sich zu der Ansicht bekannt,
daß für den Zusammenstoß von Partikularrechten, wie für den von „National-
rechten" die maßgebenden Eechtssätze ,,im wesentlichen identisch lauten"
(Gierke, Privatrecht I, S, 210; Enneccerus, Bürgerliches Eecht I, S. 150;
Neumeyer, S. 154 f.). Es unterliegt daher keinem Bedenken, nach den
Normen, welche im EG. z. BGB. die Art. 7 f, und insbesondere auch der Art. 13
über den Zusammenstoß von „Nationalrechten" aufstellen, auch innerhalb der
deutschen Schutzgebiete den Zusammenstoß von Partikularrechten zu be-
urteilen, der in konkreten IVlischfällen dadurch hervorgerufen wird, daß da-
selbst an sich für die Weißen das Eecht des BGB. und der sonstigen Eeichs-
gesetze gilt, dagegen für die Eingeborenen ihr Stammesrecht. Daraus ergibt
sich freilich für konkrete der Materie der Eheschließung angehörige Misch-
fälle, daß gemäß Art. 13 EG. für die Weißen zunächst an sich das BGB.
(samt EG.) und der § 7 Schutzgebietsgesetz maßgebend ist, für die Ein-
geborenen aber ihr Stammesrecht. Wenn wenigstens von Stengel zwar
die wirtschaftlichen Mischbeziehungen zwischen Weißen und Eingeborenen
nach Analogie des internationalen Privatrechts behandeln will, hingegen für
die persönlichen, auf den Geschlechtsverkehr beruhenden Mischbeziehungen
diese Analogie verwirft'), so wird einem solchen Verfahren die Nachsage
subjektiver Willkürlichkeit nicht erspart bleiben können. Denn sofern in bezug
auf Ehe imd Familienverhältnisse das Stammesrecht der Eingeborenen Ein-
richtungen aufweist, welche dem auf dem Boden deutscher Kultur stehenden
zwingenden Eecht der Weißen durchaus widersprechen, folgt ohne weiteres
die Nichtberücksichtigung jener Einrichtungen schon aus dem Art. 30 EG.
z. BGB., welcher die Anwendung eines ausländischen Gesetzes — also in den
Schutzgebieten auch des Stammesrechts der Eingeborenen — ausschließt, wenn
die Anwendung gegen die guten Sitten oder gegen den Zweck eines deutschen
Gesetzes verstoßen würde. Die alleinige Anwendung des Eechts der Weißen
erscheint aber um so unbedenklicher, als die §§ 4, 7 Schutzgebietsgesetz
deutlich die Meinung des Eeichsgesetzgebers erkennen lassen, daß für ihn die
Eechtsordnung der Weißen als die kulturell höhere und dereinst auch einmal
den Eingeborenen erschließbar gilt.
') a. a. 0. S. 760.
Hubrioh, Die Mischelieufrage in den deutschen Kolonien. 503
Eine ^tige Eheschließung verlangt nun, wie bereits oben bemerkt,
allemal einerseits die Beobachtung der vorgeschriebenen Eheschließungs-
form, andrerseits die Wahrung der vorgeschriebenen materiellen Ehe-
Bchließungsvoraussetzungen. Da der Inhalt des Schutzgebietsgesetzes von 1900,
soweit er bisher ermittelt, die Möglichkeit konkreter Mischehen zwischen
Weißen und Eingeborenen nicht absolut ausschließen will, würde das Zu-
standekommen solcher Eheschließungen gemäß dem Prinzip des Art. 13
EG. z. BGB. sowohl in Ansehung der Eheschließungsform, wie der materiellen
Eheschließungsvoraussetzimgen nötig machen, daß die bezüglichen Anforde-
rungen des Eechts der Weißen und des Stammesreehts der Eingeborenen
erfüllt werden. Hinsichtlich der Eheschließungsform bewirkt indessen eine
Korrektur dieses Ergebnisses die apodiktische Bestimmung des Absatz 2
§ 7 Schutzgebietsgesetz, wonach innerhalb der deutschen Schutzgebiete die
standesamtliche Eheschließung ausschließlich gegenüber einer weißen
Person in Frage kommen soll. Damit entfällt für die Eingehung einer
konkreten Mischehe zwischen einer weißen und einer eingeborenen Person
in einem deutschen Schutzgebiet die Zulässigkeit einer etwaigen Verbindung
von standesamtlicher und stammesrechtlicher Eheschließungsform. Die
standesamtliche Eheschließungsform nach Abs. 2 § 7 Schutzgebietsgesetz
greift unbedingt auch gegenüber dem eingeborenen, zu einer Mischehe mit
einer weißen Person schreitenden Eheteil Platz, und dieser muß sich dem
um so mehr fügen, als die Vorschrift des Abs. 2 § 7 nur ein Willensaus druck
der nämlichen staatlichen Macht ist, welcher der Eingeborene überhaupt
staatsrechtlichen Untertanengehorsam schuldet. Andrerseits entfällt damit
auch für jede weiße Person die Möglichkeit einer rechtmäßigen Ehever-
bindung mit einer eingeborenen Person bloß unter Wahrung der stammes-
rechtlichen Eheschließungsform. Denn diese verstößt unmittelbar gegen den
Zweck des für alle Weißen die standesamtliche Eheschließungsform aus-
nahmslos vorschreibenden Gesetzes, nämlich, daß Weiße eine gültige Ehe nur
in der Form der Zuziehung eines staatlich dafür besonders bestellten Be-
amten schließen dürfen. Dagegen hinsichtlich der materiellen Eheschließungs-
voraussetzungen müssen zur Erzielung einer gültigen Mischehe die Eechts-
vorschriften für Weiße und das Stammesrecht der Eingeborenen im konkreten
Fall gleichmäßig nebeneinander gewahrt sein, soweit nicht gewisse stammes-
rechtliche Einrichtungen überhaupt gemäß Art. 30 EG. z. BGB. unanwendbar
sind. Während für nichtreichsangehörige Weiße in dieser Hinsicht nach
Art. 13 EG. z. BGB. das Recht des Heimatstaats maßgebend ist, ergeben sich
für die reichsangehörigen Weißen die materiellen Eheschließungsvoraus-
setzungen — die Ehehindernisse — aus dem BGB., und dasselbe kennt — wie
auch wohl in der Regel das Heimatsrecht der nichtreichsangehörigen Weißen —
gerade die Rasseverschiedenheit nicht als Ehehindernis. Andrerseits wird
auch in dem Stammesrecht der Eingeborenen Rasseverschiedenheit regelmäßig
nicht als Ehehindernis nachzuweisen sein (vgl. Radlauer, Annalen 1909
S. 856). Das unmittelbare Resultat dieser Betrachtung des Schutzgebiets-
gesetzes von 1900 ist also, daß an der Rechtsgültigkeit standesamtlich ab-
geschlossener und den Ehehindernissen des Rechts der W^eißen und der Ein-
geborenen Rechnung tragender Mischehen in den deutschen Schutzgebieten
nicht zu zweifeln ist.
Nichtsdestoweniger hat der Reichsgesetzgeber dem Schutzgebietsgesetz
von 1900 eine solche Fassung gegeben, daß dasselbe mittelbar genug Hand-
haben aufweist, um den aus dem Mischehewesen den deutschen Schutzgebieten
etwa drohenden Gefahren erfolgreich entgegen zu treten.
504 Hubrich, Die Mischehenfrage in den deutschen Kolonien.
1. Das materielle Eherecht der Eingeborenen untersteht gemäß § 1
Schutzgebietsgesetz durchaus der gesetzgebenden Gewalt des Kaisers. Im
Wege einseitiger Rechtsverordnung kann daher der Kaiser zu jeder Zeit
den Eingeborenen gegenüber bestimmen, daß für sie ein unmittelbar zwingen-
des Ehehindernis in Ansehung einer mit einer weißen Person beabsichtigten
Eheschließung besteht. Schon durch eine solche Verordnung würde es auch
mittelbar den Weißen unmöglich gemacht sein, an eine Mischehe mit einer
eingeborenen Person zu denken. (Übereinstimmend ßadlauer S. 8.58, Neu-
meyer S. 193.)
2. Der Abs. 1 § 7, welcher im ersten Satz mit Bezug auf Weiße gewisse
Paragraphen des Gesetzes vom 4. Mai 1870 für entsprechend anwendbar er-
klärt, sagt in gleicher Richtung S. 2: ,,Die Ermächtigung zur Eheschließung . . .
wird durch den Reichskanzler erteilt." Mit dieser Gesetzesverfügung läßt
sich weiter ebenfalls S. 1 § 15 in Verbindung bringen: ,,Der Reichskanzler
hat die zur Ausführung des (Schutzgebiets-)Gesetzes erforderlichen Anord-
nungen zu erlassen." Es handelt sich hier unbestreitbar um die Zuständigkeit
des Reichskanzlers, Rechtsverordnungen, die alle dem Schutzgebietsgesetz
unterstellten Rechtssubjekte, einschließlich der Weißen, unmittelbar verbinden
können, zu erlassen. Die Ausführungsrechtsverordnungen des Reichskanzlers
müssen sich freilich innerhalb der Grenzen des Schutzgebietsgesetzes halten,
tun dies aber jedenfalls, wenn sie sich darauf beschränken, einzelne vom
Schutzgebietsgesetz aufgestellte Rechtssätze selbständiger Natur hinsicht-
lich einer erkennbaren Lücke zu ergänzen. Der S. 2 Abs. 1 § 7 Schutz-
gebietsgesetz: „Die Ermächtigung zur Eheschließung . . . wird durch den
Reichskanzler erteilt", ist jedoch, wie der Wortlaut ergibt, als ein Rechts-
satz selbständiger Natur dem S. 1, welcher die entsprechende Anwendbar-
keitserklärung einiger Paragraphen des Gesetzes von 1870 enthält, angefügt.
Seine Tragweite ist juristisch durchaus nicht auf die reine Bezeichnung der
Standesbeamten in den Schutzgebieten durch den Reichskanzler beschränkt.
Der S. 2 Abs. 1 § 7 schließt es vielmehr nach seiner objektiven Fassimg nicht
aus, ,,die Ermächtigung zur Eheschließung" mit besonderen Bedingungen
auszustatten, die sich im Rahmen des auch für den Reichskanzler maßgebenden
Rechtsnormwillens halten '). Die nach dieser Richtung vorliegende Ergänzungs-
möglichkeit des Satzes: „Die Ermächtigung zur Eheschließung . . . wird durch
den Reichskanzler erteilt", erlaubt es daher sicher auch, daß der Reichs-
kanzler vermittelst seiner Befugnis, das Schutzgebietsgesetz durch Ausführungs-
rechtsverordnungen zu ergänzen (§ 15 Abs. 1), „die Ermächtigung zur Ehe-
schließung" mit Bedingungen ausstattet, die dem besonderen Milieu eines
deutschen Schutzgebiets entnommen sind*). Angesichts der Gefährlichkeit
^) Es ist ja allgemein herrschende Lehre, daß die Ausführungsrechts-
verordnung das Gesetz ergänzen kann, zwar „nicht nach der Seite der Zweck-
setzung, wohl aber nach der Seite der Beschaffvmg der zur Durchführung des
Gesetzes erforderlichen Mittel". Rosin, Polizeiverordnungsrecht 2. Aufl. S. 35.
*) Das muß um so mehr als zulässig gelten, als § 7 S. 1 Schutzgebiets-
gesetz eben nur ,, entsprechende Anwendung" der angeführten Paragraphen
des Gesetzes vom 4. Mai 1870 vorsieht und auch Gerstmeyer, Kommentar
S. 48 meint, daß bei der Lückenhaftigkeit des Schutzgebietsgesetzes die Grenzen
für die Ausführungsverordnungen des Reichskanzlers nach § 15 S. 1 weit zu
ziehen seien. Innerhalb des „Zweckes" des Schutzgebietsgesetzes, welches in
weitgehender Selbstbeschränkung dem Reichskanzler in § 15 Abs. 1 allgemein
die „erforderlichen" Anordnungen zu seiner Ausführung übertragen, liegen
Hub rieh, Die Mischehenfi-age in den deutschen Kolonien. 505
namentlich, welche das Mischehewesen für das weitere Gedeihen der deutschen
Schutzgebiete in sich birgt, ist demgemäß der Reichskanzler rechtlich durch-
aus in der Lage, ,,die Ermächtigung zur Eheschließung" nur in der durch eine
Rechtsverordnung gemäß § 15 Abs. 1 modifizierten Weise zu erteilen, daß
Mischehen zwischen Weißen und Eingeborenen ausgeschlossen sind. Diese
nach § 15 Abs. 1 zu § 7 Abs. 1 S. 2 ergehende Rechtsverordnung stellte dann
direkt die Verpflichtung fest: einerseits des ermächtigten Standesbeamten,
seinen Dienst bei dem Versuch einer Mischeheschließung zu versagen, andrer-
seits der Weißen der Schutzgebiete, den Dienst des Staudesbeamten zu dem
Versuch einer Mischehe nicht in Anspruch zu nehmen.
3. Der § 15 Abs. 2 Schutzgebietsgesetz erklärt den Reichskanzler femer
für befugt, für die Schutzgebiete oder für einzelne Teile derselben ,, polizeiliche
und sonstige die Verwaltung betreffende Vorschriften" mit Strafandrohungen
von Gefängnis bis zu drei Monaten, Haft, Geldstrafe und Einziehung einzelner
Gegenstände zu erlassen. Hiermit ist ein besonderes Rechtsverorduungsrecht
des Reichskanzlers, außerhalb der Ausführung des Schutzgebietsgesetzes, be-
gründet, und auch vermittelst desselben kann dem Mischehewesen in den
deutschen Schutzgebieten begegnet werden.
Das Schutzgebietsgesetz von 1900, welches in seiner unmittelbaren Fassung
die Möglichkeit von Mischehen zwischen Weißen und Eingeborenen offenläßt,
betrachtet in seinem unmittelbar eherechtlichen Teil die Eheschließung grund-
sätzlich als eine Angelegenheit einzelner gleichberechtigt nebeneinander
stehender Privatpersonen. Auch das Institut der Standesbeamten ist grund-
sätzlich nur eine Einrichtung, welche die bürgerliche Rechtsordnung einzelnen
Privatpersonen anbietet, um die sie angehende Eheschließungsangelegenheit
mit voller Rechtssicherheit zu regulieren. Aber die Eheschließungsmaterie
braucht nicht ausnahmslos so geordnet zu sein. Sie verträgt auch eine recht-
liche Gestaltung, welche die Eheschließenden und den Standesbeamten in un-
mittelbare Verbindung bringt mit deren Eigenschaft als Glieder eines unter
staatlicher Autorität stehenden Zwangsverbandes und jene aus diesem Gesichts-
punkt heraus verpflichtet, unter bestimmten Voraussetzungen den Versuch
einer Eheschließung zu unterlassen.
Es erübrigt sich an diesem Orte durchaus, die „polizeilichen" Vor-
schriften, welche der Reichskanzler nach § 15 Abs. 2 Schutzgebietsgesetz er-
lassen kann, von den „sonstigen die Verwaltung betreffenden Vorschriften"
des Kanzlers vollkommen präzis zu trennen. Jedenfalls geht der Ausdruck
„polizeiliche Vorschriften" auf einen materiellen Begriff der Polizei, und schon
das nötigt auch den ,, sonstigen die Verwaltung betreffenden Vorschriften"
den allgemeinen, materiellen Begriff der „Verwaltung" im
Gegensatz zur Rechtssetzung und Rechtsprechung zu unter-
stellen^). Es soll demgemäß das Rechtsverordnungsrecht des Reichskanzlers
nach § 15 Abs. 2 überall zur Anwendung kommen dürfen, wo es sich um
das freie, von Zweckmäßigkeitsgedanken beherrschte, wenn auch innerhalb
augenscheinlich alle solche Ergänzungsanordnungen begriffen, welche die
einzelnen Gesetzesparagraphen allein zu Bestandteilen einer wirklich „lebens-
fähigen" Rechtsordnung in den Schutzgebietdn erheben können.
^) Zu eng faßt hier den Begriff der ,, Verwaltung" auch Sassen, Das
Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht in den deutschen Kolonien, 1909 S. 108,
der nui- ,, innere" Verwaltung darin sehen wül. Ubi lex non distinguit, ibi
judicis non est distinguere! Die koloniale Praxis nähert sich mehr dem
richtigen Wege. Vgl. Laband, Staatsrecht, 5. Aufl. 11 S. 295.
506 Hubrich, Die Misch ehenfi-age in den deutschen Kolonien.
der Schranken der Eechtsordnung sich bewegende Verfolgen von staatlichen
Aufgaben handelt. (Vgl. hierzu Hubrich, Das Eeichsgericht über den Ge-
setzes- und Verordnungsbegriff nach Reichsrecht S. 66 ff., 74 f.) Es muß
hierbei naturgemäß eine bestimmte Tätigkeit der Schutzgebietsorgane in
Frage kommen, welcher auf der andern Seite gegebenenfalls ein gewisses
Tun (Handeln, Unterlassen) der gewöhnlichen Schutzgebietsangehörigen ent-
spricht. Die so gestaltete Erfaßbarkeit der Schutzgebietsorgane und der ge-
wöhnlichen Schutzgebietsangehörigen ist aber dabei nur die unmittelbare
Folge der Eigenschaft jener als Glieder eines unter staatlicher Autorität
stehenden Zwangsverbandes. Angesichts der schweren Nachteile nun, welche
nach den inzwischen gemachten Erfahrungen das Mischehewesen dem deutschen
Kulturinteresse in den Schutzgebieten bereiten kann, ist es selbstverständlich
eine der zweckmäßigsten Aufgaben des amtlichen Wirkens der Schutzgebiets-
organe, nach Möglichkeit das Mschehewesen zu beschneiden. Der Reichs-
kanzler kann daher diese materielle Verwaltungsaufgabe dm-ch eine Rechts-
verordnung gemäß § 15 Abs. 2 Schutzgebietsgesetz auch in der Weise sicher-
stellen, daß er die gewöhnlichen weißen Schutzgebietsangehörigen rechtssatz-
mäßig verpflichtet, gerade als untertänige Glieder eines unter staatlicher
Autorität stehenden Zwangsverbandes die Inanspruchnahme der Standes-
beamten behufs Abschlusses einer dem deutschen Kulturinteresse wider-
streitenden Mischehe zu unterlassen. Diese Anordnung wäre ohne Bedenken
als eine diu"ch den materiellen Begriff der Verwaltung vollkommen gedeckte
Rechtsvorschrift anzusehen, und die privatrechtliche Regelung der Ehe-
schließuugsmaterie, bei welcher die Eheschließenden nur als für sich ge-
sonderte Privatpersonen ins Auge gefaßt sind, könnte als eine besondere
Welt für sich das selbständige Danebentreten der aus zwingenden öffent-
lichen Gründen getroffenen Maßnahme des Reichskanzlers keineswegs hindern.
4. Nach Abs. 3 § 1.5 Schutzgebietsgesetz kann der Reichskanzler „die
Ausübung der Befugnis zum Erlasse von Ausführungsbestimmimgen (Abs. 1)
und von Verordnungen der im Abs. 2 bezeichneten Art" an Beamte des
Schutzgebiets weiter delegieren. Infolgedessen sind auch die Gouverneure
der Schutzgebiete, an welche etwa eine derartige Delegation erfolgt ist
(vgl. Verf. des Reichskanzlers vom 27. September 1903 bei Riebow VII
S. 214) genau in der Weise zum Vorgehen berechtigt, wie dies vorstehend
sub 2 und 3 bezüglich des Reichskanzlers ausgeführt ist. Sofern die bereits
für Ostafrika und Südwestafrika gegen das Mischehewesen ergangenen
Gouverneurs Verordnungen den sub 2 und 3 hervorgehobenen Gesichtspunkten
gerecht werden, kann ihre Rechtsgültigkeit demgemäß nicht beanstandet
werden. Die Verordnung des Kolonialstaatsseki-etärs für Samoa ist aber ohne
weiteres an Rechtskraft einer Reichskanzlerverordnung gleichzustellen (vgl.
La band II S. 296).
Gegenüber der Frage, ob die formelle Reichsgesetzgebung nicht selbst
in das koloniale Mischehewesen eingreifen soll, kann angesichts der Zu-
sammensetzung des gegenwärtigen Reichstags nur der Rat gelten: Quieta
non movere. Die koloniale Praxis ist anscheinend auf dem Ansatz zum
richtigen Wege, den sie nur weiter mit Entschlossenheit verfolgen sollte.
Die theoretischen Zweifel in der IVIischehenfrage hat zum Teil nur mangel-
hafte Orientierung verschuldet, und es steht zu erwarten, daß man sich mit
der Zeit auch in der Theorie allgemein zum richtigen Standpunkt durchzuringen
wissen wird.
Besprecliungen
Kurt von Böckmann, Die Geltung der Eeichsverfassung in den deutschen
Kolonien. (Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffentlichen
Eechts, Heft 20.) Karlsruhe 1912. G. Braun. VIII u. 272 S.
Die „Freiburger Abhandlungen" haben bisher nur vereinzelte, aber
dafür um so beachtenswertere Darstellungen aus dem Gebiete des Kolonial-
rechts gebracht. In Heft 16 hat Dr. Fritz Hüssen die Verfassungsentwicklung
Transvaals zur „Selfgoverning Colony", in Heft 19 Dr. Hans Haarhaus das
Eecht der deutschen Kolonialbeamten unter Berücksichtigung des englischen,
französischen und niederländischen Kolonialbeamtenrechts einer sorgfältigen
Erörterung unterzogen. Beide Schriften haben mit Recht eine günstige Auf-
nahme gefunden. Ihnen reiht sich der vorliegende neueste, zugleich statt-
lichste Band der Sammlung würdig an. Er enthält, um dies gleich vorweg
zu betonen, einen außerordentlich förderlichen Beitrag zur theoretischen
Vertiefung des Kolonialrechts wie der allgemeinen Staatsrechtslehre, förderlich
nicht im Sinne einer alle gegensätzlichen Meinungen ausgleichenden Zusammen-
stellung, sondern förderlich im Sinne einer entschiedenen, selbständigen,
freilich infolgedessen auch fortgesetzt mehr oder minder lebhaften Wider-
spruch herausfordernden Bearbeitung. Daß aber durch solche Untersuchungen
der Eechtsmssenschaft, speziell der Kolonialrechtswissenschaft bessere Dienste
geleistet werden als durch die bei Erstlingsschriften oft üblichen glatten,
neuen Gedankengängen ängstlich ausweichenden Mosaikarbeiten, bedarf keiner
näheren Begründung.
Gegenstand unserer Abhandlung ist ein Problem, das in den letzten
Jahren vdederholt angeschnitten worden ist, die Frage, ob und inwieweit
Vorschriften der deutschen Eeichsverfassung trotz des Fundamentalsatzes ihrer
Nichtgeltung in den Kolonien gleichwohl dort anwendbar seien. Diese Frage
ist vor allem geprüft worden bei dem Versuch, eine formal-gesetzliche Grund-
lage für die kolonialen Gesetzgel)ungsfunktionen von Bundesrat und Eeichs-
tag zu finden. Wie ist es zu erklären, daß in den Kolonien Gesetze gelten,
die in den Formen der lediglich von der Eeichsverfassung geordneten Eeichs-
gesetzgebung zustande gebracht sind, obwohl die Eeichsverfassung dort gar
nicht gilt? Wie kommt es, daß in den Kolonien zwei Eeichsorgane, Bundes-
rat und Eeichstag, tätig werden, die ihr Dasein lediglich der auf die Kolonien,
gar nicht ausgedehnten Eeichsverfassung verdanken? Den ersten tief er-
gehenden Erklärungsversuch hat Edler von Hoffmann (Kolonialregierung und
Kolonialgesetzgebung, Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Ko-
lonialwirtschaft, Band 7, 1905, S. 365 — 370) unternommen. Er führt die
legislatorische Tätigkeit von Bundesrat und Eeichstag in den deutschen
Kolonien auf gewohnheitsrechtliche Übung zurück. Dieser Gewohnheits-
rechtstheorie hat sich später Sassen (Das Gesetzgebungs- und Verordnungs-
recht in den deutschen Kolonien, 1909, S. 34 ff.) — allerdings nur vorüber-
gehend — angeschlossen. Demgegenüber habe ich in der Festgabe der Bonner
508 Besprechungen.
Juristischen Fakultät für Paul Krüger zum Doktorjubiläum (Berlin 1911,
S. 417- — 446: Zur Geltung der Eeichsverfassung in den deutschen Kolonien)
nachzuweisen versucht, daß diese gewohnheitsrechtliche Begründung der
kolonialen Gesetzgebungskompetenz von Bundesrat und Eeichstag keine
befriedigende Konstruktion zu bieten vermag, daß diese Zuständigkeit viel-
mehr nur durch die Erwägung zu erklären ist: „Bundesrat und Reichstag
haben durch die Tatsache des Erlasses des ersten kolonialen Eeichsgesetzes
den Eechtssatz aufgestellt, daß Art. 5 Abs. 1 der EV. fortan in den Kolonien
gelten, daß die Kolonialgesetzgebung auf Grund .Übereinstimmung der Mehr-
heitsbeschlüsse beider Versammlungen' ausgeübt werden soll. Das erste
Kolonialgesetz hat also eine doppelte Funktion erfüllt. Es hat zunächst die
Zuständigkeit von Bundesrat und Eeichstag zur Teilnahme an der Kolonial-
gesetzgebung begründet und gleichzeitig auf der Grundlage der so begrün-
deten Kompetenz die erste Eegelung kolonialer Eechtsverhältnisse vorge-
nommen" (a. a. 0. S. 429, 430). Meine Ausführungen beschränkten sich im
übrigen auf den Nachweis, daß überhaupt in der Eeichsverfassung Bestim-
mungen enthalten sind, welche als in den Kolonien anwendbar bezeichnet
werden müssen. Die erschöpfende Feststellung, welche einzelnen Vorschriften
dahin gehören, mußte ich mir an jener Stelle versagen.
Hier greift nun die Arbeit v. Böckmanns in dankenswerter Weise ein.
Sie erblickt darin, daß die Frage nach dem Geltungsbegi-iff der EV. und
der Eeichsgesetze bislang noch keine geschlossene Darstellung erfahren hat,
eine Lücke des deutschen Staatsrechts, deren Ausfüllmig nicht allein aus
theoretischen, sondern auch aus praktischen Gründen nottut ; hat doch die
hier herrschende Unklarheit sogar zu rechtlich anfechtbaren Maßnahmen
der kolonialen Eegierungsorgane geführt. Im Gegensatz zii der bisherigen
literarischen Behandlung des Problems, die immer nur den Weg der Spezial-
konstruktion eingeschlagen und die Geltung reichsgesetzlicher Normen im
Ausland und in den Kolonien auf vorausgehende, spezielle Formalübertra-
gungen zu gründen gesucht hat, glaubt der Verf. die wichtige Frage nach
den Regeln, in denen sich die Verwirklichung deutscher Verfassungsnormen
in Ausland und Kolonien vollzieht, von einer freieren Seite anfassen und aus
der rechtlichen Struktur des Staates als Ganzen erklären zu müssen. Er
lehnt zunächst den „Fundamentalsatz" der Nichtgeltung der EV. in den Ko-
lonien scharf ab und weist darauf hin, „daß die Herrschaft dieses unerbitt-
lichen Dogmas in Wirklichkeit auf recht schwachen Füßen steht". Wenn
jener Satz theoretisch daraus abgeleitet worden ist, daß die EV. nur inner-
halb des in Art. 1 umschriebenen „Bundesgebietes" gelte, so wird diese wört-
liche Auslegung des Verfassvmgstextes seinem wirklichen Sinn nicht gerecht.
„Der Gesetzgeber hat lediglich die Absicht zu erkennen gegeben, daß die
Verfassung im Gesamtgebiet der vereinigten Partikularstaaten gelten solle,
daß sie nur innerhalb dieses Gebietes gelten solle, hat er aber an keiner
Stelle ausgesprochen." Und auch mit der praktischen Handhabung steht
jene wörtliche Auslegung nicht im Einklang, denn es gibt eine ganze Eeihe
von Verfassungsnormen, die auch ohne formelle Übertragung im Ausland
gelten. Also ist das Prinzip der Formalübertragung, das heute auf die Geltung
der EV. und jedes Eeichsgesetzes angewendet wird, abzulehnen und durch
ein anderes zu ersetzen. „Es muß ein Geltungsprinzip aufgestellt werden,
das ohne die engherzige Starrheit des obigen Grundsatzes doch insoweit uni-
versell und konstant ist, daß es den ganzen Stand der modernen Geltungs-
frage deckt, nicht nur den im Übertragungsprinzip enthaltenen gesunden
Kern beibehält, sondern auch auf alle Realisierungsfälle von Gesetzesnormen
anwendbar ist." Aus der Verfassungsurkunde lassen sich die positiven Grund-
lagen einer solchen Geltungstheorie nicht entnehmen, vielmehr muß zu diesem
Zweck auf die Verfassung im materiellen Sinne zurückgegangen werden.
„Nur der materielle Verfassungsbegriff, das tatsächliche Charakterbild der
Eeichsgewalt, sagt uns mit absoluter Eichtigkeit, wann, in welcher Weise
Besprechungen. 509
und auf welchen GnincHagen das Keich seine einzelnen Normen zur Anwen-
dung bringt." Unter diesen materiellen Verfassungsbegrifi' fallen außer den
Vorschriften über die (Tewaltenübung im Staate auch diejenigen über die
grundsätzliche Stellung des Individuums im Staatsverbande.
Schon gegen diese einleitenden Bemerkungen muß Einspruch erhoben
werden. Welchen Ersatz der N'erf. für die von ihm als unhaltbar abgelehnte
herrschende Geltungstheorie der Formalübertragung bieten wird, steht hier
noch dahin. Eine Verschiebung aber der bisher in der Literatur erörterten
Streitfrage stellt die Zugrundelegung des „materiellen" Verfassungsbegriffes
dar. Daß es ein materielles Verfassungsrecht gibt, soll gewiß nicht geleugnet
werden. Darunter ist der Inbegriff derjenigen Rechtsnormen zu verstehen,
welche die bekannte rechtswissenschaftliche Disziplin des Verfassungsrechts
= Staatsrechts im engereu Sinne ausmachen. Bildet denn aber dieses mate-
rielle Verfassungsrecht den Gegenstand der literarischen Konti'overse, deren
Lösung man nach dem Titel des Buclies von dem V^erf. erwartet hatte? Nein!
Jene Streitfrage betrifft gar nicht das materielle, sondern das formelle Ver-
fassungsrecht! Freilich ist es das gute Recht des Autors, sein Thema abzu-
stecken, wie es ihm gut dünkt. Dann muß dies aber auch in dem Titel der
Abhandlung zum deutlichen Ausdruck gebracht werden. „Geltung der Reichs-
verfassung'' deutet darauf hin, als wolle der Verf. nur das in der RV. nieder-
gelegte, also das formelle Verfassungsrecht in den Ki'eis seiner Betrachtungen
ziehen. Richtig wäre die Bezeichnung „Geltung des Reichsverfassungs rechts"
gewesen. Und ferner darf der Verf. dann nicht Ansichten bekämpfen und
ablehnen, die das, was er beweisen will, vielleicht gar nicht einmal bestreiten,
weil sie zu einer, wenn auch ähnlichen, so doch wesentlich anders lautenden
Streitfrage Stellung nehmen.
Sehen wir nun zu, welche Formulierung der „Geltungsfrage" v. Böck-
mann vertritt. Dieser Erörterung ist das erste Buch der Abhandlung, das
der Verf. selbst als Schwerpunkt der ganzen Darstellung bezeichnet, gewidmet.
Hier will er die Unhaltbarkeit der herrschenden Theorie beweisen und zu-
gleich Ersatz schaffen. Er beginnt mit einer Untersuchung des Begriffes der
Staatsverfassung. Die letztere ist zunächst ein materieller Kollektivbegriff,
der alle für die individuelle Eigenart des Staates grundlegenden Wesenszüge
in sich vereinigt; sie ist ebensowenig wie ihr Substrat, der Staat, eine kon-
stante Größe; sie ist infolgedessen einer verschiedenen Beurteilung durch
die Masse der Beobachter ausgesetzt. Den Gegensatz zu dieser materiellen
bildet die formelle, in der Verf.-Urk. niedergelegte Staatsverfassung. Nur
der erstere Begriff ist absolut zuverlässig, der letztere kann, weil konstant
und anpassimgsunfähig, Abweichungen von der Wirklichkeit enthalten. Die
Unterscheidung beider Begriffe vermittelt uns auch die richtige Vorstellung
von der bedeutungsvollen Erscheinung der Verfassungswidrigkeit. Ein ver-
fassungswidriges Handeln kann niemals vom Staat als solchem, sondern nur
von seinen Organen begangen werden. Au diesen allgemeinen Überblick
über das Wesen des Verfassungsbegriffes schließt sich ein näheres Eingehen
auf den rechtlichen Charakter, die Entstehung und den Inhalt der Staats-
verfassung. Das Charakteristikum der Verfassungsgesetze besteht in ihrer
formellen, vielfach noch erhöhten Gesetzeskraft und in der Gewährung einer
formellen Rechtsgrundlage für das Handeln der Staatsorgane. Was die Ent-
stehung der Verfassung anlangt, so ist die Verfassung im formellen Sinne recht-
lich allseitig ableitbar, nämlich aus der schon vor ihr bestehenden Verfassung
im materiellen Sinne; die Verfassung im materiellen Sinne als erste Ordnung
des Staates beruht hingegen ausschließlich auf dem Willen des Staates selbst,
erhält ihre Sanktion in einem menschliche und juristische Kenntnis über-
steigenden, metaphysischen Vorgange, nämlich durch ihre Realisierung seitens
des Staates. Ihrem Inhalt nach birgt die Staatsverfassung einerseits Normen,
welche von der Gewaltenübung im Staate handeln, d. h. Grundsätze über
die obersten Staatsorgane, ihre Bestellung, ihr Verhältnis zueinander, ihre
510 Besp'recliimgen.
Kompetenzen, anderseits Normen über das Individualrecht, d. h. Grundsätze
über das Verhältnis des einzelnen zur Staatsgewalt, Das Individualrecht
umfaßt wieder zwei Bestandteile: Normen über die Rechte und über die
Pflichten des Staatsbürgers. Alle subjektiven öffentlichen Rechte der Staats-
bürger sind abhängig von Tatsache und Umfang der Anspruchsgewährung
seitens des Staates. Die subjektive Rechtssphäre ist eine gänzlich in der
Person des Individuums liegende Rechtstatsache. Das allgemeine Merkmal
des subjektiven öffentlichen Rechts besteht in seiner Richtung auf Befriedigung
eines individuellen Interesses, sowie darin, daß dem Individuum Schutzmittel
zur allseitigen Behauptung dieses Rechts gewährt sind. Die hieraus im kon-
kreten Falle fließenden Ansprüche der einzelnen gehen teils auf positive
Leistungen des Staates im Interesse eines individuellen Zweckes, teils auf
Unterlassung staatlicher Einwirkungen innerhalb einer bestimmten indivi-
duellen Rechtssphäre, teils darauf, als Organ des Staates zu fungieren und
an der Bildung staatlicher Organe teilzunehmen. Die Pflichten des Staats-
bürgers bestehen in der Gehorsamspflicht, in Sachleistungen, in der öffent-
lichen Diensti^flicht.
Nach diesen grundlegenden Ausführungen geht der Verf. dazu über,
das gewonnene Begriffsschema der Staatsverfassung auf die Verfassung des
Deutschen Reiches anzuwenden. Auch diese enthält Normen sowohl über
die Gewaltenübung im Reiche als auch über die grundsätzliche Stellung der
Reichsangehörigen zur Reichsgewalt. Nun fehlen zwar im Text der RV.
zahlreiche Normen aus beiden Gruppen, vor allem aus dem Individualrecht.
Gleichwohl ist im Reich ein umfassendes System subjektiver öffentlicher Rechte
des Individuums gemeinrechtlich begründet worden. Auch die Realisierbar-
keit des subjektiven Individualrechts läßt nichts zu wünschen übrig. Wenn
auch zu einem vollkommenen Rechtsschutz der Reichsangehörigen gegenüber
den Maßnahmen der Verwaltungsbehörden der allseitige Ausbau der Reichs-
Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Einführung von Verwaltungsgerichten in
einzelnen Staaten noch fehlt, kann man doch das Bestehen eines Verwaltungs-
rechtsschutzes im Reich nicht in Abrede stellen. Denn es besteht eine Fülle
unaljhängiger richterlicher Behörden auf dem Gebiete der Justiz und der
Verwaltung, die zum Teil durch das Reich, in der Hauptsache aber durch
die Gliedstaaten eingesetzt sind.
Den vorstehend skizzierten Ausführungen des Verf. kann wie im Er-
gebnis so auch fast dm-chweg in den Einzelheiten zugestimmt werden.
Besonders treffend und klar zum Ausdruck gelangt sind z. B. seine Dar-
legungen über die Entstehung des Staates, über die Entstehung der Ver-
fassung, über das Wesen der subjektiven öffentlichen Rechte, über die
begriffliche Notwendigkeit ihrer Realisierbarkeit. Nur hätte der Verf. mit
seinen Zitaten hier und da etwas freigebiger sein können, so z. B. S. 38 f.
in Anm. 21. Einzelne Bemerkungen sind nicht unbedenklich. Ist die Ver-
fassungsurkunde wirklich immer erst aus der Verfassung im materiellen Sinne
hervorgegangen (S. 18)? Man denke an die Verfassung des Norddeutschen
Bundes, des Deutschen Reichs. Ist der „materielle Geist" der RV. CS. 25)
ein juristischer Begriff? Wird nicht die Bedeutung des Individualrechts
gegenüber derjenigen der Grundsätze von der Gewaltenübung (S. 44) ein
wenig zu hoch gewertet?
Mit besonderem Interesse wenden wir uns nun den Folgerungen zu, die
der Verf. aus den grundlegenden Feststellungen für seine Theorie der Norm-
geltung zieht. Er untersucht zunächst den Begriff der „Geltung" nach ver-
fassungsrechtlichen Grundsätzen, um sodann zu ermitteln, ob und wieweit er
sich als Rechtsbegriff auf die Geltung von Verfassungsnormen anwenden
läßt. Und zwar erhebt er die Geltungsfi-age sowohl für die Verfassung als
Ganzes wie für die einzelne Verfassimgsnorm. Die Verfassung als Ganzes
„gilt" im staatlichen Innenverhältnis kraft der durch den Staatswillen voll-
zogenen Sanktion als Teil der staatlichen Rechtsordnung, im staatlichen
Besprechungen. 511
Außenverhältnis, d. h. im völkerrechtlichen Verkehr, kraft der durch den
Willen der Völkerrechtssubjekte vollzogenen Sanktion als Teil der völker-
rechtlichen Ordnung. Die Geltungsfrage der einzelnen Verfassungsnormen
läßt sich nur nach den besonderen Grundsätzen über die Gesetzesgeltung
beantworten. Hierbei ist davon auszugehen, daß es nicht nur eine Geltung
des Gesetzes als verfassungsmäßig erklärten staatlichen Willens (abstrakte
Geltung), sondern auch eine Geltung des Gesetzes im Augenblick seiner An-
wendung auf einen konkreten Tatbestand (praktische Geltung) gibt. Zwischen
diese beiden Geltungsbegriffe schiebt sich noch ein dritter Geltungsbegriff,
der der konkreten Geltung, ein. Konkrete Geltung ist in dem Augenblick
vorhanden, in dem der gesetzliche Tatbestand sich in einem Tatljestand des
täglichen Lebens verwirklicht. Ergebnis: Eine jede Rechtsnorm gilt an jedem
Orte, in jedem Personenverhältnis, in dem sie zu einer rechtmäßigen, prak-
tischen Anwendung gelangt. Wie die Verfassung als Ganzes besitzt auch
die einzelne Norm je nach der Beschaffenheit ihres gesetzlichen Tatbestandes
die Fähigkeit, sowohl auf staatsrechtlichem wie auf völkerrechtlichem Gebiete
zur Anwendung zu gelangen. „Die Verfassung als Gesamtordnung des Staates
ist an kein bestimmtes Territorium gebunden, sondern gilt, soweit wie der
Staat selbst gilt, wie seine positive Machtsphäre sich erstreckt. Die einzelne
Norm, die in ein Gesetz gekleidet ist und als Gesetz bewertet werden muß,
ist auch an kein bestimmtes Territorium gebunden, sondern gilt, soweit wie
ihre praktische Anwendung dm"ch ein Organ des Staates oder durch das
Individuum möglich ist. Wo immer daher die Verfassung als Totalbegriff
oder die Einzelnorm praktisch in Aktion treten, ist die Greltung der Ver-
fassung wie der Norm eine staatsrechtliche oder staatsrechtliche und völker-
rechthche zugleich, in allen Fällen aber eine juristische,"
Wendet man diese Ergebnisse auf die EV. als Ganzes an, so ergibt
sich die grundsätzliche Möglichkeit, daß die RV. in Gebieten juristisch gelten
kann und muß, in denen sie formell nicht eingeführt ist. Die Ansicht, daß
die RV. nur innerhalb des europäischen Reichsgebietes gelte, ist überdies
mit den Grundsätzen des Konstitutionalismus und der modernen internatio-
nalen Evolution der Staaten unvereinbar.
Wendet man jene Ergebnisse auf die einzelnen Normen des Reichs-
verfassungsrechts an, so ergibt sich der Satz, daß die allgemeine Verbind-
lichkeit der Gesetze soweit reicht, wie Angehörige des Staates sich aufhalten.
„Die einzelne Gesetzesnorm hat als verfassungsmäßig erklärter Reichswillensakt
eine regelmäßig nur personal begrenzte und damit territorialer Grenze nent-
hobene Verbindlichkeit für alle Reichsangehörigen (abstrakte Geltung). So-
bald an irgendeinem Orte, in irgendeiner Person oder einem Personenver-
hältnis sich der in ihr festgestellte gesetzliche Tatbestand verwirklicht, tritt
ohne weiteres ihre juristische Geltung in einem konkreten Einzelfall ein
(konkrete Geltung). Sobald ein Reichsorgan oder ein Reichsangehöriger in
Verfolg dieser juristischen Geltung die vom Gesetz geforderte Aktion in ihrer
Person eintreten lassen, wird das (besetz aktiv realisiert, sein Wille in den
Handlungen der betreffenden Personen lebendig (praktische Geltimg). Der
Eintritt der konkreten Geltung ist ein ohne individuelles Zutun eintretender
Rechtserfolg." „Der Geltungsbegi-iff hat mit dem Territorium nichts zu tun."
Die Normen über die Gewaltenübung und die Normen über das Indi\a-
dualrecht haben je einen potentiellen und einen aktuellen Geltungsbereich.
Während der potentielle Geltungsbereich der ersteren Normen mit den posi-
tiven Machtgrenzen des Reiches zusammenfällt, ist der der letzteren Normen
personal durch das Vorhandensein von Reichsangehörigen begrenzt. Während
der aktuelle Geltungsbereich der ersteren Normen sich durch deren staats-
und völkerrechtliche Realisierungsmöglichkeit bestimmt, erstreckt er sich bei
den letzteren Normen auf alle diejenigen staatsrechtlichen Gebiete und Per-
sonenverhältnisse, deren rechtliche Gestaltung eine Realisierung der fraglichen
Norm durch das Reich oder den Reichsangehörigen zuläßt. Die Gebunden-
512 Besprechungen.
heit aller dieser Normen an ein im voraus bestimmtes Territorium ist grund-
sätzlich ausgeschlossen.
Diese mit großem Scharfsinn angestellten Deduktionen dürften aller-
dings den Nachweis einer personalen Geltung reichsrechtlicher Bestim-
mungen im Auslande erbracht haben. Zu beachten ist jedoch, daß von per-
sonaler Geltung zu territorialer Geltung noch ein großer Schritt ist. Für
die Frage der Geltung reichsverfassuugsrechtlicher Normen in unseren Kolonien
ist aber nur der Beweis, daß diese Normen dort auch territorial gelten,
eine Lösung der die Literatur beschäftigenden Streitfrage. Prüfen wir nun-
mehr, was der Verf. uns in dieser Hinsicht neues bietet.
Im zweiten Buche seiner Schrift beschäftigt er sich mit der Frage der
Geltung der RV. (soll heißen : des Eeichsverfassungsrechts) in den deutschen
Kolonien. Die Herrschaft des Reiches über die Kolonien als Objekte der
Reichsgewalt ist territorialer, staatsrechtlicher Art. Die Kolonien liegen
ebenso wie das engere Reichsgebiet im potentiellen Geltungsbereich der
Normen über die Gewaltenübung und über das Individualrecht. Theorie
und Praxis leugnen das, indem sie die Geltung der RV. in den Kolonien
von der ausdrücklichen Ausdehnungserklärung abhängig machen. Zu Unrecht.
Wie Elsaß-Lothringen im Augenblick der Unterwerfung unter die faktische
staatsrechtliche Gewalt in den potentiellen Geltungsbereich der RV. getreten,
folglich dort von diesem Moment an die jederzeitige aktuelle Realisierimg
der Verfassungsnormen möglich geworden ist, so war dies auch bei den Ko-
lonien der Fall. In ihnen gelten alle Verfassungsnormen, die dort praktisch
angewendet werden. Aber auch die in ihnen nicht praktisch angewendeten
Normen haben gleichwohl die abstrakte wie auch die konkrete Geltung er-
langt. Soweit es sich dabei um Normen handelt, für deren praktische Geltung
die Kolonien nach ihrer kulturellen, sozialen und rechtlichen Entwicklung
reif sind, kann ihre Nichtanwendung daher eine Verfassungswidrigkeit
bedeuten.
Im einzelnen Ijetrachtet der Verf. auch hier zunächst die Normen über
die Gewaltenübung. Eine Reihe von Normen ist nur einmalig realisiert
worden, diejenigen nämlich, die sich auf den Erwerb der Kolonien beziehen.
Andere Normen, die die Organisation der Kolonien betreffenden, gelten heute
noch. Dahin gehören die Vorschriften über die Rechtsstellung des Kaisers,
die Zuständigkeit von Bundesrat und Reichstag zum Erlaß kolonialer Reichs-
gesetze, den Weg der Eeichsgesetzgebung, die völkerrechtliche Vertretung
der Kolonien, die Kriegserklärung. Hervorzuheben ist die sehr eingehende
und gründliche Stellungnahme des Verf. zu der eingangs dieser Besprechung
erwähnten Streitfrage über die Rechtfertigimg und Begründung der kolonialen
Gesetzgebungskompetenz von Bundesrat und Reichstag. (Vgl. dazu meine
Bemerkungen in der Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolo-
nialwirtschaft, 1912, Heft 5, S. 336, 337.)
Es folgt die Prüfung der Anwendbarkeit der Normen des reichsgesetz-
lichen Individualrechts. Auch hier glaubt der Verf. die Unhaltbarkeit des
Übertragungsprinzips dartun zu können. Den durch die positive Rechtsetzung
erfolgten Ausschluß des Individualrechts vom kolonialen Rechtsgebiet bezeichnet
er als Verstoß gegen den durch die rechtliche Struktur des Reiches unmittelbar
realisierten Grundsatz der konstitutionellen Herrschaftsübung — auch in den
Kolonien. Aus diesem Grundsatz und aus dem Begriff der Reichsangehörigkeit
folgert er, daß auch das subjektive Individualrecht grundsätzlich überall vor-
handen sein muß, wo konstitutionelle Reichsgewalt und Reichsangehörige
zusammentreffen, insbesondere also in den Kolonien, wo jenes Zusammen-
treffen auf der Grundlage territorialer, staatsrechtlicher Maehtlage der Reichs-
gewalt erfolgt. An die Stelle des Übertragungsprinzips hat demnach auch
hier das Geltungsprinzip zu treten. Das Individualrecht ist ein Zustand, in
den der einzelne nicht kraft territorialer Beziehungen, sondern durch den
Erwerb der Staatsangehörigkeit eintritt. Das gesamte Individualrecht gilt
Besprechungen. 513
überall, wo Eeichsangehörige vorbanden sind, auch im Ausland und in den
Kolonien. Sobald der gesetzliche Tatbestand der Norm sich in einen positiven
des praktischen Lebens verwandelt, erlangt die Norm konkrete Geltung, der
sodann die praktische Anwendung zu folgen hat.
An diese theoretische Grundlegung schließt sich der positive Beweis an,
daß diese Geltungstheorie auch für das koloniale Individualrecht wirklich
einem praktischen Bedürfnis entspricht. Der Verfasser will hier jedoch keine
lückenlose Darstellung bieten, sondern in erster Linie das Individualrecht
unter dem Gesichtspunkt der Konsetfuenzen der Übertragungstheorie beleuchten.
Er weist darauf hin, daß es Theorie und Praxis auch bezüglich des Individual-
rechts nicht gelungen sei, den Grundsatz der Formalübertragung ganz folge-
richtig durchzuführen, daß auch da, wo letzteres erreicht ist, doch zum Teil
erhebliche theoretische und praktische Mißstände zutage getreten seien. Auf
den nun folgenden Rundgang durch das koloniale Individualrecht soll hier
nicht im einzelnen eingegangen werden. Erörtert werden das koloniale
Eechtsmittelwesen (Rechtsschutz auf dem Gebiete der .Justiz und der Ver-
waltung), die subjektiven öffentlichen Rechte, und zwar die politischen Rechte
(Wahlrecht zum Reichstag, zu einer partikularen Kammer, zu einem kolonialen
Landesparlament, zu kommunalen Körj^erschaften), die bürgerlichen Rechte
(Recht des Aufenthalts im Staatsgebiet, Anspruch auf staatlichen Schutz und
Fürsorge), die individuellen Freiheitsrechte (Begriff derselben, die einzelnen
Rechte: Unverletzlichkeit der Person, der Wohnung und der Papiere, Fi-eiheit
der persönlichen und wirtschaftlichen Bewegung, Gewerbefreiheit. Verehe-
lichungsfreiheit, Bekenntnisfreiheit, Preßfi'eiheit, Unverletzlichkeit des Ver-
mögens), Beschwerde und Petition, die staatsbürgerlichen Pflichten (zu Dienst-
und Sachleistungen).
Auch dieses zweite Buch der Schrift gibt im einzelnen wie im ganzen
zu Bedenken Anlaß. Nicht zu billigen sind von den einzelnen Ausführungen
vor allem diejenigen über die Geltung der RV. in Elsaß-Lothringen (S. 115,
116) und über die Rechte des Bundesrats (S. 131, in der Anm.). Hinsichtlich
der Darstellung im ganzen ist vor allem zu bemerken, daß es dem Verf.
nicht gelungen ist, den überzeugenden Nachweis der territorialen Geltung
deutscher Verfassungsvorschriften in den Kolonien zu erbringen. Allerdings
glaubt er diese territoriale Geltung nachgemesen zu haben, doch ist die Be-
gründung dieser Behauptung durchaus unzulänglich. Er führt aus: „Ist der
Herrschaftsbereich, in dem die Norm praktisch realisiert wird, lediglich per-
sonal begrenzt, so ist auch die Geltung der Norm nur personaler Art. Ist
dagegen der Herrschaftsbereich der Reichsgewalt unmittelbar und ausschließ-
lich unterworfen, wie in den Kolonien, so erlangt die Norm mit der ten-i-
torialen Machtlage des sie einführenden Reichswillens ohne weiteres auch
die territoriale Geltung. Mit dieser Deduktion wird man sich abfinden müssen,
denn für alle ohne besonderen Rechtstitel in den Kolonien angewandten
Normen läßt sich eine andere Geltungskonstruktion eben nicht finden — es
sei denn, daß man seine Zuflucht zu dem für diese Frage immer bedenklichen
Gewohnheitsrecht nimmt" (S. 143). Ich vermag in diesen Worten, deren
im Gegensatz zu der sonst entschiedenen Ausdrucksweise des Verf. recht
zaghafte Formulierung sehr bezeichnend ist, nur eine unbewiesene Behauptung
zu erblicken. Den vollen Beweis, daß verfassungsrechtliche Normen nicht
bloß personal, sondern auch temtorial gelten, ist uns der Verf. schuldig
geblieben. Dieser Nachweis läßt sich m. E. nur erbringen durch die Fest-
stellung, daß solche Normen diarch eine irgend^\^e geartete Erklärung der
zuständigen Reichsorgane auf die Kolonien übertragen worden sind. Das
vom Verf. so scharf bekämpfte Übertragungsprinzip dürfte
daher der Geltungstheorie nach wie vor vorzuziehen sein. Denn
nur mit seiner Hilfe ist der Beweis territorialer Geltung ver-
fassungsrechtlicher Normen in den Kolonien konstruktiv zu er-
bringen, während die Geltungstheorie hier versagt.
Zeitschrift für Politik. 6. 33
514 Besprechungen.
Trotz alledem muß rückhaltlos anerkannt werden, daß der Verf, mit
seinen scharfsinnigen, gründlichen, gewandt abgefaßten Ausführungen einen
außerordentlich wertvollen und verdienstlichen Beitrag zur weiteren Klärung
eines schwierigen kolonialrechtlichen und auch kolonialrechtspolitisch be-
deutsamen Problemes beigetragen hat. Das Buch ist eine der besten wissen-
schaftlichen Leistungen, die uns in den letzten Jahren auf kolonialrechtlichem
Gebiet beschert worden sind.
Knüpfen wir zum Schluß eine kurze Betrachtung de lege ferenda an.
Daß der Verf. keine solche anstellt, ist folgerichtig von seinem Standpunkte
aus. Gilt nach seiner Auffassung heute bereits — vorbehaltlich allerdings
der praktischen Anwendung — das ganze Reichsverfassungsrecht im materiellen
Sinne abstrakt und konkret in unseren Kolonien, so entfällt damit das Problem
der Erstreckung von Normen der Eeichsverfassung auf die Kolonien im Wege
der Einführung. Vertritt man hingegen den Standpunkt, von dessen Un-
richtigkeit mich die Ausführungen des Verf. nicht haben überzeugen können,
daß die Reichsverfassung in den Kolonien territorial geltendes Recht nur
insoweit ist, als ihre Vorschriften ausdrücklich oder stillschweigend auf sie
ausgedehnt worden sind, so stehen wir vor der rechtspolitischen Frage, ob
eine solche Ausdehnung weiterer Vorschriften der RV. oder gar der ganzen
RV. auf die Kolonien ratsam ist. Daß der Gedanke der Einführung der ganzen
RV. infolge der großen ethnographischen, wirtschaftlichen und kulturellen
Gegensätze zwischen Mutterland und Kolonien in absehbarer Zeit keine Ver-
wirklichung finden kann, bedarf wohl keiner tieferen Begi'ündung. Umgekehrt
erscheint es dringend notwendig, diejenigen Vorschriften der RV., welche
heute bereits — auch mangels ausdrücklicher Einfühi-ung — als in den Ko-
lonien geltend bezeichnet werden müssen, im Interesse der Rechtssicherheit
nun auch formaljurisch auf die Kolonien zu erstrecken. Wieweit in diesem
Falle noch anderweitige Vorschriften der RV. in die Übertragung miteinzu-
beziehen wären, läßt sich nicht prinzipiell, sondern nur nach der einzelnen
konkreten Rechtsnorm beantworten. Bezüglich der äußeren Form dieser ge-
setzlichen Maßnahmen darf ich auf meinen Vorschlag in der Ki'üger-Festgabe
(a. a. 0. S. 445) verweisen: Diejenigen Vorschriften der RV., welche als still-
schweigend im Wege der Gesetzgebung oder auf Grund gewohnheitsrecht-
licher Übung auf die Kolonien ausgedehnt zu erachten sind, gemeinschaftlich
mit den übrigen wichtigeren kolonialstaatsrechtlichen Bestimmungen und den
einzelnen sonst etwa noch für die Kolonien geeigneten Vorschriften der RV.
in einem besonderen kolonialen Staatsgrundgesetz zusammenzufassen. Die be-
vorstehende Kolonialrechtsreform bietet Gelegenheit zu dieser Neugestaltung.
Möge diese Gelegenheit ergriffen werden zur Beseitigung eines für Theorie
und Praxis gleich unerquicklichen Zustandes. Friedrich Giese.
Richard Seligmann, Die staatsrechtliche Stellung des deutschen Reichstags-
präsidenten. Frankfurt a. M. 1912. Druckerei Jacob und Alfred Mayer.
VI und 112 S.
Die vorliegende, klar geschriebene, aus den Quellen schöpfende, aber
auch die Literatur sorgfältig verwertende Arbeit will — anders als es der
Titel vermuten läßt — „das Recht" (nicht, wie Verf. im Text wiederholt
holt sagt, nur „die Rechte") des Präsidenten des deutschen Reichstages dar-
stellen. Diese Aufgabe hat der Verf, in anerkennenswerter Weise erfüllt,
wenngleich er seine Absicht, nur von der lex lata zu sprechen und jedes
politische Moment auszuschalten, nicht in vollem Umfange zur Ausführung
gebracht hat (vgl. etwa S. 37, 39, 41 f., 61).
Die Abhandlung gliedert sich in acht Hauptabschnitte: I. Die gesetz-
lichen Grundlagen der Befugnisse des Reichstagspräsidenten. 11. Die Wahl
des Präsidenten. III. Der Präsident als Mitglied der kollegialen Organe des
Besprechungen. 515
Reichstages. IV. Die Tätigkeit des Präsidenten in den Plenarsitzungen.
(1, Die Leitung der Verhandlung: a) Die Festsetzung der Tagesordnung;
b) kann der Präsident mit rechtlicher Wirkung eine geheime Plenarsitzung
beantragen?; c) die Vollziehung des .Sitzungsprotokolls; d) die Handhabung
der Redeordnung; e) die Leitung der Abstimmung; f) Funktion des Präsi-
denten bei Feststellung der Beschlußfähigkeit [gemeint Beachlußunfähigkeit]
des Hauses; g) ist der Präsident Subjekt der Auslegung der Geschäfts-
ordnung? — 2. Die Handhabung der Ordnung: a) gegenüber den Reichstags-
mitgliedern ; b) gegenüber den Bundesratsmitgliedem etc. ; c) gegenüber den
Reichstagsbesuchern.) V. Urlaubserteilung. VI. Vertretung des Reichstags
nach außen und Ausgabendekret. VII. Anstellung der Reichstagsbeamten.
Vin. Verhältnis des Präsidenten zu den Quästoren.
In diese Kapitel ist allerdings nicht weniges hineingebracht worden,
was nur sehr lose und äußerlich mit dem Recht des Reichstagspräsidenten
zusammenhängt, wie denn z. B. die Frage nach der Zulässigkeit geheimer
Reichstagssitzungen und den Folgen ihrer Abhaltung, nach der Redezeit der
Abgeordneten, nach der Geschäftssprache und den Abstimmungsformen und
wie ferner das parlamentarische Disziplinarrecht in einer Ausdehnung behandelt
ist, die nicht im rechten Verhältnis zum Thema steht. Wenn man andererseits
in der Erörterung der Behandlung von Interpellationen einen Hinweis auf die
Funktionen des Präsidenten bei den sog. „kurzen Anfragen" vermißt, so mag
der Zeitpunkt des Abschlusses der Schrift diesen objektiven Mangel erklären.
Dagegen fällt aiif, daß der Verf. S. 88 f. behauptet, außer dem Reichsrecht
kenne in Deutschland nur das braunschweigische Parlamentsrecht die Strafe
der Ausschließung eines Abgeordneten wegen Ordnungsverletzung, die Aus-
schließungsbefuguis fehle insbesondere dem Präsidenten des preußischen Ab-
geordnetenhauses (s. aber die Bemerkung S. 84 unter Anm. 2).
Was die Abhandhmg über den Durchschnitt juristischer Anfängerarbeiten
entschieden hinaushebt, das ist, abgesehen von ihrer sachlichen Darstellungs-
weise, die besonnene, ruhige und selbständige Kritik, mit welcher Verf. zu
den in der Literatur vertretenen Ansichten Stellung nimmt. Die Polemik
richtet sich naturgemäß auch gegen den Unterzeichneten, dessen autonomes
Reichstagsrecht der vorliegenden Schrift in nicht unerheblichem Umfange zur
Grundlage gedient hat. Eine Auseinandersetzung mit dem Verf. ist an dieser
Stelle natürlich ausgeschlossen. Doch steht Ref. nicht an, in einem wichtigen
Punkte, nämlich bezüglich des Umfanges des Rechtes des Reichstagspräsidenten
zur Auslegung der Geschäftsordnung, seine bisherige Auffassung zugunsten
der von S. 53 f. vertretenen zu modifizieren. Dagegen kann Ref. der auch
von S. (S. 98 f.) vertretenen Ansicht, nach welcher dem Reichstag und. kraft De-
legation, seinem Präsidenten im Reichstagsgebäude wahre Polizeigewalt „und
zwar hauptsächlich Befugnisse und Pflichten der Sicherheitspolizei" zustehen
sollen, nicht zustimmen, da es an jeder gesetzlichen Bestimmung fehlt, welche
den Reichstag, im Gegensatz zu allen anderen Reichsorganen,
mit derartigen Befugnissen der Exekutive ausstattete. Kurt Pereis.
L. Luzzatti, Freiheit des Gewissens und Wissens. Studien zur Trennung
von Staat und Kirche. (Übersetzung von Dr. I. Bluw stein, mit
einem Bildnis des Verfassers.) Leipzig 1911. Dunker & Humblot.
XrV u. 155 s.
Der Verf., Professor an der Universität Rom und früher italienischer
Ministerpräsident, hat 1909 ein Buch veröffentlicht: „Libertä di coscienza e
di scienza; studi storici del diritto costitutionale." Aus diesem Buche werden
in der vorliegenden Übersetzung einige Ausschnitte wiedergegeben, die jedoch
vom Verfasser teils umgeändert, teils mit Zusätzen und einer Vorrede ver-
sehen worden sind, „so daß diese deutsche Ausgabe gegenüber der italienischen
33*
516 Besprechungen.
Vorlage als vervollkommnet gelten darf". Wenn auch der Übersetzer hervor-
hebt, daß vor allem diejenigen Ausschnitte ausgewählt seien, die die Stellung der
Kirche im modernen Staate behandeln, so darf man doch nicht etwa eine
grundlegende Auffassung von Staat und Kirche erwarten, wie sie seinerzeit
Marco Miughetti in seinem, in der italienischen Literatur auch heute noch
nicht übertroffenen Werke gegeben hat. Vielmehr handelt es sich wesentlich
um Erörterungen des Gegensatzes und der Vereinbarkeit von Glaube und
Wissen, die in der erhabenen Sprache romanischer Beredsamkeit vorgetragen
werden. Sie sind erfüllt von einem edlen Feuer der Begeisterung für das
Gute und Hohe, ja man wird zuweilen so sehr in die Wolken erhoben, daß
man fast Sehnsucht nach dem harten trockenen Brot nüchterner Erkenntnis
der Tatsachen verspüren könnte. Und man möchte meinen, daß Luzzatti
auch sie zu bieten vermöchte, hat er doch, wie sein Übersetzer berichtet,
26 Handelsverträge abgeschlossen, und weiß er doch selbst dm-chaus jenen
idealen Zug mit der Wertschätzung der Einrichtungen des modernen Bank-
und Börsenwesens zu verbinden. Er preist den Schotten, „der zu derselben
Zeit den religiösen Geist Calvins erfaßte, den starrsten, der den menschlichen
Willen der unwiderruflichen Vorherbestimmung nach göttlicher Entscheidung
preisgibt und — der die Emissionsbanken moderner Ai-t erfand, die mit-
einander in Wettbewerb traten".
Der Grundgedanke Luzzattis, der vor allem in den beiden letzten
Untersuchungen ausgesprochen ist, besteht darin, daß Wissen und Glauben
getrennt zu halten seien, daß die Bedeutung der Wissenschaft nicht in der
Auflösimg des Glaubens bestehen könne. Er verwirft im Sinne eines, wie
er sagt, wissenschaftlichen Idealismus den Materialismus. Diese Trennung
von Glauben und Wissen wird nun, wenn ich ihn richtig verstehe, auch
politisch wichtig; denn sie macht die Trennung von Kirche und Staat not-
wendig. Wie diese Trennung im einzelnen rechtlich beschaffen sein soll,
wird nicht erörtert. Der Verf. hält lediglich an dem Satze der „freien Kirche
im souveränen Staate" fest, lehrt also, in der Sprache des deutschen Staats-
rechts ausgedrückt, daß die Kirchen unter allen Umständen unter der Hoheit
des Staates bleiben. Er erkennt richtig, daß alle Gesetzgebungen, die
sich auf die Trennung von Staat und Kirche beziehen, ausgegangen
sind entweder von der „Reinheit des religiösen Gefühls" oder vom Anti-
klerikalismus. „Sie gehen einmal vom Glauben, das andere Mal vom Un-
glauben aus; bald begünstigen sie das religiöse Leben, bald wollen sie es
unterdrücken".
Der Verf. untersucht nun an drei Beispielen die Trennung von Staat
und Kirche, nämlich an dem Rechte der Vereinigten Staaten von Amerika,
Frankreichs, Japans und Indiens. Es folgen sodann Bemerkungen über die
Stellung der Kirche zum Staate in Italien, der Schweiz und in Schottland.
Es wird nicht beabsichtigt, eine neue wissenschaftliche Erkenntnis zu ver-
mitteln, sondern die Ausführungen sollen lediglich den theoretischen Grund-
gedanken erläutern. Ob dies immer gelungen ist, wage ich nicht zu ent-
scheiden. Es scheint mir, als ob der Verfasser nicht stets das Wesentliche
gesehen hätte, zuweilen an nebensächlichen Einzelheiten haften geblieben
wäre, ganz abgesehen davon, daß ihm wichtige Tatsachen unbekannt geblieben
sind, so z. B. die neuere Gesetzgebung auf kirchenpolitischem Gebiete im
Staate New-York und anderer amerikanischer Gliedstaaten, deren Kenntnis
den Verf. zweifellos zu weiteren Ausführungen veranlaßt hätte, — wenn ihm
nicht lediglich die ältere, wesentlich in den 60 er und 70 er Jahren erschienene
Literatur des amerikanischen Staatskirchenrechts bekannt gewesen wäre. Der
Verf. kommt zum Schlüsse, daß es für die Regierungen und Parlamente die
einzige Pflicht sei, „die vollste Freiheit den Gottsuchenden und den Wahrheit-
suchenden zu gewährleisten". Das Ziel erblickt er darin, „die Wissenden
weniger anspi-uchsvoU und die Gläubigen mehr demütig zu machen, die
gegenseitige Achtung in Diesen und Jenen zu erwecken, die Gläubigen fühlen
Besprechungen. 517
zu lassen, daß ihr Glaube ohne Freiheit seiner Lebensnahrung entbehrt und
die Gelehrten, daß iu den moralischen und religiösen Wahrheiten sich auch
ein Wissensgchalt findet, der nur mit anderen von der wissenschaftlichen
Logik verschiedenen Methoden beweisbar ist, von dem aber die soziale Güte
und Solidarität ihre größten Einflüsse bekommen können".
Gewissermaßen zur Bekräftigung des Gesagten führt Luzzatti schließlich
einige Vertreter der Freiheit des Gewissens und des Kultus an und zwar
solche, die dem größeren Kreise der Gebildeten heute teils noch unbekannt,
teils nicht mehr in Erinnerung sind, nämlich den König Asoka, Themistins,
Studita, Bernhard von Clairvaux, Spinoza. Auch hier möchte mir
fast scheinen, als ob das heilige Feuer der Begeisterung ein wenig Eauch
entwickelt hätte, so daß dem Verfasser die volle geschichtliche Wahrlieit
nicht stets ganz deutlich geworden wäre. Zum Beisjnel erscheint mir zweifel-
haft, ob Spinoza „ein Heiliger der Philosophie als Verkünder der Freiheit
des Gewissens und Wissens" so schlechthin für den Gedanken der unum-
schränkten Gewissensfi-eiheit und der Trennung von Staat imd Kirche in
Anspruch genommen werden dürfe. Denn in dem „Theologisch-politischen
Traktat" lesen wir wohl eine glänzende Verteidigung der freien Meinungs-
äußerung, aber wir finden andererseits im 19, Kapitel dortselbst auch den
Satz, „daß das oberste Eecht in Eeligionsangelegenheiten bei der Staats-
gewalt sein müsse und daß der äußere Gottesdienst dem Frieden des Staats
angepaßt werden müsse, wenn man Gott recht gehorchen wolle". Spinoza,
der hier zweifellos sehr stark von Hobbes beeinflußt ist, macht sich von der
Vorstellung des Staatskultes durchaus nicht frei. Er verteidigt gegenüber
der auch von ihm für notwendig erachteten Einheit der Religion im Staate
lediglich das Eecht der inneren Eeligion. Und es ist ja auch nicht un-
bekannt, daß er in dem nach seinem Tode veröffentlichten „Politischen
Traktat" zwar „eine Ai't Trennung von Staat und Kirche für die Monarchie"
empfiehlt, dagegen für aristokratisch regierte Staaten die Aufrechterhaltuug
einer Staatsreligion für angemessen erachtet.
Im ganzen ist die Schrift das Zeugnis einer auf stark optimistischer
Grundlage fußenden Fi-eiheitsüberzeugi;ng. .Dieser Liberalismus bleibt un-
bedingt grundsatztreu und erscheint nicht, wie dies oft auf dem Gebiete der
Kirchenpolitik der Fall ist, als Antiklerikalismus. Luzzatti gehört nicht zu
jenen in den romanischen Ländern häufigen Anhängern der Trennung von
Staat und Kirche, die diese zur Bekämpfung des Glaubens und der Kirchen
benützen wollen, sondern er ist gi'undsätzlich von jenem Liberalismus erfüllt,
der auf der Achtung jedes geistigen Strebens beruht, wie ihn in Italien schon
Cavour und Minghetti gelehrt haben.
Die Gründe, die seit Jahrhunderten zugunsten der Freiheit des Ge-
wissens und Wissens, d. h. der geistigen Bewegung vorgebracht werden,
lassen sich schließlich auf drei Hauptgedanken zurückführen: Einmal meinen
kühl urteilende Beobachter des Lebens, daß Gewissenszwang ein unge-
eignetes Mittel zu dem beabsichtigten Zwecke, der Herrschaft einer Meinung,
sei, ja daß er \äelleicht sogar auf den Staat schädlich wirke. Sie lassen, da
sie nur die Zweckmässigkeit des Gewissenszwanges prüfen, die Frage nach
dessen Rechtsgrund offen. Andere betonen, daß Glaubenszwang nicht nur
unwirksam sei, sondern ein Verbrechen gegen Gott selbst darstelle, indem
der Gezwungene widerwillig am Gottesdienst teilnehme, daß die Sittlichkeit
des Gezwungenen zerstört werde, indem er gegen die Wahrhaftigkeit sündige
und zum Lügner und Heuchler gemacht werde; daß also das Wesen der
Eeligion verkannt und dem angestrebten Zwecke zuwidergehandelt werde.
Und endlich wird das Recht zum Glaubenszwang überlaaupt bestritten.
Denn es sei unsittlich, daher unerlaubt, einen Menschen in seiner Meinung
oder Überzeugung zwingen zu w^ollen. Es handle sich hier um ein höchstes
unveräußerliches Gut der Persönlichkeit, auf das jeder Mensch kraft Gottes
Willen oder kraft Naturrecht einen unverlierbaren Anspruch habe. Zu dieser
518 Besprechungen.
Anschauung, bei der die Frage der Zweckmäßigkeit und Wirksamkeit aus-
geschieden und lediglich die nach der Berechtigung gestellt wird, tritt noch
ein weiterer Beweisgrund, der von einer anderen Auffassung bestimmt ist.
Wenn nämlich der Zwang zu einem bestimmten Glauben, die Beschränkung
der Freiheit der Wissenschaft, damit begründet wird, daß ja die allein gel-
tende Wahrheit bekannt sei, daß es daher sündhaft und strafbar sei, sie nicht
anzunehmen, daß also der Irrtum kein Recht haben könne, so wird dieser
von der katholischen Kirche an in allen möglichen Abstufungen vertretenen
Meinung die zweifelnde Frage entgegengesetzt: „Was ist Wahrheit?" Seit
dem Altertum ist dieser Zweifel nie erloschen, die Meinung, daß man Gott
in den verschiedensten Formen verehren könne, ist von dem Deismus ver-
treten worden, und heute ist diese Gedankenrichtung immer mehr im Vor-
dringen. Die Berechtigung des Gewissenszwanges wird also damit bestritten,
daß ja die Voraussetzung für die Beschränkung des Wissens und Gewissens,
nämlich der Besitz einer unbezweifelbaren Wahrheit nicht gegeben sei.
Diese vier Hauptgedanken sind in der Geschichte teils einzeln, teils
verbunden immer wieder zugunsten der Gewissensfreiheit vorgebracht worden.
Luzzatti ist vornehmlich jenen zuzurechnen, die aus sittlichen Gründen und
aus Achtung vor der Persönlichkeit ohne Vorbehalte für volle Freiheit ein-
treten. Wenn trotzdem die Wirkung seiner Schrift nicht so sehr stark ist,
so mag dies daran liegen, daß sie im ganzen weich, fast lyrisch gehalten ist,
nicht in jenem leidenschaftlich tiefen Ernste und der schneidenden Schärfe,
die die klassischen Verteidiger der Gewissensfreiheit auszeichnet.
Karl Rothenbücher.
Othmar Spann, Zur Soziologie und Philosophie des Krieges. Berlin 1913.
J. Guttentag. 39 S.
Diese Arbeit ist die Wiedergabe eines Vortrags, den der Verf. im
„Verbände Deutsch-völkischer Akademiker" in Brunn gehalten hat. Wer den
Wert des Krieges in kurz gefaßter Schilderung sich vorführen lassen will,
der greife zu der kleinen Schrift. Sie kann die „Philosophie des Krieges"
von Rudolf Steinmetz, die im ersten Bande der „Zeitschrift für Politik"
durch L. v. Wiese besprochen wurde, natürlich nicht ersetzen. Als Ein-
führung in die Probleme aber ist sie vorzüglich. Heute, wo die Welt-
anschauung des Imperialismus, des Prinzips der äußersten Zusammenfassung
aller Kräfte des Staates zu Zwecken wirtschaftlicher und territorialer Ex-
pansion, immer weiteren Anhang gewinnt, ist der Pazifismus zweifellos in
den Hintergrund gedrängt worden. Von hier aber bis zur grundsätzlichen
Anerkennung des Ki'ieges ist doch noch ein weiter Schritt. Ihn versuchen
sowohl Steinmetz wie Spann zu tun, wobei sich die beiden jedoch in be-
merkenswerter Weise voneinander unterscheiden. Steinmetz gehört einer
älteren, mehr demokratisch gerichteten Generation an, und er verweilt des-
halb auch, so sehr er dem Kriege anhängt, ausführlich bei den Einwendungen,
die gegen ihn gemacht werden können. So geht denn durch sein Buch
immerhin ein etwas skeptischer Zug. Seit 1907 aber ist erst eigentlich der
Imiierialismus hochgekommen. Von ihm, der zwar ein Gedanke ist, der das
ganze Volk entflammen will und muß, der aber doch auf die einzelnen, auf
die Führermenschen, abzielt, ist Spann stark beeinflußt. Er verbindet diesen
Aristokratismus ganz im modern-konservativen Sinne mit dem Staatsgedanken
und gewinnt hierdurch das Begeisternde, das diesen vorwärtsstürmenden
Ideen eigentümlich ist. Freilich galoppiert er dabei auch über sehr heftige
Bedenken gegen den Krieg glatt hinweg, vor allem über dessen kontra-
selektorische Wirkungen. Gewiß erwähnt er, daß die Menschenverluste, die
der Krieg mit sich bringt, eine negative Auslese darstellen, weil sie die ge-
svmdesten und kräftigsten Männer im besten Alter treffen, aber er geht dieser
Frage nicht weiter nach. Steinmetz widmet der Kontraselektion ein be-
Besprechungen. 519
sonderes (das achte) Kapitel. Hier findet sich die wohl endgültige Lösung
des Pix)blems. Steinmetz erklärt, daß für die Menschheit der Nachteil der
individuellen Kontraselektion durch die günstige Kollektivselektion wett-
gemacht werde. Sie verliere mehr an den Begabten des besiegten Volkes,
als ohne Ki'ieg der Fall wäre, dafür aber werde das siegende V'^olk empor-
gehoben.
Nach einer anderen Richtung hat Spanns Enthusiasmus freilich seine
Vorzüge: er bringt ihn dazu, letzte große Gesichtspunkte zu finden. Vom
Staate ausgehend, den er mit vollem Recht für unendlich mehr hält als nur
ürdnungs- und Herrschergewalt, nämlich für die oberste Zusammenfassung
aller Geistes- und Kulturgemeinschaft, erkennt er Staat und Nation nicht
als bloße Mittel des Lebens, sondern als das Leben selbst. „Im Kriegsopfer",
sagt er, „wird also das Leben nicht dem Staate als einem Mittel des Lebens
geopfert, sondern dem Staate als dem Träger des Lebens selbst. Das Leben
wird sich selbst geopfert, seinen eigenen höheren und letzten Zwecken.
Diejenigen Opfer, die wir dem Leben bringen, müssen wir auch dem
Staate bringen."
Spann nennt den Krieg dasjenige Organ, mit welchem die internationale
Entwicklung ihre großen politischen Wirkungen erzielt. Der Krieg ist Ent-
wicklungsträger, und deshalb gerecht. Die großen Kriege entscheidet nicht
rohe Gewalt und der Zufall der Schlachten, sondern der Gang der großen
Entwickhmg, alles Können und Wollen der Gemeinschaft. Indem die Staaten
für den Ki'ieg alle ihre inneren Kräfte zusammenfassen und nach außen zum
Schlagen bringen müssen, wird der Aufbau ihres eigenen Kräftesystems klar.
Diese Gerechtigkeit des Krieges macht sich nach Spann im großen und
ganzen geltend. In diesem Punkte geht Steinmetz weiter. Er erklärt
die Gerechtigkeit des Krieges für eine unfehlbai-e, nie aussetzende. Ich
möchte mich mehr für die vorsichtigere Fassung Spanns erklären. Ohne den
zweifelhaften Zufallsbegriff hier einführen zu wollen, läßt es sich doch nicht
bestreiten, daß im Kriege manchmal auch untergeordnete Dinge von ent-
scheidendem Einfluß sind. In den meisten Fällen finden diese Dinge durch
andere günstige Momente ihre Kompensation, und so siegt hier schließlich
die Gerechtigkeit. Es lassen sich aber auch Fälle aufzählen, in denen solche
Kompensation nicht eintrat. Immerhin sei zugegeben, daß diese Ausnahmen
für die prinzipielle Beurteilung des Krieges nicht mitzählen.
Noch tiefere und nachhaltigere Wirkungen als für den Staat hat der
Krieg nach Spann für den Einzelnen. Der Krieg hebt jeden Einzelnen über
das Maß seiner Natur hinaus ; er erreicht beim gemeinen Manne das, was im
Frieden die Philosophie nur bei wenigen Auserwählten erreicht. Dies ist
durchaus richtig; wenn aber Spann weiterhin erklärt, daß auf diese Weise
der Krieg, indem er die metaphysische Empfindung aufs gewaltigste in einem
Volke weckt, zur Geburt der Philosophie und, indem die Tatkraft zu dieser
Empfindung hinzutrete, auch der Kunst führe, so generalisiert der Verf. doch
allzu sehr. Der Krieg von 1870 hat auf deutscher Seite weder die Geburt
der Philosophie noch die der Kunst zuwege gebracht. Im Gegenteil zeigte
sich nach dem Kriege ein lediglich materieller Aufschwung so starken Grades,
daß dagegen geistige Tendenzen gar nicht aufkamen. Auch während des
deutsch-französischen Krieges ist, wie man schon öfters nicht ohne Erstaunen
bemerkt hat, wenig gute Dichtung geschaffen worden. Hier liegt zweifellos
ein Problem, das mit dem viel weiteren Prolilem zusammenhängt, ob staat-
lich starke oder staatlich schwache Völker mehr für Kunst und Wissenschaft
geleistet haben. Politisch unbefriedigende Verhältnisse vermögen vielleicht
den Blick mehr nach innen, auf die geistigen Werte zu lenken. Spann ist
der Erörterung dieser Frage ausgewichen.
Die Lösung scheint mir im folgenden zu liegen: Das Größte in der
Welt entsteht nicht aus der Erfüllung, sondern aus der Sehnsucht. So werden
saturierte Völker in kulturellen Dingen stets weniger leisten als Völker, die
520 Besprechungen.
ihr Ziel noch vor sich haben. Es kommt nun alles darauf an, einem Volk,
hat es einmal ein Ziel erreicht, sofort wieder ein neues Ziel zu schaffen. Ge-
lingt das, so kann sich der Zustand der Saturiertheit niemals einstellen.
Andererseits werden Völker, die so zurückgekommen sind, daß sie überhaupt
kein großes Ziel mehr aufbringen können, keine wirklichen Kulturleistungen
aufweisen. Nur an sich starke Völker also, die aber nach irgendeiner Eichtung
noch unbefriedigt sind, haben eine bedeutende Kunst und Wissenschaft. Im
Kriege von 1870 kamen die deutschen Erfolge wohl zu rasch, es folgte alles
zu sehr Schlag auf Schlag, als daß sich eine große Sehusuchtsstimmung
hätte durchringen und ein Boden für die Kunst hätte bereitet sein können.
Nach einem glücklichen Kriege aber kommen erst so viele Segnungen, daß
neue ideelle Ziele bedeutender Art kaum sofort mächtig werden. Die
Tatsache jedoch des glücklichen Krieges wirkt so stärkend avif das Volk,
daß es einige Zeit später befähigt ist. neue große Aufgaben ins Auge
zu fassen. Diese Aufgaben erwecken wieder die Sehnsucht und damit wieder
die Kultur. So ist schließlich der Krieg zwar nicht unmittelbar, aber mittel-
bar der Erzeuger großer Kulturwerke. Von diesen nach außen in die Er-
scheinung tretenden Werken scharf zu sondern ist die ideelle Stimmung, die
im kämjjfenden Volke hervorgerufen wird. Sie ist in jedem Falle vorhanden.
Sie wirkt oftmals auch über den Krieg hinaus nach, aber eben ohne not-
wendig sogleich bemerkenswerte Kultm-leistungen im Gefolge zu haben. —
Diese andeutenden Hinweise müssen an dieser Stelle genügen.
Adolf Grabowsky.
Albert B. Faust, Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten in seiner
geschichtlichen Entwicklung. Leipzig 1912. B. G. Teubner. Vm und
504 S. 9 Mark, und : Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten in
seiner Bedeutung für die amerikanische Kultur. Leipzig 1912.
B. G. Teubner. XU und 447 Seiten. 9 Mark.
Eiue Chicagoer Dame, Frau Katherine Seipp, stiftete 1904 Preise
für die drei besten Arbeiten über „das deutsche Element in den Vereinigten
Staaten unter besonderer Berücksichtigung seines politischen, ethischen,
sozialen und erzieherischen Einflusses". In diesem Wettbewerb wurde der
erste Preis Professor Faust von der Cornell-Universität zuerkannt. Sein
Werk, das ursprünglich in englischer Sjwache verfaßt war, liegt jetzt in
einer deutschen Bearbeitung (nicht Übersetzung) vor, die gegenüber der
1909 erschienenen englischen Ausgabe mannigfache Zusätze erfahren hat.
Erwähnt sei, daß die Preußische Akademie der Wissenschaften das Werk
durch den Loubat-Preis für amerikanische Geschichte ausgezeichnet hat.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß bei dem gegenwärtigen Stande
der Vorarbeiten über die amerikanische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
die Zeit für ein abschließendes Werk über das Deutschtum in den Vereinigten
Staaten noch nicht gekommen ist; aber mit Eecht weist Faust diesen Ein-
wand mit den beherzigenswerten Worten zurück: „Nur immer sammeln,
ohne umsichtige Verwertiing, heißt dem eigentlichen Zwecke der Forschung
nicht gerecht werden." Zusammenfassende Arlaeiten müssen auch gewagt
werden, selbst wenn das Material noch lückenhaft ist.
Faust hat seinen Stoff in folgender Weise disponiert: Der eine Band
gibt eine Geschichte des Deutschtums in den Vereinigten Staaten, der andere
sucht den Einfluß der Deutschen auf den verschiedenen Gebieten des ameri-
kanischen Lebens festzustellen.
Der historische Teil beginnt mit den ältesten Zeiten der amerikanischen
Geschichte, schildert die deutsche Einwandenmg in der Kolonialzeit, wobei
natürlich Pennsylvanien besonders berücksichtigt ist, aber auch die weniger
bekannte Geschichte der Deutschen des Südens ausführlich dargestellt wird,
Besprechungen. 521
den Anteil der Deutschen am UnaVjhängigkeitskrieg, ihre Beteiligung au der
Gewinnung und Kolonisation des Westens, und schließlich ihre Mitwirkung
bei den Kriegen, welche die Union im 19. Jahrhundert geführt hat, vor
allem natürlich beim Bürgerkrieg. Von besonders interessanten Ergebnissen
hebe ich hervor, daß Faust die Zahl der Einwohner deutschen Blutes beim
Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges auf mindestens 225000 Ijerechnet
(S. 236), d. h. ungefähr ein Zehntel der weißen Bevölkerung der Kolonien
in jener Zeit. Von diesen 225000 entfielen nicht weniger als 110000 auf
Pennsylvanien, in dem ungefähr ein Drittel der Bevölkerung deutscher Ab-
kunft war. Von großem Interessse ist auch der Nachweis, daß die Deutschen
einen hervorragenden Anteil an der Besiedlung gi-ade der Grenzgegenden
genommen haben. Faust hat ferner darauf aufmerksam gemacht, daß die
Deutschen in der Kolonialzeit im Besitze des besten Ackerbodens in den
Kolonien gewesen sind. —
In dem andern Bande sucht Faust zunächst festzustellen, wie viele
Personen deutschen Blutes in der Gegenwart (d. h. im Jahre 1900) in den
Vereinigten Staaten leben. Er kommt zu dem Resultat, daß es 1900 ungefähr
I8V2 Millionen Personen deutscher Herkunft in der Union gab, d. h. etwas
mehr als ein Viertel der im Lande überhaupt befindlichen Weißen. Die
Personen britischer und irischer Herkunft berechnet Faust auf etwa
34 Millionen, während der Best auf Skandinavier, Franzosen, Italiener, Slawen,
Juden usw. entfällt. Man darf freilich nicht verkennen, daß alle diese
Ziffern hypothetische sind; sagt doch Faust selbst, daß die Frage, wieweit
das ganze amerikanische Volk deutsches Blut in den Adern hat, jenseits
aller Berechnungsmöglichkeit liegt.
Vielleicht noch schwieriger als die quantitative Bestimmung ist die
Beantwortung der Frage, welche Bedeutung dem Deutschtum in qualitativer
Beziehung zukommt. Das Problem ist um so schwieriger, als der Einfluß
des einheimischen Deutschtums sich von dem des Deutschtums überhaupt oft
nur schwer trennen läßt, obwohl es sich dabei begrifflich um völlig ver-
schiedene Dinge handelt. Um Beispiele zu erwähnen, so ist gewiß deutsche
Kunst und Wissenschaft auch durch die amerikanischen Deutschen in den
Vereinigten Staaten verbreitet worden, aber es ist sicher, daß die Amerikaner
sich in viel höherem Grade in Deutschland selbst an der Quelle gebildet
haben. Für die Bestimmung des Einflusses des Deutschtums auf die geistige
Kultur Amerikas liegen hier außerordentlich verwickelte und vielleicht zwca
Teil imlösbare Probleme vor. Viel leichter ist es, die Bedeutung des
Deutschtums für die Gestaltung der materiellen Kultur der Union zu be-
stimmen, und auf diesem Gebiet hat Faust durch eine Fülle von oft un-
bekannten oder bisher unbeachteten Einzeltatsachen die staunenswerte Tätigkeit
der Deutschamerikaner in Landwirtschaft, Gewerbe und Technik belegt.
Ein sehr interessantes Kapitel behandelt den Einfluß des deutschen Elements
auf Gesellschaft und Sitte, ein weiteres den politischen Einfluß der Deutschen
in Amerika.
Eine Frage, die uns immer in erster Linie beschäftigt, ist allerdings
in dem Buche kaum behandelt: Die Frage nach der Erhaltung des
Deutschtums in den Vereinigten Staaten. Es wäre von Interesse gewesen,
in einem solchen Buche und von einem so kompetenten Manne auch über
dies wichtige, für uns freilich schmerzliche Problem etwas zu hören. Die
für den Deutschen tram-ige, aber doch lehrreiche und interessante Geschichte
der Assimilation der Deutschen und ihi-es allmählichen Aufgehens im
amerikanischen Volkstmn hätte doch eingehender geschildert werden müssen.
Aber auch so bietet das Buch von Faust eine Fülle von Belehrung; er hat
unstreitig einen höchst wichtigen und interessanten Beitrag nicht nur zur
Geschichte des Deutschtums in den Vereinigten Staaten gehefert, sondern
auch eine unentbehrliche Vorarbeit für eine künftige amerikanische Sozial-
und Wirtschaftsgeschichte geleistet. Paul Darmstädter.
522 Besprechungen.
Friedrich Janson, Fichtes Reden an die deutsche Nation. Eine Unter-
suchung ihres aktuell-politischen Gehaltes. (Heft 33 der Abhandlungen
zur mittleren und neueren Geschichte.) Berlin und Leipzig 1911.
Dr. Walther Rothschild. 112 S.
Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung über Fichtes Reden an
die deutsche Nation sind ihre Beziehungen zu den dringenden Fragen staat-
lichen Lebens der damaligen Zeit. Zunächst wird Preußens politisches
System als Ganzes im Spiegel der Reden betrachtet, sodann werden Fichtes
Aussprüche zur Ki'itik des Zeitgeistes und der Gesellschaft in diesen sechs
Abschnitten zusammengestellt: 1. Fichtes Urteil über die politische Schund-
literatur. 2. Seine Stellung zur Zensur. 3. Protest gegen die Verheri'lichung
französischen Wesens und des napoleonischen Genies. 4. Über Fürsten und
Adel. 5. Über Minister und Beamte. 6. Über das stehende Heer. Es werden
weiter Fichtes Reformpläne und ihr Zusammenhang mit den praktischen
Reformen nach 1806 besprochen; der Schluß enthält eine Erörterung über
die augenblickliche Forderung der Reden. Die umfangreiche Schi-ift ist
wegen der eingehenden Beschäftigung mit den Reden selbst tmd der großen
Belesenheit namentlich in der damaligen Tagesschriftstellerei im einzelnen
sehr unterrichtend, entbehrt aber der erforderlichen Klarheit, wo es sich um
die Vorbedingungen des Verständnisses, um Grundanschauungen handelt. So
heißt es z. B. in der Einleitung von dem politischen Gehalt der Reden, er
sei, etwa mit dem des um ein halbes Jahr früher erschienenen Macchiavelli-
Aufsatzes verglichen, auffallend gering. So rein und unverhüllt wie hier habe
Fichte politische Gedanken nie wieder ausgesprochen. In den Reden über-
wögen bereits durchaus wieder die ethisch-philosophischen Interessen. Daran
wird folgende Betrachtung geknüpft: „Der ethische Gehalt, nicht der historisch-
politische, noch weniger der rein pädagogische ist es auch zweifellos, der
den Reden ihren bleibenden Wert gibt, ihnen die Unsterblichkeit sichert.
Gleichwohl darf man neben diesen Ewigkeitsworten das rein Historische der
Reden nicht übersehen." Auf dem Wege über solche Sätze gelangt der Verf.
zu einer Rechtfertigung der Aufgabe, die er sich gestellt hat. Es dürfte
schwer sein, den ethischen und den historisch-politischen Gehalt der Reden
voneinander zu scheiden. Fichte hatte schon in den Vorlesungen über die
„Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" im Winter' 1804/05, also noch vor
der Katastrophe von 1806 und lange vor der Ehrenrettung Macchiavellis, den
Satz aufgestellt: „Darin besteht eines jeglichen Bestimmung und Wert, daß
er mit allem, was er ist, hat und vermag, sich an den Dienst der Gattung,
— und da und inwiefern der Staat die Art des Dienstes, welcher diese Gattung
in der Regel bedarf, bestimmt, — an den Dienst des Staates setze." Hier
wird also schon, zwar noch in der Form der Ableitung, aber doch schließlich
deutlich genug, die sittliche Forderung als Hingabe an den Staat gefaßt.
Von hier aus kam Fichte, der in der Unglückszeit die Wahrheit des ausge-
sprochenen Satzes in erschütternder Weise an sich selbst dm-chlebte, zu der
Arbeit über Macchiavelli und zu den Reden. Kuno Fischer, der den Mac-
chiavelli-Aufsatz übersehen hat, konnte noch aus Fichtes Reden und sonstigen
Schriften von ihm herauslesen, sein Patriotismus oder Nationalismus und sein
Kosmopolitismus seien ein und dasselbe, und Windelband, der in seiner Rede
„Fichtes Idee des deutschen Staates" (Freiburg 1890) die Abhandlung über
den Florentiner Patrioten nur streift, hat dort die gleiche Auffassung vor-
getragen. Auch Janson, für den Fichte ein Republikaner ist, auch in den
Reden, ist sich nicht darüber klar geworden, daß Fichte diese Reden als
preußischer Staatsdiener, mit dem vollen Bewußtsein davon, gehalten hat.
Der politische Inhalt der Königsberger Schrift über Macchiavelli ist in den
Reden nur vertieft und mit allem verbunden, was deutsche Herzen erheben
kann. Der Unterschied liegt also nicht in der Gedaukenrichtung, wohl aber
mußte die gerade in die Zeit der Reden fallende Konfiskation der Zeitschrift
Besijrecbunofen. 523
Vesta. in deren erstem Heft die Studie über Macchiavelli gestanden hatte,
in Verbindunor mit den großen Schwierigkeiten, die die preußische Zensur
von vornherein den Eeden bereitete, dem Verfasser der Reden endgültig die
Augen darüber öffnen, daß er das Letzte nicht immer sagen durfte, wenn
er seine Eeden überhaupt zu Ende führen wollte. Freilich hat sich Fichtes
Gewissen stets von neuem gegen diese Erkenntnis aufgebäumt, so daß der
Kampf mit der Behörde, die sich verpflichtet fühlte, dem Staat Verlegen-
heiten zu ersparen und zugleich einen Untertan gegen Verfolgungen zu
schützen, nie zur Ruhe kam. So wurde z. B. in der letzten Rede der von
der Selbsthilfe handelnde Schlußsatz vor der gi'oßen Beschwörung bean-
standet, nicht nur von dem Oberkonsistorium, das die Zensur handhabte,
sondern auch von der darüber stehenden Behörde, der Immediat-Kommission,
die die höchste Regierungsgewalt in Berlin ausübte, und endlich von Stein
selbst, der damals gerade in Berlin weilte. Fichte durfte schließlich den
angefochtenen Satz nur deshalb stehen lassen, weil er sich zu einem Zusatz
verstand, der die Aufmerksamkeit von dem Aufruf an die Gesamtheit ab-
lenkte, indem er jeden auf sich selbst verwies. Janson sieht in diesem Zusatz
nur eine Bekräftigung dessen, was Fichte soeben und an anderen Stellen
gesagt habe, und Fichtes Sträuben rühre daher, daß der Zusatz überflüssig
gewesen sei. Stein, Scharnhorst, Gneisenau seien allerdings für die sofortige
Erhebung gewesen, aber Fichte habe den bewaffneten Widerstand in den
Reden von vornherein wideiTaten. Durch die Aufstellung eines derartigen
Gegensatzes zwischen Fichte und den großen Männern seiner Zeit wird aber
in sein Verhältnis zu ihnen etwas Schiefes hineingebracht. Gewiß bezeichnet
Fichte gemäß der ihm eigentümlichen Geistesrichtung und seiner ganzen
Lebensstellung als die Forderung des Tages das ernstliche Eingehen auf die
neue Erziehung, aber diese, so wie sie Fichte versteht, ist von dem Scharn-
horstschen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht ja gar nicht zu trennen,
und diese sollte doch wieder der Dvirchführung des nächsten Krieges dienen.
Wann die Erhebung zu erfolgen habe, ob sofort oder später, darüber zu be-
finden, war allerdings nicht seine Sache, sondern den Räten des Königs vor-
behalten, aber über das endgültige Ziel ist sich Fichte mit den genannten
Männern völlig eins, und was augenblicklich geschehen soll, ist die An-
spannung und Bereithaltung aller Kräfte zm- Erkämpfung dieses Zieles.
Wie sehr hier eins ins andere übergreift, wie es sich hier um Berührungen
und Angleichungen handelt, sieht man an der Entschiedenheit, mit der
damals umgekehrt die Militärs ihr Augenmerk auf die Erziehung gerichtet
haben. Eine Denkschrift Scharnhorsts war von dem Aufsatz „Die militärische
Organisation der Schulen im Lande" begleitet; er stammt von Scharnhorst
selbst oder von Gneisenau und wurde von Stein, dem er zur Begutachtung
vorgelegt wurde, mit zustimmenden Randbemerkungen versehen. Fichte und
Stein gehören auf eine Seite; wenn aber doch einmal der Diplomat in Stein
der unbeirrten. jede Rücksicht von sich weisenden Sinnesart Fichtes entgegen-
trat, so darf man Fichte, der Stein zu weit ging, nicht als den Mann hin-
stellen, der mit seiner Forderung zurückblieb und an einem aussichtslosen
Frieden festhielt. Der Verf. hat auf die vorliegende Untersuchung viel Fleiß
und Scharfsinn verwendet, aber sein Urteil ist in w-esentlichen Eragen an-
fechtbar. Franz Fröhlich.
Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen
Demokratie in Deutschland (1863 — 70). (Sonderabdruck aus dem Grün-
bergschen Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiter-
bewegung, n. Jahrg. 1. Heft.) Leipzig 1911. C. L. Hirschfeld. 67 S.
Ein überaus lehrreicher Gegenstand in sachverständigster Behandlung!
Das Problem dieser Abhandlung könnte man fast als „aktuell" bezeichnen:
524 Besprechungen.
im Hinblick vor allem auf die politischen „Großblock"ver8uche unserer Tage
und alles, was damit zusammenhängt. Woran hat es gelegen und wie ist
es zugegangen, daß dem deutschen Bürgertum die politische Führung der
Arbeitermassen schon so früh aus den Händen geglitten ist, kaum daß diese
zu politischem Selbstbewußtsein erwacht waren ? Welche Gegensätze, dauernder
oder vorübergehender Natur, haben das Proletariat von der Seite der bürger-
lichen Oppositionsparteien hinweggetrieben ?
Der Verf. beantwortet diese Fragen nicht ausdi'ücklich, gibt aber wert-
volle Beiträge zu ihrer Auflösung. Die vorliegende Studie ist als Ergänzung
zu M.s früheren Arbeiten über die proletarische Klassenbewegung 0 zu be-
trachten; in ihrer konzentrierten Sachlichkeit ist sie wohl nur für den ver-
ständlich, der mit diesen Dingen bereits einigermaßen vertraut ist. Ins-
besondere werden die Parteiverhältnisse in Preußen nur einleitungsweise
rasch skizziert; über die Kämpfe Lassalles mit der preußischen Fortschritts-
partei existiert ja bereits ein gute Literatur, und die Fortsetzung der Agitation
unter den Nachfolgern des Arbeiterdiktators hat M. selbst (in s. „Schweitzer")
ausführlich geschildert. Überdies spielt der „Allgemeine deutsche Arbeiter-
verein" kaum ernstlich eine Rolle bei den Versuchen bürgerlicher Demokraten
seit 1865, die entstehende proletarische Klassenbewegung für ihre politischen
Zwecke einzufangen. Die Gründung Lassalles geschah ja in der ausgesprochenen
Absicht, der schwer um ihre politische Stellung ringenden Bourgeoisie in den
Rücken zu fallen ; diesen Geist des Klassenkamjjfes haben die Lassalleaner
kernen Augenblick verleugnet: eher schon bändelten sie mit den konservativen
Machthabern an, als mit den fortschrittlichen Gegnern. Faßt man die Ver-
hältnisse in Preußen allein ins Auge, so erscheint die Persönlichkeit Lassalles,
mit ihrem Führerehrgeiz wie mit ihrem radikalen Idealismias, fast als wichtigste
Ursache für die fi-ühe Trennung der proletarischen von der bürgerlichen
Demokratie: mindestens als ebenso bedeutungsvoll, wie der Mangel an sozialem
Verständnis innerhalb der preußischen Fortschrittspartei. Zur historischen
Erklärung dieses Mangels bringt übrigens M. einige neue Materialien bei:
hauptsächlich über die persönlichen Verhältnisse der Fraktionsführer ^).
Lehrreicher und merkwürdiger ist das Verhältnis der bürgerlichen zur
proletarischen Demokratie im außerpreußischen Deutschland, dem das Hauj)t-
interesse unserer Arbeit gehört. Wir erhalten vor allem eine quellenmäßige
Geschichte der „deutschen Volkspartei" und ihrer sozialpolitischen Bestre-
bungen bis 1870 — also derjenigen bürgerlichen Gruppe, in der sich die
alten demokratischen Ideale von achtundvierzig noch einmal erneuerten \;nd
die infolgedessen auch am längsten ijolitische Fühlung mit den Massen des
Industrieproletariats bewahrte. Entgegen den fi'üheren parteiischen Schil-
derungen dieser Fraktion — der tendenziösen Beschönigung ihrer Politik
durch den modernen Erben und Fortsetzer ihrer sozialpolitischen Bestre-
bungen^), wie andrerseits der brutalen Verspottung jener Bemühungen vom
Standpunkt der heutigen Sozialdemokratie'') — bringt M. eine verständnis-
volle, sachliche Darstellung, die uns wesentlich klarer sehen läßt.
^) „Schweitzer und die Sozialdemokratie", Jena 1909. — Die „Lösung
der deutschen Frage 1866 und die Arbeiterbewegung", Jena 1907 (Festgaben
f. Lexis). — Kapitel „Volkspartei und Arbeiterpartei" in der „Geschichte
der Frankfurter Zeitung". Die letztere Skizze erhalten wir jetzt in aus-
geführter Gestalt.
'^) An neuen Quellen findet man hauptsächlich eine Reihe un ge-
druckter Briefe demokratischer Parteihäupter aus dem Nachlaß J. Ja-
kobys verwertet.
'') Vgl. F. Naumann: Süddeutsche Monatshefte Januar 1910. Quellen-
wert hat dagegen die objektivere Schilderung Pay er s: Patria, Jahrbuch der
Hilfe 1908.
■*) Vor allem durch Me bring vertreten, der übrigens schon in den
Arbeiten seiner bürgerlichen Epoche ähnlich urteilte.
Besprechungen. 525
War die „deutsche X'olkspartei"' ihrem Wesen nach jemals imstande,
die Brücke zwischen bürgerlichen und proletarischen Klassenbestrebungen zu
bilden, deren Bestehen nach Ansicht mancher Beurteiler') „vielleicht oder
sehr wahrscheinlicherweise" das Proletariat noch längere Zeit vom offenen
Klassenkampf zurückgehalten hätte? An dem \\'illen der volksparteilichen
Führer, die Arbeiterklasse auch politisch mündig zu machen und mit den
radikalen Schichten des Bürgertums zu einer großen demokratischen Partei
zusamnieuzuschweißen, ist kein Zweifel. Freilich empfand man von Anfang an
die Schwierigkeit eines solchen Versuches, solange die bürgerliche Demokratie
nicht auf stärkereu politischen Anhang unter den Arbeitern rechnen konnte ;
dafür ist es bezeichnend, daß gerade die fähigsten Köpfe, wie Sonnemann und
F, A. Lange, anfangs vorsichtig zurückhielten: sie glaubten (im Sommer 1865)
die Zeit noch nicht gekommen, um eine Organisation der Arbeiter auf poh-
tischem Gebiet zu versuchen, bemühten sich vielmehr, das Progi'amm der
von ihnen geleiteten Arbeitervereine vorläufig von politischen Forderungen
frei zu halten. Da überdies die preußischen Gesinnungsgenossen durch ihre
Verfassungskämpfe in Anspruch genommen und für weitergehende Bestre-
bungen einstweilen nicht zu gewinnen waren, so erhielten bei der Grün-
dung der deutschen Volkspartei von vornherein die süddeutschen Klein-
staatler unter Führung des geschäftigen Redakteurs L. Eckardt und
L. Büchners das Übergewicht.
Diese landschaftliche Beschränktheit wurde der Partei sogleich zum
Verhängnis. Ihre Gründung fiel in die Monate kurz vor dem Ausbruch
des preußisch-österreichischen Krieges: also in den Zeitpunkt, da vor der
Gewalt des nationalen Verfassungsstreites alle einigenden Bänder der öffent-
lichen Meinung zu zerreißen, alle Parteien in ihre landschaftlichen, partiku-
laristischen Bestandteile zu zerfallen schienen. Es war ganz unvermeidlich,
daß die Opposition gegen das drohende ,.preußische Militärregiment" zum
eigentlichen Sohiboleth der neuen Partei wurde. Ihre besondere Färbung
empfing diese großdeutsche Tendenz aus den Traditionen des schwäbischen
Stammlandes der Parteigründer. Sie gewann sogleich die größte Bedeutung
auch für die soziale Ausdehnung und Wirksamkeit der Partei. In der Schil-
derung dieser Verhältnisse liegt — für mich wenigstens — der eigentliche
Eeiz der M. sehen Ai-beit: in dem Nachweise, wie die sozialpolitischen Ten-
denzen beständig von den nationalpolitischen durchkreuzt — bald gefördert,
bald aber gehemmt werden.
Auf die bestehenden Arbeiterorganisationen wirkte das großdeutsche
Programm sehr verschieden. Die Lassalleaner konnten schon ihren Traditionen
nach nicht anders, als den kleinstaatlichen Partikularismus aufs schärfste ab-
lehnen; und 90 schien die geplante Verschmelzung der „süddeutschen bürger-
lichen mit der sozialen Demokratie des Nordens" gleich anfangs zu miß-
lingen. Indessen zog die scharf antipreußische Tendenz der Volkspartei die
sächsischen Arbeiterbildungsvereine unter der Führung Liebknechts herbei,
der soeben in Bebeis Leipziger Kreise eingetreten war. In diesen Monaten
der „preußischen Gefahr" sammelte sich ja alles, was außerhalb Preußens
ein demokratisches Herz in der Brust trug, um seine aufs äußerste ])edi-ohten
Ideale zu retten, und gerade Liebknecht empfand diese Gefahr lebhafter als
irgend ein anderer. Es ist bemerkenswert, wie weit er damals noch die
sozialen Forderungen hinter die nationalen zurückstellte ; die Zahmheit des
Chemnitzer Arbeiterprogramms vom 19. "VTII. 186H erklärt M, hauptsächlich aus
der Rücksichtnahme auf die süddeutsche Demokratie.
Für die Weiterentwicklung der Partei wurden die gi-oßen geschicht-
lichen Ereignisse von 1866 entscheidend. Zunächst führten sie dahin, daß
die rein politische Demokratie in Preußen das Spiel endgültig verlor. Die
^) Ich zitiere W. Sombart, Sozialismus und sozialistische Bewegung.
5. Aufl. S. 147.
526 Besprechungen.
wachsende Freude an Bismarcks nationaler Schöpfung, die allgemeine Be-
kehrung zur „Realpolitik" und vor allem die Ohnmacht der grundsätzlichen
Opposition gegen den gewaltigen Staatsmann führten zum Erlahmen der demo-
kratischen Stoßkraft: nur einzelne Gesinnungsgenossen blieben der Volks-
partei in dem norddeutschen Militärstaat. Dafür war in den nächsten Jahren
die Flut des Preußenhasses im außerpreußischen Deutschland freilich noch
im Steigen; die Volkspartei gewann sogar neue Gebiete für ihre Agitation:
die annektierten Provinzen; und der süddeutsche Partikularismus trieb ja
gerade in diesen Übergangs jähren seine wunderbarsten Blüten. So erlebte
die Volkspartei jetzt ihre größte äußere Entfaltung. Aber damit wuchsen
zugleich die inneren Spannungen. Die soziale Spannweite von den weifischen
Hannoveranern bis zu den schwäbischen Kleinbürgern und sächsischen Industrie-
arbeitern war schon recht bedeutend. Dazu kamen landschaftliche und vielerlei
politische Gegensätze.
Nicht einmal in der nationalen Frage war man sich über die positiven
Ziele einig; so bekämpfte z. B. Liebknecht immer offener den Föderalismus
der Süddeutschen, den er im Grunde verachtete. Außer der Verwerfimg der
preußischen Hegemonie war es schwierig, überhaupt ein klares politisches
Progi-amm zu formulieren; war doch das allgemeine Stimmrecht im Nord-
bunde eingeführt, und dadurch aus dem alten Programm ausgefallen! Die
Programme der Volkspartei enthalten zweifellos die luftigsten politischen
Kartenhäuser, die überhaupt in diesem plänereichen Jahrzehnt gebaut wurden.
Das war die Partei, die sich berufen glaubte, die soziale Führung der
proletarischen Massen zu übernehmen. M. schildert ausführlich ihre zahl-
reichen Versuche, ein zugkräftiges soziales Programm aufzustellen. Vor 1866
mißlangen sie durchaus; die fortschrittlich-manchesterliche Auffassung des
Wirtschaftslebens überwog bei weitem unter den Parteigenossen. Ende 1867
setzen dann neue Versuche ein, die Partei auf sozialpolitischer Grundlage zu
organisieren. Der führende Geist ist jetzt (nach Eckardts frühem Sturz)
Leop. Sonnemann, der nicht nur eine umfassende Organisation in lilittel- und
Süddeutschland bis nach Österreich hinein vorbereitete^), sondern vor allem
auch im westlichen Preußen eifrig tätig war, um den volksparteilichen Arbeiter-
vereinen neuen Boden zu gewinnen. Den Höhepunkt der großdeutsch-demo-
kratischen Agitation bildet das gi-oße Wiener Schützenfest vom August 1868,
auf dem die deutschen Vertreter eine glänzende Werbeaktion für die deutsche
Volkspartei vorbereiteten. Aber gerade hier trat plötzlich und erschreckend
der tiefe soziale Gegensatz zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft zutage.
In der entscheidenden Versammlung warfen die sozialdemokratischen Wiener
Arbeiter die nationalpolitische Resolution der Volkspartei über den Haufen
und meldeten stüi-misch ihre sozialen Forderungen an.
Daß die Arbeiterschaft sich nicht als bloßes Anhängsel der Volkspartei
würde behandeln lassen, hatte sich freilich schon längst gezeigt. Schon 1866
hatte Sonnemann darauf verzichten müssen, die Arbeitervereine von der Politik
fernzuhalten. Daß die sozialen Gegensätze bislang noch nicht schroffer hervor-
getreten waren, lag wohl vor allem an der kräftigen Empfindung des gemein-
samen Hasses gegen den „preußischen Despotismus". Man könnte auch zur
Erklärung darauf hinweisen, daß der Stamm der Volkspartei noch immer
von schwäbischen, teilweise halb agrarischen Kleinbürgern gebildet wurde:
der soziale Abstand zwischen dieser Gruppe und der industriellen Arbeiter-
schaft war jedenfalls erheblich geringer, als der zwischen Proletariat und
liberaler Bourgeoisie. Und auch die Wortführer der Partei, zumeist Journa-
listen und politisierende Advokaten, mochten persönlich die Gegensätzlichkeit
der sozialen Interessen weniger scharf emj^finden, als etwa ein liberales Partei-
haupt von der Art V. v. Unruh's. Dennoch trat diese Gegensätzlichkeit not-
') ]\I. druckt hierzu einen sehr interessanten Beleg aus einem Briefe
öonnemanns an Jakoby vom 1. VI. 1868 ab.
Besprechungen. 527
wendig immer schärfer hervor, je mehr sich die Arbeiterschaft — in den
Jahren des Aufsteigens der kapitalistischen Bourgeoisie in Deutschland —
den Idealen der marxistischen Internationalen zuwandte. Der Wiener Vorgang
war ein deutliches Vorzeichen davon.
Wir wollen hier nur die wichtigsten Etappen der Entwicklung zum
Marxismus bezeichnen: Nürnberger Vereinstag der deutschen Arbeitervereine
1868 (Zustimmung zu dem Programm der Internationalen), Eisenacber Kongreß
1869, Streit um die Baseler kommunistischen Beschlüsse der Internationalen
1869, Übernahme derselben durch die Arbeitervereine auf dem Stuttgarter
Kongreß 1870. Die große Bedeutung der Kämpfe zwisclien Liebknecht und
Schweitzer für die Beschleunigung dieses Prozesses ist bekannt. Man kann
es ja fast als eine tragische Ironie empfinden, daß gerade diejenige Organi-
sation der Ai'beiter am fi'ühesten sich den internationalen und kommuni-
stischen Idealen zuwandte, die von dem liberalen und demokratischen Bürger-
tum ins Leben gerufen und mit Mühen großgezogen war — im Interesse
der „deutschen Einheits- und Freiheitssache"! Die Erklärung der Tatsache
ist nicht möglich, ohne die überaus große Bedeutung der Persönlichkeit Lieb-
knechts zu würdigen. Vielleicht darf man aber auch hier an die überwiegend
mittel- und kleinstaatliche Heimat der demokratischen Arbeitervereine er-
innern: man versteht dann wenigstens, daß die Lassalleschen Arbeiter auf
preußischem Boden trotz alles Kadikalismus länger ein positives Verhältnis
zu dem bestehenden Staate bewahren konnten, als die von abstrakten klein-
staatlichen Republikanern geführten Arbeiterbildungsvereine ').
Die soziale Politik der Volkspartei bietet seit den Wiener Ereignissen
von 1868 ein bedenkliches Schauspiel: ein Wettrennen um die Gunst der
Massen, bei dem den Bürgerlichen zuletzt doch der Atem ausgeht. Am weitesten
kam dabei noch Sonnemann voran, der noch immer Vorsitzender des Ver-
bandes deutscher Arbeitervereine war. Ihm und dem Württemberger Hauß-
mann gelang es im September 1868 auf dem Stuttgarter Parteikongreß, ein
wirksames soziales Programm durchzubringen, das die Partei in sozialpoli-
tischer Beziehung an die Spitze des deutschen Bürgertums stellte. Einen
ähnlichen, fi'eilich weniger erfolgreichen Versuch hatte der alte Jakoby für
seine Person schon 1868 mit einem sozialen Programm gemacht. Wenn das
heute gangbare Urteil die Lostrennung der proletarischen Klassenbewegung
vom bürgerlichen Radikalismus hauptsächlich der sozialen Unverständigkeit
des Bürgertums Schiüd gibt, so sollte man doch diese Bemühungen der bürger-
lichen Demokraten um soziales Entgegenkommen nicht vergessen. Auch hier
liegt die Schuld weniger in den Gesinnungen, als in den Verhältnissen. Die
Dinge haben sich eben in Deutschland unheimlich schnell entwickelt: 1864
hatte Lassalle noch Mühe, die Ai-beitermassen zu finden, die er organisieren
konnte, 1869 wurde die zweite große Arbeiterpartei mit sozialistischem Pro-
gramm gegi'ündet, die bürgerliche Arbeiterorganisation aufgelöst. Der Stutt-
garter Parteibeschluß im Jahre vorher kam bereits zu spät. Sonnemann hatte
ausgespielt, sobald die Arbeiter das demokratische Bürgertum zu ihrer Unter-
stützung nicht mehr zu bedürfen glaubten. Gewiß lag Liebknecht nichts
daran, diese Unterstützung ohne zwingenden Grund zu verlieren; aber er
war doch mit Bebel längst entschlossen, bei dem Bündnis der Führer und
nicht der Geführte zu sein. M. tadelt die unsinnige, streitlustige Haltung der
volksparteilichen Parteikorrespondenz unter der Redaktion Freses, des ab-
strakten Individualisten, der den Abfall der Arbeiter beschleunigt und den
^) Über den Zusammenhang zwischen Kleinstaaterei und abstraktem
Universalismus der politischen Idee findet man feine Bemerkungen in
Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat", bes. II, cap. 6. In diesen
Zusammenhang gehört auch die Tatsache, daß viele der volksparteilichen
Führer ebenfalls einer internationalen Gesellschaft angehörten, der „Friedens-
und Freiheitsliffa".
528 Besprechungen.
letzten Annäherungsversuch Bebeis (1869) unnötig zerstört hat. Aber hätte
diese Annäherung von Dauer sein können? Und was wichtiger ist: hätte sie
einer von beiden Parteien jetzt noch ernsthaft nützen können? Hatten die
schwäbischen Gesinnungspolitiker schließlich so ganz Unrecht, wenn sie von
den Arbeiterführern übertölpelt und mißbraucht zu werden fürchteten?
Der Krifto- von 1870 hat bald darauf der großdeutsch-revolutionären Be-
wegung ein Ende gemacht und damit das letzte Band zwischen bürgerlicher
und proletarischer Demokratie zerrissen. Die rein politische Demokratie
verfiel dann dem hoffnungslosen Siechtum. M. kann es mit Recht als das
Ergebnis seiner Arbeit bezeichnen: daß „das Bedürfnis nach nationaler Eini-
gung und die Vertiefung der sozialen Gegensätze sich als lebendigere und
damit auch für die Parteibildung fruchtbarere Kräfte erwiesen als die auf
formal-staatsrechtlichem Boden zurückbleibenden Forderungen der ,reinen'
Demokratie."
Man kann es vielleicht bedauern, daß die Trennung der proletarischen
und bürgerlichen Demokratie so früh erfolgt ist — im Interesse unserer
nationalen und sozialen Entwicklung. Aber man muß sich dann darüber
klar sein, daß dieser Trennungsprozeß geschichtlich unaufhaltsam war. Eine
aufstrebende Klasse kann auf die Dauer nicht von einer niedergehenden
geführt werden. Ebenso undenkbar aber war es, daß sich die demokratischen
Grundsätze noch nach 1866 unter den lebenskräftigeren Elementen des deutschen
Bürgertums ausbreiteten: die realen Lebensinteressen der Bourgeoisie wiesen
diese jetzt in eine andere Richtung. Und so ist denn auch hier der ge-
schichtliche Fortschritt nicht aus der Vereinigung des Unverträglichen, sondern
aus dem Kampf der Gegensätze hervorgegangen. Ob heute, da nach der
Arbeiterschaft bereits das Kleinbürgertum unter den Gesichtspunkt der
„sozialen Frage" gerückt wird, die Zeit schon gekommen ist, um aus der
Antithese die Synthese werden zu lassen? Jedenfalls haben die praktischen
Politiker, die sich heute um eine solche Vereinigung bemühen, mit noch viel
größeren Schwierigkeiten zu rechnen, als die ehemalige Volkspartei; denn
die Selbständigkeit der jaroletarischen Bewegung ist seither unendlich ge-
wachsen, die des bürgerlichen Radikalismus aber gleichermaßen gesunken.
Gerh. Ritter.
Arthur Böhtlingk, Bismarck und das päpstliche Rom. Berlin 1911.
Puttkamer und Mühlbrecht. XV u. 470 S. — Johannes B.Kißling,
Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche. Erster Band:
Die Vorgeschichte. Freiburg i. B. 1911. Herder. VII u. 486 S. —
Graf Paul von Hoensbroech, Rom und das Zentrum. Volksausgabe.
Leipzig. Breitkopf u. Härtel. XH u. 284 S.
Noch gibt es keine objektive Darstellung des Kulturkampfes in Deutsch-
land; denn wenn er auch offiziell beendet ist, seine Wirkungen auf die Re-
gierung und die Kirche sind noch zu stark, die Leidenschaften auf beiden
Seiten noch zu erregt, um ein endgültiges historisches Urteil über ihn fällen
zu können. Die noch während des Kulturkampfes erschienenen Werke sind
fast ausschließlich Urkundensammlungen. Die erste wirkliche Darstellung
ist das 1887 erschienene Werk von Paul Majunke, „Geschichte des Kultur-
kampfes in Preußen -Deutschland". Aber Majunke, der selber mitten im
Kampf gestanden, Zentrumsabgeordneter und Redakteur der „Germania" war,
ist ein glühender Fanatiker, der Bismarck mit dem wildesten Hasse gegen-
übersteht, er konnte wohl eine politische Kampfschrift, aber keine histo-
rische Darstellung schreiben. Auf katholischer Seite ist sein Buch bis heute
maßgebend gewesen, wie auch noch die „Geschichte der katholischen Kirche
im 19. Jahrhundert" vom Mainzer Bischof Heinrich Brück (herausgegeben
und fortgesetzt von J. B. Kißling) beweist. Natürlich haben auch die ein-
Besprechungen. 529
zelnen „Zentninislieldeu" ihre Biographen gefunden, unter denen sich der
historisch vollkommen ungeschulte Jesuit Otto Pfülf wohl durch den Umfang
seiner Lebensbeschreibungen Kettlers und Mallinckrodts, sowie der des Erz-
bischofs Geißel auszeichnet, in der Darstellung aber mit einer geradezu be-
wundernswerten Kunst die von ihm beigebrachten Materialien so zu benutzen
weiß, daß die Geschichte einfach Kopf steht; immerhin bringt er eine
solche Fülle von Material, daß seine Schriften unentbehrlicli bleiben. Die
Biographien ßeichenspergers von Ludwig Pastor und Windhorsts von
E. Hüsgen stehen bedeutend höher, doch zeigt auch die erstere, daß ein so
bedeutender Historiker wie Ludwig Pastor versagt, sobald er kirchenpolitische
Kämpfe der jüngsten Vergangenheit zu schildern hat. Martin Spahn findet
sich in seinem Buch „Das deutsche Zentrum" mit diesen Fragen in seiner
bekannten, allzu eleganten Weise ab. Das kürzlich erschienene französische
Werk von Georges Goyau, Bismarck et l'Eglise (Paris 1911) ragt über alle
die vorhergenannten Arbeiten weit hinaus und ist in seiner Beurteilung der
einzelnen Ereignisse recht interessant, stützt sich aber im wesentlichen auf
die oben charakterisierten Darstellungen und reicht auch nur bis 1878.
Bei dieser Lage der historischen Forschung konnte man nur erfreut
sein, daß jetzt kurz hintereinander zwei Darstellungen der Geschichte des
Kulturkampfes erschienen. Um es gleich vorauszuschicken, beide haben sie
enttäuscht. Wenn Kißling im Auftrage des „Zentralkomitees für die
Generalversammlungen der Katholiken Deutschlands" schreibt , so macht
Böhtlingks Buch den Eindruck, als sei es im Auftrage des „Evangelischen
Bundes" verfaßt. Objektiv historische Darstellungen sind sie beide nicht,
können es auch nicht sein, wenn man die Auftraggeber Kißlings und die
bisherigen kirchenpolitischen Schriften Böhtlingks näher kennt. Über Kiß-
lings Werk läßt sich ein abschließendes Urteil noch nicht fällen, da noch
die beiden wichtigsten Bände ausstehen. Aber eins ist schon jetzt sicher:
„das" Buch über den Kultm-kampf wird er uns nicht bescheren, doch wird
es auf lange Zeit hinaus, schon wegen seiner Auftraggeber, leider das Standard
book für die katholische Welt bleiben. Böhtlingks Buch aber liegt voll-
ständig vor und steht Kißlings Werk so sehr entgegen, daß man gespannt
sein darf, wie dieser sich in den beiden folgenden Bänden damit abfinden wird.
Abgesehen von dem Umfang unterscheiden sich die beiden Werke rein
äußerlich schon dadurch, daß Kißling eine Fülle von Anmerkungen mit den
Belegen für seine Behauptungen bringt, während Böhtlingk darauf so gut
wie ganz verzichtet. So macht Kißlings Arbeit von vornherein einen wissen-
schaftlicheren Eindruck, was nicht etwa heißen soll, daß Böhtlingks Dar-
stellung an und für sich etwa unwissenschaftlicher wäre; die Mängel sind
bei beiden gleich groß.
Beide Historiker sind darin einig, daß der „Kulturkampf", d. h. jene
Reihe von Kämpfen zwischen dem Staat und der römischen Kirche in den
Jahren 1871 — 87, die wir heute unter diesem Namen zusammenfassen, ohne
eine eingehende Kenntnis der „katholisch-kirchlichen Politik Preußens" in
der älteren Zeit nicht richtig gewürdigt werden kann, ist doch Preußen und
später das neue Deutsche Reich — darin hat Böhtlingk recht — in ganz
Europa dasjenige politische Gebilde, das „in so diametralem Gegensatz zum
päpstlichen Rom ins Leben getreten" ist wie kein anderes. Und auch darin
kann man ihm gerne zustimmen, daß dieser Gegensatz bei den preußischen
Historikern viel zu wenig Berücksichtigung gefunden hat, daß die treibende
Kraft in der preußischen Politik der letzten 200 Jahre — den aktiven
Staatsmännern selbst teilweise nicht deutlich erkennbar — der Kampf mit
Rom gewesen ist. Doch hätte er sich die wenig schöne Polemik gegen die
„Historikerzunft" dabei sparen können.
Beide Verfasser gehen nun al^er bei der Darstellung des Verhältnisses
des alten Preußen zur römischen Kirche ganz verschiedene Wege. Kißling
sucht zu beweisen, daß von der hauptsächlich von Max Lehmann in seinem
Zeitschrift für Politik. 6. 34
530 Besprechungen.
Aktenwerk „Preußen und die katholische Kirche seit 1640" behaupteten „sehr
frühzeitigen und weitgehenden Toleranz gegen die katholischen Untertanen"
keine Kede sein kann. Dieser Beweis mag, wenn man auch hier und da
Bedenken erheben kann, als im großen und ganzen geglückt gelten. Man
wird ihm auch zustimmen, daß einzelne wirkliche Toleranzmaßnahmen der
Hohenzollern, wie der vielgerühmte Verzicht Johann Sigismunds auf das
landesherrliche ius reformandi nicht persönlichen, sondern rein politischen
Erwägungen entsprungen sind, daß auch Friedrich der Große, wenn es im
Interesse seiner Politik lag, intolerant sein konnte. Für den gi-oßen Frei-
denker auf dem Hohenzollernthron gab es keine Gefühlspolitik, auch der
Schutz, den er der vom Papste aufgehobenen Gesellschaft Jesu angedeihen
ließ, ist sehr realen Erwägungen entsprungen. Im allgemeinen wird man
sagen können, daß kein preußischer König, mit Ausnahme Friedrich Wilhelms IV.,
eine Gleichberechtigung der Katholiken mit den Protestanten durchgeführt
hat. Insofern ist Kißlings quellenmäßige Beweisfühi'ung geglückt. Und doch
ist seine Darstellung durchaus tendenziös, wenn man ihm ja wohl bei seinem
schroff katholischen Standpunkt auch die bona fides zugestehen muß. Für
ihn gilt noch die alte kuriale Auffassung, daß das Kirchenrecht über dem
Staatsrecht steht, daß jeder Eingriff des Staates in die Eechte der Kirche,
selbst wenn diese ganz einseitig von Eom aus formuliert sind, ein Verbrechen
ist. Mit einem Historiker, der solche Anschauungen hat, ist eine Diskussion
schlechterdings unmöglich. Am charakteristischsten ist in dieser Beziehung
die Schilderung des Kölner Bistumsstreites. Wer hier auf katholischer Seite
nicht den reinen römischen Standj^unkt vertrat, wird von Kißling einfach
abgetan. Der Erzbischof Spiegel von Köln war bei seiner Nachgiebigkeit
in der Frage der gemischten Ehen „wohl das Opfer der Überredungskunst
Bunsens und des Domkapitulars Dr. München", der Fürstbischof Sedlnitzky
von Breslau, der später zum Protestantismus übertrat, ist ein „theologisch
ungebildeter, charakterschwacher Mann", während natürlich alles, was gegen
einen so dunklen Ehrenmann wie Droste-Vischering vorgebracht wird, „nieder-
trächtige Verdächtigungen" sind. In feierlichen Tönen wird der letztere
gepriesen als der Mann, der „die staatliche Polizeigewalt aus dem Heiligtum
der Kirche gewiesen" hat. Daß man auf jirotestantischer Seite die Jesuiten
völlig falsch beurteilt „dank der jahrhundertealten Verleumdungen über die
Gesellschaft Jesu", ist eine Ansicht, die bei dem Standpunkt des Verfassers
eigentlich selbstverständlich ist. „Freidenkertum und bourbonischer Absolutis-
mus" waren 1773 bestrebt, den Jesuitenorden auszurotten, daß ihn Clemens XFV.
offiziell ex cathedra aufgehoben hat, wird den Gläubigen, für die dieses Werk
in erster Linie berechnet ist, verschwiegen.
Im Verschweigen ist Kißling überhaupt ein Meister, objektiv steht in
seinem Buch kein unwahres Wort, alles kann bewiesen werden, aber alles
was nicht dazu dienen kann, zu zeigen, welch prächtiges nur das Beste er-
strebende Institut die römische Kirche ist, die von dem bösen preußischen
Staat auf Schritt und Tritt verfolgt und geknechtet wird, wird mit Still-
schweigen übergangen. Daß von einer Toleranzpolitik der älteren Hohen-
zollern keine Rede sein kann, hat der Verfasser bewiesen, was er aber ver-
schweigt ist, daß es vom 16. — 18. Jahrhundert, überhaupt im Zeitalter des
Absolutismus, in ganz Europa keinen Staat gab, der eine Politik der Toleranz
getrieben hat, daß Toleranzgedanken zuerst in der französischen Revolution
auftauchen und erst im 19. Jahrhundert an Boden gewonnen haben. War
etwa Ludwig XIV. tolerant, als er das Edikt von Nantes aufhob und die
Protestanten aus Frankreich vertrieb, war es etwa der Kaiser oder der Erz-
bischof Firmian von Salzburg? Zu derartigen Repressalien, wie diese Fürsten
ihren evangelischen Untertanen gegenüber, haben die Hohenzollern nie ge-
griffen. Die Aufnahme der vertriebenen Salzburger durch Friedrich Wilhelm I.
wird wohlweislich verschwiegen, wenn er aber sein^e Offiziere mit kirchlichen
Pfründen bezahlt, dann wird so etwas als „Skrupellosigkeit" gebrandmarkt.
Besprechungen. 531
In dieser absichtlichen Einseitigkeit des Kißlingschen Buches liegt eine große
Gefahr, der Katholik wird, wenn er sich über die Kirchenpolitik der Hohen-
zollern unterrichten will, selbstverständlich zuerst zu diesem greifen und,
wenn er nicht besondere historische Kenntnisse besitzt, zu der Ansicht
kommen, daß die katholische Kirche in keinem Staat Europas von jeher so
schlecht behandelt worden ist, wie in Preußen '). Das ist auch wohl die
Absicht des Verfassers und seiner Förderer, der Herren Dr. Adolf Franz und
Dr. Julius Bachern. Das Buch ist das beste Beispiel dafür, daß man Geschichte
schreiben kann objektiv richtig, aber deshalb noch lange nicht ob-
jektiv wahr. Für den Fachmann enthalten die beiden ersten Bücher
Kißlings, die bis 1860 reichen, eine Fülle von Anregungen, für den Laien
aber geben sie ein ganz entstelltes Bild. Die weitere Darstellung seit 1860
soll weiter unten berücksichtigt werden, zunächst wollen wir Kißling die
Böhtlingksche Darstellung der Kirchenpolitik des 18. Jahrhunderts gegen-
überstellen.
Denn Böhtlingk beginnt nach einer allgemeinen kurzen Charakteristik
der päpstlichen Politik erst mit Friedrich III., dem späteren König Friedrich I.
Sein Plan ist ein anderer als derjenige Kißlings. Wenn jener die Politik
Preußens der römischen Kirche gegenüber schildert, so Böhtlingk umgekehrt
die Politik Roms Preußen gegenüber, er faßt sich hierbei recht kurz. Bei
dem Treiben der Jesuiten am Hofe Friedrichs I, hat er die neusten For-
schungen Philipp Hiltebrandts noch nicht berücksichtigt, die nachgewiesen
haben, daß diese „ohne Leitung von Rom aus" vorgingen. Daß sie aller-
dings im Sinne der Kurie handelten, wird niemand bestreiten. Dagegen
wird der Protest der Kurie gegen den preußischen Königstitel gebührend
gewüi'digt, während Kißling sich sehr zartfühlend damit abzufinden sucht.
Allzu kurz nur geht Böhtlingk auf das Verhältnis der folgenden Könige zu
Rom ein, Friedrichs des Großen Kirchenpolitik wäre einer ausführlicheren
Darstellung wert gewesen. Genauer wird dann erst der Streit über die ge-
mischten Ehen behandelt. Welch ein Gegensatz in der Beurteilung zu Kiß-
ling, wie verschieden läßt sich doch ein und dasselbe Ereignis darstellen.
Hie Staatsrecht, hie Kirchenrecht! Zwei Auffassungen, die sich nie und
nimmer vereinigen lassen. Das Nachgeben Friedrich Wilhelms FV. wird von
Böhtlingk mit Recht verurteilt, wenn er sagt: „Glatter ist die Fahrt von
Berlin nach Canossa nie zurückgelegt worden", während nach Kißling der
König der Kirche noch lange nicht weit genug entgegengekommen ist. Was
man aber bei Böhtlingk leider überall vermißt — sonst wäre sein Buch,
allerdings mit starken Einschränkungen, gut — ist eine sachlich ruhige Dar-
stellung und Beurteilung der Er eignisse, er polemisiert zu sehr. Man lese
S. 26 die Schilderung der Wallfahrt zum heiligen Rock von Trier (die Kiß-
ling bezeichnenderweise einfach mit Stillschweigen übergeht) — mit ein paar
spöttischen Worten läßt sich das doch nicht abtun, knüpft doch an sie die
wenn auch nur episodenhafte deutschkatholische Bewegung an, wiirde doch
dadurch der Gegensatz der Protestanten und Katholiken erst recht geschürt.
Gewiß wird Böhtlingk entgegnen können, daß dies alles von Treitschke aus-
führlich und glänzend dargestellt sei, daß er bei der Fassung in den paar
Einleitungskapiteln nicht näher darauf eingehen woUte; so einfach durfte er
aber doch nicht darüber hinweggehen.
Darin, daß das Revolutionsjahr 1848/49 der römischen Kirche in Preußen
große Vorteile gebracht hat, daß besonders der Art, 12 der Verfassung von
1848 (der Art. 15 der Verfassung von 1850) für die römische Kirche weit
wichtiger wurde als für die evangelische, stimmen Böhtlingk und Kißling
^) Das anonym erschienene Buch ,.Die Kirchenpolitik der Hohenzollem"
von einem Deutschen, Frankfurt a. M. 1906, das trotz seines vielfach zu schroffen
antikatholischen Standpunktes eine treffliche Übersicht bietet, scheint Kißling
nicht gekannt zu haben.
34*
532 Besprechungen.
überein. Nur zeigt sich auch hier wieder der fundamentale Unterschied in
der Auffassung; Böhtlingk erkennt die großen Nachteile, die Eom als Ver-
bündeter der Reaktion Preußen bereitet hat, während Kißling begeistert
über den „unerhörten Aufschwung" ist, den das kirchliche Leben im katho-
lischen Preußen nahm. Die „unvergänglichen Verdienste", die sich die Jesuiten
erwarben, werden gebührend gerühmt. Wie zersetzend sie auf den konfes-
sionellen Frieden wirkten, wie der nun in weitere katholische Volkskreise
eindringende Ultramontanismus das preußische Staatswesen schädigen mußte,
dafür hat er kein Verständnis, ja er wagt sogar die kühne Behauptung, daß
die Gründung der „Katholischen Fraktion" ein Akt legitimster politischer
Notwehr war ; die richtige Charakteristik der Fraktion aber dürfte wohl bei
Böhtlingk zu suchen sein, der auch zum Teil mit den Worten ihres Bio-
graphen Pfülf die Gebrüder Mallinckrodt ti-efflich zu schildern weiß, doch
auch hier ist der Ton, den er anschlägt, bisweilen gar zu spöttisch. Aber es
ist schließlich gut, daß der allzu reichliche Weihrauch, in den bisher diese
Leute von ihren Anhängern eingehüllt worden sind, einmal fortgeblasen wird.
Mag einzelnes zu scharf sein, auf der anderen Seite wird es nicht besser
gemacht, wenn Kißling so schön sagt: „Die glänzenden Geistesgaben seines
Bruders waren Wilhelm I. versagt", wobei natürlich in diesem Falle zu er-
gänzen ist, weil er sich ganz als Protestant fühlte und die allzu große Nach-
giebigkeit Friedrich Wilhelms TV. ultramontanen Machtgelüsten gegenüber
nicht teilte. Vielleicht war dies aber doch ein Zeichen von gi-ößerer politi-
scher Einsicht. Daß Kißling für die so äußerst komplizierte religiöse Ent-
wicklung Bismarcks bei dem Gegensatz, in dem seine „Politik zu den Grund-
sätzen des Evangeliums" angeblich steht, nicht das geringste Verständnis hat,
ist bei seinen Anschauungen erklärlich, wenn er aber die Untersuchungen,
die über Bismarcks Religion von Forschern -wie Marcks, Baumgarten und
Müsebeck — auch Max Lenz hätte er hier zitieren müssen — als „methodisch
durchaus verkehrt" und als „protestantisch -erbauliche Betrachtungsweise"
charakterisiert, so fällt dieser Vorwurf mit der Änderimg des „protestantisch"
in „katholisch" auf sein eigenes Werk zurück. Die wenigen Bemerkungen
Böhtlings über Bismarcks Religiosität bieten nichts Neues, sind aber zutreffend.
Die Besprechung von Bismarcks Verhalten bei der Auflehnung des
Freiburger Erzbischofs von Vicari und des Limburger Kirchenstreites fällt
demgemäß bei den beiden Autoren ganz verschieden aus, auch hier zeigt
sich Böhtlingk als der Historiker, der Bismarcks Politik gerecht wird, vor
allem auch die hinterhältige Diplomatie der Ultramontanen, die für Kißling
natürlich gar nicht vorhanden ist, ins rechte Licht rückt. Das eigentümliche
Verhalten der katholischen Geistlichkeit bei der Königsberger Krönung sowie
die kathoiisierenden Tendenzen der Königin Augusta, denen Böhtlingk je ein
eigenes Kapitel gewidmet hat, werden von Kißling nicht berücksichtigt. Bei
der Stellung der deutschen Katholiken zur deutschen und zur italienischen
Frage, zeigt nun aber Kißling deutlich, daß bei der Mehrzahl ganz allein
kirchliche, nicht nationale und politische Interessen maßgebend waren. Das
ist ja das, was sonst von ultramontaner Seite am liebsten bestritten wird.
Kißling selber bringt hier den Beweis (S. 243 ff.), daß es den Ultramontanen
— so muß man sagen, denn es gab auch anders gesinnte Katholiken —
lediglich darauf ankam, ob in Preußen oder in Österreich die Kirche größeren
Einfluß und größere Freiheit habe. Er wagt dann aber bei dem Kampf,
den protestantische Gelehrte wie Sybel, H. v. Treitschke u. a. gegen diesen
Ultramontanismus führten, die niedrige Schmähung der Historisch-politischen
Blätter zu wiederholen, daß diese Männer im Antikatholizismus gute Geschäfte
machen wollten. Es fehlt ihm völlig der Sinn dafür zu sehen, daß hier nicht
Protestanten imd Katholiken einander gegenü1)erstanden, sondern Patrioten
und unpatriotische Ultramontane. Wohlweislich verschweigt er deshalb auch
die Stellungnahme jener Kreise zur Polenfrage, das — um Böhtlingk zu
zitieren — überaus bezeichnende Verhalten „des preußischen Renegaten",
Besprechungen. 533
des Freih. v. Kettler in Mainz 1863 Vjis 1867. Böhtlingk hat hier dankens-
werter Weise alles zusammengestellt, was für das Verhalten der führenden
ultramontanen Kreise 1866 charakteristisch ist, die Äulieiningen Mallinckrodts,
Eeichenspergers und vor allen Dingen Kettlers, eine wundervolle Blütenlese.
Warum erwähnt diese Kißling nicht auch? Er ist doch sonst schnell dabei
zu zitieren, wenn es sich um irgendeine Äußerung handelt, die gegen die
Kirche gerichtet ist.
Ich will nicht weiter auf Einzelheiten eingehen, die Schilderung der
„Kämpfe deutscher Gelehrter gegen die Autonomie der Kirche in Preußen
und die Beschlüsse des Vatikanums" und „die Stellung des Protestantismus
zur katholischen Kirche vor dem Kulturkampf" sind von Kißling im allge-
meinen zutreffend geschildert worden ; daß zu weit gehende und ungerechte
Vorwürfe erhoben wurden, wird man ihm ohne weiteres zugeben. Natürlich
kann er den Kampf gegen den Ultramontanismus nicht anders ansehen als
einen Kampf gegen die Eeligion. Denn welcher L^ltramontane wäre heute
schon dazu fähig? Daß (laut Sy Ilabus) der Liberalismus „jede Art positiver
Religion" mit seinem blinden Haß verfolgt, ist für Kißling wohl mehr
Glaubenssache als historische Überzeugung. Das vierte Buch mit der Über-
schrift „Vorboten des Kulturkampfes in Bayern, Baden und Hessen", mit
dem dieser Band schließt, gleicht den vorhergehenden, auch hier ist alles
zu belegen, was Kißling behauptet, nur wird auch hier alles genau so ein-
seitig dargestellt wie vorher. Man kann unter diesen Umständen auf die
noch ausstehenden Bände gespannt sein und kann jetzt schon voraussehen,
daß sie sich in gleicher Richtung bewegen werden. So wird der Historiker
an Kißlings Werk nicht vorübergehen können, schon die Fülle des hier ver-
arbeiteten Materials wird dies Buch unentbehrlich machen, wer sich aber
ernstlich über die Vorgeschichte des Kulturkampfes unterrichten will, der
wird auch hier keine nach beiden Seiten hin gerecht abwägende Darstellung
finden. Es scheint als ob Kißling bei seiner Arbeit sich von den Anschau-
ungen, die Ruvalle auf dem Mainzer Katholikentage über die Aufgabe des
katholischen Historikers ausgesprochen hat, leiten ließ.
Was Böhtlingk über den Kultm-kampf selber, der natürlich den Hauptteil
seines Buches einnimmt, zu sagen hat, ist im großen und ganzen nicht neu.
Irgendwelches bisher unbekannte Material hat er nicht verwertet, es ist sein
Verdienst, das bereits Bekannte zu einer recht gut lesbaren, lebendigen Dar-
stellung verarbeitet zu haben. Leider ist diese nun aber auch einseitig vom
protestantischen Standpunkt aus und wird immer wieder durch den heftigen
polemischen Ton gestört. Mit Urteilen hält er möglichst zurück, er gibt
eigentlich nur Tatsachen, aber man liest zwischen den Zeilen, wie er darüber
denkt. Der Referent mag nicht mit ihm rechten, ob er mehr eine historische
oder eine politische Arbeit liefern wollte; wäre ersteres der Fall, so müßte
man gar vieles an ihr aussetzen, wollte er aber eine politische Arbeit auf
historischer Grundlage liefern, eine W^affe zum Kampf gegen ultramontane
Machtgelüste, so kann man nur wünschen, daß das Buch weite Verbreitung
findet, daß es vor allen Dingen auch unsere Parlamentarier recht eifrig
studieren mögen, um gerüstet zu sein, wenn das Zentrum mit den Beweisen
seines Historikers Kißling heranrückt. Die Geschichte des Kulturkampfes
muß also auch nach diesen beiden Büchern noch geschrieben werden, eine
Aufgabe, die nur im Sinne und mit der Kunst eines Ranke zu lösen ist, bei
der der Politiker hinter dem Historiker völlig zurücktreten muß.
Das Buch des Grafen Hoensbroech „Rom und das Zentrum", das jetzt
in einer Volksausgabe erschienen ist, ist nicht die Arbeit eines Historikers,
sondern lediglich eines Politikers — Historiker ist Hoensbroech wohl nie
gewesen. Man mag über die Kampfesart Hoensbroechs verschiedener Ansicht
sein — es gibt Leute, die behaupten, daß er der von ihm vertretenen Sache
mehr schade als nütze — , so bleibt ihm dennoch das Verdienst, durch seine
Schriften weitere Ki-eise über das Wesen des Ultramontanismus aufgeklärt
534 Besprechungen.
zu haben. Leider verquickt er in den meisten seiner Arbeiten, besonders in
seinem „Papsttum" Vergangenheit und Gegenwart miteinander, so daß er
hier gar zu leicht von seinen Gegnern geschlagen werden kann; es fehlt ihm
an historischer Schulung. Dieser Mangel tritt bei dem vorliegenden Buch
nicht so hervor, in dem Waffen gegen die Behauptung des Zentrums, daß es
politisch von Rom unabhängig sei, geliefert werden. Hoensbroech stellt alles
zusammen, was das Gegenteil beweist. Werden aber die Herren vom Zentrum
offiziell diesen Beweis anerkennen? Nie und nimmer! Sie werden bei
ihrer Behauptung bleiben, auch wenn es ihnen, wie hier, schwarz auf weiß
bewiesen wird. Nur auf die Einleitung sei noch aufmerksam gemacht, sie
gleicht einem Flugblatt mit kulturkämpferischer Tendenz. Im ganzen ist
das Buch vielleicht eine nützliche, aber keine erfreuliche Erscheinung und
verdient in dieser Zeitschrift kein näheres Eingehen.
Fritz Schillmann.
Karl V. Grabmayr, Von Badeni bis Stürgkh. Gesammelte Reden. Wien
1912. F. Tempsky. 197 S.
Die politische Redekunst hat in Österreich köstliche Blüten gezeitigt.
Aber wie die meisten Staatsmänner und Politiker sogleich der Vergessenheit
anheimfielen, wenn sie aufhörten, im Mittelpunkte der Ereignisse zu stehen,
so verlor sich auch das Interesse an dem gesprochenen Worte immer gleich,
nachdem der Klang verhallte. Daß gi-oße Reden über den Tag hinaus wirken
können, daß sie ein Quell der Erkenntnis für ferne Geschlechter zu sein ver-
mögen, dies scheint der Bevölkerung noch nicht klar geworden zu sein. Das
Jahr 1848 hat sicherlich unter zu viel Redseligkeit gelitten, aber es war eine
Zeit, in der das Wort eine Waffe bildete, die viele glänzend zu handhaben
verstanden. Der Österreicher weiß jedoch mit dem Schatze von rhetorischen
Prachtleistungen, die das Revolutionsjahr angehäuft hat, nichts anzufangen.
Wohl gibt es fünf stattliche Bände der Protokolle des ersten Reichstages,
allein sie führen in wenigen Bibliotheken ein unbeachtetes Dasein. Niemandem
fällt es ein, ihren reichen Inhalt wenigstens zum Teil für unsere Zeit lebendig
zu machen. Nicht besser ist es den Rednern ergangen, die im österreichischen
Reichsrate das Wort ergriffen, die also seit dem Jahre 1861 das Ohr der
Öffentlichkeit für sich zu gewinnen suchten. Man kennt sie heute im besten
Falle nur mehr dem Namen nach; ihre physische Persönlichkeit, ihr geistiges
Wesen ist uns fi-emd geworden, und ihrer parlamentarischen Triumphe er-
innert sich unsere Zeit nicht mehr. Einzelne der philosoj^hischen Schriften
von Carneri erquicken heute in billigen Ausgaben tausende Leser; doch
niemand denkt daran, sich an seinen politischen Reden zu erbauen. Sie sind
überhaujit nur in den Protokollen zugänglich. Dasselbe gilt für Giskra, den
temperamentvollsten Redner der österreichischen Liberalen, füi- Unger, ihren
geistreichsten Kopf, und für Sueß, ihren vollendetsten, gedankentiefsten
Sprecher. Die Konservativen haben es nicht anders gehalten. Selbst ein
Lueger, der es bis zu den höchsten Ehren brachte und mit dessen Persön-
lichkeit förmlich ein Kult getrieben wm-de, hat als Redner nur für den
Augenblick gelebt. Was er als Gemeinderat, als Reichsratsabgeordneter und
als Landtagsabgeordneter sprach, ist längst verklungen; seinen Parteigenossen
fällt es nicht ein, ihren toten Führer durch die Belebung seiner Worte zu
ehren. Übrigens scheint die Geringschätzung der politischen Redekunst nicht
nur eine Eigentümlichkeit der Deutschösterreicher zu sein; die Slaven halten
es damit — soweit man in dem vielsprachigen Lande einen Überblick ge-
winnen kann — nicht anders.
In der letzten Zeit ist allerdings einiges geschehen, um das Übel und
die Schuld etwas zu verringern. Eine Sammlung der Reden des Grafen
Anton Auersperg — als Anastasius Grün ist er bekannter — liegt in einem
Bande vor; leider muß das Buch schon wegen des verhältnismäßig hohen
Besprechungen. 535
Preises darauf verzichten, in weitere Kreise zu dringen. Vor kurzem er-
schienen die Reden, die Dr. Enist Freiherr von Plener zwischen 1873 und
1911 gehalten hat, in einem Folianten vereinigt, der nicht weniger als
1092 Seiten aufweist. Eine Schrift von diesem Umfange kann kaum ihren
Weg in das Haus des Bürgers machen. Statt einer geschickten Auswahl
wurde eben eine vollständige Sammlung geboten, was in mehrfacher Hinsicht
ein Fehlgi-iff war. Jetzt liegen die Reden gesammelt vor, die Karl v. Grabmayr
an verschiedenen Stätten: im Tiroler Landtage, im Abgeordnetenhause des
Reichsrates, in der österreichischen Delegation, im Herrenhause und in Volks-
versammlungen gehalten hat. Seine politischen Freunde, die zur Gruppe des
verfassungstreuen Tiroler Großgrundbesitzes gehören, haben ihn durch ein
Gewinde erfi-eut, dessen Blätter die verschiedenen Darlegungen, Mahnungen
und Ermutigungen des eigenartigen Parlamentariers bilden.
Karl V. GrabmajT, der seine Karriere im öffentlichen Leben mit der
Berufung ins Herrenhaus nicht abgeschlossen haben dürfte, der vielleicht
noch einmal auf einem Ministerfauteuil seinen Platz finden \\Trd, ist eine der
interessantesten Persönlichkeiten in der österreichischen Politik. Er hat
immer den Mut besessen, ganz er selbst zu bleiben, und so ist sein vor-
nehmes Wesen in allen Fällen zur Geltung gekommen. Deutsch, ohne
Chauvinist zu sein, liberal, ohne den Radikalismus zu lieben, aufrecht, ohne
deshalb starrsinnig zu sein, ging er stets seinen eigenen Weg. Das sieht
man jetzt recht deutlich, wenn man die Reden durchliest, die in die Zeit
vom 7. Januar 1896 bis zum 21. Dezember 1911 fallen. Graf Badeni war
Ministerpräsident, als die erste Rede gehalten wurde, Graf Stürgkh, der
einstige Parteigenosse Grabmayrs im Parlamente, wurde Ministerpräsident,
als die letzte Rede, die in der Sammlung Aufnahme fand, erklang. Wie viel
an Ereignissen liegt dazwischen ! Die Kämpfe, die sich an die Badenischen
Sprachenverordnungen anschlössen und der Kampf um die Wahlreform, Ver-
zagtheit und Hoffnung: all das spiegelt sich in dem Buche weder. Grabmayr
ist kein brillanter Sprecher; er sucht nicht zu leuchten, sondern er will
wärmen; ihm ist die Pointe nicht alles und die äußerlich sieghafte, wenn-
gleich innerlich hohle Dialektik nicht höchstes Ziel. Er sagt schlicht, was
ihn bewegt, er spricht mit Sachlichkeit und mit Klarheit.
In einer Rede, die mit der Überschrift: „Ein liberales Kredo" versehen
ist, bringt Grabmayr gleichsam seine Weltanschauung zum Ausdrucke. „Dem
Prinzip der Autorität, das gleichberechtigte und gleichwertige Prinzip der
Freiheit gegenübergestellt zu haben, ist das unvergängliche Verdienst des
Liberalismus, der die Völker aus Sklavenketten der feudalen und absoluti-
stischen Welt- und Rechtsordnung erlöste. Gegenüber einem System, das
niu" für wenige bevorzugte Kasten das Recht, für die Millionen Unter-
tanen nur die Pflicht betonte, erkämpfte der Liberalismus die allgemeine
Staatsbürgerschaft, das gleiche Recht aller vor dem Gesetze. Wo früher
das Gottesgnadentum der Fürsten ausschließlich herrschte, brachte der
Liberalismus das ebenbürtige Recht der Völker zu Ehren, so daß ich heute,
ohne Widerspruch zu fürchten, sagen darf, wir sitzen ebenso von Gottes
Gnaden auf diesen unsern Plätzen wie der Monarch auf seinem Throne.
Diese liberalen Grundideen weiter auszubauen und ihnen im praktischen
Leben mehr als es bisher geschah. Geltung zu verschaffen, bildet die Zukunfts-
aufgabe der liberalen Partei " Freilich stößt man später auf eine Rede,
die Grabmayi- am 7. März 1906 im Parlamente hielt. In ihr trat er gegen
die Wahlreformvorschläge des Freiherrn von Gautsch auf. Er verwahrte
sich zwar dagegen, „etwa die Güte und die üntadelhaftigkeit" des damals
in Österreich bestandenen Kuriensystems zu verteidigen, und er schloß seine
Ausführungen mit dem Rufe : „Die Gautschsche Wahlreform ist tot, es
lebe die Wahlreform!" Was er aber bot, war eine heftige Polemik gegen
das „gleiche Recht für alle", war ein Fürspruch für Pri^^legien in neuem
Gewände. Das allgemeine gleiche Stimmrecht hat für Österreich wohl nicht
536 Besprecliungen.
das gebracht, was manche erwarteten: eine Gesundung, eine durchgreifende
Eenaissance, doch es ist trotzdem eine Tat gewesen, und noch dazu eine be-
freiende Tat. Im Jahre 1900 hielt Grabmayr eine treffliche Eede über die
Parlamentsmüdigkeit in Österreich. „Wenn Sie heute hinausgehen und
horchen, was das Volk sagt, so werden sie sich" — die Ausfükrungen richteten
sich an die Abgeordneten — „überzeugen, um wieviel geringer jene einst so
hoch gehaltene Ehre (des Mandats) geschätzt wird. Und wenn diese hohe
Versammlung morgen vom Schauplatze verschwindet, dann dürfte für die
ihr nachgeweinten Tränen in einer winzigen Urne Raum sein." Außer-
ordentlich einsichtsvoll ist all das, was Grabmayr über das Verhältnis Öster-
reichs zu Italien sprach; seine Darlegungen vom 22. Februar 1911 über
Dreibund und Irredenta verraten nicht nur eine genaue Kenntnis der Ver-
hältnisse, sondern auch einen staatsmännischen Blick.
Die Redensammlung „Von Badeni bis Stürgkh" weist verschiedene
Mängel auf. Vor allem ist nicht mit einem Satze der Persönlichkeit Grab-
mayrs gedacht worden, gleichsam als hätten sich die Herausgeber gar nicht
mit dem Gedanken beschäftigt, daß das Buch von Leuten gelesen werden
könnte, die einiges über den Menschen erfahren möchten, dessen Worte sie
in sich aufnehmen. Ebenso wurden die einzelnen Reden ohne Verbindung
und ohne Einleitung aneinandergeschlossen. Für den, der die eineinhalb
Jahrzehnte mit vollem Interesse erlebt hat, wird die Orientierung nicht
schwer sein ; für jene aber, die den Ereignissen ferner standen, wäre da und
dort ein aufklärendes Wort von Vorteil. Richard Charmatz.
W. Wygodzinski, Das Genossenschaftswesen in Deutschland. Leipzig und
Berlin 1911. B. G. Teubner. VI und 287 S.
Das zur Teubnerschen Sammlung der „Handbücher für Handel und Gewerbe "
gehörige Buch ist ein wirtschaftswissenschaftliches Lekrbuch über das Genossen-
schaftswesen. Dadurch, daß es sich dem Zwecke der bekannten Sammlung
anzupassen hatte, hat es gegenüber vielen anderen genossenschaftlichen Schriften
seine besondere Eigenart (die eines vortrefflichen Lehrbuchs) erhalten. Theo-
retisch hat es seine allgemeine Bedeutung darin, daß es die genossenschaft-
liche Unternehmungsform in die Zusammenhänge der Gesamtwirtschaft ein-
ordnet. Die Darstellung der vielseitigen Erscheinungen des Genossenschafts-
wesens ist in hohem Maße unparteiisch und fi'ei von der Teilnahme am Streite
zwischen den „Systemen" imd „Richtungen", frei auch von allem fachlichen
Enthusiasmus. Der Verf. ist bemüht, ein scharfes und klares Urteil im ein-
zelnen zu vermitteln, und erweckt in dem Leser das wohltuende Gefühl, daß
man sich an der Hand eines zuverlässigen Führers bewegt*). Als solcher ist
er durch die volle Beherrschung der Theorie und Praxis auch durchaus
b eruf en.
Das Buch beginnt mit einer nicht sehr umfänglichen, aber desto inhalts-
reicheren Darstellung des Wesens der Genossenschaft, die als eine der
unsere Volks- und Privatwirtschaft beherrschenden Kollektiv-Unternehmungs-
formen bezeichnet und als die Organisation kleinster wirtschaftlicher Kräfte
gerühmt wird. Als Unternehmungsform ist sie dem Verf. so gut und so
schlecht wie jede andere; aber ihre innere Kraft beruht in der Bodenständig-
keit ihres Mitgliederkreises, d. h. sie assoziiert nicht Kapital, sondern wirt-
*) Ganz beiläufig mag bemängelt werden, daß das Buch recht häufig
den Ausdruck „Haftpflicht" und „Haftung" vertauscht. Ist das auch an keiner
Stelle sinnstörend, so wäre es doch gerade für ein „Lehrbuch" richtiger, wenn
die Sprache des Gesetzes, die bei den eingetragenen Genossenschaften nur
die „Haftpflicht" kennt, streng beibehalten wäre. Einmal (S. 186) findet sich
auch umgekehrt bei „Gesellschaft mit beschränkter Haftung" der Ausdruck
„Haftiiflicht".
Besprechungen. 537
schaftliche Kräfte und zwar solche finanzieller, wie persönlicher und sogar
ethischer Art im Nachbarschaftsverbande; die persönliche Anteilnahme
an ihrer Arbeit ist das Weseuhafte an ihr. Die deutsche (Tenussenschaft ist
nach Wygodzinski die am meisten demokratische Unternehmungsform, wo-
gegen die Gesellschaft mit beschränkter Haftung als die aristokratische, das
Kartell als die oligarchische und die Aktiengesellschaft als die bürgerliche
in hübscher Zuspitzung bezeichnet wird.
Die geschichtliche Entwicklung des Genossenschaftswesens wird
in drei Kapiteln des Buches behandelt. Wygodzinski betrachtet sie von
dem höheren Standpunkte uralter genossenschaftlicher Triebe in der Menschen-
brust, die eine Genossenschaftswirtschaft viel eher gezeitigt habe als eine
Einzelwirtschaft. Er verweilt dazu allerdings nicht bei den Tiefen der Ur-
zeit, sondern geht aus von bestimmten wirtschaftlichen Zuständen in Deutsch-
land, der rheinischen und fränkischen Landwirtschaft (nach Lamprecht,
Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter), den Zünften (nach Gierke,
Deutsches Genossenschaftsrecht) usw. und kennzeichnet die älteren Genossen-
schaften dahin, daß sie den Einzelnen mit seinen persönlichen Bedürfnissen
unter den genossenschaftlichen Zwang stellten, während für die Genossenschaft
unsrer Zeit umgekehrt Rücksichtnahme auf die Einzelpersönlichkeit und auf
die Wahrung ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit das kennzeichnende Merk-
mal ist. Die Entwicklung im 19. Jahrhundert, die zu der heutigen Genossen-
schaftsform geführt hat, wird mit größerer Ausführlichkeit behandelt, sowohl
was die leitenden Gedanken der Entwicklung, wie was die tatsächlichen Vor-
gänge anlangt. Hier zeigt Wygodzinski die Grenzen und Möglichkeiten
dieser wirtschaftlichen Organisationsform, die er in seiner überzeugenden ob-
jektiven Weise warnt zu überschätzen und zu unterschätzen. Das, was hier
ausgeführt wird, ist in vielen Stücken von so hoher genossenschaftspolitischer
Bedeutung, daß bessere Fingerzeige nicht gegeben werden können zur Be-
urteilung der notwendigen wirtschaftlichen, sittlichen und psychologischen
Vorbedingungen für jede Art von genossenschaftlicher Gründertätigkeit. Die
Entwicklungsgeschichte der Genossenschaften findet ihren Abschluß in der
Darstellung der Rechtsform, die dem heutigen Genossenschaftswesen durch
die Gesetzgebung gegeben worden ist, womit dann übergeleitet wird zu einer
ausgiebigen Erörterung der „Struktur" der Genossenschaften.
In diesem fast genau ein Drittel des Werkes einnehmenden Teile (zweites
Buch, erster imd zweiter Abschnitt) wird das geltende Genossenschaftsgesetz
mit seinen Bestimmungen und in seiner Anwendung erläutert, nicht etwa im
Sinne eines juristischen Kommentars, sondern in seiner Bedeutung als äußerer
Rahmen der genossenschaftlichen Wirtschaftstätigkeit. Diese selbst ist dem
Verf. die Hauptsache, und sie gibt ihm als Theoretiker wie namentlich als
Praktiker zu einer Reihe von gescheiten Ausführungen Veranlassung. So
knüpft er an die Besprechung der für manche Arten von Genossenschaften
gesetzlich verbotenen Ausdehnung des Geschäftsverkehrs auf Nichtmitglieder
die Bemerkung, daß ein mehr als gelegentlicher Geschäftsverkehr der Ge-
nossenschaft mit Nichtgenossen dem Wesen der Genossenschaft als Personen-
vereinigung nicht entspreche; es könne dann gar zu leicht die Förderung von
Erwerb und Wirtschaft der Mitglieder nicht mehr Selbst- und Hauptzweck
des Unternehmens, sondern bloßer Ausgangspunkt werden. „Das Verbot der
Gewährung von Darlehen an Nichtmitglieder wurde erst durch das Gesetz
von 1889 eingeführt; seine nächste Folge war, daß eine ganze Anzahl Kredit-
genossenschaften .... es nun vorzogen, sich in Aktiengesellschaften umzu-
wandeln. Die auch heute gar nicht seltene, vielbeklagte Umwandlung blü-
hender Kreditgenossenschaften in Aktiengesellschaften dürfte .... oft genug
den Grund haben, daß sie es lukrativer finden, auch mit Nichtgenossen Ge-
schäfte zu machen; es ist das eben ein Zeichen dafür, daß der genossenschaft-
liche Geist dem des Erwerbes gewichen ist. Eine Klage darüber scheint mir
nicht berechtigt; wenn aus den Umständen heraus eine Entwicklung zur Klein-
538 Besprechungen.
bank sich vollzogen hat, so ist das durchaus nicht eine ungesunde Entwicklung.
Nur muß dann ehrlich und aufrichtig Farbe bekannt werden." Das sind sehr
treffende Bemerkungen, frei von Voreingenommenheit und Fachenthusiasmus. —
In gleichem Sinne sind die Ausführungen über den Geschäftsanteil, die Haft-
summen, die Geschäftsguthaben, die Reserven und die eigenen und fremden
Gelder sehr lehrreich, wobei der Verf. sich häufig auf die statistischen Unter-
lagen stützt, die der Referent in seinen „Mtteilungen zur deutschen Ge-
nossenschaftsstatistik" beigebracht hat. So ist sehr lichtvoll die Beurteilung
der beiden Hauptbestandteile des genossenschaftlichen Vermögens, nämlich
des Geschäftsguthabens der Mitglieder und der Reserven. Während, heißt es
da ungefähr, das Verhältnis der Aktie zur Aktiengesellschaft ein festes ist,
dergestalt, daß die Aktiengesellschaft festhält, was sie einmal an Kapital an
sich gezogen hat, ist das Geschäftsguthaben der Genossenschaftsmitglieder,
eben weil die Genossenschaft eine Gemeinschaft von Personen ist und den
Mitgliederbestand leicht wechseln kann, bei weitem nicht ein sehr sicherer,
d. h. beständiger Faktor des Reinvermögens ; jeder ausscheidende Genosse
nimmt sein Geschäftsguthaben mit, wenn auch mit einem Fristaufschub ; aber
tatsächlich noch mehr als das: mit dem Austritt entzieht der Genosse dem
Unternehmen auch ein Stück der Ereditbasis, die u. a. auf seiner Haftpflicht
beruht. Die finanzielle Lage der Genossenschaft ist also von dem Geschäfts-
guthaben (Geschäftsanteil) doppelt abhängig. Deshalb sind die Reserven bei
der Genossenschaft (als das mehr beständige) ungleich wdchtiger als bei der
Aktiengesellschaft, und Stärkung der Reserven ist die erste Pflicht genossen-
schaftlicher Verwaltung. — Bei Besprechung des letztinstanzlichen Organs
der Genossenschaft, der Generalversammlung, wird die Frage aufgeworfen,
ob diese sich die beherrschende Stellung erhalten habe, die sie nach den Ab-
sichten der alten Genossenschafter und des Gesetzes haben sollte. „Man wird
nicht leugnen können, daß gewisse Zersetzungstendenzen sich auch hier geltend
machen. Sie liegen einmal in objektiven Eigenschaften der menschlichen
Natur . . , Aber auch die (sachlichen) Unterlagen für die überragende Be-
deutung der Generalversammlung haben sich vielfach verschoben, vor allem
dadurch, daß die Genossenschaften an Mitgliederzahl zu stark gewachsen
sind." Bei so hohen Mitgliederzahlen, wie sie nicht selten bei Kredit- und
bei Konsumgenossenschaften vorkommen, ist in der Tat eine regelmäßige Be-
teiligung der Genossen an der Generalversammlung undenkbar; schon aus
äußerlichen Gründen (weil es keine Säle gibt, die Tausende von Mitgliedern
fassen) können die Genossen bei großem Umfange gewisser Genossenschaften
von ihrem Stimmrecht keinen Gebrauch machen. Der Zusammenhang zwischen
den Mitgliedern dieser Personenvereinigungen lockert sich. Schließlich ergibt
sich die Notwendigkeit der Um- und Weiterbildung der Vertretungsform
oder des Aufgebens der Form der Genossenschaft.
Man hat deshalb den Versuch gemacht, ein Mittelglied zwischen dem
Aufsichtsrat und Vorstand einerseits und der schwerfälligen Generalversamm-
lung andrerseits in Gestalt eines parlamentarischen Ausschusses, eines „Ge-
nossenschaftsrats", einzuschieben, der schließlich im wesentlichen auch durch
Oberlandes- und reichsgerichtliches Urteil in einer Anfechtmigsklage gebilligt
worden und damit auf gesetzliche Grundlage gestellt worden ist (vgl. Konsum-
genossenschaftliche Rundschau 1910 S. 553 ff.). — In ähnlicher Weise hat
das Anwachsen des Umfangs der Genossenschaften auf die beamtlichen Organe
eingewirkt; die Zahl der Beamten wächst ständig. Wo die Genossenschaften
sich zu großbetrieblichen Unternehmungen ausgewachsen haben, ist die Ge-
schäftsführung ohne technisch, kaufmännisch oder bankmäßig gelernte Be-
amte nicht mehr möglich. „Das muß man anerkennen, auch wenn man be-
dauert, daß die Genossenschaften damit von dem ersten Ziele als selbstver-
waltete Nachbarschaftsverbände immer weiter abkommen." Bei den Genossen-
schaften großen Umfangs, insbesondere bei den Konsumvereinen, beginnt auch
achon eine besondere Arbeiter- und Sozialpolitik einzusetzen, wozu es wieder
Besprechunofeu. 539
leitender Kräfte bedarf. Diese sind für die Geschichte und Entwicklung des
Genossenschaftswesens von der ältesten Zeit bis in unsre Tage immer not-
wendig und tätig gewesen. Sind die Genossenschaften demokratische Ge-
bilde, so bedürfen sie wie alle Demokratie starker Persönlichkeiten als
Führer. — Den Verbänden und Verbandsrevisionen widmet der Verf. längere
Ausführungen. Ohne deren ununterbrochene Tätigkeit würde an vielen Stellen
das Genossenschaftswesen versumpfen. — Wie in den Verbänden neben der
Revision das gemeinsame Interesse der angeschlossenen Genossenschaften ge-
pflegt wird, so gibt es auch Zusammenfassungen zum Zweck bestimmter streng
wirtschaftlicher Tätigkeiten; dies sind die Zentralgenossenschaften (Haupt-
genossenschaften), die eine hervorragende Bedeutung namentlich auf dem
Gebiete des Geldwesens und des gemeinsamen Bezugs, also der eigentlichen
wirtschaftlichen Tätigkeit der Vereinigungen, erlangt haben. Wygodzinski
hebt richtig die auch von Crüger öfter besprochenen Bedenken, zu denen
diese Gebilde Anlaß geben, hervor, etwa den Mißbrauch der dadurch ermög-
lichten mehrfachen Haftung, die künstliche Steigerung der Kreditfähigkeit,
das Verlassen des ursprünglichen Charakters des Nachbarschaftsverbandes,
das Aufgeben der wirtschaftlichen Unternehmungen rein örtlicher Natur u. a. m.;
aber er gibt auch zu, daß diese Bedenken sich in der Praxis bisher doch als
unerheblich erwiesen und die großen Leistungen der Zentralgenossenschaften,
ohne die die heutige Blüte des Genossenschaftswesens ganz undenkbar wäre,
nicht beeinträchtigt haben. Damit hat er vollkommen recht, und auch da-
mit, daß er die Krönung des ganzen Gebäudes genossenschaftlichen Zusammen-
schlusses, die vom Staate begi'ündete Preußische Zentral-Genossenschaftskasse,
im Gegensatz zu ihren Verkleinerern in ein wohlverdientes Licht setzt. Mit
dieser Anstalt und den Zentralgenossenschaften (Verbandskassen) gelingt es,
schließlich doch zwischen verschiedenen Berufskreisen und Landesteilen den
Geldausgleich herbeizuführen und dem kleinen Manne als Genossenschafter
den Anschloß an den großen Geldmarkt zu ermöglichen. Der wirtschaftliche
Segen dieser Organisationen beruht u. a. auch darauf, daß sie die mittels der
werbenden Kraft der Selbsthilfe geschaffenen Kleinkapitalien zu größeren
finanziellen Machtmitteln ansammeln und sie doch wieder den Wirtschafts-
gebieten, aus denen die Kapitalien stammen, zu geeigneter Zeit und in ge-
eigneter Form zuführen, eine volkswirtschaftliche Arbeit, die unsres Erachtens
mindestens dieselbe Bedeutung hat, wie die wirtschaftsabsolutistische Beherr-
schung der vielen durch wenige in den Großbanken.
Es ist nicht angängig, in diesem literarischenBerichtüberWygodzinskis
Buch auf alle Seiten seiner J)ar8tellung einzugehen. Nur folgendes mag noch
berührt werden.
Ln dritten Buche des Werkes wird die „wirtschaftliche Betätigung
der Genossenschaften" ausführlich behandelt und zwar unter Berück-
sichtigimg der hauptsächlichen Arten der Genossenschaften. Hier ist, abge-
sehen von dem sehr lehiTeichen praktischen Inhalte dieses größeren Teils
der Schrift und den vielen nachdenklichen und gedankenreichen allgemeinen
Bemerkungen, theoretisch besonders beachtenswert, was der Verf. über die
-Systematik für die Unterscheidung land Einteilung der Genossenschaften aus-
führt. Verschiedene Köpfe haben sich schon Mühe gegeben, ein brauchbares
Einteilungssystem zu finden und die im Genossenschaftsgesetze mehr nur
beispielsweise gegebene, jedenfalls recht mechanische Einteilung der Genossen-
schaften nach dem äußeren Merkmale des Gegenstandes des Unternehmens
durch etwas besseres zu ersetzen. Wygodzinski bemerkt, daß vielleicht
zu viel Scharfsinn auf diese rein formale Frage verwandt worden sei. Gewiß
ist richtig, daß die „genossenschaftliche" Unternehmungsform einzig und
allein das Verbindende (der einheitliche Nenner) für eine Kreditgenossenschaft,
einen Konsumverein, eine Molkereigenossenschaft usw. ist, und daß innere
Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Genossenschaftsarten kaum zu
entdecken sind. Das hindert aber doch nicht, daß man alle die genossen-
540 Besprechungen.
schaftlichen Erscheinungsformen in ein wissenschaftliches System zu bringen
sucht, und das tut der Verf, ja selbst, so gut wie es andere getan haben,
jeder von seinem und einem besonderen Gesichtspunkte aus. Wygodzinski
wählt als Einteilungsgrundsatz wirtschaftliche Gesichtspunkte ; H. Kauf-
mann z.B. nimmt dazu die persönlichen Beziehungen der Genossen zu ihrer
Genossenschaft, E. Hetz geht von der Zweiteilung der Produzenten- und der
Konsumenten-Genossenschaften aus und unterscheidet sie weiter nach der
Deckung des Eigenbedarfs und des Fremdbedarfs usw. Dem System Wy-
godzinskis an sich will ich nicht widersprechen; ich habe in langer ge-
nossenschaftsstatistischer Arbeit gelernt, mich auf diesem umstrittenen Gebiete
vor systematischer Eigenwilligkeit und vor Besserwissen zu hüten. Aber als
unfehlbar imd völlig einwandfi-ei mag ich doch auch das neue System nicht
erklären, dessen Terminologie der Verf. selbst als etwas schwerfällig be-
zeichnet. Der Leser wolle die Ausführungen auf S. 120 — 123 des Werkes
nachprüfen, wenn er füi" die Frage der genossenschaftlichen Systematik Teil-
nahme hat; ich erachte sie allerdings für eine besonders bedeutsame Seite
der Arbeit des Verf., auch wenn ich mir seine Einteilung nicht aneigne.
Schließlich will ich. mit Übergehung manches wichtigen, noch auf das
Schlußkapitel hinweisen, das sich mit den Entwicklungstendenzen des
Genossenschaftswesens beschäftigt. Wie nach dem bisher berichteten
anzunehmen ist, bringt auch dieses Kapitel eine Reihe von feinen, sich auf
das abgeklärte Urteil des Verf. stützenden Bemerkungen. Allerdings kann
man sie eigentlich nur verstehen, wenn man das Buch b i s zu diesem Kapitel
durchstudiert hat. Insbesondere ergibt sich für den Leser erst dann der
innere Grund, weswegen sich der Verf. in diesem Schlußkapitel ganz über-
wiegend mit den Konsumvereinen der Hamburger Richtung befaßt. Gewiß,
diese sind in der heutigen Bewegung der Konsumgenossenschaften das ent-
scheidende, vne ihr Führer, Heinrich Kaufmann, zu den ausgeprägtesten,
denkenden Persönlichkeiten der heutigen Genossenschaftsbewegung gehört.
Erwünscht wäre es gleichwohl gewesen, wenn Wygodzinski seine beachtens-
werte Ansicht über das Breitere des Genossenschaftswesens uns nicht vor-
enthalten hätte. Indessen ist auch das Gebotene an Fingerzeigen durchaus
nicht arm. Die tatsächliche Entwicklung des Genossenschaftswesens ergibt
ein glänzendes Vorwärtskommen der Kreditgenossenschaften, an zweiter Stelle
der landwirtschaftlichen Teilproduktionsgenossenschaften (Molkereigenossen-
schaften, Winzereien n. dgl.), drittens der Einkaufsgenossenschaften (Konsum-
vereine. Rohstoffanschaffungsvereine u. dgl.); auch die Baugenossenschaften
stehen auf einer oberen Stufe der Pyramide der Genossenschaftsentwicklung.
Wygodzinski meint, daß sich die Baugenossenschaften, wenn erst die
Periode der billigen Gelder von öffentlichen Körperschaften vorüber sei, noch
erst zu bewähren haben würden; ich selbst halte diese Grenze für bedeutungs-
los, weil sie einen Wandel im sozialen Emiifinden unsrer Zeit zur Voraus-
setzung hätte. Im übrigen aber nimmt er, wie es scheint, nicht ohne einen
leichten Ton der Resignation, die Entwicklung, wie sie sich tatsächlich voll-
zogen hat, als das Richtung gebende für die Zukunft hin. Das Ergebnis
selbst ist ihm stattlich, aber „es dürfte diejenigen wenig befriedigen, die in
der Genossenschaft nicht nur eine wirtschaftlich zu wertende Unternehmimgs-
form, sondern ein Gebilde ethischer Art sehen, das in einem ausgesprochenen
Gegensatze zu dem individualistisch gerichteten Sinne der Zeit stehe". Denn
die drei erfolgreichen Genossenschaftsarten (s. o.) stellen nach Überwindung
der Anfangsschwierigkeiten doch recht geringe Anforderungen an den ge-
nossenschaftlichen Geist. Der Genosse steht seiner Genossenschaft nur
dann anders als einem beliebigen fremden Unternehmen gegenüber, wenn sie
ihm günstigere Bedingimgen bietet. „Es ist wirklich keine ethisch besonders
zu bewertende Leistung, seinen Kaffee und seine Scheuerluirsten beim Konsum-
verein statt beim* Händler zu kaufen oder ein Darlehn von der Kredit-
genossenschaft anzunehmen. Sowie der Kaffee beim Händler billiger ist,
Besprechuugen. 541
sowie irgend ein beliebiges Bankinstitut für Depositen V4 7o ™ebr bietet als
die Kreditgenossenschaft, gerät die genossenschaftliche Treue bedenklich ins
Wanken." Aber wenn aucli der letzte Grund des Erfolges nicht im genossen-
schaftlichen Sinne der Mitglieder liegen mag. so beherrscht die siegreichen
Genossenschaften doch auch ein auf die „Stärkung der Gesamtpersönlichkeit"
gerichteter Zug. Dieser kollektivistische Zug zielt aus modern-proletarischen
Anschauungen heraus schließlicli. namentlich in den Konsumvereinen der
Hamburger Richtung, auf Verdrängung und Ersetzung der individualistisch-
kapitalistischen Produktion ab, und das ist eine ausgesprochene und sehr
bedeutsame genossenschaftliche Entwicklungstendenz, wenn ihr auch umge-
kehrt manche oft sehr wirksamen individualistischen Vorgänge entgegen-
arbeiten. Was hierzu über die proletarische Konsumvereinsbewegung und
ihre Vorkämi^ferin, die Hamburger Großeinkaufsbewegung, vom Verf. aus-
geführt wird, ist sehr lehrreich. Sie ist zuletzt nichts anderes als die Ver-
gesellschaftung aller Produktionsmittel. ,,Es ist gewiß aufrichtig, wenu die
Führer der Konsumvereinsbewegung von einem Bekenntnis zur sozialdemo-
kratischen Partei nichts wissen wollen, wenn sie vielleicht sogar sich gar
nicht als Sozialdemokraten fühlen. Aber sie sind nichtsdestoweniger Sozia-
listen, ja man könnte sagen: bessere Sozialisten als die Unentwegten." Dem
möchte der Berichterstatter noch hinzufügen, daß nach den scharfen Angriffen,
die die Leitung des konsumgenossenschaftlichen Zentralverbandes i. J. 1911
auf dem sozialdemokratischen Parteitage zu Jena erfahren hat. dieser reinere
Sozialismus auf die Dauer nicht verhindern wird, daß die Konsumvereins-
bewegung dennoch unter die Botmäßigkeit der sozialdemokratischen Partei
gelangen wird.
Das Grundproblem der Entwicklung des Genossenschaftswesens ist nach
Wygodzinski das der „Möglichkeit einer wirtschaftlichen Demokratie".
In Fragen dieser Art gibt es keine exakten Beweise. Das Genossenschafts-
wesen steht wie alle demokratischen Gebilde zunächst unter dem überragen-
den Einflüsse von Persönlichkeiten; nach der Tyrannis folgt die Autokratie,
dann die Bureaukratie, dann vielleicht die mit konstitutioneller Gewährschaft
umgebene Beamtenherrschaft — oder die brutale HeiTSchaft der „kompakten
Majorität". „So erweist sich die Genossenschaft als ein ökonomischer Mikro-
kosmus, in dem, wie in der großen Welt draußen, alle menschlichen Fähig-
keiten. Leidenschaften, Schwächen ihr Spiel treiben. Dies ist ihr Reiz für
den Forscher, dies auch ihre soziale Bedeutung, daß sie, richtig verstanden,
eine Schule für jedes Zusammenarbeiten von Menschen zu sein vermag."
Alwin Petersilie.
Alfred Wilke, Probleme der Verwaltung im Industriebezirk mit besonderer
Berücksichtigimg des rheinisch- westfälischen Kohlendistrikts. Eine
verwaltungspolitische Studie. Berlin 1911. Julius Springer. 52 S.
— Wilhelm Kahler, Die Bildung von Industriebezirken und ihre
Probleme (Vorträge der Gehestiftung, 4. Band, Heft 5.) Leipzig 1912.
B. G. Teubner. 27 S.
Noch immer beschäftigt z. Zt. das seit einigen Jahren mit aller Schärfe
aufgetauchte Problem der Verwaltungsreform die beteiligten Kreise. Be-
sonders seit dem bekannten allerhöchsten Erlaß vom 8. November 1909 hat
der Gedanke einer Reform an Haupt und Gliedern unserer gesamten Ver-
waltungsorganisation greifbare Gestalt angenommen, sind die Vorschläge für
eine Besserung auf den verschiedensten Gebieten aus dem Stadium theoreti-
scher Erwägung in dasjenige praktischer Realisierbarkeit getreten und haben
die namhaftesten Autoritäten immer und immer wieder ihre Stimme ziir
Förderung des gewaltigen Werkes in die Wagschale geworfen.
542 Besprechungen,
Unter den Arbeiten ans jüngster Zeit, die zu der Frage der Verwaltungs-
reform in entschiedener und durch besondere Eigenart ausgezeichneter Form
Stellimg nehmen, gehört die oben angezeigte Schrift, Die eigene Anziehungs-
kraft, die von diesem interessanten und lesenswerten Büchlein ausgeht, beruht
vor allem auf dem Milieu, in das es uns hineinführt, auf den eigenartigen,
in ihrer großzügigen Entwicklung so typisch modernen Verhältnissen des
rheinisch-westfälischen Industriegebiets, in denen alle verwaltungsrechtlichen
Probleme eine so scharfe Beleuchtung erfahren, und alle Tagesfragen der
Eeform besonders brennend erscheinen. Diese Probleme in ihrer durch die
Besonderheit der dortigen Verhältnisse bedingten Sonderart aufzuzeigen und
sie einer Lösung entgegenzuführen, ist die Absicht des Verf., und es hat einen
gi'oßen Eeiz für den Verwaltungsbeamten, ihm in seinen von tiefem Ver-
ständnis für die Bedürfnisse der Praxis zeugenden Gedankengänge zu folgen,
selbst wenn man der Meinung des Verf, nicht überall beizustimmen vermag.
Im ersten Abschnitt seiner Abhandlung skizziert Verf. das Großstadt-
problem überhaupt, worunter er die wichtige Frage versteht: wie dem
schädlichen Einflüsse, den die Anhäufung der Bevölkerung in großen städti-
schen Sammelpunkten auf Volksgeist und Volksgesundheit mit sich bringt,
zu begegnen sei, damit sie nicht bei dem heute schon erreichten zahlenmäßigen
Übergewicht der städtischen über die ländliche Bevölkerung für die Entwick-
lung unseres Staates, die Zukunft unseres Volkes schwere Gefahren nach
sich zieht.
Unter Ablehnung der Anschauung, daß das Großstadtproblem an sich
mit der Größe der Bevölkerungsziffer einer Stadt zusammenhängt, führt Verf.
es in charakteristischer und zutreffender Weise auf den industriellen Ursprung
der Massensiedelung zurück und enthüllt es damit als Industriestadt-
problem, als Problem des Industriebezirks, denn „das schnelle Wachstum
und der weite Umfang solcher Industriebezirke bringen die Schattenseiten
städtischer Lebens- und Wohnweise besonders stark zur Entwicklung, er-
schweren technisch die Erfüllung fast aller Aufgaben der öffentlichen Ver-
waltung, zugleich aber auch die Sammlung und Organisationen der zu ihrer
Erfüllung fähigen Ki-äfte". Aus diesen Grundzügen des Industriebezirks er-
geben sich für Verf. zwei Eichtungen des Problems, eine technisch- organisa-
torische und eine ethisch-soziale, — die erstere als die Sammlung und die
richtige Verwendung der vorhandenen Kjt'äfte als Grundlagen für alle weiteren
Erfolge, die letztere in der Hauptsache aus dem Gesichtspunkt eines weiteren
Ausbaues der Sozialpolitik.
Den Gedanken, die organisatorische Seite des Problems durch den an
die wirtschaftliche Einheit des Industriebezirks anknüpfenden Plan der Bildung
einer „Industrieprovinz" zur Lösung zu bringen, lehnt Verf, mit guten
Gründen ab, kennzeichnet die mannigfaltigen Bedenken, die dem entgegen-
stehen und findet grade in der jetzt bestehenden Dezentralisation, in der
Teilung des Industriebezirks unter mehrere Prozinzen und Eegiervmgsbezirke
einen Vorzug. So würde denn der organische Ausdruck für die Einheit
des Bezirks nicht in seiner L^mgestaltung zu einer besonderen Provinz, \'iel-
mehr in der Ausbildung gemeinsamer Institutionen zur Erfüllung der ihnen
eigentümlichen Bedürfnisse zu suchen sein, dies um so mehr als, wie Verf.
zeigt, der so blühende, von so rührigen wirtschaftlichen Kräften belebte
Bezirk von jeher der fruchtbare Boden für die Entwicklung einer gi-oßartigen
Selbsthilfe der leistungsfähigen Kommunen gewesen sei, die hierüber das
gewöhnliche Maß hinaus auf die verständnisvolle Förderung und Anregung
durch die staatlichen Behörden angewiesen seien.
Besondere Beachtung verdient der nächste Abschnitt, wo die Bedeutung
der Großindustrie als Faktor der öffentlichen Entwicklung
in ihrem Zusammenwirken mit und neben den Gemeinden dargestellt wird.
Sind hier besonders die Fälle zu nennen, wo einer Gemeinde ein industrielles
Wasserwerk zur Verfügung gestellt wird oder wo, wie in Essen, sich Stadt
1
Besprechungen. 543
und industrielles Werk in gemeinnütziger Weise zur Erwerbung von Gelände
für Parkanlagen und Kleinwohnungen zusammentun, so kennzeichnet Verf.
als typische Beispiele für industrielle Kulturwerke großen Stils zur Behebung
öffentlicher Notstände in Fällen, wo es sich um die Eri-eichung von Zwecken
handelt, die außerhalb des Rahmens der einzelnen Gemeinde zu verwirklichen
und wo einige, den ganzen Bezirk umfassende Aufgaben zu lösen waren : die
Emscher Genossenschaft, den Ruhrtalsi)erren-Verein und den in Gelsenkirchen
bestehenden Verein zur Bekämpfung der Volkskrankheiten im Ruhrkohlen-
gebiet. In diesen Zusammenhang stellt Verf. auch das rheinisch-westfälische
Elektrizitätswerk, das sich die zentralisierte Elektrizitätsversorgung zum Ziele
gesetzt hat, und das ein großartiges, zur Förderung allgemeiner Verwaltungs-
zwecke dienliches Instrument darstellt, insbesondere nachdem es auch die
Vermittlung der Gas-Femversorgimg und den Betrieb elektrischer Klein-
bahnen übernommen hat.
Auch das Gebiet der Arbeiterfürsorge, auf dem zwischen den
Aufgaben der Gemeinde und den Bestrebungen der industriellen Betriebe
ebenfalls viele Berührungsjjunkte vorhanden sind, zieht Verf. in den Kreis
seiner Betrachtungen. Aus den besprochenen Erscheinungen und Möglich-
keiten gewinnt Verf. ein wichtiges Gesetz praktischen Fortschritts, das im
wesentlichen auf den häufig gleichgerichteten oder ergänzenden Interessen
der öffentlichen Korporationen und der großindustriellen Betriebe beruht,
und das zum Zusammenschluß führt, durch den es dann gelingt, dem all-
gemeinen Bedürfnis in großartigerer Weise zu genügen, als es die vereinzelten
Kräfte erreichen könnten. Andererseits verhehlt Verf. auch nicht die Kehr-
seite dieser Entwicklung, welche die Zukunft des Bezirks durchaus abhängig
gemacht hat von der Entwicklung innerhalb der Großindustrie. Es ist dies
die katastrophale Gefahr, mit der große Wirtschaftskämpfe wie die Nicht-
erneuerung der großen Verbände für die Kohlen- und Eisenindustrie oder
große Arbeitskämi^fe erhebliche Teile des Industriebezirks hedrohen. —
Im dritten Abschnitt entwickelt Verf. das Wesen der Zweckverbands-
bildung, erörtert die Tragweite der Wirkung des Zweckverbandsgesetzes
vom 19. Juli 1911 in seiner Anwendung auf Rheinland und Westfalen und
grenzt das hier gegebene organisatorische Problem von demjenigen ab, das
sich in Groß-Berlin darbietet. Weniger gelungen erscheinen die beiden
Schlußabschnitte des Buches, deren Ausführungen man trotz der auch hier
zutage tretenden Gedankenschärfe imd bestechenden Form der Darstellung
nicht allenthalben zu folgen vermag. Im vierten Abschnitt, in dem das
Verhältnis der Staatsverwaltung zu den Industriegemeinden
gekennzeichnet wrd, fordert Verf. zunächst — gewiß mit Recht — eine leb-
haftere Beteiligung der Staatsverwaltungsbehörde an den lokalen Angelegen-
heiten, namentlich an solchen kommunalen Verwaltungsaufgaben technischer
und wirtschaftlicher Natur, die einheitlich für ein größeres Gebiet gelöst
werden müssen. Abzulehnen aber dürfte sein, wenn Verf. als Organisations-
form für die Lösung einer großen Anzahl von ihm skizzierter „interkommu-
naler" vorzugsweise sozialer Aufgaben die Bildung von „Spezialbehörden"
unter Leitung des Regierungspräsidenten und mit wesentlich lokalen Auf-
gaben fordert. Seine Ausführungen lassen kein klares Bild von der Organi-
sation und Zuständigkeit derartiger Behörden erkennen, ganz abgesehen davon,
daß eine Komplizieruug des Behördenapjjarates wenig wünschenswert erscheint.
Auch die Ausführungen des fünften und letzten Abschnittes über „Landes-
sozialpolitik" erscheinen insofern weniger gelungen, als Verf. im wesent-
lichen lediglich den Arbeitskammergesetzentwurf in seinen Einzelheiten be-
leuchtet und verfolgt.
Wenn wir hiermit auch eine zum Teil abweichende Meinung dargelegt
haben, so kann dies selbstverständlich doch keineswegs die große Wert-
schätzung des Buches beeinträchtigen, das niemand, der sich in seinen reichen
und wohldurchdachten Gedankeninhalt vertieft, ohne Nutzen aus der Hand
legen wird.
544 Besprechungen.
In wesentlich anderer Beleuchtung zeigt die Kahl er sehe Schrift das
Wesen des Industrie b e z i r k s als einerweiteren, mit der Großstadt sich
mannigfach berührenden und doch auch von ihr wesentlich unterschiedenen
Form der modernen Bevölkerungsanhäufung, indem er das wissenschaft-
liche Problem stellt, die praktischen Probleme aufdeckt und umgrenzt,
sowie die Versuche zu ihrer Lösung zusammenfassend betrachtet.
Als Ausgangspunkt für die Frage nach dem Wesen des Industriebezirks
wählt er in überzeugender Weise den alten Gegensatz von Stadt und Land
und die Bedeutung der Stadt für die moderne industrielle Entwicklung.
Beide werden durch die neuzeitliche Entwicklung des Industriebezirks ver-
wischt und so bietet der Gegensatz zwischen der bisherigen Art der Be-
völkerungsverteilung und -anhäufung den Anhalt für die Erkenntnis von den
besonderen Eigentümlichkeiten der neuen Art. Die neue Art, die der ge-
häuften Industriesiedelung, scheidet er in die drei in ihren Grundzügen ver-
wandten, in ihren einzelnen Merkmalen aber wesentlich verschiedenen Gruppen
des großstädtischen, zugleich universal-industriellen, des ländlichen,
zugleich spezial-industriellen und des Bergbaubezirks. Die erstere, als die
bei dem Aufkommen der neuzeitlichen Industrie mit ihrer Tendenz zum
größeren und Großbetrieb ursprüngliche, Form der industriellen Bevölkerungs-
anhäufung kennzeichnet sich durch ihre Anlehnung an die städtische Siedelung.
Neben dieser städtischen Industrieansiedelung besteht aber auch eine Industrie-
entwicklung außerhalb der historischen Stadtgrenze schon in der älteren Zeit,
also eine ländliche Industriesiedelung, während die dritte Art der gehäuften
Industriesiedelung durch das monopolistische Vorkommen besonders wichtiger
Roh- und Hilfsstoffe der Industrie innerhalb der Erdrinde hervorgerufen
wird, durch Bergbauprodukte. In scharfsinniger und überzeugender Begrün-
dung kennzeichnet Kahler mit wenigen, klar abgrenzenden Strichen die
Voraussetzungen für die Entstehung und die Eigenart der Fortbildimg jedes
einzelnen dieser Industriebezirke und belegt dies mit einer Reihe beweis-
kräftiger Beispiele.
Nachdem Kahler auf diese Weise die Grundzüge, die der Industrie-
bezirksl)ildung gemeinsam sind und die Merkmale der von ihm unterschiedenen
drei Arten von Bezirken festgestellt hat, sucht er im zweiten Abschnitt seiner
Arbeit eine Reihe von Merkmalen aufzustellen, die den Industriebezirk sowohl
als eine besondere Form der Bevölkerungsanhäufung von den anderen, den
reinstädtischen Siedelungsformen unterscheidet, als auch die einzelnen Industrie-
bezirkstypen je in ihrer Eigenart wieder als Abweichungen von diesem Durch-
schnittstypus erkennen lassen. Die Andeutungen für diese Merkmale gruppiert
Verf. unter die folgenden Mutmaßungen und Beobachtungen:
1. Die Bevölkerungsanhäufung im Industriebezirk vollzieht sich schneller
als in der städtischen Siedelung im allgemeinen.
2. Die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung im Industrie-
bezirk harrt noch der Erforschung, im allgemeinen kennzeichnet sie
sich durch eine mehr oder minder stark einseitige Spezialisierung.
3. Allgemeiner findet sich beim Industriebezirk die erst beim Wachsen
der städtischen Siedelung sich herausstellende Verschiedenheit von
Beschäftigungs- und Wohnort.
4. Die Industriebezirke werden zweifellos für die Verteilung der Ge-
schlechter und den Altersaufbau der Bevölkerung eigenartige Verhält-
nisse zeigen, wobei einerseits der Frauenüberschuß der Textilstädte,
der Frauenmangel der Städte des Bergbaubezirks, andererseits beim
Altersaufbau die starke Besetzung des dritten und vierten Jahrzehnts,
sowie der jüngsten Jahresklassen eine Rolle spielen.
Für die hier skizzierten interessanten Erscheinungen vermißt Kahler
mit Recht wissenschaftlich verwertbare statistische Beobachtungen, denen
sich hier praktische Aufgaben von größter Wichtigkeit erschließen. Schon
jetzt glaubt Kahler das eine feststellen zu können, daß auch in der sta-
Besprechungen. 545
tistischen Erkenntnis sich der Industriebezirk nicht einfach als eine Fort-
bildung der Großstadt zeigen, sondern eigenartige Grundziige seines Wesens
erkennen lassen wird, das stadtähnlich, aber nicht städtisch ist. Seine teils
auf Beobachtung, teils auf Eeflexion beruhenden fruchtbaren Erörterungen
lassen dies allerdings schon jetzt als erwiesen erscheinen.
Im dritten Abschnitt endlich wendet sich Kahler der — auch von
Wilke besonders betonten — Frage nach der zweckmäßigsten Organisations-
form der Industriebezirke zu, da mehr und mehr die bestehenden Organisationen,
vor allem die Stadt, die Landgemeinde und die über ihnen sich aufliauenden
staatlichen Verbände (Kreise und Provinzen) für die Fülle der hier zu lösenden
Aufgaben sich teils als zu eng, teils als nicht geeignet erwiesen haben. Hier
können nur Wege für die gemeinschaftliche Arbeit der verschiedenen selb-
ständig nebeneinander stehenden Kommunalkörper gesucht werden, wie
z. B. in dem Zusammenschluß auf genossenschaftlicher Grund-
lage (Emscher-Genossenschaft) zu neuer organisatorischer Bildung Anlaß
gegeben war. Wie diesen Bestrebungen das Zweckverbandsgesetz neue
Bahnen eVmen will, so hat Ministerialdirektor Freund (D. JZ. XVI [1911]
S. 1113) für die Zusammenfassung der im Industriebezirk vorhandenen Kräfte
eine Modifikation der Verfassung der Aktiengesellschaft in der sogenannten
„gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung" vorgeschlagen. Indem
Kahler das in allen diesen Bestrebungen nach neuen Organisationsformen
liegende Wesentliche wie die sich ergebenden Schwierigkeiten in aller Kürze
kritisch würdigt, gelangt er zu dem für die Lösung des Problems wohl
grundlegenden Gesetz:
„Zur Lösung der Bezirksaufgaben müssen die widerstrebenden Nachbar-
interessen und die Unterschiede der Leistungsfähigkeit zusammengefaßt
werden, so daß die auseinanderstrebenden Kräfte nicht sich erschöpfen in
gegenseitiger Reibung, sondern hingelenkt werden auf das notwendige Ziel,
im Industriebezirk einen Ausgleich der Gegensätze in räumlicher Einsicht zu
fördern. Nicht durch Aufhebung der bisherigen Organisationen,
sondern, soweit möglich, durch mannigfache Kombinationen
ihrer gestaltungsfähigen Triebkräfte scheint mir die Lösung
des praktischen Problems der Industriebezirke möglich."
So bildet die hochinteressante Kahl er sehe Schrift mit ihrem scharf
umrissenen, reichen Gedankeninhalt einen überaus wertvollen Beitrag zur
Lösung der Reformprobleme der Industriebezirke und zugleich eine not-
wendige Ergänzung für die Anregungen, welche — in erster Linie auf
verwaltungstechnischem Gebiet — dieWilkesche Studie darbietet.
Walter Saran.
Jahrbuch des öffentlichen Rechts, hrsg. von f JelUnek, Laband und
Püoty. Bd. IV. Tübingen 1910. Mohr. VI u. 571 S. Bd. V. 1911.
X u. 660 S.
Die beiden Bände zeichnen sich, wie die vorhergehenden, durch mehrere
wertvolle Beiträge und eingehende Berichte über deutsche Reichs- und Landes-
gesetzgebung wie die gesetzgeberische Tätigkeit einer Reihe außerdeutscher
Länder aus.
Bd. IV wird durch den an anderer Stelle näher zu erwähnenden Aufsatz
von Uli mann, Die Fortbildung des Seekriegsrechts durch die Londoner
Deklaration vom 26. Februar 1909 eröffnet. Ihm schließen sich zwei Ab-
handlungen an: Beiträge zur Kenntnis der soziologischen Grundlagen des
Völkerrechts und der Staatengesellschaft von Hub er, und Rechtsstaatsidee
und Verwaltungsrechtswissenschaft von Thonia, von denen die erstere in
der Zeit des heutigen Pazifismus und „Internationalismus", in der die Frage
der Weltorganisation so viel erörtert wird, besonders wertvoU ist. AUerdinga
wird sie auf manchen Widerspruch stoßen.
Zeitschrift für Politik. 6. 35
546 Besprechungen.
Politischen Kreisen dürfte die weitere Abhandlung über die ungarische
parlamentarische Reform von Nemethy von Ujfalu willkommen sein, weil
sie einen guten Überblick über Geschichte und Stand der so viel umstrittenen
Wahlrechtsreform Ungarns bietet, und zwar gerade seitens eines Mtarbeiters
des Andrässyschen Gesetzentwurfes. — Von den zahlreichen Berichten be-
anspruchen besonderes Interesse die über die Gesetzgebung des Deutschen
Eeiches im Jahre 1909 (Endres), über die Reichsfinanzreform von 1908/9
(Schneider), über die preußischen Staatsverträge auf dem Gebiete der
sozialen Versicherung (Laß), über die Entwicklung des öffentlichen Rechts
in Preußen (Schoenborn), aber auch der über das neue sächsische Wasser-
gesetz (Scheich er). Von den ausländischen Berichten verdient der über
die bosnische Verfassung (Steinbach) besondere Erwähnung. Des weiteren
wird je ein kurzer Überblick über die Entwicklung des öffentlichen Rechts
oder einzelner Teile desselben in Belgien, Frankreich, Japan, Italien, Norwegen
und Rußland geboten.
Bd. V, der durch einen warmen Nachruf auf Jelliuek eingeleitet wird,
enthält nicht weniger als neun teilweise sehr umfangreiche Abhandlungen.
Von besonderer Bedeutung ist der eingehende Aufsatz von Lamp: Die Ver-
fassung von Bosnien und der Herzegowina von 1910, ferner das Gutachten
Bornhaks in Sachen von Hellfeld gegen den russischen Staat: Die inlän-
dische Gerichtsbarkeit über ausländische Staaten, sowie die Abhandlung von
Coester: Die Haftung des Staates für Amtsdelikte bei Ausübung der öffent-
lichen Gewalt nach preußischem Rechte. Groesch erörtert die Stellung
des Staates als Kontrahent im Privat-, öffentlichen und Völkerrecht, Keet-
mann bringt in „Die Römischen Katakomben" einen Beitrag zu dem Ver-
hältnis von Staat und Kirche im heidnischen Römerreich. Ein kurzer Bericht
macht auf das große Unternehmen des Earl of Halsbury, „Die Gesetze
Englands", eine vollständige Sammlung des gesamten englischen Rechts, auf-
merksam. Esmein behandelt La question de la Jurisdiction administrative
devant l'Assemblee Constituante, Ratnitzky das Problem über den Anteil
des Parlaments an Staatsgesetz und Staatsvertrag. Tezners Beitrag „Das
detournement de pouvoir und die deutsche Rechtsbeschwerde" stellt sich dar
als Verteidigung seines Standijunktes in seiner Kontroverse mit Bernatzik
über die Grenzen des sog. freien Ermessens gegenüber einer diese Frage
neuerdings behandelnden Monographie von Laun. — Im zweiten Teile be-
richtet Thoma über die deutsche Reichsgesetzgebung des Jahres 1910,
Schneider wiederum über das öffentliche Recht Preußens (insbesondere
die Wahlrechtsbewegung), Bracker über die bayerische Steuerreform, Walz
über die badische Gesetzgebung von 1909 und 1910 und Schücking über
die Regelung der oldenburgischen Thronfolge im Jahre 1904. Weitere Berichte
beschäftigen sich mit dem öffentlichen Recht in Belgien, Frankreich, Japan,
Rußland und Schweden. Gr. J, Ebers.
Georg Neuhaus, Die deutsche Volkswirtschaft und ihre Wandhmgen im
letzten Vierteljahrhundert. Bearbeitet auf Grund der Ergebnisse der
Berufs- und Betriebszählungen 1882, 1895 und 1907. I. Die berufliche
und soziale Gliederung des deutschen Volks. München-Gladbach 1911.
Volksvereins -Verlag. VHI und 278 S. — Wilh. Gerloff, Verände-
rungen der Bevölkerungsgliederung in der kapitalistischen Wirtschaft
mit besonderer Berücksichtigung der Ergebnisse der deutschen Berufs-
zählungen. Volkswirtsch. Zeitfragen, herausgeg. v. d. Volksw. Gesell-
schaft in Berlin. Heft 249/50. Berlin 1910. Leonhard Simion. 70 S.
Unter Bezug auf das, was der frühere Direktor des Kaiserlich. Statistischen
Amts von Scheel in seiner Schrift „Die deutsche Volkswirtschaft am Schluß
Besprechungen. 547
des 19. Jahrhunderts" geleistet hat, will Neuhaus in obiger Arbeit die Er-
gebnisse der Berufs- und Betriebszählung 1907 durch deren zweckent-
sprechende Bearbeitung möglichst weiten Kreisen des deutschen Volks zu-
gänglich machen, und zwar unter Berücksichtigung der Entwicklung seit
1882 sowie der Verhältnisse in den Bundesstaaten und in den Großstädten.
Einteilung der Darstellung und selbst der Titel des Buches schließt sich enge
an das von mir verfaßte amtliche Werk „Die berufliche und soziale Gliederung
-des deutschen Volks auf Grund der Berufszählung 1895" (Bd. 111 der Statistik
des Deutschen Reichs) an, wenn es auch nicht zitiert wird. Die textlichen
Ausführungen halten sich in der Hauptsache streng an die Zahlen, verhalten
sich aber ihnen gegenüber vielfach zu wenig kritisch und deduzieren daher
wiederholt aus ihnen Fehlschlüsse, abgesehen von den tatsächlichen Zahlen-
irrtümern, die dem Verf. passiert sind, worauf schon Petersilie in der Zeit-
schrift des Preußischen Statistischen Landesamts (Jahrg. 1911 S. 337) hin-
gewiesen hat. Dem großen Lob, das K. Ehrberg in seinen „Annalen des
Deutschen Reichs" (1911 S. 711) der Arbeit von Neuhaus gezollt hat, kann
sich daher der statistische Fachmann bei aller freundschaftlichen Kollegialität
— Neuhaus ist Direktor der Statistischen Amts in Königsberg, nächstens in
Cöln — keineswegs anschließen.
Ja, man mußte von Neuhaus geradezu eine wesentlich bessere statistische
wissenschaftliche Leistung verlangen, weil ihm schon eine Reihe Arbeiten
zur Verfügung standen, die das gleiche Thema behandelten. Ich erinnere
an V. d, Borght (Beruf, gesellschaftliche Gliederung und Betrieb 1910),
Böhmert (Wandlungen der deutschen Volkswirtschaft, Arbeiterfreund 1910),
Hesse (Berufliche und soziale Gliederung, Conrads Jahrb. f. Nat.-Ök. u. Stat.
1910), meine Aufsätze (Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung unter Berück-
sichtigung der Volkszählung 1905 und der Berufs- imd Betriebszählung 1907,
Annalen des Deutschen Reichs Frühjahr 1910). Auch die oben an zweiter
Stelle genannte Schrift von W. Gerloff (erschienen im Frühjahr 1910), die
eine treffliche wissenschaftliche Darstellung der Berufsstatistik 1907 darbietet
und gebührende Rücksicht auf andere einschlägige Untersuchungen nimmt,
hätte für Neuhaus vorbildlich sein können.
Daß die lange vor Neuhaus erschienenen Arbeiten sämtlich diesem ent-
gangen sind, ist schwerlich anzunehmen. Jedenfalls ist es absolut falsch,
wenn auf dem Außenumschlag das Buch von Neuhaus als „das erste (! !)
Werk" angepriesen wird, „das die Resultate der Berufs- und Betriebszählungen
in einer kürzeren, gemeinverständlichen Form zusammenfaßt und sie auf
diese Weise der Allgemeinheit in weiterem Umfang vermittelt und nutzbar
macht". Letzteres haben bereits vor Neuhaus andere besser und gi-üudlicher
getan. Offenbar hat Neuhaus dies inzwischen eingesehen, da er den für
Herbst 1911 angekündigten n. Band, der Landwirtschaft. Industrie, Handel,
Verkehr behandeln soll, bis heute (Frühjahr 1912) noch nicht veröffentlichte.
Friedrich Zahn.
Emil Schiff, Kleingewerbliche Werkstättenhäuser. Plan eines Erwerbs-
Untemehmens zur Förderung des Kleingewerbes. Berlin 1912. Jul.
Springer.
Die Abhandlung von Schiff ist eine erweiterte Sonderausgabe aus „Technik
und Wirtschaft", Monatsschrift des „Vereins Deutscher Ingenieure". Sie be-
handelt zunächst die „Vorfragen", ob eine wirksame Unterstützung des Klein-
gewerbes bei der heute vorherrschenden großkapitalistischen Wirtschaftsweise
überhaupt möglich ist und des weiteren, ob es richtig ist, das Kleingewerbe
zu erhalten und zu fördern. Bezüglich der zweiten Frage bringt sie zum
Ausdruck, daß das Kleingewerbe imstande ist, eine Lücke auszufüllen, die
das Großgewerbe läßt, daß es eine Bedeutung hat für die Heranbildung des
35*
548 Besprechungen.
Nachwuchses an industriellen Arbeitern und daß es zur Erhaltung selbstän-
diger Persönlichkeiten beitragen kann.
Von den Mitteln zur Förderung des Kleingewerbes hält die Abhandlung
nicht die politischen, sondern die wirtschaftlichen Maßnahmen für die ge-
eignetsten. Bei den wirtschaftlichen Maßnahmen wieder rechnet sie nicht
mit den rein geldwirtschaftlichen, sondern mit den technisch-wirtschaftlichen,
und kommt so zu folgendem Vorschlage:
„Erwerbsunternehmer sollen mustergültig angelegte Werkstattgebäude
errichten, in jedem solchen Gebäude eine Anzahl verschiedenartiger Werk-
stätten mit vollen und vollkommenen Einrichtungen an Betriebsmitteln,
Werkzeugmaschinen und Werkzeugen schaffen und die einzelnen Werkstätten
einschließlich der betriebsfertigen Einrichtungen an tüchtige Gewerbetreibende
vermieten."
Für das Kleingewerbe sollen sich hierbei folgende Vorteile ergeben : Unter-
bringung des Betriebes in einem wahrhaft zweckmäßigen Eaume; Benutzung
von Betriebsanlagen von höchster technischer Leistungsfähigkeit; Zusammen-
fassung der Erzeugung von Betriebskraft, Licht und Heizung; Heranziehung
guter Arbeiter und Vertrauen der Verbraucher gegenüber solchen Muster-
werkstätten; darüber hinaus unter Umständen gemeinsame Verwaltungskanzlei,
welche die Buchführung, die Selbstkostenberechnung und die Ausstellung der
Rechnungen, ferner die werbende Tätigkeit, sodann die L'^nterhaltung von
Annahmestellen für Aufträge und damit zusammenhängende Mitteilungen in
entferntere Stadtteile, die Unterhaltimg gemeinsamen Fuhrwerks und endlich
die Möglichkeit eines gemeinsamen Einkaufs übernimmt.
Zum Schlüsse wird noch die „Beschaffung von Betriebsmitteln" und
die „Art und Wirtschaftlichkeit des Unternehmens" erörtert.
Schiff geht von durchaus gesunden und richtigen Grundlagen aus und
verfolgt das gestellte Thema bis in alle Einzelheiten. Er ist sich hierbei
aber selbst bewnißt, daß in der Praxis nicht alle Vorschläge befolgt werden
können. Da die Kleingewerbe mehr oder minder nur örtliche Bedeutung
haben können, müssen die zu ihrer Förderung zu treffenden Maßnahmen
auch dem jeweiligen Verhältnis entsprechend von Fall zu Fall verschieden
getroffen werden. Insbesondere muß eine Grenze zwischen dem praktisch
Erreichbaren und dem Nichterreichbaren gezogen werden. Wenn man nun
auch vielleicht bezüglich dieser Grenze nicht die Auffassung von Schiff teilt,
kann man doch die kleine Schrift jedem zum Studium warm empfehlen,
welcher der Erhaltung des Kleingewerbes Verständnis entgegenbringt.
Alfred Schulte.
Abhandlungen
VIII.
Die Entstehung der Kabinettsregierung in England')
Von Dr. Wolfgang Michael
Das Kabinett, die höchste regierende Behörde des britischen
Reiches, ist nicht eines Tages durch einen Akt der Gesetz-
gebung ins Leben getreten. Es hat sich, halb verborgen, im
Königspalaste unter den Augen des Monarchen entwickelt und
ist von der Öffentlichkeit noch lange wie ein ärgerlicher Miß-
brauch, der sich eingeschlichen und beseitigt werden müsse,
empfunden worden. Unvermerkt hat sich jedoch das Verhältnis
geändert. Das Mißtrauen gegen die unkontrollierte Willkür des
Kabinetts hat zwar nicht zu einer gesetzhchen Festlegung des
Umfangs seiner Rechte und Pflichten geführt, wohl aber dahin,
daß es ganz allmählich aus einem Organ des Monarchen zum
Vollstrecker des Parlaments willens geworden ist.
Der Zweck der folgenden Untersuchung ist es, die Ent-
stehung und die frühe Geschichte des Kabinetts zu behandeln
und sie bis zu einem Zeitpunkt zu verfolgen, wo es die Re-,
gierung selbständig übernommen hat, von der Krone fast los-
gelöst, ohne darum schon der Herrschaft des Parlaments ver-
fallen zu sein. Wir werden mit der Restaurationsperiode zu
beginnen und mit dem Zeitalter Walpoles zu schließen haben 2).
Bevor das Kabinett die regierende Behörde in England
wurde, hatte es übrigens an einer durch das Gesetz anerkannten
^) Das Thema soll hier ausführlicher und weiter ausholend behandelt
werden, als es in dem demnächst erscheinenden zweiten Bande meiner
Englischen Geschichte im 18. Jahrhundert möglich ist. Neben den gedruckten
Quellen hat das für die Geschichte der Zeit benutzte archivalische Material,
besonders dasjenige aus dem Eecord Office, dem Britischen Museum, den
Archiven zu Berlin, Wien, Hannover, sich auch für die hier behandelte Frage
als höchst wertvoll erwiesen.
*) Von neuerer Literatur über die Geschichte des Kabinetts nenne ich
zunächst Torrens, History of Cabinets 2 Bde., London 1894, der fi-eilich
Zeitschrift für Politik. 6. zu 35
550 Michael. Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
Zeutralinstanz für die gesamte Exekutive keineswegs gefehlt.
Schon unter den Tudors stand das Privy Council als beratende
Körperschaft dem Könige zur Seite, was freihch dem rein per-
sönlichen Charakter der Regierung unter den Herrschern aus
dieser Dynastie keinen Abbruch tat. Nicht die konstitutionelle
Verpflichtung des Souveräns zur Befolgung der Ratschläge des
Council ist dieses Mal das Entscheidende, sondern vielmehr die
Tatsache einer Zusammenfassung der Regierungsgewalten an
einer einzigen Stelle. Gegen das Ende der Epoche, unter
Ehsabeth, waren alle Ressorts, Inneres, Krieg, Finanzen, hier
vereinigt und empfingen ihre Direktiven von dieser Zentrale
aus^). Wer sich eine Fortentwicklung dieses Systems bis zur
konstitutionellen Bindung des monarchischen Willens vorstellen
wollte, würde an ein Privy Council zu denken haben, dem es
gelungen wäre, den König zur Befolgung seines Rates zu zwingen
und dafür die volle Verantwortung für alle Regierungshand-
lungen zu übernehmen. Und dann könnte dieses Privy Council
in seiner ferneren Geschichte vielleicht seinerseits in die Ab-
hängigkeit des Parlaments geraten oder in irgendeiner anderen
Form zur Dienerin des Volks willens geworden sein.
Diese Entwicklung ist zwar nicht eingetreten, aber sie hat
doch, was die Abhängigkeit des Königs vom Privy Council be-
trifft, den Politikern des 17. Jahrhunderts als das Ideal vor-
geschwebt. Clarendon, der Minister Karls IL, erblickte in einer
solchen Gesamtverwaltung durch das Privy Council, dessen
Ratschlägen der König folgen müßte, den wahrhaft verfassungs-
mäßigen Zustand der Regierung 2). Daß das Privy Council
dennoch diese Rolle nicht gespielt hat, ergab sich aus seiner
Zusammensetzung wie aus der großen Zahl seiner Mitgheder.
Zur wahren Leitung der Verwaltung, zur Verfolgung einer be-
so ziemlich die ganze Verfassungsgeschichte und innere Politik behandelt
und bei vielen wertvollen Mitteilungen es doch dem Leser nicht leicht macht,
das zur Sache Gehörige herauszufinden; ferner das auf gründlicher Kenntnis
der gedruckten Quellen beruhende Buch von Blauvelt, The Development
of Cabinet Government in England, New York 1902; und den wertvollen,
auf handschriftlichem Material beruhenden Aufsatz von Temperley, Inner
and Outer Cabinet and Privy Council 1679—1783 (Engl. Hist. Rev. XXVH,
1912). Wenig Wert liesitzt Jenks Parliamentary England, The Evolution of
the Cabinet System. London 1903.
0 Vgl. neuerdings: K. Hornemann, Das Privy Council von England
zur Zeit der Königin Elisabeth. Hannover 1912,
') Vgl. E. J. Carlyle, Clarendon and the Privy Councü, 1660—1667.
Engl. Hist. ßev. XVII (1912) 251 ff.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 551
stimmten Politik war es eigentlich nie zu brauchen. Für die
zu leistende praktische Arbeit tritt frühzeitig die Regierung
durch Ausschüsse auf, die sich aus dem Gesamtkörper des
Geheimen Rates loslösen. Es sind entweder ständige oder vor-
übergehend ernannte Ausschüsse, die sich in die Geschäfte teilen.
Das mochte so gehen, solange die Autorität des Monarchen noch
das gesamte Getriebe beherrschte. Aber was sollte geschehen,
seitdem einmal die überragende Stellung, die das Königtum
der Tudors besessen hatte, unter den Stuarts verloren ge-
gangen war?
Da ist nun als ein Kreis vertrauter Ratgeber des Monarchen,
die nach gemeinsamen Grundsätzen handelten, das Kabinett
entstanden. Der König hat das Bedürfnis, mit einer kleinen
Zahl von Staatsmännern in beständigem Einvernehmen zu sein,
ihre Meinungen zu hören und auf Grund ihrer Ratschläge seine
politischen Entschlüsse zu fassen. Er flüchtet sich vor der
beschränkten und widerspruchsvollen Beamtenweisheit seines
Privy Council in einen vertrauten Kreis praktischer Politiker.
Denn, wohlverstanden, der Souverän ist es, der das Kabinett
ins Leben gerufen hat, der gemeinsam mit ihm im 17. Jahr-
hundert die Arbeit leistet, und der sich im 18., wie wir sehen
werden, aus dem Kabinett zurückzieht, um ihm die Last der
Geschäfte allein zu überlassen.
Es kommt im Grunde nicht viel darauf an, ob zuzeiten
ein Ausschuß des Privy Council oder ein beliebig zusammen-
gesetztes Kollegium in ein derartiges Verhältnis zum Monarchen
getreten ist^). Man meint, einen ersten Ansatz zur Bildung
eines Kabinetts schon 1553 unter Eduard VL zu bemerken.
Man hört zunächst von mehreren Ausschüssen, die für ver-
schiedene Zwecke berufen werden und jedesmal aus anderen
Mitgliedern des Privy Council bestehen sollen; dann aber auch,
daß der eine dieser Ausschüsse geradezu bestimmt ist, die . all-
gemeinen Fragen des Staates zu behandeln. Der junge König
hat in einer eigenhändigen Niederschrift die Absicht ausge-
sprochen: ,,Ich will einmal wöchenthch mit ihnen Sitzung halten
und hören, wie hier über die wichtigsten Angelegenheiten ge-
redet wird" 2). Aber diese engeren Kollegien von Ratgebern
^) Manche wollen überhaupt das Kabinett schlechthin als einen Aus-
schuß aus dem Privy Council auffassen. Vgl. F. Pollock, Die Kommissions-
verwaltung in England. (Jahrb. f. Gesetzgebg., Verwaltung u. Volkswirtsch.
im Dtschen. Reich. 33. 1909.)
^) Bumet, History of the Eeformation ed. Pocock. V 119.
552 Michael. Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
des Königs sind unbeliebt und verdächtig, das Parlament miß-
traut ihnen, die Klagen kehren in steigendem Maße immer
wieder. Man verlangt, daß die gesetzlich anerkannte, weithin
sichtbare Behörde, das Privy Council, regiere, nicht aber ein
kleinerer Kreis königlicher Vertrauter, deren verborgenes Wirken
jeglicher Kontrolle spottet. Je kleiner das Kollegium, um so
größer die Anfeindung. Und wenn gelegenthch gar einzelne
Staatsmänner dazu gelangen, viele Ämter auf ihrer Person zu
vereinigen, um einen starken, persönlichen Einfluß auf den
Souverän auszuüben, wie etwa Buckingham oder Strafford unter
den ersten Stuarts, so verfallen sie mit Sicherheit der gehässig-
sten Beurteilung durch Volk und Parlament. In schweren Zeiten
droht ihnen der Dolch des Mörders oder gar das Beil des
Henkers. Der Zorn der öffentlichen Meinung kann ihnen nun-
mehr im 17. Jahrhundert leicht ebenso furchtbar werden wie
im Zeitalter Heinrichs VHI. die stets lebensgefährliche Ungnade
des Monarchen.
Unter Karl I. kommt der Name Kabinettsrat auf. Clarendon
erzählt vom Jahre 1640^), die ganze Last der Exekutive habe
damals auf den Schultern weniger Männer geruht, die den
Regierungsausschuß (Committee of State) bildeten, aber man
habe sie in gehässigem Sinne als Cabinet Council bezeichnet.
Während des Interregnums verschwindet wohl der Name,
aber die regierenden Ausschüsse, unter denen der Staatsrat der
vornehmste ist, ziehen sich durch die ganze Epoche hindurch.
Cromwell hat als Protektor nur eine kleine Zahl vertrauter
Räte in das Geheimnis seiner Politik gezogen 2). Doch trug
seine Herrschaft so sehr den Charakter eines persönlichen
Regiments, daß man wohl über dieses, nicht aber über den zu
kleinen Kreis seiner Ratgeber Klage zu führen pflegte.
In allen diesen Körperschaften, in den Staatsausschüssen
Eduards VI. wie Karls L, in den kleinen Konventikeln des
Protektors wird man gewiß die Vorläufer des modernen Kabi-
netts erkennen, wie ja auch der Name schon den Zeitgenossen
der frülieren Stuartkönige vollkommen geläufig ist. Aber die
Geschichte des Kabinetts kann man erst mit dem Zeitpunkt
beginnen, wo diese Behörde zu einer regelmäßigen, kontinuier-
lichen wird, die zwar in der Art ihrer Zusammensetzung wie
in ihrem Personenstande oft wechselt, aber grundsätzlich keine
0 History of the Rebellion ed. Macray. 1888. I 196.
') Vgl, Michael, Cromwell U 29.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 553
Unterbrechung mehr erfährt. Dieser Zustand tritt nach der
Restauration der Stuarts, unter Karl IL, ein. Neben dem Namen
Cabinet Council, der zuerst 1667 wieder genannt wird ^), er-
scheint nunmehr ein neuer, die Kabale. Er bezeichnet einige
Jahre lang dieselbe Sache, nämlich diejenigen hohen Staats-
beamten, in deren Kreis der König die wichtigsten Entschei-
dungen zu treffen pflegt. Der Name, dessen gehässiger Sinn
nicht zweifelhaft ist, kommt in Pepys' Tagebuch zuerst 1665
vor, also da Clarendon noch Minister war. Er bezeichnet auch
zunächst gar nicht bestimmte Männer, sondern eben nur die
Gesamtheit derjenigen, die vom Könige zu seineu intimen Be-
ratungen berufen zu werden pflegten. ,,Der Erzbischof von
Canterbury" wird nicht mehr zur Kabale hinzugezogen", heißt
es im Dezember 1667. Erst nach einigen Jahren ist man
darauf verfallen, in dem Namen ,,Cabal" die zu einem Worte
zusammengefügten Anfangsbuchstaben der fünf einflußreichsten
Minister zu sehen. Daß man aber nun auch, sozusagen im
^) Pepys Diary ed. Braybrooke 3, 288. Die Bemerkung des Heraus-
gebers 4, 240, daß hier der Name wohl zum ersten Male vorkomme, ist nach
dem Gesagten nicht zutreffend. — In einem eigentümlichen Irrtum befindet
sich Hatschek (Englisches Staatsrecht II 25 ff.), wenn er eine der Ursachen,
die zur Kabinettsbildung geführt haben, in der Tatsache zu finden meint,
daß im Privy Council seit der Zeit der Stuarts nie wirklich beraten wurde.
Die hierfür herangezogene Publikation (Notes which passed at Meetings of
the Privy Council between Charles IE and the Earl of Clarendon, 1660 — 1667.
London 1896. Roxburghe Club 129.) gibt die Zettelchen wieder, welche
während der Sitzungen des Privy Council zwischen Karl IT. und seinem
Minister Clarendon ausgetauscht wurden, und deren Entstehung darauf be-
ruhte, daß „private oral conversation" verpönt war, was einfach heißt, daß
man nicht während der Verhandlungen Privatgespräche führen sollte, wie es
z. B. im Parlamente immer unbeanstandet geschah. Die kleinen, hier wieder-
gegebenen schriftlichen Gespräche beziehen sich in vielen Fällen auf Dinge, die
mit der Tagesordnung der Versammlung nichts zu tun hatten. Oder der König
erbittet sich von dem Minister auf diesem privaten Wege einen Wink für seine
Führung der Beratung. So könnte z. B. das Gespräch p. 23 zu verstehen
sein. Daß in den Versammlungen des Privy Council in jener Zeit geredet
und debattiert wurde, ist ganz unzweifelhaft. Es ist auch wohl die Meinung
aller Verfassungshistoriker. Sie pflegen ja gerade im Gegensatz zu der alten
Bedeutung des Privy Coimcil darauf hinzuweisen, daß, seit der Ausbildung des
Kabinetts, das Privy Council nur noch Formalitäten erledige. (Vgl. z. B. Todd
Parliameutary Government dtsch. II 48.) Daß auch unter Karl II. im Privy
Council noch Verhandlungen mit oft sehr langen Reden gehalten wurden,
zeigt z. B. das Blatt p. 50, wo König und Minister halb scherzhaft sich
darüber unterhalten, ob es nicht möglich sei, zwei Mitglieder, von denen
noch lange Reden zu erwarten seien, zum Abendessen hinauszuschicken, um
das eben schwebende Geschäft noch an diesem Abend erledigen zu können.
554 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
hellen Lichte der Zeitgeschichte, hierin den Ursprung des
Namens erblicken wollte, zeigt nur, ^de rasch die Entstehung
der historischen Legende dem Ereignis zu folgen vermag.
Genug, auch Karl IL fand es ebenso untunHch, mit dem
schwerfälligen Apparat des Privy Council auszukommen, wie es
schon den Königen vor der Revolutionsepoche erschienen sein
mag^). Immerhin hat auch er sich noch einmal förmlich zur
Regierung durch das Privy Council bekannt. Es geschah im
Jahre 1679, als Sir William Temple, der berühmte Staatsmann
und Schriftsteller, aufgefordert wurde, einen Plan für die Neu-
einrichtung der Regierung zu entwerfen 2). Er folgte dem Wunsche
des Königs und meinte, aus einem richtig zusammengesetzten
und in seiner Mitgliederzahl beschränkten Privy Council, trotz
allem die Behörde machen zu können, mit der es sich regieren
lasse. Worin er die Schäden des bisherigen Geheimen Rates
erblickte und wie überhaupt bisher regiert worden war, ergibt
sich am deutlichsten aus der Ansprache, die der König an das
aufzulösende Privy Council halten ließ ^). Er würde sich, heißt
es, seiner Ratschläge noch häufiger bedient haben, ,,wenn nicht
die große Mitgliederzahl dieses Council der Geheimhaltung und
schnellen Erledigung der Geschäfte, wie sie in großen Fragen
oft notwendig seien, im Wege gestanden hätte. Dadurch war
er seit vielen Jahren gezwungen, eine kleinere Zahl von Ihnen
in einem auswärtigen Ausschuß (foreign Committee) zu vereinigen,
zuweilen sogar die Ratschläge einiger weniger einzuholen". Man
sieht, es ist ein offenes Zugestehen der bisher geübten Regie-
rungsweise durch ein Kabinett. Und dann folgt sogar die treu-
herzige Erklärung, daß der König mit diesem System schlechte
Erfahrungen gemacht habe, ,,daß starke Eifersucht und Unzu-
friedenheit unter seinen Untertanen geweckt worden seien und
dadurch Krone und Regierung in einen Zustand versetzt, der
sie zu schwach erscheinen lasse gegenüber den daheim und
von auswärts drohenden Gefahren".
*) Als es sich 1678 darum handelte, daß das Unterhaus den König er-
suchen sollte, seinen Bruder, den Herzog von York, aus seiner Umgebung
und seinem Rate zu entfernen, ward eine unbestimmte Ausdrucksweise (from
the king's person and Councils) gewählt, die wohl mehr als nur die Teil-
nahme am Privy Council andeuten soll. Pari. Hist. 4, 1026 ff.
-) Die Sache ist ausführlich dargestellt bei Blauvelt, The Development
of Cabinet Government in England. New York 1902. p. 64 ff.
^) Sie ist mitgeteilt bei Temperley, Inner and Outer Cabinet and
Privy Council, 1679—1783. Engl. Hist. Rev. XXVII, 684—5.
Michael, Die Entstehung der Kabiuettsreg'ieruno' in England. 555
Das neue Privy Council sollte nicht mehr als 30 Mitglieder
enthalten, die Hälfte davon würden die höchsten Würdenträger
sein, durch ihr Amt dazu berufen. Zehn Männer vom Adel
und fünf Commoners würden die Zahl voll machen. Also ein
Versuch, aus den hohen Staatsbeamten, den Ressortchefs, zu-
sammen mit einer kleinen Anzahl von Mitgliedern beider Häuser,
den Rat des Königs zusammenzusetzen. Mit aller Feierlichkeit
ward die neue Einrichtung ins Leben gerufen. Karl II. trat
selbst vor das Parlament, damit es aus seinem eigenen Munde
das Geschehene vernehme^). ,,Ich bin entschlossen, mich in
allen wichtigen und ernsten Fragen, nächst der Hilfe meines
großen Rates im Parlament, (an den ich mich häufig wenden
werde), von diesem Privy Council beraten zu lassen."
Dennoch scheiterte der ganze klug ersonnene Plan. 30 Mit-
gheder waren für die Handhabung der Exekutive immer
noch zu viel, und auch mit der Ernennung kleinerer Aus-
schüsse aus dem Privy Council für besondere Zwecke war nicht
viel geholfen. Da Männer der verschiedenen Richtung unter
den 30 waren — denn man hatte allen Parteien gefallen
wollen — so fehlte es an der inneren Harmonie. Bald hatte
sich wieder ein enger Kreis von drei, dann vier Männern zu-
sammengefunden, deren Ratschlägen der König folgte, und es
entbehrt nicht einer gewissen .Komik, daß auch Sir William
Temple sich darunter befand: So endete der letzte Versuch,
das Privy Council zum Sitz der Exekutive zu machen mit
einem Triumph des Kabinettssystems.
Vollends war dies die Zeit, da mit den neu aufkommenden
Namen der Whigs und Tories auch die Gegensätze der Parteien
im politischen Leben schärfer als bisher hervorzutreten be-
gannen. Sie strebten darnach, jede mit Ausschluß der andern,
die Regierung an sich zu reißen und die Gegner daraus zu
verdrängen. Nimmermehr konnte sich ein solches Spiel der
Kräfte innerhalb des nach Stand und Würden seiner Mitglieder
zusammengesetzten Privy Council entfalten. So verschwindet
denn das Kabinett nicht mehr. Denn auch die ,, glorreiche
Revolution" von 1688 und die Thronbesteigung des Oraniers
bilden in der Geschichte des Kabinetts keine Epoche. Daß es
als regelmäßig funktionierende Behörde unter Wilhelm HL be-
standen hat, ist nicht zweifelhaft. Es handelt sich dabei um
0 Pari. Eist. IV. 1122—3.
556 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
einen jeweils abgeschlossenen Kreis von hohen Staatsbeamten.
Aber auch anderen kann das Recht verliehen werden, an den
Sitzungen des Kabinetts teilzunehmen. Ein solcher Minister
ohne Portefeuille ist Lord Normanby, der sich einmal beklagt,
als er zu einer Konferenz nicht herangezogen worden ist und
dem darauf feierlich versichert werden muß, daß es sich in
dem gegebenen Falle gar nicht um eine Kabinettssitzung ge-
handelt habe. Denn das Recht, zu einer solchen berufen zu
werden, wird ihm noch einmal vom Könige förmlich gewähr-
leistet i). Ist also der Bestand des Kabinetts außer Zweifel, so
ist freilich seine Macht unter Wilhelm III. nicht allzu groß.
Denn die Regierung dieses Königs hat viel von einem persön-
lichen Regiment an sich. Er beruft das Kabinett oder auch,
wie der Fall Normanbys zeigt, einen nach seinem Beheben
zusammengesetzten Kreis hoher Würdenträger. In der aus-
w^ärtigen Politik entscheidet er fast allein, oder richtiger gesagt,
er verständigt sich schriftlich und mündlich mit dem hollän-
dischen Ratspensionarius Heinsius, über die Haltung der beiden
Mächte, deren Oberhaupt er ist. Auch die innere Politik über-
läßt er keineswegs den Ministern, ja, er zieht sie gar nicht
immer in sein Geheimnis. Als er 1701, da der spanische
Erbfall den Weltteil in Flammen zu setzen drohte, sich nach
Holland begab, hatte niemand vor seiner Abreise ergründen
können, ob er eigentlich das Parlament aufzulösen beabsichtige
oder nicht. Als er zurückkehrte, schritt er zur Auflösung, und
zwar gegen den Rat seiner Minister, von denen nun einige aus
dem Amte traten 2).
Es ist derselbe Eindruck des stark persönlichen Regiments,
den auch eine größere Reihe von Kabinettsprotokollen gewährt,
die uns aus den Jahren 1694—97 erhalten sind 3). Nur ein
^) Vgl. Anson, The Law and Custom of the Constitution. Vol. II The
Crown. Part. I (1907) p. 85.
") „The new Ministry struggled hard against a Dissolution, and when
they saw the King resolved on it, some of them left his Service." Burnet,
History of his own Time. U (1734) 295.
') Hist. Manuscr. Commission. Report on the Mss at Montagu
House, Whitehall. Vol. II, Part. 1, 1903. Der Herausgeber hat sich offenbar
nicht entschließen können (vgl. Introd. p. XVI.), die fraglichen Schriftstücke
als Kaljincttsprotokolle zu bezeichnen und gibt ihnen regelmäßig die irre-
führende Überschrift „Privy Council Minutes". Aber wenn schon Form und
Inhalt über den Charakter der Schriftstücke keinen Zweifel lassen, so hat in
einem Falle (j). 85) Shrewsbury selbst noch auf der Rückseite den Vermerk
„Cabinet Council at Whitehall" angebracht. Ein anderes Mal (p. 323, April 5,
Michael, Die Entstehimp: der Kabinettsreofierunof in England. 557
Zufall konnte dieses historische Material schaffen und auf die
Nachwelt bringen. Eines der Mitglieder des Kabinetts, der
Herzog von Shrewsbury, machte sich Aufzeichnungen über den
Inhalt von mehr als fünfzig Sitzungen. Daß diese Nieder-
schriften — sie sind sämtlich in Shrewsburys Handschrift er-
halten — nur für ihn selbst bestimmt waren, geht aus der oft
persönlichen Fassung derselben hervor. ,,Ich verlas die Nach-
richten, die ich mit den beiden letzten Posten aus Frankreich
empfangen hatte ^)." ,,Ich schlug vor, Duplikate der Befehle
für Sir George Rooke zu Lande durch Frankreich zu schicken-)."
,, Seine Majestät trägt mir auf, an die Admiralität zu schreiben^)."
Niemand außer dem Schreiber wird damals Einsicht in diese
Protokolle genommen haben, auch gewiß nicht der König, für
den sie in ganz anderer Form hätten abgefaßt werden müssen.
Wie sie hier vorliegen, sind es die Notizen, die Shrewsbury
sich während der Sitzungen machte, um die Beschlüsse genau
festzuhalten, die er als Staatssekretär hernach auszuführen hatte.
Die Sitzungen finden häufig statt, wahrscheinlich mehr als ein-
mal in jeder Woche, gelegentlich sogar mehrere*) an einem
Tage. Gewöhnlich nahmen sechs bis zehn Kabinettsmitglieder
an den Sitzungen teil, aber manchmal geht die Zahl der An-
wesenden bis auf vier herunter. Der König ist in diesen Jahren
regelmäßig auf lange Monate nach dem Festlande gereist, wo
der Krieg gegen Ludwig XIV. ihn beschäftigte. Unterdessen
regierte 1694 in England kraft eigenen Rechts seine Gattin —
denn wir befinden uns in der Zeit des Doppelkönigtums von
Wilhelm und Maria.
1696) wird ausdrücklich beschlossen, eine die Verwaltung Irlands betreffende
Frage demnächst im Kabinettsrate zu untersuchen (to be examined at the
Cabinet Council). Diese Untersuchung findet ein jiaar Wochen später wirk-
lich in einer dieser Sitzungen statt, deren Protokoll vom Herausgeber doch
wieder als „Privy Council Minutes" bezeichnet wird. Übrigens findet sich
in demselben Bande (p. 29) auch ein wirkliches Protokoll aus dem Privy
Council und ferner (p. 60 — 62) vier Protokolle über Sitzungen von Aus-
schüssen (in den Schriftstücken selbst als „Committee" bezeichnet) des Privy
Council. — Endlich muß noch bemerkt werden, daß der Ausdruck Cabinet
Council damals und noch auf lange nur auf einen ia Gegenwart des Souveräns
tagenden Ministerrat angewendet wurde.
') a. a. 0. p. 291.
-) a. a. 0. p. 300.
*) a. a. 0. p. 241.
■*) a. a. 0. p. 182, 183, wo es sich freilich nicht um 6 Sitzungen handelt,
wie Anson 11, Part. I, p. 86 meint, sondern wahrscheinlich nur um 2.
558 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
In den beiden nächsten Jahren — Maria ist im Januar 1695
gestorben — wurde unter dem Namen der Lords Justices eine
Regentschaft der bedeutendsten Würdenträger eingesetzt. So
kommen die einheithchen Kabinettssitzungen für diese Zeit in
Wegfall. Die Beschlüsse der Regentschaften sind in offiziellen
Protokollen aufgezeichnet. Unterdessen schweigen die Minutes
von Shrewsbury, um wieder einzusetzen, wenn mit der Rück-
kehr des Königs die Regentschaft erlischt und aus den Lords
Justices wieder einfache Kabinettsmitglieder werden.
Was die Königin Maria betrifft, so kennt man ihre völlige
Zurückhaltung in der Politik. Sie ist niemals im Ministerrate
erschienen. Wo ihr Name einmal erwähnt wird, etwa in dem
Sinne, daß gewisse Befehle von ihr ausgehen sollen, da handelt
es sich um eine bloße Form. Ganz das Gegenteil ist beim
Könige der Fall. Wenn er in England weilt, so findet er sich
oft, wenn auch nicht regelmäßig im Ministerrate ein. Und
hier gibt er wirklich die Entscheidung. Er teilt gewissermaßen
seine Befehle aus, er teilt seine Hoffnungen und Befürchtungen
mit. Shrewsbury fragt ihn, was er dem Admiral Sir George
Rooke schreiben solle. Der König antwortet, er werde es ihm
bis zum nächsten Dienstag mitteilen i). Er eröffnet seinen
Ministern im Kabinette, daß unter gewissen Umständen ein
Geschwader nach Cadix gesandt werden müsse, und es geschieht
so 2). Einmal hat man sich, da der König nicht anwesend ist,
dahin verständigt, daß man seinen Willen hören müsse, von
wem, wenn er im Auslande sei, die Admirahtät ihre Befehle
erhalten solle. Da tritt der Monarch herein und gibt sofort
die gewünschte Entscheidung^).
Man wird freihch, um diese imperatorische Haltung
Wilhelms HL seinem Kabinette gegenüber zu verstehen, sich
auch erinnern müssen, daß es sich meistens in diesen Jahren
um Maßregeln für die Zwecke des Krieges handelt, und daß
kein anderer, so wie Wilhelm selbst, das Ganze überschaute,
er, der von England nach Holland hin und wieder reiste und
die Hilfskräfte beider Länder kannte. In der Tat bilden mili-
tärische und maritime Maßnahmen und Fragen der auswärtigen
Politik den Hauptstoff für die Arbeit des Kabinetts, in geringerem
Maße auch die Angelegenheiten von Irland und Schottland
und einzelne Fragen der inneren Politik.
') a. a. 0. p. 278.
') a, a. 0. p. 326, 378.
") a. a. 0. p. 182.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierunof in England. 559
Aber so imentbehrlicli es zu sein scheint, noch hat das
Kabinett seinen Platz im enghschen Verfassungsleben nicht so
sicher eingenommen, daß er ihm nicht noch hätte streitig
gemacht werden können. Das Vorhandensein eines regierenden
Kollegiums ohne gesetzliche Anerkennung blieb noch für einige
Jahre eine schwache Stelle in der Staatsverwaltung. So waren
denn auch einmal, im Jahre 1692, die Angriffe, welche eigentlich
der PoHtik Wilhelms III. und den bis dahin unbefriedigenden
Erfolgen seiner Kriegführung galten, an die Adresse des hieran
in der Tat unschuldigen Kabinetts gerichtet worden. Man
sagt sich, der König kann kein Unrecht tun, aber wo sind die
verantwortlichen Ratgeber zu finden, wenn das Privy Council
nicht mehr die den König beratende Körperschaft ist? Das
Verlangen des Parlaments nach einer deutlich erkennbaren
verantwortlichen Stelle, führt also zu einem Angriff gegen das
Kabinett. Anknüpfend au eine Stelle der Thronrede, in welcher
der König seiner Hoffnung auf Rat und Hilfe seitens des
Parlaments Ausdruck gegeben hatte, beschäftigte sich das Unter-
haus im November 1692 einige Tage lang mit der allgemeinen
politischen Lage. Man findet sie nicht befriedigend. ,,Es
muß", erklärte ein Redner, mit vielsagender Unbestimmtheit,
,,eiue gewisse Ungeschicklichkeit in beratenden Körperschaften
vorhanden sein." Der nächste Redner wird deutlicher. ,,Ich
kenne keinen großen Rat der Nation als uns hier und das
Privy Council, nicht aber eine geheime Kabale." ,,Mir ist es
nicht zweifelhaft", sagt der nächste, der König sieht ein, daß
er auf Anraten eines Kreises von Privatmännern, der hier
soeben als Kabale bezeichnet worden ist, Fehler begangen hat
und sich nun an uns um Rat wendet: gewiß das Beste, was
er tun kann." Ein paar Tage später wird die Verhandlung
fortgesetzt mit der Erörterung eines Antrages, den König, im
Hinblick auf die Mißerfolge seiner Regierung, zu ersuchen, er
möge in Zukunft Männer von anerkannter Ehrenhaftigkeit und
Treue in seinem Dienste verwenden. ,,Das wird nicht geschehen,"
fuhr ein Abgeordneter mit brutaler Offenheit heraus, ,,so lange
wir einen Kabinettsrat besitzen." Man erschrickt förmlich, als
das Wort gefallen ist. ,, Kabinettsrat," erläutert der Nächste,
,,ist ein Wort, daß in unseren Gesetzbüchern nicht vorkommt.
Wir haben es früher nicht gekannt, wir haben es für einen
Spottnamen gehalten." Nichts Schlimmeres könne geschehen,
als wenn man unterscheiden müsse zwischen Kabinett und
Privy Council. Und wieder ein anderer führt aus, die herr-
560 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
sehende Praxis sei, daß alle Fragen bereits im Kabinett ent-
schieden sind, ehe sie nur dem Privy Council vorgelegt werden.
Dieses müsse seine Zustimmung zu Maßregeln geben, für die
es nicht einmal die Gründe erfahre. Nach solchen Reden
wurde endhch der erwähnte Antrag zum Beschlüsse erhoben,
der freilich das verfassungsrechtliche Thema unberührt ließ, aber
doch in allgemeiner Form einen deutlichen Tadel gegen die
Minister des Königs enthielt^). Ein modernes englisches Mini-
sterium würde schon nach einem solchen verhüllten Tadels-
votum überhaupt nicht im Amte bleiben können. Unter
Wilhelm III. zieht man diese Konsequenz noch nicht.
Der eigentliche Sinn dieses eifervollen Ankämpfens gegen
das Kabinett ist unter Wilhelm III. immer in dem Wunsche
des Parlaments zu erblicken, der Politik des Königs ihren per-
sönlichen Charakter zu nehmen, eine stärkere Kontrolle ihr
gegenüber ausüben zu können. Allzu ernst waren die erwähnten
verfassungsrechtlichen Erörterungen, also die Bedenken gegen
das Kabinett, wohl auch gar nicht gemeint. So ist denn auch
der stärkste, scheinbar siegreiche Angriff, der gegen das Kabinett
geführt wurde, nicht allzu tragisch aufzufassen. Er erfolgte
bei dem Beschlüsse der sogenannten Act of Settlement von 1701,
welche die Thronfolge des Hauses Hannover zu sichern bestimmt
war. Dem Hauptinhalt des Gesetzes waren eine Reihe von
Artikeln angehängt, die sich als künftige Beschränkungen der
Krone, wenn dieselbe in den Besitz der neuen Dynastie über-
gegangen sein würde, gaben. Das Gesetz erhielt den völlig
irreführenden Titel ,,An Act for the further Limitation of the
Crown, and better Securing the Rights und Liberties of the
Subject." Die nebensächlichen Punkte waren zur Hauptsache
erhoben worden. Der König fühlte sich schwer gekränkt, denn
in jedem dieser Punkte schien ein Tadel ausgesprochen, der
ihn persönlich treffen mußte. Schon darin lag etwas derartiges,
daß es sich um Vorkehrungen für den Fall handelte, daß der
König ein Fremder war, daß England ohne Zustimmung des
Parlaments nicht in einen fremden Krieg hinein gezogen werden
dürfe, daß der künftige Träger der Krone, ohne Erlaubnis des
Parlaments das Reich nicht verlassen dürfe, daß kein Fremder
ein Amt bekleiden solle. Mit allen diesen Verfügungen schienen
0 Pari. Hist. 5, 722—34. Als Zeugnisse für die Anschauungen der
Zeit behalten die mitgeteilten Eeden ihre Bedeutung, auch wenn, wie es den
Anschein hat, die zunächst nur im Committee of the whole House angenommene
Adresse gar nicht im Plenum zum Beschluß erhoben wurde.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 561
Mißbräuche der gegenwärtigen Regierung getroffen zu sein.
Die Bestimmung aber, die uns hier am meisten interessiert,
besagte, daß unter der neuen Dynastie die Regierungsgeschäfte
im Privy Council entschieden werden sollten, und daß in jedem
Falle die Zustimmung der einzelnen Räte durch ihre Unter-
schrift kenntlich werden solle. Es war die förmliche Al)schaffung
des Kabinetts, das übrigens nicht einmal genannt zu werden
brauchte, ja auch nicht gut genannt werden konnte, da es ja
rechtlich gar keinen Bestand hatte. Bei den Lords, erzählt
Burnet 1), waren die Anhänger des Gesetzes froh, dasselbe in
Sicherheit gebracht zu sehen. Sie hielten sich mit der Prüfung
der Beschränkungen nicht lange auf und meinten, man werde
schon noch Gelegenheit finden, sich diese Punkte besser zu
überlegen. Gewiß war dies auch die Meinung Wilhelms III.,
als er die bitteren Pillen, die ihm gereicht wurden, willig ver-
schluckte, dem ganzen Gesetze seine Zustimmung gab und das-
selbe durch eine feierliche Gesandtschaft der Kurfürstin Sophie
von Hannover, als der Erbin des Thrones, mitteilte.
Ich glaube wirklich nicht, daß die Gesetzgeber von 1701
es noch für möglich hielten, dem Privy Council wieder die Re-
gierung des Landes aufzuzwingen. Die erwartete Gelegenheit,
jene Klausel rückgängig zu machen, bot sich einige Jahre
später — es war 1706, Wilhelm III. war gestorben und seine
Schwägerin Anna Stuart saß auf dem Throne — und zwar bei
der Beratung eines Regentschaftgesetzes, als man sich wieder mit
der schwierigen Thronfolgefrage beschäftigte. Das neue Gesetz
erklärte die Klausel vom Privy Council für null und nichtig.
Niemand, sagten die Zeitgenossen, hätte unter diesem Gesetze
Privy Counseller, aber auch niemand hätte Minister werden mögen.
Mit der Aufhebung der erwähnten Klausel war der letzte
Angriff auf das Kabinett als Behörde siegreich abgewehrt. Ja,
man kann fast sagen, seine Position war nun, nachdem die
Gesetzgebung die schon ausgesprochene Beseitigung wieder
zurückgenommen hatte, fester als zuvor. Die Entfernung jener
Klausel wirkte fast wie eine gesetzliche Sanktionierung des
Kabinetts, und Angriffe auf seinen Bestand sind meines Wissens
seit dem Jahre 1706 auch nie mehr erfolgt.
Jedermann ist nun von seiner UnentbehrUchkeit überzeugt.
Und doch nennt man es vorläufig noch nicht gern in offizieller
Sprache. Es geschah zum ersten Male im Jahre 1711, als im
^) History of his own time. 11 271.
Zeitschrift für Politik. 6. 36
562 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
Oberhause eine Adresse an die Königin beschlossen wurde, um
sie zu bitten, sie möge durch einen oder den andern der Lords
von ihrem Kabinettsrat dem Hause Schriftstücke über die spani-
schen Verhältnisse vorlegen lassen i).
Als aber am selben Tage ein Tadelsvotum gegen die Re-
gierung über den Krieg in Spanien beantragt wurde, erhob
sich eine lange Debatte"^) über die Frage, ob man dabei vom
Kabinette oder einfach von den Ministern reden solle. Einige
finden den Ausdruck ,,Cabinet Council" unzulässig. Ihn aber
durch ,,Privy Council" zu ersetzen, kam schon niemandem
mehr in den Sinn. Lord Peterboraugh prägte das Scherzwort,
Privy Counsellors seien Leute, die alles wissen sollten und doch
gar nichts \\dssen. Schon ist das Wort ,, Ministers" für ,,Cabinet
Council" vorgeschlagen. Aber der ehemalige Lord -Kanzler
Cowper findet beides gleich schlecht. ,,]\Iinisters" sei ein ganz
unbestimmter Ausdruck, „Cabinet Council" aber der englischen
Rechtssprache völlig fremd. Der Herzog von Argyle sagt:
,,Ich denke, es sind wohl alle Minister im Kabinettsrat, aber
nicht alle Mitglieder des Kabinettsrats sind Minister". Da ein
Tadelsvotum beabsichtigt war, so waren diejenigen, die es
treffen sollte, mit dem Wort ,, Ministers" immer noch deuthcher
bezeichnet und so wurde denn dieses statt des verfänghchen
,, Cabinet Council" gewählt. Man sieht zugleich aus diesem
Vorgange, daß zwar das Kabinett als Zentralbehörde bereits
jedermann deutlich vor Augen stand, daß aber von einer kollek-
tiven Verantwortlichkeit desselben, wie sie heute besteht, noch
gar keine Rede war.
Übrigens ist auch das Privy Council, das nun immer melir
zur RoUe einer die wichtigsten Regierungshandlungen nur formell
sanktionierenden Behörde herabsinkt, einmal noch, 1714, beim
Sterben der Königin Anna, gleichsam aus der Versenkung
emporgestiegen. Die der hanuövrischen Thronfolge unbedingt
ergebenen Whigs, die in dem Tory- Kabinett Bolingbrokes
keinen Platz hatten, haben höchst geschickt aus den für den
Fall des Thronwechsels im Privy Council zu vollziehenden
Formalitäten eine große politische Aktion gemacht. Sie haben
damit den befürchteten Streich zur Berufung des stuartischen
Prätendenten im voraus vereitelt. Das Priv}^ Council hat da-
mals über das Schicksal Englands entschieden s).
') Pari. Hist. VI 970. -) Pari. Hist. VI 971 ff.
') Vgl. W. Michael, Engl. Gesch. im 18. Jahrhundert I 363 ff.;
R. Schmidt. Allg. Staatslehre 11 745. Daß es sich um eine Versammlung
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 563
Zum letzten Male. Denn von nun an hat es sich nie mehr
über den Rang einer vornehmen, aber politisch ganz bedeutungs-
losen Körperschaft erhoben.
Halten wir einen Augenblick inne, um über den Stand der
Entwicklung unter Königin Anna zu möglichster Klarheit zu
kommen, so haben wir erfahren, wie das Fortbestelien des
Kabinetts dadurch gesichert erschien, daß man auf seine Be-
seitigung auf gesetzgeberischem Wege ausdrücklich verzichtete.
Wir finden denn auch in den Korrespondenzen der Zeit eine
Fülle von Notizen über die Abhaltung von Kabinettssitzungen.
Cowpers Diary ^) erwähnt sie zahlreich besonders in den Jahren
1705 und 1706, in den Briefen Bolingbrokes 2) begegnen wir
ihnen immer wieder, und sie scheinen erst seltener zu werden,
als im letzten Jahr seiner Amtsführung der Gesundheitszustand
der Königin ihr die Teilnahme an den Sitzungen verbietet.
Unzweifelhaft ist also der um die Herrscherin versammelte
Kabinettsrat die höchste Stelle, von der aus das Land regiert wird.
Königin Anna legt Wert darauf, alle wichtigen Entscheidungen
persönlich zu treffen. Sie scheint einmal geglaubt zu haben,
daß BoUngbroke zu selbständig verfahren sei, denn wir lesen
seine Entschuldigung 3) : „Gott soll mich davor bewahren, an
einem Befehl Ew. Majestät ein Wörtchen zu ändern ohne Ihre
besondere Erlaubnis. Ich bitte um Vergebung, wenn ein irr-
tümlicher Ausdruck in meinem Briefe einen solchen Verdacht
wecken konnte." Sie versammelt die Minister regelmäßig; eine
Zeitlang ist der Sonntag für die Sitzungen bestimmt. ,,Ich
nehme an", heißt es ein paarmal in Briefen Bohngbrokes,
„Ew. Majestät wird das Kabinett wie gewöhnlich am Sonntag
abhalten wollen -i)." Der Charakter dieser Sitzungen ist darnach
völlig klar. Sie finden im Palaste der Königin statt, und ohne
ihre Anwesenheit würde es wohl auch niemandem eingefallen
sein, von einer Sitzung des Kabinetts zu reden.
des Privy Council, und nicht des Kabinetts, ^\^e oft behauptet worden ist,
handelt, ist inzwischen nach dem Privy Council Register im Privy Council
Office noch bestätigt durch Anson a. a. 0. ü. Part. I. p. % und Teraperley
i. d. Engl. Hist. Rev. XXVH 686.
') Herausgeg. in den Veröffentlichungen des Roxburghe Club. Bd. 49.
Eton 1833.
-) Bolingbroke, Letters and Correspondence. 4 vols. Lond. 1798.
=*) Bol. Letters I 372.
*) ibid. IV 29^ 302.
36*
564 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
Aber damit kommt man nicht mehr aus. Der kränkelnde
Zustand der Königin, die man nicht zu oft mit Kabinetts-
sitzungen belästigen darf, machen eine freie Verständigung
der Minister unter sich zu einer regelmäßig eintretenden Not-
wendigkeit. Auch wurde, bei der mittelmäßigen Begabung der
Fürstin, ihre leitende Hand wohl nicht allzu schmerzlich ver-
mißt. Wir lesen denn auch in der Tat von sehr häufigen
Versammlungen der entscheidenden PersönHchkeiten außerhalb
des Palastes. ,,Committee of Council" ist dafür der gewöhnliche,
bei Bolingbroke wie bei Cowper gebrauchte Ausdruck. Auch
wenn Bolingbroke von den ,, Lords of the Committee" oder den
,, Lords of the Council" spricht, handelt es sich offenbar um
denselben Kreis hoher Würdenträger. Wie aber verhält sich
nun dieses ,, Committee of Council" zum Kabinette? Der Name
scheint anzudeuten, daß es sich um einen Ausschuß des Privy
Council handelt. Im Ernste wird man sich die Sache aber
nicht so vorstellen dürfen. Das bedeutungslos gewordene Privy
Council konnte nicht mehr durch eigenen Beschluß die zu so
hoher Aufgabe berufene Körperschaft zusammensetzen. Der
Auftrag muß von der Krone ausgegangen sein. Die natür-
lichste Annahme ist darnach die, daß es sich eben um dieselben
Männer handelt, welche sich sonst unter den Augen der Königin
im Kabinette zu versammeln pflegten. Die Kabinettsmitglieder
waren, wie wir wissen, ein jeweils geschlossener Kreis. Wir
hätten es also, nach dieser Logik der Tatsachen, am wahrschein-
lichsten auch im Committee of Council wieder mit denselben
Leuten zu tun. Oder das Committee of Council ist, wie eine
spätere Zeit gesagt hätte, das Kabinett ohne den Souverän.
Und welche andere Behörde sollte es sonst wohl sein? Über
die Bedeutung eines der Ausschüsse des Privy Council, selbst des
alten Foreign Committee, ist es sichtlich weit hinausgewachsen.
Es ist recht eigentlich die Körperschaft, in der die Politik
gemacht, das Für und Wider der Beschlüsse erwogen wird, die
man der Königin im Kabinette zu unterbreiten beabsichtigt.
Noch von anderer Seite hören wir, daß die Mitglieder des
Kabinettsrats sich auch außerhalb des Kabinetts, nämlich im
Amtszimmer des ältesten Staatssekretärs, zu versammeln und
die Geschäfte für die Arbeit im Kabinett vorzubereiten pflegen i),
*) Relation sur la Cour d'Angleterre et l'etat du Conseil da la Reine.
Par le Duc d'Aumont. „Les membres de ce Conseil s'assemblent dans le
bureau du plus ancien secretaire d'Estat, et \k ils preparent ce qu'ils ont h
rapporter devant la Reyne." Abgedruckt bei F. Salomon, Geschichte des
^lichael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 565
eine Notiz, die uns noch zum Überfluß die volle Sicherheit
gibt, daß es sich bei dem Committee of Council einfach um
das ohne den Souverän versammelte Kabinett handelt. Denn
wenn es anders wäre, ständen wir vor der auffallenden Tat-
sache, daß Bolingbroke diese Versammlungen niemals erwähnt,
dagegen regelmäßig das Committee of Council als die den
Kabinettssitzungen vorarbeitende Körperschaft ^).
Auch die Art, wie gelegentlich diesem Committee selbst
schon vorgearbeitet ist, deutet auf seine hohe zentrale Stellung.
Wegen eines mit Frankreich geplanten Handelsvertrages nimmt
Bolingbroke zunächst an einer Sitzung im Handelsamt (Board
of Trade) teil. Er hofft alles so weit klargestellt zu haben,
daß die Lords of the Council, wenig Arbeit mehr zu tun finden
werden, wenn sie sich morgen versammeln, um sich mit dem
französischen Handelsvertrage zu befassen 2). Ein paar Tage
später ist die Sache umgekehrt: Bolingbroke empfängt die
Minister von Frankreich und Sizilien am Abend, nachdem
morgens eine Sitzung des Committee of Council war, d. h. nach-
dem hier die Politik festgelegt ist^), — natürlich vorbehaltlich
letzten Ministeriums Königin Annas von England. Gotha 1894. p. 356.
Vgl. dazu auch die Anmerkung, die mit ihrer j^räzisen Umschreibung des
Tatbestandes viel mehr das Richtige trifft als die Formulierung bei Anson
n, I p. 93—94.
') Daß im Committee of Council nicht immer sämtliche Mitglieder des
Kabinetts anwesend waren, ist wohl anzunehmen, wie ja auch im Kabinett
selbst nicht stets alle zu erscheinen pflegten. Daß es sich aber bei dem
Committee um eine von dem Kabinett grundsätzlich verschiedene Körper-
schaft, etwa um einen engeren Ausschuß desselben handelte, der die ]\Iacht
der Königin und des Kabinetts in Schranken zu halten suchte, vennag ich
schon deshalb nicht zu glauben, weil die Quellen gar keinen Anhalt dafür
geben. Als ein fernerer Beweis dafür, daß man sich unter dem Committee
of Council unter Anna einfach das Kabinett ohne die Königin zu denken
hat, mag gelten, daß dieselbe Ausdrucksweise in diesem Sinne auch unter
Georg I. noch gebraucht wird. So ist z. B. in einem Briefe Townshends
an den König vom November 1716 an einer Stelle (Coxe, Walpole 11 p. 130)
von „Committee of Council", an einer andern (ib. p. 133) von den „Lords
of the Committee" die Rede. In beiden Fällen handelt es sich um das
Kabinett, die für den König bestimmte französische Übersetzung sagt beide
Male „Les seigneurs du conseil". Und der Brief stammt aus einer Zeit, wo
der König (oder in seiner Abwesenheit der Prinz von Wales) noch, wie wir
sehen werden, persönlich an den Kabinettssitzungen teilzunehmen pflegten.
Man hat sich eben noch nicht daran gewöhnt, den ohne den König ver-
sammelten Ministerrat als Kabinett zu bezeichnen und wählt dafür lieber
noch die aus der Zeit der Vorgängerin geläufigen Namen. Vgl. auch S. 572.
-) Bolingbroke Letters IV 396. ') ibid. 407.
566 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
der im Kabinette zu erteilenden Einwilligung der Königin.
Aber man rechnet gewöhnlich im voraus mit dieser Einwilligung,
obwohl es ihr ja frei steht, sich im Kabinette noch einmal die
Gründe und Gegengründe vortragen zu lassen und sich von
der Berechtigung der vorläufig im Committee of Council ge-
faßten Beschlüsse zu überzeugen. ,,Kein Zweifel", schreibt
Bolingbroke einmal^), ,,die Königin wird dem Protokoll des
Committee of Council zustimmen." Vier Tage später hören
wir, daß die Zustimmung erfolgt ist 2). Aber auch im Kabinett
ist — besonders wohl in den ersten Jahren der Regierung
Annas — oft noch ernst gearbeitet worden. Cowper notiert
eine Kabinettssitzung im Dezember 1705, in der die Admiralität
zugezogen wurde, um über den Zustand der Flotte zu berichten.
Als man dann zur auswärtigen Politik überging, ward ein
wichtiger Brief aus Kopenhagen vom Staatssekretär mit leiser
Stimme verlesen, damit der noch am Tische sitzende Prinz
Georg von Dänemark, der Gemahl der Königin und Leiter der
Flotten Verwaltung, ihn nicht höre^).
Mit dem Thronwechsel von 1714 lassen die neueren Ver-
fassungshistoriker meistens einen neuen Abschnitt in der Ge-
schichte des Kabinetts beginnen, ja sie finden, dieser Zeitpunkt
bedeute die Entstehung des Kabinetts in seiner modernen Gestalt.
,,Die Thronbesteigung Georgs L", sagt Anson*), „bezeichnet
den Beginn der Kabinettsregierung, wie wir heute den Ausdruck
verstehen." Diese Anschauung wird mit der Tatsache begründet,
daß der neue König nicht mehr im Kabinette erschien. Er
überläßt diese Behörde sich selbst. Aber sie kann die leitende
Persönlichkeit nicht entbehren. Den Platz, der durch das Aus-
scheiden des Souveräns frei geworden ist, nimmt fortan der
Premierminister ein. Dieser aber gelangt in seine Stellung als
der Vertrauensmann des Parlaments, oder genauer derjenigen
Partei, die eben die Majorität im Unterhause besitzt. ,,Die
Parteiregierung", sagt Lord Acton^), ,,ward im Jahre 1714
errichtet, d. h. das System einer jeweils durch das Kabinett
regierenden Partei."
') ibid. II 8.
-) ibid. II 16.
^) Cowper' Diary. Roxburghe Club 49 p. 23.
*) a. a. 0. U, I p. 97.
^) Zitiert bei Anson 11, I p. 97.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 567
Die hier angedeutete Auffassung preßt nun in Wahrheit
eine Entwicklung, die sich über einen längeren Zeitraum er-
streckt, in einen einzigen Moment zusammen. Um bei unserm
Thema zu bleiben, so haben wir es vor allem mit dem Aus-
scheiden des Souveräns aus dem Kabinette zu tun. In dieser
Frage ist nun der Thronwechsel von 1714 überhaupt nicht
epochemachend gewesen. Das Bild, das sich aus einer großen
Reihe von Notizen in den Gesandtschaftsberichten, aus hand-
schriftlich erhaltenen Protokollen und anderem archivalischen
Material gewinnen läßt, ist vielmehr das folgende.
Der König aus deutschem Geschlecht hat die ehrliche Ab-
sicht gehabt, ganz nach der Weise seiner Vorgängerin zu regieren.
Sein Gesandter in London, Graf Bothmer, hat ihm vor
seiner Überfahrt nach England durch seine Berichte und Rat-
schläge — immer im Einvernehmen mit den Häuptern der
Whigpartei — die Richtlinien vorgezeichnet, in denen der mit
englischen Dingen völlig unbekannte Monarch sich bei der
Bildung seiner Regierung halten möge. Vom Kabinett ist in
einem Gutachten einmal die Rede, wobei Bothmer nach der hier
gewählten Ausdrucksweise unzweifelhaft der Meinung ist, Georg I.
werde den Kabinettsrat in Person abhalten. Er rät ihm nur,
es nicht sogleich zu tun. ,, Einen Cabinet Rath zu halten, würde
S. M. zu vermeiden haben, so lange das alte Ministerium noch
bestehet." Dagegen sei die Neuernennung der höchsten Hof-
und Staatsbeamten allerdings das erste und wichtigste Geschäft,
das dem Monarchen nach seiner Ankunft in England obliege,
,,weil aus denenselben der Cabinet Rath formiret wird, auf welchen
die Führung des Regiments vornehmlich ankommt" ^).
Der König hat den Rat befolgt. Die sämtlichen Minister-
posten sind neu besetzt worden. Und am 8. Oktober 1714,
neun Tage nach der Ankunft des Herrschers auf englischem
Boden hat Bothmer in sein Tagebuch geschrieben: ,, Heute haben
I. May. zum ersten Male Cabinet Rath gehalten" 2).
Es ist auch nicht das letzte Mal gewesen. So spärlich
die Notizen sind, die über die Anwesenheit des Königs im
Kabinett Kunde geben, so genügen sie doch, um von einem
') „Des Grafen von Botmar Gutachten, wie Seine Königl. Maj. (ieorg
bei dero Ankunft in Engelland dero Hofstaat und Ministerium würden ein-
richten können." Pauli, Aktenstücke zur Thronbesteigung des Welfenhauses
in England (Zeitschr. des hist. Vereins f, Niedersachs. 1883, S. 84 ff.).
^) Bothmers Diarium 8. Okt. 1714. Staatsarchiv Hannover.
568 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
regelmäßigen Brauche zu reden. Kenner englischer Verhältnisse,
wie der preußische Resident, der jüngere Friedrich Bonet, einer
war — er hatte die Zeiten Wilhelms III. und der Königin Anna
gesehen, und seit fast zwei Jahrzehnten, zweimal wöchentlich
seine Berichte nach Berhn gesandt — wunderten sich nicht
etwa darüber, daß der König noch fortfahre, Kabinettssitzungen
abzuhalten, sondern daß er es überhaupt dulde, daß die Mit-
gheder des Kabinetts sich so oft auch ohne ihn versammeln.
Bonet spricht von dem Kabinettsausschusse (Comite du Conseil
du Cabinet), der als eine mißbräuchliche Einrichtung schon
unter der Königin Anna infolge ihrer Unkenntnis der Geschäfte
bestand, und den zu beseitigen Georg I. bisher nicht vermocht
habe. ,,Die Unkenntnis der Sprache und der Geschäfte hat es
ihm nicht gestattet". So geschieht es denn, daß die ISIinister
in diesen Ausschußsitzungen alles entwerfen und dem Könige
im Kabinette nur das Ergebnis ihrer Beratungen mitteilen.
Ihm aber, findet Bonet, entgeht dadurch die Gelegenheit zu
vielseitiger Orientierung, er sieht nur die Schale, nicht den
Kern der Dinge und die Minister steigen in ihrer Macht ^).
Wir sehen hier eine Praxis, die von derjenigen der Vor-
gängerin gar nicht verschieden ist. Die Minister finden sich
entweder unter den Augen des Königs im Kabinett zusammen
— und in strengerem Sprachgebrauche reden die Quellen der
Zeit auch nur in diesem Sinne vom Cabinet Council — oder
der König bleibt ihrem Kreise fern, und alsdann hat man es
mit dem von Bonet sogenannten Comite du Conseil du Cabinet
zu tun, das wir nun auch unbedenklich mit dem von Boling-
broke so oft genannten Committee of Council identifizieren
dürfen. Mit anderen Worten: Die politischen Entscheidungen
werden in den ersten Zeiten Georgs I. zwar nach wie vor durch
den König im Kabinette gefaßt. Aber die Hauptarbeit wird
allmählich immer mehr durch die in Abwesenheit des Monarchen
sich versammelnden Mitgheder des Kabinetts geleistet.
') „Cette ignorance de la langue et des affaires n'a pas permis au Roi
d'abolir un conseil que l'ignorance des affaires dans le chef a introduit sous
le regne presedent. Je veux parier du Comite du Conseil du Cabinet, coni-
pose des principaux officiers, qui s'assemblent en l'absence du Roi, et qui
minutent toutes choses, pour rendre compte ensuite du resultat ä S. M. en
Conseil. Cette necessite oü S. M. est de continuer ce Conceil le prive d'une
infinite de lumieres, ne lui fait voir que l'ecorce de plusieurs affaires et
f. 1 ■ - ■ ■ . u ry . T, • 1 . 24. Dez. 1714
confere un grand pouvoir a ses mimstres. Bonets Bericht vom — — = Ti^v^
Geh. Staatsarchiv. *• J^"' ^^^^
]ilichael. Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 5H9
Natürlich besteht daneben auch das Privy Council in seiner
alten Wesenheit fort. An die Stelle der etwa 80 Mitglieder
aus der Zeit der Königin Anna, trat das neuformierte Privy
Council, mit 38 Mitgliedern, deren Zahl bald auf 50 erhöht
wurde ^). An der politischen Bedeutungslosigkeit dieser Körper-
schaft hat sich nichts geändert. , Hier werden nicht politische
Beschlüsse gefaßt, sondern nur zu formellem Ausdruck gebracht.
Im Priv}^ Council gelegentlich zu erscheinen war eine Pflicht,
der der Monarch sich am wenigsten entziehen konnte. Wir
hören denn auch-), wie er wenige Tage nach seiner Ankunft
die Versammlung daselbst abgehalten, wie er, der Landessprache
unkundig, seine englisch aufgesetzte Rede ,,aus dem Sack ge-
zogen", und sie dem Lord-Kanzler überreicht hat, der sie statt
seiner verlas.
Wenn wir also an der Regelmäßigkeit der von Georg I.
persönlich abgehalteneu Kabiuettssitzungen für die ersten Jahre
seiner Regierung nicht zu zweifeln brauchen, so sind es freilich
bis in das Jahr 1716 hinein nur vereinzelte Notizen, die als
direkte Zeugnisse gelten können. Aber man ward auch nicht
viel anderes zu erwarten haben. Die fortlaufende intime Korre-
spondenz eines der großen Mithandelnden, wie vordem diejenige
Bolingbrokes, liegt aus diesen Jahren nicht vor. Offizielle
Protokolle werden nicht geführt. Man versammelt sich im
,, Kabinette", d. h. im Palaste des Königs. Niemand findet
etwas Bemerkenswertes darin, die Minister beim Monarchen
ein- und ausgehen zu sehen. Die Öffentlichkeit nimmt nicht
Notiz davon, selbst die Diplomaten reden in ihren Berichten
so wenig darüber, wie von anderen täglichen Gepflogenheiten
des Hofes. Nur gelegentlich geschieht es einmal, daß über
eine besonders dramatische Szene, die sich hier abspielt, auch
über den engsten Kreis der Teilnehmenden hinaus etwas bekannt
wird, oder daß eine mündlich fortgepflanzte Tradition zufällig
schriftlich fixiert ^ärd.
So ward im Jahre 1715, in der Zeit des jakobitischen
Aufstandes, in einer Kabinettssitzung die Verhaftung Wyndhams
beschlossen, obwohl sein Schwiegervater, der Herzog von Somer-
set, der selbst Mitglied des Kabinetts war, sich für ihn verbürgt
hatte. Dem Staatssekretär Townshend, der den peinlichen
^) Ein Verzeichnis derselben gibt E. Pauli. Aktenstücke zur Thron-
besteigung des Welfenhauses in England. (Ztschr. d. hist. Vereins f. Nieder-
sacbs. 1883. S. 79, 80.)
-) Hoffmanns Bericht vom 5. Okt. 1714. Wiener Staatsarchiv.
570 Michael, Die Entstehuno: der Kabinettsregierun^ in England.
Beschluß herbeigeführt hatte, drückte, als man auseinander-
ging, dem König die Hand mit den Worten: „Sie haben mir
heute einen großen Dienst geleistet." Wir hören ferner von
einer Sitzung, die im Januar 1716, als der Prätendent in Schott-
land gelandet war, stattgefunden haben muß, bei der die Minister
dem Könige einstimmig im Kabinette den Rat erteilten, aus-
wärtige Truppen in seine Dienste zu nehmen, um der drohenden
Gefahr zu begegnen ^).
In den Berichten des österreichischen Residenten in London -)
wird ein weiterer Fall erwähnt, der sich einige Wochen später
zutrug, als der Aufstand bewältigt, über sechs Lords, die daran
beteiligt waren, das Todesurteil gefällt und vom Könige unter-
zeichnet war. Da hat sich wenige Tage vor dem Termin der
Hinrichtung die unglückliche Gattin des einen der Verurteilten,
die jugendliche Gräfin Derwentwater, auf offener Straße dem
Monarchen zu Füßen geworfen, um seine Gnade anzuflehen.
Georg L, tief erschüttert, brachte nur ein paar höfliche Worte
des Bedauerns hervor. Auf den Abend aber beruft er die
Minister zu einem Kabinettsrat. Sie sollen ihm raten, ob er
Gnade üben könne oder nicht. Wir erfahren noch, daß die
Sitzung zwei Stunden dauerte und daß alle Mitglieder des
Kabinetts mit der einzigen Ausnahme des Grafen Nottingham
die Begnadigung widerrieten.
Es ist leicht einzusehen, wieso gerade dieser Fall über-
liefert ist. Die Szene auf der Straße ist von vielen gesehen
worden. Das Schicksal des jungen Grafen Derwentwater er-
regte allgemeine Teilnahme. Nottingham hat noch an anderer
Stelle, nämlich im Oberhause, einen Versuch zur Rettung des
Verurteilten gemacht. So waren diese Vorgänge in aller Munde,
und wenigstens den Diplomaten entschleiert sich auch einmal
das Geheimnis einer dramatisch bewegten, entscheidungsvollen
Kabinettssitzung.
Haben wir es bisher nur mit vereinzelten Nachrichten aus
der Regierungszeit Georgs I. über die Teilnahme des Königs
an den Kabinettssitzungen zu tun gehabt, so kommen wir mit
dem Juli 1716 plötzlich in eine viel günstigere Lage. Jetzt
handelt es sich freilich nicht um den König selbst, sondern
um den Prinzen von Wales, seinen Sohn, der, während der
') Coxe, Walpole I 71, 11 116. Diese beiden Fälle sind schon bei
Blauvelt a. a. 0. p. 177 ff. hervorgehoben.
") Holfiiianns Bericht vom 3. März 1716. Wiener Staatsarchiv.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 571
Vater iu Hannover war, die Regierung des Landes als Statt-
halter führte. Hier besitzen wir nun in den Briefen, welche
der in England verbleibende Staatssekretär Methuen an seinen
Kollegen Stanhope in Hannover gerichtet hat, ein prächtiges
Material^) für unsere Frage, eine solche Fülle von Angaben
über das Kabinett und die Stellung des Prinzen Statthalters,
daß plötzlich das Dunkel aufgehellt erscheint und wir beinalie
alles erfahren, was wir zu wissen wünschen.
So vernehmen wir denn, wie nach dem Eintreffen der
Nachricht, daß der König in Holland gelandet sei — solange
er auf dem Meere war, galt noch die Fiktion, daß er sein Reich
nicht verlassen habe — wie aber nunmehr das Patent des
Prinzen im Privy Council verlesen wurde. Alsdann hat er eine
fast dreistündige Sitzung im Kabinettsrat abgehalten. Und
nun häufen sich die Stellen iu den Briefen, die alle dasselbe
besagen, nämlich, daß der Prinz persönlich den Kabinettsrat
abhält. ,,Wir gaben seiner Königlichen Hoheit im Kabinetts-
rate einen Bericht von dem, was gestern geschehen ist, und er
geruhte unser Verhalten zu bilhgen." ,,Die Schriftstücke wurden
seiner Königlichen Hoheit vorgestern im Kabinettsrate vor-
gelegt." ,,Die Sache ist gestern im Kabinettsrate vor seine
Könighche Hoheit gekommen." Alle diese Meldungen reden
eine deutliche Sprache. Auch in seinem Sommeraufenthalt in
Hampton Court, und hier vorzüglich, versammelt der Prinz
Statthalter die Minister um sich. ,,Der Kourier", heißt es ein-
mal 2), ,,soll fortan am Freitag abgehen, weil der für den
Kabinettsrat bestimmte Tag, solange Seine Könighche Hoheit
in Hampton Court weilt, der Donnerstag ist." In der Tat
hören wir von einer ganzen Reihe solcher Donnerstagskabinetts-
sitzungen. Der Prinz ist immer dabei. Oder sagen wir lieber,
der Ausdruck ,,Cabinet Council" wird auch noch jetzt nur dann
angewendet, wenn er zugegen ist.
Andererseits bestätigt uns auch diese Korrespondenz wieder
die Tatsache, daß die zum Kabinett gehörigen Minister sich
nach wie vor auch ohne den Souverän — an dessen Stelle wir
hier den Prinzen Statthalter erblicken — zu versammeln pflegen.
Sie arbeiten die zu entscheidenden Fragen vorläufig durch,
einigen sich wohl meistens auch schon über den Beschluß, den
') State Papers, Domestic Entry Books 267. Publ. Record Office.
-) Methuen an Stanhope. London 7. Aug. 1716. St. F., Dom. Entry
Books 267. Rec. Off.
572 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregiening in England.
sie unverbindlich fassen, um ihn dem Prinzen zur Bestätigung
im Kabinette vorzulegen. In manchen Fällen verweist der
Prinz eine Frage ausdrücklich zur Erwägung an die „Lords of
the Committee" — denn dies ist immer noch die (uns aus
Bolingbrokes Korrespondenz geläufige) Bezeichnung des Minister-
kollegiums ohne den König — d. h. er will, bevor er entscheidet,
nicht nur den Ressortchef, sondern die Gesamtheit der Minister
darüber gehört haben. Dann pflegen sie wohl das Resultat
ihrer Beratung in ein Protokoll zusammenzufassen, das sie dem
Prinzen im Kabinette vorlegen und das durch seine Bestätigung
den Charakter eines Regierungsbeschlusses erhält. Auch ein
solches Protokoll ist überliefert i), es betrifft die Behandlung
gefangener Rebellen. Die Lords of the Committee empfehlen,
drei derselben hinrichten zu lassen, und der Prinz macht aus
ihrem Protokolle einen Befehl.
Auch eine Verhandlung, die mit dem französischen Ge-
sandten D'Iberville wegen der Hafenbefestigungen von Mardyck
geführt wird, gewährt einen interessanten Einblick in die Ar-
beitsweise des Prinzen Statthalters und des Kabinetts. Die Ver-
handlung zieht sich durch etwa drei Wochen hin, sie wird
zuerst mündlich, dann schriftlich geführt. An drei Donners-
tagen wird dem Prinzen im Kabinett der jeweilige Stand der
Sache vorgetragen. Am ersten Donnerstage spricht er seine
Billigung der von den beiden Staatssekretären dem Franzosen
gegenüber beobachteten Haltung aus. Am zweiten Donnerstage
gibt er seine Zustimmung zu einer Note, welche die Lords of
the Committee als Antwort auf ein von D'Iberville überreichtes
Schriftstück entworfen haben. Mit anderen Worten: zwischen
die Aktion der Staatssekretäre und der Entscheidung im Kabinett
ist dieses Mal noch eine Verweisung an das Ministerkollegium,
an die Lords of the Committee eingeschoben worden. Wegen
einer neuen Antwort D'Ibervilles findet eine abermalige Sitzung
des Committee statt, wobei noch einige maritime und technische
Fachleute hinzugezogen werden. In der nächsten, am dritten
Donnerstage, stattfindenden Kabinettssitzung sind der Prinz und
die Minister der Meinung, daß D'Iberville seinen letzten, nur
mündlich gemachten Vorschlag, auch noch schriftlich geben
sollte. Der Staatssekretär Methuen verläßt auf Befehl des
0 Datiert Whiteball, Nov. 17, 171(5. Als Anwesende werden genannt:
Lord Chancellor, Lord Chamberlain, Lord Townshend, Mr. P. Methuen, Lord
Steward, Duke of Roxburghe, Lord Parker. — State Papers Dom. Entry
Books 267. Rec. Off.
]\Iichael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 573
Prinzen die Sitzung, begibt sich zu D'Iberville, den wir uns
gleichfalls in Hampton Court vorzustellen haben, kehrt mit dem
unterzeichneten Schriftstück in die noch andauernde Sitzung
zurück, und nunmehr „war es die Meinung Seiner Königlichen
Hoheit und die der übrigen Lords, daß in der jetzt aufgestellten
Alternative S. Maj. selbst entscheiden möge." In diesem Sinne
wird also an den König nach Hannover berichtet. Trotz der
damit drohenden Verzögerung gelingt es durch weitere Ver-
handlung nach wenigen Tagen einen Abschluß zu erreichen.
Die Staatssekretäre berichten dem Prinzen, und er gibt ihnen,
ohne die Sache noch einmal vor das Kabinett zu bringen, den
Auftrag zur Unterzeichnung eines dem Resultate der Verhand-
lung entsprechenden Vertragsartikels. In der nach weiteren
14 Tagen stattfindenden Donnerstagssitzung des Kabinetts nimmt
man mit Genugtuung von der Tatsache Kenntnis, daß der König
seine Billigung des Geschehenen ausgesprochen hat.
Fragen wir noch einmal, was diese Briefe uns für unsere
Untersuchung so wertvoll erscheinen läßt, so ist es die nun
unzweifelhafte Tatsache, daß der den König vertretende Prinz
von Wales während des Halbjahres vom Juli 1716 bis in den
Januar 1717 hinein ganz regelmäßig die Minister im Kabinette
um sich versammelt hat. Er hält also den Brauch aufrecht,
wie Karl II. und Jakob IL, Wilhelm III. und Anna ihn geübt
haben. Wohl, wird man einwenden, der Prinz, aber nicht der
König. Aber hätte der Prinz Statthalter es wohl so treiben
dürfen, wenn nicht der König, an dessen Stelle er stand. Ahn-
liches tat? Bei der, zwischen Vater und Sohn bestehenden
Eifersucht waren ohnehin die Befugnisse des Statthalters an
allen Ecken und Enden beschnitten worden. Wie hätte er es
wagen sollen, in so persönlicher Form an der Regierung teil-
zunehmen, wie hätten die Minister solches zugelassen, wie hätte
man so in aller Unschuld nach Hannover berichtet, wenn hier
nicht alles der herrschenden Regel entsprach?
Sehen wir nun, ehe wir weiter gehen, welche Nachrichten
wir über die von Georg I. befolgte Praxis ferner noch besitzen.
Nach seiner Rückkehr hat der König zunächst einige Per-
sonalveränderungen im Ministerium vorgenommen und sogleich
— etwa eine Woche nach seiner Ankunft hören wir wieder
von einer Kabinettssitzung. ,, Gestern hat sich", schreibt der
österreichische Resident am 9. Februar 1717 ^), ,,das dem äußer-
0 Bericht Hoffmanns vom 9. Febr. 1717. Wiener Staatsarchiv.
574 Michael. Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
liehen Schein nach wieder vereinigte Ministerium zum erstenmal
in einer Conferenz versammlet, auf welche der König anheut
Cabinetrath gehalten".
Aber nun lassen uns die Gesandschaftsberichte auch bald
erkennen, wie der König den guten alten Brauch, die Minister
in seinem Kabinette um sich zu versammeln, allmählich fallen
läßt. Im Sommer 1717, als Georg I. in Hampton Court resi-
diert, weiß der preußische Resident Bonet noch zu berichten^),
jetzt solle daselbst regelmäßig, und zwar an jedem Donnerstag
um die Mittagszeit, Kabinettsrat gehalten werden, ,, während es",
fügte er hinzu, ,,in London fast nie mehr geschah, geschweige
denn, daß man einen festen Tag dafür bestimmt gehabt hätte."
Der Donnerstag ist wohl wieder im Hinblick auf die am Freitag
übliche Abfertigung der Kuriere gewählt. Statt der Mittags-
stunde scheint man aber die Sitzungen häufiger auf die Abend-
zeit verlegt zu haben. Von anderer Seite hören wir, daß der
Kanzler ,, diese abendlichen Kabinettssitzungen nicht liebte",
denn es ist nicht dafür gesorgt, daß er im Palaste übernachten
kann. Und so ganz regelmäßig wurden sie wohl auch nicht
lange abgehalten. Zehn Tage nach seiner früheren Mitteilung
berichtet Bonet, der König werde nunmehr 14 Tage lang
Egerer (d. h. wohl Karlsbader) Wasser trinken und während
dieser Zeit weder Audienzen erteilen noch öffentlich erscheinen,
keinen Kabinettsrat abhalten und niemanden zur Tafel ziehen.
Auch nach der Beendigung dieser Brunnenkur ,, fährt der König
fort, ein sehr ruhiges Leben in Hampton Court zu führen 2)."
Ich glaube, mit der Annahme nicht fehl zu gehen, daß
jene Sommerwochen des Jahres 1717 in Hampton Court den
Zeitraum darstellen, innerhalb dessen der hannövrische König
zum letzten Male seine Minister regelmäßig im Kabinette um sich
zu versammeln pflegte. Denn wenn uns auch noch fernerhin
ein paar Notizen begegnen — wir werden sie gleich mitteilen —
die den König im Kabinette zeigen, so treten sie doch in einer
Form auf, die deutlich beweist, daß von einem festen Brauch
') „on en a deja parle dans le conseil de cabinet, qui se tiendra dore-
navant regulierement tous les jeudis a midi ä Hampton Court, au Heu qu'ici
ä Londi-es il ne s'en tenait presque jamais, et qu'il n'y avait aucun temjis
marque pour cela." Bericht Bonets vom 30. Juli/lü. Aug. 1717. Geh. Staats-
arohiv. Hoff mann berichtet schon am 6. Aug. n. St. über einen in Hamj)ton
(Jourt abgehaltenen Kabinettsrat. Wiener Staatsarchiv.
') Bonets Berichte vom 9./20. Aug., 30. Aug./lO. Sept. 1717. Geh. Staats-
archiv.
Michael, Die Eutstehung der Kabinettsregiernng in England. 575
nicht mehr die Rede sein kann, daß es sich vielmehr um Aus-
nahmen handelt. Im Dezeniher 1717, nachdem der Hof von
Hampton Court nach London verlegt war, erhob sich bei Ge-
legenheit der Taufe eines jüngst geborenen Prinzen zwischen
dem Könige und dem Thronfolger ein schwerer Konflikt, der
dahin führte, daß dem letzteren und seinem ganzen Gefolge
das Erscheinen bei Hofe untersagt wurde. In diesen aufgeregten
Tagen hat der König zweimal den Kabinettsrat berufen. Man
erkennt aber auch das Ungewöhnliche der Maßregel — und
nur darauf kommt es hier an — wenn es in einem zeit-
genössischen Briefe heißt i), der König solle im Kabinette gesagt
haben: ,,Wenn ich in Hannover gewesen wäre, so hätte ich
gewußt, was ich zu tun habe. Da ich aber hierher gekommen
bin, um nach den Gesetzen dieses Landes zu regieren, so bitte
ich um Ihren Rat in dieser wichtigen Sache."
Ebenso bedeutsam ist ein weiterer Fall — der letzte, von
dem wir zu berichten wissen. Es war im März 1718, als der
österreichische Gesandte in London, Freiherr von Pendten-
riedter, von dem verbündeten England die Entsendung einer
starken Flotte ins Mittelmeer forderte, um den Spaniern daselbst
entgegenzutreten. Die britische Nation aber war derzeit friedlich
gesinnt. Die Minister fürchten das Parlament, das freilich in
wenigen Tagen auseinander gehen wird, dem sie aber nun mit
neuen Forderungen nicht mehr zu kommen wagen, zumal auch
der spanische Gesandte Marquis Monteleone die Überreichung
einer Note angekündigt und die Kaufmannschaft schon im
voraus dadurch alarmiert hat. Pendtenriedter führt starke
Reden gegenüber dem Minister Stanhope, gegenüber dem Könige
selbst, der unvorbereitet und verlegen war, und auch gegenüber
dem hannövrischen Minister Bernstorff. Bei dem letzten macht
er am meisten Eindruck. ,,Er wollte sich bewerben", berichtet
Pendtenriedter, ,,daß der König seine englischen Räte zusammen-
berufen und in Sr. Majestät Gegenwart das Werk wohl über-
legen müßte." Das geschieht nun wirkUch, und es kann sich
doch wohl um nichts anderes, als um einen vom König be-
rufenen Kabinettsrat handeln. Pendtenriedter berichtet auch,
wie hier die Geister aufeinander platzen, und endlich der Be-
schluß gefaßt wird, sich ans Unterhaus zu wenden. Am
nächsten Tage ward daselbst eine königliche Botschaft verlesen,
in der die Hoffnung ausgesprochen wird, das Haus werde,
') Calendar of the Stuart Papers V 275. Vgl. ebendort p. 274. 281.
576 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
wenn der König genötigt wäre, über die bewilligte Zahl der
für dieses Jahr in Dienst zu stellenden Matrosen, hinauszu-
gehen, die erforderlichen Summen auch nachträglich noch bereit
stellen. Eine loyale Adresse war die Antwort ^). Die nach dem
Süden segelnde Flotte aber vernichtete die Spanier in der See-
schlacht am Cap Passaro.
So bekommen die geschilderten Vorgänge ihre historische
Bedeutung durch die großen Weltereignisse des Jahres 1718.
Und selbst zu ihrer verfassungsgeschichtlichen Erklärung muß
man die politische Lage der Zeit noch im Auge behalten. Die
Erzählung Pendtenriedters scheint sagen zu sollen, daß zur
Erreichung eines großen Zweckes ein ungewöhnlicher Schritt
getan wurde. Und ungewöhnlich war es auch, daß nicht einer
der englischen Minister, sondern der Deutsche Bernstorff es war,
der dem Könige die Versammlung des Ministerrates nahe legte.
Diese Sitzung, mit dem Souverän an der Spitze ist des alltäg-
lichen Charakters entkleidet. Die Gefahren der europäischen
Lage haben den Monarchen noch einmal zur Berufung der
Minister in sein Kabinett bewogen.
Von nun an schweigen die Quellen von ferneren Kabinetts-
sitzungen, die der König abgehalten hätte 2). Man ist versucht,
jenen 26. März des Jahres 1718 als den Zeitpunkt zu bezeichen,
da der Monarch zum letzten Male mit dem Ministerkollegium
zu Rate saß, um fortan ihrem Kreise fern zu bleiben und dem
^) Bericht Pendtenriedters aus London vom 27. März 1718. Wiener
Staatsarchiv. Wenn es sodann in einem P. S. vom 29. noch heißt, es sei nun-
mehr im „königlichen Eat" die Entsendung einer Flotte von 20 Kriegsschiffen
l)eschlossen worden, so ist es bei der unbestimmten Ausdrucksweise doch
zweifelhaft, ob man dabei vielleicht noch an einen weiteren vom Könige
selbst abgehaltenen Kabinettsrat zu denken hat oder an eine Sitzung des
Privy Council.
^) Die von Temperley a. a. 0. p. 693 mit aller Vorsicht mitgeteilten
Fälle scheinen sämtlich auf mißverständlicher Überlieferung zu beruhen und
würden auch an der Tatsache der seit 1718 verschwundenen Praxis nichts
ändern. Über den Fall von 1729 habe ich die handschriftliche Überlieferung
(State Papers Domestic Varions 1. Eec. Off.) selbst geprüft. Die auf der
Rückseite befindliche Aufschrift ,Summons for a Cabinet June 9*^ 1729' ist
allerdings gleichzeitig, ich glaube von der Hand Tilsons oder Delafayes. Daß
es sich aber trotzdem nicht um eine Kabinettssitzung, sondern um ein Privy
Council handelt, ergibt sich aus dem Zusatz: „Notice to be given to the
Recorder or to the Deputy Recorder of the City of London, and also to the
Clerk of the Council in Waiting to attend at the same time. Notice likewise
to be given to the Gentlemen Ushers and Keejiers of the Council Chamber.
Die Liste umfaßt 14 Namen von Männern, welche „are to attend Her Maj.
(Königin Caroline als Guardian of the Realm) to morrow . . . ."
Michael, Die Entstehung der Kahinettsregierung in England. 577
außerhalb des Palastes tagenden Kollegium die Geschäfte wie
den Namen des Kabinetts zu belassen. Ja, auch wenn noch
die eine oder andere Notiz zutage treten und von einem ge-
legentlichen Erscheinen des Monarchen im Kabinette erzählen
sollte — an dem Bilde, das die hier mitgeteilten Tatsachen
gewähren, würde nichts mehr geändert werden. Der wiederholt
genannte preußische Resident Bouet ist unser Zeuge, daß mit
dem Jahre 1718 die alte Praxis verschwand. ,,Ich habe",
schreibt der mit den Gepflogenheiten englischer Souveräne
altvertraute Diplomat^), ,,ich habe unter den beiden letzten
Regierungen gesehen, wie man ernste Fragen im Kabiuettsrate
erörterte. Unter der jetzigen Regierung wird der Kabinettsrat
nur sehr selten gehalten, die Staatsminister entwerfen alles und
lassen sich von dem Könige nur zum Handeln ermächtigen.
Er aber erfährt auf diese Weise wohl die Beschlüsse und auch
Gründe dafür, aber doch nicht die besonderen Gesichtspunkte,
welche für die Haltung dieser oder jeuer Persönlichkeit unter
den leitenden Staatsmännern maßgebend gewesen ist."
Was aber hat denn nun eigentlich den König aus dem
Kabinette getrieben? Die hergebrachte Anschauung sagt: seine
Unkenntnis der englischen Sprache -). Er fand es unerträglich,
in einem Kollegium den Vorsitz zu führen, dessen Verhand-
lungen er nicht zu folgen vermochte. Ein geringfügiger Umstand
hätte also eine bedeutsame Wandlung im englischen Verfassungs-
leben herbeigeführt 3). Und doch scheint mir diese Erklärung
nicht mehr stichhaltig zu sein. Eine merkwürdige Brief stelle
in den Berichten des österreichischen Residenten in London,
welche von der Einsetzung der Regentschaft des Prinzen von
Wales im Jahre 1716 handelt, erzählt*), was wir übrigens schon
wissen, daß er sogleich, nachdem im Privy Council sein Patent
verlesen war, ,,in den Cabinet Rath getreten ist", welcher,
^) Bon et 14./25. Jan. 1718, Geh. Staatsarchiv.
^) Auch ich selbst habe bisher die Sache so zu erklären versucht, zuletzt
noch in dem Abschnitt über Die Gesch. des Parlamentarismus in England im
Handbuch der Politik. 1912. I 382.
^) „Der Brauch trat außer Kraft, weil Georg I. kein Englisch verstand.
Dem zufälligen Ereignis, daß der Thron in einer kritischen Periode unserer
Geschichte von deutschen Prinzen besetzt war, verdanken wir die eigenartige
Verfassung der höchsten Exekutivgewalt." S.Low, Die Regierung Englands.
Übers, v. J. Hoops. Tübingen 1908.
*) Hoffmanns Bericht vom 24. Juli 1716. Wiener Staatsarchiv.
Zeitschrift für Politik. 6. 37
578 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
fährt der Bericht wörthch fort, ,,zwey Stunden lang gewehret
hat, und in welchem, weyleu der Printz die Engeländische
Sprach wohl verstehet, auch redet, anyetzo alle geschaffte in
dieser sprach tractiret werden." Was hier in aller Unbe-
fangenheit ausgesprochen wird, muß doch notwendig dahin
verstanden werden, daß bisher unter Georg I. im englischen
Kabinett nicht Englisch gesprochen wurde, sondern irgendeine
andere Sprache, wahrscheinlich Französisch, das wohl die meisten
Mitglieder verstanden.
Mit der lächerlichen Figur des verständnislos und stumm
unter seinen Ministern im Kabinette sitzenden Königs scheint
es darnach nichts zu sein. Wenn selbst nicht alle Anwesenden
französisch zu reden vermochten, so hat der Monarch sich doch
gewiß den Sinn ihrer Reden durch einen französisch sprechen-
den Nachbarn (etwa einen der Staatssekretäre, die mit den
fremden Diplomaten zu verhandeln gewohnt waren) verständlich
machen lassen. Auch hätten ja die beschriebenen Vorgänge,
wo Georg I. Townshend die Hand drückt: ,,Sie haben mir
heute einen großen Dienst erwiesen", oder die Berufung des
Kabinettsrats nach dem Fußfall der Gräfin Derwentwater, keinen
Sinn, wenn der König nicht genau wußte, was vorging.
Der wahre Grund liegt tiefer, er liegt in der gesamten
Verfassungsentwicklung seit der ,, glorreichen Revolution". Die
Minister haben das starke Bestreben, in ihrer Amtsführung
sich der Kontrolle des Souveräns nach Möglichkeit zu entziehen.
Die Krone ist zwar noch frei in der Wahl ihrer Ratgeber.
Aber diese sind für ihre Handlungen weniger dem Monarchen
verantwortlich, der sie schlimmsten Falles entlassen kann, als
gegenüber dem Parlamente, das mit Anklage und Hinrichtung
droht. Aber auch abgesehen von solchen Gefahren ist die
Rücksicht auf das Parlament für die leitenden Politiker bei
ihrer täglichen Arbeit das oberste Gesetz. Sie können nur
regieren, wenn sie mit dem Parlamente im Einvernehmen leben,
d. h. wenn sie eine Majorität im Unterhause besitzen. Die
Kontrolle der Legislative über die Exekutive fängt an zu einer
dauernden Abhängigkeit der letzteren von der ersteren zu führen.
Die Sicherheitsakte von 1706^) hatte jene verfängliche Klausel
der Act of Settlement, welche den Inhabern von Ämtern die Wähl-
barkeit zum Unterhause versagte, wieder aufgehoben, sie hatte
damit den Zusammenhang zwischen Parlament und Regierung
') 4 Anne c. 8, § 25.
Michael. Die Entstehimg' der Kabinettsregierung in England. 579
gestärkt, aber auch den Ministern die Pflicht, dem Parlamente
Rede zu stehen, noch fühlbarer gemacht. Das Parlament im
Zeitalter der George hätte sich eine Behandlung, wie es sie noch
unter Wilhelm III. erfuhr, nicht mehr gefallen lassen. Georg I.
selbst pflegte fremden Diplomaten gegenüber die Wendung zu
gebrauchen, seine Minister seien der Nation verantwortlich, und
er könne sie nicht schützen i). Kurz, mit der persönlichen Re-
gierung des Königs war es vorbei.
Wie sehr hätte er dieses auf die Dauer bei einer fort-
gesetzten Teilnahme an den Kabinettssitzungen empfinden
müssen. Er zieht es vor, die Minister unter sich beraten zu
lassen und von ihnen durch persönliche Mitteilungen zu er-
fahren, welche Politik ihnen richtig und durchführbar, besonders
im Hinblick auf die parlamentarische Genehmhaltung durch-
führbar erscheint. Bei aller Macht, die dem Könige noch ge-
blieben ist und die er geltend zu machen weiß, muß er sich
doch von jenen belehren lassen, wie w^eit seine persönlichen
Wünsche erfüllbar sind. Die Minister sind nicht mehr die
Vollstrecker des königlichen Willens, sie sind die Mitarbeiter,
allenfalls die Leiter des Parlaments. Das Königtum steht da
wie eine von fernher wirkende Kraft. Das Kabinett, d. h. die
Ressortchefs, die hohen Würdenträger, die parlamentarischen
Größen entscheiden in letzter Linie über die Politik, nicht mehr
die Kj-one. Der König zieht sich aus dem Kabinette zurück,
weil seine Rolle hier ausgespielt ist.
Kehren wir nun noch einmal zu der Regentschaft des
Prinzen von Wales im Jahre 1716 zurück, so vermögen wir
unschwer einen gewissen Zusammenhang z\^dschen der oben
beschriebenen Amtswaltung des Prinzen und dem ein Jahr
später erfolgenden völligen Bruch mit dem Könige zu er-
kennen. Der Vater war in höchstem Maße eifersüchtig auf
den Sohn. Er war aufgebracht darüber, daß der Prinz während
seiner Abwesenheit eifi'ig bemüht schien, die Herzen des Volkes
für sich zu gewinnen, daß er bei einer großen Feuersbrunst
in London persönlich auf der Brandstätte erschienen war.
Georg I. hatte dergleichen nie getan und auch kaum tun
können, da er mit den Leuten nicht zu reden vermochte. Die
ungünstigen Berichte, die damals nach Hannover gesandt
^) Bericht Pendtenriedters vom 27, März 1718. Wiener Staats-
archiv.
37*
580 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierimg in England.
wurden, scheinen aber besonders ausführlich und gehässig bei
den vom Prinzen regelmäßig abgehaltenen Kabinettsitzungen
verweilt zu haben. Der Bericht Bonets bringt jene vom Prinzen
1716 befolgte Praxis, geradezu in einen ursächlichen Zusammen-
hang mit dem später ausgebrochenen Konflikte zwischen Vater
und Sohn. Er spricht — wir haben diesen Bericht schon
einmal herangezogen — von der Seltenheit der Kabinetts-
sitzungen durch die der König über die Meinungsverschieden-
heiten unter den Ministern nicht mehr unterrichtet werde.
Der Prinz, dieses Manöver durchschauend, hat die Pflicht gegen
seinen Vater nicht zu verletzen gemeint, indem er sich bei
den in seiner Abwesenheit angenommenen Beschlüssen nicht
beruhigte, und sie für weniger wertvoll hielt, als die in
seiner Gegenwart gefaßten, d. h. wenn er zuvor Gelegenheit
gehabt, das Für und Wider selbst zu prüfen. Wir verstehen
den Groll der Minister, die dem an der Stelle des Königs
stehenden Prinzen die Abhaltung von Kabinettssitzungen
natürlich nicht verwehren konnten. Wir verstehen es auch,
wenn Georg I. selbst ein Zuviel des Prinzen darin erblickte,
wenn er fand, daß sein Sohn zu sehr den König im Kabinette
gespielt habe. Bonet führt auf diese und andere Umstände
das Mißverständnis zwischen Vater und Sohn zurück, welches
sich seither immer steigerte, bis der Bruch erfolgte. ,,Das ist",
sagt er, „die Entwicklung der Dinge, die ich mitzuteilen hatte."
Blicken wir aber von der menschlichen Seite dieser Vor-
gänge hinweg auf ihre verfassungsgeschichtliche Bedeutung, so
sehen wir den Prinzen einen Brauch aufrecht erhalten, den
der König selbst schon aufzugeben im Begriffe war. Der Thron-
folger erscheint wie der letzte Verteidiger einer Position, aus
der die Monarchie eben damals, während der Regierung Georgs L,
sachte verdrängt wurde. Und dann entbehrt es auch nicht
einer gewissen Tragik, daß der König gleichwohl nur den Stolz
des Prinzen in seinem Tun erkennen wollte, und daß eben
hier die tiefere Ursache des berühmten Konflikts zwischen
Vater und Sohn gelegen war.
Haben wir nun den Zeitpunkt erreicht, wo der König end-
gültig darauf verzichtet hat, den Ministerrat um sich zu ver-
sammeln, wo das sozusagen verwaiste Kabinett die Staats-
geschäfte unter sich abmacht, so ist es endHch die Aufgabe
der vorliegenden Untersuchung zum Schlüsse noch eine kurze
Schilderung der ersten Jahrzehnte aus der Geschichte des Ka-
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 581
binetts in seiner neuen Gestalt, d. h. des Kabinetts ohne den
König zu versuchen. Es ist vornehmhch die Zeit Walpoles, von
der wir zu reden haben. Und dabei werden wir nicht umhin
können, dem Leser fast ebenso viel über die Natur des Quellen-
materials, dem wir folgen, wie über die Sache selbst, mitzuteilen.
Jetzt so wenig wie früher wurden offizielle Protokolle ge-
führt. Eine volle Geschichte der Kabinettssitzungen und der
hier vertretenen politischen Ansichten zu schreiben, würde schon
aus diesem Grunde nicht möglich sein. Immerhin hat sich
eine nicht geringe Anzahl von Niederschriften gefunden, welche
die Namen der Anwesenden, sowie einige Mitteilungen über
die zur Behandlung kommenden Fragen und endlich die ge-
faßten Beschlüsse enthalten. Im britischen Staatsarchiv (Public
Record Office) werden mehrere Bände solcher privater Auf-
zeichnungen, ,, Minutes" genannt, aufbewahrt^). Hier und da
begegnet man auch an anderen Stellen vereinzelten Protokollen,
die sich irgendwie unter Akten verschiedenen Ursprungs ver-
loren haben 2). Und endlich sind solche gelegentlich auch unter
den handschriftlichen Sammlungen des Britischen Museums
erhalten^). So läßt sich über das Kabinett unter Walpole immer-
hin einiges sagen.
Zunächst muß das Eine bemerkt werden. Der Souverän
ist fort, der Premier hat seinen Einzug ins Kabinett gehalten.
Wir wissen genug von der Geschichte der Zeit, um sagen zu
können, daß seit 1721 Walpole als der wahre Leiter dieser
Versammlungen zu denken ist. Aber die Protokolle lassen es
nicht erkennen. Sie weisen einfach die Namen der Teilnehmer
auf, einen Vorsitzenden gibt es nicht. Auch von einer Geschäfts-
ordnung bemerkt man nicht viel. Von Abstimmungen sehen
wir keine Spur. Man einigt sich über einen Beschluß oder ein
solcher kommt überhaupt nicht zustande. Auch wer das Ka-
binett beruft, wird nicht ersichtlich, und wahrscheinlich hat
auch eine feste Regel dafür nicht existiert, ebensowenig, wie
^) State Papers, Domestic. Various. vol. 1 — 3.
^) So State Papers. Domestic. George 11. Bündle 7, enthaltend Proto-
kolle vom 21. und 28. Juni 1728; Bündle 12, enthaltend ein Protokoll vom
5. Juni 1729; Bündle 23, enthaltend ein Protokoll vom 30. Juni 1731. (Das-
selbe ist in sauberer Abschrift, wahrscheinlich für den König bestimmt auch
State Papers Dom. Var. 1 überliefert.
^) So in den Newcastle Papers. Add. Mss. 32993. darin etliche Proto-
kolle von 1739 bis 1745. Die folgenden Bände enthalten noch zahlreiche
„Minutes" bis in die Zeiten Georgs ELI. hinein, mit denen wir uns hier nicht
weiter befassen.
582 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
für den Ort der Versammlung. Daß Walpole in vielen Fällen
als der Berufende zu denken ist, mag daraus geschlossen werden,
daß die Protokolle oft, in den letzten Jahren gewöhnhch ,,At
Sir Robert Walpole's" oder vollständiger ,,At Sir Robert Wal-
pole's House at Chelsea", datiert sind. Aber auch andere Da-
tierungen wie ,,WhitehaH", oder ,,Claremont" (der Wohnsitz
des Herzogs von Newcastle), oder ,,At Lord Harrington's"
kommen vor. Die Zahl der Anwesenden ist sehr schwankend.
Im Durchschnitt sind es etwa 6, gelegentlich aber nur 4 Mit-
glieder, oft aber auch mehr, 10, 12, ja 14 Anwesende. Robert
Walpole ist wohl immer dabei.
Die erwähnten Protokolle haben, wie gesagt, keinen völhg
offiziellen Charakter. Sie sind nicht systematisch angelegt. Es
ist nicht, wie im Privy Council, ein besonderer Beamter, ein
Clerk, vorhanden, der sie führt. Sie sind von einem der Teil-
nehmer — es ist meistens, vielleicht durchweg der Herzog von
Newcastle ^) — im Augenblick niedergeschrieben, daher meist
abgerissen und skizzenhaft. Aber außer diesen, oft schwer
leserlichen Originalen liegen sie häufig noch in sauberen Ab-
schriften, manche dieser Abschriften sogar in drei bis vier
Exemplaren vor. Ich denke, man wird nicht fehlgehen mit
der Annahme, daß diese Abschriften oder daß doch wenigstens
eine von ihnen für den König bestimmt war. Denn der König
muß doch über den Verlauf, besonders über das Ergebnis der
Kabinettssitzungen unterrichtet worden sein. Zu formeller Er-
ledigung kamen ja die Regierungsbeschlüsse immer noch durch
ihn selbst, dann nämlich, wenn ihm die einzelnen Minister
Vortrag hielten, wenn man ihm die zu erteilenden Befehle zur
Unterschrift vorlegte. Der Vollzug, der Abschluß der Handlung
mußte durch den Monarchen in Person, wir würden sagen : in
seinem Kabinette, erfolgen, wenn nicht der Ausdruck eben um
diese Zeit schon einen andern Sinn angenommen hätte. Kurz,
der König empfängt seine Mitteilungen und man wird bei den
in sauberer Abschrift vorliegenden Protokollen zunächst an die
Pflicht der Minister zu denken haben, die bei aller Freiheit
ihres Schaltens doch immer noch die Majestät über sich hatten.
Allein, an eine ganz regelmäßige schriftliche Berichterstattung,
*) Sie sind oft in seiner Handschrift. Seine Name erscheint in der
Präsenzliste meist an letzter Stelle. Besonders tritt es in dem Protokoll
vom 30. Juni 1731 (S. P. Dom. G. II Bündle 23) hervor, wo Newcastles Name
vor „Mr. Seeretary at War" stand, aber nachträglich durchstrichen ist, um
an die letzte Stelle gesetzt zu werden. Newcastle war seit 1724 Staatssekretär.
Michael, Die Entstellung der Kabinettsregierung in England, 583
die dem Monarchen über jede Kabinettssitzung zuteil geworden
wäre, zu glauben, geben uns diese gerade erhaltenen Stücke
doch noch kein Recht. Denn auch da, wo sie reichlicher ein-
setzen — bis 1728 ist überhaupt nichts erhalten — bleiben sie
lückenhaft, sporadisch, aus dem Jahre 1733 ist nur ein einziges
Protokoll vorhanden, und auch für die ganze Periode der
14 Jahre Walpoleschen Regiments, dem sie angehören, mögen
die hier verzeichneten Kabinettssitzungen gewiß nicht mehr als
den zehnten Teil aller überhaupt stattgehabten ausmachen.
Vielleicht darf man nun sagen, daß in der Regel wohl über-
haupt nichts niedergeschrieben wurde, daß aber gelegentlich
das Bedürfnis nach einer präzisen Formulierung der gefaßten
Beschlüsse empfunden und alsdann dasjenige, was dieser oder
jener Minister für sich zu Papier gebracht, sauber abgeschrieben
auch dem Könige vorgelegt wurde.
Haben nun die erwähnten Protokolle, auch die in Abschrift
dem Könige vorgelegten, durchaus keinen offiziellen Charakter,
was schon aus ihrer äußeren Form, vielleicht sogar aus der
Art der Aufbewahrung hervorgeht — es sind noch heute ^)
lose Blätter, die nur zu Aktenbündeln zusammengelegt und
niemals geheftet worden sind — , so dürfen wir, ohne von
unserem Thema abzuschweifen, noch auf die Tatsache hin-
weisen, daß die Kabinettsmitglieder unter den beiden ersten
Georgen zu anderen Zeiten auch Sitzungen abgehalten haben,
deren Ergebnisse wir nun doch in hochoffiziellen Protokollen
verzeichnet finden. Hören wir, um was es sich dabei handelt.
Die beiden ersten George, denen ihr deutsches Kurfürsten-
tum weit mehr am Herzen lag, als ihr britisches Königreich,
haben, so oft die Umstände es gestatteten, die Fahrt übers ]\Ieer
angetreten, um für einige Monate ihre Residenz in Hannover
aufzuschlagen. Sie pflegten dann vor der Mitte des Jahres,
wenn das Parlament in die Ferien ging, aus England za ver-
schwinden, um gewöhnlich erst gegen Jahresschluß, gelegent-
lich sogar noch später, zur Eröffnung der Session wieder zur
Stelle zu sein. Für die Zeit ihrer Abwesenheit mußte alsdann
eine Stellvertretung des Monarchen geschaffen werden, indem
entweder einem Mitgliede des königlichen Hauses die Statt-
halterschaft unter dem Namen eines ,, Guardian of the Realm"
übertragen oder aber die Regentschaft eines Kollegiums^ von
*) Ich habe sie im Jahre 1910 eingesehen.
584 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
hohen Beamten eingesetzt wurde. Für beide Formen gab es
Präzedenzfälle aus der Zeit Wilhelms III. ^), beide sind auch
unter Georg I. und II. wiederholt gewählt worden. Als Georg I.
1716 nach Hannover ging, wurde der Prinz von Wales mit
der Statthalterschaft betraut — es ist jene oben behandelte
Periode, die uns durch die Teilnahme des Prinzen an den
Kabinettssitzungen interessant war. Als der König zum zweiten
Male (1719) fortging, war, wie wir auch schon wissen, das
Vertrauen des Vaters zum Sohne inzwischen so gründlich zer-
stört worden, daß er weit davon entfernt war, ihm zum zweiten
Male ein so hohes Amt zu übertragen. So wurde denn statt
dessen eine Regentschaft eingesetzt, ein Verfahren, das auch
in allen weiteren Fällen einer Abwesenheit Georgs L, nämhch
1720, 1723, 1725, 1727, wieder befolgt wurde. Georg IL da-
gegen pflegte der Königin Caroline die Statthalterschaft ebenso
zu übertragen, wie er selbst sie als Prinz von W^ales 1716 inne
gehabt. Nach dem Tode der Königin aber (sie starb 1737)
ging auch er zu dem System der Regentschaften über.
Diese Regentschaften sind es nun, die uns ein interessantes
Material, auch für die Geschichte des Kabinetts, liefern. Re-
genten waren nämlich regelmäßig die sämtlichen Mitglieder
des Kabinetts. Es ist ein verfassungsgeschichtliches Kuriosum,
wenn man so dieselben Männer, die vordem miteinander das
nach dem Gesetze gar nicht existierende Kabinett gebildet
haben, jetzt als gesetzlich anerkannte, höchste Regierungs-
stelle sich versammeln sieht. Nun erhält ihr ganzes Tun einen
offiziellen Charakter und amtliche Protokolle belehren uns über
ihre Tätigkeit. Dem Namen nach sind ihre Befugnisse er-
weitert. Statt wie sonst ,, demütig der Meinung" zu sein, daß
der König diese oder jene Anordnung treffe, geben sie diese
Anordnung selbst, denn sie sind jetzt im Besitz der monar-
chischen Gewalt. In der Sache ist aber der Unterschied nicht
groß. Sie sind heute als Regenten (der Titel ist Lords Justices)
derselbe Kreis von Männern,, die sie gestern als Kabinett ge-
wesen waren, und ihre heute befolgte Politik ist nur die Fort-
setzung der gestrigen.
So ergänzen denn die amtlichen Sitzungsprotokolle 2) der
Lords Justices auch in erwünschter Weise jene skizzenhaften
') Vgl. oben Seite 558.
") Sie sind in 17 Entry Books eingetragen, die jetzt unter State Papers
Domestic Entry Books im Record Office aufbewahrt werden. Leider ist die
Michael, Die Entstehiin*^ der Kahinettsregierung in England. 585
Notizen über die Versammlungen des Kabinetts. Wir werden
gewiß manches von der hier befolgten Praxis auch ohne
weiteres auf das Kabinett beziehen dürfen. Wenn wir im
Jahre 1720 in dem Protokoll der konstituierenden Sitzung von
dem Beschluß der Regentsciiaft lesen, sich zweimal wöchent-
lich, nämlich jeweils am Dienstag und Donnerstag um 10 Uhr
morgens pünktlich zu versammeln, wenn wir hören, daß sie
mit der Verhandlung nicht beginnen wollen, bis wenigstens
vier von ihnen anwesend sind, so haben wir darin wahr-
scheinlich nichts anderes als die in eine feste Geschäftsordnung
verwandelte regelmäßige Praxis des Kabinetts vor uns. Denn
auch die Kabinettsprotokolle geben uns die vier als die ge-
ringste vorkommende Anzahl der Teilnehmer. Überhaupt scheint
die Frequenz sich in beiden Fällen auf derselben Höhe zu
halten, oder genauer gesprochen, hier wie dort fehlt gewöhnlich
die größere Hälfte der Mitglieder. Im Jahre 1720 sind von
den 15 Regenten niemals mehr als 12 anwesend, und auch
diese Zahl wird nur ein einziges Mal erreicht. Sonst sind stets
weniger zur Stelle, und im Laufe des Augustmonats, wo gewiß
die meisten lieber außerhalb Londons auf ihren Landgütern
weilten, zeigt die Präsenzliste einige Male nur vier Teilnehmer,
d. h. die kleinste beschlußfähige Anzahl.
Die gefaßten Beschlüsse selbst beziehen sich, ganz wie in
den Kabinettssitzungen, auf Heer und Flotte, Kolonien, auch
auf innere Verwaltung. In bezug auf die auswärtige Politik
machen wir freilich die Beobachtung, daß die Regentschaft nicht
nur keine größeren Machtbefugnisse besitzt als das Kabinett,
sondern beinahe überhaupt auf diesem Gebiete nichts ent-
scheidet. Die Instruktion für die Regenten besagt im Jahre 1723
einfach, daß sie kein Bündnis und keinen Vertrag mit einem
auswärtigen Fürsten oder Staate verhandeln oder abschließen
sollen, es sei denn auf die ausdrückliche Weisung des Königs.
Praktisch hat dies den Sinn, wie wir aus den Protokollen er-
sehen, daß die auswärtige Politik in dieser Zeit einfach in
Hannover gemacht wird, nicht in London. Wir sehen, und das
ist bedeutungsvoll für den ganzen Charakter der Regierung,
für die Stellung des Königs, für die Macht des Kabinetts, wie
das gesamte Getriebe der Diplomatie in Hannover seinen Mittel-
punkt hat. Dorthin schicken die englischen Gesandten im Aus-
früher vorhandene Abteilung „Regencies". die in 184 Bänden das ganze
Aktenmaterial zur Geschichte der Regentschaften umfaßte, jetzt aufgelöst
und unter andere Aktenreihen verteilt worden.
586 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
lande ihre Berichte, von dort her empfangen sie ihre Weisungen.
Man erhält hier die aktenmäßige Bestätigung der Tatsache,
daß die beiden ersten George, wenigstens auf dem Gebiete der
auswärtigen Politik, noch stark persönlich regierten. Der in
Hannover weilende König hat regelmäßig einen der Staats-
sekretäre bei sich^). Dieser korrespondiert mit den andern in
London zurückgebliebenen Kollegen und teilt ihm mit, zu
welcher Pohtik man sich in Hannover entschlossen habe.
Meistens, aber keineswegs immer, werden die Regenten durch
Abschriften der diplomatischen Korrespondenzen auf dem
Laufenden erhalten. Im allgemeinen wurden ihnen die so-
genannten „public letters", d. h. die offizielle Korrespondenz,
vorgelesen. Aber jeder mit diplomatischen Akten des 18. Jahr-
hunderts Vertraute weiß auch, wie oft die entscheidenden
Motive erst in den nebenher gesandten Privatbriefen, den mit
Vermerken wie ,, private" „very private", ,,secret and con-
fidential" bezeichneten Depeschen enthalten waren. Diese
intime Korrespondenz blieb gewöhnlich das Geheimnis des
Königs und der Staatssekretäre. Ja, auch die öffentlichen Briefe
wurden dem Kabinett oder der Regentschaft wohl nicht aus-
nahmslos unterbreitet 2).
So wertvoll alle diese Angaben für uns sind, so besitzen
doch beide Gruppen von Protokollen in ihrer knappen Fassung
so wenig Leben und Farbe, daß wir uns kaum eine Vorstellung
davon machen können, wie man in diesen Sitzungen geredet,
debattiert, Beschluß gefaßt hat, welche Intriguen gespielt, wie
gelegentlich die Geister aufeinander geplatzt sind, und, was wir
am meisten vermissen, wie sich Robert Walpole, der wahre
Herrscher in England, hier in dem intimen Kreise der Genossen
seiner Amtsführung gegeben hat. Denn daß er als Prime
*) 1723 sind beide, die Lords Townshend und Carter et, mit dem
Könige gegangen. Unterdessen übernahm der in England verbleibende
Walpole zu seineu übrigen Ämtern noch die interimistische Führung der Ge-
schäfte eines Staatssekretärs, freilich ohne die formale Seite der Sache recht
zu beherrschen. Er ist eines Tages nicht völlig sicher, ob die Ratifikation
eines Vertrages auch seinen ganzen Inhalt wiedergebe. „Aber bitte verraten
Sie niemandem", fügt er gemütlich hinzu, „daß der Herr Staatssekretär so
etwas nicht weiß." Walpole an Newcastle. Houghton. Oct. 24. 1723. Add.
Mss. 32686. Brit. Mus.
') „I don't see whj- y. Grace should decline laying L^ Townshend's
public letter before the Lords Justices." ibid. — Man erkennt dieselbe Praxis
schon in Bolingbroke Letters 11 131.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 587
Minister so gar nicht hervortritt, fällt doch auf. Da müssen
wir uns denn nach anderen Nacln-ichten umsehen, die uns die
Situation lebendiger zu machen geeignet sind. Horace Walpole
und Lord Hervey geben uns in ihren Memoiren einen so deut-
lichen Begriff von der überragenden Stellung Walpoles, daß
uns sein Bild auch vorschwebt, wenn wir uns den Verlauf der
Kabinettssitzungen zu denken versuchen. Hervey hat aber
auch, als er 1740 ins Kabinett eintrat, ein paar Sitzungen,
leider nur wenige, die er selbst erlebt hat, beschrieben ^). Es
sind lebendige Schilderungen, pikant, wie von einem Franzosen,
voll von feiner Beobachtung, von überlegenem Spott. Die be-
deutendsten Handelnden, Walpole, Newcastle, treten uns in
plastischer Anschaulichkeit entgegen. Mag es richtig sein
oder nicht, wer diese Blätter gelesen hat, wird sich von
Newcastle nicht so bald eine andere Vorstellung machen, als
die er hier gewonnen hat. Man meint ihn zu sehen, wie
er, eitel und selbstgefällig, die bewundernden Blicke des
Kollegiums auf sich zu ziehen sucht, wie er, von seinem
eigenen Stil entzückt, seine politischen Depeschen den ver-
sammelten Lords immer wieder vorliest, wie er mit rück-
schauender Weisheit die Anordnungen und Taten anderer kriti-
siert und ärgerlich verstummt, als ihm Walpole ins Wort fällt
und energisch mahnt, lieber für die Zukunft zu sorgen. Denn
Walpole erscheint unzweifelhaft als der überlegene Geist in dem
ganzen Kreise, in dem er mit seiner harten Sachlichkeit ge-
wöhnlich durchdringt und zu dem die anderen, sei es mit
Freude oder Widerwillen, bewundernd aufbhcken. Hervey hat
einmal vorgeschlagen, in einem zu schließenden Vertrage zu
größerer Deutlichkeit noch ein kräftiges Wort hinzuzufügen.
Die meisten der Lords bhcken erstaunt und unwillig. Als aber
Sir Robert dem Redner beipflichtet, klingt es gleich von allen
Seiten: ,, Gewiß, gewiß, solche Dinge können gar nicht zu klar
ausgesprochen werden."
Auch wie der Prime Minister als Vermittler zwischen
König und Kabinett steht, wird deutlich. Er ist es, der
den König bewegt, in der Thronrede lieber nichts von seiner
beabsichtigten Reise nach Hannover zu sagen. Als Georg H.,
in ähnlichem Konflikt mit seinem Sohne, wie er ihn in
jüngeren Jahren mit seinem Vater gehabt hat, dem Prinzen
^) Hervey. Memoirs of the Reign of George the Second, ed. Oroker.
Lond. 1848. H 553 ff.
588 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
eine Botschaft zugehen lassen will, die als ein Akt des
Kabinetts erscheinen soll, beginnen die Mitglieder die
Richtigkeit einer solchen Maßregel zu diskutieren. Walpole
aber entgegnet ihnen mit schneidender Schärfe, das Kabinett
sei berufen worden, weil der König seinen Rat wünsche über
die Art und Weise der Ausführung, nicht aber darüber, ob
die Sache gemacht werden solle oder nicht i). Ein anderes Mal,
als es sich um die Verheiratung einer Prinzessin, insbesondere
um die Frage handelt, ob die wirkliche Trauung in England
oder im Ausland erfolgen solle, wiederholt er vor den Lords
of the Cabinet Council auch schonungslos die schmähenden
Worte, mit denen der Monarch ihre Bedenken wegen der For-
mahen der Trauung aufgenommen hat: ,,Ich will von Eurem
Unsinn über Kirche und Gesetz nichts mehr hören, ich will
meine Tochter verheiratet sehen, und zwar mit voller Rechts-
kraft." Aber dann ist es auch wieder Walpole, der den König
zuletzt dahin bringt, sich den Gründen des Kabinetts zu fügen.
Wenn wir erfahren haben, daß die Geheimnisse der aus-
wärtigen Politik den meisten Mitgliedern des Kabinetts oder
der Regentschaft tatsächlich nicht enthüllt wurden, so mag wohl
auch auf anderen Gebieten eine ähnliche Praxis geherrscht
haben. Ja, schon aus den Teilnehmerlisten erhält man den
Eindruck, daß meistens nicht das ganze Kabinett mitwirkt,
sondern nur ein Teil desselben. Wir haben bei dieser Ge-
legenheit über die Ungleichheit der Frequenz noch einige
Worte zu sagen.
Die Schriftsteller haben neuerdings geradezu von einem
inneren und äußeren Kabinett, wie von zwei verschiedenen
Behörden reden wollen 2). Das innere regiert; die Zugehörigkeit
zum äußeren ist eine Ehre. An eine so scharfe und besonders
eine so grundsätzliche Trennung der beiden Gruppen vermag
ich nicht zu glauben. Die Erwägungen, die hier besonders am
Platze zu sein scheinen, sind die folgenden.
Noch gibt es keine kollektive Verantwortlichkeit des Ka-
binetts. Walpole hat allerdings 1725 das Prinzip einmal ver-
kündigt, aber die Praxis stimmt nicht damit überein. Jeder
Minister ist nur für sich selbst verantwortlich. So fällt denn
für die Gesamtheit auch das Bedürfnis fort, auf jeden einzelnen
') ibid. II 431.
'-') Win Stanley, George III and his first Cabinet. Engl. Hist, Rev. XVII
1902 p. 678 ff. So auch Anson und neuerdings vor allem Temperley a. a. 0.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 589
ein wachsames Auge zu haben, denn die Furcht, daß das Ka-
binett als solches durch die Fehler eines seiner Mitglieder zu
Falle kommen könnte, besteht noch nicht. Daraus ergibt sich
weiter, daß man in aller Ruhe dem Kabinette fernbleiben
konnte, wenn man nicht gerade durch Angelegenheiten des
eigenen Ressorts oder andere Gründe zur Teilnahme au den
Sitzungen gezwungen war. So angesehen bedarf es für die
meistens so geringe Frequenz der Kabinettssitzungen keiner
andern Erklärung, als man sie etwa für den oft schwachen
Besuch des Privy Council, oder auch der beiden Häuser des
Parlaments, zumal des Hauses der Lords, zu geben haben würde.
Blickt man ferner auf die Zusammensetzung des Kabinetts
jener Tage, so findet man hier einen weiteren Grund für et-
liche Mitglieder desselben, nicht allzu häufig zu erscheinen.
Neben den hohen Staatsbeamten, den Ressortchefs, sieht man
eine ganze Gruppe von Hofbeamten, den Lord Steward, den
Lord Chamberlain, den Master of the Horse, den Groom of
the Stole, als Mitglieder des Kabinetts figurieren. Sie haben in
Wahrheit wenig darin zu tun gehabt und werden es wohl, wie
man gelegentlich zu erkennen vermag, meistens nur dann fre-
quentiert haben, wenn persönliche Angelegenheiten des Königs,
seiner Familie, des Hofhalts usw. in Frage standen. Sie kommen
also für die Mehrzahl aller Geschäfte, mit denen sich das Ka-
binett zu befassen hatte, nicht in Betracht. Man braucht auch
nicht etwa ihre Stimmen, denn man stimmt nicht ab. So
bleiben sie eben meistens fort.
Nicht viel anders mag es mit den gelegentlich ernannten
Kabinettsmitgliedern gewesen sein, die ohne Amt (Minister ohne
Portefeuille) waren, die nur ehrenhalber ins Kabinett, oder, wie
1720 die Herzöge von Devonshire und Bolton^), zur Regent-
schaft gezogen wurden.
') Hoffmann, 2.5. .Juni 1720, berichtet, der König habe die sämtlichen
13 lyiitglieder des Kabinetts zu Regenten erhoben und jene beiden, die kein
Amt hätten, noch hinzugefügt, so daß die Regentschaft nunmehr 15 Mitglieder
umfasse. Wiener Staatsarchiv. — Vor den Protokollen von 1720 (S. P. Dom,
Entry Books 283, Rec. Off.) findet sich dementsprechend das folgende Ver-
zeichnis :
Lords Justices Declared in Council June 11*^ 1720. Appointed by
Commission dated 14*^ opened 18 th,
Lord Archbishop of Caaterbury,
Lord Chancellor,
Lord President,
„ Privy Seal,
590 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
So ist es denn von vornherein einer Anzahl der Kabinetts-
mitglieder nahegelegt, nur bei bedeutenderen Anlässen zu er-
scheinen. Und daß auch von den übrigen besonders fleißig
nur diejenigen kommen, die durch ihren Einfluß beim Könige,
durch ihre Macht im Parlament, oder jeweils durch die Be-
dürfnisse ihres Ressorts dazu getrieben werden, ist ebenso ein-
leuchtend. Man fühlt sich entbehrlich, man ist ,,out of town",
man ist durch Krankheit oder anderweitig verhindert, man wird
nicht mehr regelmäßig geladen, und man bleibt fort. Der kleine
Kreis der wirklich Regierenden bleibt übrig. Man erblickt
darin den ersten Schatzlord (der zum Prime Minister wird),
die beiden Staatssekretäre, den Lord-Kanzler, als diejenigen vier
hohen Staatsbeamten, die schon aus dem Grunde den Kern
des Kabinetts zu bilden berufen erscheinen, weil sie die Ge-
schäfte, um die es sich meistens handelt, schon von Amts wegen
praktisch zu bearbeiten haben. Der Präsident des Privy Council,
der erste Lord der Admiralität, vielleicht noch einige andere
Mitglieder des Kabinetts treten hinzu. Die Zusammensetzung
des Kreises ändert sich rasch und oft. Er ist niemals scharf
umgrenzt. Das Unbestimmte, Fluktuierende, gehört zu seinem
Wesen. Er hat auch nicht jene Notorietät, nicht jene durch
die Aufhebung des legislativen Verbots (1706) geschaffene quasi-
gesetzliche Existenz, wie sie dem Kabinette eignet. Er ent-
scheidet wohl über die PoUtik seiner Tage, aber er bleibt auch
selbst ein Produkt der TagespoHtik. Vom Standpunkt des
Verfassungshistorikers aus ist er doch nicht allzu ernst zu
nehmen. Man sollte in ihm, so wie auch seine Mitglieder
es getan haben, nichts anderes als ein schwach besuchtes
Kabinett, aber doch das Kabinett schlechthin, erblicken.
Und dann sieht man auch immer wieder, wie von Fall
zu Fall der engere Kreis sich zu dem größeren erweitern
kann, wie je nach Bedarf, durch zufällige Umstände, gelegentlich
Lord Steward,
„ Chamberlain,
Duke of Grafton (Hofbeamter, vielleicht Master of the Horse),
„ „ Bolton (ohne Amt),
„ „ Devonshire (ohne Amt),
„ „ Marlborough (Captain General),
„ „ Roxbnrghe (Staatssekretär für Schottland),
Earl of Suuderland (Ester Schatzlord),
„ „ Berkeley (Erster Admiralitätslord),
„ „ Stanhope (Staatssekretär),
Mr. Secretary Craggs (Staatssekretär).
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 591
vielleicht auf den Wunsch des Königs, die anderen, die scheinbar
zur Seite geschobenen Mitglieder, wieder erscheinen, man sieht
wie statt eines Konventikels von vier bis sechs Mitgliedern,
gelegentlich ein volleres Kabinett von 8 — 12 oder 14 Teil-
nehmenden sich versammelt.
Daß eine kleine Anzahl der Mächtigsten sich zusammenfand,
um sich über die Grundsätze der Politik zu verständigen, war auch
nicht neu. Ja, in der Zeit vor Walpole findet man diese engen
Verbindungen manchmal wunderlich genug zusammengesetzt.
Man würde sich versucht fühlen, statt von einem engeren
Kabinette von einem N e b e n kabinette zu reden. Ich meine
jene Verbindungen, die gar nicht einmal nur aus Mitgliedern
des Kabinetts bestehen, die untereinander die entscheidenden
Fragen durchsprechen und vorläufige Beschlüsse fassen. Das
Kabinett wird dann mit Vorschlägen überrascht, deren wahre
Gründe nur ein paar Eingeweihte durchschauen. Unter Königin
Anna haben die ,,Saturday Dinners" Robert Harleys, auf denen
mit viel Geist beim Glase Wein Pohtik gemacht wurde, einen
gewissen Ruhm besessen. Hier saß neben den Ministern und
als ihr treuer literarischer Helfer der glänzendste Schriftsteller
jener Tage, Jonathan Swift. Von ihm wissen wir, wie hier
die großen Fragen der Politik, Krieg und Frieden, England und
Europa, im Plauderton erörtert und die Maßregeln der Regierung
von Woche zu Woche vereinbart wurden i).
Nach dem Thronwechsel von 1714 hört man von einem
regierenden Kreise von vier Männern, dem sogenanten Quadrum-
virat. Es waren die beiden deutschen Minister des Königs,
Bernstorff und Bothmer, die sich hier mit Townshend und dem
noch einmal zur Macht gelangten Herzog von Marlborough
zusammenfanden und als die Vertrauensmänner des Königs
die Interessen seiner beiden Reiche in aller Stille erwogen-).
Ein paar Jahre später, nach dem Rücktritt von Townshend
und Walpole, im April 1717, hat das sogenannte Trium\arat,
d. h. die Verbindung von Stanhope, Sunderland und Cadogan
eine ähnliche Rolle gespielt. Diese Drei, heißt es in diploma-
tischen Berichten 3), haben am meisten das Ohr des Königs.
„Das Triumvirat", schreibt Bonet im April 1718 ,,hält an seinem
alten Grundsatze fest, alles gemeinsam oder jeder für sich, je
^) Vgl. Blauvelt a. a. 0. p. 130 ff.
^) Vgl. meine Englische Geschichte im achtzehnten Jahrhundert I 449.
^) Nach den Berichten Bonets und Hoffmanns im Geh. Staats-
Archiv und Wiener Staatsarchiv.
592 Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England.
nach der Natur des Geschäfts zu entscheiden und die schwe-
benden Fragen weder im Kabinette vor den König zu bringen
noch auch mit andern Ministern darüber zu konferieren." ,,Sie
sind", heißt es ein anderes Mal, ,,wie drei Souveräne in ihren
besonderen Geschäftskreisen, Stanhope für das Auswärtige, Sun-
derland für die Finanzen, Cadogan in allen Wehrfragen." Und
auch dieses Mal darf nicht unerwähnt bleiben, daß der General
und Diplomat Cadogan dem Kabinett überhaupt gar nicht
angehörte.
Und blickt man nun auf die Zeit Walpoles, so braucht
man, um eine Parallele zu finden, nicht einmal bei den oben
beschriebenen Versammlungen der 4 bis 6 Kabinettmitglieder
stehen zu bleiben. Denn unter diesen sind es in den ersten
Jahren wiederum besonders zwei gewesen, die recht eigent-
lich im Besitz der Macht erscheinen. Wie Walpole in den
inneren, so gilt Townshend in den auswärtigen Fragen als
der entscheidende Mann. Der andere Staatssekretär, der Herzog
von Newcastle, ist schlecht unterrichtet, da Townshend die
auswärtige Politik völlig ,,en clief und meist allein"^) erledigt.
,,Der König hat sich gänzlich in der zwei Schwäger Hände
geworfen und will mit keinem anderen als mit ihnen mehr
von Geschäften reden." Man wundert sich, daß er sich den
„allzugroßen Despotismus" dieser beiden gefallen lasse 2). So
dürften wir denn, um uns der Sprache jener Zeit zu bedienen,
hier wohl von einem Duumvirat von Walpole und Townshend
reden. Und wir hätten es mit der Tatsache zu tun, daß
durch dieses Duumvirat selbst jenen intimen Kabinettssitzungen
der 4 bis 6 Minister die Entscheidung der wichtigsten Fragen
schon vorweggenommen wurde.
Wenn wir hier abbrechen, so geschieht es freilich mit der
klaren Erkenntnis, daß wir bei weitem nicht alle Fragen berührt
haben, die für die Geschichte des englischen Kabinetts, auch
in so früher Zeit, Bedeutung und Interesse besitzen. Was wir
zu schildern versucht, ist die Entstehung und Entwicklung der
regierenden Körperschaft an sich, wie sie unter den späteren
Stuarts vom Souverän ins Leben gerufen wird, wie sie unter
Wilhelm IH. als Werkzeug des königlichen Willens funktioniert,
wie sie sich unter Anna zu selbständiger Politik erhebt, in der
') Bericht Starhembergs vom 20. Okt. 1724. Wiener Staatsarchiv.
") Vgl. meinen Aufsatz „Walpole als Premierminister". H. Z. 104. S. 508.
Michael, Die Entstehung der Kabinettsregierung in England. 593
folgenden Regierung den Monarchen sachte aus ihrem Kreise
hinausdrängt, und endUch in der Zeit Walpoles sich um den
Prime Minister schart. Wir haben die Entstellungsgeschichte
des Kabinetts nur von der einen, von der Seite der Monarchie
her betrachtet. Aber wollten wir auch die andere Seite der
Entwicklung, die Stellung des Kabinetts zum Parlament behan-
deln, wollten wir zu schildern versuchen, wie jenes dem be-
herrschenden Einfluß des Souveräns nur entflohen zu sein
scheint, um unter den des Parlaments zu geraten, und um
zuletzt nur noch als das exekutive Organ der jeweiligen Unter-
hausmajorität zu erscheinen, so hätten wir freilich nicht mit
dem Zeitalter Walpoles schließen dürfen. Denn die angedeutete
Entwicklung hob damals erst an. Wir aber haben nur zeigen
wollen, wie das Kabinett zur regierenden Behörde in England
wurde.
Auch mit der überragenden Stellung des Premierministers
ist es nicht anders. Walpole ist nicht der Erwählte des Par-
laments, nicht der von der Unterhausmajorität, dem Könige
Präsentierte, den dieser seinerseits mit der Bildung des Kabi-
netts beauftragt. Kaum die ersten Ansätze zu einer solchen
Entwicklung sind vorhanden. Bei Walpole und seiner Stellung
zu den Kollegen im Kabinett hat man der Kämpfe und Intriguen
zu gedenken, die hier gespielt haben, hat sich zu erinnern,
wie er zuerst dem Prinzip der Parteiregierung zum Siege ver-
holfen hat, wie er Carteret aus dem Kabinette verdrängt, wie
er mit Townshend gerungen und zuletzt auch ihn beiseite
geschoben hat, dann aber auch wie endlich die parlamen-
tarische Opposition, gegen die er sein Leben lang angekämpft
hat, auf das Kabinett übergreift und ihn stürzt. Erwägt man
also die Stellung Walpoles, der zwar dem Parlament durch
Bestechung beizukommen sucht, aber endlich im Kabinette
selbst nicht mehr der Plerr ist, so versteht man erst das
historisch Merkwürdige, das Widerspruchsvolle, die eigentliche
Tragik seines Lebens. Und man versteht es, wenn er am
Ende seiner Laufbahn die Behauptung der Gegner, er habe
als ein Prime Minister über England geherrscht, wie eine
schändHche Verleumdung von sich wies.
Zeitschrift für Politik. 6. 38
IX.
Die parteipolitische Lage beim Zusammentritt
des Vorparlaments
Von Dr. Ludwig Bergsträßer
Hansemanu hat einmal die treffende Bemerkung gemacht,
daß die Scheidung der Parteien deutlich erst nach dem Siege er-
folge (Das preußische und das deutsche Verfassungswerk S. 73).
Die Etappen der Scheidung zwischen radikalem und konsti-
tutionellem Liberalismus im Beginn des Jahres 1848, die wir
in dieser Studie betrachten wollen, sind ein Beleg für Hanse-
manns Bemerkung.
Die liberale Bewegung ist in Deutschland zwischen 1832
und 1846 etwa durchaus einheitlich; Gagern und Blum treffen
sich in gemeinsamen Beratungen (vgl. Jucho in der Einleitung zu
den Verhandlungen des deutschen Parlaments S. V und Gottschall,
Aus meiner Jugend S. 206 ff.). In den Kammern ebenso ein
geschlossenes Zusammengehen derer, die später auf der rechten
und auf der linken Seite des Konstitutionalismus stehen werden.
Hecker und Mathy, Gagern und Zitz. Auch im Vereinigten
Landtag ist das Zentrum der Liberalen durchaus geschlossen;
allerdings war die extremere Linke in dieser Versammlung über-
haupt nicht vertreten.
In Baden waren die Verhältnisse am weitesten fortgeschritten.
Es ist nicht unsere Aufgabe, die Gründe dieser Erscheinung
zu untersuchen. Wir stellen dies hier nur fest. In Baden hatte
auch der Liberalismus kurz vor dem Sturm jähre einen gewissen
Erfolg errungen. Auf ein extrem-reaktionäres Ministerium war
ein gemäßigteres gefolgt. Um dieselbe Zeit etwa fanden die
Verschiedenheiten der Gesinnung und des Temperamentes, wie
sie auch im badischen Liberahsmus natürUch vorhanden waren,
sich aber bisher nach außen nicht gezeigt hatten, ihren ersten
Niederschlag in programmatischen Kundgebungen. Wir wissen
wenigstens nicht von früheren
Bergsträßer. Die parteipolit. Lage h. Zusammentritt d. Vorparlaments. 595
Am 12. September 1847 hielt die radikalere Richtung des
badischen Liberahsmus in Offenburg eine große Volksversamm-
lung ab, man berichtete von 5 — 600 Teilnehmern. Es sprachen
hauptsächlich Hecker, Struve, die beiden späteren Führer des
Aufstandes, und Kapp, ein mit St. Simonistischen Gedanken
sympathisierender Heidelberger. Auf dieser Versammlung
wurde eine Resolution angenommen ^j, die in 13 Punkten das
Programm des radikalen Liberahsmus enthielt, der ,, Entschie-
denen", wie sie sich im Gegensatz zu den ,, Halben" nannten.
Es war nicht nach inneren Gesichtspunkten, sondern nach der
äußeren Unterscheidung aufgebaut. 1. ,, Wiederherstellung unserer
verletzten Verfassung." Darunter gehörte Preßfreiheit, ^^ereins-
und Versammlungsrecht, Gewissensfreiheit, Vereidigung des
Mihtärs auf die Verfassung und in bezug auf die deutschen
Angelegenheiten: ,,Wir verlangen, daß die Regierung sich los-
sage von den Karlsbader Beschlüssen von 1819, von den Frank-
furter Beschlüssen von 1831 und 1832 und von den Wiener
Beschlüssen von 1834. Diese Beschlüsse verletzen gleichmäßig
unsere unveränderlichen Menschenrechte, wie die deutsche
Bundesakte und unsere Landes Verfassung."
,,Die Entwicklung unserer Verfassung", der zweite Teil, be-
ginnt natürhch mit dem Bunde. ,,Wir verlangen Vertretung
des Volkes bei dem deutschen Bunde. Dem Deutschen werde
ein Vaterland und eine Stimme in dessen Angelegenheiten.
Gerechtigkeit und Freiheit im Innern, eine feste Stellung dem
Auslande gegenüber gebühren uns als Nation." Im einzelnen
weiter eine volkstümliche Wehrverfassung ohne stehendes Heer,
eine volkstümliche Staatsverwaltung; Geschworenengerichte; ,,der
Bürger werde vom Bürger gerichtet", die Bildung durch Unter-
richt soU allen gleich und unentgeltlich zugänglich sein. Jeder
soll nach seinen Kräften zu den Lasten des Staates beitragen,
also progressive Einkommensteuer, und da die Gesellschaft ver-
pflichtet ist, die Arbeit, d. h. den Arbeiter, zu schützen und zu
heben, ,, Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Arbeit und
Kapital". Ein letzter dreizehnter Artikel verlangt Abschaffung
aller Vorrechte; ,, jedem sei die Achtung freier Mitbürger einziger
Vorzug und Lohn".
^) Vgl. den ausführlichen Bericht der Allgemeinen Zeitung (A. Z.)
S. 2094 (Xr. v. 19. Sept. 1847).
38*
596 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
Betrachten wir dieses Programm näher, so sind von seinen
innerpoHtischen Forderungen einige jetzt verwirkUcht, andere
wie das Volksheer gehören in unseren Tagen zu dem Programm
der Sozialdemokratie. Wir dürfen uns durch solche Fest-
stellungen nicht zu dem Schlüsse verleiten lassen, als wäre
dieses Programm für damalige Zeiten sehr revolutionär gewesen.
Auch so strenge Konstitutionelle wie Mathy verlangten damals
die Vereidigung des Heeres auf die Verfassung. Über das ge-
wöhnliche Maß damaliger liberaler Forderungen geht nur der
letzte Artikel, der sich gegen Titel und Adelsvorrechte richtet,
hinaus. Er hat bei vielen badischen Oppositionellen keinen
Anklang gefunden. Dann die soziale Tendenz. Sie war für
damalige Zeit in gewissem Sinne eine Vorwegnahme; leise nur
klang die soziale Frage an, auf dem badischen Landtag hatte
sie der ultramontane Büß zum ersten Male zur Sprache ge-
bracht, und auch der demokratische Flügel des Liberalismus
behandelt sie im Jahre 1848 noch recht theoretisch, ist sie doch
hauptsächlich eine Handwerker- und noch keine Arbeiterfrage.
Auch im vorliegenden Programm bleibt man noch gar sehr im
Allgemeinen stecken. Noch weniger radikal ist der Teil, der
sich mit den allgemeinen deutschen Verhältnissen befaßt. Der
Bund wird als bestehende Organisation anerkannt, er soll aus-
gebaut durch eine Volksvertretung für die moderne Zeit brauchbar
gemacht werden. Von einer Republik ist nicht die Rede, der
Einheitsgedanke ist noch stark betont. Die Verdammung der
reaktionären Zwangsmaßregeln war unter den damaligen Libe-
ralen allgemein.
Dieses Programm erregte denn auch auf der anderen Seite,
bei den Halben oder Konstitutionellen kein besonderes Aufsehen,
vor allem kein unliebsames. Man empfand den Unterschied
nur als einen solchen des Temperaments. Die Heidelberger
Deutsche Zeitung bezweifelt, daß die Versammlung in Offenburg
nun die lang erstrebte Frucht von Jahren ungesäumt zur Reife
bringen werde. Ein leiser Spott, wie ihn der Verfasser der
Notiz, Mathy, oft genug zur Verfügung hatte. Daneben über-
wiegt jedoch das Gefühl der Solidarität durchaus. Die Notiz
will von vornherein den übertriebenen Schilderungen der reaktio-
nären Seite entgegentreten, und derselbe Mathy spricht sich, als
weitere ähnliche Versammlungen verboten werden, scharf gegen
dieses Verbot aus (Aus dem Nachlaß von Karl Mathy S. 59, 62),
ebenso wie in dem am 7. Dezember neu zusammentretenden Land-
tage die um Mathy Seite an Seite mit denen um Hecker kämpften,
Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments. 597
sogar den Radikalen Peter zum Vizepräsidenten vorschlugen,
denselben, der später mit Fickler zusammen Revolution im
Seekreis, in Konstanz machte. Wirklich waren auch die pro-
grammatischen Unterschiede durchaus nicht groß, wie auf der
letzten Zusammenkunft von Parlamentariern, der berühmten
Heppenheimer Zusammenkunft am 10. Oktober zutage trat.
Die Anregung zu dieser Versammlung ging von Hansemann
aus, der nach Schluß des ersten vereinigten Landtags eine Reise
nach Stuttgart, München und Baden machte, um die süd-
deutschen Gesinnungsgenossen persönlich kennen zu lernen.
(Hansemann a. a. O. S. 73, Mathy an Buhl, Nachlaß S. 60.)
Leider erlaubt das bis jetzt vorliegende Material nur sehr vor-
sichtige Schlüsse über die Debatten und die dabei geäußerten
Ansichten. Einheit herrschte bei den Anwesenden, unter denen
Hansemann, Mathy, Gagern, Hergenhahn aus Nassau, Römer
aus Württemberg, beide spätere Märzminister, und Bassermann
aus Mannheim die bedeutendsten waren — Einheit der An-
schauung herrschte nur darüber, daß die nationale Frage von
den Regierenden allein, ohne Zuziehung des Volkes, d. h. ohne
eine Volksvertretung nicht zu lösen und daß sie bedingt sei
durch eine freiheitlichere Ausgestaltung des politischen Lebens
in den einzelnen Staaten. Was Mathy in seinem Berichte in
der Deutschen Zeitung als dahingehende Forderungen aufzählt
(Preßfreiheit, Schwurgerichte, Trennung der Justiz von der
Verwaltung, Minderung des Aufwandes für das stehende Heer,
Volksbewaffnung) ist von den Offenburger Leitsätzen nicht groß
verschieden. Daß der Bund seine Aufgabe nicht erfüllt, viel-
mehr der Lösung der Einheitsfrage entgegen gearbeitet habe,
war hier wie dort feststehende Überzeugung. Darüber, welche
Institution besser als die Bundesversammlung die Lösung der
Einheitsfrage in die Hand nehmen könne, war man geteilter
Ansicht. Eine Richtung — wie der Biograph Mevissens sagt,
war Bassermann ihr Führer; sicher gehörte Hergenhahn zu
ihr (Allg. D. Biographie Bd. 12 S. 106) — redete der Weiter-
bildung des Bundes durch Beiordnung einer Volksvertretung
das Wort, vertrat also denselben Standtpunkt wie die Offen-
burger Versammlung. Eine andere Gruppe machte geltend,
daß eine Weiterbildung des Bundes nicht zu der deutschen
Einheit führen könnte, weil dem Bunde nichtdeutsche Staaten
wie Dänemark angehörten, deutsche Gebiete wie Ostpreußen
in ihm nicht vertreten seien, und weil Österreichs Verhält-
nisse nicht der Art seien, um mit ihm in eine engere Ver-
598 Bergsträßer, Die parteiijolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
bindung als den Bund zu treten. Diese Richtung empfahl
vielmehr eine Weiterbildung des einzigen lebendigen nationalen
Instituts, das damals schon zu einem Teile die deutsche
Einheit vorwegnahm, des Zollvereins. Hansemann hatte schon
auf dem rheinischen Proviuziallandtag von 1845 den Antrag
gestellt, daß ständische Deputierte aller Zollvereinsstaaten
wenigstens zu den Tarif beratungen hinzugezogen werden sollten.
Der positiven und volkswirtschaftlichen Deduktionen immer
besonders geneigte Mathy schloß sich ihm an, auch Gagern
soll sich entschieden für dieses Projekt ausgesprochen haben.
Die übrigen Teilnehmer erklärten schließlich ihre Zustimmung
dazu, daß dieser Weg als der zunächst zu empfehlende anzu-
sehen sei. So wird er denn auch in Mathy s Bericht besonders
hervorgehoben. (Deutsche Zeitung Nr. 707 S. 852.)
Doch betonten die übrigen Teilnehmer, daß aber auch
keine andere Gelegenheit, welche Zeit und Ereignisse bringen
mögen, unbenutzt zu lassen sei, um die Idee der deutschen
Einigung zu stärken. Der Unterschied zwischen diesem Pro-
gramm und dem Offenburger ist augenfällig. Es ist kein
Unterschied der Gesinnung, sondern eine verschiedene Be-
trachtungsweise, die ihn schuf. Die Heppenheimer Versamm-
lung würdigt die bestehenden Verhältnisse wie sie sind. Das
zeigt schon der Umstand allein, daß sie sich dem Plane der
Umgestaltung des Bundestages nicht direkt verschließt, daß
sie die Möglichkeit anerkennt, durch den Druck der öffentlichen
Meinung, die gerade diesen Gedanken propagierte, könne eine
Besserung der Verhältnisse in dieser Richtung vielleicht erzielt
werden. Wenn sie diesen Weg trotzdem erst an zweiter Stelle
sieht, so schätzt sie eben die Stärke der bestehenden Mächte,
besonders die von Osterreich ausgehenden Wirkungen, größer
und richtiger ein, als die Offenburger; sie ist weniger enthu-
siastisch, sie ist realpolitischer in dieser Frage.
Die Macht der Tatsachen erwies sich stärker auch als dieses
Programm. Die ihm zustimmten, und auch die es anregten,
haben es selbst im Laufe der Entwicklung aufgegeben. Zu-
nächst die Badener schon vor der Märzbewegung; Hansemann
am Anfang derselben. Sie sahen wohl, daß die politische
Stimmung nun allzuweit fortgeschritten war, als daß sie damit
zufrieden gewesen wäre, auf dem Umwege materieller Interessen
langsam auch ihre nationalen zu verfechten. Dazu kam, daß
gerade in jenen Jahren der Gegensatz des Zollvereins zu den
Hansastädten und der lebhafte Kampf zwischen Schutzzöllnern
m^
Ber gsträß er, Die parteipolit. Lage b. Zusaniinentritt d. V'orparlaments. 599
und Freihändlern den Zollverein in keinem idealen Lichte er-
scheinen ließ. Das mag auch für einen der eifrigsten Ver-
fechter des Heppenheimer Programms, eben für Mathy, den
Ausschlag gegeben haben, daß er den anderen Weg mitging,
den Weg, der durch ßassermanns Antrag im badischen Land-
tag betr. die Vertretung der deutschen Ständekammern am
Bundestage gekennzeichnet ist. Sicher hat dieses Vorgehen
große Erfolge gehabt, während man das von den wenigen Ver-
suchen, die in der anderen Richtung gemacht worden sind,
nicht sagen kann. Bassermanns Motion fand ein allgemeines
Echo; es war eine Tat, wäre es auch gewesen, wenn nicht
14 Tage darauf die Revolution eingesetzt hätte. Dagegen fand
weder der Antrag Zentners ^) auf Einführung eines allgemeinen
bürgerlichen Gesetzbuches in allen deutschen Staaten noch die
direkt auf die Heppenheimer Beschlüsse zurückgehende Aktion
in Württemberg allgemeinere Beachtung. Dort hatte Federer
vor Beginn der neuen Landtagssession in Stuttgart am 17. Ja-
nuar eine A-'olks Versammlung abgehalten, auf der auch die all-
gemeinen deutschen Angelegenheiten besprochen wurden. Die
Versammlung hatte sich sofort für Weiterbildung des Zollvereins,
für eine Ausdehnung auf alle deutschen Staaten ausgesprochen,
ferner für Vertretung des Zollvereins im Auslande durch deutsche
Konsuln und Beschickung der Zollkongresse durch Sachver-
ständige, welche in den Ständekammern gewählt werden sollten 2),
also genau das Heppenheimer Programm. Wieweit gerade der
Umstand, daß die Volksversammlungsbeschlüsse, sowie Reden
liberaler Abgeordneter in der Kammer, die denselben Gedanken
vertraten, nicht beachtet wurden — wieweit das auf Basser-
manns und der badischen Liberalen Vorgehen von Einfluß war,
entzieht sich, wne so vieles von den inneren Zusammenhängen,
unserer Kenntnis. Bassermann selbst hatte ja immer die Idee
einer dem Bundestag anzugliedernden Volksvertretung ver-
fochten und hatte sie, wie aus seiner Rede im Landtag hervor-
geht (D. Z. Nr. 45 S. 4a) in Heppenheim nur aufgegeben, weil
*) D. Z. 1848 Bd. I S. 173, Antrag in der badischen Kammer am
20. .Januar begründet.
-) Allgemeine Zeitung (A. Z.) vom 22. Januar 1848 S. 341, Deutsche
Zeitung (D. Z.) S. 173. Zu dem Wunsche auf Zuziehung der Abgeordneten
zur Tarifberatung sagt der Berichterstatter: „ein Punkt, der alle Beachtung
verdient." Wer den Bericht verfaßt hat, ist leider nicht festzustellen. Die
Volksversammlung hatte Federer berufen, um auf ihr die Wünsche seiner
Wähler entgegen zu nehmen.
600 B ergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
er daran zweifelte, der Weg zu Deutschlands Einheit könne
doch noch durch die Bundesversammlung führen. Wenn er
jetzt doch wieder den Bundestag in seine Rechnung einstellt,
so deshalb, weil er „von einem Zollverein, der stets nach wenigen
Jahren kündbar ist, und von dessen Trennung in Nord und
Süd schon mehr als einmal gesprochen worden, von einem
Zollkongreß, der über den Tarif von Zucker, Kaffee und Baum-
wolle beratet, kein allgemeines Gesetz über Presse, Strafverfahren
und Strafrecht, eine deutsche Kriegswehr, die Entscheidung über
Krieg und Frieden von ihm nicht erwarten kann, und deshalb
auch nicht die Wiedergeburt von Deutschlands politischer
Größe" (ebd.).
Diese Formulierung bedeutet nicht, wie auch Treitschke
angenommen hat, ein großdeutsches Bekenntnis gegenüber dem
kleindeutschen Programm Hansemanns und Mathys; diese
Frage war damals noch nicht in solcher Klarheit formu-
liert, auch nicht eine Absage an den Zollverein, sondern ein-
fach die Überzeugung, daß die Entwicklung auf diesem Wege,
wenn sie möglich wäre, zu langsam gehen würde, daß das
Volk mehr verlangt als ,,in den trocknen Gegenständen des
Postwesens und der Wechselordnung geschminkte Herolde einer
besseren Zeit" zu sehen. Es hat allen Grund mehr zu verlangen,
denn der Bund hat nichts getan zu seinem Schutze, nichts ge-
tan seine Wehrkraft zu stärken, ihm das nationale Ansehen zu
verschaffen, dessen es bedarf, um sich sicher zu fühlen vor
den Angriffen seiner Feinde. Mit einem deutschen Parlament
wäre kein Basler Friede, kein Rheinbund möglich gewesen,
denn die gemeinsame Volksvertretung hätte das Einheitsgefühl,
das Bewußtsein staatlicher und nationaler Verantwortung ge-
stärkt, wie es die Geschichte der amerikanischen Einheit lehrt.
Und offenbar ist ein Bund, der inmitten der kriegerischen Groß-
mächte der alten Welt seine Bestimmung erfüllen soll, in noch
höherem Grade einheitsbedürftig als dieses Amerika, das von
zahllosen Konflikten der europäischen Staatengesellschaft durch
den Ozean getrennt ist und keine oder nur schwache Nachbarn
hat. Schon im ersten Teile seiner Rede hat Bassermann die
Unhaltbarkeit und die Gefährlichkeit loser Staatsformen durch
geschichtliche Beispiele besonders aus der deutschen Vergangen-
heit nachgewiesen und es ausgesprochen: ,, Unserem Vaterlande
tut ein einheitliches Regiment, ein festerer Zusammenhalt not,
als die Bundesakte will. Sowohl zur Sicherung der Zukunft,
zum glücklicheren Überstehen einer neuen Krisis, als auch zur
Bergsträljer. Die parteipulit. Lacje b. Zusammentritt (I.Vorparlaments. 601
friedlichen inneren Entwicklung bedarf Deutschland eines mäch-
tigeren Mittelpunktes." Nur eine Weiterentwicklung, eine Reform
der Verfassung kann dieses dringende und notwendige Be-
dürfnis befriedigen, eine Reform, keine Revolution. ,,Das mo-
narchische Deutschland kann bleiben wie es ist, es braucht sich
nicht zu demokratisieren"; es will nur und muß, um bestehen
bleiben zu können, selbst die notwendigen Vorbedingungen
seiner Erhaltung schaffen. ,,Der Weltfriede steht auf zwei
Augen. An der Seine und an der Donau neigen sich die Tage."
,,Mag es auch wieder erst einer Zeit der Not zur Ausführung
der Reform bedürfen, diese Ausführung wird dann um so
sicherer und leichter geschehen, je fester die Überzeugung der
Notwendigkeit vorher begründet und je allgemeiner die Zweck-
mäßigkeit der Heilmittel unserer Übel in der Nation verbreitet
ist. Diese Überzeugung auszusprechen ist die Aufgabe der
Vertreter des A^olkes, ist ihre Pflicht."
Dieser Antrag Bassermanns, dem die liberale Mehrheit
der Kammer enthusiastisch beistimmte, gilt allgemein, weil die
Revolution so bald darauf einsetzte, als das Fanal, der Weg-
weiser derselben.
Er wird dadurch mit der folgenden Zeit verknüpft, und
der Zusammenhang nach rückwärts nicht beachtet, der doch
allein eine gerechte Würdigung erlaubt. Es war das drittemal,
daß im badischen Landtag dieser Antrag gestellt wairde; 1831
hatte es Welcker zum erstenmal getan, 1841 zum zweiten.
Das erstemal hatte die Regierung selbst jede Begründung des
Antrages zu hintertreiben versucht, ihre Vertreter und Anhänger
in der Kammer hatten die Sitzung ostentativ verlassen, die
Motion war nicht ins Protokoll aufgenommen worden. Diesmal
sprachen der Ministerpräsident und der Minister des Äußeren,
ablehnend natürlich; und sie wußten sich keinen bessern Rat,
als den Sondergeist und den Eigendünkel aufzurufen, indem
sie darauf hinwiesen, daß gerade die Kammer einen großen
Teil ihrer Rechte an ein solches deutsches Parlament abtreten
müsse, wenn ihre Wünsche sich erfüllten. Trotzdem — vom
Standpunkte des Antragstellers und seiner Freunde — ein Fort-
schritt, der auch in der Debatte anerkannt wurde. Wichtiger
noch ist die innere Verknüpfung. Und da ist vor allem hervor-
zuheben, wie ruhig und sachlich, ohne Phrasen und über-
treibendes Pathos Bassermann die Verhältnisse gezeichnet hat,
wie er in seiner Motion durchaus nichts Unerreichbares verlangt,
keinen plötzHchen Bruch mit dem Bestehenden, weder mit der
602 Bergsträßer. Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
partikularistischen, noch mit der monarchischen Entwicklung,
nicht einmal mit dem Bunde. Organische Weiterentwicklung
würden wir heute nennen, was er will. Eine deutliche Absage
an all die hastigen Dränger, die überschnellen, republikanisch
gefärbten. Hier liegt die Entwicklungslinie für die wichtigste
Partei des Jahres 1848, für die wichtigste Partei der deutschen
Einigung überhaupt, hier ist der Kern derer, die das nationale
Prinzip über alles andere stellen und am reinsten den uni-
tarischen Gedanken verkörpern wollen, deren Weg über die Erb-
kaiserlichen der Paulskirche, die Gothaer der beginnendeu, den
National verein der endenden Reaktion zu den Nationalliberalen
des werdenden Reiches führt.
Alle gemäßigten Redner unterstreichen dies, Welcker vor-
weg, der alte Vorkämpfer, den lange Jahre des Druckes, der
Schikane nicht zum Radikalen machten. Er warnt die Re-
gierung allzulange zu warten, es könnte ein plötzlicher Sturm
kommen, eine Entwicklung von unten aus dem Volke, die sie
zwänge zu dem, was sie besser freiwillig täte. ,, Zertrümmert
fast liegt das System der Reaktion, die Zeit mehr als unsere
Worte unterstützt den Antrag auf Nationalrepräsentation." Mit
der Warnung zugleich aber die Versicherung, daß ,,man es als
iieilige Pflicht erachte, wenn die große Krisis kommt, zusammen-
zutreten, sich hinzustellen als Männer, denen ihre Mitbürger
vertrauen, nicht um ungesetzlich eine Macht zu usurpieren,
aber um die freiwilligen Leistungen und die Opfer des Volkes
zu leiten, um mit Rat und Tat den Fürsten zur Seite zu stehen,
damit nicht wieder so unglückliche Beschlüsse gefaßt werden
wie früher, und um zu sorgen, daß Vertrauen erweckt und
Wort gehalten werde. So wird allerdings eine Nationalpräsen-
tation entstehen."
IT.
Schneller als all diese Redner geglaubt hatten, sollte der
Augenblick kommen, den sie warnend vorausgesehen hatten,
schneller als sie gedacht, sollten gerade diese Gemäßigten die
Aufgabe zu lösen haben, die Welcker bezeichnete, au die Seite
der Regierung zu treten, um ihr zu helfen, Ruhe und Ordnung
zu erhalten und freie Bahn zu schaffen für eine friedliche
Weiterentwicklung.
Vierzehn Tage nach dieser Kammerberatung brach die
Revolution aus; am 27. Februar war die erste große politische
Versammlung in Mannheim, und am 28. Februar schon ließen
Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments. 603
die badischen Abgeordneten Einladungen an ihre süd- und
westdeutschen Kollegen ergehen zu einer gemeinsamen Beratung
der neuen Lage.
Am 5. März fand diese Versammlung im Badischen Hof
in Heidelberg statt; da eine so kurze Zeit zwischen Einladung
und Tagung lag, waren hauptsächlich Süddeutsche erscliienen,
unter ihnen 22 Badener, an Zahl allen anderen Süddeutschen (23)
fast gleich ; aus Preußen nur 4 Rheinländer, als Vertreter Öster-
reichs der zufällig in Heidelberg anwesende Wiesner. Innerlich,
den Anschauungen nach war die Versammlung homogener.
Alle Erschieneneu waren bekannte Vorkämpfer der deutschen
Einheit und Freiheit. Innerhalb dieses Rahmens aber gab es
doch große Unterschiede, um nicht zu sagen Gegensätze. Sie
hatten sich in den kurzen Tagen zwischen Einladung und Tagung
noch verschärft, nicht verwunderlich bei der ungeheuer schnellen
Entwicklung in jenen Wochen, begreiflich besonders, da man
jetzt nicht mehr durch einen alles beherrschenden Gegensatz
gegen die Regierungen zusammengehalten wurde, sondern die
positive Arbeit, die Gestaltung anfing und über das Wie, das
nun plötzlich mit seinen Forderungen auftrat, die verschiedensten
Ansichten, Stimmungen und Gefühle sich geltend machten.
Das hatte sich schon in den badischen Landtagssitzungen jener
Tage gezeigt. Ein großer Flügel wollte viel weiter gehen, als
die um Welcker und Mathy, wollte unter den außerordentlichen
Umständen den Boden der althergebrachten Ordnung verlassen:
als eine Abordnung aus Mannheim am 1. März die Wünsche
der Bürgerschaft überbrachte, beantragte Hecker mit Unter-
stützung einiger anderer Abgeordneter, den geschäftsordnungs-
mäßigen Weg nicht einzuhalten, sondern die Wünsche direkt
an den Thron zu bringen. Nur mit einiger Mühe konnte Mathy
die menschenumlagerte Kammer dazu bringen, die notwendige
Ausschußberatung zu beschließen.
Unter den Nichtbadenern herrschte die gemäßigte Richtung
vor. Hansemann war in der direkten Absicht gekommen, Maß
und Besonnenheit zu predigen, was ihm wie Mevissen nach
den Zeitungsberichten sehr notwendig schien (Hansen, Me-
vissen II S. 175), Gagern ,,um für das monarchische Prinzip
gegen großen republikanischen Andrang einzutreten" ^). Über
den Gang der Verhandlungen selbst wissen wir leider sehr
^) Hans an Fritz Gagern. Bei H. v. Gagern, Das Leben des Generals
Friedrich von Gasfern 112 S. 641.
604 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
wenig. Sicher ist nur, daß diese Gegensätze auch zum Aus-
druck kamen. Hecker und Struve sprachen sich für eine
Umwandlung Deutschlands in eine Republik, wohl in dem,
auch noch auf Versammlungen bis Ende März festgehaltenen
Sinne aus, daß die einzelnen Staaten in einer Union mit repu-
blikanischer Spitze, ähnlich der amerikanischen, vereinigt werden
sollten. Demgegenüber machten andere Teilnehmer geltend,
daß der größte Teil des Volkes das nicht wolle, vielmehr an
der Monarchie festhalte ,und durch die Republik nur ein Riß
in die Bewegung gebracht, das Deutschland, das zu einigen
man versammelt sei, von vornherein gespalten werde. Man
wird dabei, wie es in jenen Jahren vielfach geschah, theoretisch
sich für die Republik ausgesprochen, sie aber für augen-
blicklich undurchführbar erklärt haben. Andere machten
geltend, diese Vorversammlung könne derartiges überhaupt
nicht beschließen, da nur der kleinste Teil von Deutschland
vertreten sei. Die entschiedensten, unter ihnen Hansemann, der
ja noch damals nur für eine Reform des Bundestages war, und
Gagern ^) sprachen sich offen für die konstitutionelle Monarchie
aus. Gagern erklärte, wenn Hecker und Konsorten ihre Idee
nicht aufgäben, so müsse man jetzt gleich eine reinliche Schei-
dung vollziehen. Darauf erst gab Hecker die Versicherung
ab, auch er werde sich dem Beschlüsse der Mehrheit fügen.
(Hansemann, Preußische und Deutsche Verfassungswerke S. 90.
Jürgens, Zur Geschichte des deutschen Verfassungswerkes
1848/49 I S. 24. Artikel Struve, Badische Biographien II S.332).
Auch nachdem man sich so auf ein konstitutionell-monarchisches
Programm geeinigt 2) hatte, war man über den Weg, auf dem
0 Zu Gagerns Auftreten vgl. des Versammlungsteilnehmers Häussers
Schilderung — „Die Gregenwart" Bd. III S. 458, über die Quelle das S. 610
Anm. 1 Gesagte.
*) Wenn G. Hebeisen in seiner Dissertation: Die radikale und die
konstitutionelle Partei in Baden, Freiburg 1909, S. 22 zu beweisen sucht, daß
Mathy am 5. März in Heidelberg für die Eepublik gewesen sei, so ist das
sicher nicht richtig. Einen Hinweis, wie der Widerspruch zu lösen sei, gibt
Häusser (Gegenwart UI S. 258), nach dessen Bericht auch Gagern die Re-
publik als theoretisches Ideal anerkannte, übrigens in einer typischen For-
mulierung, die zeigt, wie stark der Einfluß des klassischen Altertums auch
in diesen Dingen gewesen ist. Ähnlich mag sich Mathy geäußert haben;
aber nach seinem sonstigen Auftreten wird auch er wie Gagern die Republik
als praktische, jetzt zu erhebende Forderung abgelehnt haben. Hebeisen hält
sich überhaupt zu sehr an Worte und berücksichtigt nicht die Wandlungen
und Nuancierungen, denen sie unterworfen sind. — Hebeisen bringt zu dieser
Frage selbst Material in dem Flugblatt Welckers zur Offenburger Versamm-
Bergsträß er, Die parteipolit.Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments. t)05
es durchzusetzen sei, uoch sehr verschiedener Meinung. Eine
Minorität wollte den Bundestag bei der ganzen Aktion gleich-
sam als Luft behandeln, sich über ihn ganz hinwegsetzen, eine
sehr wenig positive Art Politik zu treiben. Eine andere Minder-
heit wollte die ganze Verfassungsfrage vertagt sehen. (Kriti-
scher Artikel der Deutschen Zeitung vom 8. März Nr. 68, wohl
wie die meisten Leitartikel von Gervinus.) Auch die Frage, ob
die Regierung zu dem Verfassungswerke überhaupt herange-
zogen werden sollte, wurde angeschnitten. Das verrät eine
Einschiebung in den ersten Beschlußsatz der Erklärung, der
lautet: ,, Einmütig entschlossen in der Hingebung für Freiheit,
Einheit, Selbständigkeit und Ehre der deutschen Nation sprachen
alle die Überzeugung aus, daß die Herstellung und Verteidigung
dieser höchsten Güter im Zusammenhange aller deutschen
Volksstämme mit ihren Regierungen, solange auf diesem
Wege Rettung noch möglich ist, erstrebt werden müsse" ^).
Über die Ausführung dieses Programmes sagen die nächsten
Sätze: ,, die Versammlung einer in llen deutschen Landen nach
der Volkszahl gewählten Natioualvertretung ist unaufschiebbar,
sowohl zur Beseitigung der nächsten inneren und äußeren Ge-
fahren, wie zur Entwicklung der Kraft und Blüte deutschen
Nationallebens. Um zur schleunigsten und möghchst voll-
ständigen Vertretung der Nation das ihrige beizutragen, haben
die Versammelten beschlossen, ihre betreffenden Regierungen
auf das dringendste anzugehen, so bald und so vollständig wie
nur immer möglich ist, das gesamte deutsche Vaterland und
die Throne mit diesem kräftigen Schutzwall zu umgeben. Zu-
gleich haben sie verabredet, dahin zu wirken, daß baldmöghchst
eine vollständige Versammlung von Männern des Vertrauens
aller deutschen Volksstämme zusammentrete, um diese wichtigste
Angelegenheit weiter zu beraten und dem Vaterlande wie den
Regierungen ihre Unterstützung anzubieten."
Zu dem Ende wurden viele Mitgheder ersucht, ,, hinsichtlich
der Wahl und der Einrichtung einer angemessenen National-
lung (H. S. 28 f.). Auch W. spricht sich darin theoretisch für die Republik
aus, die er praktisch bekämpft. Bezüglich Mathys widerspricht H. sich selbst,
wenn er S. 48 sagt, Mathy sei am 5. März wieder ganz auf die Seite der
Monarchie getreten.
^) Man wird nicht fehlgehen, wenn man diese Einschiebung als den
Ausdruck eines zwischen der radikalen und der konstitutionellen Richtung
geschlossenen Kompromisses ansieht; die Konstitutionellen geben in der
Formulierung nach und halten ihr Prinzip fest.
606 B ergsträßer , Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
Vertretung Vorschläge vorzubereiten und die Einladung zu
einer Versammlung deutscher Männer schleunig zu besorgen."
Damit war der erste Schritt getan auf dem Wege zu einem
deutschen Parlament. Aber schon in dem letzten Satze ist
enthalten, daß die Versammlung der 51 nicht nur weitere Schritte
dazu tun wollte, daß ein deutsches Parlament zusammenkomme,
sondern daß eine Vorbesprechung über die Einzelheiten der
Ausführung über das Wie stattgefunden hat.
Ein Siebenerausschuß sollte einer vollständigeren Versamm-
lung der Männer des Vertrauens Vorschläge machen auch über
die Einrichtung einer angemessenen Nationalvertretung.
Die Vorbesprechung hatte noch zu einem weiteren Ergebnis
geführt, das der Einheitsbewegung ein bestimmtes Ziel steckte,
man möchte sagen ein Mindestprogramm für die Einigung auf-
stellte: ,,Eine Hauptaufgabe der Nationalvertretung wdrd jeden-
falls die Gemeinschaftlichkeit der Verteidigung und der Ver-
tretung nach außen sein, wodurch große Geldmittel für andere
wichtige Bedürfnisse erspart werden, während zugleich die Be-
sonderheit und angemessene Selbstverwaltung der einzelnen
Länder bestehen bleibt." Wir werden nicht fehl gehen, wenn
wir auch in der eigentümlichen Fassung dieses Satzes ein
Kompromiß zwischen rechter und linker Seite der Versammlung
sehen, ein kluges Kompromiß, bei dem die Rechte scheinbar
nachgab und praktisch einen Sieg erfocht. Wir wissen aus den
Versammlungen, die die extreme Linke im März in Baden ab-
hielt, daß sie hauptsächlich mit dem Argument für eine repu-
blikanische Neuordnung focht, daß die Monarchie das Volk
finanziell ruiniere, deshalb der sonst ganz unmotivierte Zwischen-
satz. Es war eine Konzession an die Anschauung der Linken
und eine Rückendeckung für die Gemäßigten, die sagen konnten :
Auch wir sind für tunlichste Verbilligung des Staatsapparates i).
In den Siebenerausschuß waren gewählt: Willich, Advokat
aus Frankenthal in der bayrischen Pfalz, Stedtmann, Römer,
^) Für die Agitation der Kadikaien in dieser Hinsicht charakteristisch
ist eine Flugschi-ift: „Republik!" — ein Sonderdruck aus der Deutschen
Volkszeitung, Mannheim, Verlag von Heinrich Hoff 1848. Die dritte Abhand-
lung der Flugschrift heißt: Was ist wohlfeiler, die Republik oder die Monarchie?
— Der Beweis, wie ihn die Agitation erfordert, wird durch Steuerzahlen
erbracht, die für Schweizer Kantone und monarchische Länder verglichen
werden.
Wentzcke, Kritische Bibliographie der Flugschriften zur deutschen
Verfassungsfrage, führt sie als Nr. 80. Die Datierung der AUg. Bibl. ist
viel zu spät.
Bergstraße I', Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments. 607
nun bald Minister in Württemberg, Gagern, der es am Tag
nach dieser Wahl wurde, Itzstein, der Frankfurter Binding I,
der in seiner Vaterstadt die Vorbereitungen treffen sollte, und
Welcker; in ihrer Mehrzahl gemäßigten Anschauungen huldigend.
Der Ausschuß trat am 12. März zu einer Sitzung in Heidelberg
zusammen. Er beschäftigte sich mit zweierlei: Einmal mit den
Einladungen zu der vorbereitenden Versammlung. Generell
eingeladen wurden ,,alle früheren oder gegenwärtigen Stände-
mitglieder und Teilnehmer an gesetzgebenden Versammlungen
in allen deutschen Landen, natürlich Ost- und Westpreußen und
Schleswig-Holstein einbegriffen". Schleswig-Holstein wurde aus-
drücklich erwähnt, weil damals gerade Dänemark es sich ein-
verleiben wollte, Ost- und Westpreußen, weil diese Provinzen
nicht zum deutschen Bunde gehörten. Die Presse (vgl. A. Z.)
machte bald darauf aufmerksam, daß Posen in derselben Lage,
aber nicht genannt sei, worauf Welcker unterm 18. März erklärte
(Deutsche Zeitung 20. März), daß es keineswegs die Absicht
gewesen sei, die posenschen Ständemitglieder auszuschheßen,
und das um so weniger, ,,da \\ar deutlich die höchste politische
Notwendigkeit erkannten, daß Preußen mit all seinen Landen
demselben deutschen Nationalverein angehöre." Damit setzte
sich die Einheitsbewegung in bewußten Gegensatz zur dyna-
stischen Politik der Vergangenheit. Hätte man sich auf diese
Kategorie deutscher Männer allein beschränkt, so hätte man
eine Reihe gerade solcher Männer ausgeschlossen, die bisher
Träger des Gedankens einer fortschrittlichen Entwicklung ge-
wesen waren, ohne Mitglieder einer Vertretung zu sein. Es
war also durchaus konsequent im Rahmen dieses ganzen Ge-
schehens und der Absichten, die man hegte, daß man beschloß,
eine bestimmte Anzahl anderer durch das Vertrauen des deutschen
Volkes ausgezeichneter Männer, die bisher nicht Ständemitglieder
waren, besonders einzuladen. Solche Einladungen wurden auch
sofort von dem Siebenerkomitee in größerer Anzahl verschickt,
z. B. an Robert Blum (Biedermann, Mein Leben und ein Stück
Zeitgeschichte S. 278), an Heinrich Simon in Breslau (Jacoby,
Simon H S. 17), aber auch an den Ultramontanen Peter Reichens-
perger (Erinnerungen eines alten Parlamentariers S. 31). Dieser
scheint, da er auf einem gemäßigteren Boden stand, recht er-
staunt über diese Einladung gewesen zu sein, die er nur darauf
zurückführte, daß er sich durch verschiedene Schriften zur Ver-
teidigung der rheinischen Rechtsinstitutionen gegen die Angriffe
des preußischen Ministeriums, besonders Kamptz, bemerkbar
608 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b, Zusammentritt d. Vorparlaments.
gemacht hatte. Wie sehr seine Anschauung von der der Heidel-
berger abwich, zeigt uns der Umstand, daß er ihr Vorgehen
für in gewissem Sinne revohitionär erachtete, da es jeder recht-
hchen Grundlage entbehre. Einzelne der so Eingeladenen er-
hielten überdies ihrerseits eine Anzahl Blankoeinladungskarten
zu beliebiger Verwendung, so z. B. Simon, der eine davon an
seinen Freund Immermann, einen Verwandten des Dichters,
weitergab. Auch die einzelnen Ausschußmitglieder sollen der-
artige persönliche Einladungen verschickt haben, besonders Itz-
stein an eine Reihe sehr linksstehender Männer. (Jürgens.)
Daß er darin systematisch vorgegangen sei, um einer be-
stimmten Richtung die Übermacht zu sichern, ist aber nicht
erweislich^). Mit den näheren örthchen Vorbereitungen wie
der Prüfung der Legitimationen wTirden die Frankfurter Mit-
glieder betraut. Ein unvorhergesehener Zwischenfall ließ es
diesen notwendig erscheinen, über das am 12. Beschlossene
hinauszugehen. Inzwischen hatte Friedrich Wilhelm IV. den
vereinigten Landtag auf den 1. April zusammenberufen; damit
waren die preußischen Ständemitgiieder, die dieser wichtigen
Tagung in einer solchen Zeit unmögUch fernbleiben konnten,
von der Teilnahme an der Frankfurter Versammlung aus-
geschlossen. Wir sahen schon aus Welckers Erklärung, welchen
Wert man einer zahlreichen Vertretung der preußischen Ge-
bietsteile beilegte und so entschlossen sich die Frankfurter
kurz, einer Anregung Stedtmanns (Jürgens a. a. 0.) zu folgen
und sämtliche preußischen Stadtverordnetenversammlungen ein-
zuladen, Vertreter zu schicken. Die Gemeinderäte der rheini-
schen Städte traten jeweils in einem besonderen Wahlakt zu-
sammen. Man kann durchaus nicht sagen, daß durch die
Wahlen die radikale Richtung gestärkt worden wäre, denn es
kamen z. B. die konservativen Ultramontanen Adams und Lingen
aus Koblenz (Rhein- und Mosel-Ztg. 1848 März 30. Koblenz
29. März.) Inzwischen hatte die Anregung der Heidelberger
Versammlung vom 5. März überall in Deutschland lebhaften
Widerhall und begeisterte Zustimmung gefunden. Auf diesem
Wege erwartete man Rettung und Erlösung aus allen Nöten.
') Im Gegenteil ist man im allgemeinen durchaus objektiv verfahren,
indem z. B. in der Rheinprovinz auch anerkannte Ultramontane, wie General-
vikar Baudri und das Mitglied des Stadtrates Domkapitular Dr. Broix Ein-
ladungen erhalten (Rhein- und Mosel-Ztg.. Nr. vom 4. April imter Köln).
Letzterer ging auch nach Frankfurt, er steht als Schulinspektor unter den
preußischen Mitgliedern, Jucho S. XL
Bergsträßer, Die parteipolit, Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments. 6C>9
Die Gemäßigten hofften durch sie die Ruhe zu erhalten, ge-
ordnete Zustände zu schaffen; die Radikalen Erfüllung ihrer
Träume. Überall war der Aufruf vom 5. März bekannt geworden,
und da und dort schritt man. da die Beschlüsse vom 12. noch
nicht bekannt geworden waren, dazu, in Volksversammlungen
Männer des Vertrauens zu wählen, die an der Vertretung teil-
nehmen sollten. So wurde in Leipzig in einer Versammlung
am 12. März beschlossen, das ^'orparlament zu beschicken und
Professor Biedermann als Delegiener gewählt, in Göttingen
erkor eine Versammlung den Staatsrechtslehrer Professor
Zachariä. Da die Kommission selbst durchaus freihändig
und ohne bestimmte Grundsätze und Regeln aufzusteUen. ein-
zelne Männer zur Teilnahme eingeladen hatte, konnte sie solche
Delegierte, wenn sie sich nur über den Versammlungsbeschluß
auswiesen, nicht wohl zurückweisen. Et^enso wenig einige Dele-
gierte nichtpreußischer Kommunalvertretungen. Durch all das
wurde natürhch die Zusammensetzung eine wesentlich andere,
als man anfänghch gedacht hatte. Das nichtparlamentarische
Element war viel stärker, fast überwiegend. Und das ist für
den geregelten Gang der Verhandlungen durchaus nicht einerlei,
sollte gerade diesmal sich noch recht geltend machen. Falsch
ist allerdings meines Erachtens die Ansicht, die verschiedenthch
von sehr gemäßigten Teilnehmern später vertreten worden ist,
als hätten gerade diese Unregelmäßigkeiten die radikale Seite
der Versammlung gestärkt. Namen wie Zachariä und Bieder-
mann sprachen dagegen; anzimehmen ist wohl, daß auch hier
ein natürhcher Ausgleich der Kräfte stattfand.
Weit entscheidender für den schheßHchen Verlauf des Vor-
parlaments waren die Ereignisse, die sich zwischen dem 12. März
und dem Zusammentritt der Versammlung in Deutschland ab-
spielten, die Bewegung in Berhn und in Wien und ihre Rück-
wirkung auf Baden und die ganze deutsche pohtische Beweoiini:.
m.
Diese Ereignisse hatten eine doppelte Wirkung. Zunächst
war der plötzhche und so tiefe Fall der Staatsautorität von
großem Einfluß auf die Weiterbildung des revolutionär-repu-
blikanischen Gedankens innerhalb des radikalen Liberalismus.
Am stärksten war hier die Wirkimg der Berliner Ereignisse,
nicht nur weil die Demütigung des Königtums eine tiefere war
als in Wien, sondern weil sie überraschender kam. Man hatte
Z«ilsciirift ßi Politii. 6. 39
610 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
Preußen doch auch in den Reihen der Liberalen mehr Kraft
zugetraut. Dann aus einem persönhchen Gefülil heraus:
Friedrich Wilhelm IV. war viel stärker, mit viel mehr Prätension
hervorgetreten als der österreichische Kaiser. Die Märztage
hatten nicht nur irgend eine Dynastie besiegt, auch nicht nur
irgend einen Träger des reaktionären Systems — einen unter
vielen, der eben auch diesen Weg ging — , sondern gerade
den, der ihn bewußt, absichthch gegangen war, der sich mit
den Fragen der Gegenwart und Zukunft öffentlich auseinander-
gesetzt hatte. Er war erlegen. Das gab den republikanischen
Unterströmungen einen starken Anstoß. Sie hatten ja schon
lange bestanden, wohl seit der großen französischen Revolution,
aber sie waren nie zu einem wirkhchen Ausdruck gekommen,
wenigstens nicht in Deutschland und besonders nicht bei denen,
die in den einzelnen Ländern in politischen Kämpfen standen.
Nur unter den im Ausland lebenden Flüchtlingen, unter denen
besonders, die sich in der Schweiz und in Frankreich aufhielten,
hatte der Repubhkanismus gesiegt, war er so erstarkt, daß er
auch zur Maxime praktischen Handelns wurde, aus dem Zu-
stande eines Idols heraustrat. Der Zentralausschuß der deut-
schen Legion in der Schweiz unter Führung von Job. Ph. Becker
und das Oberkommando der deutschen Legion in Paris mit
Herwegh und Corvin an der Spitze rüsteten Korps aus die von
Westdeutschland her die Republik ausbreiten sollten. Sie hatten
auch Beziehungen zu den Radikalen in Baden. Aber bis zum
20. März ungefähr waren diese noch recht platonischer Natur.
Bis dahin hat sich in Baden noch kein offizieller Führer für
die RepubUk ausgesprochen. Nur der Kaufmann Fickler in
Konstanz agitierte in Wort und Schrift, in den Seeblättern, die
er seit 1830 herausgab, im Sinne der Pariser Legion. Noch
am 19. März unterlag er mit seinen An- und Absichten in
einer Beratung und Volksversammlung in Offenburg ^).
^) Das Folgende hauptsächlich nach dem Aufsatze „Baden im Frühjahr
1848" im dritten Bande der „Gegenwart" 443 ff., der wie ein Vergleich mit
Häussers Denkwürdigkeiten zur Geschichte der badischen Eevolution ergibt,
auch von Häusser verfaßt ist. Beide zeigen zahlreiche wörtliche Überein-
stimmungen nur fehlt in der Buchausgabe ein großer Teil der interessanten
Einzelheiten. Auf eine Anfrage hin hat mir inzwischen der Verlag Brock-
haus in dankenswerterweise meine Vermutung bestätigt. Dazu vgl. Bekk,
Die Bewegung in Baden, Andlaw. Aufruhr und Umsturz in Baden. Aus
Mathys Nachlaß, Deutsche und Allgemeine Zeitung; für die einzelnen Per-
sonen die Badischen Biographien, deren Artikel allerdings oft Häussers Dar-
stellung gar sehr benutzen.
Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt (I.Vorparlaments. 611
Die radikale Seite des Liberalismus verstand es sofort aus-
gezeichnet, die neuen Freiheiten und die Gunst der Zeit zur
Agitation zu benutzen. Von einem ihrer Führer, dem kalt-
doktrinären Struve ging der Plan aus, eine große Volksver-
sammlung für ganz Baden abzuhalten und eine Organisation
in Ausschüssen und Vereinen, eine Art liberales Klubsystem
zu schaffen. Ein Teil der gemäßigt liberalen Führer sah schon
hier einen republikanisch-revolutionären Pferdefuß, sprach seine
Abneigung unverhohlen aus und hielt sich fern, andere, wie
Soiron und Welcker, stimmten bei. Die Besprechung in Itz-
steins Zimmer über diesen Plan war die letzte, bei der radikale
und konstitutionelle Linke sich zusammenfanden. Der Ver-
sammlung in Offenburg (am 19. März) lagen republikanische
Gedanken noch fern. Hecker wies dahin zielende Bestrebungen
einzelner derb und leidenschaftlich zurück, Itzstein mahnte von
republikanischer Sonderbündelei ab, Fickler stand allein, er war
schon in der Vorberatung des Komitees überstimmt worden.
Die Beschlüsse der Versammlung, von Struve formuliert, gingen
noch nicht weit über das hinaus, was auch die Gemäßigten
wollten. Unter dem Titel ,,F orderungen des deutschen
Volkes" wird hier verlangt
,, Allgemeine Volksbewaffnung mit freier Wahl der
Offiziere. Ein deutsches Parlament frei gewählt durch
das Volk. Jeder Deutsche, der das 20. Lebensjahr er-
reicht, ist wahlfähig als Urwähler und wählbar zum ^^'ahl-
mann. Auf je 1000 Seelen wird ein Wahlmann, auf
100000 ein Abgeordneter gewählt. Jeder Deutsche, ohne
Rücksicht auf Rang, Stand, Vermögen und Religion kann
Mitghed des Parlamentes werden, sobald er das 2ö. Lebens-
jahr zurückgelegt hat. Das Parlament wird seinen Sitz
in Frankfurt haben und seine Geschäftsordnung selbst
entwerfen. Unbedingte Preß-, vollständige Religions-,
Gewissens- und Lehrfreiheit. Volkstümliche Rechtspflege
mit Schwurgerichten. Allgemeines deutsches Staatsbürger-
recht. Gerechte Besteuerung nach dem Einkommen, Wohl-
stand, Bildung und Unterricht für alle. Schutz und Ge-
währleistung der Arbeit. Ausgleichung des Mißverhält-
nisses von Kapital und Arbeit. Volkstümliche und bilhge
Staatsverwaltung. Verantworthchkeit aller Minister und
Staatsbeamten. Abschaffung aller Vorrechte."
Wir können in diesem Programm zunächst einen starken
soziahstischen Einschlag feststellen, der aber rein wirtschaft-
39*
612 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
liehe Momente berührend in der poUtischen Frage nach Organi-
sation des Staates noch keine bestimmte Meinung zu bedingen
brauchte und damals auch nicht bedang. Wiederkehrende
Forderungen der letzten Jahre und die Mannheimer Begehre,
verschärft nur die nach Volksbewaffnung durch den Zusatz,
daß die Offiziere frei gewählt werden sollten. Die Forderungen
betreffend ein deutsches Parlament sind durchaus nicht radikal.
Das aktive Wahlrecht fällt mit der Mündigkeit für Baden zu-
sammen, das passive mit der oberen Altersgrenze der Mündig-
keit in Deutschland überhaupt. Interessant ist das Festhalten
an der indirekten Wahl und die Größe der Wahlkreise.
Die badischen Angelegenheiten betreffend, verlangte man
Demission des Kriegsministers, Beseitigung einiger anderer
mißliebiger Personen und eine Reinigung der Kammer von den
Mitgliedern, die nicht mehr das Vertrauen des Volkes hätten.
Im Prinzip sprach man sich für ein Einkammersystem aus,
da die erste ja nur auf Privilegien beruhe, deren Abschaffung
jetzt nötig sei. Da man auch in den bisherigen Zugeständ-
nissen der Regierung keine Garantie für die Zukunft sehe,
müsse sich das Volk Bürgschaft für die Verwirklichung seiner
Forderungen und für Begründung eines dauerhaften Zustandes
der Freiheit selbst schaffen, und zu diesem Zwecke Vereine
bilden, die nach Bezirken und Kreisen organisiert werden
sollten und an deren Spitze man Mitglieder der radikalen
Partei sofort wählen ließ. In dieser Maßnahme lag die Be-
deutung der Versammlung 1). Die Radikalen verstanden es,
sich eine feste Anhängerschaft zu organisieren, was die Ge-
mäßigten verabsäumten. Diese Anhängerschaft konnte später
zu extremeren Beschlüssen und Handlungen hingerissen werden,
so gut wie zu diesen. Denn es lag in der Natur der noch in
den Anfängen stehenden politischen Bewegung, daß die Masse
des Volkes in politischen Dingen noch durchaus unselbständig
und urteilslos war.
Daß die Haltung der Radikalen auf dieser Versamrnlung
nicht eine zufällig gemäßigte, sondern bis daliin ihre Über-
zeugung war, zeigt allein der Umstand, daß z. B. Heckers
Stellungnahme in der Kammer bis zum 20. März noch genau
die alte blieb. Er sprach sich noch anerkennend über die
Regierung aus, lehnte jede Einmischung von außen, jede
Verbindung mit den schweizerischen und französischen Re-
*) Von Häusser richtig hervorgehoben.
Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments. 613
volutionären ab. In der Woche zwischen dem 20. und
26. März erst liegt die Entwicklung zu einer wirklich
offen und energisch republikanischen Partei. Zu
öffentlichem Ausdruck kam sie auf den Volksversammlungen,
die in Freiburg und in Heidelberg am Sonntag dem 26. März
abgehalten wurden. Beide waren (vgl. Allgemeine Zeitung 1315
und 1427, die Berichte der Allgemeinen Zeitung sind meist
von dem konservativen, aber nicht extremen Bruder des Seekreis-
Fickler, G3'-mnasialdirektor Karl Alois Fickler vgl. Badische
Biographien I S. 248) schon am 19. von den Veranstaltern
der Offenburger Versammlung geplant worden. In Heidelberg
waren die Veranstalter der Mannheimer Verlagsbuchhändler
Hoff, bei dem vom selben Tage an die Deutsche Volkszeitung
erschien, die Hecker und Struve in Verbindung mit anderen
Radikalen herausgaben (Anzeige in Nr. 89 der D. Z.) und einige
andere Radikale; in Freiburg hatte Struve die Leitung, neben
ihm der radikale Neffe des alten Rotteck. An beiden Orten
(Berichte der D. Z. S. 702, 706, 721, 731, A. Z. 1411, 1426 für
Freiburg noch Andlaw, Aufruhr und Umsturz in Baden I 126)
forderten die Veranstalter die Anwesenden auf, sich für eine
deutsche Föderativrepublick (oder Gesamtrepublik) zu erklären
und setzten hinzu, diese Erklärung der anwesenden Männer solle
dem Ende des Monats zusammentretenden Parlament in Frank-
furt (d. h. dem Vorparlament) als maßgebend für die hiesige
Gegend vorgelegt werden. Beide Male war das Arrangement sehr
geschickt, man hatte nicht, wie sonst übhch, ein Programm
der zu fassenden Beschlüsse herausgegeben, hatte auch die
Vorberatung im engen Kreise der sicher Zustimmenden gehalten.
Das versammelte Volk sollte mit dem Antrage auf Föderativ-
republik überrascht werden. In Freiburg gelang es; einer kleinen
Gegenpartei wurde das Wort abgeschnitten. In Heidelberg aber
waren Welcker, Mittermaier und andere bekannte Volksredner
gegen die Republik aufgetreten und hatten die Ablehnung
erreicht. Welcker hatte gesagt, er fürchte sich nach der Be-
willigung der Volksforderungen nicht vor der Reaktion, die die
Republikaner an die Wand malten, wohl aber vor der, die
unvermeidlich eintreten müsse, wenn die deutsche Bewegung
sich überstürze wie die französische Revolution, die in Dikta-
turen, Despotismus und Restauration umgeschlagen sei. Die
Versammlungsleiter zogen die erste Resolution, „daß die un-
ermeßhche Mehrheit des deutschen Volkes die Föderativrepublik
wolle, und daß die Nationalversammlung diese Staatsform an-
614 Bergsträßer. Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorpariaments.
nehmen möge", zurück zugunsten des viel milderen, geradezu
nichtssagenden ,,Die Versammlung glaubt, daß bei der Aus-
arbeitung der künftigen Verfassung Deutschlands die nord-
amerikanische Verfassung einige Berücksichtigung verdiene."
Eine weniger gemäßigte mittlere Fassung hatte die Versamm-
lung abgelehnt, dieser scheint man nur ihrer gänzlichen Harm-
losigkeit wegen zugestimmt zu haben, nachdem die überwiegende
Mehrzahl ihre Abneigung gegen die Republik deutlich genug
kundgetan hatte. —
Dieses Vorgehen der Radikalen in den zwei Versamm-
lungen vom 26. März ist ein durchaus überlegtes gewesen, der
erste Teil eines großen und durchaus konsequenten Planes.
Der Plan selbst hieß : Republik für Gesamtdeutschland, d. h. die
deutschen Einzelstaaten sollen in einen Bund mit einem Prä-
sidenten an der Spitze zusammengefaßt werden, der Präsident
selbst ist in seinen Handlungen abhängig vom Parlament^).
Durchsetzen wollte man diesen Plan auf der Tagung des Vor-
parlaments. Dieses sollte die Regierungsgewalt usurpieren,
indem es sich als die Vertretung des Volkes in Permanenz
konstituierte, bis die Wahlen für eine verfassunggebende National-
versammlung stattgefunden hätten. Diese Wahlen, meinte man,
würden schon so radikal ausfallen, daß man weiterarbeiten
könnte. Der Gedanke, derartige Phantasien in die Wirklich-
keit umsetzen zu können, der Mut, sie öffentlich auszusprechen,
konnte erst mit dem tiefen Falle des Königtums in Berlin
überhaupt aufkommen. Die Wandlung wurde am deutlichsten
bei Hecker, er war seiner ganzen Natur nach lebhaft, nervös,
phantastisch und ohne festen Halt, ohne Sinn für Realitäten —
und so mußte er am ersten der Stimmung des Augenbhcks
ganz unterliegen. Schon am 25. hat er in der Karlsruher
^) Hebeisen sagt S. 33 seiner Arbeit: „Auch die Republikaner waren
in zwei Lager geteilt, da die einen nur eine deutsche Republik, die anderen
aber einen Bund von deutschen Republiken vertraten." Das ist in dieser
Fassung nicht richtig. Die Radikalen wollten alle erst nur die Föderativ-
republik. Die Forderung, auch in den Bundesstaaten die bestehenden Regie-
rungen durch republikanische zu ersetzen, taucht erstmalig in dem Antrag
auf, den Struve dem Vorparlament überreicht (Verhandlungen des Deutschen
Parlaments, herausgegeben von Jucho, S. 5 ff.). Die Differenzierung des
Radikalismus liegt später als H. sie ansetzt, sie liegt im Frankfurter Parla-
ment und tritt da parteibildend erst nach den Beratungen über die provi-
sorische Zentralgewalt hervor. Vgl. Wilhelm Zimmermann, Die deutsche
Revolution, Bd. IV der ersten Auflage von J. G. H. Wirths Geschichte der
deutschen Staaten, Karlsruhe 1848, S. 641 ff.
Ber^sträßer, Die parteipolit. Laj^e b. Zusammentritt d. Vorparlaments. 615
Kammer, bei Gelegenheit der Beratung des Bassermannschen
Antrages, oder vielmehr des Welckerschen Berichtes zu dem-
selben, seine Pläne ausgesprochen. Die Frankfurter Versamm-
lung solle sich sofort als konstituierende Versammlung erklären,
Deutschland bedarf sofort eines Sammelpunktes — das hieß
Permanenz und Usurpierung der Regierungsgewalt (D. Z. 701).
Auf die Frankfurter Versammlung hatte man alle Hoff-
nungen gesetzt. Hecker selbst hat später auf den Vorwurf,
warum er nicht schon in Offenburg oder Freiburg losgeschlagen
liahe, geantwortet: (Hecker, Die Erhebung des Volkes in Baden
für die Repubhk) ,,daß die republikanischen Leiter der festen
Zuversicht lebten, in Frankfurt die Permanenz der großen Ver-
sammlung durchzusetzen und damit die Sache der Republik
auf jenem großen Felde für ganz Deutschland zu entscheiden."
Aus diesem Grund auch war den Führern ihre Niederlage in
Heidelberg doppelt unangenehm. Man hatte den Beschluß in
Frankfurt verwenden, mit ihm Eindruck machen wollen. In der
Not half man sich damit, daß man in der Mannheimer Partei-
zeitung die Sache so hinstellte, als sei die Änderung nur eine
formelle und die Mehrheit der Versammlung eigentlich repu-
bhkanisch gewesen ^). Darmstädter Teihiehmer an der Versamm-
lung haben in der Deutschen Zeitung gegen diese Verschleierung
energisch Protest erhoben. Mag sein, daß man gerade durch
diese Heidelberger Niederlage bedenklich wurde, ob denn in
Frankfurt eine Mehrheit für die Republik vorhanden sei oder
gewonnen werden könne. Sicher ist, daß die Republikaner in
diesen letzten Tagen vor der Notabeinversammlung noch einen
neuen und sehr unparlamentarischen Weg einschlugen, sich
den Erfolg in Frankfurt zu sichern.
^) Es geschah dies in einem der Nr. 14 des „Deutschen Zuschauers"
beigegebenen Flugblatt, das auf der einen Seite einen Bericht über die
Heidelberger, auf der anderen einen über die Freibm-ger Versammlung ent-
hielt. Im Bericht über Freibung lautet der betr. Beschluß: „Das deutsche
Volk verlangt daher vor allen Dingen, daß das deutsche Parlament: I. Die
von demselben zu entwerfende neue Verfassung Deutschlands auf den (Grund-
lagen der föderativen Republik (des repuldikanischen Bundesstaats) fest-
stelle " In dem Bericht über Heidelberg lautet die betreffende Stelle:
„daß .... ein .... freigewähltes Parlament: I. Die .... Verfassung auf den
allerfreiesten Grundlagen ohne zweckwidrige Rücksicht auf die bestehenden
Verhältnisse feststelle Die Mehrheit der Heidelberger Versammlung ist
überzeugt, daß das deutsche Volk für die uordamerikanische Verfassung reif
ist und sie wünscht." Diese Fassung widerspricht durchaus dem glaubhaft
von der anderen Seite angegebenen Verlauf. Das Flugblatt hal)e ich aus
dem Nachlaß von Ludwig Häusser im Original benutzt.
616 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
Wir haben schon erwähnt, wie die Radikalen in Offenburg
eine Organisation über das ganze Land hin beschlossen. Die
Macht dieser Organisation wurde noch gestärkt durch ein in
den letzten Tagen des März angenommenes Gesetz über Volks-
bewaffnung und Bürgerwehr, das Hecker, der den Entwurf der
Regierung umzuarbeiten hatte, den republikanischen Organi-
sationen auf den Leib zuschnitt.
Auch von außen kam Unterstützung in derselben Richtung.
Die deutsche Legion in Frankreich, und besonders die in der
Schweiz, hatte mit badischen Oppositionellen Verbindung an-
geknüpft. Ihre Pläne gingen ausgesprochen auf eine Repu-
bhk. Sie waren noch weit extremer als selbst Hecker bis zur
Tagung des Vorparlaments. Sie waren sich von vornherein
klar darüber, daß ,,nur durch eine blutige Revolution die deutsche
Republik erlangt werden könne". (Brief von Joh. Ph. Becker
an Mathy, Nachlaß S. 151. Becker war Präsident des Zentral-
ausschusses der deutschen Legion aus der Schweiz.) Ihre
gänzliche Unkenntnis deutscher Verkältnisse geht schon allein
daraus hervor, daß Becker gerade an den gemäßigten Mathy
um Beihilfe für seine revolutionären Bestrebungen schrieb.
Bei anderen aber, bei Struve, Hecker und ihren Gesinnungs-
genossen, fand er Verständnis. Er konnte einige hundert
Bewaffnete in Aussicht stellen. So reifte in den Republikanern
allmählich der Gedanke, das Vorparlament durch äußeren Druck,
durch eine starke Konzentration von Freischärlern einzu-
schüchtern und der republikanischen Idee dienstbar zu machen.
Man glaubte es nicht einmal nötig zu haben, diese Absicht
zu verheimlichen; schon in der Heidelberger Versammlung waren
Drohungen in dieser Hinsicht gefallen (D. Z.). Kein Wunder,
wenn gemäßigte Männer den Frankfurter Tagen mit Bangen
entgegen sahen, wenn aufgeregte und aufregende Nachrichten
auch in andere deutsche Landesteile drangen, wenn man eine
Spaltung zwischen Nord und Süd oder eine Herrschaft der
roten Elemente, ein unentwirrbares Chaos in naher Zukunft sah
(Brief Wiesners an Biedermann, B.s Bemerkung „unterm 16.
erhalten" ist wohl falsch, denn es ist deutlich auf die Heidel-
berger Versammlung vom 26. angespielt. Biedermann, Mein
Leben II S. 278).
In Wien und in Berlin waren die Throne ins Wanken ge-
raten; würden sie in Frankfurt umgestoßen werden? das war
die bange Frage aller Gemäßigten, war der heiße Wunsch aller
Radikalen. Eine tiefe Aufregung hatte nach all den sich über-
Berpsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments. H17
Stürzenden Ereignissen die Bevölkerung Badens und ganz Süd-
deutschlands ergriffen, das öffentliche Leben, das so plötzlich
und gleich so stark einsetzte, trieb das Blut schneller durch
die Adern, wie ein Fieberwahn erscheint uns die Gemütsver-
fassung der breiten Massen. Wir, die wir durch die Steigerung
des Verkehrs an das kaleidoskopartige Wechseln der Eindrücke
gewöhnt sind, können uns kaum einen Begriff davon machen,
wie überladen, überhitzt und überreizt die Phantasie der Mit-
lebenden in jenem ersten Monat der Bewegung sein mußte.
Nur so verstehen wir, wie sich Hecker und sein Anhang in
die fixe Idee verrennen konnten, daß ihr Ziel der Republik
auch nur die mindeste Aussicht auf Erfolg haben könne.
IV.
Noch in einer anderen Hinsicht hatten die Ereignisse in
Berlin eine auf die Lösung der nationalen Fragen hemmende
Wirkung. Das Problem der deutschen Einheit .schloß in sich
die Aufgabe, eine Zentralgewalt zu schaffen, die Träger und
ausführendes Organ der Einheitskräfte werden konnte. Theo-
retisch gab es drei Wege der Lösung. Vorherrschaft Öster-
reichs, preußische Spitze, Wechsel des Präsidiums nach einer
bestimmten Reihe von Jahren in einem festen Turnus. Bei
der letzten Lösung war es möglich, auch die kleineren Staaten
oder wenigstens einige von ihnen zu beteiligen. Jede dieser
drei Lösungen hatte natürliche Anhänger. Die preußische alle
Preußen und einige norddeutsche, die österreichische alle Oster-
reicher und einige süddeutsche Kleinstaaten, dann die katho-
lische Partei und alle die, die eine Stärkung der Zentralgewalt
nicht gern gesehen hätten und hofften, wenn man das öster-
reichische Kaisertum wieder errichte, werde es an dem natür-
lichen Antagonismus zugrunde gehen oder zur Unwirksamkeit
verdammt bleiben wie das alte Deutsche Reich. Die Idee, die
Kleinstaaten auch zu beteihgen, hatte ihre natürlichen Anhänger
in den größeren derselben, in Bayern, Baden, Hannover. Wer-
bende Kraft hatten diese beiden Ideen nicht, ihnen hing niemand
an, der nicht durch Herkunft, Verknüpfung mit einem dieser
etwaigen Machtträger, oder durch Sonderinteressen an sie ge-
bunden war. Werbende Kraft hatte allein die dritte Möglichkeit
gezeigt, die preußische Spitze. Pfizer, Friedrich Gagern (vgl.
Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat) hatten sie als die
einzig mögliche erwiesen, letzterer fast gegen seine innerste
Herzensempfindung. Sie hatte ihre werbende Kraft gestärkt
618 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
dadurch, daß der einzige Schritt zur Einheit, den Deutschland
vor 1848 getan hatte, der Zollverein, von Preußen ausging.
All denen, die eine Weiterentwicklung der deutschen Verhältnisse
im Anschluß an den Zollverein gewollt hatten, hatte, mehr oder
minder klar, die preußische Führung vorgeschwebt. Österreich
hatte statt werbender Kräfte nur negative, abstoßende gezeigt,
denn es war doch letzten Endes an der ganzen Schmach der
Bundestagszeit schuld, wurde auch dafür verantwortlich ge-
macht. Überdies hatte, vor 1848, Preußen es noch jederzeit
in der Hand, die Stimmung für sich zu stärken, Österreich
auch gefühlsmäßige Werte zu rauben, moralische Eroberungen
zu machen. Viele waren nur deshalb nicht für die preußische
Spitze, weil sich in ihnen die Einheitsfrage aufs engste mit
der Freiheitsfrage verband und Preußen in dieser Hinsicht
berechtigte Wünsche zu erfüllen allzulauge gezögert hatte ^).
Selbst die Freunde der preußischen Spitze hatten, aus einer
bestimmten Art der eifernden Liebe heraus, oft gerade in erster
Linie auf den Staat und auf den König gescholten, der für sie
doch der gewollte Träger alles Fortschrittes war, der scheltende
Gervinus der Deutschen Zeitung ist der Typus dieser Richtung.
Alle, die ihr anhingen, hatten mit der beginnenden Freiheits-
bewegung gehofft und ersehnt, daß nun Preußen die Stunde
wahrnehmen und die Vorbedingung erfüllen werde, um an die
Spitze zu treten, um all die Kräfte zu leiten, die jetzt über
Nacht frei geworden waren. (Hansemann, Fallati, D. Z.) Bitterste
Enttäuschung statt dessen. Die Stunde wurde verpaßt, niemand
zögerte länger als Preußen, man gab sich einen Schein be-
sonderer Kraft, und wie als wenn man durch Hochmut den
Fall herausgefordert hätte, kam er nun gerade in Berlin am
schrecklichsten, am kränkendsten, beschämendsten, und unter
Begleitumständen, die die Gefühle der großen Masse des Volkes
aufs tiefste erregen und gegen die Träger der Staatsgewalt
erbittern mußten.
Noch am 16. März schrieb Fallati, Professor in Tübingen,
und schon immer durchaus überzeugt von der Notwendigkeit der
preußischen Hegemonie, an einen der rheinischen liberalen Führer,
an Mevissen (Hansen H S. 343), indem er eine Tübinger Petition
übersandte: ,,Aber voran, voran in Preußen, wir harren sehn-
liehst darauf!" Und genau 10 Tage später, nachdem die Ereig-
^) Ein Beispiel bietet Platen vgl.: Renck, Platens polit. Denken. Breslau
1910, besonders S. 92.
Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt tl. Vorparlaments. 619
nisse in Berlin durch ganz Süddeutschland bekannt geworden
sind: ,,Nuu, da der König von Preußen sich wirklich als Leiter
von Deutschland aufgeworfen hat, bin ich in Besorgnis, wohin das
führen wird, nachdem es so geschehen, wie es geschehen ist. Um
es rund heraus zu sagen, ich fürchte, daß nach der Nacht vom
18. zum 19. eine Hegemonie Preußens unter Friedrich Wilhelm IV.
unmöglich ist. Allerdings haben die Berliner dem König schon
wieder entgegengejubelt, aber wird das halten? Was wird man
im übrigen Lande zu dieser Harlekinade auf blutgetränktem
Boden sagen? Und wenn er an Deutschlands Spitze treten will,
muß auch das übrige Deutschland ein Wort dabei haben. Und
dieses Wort fängt an laut zu werden, daß man den blutigen
Komödianten nicht an der Spitze von Deutschland sehen
wolle" ^). ,, Blutigen Komödianten", in diesem schneidend scharfen
Wort liegt die ganze Stimmung. Die einen waren erbittert auf
den König, der auf die Freiheitsfreunde hatte schießen lassen,
und die anderen darüber, daß er jetzt, gerade jetzt es wagte,
wo er erniedrigt war, die Führerschaft in der deutschen
Frage zu markieren. Es ist tragisch wie die Deutsche
Zeitung selbst, deren ganzes Ideal die preußische Spitze ist,
den augenblicklichen Träger der Krone aufgibt, wie sie alle
Macht der Logik und der Sachlichkeit aufbieten und beschwören
muß, doch den König, das Vergängliche nicht mit dem Staate
zu verwechseln, der Dauer habe und dessen Macht bestehe
trotz dieses Königs. Preußens König ist tot für die deutsche
Sache. Wäre das Patent des Königs eher erschienen, wäre
nicht Bürgerblut geflossen, und hätte der Thron nicht gewankt,
dann war mit ihm der große Tag erschienen, ,,der Tag, auf
den man Jahrzehnte lang gewartet hatte". „Mit Jauchzen
hätte sich ganz Deutschland um dieses Programm geschart,
sich scharen dürfen und müssen. Jetzt ist es zu Boden gefallen,
seine Züge verblaßt und verwischt (674 a)." Das Verhältnis
Preußens zu Deutschland ist durch das Blutbad vom 18. März
so gut wie zerstört. Die Wirksamkeit für Preußens Häuptlings-
schaft in Deutschland ist jetzt eine ungemein schwierige und
wahrscheinhch fruchtlose geworden (27. März 689). Nm* ein
Ausweg schien ihr möghch! Der König mußte abdanken, um
seinem Staate die Vorherrschaft zu erhalten. Die Zeitung ver-
hehlte sich das Bedenkliche ihres Vorschlages, der die Regierung
eines Minderjährigen, denn auch der Prinz von Preußen galt
>) ebda. S. 352.
620 Bergsträßer, Die parteipolit. Lage b. Zusammentritt d. Vorparlaments.
ihr als unmöglich, involvierte, nicht; gerade für die unruhigen
Zeiten nicht, denen man entgegenging. Resigniert fand sie
keinen anderen Ausweg; ging es so mit den treuesten An-
hängern, so wundern wir uns nicht, wenn man anderswo dem
Haß gegen den preußischen König offen Ausdruck gab. In
München wurde sein Bild auf offener Straße dem Scheiterhaufen
übergeben, und auch in Württemberg, wo doch in manchen
Kreisen durch den Zollverein preußische Sympathien gewesen
waren, blieb jetzt nur erbitterte Wut. Am 26. März hatte auch
Württemberg seine große Volksversammlung in Göppingen.
Da wurde eine Adresse an die Wiener und die Berliner vorgelesen,
ihnen Dank zu sagen für ihren Heldenmut im Kampfe für
die Freiheit. Der Redner hielt bei der Stelle, die von Preußens
König handelte, inne, er kam auf die alten Sünden des dortigen
Systems zurück, er erzählte von der Revolution und von den
Szenen, die jetzt dort vorgingen und richtete nun an die Ver-
sammelten die Frage, ob sie den König als deutschen König
anerkennen könne. Ein tausendstimmiges Nein erscholl. — So
der Bericht der Deutschen Zeitung (Nr. 90 Beilage S. 2). Die
gleiche Stimmung kam in der letzten Sitzung der Württem-
bergischen Kammer deutlich zum Ausdruck (A. Z. 1426, D. Z.
Nr. 91 Beilage S. 2). Allgemeiner Unwille als des Königs
Aspirationen erwähnt wurden.
* *
*
So war die Lage beim Zusammentritt des Vorpar-
laments eine denkbar ungünstige; die Parteien hatten
sich, wesentlich durch die Märzereignisse, stark radikalisiert ;
wo dies bei den Gemäßigten nicht der Fall war, so hatten
sie sich wenigstens von der klaren Erkenntnis des Zieles einer
deutschen Einheit durch die Ereignisse abdrängen lassen. Von
der preußischen Spitze war nicht mehr die Rede. Die Radikalen
haben weder auf dem Vorparlament, noch in der Nationalver-
sammlung gesiegt; aber die Gemäßigten brauchten doch fast
ein Jahr, bis sie endlich die Oberhand hatten und bis sie sich
selbst wieder zu ihrem eigenthchen Programm zurückfanden
— und da war es zu spät.
Man muß diese ungünstige parteipolitische Lage
zu Beginn der Revolution sich durchaus klar machen,
wenn man die Frankfurter Nationalversammlung
richtig beurteilen will.
X.
Einzelstaat und Provinz
Eine staatsrechtliche und politische Betrachtung
Von Dr. Otto Koellreutter
Die Tatsache, daß wir heute in Deutschland in einem aus
einer Anzahl einzelner Staaten zusammengesetzten Reiche leben,
hat der deutschen Staatsrechtswissenschaft der letzten Jahr-
zehnte mancherlei Probleme gestellt. Erwuchs ihr doch mit
der Gründung des Deutschen Reiches die Aufgabe, die Zentral-
gewalt des neuen Bundes, sowie die den einzelnen Mitgliedern
des Bundes verbliebene Gewalt und das Verhältnis der einzel-
staatlichen Gewalten zur Zentralgewalt und zueinander rechtlich
zu erfassen und dadurch zu einer juristischen Konstruktion des
neuen Staatengebildes zu gelangen.
Wenn man nun auch sagen kann, daß im Laufe der letzten
Jahrzehnte wenigstens eine Klärung der einzelnen Ansichten,
in den wichtigsten Punkten sogar eine Übereinstimmung über
diese Fragen in der Wissenschaft erzielt worden ist, so sind
doch die in der Existenz des Bundesstaats als solchem liegenden
Probleme keineswegs verschwunden. Die Rechtsbildung steht
ja nie stille, sondern befindet sich in stetem Flusse und unter-
wirft so auch das geltende Verfassungsrecht beständigen Ände-
rungen. Ihr Maß und ihre Art, sowie die dadurch zutage
tretenden politischen Kräfteverschiebungen erschließen sich
nun aber durch ein bloßes Studium der Verfassungsurkunde
und der sonstigen Verfassungsgesetze nicht. Sehr treffend
drückt dies Bornhak i) mit folgenden Worten aus: „Von dem
geltenden Verfassungsrechte wird der schwerlich eine richtige
Vorstellung bekommen, der es etwa nur aus dem Texte der
Reichsverfassung kennen lernen wollte. Wir befinden uns im
lebendigen Flusse einer Entwicklung, die die Reichsverfassung
*) Bornhak: Wandlungen der Reichsverfassung, ArchOeffR., Bd. 26,
1910, S. 373 ff. auf S. 375.
622 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
ZU etwas ganz anderem macht, als sie ursprünglich sein wollte."
Diese Tatsache der Umwandlung der Verfassung, die in Eng-
land schon lange ein festes und wichtiges Kapitel der Staats-
rechtslehre bildet^), wird neuerdings auch in Deutschland mit
steigendem Interesse verfolgt und jedenfalls allgemein zugegeben.
Ich verweise außer dem eben zitierten Aufsatz von Bornhak
nur auf die Arbeiten und Aufsätze von HaeneP), Laband^),
Rehm*), v. Böckmann s) und vor allem auf die feine Studie
von Triepel*').
Bei dem Studium dieser Tatsachen drängt sich natürlich
zunächst die Frage auf, welcher Art denn nun die Regeln sind,
durch welche sich diese Änderungen und Kräfteverschiebungen
ausdrücken. Darüber herrscht nun noch keineswegs Überein-
stimmung. Z. B. bezeichnet sie Bornhak als Gewohnheitsrecht
und sagt von ihm: ,,Wie das Efeu um die Mauer, schlingt es sich
um das Gesetzesrecht, gibt ihm teilweise ein anderes Aussehen,
ja zersetzt es schließlich, so daß das lebendige geltende Recht
aus dem toten Buchstaben der Paragraphen nicht wieder zu
erkennen ist^)." Ganz ähnlich charakterisiert Hatschek das
tatsächliche Wirken dieser Regeln. Er bezeichnet sie als
,, Normen, welche gewissermaßen unter der Decke der Rechts-
ordnung, insbesondere unter der des öffentlichen Rechts, sich
ausbilden, sie teils ergänzend, teils auf ihren Untergang lauernd,
um sich, wo der Widerstand schwach geworden, rücksichtslos
^) Vgl. dafür vor allem die grundlegenden Erörterungen von Dicey,
Introduction to the study of the law of the Constitution, 7. ed., 1908, Part. 3,
S. 413 ff. Dazu Hatschek, Engl. Staatsrecht, Tübingen, 1905, Bd. 1, besonders
S. 546, Anrn. 1. Gegen Hatschek die Ki-itik Schusters in der Law Quar-
terly Review, Bd. 21, S. 311 ff. Trotz der zum Teil verfehlten Ausführungen
Hatscheks gebührt ihm sicher das Verdienst, auf die so eminent wichtige
Tatsache des Bestehens der „Konventialregeln" als einer der ersten hingewiesen
zu haben.
^) Haenel: Die organisatorische Entwickkmg der deutschen Reichs-
verfassung (Studien zum deutschen Staatsrecht, H, 1), Leipzig, 1880.
') Lab and: Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, Dresden,
1895 ; Die geschichtliche Entwicklung der Reichsverfassung seit der Reichs-
gründung, JahrbOeffR., 1907, S. 1 ff.
*) Rehm: Unitarismus und Föderalismus in der deutschen Reichsver-
fassung, Dresden, 1899.
^) V. Böckmann: Die Geltung der Reichsverfassung in den deutschen
Kolonien, Karlsruhe, 1912, S, 16 ff.
^) Triepel: Dnitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche,
Tübingen, 1907.
') Bornhak: a. a. 0. S. 374.
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 623
an ihre Stelle zu setzen i)." Aber ihm sind diese Regeln keine
Reehtsregeln, sondern sie bilden für Hatschek nur ein Vor-
stadium des Rechts, sie sind sogenannte „Konventionairegeln".
Zu der Lösung der interessanten Frage über den Charakter
dieser Normen kann und soll hier nichts beigetragen werden.
Sie rührt an die Lehre von den Rechtsquellen und überschreitet
den Rahmen dieser Abhandlung 2). Hier soll nur an einem be-
sonderen Problem des deutschen Staatsrechts dem Wirken dieser
Kräfteverschiebungen nachgegangen und festgestellt werden,
welche Wirkung sie auf diesem Gebiete ausgeübt haben und
noch ausüben.
Die Natur eines zusammengesetzten Staates bringt es ja
vor allem mit sich, daß die an seiner Zusammensetzung interes-
sierten politischen Kräfte besonders markant als solche uni-
tarischer und föderalistischer Tendenz zueinander in Gegensatz
treten, je nachdem eine Stärkung der Zentralgewalt oder die
der einzelstaatlichen Gewalten von ihnen als das erstrebens-
wertere Ziel betrachtet wird. So hat besonders Triepel in
seiner oben erwähnten Studie diese treibenden politischen Kräfte
analysiert und ist durch diese, wie er sie selbst nennt, ,, dyna-
mische Betrachtungsweise" ^) den Änderungen in den staats-
rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Einzelstaaten nach-
gegangen. Er hat auch nachzuweisen gesucht, daß mindestens
zurzeit eine Tendenz zur Stärkung der unitarischen Elemente
in der Reichsverfassung nachweisbar ist. Ahnliches bietet
Lab and in seinem schon erwähnten Aufsatze über die ge-
schichtliche Entwicklung der Reichsverfassung. Hat uns der
Altmeister der heutigen deutschen Staatsrechtswissenschaft das
dogmatische Rüstzeug geschmiedet für die rechtliche Erfassung
und Gestaltung der durch die Reichsgründung geschaffenen
^) Hatschek: Konventionalregeln oder über die Grenzen der natur-
wissenschaftlichen Begriffsbildung im öffentlichen Eecht, JahrbOeffE. Bd. 3,
1909, S. 1 ff. auf S. 4.
*) Von besonderem Interesse ist die verschiedene Betrachtungsweise
dieser Probleme in zwei kürzlich erschienenen bedeutenden Schriften. Ich
meine einerseits Kelsens „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre", Tübingen,
1911, der die Rechtswissenschaft zu einer rein normativen Disziplin stempelt
und das Recht vollkommen von der Wirklichkeit losgelöst betrachtet. Auf
dem entgegengesetzten Standpunkte steht dagegen Walter Jellinek, der in
seiner Schrift „Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung",
Tübingen, 1913, Wirklichkeit und Rechtssatz als ebenbürtige Eechtsquellen
bezeichnet (vgl. S. 13 ff. u. S. 178 ff.).
') Triepel: a. a. 0. S. 23.
624 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
Verhältnisse, so entwirft er uns in diesem Aufsatze ebenfalls
auf Grund einer dynamischen Betrachtungsweise ein Bild von
den Kräfteverschiebungen zwischen Einzelstaaten und Reich
und von ihren Wirkungen. Triepel wie Lab and zeigen uns
also hauptsächlich die Verschiebungen in dem Kräfteverhältnis
der dem Reich eingegliederten Einzelstaaten zum Reiche selbst.
Und von welcher Wichtigkeit die richtige Beurteilung dieser
Verschiebungen ist, erhellt ohne weiteres. Denn von einer
richtigen Ausgestaltung dieser Verhältnisse hängt eine stetige
und sichere Weiterentwicklung unseres Verfassungslebens ganz
wesentlich ab.
Aber man kann diesen Satz noch erweitern. Nicht nur eine
gesunde Regelung des Verhältnisses von Einzelstaaten und Reich,
sondern die richtige Einordnung aller politischen Gemeinwesen
innerhalb eines staatlichen Gebildes überhaupt erscheint für ihre
normale organische Entwicklung von ausschlaggebender Bedeu-
tung. Und schon deshalb werden Verschiebungen in den Beziehun-
gen der übergeordneten Gemeinwesen zueinander eine notwendige
Rückwirkung auf ihr Verhältnis zu den ihnen eingegliederten
niedereren politischen Gemeinwesen zeitigen müssen. Zeigt eine
dynamische Betrachtung, daß das Verhältnis der Einzelstaaten
zum Reich sich im Laufe der letzten Jahrzehnte verschoben
hat, daß das Kräfteverhältnis beider ein anderes geworden ist,
so muß diese Tatsache auch für die ganze Struktur des Staats-
organismus innerhalb des Reiches von Bedeutung sein. So weisen
denn auch die neusten Betrachtungen über die Wandlungen der
Reichsverfassung, vor allem die von Bornhak, Triepel und
Lab and alle darauf hin, daß die Reichsgewalt eine entschiedene
Stärkung erfahren habe. Bei einer Machtverschiebung zwischen
zwei Gewalten muß aber notwendigerweise der eine Teil der Leid-
tragende sein. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Die
Stärkung der Reichsgewalt hatte deshalb zur notwendigen Konse-
quenz eine Schwächung der einzelstaatlichen Gewalten. Triepel^)
hat treffend darauf hingewiesen, daß dieser Kampf zwischen
Zentralgewalt und einzelstaatlicher Gewalt etwas dem Bundesstaate
als Mischform inhärentes sei, daß er also im Wesen der Sache not-
wendig begründet liege. Wenn das aber so ist, so kann man sich
nicht darauf beschränken, die Tatsache dieses Kampfes einfach
zu registrieren, sondern man muß all seinen Wirkungen im ein-
zelnen nachgehen. Wird nämlich die Stellung der Einzelstaaten
') a. a. 0. S. 9/10.
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 625
im Reich durch die vordringende uuitarische Bewegung
notwendig geschwächt, so hat dies an und für sich schon eine
Veränderung in der Position der Einzelstaaten zur Folge. Denn
notwendigerweise muß der Einzelstaat, der an Macht dem Reiche
gegenüber eingebüßt hat, zu den politischen Verbänden, die
sich außer ihm innerhalb des Reiches finden, und die ihn oft
an Größe, Bevölkerungszahl und Steuerkraft weit überragen,
in einem andern Verhältnisse stehen, als dies früher der Fall
war. Ist also die Position der Einzelstaaten geschwächt, so
wird es immer schwieriger, eine feste Grenze zwischen ihnen
und den anderen politischen Gemeinwesen im Reiche zu ziehen.
Und so lautet die Frage, die wir stellen: Was scheidet den
zur pohtischen Einflußlosigkeit verurteilten Einzelstaat noch
begrifflich von den größeren Kommunalverbänden, was trennt
heute noch Einzelstaat und Provinz?
Wenn diese Frage bisher überhaupt nicht oder nur neben-
bei aufgeworfen worden war, so hatte dies seinen guten Grund.
Denn als die deutsche Staatsrechtswissenschaft nach der Grün-
dung des Reiches es mit Recht als eine ihrer vornehmsten
Aufgaben betrachtete, die Gewinnung scharfer Begriffe zu er-
streben, mit denen man die Flut der neuen Erscheinungen
meistern konnte, da wurde auch allerseits eine feste begriffliche
Grenzziehung zwischen Staat und Kommunalverband als un-
erläßlich erachtet und mit den verschiedensten Mitteln versucht.
Und diese begriffliche Grenzziehung erschien um so nötiger,
als die herrschende Ansicht ^) den Souveränitätsbegriff als Essen
tiale des Staatsbegriffes aufgegeben hatte und dadurch um so
mehr gezwungen war, nach einem rechtHchen Begriffsmerkmal zu
suchen, das den Unterschied zwischen Staat und Kommunal-
verband bilden konnte.
Die Haupttheorien dieser Unterscheidung sind ja Gemein-
gut der deutschen Staatsrechtswissenschaft geworden. So haben
Brie 2) und Rosin^) den Zweck eines Gemeinwesens als Rechts-
begriff erklärt und in der Verschiedenheit der Zwecke von
Staat und Kommunalverband das Unterscheidungsmerkmal zu
finden geglaubt. Zweck eines Kommunalverbandes sei die Be-
friedigung lokaler Bedürfnisse, Zweck des Staates die Befriedi-
^) Statt aller vgl. La band, Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl.,
1911, 1. Bd. S. 72 ff.
-) Brie: Theorie der Staatenverbindungen, Breslau, 1886, S. 4.
^) Eosin: Souverän etat, Staat, Gemeinde, Selbstverwaltung, in Hirths
Annalen, 1883, S. 265 ff. auf S. 302.
Zeitschrift für Politik. 6. 4Q
626 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
gung nationaler Bedürfnisse. Im allgemeinen ist dieses Unter
Scheidungsmerkmal in der Wissenschaft nicht akzeptiert worden.
Man hat darauf hingewiesen, daß die Zwecke großer Kommunal-
verbände, wie z. B. der preußischen Provinzen und der Mittel-
staaten zum großen Teile identische seien und erklärt, es sei
nicht einzusehen, welche nationalen Zwecke z. B. ein Staat wie
Reuß ä. L. im Gegensatz zur Rheinprovinz verfolge.
Wieder andere haben deshalb nach einem neuen Begriffs-
merkmal gesucht und als solches das staatliche ,, Herrschaf ts-
recht" herausgehoben. Das Wesen dieses staatlichen Herr-
schaftsrechtes findet Laband^) ,,in der rechtlichen Macht der
Obrigkeit über den Untertan, in der rechtlich anerkannten
Gewalt über ihn, kraft deren derselbe gezwungen wird, dem
an ihn ergangenen Befehl zu gehorchen." Nur der Staat hat
nach Lab and dieses Herrschaftsrecht, das er als Zwangsrecht
konstruiert. Die Kommunalverbäude hätten keine eigenen und
selbständigen Herrschaftsrechte, sondern nur vom Staate über-
tragene. Gegen diese Formulierung Labands ist nun von
Rosin u. a. mit Recht Widerspruch erhoben worden. Rosin
gibt dabei zu, daß die Herrschaftsrechte der Kommunalver-
bände nicht originäre seien, behauptet aber, dies schließe nicht
aus, daß sie trotzdem als ihre eigenen Rechte zu gelten hätten.
Denn jedes Recht sei für sein Subjekt eigenes Recht, und
deshalb unterliege es keinem Zweifel, daß der Kommunalverband
alle Rechte, deren Subjekt er sei, als eigene übe. Es könnten
also auch dem Kommunalverbande als solchem eigene Herr-
schaftsrechte 2) zustehen. Dieser Ansicht Rosins hat sich z. B. auch
Georg Meyer- Anschütz ^) angeschlossen. Jellinek^) hebt seiner-
seits besonders den originären Charakter der Herrschaftsgewalt
als spezifische Eigenschaft der Staatsgewalt heraus. So erklärt
er: „Wo daher Herrschergewalt bei einem dem Staate ein-
gegliederten Verbände oder einem Individuum zu finden ist,
da stammt sie aus der Staatsgewalt, ist, selbst wenn sie zum
eigenen Rechte des Verbandes geworden ist, nicht ursprüngliche,
sondern abgeleitete Gewalt^)." Sachlich dasselbe wie Jellinek
meinen Haenel*'), welcher von der den Einzelstaaten verbliebenen
*) Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., 1911, Bd. 1, S. 69.
') Rosin: a. a. 0. S. 277 ff.
*) Meyer-Anschütz: Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 6. Aufl.,
1905, S. 7/8.
*) Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1905, S. 413 ff.
*) Jellinek: a. a. 0. S. 416.
*) Haenel: Deutsches Staatsrecht, Bd. 1, 1892, S. 803.
Koellreutter. Einzelstaat und Provinz. 627
„Landeshoheit" spricht und Meyer-Anschütz'), der auf die
besonderen Befugnisse der Staaten, poH tische Aufgaben selb-
ständig, d. li. durch eigene Gesetze zu regeln, abhebt. Stets
handelt es sich hierbei um die nähere Erfassung der originären
Staatsgewalt der Einzelstaaten, die sie bei ihrem Eintritt in
das Reich besaßen und noch heute besitzen, soweit nicht die
Kompetenz des Reiches dieselbe beschränkt hat.
Den Inhalt dieser originären Staatsgewalt hat man dann
des näheren zu fixieren gesucht. Zusammenfassend bezeichnet
Jellinek als die speziellen Eigenschaften der originären Staats-
gewalt die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Autonomie
d. h. wie er sich ausdrückt, die Fähigkeit, eigene Gesetze zu
haben und ihnen gemäß und innerhalb ihrer Schranken zu
handeln 2). Sachlich im ganzen übereinstimmend betrachtet
Rosenberg ^) die Gebietshoheit, die Personalhoheit und die
Autonomie in Verfassungsangelegenheiten als den begrifflichen
Inhalt der Staatsgewalt. Er fügt dann noch das für den be-
grifflichen Unterschied des Staates vom Kommunalverband
zunächst nicht in Betracht kommende Merkmal der völkerrecht-
lichen Persönhchkeit des Staates hinzu. Ausschlaggebend bleibt
dabei immer der Gesichtspunkt, daß diese Staatsgewalt sowohl
bei souveränen wie bei nichtsouveränen Staaten eine originäre
ist, also nicht ihrerseits durch eine staatliche Rechtsordnung
verliehen wurde.
Nur einen Teil dieser originären Gewalt, nämlich die Gebiets-
hoheit, -wäll Preuß*) als das Unterscheidungsmerkmal ,, zwischen
den deutschen Gemeinden jeder Ordnung einerseits und den
deutschen Gliedstaaten andererseits" gelten lassen. Unter Ge-
bietshoheit versteht er dabei ,,die rechthche Fähigkeit einer
Gebietskörperschaft, sich selbst wesenthch zu verändern" s).
') a. a. 0. S. 10.
*) Jellinek: a. a. 0. S. 475 ff.
') Rosenberg: Staat. Souveränität und Bundesstaat, Hirths Annaleu.
1905, S. 276 ff. auf S. 279 ff.
*) Preuß: Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin,
1889, S. 403 ff.
*) a. a. 0. S. 406. Neuerdings hat Preuß in seinem anregenden Auf-
satze „Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität" in der Festgabe für
Laband, Tübingen, 1908. n. Bd., S. 198 ff. das Problem des begrifflichen
Unterschiedes von Staat imd Gemeinde für unlösbar erklärt (S. 244). Er
verwirft es, unter „der Firma Staat" (S. 234) gewisse Gemeinwesen heraus-
zugreifen imd ihnen besondere Herrschaftsrechte zuzuweisen. Diese Heraus-
hebung bedeutet ihm nur die ungelöste Dissonanz heterogener Organisations-
40*
628 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
Sieht man also von der Zwecktheorie Bries und Rosins
ab, so sehen wir, daß sowohl die Vertreter der organischen
wie die der anorganischen Schule im Staatsrecht eine irgendwie
ausgestaltete Gewalt zu dem unterscheidenden Charakteristikum
zwischen Einzelstaat und Kommunalverband stempeln. Mag
man nun diese besondere Gewalt ,, Herrschergewalt" nennen, me
La band, oder ,, Landeshoheit", wie Haenel, mag man die
Gebietshoheit, wie Preuß, oder die Fähigkeit zur Selbst-
organisation und zur Autonomie, wie Jellinek, als das spezifi-
sche Charakteristikum des Staates bezeichnen, die Tatsache
bleibt bestehen, daß der Einzelstaat ein irgendwie ausgestaltetes
Machtzentrum besitzen muß, das ihm im Gegensatz zum
Kommunalverband eigentümlich ist.
Nun soll hinsichtlieh des rechtlichen Charakters dieses
Unterscheidungsmerkmals keine neue Theorie aufgestellt werden,
deren praktischer Wert ja auch recht problematisch wäre.
Sondern es soll hier nur versucht werden, auf induktivem Wege
zu einer Klärung der oben aufgeworfenen Frage beizutragen
und festzustellen, welche Wirkung denn nun eigentlich die all-
seitig zugegebexie Kräfteverschiebung zwischen Reich und Einzel-
staaten auf das Verhältnis der letzteren zu den großen Kom-
munalverbänden gehabt hat. Welche Aufgaben haben die
Einzelstaaten und diese Kommunalverbände heute und welche
Schlüsse lassen sich aus der Art dieser Aufgaben auf die weitere
Entwicklung beider Kategorien ziehen?
Um die aufgeworfenen Fragen zu lösen, wollen wir nun
einen deutschen Mittelstaat und den größten Kommunalverband
innerhalb der Reichsgrenzen, nämlich eine preußische Provinz,
miteinander vergleichen und dabei feststellen, welchen Aufgabeu-
kreis beide haben, inwieweit sich diese decken, und inwiefern
die beiden verschiedene Zwecke verfolgen. Als konkrete Ver-
gleichsobjekte wähle ich dabei das Großherzogtum Baden und
die Rheinprovinz, wobei die letztere mit einem Flächeninlialt
von beinahe 27000 Quadratkilometern und 77-2 Millionen Ein-
wohnern an Größe und Volkszahl weit das Großherzogtum Baden
mit seinen 15000 Quadratkilometern und seiner Bevölkerungs-
zahl von etwas über 2 Millionen überragt.
Betrachten wir demnach zunächst den Wirkungskreis der
Rheinprovinz. Seine Festlegung ist erfolgt in der Provinzial-
ordnung vom 29. Juni 1875, die in der Rheinprovinz durch
die Provinzialordnung für die Rheinprovinz vom 1. Juni 1887
eingeführt wurde. Danach umfasst der Wirkungskreis der
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 629
Provinz sowohl die Selbstgesetzgebung, wie die eigentliche
Selbstverwaltung ^).
Was zunächst die Selbstgesetzgebung der Provinz betrifft,
so kommt dafür in Betracht der § 8 der Provinzialordnung,
der in seinen wesentlichen Bestimmungen lautet: ,,Der Provinzial-
verband ist befugt: 1. zum Erlasse besonderer statutarischer
Anordnungen über solche, seine Verfassung betreffenden An-
gelegenheiten, hinsichtlich deren das Gesetz auf statutarische
Regelung verweist oder keine ausdrücklichen Vorschriften ent-
hält. Das Statut darf den bestehenden Gesetzen nicht wider-
sprechen ; 2. zum Erlasse von Reglements über besondere Ein-
richtungen des Pro vinzial Verbandes." Entscheidend für den
Unterschied zwischen Statuten und Reglements im Sinne der
Provinzialordnung ist also der Gegenstand der Anordnung.
Handelt es sich um Ersatz und Ergänzung gesetzlicher Be-
stimmungen, so liegt ein Statut, handelt es sich um die
Regelung besonderer Einrichtungen der Provinz, so liegt ein
Reglement vor. Der Unterschied ist von großer praktischer
Bedeutung. Statutarische Anordnungen bedürfen nämhch stets
der landesherrlichen Genehmigung-), während Reglements prin-
zipiell keiner Bestätigung von Aufsichts wegen bedürfen, soweit
eine Bestätigung bestimmter Arten von Reglements durch den
zuständigen Minister nicht gesetzlich vorgeschrieben ist^). Die
Zahl und Bedeutung der durch den rheinischen Provinzial-
verband erlassenen statutarischen Bestimmungen ist nun ver-
hältnismäßig recht gering. Ein BHck in das offizielle Hand-
buch für die rheinische Provinzialverwaltung^) belehrt uns, daß
nur zwei Statuten ergangen sind, die zusammen sechs Para-
graphen umfassen. Sie betreffen Bestimmungen über die Zahl
der Mitglieder des Provinzialausschusses und ihrer Stellvertreter,
über die Zahl und Art der dem Landeshauptmann zugeordneten
oberen Beamten und über das Recht des Provinzialausschusses
zur Veräußerung gewisser Grundstücke ohne vorhergegangenen
Beschluß des Provinziallandtages. Die Zahl der Reglements,
die zur Regelung der Zentralverwaltung und der Verwaltung
Prinzipien", nämlich des „obrigkeitlichen" gegenüber dem ,. genossenschaft-
lichen" (S. 230 u. S. 244/45).
') Über diese Begriffe vgl. Rosin: a. a. U. S. 305 ff.
-) ProvOrd. § 119 Z. 1.
=*) ProvOrd. § 120.
*) Handbuch für die Rheinische Provinzialverwaltung, 7. Aufl., Düssel-
dorf, 1913.
630 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
der Provinzialanstalten ergangen sind, ist allerdings größer.
Dazu tritt dann noch die gutachtliche Tätigkeit der Provinzial-
verbände bei Gesetzentwürfen und sonstigen Gegenständen,
welche ihnen zu diesem Zweck von der Staatsregierung über-
wiesen werden 1). Eine Verpflichtung der Staatsregierung zur
Vorlage derartiger Sachen an die Provinzialverbände besteht
aber nicht. Im großen und ganzen kann man also sagen, daß
das Gebiet der Selbstgesetzgebung des Provinzialverbandes sehr
eng gesteckt ist.
Anders steht es mit der eigenthchen Selbstverwaltung des
Provinzialverbandes . Der Wirkungskreis der Pro vinzialgemeinden
umfaßt nämlich teils solche Aufgaben, zu deren Ausführung sie
gesetzlich verpflichtet sind, teils solche, die sie freiwillig über-
nehmen können. Wie sich Bornhak 2) ausdrückt, ,, handelt es
sich bei der Kommunalverwaltung der Provinz um einen nicht
geschlossenen Kreis von Aufgaben der kommunalen Wohlfahrts-
pflege".
Der Provinzialverband kann also zunächst prinzipiell stets
neue Angelegenheiten als im Interesse der Provinz liegend zum
Gegenstaude der Provinzialverwaltung machen und die dafür
erforderlichen Ausgaben beschließen, darf aber dabei weder in
das Gebiet der allgemeinen Landesverwaltung, noch in das
Interessengebiet der Kreise und Einzelgemeinden übergreifen.
In der Wahrung dieser Grenzen liegt das Aufsichtsrecht des
Staates begründet. Außerdem bedarf die finanziell zu
drückende Übernahme freiwilliger Aufgaben durch die Pro-
vinzialverbände einer besonderen Genehmigung^).
Aber abgesehen hiervon ist vor allem der durch die Gesetz-
gebung den Provinzialverbänden ausdrücklich überwiesene Wir-
kungskreis außerordentlich groß. Wollen wir nun einen Ein-
blick dahin gewinnen, auf welchen Gebieten eigentlich die
Verwaltungstätigkeit der Provinzialverwaltung am intensivsten
und stärksten entwickelt ist, so gibt uns ihr Etat darüber den
besten Aufschluß. Aus den Zifl'ern dieser Etats ergibt sich,
daß folgende Verwaltungszweige als die wichtigsten der Pro-
vinzialverwaltung angesprochen werden können: die Straßen-
verwaltung, das Landarmenwesen, die sogenannte erweiterte
Armenpflege, die Fürsorgeerziehung und die Sorge für die
Provinzial- und Heilanstalten und für ähnliche Anstalten.
•) ProvOrd. § 34 I.
^) Bornhak: Preußisches Staatsrecht, 2. Aufl.. 2. Bd., S. 376.
*) Vgl. § 33 des Kreis- und Provinzialabgabengesetzes vom 23. April 1906.
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 631
Was nun zAinächst die Straßenverwaltung angeht, so wurde
die Verwaltung und Unterhaltung der Staatsstraßen durch § l-S
des Ausführungsgesetzes zum Dotationsgesetz vom 8. Juli 1875
den Provinzialverbändeu übertragen. Zugleich ging auch das
Eigentum an ihnen auf die Provinzialverbände über. Die
von der Provinz so übernommenen Straßen heißen Provinzial-
straßen und ihre Verwaltung bildet den wichtigsten Teil der
Provinzialverwaltung. Provinzialbeamte sind auch das Heer
der in der Zentral- und Lokalverwaltung der Provinz be-
schäftigten technischen Beamten von den Landesbauräten bis
hinab zu den Straßen Wärtern. Auf dem Gebiet der Straßen -
Verwaltung tritt also der Provinzialverband vollständig an die
Stelle des Staates.
Ebenso untersteht dem Provinzialverband das gesamte Land-
armenwesen. § 5 des Unterstützungs -Wohnsitzgesetzes in der
Fassung vom 3. Mai 1908 regelt bekanntlich die Pflicht der
Landarmenverbände zur öffentlichen Unterstützung der soge-
nannten Landarmen, d. h. der Armen, deren Unterstützung nicht
endgültig einem Ortsarmenverbande zur Last fällt. Es ist den
Bundesstaaten dabei überlassen, entweder selbst die Funktion
eines Landarmenverbandes zu übernehmen oder innerhalb ihres
Gebietes räumlich abgegrenzte Landarmenverbände einzurichten.
Durch Verordnung vom 2. Oktober 1871 wurde nun die Rhein-
provinz als solche zum Landarmenverband gemacht und ihr
damit die Pflicht zur Unterstützung der Landarmen auferlegt.
Damit erschöpft sich aber die Tätigkeit des Provinzial-
verbandes auf dem Gebiet des Armenwesens nicht. § 31 des
Preußischen Ausführungsgesetzes zum Unterstützungs -Wohn-
sitzgesetz vom 8. März 1891 bezeichnet es weiter als ihre gesetz-
liche Pflicht, für Bewahrung, Kur und Pflege der hilfsbedürf-
tigen Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen und
Blinden, soweit dieselben der Anstaltpflege bedürfen, in ge-
eigneten Anstalten Fürsorge zu treffen. Es ist also damit
dieser Teil der Armenlast ausschließlich den Landarmenver-
bänden übertragen, allerdings vorbehaltlich eines teilweisen
Kostenersatzes durch die Ortsarmenverbände. Und zur Be-
wältigung dieser sogenannten erweiterten Armenpflege ist auch
die Errichtung, Verwaltung und Unterhaltung der dazu er-
forderlichen Anstalten Sache der Provinzialverbände.
Ähnhch ist die Regelung hinsichtlich der Fürsorgeerziehung.
Die gesamte Ausführung der Fürsorgeerziehung hegt nach den
§§ 9 und 14 des preußischen Gesetzes vom 2. Juli 1900 „über die
632 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
Fürsorgeerziehung Minderjähriger" den Provinzialverbänden ob.
Sie entscheiden, in welcher Weise der Zöghng untergebracht
werden soll. Ebenso trägt, abgesehen von den Überführungs-
kosten, die Provinz die sämtlichen Kosten der Fürsorgeerziehung,
erhält allerdings aus der Staatskasse dazu einen Zuschuß in
Höhe von zwei Drittel der notwendigen Kosten^).
Welche Rolle nun die angeführten Verwaltungszweige in
der Pro vinzial Verwaltung spielen, ergibt ein Blick in den Etat
der Rheinprovinz. Im Voranschlag 1912/13 in der Gesamthöhe
der Ausgaben von 19110000 M. waren vorgesehen für:
1. die Straßenverwaltung 7444214 M.
2. das Landarmenwesen ....... 1753311 ,,
3. die erweiterte Armenpflege 1300000 ,,
4. die Fürsorgeerziehung 1034000 ,,
5. die Provinzial- und Heilanstalten und
Ahnliches (Taubstummenwesen, Blinden-
wesen, Hebammenwesen) 1336040 ,,
zusammen 12 867 565 M.
Wir sehen daraus, daß die oben erwähnten Verwaltungs-
zweige weitaus das Gros der Aufgaben der Provinzialverwaltung
ausmachen.
Wie stellen sich nun demgegenüber die Aufgaben eines
Mittelstaates? Wie erledigt dieser die Aufgaben, die den Pro-
vinzen übertragen sind, und wie charakterisiert sich im Ver-
hältnis zu diesen Aufgaben der sonstige Wirkungskreis des-
selben? Wenn wir dafür die Verhältnisse in Baden zum Ver-
gleich heranziehen, so können wir zunächst prinzipiell die Fest-
stellung treffen, daß die Aufgaben, welche die preußische Provinz
als eigene erledigt, und die Bornhak als ,, Auf gaben der kom-
munalen Wohlfahrtspflege" kennzeichnet, in Baden durchaus
nicht alle durch Kommunalverbände erledigt werden. Sondern
es findet in Baden hinsichtlich dieser Aufgaben eine Teilung
statt. Sie werden entweder vollständig durch die Kommunal-
verbände erledigt oder sie gehören teils zum Aufgabenkreis der
Staatsverwaltung, teils zu dem der Kommunalverwaltung oder
schließlich sie fallen einzig und allein in das Gebiet der Staats-
verwaltung.
Die badischen größten Kommunalverbände^), welche für die
Erledigung derartiger Aufgaben in Betracht kommen, sind die
') § 15 d. G.
0 Die Größe der badischen Kreise schwankt an Flächeninhalt von
2183 qkm (Freiburg) bis 463 qkm (Mannheim) und an Einwohnerzahl von
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 633
Kreisverbände, deren Zahl sich auf 11 beläuft. Sie sind rein
als Kommunalverbände organisiert und besitzen analog den
preußischen Provinzen als Organe die Kreisversammlung und
den Kreisausschuß. Dazu tritt fioch der Kreishauptmann, der
als Vertreter der Staatsregierung in der Kreisverwaltung fungiert.
Wie die Provinzialverbände, so dürfen auch die Kreisverbände
prinzipiell alle Interessen und Einrichtungen des Kreises in
ihren Verwaltungsbereich ziehen. Wird dadurch aber ein be-
sonderer Kostenaufwand nötig, so dürfen derartige Einrich-
tungen und Anstalten nur dann beschlossen werden, wenn ein
Gesetz hierzu die Ermächtigung gibt^).
Die wichtigsten obligatorischen Verwaltungsaufgaben, die
den Kreis verbänden in Baden überwiesen sind, sind die Be-
sorgung des Landarmenwesens und des Kreisstraßenwesens.
Ausschließlich Sache der Kreisverbände ist vor allem die
Verwaltung des Landarmenwesens, da die Kreisverbände in
Baden als Landarmenverbände fungieren^). Damit ist aber auch
die gesetzliche Verpflichtung der Kreisverbände auf dem Gebiet
der Armenverwaltung erschöpft. Eine Überwälzung der so-
genannten erweiterten Armenpflege auf die Landarmenverbände
hat in Baden nicht stattgefunden. Deshalb ist auch die Ein-
richtung und Verwaltung der für die Pflege solcher Kranken
erforderlichen Anstalten in Baden prinzipiell Sache des Staates.
Einer Teilung der Verwaltungstätigkeit unterhegt in Baden
das Gebiet der Straßenverwaltung. Den größten und wichtigsten
Teil derselben, nämlich das ganze Landstraßen wesen, hat der
Staat in eigener Verwaltung behalten, während die in dem
Straßengesetz als Kreisstraßen aufgeführten oder später dem
Kreisstraßenverband zugewiesenen Straßen der Verwaltung der
Kreisverbände unterliegen"^).
Alleiniger Gegenstand der staatlichen Verwaltung ist schließ-
lich in Baden die Fürsorgeerziehung oder, wie der Ausdruck
dort lautet, die Zwangserziehung. Für die Zwangserziehung
ist in Baden sowohl antrags- wie vollzugsberechtigt die niedere
Verwaltungsbehörde, das Bezirksamt. Dem Staate fallen aber
auch die Kosten der Zwangserziehung zur Last, abgesehen von
rund 445000 Einwohnern (Karlsruhe) bis rund 82000 Einwohnern (Villingen).
(Vgl. Hof- und Staatshandbuch des Großherzogtums Baden, 1913, S. 285.)
') § 25 d. Ct. vom 5. Oktober 1863, „die Organisation der inneren Ver-
waltung" betreffend,
^) G. vom 14. März 1872 § 1 Abs. 1.
') Straßengesetz vom 14. Juni 1884 §§ 1 ff.
634 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
den Überführungskosten, der ersten Ausstattung des Zwangs-
zöglings und einem Drittel der Verpflegungskosten, die von dem
unterstützungspflichtigen Armenverband zu bestreiten sind ^).
So erscheinen also als die Hauptgebiete der Kreisverwaltung
in Baden das Landarmenwesen und die Kreisstraßenverwaltung.
Nach dem Voranschlag des Kreisverbandes Freiburg i. Br. für
das Jahr 1910 entfielen denn auch von der Gesamtsumme aller
Ausgaben des Kreisverbandes in Höhe von 694302 M. 140000 M.
auf den Landarmenverband und ca. 275000 M. auf die Kreis-
straßenverwaltung.
Wie sich nun aus dieser Gegenüberstellung ergibt, nimmt
die Rheinprovinz hinsichtlich ihres eigenen Wirkungskreises
auf dem Gebiet der Selbstverwaltung eine Mittelstellung zwischen
dem Staat Baden und den badischen Kreisverbänden ein. Die
ganze Straßenverwaltuug, die Sorge für das Heil- und Pflege-
wesen und für die Fürsorgeerziehung gehören in Preußen zum
Wirkungskreis der Provinz, während sie in Baden ganz oder
überwiegend Teile der Staatsverwaltung sind. Und einen wie
großen Teil der inneren Staatsverwaltung Badens gerade diese
Verwaltungszweige ausmachen, das zeigt ein Blick in den Etat
des Ministeriums des Lmern. Der Gesamtetat dieses Ministe-
riums für das Jahr 1910/11 behef sich auf 241/2 Mill. M. Zieht
man nun von diesem Betrag die in den Etat eingestellten
Summen für die genannten Verwaltungszweige ab, so verringert
sich der Gesamtetat um einen Betrag von über 10 Mill. M.
auf etwa die Hälfte der jetzigen Höhe. Das Ministerium des
Innern bliebe dann de facto nur noch beschränkt auf die
Aufgaben der allgemeinen Landesverwaltung und der Polizei.
Denn auf diese Aufgaben entfällt der Rest des Etats.
So erstreckt sich in Baden die Staatsverwaltung als solche
auf einen Kreis von Geschäften, die in Preußen von den Pro-
vinzen besorgt werden. Preußen hat also den Kreis der
Tätigkeit seiner größten Kommunalverbände bedeutend weiter
gezogen, wie Baden. Diese Tatsache findet nun aber ihre
natürliche Erklärung, sobald man sich die besondere Stellung,
die ein Mittelstaat wie Baden im Gegensatz zu dem Groß-
staat Preußen innerhalb des Reiches einnimmt, klarmacht.
Denn an und für sich wäre auch in Baden eine Übertragung
all dieser Verwaltuugszweige auf die Kommunalverbände sehr
') Gesetz, betreffend die Zwangserziehung, in der Fassung vom 26. Au-
gust 1900, §§ 3, 6, 9.
Koellreutter . Einzelstaat und Provinz. 635
wohl möglich. Allerdings müßte Baden, wenn es den Kreis
der Aufgaben seiner großen Kommunalverbände erweitern wollte,
auch ihre Größe und Leistungsfähigkeit auf eine breitere
Basis stellen. Und es ist tatsächlich schon die Frage ventihert
worden, die bestehenden 11 Kreisverbände in Baden zu größeren
zusammenzufassen und etwa aus den jetzt bestehenden vier
Bezirken der Landeskommissäre große Kommunalverbände, die
dann im Durchschnitt eine halbe Million Einwohner zählen
würden, zu bilden^). Daß solche Kommunalverbände bei der
entsprechenden Dotation durch den Staat imstande wären, außer
ihren heutigen Aufgaben auch noch alle jetzt den preußischen
Provinzen obliegenden Aufgaben ihrerseits als eigene zu er-
füllen, kann wohl füglich nicht bezweifelt werden. Aber dann
wäre die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob gerade bei
der Stellung Badens zum Reiche eine solche ,,Mediatisierung"
des Ministeriums des Innern nicht eine bedenkliche Schwächung
der badischen Staatsgewalt als solcher bedeuten würde. Man
vergegenwärtige sich doch nur die Stellung eines Mittelstaates
wie Baden in dieser Hinsicht. Von oben drückt auf ihn das
Reich. Die Kompetenz des Reiches auf dem Gebiet der Gesetz-
gebung dehnt sich ständig aus und auch in den den Einzel-
staaten verbliebenen Wirkungskreis vermag es vermittelst seiner
Kompetenz-Kompetenz einzugreifen. Neue Gebiete wachsen dem
Einzelstaat nicht mehr zu, er hat höchstens die weitere Ein-
schränkung der ihm verbliebenen zu erwarten. Gerade also
dem Reich gegenüber hat Baden als Einzelstaat und damit als
natürlicher Vertreter des Föderalismus nichts zu gewinnen,
sondern nur zu verlieren. Und so muß es eben haushalten
mit dem, was ihm verblieben ist. Ein Großstaat wie Preußen
kann ruhig in seinen Provinzen derartig große Kommunal-
verbände schaffen, daß sie sich auf dem Gebiet der Ver-
waltung wie Mittelstaaten im Gebiete eines Großstaates aus-
nehmen, und daß ihre Zentralverwaltung ein kleines Mini-
sterium des Innern für sich bildet. Für einen Mittelstaat wie
Baden dagegen würde eine ähnliche Dezentralisation immer-
hin ein Experiment bedeuten, welches das an und für sich
nicht mehr sehr große eigene Tätigkeitsfeld desselben noch
mehr einschränken würde. Wie mau sich also auch zu der
') Die jetzt bestehenden vier Bezirke der Landeskommissäre haben
folgende Einwohnerzahlen: Konstanz 325924, Freiburg .564:580, Karlsruhe
610784, Mannheim 641545 (Hof- und Staatshandbuch des (iroßherzogtums
Baden, 1913, S. 284).
636 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
Selbstverwaltung als solcher stellen mag, vom Standpunkt des
Mittelstaates aus könnte man einer Begrenzung des eigenen
Wirkungskreises der ihm eingeghederten Selbstverwaltungs-
körper insoweit das Wort reden, daß die einzelstaatliche Staats-
gewalt in der Lage bleibt, ihre Stellung nach oben wie nach
unten zu wahren und nicht die Gefahr laufen kann, zwischen
einer stets wachsenden Machtausdehnung des Reiches und der
eigenen Kommunalverbände erdrückt zu werden.
So sind es also reine Zweckmäßigkeitserwägungen, welche
die Verwaltung der angeführten Verwaltungszweige bald Staats-
organen, bald Organen der Kommunalverbände übertragen.
Und deshalb ist auch die Brie -Rosin sehe Zwecktheorie nicht
haltbar. Denn nicht nur leistet die Rheinprovinz für nationale
Zwecke, für die ganze Entwicklung der deutschen Nation un-
endlich mehr, als irgendeiner der deutschen Zwergstaaten,
sondern diese, ihr überlasseuen Verwaltungszw^eige und Wohl-
fahrtsaufgaben, werden in einem Mittelstaate wie Baden nicht
als kommunale, sondern als staatliche behandelt. Eine Grenze
zwischen kommunalen und staatlichen Kultur- und Wohlfahrts-
aufgaben läßt sich eben nicht ziehen. Es sind politische Zweck-
mäßigkeitserwägungen, die dieselben Verwaltungszweige bald
dem Staat, bald den Kommunen zur Erledigung zuweisen i).
Trifft das für die Verwaltung zu, so erhebt sich jetzt die
Frage, wie es hinsichtlich der Gesetzgebung steht. Und auf
diesem Gebiet ist allerdings der Unterschied zwischen Provinz
und Mittelstaat bedeutend größer. Wir haben gesehen, daß
sich die Selbstgesetzgebung der Provinz in sehr engen Grenzen
hält. Dasselbe gilt von der Selbstgesetzgebung der Kreis-
verbände in Baden. Die Kreisverbände sind nämlich auf diesem
Gebiete beschränkt auf die Festsetzung der Statuten der von
ihnen gegründeten Anstalten'^). Gegenüber der staatlichen
Gesetzgebung kommt also die Selbstgesetzgebung der Kom-
munalverbände nicht in Betracht.
Und wiederholen wir nun nach den gemachten Erörterungen
die anfangs aufgew^orfene Frage nach dem generellen Unter-
scheidungsmerkmal zwischen Staat und Kommunalverband, so
können wir als das Ergebnis des angestellten Vergleichs zu-
nächst folgendes feststellen. Auf dem Gebiet der Verwaltung
*) Mit Recht erklärt deshalb Richard Schmidt, Allgemeine Staats-
lehre, Leipzig, 1901, Bd. 1 S. 276 dieses Unterscheidungsmerkmal nur für
ein relatives.
') § 42 d. G. vom 5. X. 1863.
Koellreutter, Einzelstaat uud Provinz. H37
besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen Staat und Kom-
munalverband nicht. Von politischen Gemeinwesen zu leistende
Kulturaufgaben können bald vom Staate selbst, bald von
Kommunalverbänden erledigt werden, ohne daß sich der Cha-
rakter der betreffenden Aufgabe als solcher ändert. Allerdings ist
die Tätigkeit des Einzelstaates eine weit vielseitigere als die
einer Provinz, die sich nur auf die Erfüllung von Kulturauf-
gaben auf gewissen Gebieten der inneren Verwaltung beschränkt.
Nur ein Gebiet der Verwaltung können wir als rein staatliches
ansprechen, und das ist die Polizeiverwaltung i). Gerade die
größten Kommunalverbände haben mit ihr überhaupt nichts
zu tun. Ebenso ist die Rolle der großen Kommunalverbände
auf dem Gebiet der Gesetzgebung eine minimale und mit der
dem Einzelstaat verbliebenen Gesetzgebungsgewalt überhaupt
nicht in Vergleich zu ziehen.
Und so kann man vielleicht sagen : die auf eigenem Rechte
und eigener Gesetzgebung beruhende Organisation des Staates
und die Verwaltung der Machtmittel zu ihrer Aufrecht-
erhaltung bilden im Gegensatz zur Provinz die charakteristi-
schen Eigentümlichkeiten des Staates. Solange sie noch vor-
handen sind, hat der Staat eine eigene Herrschergewalt, er ist
ein politisches Machtzentrum. Und gerade das letztere ist die
Provinz nicht. Der Kommunalverband kann eigene Rechte
haben, so gut wie der Staat. Aber er verfügt nicht über
das dem Staate charakteristische Machtzentrum. Die Provinz
verwaltet, sie erfüllt wichtige Kulturaufgaben auf einzelnen ihr
vom Staate übertragenen Gebieten. Der Staat regiert, die Staats-
gewalt des Einzelstaates äußert sich noch in ihren verschiedenen
Formen. Der Tätigkeitskreis des Einzelstaates ist ein univer-
seller, er bildet ein eigenes Machtzentrum. Der Unterschied
zwischen beiden liegt nicht in dem tatsächlichen Umfang der
staatlichen Tätigkeit, sondern in dem generell verschiedenen
Machtzentrum, das sich in dem Staat im Gegensatz zur Provinz
noch konzentriert.
*) Der rein staatliche Charakter der Polizeiverwaltung ^vird bestritten,
so auch von Eosiu, der aber für das preußische j^ositive Staatsrecht den
staatlichen Charakter der Polizei zugibt (Rosin: üas Polizeiverordnungsrecht
in Preußen, Berlin, 1895 II. Aufl. S. 233/34; der Begriff der Polizei. Sonder-
abdruck aus dem VerwAi-ch., 1895, S. 89). Den Charakter der Polizei als
staatliches Amt betont Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht. Leipzig,
1896, n. Bd., S. 425, und, für Baden, Walz, Das Staatsrecht des Großherzog-
tums Baden, Tübingen, 1909, S. 300 Anm. 6.
638 Koellreuttei'; Einzelstaat und Provinz.
Zusammenfassend wäre nun als unser auf induktivem
Wege gewonnenes Ergebnis: Diejenigen politischen Gemein-
wesen der Gegenwart führen die Bezeichnung ,, Staaten", die
ein Machtzentrum besitzen, dessen wesentlicher Kern ihnen
allen charakteristisch ist, dessen Umfang und dessen verschieden-
artige Kompetenzen im konkreten Falle aber wechseln können.
Und dieser wesentliche Kern des staatlichen Machtzentrums
besteht in der Schaffung und Erhaltung der eigenen staatlichen
Organisation und in der Möglichkeit, dieselbe durch eigene
Machtmittel, sei es Polizei, Militär oder beides zu behaupten
und zu stützen^). Um diesen typischen Kern des staatlichen
Machtzentrums gruppieren sich dann im modernen Staate die
zahlreichen Wohlfahrts- und Kulturaufgaben, deren Erledigung,
wie wir gesehen haben, ebensogut auch durch nichtstaatliche
Verbände erfolgen kann.
Wie ist nun aber in dem konkreten Falle der deutschen
Einzelstaaten der Umfang dieses staatüchen Machtzentrums im
einzelnen beschaffen? Welchen Einwirkungen und Verände-
rungen ist es ausgesetzt und geht die Tendenz auf eine
Stärkung oder Schwächung der Einzelstaaten, d. h., bleibt ihr
staatliches, spezifisches Machtzentrum intakt, oder verschwindet
es und sinken dadurch die Einzelstaaten immer mehr zu Reichs-
provinzen herab?
Die Einzelstaaten traten in das Reich ein, ausgerüstet mit
ihrer alten Landeshoheit, deren Umfang und Bestand zunächst
unverändert blieb, soweit die Ausgestaltung der höheren Gewalt
über ihnen, der Reichsgewalt, das gestattete. Auf jeden Fall
kamen sie durch ihren Eintritt in das Reich nach der herr-
schenden Ansicht 2), die auch durchaus den tatsächlichen Ver-
hältnissen entspricht, in den Bannkreis einer höheren Gewalt,
nämlich der des Reiches. Und in diesem Verhältnis ähneln
sie zunächst wieder durchaus den Kommunalverbänden. Im
Hinblick auf das höhere politische Gemeinwesen, dem sie ein-
gegliedert sind, sind die Kommunalverbände und die Einzel-
staaten nichts anderes als ,, Selbstverwaltungskörper". Das Ver-
hältnis zu der höheren Gewalt abstrahiert bei beiden von ihrem
eigenen Wirkungskreis. Schon Rosin und Laban d^) haben
') über den „Vorrang der Sicherungsaufgaben'' des Staates überhaupt,
vor allem aber des nationalen Staates der Gegenwart, von dem hier allein
die Rede ist, vgl. Richard Schmidt, Allgemeine Staatslehre, Leipzig, 1901,
1. Bd., S. 153 ff.
') Statt aller La band: a. a. 0. S. 102 ff.
') Laband: a. a. 0. S. 102 Anm. 4.
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 'iSO
beide den Begriff der Selbstverwaltung als einen juristischen
Verhältnisbegriff gekennzeichnet. So erklärt Rosin: „Der Rechts-
begriff der Selbstverwaltung . . . bezieht sich auf das Verhältnis
zweier politischer Gemeinwesen zueinander, das des sogenannten
Selbstverwaltungskörpers zu der ihm übergeordneten souveränen
Gewalt ^). . . . Selbstverwaltung ... im staatsrechtlichen Sinne ist
danach die Anerkennung eines nichtsouveränen politischen Ge-
meinwesens durch das souveräne als verwaltende Rechtspersön-
lichkeit." 2) Damit sind aber die Grenzen dieses Begriffs fixiert.
Der Rechtsbegriff „Selbstverwaltung" als solcher sagt absolut
nichts aus über die Größe und Beschaffenheit des Wirkungs-
kreises, der dem Selbstverwaltungskörper gelassen ist, noch
auch über die Art und Intensität der Einwirkung des höheren
Verbandes auf denselben. Obwohl also das Verhältnis beider
unter den Begriff der Selbstverwaltung fällt, so ist doch die
Stellung der Eiuzelstaaten auf den Gebieten, auf denen sie der
Gesetzgebung und Aufsicht des Reiches unterliegen und diese
Einwirkung des Reiches selbst durchaus anders gestaltet als
die Stellung der preußischen Provinzen zum Staat.
Nun hatten wir vorhin festgestellt, daß der Unterschied
zwischen einer preußischen Provinz und einem deutschen
Einzelstaat darin zu finden sei, daß der letztere seine eigene
organisatorische Gesetzgebung besitze und auf dem Gebiet der
inneren Verwaltung der Inhaber der Polizeigewalt sei. Dazu
kommen nun dem Reich gegenüber noch die verschiedenen
anderen Verwaltungsgebiete, auf denen sich die Landeshoheit
der Einzelstaaten betätigt, und das ist für Baden hauptsächlich
die von Dotationen unabhängige staatliche Finauzverwaltung, die
Justizverwaltung, das Unterrichtswesen und das Eisenbahnwesen.
Wie stellt sich denn nun aber überhaupt die badische Gesetz-
gebung zur Gesetzgebungskompetenz des Reiches? Auf welche
Gebiete beschränkt sie sich und welche Schranken setzt ihr die
Reichsgesetzgebung? Welche badischen Gesetzgebungsakte sind
es denn, die uns beim Durchblättern der badischen Gesetzes-
sammlung der letzten Jahrzehnte in die Augen fallen? Ihren
wichtigsten Teil bilden die Organisations- und Beamtengesetze.
Dazu kommen eine große Anzahl von Steuergesetzen auf
dem den Einzelstaaten bisher verbliebenen Gebiet der direk-
ten Besteuerung. Ferner treten hierzu eine Reihe von Ver-
') Rosin: a.a.O. S. 312.
■) Rosin: a. a. 0. S. 309.
640 Ko ellreutter, Einzelstaat und Provinz.
waltungsgesetzen auf verschiedenen Verwaltungsgebieten, wie
z. B. auf dem der Eisenbahnen, Straßen, der Wasser- und
Bergverwaltung. Von dieser ganzen Gesetzgebung ist nun
wieder spezifisch staatlich und auf das eigentliche politische
Machtzentrum des Staates zielend die Organisationsgesetzgebung.
Sie ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil in ihr der
Einzelstaat seine eigenen Wege gehen kann, ohne Rücksicht
auf die übrigen Staaten und auf das Reich. Denn die Or-
ganisationsgesetzgebung wird als interne eigene Angelegenheit
jedes Staates betrachtet. Und so hat gerade Baden im letzten
Jahrzehnt durch die Einführung des allgemeinen direkten
Wahlrechts zur zweiten Kammer und durch die starke Demo-
kratisierung des Wahlrechts für die Wahl der Gemeindever-
tretungen seine Verfassung in besonders ausgeprägter Weise
anders ausgebaut, wie die meisten norddeutschen Staaten, vor
allem Preußen.
Abgesehen von der Organisationsgesetzgebung ist aber die
Verwaltungsgesetzgebung der Einzelstaaten in weitem Maße
dem Eingriff des Reiches ausgesetzt. Man betrachte nur die
Entwicklung der Gesetzgebung auf dem Gebiete des Ar-
tikel 4 der Reichsverfassung. Während in den Anfangsjahren
der Geltung der Verfassung der Einzelstaat auf der Mehr-
zahl dieser Gebiete mit seiner Gesetzgebung noch dominierte,
hat jetzt das Reich beinahe alle Gebiete des Artikel 4
seiner Gesetzgebung unterworfen. Ich erinnere nur aus den
allerletzten Jahren an das Reichsvereinsgesetz und will nur
weiter darauf hinweisen, daß das Reich durch das Gesetz vom
3. Juli 1913 ,,über einen einmaligen außerordentlichen Wehr-
beitrag" und das Besitzsteuergesetz vom gleichen Datum soeben
auch in die Gesetzgebung über die direkten Steuern eingegriffen
und damit in dieses bisher den Einzelstaaten verbliebene Ge-
biet der direkten Besteuerung eine Bresche geschlagen hat.
Da sich damit automatisch der Umfang der Reichsauf sieht
immer mehr erweitert, so bringt das vor allem ein Sinken in
der Stellung der Klein- und Mittelstaaten mit sich. Denn
unter diesem Druck des Reiches auf dem Gebiet der Gesetz-
gebung leiden die Klein- und Mittelstaaten viel mehr als ein
Großstaat wie z. B. Preußen. Gerade in Preußen spielt der
Erlaß von Organisations- und Verwaltungsgesetzen nicht nur
für die Gesamtmonarchie, sondern auch für die einzelnen
Provinzen eine sehr große Rolle. Obwohl also die Beschränkung
Preußens auf dem Gebiete der Gesetzgebung durch das Reich
Koellreutter, Eiuzelstaat und Provinz. B41
dieselbe ist, wie die jedes anderen Einzelstaates, so ist sie doch
bei dem viel größeren Wirkungskreise des Großstaates Preußen
nicht so fühlbar.
Und diese Sonderstellung, die Preußen als Großstaat ein-
nimmt, zeigt sich besonders deutlich auch auf dem Gebiet der
Verwaltung. Zwei Verwaltungsgebiete sind es, auf denen der
Großstaat Preußen im Gegensatz zu den Mittel- und Klein-
staaten heute ausschlaggebend ist, und das ist das Gebiet der
äußeren Verwaltung und das der Finanzen, beides Gebiete, die
an die Wurzeln jedes Staatswesens greifen.
Es ist von Triepel, Laband und Bornhak in ihren
oben ^) erwähnten Aufsätzen schon die Tatsache aufgedeckt und
beleuchtet worden, daß der Bundesrat als Reichsorgan an Be-
deutung stark eingebüßt hat. Jedenfalls als Ganzes, als Institut
ist diese föderalistische Einrichtung der Reichsverfassung im
Gegensatz zu den Wünschen und Erwartungen ihres Schöpfers
heute nicht mehr von der ursprünglich ihr zugedachten Be-
deutung. Und dieses Sinken der äußeren Stellung des Bundes-
rats, in dem gerade die politische Macht und der politische
Einfluß der Einzelstaaten im Reich zur Geltung kommen sollen,
hat naturgemäß eine Stärkung der unitarischen Elemente, vor
allem des Kaisers, zur Folge. Erfährt aber das Kaisertum eine
Stärkung, so kommt diese auch dem Staat zugute, der die
Basis und den Rückhalt des Kaisertums bildet, und das ist
Preußen.
Das zeigt sich vor allem in der Führung der äußeren
Politik. Denn in ihr tritt die Reichsregierung ganz selbständig
auf. Der Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegen-
heiten hat von jeher nur eine unbedeutende Rolle gespielt. Und
das ist auch ganz verständlich. Denn kein Verwaltungsgebiet
bedarf mehr einer einheitlichen Leitung, einer Konzentration
in einer Hand, als gerade das der auswärtigen Politik. So
hat sich ganz naturgemäß die Ausschaltung der Einzelstaaten
auf diesem Gebiete durchgesetzt.
Und das zweite Gebiet, auf dem sich das Verhältnis des
Reiches und Preußens zu den übrigen Einzelstaaten sehr zu-
ungunsten der letzteren verschoben hat, ist das der Finanzen.
Man geht heute kaum fehl, wenn man behauptet, daß die
') S. 294. Vgl. vor allem auch noch Lab ands Aufsatz „Der Bundesrat"
in der D. J. Z., 1911, S. 1 ff.
Zeitschrift für Politik. 6. 41
642 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
Klein- und Mittelstaaten nächstens nicht mehr in der Lage sind,
die Kosten, welche ihnen die Aufrechterhaltung ihres pohtischen
Machtzentrums, ihrer Landeshoheit, auferlegt, zutragen. Beson-
ders Bornhak^) hat die Tatsache in das richtige Licht gerückt,
den die unweigerlich kommenden — durch das Besitzsteuergesetz
vom 3. Juli 1913 soeben in Erscheinung getretenen — direkten
Reichssteuern die Finanzen der kleineren Staaten völHg unter-
graben. ,,Sie sind dann darauf angewiesen, gleich Kommunal-
verbänden Zuschläge zu den direkten Staatssteuern zu erheben" 2).
Die Stützen ihrer finanziellen Selbständigkeit schwanken, und
das bedeutet für ihr pohtisches Machtzentrum den Anfang vom
Ende. Bekanntlich hat das Fürstentum Waldeck schon im
Jahre 1867 die Konsequenz aus seinem Unvermögen, alle aus
seiner Zugehörigkeit zum Bund erwachsenden finanziellen Lasten
zu tragen, gezogen und das Land in preußische Verwaltung
gegeben. Man beobachte nur einmal das Sparsystem an allen
Ecken und Enden, das notgedrungen auch oft am unrechten
Orte in den kleineren Staaten eingerissen ist. Dasselbe macht
sich sehr oft störend bemerkbar, wird aber trotzdem den
Gang der Entwicklung nicht auflialten können. Krampfhaft
suchen diese kleineren Staaten nach Mitteln zur Aufbesserung
ihrer Finanzen. Das Rückgrat der einzelstaathchen Finanz-
verwaltungen bilden in den meisten Fällen die Eisenbahnen.
Sie rentieren in Preußen sehr gut, in Baden z. B. schlecht^).
Und das einzige Mittel, um dem abzuhelfen, wäre die Über-
nahme der Eisenbahnen in die Verwaltung des Reichs oder
der Anschluß der einzelstaatlichen Eisenbahnverwaltungen an
das preußische Netz. Hessen hat ja den letzteren Weg bereits
beschritten. Daß es damit wieder einen Teil seiner staatlichen
Selbständigkeit aufgegeben hat, unterliegt wohl keinem Zweifel.
Dagegen hält Baden an der eigenen Verwaltung seiner Eisen-
') Bornhak: ArchOeffiR., Bd. 26, 1910, S. 394 ff.
*) a. a. 0. S. 395.
■'') Die Verzinsung des Anlagekapitals betrug in Vq:
1910 1911
Preußisch-hessische Staatsbahnen: 6,48 7,2
Badische Staatsbahnen: 3,69 4,17.
(Vgl. Archiv für Eisenbahnwesen, 1912, S. 421 ; 1913, S. 240 u. 442.) Auch
bei Berücksichtigung des immerhin kilometrisch größeren Anlagekapitals der
badischen Staatsbahuen ergibt sich, wie die Tabelle zeigt, ein tJberschuß in
den Erträgnissen für die preußischen Bahnen, der sich nach Sachlage nui*
aus den Vorteilen des Großbetriebes erklären läßt.
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 643
bahnen, die das größte Objekt der badischen Finanzverwaltung
bilden, noch fest, obwohl die Verzinsung der badischen Bahnen
eine durchaus ungenügende ist. Denn vom föderalistischen
Standpunkte aus ist wohl nicht zu bezweifeln, daß ein Auf-
geben der eigenen Eisenbahnverwaltung in die staatliche und
finanzielle Selbständigkeit Badens wieder eine große Bresche
schlagen würde. Und trotzdem wird die Weiterentwicklung
wohl auch in dieser Hinsicht nicht aufzuhalten sein.
Dagegen haben Baden und die übrigen süddeutschen Staaten
den Schritt einer Verwaltungsgemeinschaft mit Preußen auf
dem Gebiete des Lotteriewesens erst kürzlich getan. Die durch
den Lotterievertrag vom 19. Juli 1911 ins Leben gerufene
Preußisch-süddeutsche Klassenlotterie ist in Baden durch das
Gesetz vom 26. April 1912 eingeführt worden.
So sehen wir also das politische Machtzentrum der Einzel-
staaten, das wir in seinem jetzigen Umfang als das generelle
Unterscheidungsmerkmal der Einzelstaaten von den großen
Kommunalverbänden festgestellt haben, bedroht durch die stets
wachsende Macht des Reiches und Preußens, das als die reale
Basis der Reichsgewalt untrennbar mit diesem verbunden ist.
Denn gerade durch diese Verbindung ist Preußen unzweifelhaft
heute das Schicksal des Reiches. Von der politischen Ent-
wicklung Preußens hängt das Wohl und Wehe des Reiches in
der Zukunft ab, man kann beides nicht voneinander trennen.
Aber gerade weil Preußen das politische Schicksal des Reiches
ist, deshalb ist die politische Gestaltung der Dinge in Preußen
über seine Grenzen hinaus für alle Angehörigen des Reiches
von besonderem Interesse. Wenn von süddeutscher Seite so
oft eine Einmischung Preußens in die inneren Verhältnisse der
süddeutschen Staaten befürchtet und bekämpft wird, so mag
das dahingehen. Denn wenn auch die Divergenz in der politi-
schen Entwicklung der süddeutschen Staaten und Preußens
oft unerfreulich erscheint, so sind doch ihre Folgen für das
Schicksal des Reiches selbst nicht von ausschlaggebender Be-
deutung. Ganz anders ist es aber umgekehrt. Wer der Über-
zeugung ist, daß mit der Gestaltung der politischen Dinge in
Preußen auch das Schicksal und das Werden des Reiches un-
trennbar verknüpft ist, der muß der politischen Entwicklung
in Preußen, von welchem Standpunkte auch immer er sie be-
trachtet, das lebhafteste Interesse entgegenbringen. ,,Nur wer
auf das Reich pfeift, wer es lieber heute wie morgen aufgeben
41*
644 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
möchte"^), kann das Interesse der nichtpreußischen Deutschen
an der Gestaltung der politischen Dinge in Preußen leugnen.
Das Reich als ein Staat, der nach außen und innen stark da-
stehen will, muß seine Kräfte zusammenfassen, es kann nur
ein pohtisches Machtzentrum haben. Und dieses Machtzentrum
muß sich stützen auf reale Faktoren. Das Machtzentrum des
Reiches liegt aber unzweifelhaft in erster Linie in der Stärke
Preußens.
Der politische Einfluß der Einzelstaaten, ihr Anteil an der
Willensbildung des Reiches ist so bei den kleinsten derselben
vollständig auf Null gesunken und bei den Mittelstaateu stark
verringert. Sie scheiden aus von einer maßgeblichen Mit-
bestimmung bei den Fragen, die für die Stellung des Reiches
in der Welt in der nächsten Zeit ausschlaggebend sein werden,
und das sind die Fragen der äußeren Politik. Diese kann nur
nach einheitlichen Gesichtspunkten geführt werden, und zwar
geschieht dies von der auf Preußen gestützten Reichsregierung.
Nur die auf Preußen gestützte Reichsregierung verfügt ja auch
in vollem Maße über die ,, ultima ratio", über das Mittel, ihrem
Willen nach außen Nachdruck zu verschaffen, und das ist die
Verfügung über Armee und Marine. Beide sehen ihren obersten
Kriegsherrn in dem Kaiser, der als deutscher Kaiser wie als
König von Preußen die Verfügung über das Schwert des Reiches
in der Hand hält 2).
Schrumpft so die Bedeutung der Einzelstaaten als politische
Machtzentren immer mehr zusammen, so bleibt ihnen fernerhin
nur noch die Erfüllung von Kultur- und Wohlfahrtsaufgaben
innerhalb des Reiches. In der Erfüllung dieser ja stets wachsen-
den Aufgaben nähern sie sich aber wieder den großen Kom-
munalverbänden, den Provinzen. Nur hat bei den Einzel-
staaten das Verhältnis zu der ihnen übergeordneten Gewalt, dem
Reiche, eine andere Entwicklung genommen wie das Verhältnis
der preußischen Provinzen zu dem Staate, dem sie eingegliedert
sind. Die preußischen Provinzen können mindestens auf die
Erhaltung, wahrscheinhch aber auf eine Ausdehnung ihres
') Wörtlich: „Denn alle diese Herren (Junker und Zentrum) pfeifen
auf das Reich und würden es lieber heute als morgen aufgeben"' (Denkwürdig-
keiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 1902, 2. Bd., S. 534
[Äußerung aus dem Journal des Fürsten vom 15. Dezember 1898]).
*) Über die Wandlungen auf dem Gebiet des Heerwesens vgl. die kurzen
treffenden Bemerkungen von Bornhak a. a. 0. S. 397.
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 645
Wirkungskreises rechnen. Ein Großstaat wie Preußen kann sehr
wohl seinen größten Kommunalverbänden noch die Erfüllung
weiterer Kulturaufgaben, die ja stets im Wachsen begriffen
sind, übertragen und tut das auch. Denn Preußen ist ein
Staat, der kraft seiner Größe seine Kulturaufgaben weithin
dezentralisieren und seine dadurch konzentrierte Zentralgewalt
für die großen Aufgaben, die des Reiches nach innen und außen
noch harren, zur Verfügung stellen kann. Anders die übrigen
Einzelstaaten. Ihr Machtzentrum ist durch die unitarische Ent-
wicklung bedroht. Sie haben keinesfalls eine Stärkung, sondern
höchstens eine weitere Schwächung ihres politischen Macht-
zentrums zu erwarten. Und so verschiebt sich bei den Pro-
vinzen die Entwicklung zu ihren Gunsten, während sie bei den
Einzelstaaten entgegengesetzt verläuft. Gerade die verschiedene
Tendenz dieser Entwicklung droht nun aber, den Unterschied
zwischen Einzelstaat und Provinz immer mehr zu verwischen.
Denn mit der Beschränkung der Einzelstaaten auf die Er-
füllung von Kulturaufgaben nähern sich dieselben immer mehr
dem Charakter von Reichsprovinzen, deren generelle Aufgaben
sich nicht mehr von denen der Provinzen im sonstigen Sinne
unterscheiden.
Und wenn wir so in Deutschland dem dezentralisierten
Einheitsstaate zutreiben, so ist das ein Ziel, dem ein anderer
Staat, nämlich England, gerade von dem entgegengesetzten
Ausgangspunkte aus, ebenfalls zustrebt. Im Einheitsstaate Groß-
britannien geht nämlich gerade jetzt die Entwicklung dahin,
auf dem Wege der Dezentralisation ebenfalls die Wohlfahrts-
und Kulturaufgaben von den Machtaufgaben zu trennen. Das
wichtigste Staatsorgan Englands, das englische Parlament, ist
nämlich derartig mit den heterogensten Aufgaben aller Art über-
lastet^), daß es auf die Fragen der großen Politik, des Aus-
baues und der Festigung des politischen Machtzentrums nicht
die gebührende Zeit verwenden kann. Und man beginnt auch
in England langsam einzusehen, welche Verschwendung an
Kraft durch diese Inanspruchnahme des höchsten Staatsorgans
für die kleinsten lokalen und persönlichen Zwecke getrieben
^) Es muß dabei daran erinnert werden, daß das englische Parlament
nicht nur Organ der Gesetzgebung ist, sondern auch Verwaltungs- und ver-
waltungsgerichtliche Aufgaben zu erfüllen hat. Dies gilt vor allem von der
sogenannten Private Bill Legislation. Über dieselbe vgl. meine kurzen Be-
merkungen in „Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsprechung im modernen
England" S. 93 ff. und die dort zitierten.
646 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
wird. Ein englischer Politiker i) schildert diesen Zustand mit
treffenden Worten: ,,We have an Imperial assembly with only
a limited time at its disposal, even if it were to sit all the
year through, but with an unlimited Warrant — one and the
same assembly to decide about a school in a Welsh village,
a naval loan, our relations with the Dominion of Canada and
our policy with regard to the Chinese Empire". Und er
schlägt wenige Zeilen nachher auch gleich ein Heilmittel für
diesen Zustand vor: „Obviously, if you agree to divide the
functions of your present Parliament, and to set up in its place
one supreme Parliament and a certain number of subordinate
national or provincial parliaments, you will greatly lessen this
confusion and waste of good energy" 2). Es ist die Idee der
„Homerule allround", die sich in diesen Worten ausspricht.
Während die irische Home Rule-Bewegung sicher noch heute
sehr viel separatistische Tendenzen in sich birgt und die mög-
lichste Lockerung der Verbindung Englands mit Irland erstrebt,
ruht die Idee der Home Rule allround auf überwiegend anderen
Grundlagen. In ihr setzt sich der Gedanke durch, daß eine maß-
volle Dezentralisierung, die sich nicht nur auf die Selbstverwaltung
der kleineren Kommunalverbände, wie der Grafschaften, sondern
auch auf die einzelnen Landesteile des vereinigten Königreiches,
wie Irland, Schottland und Wales, erstrecken würde, für die weitere
Entwicklung des Reichsgedankens nicht schädlich, sondern im
Gegenteil direkt förderlich sein würde. Denn wie jeder große
intelligent geleitete Betrieb bedarf vor allem der Staat der
richtigen Verwendung seiner Kräfte an der richtigen Stelle.
Eine Trennung der Macht- von den Kultur- und Wohlfahrts-
aufgaben erscheint aber in der heutigen Zeit, die von allen
selbstbewußten Staaten die äußerste Anspannung und Aus-
nutzung ihrer Kräfte verlangt, auch für die weitere Entwick-
lung und Festigung des britischen Weltreiches das Gegebene
zu sein. Natürlich ist die eine große Gefahr, die in dieser Ent-
wicklung liegt, nicht zu verkennen. Ein dezentralisierter Staat
ist dem Aufkommen separatistischer Neigungen in einzelneu
seiner Teile mehr ausgesetzt, wie ein straff zentralisierter. Und
wenn die unionistische Partei in England die irische Home
') Pacificus, in den Briefen an die Times aus dem Jahre 1910,
veröffentlicht in Buchform unter dem Titel: „Federalism and Home Rule",
London, 1910, S. 78.
') a. a. 0. S. 79.
Koellreutter, Einzelstaat und Provinz. 647
Ruie-Gesetzgebung der liberalen Regierung aus diesem Grunde
bekämpft, so hat das seine Berechtigung. Dagegen hat eine
prinzipielle Bekämpfung dieser dezentralisierenden Ideen ihre
schweren Bedenken, zumal in England mit ihr auch die heikle
Frage des Verhältnisses zu den selfgoverning Colonies verknüpft
ist. Pacificus^) weist ganz richtig darauf hin, daß eine ver-
nünftige Dezentralisierung auch gerade die ,, Dominions" von
der jetzt vorhandenen Gefahr, in die inneren politischen Kontro-
versen des Mutterlandes hineingezogen zu werden, befreien
würde. Ein gemeinsames Reichsparlament würde die Stelle
sein, bei der die dem Mutterland und den Kolonien gemein-
samen Macht- und Lebensfragen zur Erörterung und Erledigung
gelangen könnten. Denn die periodisch zusammentretenden
Imperial Conferences, d. h. die unter dem Vorsitz des Kolonial-
staatssekretärs von Zeit zu Zeit 2) in London stattfindenden Be-
sprechungen der leitenden Minister der Dominions erfüllen
diesen Zweck nur unvollkommen. Wie Pacificus^) mit Recht
betont, kann man Unionist und Föderalist in dem Sinne zu-
gleich sein, daß man sich nicht auf die einseitige Betonung
der Ideen von Zentralisation oder Dezentralisation festlegt,
sondern für das einzelne Land und für die Situation, in der
sich dasselbe im gegebenen Zeitpunkt befindet, eine zweckmäßige
Verteilung der Staatskräfte für das Erstrebenswerte hält.
Und diesem Ziel streben Deutschland wie England von
ihren verschiedenen Ausgangspunkten aus zu. Für beide er-
scheint zur Zeit die gegebene Form der Einheitsstaat mit starker
Dezentralisation bei Erfüllung aller Kulturaufgaben und ein-
heitlich in einer Hand vereinigtem Machtzentrum. Denn nur
so können beide Mächte den Anforderungen gerecht werden,
welche die heutige Zeit an sie stellt. Nur so können sie
einerseits nach innen die verschieden gestalteten Kj-äfte zur Er-
füllung aller Kulturaufgaben zusammenfassen und ihnen den
weitesten Spielraum zur Entfaltung gewähren. Andererseits
können sie nach außen nur dann ihre ganze Macht in die
Wagschale werfen, wenn ihr politisches Machtzentrum in einer
Hand konzentriert ist.
Wie also in dem bisher zentralistisch regierten England
die einzelnen Landesteile mehr und mehr das Bestreben zeigen,
') a. a. 0. S. 83.
') Die letzte im Jahre 1911.
^) a. a. 0. S. 75 ff.
648 Koellreutter, Einzelstaat und Provinz.
ZU selbständigen Verwaltungs- und Kulturzentren zu werden,
so treibt die bisherige bundesstaatliche Entwicklung in Deutsch-
land auf das gleiche Ziel zu. Das politische Machtzentrum der
Einzelstaaten wird mehr und mehr vom Reiche aufgesogen, es
konzentriert sich in dem preußisch - deutschen Machtzentrum
des Reiches. Die Einzelstaaten werden dadurch allmählich zu
verschieden organisierten "Verwaltungs- und Kulturzentren, sie
werden in diesem Sinne zu „Provinzen des Reiches". Verlieren
sie dadurch langsam die Qualität als Staaten, als politische
Machtzentren, so behalten sie doch ihre Bedeutung als gesonderte
Kulturmittelpunkte. Auch als ,, Provinzen des Reiches" haben
sie auf diesen Gebieten noch ein weites Feld und eine große
Zukunft.
Zum Stand der politischen Probleme
Zusammenfassende und vergleichende Übersichten
VI.
Die Finnische Frage
Von Dr. Ludwig v. Barf *)
Um die Finnische Frage tiefer beurteilen zu können, ist der vor kurzem
erschienene 18. Band des „Öffentlichen Kechts der Gegenwart" hervorragend
geeignet. Er ist verfaßt von Dr. Rafael Erich, Professor an der Universität
Helsingfors, und betitelt sich „Das Staatsrecht des Großfürstentums Finnland".
Wenn auch im Augenblick die Finnische Frage durch die politischen Ereig-
nisse im Südosten Europas etwas in den Hintergrund getreten ist, so wird
sie doch zweifellos bald wieder in größerem Maße die öffentliche Meinung
Europas beschäftigen. Erichs „Finnisches Staatsrecht" entrollt ein überaus
interessantes Bild der Finnischen Frage, die ja im wesentlichen eine Ver-
fasBungsfrage ist.
Einerseits gelten in Finnland noch in erheblicher Bedeutung aus dem
18. Jahrhundert, aus der Zeit der Zugehörigkeit Finnlands zu Schweden
stammende Gesetze, so namentlich das als Regierungsform bezeichnete Gesetz
vom 21. August 1772 und die Vereinigungs- und Sicherungsakte vom 21. Fe-
bruar und 3. April 1789, und andererseits treten Gesetze hervor sehr mo-
dernen Gepräges, wie die Landtagsordnimg vom 20. Juli 1906. Althergebrachtes,
zum Teil Rückständiges, wie die Stellung der lutherischen Kirche als Staats-
kirche, die Steuerverfassung, behauptet zur Zeit noch seinen Platz, während
zugleich die völkerrechtliche imd staatsrechtliche Zugehörigkeit zu Rußland
einer konsequenten Durchführung wirklich konstitutioneller Grundsätze eigen-
tümliche, in anderen Ländern nicht vorhandene Schwierigkeiten bereitet.
Trotz dieser Schwierigkeiten und der periodisch wiederholten Eingriffe der
russischen Regierung in die Gesetzgebung und Verwaltung Finnlands hat man,
wie auch auf anderen Kulturgebieten Hervorragendes geleistet worden ist,
verstanden, rüstig weiter zu arbeiten und vielfach der Neuzeit Entsprechen-
des zur Befi-iedigung der Bevölkerung zur Geltung zu bringen. Denn un-
*) Dies ist wahrscheinlich die letzte Arbeit des hochgeschätzten Verfassers.
Sie ist ims kurz vor seinem Tode zugegangen. Die Herausgeber.
650 V. Bar, Die Finnische Frage.
geachtet der vorhandenen Sprachunterschiede — der größere Teil der Be-
völkerung redet finnisch, während die höheren Stände bekanntlich der
schwedischen Sprache sich bedienen — herrscht in der Bevölkerung wesent-
lich Einigkeit, und Klassen- und Standesunterschiede sind störend nicht hervor-
getreten, religiöse Gegensätze nicht vorhanden. Bei so bedeutenden Port-
schritten konnte die ihrer Zeit vorzügliche Darstellung, welche von Senator
Mechelin 1889 für das „Oeffentliche Recht der Gegenwart" geliefert ist und für
Erichs Werk in mannigfachen Beziehungen die Vorarbeit bildet, gegenwärtig
nicht mehr genügen. Die umfangreichere und mehr eingehende und auch
die Einzelheiten des finnischen Staats- und Verwaltungsrechts kritischer Be-
trachtung unterwerfende Arbeit Erichs ist daher um so mehr als zeitgemäß
und dankenswert zu begrüßen.
Im einzelnen mag folgendes hervorgehoben werden. Finnland ist eine
beschränkte Monarchie, prinzipiell in der Art der alten schwedischen Ver-
fassung. Nach der in Finnland herrschenden Ansicht, die 1809 von Kaiser
Alexander I. durch Beiiifung des Landtags von Borgö und sodann von
Kaiser Alexander 11. 1863 durch Wiederberufung des Landtags nach Maß-
gabe der vor 1809 geltenden Gesetze anerkannt wurde, ist der finnische
Landtag an die Stelle des schwedischen Reichstags getreten. Im Gegensatz
zu dem übrigen modernen Staatsrechte der Staaten des europäischen Konti-
nents hat das Herkommen im finnischen Staatsrechte eine recht erhebliche
Bedeutung. So ist die Frage, ob eine Anordnung des Monarchen der Zu-
stimmung des Landtags bedarf, in mannigfachen Fällen nur nach dem Her-
kommen zu beantwoi'ten (S. 62, 120), und damit hängt es zusammen, daß
man der Verwaltung (also in höchster Instanz dem Monarchen) in weitem
Umfange innerhalb der hergebrachten Grenzen ein Dispensationsrecht von
der Beobachtung mancher Gesetze zuerkennt (S. 91), und daß man anderer-
seits stets die Versammlungsfreiheit als ein natürliches Recht eines jeden
volljährigen Staatsbürgers behandelt hat, welches nunmehr allerdings 1907
eine bestimmte gesetzliche Anerkennung und Gestaltung erhalten hat, die
liberaler ist. als das Versammlungsrecht nach dem deutschen Gesetze vom
18. April 1908. Die gesamte Staatsverwaltung wird in oberster Instanz vom
Senat, dessen Vorsitzender der vom Monarchen ernannte Generalgouverneur
ist, wahrgenommen, dessen Mitglieder zwar vom Monarchen ernannt werden,
der aber tatsächlich dem Herkommen zufolge seine Entschließungen recht
unabhängig gefaßt hat und, insoweit eine seiner Abteilungen die Funktion
eines höchsten Gerichtshofes wahrnimmt oder es sich um Verwaltungsjustiz
handelt, auch vollkommene rechtliche Unabhängigkeit von Verfügungen des
Monarchen in Anspruch nimmt. Über Polizei und Militär verfügt der General-
gouverneur, der zugleich Chef der zivilen Exekutive ist und alle Anträge
des Senats an den Monarchen einsendet. Eine Anzahl Entschließungen sind
dem Monarchen selbst vorbehalten, und über alles, worüber solche Ent-
schließung erforderlich ist, hat zuvor der finnische Minister - Staatssekretär
in Petersburg dem Monarchen Vortrag zu erstatten.
Der Landtag, der früher ständisch zusammengesetzt war, und zu dessen
Beschlüssen der allgemeinen Regel nach Übereinstimmung der vier Stände
erforderlich war, ist seit der Landtagsordnung von 1906 völlig nach modernen
Prinzipien zusammengesetzt. Es gilt allgemeines, gleiches, auch Frauen be-
rechtigendes, geheim auszuübendes Wahlrecht.
Dem Landtage kommt auch jetzt noch kein vollständiges Budget-
recht zu. Er hat insofern das Bewilligungsrecht, als die ordentlichen, der
V. Bar, Die Finnische Frage. 651
Regierunpf zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichen. Aber bei Fest-
setzung der Zölle und Gebühren — und unter letztere Kategorien fallen
auch manche Abgaben, z. B. Stempelsteuern — hat der Landtag nicht mit-
zureden, wenngleich der Senat oder der Monarch nicht selten ein Gutachten
des Landtags einzieht über Gegenstände, die der Zustimmung des Landtags
nicht bedürfen,
Finnland ist insofern eine Dependenz Kußlands als 1. Staatsoberhaujit
stets der durch die russische Thronfolgeordnung bestimmte russische Kaiser
ist, der, da Finnland schon seit langer Zeit unter schwedischer Herrschaft
als Großfürstentum Finnland bezeichnet wurde, den Titel Großfürst von
Finnland führt, und 2. Finnland völkerrechtliches Persönlichkeitsrecht nicht
hat, vielmehr international von Eußland vertreten wird, so daß Kriegs- und
Friedenszustand Eußlands auf Finnland sich erstreckt und alle von Rußland
abgeschlossenen internationalen Verti'äge, sofern nicht Ausnahmen gemacht
sind, für Finnland mitgelten, freilich aber, um in Finnland ausgeführt zu wer-
den, der Ausführung durch finnische Beamte und der Zustimmung des
finnischen Landtags bedürfen können.
Der seit 1899 offiziell zwischen dem finnischen Landtage einer- und dem
russischen Ministerium und jetzt auch der russischen Duma andererseits geführte
Streit beruht nun, in der Kürze gesagt, darauf, daß von finnischer Seite behauptet
wird, Kaiser Alexander I. habe 1809 Finnland nur als selbständigen Staat in
der Art erworben, daß die Rechte des schwedischen Reichstags nunmehr auf den
finnischen Landtag — bestehend aus denselben Elementen, welche Finnland
früher im schwedischen Reichstage repräsentierten — übergegangen sei, und
daß überhaupt die bis 1809 bestehenden schwedischen Verfassungsgesetze,
soweit dies tatsächlich möglich, für Finnland fortzugelten hätten — während
von russischer Seite entgegnet wird, Alexander I. habe Finnland durch
Eroberung und Friedensschluß ohne irgendeine besondere Beschränkung
erworben Tind nur als eine in gewissem Sinne autonome Provinz behandelt,
deren Sonderstellung, soweit das Wohl des Gesamtreichs Rußland es erfordere
oder wünschenswert erscheinen lasse, aufgehoben werden könne, ohne daß
es der Zustimmung Finnlands bedürfe. Demnach hat ein kaiserliches Manifest
vom 15. Februar 1899 das Prinzip verkündet, daß russische Gesetze über
Gegenstände der allgemeinen Reichsgesetzgebung und auch solche Gesetze,
die zwar nur in Finnland zur Anwendung kommen, aber allgemeine Rechts-
interessen berühren, der Zustimmung des finnischen Landtages nicht bedürfen,
und der Aufstellung dieses Prinzips ist dann eine Reihe tiefgehender Eingriffe
in die Gesetze und die Verwaltung Finnlands gefolgt. Der Landtag hat sich
dagegen mit rechtsverwehrenden Eingaben an den Monarchen gewandt, die
Beamtenschaft hat unter Berufimg auf die Rechtswidrigkeit der ergangenen
Anordnungen den Gehorsam verweigert, und die Landeseinwohner haben
passiven Widerstand geleistet, den von der Regierung ergriffene Gegen-
maßregeln zu beseitigen nicht vermochten. Die infolge des japanischen
Krieges in Rußland ausbrechende Revolution bewirkte dann, daß 1905 und
1906 kaiserliche Manifeste die von 1900 — 1904 für Finnland erlassenen
russischen Gesetze suspendierten, den früheren Verfassungszustand wieder-
herstellten und Reformen durch GesetzgeVjungsakte verhießen. Dieser für
Finnland erfreuliche, durch Herstellung der neuen und Feststellung der
Preß-, Verhandlungs- und Vereinsfreiheit gut benutzte Zustand fand aber
ein Ende, sobald man in Petersburg nach Niederwerfung der Revolution sich
wieder sicher fühlte. Weitere Gesetzesvorschläge erhielten jetzt die Ge-
652 V. Bar, Die Finnische Frage.
nehmigung des Monarchen nicht; das russische Ministerium wurde als begut-
achtende Zwischeninstanz für die finnischen Angelegenheiten eingeschoben
und, was besonders in Betracht kommt, ein von der russischen Duma an-
genommenes Gesetz von 1910 hat ziemlich ausnahmslos alle wichtigeren
Angelegenheiten als „die Interessen des Reichs berührend" der russischen
Reichsgesetzgebung und (in höchster Instanz) der russischen Verwaltung
unterworfen und läßt zugleich eine Erweiterung dieser russischen Reichs-
zuständigkeit durch die russische Gesetzgebung zu, so daß dem finnischen
Landtage in den bezeichneten Angelegenheiten nur die bescheidene Funktion
der Abgabe eines Gutachtens verbleibt. Danach ist in der Tat die Russi-
fizierung dm-ch eingreifende russische Gesetze und Verwaltung im Prinzip
festgestellt und ihre vollständige Verwirklichung nur noch eine Frage der
Zeit — falls nicht der fortdauernde Widerstand des Landes und günstige
Zwischenfälle eine Änderung herbeiführen, eine Hoffnung, welche die Finn-
länder freilich festhalten.
Man will übrigens auf russischer Seite sich nicht allein auf die Macht
stützen. Eine ganze Anzahl von Schriften russischer Senatoren und anderer
Autoren seit 1899 soll beweisen, daß Alexander I. bei der Besitzergreifung
Finnlands nicht die Errichtung eines besonderen Staatswesens beabsichtigt
habe, als er erklärte, er wolle die Grundgesetze „Lois fondamentales" der
Finnländer aufrecht erhalten. Man will entweder unter „Lois fondamentales"
— was offenbar unrichtig ist — Privatrechtsbestimmungen verstehen oder
nur provinzielle Ordnungen, da Finnland nie ein selbständiges Land, viel-
mehr eine Depedenz Schwedens gewesen sei. Der bei den Schriftstellern
des Natur- und Völkerrechts oft vorkommende Ausdruck „Leges funda-
mentales" ist aber gleichbedeutend mit dem heutigen Ausdruck Ver-
fassungsgesetze. So heißt es bei Textor, Synopsis juris gentium cap. 11 § 2:
als Lex fundamentalis könne bezeichnet werden für das Deutsche Reich die
Aurea Bulla, die Constitutiones pacis profanae et religiosae, der westfälische
Frieden, die kaiserliche Wahlkapitulation. Was besonders wichtig ist: im
folgenden § 3 wird von Textor das Wesen der Leges fundamentales dahin
festgestellt, daß sie den Consensus darstellt „eorum qui imperant et parent"
und in § 4 wird ausgeführt, ein König könne nach seinem Ermessen und
ohne Consensus der „Ordines", also der Stände seines Reichs, die Leges
fundamentales nicht ändern. Damit übereinstimmend erklärt Chr. v. Wolff
in seinem Jus gentium cap. 1 § 154 das Jus emigrandi für ein aus einer
Lex fundamentalis abgeleitetes Recht der Untertanen; ferner nennt er cap. 3
§ 344 Anm. ein Lex fundamentalis eine Bestimmung über freie Religions-
übung und cap. 6 § 748 Beschränkvmgen des Rechts, Soldaten auszuheben.
Vattel (Droit des gens I §§ 34, 46) ferner gebraucht die Ausdrücke „Lois
fondamentales" und „Constitution de l'Etat" völlig als gleichbedeutende und
die „Lois fondamentales" sind nach ihm insbesondere solche Gesetze, durch
welche eines Fürsten „jjuissance souveraine est limitee". Joh. Jakob von Moser
(Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiteu Buch 2 Kap. 21 § 7) führt das
Gesetz üljer die Thronfolge als ein Reichs- oder Landesgrundgesetz an und
erörtert sodann die Frage, ob man einen Regenten wegen Verletzung der
Grundgesetze absetzen dürfe; überhaupt bedeutet bei Moser der Ausdruck
„ReichsgTundgesetze" soviel wie Reichsverfassung. Überall kommen auch bei
Moser bei den Reichsgruudgesetzen die Rechte der Reichsstände in Betracht,
so auch betreffend die Aufrechterhaltung der Rechte der Untertanen bei
Abtretung von Territorien in Friedensschlüssen, wofür dann auch Beispiele
V. Bar, Die Finnische Frage. 653
gegeben werden (Europäisches Völkerrecht in Kriegszeiten, Buch 6 Kap. 10
§§ 4 und 10).
Es sind also Leges fundamentales, Lois fondamentales, im Sinne der
Rechtssprache des 17. und 18. Jahrhunderts Verfassungsgesetze und solche
Gesetze, die nicht ohne Zustimmung der Untertanen, d. h. im Sinne der
damaligen Zeit der ausschließlich im öffentlichen Eecht berechtigten Unter-
tanen, der Stände geändert werden können und deren Aufrechterhaltung in
Friedensschlüssen bei Gebietsabtretungen nichts Außergewöhnliches, ja nach
Mosers Ansicht der Billigkeit gemäß war*). Unerheblich ist es dabei, ob
solche als Lex fundamentalis bezeichnete Bestimmung sich in einem Gesetze
ausschließlich verfassungsrechtlichen Inhalts findet oder in einem Gesetze,
das noch andere Bestimmungen minderer und selbst nur vorübergehender
Bedeutung enthält. Da nun die sogen, schwedische Eegierungsform von 1772
wie die schwedische Vereinigungs- und Sicherungsakte auch manches von
nur vorübergehender Bedeutung enthielten und einiges auch dadurch unan-
wendbar wurde, daß das russische Staatsoberhaupt an die Stelle des schwedischen
trat, so erklärt sich, daß nicht diese schwedischen Gesetze nach ihrer sonst
hergebrachten Bezeichnung von Alexander I. ins Auge gefaßt wurden')-
Versprach daher Alexander I. bei der Besitznahme Finnlands die Aufrecht-
erhaltung der „Lois fondamentales", so konnte das nur heißen die Aufrecht-
erhaltung der schwedischen Verfassungsgesetze, zumal Kaiser Alexander in
der feierlichen Eröffnungsrede die Worte „Constitution" und „Lois fonda-
mentales" als gleichbedeutende Ausdrücke gebrauchte, nur mit der selbst-
verständlichen Beschränkung, daß an Stelle des Königs von Schweden nun-
mehr der nach dem russischen Thronfolgerecht jeweilige russische Kaiser trat,
und daß Finnland als Teil des Gesamtreiches Rußland international an-
gesehen wurde, wie es vorher international als Teil Schwedens galt. Die
Aufrechterhaltung der „Lois fondamentales" bedeutete aber namentlich, daß
die bis dahin mit dem Rechte der Zustimmung zu Gesetzen ausgestatteten
Stände dies Recht auch bebalten sollten, und von dieser Voraussetzung
ist auch Alexander 11. ausgegangen, als er nach langer Zwischenzeit 1863 den
finnischen Landtag wieder zusammenberief. Oder soll man annehmen, daß
die hochgebildeten Ratgeber Alexanders I. nicht gewußt hätten, was der Aus-
druck „Lois fondamentales" oder der gleichstehende Ausdruck in der russi-
schen und der finnischen Sprache bedeutete? Soll man ferner annehmen, daß
Alexander IL und die ihn beratenden Persönlichkeiten in gleicher Weise in
Unkenntnis der Bedeutimg der entscheidenden Worte Alexanders I. gewesen
seien, während doch Alexander II. und später noch die russische Regierung
bis zur Herrschaft der panslawistischen aggressiven Richtung im russischen
') Dem entsprechend muß auch der Friede von Frederikshamn auf-
gefaßt werden, welcher von einer die Rechte der Bewohner des abgetretenen
Gebietes wahrenden Bestimmung mit der Motivierung absieht, daß in dieser
Beziehung schon Fürsorge getroffen sei (durch die feierliche Erklärung
Alexanders L).
^) „J'ai promis de maintenir votre Constitution, vos lois fondamentales."
In der anonym 1902 in französischer Übersetzung erschienenen Schrift „La
condition juridique de la Finlande" (Paris, Societe d'editions scientifiques)
wird unter anderem ausgeführt, daß, wenn Alexander I. die schwedische Ver-
fassung als nunmehr für Finland fortbestehend hätte erklären wollen, er doch
statt der „Lois fondamentales'' einfach die für die schwedische Verfassung
maßgebenden schwedischen Gesetze in seiner Erklärung angegeben haben würde.
654 V. Bar, Die Finnische Frage.
Reiche so handelten, als seien die Verfassungsgesetze Schwedens in Kraft
geblieben, und als seien die Rechte des schwedischen Reichstags, soweit es
sich um Finnland handelt, auf die Vereinigung derjenigen in Finnland heimi-
schen Personen übergegangen, welche früher im schwedischen Reichstage Sitz
und Stimme hatten?
Dazu kommt, daß Alexander I. und seine Ratgeber bei Zusammen-
bernfung des Landtags von Borgö das Bewußtsein haben mußten, einen end-
gültigen und sicheren Besitz Finnlands noch nicht erlangt zu haben. Die
Eroberung war, da ein Widerstand noch möglich war, damals keineswegs
gesichert; vielmehr hing die Erwerbung zugleich ab von dem guten Willen
Napoleons, der fast dem ganzen europäischen Kontinent das Verhalten vor-
schrieb, und ohne dessen Ermunterung der Feldzug nach Finnland nicht
wäre unternommen worden. So mußte man die Bewohner Finnlands zu ge-
winnen und mit ihrer Zustimmung dem noch prekären Besitz einen besseren
Halt zu geben suchen. Die Bona fides, deren Beobachtung ein Grundprinzip
des Völkerrechts ist und bleiben muß, verlangt aber, daß in solchem Falle
die Versprechen, welche den Staatsangehörigen des Territoriums gegeben
werden, eben weil man sie selbst als Hilfspartei benutzt und daher als solche an-
erkennt, auch in Zukunft gehalten werden '). Daß Finnland lange Zeit (von
1809 bis 1863) ohne Berufung des Landtags regiert werden konnte, erklärt
sich aus dem oben erwähnten eigentümlichen Verhältnis der Rechte des
Landtags imd der Rechte des Monarchen nach dem alten Verfassungsrecht,
welches in einer Zeit, die nicht gerade tiefgehende Reformen verlangte, viel-
mehr sich begnügte mit stillereu Fortschritten der Kultur, ein Regieren auch
ohne Landtag und zugleich ohne Verfassungsverletzung ermöglichte.
Freilich können die russische Regierung und das russische Volk ver-
langen, daß Finnland sich wirklichen Gesamtinteressen gegenüber nicht
ablehnend verhalte, demnach auch seine Gesetzgebung und Verwaltung
so gestalte, wie jene Gesamtinteressen den Zeitumständen nach es fordern ").
Bis jetzt ist aber nicht erwiesen, daß der finnländische Landtag hierin einen
unerträglichen Egoismus befolgt hätte *), wenn auch Fälle gedacht werden
') Vgl. auch V. Bar, Der Bm-enkrieg, die Russifizierung Finnlands.
Hannover 1900. S. 30.
^ Anerkannt in der Reservation der linnländischen Mitglieder des
Comite, welches 1909 zur Beratung des Stolypinschen Gesetzentwurfs, be-
treffend das Verhältnis Finnlands zum russischen Reich niedergesetzt war
(mitgeteilt von Hab ermann. Der finnländische Verfassungskampf. Der
Stolypinsche Gesetzentwurf. I. Die vorbereitenden Verhandlungen 1910.
S. 10 ff.).
') Vgl. die wesentlich russische Standpunkte geltend machende, in
mehreren Sprachen übersetzte, ursprünglich als Aufsatz in der Nowoie Wremja,
Dezember 1909 erschienene kleine Schrift K. Valiszewski, Zur Finnischen
Frage „Strauß und Sperling", — Ein Hauptargument der panslawistischen
Russifiziernngspartei ist jetzt übrigens juristischer Natur — freilich ein nicht
zutreffendes. Es wird darauf hingewiesen, daß selbst in modernen Bundes-
staaten die zentrale Bundesgesetzgebung den Gesetzen der einzelnen im Bunde
vereinigten Staaten vorgehe; um so mehr müsse dies für das Verhältnis
Rußlands zu Finnland gelten, das nicht einmal ein wirklicher Staat sei.
Dabei wird übersehen, daß die Bundesstaaten aus gleichgearteten nationalen
Elementen bestehen und daß die Bundesverfassungen Bestimmungen getroffen
haben, welche gegen die Vernichtung der Selbständigkeit der Bundesglieder
V. Bar, Die Finnische Frage. 655
können, wo ein „Ausgleich", wie man in Österreich-Ungarn sagt, durch güt-
liche Vereinbarung ebenso schwierig sein mag, wie die zweckmäßige Ein-
richtung einer in solchen Fällen für zwei miteinander verbundene Staats-
organisraen letztlich entscheidende Instanz '). Jedenfalls widerspricht es aller
Billigkeit, zu fordern, daß der schwächere Organismus unbedingt iu allem,
was der stärkere Organismus für wünschenswert erachtet, ohne weiteres dessen
Willen befolgen müsse, wie Finnland durch das russische Gesetz von 1910
auferlegt wird. Die Gefahr aber, durch den mächtigeren Staatsorganismus
aller und jeder Selbständigkeit beraubt zu werden, kann für den schwächeren
Staat weit größer sein, wenn in dem mächtigeren Staat eine Volksvertretimg
irgendwelcher Art besteht, als wenn der schwächere Staat es zu tun hat mit
einer absoluten Monarchie in dem stärkeren Staate. Das Äquivalent, daß
etwa der schwächere Staat einige wenige Abgeordnete in die Volksvertretung
des Gesamtstaats oder des weit mächtigeren Staates entsenden könnte, be-
deutet in Wahrheit nichts.
Als ein wichtiger Beweis, daß der finnische Landtag billigen Anforde-
rungen der Gesamtmonarchie und des russischen Teils der Gesamtmonarchie
nachzukommen sich weigere, wird es von russischer Seite angesehen, daß
nach dem bisherigen finnischen Staatsrecht in Finnland russische Staats-
angehörige politische Rechte nicht genießen und insbesondere finnische Staats-
ämter nicht bekleiden können^), während man in Rußland den Finnländem
gegenüber ein völlig liberales Verhalten beobachtet habe und femer beobachten
wolle. Eine derartige Gleichstellung russischer und finnländischer Staats-
angehöriger wirkt aber in Finnland durchaus anders als in Rußland^). Das
nur etwa drei IVIillionen Einwohner zählende Finnland kann mit Beamten
und Gewerbetreibenden russischer Nationalität leicht überschwemmt werden;
in dem großen russischen Reiche verschwinden einflußlos Finnländer, die dort
in Beamtenstellungen eintreten oder Gewerbe betreiben würden, ganz ab-
gesehen davon, daß bei den Finnländern, von denen allerdings manche in
früheren, durch den Gegensatz der Nationalitäten noch nicht aufgeregten
Schutz gewähren. Vgl. in diesem Sinne auch die auf vorliegender Seite
Anmerkung 3 zitierte Ausführung Kokoschkins.
') Es sind aber solche Fälle, wenn der eine der beiden Staatsorganismen
so sehr viel schwächer ist. als der andere, und dazu die internationalen Ver-
hältnisse anlangend, nur eine Dependenz des andern darstellt, sehr viel weniger
zu befürchten, als wenn die Kräfte der beiden Staatsorganismen annähernd
gleiche sind und international auch die gleiche Stellung behaupten.
^) Vgl. insbesondere: P. Suvoroff, Zur Frage der Gleichberechtigung.
Die Lage der Russen in Finnland und der Finnländer im Reich. St. Peters-
burg 1910. (Übersetzung nach dem 1907 erschienenen russischen Original.)
S. 24 werden die die Russen als Ausländer behandelnden finnländischen Ge-
setze zui-ückgeführt auf die Blindheit und mangelnde Kenntnis der finn-
ländischen Verhältnisse, welche bei den russischen Behörden und Beamten,
besonders bei den Generalgouverneuren früher geherrscht habe — eine für
Rußland etwas bedenkliche Annahme. — Im Sinne einer billigen Vermittlung
hat sich Prof. Ed. Berendts ausgesprochen: Über Grenzmarkenpolitik und
die Finnländische Frage insbesondere (Rede). St. Petersburg 1907.
^) Vgl. in diesem Sinne auch die treffende Ausführung von G. Kokosch-
kin, Professor des Staatsrechts an der Universität Moskau, mitgeteilt bei
Habermann, Finnland und die öffentliche Meinung Europas, Leipzig 1910,
S. 46 ff., besonders S. 49,
656 V. Bar, Die Finnische Frage.
Zeiten durch persönliche Tüchtigkeit in hohe russische Staatsstellungen gelangt
sind, jetzt wenig Neigung bestehen dürfte, ihre Heimat mit Rußland zu ver-
tauschen^).
Das Erichsche Werk dient, wie man sieht, auch zur besseren Aufklärung
über einen hochbedeutsamen „Kampf ums Recht".
^) Ein russisches Gesetz vom 20. Januar und 29. Februar 1912 hat die
russischen Untertanen den finnländischen Staatsbürgern gleichgestellt. Dagegen
wendet sich eine am 15. März 1913 vom finnländischen Landtag beschlossene,
an den Kaiser und Großfürsten gerichtete Adresse. Die Magistrate von Viborg
und Nystad haben das russische Gesetz als ungültig behandelt. Die Mit-
glieder dieser Magistrate sind deshalb — so berichtet die Adresse des Land-
tags — verhaftet, von russischen Gerichten verurteilt und in Petersburger
Gefängnisse gebracht worden.
YII.
Der Geburtenrückgang
Von Dr. Pontus Fahlbeck
Die Reihe ist nun an Deutschland gekommen. Lange glaubte man. daß
der Niedergang der Geburten, der seit einem Menschenalter in Frankreich
beobachtet worden war und dort durch das sog. Zweikindersystem verursacht
wurde, eine spezifisch französische Erscheinung sei. Sie wurde auch kurz
und gut als „welsche Sitten" charakterisiert, von denen man meinte, daß sie
eine Eigentümlichkeit des französischen Volkes verbleiben würden. Bald
wußten indessen die Statistiker von derselben Erscheinung in Australien und
in den östlichen Staaten der Vereinigten Staaten zu berichten. Diese lagen
ja aber weitab, und das europäische Publikum kümmerte sich nicht viel
darum. Der aufmerksame Beobachter war sich jedoch bereits damals, in
den 80 er Jahren des vorigen Jahrhunderts, klar darüber, daß es sich hier
nicht um eine vereinzelte Erscheinung bei dem einen oder anderen Volk
oder in den Großstädten und gewissen Gesellschaftsklassen — denn auch
dies war beobachtet worden — handelte, sondern um eine im Vorrücken
begriffene allgemeine Volksbewegung oder, wenn man sie so nennen will,
Volkskrankheit.
Die folgende Zeit hat die volle Bestätigimg hierfür erbracht. Die
Angelsachsen in Europa, die skandinavischen Völker, die Belgier, Ungarn,
Italiener und zuletzt die Deutschen haben binnen weniger Jahre denselben
Weg eingeschlagen. Es sind eigentlich nur die slawischen Völker, die ihn
noch nicht gefunden haben. Für denjenigen aber, der die Richtung der
Entwicklung sieht, kann kaum ein Zweifel darüber obwalten, daß einmal
auch sie der Stimme der Zeit gehorchen werden. Es ist ein und dieselbe
große Volksbewegung, die durch sämtliche christliche Völker hindurchgeht,
obwohl sie sich gegenwärtig in verschiedenen Stadien derselben befinden,
einige weit voran auf dem Wege der Kinderbeschränkung, andere an seinem
Anfange, während wieder andere noch gar nicht an ihn herangelangt sind.
Ihre Zeit aber wird sicherlich kommen. Was man dagegen nicht voraussehen
kann, ist, wie lange es bis dahin dauern wird.
Nach der Raschheit zu urteilen, mit der die erstgenannten Völker in
die Bewegung hineingezogen worden sind, möchte man glauben, daß die
Slawen bald folgen werden. Noch 1898, als ich in einer Arbeit über den
schwedischen Adel diese Entwicklung voraussagte, konnte ein Rezensent,
einer der hervorragendsten Statistiker vinserer Zeit, seinen Zweifel äußern.
Im Jahre 1907 konstatierte derselbe Forscher auf der Versammlung des
Internationalen Statistischen Instituts in Kopenhagen, daß die Bewegung mit
Zeitschrift für Politik. 6. 42
658 F a h 1 b e c k , Der Geburtenrückgang.
rasender Geschwindigkeit sich in Ländern ausbreitete, die bis dahin sie nicht
gekannt hatten. Wenig glaublich ist, daß die slawischen Völker ebenso
schnell diesen Weg beschreiten werden — sie sind ja in allen anderen min-
destens ein Jahrhundert hinter den übrigen christlichen Völkern zurück —
allzu lange wird es jedoch sicher nicht dauern, bis auch sie mit den „wel-
schen Sitten" vertraut sein werden. Die politische Kordialität zwischen
Frankreich und Eußland und die BewTinderung für alles Französische, die
die höheren Klassen dieses Landes zeigen, müßten ja, möchte man meinen,
zu rascher Nachfolge auch hierin antreiben.
Man hat anfangs die unangenehme Erscheinung der Geburtenabnahme
wegzuer klären versucht, indem man sie lediglich als Folge gewisser
anderer Erscheinungen deutete. So hieß es, daß die verminderte Nativität
eine Wirkung sei bald einer sinkenden Kindersterblichkeit, bald einer ver-
änderten Alterszusammensetzung infolge allgemeinen Rückganges der Sterb-
lichkeit oder starker Auswanderung, bald endlich einer Abnahme der Zahl
der Eheschließungen oder steigenden Ehealters, Keine dieser Erklärungen
hält aber Stich, Die angeführten Momente können zwar jeder für sich die
„allgemeine Geburtenziffer", das Verhältnis zwischen Geborenen und der
Gesamtbevölkerung beeinflussen. Diese Geburtenziffer ist aber ein schlechter
Maßstab für die Nativität. Man muß den Dingen schärfer auf den Leib
rücken und die „Fz'uchtbarkeit", das Verhältnis zwischen Geborenen und
Frauen in gebärfähigem Alter oder noch besser die Zahl der Geborenen nach
den Altersklassen der Mütter, untersuchen. Tut man das und insoliert somit
die Erscheinung, so zeigt es sich, daß sie volle Wirklichkeit besitzt, unab-
hängig von all den genannten oder anderen auf die allgemeine Geburtenziffer
einwirkenden Umständen. Die Nativität, gemessen an dem Maße der Frucht-
barkeit, ist im Sinken begriffen. Darüber kann kein Zweifel herrschen.
Es gibt übrigens noch eine andere, handgreiflichere Weise, diese Tat-
sache zu studieren. Sie besteht darin, daß man statt relativer Zahlen die
absoluten nimmt. Eine Beobachtung derselben während einer längeren
Reihe von Jahren gewährt einen klareren Einblick, als irgend etwas anderes
es vermag, vor allem in Rücksicht auf den politisch-demographischen Gesichts-
punkt, der uns hier am meisten interessiert. Man konstatiert nämlich bei
jedem Volke, das von der modernen Bewegung ergriffen worden ist, folgendes:
In der älteren Zeit wächst die Geburtenmasse mit jedem Jahre, außer
wenn Mißernte oder andere das ganze Volk betreffende Mißverhältnisse eine
vorübergehende Unterbrechung verursachen. Die Nativität ist gewöhnlich
während dieser Zeit unverändert, wenn sie nicht, wie in Deutschland 1851 — 80,
steigt. Dieser Zustand, der l)estanden hat, seitdem die Bevölkerung in Europa
mit dem Eintritt in das 19. Jahrhundert rasch zuzunehmen begann, wird
nach kürzeren oder längeren Vorboten durch eine Periode des Stillstandes
abgelöst. Die Jahreszahl der Geburten bewegt sich nun mit Über- und Unter-
variationen Jahr für Jahr um eine gewisse Durchschnittszahl herum. In
Frankreich trat dieser Zustand des Status quo etwa um 1820 mit einer jähr-
lichen Geburtenzahl von etwa 950000 Lebendgeborenen ein und dauerte bis
1870. Danach begann in diesem Lande die jährliche Geburtenmasse zu sinken,
zuerst langsam, dann immer schneller. Gegenwärtig steht sie nicht weit von
700000. In den meisten anderen Ländern außer Rußland, einschließlich
Finnland, sowie den Balkanstaaten und den slavischen Bestandteilen der Be-
völkerung östen-eichs ist man ganz neuerdings in das erwähnte Status-quo-
Stadium eingetreten. Was Schweden betrifft, so geschah dies bereits 1876/80
Fahlbeck, Der Geburtenrückgang. 659
mit etwa 136000 Lebendgeborenen im Jahre. In den ül)rigen Ländern ist
fs später gekommen, für die meisten, darunter das Deutsche Reich, während
der Zeit 1901/06. Der Jahreszuschuß der deutschen Bevölkerung durch Lebend-
geborene ist so bei der Ziffer 2000000 ungefähr stehen geblieben. Wie
lange dieser Zustand dauern wird, ist unmöglich zu sagen. Wahrscheinlich
für die meisten Völker ziemlich kurze Zeit. Man glaubt bereits in gewissen
Ländern den Übergang zum nächsten Stadium mit abnehmenden Geburten-
massen verspüren zu können (so in Norwegen, Schweiz, Ungarn), Bestätigt
wird dies auch dadurch, daß zwei Länder offenbar mit Überspringung des
/.wischenliegenden stationären Stadiums direkt zu dem letzten übergegangen
sind. Dies scheint nämlich sowohl bei Großbritannien als bei Belgien der
Fall zu sein, wo seit Beginn dieses Jahrhunderts ohne vorhergehenden Status
quo die jährlichen Geburtenmassen im Sinken begriffen sind. So hatte Groß-
britannien nach früherem stetigen Anwachsen 1901/05 im jährlichen Durch-
schnitt 1174000 Lebendgeborene, aber 1911 nur 1105000; in Belgien er-
reichte die Geburtenmasse ebenso 1901/05 ihr Maximum mit durchschnittlich
193000 Lebendgeborenen, 1911 betrug sie 172000.
Während der Zeit der konstanten Gebnrtenmasse sinkt nicht nur die
allgemeine Geburtenziffer, sondern auch die Fruchtbarkeit. Der Rückgang
ist aber meistens mäßig. Erst mit dem letzten Stadium, wenn die Geburten
jährlich abnehmen, hat die Nativität eine gefährliche Wendung genommen.
Denn die Folge davon muß zunächst eine konstante Bevölkerungsmenge und
später, wenn die Sterblichkeit nicht mehr ebenso rasch wie die Geburten
sinkt, eine abnehmende sein. Dann steht die Gefahr vor der Tür. Die
natürliche Regeneration versagt, und eine wirkliche Volkskrankheit ist ein-
getreten.
Inwieweit diese dann mehr oder weniger gefährlich wird — denn ge-
fährlich ist sie immer — hängt von äußeren Umständen, anders ausgedrückt,
von den Nachbarn ab. Wenn sämtliche angrenzenden Völker an demselben
Übel leiden, so vollzieht sich der Rückgang bei ihnen gemeinsam, und
keines tut dem anderen Eintrag. Befinden sich dagegen die Nachbarn in
einem der früheren Stadien dieses Wachstumsprozesses der Völker, und nimmt
demnach bei ihnen die Bevölkerung zu, so dringt diese in das Volk mit der
geschwächten Nativität ein. Letzteres wirkt nämlich auf das andere saugend
wie der leere Raum auf die umgebenden Luftschichten. Frankreich hat dies
lange erfahren müssen. Die dadurch bedingte Gefahr ist aber insofern
geringer gewesen, als die ringsumher wohnenden Völker teils sich auf dem-
selben Kulturstandpunkt befinden, teils in letzterer Zeit keinen großen Be-
völkerungsüberschuß hervorgebracht haV)en. Für Deutschland, das die slawische
Welt mit ihren ungeheuren, ständig wachsenden Geburtenmassen (allein in
Rußland nunmehr über 5 Millionen jährlich) neben sich hat, ist dagegen
die Gefahr höchst bedeutend. Der Vormarsch der Slawen auf dem Wege
der verschiedenen Nativität ist die größte Gefahr der Germanen, größer als
die direkt politische. Denn gegen diese ist man gerüstet mit bekannten
Waffen — wie aber die erstere bekämpfen? Es ist dies heute schon eine
brennende Frage geworden. Mehr noch wird sie es morgen sein.
Kaum hat der Geburtenrückgang in Deutschland konstatiert werden
können, so haben nicht nur Statistiker, sondern noch mehr Nationalökonomen
und das große Publikum nach einer Erklärung und auch nach einer Abhilfe
42*
660 Fahlbeck, Der Geburtenrückgang.
der bedrohlichen Erscheinung gesucht. Man hat hierbei eine ganze Eeihe
von Ursachen für Deutschland herangezogen, gleichwie es früher in Frank-
reich geschah, wo bereits zu Ende des vergangenen Jahrhunderts eine große
Kommission (Commission Piot) mehrere Jahre lang sich damit beschäftigte.
So sind als Grund der sinkenden Nativität angeführt worden: bei der Land-
bevölkerung mangelhafte Entwicklungsmöglichkeiten durch Kolonisation und
Parzellierung, in den Städten das enge Zusammenwohnen und bei allen eine
Hebung der Lebenshaltung und erhöhte Ansprüche an das Leben, ferner
neue Möglichkeiten zu Zerstreuung und Lebensgenuß wie auch eigene Bequem-
lichkeit und abnehmende Eeligiosität. Andererseits hat man die Erscheinung
auch erklärt diu-ch ein erhöhtes Gefühl der Verantwortlichkeit und durch
die Rücksichtnahme auf Frau und Kinder, sowie besonders bei den Frauen
durch ihre wachsende Selbständigkeit und Abneigung, die Mühen der Mutter-
schaft auf sich zu nehmen usw.
Es ist ein ganzes Heer von Ursachen, denen man die Vaterschaft für
den leidigen Geburtenrückgang hat aufbürden wollen. Und wie gewöhnlich
in solchen Fällen, hat man sich darüber gestritten, welche von den Ursachen
die eigentliche Verantwortung hierfür trüge. Ein Forscher hat sich haupt-
sächlich an eine Ursache gehalten, ein anderer an andere; und zu einer
Einigung der Ansichten hat man nicht gelangen können. Unseres Erachtens
haben alle, die hierüber in Deutschland, wie vorher in Frankreich, geschrieben
haben: Brentano, Oppenheimer, Mombert, Wolf u. a. recht. Denn sämtliche
angeführten Ursachen sind als Komponenten, die eine in einem Fall, die
andere in einem anderen, enthalten. Die Erscheinung saugt Nahrung aus
vielen Quellen, verschieden für verschiedene Gesellschaftsklassen und Lebens-
lagen oder sogar für verschiedene Individuen. Eben hierdurch wird sie so
universal.
Versucht man indessen alle diese Ursachen unter einen Generalnenner
zu bringen, so dürfte wohl das von Julius Wolf ^) gefundene Wort Rationa-
lisierung des Sexuallebens — das treffendste sein. Diese Rationali-
sierung bedeutet, daß die Menschen nicht mehr dem Gebote der Natur in
dieser Sache folgen. Sie wünschen wohl den Geschlechtstrieb ebensosehr
wie früher zu befriedigen, aber sie wollen sich nicht blind seinen Folgen
unterwerfen, sondern wünschen selbst hierüber zu bestimmen. Der instinktive
Naturprozeß ist bewußter Regelung unterworfen worden. Dies ist unzweifel-
haft der allgemeinste Grund der Erscheinung, der alle anderen in sich schließt.
Indessen ist eine derartige Rationalisierung des Sexuallebens keineswegs
etwas Ungewöhnliches. Zwar kommt sie bei den eigentlichen Kulturvölkern
nicht auf ihren früheren Entwicklungsstufen vor und war somit nach dem
Untergang der Antike in Europa bis vor kurzem unbekannt. Sie stellt sich
aber unfehlbar ein, sobald die Kultur eine gevdsse höhere Entwicklung
erreicht hat — außer wenn, wie in China, der Ahnenkult fortlebt. Man
möchte demnach geneigt sein, sie ohne weiteres ein Kulturerzeugnis zu
nennen. Und im vorliegenden Falle ist sie es wirklich. Eine absichtliche
Regelung des Sexuallebens hinsichtlich seiner Folgen kommt aber auch unter
sog. wilden oder halbkultivierten Völkern, z. B. Australnegern und Polynesiern,
vor. Sie ist mithin eine allgemein menschliche Erscheinung, obwohl sie nicht
anders als unter bestimmten Voraussetzungen auftritt, in denen wir also die
0 Der Geburtenrückgang. Die Rationalisierung des Sexuallebens in
unserer Zeit. Jena 1912.
F a h 1 b e c k , Der Geburtenrückgang. 661
fernerliegenden Ursachen für die Beschränkung der Kinderzahl zu erblicken
haben.
Für den Australneger und Polynesier liegen diese in der klaren Einsicht
in die Beschränktheit der Ernährungsmöglichkeiten und in der Notwendig-
keit, die Bevölkerungsziffer stationär zu halten, damit nicht alle Hunger
leiden. Die Kultiu-völker, die Kulturvölker eben dadurch sind, daß der Er-
nährungsspielraum für sie keine unveränderliche, von der Natur gegebene
Größe ist, sondern durch Arbeit unaufhörlich erweitert werden kann, entliehren
lange dieser Erfahrung. Früher oder später aber kommt sie, wenn auch
nicht in so krasser Form. Nicht der absolute Ernährungsspielraum, sondern
der relative, den man auch den sozialen, die standesraäßige Lebenshaltung,
nennen kann, ist es, der hier den Gedanken an eine Beschränkung der
Familien erweckt. Am frühesten tritt er daher bei bäuerlichen Bevölkerungen
hervor, denen Entwicklungsmöglichkeiten durch Anbau neuen Landes oder
durch Güterparzellien;ng usw. abgehen, und die nicht gern die väterliche
Scholle verlassen. Beispiele bieten die Bauern Frankreichs nach der großen
Revolution und die Gottländer auf ihrer Insel. Demnächst sind es die höheren
Klassen, besonders die Beamten, denen der Blick für die Knappheit des
standesmäßigen Ernährungsspielraums aufgegangen ist, und die daher den-
selben Weg einschlagen. Zu diesen ökonomischen Antrieben gesellen sich
dann andere, vor allem die allgemeine Rationalisierung der Denkweise be-
sonders unter den Frauen und eine unselige Propaganda für Präventivmittel.
Und dann breitet sich die Erscheinung über alle Klassen hin aus, mit Aus-
nahme des Proletariats, dem das Gefühl einer besonderen Standeswürde abgeht
und das nicht an den morgigen Tag und an die Zukunft der Kinder denkt.
Gegen die Regelung des Sexuallebens wäre indessen an sich nichts
einzuwenden, wenn ein lobenswertes Verantwortlichkeitsgefühl allein darüber
bestimmte. Denn dann nähme sie keine schädlichen Formen an. Leider
aber ist es so, daß, wenn der Kulturmensch einmal von der Frucht dieses
Baumes der Erkenntnis gekostet hat, leicht eigene Bequemlichkeit und Genuß-
sucht die einzigen Richter in der Sache werden. Auf diese Weise beginnt
das Zweikindersystem — des Einkindsystems oder der fi-eiwilligen Sterilität
zu geschweigen — in Anwendung zu kommen und allgemeine Volkssitte zu
werden. Hiermit ist die Rationalisierung des Sexuallebens in eine Volks-
krankheit umgeschlagen, die den Bestand der Völker und Staaten bedrohen
kann.
Kein Wunder daher, daß diese Bewegung überall, wo sie entstanden,
Besorgnis erweckt und energische Proteste hervorgerufen hat. In Frankreich
hat seit lange ein Verein unter Bertilluns Leitung dieselbe bekämpft. Und
gegenwärtig versuchen eine Regierungskommission, der Senat und die Aca-
demie des sciences morales et politiques Mittel dagegen ausfindig zu machen.
In Deutschland hat die „Gesellschaft für Rassenhygiene" den Kampf gegen
die Präventivmittel aufgenommen. Meistens hat man sich jedoch bisher an
der Konstatierung der Erscheinung und an dem Versuche genügen lassen,
ihre Ursachen festzustellen. Lange dürfte es jedoch nicht dauern, bis auch
in Deutschland ihre Bekämpfung eine Lebensfrage für die ganze Nation wird.
Es muß indessen sogleich gesagt werden, daß. wenn der Kampf den
Zweck verfolgt, die neue Bewegung gänzlich niederzuschlagen und das Kinder-
erzeugen zu den Sitten unserer Väter und Großväter zurückzuführen, er un-
rettbar mit einer Niederlage enden muß. Die Rationalisierimg des Sexual-
lebens kann, einmal geschehen, nie wieder zurückgehen. Sind die Menschen
662 Fall Ib eck, Der Gebui'tenrückgang.
einmal auf den Gedanken gekommen, selbst über die Kinderzalil zu bestimmen.
80 lassen sie ihn nie mehr fallen. Nur gegen die Übertreibungen und gegen
die selbstsüchtige Ausnutzung dieses Gedankens kann der Kampf mit Aus-
sicht auf irgendwelchen Erfolg geführt werden.
Selbstverständlich muß ein solcher Kampf in erster Linie gegen alle
die Umstände gerichtet werden, die den Gedanken erweckt und die Ratio-
nalisierung veranlaßt haben — also gegen die ökonomischen Faktoren, die
eine Rolle hierbei spielen, wie der Mangel an Erde zu Heimstätten, das enge
Zusammenwohnen in den Städten usw., vor allem aber gegen die Propaganda
für Präventivmittel und den Handel damit, sowie die so gewöhnlichen Ver-
brechen gegen keimendes Leben. Eine strengere und detailliertere Gesetz-
gebimg gegen diese Äußerungen der neuen Sitte dürfte die kräftigste Waffe
sein, die man gegen eine gefährliche Entwicklung derselben hat. Es ist je-
doch weniger die direkte Wirkung einer solchen Gesetzgebung als Strafmittel,
an die ich hierbei denke, als die indirekte. Die Gesetzesvorsckriften erinnern
daran, daß das Kindererzeugen nicht lediglich eine Angelegenheit des ein-
zelnen ist, sondern daß das Gemeinwesen ein Interesse daran hat. Die Über-
treibungen in der Rationalisierung des Sexuallebens können am besten durch
eine neue Rationalisierung bekämpft werden, die das Verantwortlichkeits-
gefühl der Menschen gegen den Staat auch in dieser Sache weckt. Hierzu
kann eine derartige Gesetzgebung nebst Aufklärung beitragen, und zu ihr
ist daher vor allem anderen zu greifen. Dagegen scheinen mir alle Maß-
nahmen, die eine Prämiierung des Kindererzeugens bezwecken, zum Mißlingen
verurteilt. Erfahrungen in dieser Hinsicht liegen wie bekannt schon aus der
alten Zeit vor; und die neuen französischen Versuche in derselben Richtung
scheinen dieser Erfahrung nicht zu widersprechen. Steuernachlaß für große
Familien ist eine beherzigenswerte Sache und kann eine soziale Pflicht sein;
er wird aber nicht die Menschen dazu vermögen, sich eine große Kinderzahl
zu schaffen, wenn die Anschauungen und die Sitte in entgegengesetzte Rich-
tung gehen. Und das Gleiche gilt für alle anderen ähnlichen Maßnahmen.
Überhaupt ist es sehr schwer, wirksam diese Erscheinung zu bekämpfen
— ich will nicht sagen in ihrer Allgemeinheit, was, wie gesagt, unmöglich
ist — sondern in ihren gefährlichen Übertreibungen wie dem Zweikinder-
system und ähnlichem. Darüber muß man sich von vornherein klar sein.
Deutschland befindet sich indessen insofern in einer glücklichen Lage, als es
bis auf weiteres Mittel besitzt, die Wirkungen eines Stagnierens oder Sinkens
der Geburtenmassen zu bekämpfen. Die Bevölkerungsziffer kann so trotzdem
noch lange steigen, sofern nur das deutsche Volk die Kindersterblichkeit
herabzubringen vermag und mit der inneren Kolonisation Ernst machen will.
Die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr ist immer noch sehr gi-oß in
Deutschland, etwa 18 Vo- Die schwedische Ziffer, die zweifellos noch nicht
das Minimum erreicht hat, ist beinahe 77o. Hier finden sich also höchst
bedeutende Reserven, die durch bessere öffentliche und private Hygiene heran-
gezogen werden können, um einer sinkenden Geburtenzahl das Gleichgewicht
zu halten. Eine andere Maßnahme mit derselben Wirkung besteht in der
Schaffung von Wohnstätten für kleine Leute imd von Bauerngütern, also in
innerer Kolonisation. Dies würde eine Zeitlang die Zahl der Eheschließungen
vermehren und dadurch die Geburteumasse aufrechterhalten. Eine Stärkimg
des Bauernstandes, besonders in den östlichen Teilen Deutschlands, ist auch
mit Rücksicht auf die andrängenden Polen von gi'oßem Wert. Deutschland
bi-aucht eine demographische Militärgrenze gegen die Slawen. Und eine
F a h 1 b e c k , Der Geburtenrückgang. 663
solche kann nui" ein lebenskräftiger Bauernstand geben — wenigstens für
einige Zeit. Auf die Dauer bleibt es stets aus Gründen, die oben erwähnt
wurden, ein ungleicher Kampf, jiolange auf der einen Seite der Grenze ein
Volk wohnt, das ,,die Rationalisierung des Sexuallebens" gelernt hat, und
auf der anderen eines, das noch nicht von dem Gedanken ergriffen worden ist.
Durch diese beiden Maßnahmen und möglicherweise andere können,
wie gesagt, die für die Bevölkerungsziffer unbehaglichen Wirkungen des
Geburtenrückgangs bis auf weiteres aufgehoben werden. Auf diesen Rück-
gang selbst haben sie keinen Einfluß. Die sinkende Nativität gleicht dem
Steine, der auf einem Abhänge in Bewegung gesetzt worden ist. Es ist
schwer, ihn aufzuhalten, in diesem Falle aber vielleicht nicht unmöglich, wenn
man seine Hoffnungen und Bestrebungen auf das oben angedeutete Maß be-
schränkt — gefährliche Übertreibungen zu verhindern.
VIII.
Bäuerliche Bevölkerung und politische Parteien in
Deutschland und Frankreich
Von Hans L. Rudioff
I. Deutschland.
Unsere Bauern, so zahlreich sie auch sind und so einflußreich sie als
Eigentümer von sieben Zehnteln der nutzbaren Fläche unseres Landes sein
könnten, bedeuten doch als politisch s elb ständige Volksgruppe, als Klasse,
die ihre politische Sache selbst führt, so gut wie nichts. Ihr politischer
Einfluß kommt heute nur mittelbar zur Geltung, soweit nämlich gewisse
politische Parteien, denen sie sozusagen traditionell ihre Stimme geben, die
ihnen eignen wirtschaftlichen Interessen mit vertreten oder zu ver-
treten vorgeben.
Wohl hat man hie und da, besonders in Bayern, gewisse Ansätze poli-
tischer Selbstbetätigung der Bauernschaft wahrnehmen können; aber
die notorische Unzulänglichkeit ihrer Führer und der Mangel eines die bäuer-
lichen Wähler des ganzen Reiches berücksichtigenden Parteiprogrammes
läßt die Annahme gerechtfertigt erscheinen, daß diese Bewegung auf ihren
regionalen Charakter beschränkt bleiben, ja vielleicht ganz und gar im Sande
verlaufen wird ').
Wenn also feststeht, daß unsere Bauern ihre politischen Angelegen-
heiten nicht selbst besorgen, sondern fremder Fühi-ung unterstehen, so handelt
es sich jetzt darum, zu wissen, von welchen Parteien sie geführt werden.
Die liberalen Schriftsteller pflegen darauf zu antworten : von den Konser-
vativen (den Junkern) und dem ihnen verwandten „Bund der Landwirte"
in den protestantischen Teilen, von dem Zentrum (den Greistlichen) in den
katholischen Bezirken des Reiches. Ist das richtig? Bestätigen die Tat-
sachen, soweit sie aus der Wahl- und landwirtschaftlichen Betriebsstatistik
herausgelesen werden können, diese weit verbreitete Ansicht?
Wir haben uns die Aufgabe gesetzt, diesen Punkt klarzustellen, soweit
es sich um die bäuerlichen Wahlkreise des Reiches handelt. Wir ver-
stehen darunter alle die Wahlkreise, in denen die Anzahl der bäuerlichen
Betriebe (von 3- — 50 ha) mehr als 2.5 Prozent der Anzahl der Wahlberech-
tigten dieser Kreise beträgt. Dabei wird angenommen, daß die Anzahl der
bäuerlichen Betriebe in einem Wahlkreis ungefähr gleich der Anzahl der
wahlberechtigten Bauern dieses Kreises ist. Natürlich steht nicht hinter
') Der Bayerische Bauernbund erzielte bei den Reichstagswahlen von 1903
104841 Stimmen, während 1907 72564 und 1912 nur noch 48219 Stimmen
für ihn abgegeben wurden.
Radioff, Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutschi. u. Frankr. 665
jedem bäuerlichen Betrieb ein Wahlberechtigter, sondern es mögen auf
100 Betriebe durchschnittlich 12 Betriebe von nicht wahlberechtigten Per-
sonen geleitet werden ; indessen kommen auf die verbleibenden 88 Betriebe
mit wahlberechtigten Leitern weit mehr als 88 Wahlberechtigte, so, daß der
Ausfall von 12 Wahlberechtigten reichlich gedeckt wird.
Man wird hier vielleicht einwenden, daß ein Wahlkreis mit nur 26 oder
27 Prozent bäuerlichen Wahlberechtigten nicht mehr als ein bäuerlicher
Wahlkreis anzusprechen sei. Dieser Einwurf wäre nicht stichhaltig. Man
darf nämlich nicht übersehen, daß die Anzahl der mehr oder weniger bäuer-
lichen Wahlberechtigten in diesen Kreisen sofort auf mehr als 40 Prozent
aller Wahlberechtigten anwächst, sobald die Inhaber der landwirtschaftlichen
Betriebe von 1 — 3 ha mitgezählt werden.^
So steigt z. B. im Wahlkreis Fritzlar-Homberg-Ziegenhain
(Regierungsbezirk Kassel 3), der nur 4769 bäuerliche Betriebe (von 3 — 50 ha)
auf 17926 Wahlberechtigte zählt, bei Einrechnung der Kleinbetriebe von
1—3 ha die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe sofort auf 7871 oder
43,9 Prozent der Anzahl der Wahlberechtigten. Fügen wir noch hinzu, daß
dieser Wahlkreis nur drei Landstädtchen von 3100 — 3700 Einwohnern und
ein viertes mit 2400 Einwohnern zählt, während die Hauptmasse der Bevöl-
kerung in 187 Ortschaften unter 2000 Einwohnern sitzt, davon ca. 90 imter
300 Einwohnern, daß die Industrie daselbst unbedeutend ist (nur 1027 sozial-
demokratische Wähler !), so wird man leicht erkennen, daß die Bauern mit
Einschluß des ihnen ziemlich sichern Zuzuges von grundbesitzenden Land-
arbeitern und Landwirtschaft treibenden Handwerkern den Wahlkreis be-
herrschen können.
Was aber für diesen Wahlkreis gilt, das gilt mehr oder weniger von
allen bäuerlichen Wahlkreisen, wo die Anzahl der bäuerlichen Betriebe (von
3 — 50 ha) kaum 25 Prozent aller Wahlberechtigten überschreitet, auch wenn
einmal eine Stadt von 24000 Einwohnern (Fulda, Marburg) sich darin be-
finden sollte.
Nachdem diese Vorbemerkungen gemacht sind, ist festzustellen, daß nach
der untenstehenden Tabelle, die auf Grund der landwirtschaftlichen Betriebs-
statistik und der Statistik der Reichstagswahlen aufgestellt ist, 63 Reichs-
tagswahlkreise als bäuerliche zu betrachten sind. An erster Stelle steht
Donauwörth, wo die Anzahl der bäuerlichen Betriebe nicht w^eniger als
48,97 Prozent der Anzahl der Wahlberechtigten ausmacht, an letzter Stelle
Homl)urg-Kusel mit nur 25,05 Prozent.
Verteilt man diese Wahlkreise auf die Parteien, welche sie gegen-
wärtig vertreten, so erhält man die folgende Übersicht:
Zentrum 37 bäuerliche Wahlkreise
Nationalliberale 4 „ „
Fortschrittliche Volkspartei .... 4 „ »
Deutschkonservative und Reichspartei . 5 „ „
Bund der Landwirte 2 „ „
Antisemiten 3 „ „
(Deutsch-soziale 2, D. Reformpartei 1)
Bayerischer Bauembund 2 „ „
Deutscher Bauernbund 2 „ „
Weifen 3 „ „
Däne 1 „ „
Zusammen 63 bäuerliche Wahlkreise.
666 ßudlof f , Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutschl. u, Frankr.
Diese Zusammenstellung zeigt, daß die Bauerukreise in überwiegender
Mehrheit, mit 58,73 Prozent, in den Händen des Zentrums sind. Die
Minderheit. 26 Kreise oder 41,27 Prozent, verteilt sich auf fast alle andern
Parteien, wobei wir besonders hervorheben wollen, daß auf Konservative und
Bund der Landwirte nur 7 Kreise entfallen, die mit Ausnahme von zweien
in Süddeutschland liegen und nicht von Großgruadbesitzern vertreten werden.
Steht hiernach fest, daß von den 63 bäuerlichen Kreisen nur zwei
(Salzwedel-Gardelegen und Sensburg-Ortelsburg) in den Händen konservativer
Großgrundbesitzer sind, so kann man wahrlich nicht mehr behaupten, daß
unsere Bauern, wenigstens da, wo sie die politische Vormacht bilden,
den Junkern „Vorspanndienste" leisteten. Wahrheit ist vielmehr dies, daß
sie in den katholischen Bezirken ausnahms- und vorbehaltlos in den Händen
des Zentrums, in den protestantischen Kreisen aber eine Beute aller andern
Parteien — mit Ausnahme der Sozialdemokratie — sind ')•
Verteilt mau die bäuerlichen Wahlkreise auf die verschiedenen Staaten
des Eeiches, so entfallen auf
Bayern , . 31 Kreise,
Preußen 19 „ ,
Württemberg 6 ., ,
Baden 3 „ ,
Oldenburg 1 ,. ,
Hessen-Darmstadt 1 „ ,
Waldeck 1
Elsaß-Lothringen 1 „ ,
Zusammen 63 Kreise.
Danach entfällt fast die Hälfte (31) aller bäuerlichen Wahlkreise allein
auf Bayern. Was Preußen betrifft, so kommen auf Hannover 6, auf Hessen-
Kassel 4, auf die Rheinprovinz 3 Kreise, auf Schlesien, Sachsen, Ostpreußen
und Sigraaringen je 1 Kreis. Dabei ist bemerkenswert, daß die Bauernki'eise
Kurhessens fast nur Antisemiten, die Hannovers meist Weifen, die der Rhein-
provinz nur Anhänger des Zentrums in den Reichstag entsandt haben.
Soweit unsere rein theoretischen Fesstellungeu, wie sie aus unten-
stehender Tabelle zu entnehmen sind. Sie haben aber auch eine große
praktische Bedeutung. Sie zeigen nämlich bis zur Evidenz, daß unsere
Bauern mindestens 60 Wahlkreise mehr oder weniger aus eigner Kraft er-
obern könnten^). Das ist ein Fingerzeig, der die Beachtung aller derer
verdient, die es angeht.
') Wir glauben hervorheben zu sollen, daß nui- zwei der in der Tabelle
aufgeführten bäuerlichen Wahlkreise in Ostelbien liegen. Das sind Löwenberg
in Schlesien und Sensburg-Ortels]>urg in Ostpreußen.
^) Von den Wahlkreisen mit bäuerlich-industrieller Bevölkerung,
wo die Bauern neben den Industriearbeitern die zahlreichste Volkspruppe
bilden und mithin darauf rechnen könnten, in aussichtsvoUcr Stichwahl
zu kommen, ist hier nicht zu handeln.
Rudi off, Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutsclü. u. Frankr. 667
Bäuerliche Reichstags -Wahlkreise.
Wahlkreise
Anzahl der
bäuerlichen
Betriebe
(3—50 ha)
Anzahl der
Wahl-
berechtigten
Proz. Ver-
hältnis der
Anzahl der
bäuerlichen
Betriebe
zur Anzahl
der Wahl-
berechtigten
Partei -
Stellung des
gegenwärtig.
Vortreters
Landw.
Betriebe
von
1-3 ha
1. Donauwörth ....
2. Neustadt a. S. ...
3. Neumarkt
4. Kaufbeuren ....
5. Dillingen
6. Dinkelsbühl ....
7. Ehingeu-Laupheim . .
8. Signiaringen ....
9. Rothenburg a, T. . .
10. Wasserburg ....
11. Neunburg v. W. . . .
12. Lohr
13. Pfarrkirchen ....
14. Weilheim
15. Forchheim
16. Kelheim
17. Eichstädt
18. Tondern -Husum -Eider-
stedt
19. Illertissen
20. Biberach -Waldsee . .
21. Amberg
22. Aalen-Ellwangen . .
23. Ingolstadt
24. Daun-Prüm-Bitburg
25. Straubing
26. Ravensburg-Saulgau
27. Neustadt a. W. N. . .
28. Landshut
29. Donaueschingen -Villin-
gen
30. Gerabronn-Künzelsau .
31. Aichach
32. Lahr -Wolfach . . .
33. Schweinfurth . . . .
34. Vechta-Cloppenburg .
35. Deggendorf . . . .
36. Lauterbach-Alsfeld . .
37. Hadersleben-Sonderburg
38. Passau
39. Kitzingen
40. Schleiden-Malmedy . .
41. Melle-Diepholz . . .
11155
11557
9046
11337
9036
8423
9051
6489
9867
9858
7930
10215
9173
10761
10387
7152
-7091
8983
9600
9025
7890
8067
8644
8485
9763
9395
8181
7604
86.53
8405
8426
7982
7 639
9407
7560
6118
6207
8297
7166
7366
6328
22780
25017
19962
25313
20801
19457
21826
15 727
24495
25057
20189
26362
24156
28444
28465
19682
19614
25381
27667
26110
22936
23665
25423
25449
29301
28524
24844
23104
26402
25753
25986
24700
23769
29 320
23622
19151
19698
26364
22961
23304
21174
48,97
46,19
45,32
44,79
43,44
43,27
41,47
41,26
40,04
39,34
39,28
38,75
37,97
37.83
36,49
36,34
36,15
35,39
34,70
34,54
34,39
34,09
34,00
33.34
33.32
32,94
32,93
32,91
32.79
32,63
32,42
32,32
32,13
32,08
32,00
31,89
31,50
31,47
31.21
31.18
29.89
Ztr.
Z.
Z.
Z.
Z.
D.-Kons.
Z.
Z.
D. Bbd.
Z.
Z.
Z.
B. Bbd.
Z.
B. d. L.
Z.
Z.
F. Vpt.
Z.
z.
z.
z.
z.
z.
B. Bbd.
Z.
Z.
Z.
Z.
D.-K.
Z.
Z.
Z.
Z.
Z.
N.-L.
Däne
Z.
Z.
z.
Weife
2244
3150
3277
3348
2556
2941
2750
3447
1643
668 Eudlof f , Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutschi. u. Frankr.
Proz. Ver-
hältnis der
Anzahl der
Ajizähl dör
Anzahl der
Partei -
Landw.
Wahlkreise
bäuerlichen
Betriebe
(3—50 ha)
Wahl-
berechtigten
bäuerlichen
Betriebe
zur Anzahl
der Wahl-
berechtigten
Stellung des
gegenwärtig.
Vertreters
Betriebe
von
1— 3 ha
42. Sensburg-Ortelsburg .
6472
21812
29,68
D.-K.
43. Traunstein
92.56
31246
29,62
Z.
44. Waldeck
3724
12776
29,15
D. Soz,
45. Salzwedel-Gardelegeu .
7613
27118
28,09
D.-K.
46, Lüchow-Uelzen . . .
8030
28678
28,00
Weife
5494
47. Hall-Öhringen . . . .
7019
25070
27,99
D.-K.
48. Syke-Hoya
7 773
28032
27,73
N.-L.
5454
49. Neustadt a. E.-Nienburg
7859
28461
27,61
Weife
50. Freudenstadt-Oberndorf
6536
23837
27,41
F. Vpt,
51. Löwenberg ....
3837
14024
27,36
F, Vpt,
52. Iramenstadt ....
8040
29797
27,07
N.-L.
53. Fulda-Schlüchtern . .
6495
24107
26,94
Z.
3439
54. Fritzlar -Homberg- Zie-
genhain
4 769
17926
26,54
D, Bbd.
3102
55. Rosenheim
9716
36825
26,38
Z,
2400
56. Hersfeld-Eotenburg . .
5073
19242
26,36
D. Ept.
3690
57. Zabern
5320
20478
25,98
F. Vpt,
5377
58. Marburg-Frankenberg .
5645
21789
25,90
D, Soz.
59. Meppen-Bentheim . .
7453
29091
25,62
Z.
60, Adenau-Kochem-Zell .
5828
22974
25,37
z.
61. Schopf heim-Waldshut .
6969
27661
25,19
z.
62. Gifhorn-Peine ; . .
9531
37961
25,11
N,-L.
5903
63. Homburg-Kusel . . ,
6448
25 739
25,05
B, d. L.
4378
II. Frankreich.
In einem Lande, wo die bäuerliche Bevölkerung im Verhältnis zur
Gesamtbevölkerung numerisch eine so dominierende Stellung einnimmt wie
in Frankreich, gewinnt selbstverständlich die Frage, wie der Bauer von
seinen politischen Eechten Gebrauch macht, eine ganz besondere Bedeutung.
Es ist bekannt, daß er unter dem dritten Kaiserreich ein willfähriges Wahl-
instrument des Verwaltungsapparates der Monarchie war. Wie steht es jetzt
mit ihm ? Ist er Anhänger der Eepublik, der gegenwärtigen Eegierungs-
forra ? Und welchen Parteien wendet er vornehmlich seine Gunst zu ? Ist
er vielleicht noch ein einfacher politischer Gefolgsmann des konservativen
Großgrundbesitzes ? Oder ein gehorsamer politischer Diener des katholischen
Klerus? Oder hat er sich den radikalen Parteien zugewendet? Alles das
sind Fragen, die in der folgenden Untersuchimg, soweit es die landwirt-
schaftliche Betriebsstatistik und die Ergebnisse der Kamraerwahlen von 1910
gestatten, beantwortet werden sollen.
1. Ehe wir die gegenwärtigen politischen Strömungen in der franzö-
sischen Bauernschaft zu bestimmen versuchen, müssen wir erst die bäuer-
lichen Wahlkreise Frankreichs kennen. Da die Anzahl der bäuerlichen
Betriebe in den einzelnen Wahlkreisen aus den Ziffern der landwirtschaft-
Kudloff, Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutschi. u. Frankr. 669
liehen Betriebsstatistik nicht festzustellen ist, müssen wir uns damit be-
gnügen, die bäuerlichen Departements, mehrere Wahlkreise umfassend,
ausfindig zu machen.
Die nachstehende Tabelle macht uns mit ihnen bekannt. Sie enthält
außerdem in diesen Verwaltungsbezirken die Anzahl der kleinbäuerlichen
Betriebe von 2 — 6 ha und der mittel- und großbäuerlichen Betriebe von
6 — 50 ha, die Gesamtzahl der Wahlberechtigten und das prozentuale Ver-
hältnis der Anzahl der Bauernbetriebe zur Anzahl der Wahlberechtigten und
schließlich die Parteistellung der gegenwärtigen Vertretung.
Der am meisten bäuerliche Bezirk ist das Departement Lot. An letzter
Stelle steht das schon mit Industrie durchsetzte Departement Saone-et-Loire.
Betrachten wir die Eeihe der stark bäuerlichen Departements genauer, so
stellen wir fest, daß sie den Alpen, den Pyrenäen und vor allem dem Plateau
central, dem Cevennengebiet angehören (Lot, Aveyron, Lozere, 0. Marne,
Dröme, Dordogne, Creuse, 0. Loire, Cantal, Puy-de-Dome, Ardeche. Correze).
Stark bäuerlich sind auch gewisse Departements des alten Poitou (Charente
und Charente-Inferieure), der Normandie (Manche, Eure, Orne), des Südens
(Aveyron, Gers, Tarn-et-Garonue, Lot-et-Garonne, Aude und Ariege). Die
bäuerlichen Departements der Bretagne (Morbihan, Ille-et-Vilaine, Finistere),
des alten Anjou (Maine-et-Loire) und Maine (Mayenne), sowie die beiden
Vienne und Savoyen stehen schon in zweiter oder dritter Eeihe. Ganz zuletzt
finden wir die Departements, die neben dem bäuerlichen Besitz einen starken
Großgrundbesitz aufweisen (Nievre, Landes, Deux-Sevres, Cher) oder die
schon eine ansehnliche Industrie haben (Isere, Tarn, Saone-et-Loire).
Unter den bäuerlichen Departements hat der Großgrundbesitz (über
100 ha) mehr als 40 7o der Fläche in den Ostalpen, Ostpyrenäen, Landes,
Cher, Indre, Loir-et-Cher, Niederalpen, Nievre. Der Kleingrundbesitz (bis
6 ha) dominiert in Hoch-Savoyen, Puy-de-D6me. V'aucluse, ist auch stark
vertreten in der Charente, Unter-Charente, Jura, Manche, Ain, Saone-et-Loire.
In den andern bäuerlichen Departements, besonders im Cevennengebiet, über-
wiegt meist der Mittelbesitz (von H — 50 ha).
2. Verteilt man die bäuerlichen Departements auf die Parteien, die
sie gegenwärtig vertreten, so entfallen auf die
Konservativen (mit Einschluß der katholischen „Liberalen" und der
Nationalisten) 50 Sitze,
Progressisten (Eechtsrepublikaner) 17 ,, ,
Eepublikaner (Linksrepublikaner) 67
Eadikalen und Eadikalsozialisten 142
Sozialisten (sozialistische Eepublikaner u. geeinte Sozialisten) 23 „ ,
Zusammen 299 Sitze.
Gruppiert man diese Parteien, wie sie sich bei den entscheidenden
politischen Abstimmungen zu sondern pflegen, in eine Eechte und eine Linke,
80 kommen auf die
Eechte 67 Wahlkreise oder 22.5 Prozent,
Linke 232 „ „ 77,5 „ .
Dringen wir in die Einzelheiten der Verteilung der Wahlkreise
auf die verschiedenen politischen Parteien ein, so stellen wir fest, daß die
Konservativen nur noch in 4 Departements die Mehrheit der Vertretung
besitzen : in Maine-et-Loire, Mayenne, Morbihan und Finistere. Mit Einschluß
der Progressisten verfügen sie auch in Lozere und Manche über die Majorität.
I) )
670 Rudioff, Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutschi. u. Frankr.
Die Wage halten sie der Linken in Aveyron und Ober-Loire. Li 32 bäuer-
lichen Departements haben sie überhaupt keine Vertretung mehr.
Die P rogr essist en (als Partei der Großbourgeoisie) haben, wie auch
die Sozialdemokratie, in den bäuerlichen Departements nur wenig
Boden fassen können. Die dort speziell von den Sozialisten vertretenen Bezirke
sind entweder Städte oder ländliche Industriegebiete oder auch solche Bezirke,
wo der Großgrundbesitz stark vorherrscht und die zahlreichen Landarbeiter
den Sozialdemokraten ihre Stimme geben (Cher).
Eine ansehnliche Vertretung in den bäuerlichen Departements besitzen
die Linksrepublikaner (67 Sitze). Man findet sie in der Regel in den
Bezirken, die vor einigen Jahren noch konservativ wählten, und die all-
mählich für die republikanische Sache gewonnen worden sind : so in den
N. Alpen, Charente, Charente-Inferieure, Orne, Dordogne, Mans, C6tes-du-Nord,
Finistere, Landes, Ariege.
Die gi'oße Masse der bäuerlichen Wahlbezirke ist indessen in den Händen
der Radikalen und Radikalsozialisten (142). Acht bäuei'liche Dej^ar-
tements haben rein radikale und radikalsozialistische Vertretungen, in zwanzig
andern haben sie die Mehrheit.
Hiernach kann man als Hauptergebnis der Untersuchung feststellen,
daß die große Masse der französischen Bauern mit den Radikalen und
Radikalsozialisten geht, in Gegenden mit gemäßigten politischen Anschauungen
meist mit den Linksrepublikanern, vereinzelt mit den Progressisten. Die
Konservativen haben ihre bäuerliche Wählerschaft nur noch in der Bretagne,
Angou und Maine und in gewissen Bezirken der Normandie festhalten können.
Sporadisch wählen die Bauern auch noch konservativ im Süden (Aveyron,
Lozere) und im Westen (Charente). Im allgemeinen aber ist der politische
Einfluß des Großgrundbesitzes auf die Bauernschaft in Frankreich gebrochen.
Bäuerliche Departements.
Abkürzungen: C = Conservative, L = Liberale, P = Progressisten,
Rp = Republikaner, R = Radikale, RS = Radikal-Sozialisten,
SR = Sozialistische Republikaner, S. u. = Sozialisten (geeinte).
Bäuerliche
Anzahl
der bäuer-
lichen
Anzahl
der bäuer-
lichen
Anzahl
der Wahl-
Proz. Ver-
hältnis der
Gesamtzahl
der bäuerl.
Parteistellung der
Departements
Betriebe
von
2-6 ha
Betriebe
von
6—50 ha
berech-
tigten
Betriebe zur
Anzahl der
Wahlberech-
tigten
Vertretung
1. Lot
32813
20555
77159
69,08
3R
2. N. Alpen . . .
12410
13813
38882
67,80
4 Rp, 1 SR
3. H. Alpen . . .
10908
8504
30 782
63,23
1 L, 1 Rp. 1 SR
4. AvejTon . . .
51 798
26320
124709
62,64
3 C, 2 Rp, 1 R
5. Charente . . .
51437
20331
116150
61,81
2 C, 4 Rp
6. Maas (3Ieuse) .
27632
18350
74918
61,40
3 Rp, 1 R
7. Gers . . . .
27778
22397
83553
60,90
1 R, 4 RS
8. Lozere ....
12134
12224
40310
60,49
1 L, 2P
9. 0. Marne . . .
23616
17184
68942
59,07
2 Rp, 2 R
10. Eure-et-Loir . .
28339
14399
77842
54,90
IL, 1 P, 1 Rp,
1 R. 1 RS
Rudi off, Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutschi. u. Frankr. 671
Proz. Ver-
Anzahl
Anzahl
hältnis der
Bäuerliche
der bäuer-
lichen
der bäuer-
lichen
Anzahl
der "Wahl-
Gesamtzahl
der bäuerl.
Parteistellung der
Departements
Betriebe
von
2-6 ha
Betriebe
von
6—60 ha
berech-
tigten
Betriebe zur
Anzahl der
"Wahlberech-
tigten
gegenwärtigen
Vertretung
11. Urne . . . .
30659
18612
93517
52,69
1 C, 1 P, 3 Rp
12. Tarn-et-Garonne
14140
21052
67866
51,90
1 L, 1 Rp, 1 RS
13, Drome ....
28353
20024
94238
51,35
2R, 2 RS, IS.u.
14. Creuse ....
22162
20328
83307
51,00
1 R, 2 RS, 1 SR
15. 0. Loire . . .
28043
17996
94450
48,77
2 L, 1 R, 1 RS
16. Cantal ....
14443
17967
66541
48,72
1 Rp, 3 R
17. Charente-Inf.
48211
23002
146543
48,60
3 Rp, 4 R
18. Yonne ....
27962
20988
101246
48,31
2 P, 2 R, 2 RS
19. Dordogne . . .
39271
31848
148109
48,05
1 C, 4 Rp, 2 R
20. Lot-et-Garonne .
26026
19058
94796
47,60
2 Rp, 1 R, 1 RS
21. Eure . . . .
29195
15411
96458
46,24
IC, 1L,2P, IRp
22. Manche . . .
39949
19342
131713
45,02
3 C, 1 P, 1 Rp,
1 S.u.
23. Cote d'Or . .
29435
19724
109527
44,89
3Rp. IR, 2 S.u.
24. Jura ....
24035
11424
79003
44,87
4R
25. Ariege ....
20186
8675
64788
44,45
2 Rp. 1 R
26. Puy-de-D6me .
48981
25232
175682
42,26
7R
27. Ardeche . . .
26698
19310
111311
41,47
1 L, 2 P, 2 RS
28. Aude ....
28100
11665
101713
39,10
1 R, 4RS, IS.u.
29. Savoyen . . .
21224
7842
75387
38,60
2 Rp, 3 R
30. N. PjTenäen . .
24345
21680
120623
38,16
2 L, 1 P, 4 R
31. H. Pyrenäen . .
18385
7741
67169
38,14
1 Rp, 1 R, 2 RS
32. Morbihan . . .
35420
22938
154492
37,80
6C, 2R
33. Correze . . .
18738
18 1.54
97312
37,29
2 Rp, 2 R, 1 RS
34. Loir-et-Cher . .
20559
11122
85501
37,05
2 R, 2 RS
35. Indre-et-Loire .
25156
14499
107165
37,03
3 R, 1 S. u.
36. Vaucluse .
17796
11623
80030
36,77
4 RS
37. 0. Saone . . .
13008
16300
81959
35,80
4R
38. Ille-et-Vilaine .
35559
22227
167340
34,54
3C, IP. 2Rp. 2R
39. H. Savoyen . .
19462
9839
85212
34,47
1 L, 2 R, 1 RS
40. Doubs . . . .
17219
12717
87074
34,41
1 P, 3 R. 1 RS
41. Indre . . . .
20051
11743
93490
34,40
1 P, 1 Rp, 2 RS,
IS.u.
42. Mayenne . . .
13545
15649
87 690
33,33
3 C, 1 P, 1 R
43. Ain
20780
14132
105399
33,15
6R
44. Loiret . . . .
23.591
12959
111220
32,87
2 Rp, 1 R, 2 RS
45. Vienne . . .
18651
17312
110613
32,51
lC.2P,2Rp,lR
46. Isere . . . .
43813
19529
171905
31,61
2 P, 3 R, 3 S. u.
47. C6tes-du-Nord .
29216
20962
168103
30,80
3 C, 5 Rp, 1 R
48. Finistere . . .
32665
23018
190458
29,20
5C, 4Rp, IS.u.
49. Nievre . . . .
21801
11378
99860
28,77
1 P, 1 R, 2 RS,
IS.u.
50. Tarn . . . .
18140
14022
113077
28,46
1 L, 1 R, 3 RS,
1 S.u.
672 Rudioff, Bäuerl. Bevölkerung u. polit. Parteien in Deutschi. u. Frankr,
Bäuerliche
Anzahl
der bäuer-
lichen
Anzahl
der bäuer-
lichen
Anzahl
der "Wahl-
Proz. Ver-
hältnis der
Gesamtzahl
der bäuerl.
Parteistellung der
Departements
Betriebe
von
2-6 ha
Betriebe
von
6—59 ha
berech-
tigten
Betriebe zur
Anzahl der
Wahlberech-
tigten
gegenwärtigen
Vertretung
51. 0. Vienne . .
14440
16822
115307
27,11
1 R, 3 RS, 1 S. u.
52. Maine-et-Loire .
25634
15454
157743
26,40
5 C, 1 P, 1 R
53. Landes . . .
9650
14310
92429
25.94
3 Rp. 2 RS
54. D. Sevres . . .
14712
14266
112386
25,80
IC, 3 R, 1 S. u.
55. Cher ....
18953
9216
109335
25,77
2 RS, 3 S. u.
56. Saone-et-Loire .
30271
16960
187964
25,14
1 L, 2 Rp, 2 R,
3 RS, 1 S. u.
Besprecliungeii
Zur Geschichte der PoHtik
Von Dr. Carl Brinkmann
H. Spangenberg, Vom Lehnstaat zum Ständestaat. Historische Bibliothek
herausgeg. von der Redaktion der Historischen Zeitschrift. Band 29.
München und Berlin 1912. Oldenbourg. XII und 207 S. — E. W.Mayer,
Machiavellis Geschichtsverfassung und sein Begriff virtü. Ebenda Band 31.
X und 126 S. — Auguste Jörns, Studien über die Sozialpolitik
der Quäker. Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hoch-
schulen. Neue Folge Heft 10. Karlsruhe 1912. Braun. XII und 151 S. —
Jessie Marburg, Die sozialökonomischen Grundlagen der englischen
Araienpolitik im ersten Drittel des XIX. Jahrhunderts. Ebenda Heft 11.
121 S. — A. V. Peez und P. Dehn, Englands Vorherrschaft. Aus
der Zeit der Kontinentalsperre. Leipzig 1912. Duncker und Humblot.
XX und 381 S.
Die Lebendigkeit der Geschichtswissenschaft bewähi't sich an der Politik
wie die der Naturwissenschaft an der Technik. Wie die leljlose. biographisch-
antiquarische Periode der neueren Historiographie trotz ihrer Vorliebe für
die politische Geschichte diese Bewährung floh, so fängt die heutige an mit
der Ausdehnung ihrer Literessen auf das Ganze der Menschengesellschaften
auch wieder die Praxis und die Werterkenntnis zu suchen oder doch nicht
zu scheuen. Auch dadurch erneuert sie für diese Zeit ein Erbe der großen
Entstehungsepoche moderner Wissenschaft. Und man könnte nicht sagen,
eine so innige Wechselwirkung ist es, ob sich an den Wirklichkeiten der
Gegenwart ihr Blick mehr für die der Vergangenheit schärft oder an diesen
für jene. Auch die neuen historischeu Bücher, die ich hier der politischen
Betrachtung empfehlen möchte, kommen einer solchen schon von sich aus
entgegen : Sie stellen nicht nur politische Entwicklungen dar, sondern an
welchen Punkten sie das tun, ist in hohem Grade von den Einsichten (und
auch den Moden) des augenblicklichen politischen Denkens bestimmt.
Vielleicht noch am wenigsten trifft das für die erste der beiden Arbeiten
zu, die sich mit dem Ursprung der neuzeitlichen Staatskunst aus dem Mittel-
alter beschäftigen. Die beiden Begriffe des Lehnstaats und des Ständestaats,
mittels deren Spangenberg die Stetigkeit der deutschen Staatsentwicklung
scharf zertrennt, entsprechen vielleicht ebensowenig wie der populären Auf-
fassung, die das „feudale" Staatsprinzip bis zur französischen Eevolution
dauern läßt, auf der andern Seite noch den letzten Ergebnissen der historischen
Forschung selber, die mit umgekehrter Betonung das Dasein eines eigent-
lichen ,,Lehnstaats" sogar für das hohe Mittelalter in Frage stellen und den
ständischen Territorialstaat zum unmittelbaren Nachfolger der Reichsstaats-
Zeitschrift für Politü. 6. 43
674 Besin'echungen.
gewalt machen. Gewiß ist mit dem territorialen und, was im Grunde dasselbe
bedeutet, dem ständischen Abschluß der deutschen Teilstaaten ein völlig
neues und das entscheidende Element in das politische Leben Deutschlands
eingetreten. Auch ein wichtiges Moment dieser Staatsbildung, an dem Spangen-
berg fast ganz vorübergeht, der Aufbau der inneren sozialen Ordnung durch
die lokale Klassenherrschaft eben jener auch zentral regierenden oder mit-
regierenden Stände, ist begreiflich nur aus der eigentümlichen Kompromiß-
natur der neuen fürstlichen Staatsgewalten und aus der Schwierigkeit ihrer
Erhebung über iirsprünglich gleichmächtige, wenn nicht gleichberechtigte
politische Faktoren. Aber es genügt doch nicht, diesen Vorgang bloß immer
von seinem Endpunkte anzusehen und diesen in begrifflichen Gegensatz gegen
die Anfänge zu bringen, etwa die Landdinge der landschaftlichen Magnaten
bis zum 13. Jahrhundert von den nachherigen Ständetagen, dann eine Früh-
zeit vasallischer Ohnmacht und fürstlicher Macht von einer Spätzeit „privat-
rechtlicher Verbildung" der Dynastien und ständischen Emporkommens zu
unterscheiden. Das alles betrifft nur die äußere Erscheinung, die sehr leicht
darüber täuscht, daß die gleiche Mischung rechtlicher und sozialer, öffent-
licher und privater Kräfte von Beginn an zugrunde liegt, daß lediglich ein
Teil davon an dem einen Pole der neueu politischen Gestaltimg als Terri-
torialherrschaft, ein andrer an dem andern als Territorialstände zusammen-
strömt. Schließlich liegt der Unterschied der vielen mittelalterlichen Dynasten
und der wenigen neuzeitlichen Dynastien gar nicht in ihrem Verhältnis zu
Lehnsleuten oder Ständen unter ihnen, sondern zur Organisation des Reiches
über ihnen, die, der politischen Konsequenz nach, die einen voraussetzten, die
andern dagegen ausschlössen. Dieser beherrschende Hintergrund der deutschen
Staatsgeschichte muß fi-eilich verschwinden, wo das Märchen vom germanischen
Freiheitsgefühl als staatloser Gesinnung geradezu zum Ausgangspunkt der
Erörterung genommen wird '). So erscheint im Allgemeinsten als politische
Konstruktion, was in Wahrheit Rekonstruktion war. Von den einzelnen
Reihen paralleler Tatsachen in der Herausbildung der ständischen deutschen
Staatsform ist, wiewohl mitunter etwas wahllos und unbestimmt, eine nütz-
liche Zusammenstellung gegeben, die vom Wege einer künftigen Geschichte
des deutschen Staats mindestens nicht weit abliegt.
Mayers Untersuchung über Machiavellis Geschichtsauffassung ist aus
der feinnervigen Lehre Friedrich Meineckes hervorgegangen. Damit ist schon
gesagt, daß sie mehr ist als bloße Interpretation von Texten, wie sie die
klassische Philologie mit ihrer Methode zu Hunderten der Historie vermacht
hat. Die Quellenanalyse und die Beobachtung des sprachlichen Ausdrucks
sind Hilfsmittel für eine geistesgeschichtliche Leistung echten Sinnes, wo in
der Einzelpersönlichkeit die Schnittpunkte von großen Zügen des europäischen
Denkens bloßgelegt werden. Gerade dadurch, daß das Entgegengesetzte und
Widerspruchsvolle dieser Züge schonungslos beleuchtet wird, daß diese ratio-
nalistische Anatomie aller intuitiven Zusammenfassung vorgeht, nicht das
historische und damit das politische Werk des Mannes in die größte Per-
spektive unserer Geschichte, die sich von der Renaissance auf die mittleren
und die neueren Zeitalter eröffnet. Das Dämonische der Machiavellistischen
Weltbetrachtung ist stets zu ausschließlich in ihrer modernen Komponente,
der zeitlosen Freiheit ihrer Intelligenz und ihrer Moral, gesucht worden.
Mayer knüpft vielleicht unbewußt an jene neuerliche historiographische Rich-
tung an, die die (eigentlich selbstverständliche) mittelalterliche Wesenshälfte
der Renaissance herauszuarbeiten strebt, wenn er zeigt, eine wieviel stärkere
Folie als in seiner Zeit der moderne Mensch Machiavelli in seinem eigenen
Wesen hat. Sein ethisch-politischer Utilitarismus wird erst „satanisch", da
0 In meiner Sclirift über „Freiheit und Staatlichkeit in der Älteren
Deutschen Verfassung" (München-Leipzig 1912) habe ich versucht sein Gegen-
teil zu erweisen.
Besprechungeu. 675
er gleichzeitig die cliristliche Moral bis in die materiellsten Beurteilungen
als Norm, nur eben als unerfüllbare, voraussetzt. Der wundervoll neutrale
Kraftbegriff der virtü von Individuen und Völkern bekommt seine verzweifelt
pessimistische Farbe, da ihm in der Materie der Aristotelischen Entelechie,
in dem Kreislauf der stoischen Staats- und Kulturperioden dogmatisch der
entwicklungslose Kosmos des lyiittel alters entgegentritt und so außer persön-
licher Zwecksetzung nur der Zufall, die Fortuna, als Ausdruck transzendentaler
geschichtlicher Gesetzmäßigkeit übrig ist. Der V'erkünder einer kaum schon
erreichbaren Machtpolitik ist noch tausendmal zynischer als Bewunderer der
primitiven Staats- und Gesellschaftszustände im republikanischen Rom, als
Ankläger seines degenerierten Vaterlands, als Gegner der neuen materiellen
und geistigen Kultur, des neuen Kriegswesens, als Anwalt des Kleinstaats.
Am Ende bleibt hinter dem allen (namentlich wenn man die glatteren Zeit-
genossen vergleicht) doch die nicht mehr mittelalterliche Seele, die alte und
neue Überzeugungen und Erfahrungen mit demselben Schmerz in sich ein-
drückt, leidenschaftlich, hart und ohne Versöhnung als eigne Willens- und
Verstandesreinheit.
Wie die beiden besprochenen Wei'ke auf die eine Epoche der europäi-
schen Geschichte, so sind die drei übrigen auf die zweite, nicht minder ein-
schneidende bezogen, in der seit den Revolutionen das wirtschaftlich führende
Bürgertum seine eigne Erhebung mit den ersten großen Reformen der Gesell-
schaftsverfassung zugleich ermöglichte und rechtfertigte. Auf welche Weise
sich bei dieser Bewegung noch in ihren ideologischesten Vortrupi^en materielle
Antriebe mit den geistigen und sittlichen verflechten, daran erinnert wiederum
die Übersicht von Jörns über die sozialpolitische Theorie und Wirksamkeit
der „Freunde" in England und Amerika. Das soziologische Phänomen (es
wird von der Verfasserin kaum so hervorgehoben), daß vom 17. Jahrhundert
ab eine religiöse Sekte nicht nur die praktischen Fragen der Gesellschafts-
ordnung zum Mittelpunkt ihrer Tätigkeit wählt, sondern an ihrer Lösung
auch wirklich in ausschlaggebendem Maße mitzuarbeiten imstande ist, dies
Phänomen allein gibt eine Ahnung von der Verwicklung der Mittel bei der
Geburt des ersten europäischen Bürgertums in England. Und man müßte
sehr weit ausholen in die Gebiete der allgemeinen englischen Wirtschafts-
und Verfassungsgeschichte, um zu erklären, was als Faktum Staunen erregt,
wie die Propaganda gerade dieser Sektierer von Anfang an von den Arbeits-
nnd Nützlichkeitsinstinkten aufsteigender Klassen aufgegi'iffen, getragen, mit
ihrer offenen und verborgenen materiellen flacht genährt wird; wie die reli-
giöse Einigung von Unternehmern und Arbeitern oder auch des alten Mittel-
standes in sich einem vor der neuen Zeit großenteils noch ohnmächtigen
Staate die bedeutendsten sozialpolitischen Leistungen, Armenunterstützungs-
imd Arbeitsnachweissysteme, Volks- und Fachschulen, einen ganzen Kolonial-
staat, vorwegnimmt, wie endlich auch gegenüber den ausbrechenden Wunden
des bürgerlichen Sieges in so rücksichtslosen Menschenfreunden, wie John
Howard, William Tuke, William Allen, Elizabeth Fry, den Genossen der
ersten Sozialisten, eben der optimistische Glaube an den Erfolg der Arbeit,
die Ethik der gleichen Weltarbeitsbedingimgen (Sklavenbefreiung!) tüchtig ist.
Auch die Studie von Jilarljurg über die 1834 er Reform der englischen
Armengesetzgebung könnte und müßte ungleich tiefer gehen, wenn sie wirk-
lich die „sozialökonomischen Grundlagen" des Ereignisses und nicht so gut
wie ausschließlich die vorbereitende öffentliche Diskussion behandelte. Statt
den weiteren sozialgeschichtlichen Rahmen des Gegenstandes im wesentlichen
an Kostaneckis sicherlich brauchbares Schema von der mittelalterlichen und
modernen Auffassung der Armut als Vermögens- und Einkommensschwäche
anzulehnen, hätte die Verfasserin dann den Parallelismus untersuchen können,
der zwischen den Wandlungen der Armenpolitik und denen der Wirtschafts-
verfassung in England imverkennbar ist. Die Zeit, die die Notwendigkeit
der „arbeitenden Armut" mit fast zynischer Naivität postulierte und ihren
43*
676 Besprechungen.
naturrechtlichen Anspruch auf Existenz und Beschäftigung überall bereit-
willig unterstützte, war dieselbe, da die Industrialisierung des Landes vor
allen Dingen die größte Beweglichkeit und das gi'ößte Wachstum der Be-
völkerung erforderte. Am Ende des 18. Jahrhunderts und besonders in dem
Elend der Eevolutionskriege trat langsam ins allgemeine Bewußtsein, wie
furchtbar vollständig dies Ziel erreicht war, und jetzt wälzt in Malthus der
Kapitalismus alle Schuld von sich auf (o englischer Philister I) den Geschlechts-
trieb der ausgehaltenen Arbeiterklasse. Aber ferner — und das war als die
Grundlage der ganzen Parteiung in Literatur und Parlament nicht deutlich
genug herauszustellen (die Polemik gegen Adolf Held S. 24 stößt da bloß
längst offene Türen ein): Mit der dauernden Übervölkerung ist die Armen-
pflege aus einer mittelbaren Beförderung des Arbeitsangeljots eine ganz un-
mittelbare Liebesgabe für bestimmte Unternehmerklassen, hauptsächlich die
agrarischen Großbetriel)e in den Heimatbezirken der Arbeiterreserven, ge-
worden, und so verbindet sich nun der Steuerzahler, aufgeschreckt durch
die Kolonisationsprojekte der Tories, mit den industriellen und kommerziellen
Liberalen zu der imposanten Rechtsverwahrung gegen die Verschleuderung
der öffentlichen Mittel. Wobei nur nach der Weise solcher sozialen Aus-
einandersetzungen auf das arme Objekt die schlimmsten Schläge (die sach-
liche Wiedereinschärfung des Workhouse-test) abfallen.
Das letzte Buch des verstorbenen österreichischen Handelspolitikers und
Wirtschaftshistorikers Alexander v. Peez (denn ihm weist der Mitverfasser
Paul Dehn „das Beste" darin zu und ihm gehört wohl zumeist der knorrig
saloppe AltheiTcnstil der Form '), der erste Teil einer geplanten Monograi:ihie
über die „VorheiTschaft" Englands (bis zur Gegenwart^), könnte trotz oder
wegen der bunten Vielfältigkeit seines Gehalts ein gutes Volksbuch sein,
das auch den Kenner unterrichtet, weil es sagt „was die andern nicht gesagt
haben" ; wie unabsehlich viel kommt heute in der geschichtlichen Literatur
auf dies Sagen von Dingen au, die jeder weiß. Aber wenn so im wesent-
lichen die Mittel und Wege nationaler Wirtschaftsautarkie aus dem Beispiel
der hundertjährigen Vergangenheit verlebendigt werden sollen, so wird doch
leider nach zwei Seiten zuviel damit bewiesen. Ich meine nicht allein das
unbewußt doppelzüngige Verfahren, politische Methoden zuerst bei andern
sittlich bloßzustellen, um sie hernach inhaltlich desto unbedenklicher daheim
zu empfehlen. Ich denke weit mehr noch an den unvermeidlichen Verlust
der rein historischen Kriterien. Die Bedeutung der Napoleonischen Kriege
als eines einzigen großen Kampfs gegen England ist durchaus keine neue
Erkenntnis. Sie ließe sich allerdings vertiefen zu einem Verständnis dessen,
wie dabei der radikale, über sich selbst hinaus dringende Flügel des europäi-
schen Bürgertums mit dem besitzenden, systematisch in sich befestigten ringt.
Aber dazu müßte man für die Großartigkeit der revolutionären, für die
Großartigkeit auch der antirevolutionären Solidarität wenigstens die Möglich-
keit eines Begriffs haben, und ich gestehe, seltsamerweise einmal gegen
historischen Materialismus scheinbar protestierend, daß von einer solchen
Möglichkeit hier keine Spur ist. Es bleibt im Grunde die Selbstverständlich-
keit, daß weder Frankreich noch England es mit dem Deutschland des zer-
störten Reiches so gut meinten, wie es der heutige nationale Wirtschafts-
politiker getan hätte. Aber war es (von Peezischen Voraussetzungen aus) für
Frankreich nicht genug, die Lügenhaftigkeit Englands, für England, die
Heuchelei Frankreichs zu bekriegen? Nichts tut dem Historiker mehr Not
als eine gewisse Hlusionslosigkeit gegenüber der Weisheit und Güte großer
Politik. Aber die Witterung von Dummheit und Schlechtigkeit kann einen
Grad erreichen, wo sie einfach falsche Werte in eine auch anderswoher zu
^) Gehören aber in ein so selbstbewußt deutsches Werk Entgleisungen
wie die, daß Napoleon (S. 268) die ,. Zerlegbarkeit von Kali und Natron ver-
anlaßte"?
Besprechungen. 677
probierende Rechnung einsetzt. Sollte wirklich im Seerecht vor hundert
Jahren offener Raub selbst auf der Seite des mächtigsten Seestaats ausführbar
gewesen sein? Das Verhältnis der englischen Flottenkommandos zu Admi-
ralität und Prisengerichten lehrt es anders. Ist vorstellbar, daß Napoleon
tatsächlich aus Kurzsichtigkeit (wie Peez Rose nachschreibt) die von jeher
gefürchtete Aushungerung Englands unterlassen habe? Die kurze Überlegung,
wie der russische Adel Getreideausfuhrverbote in Riga und Danzig aufge-
nommen hätte, zeigt das Alisurde einer derartigen Korrektur der Welt-
geschichte. So fih'chte ich, daß politische Literatur wie diese mehr als alle
ihre Vorzüge die Untugend mitzuteilen sich eignet, aus der sie hervorgegangen
ist: Von dem Geschäftsmann wesentlich die kleinen Anthropomorphien auf
die Geschichte zu übertragen, wo wir seinen großen Blick in technische
Zusammenhänge brauchten.
Hermann Oncken, Lassalle. Zweite durchgearbeitete Auflage. Stuttgart
1912. Fr. Frommann. (E. Hauff.) 526 S.
Bis im Jahre 1904 die erste Auflage dieses Werkes an die Öffentlichkeit
kam. da besaßen wir noch keine rein wissenschaftliche monographische Dar-
stellung der Laufl)ahn Ferdinand Lassalles, zrnn mindesten keine, die unter
Benutzung aller erreichbaren Quellen diese große politische Persönlichkeit
im Zusammenhang mit ihrer Zeit geschildert hätte. Unbefangene Beurteiler
gaben alsbald der Überzeugung Ausdruck, daß der dankbare Stoff endlich
in Oncken den berufenen Bearbeiter gefimden habe und daß seine auf
gewissenhafter Forschung beruhende, durch eine glänzende Darstellungsweise
gehobene Lassallebiographie bis zum künftigen Wiederauftauchen von
Lassalles Nachlaß als eine abschließende Leistung anzusehen sein möchte.
Auch der Referent sprach schon damals diese Ansicht aus, und es ist ihm
jetzt nicht möglich, über ein Werk, das er seit bald einem Jahrzehnt genau
kennt, wie über eines zu berichten, das er eben zum erstenmale gelesen hat.
Diese Anzeige beschränkt sich deshalb, nicht überall, aber vorwiegend darauf,
die zweite Auflage als solche ins Auge zu fassen und an manchen Stellen
ergänzende Hinweise für die dritte zu geben, die dann hoffentlich ein Register
haben wird.
Beim ersten Erscheinen des Werks hatten einzelne Kritiker bemängelt,
daß der Verf. nicht auch unveröffentlichtes und schwer beschaffbares Material
für seine Darstellung herangezogen hatte. Diesen Einwand erledigt die neue
Bearbeitung, denn sie benutzt wertvolle und vorher ungedruckte Quellen,
wie Lassalles Briefe an Otto Dammer, an das Ehepaar Stahr-Lewald und
an LudmUla Assing. Die fi'üher nur auszugsweise bekannten Briefe an Moses
Heß erschienen in Grünbergs Archiv erst nach der Drucklegung des „Lassalle" ;
einer von ihnen bestätigt eine wichtige These Onckens auf schlagende Weise.
Wiederum wurde vom Verf. die Lassalleliteratur mit Sorgfalt benutzt
und bis zu den neuesten Erscheinungen in die Quellennachweise eingefügt.
Auch sonst enthält die zweite Auflage gegen die erste Erweiterungen und
Präzisierungen im einzelnen, aber keine einschneidenden Umgestaltungen.
Der Referent darf es sich ersparen, den Inhalt des bekannten Werks nach-
zuzeichnen und er beschränkt sich unter Einhaltimg der chronologischen
Reihenfolge darauf, nur an solchen Stellen zu verweilen, wo er Bemerkungen
einzufügen hat.
Meisterhaft ist gleich zu Anfang Onckens Analyse von Lassalles Her-
kunft und Jugendentwicklung, die einen teils Übereinstimmungen, teils Unter-
schiede ergebenden Vergleich mit anderen politisch gerichteten Zeitgenossen
jüdischer Abstammung zieht: mit Börne, Heine, Disraeli und besonders mit
Marx. Daß wir doch so wenig wissen, auf welche Wege die sozialen
Probleme zuerst in Lassalles Interessenkreis getreten sind! Natürlich wird
I
678 Besprechungen.
die große Welle, die zu Beginn des Jahres 1843 nach der Unterdrückung
der Deutschen Jahrbücher und der Rheinischen Zeitung die Schriften der
französischen Sozialreformer über Deutschland verbreitete, auch bis Breslau
vorgedrungen sein. Aber wir besäßen gern persönlicher gefärbte Kunde !
Den Einfluß Wilhelm Wolffs, dessen Andenken Marx später „Das Kapital"
gewidmet hat, auf den jüngeren Landsmann hebt Oncken mit Kecht hervor.
Noch nicht ganz klar blickt man in der Frage, wie es mit dem äußeren
Abschluß von Lassalles akademischen Studien bestellt war. Wir wissen, daß
er den Doktortitel niemals erworben hat. Lag aber der Grund ausschließlich
darin, daß der Hatzfeldthandel, der ihn seit 1846 in seine Netze zog, ihm
die Zeit dazu nicht ließ? Bei einem Polizeiverhör in Berlin, von dem ich
aus den Akten Kenntnis habe, erklärte er im Juni 1847, daß er nicht Doctor
promotus sei, sondern nur die Lizenz zu Vorlesungen bei der Universität,
jedoch vergeblich, nachgesucht habe. Oncken berichtet, daß ihm am
24. Januar 1846, nach der Rückkehr aus Paris, das akademische Abgangszeugnis,
welches man ihm wegen privater Händel mit Schneider und Hauswirt
früher verweigert hatte, ausgeliefert wurde. Trotzdem bekundet Lassalle im
Oktober 1847, als er sich von neuem um einen Paß für eine Auslandsreise,
die nachher unterblieb, bemühte, wie ich ebenfalls aus den Akten ersehe,
vor dem Polizeidirektor Müller in Köln: seine Papiere ruhten in Berlin; er
verzichte aber auf die Anführung eines Titels und wolle als Privatier reisen.
Nun brauchte es sich hier freilich nicht um die gleichen Papiere gehandelt
zu haben. Aber eine Unklarheit bleibt bestehen. Wahrscheinlich ist von
Lassalle ein offizielles Habilitationsgesuch niemals eingereicht worden. Er
wii'd, wie es heute noch üblich ist, auf privatem Wege das Terrain sondiert,
einen ablehnenden Bescheid erhalten und deshalb auch auf die Promotion
verzichtet haben! Doch ich äußere damit nur eine Vermutung!
Aus den gleichen Akten „betreffend die Zensur und den Debit der über
die gräflich Hatzfeldtsche Angelegenheit erschienenen Druckschriften und
Abhandlungen" ergibt sich noch manches andere, was für die Biographie
Lassalles in Betracht kommt. So findet man dort ein Leumundszeugnis des
Generals Graf Kalckreuth vom 28. Mai 1846, der sich „für die guten Ge-
sinnungen und das zweckmäßige Betragen des genannten Herrn Lassal", den
er seit längerer Zeit kenne, bei der Regierung verbürgt. Man erfährt, daß
die königliche Departementsersatzkommission Lassalle am 3. August 1847
als Halbinvaliden für den Militärdienst untauglich erklärt. Man stößt auf
höchst pittoreske Schilderungen des verunglückten Versuchs, den die Gräfin
und Lassalle am 4. Juli 1847 unternehmen, um sich mit Gewalt in den Besitz
der Hatzfeldtschen Schlösser Schönstein und Crottorf zu setzen, und man
vernimmt, daß der König gegen diesen „Gewaltstreich" am 8. August „ein
ungesäumtes Einschreiten der Regierung" fordert. Aber wichtiger als diese
Einzelheiten, die dem Bilde Lassalles keinen neuen Zug einfügen, ist eine
bisher nicht beachtete Korrespondenz der Augsburger Allgemeinen Zeitung
aus Berlin vom 18. Mai 1847, die sich mit einer Anwesenheit Lassalles in
der bekannten Versammlung der oppositionellen Mitglieder des Vereinigten
Landtages im Rheinischen Hofe vom 14. Mai dieses Jahres beschäftigt, wo
der denkwürdige Beschluß gefaßt wurde, l)ei jeder künftigen Geldbewilligung,
besonders aber bei der bevorstehenden Eisenbahnanleihe „die Konsequenzen
geltend zu machen", also nichts zu bewilligen, bevor nicht zum wenigsten
die Periodizität der Landtagsverhandlungen zugestanden worden wäre. Bevor
Vincke die Beratung der 141 Abgeordneten eröffnen konnte, mußte die Ver-
sammlung, wie es in jenem Berichte heißt, „eine Purifizierung an sich selbst"
vornehmen. Denn obgleich die Teilnehmer nur auf Einlaßkarten hin zugelassen
worden waren, hatten sich doch zwei ungeladene Persönlichkeiten : ein ritter-
schaftlicher Deputierter und der „aus dem Hatzfeldtschen Prozeß bekannt
gewordene Doktor Lassalle" Zutritt verschafft. Erst nachdem man sie mehrere-
male hatte auffordern müssen, räumten sie das Lokal. Das ist ein Bild, das
Besprecliuugeu. 679
unter manchem Gesichtswinkel eine Interpretation verdient: es beweist, wie
die Unbedenklichkeit, mit der in dem Hatzfeldtschen Konflikt auf beiden
Seiten gekämpft wurde, einen stolzen Menschen wie Lassalle auch bei anderen
Gelegenheiten zu dem Weg über Hintertreppen verleitet, es läßt darüber hin-
aus erkennen, daß Lassalles Interesse an den politischen Vorgängen schon um
diese Zeit einen fieberhaften Grad erreicht haben mußte; schließlich wirkt
es auf uns Nachlebende fast wie ein symbolischer Vorgang, daß der künftige
Fahnenträger der sozialen Demokratie und des allgemeinen Stimmrechts sich
in die erste Versammlung der Opposition des preußischen Ständeparlaraents
dui-ch die Hintertür einschleicht und, wie es unter solchen Umständen nicht
anders gehen konnte, als einer, der hier nicht hineingehörte, an die Luft
gesetzt wird!
Sophie Hatzfeldts und ihrer Händel Bedeutung für die Biographie Lassalles
erörtert üncken mit feinem psychologischen Verständnis, aber auch mit der
taktvollen Zurückhaltimg, die bei dem echten Historiker selbstverständlich
ist. Hierbei weist er gelegentlich darauf hin, daß die Lebensgeschichte
Lassalles bis auf ihren tiefsten und geheimsten Grund nicht ausgeschöpft
werden kann, solange sein Briefwechsel mit diesem vertrautesten „Freund"
— er nannte sie nicht Freundin — verschlossen bleibt. Es ist ein Glück,
daß wir von dem nächstwichtigsten Briefwechsel, dem mit Marx, wenigstens
die Briefe Lassalles besitzen; für die Schilderung der theoretischen Ent-
wicklung seines Helden dienen sie dem Verf. als Hauptquelle. Die einzigen,
bisher bekannt gewordenen Antworten von Marx, beide aus dem Jahre 1855
habe ich kürzlich in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht. Sie lassen
erkennen, daß das erste Einschlafen des Briefwechsels nicht, wie Oncken
annimmt, erfolgte, weil Marx eine von Lassalle erbetene Auskunft nicht er-
teilte, denn tatsächlich ging Marx in seinem Brief vom 8. November 1855
auf die Anfrage ein. Auch Lassalle hat nach diesem Datum noch einmal
geschrieben — einen Brief, der sich anscheinend nicht erhalten hat — ,
aber diesmal hat er keine Antwort mehr bekommen. Denunziationen gegen
ihn, die von Düsseldorf nach London gelangt waren, hatten bei dem stets
zu Mißtrauen geneigten Marx Glauben gefunden und ihm die Fortsetzung
des Briefwechsels verleidet. Über diesen, sowie über andere Punkte ihres
Verhältnisses, dürfte der demnächt erscheinende Briefwechsel zwischen Marx
und Engels Klarheit verbreiten.
Über Lassalles Umgang und Lebensweise nach seiner Übersiedlung
nach Berlin hätten sich väelleicht in Fontanes Scherenberg noch einige Hin-
weise finden lassen. Sehr anschaulich schildert Oncken die politische Situation
von 1859, in die Lassalle mit einer Broschüre eingriff, die durch die neuer-
liche Aufrollung des südslawischen Problems fiu- die deutsch-österreichische
Sozialdemokratie ein aktuelles Gesicht erhalten hat. Lassalle sandte diese
Schrift damals auch an Johann Jacoby, zu dem er über Adolf Stahr in
flüchtige Beziehungen geraten war. Dieser in Preußen angesehenste Wortführer
der ideologischen Demokratie schrieb darüber in einem unveröffentlichten Brief
an Fanny Lewald, die übrigens wie auch ihr Gatte anfänglich Lassalles Ein-
fluß stark gespürt hatte: „Lassalle, dem ich für seine Schrift den besten Dank
sage, hat den Konflikt w-ahr und gut geschildert; gegen sein schließliches
Progi'amm aber ist dasselbe geltend zu machen, was er gegen Vogts Vor-
schlag erinnert: Es fehlt der Krückstock des alten Fritz! Der Knüppel „ist
aus dem Sack", doch wohin damit, das weiß der Knüppel so wenig, wie der
„herrliche" Knüppel. Und das Ende? fragen Sie, nicht eher wird es kommen,
als bis nach des Psalmisten Wort „Friede und Gerechtigkeit sich küßten."
Die Nemesis straft Östep-eich durch Napoleon und wird auch Napoleon sicher
ereilen; sie straft Preußen für die U^nterlassungssünde von 1849 und die
Katharsis wird Freiheit der Völker sein." Es genügt, diese Sätze Jacobys
anzuführen, um zu empfinden, wie fern Lassalle in seiner Geschichtsauffassung
der bürgerlichen Demokratie stand und wie wenig er übertrieb, wenn er
I
680 Besprechiingen.
Marx und Engels wiederholt versicherte, daß er in der Heimat noch mehr
als sie in der Verbannung zu geistiger Vereinsamung verurteilt sei.
Neu hinzugekommen sind in der zweiten Auflage einige Seiten über
Lassalles Verhältnis zu Fichte, das früher nur kurz behandelt worden war.
Was beiden Persönlichkeiten gemeinsam war, faßt Oncken mit schöner Präg-
nanz zusammen: „das Unerschrockene des Denkens bis zu Ende — so viel
originaler auch Fichte darin erscheint — , die Tätigkeit zur Ideenkonzentration
und zu ihrer Umsetzung in einen ihr ebenbürtigen Willen". Für ein Per-
sönlichkeitsgefühl, wie es in Lassalles Blute lag, habe es keine gemäßere
Philosophie geben können als Fichtes selbstherrlichen Idealismus, nichts Höheres
und Lockenderes, als den vermessenen Glauben, selbst zur Umsetzung der
Idee in die nationale Wirklichkeit berufen zu sein! Dann aber heißt es:
„Die dogmatische Überheblichkeit der sozialdemokratischen Theorie von heute
ist ja in erster Linie in der materialistischen Geschichtskonstruktion Marxens
begründet — aber über Lassalle hinweg führt ein Wurzelstrang auch in die
Tiefen des Selbstbewußtseins dieser idealistischen Philosophie zurück." Hier
nun muß ich gestehen, daß ich die Ausführungen des Verf. mir nicht völlig
zu eigen machen kann : Fichtes Einfluß auf Lassalle schätze ich um mehrere
Nuancen peripherer ein als er; auch würde es mir schwer, irgendwo in der
Theorie unserer heutigen Sozialdemokratie einen Nachklang Fichteschen Geistes
zu entdecken. Anders stünde es mit dem proletarischen Anarchismus, dessen
markantester Vertreter in Deutschland Gustav Landauer ist! Übrigens wird
das Problem der erworbenen Rechte von Fichte mit einer so primitiven
wissenschaftlichen Technik angefaßt, daß ich hinsichtlich dieses Punkts nicht
viel mehr als eine Koinzidenz der Interessen wahrnehmen kann. Die Be-
sprechung von Lassalles theoretischem Hauptwerk, das diesen Gegenstand
behandelt, hat Oncken in seiner zweiten Auflage nicht unbeträchtlich erweitert
und auch über die Aufnahme, die es bei Fachleuten gefunden hat, einige
dankenswerte Bemerkungen hinzugefügt. —
Den zweiten der beiden Abschnitte, in welche die Biographie zerfällt,
— auf „die Vorbereitung" folgt ,,die Aktion" — eröffnen neu hinzugekom-
mene oder wenigstens erweiterte Betrachtungen, die in dem großen Freskostil,
den Oncken liebt und beherrscht, die Herkunft der demokratischen Ideale
skizzieren. Vielleicht hätte er uns hier noch zeigen können, weshalb der
Demokratie im Laufe der letzten Jahrzehnte „fast überall in Europa der
nationale Wind aus den Segeln genommen" wurde. Ein Überblick über die
Herkunft des Liberalismus, über seine Grenzen und über den besonderen
Charakter des deutschen Liberalismus führt zu dem preußischen Verfassungs-
konflikt hinüber, mit dem Lassalles kurze aber weltgeschichtlich gewordene
Aktion eng verwachsen bleibt. Der Demokrat „entdeckte nun wieder den
Sozialisten in sich". Meisterhaft ist die Charakteristik Lothar Buchers und
der Beziehungen Lassalles zu diesem Manne, „der nur noch die Dinge sah
und die Worte verachtete". Ungern vermisse ich aber eine gleich gründliche
Würdigung Franz Zieglers, dessen Einfluß auf Lassalle mir größer erscheint
als gemeinhin angenommen wird. Der von der Reaktion abgesetzte Ober-
bürgermeister von Brandenburg hatte schon sehr früh die Erwartung ausge-
sprochen, daß das allgemeine Stimmrecht „zur Ausgleichung der sozialen
Übelstände" führen könnte und „daß das Volk politisch reif gemacht
werden müsse, um befähigt zu sein, wenn die soziale Krisis eintritt, sie
reformatorisch zu überwinden". Aber noch mehr, Ziegler hatte bereits 1850
dem Staat die Pflicht zugesprochen, „die Initiative der indu-
striellen Reformen zu übernehmen, welche die Arbeit organisieren und vom
Lohnverhältnis zur Assoziation führen" müsse. Franz Zieglers Bio-
graphie zu schreiben wäre eine lohnende Aufgabe. Er war ein Einspänner,
der sich nur unter dem Druck der Verhältnisse und später als alle seine
engeren Gesinnungsgenossen der Fortschrittspartei anschloß, auf deren Bänken
er besonders deshalb mit Mißtrauen betrachtet wurde, weil er zu den mit
Besprechunfi:fn. 681
der Zeit selten gewordenen alten Demokraten gehörte, in deren Innern noch
ein starkes StaatsbewulJtsein lebte, das aus Hegel und preußischer Tradition
eigentümlich gemischt und v(m sozialem Geist erfüllt war. Hermann Wagener
behauptet von diesem wurzelhaften, dichterisch begabten, geist- und kenntnis-
reichen Märker, dali er mir ,, durch einen politischen Rechenfehler'' unter die
Demokraten geraten sei. Vor der Revolution wurde sein Umgang wegen seiner
glänzenden gesellschaftlichen Begabung vom König, vom Adel und der
hohen Beamtenschaft, die sein hervorragendes Organisationstalent zu schätzen
wußten, sehr gesucht, imd auch er fühlte sich, wie der andere märkische
Epiker Fontaue, zu einem geselligen Verkehr mit diesen Kreisen hingezogen.
Lassalle mag ihn im Stahrschen Hause kennen gelernt haben. Anfänglich
mochte Ähnlichkeit im Geschmack, in den Gesinnungen und in den Umgangs-
bedürfnissen sie einander näher gebracht haben. Die Wahlverwandtschaft
ihrer Naturen erzeugte dann bald eine innige Freuntlschaft.
, .Einen aber gebraucht auch der Stärkste, ihn zu verstehen, und Du
fandst in mir den. der Dich liebt und begi-eift", rief Lassalle dem mehr als
20 Jahre Älteren zu, und dieser klagte, als ihn die Nachricht vom plötzlichen
Tode des Freundes bis in die tiefste Seele erschütterte: .,I\Iich hat kein Mensch
so geliebt wie dieser". Ziegler empfand für Lassalle eine Liebe, die sich
nur mit der jener Väter vergleichen läßt, die das Ziel, das sie im Hoch-
gemut der Jugend vergebens sich gesteckt hatten, nun von ihrem begabteren,
stärkeren oder glücklicheren Sohne erreicht sehen möchten. Deutlich spiegelt
sich diese Gesinnung im Schluß eines Sonnets, das er beim Beginn von dessen
Arbeiteragitation an Lassalle richtete und das einen Pokal begleitete, den
er dem Freund übersandte:
,,Nimm diesen Kelch und siehst Du, daß Dein Mühen
Vergeblich ist und will Dein Herz verbluten.
Setz' ihn zum letzten Trünke an die Lippe.
Gedenke mein — Statt langsam zu verglühen,
Trink prometheisch trotzend Lebensgluten
Und wirf mit ihm ins Meer Dich von der KJippe."'
' Es war immer bekannt, daß Lassalle sich von Ziegler die Statuten des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins entwerfen ließ. Gerade weil dies
immer bekannt war, ist es merkwürdig, daß die tieferen Beziehungen zwischen
beiden Männern bisher niemals gründlicher untersucht worden sind. Einige
aus der Korrespondenz Zieglers geschöpfte wertvolle Hinweise findet man in
Franz Mehrings .,Lessinglegende". Ich möchte es für wahrscheinlich halten,
daß Lassalle bei der Aufstellung seines Aktionsprogramms an Ziegler den
verständnisvollsten Berater besaß. Aber auch hernach, als er dem Gedanken
des sozialen Königtums näher trat, wird er bei dem alten sozialen Demokraten
neben manchem Bedenken auch auf produktives Verständnis gestoßen sein!
Natürlich durfte der Biograph nicht vollständig an der Frage nach
dem Stammbaume des Programms, mit dem Lassalle seine Arljeiterbewegung
eröffnete, vorübergehen. Aber Oncken hütet sich glücklicherweise, diese Frage
zu überschätzen. Er erkennt, daß es bei dem Politiker nicht darauf ankommt,
originale Ideen zu produzieren, sondern einzig darauf, daß er vorgefundene
und leibhaft ergriffene Ideen in die Tat umsetzt: ein gewisses selbständiges
Leben müsse sogar diesen Ideen schon von fi-üher innewohnen, solle die Tat
ihnen zum Siege verhelfen können. Nun waren wirklich fast alle Punkte
von Lassalles Programm und seiner Begründung in den Anfängen der deutschen
kommunistischen Bewegung schon irgendwo aufgetaucht. Aber eben diese
Anknüpfung an Vorstellungen, die in den Köpfen vereinzelter Arbeitergruppen
in den vierziger Jahren heimisch gewesen waren, bedeutete keine Schwäche
sondern eine Stärke. Lassalles Originalität bestand darin, daß er mit den
ehernen Klammern seines Lohngesetzes und seiner zentralistischen Organi-
sation dieses Programm zu der Festung machte, hinter deren Mauern die
682 Besprechungen.
ersten Vorkämpfer einer selbständigen deutschen Arbeiterpartei sich zu
sammeln vermochten.
Über ein Kapitel, das die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-
vereins schildert, jedoch den Widerstand der Mehrheit der bereits bestehenden
lokalen Arbeitervereine, besonders den Umstand, daß Sonnemann den Verband
deutscher Arbeitervereine direkt als eine Gregengründung gegen Lassalles
Gründung ins Leben rief, nicht scharf genug heraushebt (vgl. meine Dar-
stellung in der Geschichte der Frankfurter Zeitung S. 75 ff.), gelangt Oncken
zu dem meisterhaften Abschnitt über ,,Bismarck und Lassalle'', der einen
der Höhepunkte seines Werkes bildet. Neu hinzugekommen ist hier die Er-
örterung, ob vielleicht Anregungen, die von Schw^eitzer stammten, auf Lassalles
Annäherung an Bismarck miteingewirkt haben könnten. Oncken gelangt
hierbei zu dem Ergebnis, daß zwar auf (xrund des bisher vorliegenden Materials
eine endgültige Antwort auf diese Frage noch nicht möglich sei. daß sich
aber Lassalles ,, taktische Wendung" auch unmittelbar aus der allgemeinen
Ijolitischen vind aus seiner persönlichen Lage erkläre. Dies ist ebenso voll-
ständig richtig wie Onckens Feststellung, daß Lassalle dort, wo er die
Üktroyierung des allgemeinen Stimmrechts empfahl, stets Preußen im Auge
hatte, während Bismarck bereits gleichzeitig erwog, ob er diese revolutionäre
Maßregel nicht besser noch für die Lösung der deutschen Frage aufsparte.
Eine tiefer eingreifende Umarbeitung erfuhr das folgende Kapitel, das
jetzt überschrieben ist: „Fortbildung der nationalökonomischen Theorie in
der Polemik", Die politischen und menschlichen Beziehungen zwischen Marx
und Lassalle hatte der Verf. schon an früheren Stellen des Buches geprüft.
Hier faßt er ihr intellektuelles Verhältnis im Zusammenhang ins Auge und
sucht nach der Grenze, an der Lassalles geistige Abhängigkeit von Marx
aufhört. Übernommen habe Lassalle von jenem die Bedingtheit der sozialen
durch die Produktionsverhältnisse, die Auffassung der Geschichte als eines
Kampfes zwischen einer herrschenden und einer unterdrückten Schicht,
schließlich den Ausblick auf eine künftige Aufhebung dieses Kampfes
durch den Herrschaftsantritt des Proletariats. Aber weder seine idealistische
Grundstimmung noch seinen organischen Staatsbegriff habe er dessen ma-
terialistischer Auslegung der Geschichte geopfert. Wo Marx in dem großen
welthistorischen Klassenkamjjf die staatlichen Sonderbildungen als neben-
sächliche Momente untergehen lasse, berücksichtigte er die Realität des staat-
lichen Moments und halte den Staat innerhalb der dem fi-eien Willen ver-
schlossenen allumfassenden ökonomischen Sphäre für die Sphäre der Freiheit
und des politischen Handelns. Oncken möchte es dem ,, tiefen Einfluß des
Rodbertus" zuschreiben, daß Lassalle für das organische Leben einer Staats-
wirtschaft Verständnis und die Erkenntnis gewann, daß die „ethischen Auf-
gaben der Hegeischen Staatsidee" in der sozialen Sphäre ikre eigentliche Domäne
hätten. Eine ,, nackte Gegenüberstellung" der beiden Gründer der deutschen
Sozialdemokratie hält er mit Recht für unzweckmäßig und insbesondere
lehnt er es ab, ihr historisches Verhältnis von ihrer fachwissenschaftlichen
Beziehung al)hängig zu machen. Er findet, daß Lassalle gerade dm-ch sein
stärkeres Gebundensein an die geschichtlichen Gegelienheiten doch wieder
auch ,,zu tieferer Einsicht in die Bedürfnisse seiner Zeit und seines Volkes
und damit zu stärkeren Wirkungen in der Zukunft berufen" sei. Wo Oncken
in dieser Weise zwischen Marx und Lassalle abwägt, wird man ihm in allen
wesentlichen Punkten beipflichten können. Mit vollem Recht legt er einen
entscheidenden Nachdruck auf die verschiedene Stellungnahme beider zum
Staatsproblem. Den Einfluß von Rodbertus auf Lassalles grundfassende An-
sicht von den Aufgaben des Staats, nicht auf deren konkrete Ausgestaltung,
schätze ich freilich niedriger ein als er. Eine Wendung der Hegeischen
Staatsidee ins Demokratische hatte sich schon bei den .Tunghegelianeru voll-
zogen, und die sozialen Pflichten des Staats waren ebenfalls von ihnen er-
örtert worden. Die preußisch-realistische Ausgestaltung eines solchen Ideals
Besprechungen. 683
mochte Lassalle wie in den Briefen aus Jagetzow — freilich andere orientiert
— auch in den Gesprächen mit IVanz Ziegler entgegentreten, der als
fanatischer Zentralist und Staatsdemokrat auch ein Hasser des Manchester-
tums war und die Macht und Ki-aft des Staats, so übel der eigene ihm mit-
gespielt hatte, immer als eine Herzenssache ))etrachtete.
Auf die von Lassalle auf die deutsche Sozialwissenschaft aus-
gegangenen Einwirkungen weisen einige von Oncken neu hinzugefügte Be-
merkungen hin. Mit Kecht sieht er in Lassalle die vielleicht stärkste unter
den persönlichen Kräften, welche die Gedankenwelt des Kathedersozialismus
in Bewegung gesetzt haben. Zu weit geht er wohl, wenn er Friedrich Albert
Lange zu den Publizisten rechnet, denen erst durch Lassalles Auftreten das
Verständnis für die Bedeutung des sozialen Problems aufging. Lange hatte
die ungeheure Wichtigkeit dieser Frage bereits ergriffen, als er durch Lassalles
Schriften starke Anregungen erhielt. Für sein N'erhältnis zu dem Agitator
wäre übrigens außer seinem von Lassalle und Oncken zitierten Aufsatz in
der Süddeutschen Zeitung vom 25. September 1863 auch sein an der gleichen
Stelle veröffentlichter Beitrag „Veränderungen" vom 3. Mai des gleichen Jahres
heranzuziehen.
„Die neue Taktik" überschreibt Oncken das Kapitel, das in einer Weise,
der ich überall zustimme, die letzte Phase von Lassalles politischer Wirksamkeit
mit feiner Psychologie charakterisiert. Nach den vielen großen Worten mußte
auf ihn der Eintritt in die praktische Kleinarbeit der Agitation, zumal er
als Organisator keineswegs befähigt war (nicht entfernt wie Schweitzer und
Bebel). „wie ein eisiges Bad auf einen Fi eb erglühenden gewirkt haben".
Überdies fehlte ihm die praktische Fühlung mit der sozialen Lage der Arbeiter:
,,er lebte nicht mit ihnen, sondern dachte nur für sie". Die Langsamkeit,
mit der sich der Erfolg einstellte, brachte ihn zur Verzweiflung. Der Brief
vom 12. Februar, der diesem Gefühl Ausdruck gibt und dessen Adi-essaten
Oncken nicht festzustellen vermochte, ist an Gustav Lewy gerichtet und vor
langen Jahren von Schmidt-Weißenfels in der Gartenlaube abgedruckt worden.
Die oberflächliche Auffassung, die neuerdings wieder aufgetaucht ist, als ob
der Revolutionär Lassalle in seinen letzten Monaten plötzlich ein überzeugter
Monarchist geworden wäre, findet in Onckens Augen keine Gunst. Scharf-
sichtig durchleuchtet er den komplizierten Zusammenhang (S. 461): „Der
Lassalle von 1864, der mit Leidenschaft das Banner des sozialen Königtums
ergreifen will, hat übeiTaschende Ähnlichkeit mit dem Lassalle von 1859,
der der Herold einer nationale und demokratische Eroberungspolitik treiben-
den preußischen Monarchie sein wollte." Das Königtum, das er beidemale
haben wollte, war weder 1859 noch 1864 vorhanden: „er suchte es zu locken-
den Zielen auf neue Wege zu drängen, auf denen er sich selbst und seine
Ideen mit in die Höhe bringen wollte; versagte die Macht sich, so schlugen
Dialektik und Taktik ohne Mühe wieder um." So verhielt es sich und
nicht anders.
Vielleicht wird über die „beginnende Minierarbeit der Marxisten" gegen
die halsbrecherische Taktik Lassalles in seiner letzten Zeit der Briefwechsel
zwischen Marx und Engels einiges neue Licht verbreiten. Keinem Zweifel
unterliegt, daß Liebknecht und Vahlteich die treibenden Kräfte der Oppo-
sition waren. Nach Oncken hätten „Mißhelligkeiten über finanzielle Ver-
pflichtungen, die Marx Lassalle gegenüber eingegangen \var", die Spannung
zwischen ihnen verschärft. Er beruft sich hierfür auf einen Brief Ludmilla
Assings an Lassalle vom 21. April 1864, dessen Original sich auf der Berliner
Königl. Bibliothek befindet, und kombiniert damit eine gelegentliche Mit-
teilung Bernsteins, wonach Engels den letzten Brief Lassalles an Marx, den
er ihm noch gezeigt hatte, später vernichtet hätte. Man muß erwarten, daß von
den sozialdemokratischen Parteihistorikern an der Hand des Materials, das
ihnen vorliegt oder vorlag, diese Frage aufgehellt wird. Ein ausgesprochener
schroffer persönlicher Bruch hat wohl trotz aller sachlichen Divergenz
684 Bes2ii'echungen.
zwischen Marx und Lassalle niemals stattgefunden; denn wie an Bismarck
übersandte Lassalle bis an sein Lebensende auch an Marx Exemplare seiner
Publikationen.
Das Schlußkapitel des Buches hat sich gegen die erste Auflage kaum
verändert. Hinzugekommen ist die Stelle, an der die Überzeugnang aus-
gedrückt wird, daß die deutsche Sozialdemokratie noch einmal den Weg
zurück zu Lassalle finden werde, zwar nicht zu seinem Programm von 1863 64,
aber zu seiner Auffassung von Staat und Nation und zu seiner realpolitischen
Schätzung des Möglichen. Zu einer solchen Wiederanknüpfung zwingen
werde sie die für sie wachsende Notwendigkeit, den nationalen Boden zurück-
zugewinnen, den sie unter dem Einfluß von Marx und seinen Jüngern und
unter der Nachwirkung harter Verfolgungen verloren habe. Er glaubt, daß
sie ohne eine rückhaltlose Wiedergewinnung dieses Bodens niemals werde daran
denken können, ,,ihre Kraft in Macht umzusetzten''. Dem Biogi-aphen Lassalles
steht ein solcher Gedankengang, der sich mit dem von Bernhard Harms zwar
berührt aber nicht deckt, wohl an. Eine kritische Auseinandersetzimg mit
ihm hätte an die Interpretation der Ausdrücke ,, nationaler Boden'' und
., rückhaltslos" anzuknüpfen. Die Epoche großer internationaler Verschie-
bungen, in die Europa von neuem eingetreten ist, muß der Sozialdemokratie
die UnVollständigkeit einer nur auf Klassen kämjif e basierten Geschichts-
auffassung ad oculos demonstrieren. Aber auf der anderen Seite ist eben-
falls nicht zu übersehen, daß die inneren und auswärtigen Lebensäußerungen
der Staaten sich gegenseitig durchdringen und daß am wenigsten in einem
modernen Industriestaat die innere Politik eine bloße Funktion des auswärtigen
sein kann. Für die deutsche Arbeiterpartei kann Lassalles Staatsauffassung
erst dann zum ,,Dio'' werden, wenn Preußen -Deutschland sich eine gute
Strecke weiter als bis jetzt dem Staatsideal angenähert haben werden, das
Lassalle und Lothar Bucher vorschwebte, als sie ihrem Meinungsaustausch
Mazzinis: „Dio e Popolo" zugrunde legten!
Der deutschen Geschichtsforschung wünschen wir noch viele so groß-
zügige und gedankenreiche Politiker-Biographieen wie Onckens Lassalle.
Gustav Mayer.
Viktor Reven, Die Fremdenlegion. Stuttgart 1911. Robert Lutz. 112 S.
Die Fremdenlegion wurde errichtet im Jahre 1831. unmittelbar nach
der Erobenxng von Algier, zur Verteidigung der französischen Kolonie in
Afrika. Zuerst wurde nur ein Regiment gebildet, das aus sieben Bataillonen
bestand. In die drei ersten Bataillone nahm man Deutsche und Schweizer,
in das vierte Spanier, in die drei übrigen, jedoch getrennt, Italiener, Belgier
und Polen auf. Dieses System wurde später verlassen, da sich natio-
nale Gegensätze unter den einzelnen Abteilimgen geltend machten, zumal
das verschmelzende Element der Nationalfi-anzosen in denselben fehlte.
.Jetzt besteht die zwei Regimenter umfassende Fremdenlegion nach
französischen Angaben nur mehr aus 50 "/q Ausländern, darunter etwa 55 7o
Elsässer, die sich dem deutschen Heeresdienst entzogen, 20 — 25 7o Deutsche,
10 °/'o Schweizer und etwa 10 — 15 7o Leute anderer Nationalität; selten trifft
man Russen, fast gar nicht Engländer, niemals Amerikaner. Aufgenommen
werden alle tauglichen männlichen Personen vom 18.— 45, Lebensjahre, ohne
daß freilich diese Grenze immer festgehalten wird.
Schon wiederholt haben Erzählungen über die nicht bloß schlechte,
sondern geradezu rohe Behandlung, der die Legionäre ausgesetzt sind, die
Aufmerksamkeit der gebildeten Welt, namentlich in Deutschland auf sich
gezogen.
Im Februar 1911 wurde die Fremdenlegion auch im Deutschen Reichs-
tage vom Abg. Erzberger zur Sprache gebracht. Erzberger wies darauf hin,
Besprechungen. 685
daß diese Einrichtung in ihrer Eigentümlichkeit den deutschen Soldaten
vor Augen gefülirt werden sollte, um den Zuzug nach Algier zu verhindern,
und bemerkte, daß sich auch die französische Nation überlegen solle, ob sie
eine solche Institution, die einer Kulturnation nicht würdig ist, noch länger
beibehalten wolle. Anknüpfend an diese Ausführungen erklärte der Kriegs-
minister V. Heeriugeu, daß er ebenfalls möglichste Aufklärung über die
Fremdenlegion wünsche, daß aber in dieser Beziehung vor allem die Presse
ihre Schuldigkeit tun müsse, leider werde aber von einem Teile der Presse
die Fremdenlegion geradezu verherrlicht.
Diese gewiß unverfängliche Erklänmg des preußischen Kriegsmiuisters
rief in der französischen Presse einen Sturm der Entrüstung hervor. Man
sprach von einer Beleidigung der französischen Armee, betonte, daß Frank-
reich allein den Oberbefehl über seine Armee ausübe, und daß jede, wenn
auch noch so diplomatische Einmischung in die freie Ausübung dieses Rechts
als durchaus ungerechtfertigt angesehen werden müsse usw. ^lit Recht wurden
diese Ausbrüche eines nervösen nationalen Gefühls von der deutschen Presse,
namentlich der Nordd. Allg. Ztg. und der Köln. Ztg., entschieden zurück-
gewiesen. Die Köln. Ztg. hob dabei als besonders empörend hervor, daß
Minderjährige ohne weiteres in die Fremdenlegion eingestellt und trotz aller
Bitten der unglücklichen Angehörigen dieser betörten jungen Leute nicht
wieder losgelassen werden, und unterließ nicht darauf hinzuweisen, daß eine
Nation, die so sehr wie die französische den „Ruhm der Ritterlichkeit" be-
anspruche, sich der Einsicht nicht verschließen solle, daß dieses Verfahren
den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Billigkeit, ja den einfachsten For-
derungen der Menschlichkeit nicht entspreche.
Es ist vorauszusehen, daß die Verhältnisse der Fremdenlegion noch
öfter Gegenstand von Erörterungen werden, zumal der Staatssekretär des
Auswärtigen Amtes in der Budgetkommission des Reichstags erklärte, die
französische Regierung habe zugesagt, in Zukunft jeden einzelnen Fall, der
zur Sprache gebracht werde, zu prüfen und der Reklamation Folge zu geben,
wenn besondere Gründe vorlägen.
Unter diesen Umständen ist es zu begrüßen, daß in der jüngsten Zeit
in Deutschland zwei Schriften erschienen sind, die sich eingehender mit der
Fremdenlegion beschäftigen: Erwin Rosen, „In der Fremdenlegion! Er-
inneiTingen und Eindrücke", eine Schrift, die die Verhältnisse in der Fremden-
legion auf Grund eigener Erlebnisse in packender, die Entrüstung des Lesers
hervorrufender Weise schildert, dann die hier zu besprechende Schrift von
Eeven, die die Institution der Fremdenlegion und die in derselben herrschen-
den Zustände unter sozialen, völkerrechtlichen und weltpolitischen Gesichts-
punkten zu behandeln versucht.
Die Fremdenlegion ist eine Söldnertruppe, deren Angehörige dem fi-an-
zösischen Staate ihre Dienste nicht auf Grund gesetzlicher Verpflichtung,
sondern eines Werbevertrages leisten. Daß, wie Reven hervorhebt, eine
solche Truppe im Widerspruch steht mit dem auch in Frankreich zur Geltung
gelangten Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, nach welchem jeder Staats-
angehörige, aber auch nur der Staatsangehörige, für nationale Zwecke, also
auch für die Erwerbung und Verteidigung von Kolonien herangezogen werden
kann, ist ohne weiteres klar; als unzulässig kann aber die Errichtung einer
solchen Truppe im Allgemeinen nicht bezeichnet werden. Jeder Staat kann nach
seinem Ermessen sein stehendes Heer auf der gesetzlichen Wehrpflicht aufbauen,
wie dies die meisten zivilisierten Staaten tun, oder wie England noch an dem
alten System der Werbung festhalten. Auch dagegen läßt sich grundsätzlich
nichts einwenden, daß für eine solche Truppe nicht bloß Staatsangehörige,
sondern auch Fremde angeworben werden. Kolonialstaaten mit verhältnis-
mäßig geringer Bevölkerung, wie Holland und Belgien, sind bis zu einem
gewissen Grade gezwungen, für ihre Kolonialtruppen auch fremde Staats-
angehörige anzuwerben. Endlich liegt es auch in der Natur der Sache, daß
686 Besprechungen.
Kolonialtruppen, wie die Fremdenlegion, nicht bloß zu militärischen Dienst-
leistungen, sondern auch zu wirtschaftlichen Arbeiten im Interesse der Er-
schließung der Kolonien herangezogen werden, wie schon Rom seine Legionäre
zur Kultivierung eroberter Provinzen verwendete.
An die Tatsache, daß die Fremdenlegion in großem Umfange von jeher
zu wirtschaftlichen Arbeiten in den Kolonien herangezogen wurde und daß
ihr Frankreich die Erwerbung seines jetzigen umfangreichen Kolonialbesitses
nicht bloß vom militärischen Standjjunkte aus sehr wesentlich zu danken hat,
knüpft zunächst Reven mit seiner Kritik der Fremdenlegion an, indem er
das Verhältnis der Legionäre zum französischen Staate vom Standjaunkte des
Arbeitsvertrags beurteilt, zumal ja auch die militärischen Leistungen der Legion
für die Kolonialpolitik auch ihre gi'oße wirtschaftliche Bedeutung haben (S.26ff.).
Er hebt in dieser Beziehung hervor, daß die Wenigsten, die sich als Legionäre
anwerben lassen, sich darüber klar sind, welche Leistungen sie zu machen
haben, und daß die Legionäre vor allem Arbeiter und dann erst Soldaten
oder daß sie doch mindestens zum gleichen Teile das eine wie das andere sind.
In sehr drastischer Weise schildert sodann Reven (S. 39 ff.) wie schwer der
Dienst der Legionäre ist, wie sehr sie roher Behandlung seitens ihrer Vor-
gesetzten und außerdem den schwersten, geradezu brutalen, die Dienstzeit ver-
längernden Strafen ausgesetzt sind und wie gering die Gegenleistung des franzö-
sischen Staates für das ist, was die Legionäre zu leisten und zu erdulden haben.
Wenn auch die Verpflegung im allgemeinen ausreichend sein mag, so
ist doch die Löhnung (5 Centimes täglich) lächerlich gering, von einer einiger-
maßen ausreichenden ärztlichen Fürsorge für die Legionäre ist keine Rede,
Aussicht auf Beförderung ist so gut wie nicht vorhanden, ebensowenig sorgt
der Staat für die Zukunft der Legionäre nach Ableistung ihrer Dienstzeit in
einer irgendwie ins Gewicht fallenden Weise. Erst nach 15 jähriger Dienstzeit
erhält der Legionär eine Pension von 500 Francs; hat der Legionär das Glück
gehabt, sich das mit einer jährlichen Pension von 500 Francs verbundene
Kreuz der Ehrenlegion zu erwerben, so kann er nach löjähriger Dienstzeit
in den Genuß einer Pension von 1000 Francs kommen. Es ist dies aber,
wie Reven S. 45 hervorhebt, ein Fall, der ebenso häufig vorkommt wie der
Gewinn des großen Loses in der Lotterie. Überhaupt kommt es äußerst
selten vor, daß ein Legionär die Zeit der Pensionsberechtigung erlebt.
Im Anschlüsse an diese Darlegrmgen führt Reven S. 71 ff. aus, daß in
der Aufrechthaltung der Institution der Fremdenlegion eine Verletzung des
Völkerrechts sowohl wie des französischen Rechts selbst liege. Er geht von
dem zweifellosen Satze aus, daß auch jeder Fremde, der sich in einem der
Völkerrechtsgemeinschaft angehörigen Staate aufhält, dem Rechte des Auf-
enthaltsstaates in zivilrechtlicher und strafrechtlicher Hinsicht unterworfen
ist, daß er aber, wie er keine politischen Rechte genießt, auch nicht zur Er-
füllung politischer Pflichten herangezogen werden kann, also namentlich auch
nicht zur Leistung von Heeresdienst. Allerdings stehe nichts im Wege, daß
jemand freiwillig in ein fremdes Heer eintritt; wenn sich aber der fireiwillig Ein-
tretende durch diesen Eintritt in das fremde Heer dem Heeresdienst seines
Heimatstaates entzieht und wenn der fi-emde Staat ausdrücklich darauf absehe,
Angehörige eines anderen Staates dazu zu veranlassen, die Pflichten gegen
den Heimatstaat in so auffälliger Weise zu verletzen, so handle er zweifellos
im Widerspruch mit dem Geiste des Völkerrechts, da er eines der wichtigsten
Souveränitätsrechte des Staates der betreffenden Freiwilligen, nämlich des
Rechts über die Wehrkraft seiner Angehörigen zu verfügen, verletze. Man
könne es daher als eine Verletzung des Völkerrechts bezeichnen, wenn der
französische Staat an der deutschen Grenze und sogar in Deutschland selbst
seine Werber für die Fremdenlegion sitzen hat, und wenn französische Be-
amte mehr oder minder verschleiert einen bestimmten Kreis der der deutschen
Souveränität Unterworfenen, nämlich die Elsaß-Lothringer ausdrücklich auf-
muntern, in französischen Heeresdienst zu treten.
Besprechungen. 687
Viel bedenklielier sei natürlich die Sache, wenn der Angehörige eines
Staates ausdrücklich gezwungen wird, fremden Heeresdienst zu leisten. Aus-
gehend von der Auffassung, dab durch privat-rechtliche Verträge weder
staatsbürgerliche Rechte, noch staatsljürgerliche Verpflichtungen begründet
werden können, nimmt Reven einen solchen Zwang auch bei denjenigen
an, die freiwillig in ein fremdes Heer eingetreten sind, demselben aber nicht
mehr länger angehören wollen und trotzdem wider ihren Willen im Dienste
zurückgehalten werden.
Reven sagt daher S. 7 f., der Legionär könne nicht auf Grund einer
öffentlichen Pflicht zum Weiterdienen angehalten werden, abgesehen von dem
Falle, daß er vor dem Feind den Dienst nicht verweigern kann, er könne nur auf
Grund seines Privatvertrages nocih angehalten werden, die rein wirtschaftliche
Seite seiner Verpflichtung zu leisten, aber auch nicht in der Weise, dab er
in ein Arbeitsbataillon gesteckt wird, da er ja auch hier noch militärischer
Disziplin und Rechtsprechung unterliege. Werde ein entflohener Legionär
wieder eingefangen und neuerdings in die Legion gesteckt, so liege zweifellos
eine Verletzung des Grundsatzes vor, daß kein Angehöriger eines Staates in
einem fi'emden Staate zum Heeresdienste gezwungen werden könne.
Diese Ausführungen können nicht in jeder Hinsicht als zutreffend be-
zeichnet werden.
Die Zugehörigkeit zur Fremdenlegion beruht allerdings auf einem Ver-
trage, einem Werbevertrage, durch welchen sich der den Vertrag Abschließende
verpflichtet, dem betreffenden Staate während einer bestimmten Zeit militä-
rische Dienste zu leisten, und durch welchen er sich, weil er Angehöriger
der bewaffneten Macht des Werbestaats wird, der militärischen Disziplin und
Gerichtsbarkeit und den sonstigen auf die bewaffnete Macht bezüglichen Vor-
schriften des Werbestaats unterwirft. Daß derartige Verträge, auch wenn
sie von Fremden abgeschlossen werden, an und für sich zulässig sind, unter-
liegt keinem Zweifel; wie jemand freiwillig in den Zivildienst eines fremden
Staates treten kann, so kann er auch in den Militärdienst eines fremden
Staates fi-eiwillig eintreten, wobei es zunächst gleichgültig ist, ob er durch
diesen Eintritt in fi-emde Zivil- oder Militärdienste die fremde Staatsange-
hörigkeit erwirbt und seine bisherige verliert oder ob eine Änderung in der
Staatsangehörigkeit nicht eintritt. Ebenso ist es an und für sich nicht von
entscheidender Bedeutung, ob man derartige Verträge als privatrechtliche
oder öffentlich-rechtliche Verträge betrachtet. Jedenfalls geht der Werbe-
vertrag auf Leistung öffentlicher Dienste, namentlich militärischer Dienste,
wobei es nicht ins Gewicht fällt, daß die Legionäre noch allerlei Arbeiten im
Interesse der kolonialen Entwickelung machen müssen. Es geht daher nicht an,
den von den Legionären abgeschlossenen Werbevertrag vorwiegend vom Stand-
punkte des Arbeitsrechts zu beurteilen, das Entscheidende liegt bei diesem
Vertrage immer im Eintritt in die bewaffnete Macht des fremden Staates,
weshalb es auch nahe liegt, solche Verträge als öffentlich-rechtliche ^'erträge
zu behandeln. Jedenfalls müssen solche Verträge, um gültig zu sein, den
allgemeinen für die Gültigkeit von Verträgen maßgebenden Gnmdsätzen ent-
sprechen.
Das erste Erfordernis für die Gültigkeit von Verträgen ist aber, daß
die den Vertrag schließenden Personen handlungsfähig und namentlich fähig
sind, gerade den betreffenden Vertrag abzuschließen.
In dieser Beziehung besteht nun bei der Fremdenlegion der große
Unfug, der nicht scharf genug gerügt werden kann, daß nämlich Minder-
jährige ohne weiteres, d. h. ohne Zustimmung ihrer Gewalthaber (Eltern oder
Vormünder) angenommen werden. Daß solche Werbeverträge nichtig bzw.
anfechtbar sind, ist zweifellos; auch nach französischem Rechte kann nur
der emanzipierte Minderjährige selbständig einen Militärdienstvertrag ab-
schließen. Die Altersgrenze von 18 Jahren ist in dieser Beziehung von keiner
Bedeutung.
688 Besprechungen.
Ein weiteres Erfordernis füi- die Gültigkeit eines Vertrags ist. daß die
Willensfreiheit der Vertragschließenden nicht durch Täuschung oder Irrtum
über den Inhalt des Vertrags ausgeschlossen ist. Auch von diesem Stand-
punkte aus sind sicherlich sehr viele Werbeverträge der Fremdenlegion an-
fechtbar, wenn auch im einzelnen Falle oft schwer nachweisbar sein mag,
inwiefern ein Irrtum oder eine von den Werbern hervorgerufene Täuschung
über das abgeschlossene Rechtsgeschäft bei dem Angeworbenen vorlag.
Daß das, was der französische Staat den Legionären, die ja ihre Gesund-
heit und ihr Leben ihm zu opfern verpflichtet sind, als Gegenleistung gewährt,
durchaus ungenügend und einer zivilisierten Nation geradezu uuwüi-dig ist,
kann nicht bezweifelt w^erden. Eine Anfechtung der Werbeverträge von
diesem Gesichtspunkte allein ist aber ausgeschlossen, da sich die Legionäre
durch Abschluß des Werbevertrags stillschweigend mit den Leistungen ein-
verstanden erklärt haben, die ihnen der französische Staat gewähren wird.
Diejenigen, die sich für die Fremdenlegion anwerben lassen, verpflichten
sich zu einer fünfjährigen Dienstzeit. Vor Ablauf seiner Dienstzeit kann der
Legionär freiwillig nicht aus dem Dienste ausscheiden. Er kann nicht bloß
in dem Falle, daß er vor dem Feinde seine Truppe verläßt, als Deserteur
behandelt werden, denn durch Abschluß des Werbevertrags hat er sich den
Militärgesetzen des fremden Staates unterworfen, die jedes fi-eiwillige Ver-
lassen der Truppe als Desertion behandelt. Daraus folgt, daß wenn ein
Deutscher aus der Fremdenlegion desertiert und bei einem in einem der
französischen Staatsgewalt unterworfenen Gebiete befindlichen Eeichskonsul
Zuflucht findet, von diesem der französischen Militärbehörde ausgeliefert
werden muß. Dabei sind jedoch zwei Ausnahmen zu machen. Hat sich der
Deutsche, der in die Fremdenlegion eingetreten ist, in seiner Heimat der
Wehrpflicht entzogen, so braucht die Auslieferung nicht zu erfolgen. Das
Recht des Heimatstaates auf die Dienste seines Angehörigen geht dem Rechte
eines fremden Staates vor.
Ebenso kann die Überlassung des Deserteurs an die fi-anzösische Militär-
behörde nicht begehrt werden, wenn der Betreffende sich in Deutschland
der Strafverfolgung entzogen hätte und Deutschland von Frankreich dessen
Auslieferung zu verlangen berechtigt wäre.
Reven erörtert auch die Frage, wie es denn kommt, daß die Fremden-
legion, gegen die sich so viele begründete Einwendungen erheben lassen, immer
noch besteht (S. 85 ff.). Er findet den hauptsächlichsten Grund für diese
Erscheinung in der Tatsache der stehenden Bevölkerungszahl Frankreichs,
die zur Folge habe, daß diesem Staate für seine expansive Kolonialpolitik,
die selbst wieder in einem gewissen Zusammenhange mit dem Eevanche-
gedanken stehe, nicht das erforderliche Menschenmaterial zur Verfügung stehe.
Es besteht kein Anlaß, auf diese teilweise ziemlich weit hergeholten und
nicht immer ganz zutreffenden Ausführungen genauer einzugehen. Es mag
sein, daß hier die stehende Bevölkerungszahl eine gewisse Rolle spielt, obwohl
man meinen sollte, daß ein Volk von etwa 40 Millionen doch in der Lage
sein müsse, eine Kolonialtruppe von etwa 12000 Mann zu stellen. Das Nächst-
liegende ist wohl, daß die französischen Bauern und Bourgeois in ihrem
Egoismus es sehr bequem gefunden haben, daß angeworbene Fremde ihnen
die Kolonien erwerben und verteidigen, so daß sie für diese Zwecke ihre Haut
nicht zu Markte tragen brauchen. Dieser naive Egoismus läßt die Franzosen,
wie namentlich die Verhandlungen über den Fall des Elsässers Weißrock im
französischen Parlamente gezeigt haben, vollständig übersehen, daß der Fort-
bestand einer solchen Einrichtung für ihr Vaterland eine Schande ist. \V ürde
Deutschland eine solche Truppe haben, so wären die Franzosen die ersten,
die auf diese barbarische Eim-ichtung hinweisen würden, und die französischen
Pazifisten würden nicht verfehlen, von den Auswüchsen des deutschen Mili-
tarismus zu sprechen. Da es sich aber um eine fi-anzösische Einrichtung
handelt, so heißt es: „Ja, Bauer, das ist etwas anderes."
Besprechungen. 689
„La grande nation" glaubt sich eben alles erlauben zu dürfen, da sie
namentlich von Deutschland zu zimperlich behandelt wird. Auch Reven ist
teilweise in diesen Fehler verfallen. Den Erfolg, den man dadurch erreichen
will, nämlich die Aussöhnung mit Fi'ankreich, hat man aber, wie die neuesten
Ausbrüche des Chauvinismus zeigen, nicht erreicht und wird ihn auch auf
diese Weise nicht eiTeichen; das fi-anzösische Volk macht den P^indruck eines
verhätschelten Kiudes, das um so ungezogener wird, je mehr man ihm nach-
gibt. Gewiß wäre eine ernstliche Aussöhnung zwischen Deutschland und
Frankreich für die ganze Welt von größter Bedeutung. Diese Aussöhnung
kann aber erst dann eintreten, wenn die Franzosen selbst zur Vernunft kommen
und einsehen, daß diese auch für sie von Wert ist. Erzwingen läßt sich
jedenfalls die Aussöhnung durch Annäherungsversuche von deutscher Seite
nicht. Im Gegenteil werden dadurch die Franzosen nur noch eingebildeter
gemacht. Von diesem Standpunkte aus mufi auch die Frage der Fremden-
legion behandelt werden. Bisher hat man dieselbe in Deutschland, obwohl
Deutschland an derselben am meisten interessiert ist, mit großer Zurück-
haltung und einer gewissen Scheu behandelt. Dies muß aufhören. Es ist
sehr zu wünschen, daß namentlich auch die Reichsregierung mehr als bisher
sich der in der Fremdenlegion befindlichen Deutschen, die mitunter durch
die verwerflichsten ]\Iittel der Legion zugeführt wurden, annimint und in
allen Fällen, die nach Lage der Sache geeignet sind, energische Reklamationen
hervorhebt. Was in dieser Weise gesehen kann, hat Reven für einzelne Fälle
in zutreffender Weise (S. 83 f.) hervorgehoben.
Jeder Reichsangehörige hat nach Art. 3 Abs. 6 RV. dem Auslande
gegenüber Anspruch auf den Schutz des Reiches. Diese Vorschrift findet
auch Anwendung auf die Deutschen, welche in der Fremdenlegion dienen,
trotzdem aber ihre Staatsangehörigkeit nicht verloren haben. Das Auswärtige
Amt ist daher verpflichtet, sich dieser Legionäre, die sich hilfesuchend an
dasselbe wenden, viel entschiedener anzunehmen als bisher, und namentlich
in allen Fällen, in denen Minderjährige angeworben worden sind. Reklama-
tionen zu erheben, um der französischen Regierung das Unzulässige und
Gesetzxndrige ihres Verfahrens immer wieder zum Bewußtsein zu bringen.
Karl Frh. v. Stengel.
Georg Loesche, Von der Duldung zm- Gleichberechtigung. Wien 1911.
Manz. 812 S.; Ders., Von der Toleranz zur Parität in Österreich.
1781—1861. Leipzig 1911. Hinrich. 96 S.
Die Glaubenskämpfe in Österreich haben eine reiche historische Literatur
gezeitigt. Das Jahrhundert der Reformation und Gegenreformation wurde
von katholischen und protestantischen Historikern eifrig durchforscht, so daß
heute in unserer Kenntnis der denkwürdigen Geschehnisse kaum noch eine
empfindliche Lücke besteht. Um so dürftiger ist die Darstellung der Ereig-
nisse geblieben, die sich im Leben der evangelischen Glaubensbekenner nach
der Abkehr des Staates von der Unduldsamkeit abgespielt haben. Diesen
Mangel mußte nicht nur der Historiker beklagen, auch der Politiker litt
darunter. Frühzeitig haben die einsichtigeren Elemente ja erkannt, welcher
innige Zusammenhang in Österreich zwischen der staatlichen und der reli-
giösen Politik, zwischen der geistigen Freiheit und der wirtschaftlichen Ent-
faltung bestand. Fast alle gründlich durchdachten und ernstgemeinten Reform-
vorschläge, die in den Jahrzehnten nach dem Siege der römischkatholischen
Kirche in der Habsburger Monarchie üVjer die Bekenner der evangelisclien
Lehren erstattet wurden, wiesen die Schäden auf, die m der Verfolgung der
tüchtigen, arbeitsamen, unternehmungslustigen Protestanten ihre Ursache
hatten. In dieser Beziehung war es gleichgültig, ob Staatsmänner oder
Volkswirte das Wort ergriffen, ob der Ruf nach einer Ermanmmg Östen-eichs
Zeitschrift für Politik. 6. 44
690 Besprechungen.
aus Amtsstuben oder aus den Arbeitszimmern der Praktiker und Theoretiker
erschallte. Die Gedenkfeier des fünfzigjährigen Bestandes der vollen Gleich-
berechtigung für die Protestanten in Österreich, die in das Jahr 1911 fiel,
hat die geschichtliche Literatur nun um zwei Schriften bereichert, auf die
wir die Aufmerksamkeit lenken möchten. Der Verf. der beiden in ihrem
Umfange und in ihrer Anlage — nicht in der Qualität — ungleichen Arbeiten
ist der Wiener Universitätsprofessor Dr. Georg Loesche, der sich schon durch
eine gi-oße Reihe von Werken verdient gemacht hat und dessen sehr emp-
fehlenswerte, zusammenfassende und anschauliche „Geschichte des Protestan-
tismus in Österreich" (Tübingen 1902, 251 S.) sicherlich in weiten Kreisen
bekannt wurde.
Das trockene, aktenbeschwerte Werk „Von der Duldimg zur Gleich-
berechtigung", das auf ungewöhnlich fleißigen Archivstudien aufgebaut ist,
wendet sich vornehmlich an den Historiker. Dem Politiker werden die ins
Detail gehenden Spezialforschungen nicht immer Interesse abgewinnen. Das
Kapitel über die Außerkraftsetzung des josefinischen Protestantenpatents in
Tirol und die in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts vollzogene
Vertreibung der Protestanten aus dem Zillertal bietet jedoch mancherlei be-
achtenswerten Aufschluß ; ebenso gewährt der Abschnitt über das Zusammen-
fließen der religiösen und der konstitutionellen Bewegung im Jahre 1848
auch dem Politiker Anregung. Am 15. März 1848 wurde die Umwandlung
Österreichs in einen konstitutionellen Staat zugesagt, vmd schon vier Tage
später predigte der Konsistorialrat Franz: „Josefs Zeit war eine große,
schöne Zeit; herrlicher und beglückender noch, allgemeiner begriffen und
sicherer gewährleistet scheint uns die Zeit, die mit unserem konstitutionellen
Ferdinand beginnt." Tatsächlich brachte die Verfassung vom 25. April 1848
die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Aber schon damals wiu-den Stimmen
laut, die sagten, daß die Protestanten sich über die verheißene Freiheit nicht
zu sehr freuen möchten. Seit der Einnahme Wiens Ende Oktober 1848, die
einen Umschwung in der Politik Österreichs bedeutete, fürchtete man, daß
die Reaktion auch in religiöser Hinsicht siegen würde. In Wirklichkeit
mußte noch mehr als ein Jahrzehnt verfließen, ehe die in der Zeit des Völker-
frühlings verkündete Parität aller Staatsbürger ohne Unterschied des Glaubens
wenigstens für die Christen zm- Tat wurde. Kaiser Josef IT., der voll Liebe
an der römischkatholischen Kirche hing, hatte dennoch durch das Patent
vom 13. Oktober 1781 den EvangeUschen Duldung zugesichert, weil er den
Vorteil erkannte, den die freiere Entwicklung der protestantischen Unter-
tanen für die Blüte der Monarchie bedeutete. „Überzeugt einerseits von der
Schädlichkeit alles Gewissenszwanges und andererseits von dem großen Nutzen,
der für die Regierung und den Staat aus einer wahren christlichen Toleranz
entspringt, haben wir uns bewogen gefunden, den augsburgischen und hel-
vetischen Religionsverwandten, dann den nichtunierten Griechen ein ihrer
Religion gemäßes Privatexerzitium allenthalben zu gestatten, ohne Rücksicht,
ob selbes jemals gebräuchlich oder eingeführt gewesen sei oder nicht." Mit
diesen Worten begann das berühmte Dokument der kaiserlichen Duldsamkeit,
das für die Habsburger Monarchie eine neue Epoche des geistigen Lebens
einleitete. Allerdings sprach schon der nächste Satz aus, daß der römisch-
katholischen Kirche allein der Vorzug „des öffentlichen Religionsexercitii"
vorbehalten bleiben solle. Durch das josefinische Patent wurde nur Toleranz
gewährt, nicht Gleichberechtigung. Den großen Schritt nach vorwärts unter-
nahm erst Kaiser Franz Josef am 8. April 1861 im dreizehnten Jahre seiner
Regierung. Durch diese epochale Maßnahme erhielten die Protestanten in
Österreich die volle Freiheit nach innen und außen, in der Ordnung ihrer
religiösen Angelegenheiten und in ihrer Stellung zum Staate.
Einen vorzüglichen, sehr lesenswerten Überblick über das, was für die
Protestanten an wichtigen Ereignissen zwischen 1781 und 1861 lag, gewährt
Loesches temperamentvoll geschriebenes Büchlein „Von der Toleranz zur
I
Besprechungen. H91
Parität in Österreich", das von dem schweren Dokumentenballast des früher
erwähnten größeren Werkes vollständig frei ist. Es zerfällt eigentlich in
zwei Teile, indem es zuerst „die Umwelt des Toleranzprotestantismus" an-
ziehend darstellt und dann die kirchenpolitischen Verhältnisse des Akatho-
lizismus behandelt. Der erste Abschnitt bringt einen kurzen Abriß der
Geistesgeschichte Österreichs, der Persönlichkeiten des Hofes und der Be-
amtenschaft und der römischkatholischen Kirche, die den Ideen der Auf-
klärung zugänglich waren. Die von Josef II. ausgestreute Saat wurde von
Leopold n. getreulich behütet. So sehr er auch auf manchen Gebieten vor
der Reaktion zurückweichen mußte; die josetinischeu Kirchenreformen gab er
nicht preis. Doch das hinderte den hochsinnigen Monarchen, den gelehrigen
Schüler Montesquieus nicht, den Akatholiken zu Gemüte zu führen, daß das
Toleranzedikt des Jahres 1781 kein unwiderrufliches Staatsgesetz sei. Von
der Toleranz ging auch Kaiser Franz nicht ab, der 42 Jahre regierte. Der
Druck, der in diesen Dezennien auf Österreich lag, teilte sich natürlich den
Protestanten mit; die Toleranzverordnungen wurden zum Teil ungünstiger
ausgelegt, ohne daß man es jedoch wagte, an ihnen zu rütteln. Den Aka-
tholiken kam damals zugute, daß die erste von den vier Frauen des Kaisers
eine Konvertitin war, daß Erzherzog Carl eine evangelische Prinzessin hei-
ratete, die ihrem Glauben Treue hielt und daß die Gemahlin des imgarischen
Palatins Erzherzog Josef ihren religiösen Pietismus in Wort imd Taten be-
wundernswert vertrat. Die Regierung des Kaisers Ferdinand begann mit
der Austreibung der Zillertaler Protestanten. Das war eine Gesetzeswidrig-
keit, ein Verstoß gegen die deutschen Bundesakte, deren ij 16 bestimmte,
daß die Verschiedenheit der christlichen Religionsbekenntnisse keinen Unter-
schied im Genüsse der bürgerlichen und politischen Rechte begründen solle.
Sonst konnten sich die Evangelischen in der ferdinandeischen Ära behaupten.
Das Protestantenpatent vom Jahre 1861 erfloß zu einer Zeit, da Erzherzog
Rainer, der freisinnigste aller kaiserlichen Prinzen, an der Spitze der öster-
reichischen Regierung stand. Loesche erinnert aber auch an den Erzherzog
Max, der später Kaiser von Mexiko wurde und der in den Kreisen des Hofes
im Geiste Josefs 11., ja über diesen hinaus, wirkte. Er mußte sogar mit der
Möglichkeit rechnen, von der römischkatholischen Kirche exkommuniziert zu
werden, ein Los, das ihn als vierten Erzherzog des Hauses Habsburg und
Habsburg- Lothringen getroffen hätte. Nicht weniger interessant ist der
zweite Teil der Schrift, dem sich der vollständige Text des Toleranzpatents
und des Protestantenpatents anschließt. Die kleine Abhandlung würde es
verdienen, viel gelesen zu werden. Noch wünschenswerter wäre es, daß
man ihre Lehren beherzige. Richard Charmatz.
Heinrich Marczali. Ungarisches Verfassungsrecht. Band XV des Öffent-
lichen Rechts der Gegenwart. Tübingen 1911. Mohr. XIE und 234 S.
Diesen Band der groß angelegten Sammlung werden viele, die sich mit
öffentlich-rechtlichen Problemen beschäftigen, schon deshalb zur Hand nehmen,
weil Ungarns Staatsrecht zu mannigfachsten und entgegengesetzten Auf-
fassungen Anlaß bietet. So ist bekannt, daß z. B. in bezug auf diejenigen
Angelegenheiten, die zwischen Ungarn und dem unter dem Habsburger Zepter
stehenden anderen Staate, Österreich, gemeinsam sind, die wissenschaftUche
Auffassung der ungarischen Staatsrechtler eine andere ist als die der öster-
reichischen. Die ungarische staatsrechtliche Literatur, davon ausgehend,
daß Ungarn ein seit mehr als tausend Jahren bestehender imabhängiger Ver-
fassungsstaat ist, und auch unter der Regierung der Habsburger geblieben
ist, dessen Unabhängigkeit außerdem von den, aus dem Hause der Habsburger
stammenden Königen unzählige Male — durch Gesetze und Krönungseide —
bekräftigt wurde: betrachtet die gemeinsamen Angelegenheiten der öster-
44*
692 Besprechungen.
reichisch-ungarischen Monarchie als Konzessionen aus der ungarischen
Staatlichkeit, interpretiert sie also restriktiv; die österreichischen staats-
rechtlichen Schriftsteller dagegen, mit Hinsicht darauf, daß unmittelbar vor
dem 1867er Ausgleich die Monarchie einheitlich (absolutistisch) regiert wurde,
und daß ferner nach der Niederlage des 1848 — 1849 er ungarischen Freiheits-
kampfes vorübergehend auch Ungarn in das österreichische Staatsgebiet ein-
verleibt wurde: betrachten die gemeinsamen österreichisch-ungarischen An-
gelegenheiten als Konzession aus der Eeichseinheit, als eine Be-
schränkung der Reichssouveränität und interpretieren daher die ge-
meinsamen Angelegenheiten und Institutionen in erweiterndem Sinne. Nach
ungarischer Auffassung bildet die Selbständigkeit (Unabhängigkeit) der beiden
Staaten die Basis, wogegen die zugunsten der gemeinsamen Angelegenheiten
durchgeführte Souveränitätseinschränkung eine Ausnahme ist. Im Gegensatze
hierzu, hält die österreichische Auffassung in erster Reihe das Bestehen des
Reiches für wichtig. Schon aus diesem einen Problem des ungarischen Staats-
rechtes wird ersichtlich, daß es der Mühe wert ist, sich damit zu befassen
und die Aufmerksamkeit des Staatsrechtlers wird hierdurch auf manche Frage
gelenkt, deren Lösung von allgemeinem Interesse ist.
Doch nicht bloß deshalb gestaltet sich das Studium des ungarischen
Verfassungsrechtes lohnend, sondern auch im allgemeinen, wegen der speziellen
Eigenheit der ungarischen Verfassungsentwicklung. Ungarn besitzt nämlich
eine historische Verfassung, von der nur ein verhältnismäßig kleiner Teil in
geschriebenen Rechtssatzungen, Gesetzen und Verordnungen niedergelegt ist,
während gerade die wichtigsten Institutionen der ungarischen Verfassung
gi'ößtenteils durch das Gewohnheitsrecht geschaffen sind. Daher ist diese
Rechtsquelle dort von viel gi-ößerer Bedeutung und spielt eine namhaftere
Rolle als in anderen Staaten. Ferner weisen sowohl die sog. Theorie der Heiligen
Krone, mit der die deutsche juristische Welt durch das umfassende Werk
„Ungarische Verfassungs- und Rechtsgeschichte" des Budapester Universitäts-
professors Akusius V. Timon bekannt wurde, als auch die ungarische Komitats-
verfassung (Organisation) einen ganz speziellen Entwicklungsgang auf, der
im Westen Europas kaum seinesgleichen hat. Die Autonomie der Komitate
war durch die öffentlich-rechtlichen Institutionen, die der Adel ausübte, im
Zeitalter der Ständeverfassung zu einer Macht gelangt, die öfters selbst der
königlichen Gewalt zu trotzen wagte. Ohne daher bei dieser Gelegenheit
alle diejenigen Detailfi-agen anzuführen, deretwegen es sich lohnt, vom
besonderen Standj^unkte aus sich mit der ungarischen Verfassung zu be-
schäftigen, hielten wir es für unsere Pflicht kurz darauf hinzuweisen, daß
wir einer zusammenfassenden Darstellung des ungarischen Staatsrechtes in
einem Verlage, der sich eines so guten Rufes erfreut, nicht ohne Berechtigung
mit gewisser Erwartung entgegensahen, da vorausgesetzt werden durfte, daß
dadurch den Staatsrechtlern der Welt eine, die historische Entwicklung, sowie
die bestehenden Institutionen der ungarischen Verfassung berücksichtigende,
vollständig übersichtliche, selbst den Anforderungen der strengen Ki-itik ent-
sprechende Arbeit geboten wird.
Leider muß schon im voraus konstatiert werden, daß sich diese Hoffnung
nicht erfüllt hat, und zwar weil der Verlag — aus welchen Gründen ist un-
bekannt — mit der Lösung der Aufgabe keinen Juristen, sondern einen
Historiker betraute, Heinrich Marczali, Professor der ungarischen Geschichte
an der Budapester Universität, einen Schriftsteller von anerkanntem Rufe,
der auf dem (Tcbiete der ungarischen Geschichte schon zahlreiche wertvolle
Werke verfaßt hat. Aber Marczali ist kein .Jurist und aus seinem
eben erschienenen Werke kann auf Schritt und Tritt konstatiert
werden, daß ihm die juristische Fachbildung abgeht, ohne die er
aber an eine staatsrechtliche Monographie gar nicht hätte herangehen sollen,
zumal in einer so hervorragenden Monographienserie. Es ist uns nicht
bekannt, ist aber auch nicht unsere Aufgabe zu erforschen, warum mit dieser
Besprechungen. 693
Aufgabe ein Nichtjurist betraut wurde, obwohl gerade Ungarn, wo das Staats-
recht ein bevorzugtes Studium bildet, zahlreiche namhafte Persönlichkeiten
aufweisen kann, die imstande gewesen wären, den Stoff unter juristischen
Gesichtspunkten zu formen. Doch müssen wir diese Tatsache besonders
hervorhellen, denn dadurch werden uns die vielen Fehler, die das Werk des
Verfassers aufweist, verständlich, wenn sie sie auch nicht entschuldigt. Der
wenig einwandfreien Argumentation, den irrigen Schlußfolgerungen, sowie
den an vielen Stellen selbst den elementaren Satzungen des ungarischen Ver-
fassungsrechtes spottenden Details können die ungarischen Staatsrechtler leider
keine Anerkennung zollen und obgleich ]\[arczalis Verdienste als Historiker
auch in seinem Vaterlande anerkannt und gewürdigt werden, können doch
zahlreiche Stellen seines jetzt erschienenen staatsrechtlichen Werkes nicht als
authentische Darstellung der ungarischen staatsrechtlichen Auffassung be-
trachtet werden. Diese Tatsache mußte dezidiert festgestellt
werden, damit das große Leserpublikum, das seine Kenntnis des
ungarischen Staatsrechtes aus diesem Werke schöpft, nicht sämt-
liche Behauptungen Marczalis als unbedingte Resultate des
Studiums des ungarischen Verfassuugsrechtes betrachtet.
Marczali berichtet übrigens im Vorwort seines Werkes darüber, was ihn
zur Ausführung dieser juristischen Aufgabe bewogen hatte: der Umstand
nämlich, daß das ungarische Staatsrecht — wie er sich ausdrückt — noch
nicht geschrieben ist, sondern mit der Geschichte der bestehenden Verfassung
identisch ist. Daher ist es erklärlich — so schreibt er — daß der Historiker,
der die Geschichte des Landes kennt, auch das Staatsrecht desselben kennen
muß. Nun kann aber dieser Satz in dieser Form nicht ganz zu Recht gelten,
denn tatsächlich ist es zwar unmöglich das ungarische Staatsrecht ohne
historische Kenntnisse darzustellen, und ebenso gewiß ist es auch, daß der-
jenige, der sich mit der ungarischen Geschichte Ijefaßt, auch in manchen
staatsrechtlichen Fragen bewandert sein muß, doch folgt daraus noch nicht,
daß der Historiker als solcher zugleich auch Staatsrechtler sein müßte, um
so weniger in einem Falle, wenn es sich nicht um eine populäre Ai't der
Darstellung, sondern um ein zur Informierung der Jm'isten der gesamten
Kulturwelt dienendes g:-undlegendes Werk handelt. Marczali ist, als ein, mit
umfassenden Wissen ausgerüsteter Historiker gewiß imstande, auch zahlreiche
Fragen des ungarischen Staatsrechtes in geistreicher Weise zu schildern, aber
nur in einem Milieu, das an die juristische Genauigkeit und die Höhe des Niveaus
nicht die strengsten Anforderungen stellt. Dagegen ist es sehr schwer an-
zunehmen, daß er Staatsrecbtlern von Beruf, und überhaupt solchen, die
sich ex asse mit öffentlichem Recht beschäftigen — und der Leserkreis
seines Werkes wird zum gi-ößten Teile aus solchen bestehen — die Satzungen
des ungarischen Verfassungsrechtes in so einwandfreier Weise darzustellen
vermag, wie es dem Niveau seiner historischen Werke entsprechen würde.
Gewiß wird auch er durch die Kenntnisse des Historikers dazu ver-
leitet, jene Detailfragen des imgarischen Staatsrechtes, die besonders auf die
historischen Prämissen Bezug haben, eingehender zu behandeln. Wir selbst
halten die Methode, die die Erklärung der bestehenden staatsrechtlichen Zu-
stände auf die historische Entwicklung der öffentlich-rechtlichen Listitutionen
basiert, für richtig und eben deshalb, weil Ungarns Verfassung keine Charta — ,
sondern eine historische Verfassung ist, die sich durch Jahrhunderte zu
ihrer heutigen Höhe herauf entwickelt hat, finden wir zu jeder bestehenden
Verfassungsinstitution irgendein Vorbild aus der alten Ständeverfassung.
Doch darf die historische Methode nicht übertrieben werden und darin besteht
eben ein großer Fehler Marczalis. In seinem Staatsrechte schildert er oft
ganze Seiten hindiu-ch ausschließlich geschichtliche Ereignisse, ja er geht so
weit, nicht nur längst verflossene, in den Retorten der Ki'itik geläuterte
Dinge zu behandeln, sondern verarbeitet selbst gänzlich in unseren Tagen
spielende Ereignisse, die wohl in einer politischen Flugschrift, doch keines-
694 Besprechungen.
wegs in einem wissenschaftlichen staatsrechtlichen Werke hätten Platz finden
können. Ich verweise hier z. B. auf die Ausführungen über die Obstruktion,
wo Marczali auch eines Armeebefehls von Chlopy — in welchem sich der
König von Ungarn gegen die Konzessionen bezüglich des Heeres im nationalen
Sinne geäußert hatte — der seinerzeit viel Staub aufwirbelte, sowie einen
offenen Brief des bekannten ungarischen Politikers, des Grafen Stephan Tisza
an seine Wähler erwähnt, Fälle, die durchaus nicht in ein Handbuch des
ungarischen Staatsrechtes gehören. Als ein Fehler muß es ferner angesehen
werden, daß sogar die Ausführungen einzelner Parlamentarier in seinem
Werke häufig Anwendung finden, durch die er staatsrechtliche Thesen be-
weisen oder für unrichtig gehaltene umstoßen will. In einem wissenschaft-
lichen Werke kann bei der Beurteilung besonders strittiger Fälle, wo ent-
gegengesetzte Auffassungen tatsächlich nicht entschieden werden können, zur
Bekräftigung des vom Verfasser eingenommenen Standpunktes eventuell her-
vorgehoben werden, daß auch dieser oder jener Politiker denselben Stand-
punkt vertritt, aber es ist nicht nur ungewöhnlich, sondern sogar verfehlt,
Parlamentsreden so oft und in solchem Umfange zu zitieren, wie dies
Marczali tut. Politische Debatten sind schließlich noch keine staatsrecht-
lichen Wahrheiten und es muß schon eine vollständig anerkannte und im
Laufe der Zeit zu allgemeiner Autorität gelangte Kapazität sein, auf den,
oder auf dessen parlamentarische Äußerungen man sich bei Entscheidung
^einer staatsrechtlichen wissenschaftlichen Frage als Beweis berufen kann.
Das geeigneteste System für die Darstellung des Staatsrechtes im all-
gemeinen und besonders des ungarischen Staatsrechtes ist entschieden dasjenige,
das davon ausgehend, daß die Bestandteile des Staates das Gebiet, das Volk
und die darüber ausgeübte Staatsmacht (Souveränität) sind: auch die ganze
Materie des Staatsrechtes in dieser Einteilung behandelt. Die Staatsmacht
kann weiter durch die Einteilung in die gesetzgebende, regierende oder voll-
ziehende und richterliche Gewalt, besonders untersucht werden. Nachdem
aber Ungarn einerseits mit Kroatien, Slavonien, Dalmatien, andererseits aber
mit Österreich in staatsrechtlicher Verbindung steht, außerdem aber auch
das Verhältnis zu dem 1878 okkupierten und 1908 annektierten Bosnien und
Herzegowina der Erläuterung bedarf, kann das ungarisch-kroatische, sowie
das Österreich gegenüber bestehende staatsrechtliche Verhältnis in besonde-
ren Abschnitten behandelt und auf dieselbe Weise kann auch die Dar-
stellung der staatsrechtlichen Stellung von Bosnien und der Herzegowina
gelöst werden. Ich behaupte durchaus nicht, daß dies das einzig richtige
System ist, doch kann kaum in Zweifel gezogen werden, daß diese Art der
Einteilung leicht verständlich und übersichtlich ist, was schließlich bei Lesern,
denen das ungarische Staatsrecht bis dahin gänzlich oder meistens unbekannt
war, die Hauptsache ist. Marczali befolgt jedoch nicht dieses System, sondern
er gibt auf 24 Seiten eine historische Einleitung, in der er die Entwicklung
des ungarischen Staatsrechtes in drei Perioden einteilt: in die patriarchalische,
in die ständische und in die nationale Periode. Im nächstfolgenden Ab-
schnitte behandelt er — auf 25 Seiten — die Grundlagen des Staates, ein-
schließlich der Lehre von der Heiligen Krone, des Staatsgebietes, des Staats-
wappens, der Staatsfarben und der Staatssprache. Der dritte Abschnitt ist
— auf 20 Seiten — der Darstellung der Staatsmacht gewidmet, während die
Details die Majestätsrechte, die Rechte des Parlaments, der Regierung, des
obersten Staatsrechnungshofes, der Gerichte und der städtischen Ver-
waltungen klarlegen. Ein besonderer Abschnitt behandelt sodann — auf
34 Seiten — die Verwaltung der Kirchen und Schulen. Der fünfte Abschnitt
— auf 19 Seiten — befaßt sich mit der staatsrechtlichen Stellung von
Kroatien und Slavonien und unter demselben Haupttitel auch mit der staats-
rechtlichen Stellung der königlich freien Hafenstadt Fiume. Der sechste Teil
endlich — auf 60 Seiten — behandelt das ungarisch -österreichische staats-
rechtliche Verhältnis und in diesem Rahmen auch Bosnien und die Herzegowina.
Besprechunjjen. 695
Ein Blick auf diese Einteilung genügt, uns von ihren Fehlem zu über-
zeugen. Es ist mehr als zu viel dem gegenseitigen Verhältnis zwischen
(»sterreich und Ungarn 60 Seiten zu widmen, während das ganze Werk nur
234 Seiten zählt. Dieser Al)schnitt, der streng genommen, kaum zur Frage des
engeren ungarischen Staatsrechts gehört, nimmt mehr als den vierten Teil der
Arbeit ein. Beginnen wir aber mit der Lektüre dieses Abschnitts, so wird seine
Weitläufigkeit verständlich. Der Verf. behandelt nämlich darin alles mit
einer Ausführlichkeit, die durchaus überflüssig ist. Dem österreichisch-
ungarischen Handelsvertrage z. B. sind volle 20 Seiten gewidmet, obwohl
diese Frage, die ja schließlich kein staatsrechtliches, sondern ein volkswirt-
schaftliches Problem bildet ^ in einem staatsrechtlichen Handbuche bloli
in kurzer, markanter Weise behandelt werden sollte. Wozu ist es nötig, fast
jeden Paragi-aphen des österreichisch-ungarischen Ausgleichgesetzes von 1908
einzeln durchzuarbeiten '? Im übrigen hat der Verfasser eine besondere Vor-
liebe für die Wiedergabe des Textes der einzelnen Gesetze. Er erweckt
dadurch den Anschein, als ob er vermeiden wollte, tiefer in die staatsrecht-
lichen Fragen einzudringen und anstatt dessen lieber die keinen Widerspruch
duldenden Gesetzestexte hervor zu heben! Das ist jedoch falsch, denn bei
der Erläuterung der einzelnen Fragen wird in der Staatsrechtswissenschaft
in der Regel in solchen Fällen der einschlägige Gesetzestext nur da zitiert,
wo das System des Gesetzes auch von wissenschaftlichem Standpunkte aus
einwandfrei ist, dagegen ist die von Paragraph zu Paragraph gehende Be-
handlung in jedem Falle dort ungewöhnlich, wo die ganze Frage nach ein-
heitlichen Gesichtspunkten, in wissenschaftlicher Weise dargestellt werden
kann. Zu einem 3Iißverständnis kann femer die Einteilung des Verf. Anlaß
geben, nach der die staatsrechtliche Stellung der königlich privilegierten Hafen-
stadt Fiume in dem Kroatien behandelnden Abschnitte dargestellt wird, dort
aber gar nicht am Platz ist. Fiume bildet nämlich dem Privilegium der
Königin Maria Theresia und den darauf fußenden Gesetzen und Verordnimgen
zufolge einen besonderen Teil der Heiligen Krone Ungarns (separatum corpus
sacrae regni coronae), d. h. das heutige ungarische Reich besteht aus drei
staatsrechtlichen Teilen: aus dem eigentlichen Ungarn (also aus dem Mutter-
lande), dann den Ländern Elroatien und Slavonien und endlich aus Fiume.
Die Stadt besitzt eine ausgedehnte Autonomie, in der auch der historischen
Entwicklung Rechnung getragen ist. Deshalb ist es unrichtig, Fiume in
einem Abschnitte mit Kroatien und Slavonien zu behandeln, weil dadurch
der Anschein erweckt wird, als wäre Fiume ein Teil der erwähnten Neben-
länder. Dies scheint vielleicht von geringer Bedeutung, beweist aber, daß
Marczalis Darstellung in Hinsicht auf jurirtische Präzision Kritik heraus-
fordert. Übrigens wäre es weit zweckmäßiger gewesen, die staatsrechtliche
Stellung Fiumes an jener Stelle zu besprechen, wo der Verf. auf die historische
Entwicklung des heutigen ungarischen Staatsgebietes eingeht, um so mehr,
als sich ihm dabei Gelegenheit geboten hätte, die zeitlichen Veränderungen
in der staatsrechtlichen Stellung Fiumes mit der heutigen gesetzlichen
Regelung derselben zu vergleichen.
Bezüglich der Einteilung des Werkes sind wir fernerhin der Ansicht,
daß die Einteilung der Entwicklung des ungarischen Staatsrechtes in ein
patriarchalisches, ständisches und nationales Zeitalter vielleicht neu ist. Doch
kann bestritten werden, ob in staatsrechtlicher Hinsicht das patriarchalische
Zeitalter — wie es der Verf. behauptet — sich ungefähr bis zur Zeit
König Ludwigs des Großen (also bis zum XIV. .Jahrhundert), das ständische
Zeitalter sich nm- bis 1790 erstreckt. Weil einmal, wenn man in l'^ngam
von einer patriarchalischen Staatsverfassung sprechen will, dieser Ausdruck
bloß auf die Periode zutreffen könnte, die als das vormonarchistische Zeitalter
bezeichnet wird (also von der Landnahme, d. h. vom Ende des IX. .Jahr-
hunderts bis zur Gründung des Königtums resp. bis zu Beginn des XI. .Jahr-
hunderts), zu welcher Zeit die Oberhäupter der einzelnen magyarischen
696 Besprechungen.
Stämme zugleich als Volksführer galten. Doch sobald sich einmal das König-
tum entfaltet hatte, kann in politischem Sinne von einem patriarchalischen
Zeitalter nicht mehr gesprochen werden. Warum denn auch? Vielleicht
deshalb, weil das Königtum in den ersten Jahrhunderten sehr mächtig war
und der Nation in den öffentlichen Angelegenheiten verhältnismäßig wenig
Einfluß ließ? Aber auch das ist nicht ganz zutreffend, denn auch da gab
es Zeiten, wo der König die Macht der Xation sehr empfindhch zu fühlen
bekam. Ein Beispiel hierfür ist die von König Andreas 11 im Jahre 1222
erlassene Goldene Bulle, die sich gleichzeitig mit der englischen ilagna
Charta zum wahren Kodex der Adelsvorrechte der königlichen Macht gegen-
über gestaltete. Hatte dagegen der König eine starke Hand, so hatte dies
höchstens vorübergehend ein autokratisches, aber keineswegs patriarchalisches
Eegiment zur Folge. Auch der von Marczali unternommene Versuch, das
Zeitalter der Ständeverfassung bloß bis 1790 zu bemessen, kann nicht ge-
billigt werden, weil ja in Ungarn die Ständeverfassung — samt allen ihren
Konsequenzen — bis 1848 fortbestanden hatte, oder wenigstens nur unmittel-
bar vor diesem Jahre einer teilweisen Re%'ision unterzogen wurde, z. B. durch
die Gesetze von 1844 über den Erwerb adliger Güter dm-ch Nichtadlige,
über die Amtsfähigkeit der Nichtadligen usw. C'bwohl wir also nicht in
Zweifel ziehen wollen, daß in Ungarn das sog. Zeitalter des nationalen Auf-
schwunges — besonders mit Eücksicht auf die Ereignisse der französischen
Revolution — mit dem Jahre 1790 beginnt, und daß es das Verdienst dieses
Zeitalters war — ein Beweis dafür ist die von Marczali vor einigen Jahren
verfaßte Monographie der Geschichte des ungarischen 1790 er Reichstages —
daß die öffentlichen Angelegenheiten von nun an von nationalem Geiste
durchweht wurden (was einerseits aus der erwähnten natürlichen Wirkimg
der fi-anzösischen Revolution, andererseits aber daraus erklärt werden kann.
daß nach der von 1780 — 1790 dauernden absolutistischen Regierung Kaiser
Josephs n. die nationale verfassungsgemäße Richtung zur Geltung gelangte),
trotzdem wurde die ungarische Ständeverfassung, in staatsrechtlichem Sinne
genommen, erst 1848 aufgehoben, imd so hat in diesem Falle, wo der Ver-
fasser die Ständeverfassung schon im Jahre 1790 als aufgehoben betrachtet,
die Denkungsart des Historikers die auf Präzision gerichtete Argumentierung
des Rechtsdogmatikers verdrängt. In bezug auf die allgemeine Einteilung
muß endlich noch bemerkt werden, daß eine so weitläufige Behandlung der
Kirchen- und Schulverwaltung, wie dies bei Marczali geschieht, ungewöhnlich
ist. und auch eher in den Rahmen des Verwaltungsrechtes passen würde.
Unseres Wissens wird aber das Verwaltungsrecht Ungarns in derselben Mono-
graphienserie gesondert behandelt werden.
Zur eingehenderen Kritik des gesamten Inhaltes des Werkes übergehend,
muß im voraus hervorgehoben werden, daß es nicht vmsere Absicht ist, sämt-
liche der Kritik bedürftigen Stellen des Buches hier anzuführen, dagegen
wollen wir versuchen, durch Erwähnung der hauptsächlichsten Irrtümer ein
Bild von den Mängeln des Werkes zu geben.
Unzulänglich ist zunächst die Aufzählung der Literatur des ungarischen
Staatsrechts im Literaturverzeichnis des Buches. Besonders lückenhaft ist
die Anführung der staatsrechtlichen Monographien und doch hätte
Marczali auf diesem Gebiete nicht nur die in deutscher, fr-anzösischer und
englischer Sprache erschienenen, größere Werke, die den Stoff des ungarischen
Verfassungsrechts, oder einzelne Teile desselben behandeln, sondern auch
selbst die kleineren Abhandlungen auf diesem Gebiet, aus denen die Kenntnis
einzelner Fragen des ungarischen Staatsrechts gewonnen werden kann, beriick-
sichtigen sollen. Aber selbst die Aufzählung der verbreiteten, in ungarischer
Sprache erschienenen Handbücher des ungarischen Staatsrechts ist mangelhaft.
Ebenso entging der Aufmerksamkeit des Verfassers das 1907 in Nagyszeben
(Hermannstadt) in deutscher Sprache unter dem Titel ..Grundzüge der Ver-
fassimg L'ngams" erschienene, geschickte, kiu-zgefaßte Werk von August
Gmeiner.
Besprechungen. 697
Ungewöhnlich und in Deutschland uugcbräuclilich ist auch die Methode
des Verf. zu zitieren. Er zitiert nämlich auf folgende Weise: G.A. ((xesetz-
Artikel) 18(38: XXX, § 65. Dies entspricht wohl dem Charakter der un-
garischen Sprache, dagegen ist die übliche Art des Zitierens im deutschen
die folgende: § H5 des G.A. XXX vom .Jahre 1868; oder kurz: (t.A. XXX, § 65.
In dem Abschnitt, der den Verlust des Staatsbürgerrechts behandelt,
wird der G.A. II vom .Tahre 1909, betreffend die Auswanderung ,dev den Verlust
der Staatsbürgerschaft durch Entlassung aus dem Staatsverbande für einen
erheblichen Teil der ungarischen Bürger in einer, von den üblichen Ge-
pflogenheiten abweichenden Weise regelt, vom Verf. gar nicht behandelt; die
Bearbeitung dieses Gesetzes durfte aber nicht unterbleiben, um so weniger,
da die Frage der Lösung des Auswanderungsproblems den Staat schon viel
beschäftigt hat.
Die Letre von den Staatsbürgerpflichten, unter die gewöhnlich die
Steueri^flicht und die Wehrpflicht fallen, sind bei Marczali kaum in 10 bis
12 Zeilen behandelt (S. 41). Denkt man daran, daß die Frage der gegen-
wärtigen Organisation der ungarischen Wehrmacht außerordentlich aktuell
ist, so hätte der Verf., wenn auch die Einbeziehung von Problemen der Tages-
politik nicht in den Rahmen des Verfassungsrechtes gehört, eben bei aus-
führlicherer Behandlung dieser Frage Gelegenheit gehabt, das Ausland über
diese Frage in objektiver Weise zu informieren, zumal er z. B. der Schul-
verwaltimg einen besonderen Abschnitt widmet imd den wirtschaftlichen
Ausgleich mit Österreich — wie oben bereits erwähnt wurde — sogar in
einer über den Kahmen eines staatsrechtlichen Handbuches weit hinaus-
gehenden Weise behandelt, eine Unzweckmäßigkeit der Einteilung, ebenso
wie die Behandlung der Institution der Kronhüter (dies sind zur Bewahrung
der heiligen Stephanskrone berufene Staatswürdenträger, die auch eine ge-
wisse staatsrechtliche Rolle spielen) auf 2^/^ Seiten, was die Bedeutung dieser
Institution — mit Rücksicht auf den Umfang des Werkes — vielleicht doch
übersteigt. Die historische Entwicklung des Heeres wird vom Verf.
eingehender behandelt; auf seine diesbezüglichen Ausführungen muß jedoch
bemerkt werden, daß wie in ganz Euroj^a, so auch in Ungarn das Heer
jahrhundertelang ein dynastisches Organ war. Nachdem aber die Habs-
burger Herrscher nicht nur in Ungarn, sondern auch in zahlreichen anderen
Staaten Europas herrschten, so waren auch in ihrer Armee verschiedene
europäische Nationen vertreten und dies erklärt, warum das Heer in den
Befreiungskriegen des XVII. und X\TII. Jahrhunderts gegen die Türken nicht
ungarisch war, sondern daß man unter den Heerführern ebenso wie im
Offiziers- und Mannschaftskorps sehr vielen Deutschen begegnet. Ungarn
stand nämlich ebenfalls unter dem Zepter der Habsburger imd nachdem das
Land von den Türken okkupiert wurde, war die Rückeroberung nicht nur
im Interesse des ungarischen Staates und der Nation, sondern auch der
Dynastie gelegen.
Bei der Aufzählung der Mitglieder des Magnatenhauses (Erste Kammer)
kann die Stilisierung des Verf., wonach diejenigen ungarischen Magnaten, die
mindestens 6000 Kronen staatliche Grundsteuer zahlen und die in Ungarn
oder in Siebenbürgen ansässige Grundbesitzer sind. Mitgliedsrecht besitzen,
zu einem Mißverständnis Anlaß geben. Wer nämlich ungarisches Staatsrecht
nicht kennt, könnte vielleicht annehmen, daß die in Ki-oatien-Slavonien an-
sässigen Magnaten-Grundbesitzer nicht zu den Mitgliedern der ungarischen
Magnatentafel zählen. Zwar ist es richtig, daß in dem Ausdruck resp. Begriff
„Ungarn" auch die Nebenländer (Kroatien-Slavonien) inbegriffen sein können,
wenn aber schon Siebenbürgen an dieser Stelle nicht als staatsrechtlicher,
sondern bloß geographischer Begriff besonders erwähnt wurde, so wäre die
Hervorhebung Kroatien-Slavoniens um so begründeter gewesen, namentlich
weil eben die Tatsache, daß die dortigen Magnaten-Grundbesitzer Mitglieder
der ungarischen Magnatentafel sind, ein Beweis für die staatsrechtliche Wahrheit
698 Besprechungen.
ist. daß Kroatien kein selbständiger Staat ist, sondern einen Bestandteil des
ungarischen Eeiches bildet, daß es infolgedessen keine spezielle kroatische
Aristokratie gibt, sondern nur eine ungarische, wie auch der König nie einen
kroatischen, sondern ausschließlich einen ungarischen Adel verleiht, und wie es
auch keine kroatische, sondern bloß eine ungarische Staatsbürgerschaft gibt.
Im Abschnitte der Magnatentafel sind übrigens auch noch andere kleinere
Fehler zu bemerken, so z. B. vermissen wir unter ihren Mitgliedern die Erwäh-
nung des Vizepräsidenten des königlich ungarischen Verwaltungsgerichts-
hofes, weiter wird als Mitglied der Präsident des Obergerichtshofes (könig-
liche Tafel) augeführt, doch wird nicht erwähnt, daß von den 11 königlich
ungarischen (ierichtstafelpräsidenten dieses Recht ausschließlich dem Buda-
pester Tafelpräsidenten zukommt.
Der dogmatischen Darstellung des Inkompatibilitätsgesetzes des Abge-
ordnetenhauses, das zu den laemerkenswertesten staatsrechtlichen Schöpfungen
Ungarns gehört, da eine ganze Reihe von öffentlichen Ämtern, Würden und
wirtschaftlichen Berufen als mit der Stellung eines Reichstagsabgeordneten
inkompatibel erklärt wird, wurde vom Verf. leider ein sehr beschränkter
Raum gewidmet. Dies ist um so auffallender, da er sich über einen Inkora-
patibilitätsfall, in dem das Mandat eines Abgeordneten trotz seiner Ernennung
zum Bischof weiter in Kraft blieb, des längern verbreitet.
Gelungen ist dagegen die Darstellung der Geschäftsordnung des Ab-
geordnetenhauses, doch wiederum weitschweifig und ganz ins Gebiet der
Tagespolitik hinüberspielend ist das Kapitel von der Obstruktion, das mit
geradezu ängstlicher Ausführlichkeit behandelt und mit politischen Tages-
fragen ganz verquickt ist, obgleich solche Details höchstens in die politische
Geschichte des letzten Dezenniums Ungarns, aber nicht in den Bereich des
ungarischen Staatsrechtes gehören.
Im Teile von der Gerichtsbarkeit und Rechtspflege behauptet der Verf.
zu Unrecht, daß nach G.A. XXXIII vom Jahre 1897 die Strafgerichtsbarkeit
dem Geschworenengerichte zugewiesen sei (S. 123), obgleich gegenwärtig nur
ein kleiner Teil derselben, nämlich die schwersten Verbrechen, sowie ein Teil
der durch die Presse begangenen Delikte vor die Geschworenengerichte
gehören, nicht aber die ganze Strafgerichtsbarkeit. Ein weiterer Mangel
dieses Abschnittes von der Gerichtsbarkeit besteht darin, daß das Gesetz
das königlich ungarische Hofmai-schallgericht in Budapest betreffend bloß
erwähnt, aber gar nicht behandelt wird, obgleich die Schaffung dieses Gerichts-
hofes gegenüber der Tatsache, daß es bis dahin nur ein Marschallgericht für
die Mitglieder des Herrscherhauses, und zwar beim Wiener Hofe gegeben hat,
als ein Beweis der ungarischen staatlichen Unabhängigkeit oder wenigstens
der separaten ungarischen Hofhaltung gelten kann.
Bei der Schilderung der historischen Vergangenheit der Komitate muß
dem Wissen des Historikers wieder Anerkennung gezollt werden, doch ist
die gegenwärtige staatsrechtliche Stellung der Munizipien eigentlich kaum
ausgeführt.
Als ein bemerkenswerter Mangel in diesem Teile muß bezeichnet werden,
daß der Wirkungskreis der Obergespäne nicht ausführlicher behandelt wird,
denn sie stellen eine der interessantesten staatsrechtlichen Institutionen Ungarns
dar. In den ausländischen Staatsrechten ist diese Einrichtung gänzlich un-
bekannt, weshalb auch eine ausführlichere Behandlung derselben auf ein
erhöhtes Interesse hätte rechnen können. Dieser von den Komitaten, sowie
Städten mit Munizipalrecht berichtende Teil ist auch sonst mangelhaft, ja es
lassen sich sogar grobe Fehler darin entdecken. So sagt z. B. der Verf.
vom Muuizipalverwaltungsausschuß (S. 126), daß er zur Vorbereitung
der Angelegenheiten des Munizipalausschusses l)erufen sei. Dies ist jedoch
falsch, eine solche Tätigkeit fällt nicht dem Bereich des Verwaltungs-
ausschusses zu, dagegen ist er zur Kontrolle der Verwaltung, sowie zur Aus-
übung des Disziplinarrechts und -Verfahrens gegen Munizipalbeamten und
Besprechungen. 699
endlicli als Berufungsinstanz in Verwaltungssachen bestimmt, was jedoch
vom Verf. gar nicht erwälmt, ja es wird seihst das nicht gesagt, wer
die Mitglieder dieses Ausschusses sind, wohl seine Zusammensetzung ebenfalls
eine bemerkenswerte Lösung der Zusammenwirkung von staatlichen und
autonomen Elementen bedeutet.
Äußerst kurz verfährt der Autor mit den vor kaum einigen Jahren
geschaffenen Verfassungsgarantie-Gesetzen, hingegen wird das Problem der
Verstaatlichung der Verwaltung, das vorläufig nur noch als ein politisches
Programm oder eine politische Auffassung angesehen, aber auf keinen Fall
zu den gesetzlich bestehenden staatsrechtlichen Institutionen gezählt werden
kann und daher auch gar nicht in den Stoff des Staatsrechtes gehört, aus-
führlich behandelt. Im allgemeinen muß wiederholt auf die, unserer Ansicht
nach nicht zutreffende Darstellungsweise Marczalis hingewiesen werden,
ständig politische Ideen, ja sogar Aktualitäten in seinen
Gegenstand einzumengen. Beispielsweise erwähnt Marczali bei der
Schilderung der staatsrechtlichen Stellung der Kirchen, daß, trotzdem in
neuerer Zeit sämtliche rezipierte Konfessionen das gleiche Recht besitzen,
seiner Ansicht nach der Katholizismus dennoch eine führende Rolle anstrebt,
und erwähnt zur Bekräftigung dieser Behauptung, daß im .Jahre 1906 vom
Abgeordnetenhause und von der Magnatentafel ein Gesetzentwurf angenommen
wurde, demzufolge Ungarn in den Gesetzen stets folgendermaßen zu benennen
ist: „Die Länder der Heiligen Krone''. Ungeachtet dessen, daß aus
dieser, auf historischen Traditionen beruhenden Tatsache (denn
schon seit .Jahrhunderten ist dies die offizielle Bezeichnung für das ungarische
Reich : die Länder der Heiligen ungarischen Krone, oder die Länder der
Elrone Stefans des Heiligen) noch keine einseitigen Aspirationen des Katho-
lizismus herausgelesen werden können, ist es auch überflüssig, durch solche
Äußerungen in einem staatsrechtlichen Handbuche Grund zu Voraussetzungen
über mangelnde Objektivität zu geben.
Der Abschnitt von der rechtlichen Stellung der Kirchen enthält auch
außer den erwähnten, noch einige der Kritik bedürftige Stellen. Nicht ins
Staatsrecht gehörig ist z. B. das Eherecht und besonders derjenige Teil
desselben, der sich auf die Fragen der Eheschließung bezieht, da dies keine
staatsrechtliche, sondern eine privatrechtliche Frage ist und somit nicht in
den Bereich des Staatsrechts gehört (S. 134). Durch die Einreichung solcher
Gegenstände beweist der Verf. wiederholt, daß er juristisch absolut nicht
orientiert ist. Bei den protestantischen Kirchen spricht der Verf. stets
von Superintendenten und nm* ausnahmsweise von Bischöfen, trotzdem es
nach der ungarischen protestantischen Kirchenverfassung nur Bischöfe und
keine Superintendenten gibt. Auch das bleibt bei ihm unerwähnt, daß es
in der evangelischen Kirche Augsburger Konfession Ungarns keine Kuratoren
gibt, sondern Inspektoren. Statt „Kirchen distrikt" wird bei ihm der Terminus
technicus „Superintendenz" gebraucht. Weiter behauptet er, daß die oberste
Behörde in den sämtlichen protestantischen Kirchen — also sowohl Augs-
burger, als auch helvetischer Konfession — der Konvent sei, obwohl dies
bloß für die helvetische Kirche zutrifft, während bei der Kirche Augsburger
Konfession an dessen Stelle die Generalversammlung tritt. Die protestantische
Kirchensynode wird von ihm ohne jeden Grund eine Na t io na Isynode
genannt. Diese Synode wird nach seiner Behauptung von den Helvetikern
alle drei Jahre, von den Lutheranern aber alle zehn Jahre abgehalten; diese
Äußerung entliehrt aber jeder Grundlage. Die ungarischen protestantischen
Bischöfe müssen seiner Behauptung nach vom Staate bestätigt werden, was
ebenfalls nicht der Wahrheit entspricht; denn bloß die siebenbürgischen
werden staatlich bestätigt (S. 137 u. f. S.). Der Verf. behauptet ferner
(S. 140), daß die Seelsorger der rezipierten Konfessionen auf Grund des
G.A. XTV. vom Jahre 1898 vom Staate eine Kongrua - Ergänzung erhalten,
wogegen sich der zitierte Gesetzartikel bloß auf die akatholischen Seelsorger
700 Besprechungen.
bezieht; dieser Gesetzartikel wurde durch das G.A. XIEE vom Jahre 1909
abgeändert, der die Kongruabezüge sämtlicher rezipierten Konfessionen regelt.
Unrichtig ist auch die Behauptung des Verf., daß das Einkommen der
Seelsorger vom Staate auf 600 resp. 800 Kronen ergänzt wird, da in der
Wirklichkeit die Ergänzung auf 800 bzw. 1600 Kronen geschieht. Von der
katholischen Autonomie zu sprechen, die in Ungarn noch keine staatsrecht-
liche Institution ist, sondern bloß geplant wird, ist ebenso überflüssig, wie
in den darauf bezüglichen Stellen Klage darüber zu führen, daß obwohl der
katholische Klerus ein Vermögen von über zwei Millionen Morgen betragen-
den Grundbesitz sein eigen nennt, die katholischen Schulen Ungarns dessen
ungeachtet aus Staatsmitteln unterstützt werden. Dies ist eine politische
aber keine staatsrechtliche Argumentierung (S. 142).
Bei der Erläuterung der staatsrechtlichen Stellung Bosniens und der
Herzegowina können wir ims an jenen Stellen, wo das umfassende Wissen
des Historikers notwendig ist, wo der Autor die historische Vergangenheit
klarlegt, seines schönen, abgerundeten Vortrags freuen, wo es sich aber um
eine juristische Behandlung des Stoffes handelt, sinkt das Niveau des Werkes
wieder um ein bedeutendes. Vom kroatischen Wahlgesetze z. B.. das aus dem
Jahre 1910 stammt, und bei der Darstellung der Verfassung der ungarischen
Nebenländer keinesfalls übergangen werden kann, berichtet er in kaum
zwei Zeilen, da er bloß erwähnt, wieviel Abgeordnete von den städtischen
und wie viele von den ländlichen Bezirken gewählt werden (S. 167). Er
spricht aber weder vom aktiven und passiven Wahlrecht, noch geht er auf
Einzelheiten ein, die durchaus nicht übergangen werden durften, denn da
Kroatien und Slavonien Bestandteile des ungarischen Reiches sind, so müssen
im Eahmen des ungarischen Verfassungsrechtes nicht nur das Kapitel über
die Verwaltung der Kroatischen Landesautonomie, sondern auch das der
Gesetzgebung des Landes behandelt werden.
Die Schilderung des historischen Hintergrundes der staatsrechtlichen
Stellung Ungarns zu Österreich zeigt den Verf. wieder als Historiker und
auch hier muß die Korrektheit seines staatsrechtlichen Standpunktes hervor-
gehoben werden, doch herrscht an vielen Stellen der Geschichtsschreiber
vor, während der Jurist schweigt.
Unrichtig ist die Behauptung des Verf., daß die hinsichtlich der Fest-
setzung des Leistungsverhältnisses (der sog. Quote) des gemeinsamen öster-
reichisch-ungarischen Kostenvoranschlags berufene Quotendeputation aus zehn
Mitgliedern besteht (S. 184). Außer den zehn Abgeordneten ist nämlich darin
auch das Magnatenhaus durch fünf Mitglieder vertreten. Unrichtig ist auch
sein Standpunkt (auf S. 185), daß laut dem G.A. LV. vom Jahre 1907, die
auf Ungarn entfallende Quote 37 % beträgt, während sie 36,4 7o ausmacht.
Der L-rtum scheint geringfügig zu sein, aber die Daten entsprechen erstens
nicht dem bestehenden Gesetze, ferner bedeutet aber diese augenscheinlich
kleine Differenz mit Rücksicht darauf, daß das gemeinsame österreichisch-
ungarische Budget ca. 1 !5Iilliarde Kronen beträgt, eine recht hohe Summe,
Weiterhin ist unzutreffend, daß Marczali den Ausdruck „österreichisch-
ungarische gemeinsame Regierung" gebraucht, obwohl es im Sinne des
ungarischen Gesetzes bloß gemeinsame Minister mit einem beschränkten
Wirkungskreis, aber keine gemeinsame Regierung gibt.
Ebenso kann zu Mißverständnissen Anlaß geben, daß der Verf.
Bosnien und die Herzegowina in dem Abschnitte, das den Titel „Unser Ver-
hältnis zum österreichischen Kaiserreich" trägt, behandelt, trotzdem die
zwei annektierten Provinzen (bezüglich derer übrigens T^ngarn historische
Rechte im königlichen Krönungseide gesichert sind) so lange bezüglich ihrer
staatsrechtlichen Zugehörigkeit eine endgültige gesetzliche Entscheidung nicht
getroffen wird, die gemeinsame Erwerbung Österreichs und Ungarns bilden.
Auf dem Gebiete der ungarischen Gesetzgebung der letzten Zeit ist
dem Autor mancherlei entgangen, z. B. behandelt er das zwischen Österreich
Besprechungen. 701
nnd Ungarn zustande gekommene und das Privilegium der üsterreichiscli-
ungarischen Rank his 1917 verlängernde Gesetz ((t.A. XVIII. vom Jahre 1911)
noch als Entwurf imd korrigiert diesen Irrtum auch im Anhange nicht.
Ein Versäumnis Marczalis ist es auch, daß ei- nicht auf die Abweichungen
hinweist, die zwischen den sich auf die österreichisch-ungai'ischen Angelegen-
heiten beziehenden österreichischen und ungarischen Gesetzen bestehen,
obwohl ihre Kenntnis sehr interessant und vom Standpunkte der staatsrecht-
lichen Stellung der beiden Staaten von gewisser Bedeutung ist und es läßt sich
dadurch erklären, daß die österreichische und die ungarische Auffassung bei
der Entscheidung über einzelne gemeinsame Angelegenheiten in Gegensatz
zueinander geraten.
Alles zusammengefaßt, kann über das Werk Marczalis kein günstiges
Urteil gefällt werden. Es soll zwar nicht geleugnet werden, daß es denen,
die sich für die Vergangenheit und die historische Entwicklung
der verfassungsmäßigen Institutionen Ungarns interessieren, wertvolle Auf-
schlüsse gibt, — dies ist aber durch Marczalis ebenfalls bei Mohr in Tübingen
1910 erschienene Ungarische Verfassungsgeschichte viel leichter mög-
lich — das bestehende gültige ungarische Staatsrecht aber kommt im neuen
Werke sehr zu kurz. Seine Arbeit wird daher zur Kenntnis des ungarischen
Staatsrechtes im Auslande kaum günstig beitragen, ja was noch viel ärger
ist, in manchen Fragen werden diejenigen, die sich für die ungarische Ver-
fassung interessieren, durch dieses Werk falsch informiert. Dies kann aber
nur bedauert werden, besonders da wir uns dessen wohl bewußt sind, daß
wenn Marczali bei seinem Fach, der Geschichtsforschung geblieben wäre,
er der Wissenschaft einen wichtigen Dienst geleistet hätte.
Nagy von Eötteveny.
David Koigen, Ideen zur Philosophie der Kultur. Der Kulturakt. München
und Leipzig 1910. Georg Müller. XVm u. 593 S.
Trotz mancher feinsinniger Einzelheiten erscheint im ganzen genommen
die umfängliche Arbeit von Koigen als ein unkritisches verworrenes Werk,
dessen Lektüre die zahlreichen Verstöße gegen die Gesetze eines guten Stils
nicht erfireulicher gestalten.
Koigen steckt sich das Ziel hoch genug: das Wesen der Kultur soll
ergründet werden. Er sucht daher in dem ersten Buche des Werkes die
nach seiner Überzeugung aller Kultur wesentlichen Willensrichtungen zu
analysieren und deren für eine kulturelle Entwicklung erforderliches Zusammen-
wirken zu bestimmen.
Der Bildungsprinzipien der Kultur soll es vier geben. Die aristokrati-
sche, die demokratische, die revohxtionäre, die auf Gemeinschaft abzielende
Willensrichtung.
Die aristokratische Lebenstendenz, insbesondere deren typische Objek-
tivierung im kapitalistischen Liberalismus fordert nach Koigen eine herr-
schaftliche Position für jedermann nach Maßregeln der Quantität seines
„Habens", d. h. seines Vennögens. Da diese Willensrichtung allzusehr die
Bedeutung des „Habens" vor der des „Seins" der Persönlichkeit betont, so
führt sie zu ödem Materialismus, zur Entfremdimg der Menschen untereinander,
bedarf daher ihrer Ergänzung durch das demokratische Wollen (Kap. I).
Das demokratische Lebensprinzip, insbesondere deinen typische Objekti-
vierung im protestantischen Christenmenschen, im homo kantianus. erheischt
dagegen eine qualitative Wertung des Menschendaseins, eine Koexistenz
autonomer Persönlichkeiten.
Diese Willensrichtung vermag ebensowenig wie die aristokratische das
Kulturproblem zu lösen. Koexistenz freier Persönlichkeiten ist ohne wechsel-
seitige Rücksicht, also ohne Befolgung heteronomer Regeln nicht möglich.
702 Besprechungen.
Konsequente Durchführung des demokratischen Prinzips bedingt daher dessen
Auflösung (Kap. 11).
Noch weniger als die genannten Lebensrichtungen vermag das in der
Arbeit objektivierte Eevolutionsprinzip Kultur zu begründen, kennzeichnet doch
das revolutionäre Wollen ein blindes Streben vom Nichts ins Nichts (Kap. III).
Was diese drei Prinzipien allein nicht vermögen, schafft diese beherrschend
das vierte. Der Gemeinschaftswille erstrebt die Zusammenordnung der
Menschen, er ist imstande, die drei „zentrifiigalen" Tendenzen harmonisch
auszugleichen. Deren lebendiger Zusammenschluß unter der Hegemonie des
Gemeinschaftswillen bedeutet die Lösung des Kulturproblems. Diese setzt
aber voraus, daß die dem Gemeinschaftsprinzip immanente Gefahr der Hyper-
trophie überwunden ist. Wie vornehmlich die Geschichte des Judentums zeigt,
eignet dem Gemeinschaftsprinzip die Tendenz, alle dem kulturellen Geschehen
wesentlichen jaartikulären Willeusrichtungen zu ersticken, und so den Lebens-
gehalt herabzusetzen (Kaj). IV).
Dieser Gefahr begegnet der Wille zur Parteiung mit der Forderung
nach kleinen Gemeinschaftszentren, in denen die divergierenden Tendenzen
ihre individuelle Frische behalten, und welche wechselseitig zu höchster
Einheit verbunden sind (Kap. V).
Diese Ausführvmgen Koigens sind völlig unklar. Koigen hat weder
in brauchbarer Schärfe bezeichnet das Wesen jener Kulturfaktoren, noch die
Art ihres für alles kulturelle Geschehen erforderlichen Zusammengreifens,
noch endlich das Wesen der Kultur überhaupt.
Die vier Bildungsprinzipien, die nach Koigen im Leben in voller
Eeinheit vorkommen können, fließen ineinander über. Die aristokratische
Lebensrichtung fordert „herrschaftliche Position für jedermann", also ist sie
demokratisch, denn das demokratische Prinzip verlangt eine Koexistenz
autonomer Persönlichkeiten, also die Zusammenordnung von Selbstherrschen-
den. Zielen aber beide Willensrichtungen auf Zusammenordnung von Menschen
ab, so sind sie Erscheinungsformen des Gemeinschaftswillens, erstrebt
dieser doch gerade Zusammenordnung an. Objektiviert schließlich die Arbeit
wirklich das revolutionäre Prinzip, so bliebe eine Willensrichtung, die nicht
revolutionär wäre, schwer denkbar.
Die drei ersten dieser verschwommenen Größen soll der Gemeinschafts-
wüle harmonisch aussöhnen. Die hoffnungslose Aufgabe, sich die Möglichkeit
solcher Synthese vorzustellen, überläßt Koigen der Phantasie seines Lesers.
Nun soll diese rätselhafte Verknüpfung unbekannter Größen allem
Kulturgeschehen wesentlich sein. Vielleicht hätten die besprochenen Aus-
führungen an Klarheit gewinnen können, wenn Koigen es versucht hätte,
zu bestimmen, was er sich unter Kultur vorstellt und inwiefern jeder Kultur-
typus, die ägyptische Kultm- z. B. oder etwa die japanische gerade durch
jene Verbindung bedingt sei. Von alle dem ist bei Koigen nichts zu finden.
Die Quintessenz des ersten Buches wäre demnach auf die Formel zu bringen :
Die Kultur, diese unbekannte Größe, entspricht der unbekannten Verbindung
von vier anderen unbekannten.
Noch schlimmer als ums erste Buch ist es um das zweite bestellt. Koigen
redet hier von Religion, Kunst, Sittlichkeit und Lebensinhalt des einzelnen.
Von organischer Verbindung der beiden Teile des Werks ist keine Eede,
deren Verknüpfung ist ebenso äußerlich wie konfus.
Da Religion (Kap. VI) und Sittlichkeit (Kap. ^TII) als Aktivitätsarten
dargestellt werden, ferner die besprochenen Willensrichtungen im zweiten
Buch zu Willenskategorien hj^ostasiert erscheinen, so behauptet Koigen,
daß es vier Arten der Religion und der Sittlichkeit gibt, nämlich die der
aristokratischen, demokratischen, revolutionären und auf Gemeinschaft ab-
zielenden WoUens, Die Berechtigung, jene so unklar gezeichneten Bildungs-
faktoren der Kultur als Willenskategorien anzusprechen, hat Koigen nicht
zu beweisen versucht.
Besprechungen. 703
Die Ausfühnmgen über die Kunst (Kap. VII) bedeuten noch eine Steige-
i-ung der das Buch durchziehenden Fnklarheiten. Nach Koigen individu-
alisiert die Kunst einen lebensvollen Weltausschnitt. Das Kunstwerk wird
in seiner Ganzheit aufgenommen und enthüllt ho die Ganzheit des Lebens:
infolgedessen soll sie dem Gemeinschaftswillen zur Herrschaft verhelfen.
So gelangt man etwa zu folgender Gleichung: Gemeinschaftswille = ent-
scheidender Bildungsfaktor der Kultur = Willenskategorie = Welttotalität!
Im letzten Kapitel des Werkes (IX) geht Koigen davon aus, daß
jedem Menschen ein konstanter Typus eigne, dem ein variables subjektives
Innere entspreche, welches der Charakter mit dem Typus zu verbinden und
beide zu beherrschen strebe.
Nach dieser durch nichts begründeten Einführung erzählt Koigen
zunächst einiges „aus dem Bereich des Typischen", nämlich, wie sich die Frau
mit der aristokratischen, demokratischen, revolutionären und auf Gemeinschaft
abzielenden Willensrichtung abfände, ferner welche typischen Eigenschaften
jene Willensrichtungen bei ihren Trägern zu erzeugen jaflegen.
Sodann wird eine bunte Reihe von Erscheinungen „aus dem Bereich
des Subjektiven" erörtert. Da handelt Koigen von Einsamkeit und Lebens-
verwiiTung, von dem kulturfeindlichen Rassenkultus und dem Wesen der
Deiatschen, und — da „neben der Einsamkeit und der Lebensverwirrung,
Weltschmerz und Kulturschmerz, sowie das pessimistische Erleben, das Wesen
des Subjektiven ausmachen" (S. 497) — weiter vom Weltschmerz, Kultur-
schmerz und Pessimismus. Endlich bestimmt Koigen das Wesen der Mythe
als das in der Vorzeit gesuchte Ideal einer Zeit und erklärt dann den Anar-
chismus für die Mythe des Revolutions-, den Kommunismus als die des
Gemeinschaftswillens.
Der Schlußabschnitt des letzten Kapitels erzählt einiges „aus dem
Bereich der Charakterideale". Nach Koigen sollen heute miteinander ringen
die aristokratische und die demokratische Richtung der Charakterbildung.
Daher soll die Seelenverfassung heute vor demselben Konflikt stehen wie die
Kulturverfassung, und auch auf dem Gebiet dieser seelischen Kämpfe soll
der Gemeinschafts wille zu Sieg und Erlösung führen. Der Gemeinschaftswille,
dieses höchst rätselhafte Etwas, soll imstande sein, den einzelnen zum Träger
des Totalen zu machen, alle Lebenswidersprüche zu überwinden; und darin liegt
nach Koigen der Sinn der Kultur. —
Die Feinheiten des Werkes bilden das Korrelat zu dessen Schwächen.
Der Verf. gibt die Eindrücke wieder, die das Kulturleben und die mit diesem
in Beziehung stehenden Erscheinungen in ihm ausgelöst haben. Aus der
Fülle der Einzelheiten findet er aber nicht den Weg zu geschlossener Einheit,
von warmem subjektiven Empfinden aus nicht den Weg zu wissenschaft-
licher Darstellung. Der fatale, stets wiederkehrende Fehler jener Gefühls-
aufzeichnungen liege darin : all die Eindrücke des David Koigen werden
hypostesiert zu aphoristischen Urteilen : ein „ich empfinde, ich glaube, ich
sehe" wird zum „so ist es", und so verwandelt sich auch eine recht vage
Vorstellimg davon, wie die Fülle jener Eindrücke geordnet werden könnte,
in das zuvor näher erörterte Trugbild eines geschlossenen Gedankengangs.
Die Hauptthemen, die Koigen in angedeuteter Weise angeschlagen hat,
sind zuvor berührt. Die Gefühlsreflexe David Koigens an dieser Stelle
näher zu erörtern, hat keinen Zweck, sein extremer Subjektivismus schließt
eine die Richtigkeit der Darstellung erwägende Kritik aus. Es läßt sich
übrigens verstehen, wenn wegen der Wärme, wegen der Originalität der in
ihm geäußerten Empfindungen Koigens Buch manchen Leser nicht unbefriedigt
läßt. —
Die stilistischen Mängel des Buches schließlich sind, um in der Sprache
David Koigens zu reden, in erster Linie zu erklären als „Hypertrophie des
Pathos". Für stark Empfundenes sucht der Verf. die Formen großer Worte.
704 Besprechungen.
Allein zu oft werden die Worte, die Bilder maßlos: das angestrebte groß-
zügige Bild wird zu bombastischer Karikatur. Verwiesen sei auf folgendes:
..Alle scharfen Kanten der Geschehnisse und Dinge fallen weg, lauter
bekannte Gewässer eröffnen sich dem Blicke, und der einzelne badet in der
Wonne der Wogen" (S. 325),
„Das Fühlen und Wollen umsj^ülen den Seelenpunkt, den wir Selbst
nennen" (S. 3.53).
,.Die Musik tut dies, indem sie den Zeitstrom des Weltlebens erfaßt
und so das Rauschen und den Wirbel der universellen Wendungen, des
Geschehens in Kompositionen überführt" (S. 364).
„Ein in der Ferne sich windender Ton" (S. 365).
„Den Verzweifelten zieht es nach unten, er streckt weit die Hände
aus, und der bezauberte Abgrund verschlingt ihn in seinen weiten dunkel-
hellen Schatten" (S. 483/4).
„Die preußischen Deutschen bedürfen des Pessimismus, um dem in
jüngster Zeit liebgewordenen Barbarismus einige Stiche beizubringen" (S 508).
Horst Kollmann.
Heinrich Dietzel, Kriegssteuer oder Kriegsanleihe? Tübingen 1912.
J. C. B. Mohr, m und 65 S.
Die materielle Ordnung des öffentlichen Finanzwesens ist von der In-
anspruchnahme zweckentsprechender Deckungsmittel abhängig. Die Frage der
Wahl der Staatsbedarfsdeckungsmittel ist daher eines der wichtigsten Kapitel
der Finanzwissenschaft. Ad. Wagner, Schäffle. Röscher, Leroy-Beaulieu u. a.
haben sie erörtert und stets nachdrücklich die Bedeutung richtig gewählter
Deckungsmittel für die Volks- und Finanzwirtschaft betont. Neuerdings hat
Dietzel mit der Fragestellung: Kriegssteuer oder Kriegsanleihe, einen Teil
dieses Problemes einer Prüfung unterzogen. Anstoß gab ihm die in jüngster
Zeit wiederholt von Finanzschriftstellern — auch von mir — vertretene For-
derung, dem Finanzwesen des Reiches eine Steuer einzugliedern, „die in
Zeiten der Gefahr die ganze Finanzkraft des deutschen Volkes mobil machen
kann" ^). Dietzel tritt nun zwar auch für eine bewegliche Besitzabgabe des
Reiches ein, aber er ist doch der Meinung, „daß es, solange bis des
Krieges Stürme schweigen, heißen müsse : Hände weg von der
Steuerschraube".
Mit dieser radikalen Finanzregel schießt der scharfsinnige Autor m. E.
über das Ziel hinaus. Der Fehler seiner Argumentation liegt in der Frage-
stellung: „Wie könnten, einmal zugegeben, daß sie es dürften, Kriegsausgaben
ohne Anleihen überhaupt gedeckt werden?" Die Forderung, alle Kriegs-
ausgaben ohne Anleihen zu decken, ist m. W. nie erhoben worden ; wenn
auch die Ansichten über das Maß der finanzpolitisch zu Inlligenden Kriegs-
steuern auseinander gehen und, wie Dietzel zeigt, zuweilen übertriebene Vor-
stellungen (Schmoller) über die Ergiebigkeit solcher Abgaben herrschen. Aus
dem Zusammenhang meiner Ausführungen in der von Dietzel zitierten Schrift
geht hervor, daß ich in einer beweglichen Einkommensteuer in erster Linie
einen Ersatz für die in Kriegszeiten versagenden Zölle und Verbrauchssteuern
erblicke. Nach Dietzels zutreffend begründeter Meinung bringen Kriegs-
steuern im Verhältnis zum Kriegsbedarf so wenig ein, daß ganz abgesehen
von allerdings entscheidenden volkswirtschaftlichen schon aus bloßen finanz-
politischen Gründen in erheblichem Umfange zu Anleihen gegriffen werden
muß. Nach meiner, damit keineswegs im Widerspruch stehenden Ansicht
werden im Kriegsfalle Anleihen in einem solchen Ausmaß benötigt, daß so-
weit die sonstigen ordentlichen Einnahmen versasren und wohl auch darüber
') Ger 1 off, Matrikularbeiträge und direkte Reichssteuern, 1908. S. 59.
Besprechunpfen. 705
hinaus auf Kriegsstouern nicht verzichtet werden kann. Dietzel zeigt sehr
gut. daß das englische Beispiel einer vorwiegend Steuerdeckung wählenden
Ki'iegsfinanz für die meisten Staaten praktisch nicht in Betracht kommen
kann, aber er zeigt nicht, daß auf die von allen Staaten bisher geübte In-
anspruchnahme von Kriegssteuern neben Kriegsanleihen künftig wrd verzichtet
werden können.
Die Ausfühnmgen Dietzels beanspruchen jedoch heute noch aus einem
ganz andern Cxrunde besonderes Interesse. Indem er nämlich in seiner Broschüre
darlegt, daß Steuern zur Deckung eines außerordentlichen Bedarfes
aus finanziellen, volkswirtschaftlichen und sozialjiolitischen (Iründen nicht zu
empfehlen sind, begegnen wir einer Problemstellung, die wie zugeschnitten
auf die deutschen Finanzfi-agen dieses Jahres erscheint. Der Bonner National-
ökonom geht davon aus, daß es auf die Dauer volkswirtschaftlich wie privat-
wirtschaftlich gleichgültig sei, ob ein großer außerordentlicher Bedarf durch
Steuern oder Anleihen gedeckt wird. „Im Moment aber", sagt er, „ist es
keineswegs egal!'" Da differieren die Wirkungen von Steuern und Anleihe —
und zwar nicht nur die wirtschaftlichen Wirkungen — außerordentlich. Wird
die Bilanz gezogen, so ergibt sich ein starkes Saldo zugunsten der Anleihe.
Für die ,, verschobene Steuerdeckung", wie Schäffle die Inanspruchnahme des
Kredits einmal bezeichnet und gegen sofortige Steuerdeckung des Extra-
bedarfs sprechen nach Dietzel vom Standpunkt finanzieller Zweckmäßigkeit
zwei Gründe. Zunächst die raschere Flüssigstellung des Bedarfs und anderer-
seits der geringere Eeibungswiderstand, dem die Anleihe im Vergleich zur
Steuer begegnet. Wichtiger aber sind die volkswirtschaftlichen Gründe. Die
Anleihedeckung beeinträchtigt das Kontinuitätsinteresse der Volkswirtschaft
lange nicht in gleichem Maße wie die Steuerdeckung; denn sie hat den Vorzug
des „suaviter in modo". Mit ihr wendet der Staat sich an jene Kreise, die
Mittel disponibel haben und diese auch sonst wahrscheinlich nicht konsumiert,
sondern kapitalisiert hätten. Freilich wird auch in diesem Falle der Pro-
duktion Kapital entzogen, aber doch nur ihre Steigerung und Ausdehnung
unterbunden, während die vorhandene Produktion nicht gehemmt wird. Die
Steuer hingegen ergreift das Kapital ohne Rücksicht auf seine Entbehrlichkeit
und beste Verwendung, und „die Gefahr, daß die Konsumtion der Privaten
mit einem Male erheblich abebbe, ist, wenn der Staat die Summe X ersteuert,
d. h. sie ohne Rücksicht auf Disponibilität und Möglichkeit der Inanspruch-
nahme privaten Kredits eintreibt, eine ungleich größere, als wenn der Staat
die Summe borgt und damit in der Hauptsache nur disponibles Kapital in
seine Tasche lockt." Dietzel macht das an einem Beispiel deutlich.
„Angenommen: A, B, C verfügen über ein steuerpflichtiges Einkommen
gleicher Höhe; sie würden also bei Steuerdeckung gleiches zu zahlen haben.
Aber ihre Wirtschaftslage mag trotz gleichen Einkommensbetrages ganz
verschieden ausschauen, und daher mag auf Anleihedeckung jeder dieser drei
Privaten verschieden reagieren. A mag durchaus richtig handeln, wenn er
nichts zeichnet: deshalb, weil er alles, was er einnimmt, benötigt behufs
Konsumtion, zufolge deren Einschränkung er seine wirtschaftliche Leistimgs-
fähigkeit oder die seiner Angehörigen derart schmälern würde, daß der Er-
werb einer Zinsrente seitens des Reiches für ihn ein schlechtes Geschäft
wäre. Und B, wenn er nur wenig zeichnet: deshalb, weil er, was ihm außer-
dem noch übrig ist, in der eigenen, derzeit blühenden Unternehmung zu
investieren vermag. Dagegen C, wenn er eine Reihe von Titeln kaiift:
deshalb, weil die von ihm betriebene Branche jetzt daniederliegt, oder weil
gewisse Anlagen, die er bisher für sein Kapital gewählt hatte, ihm weniger
ersprießlich scheinen als die, zu welcher jetzt das Reich einladet. Bei An-
leihedeckung steht es den Privaten frei, ob sie sich gänzUch fem halten,
oder nur schwach, oder stark beteiligen wollen — je nachdem ihnen Kapital
gar nicht disponibel ist, oder nur in kleinen oder in großen Mengen. Bei
Anleihedeckung wird die Summe X in der Hauptsache seitens derer auf-
Zeitschrift für Politik. 6. 45
706 Besprechungen.
gebracht, die Kajjital disponibel haben — wird sie auf die Privaten so-
zusagen ,umgelegt' nach dem Quantum disponiblen Kapitals, das jedem
eignet." Bei Steuerdeckung ist es weit weniger verbürgt. Jene A,
B, C — die zwar über ein steuerpflichtiges Einkommen gleicher Höhe ver-
fügen, deren Wirtschaftslage aber ganz verschieden ausschaut — werden bei
Steuerdeckung über einen Kamm geschoren. Daher steht zu befürchten,
„daß der Staat in größerem Umfange sich solchen Geldes bemächtigt, das
seitens der Privaten erst hat fi-eigesetzt werden müssen. Geschieht dies durch
irrationelle Einschränkimg der Konsumtion oder irrationelles Herausziehen
aus der eigenen Unternehmung, bzw. aus sonstigen Anlagen, so leidet das
Eentabilitätsinteresse der Privaten; mit ihm aber das Produktivitätsinteresse
der Volkswirtschaft".
Aber auch vom Standpunkt der Gerechtigkeit ist nach Dietzel die
Deckung eines Extrabedarfs durch Anleihe der Steuerdeckung vorzuziehen.
Jede auch nur vorübergehende Erhöhung der Steuern verschärft die unver-
meidlichen Härten und Ungerechtigkeiten, die jeder Steuer anhaften. Auch
die bloße Heranziehung der „Mehrbegüterten" vermag — abgesehen von der
finanziell geringeren Ergiebigkeit — keineswegs die üngleichmäßigkeiten
zu umgehen; im Gegenteil, die Willkür in der Steuerbemessung muß nur
um so gi-ößer werden. Vor allem aber droht die Gefahr einer volkswirt-
schaftlich außerordentlich schädlichen Konsumverschiebung. Ein „Abbruch
am Luxus, zu dem die Millionärsteuer zwingt, mag den Millionären gar nicht
besonders hart ankommen — aber die, deren Kunden bisher die Millionäre waren,
in schlimmste Bedrängnis treiben". Nicht das Kapital, sondern die Arbeit wird
man letzten Endes treffen, die Arbeit jener, die von den Millionären wirt-
schaftlich abhängen, von diesen ihren Gewinnst und Lohn herleiten. „Auf
den ersten Blick", sagt Dietzel, „schaut der Plan, durch eine Sondersteuer
die Kriegskosten zu wälzen auf die stärkeren Schultern, recht annehmbar
aus. Bei näherem Zusehen erkennt man: die Bedenken, die vom Standpunkt
volksvnrtschaftlicher Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit gegen Kriegssteuer
überhaupt sprechen, sprechen erst recht gegen Sondersteuer."
Was hier von Kriegssteuer und Ki-iegsanleihe gesagt wird, gilt national-
ökonomisch überhaupt von der Frage der Deckung eines großen, einmaligen
Bedarfes. Inzwischen hat denn auch Dietzel in zwei Ai-tikeln „Wider die
Einmalige" das Wort gegen die einmalige Wehrabgabe ergriffen. (Frankfurter
Zeitung vom 28. und 29. März 1913. Erstes Morgenblatt). Er stützt sich
dabei im wesentlichen auf die hier wiedergegebenen Gedankengänge, denen
Folgerichtigkeit gewiß nicht abgesprochen werden kann. Dennoch hat man
bei der Ausgestaltung des Wehrbeitrags Dietzels Einwände nicht beachtet.
Wilhelm Gerloff.
Joachim Graßmann, Deutsche Konsularberichterstattung. Berlin 1910.
F. Siemenroth. 95 S.
Der Verf. gibt in der Einleitung eine kurze Übersicht über die Ent-
wicklung des Konsularwesens und seiner Aufgaben. Er bringt sodann im
ersten Teil eine Übersicht über die Normen der konsularischen Bericht-
erstattung, im dritten Teil über diejenigen der konsularischen Auskunfts-
erteilung, beides auf der Grundlage der im „Handbuche des Deutschen
Konsularwesens" von B. W. v. König enthaltenen Runderlasse des Auswärtigen
Amts. Im dritten Teil behandelt er das Institut der Sachverständigen für
Handelsangelegenheiten, für Land- und Forstwirtschaft. Daran schließt sich
als vierter Teil ein Abschnitt über deutsche Handelskammern im Auslande.
Die Abhandlung enthält einen guten Überblick über die bestehenden
Einrichtungen mit Beziehung auf die konsularische Berichterstattung und
ihre Vorwertung. Hier und da findet sich eine kritische Äußerung, so wird
Besprechungen. 707
bemerkt (S. 32 33), daß wegen allzugroßer amtlicher Ängstlichkeit vieles
von den wertvollen Berichten in den Akten vergraben werde, vieles aber
auch durch die große Verzögerung der Veröffentlichung nicht zu angemessener
Verwertung kommt. „Es kann", so heißt es S. 17, „die Verwertung der
Berichte nur schädigen, wenn, wie es jetzt geschieht, die .Jahresberichte erst
ein halbes Jahr nach dem Schluß des Berichtsjahres erstattet wei-den, wiederum
ein halbes Jahr si»iter al)er erst zur Veröffentlichung im Handelsarchiv
gelangen." Von den vertraulichen Mitteilungen über Absatz- und Kredit-
verhältnisse, die den Handelskammern in großer Zahl von den Behörden
regelmäßig zugehen, wird gesagt (S. 40), daß sie meist ihren Zweck ver-
fehlen, wobei der Hauptgrund wohl darin liegt, daß die vertrauliche, die
Benutzung der Presse ausschließende Behandlung vorgeschrieben ist.
Gelobt und zur Nachahmung empfohlen wird die Einrichtung einer
„Handelsauskunftsstelle" in den Räumen des Kaiserlichen Generalkonsulats
in Kapstadt, die anfangs 1908 errichtet wurde. Sie ist bestimmt, Handels-
kreisen Gelegenheit zu geben, sich über deutsche Handelshäuser und die
Leistungsfähigkeit von Deutschlands Handel und Industrie Aufschluß zu ver-
schaffen. Zu diesem Zwecke sind dort sämtliche von deutschen Firmen ein-
gehende Kataloge, Zeitschriften usw., sowie die zur Verfügung stehenden
deutschen Adreßbücher ausgelegt. Ein Firmenregister, das alle in den Kata-
logen und den anderen Publikationen deutscher Firmen erwähnten Waren
in alphabetischer Reihenfolge, ferner daneben Vermerke über liefernde
Firmen usw. enthält, orientiert in leichter Weise den Interessenten.
In dem Abschnitt über die Sachverständigen befürwortet Graßmann,
von der Entsendung von Spezialsachverständigen noch mehr wie bisher
Gebrauch zu machen. Auch von anderer Seite, so von Schanz, Ziele der
Exportpraxis, ist die öftere Aussendung von Spezialmissionen empfohlen
worden.
Die konsularische Berichterstattung ist letzthin mederholt Gegenstand
der Erörterung gewesen, so von Bernhard Harms in seiner Schrift „Welt-
wirtschaftliche Aufgaben der deutschen Verwaltungspolitik'', die der Unter-
zeichnete Band V S. 450 der „Zeitschrift für Politik" besprochen hat. Ferner
seitens des früheren Handelssachverständigen Otto Goebel im Juuiheft 1911
von „Technik und Wirtschaft. Der Unterzeichnete hat S. 322/4 des III. Bandes
der „Zeitschrift für Politik" eine vergleichende Studie über den Konsular-
dienst der wichtigsten Handelsmächte veröffentlicht und dabei bereits auf
einige Bestimmungen der außerdeutschen Reglements hingewiesen, die wir
uns zum Vorbild dienen lassen könnten. Ausführlicher hat er diesen Gegen-
stand behandelt in einer „im Bankarchiv" (I.Juli 1911 und folgende Nummern)
erschienenen Artikelserie über „die konsularische Berichterstattung und den
amtlichen Nachrichtendienst". Es sind dort eine Reihe von Vorschlägen
enthalten, deren Berücksichtigung für die wirksame Ausgestaltung des amt-
lichen Nachrichtendienstes im Interesse des Außenhandels vielleicht von
Nutzen sein möchte. Bernhard v. König.
Hans Graf von Schwerin-Löwitz, Aufsätze und Reden aus Anlaß seiner
zehnjährigen Präsidentschaft. Herausgegeben vom deutschen Land-
wirtschaftsrat. Berlin 1911. Paul Parey. 402 S.
Der deutsche Landwirtschaftsrat hat sich ein dankenswertes Verdienst
erworben, als er beim zehnjährigen Präsidentschaftsjubiläum seines Vor-
sitzenden die Gelegenheit nicht vorübergehen ließ, durch die Sammlung der
Aufsätze und Reden des Grafen Schwerin-Löwitz die Öffentlichkeit auf die
Bedeutung des Grafen im pohtischen Leben Deutschlands hinzuweisen.
Eine bündige, von jeder persönlichen Anhimmlung freie Einleitung
wertet ihn als Soldaten, Landwirt und Politiker, dann folgen zunächst die
45*
708 Besprechungen.
Begrüßungsreden, mit denen der Graf die Tagungen des deutschen Land-
wirtschaftsrates in den Jahi-en 1901 — ^1911 einleitete, ihrem Charakter als
offizielle Ansprachen gemäß mehr allgemeinen Inhalts. Daran reiht sich
eine Anzahl von Äußerungen über die verschiedensten wirtschafts-politischen
Fragen über (letreidezölle, Transitlager Zollkredite, Identitätsnachweis, den
Antrag Kanitz u. a. m. Etwas unvermittelt findet sich darunter auch der
einzige Aufsatz des Buches „Über die Meistbegünstigimg und das handels-
politische Verhältnis Deutschlands zu den Vereinigten Staaten von Nord-
amerika", dem das Buch den nicht ganz gerechtfertigten Teil seines Titels
„Aufsätze" verdankt. Seine Tätigkeit als Parlamentarier und praktischer
Landwirt brachte es mit sich, daß im letzten Jahrzehnt kaum ein bedeutendes
handelspolitisches oder bodenwirtschaftliches Problem existiert, zu dem Graf
Schwerin-Löwitz nicht Stellung genommen hätte.
An sein bekanntes Gutachten über die Moorkultur auf seinem Gute,
die einen Teil seiner praktischen Lebensarbeit bildet, das er im Jahre 1905
vor der Zentralmoorkommission erstattete, und das bahnbrechend für die
Entwicklung der Moorkultur in Deutschland gewesen ist, schließen sich
Eeferate aus der parlamentarischen Tätigkeit über den Quebrachozoll, über
die Zuckersteuer, das Kaligesetz, die Brüsseler Zuckerkonvention, den Getreide-
terminhandel usw.
Bei aller durch den Stoff gebotenen Nüchternheit und einer auf Kampf
gerichteten Tendenz tragen die Reden den Stempel einer menschlich wie als
gründlichen Kenner der Materie schätzenswerten Persönlichkeit. Die einfache
und dennoch ausdrucksvolle, von jedem falschen Pathos fi-eie Art der Wieder-
gabe zeigt bei allem Nachdruck, mit dem Graf Schwerin-Löwitz für die eigene
Sache eintritt, einen sympathischen, vielseitig gebildeten, von jedem kleinen
Parteifanatismus fi'eien Menschen, den auch mitten im erbitterten Kampf
niemals die Ruhe und die Achtung vor der Persönlichkeit des Gegners verläßt.
Die Anordnung des Stoffes zeigt zwar nach außen hin keine organische
Gliederung, doch als ganzes erfüllt die Sammlung vollkommen ihren
Zweck, der Öffentlichkeit ein anschauliches Bild vom Lebenswerk des
Jubilars zu geben.
Einen fühlbaren Mangel bedeutet das Fehlen eines Kommentars und
eines Sachregisters, da es sich um Reden über aktuelle Probleme handelt,
die mancherlei enthalten, das wohl den Zuhörern im Augenblick geläufig
sein mochte, für späterhin aber unbedingt der nähern Erläuterung bedürfen.
Bei einer Neuauflage der Sammlung sollte der Verlag es nicht unterlassen,
dies nachzuholen. Eugen Fridrichowicz.
Sach-
und Namenregister.
Abgi'enzung des Ordinariums und
Extraordinariums im Eeichsetat 444.
Abhängigkeit des Budgetrechts von
der Regierungsform 466 f.
Ablehnung der allgemeinen Wehr-
pflicht in England 132 f.
Abschreibung vom Anleihesoll im
Reiche 446.
Abstufungen der Katholisch-Konser-
vativen 154 f.
Act of Settlement 1701. 560.
Ägypten, StaatsrechtÄ. (Besprechung)
249 ff.
Algeciras-Konferenz 122.
Alldeutsche Bestrebungen 123.
allotted days der Budgetberatung 395.
Altenstein 12.
Amerika und China 186 ff.
Amerikanischer Besitz in Asien 197.
Amerikanismus, katholischer 157.
Analogien, verfassungsrechtliche und
staatswirtschaftliche in Preußen und
England 461 ff.
Anarchistisch - kommunistisches Pro-
gramm von Moses Heß 78 f.
Andrässy, Graf Julius, Biographie
(Besprechung) 256 ff.
Anerkennung des Kabinetts in Eng-
land 561.
Anfänge des Radikalismus in Berlin
42 ff.
Anleihebewilligungsrecht des Reichs-
tags 392 f.
Anleihepolitik im Reich und inPreußen
422 ff.
Anleihepraxis des preußischen Land-
tages 429.
Anna, Königin, Kabinett unter A. 563.
Annuitätentilgung in Frankreich und
England 420 f.
Anson, William R. 398.
Antagonismus zwischen England und
Deutschland 120 f.
Antikonstitutionelle im vormärzlichen
Preußen 24.
Appropriationsakte 354 f.
Ai'beitsweise des Kabinetts unter Prinz
von Wales 572.
Armenpolitik, englische (Besprechung)
673 ff.
V. Arnim-Boitzenburg 32.
Arten der parlamentarischen Enquete
267.
Atheismus der „Freien" 55,
„Athenaeum" — Organ des Berliner
Radikalismus 43.
Auersperg 307.
Aufgaben des katholischen Konserva-
tismus 155 f.
Aufgabenkreis der Mittelstaaten 632 f.
— von Staat und Provinz 628.
Auflösung des philosophischen Radi-
kalismus 82 ff.
Aufrechterhaltung der britischen Vor-
macht 140 f.
Aufi-uhi- in China 1900 187.
Ausbau der Matrikularbeiträge diu'ch
den Reichstag 385 f.
V. Ausfeld 293.
Ausführungsanweisungen zur Instruk-
tion für die Rheinlande 184 f.
Ausgabe, keine, ohne Deckung 436.
Ausgabebewilligungsrecht, Beschrän-
kung des A. 439.
— des Reichstags 387 f.
Ausgleich, sozialer. Budgetrecht und
Finanzpraxis im Dienste des A.
474 ff.
Ausgleichsfonds für die preuß. Eisen-
bahnverwaltung 427.
Auskunftspflicht, parlamentarische, der
österreichischen Minister 319.
Auskunftsrecht der österreichischen
Parlamentsausschüsse 314 ff.
Ausland über Englands Seemacht 128.
Ausschüsse, parlamentarische 265.
Außerordentliche Schuldentilgung im
Reiche 455.
710
Sach- und Namenregfister.
Authentische Interpretation der In-
struktion für die Rheinlande 183.
B.
Baden, Kreisverbände 633.
— Staatsstelhmg 635.
— Wahlprüfungsenquete in B. 292.
Badeni (Besprechung) 534 ff.
— Kabinett B. 341.
Badischer Liberalismus, Polemik Ed-
gar Bauers
Balfour 400.
Bankinteressen, amerikanische, in
China 199 f.
Bannermann, Campbell 402.
Bauer, Bruno 16.
— Bruno und Edgar als Haupt der
vormärzlichen Opposition 46 f.
— Edgar 5, 13.
— Edgar, als Führer des Eadikalis-
mus in Preußen 58 ff.
— Edgar, als Radikalist 84.
Bäuerliche Bevölkerung und politische
Parteien in Deutschland und Frank-
reich 664 ff.
Bassermann, Antrag B. 1848 601.
— im badischen Landtag 1848 599.
Bayern, Budgetverhältnisse 373.
— Erledigung des Budgets in B. 404.
— Wahlprüfungsenquete in B. 291 f.
Begriff: Konservativ 151 f.
Begrifflicher Unterschied zwischen
Einzelstaat und Provinz 625.
Behörden, Staatsbürgerliche Freiheit
und freies Ermessen der B. (Be-
sjarechung) 239,
Behördenorganisation 159 ff.
Beiräte als legislative Informations-
organe 344 f.
Bekämpfung des Cleburtenrückganges
662 f.
Belgien, Budgetrecht in B. 368.
Beratungsrecht der Mitglieder von
Kollegien 161.
Berlin, Anfänge des Radikalismus in
B. 42 ff.
— vormärzlicher Liberalismus in B.
25,
Beschränkungen des Reichsbudget-
rechts 377 f.
Beschwerderecht der Volksvertretung
(Hannover) 275 f,
Besserung der Finanzpraxis im Reiche
456 f.
Bismarck und das päpstliche Rom
(Besprechung) 528 ff.
Bismarck, i^reußisches Enqueterecht
unter B. 286.
V. Bodelschwinghs Konzession der
„Rheinischen Zeitung" 27, 28.
Bolingbroke 562.
Bonet, Friedrich 568.
Börne, Ludwig 9.
Börsenderoute, Wiener 1891, Parla-
mentsenquete wegen der B. 335 f.
Bothmer, Graf 567.
Bowles, Thomas Gibson 401.
Breiter 342.
Brestel 300.
Britische Politik, Grundlagen der B,
P. 114 ff.
Bruch der Junghegelianer mit der
Politik 66 ff.
Brutto- oder Nettobudget 409,
Buckingham 552,
Budget-Zwölftel in Frankreich 404.
Budgetgesetz, kein B. in Bayern 374 f.
Budgetkonflikt in England 1909/10
357 ff.
Budgetkonflikte in Preußen, Wir-
kung 372.
Budgetprovisorium 365.
— in England 418.
Budgetrecht 346 ff.
— als politische Waffe 457 ff.
— des Reichstags 440 ff.
Budgetrechtliche Natur der Ausgabe-
bewilligung 389.
Budgetverweigerung in Frankreich,
Folgen der B. 365.
Buhl, Ludwig 5, 7, 58.
Bulgaren und Panslavismus 223.
Bündnistreue Englands gegenüber
Frankreich 125.
Bureaukratische Geschäftsform 166.
Bureaukratismus in den Behörden
159 f.
o.
Cal)inet Council 552.
Cadogan 592,
China, Abwehr europäischer Ideen 207.
— und dieVereinigten Staaten 186 ff.
— Erwachen 202 ff.
— politische Zukunft 213 f.
„Charte Wal deck" 284.
CJlarendon 550.
Cochery, Georges 408.
Comitee of Council 564 f.
Consolidated fund 349 f,
Corollartheorie 307.
cour des comptes 406.
i
Sach- und Namenregister.
711
Cowpers Diary 563.
Cromwell 552.
£>.
Dahlmann 274.
Daszyiiski 338, 341.
Deckimirsfrage 470.
Defizitanleiben im Deutschen Keicb,
Preußen und England 423 f.
Delcasse 122.
Demokratie, deutsche, Trennung der
proletarischen von der bürgerlichen
(Bespreciiung) 523 ff.
— als Schlagwort der Radikalen 73.
Demokratismus Ficbtes 10.
Departements, bäuerliche, in Frank-
reich 670 f.
Derby. Lord 397.
Derwentwater 570.
Detente, deutsch-englische 142 f.
Deutsch-englische Beziehungen 118 f.
Deutsch-französische Beziehungen 123.
Deutsch-nationaler Katholizismus 158.
Deutschkonservative Partei 152.
Deutschland, bäuerliche Bevölkerung
und politische Parteien in D. 6d4 ff.
— parlamentarische Enquete 265 ff.
— Verzicht auf die Hegemonie in
Europa 145 f.
Deutschtum in denVereinigten Staaten
(Besprechung) 520 f.
Dlberville 572.
Differenzen zwischen Voranschlag und
Wirklichkeit 415.
Dingelstedt 8.
Diskontinuität der österreichischen
Enquetekommissionen 326 f.
Diskussion über die Notwendigkeit der
politischen Partei in Preußen 5 ff.
Dobrovsky, Jos. 216.
Dotationen, System der D. 462.
Dotes of account 404.
Druck von außen auf die Weltmächte
138.
Dualismus der schwedischen Verfas-
sung 485 ff.
Dumont-Schauberg, Joseph 26.
Durych, F. V. 217.
E.
Eduard VI., Anfänge des Kabinetts
unter Ed. 551.
Effektive Schuldentilgung im Reiche
1911/12 451 f.
Egoismus als Weltanschauung 88.
Eherecht der Eingeborenen in deut-
schen Kolonien 504 f.
Eichhorn 15, 175.
Einkreisung Dentschhinds 124.
Einnahme, Bewilligungsrechte, Fest-
halten des Reichstags an E. 391 f.
Einnahmegesetze 389.
Einnahme verkottuugssystem 414.
Einschränkung der politischen Tätig-
keit des Klerus 157.
— der Seerüstungen 143.
— des parlamentarischen Budget-
rechts in Frankreich 367.
Einwanderung, japanische inAmerika
190 f.
Einzelstaat und Provinz 621 ff".
Einzelstaateu als Reichsprovinzen 645.
Einzige, Der, u. sein Eigentum (Stirner)
88 f.
Eisenbahnschuld, Preußische, Tilgung
der E. 425 f.
Eisenbahnuiiternehmen in China 195.
Engels, Friedrich 9, 80.
England. Budgetrecht in E. 347 ff,
— Einfluß des Sessionsschlusses auf
die Enquetekommission 329.
— Einheitsbestrebungen in E. 646.
— Erledigung des Budgets in E.
402 f., 404.
— Kabinettsregierimg 549 ff.
— parlamentarische Behandlung des
Budgets in E. 394 f.
— parlamentarische Enquete in E.
274.
— Politik E. 115 ff.
— Vorherrschaft zur Zeit der Kon-
tinentalsperre 673 ff.
Englands Herrschaft zur See als poli-
tische Doktrin 127.
— Stellung unter den Weltmächten
138.
Englische Politik, Schriften zur e. P.
(Besprechung) 236 ff.
Englisch - französische Bundestreue
125.
Englisches System der Finanzpraxis
479.
Enqueterecht, parlamentarisches
265 ff.
— der österreichischen Parlaments-
ausschüsse, Umfang 314 ff.
Entente, anglo-russische 122.
— englisch-fi'anzösische 120, 122.
Entstehung des englischen Kabinetts
549.
— der politischen Parteien in
Preußen 3 f.
712
Sach- und Namenregister.
Erfurter Unionsverfassung, Enquete-
recht in der E. 282.
Erhebung der Volksmassen zur Demo-
kratie 74.
Erich, Eafael 649.
Eroberung Finnlands 654.
Erstarkung des chinesischen National-
gefühls 201.
Etat der Eheinprovinz 632.
Etatsdefizits, künstliche 429 f.
Etatsjahr 1911, Schuldentilgungssätze
für E. 449 f.
Etatstechnik, englische 400 f.
Etatsüberschreitungen 387.
Etatswirtschaft 429 ff.
Europa, Verhältnis zu China 203.
Europäisch-chinesischer Krieg 264,
Europäisches Gleichgemcht, Wahrung
des E. G. durch England 134 f.
Expansionsbestrebungen , deutsche,
keine Unterbindung dui-ch England
146 f.
Extraordinarium des Eeichsetats, Sa-
nierung des E. 444.
F.
Fahlbeck, Pontus E. 483.
Fallati 618.
Fehlbetrag des Staatshaushaltsetats
412 f.
Feststehende Einnahmen und Aus-
gaben im Preußischen Etat 438.
Feuerbach, Ludwig 75.
Fichte 10.
Fichtes Eeden, ihr aktuell-politischer
Gehalt (Besprechung) 522 f.
Fickler 610.
Finance account 348,
Finanzbedarf für die Heeresverstär-
kung 1911 434,
— imd Etatswirtschaft 429 ff,
Finanzbill, englische 1909/10 359 f.
Finanzgesetz vom 15. Juni 1909 449.
Finanzgi'undlagen des Preuß. Staats-
haushalts 368 ff.
Finanzgi-undsätze, feste, im Eeichs-
liaushaltsetat 481.
Finanzhoheit der Ej*one 458.
Finanzkraft, sinkende, der Einzel-
staaten 642,
Finanznot im Eeiche 464,
Finanzpraxis 346 ff,
— Preußische 435 f.
— zukünftige, im Eeiche 454 ff.
Finanzprobleme der Zukunft im
Eeiche 469 ff.
Finnische Frage 649 ff.
Finnland als russische Provinz 651,
Flottenvermehrungeu, deutsche 124.
Flottenvorlage, deutsche. Begründung
der Fl, 128.
Flottwell. Eduard 91 f.
Föderativrepublik, deutsche 613,
Folien, August 67.
„Forderungen des deutschen Volkes"
(Programm) 611.
Foreign comitee 554.
Fortdauer der Enquetekommission
nach Sessionsschluß 328 f.
Franckensteinsche Klausel 440 f,
Frankfurter Nationalversammlung 615.
Frankreich, Bäuerliche Bevölkerung
und i^olitische Parteien in F, 668 ff.
— Budgetrecht in F. 362 ff.
Französisch-russisches Bündnis 123.
Französische Eevolution imd Pansla-
vismus 215 ff.
Fi'anzösisches Eecht in preußischen
Gebietsteilen 171 f.
Freien, die, und die Eheinische Zei-
ttmg 68 f.
— die, im Kampfe gegen den christ-
lichen Staat 50 ff.
„Freien", Programm der F, 107 ff.
„Freier Staat" (Bruno Bauer) 51.
Fremdenlegion (Besprechung) 684 ff.
Frequenz in den Kabinettssitzungen
589.
Friedrich Wilhelm III, 2,
Friedrich Wilhelm IV, 2,
— und die Junghegelianer 13 ff,
— Einberufung des vereinigten Land-
tages 608.
Fröbel, Julius 67.
Gagern 604,
Gaj, L, 219,
Gebarungsperioden, Eechnung nach
G, 408.
Gebietshoheit, als Unterscheidungs-
merkmal zwischen Staat und Pro-
vinz 627,
Geburtenrückgang in Deutschland
657 ff.
„Gegenwort", Stirners Broschüre 91 ff',
96 ff.
Gegenwartsaufgaben der Finanzpolitik
482,
Gelbe Gefahr 204.
Geldljewilligungsrecht des Eeichstages
383 ff.
Sach- und Namenretfister.
713
Geltimg der ßeichsverfassung in den
deutschen Kolonien (Besprechung)
507 ff.
Genossenschaftswesen in Deutschland
(Besprechung) ö36 ff.
Georg I., Kabinettsregierung unter G.
566 f.
Georg n. 588.
Gerechte Erfassung der Steuerobjekte
472.
Gerichtsbehörden, Kollegialverfassung
bei G. 162.
Geschäftsform der Behörden 159 ff.
Geschichte der Politik, Schriften zur
G. (Besprechung) 673 ff.
Gesetzgebung, Badische 639 f.
Gesetzgebungsenquete 268.
Gesetz über Volksbewaffnung und
Bürgerwehr 1848 616.
Gesetzgebungsgewalt des Staates als
Trennungsmerkmal von d. Provinz
637.
Gleichberechtigung, Von der Duldung
zur G. (Besprechung) 689 f.
Gleichgewicht, politisches der Macht
in Schweden 489.
Giskra 318.
Gotha, Enqueterecht in der Ver-
fassung für G. 283.
Gottschall 8.
Graßmann, Joachim, Deutsche Konsu-
larb erichterstattung (Bespr.) 706 f.
Grenzen des Budgetrechts in den
deutschen Bundesstaaten 371.
Grey, Edward. Politik E. G.'s 116.
Gründe für Englands Seeherrschaft
129 f.
Grundgesetz, österreichisches über die
Eeichsvertretung § 21 305 f, 310 f.
Grundlagen der britischen Politik
114 ff.
Gründung der „Rheinischen Zeitung"
27 f.
V. Gutzkow 8.
PI.
Haldanes Besuch in Berlin 118.
Hampton Court, Eesidenz Georg I.
in H. 574.
Handel, Amerikas mit dem fernen
Osten 198 f.
Handwerker, deutsche u. der Kommu-
nismus 77 f.
Hansemann 597.
Hardenberg 173.
Hatschek 350. 356 f.
Hay und die amerikanisch-chinesische
Politik 188.
Hecker 614.
Hegel 4.
Hegels GeschichtsphiloBophie in der
Politik 10 f.
Heidelberg. Badische Versammlung
vom 5. März 1848 603.
Heine, Heinrich 8 f.
Heppenheimer Versammlung 1847 598.
Hermes 40.
Herrschaftsrecht, staatliches 626.
Herwegh 6 ', 8.
Herwegh und die „Freien" 70.
Hervey 587.
Heß, Moses 28. 75 f.
Höhe der Matrikularbeiträge 384 f.
Humanität der Chinesen 208.
Illyrismus 220.
Immediat- Justizkommission für die
Rheinlande, Instruktion für die I.
171 ff., Text 175 Ö'.
Immunitätsausschuß des österr. Abge-
ordnetenhauses, Ladung von Zeugen
dm-ch den I. 319 ff.
Imperial Council 138 \
Indolenz, politische, der Masse im
vormärzlichen Preußen 73 f.
Industriebezirke, Verwaltung und Pro-
bleme (Besprechung) 541 ff.
Informationsrecht des österr. Parla-
ments. Umfang des I. 311.
Initiative legislative 269.
Inselcharakter Großbritanniens 118 f.
Instruktion der Preußischenlmmediat-
Justizkommission für die Rhein-
lande von 1816. 171 ff.
Interessenstandpunkt Deutschlands
148.
Internationalität der politischen Partei
(Marx) 81.
J.
Jacobys Freisprechung vom Hochver-
rat 23.
Jahrbuch des Öffentl. Rechts Bd. IV
(Besprechung) 545 f.
Japan und Amerika 190.
— Unterstützung Chinas durch J. 189,
Japelj, Georg 217.
V. Jaworski 335.
Jung. Alexander 8, 21.
Junghegelianer, Berliner Bruch der J.
mit der Politik 66 ff.
— und Fi-iedrich Wilhelm IV. 13 ff.
714
Sach- und Namenregister.
Jungmann, Jos. 217.
Juristische Natur des Enqueterechts
270.
„Juste milieu", Edgar Bauers 61.
K.
Kabale 553.
Kabinett, englisches, unter Wilhelm III.
558 ff.
Kabinettskrisis Briand 421.
Kabinettsrat in England 552.
Kabinettsregierung iu England 549 ff.
— unter Georg I. 568 f.
Kabinettssitzung des Jahres 1718
576 f.
Kaffeehauspolitiker im vormärzlichen
Berlin 43.
Kaiser 342.
Kaiserbesuch in Tanger 122.
Kamjif der „Freien" gegen den christ-
lichen Staat 50 ff.
— um das parlamentarische Enquete-
recht im Reichstag 293 ff.
Kämpfe zwischen der Rheinischen Zei-
tung und der preußischen Regierung
26 ff.
Kanonisches Verbot der Kleruspolitik
157.
Kant 6.
Kantischer Liberalismus 21 f.
Karl I., Kabinettsrat unter K. 552.
Katholischer Konservatismus 151 ff.
V. Kircheisen 173.
Kirchhoff, A. 428, 436.
Knox und China 192.
Koeppen, Friedrich Karl 13.
Kollär, Joh. 218.
Kollegialverfassung der Behörden
159 f.
Kolonien, deutsche. Geltung der
Eeichsverfassung in den K. (Be-
sprechung) 507 ff.
— deutsche, Mischehenfrage in den
K. 498 ff.
— Unterstützung der britischen See-
macht durch die K. 140 f.
Kouiiriissionen und Ausschüsse in Öster-
reich, parlamentarisches Enquete-
recht der K. 303 f.
Komnumalverband und Staat, Unter-
schied zwischen K. 625,
Kommunismus, Anhänger in Deutsch-
land 75.
Komptabilitätsgesetz 369.
Konfessioneller Konservatismus des
Zentrums 153 f.
Kongresse, die slawischen 228 ff.
Königsberger Liberalen, Kampf Edgar
Bauers gegen die K. 61 ff.
Konservatismus, katholischer 151 ff.
Konsistorien, Kollegialverfassung 163.
Konstantes Budget in England 360 ff.
KonstituierendeNationalversammlung,
Enqueterecht der K. 278 ff.
Konstitutionalismus in Schweden 483ff .
Konstitutionelle Monarchie, Kamjjf des
vormärzlichen Radikalismus gegen
die K. 63.
Konstitutioneller Staat, Enqueterecht
im K. 272 f.
Konsularberichterstattnng , deutsche
(Besprechung) 706 f.
Kontinentalsperre, Englands Vorherr-
schaft zur Zeit der K. (Besprechung)
673 ff.
Kontrolle des Reichshaushalts 411.
Kontroverse, deutsch-englische 121 ff.
— über das preußische Enqueterecht
287 ff.
Konventionalregeln 623.
Kopitar, Bartolomaeus 218.
Kopp 332.
Kräfteverschiebungen zwischen Reich
und Einzelstaaten 624.
Kreisverbände, Badische Verwaltungs-
aufgaben 633.
Ki-ieg, Soziologie und Philosophie des
K. 518 f.
Kriegssteuer oder Kriegsanleihe (Be-
sprechung) 704 ff.
Krizaniö 215,
Kronawetter 331.
KJrone, englische, Mitwirkung am
Budget 352.
Krone und Reichstag in Schweden,
Gleichberechtigung der K. 489 ff.
Kronfideikommißrente 370.
Kuhungming 207.
Kultur der Chinesen 206.
Kulturkampf in Deutschland (Be-
sprechung) 528 ff.
Kumerdej, B. 217.
Künstliche Überschüsse 413.
Kursstand der Reichsanleihen 472.
L.
Laband 623.
Landeshoheit 627.
Landes-Konservatismus 152 f.
Landesverwaltungsbehörden , keine
kollegiale Entscheidimg iu L. 165.
Landtag, finnischer, Streit mit der
Duma 651.
— Preußischer, Budgetrecht 372.
Sach- und Namenreorister.
715
Lansdowne, Lord 358.
Lasker 286, 293.
Lassalle (Besprechung) 677 ff.
Leges fundamentales in Finnland 653.
Legislative Enqueten in Österreich
338 ff.
Legitimationsausschuß des österreichi-
schen Parlaments, kein Enquete-
recht 312.
Lehnsstaat, vom L. zum Ständestaat
(Besprechung) 673 ff.
Lentze 382.
Leroy-Beaulieu 367.
Lex Stengel 383, 443, 445.
Liaotung als japanischer Besitz 191 f.
Liberalismus, ostpreußischer, und die
„Freien" 71 f.
Liberalismus und Radikalismus im
vormärzlichen Preußen 18 f.
Lichtenfels 306. 318.
Lienbacher 330.
Literarisches Comptoir in Zürich 67.
— FiHalen des L. C. 72 f.
Lloyd, George 357.
Loening 433.
Lords of the Committee 572.
Lords Justices 584.
Lueger 335.
M.
Machiavellis Geschichtsauffassung (Be-
sprechung) 673 ff.
JMachtzentrum als Kennzeichen des
Staates 638.
Magg 334.
Mahan 127.
Mängel der Budgetkontrolle in Frank-
reich 406 f.
Maria, Königin von England 558.
Marineetat, englischer 129.
Marokkanische Frage 121 f.
Marx und der Kommunismus 76.
— als Redakteur der „Rheinischen
Zeitung" 34 f.
— und die „Freien" 69.
Marxistische Sozialdemokratie (Be-
si^rechung) 264.
Märztage in Berlin und Wien 609 f.
Maihj 597.
Matrikularbeiträge 380 f.
— als Ursache der Defizit- oder
Überschußwirtschaft 433 f.
Mayer 300.
Meinimgsverschiedenheiten bei nicht
rein kollegialer Geschäftsform 170.
Methuen, Briefe 571.
Mevissen 40.
Meyen 70.
„Ministers" 562.
Ministerialerlaß vom 30. JEärz 1817
184 f.
Ministerialverfassung, Zweiheit der
Geschäftsform in der M. 169.
Minutes 581.
Mischehenfrage in den deutschen
Kolonien 498 ff.
Mittelform von bureaukratischer und
kollegialer Geschäftsform 167 f.
Mittelmeerfrage, die englische M. 120.
Mitwirkung des Parlaments bei der
Vorbereitung des Budgets in Eng-
land 394 f.
Monarchismus Friedrich Wilhelms IV.
14 f.
Money bills, Zustandekommen in Eng-
land 397.
Moralsystem der Chinesen 210 f.
Mühlfeld 302.
N.
Nationalliberale 1848 602.
Nativitätskuren in den europäischen
Ländern 658 f.
Nauwerck, Karl 58.
Netto-Staatsbedarf Preußens 438 f.
Newcastle 582, 587.
Niederlande, Enquetegesetz 1850 329.
Normanby, Lord 556.
Notetats im Reiche 403.
Notwendigkeit der politischen Partei
5 f.
o.
Oberhaus, englisches, Vetorecht im
Budget 356.
Oberrechnungsamt, Kontrolle des 0.
410.
Oben^echnungskammer, Geschäftsfor-
men der 0. 164.
Offenburg, Versammlung 17. März 1848
611 f.
Organisationsgesetzgebung der Einzel-
staaten 640.
Originäre Staatsgewalt 627.
Opiumimport in China 194 f.
Österreich, parlamentarische Enquete
26off.
— verfassungsmäßiges Enqueterecht
in Ö. 299 ff.
Osten, der ferne, und die Vereinigten
Staaten 186 ff.
Ostpreußen, vormäi'zlicher Liberalis-
mus in 0. 21 ff.
716
Sach- und Namenregister.
P.
Palmerston 397.
Panslavismus 215 ff.
Parität in Österreich (Besprechung)
689 f.
Parlament, Behandlung des Budgets
im P. 393 ff.
Parlamente , französische , Uneinge-
schränktes Budgetrecht der P. 363.
Parlamentsausschüsse in Österreich,
Prüfung V. Verwaltungsakten durch
die P. 308, 311.
Parlamentsenqueten , österreichische
Fälle von P. 330 ff.
Parteien, politische, im vormärzlichen
Preußen 3.
Parteipolitik zur Zeit des deutschen
Vorj)arlamentes 594 ff.
Pavloviö, T. 219.
Pendtenriedter, Freiherr von 575.
Pepys Diary 553 \
Personalenqueten in Österreich 340.
— Unzulässigkeit der P. 272.
Peterboraugh, Lord 562.
v. Pfaff, Freiherr 448.
Pietismus Friedrich Wilhelms IV. 16.
Plathner 279.
Polen und Panslavismus 223.
Politik, britische, Grundlagen der P.
114 ff.
— der mittleren Linie in England
116.
— englische, Schriften zur P. (Be-
sprechung) 236 ff.
— Schriften zur Geschichte der P.
673 ff.
Politisierung der katholischen Kirche
155.
Politische Bedeutung des englischen
Budgets 349.
— Bedeutung des französ. Budget-
rechts 364.
— Presse im vormärzlichen Deutsch-
land 26.
Politischer und strategischer Stand-
punkt Englands gegenüber Deutsch-
lands 147.
— Radikalismus im vormärzlichen
Preußen 1 ff.
Polizeiverwaltung als staatliches Ver-
waltungsgebiet 637.
Posadowsky als Sozialpolitiker (Be-
sprechung) 255 f.
Philosophie der Kultur, der Kultur-
akt (Besi^rechung) 701 ff.
Philosophie und Proletariat 80.
Prärogative der Krone bei der eng-
lischen Budgetberatung 396.
Präventivkontrolle in England 407.
Praxis, finanzpolitische 412 ff.
Preferenzialzölle, englische 130.
Premierminister in England 593.
Preßedikte Friedrich Wilhelms IV.
17 f.
Preuß 627.
Preußen, Anfänge des Radikalismus
in P. 1 ff.
— als Führer der deutschen Einheit
617 f.
— Einfluß auf die Einzelstaaten 643 f.
— Enqueterecht im Verfassungs-
gesetz für P. 284 f.
— Staatshaushalt, Rechts- u. Finanz-
gruudlagen 368 ff.
Preußisch-süddeutsche Klassenlotterie
643.
Prinz von Wales im Kabinett 1716
580.
Privy Council 550.
— Council, beschränktes 555.
Problem der Masse, Radikalismus und
das P. 72 ff.
Programm der „Freien" 91 ff., 107 ff.,
111 ff.
— des radikalen Liberalismus 1847
596.
Proletariat in der Philosoi^hie 80.
Protokolle der Kabinettssitzungen
582 f.
Provinz, Einzelstaat und P. 621 ff.
Provinzen, Entwicklungsfähigkeit der
P. 645.
Provinzialbehörden, Kollegialverfas-
sung bei P. 162.
Prutz, Robert 2 f., 8.
public letters 586.
Ct.
Quadrumvirat und Triumvirat 591.
Quäker, Sozialpolitik der Q. (Be-
sprechung) 673 ff.
R.
Radikalen, die deutschen 1848 616 f.
Radikaler Liberalismus in Baden 595 f.
Radikalismus, Anfänge des R. in
Berlin 42 ff.
— philosophischer, Auflösung des R.
82 ff.
— politischer, im vormärzlichen
Preußen 1 ff.
Sacli- und Namenregrister.
717
Radikalismus und das Problem der
Masse 72 ff.
Eadikalisten im vormärzlichenPreußen
58 ff.
Eationalisierung des Sexuallebens
660 ff.
Eave, Bernliard 36.
Reaktion, katliolische 154.
Rechtsj^rundlagen im Preuß. Staats-
haushalt 369.
Rechtsschutz der Zeugenaussage im
Parlament 325 f.
Redlich 356.
Redner, politische, in Österreich (Be-
sprechung) 534 ff,
Reform des Budgetrechts des Reichs-
tages 473 f., 480.
Regentschaften, das englische Kabinett
unter den R. 584.
Regierungen, Preußische, Geschäfts-
betrieb bei den R. 163.
Regierungsform und Wahlrecht, Bud-
getrecht im Verhältnis zu R. 466 ff.
Regierungsinstruktion, Geschäftsbe-
handlung nach der R. 163.
Reglements der Provinz 629.
Reichensperger, Peter 280, 607.
Reichsbankdirektorium, Fester Etat
des R. 379 f.
Reichsbudgetrecht 375 ff.
Reichseinnahmen, unabhängige 380.
Reichserbschaftssteuer 386.
Reichsfinanzreformen 1904, 1906, 1909
443.
Reichsgericht, Kollegialprinzip des R.
161.
Reichsgesetzgebung, Abhängigkeit des
Budgets von der R. 370 f.
Reichshaushaltsetat als lex annua 376.
Reichskontrollgesetz von 1910 411.
Reichsparlament, englisches 647.
Reichspartei 154.
Reichsschuldenwirtschaft 442.
Reichssteuern, direkte, Notwendigkeit
der R. 469.
Reichstag gegen Festlegung der Ma-
trikularbeiträge 381 f.
— Budgetrecht 440 ff.
— kein Entqueterecht im R. 293 f.,
296 f.
— Geldbewilligungsrecht des R. 383.
— Kontrolltätigkeit des R. 411.
Reichstagspräsident, deutscher, Staats-
rechtliche Stellung (Besprechung)
514 f.
Reichstags -Wahlkreise, bäuerliche
667 f.
Reichstagswahlrecht und Budgetrecht
468.
Eeichsverfassung vom 28. März 1849,
Enqueterecht in § 99 der R. 281 f.
— Geltung der RV. in den deutschen
Kolonien (Besprechung) 507 ff.
— Kommentar (Besprechung) 247 ff.
Reichsvei-sicherungsbehörden, keine
Kollegien 164 f.
Reichsverteidigung Englands durch
die Kolonien 139 f.
Reichswertzuwachssteuer 390.
Reincke 294 f.
Reinüberschüsse der jjreuß. Eisenbahn-
verwaltung, Verwendung der 431.
Religionsedikt Friedrich Wilhelms IV.
53.
Republik China 205.
Republikanische Partei, Entstehung
in Deutschland 1848 613.
Republikanismus in Deutschland 1848
610.
Resolution des Radikalliberalismus in
Offenburg 1847 595.
Revolution 1848 603.
— chinesische 196, 212 f.
— des Proletariats 85.
Rheinische Zeitung und die vor-
märzliche Opposition 26 ff.
Rheinlande, Instruktion der Preußi-
schen Immediat- Justizkommission
für die R. 171 ff.
Rheinprovinz, Wirkungskreis der E.
628 f.
Rochows Kampf gegen die „Rheini-
sche Zeitung" 30 f.
Eoesler 280.
Eom und das Zentrum (Besprechung)
528 ff.
Eomantiker, Fi-iedrich Wilhelm IV.
als E. 15.
Eooke, Sir George 558.
Eoosevelts Japanpolitik 189.
Eosenkranz, Karl 6, 20.
Eotteck 274.
Eückkauf der mandschurischen Eisen-
bahn durch China 192.
Enge, Arnold 10, 46.
Russen und Panslavismus 224 ff.
Eussifizierung Finnlands 652.
Eußlands Einfluß auf die Mandschurei
188 f.
Eüstungsfolgen in England u. Deutsch-
land 131.
Eüstungswettkampf, englisch- deut-
scher 138 f.
Eutenberg 18 f., 44.
718
Sach- und Namenregister.
s.
Safafik, Paul J. 218.
Saint, Paul als Zensor der „Rheini-
schen Zeitung" 37 f.
Sallet, Friedrich von 58.
Saß, Friedrich 87.
Saturday Dinners 591.
Say, Leon 366.
Schanz, Georg 441.
Schellings Berufimg nach Berlin 15 f.
Schleswig -Holstein, Enqueterecht in
der Verfassung von S. 283.
Scholl 301.
Schönborn, Graf 335.
Schranken der Finanzverwaltung in
Preußen 437 f.
Schriftsteller, i^olitische, der „Fi'eien"
58.
Schriftverkehr bei Kollegien 160.
Schulausbildung, militärische, in Eng-
land 130.
SchuldenjDolitik im Reich und in
Preußen 422 ff.
Schuldentilgung, effektive, in Eng-
land 419.
— gesetzliche, in Preußen 426.
— im Reiche 445 ff.
Schuldentilgungspraxis des Reiches
442.
Schutzzoll in England 130.
Schwedische Verfassung und konstitu-
tionelle Regierung 483 ff.
Schwerin -Löwitz, Hans Graf von.
Reden (Besprechung) 707 f.
Sea Power 126.
Seeley, John 116.
Seemacht, britische, Doktrin der S.
126 f.
— und Schutzzoll 131.
Seewege, Bedeutung der S. 129.
Selbstgesetzgebung der Kommunal-
verbände 636.
Selbstverwaltung des Provinzialver-
bandes 630.
Selbstverwaltungskörper, Kommunal-
verbände als S. 638.
Serenade für Welcker 44.
Shrewsbury, Aufzeichnungen 557.
Siebenerausschuß der badischen Li-
beralen 1848 606 f.
Simson 279.
Sitzungen des Kabinetts unter Georg I.
574.
Slawische Kongresse 228 ff.
Solidität der preußischen Finanzen
465 f.
Sonderstellung, staatliche, Preußens
641.
Sonntagsfeier, der Kampf um die S.
53 ff.
Souveränität, parlamentarische, in
England 398 f.
Sozialdemokratischer Antrag auf Ein-
führung des Enqueterechts im
Reichstag 297 f.
Soziale Steuerpolitik im Reiche 476.
Sozialismus, französischer, Einfluß auf
das vormärzliche Preußen 79 f.
Soziologie und Philosoj^hie des Ki'ieges
(Besprechung) 518 ff.
Soziologische Theorien (Besprechung)
263 f.
Spender, J. A. 114 f.
Sperrpolitik, englische 144.
StaatsbürgerHche Freiheit und freies
Ermessen der Behörden (Bespre-
chung) 239.
Staatshaushalt, preußischer, Rechts-
und Finanzgrundlagen 368 ff.
Staatshaushaltsgesetz von 1898 410.
Staatsideal des vormärzlicheu Radika-
lismus 66.
Staatslehren der Chinesen 212.
Staatsnebenfonds 370.
Staatsrecht Ägyptens (Besprechung)
249 ff.
— Finnlands 649 ff.
Staatsverfassung und Budgetrecht
457 ff.
Staatsverwaltung, badische, Gegen-
stand der St. 633.
Stabilisierung von Teilen des Reichs-
budgets 470, 473.
Ständestaat, vom Lehnsstaat zum St.
(Besprechung) 673 ff.
Stanhope 575, 592.
Statute der Rheinprovinz 629.
Steinbach 336.
Stengel, Karl v., über Mischehenfrage
498 ff.
Steuerbewilligungsrecht des Parla-
ments in Bayern 374.
Stirncr 82 f.
Stirners Broschüre: „Das Gegenwort"
53 f., 91 ff.
— Programm der „Freien" 107 ff.,
111 ff.
Stourm 366.
Strafford 552.
Strauß, David Friedrich 11.
Struve 611.
Stürgkh (Besprechimg) 534 ff.
Sach- und Namenregiater.
719
Sunderland 592.
Sun Yatsen 197.
supplementary grants 416.
V. Sydow 381 f.
Taaffe, Graf 332, 335.
tacking of money bill 358.
Taft und China 194.
Temple. William 554.
Theodizee, Problem der Th. (Be-
sprechung) 260 ff.
Thronbesteigung Georg I., Beginn der
Kabinettsregierung mit der Th. 566.
Thun. Graf 302.
Townshend 591.
Trennung der Mächte von den Kultur-
aufgaben 646.
— von Staat und Kirche (Bespre-
chung) 515 ff.
Triepel 623.
Tschechen und der Panslavismus 221 f.
Tudor. Dynastie 550.
Twesten 296.
u.
Überschreitung des Enqueterechts 271.
Überschuß des Staatshaushaltsetats
Übersee-Interessen Englands 149.
Überwachung des Budgetvollzuges in
England 405, imd Frankreich 406.
Umwandlung der Reichsverfassung622,
Unabhängigkeit des Kabinetts vom
König 578 f.
Ungarn . Verfassungsrecht (Bespre-
chung) 691 ff.
Unterdrückung der politischen Presse
im vormärzlichen Preußen 72 f.
— der „Rheinischen Zeitung" 37 f.
Unterhaus, englisches, Mitwirkung am
Budget 350 f., 356 f.
Untersuchungskommission, Bildung
gesetzlicher U. 298.
Ursachen d. Geburtenrückganges 660 f.
V.
Varnhagen 3.
Verbot der chinesischen Einwanderung
in Amerika 194.
Vereinigte Staaten und der ferne Osten
186 ff.
Verfassung des deutschen Reichs,
Kommentar (Besprechimg) 247 ff.
— Schwedens und konstitutionelle
Regierung 483 ff.
Verfassungsfrage 1848 604 ff.
Verfassungskrisis, englische 1909
352 f., 358 f.
Verfassungskrise in England, Budget-
recht in der V. 459 ff.
Verfassungsrecht, ungarisches 691 ff',
Verfassungsreform, österreichische
1867, Enqueterecht in der V. 305.
Verlauf der Kabinettssitzungen 587.
Verletzung des Emiueterechts 270.
Vennittlerrolle Englands 126.
Vermögensbildung in Deutschland
471.
Verpflichtung zu einem Religions-
bekenntnis 111 ff.
Verschärfimg der Zeitungszensur im
vormärzlichen Preußen 72.
Verwaltungsbehörden, Kollegialver-
fassung bei V. 162.
Verwaltungsenquete 267.
Verwaltungsgesetzgebung der Einzel-
staaten 640.
Verwaltungsrecht, deutsches, Lehr-
buch (Besprechung) 240 ff.
Verwaltungszweige der Provinz 630 f.
Verwerfung des Budgets in Frank-
reich, Folgen der V. 364 ff.
VetobiU 349.
Vetorecht des englischen Königs bei
der Budgetberatung 397 f.
V. Vincke 279.
Volkssouveränität, Enqueterecht bei
V. 277 f.
Volkswirtschaft, deutsche, Wandlun-
gen der V. (Besprechung) 546 f.
Vollzug derSteuer- undAbgabegesetze
unabhängige vom Budget 370.
Vorbedingungen solider Finanzpraxis
478 ff.
Vorbereitung des Etats 393.
Vormärzlicher Radikalismus in Preu-
ßen 1 ff.
Vorparlament, deutsches, parteipoli-
tische Lage zur Zeit des V. 594 ff.
Vorrangstellung Preußens 641 f.
Wahlenquete 267.
Wahlmißbräuche in Galizien. Parla-
mentsenquete wegen W. 337 f.
Wahlrecht und Budgetrecht 466 ff.
„Wahrhafte Liberale" im vormärz-
lichen Preußen 24.
„Wahrhafter Staat" (Edgar Bauer) 52.
Wahi'ungsreform, chinesische 196.
720
Sach- und Namenresister.
Währungsenquete 1892, in Österreich
339.
Waldeck-Pyrmont, Enqueterecht in
der Verfassung von W. 283.
Waldecker Landessynode 161.
Wales, Prince of, Kabinettsregierung
unter W. 571.
Walesrode 25.
V. Walewski 341 f.
Walpole, Kabinett unter W. 581.
Wandlungen, politische, der Brüder
Bauer 48.
Wechselseitigkeit, slawische, und deut-
sche Einheitsbestrebungen 218 ff.
Wehrpflicht, allgemeine, für England
130.
Wehrpflichtler, Politik der englischen
W. 132 f.
„Weiße Gefahr" in China 207.
Weitling 77.
Welcker 43, 602.
Weltanschauung Stirners im „Gegen-
wort" 98 f.
Werbende Ausgaben im Reiche 445.
Werkstättenhäuser , kleingewerbliche
(Besprechung) 547 f.
Wermuth 387.
— über Schuldentilgung im Reiche
452 f.
Whigs und Tories 555.
Wilhelm III. von Oranien 556.
Wirtschaftsenquete 268.
Witt, Carl 6, 25.
Württemberg, Wahl-Enqueterecht in
W. 291.
Wyndhams Verhaftung 569.
Y.
Yuanschikai 213.
Zachariä, Karl Salomo 293.
Zensurpolitik Friedrich Wühelms IV.
17 ff.
Zentner 599.
Zentralgewalt für die deutsche Ein-
heit 617.
Zentrum, das, und Rom (Besprechung)
528 ff.
Zentrum-Konservatismus 152 f.
Zentripetale Tendenz der Weltreiche
136 f.
Zeugenvernehmung im österreichi-
schen Parlament 324 f.
Ziele des vormärzlichen Liberalismus
25.
Zolltarifgesetz und Reichstag 390 f.
Zollverein 598 f.
Zugeständnisse, gegenseitige Politik
der Z. zwischen England u. Deutsch-
land 148 f.
Zusammenhang, enger, zwischen Bud-
getrecht und Finanzpraxis 463.
Zusammenschluß der englischen Kolo-
nien mit dem Mutterland 142.
Zusammensetzung des Kabinetts unter
Walpole 589 f.
— des Vorparlaments 609.
Zusammentritt des Vorparlaments
620.
Zuschußanleihe 393.
Zwangstilgung 447.
Zweck der allgemeinen Wehrpflicht
in England 133 f.
Zweiheit der Geschäftsform bei Mini-
sterialverwaltungen 169 f.
Ö
JA Zeitschrift für l-'olitik
U
Z43
Bd. 6
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